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Vorwort

Notizen zur
Metaphyysik
Idealistischen Metaph

Band IV

Frühe Christen, Aristoteliker


Mittelplatoniiker
und Mittelplaton

Marco Bormann

1
Vorwort

Herstellung und Verlag:


Books on Demand GmbH, Norderstedt 2013
ISBN 978-3-7322-7989-0

2
Vorwort
Inhalt

VORWORT .................................................................................................... 9

EINLEITUNG .............................................................................................. 11

IDEEN.......................................................................................................... 11
NATUR ........................................................................................................ 12
GEIST .......................................................................................................... 14

FLAVIUS JUSTINUS (100-165)................................................................. 16

IDEEN.......................................................................................................... 16
NATUR ........................................................................................................ 20
i. Die Materie ........................................................................................ 20
ii. Der lÒgoj und die Natur.................................................................... 22
iii. Leib und Seele .................................................................................. 23

HERMES TRISMEGISTOS (UM 150) ..................................................... 27

IDEEN.......................................................................................................... 27
NATUR ........................................................................................................ 32
i. Die Entstehung der Welt aus Gott...................................................... 32
ii. Die Materie im ideellen Raum .......................................................... 39
iii. Der Rückfall in den platonischen Materiebegriff ............................ 43
iv. Gott als Form ................................................................................... 47
v. Die organischen Naturstufen............................................................. 48
vi. Das Verständnis des Organischen ................................................... 50
GEIST .......................................................................................................... 53
i. Die Gottähnlichkeit des Menschen .................................................... 53
ii. Ewigkeit und Reflexivität .................................................................. 54
iii. Die Sprache...................................................................................... 56
iv. Die Rückkehr zum platonischen Geistbegriff ................................... 64

HERMINOS (UM 150) ................................................................................ 66

GEIST .......................................................................................................... 66

3
Vorwort
AMBROSIOS VON ATHEN (UM 160)..................................................... 68

GEIST .......................................................................................................... 68

TATIAN (120-180) ....................................................................................... 70

IDEEN.......................................................................................................... 70
NATUR ........................................................................................................ 73
i. Die Materie ........................................................................................ 73
ii. Die Ablehnung der Weltseele............................................................ 74
GEIST .......................................................................................................... 75
i. Ein gnostischer Geistbegriff............................................................... 75
ii. Reine Geistwesen .............................................................................. 77

MARCUS AURELIUS (121-180) ............................................................... 80

NATUR ........................................................................................................ 82
i. Die Einheit der Natur......................................................................... 82
ii. Die Naturformen ............................................................................... 86
GEIST .......................................................................................................... 89

THEOPHILOS VON ANTIOCHIA († 183).............................................. 92

NATUR ........................................................................................................ 92
i. Die Widersprüche der ungeschaffenen Materie................................. 92
ii. Der geistige Raum Gottes ................................................................. 94

MAXIMOS VON TYROS (125-185).......................................................... 96

GEIST .......................................................................................................... 96
i. Die Formen des Geistes ..................................................................... 96
ii. Die Struktur des Geistes.................................................................... 98
GALENOS VON PERGAMON (129-200) .............................................. 101

IDEEN........................................................................................................ 101
NATUR ...................................................................................................... 104
i. Die Grundbestimmungen der Natur................................................. 104
ii. Die Identifikation eines Naturwesens ............................................. 106
iii. Die Rolle der Elemente im Organismus ........................................ 107
iv. Die Höherentwicklung des Organismus......................................... 112
v. Die funktionale Gliederung des Organismus .................................. 114

4
Vorwort
vi. Die Seele als Sklave des Körpers ................................................... 120
vii. Der Körper als Werkzeug der Seele.............................................. 125
viii. Die Nahrungsassimilation............................................................ 126
ix. Die Materie der Gewohnheit.......................................................... 131
x. Das Gehirn ...................................................................................... 132
xi. Die Entstehung des Menschen und die Naturstufen....................... 136
GEIST ........................................................................................................ 140
i. Die Intelligenz .................................................................................. 140
ii. Empirie gegen Ratio........................................................................ 142

JULIUS CASSIANUS (UM 170) .............................................................. 146

NATUR ...................................................................................................... 146

ARISTOTELES VON MYTILENE (UM 170) ....................................... 148

NATUR ...................................................................................................... 148

JULIANOS THEURGOS (UM 170) ........................................................ 156

IDEEN........................................................................................................ 156

ATHENAGORAS VON ATHEN (133-190) ............................................ 162

IDEEN........................................................................................................ 162
NATUR ...................................................................................................... 164
GEIST ........................................................................................................ 168
i. Die beiden Formen des Sozialen...................................................... 168
ii. Das existentielle Moment des Geistes............................................. 169

IRENAEOS VON LYON (135-202) ......................................................... 171

IDEEN........................................................................................................ 171
NATUR ...................................................................................................... 174
GEIST ........................................................................................................ 175
i. Das Wesen des Geistes..................................................................... 175
ii. Die Sprache..................................................................................... 177
iii. Die Rolle des Sozialen ................................................................... 179
iv. Die Kritik der Gnosis als sozialer Struktur.................................... 182

5
Vorwort
NUMENIOS VON APAMEIA (UM 175) ................................................ 185

IDEEN........................................................................................................ 185
i. Das Prinzip des Guten als prîtoj qeÒj ............................................. 185
ii. Das ontologische System................................................................. 187
iii. Die Ideen ........................................................................................ 189
iv. Der dhmiourgÒj zwischen Ideen und Materie .................................. 192
NATUR ...................................................................................................... 195
GEIST ........................................................................................................ 198

ALKINOUS (UM 175) ............................................................................... 200

IDEEN........................................................................................................ 200
i. Der Zugang zum Begriff des Einen .................................................. 200
ii. Die ontologische Struktur des Ideellen ........................................... 203
NATUR ...................................................................................................... 205
GEIST ........................................................................................................ 206

ATTIKOS (UM 176) .................................................................................. 211

IDEEN........................................................................................................ 211
NATUR ...................................................................................................... 214
KELSOS (UM 178) .................................................................................... 216

IDEEN........................................................................................................ 216
NATUR ...................................................................................................... 217
i. Kritik am christlichen Materiebegriff .............................................. 217
ii. Ein Vergleich von Mensch und Tier................................................ 219
GEIST ........................................................................................................ 221

HERMOGENES (UM 180) ....................................................................... 223

NATUR ...................................................................................................... 223

CLEMENS VON ALEXANDRIA (150-215)........................................... 226

IDEEN........................................................................................................ 226
i. Gott und lÒgoj .................................................................................. 226
ii. Die Logik der Begriffe..................................................................... 229
NATUR ...................................................................................................... 233
GEIST ........................................................................................................ 234

6
Vorwort
i. Wie funktioniert der Geist ................................................................ 234
ii. Die Sprache..................................................................................... 239
iii. Die Gnosis...................................................................................... 240

ALEXANDROS VON APHRODISIAS (150-215).................................. 242

IDEEN........................................................................................................ 242
NATUR ...................................................................................................... 245
i. Der Rahmen der Natur..................................................................... 245
ii. Raum und Zeit ................................................................................. 249
iii. Was ist Materie? ............................................................................ 252
iv. Wie kommt die Form zur Materie? ................................................ 254
v. Das Verhältnis von Materie und Form............................................ 256
vi. Die Entstehung der Seele im Körper.............................................. 259
vii. Die Pflanzenseele .......................................................................... 265
viii. Die logische Idee der Nervenzelle ............................................... 267
ix. Höherentwicklung und Evolution................................................... 269
x. Eine systemtheoretische Theorie der Wahrnehmung ...................... 275
GEIST ........................................................................................................ 276
i. Der materielle und der formale Geist .............................................. 276
ii. Die Selbständigkeit des Geistes ...................................................... 280
iii. Der Nominalismus ......................................................................... 284

MAXIMOS VON JERUSALEM (UM 190) ............................................ 288

NATUR ...................................................................................................... 288

PRAXEAS (UM 190).................................................................................. 297

NATUR ...................................................................................................... 297


GEIST ........................................................................................................ 299

QUINTUS SEPTIMUS TERTULLIANUS FLORENS (155-222) ........ 301

IDEEN........................................................................................................ 301
NATUR ...................................................................................................... 303
i. Die Schöpfung der Materie .............................................................. 303
ii. Die Körperlichkeit des Ideellen ...................................................... 305
iii. Der Zusammenhang von Seele und Körper ................................... 307
iv. Auch die niedrigeren Ebenen folgen einer Logik........................... 311

7
Vorwort
GEIST ........................................................................................................ 312
i. Denken und Sprache ........................................................................ 312
ii. Die Selbstbeschränkung des Geistes............................................... 313

MARCUS MINUCIUS FELIX (UM 200)................................................ 316

NATUR ...................................................................................................... 316

SEXTOS EMPEIRIKOS (160-210).......................................................... 318

IDEEN........................................................................................................ 318
NATUR ...................................................................................................... 320
GEIST ........................................................................................................ 321
i. Der Geist als Idee in der Zeitlichkeit ............................................... 321
ii. Wahrheit und Bedeutung................................................................. 324
iii. Die Dezentralität der Geisteswelt.................................................. 329

HIPPOLYTOS (170-237) .......................................................................... 332

IDEEN........................................................................................................ 332

INHALTSREGISTER ............................................................................... 334

LITERATUR .............................................................................................. 348

8
Vorwort
Vorwort
Dieser vierte Band behandelt vor allem drei verschiedene Gruppen von
Denkern, die auf den ersten Blick ganz verschiedene Ansätze zu verfol-
gen scheinen, deren Denkweisen jedoch im Laufe der Geschichte zu-
sammen gefunden haben. Die Vereinigung dieser drei Denkansätze,
des Platonismus, der Aristotelismus und des christlichen Denkens bil-
det die Basis des idealistischen Ansatzes, der in diesem Werk durch die
Geschichte des Denkens hindurch verfolgt wird. Eine systematische
Darstellung desselben findet sich in der Einleitung des ersten Bandes.
Zeitlich ist dieser vierte Band im zweiten nachchristlichen Jahrhundert
angesiedelt.
Die Aristoteliker, mit den wir uns hier beschäftigen, sind vor allem
Galenos und Alexandros von Aphrodisias. Bei beiden wird vor allem
die Naturphilosophie weiterentwickelt. Galenos tut dies als Mediziner
und baut die Biologie des Aristoteles aus. Uns interessieren hier vor-
wiegend seine Überlegungen zur Struktur des Organismus und auch
teilweise zum Mechanismus einzelner Teile desselben. Alexandros ar-
beitet mehr an der begrifflichen Seite der Naturphilosophie und ent-
wickelt die aristotelischen Begriffe von Form und Materie weiter. Inter-
essant ist dabei, daß sein Aristotelismus in der Kosmologie durchaus als
eine naturalisierte Form des Platonismus gelesen werden kann.
Der Mittelplatonismus, bei dem hier vor allem Numenios zu nen-
nen ist, präsentiert in dieser Phase in seiner Ideenlehre, die ja das
Hauptgeschäft der Platoniker ist, eine Art Suche nach einer System-
struktur, die schließlich im Neuplatonismus – der von uns erst im näch-
sten Band behandelt wird – ihre feste Form findet. Die zentralen Ele-
ment dieser Ideenlehre hier sind die Idee des Guten als das über allem
Stehende, das Reich der Ideen selbst, die Weltseele und der dhmiour-
gÒj, der göttliche Baumeister des Universums. Das Reich der Ideen
selbst präsentiert sich uns hier jedoch noch als etwas abstraktes, als eine
Größe, die inhaltlich nicht ausdifferenziert ist. Wir finden also keine
entwickelten Ideenlehren. Dafür können wir aber feststellen, daß hier
die Platoniker begonnen haben, aristotelisches Gedankengut in ihre
Überlegungen aufzunehmen. Am ehesten zu den Platonikern können
wir aber auch die hier behandelten Schriften jenes ominösen Hermes

9
Vorwort
Trismegistos zählen. Hermes entwickelt einen idealistischen Denkan-
satz, dem keine direkte Schulzugehörigkeit attestiert werden kann und
der sich vor allem aus platonischen und christlichen Denkelementen
speist.
Das christliche Denken macht in dieser Zeit seine ersten ernsthaften
Schritte in Richtung einer entwickelten Metaphysik. Dabei ist es ganz
und gar am Platonismus orientiert. Die Grundunterscheidung zwischen
Gott als dem platonischen Einen und Christus als dem lÒgoj oder dem
die platonischen Ideenreich haben wir bereits in dritten Band bei Phi-
lon von Alexandria kennengelernt. Hier nun wird dieser Gedanke zur
Grundlage eines Denkens, das in den kommenden Jahrhunderten zu
einer geistigen Hegemonie werden wird. Das christliche Denken ist je-
doch nicht eine reine Kopie des Platonismus, an dessen Seite es auf-
wächst. Es entwickelt durchaus ganz eigene Thesen, die für unseren
idealistischen Ansatz sehr produktiv sind. Eine dieser Thesen ist die
Erschaffung der Materie durch Gott, also durch das platonische Ideelle.
Die Christen finden diese These im Alten Testament, schaffen es dann
aber sie systemimmanant zu begründen. Ein weiteres Moment durch
welches das Christentum über den Platonismus hinausgeht, ist eine sich
entwickelnde Sensibilität für den Gegensatz von Individuum und All-
gemeinem. Das Allgemeine, wie etwa ein dem Menschen überlegener
Geist wird nicht mehr unbedingt aufgrund seiner Überlegenheit als et-
was Positives wahrgenommen. Durch den Gedanken der Menschwer-
dung Gottes in Christus sind die Christen vielmehr gezwungen, das ein-
zelne Individuum als etwas unübersteigbar Hohes zu schätzen, was das
Christentum zu einem Vorläufer des Existentialismus macht.

Berlin im September 2013

10
Einleitung
Einleitung
Einleitend zu diesem vierten Band möchte ich hier die Überlegungen
des dritten Bandes kurz zusammenfassen. Dies reicht nicht in allen
Punkten, um die Schwerpunkte dieses Bandes hinreichend vorzuberei-
ten. Die drei Schwerpunkte dieses vierten Bandes, das frühe Christen-
tum, der Mittelplatonismus und der Aristotelismus haben jeweils ihre
eigenen Voraussetzungen. Die Aristoteliker setzen natürlich vor allem
die Philosophie des Aristoteles voraus, die wir im zweiten Band behan-
delt haben. Was den Mittelplatonismus, so haben wir im dritten Band
einige Autoren kennengelernt. Für ein tieferes Verständnis der platoni-
schen Philosophie verweise ich jedoch auf den ersten Band und die
dortige Diskussion der Philosophie Platons. Das Christentum schließ-
lich haben wir gewissermaßen im dritten Band in seiner Entstehung be-
gleitet, deren wesentliche Momente hier zusammengefaßt werden sol-
len.
Wie auch schon bei den vorhergehenden Bänden und wie bei je-
dem Autor, der uns ausreichend Material zur Verfügung stellt, wird
auch diese Einleitung dreiteilig der Philosophie als Ideenlehre, Natur-
philosophie und Philosophie des Geistes betrachten. Ein Schwerpunkt
des dritten Bandes war dabei vor allem in der Stoa die Philosophie des
Geistes, da die Stoa vor allem hinsichtlich Überlegungen zur Sprache
neue Gedanken einbringen konnte.

Ideen
Es ist vor allem Chrysippos, der uns einen stoischen Beitrag zur Ideen-
lehre liefert. Bei ihm finden wir eine Kategorienlehre, welche die aristo-
telischen Kategorien zunächst auf vier Begriffe reduziert und diese dann
weiter präzisiert. Die Begriffe der Eigenschaft und der Relation werden
hier mit neuen Perspektiven versehen. Natürlich haben diese Kategori-
en bei Chrysippos keineswegs den Status von platonischen Ideen, aber
das hinderte uns nicht, sie als Elemente einer Ideenlehre zu betrachten.
In systematischer Hinsicht sind es dann doch wieder die Platoniker,
welche die Ideenlehre zu einem zentralen Element ihres philosophi-

11
Einleitung
schen Denkens machen. So finden auch bei Pseudo-Archytas ebenfalls
eine Auseinandersetzung mit den ersten vier Kategorien des Aristoteles;
wobei diese aber hier sehr wohl als Ideen aufgefaßt werden. Bei Eudo-
ros finden wir eine grobe Rekonstruktion des Verhältnisses vom Einen
und den Ideen, wie wir sie im platonischen Parmenides gefunden ha-
ben. Diese versucht er mit der Lehre des Pythagoras zu verbinden. Bei
Plutarchos stoßen wir auf einen ganz eigentümlichen Ansatz. Er stellt
uns den Gegensatz der Figuren Osiris und Seth aus der ägyptischen
Mythologie als Metapher eines Gegensatzes von positiven und negati-
ven Begriffen vor.
Ein Angelpunkt der Ideenlehre überhaupt ist schließlich das Den-
ken des Philon von Alexandria. Dessen Unterscheidung von Gott und
lÒgoj, die eben jener platonische Unterscheidung vom Einen und den
Ideen entspricht, bereitet die gesamte christliche Ontologie vor. Das
Motiv des lÒgoj als des Sohnes Gottes, welches wir bei Philon finden,
wird ein zentrales Motiv des Christentums und steht als solches auch
am Anfang des Johannesevangeliums.
Eine ganze Reihe von Ansätzen zu einer Ideenlehre, die jedoch alle
mehr oder weniger demselben platonischen Schema folgen, finden wir
schließlich in der christlichen Gnosis. Dieses sich wiederholende
Schema im gnostischen Denken besteht darin, daß das als das platoni-
sche Eine aufgefaßte göttliche Wesen nur Ideelles aus sich heraus
schafft, also nur das Reich der Ideen. Es ist dann ein sich selbst verab-
solutierender Teil des Ideellen, der für die Entstehung der Natur ver-
antwortlich ist und der dann mit dem Gott des Alten Testamentes iden-
tifiziert wird. Was die Strukturierung des Ideenreiches angeht, so fin-
den wir vor allem bei Valentinos einen interessanten Ansatz. Er teilt die
Ideen in drei Bereich, deren erster die so etwas wie substantielle Ideen,
der zweite Ideen zur Verbindung der Ideen miteinander und der dritte
Ideen zur Zusammenfassung der Ideen in einem System enthält.

Natur
Was die Naturphilosophie angeht, so boten uns die im dritten Band
behandelten Autoren keinen ähnlich systematischen Ansatz, wie dies

12
Einleitung
bei Aristoteles im zweiten Band der Fall war. Wir finden vielmehr eine
Reihe von klugen Ideen, die sich jedoch alle leicht in eine idealistische
Naturphilosophie integrieren lassen.
Im Rahmen der stoischen Philosophie stoßen wir hier bei Zenon
von Kition sogleich auf das Konzept der lÒgoi spermatiko…. Hieraus
können wir einen Ansatz zum Verständnis einer idealistischen Auffas-
sung der Materie generieren. Denn wie diese lÒgoi spermatiko…, so muß
auch die Materie bereits alles auf ihrer Basis Entstehende in sich enthal-
ten, es muß dies jedoch so enthalten, daß es noch nicht entwickelt ist.
Der Begriff eines logischen Samenkorns hat hier einiges für sich. Ein
Begriff, der eine rein logische Verbindung von Naturwesen in deren
physischer Wirkung erklärt ist der bei Chrysippos entwickelte und von
Poseidonios weiterentwickelte Begriff der sump£qeia. Die Grundidee
dabei ist, daß Naturwesen nicht physisch aufeinander wirken müssen,
sondern deren logische Verbindung ohnehin eine Synchronisation des
Verhaltens garantieren kann. Poseidonios dehnt dieses Konzept bis hin
zu einer konktaktunabhängigen Wahrnehmungstheorie aus. Chrysip-
pos und Boethos unterscheiden drei Formen der Verbindung von
Körpern, eine rein physikalische, eine chemische und eine biologische
und erlaubten so auch einen Blick auf die Struktur des Anorganischen,
die von ihren antiken Vordenkern vernachlässigt wurde. Interessant ist
auch Zenons Theorie der Vorstellung, die von Chrysippos weiterent-
wickelt wurde und allen Stoikern als Grundlage ihrer Theorie des Gei-
stes dient. Der wesentliche Gedanke dieser Theorie wird im Konzept
der kat£lhyij gefaßt. Mit kat£lhyij meint Zenon den Akt des aktiven
Erfassens oder gar Begreifens einer Wahrnehmung. Diese Theorie
geht von Anfang an davon aus, daß unsere seelischen Inhalte uns nicht
passieren, sondern daß wir sie vielmehr selbst aktiv herstellen. Diese
Fähigkeit beginnt schon in der Natur, was dazu führt, daß die Stoiker
auch Tieren bereits weitreichende logische Fähigkeiten zuschreiben.
Bei Lucretius stoßen wir auf den heroischen Versuch einer Verteidi-
gung der Atomtheorie, der sogar bis zur Entwicklung einer Theorie der
Elementarteilchen geht. Doch dieser konsequente Reduktionismus
dient uns vor allem dazu, unsere Gegenargumente an ihm zu erproben.

13
Einleitung
Einen mehr systematischen Ansatz zu einer Naturphilosophie fin-
den wir dann erst bei Philon von Alexandria. Er versucht, den Plato-
nismus mit der biblischen Schöpfungstheorie in Einklang zu bringen.
Den Ablauf des Schöpfungsberichtes interpretiert er als die logische
Ordnung der Naturwesen. Entsprechend entsteht der Mensch als letz-
tes aller Naturwesen und die Natur präsentiert sich als eine Höherent-
wicklung von Wesen. Die Zeit ist erst bei dieser Schöpfung der Welt
entstanden und deren Ort ist Gott, also ein ideeller Raum.
Einen ebenfalls systematischen Ansatz finden wir bei Plutarchos. Er
entwickelt eine eigenwillige Variante des Platonismus mit zwei Welt-
seelen. Die oben erwähnten negativen Prinzipien bilden für ihn auch
die Grundlage der Materie. Eine negative Weltseele steht dann einer
positiven gegenüber. Beide zusammen verantworten die Welt. Die po-
sitive Seele ist für das Entstehen von Formen verantwortlich und deren
negatives Pendant für deren Vergehen. Erneut sind es Figuren der ägyp-
tischen Mythologie, diesmal Isis und Horos, die ihm als Metaphern für
das Materialprinzip und das Formprinzip dienen.
Die Naturphilosophie der Gnosis ist vor allem durch deren Schöp-
fungsmythos charakterisiert. Wie bei Philon wird hier die Bibel mit
dem Platonismus verbunden. Hier ist es jedoch nicht der höchste Gott,
der die Welt schafft, sondern das niedrigste Wesen des Ideenreiches,
das als dhmiourgÒj die Welt schafft, das aber – wie erwähnt – zugleich
auch der Gott des Alten Testamentes ist. Daraus resultiert in der Gno-
sis eine fundamentale Ablehnung alles Körperlichen, die dem christli-
chen Grundgedanken einer Menschwerdung Gottes, die als Aufwertung
der natürlichen Existenz des Menschen verstanden werden, krass ent-
gegensteht. Aus unserer idealistischen Perspektive kann dieser sich
selbst verherrlichende dhmiourgÒj sehr leicht als ein Grundprinzip der
Natur und vielleicht gar als Materie verstanden werden.

Geist
Im Mittelpunkt der Überlegungen zur Theorie des Geistes stand im
dritten Band vor allem die Theorie der Sprache. Zentral für die stoi-
sche Sprachauffassung ist der von Kleanthes entwickelte Begriff des

14
Einleitung
lektÒn. Ein lektÒn ist so etwas wie der rein geistige Gehalt eines sprach-
lichen Ausdrucks. Chrysippos entwickelt Kleanthes’ rudimentären An-
satz weiter und trifft mehrere für die Sprachtheorie grundlegende Un-
terscheidungen. Dies ist zum einen die Unterscheidung von shma‹non
und shmainÒmenon. Das shma‹non ist das Zeichen, mit dem etwas ausge-
drückt wird. Das shmainÒmenon als das Bezeichnete jedoch ist nicht ein
Gegenstand, auf den sich das Zeichen bezieht, sondern der Bedeu-
tungsgehalt des Zeichens, der hier erstmals begrifflich gefaßt wird. Zu-
dem trifft Chrysippos die ebenfalls grundlegende Unterscheidung zwi-
schen dem lÒgoj proforikÒj als der vorgetragenen Rede, die auch Tie-
ren zugeschrieben werden kann und dem lÒgoj ™ndi£qetoj als einem
inneren Gespräch, welches die gesprochene Rede vorbereiten soll.
Wie unser Zugang zu Bedeutungsgehalten zu denken ist, wird von
Varro thematisiert. Er unterscheidet die Möglichkeiten des Regelfol-
gens und des Rückgriffs auf den praktischen Sprachgebrauch und
schlägt ein dreistufiges System zur Ordnung dieser Optionen vor, in
dem der individuelle Sprachgebrauch einem kollektiven Sprachge-
brauch untergeordnet ist, der wiederum von der ratio der Regeln im
Hintergrund angeleitet ist.
Die Rolle der Sprache für den Geist wird im Denken der Stoa
durchaus adäquat als wesentlich eingeschätzt. So sieht Poseidonios die
Sprache als Bedingung der Möglichkeit von Zivilisation überhaupt an.
Nach Cicero schafft die Sprache überhaupt erst so etwas wie einen
zeitübergreifenden kulturellen Raum.
Pseudo-Archytas liefert uns eine platonische Theorie des Geistes, in
welcher der menschliche Geist als das Erkenntnisorgan des Universums
gesehen wird. Eine platonische Sicht des Geistes übernimmt auch die
Gnosis. In der Gnosis kann nur der Mensch unsterblich werden, der
das Ideelle erfaßt und sich vom Materiellen ganz löst. Ganz im Gegen-
satz dazu steht das eher metaphysikfeindliche christliche Denken des
Paulos. Paulos’ Begriff des inneren Menschen, den er in Abgrenzung
zu Platon entwickelt, thematisiert das existentielle Moment unserer
menschlichen Existenz, das in der platonischen und gnostischen Meta-
physik verkannt wird.

15
Flavius Justinus (100-165)
Flavius Justinus (100-165)
Justinus wurde in Flavia Neapolis bei Sichem in Palästina geboren. Er
beschreibt uns selbst, wie er nach der Beschäftigung mit der stoischen,
aristotelischen und schließlich ausgiebiger mit der platonischen Philo-
sophie schließlich zum Christentum kam. Für seinen christlichen Glau-
ben starb er dann schließlich auch in Rom als Märtyrer. Die von ihm
erhaltenen Schriften sind zum einen zwei an den Kaiser Antonius Pius
und dessen Sohn Marcus Aurelius gerichtete Apologien, welche das
Christentum in der hellenistisch-römischen Geisteswelt zu situieren su-
chen. Zum anderen ist sein Dialog mit dem Juden Tryphon erhalten, in
dem er vor allem aus den Schriften des Alten Testamentes das Chri-
stentum zu begründen sucht.
Nach Johannes ist Justinus hier der erste, der die metaphysischen
Gedanken der christlichen Philosophie nennenswert weiterentwickelt.
Und in diesem Anfang zeigt sich noch deutlich der Vorbehalt eines
gläubigen Zugangs zur Religion gegenüber einem intellektuellen; eine
Einstellung, die zwar in der christlichen Philosophie nie grundsätzlich
schwindet – sonst würde sie ja zu einer Spielart des Gnostizismus – die
jedoch im Laufe der Zeit durch die Masse der Denker, die dieser Rich-
tung zuzuordnen sind und deren Texte gerade auch aufgrund des histo-
rischen Erfolgs des Christentums erhalten geblieben sind, langsam aus-
gehöhlt wurde. Von Jahrhundert zu Jahrhundert werden wir feststellen
können, wie ein Gedanke sich an den anderen reiht und diese sich
schließlich zu einem imposanten intellektuellen Gebäude erheben.

Ideen
§ 1 Die Ideenlehre ist in der christlichen Philosophie natürlich voll und
ganz auf einerseits den Begriff Gottes und andererseits auf den Christi
als des göttlichen lÒgoj gestützt. Die intellektuelle Vorstellung von Gott
entstammt dabei bei Justinus ganz und gar dem Denken Platons. So
versucht er in seinem Dialogus cum Tryphone die Einheit und Einzig-
keit Gottes zu begründen, die ja gerade deshalb in Frage gestellt zu sein

16
Flavius Justinus (100-165)
scheint, weil das Christentum neben Gott in Christus eben noch ein
zweites göttliches Wesen kennt:
tÕ g¦r ¢gšnnhton tù ¢genn»tJ »Das Unerzeugte ist nämlich dem
ÓmoiÒn ™sti kaˆ ‡son kaˆ taÙtÒn, Unerzeugten ähnlich, es ist ihm
kaˆ oÜte dun£mei oÜte timÍ prokri- gleich und mit ihm identisch;
qe…h ¨n qatšrou tÕ ›teron. Óqen nicht könnte das eine dem ande-
oÙd poll£ ™sti t¦ ¢gšnnhta· e„ ren an Macht oder Ehre vorgezo-
g¦r diafor£ tij Ãn ™n aÙto‹j, oÙk gen werden. Das ist der Grund,
¨n eÛroij ¢nazhtîn tÕ a‡tion tÁj warum es auch keine Mehrzahl
diafor©j, ¢ll', ™p' ¥peiron ¢eˆ t¾n von Unerzeugten gibt. Denn
di£noian pšmpwn, ™pˆ ˜nÒj pote wenn es hierin eine Verschie-
st»sV ¢genn»tou kamën kaˆ toàto denheit gäbe, dann würdest du
f»seij ¡p£ntwn a‡tion. wohl nach einer Ursache der
Verschiedenheit suchen, sie aber
nicht finden, sondern du wirst
mit deinen Gedanken stets ins
Endlose dringend vor Ermüdung
einmal bei einem einzigen Uner-
zeugten stehen bleiben und sa-
gen: das ist die Ursache des
Alls.«
1

Auch wenn es also mehrere Wesenheiten im Bereich des Göttlichen


geben sollte, der hier als der Bereich des Unentstandenen (¢gšnnhton)
gefaßt wird, so sind sie doch alle miteinander identisch (taÙtÒn). Diese
später in der Trinitätslehre ausgiebig diskutierte These der christlichen
Doktrin ist hier also von Anfang an präsent. Das Argument für diese
Identität und Einheit erinnert an ein platonisches Argument. Wenn es
eine Verschiedenheit gäbe, dann müßte es eine Ursache derselben ge-
ben. Diese Ursache aber müßte ihrerseits dann wieder höher stehen, als
das, dessen Verschiedenheit sie begründet. So aber würde man in einen
infiniten Progreß der Ursachensuche geraten. Dieser mag erkennt-
nistheoretisch gesehen zwar noch erträglich sein; man hört einfach auf
und erfährt die letzte Wahrheit eben nicht. Ontologisch gesehen jedoch
ist er äußerst problematisch, denn wenn es immer weiterer Prinzipien
bedarf, dann gibt es das Prinzipiierte gar nicht; es sei denn es prinzipiie-

1
Dialogus cum Tryphone 5, 5, 6 – 6, 5, Übers. P. Hauser

17
Flavius Justinus (100-165)
re sich selbst, womit es aber ein geschlossenes System und mithin eine
Einheit ist.
§ 2 Aufbauend auf dem Gedanken dieser Einheit läßt Justinus Chri-
stus als zugleich mit Gott identisches und ihm doch verschiedenes We-
sen auftreten:
¢rc¾n prÕ p£ntwn tîn ktism£twn »Vor allen Geschöpfen als An-
Ð qeÕj gegšnnhke dÚnam…n tina ™x fang hat Gott aus sich eine ver-
˜autoà logik»n, ¼tij kaˆ dÒxa nünftige Kraft erzeugt, welche
kur…ou ØpÕ toà pneÚmatoj toà ¡g…ou vom Heiligen Geiste auch Herr-
kale‹tai, pot d uƒÒj, pot d lichkeit des Herrn, ein andermal
sof…a, pot d ¥ggeloj, pot d Sohn, dann Weisheit, bald Engel,
qeÒj, pot d kÚrioj kaˆ lÒgoj bald Gott, bald Herr und Logos
genannt wird«.2

Hier finden wir eine ganze Reihe von Bezeichnungen für den von Gott
erzeugten Christus. Ebenso wie bei den Gnostikern wird er lÒgoj und
uƒÒj bezeichnet; Ausdrücke, die wir bereits von Philon her kennen.
Aber er wird eben auch als qeÒj angesehen und so mit Gott gleichge-
setzt.
Justinus findet nun ein sehr interessantes Beispiel dafür, wie etwas
aus etwas entstehen kann und sowohl von ihm unterschieden, wie auch
mit ihm gleich sein kann:
¢ll' oÙ toioàton Ðpo‹on kaˆ ™f' »Doch sehen wir denn nicht ähn-
¹mîn ginÒmenon Ðrîmen; lÒgon g£r liche Vorgänge auch bei uns?
tina prob£llontej, lÒgon gen- Wenn wir nämlich ein Wort
nîmen, oÙ kat¦ ¢potom»n, æj (lÒgoj) aussprechen, erzeugen wir
™lattwqÁnai tÕn ™n ¹m‹n lÒgon, ein Wort, ohne damit etwas zu
proballÒmenoi. verlieren, ohne daß also die Ver-
nunft (lÒgoj) in uns weniger
wird.«
3

Sein Beispiel ist die Sprache. In der Tat werden in der Sprache auf-
grund der geistigen Tätigkeit weitere sprachliche Gehalte hervorge-
bracht, ohne daß die Sprache dadurch in ihrer Substanz vermindert
würde; im Gegenteil, sie wird bereichert. Die neuen sprachlichen Ge-

2
Dialogus cum Tryphone 61, 1, 2-6, Übers. P. Hauser
3
Dialogus cum Tryphone 61, 2, 1-4, Übers. P. Hauser

18
Flavius Justinus (100-165)
halte können dabei bezüglich ihres Inhaltes von denen, auf die sie ant-
worten oder von denen sie ausgehen verschieden sein. Dennoch aber
verbleibt das Ganze im mit sich identischen Wesen der Sprache; als
sprachliche Gehalte sind sie Teil desselben Geistes.
§ 3 Dieses Beispiel paßt natürlich deshalb so hervorragend zur Erklärung
der Auflösung des vorliegenden dialektischen Widerspruchs innerhalb des
Ideellen, weil der Geist, den die Sprache bildet, eben das Abbild dieses Ide-
ellen in der Natur ist. Auch diese beiden haben das gleiche Wesen und so ist
das eine das beste Beispiel für das andere. Diese Einheit des Geistigen über-
haupt war Justinus wohl bewußt. So kann er behaupten, daß eben jener
lÒgoj, den die Christen als ihren Christus verehren, derselben Vernunft
(lÒgoj) entspricht, der auch das Denken des Sokrates folgte:
oÙ g¦r mÒnon “Ellhsi di¦ Sw- »Denn nicht allein bei den Griechen
kr£touj ØpÕ lÒgou ºlšgcqh taàta, wurden durch Sokrates vom Logos
¢ll¦ kaˆ ™n barb£roij Øp' aÙtoà diese Dinge ans Licht gebracht, son-
toà lÒgou morfwqšntoj kaˆ ¢nqrè- dern auch bei den Barbaren von
pou genomšnou kaˆ 'Ihsoà Cristoà demselben Logos, als er Gestalt ange-
klhqšntoj nommen hatte, Mensch geworden
war und Jesus Christus hieß.«
4

Daher ist es nicht verwunderlich, daß Sokrates für Justinus eine Art
Christ avant la lettre ist. Zugleich heißt das aber auch – wenn die Dar-
stellung, die wir hier in der Apologia finden nicht von bloßem Kalkül
geprägt ist –, daß das Christentum für Justinus zu einem Teil mit der
platonischen Rationalität zusammenfällt.
§ 4 Es gibt bei Justinus jedoch durchaus auch den rein religiösen
Teil seines Denkens, der immer wieder, wie etwa an der folgenden
Stelle durchscheint:
E„ toàto, œfhn, ™p' ¢nqrwpe…oij »Ich versetzte: „Wenn ich mich
did£gmasin À ™piceir»masin ™p- anschicken würde, den Beweis
ebalÒmhn ¢podeiknÚnai, ¢nascšs- hierfür auf menschlichen Lehren
qai mou oÙk ¨n œdei Øm©j· oder Erwägungen aufzubauen,
dann bräuchtet ihr euch nicht mit
mir abzugeben.“« 5

4
Apologia I, 5, 4, 1-4, Übers. G. Rauschen
5
Dialogus cum Tryphone 68, 1, 4-6, Übers. P. Hauser

19
Flavius Justinus (100-165)
Auch wenn also die Rolle der Vernunft von Justinus so hoch geschätzt
wird, daß Christus als Gott eben diese Vernunft (lÒgoj) ist, so stellt er
doch offenbar keine ganz und gar rational erfaßbare Vernunft dar. Bei
Sokrates stand diese Vernunft eben vor allem im Dienst eines ethischen
Verhaltens. Darüber hinaus hielt er es für überflüssig, metaphysische
Gedanken zu bemühen. Das ist grundsätzlich auch bei Justinus der Fall.
Er hat den Glauben nicht nur an eine göttliche Weltordnung, sondern
zudem noch an die tatsächliche Präsenz Gottes als Mensch in dieser
Welt.
Im Gegensatz zu Sokrates gibt es jedoch bei Justinus an einigen
Stellen eine echte Quelle des Bedürfnisses metaphysischer Überlegun-
gen. Diese Quelle stellen die Sichtweisen der Juden und vor allem der
Gnostiker dar. Den Juden kann er zwar noch dadurch begegnen, daß er
versucht dem Tryphon zu zeigen, er habe die von den jüdischen Pro-
pheten getroffenen Voraussagen Christi nicht richtig gedeutet; er kann
ihm also auf einem theologischen Gebiet begegnen. Die Gnostiker hin-
gegen unterscheiden sich vor allem durch ihre metaphysischen Sicht-
weisen und so er gegen sie argumentiert, was sicherlich an vielen Stellen
implizit der Fall ist – explizit finden sich eher Beschimpfungen –, muß
er seine Ansichten in einer metaphysischen Sprache darlegen.

Natur
i. Die Materie
§ 5 Über die Entstehung der Materie erfahren wir von Justinus sehr
wenig. Es hat den Anschein, als sei er hier nicht von der Auffassung
Platons und platonischen Bibelinterpretation Philons abgewichen, denn
er behauptet sogar, das Alte Testament sei die Quelle der im Timaios
dargelegten Weltentstehungslehre:
“Ina d kaˆ par¦ tîn ¹metšrwn »Damit ihr aber erkennt, daß von
didask£lwn, lšgomen d toà lÒgou unseren Lehrern, wir meinen von
toà di¦ tîn profhtîn, labÒnta dem durch die Propheten vor-
tÕn Pl£twna m£qhte tÕ e„pe‹n, herverkündeten Logos, Platon
Ûlhn ¥morfon oâsan stršyanta den Satz überkommen hat, Gott
tÕn qeÕn kÒsmon poiÁsai, ¢koÚsate habe durch Umwandlung ge-

20
Flavius Justinus (100-165)
tîn aÙtolexeˆ e„rhmšnwn di¦ Mwu- staltlosen Stoffes die Welt ge-
sšwj, toà prodedhlwmšnou prètou schaffen, so hört, was wörtlich
prof»tou kaˆ presbutšrou tîn ™n von Moses gesagt worden ist, der,
“Ellhsi suggrafšwn, di' oá mh- wie schon erwähnt wurde, der
nÚon tÕ profhtikÕn pneàma, pîj älteste Prophet war und früher
t¾n ¢rc¾n kaˆ ™k t…nwn ™dhmi- gelebt hat als alle griechischen
oÚrghsen Ð qeÕj tÕn kÒsmon, œfh Schriftsteller. Durch ihn hat der
oÛtwj· 'En ¢rcÍ ™po…hsen Ð qeÕj prophetische Geist, um kundzu-
tÕn oÙranÕn kaˆ t¾n gÁn. ¹ d gÁ tun, wie und woraus Gott im An-
Ãn ¢Òratoj kaˆ ¢kataskeÚastoj, fange die Welt bildete, also ge-
kaˆ skÒtoj ™p£nw tÁj ¢bÚssou· sprochen: „Im Anfange schuf
kaˆ pneàma qeoà ™pefšreto ™p£nw Gott den Himmel und die Erde;
tîn Ød£twn. kaˆ e pen Ð qeÒj· die Erde aber war noch unan-
Genhq»tw fîj. kaˆ ™gšneto oÛtwj. sehbar und ungeformt, es war
éste lÒgJ qeoà ™k tîn Øpo- Finsternis über dem Abgrunde
keimšnwn kaˆ prodhlwqšntwn di¦ und der Geist Gottes schwebte
Mwusšwj gegenÁsqai tÕn p£nta über den Wassern. Gott aber
kÒsmon, kaˆ Pl£twn kaˆ oƒ taÙt¦ sprach: Es werde Licht, und es
lšgontej kaˆ ¹me‹j ™m£qomen, kaˆ ward so.“ Daß also durch Gottes
Øme‹j peisqÁnai dÚnasqe. Wort aus vorliegenden, von Mo-
ses erwähnten Stoffen die ganze
Welt entstanden sei, das haben
Platon mit denen, welche das
gleiche sagen, und ebenso auch
wir gelernt, und auch ihr könnt
davon überzeugt sein.«6

Wenn sich Justinus dieser Auffassung nun anschließt, dann heißt das,
daß er wie Platon und Philon davon ausgeht, die Materie existiere be-
reits vor der Schöpfung, sei nicht von Gott hervorgebracht sondern
bloß von ihm geformt worden. Das Problem dieser Auffassung haben
wir bereits diskutiert. Gerade das Christentum ist – wie sich im dritten
Band anhand der Gnosis zeigte – nun diejenige Denkrichtung, welche
dieses Problem überwunden hat, indem man hier davon ausgeht, daß
Gott die Materie aus Nichts schuf. Das ist jedoch offensichtlich bei Ju-
stinus noch nicht der Fall, zu sehr scheint er metaphysisch gesehen
noch dem platonisch-philonischen Denken verhaftet zu sein. Hier zeigt

6
Apologia I, 59, 1, 1 – 5, 4, Übers. G. Rauschen

21
Flavius Justinus (100-165)
sich im christlichen Denken also zunächst ein Rückstand gegenüber der
Gnosis was die idealistische Konsequenz angeht.

ii. Der lÒgoj und die Natur


§ 6 Ein Gedanke, mit dem das christliche Denken aber von Beginn an
aufräumt, ist die ebenfalls platonische Vorstellung einer Weltseele, de-
ren Wesen sich in der ewigen Kreisbewegung der Gestirne offenbart.
Das ist für Justinus ganz klar heidnisches Zeug, so daß er selbst den Ju-
den Tryphon folgendes sagen läßt:
fulax£menoj lšgein tÕn ¼lion kaˆ »Hüte dich aber, Sonne und
t¾n sel»nhn, § gšgraptai to‹j Mond zu nennen, deren göttliche
œqnesi sugkecwrhkšnai tÕn qeÕn æj Verehrung nach der Schrift von
qeoÝj proskune‹n· Gott den Heiden zugestanden
worden war!«7

Offenbar sieht er also die Auffassung, in den Gestirnen fände sich die
göttliche Weisheit, die Struktur des Ideellen in höherem Maße verkör-
pert, als dies im Menschen der Fall ist, als eine typisch heidnische an.
Das Christentum habe damit aufzuräumen und muß so folglich auch
auf die Annahme einer in den Gestirnen zur Erscheinung kommenden
Weltseele verzichten.
§ 7 Die Weltseele, der im platonischen Weltbild die Aufgabe zu-
kommt, die Welt zu strukturieren, wird vom lÒgoj abgelöst:
Ð d uƒÕj ™ke…nou, Ð mÒnoj legÒmenoj »Sein Sohn aber, der allein im
kur…wj uƒÒj, Ð lÒgoj prÕ tîn eigentlichen Sinne sein Sohn
poihm£twn kaˆ sunën kaˆ gennè- heisst, der Logos, der vor aller
menoj, Óte t¾n ¢rc¾n di' aÙtoà Schöpfung in ihm war und der
p£nta œktise kaˆ ™kÒsmhse, Cri- gezeugt wurde, als er im Anfange
stÕj alles durch ihn schuf und ordne-
te, wird Christus genannt«.
8

Die Sichtweise, daß der lÒgoj Gott bei der Ordnung der Welt behilflich
ist, haben wir schon bei Philon gefunden. Bei Justinus kommt nun je-
doch der Gedanke noch hinzu, den wir bereits bei Johannes finden

7
Dialogus cum Tryphone 55, 1, 5-7 Übers. P. Hauser
8
Apologia II, 6, 3, 1-4, Übers. G. Rauschen

22
Flavius Justinus (100-165)
konnten, nämlich daß eben dieser lÒgoj als Christus auch eine leibliche
Existenz hatte:
MegaleiÒtera m n oân p£shj »Daher ist offenbar unsere Reli-
¢nqrwpe…ou didaskal…aj fa…netai gion erhabener als jede mensch-
t¦ ¹mštera di¦ toà tÕ logikÕn tÕ liche Lehre, weil der unsertwegen
Ólon tÕn fanšnta di' ¹m©j CristÕn erschienene Christus der ganze
gegonšnai, kaˆ sîma kaˆ lÒgon kaˆ Logos, sowohl Leib als auch Lo-
yuc»n. gos und Seele ist.«
9

Justinus geht natürlich hier nicht sehr weit in der Beschreibung der
leiblichen Existenz des lÒgoj und wir finden keinerlei metaphysische
Reflexion dessen, was es bedeutet, daß die Ideen selbst zu etwas Mate-
riellem werden. Das hat für Justinus ganz berechtigterweise vor allem
eine existentielle Bedeutung, vor der die metaphysische verblaßt. Den-
noch findet sich in seiner Formulierung hier ein interessanter Gedanke.
Nur aufgrund seiner Existenz als sîma kaˆ lÒgon kaˆ yuc»n, also als
Leib, Idee und Seele sei Christus das tÕ logikÕn tÕ Ólon, also das Ganze
der Ideen. Offenbar ist ihm also zumindest bewußt, daß eine Be-
schränkung des Ideellen auf das Reich der Ideen, wie wir es bei den
Gnostikern und auch bei Platon gefunden haben, eine Amputation des-
selben ist. Das Ideelle kann so nur der Möglichkeit nach zur Erschei-
nung kommen und wird dann ein Spielball des Zufalls, wie es Platon
sah. Aber es muß mit Notwendigkeit zur Erscheinung kommen, wenn
es die Ganzheit seiner Möglichkeiten ausschöpfen soll.

iii. Leib und Seele


§ 8 Wir finden bei Justinus einige interessante Gedanken zum Zusam-
menhang von Leib und Seele, die gleichwohl mehr einen intuitiven
Charakter haben, denn Gegenstand einer entwickelten Theorie sind.
Da sie jedoch am Beginn des Christentums stehen, muß diese Ent-
wicklung gar nicht sofort erwartet werden, sondern sie kann durchaus
von den späteren christlichen Denkern nachgereicht werden.
Ein erster und sehr gewichtiger Gedanke zu diesem Thema ist der
einer leiblichen Auferstehung:

9
Apologia II, 10, 1, 1-4, Übers. G. Rauschen

23
Flavius Justinus (100-165)

oŒj k¨n Ðmo…wj ¹m©j ¢podšxasqe, »Soviel wie diese könnt ihr auch
oÙc Âtton ™ke…nwn qeù pisteÚontaj uns gelten lassen, die wir nicht
¢ll¦ m©llon, o‰ kaˆ t¦ nekroÚme- weniger als sie an Gott glauben,
na kaˆ e„j gÁn ballÒmena p£lin sondern mehr, die wir sogar hof-
¢pol»yesqai ˜autîn sèmata fen, daß wir unsere toten und in
prosdokîmen, ¢dÚnaton mhd n e - die Erde gelegten Leiber wieder-
nai qeù lšgontej. erlangen werden, indem wir be-
haupten, daß bei Gott nichts un-
möglich ist.«
10

Der Gedanke der leiblichen Auferstehung, der hier zum Ausdruck ge-
bracht wird, stammt nicht erst aus dem Christentum. Schon in den
prophetischen Schriften des Alten Testamentes tauchte er immer wie-
der auf. Im Christentum jedoch wird er insofern mit einem Male bri-
sant, als es plötzlich einen konkreten Fall einer leiblichen Auferstehung
gibt, nämlich die Christi. Aus einer existentiellen Perspektive wird da-
mit einiges über die Rolle des leiblichen Menschseins gesagt. Auch
wenn das Christentum sich vor allem aus dem leibfeindlichen Plato-
nismus speist, so ist dieses jüdische Element der leiblichen Auferste-
hung zweifelsohne ein Aspekt, der einen neuen Weg eröffnet. Der
Mensch muß sich auch als körperliches Wesen annehmen.
Metaphysisch gesehen ist nun hier die durch die These der leibli-
chen Auferstehung gestellte Forderung die folgende: Die Seele soll
nicht als vom Körper abtrennbar betrachtet werden, sondern mit ihm
eine Einheit bilden. Das macht die Überlegung stark, daß seelisches
Leben nur auf der Basis eines biologischen Lebens möglich ist und daß
damit das platonische Szenario einer er nach der Trennung vom Kör-
per erst wirklich in ihrem Element seienden Seele verabschiedet. Das
Element und die Materie der Seele ist eben ihr Körper. Das Christen-
tum macht hier einen ersten großen Schritt in Richtung Aristoteles.
§ 9 Ein weiterer Gedanke zur Thematik des Verhältnisses von Leib
und Seele überrascht zunächst. Justinus schreibt allen Wesen dieselbe
Seele zu:
P©sai d aÙtÕ di¦ p£ntwn aƒ »Er fragte: „Erfassen aber alle
yucaˆ cwroàsi tîn zèwn, ºrèta, Seelen in allen Lebewesen das-

10
Apologia I, 18, 6, 1-4, Übers. G. Rauschen

24
Flavius Justinus (100-165)
À ¥llh m n ¢nqrèpou, ¥llh d selbe? Oder ist da ein Unter-
†ppou kaˆ Ônou; – OÜk, ¢ll' aƒ schied zwischen der Seele des
aÙtaˆ ™n p©s…n e„sin, ¢pekrin£mhn. Menschen und der des Pferdes
und Esels?“ – „Nein“, antwortete
ich, „in allen sind dieselben See-
len.“«
11

Offensichtlich geht er von der Vorstellung aus, daß es keine verschie-


denen Seelenformen gibt, wie wir das bei Platon und auch Aristoteles
kennengelernt haben, sondern daß es nur einen immer gleichen See-
lentyp gibt. Wie aber kommt es dann zu den Unterschieden zwischen
den Lebewesen? Diese Frage stellt sich auch Justinus und findet darauf
die folgende Antwort:
”Oyontai ¥ra, fhs…, kat¦ tÕn sÕn »„Also“, fährt er weiter, „werden
lÒgon kaˆ taàta t¦ zîa; – OÜ· tÕ auch diese Lebewesen nach dei-
g¦r sîma aÙto‹j, toioàton Ôn, nem Worte an der Anschauung
™mpÒdiÒn ™stin. – E„ l£boien fw- [Gottes] teilhaben?“ – „Nein. Ihr
n¾n t¦ zîa taàta, Øpotucën Körper ist nämlich von der Be-
™ke‹noj, eâ ‡sqi Óti polÝ ¨n eÙlo- schaffenheit, daß er dafür ein
gèteron ™ke‹na tù ¹metšrJ sè- Hindernis bildet.“ Jener wandte
mati loidoro‹nto· ein: „Wenn diese Lebewesen
Sprache erhalten würden, dann
wisse wohl, daß sie mit noch viel
größerer Beredsamkeit über un-
seren Körper schimpfen wür-
den.“«12

Der Körper ist es schließlich, der nach Justinus den Unterschied der
Seelen bedingt. So hindert der Körper der Tiere deren Seelen daran,
zu einer Erkenntnis des Göttlichen in der Lage zu sein.
Im Hintergrund dieser Überlegung scheint doch wieder eine plato-
nische Überzeugung zu stehen. Wenn Justinus davon ausgeht, daß alles
Seelische immer perfekt sein muß, weil es dem Göttlichen wesensgleich
ist, dann kann es nur die Materie und in Folge dessen auch der Kontakt
mit der Materie sein, welcher der an sich perfekten Seele einen Teil ih-
rer Perfektion entzieht. Hier zeigt sich dann jedoch schon im christli-

11
Dialogus cum Tryphone 4, 2, 7-9 Übers. P. Hauser
12
Dialogus cum Tryphone 4, 4, 1-6 Übers. P. Hauser

25
Flavius Justinus (100-165)
chen Denken Justinus’ ein immanenter Widerspruch. Wie kann einer-
seits Christus im materiellen Körper seine Perfektion bewahren und so
eine Brücke zwischen Idee und Natur schaffen, wenn dies andererseits
der Seele unmöglich gemacht werden soll? Justinus’ Verhaftetheit im
platonischen Dualismus von Idee und Materie verstellt ihm den Blick
auf die Einsicht, daß es eben auch verschiedene und niedrigere Typen
von Naturformen – und also auch Seelen – geben kann.

26
Hermes Trismegistos (um 150)
Hermes Trismegistos (um 150)
Auch hier wieder werde ich, wie schon im dritten Band bei Eugnostos,
die philologische Todsünde begehen und das Corpus Hermeticum ei-
nem konkreten Autor zuschreiben, obschon es sich nach Ansicht der
Experten in Sachen Philologie dabei um eine Textsammlung handelt.
Uns geht es hier um den Inhalt und der jedenfalls hängt bei diesem
Werk so eng zusammen, als stamme er von einem einzigen Autor. Die
große Schwierigkeit, vor die uns dieses Werk stellt, ist seine zeitliche
Einordnung. Die Zeit erschließt sich dabei – wenn überhaupt – über
den Raum. In diesem Werk treffen die platonische Philosophie, Spu-
ren der ägyptischen Religion, Gedanken Philons mit christlich-
gnostischen Ansätzen zusammen. Dies kann in der Antike nur an ei-
nem einzigen Ort geschehen sein; nämlich in Alexandria, wo alle diese
Kulturen nicht nur präsent, sondern auch überaus aktiv waren. Die Mit-
te des zweiten Jahrhunderts ist eben diejenige Periode, in die jene Tex-
te meines Erachtens am besten passen. Es gibt zwei Beschränkungen
dafür, den Texten einen späteren Ursprung zuzuschreiben. Der erste ist
die gewaltige Leistung des Neuplatonismus, den wir noch kennenler-
nen. Die hermetischen Schriften fallen vom Niveau und Ideenreichtum
her hinter den Neuplatonismus zurück und müssen so fast schon vor
ihm entstanden sein, wollte man ihrem Autor nicht zuschreiben, er ha-
be seine platonischen Schulfreunde bewußt ignoriert. Eine weitere Be-
schränkung ist die Entwicklung der christlichen Philosophie, die gegen
Ende des zweiten Jahrhunderts bereits Positionen herausarbeitet, zu
denen Hermes zumindest Stellung bezogen hätte, wären sie ihm be-
kannt gewesen. Insgesamt erscheinen die hermetischen Schriften als
der Versuch, die Vielfalt der damaligen Ansätze aus einer platonischen
Perspektive zu einer Synthese zu bringen.

Ideen
§ 10 Das platonische Gedankengut bei Hermes läßt sich dort am deut-
lichsten ausmachen, wo er Gott als den Ausgangspunkt des Seins mit
dem Einen gleichsetzt. Er beschreibt uns in seiner Darstellung des gött-

27
Hermes Trismegistos (um 150)
lichen Wesens eben jenen Widerspruch des Einen, den wir auch in
Platons Parmenides finden konnten und zu dessen Erklärung wir dann
auch einen Ansatz bei Eudoros finden konnten. Die Widersprüche
finden wir zwar bei Hermes, auflösen tut er sie aber nicht für uns, das
müssen wir mit unserem platonischen Hintergrundwissen schon selbst
leisten.
Zunächst finden wir in einem von Apuleius ins Lateinische übersetz-
ten Dialog, der dem Corpus Hermeticum zugerechnet wird, eine ganz
eingängige Definition des Wesens Gottes:
haec ergo est, quae ex se tota »Das also ist das Wesen Gottes,
est, natura dei. ganz aus sich selbst heraus zu
sein.«
13

Gott ist also wesentlich mit sich selbst beschäftigt, er definiert und kon-
stituiert sich selbst. Hieraus nun wird an späterer Stelle in diesem Dia-
log hergeleitet, daß Gott eben ein für uns ganz und gar unfaßbares We-
sen sein muß und schließlich eben auch nicht aus sich selbst heraus be-
stehen können soll:
hoc ergo quod est tale, quod »Was folglich derart ist, daß es
non subicitur sensibus, infini- nicht den Sinnen unterliegt, ist
tum, incomprehensibile, inae- unendlich, unverständlich, unbe-
stimabile est, nec fubstineri, rechenbar und kann weder [aus
nec ferri, nec indagari potest. sich selbst heraus] vorhanden
Unde enim, et quo, et ubi, aut sein, noch [von anderem] getra-
quomodo, aut quale fit, incer- gen werden, noch erforscht wer-
tum est. fertur enim en summa den. Es ist nämlich nicht sicher
stabilitate, et in ipso stabili- woher er [Gott] kommt, wohin er
tas sua, seu deus, seu aeterni- geht, wo er ist, auf welche Weise
tus, seu uterque, seu alter in er ist, noch was er ist. Er wird
altero, seu uterque in uterque. nämlich von einer höchsten Be-
ständigkeit getragen und in dieser
seiner Beständigkeit, ist er ent-
weder Gott oder Ewigkeit oder
beides, oder das eine im anderen
oder beides in beidem.« 14

13
Apuleius, Asclepius VII
14
Apuleius, Asclepius XI

28
Hermes Trismegistos (um 150)
Gott ist als ideelle Größe eben den Sinnen nicht zugänglich und daher
mit unseren Maßen nicht zu messen; ein Argument, welches wir Her-
mes hier zunächst durchaus zugestehen wollen. Wie aber sieht es mit
der Frage nach der Substantialität Gottes aus? Zunächst besteht er aus
sich selbst heraus und wenige Seiten später schon nicht mehr. Wie
kann das sein? Wenn wir den hermetischen Gott hier als das platoni-
sche Eine denken, dann können wir diesen Widerspruch schnell auflö-
sen. Wir haben ja bei Platon bereits die Überlegung kennengelernt, daß
das Eine zwar einerseits ist, daß es aber andererseits das Sein nicht an
sich haben kann, weil Eines und Sein eine Vielheit konstituieren wür-
den. Verstehen wir also Hermes Negation der Substantialität Gottes
hier als ein Unterstreichen seiner Einheit, als etwas herausragendes und
nicht als Defizit.
§ 11 Hatten wir eben jedoch noch mit Hermes festgestellt, daß wir
Gott nicht verstehen können, so stellt das in einem anderen Dialog ganz
anders dar. Hier ist es vielmehr Gott, der sich nicht versteht, während
wir ihn verstehen können:
nohtÕj g¦r prîtoj Ð qeÒj ™stin »Denn der erste Gott ist versteh-
¹m‹n, oÙc ˜autù· tÕ g¦r nohtÕn tù bar für uns, nicht sich selbst.
nooànti a„sq»sei Øpop…ptei· Ð qeÕj Denn das Verständliche gelangt
oÙkoàn oÙc ˜autù nohtÒj· oÙ g¦r durch die Sinne zu demjenigen,
¥llo ti ín toà nooumšnou Øf' ˜au- der es versteht. Folglich ist Gott
toà noe‹tai· ¹m‹n d ¥llo t… ™sti· sich selbst nicht verständlich:
di¦ toàto ¹m‹n noe‹tai. denn für ihn selbst ist das Ver-
stehende dem Verstehenden
nicht etwas anderes. Aber für uns
ist es etwas anderes: Deswegen
können wir ihn verstehen.« 15

Gott versteht sich selbst nicht. Wenn wir nun davon ausgehen, daß die-
ser Gott ein alles überragendes Wesen sein muß, wie kann es dann als
ein Ausdruck seiner Überlegenheit verstanden werden, daß er sich
selbst nicht versteht? Wenn wir von einem Menschen sagen, er verste-
he sich selbst nicht, dann ist das ja durchaus abschätzig. Aber im Blick
auf Platons Begriff des Einen wird schnell klar, wie sich Hermes das

15
Dialogus 5, 3 – 6, 2

29
Hermes Trismegistos (um 150)
denkt. Gott kann sich eben nicht selbst Objekt werden, denn er kennt
keine Trennung von Subjekt und Objekt. Das aber ist kein Mangel,
sondern ein Vorzug Gottes gegenüber den Menschen. Als Eines ist sei-
ne Subjektivität immer schon objektiv. Jede Distanz zu sich selbst wür-
de eine Vielheit konstituieren.
§ 12 Das Verstehen ist demnach etwas dem Wesen des Einen und
dem Wesen Gottes Nachrangiges. Indem wir Gott verstehen, verstehen
wir ihn nicht als das Eine, sondern als eine Vielheit. Wir verstehen ihn
also nicht wirklich. Aber zugleich trifft es auch auf das göttliche Eine
nicht vollends zu, daß es sich nicht versteht. Die Stellung des Einen jen-
seits von Subjektivität und Objektivität konstituiert eben jene wider-
sprüchliche Struktur, die wir bereits in Platons Parmenides kennenge-
lernt haben. Denn wir können vom Einen nicht konsequent sagen, es
verstehe sich nicht. Es versteht sich zwar nicht als Eines, aber indem
sich versteht – dieser Gedankengang ist uns schon bei einigen Denkern
der Gnosis begegnet – bringt es eben eine Vielheit aus sich hervor und
hört auf Eines zu sein:
Ð oân qeÕj oÙ noàj ™stin, a‡tioj d »Denn Gott ist nicht die Ver-
toà <noàn> e nai, oÙd pneàma, nunft, sondern die Ursache der-
a‡tioj d toà e nai pneàma, oÙd selben und auch nicht der Geist,
fîj, a‡tioj d toà fîj e nai. sondern die Ursache des Geistes
und nicht das Licht, sondern die
Ursache des Lichtes.«
16

Der noàj, das Reich der Ideen also, in dem die Möglichkeit des Verste-
hens logisch konstituiert wird, wird erst vom Einen, von Gott hervorge-
bracht. Auch das ist eine Auffassung, mit der sich Hermes in die plato-
nische Denktradition stellt.
§ 13 Hermes bringt nun aber noch ein drittes Element ins Spiel. Er
führt den Begriff eines Sohnes Gottes ein, den lÒgoj, den wir in eben
dieser Form bereits im dritten Band bei Philon kennengelernt haben
und der dann zur Grundlage des christlichen Denkens geworden ist.
Wir finden dies in seinem Dialog Poimandres, wo der Figur Poi-

16
Dialogus 14, 2-4

30
Hermes Trismegistos (um 150)
mandres die Rolle des göttlichen Geistes zukommt, welcher den Her-
mes belehrt:
TÕ fîj ™ke‹no, œfh, ™gë Noàj Ð »„Dieses Licht“, sagte er, „das bin
sÕj qeÒj, Ð prÕ fÚsewj Øgr©j tÁj ich, die Vernunft, dein Gott, der
™k skÒtouj fane…shj· Ð d ™k NoÕj vor dem Wesen des Feuchten,
fwteinÕj LÒgoj uƒÕj qeoà. – T… welches aus dem Dunkel heraus-
oân; fhm…. – OÛtw gnîqi· tÕ ™n soˆ tritt, da war: Das leuchtende
blšpon kaˆ ¢koàon, lÒgoj kur…ou, Ð Wort aber, das aus der Vernunft
d noàj pat¾r qeÒj. oÙ g¦r di…stan- stammt, ist der Sohn Gottes.“ –
tai ¢p' ¢ll»lwn· ›nwsij g¦r toÚ- „Wie nun?“, sagte ich. – „Wisse
twn ™stˆn ¹ zw». dieses: Das, was in dir sieht und
hört, ist das Wort des Herrn, die
Vernunft aber, das ist Gott der
Vater. Denn sie sind nicht von-
einander getrennt: Denn die
Einheit ist ihr Leben.“«17

Die Ähnlichkeit dieser Passage mit dem Anfang des Johannesevangeli-


ums könnte hier Anlaß zu Spekulationen darüber geben, ob sich Her-
mes explizit mit christlichem Gedankengut auseinandergesetzt habe. Es
ist jedoch wenig wahrscheinlich, daß er Johannes’ Text, der in Ephesos
entstanden ist, kannte. Viel naheliegender ist hier, daß diese beiden me-
taphysischen Ansätze eine damals im hellenistischen Sprach- und Den-
kraum äußerst populäre Auffassung zu Papier gebracht haben, der sie
jeweils ihre ganz besondere eigene Note beimischten. Die Note des Jo-
hannes haben wir bereits diskutiert; sie besteht vor allem darin, einen
metaphysischen Christus hervorzubringen, der eine Brücke zwischen
Gott und Materie in der Art schaffen soll, daß der Dualismus zwischen
beiden zum Verschwinden gebracht wird. Hier ist Hermes, wie wir
noch sehen werden, viel weniger konsequent.
Für ihn ist vielmehr, wie sich hier schon andeutet, das Moment der
Emanation aus dem göttlichen Einen das Entscheidende. Zunächst
wird, wie wir oben erfahren haben, der noàj, die Vernunft aus dem Ei-
nen entlassen, dann aber bildet es erneut eine Einheit mit ihm, wird
hier gar mit ihm gleichgesetzt. Im folgenden Schritt, den wir hier vor

17
Poimandres 6, 2-8

31
Hermes Trismegistos (um 150)
uns haben, wird dann der lÒgoj, als eine Art konkreter und offenbar –
wie im Christentum und bei Philon – in der Welt tätiger noàj hervorge-
bracht. Dieser lÒgoj ist es, der uns Menschen die Welt verstehen läßt.
Aber auch dieser lÒgoj befindet sich dann letztlich wieder in einer Ein-
heit mit Gott. Sehen wir uns also an, was in der Folge aus diesem lÒgoj
an weiteren Wesenheiten hervorgebracht wird. Mehr Strukturen des
Ideellen als noàj und lÒgoj finden wir bei Hermes nicht. Seine Ausfüh-
rungen zum Ideellen bleiben so mehr oder weniger oberflächlich. In-
teressanter sind dann aber seine Versuche, die Entstehung der Natur
aus diesem Ideellen zu erklären.

Natur
i. Die Entstehung der Welt aus Gott
§ 14 Hermes beschreibt uns eine Entstehung der Welt aus dem göttli-
chen Einen, die streng dem Prinzip einer Emanation folgt. Bevor wir
uns jedoch den von ihm angeführten Stufen dieser absteigenden Ent-
wicklung widmen, lohnt sich zunächst ein kurzer Blick auf das generelle
Verhältnis von Gott und Welt. In einem Dialog mit der den Titel
»Kle…j« (Schlüssel) trägt, finden wir dazu folgende Ausführung:
¹ g¦r toÚtou ™nšrgeia ¹ qšlhs…j »Die Wirkkraft Gottes aber ist
™sti kaˆ ¹ oÙs…a aÙtoà tÕ qšlein sein Wille und sein Wesen ist es,
p£nta e nai. t… g£r ™sti qeÕj kaˆ zu wollen, daß alles sei. Denn was
pat¾r kaˆ tÕ ¢gaqÒn, À tÕ tîn ist Gott und Vater und das Gute
p£ntwn e nai oÙkšti Ôntwn anderes als das Sein von allem,
was noch nicht ist?«
18

Zunächst klingt es so, als lege Hermes hier die uns von Aristoteles be-
kannte Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit an das
Verhältnis von Gott und Welt an. Die Wirklichkeit Gottes besteht in
dessen ™nšrgeia, in dessen aktiv werden in der Welt, während er ohne
diese Aktivität bloße Möglichkeit ist, das Sein des noch nicht Seienden.
Daraus könnte man dann herleiten, daß Gott selbst auch erst mit der
Hervorbringung der Welt oder zumindest mit seiner Aktivität in der

18
Kle…j 2, 1-4

32
Hermes Trismegistos (um 150)
Welt zu einem wirklichen Wesen wird. Das ist jedoch meines Erach-
tens zu aristotelisch gedacht, um es dem Platoniker Hermes zuzu-
schreiben. Viel näher liegt hier die folgende Auffassung: Zwar existiert
Gott als Eines auch ohne sein Tun in der Welt, aber diese Existenz ist
eben eine reine Einheit, die sich mit den Kategorien des noàj oder des
lÒgoj nicht erfassen läßt. Darüber hinaus liegt aber auch alles weitere,
wie die Ideen und Naturformen in Gott bereit.
§ 15 Den Übergang von Gott als dem Einen in die Vielheit der Din-
ge in der Welt finden wir in sehr kondensierter Form in folgendem
Dialogausschnitt:
E dej ™n tù nù tÕ ¢rcštupon e doj, »„Du hast im Geist die Urform
tÕ pro£rcon tÁj ¢rcÁj tÁj ¢p- gesehen, die Vorform, noch vor
er£ntou· taàta Ð Poim£ndrhj ™mo…. dem Prinzips des Unendlichen.“
– T¦ oân, ™gè fhmi, stoice‹a tÁj Dieses sagte mir Poimandres. –
fÚsewj pÒqen Øpšsth; – p£lin „Woraus nun“, sagte ich, „beste-
™ke‹noj prÕj taàta, 'Ek boulÁj hen die Elemente der Natur?“ –
qeoà, ¼tij laboàsa tÕn LÒgon kaˆ Darauf sagte jener: „Aus dem
„doàsa tÕn kalÕn kÒsmon ™mim»sa- Willen Gottes, der das Wort
to, kosmopoihqe‹sa di¦ tîn ˜autÁj nehmend und die schöne Welt
stoice…wn kaˆ gennhm£twn yucîn. betrachtend, diese nachahmt und
so aus seinen Elementen und den
Keimen der Seele das Universum
erschuf.“«
19

Zunächst erhalten wir neuerlich eine Charakterisierung vom Einen. Es


wird als dasjenige Prinzip gesehen, das noch vor dem Prinzip der Un-
endlichkeit steht. Diese Darstellung ist sehr spärlich, aber wir können
ihr dennoch einen Sinn abgewinnen: Die Form des Unendlichen ist die
des noàj, der insofern unendlich ist, als er sich selbst definiert und so
absolut und durch nichts beschränkt ist. Und das Eine ist eben das, was
noch vorher da ist, als schlechthinnige Einheit dieses noàj, der an sich
eine Vielheit von Ideen ist.
Hieraus nun soll die Welt entstehen. Das geht nach Hermes wie
folgt: Gott betrachtet den lÒgoj und die Welt des Schönen, mit der
nichts anderes als der noàj, das Reich der Ideen gemeint sein kann. Aus

19
Poimandres 8, 2-7

33
Hermes Trismegistos (um 150)
diesen stellt er dann das Universum her. Die Geschichte kommt uns
bekannt vor, denn ihre Handlung findet sich ebenso in Platons Ti-
maios; allerdings aber mit dem sehr bedeutsamen Unterschied, der
Hermes ganz und gar auf Distanz zur christlichen Gnosis bringt, daß
hier der dhmiourgÒj zugleich der höchste Gott und das Eine ist. Er ist
weder ein Handlanger der Ideen, der wie bei Platon unter diesen steht,
noch ist er gar ein Abtrünniger in den Sachen des Ideellen, wie der
dhmiourgÒj der Gnostiker.
Darüber hinaus aber ist diese Weltentstehung eine ganz und gar
merkwürdige, denn die Hilfsmittel stammen alle aus dem Einen. Der
noàj stammt aus dem Einen, aus dem noàj stammt der lÒgoj und die
Betrachtung eben desselben, des Abbildes seines Abbildes eben, ver-
anlaßt Gott die Welt zu erschaffen. Der Selbstbezug des Einen erzeugt
die Ideen, die aber sofort in die Einheit mit dem Einen zurückfallen.
Ihre Vielheit und damit ihr Bestand als selbständige Größen wird erst
durch den lÒgoj gewährleistet, der als Wort gegenüber dem Gedanken
so etwas wie das Selbe als Anderes, derselbe Gedanke aber in geäußer-
ter Form ist. Bezogen auf das Eine stellt dieses immer noch eine Ein-
heit dar. Aber das Eine kann nun auch die Vielheit in dieser Struktur
erkennen und ihr eine eigenständige Wesenheit zuteilen, die Welt. Die
Welt wird so als Idee im Ideenreich angelegt, bevor sie wirklich ent-
steht.

›n

noàj lÒgoj

Die Welt ist diejenige Hinsicht, die das Eine bezüglich des lÒgoj an-
nimmt, insofern es ihn als das andere des noàj, als das äußerliche am
geäußerten noàj betrachtet.

34
Hermes Trismegistos (um 150)
§ 16 Daß dann die Elemente dazu aus dem Ideellen kommen, ist
dabei wenig wundersam. Die Welt wird eben aus Ideen erzeugt. Her-
mes beschreibt uns diese Elemente ganz knapp:
™p»dhsen eÙqÝj ™k tîn katwferîn »Sofort kam aus den herunterge-
stoice…wn [toà qeoà] Ð toà qeoà sunkenen Elementen [Gottes]
LÒgoj e„j tÕ kaqarÕn tÁj fÚsewj das Wort Gottes zum Zweck ei-
dhmioÚrghma, kaˆ ¹nèqh tù dh- nes reinen Werkes der Natur
miourgù Nù (ÐmooÚsioj g¦r Ãn), hervor und wurde mit dem schaf-
kaˆ katele…fqh [t¦] ¥loga t¦ fenden Geist vereinigt (denn sie
katwferÁ tÁj fÚsewj stoice‹a, waren gleichen Wesens) und die
æj e nai Ûlhn mÒnhn. unverständigen in die Natur her-
untergesunkenen Elemente wur-
den als bloße Materie zurückge-
lassen.«
20

Der lÒgoj wird hier, wie oben in der schematischen Darstellung bereits
angedeutet, in zwei Teile zerteilt. Der eine Teil ist derjenige, der zur
Einheit mit dem noàj zurückfindet und so ein Teil des Ideenreiches
bleibt. Der andere Teil jedoch bleibt außerhalb des Ideenreiches, er-
mangelt so der einigenden Kraft des Einen und zerfällt in eine Vielheit.
Diese Vielheit bezeichnet Hermes hier als Ûlh. Der Sichtweise eines
konsequenten Idealismus kommt eine solche Entstehung der Materie
aus dem Ideellen sehr entgegen. Wenn auch Hermes’ Argumentation
hier sehr metaphorisch und lückenhaft ist, so lassen sich die grundle-
genden Argumente doch nachreichen. Das Ideelle versucht immer
wieder alles aus ihm als logischer Struktur Entstehendes in sich zurück-
zubinden, es als Teil seiner selbst zu sehen. Diese Selbstprinzipiierung
ist sein Wesen; seine Begriffe sind eben reflexiv. Aber im Zuge einer
solchen Genese von Strukturen, entstehen eben auch solche, die diese
Reflexivität nicht aufweisen. Und dies sind eben diejenigen Strukturen,
die man als die der Materie bezeichnen muß. Sie kennen das schlecht-
hin andere, das aus sich heraus zu keiner Einheit mit seinen Gegensät-
zen, ja gar mit dem ihm Ähnlichen und Wesensgleichen in der Lage ist.
§ 17 Allein damit ist noch nicht die Materie als solche hergeleitet,
sondern erst einmal nur deren Struktur. Während nun ein konsequen-

20
Poimandres 10

35
Hermes Trismegistos (um 150)
ter Idealismus auf eine dem Ideellen gegenüber eigenständige Materie
ganz verzichten würde, taucht diese bei Hermes – soviel können wir
hier vorwegnehmen – dann doch wieder auf. Das aus dem Ideellen
Emanierte ist mithin für ihn noch nicht die Materie selbst.
Eine ausführlichere Darstellung des Stufengangs dieser Emanation
finden wir in folgender Textstelle:
”Akoue, ð tšknon, æj œcei Ð qeÕj »Höre, o Sohn, was es mit Gott
kaˆ tÕ p©n. <Ð> qeÒj, Ð a„èn, Ð und dem All auf sich hat. Gott,
kÒsmoj, Ð crÒnoj, ¹ gšnesij. Ð qeÕj die Ewigkeit, das Universum, die
a„îna poie‹, Ð a„ën d tÕn kÒsmon, Zeit, das Entstehen. Gott hat die
Ð kÒsmoj d crÒnon, Ð crÒnoj d Ewigkeit gemacht, die Ewigkeit
gšnesin. toà d qeoà ésper oÙs…a das Universum, das Universum
™stˆ [tÕ ¢gaqÒn, tÕ kalÒn, ¹ die Zeit, die Zeit das Entstehen.
eÙdaimon…a,] ¹ sof…a· toà d Gleichwie das Wesen Gottes das
a„înoj ¹ tautÒthj· toà d kÒsmou Gute, das Schöne, die Glücksee-
¹ t£xij· toà d crÒnou ¹ metabol»· ligkeit, die Weisheit ist; das der
tÁj d genšsewj ¹ zw¾ kaˆ Ð Ewigkeit aber die Identität; das
q£natoj. ™nšrgeia d toà qeoà noàj des Universums die Ordnung;
kaˆ yuc»· toà d a„înoj diamon¾ das der Zeit die Veränderung;
kaˆ ¢qanas…a· toà d kÒsmou das des Entstehens das Leben
¢pokat£stasij kaˆ ¢ntapokat£- und der Tod. Die Wirklichkeit
stasij· toà d crÒnou aÜxhsij kaˆ Gottes ist Geist und Leben; die
me…wsij· tÁj d genšsewj poiÒthj der Ewigkeit ist Dauer und Un-
<kaˆ posÒthj>. sterblichkeit; die des Universums
ist Wiederherstellung und Zer-
fall; die der Zeit Vermehrung
und Verminderung; die des Ent-
stehens ist Qualität und Quanti-
tät.«
21

Zunächst einmal müssen wir uns die Glieder dieser Emanationskette


genau ansehen. Über das erste Glied, Ð qeÒj, haben wir schon zur genü-
ge gesprochen. Im zweiten Glied, der Ewigkeit, Ð a„èn, können wir
meines Erachtens die Ideen erkennen. Dafür lassen sich zwei Gründe
anführen. Zum einen sind die Ideen eben das, was zunächst von Gott
hervorgebracht wird. Zum anderen ist ihr Wesen die Identität, denn

21
Noàj prÕj `ErmÁn 2, 2-12

36
Hermes Trismegistos (um 150)
durch ihre Selbstprinzipiierung haben sie ihre Identität aus sich selbst.
Nun treffen viele der in dieser Kette als Wesen genannten Prädikate
auf die Ideen zu; allein die Identität tut das nach der Auffassung Her-
mes’ in besonderer Weise, denn die Ideen sind, wie wir oben festge-
stellt haben, dadurch von den anderen Formen unterschieden, daß sie
immer wieder in die Einheit mit dem Einen zurückgenommen werden
können. Der Begriff der Ordnung, der sicherlich auch auf die Ideen
zutrifft, trifft darüber hinaus aber auch auf die Formen der Naturdinge
zu. Es ist ja auch zu erwarten, daß das Resultat der Emanation solche
Prädikate aufweist, die auch in dessen Ursprung bereits vorhanden
sind. Zugleich können wir feststellen, daß die Wirklichkeit eines Glie-
des eben in dem nach ihm kommenden Glied besteht. Ist die Wirk-
lichkeit (™nšrgeia) Gottes der noàj, so ist das nichts anderes als die Ide-
en.
Um den Überblick nicht zu verlieren, lohnt es sich, diese Stufen
und die folgenden in einem Schema zu betrachten.

oÙs…a ™nšrgeia
qeÒj
noàj

tautÒthj a„èn
diamon¾

t£xij kÒsmoj
¢pokat£stasij

metabol» crÒnoj
aÜxhsij

zw¾, q£natoj gšnesij


poiÒthj

Wir sehen hier zunächst die Sphäre des Ideellen und dieser nachge-
ordnet die Sphäre der Natur, zu der wir nun kommen.
§ 18 Das dritte Glied nun, Ð kÒsmoj, steht ganz offensichtlich für die
Naturformen. Sein Wesen ist die Ordnung, die es den Dingen in der

37
Hermes Trismegistos (um 150)
Welt gibt. Zugleich ist es die ™nšrgeia der Ideen, die hier als Dauer und
Unsterblichkeit bezeichnet wird, denn die Naturformen sind das Dau-
erhafte und Beständige in der Welt. Dasjenige nun, was aus den Natur-
formen als Resultat von deren Emanation entsteht, das Veränderliche
in der Natur, faßt Hermes hier ganz allgemein als die Zeit, Ð crÒnoj. Er
bringt damit etwas ins Spiel, was in dieser Logik der Naturformen
schwer zu fassen ist. Warum soll denn die Zeit durch die Formen her-
vorgebracht werden? Weil man nur an den Naturformen die Verände-
rung der Dinge erkennen kann. Ohne sie wäre alles bloße eigen-
schaftslose und so gleichbleibende Materie. In dieser Veränderung, die
sich dann immer als Vermehrung oder Verminderung ausdrückt,
kommt dasjenige zum Vorschein, was vermehrt oder vermindert wird,
nämlich die Eigenschaften der Dinge und der Zahl, die das Entstehen,
¹ gšnesij, derselben ausmachen.
Doch gerade dieser letzte Teil dieser Argumentation ist meines Er-
achtens problematisch. Einige der drei genannten Elemente, Zeit, Ver-
änderung oder Eigenschaften erscheinen als überflüssig. Die Zeit ist ei-
ne bloße Abstraktion der Veränderung, die Veränderung eben immer
die Veränderung von Eigenschaften und die Eigenschaften drücken
nichts anderes aus, als die Präsenz der Naturformen.
Setzt man als nächstes Glied nach den Formen dasjenige des Ver-
änderlichen ein, dann läßt sich die Argumentation wie folgt vorantrei-
ben: Das Veränderliche kann erst dadurch entstehen, daß es Formen
gibt, deren Wesen Herstellung zu etwas und Zerfall von etwas ermögli-
chen. Dieses Veränderliche ist dann aber nicht die Materie selbst, son-
dern eine Art von Form unter der Form, in der wir aber durchaus die
Materie als Prinzip erkennen können. Die Materie als Prinzip ist ja
nicht Materie schlechthin, sondern immer jeweils die spezifische Mate-
rie, auf der eine jede Form aufbaut, aus der das sie tragende Naturwe-
sen entsteht. Letztlich ist damit gesagt, daß jede Form sich wieder in ei-
nem Wesen ausdrücken muß, das selbst eine bestimmte Form hat.
Dieses Materieprinzip ist es dann, das an sich Ursache der Verände-
rung und des Entstehens ist. Diesem Regreß muß aber letztlich dann
eine prima materia zugrundeliegen, die selbst nicht mehr zerlegbar ist,
sondern bei der es nur noch den Unterschied von Sein oder Nichtsein,

38
Hermes Trismegistos (um 150)
deren Wesen in Hermes’ Worten ¹ zw¾ kaˆ Ð q£natoj sind. Hier haben
wir dann nur zwei Stufen und folglich auf eines der bei Hermes auftau-
chenden Elemente verzichtet.
§ 19 In einer weiteren Betrachtung dieser Begriffe, die man einige
Zeilen später findet, zeigt sich das Wesentliche unserer Kritik darin,
daß Hermes den Fokus in der Tat reduziert und nur die von uns ange-
sprochenen Glieder beibehält:
kaˆ toà m n a„înoj [¹] yuc¾ Ð qeÒj, »Und die Seele der Ewigkeit ist
toà d kÒsmou Ð a„èn, tÁj d gÁj Ð Gott, die der Welt aber die
oÙranÒj. kaˆ Ð m n qeÕj ™n tù nù, Ð Ewigkeit, die der Erde der Him-
d noàj ™n tÍ yucÍ, ¹ d yuc¾ ™n tÍ mel. Und Gott ist im Geist, der
ÛlV· Geist in der Seele und die Seele
in der Materie.«
22

Hier wird nur noch die Vierheit von Gott als dem einen, dem noàj als
den Ideen, der yuc», der Weltseele als den Naturformen und der Ma-
terie beibehalten; eine Einteilung die uns von Platon her bereits wohl
bekannt ist. Das Interessante bei Hermes ist so vor allem die Wieder-
entdeckung jener platonischen Lehre in einem neuen Gewand, das als
solches zu Denkgrundlage vieler nachfolgender Denker geworden ist.

ii. Die Materie im ideellen Raum


§ 20 Die materielle Welt wird von Hermes zunächst als im göttlichen
Wesen befindlich gesehen:
toàton oân tÕn trÒpon nÒhson tÕn »Denk dir Gott auf diese Weise,
qeÒn, ésper no»mata p£nta ™n daß er, gerade so wie er alle Ge-
˜autù œcein, tÕn kÒsmon, ˜autÒn, danken in sich hat, so auch sein
<tÕ> Ólon. Universum als ganzes.«23

Die Welt existiert also in Gottes Geist, wie auch die Gedanken darin
existieren. Was liegt hier näher, als daraus zu schließen, daß dann auch
diese in einem geistigen Raum existierende Welt rein geistig sein muß?

22
Noàj prÕj `ErmÁn 4, 5-7
23
Noàj prÕj `ErmÁn 20, 2-4

39
Hermes Trismegistos (um 150)
Zur Veranschaulichung dieses Gedankens – ein Umstand, der zeigt,
daß auch Hermes sich nicht ganz leicht damit tat – finden wir ein sehr
interessantes Beispiel:
p£nta ™stˆn ™n tù qeù. oÙc æj ™n »Alles ist in Gott. Nicht, wie an
tÒpJ ke…mena (Ð m n g¦r tÒpoj kaˆ einem Ort liegend (denn der Ort
sîm£ ™sti, kaˆ sîma ¢k…nhton, ist auch körperlich und der Kör-
kaˆ t¦ ke…mena k…nhsin oÙk œcei)· per unbeweglich und das Liegen-
ke‹tai g¦r ¥llwj ™n ¢swm£tJ de hat keine Bewegung); denn es
fantas…v. nÒhson tÕn perišconta ist anders im Unkörperlichen als
t¦ p£nta kaˆ nÒhson Óti toà in der Vorstellung. Denk dir, daß
¢swm£tou oÙdšn ™sti perioristi- es alles umfaßt und denk dir, daß
kÒn, oÙd tacÚteron, oÙd du- es nichts Umfassenderes, nichts
natèteron· aÙtÕ d p£ntwn kaˆ Schnelleres, nichts Mächtigeres
¢periÒriston kaˆ tacÚtaton kaˆ gibt als das Unkörperliche. Es
dunatètaton. übersteigt alles in Fassungsver-
kaˆ oÛtw nÒhson ¢pÕ seautoà, mögen, Geschwindigkeit und
kaˆ kšleusÒn sou tÍ yucÍ e„j 'In- Kraft.
dik¾n poreuqÁnai, kaˆ tacÚterÒn Und so bedenke bei dir selbst
sou tÁj keleÚsewj ™ke‹ œstai. und befehle deiner Seele nach
Indien zu eilen und schneller als
du es befohlen hast, wird sie dort
sein.«
24

Das Ideelle und Unkörperliche umfaßt alles und die materiellen Dinge
sind in ihm nicht wie Dinge in einem Gefäß, sondern wie Gedanken in
einer Gedankenwelt. Um diese Überlegenheit des Unkörperlichen
über das Materielle zu zeigen, verweist uns Hermes auf die Möglichkeit,
in Gedanken durch die Welt zu reisen. Hier erscheint das Materielle
uns als vergeistigt und beugt sich beliebig vor dem Willen des Geistes.
Auch paßt es offenbar in seiner Gänze in unseren Geist. Und nun muß
man sich nur vorstellen, daß der alles umfassende göttliche Geist noch
umfangreicher und persistenter ist, und schon wird zumindest meta-
phorisch klar, daß man durchaus davon ausgehen kann, daß die materi-
elle Welt sich in etwas Ideellem befindet.
§ 21 Um das idealistische Argumentationsziel nachdrücklicher zu
erreichen, wäre meines Erachtens jedoch gerade die umgekehrte Ar-

24
Noàj prÕj `ErmÁn 18, 2 – 19, 3

40
Hermes Trismegistos (um 150)
gumentationsrichtung aussichtsreicher. Nicht unbedingt der Umstand,
daß wir die Welt in unseren Geist aufnehmen können und daß darum
ein übergeordneter Geist, ja das Ideelle schlechthin, dies noch besser
können muß, weist auf die Idealität der Natur hin, sondern viel eher
doch der Umstand, daß aus dem Materiellen etwas Geistiges zu erwach-
sen vermag. Daß nicht nur der Geist das Materielle aufzunehmen ver-
mag, sondern auch umgekehrt das Materielle aus sich in geistige Wesen
mündet, das zeigt zumindest, daß die materielle Welt dem Geistigen
nicht ganz fremd ist. Und von hier ausgehend kann man sich dann fra-
gen, was denn der aussichtsreichere Kandidat für eine grundlegende
Substanz ist, auf deren Basis sich das jeweils andere erklären läßt. Und
hier hat eben das Geistige den Vorteil, daß die auf ihm aufbauende Er-
klärung keinen an sich zu verwerfenden Reduktionsimus behaupten
muß, denn Einheit und Vielheit sind im Geistigen ja immer zusam-
menhängende Begriffe.
§ 22 Doch kommen wir zurück zu Hermes, der uns noch einige
weitere Argumente für die grundlegende Idealität des Materiellen lie-
fert:
'Enant…an d œcein fÚsin ¢n£gkh »Die gegenteilige Natur haben
tÕ ™n ú kine‹tai tÍ toà kinoumšnou; zwingend das, in dem etwas be-
– Kaˆ p£nu. [...] PotapÁj d wegt wird und das Bewegte. –
fÚsewj; tÁj ™nant…aj ¥ra, ð Gewiß auch. – Und welcher Na-
'Asklhpiš; sèmati d ™nant…a tur [sind sie]? Gegenteiliger etwa,
fÚsij tÕ ¢sèmaton. – `WmolÒg- o Asklepios? Die dem Körperli-
htai. – 'Asèmatoj oân Ð tÒpoj, tÕ chen entgegengesetzte Natur aber
d ¢sèmaton À qe‹Òn ™stin À Ð ist das Unkörperliche. – Ich
qeÒj. stimme zu. – Unkörperlich also
ist der Ort, das Unkörperliche
aber ist das Göttliche oder
Gott.«25

Der Schluß, den Hermes hier zieht, ist im Grunde ganz einfach: Beweg-
tes und Ort der Bewegung können nicht beides körperlich sein, denn
sonst würde der Ort dem bewegten ja Widerstand leisten. Also muß
der Ort unkörperlich sein, damit aber ist er seinem Wesen nach zu-

25
Dialogus 1, 5-6; 4, 1-4

41
Hermes Trismegistos (um 150)
mindest Gott gleich, der ja das Unkörperliche schlechthin ist. Was aber
ist von diesem Schluß zu halten? Grundsätzlich ist Hermes hier auf ei-
ne ganz gute Idee gestoßen. Daß der Raum nicht selbst wieder etwas
Materielles sein kann, macht ihn zumindest für einen Materialisten zu
einem schwer faßbaren Wesen. Denn das legt nahe, daß der Raum in
irgend einer Weise eine ideelle Größe sein muß. Das heißt aber noch
nicht, daß man damit verstanden hätte, wie man den Raum als ideelle
Größe zu denken habe. Und eben hier schreitet Hermes meines Erach-
tens etwas zu schnell voran und schließt von der Unkörperlichkeit des
Raumes sofort auf Gott, ohne uns aber klar zu machen, wie wir aus
dem naheliegenden Zwischenmodell eines Raumes als bloßem Behälter
der materiellen Dinge herauskommen. Denn wenn der Materialist
schon kein Monist sein kann, dann kommt es ihm sicher auf eine un-
erklärte Wesenheit mehr auch nicht an. Will man aber mit Hilfe des
Raumbegriffs auf die Idealität der Materie schließen, dann muß man
zumindest ein diesem Modell des Alltagsverstandes überlegenes Ge-
genmodell anbieten können.
§ 23 Eine Überlegung Hermes’ geht dabei durchaus in diese Rich-
tung. Er versucht den mit Gott gleichgesetzten Raum auf ein Prinzip des
Raumes zurückzuführen:
e„ d kaˆ æj qeÒj, oÙc æj tÒpoj, »Und wenn er [der Ort] aber wie
¢ll' æj ™nšrgeia cwrhtik». Gott ist, dann nicht wie ein Ort,
sondern wie der wirkende Zwi-
schenraum.« 26

Den Ausdruck »™nšrgeia cwrhtik»« kann man auch weniger dramatisch


als »wirklichen Raum« übersetzen; allein ich nutze hier die Gelegenheit,
zu einer Übersetzung zu greifen, die auch etwas auszusagen vermag.
Der Ort kann demnach insofern als ideeller Aspekt eines materiellen
Dings verstanden werden. Er ist das, was zwischen den Dingen existiert,
aber nicht als bloße Leere, sondern als eine aktive ideelle Größe, wel-
che etwa als Quelle von Interaktionen räumlich getrennter Dinge aufge-
faßt werden kann. Ein solcher Raum wäre ein rein geistiger Raum, in-
dem eine Wirkung von einem Ding auf ein anderes übertragen werden

26
Dialogus 6, 3-4

42
Hermes Trismegistos (um 150)
kann, ohne daß sie sich wirklich berühren. Mit diesem Verständnis des
Raumes wären wir ganz in der Nähe des Raumbegriffes, den wir im
zweiten Band bei Ekphantos kennengelernt haben.

iii. Der Rückfall in den platonischen Materiebegriff


§ 24 Aber schließlich fällt Hermes doch in den platonischen Materie-
begriff zurück und sieht diese als das dasjenige an, was in der Welt am
wenigsten am Guten teilhat:
Óqen ¢dÚnaton ™n genšsei e nai tÕ »Deshalb ist es unmöglich, daß es
¢gaqÒn, ™n mÒnJ d tù ¢genn»tJ. unter dem Geschaffenen das Gu-
ésper d metous…a p£ntwn ™stˆn te gibt, sondern nur im Unge-
™n tÍ ÛlV dedomšnh, oÛtw kaˆ toà schaffenen. Gleichwie die Teil-
¢gaqoà. toàton tÕn trÒpon ¢gaqÕj habe an allem, dem, das in der
Ð kÒsmoj, kaq¦ kaˆ aÙtÕj p£nta Materie ist, geschenkt wurde, so
poie‹, <æj> ™n tù mšrei toà poie‹n auch die am Guten. Wenn auf
¢gaqÕj e nai. ™n d to‹j ¥lloij diese Weise die Welt gut ist,
p©sin oÙk ¢gaqÒj· kaˆ g¦r dann insofern sie auch selbst alles
paqhtÒj ™sti, kaˆ kinhtÒj, kaˆ schafft, ist sie in dem schaffenden
paqhtîn poiht»j. Teil das Gute. In den ganzen an-
deren aber ist sie nicht gut: Denn
sie ist auch leidenschaftlich, be-
wegt und schafft leidenschaftliche
Dinge.«27

Am unteren Ende der Emanation hört das Gute auf oder wird zumin-
dest weniger. Bis zu einem gewissen Grad kann alles Geschaffene im-
mer noch den schöpferischen Funken weitergeben an das, was aus ihm
emaniert. Aber wie soll man diesen schöpferischen Funken verstehen?
Wir können ihn einfach als eine Form sehen. Insofern eine Form hö-
her steht als eine andere, ist diese aus jener emaniert, diese ist eine Sub-
form jener und jene selbst ist insofern als schaffend zu betrachten. Am
unteren Ende dieses Regresses in der Form-Materie Kette stoßen wir
dann natürlich auf die Materie selbst, als die letzte Form, die keine wei-
teren Formen unter sich hat und so auch nicht schaffend ist.

27
“Oti ™n mÒnJ qeù tÕ ¢gaqÒn ™stin, ¢llacÒqi d oÙdamoà 2, 10-16

43
Hermes Trismegistos (um 150)
§ 25 Eine Frage, die sich Hermes in diesem Zusammenhang stellt,
ist die Frage danach, wie denn überhaupt aus dem Guten oder aus Gott
all das hervorgebracht worden sein kann, was schlecht und häßlich in
der Welt ist. Hierzu finden wir bei Hermes eine durchaus tragfähige
Erklärung, die auf dem eben Ausgeführten aufbaut und insofern als
Fortsetzung des eben ausgeführten Gedankengangs gelesen werden
kann:
aÙtù d tù poioànti oÙd n kakÕn »Man muß annehmen, daß weder
oÙd' a„scrÕn nomizÒmenon. taàta Schlechtes noch Häßliches von
g£r ™sti t¦ p£qh t¦ tÍ genšsei ihm selbst [Gott] geschaffen wor-
parepÒmena, ésper Ð „Õj tù cal- den ist. Denn dieses sind die
kù kaˆ Ð ·Úpoj tù sèmati. ¢ll' Leidenschaften, welche der Ent-
oÜte „Õn Ð calkourgÕj ™po…hsen, stehung folgen, wie der Rost dem
oÜte tÕn ·Úpon oƒ genn»santej, oÜ- Eisen und die Häßlichkeit dem
te t¾n kak…an Ð qeÒj. Körper. Aber weder hat der Ei-
senschmied den Rost gemacht,
noch der Schöpfer die Häßlich-
keit, noch Gott das Schlechte.«
28

Wir können diese Stelle auf zwei Weisen interpretieren. Zum einen
können wir im Sinne eines konsequenten Idealismus hier eine Fortset-
zung des oben Gesagten erkennen. Demnach ist es nicht die höchste
Form, welche die Materie hervorgebracht hat, sondern die zweitletzte
mögliche Form bringt die Materie als die letzte und selbst nicht mehr
aktive Form hervor. Demnach ist das Schlechte und Endliche zwar
schon im unendlichen und vollkommenen Reich der Ideen enthalten,
es kommt aber erst dadurch zum Tragen, daß Teile dieses vollkomme-
nen Systems der Formen Unabhängigkeit erlangen und so zu etwas Un-
vollkommenem werden. Dieser Gedanke wurde schon mehrfach erläu-
tert.
§ 26 Zum anderen jedoch können wir diese Stelle jedoch auch ganz
platonisch lesen und davon ausgehen, daß es eine Materie gibt, bis zu
der die göttliche Formkraft nicht mehr reicht und die auch das einmal
von ihm geformte nach und nach mit ihrer Schlechtigkeit befällt. Viele

28
Asklhpiîi eâ frone‹n 7, 4-8

44
Hermes Trismegistos (um 150)
andere Stellen, wie etwa die folgende, sprechen dafür, daß wir Hermes
auf diese Weise verstehen müssen:
'En tÍ ÛlV oân, ð p£ter; – `H g¦r »„[Ist Gott] folglich in der Mate-
Ûlh, ð tšknon, cwrˆj qeoà ™stin, rie, o Vater?“ – „Die Materie
†na po‹on aÙtÍ ¢pomer…sVj tÒpon; freilich, o Kind, ist außerhalb
t… d oâsan À swrÕn aÙt¾n o‡ei Gottes, damit du ihr irgendeinen
e nai, m¾ ™nergoumšnhn; e„ d ™ner- Ort abtrennst? Wenn sie aber
ge‹tai, ¢pÕ t…noj ™nerge‹tai; t¦j nicht geformt wurde, wofür hältst
g¦r ™nerge…aj œfamen e nai mšrh du ihr Sein anderes als das eines
toà qeoà. Haufens? Wenn sie aber geformt
wurde, wurde sie von wem ge-
formt? Denn die Formen, so sag-
ten wir, sind Teile von Gott.«29

Zunächst einmal ist anzumerken, daß ich hier »™nerge…a« nicht als
»Wirklichkeit«, sondern als »Form« übersetzt habe, was aber dadurch
gerechtfertigt ist, daß eben in der hier von Hermes vertretenen Auffas-
sung die Materie offensichtlich erst als eine geformte auch ihre Wirk-
lichkeit erlangt. Vorher, ohne geformt zu sein, ist sie außerhalb Gottes.
Sie hat zwar eine Existenz, aber sie wirkt nicht; es ist als sei sie gar nicht
vorhanden. Dennoch braucht Gott sie offensichtlich als Grundlage sei-
ner Schöpfung; er bringt sie nicht hervor, er formt sie nur.
Daß es sich demnach bei Gott und der Materie nach Hermes Auf-
fassung um zwei verschiedene Prinzipien handelt, sagt er an einer Stelle
auch explizit. Er spricht von dem,
unde fiunt onmia, et a quo fi- »woher alles kommt und woraus
unt omnia, id est de materia, alles ist, das ist aus der Materie,
de qua fiunt, et ex eius volun- aus der es besteht und aus sei-
tate nem Willen«. 30

Den Willen Gottes haben wir ja bereits als die Formkraft kennenge-
lernt. Zu ihr tritt hier explizit noch die Materie als ein zweites Prinzip
hinzu, welches neben Gott steht und aus dem die Dinge in der Welt
bestehen.

