Sie sind auf Seite 1von 60

Skriptum

VO Einführung in die Soziologie (2021S)


EC Empirische Soziologie

Julia Hofmann
Vera Glassner
(Stand 09.06.2021)
Inhaltsverzeichnis

Der soziologische Blick ................................................................................................................................................................3

Soziale Ungleichheit I ...................................................................................................................................................................7

Soziale Ungleichheit II ............................................................................................................................................................... 13

Arbeitssoziologie I ...................................................................................................................................................................... 17

Arbeitssoziologie II ..................................................................................................................................................................... 21

Arbeitsbeziehungen ................................................................................................................................................................... 25

Sozialstaat / Sozialpolitik ......................................................................................................................................................... 28

Bildungssoziologie...................................................................................................................................................................... 35

Frauen- und Geschlechterforschung ................................................................................................................................... 39

Migrations- und Integrationsforschung ............................................................................................................................ 43

Vorurteile, Rechtspopulismus/Rechtsextremismus ....................................................................................................... 47

Soziale Bewegungen.................................................................................................................................................................. 52

Literatur ........................................................................................................................................................................................... 56

2
Der soziologische Blick

Jeder und jede von uns nimmt die Welt auf Basis seiner eigenen Erfahrungen, Sichtweisen und
Präferenzen wahr. Wenn wir uns am Morgen auf dem Weg in die Arbeit machen, begegnen uns
mehrere Menschen, die wir wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen. Was wir wahrnehmen, teilen
wir bewusst wie unbewusst ein: „Der schaut aber nett, müde, glücklich aus…“, „Diese Jacke gefällt mir,
die will ich auch haben.“ „Puh, diese U-Bahn ist voll, da steige ich nicht mehr ein.“ An einem typischen
Tag verrichten wir meist Routinehandlungen; wir denken kaum mehr über sie nach. In der Früh erstmal
ein guter Kaffee, in der Arbeit den Computer anschalten, nach einem langen Tag auf dem Sofa
herumliegen.

Aufgabe der Soziologie ist es, hinter diese alltäglichen Situationen zu blicken: „A sociologist is
someone who is able to break free from the immediacy of personal circumstances and put things in a
wider context“, so der britische Soziologe Anthony Giddens (2009: 6). Giddens gibt in seinem
Einführungswerk „Sociology“ sogleich auch ein Beispiel: das gemeinsame Kaffeetrinken. Für uns als
„normale“ Menschen ist es „normal“ mit Anderen auf einen Kaffee zu gehen, ein oft schöner, aber
alltäglicher Akt. Für eine Soziologin, einen Soziologen kann diese von außen beobachtete Situation der
Ausgangspunkt potentieller (Forschungs-) fragen sein, z.B. folgende:

1) Gehen die beiden Personen, die ich sehe, privat oder beruflich auf einen Kaffee? Wenn es ein
berufliches Treffen ist: Welchen Job haben sie, bei dem man sich in einem Kaffeehaus für
Besprechungen trifft? Sind sie Angestellte oder (neue) Selbstständige? (siehe auch
Arbeitsverhältnisse und Beschäftigungsformen)
2) Welchen Kaffee haben sie bestellt? Eine „einfache“ Melange oder doch einen Double Caramel
Coffee Macchiato? Was sagt das über ihren Lebensstil aus? Welchem Milieu in der Gesellschaft
sind sie zuzuordnen? Dem hedonistischen? Dem konservativen? Oder doch dem traditionell-
genügsamen Milieu? (siehe auch Sinus-Milieus)
3) Ist der Kaffee in dem Kaffeehaus eher billig oder teuer? Wer kann sich einen Café Latte um
5,30€ überhaupt leisten? (siehe auch Einkommens- und Vermögensverteilung)
4) Woher kommt der Kaffee, der hier getrunken wird? Unter welchen Bedingungen wurde er
produziert? (siehe auch Fairer Handel)
5) ….

Solche und andere Fragen stellen sich SoziologInnen nicht nur beim Kaffeetrinken, sondern auch bei
anderen Alltagssituation, wie dem Liftfahren, einem Saunabesuch, dem täglichen Pendelweg in die
Arbeit, etc. (Haindorfer et al. 2019). Giddens fasst diese folgendermaßen zusammen: „What could we

3
find to say, from a sociological point of view, about such an apparently uninteresting piece of
behaviour? An enormous amount.“ (Giddens 2009: 9).

Aber nicht nur alltägliche Ereignisse sind für SoziologInnen interessant, sondern auch das politische,
ökonomische und kulturelle Geschehen im Großen. Zusammengefasst: SoziologInnen interessieren
sich für alles, was in der Gesellschaft eben passiert, daher ist Soziologie auch „the scientific study of
human social life, groups, and societies“ (ebenda).

Wenn SoziologInnen Ereignisse, wie Giddens es ausdrückt, „in a wider context“ (ebenda) stellen, heißt
das, dass sie in ihre Analyse verschiedene gesellschaftliche Ebenen miteinbeziehen:

1) Die Makroebene, also die Ebene der Sozialstrukturen/soziale Klassen, Geschlechterordnungen,


Wirtschaftssysteme, Nationalstaaten, globalen Vernetzung, …
2) Die Mesoebene, also die Ebene der Organisationen wie Unternehmen, Universität, Vereine
3) Die Mikroebene, also die Ebene der Interaktionen, Praktiken und Beziehungen zwischen
Personen

Unter Einbeziehung dieser Ebenen versuchen SoziologInnen, soziale Faktoren herauszuarbeiten, die
erklären können, warum Individuen oder Gruppen sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Sie
analysieren also die „gesellschaftlichen Bedingungen“ und „gesellschaftlichen Strukturen“, in die
Individuen eingebettet sind.

Das heißt aber auch, dass SoziologInnen davon ausgehen, dass „hinter“ dem Verhalten der Einzelnen
etwas liegt, dass sich „Gesellschaft“ nennt. Diese Ansicht ist (politisch) nicht immer ganz unumstritten.
Die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher wurde beispielsweise u.a. durch ihren
Spruch berühmt: „…there is no such thing as society. There are individual men and women, and there
are families. And no government can do anything except through people, and people must look to
themselves first.” (1987) Diese Aussage haben viele SoziologInnen als Kampfansage an ihre Disziplin
erachtet, denn wer braucht GesellschaftswissenschaftlerInnen, wenn es keine Gesellschaft gibt? Hinter
der Aussage stand die Ideologie des radikalen Individualismus, die allerdings in den letzten
Jahrzehnten wieder etwas zurückgedrängt wurde, so dass die Soziologie derzeit nicht um ihre
Legitimität als Wissenschaft bangen muss.

Ein Problem mit dem SoziologInnen allerdings immer konfrontiert sind, ist der Vorwurf, ihre
Erkenntnisse wären „nichts Neues“, „das wisse doch eh jede/r, wofür braucht es dafür ein eigenes
Studium?“ Der polnisch-britische Soziologie Zygmunt Bauman hat in einem kleinen Büchlein mit dem
Titel „Vom Nutzen der Soziologie“ (2000) versucht diesen Vorwand zu entkräften, in dem er den

4
sogenannten Alltagsverstand (also das, was wir alle wissen) der soziologischen Betrachtung gegenüber
gestellt hat:

Alltagsverstand Soziologische Betrachtung


ist praktisches Wissen, persönliche Erfahrung bedarf einer wissenschaftlichen Überprüfung
und Begründung von Thesen
weiß immer schon, was zu tun ist ist offen, fragt sich, wie etwas so gekommen ist,
wie es gekommen ist, und ob es nicht auch ganz
anders hätte sein können
hat das Individuum und seine Merkmale im hat die gesellschaftlichen Bedingungen im Fokus
Fokus
„Gesunder Menschenverstand“ lässt sich nicht auf (Vor-)Urteile ein, sondern
überprüft verschiedene Perspektiven und
Zugänge
Selbstverständlichkeiten werden nicht hinterfragt Selbstverständlichkeiten
bewusst wahrgenommen
(zusammengefasst nach: Baumann 2000)

Zusammengefasst zeichnet sich der soziologische Zugang durch seine Offenheit und seine
Wissenschaftlichkeit aus. Zum Prinzip der Offenheit hat der amerikanische Soziologe C. Wright Mills
den Terminus der „sociological imagination“ (1959) geprägt. Soziologisch denken heißt also: Nichts
einfach so annehmen, offen dafür sein, mit den eigenen Annahmen falsch zu liegen, immer wieder
Fragen stellen, das Alltägliche zum „Fremdartigen“ (Elias 2000) machen und die Komplexitäten des
Lebens aufnehmen. Nichts ist selbstverständlich. Soziologie ist also überall dort, wo Menschen sind. Sie
hat keinen eigenen, ausschließlichen Gegenstandsbereich, sondern ist eher ein bestimmter „Blick“, eine
Perspektive, der Versuch etwas „mit anderen Augen betrachten“.

Soziologische Betrachtungen befinden sich dabei aber stets auch in einem Spannungsfeld zwischen
der Annahme, dass „alles vorgegeben ist“, aber gleichzeitig auch „alles ganz anders sein kann“. Nach
dem österreichischen Soziologe Paul Lazarsfeld (1948) geht es SoziologInnen darum,
Regelmäßigkeiten im menschlichen Verhalten festzustellen. Prinzipiell ist auf einen Impuls ja jede
menschliche Reaktion vorstellbar, aber welche Reaktionen sind tatsächlich am häufigsten? Was bringt
Regelmäßigkeiten hervor? Welche „Strukturen“ liegen hinter dem beobachtbaren Verhalten?
Gleichzeitig sind gesellschaftliche Verhältnisse aber nicht natürlich gegeben, und eine andere
Gesellschaft ist immer möglich bzw. denkbar: „Unlike puppets we have the possibility of stopping in
our movements, looking up and perceiving the machinery by which we have been moved. In this act
lies the first step towards freedom”, formuliert dies der österreichisch-amerikanische Soziologe Peter L.

5
Berger (1963). Je nach (Theorie-)Schule, Zugang oder Forschungsfeld wird in der Soziologie mehr die
Regelmäßigkeit bzw. mehr die Offenheit menschlichen Verhaltens thematisiert. Einig sind sich aber alle
SoziologInnen darüber, dass es beides gibt.

6
Soziale Ungleichheit I

Soziale Ungleichheit ist einer der zentralsten Schlüsselbegriffe in der Soziologie. Egal, ob Sie sich mit
Fragen der Arbeitswelt, des Bildungs- und (in letzter Zeit auch besonders im Fokus der
Aufmerksamkeit) des Gesundheitssystems oder mit Familien- bzw. Jugendfragen auseinandersetzen,
überall stoßen Sie auf soziale Ungleichheiten.

Ungleich kann vieles sein, die Soziologie beschäftigt sich aber nicht mit allen Formen der
Andersartigkeit (z.B. unterschiedliche Kleidung, unterschiedliche Haarfarben), sondern mit der sozialen
Ungleichheit, d.h. mit den ungleich verteilten Lebenschancen von Menschen (z.B. abhängig vom
Einkommen, Geschlecht, ethnischer Herkunft) (Burzan 2007). Soziale Ungleichheit umfasst damit „jede
Art verschiedener Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft bzw. der Verfügung über gesellschaftlich
relevante Ressourcen“ (ebenda: 7).

Theorien sozialer Ungleichheit

Theorien zu sozialer Ungleichheit beschäftigen sich im Allgemeinen mit ihren Ursachen, Merkmalen
und Strukturen sowie möglichen Veränderungs- bzw. Wandlungsprozessen und den individuellen wie
gesellschaftlichen Folgen. Bis nach dem 2. Weltkrieg waren in der Soziologie Theorien dominant, die
die Rolle sozialer Klassen bzw. sozialer Schichten betonten (beispielhaft sind hierfür die Ansätze von
Karl Marx oder Max Weber). Bei diesen Ansätzen wurde davon ausgegangen, dass es vor allem
vertikale soziale Ungleichheiten, also Unterschiede zwischen oben und unten bzw. zwischen sozialen
Klassen (z.B. der ArbeiterInnenklasse und der Bourgeoisie) gibt. „Soziale Schicht“ wurde an Rängen in
der beruflichen Hierarchie, d.h. an ähnlicher beruflicher Stellung und damit verbundener Merkmale wie
Qualifikation, Macht, Einkommen und Prestige, erfasst. Erst als die sog. „Mittelschicht“ als dominierend
angesehen wurde, begann man sich weniger mit vertikalen, sondern stärker mit sog. horizontalen
Ungleichheiten (z.B. unterschiedlichen Lebensstilen und Milieus) auseinanderzusetzen.

Warum war dies so? Die westlichen Gesellschaften waren Anfang des 20. Jahrhunderts bis nach dem 2.
Weltkrieg mit immensen vertikalen, sozialen Ungleichheiten konfrontiert, die sich auch in zahlreichen
politischen Kämpfen ausdrückten. Der „wirtschaftliche Nachkriegsboom“ und die politischen
Kräfteverhältnisse ermöglichten es nach dem 2. Weltkrieg diese großen Ungleichheiten abzufedern, in
dem Sozialstaaten gut ausgebaut wurden, genügend Arbeit für weite Teile der Bevölkerung vorhanden
war, etc. Dadurch wurden umfangreiche soziale Aufstiege aus den unteren Positionen möglich und es
konnte sich eine Wohlstandsgesellschaft mit einer breiten Mitte herausbilden. Dazu trug auch ein
starker Wandel der Wirtschaftssektoren, vom agrarischen und industriellen Sektor zum
Dienstleistungssektor, bei.

7
Vertikale soziale Ungleichheiten sind in dieser Zeit zwar nicht verschwunden, aber es ging vielen
Gesellschaftsgruppen bedeutend besser. Der Soziologe Ulrich Beck (1986) spricht in diesem
Zusammenhang vom „Fahrstuhleffekt“: alle gesellschaftlichen Gruppen fuhren gemeinsam nach oben,
also je nach Ausgangsposition etwa in den 1., 2. oder 3. Stock. Dadurch befanden sich alle nun ein
Stück weiter oben als davor, auch wenn es weiterhin jene gab, die in Hinblick auf ihren Lebensstandard
noch weiter nach oben gelangten und jene, die weiter unten blieben. Weite Teile der Bevölkerung
konnten aber erstmals ein „gelingendes Leben“ leben, d.h. sich etwas ansparen, ein Haus bauen, auf
Urlaub fahren oder den eigenen Hobbies nachgehen. Dementsprechend wurden auch andere Fragen
bedeutender, z.B. jene nach unterschiedlichen Lebensstilen, kulturellen Zugängen etc. Die
Abgrenzungen zwischen sozialen Schichten wurden zu eher fließenden Übergängen oder
Überschneidungen. Kritische Ansätze, die die Rolle sozialer Klassen betonten, gab es zwar weiterhin,
sie wurden in der Forschung allerdings eher an den Rand gedrängt bzw. kaum mehr aufgegriffen.

Seit Ende der 1990er Jahre sprechen wir in der Soziologie aber wieder von der „Rückkehr der sozialen
Frage“ und der Begriff der „Klassengesellschaft“ wird wieder öfter in den Mund genommen. Dies liegt
daran, dass die vertikale soziale Ungleichheit seit einiger Zeit wieder zunimmt. Der französische
Ökonom Thomas Piketty meint sogar, dass sich unsere Gesellschaften was die Ungleichheit betrifft
wieder den Gesellschaften Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts annähern und die Zeit
wirtschaftlicher und sozialer Prosperität und einer „Mittelschichtsgesellschaft“ nur ein kurzes Fenster
(ca. zw. 1960-1980) war (Piketty 2014). Gründe hierfür sieht er u.a. in den durch die Globalisierung
induzierten Veränderungen der Arbeitswelt, dem Ab- bzw. Umbau sozialer Sicherungsleistungen, in
der Deregulierung von Finanzmärkten etc.

Die Corona-Krise hat diese Entwicklung hin zu mehr sozialer Ungleichheit weiter befördert: Die globale
Vermögensungleichheit ist im letzten Jahr weiter gestiegen und allein der Vermögenszuwachs der
reichsten zehn MilliardärInnen in diesem Zeitraum wäre ausreichend um die Corona-Impfung für alle
Menschen zu finanzieren und zugleich alle Menschen, die durch die Krise in absolute Armut gestürzt
wurden, über die absolute Armutsschwelle zu heben (Berkhout u. a. 2021). Dieser Trend ist jedoch
keineswegs naturgegeben, sondern steht mit einem grundlegenden Politikwechsel seit den 1970er
bzw. 1980er Jahren in Zusammenhang, der die wirtschaftspolitischen Ziele der Preisstabilität und
Budgetkonsolidierung gegenüber jenen der Vollbeschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit
priorisierte (Dorling, 2018).

Der französische Soziologe Robert Castel (2000) zeigt diese Zunahme sozialer Ungleichheit in seinem
Buch „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ am Beispiel des Wandels der Arbeitswelt. Hier komme
es zu einer Wiederkehr sozialer Unsicherheit oder, wie Castel es nennt, zu einer Ausweitung der „Zone

8
der Prekarität“ und der „Zone der Entkoppelung“. Während in der „Zone der Integration“ über
Erwerbstätigkeit weiterhin eine stabile gesellschaftliche Existenz ermöglicht und soziale Sicherheit
durch Schutzmaßnahmen wie z. B. Rechtsgarantien gewährleistet wird, ist dies in der „Zone der
Prekarität“ bzw. „Zone der Entkoppelung“ nicht mehr der Fall. Das Problem ist: In diesen beiden Zonen
befinden sich immer mehr Menschen. Die „Zone der Prekarität“ betrifft die Vielzahl prekärer
Arbeitsverhältnisse, welche nicht nur häufig kein existenzsicherndes Einkommen ermöglichen, sondern
meistens auch ein geringes Schutzniveau aufweisen (z.B. Zeitarbeit, Leiharbeit, geringfügige
Beschäftigung, befristete Projektarbeit, …). In die „Zone der Entkoppelung“ fallen jene Gruppen, die
aus dem Beschäftigungsprozess ausgeschlossen bzw. dauerhaft ausgeschieden sind (wie
Langzeitarbeitslose, Arme).

Der britische Forscher Guy Standing (2015) geht einen Schritt weiter. Für ihn ist nicht nur der
Arbeitsmarktstatus (wie etwa bei Robert Castel) zentral für die Zunahme sozialer Ungleichheit.
Standing betont, dass auch die soziale Herkunft einer Person wieder einen wichtigen Einflussfaktor
darstellt: Manche werden beispielsweise in eine reiche Familie geboren und erben viel, für sie ist ihre
Erwerbstätigkeit (egal ob diese prekär ist oder nicht) nicht so zentral für ihre soziale Lage, sie besitzen
Vermögen. Standing spricht daher von einer neuen globalen Klassenstruktur, die folgendermaßen
aussieht:

Elite (die obersten 1%)

Professionelle (gut verdienende Selbstständige)

Salariat (gut abgesicherte Angestellte)

Alte „ArbeiterInnenklasse“ (abgesicherte manuell Arbeitende)

Prekariat – Neue „ArbeiterInnenklasse (nicht abgesicherte, prekär


Arbeitende)

Lumpenprekariat (Arbeitslose, BettlerInnen,…)

(Quelle: Standing 2015; eigene Darstellung)

Wie Guy Standing erwähnt, muss ein alleiniger Fokus auf das Einkommen also kritisch betrachtet
werden: Einkommen allein reicht als Indikator meist nicht aus, um die Lebensbedingungen von
Menschen ausreichend beschreiben zu können. In jüngster Zeit wird in der Forschung daher vor allem
die Bedeutung des Vermögens für den Lebensstandard betont. Vermögen sichert den Lebensstandard,
unabhängig von etwaigen Schwankungen beim Einkommen oder Unsicherheiten beim

9
Arbeitsverhältnis, ab. Was meint Vermögen nun genau? Vermögen kann vieles sein, das Geld am
Sparbuch oder von Aktien, der Besitz eines Autos oder des Hauses/der Wohnung, in der man wohnt,
aber auch der Besitz weiterer Immobilien oder von Unternehmen(-santeilen). Vermögen ist in der
Bevölkerung meist sehr ungleich verteilt, einige wenige besitzen viel, der Großteil kaum etwas.
Vermögen ist weiters stark abhängig von der sozialen Herkunft (d.h. von der Familie, in die man
hineingeboren wurde). Über die eigene Leistung (z.B. über Erwerbsarbeit) kann man sich zwar auch ein
Vermögen erarbeiten, es wird aber zu einem großen Teil vererbt (Leitner 2018).

Soziale Ungleichheit in Österreich: Daten und Fakten

Wie ungleich ist nun Österreich? Gibt es die prosperierende Mittelschichtsgesellschaft noch oder leben
wir in Österreich in einer gespaltenen Gesellschaft?

Wenn man sich die Einkommensverteilung ansieht, so gibt es in Österreich weiterhin eine breite Mitte.
Wer zwischen 60–180 Prozent des Medianeinkommens (also des Haushaltseinkommens genau in der
Mitte der Verteilung) verdient, gilt laut EU-SILC – einer europaweiten Gemeinschaftsstatistik über
Einkommen und Lebensbedingungen – als Teil der „mittleren Einkommensgruppe“. Das waren in
Österreich 2017 rund 77 Prozent, d.h. im mittleren Einkommenssegment befindet sich der
überwiegende Teil der ArbeitnehmerInnen, die Köchin genauso wie der Bauarbeiter oder der
Krankenpfleger. Das Medienbruttoeinkommen lag 2019 bei rund 2200€ (ca. 1600€ netto). Besonders
die breite Abdeckung über Kollektivverträge (98% der unselbstständigen Erwerbstätigen unterliegen
einem KV in Österreich, siehe die Einheit über „Arbeitsbeziehungen“) sichert dieses relativ gute Niveau
in der Mitte der Gesellschaft ab.

