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L EG E N DE VON HOM E R

DEM FA HR ENDEN SÄNGER


LEGENDE VON HOMER
DE M FA H R E N DE N SÄ NGER

DEUTSCH VON WOLFGANG SCHADEWALDT


ZEICHNUNGEN VON GRAF HEINRICH LUCKNER
VERLAG VON EDUARD STICHNOTE IN POTSDAM
Als die alte Aioler-stadt Kyme in Kleinasien
gegründet wurde, kamen dort die Griechenvölker
aus aller Herren Ländern zusammen, darunter auch
Leute aus Magnesia. Unter ihnen befand sich Mela-
nopos, ein Sohn des Ithagenes, des Sohns des Kre-
thon. Er war mit Gütern nicht gesegnet, sondern
hatte nur schmal zu leben. Dieser Melanopos nahm
in Kyme die Tochter eines Omyres zur Frau, sie
schenkte ihm ein Mädchen, und der Vater gab ihm
den Namen Kretheis. Als er und seine Frau aber
sterben mußten, übergab er das Kind seinem alten
Freunde, dem Argeier Kleanax, zur Pflege.
Die Zeit verging, da begab sichs, daß das Mädchen
sich insgeheim mit einem Manne einließ und guter
Hoffnung wurde. Die erste Zeit ward es niemand
gewahr. Als Kleanax aber dahinter kam, erregte er
sich darüber, daß ihr dieses geschehen war, und er rief
die Kretheis beiseite, überhäufte sie mit Vorwürfen
und schalt, was für Schande sie ihm bei den Leuten
brächte. Dann beschloß er folgendes über sie. Die
Leute von Kyme waren damals eben dabei, den in-
neren Winkel des Hermeischen Golfes zu besiedeln.

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Sie gründeten eine Stadt, und Theseus gab ihr den
Namen Smyrna. Er wollte seiner Gattin in dem Na-
men ein Denkmal setzen, diese hieß nämlich Smyrna.
Theseus war einer der Gründer Kymes, ein reich-
begüterter Mann aus Thessalischem Adel vom Ge-
schlechte des Admetos-Sohnes Eumelos. Dorthin
gab Kleanax nun die Kretheis in aller Heimlichkeit
zu dem Boioter Ismenias, welcher an der Siedlung
teilnahm und ein guter Freund von ihm war.
Eine Zeit verging, da besuchte Kretheis zusammen
mit anderen Frauen ein Fest draußen am Flusse,
der Meles hieß. Und da der Tag ihrer Niederkunft
nahe war, brachte sie den Homer zur Welt, nicht
blind, sondern mit gesunden Augen, und gab dem
Knäblein den Namen Melesigenes, welchen sie von
dem Flusse nahm. Eine ganze Zeit war Kretheis bei
Ismenias. Später aber verließ sie sein Haus und er-
nährte ihr Kind und sich selbst von ihrer Hände
Arbeit, nahm Dienste bald hier bald dort und ver-
wandte alles, was sie nur konnte, auf die Erziehung
des Knaben.
Es war aber in Smyrna damals ein Mann namens

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Phemios, der unterwies die Knaben im Lesen und
Schreiben und allem was sonst zum Musenhand-
werk gehörte. Da er allein stand, nahm er die Kre-
theis in seinen Dienst und gab ihr die Wolle zu spin-
nen, die er zur Bezahlung von den Knaben empfing.
Wie sie nun bei ihm arbeitete und sich gar sittsam und
bescheiden hielt, gefiel sie dem Phemios sehr. End-
lich redete er mit ihr und trug ihr an, seine Frau zu
werden, wobei er unter manchem anderen, wovon er
meinte, daß es sie zu bewegen vermöchte, auch von
ihrem Knaben zu ihr sprach: er wolle ihn annehmen
an Sohnes Statt, und wenn er ihn erziehe und in die
Lehre nehme, werde einmal etwas Rechtes aus ihm
werden, denn er sah, der Knabe war klug und wohl-
veranlagt. Schließlich gab sie nach und sagte ja.
In dem Knaben steckte ein tüchtiger Kern, und wie
nun Unterricht und Erziehung ein übriges taten,
war er im Nu allen weit voraus und gab mit der
Zeit, als er zum Manne heranwuchs, dem Phemios
nichts nach im Schulehalten. Als es mit Phemios
dann zum Sterben kam, hinterließ er dem jungen
Menschen alles. Bald schloß auch Kretheis die Augen.

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Melesigenes aber übernahm die Schule, und da er
nun sein eigener Herr geworden war, blickten die
Leute noch mehr auf ihn, und er fand so manchen
Bewunderer unter seinen Landsleuten wie unter den
herbeireisenden Fremden. Smyrna war nämlich ein
Handelsplatz; von dort wurde in Mengen das Ge-
treide ausgeführt, das in Hülle und Fülle aus dem
Hinterlande in die Stadt kam, und wenn nun die
Fremden ihr Tagwerk getan hatten, saßen sie bei
Melesigenes drinnen und verbrachten bei ihm ihren
Feierabend.
Unter ihnen war damals auch ein Schiffer namens
Mentes. Er war aus der Gegend von Leukas, wegen
Getreides mit seinem Schiff herübergekommen, ein
für die damalige Zeit wohlunterrichteter, kenntnis-
reicher Mann. Dieser drang in Melesigenes, daß er
seine Schule auflösen und gegen Sold und allen
Unterhalt mit ihm zusammen zur See gehen sollte;
da werde er überdies fremde Länder und Städte zu
sehen bekommen, und das sei für ihn, solange er
noch ein junger Mensch sei, das Rechte. Dies nicht
zuletzt, dünkt mich, hat den Melesigenes bewogen;

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er trug sich wohl schon damals damit, sich einmal
aufs Dichten zu verlegen. Also löste er seine Schule
auf und fuhr mit Mentes zu Schiff. Überall wo er
hinkam, sah er sich im Lande um, forschte und
fragte und machte sich gewiß auch Aufzeichnungen
über alles.
Auf der Heimfahrt von Etrurien und Spanien kamen
sie nach Ithaka. Da begab sichs, daß Melesigenes
von einem Augenübel befallen wurde, das ihm arg
zu schaffen machte. Mentes mußte weiter nach
Leukas; darum ließ er ihn zur Pflege bei einem seiner
besten Freunde, dem Ithakesier Mentor, Alkimos’
Sohn, und legte diesem gar sehr ans Herz, für ihn
Sorge zu tragen; auf der Rückfahrt wollte er ihn
wieder abholen. Mentor pflegte seiner mit allem Ei-
fer. Er war ein wohlhabender Mann und genoß wegen
seines rechtschaffenen, gastfreien Sinnes das weit-
aus beste Ansehen unter den Männern auf Ithaka.
Dort bot sich dem Melesigenes nun die Gelegenheit,
alles was sich mit Odysseus zugetragen hatte, zu
erkunden und zu erfragen. Die Leute auf Ithaka
sagen, er habe damals bei ihnen das Augenlicht ver-