29
Perˆ noà koinoà prÕj T£t 22, 1-5
30
Apuleius, Asclepius VIII

45
Hermes Trismegistos (um 150)
§ 27 Um das Problem der Unerklärbarkeit dieses zweiten Prinzips
zu mildern, greift Hermes nun zu einer Argumentationsstrategie, die
wir bereits bei Platon kennengelernt haben. Platon bezeichnete die
noch ungeformte Materie, die an keiner Idee teilhat, einfach als ein
Nichts. Existenz erlangt diese erst durch ihre Formung. Ebenso tut es
Hermes in einem ihm zugeschriebenen Fragment:
'Agenhs…a oân tÁj Ûlhj ¢morf…a »Die ungeformte Materie war
Ãn, ¹ d gšnesij tÕ ™nerge‹sqai. noch unentstanden und ihr Ent-
stehen war ihre Formung.« 31

Also erst die Formung bringt demnach die Materie wirklich hervor.
Warum aber wird sie dann überhaupt benötigt? Warum ist die Form
nicht alles? Hermes greift zu einer aristotelischen Überlegung, um das
zu erklären:
ut hic locus mundi cum his, »Und dieser Ort der Welt und
quae in se sunt videatur esse alles was darin ist, ist scheinbar
non natus, que utique; in se to- nicht entstanden und hat alle Na-
tius naturae habet. [...] hoc turen in sich. [...] Dieser ist folg-
ergo est totum qualitatis, lich alle Eigenschaften und Mate-
materiaque; creabilis est, ta- rien; er kann geschaffen werden,
metsi creata non est. obgleich er noch nicht geschaffen
ist.«
32

Indem er behauptet, die Welt habe alle Naturen in sich, macht er die
Materie, welche die Formen annehmen kann zu einer reinen Möglich-
keit, die erst durch die Formung dann wirklich Gestalt annehmen kann.
Das konkrete Ding, was noch ungeschaffen ist, ist als solches die reine
Möglichkeit, zu allem zu werden.
Allein auch dieser Gedanke erklärt uns nicht, wie eine neben dem
Ideellen existierende Materie überhaupt vorgestellt werden kann. Her-
mes erscheint uns hier als ein Denker, der immer wieder Zuflucht zu
seinen bedeutenden Vordenkern nimmt, in der Übernahme von deren
Gedankengut zwar hier und da eine kreative Wendung an den Tag legt,

31
Stobaeus, Anthologium I, 11, 2, 7-8
32
Apuleius, Asclepius VII

46
Hermes Trismegistos (um 150)
die das idealistische Projekt durchaus zu beflügeln vermag, sich selbst
jedoch den Problemen nicht wirklich stellt.

iv. Gott als Form


§ 28 Auch die Formenlehre Hermes’ ist an das platonische Denken
angelehnt. Wir haben bereits erfahren, daß bei Hermes die Formen
letztlich aus Gott emanieren. In der folgenden Stelle wird dieser Ge-
danke der Emanation auch ganz deutlich auf den Begriff der Formen
bezogen:
plšon dš, tîn „deîn t¦ poi¦ Ð »Voll aber der Ideen streute der
pat¾r ™gkataspe…raj tÍ sfa…rv Vater die Eigenschaften auf das
ésper ™n ¥ntrJ katškleise, p£sV Himmelsgebäude, so als ob er sie
poiÒthti kosmÁsai boulÒmenoj tÕ in eine Höhle einsperrte, denn er
met' aÙtoà poiÒn wollte die ganze Schöpfung ord-
nen mit seinen Eigenschaften.«33

Aus dem oben bereits Behandelten können wir darauf schließen, daß
Gott die Ideen nicht ganz und gar auf die Erde verbannt und ihnen
damit ihre Existenz im Ideenreich raubt. Zu einem solchen aristoteli-
schen Gedanken ist der Platoniker Hermes sicherlich nicht bereit. Er
meint hier sicherlich nur, daß die Ideen als Eigenschaften (poi£) wie
gewissermaßen als Abbilder in der Welt zu finden sind.
§ 29 Dennoch geht er in seiner Wertschätzung der Präsenz der Ideen
in der Welt so weit, zu behaupten, man könne Gott daraus erschließen:
e„ qšleij kaˆ di¦ tîn qnhtîn qe£- »Wenn du Gott auch im Toten,
sasqai tîn ™pˆ tÁj gÁj kaˆ tîn ™n in den Dingen auf der Erde und
buqù, nÒhson, ð tšknon, dhmiour- in der Tiefe schauen willst, so
goÚmenon ™n tÍ gastrˆ tÕn ¥nqrw- denke nach, o Kind, wie der
pon kaˆ toà dhmiourg»matoj ¢kri- Mensch im Bauch geschaffen
bîj t¾n tšcnhn ™xštason, kaˆ m£qe worden ist und überdenke gründ-
t…j Ð dhmiourgîn taÚthn t¾n lich die Schöpferkunst und lerne,
kal¾n kaˆ qe…an toà ¢nqrèpou wer dieser Schöpfer dieses schö-
e„kÒna. nen und göttlichen Bildes des
Menschen ist.«34

33
“Oti oÙd n tîn Ôntwn ¢pÒllutai, ¢ll¦ t¦j metabol¦j ¢pwle…aj kaˆ qan£touj
planèmenoi lšgousin 3, 5-7
34
PrÕj T¦t uƒÕn Óti ¢fan¾j qeÕj fanerètatÒj ™stin 6, 1-5

47
Hermes Trismegistos (um 150)
Hier wird die Nachrangigkeit der Formen gegenüber den Ideen ganz in
Frage gestellt. Wenn man auch schon an den Formen in der Natur auf
das sie schaffende Wesen schließen kann, dann muß dieses Wesen
auch ganz in die Naturformen eingegangen sein. Interessanterweise
spricht Hermes hier gerade die Hervorbringung desjenigen Wesens, in
dem sich das Ganze des Göttlichen dann spiegelt, als den idealen Start-
punkt eines intellektuellen Aufstiegs zu Gott an. Dabei stellt er die phy-
sische Geburt und so implizit das Problem, daß dabei ein Geistwesen
aus der Natur entsteht, ins Zentrum der Betrachtung. Das geht eben
nur, wenn das Geistige selbst – und nichts anderes ist Gott – bereits in
der Natur vorhanden ist.
Wir können hier also durchaus ein Moment finden, in dem Hermes
sich leicht vom platonischen Gedanken einer vollkommenen Verach-
tung der materiellen Welt löst und auf dem Weg zu einer Versöhnung
der beiden ist, die dann schließlich im gleichzeitig entstehenden Chri-
stentum ihre philosophische Weiterentwicklung findet. Dennoch er-
scheinen die platonischen Wurzeln bei Hermes als so stark, daß er die-
sen Gedanken wohl kaum konsequent weiterverfolgen konnte.

v. Die organischen Naturstufen


§ 30 Zu Hermes konkretem Verständnis der Naturstufen finden wir
sehr wenig. Dennoch deutet dieses Wenige auf ein sehr ausgeprägtes
Verständnis der Naturstufen und ihres Verhältnisses zueinander hin,
was man in folgenden Zeilen sehen kann:
yuc¾ d ¢nqrèpou Ñce‹tai tÕn »Die Seele des Menschen wird
trÒpon toàton· Ð noàj ™n tù lÒgJ, auf die folgende Weise getragen:
Ð lÒgoj ™n tÍ yucÍ, ¹ yuc¾ ™n tù Der Geist ist im Verstand, der
pneÚmati· tÕ pneàma diÁkon di¦ Verstand in der Seele, die Seele
flebîn kaˆ ¢rthriîn kaˆ a†matoj im Lebenshauch; der Lebens-
kine‹ tÕ zùon kaˆ ésper trÒpon hauch, wirkend durch Venen,
tin¦ bast£zei. Arterien und Blut, bewegt das
Lebewesen und hält sie so auf
gewisse Weise.«35

35
Kle…j 13, 1-5

48
Hermes Trismegistos (um 150)
Die Ordnung dieser Aufzählung von Stufen folgt der Logik der Emana-
tion; sie schreitet von oben nach unten fort. Die ersten beiden Stufen,
der noàj und der lÒgoj, sind uns bereits als kosmische Größen bekannt.
In jedem Fall aber reichen sie insofern aus einer Formenlehre heraus,
als sie den menschlichen Geist betreffen. Die Natur beginnt erst darun-
ter mit der yuc». Diese wird einerseits als Ort und Materie des Geistes
bestimmt, andererseits aber als Form des sich darunter befindlichen
pneàma. Aus einer solchen Bestimmung als ein bloßes Zwischenglieds
lassen sich freilich nicht so sehr viel Informationen gewinnen.
Gehen wir also einfach weiter und sehen uns das pneàma an. Hier
können wir sofort erkennen, daß Hermes offenbar stoisches Gedan-
kengut nicht nur verarbeitet, sondern auch platonisch umgedeutet hat.
Das pneàma, welches die Stoiker ja auf eine ganz merkwürdige Weise
für etwas Körperliches hielten, wird von Hermes von einer eigentlich
geistigen Größe zu einem Funktionsglied des Organismus. Es nimmt
die Rolle eines Lebensprinzips ein, welches auf dem Blutkreislauf auf-
baut. Auch hier ist es schwer, aufgrund der spärlichen Informationen
kein klares Bild zu erhalten. Auch eine Konjektur ist hier nicht ohne
weiteres möglich, denn wir befinden uns ja hier in demjenigen Bereich,
wo biologisch gesehen bereits das Nervensystem beginnt. Aus der Vo-
kabel »pneàma« nun aber auf die Struktur eines solchen Systems zu
schließen, wäre allzu waghalsig.
In jedem Fall legt Hermes unmittelbar im Anschluß an diese Stelle
wert auf die Feststellung, die Seele sei nicht mit dem Blutkreislauf
gleichzusetzen, womit er sich klar von Aristoteles abgrenzt, der die
Seele ja im Herzen ansiedelt. So findet sich bei ihm zumindest ein Be-
wußtsein für die Komplexität einer Beschreibung der Schnittstelle von
Geistigem und Körperlichem. Das eine kann nicht so leicht mit dem
anderen verbunden werden und zwischen Seele und Hormonen, die
nach unserer im zweiten Band ausgeführten Auffassung das Wesen des
Blutkreislaufs bestimmen, haben wir eine ganze Reihe von Naturstufen
zu erwarten.
§ 31 Das strukturelle Verhältnis dieser Stufen zueinander jedenfalls,
deren Hierarchie, wird von Hermes ganz klar herausgestellt. Darin
kommt auch durchaus der Gedanke einer Kooperation zum Tragen:

49
Hermes Trismegistos (um 150)

e„j m n oân tÕ kre‹tton yuc¾ meta- »Die Seele nun aber wandelt sich
ba…nei, e„j d tÕ œlatton ¢dÚnaton· nur zum besseren, zum schlech-
koinwn…a dš ™sti yucîn, kaˆ koin- teren jedoch kann sie es nicht. Es
wnoàsi m n aƒ tîn qeîn ta‹j tîn gibt eine Gemeinschaft unter den
¢nqrèpwn, aƒ d tîn ¢nqrèpwn Seelen und diese Gemeinschaft
ta‹j tîn ¢lÒgwn. ™pimeloàntai d haben die Götter mit den Men-
oƒ kre…ttonej tîn ™lattÒnwn, qeoˆ schen, die Menschen aber mit
m n ¢nqrèpwn, ¥nqrwpoi d tîn den irrationalen Wesen. Die
¢lÒgwn zówn, Ð d qeÕj p£ntwn· Stärkeren kümmern sich um die
p£ntwn g¦r oátoj kre…ttwn, kaˆ Schwächeren, die Götter um die
p£nta aÙtoà ™l£ttona. Menschen, die Menschen um die
irrationalen Lebewesen, Gott
aber um alles; denn er ist stärker
als alles und alles ist schwächer
als er.«
36

Auch in dieser Hierarchisierung der Stufen geht Hermes inhaltlich


nicht sehr ins Detail. Strukturell lernen wir aber daraus, daß es auf jeder
Stufe der Natur eine Ebene gibt, die ein Wesen mit einem höheren
Wesen teilt und eine Stufe, die es mit einem niedrigeren teilt. Das führt
genau zu dem Verhältnis von Form und Materie, das wir bereits ken-
nengelernt haben und als für die Natur grundlegend ansehen. Jede
Form ist die Materie einer höheren Form, ihre Materie aber ist die
höchste Form eines niedrigeren Wesens.

vi. Das Verständnis des Organischen


§ 32 Das erste zentrale Moment des Organischen, was Hermes erkannt
hat, ist die Zirkularität von deren Prozessen. Er sieht diese als den Ur-
sprung der Lebewesen an:
¹ d toÚtwn perifor£, kaqëj ºq- »Diese Kreisbewegungen aber
šlhsen Ð Noàj, ™k tîn katwferîn brachten, weil der Geist es wollte,
stoice…wn zùa ½negken ¥loga (oÙ aus den niedrigen Elementen die
g¦r ™pe‹ce tÕn LÒgon) irrationalen Lebewesen hervor
(denn sie haben keinen Ver-
stand).«37

36
Kle…j 22, 2-8
37
Poimandres 11, 4-7

50
Hermes Trismegistos (um 150)
Durch die Kreisbewegungen also entstehen aus niedrigeren Wesen hö-
here. Hier stoßen wir erstmals explizit auf die Darstellung einer Auffas-
sung, deren grundlegende Strukturen wir bereits früher kennengelernt
haben. Wenn Aristoteles den Wasserkreislauf noch ganz empirisch be-
schreibt, dann zeigt sich darin bereits diese Struktur, die Wasser und
Naturkräfte zu ihrer Materie macht und ein selbständig existierendes,
sich selbst immer wieder herstellendes Wesen hervorbringt. Das Höhe-
re entsteht hier aus dem Niedrigeren, aber es entsteht eben nicht aus
bloßem Zufall, sondern ihm liegt eine logische Struktur zugrunde, wel-
chen diesen Kreislauf stabil sein läßt, während andere immer wieder
diffundieren. Diese logische Struktur aber ist nichts anderes als das
Ideelle, welches auch Hermes hier als noàj tätig sein läßt. Es enthält in
sich natürlich nur kreisförmig Strukturiertes, insofern die Ideen sich ge-
genseitig konstituieren. Daher ist es auch in der Lage, kreisförmige
Strukturen für die Natur bereitzustellen; diese existieren einfach, weil es
das Ideelle gibt und dieses der Natur zugrundeliegt.
§ 33 Hermes geht hier gar so weit auch das noch einfache, den Geist
noch nicht habende organische Wesen als durch diese Kreisläufe her-
vorgebracht anzusehen. Leider fehlt jedoch eine wirkliche Erklärung
dieses Zusammenhangs, der über dasjenige, was wir bislang von seinen
Vordenkern erfahren konnten, hinausgeht. Dennoch legt er in neben-
läufigen Bemerkungen wie der folgenden immer wieder ein erstaunli-
ches Gespür für organische Zusammenhänge an den Tag:
pantÕj g¦r sèmatoj diamon¾ me- »Denn die Dauer alles Körperli-
tabol» chen ist Wandel. «
38

Natürlich finden wir in dieser Bemerkung die platonische Grundauffas-


sung wieder, daß eben nur das Ideelle Stabilität aus sich haben kann,
während diese dem Körperlichen nicht zu eigen sein kann. Wenn der
Körper aber nicht aus sich heraus bestehen bleibt, so setzt seine Erhal-
tung bereits eine Aktivität voraus. Zugleich aber zeigt sich hierin auch
die systemtheoretische Einsicht, die wir bereits bei Herakleitos kennen-
gelernt haben, wonach zumindest alles Organische in der Natur auf ei-
nem Fließgleichgewicht beruht. Auf Grund der Beiläufigkeit dieser

38
“Oroi 'Asklhpioà prÕj ”Ammwna basilša 9, 4-5

51
Hermes Trismegistos (um 150)
Bemerkung ist es schwer zu entscheiden, ob wir Hermes in diesem letz-
teren Sinn verstehen dürfen.
§ 34 In jedem Fall scheint der Unterschied zwischen dem Belebten
und dem Unbelebten in der Natur ihm keine großen Denkschwierig-
keiten bereitet zu haben, da er beides in gewissem Sinne als organisch
beschreibt, wie wir aus folgendem Dialogfragment ersehen können:
TAT. 'En pantˆ oân sèmati a‡sq- »Tat: „In allen Körpern also wird
hsij a„sq£netai; die Wahrnehmung empfun-
`ERM. 'En pant…, ð tšknon, kaˆ den?“
™nšrgeiai <™n> p©sin ™nergoà- Hermes: „In allen, o Kind, denn
si. auch in allen sind Formen am
TAT. Kaˆ to‹j ¢yÚcoij, ð p£ter; Werk.“
`ERM. Kaˆ <to‹j> ¢yÚcoij, ð Tat: „Auch in den Unbeseelten,
tšknon. Diaforaˆ dš e„si tîn o Vater?“
a„sq»sewn· aƒ m n tîn logi- Hermes: „Auch in den Unbeseel-
kîn met¦ lÒgou g…gnontai, aƒ ten, o Kind. Unterschieden
d tîn ¢lÒgwn swmatika… e„si sind die Wahrnehmungen;
mÒnon, aƒ d tîn ¢yÚcwn die der rationalen Wesen ent-
a„sq»seij mšn e„si, paqhtikaˆ stehen mit dem Verstand, die
d kat¦ aÜxhsin mÒnon kaˆ der irrationalen sind nur kör-
kat¦ me…wsin gignÒmenai. perlich, die Wahrnehmungen
der Unbeseelten sind rein
passiv und kommen nur als
Vermehrung und Verminde-
rung vor.“«39

Die Argumentation, die Hermes uns hier vorführt, weicht schon etwas
von seiner ansonsten starren platonischen Sichtweise ab. Den unbeseel-
ten und damit nach antikem Verständnis auch unbelebten Körpern
wird hier eine a‡sqhsij zugesprochen. Den Grund dafür sieht Hermes
in der Anwesenheit und Wirksamkeit der ™nšrgeiai, die den Körper
formen. Allein dieses Argument reicht schon aus. Indem ein Körper
eine Form hat, gibt es die Möglichkeit, daß etwas auf diese Form wirkt
und mithin kann der Körper etwas wahrnehmen.
Man muß dazu eben nur den Begriff der Wahrnehmung erweitern,
so daß er auch auf Körperliches angewendet werden kann. Hermes tut

39
Stoibaios, Antologium I, 41, 6, 166-124

52
Hermes Trismegistos (um 150)
dieses und unterscheidet zwischen einer rationalen, einer körperlich
und einer passiven Wahrnehmung. Die ersten beiden kennen wir von
Platons Unterscheidung von Denken und Wahrnehmung. Die dritte
fügt Hermes hinzu und bezeichnet damit all das, was unbelebten Kör-
pern geschehen kann; sie können in jeder Hinsicht vermehrt oder ver-
mindert werden.
Das grundlegende Problem dabei hat Hermes natürlich nicht reflek-
tiert, nämlich die Frage, wie wir uns diese letztere Wahrnehmung vor-
zustellen haben. Er scheint sich diese ganz mechanisch zu denken, als
das Resultat einer kausalen Wirkung eines Körpers auf einen anderen.
Wenn wir jedoch ernst mit der Vorstellung der Existenz alles Körperli-
chen in einem geistigen Raum machen, dann muß auch die Natur der
Kausalität anders gedacht werden. Bereits bei der Diskussion von Ek-
phantos wurde angedeutet, wie dies möglich ist. Da Hermes selbst aber
nicht weiter in diese Richtung denkt, ist es nicht nötig, dies hier erneut
aufzurollen. In jedem Fall ist seine Argumentation ein Beleg dafür, wie
naheliegend diese Konsequenz für das idealistische Denken immer
wieder ist; wenn es auch schwer ist, diesen Ansatz zu Ende zu denken.

Geist
i. Die Gottähnlichkeit des Menschen
§ 35 Den Grund für die Gottähnlichkeit des Menschen sieht Hermes
als Platoniker natürlich in dessen Geist:
oátoj d Ð noàj ™n m n ¢nqrèpoij »Dieser Geist aber ist in den
qeÒj ™sti· Menschen Gott.«
40

Was sich hier andeutet, ist eine Gleichsetzung vom menschlichem


Geist und Gott. Die Rolle des Geistes ist bei Hermes nun aber dar-
überhinaus wesentlich dadurch bestimmt, daß sich auch Gott selbst in
ihm wiederfindet. Er schafft nicht nur den Menschen nach seinem Bil-
de, nein er betrachtet dieses Bild seiner selbst auch wie einen Spiegel:

40
Perˆ noà koinoà prÕj T£t 1, 5-6

53
Hermes Trismegistos (um 150)

Ð d p£ntwn pat¾r Ð Noàj, ín zw¾ »Der Geist aber, der Vater von
kaˆ fîj, ¢pekÚhsen ”Anqrwpon allem, der Leben und Licht ist,
aÙtù ‡son, oá ºr£sqh æj „d…ou tÒk- schuf den Menschen als ihm
ou· perikall¾j g£r, t¾n toà pa- ähnlich, und liebte ihn wie sein
trÕj e„kÒna œcwn· Ôntwj g¦r kaˆ Ð eigenes Kind; denn durch seine
qeÕj ºr£sqh tÁj „d…aj morfÁj, Schönheit hatte er das Bild seines
paršdwke t¦ ˜autoà p£nta dhmi- Vaters; denn Gott liebte so das,
ourg»mata was seine eigene Form hat und
gab ihm alle seine Geschöpfe.« 41

Hermes bringt hier nicht nur den Gedanken zum Ausdruck, daß der
Mensch Gott ähnlich ist, sondern er deutet auch auf eine Funktion die-
ser Gottähnlichkeit hin. Sie besteht darin, daß die Perfektion der göttli-
chen Schöpfung der Natur die Verdopplung Gottes selbst ist. Und in-
dem er es schafft, den Geist als ein Wesen hervorzubringen, welches
ihn selbst abbildet, hat er diese höchstmögliche Vollkommenheit der
Schöpfung erreicht. Er hat sich selbst in der Natur gespiegelt. Es folgt
dann von selbst, daß alle niedrigeren Wesen dem Geist untergeordnet
sind, was Hermes hier dadurch zum Ausdruck bringt, daß er sagt, sie
seien für ihn geschaffen. Dieser Sinn der niedrigeren Wesen besteht für
ihn als Verfechter einer Emanationstheorie natürlich dann darin, über-
haupt einen Grund dafür angeben zu können, warum Gott nach der
Hervorbringung des Menschen noch weitere Wesen hat entstehen las-
sen. Man kann diesen Zweck der niedrigeren Wesen jedoch auch ein-
fach darin sehen, daß sie schlicht die natürliche Grundlage des Geistes
bilden und insofern für ihn notwendig sind.

ii. Ewigkeit und Reflexivität


§ 36 Sehen wir uns nun die Eigenschaften an, die Hermes dem Geist
zuschreibt. Eine erste Eigenschaft ist dessen Ewigkeit und Unsterblich-
keit. Dabei unterscheidet er subtil zwei Begriffe von Ewigkeit:
tÕ g¦r ¢e…zwon toà ¢ d…ou diafšrei. »Das Immerlebende unterschei-
Ð m n g¦r ØpÕ ˜tšrou oÙk ™gšneto· det sich vom Ewigen. Denn das
e„ d kaˆ ™gšneto, Øf' ˜autoà· oÜ- eine ist nicht von anderem her-
pote <d > ™gšneto, ¢ll¦ ¢eˆ vorgebracht, wenn es aber auch

41
Poimandres 12, 1-5

54
Hermes Trismegistos (um 150)
g…netai· [tÕ g¦r ¢ dion oá ¢ diÒn hervorgebracht ist, so durch sich
™sti tÕ p©n,] Ð d pat¾r aÙtÕj selbst; niemals aber brachte [et-
˜autoà ¢ dioj· Ð d kÒsmoj ØpÕ toà was es] hervor, sondern es wird
patrÕj [¢ dioj] kaˆ ¢q£natoj gšgo- immerwährend; denn das Ewige
ne als Ewiges ist alles. Der Vater
selbst ist selbst das Ewige; die
Welt aber ist durch den Vater
ewig und unsterblich.« 42

Der eine Begriff der Ewigkeit ist das Immerwährende, was zwar ewig
besteht, was aber nicht aus sich besteht, sondern beständig von ande-
rem hervorgebracht werden muß. Dem entgegen steht ein Begriff der
Ewigkeit, der eine Hervorbringung aus sich selbst beinhaltet. Die erste
Form der Ewigkeit ist aufgrund ihrer Abhängigkeit von der zweiten na-
türlich minderwertiger. Diese Unterscheidung nimmt die Hegels von
guter und schlechter Unendlichkeit vorweg, die darin besteht, daß die
schlechte Unendlichkeit nicht wirklich unendlich ist, sondern eine be-
ständige Wiederholung von an sich Endlichem darstellt. Hermes Un-
terscheidung beruht auf derselben Überlegung. Während das Ideelle
sich selbst hervorbringt und so schlechthin unendlich ist, weil es sich
nicht als Neues hervorbringt, sondern als das immer Gleichbleibende,
ist der Geist eher ein in einem nachrangigen Sinne unendliches Ge-
schöpf, denn er muß ständig aktiv sein, um als Geist erhalten zu blei-
ben.
§ 37 Hermes entlehnt hier einige Ideen aus Platons Phaidon. Da das
göttliche Wesen die Idee des Lebens als eines immerwährenden Kreislaufs
konstituiert, muß auch der Geist, wenn er an diesem immerwährenden Le-
ben teilhaben möchte, eben diesen Kreislauf nachvollziehen:
'All' œti moi e„pš, pîj e„j zw¾n »„Aber sage mir noch einmal, wie ich
cwr»sw ™gè, œfhn, ð Noàj ™mÒj; zum Leben gelangen werde, o mein
fhsˆ g¦r Ð qeÒj· Ð œnnouj ¥nqrwpoj Geist?“, sagte ich. Der Gott aber ant-
¢nagnwris£tw ˜autÒn. wortete: „Der einsichtsvolle Mensch
soll sich selbst erkennen.“« 43

42
“Oti oÙd n tîn Ôntwn ¢pÒllutai, ¢ll¦ t¦j metabol¦j ¢pwle…aj kaˆ qan£touj
planèmenoi lšgousin 2, 5-10
43
Poimandres 21, 8-10

55
Hermes Trismegistos (um 150)
Der Kreislauf des Geistes aber besteht in der Selbsterkenntnis, also im
aktiven Wiederherstellen des Geistes aus dem Geist. Natürlich kann
diese Selbsterkenntnis hier auch in einem religiösen und nicht nur in
einem eher technisch-metaphysischen Sinne interpretiert werden. Die
Nähe Hermes’ zum Platonismus, die in seinen Ausführungen immer
wieder durchscheint, gibt uns aber wenig Material an die Hand, die eine
solche religiöse Selbsterkenntnis befruchten könnten. Hermes be-
schränkt sich dabei sehr oft, wie wir noch sehen werden, auf Angriffe
gegen alles Körperliche.

iii. Die Sprache


§ 38 Wir können bei Hermes erstaunlich viele Ideen zu einer idealisti-
schen Sprachtheorie finden, die nach unserer Auffassung ja das Herz
einer Theorie des Geistes bildet. Er stützt diese Gedanken auf Überle-
gungen, die im antiken Denken durchaus verbreitet waren. So ist eine
der Grundlagen die Auffassung, daß sich der Mensch durch das Den-
ken vom Tier unterscheidet. Aber bereits diese Unterscheidung formu-
liert er auf eine durchaus originelle Art:
a‡sqhsij g¦r kaˆ nÒhsij diafor¦n »Denn Wahrnehmung und Den-
m n dokoàsin œcein, Óti ¹ m n Ølik» ken scheinen den Unterschied zu
™stin, ¹ d oÙsièdhj. haben, daß die eine materiell, die
andere aber wesentlich ist.«
44

Wir können diese Formulierung natürlich ganz platt so verstehen, daß


sie nur vom Menschen handelt und die Wahrnehmung eben dessen
materielle Seite, das Denken aber dessen wesentliche Seite, den Geist,
betrifft. Da aber im Kontext nicht unbedingt nur vom Menschen die
Rede ist, kann man den Satz auch allgemeiner auffassen und die Aussa-
ge darin entdecken, daß die Wahrnehmung sich eben immer nur im
Materiellen findet, während das Denken eine wesentlichere Sphäre des
Seins überhaupt erreicht. Beide Auffassungen gehen natürlich nicht
über den Kontext des platonischen Denkens hinaus.
§ 39 Eine andere Perspektive auf dieselbe Unterscheidung bietet
uns Hermes, wenn er das Wissen vom Instinkt trennt. Dies tut er an-

44
Perˆ no»sewj kaˆ a„q»sewj 1, 3-5

56
Hermes Trismegistos (um 150)
hand eines Beispiels der Ameisen, die ja auch schon Kleanthes als pa-
radigmatische Tiere verwendet hat:
Pîj oân Ðrîmen, ð p£ter, tin¦ »„Auf welche Weise also, o Va-
tîn ¢lÒgwn ™pist»mV kaˆ tšcnV ter, sehen wir irgendwelche der
crèmena, oŒon toÝj mÚrmhkaj t¦j irrationalen Wesen Wissen und
trof¦j ¢poqVsaurizomšnouj toà Kunst benutzen wie zum Beispiel
ceimînoj kaˆ t¦ ¢šria zùa Ðmo…wj die für den Winter Vorräte
kali¦j ˜auto‹j suntiqšnta, t¦ d sammelnden Ameisen, die auf
tetr£poda gnwr…zonta toÝj fwle- ähnliche Weise sich Nester bau-
oÝj toÝj „d…ouj; – Taàta, ð tšknon, enden Vögel und die ihre gleiche
oÙk ™pist»mV oÙd tšcnV poie‹, Höhle wiedererkennenden Vier-
¢ll¦ fÚsei. `H g¦r ™pist»mh kaˆ beiner?“ – „Dieses, o Kind, ma-
¹ tšcnh didakt£ e„si· toÚtwn d chen nicht Wissen und Kunst
tîn ¢lÒgwn oÙdeˆj oÙd n did£s- sondern die Natur. Denn Wissen
ketai. T¦ d fÚsei gignÒmena ™ner- und Kunst sind Dinge, die man
ge…v m n g…gnetai kaqolikÍ· t¦ d lernt, von diesen irrationalen
™pist»mV kaˆ tšcnV e„dikîj pa- Wesen aber hat niemals irgend-
rag…gnetai, oÙ p©si· <t¦ d p©si> eines etwas gelernt. Das von Na-
gignÒmena ØpÕ fÚsewj ™nerge‹tai. tur aus Gewordene entsteht
[...] TÕn aÙtÕn trÒpon e„ mšn tinej durch eine allgemeine Form.
tîn murm»kwn toàto œpratton, o‰ Wissen und Kunst haben die, die
d' oÜ, kalîj ¨n œlegej ™pist»mV sie eingesehen haben, nicht alle.
aÙtÕ toàto pr£ttein kaˆ tšcnV Alle aber haben das durch die
sun£gein t¦j trof£j· e„ d p£ntej Natur Wirkende. [...] Wenn auf
Ðmo…wj ¥gontai ØpÕ tÁj fÚsewj ™pˆ die gleiche Weise einige Ameisen
toàto kaˆ ¥kontej, dÁlon Óti oÙk dieses tun, andere aber nicht, so
™pist»mV oÙd tšcnV toàto pr£t- könntest du wohl sagen, daß sie
tousin. dieses mit Wissen tun und daß
sie durch Kunst Nahrung zu-
sammentragen. Wenn aber alle
auf die gleiche Weise handeln, so
tun sie es der Natur wegen und
ohne Bestreben. Es ist gewiß, daß
sie weder durch Wissen noch
Kunst handeln.“«45

45
Stoibaios, Anthologium I, 41, 6, 10-30

57
Hermes Trismegistos (um 150)
Dieser Dialog bringt eine interessante These hervor. Hermes’ Sohn Tat
fragt sich, ob und wie all diejenigen Tiere, die Verhalten an den Tag le-
gen, für das Menschen Wissen und Kunstfertigkeit brauchen, ebenfalls
diese beiden Fähigkeiten haben. Diese Überlegung wirft radikal die
Frage nach dem Unterschied von Tier und Mensch neu auf. Denn es
scheint, als hätten alle Tiere Wissen. Hermes’ Antwort leugnet das
Vorhandensein von Wissen und Kunstfertigkeit bei Tieren. Dabei legt
er sich aber eine doppelte Aufgabe auf. Erstens muß er erklären, wie
dann das Verhalten der Tiere zustande kommt, von denen man an-
nimmt, es zeigten sich in ihnen diese Fähigkeiten. Und zweitens muß er
ein Kriterium der Unterscheidung beider angeben, das dann auch als
Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier verwendet wer-
den kann. Beides leistet Hermes’ Antwort.
Der erste Aspekt wird auf eine wenig informative Art abgehandelt,
so daß diese nicht wirklich als ein Beitrag zur Naturphilosophie gesehen
werden kann. Hermes stellt schlicht fest, daß es die Natur selbst sei,
welche die Tiere in den Stand versetzt eine Vorsorge für die Zukunft zu
treffen. Es sind also nicht die Tiere selbst, die dieses tun, sondern die
Natur tut es quasi mit ihnen. Wir können hier durchaus von einem an-
geborenen Instinktverhalten sprechen.
Interessant ist nun aber vor allem das Unterscheidungskriterium
zwischen diesem Instinktverhalten und dem Wissen, das uns Hermes
angibt. Das Instinktverhalten sei im Gegensatz zum Wissen nicht er-
lernt. Daher sei es daran erkennbar, daß sich alle von ihm gesteuerten
Wesen in derselben Situation auf die gleiche Weise verhalten. Erst
wenn das nicht der Fall ist, wenn es signifikante Verhaltensunterschiede
gibt, erst dann kann man von Wissen sprechen. Denn beim Wissen
handelt es sich um etwas Erlerntes und es ist eben nicht zwingend, daß
jedes Wesen dasselbe erlernt hat.
§ 40 Nun wissen wir natürlich, daß es auch bei Tieren erlerntes
Verhalten gibt und daß dieses Lernen gar eine sehr komplexe Struktur
haben kann. Aber dennoch ist Hermes’ Kriterium der Unterscheidung
hier durchaus tragfähig zur Bestimmung des Unterschieds von Wissen
und Instinkt. Wenn wir das Wissen, wie es Hermes offenbar vor-
schwebt, mit dem Geist gleichsetzen wollen, brauchen wir über das Ge-

58
Hermes Trismegistos (um 150)
sagte hinaus ein weiteres Kriterium, welches uns das tierische Wissen
vom wirklich geistigen Wissen trennt. Da wäre es natürlich naheliegend,
hier einfach die sprachliche Verfaßtheit des spezifisch geistigen Wissens
als Kriterium anzunehmen. Wir finden bei Hermes hierzu sogar eine
Diskussion der Sprache, in welcher er den Tieren nicht einmal einen
lÒgoj proforikÒj zuschreibt:
K¢ke‹no d Óra, ð tšknon, Óti dÚo »Und sieh auch dies, o Kind, daß
taàta tù ¢nqrèpJ Ð qeÕj par¦ Gott dem Menschen unter all
p£nta t¦ qnht¦ zùa ™car…sato den sterblichen Wesen diese
tÒn te noàn kaˆ tÕn lÒgon, „sÒtima beiden schenkte, den Geist und
tÍ ¢qanas…v, [tÕn d proforikÕn das Wort, die der Unsterblichkeit
lÒgon œcei]. gleichwertig sind; [zudem] aber
hat er die vorgetragene Spra-
che.«
46

Vom lÒgoj proforikÒj haben wir bei der Diskussion der Fragmente des
Chrysippos erfahren, daß er an einen intentionalen Zustand gebunden
ist, der dem sprachlichen Ausdruck seine Bedeutung zu geben vermag.
So etwas findet sich aber durchaus schon bei Tieren, denn auch die
können Laute von sich geben und damit etwa die Intention des Dro-
hens äußern. Hermes’ Hochschätzung des lÒgoj, der ja schon als logi-
sche Kategorie auftauchte, scheint es ihm zu verbieten, den Tieren auch
nur einen Ausschnitt davon zuzuschreiben. Auch der Rekurs auf die
Sprache scheint also nicht zu unserem gewünschten Kriterium der Un-
terscheidung von Wissen und Instinkt zu führen, denn auch hier ist
Hermes zu streng und damit zu vorschnell. Denn wir würden den Tie-
ren hier zunächst einen hinreichenden sprachlichen Ausdruck zu-
schreiben, der den Transport von Intentionen und warum nicht auch
von erlerntem Wissen ermöglicht.
§ 41 Wenn wir uns jedoch seine wenige Zeilen später zu findende
Begründung dafür ansehen, warum Tiere für Hermes aber keine Spra-
che haben können, dann kommen wir unserem Ziel näher. Diese Be-
gründung steht zwar ganz im Geiste des platonischen Denkens, bringt
aber eine brillante neue Idee ins Spiel, die vor allem über all das hin-
ausgeht, was wir von den Stoikern über die Sprache erfahren haben:

46
Perˆ noà koinoà prÕj T£t 12, 2-5

59
Hermes Trismegistos (um 150)

T¦ g¦r ¥lla zùa lÒgJ oÙ cr©tai, »„Nutzen denn die anderen Le-
ð p£ter; – OÜ, tšknon, ¢ll¦ bewesen keine Sprache, o Va-
fwnÍ· p£mpolu d diafšrei lÒgoj ter?“ – „Nein, Kind, sondern
fwnÁj. Ð m n g¦r lÒgoj koinÕj [nur] die Stimme. Die Sprache ist
p£ntwn ¢nqrèpwn, „d…a d ˜k£stou nämlich dieselbe bei allen Men-
fwn» ™sti gšnouj zóou. – 'All¦ schen, die Stimme jedes Tieres
kaˆ tîn ¢nqrèpwn, ð p£ter, ›ka- aber ist der Gattung eigen.“ –
ston kat¦ œqnoj di£foroj Ð lÒgoj; „Aber auch unter den Menschen,
– Di£foroj mšn, ð tšknon, eŒj d Ð o Vater, unterscheidet sich doch
¥nqrwpoj· oÛtw kaˆ Ð lÒgoj eŒj die Sprache in jedem Volk?“ –
™sti kaˆ meqermhneÚetai kaˆ Ð „Die Sprache ist unterschieden, o
aÙtÕj eØr…sketai kaˆ ™n A„gÚptJ Kind, der Mensch aber ist einer;
kaˆ Pers…di kaˆ ™n `Ell£di. aus dieser Perspektive ist auch
die Sprache eine und wird sie
übersetzt, so findet man dasselbe
in Ägypten, in Persien und in
Griechenland.“«47

Die Tiere haben zwar die Stimme und damit eine Lautäußerung, ja
selbst eine Lautäußerung, die nach der hier vorliegenden Argumentati-
on durchaus bedeutungstragend sein kann, auch wenn Hermes das nie
zugeben würde. Allein auch eine bedeutungstragende Stimme reicht
noch nicht dafür aus, eine Sprache zu bilden. Hermes’ Argument dafür
ist das folgende: Die Sprache muß wesentlich eine sein. Das aber heißt,
daß alles, was irgendwo als Sprache bezeichnet wird, in dieser Einheit
aufgehen können muß. Die Unterschiedenheit der menschlichen Spra-
chen kann durch Übersetzungen überwunden werden. Diese führen
verschiedene Sprachen zu einer Einheit zusammen, so daß sie im
Grunde eine Sprache, ein gemeinsames Bedeutungssystem bilden. Das
ist bei Tiersprachen nicht möglich. Diese mögen zwar innerhalb einer
Gattung noch einer gewissen abstrakten Kommunikation dienen kön-
nen, sobald sich aber Tiere verschiedener Gattungen begegnen,
herrscht Unverständnis.
Das heißt nun aber für das Wissen, daß es als spezifisch menschli-
ches Wissen eine gewisse Unabhängigkeit als geistige Größe hat. Es ist
von einer Sprache in die andere übertragbar und besteht so unabhängig

47
Perˆ noà koinoà prÕj T£t 13, 1-8

60
Hermes Trismegistos (um 150)
von seinem natürlichen Rahmen, einer Lautäußerung. Die Stimme hin-
gegen bleibt trotz ihrer Bedeutungshaftigkeit an die Natur zurückge-
bunden und kann letztlich sogar als instinktgebundener Ausdruck eines
Tieres aufgefaßt werden.
§ 42 Was uns Hermes hier liefert ist der Ansatz zu einer holisti-
schen Theorie der Sprache. Danach ist die Sprache wesentlich immer
ein einziges System von Bedeutungsgehalten, die sich gegenseitig beein-
flussen können, nicht aber von außen beeinflußbar sind. Auch wenn
Sprachen in verschiedenen Kulturen entstehen und empirisch keinen
Kontakt zueinander haben, wie das bei Europäern und Inkas der Fall
gewesen ist, so können sie doch schnell im selben Geist zueinanderfin-
den, denn die logische Hintergrundstruktur, zu der sich diese jeweiligen
empirischen Geister ausgebildet haben, ist exakt dieselbe. Der Mensch,
so drückt es Hermes aus, ist einer (eŒj d Ð ¥nqrwpoj).
§ 43 Diesen holistischen Ansatz verläßt Hermes auch dort nicht, wo
er über das Verhältnis von Sinneswahrnehmung, Denken und Sprache
spricht:
oÜte g¦r Ð lÒgoj ™kfwne‹tai cwrˆj »Denn weder wird das Wort oh-
no»sewj oÜte ¹ nÒhsij fa…netai ne Denken ausgesprochen, noch
cwrˆj lÒgou. ¹ oân a‡sqhsij kaˆ ¹ zeigt sich das Denken ohne das
nÒhsij ¢mfÒterai e„j tÕn ¥nqrwpon Wort. Die Wahrnehmung also
sunepeisršousin ¢ll»laij ésper und das Denken strömen beide
sumpeplegmšnai· oÜte g¦r cwrˆj als eines in den Menschen, gera-
a„sq»sewj dunatÕn noÁsai oÜte deso als ob sie miteinander ver-
[a„sqÁnai] cwrˆj no»sewj. flochten seien. Denn weder ist
Denken ohne Wahrnehmung
möglich, noch Wahrnehmung
ohne Denken.« 48

Alle drei, nÒhsij, lÒgoj und a‡sqhsij bilden im Menschen eine Einheit.
Dabei dürfte der Gegensatz hier aus einer platonischer Perspektive zwi-
schen nÒhsij auf der einen Seite und lÒgoj und a‡sqhsij auf der ande-
ren Seite zu suchen sein. Die Sprache gehört ja nach Platon auch ins
Reich des Materiellen, ist bloß das unzureichend in materielle Formen
gegossene Denken. Hermes widerspricht dieser Auffassung und geht in

48
Perˆ no»sewj kaˆ a„q»sewj 1, 11– 2, 4

61
Hermes Trismegistos (um 150)
seiner Hochschätzung der Sprache sogar so weit, das er das Denken als
ohne Sprache gar nicht erfahrbar darstellt. Wie sollten wir denn die
Gedanken anderer erraten, wenn nicht vermittels der Sprache? Für
Hermes ist die Sprache also offenbar mehr als bloß ein unzureichendes
Hilfsmittel; sie ist die weltliche Gestalt des Denkens und dieses auszu-
drücken durchaus würdig. Hermes stellt beides im Menschen auf eine
Stufe.
Dann jedoch geht er sogar so weit, auch die Wahrnehmung auf die-
se Stufe zu stellen. Im Menschen sei beides immer verbunden. Was
damit gemeint ist, ist klar. Auch Hermes trennt ja zwischen Denken
und Wahrnehmung und ersteres steht bei ihm höher. Aber die
menschliche Wahrnehmung hat doch immer die Besonderheit, daß sie
vom Denken begleitet und geleitet ist. Das Denken hebt die Wahr-
nehmungsgehalte auf seine Ebene. Gleichzeitig ist es aber selbst durch
die Wahrnehmung vermittelt. Wahrnehmung ist so aber nicht mehr die
bloße Schnittstelle zur Außenwelt, sondern in die Sprache als Ganzheit
integriert.
Hier finden wir so auch unser Kriterium zur Unterscheidung von
Wissen und Instinkt. Der Instinkt ist eben nicht an einen übergeordne-
ten Geist gebunden, durch den alle Wahrnehmungen eine zusätzliche
Dimension erhalten und der entscheiden kann, ob er auf einen Wahr-
nehmungsreiz auf diese oder auf jene Weise reagiert. Der Instinkt mag
bei einem Geistwesen zwar auch vorhanden sein, aber er ist geistig
überformt und das Handeln kann – muß natürlich nicht – durch das
Wissen vermittelt sein.
§ 44 Unser idealistischer Ansatz versucht den Geist als genau dasje-
nige aufzufassen, als was Hermes die Sprache ansieht, nämlich als eine
alle einzelnen menschlichen Geister umfassende Einheit. Die Frage, ob
wir nun die Sprache, wo Hermes sie schon so hoch schätzt, auch wirk-
lich mit dem Geist im Sinne unseres idealistischen Ansatzes gleichset-
zen können, ist schwer zu entscheiden. Es gibt durchaus zwei Hinweise
darauf. Ein erster Hinweis läßt die Einzelseelen aus der Weltseele ent-
stehen:
OÙk ½kousaj ™n to‹j Geniko‹j Óti »Hast du nicht im allgemeinen
¢pÕ mi©j yucÁj tÁj toà pantÕj Teil gehört, daß alle Seelen aus

62
Hermes Trismegistos (um 150)
p©sai aƒ yuca… e„sin aátai ™n tù der einen Seele des Alls stam-
pantˆ kÒsmJ kulindoÚmenai, ésper men und sich im ganzen Univer-
¢ponenemhmšnai; sum herumtreiben, als seien sie
verteilt worden.«
49

Dieser erste Hinweis läßt sich freilich noch sehr leicht relativieren. Zwar
behauptet Hermes hier, die Seelen der Menschen stammten aus einer
übergeordneten Seele, aber diese Behauptung geht nicht über Platons
These hinaus, wonach die Einzelseelen aus der Weltseele emanieren.
Zwar taucht hier das idealistische Motiv auf, daß das Viele im Einen
seine Einheit findet, aber es taucht in einer derart oberflächlichen Wei-
se auf, daß wir daraus kaum weitere Schlüsse ziehen dürfen.
Sehr viel weiter geht da allerdings schon der zweite Hinweis, der die
menschlichen Seelen wirklich in einer Art umfassendem Geist aufge-
hen läßt:
p©sa g¦r ™pist»mh ¢sèmatoj, »Denn alle Wissenschaft ist un-
Ñrg£nJ crwmšnh aÙtù tù no , Ð d körperlich, bedient sich des Gei-
noàj tù sèmati. ¢mfÒtera oân stes als ein Werkzeug, ebenso
cwre‹ e„j sîma, t£ te noht¦ kaˆ wie der Geist sich des Körpers.
t¦ Ølik£. Beide also werden als Körper
genutzt, der Geist und die Mate-
rie.«
50

Hier haben wir es eindeutig mit drei verschiedenen Systemebenen zu


tun, der ™pist»mh als der höchsten, dem noàj als einer mittleren und
dem sîma als der unteren. Dabei erhebt Hermes hier sicherlich keinen
Anspruch auf Vollständigkeit; vor allem die unterste Ebene wird hier
nur als ein Beispiel genutzt. Dabei zeigt er uns, daß die ™pist»mh den
noàj ebenso als Körper nutzt, wie das der noàj mit dem menschlichen
Körper tut. Was aber ist diese ™pist»mh, die damit ja noch über den
Geist, der hier als einzelner menschlicher Geist verstanden wird, hin-
ausgeht? Es handelt sich dabei auf jeden Fall um eine Art Verbindung
des einzelnen menschlichen Geistes mit dem Ideellen mit dem göttli-
chen noàj; es ist die Erkenntnis dieses göttlichen noàj. Dann aber ist die-
se ™pist»mh zwangsläufig etwas, was über den einzelnen menschlichen

49
Kle…j 7, 3-5
50
Kle…j 10, 1-4

63
Hermes Trismegistos (um 150)
Geist hinausgeht; eine zusätzliche Ebene, die sich nicht im Denken ei-
nes Menschen erschöpft, sondern das Denken aller Menschen in sich
faßt.
Wenn wir uns genau ansehen, wie Hermes diese zusätzliche Ebene
hier beschreibt, dann ist ihr auffälligster Wesenszug sicherlich, daß sie
die einzelnen menschlichen Geister als ihren Körper benutzt. Damit
trifft er aber genau das, was wir hier als Geist bezeichnen wollen, näm-
lich ein geistiges Wesen, das zwar in der Natur verankert ist, dessen
Materie aber bereits etwas Geistiges ist. Wir sehen diese Ebene hier in
der Sprache erreicht. Es ist natürlich mehr als fraglich, ob Hermes das
trotz seiner Wertschätzung der Sprache auch so sehen kann. Aber wir
können ihm hier durchaus sogar einen Schritt entgegenkommen.
Wenn wir von Sprache sprechen, dann meinen wir vor allem deren
Fähigkeit, eben jenes den einzelnen Menschen übergeordnete System
zu bilden. Diese Fähigkeit kommt der Sprache aber vor allem dadurch
zu, daß sie auf alle logischen Strukturen zurückgreifen kann, die auch
den Ideen ihre Selbständigkeit zu geben in der Lage sind. Insofern sie
aber über diese verfügt ist sie nichts anderes als die ™pist»mh des göttli-
chen noàj. Denn nicht das Beiläufige, sondern das Logische in der
Sprache garantiert ihren Bestand, der vor allem im ständigen Selbstbe-
zug besteht.

iv. Die Rückkehr zum platonischen Geistbegriff


§ 45 Aber auch wenn Hermes so in die unmittelbare Nähe des von uns
anvisierten Geistbegriffs vordringt, so fällt er doch an anderen Stellen
immer wieder in einen platonischen Geistbegriff zurück, der sich vor
allem aus der scheinbar doch sehr bildlichen Vorstellung eine Unsterb-
lichkeit der Einzelseele speist und gar noch weiter zu gehen imstande
ist:
toàtÒ ™sti tÕ ¢gaqÕn tšloj to‹j »Das gute Ziel der das Wissen
gnîsin ™schkÒsi, qewqÁnai. habenden aber ist, daß sie ver-
göttlicht werden.«
51

51
Poimandres 26, 9-10

64
Hermes Trismegistos (um 150)
Offenbar schwebt Hermes hier, ähnlich wie Platon und in der Folge
den Gnostikern eine persönliche Erlösung des Menschen durch die
Philosophie vor. Dies geht einher mit einer Abwertung, ja dem Haß ge-
gen alles Körperliche:
'E¦n m¾ prîton tÕ sîm£ sou »Wenn du nicht deinen Körper
mis»sVj, ð tšknon, seautÕn filÁ- haßt, o Kind, kannst du dich
sai oÙ dÚnasai· nicht selbst lieben.«
52

Dem Menschen stehen dann nur zwei Wege offen, der eine, der ihn
zum Gott werden läßt und der andere, durch den er zum Tier wird:
Ósoi m n oân sunÁkan toà khrÚgma- »Die folglich dieses Gebot hören
toj kaˆ ™bapt…santo toà noÒj, und im Geist getauft werden, die-
oátoi metšscon tÁj gnèsewj kaˆ se haben am Wissen teil und
tšleioi ™gšnonto ¥nqrwpoi, tÕn noàn werden vollkommene Menschen,
dex£menoi· Ósoi d ¼marton toà kh- die den Geist aufnehmen; die
rÚgmatoj, oátoi m n oƒ logiko…, tÕn aber das Gebot verfehlen, diese,
noàn m¾ proseilhfÒtej, ¢gnooàntej obschon rationale Wesen, wer-
™pˆ t… gegÒnasin kaˆ ØpÕ t…nwn, aƒ den den Geist nicht aufnehmen
d a„sq»seij toÚtwn ta‹j tîn ¢lÒ- und nichtwissend warum und
gwn zówn parapl»siai durch wen sie geschaffen sind,
gleichen ihre Sinne denen der
irrationalen Wesen.« 53

Das Gebot, von dem hier die Rede ist, ist natürlich das der platoni-
schen Philosophie nach einer weitest möglichen Zurückdrängung des
Körperlichen zugunsten des Geistigen. Hermes zeigt sich hier eher als
ein Gnostiker.
Insgesamt zeigt sich also bei Hermes eine Gespaltenheit. Einerseits
finden wir diese elitären Töne bei ihm, welche die Menschheit in zwei
Klassen teilen, die Geistigen und Ungeistigen, die Tiere. Andererseits
jedoch findet sich bei ihm auch eine Anerkennung der Notwendigkeit
der natürlichen Basis des Geistes. Beide gedanklichen Ansprüche sind
jedoch bei ihm noch nicht zu einer Synthese geführt, auch wenn die
Ansätze dazu bereits an zahlreichen Stellen vorhanden sind.

52
PrÕj T¦t Ð krat¾r À mon£j 6, 3-5
53
PrÕj T¦t Ð krat¾r À mon£j 4, 7 – 5, 2

65
Herminos (um 150)
Herminos (um 150)
Über Herminos’ Leben wissen kaum etwas. Er wird hin und wieder
von den Kommentatoren der Schriften des Aristoteles erwähnt und hat
vermutlich selbst Kommentare zu Aristoteles’ Schriften verfaßt. Er soll
ein Schüler des Aristotelikers Aspasios gewesen sein. Simplikos berich-
tet, er sei einer der Lehrer des Alexandros von Aphrodisias gewesen,
mit dem wir uns später in diesem Band noch beschäftigen werden.
Daraus, daß Lukianos ihn in seiner Biographie über den Zyniker De-
monax erwähnt, müssen wir schließen, daß als Lehrer des Alexandros’
bereits in vorgerücktem Alter war. Leider ist keine seiner Schriften
überliefert und wir sind auf Hinweise anderer antiker Autoren angewie-
sen.

Geist
§ 46 Im Grund gibt es nur eine These des Herminos, die für uns von
Interesse ist. Diese These betrifft die Bedeutung sprachlicher Ausdrük-
ke, mit der sich Herminos, der vor allem die logischen Schriften des
Aristoteles kommentiert haben soll, sicherlich ausgiebig beschäftigt hat.
Herminos leitete einem Bericht des Boethius zufolge aus der Existenz
von Homonymien diejenige Größe her, die für den Bedeutungsgehalt
sprachlicher Ausdruck maßgeblich sein soll:
herminus vero huic est exposi- »Herminos wehrt sich gegen die-
tioni contrarius. dicit enim non se Interpretation [des Aristote-
esse verum eosdem apud omnes les]. Er sagt nämlich, daß es nicht
homines esse intellectus, qu- wahr sei, daß ein Wort bei allen
orum significativae sunt. quid Menschen denselben Gedanken
enim, inquit, in aequivatione habe, den es ausdrücke. Was
dicetur? ubi unus idenique vocis nämlich, so fragt er, wird durch
modus plura significat [...]. et Homonyme ausgesagt? Wo doch
hoc simpliciter accipiendum ein und derselbe sprachliche
est secundum herminium, ut ita Ausdruck vieles bedeutet [...].
dicamus, quorum voces signifi- Nach Herminos müssen wir dar-
cative sunt, illae sunt animae aus ganz direkt schließen, daß
passiones wenn wir sprechen, und diese
sprachliche Ausdrücke bedeu-

66
Herminos (um 150)
tungstragend sind, jene Bedeu-
tungen die Regungen der Seele
sind.«54

Zunächst einmal scheint der Schluß, den Herminos hier vollzieht, sehr
eingängig zu sein. Da in der Sprache Worte auftauchen, deren Lautfol-
ge absolut gleich ist kann es keine direkte Referenz der Worte auf Din-
ge in der Außenwelt geben. Alle geäußerten Sätze, die solche Worte
enthalten, wären sonst unverständlich. Wir müssen aber davon ausge-
hen, daß im Fall des Vorkommens solcher Homonyme in einer Aussa-
ge, doch immer nur eine der Möglichkeiten die Richtige ist. Wie aber
können wir diese Richtigkeit bestimmen? Es ist unmöglich, hier den
Bezug zu Dingen heranzuziehen, denn der ist eben nicht eindeutig.
Wenn wir nun aber nach einem eindeutigen Kriterium suchen, welches
uns angibt, was denn die genaue Bedeutung des betreffenden Aus-
drucks ist, dann liegt es nahe, zur Quelle dieses Ausdrucks zurückzu-
kehren. In der Tat muß der Sprecher es wissen, sein Ausdruck hat
eben den Sinn, den er damit gemeint hat. So scheint Herminos’ Auffas-
sung also durchaus gerechtfertigt zu sein.
§ 47 Aber diese Auffassung ist keinesfalls zwingend. Denn in der
Regel verstehen wir unser Gegenüber ja problemlos auch wenn er Ho-
monyme verwendet. Und wir tun das ohne dabei in seine Seele zu blik-
ken. Das kann aber nichts anderes heißen, als daß es noch ein weiteres
Kriterium geben muß. Dieses Kriterium liegt meines Erachtens im Zu-
sammenhang des Gesagten. Worte haben eben nicht isoliert eine Be-
deutung, sondern im Zusammenhang von nicht nur Sätzen, sondern
von einem ganzen Gefüge von Überzeugungen, die wir mit anderen
teilen. Hierin finden wir in der Regel problemlos den logischen Ort,
den unser Gegenüber uns beschreibt. Dieser Zusammenhang bestimmt
also die Bedeutung der Worte. Er streckt sich aber über die ganze
Sprache hinaus, ja letztlich bildet er das Ganze des Geistes.

54
Boethius, In librum Aristotelis de interpretatione commentaria I; Patrologia Latina
LXIV, p. 412 C-D

67
Ambrosios von Athen (um 160)
Ambrosios von Athen (um 160)
Ambrosios wird in einem syrischen Manuskript als Autor mehrerer
Texte erwähnt, die traditionell dem Justinus zugeschrieben wurden,
aufgrund von Stil und Inhalt aber nicht zu ihm passen sollen. Als in-
haltliche Abweichung kann ich vor allem eine deutliche Abgrenzung
zum Platonismus ausmachen, die sich so bei Justinus nicht findet, aber
schon eine Generation später – so etwa bei Justinus’ Schüler Tatian –
hervorbricht.

Geist
§ 48 In dem Ambrosios zugeschriebenen Brief Ad Diognetum finden
wir vor allem einen Gedanken, der einen Bruch mit einem zentralen
Postulat nicht nur der platonischen Denktradition sondern des antiken
Denkens überhaupt darstellt. Dieser Bruch bezieht sich auf die Welt-
seele, die als eigenständige Größe bei den Christen, wie wir schon bei
Justinus gesehen haben, zunächst keinen systematischen Ort mehr hat.
Ambrosios findet nun eine Möglichkeit, diesen systematischen Ort
im platonischen Denken dennoch zu füllen, ihm aber einen anderen
Inhalt zu geben und kann so die in der griechischen Philosophie allge-
genwärtige Metapher, daß auch der Weltkörper eine Seele haben müs-
se, für das christliche Denken fruchtbar machen:
`Aplîj d' e„pe‹n· Óper ™stˆn ™n »Um es kurz zu sagen, was im
sèmati yuc», toàt' e„sˆn ™n kÒsmJ Leibe die Seele ist, das sind in
Cristiano…. ”Espartai kat¦ p£n- der Welt die Christen. Wie die
twn tîn toà sèmatoj melîn ¹ yu- Seele über alle Glieder des Lei-
c»· kaˆ Cristianoˆ kat¦ t¦j toà bes, so sind die Christen über die
kÒsmou pÒleij. O„ke‹ m n ™n tù Städte der Weit verbreitet. Die
sèmati yuc», oÙk œsti d ™k toà Seele wohnt zwar im Leibe,
sèmatoj· kaˆ Cristianoˆ ™n kÒsmJ stammt aber nicht aus dem Lei-
o„koàsin, oÙk e„sˆ d ™k toà kÒsmou. be; so wohnen die Christen in
der Welt, sind aber nicht von der
Welt.«55

55
Ad Diognetum 6; p. 497 D 2-8, Übers. G. Rauschen

68
Ambrosios von Athen (um 160)
Als Weltseele bezeichnet Ambrosios hier die Cristiano…, die Christen
selbst. Das kann nun in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Zum
einen eben im Sinne einer platonischen Weltseele, wonach dann eben
diese Seele nicht sogleich bei der Schöpfung der Welt von Gott ge-
schaffen worden ist, sondern erst viel später, sozusagen als krönender
Abschluß der Schöpfung. Zum anderen jedoch läßt sich diese Textstelle
auch so lesen, daß hier nicht die Welt selbst als Körper gemeint ist,
sondern bereits die Welt des Geistes, also die Welt der Nichtchristen.
Beiden Interpretation ist etwas abzugewinnen und der Autor mag diese
Doppeldeutigkeit bewußt intendiert haben.
Die erste Lesart macht das Christentum zur vollendeten Gestalt des
Geistes und eröffnet die Möglichkeit alle Attribute, die im Platonismus
auf die Weltseele angewendet wurden, nun auf die Cristiano… anzu-
wenden. Zugleich findet sich hier aber noch ein anderer Aspekt ange-
sprochen. Indem die Christenheit in ihrer Gesamtheit als Weltseele be-
trachtet wird, unterstellt der Autor so etwas wie einen Geist der Ge-
meinschaft, er faßt das geistige Wesen, das die Christenheit bildet als
ein Wesen auf und landet so exakt bei dem, was wir als Geist bezeich-
nen wollen; nicht das Bewußtsein eines einzelnen Menschen, sondern
das Geflecht der durch die Interaktion der Menschen entstehenden so-
zialen und überhaupt bedeutungstragenden Strukturen. Dabei sind
dann natürlich für Ambrosios bestimmte Interaktionen, nämlich solche,
die dem christlichen Denken zugehörig sind, herausgehoben.
Die zweite Lesart hingegen stellt eher die Heiden in den Mittel-
punkt, denn die werden hier zum Körper der Cristiano… degradiert.
Das kann man sowohl positiv, wie auch negativ verstehen. In einer ne-
gativen Perspektive sagt das natürlich, daß die Heiden diejenigen Men-
schen sind, die dem Körperlichen der Vorzug vor dem Geistigen und
Göttlichen geben. In einer positiven Hinsicht hingegen – man hat ja zu
bedenken, daß der Körper für die Christen im Gegensatz zu den Gno-
stikern nicht das Übel schlechthin ist – kann man diese Metapher auch
so verstehen, daß damit die Christen aufgefordert sind, die Heiden zu
leiten, wie der Körper die Seele leitet. Zugleich kann das aber auch
heißen, daß das christliche Denken das heidnische voraussetzt; eine
Implikation, an die Ambrosios sicherlich nicht gedacht hat.

69
Tatian (120-180)
Tatian (120-180)
Tatian stammt aus dem syrischen Sprachraum und wurde nach eigenen
Angaben im Land der Assyrer geboren. Nach einer Ausbildung in grie-
chischer Philosophie sei er zunächst als Sophist durch die Welt gereist.
Nachdem er Anhänger unterschiedlicher Bewegungen gewesen war
kam er zuletzt zum Christentum und wurde in Rom ein Schüler des Ju-
stinus. Nach dessen Tod kehrte er in den Orient zurück und wurde
Anhänger der enkratitischen Sekte, die unter anderem die Ehe und den
Fleisch- und Weingenuß ablehnt und dem Gnostizismus nahe stand.

Ideen
§ 49 In der Bestimmung des Gottesbegriffs, als Ausgangspunkt seines
Denkens, erkennen wir einerseits das stark am Platonismus orientierte
christliche Denken wieder, andererseits bemüht sich Tatian aber auch
schon um eine Abgrenzung von Platonismus, was durchaus als ein
philosophisches Leitmotiv seiner Oratio ad graecos gesehen werden
kann. Eine erste Bestimmung Gottes durch Tatian klingt durchaus
noch platonisch:
qeÕj Ð kaq' ¹m©j oÙk œcei sÚstasin »Unser Gott hat seinen Anfang
™n crÒnJ, mÒnoj ¥narcoj ín kaˆ nicht in der Zeit; er allein ist an-
aÙtÕj Øp£rcwn tîn Ólwn ¢rc». fangslos, zugleich aber aller Din-
pneàma Ð qeÒj, oÙ di»kwn di¦ tÁj ge Anfang. Ein Geist ist Gott,
Ûlhj, pneum£twn d Ølikîn kaˆ aber kein Geist, der in der Mate-
tîn ™n aÙtÍ schm£twn katas- rie waltet, sondern der Schöpfer
keuast»j der Geister und Formen, die an
der Materie haften.« 56

Gott wird hier als ein Wesen bestimmt, daß außerhalb der Zeit existiert
und selbst ohne Anfang (¥narcoj) einziger Anfang von allem ist. Das ist
durchaus eine Parallele zum platonischen Einen, welches dieselben Ei-
genschaften aufweist. Ein leichter Unterschied kommt dann im näch-
sten Satz ins Spiel. Hier wird Gott als Geistwesen, als pneàma bestimmt.
Sieht man den Geist als etwas in sich Vielfältiges an, dann wäre dieser

56
Oratio ad graecos IV, 2, 1-2, Übers. R.C. Kukula

70
Tatian (120-180)
Gott bereits mehr als nur das Eine. Tatian stellt dann aber fest, dieser
Geist sei nicht ein solcher, der die materielle Welt strukturiert, sondern
eben das Hervorbringende dieser Strukturen. Gott ist so als das Ideelle
schlechthin bestimmt, dem gegenüber dann die Naturformen, die
Geistwesen und zuletzt auch die Materie stehen.
§ 50 Als Christ übernimmt Tatian natürlich den philonischen Ge-
danken eines lÒgoj, der einerseits mit Christus identifizierbar ist, ande-
rerseits aber auch mit dem platonischen noàj:
Ð g¦r despÒthj tîn Ólwn aÙtÕj »Der Herr aller Dinge, der zu-
Øp£rcwn toà pantÕj ¹ ØpÒstasij gleich die Hypostase (der Ur-
kat¦ m n t¾n mhdšpw gegenhmšnhn grund) des Alls ist, war nämlich
po…hsin mÒnoj Ãn· kaqÕ d p©sa zu der Zeit, da es noch keine
dÚnamij Ðratîn te kaˆ ¢or£twn Schöpfung gab, allerdings allein:
[aÙtÕj ØpÒstasij] Ãn sÝn aÙtù, t¦ insofern aber jegliche Kraft alles
p£nta sÝn aØtù di¦ logikÁj Sichtbaren und Unsichtbaren bei
dun£mewj aÙtÕj [kaˆ Ð lÒgoj, Öj Ãn ihm war, bestanden eben auch
™n aÙtù,] Øpšsthsen. alle Dinge schon bei ihm vermö-
ge der Kraft des Logos.«57

Gott wird hier als die Substanz von allem (¹ ØpÒstasij toà pantÕj) ge-
faßt. Als diese Substanz von allem muß natürlich alles irgendwie schon
in ihm angelegt sein. Hier eben kommt der lÒgoj ins Spiel. Er ist das
Bindeglied zwischen Gott und der Welt. Tatian bestimmt dieses Bin-
deglied hier als Gottes Kraft oder Fähigkeit (dÚnamij). Diese ist der
Möglichkeit nach immer schon in Gott enthalten, muß aber doch ir-
gendwie erst von ihm aktiviert werden. Dazu bedarf es nach Tatian ei-
nes Willensaktes von Gott, der so den lÒgoj hervorruft:
Qel»mati d tÁj ¡plÒthtoj aÙtoà »Erst durch einen Willensakt
prophd´ lÒgoj· Ð d lÒgoj oÙ kat¦ Gottes, dessen Wesen einfach ist,
kenoà cwr»saj œrgon prwtÒtokon trat der Logos hervor, aber nicht
toà patrÕj g…netai. toàton ‡smen zwecklos ging er von ihm aus und
toà kÒsmou t¾n ¢rc»n. ward des Vaters erstgeborenes
Werk: wir wissen, daß er der An-
fang der Welt ist.«
58

57
Oratio ad graecos V, 1, 2-6, Übers. R.C. Kukula
58
Oratio ad graecos V, 1, 6-9, Übers. R.C. Kukula

71
Tatian (120-180)
Tatian unterscheidet strikt zwischen der Erzeugung der Welt und der
des lÒgoj. Der lÒgoj entsteht aus Gott um alsdann die Welt entstehen
zu lassen. Er ist also in jeder Hinsicht das Bindeglied zwischen Welt
und Gott.
§ 51 Wir finden bei Tatian zwei Beschreibungen dieses Hervorge-
hens des lÒgoj aus Gott. Die eine haben wir bereits bei seinem Lehrer
Justinus kennengelernt. Danach geht der lÒgoj wie ein gesprochenes
Wort aus Gott hervor, der dadurch keinen Substanzverlust erleidet.
Die andere kann als eine weitere Analyse des nämlichen Gedankens
verstanden werden:
gšgonen d kat¦ merismÒn, oÙ kat¦ »Seine Geburt erfolgte durch
¢pokop»n· tÕ g¦r ¢potmhq n toà Teilung, nicht durch Abtrennung;
prètou kecèristai, tÕ d merisq n denn was man abschneidet, ist
o„konom…aj t¾n dia…resin proslabÕn von dem Ersten, zu dem es ge-
oÙk ™nde© tÕn Óqen e‡lhptai pe- hörte, für immer geschieden, das
po…hken. aber, was man teilt, wird nur wie
in einer Hauswirtschaft da und
dorthin gegeben, ohne denjeni-
gen ärmer zu machen, von dem
es genommen ist.«59

Der Gedanke des auszuschließenden Substanzverlustes erklärt uns hier,


warum Tatian so akribisch zwischen einer Entstehung durch Teilung
(kat¦ merismÒn) und einer durch Abspaltung (kat¦ ¢pokop»n) unter-
scheidet. Der abgespaltene Teil ist alsdann nicht mehr Teil des Gan-
zen, von dem er abgespalten wurde; die Teilung hingegen, so wie Tati-
an sie hier faßt, konstituiert keine Abspaltung, sondern eher eine Aus-
differenzierung. Warum aber Gott keinen Substanzverlust bei der Er-
zeugung des lÒgoj erleiden darf, ist leicht zu sehen. Gäbe es diesen
Substanzverlust, so gäbe es etwas anderes als Gott, etwas dessen
ØpÒstasij nicht mehr in Gott, sondern in sich selbst liegt. Das aber ist
für Tatian auszuschließen.
Wir haben also hier die beiden wesentlichen Elemente des platoni-
schen Denkens vor uns, einerseits Gott als das Eine und andererseits
den lÒgoj als den Stellvertreter der Ideen, aus dem die Naturformen

59
Oratio ad graecos V, 1, 9 – 2, 2, Übers. R.C. Kukula

72
Tatian (120-180)
entstehen. Auf dieser noch durchaus platonischen Basis entwickelt Ta-
tian nun einen Materiebegriff, in dem er sich nicht nur von Platon,
sondern von fast allen uns bisher vor Augen gekommenen griechischen
Denkern, ja sogar von seinem Lehrer Justinus abgrenzt.

Natur
i. Die Materie
§ 52 Tatian entwickelt einen Materiebegriff, bei dem von Anfang an
klar ist, daß Gott die Materie erst geschaffen hat, daß sie nicht zugleich
mit ihm existiert:
p©san œstin „de‹n toà kÒsmou t¾n »Das ganze Weltgebäude und die
kataskeu¾n sÚmpas£n te t¾n ganze Schöpfung besteht, wie
po…hsin gegonu‹an ™x Ûlhj kaˆ t¾n man sehen kann, aus Materie
Ûlhn d aÙt¾n ØpÕ toà qeoà pro- und die Materie selbst ist von
beblhmšnhn, †na tÕ mšn ti aÙtÁj Gott geschaffen, wobei man sich
¥poron kaˆ ¢schm£tiston noÁtai denken muß, daß sie vor der
prÕ toà di£krisin labe‹n, tÕ d ke- Scheidung der Elemente wüst
kosmhmšnon kaˆ eÜtakton met¦ t¾n und ungestalt, erst nach dersel-
™n aÙtÍ dia…resin. ben schön und wohl geordnet
war.«
60

Gott bringt also irgendwie die Materie hervor. Wie das genau geschieht,
die eigentlich spannende Frage, wird hier freilich nicht beantwortet. Die
Materie ist dann die Substanz der Elemente. Die Elemente, die durch
eine di£krisij, also eine Art Sortierungsprozeß aus der Materie entste-
hen, bilden die erste Form und geben der Natur damit bereits eine ge-
wisse Ordnung.
Wie also stellt sich Tatian die Materie vor dieser di£krisij vor? Of-
fenbar war sie ein wildes Gemisch von allem möglichen. Tatians Sicht-
weise scheint dabei allerdings weniger von philosophischer Reflexion
als vielmehr durch den Schöpfungsbericht der Genesis beeinflußt zu
sein, wo die noch ungeformte Materie auf eben diese Weise beschrie-
ben wird. Immerhin aber haben wir hier einen ersten christlichen Den-

60
Oratio ad graecos XII, 1, 5-9, Übers. R.C. Kukula

73
Tatian (120-180)
ker, der konsequent das Ideelle auch als Ursprung des Materiellen
denkt und so an der Grundlage eines philosophischen Systems arbeitet,
das im Gegensatz zu den griechischen Vorläufern auf ganzer Linie mo-
nistisch ist.

ii. Die Ablehnung der Weltseele


§ 53 Ein weiterer Aspekt, in dem Tatian mit dem griechischen Denken
und hier auch insbesondere mit dem Platonismus aufräumt, ist die Fra-
ge nach der Rolle der Gestirne. Bei Platon und vielen seiner Epigonen
galten diese als Körper der Weltseele und somit als Ausdruck einer
Wesenheit, die weit höher steht als der Mensch. Bei Tatian ist das nicht
mehr der Fall, die Rolle des Menschen und damit des Geistes wird bei
ihm deutlich aufgewertet:
gšgonen ¼lioj kaˆ sel»nh di' ¹m©j· »Sonne und Mond sind um uns-
e ta pîj toÝj ™moÝj Øphrštaj retwillen geworden: wie sollte ich
proskun»sw; sie also anbeten, da sie mir
dienstbar sind?«61

Tatian spezifiziert die Rolle oder den Dienst, den uns die Gestirne tun,
nicht genauer. Wie aber auch immer dieser Dienst genauer zu bestim-
men ist, hier ist in jedem Falle erkannt, daß die Form der Planentenbe-
wegungen nicht eine hochgeistige Form ist, sondern, daß diese sich in
der Regelmäßigkeit der Bewegung erschöpft. Im Grunde ist damit der
Weg frei, die Gravitationsgesetze, die freilich damals noch unbekannt
waren, auf die Planeten anzuwenden. Für frühere antike Denker – Ari-
stoteles vielleicht einmal ausgenommen – wäre das eine Denkunmög-
lichkeit gewesen, denn wie sollte etwas, das höher als der menschliche
Geist steht, sich in so einfachen Gesetzmäßigkeiten erschöpfen? Aber
auch bei Aristoteles ist das noch undenkbar, denn wenn er auch keine
Weltseele annimmt, so sind doch die Planetenbewegungen eine Art
Übersetzungsmodul des göttlichen durch ersten Anstoß veranlaßten
Willens ins Weltgeschehen. Das alles fällt nach Tatian nun weg und
allein der menschliche Geist wird als höchstes Naturwesen angesehen.

61
Oratio ad graecos IV, 2, 7-8, Übers. R.C. Kukula

74
Tatian (120-180)

Geist
i. Ein gnostischer Geistbegriff
§ 54 Zunächst einmal unterscheidet Tatian den Geist von der Seele.
Die Seele lenkt den Körper, der Geist jedoch ist zu höherem berufen.
Diese Unterscheidung von Geist und Seele ist uns bereits von Valenti-
nos bekannt und wir finden in der Tat viele gnostische Gedanken in
Tatians Auffassung des Geistes:
DÚo pneum£twn diafor¦j ‡smen »Zweierlei Lebensgeister kennen
¹me‹j, ïn tÕ m n kale‹tai yuc», tÕ wir, und zwar einen, den wir
d me‹zon m n tÁj yucÁj, qeoà d „Seele“ schlechtweg nennen, und
e„kën kaˆ Ðmo…wsij· einen, der höher steht als die
Seele und Gottes Ebenbild und
Gleichnis ist.«
62

Diese Unterscheidung zweier pneÚmata, der yuc» einerseits und jenem


Teil, der den Menschen zum Abbild Gottes macht andererseits paßt
perfekt in unser idealistisches Verständnis des Geistes. Geht man davon
aus, daß es die Aufgabe der Seele ist, den Körper zu organisieren, so ist
der Geist von dieser insofern zu unterscheiden, als er sich nicht auf den
Körper, sondern auf den Geist selbst bezieht. Diejenigen Menschen
nun, die folglich ganz auf die Seele fixiert sind und das göttliche Ele-
ment in sich, den Geist, nicht entwickeln, sind – so denkt, wie im drit-
ten Band gesehen, Valentinos und so denkt auch Tatian – keine voll
entwickelten Menschen:
OÙk œstin ¢q£natoj, ¥ndrej “Ell- »Nicht unsterblich, ihr Bekenner
hnej, ¹ yuc¾ kaq' ˜aut»n, qnht¾ des Griechentums, ist unsere
dš· ¢ll¦ dunatÕj ¹ aÙt¾ kaˆ m¾ „Seele“ an sich, sondern sterb-
¢poqn»skein. qn»skei m n g¦r kaˆ lich: sie kann aber trotzdem dem
lÚetai met¦ toà sèmatoj m¾ gi- Tode entrinnen. Denn sie stirbt
nèskousa t¾n ¢l»qeian und erfährt zusammen mit dem
Körper ihre Auflösung, wenn sie
die Wahrheit nicht erkannt hat«.
63

62
Oratio ad graecos XII, 1, 1-3, Übers. R.C. Kukula
63
Oratio ad graecos XIII, 1, 1-4, Übers. R.C. Kukula

75
Tatian (120-180)
Was diesen Menschen fehlt ist die Unsterblichkeit des rein geistigen
Teils ihrer Seele. Wie die Gnostiker so geht auch Tatian davon aus,
daß die menschliche Seele prinzipiell ebenso vergänglich ist, wie der
Körper. Gerettet werden kann sie nur durch die Wahrheit (¢l»qeia).
Dabei ist nicht ganz klar, ob Tatian diese ¢l»qeia ebenso wie die Gno-
stiker als etwas bloß durch philosophische Erkenntnis zu Erfassenden-
des ansieht oder ob hier nicht auch das christlich religiöse Moment des
Glaubens eine große Rolle spielt. Zumindest dem Tonfalls seines Tex-
tes nach ist Tatian die gnostische Härte durchaus zuzutrauen.
§ 55 Auch die Aufgabe des Geistes bestimmt Tatian in einem Sinne,
welcher dem Gedankengut der Gnosis sehr nahe kommt:
kaˆ kaq£per Ð lÒgoj ™n ¢rcÍ gen- »Und wie der im Anfang gezeugte
nhqeˆj ¢ntegšnnhse t¾n kaq' ¹m©j Logos seinerseits unsere Welt
po…hsin aÙtÕj ˜autù, t¾n Ûlhn sich selber erzeugt hat, indem er
dhmiourg»saj, oÛtw k¢gë kat¦ die Materie bildete, so verbessere
t¾n toà lÒgou m…mhsin ¢nagennh- auch ich, der ich zur Nachah-
qeˆj kaˆ t¾n toà ¢lhqoàj kat£- mung des Logos wiedergeboren
lhyin pepoihmšnoj metarruqm…zw und zur Aufnahme der Wahrheit
tÁj suggenoàj Ûlhj t¾n sÚgcusin. geschaffen bin, die Unordnung
der mitgeborenen Materie.« 64

Die Interpretation dieser Textstelle hängt sehr am Ausdruck »metar-


ruqm…zw«, der hier mit »verbessern« übersetzt worden ist. Wörtlich ist
damit eine Wiederanordnung von etwas, daß in Unordnung (sÚgcusij)
geraten ist, gemeint. Der Begriff des Verbesserns ist also hier durchaus
treffend. Meines Erachtens kommt aber gerade darin ein gnostischer
Gedanke zum Ausdruck. Auch wenn Tatian die Materie bereits als von
Gott geschaffene Größe ansieht, so scheint sie für ihn dennoch so min-
derwertig zu sein, daß diese Schöpfung einer ständigen Verbesserung,
einer ständigen Korrektur bedarf. Diese abschätzige Sichtweise der Ma-
terie, in der sich der Mensch nicht als in die in sich vollendete göttliche
Schöpfung einfinden muß, sondern die er selbst ständig zum Göttlichen
hinzuführen hat, ist ganz im Geiste der Gnosis.

64
Oratio ad graecos V, 2, 9 – 3, 5, Übers. R.C. Kukula

76
Tatian (120-180)
ii. Reine Geistwesen
§ 56 Interessanterweise geht Tatian nun davon aus, daß die Menschen
nicht die einzigen Geistwesen sind. Neben diesen gäbe es auch noch
Dämonen. Die Dämonen sind diejenigen Wesen, die den Menschen
vom göttlichem Weg abzubringen versuchen. Er geht bisweilen gar so
weit, hinter den in Mythen berichteten Erscheinungen griechischer Göt-
ter ein Werk der Dämonen zu sehen. Uns interessiert aber weniger die
mythische Rolle der Dämonen als vielmehr deren metaphysische. Hier
erhalten wir von Tatian die folgende Beschreibung des Aufbaus der
Dämonen:
da…monej d p£ntej sark…on m n oÙ »Die Dämonen dagegen sind alle
škthntai, pneumatik¾ dš ™stin ohne Fleisch und haben einen
aÙto‹j ¹ sÚmphxij æj purÕj kaˆ geistigen Organismus wie von
¢šroj. Rauch und Nebel.«65

Wiederum hängt die Interpretation der Textstelle hier sehr stark an der
Übersetzung. Wie haben wir den Satz »pneumatik¾ dš ™stin aÙto‹j ¹
sÚmphxij« zu verstehen? In der uns vorliegenden Übersetzung ist er so
verstanden worden, daß damit gesagt sei, der Organismus der Dämo-
nen sei geistig. Einen geistigen Organismus zu haben würde aber hei-
ßen, daß wir es hier mit Wesen zu tun haben, die aus zwei hierarchisch
geordneten Ebenen bestehen, denn die eine muß ja als Organ Werk-
zeug der anderen sein. Läßt sich das aus diesem sehr einfachen Satz
herauslesen? Wörtlich ist hier gemeint, daß der Zusammenhalt eines
Dämons durch pneàma und eben nicht durch Fleisch gewährleistet sei.
Damit erhält das pneàma, das eigentlich ja auch von Tatian als die Sub-
stanz des Geistes und damit die inhaltliche Ebene angesehen wird, ge-
wissermaßen eine Organfunktion; auch wenn diese freilich überhaupt
nicht erklärt wird.
Aber ohne hier weiter nach Tatians Intentionen zu suchen, sollten
wir uns eher fragen, ob denn seiner metaphysischen Konstruktion hier
etwas abzugewinnen ist. Können wir geistige Wesenheiten identifizie-
ren, denen man einen geistigen Körper zuschreiben kann? Meines Er-
achtens ist das relativ leicht möglich und diese Möglichkeit erlaubt es

65
Oratio ad graecos XV, 3, 4-5, Übers. R.C. Kukula

77
Tatian (120-180)
uns zugleich die mit den Dämonen verbundene mythische Konnotation
hinter uns zu lassen. Wir können in der metaphysischen Struktur der
Dämonen einfach diejenige sozialer Systeme erkennen. Diese Systeme
funktionieren selbständig, stehen über den Menschen und benutzen die
menschlichen Geister allenfalls als ihren Körper, in dem sie existieren.
Das soziale System ist selbst nicht menschlich und verfolgt auch keine
menschlichen Ziele. Es besteht aus einer Verkettung geistiger Handlun-
gen von Menschen, die sich an einer gewissen Stelle kurz schließen und
eine systembildende Funktion haben. Ab hier übernimmt das System
die Steuerung der Handlungen der Menschen, gibt diese vor, gibt ihnen
eine Logik, hat aber als eigentlichen Zweck nur den Systemerhalt, für
den das Schicksal der dazu verwendeten Menschen egal ist.
Damit erklärt diese Interpretation sehr gut die Redeweise von der
Verführung der Menschen durch Dämonen, von deren Besessenheit
durch diese. Der einzelne Mensch, der rein im Sinne eines sozialen Sy-
stems handelt, ist sich dessen nicht einmal bewußt. Fragt man ihn, so
sagt er, er tue, was er tun müsse. Er glaubt es aber tun zu müssen, weil
das soziale System, in dem sein Denken eingebettet ist, ihn kein ande-
res Handlungsmuster erkennen läßt.
§ 57 Tatian unterscheidet nun zwischen solchen Menschen, welche
die Dämonen erkennen können und solchen, denen diese trotz ihres
Vorhandenseins verborgen bleiben:
mÒnoij goàn to‹j pneÚmati qeoà »Nur die vom Geiste Gottes Be-
frouroumšnoij eÙsÚnopta kaˆ t¦ schützten vermögen daher die
tîn daimÒnwn ™stˆ sèmata, to‹j Gestalten der Dämonen zu se-
loipo‹j d oÙdamîj, lšgw d to‹j hen; die übrigen Menschen, ich
yuciko‹j. tÕ g¦r œlatton kat£- meine diejenigen, in denen nur
lhyin oÙk „scÚei poie‹sqai toà die Seele ohne den Geist wohnt,
kre…ttonoj. vermögen es nicht, weil das
Niedrigere nicht das Höhere zu
erfassen vermag.«
66

Zunächst einmal greift Tatian hier erneut die valentinianische Unter-


scheidung zwischen geistigen und psychischen Menschen auf. Die Psy-
chiker sind diejenigen, bei denen alles Geistige im Dienst der Seele und

66
Oratio ad graecos XV, 3, 5-9, Übers. R.C. Kukula

78
Tatian (120-180)
damit der Organisation des Körpers steht. Sie besitzen also keinen selb-
ständigen Geist. Daher ist ihr Geist das perfekte Material für die Dä-
monen, für die sozialen Systeme. Diese müssen ihnen nur vorgaukeln,
daß es zur Organisation des eigenen Körpers zwingend oder am besten
ist, ihre Handlungsmuster in den von ihnen vorstrukturierten sozialen
Zusammenhang einzubetten und schon sind jene Menschen sozial
überformt. Sie können mit Hilfe der Seele nicht aus dieser Überfor-
mung ausbrechen, denn die Seele steht eben niedriger, als diese geisti-
gen Wesen.
Allein der Geist kann sich von ihnen befreien, denn er ist als ein
sich rein auf sich beziehendes Wesen prinzipiell frei und kennt kein
höheres Wesen. Im reinen Selbstbezug kann der Geist ja immer wieder
eine Metaebene zu allem einnehmen und sich fragen, warum er denn
dies oder jenes tun sollte und nicht etwa des Gegenteil. Da das Reich
des Materiellen aber keine letzten Vernunftgründe dafür kennt, warum
etwas so und nicht anderes zu geschehen habe, hilft jede dieser Fragen
dem Geist schnell zum Ausbruch aus der dämonischen Überformung.
§ 58 Wie kommt es nun, daß diese Idee uns plötzlich beim christli-
chen Tatian begegnet? Meines Erachtens ist das kein Zufall. Das antike
Denken war noch in der Vorstellung befangen, daß es eine für alle gül-
tige objektive Handlungsstruktur gäbe. So kannte es zwar Dämonen,
diese waren aber gleichermaßen gut und schlecht. In jedem Fall aber
standen sie metaphysisch gesehen höher als die Einzelgeister der Men-
schen. Erst im Christentum nun wird der Mensch als einzelner und
damit auch dessen Geist aus dem Allgemeinen herausgehoben. Jeder
Geist ist etwas besonderes und kann als einzelner zum Göttlichen stre-
ben. Daher sind alle Zwischenwesen wie Dämonen schnell überflüssi-
ger Ballast, Abwege auf dem direkten Weg zum Göttlichen. Aber auch
die Gnostiker konnten diesen Gedanken noch nicht vollends erfassen,
da auch bei ihnen der Geist zu sehr in einer allgemein faßbaren Aufga-
be des Strebens nach Gott gefangen war und der Geist als Einzelner so
nicht in den Blick kam. Wir werden sehen, wie sich dieser Gedanke im
Laufe des christlichen Denkens weiterentwickelt und darunter zu leiden
haben wird, daß das Christentum selbst immer mehr zu einer dominie-
renden sozialen Bewegung wird.

79
Marcus Aurelius (121-180)
Marcus Aurelius (121-180)
Marcus Aurelius war der Sproß einer einflußreichen römischen Fami-
lie, die mehrfach durch Heiraten mit der sogenannten Dynastie der
Adoptivkaiser verbunden war, so daß er ein Urgroßneffe des Kaisers
Hadrian war. Schon im Alter von 12 Jahren erklärte sich Marcus Aure-
lius zum Philosophen. Zu seinen Lehrern gehörten zahlreiche Stoiker,
aber auch ein Platoniker und ein Aristoteliker. Als Hadrian 138 Anto-
nius Pius adoptierte und zu seinem Nachfolger ernannte, ließ er diesen
im Gegenzug Marcus Aurelius adoptieren. Nach dem Tode Hadrians
wurde er von Anfang an in die Regierungsgeschäfte seines Adoptivva-
ters mit einbezogen. Während sich dabei zunächst das platonische Ide-
al des Philosophenkönigtums zu verwirklichen schien, war die Zeit von
Marcus Aurelius’ Alleinherrschaft nach dem Tode seines Adoptivvaters
vor allem durch Kriege, Hungersnöte und Aufstände geprägt.
In die Zeit seiner Herrschaft fällt auch eine Welle der Christenver-
folgung, der beispielsweise der hier schon behandelte Justinus zum Op-
fer fiel. Daß wir nun gleichzeitig eine Welle der Christenverfolgung und
einen philosophischen Herrscher auf dem Thron vorfinden mag er-
staunen. Dieses Erstaunen kann noch dadurch gesteigert werden, daß
man sich bewußt macht, daß dieser Marcus Aurelius als Philosoph kei-
neswegs ein Metaphysiker war, sondern ein Denker dessen existentielle
Tiefe durchaus mit der eines Seneca vergleichbar ist. Wie kann nun ein
solcher Mensch derlei geschehen lassen? Zwei Erklärung kommen
hierfür in Frage. Zum einen gibt es doch einen großen Gegensatz zwi-
schen dem christlichen und dem stoischen Existentialismus. Während
die Stoa vor allem die Selbstaufgabe predigt und Vollendung des
Menschseins darin erkennt, daß der einzelne sich völlig aufgibt und
ganz im Dienst für die anderen und das Gemeinwohl aufgeht, so macht
das Christentum einen sehr eigenwilligen aber doch nicht zu vernach-
lässigenden Umweg zu diesem gleichen Ziel. Bevor das Christentum
dem Einzelnen die Selbstaufgabe nahelegt, überhöht es ihn in seiner
Existenz als Einzelner. Es zeigt ihm, wie unendlich bedeutend er ist und
drückt dies nicht zuletzt darin aus, daß es seinen einzigen Gott zu einem
vergänglichen Menschen werden läßt. Diese Erhöhung des Einzelnen
muß im Christentum bei aller Selbstaufgabe und Nächstenliebe immer

80
Marcus Aurelius (121-180)
mitgedacht werden und an ihr mag es liegen, daß sich Marcus Aurelius
durchaus als ein Gegner des Christentums empfand.
Einen zweiten Grund können wir in seinem politischen Realismus
erkennen, der sich ebenfalls aus einer existentiellen Einsicht speist, was
folgende Zeilen sehr schön zum Ausdruck bringen:
m¾ t¾n Pl£twnoj polite…an œlpi- »Auch bilde dir den Platonischen
ze, ¢ll¦ ¢rkoà, e„ tÕ bracÚtaton Staat nicht ein, sondern sei zu-
prÒeisi, kaˆ toÚtou aÙtoà t¾n œk- frieden wenn es nur ein klein
basin æj oÙ mikrÒn t… ™sti dianooà. wenig vorwärts geht und halte
æj eÙtelÁ d kaˆ t¦ politik¦ solchen kleinen Fortschritt nicht
taàta ka…, æj o‡etai, filosÒfwj gering. [Wie nichtig die Taten
praktik¦ ¢nqrèpia· muxîn mest£. des Menschen, die er politisch
dÒgma g¦r aÙtîn t…j metabale‹; oder philosophisch nennt, wie
cwrˆj d dogm£twn metabolÁj t… eitel Schaum!] Denn wer wird
¥llo À doule…a stenÒntwn kaˆ ihre Gesinnung ändern? Ohne
pe…qesqai prospoioumšnwn; eine solche Änderung der Gesin-
nung aber, was würde anderes
daraus entstehen, als ein
Knechtsdienst unter Seufzen, ein
Gehorsam solcher, die sich stel-
len, als wären sie überzeugt.«
67

Marcus Aurelius glaubte nicht an Utopien. Er sah, daß eine jede Gesell-
schaft letztlich vor allem von der existentiellen Einsicht der Menschen
in ihr geprägt ist. Wo diese fehlt, da kann auch eine noch so durch-
dachte Staatstheorie, wie etwa die platonische, die ja selbst eine Me-
dienkontrolle zum Schutz ihrer Bürger betreiben möchte, das Ge-
meinwesen nicht zu einem utopischen Zustand führen. Die Menschen
handeln entweder aus einer existentiellen Überzeugung oder aus einem
äußeren Zwang, der gleichwohl nicht als Zwang erlebt werden muß,
sondern durchaus in einer Art von gesellschaftlicher Überformung be-
stehen kann. Auch der Versuch, Menschen zu ihrem Glück zu zwin-
gen, führt nicht zur Utopie, was sich nach Marcus Aurelius’ Zeiten nicht
nur im verordneten Christentum der abendländischen Staaten, sondern
später auch im durch Zwang eingeführten Kommunismus deutlich zeig-

67
T¦ eƒj ˜autÒn IX, 29, 3-8, Übers. F.C. Schneider

81
Marcus Aurelius (121-180)
te. Auf die Frage nach Marcus Aurelius’ Einstellung zur Christenverfol-
gung finden wir also die folgender Antwort: Ihm reichte es als Stoiker
den römischen Staat als dessen Diener so weiterzuführen, wie er ihn
vorfand. So mag er auch die zu seiner Zeit praktizierte Christenverfol-
gung stoisch hingenommen haben, weil er einerseits ohnehin nicht
dachte, daß die Rettung einer solchen Gruppe radikaler Utopisten et-
was wesentliches am Lauf der Dinge ändern würde. Andererseits war er
natürlich keinesfalls für eine solche Utopie zu gewinnen.

Natur
i. Die Einheit der Natur
§ 59 Marcus Aurelius hat als ausgewiesener Ethiker natürlich kein phi-
losophisches System entwickelt. Alles, was wir an philosophischer Sy-
stematik bei ihm finden, sind so Gedanken, die sich in das stoische und
platonische Denken einbetten lassen. Folglich ist es nicht verwunder-
lich, daß sich bei ihm nichts findet, was als Beitrag zu einer Ideenlehre
gedeutet werden kann. Er entwickelte jedoch einige recht originelle
Gedanken zur Naturphilosophie, die vor allem dadurch motiviert sind,
daß er zeigen möchte, daß der Mensch durchaus in der Natur glücklich
sein kann, daß er in diese paßt.
In diesem Sinne läßt sich durchaus sagen, daß er die Natur vom
Göttlichen her denkt, das in den Naturdingen wirksam ist:
P£nta ¢ll»loij ™pipšplektai kaˆ »Alles ist wie durch ein heiliges
¹ sÚndesij ƒer£, kaˆ scedÒn ti oÙd n Band miteinander verflochten.
¢llÒtrion ¥llo ¥llJ· sugkata- Nahezu nichts ist sich fremd. Ei-
tštaktai g¦r kaˆ sugkosme‹ tÕn nes schließt sich dem anderen an
aÙtÕn kÒsmon. kÒsmoj te g¦r eŒj ™x und schmückt mit ihm vereint
¡p£ntwn kaˆ qeÕj eŒj di' ¡p£ntwn dieselbe Welt. Aus allem, was ist,
bildet sich doch nur die eine
Welt; in allem, was ist, lebt nur
der eine Gott.«68

68
T¦ eƒj ˜autÒn VII, 9, 1-4 Übers. F.C. Schneider

82
Marcus Aurelius (121-180)
Den Gedanken, daß die Dinge in der Welt miteinander verbunden
sind, haben wir schon im dritten Band bei Chrysippos kennengelernt.
Marcus Aurelius greift also hier auf originär stoisches Material zurück.
Bei Chrysippos war dieser Gedanke des Zusammenhangs der Dinge als
die sump£qeia bezeichnet worden. Demnach geschieht nichts in der
Welt, von dem nicht alle Dinge irgendwie betroffen sind. Marcus
Aurelius nennt hier ein göttliches Wesen als Grund für diesen
Zusammenhang der Naturdinge.
Wenn er über den Zerfall der Dinge schreibt, zeigt er uns die
Perspektive auf, aus der wir diesen Zusammenhang zu sehen haben:
P©n tÕ œnulon ™nafan…zetai t£ci- »Alles Stoffliche verschwindet gar
sta tÍ tîn Ólwn oÙs…v kaˆ p©n bald im Urstoff des Ganzen und
a‡tion e„j tÕn tîn Ólwn lÒgon jede wirkende Kraft wird gar bald
t£cista ¢nalamb£netai in die Vernunft des Ganzen auf-
genommen.« 69

Die Dinge bestehen bei ihm also aus Form und Materie, wobei die
Form derjenige Teil ist, der von einem der Natur übergeordneten Ide-
ellen hervorgebracht wird. Zerfällt ein Ding, so verbleibt seine Materie
im Reich des Materiellen und die Form besteht in Reich der Vernunft
(lÒgoj) weiter. Marcus Aurelius geht also wie Platon von einem Dua-
lismus von Materie und Ideen aus. Anstelle einer Kritik sollten wir an
dieser Sichtweise jedoch anerkennen, daß dies für ihn bereits eine be-
trächtliche Abwendung von den klassischen Lehren der Stoa ist, die ja
die Körperlichkeit von allem lehrt.
§ 60 Marcus Aurelius macht die Rolle des Ideellen jedoch nicht so
sehr an Ideen selbst fest, sondern versucht seine Entfaltung in der Welt
aufzudecken. Und diese zeigt sich für ihn vor allem im Zusammenhang
der Dinge:
pantˆ d fÚsewj mšrei ¢gaqÒn, Ö »Jedem Teile der Natur aber ist
fšrei ¹ toà Ólou fÚsij kaˆ Ö ™ke…- das gut, was seinen Halt an der
nhj ™stˆ swstikÒn. Natur des Ganzen hat und wovon
diese wiederum getragen wird.« 70

69
T¦ eƒj ˜autÒn VII, 10, 1-2 Übers. F.C. Schneider
70
T¦ eƒj ˜autÒn II, 3, 4-5 Übers. F.C. Schneider

83
Marcus Aurelius (121-180)
Der gute Teil eines Dings, ist derjenige, der die Verbindung zum Gan-
zen herstellt. Aus platonischer Perspektive ist das Gute die höchste
Form. Und in der Tat ist es die höchste Form, welche einem jeden Na-
turding seinen größten Bezug zum Rest der Natur gibt, denn vermittels
der höchsten Form, die ja alle niedrigeren Formen in sich enthält, ist es
bereits in sich logisch gesehen ein beträchtlicher Teil der Natur. Aber
insgesamt können wir feststellen, daß all das in der Natur, was seinen
Bezug zu anderem verliert, zur Ursache des Zerfalls einer höheren
Form werden kann. Am offensichtlichsten wird dieser Zusammenhang
der Form und des Bezugs nach außen bei den Lebewesen. Bei ihnen
erkennen wir gar an der Art ihres Diskurses mit der Welt die Natur ih-
rer höchsten Form. Das, was positiv – hier sowohl im Sinne von gut,
wie auch im Sinne von aktiv vorhanden – an einem Naturding ist, ist so
gerade nicht etwas dem Naturding eigenes, was dieses in sich zurück-
wendet, sondern es ist derjenige Teil, mit dem es sich am ehesten zur
Welt öffnen kann.
§ 61 Für Marcus Aurelius ist dies das Wesen der Natur, daß sie
immer als ein Ganzes betrachtet werden kann und muß:
`Wj n zùon tÕn kÒsmon, m…an »Die Welt ist ein einziges leben-
oÙs…an kaˆ yuc¾n m…an ™pšcon, sun- diges Wesen, ein Weltstoff und
ecîj ™pinoe‹n kaˆ pîj e„j a‡sqhsin eine Weltseele. In dieses Welt-
m…an t¾n toÚtou p£nta ¢nad…dotai bewußtsein wird alles aufgenom-
kaˆ pîj ÐrmÍ mi´ p£nta pr£ssei men, so wie aus ihm alles hervor-
kaˆ pîj p£nta p£ntwn tîn geht, so jedoch, daß von den Ein-
ginomšnwn suna…tia kaˆ o†a tij ¹ zelwesen eines des anderen
sÚnnhsij kaˆ summ»rusij. Mitursache ist und auch sonst die
innigste Verknüpfung unter ih-
nen stattfindet.«
71

Die uns aus der alten Stoa schon bekannte Sichtweise, daß die Welt ein
Lebewesen sei, erhält hier eine sehr interessante Form. Es wird nicht
dadurch begründet, daß man ja ein über allem stehendes Wesen brau-
che, eine yuc», die alles ordnet, sondern umgekehrt sieht Marcus Au-
relius den Zusammenhang der Dinge von unten her erwachsen. Die

71
T¦ eƒj ˜autÒn IV, 40, Übers. F.C. Schneider

84
Marcus Aurelius (121-180)
Dinge selbst sind es, die sich immer wieder miteinander verbinden und
nicht anders existieren können, als in einer alles umfassenden Einheit.
Im Hintergrund steht hier sicherlich die existentialistische Perspek-
tive, die erst einmal zu einer Isolation des Einzelnen, sich in seiner Ein-
zigartigkeit entdeckenden Wesens führt, um dann in einem zweiten
Schritt erst die Einheit mit der Welt und den Anderen wiederherzu-
stellen. Die gleiche Bewegung scheint Marcus Aurelius hier auch der
Weltseele oder der die Natur prinzipiierenden Vernunft zuzuschrei-
ben. Sie vermag es, die Dinge zunächst loszulassen, sie zu Einzeldingen,
werden zu lassen und weiß gewissermaßen, daß sie dann kraft der in ih-
nen wohnenden Logizität wieder zur Einheit miteinander zurückfinden
werden.
§ 62 Wahrhaft weitsichtig aus einer heutigen Perspektive ist der
Blick auf die Gesamtheit der Naturprozesse, den Marcus Aurelius auf
dieser Grundlage entwickelt:
æj ¨n kaˆ ØpÕ tšktonoj kaˆ skutš- »ebenso wie dich der Tischler und der
wj gelasqe…hj kataginèskwn Óti Schuster auslachen würde, wenn du’s
™n tù ™rgasthr…J xšsmata kaˆ ihnen zum Vorwurf machtest, daß in
peritm»mata tîn kataskeuazo- ihren Werkstätten Späne und Über-
mšnwn Ðr´j. ka…toi ™ke‹no… ge œcou- bleibsel aller Art herumliegen. Mit dem
si poà aÙt¦ ·…ywsin, ¹ d tîn Unterschiede, daß diese Leute einen
Ólwn fÚsij œxw oÙd n œcei, ¢ll¦ Ort haben, wohin sie diese Dinge wer-
tÕ qaumastÕn tÁj tšcnhj taÚthj fen, die Natur aber hat nichts draußen.
™stˆn Óti perior…sasa ˜aut¾n p©n Sondern das Bewunderungswürdige
tÕ œndon diafqe…resqai kaˆ ghr£s- ihrer Kunst besteht eben darin, daß sie,
kein kaˆ ¥crhston e nai dokoàn e„j die sich lediglich selber begrenzt, alles,
˜aut¾n metab£llei, kaˆ Óti p£lin was in ihr zu verderben, alt und unnütz
¥lla near¦ ™k toÚtwn aÙtîn zu werden droht, so in sich hinein ver-
poie‹, †na m»te oÙs…aj œxwqen wandelt, daß sie daraus wieder etwas
crÇzV m»te Ópou ™kb£lV t¦ sa- anderes Neues macht, daß sie keines
prÒtera prosdšhtai. ¢rke‹tai oân Stoffes außer sich selbst bedarf und das
kaˆ cèrv tÍ ˜autÁj kaˆ ÛlV tÍ faul Gewordene nicht hinauswerfen
˜autÁj kaˆ tšcnV tÍ „d…v. muß. Sie hat an ihrem eigenen Raume,
an ihrem eigenen Material und an ihrer
eigenen Kunst völlig genug.« 72

72
T¦ eƒj ˜autÒn VIII, 50, 3-12, Übers. F.C. Schneider

85
Marcus Aurelius (121-180)
Im Grund rollt Marcus Aurelius hier in wenigen Zeilen ein Grundpro-
blem des modernen Menschen in seiner Natur auf: Menschen produ-
zieren Müll. Als physisch beschränkte Wesen haben sie auch physisch
beschränkte Zwecke, so daß einiges ihrer Technik zwar als Material
dient, nicht aber als Produkt vorgesehen ist. Die Natur hingegen kann
es sich nicht leisten, Müll zu produzieren. Sie verfügt allein schon über
keinen Ort, wo sie den Müll ablagern könnte. So hat es die Natur ge-
schafft, ausschließlich aus Prozessen zu bestehen, in denen letztlich alles
nicht nur Mittel, sondern auch Produkt ist. Der Mensch erst ist dasjeni-
ge Naturwesen, das diese Ordnung durchbricht. So zeigt sich beim mo-
dernen Menschen dessen Überlegenheit über die Natur und der Um-
stand, daß er als Naturwesen diese übersteigt auch darin, daß er der Na-
tur selbst Probleme schafft, ihre Ordnung aufrecht zu erhalten; zumin-
dest im Bereich des Lebendigen, das selbst einer komplexen Natur-
grundlage bedarf und so am ehesten bedroht ist.
Was uns Marcus Aurelius hier beschreibt, kann so zum Grundsatz
einer jeden ökologischen Bewegung genommen werden. Das Wesen
der Natur besteht darin, selbstgenügsam zu sein, in sich alles zu haben.
Daraus kann eine stoische Lebensmaxime gewonnen werden, die zwei-
felsohne zu einem perfekten Zusammenleben mit der Natur führt. Sie
kann aber eben deshalb daraus gewonnen werden, weil hier ein Stück
elementarer naturphilosophischer Wahrheit zum Ausdruck gebracht
ist.

ii. Die Naturformen


§ 63 Hinsichtlich der Frage nach den Naturformen erfahren bei Marcus
Aurelius inhaltlich sehr wenig. Er unterscheidet explizit nur drei ver-
schiedene Formen im Menschen und man muß davon ausgehen, daß
das bereits eine Vereinfachung der von ihm wirklich angesetzten Zahl
der Naturformen ist:
“O t… pote toàtÒ e„mi, sark…a ™stˆ »Was ich bin, ist ein Dreifaches:
kaˆ pneum£tion kaˆ tÕ ¹gemonikÒn. Körper und Seele und was das
[...] lÚqroj kaˆ Ñst£ria kaˆ kro- Ganze beherrscht. [...] Es ist Blut
kÚfantoj, ™k neÚrwn, fleb…wn, und Knochen und ein Geflecht
¢rthriîn plegm£tion. qšasai d aus Nerven, Adern und Gefäßen
kaˆ tÕ pneàma Ðpo‹Òn t… ™stin· gewebt. Dann betrachte deine

86
Marcus Aurelius (121-180)
¥nemoj, oÙd ¢eˆ tÕ aÙtÒ, ¢ll¦ Seele, und was sie ist: ein Hauch;
p£shj éraj ™xemoÚmenon kaˆ p£lin nicht immer dasselbe, sondern
·ofoÚmenon. fortwährend ausgegeben und
wieder eingesogen.« 73

Der Körper steht hier für das Material des Organismus. Dieses besteht
aus verschiedenen Teilen, die nach Marcus Aurelius’ Auffassung alle
offenbar nicht mehr weiter in etwas Organisches zerlegbar sind. Daß
etwa Nerven wiederum Zellen sind und so selbst organische Wesen,
die ihre eigene innere Struktur haben, beachtet er nicht. Was nun die-
ses Körpermaterial zusammenhält ist die Seele, die hier als pneàma be-
zeichnet wird. Das trifft die klassisch stoische Auffassung, wonach die
ganze Welt eben aus Materie und pneàma besteht, wobei dann das
pneàma selbst noch körperlich sein soll. Hier weicht Marcus Aurelius
von der klassischen Auffassung ab, denn sein pneàma ist eher so etwas
wie ein Lebensprozeß, nicht aber eine feste Substanz des Körpers, denn
er sagt von ihr, sie löse sich immer wieder vom Körper und tauche
dann wieder in ihn ein. Auch wenn dies als eine recht einfache Be-
schreibung der Atmung erscheint, so steht sie doch meines Erachtens
als eine Metapher für zirkuläre Lebensprozesse überhaupt. Die organi-
sche Form der Materie ist nichts Festes, sondern vielmehr eine Art
Fluß, welcher die Bewegung des Materials eben auf eine bestimmte
charakteristische Art in Gang hält.
Seine Vereinfachung besteht hier natürlich vor allem darin, von der
Seele im Singular zu sprechen. Mit Aristoteles müssen wir davon aus-
gehen, daß es eine ganze Reihe von Seelentypen gibt, die übereinander
geschichtet in einem Organismus aktiv sind. Die einzige Differenzie-
rung, die wir explizit bei ihm finden, betrifft das ¹gemonikÒn. Dieses setzt
er als den dritten und höchsten Teil des menschlichen Organismus an.
Es ist somit eine Größe, in der wir bereits den Geist erkennen können
und die nicht mehr eigentlich in die Sphäre der Natur gehört.
§ 64 Auch wenn Marcus Aurelius’ Betrachtung des einzelnen Orga-
nismus somit sehr einfach ist, so hat er doch eine recht originelle Idee
zur Klassifizierung verschiedener Organismen in ihrem hierarchischen

73
T¦ eƒj ˜autÒn II, 2, 1-5 Übers. F.C. Schneider

87
Marcus Aurelius (121-180)
Verhältnis zueinander; ein hierarchisches Verhältnis, was sich bei ihm
leider nur nicht auf einen einzelnen Organismus angewendet findet:
kaˆ to…nun p©n tÕ koinÁj noer©j »Ebenso nun und noch mehr
fÚsewj mštocon prÕj tÕ suggen j strebt auch alles, was der vernünf-
Ðmo…wj speÚdei À kaˆ m©llon· ÓsJ tigen Natur angehört, zueinander
g£r ™sti kre‹tton par¦ t¦ ¥lla, hin. Denn je edler es ist als das
tosoÚtJ kaˆ prÕj tÕ sugkirn©sqai übrige, um so bereiter ist es auch,
tù o„ke…J kaˆ sugce‹sqai ˜toimÒ- sich dem Verwandten zu einen
teron. eÙqÝj goàn ™pˆ m n tîn und mit ihm zusammenzugehen.
¢lÒgwn eØršqh sm»nh kaˆ ¢gšlai Schon auf der Stufe der ver-
kaˆ neossotrof…ai kaˆ oŒon œrwtej· nunftlosen Wesen finden sich
yucaˆ g¦r ½dh Ãsan ™ntaàqa kaˆ Scharen und Herden, findet sich
tÕ sunagwgÕn ™n tù kre…ttoni das Auffüttern der Jungen, eine
™piteinÒmenon eØr…sketo, oŒon oÜte Art von Liebe. Denn schon hier
™pˆ futîn Ãn oÜte ™pˆ l…qwn À ist Seele und jener Gemeinschaft-
xÚlwn. strieb in höherer Weise, als er in
der Pflanzenwelt und im Gestein
[oder im Holz] sich findet.«74

Hier sehen wir nun, daß Marcus Aurelius durchaus von mehr Naturstu-
fen ausgeht, indem er zwischen Steinen, Pflanzen, Tieren und Men-
schen unterscheidet. Allein, diese Unterscheidung bringt natürlich in-
haltlich nichts Neues. Neu ist jedoch das Unterscheidungskriterium, das
er uns hier präsentiert. Es ist die Ausgeprägtheit eines Gemeinschaft-
striebs (sunagwgÒn), welche die Höhe einer Naturstufe bestimmen soll.
Je höher ein Wesen steht, desto besser kann es mit anderen in Kontakt
treten, desto enger kann es sich an dieses binden. Rein phänomenolo-
gisch scheint das evident. Der Stein ist dem anderen Stein maximal äu-
ßerlich, während auf der anderen Seite des Spektrums ein Mensch in
seinem Selbstverständnis von einem anderen Menschen abhängen
kann.
Dieser Zusammenhang läßt sich auch recht gut aus unserer idealisti-
schen Betrachtungsweise der Natur begründen. Zunächst einmal er-
kennen wir, daß dies bereits in einem Naturwesen selbst alles realisiert
ist. Jede seiner Formstufen ist eine Verbindung mehrerer untergeordne-

74
T¦ eƒj ˜autÒn IX, 9, 1, 7 – 2, 5, Übers. F.C. Schneider

88
Marcus Aurelius (121-180)
ter Formstufen. Ein höheres Wesen ist mithin in sich per se auch eine
höhere Gemeinschaft. Je höher ein Naturwesen nun steht, desto mehr
logische Kategorien stehen ihm aktiv zur Verfügung, die es dann auch
dazu benutzen kann, sich mit gleichartigen Wesen gemäß der Struktur
dieser Kategorien zu verbinden. Ein gutes Beispiel ist hier der Mensch.
Er verfügt über alle Kategorien des Ideellen und kann so auch alle
möglichen Formen von Gemeinschaft bilden. So sehen wir ihn biswei-
len despotische Herrschaftsmodelle realisieren, die von ihrem intellek-
tuellen und logischen Niveau her eigentlich in die Pflanzenwelt gehör-
ten.
Daher ist diese Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung zwar durchaus
etwas, was die logische Entwickeltheit eines Wesens aufzeigt, aber eben
oft nur sekundär. Es ist nicht automatisch so, daß eine solche Gemein-
schaft dann auch das Individuum zu einer neuen logischen Stufe führt.
Oft realisiert es selbst nur eine Verbindung von für es selbst logisch
niedrigerer Art zwischen sich und anderen, eine Verbindung, auf deren
Bestehen es für seine Existenz als das Wesen, das es ist, auch verzich-
ten könnte.