Wenn wir aber etwas mehr in die Daten „hineinzoomen“ sehen wir, dass die Schere auch bei den
Einkommen aufgeht und die Einkommensungleichheit steigt. Woran liegt das?

1. Dadurch, dass es immer mehr atypische Jobs gibt, ist der österreichische Arbeitsmarkt immer
mehr segmentiert. D.h. es gibt sichere, gut bezahlte und unsichere, meist schlecht bezahlte
Arbeitsplätze. Insbesondere Personen, die instabil (z.B. nicht ganzjährig) beschäftigt sind,
erleiden in den letzten Jahren Lohnverluste, während stabil Beschäftigte in höheren
Einkommensgruppen Zuwächse verzeichnen können.
2. Auch ziehen die Gagen von ManagerInnen bzw. börsennotierten Vorständen den
durchschnittlichen Einkommen davon: War das Verhältnis 2003 1:24, so lag es 2018 bereits bei
1:64.

10
Die Schere geht bei den Einkommen also auch in Österreich zunehmend auf, auch wenn es weiterhin
eine breite Mitte gibt.

Wenn wir die Vermögensverteilung1 betrachten, so zeigt sich, dass Vermögen in Österreich sehr
konzentriert ist: Das oberste 1% besitzt rund 39% des Gesamtvermögens, die unteren 50% nur rund
2,8% (Heck et al. 2020).2 Das heißt, während es beim Einkommen in Österreich weiterhin eine breite
Mitte gibt, so ist diese beim Vermögen relativ klein. Wenn man zu den unteren 50% gehört, besitzt
man in erster Linie Nutzgegenstände, die an Wert verlieren wie etwa ein Auto, oder ein Sparbuch. Die
obere Mitte (51-80%) besitzen dazu noch die Wohnung oder das Haus, in dem sie leben. Erst die
obersten 5% bzw. 20% besitzen Vermögenswerte, die weitere Rendite schaffen, wie bspw. Aktien oder
Unternehmensanteile.

Und woher kommt dieses Vermögen? Nur zu einem kleinen Teil aus eigener Arbeit (also in dem man
sich bspw. von dem eigenen Einkommen etwas anspart), zu einem sehr großen Teil aus Erbschaften.
Das heißt, die Frage, ob wir erben oder nicht, wird in Österreich zunehmend relevant für den eigenen
sozialen Status. Ein nennenswertes Erbe lässt sich durch eigene, harte Arbeit auch nur mehr bedingt
ausgleichen. Gleichzeitig sind große Erbschaften in Österreich hochkonzentriert, nur die obersten 10%
erben relativ viel. Der Rest erbt nicht bzw. verhältnismäßig wenig. Der gut ausgebaute Sozialstaat in
Österreich kann diese Ungleichheit derzeit noch abfangen, aber einige ForscherInnen sprechen bereits
davon, dass wir uns auf dem Weg in eine „Erbenrepublik“ befinden, in eine Gesellschaft also, in der die
Ungleichheit qua Geburt wieder stark zunimmt.

Diese Entwicklung widerspricht den Einstellungen und Gerechtigkeitsprinzipien vieler Menschen: So


waren 2018 in Österreich rund 75% der Ansicht, dass die Vermögen in Österreich nicht nur ungleich,
sondern ungerecht verteilt sind. Auch ist die überwiegende Mehrheit der in Österreich lebenden
Menschen der Ansicht, dass Leistung und Bedarf – nicht Abstammung – Grundlage der Verteilung sein
sollten. Wer also aus einer Familie mit hoher gesellschaftlicher Stellung stammt, sollte dadurch nicht
privilegiert sein. Was die ÖsterreicherInnen als gerecht und fair empfinden, nämlich eigene Leistung
statt Geburtslotterie, steht demnach in Diskrepanz mit der tatsächlichen Verteilung des Vermögens
(Hofmann et al. 2020). Dies führt zu Frust und gefährdet in Folge die Demokratie und den sozialen
Zusammenhalt. Studien zeigen, dass bereits 2010 in Österreich des Weiteren ein Großteil der Ansicht

1
Seit 2010 erheben ExpertInnen der Österreichischen Nationalbank die Vermögen von privaten
Haushalten auf Basis von Haushaltsbefragungen (Datensatz: Household Finance and Consumption
Survey, HFCS).
2
Die hohe Ungleichheit bei privaten Vermögen ist allerdings noch unterschätzt, denn superreiche
Haushalte findet man in den HFCS-Daten keine. Diese kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit gar
nicht in die zufällig gezogene Stichprobe und haben auch eine höhere Tendenz der
Teilnahmeverweigerung.
11
war, dass „zu großer Reichtum einiger weniger zu Problemen in der Gesellschaft (führt)“ und dass
„reiche Menschen im Leben Vorteile (genießen), die ungerechtfertigt sind“ (Hofmann/Weiss 2019).

Auch in Zeiten zunehmender sozialer Ungleichheit wirkt jedoch die Vorstellung, dass wir uns in einer
prosperierenden Mittelschichtsgesellschaft befinden, weiterhin stark nach. Rund 70 Prozent gaben bei
der bislang größten Befragung zum Vermögen der ÖsterreicherInnen (HFCS) der OeNB an, dass sie
sich eher in der Mitte der Gesellschaft einordnen würden. Dabei unterschätzten sich die Reichsten um
einiges stärker, als sich die Ärmsten überschätzten. Die Mitte wirkt also als eine Art Sehnsuchtsprojekt,
zu dem jeder und jede gehören will: Die Ärmeren, weil sie nicht ganz unten in der Gesellschaft stehen
wollen, die Reicheren, weil sie dadurch ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft verstecken können.

12
Soziale Ungleichheit II

Das führt auch dazu, dass Armut in Österreich unsichtbar(er) wird. Dabei gelten laut Statistik Austria
aktuell rund 17% der Bevölkerung als armutsgefährdet. Laut Definition sind das jene Personen, deren
äquivalisiertes Nettohaushaltseinkommen3 unter 60% des Medianeinkommens liegt. Für einen
Einpersonenhaushalt waren das 2019 1.286€. Darüber hinaus gelten Personen als erheblich materiell
depriviert, wenn
1.) im Haushalt Zahlungsrückstände bei Miete, Betriebskosten oder Kredite bestehen
2.) es für den Haushalt finanziell nicht möglich ist, unerwartete Ausgaben zu tätigen
3.) man nicht einmal im Jahr auf Urlaub fahren kann
4.) die Wohnung nicht angemessen warm gehalten werden kann
5.) es nicht möglich ist, jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische
Speise zu essen
6.) man keinen PKW oder keine Waschmaschine oder kein Fernsehgerät oder kein Telefon bzw.
Handy hat.

Rund 11% der Erwerbstätigen sind darüber hinaus sogenannte „working poor“, d.h. sie fallen trotz
Erwerbstätigkeit unter die Armutsgrenze (meist, weil sie in prekären Beschäftigungsverhältnissen
arbeiten).

Die Armutsgefährdungsrate ist in den letzten Jahren in Österreich relativ stabil geblieben (+/- einige
Prozentpunkte). Dies kann man einerseits als Erfolg des österreichischen Sozialstaates deuten: Ohne
sozialstaatliche Umverteilung wäre die Armutsgefährdungsquote im Land nämlich beträchtlich höher.
Sie würde bei ca. 40% liegen, d.h. ohne sozialstaatliche Leistungen wären in Österreich dreimal so viel
Menschen armutsgefährdet. Auch im internationalen Vergleich liegt Österreich mit rund 17%
Armutsgefährdeten unter dem EU-Schnitt.

Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die Corona-Krise zu einem Anstieg der
Armutsgefährdung führen wird. Auch wenn eine Zunahme von Armut in den aktuellen
Armutsstatistiken noch nicht ersichtlich ist, erwarten ForscherInnen einen Anstieg in den kommenden
Jahren (BMSGPK 2020) und damit auch eine erhöhte Gefährdung der Mitte der Gesellschaft: Einer

3
„Das äquivalisierte Nettohaushaltseinkommen ist das verfügbare Haushaltseinkommen dividiert
durch die Summe der Konsumäquivalente des Haushalts. Unterstellt wird, dass mit zunehmender
Haushaltsgröße und abhängig vom Alter der Kinder eine Kostenersparnis im Haushalt durch
gemeinsames Wirtschaften erzielt wird. Für jeden Haushalt wird ein Grundbedarf angenommen, die
erste erwachsene Person eines Haushalts erhält daher ein Gewicht von 1. Für jede weitere
erwachsene Person wird ein Gewicht von 0,5 und für Kinder unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3
angenommen.“ (Statistik Austria 2020)
13
aktuellen Studie von SORA (2020) zufolge berichteten fast sieben von zehn Haushalten mit unter 2.000
Euro Nettoeinkommen von Einkommensverlusten, sechs von zehn mussten Ausgaben einschränken
oder auf Ersparnisse zurückgreifen. Insbesondere die stark steigende (Langzeit-)Arbeitslosigkeit wird
sich in einer Erhöhung der Armuts(-gefährdungs)quote niederschlagen: Rund die Hälfte der
Langzeitarbeitslosen gilt laut EU-SILC Daten als armutsgefährdet (Tamesberger/Woltran 2020). Hinzu
kommt, dass jene Menschen, die bereits vor Ausbruch von COVID-19 arbeitslos waren, nun noch
schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt vorfinden. Auch die weitreichende Reform des letzten
sozialen Netzes im Frühjahr 2019 (Sozialhilfe neu), die teilweise mit beträchtlichen Kürzungen
einhergeht, wird negative Auswirkungen auf die Armutsbetroffenheit haben (Wagner 2020).

Wer vor der Pandemie bereits einkommensarm bzw. armutsgefährdet war, den hat die Corona-Krise
besonders hart getroffen. Viele Armutsbetroffene haben sich vor der Krise über eine geringfügige
Beschäftigung etwas Geld dazu verdient, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen.
Gerade diese geringfügigen Jobs sind allerdings in der COVID-19-Krise oft als erstes gestrichen
worden: Der Verlust eines geringfügigen Jobs bedeutete für Armutsbetroffene bis zu 460€ weniger im
Monat, was ein beträchtlicher Anteil ihrer finanziellen Ressourcen war. Zu diesen erheblichen
finanziellen Problemen gesellten sich gesundheitliche und psychische Probleme (Dawid 2020).

Weiters bleibt jenseits von Corona das Risiko arm zu werden für bestimmte Bevölkerungsgruppen über
die Jahre relativ stabil hoch, d.h. die Armutspolitik hat hier noch keine angemessenen Antworten auf
ihre prekäre soziale Lage gefunden: Insbesondere Alleinerziehende, Arbeitslose und Personen mit
physischen und psychischen Beeinträchtigungen haben ein höheres Risiko arm zu werden. Hier
kommen meist mehrere Problemlagen zusammen: ein zu geringes bzw. kein Einkommen (z.B. wegen
notwendiger Kinderbetreuung), zu geringe Unterstützungsleistungen, möglicherweise Schulden, etc.

Ein Leben in Armut hat viele erhebliche, negative Folgen, u.a. für die eigene Gesundheit: Armut führt
etwa zu einem höheren Krankheitsrisiko und einer geringeren Lebenserwartung. Laut Statistik Austria
sterben dauerhaft Arme um bis zu 11 Jahre früher als der Rest der Bevölkerung. Arme Kinder sind
statistisch häufiger krank und wohnen häufig in beengten Wohnumgebungen, d.h. z.B. in engen,
kleinen Wohnungen im Überbelag. Gerade in Zeiten der Corona-Krise, in der viele Aktivitäten zu Hause
stattfanden (u.a. durch Home Schooling oder im Zuge der Ausgangsbeschränkungen) hatten sie es
daher besonders schwer. Sie hatten wenig Rückzugsmöglichkeiten, keinen eigenen Lernplatz und
kaum Privatsphäre (Bacher 2020).

Gesellschaftliche und demokratische Konsequenzen sozialer Ungleichheit

14
Zu große Ungleichheit schadet aber nicht nur jenen, die akut von Armut betroffen sind, sondern der
gesamten Gesellschaft. Die EpidemologInnen Richard Wilkinson und Kate Pickett haben das in ihrem
Buch „Gleichheit ist Glück“ (2009) statistisch belegt. Sie zeigen die sozialen Konsequenzen
ökonomischer Ungleichheit (gemessen am Gini-Index) anhand von vielfältigen Indikatoren, z.B. Mord-
und Gefängnisraten, Übergewicht, Teenagerschwangerschaften, Vertrauenslevel, psychischen
Krankheiten, etc. Es zeigt sich bei allen Indikatoren ein ähnliches Bild: Gleichere Gesellschaften sind
besser für alle. Je gleicher eine Gesellschaft, desto eher gehen Menschen etwa davon aus, dass sie
einander vertrauen können, und auch die psychische Gesundheit der Bevölkerung ist in gleicheren
Gesellschaften deutlich weniger bedroht.

Auch aus der Demokratieforschung kennen wir einen ähnlichen Befund: Umso ökonomisch ungleicher
eine Gesellschaft ist, umso undemokratischer ist sie auch. Wenn wir eine Heuristik des amerikanischen
Ökonomen und Soziologen Albert Hirschmann heranziehen, so führt soziale Ungleichheit zu
Ungleichheit in der Stimme (voice), in der Option auszusteigen (exit) und in der politischen Loyalität
(loyality). Was versteht man unter diesen drei Folgewirkungen?

1) Ungleichheit in der Stimme: Eine politische Mitsprache möglichst aller Gesellschaftsmitglieder


ist wichtig für die Demokratie, weil hierdurch alle ihre Anliegen und Interessen einbringen
können. Dies kann z.B. über Wahlen, der Teilnahme an Petitionen/Demonstrationen oder der
Mitarbeit in politischen Parteien/Organisationen geschehen. Die Demokratieforschung zeigt
allerdings, dass Personen, die weiter unten auf der sozialen Skala stehen, sich weniger oft
politisch einbringen als Personen, die weiter oben stehen: Auch in Österreich haben bei der
letzten Nationalratswahl 2019 im ökonomisch schwächsten Drittel 41% der Wahlberechtigten
keine Stimme abgegeben. Dazu kommen noch viele Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft
gar nicht wählen durften. Im obersten Drittel waren es hingegen nur 17% Nicht-WählerInnen.
(Zandonella 2020). Der britische Soziologe Mike Savage spricht in diesem Zusammenhang
auch von der politischen Apathie der unteren Klassen: Diese wären eher davon überzeugt, dass
sich keine politische Partei für ihre Interessen einsetzen würde oder dass es für sie keinen
Unterschied macht, welche Partei gerade an der Macht ist.

Dass sie mit dieser Einschätzung nicht ganz falsch liegen, zeigen u.a. die Arbeiten von Armin
Schäfer (2015): Der deutsche Politikwissenschafter zeigt, dass im Deutschen Bundestag in den
letzten Jahrzehnten viel mehr Maßnahmen beschlossen wurden, die Angehörigen der oberen
bzw. mittleren Klassen zugutekommen als den Angehörigen der unteren Klassen. Der
Elitenforscher Michael Hartmann erklärt, dass dahinter auch höchst unterschiedliche
Wahrnehmungen der sozialen Realität stecken: In der Politik seien ökonomisch besser
gestellte Personen überrepräsentiert. Diese würden soziale Ungleichheit allerdings kaum als

15
gesellschaftliches Problem wahrnehmen. Dementsprechend würden sie sich auch kaum für
Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit einsetzen.

2) Ungleichheit in der Option aus der Gesellschaft auszusteigen: Umso größer die Ungleichheit,
umso größer sind auch die Unterschiede in den Lebensumgebungen von Menschen.
Wohlhabendere Personen können sich ihre Lebensumgebung aussuchen, arme Menschen
nicht. Aus der Stadtforschung gibt es einige spannende Befunde, die zeigen, dass sich
Ungleichheit auch immer mehr „in den Raum einschreibt“. Gebiete, in denen reichere
Menschen leben, werden immer mehr privatisiert: Private Spielplätze, Kindergärten, Schulen, in
denen man sich vom Rest der Gesellschaft abschotten kann, stehen öffentlichen Orten
gegenüber, die angesichts von geringer werdenden staatlichen Ausgaben nicht denselben
Standard haben. Wilkinson und Pickett argumentieren in diesem Zusammenhang, dass nicht
nur die daraus entstehenden ungleichen Bedingungen ein gesellschaftliches Problem sind,
sondern auch der geringer werdende Austausch von Angehörigen verschiedener
sozioökonomischer Klassen den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe stellt.

3) Ungleichheit in der politischen Loyalität: Studien zu den globalen Eliten zeigen weiters, dass
diese in ihrem Handeln immer weniger an Nationalstaaten (z.B. an ihren Geburtsort oder an
das Land dessen StaatsbürgerInnenschaft sie besitzen) gebunden sind (Neckel et al. 2018). Das
führt in weiterer Folge aber auch dazu, dass das globale Kapital Steuerunterschiede zwischen
Ländern bzw. Steuerlücken so gut es geht ausnützt und Staaten so immer weniger an
Einnahmen lukrieren können. Laut Berechnungen des Ökonomen Gabriel Zucman (2014)
werden weltweit rund 4.700 Mrd €. nicht deklariert, das ergibt entgangene Steuereinnahmen
von rund 130 Mrd. € pro Jahr. Einige Wohlhabende mit sozialen Gewissen versuchen die nicht
bezahlten Steuern vor allem über Spenden zu kompensieren (siehe z.B. die Bill und Melinda-
Gates-Stiftung). Der Sozioökonom Michael Neumayr von der WU Wien warnt allerdings vor
den demokratischen Konsequenzen eines solchen „Philantrokapitalismus“. So sind Spenden
zwar hilfreich, wenn sie einlangen, allerdings sind diese im Gegensatz zu Steuern freiwillig
(fehlender Rechtsanspruch), benötigen keine Legitimation und die Gesellschaft ist abhängig
vom „guten Willen“ Einzelner.

16
Arbeitssoziologie I

Wenn wir nicht ein großes Vermögen geerbt haben, müssen wir wohl oder übel alle arbeiten gehen,
primär um den Lebensunterhalt in den verschiedenen Phasen unseres Lebens zu erwerben. Die
durchschnittlichen Ausgaben eines Haushaltes mit zwei Erwachsenen und einem Kind liegen laut der
Schuldnerberatung etwa bei rund 2400€ netto monatlich. Diese Ausgaben müssen gedeckt werden,
insbesondere wenn man bedenkt, dass das Mediannettoeinkommen derzeit bei rund 2100€ (inkl.
anteiligem Urlaubs-/Weihnachtsgeld) liegt. Um Anspruch auf die gesetzliche Alterspension zu haben,
muss man in Österreich mindestens 15 Versicherungsjahre erworben haben. Wenn wir von unserer
Pension allerdings auch noch ein halbwegs gutes Leben bestreiten wollen, dann sind es weit mehr.

Arbeiten zu gehen nimmt nicht nur einen großen ökonomischen, sondern auch großen sozialen und
ideellen Stellenwert im Leben der meisten von uns ein und ist dementsprechend auch ein
Schlüsselbereich der soziologischen Forschung. Allerdings hinterfragt die Soziologie den Begriff der
„Arbeit“ auch: Was ist eigentlich Arbeit? Was nicht? Warum ist es etwa Arbeit, wenn wir ein Gespräch
mit bestimmten Personen führen, einen Song schreiben oder einen Raum dekorieren und dafür Geld
bekommen, und warum ist dieselbe Tätigkeit keine Arbeit, wenn wir sie für/mit FreundInnen und
Familie machen?

In der Philosophie wird häufig ein sehr breiter Arbeitsbegriff verwendet. Hier wird Arbeit als tätige
Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Welt verstanden. Arbeit meint also nichts anderes als
„Tätig-sein“, egal ob man dafür Geld bekommt oder nicht. In der Soziologie verstehen wir Arbeit
demgegenüber als „Tätig-Sein“ innerhalb der konkreten (kapitalistischen) Gesellschaftsordnung. Das
heißt, wir sehen uns das Feld der Erwerbs-bzw. Lohnarbeit (jener Arbeit, für die man Geld durch
„berufliche Leistung“ bekommt) an, aber auch das Feld der Reproduktionsarbeit, das ist jene Arbeit, für
die man häufig zwar kein Geld bekommt, die aber gesellschaftlich notwendig ist (z.B. im Haushalt, sich
um Kinder und/oder ältere Verwandte kümmern...).

Eine Soziologin, die sich intensiv mit dem Begriff der Arbeit (und insbesondere mit dem Feld der
Erwerbsarbeit) auseinandergesetzt hat, war die Österreicherin Marie Jahoda. Als Mitautorin der
berühmten Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ aus dem Jahr 1933, aber auch in ihren späteren
Arbeiten hat sie sich mit der Bedeutung von Arbeit für den/die Einzelne auseinandergesetzt. In „Die
Arbeitslosen von Marienthal“ wird beispielsweise gezeigt, was Arbeitslosigkeit mit Menschen macht.
Jahoda et al. (1975 [1933]) können zeigen, dass Arbeitslosigkeit nicht nur materielles Elend bedeutet,
sondern das gesamte soziale Leben zum Erliegen bringt. Dies erklären sich die SoziologInnen damit,
dass die Erwerbsarbeit für den Menschen einen grundlegenden Bereich der Erfahrungen darstellt und
Arbeit somit eine Quelle sozialer Identität ist. Arbeit bringt nämlich nicht nur ein Einkommen (Jahoda

17
nennt das die manifeste Funktion von Arbeit), sondern strukturiert auch den Tag in Phasen der
Erwerbsarbeit/Nicht-Erwerbsarbeit, bringt Status und Identität, soziale Kontakte sowie die Teilnehme
an kollektiven Zielen (Jahoda nennt das die latenten Funktionen von Arbeit). Laut Jahoda gilt dies für
jegliche Form der Arbeit, egal wie gut oder schlecht deren Bedingungen auch sein mögen. Diese These
leitet sie aus Interviews, die sie mit Arbeitslosen geführt hat, ab.

