Herausgegeben von
A. Steinbach, Duisburg, Deutschland
M. Hennig, Mainz, Deutschland
O. Arránz Becker, Köln, Deutschland
In der Familienforschung lassen sich zwei Grundpositionen zu Familie identifizie-
ren, die seit Jahrzehnten das Spektrum bilden, in dem sich die Untersuchungen zu
diesem Gegenstand bewegen: Einerseits eine institutionelle Perspektive, die Fami-
lie als eine Institution betrachtet, die auch unabhängig von ihren Mitgliedern ge-
dacht werden kann, und andererseits die mikrosoziale Perspektive, innerhalb derer
Familie als Zusammenleben miteinander interagierender Familienmitglieder inter-
pretiert wird. Die Reihe „Familienforschung“ präsentiert Buch-publikationen in
der gesamten Breite der Forschungsthemen zu Partnerschaft und Familie. Die Ver-
öffentlichungen umfassen dabei sowohl sozialwissenschaftliche Grundlagen- als
auch angewandte praxisorientierte Forschung. Einer interdisziplinären Sichtweise
auf Familie Rechnung tragend werden neben der Soziologie auch Untersuchungen
aus anderen Fächern wie z.B. der Psychologie, Pädagogik und den Wirtschaftswis-
senschaften in die Reihe aufgenommen.
Herausgegeben von
Anja Steinbach Oliver Arránz Becker
Universität Duisburg-Essen Universität zu Köln, Deutschland
Deutschland
Marina Hennig
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutschland
Anja Steinbach • Marina Hennig
Oliver Arránz Becker (Hrsg.)
Familie im Fokus
der Wissenschaft
Herausgeber
Anja Steinbach Oliver Arránz Becker
Universität Duisburg-Essen Universität zu Köln
Deutschland Deutschland
Marina Hennig
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Inhaltsverzeichnis
Familienentwicklung im Lebensverlauf
Die Familie ist ein Thema, welches in der Öffentlichkeit wie auch in der Wissen-
schaft einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. In Deutschland dominieren den
Diskurs über Familie derzeit insbesondere Diskussionen um die demographische
Entwicklung und um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Forschungs-
programm der Familienforschung umfasst jedoch deutlich mehr. Huinink (2006)
unterscheidet hierbei drei grundlegende Perspektiven, die er auf unterschiedli-
chen Ebenen verortet: (1) Die gesellschaft liche Ebene, auf der Fragen von Fami-
lienstrukturen und ihrem Wandel im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen.
Dabei werden Veränderungen nicht nur beschrieben, sondern auch das Verhält-
nis von Familienstrukturen und Sozialstruktur sowie die Wechselwirkungen
zwischen Familie und anderen gesellschaft lichen Teilsystemen analysiert. (2) Die
zweite Ebene, die familiale Beziehungsebene, konzentriert sich auf das Interak-
tionsgeschehen in der Familie, die innerfamiliale Alltagsgestaltung, den Sozia-
lisationsprozess sowie die intergenerationalen Beziehungen. (3) Auf der dritten
Ebene werden Familienverläufe als individuelle Lebensverläufe betrachtet. Dazu
gehören die Wahl der Lebensformen, Familiengründungs- und Auflösungspro-
zesse sowie Auswirkungen von Familienbeziehungen auf den Lebenslauf von
Eltern und Kindern. Mit anderen Worten umfasst das Themenspektrum der
heutige Familienforschung sowohl Partnerschaft als auch Familie, vor allem aber
die sozialen, wirtschaft lichen und rechtlichen Lebensbedingungen von Familien,
die Auswirkungen der Arbeitswelt auf Partnerschaft und Familie, den Wandel
von Partnerschafts- und Familienstrukturen, die Beziehungen zwischen den Ge-
schlechtern sowie die veränderten Rollen von Frauen, Männern und Kindern,
aber auch das Verhältnis der Generationen zueinander.
Da die heutige Familienforschung interdisziplinär angelegt ist, sind die Grenz-
ziehungen zu anderen Wissenschaftsdisziplinen in der Familienforschung nicht
immer eindeutig. Um ein fundiertes Wissen über die Strukturen und Dynamiken
von Familien, Generationen, Geschlechtern, Partnerschaften und die familialen
Lebenswelten zu erlangen, braucht es einen ‚Blick über den eigenen Tellerrand‘
hinaus. Denn „die Trennung nach disziplinär zugeordneten Forschungsfragen
führt [...] zu einer Ineffizienz und Redundanz von Forschung, die wegen der ver-
breiteten, auch der gezielten Abgrenzung dienenden Eigenart der Begriffs- und
Theoriepflege [...] kaum wahrgenommen wird“ (Huinink 2006, S. 241). Somit ver-
bindet die heutige Familienforschung unter anderem Perspektiven aus der Sozio-
logie, Psychologie, Pädagogik, den Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften.
Aber auch innerhalb einer Disziplin – beispielsweise der Soziologie – bestehen
viele Anknüpfungspunkte: Die Familiensoziologie zeigt Überschneidungen mit
einer ganzen Reihe anderer Spezieller Soziologien, zum Beispiel der Arbeits-
marktsoziologie, der Bildungs- und Erziehungssoziologie, der Bevölkerungsso-
ziologie, der Geschlechtersoziologie, der soziologischen Netzwerkforschung oder
der Migrationssoziologie. Das Spektrum der Forschung reicht von der sozial-
wissenschaft lichen Grundlagenforschung bis zur angewandten praxisorientier-
ten Forschung. Dabei wirft die Zunahme populärwissenschaft licher Veröffent-
lichungen zu Familie aber auch die Frage auf, was familiensoziologische Literatur
eigentlich ist. Wo fängt sie an und wo hört sie auf?
Ziel der Reihe ‚Familienforschung‘ des Springer VS Verlages ist es, qualita-
tiv hochwertige Publikationen aus dem Bereich der Familienforschung aus der
großen Zahl von Neuerscheinungen zu bündeln und sichtbarer zu machen. Die
Reihe soll Buchpublikationen in der gesamten Breite der Forschungsthemen zu
Partnerschaft und Familie einschließen. Neben Monographien und Sammelbän-
den ist sie auch dezidiert offen für die Veröffentlichung von Dissertationen und
Habilitationen.
Der vorliegende erste Band der Reihe ‚Familienforschung‘ beim Springer VS
Verlag mit dem Titel ‚Familie im Fokus der Wissenschaft‘ greift verschiedene Per-
spektiven und Themen der Familienforschung auf. Eine Grundannahme dieses
Bandes besteht darin, dass ‚Familie‘ nicht mit einer einzigen, allgemeingültigen
Definition beschrieben werden kann. Vielmehr handelt es sich bei Familie um
einen Prozess, der nicht unabhängig von historischen, kulturellen und sozialen
Rahmenbedingungen zu fassen ist. Den allgemeinen theoretischen Rahmen, der
die vielschichtige Dynamik familialer Prozesse strukturiert, stellt die Lebensver-
laufsperspektive dar, in der Familie als zeitveränderlicher, sozialer Prozess gese-
Vorwort der Herausgeber 9
hen wird, durch den der familiale Zusammenhang mittels aktiver Selektionen,
Konstruktionen und Interaktionen hergestellt und reproduziert wird. Im Le-
bensverlauf stellen sich den Akteuren dabei immer wieder neue, phasenabhän-
gige Entwicklungsaufgaben. Die normative Regelung ‚typischer‘ Lebensverläufe
vollzieht sich jedoch stets in einem spezifischen räumlich-zeitlichen Kontext;
daher variieren Strukturen und Funktionen von Partnerschaften und Familien
beträchtlich. Der vorliegende Band thematisiert solche zeitlichen und regionalen
Variationen, indem familiale Handlungslogiken in ihrer Abhängigkeit von so-
zialem und institutionellem Wandel nachgezeichnet werden. Weithin anerkannte
Familienforscher und Familienforscherinnen haben hier die Gelegenheit ergrif-
fen, ihre jeweils unterschiedlichen Perspektiven auf die Familie und die Familien-
forschung zu erläutern und damit auch auf die folgenden Fragen einzugehen: Was
ist Familie? Was bedeutet Familienforschung aus der jeweiligen Forschungspers-
pektive? Welche theoretischen und methodischen Zugänge sind jeweils nützlich,
um die eigenen Forschungsfragen zu beantworten?
Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Themenbereiche. Im ersten Teil fin-
den sich Beiträge zu Familie und Familienbeziehungen im sozialen und institu-
tionellen Wandel. Die Diskussionen über die gegenwärtige Familie betonen bis-
weilen vermeintliche Defizite im familialen Miteinander vor dem Hintergrund
gesellschaft licher Rationalisierung und Individualisierung, die sich aber nicht
zuletzt aus einer Verklärung des Familienlebens in der Vergangenheit speisen.
Unter diesen Umständen wird die heutige Familie dann als im Verfall begriffen
wahrgenommen, ohne die historischen (Dis-)Kontinuitäten in Rechnung zu stel-
len. Heidi Rosenbaum fragt daher in ihrem Beitrag danach, auf welchen Gestal-
tungs- und Interaktionsprinzipien vormoderne Familien basierten und welche
Verbindungslinien zur modernen Familie identifiziert werden können. Im Zen-
trum ihrer Betrachtung stehen zunächst Bauern- und Handwerkerfamilien im
ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert. Im Weiteren wird dann die bürgerliche
Familie als Vorläufer moderner Familien behandelt. Die Autorin zeigt, dass das
Leben in Kleinfamilien keine Folge von Industrialisierung und Modernisierung,
sondern eine seit Jahrhunderten tradierte Struktur ist. Jedoch erst in der bürger-
lichen Familie verbanden sich eine gesicherte materielle Basis mit der Trennung
von Arbeit und Wohnen und das Motiv der Liebesheirat, so dass sich ein Fokus
auf enge persönliche Beziehungen innerhalb und zwischen den Generationen he-
rausbilden konnte.
Mit den Erscheinungsformen von Familie beschäft igt sich auch der Beitrag von
Anne-Kristin Kuhnt und Anja Steinbach, in dem sie eine Systematisierung vorhan-
dener Familienformen in Deutschland auf Basis des Vorhandenseins von minder-
jährigen Kindern im Haushalt vorstellen. Vor diesem Hintergrund unterscheiden
10 Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker
man eine Familie nicht einfach ‚hat‘, sondern dass man sie ‚tun‘ muss. Die Autorin
stellt hierzu unter Bezugnahme auf Praxistheorien und das Konzept der Lebens-
führung aktuelle theoretische Ansätze und empirische Arbeiten vor, welche die
,praxeologische Wende‘ in den letzten zwei Jahrzehnten markieren. Entgren-
zungs- und Individualisierungsprozesse im privaten wie im beruflichen Bereich,
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Neuaushandlung von Geschlechterar-
rangements führen dazu, dass nicht mehr selbstverständlich auf Traditionen und
feste Rahmenbedingungen zurückgegriffen werden kann, sondern dass persön-
liche Fürsorgebeziehungen zunehmend das Produkt einer aktiven Herstellungs-
leistung werden. Anhand der Darstellung von Grundformen der Herstellung von
Familie, Handlungsdimensionen und Handlungsmodi sowie von Akteuren, Ad-
ressaten und Handlungsinhalten zeigt die Autorin den Mehrwert einer praxeo-
logischen Perspektive auf.
Im zweiten Teil des Bandes wird die Familienentwicklung im Lebensverlauf auf-
griffen. Viele der Diskussionen über die Krise der Familie oder die Pluralisierung
der Lebensformen basieren auf Aussagen über Haushalte, wie sie in der amtlichen
Statistik erfasst werden. Solche amtlichen Statistiken sind zwar in ihren Messun-
gen objektiv, nicht aber notwendigerweise in ihren Begriffen. So kritisiert Marina
Hennig in ihrem Beitrag, dass die Haushalts- und Familientypen der amtlichen
Statistik nur zum Teil wesentlichen Aspekten des Zusammenlebens gerecht wer-
den und, dass der Wandel der Wohn- und Haushaltsformen, der sich in der amtli-
chen Statistik widerspiegelt, nicht notwendigerweise mit einem Wandel der geleb-
ten Familienbeziehungen einhergehen muss. Ziel ihres Beitrages ist es daher, die
Beziehungsrealität von Familie als Netzwerk in hochdifferenzierten Gesellschaf-
ten und deren sozialen Wandel aufzuzeigen. Die Autorin beschreibt mit Hilfe von
Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel von 1991 und 2011 Veränderungen
in familialen Generationenbeziehungen über Haushaltsgrenzen hinweg und dis-
kutiert die Frage, durch welche Beziehungslogiken sich die gefundenen Muster
am besten charakterisieren lassen. Das zentrale Ergebnis dieser Überlegungen
besteht darin, dass das Konzept des Gabentausches zur Erklärung für intergene-
rationale familiäre Beziehungen besser geeignet scheint als die Konzepte Solidari-
tät, Reziprozität oder sozialer Austausch.
In vielen entwickelten Industrienationen, insbesondere auch in Europa, lässt
sich seit Jahrzehnten ein Wandlungsprozess des generativen Verhaltens beobach-
ten, im Zuge dessen es zu einer Abnahme der endgültigen Kinderzahl kommt.