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loren. Ich aber meine, er ist damals wieder genesen
und erst später in Kolophon erblindet. Auch die
Kolophonier stimmen darin mit mir überein.
Auf der Rückfahrt von Leukas lief Mentes wieder
Ithaka an und nahm den Melesigenes an Bord. Ge-
raume Zeit fuhren sie nun miteinander in der Welt
umher, kamen dann nach Kolophon, und hier begab
sichs, daß Melesigenes abermals von seinem Augen-
übel befallen wurde. Diesmal konnte er nicht davon-
kommen, sondern mußte daselbst erblinden. Von
Kolophon kehrte er als ein blinder Mann wieder
heim nach Smyrna und ergriff nun das Dichter-
handwerk.
Eine Zeit ging hin, da geriet er in Smyrna in Not
und beschloß nach Kyme überzusiedeln. Er wan-
derte durch die Hermosebene und kam nach Neon
Teichos, einer Siedlung der Leute von Kyme. Der
Platz wurde acht Jahre nach Kyme gegründet. Dort
soll er nun vor eine Schusterwerkstatt getreten sein
und diese seine ersten Verse gesprochen haben:
Leute, erbarmt euch des Armen, dem Obdach fehlt und
Bewirtung,

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Die ihr Kymes Tochter bewohnt, die ragende Feste,
Drunten am untersten Fuß der waldumrauschten Sardene,
Und das erquickende Wasser genießt des wirbelnden Flusses
Hermos, des Göttersohns, den der ewige Vater gezeugt hat!
Sardene ist ein Gebirge, welches sich über dem
Hermos und Neon Teichos erhebt. Der Schuster
nannte sich Tychios. Als er die Verse hörte, beschloß
er, den Menschen bei sich aufzunehmen, denn er
hatte Mitleid mit ihm, weil er blind war und betteln
mußte. Also lud er ihn ein, in die Werkstatt zu
kommen, und sagte, daß er von allem, was da sei,

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sein Teil bekommen sollte. Melesigenes trat ein,
suchte sich einen Platz in der Werkstatt, in der
noch andere zugegen waren, und gab ihnen seine
Dichtungen zum besten, die Ausfahrt des Amphi-
araos gegen Theben und die von ihm gedichteten
Götterhymnen. Zu allem, was man miteinander
sprach, tat er seine Meinungen kund und gewann
das Ansehen eines bewunderungswürdigen Mannes
bei denen, die ihn hörten.
Eine ganze Weile hielt Melesigenes sich in der Ge-
gend von Neon Teichos auf und verdiente sich sein
Brot mit seiner Dichtung. Noch zu meiner Zeit
wiesen die Leute von Neon Teichos den Ort, wo er
zu sitzen und seine Gedichte vorzutragen pflegte,
und hielten den Platz hoch in Ehren. Dort stand
auch eine Pappel, die, wie die Leute sagten, aus den
Tagen, da Melesigenes dort war, stammen sollte.
Bald hernach aber befand er sich abermals in Not
und hatte kaum sein Leben zu fristen. Da beschloß
er, nach Kyme weiterzuziehen, vielleicht daß es dort
besser mit ihm vorwärtsginge. Als er sich auf den
Weg machen wollte, sprach er die Verse:

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Traget mich hurtig, ihr Füße, zur Stadt der geachteten
Männer!
Dort ist ein freundlicher Sinn und erlesene Klugheit zu
Hause.
Damit machte er sich von Neon Teichos auf den
Weg und gelangte nach Kyme, wobei er die Straße
über Larisa einschlug, denn so war es für ihn am
bequemsten. Auch sagen die Leute von Kyme, daß
er für den Phrygerkönig Midas, Gordias’ Sohn auf
den Wunsch seiner Schwäher die Aufschrift ge-
dichtet habe, welche noch heutigen Tages auf dem
Grabstein steht:
Allzeit solange das Wasser noch fließt, sich die Bäume
begrünen,
Hoch am Himmel die Sonn erstrahlt und der leuchtende
Vollmond,
Ströme zu Tal sich ergießen und hochaufrollend das
Meer wogt,
Halt ich daher die Wacht auf dem vielumjammerten
Hügel,
Kündend dem wandernden Volk: Allhier liegt Midas
begraben!

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In Kyme sucht Melesigenes sich einen Platz in der
Halle, wo die Alten zu sitzen und zu schwatzen
pflegten, trug die von ihm gefertigten Epen vor,
ergötzte seine Zuhörer im Gespräch und erregte
große Bewunderung unter den Leuten. Als er nun
sah, wie seine Kunst bei den Leuten in Kyme gefiel
und wie er schon ins Vertrauen kam mit denen, die
ihn hörten, sagte er, daß er ihnen einen Antrag
machen wollte, und erbot sich, ihrer Stadt einen
berühmten Namen zu machen, falls sie ihm auf öffent-
liche Kosten seinen Unterhaltgewähren wollten. Das
leuchtete seinen Zuhörern ein, und sie empfahlen
ihm, ganz von sich aus, vor den Rat zu gehen und
bei den Ratsmännern sein Begehren vorzubringen;
sie wollten von ihretwegen, versicherten sie, die
Sache unterstützen. Melesigenes ließ es sich gesagt
sein. Er ging, als der Rat zusammentrat, zum Rats-
haus und bat den Mann, der mit diesem Amte betraut
war, daß er ihn dem Rate vorführen sollte. Der nahm
sich seiner an, führte ihn, als es an der Zeit war,
hinein, und Melesigenes tat drinnen vor dem Rat
nun seinen Vorschlag wegen der Gewährung eines

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Unterhalts auf dieselbe Weise dar, wie er es in der
Halle getan hatte, und als er gesprochen hatte, ging
er wieder hinaus und setzte sich nieder. Indessen
berieten die Ratsmänner darüber, wie man ihn be-
scheiden sollte. Der Mann, der ihn eingeführt hatte,
und diejenigen unter den Ratsmännern, die ihn in
der Halle gehört hatten, waren für die Sache. Doch
widersetzte sich einer der Könige, so wird berichtet,
seinem Verlangen, wobei er unter manchem anderen
vorbrachte: ,wenn die Stadt die Blinden zu füttern
für gut befinde, werde man einen Haufen unnützen
Volks nach Kyme ziehen!‘ Von dieser Begebenheit
rührt es nun her, daß der Name ,Homer‘ für Mele-
sigenes aufkam. Die Leute von Kyme heißen die
Blinden nämlich ,Homere‘, so daß er, vorher Mele-

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sigenes genannt, diesen Namen ,Homer‘ empfing,
und die Fremden trugen ihn überall im Lande umher,
wenn sie seiner erwähnten. In der Beratung nun kam
der Bürgermeister zu dem Schluß, daß man dem
Homer keinen Unterhalt gewähren sollte, und unge-
fähr so stimmte auch der übrige Rat. Alsdann ging
der Obmann hin, setzte sich ihm zur Seite und be-
richtete ihm, was für Reden gegen sein Verlangen
vorgebracht waren und wie der Rat befunden habe.
Als Homer dies hörte, nahm er es für ein Unglück
und sprach die Verse:
Welch einem Schicksal, weh, gab Zeus mich ah Knablein
zur Beute,
Welches er einst auf den Knien der würdigen Mutter
heranzog,
Ihrer, der ragenden Stadt, die nach Zeus’ des Erhabenen
Ratschluß
Phrikons Männer getürmt, die verwegenen Reiter, die
stürmisch
Wütendem Feuer gleich der Schlachten Schicksal
entschieden –
Smyrna, der Aioler Stadt, Seenachbarin, meererschüttert,

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Welche die lautere Flut durchströmt des göttlichen Meles.
Dort erhoben sich nun Zeus’ strahlende Töchter, die Musen,
Wollten das göttliche Land und Stadt und Bürger
berühmen –
Doch sie verstießen den Laut, den heiligen, kündender
Lieder
Stumpfen Gemüts! Nun denn, sie sollen es bitter ver-
spüren,
Wie man mit Spott und Hohn auf sich selbst mein
Schicksal herabrief!
Ich aber will mein Los, wie’s Gott mir bestimmte zur
Stunde
Meiner Geburt, ertragen hinfort geduldigen Herzens.
Aber fürwahr, meine Glieder gelüstet es nimmer in Kymes
Heiligen Straßen zu weilen. Gewaltig treibt mich das Herze,
Das ich mir such unter andern ein Land, wie klein es
auch sein mag!
Darauf wandte er Kyme den Rücken und zog seines
Weges weiter auf Phokaia, nachdem er über die
Leute von Kyme noch obendrein die Verwünschung
gesprochen hatte, daß ihrem Lande kein namhafter
Dichter entstehen sollte, der die Kymäer rühme.