Lässt sich Jahodas These auf den heutigen Arbeitsmarkt und heutige Arbeitsverhältnisse übertragen?
Gilt bei jeder Arbeit wirklich die Devise: Besser eine Arbeit als keine? Gerade in einer Zeit der Erosion
des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses - also von sicheren Arbeitsverhältnissen mit einer
geregelten Normalarbeitszeit (40h oder weniger), Formen kollektivvertraglich geregelter Lohnfindung
sowie sozialrechtlicher Absicherung (z.B. Krankenversicherung) - und der Zunahme von sogenannten
atypischen bzw. prekären Jobs, ist eine Antwort auf diese Fragen keineswegs klar (Castel 2000). So wird
in der Arbeitssoziologie heut vermehrt von einer Spaltung bzw. Segmentierung am Arbeitsmarkt
gesprochen. Es gibt weiterhin Arbeitsmarktsegmente mit gut bezahlten, spannenden Jobs, in denen
die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen mitgestalten können, allerdings gibt es auch
Arbeitsmarktsegmente mit schlecht bezahlten Routinejobs, in denen die Arbeitsbedingungen sehr hart
und starr sind. Personen, die sich im zweiten Segment befinden, hätten wohl Grund genug Jahodas
Thesen zu hinterfragen.

Dementsprechend werden auch in der soziologischen Diskussion Jahodas Thesen weiterhin stark
diskutiert. Einig sind sich aber mehr oder weniger alle, dass ein Verlust von Arbeit und längerfristige
Arbeitslosigkeit eine immense Herausforderung für den/die Einzelne darstellt. Die Aktualität von
Jahodas Thesen hat sich auch im Zuge der Corona-Krise gezeigt: Laut einer Studie von IFES sind
Arbeitslose im letzten Jahr kaum mit dem Arbeitslosengeld ausgekommen und litten viel häufiger
unter gesundheitlichen Problemen und psychischen Belastungen.

Der österreichische Arbeitsmarkt: Strukturen und Trends

Ein Blick auf die Strukturen und Bedingungen in der Arbeitswelt kann allerdings dabei helfen, sich
selbst ein Bild zu diesen Fragen zu machen. Dementsprechend wird im Folgenden der österreichische
Arbeitsmarkt etwas näher beleuchtet.

1) Beschäftigung und Arbeitslosigkeit: Vor der Corona-Krise (Stand März 2020) gab es in
Österreich zwar eine steigende Beschäftigung, aber von einer Vollbeschäftigung (d.h. dass
weniger als 2,3% der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos gemeldet sind) waren wir mit
rund 5% weit entfernt. Mit der Corona-Krise ist die Zahl an Arbeitslosen in Österreich deutlich
gestiegen. Im Jahresschnitt 2020 hatten wir über 400.000 Arbeitslosen, hinzu kamen 500.000,

18
die in Kurzarbeit waren. Besonders betroffen waren ArbeitnehmerInnen in bestimmten von
den Corona-Maßnahmen besonders betroffenen Branchen, wie Tourismus oder Gastronomie.
Mittlerweile geht die Arbeitslosigkeit wieder zurück, allerdings sind noch immer viele
Menschen langzeitarbeitslos.

2) Normalarbeitsverhältnis und prekäre Beschäftigung: In Österreich spricht man weniger von


einer generellen Prekarisierung des Arbeitsmarktes (Dörre et al. 2016), sondern von einer
regulierten Ausdifferenzierung der Beschäftigungsverhältnisse. Das heißt, es arbeitet weiterhin
der überwiegende Teil der Beschäftigten in regulierten Arbeitsverhältnissen (z.B.
unselbstständig Erwerbstätige in Vollzeit oder Teilzeit). Ein kleinerer, aber wachsender Teil ist
aber auch in Österreich prekär beschäftigt, wie beispielsweise die freien DienstnehmerInnen,
die geringfügig Beschäftigten oder die neuen Selbstständigen (Bohrn Mena 2019)

3) Die „Teilzeitfalle“: Das quantitativ betrachtet wohl größte Problem in den Arbeitsverhältnissen
in Österreich ist das große Ausmaß an Teilzeitbeschäftigten, welches auch im EU-Vergleich
besonders hervorsticht. Jede zweite Frau arbeitet Teilzeit, diese Zahl hält sich auch über die
Jahre konstant. Laut Daten der Statistik Austria wissen wir, dass zwar im Durchschnitt die
meisten Beschäftigten in Österreich mit ihren Arbeitszeiten zufrieden sind, allerdings wollen
Frauen in der Regel mehr und Männer tendenziell weniger arbeiten. Von einer Teilzeitarbeit
kann man in vielen Fällen relativ schlecht leben und sie birgt das langfristige Risiko von
Altersarmut, weil sie die Höhe der späteren Pension beeinflusst. Erhebungen der Statistik
Austria zeigen weiters, dass Frauen vorwiegend Teilzeit arbeiten, weil sie Kinder oder ältere
Familienmitglieder betreuen müssen, während Männer vorwiegend Teilzeit arbeiten, um sich
weiterzubilden.

4) Arbeitszeiten und Arbeitszeitverkürzung: Ein zentrales Thema am österreichischen


Arbeitsmarkt sind also die Arbeitszeiten. Seit 1975 liegt die gesetzliche Normalarbeitszeit in
Österreich bei 40h. Trotz steigender Arbeitsproduktivität gab es seit 1975 keine allgemein
gesetzliche, sondern nur mehr spezielle Arbeitszeitverkürzungen, etwa in Form von mehr
Urlaub (bspw. Anspruch auf eine 5. Urlaubswoche in den 1980er Jahren) bzw. in einzelnen
Kollektivverträgen. In den jüngsten Kollektivvertrags-Auseinandersetzungen etwa im
Gesundheits- und Sozialbereich ist das Thema einer Arbeitszeitverkürzung aber wieder aktuell
geworden (Stichwort 35h-Woche). Gerade in diesen Branchen ist die Arbeit körperlich wie
psychisch sehr fordernd. Dementsprechend arbeiten viele der oft weiblichen Beschäftigten
bereits jetzt schon in Teilzeit, was in eher schlechten bezahlten Branchen zu erheblichen
Lohnverlusten führt. Seit der Corona-Krise ist das Thema Arbeitszeit auch in den öffentlichen
Debatten stark präsent: Die Regierung bot Firmen über die Kurzarbeit die Möglichkeit, die

19
Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten deutlich (auf bis zu 10%) zu reduzieren, damit diese nicht
gekündigt werden müssen. Diese beiden aktuellen Beispiele verdeutlichen, dass das Thema
der Arbeitszeiten ein gesellschaftlich höchst wichtiges und derzeit wieder stark diskutiertes ist.

20
Arbeitssoziologie II

Wie, was und wo wir arbeiten, hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Den Wandel von Arbeit
und Arbeitswelten bezeichnen SoziologInnen als „Entgrenzung“. Der Fokus soll hier auf dem
Phänomen der räumlichen Entgrenzung von Arbeit liegen. Entgrenzungsprozesse können einerseits
durch die ökonomische Globalisierung, d.h. durch die Internationalisierung von Märkten und die
Transnationalisierung von Produktions- und Dienstleistungsketten, entstehen. Ein Beispiel dafür ist der
österreichische Arbeitsmarkt, dessen „Ent-grenzung“ aufgrund seiner geografischen Lage im Zentrum
Europas weitreichende Folgen für Beschäftigte und Beschäftigungsordnungen hat. Österreich ist ein
„Hochlohnland“, in dem die Löhne im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere den
mittelosteuropäischen Ländern, hoch und die Arbeitsbedingungen rechtlich abgesichert und auf
hohem Niveau sind. Durch die Öffnung des österreichischen Arbeitsmarktes im Rahmen der
Umsetzung des gemeinsamen Europäischen Arbeitsmarktes sahen Politik und Sozialpartner die hohen
Standards in Österreich durch „Lohndumping“ ausländischer Arbeitnehmer*innen und Unternehmen
gefährdet. Der österreichische Arbeitsmarkt liegt in einem Spannungsverhältnis aus nationaler
Regulation (Arbeits- und Sozialrecht), Institutionen (z.B. Arbeitsmarktservice) und transnationaler
Öffnung (EU-Arbeitsmarkt, Personen- und Dienstleistungsfreiheit; grenzüberschreitende
Arbeitsmigration und –mobilität). Die räumliche Entgrenzung von Arbeit durch wirtschaftliche
Globalisierung und Arbeitsmigration innerhalb der EU (und global) hat weitrechende Folgen auf die
Löhne, Arbeitsbedingungen und Organisationen der Interessenvertretung von Arbeitnehmer*innen
und Arbeitgeber*innen (siehe Einheit 7: Arbeitsbeziehungen).

Eine weitere Entwicklung, die zur Entgrenzung von Arbeit führt, ist der Prozess der Technisierung und
Digitalisierung. Den Übergang von Arbeit in der Industriegesellschaft (siehe Einheit 5) zur Arbeit in der
Plattformökonomie oder Industrie 4.0 („digitaler Kapitalismus“) kann in drei Phasen beschrieben
werden, wobei die letzte nicht abgeschlossen ist.

1) Industriegesellschaft (Ende 18. Jhd. – Ende 19. Jhd.): charakterisiert durch Dampfmaschinen,
Manufakturen und Entstehung erster Arbeiterbewegungen. Die Vermarktlichung von Arbeit
führt zu Landflucht und sozialer Unsicherheit.

2) Fordismus/Taylorismus (Ende 19. Jhd. – Mitte 20. Jhd.): Elektrifizierung und Fließbandfertigung
(Henry Ford) ermöglichen Massenproduktion; der Produktionsprozess wird in viele kleine
Arbeitsschritte zerlegt (Taylorismus), was die Rationalisierung und Effizienzsteigerung der
Produktion ermöglicht. Es entsteht ein System der sozialen Absicherung (z.B. Unfall-,
Arbeitslosenversicherung). Das „Normalarbeitsverhältnis“ (siehe Einheit 5) wird zum
vorherrschenden Arbeitsverhältnis.

21
3) Postfordismus und Übergang zu digitalem Kapitalismus (seit Ende des 20. Jhd./Anfang des 21.
Jhd.): gekennzeichnet von technologischen Entwicklungen wie Masseneinsatz von Personal
Computern, elektronische Datenverarbeitung, Internet und Digitalisierung; ökonomischen
Entwicklungen wie Marktinternationalisierung und De-Industrialisierung, d.h. Verlagerung der
industriellen Produktion in weniger entwickelte, „billigere“ Länder; arbeitsrechtlichen und
sozialen Veränderungen ; nach der Phase der Stärkung der Arbeitnehmerrechte (soziale
Absicherung, betriebliche Mitbestimmung, Arbeitszeitregulierung usw.) nach dem 2. Weltkrieg,
kommt es seit den 1990er-Jahren zu zunehmender Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse
(„atypische Beschäftigung“), Fragen der Vereinbarkeit von Freizeit/Familie und Beruf und
Absicherung prekärer Arbeitsverhältnisse als „neue“ Fragen der Arbeitnehmerschaft.

Exkurs: Entgrenzung durch Home Office

Eine wichtige Maßnahme zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie war die Verlagerung der Arbeit
vom Betrieb nach Hause. Viele ArbeitnehmerInnen machten zum ersten Mal die Erfahrung, im Home
Office zu arbeiten. Im April 2020 arbeiteten 42% der befragten Beschäftigten zumindest ab und zu im
Home Office (IFES 2020). In vielen Berufen ist Home Office aber nicht möglich, z.B. Pflege, Gesundheit,
Kinderbetreuung, Transport, stationärer Handel, Produktion/Industrie. Obwohl die Zufriedenheit mit
dem Home Office insgesamt eher hoch ist, gibt ein großer Teil der Beschäftigten mit
Kinderbetreuungsverpflichtungen – insbesondere Frauen – an, Beruf, Freizeit und Betreuungsarbeit
nicht gut vereinbaren zu können (Mader et al. 2020). Probleme der „Entgrenzung“ durch Home Office
zeigen sich beispielsweise in der hohen Zustimmung zu Aussagen wie „ich mache lieber Home Office
als Pflegefreistellung zu nehmen“ (60 %), „ich arbeite eher im Home Office als in den Krankenstand zu
gehen“ (56 %), „ich arbeite zu Zeiten, zu denen ich sonst nicht arbeiten würde“ (54 %) (IFES 2020).
Wichtige betriebliche Rahmenbedingungen für positive Erfahrungen mit Home Office sind z.B.
Vereinbarung von Beruf und Familie/Freizeit, klare Regelungen, die Arbeitnehmervertretungen mit
verhandeln, Unterstützung durch Vorgesetzte und Betrieb, Aufstiegsförderung in Teilzeit (Lott 2020).

Digitalisierung als disruptiver Wandel oder als kontinuierlicher Prozess?

Während in den Medien oft ein regelrechter „Digitalisierungshype“ zu beobachten ist, beschreiben
Expert*innen und Unternehmer*innen die Veränderungen in der Produktion oft als kontinuierlichen
Prozess, in dem sich der Wandel schrittweise und oft partiell vollzieht. Beispielsweise führt die
Computerisierung zwar zu einem grundlegenden Wandel in vielen Tätigkeitsbereichen (z.B.
Administration, Druck, Grafik, Industrie), die (kurzfristig) mit Beschäftigungsverlusten einhergehen, aber
mittel-und langfristig zu Beschäftigungswachstum in anderen Branchen, wie ICT, Gesundheit, Bildung,

22
Kreativwirtschaft, und zur Entstehung neuer Berufe und Tätigkeiten wie Software Entwicklung,
WebDesign, führen.

Die Wissenschaft hat zu diesem Wandel einige aufsehenerregende und widersprüchliche Thesen
formuliert, z.B. das bereits 1995 von Jeremy Rifkin verkündete (und von der Realität widerlegte) „Ende
der Arbeit“ durch Computerisierung, oder aktueller, das „Second machine age“, (Brynjolfsson/McAfee
2014), in dem Algorithmen menschliche Arbeit ersetzen. Wandel vollziehe sich also disruptiv; die
Umwälzungen seien so allumfassend, dass sich die Arbeits- und (Lebens)welten grundlegend ändern.
Dabei würden viele Arbeitsplätze in sehr kurzer Zeit verloren gehen. In ihrer Studie stellen
beispielsweise Frey und Osborne (2013) fest, dass rund 47% der Beschäftigten in Berufen mit einer
hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit (> 70%) arbeiten. Diese Studie ist allerdings nicht
unumstritten; ihre Datenbasis und Operationalisierung sind zu hinterfragen, z.B. liegt der Fokus auf
statistisch kategorisierten Berufen, nicht auf beruflichen Tätigkeiten. Die Studie ist auch nur eine
Momentaufnahme und berücksichtigt keine Zweirunden-Effekte, wie z.B. die Anpassung beruflicher
Tätigkeiten an Technologisierung und die Entstehung neuer Jobs. Außerdem wurde nicht untersucht,
wie neue Technologien tatsächlich am Arbeitsplatz eingesetzt werden (Arntz et al. 2016; Degryse 2016;
Waicman 2017).

Der Fokus dieser Studien liegt auf der Zerstörung von Arbeitsplätzen, nicht auf der Veränderung von
Berufen und der Entstehung neuer Tätigkeiten und Berufsfelder. Studien, die Tätigkeiten stärker
berücksichtigen, kommen für Deutschland und Österreich zu ganz anderen Ergebnissen, demnach
haben nur rund 9 bis 12% der Berufe ein hohes Automatisierungspotential (z.B. Bonin et al. 2016,
Nagel et al. 2017). Die Studien stimmen aber darin überein, dass es zu einer Polarisierung bzw.
Aushöhlung der sogenannten Mitte kommen kann. Das würde berufliche Tätigkeiten, die eine mittlere
Ausbildung erfordern, einen großen Teil an Routinetätigkeiten beinhalten und im mittleren
Entgeltbereich liegen betreffen. Gut ausgebildete SpezialistInnen (Kreativberufe wie z.B.
IllustratorInnen, MultiMedia-DesignerInnen, MaskenbildnerInnen, ArchitektInnen,
WissenschaftlerInnen, IT-SpezialistInnen) haben keine oder nur sehr geringe
Automatisierungswahrscheinlichkeit, während schlechter ausgebildete ArbeitnehmerInnen
(FabrikarbeiterInnen, KassiererInnen, Reinigungskräfte) eine höhere Wahrscheinlichkeit haben,
zumindest teilweise durch die Automatisierung ersetzt zu werden.

Den Befund des disruptiven Wandels von Digitalisierung kritisieren Sozialwissenschaftler*innen, die
stärker auf unterschiedliche Machtverhältnisse in den betrieblichen Hierarchien, den Abbau
traditioneller Beschäftigungsverhältnisse und soziale Einflüsse auf Technologieentwicklung fokussieren.
Sie meinen, dass die Digitalisierung Arbeit nicht ersetzt, sondern verändert: Google’s selbstfahrende
Autos beispielsweise fahren nur dorthin, wohin sie sollen, weil zuvor eine Menge menschliche

23
Arbeiter*innen die Wege abgefahren sind, und alle Merkmale der Strecken, wie auch die Höhe der
Randsteine oder Kreuzungswinkel, erfasst haben (Irani 2015).

Machtasymmetrie in der Plattformökonomie

Kommerzielle Plattformen zeichnen sich durch eine spezifische Konstellation der Beziehungen
zwischen den drei Gruppen von Plattform-TeilnehmerInnen aus (z.B. Schmidt 2017). Die Plattform hat
drei Zugangsseiten: Die Anbieter (Crowd-, Gigworker) und die Nachfrager (KundInnen) der Leistung
stehen sich als NutzerInnen gegenüber und sehen nur einen kleinen Ausschnitt (z.B.
Benutzeroberfläche) der Plattform. Die Plattformbetreiber aber haben den gesamten Überblick über
die Plattformstrukturen und die Interaktionen zwischen den NutzerInnen. Die Plattformbetreiber
kontrollieren die Bedingungen, unter denen die NutzerInnen ihre Leistungen anbieten und nachfragen,
und üben so viel mehr Macht über die Austauschbedingungen auf der Plattform aus. Es besteht eine
Informations- und Machtasymmetrie zugunsten der Plattformanbieter, die es ihnen erlaubt, das
Unternehmensrisiko, rechtliche Verpflichtungen, Arbeits- und Sozialkosten und Produktionsmittel (wie
PC und Internetzugang) auf die Anbieter/Nachfrager abzuwälzen. Am wenigsten Macht haben die
Crowd- bzw. Gigworker: Sie müssen häufig noch Produktionsmittel (z.B. Fahrrad, Putzsachen)
aufbringen. NachfragerInnen, die oft einer großen Anzahl von AnbieterInnen gegenüberstehen, haben
hingegen mehr Einfluss auf die Preise, z.B. beim Wettbewerb um die „beste“ Leistung, in dem die
anderen Anbieter leer ausgehen („contest-based“ crowd/digital work). Das spezifische Verhältnis
zwischen Plattformbetreibern, ArbeiterInnen und KundInnen verstärkt die finanzielle und materielle
Ungleichheit zwischen den drei Akteursgruppen. Skalen (d.s. Kostenvorteile durch Massenproduktion)-
und Netzwerkeffekte ermöglichen Plattformen, deren Kapital- und Arbeitskosten relativ gering sind,
exponentielles Wachstum. Die umfassende Kapital- und Machtakkumulation befördert die Entstehung
von Plattform-Monopolisten.

Crowd-/Gigworker erbringen ihre Leistungen räumlich weit verteilt (z.B. Oxford Internet Institute 2017)
und vereinzelt („atomisiert“) und oft nur während einer bestimmten Lebensphase. Das erschwert die
kollektive Gegenmachtsbildung: Die Crowd-/Gigworker schließen sich seltener zusammen, um gegen
schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren. Beispiele für kollektive Gegenmachtsbildung sind: die
Manipulation der Auftragszuteilung durch technische Hilfsmittel (z.B. Fahrradkuriere), die Bewertung
der Auftraggeber (z.B. Turcopticum), öffentliche Protestaktionen (z.B. Straßenaktionen von
FahrradbotInnen) oder die Gründung eines Betriebsrats und Kollektiv-/Tarifverhandlungen (siehe
Einheit 7).

24
Arbeitsbeziehungen

Arbeitsbeziehungen (AB), oder industrielle Beziehungen (IB) (zwei Begriffe, die wir synonym
verwenden), umfassen Beziehungen zwischen Individuen und kollektiven Akteuren, d.s. die
Interessenorganisationen von ArbeitgeberInnen (Arbeitgeberverbänden) und ArbeitnehmerInnen
(Gewerkschaften). Die AB umfassen sämtlich Prozesse und Institutionen der Regulierung und Kontrolle
der Arbeit und des Beschäftigungsverhältnisses sowie jene Mechanismen, die die Ebene des
Arbeitsplatzes (Mikroebene) mit breiteren sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen
(Makroebene) auf nationaler und transnationaler (z.B. EU) Ebene verbindet (Hyman 1995). Die
Ursprünge der IB-Forschung liegen in Großbritannien und den USA.