Neben Erklärungsansätzen, die veränderte Werte und Lebensziele jüngerer Ge-
burtskohorten als Ursache für diese Entwicklung herausstellen, betonen jüngere
Ansätze verstärkt die Bedeutung struktureller Faktoren. In diesem Kontext gehen
Norbert F. Schneider, Thomas Skora und Heiko Rüger in ihrem Aufsatz davon aus,
12 Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker
dass auch Erfahrungen mit beruflich bedingter Mobilität, als Folge gestiegener
Mobilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt, flankiert durch eine zunehmen-
de Erwerbsneigung von Frauen, einem zeitlichen Wandel unterliegen, so dass jün-
gere Jahrgänge familienbezogene Entscheidungen vermehrt vor dem Hintergrund
aktueller Mobilitätserfahrungen bzw. -erwartungen treffen. Daher untersuchen
die Autoren den Zusammenhang von Familienentwicklung und berufl ichen Mo-
bilitätserfahrungen, die zeitlich häufig in die Kernphase der Familiengründung
fallen. Anhand eines Vergleichs zwischen den Geburtskohorten 1952-60, 1961-70
und 1971-77 präsentieren die Autoren mittels Analysen mit der zweiten Welle der
Studie ‚Job Mobilities and Family Lives in Europe‘ empirische Belege für einen
Wandel des Mobilitätsverhaltens in der Phase des frühen Erwachsenenalters, der
auch einen Beitrag zur Erklärung des Wandels im Geburtenverhalten dieser Ko-
horten leistet.
Strukturelle Rahmenbedingungen spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle bei
Partnerwahlprozessen, z.B. in Form von Gelegenheitsstrukturen. Ob es systema-
tische Veränderungen des Altersabstands zwischen Partnern je nach Alter bei
Partnerschaftsbeginn gibt und inwiefern sich der Altersabstand auf die Stabilität
der Beziehung auswirkt, untersuchen Thomas Klein und Ingmar Rapp in ihrem
Beitrag. Auf Basis der amtlichen Eheschließungsstatistik, des Partnermarktsur-
veys sowie eines kumulierten Datensatzes können sie nachweisen, dass sich so-
wohl die altersbezogene Partnerwahl als auch die Bedeutung des Altersabstands
für die Beziehungsstabilität im Lebenslauf systematisch verändern. Im mittleren
Erwachsenenalter nimmt die Spannbreite der Altersabstände deutlich zu, und der
Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungsstabilität verschwindet. Bei der Er-
klärung dieser Entwicklungen spielt möglicherweise die Altersheterogenität von
Lebensphasen eine zentrale Rolle.
Durch Prozesse intergenerationaler Transmission bzw. Mobilität reproduzie-
ren Familien soziale Ungleichheiten. In jüngerer Zeit wird zunehmend diskutiert,
welche Unterschiede zwischen einheimischen Familien und Migrantenfamilien
hinsichtlich der intergenerationalen Weitergabe von kulturellem und sozialem
Kapital bestehen und wie sich diese auf soziale Bildungsungleichheiten auswir-
ken. Im Aufsatz von Bernhard Nauck und Vivian Lotter wird untersucht, inwie-
weit sich Unterschiede im Bildungserfolg zwischen Kindern aus einheimischen
deutschen, türkischen und vietnamesischen Familien auf Unterschiede in ihrem
Sozialkapital zurückführen lassen. Während die Unterschiede in den Sozialbezie-
hungen zwischen den deutschen und türkischen Müttern auf Verteilungsunter-
schiede in Bildungsniveau und Berufsprestige zurückgeführt werden können,
deutet sich bei den vietnamesischen Familien eine stabile Strategie einer auf die
Vorwort der Herausgeber 13
Literatur
Huinink, J. (2006). Zur Positionsbestimmung der empirischen Familiensoziologie. Zeit-
schrift für Familienforschung 18; 212-252.
Familie und Familienbeziehungen
im sozialen und institutionellen Wandel
1
Familienformen im historischen Wandel
Heidi Rosenbaum
1 Einleitung
jeweils verwiesen. Anschließend wird die bürgerliche Familie als erste Variante
der modernen Familie behandelt, von der sich die gegenwärtigen Familien aber in
mehrfacher Hinsicht unterscheiden. Ich konzentriere mich auf die Zeit seit dem
ausgehenden 18. Jahrhundert, für die die meisten Untersuchungen vorliegen und
in der die entscheidenden Weichen für die Entwicklung der modernen Gesell-
schaft und der modernen Familie gestellt worden sind. Zunächst soll jedoch kurz
weiter zurückgegriffen werden, um einige, für die mitteleuropäischen Familien-
formen charakteristische Strukturen dazustellen.
Sowohl auf dem Land als auch im (vornehmlich städtischen) Gewerbe domi-
nierten aus diesem Grunde Betriebsgrößen, die gerade mal eine Familie und ein
paar Hilfskräfte ernähren konnten. Dem Zusammenleben von mehr als zwei Ge-
nerationen standen also in weiten Teilen der Gesellschaft allein schon die ökono-
mischen Bedingungen entgegen. Zudem ist zu bedenken, dass das Zusammenle-
ben von drei Generationen unter den damaligen demographischen Bedingungen
stets nur eine kurze Phase im Familienzyklus war: nämlich die Zeit zwischen der
Geburt des ersten Enkelkindes und dem Tod der Großeltern. Diese Phase war
umso kürzer, je höher das Heiratsalter und je geringer die durchschnittliche Le-
benserwartung (der Erwachsenen) waren. Großfamilien im Sinne von mehreren
zusammen lebenden und arbeitenden Generationen oder andere komplexe Fami-
lienformen einschließlich unverheirateter Verwandter waren deshalb in großen
Teilen West- und Mitteleuropas nicht weit verbreitet. Solche Formen kamen vor,
existierten aber nur dort, wo spezifische ökonomische Bedingungen oder steuer-
rechtliche Voraussetzungen vorhanden waren (Mitterauer 1990b). Typisch war
hingegen die zumindest zeitweise Beschäft igung von Personal: Gesinde (Magd
und Knecht) auf dem Bauernhof, gewerbliche Arbeitskräfte (Lehrling, Geselle)
und Dienstmädchen im Handwerkerhaushalt. Diese Personen waren in die Haus-
halte integriert. Eine Absonderung der Familie und die Entwicklung einer fami-
lialen Privatsphäre waren unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Bedingt durch eine gute Agrarkonjunktur konnten seit dem ausgehenden 18.
Jahrhundert zunehmend mehr Höfe ein Altenteil tragen. Die Lebenserwartung
stieg ebenfalls an, so dass im Lauf des 19. Jahrhunderts auf dem Land tatsächlich
häufiger Drei-Generationen-Familien vorkamen. Wo sie es sich leisten konnten,
führten die Generationen aber getrennte Haushalte, um Konflikten aus dem Weg
zu gehen (Rosenbaum 1982, S. 63f.).
Bei Handwerkern waren Drei-Generationen-Familien noch weniger verbreitet
als bei Bauern, weil normalerweise weder nennenswertes immobiles Vermögen
(wie Grund und Boden) noch nachlassende körperliche Kräfte oder ein grund-
herrliches Interesse die Betriebsübergabe zu Lebzeiten erforderlich machten
(Rosenbaum 1982, S. 136ff.). Außerdem spielte dort bis ins 19. Jahrhundert hin-
ein Vererbung des Betriebes keine große Rolle (Ehmer 2000). Im räumlich sehr
mobilen Bürgertum lebten die Generationen oft weit entfernt voneinander. Aber
auch am selben Ort führten sie meist getrennte Haushalte. Ihr Wohlstand ermög-
lichte ihnen, sich Pflege und Versorgung im Bedarfsfall zu kaufen. Bei den armen
Schichten der Bevölkerung sah das anders aus. Hier waren die erwachsenen Kin-
der häufig nicht vor Ort oder wohnten selbst sehr beengt. Meist waren sie auch fi-
nanziell so schlecht gestellt, dass sie ihre alten Eltern nicht unterstützen konnten.
Arbeit und Plackerei bis ins hohe Alter, nicht selten auch das Leben im Armen-
22 Heidi Rosenbaum
haus oder in Abhängigkeit von der Gemeinde waren ein verbreitetes Schicksal
alter Leute. Für große Gruppen der Bevölkerung fielen Alter und Armut zusam-
men (Rosenbaum und Timm 2008; Rosenbaum 2011).
In den meisten deutschen Territorien war die Heirat ein Vorgang, der nicht nur
sozial, sondern auch obrigkeitlich kontrolliert wurde, wenn auch in unterschied-
lichem Umfang und unterschiedlicher Intensität.2 Die Abstimmung zwischen Be-
triebs- und Familiengröße erfolgte durch die enge Verbindung von Heirat (und
Familiengründung) mit dem Nachweis einer „ausreichenden Nahrung“. Sie konn-
te bestehen aus einem Hof, einem Handwerksbetrieb, einem einträglichen Han-
del oder sonstigem Vermögen. Besitzende konnten daher leicht heiraten. Nicht-
Besitzende mussten ihre Befähigung nachweisen. Daraus wird bereits deutlich,
dass in Zeiten von Bodenknappheit und geschlossenen Zünften3 Heiratswillige
auf den Erbfall oder die Übertragung des Hofes bzw. des Betriebes oder auf eine
Einheirat angewiesen waren. Am stärksten waren die Angehörigen der unter-
bäuerlichen Gruppen von den Heiratsbeschränkungen betroffen. Es gibt viele
Hinweise darauf, dass nicht nur das Vermögen, die Verdienstmöglichkeiten und
die Arbeitsfähigkeit geprüft wurden, sondern auch Lebenswandel und Charakter
(Lipp 1982). Noch im 18. und 19. Jahrhundert waren die Heiratsbeschränkungen
für die besitzenden und politisch entscheidenden Gruppen, die die Gemeinderäte
und Konsistorien dominierten, ein probates Mittel, die Unterschichten am unte-
ren Ende der sozialen Hierarchie zu halten. Die Heirat blieb so lange ein Privileg
und Statussymbol der Besitzenden.
Entsprechend der ökonomischen Entwicklung sowie dem Umfang und der
Handhabung der Heiratsbeschränkungen variierten ihre Auswirkungen. Es gab
einen großen Spielraum, was als „ausreichende Nahrung“ akzeptiert wurde. Als
seit dem 18. Jahrhundert das unzünft ige Gewerbe zunahm, Hausindustrie und
Manufakturen Beschäft igung für Viele boten, konnte eine „ausreichende Nah-
rung“ nun auch in einem verlässlichen Arbeitseinkommen aus gewerblicher Tä-
tigkeit oder einer Kombination aus einer kleinen Land- oder Gartenwirtschaft
mit einer hausindustriellen Arbeit bestehen. Je mehr verschiedene Erwerbsmög-
lichkeiten in einer Region vorhanden waren und miteinander kombiniert werden
konnten, desto leichter wurde es selbst für Eigentumslose, eine Familie zu grün-
den. Manche Angehörige der Unterschichten erhielten die Heiratsbewilligung
aber nie. Sie standen deshalb vor der Alternative ledig zu bleiben oder in „wilder
Ehe“ zu leben. In ökonomischen Krisenzeiten war eine Auswanderung die letzte
Möglichkeit, ihre Chancen zu verbessern (Schlumbohm 1994, S. 91f.).
Da das einen Hof bewirtschaftende Paar stets auch ein Arbeitspaar war, liegt auf
der Hand, dass die Vertrautheit mit den Arbeitsvorgängen und die Fähigkeit, sie
zu erledigen, wichtige Kriterien bei der Auswahl der Ehepartnerin bzw. des -part-
ners waren. Eine wesentliche Rolle spielte zudem die Mitgift der Frau. Das mag
auf den ersten Blick profan erscheinen, war jedoch das Ergebnis von Zwängen,
die die Heirat und der damit nicht immer, aber oft verbundene Erbgang nach sich
zogen (Fertig 2012, S. 144 ff.; Duhamelle und Schlumbohm 2003).
Dort, wo ein Hof ungeteilt übergeben wurde, musste es die Mitgift zumin-
dest ermöglichen, die Erbansprüche der Geschwister zu befriedigen und unter
Umständen ein Altenteil für überlebende Eltern zu fi nanzieren. Wenn darüber
hinaus noch Geld für Investitionen in den Hof übrig waren, umso besser. Dort,
wo Realteilung vorherrschte, d.h. auch der vorhandene Grundbesitz aufgeteilt
wurde, musste das, was beide Partner in die Ehe einbrachten, ausreichen, ihren
Lebensunterhalt und den ihrer Kinder zu sichern. Zudem war die Lage der Feld-
und Wiesenstücke ein wichtiges Kriterium, damit nicht zu viel (Arbeits-)Zeit mit
langen Wegen verbracht werden musste. Die im Schwäbischen geläufige Rede-
wendung „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, wie sich die Wies zum Acker findet“
(Ilien und Jeggle 1978, S. 79) bringt diese Zwänge auf den Punkt. Die Partnerwahl
war also eine Entscheidung, von der nicht nur die Lebenschancen des Paares, son-
dern auch die anderer Personen abhingen. Daraus erklärt sich u.a. die vielfach
belegte Mitwirkung der betroffenen Familien, aber auch die von Heiratsvermitt-
lern, die eine „passende“ Partie vorschlugen. Die in manchen Gegenden üblichen
dörfl ichen Jugendgruppen sorgten ebenfalls für soziale und ökonomische Kom-
patibilität, ermöglichten aber auch – kontrollierte – Freiräume (Gestrich 2003,
S. 497). Man könnte auch sagen: Im bäuerlichen Bereich war die Eheschließung zu
wichtig, um sie den zwei jungen Menschen allein zu überlassen.