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In Phokaia angekommen aber erwarb er sich auf
die vorige Weise sein Brot, saß in den öffentlichen
Hallen und gab seine Dichtungen zum besten.
Nun war in Phokaia damals eingewisser Thestorides,
Schulmeister seines Zeichens, jedoch alles andere
als ein ehrlicher Mann. Als dieser merkte, was an
Homers Dichtungen war, unterredete er sich mit
ihm und machte ihm folgenden Antrag. Er sei bereit,
sagte er, ihm Unterkunft zu gewähren, für ihn Sorge
zu tragen und ihn zu speisen, wenn er ihn alles, was
er an Epen gemacht habe, aufzeichnen lassen und
ihm ein für allemal das, was er sonst noch dichten
werde, übermachen wollte. Homer hörte es sich an
und fand, daß er es tun mußte, denn es gebrach
ihm am Nötigsten und er brauchte Pflege. Während
er nun bei Thestorides weilte, machte er die Kleine
Ilias, deren Anfang lautet:
Ilion rühmt mein Sang und des Dardanos treffliches
Roßland,
Wo viel Schweres die Diener des Kriegs, die Achaier
gelitten.
Ferner die sogenannt Phokaïs, von der die Phokaier

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sagen, daß Homer sie bei ihnen gemacht habe. Als
Thestondes sich aber die Phokaïs und alles andere
bei Homer aufgezeichnet hatte, trug er sich damit,
aus Phökaia zu entweichen, denn er hatte vor, Ho-
mers Dichtungen für seine eigenen auszugeben, und
fing an, es an der Fürsorge für Homer fehlen zu
lassen. Da sagte dieser zu ihm die Verse:
Viel ist uns allen verborgen, Thestorides, unter der Sonne,
Doch was ein Menschenherz verschließt, ergründest du
nimmer!
Eines Tages war Thestorides aus Phokaia entwichen
und nach Chios gegangen. Dort errichtete er eine
Schule, trug die Gedichte als seine eigenen vor und
gewann viel Lob und gute Bezahlung. Homer aber
lebte auf die vorige Weise in Phokaia fort und hatte
sein Brot von seiner Dichtung.
Nicht lange darauf aber langten Handelsmänner von
Chios in Phokaia an. Als diese von Homer ganz die
gleichen Gedichte zu hören bekamen, die sie vor-
her in Chios oft genug von Thestondes vernommen
hatten, hinterbrachten sie ihm, daß in Chios ein Schul-
meister sei, der trüge ganz die gleichen Gedichte vor

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und ernte damit ausnehmend viel Beifall. Da merkte
Homer, daß es Thestorides sein mußte, und trach-
tete mit allem Eifer, nach Chios zu kommen.
Wie er aber hinunter zum Hafen kam, war dort
kein Schiff, das nach Chios abging, zu finden. Doch
machten ein paar Männer Anstalt, wegen Holzes
hinüber ins Erythräische zu fahren. Die Fahrt über
Erythrai kam dem Homer wie gerufen. So ging er
zu den Schiffsleuten, bat sie, daß sie ihn mit auf die
Fahrt nehmen sollten, und gab ihnen viele gute
Worte, von denen er sich versprach, daß diese sie
zu bewegen vermöchten. Die Schiffsleute waren es
zufrieden und hießen ihn in ihr Fahrzeug einsteigen.
Homer sparte nicht mit Lobsprüchen für sie, stieg
ein und sprach, nachdem er sich niedergelassen
hatte, die Verse:
Erderschüttrer Poseidon, erhöre mich, mächtiger Herrscher,
Der du zu Aigai gebietest, wo weit sich freies Gelände
Dehnt, und den Helikon schirmst, die erhabene, heilige
Bergflur!
Gib einen günstigen Wind und glückliche Rückkehr den
Männern,

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Welche das Ruder führen im Schiff und die Segel
bedienen;
Gib, daß mir, zum Gestade des felsigen Mimas gekommen,
Dort zu Lande das Volk fein fromm und ehrbar begegne;
Laß mich auch strafen den Schelm, der, mein Herz mit
Listen umgarnend,
Frech den gastlichen Tisch und des Gastrechts Schützer
verletzt hat!
Als sie nach guter Fahrt ins Erythräische gekommen
waren, verbrachte Homer die Nacht auf dem Schiffe.
Den andern Tag aber bat er die Schiffsleute, daß
ihn einer von ihnen zur Stadt führen sollte, und
sie gaben ihm einen mit. Als Homer nun auf dem
Marsche gewahr wurde, wie schroff und bergig das
Erythräische Land war, ließ er sich mit folgendem
Sprüchlein vernehmen:
Alles spendende Erde, du Spenderin süßen Gedeihens!
Wie du doch vielen im Volk so reich mit Früchten
begegnest.
Und wie steinig und karg den anderen, denen du gram
bist!
Als er zur Stadt der Erythräer gekommen war, be-

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gann er Nachfrage zu halten wegen der Überfahrt
nach Chios. Da begegnete ihm ein Mann, der ihn
in Phokaia gesehen hatte, und bot ihm einen freund-
lichen Willkomm. Den bat er, daß er ihm helfen
sollte, ein Fahrzeug ausfindig zu machen, damit er
nach Chios hinübergelangen könnte. Da im Hafen
kein Frachtschiff abging, führte der Mann ihn zu
dem Platze, wo die Fischer mit ihren Booten lagen.
Sie fanden dort von ungefähr auch ein paar Männer,
die eben im Begriffe standen, nach Chios überzu-
setzen, und Homers Begleiter ging zu ihnen und
bat sie, daß sie den Homer mitnehmen sollten. Doch
die fuhren ab, ohne sich daran zu kehren. Da ließ
Homer sich mit diesen Versen vernehmen.

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Meerdurchfahrende Schiffer, die ihr der geängsteten
Möven
Bitteres Schicksal teilt und hart euer Leben dahinbringt!
Ehret die Macht des Gastherrn Zeus, der droben gebietet,
Schlimm geht Gastherr Zeus ins Gericht mit dem, der
ihn kränkte!
Da erhob sich, als die Fischer draußen waren, ein
Wind, der blies ihnen entgegen und zwang sie um-
zukehren. Sie mußten zur selben Stelle zurück, wo
sie ausgelaufen waren, und den Homer in ihr Boot
nehmen, der dort am Uferrande saß. Als er gewahr
wurde, wie sie wieder anliefen, meinte er: ,Nun,
Freunde, hat euch ein widriger Wind erwischt! So
nehmt mich nur jetzt noch in euer Boot so solls mit
eurer Fahrt wohl gehen!‘ Die Fischer bezeigten sich
voller Reue darüber, daß sie ihn nicht gleich das erste
Mal eingenommen hatten, beteuerten, sie wollten ihn
nicht im Stiche lassen, wenn er mitfahren wollte, und
hießen ihn einsteigen. Dann fuhren sie mit ihm hinaus
und hielten drüben auf das andere Gestade zu.
Nun machten die Fischer sich an ihre Arbeit. Ho-
mer aber verweilte die Nacht über am Strande.