Das führt uns – ganz konkret – zu einer Frage: wer hat die Macht, sich hinsichtlich der
Arbeitsbedingungen zu organisieren? Einerseits haben ArbeitnehmerInnen in bestimmten Branchen
bessere Chancen, sich zu organisieren. IndustriearbeiterInnen sind z.B. eher Gewerkschaftsmitglieder
als ArbeitnehmerInnen in Dienstleistungsbranchen (z.B. Reinigung, Pflege, Tourismus, Logistik &
Personenbeförderung). Das lässt sich am österreichischen Arbeitsmarkt gut erkennen: er ist
vergleichsweise stark segmentiert in ein gut bezahltes, sozial abgesichertes und in ein schlecht
bezahltes Segment mit schlechten Arbeitsbedingungen. Außerdem weist der Arbeitsmarkt in
Österreich eine starke berufliche Segmentierung nach dem Geschlecht auf, z.B. frauendominierte
Branchen wie Handel, Soziales und Gesundheit und männerdominierte Branchen wie Industrie.

Machtungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital

Arbeitsmärkte sind keine Märkte im herkömmlichen Sinn. Die Arbeitskraft kann nicht einfach
herumgeschoben (in welchem Land/welcher Region arbeitet jemand?), unterschiedslos eingesetzt (was
arbeitet jemand?) oder einfach nicht genutzt (z.B. gelagert) werden. Karl Polanyi spricht in diesem
Zusammenhang von der „fiktiven Ware“ Arbeitskraft (2001 [1944]). Auch müssen wir, wenn wir nicht
ein beträchtliches Vermögen geerbt haben, arbeiten gehen, d.h. unsere Arbeitskraft am Arbeitsmarkt
anbieten. Dabei haben wir umso bessere Chance, je mehr wir über am Markt nachgefragte
Qualifikationen und Kompetenzen verfügen. Aber nicht nur individuelle, sondern auch strukturelle
Faktoren, wie die „Tertiarisierung“, d.h. Wachstum der Dienstleistungsbranchen, De-Industrialisierung,
„Prekarisierung“, d.h. Wachstum schlecht abgesicherter und gering bezahlter Arbeitsverhältnisse,
weiters ökonomische Faktoren, wie Globalisierung von Wertschöpfungs- und Produktionsketten, und
politische Entwicklungen wie Privatisierung und Marktliberalisierung, haben das Ungleichgewicht
zwischen Arbeit und Kapital verstärkt. Indikatoren dafür sind sinkende gewerkschaftliche
Organisationsgrade oder sinkende Lohnquoten, das ist der Anteil der Einkommen am
Bruttoinlandsprodukt.

25
Gewerkschaftliche Machtressourcen

Gewerkschaften sind trotz dieses Machtungleichgewichts wichtige ökonomische und gesellschaftliche


Akteure. Die drei wichtigsten Formen gewerkschaftlicher Macht sind, erstens, strukturelle Macht
(Wright 2000; Silver 2003) das ist die Position des Unternehmens in inter-/nationalen Wertschöpfungs-
u. Produktionsketten sowie die Arbeitsmarktposition des/der ArbeitnehmerIn (Qualifikation, Branche);
zweitens, Organisationsmacht, darunter versteht man den. Organisationsgrad und die
Mobilisierungsfähigkeit der Beschäftigten; drittens, institutionelle Macht wie Arbeitsrecht,
Kollektivverträge etc. Als weitere Machtquellen werden die gesellschaftliche Macht (Brinkmann et al.
2008), das ist die Kooperationsmacht, die durch Bündnisse mehrerer kollektiver Akteure entsteht, oder
die Diskursmacht angeführt, d.h. Fähigkeit an öffentlichen Diskursen teilzunehmen und diese zu
beeinflussen.

Ein Beispiel für institutionelle Macht sind Kollektivverträge (KV). Sie werden von den
Branchengewerkschaften des Österr. Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und den Fachverbänden der
Wirtschaftskammer Österreich (WKO) auf Branchenebene ausgehandelt. In Österreich sind fast alle
ArbeitnehmerInnen von einem KV erfasst. Grund dafür ist die Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen in
der WKO. Daneben verhandeln für einige Bereiche freiwillige Arbeitgeberverbände wie z.B. die
Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ). Die Tarifbindungsrate, d.h. der Anteil der unselbstständig
Beschäftigten, die einem KV unterliegen an der Gesamtheit der unselbstständig Beschäftigten, zählt
zur höchsten in der EU und beträgt rund 98 % (2018). KVs legen Branchenmindestlöhne und –gehälter,
das 13./14. Monatsentgelt (Urlaubs-, Weihnachtsgeld), die Arbeitszeit, Überstundenzuschläge etc. fest.
Für ArbeitnehmerInnen (inklusive LeiharbeiterInnen) haben sie eine Schutzfunktion (z.B.
Höchstarbeitszeit, Erholungs- u. Freizeit, Gesundheitsschutz). Für ArbeitgeberInnen erfüllen sie eine
Wettbewerbsfunktion, indem sie den Lohnunterbietungswettbewerb vermeiden und die
Transaktionskosten (Aufwand für individuelle Lohnfindung) senken. Gesamtgesellschaftlich erfüllen KVs
eine Friedensfunktion, indem Arbeitskonflikte vom Betrieb ferngehalten und auf dem
Verhandlungsweg gelöst werden (Traxler 1998).

Ein Beispiel für Organisationsmacht ist einerseits der gewerkschaftliche Organisationsgrad (Anteil der
unselbstständig Beschäftigten, die Gewerkschaftsmitglied sind an der Gesamtheit der unselbstständig
Beschäftigten). Im Zeitverlauf ist der Organisationsgrad in Österreich und in den meisten EU-Ländern
gesunken, in Österreich von 37 % 2000 auf 27 % 2020. Die Organisationsgrade variieren nach Branche,
z.B. ~ 70% in der Metallindustrie, ~ 50 % im öffentlichen Dienst, < 15 % im Handel. Darüber hinaus ist
auch die Mobilisierungsfähigkeit von Gewerkschaften in Arbeitskonflikten Teil der Organisationsmacht.

26
Österreichische Gewerkschaften weisen eine im internationalen Vergleich geringe Streikneigung auf
(z.B. Vandaele 2014).

„Geliehene Stabilität“ auf Basis von institutioneller Macht

Das österreichische System der Arbeitsbeziehungen wird in der Literatur auch mit dem Konzept des
„Austrokorporatismus“ in Verbindung gebracht. Das bedeutet, dass die Sozialpartner eine hohe
Koordinations- und Abstimmungsbereitschaft aufweisen und eng mit den politischen Parteien der
großen Koalition (SPÖ/ÖVP) verflochten sind (Karlhofer/Talós 2005, Talós 2008). Die
Sozialpartnerschaft übt Einfluss in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aber auch in anderen
Politikfeldern wie Wirtschafts- und Bildungspolitik (Makroebene) aus. In der Lohnpolitik ist die
Autonomie der Sozialpartner hoch; der Staat hält sich aus den Tarifverhandlungen heraus. Auch die
Betriebsräte als betriebliche Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen sind Teil der
Sozialpartnerschaft.

Die österreichischen Gewerkschaften sind stark von institutionellen Machtressourcen, wie der
Pflichtmitgliedschaft in den Kammern, der Tarifautonomie und dem Arbeitsrecht, abhängig. Andere
Machtressourcen, wie die Gewinnung, Bindung und Mobilisierung von Mitgliedern, haben einen
geringeren Stellenwert in der Gewerkschaftspolitik. Das wird kritisch gesehen, sind doch institutionelle
Machtressourcen an die politischen Machtkonstellationen gebunden. Während der ersten Schwarz-
Blauen Regierung 2000-2006 kam es zu einer weitgehenden Ausschaltung der parlamentarischen
Sozialpartnerschaft – nicht aber der KV-Verhandlungen in der Lohnpolitik. Die institutionelle Macht ist
also eine „geliehene“ Macht (Flecker/Hermann 2005).

Diese Erosion institutioneller und Organisationsmacht hat sich seit der globalen Wirtschaftskrise ab
2008/09 weiter fortgesetzt. In der Zeit der Schwarz/Türkis-Blauen Regierung (2017-19) findet die
Einbindung der Gewerkschaften in politische Entscheidungsprozesse ein abruptes Ende (z.B. keine
Gesetzesbegutachtungen, Konsultationen von Sozialpartnern bei Regierungsvorhaben). Ein Beispiel
dafür ist die von der Regierung einseitig implementierte Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Gegen die
Ausweitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit hat der ÖGB mit massiven Protesten reagiert; sie
blieben allerdings wirkungslos (Glassner/Hofmann 2019; Stern/Hofmann 2018).

Seitdem die Schwarz/Türkis-Grüne Regierung Anfang 2020 ins Amt gekommen ist, hat die
Sozialpartnerschaft eine Wiederbelebung erfahren. In der einsetzenden Corona-Krise haben die
Sozialpartner eine Vereinbarung zur Kurzarbeit abgeschlossen, um die pandemiebedingte
Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Ob der Aufschwung der Sozialpartnerschaft aber von Dauer ist, bleibt
abzuwarten.

27
Sozialstaat / Sozialpolitik

Seit der Corona-Krise wird wohl vielen von uns die Bedeutung eines Sozialstaates wieder besonders
bewusst. Länder mit gut ausgebauten öffentlichen Gesundheitssystemen (und einer höheren Zahl an
Akutbetten) bewältigten die Gesundheitskrise um einiges besser als Länder mit einem schwachen
öffentlichen Gesundheitssystem. Im internationalen Vergleich hat sich das österreichische
Sozialsystem in den letzten Monaten insbesondere im Gesundheitsbereich, aber auch bei vielen
anderen bestehenden Leistungen mit automatisierten Abläufen, die schnell und umstandslos griffen,
als relativ leistungsstark erwiesen. Was ist aber generell die Aufgabe von Sozialstaaten und nach
welchen Prinzipien funktionieren sie?

Zentrale Aufgabe eines Sozialstaates ist es, (üblicherweise innerhalb nationalstaatlicher Grenzen) für
soziale Gerechtigkeit zu sorgen und eine größtmögliche Absicherung für alle BürgerInnen zu bieten.
Neben dem Staat gibt es aber auch noch andere Akteure und Institutionen, die Schutz und
Unterstützung (an-)bieten, etwa die eigene Familie, Glaubensgemeinschaften oder aber auch der
Markt.

Der Sozialstaat wird häufig mit dem Begriff der „Bedürftigkeit“ verbunden: Menschen in Not, Alte oder
Kranke seien auf ihn angewiesen. Wer jung, unabhängig und fit ist, glaubt oft den Sozialstaat gar nicht
zu brauchen. Doch stimmt das wirklich? Ist der Sozialstaat wirklich nur ein „Hilfsprojekt? Und dabei „zu
teuer“ und von „gestern“? Wenn man in einer Gedankenreise das eigene Leben Revue passieren lässt,
zeigt sich schnell, dass jede und jeder von uns schon in vielfältiger Weise mit sozialen Leistungen in
Berührung gekommen ist und diese in Anspruch genommen hat. Der Sozialstaat begleitet uns über
unser gesamtes Leben hinweg: Schon vor unserer Geburt wird unsere Gesundheit im Rahmen von
Mutter(bald: Eltern)-Kind-Pass-Untersuchungen regelmäßig kontrolliert. In unserer Kindheit gehen wir
oft in öffentlich finanzierte Kindergärten und Schulen, unsere Eltern beziehen Familienbeihilfe. Wenn
wir krank sind, greifen wir auf unsere Krankenversicherung zurück und gehen zum Arzt/zur Ärztin. Im
Alter nehmen wir vielleicht Pflegeleistungen in Anspruch und bekommen eine Pension, um unser
Leben zu finanzieren. Über den Sozialstaat wird also versucht, möglichst viele „große“ Lebensrisiken
abzusichern, also jene Risiken, die uns alle einmal betreffen können.

Im Rahmen eines Sozialstaates kann Sozialpolitik über drei Wege geschehen: 1) über das Prinzip der
Grundsicherung, also der Unterstützung in (absoluter) Not (z.B. über Formen der Armenfürsorge), 2)
über das Prinzip der Transferleistungen, d.h. über Formen der Unterstützung in besonderen
Lebenslagen (Kindheit, Krankheit, Alter) oder 3) über das Prinzip der Sozialversicherung, d.h. eines
Rechtsanspruchs durch eigene Beiträge auf Versicherungsleistungen (z.B. Arbeitslosenversicherung).

28
Zur Einordnung und Typologie von Sozialstaaten

Üblicherweise verfolgen Sozialstaaten eine Mischung aus diesen drei Prinzipien, sie werden in den
verschiedenen Ländern allerdings unterschiedlich stark betont. Auch wird in manchen Ländern stärker
auf die Unterstützung durch die eigene Familie gebaut bzw. auf Eigenverantwortung (privater Zukauf
notwendiger (Versicherungs-)Leistungen) gesetzt, während in anderen Ländern der Fokus klar auf
einem möglichst umfassend ausgebauten staatlichen Leistungsangebot liegt. Der schwedische
Sozialwissenschafter Gøsta Esping-Andersen hat versucht diese unterschiedlichen
Ausgestaltungsformen von Sozialstaaten in einer Typologie zusammenzufassen. In seinem Buch „Three
Worlds of Welfare Capitalism“ (1990) unterschied er ursprünglich zwischen drei Regimen: dem
liberalen, dem konservativen und dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime. In den Folgejahren
kamen dann zwei Erweiterungen (das osteuropäische und das mediterrane Modell) dazu.

Charakteristika der drei Hauptformen von Wohlfahrtsstaatsregimen nach Esping-Andersen


Liberaler Wohlfahrtsstaat Konservativer Sozialdemokratischer
Wohlfahrtsstaat Wohlfahrtsstaat
(Minimal-) Sicherung: Erwerbsorientierte Form der Universalismus: Umfassende
Bereitstellung von sozialen Sicherung: soziale Sicherung für möglichst
Grundunterstützung (nur bei Grundsicherung für alle, alle BürgerInnen
Bedarf) zusätzlich Leistungen abh. von
eigenen Beiträgen
Betonung privater Fürsorge Betonung der Familie, Betonung staatlicher
und der Marktfreiheit Aufrechterhaltung von Leistungen
Statusunterschieden
Geringe Umverteilung Geringe Umverteilung Hohe Umverteilung
Beispiel: USA, UK Beispiel: Deutschland, Beispiel: Schweden, Norwegen
Österreich

Der österreichische Sozialstaat: Daten und Fakten

Die ersten Meilensteine der Sozialgesetzgebung sind in Österreich Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts zu
finden: 1868 wurden die ersten Arbeiter-Krankenkassen gegründet, 1888 das
Krankenversicherungsgesetz erlassen, und ab 1918 wurde ein umfangreicher sozialpolitischer
Reformprozess eingeleitet. In der Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus wurde eine
Vielzahl der sozialpolitischen Errungenschaften der 1. Republik allerdings wieder rückgängig gemacht.
Erst die Nachkriegsjahrzehnte (insb. ab den 1960er Jahren) brachten wieder einen deutlichen Ausbau
und eine Verbesserung des sozialstaatlichen Systems in Österreich.

29
Der österreichische Sozialstaat ist das Vermögen der Vielen und wird auch von uns allen finanziert. In
der politischen Diskussion wird vielfach die hohe „Abgabenquote“ kritisiert. Diese lag in Österreich
2017 bei 42,5 Prozent. Damit befinden wir uns in der Tat im europäischen Spitzenfeld. Aber eine hohe
Abgabenquote bedeutet eben auch ein hohes Niveau sozialer Absicherung: Rund 25% der öffentlichen
Gelder werden in Österreich für Pensionen, 17% für Gesundheit und 16% für die soziale Sicherung
ausgegeben. Nur 9% fließen demgegenüber in die öffentliche Verwaltung (Statistik Austria 2019). In
Österreich ist die Sozialquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt – diese
Kennzahl wird oft als Maß für die Größe des Sozialstaats gesehen –, seit Mitte der 1990er-Jahre relativ
stabil bei rund 30 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der österreichische Sozialstaat verteilt weiterhin
auch relativ stark um (siehe 4. Einheit: Soziale Ungleichheit II): So ist das Einkommen der reichsten 10%
vor der staatlichen Umverteilung ca. 30 mal so hoch wie jenes der ärmsten 10%. Durch die
sozialstaatliche Umverteilung verringert sich dieses Verhältnis auf 1:6.

Ein wesentliches Element des österreichischen Sozialstaates ist seine starke Orientierung am
Erwerbsstatus, damit gehört er auch zum „konservativen Modell“ nach Esping-Andersen. Sehr viele
sozialstaatliche Leistungen knüpfen an der beruflichen Position an, so werden zum Beispiel das
Arbeitslosengeld oder die Alterspension nur dann gewährt, wenn zuvor für eine bestimmte Zeit
Versicherungsbeiträge gezahlt wurden, und auch die Höhe hängt vom vorherigen Erwerbseinkommen
ab. Daneben gibt es allerdings auch noch Leistungen, die universell, also unabhängig vom beruflichen
Status, gewährt werden – die Familienbeihilfe ist ein Beispiel dafür. In Österreich gilt eine
Pflichtversicherung. Das bedeutet, dass jede/jeder automatisch bei der Aufnahme eines
Arbeitsverhältnisses sozialversichert ist. Das ist insbesondere in Zeiten einer Gesundheitskrise, wie der
Corona-Krise, hilfreich. In Ländern, in denen es keine Pflichtversicherung bzw. nur sehr geringe
gesundheitliche Versicherungsleistungen gibt, kann der Weg zum Arzt/zur Ärztin auch ein finanzielles
Problem werden.

Einstellungen zum Sozialstaat

Wie stehen die ÖsterreicherInnen zum Sozialstaat? Die Einstellung der Bevölkerung zum Sozialstaat ist
nicht erst seit der Corona-Krise überwiegend positiv. In einer 2018 von der AK Wien durchgeführten
Studie zeigte sich, dass Befragte, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Erwerbsstatus, im
Allgemeinen Fans von den Leistungen sind, die die öffentliche Hand für sie bereitstellt. Es wünschen
sich sogar fast 90% eine Ausweitung in Richtung eines Wohlfahrtsstaates nach skandinavischem
Vorbild. Der Staat solle großzügige, durch Steuern finanzierte Leistungen in allen sozialen Bereichen
bereitstellen, und zwar für alle EinwohnerInnen, so die breit geteilte Ansicht. Ein konservatives
Wohlfahrtsmodell, wie es in Österreich derzeit der Fall ist, ist mit knapp 70% erst die zweite Wahl der

30
Befragten. Dazu trägt ein Faktor wesentlich bei: Die Menschen sehen die immer größer werdende
Ungleichheit auch als gesellschaftliches Problem an. Über 85% der Befragten finden, dass die
Ungleichheiten mittlerweile zu groß sind und der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung schaden.

74% wünschen sich eine höhere Finanzierung des Bildungssektors, und 63% sind für einen Ausbau der
Kinderbetreuungsangebote. Dieses Ergebnis überrascht auch deswegen nicht, da allseits bekannt ist,
dass es in den meisten Bundesländern bislang viel zu wenige Kinderbetreuungsplätze gibt. Gerade im
ländlichen Raum sind Kindergärten, deren Öffnungszeiten eine Vollzeitberufstätigkeit ermöglichen,
selten. Als konservativer Wohlfahrtsstaat baut Österreich noch heute auf traditionelle
Geschlechterstereotype. Um Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, ist es
jedoch sinnvoll, das Angebot an Kinderbetreuungsplätzen zu vergrößern. Dies wäre auch ein Beitrag zu
mehr Geschlechtergerechtigkeit, da Frauen bis heute den größten Teil der unbezahlten (Er-
ziehungs-) Arbeit leisten. Die Zustimmung zu einem Ausbau der Leistungen in der Pflege ist mit 72%
auch sehr hoch. Die hohe Zustimmung zu einem Ausbau der Leistungen in der Pflege spiegelt wohl die
demographischen Entwicklungen der letzten Jahre wieder. Die steigende Lebenserwartung geht mit
einem erhöhten Betreuungsbedarf einher. Demgegenüber steht jedoch eine beträchtliche Lücke in der
Zahl an benötigten Pflegekräften – allein in Österreich fehlen bis 2030 rund 76.000 Personen (Schmidt
2020).

Schlussendlich wird auch der Bereich des Umweltschutzes angesichts der drohenden Klimakatastrophe
immer wichtiger. Bei der Bewältigung der Klimakrise muss es sowohl darum gehen, Klimaschutz sozial
gerecht zu gestalten, als auch über Formen einer nachhaltigen Sozialpolitik nachzudenken, die den
Sozialstaat als klimapolitischen Akteur definiert (Fritz/Bohnenberger 2020). Es gilt, über
Bereitstellungsformen von sozialen Leistungen, die klimaschützend wirken können, nachzudenken
sowie die Wachstumsabhängigkeit sozialer Sicherungssysteme zu hinterfragen.

Umstritten sind auch die Bereiche Integration, Polizei, und Pensionen. Hier bilden sich wohl einige der
zentralsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre ab. So sind 56% für mehr Geld
bei den Pensionen, aber 40% sind mit der Höhe der Ausgaben zufrieden. 44% wollen mehr Geld für die
Polizei, aber 46% sind mit der Höhe zufrieden. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch beim Wohnbau ab:
48% wollen hier mehr Geld, 41% sind zufrieden.