Im (überwiegend) städtischen und in Zünften organisierten Handwerk unter-
lag die Partnerwahl ähnlichen Imperativen, unterschied sich aber auch in einigen
24 Heidi Rosenbaum
Punkten. Heiratsfähig war hier nur der Inhaber eines Meisterbetriebs. Der Hand-
werker musste also gelernt, mehrere Jahre als Geselle auf Wanderschaft gearbei-
tet, die Meisterprüfung absolviert und zur Zunft zugelassen worden sein. Erst
dann konnte er eine den zünftischen Vorstellungen von Ehre und Lebenswandel
entsprechende Ehepartnerin präsentieren und auf deren Akzeptanz durch die
Zunft hoffen. Außerdem sollte die künft ige Meisterin bestimmte Qualifi kationen
aufweisen. Vertrautheit mit dem Gewerbe war sicher günstig, wenn auch, weil sie
darin nicht mitarbeiten durfte, nicht notwendig. Auf jeden Fall musste sie in der
Lage sein, einen größeren Haushalt (mit viel Eigenproduktion) zu führen, Perso-
nal anzuleiten, u.U. auch mit Kunden umzugehen. Dort, wo die Zünfte „geschlos-
sen“ waren, blieb dem Handwerker nur die Einheirat, also die Verbindung mit der
Meistertochter oder auch seiner Witwe (Rosenbaum 1982, S. 121ff.).
Aus heutiger Perspektive wirken derartige Überlegungen extrem materialis-
tisch. Es gibt viele Hinweise darauf, dass die genannten Kriterien der Partnerwahl
den Beteiligten nicht oktroyiert worden sind, sondern sie sich selbst, ohne Druck
von außen, ihnen entsprechend verhielten. Die Akteure lebten in einem Umfeld
und unter Bedingungen, in denen sie spezifische Wahrnehmungsmuster entwi-
ckelten. Schließlich sind auch Gefühle an den jeweiligen Kontext gebunden. Ihre
konkrete Ausformung hat mit den Bedingungen zu tun, unter denen sie entste-
hen. Bourdieu (1993, S. 285) hat bei seiner Analyse bäuerlicher Heiratsstrategien
auf diese Koppelung der Wahrnehmung an die Lebenserfahrung hingewiesen
als er schrieb, dass schon durch die früheste Erziehung, „die durch alle sozialen
Erfahrungen verstärkt wird, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata durch-
gesetzt werden dürften, in einem Wort Vorlieben, die unter anderem auch für
potentielle Partner gelten und sogar ohne jede eigentlich ökonomische oder so-
ziale Berechnung Missheiraten zu verhindern trachten: die sozial gebilligte, daher
erfolgsträchtige Liebe ist nichts anderes als jene Liebe zur eigenen gesellschaft li-
chen Bestimmung, welche gesellschaft lich vorbestimmte Partner auf den schein-
bar zufälligen und willkürlichen Wegen der freien Gattenwahl zusammenführt.“
Mit anderen Worten: Die Menschen „sahen“ den Anderen also nie losgelöst von
seiner Umgebung, seinem Besitz, seiner Vergangenheit und Zukunft (Ilien und
Jeggle 1978, S. 78). Es wäre verfehlt, daraus auf die Abwesenheit von Zuneigung
oder Liebe zu schließen. Die Konsequenz derartiger Wahrnehmungsmuster sind
„Ähnlichkeitswahlen“ in sozialer und ökonomischer Hinsicht, die auch heute
noch, unter gänzlich anderen Bedingungen, die Partnerwahl dominieren (Ge-
strich, 2003, S. 503f.).
Familienformen im historischen Wandel 25
4.2 Heiratsalter
Das Heiratsalter lag in Mittel- und Westeuropa relativ hoch, in der zweiten Hälfte
der Zwanziger Jahre, weil die Heirat zwar nicht zwingend, aber häufig mit dem
Tod der Eltern oder der Hofübergabe verbunden gewesen ist. Es konnte in Einzel-
fällen auch sehr niedrig sein, nämlich dann, wenn ein Bauer plötzlich starb und
sein Erbe noch sehr jung, aber schon im heiratsfähigen Alter war. In Realteilungs-
gebieten lag das Alter kaum niedriger, weil die Eltern auf die Arbeitskraft der
Kinder angewiesen waren oder diese im Gesindedienst erst Geld verdienen und
„ansparen“ mussten. Selbst die Angehörigen der ländlichen Unterschicht heira-
teten spät, teilweise noch später als die Bauern, weil auch sie erst einen „Fundus“
für eine Eheschließung erarbeiteten mussten. Es hing deshalb von den lokalen
und regionalen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten ab, wie früh oder spät eine
Heirat möglich wurde (Fertig 2012, S. 242). Bei Handwerkern lag das Heiratsalter
kaum niedriger. Die verschiedenen Qualifi kationsschritte bis zur Meisterprüfung
machten eine Heirat vor dem 25. Lebensjahr unwahrscheinlich. Die häufig vor-
kommende Verbindung zwischen der Meisterwitwe und einem Gesellen, generell
eine hohe Quote von Wiederverehelichungen, führte zu vielen altersungleichen
Ehen (Rosenbaum 1982, S. 151).
4.3 Ehebeziehungen
Die Beziehungen zwischen den Ehepartnern wurden sehr stark durch die ge-
meinsame Arbeit und die Verantwortung für das Florieren des Hofes geprägt.
Feste Vorstellungen von den Frauen und Männern zustehenden Arbeitsberei-
chen regelten den Arbeitsalltag. Sie konnten je nach Ausrichtung der bäuerlichen
Wirtschaft unterschiedlich aussehen. Ungeachtet dessen lässt sich als Faustregel
formulieren: Dem Mann oblagen die Arbeiten außerhalb des Hauses, vor allem
die Feldarbeiten, der Frau alle Arbeiten im und ums Haus herum, einschließ-
lich der Milchwirtschaft, der Kleinviehhaltung, der Besorgung von Wäsche und
Kleidung, unter Umständen die Aufsicht über das weibliche Gesinde, sicher auch
die Sorge für die Kinder. Zur Feldarbeit wurde sie – zumindest auf den größeren
Höfen – nur zu Zeiten erhöhten Arbeitsanfalls herangezogen. Im kleinbäuerli-
chen Bereich musste die Bäuerin hingegen häufiger bei der Feldarbeit mitarbeiten.
In dem einen wie dem anderen Fall hing von ihrer Arbeits- und Leistungsfähig-
keit viel ab. Dennoch charakterisierte der für Mittel- und Westeuropa typische
„strukturelle Statusvorsprung“ des Mannes (Held 1978) auch die Beziehungen
der Geschlechter im Bauernhaus. Hier stand die Bäuerin, selbst in ihren eige-
26 Heidi Rosenbaum
nen Arbeitsbereichen, unter der Oberherrschaft des Mannes und Hausvaters, die
das körperliche Züchtigungsrecht gegenüber allen Hausangehörigen einschloss.
Mitterauer (1979, S. 20) spricht daher vom bäuerlichen Haus als einer „dominant
herrschaft lich organisierte(n) Sozialform“. Die Einhaltung der patriarchalischen
Verfassung wurde von der Dorfgemeinschaft überwacht, Verstöße öffentlich ge-
macht und sanktioniert.
Analog lagen die Verhältnisse im Handwerk. Die Arbeitsteilung war hier aller-
dings strikter. Gewerbliche Arbeit war männliches Privileg. Zwar hatte die Meis-
terfrau einen großen Arbeitsbereich, unterlag aber auch hier im Konfliktfall eben-
falls der männlichen Entscheidungsbefugnis. Hinzu kam, dass Frauenarbeit eine
untergeordnete soziale Wertigkeit hatte. Die Zunft wachte über die Einhaltung
der Arbeitsteilung, insbesondere darüber, dass Frauen (und Kinder) sich nicht an
der gewerblichen Arbeit beteiligten.4
Ebenso wie im Bauernhaus hatte der Hausvater im Handwerk eine umfassen-
de, ökonomische, familiale und öffentliche Funktionen einschließende Position.
Unter den oft räumlich beengten Arbeits- und Lebensverhältnissen, bei denen
sich die Eheleute nicht leicht aus dem Wege gehen konnten, waren die Ehebezie-
hungen häufig konfliktreich (Rosenbaum 1982, S. 153ff.)
4.4 Sexualität
Die Ehe war und blieb lange der einzig legitime Ort für Sexualität. Sexuelle Bezie-
hungen blieben jedoch nicht auf sie beschränkt. Vor- und außereheliche Sexuali-
tät musste heimlich und im Verborgenen praktiziert werden und war mit dem
Makel der Sünde behaftet. Eheliche sexuelle Beziehungen waren nicht unbedingt
für beide Seiten befriedigend. Vermutlich haben weder die Lebensbedingungen
von Bauern und Handwerkern, noch die Wohnverhältnisse und die Arbeitsbe-
lastung viel Intimität zugelassen. Es gibt nur wenige Quellen, die Auskunft über
diesen Lebensbereich geben. Das Wenige, was man weiß, deutet auf gering ent-
wickelte Zärtlichkeit und sehr direkte Befriedigung körperlicher Bedürfnisse
hin. Ilien und Jeggle (1978, S. 80) verweisen in dem Zusammenhang auf die Exis-
tenzbedingungen: „Liebe mit hungrigem Bauch, Zärtlichkeit nach 12-stündiger
Feldarbeit, unverklemmte Sexualität in einer ungeheizten Kammer fällt eben
schwer“. Für Frauen waren sexuelle Beziehungen zudem immer mit der Gefahr
4 Das änderte sich bei vielen Alleinmeistern, deren Zahl nach Einführung der Gewerbe-
freiheit (1810 in Preußen, 1869 im Norddeutschen Bund, 1871 im Deutschen Reich)
enorm zunahm (Rosenbaum 1982, S. 183ff.).
Familienformen im historischen Wandel 27
4.5 Kinder
4.5.1 Kinderzahl
Auch wenn im späten 18. und im 19. Jahrhundert die Möglichkeiten der Emp-
fängnisverhütung beschränkt waren, lässt sich aus einigen Studien schließen,
dass sich die Menschen darum bemüht haben.5 In der Regel gab es mehr Schwan-
gerschaften als überlebende Kinder, denn viele Kinder starben bereits als Säug-
linge oder in jungen Jahren.6 Ein Drittel bis die Hälfte der Geborenen erreichte
nicht das Erwachsenenalter. Mehr als drei bis vier Kinder dürften in bäuerlichen
Familien nicht aufgewachsen sein. Kinderreiche Familien waren deshalb bis weit
ins 19. Jahrhundert hinein (Rosenbaum 1982, S. 64f.) Ausnahmen.
Zwischen den Kindern bestanden durch Fehl- und Totgeburten sowie früh
verstorbene Kinder oft große Altersabstände. Geschwister wuchsen deshalb nicht
zwingend gemeinsam auf. Ein jüngstes Kind konnte, weil die anderen schon aus
dem Hause waren, praktisch als Einzelkind aufwachsen, eine Situation, die u.U.
5 Große Altersabstände zwischen den Geburten und ein relativ junges Alter der Frau
bei ihrer letzten Geburt sind Indikatoren für Geburtenkontrolle. Detaillierte Untersu-
chungen gibt es außer für bürgerliche Gruppen einzelner Städte auch für einige Dörfer
(Rosenbaum 1982, S. 64f., 89f.; Gestrich 2003, S. 516-521).
6 Neben den hygienischen Verhältnissen und dem weitgehenden Fehlen medizinischer
Versorgung trugen dazu bestimmte Traditionen der Säuglingsernährung und -behand-
lung (z.B. das Weggeben der Säuglinge zu Ammen), aber auch die Arbeitsbelastung
der Mütter bei. Kinder, die während der Erntezeit geboren wurden, hatten schlechtere
Überlebenschancen (Gestrich, 2003, S. 577).
28 Heidi Rosenbaum
durch die Anwesenheit von ihm im Alter nahen Gesinde gemildert wurde. Die
Notwendigkeit, sich beim frühen Tod des Ehepartners wieder verheiraten zu
müssen, führte zu Konstellationen mit Halb- und Stiefgeschwistern.
Ob und in welchem Umfang Kinder willkommen waren, ist in der Forschung
umstritten (Gestrich 2003, S. 566ff.). Es gibt in den Selbstzeugnissen immer wie-
der Hinweise auf den Tod ihres Kindes betrauernde Eltern, aber auch auf Situa-
tionen, in denen darum nicht viel Aufheben gemacht wurde. Vermutlich konnten
beide Haltungen nebeneinander existieren. Kinder gehörten zu einer Ehe einfach
dazu und wurden als Arbeitskräfte geschätzt. Eins war wohl als Erbe willkom-
men, allerdings wurden Höfe auch an Nicht-Verwandte übertragen oder verkauft
(Ehmer 2000, S. 83). Viele überlebende Kinder konnten zu einem Problem wer-
den, wenn ihre Versorgung die familiale Ökonomie und dadurch den Status der
Familie gefährdeten. Die Aussicht, dass ein früh verstorbenes Kind ohne große
Sünden auf sich geladen zu haben, in den Himmel kam, konnte den Abschied von
ihm erleichtern (Rosenbaum 1982, S. 212ff.; Gestrich 2003, S. 567ff.).
In Handwerkerhaushalten wuchsen noch weniger Kinder heran als im Bauern-
haus. Das mag an der in den Städten höheren Säuglings- und Kindersterblichkeit
gelegen haben, möglicherweise auch am besseren Zugang zu empfängnisverhü-
tenden Kenntnissen und Methoden, teils wohl auch an den vielen altersungleichen
Ehen, aus denen keine Kinder mehr hervorgingen. Da der gewerbliche Nachwuchs
durch die Institution des Gesellenwanderns sehr mobil und die Verselbständi-
gung wegen des für viele Handwerke geringen Kapitalbedarfs relativ einfach war,
waren Kinder selbst als Erben nicht wichtig. Vor dem 19. Jahrhundert wurden
Handwerksbetriebe am häufigsten an nicht-verwandte Personen weitergegeben
(Ehmer 2000, S. 89f.). Als Arbeitskräfte wurden Kinder erst geschätzt, als mit dem
Niedergang des zünftigen Handwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
die Zahl der Alleinmeister zunahm. Unter diesen Bedingungen wurde außer auf
die (gewerbliche) Mitarbeit der Ehefrau auch auf die der Kinder zurückgegriffen
(Rosenbaum 1982, S. 162ff.).