Geist
§ 65 Zwei Aspekte unserer Auffassung von dem, was der Geist ist, las-
sen sich bei Marcus Aurelius finden. Der eine Aspekt ist die Reflexivität
des Geistes. Diese ist ja eine doppelte. Erstens ist der Geist selbst etwas
strikt Reflexives; zweitens ist er zudem dasjenige Naturwesen, welches
als erstes eine solche Reflexivität erreicht. Marcus Aurelius bringt diese
beiden Gedanken sehr treffend zum Ausdruck:
kateskeÚastai d t¦ m n loip¦ »Nun sind aber die übrigen We-
tîn logikîn ›neken, ésper kaˆ ™pˆ sen wegen der Vernünftigen ge-
pantÕj ¥llou t¦ ce…rw tîn kreit- schaffen, wie überhaupt alles we-
tÒnwn ›neken, t¦ d logik¦ ¢ll»- niger Edle für das Edlere. Die
lwn ›neken. Vernunftwesen aber sind eines
um des anderen willen da.«75

75
T¦ eƒj ˜autÒn VII, 55, 4-6, Übers. F.C. Schneider

89
Marcus Aurelius (121-180)
Die These, daß die niedrigeren Wesen um der höheren Willen da
sind, haben wir bereits bei Chrysippos kennengelernt. Dort jedoch en-
det die Hierarchisierung nicht mit dem menschlichen Geist, sondern
dieser sei um der Götter willen da, so Chrysippos. Marcus Aurelius
hingegen läßt hier den Geist im wahrsten Sinne des Wortes selbstge-
nügsam sein lassen, indem er die These aufstellt, der eine Geist sei um
des anderen Willen da.
Aus Marcus Aurelius’ Sicht leitet dies natürlich sofort zu ethischen
Konklusionen über. Wir können diese These jedoch auch metaphy-
sisch deuten und in ihr die Aussage erkennen, daß das geistige Produkt
des Geistes eben auch nur für den Geist verständlich ist, daß der Geist
so als ganzer, alle Individuen umfassender Geist reflexiv ist. Zugleich
steckt darin die Feststellung, daß diese Reflexivität eben die Dialektik
von Form und Materie, welche die Natur bestimmt, durchbricht. Hier
ist erstmals eine Form erreicht, die nicht wieder als Materie für eine
andere Form da ist, sondern die sich selbst als Form zum Gegenstand
haben kann.
§ 66 So ist dann auch verständlich, daß sich unser Geist für Marcus
Aurelius nach dem Tod nicht in Nichts auflösen muß, auch wenn wir
seiner Auffassung nach als individuelle Wesen durchaus vergänglich
sein könnten:
'Ex a„tièdouj kaˆ Ølikoà sunšsth- »Woraus wir bestehen, ist Form
ka, oÙdšteron d toÚtwn e„j tÕ m¾ und Inhalt. Keins von beiden
×n fqar»setai, ésper oÙd ™k toà aber wird ins Nichts verschwin-
m¾ Ôntoj Øpšsth. oÙkoàn kata- den, so wenig wie es aus dem
tacq»setai p©n mšroj ™mÕn kat¦ Nichts hervorgegangen ist. Son-
metabol¾n e„j mšroj ti toà kÒsmou dern jeder Teil unseres Wesens
kaˆ p£lin ™ke‹no e„j ›teron mšroj ti wird durch Verwandlung überge-
toà kÒsmou metabale‹ kaˆ ½dh e„j führt in irgendeinen Teil des
¥peiron. Weltganzen dieser geht dann
wieder in einen andern über und
so ins Unendliche.«
76

Unsere Form als Mensch – Marcus Aurelius bezeichnet sie hier als
(a„tiîdej) –, die ja nichts anderes als unser Denken, unser Geist ist, ver-

76
T¦ eƒj ˜autÒn V, 13, 1-5, Übers. F.C. Schneider

90
Marcus Aurelius (121-180)
schwindet nicht ins Nichts, sondern bleibt innerhalb des Weltganzen
erhalten.
Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu interpretieren. Die erste, die nä-
her an der stoischen Auffassung liegt, besteht darin, zu behaupten, diese
Form sei nicht Geist, sondern allenfalls eine körperliche Form, etwa ein
pneàma und sie verschwände deswegen nicht, weil sie als körperliche
Substanz erhalten bliebe. Wir haben jedoch oben gesehen, daß Marcus
Aurelius das pneàma durchaus als etwas Prozessuales und Unkörperli-
ches denkt. Daher liegt eine zweite Möglichkeit der Interpretation mei-
nes Erachtens näher, wonach unser Geist in eine Art die Menschheit
umfassenden Geist eingeht. Diese Interpretation wird auch durch die
folgenden Zeilen gestützt:
E„j m n t¦ ¥loga zùa m…a yuc¾ »[Wie es nur eine Seele der irra-
diÇrhtai, e„j d t¦ logik¦ m…a no- tionalen Wesen gibt,] wie es nur
er¦ yuc¾ memšristai, ésper kaˆ eine Erde gibt für alles Irdische,
m…a gÁ ™stin ¡p£ntwn tîn gewdîn ein Licht für alles, was sehen,
kaˆ ˜nˆ fwtˆ Ðrîmen kaˆ ›na ¢šra und eine Luft für alles, was atmen
¢napnšomen, Ósa Ðratik¦ kaˆ kann, so ist es auch nur ein Geist,
œmyuca p£nta. der unter sämtliche Vernunftwe-
sen verteilt ist.«
77

Der Geist verteilt sich also zwar auf die Geistwesen, ist aber immer der
eine Geist. So geht dann auch das Geistige eines Verstorbenen nicht
verloren, sondern ist immer schon Bestandteil dieses kollektiven Gei-
stes.

77
T¦ eƒj ˜autÒn IX, 8, Übers. F.C. Schneider

91
Theophilos von Antiochia († 183)
Theophilos von Antiochia († 183)
Theophilos wurde in Mespotamien geboren und bekehrte sich erst als
Erwachsener durch Lektüre zum Christentum. Im Jahre 169 wurde er
Patriarch von Antiochia. Bekannt wurde er vor allem durch seine Aus-
einandersetzung mit der markionitischen Gnosis. Wir verfügen über
eine seiner Schriften mit dem Titel Ad Autolycum, welche die christli-
che Lehre an einigen wenigen Punkten weiterentwickelt.

Natur
i. Die Widersprüche der ungeschaffenen Materie
§ 67 Da sich Theophilos intensiv mit dem Unterschied zwischen der
griechischen Philosophie und der christlichen Lehre auseinandersetzt,
fällt ihm als erster auf, daß das Problem der Materie in der griechischen
Philosophie durchgängig ein echtes Problem ist. Eben weil die Materie
in der griechischen Philosophie von allen Denkern mit Ausnahme eini-
ger Pythagoräer als dem Ideellen gleichursprünglich angesehen wurde,
versuchte man eher das Problematische daran wegzudenken, nicht
aber, es wirklich zu beseitigen. Erst in der christlichen Philosophie, wel-
che die Materie von Gott geschaffen sein läßt, kann diese Problematik
in ihrer ganzen Dimension erkannt werden. Theophilos ist der erste,
der sich damit argumentativ auseinandersetzt:
Pl£twn d kaˆ oƒ tÁj aƒršsewj aÙtoà »Plato und seine Schule geben
qeÕn m n Ðmologoàsin ¢gšnhton kaˆ zwar einen Gott zu, der nicht erst
patšra kaˆ poiht¾n tîn Ólwn e nai· geworden, Vater und Schöpfer
e ta Øpot…qentai qeÕn kaˆ Ûlhn des Alls sei; aber dann nehmen
¢gšnhton kaˆ taÚthn fasˆn sun- sie zu Gott hinzu auch noch eine
hkmakšnai tù qeù. e„ d qeÕj Materie an, die ungeschaffen und
¢gšnhtoj kaˆ Ûlh ¢gšnhtoj, oÙk œti Ð mit Gott gleich alt sei. Wenn
qeÕj poiht¾j tîn Ólwn ™stˆn kat¦ aber Gott ohne Anfang und die
toÝj PlatwnikoÚj, oÙd m¾n mon- Materie ohne Anfang ist, so ist
arc…a qeoà de…knutai, Óson tÕ kat' Gott nicht mehr der Schöpfer
aÙtoÚj. œti d kaˆ ésper Ð qeÒj, des Alls nach den Platonikern;
¢gšnhtoj ên, kaˆ ¢nallo…wtÒj ™stin, auch kann die Absolutheit Gottes
oÛtwj, e„ kaˆ ¹ Ûlh ¢gšnhtoj Ãn nicht mehr aufrecht gehalten
werden, nach ihnen wenigstens.

92
Theophilos von Antiochia († 183)
Wenn ferner die Materie ohne
Anfang ist, wie Gott, der, weil
ohne Anfang, unveränderlich ist,
so ist sie auch unveränderlich
und Gott gleich.«
78

Theophilos präsentiert uns hier zwei Argumente gegen die Auffassung


der Gleichursprünglichkeit der Materie. Er spricht dabei zwar nur die
Platoniker an, wir wissen jedoch, daß er damit alle Schulen des griechi-
schen Denkens trifft.
Dem ersten Argument zufolge kann man Gott keinen Schöpfersta-
tus zuschreiben, wenn er die Materie nicht aus dem Nichtsein hervor-
gebracht hat. Zunächst einmal scheint dieses Argument als eine bloße
Tautologie. Was Gott nicht geschaffen hat, das hat er eben nicht ge-
schaffen. Dahinter steckt jedoch noch etwas mehr. Ein Platoniker be-
zeichnet Gott ja als Schöpfer, weil er der Gestalter der Materie ist. Wir
hatten aber schon öfter angesprochen, daß ein Gott oder eine ideelle
Struktur unmöglich eine Substanz gestalten kann, die ihrem Wesen
nach nichts mit ihr zu tun hat, die von ganz anderer Art ist. Wenn Gott
die Materie nicht geschaffen und somit nicht in sich über die Idee des
Materiellen verfügt, wenn die Materie so keine ideelle Substanz hat,
dann kann sie auch keine göttlichen oder ideellen Strukturen anneh-
men.
§ 68 Theophilos aber geht noch weiter und zeigt mit einem zweiten
Schritt, daß der Gedanke der Absolutheit Gottes (monarc…a qeoà) mit
dem Dualismus von Gott und Materie nicht vereinbar ist. Aber warum
widerspricht es der Absolutheit Gottes oder des Ideellen, wenn man die
Materie als etwas Ungeschaffenes und Ewiges denkt? Könnte nicht das
Ideelle das Reich der absoluten Formen an sich sein, welche dann über
den Bereich dieses Ideellen hinaus auch für die Materie Gültigkeit be-
sitzen? Das dies nicht möglich ist, zeigt Theophilos wie folgt: seinem
zweiten Argument zufolge, muß die Materie, wenn sie ebenso wie Gott
ohne Anfang ist, zumindest in einem Teil, beziehungsweise hinsichtlich
mindestens einer Eigenschaft, unveränderlich sein. Denn wäre die Ma-
terie in jedem Teil und in bezug auf jede Eigenschaft durch das Ideelle

78
Ad Autolycum II, 4, 8-15, Übers. J. Leitl

93
Theophilos von Antiochia († 183)
oder Gott formbar, so wäre sie eben nicht ewig und unvergänglich.
Denn dann wäre sie ja in jedem Aspekt etwas vom Ideellen Hervorge-
brachtes.
Mit diesem Argument läßt sich nun nicht nur der Dualismus von
Ideellem und Materiellem ausschließen, sondern zudem erhalten wir
noch eine Antwort auf die Frage, warum die Ungeschaffenheit der Ma-
terie nicht mit dem Gedanken der Absolutheit Gottes vereinbar ist.
Denn jener Teil der Materie, der nicht von Gott geschaffen und nicht
von ihm veränderbar ist, stellt eine Schranke für die göttliche Abso-
lutheit dar.

ii. Der geistige Raum Gottes


§ 69 Natürlich kann das christliche Denken hier nicht sofort mit einem
ausgearbeiteten Gegenentwurf zur Lehre der Ungeschaffenheit der Ma-
terie aufwarten. Theophilos beschränkt sich – wie auch vor ihm Tatian
– zunächst darauf, den mosaischen Schöpfungsbericht zu wiederholen.
Auch wenn wir bei Theophilos bereits ein ausgegeprägtes Bedürfnis
finden, diesen auch zu deuten, so läßt diese Deutung doch keine rechte
Theorie der Schöpfung aufkommen. Lediglich in einem Aspekt bringt
er uns hier einen Schritt weiter, nämlich in der Frage nach dem Raum:
oÙ g£r ti tù qeù sun»kmasen· »Denn nichts existierte neben
¢ll' aÙtÕj ˜autoà tÒpoj ín kaˆ Gott, sondern er selbst war sein
¢nende¾j ín kaˆ Øp£rcwn prÕ tîn Raum, war sich selbst vollkom-
a„ènwn ºqšlhsen ¥nqrwpon poiÁ- men genug und war da vor allen
sai ú gnwsqÍ· toÚtJ oân prohto…- Zeiten. Er wollte aber den Men-
masen tÕn kÒsmon. schen schaffen, um von ihm er-
kannt zu werden; für diesen also
bereitete er die Welt zu.«
79

Theophilos beschreibt uns hier den Zustand des Ideellen vor der Ent-
stehung der Materie und sagt, daß Gott selbst sein eigener Raum oder
Ort war (aÙtÕj ˜autoà tÒpoj). Er muß sich nirgends befunden haben,
denn er konstituiert in sich einen geistigen Raum. Zugleich sagt uns
Theophilos hier, warum die Welt erschaffen worden sei. Sie wurde als
Grundlage desjenigen Naturwesen gebraucht, welches das Ideelle in

79
Ad Autolycum II, 10, 2-5, Übers. J. Leitl

94
Theophilos von Antiochia († 183)
seinem Gegenteil wiedererscheinen und so die Absolutheit des Ideellen
sich vollenden läßt. Diesen Gedanken kennen wir schon aus der Stoa.
Theophilos geht nun noch nicht so weit, zu behaupten, der die Ma-
terie enthaltende Raum – oder aus unserer Sicht der von der Materie
konstituierte Raum – sei ebenso innerhalb dieses geistigen Raumes Got-
tes zu denken. Aber daß man daran nicht vorbei kommt, ist offensicht-
lich und die nämlichen oben genannten Argumente gegen die Unge-
schaffenheit der Materie lassen sich auch zur Widerlegung der Eigen-
ständigkeit des Raumes heranziehen. Sofern Gott als außerhalb dessel-
ben und nicht als diesen umfassend gedacht wird, haben wir es mit Or-
ten zu tun die sich der Macht Gottes und damit dem Ideellen entziehen
würden.

95
Maximos von Tyros (125-185)
Maximos von Tyros (125-185)
Cassius Maximus Tyrius, wie ihn die Lateiner nennen, war ein griechi-
scher Rhetor, der in Tyros geboren als Wanderredner durch die antike
Welt reiste. Um 147 kam er nach Athen und während der Herrschaft
des Kaisers Commodus nach Rom. Wir sind bei ihm in der glücklichen
Lage, weniger über sein Leben als über sein Denken zu Wissen, da sei-
ne Dialexeis, eine Sammlung von 41 Abhandlungen erhalten sind.

Geist
i. Die Formen des Geistes
§ 70 Maximos präsentiert uns eine Auffassung des Geistes, deren Struk-
tur wir bereits angesprochen haben, die jedoch noch von keinem der
von uns hier diskutieren Denker so deutlich ausgesprochen wurde. Er
unterscheidet zwischen drei Formen des Geistes, einer, die man als
Verstand bezeichnen könnte, einer, welche der Vernunft entspricht und
einer dritten, welche über die Vernunft hinausgeht und bei der es frag-
lich ist, ob sie dem Menschen noch zugesprochen werden kann:
¢ll¦ kaˆ ™ntaàqa difuÁ Ðrî· toà »Hier aber sehe ich daher auch
g¦r noà Ð m n noe‹n pšfuken, kaˆ etwas Doppelgestaltiges: Denn
m¾ noîn· Ð dš, kaˆ pšfuken, ¢ll¦ vom Geist ist der eine von Natur
kaˆ oátoj oÜpw tšleioj, ¨n m¾ aus zum Denken beschaffen, er
prosqÍj aÙtù tÕ kaˆ noe‹n ¢e…, kaˆ denkt aber nicht, der andere ist
p£nta noe‹n, kaˆ m¾ ¥llote ¥lla· auch von Natur aus [dazu] be-
éste e‡h ¨n ™ntelšstatoj, Ð noîn schaffen [und er denkt auch].
¢e…, kaˆ p£nta, kaˆ ¤ma. Aber auch dieser ist noch nicht
vollendet, solange wir ihm nicht
ein ewiges Denken, ein Denken
von allem und nicht anderes zu
anderer Zeit zuschreiben. So wä-
re er am vollendetsten, ein Geist,
der immer denkt, der alles denkt
und alles zusammen.« 80

80
Dialexeis XI, 8i

96
Maximos von Tyros (125-185)
Streng genommen finden wir hier eine Synthese platonischer und ari-
stotelischer Gedanken. Die erste Unterscheidung, die Maximos hier
trifft, stammt eindeutig von Aristoteles. Wir haben sie bei ihm als die
Unterscheidung von erster und zweiter Wirklichkeit des Denkens ken-
nengelernt. Die erste Wirklichkeit besteht im Vorliegen von Begriffen,
die aus Vorstellungen gebildet werden. Dies geschieht durch bloße
Verallgemeinerung. Maximos führt dies in einigen Beispielen vor der
zitierten Stelle aus. Diese erste Wirklichkeit des Denkens ist aber noch
bloß ein Verstandesdenken, das zwar Begriffe hervorbringt, diese aber
noch nicht wirklich aufeinander beziehen kann, was eigentliches Den-
ken erst ausmachen würde. Erst die zweite Wirklichkeit des Denkens
leistet dieses.
§ 71 So weit folgt Maximos dem Aristoteles; nun aber zieht er den
Platon hinzu. Was kann über den Bezug von Begriffen aufeinander
hinausgehen? Dies kann nur die unvordenkliche Einheit aller dieser
Begriffe, das Denken des Einen sein. Hier werden die Begriffe nicht
mehr im zeitlichem Nacheinander gedacht, sondern ihr wechselseitiger
Bezug ist unmittelbar. Sie sind logisch immer schon bezogen und wer-
den es nicht erst durch den Denkakt. Und eben diese Fähigkeit schreibt
Maximos seiner dritten Form des Denkens zu. Er findet dafür das fol-
gende plastische Beispiel:
M©llon d taÚtV e„kazšsqw· Ð »Am besten macht man sich da-
m n qe‹oj noàj kat¦ t¾n peribol¾n von folgendes Bild: Der göttliche
toà ¹l…ou p£nta ™for´ tÕn ™n gÍ Geist [ist vergleichbar] dem
tÒpon ¢qrÒwj Kreislauf der die Sonne über alle
Orte der Erde auf einmal trägt.«
81

Ebenso wie die Sonne immer über allen Orten der Erde zugleich steht
– was natürlich nur funktioniert, wenn man sich die Erde als Scheibe
vorstellt –, so denkt auch der das Eine denkende Geist alles in einem
Akt.
Wir erfahren nun hier von Maximos, daß dieser Geist der göttliche
Geist sei. Das wirft die Frage auf, ob dieser Geist uns als Menschen
überhaupt zukommt, ob wir es hier also mit einem Geist, oder mit dem

81
Dialexeis XI, 9b 1-3

97
Maximos von Tyros (125-185)
Ideellen selbst zu tun haben? Diese Frage ist schwer zu beantworten,
denn einerseits setzt eben jeder Begriff, den wir verwenden und erst
recht jeder Begriff, der Teil des von uns als kollektiven Wesens gedach-
ten Geistes ist, jeden anderen Begriff voraus, der in einer logischen Re-
lation zu ihm steht. Das ist eine konstitutive Bedingung dafür, daß der
verwendete Begriff eine Bedeutung hat. Aber andererseits ist die Entfal-
tung dieses Bedeutungsnetzes selbst im sozialen Geist oftmals eine sehr
langwierige Angelegenheit, so daß Widersprüche über Jahrhunderte
mitgeschleppt werden, ohne daß sie explizit werden. Dies legt letztlich
die Auffassung nahe, daß der Geist zwar am Ideellen partizipiert, aber
doch nicht mit ihm gleichzusetzen ist.

ii. Die Struktur des Geistes


§ 72 Maximos beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie das Wissen –
also geistige Gehalte – in den Menschen kommen. Hierzu diskutiert er
die Möglichkeit, daß Wissen von außen in den menschlichen Geist
hineinkommt und findet folgendes Argument gegen diese Auffassung:
Ó, te g¦r eØrën pîj ¨n cr»saito »Wie kann der, der etwas findet,
tù eØreqšnti, m¾ gnwr…saj t¾n das Gefundene benutzen, wenn
cre…an aÙtoà; er den Nutzen desselben nicht
kennt?«82

Wenn man auf irgendein Wissen stößt, so muß man bereits wissen,
worum es dabei geht. Weiß man es nicht, wie kann man dann über-
haupt das neue Wissen verstehen? Wir stoßen hier erneut, wie schon
im dritten Band bei Varro auf das Problem des Regelfolgens. Woher
weiß ich, wie ich eine geistige Größe, ein Wissen also oder auch einfach
nur einen Bedeutungsgehalt zu verstehen habe, wenn ich ihn nicht
schon verstanden habe? Maximos gibt uns hier eine sehr interessante
Antwort auf diese Frage, die zunächst in eine andere Richtung als die
Lösung Varros zu gehen scheint, sich dann aber doch als ganz ähnlich
entpuppt:
oÛtw kaˆ Ð noàj ™pilabÒmenoj prÕj »So schreitet auch der Geist,
mn»mhn brace…aj ¢rcÁj, ¿n ¹ wenn er einen kleinen Anfang

82
Dialexeis X, 5i 1-3

98
Maximos von Tyros (125-185)
a‡sqhsij aÙtù Ñršgei, ™pˆ poll¦ vom Gedächtnis, dessen Sinn
cwre‹ proiën kat¦ ¢n£mnhsin. sich zu ihm erstreckt, erhalten
“Ekaston g£r, o mai, tîn Ôntwn À hat, gemäß der Erinnerung zu
gegonÒtwn, oŒj ¹ yuc¾ ™nštucen, einer Vielheit fort. Denn jedes
¢kolouq…an œcei, À kat¦ crÒnon, Seiende oder Gewesene, welches
æj ™pˆ ¹mšrv nÚx, kaˆ ™pˆ neÒthti mit der Seele zusammentrifft,
gÁraj, kaˆ ™pˆ ceimîni œar· hat, wie ich glaube, eine Folge,
entweder in zeitlicher Hinsicht,
wie Nacht auf Tag, alt auf jung
und Sommer auf Winter«. 83

Jeder Begriff, jedes Wissen steht immer schon in einer logischen Ord-
nung. Wir verstehen ihn, weil wir die logische Ordnung kennen, in die
er eingebettet ist. Was heißt das für neues Wissen? Jedes Wissen setzt
so eine Art von Vorwissen voraus, welches es ermöglicht, neues Wissen
in der Rahmen und Zusammenhang des Vorwissens zu integrieren.
Damit aber ist das Neue nicht mehr ganz und gar neu, es füllt nur eine
Leerstelle, die es als das, was es ist, bereits mehr oder weniger präzise
beschreibt. Maximos legt so recht verstanden eine holistische Theorie
des Wissens und des Geistes überhaupt vor.
§ 73 Man kann dann eher das neue Wissen aus dem Zusammen-
hang herleiten, als es in der Erfahrung zu suchen. Die Erfahrung gibt
allenfalls den Anstoß, der dann über das Gedächtnis den Geist in Be-
wegung setzt. Eben darin sieht Maximos die sokratische Methode be-
gründet:
Ð d Âtton deinÒj, de‹tai toà Sw- »Wer aber weniger begabt ist,
kr£touj, aÙtoà m n did£skontoj bedarf des Sokrates, der ihn zwar
oÙdšn, dierwtîntoj d kaˆ diapun- nichts lehrt, ihn aber ausfragt und
qanomšnou· Ð d ¢pokr…netai t¢lh- durchforscht. Dieser aber findet
qÁ aÙt£. die Wahrheit selbst.«84

Die sokratische Methode baut eben auf den inneren Zusammenhang


der Gedanken und auf die Konsistenz der logischen Struktur dersel-
ben. Diese innere logische Struktur ist hier für Maximos das Wesen
des Geistes. Der Geist ist so ein vollkommen autonomes Wesen. Für

83
Dialexeis X, 7d 3 – 7e 4
84
Dialexeis X, 8e 1 – 8f 1

99
Maximos von Tyros (125-185)
jeden neuen Bedeutungsgehalt muß erst ein logischer Ort im System
der Gedanken geschaffen werden. Dieser kann dann akzidentell mit
Erfahrungsgehalten gefüllt werden, die eigentliche Bedeutung aber er-
gibt sich aus der logischen Struktur der Gedanken.
So sind für Maximos nicht die Erfahrung und die Fähigkeit zur
praktischen Nutzung derselben die Wesenszüge des menschlichen Gei-
stes, sondern dessen Partizipation an einem in sich stabilen lÒgoj:
M»pote oân a‡sqhsij m n kaˆ pe‹ra »Folglich sind niemals Wahr-
oÙk ¢nqrèpinon, lÒgoj d ¢nqrèpou nehmung und Erfahrung [genuin]
‡dion· kaˆ oÙd n ¨n e‡h ¥llo ™pis- menschliche Dinge, sondern das
t»mh pl¾n bebaiÒthj lÒgou Logische ist dem Menschen
gleich. Und Wissenschaft ist
nichts anderes als die Stabilität
des Logischen.«85

Hier trifft sich Maximos’ Lösung des Regelfolgeproblems mit der von
Varro, der eben auch von einer logischen Ebene ausging, die über der
des Gebrauchs liegt und nach welcher sich letztlich der Gebrauch rich-
tet.

85
Dialexeis VI, 4a 1-3

100
Galenos von Pergamon (129-200)
Galenos von Pergamon (129-200)
Galenos stammt aus Pergamon, einer Stadt die damals als kulturelle
und wissenschaftliche Hochburg mit Alexandria wetteiferte und eben-
falls über eine sehr bedeutende Bibliothek verfügte. Dem Reichtum
seiner Eltern ist es zu verdanken, daß Galenos nach dem Wunsch sei-
nes Vaters nicht einen praktischen Beruf erlernen, sondern daß ihm
vor allem eine umfangreiche philosophische Bildung zuteil werden soll-
te. Dieser verschaffte seinem Sohn daher bereits mit 14 Jahren stoische
und akademische und später auch aristotelische und epikureische Leh-
rer. Dies hatte zur Konsequenz, daß Galenos nicht ein Schulphilosoph
wurde, sondern sich vor allem um eigene Gedanken bemühte und sich
einen kritischen Blick auf die verschiedenen Denkschulen bewahrte.
Mit 17 Jahren begann Galenos ein Studium der Medizin, einer Wissen-
schaft, die bis heute mit seinem Namen als dem nach Hippokrates be-
deutendsten antiken Mediziner verbunden ist. Der überwiegende Teil
des überaus umfangreichen Werks von Galenos ist der Medizin ge-
widmet. Um 151 unternahm er eine Studienreise, die ihn vor allem
nach Alexandria führte und die eine Vertiefung seiner medizinischen
Studien zum Zweck hatte. 161 ging er für einige Jahre nach Rom und
169 ließ er sich definitiv in Rom nieder, wo er zum Arzt des Kaisers
Commodus, des Sohnes von Marcus Aurelius wurde.

Ideen
§ 74 Wir finden bei Galenos zwar Schriften zur Logik, diese gehen je-
doch nicht in einer für uns relevanten Weise über das hinaus, was wir
bei Aristoteles zu diesem Thema kennengelernt haben. Ein Beitrag zu
einer Ideenlehre läßt sich also darin nicht finden. Alles was Galenos
zum Thema der Sphäre des Ideellen zu sagen hat, beschränkt sich auf
einige Gedanken zur Rolle Gottes, den wir ja als Repräsentanten des
Ideellen interpretieren können.
Besonders interessant ist hier der folgende Gedanke, der zugleich
eine Abgrenzung zum mosaisch-jüdischen Denken herstellt:

101
Galenos von Pergamon (129-200)

kaˆ toàt' œsti, kaq' Ö tÁj Mwsoà »Und das ist es, worin sich die
dÒxhj ¼ q' ¹metšra kaˆ ¹ Pl£- Lehre des Moses von der unse-
twnoj kaˆ ¹ tîn ¥llwn tîn par' ren und der Platons und der an-
“Ellhsin Ñrqîj metaceirisamšnwn deren Griechen, welche sich an-
toÝj perˆ fÚsewj lÒgouj diafšrei. gemessen mit der Naturphiloso-
tù m n g¦r ¢rke‹ tÕ boulhqÁnai phie beschäftigt haben, unter-
tÕn qeÕn kosmÁsai t¾n Ûlhn, ¹ d' scheidet. Denn ihm genügt es,
eÙqÝj kekÒsmhtai· p£nta g¦r e nai daß Gott die Materie ordnen will
nom…zei tù qeù dunat£, k¨n e„ t¾n und sofort ist sie geordnet; denn
tšfran †ppon À boàn ™qšloi poie‹n. er denkt, dem Gott sei alles mög-
¹me‹j d' oÙc oÛtw gignèskomen, lich, selbst aus Asche ein Pferd
¢ll' e nai g£r tina lšgomen ¢dÚna- oder ein Rind zu machen. Wir
ta fÚsei kaˆ toÚtoij mhd' ™pi- aber sehen das nicht so, sondern
ceire‹n Ólwj tÕn qeÒn, ¢ll' ™k tîn wir gehen davon aus, daß es
dunatîn genšsqai tÕ bšltiston Sachverhalte gibt, die von Natur
aƒre‹sqai. aus unmöglich sind und daß Gott
diese gänzlich unterläßt, wohl
aber aus den Möglichkeiten des
Entstehens die beste auswählt.«
86

Galenos präsentiert uns hier eine Auffassung, die wir in neuerer Zeit als
Theodizee von Leibniz her kennen. Das göttliche Wesen kann eben
nicht die Natur in beliebiger Weise gestalten, sondern auch Gott muß
sich dabei an logische Gesetze, ja sogar an Naturgesetze halten. So kann
es nicht irgendeine Welt schaffen, sondern es kann allenfalls die beste
aller möglichen Welten (tÕ bšltiston) auswählen.
Zunächst einmal müssen wir hier Galenos’ methodische Strenge
bewundern. Jede Philosophie, die Gott die Möglichkeit zu einer belie-
bigen Schöpfung zuschreibt, läuft schnell Gefahr, sich selbst die Mög-
lichkeit, auch nur irgend etwas über die Natur aussagen zu können, ab-
zusprechen. Das logische und wissenschaftliche Denken wird hier von
Galenos überaus hoch bewertet; so hoch, daß er dafür riskiert, die Reli-
gion erst an zweiter Stellen kommen zu lassen. Aber einer der Gründe
für seine Auffassung wird schnell klar, wenn wir an die platonische
Philosophie denken. Auch für Galenos stellt die Materie das andere
Gottes dar und ist somit eine Grenze für dessen Wirkmacht. Alles, was

86
De usu partium corporis humani XI, 14; vol. III, S. 905, 18 – 906, 9

102
Galenos von Pergamon (129-200)
er leisten kann, ist unter den Bedingungen der Materialität das Opti-
male zu erschaffen. Leider finden wir bei Galenos keinerlei Überlegun-
gen zu der spannenden Frage wodurch sich denn diese beste aller mög-
lichen Welt auszeichnet.
Bleiben wir in der klassischen platonischen Vorstellung eines von
den logischen Ideen und Naturprinzipien noch unterschiedenen Gottes
– eine Vorstellung, die wir Galenos zuschreiben können –, dann steht
dieser Gott mithin unter dem Gesetz der Natur. Die einzige Möglich-
keit, ihn zu erheben wäre eine Gleichsetzung mit dieser Logik. Ist Gott
zugleich das Ideelle, dann ist die Herrschaft der Ideen über ihn zu-
gleich seine Selbstherrschaft über sich; der Begriff des Göttlichen als
eines absoluten Wesens wäre gerettet.
§ 75 Trotz dieser Beschränkung schafft es Galenos’ Gott dann eine
in sich perfekte Natur zu erschaffen. Dies schafft er in einem Maße, daß
man von der Perfektion der Natur auf die Perfektion Gottes zurück-
schließen kann:
æj, Óstij ge ™leuqšrv tÍ gnèmV »Ebenso wird jeder, der auch
skope‹tai t¦ pr£gmata, qeas£me- immer die Dinge mit einer freien
noj ™n tosoÚtJ borbÒrJ sarkîn te Meinung betrachtet, sehend, daß
kaˆ cumîn Ómwj ™noikoànta noàn, in diesem Schlamm aus Fleisch
„dën d kaˆ zóou kataskeu¾n Ótou und Säften auch ein Geist wohnt
d» – p£nta g¦r œndeixin œcei sofoà und die Konstruktion irgend ei-
dhmiourgoà –, t¾n Øperoc¾n ™nno»- nes Lebewesens schauend – denn
sei toà kat¦ tÕn oÙranÕn noà· all das ist ein Nachweis der
Weisheit des Baumeisters –, sich
der Exzellenz des himmlischen
Geistes gewahr.« 87

Der dhmiourgÒj ist also in seiner Exzellenz hinreichend durch die von
ihm in die Natur hineingetragenen Strukturen gefaßt. Das gibt uns eine
deutliche Auskünfte über Galenos’ Einstellung zum Verhältnis von
Gott und Welt. Offenbar geht er davon aus, daß wir allein durch die
Betrachtung der Welt bereits hinreichend viel über das Göttliche erfah-
ren, um ein adäquates Urteil darüber abzugeben. Darüber hinaus
scheint er aber auch noch davon auszugehen, daß die Betrachtung der

87
De usu partium corporis humani XVII, 1, vol. IV, S. 360, 8-13

103
Galenos von Pergamon (129-200)
Natur auch an sich bereits eine hinreichende Beschäftigung dafür ist,
um etwas über die Dinge schlechthin zu erfahren. Anders als bei Platon
können wir also nicht von ihm erwarten, daß er zuerst ideelle Struktu-
ren aufdeckt und diese dann in der Natur sucht, sondern er wird um-
kehrt das höchste Wissen in der Natur selbst suchen; eine Methode die
man ihm nicht verdenken kann, eingedenk des Umstandes, daß der un-
tersuchende Geist ja selbst ein Naturwesen ist und alles Ideelle in sei-
nem Geist immer wieder an die Natur zurückgebunden bleibt.

Natur
i. Die Grundbestimmungen der Natur
§ 76 Auch wenn Galenos so ganz und gar nicht platonisch denkt, so
bleibt seine Grundauffassung, wonach es ein der Natur übergeordnetes
Ideelles gibt, dennoch im platonischen Paradigma verhaftet:
noàj ™stˆn Ð p£nta diat£ttwn taà- »Es ist ein Geist, der alles ordnet
ta kaˆ kosmîn, oÙk Ôgkoi swm£- und es leitet, nicht zufällig mit-
twn aÙtom£twj ¢ll»loij periple- einander verschlungene körperli-
kÒmenoi. che Kugeln.« 88

Galenos gibt hier eine klare Absage an die Auffassung der Atomisten,
deren Gedankengut sich auch unter den Medizinern der Antike ver-
breitet hatte. Er geht statt dessen ebenso wie Platon davon aus, daß es
einen noàj gibt, dem das Weltgeschehen seine Struktur und Gestalt ver-
dankt. Auch wenn er also seinen Blick vor allem auf die Natur richtet,
so ist er doch nicht blind für das Strukturelle in derselben.
§ 77 Da wir jedoch schon gesehen haben, daß Galenos nicht zu me-
taphysischen Überlegungen hinsichtlich der genauen Struktur dieses
noàj neigt – eine Ideenlehre fehlt ja bei ihm –, so müssen wir diesen
Geist wohl vor allem auf Erden, in seiner konkreten Tätigkeit suchen.
Diese wird in einer abstrakten Form für Galenos wohl vor allem von
Aristoteles’ Ursachenlehre gefaßt, die sich in leicht erweiterter Form
auch bei ihm findet:

88
De usu partium corporis humani VI, 13, vol. 3, S. 469, 11-13

104
Galenos von Pergamon (129-200)

¹me‹j d', Ópwj m¾ dÒxwmen Øp r »Wir aber, die wir auf keine
Ñnom£twn terqreÚesqai, sugcwr»- Weise im Ruf stehen, von Na-
santej gšnh ple…w tîn a„tiîn Øp- men zu faseln, verständigen uns
£rcein, prîton m n kaˆ m£lista, darauf, daß es mehrere Arten von
di' Ö g…gneta… ti, deÚteron d', Øf' oá Ursachen gibt, die erste und
g…gnetai, kaˆ tr…ton, ™x oá, kaˆ tš- wichtigste ist das Weswegen et-
tarton, di' oá, kaˆ pšmpton, e„ boÚ- was wird; die zweite ist das Wo-
lei, tÕ kaq' Ó durch etwas wird, die dritte ist
das Woraus, die vierte ist das
Vermittels wessen und die fünfte
ist, wenn man will, das Wem ge-
mäß.« 89

Wir finden hier zunächst die vier Ursachen des Aristoteles wieder, die
causa finalis (di' Ö), die causa efficiens (Øf’ oá), die causa materialis
(™x oá) und die causa formalis (kaq' Ó). Da sie uns aus dem zweiten
Band von Aristoteles bekannt sind, müssen wir auf sie inhaltlich nicht
näher eingehen; Galenos tut das im übrigen auch nicht. Allein auffal-
lend ist die Sonderrolle der causa finalis. Daß sie hier eine so bedeu-
tende Rolle spielt deutet darauf hin, daß Galenos eine überaus teleolo-
gisch geprägte Sichtweise der Natur hat. Das ist nicht verwunderlich,
bedenkt man, daß sein Hauptgegenstand als Mediziner der Organismus
ist, der eben vor allem von teleologischen Strukturen geprägt ist.
Er fügt dieser aristotelischen Ursachenliste schließlich noch eine
fünfte hinzu, die Mittelursache (di' oá), die angibt mittels wessen etwas
sich verändert. In der Tat hat er hier eine Lücke im aristotelischen
Denken entdeckt, die wiederum vor allem im Reich des Organischen
ins Spiel kommt. Vermutlich hat Aristoteles ihr wegen dieser Spezialität
keinen Platz in seiner Ursachenliste eingeräumt. Denn erst organische
Wesen benutzen, wie der Name ja schon sagt, Werkzeuge um Ziele
oder Zielzustände zu erreichen. Diesen vom Organischen geprägten
Blick auf die Natur finden wir hier also schon in den Grundkategorien
von Galenos’ Naturphilosophie wieder.

89
De usu partium corporis humani VI, 12, vol. 3, S. 465, 4-9

105
Galenos von Pergamon (129-200)
ii. Die Identifikation eines Naturwesens
§ 78 Eine weitere sehr grundsätzliche Überlegung, die ebenfalls vor al-
lem für die Philosophie des Organischen Sinn macht, ist die Frage, wie
man überhaupt ein Naturwesen als einzelnes identifizieren kann. Das
ist keineswegs eine unspannende Frage. Vor allem empirische und ma-
terialistische Ansätze glauben unvoreingenommen zu sein, wenn sie das
Einzelne als grundlegend ansehen. Das ist aber keineswegs selbstver-
ständlich. Geht man davon aus – was wir als Idealisten ja tun –, daß die
Natur vor allem ein in sich zusammenhängendes Wesen ist, dann wird
die Frage danach, was man überhaupt als Einzelwesen anerkennen
kann, durchaus erklärungsbedürftig. Nach eben einer solchen Erklä-
rung sucht Galenos:
“Wsper tîn zówn ›kaston n e nai »Es wird gesagt, daß jedes Lebe-
lšgetai tù fa…nesqai kat£ tina wesen eines ist, weil es einen ei-
perigraf¾n „d…an mhdamÍ to‹j genen Umkreis und nirgends ei-
¥lloij xunhmmšnon, oÛtw kaˆ tîn ne Verbindung mit den anderen
mor…wn aÙtoà tÕ m n ÑfqalmÒj, tÕ hat. Ebenso sagt man von den
d ·…j, tÕ d glîtta, tÕ d' ™gkšfa- Teilen desselben, wie dem Auge,
loj n e nai lšgetai tù fa…nesqai der Nase, der Zunge, dem Kopf,
perigraf¾n „d…an œcon. e„ d m¾ daß sie eines sind, weil wenn sie
xunÁpto kat£ ti to‹j pšlaj, ¢ll¦ einen eigenen Umkreis haben.
p£nth kecèristo, tÒt' ¨n oÙd Wenn sie aber nicht mit denen,
mÒrion Ãn Ólwj, ¢ll' ¡plîj ›n. die ihnen benachbart sind zu-
sammengehalten wären, sondern
ganz getrennt, dann wären sie
auch überhaupt keine Teile,
sondern Eines.« 90

Etwas ist also dann als ein Einzelwesen zu betrachten, wenn es komplett
von anderen getrennt ist. Ist es aber nicht getrennt, so ist es auch dann,
wenn man es als einzelnes erkennen und herausheben kann, bloß ein
Teil eines größeren Ganzen, mit dem es zusammenhängt.
Wir sehen also, daß Galenos, auch wenn er hier eine vor allem im
Idealismus sehr spannende Frage stellt, keineswegs eine idealistische
Antwort auf die Frage gibt. Vielmehr zeigt er sich hier als Anhänger ei-

90
Du usu partium corporis humani I, 1, vol. 3, S. 1

106
Galenos von Pergamon (129-200)
nes sehr platten Empirismus, der das Einzelwesen an seiner phänome-
nalen Abgetrenntheit zu erkennen glaubt. So wie es sich zeigt
(fa…nesqai), so ist es auch. Das ist aber keineswegs selbstverständlich.
Das Beispiel der Ameisen, welches wir im dritten Band bei Kleanthes
diskutiert haben, zeigt sehr deutlich die Grenze dieses Denkens, denn
die Ameisen legen als Volk eine Intelligenz an den Tag, welche den
einzelnen Insekten nicht zukommt. Trennen wir sie von ihrem Volk
ab, so sind die meisten Ameisen recht nutz- und hilflose Wesen. In-
stinktiv arbeiten sie auch dann weiter, wie zuvor, es fehlt aber der Nut-
zen, den diese Arbeit nur im Kollektiv hat. Ebenso fehlt ihnen dann
auch die Kompensation vom Kollektiv. Wir haben hier also den Fall
eines Teiles vor uns, der empirisch fälschlicherweise als einzelnes Gan-
zes erscheint. Wenn also Galenos hier auch eine sehr spannende Frage
stellt, so ist doch mit seiner Antwort auf diese Frage viel weniger anzu-
fangen.

iii. Die Rolle der Elemente im Organismus


§ 79 Die nächste spannende Frage ist die nach den Bestandteilen der
Naturwesen. Hier interessiert sich Galenos ganz speziell nur für die Le-
bewesen. Dabei setzt er sich in der Schrift De elementis ex Hippocrate
vor allem mit der Frage auseinander, ob Lebewesen aus Atomen beste-
hen. Um diese Auffassung zu widerlegen, greift er ein Argument auf,
das er selbst Hippokrates zuschreibt, wonach wir, wenn wir aus Ele-
menten bestünden, nicht leiden könnten. Dieses Argument formuliert
er weiter aus:
oÙd n g¦r oÜt' ™k tîn ¢paqîn oÜt' »Denn weder das aus Leidensunfä-
™k tîn ¢naisq»twn suntiqšmenon higem, noch das aus nicht Wahr-
a„sqhtikÕn À paqhtikÕn g…gnetai. nehmungsfähigem zusammenge-
qaumastÕn g¦r ¨n Ãn, e„ mhdenÕj setzte wird wahrnehmend oder lei-
aÙtoà tîn mor…wn m»te p£scontoj densfähig. Denn es wäre erstaun-
m»t' a„sqanomšnou tÕ Ólon a„s- lich, wenn, obschon seine Teile we-
qanÒmenÒn te kaˆ p£scon ™g…gneto. der leidend noch wahrnehmend
sind, das Ganze wahrnehmend und
leidend werden würde.« 91

91
De elementis ex Hippocrate I, vol. 1, S. 422, 5-9

107
Galenos von Pergamon (129-200)
Offensichtlich negiert Galenos hier die Existenz eines Übersumma-
tionseffektes, wo das Ganze Eigenschaften annehmen kann, die den
Teilen nicht zukommen. Der Grund für diese Überzeugung ist weniger
auf eine ausgefeilte Theorie gestützt als vielmehr ein Eingeständnis ei-
ner mangelnden Vorstellungskraft. Für Galenos ist es einfach undenk-
bar, daß das Ganze beispielsweise leidet, die Teile aber nicht mitleiden:
tÁj goàn ¢lgoÚshj sarkÕj ™n tù »Wenn jedenfalls das Fleisch
titrèskesqai tÕ mhd n tîn ™la- Schmerz empfindet, sofern es
c…stwn aÙtÁj mor…wn m»t' ¢lge‹n verwundet wird, wäre es da nicht
m»te titrèskesqai pîj oÙ qauma- erstaunlich, wenn weder die
stÒn; kleinsten Teile von ihm Schmerz
empfinden, noch verwundet
sind?« 92

Verwundung und das darauf folgende Schmerzempfinden können für


Galenos nur etwas sein, das sich im Ganzen des Organismus zeigt, weil
die Teile des Organismus betroffen sind. Diese Überlegung ist nicht
ganz verkehrt; allein sie denkt überhaupt nicht systemtheoretisch.
Nichts zwingt zu der Annahme, daß das Schmerzempfinden, das ein
Organismus als Ganzer an den Tag legt, ein echtes Abbild des Schmer-
zes eines Teiles ist. Die Teile können vielmehr an sich perfekt in Ord-
nung sein, aber in einer solchen Disharmonie, daß das den Organismus
schmerzt.
§ 80 Die Konsequenz für Galenos ist klar. Da der Organismus zu
Schmerzempfindungen in der Lage ist, müssen auch seine Teile dazu in
der Lage sein. Hier stößt er auf einen interessanten Gedanken, der un-
serem Materiebegriff sehr nahe kommt. Er fragt, ob denn dann nicht
die Atome selbst Empfindungen haben könnten, so daß sie keine Ato-
me im Sinne Leukippos’ und Demokritos’ mehr wären, sondern eher
Monaden im Sinne Ekphantos’. Wenn aber Schmerzempfinden, wie
oben erwähnt, zwei Dinge voraussetzt, nämlich einerseits Wahrneh-
mungsfähigkeit und andererseits Leidensfähigkeit, in dem Sinne, daß
das entsprechende Element affiziert werden kann, dann folgt für Ga-
lenos daraus schon, daß man einfache Elemente als Kandidaten aus-
schließen kann:

92
De elementis ex Hippocrate I, vol. 1, S. 423, 3-5

108
Galenos von Pergamon (129-200)

Óti d tÕ n ¢paqšj, ¹ ¢pÒdeixij »Hier der kurze Beweis dafür,


sÚntomoj. oÜte g¦r e„j Ö me- daß das Eine nicht leidensfähig
tast»setai oÜq' Øf' Ótou pe…setai ist. Denn für das eine Element
tÕ n stoice‹on œcei. meqist£menÒn gibt es weder eine Veränderung,
te g¦r e„j ›terÒn ti metast»setai noch etwas, wodurch es sich be-
kaˆ p£scon Øf' ˜tšrou tinÕj stimmen lassen wird. Denn et-
pe…setai. was, das sich verändert, verändert
sich zu einem anderen und etwas
leidendes wird durch ein anderes
bestimmt.« 93

Das einfache Element, als welches man sich ein Atom denken kann,
kann sich nicht verändern, denn dann müßte es eine Vielheit von Be-
stimmungen an sich haben, so daß sich eine davon ändert, die anderen
aber gleich bleiben. Entsprechend müßte also ein leidensfähiges Ele-
ment bereits eine Vielheit in sich sein.
In der Tat müssen wir uns unsere Monaden als Vielheiten denken.
Das ist ja eben der Unterschied zum Materialismus. Der Materialist
geht davon aus, daß die Materie, aus der alles besteht, eine letztlich ein-
fache und undifferenzierte Größe sein muß, auf die alles reduziert wer-
den kann. Geht man jedoch von einer ideellen Materie aus, von Mona-
den, die selbst eine Vorstellung anderer Monaden haben sollen, so
muß man diesen eine gewisse innere Komplexität zuschreiben, wie
auch immer das dann konkret aussieht.
§ 81 Galenos jedoch hat eine andere Art von Element für den Auf-
bau der Organismen im Sinn, nämlich die sogenannten Ðmoiomšreiai,
die wir aus dem ersten Band von Anaxagoras her kennen. Wenn er uns
erklärt, woraus der menschliche Körper besteht, dann spielen diese da-
bei eine zentrale Rolle:
fšre g¦r †n' ™p' ¢nqrèpou dišlqw »Wohlan denn, so setze ich mich
tÕn lÒgon, ™k prètwn oátoj kaˆ mit der Theorie des Menschen
¡ploust£twn a„sqhtîn stoice…wn auseinander. Er besteht aus er-
™stˆ tîn Ðmoiomerîn Ñnomazomšn- sten und einfachen sinnlich
wn „nÕj kaˆ Ømšnoj kaˆ sarkÕj kaˆ wahrnehmbaren Elementen, die
pimelÁj Ñstoà te kaˆ cÒndrou kaˆ Gleichteilige genannt werden,

93
De elementis ex Hippocrate I, vol. 1, S. 426, 3-7

109
Galenos von Pergamon (129-200)
sundšsmou kaˆ neÚrou kaˆ mueloà nämlich Haut, Fleisch, Fett,
kaˆ tîn ¥llwn ¡p£ntwn, ïn t¦ Knochen, Schleim, Gelenken,
mÒria tÁj aÙtÁj ¢ll»loij „dšaj Nerven, Mark und vielen ande-
™stˆ sÚmpanta. gšgone d taàta ren, bei denen alle Teile allen
p£lin œk tinwn ˜tšrwn prosecîn anderen ähnlich sehen. Diese
˜auto‹j stoice…wn, a†matoj kaˆ dagegen entstehen aus irgendwel-
flšgmatoj kaˆ colÁj dittÁj, chen anderen von ihnen selbst
çcr©j kaˆ mela…nhj, ïn ¹ gšnesij unterschiedenen Elementen,
™k tîn ™sqiomšnwn kaˆ pinomšnwn, Blut und Phlegma, sowie zwei
§ d¾ p£lin ™x ¢šroj kaˆ purÕj Arten von Galle, nämlich gelbe
ÛdatÒj te kaˆ gÁj ™gšneto, taàta und schwarze, die ihren Ur-
d' oÙk ™x ˜tšrwn swm£twn, ¢ll' ™x sprung aus Gegessenem und Ge-
Ûlhj te kaˆ poiot»twn ™st…. kaˆ trunkenem haben, was dagegen
di¦ toàto purÕj m n kaˆ ¢šroj wiederum aus Luft, Feuer, Was-
ÛdatÒj te kaˆ gÁj ¢rc¦j e nai ser und Erde entsteht. Diese ent-
lšgomen, oÙ stoice‹a, tautˆ d' stehen nicht aus andere Körpern,
aÙt¦ tîn ¥llwn ¡p£ntwn sondern aus Eigenschaften. Da-
stoice‹a. mÒria g£r ™stin her bezeichnen wir Feuer, Luft,
™l£cista tîn ¥llwn ¡p£ntwn Wasser und Erde als Prinzipien,
¡pl© kaˆ prîta. denn diese sind die Elemente
aller anderen Dinge. Denn die
kleinsten Teile der anderen sind
ganz einfach und ursprünglich.«
94

Die Ðmoiomšreiai, so erinnern wir uns, haben wir bei Anaxagoras als
diejenigen Stoffe kennengelernt, die – wie beispielsweise Fleisch oder
Knochen – nach seiner Auffassung beim Zerteilen immer wieder aus
dem selben Material bestehen. Diese bestimmt er hier als die Elemente
des menschlichen Körpers. Und schon gibt er uns ein Rätsel auf, denn
sofort darauf sagt er, daß die Ðmoiomšreiai ihrerseits letztlich doch aus
verschiedenen Säften bestehen, die dann wiederum aus den uns be-
kannten vier Elementen bestehen. Die Elemente sollen selbst aus Ei-
genschaften bestehen; eine Überlegung, die wir von Aristoteles her
kennen.
Zunächst einmal wähnt Galenos damit seine Frage beantwortet.
Wenn der menschliche Körper aus Elementen wie Fleisch besteht und
man davon ausgeht, daß dieses in sich selbst leidensfähig ist, dann wird

94
De elementis ex Hippocrate I, vol. 1, S. 479, 10 – 480, 8

110
Galenos von Pergamon (129-200)
für ihn daraus verständlich, wie aus solchen Elementen ein leidensfähi-
ger Körper aufgebaut sein kann. Nun aber stehen wir damit auch sofort
vor einer neuen Frage: Wie und warum bestehen dann diese Elemente
wieder aus anderen Elementen? Sind damit nicht die anderen Elemen-
te selbst auch letztlich die Elemente des menschlichen Körpers? Und
da wir davon ausgehen müssen, daß beispielsweise Wasser leidensunfä-
hig ist, wirft dies nicht wieder das nämliche Problem auf? Klar ist nur,
daß Galenos hier den Begriff der Ðmoiomšreiai verändert hat, denn nun
bestehen sie ja aus anderem Stoff.
§ 82 Eine Lösung dieser Fragen bei Galenos zu finden ist nicht
leicht. Da er den Zusammenhang nicht explizit aufdeckt, sind wir hier
auf Vermutungen angewiesen. Eine sehr weit tragende Vermutung er-
gibt sich aus einer Stelle, welche den Ðmoiomšreiai eine Form abzuspre-
chen scheint:
oÙd g¦r ¹ aÙt¾ fÚsij ™stˆn ¡p£n- »Dann auch die Natur selbst der
twn tîn ginomšnwn, ¢ll' Ósa m n entstehenden Dinge ist nicht die-
ÐmoiomerÁ te Øp£rcei kaˆ scÁma selbe, sondern bei all denen, die
sÚmfuton œcei mhd n, oÙs…a toÚtwn gleichteilig sind und in keinem
eÙqÝj ™x ¢rcÁj ™stin ¹ aÙt»· tîn Stück eine eigene Gestalt haben,
d ½toi polueidîn t¾n morf¾n, À ist deren Wesen direkt von An-
¢nomoiomerîn, ™gcwre‹ t¾n oÙs…an fang an dasselbe; bei den der
Østšran e nai tÁj genšsewj. Form nach Vielgestaltigen oder
Ungleichteiligen gleichwohl ist es
möglich, daß das Wesen erst
nach ihrer Entstehung da ist.«
95

Galenos zieht hier aus dem Begriff der Ðmoiomšreiai den folgenden
Schluß. Wenn etwas immer wieder aus demselben Material besteht,
dann ändert es beim Zerteilen auch seine Form nicht; seine Form ist
dann auch in einem empirischen Sinne etwas Apriorisches. Daher gibt
es für ihn Wesen, die nicht erst geformt werden müssen, sondern im-
mer schon geformt sind; wie etwa das Fleisch, während anderes, anor-
ganisches Material erst einer Formung bedarf. Im Grunde formt also
keine Form die Ðmoiomšreiai, sondern sie sind immer schon eine auf
spezifische Art geformte Materie.

95
De locis affectis I, 2, vol. 8, S. 26, 8-13

111
Galenos von Pergamon (129-200)
Wie aber läßt sich dieser Gedanke dann damit verbinden, daß die
Ðmoiomšreiai selbst auch aus Elementen bestehen sollen? Meines Erach-
tens denkt sich Galenos das wie folgt: Wie auch immer Lebewesen ur-
sprünglich entstanden sind, sobald sie vorhanden sind, entstehen Le-
bewesen aus Lebewesen, Gleiches aus Gleichem, ein bereits von Aristo-
teles her bekannter Gedanke. Wenn nun diese Lebewesen aus
Ðmoiomšreiai bestehen, dann bringen sie auch wieder andere, aus
Ðmoiomšreiai bestehende Wesen hervor, ohne daß bei diesem ewigen
Progreß der Fortpflanzung ein Wesen aus den vier Elementen erzeugt
werden muß. Der einzige Punkt, in dem die Elemente ins Spiel kom-
men könnten, ist die Ernährung. Hier ist aber dann schon ein Orga-
nismus vorhanden, so daß die Entstehung neuen lebendigen Materials,
neuer Ðmoiomšreiai als eine Art von bloßer Erweiterung der bereits vor-
handenen angesehen werden kann, ohne daß man eine Theorie der
Transsubstantiation annehmen muß.
Allein diese Erklärung ist doch sehr umständlich und man braucht
nicht viel Systemtheorie, um sich vorstellen zu können, wie man die
damit verbundenen offenen Fragen, wie beispielsweise die betreffend
der ersten Entstehung des Lebens beantworten kann. Dies belegt sehr
deutlich, wie groß der Umweg wird, den man theoretisch auf sich neh-
men muß, wenn man die Rückbindung der lebendigen Natur an die
anorganische leugnen will.

iv. Die Höherentwicklung des Organismus


§ 83 Nun fehlt es Galenos aber im Allgemeinen in der Betrachtung des
Reichs des Lebendigen keineswegs an systemtheoretischen Einsichten.
Ab der Stufe der Ðmoiomšreiai erklärt er alles folgende durchaus in einer
Weise, die an Systemtheorie erinnert:
'Ek m n g¦r tîn cumîn toÚtwn »Denn jede dieser Gleichteiligen
›kaston tîn Ðmoiomerîn ™gšneto, entsteht aus den Säften, die,
suniÒntwn d toÚtwn ¢ll»loij wenn sie sich miteinander ver-
¢potele‹tai tÕ prîtÒn te kaˆ ¡p- einbaren, das erste und einfach-
loÚstaton Ôrganon, Ö mi©j ™ner- ste Organ vollenden, welches für
ge…aj ›neken ØpÕ tÁj fÚsewj eine einzige Funktion von der
™gšneto. toÚtwn d' aâqij ¢ll»loij Natur hervorgebracht wurde.
suntiqemšnwn ›teron Ôrganon kaˆ Wenn aber wieder diese Organe

112
Galenos von Pergamon (129-200)
me‹zon genn©tai k¢ke…nwn aâqij sich miteinander verbinden, ent-
¢ll»loij ™piplekomšnwn ¹ toà steht ein anderes, besseres Organ
pantÕj sèmatoj ¢potele‹tai sÚm- und wenn wiederum diese sich
phxij. miteinander verflechten, vollen-
det sich die Zusammenfügung
des ganzen Körpers.«96

Vier Naturstufen stellt uns Galenos hier vor, ausgehend von den Säften
(cumo…) entstehend die Ðmoiomšreiai, die sich wiederum zu einem Ôrganon
verbinden können. Mehrere dieser Organe können dann ein besseres
Organ (Ôrganon me‹zon) hervorbringen und mehrere von diesen schließ-
lich den Organismus (sèma). Diese Darstellung wirft zwei Fragen auf.
Die eine ist die nach der naturphilosophischen Interpretation der ein-
zelnen Stufen und die andere die nach der Form der Höherentwick-
lung, welche Galenos hier beschreibt.
Bezüglich der ersten Frage kommen wir hier nicht sehr weit. Eine
biologische Interpretation von Säften und Ðmoiomšreiai halte ich für we-
nig ertragreich. Auf der nächsten Stufe verläßt Galenos aber inhaltlich
schon die Ebene des naturphilosophisch interessanten, indem er von
funktionsspezifischen Organen spricht. Das mag technisch für den Me-
diziner interessant sein, für den Naturphilosophen aber ist es deswegen
problematisch, weil das Ôrganon als solches ja immer schon auf eine hö-
here Ebene hinweist, von der es seine Funktion erhält. Das Organ stellt
somit keine Formebene reinen Typs dar, denn dann müßte es selb-
ständig existieren können. Statt das menschliche Herz zu untersuchen
wäre es dazu eher interessant, Lebewesen zu untersuchen, bei denen
der Blutkreislauf die höchste Formebene und nicht nur ein spezialisier-
ter Teil ist.
§ 84 Die zweite Frage gestaltet sich sehr viel interessanter, denn Ga-
lenos Beschreibung der Höherentwicklung legt einige spannende The-
sen an den Tag. Zunächst einmal müssen wir festhalten, daß es sich hier
in der Tat um eine Theorie der Höherentwicklung handelt, die von
den cumo… und Ðmoiomšreiai als letzten organischen Elementen ausgeht
und durch Formung dann höhere Ebenen entstehen läßt. Eine erste
noch ganz einfache Gemeinsamkeit der verschiedenen Ebenen ist der

96
De elementis ex Hippocrate I, vol. 1, S. 481, 1-7

113
Galenos von Pergamon (129-200)
Umstand, daß immer mehrere Elemente der niedrigeren Ebene die
höhere hervorbringen. Das ist logisch zwingend, die Form muß ja auf
mehreren Elementen beruhen, ansonsten formte sie nicht die Elemen-
te, sondern die Elemente der Elemente. Zweitens fällt auf, daß Ga-
lenos, wenn er diese Höherentwicklung auch nicht bis in die techni-
schen Details hinein beschreibt, doch immer einen anderen Begriff zur
Charakterisierung der verschiedenen Verbindungsarten der Elemente
benutzt. Zwar vermag ich bei diesen drei hier benutzten Begriffen, die
alle aus dem Wortfeld von »Verbindung« kommen, keine Systematik
erkennen, aber Galenos gibt sich im Gegensatz zu etwa Empedokles
zumindest die Mühe, die ja letztlich damit benannten Formen unter-
schiedlich zu benennen. Was allein fehlt wäre die Einsicht darin, daß
das eben die Formen sind und nicht erst die daraus entstehenden Pro-
dukte, welche diese Formen dann an den Tag legen.

v. Die funktionale Gliederung des Organismus


§ 85 Bisher haben wir den Formbegriff als im Zentrum der Frage nach
der Gliederung des Organismus stehend kennengelernt. Das ist auch
bei Galenos nicht anders und er liefert uns hinsichtlich der Frage nach
der Bestimmung einer Naturform eine für das idealistische Denken
sehr treffende Erläuterung, die ganz von Äußerlichkeiten absieht:
¹ g¦r diapl£ttousa t¦ mÒria »Denn jene Natur, welche die
fÚsij ™ke…nh kaˆ kat¦ bracÝ pros- Teile gestaltet und sie langsam
aÚxousa p£ntwj d»pou di' Ólwn gedeihen läßt, streckt sich doch
aÙtîn ™ktštatai· kaˆ g¦r Óla di' sicher völlig in deren Ganzes aus;
Ólwn oÙk œxwqen mÒnon aÙt¦ dia- denn es gestaltet, ernährt und
pl£ttei te kaˆ tršfei kaˆ pros- fördert sie auch nicht nur von
aÚxei. außen, sondern ganz und durch
und durch. «97

Galenos bringt hier den Formbegriff in dessen Verhältnis zum geform-


ten Wesen auf den Punkt. Die Form ist nichts äußerliches, sondern sie
ist ein Gestaltungsprinzip, welches das Naturwesen durchdringt. Indem
ein Naturwesen eine Form hat, ist jedes seiner Teile vollkommen auf
diese Form hin ausgerichtet; eine Überlegung die wir durchaus noch

97
De naturalibus facultatibus II, 3, vol. 2, S. 82, 2-6

114
Galenos von Pergamon (129-200)
bei Galenos wiederfinden werden. Er erkennt, daß die Form zugleich
ein Prinzip der Gestaltung, damit aber auch immer schon ein Prinzip
der Erhaltung eines Naturwesens ist. Zugleich spiegelt sich darin seine
oben diskutierte Ansicht, daß ein Organismus durch viele Formstufen
hindurch komplett durchgestaltet ist.
§ 86 Diese Durchgestaltung macht sich vor allem an der funktiona-
len Gliederung des Körpers fest. Jeder Funktion98 des Organismus ist
nach Galenos ein bestimmter Teil des Körpers zugeordnet:
Tîn kat¦ tÕ sîma toà zèou »Es gibt für jede der Funktionen
pasîn ™nergeiîn ˜k£sthj ti mÒri- im Körper des Lebewesens einen
on ‡diÒn ™stin, di' oá g…netai. kaˆ eigentümlichen Teil, aus dem sie
to…nun kaˆ bl£ptesqai t¾n ™nšr- entsteht. Und ferner ist auch die
geian ¢nagka‹Òn ™sti, paqÒntoj Funktion notwendig geschädigt,
kat£ ti toà dhmiourgoàntoj aÙt»n. wenn dem sie hervorbringenden
[Teil] etwas widerfährt.« 99

Es gibt also für Galenos keine in der Luft hängenden Funktionen des
Körpers, keine abstrakten Seelenkräfte, die auf mysteriöse Weise wirk-
sam werden. Alles, was in einem Körper geschieht, hat auch eine kör-
perliche Subsistenz, was aber nicht schon zugleich heißt, daß diese
Funktionen auf Körperliches reduzierbar sind. Dennoch parallelisiert
sie Galenos so weit, daß er von einer Beeinträchtigung der einen Seite
auf eine Beeinträchtigung der anderen Seite schließt. Da die Funktio-
nen spezifischen Teilen zugeordnet werden, kann selbstverständlich
nicht ein Teil die Aufgaben eines anderen übernehmen. Vermutlich
wird eine solche Flexibilität erst im Geist erreicht.
§ 87 Entsprechend kann Galenos die Heilung als nicht als eine Art
Reparatur des Körpers, sondern als eine Wiederherstellung der funk-
tionalen Ordnung desselben darstellen:
oÙ g¦r d¾ ¥llo gš ti tÕ Øgi£zein »Denn das Heilen ist nichts an-
™stˆ par¦ tÕ t¾n nàn oâsan ™n tù deres als den jetztigen Zustand
sèmati di£qesin e„j tÕ kat¦ fÚsin des Körpers zum natürlichen zu

98
Ich übersetze hier »™nšrgeia« als »Funktion«, wobei Galenos’ Definition dem recht
nahekommt: ™nšrgeian d t¾n drastik¾n Ñnom£zw k…nhsin (De naturalibus facultatibus
I, 2). ™nšrgeia wird hier als wirksame Bewegung gefaßt.
99
De locis affectis I, 2, vol. 8, S. 20, 3-6

115
Galenos von Pergamon (129-200)
¥gein· ™nant…wn d' oÙsîn tîn dia- überführen. Das Gegenteil des
qšsewn ¢nagka‹Òn ™sti di' ™nant…an seienden Zustands entsteht aber
g…gnesqai t¾n e„j ¢ll»laj aÙtîn notwendig durch sein Gegenteil,
met£ptwsin. so daß sich beide wechselseitig
ablösen.« 100

Diese funktionale Ordnung ist der natürliche Zustand des Körpers und
es kann dem Mediziner nur darum gehen, diesen herzustellen. Dieser
aber läßt sich nur durch operieren auf der funktionalen Ebene errei-
chen. Nicht das Ersetzen einer beschädigten Leber repariert diese, son-
dern eine Medizin, welche eine funktionales Gegenreaktion gegen das-
jenige hervorruft, das den Körper ins Ungleichgewicht gebracht hat.
§ 88 Aber nicht nur Organe repräsentieren in einem Körper eine
bestimmte Funktion; alles ist für Galenos funktional, es gibt nichts Un-
wesentliches:
oÛtw g¦r ¨n ™nargîj ¹ tšcnh »Denn darin zeigt sich deutlich
deicqe…h tÁj fÚsewj, e„ m¾ t¦j die Kunst der Natur, daß sie
oÙs…aj mÒnon tîn mor…wn ›nek£ tou nicht nur die wesentlichen Teile
fa…noito kataskeu£zein, ¢ll¦ kaˆ auf einen Zweck hin ausgerichtet
t¦ sumbebhkÒta p£nt' aÙta‹j zu haben scheint, sondern eben-
Ðmo…wj. so auch all die unwesentlichen.«
101

Hier spiegelt sich der Gedanke wieder, den wir oben kennengelernt
haben, wonach die Form etwas alles durchdringendes ist. Diese Auffas-
sung überträgt sich für Galenos gerade auch auf die Funktionen des
Organismus. Auch hier ist alles an irgend einem Punkt ein notwendiger
Bestandteil des Ganzen. Er spricht so auch von der
tÁj mhd n ¢lÒgwj ™rgazomšnhj »nichts ohne Plan erzeugenden
fÚsewj Natur.« 102

Der Natur ein solches ökonomisches Wesen zuzuschreiben ist auch


naturphilosophisch sehr hilfreich, denn es erlaubt Galenos, aus dem
bloßen Vorhandensein eines Teiles eines Organismus auf die Notwen-
digkeit einer dahinterstehenden Funktionalität zu schließen. Diese muß

100
De methodo medendi IX, 15; vol. 10, S. 650 7-11
101
De usu partium corporis humani IV, 13, vol. 3, S. 300, 16-19
102
De usu partium corporis humani IV, 15, vol. 3, S. 315, 16-17

116
Galenos von Pergamon (129-200)
dann nur noch erschlossen und inhaltlich bestimmt werden. Das oben
Gesagte läßt sich so in zwei Richtungen verstehen, denn nicht nur jeder
Funktion entspricht ein Teil sondern es auch jedem Teil eine Funktion.
Es gibt somit eine perfekte Deckung zwischen dem ideellen Plan eines
Organismus und dessen empirischer Erscheinung.
§ 89 In diesem Sinne aber gäbe des dann eigentlich gar keine unwe-
sentlichen Teile an einem Organismus. Galenos teilt die verschiedenen
Funktionen nun aber so in drei Klassen ein, daß dann doch wieder zwi-
schen wesentlichen und unwesentlichen unterschieden werden kann:
Triîn Ôntwn skopîn tÍ fÚsei tîn »Die Natur hat drei prinzipielle
prètwn ™n tÍ kataskeuÍ tîn toà Zwecke bei der Einrichtung der
zóou mor…wn – À g¦r ›neka toà zÁn Teile des Lebewesens; denn es
™dhmioÚrghsen aÙt£, kaq£per schuf sie teils wegen des Lebens,
™gkšfalon kaˆ kard…an kaˆ Âpar, wie das Gehirn, das Herz und die
À toà bšltion zÁn, æj ÑfqalmoÝj Leber, teils des besseren Lebens
kaˆ ðta kaˆ ·‹naj, À tÁj toà wegen, wie die Augen, Ohren,
gšnouj diadocÁj, æj a„do‹a kaˆ Ôr- und Nase, teils der Entstehung
ceij kaˆ m»traj der Nachkommen wegen, wie die
Schamteile, Hoden und Gebär-
mutter.« 103

Die wesentlichen Teile sind eben diejenigen, die eine conditio sine qua
non des Lebens darstellen. Dazu gehören zunächst die lebensnotwendi-
gen Teile und dann auch diejenigen, die zur Arterhaltung nötig sind.
Die weiteren Teile sind dann nur noch solche, die das Lebewesen in
seiner Selbsterhaltung optimieren. Diese sind also keine solchen Teile,
die eine neue Formstufe begründen würden; also keine Formen oder
Repräsentanten derselben. Die Sinnesorgane sind hier ein sehr gutes
Beispiel. Das Sinnesorgan selbst wie etwa das Auge, macht nur dann
Sinn, wenn der durch es aufgenommene Inhalt auch verstanden wird.
Es sind also nicht die Augen, welche Ausdruck einer Formstufe sind,
sondern das dahinter liegende interpretatorische Vermögen. Die Augen
machen diesem Vermögen lediglich seine Arbeit leichter, verbessern es,
heben es aber nicht auf eine neue Formstufe. Daher sind die verschie-
denen Sinnesorgane bei den unterschiedlichen Tieren auch ganz unter-

103
De usu partium corporis humani XIV, 1, vol. 4, S. 142, 1-6

117
Galenos von Pergamon (129-200)
schiedlich ausgebildet. Durch welches Organ das Verständnisvermögen
nämlich seine Informationen erhält, ist unwesentlich. Und so sind auch
die entsprechenden Organe unwesentlich. Dennoch erfüllen auch diese
unwesentlichen Organe einen Zweck; dieser ist eben nur dem der we-
sentlichen Organe untergeordnet.
§ 90 Obschon nun die unterschiedlichen Teile des Organismus alle
durch ihre spezifische Funktion gekennzeichnet sind und sich ganz auf
die Ausübung derselben konzentrieren, müssen sie doch als eine Ein-
heit funktionieren. Galenos vergleicht dies mit der Lauf der Gestirne:
ésper g¦r oƒ t¦j tîn planw- »Ebenso wie diejenigen, welche
mšnwn ¢stšrwn periÒdouj mimoÚme- die Umläufe der umherirrenden
noi di£ tinwn Ñrg£nwn ¢rc¾n aÙto‹j Gestirne nachahmen durch ein
kin»sewj ™ndÒntej aÙtoˆ m n ¢pal- Werkzeug ihnen den ersten Be-
l£ttontai, t¦ d', æj e„ kaˆ parën wegungsanstoß gegeben habend
œtuce kaˆ di¦ pantÕj ™pistatîn diese sich selbst überlassen, die
aÙto‹j Ð dhmiourgÒj, oÛtwj ™nerge‹, aber sich bewegen, sowohl als
kat¦ tÕn aÙtÕn o mai trÒpon ›ka- kämen sie zufällig voran, wie
ston tîn ™n tù sèmati mor…wn auch als ob ihnen der Schöpfer
¢kolouq…v tš tini kaˆ diadocÍ kin»- in allem beistünde, auf dieselbe
sewj ¢pÕ tÁj prèthj ¢rcÁj ™ner- Weise, so glaube ich, folgt jeder
ge‹ mšcri pantÕj oÙdenÕj ™pist£tou der Teile im Körper einer ersten
deÒmenon. ursprünglichen Bewegung nach
und braucht so lange in allem
keine Leitung. « 104

Haben wir im ersten Kapitel Leibniz’ Gedanken der besten aller mögli-
chen Welten wiedergefunden, so stoßen wir hier auf den Gedanken der
prästabilierten Harmonie. Dieser ist uns gleichwohl schon aus der Stoa
bekannt und wurde vor allem von Poseidonios auch auf den Organis-
mus angewandt. Aber der stoische Begriff der sump£qeia war doch
immer ein metaphysisches Konstrukt geblieben, bei dem vor allem
unklar blieb, wie sich dieses denn auf die Sphäre des Lebendigen
anwenden lasse. Galenos tut hier einen entscheidenden Schritt nach
vorne indem er die Bewegung der Teile und die Harmonie des Systems
durch einen Vergleich erklärt. Ebenso wie in einem mechanischen

104
De usu partium corporis humani XIV, 5, vol. 4, S. 156, 13 – 157, 2

118
Galenos von Pergamon (129-200)
Modell der Himmelskörper, wo der eine beispielsweise durch
Zahnräder an den anderen befestigt ist und sich so dessen Bewegung
auch verhältnismäßig passend in einer Bewegung des anderen auswirkt,
so sind auch die Teile des Organismus synchronisiert. Natürlich fehlen
ihm die biologischen Detailkenntnisse, um uns auch noch zu sagen, was
denn im Körper genau die Zahnräder sind und so die Metapher
vollends aufzuklären. Aber diese Metapher bringt uns doch schon dem
Ziel eines logischen Naturverständnisses sehr viel näher, denn sie
erwähnt die Zahnräder, die hier gleichwohl abstrakt als »Ñrg£na« be-
zeichnet sind.
Wir müssen also davon ausgehen, daß alle Teile des Körpers per-
fekt synchronisiert sind, so daß das eine keine direkte Wahrnehmung
des anderen mehr braucht, um mit ihm im Einklang zu funktionieren.
Es reicht vollkommen aus, daß die Struktur der beiden so beschaffen
ist, daß eine Synchronizität herrscht.
§ 91 Für das auf diese Weise reibungslos verlaufende Verhältnis von
Seele und Körper findet Galenos hier zwei Erklärungen, die er einan-
der gegenüberstellt. Er diskutiert dies am Beispiel des Sprechens und
fragt sich, wie etwa Kinder in der Lage sein können, Worte, die sie zum
ersten Mal hören, nachzusprechen:
Ótan g¦r qeasèmeqa t¦ paid…a »Wenn ich nämlich sehe, daß die
fqeggÒmena m n, ¤tt' ¨n aÙto‹j Kinder alles aussprechen, was wir
fqšgxasqai keleÚswmen, oŒon, e„ sie auszusprechen auffordern,
tÚcV, smÚrnan, kaˆ sm…lhn, kaˆ z.B. etwa „smyrna“, „smile“,
smÁgma, m»te toÝj kinoàntaj ™pi- „smegma“, daß sie aber die Mus-
thde…wj tÍ toiaÚtV fwnÍ t¾n keln nicht kennen, die die Zunge
glîttan màj ™pist£mena, m»te so bewegen, wie es zu einem sol-
polÝ m©llon œti t¦ toÚtoij aÙtîn chen lautlichen Gebilde paßt,
neàra, piqanètaton m n ¹goàmai, und noch viel weniger die Nerven
tÕn diapl£santa t¾n glîttan, eben dieser (Muskeln), so halte
Óstij pot' ™stˆn, À aÙtÕn œti dia- ich es für das überzeugendste,
mšnein ™n to‹j diaplasqe‹si mor…oij, daß derjenige, der die Zunge aus-
À zîa t¦ mÒria kateskeuakšnai, geformt hat, wer immer es ist,
gnwr…zonta tÕ boÚlhma toà tÁj entweder selbst in den ausge-
¹metšraj yucÁj ¹gemonikoà. formten Körperteilen noch ver-
weilt oder daß er die Körperteile
als Lebewesen eingerichtet hat,

119
Galenos von Pergamon (129-200)
die den Willen des führenden
Teils unserer Seele erkennen.« 105

Galenos geht also davon aus, daß entweder der Schöpfer der Dinge
selbst in den Dingen weilt und die Verbindung der Systemebenen her-
stellt, wie beispielsweise die Verbindung von Gedanke und Muskelbe-
wegung der Zunge, oder aber daß die Muskeln der Zunge derart be-
schaffen sind, daß sie die Gedanken erkennen können. Beiden Sicht-
weisen kann meines Erachtens ihr mythischer Charakter genommen
werden.
Daß der Schöpfer oder Frommer der Zunge selbst in ihr wohnt ist
keine sehr komplexe Sache. Nach unserer Auffassung ist der Schöpfer
ja nichts anderes als die Summe der Formen, woraus folgt, daß die
Form in der Materie wohnen würde. Wie aber erklärt dies die Verbin-
dung der Systemebenen? Dazu müssen wir uns zunächst den anderen
Erklärungsversuch des Galenos ansehen, der direkt aus diesem folgt.
Denn die Materie ist natürlich durch die Form so geformt, daß sich die
Form in ihr widerspiegelt. Daß eine untere Ebene unmittelbar den
„Willen“ der Metaebene ausführt heißt nichts anderes, als daß er eben
ihre Form hat und sie in seinem Verhalten an den Tag legt. So sind die
Zungenmuskel eben einfach eine niedrigere Ebene des sprechenden
Lebewesens und die Form der höheren Ebene bringt ihre Materie,
eben diese Muskeln, zum Sprechen. Ebenso kann man sagen, daß die
Form dann schon in den Muskeln liegt. Eine technische Erklärung die-
ses hier noch sehr abstrakt bleibenden Umstandes ist dann natürlich an
die genaue Kenntnis der Formebenen gebunden, denn eben hierin un-
terscheiden sich ja die Formen voneinander.

vi. Die Seele als Sklave des Körpers


§ 92 Galenos’ Beschreibung des Verhältnisses von Seele und Körper ist
jedoch insgesamt maximal unklar. Zum einen sieht er die Seele in der
platonisch-aristotelischen Tradition als die den Körper leitende Instanz
an, zum anderen sieht er sie aber auch wieder als Sklave des Körpers
an. Diese letztere Perspektive wollen wir zuerst betrachten.

105
De foetum formatione 6, 23; vol. 3, S. 696, 3 – 665, 11, Übers. D. Nickel

120
Galenos von Pergamon (129-200)
Er untersucht in seinem Text Quod animi mores corporis tempera-
tura sequantur die platonische Sichtweise der Seele und begegnet zu-
nächst Platons These der Unsterblichkeit der Seele mit Skepsis:
Óti d' ™k toÚtwn tîn e„dîn te kaˆ »Platon scheint zwar überzeugt zu
merîn tÁj Ólhj yucÁj tÕ logisti- sein, daß von diesen Wesen und
kÕn ¢q£natÒn ™sti, Pl£twn m n Teilen der ganzen Seele die
fa…netai pepeismšnoj, ™gë d' oÜq' Geistseele unsterblich ist, ich
æj œstin oÜq' æj oÙk œstin œcw aber habe ihm, weder dafür, daß
diate…nesqai prÕj aÙtÒn. sie es ist, noch dafür, daß sie es
nicht ist [ein Argument] aufzubie-
ten.«106

Diese zurückhaltende Skepsis, die Galenos hier an den Tag legt, zeugt
eher von einer ablehnenden Haltung dem platonischen Unsterblich-
keitsgedanken gegenüber. Zu sagen, man wisse es nicht, heißt eher auch
zu sagen, man geht lieber einmal nicht davon aus, daß es so ist. Galenos
erscheint uns hier als ein Vorläufer des modernen Wissenschaftlers,
der möglichst wenig Metaphysik in seinen Theorien behalten möchte.
§ 93 Seinen vollendeten Ausdruck findet diese Skepsis schließlich in
der folgenden Überlegung, welche das Verhältnis von Körper und
Seele zum Gegenstand hat:
kaˆ m¾n e‡per ™x Ûlhj te kaˆ e‡douj »Und da diese Körper wenn
¤panta sunšsthke t¦ toiaàta überhaupt, so aus Materie und
sèmata, doke‹ d' aÙtù tù 'Ari- Form bestehen und Aristoteles
stotšlei tîn tett£rwn poiot»twn selbst lehrt, daß die physischen
™ggignomšnwn tÍ ÛlV tÕ fusikÕn Körper entstehen, indem vier Ei-
g…gnesqai sîma, t¾n ™k toÚtwn genschaften darin sind, ist not-
kr©sin ¢nagka‹on aÙtoà t…qesqai wendig, daß die Form durch die
tÕ e doj, éste pwj kaˆ ¹ tÁj Mischung derselben verursacht
yucÁj oÙs…a kr©s…j tij œstai tîn wird, so daß irgendwie auch das
tett£rwn e‡te poiot»twn ™qšleij Wesen der Seele irgend eine Mi-
lšgein, qermÒthtÒj te kaˆ yu- schung entweder, wenn ihr so
crÒthtoj xhrÒthtÒj te kaˆ ØgrÒth- sagen wollt, der vier Eigenschaf-
toj, e‡te swm£twn, qermoà kaˆ yu- ten Hitze und Kälte, sowie Trok-
croà xhroà te kaˆ Øgroà [tÍ d tÁj kenheit und Feuchtigkeit ist, oder
yucÁj oÙs…v t¦j dun£meij aÙtÁj der heißen und kalten, sowie

106
Quod animi mores corporis temperatura sequantur 3; vol. 4, S. 772, 20 – 773, 4

121
Galenos von Pergamon (129-200)
deiknÚnai ˜pomšnaj, e‡ ge kaˆ t¦j trockenen und feuchten Körper.
™nerge…aj]. e„ m n oân tÕ logizÒme- Es ist gezeigt worden, daß die
non e doj tÁj yucÁj ™sti, qnhtÕn Kräfte der Seele eine Konse-
œstai· <kaˆ g¦r> kaˆ aÙtÕ kr©s…j quenz ihrer Form sind, wenn dies
tij ™gkef£lou [kaˆ p£nq' oÛtwj t¦ selbst schon für die Akte gilt.
tÁj yucÁj e‡dh te kaˆ mšrh t¦j Wenn also die Geistseele eine
dun£meij ˜pomšnaj ›xei tÍ kr£sei· Art der Seele ist, so ist sie sterb-
toutšstin aÙt¾ oân ¹ tÁj yucÁj lich; denn sie ist eine Mischung
oÙs…a]· e„ d' ¢q£naton œstai, æj Ð im Gehirn. Und auf diese Art
Pl£twn boÚletai, di¦ t… cwr…ze- haben die ganze Form und die
tai yucqšntoj sfodrîj À Øperqer- Teile der Seele Kräfte, die der
manqšntoj À Øperxhranqšntoj À Mischung folgen; derart ist also
Øperugranqšntoj toà ™gkef£lou, das Wesen der Seele. Wenn sie
kalîj ¨n ™pepoi»kei gr£yaj aÙtÕj aber unsterblich sein soll; wie
ésper kaˆ t«lla t¦ kat¦ taÙtÕn Platon das will, so hätte er besser
œgraye. g…gnetai g¦r Ð q£natoj daran getan, aufzuschreiben, wo-
kat¦ Pl£twna cwrizomšnhj tÁj durch sie sich heftig gekühlt,
yucÁj ¢pÕ toà sèmatoj. überhitzt, ausgetrocknet oder
übernäßt vom Gehirn trennt, so
wie er auch sonst derlei aufge-
schrieben hat. Denn nach Platon
kommt der Tod durch die Tren-
nung der Seele vom Körper zu-
stande.«107

Galenos stützt sich hier mit Berufung auf Aristoteles als Autorität auf
die Vorstellung, daß das Wesen (¹ oÙs…a) oder die Form (tÕ e doj) eines
jeden Dinges aus einer Mischung (kr©sij) der Eigenschaften oder der
durch diese Eigenschaften bestimmten materiellen Teile zustande
kommt. Wenn dies nun für alle Wesen und Formen gilt, so auch für
die Seele. Die Form der Seele (tÕ e doj yucÁj) ist also auch bloß eine
Mischung. Dieser Gedanke erinnert stark an den Reduktionsimus einer
materialistischen Auffassung. Selbst der Aktionsspielraum der Seele,
deren ™nerge…a wird hier als eine bloße Konsequenz der Mischung an-
gesehen. Das ist nichts anderes, als zu behaupten, alles menschliche
Tun sei durch das Verhalten der Nervenzellen determiniert.

107
Quod animi mores corporis temperatura sequantur 3; vol. 4, S. 774, 9 – 775, 10

122
Galenos von Pergamon (129-200)
Galenos’ Ablehnung der platonischen Unsterblichkeitslehre folgt
unmittelbar aus dem Vorherigen. Wenn die Seele eine Mischung von
Körpern oder Eigenschaften ist, dann kann sie die spezifische Konstel-
lation dieser ihrer Elemente auch nicht überdauern. Was Galenos Pla-
ton hier vorwirft, ist eine fehlende Erklärung dafür, wie einerseits die
Seele unsterblich und damit unabhängig vom Körper überlebensfähig
sein soll, wie sie aber andererseits dennoch durch eine Beeinträchtigung
des Körpers von diesem getrennt wird. Offenbar gibt es also doch auch
für Platon eine Wirkung des Körpers auf die Seele.
§ 94 Diesem letzten Punkt seiner Ausführungen können wir im
Grunde zustimmen. Insofern man die Lehre der Unsterblichkeit der
Seele als eine Lehre der Fähigkeit der Seele, vollkommen ohne materi-
elle Subsistenz zu existieren, interpretiert, ist diese schwerlich haltbar.
Allerdings scheint Galenos die Wirkung des Körpers auf die Seele zu
überschätzen. Sofern diese Wirkung bloß so gesehen wird, daß wenn
der Seele jegliche körperliche Subsistenz entzogen wird, diese auch zu
existieren aufhört, mögen wir ihm zustimmen. Er scheint jedoch eine
sehr viel weitergehende Wirkung des Körpers auf die Seele im Sinn zu
haben, wie den folgenden Zeilen zu entnehmen ist:
™n m n g¦r sèmas… ge t¦j kr£seij »Denn im Körper sehe ich sehr
Ðrî p£mpolÚ te diaferoÚsaj ¢l- viele Mischungen die sich von-
l»lwn kaˆ pampÒllaj oÜsaj· einander unterscheiden und viele
¢swm£tou d' oÙs…aj aÙtÁj kaq' Wesen; bei einem unkörperli-
˜aut¾n e nai dunamšnhj, oÙk oÜshj chen Wesen aber, welches durch
d poiÒthtoj À e‡douj sèmatoj sich selbst sein müßte und weder
oÙdem…an ™pinoî diafor¦n ka…toi Eigenschaft noch Form eines
Körpers ist, sehe ich keine Un-
terscheidungen.« 108

Offenbar versucht Galenos die Unterscheidungsvielfalt seelischer Phä-


nomene an der körperlichen Subsistenz festzumachen. Die Seele ist
deswegen vielfältig, weil das Gehirn zahlreiche Windungen aufweist.
Eine rein inhaltliche Vielfältigkeit der Seele scheint ihm offenbar nicht
denkbar zu sein. Daher kommt er zu dem folgenden Schluß:

108
Quod animi mores corporis temperatura sequantur 3; vol. 4, S. 776, 5-9

123
Galenos von Pergamon (129-200)

tÒ ge despÒzesqai kaˆ douleÚein tù »[Die Seele] wird vom Körper


sèmati beherrscht und ist dessen Skla-
ve« 109

Ein solcher Schluß geht aus idealistischer Sicht natürlich viel zu weit.
Was Galenos hier übersieht sind die systemtheoretischen Möglichkei-
ten, die es erlauben, eine Zwischenstufe, zwischen der abgehobenen
Metaphysik Platons und dem von ihm gewissermaßen als Ausweg anvi-
sierten Materialismus einzunehmen, denn Galenos ist sicherlich kein
konsequenter Materialist. Gemäß einer solchen systemtheoretischen
Auffassung ist eine materielle Subsistenz für die Formen zwar notwen-
dig, aber diese materielle Subsistenz hat überhaupt keinen inhaltlichen
Einfluß auf die Formebene. Das ist so nicht erst für die Geistseele an-
zunehmen, sondern zumindest schon auf jeder organischen Naturstufe.
Beispiele für eine solche systemtheoretische Auffassung haben wir in
den vorhergehenden Bänden bereits in Fülle kennengelernt, so daß es
keiner weiteren Beschreibung bedarf.
§ 95 Es ist aber noch ein anderer, sehr viel konkreterer Gedanke,
dem folgend Galenos die Seele in ihrer Macht über den Körper als be-
schränkt ansieht. Wie soll, so fragt er sich, eine Seele ohne Wissen
über ihren Körper, diesen wirklich zu lenken imstande sein:
¢nq…statai d toÚtou p£lin ¹ »Dem stellt sich aber wiederum
¥gnoia tÁj dioikoÚshj ¹m©j yucÁj die Unkenntnis der uns verwal-
tîn ØphretoÚntwn ta‹j Ðrma‹j tenden Seele entgegen, die darin
aÙtÁj mor…wn. besteht, daß die Seele die ihren
Impulsen dienstbaren Körpertei-
le nicht kennt.« 110

Zunächst einmal müssen wir das hierin liegende Argument rekonstruie-


ren. Meines Erachtens meint Galenos hier – auf das weiter oben zitierte
Beispiel der Muskelbewegung der Zunge anspielend – das folgende:
Als Mediziner kennt er alle Muskeln und ihr komplexes Zusammen-
spiel, ein Wissen, das den meisten Menschen zeitlebens verborgen
bleibt. Aber dennoch können diese Menschen, auch ohne dieses Wis-

109
Quod animi mores corporis temperatura sequantur 3; vol. 4, S. 787, 10
110
De foetum formatione 6, 25; vol. 3, S. 697, 4-6, Übers. D. Nickel

124
Galenos von Pergamon (129-200)
sen in ihrer Seele, ihre Muskeln sehr gezielt bewegen. Heißt das nicht,
daß die Seele gar nicht weiß, was sie da tut?
Es ist gar nicht so schwer, aus unserer idealistischen Perspektive eine
Antwort auf diese Frage zu geben. Natürlich weiß die Seele, wissen wir
nichts von Muskelbewegungen; zumindest in den meisten Fällen. Aber
wir bewegen unsere Muskeln ja auch nicht, wir treffen Entscheidungen
und diese führen dann zu Muskelbewegungen. Was Galenos’ Argu-
ment übersieht ist die Möglichkeit und wie ich glaube gar die Faktizität
von Zwischenstufen. Unser bewußtes Denken steht hoch über aller
Muskelbewegung und diesbezügliche Entscheidungen müssen langsam
Stufe für Stufe nach unten übersetzt werden. Dabei kennt dann jede
Stufe die ihr untergebene und handelt auf dieser. Selbst wenn wir unse-
ren Arm bewegen, bewegen wir nicht bewußt den Armmuskel, sondern
wir agieren in einem rein phänomenalen Bereich, in dem unser Arm
eine Gesamtgröße ist, deren Möglichkeiten wir in etwa abschätzen kön-
nen. Niedrigere Stufen übersetzen unsere Vorstellungen dann in kon-
krete Muskelbewegungen. Man muß hier also nicht annehmen, daß ei-
ne herrschende Ebene alle ihre Untergebenen mit Namen kennt, um
sie beherrschen zu können.

vii. Der Körper als Werkzeug der Seele


§ 96 Interessanterweise vertritt nun Galenos selbst an anderer Stelle ei-
ne der oben dargestellten genau entgegengesetzte Auffassung. Hier sieht
er nicht mehr die Seele als Sklaven des Körpers, sondern den Körper
als Werkzeug der Seele:
Cre…a d' aÙtîn ¡p£ntwn ™stˆ tÍ »Der Nutzen von ihnen allen [der
yucÍ. tÕ g¦r sîma taÚthj Ôrga- Teile des Körpers] ist jener der
non Seele. Denn der Körper ist ihr
Werkzeug.« 111

Eine solche Kehrwende in der philosophischen Auffassung mag ver-


wundern. Ich sehe den Grund dafür bei Galenos in folgendem Aspekt:
Dort, wo er sich mit einem Theoretiker wie Platon auseinandersetzt
nimmt er eine eher von der Materie her denkende Position ein um

111
De usu partium corporis humani I, 2; vol. 3, S. 2, 6-7

125
Galenos von Pergamon (129-200)
dessen Theorien kritisch zu beleuchten. Dort jedoch, wo er es mit dem
Konkreten zu tun hat, wo es um den Körper selbst geht und seine Be-
zugspunkte eher die Empiristen unter den Medizinern sind, grenzt er
sich von diesen ab, indem er plötzlich metaphysische Überlegungen
zuläßt.
Gleichwohl ist dieses metaphysische Denken nicht das eigentliche
Element Galenos’, was sich darin zeigt, daß er beispielsweise für die
Auffassung vom Werkzeugcharakter des Körpers denkbar wenige Ar-
gumente vorzubringen weiß. Zum einen verweist er auf das bereits bei
Aristoteles und Poseidonios diskutierte Phänomen der Hände, die erst
durch eine vorher vorhandene Intelligenz des betreffenden Wesen
brauchbar werden. Zum anderen führt er das Beispiel des Instinkts der
Tiere auf:
a‡sqhsin g¦r p©n zùon ¢d…dakton »Denn jedes Lebewesen hat un-
œcei tîn te tÁj ˜autoà yucÁj belehrt Empfindung der Kräfte
dun£mewn kaˆ tîn ™n to‹j mor…oij seiner Seele und besonderen Fä-
Øperocîn· higkeiten, die in seinen Körper-
teilen liegen.«112

Der Instinkt der Tiere, so sagt uns Galenos hier, entsteht also nicht erst
im Laufe der Zeit in den Tieren, sondern er ist immer schon da; selbst
dann, so sein Beispiel eines noch ohne Zähne zubeißenden Welpen,
wenn das betreffende Körperteil noch gar nicht ausgebildet ist. Das
aber heißt doch nichts anderes, als daß in der Seele bereits ein Plan da-
von vorhanden sein muß, wozu und wie die Körperteile zu verwenden
sind. Die Verwendung der Körperteile ist also etwas, was von oben, aus
der Seele geschieht und nicht von unten, aus dem Körper der Seele
eingegeben wird.

viii. Die Nahrungsassimilation


§ 97 Als Mediziner hat sich Galenos intensiv mit den einzelnen Funk-
tionen des Körpers auseinandergesetzt. Einige seiner Betrachtungen zu
diesem Thema liefern für unseren Zusammenhang sehr interessante
Einsichten. Dazu gehört das, was er zur Nahrungsassimilation sagt.

112
De usu partium corporis humani I, 3; vol. 3, S. 6, 12-14

126
Galenos von Pergamon (129-200)
Zunächst führt Galenos hier eine sehr zentrale Unterscheidung ein,
nämlich die zwischen Veränderung und Assimilation:
™ke‹ m n g¦r oÙk ×n [Ñstoàn] prÒte- »Denn dort wo früher kein Kno-
ron Ûsteron ™gšneto, kat¦ d t¾n chen war, entsteht er auf die eine
qršyin tù ½dh gegonÒti sunexo- Art später, gemäß der Ernährung
moioàtai tÕ ™pirršon kaˆ di¦ toàt' [der anderen Art] aber wird dem
eÙlÒgwj ™ke…nhn m n t¾n ¢llo…- unlängst Entstandenen das Her-
wsin gšnesin, taÚthn d' ™xomo…wsin einströmende verähnlicht und
[te kaˆ Ðmo…wsin] çnÒmasan. daher ist es vernünftig, jenes Ent-
stehen die „Veränderung“ zu
nennen, dieses aber die „Verähn-
lichung“ und „Angleichung“« 113

Die Veränderung (¢llo…wsij) ist dadurch charakterisiert, daß durch sie


Lebewesen überhaupt erst entstehen. Sie hat somit die sehr komplexe
Aufgabe, aus toter Materie ein Lebewesen hervorzubringen. Wir sind
oben ja schon auf die damit verbundene Problematik und Galenos’
Umgangsweise mit derselben gestoßen. Es ist also fraglich, ob Galenos
überhaupt von der wirklichen Entstehung von Lebewesen in Abwesen-
heit der diese leitenden und bereits in den Eltern vorhandenen Formen
ausgeht. Dieser Veränderung gegenüber steht die Verähnlichung
(™xomo…wsij) oder Assimilation (Ðmo…wsij). Sie leistet genau das, was Ga-
lenos offenbar auch bei der Entstehung neuer Lebewesen am Werk
sieht, was sich aber vor allem bei der Nahrungsaufnahme zeigt, nämlich
die Assimilation körperfremden Materials an den Körper.
Der fundamentale Unterschied beider Prozesse scheint Galenos
keineswegs entgangen zu sein, wenn er sich um eine Unterscheidung
beider bemüht. Veränderung ist ein zutiefst unpassender Begriff oder
eine Unterbestimmung größten Ausmaßes für das, was wir als Höher-
entwicklung bezeichnen. Dieser vertikalen Bewegung gegenüber steht
eine horizontale Entwicklung des Lebewesens, das – ist es einmal voll
entwickelt – seine Struktur nicht mehr ändert, sich aber gleichwohl
selbst als Organismus erhalten muß. Und eben dies leistet die Fähigkeit
des Organismus, fremdes Material in das eigene zu integrieren.

113
De naturalibus facultatibus I, 8; vol. 2, S. 19, 4-9

127
Galenos von Pergamon (129-200)
§ 98 Galenos gibt uns eine sehr mechanische Beschreibung der Art
und Weise, wie er sich den genauen Ablauf davon vorstellt:
†na d' aÛth gšnhtai, prohg»sasqai »Damit diese [die Assimilation]
cr¾ prÒsfusin, †na d' ™ke…nh, prÒs- zustande kommt, ist ein Anwach-
qesin. sen nötig, damit aber dieses Zu-
stande kommt, braucht es eine
Anlagerung.« 114

Der erste Schritt der Nahrungsassimilation also ist eine Anlagerung


(prÒsqesij) des Materials, das sodann irgendwie dazu gebracht wird, an
den Körper zu wachsen (prÒsfusij), was schließlich die Assimilation
ermöglichen soll. Galenos schildert uns hier sozusagen den offensichtli-
chen Teil im Detail und verschweigt uns eine weitere Auffächerung des
eigentlich spannenden Teils, nämlich des Aspektes der Substanzände-
rung des Nahrungsmittels bei der Assimilation. Immerhin wird ja dort
aus dem Körperfremden etwas Körpereigenes gewonnen. Meines Er-
achtens zeugt dieses Verschweigen davon, daß er einfach keine besse-
ren Ideen hatte und auch zu haben glaubte. Da das Nahrungsmittel
selbst schon organisches Material ist, so dachte er sich sicher, muß es
nur aufgenommen und im Körper entsprechend verteilt werden. Daß
es vor allem auch in den sehr komplexen Prozeß des Organischen inte-
griert werden muß, scheint ihm nicht bewußt gewesen zu sein.
§ 99 Nun spielt die Nahrung, wie auch immer der Aufnahmeprozeß
derselben genau zu denken ist, eine sehr große Rolle bei der Entste-
hung von Lebewesen. Galenos, der hier erneut gegen die Atomisten
Partei ergreift und sich auf die Seite der Nachfolger des Hippokrates
stellt, stimmt der folgenden Auffassung zu:
kat¦ d t¾n protšran e„rhmšnhn »Gemäß der ersten überlieferten
a†resin oÙc Østšra tîn swm£twn Auffassung ist die Natur nicht
¹ fÚsij, ¢ll¦ polÝ protšra te kaˆ nach dem Körper da, sondern
presbutšra. kaˆ to…nun kat¦ m n viel früher und älter. Daher stellt
toÚtouj aÛth t¦ sèmata tîn te nach ihnen diese die Körper der
futîn kaˆ tîn zówn sun…sthsi Pflanzen und der Tiere zusam-
dun£meij tin¦j œcousa t¦j m n ˜l- men, solche Kräfte habend, die
ktik£j q' ¤ma kaˆ Ðmoiwtik¦j tîn einerseits die verwandten [Sub-

114
De naturalibus facultatibus I, 11; vol. 2, S. 24, 9-10

128
Galenos von Pergamon (129-200)
o„ke…wn, t¦j d' ¢pokritik¦j tîn stanzen] anziehen und zugleich
¢llotr…wn assimilieren, andererseits aber
die andersartigen absondern.«
115

Hier scheint nun plötzlich alles Empirische vergessen und die fÚsij
wird zu Schöpferin der Wesen und zur Natur des Assimilation. Aber so
wie Galenos uns die fÚsij hier darstellt, ist sie keineswegs ein alles um-
fassendes, dabei aber völlig abstrakt bleibendes Wesen, das wie die pla-
tonischen Ideen aus der Distanz die Entstehung der Lebewesen regu-
liert. Sie wird, wenn man genau hinsieht, vielmehr in den Körper der
Lebewesen verlegt. In diesen Körpern wirkt sie, indem die Körper
selbst aufgrund ihrer fÚsij zwischen den körpereigenen und körperarti-
gen Stoffen einerseits und den körperfremden andererseits unterschei-
den können.
Wir wissen heute, wie ein derartiges Unterscheidenkönnen che-
misch zu denken ist. Bestimmte Moleküle lagern sich einfach an ande-
ren an; andere nicht. Ebenso bringen bestimmte Prozesse andere Pro-
zesse hervor und schließen wieder andere aus. Auf diese Weise erklärt
sich das Bestehen und Entstehen eines anorganischen Kreislaufs, wie
etwa der des Wasserkreislaufs, den wir bei der Diskussion von Aristo-
teles im zweiten Band ausführlich beschrieben haben. Hier haben wir
es, wenn man so will, mit einem reinen Stoffwechselprozeß zu tun.
Schon bei einem Hyperzyklus, der ebenfalls bei der Diskussion von
Aristoteles beschrieben wurde, kommt da aber die Ebene der Informa-
tionsverarbeitung hinzu, die zwar denselben Selektionsmechanismus,
wie der Stoffwechselkreislauf benutzt, die aber dann nicht das Anziehen
und Assimilieren als Mittel zur Gewinnung von organischen Stoffen
benutzt, sondern im Faktum des Anziehens eine Information gewinnt,
die im Stoff selbst physisch gespeichert bliebt und dann als Nukleinsäu-
re zum genetischen Informationsträger wird. Soweit geht Galenos hier
natürlich noch nicht, aber ein Grundprinzip, nämlich das der Erken-
nung von Information in der Natur hat er zumindest in seiner funda-
mentalen Bedeutung für die Entstehung und den Erhalt der Lebewesen
erkannt.