Am stärksten gehen die Meinungen im Bereich der Integration auseinander. Hier wollen 32% mehr
Geld ausgeben wollen, 30% sind dagegen (39% sind mit der Höhe zufrieden). Dazu passend waren
53% der Befragten zudem der Meinung, dass es sinnvoll wäre, öffentliche Leistungen nur
österreichischen StaatsbürgerInnen zuzugestehen (47% waren dagegen). Gerade im Bereich der

31
Integration zeigen sich die vielfach postulierten zwei „Lager“ bei den Einstellungen gegenüber
Migration in Österreich also besonders deutlich (siehe Einheit 11: Migration).

Spannend ist nicht nur die Frage, welche Bereiche nach Ansicht der Befragten mehr gefördert werden
sollen und welche nicht, sondern auch wie ein etwaiger Ausbau von Kinderbetreuung, Pflege oder
Bildung finanziert werden kann. Auch dazu liefert die Befragung einige interessante Details.
Insbesondere die höhere Besteuerung von großen Vermögen (79%) sowie Unternehmen (59%) findet
bei den Befragten großen Anklang. (Höhere) Erbschafts- und Immobiliensteuern werden zu 44% bzw.
47% unterstützt. Demgegenüber werden Erhöhungen der (eigenen) Beiträge über eine Erhöhung
Lohn- und Einkommenssteuer (24% Zustimmung) bzw. Kürzungen bei den Leistungen (31%
Zustimmung) nicht unterstützt. Interessanterweise können sich knapp 40% eine Erhöhung der SV-
Beiträge vorstellen.

32
EU/Europa

Die EU-/Europaforschung ist ein multidisziplinäres Feld, in dem sich beispielsweise die Politik-, Rechts-
und Geschichtswissenschaften oder die Internationalen Beziehungen mit Fragen der (EU)-Institutionen
und der Europäischen Integration beschäftigten. All diese Ansätze vereint eine vertikale Perspektive auf
Prozesse der europäischen Integration. Einerseits werden – in einer „Top-Down“-Perspektive –
beispielsweise Veränderungen nationaler Institutionen durch EU-Recht oder –Politik untersucht. Oder
in einer „Bottom-up-Perspektive“ werden Einflüsse (sub)nationaler AkteurInnen auf EU-Institutionen
und die Europäische Integration in den Blick genommen. Die „Europasoziologie“4 hingegen nimmt
eine horizontale Perspektive auf Phänomene der Europäischen Integration ein, indem sie
transnationale (d.h. grenzüberschreitende) soziale Interaktionen, Wahrnehmungen und Einstellungen
und deren Veränderung über die Zeit untersucht (Heidenreich et al. 2012, Favell/Guiraudon 2011). Die
Europasoziologie nimmt Bezug auf soziologische Theorien (Weber, Durkheim, Marx, Bourdieu,
Goffman, Golthorpe usw). und beschäftigt sich empirisch mit der sozialen Dimension Europas (z.B.
Europäische Klassenstrukturen, grenzüberschreitende Mobilität und Interaktion, transnationale
Netzwerke).

In der empirischen Europasoziologie soll der „methodologische Nationalismus“, in dem Länder als
undurchlässige „nationale Container“ betrachtet werden, überwunden werden. Im Fokus stehen die
gegenseitigen grenzüberschreitenden Einflüsse und Wechselwirkungen zwischen (sub)nationalen
institutionellen Systemen (z.B. Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat, Bildungssystem) sowie räumliche
Veränderungen von Kommunikations-, Kooperations- und Regulierungsstrukturen, die aber
unterschiedliche Reichweiten und Grade der Verdichtung der sozialen Interaktion aufweisen können
(Europa der „variablen Geometrien“, siehe Beck/Grande 2004). Transnationale Dynamiken können mit
einer „Öffnung“ nationaler Gesellschaften und deren institutionellen Systemen einhergehen, etwa
wenn Arbeitsmigration nationale Arbeitsmärkte durchlässig macht. Im Gegensatz dazu kann es zu
einer „Schließung“ nationaler Ordnungssysteme/Regulierungen kommen. Beispiele für die Entstehung
transnationaler, europäischer Sozialräume sind die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, das

4
Die Disziplin der „Europasoziologie“ ist vergleichsweise jung. Die Ursprünge der Europaforschung
wurden in den 1950er-Jahren vom Soziologen Karl Deutsch („Transaktionalismus“:
grenzüberschreitende Transaktionen von Eliten, Bürokraten und Bürgern) und Ernst Haas‘
funktionalistischer Theorie begründet, die starke Anleihen bei Talcott Parsons nimmt („form follows
function“). Haas‘ Konzept des „Spill-Overs“, dem zufolge die Integration in einem Bereich (z.B. der
Wirtschaft) zur Integration in anderen Bereichen (z.B. Recht, Politik) führt, wird in der Folge von
AutorInnen, die sich theoretisch auf den soziologischen Institutionalismus beziehen, immer wieder
aufgegriffen (z,B, Sandholtz/Stone Sweet 1998; Fligstein 2008). Soziologische Theorien haben in der
europäischen Integrationsforschung, die von den Politikwissenschaften dominiert war, ein Auf und Ab
erfahren (Favell/Guiraudon 2011). Die (ländervergleichende) Soziologie Europas hat sich zwar mit der
Herausbildung genuin europäischer Institutionen beschäftigt (z.B. Crouch 1993, Esping-Anderson
1990), die (jüngere) Europasoziologie beschäftigt sich aber darüber hinaus mit dem sozialen
Fundament von Institutionen und Prozessen der Europäisierung.
33
politisch-rechtliche System der EU und seine geografische Erweiterung um neue Mitgliedsstaaten, aber
auch die Zunahme grenzüberschreitender Interaktionen, Deutungen und Einstellungen, z.B. wenn
Menschen in anderen EU-Ländern studieren oder arbeiten („Doing Europe“).

Mit der Frage, ob sich mit der Etablierung des Europäischen Marktes und des politischen Systems auch
eine „europäische Identität“ herausgebildet hat, hat sich die Europaforschung intensiv (und ohne zu
einem eindeutigen Ergebnis zu kommen) beschäftigt. Die Identifikation als EuropäerIn wird
beispielsweise in der regelmäßig durchgeführten „Eurobarometer“-Umfrage erhoben. Auf die Frage, ob
sich die EU-BürgerInnen 1) nur ihrer eigenen Nationalität zugehörig, 2) ihrer eigenen Nationalität
zugehörig, aber auch europäisch, 2) europäisch, aber auch national zugehörig, oder 4) nur europäisch
fühlen, antworten im Beobachtungszeitraum 1991-2017 rund 90 % aller Befragten, sich primär als ihren
Nationalstaaten zugehörig zu fühlen. Rund die Hälfte der Befragten gibt an, sich auch als Europäer zu
fühlen. Der Anteil der BürgerInnen, die eine rein nationale Identität angeben, hat während der
Wirtschafts- und Finanzkrise zugenommen, ist danach aber wieder zurückgegangen. Der Anteil der
Befragten, die sich als BürgerInnen ihrer Nationalstaaten, aber auch als EuropäerInnen sehen, ist in den
Jahren nach der Finanzkrise kontinuierlich gestiegen, und lag 2017 bei über 50 % (Ciaglia et al. 2018).
Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie sind die Einstellungen zur EU positiv geblieben. In der
Eurobarometer-Umfrage vom Frühjahr 2021 hat das „Vertrauen in die EU“ seinen Höchstwert seit 2008
erreicht. In Österreich allerdings misstraut eine Mehrheit (53 %) der EU. Nur in Griechenland ist das
Misstrauen in die EU noch größer.

Betrachtet man die Verbundenheit zur EU nach soziodemografischen Merkmalen, fühlen sich Junge
und gut Ausgebildete, solche, die sich selbst zur „Oberschicht“ der Gesellschaft zählen, leitende
Angestellte und Studierende der EU am meisten verbunden. Der EU am wenigsten verbunden fühlen
sich Arbeitslose, Hausfrauen/-männer, ArbeiterInnen und diejenigen, die Schwierigkeiten beim
Bezahlen ihrer Rechnungen haben (ebenda). Der Befund, dass die Verbundenheit mit Europa eine
Frage der Klassenzugehörigkeit ist, und sich neben sozio-ökonomisch gutgestellten, kosmopolitisch-
orientierten „Gewinnern“ der Europäisierung ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung als
„VerliererInnen“ der Europäischen Integration sieht, birgt einiges an gesellschaftlicher Sprengkraft
(Fligstein 2008).

Trotz zunehmender grenzüberschreitender Interaktionen (studieren, reisen, arbeiten) ist es nicht zur
Entstehung einer „europäischen“ Gesellschaft gekommen. Enge transnationale soziale Bindungen (z.B.
internationale Ehen, dauerhafte Migration) weist nur ein sehr kleiner Teil der EU-BürgerInnen auf. Das
Niveau der grenzüberschreitenden politischen Mobilisierung (z.B. Euro-Demonstrationen) ist gering
und die europäische Solidarität, etwa während der EU-Fiskalkrise zwischen nord- und südeuropäischen
EU-BürgerInnen, ist gering ausgeprägt (Lahusen 2021). Die europäische Integration ist von

34
Rückschlägen, Konflikten und Gegenbewegungen geprägt. Der stetigen Erweiterung der EU stehen
Tendenzen der Spaltung und Re-Nationalisierung gegenüber, z.B. Euro- und Schuldenkrise (2008 ff.)
und die Spaltungen zwischen Nord- und Südeuropa, der mit Ende 2020 vollzogene Brexit und die
gegenwärtige Krise in Folge der Covid-19-Pandemie („Impfnationalismus“).

Das Europa der Märkte: Inkongruenz zwischen Markt- und Sozialintegration

Während Finanz-, Produkt-, und Dienstleistungsmärkte ein hohes Maß an europäischer Integration
aufweisen, sind nationale Wohlfahrtssysteme, Arbeitsbeziehungen, Lohn- und Tarifpolitik in der
Kompetenz der Nationalstaaten verblieben. Die soziale (d.h. sozial- und beschäftigungspolitische)
Dimension der EU (= „Soziale Säule“ ohne rechtsverbindliche Ziele und Maßnahmen) ist gegenüber der
ökonomischen Dimension schwach ausgeprägt. Die Dominanz konservativ-populistischer Regierungen
in der EU und die Schwächung der Gewerkschaften erschweren den sozialen Ausgleich und die
Abschwächung der Asymmetrie zwischen Wirtschafts- und Sozialintegration (Bach 2008).

Die EU weist also ein hohes Maß an Systemintegration, d.i. die Integration von gesellschaftlichen
Subsystemen (wie Wirtschafts-, Rechtssystem) auf, dem ein geringes Maß an Sozialintegration
gegenübersteht, d.i. die Integration von Menschen und Gruppen in einem größeren
sozialen/gesellschaftlichen Zusammenhang (Lockwood 1964). Auf rechtlich-institutioneller Ebene
besteht eine Asymmetrie zwischen negativer (d.h. marktschaffender) Integration, deren Ziel die
Beseitigung von Markthemmnissen ist, und positiver Integration, d.s. gemeinsame europäische Regeln
(Scharpf 1996). Die Inkongruenz der Integration macht das soziale Fundament Europas brüchig. Brüche
und Spaltungen wurden im Zuge der EU-Fiskalkrise 2008-2012 besonders deutlich. Hochverschuldete
Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal und Italien mussten harte Einsparungen im öffentlichen
Sektor umsetzen, z.B. bei Gesundheits-, Sozialleistungen und Löhnen, um Kredite der EU/Europäischen
Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds zu erhalten.

Die Flüchtlingsbewegungen (2015/6), der Ausstieg Großbritanniens aus der EU und die gegenwärtige
Covid-19-Pandemie sind mit (Re-)nationalisierungstendenzen verbunden. Ob die gemeinsame globale
Herausforderung der Bekämpfung des Klimawandels, die in der EU zum politischen Leitziel geworden
ist, zu einem Wiedererstarken der politisch-gesellschaftlichen Dimension der EU führt, die im Kern ein
Marktprojekt (geblieben) ist, bleibt abzuwarten.

Bildungssoziologie

35
Der Begriff der Bildung ist derzeit allgegenwärtig. Jede und jeder von uns möchte eine möglichst gute
Bildung erhalten, jeder und jede von uns ist angehalten, sich im Laufe des Lebens stets weiterzubilden.
In wissenschaftlichen Debatten werden meist zahlreiche positive Aspekte von Bildung betont: Bildung
fördert Selbstemanzipation, ermöglicht persönliche Entfaltung und ein besseres Verständnis der Welt,
in der wir leben. Sieht man sich aber etwa anhand von Google-Hints an, womit Bildung im öffentlichen
Diskurs in erster Linie verbunden wird, so hat dies wenig mit dem humboldtschen Ideal zu tun. Bildung
wird vor allem auf seine Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt abgeklopft. In Zeiten einer
Wissensgesellschaft ist gute Bildung eben ein Startvorteil und im internationalen Wettbewerb um
Humankapital ein zentraler Faktor geworden. Dementsprechend beschäftigt sich auch die
Bildungsforschung auch weniger mit Fragen der Verwirklichung des humboldtschen Ideals, sondern
insbesondere mit Verknüpfung von arbeitsmarkt- und bildungspolitischen Fragen
(Bauer/Bittlingmayer/Scherr 2012).

Die Bildungssoziologie nimmt in diesem Zusammenhang insbesondere ein Ziel bildungspolitischer


Anstrengungen zum Ausgangspunkt ihrer Forschungen: die Verwirklichung von Chancengleichheit
durch Bildungsangebote. Seit den 1970er Jahren ist dies eines der wichtigsten Ziele von
Bildungsreformen: Das Bildungssystem soll dazu beitragen, dass alle die gleichen Chancen haben sich
zu bilden und in weiterer Folge das so erlangte Wissen auch anzuwenden und verwerten zu können.
Leistungsfremde Merkmale (d.h. z.B. das Geschlecht, der Wohnort, die Hautfarbe oder die soziale
Herkunft der Eltern) sollen beim Bildungserfolg keine Rolle mehr spielen. Was zählen soll, ist einzig
und allein die eigene Anstrengung, die eigene (Bildungs-)Leistung. Chancengleichheit gilt daher auch
als Legitimation für die bestehende soziale Ungleichheit.

Die bildungssoziologische Forschung zeigt nun, dass dieses Ziel der Herstellung von
Chancengleichheit bei Weitem nicht eingelöst wird, sondern dass Bildungssysteme bestehende
Ungleichheit sogar erzeugen bzw. Herkunftseffekte verstärken. Bildungsprozesse und
Bildungsabschluss sind auch zentrale Mechanismen für die spätere Statuszuweisung in der vertikalen
Hierarchie. Ein Sozialforscher, der diese Sichtweise besonders geprägt hat, war der französische
Soziologe Pierre Bourdieu. Bourdieu zufolge wirkt soziale Ungleichheit im Bildungssystem auf
verschiedene Weise (Bourdieu 1964/1979):

- Mitgebrachtes ökonomisches Kapital (also z.B. das Geld, Vermögen der Eltern etc.) wirkt als
Zugangsbarriere, weil sich nicht jeder und jede eine gleich gute Ausbildung leisten kann (Wer
kann sich eine Privatschule, eine/n NachhilfelehrerIn leisten?)
- Mitgebrachtes kulturelles Kapital (also eine bestimmte Form sich auszudrücken, von zu Hause
mitgebrachte Kenntnisse über Kunst, Literatur oder Musik) verschärft die Ungleichheit im

36
Bildungssystem, da es einen Startvorteil beim Lernen schafft (Wer kennt bestimmte Dinge
schon von daheim?)
- Mitgebrachtes soziales Kapital (also soziale Netzwerke über die Familie) helfen die Aufgaben
leichter bewältigen zu können (Wer weiß, wen man fragen/um Hilfe bitten kann?)

Die bildungssoziologische Forschung zeigt weiters, dass Bildung und (Chancen-)Gleichheit auch nicht
zwingend zusammengehören: Bildung war schon immer ein elitärer Distinktionsbegriff, mit dem sich
eine kleine Gruppe von Menschen von dem „Rest der Gesellschaft“ abgrenzen wollte. In diesem
Zusammenhang sind die Forschungen des bereits erwähnten Michael Hartmann besonders interessant.
Hartmann zeigt, dass es bei der Elitenbildung, d.h. konkret bei Privatschulen bzw. Privatunis,
vorwiegend darum geht, einen möglichst kleinen Teil einer Generation aus der Masse herauszufiltern.
Am effektivsten gelingt dies in Europe wohl in Frankreich, wo an den drei führenden grandes écoles
nur knapp 1000 Personen aus einem Jahrgang aufgenommen werden. Diese kommen nach positiver
Absolvierung dann für quasi jede höhere Position in Wirtschaft, Politik oder Verwaltung in Frage.
Ähnlich ist die Situation in Großbritannien mit seinen public schools und Eliteuniversitäten (Hartmann
2007).

Bildungsungleichheit in Österreich

Eine solch sozial ungleiche Situation, wie in Frankreich oder Großbritannien, scheint für viele von uns in
Österreich undenkbar zu sein. Aber wie (un-)gleich ist das österreichische Bildungssystem?

Ungleicher als man auf den ersten Blick wohl glauben möchte. Der Bildungssoziologe Ingolf Erler zeigt
dies plastisch am Beispiel des Seriencharakters Lisa Simpson: „Würde Lisa Simpson, die Tochter der
Zeichentrickfamilie »The Simpsons«, in Österreich aufwachsen, wäre es fraglich, ob sie einen
akademischen Abschluss erreichen könnte. Der Vater ohne, die Mutter mit mittlerer Reife, in einer
Kleinstadt lebend; in dieser Konstellation hätte Lisa, auch nach bereits absolvierter Matura, nur eine
Chance von 6-8%, einen Universitätsabschluss zu erreichen.“ (Erler 2007: 11)

Die bildungssoziologische Forschung weist seit Jahrzehnten darauf hin, dass es in Österreich für
bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders schwierig ist im Bildungssystem erfolgreich zu reüssieren.
Die soziale Herkunft (also der Bildungsstand, das Einkommen oder der Beruf der Eltern) wirkt ebenso
diskriminierend, wie ein Migrationshintergrund, das Geschlecht oder der Wohnort. Wenn die eigenen
Eltern eine Lehre gemacht haben, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst eine Lehre macht, bei
58%. Wenn die eigenen Eltern die Uni absolviert haben, absolviert man zu 57% auch selbst die Uni.
Dies wirkt sich in weiterer Folge auch auf die Jobs aus, die man später macht: Die Wahrscheinlichkeit,
dass Kinder von Führungs- oder Fachkräften selbst einmal in derartigen Positionen tätig sind, ist 3,3-

37
mal höher als für Kinder aus ArbeiterInnen-Familien. Österreich gilt daher international als ein Land mit
einer relativ geringen sozialen Mobilität.

Was kann man nun gegen diese hohe Ungleichheit im Bildungssystem in Österreich unternehmen?
Von zahlreichen BildungsexpertInnen wird seit Jahrzehnten die Einführung einer Gesamtschule
gefordert. Gerade die frühe Selektion mit 10 Jahren (Gymnasium vs. Neue Mittelschule) führt dazu,
dass vielen Kindern aus bildungsfernen Haushalten die Chance auf einen Bildungserfolg schon früh
genommen wird: „„In der Hauptschule sinkt einerseits die Lern-Motivation, andererseits geht der
Umgang von ärmeren mit reicheren Kindern verloren“, so der OECD-Expert Förster (2019). Des
Weiteren wäre es nötig die Kleinkindbetreuung auszubauen, um möglichst allen Kindern so früh wie
Möglichkeit eine Chance zu bieten, mit anderen lernen zu können. Die Zahl der Kinder, die einen
Kindergarten besuchen, liegt in Österreich weiterhin unter dem OECD-Schnitt. Auch müssen Schulen
für Kinder mit höherem Förderbedarf mit mehr finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Die Zuteilung
dieser Mittel könnte auf Basis eines Chancenindex vergeben werden und als Basis für die Berechnung
könnte der Bildungshintergrund der Eltern und die Umgangssprache der Kinder dienen.

Gerade zu Zeiten der Corona-Krise wurde besonders deutlich, wie notwendig solche Strategien zur
Reduktion der Ungleichheit im Bildungssystem sind. Home Schooling führte nach ersten Studien zu
einer Verschärfung sozialer Ungleichheit: Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien und mit
niedrigem sozioökonomischem Status leiden besonders unter der derzeitigen Krise. Die Organisation
Teach for Austria hat etwa eine Umfrage bei ihren Fellows durchgeführt und herausgefunden, dass
20% der SchülerInnen (besonders jene, die bereits zuvor Lernschwächen aufwiesen) im ersten
Lockdown nicht mehr erreicht werden konnten und dass die fehlende Hardware und
Internetinfrastruktur zu den größten Problemen beim Unterricht zu Hause waren. Wer sich keinen oder
nur einen Laptop für zwei Kinder leisten kann, bleibt beim Bildungserfolg zurück.

38
Frauen- und Geschlechterforschung

Die Kategorie „Geschlecht“ hat einen großen Einfluss auf das Leben von Menschen; welchem
Geschlecht fühle ich mich zugehörig? Was bedeutet das für mein (Privat-/Berufs-)Leben? Geschlecht ist
aber nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene von großer Bedeutung, da
es ein wichtiger Faktor für soziale Ungleichheit ist. Beispielsweise verdienen Frauen weniger als Männer
und haben weniger Vermögen als diese. Aber auch beim Zugang zu Bildung oder zu politischer
Mitbestimmung waren (und sind) Frauen benachteiligt.