4.5.2 Kindererziehung
Im bäuerlichen Haushalt standen die Kinder nicht im Zentrum des Interesses und
der Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Gegenüber der unabdingbar zu erledigen-
den Arbeit trat ihr Wohlergehen zurück.7 Die Pflege und Erziehung der Kinder
wurde in die alltäglichen Verrichtungen integriert. Entsprechend ihrem Alter
wurden die Kinder zur Arbeit herangezogen. Selbst Kleinkinder konnten schon
einiges tun. Arbeit und Spiel vermischten sich dabei. Mit zunehmendem Alter trat
dann die Arbeit immer mehr in den Vordergrund. Dabei lernten die Kinder durch
Mitahmung und Nachahmung. Erziehung und Ausbildung fanden also gleich-
zeitig statt.8 Gleichsam „natürlich“ wuchsen die Kinder so in ihre Rollen hin-
ein. Die Mitarbeit wurde von ihnen nicht unbedingt als Zwang empfunden. Sie
war nicht nur selbstverständlich, sondern brachte ihnen auch die Anerkennung
der Erwachsenen ein (Rosenbaum 1982, S. 94). Überforderung der Kinder durch
Arbeit gab es allerdings auch.9
Die Kinder wuchsen mit mehreren Bezugspersonen auf. Neben den Eltern
konnten das (jugendliche) Mägde und Knechte oder auch ein noch lebender
Großelternteil, unter Umständen auch nahe lebende Nachbarn sein. Die Bezie-
hungen der Eltern und Kinder folgten dem Muster von Befehl und Gehorsam.
Körperliche Strafen waren gang und gäbe, Zärtlichkeiten selten. Die Kinder ver-
ließen zudem in jungen Jahren das Elternhaus, um in den Gesindedienst zu ge-
hen. Dies geschah umso früher, je ärmlicher die häuslichen Verhältnisse waren.
Vermutlich dürften diese Bedingungen, vor allem die starke Beanspruchung aller
durch die tägliche Arbeit sowie das geringe Niveau von Emotionalität und Intimi-
tät, die starke Identifi kation der Kinder mit einzelnen Personen verhindert haben
(Rosenbaum 1982, S. 93). Wie bei ihren Eltern erhielt in ihrem Denken und Han-
deln der Hof Vorrang vor den Personen.
Ebenso wie im Bauernhaus wuchsen die Kinder von Handwerkern inmitten
von Arbeit auf. Aus den Quellen ergibt sich, dass die Kleinkinder mit verschiede-
nen Methoden „ruhig gestellt“ wurden (Rosenbaum 1982, S. 166ff.). Die beengten
Arbeits- und Wohnverhältnisse erforderten derartige Beschwichtigungsstrate-
gien. Wenn die Kinder, entsprechend den Zunftregeln, auch nicht zur gewerb-
lichen Arbeit herangezogen wurden, so doch zur Hilfe im Haushalt, Garten,
Stall oder bei der Nebenerwerbslandwirtschaft. Sie wurden wohl nicht so stark
damit belastet wie viele Kinder auf dem Lande. Ansonsten regelten ebenso wie
im Bauernhaus Befehl und Gehorsam die Eltern-Kind-Beziehungen. Prügel blie-
ben lange ein probates Erziehungsmittel. In den Haushalt einbezogene Personen,
Lehrling, Geselle, u.U. auch eine Magd, waren zusätzliche Bezugspersonen. Zu-
sammen mit den beengten Wohnverhältnissen stand dies, ebenso wie im Bauern-
haus, der Entwicklung einer familialen Privatsphäre und intimer Eltern-Kind-
Beziehungen entgegen. Der häuslichen Enge entkamen die Kinder beim Spiel auf
8 Auf diese auch heute noch in vielen Gesellschaften verbreitete Haltung gegenüber
Kindern weist Keller (2013, S. 28ff.) hin.
9 Das gilt selbst noch für die erste Hälfte des 20. Jahrhundert (Rosenbaum 2014, S. 433ff,
540ff.).
30 Heidi Rosenbaum
der Straße mit anderen Kindern (Schlumbohm 1979). Das gilt besonders für die
Jungen, da die Mädchen im Allgemeinen stärker zur Hausarbeit herangezogen
und intensiver ans Haus gebunden wurden (Rosenbaum 1982, S. 170). Die Schule
spielte im Leben der Kinder von früher und länger eine Rolle als auf dem Land.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Haushalte von Bauern und Hand-
werkern nicht isoliert, sondern in umfassende soziale Beziehungen eingebun-
den waren. Auf dem Land waren Nachbarschaft und Dorfgemeinde die sozia-
len Institutionen, denen die Kontrolle normgerechten Verhaltens oblag und die
Verstöße sanktionierten (Rosenbaum 1982, S. 113f.). In der Stadt spielte neben
der Nachbarschaft vor allem die Zunft eine wesentliche Rolle. Ihre Bedeutung
erstreckte sich nicht nur auf die Produktionsbedingungen, sondern auf die ge-
samte Lebensführung aller im Hause lebenden Personen. Im Extremfall konnten
Verstöße gegen die Normen des „ehrlichen Handwerks“ zum Ausschluss aus der
Zunft führen (Rosenbaum 1982, S. 128ff.).
5 „Wilde Ehen“
Als Alternativen zur legitimen, kirchlich und weltlich anerkannten Ehe gab es
nur die Existenz als Ledige oder das unverheiratete Zusammenleben eines Paa-
res. Ledig-Sein war jedoch ein Status, der in der Gesellschaft lange Zeit vor al-
lem für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene vorgesehen war. Alle, die in
hausrechtlicher Abhängigkeit lebten, also auch Gesinde, Lehrlinge und Gesellen,
mussten ledig sein. Soldaten und Studenten unterlagen bis ins 19. Jahrhundert
ebenfalls den Heiratsverboten (Möhle 1999, S. 193). Wer im fortgeschrittenen Er-
wachsenenalter noch ledig blieb, war meist in einen Haushalt einbezogen. Eine
unabhängige selbständige Existenz als Ledige oder Lediger war nur selten mög-
lich. Das gilt selbst dort, wo ledige Erwachsene häufiger zu finden waren (Fertig
2012, S. 156ff.).
Abgesehen von einigen unverheirateten bürgerlichen Paaren in der Zeit der
Romantik, von denen die Verbindung zwischen Johann Wolfgang Goethe und
Christiane Vulpius am bekanntesten war und ist, waren „wilde Ehen“ vor allem
in den Unterschichten verbreitet. Auf dem Land kam diese von den Obrigkei-
ten heft ig missbilligte Lebensform allerdings nur selten vor. Selbst jene Paare, die
bereits vor längerer Zeit eine Beziehung eingegangen waren, u.U. auch schon ge-
meinsame Kinder hatten, lebten erst dann langfristig zusammen, wenn sie eine
förmliche Ehe geschlossen hatten (Schlumbohm 1994, S. 242ff.). Das war ihnen
wegen der Heiratsbeschränkungen oft nicht ohne weiteres möglich, selbst wenn
sie es wollten.
Familienformen im historischen Wandel 31
In der Stadt waren „wilde Ehen“ hingegen verbreiteter, weil es hier einfacher
war, sich der obrigkeitlichen Kontrolle zu entziehen. Schätzungen zufolge traf das
in Hamburg in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf jedes fünfte Paar der Unter-
schicht zu (Gröwer 1999, S. 339f.). „Wilde Ehen“ waren im Wesentlichen das Er-
gebnis von Heiratsbeschränkungen und Scheidungsrecht. Es wurde schon darauf
hingewiesen, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein, die Eheschließung kein Recht,
sondern ein Privileg war, das von der Obrigkeit gewährt wurde. Mit Ausnahme
Preußens galt das für alle deutschen Territorien (Möhle 1999, S. 193; Blasius 1987,
S. 82ff ). Die Obrigkeiten knüpften die Genehmigung zur Eheschließung an den
Nachweis des Bürgerrechts (Städte), die Erlaubnis der Heimatgemeinde und an
regelmäßige Einkünfte oder Vermögen. Dass dabei auch Lebenswandel und Cha-
rakter ein Thema waren, wurde bereits erwähnt. Kirchliche Vorschriften schließ-
lich untersagten die Eheschließung zwischen nahen Verwandten. Dispense wa-
ren allerdings möglich, Scheidungen nur begrenzt. Das Scheidungsrecht lag ganz
überwiegend in den Händen der Kirchen. Die katholische Kirche sah überhaupt
keine Scheidung vor. Das komplizierte Annullierungsverfahren war den Angehö-
rigen der Unterschichten praktisch versperrt. Die evangelische Kirche akzeptier-
te als Scheidungsgrund im Wesentlichen nur „böswilliges Verlassen“ oder „Ehe-
bruch“. Lediglich der „unschuldige“ Partner durfte überhaupt Klage erheben. Auf
keinen Fall gestattet wurde die Eheschließung zwischen denjenigen, die Ehebruch
begangen hatten (Blasius 1987, S. 28f.; Möhle 1999, S. 188).10
Analysen zeigen, dass viele „wilde Ehen“ Zweitbeziehungen waren. Ihre Le-
galisierung, die die meisten anstrebten, scheiterte an der fehlenden Scheidung
vom ersten Partner oder am Verbot der Wiederverehelichung für den wegen Ehe-
bruchs schuldig geschiedenen Partner mit dem Scheidungsgrund. Auch die feh-
lende Heiratserlaubnis durch die Heimatgemeinde, der illegale Aufenthalt in der
Stadt u.ä. zählten zu den Gründen für die Vielzahl „wilder Ehen“. Dabei waren
Frauen mit Kindern, die böswillig verlassen wurden oder geschieden waren oder
getrennt vom Ehemann lebten auf eine neue Beziehung dringend angewiesen, weil
sie nicht genug verdienen konnten, um sich und die Kinder ernähren zu können.
Das Zusammenleben mit einem Mann bedeutete für sie und ihre Kinder relative
finanzielle Sicherheit. Männer hingegen suchten und brauchten die Versorgung
durch eine Frau (Gröwer 1999, S. 359ff.). Mit den Kindern aus einer früheren Ver-
bindung und den gemeinsamen entstanden dann überaus komplexe Familien-
strukturen. Das war allerdings nicht ungewöhnlich. Sie konnten auch durch die
verbreitete, auf Verwitwung beruhende Wiederverheiratung zustande kommen.
10 Diese Regelung wurde auch noch in das 1900 in Kraft getretene BGB (§1312) übernom-
men.
32 Heidi Rosenbaum
Bei den von Gröwer und Möhle (1999) untersuchten „wilden Ehen“ handelte es
sich um recht stabile Beziehungen, die innerhalb ihres Milieus nicht diskrimi-
niert wurden und in ein dichtes soziales Netz von Freunden und Nachbarn inte-
griert waren. Sie lebten allerdings in ständiger Sorge vor der „Entdeckung“ durch
die Obrigkeit, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Trennung nach sich ziehen
würde (Gröwer, S. 411ff, 456ff.).
Außer den Familien von Handwerkern und der Unterschicht hatten in den Städten
seit der Frühen Neuzeit, also seit ca. dem 16. Jahrhundert, bürgerliche Familien
gelebt. Es handelte sich dabei überwiegend um Kaufleute und gebildete Verwal-
tungsbeamte. Sie lebten ebenso wie Bauern und Handwerker in Haushalten, die
zugleich ihr Arbeitsplatz oder zumindest eng mit ihm verbunden waren und in
denen Gesinde und sonstige Arbeitskräfte mit der Familie zusammen lebten und
arbeiteten. Infolgedessen bestimmte die Arbeit auch in diesen frühbürgerlichen
Haushalten in hohem Maße das Leben. Dies änderte sich allmählich zum Ende
des 18. Jahrhunderts, als Angehörige des Bürgertums begannen, ihre Berufstätig-
keit aus dem Haus heraus zu verlagern oder aber die Familie aus dem Geschäft s-
haus in ein Privathaus umsiedelte. Im Zusammenhang mit dieser Trennung von
Familie und Erwerb entstanden im Bürgertum neue Ideen über Ehe und Familie,
die zur Keimform der modernen Familie werden sollten (ausführlich Rosenbaum
1982, S. 251ff, 271ff.). Sie veränderten zwar nicht sofort die sozialen Praxis, wirk-
ten aber doch allmählich darauf hin (Habermas 2000). Zentrale Punkte waren:
• Statt primär sachlicher Erwägungen sollten nun Liebe und Zuneigung die Ehe-
leute verbinden. Damit war allerdings (noch) nicht das Ideal „romantischer“
Liebe gemeint, sondern eine „vernünftige“ Liebe, Zuneigung, die durch Ver-
nunft geprüft worden ist. Keinesfalls jedoch sollte Abneigung vorhanden sein.
Das Konzept der „vernünft igen“ Liebe ließ durchaus Raum für sachliche Er-
wägungen. Als ideale Ehe galt jene, in der die beiden Partner nicht nebenein-
ander her leben, sondern sich austauschen, ihre Gedanken und Gefühle kom-
munizieren. Das schloss die Ebene der Sexualität ein. Die Ehe wurde also nicht
mehr gedacht als eine Verbindung zwischen zwei Familien oder Vermögen,
sondern zweier Individuen, nämlich dieser Frau und diesem Mann.
Familienformen im historischen Wandel 33
• Eine veränderte Einstellung zu Kindern. Sie wurden nun als Verkörperung der
einzigartigen Beziehung zwischen den Ehepartnern geschätzt. Man könnte
auch sagen: Die Zuneigung zwischen den Partnern strahlte auf die Beziehung
zu ihren Kindern aus. Kinder erhielten infolgedessen eine zentrale Position
innerhalb der Familie (Trepp 1996).