115
De naturalibus facultatibus I, 12; vol. 2, S. 28, 3-9

129
Galenos von Pergamon (129-200)
§ 100 Ein letzter, die Ernährung betreffende Punkt, den wir bei
Galenos finden, ist seine Einsicht in den Unterschied zwischen Lebe-
wesen mit differenzierten Organen und solchen, bei denen das nicht
der Fall ist, vor allem also für ihn eine Unterscheidung zwischen Pflan-
ze und Tier:
¢ll¦ to‹j m n ¥lloij ¤pasi toà »Aber alle anderen Teile des
zóou mor…oij, ka…toi t¦j aÙt¦j Tieres, obgleich sie dieselben
taÚtaj œcousi dun£meij, oÙ sunÁy- Kräfte haben, hat die Natur nicht
en ¹ fÚsij a‡sqhsin tîn ™llei- mit der Wahrnehmung des Man-
pÒntwn, ¢ll' oŒon fut¦ tršfetai gels ausgestattet, sondern diese
taàta di¦ pantÕj ™k tîn flebîn werden gleichsam als Pflanzen
¢ruÒmena t¾n trof»n· mÒnV d tÍ ernährt, indem sie durchgängig
gastrˆ kaˆ taÚthj m£lista to‹j ihrer Nahrung aus den Venen
kat¦ tÕ stÒma mšresin a‡sqhsin schöpfen; nur der Magen und
™nde…aj ™pšsthsen ™pege…rous£n te von dessen Teilen am meisten
kaˆ kentr…zousan tÕ zùon pro- der Magenmund sind zur Emp-
s£rasqai sit…a findung des eintretenden Man-
gels in der Lage und stacheln das
Lebewesen dazu an, Nahrung zu
beschaffen.« 116

Während die Pflanze in einer kontinuierlichen Nahrungsaufnahme be-


griffen ist, ist diese Funktion bei den Tieren spezialisiert. Nur ein Or-
gan, nämlich der Magen kümmert sich darum und ihm ist dafür gewis-
sermaßen die Autorität gegeben, seinem Anliegen einen entsprechen-
den Nachdruck zu verleihen. Was bringt diese Einrichtung dem Orga-
nismus? Denn Galenos beschreibt ja treffend, daß dadurch alle anderen
Teile des Tieres in der Art ihrer Nahrungsaufnahme zu Pflanzen redu-
ziert werden; handelt es sich hier also um einen Rückschritt in den Na-
tur?
Zunächst einmal liegt ein Unterschied zwischen der pflanzenartigen
Nahrungsaufnahme im tierischen Organismus und dem der Pflanze
selbst darin, daß das Tier die äußere Natur gewissermaßen im Magen
simuliert und sie dann als Magen, der gleichwohl bisweilen angefüllt
werden muß, mit sich führen kann. Die Pflanze hingegen ist angewach-

116
De usu partium corporis humani IV, 7; vol. 3, S. 275, 8-15

130
Galenos von Pergamon (129-200)
sen und kann das nicht. Dies ist aber eine sehr nebensächliche Sache,
denn nichts spricht dagegen, daß ein Tier mit Magen auch irgendwo
angewachsen ist und auf seine Bewegungsfreiheit verzichtet.
Ein zwar in die selbe Richtung gehender, jedoch viel subtilerer Un-
terschied liegt jedoch darin, daß durch die Simulation der äußeren Na-
tur in Gestalt des Magens der Organismus für alle seine Teile die Nah-
rungszufuhr gleich halten kann. Die Pflanze hingegen ist darauf einge-
stellt, mit einer bisweilen knauserigen Natur zu leben und muß dann
ihre Lebensprozesse entsprechend einstellen oder gar einfrieren. Der
tierische Organismus hingegen kann für eine gleichbleibende Nah-
rungszufuhr und damit gerade eine Unabhängigkeit seiner Teile von
der Sorge um die Nahrungszufuhr und der Reaktion auf das Ausblei-
ben derselben erreichen. Die so befreiten anderen Teile sind damit frei
für andere, höherstufige Aufgaben und so aus dem schnöden Fluß des
Materials, das sie speist, herausgehoben.

ix. Die Materie der Gewohnheit


§ 101 Zur Frage dessen, was eine Gewohnheit ist und vor allem welche
Besonderheit sie hat, finden wir bei Galenos einen sehr tiefgründigen
Gedanken, den man sehr leicht systemtheoretisch deuten kann:
lšgw d' Ûlhn, ™f' Î sunšsth tÕ »Materie nenne ich das, woraus
œqoj eine Gewohnheit besteht«.
117

Mit Gewohnheit (œqoj) meint Galenos als Mediziner hier natürlich vor
allem die Verhaltensgewohnheiten eines Menschen, wie etwa sein Ess-
verhalten, welches bei der Erkennung von Krankheiten von großem
Nutzen sein kann. Wir können den Begriff der Gewohnheit jedoch
hier noch etwas abstrakter verstehen und als eine Gewohnheit all das
bezeichnen, was im Körper eine gewisse Regelmäßigkeit an den Tag
legt. Solche Regelmäßigkeiten sind aber nichts anderes als die Formen,
die den Körper organisieren.
Wenn Galenos hier andererseits von Materie spricht, dann meint er
natürlich nicht die prima materia sondern eine Materie, die sich im-
mer relativ zu einer Form verhält. Es ist die Materie, die jeweils geformt

117
De consuetudinibus 2; S. 117, 6

131
Galenos von Pergamon (129-200)
wird. Was wir also hier vorliegen haben, ist eine ganz abstrakte Be-
schreibung des Verhältnisses von Materie und Form.
§ 102 Wenn wir nun aber den Begriff der Gewohnheit ernst neh-
men, dann können wir erkennen, daß er gewissermaßen selbst eine sol-
che Formstufe konstituiert. Was aber ist die Gewohnheit? Immer da,
wo ein Naturwesen eine Gewohnheit an den Tag legt, behandelt es be-
stimmte Materien auf die gleiche Weise ohne dieses Verhalten zu pla-
nen. Da erkennen wir schon die Voraussetzung der Gewohnheit. Nicht
beliebige Wesen sind zu ihr in der Lage, sondern nur solche, die pla-
nen können. Bei ihnen kann sich der ansonsten alles überwachende
und berechnende Verstand von einem Teil seiner Aufgabe befreien
und diese der Gewohnheit überlassen. Das Schreiben beispielsweise ist
ein solches Phänomen. Wir müssen, wenn wir Schreiben, uns nicht auf
den Vollzug des Aktes selbst konzentrieren, müssen nicht die Bewe-
gung der Hand planen, sondern können diese der Gewohnheit überlas-
sen. Die Gewohnheit befreit also den Verstand dafür, sich auf andere
und wichtigere Aufgaben zu konzentrieren, ja sie macht überhaupt erst
die Konzentration möglich, indem sie die zu bearbeitende Materie or-
ganisiert und für den konzentrierten Verstand dessen Entscheidungen
automatisch in Handlungen übersetzt.
Natürlich erfahren wir hier nicht, wie diese sehr fortgeschrittene Na-
turstufe genau arbeitet und mit welchen Stufen sie im Zusammenhang
steht. Dazu müßte vorher ein tieferes Verständnis des vor allem
menschlichen Denkvermögens vorhanden sein, das wir bei Galenos
noch nicht erwarten dürfen. Dennoch hat er versucht, wie wir sogleich
sehen werden, sich auch mit dem komplexesten Organ, welches dieses
Denkvermögen beherbergt, auseinanderzusetzen.

x. Das Gehirn
§ 103 Das Gehirn ist in der Antike ein in seiner Funktion sehr umstrit-
tenes Organ. Während schon Alkmaion darin den Sitz des Verstandes
sah, wurde es bei Aristoteles zu einem bloßen Kühlorgan degradiert.
Galenos revidiert diese aristotelische Sichtweise auf der Basis seines
umfangreichen empirischen Wissens. Für ihn ist klar, daß

132
Galenos von Pergamon (129-200)

¢rc¾n m n neÚrwn kaˆ sump£shj »das Gehirn der Ursprung der


a„sq»seèj te kaˆ tÁj kat¦ pro- Nerven, der Empfindung durch
a…resin kin»sewj tÕn ™gkšfalon Wahrnehmung und der willentli-
Øp£rcein chen Bewegung ist«. 118

Damit ist das Gehirn (™gkšfalon) eindeutig als ein Organ bestimmt,
welches mit den Funktionen des Verstandes befaßt ist. Es verarbeitet
die Wahrnehmung und der Wille des Menschen hat in ihm seinen Sitz.
Das Gehirn ist also das zentralste der Organe, welches die höchsten
Formstufen der Lebewesen beherbergt.
§ 104 Ob dieses Umstandes hadert Galenos mit dem Namen, den
die Griechen demselben gegeben haben, denn das Wort »™gkšfalon«
bezeichnet wörtlich bloß »das, was im Kopf« ist. Er findet nun ein logi-
sches Argument gegen diese Namengebung:
oŒj g¦r oÙk œsti zóoij kefal», »Denn die Lebewesen, die kei-
dhlonÒti oÙd' ™gkšfalÒj ™stin nen Kopf haben hätten dann na-
türlich auch kein Gehirn«. 119

Ein Lebewesen kann ja durchaus ein Gehirn aber keinen Kopf haben.
Dann wäre aber das Gehirn, wenn es als das Kopf Seiende bezeichnet
wird, falsch bezeichnet. Galenos fordert vielmehr, daß man, wie bei al-
len anderen Organen auch, für das Gehirn einen Namen findet, der
auch Auskunft über dessen Funktion und Wesen gibt. Hier zieht er
dem griechischen den lateinischen Namen vor:
†na d', Ö lšgw, safšsterÒn te kaˆ »Damit das Wissen, so sage ich,
™nargšsteron m£qVj, tÕ tîn `Rw- verständlicher und deutlicher ist,
ma…wn Ônoma kalšsaj aÙtÒ, oÙk benennt es mit Namen der Rö-
¢pÕ tÁj qšsewj oÙd' ¢p' ¥llou mer, der weder von der Position
tinÕj tîn sumbebhkÒtwn gegonÒj, her, noch von irgendwelchen an-
¢ll' aÙtÁj tÁj oÙs…aj dhlwtikÕn deren Nebensächlichkeiten her-
Øp£rcon stammt, sondern von dem We-
sen, das es hat.« 120

118
De usu partium corporis humani VIII, 4; vol 3., S. 625, 16-18
119
De usu partium corporis humani VIII, 4; vol. 3, S. 628, 6-7
120
De usu partium corporis humani VIII, 4; vol. 3, S. 629, 1-5

133
Galenos von Pergamon (129-200)
Dieser lateinische Name ist »cerebrum«, in griechischer Transkription
»tÕ kšrebron« und bezeichnet das Gehirn, aber auch den Verstand, so
daß mit dem Organ zugleich dessen Funktion benannt ist.
§ 105 Indem somit die Funktion des Gehirns erfaßt ist, versucht
Galenos den Grund dafür zu finden, warum das Gehirn im Kopf ist
und warten mit einem sehr einleuchtenden Argument auf:
T… d¾ oân ™stin, oá c£rin ™n to‹j »Weswegen aber hat die Natur
ple…stoij zóoij ¹ fÚsij ™po…hse den meisten Tieren einen Kopf
kefal»n [...] oÙ g¦r ™necèrei ta- gegeben? [...] Denn sie [die Au-
peinoÝj e nai kaˆ toÚtouj, ésper gen] können nicht an einem
stÒma te kaˆ ·‹naj kaˆ ðta· tÕ niedrigen Ort sein ebenso wie
g¦r œrgon aÙtîn Øyhloà de‹tai Mund, Nase und Ohren; denn
cwr…ou. ihre Funktion verlangt einen
hochgelegenen Ort.« 121

Die Funktion des Kopfes ist also ein rein nebensächliche. Es ist eben
Anhang an den Körper, der dazu dient, die Wahrnehmungseindrücke
zu sammeln. Um diese Aufgabe zu optimieren, ist dies der höchstgele-
gene Teil des Körpers. Zugleich befindet sich das Gehirn, wie Galenos
weiter feststellt, in unmittelbarer Nähe, was den Informationsfluß leich-
ter macht.
Galenos stellt uns hier also erneut ein Stück Theorie vor, das pro-
blemlos in eine Evolutionstheorie integriert werden könnte. Alles in der
Natur ist funktional ausgerichtet und optimiert; nur daß eben nicht Mu-
tationen im Laufe der Zeit, sondern sinnvolle Planung hinter diesem
Werk steht. Für Galenos – anders als für die Darwinisten unserer Tage
– ist eben so ein ideales Naturwesen gewissermaßen von außen planbar
und nicht der Zufall bestimmt, welches Wesen am besten eingerichtet
ist, sondern das am bester angepaßte Wesen ist dies in seiner funktio-
nalen Struktur objektiv und nicht nur relativ.
§ 106 Trotz dieses sehr funktionalen Denkens gibt es dann bei Ga-
lenos immer wieder Anklänge ans Archaische, wenn er beispielsweise
die Notwendigkeit einer Öffnung für die Seele diskutiert:
Ö g¦r Ñneirèttousi mšn, æj e nai »Denn für die Träumenden ist es
dšon aÙtoà pou perˆ tÕn pÒron ™g- zwingend, daß es irgendwo unter

121
De usu partium corporis humani VIII, 5; vol. 3, S. 630, 17 – 631, 12

134
Galenos von Pergamon (129-200)
kef£lou mÒrion toioàton, oŒon ™pi- den Öffnungen des Gehirns ei-
tropeÚein te kaˆ ¥rcein tÁj diÒdou nen Teil gibt welcher den Aus-
toà pneÚmatoj gangspunkt des Durchgangs der
Seele verwaltet«. 122

Offenbar geht Galenos davon aus, daß die Seele des Träumenden auf
eine äußere Reise geschickt wird. Wie auch immer er sich das vorstellt,
wir können hier zumindest konstatieren, daß ihm kein funktionales Zu-
sammenspiel von Seele und Körper vorschwebt, denn sonst könnte
weder die Seele verschwinden ohne daß der Körper dadurch seine
Form verlöre, noch könnte der Körper so sein, wie er ist, ohne not-
wendig eine seelische Form an sich zu haben.
§ 107 Andererseits jedoch ist Galenos wieder unheimlich modern,
wenn er dem Gehirn selbst die Struktur eines Netzes zuschreibt:
œsti d' oÙc ¡ploàn tÕ d…ktuon, ¢ll' »Das Netz aber ist nicht einfach,
æj e„ kaˆ taàta t¦ d…ktua tîn sondern so als wenn die Netze
¡lišwn ple…w labën ™p' ¢ll»loij vieler Fischer zusammengenom-
™kte…naij. prÒsesti d tù tÁj men aufeinander ausgebreitet wä-
fÚsewj ™ke…nJ diktÚJ tÕ t¦j ren. Dem Netz der Natur aber ist
™pibol¦j ¢eˆ qatšrou sunÁfqai zu eigen, daß sie so aufeinander-
qatšrJ kaˆ m¾ dÚnasqai mÒnon n gelegt sind, daß das eine mit dem
Ðtioàn labe‹n ™x aÙtîn· anderen verbunden ist und es
nicht möglich ist, nur eines von
ihnen von den anderen zu neh-
men. « 123

Hier spricht natürlich der Praktiker, der nicht nur über das Gehirn
philosophiert, sondern bereits welche in der Hand hatte und deren fili-
grane Struktur mit eigenen Augen gesehen hat. Das wird nicht zuletzt
daraus deutlich, daß er hier vor allem ein konkretes Problem der Sekti-
on eines Gehirns, nämlich den Zusammenhang der Nervenzellen, an-
spricht. Das Gehirn als Netz zu bezeichnen, ist also für Galenos kei-
neswegs eine bloße Metapher, sondern etwas sehr Empirisches. Doch
bereits auf der empirischen Ebene entdeckt er das, was schließlich in
unserer Zeit auch vielfach eine Beschreibung der Struktur des Inhalts

122
De usu partium corporis humani VIII, 14; vol. 3, S. 677, 8-11
123
De usu partium corporis humani IX, 4; vol. 3, S. 697, 2-7

135
Galenos von Pergamon (129-200)
des Gehirns wird. Die Gedanken sind wie in einem multidimensiona-
len Netz verbunden; es gibt keine klar auszumachende Hierarchie der-
selben, denn alles scheint überall anzuknüpfen. Logische Strukturie-
rungen mögen zwar nachträglich diese Inhalte etwas sortieren, sie sind
aber keineswegs die Art und Weise, wie die Gedanken im Gehirn
selbst strukturiert sind. Vielmehr scheinen wir als Menschen erst recht
willkürlich Daten zu sammeln und unser Leben reicht anschließen
kaum, um diese zu ordnen.

xi. Die Entstehung des Menschen und die Naturstufen


§ 108 In seiner Schrift De foetum formatione er halten wir von Galenos
eine detaillierte Beschreibung der Entstehung des Menschen im Mut-
terleib. Da der Mensch dabei nach Galenos die verschiedenen Natur-
stufen zu durchlaufen hat, ist dies zugleich eine Übersicht über die or-
ganischen Stufen der Naturentwicklung.
Die erste Stufe ist dabei, wie in der antiken Sichtweise üblich, die
der Pflanze. So behauptet Galenos,
tÕ kuoÚmenon oÜt' ¢rthriîn œcon »daß der Keimling am Anfang
¢nagka…an cre…an ™n ¢rcÍ tÁj ge- seiner Entstehung weder von den
nšsewj, oÜte sfugmîn, oÜte kar- Arterien noch von den Pulsen
d…aj, ésper oÙd t¦ fut£. kaˆ mšn- noch vom Herzen einen unum-
toi kaˆ perˆ tÁj tîn futîn ge- gänglichen Nutzen hat, wie (ihn)
nšsewj ™skšfqai ti cr¾ prÒteron. auch die Pflanzen nicht (haben).
™k g¦r tîn e„j taàta ¢nagka…wn Und tatsächlich muß man zuvor
œnesti kaˆ tÕ ginèskein, Ðpo…wn te auch über die Entstehung der
kaˆ ÐpÒswn de‹tai tÕ kÚhma, Pflanzen Betrachtungen angestellt
mšcrij ¨n ØpÕ mi©j dioikÁtai haben. Denn an dem, was für sie
yucÁj, æj t¦ fut£. notwendig ist, kann man auch
erkennen, welche und wie viele
Dinge der (animalische) Keimling
braucht, solange er wie die Pflan-
zen (nur) von einer einzigen
Seele verwaltet wird.« 124

124
De foetum formatione 3, 12; vol. 3, S. 664, 18 – 665, 6, Übers. D. Nickel

136
Galenos von Pergamon (129-200)
Zunächst einmal ist die Heuristik, die Galenos hier an den Tag legt,
bemerkenswert. Er behauptet hier ja nicht nur, daß die Stufe des
pflanzlichen Organismus im Menschen realisiert ist und daß er sie des-
wegen in seiner Entwicklung durchlaufen muß, sondern darüber hinaus
– auf einer gewissermaßen wissenschaftstheoretischen Ebene – auch,
daß wir die Charakteristika dieser Stufe am besten an einem solchen
Wesen studieren können, welches das Wesen der Pflanze in einer rei-
nen Form an den Tag legt. Er unterscheidet also wie wir zwischen sol-
chen Wesen, die eine bestimmte Naturstufe als Bestandteil haben und
solchen, bei denen es die höchste und das Wesen in seiner Ganzheit
bestimmende Stufe ist. Hiervon verspricht er sich den Vorteil einer ge-
wissen Reinheit des Studienobjekts. Die platonischen Seelentypen zu-
grundelegend zeigt er uns auf, mit welchem Ballast wir uns bei der
Pflanze gar nicht erste zu beschäftigen brauchen:
¤te g¦r ¢m…ktou te kaˆ mÒnhj »Da sie nämlich ungemischt ist
oÜshj aÙtÁj, æj ¨n m»te tÕ qumo- und für sich allein steht – (die
eid j ™cÒntwn m»te tÕ logistikÕn, Pflanzen) haben ja weder den
™lp…j ™stin e„likrinÁ te kaˆ ¢nÒ- zornartigen noch den vernünfti-
qeuton eØre‹n aÙtîn t¾n dio…khsin. gen Seelenteil –, besteht Hoff-
nung, die Verwaltung bei ihnen
in echter und unverfälschter
Form ausfindig zu machen.« 125

Die Verfälschung im menschlichen Keimling entsteht vor allem da-


durch, daß natürlich alles bereits darauf ausgerichtet ist, auch diejenigen
Teile des Menschen hervorzubringen, die auf der pflanzlichen Stufe
eben noch keine funktionale Notwendigkeit besitzen. Bei der Pflanze
ist das nicht der Fall; hier sind nach Galenos allein die Ernährung und
das Wachstum die zu leistenden Aufgaben. Die Verwaltung (dio…khsij)
der Pflanze muß sich nur darum kümmern.
Inhaltlich bringen uns Galenos’ Ausführungen hier gleichwohl nicht
weiter. Was er zur Struktur der Pflanze zu sagen hat, ist wenig instruk-
tiv. Auch der Umstand, daß er die Leber als die Pflanze im Keimling
repräsentierende Organ ansieht regt keine weitergehenden Ideen an.

125
De foetum formatione 3, 14; vol. 3, S 665, 17 – 666, 3, Übers. D. Nickel

137
Galenos von Pergamon (129-200)
§ 109 Die nächste Stufe schließlich ist die des Tieres, die nach Ga-
lenos durch die Ausbildung und Inbetreibnahme des Herzens erreicht
wird:
Ótan d t¦j koil…aj scÍ kaˆ t¦j »Wenn (das Herz) die Ventrikel
Ûlaj ¢mfotšraj, æj ¨n ½dh besitzt und die beiden Stoffe zur
peplhrwmšnhj aÙtîn tÁj oÙs…aj, Verfügung hat, schlägt es selbst,
aÙt» te sfÚzei kaˆ t¦j ¢rthr…aj da nunmehr seine Substanz mit
¤ma ˜autÍ kine‹ t¾n aÙt¾n ˜autÍ ihnen angefüllt ist, und bewegt
k…nhsin, éste tÕ kuoÚmenon oÙ mit sich zugleich die Arterien in
mÒnon æj futÕn œti t¾n dio…khsin einer Bewegung, die mit seiner
œcein, ¢ll' ½dh kaˆ æj zîon eigenen identisch ist, so daß der
Keimling seine Verwaltung nicht
mehr nur wie eine Pflanze hat,
sondern auch schon wie ein
Tier« 126

Wir haben ja schon bei Aristoteles gesehen, welche zentrale Rolle der
Blutkreislauf im tierischen Organismus spielt, daß er in der Tat als eine
eigene Naturstufe anzusehen ist. Galenos übernimmt diesen Gedanken
hier und stützt sich nicht so sehr auf das Organ des Herzens – bei des-
sen Betrachtung in der Antike ja immer eine gewisser Hintergrundme-
tapher des Vitalen mitzuschwingen scheint –, sondern sieht die Bewe-
gung des Blutes als das zentrale Moment dieser Stufe an. Gleichwohl
erkennt er noch nicht den Informationstransport, der neben dem
Stoffwechseltransport, der ja in Pflanzen ganz ähnlich zu finden ist, im
Blutkreislauf geleistet wird.
§ 110 Das Gehirn spielt in dieser Betrachtung für Galenos eine ganz
untergeordnete Rolle,
Óti mhd crÇzei ti tÕ kuoÚmenon »weil das Lebewesen im Keim-
zîon ™gkef£lou di¦ tÕ m»q' lingszustand ein Gehirn in keiner
Ðr´n aÙtÕ de‹sqai, m»t' Beziehung benötigt, aus dem
¢koÚein, m»te geÚesqai, m»t' Grunde, weil es weder zu sehen
Ñsfra…nesqai, kaq£per oÙd noch zu hören noch zu schmek-
to‹j kèloij ™nerge‹n, oÙd' Ólwj ken noch zu riechen braucht, wie
˜tšran tin¦ proairetik¾n (es) auch nicht mit den Gliedma-
™nšrgeian À t¾n tÁj ¡fÁj ßen aktiv zu sein und überhaupt

126
De foetum formatione 3, 24; vol. 3, S. 670, 12-16, Übers. D. Nickel

138
Galenos von Pergamon (129-200)
a‡sqhsin œcein, À fantas…an, À keine andere willkürliche Funkti-
logismÕn, À mn»mhn. on oder die Wahrnehmung der
Berührung oder Vorstellungs-
vermögen, Denkfähigkeit oder
Gedächtnis zu haben
(braucht).« 127

Auch die Fähigkeit des Wahrnehmens und gar des Denkens ist also
nach Galenos völlig an die Funktionalität derselben gebunden. Da, wo
das Lebewesen diese Funktionalität nicht einsetzten kann, bringt es
auch nicht, daß diese in ihm ausgebildet ist. Das zeigt deutlich, wie sehr
für Galenos eine gewisse Naturordnung über dem Faktischen steht.
Nicht das Gehirn bringt das Denken hervor, sondern der Bedarf des
Denkens läßt die Natur das Gehirn ausbilden. Dabei geht sie maximal
ökonomisch vor und wird erst dann tätig, wenn dadurch ein unmittelba-
rer Nutzen erzielt werden kann.
§ 111 Dieser Entstehungsprozeß, den Galenos uns hier vorführt,
wirft nun eine interessante Frage auf, nämlich die nach der Priorität des
zuerst Entstandenen. Man könnte ja die Auffassung vertreten, das was
zuerst entstanden sei, sei auch das wichtigere und habe somit eine lei-
tende Funktion, die es unmöglich an später Entstandenes abgeben
könne. Aber Galenos sieht das anderes und behält einen klaren Blick
für die Logik der Sache. Er unterscheidet zwischen einem Entstehungs-
und einem Verwaltungszusammenhang:
éste, k¿n ¥lloj tij Ðmo…wj to‹j »Folglich werden wir uns, auch
¢pofhnamšnoij perˆ kard…aj À tÕ wenn irgend jemand anders in
cor…on À tÕ Âpar ¢rc¾n e nai lšgei ähnlicher Weise wie diejenigen,
pasîn tîn kat¦ tÕ zîon ™nergei- die sich über das Herz geäußert
în, oÙ peisqhsÒmeqa, genšsewj haben, sagen sollte, entweder das
m n ¢rc¦j ˜k£stJ tù gšnei tîn Chorion oder die Leber sei Aus-
swm£twn ˜tšraj e„dÒtej, ˜tšraj d gangspunkt aller Funktionen im
tÁj dioik»sewj. Lebewesen, nicht davon über-
zeugen lassen, da wir wissen, daß
bei jeder einzelnen der erzeugten
Körperstrukturen die Ausgangs-
punkte ihrer Entstehung andere

127
De foetum formatione 3, 27; vol. 3, S. 672, 11-16, Übers. D. Nickel

139
Galenos von Pergamon (129-200)
sind als die Zentren ihrer Verwal-
tung.«128

Was Galenos uns hier vorstellt ist für das naturphilosophische Denken
ein sehr wichtiger Schritt. Davon auszugehen, daß das, was der Natur
nach zuerst da ist, auch eine logische Vorrangstellung habe, ist ein allzu
verlockender Gedanke. Es bedarf schon eines idealistischen Geistes,
um zu erkennen, daß es dann in der Natur dennoch verschiedene Stu-
fen gibt, die in ihrem Verhalten zueinander eine innere Ordnung auf-
weisen. Und es stellt gewiß eine Hürde für das Denken dar, wenn es
dann erkennen muß, daß die Dinge dennoch offenbar in umgekehrter
Reihenfolge zu dieser logischen Ordnung in der Natur entstehen; ein
Umstand der die Entwicklung der Evolutionstheorien lange behindert
hat und welcher gar allein die Vorstellung einer Evolution der Naturstu-
fen im Sinne des Idealismus ganz verunmöglichte. Die Schwierigkeit
liegt eben darin, zu erkennen, daß es ein gewisses Verhältnis von Form
und Materie gibt, welches einerseits auf jeder Naturstufe die Materie zu
einer empirischen Voraussetzung der Realisierung der Formen macht,
andererseits jedoch die Formen zu einer logischen Voraussetzung der
Organisation und des Erhalts der Organisation dieser Materie.

Geist
i. Die Intelligenz
§ 112 Wir finden bei Galenos eine exzellente Bestimmung dessen, was
den menschliche Verstand ausmacht. Er knüpft bei dieser Bestimmung
an Aristoteles’ hier bereits diskutierte Ausführungen zum Wesen der
menschlichen Hand an:
kalîj m n oân kaˆ 'Aristotšlhj »Hervorragend war die Ausfüh-
oŒon ÔrganÒn ti prÕ Ñrg£nwn œfas- rung des Aristoteles darüber, daß
ken e nai t¾n ce‹ra· kalîj d' ¥n die Hand ein Werkzeug für alle
tij kaˆ ¹mîn ™ke‹non mimhs£menoj Werkzeuge sei; ebenso hervorra-
oŒon tšcnhn tin¦ prÕ tecnîn f»- gend können auch wir ihn nach-
seien e nai tÕn lÒgon. æj g¦r ¹ ahmen und sagen, daß der Ver-

128
De foetum formatione 4, 3; vol. 3, S. 674, 17 – 675, 3, Übers. D. Nickel

140
Galenos von Pergamon (129-200)
ceˆr oÙd n oâsa tîn kat¦ mšroj stand eine Kunst für alle Künste
Ñrg£nwn, Óti p£nta kalîj pšfuke sei. Denn ebenso wie die Hand,
dšcesqai, prÕ p£ntwn ™stˆn Ôrga- auf keine Weise ein Teil der
non, oÛtwj Ð lÒgoj oÙdemi©j m n Werkzeuge seiend, alles von Na-
tîn kat¦ mšroj Øp£rcwn tecnîn, tur aus perfekt handhabt und so
¡p£saj d' e„j ˜autÕn dšcesqai pe- für alles ein Werkzeug ist, eben-
fukëj tšcnh tij ¨n e‡h prÕ tec- so ist auch der Verstand keines-
nîn. ¥nqrwpoj oân mÒnoj ¡p£ntwn wegs ein Teil der vorhandenen
zówn tšcnhn œcwn prÕ tecnîn ™n Künste, sondern er beherrscht
tÍ yucÍ kat¦ lÒgon ™n tù sèmati ganz natürlich selbst jede Kunst,
prÕ Ñrg£nwn Ôrganon ™kt»sato. welche der Künste sie auch im-
mer sei. Der Mensch, der als ein-
ziges aller Lebewesen die Kunst
für alle Künste in seiner Seele
besitzt, verfügt in seinem Körper
über ein Werkzeug für alle
Werkzeuge.« 129

Was hier sehr treffend zum Ausdruck kommt, ist neben der offensicht-
lichen Parallele zu Aristoteles, der die Nutzbarkeit der Hand ja bereits
an den vorher vorhandenen Verstand geknüpft hatte, sowohl der Cha-
rakter der Allgemeinheit, wie auch der Reflexivität des Verstandes
(lÒgoj). Der Allgemeinheitscharakter kommt auch schon bei der Hand
zum Tragen, die als ein ÔrganÒn ti prÕ Ñrg£nwn, als ein Universalwerk-
zeug dargestellt wird, das alle anderen Werkzeuge nutzen kann und sie
in gewisser Weise auch durch sich substituieren kann. Die Hand kann
ja alle anderen Werkzeuge immer wieder herstellen. Ebenso ist der
lÒgoj in der Lage, alle Künste nicht nur auszuüben, sondern sie auch zu
erdenken und so eine tšcnhn tin¦ prÕ tecnîn; eine Universalkunst.
Beim lÒgoj kommt aber nun noch ein zweiter Aspekt zum Tragen,
den man bei der Hand nicht findet, nämlich der Aspekt der Reflexivi-
tät. Die Hand bearbeitet nicht die Hand selbst, sondern immer irgend
ein Material. Der lÒgoj hingegen beschäftigt sich in seinen Künsten mit
Inhalten, welche die Inhalte des lÒgoj selbst sind. Er bearbeitet also be-
ständig sich selbst und ist so das Universalwerkzeug des Geistes.

129
De usu partium corporis humani I, 4; vol. 3, S. 8, 11- 9, 5

141
Galenos von Pergamon (129-200)
ii. Empirie gegen Ratio
§ 113 Die Auseinandersetzung zwischen einem platonisch geprägten
Rationalismus und einem Empirismus, den wir vor allem von den
Atomisten her kennen, ist für unsere Fragestellung wenig spannend.
Das ändert sich jedoch dann, wenn diese Auseinandersetzung nicht
mehr ganz abstrakt um einen verschwommenen erkenntnistheoreti-
schen Begriff der Wahrheit geführt wird, sondern einen konkreten Ge-
genstand gewinnt. Dann läßt sich anhand dieser Auseinandersetzung
nämlich etwas ganz Allgemeines über den Geist erkennen. Galenos’
Darstellung dieses Streites hat gleich zwei Vorteile. Zum einen interes-
siert ihn als Mediziner natürlich vor allem ein konkretes Feld, so daß
der Streit bei ihm die nötigen Konturen annimmt. Zum anderen aber
ist Galenos hinreichend mit den unterschiedlichen antiken Schultradi-
tionen vertraut, um ihrem Denken gerecht zu werden.
Wenn Galenos hier von Empirikern spricht, dann meint er vor al-
lem eine medizinischen und nicht eine philosophische Schule. Deren
wissenschaftstheoretische Grundauffassung, wonach das Wissen allein
auf Erfahrung beruht, wird vom Rationalisten wie folgt angegriffen:
t…nej oân e„sin oƒ ™moˆ lÒgoi; prî- »Welches sind nun meine Argu-
ton m n oân kaˆ par' aÙtîn ™ke…nwn mente? Zunächst werden die
sugkecèrhtai t¦ l»mmata. ¹ g¦r Prämissen auch von jenen selbst
tîn pleist£kij æsaÚtwj ˜war- eingeräumt. Denn die Beobach-
mšnwn t»rhsij kale‹tai m n o mai tung von etwas Gesehenem zu
par' aÙtîn ™mpeir…a· sÚgkeitai d' mehreren Malen auf dieselbe Art
™k pollîn tîn kaq£pax· ¥tecnon wird von ihnen, wie ich glaube,
d tÕ kaq£pax aÙto… fasin· e‡h Empirie genannt. Sie ist aber
<¥r'> ¨n tÕ pleist£kij ™k pollîn ganz und gar aus vielem zusam-
¢tšcnwn sugke…menon. mengesetzt; von solchem aber
sagen sie, es sei ganz und gar kei-
ne Kunst; also kann das, was
mehrere Male [beobachtet wur-
de] und aus vielem besteht, kei-
ner Kunst zugrundeliegen.« 130

130
De experientia medica VII, 3, 1-6

142
Galenos von Pergamon (129-200)
Die Grundthese des Empirikers ist also, daß all das und nur das, was
sich mehrfach wiederholt und als solches beobachtet wurde, Gegen-
stand eines wissenschaftlichen Theorems werden kann. Was der Ratio-
nalist nun daran kritisiert ist eben der Begriff selbst der mehrfachen
Wiederholung (pleist£kij). Jede Beobachtung, so der Rationalist, be-
steht aus einer Unzahl von Elementen (™k pollîn), die ihrerseits nur
ein einziges Mal beobachtet worden sind. Um nun überhaupt zu kon-
statieren, – so das im Hintergrund des rationalistischen Angriffs stehen-
de Argument –, daß es sich hier um eine Wiederholung handelt, muß
der Empiriker zugeben, daß eben derjenige Aspekt, der sich im Gewirr
an Details, die beobachtet worden sind, wiederholt und bei allen Beob-
achtungen gleich ist, der wesentliche ist. Damit aber hätte sich seine
medizinische Vorgehenswiese grundlegend geändert. Er würde nicht
mehr sein Wissen aus der Beobachtung ableiten, sondern eben aus
dem allgemeinen Wesen auf den Einzelfall schließen.
§ 114 Im Hintergrund dieser Argumentation steht nichts anderes als
das Problem des Regelfolgens, daß wir in neuerer Zeit von Wittgenstein
her kennen und daß uns auch schon bei Varro begegnet ist. Auch Var-
ro interessierte schon die Frage, was denn überhaupt die Grundlage der
Gleichförmigkeit sei, aufgrund der sich eine Regelmäßigkeit oder eine
Wiederholung konstatieren läßt? Er kam zu dem gleichen Ergebnis wie
Platon, nämlich, daß es sich dabei nur um eine rationale Größe han-
deln könne, die hinter den Einzelfällen steht und deren Gemeinsamkeit
gewissermaßen garantiert.
Eben diese Ratio stellt nun Galenos’ Empiriker in Frage. Man wür-
de ja dann erst handeln können, so seine These, wenn man Wesens-
schau betrieben hat. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall:
»Und der Bauer, was denkst du von ihm? Bevor er von einem Philosophen et-
was über die Natur und die Substanz des Bodens gelernt hat und was die Natur
und Substanz des Regens und des Windes ist und wie sie zustande kommen, ist
er unfähig aus der Erfahrung zu wissen, welche Samen er zu bestimmten Zeit-
punkten sähen muß und auf welchen Boden, wenn man möchte, daß sie heran-
wachsen, aufblühen und eine vollkommene Entwicklung erreichen?« 131

131
De experientia medica IX, 3. Diese Textselle stammt aus einem Teil der Schrift,
dessen griechische Originalvorlage vorloren ist. Der griechische Text wurde jedoch

143
Galenos von Pergamon (129-200)
Der Empiriker versucht hier zu zeigen, daß man eben durchaus rein
empirisch vorgehen kann, ohne sich vorher Gedanken über die Identi-
tät der allgemeinen Strukturen des Beobachteten zu machen. Wäre
dies nicht der Fall, so sein Argument, dann könnten ungebildete Bau-
ern ihrer Arbeit nicht erfolgreich nachgehen. Nun kann man diesem
Argument aber entgegnen, daß der Bauer eben doch nicht so dumm ist,
wie Galenos ihn macht. Er erkennt seinen eigenen Acker wieder, was
zeigt, daß logische Grundbegriffe wie Identität durchaus in ihm wirksam
sind; vermag er es auch nicht, diese zu explizieren.
§ 115 Diesem ersten Gegenargument gegen die Ratio fügt Galenos
nun noch ein zweites hinzu, indem er zeigt, daß es nicht nur viel zu weit
hergeholt sei, erst die Begriffe zu klären, bevor man zur Tat schreitet,
sondern daß sich die Begriffe oftmals gar nicht klären lassen:
»Der Zweifel und die Verwirrung, die das Denken herbeigeführt hat,
führen zu einem Widerspruch, bezüglich des Übergangs des Men-
schen von einem Lebensabschnitt zum nächsten und im Wechsel des
Wetters und der Jahreszeiten.« 132

Es gibt zahlreiche mehr oder weniger kontinuierliche Übergänge zwi-


schen Phänomenen, die es dem Beobachter unmöglich machen, zu sa-
gen, wann der eine Begriff noch zutrifft und wann schon der andere.
Dennoch fühlen wir uns recht sicher in der Verwendung dieser Begrif-
fe. Es handelt sich dabei eben, so die These des Empirikers, um Begrif-
fe ohne scharfe Grenzen und ihre Verwendung ist mehr oder weniger
approximativ. Wie soll man sich von solchen Begriffen denn Ideen bil-
den?
Mit diesen beiden Argumenten versucht der Empiriker zu zeigen,
daß einerseits die Annahme von Ideen hinter unserem Wissen und

ins Syrische, von da aus im 9. Jahrhunderts ins Arabische, von hier aus im 20. Jahr-
hundert ins Englische und vom Englischen ins Französische übersetzt. Da der Text
hier inhaltlich keinerlei terminologische Besonderheiten aufweist, auf die zu achten
wäre, ist auf seinem abenteuerlichen Weg durch die philologische Geistesgeschich-
te nicht mit einem Verlust oder Fehler zur rechnen. daher habe ich mir die Freiheit
genommen, diese und die folgende Textstelle aufgrund des französischen Textes zu
zitieren.
132
De experientia medica XVI, 2

144
Galenos von Pergamon (129-200)
damit auch hinter unserer Sprache, die ja nichts anderes als eine Art
schwächerer oder weniger strenger Fall von Wissen ist, aus pragmati-
schen Gründen zu scheitern verurteilt ist. Andererseits versucht er dann
zu zeigen, daß es solche strengen Begriffe, wie sie Ideen erfordern wür-
den, gar nicht geben kann. Aber wie schon bei Varro diskutiert haben,
scheint es doch Begriffe zu geben, die eine rationale Strenge erfordern.
Dies sind vor allem Begriffe wie »Unterschied« oder »Identität«, Begrif-
fe also, die reflexiv sind und ins Reich der Ideen gehören. Hier ist es
Unsinn, von Unschärfen zu reden. Die Argumente von Galenos’ Empi-
riker leiden also vor allem an der Einseitigkeit der Beispiele. Seine Bei-
spiele haben alle einen räumlich-zeitlichen Gegenstand und eben kei-
nen abstrakten. Für die medizinische Theorie – für die allein sie freilich
gedacht ist – ist diese Argumentation also durchaus schlagend; keines-
wegs aber für die Philosophie.

145
Julius Cassianus (um 170)
Julius Cassianus (um 170)
Julius Cassianus läßt sich als Autor des Testimonium Veritatis, einer
Schrift aus dem Nag Hammadi Codex, bestimmen, weil wir in dieser
Schrift einen Abschnitt finden, der einem Zitat von Cassianus bei Cle-
mens von Alexandria entspricht. Cassianus war offenbar ursprünglich
ein Anhänger des Valentinos, spaltete sich aber dann von diesem. Der
Grund dafür mag in Cassianus’ übertriebenem Hang zur Askese liegen,
der ihn offenbar eine eigene enkratistische Lehre entwickeln ließ. Inter-
essant ist bei ihm vor allem seine reaktionäre Haltung. Er bestimmt sei-
ne eigene Position immer in Abgrenzung zur katholischen Lehre und
auch zu der anderer gnostischer Ansätze.

Natur
§ 116 Wir finden bei Cassianus vor allem eine vehemente Ablehnung
der Idee einer fleischlichen Auferstehung, die wir bereits bei Justinus
kennengelernt haben. Cassianus, der in einer streng gnostischen Tradi-
tion steht, lehnt diese Vorstellung eines Körpers, der gewissermaßen
dazugehört, konsequent ab:
»[Dies nun] ist das vollkommene Leben, [daß] der Mensch [sich selbst]
erkennt durch das All. Erwarte [nicht] deshalb [die] fleischliche Aufer-
stehung, welche die Zerstörung [ist]. [Und die sind nicht] von [ihm (sc.
dem Fleisch) entblößt, die] im Irrtum sind, indem sie eine [Auferste-
hung erwarten], die leer ist.«
133

Cassianus’ Argument ist hierbei ganz einfach das platonische. Der Kör-
per steht niedriger als der Geist und es gibt keinen Grund dafür, einen
Körper deswegen höher zu schätzen, weil er der Körper eines mit gei-
stigen Fähigkeiten begabten Wesens ist. Es ist das Geistige, was den
Geist als Geist auszeichnet und allein das.
Aus einer metaphysischen Perspektive müssen wir Cassianus hier
durchaus zustimmen. Die Naturformen nützen für das Verständnis des
Geistes zu nichts. Der Geist als Geist erklärt sich aus sich selbst. Verlo-

133
Testimonium Veritatis, Nag Hammadi Codex IX, 3, 36-37, Übers. G. Lüdemann
und M. Janßen

146
Julius Cassianus (um 170)
ren geht bei dieser gnostisch-platonischen Sichtweise des Körpers je-
doch der christliche Gedanke, die Natur nicht als das schlechthin ande-
re des Ideellen zu sehen, sondern als eine Erscheinungsform desselben.
§ 117 In einer von Clemens von Alexandria zitierten Stelle geht
Cassianus sogar noch weiter und negiert gar die Sinnhaftigkeit der Kör-
perfunktionen für die Geistwesen:
ToioÚtoij ™piceire‹ kaˆ Ð tÁj dok»- »Derartige Gründe führt auch
sewj ™x£rcwn 'IoÚlioj KassianÒj. Julius Cassianus, der Begründer
™n goàn tù Perˆ ™gkrate…aj À perˆ der Lehre des Doketismus, an.
eÙnouc…aj kat¦ lšxin fhs…n· kaˆ In seiner Schrift „Über die Ent-
mhdeˆj legštw Óti, ™peid¾ toiaàta haltsamkeit oder über das Ver-
mÒria œscomen æj t¾n m n q»leian schnittensein“ sagt er wörtlich:
oÛtwj ™schmat…sqai, tÕn d „Und niemand sage, der ge-
¥rrena oÛtwj, t¾n m n prÕj tÕ schlechtliche Verkehr sei von
dšcesqai, tÕn d prÕj tÕ ™nspe…rein, Gott gestattet, weil wir solche
sugkecèrhtai tÕ tÁj Ðmil…aj par¦ Körperteile haben, daß das Weib
qeoà. so und der Mann anders gestaltet
ist, das Weib zum Empfangen,
der Mann zum Befruchten.“« 134

Cassianus lehnt also jegliche Erkenntnis des Ideellen aus der Natur ab.
Das spiegelt insofern den ihm zugeschriebenen Doketismus, die Lehre,
wonach Christus ein rein geistiges Wesen war, als dann in der Natur
eben nichts vom göttlichen lÒgoj zu finden ist.
Hier geht er meines Erachtens eindeutig zu weit. Denn die einfach-
sten Formen des Denkens sind sicherlich an materielle Repräsentatio-
nen gebunden. Einerseits jedoch bauen dann komplexere Denkformen
auf diesen einfacheren auf. Hier könnte man noch einwenden, daß das
keine Rolle spiele, weil die materiellen Repräsentationen nicht selbst
auf der Bedeutungsebene aktiv werden. Das ist sicherlich einzugeste-
hen. Aber andererseits kann die Materie nur deswegen Geistiges reprä-
sentieren, weil sie durch und durch vom Ideellen bestimmt ist.

134
Stromata III, 13, 91, 1, Übers. O. Stählin

147
Aristoteles von Mytilene (um 170)
Aristoteles von Mytilene (um 170)
Um diesen Aristoteles gibt es reichlich Streit unter den Philologen. Wir
wissen über ihn nur, daß er einer der Lehrer des Alexandros von
Aphrodisias war. Über seine Lehre wüßten wir rein gar nichts, gäbe es
da nicht bei seinem Schüler Alexandros eine Stelle in dessen De anima
libri mantissa, wo dieser die Thesen eines Aristoteles referiert, die so
gar nicht auf den uns bekannten Lehrer eines ganz anderen Alexandros
passen wollen, sondern ganz im Gegenteil sogar stoisches Gedankengut
vorauszusetzen scheinen. Die Philologen streiten sich nun, ob hier eine
Zuschreibung per Interpolation auf Aristoteles von Mytilene gestattet
sei. Wie auch immer sie sich entscheiden, uns interessiert vor allem der
Inhalt und wir wollen diesen unter dem Label dieses Aristoteles vor-
stellen.

Natur
§ 118 Wir finden bei Aristoteles von Mytilene eine sehr bemerkenswer-
te Theorie, die aristotelische Gedanken mit stoischen und im Hinter-
grund gar platonischen Elementen verbindet. Ansatzpunkt dieser
Theorie ist nach dem Bericht des Alexandros Aristoteles’ Gedanke des
von außen kommenden Geistes (noàj qÚraqen), den wir bereits im zwei-
ten Band in der Geistlehre des Aristoteles kennengelernt haben. Aristo-
teles von Mytilene fragt sich, wie ein solcher Geist denkbar sein soll und
kommt zu folgendem Ergebnis:
boulÒmenoj d tÕn noàn ¢q£naton »Weil er zeigen wollte, daß der
deiknÚnai kaˆ feÚgein t¦j ¢por…aj Geist unsterblich sei und den
§j ™pifšrousin tù qÚraqen nù ¢n- Ausweglosigkeiten entkommen,
£gkhn œconti tÒpon ¢ll£ttein, oÙ die daraus folgen, daß der von
dunamšnJ dš, e‡ gš ™stin ¢sèma- außen kommende Geist notwen-
toj, oÜte ™n tÒpJ e nai oÜte meta- dig den Ort wechselt, dies aber
ba…nein kaˆ ¥llote ™n ¥llJ g…nes- nicht kann, wenn er weder kör-
qai, kat' „d…an ™p…noian œlege toi- perlich ist, noch an einem Ort ist,
aàta perˆ toà noà ™n pantˆ e nai tù noch sich bewegt und später an
qnhtù legomšnou sèmati. einem anderen [Ort] ist, sagte er,
daß der Gedanke für sich allein

148
Aristoteles von Mytilene (um 170)
von der Art des Geistes in allen
sterblichen Körpern ist.«
135

Dieser von außen kommende Geist ist bei Aristoteles jener Geist, der
sich auf sich selbst bezieht und daher als selbständige reine Form ge-
dacht werden kann. Es ist somit also das Herzstück der aristotelischen
Geistlehre. Dennoch betrachten wir Aristoteles von Mytilenes Be-
handlung dieses Geistes hier als einen Beitrag zur Naturphilosophie, da
seine Überlegungen letztlich nichts Geistspezifisches darstellen, son-
dern allgemein von Naturformen handeln.
Das Problem, was Aristoteles von Mytilene nun hier mit dem noàj
qÚraqen hat, ist daß dieser eben als reine Form, die auch dann nicht ver-
geht, wenn der von ihr geformte Körper das Zeitliche segnet, folglich
unabhängig von allem Körperlichen sein muß, ein Umstand den die
aristotelische Philosophie nicht vorsieht. Wir selbst hatten damit bei
der Diskussion der aristotelischen Geistlehre keine Probleme, denn wir
haben diesen noàj als Geist, also als die sich rein auf sich als Form be-
ziehende Form interpretiert, die insofern materieunabhängig ist. Aristo-
teles von Mytilene aber beschränkt sich in seiner Betrachtung gerade
nicht auf das spezifisch Geistige des noàj, sondern er sieht diesen als ei-
ne Form überhaupt. Stellt man sich nun aber die Frage, wie denn eine
Form ohne Materie existieren können soll, so hat man in der Tat ein
Problem, denn diese Form hinge ja dann irgendwie in der Luft.
Aristoteles von Mytilenes Lösung für dieses Problem ist denkbar
einfach: Wenn die Form ohne Körper nicht existieren kann, dann muß
sie eben bereits immer und in jedem Körper vorhanden sein. Diesen
Gedanken kennen wir bereits aus der stoischen Theorie der lÒgoi
spermatiko…. Konkret aber heißt das nichts anderes, als daß jedes Mate-
riepartikel bereits die Form von allem Natursein irgendwie implizit in
sich enthält.
§ 119 Das wirft zwei Fragen auf. Zum einen fragt man sich dann, wie
es denn die Form schafft, in einem Körper enthalten zu sein, ohne ihn
damit auch schon zu formen, denn nicht jeder Körper hat jede Form?

135
Alexandros von Aphrodisias, De anima libri mantissa S. 112, 5-9

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Aristoteles von Mytilene (um 170)
Zum anderen stellt sich die Frage, wie denn eine solche Form dann
doch irgendwann zur bestimmenden Form eines Körpers werden kann.
Auf die erste dieser Fragen gibt und Aristoteles von Mytilene die
folgende Antwort:
kaˆ d¾ œfasken tÕn noàn kaˆ ™n tÍ »Und er erklärte, daß der Geist
ÛlV æj oÙs…an ™n oÙs…v kaˆ ™n- auch in der Materie wie eine
erge…v e nai ¢eˆ ™nergoànta t¦j Substanz in einer Substanz und
aØtoà ™nerge…aj. ewig wirklich als die Wirksamkeit
seiner eigenen Wirklichkeit ist.«
136

Er stellt sich also vor, daß jene Form einfach in der Materie sein kann,
wie ein Fremdkörper, der sich um sein eigene Erhaltung kümmert, der
sich sozusagen selbst aktiv hält. Dieser Gedanke ist recht abstrakt und
es sei dahingestellt, ob wir ihn hier richtig erfaßt haben. Jedenfalls hat
Aristoteles von Mytilenes Vorstellung hier einige Probleme. Zunächst
ist da das Problem, das er selbst schon aufzeigte. Wenn die Form in
dieser Weise passiv und nur auf sich selbst bezogen aktiv in der Materie
vorhanden ist, dann hat sie nichts mit der Materie zu tun und ist inso-
fern doch bloß an einem Ort. Das aber soll sie ja nicht sein können.
Dann kommt hinzu, daß eine solche selbstbezügliche Form der
™nerge…a zwar beim Geist denkbar ist, der eben wieder Geistiges formt
und dabei zugleich irgendwie struktuierend auf die ihn tragende Mate-
rie einwirkt, indem beispielsweise Buchstaben zu Papier gebracht wer-
den, nicht aber bei einer anderen Form, die dann nur auf sich selbst
wirken soll, nicht aber mehr auf ihren Träger.
Allein für diese Probleme gibt es eine einfache Lösung. Wenn wir
die Form wirklich als etwas Ideelles denken, dann sind beide Probleme
gelöst. Die in einem Körper konservierte Form als etwas Ideelles zu
denken heißt hier nichts anderes, als die Form bloß als eine Implikation
der bereits im Körper enthaltenden aktiven Form zu denken. Denn
diese Form ist zwar einerseits wirklich, aber sie hat andererseits auch
eine begriffliche Struktur, die dann ihrerseits wieder begriffliche Impli-
kationen haben kann. Damit wäre geklärt wie diese Form als passive in
einem Körper enthalten sein kann. Sie ist so an den Körper gebunden,

136
De anima libri mantissa S. 112, 9-11

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Aristoteles von Mytilene (um 170)
weil sie zu einer aktiven Form als deren logische Implikation gehört.
Und auch ihre Aktivität wäre dann keine Aktivität in der natürlichen
Wirklichkeit im Sinne der aristotelischen ™nerge…a, sondern einfach ei-
ne logische Aktivität. Der Geist existierte so im Tier – ganz im Gegen-
satz zur Auffassung des Aristoteles von Mytilene – gerade nicht als
wirklicher Geist, sondern als bloß möglicher Geist, dessen Möglichkeit
in der Form des Tieres angelegt ist.
§ 120 Wird aber kann eine solche Form aktiviert werden? Auch da-
zu finden wir bei Aristoteles von Mytilene eine interessante Überlegung:
Ótan m n oân ™k toà sèmatoj toà »Wann immer sich ein gemisch-
kraqšntoj pàr gšnhtai ½ ti toi- ter Körper auflöst, entsteht etwas
oàton ™k tÁj m…xewj, æj kaˆ Ôrga- derartiges aus der Mischung, das
non dÚnasqai tù nù toÚtJ pa- in der Lage ist, ein Werkzeug für
rasce‹n, Ój ™stin ™n tù m…gmati diesen Geist zu sein, der in dieser
toÚtJ (diÒti ™stˆn ™n pantˆ sèma- Mischung ist (deshalb ist er in
ti, sîma d kaˆ toàto), toàto tÕ allen Körpern und auch er ist ein
Ôrganon dun£mei noàj lšgetai ™pi- Körper). Von diesem Werkzeug
t»deiÒj tij dÚnamij ™pˆ tÍ toi´de wird gesagt, es sei der Geist der
kr£sei tîn swm£twn ginomšnh Möglichkeit nach, der eine wür-
prÕj tÕ dšxasqai tÕn ™nerge…v noàn. dige Möglichkeit [oder Kraft] ist,
von einer derartigen Mischung
von Körpern zur Annahme des
wirklichen Geistes zu führen.« 137

Diese Stelle verstehe ich wie folgt: Die Form ist der Möglichkeit nach in
allen Körpern enthalten. Wenn nun die interne Konstellation eines
Körpers sich derart verändert, daß diese zu einem Werkzeug dieser
Form werden kann, dann realisiert sich die Form in ihm. Was jedoch
bei Aristoteles von Mytilenes Ausführungen gedoppelt erscheint, ist die
Rolle des Werkzeuges als Möglichkeit der Form. Betrachten wir das
Beispiel des Wasserkreislaufes, so wird dies deutlich. Zunächst haben
wir das Wasser, das da bleibt, wo es ist oder sich entsprechend bewegt,
wenn Kräfte auf es wirken. Wirken diese Kräfte aber nun in der Weise,
daß die Bewegung zirkulär wird, daß ein Kreislauf entsteht, so haben

137
De anima libri mantissa S. 112, 11-16

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Aristoteles von Mytilene (um 170)
wir sofort den Wasserkreislauf selbst, nicht erst eine bloße Möglichkeit
desselben.

bloße Materie mögliche Form wirkliche Form

Die Unterscheidung zwischen der möglichen Form und der wirklichen


Form ist hier eine bloß formale, oder besser gesagt eine Frage der
Perspektive. Im einen Fall betrachten wir die Form als eine
Wechselwirkung der Materie, also als etwas eigentlich Zerstückeltes,
das dennoch irgendwie zusammenwirkt, im anderen Fall betrachten wir
die Form als eine substantielle Einheit. Sie ist aber zugleich immer
beides, eben eine Einheit der Vielheit des Materiellen.
§ 121 Dieses gedoppelte Moment der Form entgeht Aristoteles von
Mytilene keineswegs:
Ótan d¾ toÚtou toà Ñrg£nou l£bh- »Wann immer dieses Werkzeug
tai, tÒte kaˆ æj di' Ñrg£nou kaˆ æj aufgenommen worden ist, wirkt
perˆ Ûlhn kaˆ æj di' Ûlhj ™n»rgh- es zuerst in der Weise eines
sen, kaˆ tÒte legÒmeqa noe‹n ¹me‹j. Werkzeugs sowohl über die Ma-
terie hinaus als auch durch die
Materie und dann nennen wir es
Denken.«138

Wir müssen hierbei im Auge behalten, daß Aristoteles von Mytilene


natürlich nur über den Geist spricht, den Geist aber aus unserer Sicht
sozusagen als ein Beispiel für Formen überhaupt behandelt. Eine jede
Form hat nun diesen doppelten Aspekt, daß sie einerseits die von ihr
geformte Materie bewegt und sich so in ihr ausdrückt, andererseits aber
auch auf der Formebene damit etwas darstellt. Das Wasser, was im
Wasserkreislauf fließt, fließt eben nicht an sich schon im Kreis, sondern

138
De anima libri mantissa S. 112, 16-18

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Aristoteles von Mytilene (um 170)
es reagiert nur auf unmittelbare Wirkungen. Erst das Ganze ist der
Kreislauf in dem sich die Form ausdrückt, dieser Ausdruck prägt sich
sozusagen in nichtspezifischen Einzelbewegungen der Materie ein, stellt
aber als Ganzes dann etwas dar, was über die Materie hinaus geht, eine
höhere ™nerge…a sozusagen.
§ 122 Als Urgrund des Zustandekommens dieser neuen Formebene
führt Aristoteles von Mytilene einen göttlichen Geist an, den er mit ei-
nem Künstler vergleicht, der sich eines Werkzeugs bedient:
tÕn aÙtÕn trÒpon kaˆ Ð qe‹oj noàj »Auf diese Weise wirkt auch der
¢eˆ m n ™nerge‹ (diÕ kaˆ œstin göttliche Geist ewig (deshalb ist er
™nerge…v), kaˆ di' Ñrg£nou dš, Ótan auch der Wirklichkeit nach) sooft
™k tÁj sugkr…sewj tîn swm£twn aus der Zusammenlagerung der
kaˆ tÁj eÙkras…aj gšnhtai Ôrganon Körper und der guten Mischung
toioàton. ein Werkzeug desselben wird.« 139

Der göttliche Künstler vermag es, sich der auf die rechte Weise zu-
sammengelagerten Materie als Werkzeug zu bedienen, um damit den
Ausdruck, das Spezifische jener neuen Formebene hervorzubringen.
Die Zusammenlagerung ist insofern eine Art von passiver Bedingung.
Sie muß vorhanden sein, aber nicht sie bringt aktiv die neue Form her-
vor, sondern diese ist als eine ideelle Größe Teil eines übergeordneten
Ideellen. Sieht das Ideelle nun eine irgendwie logisch sinnvoll in der
Natur vorkommende Zusammenlagerung von Materie, so sieht es nicht
bloß Materie, sondern es erkennt dessen Form, ebenso wie wir in ei-
nem Text nicht Striche sondern Worte erkennen können. An dieser
Stelle nähert sich die Sichtweise von Aristoteles von Mytilene der Pla-
tons an.
§ 123 Die Frage ist nun, welche Rolle dieser qe‹oj noàj in der Auffas-
sung Aristoteles von Mytilenes genau spielt? Wir erfahren nichts dar-
über, ob damit so etwas wie ein Reich der Ideen angedacht sein soll. In
jedem Falle bietet dieser Gedanke eine Möglichkeit, die Vorstellung
einer selbständigen Form noch einmal ganz anders zu denken. Aristo-
teles von Mytilene gewinnt durch den Vergleich des qe‹oj noàj mit ei-

139
De anima libri mantissa S. 112, 27-29

153
Aristoteles von Mytilene (um 170)
nem Künstler ein ganz plastisches Beispiel für dies Selbständigkeit der
Formen:
oÙ g¦r ¢llacoà ín metaba…nei, »Und er kann sich absondern auf
¢ll¦ tù pantacoà e nai mšnei kaˆ die Art, auf die er sich beimisch-
™n tù ™k tÁj ™kkr…sewj dialuo- te. Denn er geht nicht anderswo
mšnJ sèmati fqeiromšnou toà Ñr- hin sondern überall seiend bliebt
ganikoà, æj Ð tecn…thj ¢pobalën er auch als abgesondert, wenn
t¦ Ôrgana ™nerge‹ m n kaˆ tÒte, oÙ der Körper sich durch Zerstö-
m¾n Ølik¾n kaˆ Ñrganik¾n ™nšr- rung der Organe aufgelöst hat, so
geian. wie der die Werkzeuge wegge-
worfen habende Künstler auch
dann noch wirkt, aber nicht mehr
in der materiellen und organi-
schen Wirklichkeit.«140

Es ist klar, daß die Formen auch dann erhalten blieben müssen, wenn
die Körper, die ihre Träger sind, zerstört werden. Dieselbe Form kann
ja leicht woanders erneut entstehen. Nach Aristoteles von Mytilene sind
die Formen nun nach der Zerstörung eines Körpers gewissermaßen im
Geist des Künstlers (tecn…thj) erhalten. Wenn wir aber den Künstler als
das Ideelle überhaupt sehen, dann läßt sich hier eine Verbindung zu
dem oben Gesagten herstellen. Die Formen sind dann nicht direkt als
Formen in der Materie weiter enthalten, sondern eben als logische Im-
plikationen der bereits vorhandenen und noch bleibenden Formen;
denn es verschwinden ja nie alle Formen. Sie sind aber in diesen For-
men weiter enthalten, weil diese eben der Ausdruck des Ideellen sind,
das im Hintergrund aller Formen steht. Sie verbleiben sozusagen im
Geist des Künstlers.
Problematisch daran ist nun nur noch, daß das Ideelle hier allzusehr
personifiziert wird, als Künstler und konkreter Geist vorgestellt wird,
daß sogar die Natur überhaupt zum Akteur wird. Aristoteles von Myti-
lene deutet für das daraus entstehende Problem einer zu starken My-
thologisierung des Ideellen die folgende Lösung an:

140
De anima libri mantissa S. 112, 31 – 113, 2

154
Aristoteles von Mytilene (um 170)

aÙt¾ d t¦ kaqškasta met¦ toà »Sie [die Natur] aber verwaltet


noà dioike‹. jedes einzelne durch den
Geist.«
141

Nehmen wir hier die Natur (fÚsij) als Stellvertreter des Ideellen und
sehen den Geist nach wie vor als Repräsentanten der Formen über-
haupt an, dann ergibt sich folgendes Bild: Jedes Einzelding in der Natur
ist durch seine konkrete Form gelenkt und bestimmt, die als ™nerge…a in
ihm aktiv ist, die aber letztlich einfach darin besteht, daß eben die Zu-
sammenlagerung der Materie paßt. Diese Form selbst ist nun aber lo-
gisch durch das Ideelle bedingt, durch welches festliegt, was für Formen
überhaupt zu stabilen Konstellationen führen und welche möglichen
Unformen dies nicht tun. Insofern ist Aristoteles von Mytilenes Aussa-
ge, daß eben das Ideelle vermittelt durch die einzelnen Formen in den
Dingen aktiv wird nicht nur eine sehr interessante These, sondern über
dies hinaus auch noch eine echte Synthese von platonischem, aristoteli-
schem und stoischem Gedankengut. Daher ist der Mangel an dem von
diesem Autor auf uns gekommenen Wissen durchaus bedauernswert.

141
De anima libri mantissa S. 113, 11-12

155
Julianos Theurgos (um 170)
Julianos Theurgos (um 170)
Julianos Theurgos ist als Person ganz und gar unbekannt und vermut-
lich gar nur fiktiv. In die Philosophiegeschichte jedoch ging er ein als
der Autor der sogenannten Oracula Chaldaica. Doch auch von diesem
Werk sind nur Fragmente erhalten, die von diversen neuplatonischen
Philosophen wiedergegeben werden.
Es gibt vielfach die Tendenz aus den Oracula Chaldaica eine Art
Vorgestalt der entwickeltsten neuplatonischen Systeme zu machen und
die bedeutendsten Vertreter des Neuplatonismus in der Folge dessen
zu bloßen Kopisten jenes ominösen Julianos herabzuwürdigen. Dieser
Tendenz wollen wir hier nicht folgen, sondern vielmehr davon ausge-
hen, daß umgekehrt die Neuplatoniker einiges von ihrem eigenen Ge-
dankengut in die Oracula Chaldaica hineininterpretiert haben. Da den
Oracula Chaldaica ein göttlicher Ursprung zugeschrieben wurde, diente
dies dazu, den eigenen Werken eine quasi göttliche Legitimation zu ge-
ben, die in der Antike bedeutender war, als die Originalität eines Au-
tors, die wir modernen Geister so hoch schätzen. Wir wollen uns also
hier nur an das halten, was die Fragmente selbst hergeben.

Ideen
§ 124 Die Oracula Chaldaica können wir als einen Versuch einer on-
tologischen Strukturierung der Welt auffassen. Dabei spielt vor allem
eine überirdische Welt, eine Welt des Ideellen eine zentrale Rolle. Wir
finden hier also die platonische Ideenwelt wieder, was den Schluß zu-
läßt, daß die Oracula Chaldaica aus dem Geiste des Platonismus ent-
standen sind.
Das erste Element in der Ontologie des Julianos ist entsprechend
ein Wesen, welches alles dem Geiste Zugängliche überragt:

156
Julianos Theurgos (um 170)

P£nta g¦r ™xetšlesse pat¾r kaˆ »Denn der Vater hat alles ge-
nù paršdwke deutšrJ, Ön prîton schaffen und dem zweiten Geist
klh zete p©n gšnoj ¢ndrîn. übergeben, den ihr Menschenwe-
sen alle den ersten nennt.« 142

Hier finden wir also zunächst die platonische Trennung eines über al-
lem stehenden Wesens, des Vaters von einem untergeordneten Geist,
dem Reich der Ideen, wieder. Die Menschen halten dieses Reich der
Ideen für das höchste, dabei steht es aber nur an zweiter Stelle, denn
darüber befindet sich noch ein dem platonischen Einen vergleichbares
Wesen, welches Julianos durchgängig als pat»r bezeichnet. Man kann
hier gleichwohl auch einen gnostischen Einfluß erkennen, denn inso-
fern das Reich der Ideen als Ursprung der Welt betrachtet werden
kann, ist es dem Schöpfergott in der Gnosis vergleichbar, bis zu dem
das menschliche Denken lediglich vordringt, hinter dem aber erst der
eigentliche Gott steht.
Daß dieser pat»r als das Eine angesehen werden kann, belegt eine
Stelle, die uns Proklos überliefert:
t¢gaqÕn aÙtÕ nooàsa, Ópou pa- »Das Gute selbst denkend, wo
trik¾ mon£j ™sti die väterliche Monade ist«. 143

Das Eine, das nach platonischer Lehre mit dem Guten in eins fällt, wird
hier wie bei Platon mit der Einheit, die als patrik¾ mon£j bezeichnet
wird, in eins gesetzt. Einheit und Vater fallen also hier zusammen. An
einer anderen Stelle, die gleichwohl nur in Latein überliefert ist, wir
diese Identifikation von pat»r und Einem noch deutlicher:
omnia enim ex uno entia e con- »Alle Wesenheiten nämlich, die
verso ad unum vadentia secta vom Einen kommen und umge-
sunt, sicut intellectualiter, in kehrt auch zurück zum Einen
corpora multa. gehen, sind intelligibel in viele
Körper zerteilt.« 144

Hier wird also das Eine ganz klar als die Ursache von allem und so das
oberste ontologische Prinzip angesehen. Die Ideen darunter werden

142
Michael Psellos, Expositio in oracula Chaldaica, Patrologia Graeca CXXII, 1140 C
143
In Platonis Alcibiadem I 53, 10
144
Proklos, In Platonis Parmenidem VII, S. 512, 92-94, ed. Steel

157
Julianos Theurgos (um 170)
demgegenüber schon als etwas betrachtet, das letztlich in den Körpern
zerteilt erscheint. Der noàj ist also wie in der Gnosis bereits etwas, was
die Tendenz hat, das Materielle und Schlechte hervorzubringen.
§ 125 Bis hierhin ist der Sachverhalt im Grunde sehr einfach. Ab
hier aber wird es etwas komplizierter. Denn nun wird der Vater als
Geist bezeichnet:
lšgetai g¦r e nai nohtÕn Ð pat»r, »Denn der Vater wird Intelligi-
œcwn tÕ nooàn ™n ˜autù· bles genannt, wo er doch das
Denken in sich selbst hat.« 145

Was hier geschieht ist zweierlei. Zum einen wird die Entstehung der
Ideen aus dem pat»r erklärt und zum anderen werden diese Ideen da-
bei strukturiert. Den ersten Schritt kennen wir so bereits aus der Gno-
sis. Es ist jenes erste unergründliche Eine, das sich selbst denkt und so
aus seiner Einheit eine Vielheit erzeugt. Hier jedoch werden nicht nur
der Denkende pat»r und das Gedachte (nohtÒn) berücksichtigt, son-
dern es kommt das Denken selbst als ein drittes Element hinzu. Den-
noch muß ich gestehen, daß der Übergang vom Einen zu den Ideen
hier etwas mysteriös bleibt.
§ 126 Jedoch sind es dann eben wieder drei Elemente, welche die
Grundlage der Einteilung der Ideenwelt bilden:
pantˆ g¦r ™n kÒsmJ l£mpei tri¦j »Denn die ganze Welt strahlt ei-
Âj mon¦j ¥rcei ne Dreiheit aus, welche von einer
Einheit beherrscht wird«.
146

Die Frage ist nun, welches denn genau diese drei Elemente sind. Das
erste Element ist hierbei schnell identifiziert, denn es ist das Eine selbst,
das nun als mon£j den Ideen voranstellt. Dabei muß dann zwischen
mon£j und pat»r als dem eigentlichen Einen unterschieden werden.
Während der pat»r der unergründliche und unbestimmte Ursprung
ist, ist die mon£j der bereits bestimmte Ursprung, der als solcher der er-
ste Schritt der tri£j ist.
Den genauen Aufbau dieser Triade, die selbst wieder in Triaden
zerfällt, berichtet uns Michael Italicos:

145
Damaskios, In Parmenidem S. 16, 18
146
Damaskios, In Parmenidem S. 87, 14

158
Julianos Theurgos (um 170)

kaˆ prîtÒn ge Ð patrikÕj buqÕj »Und zuerst gibt das, was von je-
par' ™ke…nown kaloÚmenoj ™k triîn nen [den Orakeln] der väterli-
tri£dwn sugke…menoj, éj fasin: ïn chen Abgrund genannt wird, der,
˜k£stV prîtÒn ™sti pat»r: e ta wie sie sagen, aus drei Triaden
dÚnamij: tr…ton d noàj: kaˆ ™stˆn besteht. Von jenen ist die erste
™n m n tÍ prètV tri£di p£nta pa- der Vater, dann die Kraft, die
trikîj: ™n d tÍ deutšrv kat¦ t¾n dritte der Intellekt. Und in der
dÚnamin: ™n d tÍ tr…tV kat¦ tÕn ersten Triade ist alles väterlich, in
noàn: ¹ mšntoi dÚnamij æj prÕj tÕn der zweiten alles gemäß der Kraft
patšra m n noer£, æj d prÕj tÕn und in der dritten gemäß dem
noàn noht». Intellekt. Die Kraft aber ist be-
züglich des Vaters intellektuell,
bezüglich des Geistes aber intelli-
gibel.«
147

Jener Abgrund tauchte bereits bei den Gnostikern auf. Hier nun ist der
Abgrund die Ideenwelt überhaupt. Interessant ist aber seine Struktur.
Er teilt sich zunächst in drei Elemente pat¾r, dÚnamij und noàj. Diese
drei Elemente bilden dann aber selbst wieder je eine Triade aus den
nämlichen Elementen, wobei jeweils eines derselben den Ton angibt.
Wir erhalten damit so etwas wie einen Plan eines Ideenreiches, das
noch nicht ganz mit Ideen gefüllt ist. Die erste Triade enthält Begriffe,
die alle als Ausgangspunkte angesehen werden können, thetische Be-
griffe also. Die dritte enthält Begriffe, die alle ein Begriffssystem be-
schreiben, eben einen noàj als Summe der Begriffe. Diese beiden Tria-
den passen in das Schema der Hegelschen Logik, das wir so bereits im
dritten Band bei Valentinos in Ansätzen gefunden haben. Der erste
Teil entspricht der Idee einer Seinslogik und der dritte der Idee einer
Begriffslogik; wenn das hier auch nur in ganz grober Andeutung so zu
erkennen ist.
§ 127 Die zweite Triade nun ist komplexer. In ihr ist die dÚnamij
Tonangebend, also ein Begriff der Kraft oder auch der Möglichkeit.
Begrifflich ist damit aber noch nicht viel gesagt. Nun aber erfahren wir
im letzten Satz des Zitates, daß diese dÚnamij ein in sich wandelbarer
Begriff sein soll. Er sei noer£ ebenso wie noht». Der Unterschied, den

147
Epistula XVII, S. 181, 10-16

159
Julianos Theurgos (um 170)
ich hier mit der üblicherweise im Neuplatonismus für dieses Be-
griffspaar verwendete Unterscheidung von intellektuell und intelligibel
übersetzt habe, meint den folgenden einfachen Sachverhalt. Intellektu-
elle Begriffe sind noer£ und bezeichnen feststehende und bereits zu-
sammenhängende begriffliche Strukturen, wie das beim Denken der
Fall ist. Eine solche ist grobkörniger als eine begriffliche Struktur, die
man in Abgrenzung dazu als intelligibel, also als noht» bezeichnen
kann.
Dahinter steht die Idee, daß es zum einen die reinen Begriff gibt
und dann in einem zweiten Schritt, das Denken, welches diese denkt.
Wie wir oben gesehen haben, wird dies in den Oracula Chaldaica be-
reits beim Übergang vom Einen zu den Ideen reflektiert. Das Eine
denkt sich selbst und wird so zur festen Struktur des Denkens. Diese
Metapher steht hier immer im Hintergrund. Gleichwohl müssen wir sie
in eine Form übertragen, die begrifflich verständlich wird.
Als eine solche Form läßt sich die Begriffsbewegung bestimmen, die
ausgehend von losen Begriffen (noht») zu einer festen Bestimmung die-
ser Begriffe (noer£) kommt. Die zweite Triade wäre also ein Versuch,
diese Begriffsbestimmung selbst zu erfassen und somit nichts sehr viel
anderes, als die Hegelsche Wesenslogik. Der Begriff der dÚnamij er-
scheint uns ja hier durchaus als ein reflexiver Begriff im Sinne Hegels,
als ein Begriff dessen Bestimmung sich wandelt je nach der Relation, in
der er steht. Bezogen auf den pat¾r ist die dÚnamij schon noer£, denn
sie festigt die Strukturen der losen Begriffe der ersten Triade, bezogen
auf den noàj aber ist sie noch noht», denn ihre eigene Struktur wird in
diesem gefestigt.
In diesen Zusammenhang fügt sich dann die folgende Feststellung
nahtlos ein:
oÙ g¦r ¥neu nÒoj ™stˆ nohtoà kaˆ tÕ »Denn der Intellekt ist nicht oh-
nohtÒn oÙ noà cwrˆj Øp£rcei ne das Intelligible und das Intelli-
gible kann nicht ohne den Intel-
lekt bestehen«.148

148
Proklos, In Platonis Timaeum commentaria III, S. 102, 10-12

160
Julianos Theurgos (um 170)
Beides, die einzelnen Begriffe als das Intelligible (noht») wie auch der
Intellekt (noàj) setzten einander voraus. Ohne die Begriffe kann es kein
System der Begriffe geben. Aber auch ohne das System sind die einzel-
nen Begriffe leere Hülsen. Die eben diskutierte Struktur markiert hier
die vermittelnde Sphäre zwischen beiden.
§ 128 Als letztes Element der Struktur des Ideellen überhaupt fin-
den wir die Weltseele:
met¦ d¾ patrik¦j diano…aj »Nach den Gedanken des Vaters
Yuc¾ ™gë na…w qšrmV yucoàsa t¦ fließe ich, Seele, deren Wärme
p£nta· alles belebt.«149

Wir finden also auch hier die Dreiteilung von Einem, Ideen und Welt-
seele wieder und sehen daraus, wieviel dieses Denken dem Platonismus
schuldig ist. Hier, so kann man aus einigen Fragmenten vermuten, gibt
es dann noch weitere Zwischenwesen zwischen dem Ideellen und etwa
dem menschlichen Geist und der Natur überhaupt. Allein diese Wesen
hier darzustellen ist eher fruchtlos, denn die Fragmente dazu sind allzu
spärlich und geben nichts wirklich für uns Produktives her. Auch ist
dieser Bereich in den weiten Teilen sehr mythisch und weniger philo-
sophisch. Es ist recht naheliegend, daß hier der Versuch gemacht wur-
de, bereits vorliegende Ideen des platonischen Denkens in einer mehr
oder weniger dichterischen Form wiederzugeben.

149
Proklos, In Platonis Timaeum commentaria I, S. 408, 16-17

161
Athenagoras von Athen (133-190)
Athenagoras von Athen (133-190)
Obschon zwei ganze Schriften von ihm erhalten sind, wissen wir von
Athenagoras’ Leben so wie nichts. Er soll in Athen geboren worden
sein und konvertierte irgendwann zum Christentum. Außer in Athen
soll er noch in Alexandria gelehrt haben. Im Jahre 177 verfaßte er eine
an Marcus Aurelius und dessen Sohn Commodus adressierte Apologie.
Wir finden in seinen Schriften einige interessante Stellen, die vor allem
auf zeitgenössische Kritiken am Christentum reagieren.

Ideen
§ 129 Wir haben schon mehrfach gesehen, daß das christliche Denken
die platonische Vorstellung eines obersten Gottes übernimmt, welcher
mit dem Einen identifiziert wird. Bei Athenagoras nun finden wir einen
interessanten Hinweis darauf, wie dieses Eine im Christentum verstan-
den wurde. Er diskutiert die Frage, ob es mehrere Götter geben könne
und schließt dabei den folgenden Fall aus:
e„ dÚo ™x ¢rcÁj À ple…ouj Ãsan »Gäbe es von Ewigkeit her zwei
qeo…, ½toi ™n ˜nˆ kaˆ taÙtù Ãsan À Götter oder mehr, so befänden
„d…v ›kastoj aÙtîn. [...] e„ dš, æj sie sich entweder in einem und
ceˆr kaˆ ÑfqalmÕj kaˆ poÝj perˆ n demselben (übergeordneten)
sîm£ e„sin sumplhrwtik¦ mšrh, Wesen oder jeder von ihnen wä-
›na ™x aÙtîn sumplhroàntej, Ð re für sich. [...] Sollten jene je-
qeÕj eŒj· ka…toi Ð m n Swkr£thj, doch in der Weise integrierende
parÕ genhtÕj kaˆ fqartÒj, sug- Bestandteile einer Einheit sein,
ke…menoj kaˆ diairoÚmenoj e„j mšrh, wie etwa die Hand, Auge, Fuß
Ð d qeÕj ¢gšnhtoj kaˆ ¢paq¾j kaˆ integrierende Bestandteile eines
¢dia…retoj· oÙk ¥ra sunestëj ™k Organismus sind, dann wäre al-
merîn. lerdings Gott auch wieder einer;
indes so etwas (eine Zusammen-
setzung aus Teilen) ist etwa bei
Sokrates der Fall; dieser ist, weil
er geworden und vergänglich ist,
zusammengesetzt und teilbar;
Gott aber als der Ungewordene
und über jede Veränderung Er-

162
Athenagoras von Athen (133-190)
habene ist unteilbar; er besteht
also überhaupt nicht aus Tei-
len.«150

Athenagoras’ Argument ist hier das folgende: Gott als Eines kann nicht
eine aus Teilen bestehende Ganzheit, eine Einheit von Teilen sein, sei
diese auch noch so harmonisch, denn eine solche Einheit ist immer
bloß eine Zusammensetzung und jede Zusammensetzung ist etwas
Endliches und Vergängliches. Das Problem liegt dabei natürlich im fal-
schen Vergleich. Das Ideelle ist keinesfalls von der Art des Natürlichen;
ihm ist es leicht möglich, sich dialektisch verhaltend, eine Einheit und
eine Vielheit in einem zu sein. Die Konsequenz der Sichtweise
Athenagoras’ ist, daß er nun die platonische Idee des Einen quasi ding-
lich als etwas vollkommen Abgetrenntes ansieht. Das Eine kann für ihn
so nicht mehr die logische Einheit aller Ideen sein, sondern es ist, ähn-
lich wie bei Parmenides, nur noch das Eine selbst. So fällt seine Kon-
zeption weit hinter jenen dialektischen Begriff des Einen zurück, den
wir in Platons Parmenides kennengelernt haben.
§ 130 Dennoch – und hier zeigt sich eine Stärke des christlichen
Denkens – vermag es Athenagoras nicht ganz aus dem Rahmen seiner
Vordenker zu fallen und findet so bei seiner Diskussion des lÒgoj zu-
rück zu einer dialektischen Auffassung des Ideellen:
™stˆn Ð uƒÕj toà qeoà lÒgoj toà pa- »Der Sohn Gottes ist das Wort
trÕj ™n „dšv kaˆ ™nerge…v· prÕj (Logos) des Vaters als vorbildli-
aÙtoà g¦r kaˆ di' aÙtoà p£nta cher Gedanke und schöpferische
™gšneto, ˜nÕj Ôntoj toà patrÕj kaˆ Kraft; denn nach ihm und durch
toà uƒoà. Ôntoj d toà uƒoà ™n patrˆ ihn ist alles gemacht; Vater und
kaˆ patrÕj ™n uƒù ˜nÒthti kaˆ Sohn sind eins. Da der Sohn im
dun£mei pneÚmatoj, noàj kaˆ lÒgoj Vater und der Vater im Sohne ist
toà patrÕj Ð uƒÕj toà qeoà. durch die Einheit und Kraft des
Geistes, so ist der Sohn Gottes
der Gedanke (Nus) und das
Wort (Logos) des Vaters.« 151

150
Legatio sive Supplicatio pro Christianis 8, 1, 3 – 8, 3, 5, Übers. A. Eberhard
151
Legatio sive Supplicatio pro Christianis 10, 2, 5-9, Übers. A. Eberhard

163
Athenagoras von Athen (133-190)
Indem so der qeÒj, der mit dem Einen gleichzusetzen ist, und der noàj
kaˆ lÒgoj qeoà, als der Christus verstanden wird, Eines sind, gibt es im
Reich des Ideellen doch nicht nur jene bloße undifferenzierte Einheit,
wie wir sie von Parmenides kennen, sondern durchaus eine Differen-
zierung mehrerer Elemente. Da Athenagoras unmöglich auf Christus
verzichten kann und als Christ auch dessen Gottgleichheit annehmen
muß, ist er zu einer solchen Sichtweise gezwungen, auch wenn diese ei-
gentlich nicht in seinen Denkansatz paßt. Er steht sozusagen unter
christlichem Systemzwang; muß sich aber dabei in ein System einfügen,
welches sicherstellt, daß er so einfache Schlüsse, wie der obige, nicht
sogleich dazu führen, daß alle metaphysischen Errungenschaften der
Antike fallengelassen werden. Gleichwohl vermag er es noch nicht, die-
se Gleichheit und Unterschiedenheit von Gott und lÒgoj dialektisch
aufzulösen. Beides bleibt als Widerspruch.

Natur
§ 131 Eine überaus ungewöhnliche Diskussion eines weiteren christli-
chen Dogmas liefert uns einen wertvollen Einblick in Athenagoras’
Sichtweise des Organischen, einer Sichtweise von der wir annehmen
müssen, daß sie nicht nur ihm eigen ist, sondern in der Antike weit ver-
breitet sein mochte. Schon bei Justinus hatten wir den Gedanken einer
leiblichen Auferstehung kennengelernt und diskutiert. Dem stellt sich
nun für Athenagoras – basierend wohl auf der Spitzfindigkeit einiger
zeitgenössischer Kritiker der christlichen Lehre – folgendes Problem in
den Weg:
tîn g¦r t¦ sèmata tîn ¢nqrè- »Es kommen nämlich die Leiber
pwn ™kboskhqšntwn zówn, ÐpÒsa jener Tiere, welche sich mit Men-
prÕj trof¾n ¢nqrèpoij ™pit»deia, schenfleisch ernährt haben, falls
di¦ tÁj toÚtwn gastrÕj „Òntwn kaˆ sie sich zur Nahrung für Men-
to‹j tîn meteilhfÒtwn sèmasin schen eignen, selbst wieder in
˜noumšnwn, ¢n£gkhn e nai p©san menschliche Mägen und werden
t¦ mšrh tîn ¢nqrèpwn, ÐpÒsa so mit den Leibern der Essenden
trof¾ gšgonen to‹j meteilhfÒsi vereinigt; so müssen notwendig
zóoij, prÕj ›tera tîn ¢nqrèpwn solche menschliche Teile, die
metacwre‹n sèmata, tîn metaxÝ den auffressenden Tieren zur

164
Athenagoras von Athen (133-190)
toÚtoij trafšntwn zówn t¾n ™x ïn Nahrung gedient haben, in ande-
™tr£fhsan trof¾n diaporqmeuÒn- re Menschenleiber hinüberwan-
twn e„j ™ke…nouj toÝj ¢nqrèpouj ïn dern, indem die mittlerweile
™gšneto trof». [...] æj nom…zousin, hiervon ernährten Tiere das, was
¢dÚnaton t¾n ¢n£stasin, æj oÙ ihnen zur Nahrung diente, in je-
dunamšnwn tîn aÙtîn merîn ˜tš- ne Menschen hinüberleiten, de-
roij te kaˆ ˜tšroij sunanastÁnai ren Nahrung sie selbst werden.
sèmasin, ¢ll' ½toi t¦ tîn pro- [...] Hierdurch glaubt man, die
tšrwn sustÁnai m¾ dÚnasqai, me- Unmöglichkeit der Auferstehung
telhluqÒtwn tîn taàta sumplh- dartun zu können; denn bei der
roÚntwn merîn prÕj ˜tšrouj, À Auferstehung können nicht die
toÚtwn ¢podoqšntwn to‹j protšroij nämlichen Teile verschiedenen
™ndeîj ›xein t¦ tîn Østšrwn. Menschen zugewiesen werden,
sondern es müssen entweder die
Leiber der einen unvollständig
bleiben, weil integrierende Be-
standteile von ihnen in andere
Menschen hineingekommen
sind, oder wenn diese Teile ihren
früheren Inhabern zurückerstat-
tet werden, die Leiber der andern
ein Manko erleiden.«152

Das Problem ist hier offensichtlich. Wie soll Gott bei der leiblichen
Auferstehung denn wissen, wem er ein bestimmtes Materieteilchen zu
geben hat, wenn dieses zu Lebzeiten zweier Menschen jeweils Teil von
deren Körper war. Dennoch, so die Prämisse des Dogmas der leibli-
chen Auferstehung, muß ein jeder exakt seinen Körper wiedererhalten:
˜nwqšnta d p£lin ¢ll»loij t¾n »Die Teile werden wieder mit-
aÙt¾n ‡scei cèran prÕj t¾n toà einander vereinigt und bekom-
aÙtoà sèmatoj ¡rmon…an te kaˆ men ihren alten Platz, damit wie-
sÚstasin kaˆ t¾n toà nekrwqšntoj der der nämliche Leib harmo-
À kaˆ p£ntV dialuqšntoj ¢n£sta- nisch sich zusammensetze und
sin kaˆ zw»n. das Entseelte oder auch schon
ganz Verweste zu neuem Leben
auferstehe.«
153

152
De resurrectione 4, 3-4, Übers. A. Eberhard
153
De resurrectione 8, 4, 8-11, Übers. A. Eberhard

165
Athenagoras von Athen (133-190)
Im vorliegenden Fall befindet sich Gott also in einem Dilemma; er
kann es unmöglich beiden Menschen recht machen.
§ 132 Es gibt nun zwei hier zu diskutierende Auswege aus diesem Di-
lemma, von denen Athenagoras bezeichnenderweise den als einzigen
ungangbaren wählt. Der eine Ausweg liegt in einer systemtheoretischen
Betrachtung des Sachverhalts. Der menschliche Organismus bildet wie
alle anderen Organismen auch eine funktionale Einheit von ihrer Form
nach zwar spezifischen, ihrer numerischen Identität nach aber beliebi-
gen Teilen. Heutzutage im Zeitalter der Herztransplantationen ist dies
sehr leicht einsichtig. Offenbar ging aber Athenagoras davon aus, daß
jedes Element des Körpers da sein müsse, wo es ist, damit man es mit
demselben Menschen zu tun hat. So unterscheidet er – denn das Fak-
tum beispielsweise der Gewichtsveränderung war ihm natürlich auch
bekannt – zwar zwischen solchen Stoffen die wie Fett nur nebensächlich
Teil des Körpers wären und solchen, die es immer sein müssen und
werden. Aber das Bleibende findet sich eben durchaus nicht nur in der
Form des Körpers sondern auch an seinem Fleisch:
mÒnhn d paramšnein to‹j mšresin § »Nur dasjenige Fleisch bleibt bei
sunde‹n À stšgein À q£lpein pšfu- den einzelnen Teilen, die es zu
ken, t¾n ØpÕ tÁj fÚsewj ™xeileg- verbinden oder einzuhüllen oder
mšnhn kaˆ toÚtoij prospefuku‹an zu erwärmen bestimmt ist, wel-
oŒj t¾n kat¦ fÚsin sunexšplhsen ches von der Natur auserlesen ist
zw¾n kaˆ toÝj ™n tÍ zwÍ pÒnouj. und dem sich einverleibt, mit
welchem vereint es das natürliche
Leben und die in diesem Leben
stattfindenden Funktionen be-
wirkt.«
154

Es gibt also nach Athenagoras einen von Natur erlesenen spezifischen


und numerisch identischen Stoff, der zum Teil einen bestimmten Men-
schen zu werden bestimmt ist und nur ihm auf ewig gehört. Wie aber
läßt sich dann das Problem der doppelten Verwendung lösen?
Athenagoras’ Beschreibung deutet es schon an, das verzehrte Men-
schenfleisch wird eben einfach nicht assimiliert sondern sofort wieder

154
De resurrectione 7, 3, 5-8, Übers. A. Eberhard

166
Athenagoras von Athen (133-190)
unverwendet ausgeschieden und bleibt so disponibel für ihre Verwen-
dung am jüngsten Tag:
oÙd t¦ tîn ¢nqrèpwn sèmata »So werden sich auch die Men-
sugkraqe…h pot' ¨n to‹j Ðmo…oij schenleiber nie mit gleichartigen
sèmasin, oŒj ™stin e„j trof¾n Leibern einigen, da sie für diese
par¦ fÚsin, k¨n poll£kij di¦ tÁj keine naturgemäße Nahrung bil-
toÚtwn ‡V gastrÕj kat£ tina pi- den, mögen sie noch so oft infol-
krot£thn sumfor£n· ge herben Mißgeschickes durch
einen menschlichen Magen hin-
durchgehen.« 155

Aber schon hier hätte Athenagoras die Möglichkeit gehabt, einzusehen,


daß mit seinem Konzept einer naturgemäßen Nahrung (trof¾ par¦
fÚsin) etwas Allgemeines und nicht etwas Individuelles angesprochen
ist.
§ 133 Vielleicht war es aber auch nicht ein bloßer Mangel an sy-
stemtheoretischer Vorstellungskraft, sondern eine gewisse Notwendig-
keit der Sache trieb ihn zu seiner Annahme. Denn das christliche
Dogma der leiblichen Auferstehung dient vor allem auch dazu, die Ein-
zigartigkeit eines jeden Menschen herauszustellen. Wenn wir nun da-
von ausgehen, daß es eben allgemeine funktionale Zusammenhänge
sind, die den Menschen bilden und daß das individuelle Material keine
Rolle spielt, dann scheint eben diese Einzigartigkeit wieder verloren zu
gehen. Und in der Tat findet sich der Gedanke einer solchen Einzigar-
tigkeit des Einzelnen nicht bei den heidnischen Denkern, die viel näher
an einer systemtheoretischen Sichtweise des Körpers sind.
Allerdings müßte man auch hier Athenagoras entgegnen, daß diese
Einzigartigkeit unmöglich auf etwas Körperlichem beruhen könne,
sondern in jedem Falle geistiger Natur sein müsse. Nur eben muß die-
ser existentielle Geist – und hier übersteigt der Existentialismus alles
Metaphysische – noch höher stehen als der allgemeine und den einzel-
nen Menschen in der Kultur überdauernde Geist. Doch auch schon
um den Gedanken dieses existentiellen Geistes aufrecht zu erhalten, ist
jedes metaphysische Opfer recht, so daß wir Athenagoras, wenn wir

155
De resurrectione 8, 3, 7-10, Übers. A. Eberhard

167
Athenagoras von Athen (133-190)
auch über seine Ausführungen lächeln mögen, doch keinen Vorwurf
machen können.

Geist
i. Die beiden Formen des Sozialen
§ 134 Wir hatten bei Tatian die Dämonen als soziale Systeme interpre-
tiert. Wir können diese Interpretation nun bei Athenagoras fortsetzen,
der zwei Arten von Engeln unterscheidet:
æj d kaˆ ™pˆ tîn ¢nqrèpwn »Wie aber nun unter den Men-
aÙqa…reton kaˆ t¾n ¢ret¾n kaˆ t¾n schen, deren Tugend und
kak…an ™cÒntwn [...] kaˆ tÕ kat¦ Schlechtigkeit freier Willensent-
toÝj ¢ggšlouj ™n Ðmo…J kaqšsth- scheidung entspringen [...], so
ken. oƒ m n g¦r ¥lloi – aÙqa…retoi steht es auch bei den Engeln. Die
d¾ gegÒnasin ØpÕ toà qeoà – œmein- einen blieben (Gott: hat sie na-
an ™f' oŒj aÙtoÝj ™po…hsen kaˆ türlich mit freiem Willen ausge-
dištaxen Ð qeÒj, oƒ d ™nÚbrisan kaˆ stattet) bei dem, wozu Gott sie
tÍ tÁj oÙs…aj Øpost£sei kaˆ tÍ geschaffen und bestimmt hatte,
¢rcÍ oátÒj te Ð tÁj Ûlhj kaˆ tîn die andern aber wurden stolz auf
™n aÙtÍ e„dîn ¥rcwn kaˆ ›teroi ihre Natur und Herrschaft, dar-
tîn perˆ tÕ prîton toàto sterš- unter auch jener Beherrscher der
wma Materie und ihrer Erscheinungs-
formen und noch andere, deren
Bereich diese unsere Welt ist«. 156

Im Gegensatz zu Tatian unterscheidet Athenagoras zwischen guten und


schlechten ¥ggeloi. Die einen sind diejenigen, welches im Sinne Got-
tes, also des Geistigen, wirken, die anderen hingegen wirken im Sinne
der Materie. Interessant ist nun, daß Athenagoras diese Differenzierung
durchaus begründen kann und daß er deren Ursprung von Gott herzu-
leiten weiß. Beide Sorten der ¥ggšloi stammen natürlich als rein geisti-
ge Wesen von Gott. Die einen aber – hier bedient sich Athenagoras ei-
nes aus der Gnosis bekannten Gedankens – werden stolz, koppeln sich
also geistig vom Göttlichen ab und sehen sich nur noch als die Herren
jenes Reiches, das sie selbst zu beherrschen in der Lage sind. Damit

156
Legatio sive Supplicatio pro Christianis 24, 4, 1 – 5, 5, Übers. A. Eberhard

168
Athenagoras von Athen (133-190)
stehen sie nicht nur tiefer als das Geistige, wir haben auch gesehen, daß
die Form, die sie dabei einnehmen das konstitutive Element einer Na-
turform ist, ein sich als absolut fühlender Teil des Ideellen als dem
Ganzen.
Wir haben bei Tatian schon diskutiert, inwiefern man diese den
Menschen strukturell doch überragende Form eines rein geistigen We-
sens dann als ein soziales System interpretieren kann. Wenn man nun
einmal erkannt hat, daß diese strukturell höheren Formen dennoch in
sich sozusagen die Freiheit haben, sich zu erniedrigen, ihr ideelles We-
sen zu beschränken – was die weitaus schwierigere und wie erwähnt den
antiken Denkern unvorstellbare Einsicht ist – dann kann man natürlich
auch eingestehen, daß es solche sozialen Systeme gibt, die nicht perver-
tiert sind und dem Menschen helfen, sich als Geistwesen optimal zu
entfalten. Man muß also auch davon ausgehen, daß es positive und
produktive soziale Strukturen gibt, ja der Geist selbst an sich ist ja eine
solche.

ii. Das existentielle Moment des Geistes


§ 135 Wir haben bereits an mehreren Stellen gesehen, daß das christli-
che Denken vor allem eine existentielle Dimension hat, welche alles
Metaphysische überragt. Athenagoras spricht dieses existentielle Mo-
ment an mehreren Stellen an. So etwa, wenn er über den Zweck des
Menschen, den Sinn des Lebens, spricht, den er wie folgt bestimmt:
¢ll' oÙd di£ tina tîn Øp' aÙtoà »Er hat aber auch den Menschen
genomšnwn œrgwn ™po…hsen ¥nqrw- nicht um eines andern Geschöpfes
pon. oÙd n g¦r tîn lÒgJ kaˆ kr…- willen gemacht; denn kein vernünfti-
sei crwmšnwn oÜte tîn meizÒnwn ges und urteilsfähiges Wesen wurde
oÜte tîn katadeestšrwn gšgonen À oder wird ins Dasein gesetzt, um ei-
g…netai prÕj ˜tšrou cre…an, ¢ll¦ nem anderen Wesen, sei es nun ein
di¦ t¾n „d…an aÙtîn tîn genomšnwn höheres oder ein geringeres, zum
zw»n te kaˆ diamon»n. Gebrauche zu dienen, sondern um
selbsteigenes Leben zu haben, wenn
es einmal geworden ist, und selbstei-
genen Fortbestand.«157

157
De resurrectione 12, 3, 5-9, Übers. A. Eberhard

169
Athenagoras von Athen (133-190)
Der Sinn des menschlichen Daseins ist demnach einfach dieses Dasein
selbst. Hier finden wir durchaus noch ein Moment der Metaphysik,
denn auch die Metaphysik bestimmt den Geist ja als letzten Zweck al-
len Naturseins und der Zweck des Geistes eben ist nichts anderes mehr
als der Geist selbst, auf den er sich bezieht. Athenagoras jedoch fügt
dem hier etwas hinzu, was das spezifische Christliche ausmacht. Der
Mensch ist nämlich auch und gerade in seiner körperlichen Existenz
sinnhaft. Das ist für die Antike unvorstellbar, wo der Körper eben im-
mer nur seinen Zweck im Geist hat. Athenagoras hebt diese Zweckkette
hier aus existentiellen Gründen auf und sieht den Menschen als ein
Gesamtwesen, ein Wesen, das als solches noch über den Geist zu set-
zen ist:
Ð d kaˆ noàn kaˆ lÒgon dex£menÒj »Was aber Vernunft und Ver-
™stin ¥nqrwpoj, oÙ yuc¾ kaq' stand in sich aufgenommen hat,
˜aut»n· ist der ganze Mensch, nicht die
Seele für sich allein.«
158

Das Geistige selbst also ist für ihn nicht nur auf den seelisch-geistigen
Teil des Menschen zu beschränken. noàj und lÒgoj finden sich viel-
mehr im Menschen als ganzem. Das aber heißt auch, daß er hier mit
noàj und lÒgoj mehr meint, als die Metaphysik, die von diesen nur als
Geist spricht. Es kommt hier jenes christliche Mysterium ins Spiel, wo-
nach Gott selbst seinen Status als reiner Geist aufgibt und in Jesus zum
Menschen wird. Das Menschsein selbst in all seinen Dimensionen und
mit all seinen Beschränkungen gilt dem Christentum so als das Höchste
und nicht nur der reine Geist, den die platonische Metaphysik predigt.

158
De resurrectione 15, 6, 1-3, Übers. A. Eberhard

170
Irenaeos von Lyon (135-202)
Irenaeos von Lyon (135-202)
Irenaeos wurde in Smyrna geboren und wuchs als Christ heran. Er war
ein Schüler des Polykarpos, der angeblich den Apostel Johannes noch
persönlich gekannt haben soll. Im Jahre 157 wurde er von Polykarpos
nach Lyon geschickt, wo er den dortigen Bischof unterstützen sollte.
Als dieser im Jahre 177 der Christenverfolgung zum Opfer fiel, trat
Irenaeos seine Nachfolge an, bis er schließlich im Jahre 202 selbst der
Christenverfolgung zum Opfer fällt.
Sein uns teilweise im griechischen Original, teilweise in einer lateini-
schen Übersetzung, die auf ihn selbst zurückgehen mag, erhaltenes
Werk Adversus haereses haben wir bereits im dritten Band als eine be-
deutende Quelle für die Gnosis, die darin bekämpft wird, kennenge-
lernt. Es stellt dieser die christliche Auffassung entgegen. Zugleich wird
in diesem Werk – für uns gleichwohl weniger interessant – der Kanon
des Neuen Testamentes geschmiedet.

Ideen
§ 136 Hinsichtlich der Frage nach dem Wesen des Ideellen finden wir
bei Irenaeos vor allem Ausführungen zum Verhältnis von Gott und den
Ideen. Die Ideen werden dabei, wie wir das schon bei anderen christli-
chen Denkern kennengelernt haben, als lÒgoj aufgefaßt und mit der
dem körperlichen Jesus präexistenten Größe eines göttlichen Christus
gleichgesetzt. Diesen sieht Irenaeos als Gott gleichewig an:
semper autem coexistens filius »Indem aber der Sohn gleich
pater, olim et ab initio semper ewig mit dem Vater ist, offenbart
revelat patrem er immer und von Anbeginn den
Vater«.
159

Wir können also in der ideellen Struktur, die sich dann beispielsweise
auch in der Schöpfung manifestiert, Gott selbst, die Einheit der Ideen
erkennen.

159
Adversus haereses II, 30, 9, Übers. E. Klebba

171
Irenaeos von Lyon (135-202)
Nun ist aber Irenaeos’ Vorstellung davon, was diese Ideen sind,
nicht ganz unproblematisch. Er bekämpft das gnostische Denken, bei
dem die Ideen eine tragende Rolle spielten und in Gestalt vieler himm-
licher Wesen gedacht wurden. Der Kampf gegen die Gnosis bringt ihn
dazu, auch ein zentrales Moment der Ideenlehre überhaupt anzugrei-
fen:
et sine hoc autem, quonam mo- »Aber auch sonst, wie könnten
do ea quae sunt creaturae, sic die vielen verschiedenen zahllo-
varia et multa, et innumerabi- sen Dinge dieser Schöpfung Ab-
lia, corum aeonum, qui sunt in- bilder der dreißig Äonen inner-
tra pleroma triginta imagines halb des Pleroma sein, deren
esse possunt, quorum et nomina Namen wir nach ihrer Angabe im
quae sint, secundum quod di- ersten Buche mitgeteilt haben!
cunt, in eo qui est ante hunc Nicht nur die so große Mannigfal-
libro posuimus? et non tantum tigkeit der gesamten Schöpfung,
universae creaturae varieta- sondern nicht einmal den klein-
tem, sed ne quidem partis alie- sten Teil der Dinge im Himmel,
nius aut coelestium, aut su- über der Erde oder im Wasser
perterrestrium, aut aquatili- können sie in Übereinstimmung
um poterunt adaptare plero- bringen mit der kleinen Zahl ih-
matis ipsorum parvitati. quo- res Pleroma. Daß in ihrem
niam enim pleroma ipsorum Pleroma nur dreißig Äonen sind,
triginta aeones sunt, ipsi te- bezeugen sie selbst; daß man aber
stantur: quoniam autem in una in jedem Teil der Schöpfung
parte eorum quae dicta sunt, nicht bloß dreißig, sondern viele
non triginta sed multa millia tausend Arten aufzählen kann,
specierum esse annumerantes wird jedermann zugestehen.« 160

eos, ostendere omnis quicunque


confitebitur.
Irenaeos kann sich also nur schwer vorstellen, daß die Vielheit der
Schöpfung in einer endlichen Zahl von Ideen begründet liegt. Das aber
ist ein Grundgedanke des Idealismus. Natürlich sind die dreißig Äonen
des Valentinos, die er hier angreift kein ausgereiftes Beispiel, keine re-
präsentative und schlagkräftige Ideenlehre. Aber er greift diese so an,
daß er dabei das Prinzip einer Ideenlehre überhaupt in Beschuß

160
Adversus haereses II, 7, 3, Übers. E. Klebba

172
Irenaeos von Lyon (135-202)
nimmt. Aber mehr als einen Mangel an Vorstellungskraft legt er hier
argumentativ nicht an den Tag.
§ 137 Versucht man nun zu rekonstruieren, wie sich Irenaeos, der ja
als Christ immerhin in einer platonischen Tradition steht, die Ideen
vorgestellt hat, so hilft die folgende Stelle weiter:
Oportet enim vel in eo deo qui »Entweder nämlich muß unser
fecerit mundum, perseverare Denken Halt machen bei dem
sententiam, quoniam sua pote- Gotte, der die Welt gemacht hat,
state, et a semetipso accepit und annehmen, daß er aus eige-
exemplum mundi fabricationis: ner Macht und von sich selbst die
vel si motus quis ab hoc fuerit, Idee dieser Welt empfangen hat,
semper quaerendi necessitas oder man wird gezwungen sein,
erit, undu ei, qui super eum est, wenn er von irgend einem ande-
figuratio eorum quae facta ren den Anstoß empfangen hat,
sunt? immer weiter zu fragen: Woher
hat denn der, der über ihm ist,
die Idee der erschaffenen Din-
ge?« 161

Eines von Irenaeos Hauptanliegen besteht darin, gegen die Gnosis die
Einheit von Altem und Neuem Testament zu behaupten. Dabei ver-
sucht er zu zeigen, daß das für die Christen nicht nur maßgebliche son-
dern auch einzige göttliche Wesen eben der jüdische Gott des alten Te-
stamentes ist, der gleichwohl – wie oben gesehen – schon immer mit
Christus gleich ist. So ist es für Irenaeos undenkbar, daß es hinter die-
sem Schöpfergott noch einen weiteren Gott gibt. Alle Attribute, welche
die Gnostiker ihrem höchsten Gott zuschreiben, müssen dem jüdischen
Gott zugeschrieben werden.
Was Irenaeos hier versucht, kommt gleichwohl aus philosophischer
Sicht dem gleich, was die Gnostiker behaupten. Es gibt eben einen
höchsten Gott, die oberste Einheit, aus dem alle Ideen stammen.
Irenaeos scheint meines Erachtens jedoch noch weiter gehen zu wollen
und hier einen Unterschied zu markieren. Er möchte keine geschlosse-
ne, von außen erkennbare Menge von Ideen, sondern einen Gott, der
so viele Ideen zu erschaffen in der Lage ist, wie er mag. Das wäre ein

161
Adversus haereses II, 16, 1, Übers. E. Klebba

173
Irenaeos von Lyon (135-202)
Gott, der sich eben auch über logische Verhältnisse hinwegsetzen kann,
ein Gott, der nicht nur bestimmt, was logisch ist und was nicht, sondern
der dieses auch ändern kann. Trifft diese Vermutung zu, so überschrei-
tet Irenaeos hier den dünnen Grad zwischen Metaphysik und Mytholo-
gie, an dem sich das erst in ihren Anfängen begriffene christliche Den-
ken befindet. Ein solcher schlechthin willkürlicher Gott ist ein reiner
Mythos, zu dem Irenaeos Kampf gegen die rationale Gnosis im Grunde
führen muß. Gleichwohl trägt dieser Mythos auf einer religiösen Ebene
dem Umstand Rechnung, daß vielleicht zwar die Welt mittels der Ideen
verstanden werden kann, nie jedoch das existentielle Moment des
Menschen.

Natur
§ 138 Hinsichtlich der Frage nach der Materie finden wir bei Irenaeos
ein weiteres Argument gegen die Auffassung einer nicht aus dem Ide-
ellen hervorgegangen Materie. Er zeigt einen Widerspruch auf in der
Auffassung, Materie und Ideelles seien zwei strikt getrennte Bereiche,
die – wie die Gnostiker annehmen – nur durch die Boshaftigkeit eines
hinterlistigen Gottes in eine ihnen wesensfremde Beziehung gesetzt
werden:
si enim extra pleroma est ali- »Wenn nämlich außerhalb des
quid, intra hoc ipsum, quod ex- Pleroma noch etwas existiert,
tra pleroma dicunt, erit dann muß in seinem Inneren das
pleroma, et continebitur ple- Pleroma enthalten sein und das
roma ab eo quod est extra; Pleroma wird von ihm umschlos-
cum pleromate autem subau- sen. Unter dem Pleroma aber
ditur et primus deus; aut rur- verstehen sie den ersten Gott.
sus in immensum distare et se- Oder das Pleroma und das An-
parata esse ab invicem, id est, dere sind von einander in un-
et pleroma, et quod est extra endlicher Entfernung getrennt.
illud. si autem hoc dixerint, Dann aber muß noch ein Drittes
tertium quid erit, quod in im- existieren, welches das Pleroma
mensum separat pleroma, et und das Andere in unendlicher
hoc quod est extra illud; et Entfernung auseinanderhält. Die-
hoc tertium circumferit et ses Dritte wird dann die beiden

174
Irenaeos von Lyon (135-202)
continebit utraque, et erit anderen umgrenzen und umfas-
majus tertium hoc, et plero- sen und muß also größer sein als
ma, et eo quod est extra il- jene, da es die beiden wie in ei-
lud, sicut in suo sinu continens nem Schoße enthält, und dann
utraque: et in infinitum de his geht das mit dem Umfassen und
quae continentur, et de his Umfaßtwerden so ins Unendliche
quae continent, incidet sermo. weiter.«
162

Wenn also das Ideelle nicht die Grundlage des Materiellen sein soll,
dann gibt es nach Irenaeos nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist das
Materielle dann die Grundlage des Ideellen, das Ideelle also im Mate-
riellen enthalten, von diesem umfaßt und inhaltlich bestimmt. Diesen
Reduktionsmus widerlegt Irenaeos nicht einmal; er setzt dessen Falsch-
heit voraus. Wir haben bereits bei einigen Denkern eine Reihe von Ar-
gumenten kennengelernt, die gegen diesen Reduktionismus sprechen
und können uns hier so bedenkenlos seiner Sichtweise anschließen.
Zum anderen weist er jedoch auf eine Alternative hin, die wir noch
nicht diskutiert haben. Diese liegt in der Möglichkeit, daß es ein Drittes
gibt, welches Ideelles und Materie auseinanderhält. Dieses Dritte müßte
dann aber in der Tat – wie er richtig festhält – beide überragen und in
sich enthalten, denn sonst könnte es keine Trennung geben. Trennt
man nun aber dieses Dritte wieder von den beiden, um diese Annahme
zu vermeiden, so muß man etwas Viertes annehmen, welches das Dritte
und die beiden ersten enthält und trennt. Wir geraten in einen infiniten
ontologischen Regreß.