Ursprünge und Fragen der Frauen- und Geschlechterforschung

Die wissenschaftliche Geschlechterforschung hat sich seit Ende des 19./Anfang des 20. Jhd., etwa
zeitgleich mit der „ersten Frauenbewegung“ und der Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen, mit
Fragen der Lebenssituation von Frauen beschäftigt. Frauen war der Zugang zu höherer Bildung lange
verwehrt. In der Wissenschaft waren ausschließlich Männer tätig, die männliche Realität wurde als
Norm gesetzt; dadurch wurden weibliche Lebensrealitäten in allen Belangen und besonders auch in
der Wissenschaft meist ausgeblendet.

Ziel der Frauenforschung war es immer die Grundlagen für politische Reformen zu erarbeiten, die die
Lage der Frauen verbessern sollten. Auch die „zweite Frauenbewegung“ der 1960er/70er-Jahre
kämpfte gegen immer noch bestehende Diskriminierungen von Frauen in Gesellschaft und
Wissenschaft an. Die Entwicklung von der Frauen- zur Geschlechterforschung lässt sich nicht als
historische Abfolge verschiedener Phasen, die einander ablösen, verstehen. Vielmehr kommt es zu
einer Verschiebung und Pluralisierung der Perspektiven; Geschlechterforschung hat Frauenforschung
nicht abgelöst, sondern um neue Fragen ergänzt. Im Fokus stehen Geschlechterverhältnisse im Kontext
vielgestaltiger gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Klassische Arbeitsfelder der Geschlechterforschung
sind Arbeit, Politik und Ökonomie, Körper und Gesundheit, Medien, Bildung und
Gleichstellungspolitiken. Grundsätzlich kann Geschlechterforschung aber auf allen Ebenen des
sozialen, kulturellen und ökonomischen Lebens stattfinden.

In der Frauen- und Geschlechterforschung wurde über zwei Ansätze diskutiert: liegt der Fokus eher auf
Unterschieden (Differenzansätze) oder wird von der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter
ausgegangen (Gleichheitsansätze)? Die Annahme wesenhafter, quasi „natürlicher“ Differenzen
zwischen Frauen und Männern wird kritisch betrachtet. Stattdessen erfolgte eine Hinwendung zu den
Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Formen und Dimensionen von Ungleichheit, Differenz
und Herrschaft, wie z.B. Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung („ Intersektionalität“).

39
Gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht

Lassen sich aus biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern Unterschiede in Denken und
Verhalten zwischen Männern und Frauen ableiten? Solche „biologistischen“ Ansätze sind von der
Forschung weitgehend widerlegt worden. Die Biologie formt zwar menschliches Verhalten, bestimmt
(determiniert) es aber nicht. Die empirische Forschung legt offen, dass es klare Unterschiede zwischen
den Geschlechtern nur selten gibt. Viel häufiger sind Ähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen und
andere soziale Kategorien wie Bildung oder Herkunft wesentlich bedeutsamer.

Wie wird über Frauen und Männer gedacht? Welche Gefühle, Bedürfnisse, Fähigkeiten und
Verhaltensweisen werden ihnen zugewiesen? Vorstellungen von Frauen und Männern unterscheiden
sich je nach kulturellem und geschichtlichem Hintergrund. Geschlechterunterschiede sind nicht einfach
nur biologisch bedingt, sondern menschengemacht, und somit sozial konstruiert
(Sozialkonstruktivistische Ansätze). Das soziale Geschlecht wird als „Gender“. Wie die französische
Philosophin Simone de Beauvoir sagte: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“.

Die historische Entwicklung beeinflusst, wie sich das Denken über Frauen und Männer entwickelt. Die
Industrialisierung hat zu einer räumlichen Trennung der Sphäre der „Hausarbeit“, die den Frauen
zugeordnet wurde, von der Sphäre der außerhäuslichen „Erwerbsarbeit“, die den Männern zugeordnet
wurde, geführt. Während die außerhäusliche „Produktionsarbeit“ bezahlt ist, bleibt die
„Reproduktions“- und Haushaltsarbeit unbezahlt. Die im 19. Jhd. aufstrebenden Naturwissenschaften
(z.B. Anatomie, Gynäkologie) lieferten wissenschaftliche Erklärungen für Geschlechterunterschiede (=
„Naturalisierung“). Der männliche Körper gilt als das „Normale“, der weibliche als Abweichung. Aus
anatomischen Unterschieden werden unterschiedliche Geschlechteridentitäten und –rollen abgeleitet
und allen Männern und Frauen universelle Charaktereigenschaften zugeschrieben. Der kleine
biologische Unterschied hat große soziale Folgen: Frauen und Männer werden ungleich bewertet
(Hierarchie der Geschlechterordnung).

Frauenforschung in Österreich

Die Sozialwissenschaftlerin Käthe Leichter (*1895 †1942) hat 1932 eine umfassende Studie zu den
Lebens- und Arbeitsbedingungen von Industriearbeiterinnen in Wien veröffentlicht und gilt als
Pionierin der Frauenforschung in Österreich. 1320 Industriearbeiterinnen aus unterschiedlichen
Branchen wurden in Fragebögen und Interviews zu Themen wie Löhne, Arbeitszeit,
Arbeitsbedingungen, Einstellung zum Beruf, Hausarbeit und Mutterschaft, Wohnen und Freizeit
befragt. Die Frauen berichten von großen körperlichen Belastungen durch Erwerbs- und
Haushaltsarbeit. Frauen waren oft ArbeiterInnen zweiter Klasse; sie verdienten deutlich weniger als

40
Männer und waren großteils un- oder angelernt. Die Industriearbeiterinnen verbrachten, inklusive
Arbeitswege und Pausen, 11 bis 12 Stunden mit Erwerbsarbeit, danach folgte eine „zweite Schicht“ von
5 bis 6 Stunden Hausarbeit. Der Wunsch nach einer Arbeitszeitverkürzung (damalige gesetzl.
Höchstarbeitszeit 48 Std./Woche) war groß.

Geschlechterungleichheiten am Arbeitsmarkt

Auch heute ist bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen den Geschlechtern höchst ungleich verteilt.
Frauen wenden rund doppelt so viel Zeit für Kinderbetreuung und Haushaltsführung auf als Männer:
Männer verbringen 63 % ihrer wöchentlichen Arbeitszeit in bezahlter Arbeit, 37% in unbezahlter Arbeit,
während es bei Frauen genau umgekehrt ist (Zeitverwendungserhebung 2008/095). Der Anteil von
Frauen, die Teilzeit arbeiten, ist in Österreich im EU-Vergleich sehr hoch. 47% der erwerbstätigen
Frauen (2019) arbeiten Teilzeit, während es bei den Männern nur 10% sind. Das ist der zweithöchste
Wert in der EU nach den Niederlanden, wo 75% der Frauen in Teilzeit arbeiten (aber auch 28 % der
Männer, Eurostat 2020).

Frauen verdienen im Durchschnitt auch weniger als Männer. Der geschlechtsspezifische


Einkommensunterschied/Gender Pay Gap (GPG) pro Arbeitsstunde in Österreich (2018) beträgt fast
20% und ist der fünfthöchste in der EU. Nur in Estland (23 %), Tschechien, Deutschland (21%) und
Großbritannien (20%) ist der geschlechtsspezifische Einkommensunterschied höher (Eurostat 2020).
Der unbereinigte, also nicht um die Arbeitszeit berichtigte, GPG beträgt fast
38% (Verdienststrukturerhebung Statistik Austria, 2014; Geisberger/Glaser 2017). Betrachtet man die
Komponenten der Einkommensdifferenz, zeigt sich, dass die geringere Arbeitszeit von Frauen 14,5%-
Punkte der Differenz erklärt. Branche und Beruf erklären gemeinsam weitere 6 %-Punkte und
Unterschiede in der Entlohnung von Voll- und Teilzeitbeschäftigten weitere
3%-Punkte. Fast 14% der Einkommensdifferenz zwischen Männern und Frauen lassen sich statistisch
nicht erklären. Der österreichische Arbeitsmarkt ist im internationalen Vergleich stark nach
Geschlechtern segmentiert (Fritsch 2018). So arbeiten rund 18% der Frauen im Handel, 10% im
Gesundheits- und Sozialwesen, wo die Löhne unterdurchschnittlich sind, während 25% der Männer in
der Industrieproduktion und technischen Berufen arbeiten, wo die Löhne überdurchschnittlich hoch
sind. Ein hohes Ausmaß an Teilzeitbeschäftigung, niedrigere Bezahlung und längere Unterbrechungen
aufgrund von Kinderbetreuung führen dazu, dass die Lebenseinkommen von Frauen deutlich niedriger
sind als die von Männern (OECD 2019b). Die Einkommenszuwächse von Frauen über die Jahre sind
vergleichsweise niedrig oder sogar negativ. Das zeigt sich auch in der Pension; in Österreich ist die
Durchschnittspension von Frauen um 39 % niedriger als die von Männern (OECD-Durchschnitt: 25%,
OECD 2019a).

5
Österreich soll demnächst wieder an einer europaweiten Zeitverwendungserhebung teilnehmen.
41
Die Geschlechterungleichheiten zeigten sich auch in der aktuellen Corona-Krise, bei der Frauen
besonders betroffen waren. So waren „systemrelevante“ Berufe, wie Kinderbetreuung, Einzelhandel,
Reinigung und Pflege, in denen der Frauenanteil über 80% (Schönherr/Zandonella 2020) beträgt, den
Gefahren einer Ansteckung stark ausgesetzt. Gerade jene Berufe, in denen der Frauenanteil am
höchsten ist, verdienen weniger als den Durchschnittslohn in Österreich (ebenda). Dazu kamen nun
weitere Belastungen, da die berufstätigen Frauen zu einem größeren Teil als die Männer die
Kinderbetreuung übernahmen während Schulen, Horte und Kindergärten geschlossen waren. Obwohl
sich während der Corona-Krise mehr Väter für die Kinderbetreuung verantwortlich fühlten als vorher,
blieb die Hauptverantwortung dafür zum überwiegenden Teil bei den Müttern (Mader et al. 2020).

42
Migrations- und Integrationsforschung

Migration ist derzeit in aller Munde und ein hochbrisantes „Gefühlsthema“. Manche von uns verbinden
mit Migration positive Gefühle, wie Neugierde, Freude oder Spannung, andere eher negative Gefühle,
wie Angst oder Befremden. Ganz „neutral“ blicken wohl relativ Wenige auf das Thema, wie auch die
zahlreichen politischen Auseinandersetzungen dazu zeigen. Seit den 1990er Jahren erhält das Thema
„Migration/Integration“ in den gesellschaftlichen und politischen Debatten viel Aufmerksamkeit. Dazu
beigetragen haben u.a. die Globalisierung, Kriege, der Klimawandel und weltweite Ungleichheiten. Der
Migrationsforschung Stephen Castles (mit de Haas/Miller 2010) spricht gar vom „age of migration“
und sieht Migration als integralen Bestandteil einer neoliberal strukturierten globalisierten Welt an.

Im Zuge dessen hat auch die Migrationsforschung einen wahren „Forschungsboom“ erlebt und sich
zunehmend erweitert und ausdifferenziert. Die Migrationsforschung ist ein interdisziplinäres
Forschungsfeld, zu dem neben SoziologInnen, auch PolitikwissenschafterInnen, EthnologInnen,
SprachwissenschafterInnen oder HistorikerInnen beitragen. Auf Grund der politischen Brisanz des
Themas „Migration“ ist eine sachlich gut begründete und empirische fundierte Migrationsforschung in
der Tat sehr wichtig. Allerdings hat die Migrationsforschung auch stets das Problem politisch
„vereinnahmt“ zu werden und als Legitimationswissenschaft für bestimmte politische Maßnahmen
herangezogen zu werden. In diesem Spannungsfeld zwischen notwendiger Forschung und politischer
Vereinnahmung befindet sich die Sozialwissenschaft natürlich generell. Bei der Migrationsforschung
fällt dieses Dilemma auf Grund der Brisanz in den letzten Jahren allerdings besonders auf. So gab es in
Österreich vor einigen Jahren eine u.a. vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres
geförderte Studie über Islam-Kindergärten, die in der Öffentlichkeit sehr stark diskutiert wurde. Sie
wurde von zahlreichen ForscherInnen als wissenschaftlich unredlich bezeichnet und musste
dementsprechend von einer unabhängigen Forschungskurie begutachtet werden. Migrationsforschung
ist also eine sehr brisante Forschungsdisziplin.

Die Migrationssoziologie versucht innerhalb dieses Forschungsfeldes die Ursachen, Folgen und den
Wandel von Formen der Migration zu analysieren. Hier ergeben sich allerdings schon zahlreiche
Probleme. So ist schon die Definition von Migration aufgrund ihrer Vielfältigkeit sehr schwierig. Man
hat sich zwar darauf geeinigt, dass Personen, die ihren Lebensmittelpunkt dauerhaft (d.h. für mehr als
ein Jahr) verlegen, als MigrantInnen gezählt werden. Das sind laut Daten der International Organisation
of Migration (IOM) jährlich rund 14 Millionen Menschen oder rund 230 Millionen gesamt (also rund
3% der Weltbevölkerung). Allerdings fallen bei dieser Definition sehr viele Formen von Migration
heraus, z.B. Pendelmigrationen, zirkuläre Wanderungen, kurzfristige Flucht, etc. Auch ist die
Bezeichnung von Personen, die migrieren, nicht unumstritten und politisch teilweise sehr stark
aufgeladen: Sind es nun ZuwandererInnen, MigrantInnen oder Personen mit Migrationserfahrung?

43
„AusländerInnen“ oder Migrierende? Jeder dieser Begriffe hat eine Geschichte und verfolgt einen
spezifischen Zweck. Ein einheitlicher Begriff hat sich in der deutschsprachigen Forschung bis heute
nicht durchgesetzt.

Eine zentrale Erkenntnis der Migrationssoziologie ist, dass die Gründe für Migration höchst vielfältig
sind. Es gibt erwerbs- und familienbedingte Migration, politische und biographisch motivierte
Wanderung. Manche Personen wandern nur temporär, andere verlegen ihren Lebensmittelpunkt
dauerhaft an einen anderen Ort. Dementsprechend sind auch ihre Perspektiven auf Migration sowie
die Herausforderungen und Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, höchst unterschiedlich. Die
Forschung hat lange Zeit versucht ein allgemeines Modell für Migration zu entwickeln, ist davon aber
aus mehreren Gründen abgekommen: Erstens sind die verschiedenen Migrationsformen zu komplex,
um sie in ein Modell zu pressen; zweitens hat sich dieses Modell meist stark an den
hochindustrialisierten Ländern orientiert – die spezifischen Herausforderungen, die sich in Ländern des
globalen Südens stellen, wurden daher ausgeblendet – und drittens waren die Modelle meist sehr
ökonomisch orientiert und haben sich nur für die push/pull-Faktoren von Migration interessiert und
dabei zahlreiche andere Aspekte von Migration unter den Tisch fallen lassen. Heute versucht man eher
kleinteilige Erklärungen und Theorien für best. Fragestellungen im Bereich der Migration zu finden und
auch die Perspektive der MigrantInnen selbst stärker in die Forschung miteinzubeziehen.

So fokussiert die Migrationsforschung in den letzten Jahren auch verstärkt auf bestimmte Bereiche und
Gruppen von MigrantInnen: Frauen* und Geschlechterverhältnisse wurden in der Forschung etwa
jahrelang ausgeblendet. Die implizite Annahme war, dass v.a. junge Männer auf Arbeitssuche
migrieren, während Frauen, wenn dann erst im Zuge des Familiennachzugs folgen würden. Die
historische Migrationsforschung zeigt jedoch, dass diese Annahme schon jeher ein Vorurteil war:
Frauen sind schon früh allein migriert, etwa im Bereich der Prostitutionsmigration, und auch im Zuge
der GastarbeiterInnenwelle in den 1960er bzw. 1970er Jahren sind viele Frauen allein nach Deutschland
oder Österreich eingereist. Moderne Migrationsforschung zeigt mit Blick auf die
Geschlechterverhältnisse weiters, dass für Frauen Migration sowohl ein Emanzipationsakt als auch eine
zusätzliche Belastung sein kann und dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Herkunftsland
hierfür eine entscheidende Rolle spielt. Im Bereich der Männlichkeitsforschung wird demgegenüber
das Bild des männlichen Migranten als „gefährlichem, fremden Patriarchen“ zunehmend in Frage
gestellt und eher gezeigt mit welchen spezifischen Problemen männliche Migranten aufgrund
widersprüchlicher Sozialisationserfahrungen konfrontiert sind.

Schwierig ist es mit der Theoriefindung auch im Bereich der Integrationsforschung: Wie „funktioniert“
Integration überhaupt? Wann gilt jemand als integriert? Hier war in der Forschung lange Zeit eine
Perspektive dominant, die Integration als eine Art „Stufenmodell“ betrachtet hat: MigrantInnen müssen

44
in dieser Vorstellung zuerst die Sprache lernen (kognitive Integration), anschließend im Bildungssystem
bzw. am Arbeitsmarkt aufgenommen werden (strukturelle Integration) um dann in weitere Folge
soziale Kontakte und Netzwerke aufzubauen (soziale Integration) und schlussendlich die Normen und
Werte des Aufnahmelandes zu übernehmen (identifikatorische Integration).

Diese Perspektive ist in der politischen Debatte zwar weiterhin stark präsent, wird in der Forschung
mittlerweile aber eher kritisiert. Sie suggeriert einerseits, dass Integration ein linearer (eben
stufenförmiger) Prozess ist. In der Realität laufen die verschiedenen Prozesse aber eher nebeneinander
und abwechselnd, nicht aufeinander aufbauend, ab. Andererseits wird hier Integration als „einseitige“,
zu erbringende Leistung von Seiten des/der Migrierenden betrachtet und die Rolle der
Aufnahmegesellschaft bei der Bereitstellung der Mittel und Möglichkeiten zur Integration nicht in den
Blick genommen. Hier geht es etwa um Fragen des Zugangs zu (höherer) Bildung, zu (gut bezahlten)
Jobs, aber auch um Möglichkeiten der politischen Beteiligung und Mitgestaltung. So wird in der
Forschung auch vermehrt die Frage gestellt, was die Grundlage von StaatsbürgerInnenschaft und
politischer Partizipation im 21. Jahrhundert sein könnte? Könnte es jemals so etwas wie eine
„transnational citizenship“ geben, also die Möglichkeit sich als WeltenbürgerIn in das politische
Geschehen mehrere Länder einzumischen, wenn man in diesen Ländern lebt/gelebt hat?

Migration und Integration in Österreich: Daten und Fakten

In Österreich hat fast jede vierte Person Migrationshintergrund, d.h. beide Elternteile sind im Ausland
geboren. Der Großteil kommt aus EU/EFTA-Staaten (rund 740.000), gefolgt von Drittstaatsangehörigen
aus Europa (430.000) und dann von Drittstaatsangehörigen außerhalb Europas (260.000) (siehe Folie 14
in der PPT vom 9.6.2020).

Kognitive Integration wird in der politischen Debatte oft mit dem Anteil an Personen mit
nichtdeutscher Muttersprache verknüpft. Der Integrationsbericht des Bundesministeriums für Europa,
Integration und Äußeres von 2019 misst dies beispielsweise am Anteil an Kindern mit nichtdeutscher
Muttersprache in den Schulen. Dieser lag im Schuljahr 2017/18 bei rund 26%, allerdings differieren die
Zahlen erheblich nach Bundesland und Schultyp. Insbesondere in Wien und in den Mittel-, Sonder-
und polytechnischen Schulen ist der Anteil relativ hoch. Für Formen der strukturellen Integration wird
in der Debatte oft die Erwerbstätigenquote herangezogen. Hier gibt der Integrationsbericht an, dass
66% der 15-64jährigen Personen mit Migrationshintergrund 2018 erwerbstätig waren (bei Personen
ohne Migrationshintergrund lag der Anteil bei 75%). Es gibt also durchaus einige Erfolge in der
österreichischen Integrationspolitik, allerdings ist auch noch einiges zu tun. Hier gilt es Mittel und
Wege bereit zu stellen, um sowohl die kognitive wie die strukturelle Integration möglich zu machen. In
Zeiten von Massenarbeitslosigkeit, wie derzeit aufgrund der Corona-Krise, trifft es insbesondere die

45
vulnerablen sozialen Gruppen. Dass MigrantInnen hier dazu gehören, zeigt ein Blick auf die
Arbeitslosenstatistik: So lag der Gesamtzuwachs an Arbeitslosen im Mai 2020 im Vergleich zum Vorjahr
bei rund 70%, bei MigrantInnen allerdings bei rund 90%.

Zur identifikatorischen Integration sind in den letzten Jahren ebenfalls einige Studien erschienen. So
zeigt ein Buch von Aschauer et al. (2019), dass insbesondere bei MigrantInnen aus der Türkei und Ex-
Jugoslawien konservative Rollenbilder abnehmen und traditionelle Geschlechterrollen zunehmend
aufbrechen. 40% der befragten MigrantInnen fühlten sich in dieser Studie als ÖsterreicherInnen,
weitere 43% identifizierten sich sowohl mit ihrem Herkunftsland wie auch mit ihrer neuen Heimat. Zu
ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie von Weiss et al. (2016): Hier wurden muslimische
Eltern-Kind-Paare befragt und es hat sich gezeigt, dass es einen starken Wertewandel von der 1. zur 2.
Generation gibt. Die Zustimmung zu Demokratie nimmt zu, der Anteil der autoritär Eingestellten
nimmt ab.