• Die Familie als Einheit grenzte sich nach außen ab. Einerseits gegenüber der
Sphäre von Produktion und Erwerb, andererseits innerhalb des Haushalts
gegen das Personal, die „familienfremden“ Haushaltsangehörigen. Die Familie
wurde so als reine Privatsphäre entworfen.
6.2 Ehebeziehungen
Da für bürgerliche Frauen nur ein Leben im Hause vorgesehen war, bedeutete die
Ehe für sie die einzig akzeptable Lebensperspektive. Auf dieses Leben waren ihre
Erziehung und Bildung ausgerichtet. Eine ökonomisch selbständige Existenz war
nur wenigen Frauen möglich, ein Leben als Ledige wenig erstrebenswert. Männer
34 Heidi Rosenbaum
waren in einer anderen wirtschaft lichen Situation, aber auch für sie gehörten Ehe
und Familie zu einer respektablen bürgerlichen Existenz dazu.
Ebenso wie in den bisher behandelten Familienformen bestand auch in der
bürgerlichen Familie eine ausgeprägte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die
Frau hatte ihren Lebensbereich und ihre Zuständigkeiten im Hause. Sie war ver-
antwortlich für ein gemütliches und gepflegtes Heim, die Kindererziehung und
die Repräsentation des sozialen Status der Familie. Der Mann fand den Mittel-
punkt seines Lebens außerhalb im Berufsleben und der Öffentlichkeit. Diese Ar-
beits- und Rollenteilung ergab sich für die Zeitgenossen aus dem „Wesen“ der Ge-
schlechter (Hausen 1976; kritisch: Rang 1986) und wurde weitgehend akzeptiert.
Ebenso wie die von Bauern und Handwerkern war die bürgerliche Familie pa-
triarchalisch strukturiert. Der Mann war das unangefochtene Oberhaupt. Seine
Erfolge in Beruf und Geschäft, seine gesellschaft liche Position stützten seine in-
nerfamiliale Autorität, die rechtlich fi xiert war und ihm die Entscheidungsbefug-
nis in allen wesentlichen Fragen sicherte (Rosenbaum 1982, S. 343).
Kinder hatten als Arbeitskräfte in bürgerlichen Familien keine Relevanz. Ihre Er-
ziehung und Bildung vollzog sich, vom Erwerbsleben abgeschottet, im häuslichen
Umfeld und der Schule. Ihre Bedeutung resultierte nunmehr aus der Individuali-
sierung der Partnerwahl und ihrer dadurch bedingten Wertschätzung. Die stär-
kere Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung und die Notwendigkeit von
Bildung und Ausbildung (der Söhne) für bürgerliche Karrieren führten dazu, dass
Kinder innerhalb der Familie in eine zentrale Position rückten. Ihr Wohlergehen
und ihre Zukunftsplanung war eine die Eltern verbindende gemeinsame Aufgabe
(Habermas 2000). Selbst jene Familien, deren finanzielle Verhältnisse relativ be-
scheiden waren, investierten viel Geld in die Ausbildung ihrer Sprösslinge (Ro-
senbaum 1982, S. 364f.). Unterstützt wurde diese Entwicklung durch den Rück-
gang der Kinderzahlen. Bürgerliche Gruppen gehörten zu denen, die schon früh
versuchten, die Zahl der Geburten zu beschränken (Gestrich 2003, S.513ff.). Dazu
dürften die Rücksicht auf die Gesundheit der (geschätzten) Frau, aber auch die
hohen Bildungs- und Ausbildungskosten für die Kinder beigetragen haben.
Die Erziehung der Kinder oblag in erster Linie der Frau und Mutter, die, selbst
befreit von schwerer Arbeit und unterstützt von Personal, sich dieser Aufgabe nun
intensiv widmen konnte, dies umso mehr als der Mann und Vater die meiste Zeit
des Tages im Geschäft, Betrieb oder Büro verbrachte. Er blieb bei der Erziehung
der Kinder oft eine Randfigur, wurde gelegentlich sogar zum „Störenfried“ (Bud-
Familienformen im historischen Wandel 35
de 1994, S. 156ff.). Die Beziehung zur Mutter war häufig eng und innig, die zum
Vater meist weniger herzlich, wohl auch distanziert, zumal Zärtlichkeit sich in
dieser Zeit nicht mit Männlichkeit vertrug. Dies betraf in erster Linie die Söhne.
Die Beziehung der Töchter zum Vater war oft besser. Charakteristisch war die
Zuneigung der Kinder zum gegengeschlechtlichen Elternteil. Erstmals war jene
familiale Konstellation mit spezifisch emotionaler Aufladung entstanden, die von
Freud als ödipale Situation beschrieben und analysiert worden ist (Rosenbaum
1982, S. 300f.).
Die Anstrengungen der Eltern konzentrierten sich auf gute und teure Aus-
bildungen für die Söhne, die es ihnen ermöglichen sollten, mindestens den sozia-
len Status der Familie zu halten. In finanziell nicht sehr gut gestellten Familien
mussten die Töchter deshalb nicht selten zurückstecken. In jedem Fall erhielten
sie nur eine Ausbildung, die normalerweise nicht auf Erwerbstätigkeit und eine
selbständige Lebensführung zielte, sondern auf jene haushälterischen und Salon-
Fertigkeiten, die sie auf eine spätere Ehe vorbereiteten.
Großzügige Wohnverhältnisse, separate Räume für die einzelnen Familien-
mitglieder, aber auch Familien- und spezielle Gesellschaftsräume ermöglichten
den Rückzug und die Konzentration auf sich selbst und begünstigten die Ent-
wicklung von Individualität. Sie waren ebenso wie die gelebte Distanz zum Perso-
nal Voraussetzungen für die Entwicklung einer nach außen gegen die Sphäre des
Erwerbs, der Nachbarschaft, der Gemeinde abgegrenzte familiale Privatsphäre.
6.4 Fazit
Es hat sich gezeigt, dass für die Herausbildung der bürgerlichen Familie zwei
Bedingungen zentral gewesen sind: Dies war neben der Trennung zwischen Er-
werbs- und Familiensphäre vor allem eine gesicherte materielle Situation, die es
erlaubte, Frau und Kinder von der Erwerbsarbeit freizustellen und Zeit und Muße
für die Entwicklung persönlicher Beziehungen zu haben. Diese zweite Bedingung
wurde bei der Entstehung der neuen Ideen von Ehe und Familie nicht thematisiert
und auch später nicht erwähnt.11 Erst beides zusammen bildete jedoch das Fun-
dament, auf dem die personalen Beziehungen intensiviert und gepflegt werden
konnten. Das gilt für die Ehebeziehung ebenso wie für die zwischen Eltern und
Kindern. Wie sehr beides untrennbar zusammengehört, zeigt sich daran, dass in
jenen Familienformen, in denen bereits in der Vergangenheit Erwerbs- und Fami-
11 Das Bürgertum, so Gestrich (1999, S. 71) im Anschluss an Bourdieu (1987), sei so wohl-
habend, dass es den Einfluss des Ökonomischen leugnen konnte.
36 Heidi Rosenbaum
lienleben getrennte Bereiche waren wie beispielsweise bei der städtischen Unter-
schicht, die Kultivierung und Emotionalisierung der persönlichen Beziehungen
nicht stattfinden konnte, weil die Sorge um den Lebensunterhalt das beherrschen-
de Familienthema war. Das traf auch noch für die frühe proletarische Familie zu.
Das bürgerliche Familienmodell wurde erst seit Ende des 19., vor allem dann
im frühen 20. Jahrhundert für die Arbeiterschaft ebenso wie für das Kleinbür-
gertum und die entstehende Schicht der Angestellten hoch attraktiv (Rosenbaum
1992, S. 277ff.). Zumindest ansatzweise konnte es aber nur dort realisiert werden,
wo die Voraussetzungen stimmten. In der Arbeiterschaft war das erst dann der
Fall, als sich im späten Kaiserreich die ökonomische Situation bestimmter Grup-
pen qualifizierter Arbeiter verbesserte. Dort fielen die Bemühungen von Sozialde-
mokratie und bürgerlichen Organisationen um eine „Verbesserung“ der Orientie-
rungen und Verhaltensweisen der Arbeiterschaft im Privatleben auf fruchtbaren
Boden (Rosenbaum 1992, S. 249ff.).
12 Mit „Familie“ wird hier die zusammen in einem Haushalt lebende Gruppe aus einem
oder mehreren Erwachsenen mit Kind(ern) bezeichnet.
Familienformen im historischen Wandel 37
Lebens- und Familiensituation völlig obsolet geworden seien. Das zeigt sich be-
sonders prägnant am Beispiel der Partnerwahl. Auch die heute dominierende
„freie“ Partnerwahl wird von Wahrnehmungen und Orientierungen gesteuert,
denen die „Schicht- oder Klassenzugehörigkeit“ in Gestalt des „kulturellen Ka-
pitals“, also von „Bildung und Umgangsformen“, unterschwellig zugrunde liegt
(Gestrich 2003, S. 498). Auch dort, wo die Eltern den Kindern die Wahl ihres
Ehe- oder Lebenspartners überlassen, präformieren soziale und kulturelle Stan-
dards die Wahrnehmung des oder der Anderen und grenzen von vornherein be-
stimmte Gruppen von Menschen aus. Nicht mehr der materielle Besitz, sondern
der „immateriell“ erscheinende Habitus wird zum zentralen Kriterium. Daraus
erklärt sich die gegenwärtig immer noch frappierend starke soziale Homogamie
der Partnerwahl (Gestrich 2003, S. 503f.).
Zwei Merkmale, die die gegenwärtigen Familien mit den vergangenen teilen,
werden heute intensiv diskutiert. Zum einen ist dies die hohe Quote von Wie-
derverheiratungen oder neuen Partnerschaften, die komplexe Familien- und
Verwandtschaftsverhältnisse mit Stiefmüttern oder -vätern, Stiefk indern und
Halbgeschwistern, mehr als zwei Großelternpaaren nach sich ziehen (Steinbach
2008). Zum anderen handelt es sich um die vielen unverheiratet zusammenle-
benden Paare (Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit oder ohne Kinder), die
als „Nachfolger“ der „wilden Ehen“ aufgefasst werden könnten. Eine derartige
Kontinuität resultiert jedoch aus einer ausschließlich formalen Betrachtung. Tat-
sächlich funktionieren moderne Stieffamilien und Nichteheliche Lebensgemein-
schaften völlig anders als ihre historischen Vorläufer. Wiederverehelichungen auf
Grund von Verwitwung, die in der Vergangenheit wegen der vielen plötzlichen
Todesfälle auch bei jüngeren Erwachsenen häufig vorkamen, haben aus der Per-
spektive von Kindern eine andere Qualität als Wiederverehelichung nach Tren-
nung oder Scheidung der Eltern. Weil die Eltern-Kind-Beziehungen inzwischen
eine hohe emotionale Qualität haben, müssen Kinder, nunmehr damit fertig wer-
den, dass ein geliebter, noch lebender Elternteil sie verlässt. Für die betroffenen
Kinder können damit erhebliche Belastungen verbunden sein. Die „wilden“ Ehen
hingegen waren, anders als das heute verbreitete unverheiratete Zusammenleben
von Paaren, eine unfreiwillig gewählte, durch missliche Umstände oder Armut
erzwungene Familienform, in der die Betroffenen in steter Angst vor Entdeckung
gelebt haben. An ihnen wird besonders deutlich, wie sehr Ehe (und Familie) in
vergangenen Jahrhunderten ein Privileg gewesen ist. Das ist die Ehe inzwischen
nicht mehr. Viele Menschen sehen in ihr lediglich eine unnötige Formalität. Pri-
vilegiert wird die Ehe nur noch durch die Verfassung (Art.6 GG) und das Steuer-
recht. Es ist abzusehen, dass auch diese Zeiten sich dem Ende nähern.
38 Heidi Rosenbaum
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Familienformen im historischen Wandel 39
1 Einleitung
1 Der „Familienzyklus“ mit seinen unterschiedlichen Phasen stellt einen zentralen As-
pekt der Lebensverlaufsforschung in der Familiensoziologie dar. Für eine ausführliche
Darstellung dieses Konzepts siehe Glick (1947).
Diversität von Familie in Deutschland 43
führung sowie eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Frau und Mann her-
angezogen (Hill und Kopp 2013, S. 10). Abbildung 1 verdeutlicht, dass heutige Fa-
milienformen vielfältiger sind und über die klassische Form Vater-Mutter-Kind
(Kernfamilie) hinausgehen.
Die Existenz von Kindern als zentrales Merkmal von Familie heranzuziehen,
erlaubt es, sowohl alleinerziehende Elternteile als auch homosexuelle Partner-
schaften, die ein Kind aufziehen, zu berücksichtigen. Paare und Alleinstehende
ohne Kinder werden nicht als Familie definiert, da kein Elternschaftsverhältnis
im Haushalt vorliegt. Die Elternschaftsbeziehung bildet aus unserer Sicht die
zentrale Perspektive, um Familienformen schlüssig zu systematisieren. Eine El-
ternschaftsbeziehung charakterisiert die soziale Beziehung zwischen Elternteil
und Kind, die auf biologischer Abstammung beruhen kann, aber nicht zwingend
muss (Adoption, Pflegekindschaft) (Huinink und Konietzka 2007, S. 31). Damit
können auch Familienformen berücksichtigt werden, die teilweise oder vollstän-
dig auf sozialer Elternschaft beruhen (Stief- bzw. Adoptionsfamilien). Dennoch
weist die Betrachtung der Haushaltsperspektive, wie sie auch in der amtlichen
Statistik verwendet wird, einige Schwächen auf. Haushaltsübergreifende Fami-
44 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach
2 Beim Wechselmodell – eine Lebens- und Betreuungsform von Kindern, in der sich die
getrennt lebenden Eltern abwechselnd um die Kinder kümmern – ist die Zuordnung
der Kinder zu einem Haushalt allerdings nicht mehr so einfach möglich, da die Kinder
zu einem substantiellen Anteil bei beiden Elternteilen leben (Sünderhauf 2013, S. 61).