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Den andern Tag machte er sich auf den Weg, ging
in die Irre und gelangte schließlich an einen Platz,
welcher ,Der Tann‘ genannt ist. Wie er nun dort
die Nacht, über ruhte, schlug von der Tanne eine
Frucht auf ihn herab, welche die Menschen bald
,Zirbel‘, bald ,Zapfen‘ heißen. Da ließ Homer sich
folgendermaßen vernehmen:
Noch eine Pinie weiß ich, und die bringt bessere Früchte,
Steht hoch oben am Grat des zerklüfteten, windigen Ida.
Dort werden Eisen des Ares dereinst die Söhne der Erde
Schürfen, wenn künftig die Stätte Kebrenische Männer
besiedeln.
In jenen Tagen machten die Leute von Kyme näm-
lich Anstalt, das Kebrenische Gebiet am Ida zu
besiedeln. Dort steht in Mengen Eisen an.
Als Homer sich wieder erhoben hatte, ging er von
dem Platze weiter, einem Geräusch nach wie von
weidenden Ziegen. Auf einmal bellten ihn die Hunde
an, da rief er und schrie, und Glaukos – so war der
Name des Ziegenhirten – kam flugs herbeigelaufen,
als er die Stimme hörte, rief die Hunde zurück und
scheuchte sie von ihm und stand dann eine ganze

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Weile und staunte, wie der blinde Mann so allein
in diese Gegend gekommen war und was er wollte.
Dann trat er zu ihm und forschte, wer er sei, auf
welche Weise er an diesen öden, abgelegenen Ort
gekommen sei und woran es ihm fehle. Homer schil-
derte ihm nun all sein Mißgeschick und rührte ihn
zu Tränen, denn dieser Glaukos war wirklich, scheint
es, kein fühlloser Mann. Er nahm ihn bei der Hand
und geleitete ihn in sein Gehöft, machte Feuer an,
richtete eine Mahlzeit, trug auf und lud ihn ein, nur
zuzulangen.

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Nun hatten aber die Hunde noch nicht ihr Fressen
bekommen und bellten also, wie es ihre Art war,
während die beiden aßen. Da sagte Homer zu Glau-
kos die Verse:
Glaukos, du Vogt des weidenden Viehs, laß eins dir
gesagt sein!
Reiche den Hunden im Hof vor allen Dingen ihr Futter!
So ist’s recht, da allen voran die Hunde vernehmen,
Ob jemand kommt oder gar ein Tier in die Pferche sich
einschlich!
Glaukos vernahm die gute Lehre mit Freuden und
war über seinen Gast verwundert. Als sie gespeist
hatten, taten sie sich in Gesprächen gütlich. Doch
wie Homer nun von seinen Fahrten und all den
Städten, die er besucht hatte, zu erzählen anfing,
da lauschte Glaukos starr vor Staunen. Als dann
Schlafenszeit war, pflogen beide der Ruhe.
Den andern Tag beschloß Glaukos, sich zu seinem
Herrn auf den Weg zu machen und ihm alles, was
mit Homer geschehen war, anzuzeigen. Also über-
gab er die Ziegen seinem Mitknecht zum Hüten,
ließ den Homer in der Hütte und sagte ihm, daß

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er alsbald wieder da sein werde. Dann stieg er nach
Bolissos hinab – es liegt dort in der Nähe –, fand
sich bei seinem Herrn ein, schilderte ihm, immer
noch voll Staunens, getreulich alles, was sich mit
Homer zugetragen hatte und wie er zu ihm gekom-
men war, und fragte schließlich, was mit ihm ge-
schehen sollte. Der Herr bezeigte sich wenig an-
getan von dieser Rede und bemerkte geringschätzig,
Glaukos sei wohl nicht bei Tröste, daß er die Lah-
men und Blinden bei sich beherberge und bewirte,
befahl aber doch, ihm den fremden Mann herbei-
zuschaffen.
Als Glaukos wieder bei Homer war, erzählte er
ihm dies alles und empfahl ihm, sich auf den Weg,
zu machen: es werde sein Glück sein. Homer hatte
nichts darwider, sich auf den Weg zu machen. Also
nahm Glaukos ihn bei der Hand und führte ihn zu
seinem Herrn. Der Chier ließ sich in ein Gespräch
mit ihm ein, und da er fand, daß es ein gescheiter,
welterfahrener Mann war, verlangte er, daß er bei
ihm bleiben und Lehrmeister bei seinen Knaben
werden sollte; der Chier hatte nämlich zwei halb-

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wüchsige Söhne, diese gab er ihm zu erziehen. Dem
widmete sich nun Homer und machte dort bei dem
Chier in Bolissos die ,Kekropen‘, den ‚Frosch-
Mäusekrieg‘, die ,Starenschlacht‘, die ,Siebenschur‘,
das ,Krammetsvogelgedicht‘ und was sonst alles an
Spielereien von Homer aufbehalten ist. Bald sprach
die ganze Stadt von ihm um seiner Dichtung willen,
und Thestorides, kaum daß ihm zu Ohren kam,
Homer sei im Lande, segelte schleunigst von Chios
ab und suchte das Weite.
Eine Zeit ging hin, da bat er den Chier, daß er ihn
in die Stadt Chios ziehen lassen sollte, kam in die
Stadt, errichtete eine Schule und unterwies die
Knaben in der Dichtung. Die Leute von Chios ach-
teten ihn als einen grundgescheiten, rechtschaffenen
Mann, und so mancher unter ihnen hing ihm an in
Bewunderung. Als er ein hinlängliches Vermögen
zusammengebracht hatte, nahm er ein Weib, und sie
schenkte ihm zwei Töchter. Die eine blieb ledig bis
an ihr Lebensende, die andere gab er einem Bürger
von Chios zur Frau.
In den Werken, die er unternahm, erwies er zunächst

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dem Ithakesier Mentor in der Odyssee seine Erkennt-
lichkeit dafür, daß er ihn einst, als er augenkrank
auf Ithaka darniederlag, so sorglich gepflegt hatte.
Er fügte seinen Namen in das Gedicht ein, sagte,
daß er ein Gefolgsmann des Odysseus gewesen war,
und schilderte, wie Odysseus, als er nach Troia
ausfuhr, die Obhut über sein Hauswesen in Mentors
Hände legte, weil er der wackerste und redlichste
Mann auf Ithaka war. Auch sonst erzeigte er ihm
in dem Gedicht vielerlei Ehre und ließ die Göttin
Athene mehrmals Mentors Gestalt annehmen, wenn
sie sich mit jemandem unterreden wollte.
Auch seinem Lehrmeister Phemios bezeigte er in
der Odyssee den Dank für seine Pflege und Unter-
weisung, vor allem mit den Versen:
Einer der Herolde reichte die prächtige Leier dem Spielmann
Phemios, der sich an Kunst des Gesangs vor allen hervortat,
und weiter:
Der nun schlug in die Saiten und hub den holden
Gesang an.
Auch des Schiffers, mit dem er weit herumgekom-
men war und ungezählte Städte und Länder gesehen

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hatte und welcher Mentes hieß, gedachte er mit den
Versen:
Mentes nenne ich mich, des klugen Anchialos Sprossen,
König des Thaphiervolks, die viel sich der Ruder befleißen.
Und gleichermaßen bezeigte er dem Schuster Ty-
chios seine Dankbarkeit, welcher ihn zu sich ins
Haus genommen hatte, als er in Neon Teichos vor
seine Werkstatt kam, und fügte ihn mit folgenden
Versen in die Ilias ein:
Da kam Aias heran und trug seinen Schild, einem Turm
gleich,
Ehern, siebengehäutet, den Tychios sorgsam gefertigt,
Welcher in Hyle hauste und war der Erste der Sattler.