46
Vorurteile, Rechtspopulismus/Rechtsextremismus

Als Donald Trump 45. Präsident der USA wurde, eine Mehrheit in Großbritannien für einen Ausstieg
aus der EU stimmte und rechte Parteien europaweit Wahlgewinne feierten, las man im Feuilleton
beinahe täglich vom scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Rechtspopulismus bzw.
Rechtsextremismus. Obwohl das Phänomen durchaus schon älter ist – man denke etwa an die
Wahlgewinne der Haider-FPÖ oder des Front National unter Le Pen bzw. von Silvio Berlusconi in Italien
in den 1990er/frühen 2000er Jahren –, scheinen die aktuellen Entwicklungen dieser Debatte neuen
Wind zu geben. Auch die Forschung hierzu erlebt derzeit eine wahre Hochblüte. Die Soziologie kann
zu dieser Thematik auf mehrere Weise beitragen, etwa über eine Analyse der Einstellungsmuster und
Vorurteile oder eine Analyse der sozialen Ursachen, die hinter diesem Wahlverhalten liegen.

Die Vorurteilsforschung ist eine zentrale Subdisziplin in der Soziologie. Hier wird versucht zu zeigen,
welche Rolle Vorurteile in der Gesellschaft spielen, wie Vorurteile sich im Zeitverlauf verändern bzw.
stabilisieren und wer aus welchen Gründen welche Vorurteile annimmt. Unter einem Vorurteil versteht
man generell die Zuschreibung von Merkmalen, Eigenschaften, Verhaltensweisen und -absichten an
eine Gruppe bzw. an eine Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe .Es wird davon
ausgegangen, dass die Funktion von Vorurteilen ist, durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit den
ungleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen – trotz formalem Gleichheitsanspruch von
modernen Gesellschaften – zu legitimieren. Personengruppen, die mit Vorurteilen konfrontiert werden,
wird also ihre Gleichwertigkeit abgesprochen, um die Tatsache zu legitimieren, dass sie weniger
Zugang zu bestimmten Leistungen etc. bekommen. Dies geschieht über die bewertende Konstruktion
von Ungleichheiten und deren Darstellung als unveränderlich. Vorurteile sind oft mit negativen
Emotionen, wie Bedrohungsgefühlen oder Verachtung, kombiniert. Bestimmten sozialen Gruppen
werden „feindliche“ Intentionen zugeschrieben (wie etwa, dass „MigrantInnen nach politischer Macht
streben“, „den Sozialstaat ausnützen“ bzw. „die eigene Kultur unterwandern“ oder „sich absichtlich
nicht anpassen wollen“).

Zwar besteht kein Automatismus im Zusammenhang zwischen Vorurteilen als sozialen Einstellungen
und Diskriminierungen als sozialem Verhalten, dennoch können diese die Grundlage und vor allem die
Rechtfertigung von Diskriminierung bilden (Zick et al. 2011). Betroffene erfahren negative
Einstellungen und Vorurteile in ihrem alltäglichen Leben und werden dadurch in ihrem
Selbstbewusstsein und Wohlbefinden beeinträchtigt; Vorurteile können auch diskriminierendes
Verhalten fördern, etwa am Arbeitsplatz, bei der Wohnungsvermittlung oder im Wohnumfeld; sie
können schließlich auch zur Unterstützung ausgrenzender politischer Programme und Maßnahmen
führen. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist davon auszugehen, dass eine starke Verbreitung von
Vorurteilen den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet. Dies äußert sich unter anderem

47
in der Aufkündigung des Solidarvertrags gegenüber marginalisierten sozialen Gruppen, es kann aber
auch in der Ausweitung antidemokratischer und autoritärer Einstellungen und Verhaltensweisen seinen
Ausdruck finden (Heitmeyer 2002-2011).

Vorurteile können sich gegen verschiedenste soziale Gruppen (MigrantInnen, sozial Marginalisierte,
Juden und Jüdinnen, Frauen, Homosexuelle, Arbeitslose…) richten. Die Forschung zeigt jedoch, dass
dahinter meist ein Einstellungssyndrom – jenes der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit – liegt.
Das heißt, dass Personen, die dazu neigen ein Vorurteil gegenüber einer Personengruppe (z.B.
MigrantInnen) zu haben, eher dazu neigen auch Vorurteile gegenüber anderen Personengruppen (z.B.
JüdInnen) anzunehmen: „Wir sprechen von Menschenfeindlichkeit, weil diese das Wesen des Vorurteils
zum Ausdruck bringt und hinter den singulären Urteilen liegt. Wir sprechen von gruppenbezogen, um
der genannten Beobachtung Rechnung zu tragen, dass es bei Vorurteilen um Abgrenzungen zwischen
Gruppen geht, nicht um eine persönliche Mißlaunigkeit (sic!) oder Misanthropie“ (Zick et al. 2011,
S. 42).

Die Verbreitung von Vorurteilen hat zahlreiche Ursprünge. Historische Traditionen spielen für eine
nationale „Vorurteilskultur“ etwa eine bedeutende Rolle. Um zu erklären, warum Personen Vorurteile
übernehmen und andere nicht, haben sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung mehrere Ansätze
herausgebildet, die heute als komplementär angesehen werden (Fuchs 2003; Rippl und Baier 2005).
Diese Ansätze lassen sich nach ihrem jeweiligen Fokus unterscheiden: Sie können individuums-,
institutionen- sowie strukturbezogen sein.

Individuumsbezogene Theorien betonen die Rolle individueller Gewalt- und


Unterdrückungserfahrungen (wie die Theorie der „autoritären Persönlichkeit“ von Adorno et al. 1950).
Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass Vorurteile abhängig sind von dem Wissen des/der
Einzelnen über Fremdgruppen und den persönlichen Kontakten zu marginalisierten sozialen Gruppen
(Theorien des differentiellen Lernens, Kontakthypothese; Rippl 1995). Institutionenbezogene Theorien
betonen demgegenüber die Rolle von Schulen und Bildungseinrichtungen sowie anderer Orte der
(interkulturellen) Zusammenkunft als Möglichkeiten des Wissenserwerbs, des Austauschs und der
Eingliederung marginalisierter sozialer Gruppen in die (Mehrheits-)Gesellschaft (Strohmeier et al.
2005). Strukturbezogene Theorien, wie die Konflikttheorie und die kritische Integrationstheorie, setzen
an verschiedenen makrosozialen Strukturen an. Sie argumentieren, dass gegensätzliche materielle
Interessen und Statuskämpfe Vorurteile auslösen bzw. verstärken können.

Die These der „relativen Deprivation“ geht davon aus, dass die Gefährdung des eigenen sozialen Status
bzw. des Gefühls der Benachteiligung zu einer höheren Neigung zu Feindbildern führt (Pettigrew
2002). Die Verbindung zwischen relativer Deprivation und der Abwertung marginalisierter sozialer

48
Gruppen wird über die Angst vor bzw. die Erfahrung von sozialem Abstieg erklärt. Sind Abstiege und
Abstiegsängste weit verbreitet, nehmen die sozialen Partizipationschancen und somit auch das
Integrationspotential moderner Gesellschaften ab. VertreterInnen der kritischen Integrationstheorie
(Heitmeyer 2002-2011) argumentieren weiter, dass Erfahrungen des rapiden sozialen Wandels oder
von Krisenwahrnehmungen Zukunftsängste, Verunsicherungsgefühle oder Gefühle der
Perspektivlosigkeit auslösen können. Vor diesem gesellschaftlichen Problemhintergrund wird vielfach
nach „einfachen“ Erklärungen gesucht und Feindbilder werden verstärkt angenommen. Heitmeyer
(2002-2011) erklärt dies folgendermaßen: Betroffene Personen versuchen die Effekte sozialer
Desintegration in einem gesellschaftlichen Teilbereich durch eine gelungene Integration in einen
anderen gesellschaftlichen Teilbereich zu (Mansel et al. 2012). Der Integrationstheorie folgend können
gesellschaftliche Krisensituationen also zu vermehrter sozialer Verunsicherung führen, die in weiterer
Folge einen Anstieg von Vorurteilen verursachen.

In den letzten Jahren versuchten SozialwissenschafterInnen, wie Didier Eribon (2016) oder Oliver
Nachtwey (2016), zu zeigen, dass hinter dem „Wahltrend nach rechts“ meist reale Abstiegserfahrungen
und -gefährdungen sowie Enttäuschungen und Identitätsverletzungen liegen. In den Familien vieler
ArbeitnehmerInnen haben sich Abstiegsängste breitgemacht. Viele kennen im Freundes- oder
Bekanntenkreis Menschen mit prekären Jobs oder Abstiegserfahrungen. Bei den jüngeren
Generationen hat sich die Erwerbsbiographie verändert. Viele von ihnen sind heute länger prekär
beschäftigt und landen erst später, wenn überhaupt, in einem gesicherten Arbeitsverhältnis. Der
Lebensstandard sinkt jedoch noch nicht für alle unmittelbar, weil einige vom Wohlstand der
Elterngeneration weiter zehren können. Dies führt zu einer „Refeudalisierung sozialer Ungleichheit“,
dem (Wieder-)Entstehen einer „Erbengesellschaft“ und damit höchst ungleichen Startvoraussetzungen
(siehe auch die Einheiten zu sozialer Ungleichheit).

Die etablierte Politik ist nur teilweise sensibilisiert für den Anstieg sozialer Ungleichheiten und reagiert
darauf auf eine ganz spezifische Weise: Die (ehemals) großen Volksparteien fokussieren vor allem auf
die sogenannte (und sehr amorphe) Mitte der Gesellschaft. Die Mitte und ihre Lebensführung werden
normativ überhöht, so dass alle, die es nicht in die Mitte geschafft haben, sich als inferior ansehen
müssen. Wer es nicht schafft, Teil der Mitte zu werden, gilt in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus als
selbst schuld. Armut wird als individuelle Schande erachtet. Aus widrigen sozialen Bedingungen könne
man sich herausarbeiten, wenn man nur wolle. Zur Mitte zu gehören, bedeutet daher nicht nur nicht
arm zu sein, sondern gilt auch als ein „Beweis“ für die eigene Leistungsbereitschaft. Die Mitte ist die
Gruppe der „Etablierten“, die es sich herausnehmen darf, die unteren sozioökonomischen Klassen als
„Außenseiter“ zu betrachten (Elias/Scotson 1993). Diese unteren Klassen finden damit gesellschaftlich
immer weniger Solidarität und haben bei den etablierten Parteien kaum eine Stimme mehr; sie haben
ihre politische Repräsentation weitgehend verloren bzw. fühlen sich nicht mehr wahrgenommen.

49
Sowohl die derzeit noch Stabilen mit Abstiegsängsten als auch die akut Abstiegsgefährdeten bzw.
Prekären fühlen sich vom politischen Mainstream-Angebot immer weniger angesprochen. In diese
Lücke der politischen Repräsentation stößt derzeit vor allem der Rechtspopulismus, der die soziale
Frage aufnimmt. Ihm geht es jedoch weniger um die unteren Klassen, die ethnisch und geschlechtlich
heterogen sind. Er adressiert vor allem den „kleinen Mann“, also den vermeintlich „einfachen“ (und in
der Regel weißen) Arbeitnehmer oder Selbständigen. Der kleine Mann ist eine
Anknüpfungsmöglichkeit an einen Teil der derzeit unter Druck stehenden ArbeiterInnenklasse – die
zuweilen tatsächlich abgehängt oder abstiegsbedroht ist – als kleinbürgerliches Subjekt: das sind die
hart arbeitenden Menschen, die ihre Steuern zahlen (oder im angelsächsischen Raum: hard working
people who play by the rules). So wie die RechtspopulistInnen ihn adressieren und produzieren, ist er
der ehemalige Etablierte, der auf Grund der Globalisierung (und der MigrantInnen,
Flüchtlinge, Frauen, …) um seinen Status fürchtet. Damit fühlen sich bestimmte Bevölkerungsgruppen
angesprochen und in der politischen Debatte ernst genommen. Allerdings ist das Mittel der
Integration der Sozialchauvinismus. Verschiedene soziale Gruppen werden gegeneinander ausgespielt:
MigrantInnen gegen „Einheimische“, Frauen gegen Männer, diejenigen, die ganz wenig haben,
gegen diejenigen, die etwas mehr haben. Auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse geraten nicht in
das Blickfeld, sondern werden gerade unsichtbar gehalten, da die Gesellschaft von
RechtspopulistInnen als homogenes, nationales Konstrukt gedacht wird. Die soziale Frage wird zwar
aufgenommen, aber gleichzeitig von der vertikalen Dimension zwischen oben und unten zu einem
Konflikt der Kulturen stilisiert.

Vorurteile in Österreich

In vielen Studien wird darauf hingewiesen, dass Vorurteile gegenüber Minderheiten in Österreich
besonders stark verbreitet sind und eine lange Tradition haben (siehe u. a. Friesl et al. 2009; Weiss
2000, 2003, Weiss/Hofmann 2016). Insbesondere MigrantInnen, MuslimInnen und AsylwerberInnen
waren in den letzten Jahren mit einem großen Maß an Ablehnung konfrontiert. Rund 65% der
Befragten stimmten im Sozialen Survey Österreichs (2018) (eher) der Aussage zu, dass „MigrantInnen
die Kriminalitätsrate erhöhen [würden]“, und 76% wünschten sich (eher), dass „Österreich härtere
Maßnahmen ergreifen [sollte], um illegale ZuwandererInnen abzuwehren“. Demgegenüber waren nur
rund 27% der Befragten der Meinung, dass „MigrantInnen im Allgemeinen gut für die österreichische
Wirtschaft [sind]“.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch beim Vorurteil gegenüber Muslimen und Muslimas: 40% hegen eher
Vorurteile gegenüber MuslimInnen, davon 10% sehr große. Mit dieser hohen Ablehnungsrate
gegenüber Muslimen und Muslimas liegt Österreich im europäischen Spitzenfeld. Nur Ungarn
verzeichnet etwa bei der Aussage „Es gibt zu viele Muslime in ….“ ähnlich hohe Ablehnungswerte wie

50
Österreich (knapp 60%). In Deutschland liegen die Ablehnungswerte bei knapp über 45%; in Portugal
sind sie mit unter 30% am niedrigsten in den ausgewählten Ländern. Ein ähnliches Bild ergibt sich,
wenn man sich die Verteilung zu der Aussage ansieht, ob die „Mehrheit der in Europa lebenden
Muslime den islamistischen Terrorismus für gerechtfertigt hält“. Auch hier liegt Österreich mit knapp
10% überwiegender und ca. 20% tendenzieller Zustimmung im internationalen Vergleich mit Ungarn
an der Spitze, gefolgt von Großbritannien und Polen (knapp über 25%) (Hofmann 2015).

Neben MigrantInnen im Allgemeinen und MuslimInnen im Besonderen stellen AsylwerberInnen eine


Minderheit dar, die in den letzten Jahren verstärkt mit Vorurteilen in Österreich konfrontiert ist. Dies
spiegelt sich auch in den Einstellungen wider: 64% der befragten ÖsterreicherInnen hegen eher
Vorurteile gegenüber AsylwerberInnen, davon 20% sehr große. Schlussendlich sind Juden und
Jüdinnen historisch mit großen Ablehnungsraten in Österreich konfrontiert – die eher zögerliche
Aufarbeitung der österreichischen TäterInnenschaft im 2.Weltkrieg hat die Beständigkeit der
Ressentiments gegenüber JüdInnen im Land weiter verfestigt (Weiss 1987). 2012 waren 28% der
Befragten in Österreich (davon 6% sehr) ablehnend gegenüber JüdInnen eingestellt.

Betrachtet man die Vorurteile im Zeitverlauf, so hat insbesondere das Vorurteil hinsichtlich einer
Zunahme an Kriminalität durch Migration hierzulande Tradition: Bereits in den 1990er Jahren hat es
relativ viel Zustimmung erfahren und seine Verbreitung ist seither stabil geblieben. Dies ist kaum
verwunderlich: Die FPÖ hat ja schon unter Jörg Haider mit der diskursiv-politischen Verknüpfung von
Migration und einer Zunahme der Kriminalität argumentiert und sie etwa im Zuge des 1993
durchgeführten Anti-Ausländer-Volksbegehrens „Österreich zuerst“ popularisiert. Diese Ideen griffen
verschiedenste politische und mediale Akteure in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten immer
wieder auf. So hält sich dieses Vorurteil bis heute auf konstant hohem Niveau und wird auch immer
wieder (re-)aktiviert (Hofmann 2019). Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man sich die Verbreitung von
anti-jüdischen Ressentiments in Österreich ansieht. Befand sich die Zustimmung zu der Aussage
„Juden haben zu viel Einfluss in Österreich“ zwischen 1980 und 1996 konstant auf hohem Niveau (über
30%), so nahm das Vorurteil kurzfristig zwischen 1996 und 2007 zwar um knapp 15 Prozentpunkte auf
20% ab. Zwischen 2007 und 2012 stieg es allerdings wieder auf 28% an. Vorurteile gegenüber
marginalisierten sozialen Gruppen nehmen in Österreich in den letzten Jahren also wieder stark zu – in
diesem minderheitenfeindlichen Kontext konnte sich wohl auch das anti-muslimische Feindbild so
schnell entwickeln (Hofmann 2015).

51
Soziale Bewegungen

Die soziale Bewegungsforschung beschäftigt sich mit den Gründen, Formen und Dynamiken von
kollektivem Handeln sowie seinen Folgen als Treiber sozialen Wandels. Ihren Ursprung hat sie in der
sozialhistorischen Analyse von großen, politischen Wandlungsprozessen im Zuge historisch wichtiger
Revolten und Revolutionen, wie 1789 oder 1848 und später in den Analysen der aufkeimenden
Protestbewegungen im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er und 1970er Jahre. Diese als
„neue, soziale Bewegungen“ bezeichneten Proteste (z.B. die Frauen-, Ökologie- oder die
Antikriegsbewegung) wurden in der Forschung lange von den „alten, sozialen Bewegungen (z.B. der
ArbeiterInnenbewegung) abgegrenzt, da sie in der Tendenz eher eine Pluralität an Themen und
Weltanschauungen vertreten und starre Organisationsformen ablehnen, allerdings ist diese
Unterscheidung in den letzten Jahren durchaus umstritten.

Die frühe Bewegungsforschung blickte relativ distanziert auf politische Proteste. So hat der
französische Psychologe Gustave Le Bon schon 1895 in seinem Buch „The Crowd“ die pathologische
Verhaltensform von Massenhandeln kritisiert. In einer größeren Gruppe werde der Einzelne seiner
Ansicht nach vom rationalen Individuum zum irrationalen Massenwesen. In eine ähnliche Kerbe
schlugen Elias Canetti und Theodor Adorno, die sich mit Blick auf die Straßenaktionen von Faschisten
dem Phänomen des Massen-Handelns widmeten. Unter dem Eindruck der neuen, sozialen
Bewegungen in den 1960er Jahren veränderte sich dieser Blick allerdings stark und die Forschung
beschäftigte sich zunehmend weniger mit der Frage, ob kollektives Handeln per se etwas Gutes oder
Schlechtes sei, sondern stärker mit den Bedingungen, unter denen es zu Protesten oder Bewegungen
kommt und Gründen, warum Menschen an diesen teilnehmen.

Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von Mancur Olson „The Logic of Collective
Action“ (1965). Aus einer rational choice -Perspektive zeigt er darin, dass Menschen v.a. aus
persönlichem Nutzen an kollektiven Aktionen teilnehmen. Bei zunehmender Gruppengröße nimmt
seiner Ansicht nach daher auch der Anreiz ab, kollektiv zu handeln, da sich sogenannte
„TrittbrettfahrerInnen“ (jene, die von den Erfolgen von kollektiven Mobilisierungen profitieren wollen,
ohne selbst etwas dazu beizutragen) immer weniger beteiligen. Olsons Ansatz wurde in Folge stark
kritisiert, da er die Bedeutung von Normen und Werten für eine Teilnahme an gemeinsamen Aktionen
stark unterschätzt (man kann auch an einer Bewegung teilnehmen, obwohl man selbst nichts davon
hat bzw. um andere zu unterstützen), dennoch gilt das Buch bis heute als Klassiker der
Bewegungsforschung.

52
Ein weiterer Klassiker stammt von dem amerikanischen Soziologen Neil Smelser, der sich etwa
zeitgleich (1962) mit sozialen Bewegungen befasst hat. Sein Fokus lag allerdings weniger auf den
individuellen Motiven an Protesten oder Bewegungen teilzunehmen, sondern auf den
Bestimmungsfaktoren kollektiven Handelns. Smelser ging davon aus, dass günstige
Strukturbedingungen, das Vorhandensein von Spannungen, eine gemeinsame Erzählung und soziale
Kontrolle die Formierung von sozialen Bewegungen unterstützen. Diesem ersten genuin
soziologischen Ansatz zur Erklärung sozialer Bewegungen folgten zahlreiche weitere, aus denen sich
zusammengefasst drei Faktoren herauslesen lassen, die die Entstehung von sozialen Bewegungen
begünstigen oder hindern:

Der erste Faktor sind die sogenannten politischen Opportunitätsstrukturen: Sind diese „offen“ für
sozialen Wandel, so werden sie als „günstig“ für die Entstehung von sozialen Bewegungen
beschrieben. „Offenheit“ wird gemessen an dem Ausmaß des politischen Pluralismus (je höher, desto
„offener“), dem Ausmaß an staatlicher Repression (je geringer, desto „offener“), der Pluralität bzw.
Uniformität der Eliten (je pluraler, desto „offener“) und dem Ausmaß öffentlicher, politischer Debatten
(je höher, desto „offener“).