Diese Form der Betreuung ist, anders als ein gemeinsames Sorge- oder Umgangsrecht,
an einer gleichberechtigten und gleichverpflichtenden Betreuung der Kinder orien-
tiert. Damit müssten eigentlich auch beide Haushalte der Eltern als Familienhaushalte
erfasst werden. Da das Wechselmodell jedoch noch relativ selten in Deutschland ist
(Sünderhauf 2013, S. 198), bleibt es hier zunächst unberücksichtigt.
3 Eine ausführlichere Diskussion zur wissenschaftlichen Bedeutung und theoretischem
Gehalt des Familienbegriffs findet sich unter anderem in Marbach (2008) und eine
familienpsychologische Perspektive bei Schneewind (2010).
Diversität von Familie in Deutschland 45
und gibt einen Ausblick auf mögliche zukünft ige Entwicklungen im Bereich der
Familienformen (Abschnitt 4).
Vor dem Hintergrund von Individualisierung (Beck 1986, 1990; Beck und Beck-
Gernsheim 1990) und Pluralisierung wird in den letzten Jahren in der Bundes-
republik eine angeregte Debatte zum Wandel von Lebens- und Familienformen
geführt. Die Individualisierungsthese rückt allgemeine gesellschaft liche Ent-
wicklungen und ihre Konsequenzen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die In-
dividualisierung einzelner Lebensbereiche wird als Folge einer fortschreitenden
Modernisierung gesehen. Familien werden dabei als Beispiel für diese Entwick-
lungen herangezogen, da sie soziale Beziehungen repräsentieren (Hill und Kopp
2013, S. 261, 266); es werden aber auch andere Lebensbereiche beeinflusst. Aus-
gangspunkt der Debatte um die Individualisierung ist die Auflösung von norma-
tiv geprägten, sozialen Strukturen (Beck-Gernsheim 1994, S. 136; Brüderl 2004,
S. 7). Der Modernisierungsprozess sorgt dafür, dass Personen nun eigenständig
handelnde Akteure sind, aber gleichzeitig auch die Verantwortung des Einzelnen
für die angemessene „Biografisierung des eigenen Handelns“ (Huinink und Ko-
nietzka 2007, S. 106) steigt. In der Vergangenheit haben normative und institutio-
nelle Bindungen die Handlungsoptionen des Einzelnen stark beschränkt, heute
bestimmen und regulieren andere Zwänge, wie die des Arbeitsmarktes, das Leben
des Einzelnen. Als Folge der individualisierten Lebensumstände und gestiegenen
Gestaltungsmöglichkeiten hat sich dabei vor allem die Biografie von Frauen ver-
ändert (Hill und Kopp 2013, S. 265; Nave-Herz 2010, S. 40). Durch das Ablegen
traditioneller Rollenmuster und Abhängigkeitsverhältnisse gehen auf der einen
Seite soziale Sicherheiten verloren (Huinink und Konietzka 2007, S. 107). Auf der
anderen Seite stehen Veränderungen im Bildungs- und Qualifi kationsniveau (Bil-
dungsexpansion), die eine verstärkte Erwerbsbeteiligung von Frauen befördern
und so ihre finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen (Brüderl und Klein 2003,
S. 210; Hill und Kopp 2013, S. 265).
Mit steigendem Wohlstand gehen außerdem demografische Entwicklungen
wie sinkende Heirats- und Geburtenziffern sowie steigende Scheidungshäufig-
keiten einher, die verstärkt zu Abweichungen vom institutionellen Lebenslauf
und damit zu mehr Vielfalt bei den Verlaufsmustern im Bereich Familie führen
(Brüderl 2004, S. 8; Huinink und Konietzka 2007, S. 107). Gleichzeitig geht mit
der Individualisierungsthese eine Diskussion um die Aufgabe des theoretischen
46 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach
die letzten Jahre jedoch infolge gehäuft auft retender Trennungen und Scheidun-
gen gewachsen zu sein.
Als eigentlich einzig neue Familienform können gleichgeschlechtliche Lebens-
gemeinschaften mit Kindern angesehen werden. Diese Gruppe ist jedoch recht
klein. Laut Daten des deutschen Mikrozensus aus dem Jahr 2008 leben lediglich
7.200 Kinder in Haushalten mit gleichgeschlechtlichen Partnern (Eggen und
Rupp 2010, S. 27). Trotz ihres geringen Anteils wird diese Familienform mitt-
lerweile gesellschaft lich akzeptiert sowie rechtlich gestärkt und hat damit in der
Öffentlichkeit eine größere Sichtbarkeit erlangt (Eggen und Rupp 2010, S. 34).
Die Pluralisierungsdebatte kann auch aus einem anderen Blickwinkel betrach-
tet werden. Ein Beitrag von Huinink (2011) sieht die Veränderungen im Bereich
Familie weniger aus Perspektive der Individualisierung und dem damit verbun-
denen Bedeutungsverlust von Familie. Er interpretiert die Veränderungen als an-
gepasste Handlungsstrategien von Familien und ihren Mitgliedern, um familiale
Strukturen – auch vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen – zu
gewährleisten (Huinink 2011, S. 29). Familien haben demnach lediglich ihre All-
tagsorganisation an eine spätmoderne Gesellschaft angepasst. Um den gegenwär-
tigen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es möglichst flexibler Reaktions-
muster und Organisationsformen, auch wenn diese, im Vergleich zur klassischen
Organisationsform von Familie, prekärer ausfallen (Kreyenfeld und Konietzka
2012, S. 235). Ziel der Alltagsorganisation ist es, befriedigende Familienbeziehun-
gen aufrecht zu erhalten, indem Umwelteinflüsse zielgerichtet reguliert werden.
Die unterschiedlichen Strategien, Familienstrukturen aufrecht zu erhalten, füh-
ren dann auf Makroebene zu einer messbaren Diversifizierung von Familienfor-
men (Huinink 2011, S. 24). Unterstrichen wird damit der unveränderte Wunsch
nach Familie, Partnerschaft und Kindern (Kreyenfeld und Konietzka 2012, S. 235;
Kuhnt 2013, S. 374; Kuhnt und Trappe 2013, S. 21).
Die angeführten Thesen zur Pluralisierung, Zunahme der Vielfalt und Ver-
schiebung der Anteile vorhandener Lebensformen, treffen also beide zu, jedoch
in unterschiedlichem Ausmaß. Abhängig vom zeitlichen Referenzrahmen haben
sich die Anteile vorhandener Familienformen verändert. Eine Veränderung der
Anteile lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass eine Zunahme der familiären Viel-
falt stattgefunden hat. Gegenwärtig ist noch immer die Zwei-Eltern-Kind-Familie
die am weitesten verbreitete Familienform. Eine Zunahme der Vielfalt kann des-
halb nur eingeschränkt bestätigt werden. In Deutschland scheinen nur homo-
sexuelle Paare mit Kind als neue Familienform entstanden zu sein, auch wenn
sie quantitativ einen äußerst geringen Anteil ausmachen. Damit kann weder die
Diversität von Familie in Deutschland 49
These zum Bedeutungsverlust von Familie, noch die These zur Pluralisierung der
Familienformen zweifelsfrei überzeugen (Bertram 2002, S. 524).4
4 Auch wenn sich die Pluralisierung der Familienformen nicht eindeutig bestätigen lässt,
finden sich empirische Belege für die Diversifizierung von Lebensformen ohne Kind.
Detailliertere Ausführungen dazu findet sich unter anderem bei Brüderl (2004), Wag-
ner (2008), Brüderl und Klein (2003) sowie Hill und Kopp (2013).
50 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach
und Huinink 2011, S. 81). Die Erfassung der Gesamtkinderzahl von Frauen und
Männern, und damit auch von Kinderlosigkeit, ist somit nicht möglich (Kreyen-
feld und Huinink 2003, S. 45; Kreyenfeld et al. 2009, S. 278; Lengerer et al. 2005, S.
34). Weiterführend sind Aussagen zu Stieffamilien nur auf Basis von Schätzungen
möglich (Steinbach 2008, S. 155). Allerdings können mit dem Mikrozensus (mit
einigen Einschränkungen) auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kind
erfasst werden. In einem zusätzlichen Schritt wird seit 2006 bei der Erfassung von
Lebensgemeinschaften auch nach eingetragenen Partnerschaften gefragt (Eggen
und Rupp 2010, S. 25).
Neben den amtlichen Daten existieren eine Reihe Survey-Daten, die in unter-
schiedlichem Maße für die Analyse von Familienstrukturen geeignet scheinen.
Eine Datenquelle, welche regelmäßig zur Analyse von Lebens- und Familien-
formen herangezogen wird, ist der DJI-Familiensurvey. Insgesamt stehen drei
Wellen dieses Surveys aus den Jahren 1988, 1994 und 2000 zur Verfügung. Das
DJI-Familiensurvey setzt sich aus einer Querschnittskomponente (replikative
Stichprobe) und einer Panelstichprobe für die alten Bundesländer zusammen
(Infratest 2000, S. 4ff.). Der Familiensurvey erhebt detaillierte Informationen
zu allen Kindern, also auch zu denen, die bereits nicht mehr im Haushalt leben
(Kreyenfeld und Huinink 2003, S. 47). Es wird erfasst, ob Kinder leibliche, Stief-,
Pflege- oder Adoptivkinder (des aktuellen Partners) sind, wenn diese gegenwärtig
im Haushalt leben oder einmal dort gelebt haben. Kinder des aktuellen Partners,
die nie im Haushalt gelebt haben, werden jedoch in diesem Survey nicht berück-
sichtigt. Informationen zum externen Elternteil des im Haushalt lebenden Kindes
fehlen ebenfalls, weswegen keine Analysen zu sekundären Stieffamilien mit die-
sen Daten vorgenommen werden können bzw. diese Familienform im DJI-Fami-
liensurvey unterschätzt wird (Feldhaus und Huinink 2011, S. 82; Steinbach 2008,
S. 155). Als Weiterführung des DJI-Familiensurveys existiert inzwischen das inte-
grierte Survey Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A) des Deutschen
Jugendinstituts, welches die bisherigen Studien – Familiensurvey, Jugendsurvey,
Kinderpanel und Kinderbetreuungsstudie – zusammenfasst (Rauschenbach und
Bien 2012). Im Fokus steht die gesamte Phase des Aufwachsens von Kindern und
Jugendlichen im Kontext ihrer Familien und deren Haushalte. Dabei handelt es
sich jedoch nicht um eine individuell-biographische Perspektive und auch nicht
um einen individuellen Längsschnitt (Rauschenbach und Bien 2012, S. 14). Durch
die Informationen zu den Partnerschafts- und Kindschaftsverhältnissen können
jedoch im Querschnitt konventionelle und nicht-konventionelle Familienformen
bestimmt werden.
Diversität von Familie in Deutschland 51
Der Generations- and Gender-Survey (GGS) aus den Jahren 2005 und 2009/10
stellt eine weitere Option dar, Familienformen in Deutschland zu analysieren.5
In diesem Datensatz werden alle im Haushalt lebenden Personen und deren Be-
ziehungen zueinander erhoben. Dies beinhaltet auch die Information über den
Elternschaftsstatus. Es wird unterschieden, ob Kinder biologische Kinder des ak-
tuellen Partners der Ankerperson im Haushalt oder aber biologische Kinder eines
früheren Partners sind (Feldhaus und Huinink 2011, S. 82). Durch die differen-
zierte Erfassung der Beziehung des Kindes zur Ankerperson (leibliches Kind eines
früheren Partners bzw. Stiefk ind) können auch Stieffamilien korrekt bestimmt
werden (Steinbach 2008, S. 163). Darüber hinaus werden im GGS die Kinder der
Ankerpersonen und ihrer aktuellen Partner erfasst, die nicht mehr im gemein-
samen Haushalt leben (Ruckdeschel et al. 2006, S. 11). Dies ermöglicht die Be-
stimmung von Familien, in denen Erwachsene Kinder aus früheren Beziehungen
haben, die sich jedoch nicht überwiegend im aktuellen Haushalt aufhalten (Stein-
bach 2008, S. 173).6 Eine Bestimmung dieser Familienform ist mit den Daten des
Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) nicht möglich (Feldhaus und Huinink 2011, S.
83). Im SOEP werden zwar die Kinder des Haushaltsvorstandes und anderer im
Haushalt lebender Personen erfragt, unabhängig davon, ob diese Kinder noch im
Haushalt leben. Da für den Haushaltsvorstand jedoch keine vollständige Partner-
schaftsbiographie vorliegt, ist eine eindeutige Zuordnung aller Kinder (die nicht
mehr im Haushalt leben) nicht möglich. Durch den Längsschnittcharakter des
SOEP und die lange Laufzeit des Panels können mittlerweile allerdings Phasen
des Alleinerziehens und das Zusammenlebens in Stieffamilien bestimmt werden.
Familienformen lassen sich ebenfalls auf Basis der Daten der Deutschen Le-
bensverlaufsstudie ermitteln, die seit 1983 erhoben wird. Im Rahmen der Lebens-
verlaufsstudie, welche den Fokus auf Bildungs- und Arbeitsverläufe legt, werden
u.a. die Partnerschafts- und Familienbiographien verschiedener Geburtskohor-
ten in Ost- und Westdeutschland erhoben (Solga 1996, S. 30; Wagner 1996, S.