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Durch diese Dichtwerke ward Homer ein in Ionien
weithin berühmter Mann, und auch nach Hellas
drang bereits die Kunde von ihm hinüber. Indessen
er nun in Chios weilte und seines Dichterruhms
genoß, kamen immer wieder Leute zu ihm und lagen
ihm an, sooft sie mit ihm zusammentrafen, daß er nach
Hellas hinüberkommen sollte. Dem Homer behagte
diese Rede, und er trug ein großes Verlangen da-
nach, die Reise zu unternehmen. Da er aber fand,
daß er in seinen Gedichten zwar so manches kräftige
Wort zum Ruhm von Argos geschaffen hatte, nichts
dergleichen jedoch für Athen, so legte er in seinen
Werken in der großen Ilias folgende Verse zum
Ruhm des Erechtheus in die Aufzählung der Schiffe
ein:
In des Erechtheus Land, des Erhabenen, welchen Athene
Nährte, die Tochter des Zeus; ihn gebar die fruchtende Erde.
Auch pries er ihren Heerführer Menestheus, daß er
sich am trefflichsten in der Welt darauf verstünde,
Fußvolk und Reiter zu ordnen, und sagte die Verse:
Ihnen voran schritt als Führer des Peteos Sprosse
Menestheus,

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Welcher auf Erden bislang noch nicht seinesgleichen
gefunden,
Galt es, beschildete Mannen zum Kampf und Rosse zu
ordnen.
Ferner ließ er in der Aufzählung der Schiffe den Tela-
monsohn Aias und die Leute von Salamis bei den
Athenern Stellung nehmen und sagte:
Aber mit Schiffen zwölf war von Salamis Aias gekommen,
Stellte sein Volk dort auf wo die Reihn der Athener sich
stellten.
Für die Odyssee aber machte er die Verse, wie Athe-
ne, nachdem sie sich mit Odysseus unterredet, zur
Stadt der Athener ging, weil sie diese am meisten
ehrte vor allen anderen Städten:
Kam gegen Marathon her und Athens weiträumige Gassen
Und ging hin und entschwand ins gefestete Haus des
Erechtheus.
Und als er diese Einlagen in seine Gedichte besorgt
und auch sonst alle Anstalt getroffen hatte, gedachte
er, die Fahrt nach Hellas zu bewerkstelligen, und
wandte sich nach Samos.
Dort traf sichs, daß die Leute an jenen Tagen das

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Fest der Gesippen begehen wollten. Da gewahrte
ihn, wie er eben an Land gestiegen war, ein samischer
Mann, welcher ihn früher in Chios gesehen hatte,
lief zu seinen Gesippen, zeigte es ihnen an und war
des Lobes voll über ihn. Die Gesippen verlangten,
daß er ihn bringen sollte. Da suchte der Mann Ho-
mer auf und sagte zu ihm: ,Freund, unsere Stadt
begeht heute das Fest der Gesippen, und es bitten
dich meine Gesippen, daß du es mit uns feierst‘. Ho-
mer erklärte, daß er es tun wollte, und ging mit dem
Abgesandten.
Auf dem Wege kam er an einer Schar Frauen vor-
über, die an einem Kreuzweg der Göttin Knaben-
mutter ihr Opfer brachten. Da entrüstete sich die
Priesterin über seinen Anblick und fuhr ihn an;
,Fort mit dir, Mann, von unserm Opfer!‘ Dieses
Wort kränkte den Homer in der Seele, und er fragte
seinen Begleiter, wer da lärme und welchem unter
den Göttern man opfere, und dieser erklärte ihm,
daß es ein Weib sei, das der Knabenmutter sein
Opfer bringe. Als Homer das vernahm, sprach er die
Verse:

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Knabenernährende Göttin, erhöre mich! Laß dieses
Weibsbild
Allzeit den Jüngling verschmähn, der ihr naht zu Liebe
und Lager!
Laß sie von Stund an schmachten nach alten, ergrauten
Gesellen,
Denen die Kraft verwich und allein die Gelüste verblieben!
Als er beim Gesippenhause anlangte und auf die
Schwelle des Saales trat, wo man den Festschmaus
halten wollte, brannte im Saale dort ein Feuer. Da
sagte Homer, wie ein Teil der Gewährsmänner be-
hauptet – nach anderen freilich hat man das Feuer
erst entzündet, nachdem er die Verse gesprochen:
Schön ist im Kranz seiner Söhne der Mann, ihrer Türme
die Feste,
Pferde sind Zier im freien Gefild, überm Meere die Schiffe,
Schätze erhöhn ein Haus, und Könige, wenn sie am
Marktplatz
Würdig thronen, sind Zier in den Augen der staunenden
Menge:
Aber ein Feuer muß brennen, soll würdiger strahlen die
Halle!

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Alsdann trat er ein, setzte sich mit zu Tisch und
schmauste im Kreise der Gesippen, und sie erzeigten
ihm alle Ehre und Bewunderung, und er erhielt zur
Nacht dort auch sein Lager.
Als er den andern Tag seinen Weg fortsetzen wollte,
sahen ihn eine Schar Töpfer, die ein feines irdenes
Geschirr in ihrem Ofen brannten. Da riefen sie ihn
herbei, denn sie hatten vernommen, was für ein
kunstreicher Mann er war, und verlangten, daß er
ihnen eins singen sollte; sie wollten es ihm mit ihrer
Ware, sagten sie, oder was sie sonst zu eigen besäßen,
wohl vergelten. Da sang Homer ihnen den Spruch,
welcher ,Der Ofen‘ genannt ist:
Wollt ihr Töpfer mir lohnen den Spruch, so ruf ich Athene:
Komm und hüte den Ofen mit schirmenden Händen,
o Göttin,
Daß schön schwarz vom Brande die Krug und Häfen
hervorgehn,
Wohl durchglüht, so zahlt auch jedermann voll nach dem
Preise!
Alles verkaufe sich reich am Marktplatz, reich in den
Gassen,

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Reich verdient ihr und rühmt, wie wohl euch mein
Sprüchlein gediehen!
Sinnet ihr Töpfer jedoch, mich frech zu betrügen, so ruf ich
Über den Ofen die Rotte der Poltergeister zusammen,
Rufe den Schlagentzwei, den Haubold, Trümmrich, den
Krickkrack,
Rufe den Schmeißein, der kennt sein Gewerb, schlägt
alles zu Schanden,
Feget durch Esse und Haus, so platzt euer Ofen und
poltert
Krachend zu Hauf daß lautes Geschrei von den Töpfern
ertönet,
Bückt aber einer sich drüber, versengt ihm knisternd die
Lohe
Rings das ganze Gesicht. So lernt ihr mir, Sitte zu
üben!
Den Winter über verweilte Homer in Samos. Da
pflegte er, wenn Neumond war, vor die wohlhaben-
sten Häuser zu ziehen und Gaben zu heischen. Da-
zu trug er das Liedlein vor, das ‚Segenskränzlein‘
genannt ist; den Weg aber wiesen ihm eine Schar
einheimischer Kinder, die ständig um ihn waren:

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Das ist das Haus, klopft an!, eines großen vermöglichen
Mannes,
Der kann Großes und fährt groß her, hat allweil die
Fülle! –
Tuet euch auf, ihr Tore! Der Segen hält seinen Einzug,
Und mit dem Segen schwer kommt prangendes, helles
Frohlocken,
Kommt der gütige Friede. Da quillts in Töpfen und
Tiegeln,
Und kein Tag, wo der Teig im Trog nicht wonniglich
aufgeht!
Heut gibts leckeren Gerstenbrei, mit Sesam geschmolzen.
– – – – – – – – – – – – – – – – –
Kommt im Hochzeitgefährt doch bald das Bräutlein
des Sohnes!
Maultiere fahren sie euch vors Haus mit trappelnden
Hufen,
Und so geht sie auf Silber einher und wirket am Webstuhl!
Einmal komme ich, komm ich im fahr, wie im Frühling
die Schwalbe,
Steh nun im Hof am Tor, barfuß: drum flink, liebe Hausfrau,
Bittschön, beim Herrn Apollon, gib uns was!

41
Und weiter:
… wenn du was gibst, wo nicht, so geht wir fort.
Wir wollten doch hei euch nicht Häuser baun.
Das Lied wurde auf Samos noch lange Zeit von den
Kindern gesungen, wenn sie zum Apollonfest von
Haus zu Haus zogen und Gaben heischten.
*
Nun begab sichs um dieselbe Zeit, daß auf der
Insel Euboia Ganyktor die Leichenfeier für seinen
Vater, König Amphidamas, begehen wollte. Da lud
er alle Männer, welche sich in Leibeskraft und Schnel-
ligkeit, doch auch durch Kunst und Wissen hervor-
taten, zu Wettspielen nach seiner Stadt Chalkis
und stiftete ihnen zu Ehren kostbare Preise. Da
machte sich auch Homer auf den Weg und traf von
ungefähr, so wird berichtet, in Aulis mit dem Sänger
Hesiodos zusammen, und beide fanden sich mitein-
ander in Chalkis ein. Zu Kampfrichtern waren edle
Chalkidische Herren bestellt, darunter des toten
Königs Bruder, Panedes. Da lieferten die beiden
Sänger sich einen herrlichen Kampf, Sieger aber, so
erzählt man, blieb Hesiod, und das kam so.

42
Hesiod trat in den Ring und legte Homer Frage
um Frage vor, und Homer mußte antworten. Und
Hesiod begann:
Sprosse des Meles, Homer, dir lieh ein Gott die Gedanken!
Frisch! Zum ersten, sag an! Was war den Menschen das
Beste?
Homer:
Nimmer geboren sein, war sämtlichen Menschen das Beste!
Einmal geboren jedoch, alsbald zum Hades zu fahren!
Fragte Hesiod weiter:
Wohl! So verkünde auch dieses, du Sänger Göttern
vergleichbar!
Was war deines Bedünkens das Köstlichste unter der
Sonne?
Und jener:
Stets wenn Fröhlichkeit rings im Volk die Herzen erfüllet,
Und es schmausen die Gäste im Saal und huschen dem
Sänger,
Bank an Bank, in Reihn, und rundum über den
Tischen
Türmen sich Brot und Fleisch, und der Mundschenk
schöpft aus dem Mischkrug

43
Funkelnden Wein und bringt ihn herbei und füllet die
Becher:
Das ist köstlich, ist weit und breit das Schönste auf
Erden!
Als diese Verse erklungen waren, riefen sie die helle
Bewunderung der Griechen hervor, dergestalt, daß
man sie die ,Goldenen Sprüche‘ hieß und noch heut-
zutage mit ihnen die Schmause und Spenden beginnt
bei den gemeinsamen Opferfesten.
Den Hesiod aber verdroß es, daß Homer einen so
guten Tag hatte. So ging er zu einer Frage nach
etwas über, was es in aller Welt nicht gab noch
geben konnte, und sprach die Verse:
Muse! Von dem, was ist, was ehdem war oder sein wird,
Singe mir jetzo nichts, nein, künd’ ein völliges Unding!
Allein Homer war auf eine genaue Lösung der Auf-
gabe bedacht und versetzte:
Nimmermehr werden am Grab des Zeus im Streit um
die Preise
Pferde mit donnernden Hufen die flüchtigen Wagen
zerschellen.

44
Wie er dem Hesoid auch diesmal auf die geschick-
teste Weise Bescheid gegeben, ging dieser zu ver-
fänglichen Fragen mit Doppelsinn über. Er sprach
eine Reihe von Versen, die sich närrisch ausnahmen,
und verlangte, daß Homer stets so einfallen sollte,
daß etwas Verständiges daraus wurde.
Hesiod: Rindfleisch gab es zum Mahl und die
dampfenden Hälse der Pferde –
Homer: Lösten sie unter dem Joch; sie hatten sich müde
gestritten.
Hesiod: Keiner ist so voll Eifers an Bord wie der
Phryger, der Faulpelz –
Homer: Ruft man die Mannen am Strande zur
Nacht das Essen zu fassen.
Hesiod: Der war tapfer vor allen im Kampf und immer
in Ängsten –
Homer: Bangte die Mutter um ihn; ist Krieg doch
hart für die Frauen.
Hesiod: Artemis, da sie in Liebe zu Zeus, ihrem Vater,
verfallen –
Homer: Ihre Kallisto sah, so schoß sie die Treulose
nieder.

45
Hesiod: Sie aber schmausten von früh bis spät, und
hatten doch gar nichts –
Homer: Mitgebracht; Agamemnon gewährte es ihnen in
Fülle.
Hesiod: Als sie nun wacker geschmaust und gezecht, so
lasen sie sorgsam
Unter der Asche das bleiche Gebein des
getöteten Gottes –
Homer: - Sohns Sarpedon, des Helden, den Zeus der
Olympier zeugte.
Hesiod: Sitzen wir nutzlos hier am Strand, so verlassen
wir lieber
Unsere Schiffe und gehn den Weg um die
Schultern geschlungen –
Homer: Wehrgehäng, und Schwert und Spieß in den
kräftigen Händen.
Hesiod: Rüstig packten sie an mit der Hand des
brandenden Meeres –
Homer: Ohngeachtet das Schiff aufs Land ans Trockne
zu bergen.
Hesiod: Iason führte die Kolcherin heim und den
grausen Aietes –

46
Homer: Fleh er, dieweil er gesehn, er verachtete Recht
und Gesetze.
Hesiod: Als sie nun aber gespendet und ausgetrunken
die Salzflut –
Homer: Abermals zu befahren bereit mit gebürdeten
Schiffen,
Hesiod: Rief Agamemnon laut zu den Göttern allen:
Verderbt uns –
Homer: Nicht auf dem Meer!
Hesiod: Nicht auf dem Meer! So betete er, und wieder
begann er:
Laßt euchs schmecken ihr Männer und trinkt!
Nicht einer der Unsern
Soll das ersehnte Gestade der Heimaterde
erreichen –
Homer: Wund und siech, nein, heil und gesund kehrt
jeder nach Hause!
Als Homer auf alles vortrefflich Bescheid gegeben
hatte, fuhr Hesiod fort und sagte:
Künde mir noch dies eine dem Fragenden! Weißt du
zu sagen,
Wieviel Volks die Atriden voreinst gen Ilion führten?