Der zweite Faktor ist die Verfügbarkeit von Ressourcen: Mobilisierungen sind höchst voraussetzungvoll
und bauen auf dem geplanten (rationalen) Handeln der beteiligten AkteurInnen auf. Für die
Organisation und Teilnahme an Mobilisierungen müssen die beteiligten AkteurInnen also zahlreiche
Ressourcen akquirieren und einsetzen. Eine bedeutsame Rolle spielen insbesondere die materiellen
Ressourcen, also beispielsweise die zur Verfügung stehenden finanziellen und infrastrukturellen Mittel.
Des Weiteren werden soziale Ressourcen, wie Netzwerke und Kontakte (etwa zu MedienvertreterInnen
oder PolitikerInnen) als bedeutsam eingestuft.

Der dritte Faktor ist die Etablierung gemeinsamer Frames und einer kollektiven Identität , also eines
Gefühls der Verbundenheit („Wir-Gefühl“). Für die Herstellung von kollektiver Identität wird vor allem
eine gemeinsame Einordung der Verhältnisse und ein Bewusstsein über ein gemeinsames Interesse
(framing) als zentral erachtet. Doch geteilte Frames sind nicht ausreichend für die Etablierung einer
kollektiven Identität. Eine wichtige Rolle spielen auch die persönlichen Kontakte und Interaktionen, die
beim kollektiven Handeln entstehen und die gemeinsam gemachten Erfahrungen. Diese haben oft
starke Emotionen zur Folge, etwa Gefühle der Empathie, der Verbundenheit oder der gegenseitigen
Verantwortung.

Neben den verschiedenen Bedingungen für Proteste beschäftigt sich die soziale Bewegungsforschung
bereits seit dem Aufkommen der globalen Sozialforen-Bewegung Mitte bis Ende der 1990er Jahre mit
den Auswirkungen der Globalisierung auf soziale Bewegungen und den Möglichkeiten eines globalen,

53
kollektiven Handelns. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass globale (bzw. transnationale) soziale
Bewegungen an zahlreiche Voraussetzungen gebunden sind: etwa an die Etablierung einer
transnationalen, kollektiven Identität und damit einhergehend der Herausbildung grenzüberschreitend
geteilter Frames und von grenzüberschreitenden Netzwerken. Es werden in den empirischen Arbeiten
aber auch Sprachunterschiede und etwaige kulturelle Differenzen als mögliche Barrieren thematisiert.
Insbesondere zur Frage der Europäisierung sozialer Bewegungen liegen mittlerweile zahlreiche
empirische Studien vor. Diese zeigen allerdings, dass kollektive Mobilisierungen selten
grenzüberschreitend, sondern weiterhin stark lokal bzw. national ausgerichtet sind. Dies wird unter
anderem auf sozialstrukturelle Faktoren (wie die höchst unterschiedlichen Lebensstandards der
BürgerInnen Europas) und auf symbolisch-kulturelle Faktoren zurückgeführt. Dennoch gibt es aktuell
einige Beispiele für genuin transnationale Bewegungen, die weiter unten kurz beschrieben werden.

Ein weiteres Thema mit dem sich die Bewegungsforschung aktuell beschäftigt, sind die Auswirkungen
der Digitalisierung auf Proteste und soziale Bewegungen. Hierzu sind die Befunde aus der
Bewegungsforschung ambivalent, wie die Bewegungsforscherin Sabrina Zajak argumentiert: Zwar
werde das Handlungsrepertoire für Proteste durch das Internet erhöht, Online-Proteste etwa in Form
von Petitionen erfahren immer mehr Zulauf. Allerdings zeigt sich, dass Online-Vernetzung und Offline-
Protest (also reale Protesthandlungen) sich in der Tendenz gegenseitig unterstützen müssen. So kann
Online-Aktivismus zwar den Austausch unter AktivistInnen erleichtern, wird aber ohne Offline-Aktionen
jedoch selten auf große Resonanz stoßen. Zu Zeiten der Corona-Krise waren Online-Aktionen
allerdings für viele soziale Bewegungen die einzige Chance sich Gehör zu verschaffen. Viele setzen auf
Webinare, Instagram- oder Twitterposts bzw. eigene neue Homepages und Blogs, um sich zu
organisieren, zu vernetzen und die eigenen Anliegen zu präsentieren.

Aktuelle Beispiele aus der Bewegungsforschung

- Fridays for Future (FFF): Die seit 2019 regelmäßig stattfindenden Proteste nehmen weltweit zu
und werden v.a. von SchülerInnen und Studierende getragen. Am ersten weltweit organisierten
Klimastreik am 15. März 2019 nahmen fast 1,8 Mio. Menschen teil. Mittlerweile haben sich
zahlreiche nationale Komitees und Unterstützungsorganisationen herausgebildet. Eine Studie des
Deutschen Instituts für Protest- und Bewegungsforschung hat TeilnehmerInnen bei in Deutschland
stattfindenden FFF-Demos befragt und herausgefunden, dass diese in der Regel sehr jung sind
(zwischen 14-19 Jahren), eher aus der Mittelschicht kommen und politisch eher links orientiert sind.
Viele sind zum ersten Mal politisch aktiv und sind zuversichtlich hinsichtlich der Erfolge der FFF-
Bewegung: So stimmten rund 60% folgender Aussage zu „Ich bin zuversichtlich, dass politische
Entscheidungen den Klimawandel eindämmen können.“, was die ForscherInnen mit Verweis auf die

54
Sozialstruktur der AktivistInnen erklären.

- Black Lives Matter: Nach der Ermordung von George Floyd im Mai 2020 in den USA hat sich
weltweit eine soziale Bewegung gegen Rassismus formiert. BewegungsforscherInnen stellen sich
hierbei insbesondere die Frage, warum diese schon seit Jahrzehnten bestehende Bewegung genau
jetzt wieder so viel Zuspruch bekommt. Sie betonen die „Macht der Bilder“ und von (sozialen)
Medien. Das Video, indem Georg Floyd nach Atem ringt, ging im Gegensatz zu anderen Morden
schnell viral und stieß dementsprechend auf breite Berichterstattung in den Medien. Dem
Protestforscher Simon Theune zufolge nehmen wir durch soziale Medien die Proteste auch stärker
wahr, weil wir quasi „live“ dabei sein können. Das bedeute allerdings nicht, dass sie „wichtiger“
geworden wären. Proteste und soziale Bewegungen würden sich immer wellenförmig entwickeln–
es gäbe manchmal Phasen mit mehr und manchmal mit weniger Protesten. Dies gelte auch für anti-
rassistische Bewegungen, wie Black Lives Matter, die mittlerweile bereits vier Bewegungswellen
(2014, 2015, 2016, 2020) verzeichnen konnten.

55
Literatur

Aschauer, Wolfgang/Beham-Rabanser, Martina/Bodi-Fernandez, Otto/Haller, Max/Muckenhuber,


Johanna (Hrsg.) (2019): Die Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Astleitner, F./Flecker, J. (2017): From the golden age tot he guilded cage? Austrian trade unions, social
partnership and the crisis, in: S. Lehndorff,H. Dribbusch/T. Schulten (Hg.): A rough landscape –
European trade unions in a time of crisis. Brüssel: European Trade Union Institute.
Bach, Maurizio (2008): Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der europäischen Integration,
Wiesbaden: Springer VS.
Bacher, Hans (2020): 20 % der Kinder in Österreich leben in beengten Wohnverhältnissen. In:
https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog05/
Bauer, Ulrich/Bittlingmayer, Uwe/Scherr, Albert (Hrsg.) (2012): Handbuch Bildungs- und
Erziehungssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Baumann, Zygmunt (2000): Vom Nutzen der Soziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main:
Suhrkamp Verlag.Beck, Ulrich/Grande, Edgar (2004): Das kosmopolitische Europa, Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Berger, Peter L. (1963): Invitation to Sociology: A Humanistic Perspective. US: Double Day.
BMSGPK (2020): COVID-19: Analyse der sozialen Lage in Österreich, Teil 2 – vorläufige Version. Wien:
BMSGPK.
Bohrn Mena, Veronika (2019): Die neue ArbeiterInnenklasse. Menschen in prekären Verhältnissen.
Wien: ÖGB-Verlag.
Bonin, H./Gregory, T./Zierahn, U. (2015): Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf
Deutschland, ZEW Expertises, 57, Mannheim: ZEW-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung.
Brynjolfsson, Erik/McAfee, Andrew (2014): The second machine age: New York: W. W. Norton &
Company.
Burzan, Nicole (2007): Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften.
Ciaglia, S./Fuest, C./Heinemann, F. (2018): Deutsche, Franzosen, Italiener – und Europäer? Zur
Entwicklung europäischer Identität, EconPol Policy Report 09/2018.
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz:
UVK.
Castels, Stephen/de Haas, Hein/Miller, Mark (2010): The Age of Migration: International Population
Movements in the Modern World. London: Red Globe Press.
Crouch, Colin (1993): Industrial Relations and European State Traditions. Oxford: Clarendon Press.

56
Dawid, Evelyn (2020): Armutsbetroffene und die Corona-Krise. Eine Erhebung zur sozialen Lage aus
Sicht von Betroffenen. Wien: BMSGPK.
Degryse, Christophe (2016): Digitalisation of the economy and its impact on labour market, Working
Paper 2016.02. Brussels: European Trade Union Institute.
Dörre, Klaus/Brinkmann, Ulrich/Röbenack, Silke/Kraemer, Klaus/Speidel, Frederic. (2006): Prekäre
Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer
Beschäftigungsverhältnisse. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Elias, Norbert/Scotson, John L. (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Verlag.
Erler, Ingolf (Hrsg.) (2007): Keine Chance für Lisa Simpson? Wien: Mandelbaum Verlag.
Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp Verlag
Esping-Andersen, Gøsta (1990): Three worlds of welfare capitalism. Princeton: Princeton University
Press.
Favell, Adrian/Guiraudon, Virginie (Hg.) (2011): Sociology of the European Union. Palgrave: Macmillan.
Flecker, Jörg/Hermann, Christian (2005): Geliehene Stabilität. Zur Funktionsfähigkeit des dualen
Systems der Arbeitsbeziehungen in Österreich, in: F. Karlhofer/E. Tálos (eds.): Sozialpartnerschaft –
österreichische und europäische Perspektiven, Münster: LIT Verlag, S. 37–56.
Fligstein, Neil (2008): Euroclash, Oxford: Oxford University Press.
Frey, Carl/Osborne, Michael (2013): The future of employment: how susceptible are jobs to
computerisation, Working Paper Oxford Martin School, Oxford 2013.
Friesl, Christian/Polak , Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (2009): Die Österreicher_innen. Wertewandel
1990–2008. Wien: Czernin.
Fritz, Martin/Bohnenberger, Katharina (2020): Sozialpolitik for Future. Wie nachhaltige Sozialpolitik
Klimagerechtigkeit schafft. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 33 (1), 269–281
Giddens, Anthony (2009): Sociology. Cambridge: Polity Press.
Glassner, Vera/Hofmann, Julia (2019): Collective Bargaining in Austria. In: Müller, Torsten/ Vandaele,
Kurt/Waddington, Jeremy (Hrsg.): Collective bargaining in Europe: towards an endgame. Volume I,
II, III and IV. Brüssel: ETUI: 33-52.
Haindorfer, Raimund/Schlechter, Maria/Seewann, Lena (2019): Soziologische Momente im Alltag. Von
der Sauna bis zur Kirchenbank. Wien: new academic press.
Hartmann, Michael (2007): Eliten und Macht in Europa. Frankfurt/Main: Campus Verlag.
Heck, Ines/Kapeller, Jakob/Wildauer, Rafael (2020): Vermögenskonzentration in Österreich. Ein Update
auf Basis des HFCS 2017. Working Paper-Reihe der Arbeiterkammer Wien Nr. 206.
Heidenreich, M./Delhey, J./Lahusen, C./Gerhards J./Mau, S./Münch, R./Pernicka, S. (2012): Europäische
Vergesellschaftungsprozesse. Horizontale Europäisierung zwischen nationalstaatlicher und globaler
Vergesellschaftung. Working Paper 1 of the DFG Research Unit „Horizontal Europeanisation: An
emerging social entity between national and global scales”.

57
Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.). (2002–2011): Deutsche Zustände (10 Bände). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hofmann, Julia (2019): Einstellungen und Vorurteile in Bezug auf Migration sowie Migrantinnen und
Migranten in Österreich.
Hofmann, Julia (2015) Abstiegsangst und Tritt nach unten? Die Verbreitung von Vorurteilen und die
Rolle sozialer Unsicherheit bei der Entstehung dieser am Beispiel Österreichs. In W. Aschauer, L.
Donat & J. Hofmann (Hrsg.), Solidaritätsbrüche in Europe. Konzeptuelle Überlegungen und
empirische Befunde (S. 237–257). Wiesbaden: Springer VS.
Hofmann, Julia/Marterbauer, Markus/Schnetzer, Matthias (2020): Gerechtigkeitscheck: Wie fair findet
Österreich die Verteilung von Einkommen und Vermögen? Neue Erkenntnisse aus dem European
Social Survey (ESS). Working Paper-Reihe der Arbeiterkammer Wien Nr. 201.
Hofmann, Julia/Weiss, Hilde (2019): Wie stabil sind die Klassen- und Vermögensverhältnisse?
Empirische Analysen der ersten und zweiten Welle des Household Finance and Consumption
Survey für Österreich. In: SWS-Rundschau 59 (1): 24-45.
Huws, Urusla/Joyce, Simon (2016): Österreichs Crowdworkszene, Studie der Foundation for European
Progressive Studies (FEPS) und UNI Europa, University of Hertfordshire und Ipsos Mori.
IFES (Institut für empirische Sozialforschung) (2020): Zeit- und ortsungebundenes Arbeiten, online
verfügbar unter: https://www.arbeiterkammer.at/homeoffice (9.6.2021)
Irani Lilly (2015): Justice for ‘data janitors’, online verfügbar unter:
http://www.publicbooks.org/nonfiction/justice-for-data-janitors (9.6.2021)
Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul/Zeisel, Hans (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein
soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt/Main:
Suhrkamp.
Kässi, Otto/Lehdonvirta, Vili (2018): Online Labour Index: Measuring the Online Gig Economy for Policy
and Research. In: Technological Forecasting and Social Change (137): 241-248.
Lahusen, Christian (2021): The political attitudes of divided European citizens, Routledge: London.
Lazarsfeld, Paul (1948): What is sociology? Oslo: Universitetets studentkontor.
Leitner, Sebastian. (2018). Factors driving wealth inequality in European countries: the effect of
inheritance and gifts on household net wealth distribution analysed by applying the Shapley value
approach to decomposition. Working Paper Reihe der AK Wien 177.
Lockwood, David (1964): Social Integration and System Integration, In: G. K. Zollschan und H. W. Hirsch
(Hrsg.) Explorations in Social Change, Boston: Houghton Mifflin.
Lott, Yvonn (2020): Work-Life Balance im Homeoffice: Was kann der Betrieb tun? Report Nr. 54,
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut.
Mader, Katharina/Derndorfer, Judith/Disslbacher, Franziska/Lechinger, Vanessa/Six, Eva (2020):
Mehrfachbelastung unter COVID-19: Home Office und Hausarbeit, online verfügbar unter:
https://www.wu.ac.at/vw3/forschung/laufende-projekte/genderspezifscheeffektevoncovid-19
(9.6.2021).
Mills, C. Wright (1959): The Sociological Imagination. Oxford: Oxford University Press.

58
Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne.
Berlin: Suhrkamp Verlag
Nagl, Wolfgang/Titelbach, Gerlinde/Valkova, Katarina (2017): Digitalisierung der Arbeit:
Substituierbarkeit von Berufen im Zuge der Automatisierung durch Industrie 4.0, Projektbericht,
Wien: Institut für Höhere Studien.
Neckel, Sighard/Hofstätter, Lukas/Hohmann, Marco (2018): Die globale Finanzklasse. Business, Karriere,
Kultur in Frankfurt und Sydney. Frankfurt/Main: Campus Verlag.
Oxford Internet Institute (2017): Where are workers located in the international division of digital gig
work, OII | Where are online workers located? The international division of digital gig work
(ox.ac.uk).
Pernicka, Susanne/Hefler, Günther (2015): Austrian Corporatism – erosion or resilience? Austrian
Journal of Political Science 44 (3): 39-56.
Pettigrew, Thomas (2002): Summing up: Relative deprivation and social comparison. In I. Walker & H. J.
Smith (Hrsg.), Relative deprivation. Specification, development and integration (S. 385–401).
Cambridge: Cambridge University Press.
Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck.
Polanyi, Karl (2001) [1944]: The Great Transformation, Beacon: Boston.
Sandholtz, Wayne/Stone Sweet, Alec (Hrsg.) (1998): European integration and supranational
governance. Oxford and New York: Oxford University Press.
Schäfer, Armin (2015): Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der
Demokratie schadet. Frankfurt/Main: Campus Verlag.
Scharpf, Fritz W . (1996): Negative and Positive Integration in the Political Economy of European
Welfare States, in: Marks, Gary/Scharpf, Fritz W./Schmitter, Philippe C./Streeck, Wolfgang (Hrsg.),
Governance in the European Union. London: Sage, 15–39.
Schmidt, Florian (2017): Digital labour markets in the platform economy. Bonn: Friedrich-Ebert-
Stiftung.
Schmidt, Andrea (2020): Win-win-win in der Krise: Pflege als Jobmotor und Zündschnur für mehr
Gerechtigkeit, online verfügbar unter https://awblog.at/pflege-als-jobmotor/ (19.5.2021).
SORA (2020): Zur Situation von Eltern während des zweiten Lockdowns in der Coronapandemie, online
verfügbar unter: https://www.sora.at/fileadmin/downloads/projekte/momentum-elternbefragung-
corona-ii.pdf (22.12.2020).
Silver, Beverly (2003): Forces of Labor. Workers’ Movements and Globalization since 1870, Cambridge:
Cambridge University Press.
Standing, Guy (2015): Prekariat: Die neue explosive Klasse. Münster: Unrast Verlag.
Stern, Sandra/Hofmann, Julia (2018): Speeds kills slowly: Sozialpartnerschaft unter Schwarz-Blau II. In:
Kurswechsel 3 (2018): 38-46.
Tálos, Emmerich (2008): Sozialpartnerschaft. Innsbruck: Studien Verlag.

59
Tamesberger, Denis/Woltran, Iris (2020): Corona-Krise erfordert Erhöhung des Arbeitslosengeldes.
A&W-Blog 16.04.2020, online verfügbar unter: https://awblog.at/corona-erhoehung-
arbeitslosengeld/ (18.01.2021).
Traxler, Franz (1998): Collective Bargaining in the OECD: Developments, Preconditions and Effects. In:
European Journal of Industrial Relations 4 (2): 207-226.
Traxler, Franz (2004): The metamorphoses of corporatism: From classical to lean patterns. In: European
Journal of Political Research 43 (4): 571–598.
Vandaele, Kurt (2014): Ende des Abwärtstrends? Zur Entwicklung des Streikvolumens in Westeuropa
seit Beginn der Weltwirtschaftskrise. In WSI-Mitteilungen 5 (2014): 345-352.
Waicman, Judy (2017): Automation: is it really different this time? In: British Journal of Sociology 68 (1):
119-127.
Wagner, Norman (2020): Armut und COVID-19 – was jetzt zu tun ist. A&W-Blog 31.07.2020, online
verfügbar unter: https://awblog.at/armut-und-covid-19-was-jetzt-zu-tun-ist/ (18.01.2021).
Weiss, Hilde/Ates, Gülay/Schnell, Philipp (Hrsg.) (2016): Muslimische Milieus im Wandel? Religion,
Werte und Lebenslagen im Generationenvergleich. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Weiss, Hilde (1987): Antisemitische Vorurteile in Österreich. Wien: Braumüller Verlag.
Weiss, Hilde (2000): Alte und neue Minderheiten. Zum Einstellungswandel in Österreich (1984–1998).
In: SWS-Rundschau 40: 25–42.
Weiss, Hilde (2003): A Cross-national Comparison of nationalism in Austria, the Czech and Slovac
Republics, Hungary, and Poland. In: Political Psychology 24 (2): 377–401.
Weiss, Hilde/Hofmann, Julia (2016): Gegenseitige Wahrnehmungen: Annäherungen, Stereotype und
Spannungslinien zwischen ÖsterreicherInnen und MuslimInnen. In H. Weiss, G. Ates & P. Schnell
(Hrsg.): Muslimische Milieus im Wandel? (S.113–133). Wiesbaden: Springer VS.
Wilkinson, Richard/Pickett, Kate (2010): Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle
besser sind. Berlin: Haffmans & Tolkemitt.
Wright, Erik Olin (2000): Working-Class Power, Capitalist-Class Interests and Class Compromise. In: The
American Journal of Sociology 105(4): 957-1002.
Zandonella, Martina (2020): Ökonomische Ungleichheit zerstört die Demokratie. In: Armutskonferenz
(Hrsg.): Stimmen gegen Armut. Wie soziale Ungleichheit und Ausgrenzung die Demokratie
gefährden. Wien: BoD-Verlag.
Zick, Andreas/ Küpper Beate/ Hövermann Andreas (2011): Die Abwertung der Anderen. Eine
europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin: Friedrich-
Ebert-Stiftung
Zucman, Gabriel (2014): Steueroasen: Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird. Frankfurt/Main:
Suhrkamp Verlag.

60

Das könnte Ihnen auch gefallen