Geist
i. Das Wesen des Geistes
§ 139 Zum Wesen des Geistes gehört nach Irenaeos dessen Bindung
an den Körper, welche aus dem menschlichen Geist, der an sich dem
göttlichen wesensgleich wäre, eine abgeschwächte Form desselben
macht:

162
Adversus haereses II, 1, 3, Übers. E. Klebba

175
Irenaeos von Lyon (135-202)

velocitate enim sensus homi- »Kann doch schon der Schnellig-


num propter spirituale eius keit des menschlichen Verstan-
non sufficit lingua deservire, des die Zunge nicht schnell genug
quippe carnalis existens: unde folgen, weil sie fleischlich ist, so
intus suffocatur verbum no- daß innerlich das Wort gehemmt
strum, et profertur non de wird und nicht auf einmal her-
semel, sicut conceptum est a vorgebracht wird, wie es vom
sensu; sed per partes, secund- Verstande erfaßt worden ist, son-
um quod lingua subministrare dern nur stückweise, wie es eben
praevalet. die Zunge zu schaffen vermag.
deus autem totus existens Da aber Gott ganz Verstand
mens, et totus existens logos, und ganz Wort ist, so denkt er,
quod cogitqt, hoc et loquitur; was er spricht, und spricht, was er
et quod loquitur, hoc et cogi- denkt.«163

tat.
Jedes Wort und jeder Denkakt ist im Menschen in die Zeit auseinan-
dergelegt. Bereits ein geäußertes Wort braucht, um ausgesprochen zu
werden, ungleich viel länger, als um gedacht zu werden. Bei Gott hinge-
gen geschieht das alles in einem Akt, Prämisse und Konklusion fallen
bei einem Schluß zeitlich immer zusammen, während der Mensch erst
de facto schließen muß, um zur Konklusion zu kommen.
Nun haben wir es aber nicht nur mit zweien, sondern mit drei Ele-
menten zu tun. Es gibt nämlich neben dem göttlichen Geist und dem
individuellen menschlichen Geist, von dem Irenaeos hier spricht, noch
den kollektiven menschlichen Geist. Von letzterem aber haben wir ge-
sagt, er sei der Geist im eigentlichen Sinne, weil in ihm alle logischen
Verbindungen als bereits durchdachte festliegen. So kann beispielswei-
se ein einmal getätigter Schluß in einem Buch festgehalten werden und
ein Mensch, der dies liest und die Prämissen desselben akzeptiert, er-
kennt, daß die Konklusion bereits erkannt worden ist und vielleicht be-
reits ihre Wirkung in der Welt zeigt. Dennoch aber trifft auch für die-
sen Geist zu, daß eine solche Konklusion erst einmal gemacht werden
muß. Die Geistesgeschichte ist voll von Beispielen, wo dies über Jahr-
hunderte verschleppt worden ist. Das zeitliche Moment spielt so für

163
Adversus haereses II, 28, 4-5, Übers. E. Klebba

176
Irenaeos von Lyon (135-202)
den kollektiven Geist dann keine Rolle, wenn ein Gedanke einmal da
ist, wenn er einmal gedacht worden ist, aber bis dieses Faktum geschaf-
fen worden ist, bliebt auch in ihm logisch unmittelbar Zusammengehö-
rendes getrennt. Das Wesen des Geistes bleibt so seine Gebundenheit
an das zeitliche Auseinander der Gedanken. Welche Form er als Geist
auch immer haben mag, er ist das in der Natur realisierte Ideelle, das
immer auch im Fleisch oder allgemeiner in der Materie ist.

ii. Die Sprache


§ 140 Irenaeos gibt uns den folgenden Überblick über die verschiede-
nen Momente des Geistes, der einem Stufengang folgend in der geäu-
ßerten Sprache kulminiert:
prima enim motio eius de ali- »Seine erste Tätigkeit nämlich
quo, ennoia apellatur; perse- wird Ennoia, Vorstellung, ge-
verans antem et aucta, et uni- nannt; dauert sie aber an und ge-
versam apprehendens animam, winnt Kraft und ergreift die ganze
enthymesis vocatur. Ilae au- Seele, so nennt man sie Überle-
tem enthymesis multum tem- gung. Verharrt die Überlegung
poris faciens in eodem, et ve- lange Zeit bei demselben Gegen-
lut probata, sensatio nomina- stande, so nennt man das Nach-
tur. haec autem sensatio in denken, und dieses Nachdenken,
multum dilatata, consilium weiter ausgedehnt, wird zu einem
facta est; augmentum autem Plane. Dieser Plan wird weiter
et motus in dilatatus consilii, hin- und herüberlegt und führt zu
cogitationis examinatio: quae einem Entschlusse. Dieser Ent-
etiam in mente perseverans, schluß, noch immer im Geiste
verbum rectissime appellabi- verbleibend, wird in Worte ge-
tur; ex quo emissibilis emitti- kleidet, und so kann denn end-
tur verbum. lich das Wort seinen Ausgang
nehmen. « 164

Der Ausgangspunkt ist die Vorstellung (œnnoia), das also noch voll-
kommen vom Sinnlichen abhängende Denken. Diese Vorstellung geht
nach Irenaeos nun dadurch in einen anderen Zustand über, daß sie zu
einer Art beherrschenden Vorstellung wird, einer Vorstellung, die ge-
wissermaßen von der Seele Besitz ergreift. Sie wird so zu einem Ge-

164
Adversus haereses II, 13, 2, Übers. E. Klebba

177
Irenaeos von Lyon (135-202)
danken (™nqÚmesij). Das Bildhafte verschwindet ganz und die Vorstel-
lung wird als eine Art Vorbegriff aufgefaßt. Die nächste Stufe wird nun
dadurch erreicht, daß ein und derselbe Gedanken einfach eine Zeit
lang aufrecht erhalten wird. Dies bedarf des Einsatzes des Verstandes
(sensatio), der nun versucht, den Inhalt zu begreifen. Durch Ausdeh-
nung soll nun daraus ein Plan (consilium) entstehen. Die Frage ist, wie
wir diesen Plan hier auffassen. Zum einen steckt darin der Begriff des
Ratschlußes, auf den die lateinische Vokabel hinweist. Zum anderen
jedoch ist ein Plan auch eine Verkettung von Elementen, die wie auf
einer Karte miteinander verbunden sind. Der Begriff wird geortet in ei-
nem System von Begriffen. Ich denke in logischer Hinsicht ist diese
letztere Interpretation hier sehr viel passender. Der Plan führt alsdann
zu einem Entschluß (cogitatio), den ich entsprechend als das Zurück-
kommen des Geistes aus dem Begriffssystem auf den einen in ihm ge-
orteten Begriff interpretieren würde. Dieser Begriff hat dann erst einen
wirkliche Bedeutung und kann folglich mit einem Wort (verbum) asso-
ziiert werden.
§ 141 Wir haben also eine doppelte Bewegung, die zur Begriffsbe-
stimmung führt. Die erste verstandesmäßige ist der Versuch die Vor-
stellung eines Inhaltes im sich beständig bewegenden Geist dadurch
aufrecht zu erhalten, daß der Verstand immer wieder auf diesen Inhalt
zurückkommt und ihn so hält. Dieses Oszillieren erzeugt eine logische
Karte, auf deren Basis schließlich eine vernunftmäßige Erfassung des
Begriffs geschehen kann. Die Vernunft überschaut – im Gegensatz zum
auf einen Aspekt konzentrierten Verstand – das Ganze und kann den
Begriff so als Teil des Ganzen bestimmen und erfaßt seine Bedeutung.

178
Irenaeos von Lyon (135-202)

œnnoia
Erweiterung
des Bereichs
™nqÚmesij
Oszillieren zwi-
schen Inhalten
sensatio
Orten eines
Inhalts
consilium
Bestimmung
des Inhalts
cogitatio
Erfassen der
Bedeutung
verbum

Da sich diese Überlegungen bei Irenaeos nur auf wenige Zeilen be-
schränken, bleibt natürlich fraglich, inwieweit man ihm zurecht eine
solche strukturalistische Sprachauffassung zuschreiben kann – womit,
bedenkt man den Ort des Entstehens des Textes, der Strukturalismus
bereits in der Antike in Frankreich beheimatet gewesen wäre. Allein
schon der für einen antiken Denker sehr überraschende Abschluß sei-
nes Stufengangs mit dem Wort mag allein auf die Assoziation dieses
Begriffs mit der Christusfigur zurückzuführen sein. Aber auch darin
würde sich dann nur zeigen, daß sich hier hinter dem Rücken des Den-
kers die Logik der Sache durchsetzt, denn die Christusfigur oder besser
deren Vorgestalt wurde ja Philon nur deshalb als lÒgoj aufgefaßt, um
das platonisch-idealistische Denken mit religiösen Vorannahmen kom-
patibel zu machen.

iii. Die Rolle des Sozialen


§ 142 Irenaeos unterscheidet zwei Zustände des Menschen, einen vor-
christlichen, der durch Gesetze, durch feste Zustände charakterisiert ist
und einen nachchristlichen, in dem die Freiheit ins Spiel kommt:
etenim lex, quippe servis posi- »Das Gesetz war nämlich für
ta, per ea quae foris era,nt Knechte gegeben; durch seine

179
Irenaeos von Lyon (135-202)
corporalia, animam erudiebat, äußerlichen, körperlichen Vor-
velut per vinculum attrahens schriften unterwies es die Seele,
cam ad obedientiam praecep- indem es wie durch ein Band
torum, uti disceret homo ser- heranziehen wollte zur Beobach-
vire deo: verbum autem liber- tung der Gebote, damit der
ans animam, et per ipsam cor- Mensch lernen sollte, Gott zu
pus voluntarie emundari do- gehorchen. Das Wort aber be-
cuit; quo facto, necesse fuit freite die Seele und lehrte, wie
auferri quidem vincula servi- sich der Körper durch sie freiwil-
tutis, quibus iam homo assue- lig reinige. Demgemäß war es nö-
verat, et sine vinculis sequi tig, die Bande wegzunehmen, an
deum. die der Mensch sich schon ge-
wöhnt hatte, und ungefesselt Gott
zu folgen.«
165

In der vorchristlichen Phase ist es das Gesetz, welches den Menschen


erst zum Geiste macht; er kann das noch nicht allein. In der nach-
christlichen Phase scheint er dann aus sich heraus Geist sein zu kön-
nen. Wir können dasjenige, was hier als Gesetz bezeichnet wird, durch-
aus wörtlich verstehen. Es ist die Ebene des Sozialen, die den Men-
schen erst zum Geist macht. Worin aber besteht der große Unterschied
zwischen der vor- und nachchristlichen Zeit? Auch wenn Irenaeos dies
sicherlich historisch meinte, so können wir ihm doch nicht ganz darin
folgen. Es ist meines Erachtens mehr der Blick auf den Menschen, der
sich durch das Christentum verändert hat. Vor Christus sah man den
Menschen als ein Wesen an, welches ganz im Sozialen aufgeht und so
ohne großen Verlust an eigentlich Menschlichem von außen durch das
Gesetz bestimmt werden kann. Das Christentum jedoch macht eine
Sichtweise stark, wo die persönliche Einstellung des Menschen ent-
scheidend wird.
§ 143 Was heißt das nun für den Geist? Zunächst bleibt dieser in
beiden Fällen derselbe, eine logische Struktur, die von einem Men-
schen verstanden werden kann. Im ersten Fall aber ist es die logische
Struktur selbst, die über dem Menschen als Wesen steht. Sokrates
bringt dies darin zum Ausdruck, indem er sich weigert, sich dieser
Struktur zu entziehen, auch wenn sie ihn wieder seine moralische

165
Adversus haereses IV, 13, 2, Übers. E. Klebba

180
Irenaeos von Lyon (135-202)
Rechtsauffassung zum Tode verurteilt. Im zweiten Fall jedoch ist es der
Mensch selbst, der höher steht. Erst dies macht es möglich – wir hatten
es bei Tatian angesprochen –, daß dieses Zwischenreich des Geistes
zwischen dem Menschen und dem Ideellen als etwas angesehen wer-
den kann, das mißglücken kann und so aus dem Geistigen etwas Ungei-
stiges macht. Irenaeos sieht darin die Ursache für den Abfall des Teu-
fels von Gott:
”Ektote g¦r ¢post£thj Ð ¥ggeloj »Seitdem nämlich er das Ge-
oátoj kaˆ ™cqrÒj, ¢f' Óte ™z»lwse schöpf Gottes beneidete, seitdem
tÕ pl£sma toà Qeoà kaˆ ™cqropoi- ist sein Engel abtrünnig geworden
Ásai aÙtÕn prÕj tÕn QeÕn ™pe- und sein Feind, und schickte sich
ce…rhse. an, auch dieses Gott zum Feinde
zu machen.« 166

Der abfallende ¥ggeloj ist niedrig auf den Menschen, eben weil dieser
als freies Wesen, als ein Wesen sich das gegenüber dem Ideellen selbst
als die entscheidende Größe ansieht, mit Gott auf einer Stufe steht, weil
er als Einzelner einzigartig ist. Eine soziale Struktur kann dies nie errei-
chen. Indem der Mensch sich aber als dieses besondere Wesen sieht,
kann er seine Besonderheit auch verlieren. Er kann in eine soziale
Struktur geraten, in der diese Besonderheit untergeht. So ist die Ge-
fahr, die in denjenigen sozialen Strukturen liegt, die den Menschen von
sich und seiner Freiheit entfremden, aber erst dadurch entstanden, daß
der Mensch einen neuen Blick auf sich erhält.
Für den Geist selbst, aus metaphysischer Sicht betrachtet, ändert
sich hier nichts. Der Geist bleibt eben eine abstrakte Struktur, die nicht
auf einen Einzelnen beschränkt werden kann. Es ist lediglich der
Mensch, der in einem Fall erkennen kann, daß das Geistige für ihn
nicht mehr über dem Menschlichen steht und der sich so einerseits der
Gefahr ausgesetzt sieht, von fadenscheinigen sozialen Strukturen in sei-
nem Menschsein überformt zu werden, andererseits aber sich selbst
gewinnt.

166
Adversus haereses II, 40, 3, Übers. E. Klebba

181
Irenaeos von Lyon (135-202)
iv. Die Kritik der Gnosis als sozialer Struktur
§ 144 Daß nun eine solche soziale Struktur durchaus einen Einfluß auf
die Entwicklung des Geistes haben kann, zeigt Irenaeos in seiner Kritik
der Gnosis. Neben einer metaphysischen Kritik an den mythischen
Annahmen der Gnostiker findet sich bei ihm auch eine Kritik des gno-
stischen Elitedenkens, dem er eine dezidiert christliche Auffassung ent-
gegenstellt:
¢ll' ésper Ð ¼lioj, tÕ kt…sma toà »So wie Gottes Sonne in der gan-
Qeoà, ™n ÓlJ tù kÒsmJ eŒj kaˆ Ð zen Welt eine und dieselbe ist, so
aÙtÕj, oÛtw kaˆ tÕ k»rugma tÁj dringt auch die Botschaft der
¢lhqe…aj pantacÍ fa…nei, kaˆ fw- Wahrheit überall hin und er-
t…zei p£ntaj ¢nqrèpouj toÝj bou- leuchtet alle Menschen, die zur
lomšnouj e„j ™p…gnwsin ¢lhqe…aj Erkenntnis der Wahrheit kom-
™lqe‹n. Kaˆ oÜte Ð p£nu dunatÕj ™n men wollen. Der größte Redner
lÒgJ tîn ™n ta‹j ™kklhs…aij pro- unter den Vorstehern der Kirche
estètwn, ›tera toÚtwn ™re‹· oÙ- kann nichts anders verkünden,
deˆj g¦r Øp r tÕn did£skalon· oÜte denn niemand geht über den
Ð ¢sqen¾j ™n tù lÒgJ ™lattèsei Meister; und auch der Schwach-
t¾n par£dosin. Mi©j g¦r kaˆ tÁj begabte wird nichts von der
aÙtÁj p…stewj oÜshj, oÜte Ð polÝ Überlieferung weglassen. Es ist
perˆ aÙtÁj dun£menoj e„pe‹n ™p- nur ein und derselbe Glaube, ihn
leÒnasen, oÜte Ð tÕ Ñl…gon, ºlat- kann nicht vermehren, wer viel
tÒnhse. versteht zu reden, nicht vermin-
dern, wer wenig spricht.«
167

Im Gegensatz zu elitären Gnosis, die eine Rettung – also ein Werden


zum Geist – nur für eine kleine Minderheit von Menschen vorsieht, will
das Christentum alle zum Geist werden lassen, auch wenn manch einer
weniger dazu begabt ist. Diese sehr noble Haltung hat eine weitreichen-
de Konsequenz. Denn meines Erachtens liegt es an ihr, daß die katholi-
sche Kirche heute noch existiert, die Gnosis sich jedoch zersplittert und
aufgelöst hat – auch wenn es immer wieder Bewegungen gibt, denen
man einen gnostischen Geist zuschreiben muß. Jeder einzelne Gnosti-
ker kämpft um seinen individuellen Geist, was auf der sozialen Ebene,
auf der sich dieser Geist eigentlich dann erst entfalten kann, schnell da-
zu führt, daß eine Vielheit divergierender metaphysischer Systeme ent-

167
Adversus haereses I, 10, 2; gr. 3, 1, 12-20, Übers. E. Klebba

182
Irenaeos von Lyon (135-202)
steht. Das mag eine Zeitlang bereichernd für den Geist sein, zum Auf-
kommen neuer Ideen, zum Auflösen überkommener Widersprüche
führen, langfristig blockiert es jedoch die Entwicklung des Geistes, denn
der entwickelt jeweils immer wieder das Ganze neu und bleibt so an der
Oberfläche. Anders sieht es im christlichen Denken aus. Dieses ver-
steht sich, so wie es Irenaeos uns hier präsentiert, als ein einheitliches
System, zu dem jeder etwas beizutragen hat. Auf der sozialen Ebene
führt das dazu, daß nicht jeder Denker neu ansetzen muß, sondern daß
er die Früchte seiner Vordenker voll und ganz ernten kann. Auch wenn
auf diese Weise Widersprüche lange Zeit mitgeschleppt werden, ver-
traut man auf die innere Logik des Denkens, so ist klar, daß diese frü-
her oder später aufgelöst werden.
Natürlich setzt diese christliche Denkhaltung eine ganz andere indi-
viduelle Einstellung des Denkers voraus. Er ist nicht mehr selbst der
Geist, sondern der Geist ist so immer schon eine kollektive Größe, die
™kklhs…a, die Versammlung aller Denker. Damit ist eine zentrale Ei-
genschaft des Geistes, nämlich ihrer Sozialität, auch in der Organisation
des Denkens Rechnung getragen. Zugleich läßt dies in existentieller
Hinsicht den einzelnen Denker wissen, daß er nicht auf dem metaphy-
sischen Weg seine Besonderheit als Mensch erfassen können wird. Die
typisch christliche Demut gegenüber der Vernunft muß so keineswegs
als eine Selbstaufgabe verstanden werden.
Interessant ist schließlich auch der Gedanke, daß der Glaube sich
nicht vermehren läßt. Dies ist eine zutiefst existentielle Einsicht, die wir
in neuerer Zeit bei Kierkegaard wiederfinden. Mehr als der Glaube,
mehr als die existentielle Einsicht in die Besonderheit des Menschen
als einem Einzelnen kann man nicht haben. Die Metaphysik, die den
Menschen verallgemeinert, führt darüber nicht hinaus, sondern verliert
vielmehr den Bezug zum Einzelnen.
§ 145 Diese Demut gegenüber dem Geist wird durch das von uns
bereits bei Irenaeos’ Vordenkern diskutierte christliche Menschenbild
ermöglicht, das dem gnostischen entgegensteht:
anima autem et spiritus pars »Seele und Geist können wohl
hominis esse possunt, homo au- ein Teil des Menschen sein, aber
tem nequaquam: perfectus au- nie der Mensch. Der vollkom-

183
Irenaeos von Lyon (135-202)
tem homo, commistio et aduni- mene Mensch ist die innige Ver-
tio est animae assumentis spi- einigung der Seele, die den Geist
ritum patris, et admista ei des Vaters aufnimmt, mit dem
carni, quae est plasmata se- Fleische, das nach dem Ebenbil-
cundum imaginem dei. de Gottes geschaffen ist.«168

Nicht nur der Geist des Menschen stammt – wie bei den Gnostikern –
von Gott, sondern auch sein Körper. Auch dieser ist Teil der von Gott
geschaffenen und damit Gottes Formen in sich tragenden Natur. Die
Vollkommenheit aus der christlichen Sicht ist somit eine Ganzheit, die
nicht nur das Geistig-Metaphysische mit einschließt, sondern auch die
Faktizität des Menschen, in der sein existentielles Selbstempfinden be-
gründet liegt.
Gleichwohl wird auch von Irenaeos dem Geiste eine klare Vorrang-
stellung gegenüber dem Fleisch eingeräumt:
ubi autem spiritus patris, ibi »Wo aber der Geist des Vaters,
homo vivens, sanguis rationalis da ist der Mensch lebendig, das
ad ultionem a deo custoditus, Blut vernünftig, dessen Rache
caro a spiritu possessa, oblita Gott besorgt, das Fleisch vom
quidem sui, qualitatem autem Geiste in Besitz genommen, so
spiritus assumens, conformis daß es seiner vergißt und die Ei-
facta verbo dei. genschaft des Geistes annimmt,
da es gleichförmig dem Worte
Gottes geworden ist.«
169

Durch den Geist werden also nach Irenaeos Fleisch und Blut vernünf-
tig. Sie erhalten eine Struktur, die sie in den Dienst des Geistes stellt.
Der Unterschied jedoch zur gnostischen Auffassung ist hier, daß der
Körper nicht als unwürdig aufgegeben wird, sondern daß er bloß unter-
geordnet wird. Die Aufgabe ist eine doppelseitige. Der Körper muß die
Struktur des Geistes annehmen, für den Geist arbeiten, aber der Geist
darf sich auch nicht vollkommen vom Körper lösen, sondern er muß
seine geistigen Formen in diesen einprägen.

168
Adversus haereses V, 6, 1, Übers. E. Klebba
169
Adversus haereses V, 9, 3, Übers. E. Klebba

184
Numenios von Apameia (um 175)
Numenios von Apameia (um 175)
Von Numenios’ Leben wissen wir so gut wie nichts. Bekannt ist einzig,
daß er aus Apameia in Syrien stammt und gegen Ende des zweiten
Jahrhunderts gelebt haben soll. Er gilt als Neupythagoräer und als ein
Vorläufer des Neuplatonismus. Seine Gedanken sind uns vor allem von
Eusebios überliefert, der aus seinen Büchern über das Gute (Perˆ
t¢gaqoà) zitiert.

Ideen
i. Das Prinzip des Guten als prîtoj qeÒj
§ 146 Als Platoniker beginnt auch Numenios Denken mit dem Prinzip
des Einen und Guten, das weder beschrieben noch verstanden werden
kann. Er beschreibt die Unzugänglichkeit dieser Wesenheit wie folgt:
œnqa m»te tij ¥nqrwpoj m»te ti »Es gibt dort weder irgendeinen
zùon ›teron mhd sîma mšga mhd Menschen, noch irgendein Le-
smikrÒn, ¢ll£ tij ¥fatoj kaˆ ¢di- bewesen, noch einen Körper,
»ghtoj ¢tecnîj ™rhm…a qespšsioj, groß oder klein, sondern nur ei-
œnqa toà ¢gaqoà ½qh diatriba… te nen nicht benennbaren und
kaˆ ¢gla ai, aÙtÕ d ™n e„r»nV, ™n durch keine Kunst beschreibba-
eÙmene…v, tÕ ½remon, tÕ ¹gemonikÕn ren göttlichen Frieden. Dort sind
†lew ™pocoÚmenon ™pˆ tÍ oÙs…v. der eigentlichen Aufenthalt und
die Herrlichkeit des Guten, wel-
che selbst in Frieden und Huld,
in ruhiger Herrschaft sind, die
über dem Wesen gütig vor sich
geht.« 170

Interessant an dieser fast literarischen Beschreibung des Prinzips des


Guten, das wir – gestützt auf Platon – getrost mit dem Prinzip des Einen
gleichsetzen können, ist vor allem die Abgrenzung desselben von der
oÙs…a, dem Wesen. Dieses Gute müssen wir uns genau so denken, wie
Platon das Eine im Parmenides beschreibt, als ein Prinzip, das jenseits
der Ideen angesiedelt ist und durch diese nicht zu erfassen ist.

170
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 22, 1, 7 – 2, 1

185
Numenios von Apameia (um 175)
§ 147 Dieses Eine, welches Numenios auch als obersten Gott faßt,
schafft auch nichts; es steht einfach nur über den Dingen:
Kaˆ g¦r oÜte dhmiourge‹n ™sti »Denn für diesen ersten ist es
creën tÕn prîton kaˆ toà dhmiour- nicht nötig, daß er schafft und
goàntoj d qeoà cr¾ e nai nom…zes- man sollte den ersten Gott den
qai patšra tÕn prîton qeÒn. Vater des schaffenden Gottes
nennen.« 171

Neben diesem Prinzip des Einen und Guten, das hier als erster Gott,
als prîtoj qeÒj bezeichnet wird, bringt Numenios hier einen dhmiourgÒj
ins Spiel. Dieser dhmiourgÒj sei der Schöpfergott, während der prîtoj
qeÒj sich mit derartigen Dingen nicht abgeben muß. Er nimmt lediglich
die ehrenhafte Rolle als Vater des dhmiourgÒj ein. Allerdings gibt uns
diese Darstellung keinerlei Auskunft darüber, wie wir die Rollen der
beiden Götter denn zu verstehen haben.
Ein interessanter Aspekt dieses ersten Gottes ist eine Gestalt, in wel-
cher Numenios ihn offensichtlich wiedererkennt, nämlich in der Gestalt
des jüdischen Gottes:
Ð LoÚkanoj ¢d»lou qeoà tÕn ™n `Ie- »Lukanos sagt, daß der Tempel
rosolÚmoij naÕn e nai lšgei, Ð d in Jerusalem einem unbekannten
Noum»nioj ¢koinènhton aÙtÕn kaˆ Gott [geweiht] sei, aber Nume-
patšra p£ntwn tîn qeîn e nai nios sagt, daß dieser nicht zu be-
lšgei schreiben und der Vater aller
Götter sei«. 172

Wir finden hier also einen Versuch, das Judentum in den Platonismus
aufzunehmen. Von unserer Diskussion des Philon im dritten Band wis-
sen wir bereits, daß dieser Versuch von der anderen Seite her, zumin-
dest von der Seite des hellenisierten Judentums aus bereits Jahrhunder-
te vorher unternommen worden war. Daher ist es kein Wunder, wenn
später dann sogar die Platoniker in diesem immer philosophischer ge-
wordenen göttlichen Wesen ihr eigenes erstes Prinzip wiedererkennen.

171
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 18, 6, 2 – 7, 1
172
Lydos, De mensibus IV, 53, 13-16

186
Numenios von Apameia (um 175)
ii. Das ontologische System
§ 148 Zur Frage nach der Rolle des dhmiourgÒj finden wir eine Stelle,
die uns das ontologische System des Numenios etwas detaillierter und
vor allem im Zusammenhang vorstellt. Hier finden wir eine Aufteilung
der Dinge in vier Prinzipien, Gott, den dhmiourgÒj, die Ideen und die
Welt:
E„ d' œsti m n nohtÕn ¹ oÙs…a kaˆ ¹ »Wenn aber das Wesen und die
„dša, taÚthj d' æmolog»qh pres- Idee geistig sind und überein-
bÚteron kaˆ a‡tion e nai Ð noàj, stimmend gesagt worden ist, daß
aÙtÕj oátoj mÒnoj eÛrhtai ín tÕ der Geist älter und Ursache sei,
¢gaqÒn. kaˆ g¦r e„ Ð m n dhmiour- dann wird er als einziges Gutes
gÕj qeÒj ™sti genšsewj, ¢rke‹ tÕ gefunden werden. Denn auch
¢gaqÕn oÙs…aj e nai ¢rc». ¢n£- wenn zwar Gott der Schöpfer des
logon d toÚtJ m n Ð dhmiourgÕj Anfangs ist, so reicht es aus, daß
qeÒj, ín aÙtoà mimht»j, tÍ d das Gute der Anfang des Wesens
oÙs…v ¹ gšnesij, <¿> e„kën aÙtÁj sei. In gleichem Verhältnis zu
™sti kaˆ m…mhma. e‡per d Ð diesem [dem Guten] steht Gott
dhmiourgÕj Ð tÁj genšseèj ™stin der Schöpfer, der es nachahmt,
¢gaqÒj, Ã pou œstai kaˆ Ð tÁj wie das Wesen zur Entstehung,
oÙs…aj dhmiourgÕj aÙto£gaqon, welche ein Abbild und eine
sÚmfuton tÍ oÙs…v. Ð g¦r deÚteroj Nachahmung desselben ist. Denn
dittÕj ín aÙtopoie‹ t»n te „dšan der Schöpfer des Entstandenen
˜autoà kaˆ tÕn kÒsmon, dhmiourgÕj ist gut und gewiß wird auch der
ên, œpeita qewrhtikÕj Ólwj. sul- Schöpfer des Wesens aus sich
lelogismšnwn d' ¹mîn ÑnÒmata selbst heraus gut sein, zusam-
tess£rwn pragm£twn tšssara mengewachsen mit dem Wesen.
œstw taàta· Ð m n prîtoj qeÕj Denn der zweite, der zwiefältig
aÙto£gaqon· Ð d toÚtou mimht¾j ist, macht selbst die Idee seiner
dhmiourgÕj ¢gaqÒj· ¹ d' oÙs…a m…a selbst und die Welt als deren
m n ¹ toà prètou, ˜tšra d ¹ toà Schöpfer, alsdann widmet er sich
deutšrou· Âj m…mhma Ð kalÕj kÒs- der Anschauung des Ganzen.
moj, kekallwpismšnoj metous…v Wir haben nun vier Namen für
toà kaloà. vier Dinge erschlossen, welche
die folgenden sind: der erste
Gott, der aus sich selbst gut ist,
der diesen nachahmende gute
Schöpfer, das Wesen als eine
Form des ersten und eine andere
des zweiten und dessen Abbild,

187
Numenios von Apameia (um 175)
die schöne Welt, geschmückt
durch die Teilhabe am Schö-
nen.« 173

Die oberste Wesenheit in Numenios’ Ontologie ist der bereits disku-


tierte prîtoj qeÒj aÙto£gaqon, der aus sich selbst heraus gute erste Gott.
Numenios verbindet hier also dessen Gottheit mit dem Umstand, daß
er das Gute selbst ist. Soweit ist alles noch übersichtlich, aber nunmehr
wird es ungleich komplexer.
Die zweite Wesenheit ist der ebenfalls vorher bereits angesprochene
dhmiourgÒj, über dessen Rolle wir hier nun aufgeklärt werden. Von ihm
erfahren wir nämlich dreierlei. Erstens ahmt er das Gute nach, ist ein
Abbild des prîtoj qeÒj. Zweitens schafft er die Idee seiner selbst (aÙto-
poie‹ t»n „dšan ˜autoà). Er steht also keinesfalls unterhalb des Reichs der
Ideen, sondern ist selbst Erzeuger mindestens einer Idee und aber auch
nur dieser. Diese aÙtopo…hsij ist nichts anderes, als was wir als die Re-
flexivität der Ideen bezeichnen. Der dhmiourgÒj ist also eine Idee und
zwar eine spezielle Idee. Die Spezialität dieser Idee ist drittens die Her-
vorbringung der Welt als Abbild der anderen Ideen. Darin ahmt der
dhmiourgÒj zugleich das Gute nach, denn ebenso wie das Gute den Ide-
en voransteht, steht er der Welt als deren Schöpfer voran.
Die dritte Wesenheit schließlich sind die Ideen, die Numenios zu-
sammenfassend als noàj bezeichnet, der eben alles enthält, was Wesen
(oÙs…a) und „dša ist. Diese dritte Wesenheit enthält somit unserer Inter-
pretation zufolge auch den dhmiourgÒj als spezielle Idee. Von ihm er-
zeugt und dem noàj nachgebildet ist schließlich die vierte Wesenheit,
der kÒsmoj, dessen Schönheit ganz und gar an der Schönheit der Ideen
hängt.
§ 149 Interessant dabei ist, daß sich diese Ontologie sowohl mytho-
logisch als auch metaphysisch lesen läßt. Den Elementen prîtoj qeÒj,
dhmiourgÒj und kÒsmoj als mythologischen Größen sind auf der anderen
Seite das Eine, der noàj und der kÒsmoj als rein metaphysisch auffaßba-
re Größen als Analogie zur Seite gestellt. Man würde also in der Inter-
pretation hier komplett ohne Mythos auskommen und könnte die gan-

173
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 22, 3, 2 – 5, 5

188
Numenios von Apameia (um 175)
ze Ontologie rein metaphysisch verstehen. Numenios liefert uns also
nicht bloß eine Metaphorik des Ideellen, sondern er löst diese Meta-
phorik auch selbst auf.

prîtoj qeÕj

noàj
dhmiourgÒj

kÒsmoj

Dieses Modell mit einem prîtoj qeÒj als höchstem Wesen und einem
davon unterschiedenen dhmiourgÒj als Weltschöpfer erinnert sehr an
die damals zeitgenössische Gnosis, deren Ansätze wir schon kennenge-
lernt haben. Es unterscheidet sich aber insofern von der Gnosis, als bei
Numenios nicht davon die Rede ist, daß der dhmiourgÒj ein schlechtes
Wesen sei. Im Gegenteil ist er ganz im Sinne Platons darum bemüht,
die Perfektion der Ideen so weit möglich in die Schöpfung zu tragen,
sie nachzubilden.

iii. Die Ideen


§ 150 Eine wirkliche Ideenlehre, so wie wir sie bei Platon in Ansätzen
gefunden haben, liegt uns in den überlieferten Fragmenten des Nume-
nios nicht vor. Wir finden allerdings einige Ansätze zur Beschreibung
des Reiches der Ideen. Zunächst einmal finden wir eine Einordnung
des Begriffs »Sein« in das Reich der Ideen:

189
Numenios von Apameia (um 175)

TÕ ×n e pon ¢sèmaton, toàto d »Ich habe gesagt, daß das Sein


e nai tÕ nohtÒn. unkörperlich ist, das aber macht
aus ihm zugleich etwas Ideel-
les.«174

Die Unkörperlichkeit des Seins fällt also für Numenios mit dessen
Idealität zusammen. Das einzige Unkörperliche ist das Begriffliche. Er
beschreibt ganz detailliert die Eigenschaften des Seins, die diesen ide-
ellen Charakter hervorheben und die im Namen »Sein« begründet lie-
gen:
¹ d a„t…a toà Ôntoj ÑnÒmatÒj ™sti »Der Grund für den Namen
tÕ m¾ gegonšnai mhd fqar»sesqai „Sein“ liegt darin, daß es weder
mhd' ¥llhn m»te k…nhsin mhdem…an entstanden ist, noch zerstört wer-
™ndšcesqai m»te metabol¾n kre…t- den wird, noch ein anderes wird,
tw À faÚlhn, e nai d ¡ploàn kaˆ noch irgendeine Bewegung zu-
¢nallo…wton kaˆ ™n „dšv tÍ aÙtÍ läßt, weder eine starke, noch eine
schwache. Es ist einfach und un-
veränderlich und in seiner eige-
nen Idee«. 175

Der Name »Sein« – womit Numenios hier offensichtlich den Bedeu-


tungsgehalt von »Sein« meint, denn der bloße Name könnte ja Beliebi-
ges bedeuten – steht für etwas Stabiles. Diese Stabilität findet man nach
platonischer Auffassung nur im Ideellen. So läßt sich aus dem Bedeu-
tungsgehalt des Seins heraus dessen ideeller Charakter ableiten. Die
genaue Begründung dieses ideellen Charakters ist hier sehr kreativ,
wenn es auch fraglich ist, ob dieselbe Verallgemeinerbar ist. Wir gehen
gemeinhin davon aus, daß ein Begriff dann eine Idee ist, wenn er auf
sich selbst zutrifft, wenn er also reflexiv ist. Eben diese Reflexivität leitet
Numenios hier auch aus der Stabilität des Seins her. Es sei gewisserma-
ßen so stabil, daß es in seiner eigenen Idee sei. Hier erhebt sich eben
die Frage, ob dieses Kriterium auf alle Ideen anwendbar ist. Denn nicht
alle Ideen bedeuten ja eine solche Stabilität. Daher scheint mir diese
Überlegung hier eher eine Sackgasse zu sein, die zwar Interessantes
über das Sein hervorbringt, aber nichts, das weitergeht.

174
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 10, 9, 2
175
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 10, 7, 2-5

190
Numenios von Apameia (um 175)
§ 151 Auch das Verhältnis von den Ideen zueinander wird bei Nu-
menios thematisiert. Er geht davon aus, daß Ideen aneinander teilhaben
können:
e„ d', æj 'Amšlioj gr£fei kaˆ prÕ »Und wenn, wie Amelios schreibt
'Amel…ou Noum»nioj, mšqex…j ™sti und vor Amelios Numenios, es
k¢n to‹j nohto‹j, e en ¨n e„kÒnej auch unter den Ideellen Teilhabe
kaˆ ™n aÙto‹j. gibt, dann gibt es auch Bilder in
ihnen.« 176

Daß es Teilhabe unter den Ideen gibt, ist für uns etwas Selbstverständli-
ches. Die Begriffe, die das Reich der Ideen ausmachen, sind ja gerade
solche, die Eigenschaften des Begrifflichen überhaupt konstituieren.
Folglich hat jeder Begriff an jedem anderen Teil, insofern er Begriff ist.
Numenios beobachtet hierbei nun, daß dies das Reich der Ideen gewis-
sermaßen in zwei Ebenen spaltet, nämlich einerseits in die Ebene der
Bedeutungsgehalte und andererseits die Ebene der Teilhabe. Diese
zweite Ebene bezeichnet er als die der e„kÒnej. Dies tut er, weil damit ja
die Ideen gewissermaßen immer auch Bilder anderer Ideen sind, an
denen sie teilhaben. Numenios hebt so ein wesentliches Struktur-
merkmal des Ideenreiches hervor.
Ein weiteres solches Strukturmerkmal, das inhaltlich in einem engen
Zusammenhang mit dem vorhergehenden steht, ist das folgende:
”Iqi d¾ oân ™pˆ t¾n kaq' aØt¾n »Wohlan denn, kehren wir zu-
¢sèmaton oÙs…an ™pan…wmen, dia- rück zum an sich unkörperlichen
kr…nontej kaˆ ™p' aÙtÁj ™n t£xei Wesen und untersuchen durch
t¦j perˆ yucÁj p£saj dÒxaj. E„sˆ es in ihrer Ordnung all diejenigen
d» tinej, o‰ p©san t¾n toiaÚthn Meinungen, welche die Seele be-
oÙs…an ÐmoiomerÁ kaˆ t¾n aÙt¾n treffen. Es gibt welche, die alle
kaˆ m…an ¢pofa…nontai, æj kaˆ ™n derartigen Wesen für gleichteilig
ÐtJoàn aÙtÁj mšrei e nai t¦ Óla· und eins und dasselbe halten, so
o†tinej kaˆ ™n tÍ meristÍ yucÍ tÕn daß in einem jeden seiner Teile
nohtÕn kÒsmon kaˆ qeoÝj kaˆ da…mo- das Ganze ist. Diese setzen auch
naj kaˆ t¢gaqÕn kaˆ p£nta t¦ in die geteilte Seele das Ideen-
presbÚtera gšnh aÙtÁj ™nidrÚousi reich, die Götter, die Dämonen,
kaˆ ™n p©sin æsaÚtwj p£nta e nai das Gute und alle ehrwürdigen
¢pofa…nontai, o„ke…wj mšntoi kat¦ Gattungen und erklären, daß auf

176
Proklos, In Platonis Timaeum commentaria III, S. 33, 33 – 34, 3

191
Numenios von Apameia (um 175)
t¾n aÙtîn oÙs…an ™n ˜k£stoij. Kaˆ diese Weise alles in allem ist, ein
taÚthj tÁj dÒxhj ¢namfisbht»twj jedes auf seine Eigenart entspre-
mšn ™sti Noum»nioj chend seinem Wesen in jedem.
Und Numenios ist zweifellos die-
ser Meinung«. 177

Daß nun Ideen aneinander teilhaben können, hat weitreichende Kon-


sequenzen für den ganzen noàj. Dies führt eben dazu, daß jede Idee an
allen anderen Ideen teil hat und entsprechend ein Bild aller Ideen ist.
Man kann das Ideenreich daher durchaus als bestehend aus Gleichteili-
gen (Ðmoiomšreiai) im Sinne des Anaxagoras bezeichnen, denn eine jede
Idee hat das ganze Ideenreich in sich. So erklärt sich dann auch, daß
selbst in der Seele, die zum Denken fähig ist, das ganze Ideenreich ent-
halten ist. Denn ein jeder Gedanke in der Seele ist eben auch ein Ide-
elles und hat so an allen Ideen teil.
Dennoch bleibt diese Strukturierung des Ideenreiches bei Nume-
nios noch sehr an der Oberfläche. Das ist aber sicherlich in diesem
Falle dem fragmentarischen Charakter der Überlieferung seiner Ge-
danken geschuldet.

iv. Der dhmiourgÒj zwischen Ideen und Materie


§ 152 Kommen wir nun zurück zum dhmiourgÒj. Dieser macht sich
nach Numenios insofern die Hände etwas schmutzig, als die Vielheit
der Materie, mit der er sich im Schöpfungsprozeß abgibt, auch an sei-
nem Wesen haften bleibt:
Ð qeÕj Ð m n prîtoj ™n ˜autoà ên »Der erste Gott ist in sich selbst seiend
™stin ¡ploàj, di¦ tÕ ˜autù sug- einfach, da er, mit sich selbst ganz und
gignÒmenoj diÒlou m» pote e nai gar vereinigt, nicht teilbar ist. Der zwei-
diairetÒj· Ð qeÕj mšntoi Ð deÚteroj te und dritte Gott allerdings sind eines;
kaˆ tr…toj ™stˆn eŒj· sumferÒmenoj durch den Kontakt zur Materie je-
d tÍ ÛlV du£di oÜsV ˜no‹ m n doch, die eine Zweiheit ist, eint er
aÙt»n, sc…zetai d Øp' aÙtÁj, ™pi- zwar diese, wird jedoch von sich ge-
qumhtikÕn Ãqoj ™coÚshj kaˆ ·eoÚ- trennt, denn sie hat einen begehrende
shj. Seelenzustand und ist im Fluß.« 178

177
Stobaios, Anthologium I, 49, 32, 61-71
178
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 18, 3, 1-4

192
Numenios von Apameia (um 175)
Zunächst einmal wird hier der prîtoj qeÕj noch einmal ausdrücklich
mit dem Einen gleichgesetzt und ist so der Ausgangspunkt von allem.
Anders sieht es für den dhmiourgÒj aus. Er ahmt zwar die Einheit des
ideellen Einen in der Natur nach und verkörpert als ideelles Wesen
selbst eine solche Einheit, aber allein der Umstand, daß er mit der Na-
tur, mit der Materie in Kontakt tritt, macht ihn zu einer Vielheit.
Was Numenios hier zu denken versucht, ist eine Einheit, die zu-
gleich eine Vielheit ist. Einheit ist sie als Idee und Vielheit als Bereich
dessen, auf das diese Idee zutrifft. Der Begriff der Bestimmtheit ist ei-
ner, aber alles, was irgendwie bestimmt ist, der Bereich des Bestimmten
also, ist eine Vielheit. Der dhmiourgÒj als Idee ist somit in sich schon ein
dialektisches Wesen und verkörpert so die Struktur einer jeden Idee.
§ 153 Etwas unklar ist dabei, was Numenios hier mit dem dritten
Gott meint. Proklos stellt ihn uns als die Welt vor:
Noum»nioj m n g¦r tre‹j ¢num- »Denn Numenios preist drei
n»saj qeoÝj patšra m n kale‹ tÕn Götter, den Vater nennt er den
prîton, poiht¾n d tÕn deÚteron, ersten, den Schöpfer den zweiten
po…hma d tÕn tr…ton· Ð g¦r kÒsmoj und das Geschöpf den dritten;
kat' aÙtÕn Ð tr…toj ™stˆ qeÒj· éste denn die Welt selbst ist der dritte
Ð kat' aÙtÕn dhmiourgÕj dittÒj, Ó Gott; der Schöpfer selbst aber ist
te prîtoj qeÕj kaˆ Ð deÚteroj, tÕ doppelt, der erste Gott nämlich
d dhmiourgoÚmenon Ð tr…toj. und der zweite, das Geschaffene
aber ist der dritte.«
179

Was aber heißt das, wenn der kÒsmoj der dritte Gott ist? Die Materie
kann damit natürlich nicht gemeint sein, denn die hat ja nichts Göttli-
ches an sich, außer daß sie im Platonismus als unerschaffen gilt. Gerade
erschaffen zu sein ist aber eine Eigenschaft des kÒsmoj. Was Numenios
hier meint ist also offensichtlich die Summe der Naturformen, die der
Materie eine Gestalt geben. Diese sieht er als ein göttliches Wesen an.
§ 154 Wir finden ein anderes Beispiel für diese Redeweise von drei
Göttern in einer weiteren Paraphrase durch Proklos:
Noum»nioj d tÕn m n prîton kat¦ »Numenios aber ordnet den er-
tÕ Ó ™sti zùon t£ttei ka… fhsin ™n sten Gott der Klasse des Leben-
proscr»sei toà deutšrou noe‹n, tÕn digen zu und sagt, er würde das

179
Proklos, In Platonis Timaeum commentaria I, S. 303, 27 – 304, 3

193
Numenios von Apameia (um 175)
d deÚteron kat¦ tÕn <prîton> Denken zum Nutzen des zweiten
noàn kaˆ toàton aâ ™n proscr»sei hervorbringen; den zweiten aber
toà tr…tou dhmiourge‹n, tÕn d ordnet in die Klasse des ersten
tr…ton kat¦ tÕn dianooÚmenon. Geistes und läßt ihn wieder das
Schaffen für den dritten hervor-
bringen; den dritten aber ordnet
er in die Klasse verstandesmäßi-
gen Denkens ein.« 180

Überraschend ist hier vor allem die erste Zuordnung, die den prîtoj
qeÕj als Leben (zùon) klassifiziert. Das müssen wir sicherlich metapho-
risch sehen und darin erkennen, daß eben der erste Gott eine Art Quell
von allem sein soll und daß er insofern wesentlich ein Moment des Le-
bendigen an sich hat, was jedoch keine ihn darauf festlegende Bestim-
mung ist. Als den zweiten Gott nun haben wir oben den dhmiourgÒj
kennengelernt. Für ihn habe der erste Gott den noàj hervorgebracht.
Der dhmiourgÒj wird dann als so etwas wie die erste Idee im noàj ange-
sehen, die ihrerseits die Fähigkeit des Schaffens für den dritten Gott
hervorbringt, den wir oben als kÒsmoj kennengelernt haben.
Interessant ist nun die Unterscheidung zwischen Vernunft und Ver-
stand, die hier ins Spiel kommt. Der dhmiourgÒj und der noàj bilden die
Sphäre des vernünftigen Denkens (noe‹n) und der kÒsmoj die Sphäre des
verstandesmäßigen Denkens (dianoe‹n). Das ist durchaus passend. Wäh-
rend dhmiourgÒj und noàj zum Reich der reinen Ideen gehören, die
strikt reflexive Bedeutungsgehalte enthält, also solche Begriff die Träger
der von ihnen selbst prinzipiierten Eigenschaften sind, ist das bei den
Naturformen, aus denen der kÒsmoj besteht, nicht der Fall. Er hat keine
Ideen zum Gegenstand, sondern konkrete Dinge. Damit gleichen die
Bedeutungsgehalte, die ihn bilden denen, mit denen der bloße Ver-
stand operiert, während jene, die den dhmiourgÒj und noàj bilden dem
Operieren der Vernunft entsprechen.

180
Proklos, In Platonis Timaeum commentaria III, S. 103, 28-32

194
Numenios von Apameia (um 175)
Natur
§ 155 Numenios’ Auffassung der Materie ist erneut sehr stark an die
platonische Philosophie angelehnt. Ebenso wie Platon sieht er Materie
als etwas nicht wirklich Existierendes an:
¢ll' ¥ra tautˆ m n oÜ, ¹ d' Ûlh dÚ- »Aber wenn folglich diesen [den
natai e nai Ôn; 'All¦ kaˆ aÙt¾<n> vier Elementen] auch nicht mög-
pantÕj m©llon ¢dÚnaton, ¢rrws- lich ist, so ist es doch der Materie
t…v toà mšnein· potamÕj g¦r ¹ Ûlh möglich, Sein zu haben? Aber
·oèdhj kaˆ ÑxÚrropoj, b£qoj kaˆ auch ihr ist es ob ihrer Kraftlo-
pl£toj kaˆ mÁkoj ¢Òristoj kaˆ sigkeit am meisten unmöglich
¢n»nutoj. fortzubestehen, denn die Materie
ist ein dahineilender und sich
heftig bewegender Fluß, tief,
breit, von unbestimmter Aus-
dehnung und endlos« 181

Die Ûlh wird hier also ebenso wie bei Platon als eine Seinsart gefaßt, die
derart unbestimmt und unbeständig ist, daß man ihr eigentlich kein
Sein zuschreiben kann, weil man gar keinen Anhaltspunkt dazu hat.
Und ebenso wie bei Platon ist das der Versuch, einen Widerspruch
aufzulösen. Denn einerseits möchte wohl auch Numenios nicht davon
ausgehen, daß die Materie aus dem Ideellen stammt, andererseits aber
muß alles vom Ideellen stammen. Wenn aber sich nun zeigt, daß die
Materie eigentlich kein Sein hat, ein Nichts ist, dann scheint es unpro-
blematisch zu sein, anzunehmen, sie stamme nicht aus dem Ideellen.
Wir haben aber bereits bei zahlreichen anderen Autoren gesehen, daß
sich die zugrundeliegende Aporie dennoch so nicht wirklich beiseite
schaffen läßt. Numenios würde in Schwierigkeiten geraten, fragte man
ihn, warum denn diese nichtige Materie die Formen des Ideellen den-
noch annehmen kann.
§ 156 Wir finden aber bei ihm noch einen anderen Gedanken, der
mir aussichtsreicher zur Auflösung der zugrundeliegenden Aporie er-
scheint. Dieser Gedanke bezieht sich nicht explizit auf die Materie,
sondern auf den dhmiourgÒj, der sich dem Materiellen annähert:

181
Eusebios, Preparatio evangelica XV, 17, 2, 2-4

195
Numenios von Apameia (um 175)

tù oân m¾ e nai prÕj tù nohtù (Ãn »Indem er so nicht für das Ide-
g¦r ¨n prÕj ˜autù) di¦ tÕ t¾n elle ist (denn dann wäre er für
Ûlhn blšpein taÚthj ™pimeloÚ- sich selbst) und weil er die Mate-
menoj ¢per…optoj ˜autoà g…netai. rie schaut, sich um diese sorgend
wird er sorglos bezogen auf sich
selbst.«
182

Wir haben oben bereits gesehen, daß Numenios dem dhmiourgÒj auf-
grund seines Bezugs zur Materie eine zunehmende Vielheit zuschreibt.
Hier nun beginnt er, ihm durch diesen Bezug zur Materie auch die Re-
flexivität als ideelles Wesen abzuschreiben. Er wird so ein Wesen, das
sich ganz in den Relationen zu anderen Wesen erschöpft und keinen
originären Bedeutungsgehalt mehr hat; wie ein Ort, der nur der Ort ist,
der er ist, weil er sich in Bezug auf andere verorten läßt.
Wir hatten schon bei einigen Denkern, zuletzt noch bei den Gno-
stikern, festgehalten, daß die Struktur der Materie nun gerade dadurch
bestimmt sei, daß diese ein sich selbst verabsolutierendes Ideelles sei,
ein Ideelles, das also rein im Bezug auf sich existiert. Haben wir es hier
nicht mit dem entgegengesetzten Fall zu tun, wenn sich der dhmiourgÒj
nur noch auf anderes bezieht? Sehen wir einmal genau hin, worauf be-
zieht sich der dhmiourgÒj, wenn er sich auf die Materie bezieht? Offen-
sichtlich doch auf seine Schöpfung und somit doch auf sich selbst. Aber
er bezieht sich nicht auf sich selbst als auf eine Idee, die ein Teil des
Ideellen ist, sondern auf sich selbst als selbstgenügsames, gleichsam ab-
solutes Wesen. Wir sehen also, daß Numenios dhmiourgÒj hier in seiner
metaphysischen Struktur gar nicht so weit vom schlechten Gott der
Gnosis entfernt ist, sondern vielmehr als ein Wesen dargestellt wird,
welches in sich den Übergang vom Ideellen zum Materiellen verkör-
pert.
§ 157 Das Ideelle, das hier zunächst in einem Prozeß der Naturent-
stehung zur Materie wird und sich ausbreitet, wird jedoch dann in ei-
nem zweiten Prozeß wieder nach und nach in die Natur integriert. Das
muß für Numenios deswegen so sein, weil sonst keine Körper bestehen
könnten:

182
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 18, 4

196
Numenios von Apameia (um 175)

™peid¾ t¦ sèmat£ ™sti fÚsei »Da Körper der Natur nach ver-
teqnhkÒta kaˆ nekr¦ kaˆ pefor- gänglich und leblos sind, hin und
hmšna kaˆ oÙd' ™n taÙtù mšnonta, herbewegt werden und nicht am
«r' oÙcˆ toà kaqšxontoj aÙto‹j œdei; selben Ort bleiben können,
PantÕj m©llon. [...] T… oân ™sti tÕ brauchen sie nicht etwas, das sie
katascÁson; e„ m n d¾ kaˆ toàto festhält? Ganz sicher. [...] Was
e‡h sîma, DiÕj SwtÁroj doke‹ ¨n aber gibt es, um sie festzuhalten?
™moˆ dehqÁnai aÙtÕ paraluÒmenon Wenn dies auch ein Körper wä-
kaˆ skidn£menon. e„ mšntoi cr¾ re, so glaube ich, brauchte es ei-
aÙtÕ ¢phll£cqai tÁj tîn swm£- nen rettenden Zeus, da es selbst
twn p£qhj, †na k¢ke…noij kekuk- losgelöst und zerstreut ist. Wenn
hmšnoij t¾n fqor¦n ¢mÚnein dÚn- es jedoch nötig ist, daß es von
htai kaˆ katšcV, ™moˆ m n oÙ doke‹ den Leiden des Körpers befreit
¥llo ti e nai À mÒnon ge tÕ wird, damit es jene Ungeordne-
¢sèmaton· aÛth g¦r d¾ fÚsewn ten von der Vernichtung fernhal-
pasîn mÒnh ›sthke kaˆ œstin ten kann und sie zusammenhält,
¢raru‹a kaˆ oÙd n swmatik». so glaube ich nicht, daß etwas an-
deres als das Unkörperliche sein
kann. Denn von allen Wesen al-
lein ist es stabil, fest und nicht
körperlich.«183

Numenios präsentiert uns hier ein ganz gutes Argument gegen einen
Reduktionsimus. Hypothetisch geht er von der These aus, daß die gan-
ze Natur nur aus Materie besteht und nichts weiter hinzukommt. Nun
sind aber die Eigenschaften der Materie dergestalt, daß sich aus ihr kei-
ne komplexeren Körper, geschweige denn Organismen, bilden lassen.
Diese würden sofort diffundieren. Da wir aber komplexere Körper al-
lenthalben wahrnehmen und da diese über eine Stabilität verfügen, wel-
che nicht aus der Materie heraus erklärt werden kann, muß es eine an-
dere Größe geben, die diese Stabilität garantiert und die selbst dann
nicht wiederum körperlich sein kann. Und hierfür kommt nach seiner
Meinung eben dann nur das Ideelle als tÕ ¢sèmaton in Frage.
Nehmen wir nun einmal das Beispiel eines Organismus um zu
prüfen, was von diesem Argument zu halten ist. In der Tat würden die
Teile ihren eigenen Weg gehen, wenn der Organismus aufhörte, als

183
Eusebios, Preparatio evangelica XV, 17, 6, 1 – 8, 5

197
Numenios von Apameia (um 175)
Organismus zu funktionieren. Aber könnte hier nicht ein Reduktionist
einwenden, daß es doch eben dann auch eine Eigenschaft der Teile sei,
in einem solchen Organismus gebunden zu sein? Setzt nicht jedes ein-
zelne Molekül des Organismus seine Bindungsfähigkeit ein, um den
Organismus als eine Einheit zu erhalten? Aber warum diffundiert er
dann, sobald das Leben gewichen ist, und das sogar in dem Maße, daß
man lange Zeit die Existenz einer Lebensenergie annahm, um den Be-
stand des Organismus zu erklären? Den Bestand des Organismus den
Teilen zu überlassen, scheint in der Tat ein Erklärungsansatz zu sein,
der zum Scheitern verurteilt ist. Denn die Teile sind ja nicht einfach so
zusammengesetzt, sondern die Zusammensetzung folgt einer bestimm-
ten Logik. Sieht man allein auf die Bindungsfähigkeit der Moleküle, so
wären sicherlich viele Arten einer Ansammlung derselben möglich.
Daß aber davon nur bestimmte sich durchsetzen, zeigt meines Erach-
tens, daß hier eben neben dem freien Spiel der Kräfte auch eine Form
der Vernunft am Werke ist, die vorherbestimmt, welchen Kombinatio-
nen eine solche Stabilität zukommt. So ist etwa bei Organismen die auf
allen Ebenen wiederkehrende Selbstbezüglichkeit, die ständige aktive
Selbsterhaltung ein wesentlicher Teil einer solchen über der Materie
stehenden Vernunft. Daher können wir Numenios zustimmen, wenn er
uns sagt, daß bereits der Bestand komplexerer Körper nur mit Hilfe ei-
nes nicht-materiellen Momentes erklärbar ist.

Geist
§ 158 Für die Beschreibung des Geistes finden wir bei Numenios einen
sehr originellen Gedanken, welcher den Geist mit dem Göttlichen und
Ideellen gleichsetzt. Beide befinden sich in derselben Sphäre des Gei-
stigen:
toioàton tÕ crÁm£ ™sti tÕ tÁj »Ein derartiges Ding ist die Er-
™pist»mhj, ¿ doqe‹sa kaˆ lhf- kenntnis, die mitgeteilt und auf-
qe‹sa paramšnei m n tù dedwkÒti, genommen dieselbe bleibt bei
sÚnesti d tù labÒnti ¹ aÙt». dem, der sie mitteilte und bei
toÚtou d tÕ a‡tion, ð xšne, oÙdšn dem, der sie aufnimmt. Die Ur-
™stin ¢nqrèpinon, ¢ll' Óti ›xij te sache davon, mein Freund, ist

198
Numenios von Apameia (um 175)
kaˆ oÙs…a ¹ œcousa t¾n ™pist»mhn nicht menschenartig, sondern daß
¹ aÙt» ™sti par£ te tù dedwkÒti die Erkenntnis eine Struktur und
qeù kaˆ par¦ tù e„lhfÒti ™moˆ kaˆ ein Wesen hat, welches dasselbe
so…. ist beim mitteilenden Gott und
bei mir und dir, die sie aufge-
nommen haben.« 184

Zunächst einmal präsentiert uns Numenios hier die Auffassung, daß


Geistiges sozusagen ohne Substanzverlust kopiert werden kann. Ein
Gedanke, den ich habe, eine Einsicht, die ich habe, wird nicht weniger
dadurch, daß ich sie jemandem mitteile. Erst die kapitalistische Wirt-
schaft vermochte es, hier eine künstliche Verknappung herbeizuführen
und auch das Wissen zu einer Ware verkommen zu lassen, ihr so eine
Eigenschaft zu geben, die ihr eigentlich ganz und gar nicht zukommt
und die beständig ihr wahres Wesen verkennt. Wir kennen diesen Ge-
danken bereits aus Platons Parmenides und er ist auch später öfter ver-
wendet worden um zu erklären, wie die Vielheit der Naturformen oder
gar der Natur selbst aus der Einheit des Ideellen hervorgegangen sein
kann. Was uns hier nun mehr interessiert ist Numenios’ Begründung
dieser Auffassung.
Erkenntnisse seien bei Gott und bei uns dieselben, sagt uns Nume-
nios. Was aber heißt das? Letztlich sagt Numenios damit, daß das Ide-
elle, welches in unseren Gedanken erscheint, nicht bloß ein Abbild des
Ideellen schlechthin ist, sondern das es dieses selbst ist. Wenn wir so
über Ideen nachdenken, erscheinen die Ideen selbst in uns; unser Geist
bewegt sich nicht mehr im Reich der Natur, sondern er ist ganz und gar
in das Reich der Ideen eingegangen. Natürlich bleibt auch hier noch die
Differenz bestehen, daß diese Gedanken in uns in die Zeit zerlegt wer-
den müssen, daß sie nicht eins sind, wie im Ideellen selbst. Das aber
ändert nichts an ihrem Inhalt, der so oder so mit sich identisch bleibt.

184
Eusebios, Preparatio evangelica XI, 18, 17-18

199
Alkinous (um 175)
Alkinous (um 175)
Nicht nur, daß wir über die Person des Alkinous nichts wissen, bis vor
einigen Jahrzehnten ging man zudem noch davon aus, dieser Alkinous
sei nur aufgrund eines Schreibfehlers eines Kopisten entstanden und
eigentlich mit seinem Zeitgenossen Albinos identisch. Was wir jedoch
von Alkinous besitzen ist eine ausführliches Lehrbuch der platonischen
Philosophie, welches es erlaubt, ihn grob zu datieren und welches uns
ein recht umfangreiches Bild des Mittleren Platonismus am Vorabend
des Neuplatonismus vermittelt. Da die überwiegende Zahl der darin
vorgestellten Gedanken in der Tat bereits bei Platon zu finden sind,
werden wir uns hier auf dasjenige beschränken, was zumindest in An-
sätzen neue Gedanken vorstellt.

Ideen
i. Der Zugang zum Begriff des Einen
§ 159 Alkinous stellt uns drei Wege vor, um Gott zu denken. Die
Scholastik bezeichnet diese Wege später als via negationis, via analo-
giae und via eminentiae. Der erste bedient sich der Abstraktion.
Nachdem er zahlreich Prädikate Gottes vorgestellt hat, beschreibt er
diesen Weg wie folgt:
”Estai d¾ prèth m n aÙtoà nÒhsij »Der erste [Weg] um ihn [Gott]
¹ kat¦ ¢fa…resin toÚtwn, Ópwj zu begreifen ist gemäß der Ab-
kaˆ shme‹on ™no»samen kat¦ ¢f- straktion von diesen [den Prädi-
a…resin ¢pÕ toà a„sqhtoà, ™pi- katen], ebenso wie wir den Punkt
f£neian no»santej, e ta gramm»n, denken durch Abstraktion vom
kaˆ teleuta‹on tÕ shme‹on. Sinnlichen, zuerst die Oberfläche
denkend, dann die Linie und
schließlich den Punkt.«
185

Wir sehen sogleich, als welche Größe dieser Gott hier gedacht wird. Abstra-
hiert man von allem, so landet man beim Begriff des Einen, dem keine wei-
teren Prädikate mehr zugesprochen werden können; die Argumentation ist
uns aus dem platonischen Parmenides bekannt. Die Abstraktion führt also

185
Epitomae doctrinae Platonicae 10, 5, 1-4

200
Alkinous (um 175)
nicht zu den Ideen, sondern geht vielmehr von diesen aus oder aber sie führt
an diesen vorbei zu deren unvordenklicher Einheit.
§ 160 Der zweite Weg bedient sich des Vergleiches und passiert
dieselben Stationen:
Deutšra dš ™stin aÙtoà nÒhsij ¹ »Der zweite [Weg] ihn zu denken
kat¦ ¢nalog…an oÛtw pwj· Ön g¦r ist gemäß der Analogie auf die
œcei lÒgon Ð ¼lioj prÕj t¾n Órasin folgende Weise: Denn die Sonne
kaˆ t¦ Ðrèmena, oÙk ín aÙtÕj Ôy- hat ein Verhältnis zum Sehen
ij, paršcwn d tÍ m n tÕ Ðr©n, to‹j und zum Gesehenen – sie ist
d tÕ Ðr©sqai, toàton œcei tÕn nicht selbst das Sehen, bereitet
lÒgon Ð prîtoj noàj prÕj t¾n ™n tÍ aber zum einen das Sehen und
yucÍ nÒhsin kaˆ t¦ nooÚmena· zum anderen das Gesehen Wer-
den – und dasselbe Verhältnis
hat der erste Verstand zum Den-
ken in der Seele und zu den Ge-
danken.« 186

Wir stellen uns also etwa die Sonne vor, die Ursache der Wahrnehmung der
Dinge ist und schließen dann darauf, daß es eine ähnliche Ursache für unser
Denken der Ideen geben muß, eine Größe, die gewissermaßen auf die Ideen
scheint, damit sie unserem Denken erscheinen. Wir sehen schnell, daß diese
Vorstellung aus dem Idealismus heraus zu einer Mystik des Einen führt, wel-
che dasselbe überhöht und die Ideen, welche ja die Einheit desselben erste
bilden, in den Hintergrund drängt, zu etwas Abhängigem macht.
§ 161 Der dritte Weg schließlich bedient sich des ästhetischen Emp-
findens zum Finden des Einen:
Tr…th d nÒhsij toiaÚth tij ¨n e‡h· »Drittens kann man ihn folgender-
qewrîn g£r tij tÕ ™pˆ to‹j sèmasi maßen denken: Man betrachtet
kalÒn, met¦ toàto mšteisin ™pˆ tÕ nämlich das Schöne an den Kör-
tÁj yucÁj k£lloj, e ta tÕ ™n pern, danach geht man über zum
™pithdeÚmasi kaˆ nÒmoij, e ta ™pˆ Schönen in der Seele, dann zu dem
tÕ polÝ pšlagoj toà kaloà, meq' Ö in den Sitten und Gedanken, dann
aÙtÕ tÕ ¢gaqÕn noe‹ zum großen See des Schönen und
danach denkt man das Gute
selbst«.
187

186
Epitomae doctrinae Platonicae 10, 5, 4-8
187
Epitomae doctrinae Platonicae 10, 6, 1-4

201
Alkinous (um 175)
Wir finden hier eine Aufzählung der ontologischen Stufen des platoni-
schen Denkens. Von der Körpern steigen wir auf zu deren Repräsenta-
tionen in der Seele, welche höher stehen, da sie das Körperliche vergei-
stigen. Von hier aus können wir zu den Begriffen aufsteigen, die zur
Vergeistigung verwendet werden um dann ins Reich der Begriffe selbst
zu gelangen, welches Alkinous uns hier mit der aus Platons Symposion
stammenden Metapher eines Sees beschreibt. Der letzte Schritt ist
schließlich der, daß wir die Einheit dieses Sees denken müssen, was
durch die Idee des Guten gefaßt wird. Das Empfinden ist insofern hier
kein reines Empfinden, sondern es ist eindeutig begrifflich geleitet.
Wir erkennen also bei Alkinous eine starke Tendenz, das Reich der
Ideen zu überschreiten, einen alternativen Zugang zu dem vermeintlich
dahinter liegenden Wesen, als das Gott gedacht wird, zu finden. Dies
deutet meines Erachtens darauf hin, daß das Bewußtsein von der we-
sentlichen Rolle, welche die Ideen spielen hier offenbar in Vergessen-
heit geraten ist.
§ 162 Bei der Beschreibung Gottes durch Prädikate, was für die
obigen Überlegungen abstrakt vorausgesetzt ist, treffen wir auf einen in-
teressanten Gedanken bezüglich des Verhältnisses der Begriffe, welche
den Begriff der Einheit in einem anderen Licht erscheinen läßt:
Kaˆ m¾n Ð prîtoj qeÕj ¢…diÒj ™stin, »Und der erste Gott ist ewig, un-
¥rrhtoj, aÙtotel¾j toutšstin sagbar, selbst-vollendet (das ist
¢prosde»j, ¢eitel¾j toutšstin ¢eˆ sich selbst genügend), ewig-
tšleioj, pantel¾j toutšsti p£nth vollendet (das ist vollendet für
tšleioj· qeiÒthj, oÙsiÒthj, ¢l»- immer), all-vollendet (das ist voll-
qeia, summetr…a, ¢gaqÒn. Lšgw d endet in allem); Göttlichkeit,
oÙc æj cwr…zwn taàta, ¢ll' æj Wesenheit, Wahrheit, Ebenmaß,
kat¦ p£nta ˜nÕj nooumšnou. das Gute. Ich spreche diese [Prä-
dikate] aber nicht als getrennte
aus, sondern als ob eines allen
gemäß ist.«188

Die Einheit des Einen wird also hier – wie sie von uns auch im Übrigen
verstanden wird – als die Einheit der Begriffe gefaßt. Wir gehen davon
aus, daß die Begriffe des Ideellen darum eine Einheit bilden, weil sie

188
Epitomae doctrinae Platonicae 10, 3, 4-8

202
Alkinous (um 175)
sich alle aufeinander beziehen, alle aneinander teilhaben. Gemeint ist
damit, daß ein jeder Begriff diejenigen Strukturen verkörpert, die je-
weils dem Bedeutungsgehalt aller anderen Begriff entsprechen. Inso-
fern ist das hier von Alkinous zum Ausdruck Gebrachte eine gemein-
same Eigenschaft aller Elemente des Ideellen, nicht nur des Einen
selbst. Fassen wir jedoch das Eine nicht, wie es bei Alkinous offenbar
der Fall ist, als eine eigenständige und über den Ideen stehende Einheit
auf, sondern als eine sich in der Struktur der wechselseitigen Bezüge
zeigende Einheit, dann trifft das hier von ihm Beschriebene eben genau
unseren Begriff des Einen.
Das Eine wird also nicht durch Kontemplation und mystische Ver-
senkung erfaßt – so sinnvoll derartiges Tun in einem existentiell-
religiösen Sinne auch sein mag – sondern vor allem durch begriffliche
Arbeit, durch Logik. Das sieht Alkinous vor allem deswegen wohl nicht
so, weil für ihn die Logik vor allem die aristotelische Logik ist, ein eher
plattes begriffsanalytisches Vorgehen. Die platonische Dialektik scheint
ihm ganz fremd geworden zu sein.

ii. Die ontologische Struktur des Ideellen


§ 163 Alkinous liefert uns eine Bestimmung Gottes, die sehr an Aristo-
teles erinnert. Hierin bestimmt er Gott mit Hilfe des Begriffs der Be-
wegung ebenso, wie auch Aristoteles seinen ersten unbewegten Beweger
bestimmte:
oÜte kine‹ oÜte kine‹tai. »Weder bewegt er sich, noch
wird er bewegt.«
189

Wenn nun dieser Gott dennoch die Ursache von allem sein muß, so
kann der Akt der Verursachung nichts anderes als ein Denkakt sein;
vorausgesetzt, daß das Denken nicht wieder als eine Bewegung aufge-
faßt wird.
Der hier zur Sprache kommenden Passivität Gottes scheint Alki-
nous wenig später zu widersprechen:
`O m n g¦r qeÕj toà te pantÕj »Denn Gott selbst ist der Schöp-
Øp£rcei poiht¾j aÙtÕj kaˆ tîn fer des Alls, der auch Götter und

189
Epitomae doctrinae Platonicae 10, 4, 11

203
Alkinous (um 175)
qeîn te kaˆ daimÒnwn, Ö d¾ p©n Dämonen erzeugte. Nach seinem
lÚsin oÙk œcei kat¦ t¾n ™ke…nou Willen gibt es keine Auflösung
boÚlhsin· tîn d ¥llwn oƒ ™ke…nou des Alls. Seine Kinder führen das
pa‹dej ¹goàntai, kat¦ t¾n ™ke…nou andere gemäß seinem Befehl und
™ntol¾n kaˆ m…mhsin pr£ttontej handelnd sein Handeln nachah-
Ósa pr£ttousin mend.« 190

Alkinous beschreibt uns hier die uns von Platon her bekannte Auffas-
sung, wonach die Schöpfung durch eine Emanation aus dem obersten
Wesen geschieht. Die Passivität Gottes kann so ganz leicht folgender-
maßen in die idealistische Metaphysik übertragen werden, so daß Ari-
stoteles und Platon hier nicht im Widerspruch stehen: das Eine als
Struktur des Ideellen ist nur im Ideellen selbst aktiv und gibt diesem
seine Struktur, aber ohne jede Bewegung, als eine starre Einheit. Das
Ideelle selbst im nächsten Schritt ist dann bereits eine Vielheit in der
sich Begriffsbewegungen im Sinne eines dialektischen Weges durch das
Reich der Ideen erkennen lassen. Dieses Ideelle als Kind des Einen ist
dann auch für die Ordnung der Welt und der Weltseele, also der Na-
turformen, verantwortlich.
§ 164 Wenn wir etwas weiter gehen, so erhalten wir noch einen an-
deren Hinweis auf die Natur des Schöpfungsaktes:
“Otan d e‡pV genhtÕn e nai tÕn »Sofern er [Platon] sagt, die Welt
kÒsmon, oÙc oÛtwj ¢koustšon sei entstanden, so darf man ihn
aÙtoà, æj Ôntoj pot crÒnou, ™n ú nicht so verstehen, als habe es
oÙk Ãn kÒsmoj· ¢ll¦ diÒti ¢eˆ ™n eine Zeit gegeben, in der es keine
genšsei ™stˆ kaˆ ™mfa…nei tÁj Welt gab. Sondern so, daß sie
aØtoà Øpost£sewj ¢rcikèterÒn ti ewig im Entstehen ist und eine
a‡tion· kaˆ t¾n yuc¾n d ¢eˆ oâsan ältere Ursache ihres Bestehens
toà kÒsmou oÙcˆ poie‹ Ð qeÒj, ¢ll¦ aufzeigt. Gott macht auch die
katakosme‹, kaˆ taÚtV lšgoit' ¨n Weltseele nicht, die ewig besteht,
kaˆ poie‹n sondern ordnet sie und dieses
kann man auch „machen“ nen-
nen«.191

190
Epitomae doctrinae Platonicae 15, 2, 1-5
191
Epitomae doctrinae Platonicae 14, 3, 1-7

204
Alkinous (um 175)
Wir dürfen nicht vergessen, daß der Platonismus ein Dualismus ist, daß
der platonische Gott nicht der christliche Schöpfergott ist, sondern ein
bloß das Vorhandene formendes und ordnendes Wesen. Als ideelles
Prinzip ist dieser Gott damit eher so etwas wie das Vorbild des Wesens
der Welt und deren Struktur, der Weltseele. Diese bewegen sich von
ganz allein und werden bei ihrer Bewegung lediglich durch die Struktur
des göttlichen Ideellen inspiriert. Jenes aber bleibt unbeweglich und
ewig da, wo es ist. Und diesen Vorbildcharakter kann man als ein Ord-
nen der Welt und der Weltseele durch Gott auffassen. Gott ist so ein-
fach das Ordnungsprinzip des sich selbst in seinem Sinne Ordnenden.
Das Motiv der Weltseele, die ebenfalls präexistiert und sich lediglich
in Unordnung befand, haben wir bereits im noch radikaleren Dualis-
mus von Plutarchos kennengelernt. Gemäß dieses radikaleren Dualis-
mus wäre ein Ansatz denkbar, demzufolge das Reich des Ideellen ganz
für sich besteht und die Welt der mehr oder weniger gelungene Ver-
such ist, die Strukturen des Ideellen in sich darzustellen. Hier bedürfte
es nicht einmal eines dhmiourgÒj; die Systematik würde sonst im Übri-
gen einem gnostischen Ansatz sehr ähneln. Allerdings taucht dann so-
gleich das Problem auf, wie denn dem Niedrigeren das Höhere über-
haupt zugänglich sein kann.

Natur
§ 165 Bezüglich der Frage nach der Materie verteidigt Alkinous hart-
näckig Platons Trennung von Ideen und Materie mit einem wenig ein-
sichtigen Argument:
Pros»kei d¾ kaˆ tÍ pandece‹ ÛlV, »Es kommt aber auch der alles an-
e„ mšllei kat¦ p©n dšcesqai t¦ nehmenden Materie zu, wenn sie
e‡dh, tù mhdem…an aÙtîn fÚsin denn alle Formen annehmen will,
œcein Øpoke‹sqai, ¢ll' ¥poiÒn te nichts von ihrer Natur an sich zu
e nai kaˆ ¢ne…deon prÕj Øpodoc¾n haben, sondern eigenschaftslos zu
tîn e„dîn· sein und ungeformt aufnahmefähig
für die Formen.«
192

192
Epitomae doctrinae Platonicae 8, 3, 1-3

205
Alkinous (um 175)
Das Problem, welches wir mit dieser Auffassung haben, ist aus den vor-
hergehenden Diskussionen desselben Problems offensichtlich. Warum
sollte die Materie frei von allen Formen sein, um Formen annehmen zu
können? Offensichtlich schwebt Alkinous hier die folgende Auffassung
vor: Jedes Naturwesen hat nur eine Form an sich und besteht folglich
aus Materie und dieser seiner spezifischen Form. Diese Materie blockt
nun jede andere Form ab, da sie ja bereits geformt ist. Dem steht unser
Modell der Formstufen radikal entgegen. Denn wenn es Formstufen in
der Weise gibt, daß eine jede Formstufe das Vorhandensein der vor-
hergehenden Stufe voraussetzt, dann ist Alkinous Annahme, daß eine
Materie um eine Form anzunehmen keine andere Form an sich haben
darf, bereits widerlegt. Es hat aber wenig Sinn, von Formstufen zu spre-
chen, wenn diese Formstufen sich nicht auch innerhalb ein und dessel-
ben Wesens hierarchisch organisieren, so daß die nächsthöhere die
nächstniedrigere formt.
Zudem taucht hier das offensichtliche und bereits mehrmals ange-
sprochene Problem auf, daß die Materie, die schlechthin von allem
Formhaften getrennt existieren soll, überhaupt nicht in der Lage sein
wird, Formen anzunehmen. Vor allem Alkinous’ christliche Zeitgenos-
sen haben, wie wir sehen konnten, sehr viele interessante Argumente
hiergegen vorgebracht.

Geist
§ 166 Was die Tätigkeit des Geistes angeht, so finden wir bei Alkinous
folgende subtile Unterscheidung zweier Arten, Begriffe zu denken:
NÒhsij d' ™stˆ noà ™nšrgeia qe- »Denken aber ist das Tun des
wroàntoj t¦ prîta noht£· aÛth Geistes, der die ersten Ideen
ditt¾ œoiken e nai, ¹ m n prÕ toà ™n sieht: Es scheint davon zweierlei
tùde tù sèmati genšsqai t¾n yu- zu geben, die eine bevor die
c»n, qewroÚshj aÙtÁj t¦ noht£, ¹ Seele in den Körper gelangt ist
d met¦ tÕ ™mbibasqÁnai e„j tÒde und sie die Ideen selbst sieht, die
tÕ sîma· toÚtwn d ¹ m n prÕ toà andere nach dem Eingang der
™n sèmati genšsqai t¾n yuc¾n Seele in den Körper. Von diesen
aÙtÕ toàto nÒhsij ™kale‹to, ge- wird die eine, die vor dem Ge-
nomšnhj d aÙtÁj ™n sèmati ¹ tÒte langen der Seele in den Körper

206
Alkinous (um 175)
legomšnh nÒhsij nàn ™lšcqh fusik¾ da ist, das Denken selbst genannt,
œnnoia, nÒhs…j tij oâsa ™napokei- nachdem sie aber in den Körper
mšnh tÍ yucÍ. gelangt ist wird das, was vormals
Denken hieß nun natürliches Be-
greifen genannt, was ein in der
Seele aufbewahrtes Denken ist.« 193

Wir kennen diese Unterscheidung zwischen einer vorgeburtlichen


apriorischen Erkenntnis und einer nachgeburtlichen auf die ¢n£mnhsij
angewiesenen Erkenntnis schon von Platon selbst. In der vorgeburtli-
chen, apriorischen Erkenntnis können wir den reinen Geist erkennen,
der in begrifflichem Denken (nÒhsij) befangen, sich nur von einem Be-
griff zum nächsten bewegt und dazu keiner Anschauung bedarf. Diesem
reinen Denken stellt Alkinous nun hier ein faktisches Denken gegen-
über, welches unter anderen Bedingungen – nämlich den Bedingungen
eines Naturseins – operieren muß und dem demzufolge einige Zuge-
ständnisse hinsichtlich der Reinheit seines Inhalts abverlangt werden.
Dieses faktische Denken bezeichnet er als natürliches Begreifen (fu-
sik¾ œnnoia). Letzteres ist der Ausgangspunkt unseres Denkens:
'Ek d toÚtwn ¡plîn oÙsîn ™p- »Aus dieser einfachen Gestalt der
isthmîn Ð fusikÕj kaˆ ™pisth- Erkenntnis besteht das Wissen
monikÕj sunšsthke lÒgoj, fÚsei über die Natur und Erkenntnis,
™nup£rcwn· welches von Natur aus vorhan-
den ist.«
194

Verschiedene Formen der Entstehung dieser einfachen Gestalt der Er-


kenntnis und der Bildung haben wir vor allem bei Chrysippos kennen-
gelernt, der diese dann im übrigen auch als œnnoiai bezeichnet. Wir bil-
den – verkürzt gesagt – Begriffe einfach dadurch, daß wir Gemeinsam-
keiten auffassen, von diesen abstrahieren.
§ 167 Das jedoch reicht Alkinous als Beschreibung auf keinen Fall;
er sieht folgende Probleme im bloß abstrahierenden Denken:
oÙ g¦r ¨n ¥llwj m£qhsij Øpos- »Denn Lehren kann nicht anders
ta…h, À kat¦ ¢n£mnhsin tîn p£- als durch Wiedererinnerung des
lai gnwsqšntwn. E„ g¦r ¢pÕ tîn vormals Gewußten entstehen.

193
Epitomae doctrinae Platonicae 4, 6, 1-7
194
Epitomae doctrinae Platonicae 4, 7, 1-2

207
Alkinous (um 175)
kat¦ mšroj ™nenooàmen t¦j ko- Denn wie würden wir von den
inÒthtaj, pîj ¨n t¦ kat¦ mšroj Teilen aus gemäß der Gemein-
diwdeÚsamen ¥peira Øp£rconta, À samkeiten [einen Begriff] den-
pîj ¢p' Ñl…gwn; ken, wie könnten wir die Unend-
lichkeit der vorhandenen Teile
durchgehen, oder wie [einen Be-
griff formen] aus wenigem?«
195

Der von Chrysippos vorgeschlagenen Begriffsbildung steht also nach


Alkinous zunächst der Umstand entgegen, daß man entweder viel zu
viele oder viel zu wenige Fälle hat, um per Abstraktion zu einem ver-
nünftigen Begriff zu kommen. Dennoch aber sollen die Begriffe von
unten her entstehen, denn unsere Seelen befinden sich nun mal im
Körper und sind so an die Natur gefesselt. Anders als fÚsei können so
keine Begriffe entstehen. Als Platoniker löst Alkinous diesen Wider-
spruch durch den Rückgriff auf die ¢n£mnhsij-Lehre auf. Wir sehen die
Dinge in der Natur und erinnern uns angesichts dessen an die vormals
geschauten Ideen. So kann er die stoische Auffassung über den fakti-
schen Ablauf der Begriffsbildung, die sehr viel ausgefeilter ist, als die
platonische, in den platonischen Gesamtansatz integrieren.

noht£

nÒhsij

¢n£mnhsij

fusik¾ œnnoia

a‡sqhsij

195
Epitomae doctrinae Platonicae 25, 3, 3-6

208
Alkinous (um 175)
§ 168 Was aber heißt das nun für den Geist? Wir können uns hier bei-
spielsweise die Frage stellen, warum Alkinous nicht die aristotelische
Erkenntnisauffassung übernimmt, die er zweifelsfrei gekannt hat. Der
gemäß nimmt der Geist die direkt in die Natur eingeprägten Ideen, die
Formen auf. Deren Authentizität wäre dadurch garantiert, daß der
dhmiourgÒj sie ja in die Materie eingeprägt hat. Was dagegen spricht ist
naheliegend: Die Materie ist nach platonischer Auffassung ein schlech-
ter Träger für Gehalte von Ideen und die Vermittlung über diese ver-
fälscht das Wissen. Daher zieht wohl Alkinous die stoische Auffassung
vor, die mehr im luftleeren Raum operiert, wo es eher als bei Aristote-
les eine Beliebigkeit in der Begriffsbildung gibt, denn diese Beliebigkeit
trifft nach platonischer Auffassung den Punkt; jede auf die a‡sqhsij ge-
gründete Erkenntnis ist lÒgoj e„kÒj, also bloß wahrscheinlich, nie aber
sicher.
Die platonische Lösung des Problems der Beliebigkeit ist dann der
Bezug auf die Ideen selbst durch die ¢n£mnhsij. In eine des platoni-
schen Mythos entkleidete Sprache gefaßt, könnte man diese Auffassung
wie folgt reformulieren: Unsere auf den Körper gestützte Geistestätig-
keit kann ganz beliebige Formen annehmen, aber diese werden dann
durch den Geist selbst und die hinter diesem stehende Logik der Ideen
beschränkt. Wir können eben dann doch nicht beliebige Erscheinun-
gen in ein und dieselbe Klasse von Dingen einordnen, sondern wir ha-
ben dabei im Hintergrund immer den Begriff der Einheit, der uns dazu
bringen wird, ähnliches zu gruppieren und die Gruppen selbst wieder
zu hierarchisieren. So bilden wir eben nicht eine Klasse mit Vierbei-
nern, der wir Tische und Katzen zuordnen, sondern wir haben vorgän-
gig die Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem
welche uns dann die Zahl der Beine als unwesentlich erkennen läßt.
Ebenso wirkt – darauf haben wir schon bei Chrysippos Hinweise ge-
funden – der Geist selbst insofern restriktiv, als wir uns bei der Be-
griffsbildung immer an den bereits vorhandenen Begriffen orientieren.
Dieser letztere Punkt – und hierin vermag ich gar einen gewissen Ge-
gensatz zur platonischen Auffassung erkennen – ist vermutlich der sehr
viel entscheidenere. Das Beispiel der immer wieder auftauchenden
Klassifizierung der Lebewesen in Mensch, Tier und Pflanze ist hier ein

209
Alkinous (um 175)
gutes Beispiel. Das Begriffsschema liegt bereits vor und kein Denker
mag sich die Mühe geben, es auch nur in Frage zu stellen, der Geist
geht einfach bedenkenlos darüber hinweg. Das Beispiel zeigt zugleich,
daß man sich nicht allzusehr auf die von uns als logischen Rahmen des
Denkens interpretierte Größe der ¢n£mnhsij verlassen sollte.

210
Attikos (um 176)
Attikos (um 176)
Über Attikos’ Leben wissen wir so gut wie gar nichts. Aus einer Chro-
nik erfahren wir, daß er um 176 gelebt haben soll. Außerdem sei Pro-
klos zufolge der Grammatiker Harpokration sein Schüler gewesen. Von
seiner Lehre her, von denen nur noch Fragmente erhalten sind, paßt er
ganz gut in diese Zeit. Die überaus meisten Fragmente finden sich bei
Eusebios. Hier geht es in der Regel um eine Verteidigung Platons gegen
Aristoteles. Die Stellen sind aber für unsere Zwecke wenig interessant,
so daß wir uns ausschließlich auf von Proklos überlieferte Gedanken
Attikos’ beziehen werden. Proklos zufolge hatte Attikos eine sehr ei-
gensinnige Interpretation des Platonismus, die sehr stark an Plutarchos
und Numenios erinnert.

Ideen
§ 169 Auch wenn die Struktur des Ideellen, wie wir sie bei Attikos fin-
den können, gänzlich von Numenios’ Ansatz verschieden ist, so finden
wir bei ihm doch so etwas wie ein Bedürfnis der Klärung der inneren
Struktur des Ideellen wieder, das sich auch bei Numenios zeigte. Dieses
Bedürfnis führte offenbar zu einem eher kreativen Umgang mit den
von Platon her bekannten Elementen des Ideellen. Das erste Element
in der Ideenlehre des Attikos ist wiederum die Idee des Guten; aller-
dings wird sie von ihm mit dem dhmiourgÒj gleichgesetzt:
'AttikÕj dš, Ð toÚtou did£skaloj, »Attikos aber, dessen [des Har-
aÙtÒqen tÕn dhmiourgÕn e„j taÙtÕn pokration] Lehrer, bringt aber
¥gei t¢gaqù sogleich den Schöpfer als das Gu-
te selbst vor.« 196

Indem so der dhmiourgÒj mit dem Guten gleichgesetzt wird, wirft dies
für Proklos, das klassische platonische Modell vor Augen habend, eine
ganze Reihe von Fragen auf. Wo steht dann der noàj? Wenn er über
dem Guten steht, so ist die oberste ontologische Größe, die dann der
noàj wäre, eine Vielheit. Befindet er sich jedoch im dhmiourgÒj, so wäre

196
Proklos, In Platonis Timaeum commentaria I, S. 306, 6-7

211
Attikos (um 176)
dieser und damit wiederum die oberste Größe eine Vielheit. Beides wi-
derspricht der Priorität des Einen im Platonismus, deren tiefere Bedeu-
tung wir ja schon öfter diskutiert haben. In der Tat scheint aber Attikos
eine dritte Möglichkeit ins Auge gefaßt zu haben, die Proklos, der sich
den dhmiourgÒj ganz platonisch als schaffend und den noàj betrachtend
vorstellt, gar nicht als wirkliche Option in den Sinn kam, nämlich eine
Unterordnung der Ideen unter den dhmiourgÒj.
§ 170 Dabei löst er, wie uns erneut Proklos berichtet, den Gedan-
ken eines zusammenhängenden noàj scheinbar auf:
Tr…ton to…nun, Óti oÙd Ð poiht»j, »Drittens ferner paßt es auch
Ön paralamb£nousin ¢rc»n, pros- nicht zu Platon, daß der Schöpfer
»kei tù Pl£twni· oÜte g¦r aƒ die Stelle des Prinzips einnimmt;
„dšai kecwrismšnai toà noà kaq' Denn weder gibt es vom Geist
aØt¦j Øfest»kasin, ¢ll' Ð noàj e„j getrennte Ideen, die in sich selbst
˜autÕn ™pestrammšnoj Ðr´ t¦ e‡dh bestehen, sondern der auf sich
p£nta· selbst bezogene Geist sieht alle
Wesenheiten.« 197

Erst nach dem mit der Idee des Guten identifizierten dhmiourgÒj kommt
also in Attikos’ Ontologie der noàj. Aber dieser noàj erscheint hier nicht
als eine Ganzheit, sondern Proklos’ Bericht zufolge als eine Sammlung
loser Ideen, von denen eine jede selbstsubsistent ist. Gemeint ist damit,
daß die Ideen nicht – wie das Proklos vorschlägt und wie er Platon in-
terpretiert – als ein System von sich aufeinander beziehenden Ideen
gedacht werden, die erst in ihrem Zusammenhang eine wirklich Bedeu-
tung haben können, sondern eben als Ideen, die sich offenbar selbst
ihre Bedeutung geben können. Wie das möglich sein soll, ist dabei
fraglich. Wir haben allerdings auch zu wenig Informationen, um Atti-
kos hier fundiert zu kritisieren. In jedem Fall aber erscheint Proklos’
Zweifel an Attikos’ Ansatz mehr als berechtigt zu sein.
§ 171 Dennoch scheint auch Attikos gezwungen gewesen zu sein,
eine Ordnung dieser Ideen anzunehmen:
`O m n 'AttikÕj ™n toÚtoij ºpÒrh- »Attikos hat sich bezüglich dessen
sen, e„ kaˆ Ð dhmiourgÕj ØpÕ toà gefragt, ob auch der Schöpfer
nohtoà zóou perišcetai· doke‹ g£r, vom ideellen Leben überragt

197
In Platonis Timaeum commentaria I, S. 393, 31 – 394, 4

212
Attikos (um 176)
e„ m n perišcoito, m¾ e nai tšleioj· wird; denn er lehrt, daß wenn er
t¦ g¦r merik¦ zùa, fhs…n, ¢telÁ, überragt wird, dieser nicht voll-
kaˆ di¦ toàto t¦ parapl»sia endet sei. Denn das aus Teilen
aÙto‹j oÙ kal£. e„ d m¾ perišcoi- bestehende Leben sei, so sagt er,
to, oÙ p£ntwn tîn nohtîn e nai tÕ unvollendet und deswegen seien
aÙtozùon perilhptikèteron, kaˆ die ihm ähnlichen nicht schön.
¢por»saj œqeto ·vd…wj Øp r tÕ Wenn er aber nicht überragt
aÙtozùon e nai tÕn dhmiourgÒn. wird, so sei das Leben selbst
nicht verständlicher als alles Ide-
elle und im Zweifel seiend setzte
er den Schöpfer als leicht über
dem Leben stehend.« 198

Attikos’ ist hier in die eine wie auch in die andere Richtung wenig ver-
ständlich. Wir wissen zu wenig über sein Denken, um einschätzen zu
können, welche Rolle genau die Idee des Lebens für ihn spielte. War-
um sollte der Schöpfer unvollkommen sein, wenn er der Idee des Le-
bens untergeordnet ist? Und warum sollte diese unverständlich werden,
wenn sie dem Schöpfer untergeordnet ist? Was wir also allein aus die-
sem Abschnitt herauslesen können ist der Umstand, daß Attikos letzt-
lich doch über ein hierarchisches Verhältnis der Ideen nachdenkt und
sich zu einer Ordnung der Ideen durchringt. Das jedoch widerspricht
dem, was wir oben als seine Auffassung kennengelernt haben. Wenn
alle Ideen selbständig sind und eben keines systematischen Zusam-
menhangs bedürfen, wie kann dann ein solches Unterordnungsverhält-
nis bestehen? Ist nicht eben damit schon gesagt, daß man auf eine Sy-
stematik der Ideen letztlich doch nicht verzichten kann? Offenbar ging
Attikos von so etwas wie einer linearen Abfolge der Ideen als selbstän-
diger Größen aus, bei welcher der dhmiourgÒj ganz oben steht, darunter
recht bald die Idee des Lebens kommt und schließlich weitere Ideen.
Dennoch bleibt der Widerspruch von Selbständigkeit und Ordnung als
Kritikpunkt bestehen.

198
In Platonis Timaeum commentaria I, S. 431, 14-20

213
Attikos (um 176)
Natur
§ 172 Bezüglich der Frage nach der Materie teilt Attikos die platonische
Auffassung der Ungeschaffenheit der Materie durch den dhmiourgÒj,
vermag es aber doch, die Welt im Gegensatz dazu als geschaffen zu be-
zeichnen:
œti d kaˆ ™pakolouq»swmen ta‹j »Überdies wollen wir auch den
'Attikoà qaumasta‹j Øpoqšsesin, erstaunlichen Hypothesen des
Ój fhsi tÕ m n plhmmelîj kaˆ Attikos folgen, der sagt, daß das
¢t£ktwj kinoÚmenon e nai ¢gš- fehlerhaft und ungeordnet Be-
nhton, tÕn d kÒsmon ¢pÕ crÒnou wegte unentstanden sei, die Welt
genhtÒn aber in der Zeit entstanden«.
199

Wir finden hier den platonischen Schöpfungsprozeß wieder, bei dem


aus der ungeschaffenen und ungeordneten Materie die geformte Welt
erzeugt wird. Die Welt entsteht so erst, obwohl ihr Substrat, die Mate-
rie, selbst ungeschaffen ist. Ebenso wie bei Plutarchos ist für Attikos ei-
ne ungeordnete Seele die Ursache dieses ordnungslosen Zustandes der
Materie:
Prîton m n oân ¢pote…netai prÕj »Zuerst aber breitet er [Porphyri-
toÝj perˆ 'AttikÕn poll¦j Øpoti- os] sich über Attikos aus, der
qemšnouj ¢rc¦j sunaptoÚsaj ¢l- viele Prinzipien, die einander be-
l»loij tÕn dhmiourgÕn kaˆ t¦j „dš- rühren, annimmt, wie den Schöp-
aj, o‰ kaˆ t¾n Ûlhn ØpÕ ¢gen»tou fer und die Ideen und der sagt,
fasˆ kinoumšnhn yucÁj, ¢lÒgou d die Materie sei ungeschaffen und
kaˆ kakergštidoj, plhmmelîj kaˆ von einer Seele bewegt, die irra-
¢t£ktwj fšresqai, <kaˆ> pro- tional und Schlechtes tuend,
ãfist©si kat¦ crÒnon t¾n m n fehlerhaft und ungeordnet len-
Ûlhn toà a„sqhtoà, t¾n d ¢log…an kend und die Materie der Zeit
toà lÒgou, t¾n d ¢tax…an tÁj nach von dem Sinnlichen entste-
t£xewj. hen lasse, das Unlogische vor
dem Logischen, das Ungeordnete
vor dem Geordneten.« 200

Wie wir diese ungeordnete schlechte Seele genau aufzufassen haben


bleibt fraglich. Bei Plutarchos haben wir sie als den positiven Ideen als

199
In Platonis Timaeum commentaria I, S. 283, 27-29
200
In Platonis Timaeum commentaria I, S. 391, 6-12

214
Attikos (um 176)
Antithese gegenüberstehendes Prinzip einer Dialektik interpretiert. Das
ging dort aber, weil Plutarchos in De Iside et Osiride das Prinzip des
Schlechten auch gleich schon zu einem Element der Entwicklung des
Ideellen selbst machte. So wie uns Proklos hier die Gedanken des Atti-
kos präsentiert, ist das nicht so einfach möglich. Vielmehr erscheint
hier das Prinzip des Schlechten als eine Art ideelle Begleiterscheinung
der ungeformten Materie, als ihre Form sozusagen, die gleichwohl
darin besteht, daß sie eben alles Formhafte zerstört und unterbindet.
Dabei handelt es sich meines Erachtens bloß um eine recht unbegrün-
dete Substantialisierung eines lediglich noch abwesenden Zustandes,
dessen Abwesenheit wiederum einzig am platonischen Dogma der
Ewigkeit der Materie hängt. Geht man hingegen davon aus, daß auch
die Materie vom Ideellen erst hervorgebracht werden muß, dann ver-
schwindet das Problem, ihren Zustand vor der Formung erklären zu
müssen.

215
Kelsos (um 178)
Kelsos (um 178)
Von Kelsos wissen wir lediglich, daß er um das Jahr 178 vermutlich in
Alexandria eine Schrift gegen die Christen mit dem Titel ¢lhq»j lÒgoj,
Wahre Lehre, verfaßt hat. Auch diese Schrift ist nur teilweise dadurch
erhalten, daß Origenes sie in acht Büchern widerlegt und dabei ausgie-
big zitiert. Aus dem Text läßt sich erkennen, daß Kelsos Platoniker war.
Sein Text stellt die erste explizite Reaktion der griechischen Philoso-
phie auf das Christentum dar.

Ideen
§ 173 Den entschiedensten Einspruch Kelsos’ gegen das Christentum
findet man in seiner Auseinandersetzung mit der These der Mensch-
werdung Gottes. Etwas derartiges ist für Kelsos ausgeschlossen und er
weiß die entsprechenden metaphysischen Gegenargumente aufzufah-
ren:
`O qeÕj ¢gaqÒj ™sti kaˆ kalÕj kaˆ »Gott ist gut, schön und glücklich
eÙda…mwn kaˆ ™n tù kall…stJ kaˆ und befindet sich in dem schönsten
¢r…stJ· e„ d¾ ™j ¢nqrèpouj k£t- und besten Zustande. Steigt er nun
eisi, metabolÁj aÙtù de‹, meta- zu den Menschen hernieder, so
bolÁj d ™x ¢gaqoà e„j kakÕn kaˆ muss er sich einer Veränderung un-
™k kaloà e„j a„scrÕn kaˆ ™x eÙdai- terziehen, und zwar einer Verände-
mon…aj e„j kakodaimon…an kaˆ ™k rung vom Guten zum Schlechten,
toà ¢r…stou e„j tÕ ponhrÒtaton. vom Schönen zum Häßlichen, vom
T…j ¨n oân ›loito toiaÚthn meta- Glück zum Unglück und von dem
bol»n; Kaˆ m n d¾ tù qnhtù m n besten zu dem schlimmsten Zustand.
¢ll£ttesqai kaˆ metapl£ttesqai Wer möchte nun wohl eine solche
fÚsij, tù d' ¢qan£tJ kat¦ t¦ Veränderung wählen? Und nur das
aÙt¦ kaˆ æsaÚtwj œcein. OÙk ¨n Sterbliche ist von Natur der Wand-
oân oÙd taÚthn t¾n metabol¾n lung und Umgestaltung unterworfen,
qeÕj dšcoito. das Unsterbliche aber ist seinem
Wesen nach immer ein und dassel-
be. Gott könnte also eine derartige
Veränderung nicht eingehen.«201

201
Contra Celsum IV, 14, 4-12, Übers. P. Koetschau

216
Kelsos (um 178)
Aus metaphysischer Sicht läßt sich zu diesen Ausführungen zweierlei
sagen. Einerseits übersieht Kelsos die metaphorische Möglichkeit, daß
die Menschwerdung als parous…a im platonischen Sinne interpretiert
werden kann. Dann wäre daran nichts auszusetzen, daß ein Teil von
Gott eben zur Naturform wird, aber zugleich als solche etwas Göttliches
bleibt. Läßt man aber andererseits diese Option beiseite, was durchaus
dadurch zu rechtfertigen ist, daß diese Sichtweise im Christentum so
vielleicht gar nicht intendiert war, sondern sich mehr oder weniger auf-
grund der vielen Anleihen beim Platonismus so ergeben hat, dann trifft
Kelsos’ Kritik durchaus metaphysisch etwas Richtiges. Gott kann seine
Eigenschaften nicht komplett ändern. Diese mögen zwar eine dialekti-
sche Struktur haben, aber sie sind jedenfalls festliegend und unflexibel.
Was Kelsos jedoch vollkommen entgeht ist die existentialistische
Tragweite der christlichen These von der Menschwerdung Gottes, die
den metaphysischen Widerspruch bewußt in Kauf nimmt. Wir haben
diesen Aspekt bereits mehrfach angesprochen und müssen so hier nicht
erneut darauf eingehen. Es wird jedoch deutlich, daß gerade dieser
Punkt einen deutlichen Graben zwischen griechischer und christlicher
Philosophie markiert, den – sieht man auf die Gnostiker – nicht einmal
alle Christen zu überspringen vermögen.

Natur
i. Kritik am christlichen Materiebegriff
§ 174 Einen weiteren Einspruch Kelsos’ gegen das Christentum findet
man in der Frage nach der Materie. Der platonischen Tradition folgend
gilt ihm die Materie als etwas schlechthin Unvernünftiges, was unmög-
lich von einem Gott geschaffen worden sein kann:
AÙtÕj g£r ™stin Ð p£ntwn tîn »Denn er selbst ist die Vernunft
Ôntwn lÒgoj· oÙd n oân oŒÒj te alles Seienden; er kann daher
par£logon oÙd par' ˜autÕn ™rg£- nichts tun, was der Vernunft oder
sasqai. seinem eigenen Wesen wider-
spricht« 202

202
Contra Celsum V, 14, 23-25, Übers. P. Koetschau

217
Kelsos (um 178)
Dieses Argument gegen die christliche Auffassung, wonach auch die
Materie von Gott geschaffen sei, ist nur dann schlüssig, wenn man die
platonische Prämisse akzeptiert, wonach die Materie eben schlechthin
widervernünftig ist. Wir haben aber schon gesehen, daß eben diese
Prämisse sehr große Probleme mit sich bringt. Wie könnte denn dieses
schlechthin Widervernünftige dennoch vernünftige Formen anneh-
men? Es muß mithin in der Materie zumindest etwas geben, daß zur
Aufnahme des Vernünftigen fähig ist und so selbst in einem Teil der
Vernunft ähnlich ist.
Dies zugestanden läßt sich dem folgenden Argument des Kelsos
durchaus etwas abgewinnen:
'All' ™ke‹no m©llon ™qšlw did£xai »Vielmehr will ich eine Beleh-
t¾n fÚsin, Óti Ð qeÕj oÙd n qnhtÕn rung über die Natur erteilen, dass
™po…hsen· ¢ll¦ qeoà m n œrga Ósa nämlich Gott nichts Sterbliches
¢q£nata, qnht¦ d' ™ke…nwn. Kaˆ geschaffen hat, sondern dass nur
yuc¾ m n qeoà œrgon, sèmatoj d die unsterblichen Wesen seine
¥llh fÚsij. Werke sind, während von diesen
das Sterbliche herrührt. Und die
Seele ist Gottes Werk, die Natur
des Leibes dagegen ist eine ande-
re«.203

Diese Auffassung widerspricht der christlichen Lehre insofern als diese


von einer direkten Schöpfung der Natur durch Gott, der ja mit seinem
schaffenden lÒgoj ein Wesen ist, ausgeht. Kelsos setzt dem die uns von
Platon her bereits bekannte Emanationslehre entgegen, wonach das
Unvollkommenere nach und nach aus dem Vollkommenen hervorge-
bracht wird. Das Vorherige nun vorausgesetzt wäre damit die niedrigste
Naturform als der Schöpfer der Materie ausgemacht. Diese enthielte
somit immer noch ein Minimum an Logizität, aber dieses wäre zugleich
so minimal, daß es allenfalls dazu ausreichte, eben diese niedrigste
Form anzunehmen.
Das jedoch widerspricht nicht zwangsläufig der christlichen Lehre
einer Schöpfung durch den lÒgoj, der ja den noàj, die Summe der Ide-
en als System darstellt. Auch das Hervorgehen der Materie als Resultat

203
Contra Celsum IV, 52, 10-13, Übers. P. Koetschau

218
Kelsos (um 178)
einer Emanation kann bereits im lÒgoj vorgebildet sein, so daß der
zwar die Geschöpfe letztlich nur indirekt, vermittelt über Zwischenwe-
sen, aber doch als letzte Ursache erschafft.

ii. Ein Vergleich von Mensch und Tier


§ 175 Hinsichtlich der Formenlehre finden wir nun bei Kelsos eine
Reihe von reduktionistischen Annahmen, die um eines Angriffs auf die
Christen willen, die Philosophie als Ganze weit zurückwerfen. Vermut-
lich sind es diese Reduktionismen, die Origenes dazu veranlaßt haben,
in Kelsos eher einen Epikuräer denn einen Platoniker zu erkennen.
Mit zwei Argumenten versucht Kelsos den Menschen dem Tier an-
zugleichen. Das erste bezieht sich direkt auf den Körper beider:
Kaˆ yuc¾ m n qeoà œrgon, sèmatoj »Und die Seele ist Gottes Werk,
d ¥llh fÚsij. Kaˆ oÙd n dio…sei die Natur des Leibes dagegen ist
sîma ¢nqrèpou sèmatoj nuk- eine andere; und es wird kein
ter…doj À eÙlÁj À batr£cou· Ûlh Unterschied bestehen zwischen
g¦r ¹ aÙt», kaˆ tÕ fqartÕn aÙtîn dem Leib eines Menschen und
Ómoion· dem Leib einer Fledermaus oder
eines Wurmes oder eines Fro-
sches. Denn alle Leiber sind aus
dem gleichen Stoffe gebildet und
der Vergänglichkeit in gleicher
Weise unterworfen.«204

Das Argument scheint auf den ersten Blick eine unmittelbare Evidenz
zu haben. Beide, Mensch und Tier, haben dieselbe Materie als
Grundlage ihres Körpers. Da es aber einen Unterschied zwischen bei-
den geben muß, so kann dieser nur in der Seele liegen, die mit der
Form gleichzusetzen ist. Auf den zweiten Blick entlarvt dieses Argu-
ment sich nun aber als entweder nichtssagend oder eben reduktioni-
stisch. Nichtssagend ist es dann, wenn man bedenkt, daß die Wesen
eben durch ihre höchste Formstufe charakterisiert sind. So unterschei-
den sich eben Mensch und Tier, obschon sie einen Teil des organisato-
rischen Weges, ihres Stufengangs in der Natur gemeinsam gehen. Das
aber, was beide gemeinsam haben ist gerade für ihre Wesensunter-

204
Contra Celsum IV, 54, 4-7, Übers. P. Koetschau

219
Kelsos (um 178)
scheidung ganz und gar unwichtig. Reduktionistisch jedoch wäre dieses
Argument, wenn man diese Gemeinsamkeit überhaupt auch nur in Be-
tracht zieht, denn dann reduziert man beide Wesen auf das Materielle.
In der tat sind sie aber dadurch zu unterscheiden, daß es im Menschen
mehr Formstufen als im Tier gibt.
§ 176 War bei diesem Argument Kelsos’ Reduktionismus noch we-
niger deutlich, so tritt er beim folgenden um so klarer hervor. Kelsos
sieht die Mensch und Tier als in metaphysischer Hinsicht gleichberech-
tigt an:
e‡ tij ¹m©j lšgoi ¥rcontaj tîn »Wenn uns jemand die Herr-
¢lÒgwn, ™peˆ ¹me‹j t¦ ¥loga zùa scher der belebten Schöpfung
qhrîmšn te kaˆ dainÚmeqa, f»so- nennen wollte, da wir die übrigen
men Óti t… d' oÙcˆ m©llon ¹me‹j di' lebenden Wesen jagen und ver-
™ke‹na gegÒnamen, ™peˆ ™ke‹na speisen, so werden wir fragen:
qhr©tai ¹m©j kaˆ ™sq…ei; 'All¦ Warum sind nicht wir vielmehr
kaˆ ¹m‹n m n ¢rkÚwn kaˆ Óplwn de‹ ihretwegen geschaffen, da sie
kaˆ ¢nqrèpwn pleiÒnwn bohqîn doch Jagd auf uns machen und
kaˆ kunîn kat¦ tîn qhreuomšnwn· uns fressen? Aber wir bedürfen
™ke…noij d' aÙt…ka kaˆ kaq' aØt¦ ¹ auch der Netze und der Waffen
fÚsij Ópla dšdwken, eÙcerîj ¹m©j und zahlreicher Menschen als
Øp£gousa ™ke…noij. Helfer und der Hunde wider die
zu erjagenden Tiere; jene dage-
gen sind von der Natur sofort
und an sich mit den Waffen ver-
sehen worden, mit denen wir von
ihnen leicht bezwungen wer-
den?« 205

Wir kennen die Auffassung, wonach ein jedes Wesen gemäß der Stu-
fenfolge der Naturformen um des jeweils höheren Willen da sei bereits
aus der Stoa und sie steht ganz und gar im Geist des Platonismus. Von
diesem wendet sich Kelsos hier scheinbar ab und zieht sich auf die
nackten Fakten zurück, die uns zeigen, daß so manch ein Mensch auch
um eines Tieres willen da war, dessen Speise er geworden ist. Dabei
mißversteht er jedoch gehörig den tieferen Sinn dieser Auffassung, die
ja eher die Naturstufen selbst in ihrer Abhängigkeit darzustellen ver-

205
Contra Celsum IV, 78, 3-10ß, Übers. P. Koetschau

220
Kelsos (um 178)
sucht. Natürlich kann so nie ein Mensch um eines Tieres willen da
sein, denn dessen Geist kann das Tier nicht fressen; es frißt nur den
Körper, also dasjenige am Menschen, was der Tierkörper assimilieren
und funktional integrieren kann.
Aber Kelsos’ Intention wird hier vielleicht etwas deutlicher. Er will
zeigen, wie unwichtig doch der Körper ist, wie wenig er daher von Gott
stammen kann, wo doch das Körperliche nicht einmal den fundamen-
talen Unterschied zwischen Mensch und Tier auszudrücken vermag.
Aber auch hier läuft er in die nämliche Aporie wie oben. Das Argu-
ment ist entweder reduktionistisch – wie gerade ausgeführt – oder eben
nichtssagend, denn es erfaßt gerade den Unterschied von Mensch und
Tier nicht.