48
Homer antwortete mit einem Rechenexempel fol-
gendermaßen:
Fünfzig an Zahl gabs Feuer im Heer, an jeglichem staken
Fünfzig Spieße, es schmorten an jeglichem fünfzig Braten,
Dreimal dreihundert Mann aber speisten von jeglichem
Braten.
Das macht in Summa eine schier unfaßliche Menge.
Denn sind der Feuer fünfzig, so sinds Bratspieße
zweitausendfünfhundert, und das macht einhun-
dertfünfundzwanzigtausend Braten und einhun-
dertzwölf Millionen fünfhunderttausend Mann.
Allein Hesiod wollte es dem Homer nicht gönnen,
daß er durchaus das Feld behaupten sollte, und be-
gann von neuem:
Sprosse des Meles, Homer, ists wahr, daß die goldenen
Musen
Stets dich ehren, wie rings man rühmt, die Töchter des
Höchsten:
Sage mir dann und füg’s in den Vers: was dünkt dich auf
Erden
Wohl als das Schönste und Schlimmste zugleich? Das
möchte ich hören!

49
Homer erwiderte:
Was du zu saßen mich heißest, du leiblicher Sprosse des
Dios,
Schreckt mich mitnichten, und gern zur Antwort bin ich
erbötig!
Selber Gesetz und Maß sich sein, ist unter der Sonne
Wahrlich ein edel Ding, und wieder das Schlimmste des
Schlimmen!
Doch frag weiter nach Herzensgelüst, es sei was es
wolle!
Hesiod: Wie und in welcherlei Geiste gedeihn die
Völker am besten?
Homer: Wenn sie nicht dulden, daß einer verdient an
üblen Geschäften,
Ehre dem Wackeren zolln und streng das
Laster verfolgen!
Hesiod: Was ist das Allerbeste von Gott im Gebet zu
erflehen?
Homer: Daß man, sein Wohl erkennend, es allzeit gut
mit sich selbst meint.
Hesiod: Was wohnt Größtes im kleinsten Gehäus? Du
weißt es zu sagen?

50
Homer: Richtiger Sinn für alles im innersten Herzen
der Menschen.
Hesiod: Was bringt Gemeinsinn zu stand im Bund mit
mutigem Streben?
Homer: Daß durch des Einzelnen Müh das Wohl des
Ganzen gedeihe.
Hesiod: Was ist der Kern, sag an, der dem Menschen
verliehenen Weisheit?
Homer: Klar das Gegebene schaun und des
Augenblicks rechtes Ergreifen!
Hesiod; Und wann schenkst du getrost dem anderen
Menschen Vertrauen?
Homer: Dann, wenn mit seinem Geschäft er ganz die
Reiche Gefahr läuft!
Hesiod: Was aber gilt als Gipfel des Glücks den
sterblichen Menschen?
Homer: Wenn man nur wenig gelitten und viel sich
im Leben gefreut hat.
Als auch dieser Gang geendet war, verlangten die
Griechen einhellig, daß man den Homer zum Sie-
ger krönen sollte. Doch König Panedes ordnete an,
die beiden Sänger sollten ein jeder noch das schönste

51
Stück aus ihren eigenen Dichtungen sprechen. Da
begann Hesiod und sprach aus den ,Werken und
Tagen‘:
Wenn sich im Siebengestirn die Atlastöchter erheben,
Also beginne die Mahd; das Pflügen, wenn sie versinken!
Vierzig Nächte sind jene und vierzig Tage verborgen
Jeglichem Aug, doch dann im Lauf der rollenden Jahrzeit
Steigen sie wieder empor mit dem frühesten Schärfen des
Eisens.
Das ist im Flachland der Brauch, ob nah dem offenen
Meere
Draußen der Landmann wohnt, ob er lief in den
Gründen der Berge
Fern der brausenden See auf trächtigem Boden sein
Korn baut.
Nackend sei er beim Sä’n und nackend folg er dem
Pfluge,
Nackt sei der Mäher zumal, wenn reif in den Halmen
die Frucht steht.
Darauf Homer aus der Ilias:
Und nun schlossen sie rings die Reihn um die beiden
Aianten

52
Fest: da hätte nicht Ares, der Gott, einen Makel gefunden,
Pallas nicht, die Völker-Erregerin, sondern die Besten
Waren erlesen den Troern zu stehn und dem göttlichen
Hektor,
Fugten den deckenden Schild an den Schild und Lanze an
Lanze,
Rand aber drängte den Rand, Mann Mann, und
Sturmhut den Sturmhut,
Buschige Helme berührten mit blinkenden Bügeln
einander,
Wenn sie nickten: so dicht aufeinander standen die
Mannen.
Übers Gefilde der Schlacht, der männermordenden,
sträubten
Lang sich Lanzen empor, zum Stoß erhoben. Geblendet
Ward das Auge vom Strahl, dem ehernen, glänzender
Helme,
Frischgeglätteter Brünnen und widerscheinender Schilde,
Als einander man kam. – Das mußt ein gar rauher
Gesell sein,
Dem es behagte, das Würgen zu schaun, und spürte
kein Grauen!

53
Wieder waren die Griechen über Homer verwun-
dert, priesen es, wie kunstgerecht seine Verse ge-
raten seien, und verlangten, daß man ihm den Sieg
zusprechen sollte. Allein, König Panedes drückte
den Kranz dem Hesiodos aufs Haupt, denn es sei
recht und billig, erklärte er, daß dem Manne der Sieg
gehöre, welcher zu Landbau und Friedensarbeit
rufe, statt Kriege und Schlachten zu schildern.
Da Homer nun seines Sieges verlustig gegangen
war, zog er weiter im Lande umher und trug seine
Dichtungen vor. Er zog auf Athen, nach Korinth,
war in Argos und ließ sich in Delos beim Volkstag
der Ioner mit seinem Apollonhymnos hören. Als-
dann fuhr er, da man wieder auseinanderging, zu
Kreophylos nach der Insel Ios und verweilte dort
geraume Zeit – er war nun schon in die Jahre ge-
kommen – und soll auf Ios auch seine Tage be-
schlossen haben.
*
Nach andern ist Homer schon auf der Fahrt, die er
von Samos nach Athen unternahm, nach Ios ge-
kommen. Dort gingen sie nicht vor der Stadt, son-

54
dern draußen am Gestade vor Anker. Nun hatte
aber Homer, während daß sie noch auf der Seefahrt
waren, zu kränkeln begonnen. Also stieg er aus dem
Schiffe und lag daselbst schwach und siech am Ufer-
rande. Da aber der Wind eingeschlafen war, mußten
sie tagelang dort liegenbleiben. Da kamen ständig
Leute von der Stadt herab, verweilten bei ihm und
hingen voll Staunens an seinem Munde.
Eines Tages, als die Schiffsleute und einige Männer
von der Stadt wieder bei Homer saßen, legten an
dem Platze dort ein paar Fischerjungen an, stiegen

55
aus ihrem Nachen, kamen zu ihm herbei und sagten:
,Gebt einmal acht, ihr Männer, und hört auf uns,
ob ihr wohl herausbringt, was wir euch sagen wer-
den!‘ – ,Laßt hören!‘ meinte einer der Männer. Da
sagten sie: ,Was wir gefangen, ließen wir liegen,
was uns entgangen, bringen wir mit!‘ Man will auch
wissen, daß sie es in gebundener Rede folgender-
maßen gesagt hätten:
Draußen blieb, was wir fingen, doch bringen wir, die uns
entgingen.
Von den Männern dort vermochte keiner es heraus-
zubringen . Da erzählten die Burschen, daß sie fischen
gewesen seien, aber nichts hätten fangen können;
also hätten sie sich an Land gesetzt und auf die
Lausjagd begeben; die Läuse, die sie erwischten,
hätten sie liegen lassen, bei denen sie es aber nicht
vermochten, die brächten sie mit nach Hause. Als
Homer das hörte, sprach er die Verse:
Traun! Ihr scheint mir so recht dem Geblüt von Vätern
entsprossen,
Welche nicht Haus noch Hof noch wimmelnde Herden
besitzen!