23). Die Erfassung der Daten erfolgte dabei retrospektiv. Ein weiteres aktuelles
Panel, welches ebenfalls die Analyse verschiedener Familienformen ermöglicht,
ist das Beziehungs- und Familienpanel (pairfam), welches seit 2008/09 jährlich
durchgeführt wird (Huinink et al. 2011). Es bietet eine differenzierte Erfassung
5 Der GGS ist die Weiterführung des Family and Fertility Survey (FFS) aus dem Jahr
1992. Da diese Daten aufgrund des weit zurückliegenden Erhebungszeitraums weniger
aktuell sind, werden sie an dieser Stelle nicht genauer vorgestellt.
6 Es liegen für den deutschen GGS einige methodische Probleme hinsichtlich der Erfas-
sung der Fertilitätsbiographien vor, die bei Kreyenfeld et al. (2013) kritisch reflektiert
werden.
52 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach
Welche Familienformen können wir nun identifizieren, wenn wir das Zusam-
menleben mit Kindern in Deutschland betrachten? Eine erste Differenzierung
kann zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Familienformen
vorgenommen werden. Als konventionelle Familienform wird die (1) klassische
Form des Zusammenlebens als Familie, bestehend aus Frau und Mann mit min-
destens einem gemeinsamen, leiblichen Kind, verstanden (Kernfamilie). Nicht-
konventionelle Familienformen wie (2) Alleinerziehende, (3) Stieffamilien, (4)
Adoptiv- und Pflegefamilien und (5) gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern),
stellen alle anderen Formen familialen Zusammenlebens dar. Im Folgenden
werden die einzelnen Familienformen genauer betrachtet und die Angaben zu
deren Verbreitung in Deutschland zusammengefasst. Um die Verteilungen der
Diversität von Familie in Deutschland 53
Familienformen
Adoptiv- Gleichge-
Allein-
Kern- Stief- und schlechtliche
Studien erzie-
familien familien Pflege- Paare mit
hende
familien Kind
Teubner (2002b),
– – 7,0 – –
Familiensurvey
Steinbach (2008),
71,5 14,8 13,6 0,1 –
GGS
Kreyenfeld und Heintz-
75,0 11,0 14,0 – –
Martin (2012), GGS
Feldhaus und Huinink
73,4 8,5 17,62 1,13 –
(2011), pairfam1
Kreyenfeld und Konietzka
78,5 9,8 12,0 – –
(2012), pairfam4
Kreyenfeld und Heintz-
81,0 10,0 9,0 –
Martin (2012), pairfam
Kreyenfeld und Heintz-
79,0 10,0 11,0 – –
Martin (2012), AID:A
Eggen und Rupp (2010),
– – – – <0,05
Mikrozensus
* Da nicht alle Studien ihre Analysen auf Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren begren-
zen, stellt diese Tabelle nur eine Auswahl verfügbarer Studien zum Thema Familienfor-
men und ihrer Verteilung in Deutschland dar. Die hier aufgeführten Angaben basieren
teilweise auf gewichteten Daten, was ggf. zu einer Einschränkung des Vergleichs der
Anteile führen kann.
1
Es wurden die Ergebnisse der Geburtskohorten 1981-83 sowie 1971-73 zusammen-
addiert.
2
Stieffamilien und Patchworkfamilien wurden hier zusammengezogen, da unserer
Ansicht nach Patchworkfamilien ein Bestandteil von Stieffamilien sind.
54 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach
3
Adoptiv- und Pflegefamilien werden im Beitrag von Feldhaus und Huinink (2011) nicht
extra ausgewiesen sondern unter „Sonstiges“ geführt.
4
Die Berechnung der Familienformen basiert auf Ergebnissen der Kohorte 1971-73,
weshalb Abweichungen zu den Ergebnissen von Feldhaus und Huinink (2011) fest-
zustellen sind, die ebenfalls auf den Daten von pairfam basieren, aber zusätzlich die
Kohorte 1981-83 heranziehen.
Kernfamilien
7 Aussagen über die Anzahl der Kinder im Haushalt lassen nicht zwingend Aussagen zur
Gesamtkinderzahl zu, da Kinder bereits aus dem gemeinsamen Haushalt der Eltern/
Stiefeltern/ Elternteile ausgezogen sein können. Dies zeigt eine Schwäche des Familien-
formenkonzeptes auf Basis der Haushaltsebene auf.
Diversität von Familie in Deutschland 55
Alleinerziehende
Als Alleinerziehende werden Elternteile definiert, die mit ihren Kindern, aber
ohne einen Partner in einem Haushalt leben (Nave-Herz 2012, S. 95; Steinbach
2008, S. 164). Das Alleinerziehen schließt dabei eine vorhandene Partnerschaft
nicht aus. Eine Living-Apart-Together-Beziehung (LAT) kann bestehen, jedoch
lebt der Partner nicht im gemeinsamen Haushalt von Elternteil und Kind(ern).
Alleinerziehende finden sich in der Literatur auch unter dem Begriff der „Ein-
Eltern-Familien“ (Peuckert 2012, S. 346). Da eine Ein-Eltern-Familie suggeriert,
dass eine Trennung oder Scheidung – die häufigsten Ursachen für das Entste-
hen von alleinerziehenden Haushalten – die Beziehung zwischen Kind und zwei-
tem Elternteil ebenfalls beendet (Peuckert 2012, S. 346), geben wir dem Begriff
Alleinerziehende in diesem Beitrag den Vorzug. Dies entspricht dem aktuellen
Forschungsstand, in dem die meisten Studien ebenfalls die Begriffl ichkeit des
Alleinerziehens präferieren (z.B. Feldhaus und Huinink 2011; Kreyenfeld und
Heintz-Martin 2012; Kreyenfeld und Konietzka 2012; Steinbach 2008).
56 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach
8 Vor dem Jahr 1996 konnte im Mikrozensus nicht zwischen Personen mit und ohne
Partner im Haushalt differenziert werden (Peuckert 2012, S. 346).
Diversität von Familie in Deutschland 57
Stieffamilien
Neben dem Aufenthaltsort des Kindes ergibt sich durch das Geschlecht des
Stiefelternteils eine weitere Differenzierungsmöglichkeit nach Stiefmutter- und
Stiefvaterfamilie (Bien et al. 2002, S. 11; Steinbach 2008, S. 160). Die Zusammen-
setzung des Haushalts eröff net eine weitere Option, Stieffamilien zu unterschei-
den (Steinbach 2008, S. 160): Bringt nur ein Partner Kinder mit in den Haushalt,
handelt es sich um eine einfache Stieffamilie. Bringen beide Partner Kinder in den
Haushalt ein, bezeichnet man diese Konstellation als zusammengesetzte Stieffa-
milie. Leben neben den Stiefk indern gemeinsame leibliche Kinder (oder Adop-
tiv- und Pflegekinder) mit im Haushalt stellt dies eine komplexe Stieffamilie dar.
Komplexe Stieffamilien können sowohl aus einfachen als auch aus zusammenge-
setzten Stieffamilien entstehen, wenn ein gemeinsames Kind geboren wird. Kom-
plexe Stieffamilien werden auch „Patchwork-Familien“ genannt (BMFSFJ 2013,
S. 7; Burkart 2008a, S. 231; Nave-Herz 2013, S. 68).9 Unter Berücksichtigung des
Partnerschaftsstatus der (Stief-)Eltern können zudem Stieffamilien im engeren
Sinne (Ehen und Nichteheliche Lebensgemeinschaften) sowie im weiteren Sinne
(LAT-Beziehungen) unterschieden werden (Bien et al. 2002, S. 11). Darüber kann
auch die Partnerschaftsbiographie und aus dieser der Grund des Auflösens einer
Beziehung (Trennung/Scheidung oder Verwitwung) zur Differenzierung heran-
gezogen werden (Ganong und Coleman 1984, S. 390).
Wie Tabelle 1 dokumentiert, schwanken die Angaben zu den Anteilen von
Stieffamilien in Deutschland zwischen 8 und 18 Prozent. Dies lässt sich einer-
seits mit den unterschiedlichen Datensätzen und den damit verbundenen Mög-
lichkeiten der Identifizierung von Stieffamilien erklären. Andererseits wird auf
Verzerrungen der zugrunde gelegten Sample verwiesen (Steinbach 2008, S. 166).
Betrachtet man die Verteilung von Stieffamilien differenziert nach Ost- und
Westdeutschland, wird außerdem eine Tendenz zu mehr Stieffamilien in Ost-
deutschland sichtbar (BMFSFJ; Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012; Steinbach
2008; Teubner 2002b). Mit den Daten des GGS wurde ein Anteil von 13 Prozent
Stieffamilien in den alten Bundesländern im Vergleich zu 16 Prozent in den neuen
Ländern ermittelt (Steinbach 2008, S. 167). Weitere Unterschiede zwischen bei-
den Regionen Deutschlands werden bei der Betrachtung des Partnerschaftsstatus
deutlich: Stiefeltern in Westdeutschland sind mit 82 Prozent deutlich häufiger
9 Der Ausdruck „Patchwork-Familie“ mag populär sein, weil er im Vergleich zum Begriff
„Stieffamilie“ weniger negativ konnotiert ist. Dennoch bietet er keine adäquate Alter-
native, da (1) Patchwork-Familien letztlich eine spezielle Form der Stieffamilie sind
und (2) für die einzelnen Familienmitglieder keine eigenen Begriffe vorliegen, sodass
für eine eindeutige Zuordnung wieder auf die Begriffe Stiefeltern und Stiefkinder zu-
rückgegriffen wird (Steinbach 2008, S. 155f., Burkart 2008a, S. 231, Meulders-Klein &
Théry 1998, S. 7ff.).
Diversität von Familie in Deutschland 59
im Jahr 2012 nur noch 3.886 (Statistisches Bundesamt 2014a). Die Anzahl der
Adoptivkinder liegt dabei unter 1 Prozent an der Gesamtzahl Minderjähriger in
Deutschland (Peuckert 2012, S. 395). Der Rückgang der Adoptionszahlen ist da-
bei weniger auf ein sinkendes Interesse an Adoptionen zurückzuführen, als auf
die geringe Anzahl zur Adoption stehender Kinder (Walper und Wendt 2011, S.
215). Kinder werden nach aktueller Politik der Jugendämter seltener dauerhaft aus
ihren Familien herausgenommen. Dadurch liegt die Zahl der Adoptionsbewerber
deutlich über der Zahl zur Adoption vorgemerkter Kinder (Peuckert 2012, S. 395).
Rückläufig ist neben der Zahl der Adoptionen insgesamt auch die Zahl der
Fremdadoptionen (Statistisches Bundesamt 2014a). Bei Fremdadoptionen liegt
kein Verwandtschaftsverhältnis zu den Adoptionseltern vor. Im Jahr 2012 lag die
Zahl der Fremdadoptionen deutlich unter der Zahl der Adoptionen durch Ver-
wandte oder Stiefelternteile. Im Jahr 2012 wurden 3 Prozent der Kinder durch
Verwandte, 57 Prozent durch Stiefelternteile und 40 Prozent durch Personen ad-
optiert, bei denen kein Verwandtschaftsverhältnis bestand (Statistisches Bundes-
amt 2014b). Bei 98 Prozent der Adoptiveltern verfügt mindestens ein Elternteil
über eine deutsche Staatsbürgerschaft (Statistisches Bundesamt 2014b).
Die Zahl der Pflegefamilien ist ebenfalls gering. Im Jahr 2008 wurden in
Deutschland 14.500 Kinder in Pflegefamilien untergebracht (van Santen 2010,
S. 21). Ein Großteil der Pflegeverhältnisse wird statistisch jedoch nicht erfasst,
z.B. wenn die Kinder durch ihre Großeltern erzogen werden. Damit dürfte die
tatsächliche Zahl der Pflegschaftsverhältnisse deutlich unterschätzt werden. Die
Verweildauer der Kinder in ihren Pflegefamilien beträgt im Durschnitt 53 Mo-
nate, also etwa viereinhalb Jahre, wobei die Aufenthaltsdauer mit zunehmendem
Alter der Kinder sinkt (van Santen 2010, S. 22). Der Medianwert gibt Aufschluss
darüber, dass die Hälfte aller Kinder ihr Pflegschaftsverhältnis nach 22 Monaten
wieder verlässt, wer nach dieser Zeit noch in seiner Pflegefamilie lebt, bleibt deut-
lich länger in diesem Pflegschaftsverhältnis (van Santen 2010, S. 22). Damit wird
deutlich, dass Kinder in ihren Pflegefamilien oft kein dauerhaftes Zuhause finden.
Bei genauerer Betrachtung sind auch „Inseminationsfamilien“ (Peuckert 2012,
S. 398) eine Art Adoptions- bzw. Stieffamilie. Als Inseminationsfamilien werden
Paare bezeichnet, deren Kinder mit einer Samen- oder Eizellspende (oder bei-
dem) gezeugt wurden (Peuckert 2012, S. 401). Biologische und soziale Elternschaft
können dabei, je nach verwendeter Reproduktionstechnologie, teilweise oder voll-
ständig auseinander fallen. Wird entweder eine Samen- oder Eizellspende hinzu-
gezogen (heterologe Insemination), ähneln die Strukturen im Haushalt nach der
Geburt des Kindes eher der von Stieffamilien. Es gibt einen biologischen Eltern-
teil und einen, der keine biologische Verwandtschaft aufweist. Werden Samen-
und Eizellspende für die Zeugung eines Kindes verwendet (doppelt-heterologe
Diversität von Familie in Deutschland 61
2008 leben in Deutschland etwa 7.200 Kinder in 5.000 Haushalten mit gleichge-
schlechtlichen Lebenspartnern (Eggen und Rupp 2010, S. 27). Selbst wenn man
von einer deutlichen Unterschätzung dieser Zahl aufgrund der Defi zite bei der
Identifizierung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften ausgeht, ist die
Zahl dieser Familienform sehr gering und bildet eher eine Ausnahme.