Geist
§ 177 Wir hatten bei unserer Diskussion von Tatian und später bei
Athenagoras die besondere Rolle angesprochen, die dem Teufel in der
christlichen Metaphysik zukommt. Dabei wurde gesagt, daß ein solches
negatives Geistwesen für einen im griechischen Denken stehenden
Menschen ganz und gar undenkbar ist. Wenig verwunderlich ist es da-
her, daß Kelsos eben diesen Punkt aufgreift:
Sf£llontai d ¢sebšstata ¥tta »Sie begehen aber einen ganz
kaˆ perˆ t»nde t¾n meg…sthn ¥gnoi- gottlosen Irrtum auch mit dieser
an, Ðmo…wj ¢pÕ qe…wn a„nigm£twn großen Unkenntnis, die in glei-
peplanhmšnhn, poioàntej tù qeù cher Weise von göttlicher Rät-
™nant…on tin£, di£bolÒn te kaˆ selworte abirrt, indem sie für
glèttV ˜bra…v Satan©n Ñnom£- Gott einen Gegner schaffen und
zontej tÕn aÙtÒn. ebendenselben Diabolos und in
hebräischer Sprache Satan be-
nennen.«206

Nach Kelsos Auffassung ist solches unmöglich. Dafür können zwei


Gründe angenommen werden. Der erste betrifft die Einschränkung, die
Gott dadurch erfährt. Er würde es weder zulassen wollen, noch qua

206
Contra Celsum VI, 42, 2-5, Übers. P. Koetschau

221
Kelsos (um 178)
Allmacht zulassen müssen, daß ein solches Wesen existiert. Der zweite
Grund aber ist eher metaphysischer Natur: ein Zwischenwesen zwi-
schen Gott und den Menschen, ein Wesen also, daß den Menschen
überragt, kann kein schlechtes Wesen sein. Mit seiner höheren Einsicht
muß es auch das Gute besser erkennen können.
Beide Argumente verkennen jedoch das Wesen des Geistes, der
hinter sich selbst zurückfallen kann. Den Teufel als ein rein geistiges
Wesen haben wir als eine in sich geschlossene soziale Struktur interpre-
tiert, die den einzelnen Menschen aufsaugt und seinem Geist keinen
Platz mehr läßt. Da der Geist ein ganzheitliches Wesen ist, ein Wesen
bei dem jeder Teil mit jedem anderen zusammenhängt, gibt es für ihn
keine klare Entwicklungslinie hin zur metaphysischen Vervollkomm-
nung und Sackgassen sind hier durchaus möglich. Nicht jede Form der
Organisation auf einer höheren Ebene ist im Geist auch eine höhere
Seinsform.
In existentieller Hinsicht ist es hierbei für den Menschen etwas
leichter, zu erkennen, daß eine solche Struktur ihn lahmlegt. Es handelt
sich dabei nämlich um ebensolche Strukturen, die den Menschen nicht
als Menschen, nicht als ein höchstes Glied, sondern als ein bloßes
Funktionsglied mißbrauchen. Die Freiheit des Menschen, sich als
Mensch und höchstes Wesen zu sehen bringt gerade die Möglichkeit
mit sich, daß der Mensch diese Einsicht verfehlt. Hier könnte kein Gott
ihm helfen, denn solche Hilfe wäre eben auch der Verlust der Freiheit.

222
Hermogenes (um 180)
Hermogenes (um 180)
Alles was wir über diesen Hermogenes wissen, wissen wir aus Tertullia-
nus’ Schrift Adversus Hermogenem, welche dessen These zur Materie
darstellt und ausführlich kritisiert. Hermogenes, ein Zeitgenosse Ter-
tullianus’ war offenbar wie dieser auch ein Christ, der jedoch in der
Frage nach der Materie der platonischen Sichtweise den Vorzug gab.

Natur
§ 178 Tertullianus stellt im wesentlichen drei Argumente Hermogenes’
dafür vor, daß die Materie mit Gott gleichursprünglich sein müsse. Wir
werden sehen, wie Hermogenes in all diesen Argumenten die Natur
des Ideellen systematisch verkennt. Das erste Argument verweist auf die
Unteilbarkeit Gottes:
Negat illum ex semetipso fa- »Dass der Herr aus sich selbst
cere potuisse, quia partes ipsi- [die Materie] habe schaffen kön-
us fuissent quaecumque ex se- nen, leugnet er, weil die aus ihm
metipso fecisset dominus; por- heraus erschaffenen Dinge dann
ro in partes non devenire ut Teile von ihm gewesen sein wür-
indiuisibilem et indemutabilem den. Nun gehe er aber nicht in
et eundem semper, qua domi- eine Teilung ein, weil er, als der
nus. Herr, unteilbar, unverkürzbar
und stets einer und derselbe
sei.«207

Würde Gott die Materie aus sich schaffen, so würde er sich in Materie
und Gott aufteilen, wäre also teilbar, mithin eine Vielheit und nicht
mehr das göttliche Eine. Hermogenes übersieht hier gleich mehreres.
Das göttliche Ideelle ist letztlich ohnehin in sich eine Vielheit. Diese
Vielheit bliebt aber eine in sich geschlossene Einheit, indem die Ideen
sich aufeinander beziehen, einander konstituieren. Auch durch das
Hervorgehen der Materie aus dem Ideellen wird diese Einheit nicht
aufgebrochen, denn das Materielle existiert wie ein Schatten des Ideel-
len, eine Abbildung desselben, die in jedem Moment ihrer Existenz

207
Tertullianus, Adversus Hermogenem 2, 2, Übers. K.A.H. Kellner

223
Hermogenes (um 180)
von Ideellen abhängig bleibt. Sie ist so zwar ein Teil des Ideellen, aber
nicht in der Weise, daß dies zu einer Teilung führen würde. Der Grund
dafür ist der spezielle Charakter des Geistigen oder Ideellen überhaupt.
Wenn ich etwas mitteile, dann teile ich es nicht, sondern vermehre es
gewissermaßen. Dem Ideellen fehlt also das Materielle nach dessen
Hervorgehen nicht als Teil derselben, sondern das Hervorgehen ist ei-
ne Emanation.
§ 179 Indem er diese plastische Vorstellung einer Teilung ablehnt,
kommt er zu eben jener von uns hier vorgestellten Auffassung, die er
durch ein zweites Argument ebenfalls zu widerlegen sucht:
<A>ut si totus totum fe- »Hätte er aber als Ganzer ein
cisset, oportuisset illum simul Ganzes gemacht, so müsste er
et totum esse et non totum, gleichzeitig das Ganze sein und
quia oporteret et totum esse, auch nicht. Denn er hätte müssen
ut faceret semetipsum, et to- zu gleicher Zeit das Ganze sein,
tum non esse, ut fieret de se- um sich selbst hervorzubringen,
metipso. und wiederum nicht das Ganze
sein, damit es aus ihm selbst ent-
stehe.«208

In der Tat, nach der von uns oben ausgeführten Auffassung muß das
Ideelle zugleich die Materie sein, sie findet in ihm statt. Aber hier denkt
Hermogenes erneut viel zu räumlich-materiell um die Natur des Ideel-
len wirklich zu erfassen. Die Materie ist zwar in gewisser Weise ein an-
deres des Ideellen, aber sie ist darum nicht außerhalb desselben. Sie
befindet sich ganz und gar im geistigen Raum des Ideellen, dessen
Ganzheit als rein Ideelles dennoch unbeschädigt bleibt, denn das Mate-
rielle greift zu keinem Zeitpunkt in den logischen Selbstkonstitutions-
prozeß des Ideellen ein.
§ 180 Dieser Gedanke spielt nun auch im dritten Argument des
Hermogenes eine wichtige Rolle, wo die Herrschaft eines Gottes, der
die Materie erst erschaffen muß, in Frage gestellt wird:
deum semper deum <semper> »Gott, sagt er, sei stets Gott und
etiam dominum fuisse, nunquam auch stets Herr gewesen und
non dominum. Nullo porro modo niemals nicht Gott. Nun sei es

208
Tertullianus, Adversus Hermogenem 2, 3, Übers. K.A.H. Kellner

224
Hermogenes (um 180)
potuisse illum semper dominum aber in keiner Weise möglich,
haberi, sicut et semper deum, dass er beständig als Herr und
si non fuisset aliquid retro beständig als Gott gelte, wenn es
semper cuius semper dominus nicht in früherer Zeit immer et-
haberetur; fuisse itaque mate- was gab, worüber er Herr war. Es
riam semper deo domino. habe also, beständig eine Materie
gegeben, für die er Herr und
Gott war.« 209

Zum einen können wir hierzu sagen, daß das Hervorgehen der Materie
aus dem Ideellen nicht als ein zeitlicher Prozeß gedacht werden muß.
Vielmehr ist die Zeit – das haben wir schon von Aristoteles erfahren –
etwas, das erst mit der Welt überhaupt entsteht. Das Ideelle an sich
muß als eine ganz und gar zeitlose Größe gedacht werden.
Zum anderen gibt es hier das Problem der Herrschaft Gottes. Wie
können wir dieses Konzept in die Sprache einer idealistischen Meta-
physik übersetzen? Meines Erachtens steht sie für ein begriffliches Ab-
hängigkeitsverhältnis. Alles Materielle hängt wesentlich begrifflich vom
Ideellen ab. Und da es letztlich seine Existenz nur in dieser geistigen
Substanz hat, hängt es darum auch ontologisch vom Ideellen ab. Nun
aber sehen wir, daß die Begriffe im Ideellen immer schon voneinander
abhängen. Das Ideelle wäre so auch schon in sich dominus. Die Kate-
gorie der Abhängigkeit wird auch selbst im Ideellen konstituiert und sie
entsteht – gerade darin liegt hier der gefährliche Angriff des Argumen-
tes von Hermogenes – nicht erst durch das Hervorgehen der Materie
aus ihr.

209
Tertullianus, Adversus Hermogenem 3, 1, Übers. K.A.H. Kellner

225
Clemens von Alexandria (150-215)
Clemens von Alexandria (150-215)
Clemens wurde als Heide in Athen geboren und lernte in seiner Jugend
die gängigen philosophischen Systeme kennen. Zum Christentum be-
kehrt reiste er durch das römische Reich und blieb schließlich im da-
mals intellektuellen Zentrum Alexandria, wo er seit 175 an der Kate-
chetenschule lehrte. Als sein Lehrer Pantainos vom Papst nach Indien
geschickt wurde, bestimmte er Clemens zu seinem Nachfolger. Im Jah-
re 202 mußte er schließlich vor der Christenverfolgung unter Septimus
Severus nach Kappadokien fliehen.
Interessant ist bei Clemens vor allem seine Verbindung von Platon
und Aristoteles, deren Gedanken er mit der christlichen Lehre zu ver-
einbaren sucht. Vor allem in Platon sieht er nach der damals im christ-
lichen Denken vorherrschenden These einen durch die Lektüre der
mosaischen Thora beeinflußten Philosophen.

Ideen
i. Gott und lÒgoj
§ 181 Bei Clemens finden wir die platonische Teilung des Reiches des
Ideellen in das Eine als Einheit der Ideen einerseits und schließlich die
Ideen selbst wieder. In bekannter christlicher Manier werden das Eine
mit Gott und die Ideen mit dem lÒgoj oder Christus identifiziert:
plhrèsw aÙt¾n nekrîn ghgenîn, »Da nun Gott unbeweisbar ist, so
oÞj œpaisen ¹ Ñrg» mou. Ð m n oân ist er dem Wissen nicht erfaßbar;
qeÕj ¢napÒdeiktoj ín oÙk œstin der Sohn aber ist Weisheit und
™pisthmonikÒj, Ð d uƒÕj sof…a tš Wissen und Wahrheit und was
™sti kaˆ ™pist»mh kaˆ ¢l»qeia kaˆ sonst diesem verwandt ist, und in
Ósa ¥lla toÚtJ suggenÁ, kaˆ d¾ der Tat kann man über ihn mit
kaˆ ¢pÒdeixin œcei kaˆ dišxodon. Beweisen und ausführlicher Dar-
p©sai d aƒ dun£meij toà pneÚma- legung reden. Und alle Kräfte des
toj sull»bdhn m n ›n ti pr©gma Geistes werden zu einer einzigen
genÒmenai sunteloàsin e„j tÕ aÙtÒ, Macht zusammenkommen und
tÕn uƒÒn, ¢paršmfatoj dš ™sti tÁj eine einzige Wirkung hervor-
perˆ ˜k£sthj aÙtoà tîn dun£mewn bringen, nämlich den Sohn; ein
™nno…aj. kaˆ d¾ oÙ g…netai ¢tecnîj Gesamtbild von ihm erhält man
n æj ›n, oÙd poll¦ æj mšrh Ð aber nicht, wenn man sich auf die

226
Clemens von Alexandria (150-215)
uƒÒj, ¢ll' æj p£nta ›n. Vorstellung von jeder einzelnen
von seinen Kräften beschränkt.
Und der Sohn wird nicht einfach
zu etwas Einzigem als etwas Ein-
ziges, und nicht zu etwas Vielfa-
chem als die Verbindung von
Teilen, sondern er wird zu etwas
Einzigem als die Vereinigung von
allem«. 210

Gott selbst, das platonische Eine also, wird hier von Clemens als eine
Größe gefaßt, die den menschlichen Geist übersteigt. Sie kann nicht
gewußt, nicht mit dem Verstand ganz erfaßt werden. Im Gegensatz dazu
ist der lÒgoj etwas Begreifbares. Er läßt sich in die Vielheit der einzel-
nen Ideen zerlegen, deren jede einzelne begreifbar ist. Aber das Begrei-
fen jeder einzelnen Idee reicht selbst in der Summe nicht aus, um da-
mit die Einheit derselben selbst zu begreifen. Wir haben diesen Zu-
sammenhang ja bereits mehrmals an anderer Stelle diskutiert. Die Ide-
en sind im Denken im zeitlichen Auseinander während sie im Ideellen
selbst als Eines zugleich präsent sind.
Interessant ist aber hier ein anderer Aspekt, der in Clemens’ Be-
schreibung durchscheint. Auch der lÒgoj wird von ihm als eine Einheit
verstanden, ist er doch die Summe der Ideen. So kann im übrigen dann
im Sinne der Dreieinigkeit, deren Problematik wir noch zureichend bei
den kommenden christlichen Denkern vorfinden werden, eine Identität
zwischen Gott und lÒgoj behauptet werden. Das scheint aber im Blick
auf die Ideen zunächst widersprüchlich, denn einerseits ist der lÒgoj
dann die Summe der einzelnen Ideen als eine Vielheit, andererseits
aber ist er auch deren Einheit. Wir können dies Verhältnis jedoch dia-
lektisch fassen. Denn die Einheit ist eine Bedingung der Vielheit. Nur
insofern die Begriffe zusammenhängen, grenzen sie sich voneinander
ab und bilden eine Vielheit. Zugleich aber ist die Vielheit der Begriffe
eine Bedingung der Einheit, denn wessen Einheit wäre sie, wenn nicht
die einer Vielheit. Der Sohn ist also nicht einfach eine Ansammlung
von irgendwelchen losen Teilen (oÙd poll¦ æj mšrh Ð uƒÒj), sondern

210
Stromata IV, 24, 156, 1, 1 – 2, 2, Übers. O. Stählin

227
Clemens von Alexandria (150-215)
eine Einheit intrinsisch verwobener Teile, deren gegenseitiges Verhält-
nis für sie bedeutungs- und so existenzkonstitutiv ist.
§ 182 Einen ersten Blick auf die Ideen selbst können wir bei Cle-
mens dort werfen, wo er versucht zu zeigen, daß Gott als das Eine un-
begreiflich ist:
pîj g¦r ¨n e‡h ·htÕn Ö m»te gšnoj »Denn wie könnte man von dem
™stˆ m»te diafor¦ m»te e doj m»te reden, was weder eine Gattung
¥tomon m»te ¢riqmÒj, ¢ll¦ mhd noch eine besondere Art noch
sumbebhkÒj ti mhd ú sumbšbhkšn eine Form noch ein Unteilbares
ti. oÙk ¨n d Ólon e‡poi tij aÙtÕn noch eine Zahl ist, aber auch
Ñrqîj· ™pˆ megšqei g¦r t£ttetai tÕ keine unwesentliche Eigenschaft
Ólon kaˆ œsti tîn Ólwn pat»r. oder etwas ist, das eine solche
oÙd m¾n mšrh tin¦ aÙtoà lektšon· Eigenschaft besitzt? Aber auch
¢dia…reton g¦r tÕ ›n, di¦ toàto d Ganzes kann ihn niemand im
kaˆ ¥peiron, oÙ kat¦ tÕ ¢diex…th- eigentlichen Sinn nennen; denn
ton nooÚmenon, ¢ll¦ kat¦ tÕ ¢di£- „ganz“ gehört zum Begriff der
staton kaˆ m¾ œcon pšraj, kaˆ to…- Größe, und Gott ist der Vater der
nun ¢schm£tiston kaˆ ¢nwnÒma- ganzen Welt. Aber auch von
ston. Teilen kann man bei Gott nicht
reden; denn unteilbar ist das Eine
und deshalb auch unendlich,
nicht in dem Sinn, daß man es
nicht erschöpfend behandeln
kann, sondern daß man es nicht
in Abschnitte zerlegen kann und
daß es kein Ende hat und dem-
nach gestalt- und namenlos ist.«
211

Indem alle diese hier genannten Begriffe dem Einen nicht zuzuschrei-
ben sind, werden sie von Clemens indirekt dennoch als Begriffe des
lÒgoj behauptet, denn nur was nicht unter diese Begriffe gefaßt werden
kann, davon kann gesagt werden, es sei mit Begriffen überhaupt nicht
zu erfassen. Die Argumentation dafür ist hier weniger interessant; sie
unterbietet das, was wir ganz detailliert in Platons Parmenides vorge-
führt bekommen haben. Viel interessanter ist ein Blick auf die Begriffe
selbst. Welche Begriff sind es nun, die wir hier vorfinden: gšnoj, e doj

211
Stromata V, 12, 81, 5, 1 – 82, 1, 2, Übers. O. Stählin

228
Clemens von Alexandria (150-215)
und sumbebhkÒj sind eindeutig aristotelische Begrifflichkeit, die hier in
einen platonischen Kontext gestellt werden. Was Clemens also vor-
schwebt ist offensichtlich eine Verbindung von Platonismus und aristo-
telischer Logik ganz in dem Sinne, in dem auch wir im ersten Band
Aristoteles gelesen haben. Der idealistische Rahmen der Philosophie
stammt von Platon, aber die genaue Begriffsanalyse sucht Clemens bei
Aristoteles.

ii. Die Logik der Begriffe


§ 183 Wir bekommen seine begriffliche Logik vor allem im achten
Buch der Stromata vorgeführt; einem Buch das von Charakter und
Thematik her nicht mehr zum vorhergehenden Text zu passen scheint.
Hier stellt uns Clemens eine zusammenhängende Analyse logischer
Begriffe vor und greift dabei nicht nur inhaltlich sondern auch metho-
disch auf die aristotelische Logik zurück.
Seine Analyse beginnt mit der Frage nach dem Ausgangspunkt einer
Argumentation. Dieser liegt für ihn in Ausdrücken, über deren Bedeu-
tungsgehalt sich Diskutierende einigen können:
aÙt…ka æj ØpostatÕn por…zontai »Die Philosophen behandeln den
t¾n ¢pÒdeixin oƒ filÒsofoi, ¥lloj Beweis so, als würden sie so auf
¥llwj. perˆ pantÕj to…nun toà zh- die eine oder andere Weise so-
toumšnou e‡ tij Ñrqîj dialamb£noi, gleich eine Subsistenz erschaffen.
oÙk ¨n ™f' ˜tšran ¢rc¾n Ðmologo- Deshalb ist es, wenn man bezüg-
umšnhn m©llon ¢nag£goi tÕn lÒgon lich jeder Untersuchung richtig
À tÕ p©si to‹j Ðmoeqnšsi te kaˆ vorgehen möchte, nicht möglich,
Ðmofènoij ™k tÁj proshgor…aj den Beweisgang auf einen ande-
ÐmologoÚmenon shma…nesqai. ren, noch mehr von allen akzep-
tierten Ausgangspunkt zurückzu-
führen als auf das, was von allen
des gleichen Volks und der glei-
chen Sprache übereinstimmend
als das Bezeichnete angesehen
wird.«212

212
Stromata VIII, 2, 3, 2, 4 – 4, 1

229
Clemens von Alexandria (150-215)
Zwei Gedanken sind in dieser Textstelle bemerkenswert. Zum einen
verknüpft Clemens die Existenz (ØpÒstasij) von etwas mit dem Beweis
(¢pÒdeixij). Das ist ein ganz und gar idealistischer Gedanke. Sich vorzu-
stellen, das Beweisen würde die Dinge wirklich in ihrem Sein hervor-
bringen ist etwas, was nur im Reich der logischen Begriffe möglich ist.
Hier ist der Schritt von einem Begriff zu einem anderen, der deren lo-
gisches Verhältnis nachvollzieht, in der Tat auch ein Aufzeigen des Exi-
stenzgrundes des so hergeleiteten Begriffes.
Zum anderen zeigt Clemens hier eine wichtige Grundlage eines je-
den solchen Beweisganges auf. Der Beweis, so logisch er auch in sich
sein mag, hängt immer vom Bedeutungsgehalt der verwendeten Begrif-
fe ab. Auch der einfachste Schluß verliert seine Schlußkraft und Logizi-
tät, wenn sich von einer Prämisse zur anderen die Begriffe ihre Bedeu-
tung wandeln. Wir befinden uns also als Bedingung aller Logizität im-
mer schon in einem Bedeutungsfeld. Und auch die Begriffe der Logik
selbst, auch der Begriff des Beweises hat seine Bedeutung zur Voraus-
setzung. Wir können so – und hier geht Clemens über Aristoteles’ Lo-
gik hinaus – nicht zu letzten Beweisgründen wie dem unbewegten Be-
weger vordringen, denn auch der hätte dann wieder seinen Bedeu-
tungsgehalt zur Voraussetzung. Fügt man nun hinzu, daß der Bedeu-
tungsgehalt der Begriffe voneinander abhängt, so wird klar, daß das
Verständnis des Reichs der Ideen ein hermeneutisches oder holisti-
sches und kein apodiktisches Vorgehen verlangt.
§ 184 Clemens scheint aber dennoch keine holistische Methode im
Sinn zu haben, wenn der ¢pÒdeixij die Analyse gegenüberstellt:
Diafšrei d' ¢nalÚsewj ¢pÒdeixij· »Die Analyse unterscheidet sich
›kaston m n g¦r tîn ¢podeiknu- vom Beweis; denn jedes Bewie-
mšnwn di£ tinwn ¢podeiknumšnwn sene wird durch etwas Bewiese-
¢pode…knutai, proapodedeigmšnwn nes bewiesen, was selbst vorher
k¢ke…nwn Øf' ˜tšrwn, ¥crij ¨n e„j durch anderes bewiesen worden
t¦ ™x ˜autîn pist¦ ¢nadr£mwmen ist bis es schließlich aus dem aus
sich selbst Glaubhaften er-
wächst.«213

213
Stromata VIII, 3, 8, 1, 1-4

230
Clemens von Alexandria (150-215)
Ein Element steckt gemäß der analytischen Methode in einem anderen
bis alles schließlich auf etwas zurückgeführt werden kann, das nicht
mehr zu hinterfragen ist. Diese Vorstellung wird natürlich der Komple-
xität eines logischen Begriffssystems nicht gerecht. Denn in einem logi-
schen Begriffssystem sind die Bezüge nicht nur eindimensional, wie in
jener von Clemens hier beschriebenen Kette von Folgerungen, sondern
sie sind mehrdimensional. Jeder Begriff hängt ja von jeden anderen ab,
denn ein jeder Begriffs konstituiert ein Moment dessen, was es heißt,
ein Begriff zu sein. Interessant ist hierbei aber auch die Frage, wie man
die zugrundeliegende Evidenz, das aus sich selbst Glaubhafte hier fas-
sen soll. Für heutige holistische Empiristen wie Davidson oder Quine
sind das einfach Erfahrungsgehalte, wobei diese Erfahrungsgehalte dann
selbst auch nichts Letztes sind, sondern im Laufe der Zeit durch andere
Erfahrungsgehalte ersetzt werden, die ins Zentrum des Systems unserer
Überzeugungen gelangt sind und uns alsdann unverzichtbar erscheinen.
Aus idealistischer Sicht liegen diese Evidenzen jedoch im Bereich der
logischen Ideen, die ein Gerüst für unser Denken und Beweisen bil-
den, auf das jede Begriffsanalyse letztlich zurückkommt. Aber wir nä-
hern uns der exakten Struktur dieses Gerüsts eben nicht durch eine si-
chere Analyse sondern durch einen hermeneutischen Prozeß. Die
Grundlage unseres Denkens – das sehen wir nicht zuletzt in diesem
Text – ist uns keineswegs unmittelbar gegeben. Und hier haben Quine
und Davidson recht, die uns gegebene Grundlage kann sich von Analy-
se zu Analyse leicht wandeln.
§ 185 Das Ziel der Analyse ist letztlich eine Einteilung der Dinge in
Gattungen und Arten. Diese beschreibt uns Clemens:
tÕ goàn gšnoj toà zhtoumšnou »Wir unterteilen also die unter-
pr£gmatoj diairoàmen e„j t¦ ™n- suchte Gattung in Arten, die in
up£rconta aÙtù e‡dh, oŒon ™pˆ toà ihr enthalten sind; auf diese Wei-
¢nqrèpou tÕ zùon gšnoj ×n e„j t¦ se unterteilen wir den Menschen,
™mfainÒmena e‡dh diairoàmen, tÕ dessen Gattung das Lebewesen
qnhtÕn kaˆ ¢q£naton ist, in die in ihm erscheinenden
Arten, das Sterbliche und das
Unsterbliche«.214

214
Stromata VIII, 6, 18, 5, 1-4

231
Clemens von Alexandria (150-215)
Neben diesem Typus der Einteilung gibt es nun aber andere Arten von
Einteilung, wie die in Teile und die in Eigenschaften. Diese bestimmt
Clemens als defizient gegenüber der Einteilung in Gattungen und Ar-
ten:
tîn d diairšsewn ¿ mšn tij e„j »Von den Unterteilungen unter-
e‡dh diaire‹ tÕ diairoÚmenon æj teilen die einen das Unterteilte,
gšnoj, ¿ dš tij e„j mšrh æj Ólon, ¿ das eine Gattung ist, in Arten, die
d e„j t¦ sumbebhkÒta. ¹ m n oân anderen in Teile, was Ganzes ist
toà Ólou e„j t¦ mšrh dia…resij æj und wieder eine andere in Eigen-
™pˆ tÕ ple‹ston kat¦ mšgeqoj schaften. Die Unterteilung des
™pinoe‹tai, ¹ d e„j t¦ sum- Ganzen in Teile ist meistens mit
bebhkÒta oÙdšpote Ólh dÚnatai Bezug auf eine Größe gedacht,
dialhfqÁnai, e‡ ge kaˆ oÙs…an die in Eigenschaften aber kann
˜k£stJ de‹ p£ntwj tîn Ôntwn nie ganz gefaßt werden, wenn es
Øp£rcein. Óqen ¢dÒkimoi ¥mfw notwendig ein Wesen in jedem
aátai aƒ diairšseij, mÒnh d eÙdo- der Seienden gibt. Daher sind die
kime‹ ¹ toà gšnouj e„j e‡dh tom», beiden Unterteilungen unnütz,
Øf' Âj carakthr…zetai ¼ te allein befriedigend ist die Unter-
taÙtÒthj ¹ kat¦ gšnoj ¼ te teilung der Gattung in Arten, bei
˜terÒthj ¹ kat¦ t¦j „dik¦j dia- der sowohl die Identität gemäß
for£j. der Gattung, wie auch die Unter-
schiedenheit gemäß der spezifi-
schen Unterschiede deutlich
wird.«215

Was Clemens hier als das Spezifikum der Unterteilung von Gattungen
in Arten herausstellt, ist eben ein Aspekt, der besonders im logischen
Begriffssystem zutage tritt. Die Unterteilung in Teile oder Eigenschaften
ist eine gewissermaßen selbstvergessene Angelegenheit. Hat man diese
Unterteilung einmal getroffen und betrachtet den Teil als solchen oder
die Eigenschaft als solche, so weiß man nicht mehr, wessen Teil oder
wessen Eigenschaft es ist. Die Unterteilung einer Gattung in Arten hin-
gegen verliert keine Information. Die Art ist nur denkbar, wenn die
Gattung weiter existiert. In der Natur, wo die eigentliche Gattung – was
wir bei Aristoteles schon dargestellt haben – diejenige Form eines Na-
turwesens ist, auf die dann die Art als eine höhere Form aufbaut, ist das

215
Stromata VIII, 6, 19, 3-5

232
Clemens von Alexandria (150-215)
noch ein linearer Prozeß; und weiter geht Clemens’ Überlegung hier
sicherlich auch nicht.
Im logischen Begriffssystem müssen wir dann allerdings davon ausge-
hen, daß ein jeder Begriff sich zu jedem anderen wie Gattung und Art in
der Natur verhalten. Der eine ist jeweils ein spezifischer Beispielfall des
anderen, der so dessen Struktur aufzeigt und auf ihr eine höhere Struktur
aufbaut. Ob sich auch hier eine lineare Ordnung herausstellen läßt, so daß
man, wie Platon das versuchte, ein Begriffspaar nach dem anderen herlei-
ten kann, vermag ich hier nicht zu entscheiden. Wir müssen aber damit
rechnen, daß es uns das Reich der Ideen nicht so einfach machen wird.

Natur
§ 186 Clemens kennt neben den vier Ursachen des Aristoteles, die sich
in dieser Form auch bei ihm wiederfinden, noch eine Unterscheidung
von vier Ursachentypen in einer anderen Hinsicht:
Tîn a„t…wn t¦ m n prokatarkti- »Von den Ursachen sind die einen
k£, t¦ d sunektik£, t¦ d sun- fundamental, die anderen zusam-
erg£, t¦ d ïn oÙk ¥neu. prokat- menhaltend, die anderen kooperativ,
arktik¦ m n t¦ prètwj ¢form¾n die anderen sine qua non. Funda-
parecÒmena e„j tÕ g…gnesqa… ti mental sind die, die zuerst das Vor-
[...]. sunektik¦ d ¤per sunwnÚmwj kommen eines Ausgangspunktes von
kaˆ aÙtotelÁ kale‹tai, ™peid»per etwas Werdendem verlangen [...].
aÙt£rkwj di' aØtîn poihtik£ ™sti Zusammenhaltend und zugleich
toà ¢potelšsmatoj. ˜xÁj d p£nta vollendend genannt sind die, durch
t¦ a‡tia ™pˆ toà manq£nontoj deik- deren Tun die Vollendung entsteht.
tšon. Ð m n pat¾r a‡tiÒn ™sti pro- Die Struktur aller Ursachen kann am
katarktikÕn tÁj maq»sewj, Ð Beispiel des Lernenden aufgezeigt
did£skaloj d sunektikÒn, ¹ d toà werden. Der Vater ist die fundamen-
manq£nontoj fÚsij sunergÕn a‡tion, tale Ursache des Lernenden, der
Ð d crÒnoj tîn ïn oÙk ¥neu lÒgon Lehrer die zusammenhaltende, die
™pšcei. Natur des Lernenden ist die koope-
rative Ursache, die Zeit die Ursache
sine qua non.«
216

216
Stromata VIII, 9, 25, 1-4

233
Clemens von Alexandria (150-215)
Die fundamentale Ursache (prokatarktik£) also ist eine solche, die
immer gegeben sein muß, aber nicht zwingend zu diesem oder jenem
Resultat führt. Clemens’ Sichtweise ist hier sehr erkenntnistheoretisch,
denn die Grenze wird dadurch festgelegt, daß man sich denken könnte,
daß etwas trotz des Vorliegens der fundamentalen Ursache nicht zwin-
gend erfolgen müsse. Sie ist so sehr eng mit der conditio sine qua non
(ïn oÙk ¥neu) verbunden, die auch den Ablauf zu nichts zwingt. Aller-
dings ist erstere offener, denn man kann sich bei der fundamentalen
Ursache immer noch vorstellen, daß auch ein anderes Fundament hätte
vorhanden sein können, das zu dem gleichen Resultat geführt hätte.
Beide Ursachentypen unterscheiden sich nun von der zusammenhal-
tenden oder vollendenden (sunektik£) und der kooperativen (sunerg£)
dadurch, daß sie eher passiv sind. Sie sind zwar notwendig aber nicht
hinreichend. Hinreichend gleichwohl ist auch die kooperative Ursache
für sich genommen nicht; sie wird es aber in Kooperation mit anderen
Ursachen. Die vollendete Ursache schließlich ist diejenige, die allein,
aktiv und zwingend einen bestimmten Effekt hervorruft.
Der erkenntnistheoretische Charakter dieser Überlegungen zeigt je-
doch schon, daß auch eine solche Ursachenlehre eher von der ontolo-
gischen Betrachtung der Natur, die sich nach unserer Auffassung vor
allem in Formbildungsprozessen und nicht so sehr in Bewegungspro-
zessen begreifen läßt, wegführt. Allein die Idee der kooperativen Ursa-
che kann beim Verständnis des Organischen sehr hilfreich sein, wo ei-
ne monokausale Auffassung des Geschehens recht schnell den Über-
blick verliert.

Geist
i. Wie funktioniert der Geist
§ 187 Wir erhalten einen Einblick in Clemens’ Auffassung vom Zu-
sammenhang und Funktionsweise des Geistes, wenn wir uns die Stellen
ansehen, wo er über Wahrheit und die Frage, wie man zu dieser findet,
spricht. Zunächst erfahren wir hier – wie auch schon oben – von ihm
einiges über Beweisketten. Eine Auffassung wird immer wieder durch

234
Clemens von Alexandria (150-215)
eine andere bewiesen. Clemens sieht jedoch ein, daß dies nicht das letz-
te Wort sein kann:
aÙt…ka oƒ filÒsofoi ¢napode…ktouj »Zugleich stimmen die Philoso-
Ðmologoàsi t¦j tîn Ólwn ¢rc£j. phen darin überein, daß die Prin-
ést' e‡per ™stˆn ¢pÒdeixij, ¢n£gkh zipien aller Dinge unbeweisbar
p©sa prÒteron e na… ti pistÕn ™x sind. Wenn es nun aber überhaupt
˜autoà, Ö d¾ prîton kaˆ ¢napÒ- Beweise gibt, so ist notwendig, daß
deikton lšgetai. ™pˆ t¾n ¢napÒ- es vorher etwas aus sich selbst
deikton ¥ra p…stin ¹ p©sa ¢pÒ- Glaubhaftes gibt, das Erstes und
deixij ¢n£getai. Unbeweisbares genannt wird.
Folglich führt jeder Beweis zum
unbeweisbaren Glauben.« 217

Interessant ist hier der Begriff des Glaubens, den Clemens sehr ge-
schickt in einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang einführt. Der
Glaube wird nicht als etwas der Erkenntnis wesensfremdes angesehen,
sondern als deren Grundlage. Erst muß ich an etwas glauben und erst
auf dieser Basis kann ich mit Schlüssen und Deduktionen zu arbeiten
beginnen. Was Clemens hiermit ausspricht, ist die Einsicht, daß Wis-
sen nichts Punktuelles ist, sondern immer einen Zusammenhang vor-
aussetzt.
§ 188 Zunächst einmal ist daher erstaunlich, daß bereits die direkt
auf die zitierte Textstelle folgenden Zeilen dieser Auffassung widerspre-
chen:
e en d' ¨n kaˆ ¥llai tîn ¢pode…- »Schließlich gibt es nun neben den
xewn ¢rcaˆ met¦ t¾n ™k p…stewj aus der Quelle des Glaubens stam-
phg»n, t¦ prÕj a‡sqhs…n te kaˆ menden noch andere Prinzipien
nÒhsin ™nargîj fainÒmena. t¦ m n der Beweise, nämlich die durch
g¦r prÕj a‡sqhsin sumb£nta ™stˆn Wahrnehmung und Denken deut-
¡pl© te kaˆ ¥luta, t¦ d prÕj lich wahrnehmbaren Phänomene.
nÒhsin ¡pl© te kaˆ logik¦ kaˆ Denn das für die Wahrnehmung
prîta Vorhandene ist einfach und unauf-
lösbar, das für das Denken Vor-
handene aber einfach, verstehbar
und primär.«218

217
Stromata VIII, 3, 7, 1, 4 – 3, 1
218
Stromata VIII, 3, 7, 3, 1 – 4, 2

235
Clemens von Alexandria (150-215)
Was Clemens hier ausführt, widerspricht nicht nur der oben dargestell-
ten Auffassung, es ist auch keineswegs so unzweifelhaft, wie er es dar-
stellt. Nehmen wir einmal die fainÒmena der Wahrnehmung und sehen
uns sie genau an. Ich sehe ein Objekt als Objekt, habe nicht bloß Sin-
nesdaten vor mir, sondern immer schon ein abgegrenztes Objekt, das
ich als solches bezeichnen kann. Grenze und Bezeichnung sind aber
alles andere als Eigenschaften eines in sich nicht mehr teilbaren Einfa-
chen. Die fainÒmena haben vielmehr ihre Bezeichnung und ihre Gren-
ze immer nur in Bezug zu anderen und wenn ich sie denke, denke ich
die anderen als konstitutive Bestandteile ihres Soseins mit. Das gleiche
gilt für die fainÒmena des Denkens. Auch sie sind nur durch ihren Be-
zug zu anderen das, was sie sind. Nichts atomar Scheinendes ist wirklich
atomar.
§ 189 Schließlich ist es also doch nur Clemens’ holistische Auffas-
sung des Glaubens, die einer genaueren Prüfung wirklich stand hält,
denn der Glaube ist der Glaube an etwas Ganzheitliches, an eine Fülle
von Zusammenhängen. Gerade hier kann man Clemens einen erstaun-
lichen Weitblick, ein erstaunliches Gefühl dafür, wie weit man im Den-
ken mit diesem holistischen Ansatz kommen kann, attestieren. So ist
schon das ganze Konzept seiner Stromata auf einen solchen epistemi-
schen Glauben aufgebaut:
Perišxousi d oƒ Strwmate‹j ¢na- »Die „Teppiche“ werden aber
memigmšnhn t¾n ¢l»qeian to‹j fi- die Wahrheit stets mit den Leh-
losof…aj dÒgmasi, m©llon d ™g- ren der Philosophie vermischt
kekalummšnhn kaˆ ™pikekrummšn- enthalten, vielmehr in sie verhüllt
hn, kaq£per tù lepÚrJ tÕ ™dè- und in ihnen verborgen, wie in
dimon toà karÚou· [...] a„nissÒmenoj der Schale der eßbare Kern der
¡mÍ gš pV qe…aj œrgon prono…aj kaˆ Nuß steckt. [...] Dabei werde ich
filosof…an. zugleich andeuten, daß auch die
Philosophie in gewisser Hinsicht
ein Werk göttlicher Vorsehung
ist.«
219

Die Metapher der Teppiche (Strwmate‹j) erklärt Clemens hier so, daß
die Wahrheit der christlichen Philosophie in seinem Buch mit den

219
Stromata I, 1, 18, Übers. O. Stählin

236
Clemens von Alexandria (150-215)
Lehren der griechischen Philosophie so verwoben sind, wie die Fäden
sich in einem Teppich kreuzen und so ein Ganzes erzeugen. Er geht
also davon aus, daß sich beides zu einem Ganzen zusammenfügen läßt.
Damit aber legt er eben einen epistemischen Glauben an den Tag. Er
geht davon aus, daß auch das griechische Denken sich im Bereich der
Wahrheit befindet, quasi wie Querstreifen zum Christentum dasselbe
System entwickelt.
§ 190 Als Hintergrund dieses epistemischen Glaubens gibt Clemens
hier den christlichen Glauben zu erkennen. Wenn alles von Gott
stammt dann auch die griechische Philosophie. So kann diese gar nicht
völlig neben der Wahrheit liegen. Im Gegenteil laufen alle Auffassun-
gen zwangsweise auf die Wahrheit zu:
tele…aj ÑrqÁj ¢nep…baton to‹j so- »Es gibt freilich nur einen einzi-
fista‹j thr»saij. m…a m n oân ¹ gen Weg zur Wahrheit, aber in
tÁj ¢lhqe…aj ÐdÒj, ¢ll' e„j aÙt¾n ihm münden wie in einem unver-
kaq£per e„j ¢šnaon potamÕn sieglichen Strom die Gewässer
™kršousi t¦ ·e‹qra ¥lla ¥lloqen. von allen Seiten ein.«
220

Dieser Haltung Clemens’ können wir hier nur zustimmen. Auch unser
Ansatz folgt ja dem Gedanken, daß die Wahrheitsfindung ein herme-
neutischer Prozeß ist, der zwangsläufig auf das Ziel zuläuft, wenn man
die einzelnen Elemente der eigenen Auffassung nur immer wieder auf-
einander abstimmt, so daß sie zu einem kohärenten Ganzen werden.
§ 191 Legt man aber eine solche Auffassung zugrunde, dann ist
Clemens’ Argumentation gegen die Skepsis zwar nicht unbedingt falsch,
aber doch ganz und gar überflüssig. Er versucht den Skeptiker mit fol-
gendem transzendentalen Argument zu widerlegen:
”Eti e„ toàto aÙtÒ ™sti tÕ ¢lhq j tÕ »Wenn aber dieses die Wahrheit
m¾ e„dšnai tÕ ¢lhqšj, oÙd t¾n ¢rc¾n ist, daß wir die Wahrheit nicht
¢lhqšj ti par' ™ke…nou d…dotai. e„ d wissen können, dann ist demnach
kaˆ toàto ¢mfisbht»simon ™re‹ tÕ nichts als wahres Prinzip gege-
¢gnoe‹n t¢lhqšj, ™n aÙtù toÚtJ ben. Wenn er [der Skeptiker]
d…dwsin e nai tÕ ¢lhq j gnèrimon, ™n aber auch dieses, daß er die
ú t¾n perˆ aÙtoà ™poc¾n fa…netai m¾ Wahrheit nicht weiß, für zweifel-
bebaiîn. haft hält, dann ist eben darin das

220
Stromata I, 5, 29, 1, Übers. O. Stählin

237
Clemens von Alexandria (150-215)
Wissen der Wahrheit gegeben,
im Akt seiner Skepsis zeigt sich,
deren Unfestigkeit.«
221

Der Skeptiker, so Clemens, müsse, will er ein konsequenter Skeptiker


in jeder Hinsicht sein, auch bezüglich seiner eigenen Skepsis skeptisch
sein. Gerade dadurch aber räumt er diese eigene Skepsis als eine etwas
behauptende Position aus dem Wege und schafft somit implizit Platz
für die Wahrheit. Der Skeptiker könnte ihm nun immer noch zweierlei
entgegenhalten. Zunächst ist diese sich selbst relativierende Position
zumindest in sich konsistent und es erscheint als merkwürdig, daß man
etwas derartiges nicht behaupten können sollte, wo doch die Behaup-
tung des Skeptikers (m¾ e„dšnai tÕ ¢lhqšj) uns semantisch problemlos
verständlich erscheint. Verstärkt wird dieser Zweifel an der Effektivität
des zunächst als schlagend erscheinenden transzendentalen Argumen-
tes durch eine Überlegung Barry Strouds: Derjenige, der hier die Posi-
tion des Skeptikers in Zweifel zieht ist der Skeptiker selbst. Sein Gegner
aber läßt sich gerade von dessen Skepsis, die er widerlegen möchte, das
entscheidende Argument liefern. Wenn nun der Skeptiker schweigt, so
bleibt sein Argument aus. Er schafft es nicht aus eigener Kraft ein Ge-
genargument zu entwickeln.
Alle diese verwickelten erkenntnistheoretischen Überlegungen je-
doch haben das Denken zu keiner Zeit wirklich weiter gebracht. Sie
sind ontologisch vielmehr ganz und gar wertlos; wer auch immer im
ewigen Hin und Her zwischen Skeptikern und ihren Gegnern letztlich
den Sieg davon tragen würde, er hätte nicht wirklich etwas gewonnen.
Letztlich sind beides insofern sinnlose Haltungen, als sie Extreme dar-
stellen. Der Skepsis hat insofern recht, als unser Wissen und Glauben
an keinem Punkt wirklich sicher ist, aber er verschweigt, daß das Ganze
unseres Wissens dennoch ein stabiles Gebilde ist, das nur in einzelnen
Punkten und immer nur gestützt auf andere Überzeugungen in Zweifel
gezogen werden kann. So setzt eben der Zweifel des Skeptikers bei-
spielsweise immer schon eine gewisse Auffassung von Wahrheit voraus.

221
Stromata VIII, 5, 16, 1

238
Clemens von Alexandria (150-215)
Sein Gegner hingegen sucht nach punktuellen letztgültigen Sicherheiten
auf einem Gebiet, wo es solche nicht geben kann.

ii. Die Sprache


§ 192 Clemens’ Sprachauffassung, von der wir bereits ein wenig im er-
sten Teil gehört haben, lehnt sich sehr eng an die stoische Auffassung
an. Wie diese teilt er die sprachlichen Bezeichnungen in drei Teile:
Tr…a ™stˆ perˆ t¾n fwn»n· t£ te »Es gibt drei Teile in der Spra-
ÑnÒmata sÚmbola Ônta tîn noh- che: die Namen sind zunächst die
m£twn kat¦ tÕ prohgoÚmenon, Symbole der Begriffe und sodann
kat' ™pakoloÚqhma d kaˆ tîn auch die der Zugrundeliegenden,
Øpokeimšnwn, deÚteron d t¦ no»- zweitens sind die Begriffe die
mata Ðmoièmata kaˆ ™ktupèmata Gleichnisse und Abdrücke der
tîn Øpokeimšnwn Ônta (Óqen ¤pasi Zugrundeliegenden (Daher sind
kaˆ t¦ no»mata t¦ aÙt£ ™sti di¦ auch die Begriffe überall diesel-
tÕ t¾n aÙt¾n ¢pÕ tîn Øpokeimšnwn ben, da sie durch die selben Din-
¤pasin ™gg…nesqai tÚpwsin, oÙkšti ge geprägt wurden, nicht aber
d kaˆ t¦ ÑnÒmata di¦ t¦j dialšk- auch die Namen wegen der Un-
touj t¦j diafÒrouj)· tr…ton d t¦ terschiede der Sprachen). Drit-
Øpoke…mena pr£gmata, ¢f' ïn tens gibt es die zugrundeliegen-
¹m‹n t¦ no»mata ™ntupoàntai. den Dinge, durch welche die Be-
griffe in uns eingeprägt sind.«
222

Wir finden bei Chrysippos, dessen Theorie hierzu wir im dritten Band
diskutiert haben, bereits die Dreiteilung der Sprache, in Signifikant, Si-
gnifikat und Dinge, die Clemens hier übernimmt. Auch seine Begrün-
dung für die Unterscheidung von Signifikanten (sÚmbola) und Signifika-
ten (nohm£ta) ist stoischem Gedankengut entlehnt. Die Namen können
in verschiedenen Sprachen ganz verschiedene sein, während die Begrif-
fe durch ihren Bezug zu den Dingen, der ihren Inhalt sogar kausal be-
stimmt, überall gleich sind.
Wir sehen also, daß der Holismus Clemens nicht bis in die
Sprachtheorie gefolgt ist. Hier ist nach wie vor jeder Begriff an seinen
von ihm bezeichneten Gegenstand gekettet. Wir hatten oben bei der
Diskussion der Logik diesen empiristischen Zug seines Denkens, der

222
Stromata VIII, 8, 23, 1

239
Clemens von Alexandria (150-215)
trotz allem Platonismus immer wieder hervorscheint, bereits angespro-
chen und diskutiert. Zugleich muß jedoch auch hervorgehoben werden,
daß er eben in der Folge der Stoa sehr wohl Begriffe von bloßen Na-
men zu unterscheiden weiß, womit das Reich des Geistigen einen Ort
in seinem Denken hat. Was hier fehlt ist einzig die Einsicht, daß auch
die Begriffe in sehr viel stärkerem Maße von anderen Begriffen abhän-
gen, als von den Dingen, über die sie erzählen.

iii. Die Gnosis


§ 193 Interessant ist nun, daß Clemens, der ja – wie oben gesehen – in
seiner Auffassung Glauben und Wissen eng zusammenbringt, damit
ganz dicht an die Grenze zur Gnosis rückt. So hält er beispielsweise den
Glauben für unmöglich ohne m£qhsij, also erlerntes Wissen:
¢ll¦ kaq£per kaˆ ¥neu gramm£- »Wie wir es aber für möglich er-
twn pistÕn e nai dunatÒn famen, klären, daß man ohne Kenntnis
oÛtwj sunišnai t¦ ™n tÍ p…stei der Schreibkunst gläubig sein
legÒmena oÙc oŒÒn te m¾ maqÒnta kann, so sind wir darüber einig,
Ðmologoàmen. t¦ m n g¦r eâ legÒ- daß man die im Glauben enthal-
mena pros…esqai, t¦ d ¢llÒtria tenen Lehren unmöglich verste-
m¾ pros…esqai oÙc ¡plîj ¹ p…stij, hen kann, ohne zu lernen. Denn
¢ll' ¹ perˆ t¾n m£qhsin p…stij die richtigen Lehren anzuneh-
™mpoie‹. men und die anderen zu verwer-
fen, dazu befähigt nicht einfach
der Glaube, sondern nur der auf
Wissen beruhende Glaube.« 223

Hier überschreitet er die dünne Grenze zwischen Metaphysik und Reli-


gion und ordnet die letztere der ersteren unter. Wer sozusagen den me-
taphysisch-platonischen Hintergrund der christlichen Lehre nicht ver-
steht – so interpretiere ich ihn hier –, der mag zwar ganz naiv glauben,
aber er hat keinen wirklichen Glauben. Dieser wirkliche Glaube aber
unterscheidet sich vom naiven Glauben dadurch, daß er sich argumen-
tativ verteidigen kann. Clemens’ Haltung ist in sich logisch, denn eine
argumentative Verteidigung des Glaubens kann nur durch den Bezug
auf deren metaphysischen Gehalt geschehen und setzt so deren Kennt-

223
Stromata I, 6, 35, 2, Übers. O. Stählin

240
Clemens von Alexandria (150-215)
nis voraus. Was er aber nicht sieht, ist, daß die religiöse Dimension ei-
ne ganz andere und neue Dimension gegenüber der metaphysischen ist,
wo das Argument nichts zählt. Der Umstand, daß er den epistemischen
Glauben allzu nah an den religiösen Glauben gerückt hat und zwischen
beiden sehr unterschiedlichen Formen des Glaubens nicht unterschei-
det, rächt sich hier.

241
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Alexandros wurde in Karin geboren, kam aber bald nach Athen. Dort
soll er zunächst der Schüler einige Stoiker gewesen sein, wurde dann
aber ein Schüler des Aristotelikers Aristoteles von Mytilene, den wir
hier schon kennengelernt haben. Hier wurde er – wohl durch Einwir-
kung des Kaisers Septimus Severus – Oberhaupt des Lykeions, der von
Aristoteles gegründeten Philosophenschule. Er ist hauptsächlich als
Kommentator aristotelischer Schriften bekannt. Der Kommentator, wie
er später auch kurz genannt wurde, verfaßte aber auch eigenständige
Schriften, die jedoch immer im aristotelischen Gedankengut ihren Aus-
gang nehmen. Insgesamt tendiert sein Denken sehr viel mehr noch als
das des Aristoteles zu einer konsequenten Ablehnung alles Ideellen,
das er nur als Form in den Dingen zuläßt.

Ideen
§ 194 Eine Ideenlehre gibt es bei Alexandros noch viel weniger als bei
Aristoteles. Da er das abstrakt Begriffliche, wie wir noch sehen werden,
als etwas rein vom Menschen Hervorgebrachtes ansieht, finden wir nur
einige kleine Hinweise darauf, daß es irgendwo doch etwas Ideelles zu
geben scheint. Zunächst einmal teilt Alexandros den aristotelischen Be-
griff eines unbewegten Bewegers als des Ursprungs von allem. Ebenso
wie Aristoteles bestimmt er diesen unbewegten Beweger, den wir im
zweiten Band kennengelernt haben, als ein denkendes Wesen, als den
höchsten Intellekt und er präsentiert uns sogar den Inhalt der Gedan-
ken desselben:
kaˆ Ð prîtoj d noàj kaˆ ™nerge…v »Und der erste Intellekt oder
noàj aØtÕn noe‹ paraplhs…wj kaˆ di¦ auch der wirkliche Intellekt denkt
t¾n aÙt¾n a„t…an. ¢ll' ™ke‹noj plšon sich selbst auf eine ähnliche Wei-
ti par¦ toàton œcei. oÙd n g¦r ¥llo se und aus derselben Ursache.
À aØtÕn noe‹. tù m n g¦r e nai Aber jener hat etwas mehr als
nohtÕj noe‹tai prÕj aØtoà, kaˆ tù dieser [der des Menschen]. Denn
™nerge…v kaˆ fÚsei tÍ aØtoà nohtÕj er denkt nichts außer sich selbst.
e nai ¢eˆ nooÚmenoj œstai, dhlonÒti Denn indem er denkend ist, ist
ØpÕ toà <¢eˆ> ™nerge…v nooàntoj. der das Denken seiner selbst und

242
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
indem er seiner Wirklichkeit und
Natur nach intelligibel ist, ist er
immer ein Gedachtes, ohne
Zweifel ein von einer ewigen
Wirklichkeit Gedachtes.« 224

Den unbewegten Beweger des Aristoteles können wir uns in dieser


Weise nicht als ein Ideenreich denken, sondern mehr als das Eine, wie
wir es aus Platons Parmenides kennen und wie es in der Ontologie der
Gnostiker verwendet wurde. Der unbewegte Beweger ist als prîtoj noàj
hier zwar als ein ideelles Wesen bestimmt, aber als ein ideelles Wesen
das eben im reinen Selbstbezug existiert. Es denkt, aber er denkt nur
sich selbst. Kein anderer Inhalt ist seinem Denken würdig. So ist dieser
unbewegte Beweger zwar einerseits ein Repräsentant für das Reich der
Ideen, aber andererseits ist dieses Reich bei Alexandros in sich leer.
Dem Einen folgt hier kein System der Begriffe.
§ 195 Daß es aber neben diesem unbewegten Beweger doch auch so
etwas Ähnliches wie ewige ideelle Strukturen im Universum gibt, zeigt
die folgende Überlegung Alexandros’. Das Ideelle erscheint hier dort,
wo er die Grenze des Göttlichen ansetzt:
t¦ g¦r ¢dÚnata tÍ aØtîn fÚsei »Denn das seiner eigenen Natur
kaˆ par¦ to‹j qeo‹j t¾n aÙt¾n nach Unmögliche bewahrt auch
ful£ttei fÚsin. ¢dÚnaton g¦r kaˆ bezüglich der Götter seine Natur.
to‹j qeo‹j À tÕ t¾n di£metron Denn es ist auch den Göttern
poiÁsai tÍ pleur´ sÚmmetron À t¦ unmöglich, die Diagonale der
dˆj dÚo pšnte e nai À tîn ge- Seite [eines Rechtecks] symme-
gonÒtwn ti m¾ gegonšnai. trisch zu machen oder zwei mal
zwei fünf sein zu lassen oder Ge-
schehenes ungeschehen zu ma-
chen.«225

Es gibt also Sachverhalte, an denen selbst die Götter nichts mehr än-
dern können. Die Götter selbst müssen wir bei Alexandros keineswegs
als ideelle Größen begreifen. Da Alexandros ein Aristoteliker ist, kön-
nen wir darauf schließen, daß es bei ihm, wie bei Aristoteles, den un-

224
De anima libri mantissa S. 109, 23-26
225
De fato S. 200, 19-22

243
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
bewegten Beweger als einen Gott gibt. Spricht er aber von Göttern in
der Mehrzahl, so meint er damit sicherlich Größen, die in der Sphäre
der Himmelskörper anzusiedeln sind.
Dennoch erhalten wir hier bei ihm einen Hinweis auf die Existenz
von etwas Ideellem. Indem er hier die Grenze der Reichweite des
Göttlichen festlegt, legt er auch irgendwie die Grenze dessen fest, was
überhaupt möglich ist. Er unterscheidet hier drei verschiedene Unmög-
lichkeiten. Interessant sind dabei die ersten beiden, bei denen es sich
um mathematische Sachverhalte handelt. Es ist den Göttern nicht mög-
lich, diese zu manipulieren. Geometrische Verhältnisse und Zahlenver-
hältnisse stehen über allem natürlichen und übernatürlichen Einfluß.
Sie sind feste Größen. Nichts anderes aber ist es, was die Seinsweise be-
schreibt, die wir dem Ideellen zuschreiben wollen. Von daher kommt
also auch Alexandros nicht ganz daran vorbei, zumindest implizit eine
derartige Seinsform anzunehmen.
§ 196 In einem nur in arabischer Sprache überlieferten Text über
den Kosmos, der Alexandros zugeschrieben werden kann, erfahren wir
etwas darüber, wie er sich diese Sphäre unterhalb des ersten Bewegers
vorstellt:

ُّ ِ َ ِٕ ‫ــم ْٱلـ‬
‫ــالحي َ ِٕفانَّـ ُــه َ َّلمـــا‬ ُ ‫ٱلجسـ‬ ْ ِ ْ ‫فامـــا‬ َّ َٔ َ »Und was den göttlichen Körper

‫ـان‬ َ ‫ـك َٔانَّـ ُـه َمــا َكـ‬ َ ‫ـيطا َو ٰذلِـ‬ ً ‫بسـ‬ ِ َ ‫َكانَــا‬ angeht, da dieser einfach ist –
denn er könnte nicht ewig sein,
‫مركبـــا َو‬ ً َّ َ ُ ‫كـــان‬
َ َ ‫لـــو‬ ْ َ ‫ازليـــا‬ ًّ ِ َ َٔ ‫ليكـــون‬
ُ ُ ََ wäre er zusammengesetzt – und
seine Bewegung ebenso eins und
‫يتحركهـــا‬َ ُ َّ َ َ َ ‫ٱلحركـــة ِّٱلتـــي‬ ُ َ َ َ ْ ‫كانـــت‬ ْ ََ einfach, so hat er keine andere
ٌ َ ِ ‫بسـ‬
‫ــــيطة‬ ِ َ ‫ــــدة‬
ٌ َ ‫واحـ‬ ِ َ ‫ــــة‬
ٌ ‫حركـ‬ َ َ َ ‫ايضـــــا‬ ً ْ َٔ Natur in sich als die Seele, noch
irgend eine natürliche Bewegung
ٌ ‫طبيعـ‬
‫ـــة‬ َ ِ َ ‫ـــلا‬ ً ‫اصـ‬ ُ ‫ـــت لَـ‬
ْ َٔ ‫ـــه‬ ْ ‫ليسـ‬ َ ْ َ ‫ـــه‬
ُ ‫فابـ‬َّ ِٕ َ verschieden von der Bewegung,
‫ايضــا‬ ً ْ َٔ ‫ـس َو َلــا لَـ ُـه‬ ِ ‫ٱلنفـ‬ْ َّ ‫ُٔ ْاخـ َـرى َ ْغيـ َـر‬ die durch die Seele hervorge-
bracht wurde«.226

ِ ‫ٱلحركـ‬
‫ــــة‬ َ َ َ ْ ‫ــــر‬ ٌ ‫طبيعيـ‬
َ ‫ــــة َ ْغيـ‬ َّ ِ ِ َ ‫ــــة‬ ٌ ‫حركـ‬َ ََ
ِ َّ َ ‫ٱلنفسـ‬
‫ــــــــانية‬ َ ْ َّ

226
Über den Kosmos 19. Ich bedanke mich bei Karim Zeroual für die Hilfe bei der
Vokalisierung der arabischen Zitate.

244
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Was eben diejenigen Wesen ausmacht, die im aristotelischen System
nach dem unbewegten Beweger kommen, ist der Umstand, daß sie ei-
ُ ْ ِ ) haben. Aber dieser Körper hat die Besonderheit,
nen Körper (‫جسم‬
daß er kein zusammengesetzter Körper ist, so daß zweierlei nicht mög-
lich ist. Zum einen kann dieser Körper nicht zerfallen und zum ande-
ren können die Teile nicht verschiedene natürliche Bewegungen haben,
was auch einen Zerfall nach sich ziehen würde. Statt dessen bewegen
sich diese Körper, die hier als Körper des Göttlichen bezeichnet wer-
den und die wir mit den Himmelskörpern identifizieren können, auf
ewigen Kreisbahnen. Dem Körper fehlt so jede körperliche Eigendy-
ُ ‫) َ ْنفـ‬, die ihn bestimmt. Seele und
namik und es ist allein die Seele (‫ـــــس‬
Körper befinden sich hier im perfekten Einklang. Wir sind also hier in
einem Bereich, den wir im Platonismus als das Reich der Weltseele be-
zeichnen müssen und da diese Weltseele einen Körper hat, befinden
wir uns bereits in der Natur.

Natur
i. Der Rahmen der Natur
§ 197 Auch in seiner prinzipiellen Sichtweise der Natur zeigt sich Alex-
andros ganz als Aristoteliker. Die Natur ist in ihrer Bewegung ganz und
gar Resultat der Aktivität des unbewegten Bewegers, der sie zugleich
umfaßt:
‫على َما‬ َ َ ‫اذن‬ ْ َ ِٕ ‫ٱلاول‬ُ َّ َٔ ْ ‫ٱلحرك‬
ُ َ َ ْ ‫كان‬ َ َ ‫فاذ‬َ َ »Da der erste Beweger so ist, wie
ِ َ ْ َٔ ْ ‫حـــال‬
‫ٱلاشـــياء‬ ُ َ ‫كانـــت‬ َْ َ َ
ْ َ َ ‫وصـــفنا َو‬
wir ihn beschrieben haben und
die Wesen, die von ihm ohne
ِ ْ َ ِ ‫عنـــــــه‬
‫بغيـــــــر‬ ُ ْ َ ‫تتحـــــــرك‬ُ َّ َ َ َ ‫ْ ِّٱلتـــــــي‬ Vermittlung bewegt werden eben-
falls in diesem Zustand sind, folgt
‫ــال َ ِٕفانَّـ ُــه‬
ُ ‫ٱلحـ‬ َ ْ ‫ــذا‬ َ ‫علـــى َهـ‬ ٌ ‫متوسـ‬
َ َ ‫ــط‬ ِّ َ َ ُ aus der Bewegung dieser Wesen
ِ‫ـــــياء‬
َ ‫ٱلاشـ‬ ْ ِ ِ
ْ َٔ ‫ـــــة َهــــــذه‬ ُ ‫حركـ‬
َ َ َ ‫ـــــع‬
ُ ‫َ ْ َيتبـ‬ das Entstehen und die Verände-
rung der vergänglichen, materie-
ِ َ ‫ٱلفاسـ‬
‫ـــــدة‬ ِ َ ْ ‫ـــــام‬ ِ ‫ٱلاجسـ‬ َ ْ َٔ ْ ‫ـــــتحالة‬
ُ َ َ ِ ‫واسـ‬ْ ِٕ َ behafteten Körper«. 227

ِ َّ َ ْ ‫ذوات‬
‫ٱلمادة‬ َ ََ

227
Über den Kosmos 127

245
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Und weiter:
‫ـبب‬ ُ َ ‫همــا َسـ‬ َ ُ ‫ـوة‬ ُ َّ ‫ٱلقـ‬ُ ْ ‫ٱلطبيعـ ِـة‬
َ ِ َّ ‫ـذه‬ ِ ِ ‫وهـ‬
ََ »Und diese Natur und Kraft ist

ُ َ َ ِ ْ ِٕ َ ‫ٱلعــالم‬
die Ursache von der Ordnung
ِ ْ َ ِ َ ‫وانتظامــه‬
‫وبحســب‬ ِ َ َ ْ ‫ٱلحــاد‬ُ َْ und der Regelhaftigkeit der Welt.
‫ــــه ِفـــــي‬
ِ ‫عليـ‬ ِ ْ َٔ ‫ــــري ْٱلـ‬
ْ َ َ ‫ــــامر‬ ِ ‫يجـ‬ ْ َ ‫َمـــــا‬ In der selben Weise wie eine

ٌ ِّ َ ْ ‫ٱلواحــدة ِٱلتــي َ َلهــا‬


‫مــدبر‬ ِ َ ِ َ ْ ‫ٱلمدينــة‬ ِ َ ِ َْ Stadt, die einen Herrscher hat,
der in ihr wohnt und nicht ge-
‫ـارق َ َلهــا‬
ٌ ِ ‫فيهــا َ ْغيـ ُـر ُ َمفـ‬ َ ِ ‫مقيـ ٌـم‬ ِ َ
ِ ُ ‫واحـ ٌـد‬ trennt von ihr ist, so sagen wir
auch, daß eine gewisse Kraft die
ِ َ ‫ـار َو‬
‫حانيـ ٌـة‬ ٌ ‫ـوة َمـ‬ ٌ َّ ‫ان قُـ‬َّ َٔ ‫ـول‬ُ ‫كذلك َ ُنقـ‬ َ ََِ ganze Welt durchdringt und ihre
ِ َ ‫ٱلعـ‬
‫ــــالم َو‬ َ ْ ‫ــــع‬ ِ ‫جميـ‬ ِ َ ‫ــــري ِفـــــي‬ ِ ‫تسـ‬
َْ Teile zusammenhält.« 228

‫ـــــض‬
ٍ ‫ببعـ‬ ْ َ ِ ‫ـــــه‬
ُ ‫بعضـ‬ َ ْ َ ‫ـــــربط‬ُ ِ ْ ‫َتـ‬
Alexandros geht also davon aus, daß der erste Beweger ( ‫ٱلاول‬ ُ َّ َٔ ْ ‫ٱلحرك‬
ُ ََْ )
die ganze Natur umfaßt. Zunächst bewegt er die Wesen, die er ohne
Vermittlung unmittelbar bewegen kann. Dies sind – so haben wir im
zweiten Band bei der Diskussion der aristotelischen Naturphilosophie
erfahren – die Himmelskörper. So dann wirkt er auch indirekt auf die
irdischen Dinge, indem diese durch die Bewegung der Himmelskörper
bewegt werden. Diese indirekte Bewegung ist allerdings immer noch
Ausdruck der Bewegung des unbewegten Bewegers und überträgt so
ُ َّ ‫ )قُـ‬auf die Dinge in der Welt.
gewissermaßen dessen Kraft (‫ــوة‬
Wir sehen hier also, daß Alexandros einerseits so etwas wie ein indi-
rekter Idealist ist. Die Formen in der Welt sind bloß die Nachahmung
geistiger Zustände des unbewegten Bewegers, sie sind aber offenbar
nicht in sich ideell. Dennoch ist das Resultat dieses Ansatzes, daß die
Welt von einem ideellen Formenreich umfaßt wird, welches die Dinge
in ihr beständig mechanisch formt.
§ 198 Er verläßt diesen idealistischen Restansatz aber, wenn er uns
beschreibt, wie dieses konkret von statten geht. Alexandros versucht
nämlich sogar naturalistisch zu begründen, warum die Himmelskörper
eine zirkuläre Bewegung haben:

228
Über den Kosmos 128

246
Alexandros von Aphrodisias (150-215)

‫ـــذي‬ ِ ‫ٱلطبيعــــي َٔالَّـ‬


ُّ ِ ِ َّ ‫ـــم‬ ِ ‫للجسـ‬ ْ ِ ْ ِ ‫يوجـــد‬ُ َ ُ »Der natürliche Körper, der vor

َ ْ َٔ ْ ‫جميـ ِــع‬ ِ َ ‫ــن‬ ْ ‫ــدم ِمـ‬


allen natürlichen Körpern exi-
‫ــام‬
ِ ‫ٱلاجسـ‬ ُ َ ‫ُهـ َــو َٔ ْاقـ‬ stiert, hat einen natürlichen An-
ِ َِ
‫ـــــــــــــــــتياق‬ ‫ٱلاشـ‬ ِ
ْ ِٕ ْ ‫ـــــــــــــــــة‬ َّ ِ ِ َّ
‫ٱلطبيعيـ‬ trieb, die erste Ursache nachzu-
ahmen. Das Ziel des Aktes der in
ِ ‫بٱلعلَّـ‬
‫ــــة‬ ِ ْ ِ ‫ــــداء‬ِ َ ‫ٱلاقتـ‬ ِ ْ ِٕ ْ ‫ــــٱلطبع ِٕ َالـــــى‬
ِ ْ َّ ‫َبـ‬ der entsprechenden Natur exi-
‫ــــل‬ ِ ‫ٱلفعـ‬ ْ ِ ْ ‫ــــرض ِفـــــي‬ ُ ْ ‫وٱلفـ‬ َ ْ َ ‫ــــاولى‬ َ ُٔ ‫ْٱلـ‬ stiert, nämlich die Kreisbewegung
mit welcher der Himmelskörper
ِ ‫طبيعتـ‬
‫ـــه‬ ِ َ ِ َ ‫ـــه ِفــــي‬ ْ ‫ـــد لَـ‬ُ ‫يوجـ‬ َ ُ ‫ـــذي‬ ِ ‫َٔالْـ‬ sich ewig bewegt soweit er das
‫ـــــه‬
ُ ‫حركتـ‬ ُ َ َ َ ‫ـــــو‬ َ ‫وهـ‬ ُ َ ‫ـــــه‬
ُ ‫تخصـ‬ ُّ ُ َ ‫ْ ِّٱلتــــــي‬ kann, ist eine Nachahmung der
Substanz, die kein Körper ist und
ُ َّ ‫يتحـ‬
‫ـــــرك‬ َ َ َ ‫ـــــة ْ ِّٱلتــــــي ِ َبهــــــا‬ ُ ‫ٱلدوريـ‬ َّ ِ ْ َّ sich nicht bewegt; und die Konti-
‫ازليـ ٌــة ُهـ َــو‬ َّ ِ َ َٔ ‫حركـ ٌــة‬
َ َ َ ‫بطاقتـ ِــه‬ ِ َّ َ ِ ‫ــم‬ ُ ‫ٱلجسـ‬ ْ ِْ nuität der entsprechenden Bewe-
gung ist eine Assimilation der
‫ـــس‬ َ ‫ـــذي َ ْليـ‬ ِ ‫ـــٱلجوهر َٔالَّـ‬
ِ َ ْ َ ْ ‫ـــداء بِـ‬ ُ َ ‫ٱلاقتـ‬ ِ ْ ِٕ ْ Ewigkeit dieser [ersten Ursache]
‫ــبه‬
ُ ُ ‫تشـ‬ َ َ ‫وان‬ ٌ ِّ ‫متحـ‬
َّ ِٕ َ ‫ــرك‬ َ َ ُ ‫ــم َو َلـــا‬ ٍ ‫بجسـ‬ ْ ِِ insofern sie nicht bewegt ist.«
229

‫ــــه‬ُ ‫ــــة لَـ‬ ِ ‫ٱلملائمـ‬َ ِ َ ُ ْ ‫ــــة‬ ِ ‫ٱلحركـ‬َ َ َ ْ ‫ــــل‬ َ ‫اتصـ‬ َ ِّ ِٕ


‫ـث ُهـ َـو َ ْريـ َـر‬ ُ ‫حيـ‬ ْ َ ‫ـك ِمـ ْـن‬ َ ‫فبازليـ ٌـة ٰذلِـ‬ َّ ِ َ َٔ ِ َ
‫ــرك‬ ٍ َّ ‫متحـ‬ َ ُُ
Alexandros Argument für die Notwendigkeit einer Kreisbewegung der
Himmelskörper ist hier sehr gut durchdacht. Was die Himmelskörper
ُ َ ِ ْ ِٕ ْ ) des unbewegten
eigentlich wollen, ist eine Nachahmung (‫ٱلاقتـــــــداء‬
Bewegers. Dies erreichen sie einerseits dadurch, daß sie selbst die Din-
ge in der Welt bewegen. Andererseits aber erreichen sie dies auch da-
durch, daß sie die Gestalt und Ewigkeit des unbewegten Bewegers in
ihrer Bewegung nachahmen. Die Ewigkeit ahmen sie durch eine ewig
gleiche und nicht aufhörende Bewegung nach. Die Gestalt aber, die ja
beim unbewegten Beweger keine körperliche Gestalt ist, ahmen sie da-
durch nach, daß sie sich im Kreis bewegen. Der Kreis impliziert so den

229
Über den Kosmos 22-23

247
Alexandros von Aphrodisias (150-215)

Mittelpunkt, um den sich die Himmelskörper bewegen, als das Ge-


staltlose.
Natürlich trägt diese Überlegung Alexandros’ nicht sehr weit. Den-
noch ist der Versuch, der hier in der Fortsetzung des Denkens von Ari-
stoteles unternommen wird, sehr interessant. Wie im Platonismus wird
das göttliche Wesen als das unbeschreibliche Eine hinter den Dingen
gesehen, im nächsten Schritt kommt dann das Reich der Ideen, welches
hier als Sphäre der Himmelskörper gedeutet wird. Und am Ende
kommt schließlich die Natur. Nur eben ist diese Vermittlung, die im
Platonismus als eine rein Ideelle gedacht wird, hier eine mechanische.
Alexandros geht dabei noch weiter im Versuch einer Naturalisierung
des Platonismus, als dies Aristoteles tat. Er sieht selbst das Wesen der
Kreisbewegung als Versuch der Nachahmung einer natürlichen Gestalt.
Dabei überreizt er meines Erachtens diesen Ansatz. Denn hier wird
nicht mehr wie bei Aristoteles die mythische Gestalt der Weltseele
durch eine Naturalisierung abgeschafft, sondern das wenige Begriffli-
che, was bei Aristoteles noch vorhanden war darin liegt, wird auch natu-
ralisiert. Der Begriff der Ewigkeit und Gestaltlosigkeit wird in eine
raum-zeitliche Form überführt.
§ 199 Dabei stoßen wir am Rande noch auf einen weiteren interes-
santen Gedanken. Auf den hier schon des öfteren vorgebrachten Ein-
wand, diese Himmelskörper seinen doch in ihrer langweiligen Bewe-
gung sehr viel unkomplexer und unintelligenter als wir Menschen und
müßten insofern auch in der Natur niedriger stehen, findet Alexandros
eine Antwort. Die Himmelskörper bewegen sich nach aristotelischer
Auffassung ja nicht durch den Anstoß mittels einer causa efficiens,
sondern durch den aus ihrem inneren kommenden Anstoß durch eine
causa finalis. Daher, so argumentiert Alexandros, müssen sie auch
denken können:

248
Alexandros von Aphrodisias (150-215)

ِ َ َ َ ْ ‫بهـــذه‬
ِ َ َ ِٕ ‫ٱلحركـــة‬
‫اغاصـــار‬ ِ ِ َ ِ ‫ٱلتحـــرك‬
ُ ُّ َ َّ »Das was so mit dieser Bewegung

ْ ِ ‫متحجكــا ِ َبهــا‬
bewegt wird, tut dies durch das
‫هــو‬ ِ ِ َ ‫مــن‬
َ ُ ‫طــريق َمــا‬ ً َّ َ َ ُ Denken des Dinges, welches
‫ٱلثــــيء‬ َ ِ َ ِ ‫بٱلعقــــل‬
ِ ْ َّ ‫لــــذلك‬ ِ ْ َ ْ ِ ‫متصــــور‬
ٌ ِّ َ َ ْ wahrhaft und in Wirklichkeit in-
telligibel ist.«
ْ ِ ْ ِ َ ‫ــــة‬ َ ِ َ ْ ‫ــــو‬
230

‫ــــل‬
ِ ‫وبٱلفعـ‬ ُ ‫ٱلحقيقـ‬ َ ‫ــــذي ُهـ‬ ِّ ‫ٱلـ‬
‫ـول‬ َُْ
ٌ ‫معقـ‬
Aber wollen wir wirklich von der Existenz denkender Himmelskörper
ausgehen, von Planeten die nicht nur intelligibel (‫ـــول‬ ُ ْ َ ) sind, sondern
ُ ‫معقـ‬
sogar der Wirklichkeit nach intelligibel (‫ـــــــول‬
ٌ ‫معقـ‬ ُ ْ َ ‫ـــــــل‬
ِ ‫بٱلفعـ‬ ْ ِ ْ ِ )? Der ari-
stotelische Realismus, der fordert, daß Formen immer die Formen ei-
nes wirklichen Körpers sein müssen, behindert hier eine idealistische
Interpretation von Alexandros’ Gedanken, gegen die er selbst sich si-
cher auch wehren würde. Wenn es diese Körper nicht geben würde,
stünde der Weg hier frei dazu, das Beschriebene als eine ideelle Struk-
tur zu interpretieren. Aber es gibt die Himmelskörper und diese wirken
nach aristotelischer Auffassung kausal auf die Welt und übertragen so
den intellektuellen Impuls des ersten Bewegers auf die Dinge.

ii. Raum und Zeit


§ 200 Dieses Umfassen der Welt durch die Himmelskörper und durch
den unbewegten Beweger zeigt sich auch bezüglich der Frage nach der
Vergänglichkeit der irdischen Dinge. Hier stößt Alexandros auf das
Problem, daß potentiell alles vergänglich ist:
À oÙc ›petai tù p©san ™ndšcesqai »Daraus, daß gezeigt wurde, daß
fqarÁnai t¾n gÁn tÕ kaˆ ¤ma. toà- alles auf der Erde vergänglich
to g¦r ¢dÚnaton, e„ ¢pÕ tÁj tîn ist, folgt nicht, daß es dies auch
oÙran…wn kin»sewj, <æj> ™k gÁj zusammen ist. Denn dies ist
e„j ¥llo ti g…netai metabol», unmöglich. Wenn durch die
oÛtwj kaˆ ™x ¥llou tinÕj e„j gÁn. Bewegung der Himmelskörper
eine Veränderung aus Erde zu
etwas anderes geschieht, so

230
Über den Kosmos 100

249
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
kann diese sich auch aus ande-
rem zu Erde vollziehen.«
231

Wenn nun potentiell alles vergänglich ist, dann folgt daraus, daß auch
die Erde als ganze, das ganze Universum schlechthin vergehen könnte.
Alexandros stellt uns nun eine sehr einleuchtende Überlegung vor, wel-
che zwar die Prämisse der Vergänglichkeit aller irdischen Dinge akzep-
tiert, aber dennoch die Vergänglichkeit des Ganzen zu umgehen weiß.
Das Vergehen eines einzelnen Naturdinges ist kein schlechthinniges
Vergehen, sondern immer nur der Übergang in ein anderes Naturding.
So kann jedes für sich vergehen, das Ganze aber bleibt mit veränderter
Form erhalten.
Im Grunde finden wir hier nur eine Reformulierung des Satzes der
Materieerhaltung und das ist bei Alexandros sicherlich auch so moti-
viert, denn er geht immer wieder von der Ewigkeit der Materie als ei-
nem Axiom aus. Sehr viel spannender als diese materialistische Prämis-
se ist aber die holistisch-idealistische Konsequenz der Überlegung.
Denn hier wird die Welt als ein Ganzes gedacht, das zwar seine Gestalt
ändern kann, aber insgesamt in der Veränderung doch ein mit sich
Identisches bleibt. Das verbindende Moment dieses Ganzen ist das
Netz der Formen, welches diese Welt durchzieht und durch die Bewe-
gung des unbewegten Bewegers beständig erhalten bleibt. Nur durch
sie, nur weil jede Form immer nur in eine andere Form übergehen
kann, nie aber ganz verschwinden kann, weil eben alle Formen ideell
verbunden sind, stellt die Welt auch insgesamt ein einheitliches Ganzes
dar.
§ 201 Alexandros ist dieser Überlegung einer die Natur umfassen-
den ideellen Größe folgend, ein nüchterner Vertreter eines endlichen
Universums. Wir haben bei Pseudo-Archytas im dritten Band eine
Überlegung zur Unendlichkeit des Raumes kennengelernt. Pseudo-
Archytas behauptet, daß, wenn wir an die Grenze des Universums ge-
langen könnten, wir ja einfach unsere Hand ausstrecken könnten. Dann
befindet sich unsere Hand entweder im leeren Raum, was aber heißt,
daß dort eben der Raum weitergeht. Oder aber unsere Hand stößt an

231
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 23; S. 36, 23-26

250
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
einen Widerstand, was aber bedeuten würde, daß dieser Widerstand
ein Körper sei, dessen Ausdehnung ja dann auch einen Raum einneh-
men muß und dessen Existenz uns so belegt, daß hier der Raum weiter-
geht.
Alexandros kritisiert dieses Gedankenexperiment mit einer ganz
einfachen Gegenbehauptung:
oÙk ™ktene‹, ¢ll¦ kwluq»setai, »Er wird [seine Hand] nicht aus-
<kwluq»setai> d oÙc æj aÙtoˆ strecken, sondern gehindert wer-
lšgousin, ØpÒ tinoj ¢ntiba…nontoj den, aber nicht, wie sie sagen,
™ktÕj perikeimšnou tù pantˆ, ¢ll¦ durch einen Gegenstand, der au-
polÝ m©llon ØpÕ toà mhd n e nai. ßen in dem das All Umfassenden
pîj g¦r ¥n tij e„j tÕ mhd n ™k- ist, sondern vielmehr durch das
te…nai ti Nichtsein. Denn wie kann je-
mand etwas in das Nichtsein aus-
strecken?«
232

Alexandros geht also hier einfach von dem Umstand aus, daß es um das
Universum herum eben nur Nichtsein gäbe und daß dieses Nichtsein
sich entsprechend auch einer Hand gegenüber, die sich ihm nähert, als
widerständig zeigt. Jedoch sei diese Widerständigkeit nicht die eines
Körpers, sondern eben eine der völligen Abwesenheit auch nur der
Möglichkeit des Vorhandenseins eines Körpers.
Dieses Argument ist insofern für uns akzeptabel, als es als bloßes
Gegenargument gegen Pseudo-Archytas’ vermeintlichen Beweis der
Unendlichkeit des Raumes betrachtet wird. Versucht man hierin jedoch
auch nur den Ansatz eines Beweis der Endlichkeit des Raumes zu se-
hen, so kommt man nicht sehr weit. Allein schon die Konstruktion ei-
ner Widerständigkeit des Nichtseins ist mehr als fragwürdig. Denn ein
Nichtsein, daß einen Widerstand leistet, ist doch dann kein Nichtsein
mehr. Letztlich zeigen diese Überlegungen viel eher, daß dieser Begriff
des Raumes als eines Behältnisses der falsche Ansatz ist, der eben be-
ständig zu derlei aporetischen Überlegungen führt. Diese kann man nur
auflösen, wenn man von einem idealistischen Raumbegriff ausgeht, der
aber immer mit einem idealistischen Materiebegriff einher gehen muß.

232
¢por…ai kaˆ lÚseij III, 12; S. 106, 37 – S. 107, 1

251
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Die Grundidee eines solchen Raumbegriffes haben wir bei der Diskus-
sion von Ekphantos von Syrakus im zweiten Band kennengelernt.

iii. Was ist Materie?


§ 202 Alexandros stellt sich die Frage, was denn Materie überhaupt sei.
In der Tat ist der Begriff der Materie ja eine merkwürdige Größe, ein
Etwas, dem man keinerlei Eigenschaften zuschreiben können soll:
“Ulh e„ par¦ m n tÁj ster»sewj »Wenn der Seinszustand der Ma-
œcei tÕ ¥poioj e nai kaˆ ¢schm£- terie eigenschaftslos und formlos
tistoj, par¦ d toà e‡douj tÕ pe- durch Privation bestimmt ist, ihre
poiîsqai kaˆ ™schmat…sqai, tù Eigenschaftsbehaftetheit und
aØtÁj lÒgJ t… œstai; Formhaftigkeit aber durch die
Form zustande kommt, was wird
sie dann an sich selbst sein?«
233

Die Materie soll ja nach aristotelischem Verständnis als ster»sij ge-


dacht werden, gewissermaßen als ein ganzer aus Form und Materie be-
stehender Körper, bei dem man die Form wegnimmt. So erhält man
eine Größe, die weder recht als Ding noch als Wesen zu bezeichnen,
welche für sich genommen gar nicht existieren kann und eigentlich so
nur ein Gedankenkonstrukt des Philosophen ist. Ein eigener Seinszu-
stand (›xij) kommt dieser Größe damit im Grunde gar nicht zu. Nur die
Form macht die Materie zu etwas Wirklichem. Da fragt sich Alex-
andros zurecht, was denn eine solche Materie eigentlich ist.
§ 203 Seine Antwort auf diese Frage ist schwer auszumachen. Was
meines Erachtens am nächsten an einen Lösungsversuch kommt, ist die
folgende Feststellung:
oÛtwj oân kaˆ tÍ ÛlV e‡h ¨n tÕ ÛlV »So besteht auch das Materiesein
e nai oÙk ™n tù poiù e nai, ¢ll' ™n der Materie nicht in der Eigen-
tù ™pithdeiÒthta œcein kaˆ dÚna- schaft, sondern darin, die Mög-
min, kaq' ¼n ™sti dektik¾ poiot»- lichkeit und Neigung zur Auf-
twn nahme der Eigenschaften zu ha-
ben«.234

233
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 7; S. 52, 23-25
234
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 7; S. 52, 28-30

252
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Die Materie ist so nach Alexandros in ihrem Wesen selbst reine Poten-
tialität. Der Umstand, daß sie keine Eigenschaft hat, ist ganz und gar
neutral für die Materie selbst, ein bloßes Akzidenz, nicht aber dessen
Wesen. Die Materie kann so ein Wesen jenseits der Eigenschaften ha-
ben, was eben in dessen Potentialität besteht, die Alexandros wenig spä-
ter auch als Grenzzustand bezeichnet:
oâsa d' ™n tù meqor…J toÚtJ e‡h »In diesem Grenzzustand befind-
¨n kaˆ ¥fqartoj. lich ist sie auch unvergänglich.«
235

Ein Schritt, den Alexandros nun nicht selbst geht, der aber von seinem
konsequenten Fragen und scharfsinnigen logischen Unterscheiden hier
nahegelegt wird, ist die darin enthaltene völlige Immaterialität der Mate-
rie. Wird die Materie nur als die Grenze (meqor…on) des Wechsels von
zwei Formzuständen gedacht, so hängt das Materielle ganz vom Ideel-
len ab. Es tritt nämlich nur dann in Erscheinung, wenn sich an den
Formen etwas ändert. Stellen wir uns nun die einfachste Form als so
etwas wie das bloße Sein an einem Ort vor – wohl als ein ideelles, bloß
gedankliches Sein an diesem Ort – so stellt bereits eine Bewegung eine
Veränderung in der Form dar und konstituiert damit sogleich Materie.
§ 204 Bei Alexandros stoßen wir auf eine sehr interessante Feststel-
lung, die grob in eben diese Richtung geht und die Möglichkeit einer
Materie, die eigentlich keine ist, zu erwägen. Die Materie findet sich
nämlich nicht bei allen Wesen am Werk; es gibt vielmehr auch solche,
die ein nichtmaterielles Substrat haben:
'Epˆ plšon tÕ Øpoke…menon tÁj »[Der Ausdruck] „Substrat“ hat
Ûlhj· tÕ g¦r ™n to‹j qe…oij Øpo- eine größere Extension als „Ma-
ke…menon oÙc Ûlh. terie“. Denn die Götter haben
ein Substrat aber keine Mate-
rie.«236

Es gibt also für Alexandros durchaus materiefreie Wesen. Wenn wir


nun die oben gemachte Annahme, daß Götter bei ihm noch keine ide-
ellen Wesen sind, berücksichtigen, dann handelt es sich dabei sogar um
Naturwesen irgendwelcher Art, wie Himmelskörper oder ähnliches.

235
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 7; S. 53, 2-3
236
In Aristotelis metaphysica commentaria S. 22, 2-3

253
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Wenn nun aber diese Wesen kein materielles Substrat haben, wohl
aber ein Substrat (Øpoke…menon), was ist das dann anderes als eine rein
aus Form bestehende Materie? Leider finden wir bei Alexandros hierzu
keine weitergehenden Hinweise.

iv. Wie kommt die Form zur Materie?


§ 205 Eine weitere Aporie Alexandros’ konfrontiert uns mit dem Ver-
hältnis von Form und Materie. Diese Aporie hat eine Voraussetzung,
die wir so auch bei Aristoteles finden, die aber bei Alexandros sehr viel
ernster genommen und konsequent zu Ende gedacht wird. Die Formen
führen nach Alexandros kein Eigenleben; sie kommen nur in der Ma-
terie vor:
oÜte g¦r tîn e„dîn ti ïn Ûlh dek- »Denn weder kann eine der
tik¾ ¥neu tÁj Ûlhj oŒÒn te e nai ™n Formen, welche die Materie auf-
Øp£rxei, oÜte t¾n Ûlhn ¥neu tinÕj nehmen kann, ohne Materie
e‡douj, ¢ll' œstin ¢cèrista ¢l- sein, noch die Materie ohne ir-
l»lwn prÕj Ûparxin. gendeine Form, sondern sie sind
einander für die Existenz unver-
zichtbar.«
237

Wenn nun aber die Materie nie ohne Form sein kann, wohl aber ir-
gendwie auch alle Formen aufnehmen können soll, keine Form aber
wiederum jemals ohne Materie sein kann, wie kann dann eine neue
Form in eine Materie hineingelangen? Diese Überlegung führt Alex-
andros zu folgender Aporie:
œti ½toi ˜k£sth Ûlh ¤ma t¦ e‡dh »Entweder nämlich hat jede Ma-
p£nta ›xei, Ö ¢dÚnaton (œsti g¦r terie alle Formen zusammen, was
kaˆ ™nant…wsij ™n to‹j ™nÚloij unmöglich ist (denn unter den
e‡desin [...]). materialisierten Formen gibt es
Gegensätze [...]).«238

In der Tat wäre das Problem durch diese Überlegung gelöst. Wenn je-
de Materie alle Formen in sich trägt, dann kann sie die Form einfach
wechseln, ohne daß dazu eine andere Form irgendwie von außen
kommen muß. Die neue andere Form ist bereits in ihr vorhanden. Die-

237
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 11; S. 56, 5-7
238
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 26; S. 42, 4-5

254
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
sen Gedankengang haben wir bei Alexandros’ Lehrer Aristoteles von
Mytilene ja schon kennengelernt und ausführlich diskutiert. Das soll
nun aber nach Alexandros nicht möglich sein, weil es unter den For-
men Gegensätze gibt, die dann – das Widerspruchsprinzip verletztend
– zugleich am gleichen Ort wären.
Das bringt ihn dazu die Alternative zu erwägen, die jedoch glei-
chermaßen unbefriedigend ist:
e„ d' ¥llh ¥llo, ¥fqarton ¨n ›ka- »Oder aber andere [Materien]
ston Ãn tîn ™nÚlwn. e„ d' Ãn fqar- haben andere [Formen], so daß
tÒn, kaˆ ¹ Ûlh ¨n sunefqe…reto, jedes der Materialisierten unver-
™de…cqh d' ¢…dioj oâsa. gänglich wäre. Wenn es aber ver-
gänglich wäre, so würde auch die
Materie mit vergehen, von der
jedoch gezeigt wurde, daß sie
ewig ist.«
239

Denn so wäre jede Materie an ihre Form gebunden und das Ver-
schwinden eines aus Form und Materie zusammengesetzten Körpers
hätte sogleich auch das Verschwinden der Materie zur Folge. Die Mate-
rie aber ist für Alexandros, wie für Aristoteles, etwas Unvergängliches.
§ 206 Alexandros löst diese Aporie gleichwohl nicht auf und deutet
auch nirgends eine Auflösung derselben an. Dennoch liefert sie uns ei-
ne interessante Einsicht, die sehr typisch für Alexandros’ Vorgehen ist.
Er zeigt die Lücken im aristotelischen Denken durch eine gewisse Art
von Verdinglichung desselben. Die verdinglichende Metapher ist hier
die Unterscheidung von Innen und Außen. Entweder hat die Materie,
gedacht als einzelne Materiepartikel, alle Formen in sich, oder sie müß-
ten von außen kommen. Diese Unterscheidung von Innen und Außen
funktioniert jedoch so streng nur in einer materialistischen Sichtweise
der Welt, die klar abgrenzte Dinge kennt, die einander äußerlich sind.
In einer idealistischen Sichtweise der Welt ist aber in jedem Fall die
Materie nicht der Ausgangspunkt. Der Ausgangspunkt ist vielmehr eine
große Einheit des Ganzen und Trennungen entstehen nur durch inter-
ne Differenzierungen.