56
An seiner Krankheit ist Homer auf Ios gestorben,
nicht aus Niedergeschlagenheit darüber, daß er das
Rätsel der Burschen nicht herausbringen konnte,
wie einige Schriftsteller behaupten, sondern eben
an jenem Leiden. Als er aber gestorben war, be-
gruben ihn seine Fahrtgenossen und die Bürger, die
im Gespräch mit ihm zusammen gewesen waren,
daselbst am Gestade von Ios. Und erst lange Zeit
hernach, als seine Dichtungen schon verbreitet
waren und allenthalben in Ansehn standen, setzten
ihm die Bürger von Ios den Spruch aufs Grab,
von Homer ist er nicht:
Wahrlich, ein heilig Haupt deckt hier die bergende Erde,
Ihn, der die Helden gepriesen, den göttlichen Sänger
Homeros.

57
NACHWORT DES ÜBERSETZERS

In neuer Form tritt die altgriechische Homerlegende vor den Leser,


und hat sie dem alten Fahrenden schon früher viele Freunde erworben,
solange sie auf das bloße Wort gestellt war, so soll sie es nun, be-
reichert durch die Zeichnungen von der Hand des heutigen Künstlers,
noch besser tun.
Ältestes und Neuestes gehen einen gewagten Bund miteinander ein,
und sollte der alte Sänger sich selbst in diesen Bildern begegnen, sein
Auge hätte vermutlich einigen Unterricht dazu nötig, um die höchst
persönliche Handschrift des modernen Temperaments, diese zu Kraft-
feldern reinster Ausdrücklichkeit zusammentretenden Charaktere zu
entziffern. Allein, träfe er in größerer Tiefe dann auf jene ihm selbst
als Dichter so wohl vertraute Art, den Vorgang zur Situation, die
Menschen und Dinge zu Gestalten, ihre Haltungen und Bewegungen
zu Gebärden zu versammeln, sähe er in Situation, Gestalt, Gebärde
das Süßeste wie Schmerzlichste mit zartem Ernst, doch auch humor-
voll ausgedrückt, und sähe er sich endlich selbst in einer Welt, wo
der Berg aufsteigt und das Meer breit ruht, so kräftig, stämmig, ehr-
bar als Mann des Volks und würdigen Apostel dargestellt – der
Arme würde sich mit Genugtuung von einem zeitenfernen Menschen-
bruder so verstanden sehn und sich nicht schlecht für das Arge ent-
schädigt finden, das ihm die Legende in seinem Leben widerfahren
läßt. Im Einfachmenschlichen finden sich noch immer Alt und Neu
zusammen.
Die Übertragung wurde neu durchgesehen und an nicht wenigen
Stellen neu gefaßt. Eine erläuternde Abhandlung über die mit der

59
Legende verbundenen Fragen wie die wissenschaftlichen Nachweise
und Anmerkungen sind weggeblieben. Wer sich über diese Dinge
unterrichten will, muß weiter nach dem Büchlein greifen, das unter
dem gleichen Titel 1942 in Leipzig bei Koehler und Amelang er-
schienen ist. Damit sich der Leser aber für einige Hauptfragen, die
ihm überm Lesen kommen mögen, nicht ganz im Stich gelassen sehe,
sei hier in Kürze folgendes mitgeteilt.
Die Übertragung folgt dem Wortlaut zweier griechischer Schriften
aus der römischen Kaiserzeit: dem „Leben Homers“, das ein Un-
bekannter in altertümlicher Sprache abgefaßt und für ein Werk des
alten Herodot von Halikarnaß ausgegeben hat, und dem „Traktat
vom Wettkampf des Homer und Hesiod“, ebenfalls aus der Feder
eines Unbekannten.
Die Quellen fließen spät. Jedoch die Forschung hat erwiesen, daß in
ihnen nur etwas zu Tage tritt, was seinen Ursprung viel früher hat.
Was beide kaiserzeitlichen Schriften bringen, sind in der Hauptsache
die Dinge, die sich die alten Sänger und Rhapsoden im sechsten vor-
christlichen Jahrhundert von ihrem großen Ahn erzählten. Wir durf-
ten deswegen auch den „Wettkampf“ für den Zweck dieser deutschen
Wiedergabe angeeignetem Ort in das „Leben Homers“ jenes „Hero-
dot“ einschalten.
Die Homer-Erzählungen der Rhapsoden waren legendarisch. Man
hatte gehört ‥, man dachte sich ‥, man fabulierte dies und das zu-
sammen, und so erschien Homer im Bild jenes armen Schulmeisters
und Wandersängers. Der wahre Homer war nach gewissen Spuren
in seinen Werken ein Mann von Herkunft und sang an bedeuten-
den Fürstenhöfen.

60
Allein, auch die Legende hat ihre Wahrheit. Einmal die typische:
im verkleinerten Maßstab, tut sich vor uns, bedrängt von allen mög-
lichen Alltagsnöten, ein frühgriechisches Sänger- und Dichterleben
auf.
Sodann gehört es zum Wesen der Legende, auch historisch einen
wahren Kern zu haben, um den sich alles andre schließt. Dieser
wahre Kern der Legende ist zunächst der Mann, von dem sie handelt:
Homer, der Dichter der Ilias, in der wir heute wieder ein einheitliches
Werk erkennen. Vor und um das Jahr 700 hat er gelebt.
Homeros, d. i. „Bürge“, war der Name, unter dem man ihn kannte –
ein Übername wohl, denn auch das wird wahr sein, daß er Ursprüng-
lich Melesigenes hieß, nicht nach dem Flusse Meles: Melesigenes
meint einen, „der für seine Sippe sorgt“.
Wahr endlich wird sein, daß Homer aus Smyrna stammte, weit her-
umkam, sich mit anderen Dichtern maß, auf Chios seßhaft wurde,
dort eine Dichterschule gegründet hat und auf der Insel Ios gestorben
ist.
Die Blindheit Homers ist nicht verbürgt; sie gehört zunächst zum
typischen Bild des Sängers.
Ob irgendeiner von den Sprüchen, die die Legende dem Fahrenden
in den Mund legt, von dem wahren Homer stammt, steht dahin.
W. S.
V. POTSDAMER DRUCK
IM VERLAG VON EDUARD STICHNOTE IN POTSDAM

IN DER LUTETIA ANTIQUA UND -KURSIV GEDRUCKT


BEI EDUARD STICHNOTE IN POTSDAM, DIE LEGENDE
VON HOMER WURDE NOCH IN EINER VORZUGS-
AUSGABE AUF HANDGESCHÖPFTEM BÜTTEN VON
VIERHUNDERT NUMERIERTEN EXEMPLAREN
GEDRUCKT

VERÖFFENTLICHT UNTER LIZENZ 155 DER SMAD


COPYRIGHT 1942 BY KOEHLER & AMELANG
PRINTED IN GERMANY

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