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4 Das Konzept des Familienromans, das von Freud zu Beginn des 20.
Jahrhunderts eingeführt wurde, hat auch in außerpsychoanalytischen Kreisen
großen Erfolg gehabt und bezieht sich einerseits auf die bewusste und objektive
Selbsterzählung des prägenden Weges der eigenen Herkunft durch die
affektive Beziehung zu den Eltern (vor allem), zur Großfamilie und zur
Gemeinschaft, der man angehört; andererseits auf den Komplex unbewusster
Phantasien, die das Subjekt ausarbeitet, indem es die Verbindung zu den
elterlichen Figuren in Beziehung zu seinen Erfahrungen als Erwachsener
setzt.
Die paranoide Gesellschaft: Subjektivierung und die 127
Wurzeln des Hasses
In unserer Erziehung prägen Worte der Anerkennung oder
Missbilligung, der Liebe oder des Hasses, der Akzeptanz oder der
Ablehnung unsere Existenz und sorgen dafür, dass wir im
Erwachsenenleben dieselbe Beziehungsdynamik wiederholen,
der wir begegnet sind, und jene Worte wiederholen, die sich in
unserer inneren Welt festgesetzt haben. In diesem Sinne ist das
Nachdenken über Hassrede und die ihr zugrundeliegende
Dynamik kein Bereich, der ausschließlich den psychologischen
und soziolinguistischen Wissenschaften zuzuordnen ist, sondern im
Gegenteil eine eminent pädagogische Frage, da jeder affektive
Ausbruch, selbst der gewalttätigste, immer das Produkt eines
Trainingsromans, einer Reihe von Begegnungen ist. Die
Erziehungswissenschaften haben also das Recht, das Wort
"feindselig" in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen: Ob
es um Hassreden, Hasser oder das Wiederaufleben sozialer
Feindseligkeit geht, das klinische Phänomen, das all diesen (mehr
oder weniger modischen) Varianten desselben Begriffs zugrunde
liegt, ist eines: Aggression. Letzteres ist nicht nur ein
gebräuchlicher Begriff, sondern in erster Linie ein technisches
Konzept, ein präzises klinisches Problem, mit dem die
psychodynamischen Disziplinen umzugehen wissen.
Ströme von Tinte wurden vergossen.
Das pädagogische Wissen ist aufgerufen, sich des
Phänomens der Aggression und der Hassrede anzunehmen, vor
allem in einer Zeit, in der diese wiederkehrenden Phänomene
Die paranoide Gesellschaft: Subjektivierung und die 128
Wurzeln
wiederdes Hasses
zu einem dringenden und dramatischen Problem
geworden sind, vor allem, wenn man sie im medialen
Fleischwolf der sozialen Netzwerke betrachtet.
Wenn der herrschende gesellschaftliche Diskurs wieder von
Hass (auf das Andere, auf das Ähnliche, auf das Ausgegrenzte,
auf das Fremde, auf sich selbst) geprägt ist, scheint der Beitrag
der Pädagogik insofern grundlegend zu sein, als der gesamte
Prozess der Subjektbildung betroffen ist. In diesem Sinne ist der
vorherrschende gesellschaftliche Diskurs, das Wort, das uns als
Menschen charakterisiert, um einen Aphorismus Lacans
aufzugreifen, "das Produkt der Worte, mit denen wir uns
gebildet haben".
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Wurzeln des Hasses
Aus diesem Grund kann die pädagogische Subjektivierung nur
die bevorzugte methodische Beobachtungsstelle für das
Verständnis der Wortrepräsentationen sein, die uns
anthropologisch kennzeichnen. Und wie Egle Becchi (2002)
feststellt, gewinnt die Pädagogik im Rahmen dieser
kontinuierlichen Forschung einen größeren hermeneutischen Gewinn,
wenn sie ihre theoretischen Leseschlüssel mit den Instrumenten
der psychodynamischen Disziplinen verbindet, da die sozialen
Phänomene nicht losgelöst von den Transformationen der
individuellen Psyche analysiert werden können, bevor sie als
kollektive Phänomene kodifiziert werden.
Wo also beginnt die Reflexion über die Aggression, die der
pädagogische Bereich dank des Beitrags der Psychoanalyse
artikulieren kann? Was sind die Wurzeln dieses Hasses?
Was wir hier in einer genealogischen Lektüre von Freud
und Lacan zeigen wollen, ist, dass:
5 Gerade in "Die Triebe und ihr Schicksal" führt Freud den unsichtbaren Faden
weiter aus, der die Aggression mit dem Ich verbindet und der in gewisser Weise
die Entwicklung der Lacanschen Interpretation darstellen wird: "Das Ich hasst,
verabscheut und verfolgt mit der Absicht, alle Objekte zu zerstören, die für es
zu Quellen unangenehmer Empfindungen werden, unabhängig davon, ob sie
für es die Bedeutung einer Frustration der sexuellen Befriedigung oder die
Befriedigung seiner Selbsterhaltungsbedürfnisse haben. Man kann sogar
behaupten, dass die authentischen Archetypen der Hassbeziehung nicht aus
dem Sexualleben stammen, sondern aus dem Kampf des Ichs um seine eigene
Erhaltung und Bestätigung" (Freud, 1915/1969, S. 33).
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Wurzeln des Hasses
- der Körper der Mutter (oder der Pflegeperson, wie wir
heute korrekter sagen würden) - als erste Suche nach der
Dimension der Fürsorge, der Befriedigung der
körperlichen Bedürfnisse und der Unterstützung -, aus
der die so genannte anaklitische Form der Liebe
hervorgeht;
- der eigene Körper oder vielmehr das Bild des eigenen
Körpers, das die so genannte narzisstische Form der Liebe
hervorbringt.
6 Veröffentlicht 1949 unter dem Titel Die Spiegelbühne als Gestalter der Ich-
Funktion, aber bereits 1936 auf dem 14. internationalen Kongress der IPA in
Marienbad gehalten.
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Wurzeln des Hasses
In Anlehnung an die Hegelsche Lehre von Kojeve verwendet er
die klinische Metapher des Spiegels: Im Alter von 6 bis 18
Monaten erkennt das Kind über eine Reihe von Zwischenstufen,
wenn es vor einen Spiegel gestellt wird, die Figur, die es sieht,
als sein eigenes Körperbild an und erhält eine "Jubelreaktion", d.
h. eine Befriedigung.
Literaturverzeichnis