239
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 26; S. 42, 8-9

255
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Wie sieht es aber nun aus einer idealistischen Perspektive mit der
uns hier von Alexandros präsentierten Aporie aus? Da die Materie –
wie auch immer sie letztlich genau zu denken sein wird – in jedem Falle
ein Resultat von Differenzierungen ist, ist die Unterscheidung von In-
nen und Außen hier durchaus anwendbar. Nur wird diese Unterschei-
dung sogleich eine ganz andere Gestalt haben. Wenn wir davon ausge-
hen, daß ein Körper eine bestimmte Form hat, so sind zunächst einmal
deren Veränderungen beschränkt. Er kann entweder eine höhere
Formstufe annehmen oder durch Verlust seiner Form eine niedrigere,
nicht aber zu jeder beliebigen Form übergehen. Nehmen wir nun den
komplexeren Fall der Annahme einer höheren Formstufe, so ist aus
idealistischer Sicht die erste Alternative der Aporie Alexandros’ kei-
neswegs problematisch. Der Körper hat in der Tat die eine bestimmte
Form, aber qua Idealität der Formen – wir haben es bei Aristoteles von
Mytilene gesehen – sind in dieser alle anderen Formen implizit enthal-
ten. Die höhere Form ist so bereits vorgezeichnet. Und selbst wenn sich
der Körper dann letztlich mit anderen zu dieser höheren Form verbin-
det, so kann ein jeder Teil seinen Beitrag zum kohärenten Ganzen lie-
fern, ebenso wie in einer Diskussion jeder Sprecher seinen Beitrag lei-
stet. Da aber die Kohärenz der Gesamtform selbst nun etwas über die
Teile hinausgehendes ist, so ist auch hier das Ganze mehr als die
Summe der Teile, obwohl es im Grunde von unten aus der Natur er-
wächst. Das zusätzliche Moment der Kohärenz des Ganzen ist sozusa-
gen ein Effekt der Einheit des Ideellen, welche der Natur zugrundeliegt,
aus dem die Natur besteht. Indem es von unten erwächst kommt es so
gleichzeitig von oben, aus dem Ideellen selbst; keinesfalls aber von au-
ßen, denn für die Natur überhaupt gibt es kein Außen.

v. Das Verhältnis von Materie und Form


§ 207 Hinsichtlich des Verhältnisses von Materie und Form finden wir
bei Alexandros eine grundlegende Unterscheidung, nämlich die zwi-
schen höherstufigen und komplexen Körpern und einfachen Körpern,
deren Unterschied in der Art der Materie, aus der sie bestehen, zu fin-
den ist:

256
Alexandros von Aphrodisias (150-215)

™pˆ m n oân tîn ¡plîn te kaˆ prè- »Bei den einfachen und ersten
twn swm£twn oÙd' Ólwj kaq' aØ- Körpern ist die Materie keines-
t¾n ¹ Ûlh tÒde ti tù t¾n prèthn wegs etwas für sich Seiendes,
kaˆ kur…wj Ûlhn toÚtoij prosecîj denn die erste und grundlegende
Øpoke‹sqai, ™pˆ d tîn sunqštwn Materie liegt diesen unmittelbar
swm£twn, ™peˆ toÚtoij mhkšti zugrunde, bei den zusammenge-
prosecîj Øpoke…menon ¹ prèth te setzten Körpern jedoch, da die-
kaˆ kur…wj Ûlh, ¢ll' œstin ¹ Ûlh sen nicht die erste und grundle-
sèmata toÚtoij Øpoke…mena, e‡ ge gende Materie unmittelbar zu-
t¦ kaloÚmena stoice‹a ¹ toÚtwn grundeliegt, ist die Materie viel-
Ûlh, œstai m n ¹ toÚtwn Ûlh tÒde mehr Körper, die ihnen zugrun-
ti, oÙ m¾n tÕ genÒmenon ™x aÙtîn deliegt, wenn die sogenannten
tÕ e nai toàto Ö gšgonen ¢pÕ tÁj Elemente ihre Materie sind, so
Ûlhj œcei kaˆ toà ™ke…nhj e‡douj, daß die Materie derselben ein
¢ll' ¢pÕ toà e‡douj toà gegonÒtoj wirkliches Ding ist, aber das aus
™n tÍ poi´ sunqšsei te kaˆ m…xei ihnen Gewordene hat sein Sein,
tîn Øpokeimšnwn aÙtù swm£twn. das es geworden ist, nicht durch
die Materie oder die Form der-
selben, sondern durch die Form,
die in einer Art von Zusammen-
setzung und Mischung der Kör-
per, aus denen es besteht, zu-
standekam.« 240

Was hier, nicht zuletzt aufgrund der Länge des Satzes kompliziert
klingt, ist im Grunde ganz einfach. Wir haben es ganz abstrakt mit drei
Stufen zu tun. Die erste ist die prîth Ûlh, die einfachste Form der Ma-
terie, noch ganz ohne Form. Die zweite Stufe ist deren Form, die sie zu
den Elementen (stoice‹a) macht. Aus diesen als ihrer Materie entste-
hen dann die komplexeren Gebilde. Deren Form besteht nun – und
darauf legt Alexandros sehr viel Wert – nicht unmittelbar (prosecîj)
aus der prîth Ûlh und auch nicht aus den stoice‹a, sondern es ist die
Form, die sich aus der spezifischen Komposition oder Mischung der
Elemente ergibt.
Wir stoßen also hier auf das von uns favorisierte Schema eines li-
nearen Aufbaus der Natur aus einer grundlegenden Materie – die wir

240
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 24; S. 75, 5-13

257
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
gleichwohl selbst als reine Form denken – und darauf aufbauend einer
Reihe von Formstufen, bei der jeweils jede Formstufe zugleich zur Ma-
terie für die folgende Stufe werden kann.

e‡doj Mischung?

stoice‹a Mischung

prîth Ûlh

Nicht ganz klar ist einzig bei Alexandros, ob er diesen Aufbau wirklich
so vielgestaltig denkt, oder ob er davon ausgeht, daß die dritte von ihm
angesprochene Stufe immer auf der Stufe der Elemente aufbaut, ob al-
so Mensch und Stein gleichsam aus Elementen bestehen und beim
Menschen nicht noch andere Stufen zwischengestaltet sind. Wir wer-
den auf diese Frage in der Folge noch zurückkommen müssen, wenn
von den organischen Naturstufen die Rede ist.
§ 208 Hinsichtlich des Umgangs mit dem Verhältnis von Form und
Materie finden wir bei Alexandros eine erstaunliche Flexibilität. Er hält
keineswegs an einer starren Bindung eines Stücks Materie an eine
Form fest, sondern legt eine ganz und gar systemtheoretische Sichtweise
der Verbindung der beiden an den Tag:
oÙ g¦r œstin ™n tù hÙxhmšnJ la- »Denn es gibt bei der Vermehrung
be‹n tina Ûlhn, ¼tij di¦ pantÕj ¹ keine Materie zu finden, die durch
aÙt¾ mšnousa ™n aÙtù kat' ¢riq- das Ganze mit sich selbst numerisch
mÕn prosq»khn œscen tin¦ kat¦ identisch geblieben ist und gemäß
posÒn. ¿n g¦r ¨n l£bVj, kaˆ aÛth der Quantität zugenommen hat.
·e‹ kaˆ metab£lletai, kaˆ oÙd n Denn was auch immer du nimmst,
aÙtÁj taÙtÕ kat' ¢riqmÕn mšnei· tÕ auch dieses fließt und wandelt sich
d e doj taÙtÕ mšnei, œst' ¨n sèz- und nichts bleibt numerisch iden-
htai tÕ pr©gma. tisch. Die Form aber bliebt, solange
das Ding erhalten bleibt.«
241

241
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 5; S. 13, 28-32

258
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Die Form also bleibt, während sich die diese tragende Materie bestän-
dig wandelt und wörtlich nur durch die formbestimmten Wesen hin-
durch fließt (·e‹). Wir entdecken hier erneut den Gedanken der flie-
ßenden Materie des Herakleitos, der zugleich von einer konstanten
Form begleitet ist. Diese Form ist natürlich wandelbar, auch das form-
hafte Wesen kann vergehen. Aber es ist sehr viel beständiger als die
Zugehörigkeit einer bestimmten numerisch identischen (kat' ¢riqmÒn)
Materie zu ihm. Deutlich wird dies für Alexandros am Beispiel des
Wachstums, welches eben bei gleichbleibender Form andere Materie
in dasselbe Naturwesen integriert. Noch deutlicher ist dies natürlich
beim Beispiel des Stoffwechsels.
Wir finden hier den bereits bei Herakleitos angesprochenen
Grundgedanken der Systemtheorie, welche die Systeme als auf der Sy-
stemebene, die hier durch die Form bestimmt ist, geschlossen denkt,
sie aber zugleich auf der materiellen Ebene als offen denkt. Dabei ist,
auch wenn Alexandros das nicht anspricht, recht klar, daß nicht Form
und Materie als gleichberechtigte das Ding bilden, sondern, daß dies
wesentlich durch die Form geschieht und die Materie hierbei nur einen
akzidentellen Status hat. Alexandros scheint diesen Gedanken der ma-
teriellen Offenheit aber nicht nur auf organische Systeme zu beziehen,
sondern hierin vielmehr einen Wesenszug aller Naturformen zu sehen.
Diese These hat einiges für sich, denn es reicht ja für die Stabilität des
Verhältnisses von Materie und Form, daß die Form dieselbe bleibt und
die Materie nur in ihrer Beschaffenheit dieselbe ist, nicht aber in ihrer
numerischen Identität.

vi. Die Entstehung der Seele im Körper


§ 209 Der von uns oben besprochene Umstand, daß die Formstufen
aufeinander aufbauen, bildet für Alexandros eine willkommene Erklä-
rung für die zunehmende Komplexität der Natur. Bereits bei der Dis-
kussion von Aristoteles’ Naturphilosophie im zweiten Band haben wir
gelernt, daß die Elemente sich jeweils nur in eine Richtung, hin zu dem
ihnen zugewiesenen Ort bewegen. Was aber passiert nun, wenn ein Na-
turwesen aus verschiedenen Elementen besteht? Es ist ja keineswegs so,
daß sich etwa in unserem Körper jene Schichtung von Luft, Wasser

259
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
und Erde wiederfindet, sondern diese Elemente sind vielmehr durch
den ganzen Körper verteilt und miteinander vermischt. Alexandros
sieht dies folgendermaßen:
ú d¾ ple…w kaˆ diafšronta e‡dh t¦ »Jenen, denen eine Materie aus
met¦ tÁj Ûlhj Øpoke…mena, ™x ¢n- vielartiger und verschiedener
£gkhj toÚtou kaˆ ¹ fÚsij kaˆ tÕ Form zugrundeliegt, ist es not-
e doj poikilèterÒn te kaˆ teleiÒte- wendig, daß auch die Natur und
ron, ˜k£sthj fÚsewj tîn ™n to‹j Form mannigfaltiger und vollen-
Øpokeimšnoij aÙtÍ sèmasin sunte- deter ist, denn jede der Naturen
loÚshj ti prÕj tÕ ™pˆ p©sin koinÕn in den ihnen zugrundeliegenden
e doj aÙto‹j. Körpern fügt sich zur ganzen ge-
meinsamen Form derselben zu-
sammen.« 242

Das komplexere Substrat der komplexeren Wesen bildet also die


Grundlage für eine komplexere Natur derselben. Die Bewegungen der
Elemente gehen hier in verschiedene Richtungen und da das ganze
doch eine Einheit bilden muß, um ein e doj zu sein, bedarf es eines hö-
heren Grades an Vollendung des Ganzen. Alexandros erklärt hier noch
nicht, wie genau ein solches Naturwesen beschaffen sein muß, aber
stellt schon einige sehr implikationsreiche Kriterien dafür auf, daß ein
solches Wesen als ein Wesen bezeichnet werden kann und nicht eine
sofort wieder diffundierende Vielheit ist, in der dann die Elemente ihre
natürliche Schicht aufsuchen und den Verband des Naturwesens verlas-
sen.
§ 210 Man könnte nun denken, es braucht eben eine leitende Form,
die in der Lage sein muß, die Vielheit der Dynamik, die in solch einem
Wesen steckt zu bannen und in eine für sie charakteristische Richtung
zu lenken. Aber Alexandros zeigt sich hier als ein viel nüchterner Den-
ker. Wenn er eine Einheit fordert, meint er nicht eine Einheit, bei der
die Materie durch eine von außen kommende Form despotisch be-
herrscht wird, sondern eine solche, in der sich die Form immer schon
in der Materie ausdrückt:

242
De anima S. 8, 8-12

260
Alexandros von Aphrodisias (150-215)

‫يجــــب َٔ ْان‬ ُ ِ َ ‫ايضــــا َلــــا‬ ً ْ َٔ ‫كــــذلك‬ َ ِ َ َ ‫َو‬ »Ebenso muß man nicht glauben,

َ ْ َٔ ْ ‫ــوان َو‬ ِ َ ‫ٱلحيـ‬ َ َ ْ ‫ــد ِفـــي‬ ََِْ daß die Natur der Lebewesen
‫ــام‬
ِ ‫ٱلاجسـ‬ ُ ‫يعتقـ‬ und zusammengesetzten Körper,
‫ـــريق‬ ِ ِ ‫ـــن َطـ‬ ْ ‫طبيعتهــــا ِمـ‬ َ ِ ْ َ ِ َ ‫ان‬ َّ َٔ ‫ـــة‬ ِ ‫ٱلركبـ‬ َ َّ ُّ sofern diese Lebewesen sind, et-

‫ــيء ٓ َاخـ ٌــر َ ْغيـ َــر‬ ٌ ْ ‫ــوان شَ ـ‬ ٌ َ ‫حيـ‬ َ َ ‫ــي‬ ِ was von der Seele verschiedenes
َ ‫َمـــا هـ‬ sei. Sondern insofern diese We-
‫ـياء ِمـ ْـن‬ ِ َ ‫ٱلاشـ‬ ْ َٔ ْ ‫ـذه‬ ِ ِ ‫ان ِ َلهـ‬ َّ َٔ ‫ـس ِٕ َّالــا‬ ِ ‫ٱلنفـ‬ ْ َّ sen zusammengesetzte sind, ha-
ben sie eine natürliche Bewe-
‫حركـ ٌـة ُٔ ْاخـ َـرى‬ َ َ َ ‫كبة‬ ٌ َ َّ ‫هي ُ َمر‬ ِ ِ َِِ
َ ‫طريق َما‬ gung, welche jener der Körper
ِ َ ْ َٔ ْ ‫بحســـــــب‬
‫ٱلاجســـــــام‬ ِ ْ َ ِ ‫طبيعيـــــــة‬ ٌ َّ ِ ِ َ entspricht, die nicht beseelt sind,
welche von jener Bewegung,
َ ‫ـــــة َ ْغيـ‬
‫ـــــر‬ ٍ ‫عتنفسـ‬ َ َّ َ َ ُ ‫ـــــت‬ ْ ‫ليسـ‬ َ ْ َ ‫َٔ َّ ِالتــــــي‬ durch die sie von der Seele be-
‫تتحركهـــــــــا‬ َ ُ ِّ َ َ َ ‫ــــــــة َٔ َّ ِالتـــــــــي‬ ِ ‫ٱلحركـ‬ َ ََْ wegt werden, verschieden ist, die
aber einzigartig ist und im Ein-
‫ــط‬ ْ ‫ــدة َ َفقـ‬ ٌ َ ‫واحـ‬ ِ َ ‫انهـــا‬ َ َّ َٔ ‫ــٱلنفس ِٕ َّالـــا‬ ِ ْ َّ ‫بِـ‬ klang mit dem überwiegenden
‫ـــم‬
ِ ‫الجسـ‬ ْ ِ ْ َٔ ‫ـــب ِفــــي‬ ِ ‫ٱلفالِـ‬ َ ْ ‫ـــب‬ ِ ‫بحسـ‬ ْ َِ [Element] im Körper, der aus
anderen Körpern zusammenge-
‫ذلك‬ َ ِ ٰ ‫ٱلؤخر َو‬ َ ْ ُ ْ ‫ٱلاجسام‬ ِ َ ْ َٔ ْ ‫من‬ َ ِ ‫ٱلركب‬ ِ َ ُّ setzt ist. Denn jeder von ihnen
‫منهــا َ ْقبـ َـل‬ َ ْ ِ ‫واحد‬ ٍ ِ َ ‫لكل‬ ِّ ُ ِ ‫يوجد‬ ُ َ ُ ‫قد‬ ْ َ ‫انه‬ ْ َّ َٔ hat eine gewisse natürliche Bewe-
gung, bevor sie miteinander in
‫ــــــض‬ٍ ‫ببعـ‬ ْ َ ِ ‫ــــــها‬َ ‫بعضـ‬ َ ْ َ ‫ــــــط‬ ُ ‫يختلـ‬ ِ َ ْ َ ‫َٔ ْان‬ einer Weise gemischt werden,
‫ـــــل‬
ُّ ‫الكـ‬ ُ ْ َٔ ‫ـــــير ِ َبهــــــا‬ ُ ‫يصـ‬ ِ َ ‫اختلاطًّــــــا‬ َ ِ ْ ِٕ welche das Ganze beseelt sein
läßt.«
243

ٌ ‫طبيعيـ‬
‫ـــة‬ َّ ِ ِ َ ‫ـــة َمــــا‬ ٌ ‫حركـ‬ َ َ َ ‫متنفســــا‬ ً ِّ َ َ ُ
Alexandros geht hier davon aus, daß die Einheit eines Lebewesens
nicht durch eine Form als zusätzliches Moment erzwungen wird, son-
dern daß die Elemente bereits so angeordnet sind, daß diese quasi die
Form bilden. Das interessante an dieser Überlegung ist ihre Nähe zum
Reduktionismus. Man könnte ja fragen, ob nicht, wenn doch ohnehin
schon die Elemente durch ihre Bewegung alleine das Ganze beseelt
sein lassen, die Rede von einer Form hier völlig überflüssig ist? Ich
denke nicht, daß Alexandros einen solchen Reduktionismus vertritt.
Das wird allein daraus deutlich, daß er die Materiekonstellation – wie
oben gesehen – als Ausdruck des Intellektes des unbewegten Bewegers

243
Über den Kosmos 18

261
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
betrachtet. Hier kommt zumindest ein Surplus gegenüber der bloßen
Materiekonstellation zum Ausdruck.
§ 211 Die Frage ist nun, ob dieses Surplus denn auch – gesetzt wir
können Alexandros’ Sichtweise zustimmen – im Rahmen eines ideali-
stischen Ansatzes ausreicht? Meines Erachtens tut es das. Das zeigt das
zentrale Argument gegen den Reduktionismus, das wir bereits in den
vorhergehenden Bänden gelegentlich bemüht haben. Die Existenz ei-
nes Mehr als die Summe der Teile liegt allein schon darin, daß wir das
Ganze mit anderen Begriffen beschreiben, als die Teile. Seine innere
Organisation ist das Surplus. Insofern brauchen wir für eine Form nicht
mehr, als eine gewisse Materiekonstellation. Diese allein bewirkt dann
etwa bei Organismen ein systemisches Verhalten des Ganzen, wo die
Rolle des Teils im Ganzen dessen Verhalten mitbestimmt.
Zugleich aber ist diese Sichtweise Alexandros’ an der Grenze des
Reduktionismus eine sehr gute Möglichkeit, zu erklären, wie das Kom-
plexe in der Natur aus dem Einfachen erwachsen kann, ohne daß wir
dazu die Zugabe eine mythischen Größe, wie etwa der einer sich herab-
schwingenden Seele bedürften. Wenn wir wie Alexandros die Form al-
lein in der logischen Gestalt sehen, die in der Materie entsteht, dann
können wir allein aus der Betrachtung der Materie heraus erklären, daß
komplexere Formen in ihr entstehen können.
§ 212 Diese komplexeren Formen werden nun vor allem durch das
Konzept der Seele gefaßt. So ist zu verstehen, daß die Seele als mate-
rialisierte Form eines organischen Körpers definiert wird:
™peˆ to…nun ¹ yuc¾ [...] e dÒj te »Demnach ist gezeigt worden, daß
™stin, æj dšdeiktai, kaˆ e doj œnu- die Seele [...] eine Form ist und zwar
lon (sèmatoj g£r, kaˆ sèmatoj eine materialisierte Form. Denn [sie
fusikoà· oÙ g¦r tecnikoà, æj tÕ ist die Form] eines Körpers und
toà ¢ndri£ntoj· kaˆ fusikoà oÙc zwar eines natürlichen Körpers.
¡ploà æj tÕ toà purÒj, ¢ll¦ sun- Denn sie ist nicht die Form eines
qštou te kaˆ Ñrganikoà) künstlichen, wie die eines Standbil-
des. Auch ist ihre Natur nicht ein-
fach wie die des Feuers, sondern
zusammengesetzt und organisch.« 244

244
De anima S. 15, 29 – 16, 4

262
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Die Seele ist also bei Alexandros wie bei Aristoteles auch schon, immer
in der Materie des Körper verankert. Sie ist œnulon, in die Materie ein-
gelassen. Das wesentliche für die Seele dabei ist, daß der zugrundelie-
gende Körper eben bereits ein organischer Körper ist. Wie stellt sich
Alexandros nun einen solchen organischen Körper vor? Das Wort
»ÑrganikÒj« meint zunächst einmal nicht anderes als das mechanische
Zusammenspiel verschiedener Werkzeuge, das man etwa bei Kriegs-
machinen beobachten kann. Die eine mechanische Bewegung geht in
die andere über und alle führen letztlich zu einem gemeinsamen Ziel.
Ganz klar ist hierbei die Analogie zur Biologie noch nicht. Es hat viel-
mehr den Anschein, als sei die Form selbst, also das Hervorbringen der
Seele hier das Ziel der körperlichen Mechanik, verstanden als eine Art
von höherem Ziel.
§ 213 Jedenfalls erhalten wir bei Alexandros hier keinen Hinweis
darauf, daß die organische Form einen Kreislauf an Prozessen beinhal-
ten muß, der sich selbst zum Ziel hat und in sich die Form darstellt.
Auch stellt er sich das Zusammenspiel von Seele und Körper nicht so
vor, daß die Form den Körper als Werkzeug nutzt, sondern Seele und
Körper sind nicht zu trennen:
oÙd g¦r oÙd ™ke‹no ¢lhq j tÕ Óti »Denn jenes ist nicht wahr, daß
tÁj yucÁj e„sin a†de aƒ ™nšrgeiai diese Aktivitäten der Seele gehö-
proscrwmšnhj æj Ñrg£nJ tù ren, welche den Körper als
sèmati. æj g¦r ™pˆ tîn ¥llwn Werkzeug nutzt. Denn ebenso
dun£mewn kaˆ ›xewn oÙdem…a dÚna- wie bei anderen Fähigkeiten und
mij oÙd ›xij ™nerge‹ crwmšnh Zuständen agieren weder eine
toÚtJ oá ™stin ›xij, ¢ll' œmpalin Fähigkeit noch ein Zustand das
t¦ t¦j dun£meij te kaˆ t¦j ›xeij benutzend, dessen Zustand sie
œconta kat¦ t¦j dun£meij te kaˆ sind, sondern umgekehrt agieren
t¦j ›xeij ™nerge‹ diejenigen, welche die Fähigkei-
ten und Zustände als Fähigkeiten
haben«. 245

Die Seele also ist nach Alexandros nicht der Herr der Materie, in die
sie eingelassen ist, welche diese als ihre Werkzeug nutzt, sondern sie ist
selbst eben eingelassen, sie ist in gewisser Weise Zustand (›xij) des

245
De anima S. 23, 24-28

263
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Ganzen und nicht Akteur. Als Akteur bestimmt Alexandros nun viel-
mehr dasjenige, was nicht ein Zustand ist, sondern die Zustände hat,
nämlich das Ganze aus Seele und Körper. Was aber ist dieses Ganze?
Es ist natürlich auch nicht die Materie welche, wie man etwa denken
könnte, sich die Seele als ihren Zustand produziert, sondern es ist die
Einheit aus Materie und Form. Nur diese ist zur ™nšrgeia in der Lage.
Wir haben diese Sichtweise bereits bei Aristoteles kennengelernt,
dem es auch darauf ankam, festzuhalten, daß nicht die Form die Mate-
rie lenkt, sondern daß eben nur die Einheit der beiden als konkrete
Einheit ein wirkliches Wesen darstellt, welches zu einer ™nšrgeia im
wörtlichen Sinne eines Im-Werk-Seins in der Lage ist. Die Seele ist also
nicht die ™nšrgeia des Körpers, sondern der Körper als Ganzes, als
Einheit von materiellem Leib und formhafter Seele.
§ 214 Eine Möglichkeit, hier nun doch die Seele herauszuheben,
haben wir in der Harmonielehre kennengelernt, die wir schon im er-
sten Band zunächst als theoretischen Ansatz bei Pythagoras und dann
als Kritik desselben bei Platon diskutiert haben. Die Rede von einer
Harmonie als eines Gleichgewichtszustandes der geformten Materie
ermöglicht es meines Erachtens jenes Surplus zu benennen und zu-
gleich in Ansätzen deutlich zu machen, worin seine Wirkung besteht.
Aber wie schon sein Vordenker Aristoteles, so lehnt auch Alexandros
diesen Ansatz entschieden ab. Die Harmonie ist für ihn allenfalls die
abstrakte Zustandsbeschreibung eines Organismus, keinesfalls aber so
etwas wie eine selbständig den Bestand des Organismus erhaltende
Größe:
OÙ de‹ d Øpolamb£nein t¾n yuc¾n »Man darf nicht annehmen, die
¡rmon…an lšgein toÝj lšgontaj Seele sei eine Harmonie wenn
aÙt¾n e doj e nai ginÒmenon ™pˆ tÍ man sagt, sie sei eine Form, die
toi´de m…xei te kaˆ kr£sei tîn durch eine bestimmte Vereini-
Øpokeimšnwn aÙtÍ swm£twn. oÙ gung und Mischung der ihr zu-
g¦r e„ cwrˆj tÁj toiaÚthj kr£seèj grundeliegenden Körper entsteht.
te kaˆ m…xewj ¢dÚnaton aÙt¾n Denn daß sie ohne diese Mi-
e nai, ½dh taÙtÕn aÙtÍ g…netai. oÙ schung und Vereinigung unmög-
g¦r ¹ toi£de tîn swm£twn kr©sij lich existiert, heißt nicht, daß sie
¹ yuc», Óper Ãn ¹ ¡rmon…a, ¢ll' ¹ eine solche [Harmonie] wird.
™pˆ tÍ toi´de kr£sei dÚnamij gen- Denn die Seele ist keine be-

264
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
nwmšnh, ¢n£logon œcousa ta‹j stimmte Mischung der Körper,
dun£mesin tîn „atrikîn farm£kwn wie es die Harmonie ist, sondern
ta‹j ¢qroizomšnaij ™k m…xewj eine Kraft, die aus einer be-
pleiÒnwn. stimmten Mischung entsteht, als
welche sie analog zu der Kräften
der ärztlichen Medizin sich aus
einer Vereinigung von vielen ein-
stellt.«
246

Indem Alexandros davon ausgeht, daß die Seele durch eine Mischung
zustande kommt, rückt seine Auffassung eigentlich ganz in die Nähe
dessen, was man unter Harmonie versteht. Im Gegensatz zur Seele je-
doch ist die Harmonie für Alexandros ein bloßes Resultat einer Mi-
schung. Für ihn ist die ¡rmon…a eine bloße Proportion von Teilen. Dies
hatte bereits Aristoteles so gesehen, welcher der Harmonie jede Mög-
lichkeit der Wirkung abspricht. Die Seele aber soll mehr sein, sie soll
eine solche Proportion sein, die selbst zu einer bestimmten Wirksam-
keit im Körper führt. Nicht jede Proportion leistet dieses, ebenso wie
nicht jede Mischung von Ingredienzien zur der Wirkung einer Medizin
Anlaß gibt.
Was er dabei meines Erachtens übersieht, ist daß der Organismus
eben sehr viel mehr durch ein inneres Gleichgewicht, das der Begriff
der ¡rmon…a durchaus zu fassen vermag, charakterisiert ist, als durch
seine Aktivität. Er hat hier wie schon Aristoteles und vor ihm Platon ei-
nen sehr verkürzten Begriff dessen, was eine ¡rmon…a ist. Er sieht diese
nur mit der Metapher der Mischung der Ingredienzen einer Medizin,
nicht aber als allgemeinen Begriff eines Gleichgewichts.

vii. Die Pflanzenseele


§ 215 Der erste Seelentyp, den Alexandros bespricht ist – nicht nur wie
bei Aristoteles, sondern wie bei allen antiken Denkern – die Seele der
Pflanze. Hier jedoch trifft er eine interessante Unterscheidung von Stu-
fen, die innerhalb der Pflanze zu finden sind:
kaˆ aátai m n aƒ tÁj futikÁj te »Und das sind die Aktivitäten der
kaˆ prèthj yucÁj ™nšrgeiai· trš- ersten und pflanzlichen Seele:

246
De anima S. 24, 18-24

265
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
fein aÜxein genn©n. e en d' ¨n kaˆ aƒ ernähren, wachsen, sich fort-
dun£meij ¢f' ïn a†de aƒ ™nšrgeiai pflanzen. Und die Fähigkeiten,
fanera…· ¹ m n qreptik¾ dÚnamij, die sich aus diesen Aktivitäten
oâsa ¹ prèth yucÁj, swstik¾ toà ergeben sind offensichtlich: die
œcontoj aÙt¾n di¦ tÁj o„ke…aj Fähigkeit des Ernährens, das
™nerge…aj, ¼tij ™pˆ parous…v tro- Wesen der ersten Seele bewahrt
fÁj g…netai, ¹ d aÙxhtik¾ dÚnamij das, was sie hat, durch ihre eige-
yucÁj, di¦ trofÁj aÙxhtik¾ toà ne Aktivität, wozu die Anwesen-
œcontoj aÙt¾n sèmatoj di¦ tÁj heit der Nahrung nötig ist. Die
o„ke…aj ™nerge…aj, ¹ d gennhtik¾ Fähigkeit des Wachsens aber
dÚnamij yucÁj, gennhtik¾ Ðmo…ou kann durch die Nahrung und
tù œconti aÙt»n, ¿ kaˆ aÙt¾ trofÍ durch ihre eigene Aktivität, den
pwj crÁtai Körper, den sie hat, wachsen las-
sen. Die Fähigkeit der Fortpflan-
zung läßt ein gleichartiges Wesen
zu dem entstehen, welches sie hat
und nutzt dazu die Nahrung«. 247

Auch wenn Alexandros von der Pflanzenseele immer nur als von einem
Typ der Seele spricht, so deutet er hier doch die Möglichkeit der Exi-
stenz mehrerer Seinsstufen an. Ist es sinnvoll hier eine solche Unter-
scheidung zu treffen und sind die Formstufen sinnvoll, die Alexandros
hier andeutet? Zunächst einmal ist die erste Frage auf jeden Fall zu be-
jahen. Wir haben schon vielerorts – nicht zuletzt bei unserer Behand-
lung der aristotelischen Naturphilosophie im zweiten Band – angespro-
chen, daß das antike Denken mit seinen nur drei organischen Stufen,
nämlich Pflanze, Tier und Mensch, viel zu kurz greift und viel zu sehr
in der unmittelbaren Anschauung verhaftet ist. Jeder Versuch, hier wei-
tere Differenzierungen zu finden, auch ohne die in der Antike noch
nicht vorhandene Kenntnis der modernen Biologie, kann dabei behilf-
lich sein, hier bislang verdeckte logische Strukturen zu erkennen.
Die zweite Frage hingegen ist komplexer. Zunächst einmal können
wir, was bereits bei unserer Diskussion von Aristoteles gerechtfertigt
wurde, das Nährvermögen in seiner einfachsten Form im Modell des
Hyperzyklus wiederfinden. Fragen wir uns nun nach der nächsten Stu-
fe, für die Alexandros das Wachstum vorschlägt, so stehen wir bereits

247
De anima S. 35, 23 – 36, 3

266
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
vor einem Problem. Das Wachstum ist kein qualitativer sondern ein
rein quantitativer Prozeß. Aus einem solchen quantitativen Prozeß, der
nur ein Mehr desselben hervorbringt, kann aber wohl kaum eine neue
Formstufe erwachsen. Das gleiche ist auch bei der Fortpflanzung der
Fall. Auch die produziert nur ein neues ähnliches Wesen aber nichts
ganz und gar Neues. Im Grunde ist, wie bei der Diskussion von Aristo-
teles bereits erwähnt, die Fortpflanzung nur eine Abart der ständigen
Selbstreproduktion eines Organismus, welche durch die Ernährung
geleistet wird. Inhaltlich führen also Alexandros’ Vorschläge für etwaige
Zwischenstufen hier nicht zu neuen Ergebnissen.

viii. Die logische Idee der Nervenzelle


§ 216 Hinsichtlich der Verfaßtheit der Tiere finden wir bei Alexandros
wenig neue Gedanken. Lediglich an einer Stelle, wenn er den Gemein-
sinn (¹ koin¾ a‡sqhsij) bespricht, weist seine Darstellung auf etwas hin,
was einen ganz interessanten neuen Gedanken ins Spiel bringt. Der
Gemeinsinn hat auch bei Alexandros, wie schon bei Aristoteles, die
Aufgabe, die aus verschiedenen Sinneskanälen kommenden Daten so
zu verbinden, daß das wahrnehmende Wesen weiß, daß verschiedenar-
tige Sinneseindrücke, wie das gesehene Tier und sein gehörter Schrei
zu ein und demselben Wesen gehören. Alexandros versucht diesen
Gemeinsinn und sein Tun nun wie folgt zu verdeutlichen:
À dun»setai oÛtwj ¹ koin¾ a‡sqh- »Oder es ist möglich, daß der
sij ¤ma t¦j diafor¦j gnwr…zein Gemeinsinn wie folgt die Unter-
tîn diafÒrwn a„sqhtîn, e„ pÍ m n schiede in den unterschiedlichen
n e‡h tÕ a„sqhtikÒn, pÍ d ple…w Wahrnehmungsobjekten zusam-
te kaˆ diairoÚmenon. æj g¦r ™pˆ kÚ- men weiß, wenn einerseits das
klou aƒ ¢pÕ tÁj perifere…aj aÙtoà Wahrnehmungsorgan eines ist,
™pˆ tÕ kšntron ™pizeugnÚmenai oâ- andererseits aber mannigfaltig
sai pollaˆ p©sai kat¦ tÕ pšraj und differenziert. Denn die Lini-
e„sˆn aƒ aÙtaˆ tù t£ te pšrata en, die auf einem Kreis vom Mit-
aÙtîn ™farmÒzein tù toà kÚklou telpunkt zum Rand gezogen wer-
kšntrJ kaˆ œsti tÕ pšraj toàto ›n den, sind – wenn auch insgesamt
te kaˆ poll£, kaqÒson m n pollîn viele – in ihrer Grenze ein und
™sti kaˆ diaferÒntwn pšraj, pol- dasselbe, denn ihre Grenzen lau-
l£, kaqÒson d p£nta ¢ll»loij fen im Mittelpunkt des Kreises
™f»rmosen, ›n, oÛtwj œcein Øpo- zusammen und diese Grenze ist

267
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
lhptšon kaˆ t¾n koin¾n a‡sqhsin zugleich eines und vieles, als
tÕ ›n te kaˆ poll£. Grenze von vielen Unterschieden
ist es vieles, als Verbindung der
Vielen miteinander ist sie eines.
Auf diese Weise muß man an-
nehmen, daß auch der Gemein-
sinn eines und vieles ist.«
248

Es bedarf keiner großen Phantasie hierin das Prinzip der Nervenzelle


zu erkennen. So, wie Alexandros uns die koin¾ a‡sqhsij hier beschreibt,
erfüllt sie ganz abstrakt die Aufgabe, eine Vielheit von Informationen zu
vereinigen. Die Art der Vereinigung, das Kriterium der Gewichtung der
einzelnen Informationsstränge bleibt dabei völlig abstrakt. Und gerade
das macht die Stärke der Nervenzelle aus, daß sie diese Gewichtung
verschieben kann und so als Grundbaustein der Informationsverarbei-
tung in Organismen auftritt.
§ 217 Wir hatten gesehen, daß der Gemeinsinn bei Aristoteles nach
unserer Interpretation desselben im zweiten Band für ein bestimmtes
organischen System steht. Es ist dies ein System indem der Blutkreis-
lauf als der höchste und den Organismus leitende Informationskreislauf
gesehen werden kann. Auch hier wird aus einer Vielheit eine Einheit
gebildet. Alexandros’ abstrakte Beschreibung des Gemeinsinns geht
nun einen Schritt weiter. Seine Metapher der Linien, die sich in einem
Zentrum treffen und so ganz abstrakt aus mehreren Informationen eine
machen, gibt uns einen Hinweis auf die nächste Formstufe in der Na-
tur, eine Stufe in der das chemische, das in den hormonalen Kommu-
nikationsakten des Blutkreislaufes noch im Zentrum stand, nun durch
eine abstraktere Informationseinheit ersetzt wird. Nicht mehr der che-
mische Schlüssel des Hormons ist es, der bei den Nervenzellen Infor-
mationsträger ist, sondern es ist der Zustand der Zelle selbst. Diese ist
in ihrem Sein nur darauf angelegt, Informationszustände anzunehmen
und somit Informationen in sich zu synthetisieren. Diese Abstraktion
macht auf der anderen Seite natürlich nur dann Sinn, wenn diesem Sy-
stem ein Organismus zugrundeliegt, der seinerseits diese Informationen
in Chemie zu übersetzen weiß. Für sich genommen sind die Zustände

248
De anima S. 63, 6-13

268
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
einer Nervenzelle so sinnlos und unbestimmt, wie der Mittelpunkt ei-
nes Kreises.
Natürlich sind Alexandros’ Ausführungen hier weit davon entfernt,
wirklich von Nervenzellen zu handeln. Aber das abstrakte Prinzip der-
selben läßt sich dennoch aus seinen Ausführungen herauslesen. Und
der logische Zwang, die synthetisierende Kraft, die in einem Organis-
mus liegt – vor allem in einem solchen, der Wahrnehmungen verschie-
denster Art zu verarbeiten vermag –, bringt ihn dazu, die einzig logische
Möglichkeit eines solchen Systems in völliger Abstraktion ihrer biologi-
schen Realisation zu denken.

ix. Höherentwicklung und Evolution


§ 218 Wir haben bereits erfahren, wie Alexandros das Zustandekom-
men eines Organismus denkt, nämlich dadurch, daß einfach eine be-
stimmte Materiekonstellation entsteht. Auf die selbe Weise denkt er
sich auch die Entwicklung von etwa einem einfachen pflanzlichen Or-
ganismus hin zu einem komplexeren tierischen Organismus:
kaˆ aƒ kat¦ t¾n a„sqhtik¾n d yu- »Auch die Unterscheidungen in
c¾n p£lin diaforaˆ t¾n aÙt¾n ¢na- der Sinnesseele bewahren wie-
log…an sèzoien ¨n prÕj ¢ll»laj, derum dasselbe Verhältnis zu
¿n e cen t¦ m n tîn ¡plîn swm£- einander, welches die Formen
twn e‡dh prÕj t¾n tîn futîn yu- der einfachen Körper bezüglich
c»n, aÛth d prÕj t¾n a„sqhtik»n, der Pflanzenseele hatten, diese
kaˆ tÁj ¢n£logon aÙto‹j diafor©j [die Pflanzenseele] aber bezüg-
a„t…a ¹ tîn Øpokeimšnwn aÙto‹j lich der Sinnesseele. Und die Ur-
swm£twn kat£ te plÁqoj kaˆ sache des Verhältnisses der Un-
kat¦ poi¦n kr©s…n te kaˆ m‹xin kaˆ terscheidungen derselben sind
sÚstasin diafor£. die diesen zugrundeliegenden
Körper unterschieden gemäß der
Menge, der Beschaffenheit der
Mischung, der Mischung [selbst]
und der Zusammenstellung.« 249

Alexandros beschreibt hier die Sinnesseele, also die Seele des Tieres in
einem aristotelischen Verständnis, als eine Art Erweiterung der Pflan-

249
De anima S. 10, 14-19

269
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
zenseele. Die Pflanzenseele beschreibt er hier erneut, wie oben schon
bei der Seele überhaupt gesehen, als Resultat einer bestimmten Mate-
riekonstellation. Die Sinnesseele baut nun darauf auf und erhält in sich
die Materiekonstellation, welche die ihr zugrundeliegende Pflanzen-
seele ausmacht. Diese Konstellation muß dann aber erneut in ein be-
stimmtes Verhältnis gebracht werden. Die Tierseele besteht so aus ent-
weder einer oder dem Zusammenspiel von mehreren Pflanzenseelen.
Diese müssen, so es mehrere sind – Alexandros präzisiert das hier nicht
–, in ihrem Verhältnis zueinander so koordiniert werden, daß daraus
wieder eine Metaeinheit entsteht, welche sowohl die interne Einheit der
zugrundeliegenden Pflanzenseelen, wie auch deren Zusammenspiel or-
ganisiert. Wir können dieses in folgendem Schema verdeutlichen:

a„sqhtik» yuc»

futoà yuc» futoà yuc»

stoice‹a stoice‹a stoice‹a stoice‹a

Höherentwicklung ist also bei Alexandros eine echte Höherorganisati-


on bei der Stufe um Stufe alle Materie von der obersten Form eigens
organisiert werden muß. Je höher die oberste Stufe ist, desto geringer ist
ihr organisatorischer Spielraum.
§ 219 Wir finden nun bei Alexandros einen Ansatz zu einer Theo-
rie dessen, was als echte Höherentwicklung anzusehen ist, und was eine
bloße Erweiterung, die aber auf der selben Entwicklungsstufe verbleibt.
Er beschreibt uns zunächst, wie er sich das Verhältnis der verschiede-
nen Seelentypen denkt:
kaˆ aÛth m n ¹ tÁj yucÁj oÙs…a, »Und derart ist die Substanz der
æj ˜nˆ lÒgJ perilabe‹n ple…ouj yu- Seele, daß ein Begriff viele See-
c¦j oÜte Ðmoeide‹j ¢ll»laij t£xin len umfaßt, die nicht von gleicher
te ™coÚsaj prÕj ¢ll»laj, æj e nai Art sind und die eine Ordnung
t¾n mšn tina aÙtîn ¢telestšran untereinander haben, so daß die
te kaˆ prèthn, t¾n d met¦ taÚ- eine von ihnen unvollendet und

270
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
thn teleiotšran ™ke…nhj tù prÕj zuerst ist, die danach aber voll-
™ke…naij kaˆ ¥llhn dÚnam…n tina endeter als jene, da ihr zusätzlich
proseilhfšnai, kaˆ met¦ taÚthn zu dieser auch noch eine andere
tr…thn tin¦ p£lin prÕj ™ke…naij Fähigkeit zukommt und der drit-
ta‹j dun£mesin kaˆ ¥llaj tin¦j ten nach dieser kommen wieder-
dun£meij œcousan. um andere Fähigkeiten zusätzlich
zu den Fähigkeiten jener zu.« 250

Alexandros beschreibt uns hier, wie die Stufenfolge der Natur abstrakt
aussieht, woran oberflächlich zu erkennen ist, daß es in der Natur so
etwas wie Höherentwicklung gibt. Die Seelen bauen aufeinander auf, so
daß die Fähigkeiten der vorhergehenden Stufe der Seelenform auch bei
der nach ihr folgenden zu finden sind, worauf aufbauend diese dann
noch andere Fähigkeiten hat.
§ 220 Nun sind aber nicht alle Fähigkeiten gleichwertig. Wir haben
bereits bei Galenos eine solche Unterscheidung kennengelernt als die
Unterscheidung solcher Fähigkeiten, die zur Existenz absolut notwendig
sind und solcher, die bloß zur Verbesserung der Existenz auf einer be-
stimmten Entwicklungsstufe dienen. Daraus ergibt sich eine Unter-
scheidung zwischen einer Höherentwicklung einerseits und einer Evo-
lution andererseits. Evolution meint dabei ganz im Sinne des Darwi-
nismus eine bloße Herausbildung weiterer Fähigkeiten, die zwar auf
vorhergehenden und bereits vorhandenen Fähigkeiten aufbauen mö-
gen, die aber nicht zur Annahme einer höheren Formstufe nötigen.
Alexandros gibt uns zwei Beispiele für solche evolutive Weiterent-
wicklungen bereits vorhandener Formen, die wir nun diskutieren wer-
den. Eine erste betrifft die Sinneswahrnehmungen:
tîn d a„sq»sewn ¢nagkaiot£th ¹ »Unter den Sinnen sind die not-
¡f» te kaˆ geàsij. oÙ g¦r oŒÒn te wendigsten der Tastsinn und der
¥neu toÚtwn zùon e nai. aƒ d' Geschmack. Denn ohne diese
¥llai oÙc oÛtwj e„j tÕ e nai æj e„j kann kein Tier existieren. Die
tÕ pîj e nai sunteloàsi to‹j œcou- anderen aber tragen für die, wel-
sin aÙt£j. dÁlon d œk te toà che sie besitzen nichts dazu bei,
poll¦ tîn zówn m¾ œcein toÚtwn was etwas ist, sondern wie es ist.
tin¦ tîn a„sq»sewn, kaˆ ™k toà Es ergibt sich als gewiß daraus,

250
De anima S. 16, 18 – 17, 1

271
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
kaˆ t¦ œconta aÙt¦j sterhqšnta daß viele der Lebewesen keinen
aÙtîn zÁn dÚnasqai. dieser Sinne haben und daraus,
daß auch die, welche sie haben,
zu Leben imstande sind, wenn sie
ihrer beraubt werden. «
Nach Alexandros sind nicht alle Sinneswahrnehmungen gleichermaßen
für die Existenz eines Organismus entscheidend. Manche sind nicht
nur verzichtbar, sondern gar bei solchen Wesen verzichtbar, die eigent-
lich über diese Sinneswahrnehmungen verfügen. Ich lese hier Alex-
andros’ Ausführungen so, daß mit der Existenz das konkrete Tier ge-
meint ist. Natürlich kann nach Alexandros – auch wenn wir das nicht so
sehen – eine Pflanze ohne Wahrnehmung existieren. Insofern ist der
Verlust der Wahrnehmung bei einem Tier hinsichtlich seines Wesens
nur eine Reduktion auf die Ausstattung einer Pflanze. Es kann sich
noch ernähren und so zumindest seine aus Pflanzenseelen bestehenden
Elemente weiter am Leben halten. Bestimmte Sinne nun machen bei
ihrem Verlust das Tier funktionsuntüchtig. Alexandros bestimmt diese
als den Tast- und Geschmackssinn, beides also Aspekte, die für die
Nahrungsaufnahme und damit den Erhalt des körperlichen Grundbe-
stands notwendig sind. Andere Sinne wie der Gesichtssinn hingegen
gelten ihm als ein zusätzlicher Luxus. Sicherlich hat ein Tier es schwer,
wenn es blind wird, aber will es der Zufall, daß ihm dies in mitten einer
unerschöpflichen Nahrungsquelle widerfährt, so wird es den Verlust
tatsächlich leicht überleben.
Aus Alexandros’ Sicht der Seele ist dies konsequent gedacht, denn
alles beruht auf der Pflanzenseele und alle Wahrnehmung ist ohnehin
nur eine Zugabe zu dieser Grundausstattung der Lebewesen. Da ist es
dann aber widersprüchlich, wenn nun ein Lebewesen aufgrund des
Verlustes eines Teils dieses Luxus zum Tode verurteilt ist. Wie kann es
dann überhaupt noch existentiell bedeutsame Fähigkeiten geben. Die
folgende Überlegung mag dies aufklären. Eine sehr bedeutsame Unter-
scheidung zwischen dem tierischen und dem pflanzlichen Organismus
liegt in der organischen Ausdifferenzierung des Tieres. Es ist bereits bei
Aristoteles diskutiert worden, was daraus zu schließen ist, daß die Pflan-
ze dezentral ist und sich aus jedem ihrer Teile rekonstruieren läßt.
Auch Alexandros weist auf diesen Umstand hin. Das Tier hingegen

272
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
kann nicht alle Funktionen aus jedem Teil seines Organismus rekon-
struieren, sondern diese sind über den Organismus verteilt. Daher ist
verständlich, daß nun die für Lebewesen allgemein absolut grundlegen-
de Funktionen der Nahrungsaufnahme und –verarbeitung beim Tier so
an bestimmte Fähigkeiten und Organe gekoppelt sind, daß deren Ver-
lust zum Verlust der Lebensgrundlage führt.
Bei anderen Organen, wie dem Auge, ist das nicht der Fall. Es er-
leichtert das Leben zwar nicht nur ungemein, sondern ist vielmehr bei
den allermeisten Lebewesen zu einem selbständigen Leben unverzicht-
bar. Aber man stirbt eben nicht unmittelbar durch den Verlust des Au-
ges, sondern nur mittelbar durch die Nebenwirkungen eines solchen
Geschehnisses. Daher können einige neue Fähigkeiten, die beispiels-
weise ein Tier entwickelt – und hier gehen wir etwas von Alexandros’
Sichtweise ab – direkt als Ausdruck einer neuen Formstufe gelten. Ein
Beispiel sind hier die nahrungsbeschaffenden Organe, die eben ein
Ausdruck der Ausdifferenzierung der organischen Funktionen sind.
§ 221 Wie schwer es jedoch ist, hier eine klare Grenze zu ziehen,
zeigt das folgende Beispiel, in welchem Alexandros auch die Stimme
des Tieres als etwas durchaus Verzichtbares darstellt:
m» ™sti zÁn m¾ trefomšnoij, tÕ d »Die sich nicht ernährenden Tie-
kat¦ t¾n ˜rmhne…an toà belt…onÒj re können nicht sein, aber das
te kaˆ toà eâ ›neken Sprachliche ist wegen des besse-
ren und des guten [Lebens] da«.
251

Die Stimme des Tieres, selbst dann, wenn sie als eine Art von Sprache
aufgefaßt werden kann, ist also nach Alexandros in jedem Falle nur eine
Lebenshilfe, nie aber ein Wesensmerkmal, geschweige denn eine eige-
ne Formebene. Wir haben nun bei der Diskussion von Aristoteles ge-
sehen, daß solche tierischen Sprechakte, auch wenn sie noch kein in
sich geschlossenes Sprachsystem formen, dennoch eine normative
Ebene konstituieren, die durchaus als eine neue Formebene verstanden
werden kann. In diesem Punkt geht also Alexandros meines Erachtens
zu weit und profaniert wesentliche Gehalte indem es sie als bloße Ver-
besserungen bereits vorhandener Formen sieht, nicht aber als eigen-

251
De anima S. 40, 18-19

273
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
ständige Größen, die ihrerseits das bereits Vorhandene beeinflussen
und steuern.
Am weitesten in der Profanisierung wesentlicher Gehalte geht Alex-
andros sicherlich in der folgenden Textstelle, wo er vom Intellekt
spricht:
g…netai d Ð ¥nqrwpoj oÙk eÙqÝj »Der Mensch aber entsteht ohne
œcwn t»nde t¾n ›xin, ¢ll' œcwn dieses Anlage [die Intelligenz] zu
m n dÚnamin kaˆ ™pithdeiÒthta toà haben, er besitzt aber die Fähig-
dšxasqai aÙt»n, Ûsteron mšntoi keit und Begabung, sie zu be-
lamb£nwn aÙt»n. Ö kaˆ shme‹on kommen und erhält sie freilich
™nargšstaton toà m¾ prÕj tÕ e nai später auch. Auch das ist ein
t»nde t¾n dÚnamin suntele‹n to‹j deutliches Zeichen dafür, daß
œcousin aÙt»n, ¢ll¦ prÕj tÕ eâ diese Fähigkeit nicht zum Sein
e nai. dessen, der sie besitzt, gehört,
sondern zu seinem Wohlsein.« 252

Alexandros geht hier so weit, auch die Intelligenz, den Geist selbst zu
einem bloß zusätzlichen Beiwerk zu machen und läßt sie nicht als etwas
Wesentliches zu. Das heißt im Klartest, daß für ihn auch die menschli-
che Seele nur eine mit allerlei Zusätzen ausgestattete Pflanzenseele ist.
Manche von diesen Zusätzen mögen dann vielleicht für philosophische
Definitionen eine wesentliche Rolle spielen, so daß man doch zu einer
substantiellen Unterscheidung von Pflanze, Tier und Mensch kommt,
aber dies betrifft eher das philosophisch-sprachliche und nicht so sehr
die Formen selbst, die in allen Fällen die gleiche Form der Seele ist.
Hier zeigt sich deutlich das Problem des Ansatzes, daß es sich bei
einer bestimmten Fähigkeit nur um eine unwesentliche Evolution, nicht
aber um eine wesentliche Höherentwicklung handelt, wenn der betref-
fende Organismus nicht am Verlust jener Fähigkeit stirbt. In der Tat
stirbt der Mensch, wenn er verdummt, günstigstenfalls nicht. Man mag
sich sogar vorstellen, daß Menschen, die auf eine einsame Insel ver-
schlagen werden und sich plötzlich in einem beständigen Überlebens-
kampf befinden, durch die Aufgabe bestimmter kultureller Errungen-
schaften und Gepflogenheiten sehr viel überlebensfähiger werden, ja
daß schließlich deren kommende Generationen ganz auf das Geistige

252
De anima S. 81, 13-16

274
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
verzichten und sich ausschließlich dem Überleben als Tier widmen.
Dennoch müssen wir dann feststellen, daß eben so die Menschen in
ihnen gestorben sind, daß sie ihr Wesen als Mensch verloren haben.
Und darin zeigt sich, daß die Intelligenz eben doch etwas Wesentliches
war. Auch beim gestorbenen Organismus verschwindet ja nicht alles;
die Knochen existieren als bloße Gegenstände weiter. Ebenso existiert
der von der Intelligenz gänzlich gelöste Mensch als Tier weiter. Diese
Weiterexistenz kann aber nicht als ein Kriterium dafür angesehen wer-
den, daß das Verlorene nichts Wesentliches war. Entscheidend ist hier
vielmehr die aristotelische Frage nach der Wesenseigenschaft.

x. Eine systemtheoretische Theorie der Wahrnehmung


§ 222 Wenn Alexandros auf die Sinneswahrnehmung zu sprechen
kommt, so geschieht dies nicht im Rahmen seiner Überlegungen zur
Naturphilosophie, sondern vor allem in seiner Seelenlehre, die sehr
große Parallelen zur aristotelischen Seelenlehre hat. Wenn er in seiner
Seelenlehre den denkende Selbstbezug des Geistes diskutiert, so stellt
er fest, daß es einen solchen Selbstbezug im Grunde schon auf der
Ebene der Wahrnehmung gibt:
oÛtwj d kaˆ ¹ a‡sqhsij aØtÁj »Auf diese Weise kann auch die
a„sq£nesqai lšgoit' ¨n a„sqano- Wahrnehmung sich selbst wahr-
mšnh toÚtwn, § ™nerge…v aÙtÍ taÙ- nehmend genannt werden, denn
t¦ g…netai. æj g¦r œfamen, kaˆ ¹ sie nimmt das wahr, was in
kat' ™nšrgeian a‡sqhsij tÕ a„sqh- Wirklichkeit dasselbe wie sie
tÒn ™sti. wird. Denn so haben wir gesagt,
daß die Wahrnehmung auch der
Wirklichkeit nach das Wahrge-
nommene ist.«253

Die a‡sqhsij bezieht sich also nach Alexandros nicht auf Dinge in der
Welt, sondern auf Wahrnehmungsgegenstände. Diese Wahrneh-
mungsgegenstände sind die Formen der beobachteten Gegenstände, die
durch die a‡sqhsij gewissermaßen von den Gegenständen abgelöst
worden sind. Nur diese werden zum Gegenstand der a‡sqhsij, nicht
aber die ihnen in der Welt zugrundeliegende Materie.

253
De anima libri mantissa S. 109, 11-13

275
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Man könnte nun annehmen, daß Alexandros hier eine schwache
Form des Konstruktivismus vertritt. Denn die a‡sqhsij schafft sich ja
durch ihre Abstraktionsleistung hier selbst ihren Gegenstand. Dabei
gibt es den Unterschied zum radikalen Konstruktivismus, der darin
liegt, daß die a‡sqhsij den Wahrnehmungsgegenstand nicht frei erfin-
det, sondern ihn zumindest aufgrund einer Affektion aus der Umwelt
konstruiert. Wir können aber nicht wirklich behaupten, daß es sich
hierbei um eine Spielart des Konstruktivismus handelt, wenn wir erfah-
ren, daß bei Alexandros wie bei Aristoteles die a‡sqhsij die Form des
Gegenstandes erkennt. Und diese Form liegt für jeden Wahrneh-
mungsakt fest. Die a‡sqhsij schafft so zwar den Wahrnehmungsgegen-
stand, aber sie schafft ihn gewissermaßen nach einem transzendentalen
Schema.
Was wir aber feststellen können, ist daß Alexandros hier den Ansatz
zu einer systemtheoretischen Theorie der Wahrnehmung liefert. Denn
wie auch immer sich der Kontakt der Wahrnehmung zur Außenwelt
gestaltet, die Wahrnehmung bezieht sich schließlich auf sich selbst und
bildet so ein in sich geschlossenes System der Wahrnehmungsgegen-
stände, der abstrakten Formen. Leider erfahren wir bei Alexandros
nichts über die internen Möglichkeiten der Verknüpfung solcher For-
men. Wir wissen beispielsweise nicht, ob für Alexandros, so wie sich
das Chrysippos bei den Begriffen dachte, aus einer solchen abstrakten
Form eine andere rein apriorisch generiert werden kann.

Geist
i. Der materielle und der formale Geist
§ 223 Wir finden bei Alexandros eine sehr grundlegende Beschreibung
dessen, was den Geist ausmacht. Der Geist ist die Versammlung aller
Formen in einem einzigen Wesen:
e„ m n oân meq' Ûlhj ™dšceto ¹ »Wenn die Seele die Formen
yuc¾ t¦ e‡dh, ¡plîj ¨n ™g…neto nun mit der Materie erhielte, so
p£nta t¦ Ônta, ™peˆ d oÙ meq' würde sie schlechterdings zu allen
Ûlhj, ¢ll¦ ¥neu taÚthj, t¦ d Seienden werden. Weil sie diese
pr£gmata sÝn taÚtV tÕ e nai œcei jedoch nicht mit sondern ohne

276
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
pwj, œstai ¹ aÙt¾ p©sin to‹j oâsin Materie erhält, die Dinge aber
oÙc ¡plîj· mit dieser [der Materie] ihr Sein
haben, wird sie nicht schlechter-
dings zu allen Seienden.«
254

Einerseits sollen also alle Formen im Geist zu finden sein, aber ande-
rerseits würde dieser Geist ja – so scheint uns Alexandros hier zu sugge-
rieren – ein merkwürdiges Gebilde sein, wenn die Formen wirklich als
materialisierte im Geist wären. Daher schlägt Alexandros vor, daß die
Formen vom Geist eben nur aufgenommen werden können, daß sie
aber nicht in ihm auch materialisiert sind.
Aber für uns ist es gar nicht so schwer uns den Geist als ein Wesen
vorzustellen, in dem eben auch alle Naturformen materialisiert sind.
Denn für uns ist der Geist ja die letzte Stufe der Entwicklung der Natur.
Diese letzte Stufe aber enthält in sich alle vorhergehenden insofern als
diese ja sukzessiv aufeinander aufbauen. Insofern kann der Geist wirk-
lich nicht nur als eine Fähigkeit, mit allen Form umzugehen, sie zu ver-
stehen aufgefaßt werden, sondern tatsächlich auch als ein alle Formen
in sich vereinigendes Wesen.
§ 224 Nach Alexandros – der hier auf eine aristotelische Unter-
scheidung zurückgreift – kann der Geist nun diese Leistung des Den-
kens der Formen gerade dadurch erbringen, daß er gewissermaßen aus
zwei Aspekten besteht, nämlich einem materiellen Geist und einem
formhaften. Den materiellen Geist (Ð ØlikÕj noàj) faßt Alexandros wie
folgt:
poie‹ g¦r Ð noàj kaˆ t¦ a„sqht¦ »Denn der Geist macht auch das
aØtù noht¦ cwr…zwn aÙt¦ tÁj Wahrnehmbare für sich selbst zu
Ûlhj kaˆ t… potš ™stin aÙto‹j tÕ etwas Intelligiblem, indem er es
e nai qewrîn. oÙd n ¥ra tîn Ôntwn von der Materie trennt und nur
™nerge…v ™stˆn Ð ØlikÕj noàj, ¢ll¦ dessen Sein betrachtet. Der ma-
p£nta dun£mei. prÕ g¦r toà noe‹n terielle Geist ist also in seiner
oÙd n ín ™nerge…v, Ótan noÍ ti, tÕ Wirklichkeit keines der Seien-
nooÚmenon g…netai, e‡ ge tÕ noe‹n den, sondern er kann alle sein.
aÙtù ™n tù tÕ e doj œcein tÕ Denn vor dem Denken ist er in
nooÚmenon. Wirklichkeit nichts, denkt er

254
De anima S. 91, 13-16

277
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
dann etwas, so wird er das Ge-
dachte, wenn denn das Denken
für ihn darin besteht, die Form
des Gedachten zu haben.« 255

Der materielle Geist ist also zunächst etwas ganz Leeres, was dann im
Denkakt die Form des Gedachten annimmt. Der materielle Geist si-
muliert sozusagen die ungeformte Materie und wird so zur einem Trä-
ger der durch sie gedachten Form. Dabei kommt es zu so einer Art von
Selbstbezug des Geistes, denn derjenige Geist, der diese Form des ma-
teriellen Geistes dann ist, ist der formhafte Geist. In dieser Unterschei-
dung finden wir natürlich dann die aristotelische Unterscheidung von
wirklichem und möglichem Geist wieder:
Ð d dun£mei noàj, Ön œcontej gi- »Der Geist der Möglichkeit nach,
nÒmeqa, dittÕj ín kaˆ aÙtÒj, ˜k£- den habend wir geboren wurden,
teroj ˜katšrou dektikÒj, ØlikÕj ist auch ein doppelter, denn jeder
noàj kale‹ta… te kaˆ œsti (p©n g¦r kann eines jeden [Wesen] auf-
tÕ dektikÒn tinoj Ûlh ™ke…nou), Ð d nehmen, und er ist auch materi-
di¦ didaskal…aj te kaˆ ™qîn ™ggi- eller Geist genannt worden (denn
nÒmenoj e doj ™ke…nou te kaˆ ™nte- alles, was etwas aufnehmen kann,
lšceia. ist dessen Materie), der durch
Lernen und Sitten entstandene
aber, ist die Form jenes und des-
sen Verwirklichung.« 256

Hier bezieht sich nun der Geist als Form auf den Geist als die Materie
dieser Form; eben das ist es, was wir überhaupt als das Wesen des Gei-
stes bezeichnet haben. Dieser Selbstbezug ist es, den auch Alexandros
bemerkt und in dem er die Verwirklichung (™ntelšceia) des Geistes
sieht:
Ö g¦r dÚnatai noe‹n, toàto aÙtÕ »Denn denkend wird der Geist
aÙtÕj noîn g…netai, kaˆ œstin Ótan selbst zu dem, was er denken
noÍ prohgoumšnwj m n kaˆ kaq' kann und wann immer er denkt,
aØtÕn noîn tÕ nohtÕn e doj, kat¦ – da er vorwiegend für sich selbst
sumbebhkÕj d ˜autÕn tù sum- die intelligible Form denkt, sich

255
De anima S. 84, 19-24
256
De anima S. 81, 22-26

278
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
bebhkšnai aÙtù, Ótan noÍ, g…nes- selbst aber akzidentell denkt,
qai ™ke‹no, Ö noe‹. denn er fällt mit dieser zusam-
men – kann er jenes werden, was
er denkt.«257

Bereits in der Metaphysica des Aristoteles sind wir auf diesen Gedan-
ken des Selbstbezugs des Geistes gestoßen, der sich daraus ergibt, daß
der Geist sich im Denken von etwas Geistigem selbst als Geist findet.
So wie Alexandros uns das hier präsentiert, geschieht das konkret fol-
gendermaßen: Der Geist betrachtet ein Objekt, das ja bereits in der
Vorstellung präsent ist und nicht erst aus der äußeren Natur gewonnen
werden muß. Dann abstrahiert er daraus dessen geistige Form. Erin-
nern wir uns nun an das, was wir von Alexandros über das Zusammen-
spiel von Form und Materie gehört haben. Die Form besteht in der
Materiekonstellation. So ähnlich wird er sich das dann auch beim Geist
denken. Der materielle Geist ahmt sozusagen mit seinen Mitteln wie in
einem bekannten Ratespiel die Form des Objekts nach. Der formale
oder wirklich Geist erkennt dann die so verkörperte Form. Und zwar
erkennt er sie als etwas Geistiges. Damit aber – und hier ist Alexandros’
Wortwahl durchaus treffend – erkennt der Geist beim Erkennen eben
gerade akzidentell auch sich selbst, denn wesentlich erkennt er ja die
Form des betreffenden Objekts.
§ 225 So geschieht es dann, daß der Geist hier das Allgemeine zum
Gegenstand hat:
¹ nÒhsij lÁyij tîn e„dîn ™sti »Das Denken ist eine Aufnahme
cwrˆj Ûlhj der Formen ohne Materie«.258

Denn der Geist hat sich einerseits nun insofern von der Materie gelöst,
als der diese Materie durch den materiellen Geist selbst verkörpert.
Andererseits aber garantiert dieser Umstand, daß die Form am materi-
ellen Geist für den formalen Geist zur Erscheinung kommt, dann doch
wieder, daß hier nicht etwa eine Form ohne Materie frei existiert. Wir
sehen also, daß Alexandros auch in diesem Punkte gewissermaßen ari-
stotelischer als Aristoteles ist und auch noch die kleinste Gefahr des

257
De anima S. 86, 20-23
258
De anima S. 83, 14-15

279
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Aufkommens einer freischwebenden Naturform mit einem passenden
Substrat unterlegt.
Aber sicherlich ist diese Idee, den Geist die Materie sozusagen
nachbilden zu lassen, viel zu sehr an eine ganz und gar anschauliche
Vorstellung des Geistes gebunden, um wirklich das Denken weiter zu
bringen. Konnten wir bei Aristoteles noch mit der abstrakt bleibenden
Vorstellung eines Geistes, der eben alle Form in sich aufnehmen und
auch abbilden kann, die Hoffnung haben, hierfür dereinst eine konkre-
tere Erklärung zu finden, so ist dies bei Alexandros völlig versperrt. Der
Geist wird zu einer Art Puppentheater indem die Repräsentationen der
Dinge umhertanzen. Wie man von hier aus die abstrakten Fähigkeiten
des Geistes erklären soll, bleibt sehr fraglich. Daher ist es nicht verwun-
derlich, daß Alexandros auch noch mit einer weiteren dritten Stufe des
Geistes aufwartet, die dann ihrerseits dessen ideelle Seite wirklich be-
leuchtet.

ii. Die Selbständigkeit des Geistes


§ 226 Dieser dritte Geist ist es erst, den Alexandros als den aktiven
Geist bezeichnet und der mit Aristoteles’ zweiter Wirklichkeit des Gei-
stes zusammenfällt. Alexandros’ Definition dieses Geistes deckt sich
fast perfekt mit unserer Auffassung des Geistes überhaupt. Dieser Geist
beginnt für ihn an der Stelle, wo sich die Formen dann schließlich
wirklich von der Materie lösen können:
aØtÕn d¾ ¢eˆ noe‹ Ð noàj oátoj· tÕ g¦r »Dieser Geist denkt immer sich
m£lista nohtÕn Ð m£lista noàj noe‹, selbst. Denn das höchste Denken
m£lista d nohtÕn tÕ cwrˆj Ûlhj denkt das höchste Intelligible, das
e doj. tÍ g¦r aØtÁj fÚsei ¹ toi£de höchste Intelligible aber ist die
oÙs…a noht» (t¦ m n g¦r œnula e‡dh Form ohne Materie. Denn ein
noht¦ mšn ™stin, ¢ll' oÙ tÍ aØtîn derartiges Wesen ist auf solche
fÚsei, [¢ll'] oÙd kaq' aØt£, ¢ll' Ð Weise von Natur aus intelligibel
noîn aÙt¦ noàj noht¦ aÙt¦ poie‹ (die materialisierten Formen sind
cwr…zwn aÙt¦ tÁj Ûlhj tÍ ™pino…v kaˆ zwar intelligibel, aber nicht durch
æj Ônta kaq' aØt¦ lamb£nwn), tÕ ihre eigene Natur oder durch
g¦r p£shj Ûlhj kaˆ p£shj dun£mewj sich selbst, sondern der sie den-
e doj kecwrismšnon tÍ aØtoà fÚsei kende Geist macht sie zu Intelli-
nohtÒn ™sti kur…wj. giblen, indem er sie im Gedan-
ken von der Materie trennt und

280
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
so als Für-sich-seiende nimmt),
denn die von aller Materie und
Möglichkeit befreite Form ist
durch ihre eigene Natur im ei-
gentlichen Sinne intelligibel.«
259

Alexandros unterscheidet hier strikt zwischen Naturformen und dem


Geist. Naturformen sind immer materialisiert (œnulon) und so zwingend
immer auf die von ihnen strukturierte Materie bezogen und vermittels
dieser als ihrem Ausdruck wirklich. Eine solche nach unten gerichtete
Form kann nie zu dem gelangen, was den Geist ausmacht, nämlich zu
einer Selbständigkeit. Nur die Form, die sich wiederum rein auf eine
Form als auf etwas Geistiges bezieht, darf als Geist bezeichnet werden.
Auch der formale Geist bezieht sich, so hatten wir gesehen, für Alex-
andros noch nach unten auf den materiellen Geist und gelangt so nicht
wirklich zu einer Selbständigkeit.
§ 227 Daher bedarf es nach Alexandros nicht nur einer weiteren
Stufe des Geistes, die dieses zu leisten vermag, sondern sogar eines völ-
lig anderen Geistes, der von den Naturformen ganz und gar getrennt ist.
In seiner Beschreibung dieser dritten Stufe des Geistes, teilt uns Alex-
andros mit, daß dieser unbedingt von außen in den Menschen hinein-
kommen muß:
™n oŒj d tÕ nooÚmenon kat¦ t¾n »Im Falle wo das Gedachte ge-
aØtoà fÚsin ™stˆ toioàton, oŒon mäß seiner eigenen Natur von
noe‹tai (œsti d toioàton ×n kaˆ der Art ist, wie es gedacht wird
¥fqarton), ™n toÚtoij kaˆ cwrisq n (es ist von dieser Art und unver-
toà noe‹sqai ¥fqarton mšnei, kaˆ Ð gänglich), bleibt es auch dann un-
noàj ¥ra Ð toàto no»saj ¥fqartÒj vergänglich, wenn es nicht ge-
™stin, oÙc Ð Øpoke…menÒj te kaˆ Øli- dacht wird. Folglich ist auch der
kÒj (™ke‹noj m n g¦r sÝn tÍ yucÍ, Geist, der dieses denkt, unver-
Âj ™sti dÚnamij, fqeiromšnV fqe…re- gänglich und nicht der zugrunde-
tai, ú fqeiromšnJ sumfqe…roito ¨n liegende oder materielle (denn
kaˆ ¹ ›xij te kaˆ ¹ dÚnamij kaˆ te- jener vergeht, wenn die Seele
leiÒthj aÙtoà), ¢ll' Ð ™nerge…v vergeht, deren Fähigkeit er ist
toÚtJ, Óte ™nÒei aÙtÒ, Ð aÙtÕj und mit dem Vergehenden ver-
ginÒmenoj (tù g¦r Ðmoioàsqai tîn gehen sowohl seine Anlage also

259
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 25; S. 39, 13-19

281
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
nooumšnwn ˜k£stJ, Óte noe‹tai, auch seine Fähigkeit). Der [Geist]
Ðpo‹on ¨n Ï tÕ nooÚmenon, toioàtoj der Wirklichkeit nach aber, der
kaˆ aÙtÕj Óte aÙtÕ noe‹ g…netai), zu diesem wird, wenn er dieses
kaˆ œstin oátoj Ð noàj Ð qÚraqšn te denkt (denn er gleicht sich einem
™n ¹m‹n ginÒmenoj kaˆ ¥fqartoj. jeden Gedachten an, wenn es ge-
dacht wird und wenn das Ge-
dachte von dieser Art ist, wird
auch er von dieser Art, wann
immer er es denkt) ist auch der
von außen in uns kommende
Geist geworden und er ist unver-
gänglich.«
260

Daß das Gedachte von der Natur des Denkens ist, steht hier dafür, daß es
sich beim Gedachten eben um rein ideelle Inhalte handelt, die dann schon
völlig abstrahiert keinen materiellen Träger für ihre Form haben können.
Ein Begriff wie »Sein« ist hier sicherlich ein gutes Beispiel. Solche Gehalte
sind nach Alexandros denkunabhängig und unvergänglich. Daher müssen
sie auch eine geistige Ebene konstituieren, welche dieselben Eigenschaften
hat. Es ist dies eine geistige Ebene, die eben nicht vergehen kann, weil sie
nicht mehr an einen vergänglichen Körper zurückgebunden ist. Diese
Ebene kann das menschliche Denken nun erreichen, aber es wird nie mit
ihr gleich. Es reicht nur bisweilen in sie hinein. Daher sagt Alexandros fol-
gerichtig, daß diese Gehalte nur von außen in den Menschen hineingelan-
gen, nicht aber von ihm selbst entwickelt werden.
§ 228 Fragen wir uns nun nach der Identität dieses außerirdischen
Geistes, so finden wir bei Alexandros eine für das aristotelische System
durchaus passende Antwort. Dieser Geist, der sich ganz aus der Natur
lösen kann und von Alexandros sogar als ein singuläres Wesen angese-
hen wird, fällt mit dem aristotelischen unbewegten Beweger zusammen:
kaˆ toiaÚth mšn, æj di¦ bracšwn »Und dieses ist, wie durch wenige
™pide…xasqai, ¹ prèth te kaˆ Worte gezeigt wird, die erste, un-
¢sèmatoj kaˆ ¢k…nhtoj kaˆ ¢…dioj körperliche, unbewegte und ur-
oÙs…a sächliche Substanz«.261

260
De anima S. 90, 11-20
261
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 25; S. 40, 8-9

282
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Der Geist also ist bei Alexandros, ebenso wie bei uns, ein einziger, ein
gewissermaßen göttlicher Geist, der sich ganz aus dem Natürlichen her-
aushebt. Nicht der einzelne Mensch verfügt für Alexandros über den
Geist, sondern der göttliche Geist verfügt über den Menschen, verbin-
det die Menschen miteinander. Ohne diesen wären sie bloße reine Na-
turwesen, nicht wesentlich von Tieren unterschieden.
§ 229 Auch wenn wir diese Auffassung Alexandros’ teilen, so gibt es
doch einen großen Unterschied zwischen der Sprache, die wir als den
Geist ansehen und dem göttlichen unbewegten Beweger, der Alex-
andros’ Geist ist. Die Sprache als Geist kann wirklich aus der Natur er-
wachsen, ist sozusagen die sich allmählich vollziehende Wiederaneig-
nung des Ideellen an sich durch die Natur. Der Geist ist so eine Syn-
these aus Ideen und Natur und zwar eine vollendete. Bei Alexandros
hingegen ist der Geist etwas zwar Schöpfendes, aber dennoch Stati-
sches. Es findet nicht so etwas wie eine Entwicklung dieses Geistes
selbst statt, so daß sein Denken zutiefst ungeschichtlich ist. Zwar kann
der Geist im einen oder anderen Menschen mehr oder weniger aktiv
sein, aber der Geist selbst als Ganzer ist doch bei ihm immer schon
göttlich und vollendet.
Diese Auffassung steht auch im Gegensatz zur aristotelischen Auf-
fassung, wo der wirkliche Geist zwar noch nicht das Göttliche selbst,
aber bereits etwas Selbständiges und vom Körper Getrenntes war. Dies
ist für Alexandros nicht möglich:
¹ yuc¾ oân œnulon <×n> e doj ¢dÚ- »Es ist für die Seele als materiali-
naton aÙtÕ kaq' aØtÕ e nai. Ö g¦r sierte Form nicht möglich selb-
Ûlhj de‹tai prÕj tÕ e nai taÚthj ti ständig zu sein. Denn für das, was
Ôn, ¢dÚnaton toàto cwrisq n aÙtÁj der Materie zu seinem Sein be-
aÙtÕ kaq' aØtÕ e nai. darf, ist es nicht möglich von die-
ser getrennt und für sich selbst zu
sein.«
262

Die Seele ist also nach Alexandros wesentlich – nämlich qua Form – an
den Körper gebunden und kann als Seele nicht ohne diesen sein. Der
Gedanke eines unsterblichen Wesens, das mit unserer Seele verwandt
sein könnte, ist demnach nicht denkbar. All das, was sich aus dem na-

262
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 10; S. 55, 10-12

283
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
türlichen Kontext heraushebt, ist für Alexandros schon gleich in einem
göttlichen Kontext beheimatet. Eine Zwischenstufe, wie sie noch Aristo-
teles für den wirklichen Geist vorsah, kann es nicht geben. Aber auch
wenn Aristoteles’ wirklicher Geist vordergründig besser zu unserer Auf-
fassung paßte, so lag dies doch zu einem großen Teil daran, daß eben
die hier von Alexandros aufgeworfene Problematik der Frage nach dem
ontologischen Status des Geistes von Aristoteles eher offen gelassen
wurde. Alexandros’ Ansatz bringt somit den großen Vorteil mit sich,
daß er diese Frage überhaupt erst einmal aufwirft und so ihrer Lösung
näherbringt.

iii. Der Nominalismus


§ 230 Sehen wir uns jedoch Alexandros’ Theorie dessen an, was Begrif-
fe sind, so stoßen wir auf eine nominalistische Theorie derselben. Für
Alexandros sind die Begriffe eben nicht wie für Aristoteles etwas noch
irgendwie Eigenständiges, sondern sie existieren nur als gedankliche
und sprachliche Größen, die aber immer an die Dinge selbst zurückge-
bunden sind:
–H t¦ koin¦ oÙc ¡plîj no»mata, »Oder die Allgemeinbegriffe sind
¢ll¦ ¢pÒ tinwn kaˆ per… tinwn, nicht einfach Gedanken, sondern
taàta d' ™stˆ t¦ kaqškasta. g…ne- von etwas herkommend und
tai d ¢pÕ toÚtwn tîn oÙk Ôntwn über etwas [handelnd], was das
koinîn tù ¢faire‹sqai aÙtîn tÍ Einzelne ist. Denn sie kommen
™pino…v, taàta d kaq' aØt¦ dia- aus diesen zustande, die selbst
fšronta ¢ll»lwn kaqškast£ ™s- nicht Allgemeinbegriffe sind, in-
tin, ïn ¢faireqšntwn tÕ katalei- dem sie von ihnen durch den
pÒmenon nÒhma. Gedanken abstrahiert sind. Diese
sind voneinander unterschiedene
Einzeldinge aus welchen das er-
greifende Denken sie abstra-
hiert.«
263

Wir begegnen hier erneut der uns bereits aus der im dritten Band dis-
kutierten Stoa bekannten kat£lhyij, dem die in den Dingen liegenden
Strukturen ergreifenden Denken. Anders als bei Chrysippos produziert

263
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 14; S. 59, 4-8

284
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
dieses Denken aber bei Alexandros keine lekt£, also selbständige und
unkörperliche geistige Größen, die in den Zeichen ihre Existenz haben,
sondern nur Allgemeinbegriffe (t¦ koin£), die nur in Bezug auf den Ab-
straktionsakt wirklich existieren.
Der Grund dafür, daß es für Alexandros die Allgemeinbegriffe nicht
als selbständige Größen geben kann, liegt darin, daß diese nur Eigen-
schaften und Momente an den konkreten Dingen sind:
tÕ m n Øpoke…menon ú tÕ kaqÒlou »Das Zugrundeliegende zwar,
sumbšbhke pr©gm£ t… ™sti, tÕ d welchem das Allgemeine als Ei-
kaqÒlou tÕ ™ke…nJ sumbebhkÕj oÙ genschaft zukommt, ist irgend ein
pr©gm£ ti kaq' aØtÒ ™stin, ¢ll¦ Ding, das Allgemeine aber, wel-
sumbebhkÒj ti ™ke…nJ ches jenem als Eigenschaft zu-
kommt, ist nicht irgend ein Ding
für sich selbst, sondern irgendei-
ne Eigenschaft jenes.«264

Ohne ein Øpoke…menon also existierte der Allgemeinbegriff gar nicht.


§ 231 Alexandros schließt so, daß das Begriffliche dem Wirklichen
nachgeordnet sein muß:
toàto oân tÕ æj gšnoj zùon ½toi »Dieses Lebewesen nun als Gat-
oÙdšn ™stin, ™peˆ m¾ fÚsin tin¦ tung ist entweder nichts, da es
o„ke…an œcei, ¢ll' œstin sÚmptwma keine ihm eigene Natur hat, son-
™p… tini ginÒmenon pr£gmati, À e„ dern es ist ein an irgend einem
kaˆ tÕ oÛtwj ×n <Ôn> tij lšgoi, Ding hervortretendes Symptom,
Ûsteron œstai ™ke…nou ú Øp£rcei. oder, wenn auch jemand sagte es
sei, so wäre es doch später als je-
nes, an dem es vorhanden ist.« 265

Die Form also, die als Allgemeinbegriff oder gšnoj gefaßt werden kann,
ist für Alexandros ein bloßes sÚmptwma, etwas Nachrangiges, das später
(Ûsteron) als das wirkliche Ding existiert und so eben aus diesem ab-
strahiert werden muß, will man es erfassen. Der noch bei den Stoikern
denkbare Fall, daß man aus einem lektÒn auf ein anderes schließen
kann, ist so für Alexandros nicht vorstellbar. Der Begriff ist ein bloßer
Name für das sÚmptwma:

264
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 11; S. 23, 25-27
265
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 11; S. 24, 4-7

285
Alexandros von Aphrodisias (150-215)

tÕ d gšnoj æj gšnoj lambanÒmenon »Die Gattung aber als Gattung


oÙ pr©gm£ t… ™stin Øpoke…menon, genommen ist kein Ding welches
¢ll¦ mÒnon Ônoma, kaˆ ™n tù etwas zugrunde liegt, sondern nur
noe‹sqai tÕ koinÕn e nai œcon, oÙk ™n ein Name, und im Denken hat es
Øpost£sei tin…. die Eigenschaft der Allgemein-
heit, nicht aber im Bestehen.«
266

Ein gšnoj ist also nur für unser Denken begrifflich. Auch seine Allge-
meinheit und Vergleichbarkeit mit anderem Gleichartigem kommt ihm
nur als Gedanke, nicht aber als Form in den Dingen zu.
§ 232 Hier können wir auch schon mit einem ersten Kritikpunkt an-
setzten. Denn was Alexandros hier behauptet ist nicht erst im Geist,
sondern schon in der Naturphilosophie problematisch. Wenn die
Formen hier als konkrete Formen nicht zugleich auch allgemeine For-
men wären, so könnte ein Naturwesen nicht ein gleichartiges anderes
erkennen. Es würde dann – ganz reduktionistisch gedacht – nur auf ei-
ne Materieansammlung reagieren, wenn es etwa flieht oder droht. Ein
solcher Reduktionismus macht aber wenig Sinn. Hier zeigt sich aber,
daß schon im Reich der Formen selbst, diese ihre Allgemeinheit er-
kennen können. Dies muß man zumindest für diejenigen Wesen an-
nahmen, die zur Wahrnehmung in der Lage sind. Aber auch für rein
chemische oder physikalische Reaktionen ist es aus idealistischer Sicht
sinnvoll, davon auszugehen, daß hier nicht die Materie agiert, sondern
die Form, die diese organisiert und daß diese Form entsprechend auf
eine gleichartige Form reagieren kann.
Ein zweiter Kritikpunkt ergibt sich aus der folgenden Überlegung
und argumentiert rein auf der Ebene des Geistes. Für Alexandros sind
nun nämlich trotz seines Nominalismus die durch Abstraktion erschlos-
senen Allgemeinbegriffe nichts Beliebiges; sein Nominalismus nimmt
daher noch keine neuzeitliche Form an, sondern bleibt im Aristotelis-
mus verhaftet. Für Aristoteles wie für Alexandros wäre eine Klasse der
Vierbeiner vollkommen sinnlos, so man zu diesen Tiere und Tische
zählt. Denn diese Klasse hat als solche keine wirkliche Existenz als eine
in den Dingen wirksame Form. Es ist eine bloße Abstraktion. Aber bei

266
¢por…ai kaˆ lÚseij II, 28; S. 78, 18-20

286
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Alexandros hat die Abstraktion durchaus einen sinnvollen Gegenstand,
was sich darin zeigt, daß man auch dann eine Abstraktion erhalten
kann, wenn es nur einen konkreten Fall einer bestimmten Form gibt:
kaˆ g¦r ˜nÕj Ôntoj ™n Øpost£sei »Denn auch wenn es nur ein
¢nqrèpou mÒnou Ð aÙtÕj toà Mensch existierte, so wäre doch
¢nqrèpou lÒgoj· oÙ g¦r diÒti ™n der Begriff des Menschen der-
pollo‹j ™stin oátoj Ð lÒgoj aÙtoà, selbe. Denn nicht weil er in vie-
¢ll¦ diÒti kat¦ t¾n toiaÚthn len ist, ist er dessen Begriff, son-
fÚsin Ð ¥nqrwpoj ¥nqrwpÒj ™stin, dern weil der Mensch gemäß ei-
e‡te ple…ouj e en kekoinwnhkÒtej ner so beschaffenen Natur ein
tÁsde tÁj fÚsewj e‡te m». Mensch ist, sei es, daß eine derar-
tige Natur vielen gemeinsam ist,
oder nicht.«267

Die Abstraktion geschieht also für Alexandros nicht einfach durch die
Bildung von Gemeinsamkeiten, sondern durch die Erkenntnis von et-
was für ein Naturding Wesentlichem und Prinzipiellem an ihm. Alex-
andros leugnet also nicht die Existenz der Naturen und Wesen der
Dinge selbst. Er leugnet nur auf ganz radikale Weise deren selbständi-
ges Sein als Begriffe unabhängig von den Dingen und unabhängig von
Menschen, die diese Begriffe denken.
Das Problematische an dieser Sichtweise ist meines Erachtens die
Geringschätzung der Formen, die einerseits deutlich aus den Dingen
herausscheinen sollen, ihnen andererseits aber der Charakter eines
bloß beiläufigen sÚmptwma zugesprochen wird. Wenn eine Form es
doch schafft ihre Materie zu organisieren und als solche dann auch als
das Wesen eines Naturdings heraussticht, dann liegt es nahe, davon
auszugehen, daß diese Form zumindest logisch vor dem Ding selbst
steht, daß die Form eben das Ding bestimmt und nicht von ihm erst be-
stimmt wird. Daher bleibt mir der nominalistische Ansatz, den Alex-
andros hier vorstellt, vollkommen unzugänglich.

267
¢por…ai kaˆ lÚseij I, 3; S. 8, 13-17

287
Maximos von Jerusalem (um 190)
Maximos von Jerusalem (um 190)
Von Maximos haben wir nur ein Fragment bei Eusebios, das jedoch
einerseits viele Seiten lang ist und andererseits hinsichtlich einer argu-
mentativen Dichte beeindruckt. Nach Eusebios stammt dieses Frag-
ment aus einem Buch, das den Titel Perˆ tÁj Ûlhj trägt und sich ent-
sprechend ganz der Frage nach der Materie widmet. Über die Person
wissen wir nur, daß Eusebios ihn als einen nicht unbedeutenden Chris-
ten bezeichnet, der zur Zeit des Kaisers Commodus gelebt haben soll.
Es wird vermutet, daß er Bischof von Jerusalem war.

Natur
§ 233 Das uns von Maximos überlieferte Fragment stellt in Dialogform
eine außerordentlich gut strukturierte Argumentation für die christliche
These dar, daß die Materie von Gott stammt. Er argumentiert nicht di-
rekt für diese These, sondern öffnet eine Reihe von Alternativen und
Subalternativen, in denen er all diejenigen, die seinem Argumentations-
ziel nicht entsprechend ad absurdum führt.
Zunächst geht Maximos von zwei Thesen aus, die er gemeinsam mit
seinem Dialogpartner als Diskussionsbasis ansieht:
“Oti m n ¢dÚnaton Øp£rcein ¢gšnh- »Ich glaube zusammen mit dir,
ta dÚo ¤ma oÙd s ¢gnoe‹n nom…zw daß unmöglich zwei Ungeworde-
ne subsistieren können.«
268

Die Existenz zweier ungewordener Substanzen anzunehmen, wider-


spricht dem Monismus. Dennoch ist auch diese Auffassung weit ver-
breitet, was sich nicht zuletzt darin zeigt, daß Platon ihr anhängt, so daß
er mithin die vorliegende These nicht mittragen würde. Der Diskussi-
onspartner des Maximos ist hier also offensichtlich kein Platoniker.
Wir können ihn vielleicht im Spektrum der Gnosis suchen, wo man
einerseits auf der Suche nach einer monistischen Position war und wo
andererseits beispielsweise Marcion die hier noch zur Sprache kom-

268
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 1, 1

288
Maximos von Jerusalem (um 190)
mende Frage nach dem Ursprung des Schlechten und damit der Mate-
rie ins Zentrum stellt.
§ 234 Auch die zweite These Maximos’ können wir problemlos ak-
zeptieren. Demnach muß behauptet werden,
À Óti kecèristai tÁj Ûlhj Ð qeÕj À »daß entweder Gott von der Ma-
aâ p£lin Óti ¢mšristoj aÙtÁj tug- terie getrennt ist oder daß es an-
c£nei. dererseits so ist, daß sie ungeteilt
sind.« 269

Diese beiden disjunktiven Möglichkeiten klopft Maximos nun der Rei-


he nach daraufhin ab, ob sie denkbar sind und wo ihre Probleme lie-
gen. Zunächst diskutiert er die Position des Dualismus, die davon aus-
geht, daß Gott und Materie unterschieden werden müssen:
e„ d kecwr…sqai f»sei tij, ¢n£gkh »Wenn aber jemand sagt, sie sei-
e na… ti tÕ ¢n¦ mšson ¢mfotšrwn, en unterschieden, so gibt es not-
Óper kaˆ tÕn cwrismÕn aÙtîn de…- wendigerweise etwas in der Mitte
knusin. zwischen beiden, durch welches
sich auch der Unterschied beider
zeigt.«270

Maximos liefert uns hier ein schlagendes Argument gegen jeglichen


Dualismus. Wir haben ein ähnliches Argument bereits öfter diskutiert
und explizit dann bei Theophilos gefunden. Wenn die Materie ganz
und gar von Gott unterschieden ist – so jenes Argument –, dann bleibt
es undenkbar, daß sie jemals oder an irgend einer Stelle mit ihm in
Kontakt tritt. Da in ihm aber das Reich der Formen begründet liegt, so
kann die Materie unmöglich Formen annehmen. Dieses Argument läßt
sich mit Maximos’ Gedanken erweitern: Wenn es etwas Vermittelndes
zwischen Materie und Formen oder Gott geben soll, so müßte es durch
etwas Drittes vermittelt sein. Jenes Dritte aber müßte entweder von der
Art Gottes oder der Art der Materie oder von einer ganz eigenen Art
sein. Die ersten beiden Optionen lösen das Problem nicht, denn ist es
der Art nach einem der beiden gleich, so ist es nach Voraussetzung
vom anderen getrennt. Ist es aber ein Drittes, so braucht es wieder

269
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 1, 3 – 2, 1
270
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 2, 1-2

289
Maximos von Jerusalem (um 190)
zweier vermittelnder Substanzen zwischen ihm und den beiden ande-
ren. Wir geraten in einen infiniten Regreß.
Maximos’ Argument geht aber nun noch einen Schritt weiter. Er
zeigt ja im Grunde schon, daß man Gott und Materie gar nicht unter-
scheiden kann, ohne ein tertium comparationis zu haben, ohne ein
drittes Element also, an dem man die Unterschiede festmachen kann.
Der Hintergrund dieser Auffassung ist ganz und gar idealistisch. Alles
muß immer schon über Ideen wie Identität und Unterschied vermittelt
sein und ist durch diese Ideen miteinander verbunden. Allein die Tat-
sache des Unterschieds konstituiert einen Bezug.
§ 235 Damit wurde also gezeigt, daß Gott und Materie nicht unter-
schieden sein können, womit die erste monistische These gestützt ist.
Nun zerfällt aber das Resultat erneut in zwei Alternativen. Entweder
hängt Gott von der Materie ab, oder diese von Gott. Diese beiden Al-
ternativen stellen nichts weniger als die Unterscheidung zwischen einem
monistischen Idealismus und einem monistischen und also eliminativen
Materialismus dar. Die erste materialistische Option und ihre Konse-
quenzen beschreibt Maximos wie folgt:
tÕ sunšcon ¢kouštw, Óti ™¦n tÒpon »Laßt die Konsequenzen anhö-
toà qeoà t¾n Ûlhn e‡pwmen, ™x ¢n- ren, daß wenn wir sagen, daß die
£gkhj aÙtÕn kaˆ cwrhtÕn lšgein Materie der Ort Gottes ist, so
de‹ kaˆ prÕj tÁj Ûlhj perigrafÒme- muß man sagen, daß er notwen-
non. ¢ll¦ m¾n kaˆ Ðmo…wj aÙtÕn tÍ dig räumlich und von der Mate-
ÛlV ¢t£ktwj fšresqai, m¾ †stas- rie umfaßt wird. Ferner aber wird
qa… te mhd mšnein aÙtÕn ™f' ˜au- er in gleicher Weise wie die Ma-
toà ¢n£gkh, toà ™n ú ™stˆn ¥llot' terie fortgerissen, er ist notwendig
¥llwj feromšnou. unbeständig und nicht in sich
selbst bleibend, denn das worin
er ist, wird hin- und hergeris-
sen.« 271

Diese Aussagen – auch wenn sie vielleicht so gemeint sind – räumlich


zu interpretieren ist wenig interessant. Viel spannender wird Maximos’
Argumentation an dieser Stelle, wenn wir sie logisch interpretieren.
Was er hier darstellt, eine radikal materialistische Position, ist ja klar:

271
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 6, 4 – 7, 2

290
Maximos von Jerusalem (um 190)
Gott, also die Welt der Bedeutungsgehalte hängt absolut von der Mate-
riekonstellationen ab. Geist und Logik ist nur ein Epiphänomen. Be-
wegt sich die Materie, so bewegen sich nach dieser Theorie auch die
Bedeutungsgehalte, Identität und Unterschied derselben läßt sich gar
nicht erst feststellen. So können sich Bedeutungsgehalte unkontrolliert
verschieben und wir erfahren es nicht einmal.
Merkwürdigerweise kann man nun auch nicht behaupten, diese Po-
sition sei inkonsistent, denn es gibt ja dann gar keinen stabilen selbsti-
dentischen Begriff der Konsistenz. Begriffe sind ja nur Chimären.
Wohl aber können wir behaupten – und hier folgen wir nun exakt Ma-
ximos’ Argumentationsgang –, daß diese Position komplett neben allem
ist, was wir über Begriffe denken. Mit einer solchen Position läßt sich
keine Philosophie mehr machen. Analog ist es hier das im Hintergrund
stehende Argument von Maximos, daß diese Position eben den Begriff
Gottes verfehlt. Natürlich bietet das kein schlagendes Argument gegen
den Materialismus als solchen, aber es muß uns eben hier reichen, da-
mit zu zeigen, daß mit dem Materialismus philosophisch nichts zu er-
reichen ist. Wenn er recht hat, so ist die menschliche Intelligenz selbst
eine Chimäre und alles philosophische Unternehmen eitel; sinnlos also,
ihm recht zu geben, wo man es doch zumindest versuchen kann, zu
philosophieren.
§ 236 Es bleibt also die zweite Alternative zu prüfen, wonach die
Materie in Gott sei. Maximos führt als zentralen Einspruch gegen diese
Option deren folgende Konsequenz an:
tÕn qeÕn lšgein ¢n£gkh tÒpon e nai »Es ist notwendig zu sagen, daß
tîn ¢kosm»twn kaˆ tîn kakîn. Gott der Ort der ungeordneten
und Schlechten sei.«
272

Dies ist nun allerdings ein Einspruch des Diskussionspartners von Ma-
ximos, der eben diese Konsequenz nicht zu akzeptieren bereit ist. Der
Rest des Dialogfragmentes beschäftigt sich nun hauptsächlich mit der
Frage, ob denn Gott für die Entstehung des Schlechten in der Welt
verantwortlich gemacht werden kann oder gar muß.

272
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 10, 3-4

291
Maximos von Jerusalem (um 190)
Zunächst geht es dabei um die Frage, ob das Schlechte in der Mate-
rie selbst liegt, oder ob es an Eigenschaften derselben festgemacht wer-
den kann. An dieser Stelle kommt ein zweiter Opponent mit einer Ar-
gumentation ins Spiel, die darauf abzielt, Gott nicht zum Urheber der
Materie zu machen und zugleich die Materie als Quelle allen Übels
auszuweisen. Er versucht dabei zu zeigen, daß die Materie schon immer
Eigenschaften hatte und somit aus sich heraus Quelle des Schlechten
gewesen sein kann. Dabei akzeptiert er die Prämissen der obigen Ar-
gumentation nicht mehr, denn er argumentiert nunmehr wieder für ei-
ne dualistische Position, die Gott und Materie trennt:
TÕn m n prÕj tÕn ˜ta‹ron, ð f…le, »Du scheinst mir, o Freud, die
lÒgon ƒkanîj moi pepoihkšnai do- Rede des Gefährten befriedigend
ke‹j· ™x ïn g¦r proÜlabe tù behandelt zu haben. Denn aus
lÒgJ, ™k toÚtwn sun£gein œdoxaj dem, was in der Rede angenom-
kalîj. æj ¢lhqîj g£r, e„ ¥poioj men wurde, daraus hast du die
™tÚgcanen ¹ Ûlh, tîn d poiot»- richtige Folgerung gezogen. Denn
twn dhmiourgÕj Øp£rcei Ð qeÒj, es ist richtig, daß wenn die Mate-
poiÒthtej d t¦ kak£, tîn kakîn rie ohne Eigenschaften war, Gott
œstai poiht¾j Ð qeÒj. oátoj m n oân aber der Eigenschaften Schöpfer
Ð lÒgoj prÕj ™ke‹non e„r»sqw ka- war und das Schlechte Eigen-
lîj, ™moˆ d yeàdoj doke‹ t¾n Ûlhn schaft ist, Gott der Schöpfer des
¥poion e nai lšgein· oÙd g¦r œne- Schlechten ist. Das Argument ist
stin e„pe‹n perˆ ¹stinosoàn oÙs…aj richtig bezüglich dessen, was je-
æj œstin ¥poioj. kaˆ g¦r ™n ú ner fragte. Mir jedoch scheint es
¥poion e nai lšgei, t¾n poiÒthta falsch zu sein, die Materie eigen-
aÙtÁj mhnÚei, Ðpo…a ™stˆn ¹ Ûlh schaftslos zu nennen. Denn es ist
diagrafÒmenoj, Óper ™stˆn poiÒth- nicht möglich, zu sagen, daß es
toj e doj. Óqen, e‡ soi f…lon ™st…n, Substanzen ohne Eigenschaften
¥nwqen œcou prÕj ™m toà lÒgou. gibt. Denn auch indem jemand
™moˆ g¦r ¹ Ûlh ¢n£rcwj poiÒthtaj sagt, etwas sei eigenschaftslos, gibt
œcein doke‹. oÛtwj g¦r kaˆ t¦ kak¦ er dessen Eigenschaft an; zu be-
™k tÁj ¢porro…aj aÙtÁj e nai schreiben welcher Art die Mate-
lšgw, †na tîn kakîn Ð m n qeÕj rie ist, ist dasselbe wie ihrem We-
¢na…tioj Ï, toÚtwn d ¡p£ntwn ¹ sen eine Eigenschaft zuzuschrei-
Ûlh a„t…a. ben. Daher, wenn es dir lieb ist,
gehe mit mir die Rede von An-
fang an durch. Denn ich glaube,
die Materie habe von Beginn an

292
Maximos von Jerusalem (um 190)
Eigenschaften. Und so sage ich,
daß dann das Schlechte deren
Emanation ist, womit Gott nicht
die Ursache des Schlechten wäre,
sondern die Materie ist ganz und
gar dessen Ursache.« 273

Diesen weiteren Opponenten einzuordnen fällt nicht leicht. Er scheint


eine Mischung aus einer platonischen und aristotelischen Auffassung zu
vertreten. Von Platon stammt der Gedanke einer Präexistenz der Mate-
rie und von Aristoteles die Idee, daß Materie und Form in der Wirk-
lichkeit immer als Einheit auftreten und nur im Diskurs abstrakt ge-
trennt werden können. Das Argument, welches er hier für die Einheit
von Materie und Form vorbringt ist äußerst treffend. In der Tat ist es
nicht möglich, über eine ganz und gar eigenschaftslose Materie auch
nur zu sprechen. Man muß ihr immer Eigenschaft unterstellen und
wenn man das schon muß, dann kann man auch gleich davon ausge-
hen, daß sie diese Eigenschaften schon immer besitzen muß. Die Ei-
genschaft der Eigenschaftslosigkeit erweist sich so als in sich wider-
sprüchlich.
In einer Präzision dieser Ausführungen sieht dieser zweite Oppo-
nent nun Gott nicht als Schöpfer der Eigenschaften an, sondern als de-
ren Manipulator:
trop¾n dš tina tîn poiot»twn ge- »Ich sage, daß eine Veränderung
gonšnai fhm…, kaq' ¿n dhmiourgÕn ihrer Eigenschaften gemacht wor-
e nai lšgw tÕn qeÒn den ist, gemäß der ich behaupte
Gott sei Schöpfer.«
274

Diese Haltung erlaubt es nun davon auszugehen, daß das Schlechte


schon immer als Eigenschaft in der Materie enthalten ist, daß aber eini-
ge Materie von Gott gewissermaßen gerettet werden kann, indem er
diese Materie verändert und sie gewissermaßen als dhmiourgÒj zu einem
Abbild der Ideen macht.
§ 237 Was Maximos nun hier diesem zweiten Opponenten aufzei-
gen möchte ist das folgende: Auch er muß letztlich Gott die Urheber-

273
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 35-37
274
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 41, 2-3

293
Maximos von Jerusalem (um 190)
schaft des Schlechten einräumen und wenn er das schon tun muß, dann
ist es vollkommen zwecklos, auf dem Dualismus zu bestehen. Maximos
bedient sich dazu des folgenden immanenten Argumentes:
Pîj to…nun aÙtÕn t¦j tîn faÚlwn »Wie kannst du nun sagen, daß
poiÒthtaj æj e con kataleloipš- er die Eigenschaften des Schlech-
nai lšgeij; pÒteron dun£menon m n ten übrig gelassen hat? Wollte er,
k¢ke…naj ¢nele‹n, oÙ boulhqšnta obwohl er das Schlechte beseiti-
dš, À tÕ dÚnasqai m¾ œconta; e„ m n gen konnte, dies nicht, oder war
g¦r dun£menon lšxeij, oÙ boulhqšn- er dazu nicht imstande? Denn
ta dš, aÙtÕn a‡tion toÚtwn e„pe‹n wenn du sagst, er konnte es, woll-
¢n£gkh te es aber nicht, so sagst du damit
notwendig auch, daß er die Ursa-
che von ihnen ist«.275

Selbst wenn also die Materie immer schon Eigenschaften hatte und aus
sich heraus schlecht war, so ist Gott doch die Ursache des Schlechten
insofern er die Entscheidung und die Macht hatte, das Schlechte zu be-
seitigen. Man kommt also gar nicht an der Überlegung vorbei, wie man
Gott als Urheber des Schlechten rechtfertigt und dieser Umstand kann
nicht als reductio ad absurdum zum Beweis des Gegenteils genutzt
werden.
Daß nun Gott der Urheber des Schlechten sei, daß das Unperfekte
also vom Perfekten herstammt, das – so wissen wir seit Anaximandros –
ist philosophisch wenig problematisch, denn das Unperfekte ist eben
immer im Perfekten enthalten. Ein Rechtfertigung ist also aus metaphy-
sischer Sicht auch gar nicht nötig.
§ 238 Maximos liefert uns nun noch einen weiteren Beweis gegen
die Annahme einer ungeschaffenen Materie, der jedoch einige Schwä-
chen aufweist. Dieser beruht auf der Frage danach, ob die Materie
selbst etwas Einfaches oder etwas Zusammengesetztes sei. Maximos
diskutiert beide Möglichkeiten und zeigt erneut die Konsequenzen bei-
der Annahmen auf, die bereits nahe legen, für welche Möglichkeit man
sich nur entscheiden kann:
e„ g¦r ¡plÁ tij ™tÚgcanen ¹ Ûlh »Denn wenn die Materie einfach
kaˆ monoeid»j, sÚnqetoj d Ð kÒs- und einförmig war, [wie kann

275
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 49, 1-4

294
Maximos von Jerusalem (um 190)
moj kaˆ ™k diafÒrwn oÙsiîn te kaˆ dann] die Welt zusammengesetzt
kr£sewn t¾n sÚstasin œcei [...], sein und aus unterschiedlichen
tÕ g¦r sÚnqeton ¡plîn tinwn m‹xin Wesenheiten und Mischungen
mhnÚei. e„ d' aâ p£lin t¾n Ûlhn ihren Bestand haben [...], denn
sÚnqeton lšgein ™qšloij, p£ntwj ™x zusammengesetzt ist das, was aus
¡plîn tinwn sunteqe‹sqai f»seij. einer Mischung Einfacher be-
e„ d ™x ¡plîn sunetšqh, Ãn pote steht? Wenn du aber wiederum
kaq' ˜aut¦ t¦ ¡pl©, ïn sun- lieber sagst, die Materie sei zu-
teqšntwn gšgonen ¹ Ûlh, ™x oáper sammengesetzt, so wird doch
kaˆ genht¾ oâsa de…knutai. letztlich alles aus irgendwelchen
einfachen Naturen gefertigt.
Wenn es aber aus Einfachem zu-
sammengesetzt ist, dann muß
dieses Einfache irgendwann ein-
mal für sich selbst gewesen sein,
und als es zusammengesetzt wur-
de entstand die Materie. Daraus
folgt, daß auch die Materie ge-
worden ist.« 276

Die erste Möglichkeit besteht darin, daß die Materie einfach ist. Wie
kann dann, so fragt Maximos, aus ihr die das Zusammengesetzte ent-
stehen, das wir in der Welt vorfinden? Wir sind natürlich geneigt ihm
zu antworten, daß man eben einfach die Elemente zusammensetzt und
so Zusammengesetztes erhält. So zumindest denken sich das die Ato-
misten. Ich interpretiere Maximos hier so, daß er das eben nicht so ein-
fach sieht. Das Zusammengesetzte muß immer irgend eine Art von m‹xij
des Einfachen sein. Denn die Elemente können nicht einfach zusam-
mengesteckt werden, sie müssen vielmehr von innen heraus einen Kon-
takt zueinander entwickeln um so als Ganzes sein zu können. Sie müs-
sen – um es in anderen Worten zu sagen – in der Lage sein als Aggre-
gat eine Form anzunehmen.
§ 239 Nach der von uns favorisierten systemtheoretischen Auffas-
sung ist dazu freilich keine Eigenleistung ihrerseits notwendig; es ist die
Form, die sie überformt, ohne daß sie etwas davon zu spüren bekom-
men. Aber sie müssen zumindest formbar sein, eine Struktur haben,

276
Eusebios, Preparatio Evangelica VII, 22, 56, 3 – 58, 1

295
Maximos von Jerusalem (um 190)
die sich in eine Form einfügen kann. So müssen sie also zumindest auf
dieser logischen Ebene innere Beziehungen aufweisen und mithin sind
sie etwas Zusammengesetztes.
Einfacher wäre es hier sicherlich das oben bereits vom zweiten Op-
ponenten Maximos’ verwendete Argument erneut zu benutzen. Dem-
nach läßt sich nicht nur eine eigenschaftslose sondern auch eine ganz
und gar einfache Materie nicht denken, denn die Materie ist immer be-
stimmt und als solche ein Konglomerat an Bezügen. Und mehr als die-
se logische Struktur wollen wir der Materie an Substanz auch gar nicht
zuschreiben.
Gesteht man nun aber zu, daß die Materie zusammengesetzt ist,
dann, so Maximos, muß sie erschaffen sein. Denn sie kann nur auf dem
Wege der Zusammensetzung entstanden sein und ihr einfachen Be-
standteile müssen so vor ihr existiert haben. Anstatt hiermit klar seine
idealistische Position zu begründen, spielt er jedoch dem Materialisten
in die Hände. Der muß jetzt nur behaupten, daß eben das, was Maxi-
mos die einfachen Bestandteile der Materie nennt dann das wäre, was
er mit »Materie« meint und schon scheitert die Argumentation. Was
Maximos hier fehlt ist die Einsicht, daß der Idealismus eben von der
Ganzheit her zum Einzelnen hin denkt. Die als möglichst einfach ge-
dachte Materie muß aus der umfassendsten Ganzheit, dem Reich der
Ideen herstammen, nicht aber aus etwas noch einfacherem als sie
selbst. Sonst droht uns erneut die üble Konsequenz der ersten Option.

296
Praxeas (um 190)
Praxeas (um 190)
Alles was wir über Praxeas wissen, verdanken wir Tertullianus’ Schrift
Adversus Praxean, in welcher er dessen Lehren zu widerlegen versucht.
Praxeas stammte offenbar aus Kleinasien. Er kam um 190 nach Rom.
Offenbar wurde die Lehre des Montanus, zu dessen Anhängern Ter-
tullianus gehörte, auf drängen von Praxeas in Rom nicht anerkannt.
Schließlich kam Praxeas um 206 nach Karthago, wo es zu einem Streit
mit Tertullianus kam, dem sich dessen Schrift verdankt. Als Theologie
ist Praxeas’ monarchistische Lehre, die nach einem späteren Vertreter
dieser Lehre auch als Sabellianismus bezeichnet wird, für uns hier im
Grunde irrelevant, hätte sie nicht einige Implikation für eine idealisti-
sche Interpretation des christlichen Denkens.

Natur
§ 240 Die einzige für uns hier interessante und zudem die einzige uns
wirklich bekannte These des Praxeas ist schnell dargestellt. Für ihn sind
Gott und Christus nicht nur ein und dieselbe Substanz, wie das auch
die Trinitätslehre sieht, sondern sie sind auch ein und dieselbe Person:
unicum dominum vindicat, omni- »Er behauptet einen einzigen
potentem mundi conditorem, Herrgott, allmächtigen Schöpfer
ut et de unico haeresim faciat. der Welt – um in betreff dieses
ipsum dicit patrem descendisse einzigen eine Häresie hervorzu-
in virginem, ipsum ex ea natum, rufen, und sagt, der Vater selbst
ipsum passum, denique ipsum sei in die Jungfrau herabgestie-
esse Iesum Christum. gen, aus ihr geboren, habe gelit-
ten, mit einem Wort, er selbst sei
Jesus Christus.«
277

Was ist an dieser Behauptung für uns interessant? Es ist eben weniger
der Inhalt selbst, als die metaphysische Konsequenz. Gemeinhin inter-
pretieren wir Gott als das platonische Eine und Christus als den lÒgoj,
als die Ideen. Bei Johannes jedoch haben wir gesehen, daß wir eben
auch Gott als die Ideen und Jesus als die Natur, als eine aus dem Ide-

277
Adversus Praxean 1, 1; Übers. K.A.H. Kellner

297
Praxeas (um 190)
ellen entstehende Natur interpretieren können. Eben diese Interpreta-
tion können wir hier aufgreifen, um anhand derselben die interessante
Konsequenz der Sichtweise Praxeas’ zu diskutieren.
§ 241 Wenn Gott aufhört Gott zu sein, sobald er zu Jesus wird, so
heißt das übertragen, daß die Ideen keine Ideen mehr sind, wenn die
Natur aus ihnen hervorgeht, sondern, daß sie ganz und gar in die Natur
übergehen, zur Natur selbst werden. Man sieht sofort, daß diese Frage
eine ganz zentrale Rolle für die idealistische Metaphysik spielt. Vor al-
lem das platonische Problem des corismÒj zwischen Ideen und Natur
wäre damit ein für alle mal gelöst. Die Natur wäre so nur eine Erschei-
nungsform der Ideen. Zugleich aber wäre diese Natur die Ideen selbst,
die ganz diese Erscheinungsform angenommen hätten. Es wäre auch
sehr viel leichter, das Entstehen des Geistes aus der Natur zu Denken –
obwohl das im Idealismus ja ohnehin nicht so schwer zu denken ist –,
denn das Geistige selbst wäre ja so ganz und gar Natur.
Natürlich können wir aus den spärlichen Informationen die uns
Tertullianus über Praxeas’ Theorie gibt im Grunde so gut wie nichts
ersehen, was uns diese Sichtweise plastischer macht. Denn es steht ja
sofort die Frage im Raume, wie denn das Ideelle verschwinden kann,
wie Gott verschwinden kann? Eine Denkmöglichkeit führt uns ins Zen-
trum einer Monadenlehre. Wenn wir jede Monade als Grundbestand-
teil der Natur und zugleich als das Ganze des Ideellen enthaltend den-
ken, das eben nur in sich eingeschlossen und so von anderen Monaden
völlig ausgeschlossen ist, dann eröffnet sich eine vage Möglichkeit das
Verschwinden des Ideellen in der Natur und dessen Bestehenbleiben
zugleich zu denken. Denn es bleibt bestehen in einer jeden Monade, ist
aber zunächst abwesend im Zwischenraum zwischen den Monaden und
muß so langsam wieder in der Naturentwicklung neu und in naturhafter
Form entstehen.
Aber so interessant diese Ansatz auch sein mag; unsere Informatio-
nen über Praxeas’ Denken erlauben uns nicht, ihn an dieser Stelle wei-
ter zu entwickeln. Es steht eher zu vermuten, daß Praxeas diese radikale
Position gerade deswegen eingenommen hat, um den drohenden Wi-
derspruch der Trinitätslehre im Keim zu ersticken. Dies ist zumindest
die Art und Weise, wie die Kirchenväter gemeinhin seinen Gesin-

298
Praxeas (um 190)
nungsgenossen Sabellius haben, über dessen Theorie wir nicht mehr
wissen, als das hier über Praxeas ausgeführte. Wirklich produktiv wür-
de die These des Praxeas jedoch erst dann werden, wenn sie nicht ver-
sucht den Widerspruch von Gott und Natur zu beseitigen, sondern ihn
dialektisch in einer komplexeren Form aufzuheben versucht. Dazu aber
kann das Denken nur dadurch gezwungen werden, wenn es sich zu-
nächst derlei Abkürzungen zur Widerspruchslosigkeit versperrt, was die
katholische Lehre mit ihrer Insistenz auf die Trinität dann getan hat.

Geist
§ 242 Neben dieser metaphysischen Interpretation der Theorie des
Praxeas, gibt es auch noch eine existentielle, die ebenfalls bemerkens-
wert ist. Denn das Verschwinden Gottes ist sicherlich ein existentielles
Ereignis und um eben ein solches Verschwinden handelt es sich bei
Praxeas:
Praxeas ipsum vult patrem de »Praxeas aber will, dass der Vater
semetipso exisse et ad seme- aus sich selbst ausgegangen und
tipsum abisse von sich selbst weggegangen sei«278

Dies mag eine Unterscheidung zwischen Religion und Existentialismus


markieren, eine Unterscheidung also zwischen zwei Zugangsweisen zu
sich selbst, die wir hier bislang als eine Einheit betrachtet haben. Die
Unterscheidung liegt darin, daß im Fall des Existentialismus der
Schwerpunkt auf dem reinen Bezug zu sich selbst als einem Einzelnen
liegt. Dies ist bei der Religion nicht der Fall. Sie sucht vielmehr eine di-
rekte Vermittlung der Existenz des Einzelnen mit dem Sein überhaupt.
Ein Göttliches Wesen ist hier eine ebenso einfache wie perfekte Lö-
sung, denn dieses Wesen ist einerseits uns gleich und andererseits doch
Ursprung allen Seins. Der Existentialismus sucht eine solche Verbin-
dung nicht direkt, sondern erst muß der Einzelne sich selbst finden und
dann kann er sich zum Sein öffnen; was zweifelsfrei der schwierigere
Teil ist. Die Sichtweise des Praxeas macht aus Gott selbst hier einen
Existentialisten, der um sich selbst sein zu können, um ein einfacher,

278
Adversus Praxean 23, 11; Übers. K.A.H. Kellner

299
Praxeas (um 190)
leidensfähiger Mensch sein zu können, sein Gottsein aufgibt und als-
dann als Mensch in einer Welt ohne Gott existiert, in einer Welt, wo er
selbst die Verbindung zum Sein schaffen muß.
Wir können Praxeas These hier nicht wirklich kritisieren. So zu
denken ist überaus interessant. Abgeschwächt wird die These jedoch
zumindest in existentieller Sicht durch den Gedanken der Auferste-
hung, wo der Mensch wieder zum Gott wird. Von daher ist das Risiko,
daß sich Gott als Mensch verliert, hier doch sehr gering. Praxeas weiß
dieses ja und daher bliebt sein Mensch gewordener Gott auch als
Mensch irgendwie ein Gott.

300
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
Tertullianus wurde in Karthago als Sohn eines Centurio geboren.
Schon als Jugendlicher kam er nach Rom, wo er in Rhetorik geschult
als Rechtsanwalt (causidicus) arbeitete. Um das Jahr 193 kehrte er ver-
mögend nach Karthago zurück, wo er den Rest seiner Tage verlebte.
Dies ließ ihm die Muße, sich ein reiches Wissen anzueignen und eine
große Menge an Schriften zu verfassen. Um 197 soll er dann Christ ge-
worden sein. Seine juristische Bildung erlaubte ihm, den um 200 in
Karthago verfolgten Christen zu helfen und seine Kontakte aus seiner
Zeit in Rom schützten ihn wohl selbst vor dieser Verfolgung. Um 207
wurde er zum Anhänger der auf einen gewissen Montanus zurückge-
henden, an einer sehr strengen Ethik festhaltenden Lehre des Monta-
nismus, was ihn in Konflikt zur Kirche brachte. Für die Philosophie
kommt ihm vor allem das Verdienst zu, viele Begriffe des christlichen
Denkens in Lateinische übertragen zu haben, als dessen erster christli-
cher Schriftsteller er gilt.

Ideen
§ 243 Tertullianus’ Beitrag zur Ideenlehre besteht einzig darin, über
das Verhältnis von Gott und lÒgoj nachgedacht zu haben. Hier jedoch
erlaubte es ihm sein juristischer Scharfsinn, einiges sehr viel präziser zu
fassen, als eine Vordenker. Ebenso wie diese geht er von Gott als dem
Einen aus, das für die menschliche Vernunft nicht mehr zu fassen ist:
quoniam sicut sapientia mundi »Denn wie die Weisheit dieser
stultitia est penes deum, ita Welt Thorheit ist bei Gott, so
et sapientia dei stultitia est erscheint auch die Weisheit Got-
penes mundum. tes als Thorheit vor der Welt.«
279

Wir haben gesehen, wie widersprüchlich alles klingt, was Platon in sei-
nem Parmenides zum Begriff des Einen sagt, wenn dieser an sich ge-
dacht wird. Tertullianus überträgt dies hier auf seinen ganzen Gottesbe-
griff. Dessen sapientia ist dem Menschen schlechthin unzugänglich. In

279
Adversus Marcionem II, 2, 6, Übers. K.A.H. Kellner

301
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
metaphysischer Hinsicht ist dieser Gedanke, der in der Folge zu einem
Grundgedanken der christlichen Philosophie werden wird, durchaus
problematisch. Zwar kann der Mensch die Ideen nicht alle in einem
Akt erfassen, aber das muß er auch nicht, es reicht, wenn er sie nach-
vollziehen kann und zudem weiß, daß sein Nachvollzug auf der meta-
physischen Ebene eine zeitlose Gestalt hat. Der Widerspruch löst sich
so auf und die sapientia mundi ist keine stultitia mehr.
Recht geben können wir Tertullianus natürlich bezüglich religiöser
und existentieller Fragen. Der Umstand, daß in der Natur der Mensch
als ein existentielles und religiöses Wesen entsteht, weist auf eine Größe
hin, die metaphysisch nicht mehr zu verstehen ist, der gegenüber unser
Intellekt bloße stultitia ist.
§ 244 Diese göttliche Vernunft nun teilt Tertullianus in zwei Teile,
in Gott und Sohn, die er wie folgt bestimmt:
nam etsi deus nondum sermo- »Denn, wenngleich Gott sein
nem suum miserat, proinde eum Wort noch nicht hatte ausgehen
cum ipsa et in ipsa ratione in- lassen, so hatte er es doch ebenso
tra semetipsum habebat, taci- mit und in der Vernunft selbst
te cogitando et disponendo se- bei sich, indem er schweigend
cum quae per sermonem mox dachte und mit sich überlegte,
erat dicturus was er durch das Wort alsbald
aussprechen wollte.«280

Gott selbst ist also reine Vernunft (ratio), die in sich selbst verschlos-
sen ist. Sobald diese sich äußert, wird sie zum sermo, dem Wort, das in
der Metaphorik als Sohn gefaßt wird. Das Ideelle befindet sich also in
einer in sich geschlossenen Einheit, die schließlich zur Vielheit wird.
Die Vielheit soll aber – und hier kommt die christliche These der Tri-
nität zum Ausdruck – in einer Einheit aufgehoben bleiben.
Tertullianus beschreibt uns, sowohl die Einheit in der Vater und
Sohn eins sind, wie auch deren Unterschied und Vielheit als zwei
durchaus miteinander vereinbare Sachverhalte:
Ita et quod de deo profectum »In dieser Weise ist auch, was
est, deus et dei filius et unus von Gott ausgegangen ist, Gott
ambo; ita et de spiritu spiritus und Gottes Sohn, und beide sind

280
Adversus Praxean 5, 4 , Übers. K.A.H. Kellner

302
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
et de deo deus modulo al- einer. In dieser Weise Geist vom
ter[num], numerum gradu, non Geiste und Gott von Gott dem
statu fecit, et a matrice non Maß (der Wesenheit) nach ein
recessit, sed excessit. Zweiter, bewirkte er die Zahl
durch die Abstufung, nicht durch
die Beschaffenheit (der Sub-
stanz), und er ist von der mütter-
lichen Substanz nicht weggetre-
ten, sondern aus ihr ausgetre-
ten.«
281

Die Einheit beider besteht also darin, daß sie dasselbe ideelle Wesen
sind. Nur eben ist der Sohn ausgetreten (excessit). Es ist schwer zu sa-
gen, wie dieser Austritt, der oben als Aussprechen gefaßt wurde, meta-
physisch zu fassen ist. Beim Gnostiker Eugnostos im dritten Band ha-
ben wir eine Darstellung dieses Vorgangs gefunden, den er als die
Selbstvergegenwärtigung des Einen ansieht. Das Eine wird sich seiner
selbst bewußt und zerfällt so logisch in eine Zweiheit, in sich selbst als
Sehendes und sich selbst als Gesehenes. So bliebt das Viele zugleich
wesentlich Eines.
Hier deutet sich bereits an, daß die Trinitätslehre, die uns Tertullia-
nus hier darzustellen versucht, zu einer zentralen Herausforderung für
eine metaphysische Interpretation des christlichen Denkens wird. Für
das Christentum scheint diese zunächst widersprüchlich erscheinende
Struktur trotz ihrer Widersprüchlichkeit absolut unverzichtbar zu sein.
Insofern es also gelingt, diese Trinität fruchtbar in ein metaphysisches
Denken zu übertragen, insofern wird das christliche Denken für unser
Unternehmen produktiv sein.

Natur
i. Die Schöpfung der Materie
§ 245 Ein zentraler Gedanke bei Tertullianus, den er – wie bereits sei-
ne christlichen Vordenker – im Gegensatz zur griechischen Philosophie
und vor allem zur Gnosis entwickelt, ist die These der Geschaffenheit

281
Apologeticus 21, 13, Übers. K.A.H. Kellner

303
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
der Materie. Vor allem zwei Argumente bringt er gegen Hermogenes
vor, dessen durch Tertullianus’ Darstellung überlieferte Thesen wir
oben bereits diskutiert haben. Dem ersten Argument zufolge wäre die
Materie durch das Ideelle nicht beherrschbar, wenn sie nicht von die-
sem herstammen würde, sondern immer schon existiert hätte:
quae originem non habendo non »Da sie keinen Ursprung hat, so
habuit <aucto>rem, quod hat sie auch keinen Urheber; sie
erat nemini debens ideoque ne- verdankt niemandem ihr Dasein.
mini seruiens Daher ist sie auch niemandem
unterthänig.«
282

Wenn es keine kausale Verbindung von Materie und Gott gibt, dann ist
auch nicht denkbar, daß Gott die Materie geformt habe. Der platoni-
sche Dualismus, das hatten wir schon gesehen, weist hier eine schwer-
wiegende Lücke auf.
Tertullianus geht aber jetzt noch weiter und schließt daraus, daß die
ungeschaffene Materie dann auch selbst als ein göttliches Wesen ange-
sehen werden müsse:
Ita Hermogenes duos deos in- »So führt Hermogenes also zwei
fert: materiam parem deo in- Götter ein. Denn er führt die Ma-
fert. terie als etwas Gott gleiches
ein.«283

Wenn die Materie nicht von Gott geschaffen ist, dann kommen ihr in
der Tat alle Eigenschaften zu, die man ansonsten Gott zuschreibt. Sie
ist ebenso wie er ewig und selbständig. Daher ist eine solche Position
wahrhaft ein Dualismus, der uns zwei völlig getrennte und miteinander
unvereinbare Welten vorstellt.
Aus dem Umstand, daß die Welt geschaffen wurde, erklärt Tertul-
lianus nun auch die Notwendigkeit der Existenz des Schlechten in der
Welt:

282
Adversus Hermogenem 3, 7, Übers. K.A.H. Kellner
283
Adversus Hermogenem 4, 4, Übers. K.A.H. Kellner

304
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)

Opus enim aliud sit necesse est »Denn das Werk muss sich vom
ab artifice, id est inferius ar- Künstler unterscheiden, d. h. ge-
tifice. ringer sein als er.«
284

Die Welt mußte sich als Werk Gottes von ihrem Schöpfer unterschei-
den. Da er allein vollkommen ist, mußte sie weniger vollkommen sein
als er, denn sonst wäre sie – wie wir dereinst bei Leibniz sehen werden
– logisch mit ihm identisch.

ii. Die Körperlichkeit des Ideellen


§ 246 Einen ganz anderer Gedanke, der als eine These zur Erklärung
des Wesens der Materie von uns gelesen werden kann, betrifft die
Körperlichkeit des Ideellen. Tertullianus – vermutlich beeinflußt durch
die Lektüre stoischer Texte – schreibt auch dem göttlichen Wesen und
überhaupt allem Geistigen einen Körper zu:
quis enim negabit deum corpus »Denn wer wollte leugnen, dass
esse, etsi deus spiritus est? Gott, obwohl Geist, doch auch
spiritus enim corpus sui generis Körper sei. Denn der Geist ist
in sua effigie. sed et si invisibi- Körper in seiner Weise, in sei-
lia illa, quaecunque sunt, ha- nem Bilde. Ja auch die unsicht-
bent apud deum et suum corpus baren Dinge, so viel deren exi-
et suam formam per quae sali stieren, haben bei Gott sowohl
deo visibilia sunt, quanto magis ihren Körper als auch ihre Ge-
quod ex ipsius substantia emis- stalt, wodurch sie Gott sichtbar
sum est sine substantia non sind; um wie viel weniger wird
erit. das, was aus seiner Substanz sel-
ber hervorgegangen ist, der Sub-
stanzialität entbehren.«
285

Die zentrale Frage ist nun, was Tertullianus hier genau mit dem Begriff
»corpus« meint. Seine Begründung dafür, daß alles Geistige einen cor-
pus haben müsse, liegt darin, daß es offenbar desselben bedarf, um eine
substantia zu haben. Körperlichkeit wird also hier als eine Form der
Substantialität verstanden. Substantialität aber, ist zumindest nach aristo-
telischem Verständnis nicht anderes als der Besitz einer logisch-

284
Adversus Marcionem II, 9, 7, Übers. K.A.H. Kellner
285
Adversus Praxean 7, 8-9, Übers. K.A.H. Kellner

305
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
begrifflichen Identität; der natürlich dann für Aristoteles noch eine Ma-
terie zugrundeliegen muß. Von solch einer Materie aber ist bei Tertul-
lianus keine Rede. Er geht offenbar also davon aus, daß es so etwas wie
einen geistigen corpus geben kann.
Hilfreich dazu kann ein Blick auf die folgende Stelle sein, wo er
auch der Seele eine Körperlichkeit zuschreibt:
Si enim non haberet anima cor- »Denn wenn die Seele keinen
pus, non caperet imago animae Körper hätte, so würde das Bild
imaginem corporis [...]. Nihil der Seele keinen Vergleich mit
enim, si non corpus dem Körper zulassen [...]. Denn
ein Nichts ist sie, wenn sie kein
Körper ist.«286

Wir reden über die Seele, wie wir über selbständige oder gar gegen-
ständliche Dinge reden. Indem nun die Seele Gegenstand werden
kann, muß sie nach Tertullianus auch eine Art von körperlichem Ge-
genstand sein.
Tertullianus sagt hier erneut nicht, die Seele sei materiell. Vielmehr
unterscheidet er verschiedene Formen von Körperlichkeit, derer die
Materie offenbar nur eine ist:
Omne quod est, corpus est sui »Alles, was existiert, ist, körper-
generis; nihil incorporale, nisi lich in seiner besondern Art.
quod non est Nichts ist unkörperlich, ausser
was gar nicht existiert.«
287

Alles ist auf seine Art (sui generis) körperlich. Wenn wir nun die Kör-
perlichkeit an der Idee der begrifflichen Faßbarkeit, verstanden als Ge-
genständlichkeit festmachen, dann legt dies folgendes Verständnis nahe:
Die Materie ist materiell, weil jeder Materiepartikel für jeden anderen
undurchdringlich ist. Aber ebenso ist eben auch jede Seele für jede an-
dere undurchdringlich, leistet ihr Widerstand und wird insofern von ihr
als substantia aufgefaßt.

286
De anima 7, 2-3, Übers. K.A.H. Kellner
287
De carne Christi 11, 4, Übers. K.A.H. Kellner

306
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
iii. Der Zusammenhang von Seele und Körper
§ 247 Tertullianus sieht – dem Vorhergehenden folgend – einen sehr
engen Zusammenhang von Körper und Seele und wendet sich an meh-
reren Stellen vehement gegen die platonische Vorstellung der gemäß
der Körper nur das Grab der Seele sei. Durch die Seele wird nach Ter-
tullianus auch der Körper auf seine höhere Ebene gehoben:
Haec cum ita sint, habes et li- »Da sich dieses alles nun so ver-
mum de manu dei gloriosum, et hält, so hat man einen durch die
carnem de adflatu dei glorio- Hand Gottes geadelten Lehm
siorem, quo pariter caro et und ein durch den Anhauch Got-
limi rudimenta deposuit et tes, wodurch das Fleisch zugleich
animae ornamenta suscepit. die Spuren des Lehmes ablegte
und die Auszeichnung einer
Seele erhielt, noch mehr geadel-
tes Fleisch.«
288

Der Körper nimmt also hier wahrhaft die Form der Materie an, ist
nicht mehr bloßer Körper sondern nun wesentlich Ausdruck einer
Seele. Tertullianus gelingt es so – mit dem christlichen Denken und
dessen neuer Hochschätzung auch des Körperlichen –, den Menschen
als Ganzen in den Blick zu bekommen.
§ 248 So kommt es, daß bei Tertullianus wie bei Aristoteles das
Wesen immer als ein vollkommenes Wesen gedacht wird und ihm
Fehlendes als Fehlend, als stšrhsij bestimmt ist:
Vitiatio corporum accidens res »Eine Verstümmelung des Kör-
est, integritas propria est. In pers ist etwas zufälliges, Vollstän-
hac nascimur. Etiam si in utero digkeit dagegen sein eigentlicher
vitiemur, iam hominis est pas- Zustand. In diesem werden wir
sio: prius est genus quam casus. geboren. Selbst wenn wir schon
im Mutterleibe beschädigt wer-
den, so ist das Leidende schon
ein Mensch. Die Gattung existiert
vor dem Unfall.« 289

288
De resurrectione carnis 7, 7, Übers. K.A.H. Kellner
289
De resurrectione carnis 57, 4, Übers. K.A.H. Kellner

307
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
Zuerst existiert also die Gattung. Sie wirkt irgendwie auf die Materie
und bringt diese in eine bestimmte Form. Wenn nun bei diesem For-
mungsprozeß ein Unfall geschieht, der etwa dazu führt, daß Gliedmaße
nicht ausgebildet werden, dann bleibt dennoch die Gattung für das fer-
tige Wesen bestimmend. Das Fehlen von Gliedmaßen ist rein zufällig,
ein accidens res. So kann Tertullianus dann auch behaupten, der
Mensch sei schon zu Beginn dieses Formungsprozesses ein Mensch,
denn der genus ist für die Formung schon vorhanden.
§ 249 Hierbei stößt er auf ein Problem: Wie wird die Form des
Seelischen bei der Fortpflanzung übertragen? Dieses Problem kommt
deswegen auf die christlichen Denker zu, weil sie davon ausgehen, daß
zwar der erste Mensch von Gott geschaffen wurde, die folgenden aber
dann aus diesem entstanden sind. Also muß erklärt werden, wie dieses
Geschehen kann, wie ein Mensch die Seele eines anderen Menschen
aus sich hervorbringen kann. Wir hatten gesehen, daß Aristoteles hier
ein arbeitsteiliges Modell vorschlägt, bei dem die Mutter für das Kör-
perliche und der Vater für die Form verantwortlich ist. Tertullianus
scheint hier etwas Komplexeres im Sinn gehabt zu haben:
Et quando collocabitur corpo- »Wann wird denn nun der Same
ris semen, quando animae? Im- des Körpers gelegt und wann der
mo si tempora seminum divi- der Seele? Wenn die Zeit der
dentur, et materiae diversae Besamung unterschieden ist, so
habebuntur ex distantia tem- wird man verschiedene Stoffe
poram. Nam etsi duas species bekommen infolge der Trennung
confitebimur seminis, corpora- der Zeiten. Denn wenn wir auch
lem et animalem, indiscretas zwei Arten von Samen unter-
tamen vindicamus et hoc modo scheiden, den seelischen und den
contemporales eiusdemque mo- animalischen, so behaupten wir
menti. doch, sie seien ungetrennt und
damit also noch gleichzeitig und
aus demselben Augenblicke.« 290

Tertullianus geht offenbar davon aus, daß es eine einzige Substanz (se-
men) gibt, aus der ein menschliches Wesen entsteht, daß diese Substanz
aber aus zwei Teilen besteht, deren einer für die Entstehung des Kör-

290
De anima 27, 3-4, Übers. K.A.H. Kellner

308
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
pers und deren anderen für die Entstehung der Seele verantwortlich ist.
Bezogen auf die Rolle von Vater und Mutter ist somit seine Position
noch drastischer, denn die Mutter ist nun nicht einmal mehr für den
Urkörper des Kindes verantwortlich sondern fungiert nur noch als er-
nährender Aufenthaltsort. Im Hintergrund mag dabei die Idee stehen,
daß Christus so auch als fleischlicher Mensch ganz und gar von Gott
hervorgebracht worden sein kann.
Wir sehen aber vor allem, daß die Rolle der biologischen Informa-
tion, die für die Entstehung des neuen Menschen wichtig ist, auch bei
Tertullianus erhalten bliebt. Auch ohne Kenntnis der modernen Gene-
tik sieht er ein, daß man für das formgebende Element einer eigenstän-
digen Größe bedarf, die gleichwohl körperlich mit dem körperbilden-
den Element zusammenhängen kann. Der Entstehungsprozeß ergibt
sich von hier aus in groben Zügen ganz von allein. Das formbildende
Element organisiert eben die neu hinzukommende Materie so, daß sie
sozusagen an die richtigen Stellen verteilt wird.
§ 250 Bis zu diesem Punkt scheint bei Tertullianus die Seele den
Körper vollends zu bestimmen. Das scheint jedoch nicht durchgängig
seine Ansicht zu sein, wie wir bei der folgenden Textstelle sehen kön-
nen:
Collocavit autem, an potius in- »Er hat ihm aber zum Aufent-
seruit et inmiscuit carni? Tan- haltsort gegeben den Leib, besser
ta quidem concretione ut in- gesagt, ihn darin eingesäet und
certum haberi possit utrumne ihn mit ihm vermischt und zwar
caro animam an carnem anima in so inniger Verbindung, dass
circumferat, utrumne animae man es für zweifelhaft halten
caro an anima adpareat carni. kann, ob der Leib der Seele oder
die Seele dem Leibe als Träger
diene, ob das Fleisch der Seele
oder die Seele dem Fleische ge-
horche.« 291

Doch meines Erachtens trügt hier der Schein. Es geht Tertullianus


nicht darum, hier behaupten, es gäbe eine Stelle, an welcher der Kör-
per die Seele beherrscht. Daß das ganz und gar nicht seine Ansicht ist,

291
De resurrectione carnis 7, 9, Übers. K.A.H. Kellner

309
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
läßt sich auch daraus ableiten, daß für ihn – anders als für Platon – ganz
in christlicher Manier nicht der Körper die Ursache des Bösen im
Menschen ist, sondern die von Gott abfallende Seele. Aus meiner Sicht
geht es ihm hier vielmehr darum, uns zu zeigen, wie ingeniös die göttli-
che Schöpferkraft ist, welche in der Lage ist, Seele und Leib so perfekt
miteinander zu verbinden, daß man nicht mehr zu entscheiden vermag,
welches von beiden die leitende Größe ist.
§ 251 Diese Vorstellung einer perfekten Einheit geht bei Tertullian
so weit, daß er sich ganz und gar von der platonischen Idee einer nur an
den Körper gefesselten und ganz ohne diesen denkende Seele verab-
schiedet. Auch das Denken ist für ihn vielmehr etwas, das im Fleisch
stattfindet:
Sed etsi in cerebro vel in medio »Aber auch wenn im Gehirn
superciliorum discrimine vel oder in der Mitte des Raumes,
ubiubi philosophis placet prin- der die Augenbrauen trennt, oder
cipalitas sensuum consecrata wohin sonst die Philosophen den
est, quod ¹gemonikÒn appella- Hauptpunkt für die Wahrneh-
tur, caro erit omne animae co- mungen, das, was man das He-
gitatorium. gemonikon nennt, verlegen, je-
denfalls wird der Sitz des Den-
kens der Seele aus Fleisch beste-
hen.«292

Auch der abstrakteste Vorgang im Menschen, das reine Denken im


¹gemonikÒn ist für Tertullianus eine Bewegung des Fleisches. Er macht
so mit der aristotelischen Vorstellung Ernst, wonach Form und Materie
immer ein untrennbares Ganzes bilden. Denken, so müßten wir es mit
unserer heutigen Kenntnis der Materie sagen, ist immer auch eine Be-
wegung der Neuronen im cerebrum.
Dessen unbenommen kann dann immer noch der Inhalt des Den-
kens selbst etwas sein, das sich über die Materie erhebt. Dann müssen
wir allerdings feststellen, daß eben für diesen Inhalt der Selbstbezug der
Form auf die Form und nicht mehr der Bezug der Form auf die Mate-
rie, auf die begleitende Neuronenbewegung also, das Entscheidende ist.
Wir können das Denken nicht aus dieser Bewegung des Fleisches her-

292
De resurrectione carnis 15, 5, Übers. K.A.H. Kellner

310
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
aus verstehen. Tertullianus erscheint bezüglich dieser Frage eher desin-
teressiert. Ihm ging es in seiner Darstellung der Verbindung von Kör-
per und Seele vor allem darum, das christliche Dogma zu stützen, wo-
nach die Seele auch noch nach dem Tode eines Körpers bedarf und
mit demselben die Freuden des Lohns für sein Erdenleiden oder eben
das Leiden der Strafen für seine Freveltaten spüren kann.

iv. Auch die niedrigeren Ebenen folgen einer Logik


§ 252 Überaus interessant ist Tertullianus Umgang mit der Skepsis.
Diese findet in seinem Denken in keinem Aspekt eine Berechtigung.
Bereits die an der Zuverlässigkeit der Sinne zweifelnde Skepsis des pla-
tonischen Denkens weist er mit einem sehr überraschenden Argument
in seine Schranken:
Non licet, non licet nobis in du- »Uns aber ist es unter keiner Be-
bium sensus istos devocare, ne dingung gestattet, die Zuverläs-
et in Christo de fide eorum de- sigkeit der Sinne in Zweifel zu
liberetur ziehen, damit nicht auch bei der
Person Christi an ihrer Zuverläs-
sigkeit gezweifelt werde«.
293

Auf den ersten Blick scheint dieses Argument eine jedes philosophi-
schen Gedankens entbehrende Form einer überaus lächerlichen christ-
lichen Dogmatik zu sein. Wenn wir an den Sinnen des Menschen
überhaupt zweifeln, dann müßten wir auch an denen Christi – der ja
Mensch gewesen ist – zweifeln und ein Großteil des Geschehens des
Neuen Testamentes findet sich so in Frage gestellt. Philosophisch er-
scheint dies als ganz und gar nichtig.
Meines Erachtens bringt dieses Argument jedoch über die Metaphy-
sik, die im Hintergrund der christlichen Metaphorik transportiert wird,
eine ganz interessante These zutage. Christus ist als Mensch und Sin-
nenwesen ja nichts anderes als eine Metapher dafür, daß sich das Ide-
elle in den Naturformen realisiert. Das Ideelle aber wird keine Formen
hervorbringen, die von vornherein Fehl gehen. Mithin sind die Natur-
formen in ihrer Funktionalität aufgrund des Ideellen, dessen Ausdruck

293
De anima 17, 13, Übers. K.A.H. Kellner

311
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
sie sind, ebenso zuverlässig, wie das nach christlicher Auffassung das
Urteil des gottgleichen Menschen Christus sein muß.
Das schließt nun Sinnestäuschungen nicht ganz aus und auch Ter-
tullianus weist diesen einen Platz zu. Liegt eine Sinnestäuschung vor, so
gibt es aber auch immer eine Ursache für diese Täuschung. Dies führt
zu dem Ergebnis, daß die Täuschung nicht der Regelfall sein kann,
sondern eben die Ausnahme:
Omnes itaque sensus euertun- »So werden sämtliche Sinne auf-
tur uel circumueniuntur ad gehoben und getäuscht – aber
tempus, ut proprietate falla- nur zeitweise, – um die Täu-
ciae careant. schung nicht zu ihrem Eigentum
werden zu lassen.« 294

Der Skeptiker erscheint so als eine Figur, die aus einer schlecht unter-
suchten Mücke eine Elefanten macht, eben als ein Denker, der in die-
sem Sinne selbst Opfer einer Täuschung geworden ist.

Geist
i. Denken und Sprache
§ 253 Ebenso wie für Tertullianus das Denken immer eine Bewegung
des Fleisches ist, so ist das Denken für ihn auch untrennbar mit der
Sprache verbunden:
quodcunque cogitaveris sermo »Alles, was Du gedacht hast, ist
est, quodcunque senseris ratio Wort, was Du einsiehest, ist Ver-
est: loquaris illud in animo ne- nunft. Du musst es in Deinem
cesse est, et dum loqueris con- Geiste aussprechen, und wenn
locutorem pateris sermonem, Du es aussprichst, so fühlst Du,
in quo inest haec ipsa ratio dass das Wort mitspricht. Darin
qua cum eo cogitans loquaris besteht eben diese Eigentümlich-
per quem loquens cogitas. keit selbst, kraft deren Du mit
ihm denkend sprichst und spre-
chend denkst.«295

294
De anima 17, 9, Übers. K.A.H. Kellner
295
Adversus Praxean 5, 6 , Übers. K.A.H. Kellner

312
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
Tertullianus dient diese Überlegung vor allem als ein Gedankenexpe-
riment zur Plausibilisierung der oben bereits dargestellten These der
Trinität. Das Wort und sein Ursprung, das Denken, sind für uns nicht
voneinander zu trennen. Wir können es versuchen, ohne Sprache zu
denken, aber die Worte werden sich immer wieder einmischen, denn
sie sind nötig, um den Gedanken einen Ausdruck zu verleihen. Ebenso
wie Gott als ratio und Christus als sermo eine Einheit bilden, so bil-
den auch Vernunft und Wort eine Einheit in uns. Wir können das eine
nicht ohne das andere haben. Diese These der Einheit von Denken
und Sprache findet sich hier gleichwohl nur als eine phänomenologi-
sche Beschreibung des Denkvorgangs als einer conlocutio des Den-
kens, als eines cogitare das immer von einem loquari begleitet ist.
Wir finden bei Tertullianus keine andere Begründung oder auch nur
eine darüber hinausgehende Reflexion auf das Wesen der Sprache.
Diese ist vielmehr als Beispiel ganz in den Dienst der Trinitätslehre ge-
stellt.
Dennoch haben wir im Resultat der Überlegung hier die Behaup-
tung der Einheit von Denken und Sprechen. Zwar hat das Denken als
Repräsentant Gottes noch die klare Vorrangstellung, aber wir sind
schon auf dem Schritt zu einer Auffassung, wo nur das gedachte Wort
den folgenden Denkschritt einzuleiten vermag, wo das Wort nicht
mehr nur eine materieller Stütze des Denkens ist, sondern selbst zur
treibenden Kraft desselben wird. Wo erst wenn ich das passende Wort
gefunden habe, ich das, was ich dachte, wirklich verstanden zu haben
glaube.

ii. Die Selbstbeschränkung des Geistes


§ 254 Mit dem Christentum kommt nun erstmals auch ein ganz neuer
Gedanke auf, nämlich der Gedanke einer Selbstbeschränkung des an
sich unbeschränkten Geistes. Der menschliche Geist ist zu allem in der
Lage, kann die Natur ganz und gar auf den Kopf stellen. Er ist der un-
beschränkte Herrscher der Natur. So sahen ihn die antiken Philoso-
phen. Die Christen stellen ihm nun in Gott und Gottes Schöpfungs-
werk einen Maßstab zur Seite:

313
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)

Si potuit, ergo iam noluit; quod »Wenn er es vermochte [und


Deus noluit utique non licet nicht tat], so hat er es eben nicht
fingi. Non ergo natura optima gewollt; was Gott aber nicht ma-
sunt ista quae a Deo non sunt, chen wollte, das darf man auch
auctore naturae. Sic a diabolo nicht machen, Gebilde, welche
esse intelleguntur, ab interpo- nicht von Gott sind, dem Urhe-
latore naturae. ber der Natur, sind also nicht von
Natur die besten. Unter diesen
Umständen erkennt man, daß sie
vom Teufel, dem Verfälscher der
Natur kommen.« 296

Auch die freie geistige Tätigkeit sollte sich selbst durch die Natur als
Maßstab beschränken, denn die zeigt den Willen Gottes oder – mit
heutzutage verständlicheren Worten ausgedrückt – das, was logisch
überhaupt zum Erhalt dieses komplexen Systems wichtig ist. Der
menschliche Geist steht so radikal über den Naturformen, daß er in der
Lage ist, deren Zusammenspiel zu zerstören. Er vermag es zwar nicht in
deren Logik einzugreifen, denn die liegt gewissermaßen als Naturgesetz
fest, aber er kann es veranlassen, daß diese Logik keinen Ansatzpunkt
mehr findet. Nichts anderes ist das Wesen der heutigen industriellen
Naturzerstörung. Sie mißachtet die Logik der Natur und versucht die
Naturdinge einer Logik der Bedürfnisse des Menschen zu unterwerfen.
Der Mensch greift mit einer Technik in die Natur ein, die als Natursub-
stitut selbst nicht in der Lage ist, sich ganz und gar in die Natur einzu-
betten. Ein Ökosystem mag zwar so eine Zeitlang technisch aufrecht
erhalten werden, kracht dann aber zusammen, weil die Technik zu kurz
greift.
Die tiefere Ursache dieses überaus gefährlichen Geschehens ist aber
nicht dieser oder jener technische Eingriff in die Natur. Das sieht be-
reits Tertullianus, der sich des Ausmaßes der Möglichkeiten des tech-
nisch entfachten Geistes noch gar nicht bewußt sein kann. Die tiefere
Ursache ist vielmehr ein Mißverständnis der Natur und der Rolle des
Menschen darin. Der Mensch ist selbst als Naturwesen mit Fähigkeiten
ausgestattet, die zu seinem Leben in der Natur apriori ausreichend sind.

296
De cultu feminarum I, 8, 2, Übers. K.A.H. Kellner

314
Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)
Wenn er nun beginnt, diese zu ändern, so maßt er sich zugleich die
Rolle Gottes an, der die Logik der Natur hervorgebracht hat. Aufgrund
dieser Fehleinschätzung ist jeder Versuch des Optimierens des
Menschlichen zum Scheitern verurteilt.

315
Marcus Minucius Felix (um 200)
Marcus Minucius Felix (um 200)
Wie Tertullianus ist auch Minucius Felix ein aus Nordafrika stammen-
der römischer Anwalt, der sich zum Christentum bekannte. Sein Dialog
Octavius versucht die christliche Lehre gegen die Vorurteile der Römer
in Schutz zu nehmen.

Natur
§ 255 Der einzige für uns produktive Gedanke dieses Textes ist seine
Verteidigung der Existenz eines Schöpfergottes, für die er auf die Re-
gelmäßigkeit der Naturabläufe zurückgreift. Dies geschieht in zwei Stu-
fen. Zunächst wird die innernatürliche Abhängigkeit der Naturwesen
von einer gewissen Regelmäßigkeit herausgestellt:
Vide et annum, ut solis ambitus »Sieh auch, wie der Sonnenum-
faciat, et mensem vide, ut lu- lauf das Jahr schafft und wie der
na auctu, senio, labore circu- Mond durch Zunahme, Abnah-
magat. Quid tenebrarum et me, Verschwinden den Monat
luminis dicam recursantes vi- bestimmt. Was soll ich sagen von
ces, ut sit nobis operis et quie- dem immer wiederkehrenden
tis alterna reparatio? Wechsel von Finsternis und
Licht, wodurch wir abwechselnd
Arbeit und Ruhe haben?« 297

Minucius argumentiert hier ganz und gar pragmatisch und leichtver-


ständlich. Gäbe es den Wechsel von Tag und Nacht nicht, so gäbe es
keinen klaren Hinweis für den Menschen, wann er zu ruhen habe und
ein jeder, der arbeitet, weiß um die Bedeutung der Ruhe für seine Ar-
beitsfähigkeit. Wir haben ja schon an anderer Stelle diskutiert, wie ent-
scheidend solche Kreisläufe für das Leben der Organismen sind. Die
Regelmäßigkeit aber, die für den Erhalt der Organismen notwendig ist,
setzt zugleich eine Konstanz der Abläufe im Universum voraus. Das
Zusammenspiel all dieser Kreisläufe im Universum aber setzt nun auf
einer zweiten Stufe einen Schöpfer voraus, eine Vernunft, die das alles
eingerichtet hat:

297
Octavius 17, 5-6, Übers. A. Müller

316
Marcus Minucius Felix (um 200)

Quid? cum ordo temporum ac »Weiter! Die Jahreszeiten und


frugum stabili varietate di- die Früchte der Erde folgen ein-
stinguitur, nonne auctorem su- ander in bestimmter Abwechs-
um parentemque testatur ver lung. Bezeugt da nicht der Früh-
aeque cum suis floribus et ae- ling mit seinen Blüten, der Som-
stas cum suis messibus et au- mer mit seinem Erntesegen und
tumni maturitas grata et hi- der Herbst mit seinen lieblichen
berna olivitas necessaria? Qui reifen Früchten wie der Winter
ordo facile turbaretur, nisi mit den nötigen Oliven ihren
maxima ratione consisteret. Schöpfer und Stifter? Wenn die-
se Ordnung sich nicht auf die
höchste Vernunft gründete, wür-
de sie leicht gestört.«
298

Minucius gibt zwei Gründe dafür an, daß es einen solchen Schöpfer
(auctor) hinter der Natur geben muß. Erstens wird er durch die regel-
mäßigen Abläufe selbst bezeugt. Diesem Argument kann man leicht ein
anderes und verständlicheres Gesicht geben. Die Naturkreisläufe stel-
len einfach eine bestimmte Vernunftgröße dar, sie sind ein logisches
Gefüge, das über die von ihnen organisierte Materie hinausgeht. Bei-
spiele dafür haben wir hier schon diskutiert. Dieses logische Gefüge
aber, die Naturformen, sind nichts anderes als Teile desjenigen We-
sens, das die Natur hervorgebracht hat, des Ideellen selbst.
Zweitens würden, so Minucius, die Kreisläufe leicht gestört, bestün-
den sie nicht aus Vernunft (ratio). Dieses Argument ist im Grunde so-
gar tautologisch, wenn wir oben die Kreisläufe und Naturstukturen mit
der Vernunft selbst, dem Ideellen identifiziert haben.

298
Octavius 17, 5-6, Übers. A. Müller

317
Sextos Empeirikos (160-210)
Sextos Empeirikos (160-210)
Über Sextos’ Leben wissen wir sehr wenig. Sein Beiname deutet darauf
hin, daß er Arzt war. Ein Hinweis von Diogenes Laertios hilft, ihn zeit-
lich zu verorten. Zudem geht aus seinen Schriften hervor, daß er sich in
Alexandria, Rom und Athen aufgehalten hat. Über seine Philosophie
hingegen sind wir aufs genaueste informiert, da seine beiden zentralen
Werke ganz erhalten sind. Diese sind inhaltlich für uns nicht so interes-
sant, da Sextos Skeptiker war und seine Philosophie naturgemäß wenig
ertragreich ist. Wir finden jedoch bisweilen den ein oder anderen ge-
nialen Gedanken bei ihm, der, wenn auch in skeptischer Absicht geäu-
ßert, so doch auch inhaltlich eine ganz neue Perspektive zu Gedan-
kensträngen eröffnet, die bisweilen erst in neuester Zeit weitergedacht
worden sind. Zum anderen jedoch ist uns Sextos bereits aus den vor-
hergehenden Bänden als Informationsquelle über die Lehren anderer
Denker bekannt, denn ein Skeptiker muß freilich das, was er in Zweifel
zieht, erst ein mal vorstellen und zu seinem Recht kommen lassen.

Ideen
§ 256 Natürlich geht Sextos als Skeptiker nicht von der Existenz von
Ideen aus, das wäre zuviel verlangt. Aber seine Kritik logischer Struktu-
ren und Beweisführungen gibt uns bisweilen Gelegenheit diejenigen
Möglichkeiten des begrifflichen Denkens aufzudecken, die seine Skep-
sis nicht sieht. Bei seiner Diskussion der auf Ainesidemos zurückge-
henden trÒpoi stellt er anläßlich des achten derselben folgendes zum
Begriff des Absoluten fest:
kaˆ „d…v d ™ndšcetai sun£gein Óti »Es läßt sich aber auch gesondert
p£nta ™stˆ prÒj ti, tÒnde tÕn trÒ- beweisen, daß alles relativ ist, und
pon· pÒteron diafšrei tîn prÒj ti zwar folgendermaßen: Unter-
t¦ kat¦ diafor¦n À oÜ; e„ m n oÙ scheidet sich das Absolute vom
diafšrei, kaˆ aÙt¦ prÒj ti ™st…n· e„ Relativen oder nicht? Wenn es
d diafšrei, ™peˆ p©n tÕ diafšron sich nicht unterscheidet, ist es
prÒj ti ™st…n (lšgetai g¦r prÕj selbst auch relativ. Wenn es sich
™ke‹no oá diafšrei), prÒj ti ™stˆ t¦ aber unterscheidet, so ist das Ab-
kat¦ diafor£n. solute ebenfalls relativ. Denn al-

318
Sextos Empeirikos (160-210)
les Unterschiedene ist relativ, weil
es mit Bezug auf dasjenige so
heißt, von dem es sich unter-
scheidet.«299

Zunächst einmal müssen wir klären, was hier mit dem Absoluten (kat¦
diafor£n) gemeint ist. Es ist nichts anderes als der Gegensatz des Relati-
ven (prÒj ti), die Vorstellung eines Begriffs also, der einen festen Be-
deutungsgehalt hat. Diese Vorstellung ist nach Sextos nicht möglich
oder zumindest ohne Gegenstand, denn das kat¦ diafor£n ist entweder
direkt gleich mit dem prÒj ti, oder aber durch seine Verschiedenheit
von diesem bestimmt und so doch prÒj ti, es wäre nur das Absolute,
das relativ zum Relativen absolut wäre.
Der Denkfehler des Sextos ist hier leicht auszumachen. Dadurch,
daß das Absolute die vom prÒj ti prinzipiierte Eigenschaft trägt, da-
durch, daß es an diesem teil hat, bedeutet es noch nicht dasselbe wie
das prÒj ti. Viel interessanter jedoch als der Nachweis eines solchen
Denkfehlers ist das Aufzeigen einer dialektischen Struktur, der Sextos
hier auf der Spur war. Denken wir einen Moment lang seinen Gedan-
ken weiter eingedenk der gemachten Korrektur. Zumindest auf der Ei-
genschaftsebene regiert das prÒj ti scheinbar unbeschränkt, alles hat
seine Bedeutung nur durch den Bezug auf anderes, also relativ zu ande-
rem. Heißt das dann aber nicht, daß die Eigenschaft des prÒj ti selbst
eine Eigenschaft kat¦ diafor£n ist? Nicht nur das kat¦ diafor£n wird
also zu einem prÒj ti, auch das prÒj ti wird zu einem kat¦ diafor£n.
Läßt sich nun zu diesem dialektischen Gegensatz der Gleichheit und
Verschiedenheit beider eine Synthese finden? Meines Erachtens kön-
nen wir das Reich der Ideen als diese Synthese betrachten. Als Ganzes
ist es absolut und in ihm liegt die Bedeutung eines jeden Begriffs fest.
In jedem seiner Teile jedoch ist es relativ, denn jeder Begriff hängt von
einem anderen ab.

299
Pyrrhoniae hypotyposes I, 137, Übers. M. Hossenfelder

319
Sextos Empeirikos (160-210)
Natur
§ 257 Natürlich kritisiert Sextos auch das klassische Schema von Ursa-
che und Wirkung und spielt unserer Kritik eines raum-zeitlichen und
mechanischen Universums damit in die Hände. In einem solchen Uni-
versum sind Ursache und Wirkung nach Sextos undenkbar:
¢ll' oÙd sunuf…stasqai· e„ g¦r »Jedoch kann die Ursache auch
¢potelestikÕn aÙtoà ™stin, tÕ d nicht mit der Wirkung zusam-
ginÒmenon ØpÕ Ôntoj ½dh g…nesqai men existieren; denn wenn sie
cr», prÒteron de‹ tÕ a‡tion genšs- diese bewirkt und das Entstehen-
qai a‡tion, e q' oÛtwj poie‹n tÕ de durch ein schon Existierendes
¢potšlesma. entstehen muß, dann muß die
Ursache vorher Ursache werden,
und dann erst die Wirkung er-
zeugen.« 300

Das jedoch zeigte sich für ihn mit folgendem Argument vorher bereits
als unmöglich:
¢ll' ™peˆ prÒj ti ™stˆ tÕ a‡tion kaˆ »Da aber die Ursache relational
prÕj tÕ ¢potšlesma, saf j Óti m¾ ist, und zwar bezogen auf die
dÚnatai toÚtou æj a‡tion proãpo- Wirkung, so ist deutlich, daß sie
stÁnai· nicht vor dieser als Ursache exi-
stieren kann.« 301

Diesem letzteren Argument können wir zunächst einmal zustimmen.


Wenn die Ursache als causa efficiens die Ursache einer bestimmten
Wirkung sein soll, dann muß sie irgendwie oder durch irgend etwas mit
dieser in Kontakt stehen. Die verursachende Information muß irgend-
wie bei der Wirkung ankommen, damit diese sich als Wirkung zeigen
kann, damit sie entsprechend reagieren kann. Wie aber soll das in ei-
nem raum-zeitlichen und mechanischen Universum möglich sein? Gra-
vitation beispielsweise versucht man heutzutage als vermittelt über
kleinste Teilchen zu modellieren. Wie aber geschieht dann der Infor-
mationsaustausch zwischen diesen Teilchen und der Ursache auf der

300
Pyrrhoniae hypotyposes III, 27, 2-5, Übers. M. Hossenfelder
301
Pyrrhoniae hypotyposes III, 25, 5-7 , Übers. M. Hossenfelder

320
Sextos Empeirikos (160-210)
einen und der Wirkung auf der anderen Seite? Solche Ansätze ver-
schieben das Problem nur.
Sextos eröffnet nun eine Perspektive indem er die Ursache und
Wirkung als zusammen existierend denkt. Er schließt das dann aber
sofort wieder aus, denn so wäre ja die Wirkung schon mit der Ursache
da und nicht erst bewirkt. In einer nicht mechanischen sondern von
Monaden bevölkerten Welt macht seine Denkalternative aber durchaus
Sinn. Gehen wir von einer prinzipiellen Trennung der Monaden aus –
was ja Grundprinzip der Materialität sein soll – so ist es ganz ausge-
schlossen, daß zwei Monaden jemals in direkten Kontakt treten. Ein
solcher Kontakt kann nur in der jeweiligen Vorstellungswelt der beiden
geschehen. Wir können uns das etwa so vorstellen, wie zwei blinde
Schachspieler, die beide die jeweils optimalen Züge machen. Es ist un-
nötig, daß sie sich die Züge zusagen, ein jeder weiß, was der andere ge-
macht haben wird und reagiert darauf. So ist in der Wirkung die Ursa-
che mit enthalten und löst sie aus. Das verbindende Element ist die
ideelle Herkunft beider Monaden, die ihnen einen perfekten Plan mit
auf den Weg gegeben hat.

Geist
i. Der Geist als Idee in der Zeitlichkeit
§ 258 Der erste skeptische Angriff Sextos’ auf den Geist besteht darin,
dessen Kompetenz und Zuständigkeit in Zweifel zu ziehen. Wenn wir
nach festen Bedeutungsgehalten suchen, wie es die Ideen sind – ein
Unterfangen das Sextos als Wahrheitssuche faßt –, dann kann man zu-
nächst die Frage stellen, wer denn überhaupt dazu in der Lage ist. Der
geschickte Skeptiker nun muß nicht bezweifeln, daß der Geist dies
prinzipiell nicht kann, was ja eine starke Gegenbehauptung wäre, son-
dern er kann einfach in Zweifel ziehen, ob denn unser Geist das schon
kann, oder ob es dazu nicht eines perfekteren Geistes bedarf:
loipÕn ™k tîn perˆ toà krithr…ou »Im übrigen können wir nach
toà Øf' oá [legomšnwn] ·hqšntwn dem über das Kriterium „Von
deiknÚnai dunhsÒmeqa, Óti m»te t¾n wem“ Gesagten zeigen, daß wir
¢gcinoustšran tîn ¥llwn di£noian erstens nicht den Verstand finden

321
Sextos Empeirikos (160-210)
eØre‹n dun£meqa, Óti te ¨n eÛrwmen können, der scharfsinniger ist als
tîn te gegenhmšnwn kaˆ oÙsîn die anderen; daß wir zweitens,
dianoiîn ¢gcinoustšran di£noian, auch wenn wir einen scharfsinni-
™peˆ ¥dhlÒn ™stin, e„ p£lin taÚthj geren Verstand als alle heutigen
˜tšra œstai ¢gcinoustšra, oÙ de‹ und früheren finden, uns doch
prosšcein aÙtÍ nicht an ihn halten dürfen, weil
verborgen ist, ob nicht wiederum
ein noch scharfsinnigerer kom-
men wird als er«.302

Es sind zwei Probleme, die Sextos hier anspricht, die uns beide aus der
heutigen sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie bekannt sind.
Zunächst ist es ein prinzipielles Problem, Sachverhalte zu erkennen, die
auf einer höheren Erkenntnisstufe sind als die unsere und wenn wir
nun aber unsere Erkenntnisstufe als die höchste verfügbare ansehen,
dann bleibt fraglich, ob nicht nach uns eine Generation kommen wird,
die sehr viel tiefere Einsichten in die Dinge haben wird, als wir.
Diese Konstruktion ist sehr einfach und ein erster Versuch mit ihr
umzugehen mag in einem einfachen Blick in die Geschichte bestehen.
Betrachten wir beispielsweise die Geschichte der Wissenschaft und ver-
gleichen das Wissen über die Natur zur Zeit der klassischen Antike,
welches wir im ersten Band studiert haben, mit unserem heutigen Wis-
sen, so scheint zunächst ein großer Fortschritt gelungen zu sein. Der
genauere Blick offenbart jedoch, daß dieser Fortschritt allenfalls im De-
tail zu verzeichnen ist. Der Blick auf die Natur insgesamt hat sich nicht
verbessert. Im Gegenteil scheint sehr viel an jenem ganzheitlichen Wis-
sen oder Blick auf die Natur, das man in der Antike noch anstrebte, im
Detailwahn der Moderne verlorengegangen zu sein. Aus einer idealisti-
schen Perspektive jedenfalls ist für den auf das Ganze blickenden Geist
kein Fortschritt derart zu verzeichnen, daß man von einer ganz neuen
Erkenntnisstufe sprechen könnte.
Aus idealistischer Sicht wäre das aber auch dem Wesen des Geistes
gar nicht konform. Der Geist ist immer schon in sich mit allen ihm nö-
tigen Mitteln und Vermögen ausgestattet. Das Wachstum der Einsicht
in die Zusammenhänge ist immer nur eine Selbstentwicklung des Gei-

302
Pyrrhoniae hypotyposes II, 61, Übers. M. Hossenfelder

322
Sextos Empeirikos (160-210)
stes, welche die bereits vorhandenen Gedankenstränge neu kombiniert
und so andere Perspektiven entfaltet, die den Zusammenhang von
Geist und Natur immer dichter erscheinen lassen. Vorausgesetzt ist da-
bei zwar eine Art perfekter Geist in der Form des Reiches der Ideen,
aber dieser Geist ist nicht ein prinzipiell anderer, sondern nur eine so-
zusagen sehr gereinigte und optimierte Form unseres Geistes. Der Weg
dorthin, zur Einsicht seiner Strukturen ist somit kein Weg des Zuwach-
ses an Erkenntnissen, sondern ein hermeneutischer Weg der Aufdek-
kung immer schon vorhandener Strukturen, die nur so fundamental
sind, daß sie uns zu offensichtlich erscheinen, als daß wir sie zu themati-
sieren beginnen.
§ 259 Der einzige grundlegende Unterschied beider Formen des
Geistes besteht darin, daß unser Geist die ewigen Formen in die Zeit-
lichkeit auseinanderlegt. Dies nutzt Sextos zu einem zweiten skepti-
schen Argument, das in eine ähnliche Richtung geht:
lektÕn g£r ™sti tÕ ¢x…wma. m»- »Denn das Urteil ist ein Lekton.
pote d kaˆ e„ kaq' ØpÒqesin e na… ti Vielleicht aber erweist sich das
lektÕn doqe…h, tÕ ¢x…wma ¢nÚp- Urteil selbst dann als nichtexi-
arkton eØr…sketai, sunesthkÕj ™k stent, wenn man vorausetzungs-
lektîn m¾ sunuparcÒntwn ¢ll»- weise zugibt, daß es ein Lekton
loij. oŒon goàn ™pˆ toà ‘e„ ¹mšra gebe. Das Urteil setzt sich näm-
œsti, fîj œstin’, Óte lšgw tÕ lich aus Lekta zusammen, die
‘¹mšra œstin’, oÙdšpw œsti tÕ ‘fîj nicht miteinander zusammen exi-
œstin’, kaˆ Óte lšgw tÕ ‘fîj œs- stieren. So zum Beispiel bei dem
tin’, oÙkšti œsti tÕ ‘¹mšra œstin’. Urteil „Wenn Tag ist, ist Licht“:
Wenn ich das „Es ist Tag“ aus-
spreche, ist das „Es ist Licht“
noch nicht da, und wenn ich das
„Es ist Licht“ ausspreche, ist das
„Es ist Tag“ nicht mehr da.«303

Logische Schlüsse, ein grundlegendes Gut geistiger Tätigkeit und des


Bestandes des Geistes überhaupt, lassen sich also nach Sextos damit in
Zweifel ziehen, daß man nicht ihre logische Einheit, sondern ihre zeitli-
che Aufeinanderfolge betrachtet. Prämissen und Konklusionen sind ge-

303
Pyrrhoniae hypotyposes II, 109, 1-6, Übers. M. Hossenfelder

323
Sextos Empeirikos (160-210)
trennt und wer garantiert uns, daß die Prämisse noch gilt, wenn wir die
Konklusion ziehen. Bezogen auf das zitierte Beispiel ist das natürlich
lächerlich, denn es dauert keinen Tag, eine solche Konklusion zu zie-
hen. Zugrunde liegt jedoch ein ernsthafteres Problem, das wir hier
schon öfter angesprochen haben. Unser Geist zerlegt eben logische
Schlüsse in die Zeit und deren logische Einheit ist uns so nie ganz ge-
genwärtig. Bei längeren Gedankengängen kann der Zusammenhang da
leicht verloren gehen und der Schluß so zu einem rechten Will-
kürschluß werden.
Aber der Zusammenhang geht ja doch nur uns als einzelnen Wesen
verloren. Wir wissen ihn sehr wohl für den Geist überhaupt zu erhalten
– indem wir beispielsweise einfach alles aufschreiben. Da der Geist
überhaupt, der nach unserer Auffassung seine Subsistenz in der Spra-
che hat, die Zeitlichkeit als Ganze überspannt, können solche momen-
tanen logischen Lücken, welche ja allein schon die Müdigkeit hervorru-
fen kann, im großen Ganzen immer wieder geschlossen werden und so
auch insgesamt als geschlossen gelten. Auch wenn dieser Geist nicht mit
dem Reich der Ideen in eins gesetzt werden darf, so kann doch in je-
dem Punkt vollkommen von seiner Naturverhaftetheit abstrahiert wer-
den. Der Geist als solcher steht eben wirklich zwischen den Ideen und
der Natur als eine Größe, die das eine, das Ideelle ganz hat – wenn
auch in seiner eigenen Weise – und so das andere, das Natürliche ganz
abgestreift hat, oder es zumindest so überformt, daß es nur noch als
Geistiges vorkommt.

ii. Wahrheit und Bedeutung


§ 260 Ganz im Zentrum dessen, was diesen Geist ausmacht, finden wir
das Zusammenspiel von Wahrheit und Bedeutung, die einen herme-
neutischen Zirkel bilden, der unserer Tage von Donald Davidson be-
schrieben worden ist. Die hiermit verbundene Fragestellung kann mit
folgenden beiden Fragen verdeutlicht werden: Woher soll ich wissen,
ob ein Satz wahr ist, ohne zu wissen, was er bedeutet? Andererseits aber
kann man fragen: Wie soll ich wissen, was ein Satz bedeutet, wenn ich
nicht weiß, was diejenigen, die den Satz äußern, für wahr halten? Denn
was ist ein Satz anderes als ein Versuch, Wahrheiten in Worte zu fas-

324
Sextos Empeirikos (160-210)
sen? Diesen Gedanken finden wir in Ansätzen bereits bei Sextos wie-
der:
†na d kaˆ taàta paral…pwmen, oÙ »Lassen wir aber auch das beisei-
dÚnatai ™kkaluptikÕn e nai toà l»- te, so kann das Zeichen den
gontoj, e‡ge prÕj tÕ shme‹Òn ™sti Nachsatz nicht „enthüllen“, wenn
tÕ shmeiwtÕn kaˆ di¦ toàto sug- doch das Bezeichnete auf das
katalamb£netai aÙtù. t¦ g¦r Zeichen bezogen ist und deswe-
prÒj ti ¢ll»loij sugkatalamb£- gen mit ihm zusammen erkannt
netai· kaˆ ésper tÕ dexiÕn prÕ toà wird. Denn das Relationale wird
¢risteroà æj dexiÕn ¢risteroà ka- zusammen erkannt: Wie das
talhfqÁnai oÙ dÚnatai, oÙd ¢n£- Rechte nicht vor dem Linken er-
palin, kaˆ ™pˆ tîn ¥llwn tîn kannt werden kann und auch
prÒj ti paraplhs…wj, oÛtwj oÙd nicht umgekehrt und wie es ähn-
tÕ shme‹on prÕ toà shmeiwtoà æj lich bei den übrigen relationalen
shmeiwtoà katalhfqÁnai dunatÕn Dingen ist, so kann auch das Zei-
œstai. e„ d' oÙ prokatalamb£netai chen nicht vor dem Bezeichneten
tÕ shme‹on toà shmeiwtoà, oÙd als Bezeichnetem erkannt wer-
™kkaluptikÕn aÙtoà dÚnatai Øp£r- den. Wenn das Zeichen aber
cein toà ¤ma aÙtù kaˆ m¾ met' nicht vor dem Bezeichneten er-
aÙtÕ katalambanomšnou. kannt wird, dann kann es dieses
auch nicht enthüllen, da dieses ja
mit ihm zugleich und nicht nach
ihm erkannt wird.« 304

Wir können also nicht das Reich der Zeichen als ein unabhängiges, ge-
wissermaßen über den Dingen schwebendes Reich der Abbilder der-
selben denken. Denn wie sollte diese Abbildrelation von Zeichen
(shme‹on) und Bezeichnetem (shmeiwtÒn) etabliert werden? Um ein Zei-
chen zu verstehen, um zu wissen, was ein Satz bedeutet, müssen wir
vielmehr schon wissen, was er bezeichnet. Hier setzt nun Sextos’ Skep-
sis am Zeichenbegriff ein, die aber ganz und gar unnötig ist. Er geht da-
von aus, daß es gar kein Zeichen geben kann, wenn das Zeichen nicht
in einer eigenen Sphäre als Abbild aufzufassen ist. Man muß diesen en-
gen Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem aber gar nicht so
negativ sehen. Man kann darin einfach – wie Davidson – die hermeneu-
tische Geschlossenheit unserer Sprache erblicken. Wir können nicht

304
Pyrrhoniae hypotyposes II, 117, 1 – 118, 4, Übers. M. Hossenfelder

325
Sextos Empeirikos (160-210)
von den Dingen und Sachverhalten, die als Bezeichnete fungieren, ab-
strahieren. Diese werden in den Sätzen unserer Sprache vielmehr im-
mer schon mitgeliefert. Wir sind immer in der Welt des Bezeichneten
wenn wir Zeichen verwenden.
Wie sieht es aber mit Sprachunterschieden aus? Machen die nicht
auch den Unterschied von Zeichen und Bezeichnetem deutlich, wie wir
bei Chrysippos gesehen haben? Indem die b£rbaroi andere Zeichen für
dasselbe Bezeichnete haben, wird das Zeichen offenbar zu etwas Eigen-
ständigem. Aber ich kann nur dann wissen, daß der Barbar mit anderen
Zeichen dasselbe sagen will, wenn ich ihn schon verstehe, wenn also für
mich auch dessen Zeichen mit dem Bezeichneten zusammenfällt. Was
Sextos hier angreift ist nicht die stoische Unterscheidung von Signifikant
(shma‹non) und Signifikat (shmainÒmenon), die auch schon bei Chrysippos
eine Einheit bildeten, sondern es ist die Unterscheidung von shma‹non
und dem Bezeichneten als tugc£non. Die Sprache verweist nach Sextos
nicht mehr auf die Dinge, sondern sie verweist nur noch auf sich, auch
das tugc£non ist nichts anderes mehr als ein shmainÒmenon. Das ist aber
eine Sprachauffassung, der wir uns durchaus anschließen können, denn
wir sehen dies im Gegensatz zu Sextos positiv.
§ 261 Aber Sextos bleibt – wie gesagt – skeptisch und sieht das Posi-
tive und Befreiende seiner Fragestellung nicht; er verkürzt diese viel-
mehr nur auf eine Infragestellung. Die grundlegende Frage, zu der er
alsbald kommt, ist so die nach Bedeutung überhaupt. Wie kann ich
zeigen, daß ein Zeichen überhaupt etwas bedeutet und was es bedeutet?
¢ll' oÙd di¦ shme…ou dÚnatai ™k- »Aber auch durch das Zeichen
kalÚptesqai. zhtoumšnou g¦r toà kann er nicht enthüllt werden.
e„ œsti shme‹on, kaˆ ¢pode…xewj toà Denn da fraglich ist, ob es ein
shme…ou deomšnou prÕj t¾n ˜autoà Zeichen gibt, und das Zeichen
Ûparxin, Ð di' ¢ll»lwn eØr…sketai also für seine eigene Existenz ei-
trÒpoj, tÁj m n ¢pode…xewj sh- nes Beweises bedarf, so ergibt
me…ou deomšnhj, toà d shme…ou sich die Diallele, indem der Be-
p£lin ¢pode…xewj· Óper ¥topon. weis ein Zeichen braucht, das
Zeichen aber wiederum einen
Beweis, was widersinnig ist.«
305

305
Pyrrhoniae hypotyposes II, 183, 1-6, Übers. M. Hossenfelder

326
Sextos Empeirikos (160-210)
Diese Idee eines Beweises für die Bedeutung eines Zeichens kennen
wir von Wittgenstein her als das Problem des Regelfolgens. Wie kann
ich einer Regel folgen – in dem Fall ein Zeichen in seiner korrekten
Bedeutung verwenden – ohne, daß mir dieses wieder durch andere
Zeichen erklärt wird, die dann ihrerseits erneut das Problem des Regel-
folgens auf den Plan bringen. Sextos ist hier erneut Skeptiker und hält
dieses für unmöglich und mahnt den Denker damit zur Zurückhaltung
an. Das ist jedoch keineswegs zwingend. Allein schon eine sehr schwa-
che hermeneutische Antwort bringt uns hier weiter. Wir verstehen das
Zeichen und wir verstehen es als eingebettet in einer Welt der Zeichen,
in einen Sprachzusammenhang. Dieser Zusammenhang und die weit-
gehend problemlose Praxis im Umgang mit den Zeichen gibt uns eine
hinreichende Garantie dafür, daß wir nicht völlig falsch liegen können.
Letztlich läuft Sextos’ Skepsis hier etwas in die Leere. Denn indem
er die Bedeutungsgehalte der Zeichen mit der Absicht, jede Form des
Beweises zu unterwandern, in Frage stellt, stellt er eine sich selbst tra-
gende Seinsebene – nämlich die des Geistes überhaupt – in Frage.
Wenn man aber über den Geist verfügt, Denken kann und Zeichen
verwendet, dann macht eine solche Infragestellung wenig Sinn. Sie wirft
einen bestenfalls darauf zurück, grundlegende Strukturen aufzudecken.
Sie kann aber auch einfach nur Verwirrung stiften und in langen un-
produktiven Diskursen enden.
§ 262 Auf dieser Basis nun diskutiert Sextos den konventionalen
Charakter der Sprache. Er schließt aus dem, was wir soeben festgehal-
ten haben, auf die Unmöglichkeit einer dialektischen Wissenschaft:
™peˆ oân t¦ ÑnÒmata qšsei shma…nei »Da nun die Worte durch Set-
kaˆ oÙ fÚsei (p£ntej g¦r ¨n sun- zung Bedeutung haben und nicht
…esan p£nta t¦ ØpÕ tîn fwnîn von Natur (denn dann verstün-
shmainÒmena, Ðmo…wj “Ellhnšj te den alle Menschen alle Bedeu-
kaˆ b£rbaroi, prÕj tù kaˆ ™f' ¹m‹n tungen der Laute, Griechen
e nai t¦ shmainÒmena oŒj ¨n bou- ebenso wie Barbaren, abgesehen
lèmeqa ÑnÒmasin <kaˆ> ˜tšroij davon, daß es ja von uns abhängt,
¢eˆ dhloàn te kaˆ shma…nein), pîj die Bedeutungen mit beliebigen
¨n dunatÕn e‡h diairetik¾n ÑnÒma- und immer mit anderen Worten
toj e„j shmainÒmena ™pist»mhn e - anzuzeigen und anzudeuten), wie
nai; À pîj ™pist»mh shmainÒntwn könnte es da eine Wissenschaft

327
Sextos Empeirikos (160-210)
te kaˆ shmainomšnwn, æj o‡onta… von der Einteilung eines Wortes
tinej, ¹ dialektik¾ dÚnait' ¨n Øp- geben? Oder wie könnte die
£rcein; iq perˆ Ólou kaˆ mšrouj. Dialektik eine Wissenschaft von
dem Bedeutenden und der Be-
deutung sein, wie einige es an-
nehmen?« 306

Diese Problematik des scheinbaren Gegensatzes von konventioneller


Sprache und festen logischen Regeln, die aber in dieser Sprache veran-
kert sind, haben wir bereits bei Varro kennengelernt. Varros Lösung
kommt unserer idealistischen Auffassung sehr nahe und schafft die
scheinbaren Gegensatz erfolgreich beiseite. Sprache und Dialektik sind
zwar einerseits dasselbe, indem eben auch die Dialektik sich der Spra-
che bedient und mithin Bedeutungsgehalte behandelt, deren Ursprung
in einer willkürlichen Konvention liegt. Dennoch aber soll die Dialektik
eine strenge Wissenschaft sein, die allein der Vernunft dient.
Hier können wir leicht einen Mittelweg finden. Zunächst einmal
müssen zwei Sphären unterschieden werden, nämlich einerseits die
Sphäre der menschlichen Sprache, die sehr flexibel ist – wenn auch
nicht, wie Sextos das hier andeutet, vollkommen willkürlich; es ist gar
nicht so leicht neue Bedeutungsgehalte in der Sprache zu verankern –
und andererseits die Ideen, die irgendwie in dieser Sprache erscheinen.
Die Dialektik nun ist diejenige Wissenschaft, die den Versuch unter-
nimmt, die logischen Strukturen der Sprache aufzudenken, die also das
feste und ewige im Flexiblen und Beweglichen sucht. Dabei steht sie
aber durchaus ganz auf dem Boden der Sprache und ihre Strenge ist
keineswegs zwingend eine methodische, die Schritt für Schritt einen fe-
sten Gang verlangt. Die Dialektik kann vielmehr auch als eine herme-
neutische Wissenschaft aufgefaßt werden, die nach und nach sich der
ewigen Struktur der Ideen anzunähern sucht und nie ganz gewiß ist, wie
nah sie derselben denn schon gekommen ist.
§ 263 So kann auch die Frage eng damit zusammenhängende Frage
entschieden werden, ob denn die Menge allein die Wahrheit besitzt
oder ob der Einzelne auch gegen die Menge zur Wahrheit finden kann:

306
Pyrrhoniae hypotyposes II, 214, 6 – 215, 1, Übers. M. Hossenfelder

328
Sextos Empeirikos (160-210)

E„ d f»sei tij, Óti tÍ tîn pollîn »Wenn schließlich jemand sagt,


sumfwn…v cr¾ prosšcein, lšxomen man müsse sich an die Einstim-
Óti toàt' œsti m£taion. prîton m n migkeit der Masse halten, ent-
g¦r sp£nion ‡swj ™stˆ tÕ ¢lhqšj, gegnen wir, daß das vergeblich ist.
kaˆ di¦ toàto ™ndšcetai ›na tîn Denn erstens ist das Wahre viel-
pollîn fronimèteron e nai. e ta leicht selten, und deswegen ist es
kaˆ pantˆ krithr…J ple…ouj ¢nti- möglich, daß ein einzelner ein-
doxoàsi tîn kat' aÙtÕ sumfwnoÚn- sichtiger ist als die Masse. So-
twn· dann widersprechen auch jedem
Kriterium mehr Menschen, als
sich darüber einig sind.«307

Natürlich kann ein Einzelner was die Frage nach der Dialektik angeht
weiter kommen als die Masse (oƒ pollo…). Er wird jedoch immer inso-
fern auf dem Boden der Masse stehen, als diese die Garanten für die
Sprache sind, in der er seine Dialektik entfaltet. Jedes seiner Worte ist
so an die Masse zurückgebunden und man kann nicht wirklich davon
sprechen, daß er der Masse enthoben als einziger eine Wahrheit er-
kannt habe.

iii. Die Dezentralität der Geisteswelt


§ 264 Ganz zentral ist für Sextos als Skeptiker ist immer wieder das
Problem der Begründung. Dieses hat sich nicht nur bis in unsere Tage
erhalten, es ist sogar so dominant geworden, daß manche Denker in der
Folge Immanuel Kants die Philosophie überhaupt für eine reine Be-
gründungswissenschaft halten und hier deren höchstes Gut in letzten
Gründen auszumachen suchen. Denen stellen moderne Skeptiker das
im Grunde einfach bei Sextos abgeschriebene und lediglich von den
heutigen als „Münchhausentrilemma“ benannte Problem entgegen.
Wie jener märchenhafte Baron habe der begründende Philosoph die
Aufgabe auf sich genommen, sich selbst an den eigenen Haaren aus
dem Sumpf der Zweifelhaftigkeit zu ziehen. Sextos faßte diese Proble-
matik in drei von fünf trÒpoi:
Ð d ¢pÕ tÁj e„j ¥peiron ™kptè- »Mit dem Tropus des unendli-
sewj ™stˆn ™n ú tÕ ferÒmenon e„j chen Regresses sagen wir, daß das

307
Pyrrhoniae hypotyposes II, 43, 1-5, Übers. M. Hossenfelder

329
Sextos Empeirikos (160-210)
p…stin toà proteqšntoj pr£gmatoj zur Bestätigung des fraglichen
p…stewj ˜tšraj crÇzein lšgomen, Gegenstands Angeführte wieder
k¢ke‹no ¥llhj, kaˆ mšcrij ¢pe…- einer anderen Bestätigung bedür-
rou, æj m¾ ™cÒntwn ¹mîn pÒqen fe und diese wiederum einer an-
¢rxÒmeqa tÁj kataskeuÁj t¾n deren und so ins Unendliche, so
™poc¾n ¢kolouqe‹n. [...] Ð d ™x daß die Zurückhaltung folge, da
Øpoqšsewj œstin Ótan e„j ¥peiron wir nicht wissen, wo wir mit der
™kballÒmenoi oƒ dogmatikoˆ ¢pÒ Begründung beginnen sollen. [...]
tinoj ¥rxwntai Ö oÙ kataskeu- Um den Tropus aus der Voraus-
£zousin ¢ll‘ ¡plîj kaˆ ¢napo- setzung handelt es sich, wenn die
de…ktwj kat¦ sugcèrhsin lam- Dogmatiker, in den unendlichen
b£nein ¢xioàsin. Ð d di£llhloj Regreß geraten, mit irgend etwas
trÒpoj sun…statai, Ótan tÕ Ñfe‹- beginnen, daß sie nicht begrün-
lon toà zhtoumšnou pr£gmatoj den, sondern einfach unbewiesen
e nai bebaiwtikÕn cre…an œcV tÁj durch Zugeständnis anzunehmen
™k toà zhtoumšnou p…stewj· œnqa fordern. Der Tropus der Diallele
mhdšteron dun£menoi labe‹n prÕj schließlich entsteht, wenn dasje-
kataskeu¾n qatšrou, perˆ ¢mfo- nige, das den fraglichen Gegen-
tšrwn ™pšcomen. stand stützen soll der Bestätigung
durch den fraglichen Gegenstand
bedarf. Da wir keines zur Be-
gründung des anderen verwen-
den können, halten wir uns über
beide zurück.« 308

Sextos zeigt uns hier, daß der Versuch einer Begründung immer entwe-
der im infiniten Regreß der Begründung, oder im Dogma, oder aber in
einer petitio principii bestehen muß. Diese drei Optionen scheinen
das ganze Feld der Möglichkeiten abzudecken und da jeder von ihnen
zu eigen ist, daß sie so eigentlich den Forderungen nach einer Begrün-
dung philosophischer Gehalte nicht gerecht werden, scheint es keine
Begründung geben zu können.
§ 265 Was aber ist überhaupt eine Begründung? Ihr Ziel ist es, be-
stimmte Urteile als schlechthin gültig zu erweisen. Ein Urteil aber be-
steht, wie wir oben gesehen haben, zumindest aus zwei Ebenen. Zum
einen gibt es den Gegenstand, von dem ein Urteil handelt, zum andern
aber auch die Bedeutungsgehalte welche dieses Handeln von etwas ga-

308
Pyrrhoniae hypotyposes I, 166, 1 – 169, 5, Übers. M. Hossenfelder

330
Sextos Empeirikos (160-210)
rantieren. Die philosophische Begründung, so wie sie hier gefaßt wird,
beschäftigt sich aber zunächst nur ganz allein mit dem Inhalt. Damit
aber setzt sie die Bedeutungsgehalte als gegeben voraus. Gehen wir nun
von einer Auffassung der Sprache aus, wo nicht jeder Bedeutungsgehalt
einzeln irgendwie festgelegt ist, sondern wo er so in der Sprache veran-
kert ist, daß immer eine ganze Reihe anderer Bedeutungsgehalte ihn
garantieren, dann setzt solches Begründen die ganze Sprache ebenso als
gegeben voraus, wie das Wissen eines Einzelnen die Sprachauffassung
seiner Zeitgenossen überhaupt voraussetzt.
Es sind aber die interessanten Urteile keineswegs solche, die sich
mit diesem oder jenem empirischen Gehalt beschäftigen, sondern
vielmehr solche, die logische Strukturen thematisieren. Und hier sehen
wir, daß die Frage nach der Begründung gewissermaßen von selbst im
wechselseitig konstitutiven Gefüge der Sprache verschwindet. Die fol-
gende Metapher bringt dies auf den Punkt. Der in der Sprache selbst
nach Begründung Suchende ist wie ein Seemann, der daran glaubt, die
Erde sei eine Scheibe und er würde von dieser herunterfallen wenn er
zu sehr an den Rand geriete. Ebenso denkt jener Philosoph, es gäbe ein
begründbares Zentrum der Sprache und je weiter man davon entfernt
sei, desto mehr drohe man die Wahrheit zu verlieren. Statt dessen aber
ist die Sprache wie eine Kugel – gar noch mehr verwoben, was im drei-
dimensionalen gar nicht recht darstellbar ist – und es ist unmöglich sich
aus der Wahrheit zu entfernen. Insofern man in der Sprache ist, inso-
fern man also versteht, was man sagt, insofern droht man erst gar nicht
den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Skeptiker selbst aber macht es nicht besser als sein Opponent,
denn auch er glaubt an den Scheibencharakter des Gegenstandes der
Philosophie. Nur daß er eben im Gegensatz zu seinem Opponenten
nicht daran glaubt, daß man wirklich ins sichere Zentrum gelangen
könne. Aber auch er sieht die Sprache als etwas Zentralisiertes an, nur
ist er eben da eher entspannt pessimistisch, wo sein Opponent ver-
krampft optimistisch ist.

331
Hippolytos (170-237)
Hippolytos (170-237)
Hippolytos wurde im Osten des römischen Reiches geboren und 192
Presbyter in Rom. Er war ein Schüler des Irenaeos und schrieb wie die-
ser ein umfangreiches Werk gegen die Häresien, zu denen er neben
den Gnostikern auch die griechischen Philosophen rechnete. Bei der
Wahl von Papst Callixtus, den er in seiner Schrift als Häretiker angreift,
kommt es im Jahre 217 zum Bruch mit der Kirche. Dieser Bruch ging
wohl so weit, daß er sich selbst zum Bischof von Rom und damit zum
Gegenpapst wählen ließ. Bei einer Christenverfolgung im Jahre 235
wurde er nach Sardinien verbannt, wo er kurz darauf starb. Sein
Hauptverdienst liegt in der Überlieferung zahlreicher ansonsten verlo-
rener Ideen. Von seinem eigenen Denken erfahren wir nur sehr wenig
am Ende seiner Schrift.

Ideen
§ 266 Dennoch ist einer seiner Gedanken für uns sehr interessant inso-
fern er noch einmal ein anderes Licht auf das Verhältnis von Gott und
lÒgoj wirft. Das Verhältnis der beiden stellt er wie folgt dar:
Oátoj oân <Ð> mÒnoj kaˆ kat¦ »Dieser Gott, einzig und über
p£ntwn qeÕj LÒgon prîton ™nnoh- alles, hat den Logos zuerst durch
qeˆj ¢pogenn´· oÙ <d > Lògon æj gedankliche Operation gezeugt,
fwn»n, ¢ll' ™ndi£qeton toà pantÕj nicht einen Logos wie einen
logismÒn. toàton <oân> mÒnon ™x Laut, sondern als innerliche
Ôntwn ™gšnna· tÕ g¦r Ön aÙtÕj Ð Überlegung über das All. Diesen
pat¾r Ãn, ™x oá tÕ gennhqšn. allein hat er aus Seiendem er-
<k>aˆ a‡tion to‹j ginomšnoij LÒgoj zeugt; das Seiende nämlich war
Ãn, ™n <˜>autù fšrwn tÕ qšlein der Vater selbst, aus dem das Er-
toà gegen<n>hkÒtoj, oÙk ¥peirÒj zeugte (stammt). Der Grund für
<te ín> tÁj toà patrÕj ™nno…aj. das, was geschaffen wurde, war
¤ma g¦r tù ™k toà genn»santoj der Logos, der in sich selbst den
proelqe‹n, prwtÒtokoj toÚtou ge- Willen des Erzeugers trug und
nÒmenoj, <æj> fwn¾n e cen ™n den Gedanken des Vaters wohl
˜autù t¦j ™n tù patrikù <nù> kannte. Im Moment des Hervor-
™nnohqe…saj „dšaj. gehens aus dem Erzeuger, als er-
sterzeugter Laut, hat (der Logos)

332
Hippolytos (170-237)
in sich selbst die im Gedanken
des Vaters ruhenden Ideen.«
309

Daß die Entstehung des lÒgoj aus dem göttlichen Einen ein gedankli-
cher Vorgang war, haben wir bereits erfahren. Hippolytos unterscheidet
hier aber nun bewußt – auf stoisches Vokabular zurückgreifend, das
aber unlängst in das christliche Denken eingedrungen war – zwischen
der Entstehung eines lÒgoj proforikÒj, der durch die Stimme hervorge-
bracht wird und der eines lÒgoj ™ndi£qetoj, der ein rein gedanklicher
Vorgang ist. Der lÒgoj sei ein lÒgoj ™ndi£qetoj toà pantÕj, ein Nach-
denken über das All oder alles. Ich tue mich schwer damit, dieses All
hier mit dem Universum gleichzusetzen, da wir ja noch in einem rein
ideellen Kontext sind. Ein Verhältnis von ›n und p©n paßt hier sehr viel
besser. Der lÒgoj als das entwickelte Reich der Ideen wäre dann die
Auflösung des dialektischen Widerspruchs, daß das ›n zugleich das p©n
in sich faßt, aber eben als noch unentwickeltes Ganzes. Das einzig Sei-
ende ist nun eben dieses ›n und so ist dieses folglich auch der ideelle
Stoff, aus dem der lÒgoj gefertigt wird. Dieser Gedanke einer notwen-
digen inneren Entwicklung des ›n wird dann auch dadurch zum Aus-
druck gebracht, daß der lÒgoj selbst – und nicht etwa die Welt oder
anderes – der Grund für die Erzeugung des lÒgoj gewesen sein soll.
Das ›n entfaltet sich zum lÒgoj, weil es eigentlich der lÒgoj ist.
Natürlich kann hier das Geschaffene auch einfach die Welt meinen,
so daß der lÒgoj in seine vermittelnde Rolle kommt, die Gedanken
Gottes in der Welt zu realisieren. Für diese Interpretation spricht der
Plural, der allerdings auch dann Sinn machte, wenn wir den lÒgoj als
eine Vielheit von Ideen ansehen. Als solche wird der lÒgoj nämlich
alsdann von Hippolytos gefaßt, als ein Wesen, daß sogleich in sich die
Vielheit der Ideen Gottes entfaltet.

309
Refutatio ominum haeresium X, 33, 1, 1 – 2, 5, Übers. K. Preysing

333
Inhaltsregister
Inhaltsregister
Flavius Justinus (100-165)
Ideen
§1 Die Identität des göttlichen Wesens 16
§2 Identität und Unterschiedenheit von Gott und lÒgoj 18
§3 Christus als Mensch gewordene Vernunft Sokrates’ 19
§4 Die Grenze der Metaphysik 19
Natur
i. Die Materie
§5 Die Präexistenz der Materie 20
ii. Der lÒgoj und die Natur
§6 Es gibt keine Weltseele 22
§7 Der lÒgoj als Idee und Körper 22
iii. Leib und Seele
§8 Die leibliche Auferstehung 23
§9 Alle Seelen haben denselben Typ 24

Hermes Trismegistos (um 150)


Ideen
§ 10 Gott existiert vor dem Sein 27
§ 11 Subjekt und Objekt sind in Gott eins 29
§ 12 Gott als Ursache des noàj 30
§ 13 Der lÒgoj 30
Natur
i. Die Materie
§ 14 Gott als Einheit, aus der die Vielheit entstehen kann 32
§ 15 Die Entstehung der Welt aus den Ideen 33
§ 16 Die Entstehung der Materie 35
§ 17 Die Emanation der Strukturen aus Gott 35
§ 18 Die Emanation von Naturformen und Materie 37
§ 19 Gott, noàj, Weltseele und Materie 39
ii. Die Materie im ideellen Raum
§ 20 Das Materielle im Geistigen 39
§ 21 Kritik der Argumentationsrichtung 40
§ 22 Der Raum kann nichts Materielles sein 41

334
Inhaltsregister
§ 23 Raum als Zwischenraum 42
iii. Der Rückfall in den platonischen Materiebegriff
§ 24 Die Materie als das am wenigsten Gute 43
§ 25 Wie kann die Materie aus dem Guten entstehen? 44
§ 26 Die Materie außerhalb Gottes 44
§ 27 Materie entsteht erst bei der Formung 46
iv. Gott als Form
§ 28 Die Emanation der Formen 47
§ 29 Man kann Gott aus den Formen erschließen 47
v. Die organischen Naturstufen
§ 30 Organische Naturstufen 48
§ 31 Die Hierarchie der Naturstufen 49
vi. Das Verständnis des Organischen
§ 32 Die Bedeutung der Kreisbewegung für die Entstehung des
Lebens 50
§ 33 Das Organische als das sich im Wandel Erhaltende 51
§ 34 Die Wahrnehmung vom Unbeseelten bis zur Seele 52
Geist
i. Die Gottähnlichkeit des Menschen
§ 35 Der Mensch als Spiegel Gottes 53
ii. Ewigkeit und Reflexivität
§ 36 Die schlechte Unendlichkeit des Geistes 54
§ 37 Die Selbsterkenntnis 55
iii. Die Sprache
§ 38 Wahrnehmung und Denken 56
§ 39 Wissen und Instinkt 56
§ 40 Sprache als mögliches Kriterium für Wissen 58
§ 41 Die Sprache im Unterschied zur Stimme 59
§ 42 Eine holistische Sprachauffassung 61
§ 43 Denken und Wahrnehmen sind sprachgebunden 61
§ 44 Gibt es eine umfassende Einheit des Geistes 62
iv. Die Rückkehr zum platonischen Geistbegriff
§ 45 Hermes als Gnostiker 64

335
Inhaltsregister
Herminos (um 150)
Geist
§ 46 Bedeutungsgehalte als Regungen der Seele 66
§ 47 Ein Gegenargument 67

Ambrosios von Athen (um 160)


Geist
§ 48 Die Christen als Weltseele 68

Tatian (120-180)
Ideen
§ 49 Gott als das Ideelle 70
§ 50 Der lÒgoj 71
§ 51 Der lÒgoj entsteht ohne Substanzverlust 72
Natur
i. Die Materie
§ 52 Gott erschafft die Materie 73
ii. Die Ablehnung der Weltseele
§ 53 Die Himmelskörper sind wegen der Menschen da 74
Geist
i. Ein gnostischer Geistbegriff
§ 54 Die Seele ist nicht unbedingt unsterblich 75
§ 55 Die Aufgabe des Geistes 76
ii. Reine Geistwesen
§ 56 Geistwesen ohne Körper 77
§ 57 Der Geist kann sich aus der Überformung befreien 78
§ 58 Das Christentum und die Idee böser Geister 79

Marcus Aurelius (121-180)


Natur
i. Die Einheit der Natur
§ 59 Der Zusammenhang der Dinge in der Welt 82
§ 60 Das Gute an den Dingen steht in Verbindung zu anderem 83
§ 61 Die Verbindung der Dinge zum Ganzen 84
§ 62 Recycling als Wesen der Natur 85

336
Inhaltsregister
ii. Die Naturformen
§ 63 Materie und Form des Organischen 86
§ 64 Der unterschiedliche Gemeinschaftstrieb auf den
Naturstufen 87
Geist
§ 65 Die Reflexivität des Geistes 89
§ 66 Der alles konservierender Geist 90

Theophilos von Antiochia († 183)


Natur
i. Die Widersprüche der ungeschaffenen Materie
§ 67 Das Problem der Gleichewigkeit der Materie 92
§ 68 Gott und Materie können nicht beide absolut sein 93
ii. Der geistige Raum Gottes
§ 69 Gott als geistiger Raum 94

Maximos von Tyros (125-185)


Geist
i. Die Formen des Geistes
§ 70 Erste und zweite Wirklichkeit des Denkens 96
§ 71 Das Denken des Einen 97
ii. Die Struktur des Geistes
§ 72 Eine holistische Lösung des Regelfolgeproblems 98
§ 73 Das Kriterium der Wahrheit liegt in einer ideellen
Struktur 99

Galenos von Pergamon (129-200)


Ideen
§ 74 Gott kann nur die beste Welt aus den logischen
Möglichkeiten einrichten 101
§ 75 Die Perfektion Gottes zeigt sich in der Natur 103
Natur
i. Die Grundbestimmungen der Natur
§ 76 Die Natur ist von einem Geist geleitet 104
§ 77 Die fünf Ursachen 104

337
Inhaltsregister
ii. Die Identifikation eines Naturwesens
§ 78 Was ist ein Einzelwesen? 106
iii. Die Rolle der Elemente im Organismus
§ 79 Das Ganze hat nur die Eigenschaften der Teile 107
§ 80 Atome können nicht leidensfähig sein 108
§ 81 Der Organismus besteht aus Ðmoiomšreiai und diese aus
den Elementen 109
§ 82 Die Ðmoiomšreiai sind immer schon geformt 111
iv. Die Höherentwicklung des Organismus
§ 83 Vier Entwicklungsstufen im Organismus 112
§ 84 Die Theorie der Höherentwicklung 113
v. Die funktionale Gliederung des Organismus
§ 85 Die Form durchdringt das Naturwesen 114
§ 86 Der Organismus ist funktional gegliedert 115
§ 87 Heilen ist Wiederherstellen der funktionalen Ordnung 115
§ 88 Alles im Organismus ist zweckmäßig 116
§ 89 Wesentliche und unwesentliche Funktionen 117
§ 90 Die Organe müssen synchronisiert sein 118
§ 91 Die Synchronisation von Systemebenen 119
vi. Die Seele als Sklave des Körpers
§ 92 Skepsis bezüglich der Unsterblichkeit der Seele 120
§ 93 Die Seele ist nur eine Mischung 121
§ 94 Die Seele als abhängig vom Körper 123
§ 95 Die Seele kennt die Details der Körperfunktionen nicht 124
vii. Der Körper als Werkzeug der Seele
§ 96 Das Werkzeugcharakter des Körpers zeugt sich am
Instinkt 125
viii. Die Nahrungsassimilation
§ 97 Veränderung und Assimilation 126
§ 98 Anlagerung und Anwachsen 128
§ 99 Die Natur als Schöpferin und Motor der Assimilation 128
§ 100 Nahrungsaufnahme bei Pflanze und Tier 130
ix. Die Materie der Gewohnheit
§ 101 Materie als Gewohnheit 131
§ 102 Gewohnheit als Formstufe 132

338
Inhaltsregister
x. Das Gehirn
§ 103 Das Gehirn als Denkorgan 132
§ 104 Das Gehirn als cerebrum 133
§ 105 Warum ist das Gehirn im Kopf? 134
§ 106 Die Öffnung für die Seele 134
§ 107 Das Gehirn als Netz 135
xi. Die Entstehung des Menschen und die Naturstufen
§ 108 Die Stufe des Pflanzlichen 136
§ 109 Die Stufe des Tierischen 138
§ 110 Die untergeordnete Rolle des Gehirns beim Entstehen
des Menschen 138
§ 111 Der Unterschied von Entstehungs- und Verwaltungs-
zusammenhang 139
Geist
i. Die Intelligenz
§ 112 Der Verstand als Universalkunst 140
ii. Empirie gegen Ratio
§ 113 Was bedeutet »wiederholt beobachten« im Empirismus? 142
§ 114 Die reine Empirie ungebildeter Praktiker 143
§ 115 Das Problem der unscharfen Begriffe 144

Julius Cassianus (um 170)


Natur
§ 116 Keine leibliche Auferstehung 146
§ 117 Aus der Natur kann man nichts erkennen 147

Aristoteles von Mytilene (um 170)


Natur
§ 118 In jedem Körper ist Geistiges 148
§ 119 Wie kann die Form nicht formend im Körper sein? 149
§ 120 Wie kann eine passive Form aktiviert werden? 151
§ 121 Der doppelte Aspekt der Form 152
§ 122 Die neue Formebene entsteht durch Materiekonstellation
und Einwirken Gottes 153
§ 123 Die Selbständigkeit der Formen 153

339
Inhaltsregister
Julianos Theurgos (um 170)
Ideen
§ 124 Das Eine als pat»r 156
§ 125 pat»r und Ideen 158
§ 126 Die Struktur des Ideenreichs 158
§ 127 dÚnamij als mittleres Strukturelement des Ideenreichs 159
§ 128 Die Weltseele 161

Athenagoras von Athen (133-190)


Ideen
§ 129 Kann Gott zusammengesetzt sein? 162
§ 130 qeÒj und lÒgoj 163
Natur
§ 131 Was passiert mit dem Leib nach Doppelverwendung bei
der Auferstehung? 164
§ 132 Die Auflösung des Dilemmas 166
§ 133 Leibliche Auferstehung und Einzigartigkeit des
Menschen 167
Geist
i. Die beiden Formen des Sozialen
§ 134 Gute und schlechte ¥ggeloi 168
ii. Das existentielle Moment des Geistes
§ 135 Der Sinn des Lebens 169

Irenaeos von Lyon (135-202)


Ideen
§ 136 Ideen können die Welt nicht erklären 171
§ 137 Gott als höchstes Wissen 173
Natur
§ 138 Ideelles und Materie können nicht getrennt sein 174
Geist
i. Das Wesen des Geistes
§ 139 Der Geist in der Zeit 175
ii. Die Sprache
§ 140 Die Stufen des Denkens 177

340
Inhaltsregister
§ 141 Irenaeos als Strukturalist? 178
iii. Die Rolle des Sozialen
§ 142 Der neue Blick auf den Menschen im Christentum 179
§ 143 Die Verführung des Menschen 180
iv. Die Kritik der Gnosis als sozialer Struktur
§ 144 Der Glaube läßt sich nicht vermehren 182
§ 145 Der Mensch als Leib und Seele 183

Numenios von Apameia (um 175)


Ideen
i. Das Prinzip des Guten als prîtoj qeÒj
§ 146 Das Gute ist jenseits des Wesens 185
§ 147 Der prîtoj qeÒj 186
ii. Das ontologische System
§ 148 Vier ontologische Prinzipien 187
§ 149 Eine schematische Darstellung des Systems 188
iii. Die Ideen
§ 150 Die Idee des Seins 189
§ 151 Die Struktur des Ideenreiches 191
iv. Der dhmiourgÒj zwischen Ideen und Materie
§ 152 Der dhmiourgÒj als Einheit und Vielheit 192
§ 153 Der kÒsmoj als dritter Gott 193
§ 154 Die Unterscheidung von Vernunft und Verstand 193
Natur
§ 155 Die Wandelbarkeit der Materie 195
§ 156 Der dhmiourgÒj als Ursprung der Materie 195
§ 157 Ein Argument gegen den Reduktionismus 196
Geist
§ 158 Wissen ist ohne Substanzverlust vermehrbar 198

Alkinous (um 175)


Ideen
i. Der Zugang zum Begriff des Einen
§ 159 Das Erfassen von Gott durch Abstraktion 200
§ 160 Das Erfassen von Gott durch Analogie 201

341
Inhaltsregister
§ 161 Das Erfassen von Gott durch Ästhetik 201
§ 162 Alle Prädikate Gottes sind eins 202
ii. Die ontologische Struktur des Ideellen
§ 163 Der unbewegte Beweger 203
§ 164 Die Schöpfung existiert immer schon 204
Natur
§ 165 Die Trennung von Ideen und Materie 205
Geist
§ 166 Apriorisches Denken und aposteriorisches Begreifen 206
§ 167 Die Probleme des abstrahierenden Begreifens 207
§ 168 Platonismus zwischen Stoa und Aristoteles 209

Attikos (um 176)


Ideen
§ 169 Der dhmiourgÒj als das Eine 211
§ 170 Der Gedanke selbständiger Ideen 212
§ 171 Eine lineare Ordnung der Ideen 212
Natur
§ 172 Die Welt entsteht aus ungeformter Materie 214

Kelsos (um 178)


Ideen
§ 173 Gott kann nicht Mensch werden 216
Natur
i. Kritik am christlichen Materiebegriff
§ 174 Gott kann die Materie nicht geschaffen haben 217
ii. Ein Vergleich von Mensch und Tier
§ 175 Die materielle Gleichheit von Mensch und Tier 219
§ 176 Die metaphysische Gleichheit von Mensch und Tier 220
Geist
§ 177 Es kann kein negatives Zwischenwesen zwischen Gott
und Mensch geben 221

342
Inhaltsregister
Hermogenes (um 180)
Natur
§ 178 Die Materie darf nicht Teil des unteilbaren Gottes sein 223
§ 179 Gott kann nicht Ganzes und Materie sein 224
§ 180 Vor der Entstehung der Materie war Gott nicht Gott 224

Clemens von Alexandria (150-215)


Ideen
i. Gott und lÒgoj
§ 181 Der lÒgoj als Einheit und Vielheit 226
§ 182 Die Ideen als negative Eigenschaften Gottes 228
ii. Die Logik der Begriffe
§ 183 Der Beweis hängt von der Bedeutung der verwendeten
Begriffe ab 229
§ 184 Analyse ist eine Rückführung eine Beweiskette auf etwas
Evidentes 230
§ 185 Die Einteilung in Gattungen und Arten 231
Natur
§ 186 Eine neue Ursachenlehre 233
Geist
i. Wie funktioniert der Geist
§ 187 Jeder Beweis führt zum Unbeweisbaren 234
§ 188 Gibt es eine empirische Grundlage? 235
§ 189 Die Metapher der Teppiche 236
§ 190 Alles Denken führt zu einem gemeinsamen System 237
§ 191 Der Skeptiker relativiert sich selbst 237
ii. Die Sprache
§ 192 Die drei Teile der Sprache 239
iii. Die Gnosis
§ 193 Glauben bezieht sich auf Wissen 240

343
Inhaltsregister
Alexandros von Aphrodisias (150-215)
Ideen
§ 194 Der unbewegte Beweger als sich selbst denkendes Eines 242
§ 195 Auch die Götter sind durch die Logik beschränkt 243
§ 196 Seele und Körper sind in der himmlischen Sphäre
gleichbewegt 244
Natur
i. Der Rahmen der Natur
§ 197 Die Wirkung des unbewegten Bewegers auf den Himmel
und die Welt 245
§ 198 Die Kreisbewegung der Himmelskörper als Nachahmung
des unbewegten Bewegers 246
§ 199 Die Himmelskörper denken den unbewegten Beweger 248
ii. Raum und Zeit
§ 200 Es kann nicht alles Vergänglich zugleich vergehen 249
§ 201 Außerhalb des Raumes gibt es das Nichtsein 250
iii. Was ist Materie?
§ 202 Materie kann eigentlich nicht bestehen 252
§ 203 Materie als Grenzzustand 252
§ 204 Die Götter haben ein nichtmaterielles Substrat 253
iv. Wie kommt die Form zur Materie?
§ 205 Die Aporie der von außen oder innen kommenden
Formen 254
§ 206 Eine idealistische Auflösung der Aporie 255
v. Das Verhältnis von Materie und Form
§ 207 Die mehrstufige Zusammensetzung von Körpern 256
§ 208 Die Materie fließt, aber die Form bleibt 258
vi. Die Entstehung der Seele im Körper
§ 209 Warum diffundiert ein Naturwesen nicht? 259
§ 210 Die Form ist immer schon Ausdruck der
Materiekonstellation 260
§ 211 Eine Kritik an Alexandros’ These 262
§ 212 Die Seele als vollendete Form 262
§ 213 Die ™nšrgeia besteht aus Seele und Körper 263
§ 214 Die Seele ist keine Harmonie 264

344
Inhaltsregister
vii. Die Pflanzenseele
§ 215 Die drei Stufen der Pflanzenseele 265
viii. Die logische Idee der Nervenzelle
§ 216 Ein geometrisches Modell des Gemeinsinns 267
§ 217 Der Schritt vom Blutkreislauf zu den Nerven 268
ix. Höherentwicklung und Evolution
§ 218 Die innere Ordnung mehrstufiger Naturwesen 269
§ 219 Eine Stufenfolge der Fähigkeiten des Organismus 270
§ 220 Wenn man nicht am Verlust von etwas stirbt, ist es
unwesentlich 271
§ 221 Das Problem dieser These 273
x. Eine systemtheoretische Theorie der Wahrnehmung
§ 222 Die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung 275
Geist
i. Der materielle und der formale Geist
§ 223 Der Geist enthält alle Naturformen 276
§ 224 Der Bezug des formalen auf den materiellen Geist als
Selbstbezug 277
§ 225 Der Geist als Puppentheater 279
ii. Die Selbständigkeit des Geistes
§ 226 Der Geist als intelligible Form, die sich auf eine
intelligible Form bezieht 280
§ 227 Der Geist kommt von außen 281
§ 228 Der unbewegte Beweger als absoluter Geist 282
§ 229 Der Unterschied von Geist und Gott 283
iii. Der Nominalismus
§ 230 Das Allgemeine existiert nur als Abstraktion 284
§ 231 Die Begriffe existieren post rebus als Namen 285
§ 232 Kritik am Nominalismus 286

Maximos von Jerusalem (um 190)


Natur
§ 233 Es kann nicht zwei Ungewordene geben 288
§ 234 Können Gott und Materie unterschieden sein? 289
§ 235 Kann Gott von der Materie abhängen? 290

345
Inhaltsregister
§ 236 Kann Gott der Ort des Schlechten sein? 291
§ 237 Auch im Dualismus ist Gott für das Schlechte
verantwortlich 293
§ 238 Ist die Materie einfach zusammengesetzt? 294
§ 239 Kritik an der Position von Maximos 295

Praxeas (um 190)


Natur
§ 240 Gott wird zu Christus 297
§ 241 Eine metaphysische Interpretation der These 298
Geist
§ 242 Eine existentialistische Interpretation 299

Quintus Septimus Tertullianus Florens (155-222)


Ideen
§ 243 Die Unbegreifbarkeit des Göttlichen 301
§ 244 ratio und sermo als Einheit und Vielheit 302
Natur
i. Die Schöpfung der Materie
§ 245 Die Materie kann nicht ewig und nicht Gott gleich sein 303
ii. Die Körperlichkeit des Ideellen
§ 246 Das Geistige ist auch körperlich 305
iii. Der Zusammenhang von Seele und Körper
§ 247 Die Seele erhöht den Körper 307
§ 248 Die Gattung bestimmt auch das unvollkommene
Exemplar 307
§ 249 Der Mensch entsteht aus zwei Arten von Samen 308
§ 250 Die perfekte Verbindung von Leib und Seele 309
§ 251 Die Seele ist auch im Denken an den Körper
zurückgebunden 310
iv. Auch die niedrigeren Ebenen folgen einer Logik
§ 252 Auch die Sinne sind schon zuverlässig 311
Geist
i. Denken und Sprache
§ 253 Denken und Sprache sind untrennbar 312

346
Inhaltsregister
ii. Die Selbstbeschränkung des Geistes
§ 254 Der Geist soll sich in die Natur einfügen 313

Marcus Minucius Felix (um 200)


Natur
§ 255 Die Regelmäßigkeit der Natur läßt einen Rückschluß auf
den Schöpfer zu 316

Sextos Empeirikos (160-210)


Ideen
§ 256 Die Dialektik von Absolutem und Relativem 318
Natur
§ 257 Gibt es Kausalität? 320
Geist
i. Der Geist als Idee in der Zeitlichkeit
§ 258 Kann es einen besseren Geist als unseren geben? 321
§ 259 Wir haben logische Schlüsse nur in einem zeitlichen
Auseinander 323
ii. Wahrheit und Bedeutung
§ 260 Wir verstehen die Bedeutung der Zeichen nicht durch
den Bezug auf das Bezeichnete 324
§ 261 Das Problem des Regelfolgens 326
§ 262 Das Verhältnis von konventionaler Sprache und
logischen Regeln 327
§ 263 Kann ein einzelner gegen die Menge Recht haben? 328
iii. Die Dezentralität der Geisteswelt
§ 264 Das Münchhausentrilemma 329
§ 265 Die Auflösung des Begründungsproblems 330

Hippolytos (170-237)
Ideen
§ 266 Das Verhältnis von Gott und lÒgoj 332

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Literatur
Literatur
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Alexandros von Aphrodisias,


Aphrodisias 'Apor…ai kaˆ lÚseij [Sp.], ed. I. Bruns,
Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora
[Commentaria in Aristotelem Graeca, suppl. 2.2. Berlin: Reimer,
1892]: pp. 1-116
Aphrodisias De anima, ed. I. Bruns, Alexandri
Alexandros von Aphrodisias,
Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora [Commentaria
in Aristotelem Graeca, suppl. 2.1. Berlin: Reimer, 1887]: pp. 1-100
Aphrodisias De anima libri mantissa (= De anima liber
Alexandros von Aphrodisias,
alter) [Sp.], ed. I. Bruns, Alexandri Aphrodisiensis praeter commen-
taria scripta minora [Commentaria in Aristotelem Graeca, suppl.
2.1. Berlin: Reimer, 1887]: pp. 101-186
Aphrodisias De fato, ed. I. Bruns, Alexandri Aphrodi-
Alexandros von Aphrodisias,
siensis praeter commentaria scripta minora [Commentaria in Aristo-
telem Graeca, suppl. 2.2. Berlin: Reimer, 1892]: pp. 164-212
Aphrodisias In Aristotelis metaphysica commentaria,
Alexandros von Aphrodisias,
ed. M. Hayduck, Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis metaphysi-
ca commentaria [Commentaria in Aristotelem Graeca 1. Berlin:
Reimer, 1891]: pp. 1-837
Aphrodisias Über den Kosmos, ed. C. Genequand,
Alexandros von Aphrodisias,
Alexander of Aphrodisias on the Cosmos, Leiden: Brill, 2000
Alkinous Epitome doctrinae Platonicae sive DidaskalikÒj, ed. P. Lou-
Alkinous,
is, Albinos. Épitomé. Paris: Les Belles Lettres, 1945: pp. 3-173
Athen Epistula ad Diognetum, ed. J.C.T. Otto, Corpus
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apologetarum Christianorum saeculi secundi, vol. 3, 3rd edn. Jena:
Mauke, 1879 (repr. Wiesbaden: Sändig, 1971): pp. 158-210
Apuleius, Asclepius, in: Opera omnia, vol. 2, ed. G. F. Hilde-
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Literatur
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Athenagoras,
tio and De resurrectione. Oxford: Clarendon Press, 1972: pp. 88-
148
Athenagoras Legatio sive Supplicatio pro Christianis, ed. W.R. Schoe-
Athenagoras,
del, Athenagoras. Legatio and De resurrectione. Oxford: Clarendon
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Boethius In librum Aristotelis de interpreta-
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Alexandria Stromata, ed. O. Stählin, L. Früchtel and U.
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Cassianus Testimonium Veritatis, in: eds. G. Lüdemann, M.
Julius Cassianus,
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Hermeticum Dialogus (sine titulo), ed. A.D. Nock and A.-J.
Corpus Hermeticum,
Festugière, vol. 2. Paris: Les Belles Lettres, 1946 (repr. 1973)
Corpus Hermeticum,
Hermeticum Kle…j, ed. A.D. Nock and A.-J. Festugière, vol. 1.
Paris: Les Belles Lettres, 1946 (repr. 1972): pp. 113-126
Corpus Hermeticum,
Hermeticum Noàj prÕj `ErmÁn, ed. A.D. Nock and A.-J. Festu-
gière, vol. 1. Paris: Les Belles Lettres, 1946 (repr. 1972): pp. 147-
157
Corpus Hermeticum,
Hermeticum “Oroi 'Asklhpioà prÕj ”Ammwna basilša, ed.
A.D. Nock and A.-J. Festugière, vol. 2. Paris: Les Belles Lettres,
1946 (repr. 1973): pp. 231-238
Corpus Hermeticum,
Hermeticum “Oti ™n mÒnJ tù qeù tÕ ¢gaqÒn ™stin, ¢llacÒqi d
oÙdamoà , ed. A.D. Nock and A.-J. Festugière, vol. 1. Paris: Les Bel-
les Lettres, 1946 (repr. 1972): pp. 72-76
Corpus Hermeticum,
Hermeticum “Oti oÙd n tîn Ôntwn ¢pÒllutai, ¢ll¦ t¦j meta-
bol¦j ¢pwle…aj kaˆ qan£touj planèmenoi lšgousin, ed. A.D. Nock
and A.-J. Festugière, vol. 1. Paris: Les Belles Lettres, 1946 (repr.
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Literatur
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Hermeticum Perˆ no»sewj kaˆ a„sq»sewj, ed. A.D. Nock and
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Corpus Hermeticum,
Hermeticum Perˆ noà koinoà prÕj T£t, ed. A.D. Nock and A.-J.
Festugière, vol. 1. Paris: Les Belles Lettres, 1946 (repr. 1972): pp.
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Corpus Hermeticum,
Hermeticum PrÕj T¦t Ð krat¾r À mon£j, ed. A.D. Nock and
A.-J. Festugière, vol. 1. Paris: Les Belles Lettres, 1946 (repr. 1972):
pp. 49-53
Corpus Hermeticum,
Hermeticum PrÕj T¦t uƒÕn Óti ¢fan¾j qeÕj fanerètatÒj ™stin,
ed. A.D. Nock and A.-J. Festugière, vol. 1. Paris: Les Belles Lettres,
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Galenos De consuetudinibus, ed. J. Marquardt, I. Müller and G.
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Helmreich, Claudii Galeni Pergameni scripta minora, vol. 2. Leip-
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Galenos De elementis ex Hippocrate libri ii, ed. G. Helmreich, Galeni
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Galenos, De experientia medica, ed. R. Walzer, Galen on medical ex-
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Literatur
Galenos De locis affectis libri vi, ed. C.G. Kühn, Claudii Galeni opera
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Galenos, De naturalibus facultatibus, ed. J. Marquardt, I. Müller and G.
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Helmreich, Claudii Galeni Pergameni scripta minora, vol. 3. Leip-
zig: Teubner, 1893 (repr. Amsterdam: Hakkert, 1967): pp. 101-257
Galenos, De usu partium corporis humani, ed. G. Helmreich, Galeni
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Amsterdam: Hakkert, 1968): 1: pp. 1-496; 2: pp.1-451
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Marquardt, I. Müller and G. Helmreich, Claudii Galeni Pergameni
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Hippolytos Refutatio omnium haeresium (= Philosophumena), ed. M.
Hippolytos,
Marcovich, Hippolytus. Refutatio omnium haeresium [Patristische
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Irenaeos,
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Justinus Apologia, ed. E.J. Goodspeed, Die ältesten Apologe-
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Lydos, De mensibus, ed. R. Wünsch, Ioannis Lydi
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Maximos von Tyros,
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Literatur
Psellos Expositio in oracula Chaldaica, Patrologia Graeca
Michael Psellos,
CXXII, pp. 1123-1154
Felix Octavius, in: Patrologia Latina III, pp. 231-366
Minucius Felix,
Origenes Contra Celsum, ed. M. Borret, Origène. Contre Celse, 4
Origenes,
vols. [Sources chrétiennes 132, 136, 147, 150. Paris: Cerf, 1:1967;
2:1968; 3-4:1969]: 1: pp. 64-476; 2: pp. 14-434; 3: pp.14-382; 4:pp.
14-352
Proklos In Platonis Alcibiadem i, ed. L.G. Westerink, Proclus Dia-
Proklos,
dochus. Commentary on the first Alcibiades of Plato. Amsterdam:
North-Holland, 1954: pp. 1-158
Proklos In Platonis Parmenidem, ed. V. Cousin, Procli philosophi Pla-
Proklos,
tonici opera inedita, pt. 3. Paris: Durand, 1864 (repr. Hildesheim:
Olms, 1961): pp. 617-1244
Proklos In Platonis Timaeum commentaria, ed. E. Diehl, Procli Dia-
Proklos,
dochi in Platonis Timaeum commentaria, 3 vols. Leipzig: Teubner,
1:1903; 2:1904; 3:1906 (repr. Amsterdam: Hakkert, 1965)
Empeirikos Pyrrhoniae hypotyposes, ed. H. Mutschmann, Sexti
Sextos Empeirikos,
Empirici opera, vol. 1. Leipzig: Teubner, 1912: pp. 3-209.
Stobaios, Anthologium, ed. C. Wachsmuth and O. Hense, Io-
Ioannes Stobaios
annis Stobaei anthologium, 5 vols. Berlin: Weidmann, 3:1894
Tatian Oratio ad Graecos, ed. E.J. Goodspeed, Die ältesten Apologe-
Tatian,
ten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1915: pp. 268-305
Quintus Septimus Tertullianus Florens, Adversus Hermogenem, in:
Patrologia Latina II, pp. 195-238
Quintus Septimus Tertullianus Florens, Adversus Marcionem, in: Pa-
trologia Latina II, pp. 239-524
Quintus Septimus Tertullianus Florens, Adversus Praxean, in: Patrolo-
gia Latina II, pp. 153-196
Quintus Septimus Tertullianus Florens, Apologeticus adversos gentes
pro christianis, in: Patrologia Latina I, pp. 257-536
Quintus Septimus Tertullianus Florens, De anima, in: Patrologia Latina
II, pp. 641-752
Quintus Septimus Tertullianus Florens, De carne Christi, in: Patrologia
Latina II, pp. 751-792

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Literatur
Quintus Septimus Tertullianus Florens, De cultu feminarum, in: Pa-
trologia Latina I, pp. 1303-1334
Quintus Septimus Tertullianus Florens, De resurrectione carnis, in: Pa-
trologia Latina II, pp. 791-886
Theophilos Ad Autolycum libri tres, in: Patrologia Graeca VI, pp.
Theophilos,
1023-1168

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Literatur

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Literatur

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