Einige Informationen lassen sich dennoch zusammentragen: Die Anteile von
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften mit Kind ist zwischen 1996 (12
Prozent) und 2008 (7 Prozent) zurückgegangen (Eggen und Rupp 2010, S. 28).
Eine Erklärung für diesen Rückgang könnte eine stärkere gesellschaft liche Akzep-
tanz homosexueller Orientierung sein, sodass ein Coming-Out früher stattfindet
und seltener eine heterosexuelle Beziehung eingegangen wird (Eggen 2009, S. 14),
aus der dann Kinder entstehen können (Eggen und Rupp 2010, S. 29). Gegen-
wärtig leben mehr als 90 Prozent der Kinder in gleichgeschlechtlichen Familien
mit zwei Frauen in einem Haushalt (Eggen und Rupp 2010, S. 29). Dies könnte
sich einerseits über die Vergabe des Aufenthaltsrechts erklären lassen, dass in der
Vergangenheit Mütter bevorzugt hat. Andererseits ist es für männliche Lebens-
gemeinschaften deutlich schwerer eine Familienplanung tatsächlich umzusetzen.
Darüber hinaus leben 67 Prozent der Kinder in diesen Haushalten mit Geschwis-
tern zusammen (Eggen und Rupp 2010, S. 32). Die lässt darauf schließen, dass
vor allem zwei und mehr Kinder in den Haushalten gleichgeschlechtlicher Paare
leben. Die Kinder in homosexuellen Partnerschaften sind nach einer Befragung
durch das Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb)
zu 92 Prozent leibliche, zu 2 Prozent adoptierte und zu 6 Prozent Pflegekinder
(Rupp und Bergold 2009, S. 284). Die leiblichen Kinder stammen zu 51 Prozent
aus einer vorherigen Partnerschaft und zu 49 Prozent wurden sie in die aktuelle
Beziehung hinein geboren. Weitere Analysen des ifb dokumentieren, dass 39 Pro-
zent der Kinder in Haushalten von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften
durch heterologe Insemination gezeugt wurden, wovon in der Hälfte der Fälle der
Samenspender auch bekannt ist (Rupp und Bergold 2009, S. 285). Ein Drittel der
bekannten Samenspender wird dann auch als biologischer Vater in das Geburten-
buch eingetragen. Fast alle Kinder (96 Prozent), die auf diese Art entstanden sind,
wurden in die aktuelle Partnerschaft hinein geboren (Rupp und Bergold 2009,
S. 285).
Die Erwerbsbeteiligung gleichgeschlechtlicher Eltern unterscheidet sich von
denen in Kernfamilien durch den höheren Anteil an Haushalten, in denen beide
Elternteile erwerbstätig sind. In 60 Prozent dieser Familien sind beide Elterntei-
le erwerbstätig (Eggen und Rupp 2010, S. 32). Dieses spezifische Erwerbsmuster
scheint für Haushalte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften von Frauen und
Männern zu existieren.
Diversität von Familie in Deutschland 63
4 Schlussfolgerungen
Darüber hinaus ist auch ein politisches Interesse an Familien, die nicht in
konventionellen Strukturen zusammenleben, gegeben, wie verschiedene Exper-
tisen zu Stieffamilien (BMFSFJ 2013), Alleinerziehenden (Statistisches Bundes-
amt 2010) und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kind(ern) (Familien-
ministerium Baden-Württemberg 2013; Eggen 2009) belegen. Quantitativ stellen
jedoch Alleinerziehende und Stieffamilien den größten Anteil an nicht-konven-
tionellen Familienformen. Die Anteile von Adoptions- und Pflegefamilien sowie
gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kind(ern) an allen Familien fallen sehr
gering aus.
Gesellschaft liche Entwicklungen bringen Veränderungen im Bereich Familie
mit sich. So hat die Ehe als Legitimierung einer Familie einen großen Bedeu-
tungsverlust hinnehmen müssen. Viele Paare leben inzwischen unverheiratet mit
Kindern zusammen (Peuckert 2012, S. 696). Und auch wenn Familie noch im-
mer einen hohen Stellenwert genießt, stehen Kinder in Konkurrenz zu anderen
Lebenszielen. Der Strukturwandel, dem Familie gegenwärtig unterliegt, scheint
noch nicht abgeschlossen zu sein. Damit steht nicht die Frage im Raum, was nach
der Familie kommt, wie sie Beck-Gernsheim (1998, S. 18) formuliert und folge-
richtig mit: „Die Familie!“ beantwortet hat. Vielmehr stellt sich die Frage, wie Fa-
milie in Zukunft aussehen wird. Eine Frage die jede Epoche neu aufwirft (Burkart
2008b, S. 253), denn Familie scheint ein dynamischer Prozess zu sein, der aus
einem Zusammenspiel verschiedener Akteure und den gegebenen (sich wieder-
um verändernden) Rahmenbedingungen entsteht. Werden sich die Anteile in den
vorhandenen Familienformen also weiter verschieben? Werden neue Familien-
formen zu den bestehenden hinzukommen? Und wie werden Familien konkret
auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren?
Dass Familien veränderte Rahmenbedingungen wahrnehmen und auf diese
eingehen, um ein befriedigendes Familienleben aufrecht zu erhalten, wurde von
Huinink (2011) beschrieben. Unsichere Erwerbsverläufe, flexibilisierte Arbeits-
zeiten und räumliche Mobilität stellen besondere Herausforderung für das fami-
liale Zusammenleben dar (Schneider et al. 2009, S. 130f.). Familien reagieren (frei-
willig oder unfreiwillig) durch eine „Marktformierung“ (Peuckert 2012, S. 697)
auf diese Veränderungen, ohne dabei grundlegende Familienstrukturen endgül-
tig aufzugeben. Dies führt zu veränderten Familienformen. Wie diese zukünft ig
aussehen werden, ist nur schwer abzuschätzen.
Vor dem Hintergrund flexibler Partnerschafts- und Familienbiographien
könnten sich die Anteile vorhandener Familienformen weiter verschieben. Fami-
lienphasen im Lebensverlauf wechseln sich mit Phasen des Alleinlebens, des Zu-
sammenlebens mit einem neuen Partner und der Familienerweiterung ab, sodass
Familienstrukturen noch komplexer werden. Für diese Entwicklungen spricht
Diversität von Familie in Deutschland 65
Literatur
Andreß, H.-J. (2001). Die wirtschaft liche Lage Alleinerziehender. In: Bundesministerium
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Paarbeziehung und Familie als
vertragsförmige Institutionen?
Günter Burkart
1 Einleitung
Die Ansicht, dass die Alltagspraxis von Paarbeziehungen, Ehe und Familie heute
stark durch Aushandlungsprozesse bestimmt wird, ist in der Familienforschung
weit verbreitet.1 Verhandlungen bzw. Aushandlungsprozesse zwischen Familien-
mitgliedern können sich auf eine Vielzahl von Fragen und Themen beziehen, z.B.
auf alltägliche Entscheidungen über Anschaff ungen oder auf die Festlegung von
Regeln für gemeinsame Mahlzeiten oder für den Zeitrahmen, wann die Kinder
abends zuhause sein sollen. Auch Regeln zwischen den Lebenspartnern können
ausgehandelt werden, etwa in Bezug auf das Verhältnis von Erwerbsarbeit, Haus-
arbeit und Kinderbetreuung. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt
allerdings nicht auf konkreten Aushandlungsprozessen dieser Art als vielmehr
bei den sozialen Rahmenbedingungen und den sozio-historischen Veränderun-
gen, die zu dieser Situation geführt haben.
Aushandlungsprozesse haben tendenziell kontraktuellen Charakter, weil sie zu
bestimmten Festlegungen und expliziten Vereinbarungen führen, wenn auch in
der Regel nicht in Form von formalen Verträgen. Damit stellt sich die generel-
1 Der Grundgedanke, dass Aushandlungsprozesse und Verhandlungen den Gang der Er-
eignisse stark – oder sogar stärker bestimmen als festgelegte Strukturen und Regeln,
findet sich – in allerdings ganz unterschiedlicher Ausprägung – in mehreren Theorie-
Familien: Interaktionismus, Rational-Choice-Theorie, Austauschtheorie und Indivi-
dualisierungstheorie.
2 Weber (1972) hat eindringlich auf die Gefahren der „Rationalisierung“ hingewiesen,
insbesondere in Bezug auf die Sphären von Religion, Kunst und privaten Lebensver-
hältnissen. Habermas (1981) hat diesen Gedanken in der Formel „Kolonialisierung der
Lebenswelt“ noch zugespitzt. Die Privatsphäre erscheint als bedroht, durch Prozesse
der Rationalisierung (Verrechtlichung, Ökonomisierung usw.). In dieser Traditions-
linie wird gegenwärtig in der Soziologie eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz zur
Kontraktualisierung, vor allem im Sinne einer zunehmenden Marktförmigkeit von
sozialen Beziehungen, kritisch diskutiert (siehe z.B. Bröckling 2007, S. 127ff.). Illouz
(2011) hat auf die Problematik der Rationalisierung von Liebesbeziehungen hingewie-
sen. Sie sieht eine Gefahr, dass die Kraft der romantischen Liebe durch Prozesse der
Verwissenschaftlichung (Psychologisierung), Ökonomisierung (Marktförmigkeit) und
Kontraktualisierung (Partnerschaftlichkeit) geschwächt wird.
74 Günter Burkart
liche und nichtvertragliche Elemente bestehen gleichzeitig, und auch wenn die
Vertragsförmigkeit historisch zunimmt, so bleibt doch ein erheblicher Anteil, der
sich dieser Form von Rationalität nicht fügt.
2 Historischer Hintergrund
Haben sich Ehe und Familie also zu vertragsförmigen Institutionen im oben ge-
nannten Sinn entwickelt?3 Klar ist zunächst, dass Familien in der traditionalen
(vormodernen) Welt noch sehr viel stärker als heute Wirtschaftseinheiten waren
und zum Teil auch – insbesondere in den Oberschichten – politische Einheiten.
Die Familien der Oberschichten waren auch die Zentren wirtschaft licher, sozialer
und politischer Aktivitäten (Luhmann 1980). Sie konnten deshalb die Eheschlie-
ßung ihrer Kinder nicht dem Zufallsprinzip überlassen, etwa der Unberechen-
barkeit von Zuneigungen unter ihren Nachkommen. Besonders die Allianzehe
zwischen mächtigen Familien war deshalb eine wohlüberlegte Sache, die vertrag-
lich abgesichert werden musste. Auch bei der Vererbung von Besitz, wenn sie mit
einer Heirat verbunden war, lag es nahe, die Transaktion vertraglich abzusichern,
etwa durch einen Mitgift-Vertrag (Schönpflug 2013; Goody 1985; Dülmen 1990,
S.140ff.).
Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass Ehe und Familie in der traditiona-
len Welt durchgängig vertragsförmig geregelte Institutionen gewesen wären. Da-
gegen spricht zunächst einmal, dass „Vertrag“ in der Vormoderne etwas anderes
bedeutet als in der Moderne: Zum einen war die Vorstellung eines individuellen
Rechtssubjekts mit Vertragsfähigkeit noch wenig entwickelt, zum zweiten war das
Rechtssystem noch nicht stark genug ausdifferenziert, d.h. gegenüber Politik und
Wirtschaft noch nicht so abgegrenzt und autonom wie heute.4 Dagegen spricht
weiterhin, dass Ehe und Familie – jedenfalls im kulturellen Kontext des Christen-
tums – von der Kirche reglementierte, aber auch geschützte Institutionen waren,
kirchenrechtliche Vorgaben also starken Einfluss hatten.5 Und gegen den Ver-
tragscharakter der traditionalen Familie spricht schließlich auch, dass Ehe und
Familie im Kontext patriarchaler Strukturen auch Instrumente zur Absicherung
von Familienmacht und von männlicher Vorherrschaft waren. Generell war die
Ehe stärker in den sozialen Kontext von Familie und Verwandtschaft eingebun-
den als in der Moderne.6 Die traditionelle Ehe war also kein Vertrag (jedenfalls
kein Vertrag zwischen den individuellen Eheleuten), sondern eine Institution im
Kontext sozio-ökonomischer und kirchlicher Normierungen und Familieninte-
ressen; und dort, wo sie vertragsähnliche Elemente hatte, war sie kein Vertrag
zwischen Individuen, sondern zwischen Familien, Gruppen, Verwandtschafts-
verbänden – und das waren dann in der Regel Verträge mit stark politischer, wirt-
schaft licher und sozialer Funktion.
Doch in der Moderne (seit dem 18. Jahrhundert, in England deutlich früher)
setzte sich dann durch verschiedene individualistische Strömungen (Aufk lärung,
Liberalismus, Utilitarismus) immer mehr der Vertragsgedanke im Sinne des so-
zialphilosophischen „Gesellschaftsvertrags“ durch, demzufolge gesellschaft liche
Ordnung dadurch zustande kommt, dass vernünft ige Individuen sich auf ein Re-
gelwerk einigen, wie etwa die Verfassung, oder, auf speziellen Ebenen, Ordnun-
gen für Arbeits-, Kauf- oder Schuldverträge. Das begünstigte auch die Sichtweise,
dass die Ehe (als Basis der Familie) ein Vertrag sein könnte. Deshalb hat sich in
der einschlägigen Debatte die Formel durchgesetzt: „from status to contract“.7 Al-
lerdings gab es auch schon früh feministische Kritik, derzufolge die Ehe zumin-
dest kein gerechter – und damit kein echter – Vertrag sei (Pateman 1988; Gerhard
2005; Young 2008).
Es ist hier nicht der Ort, im Detail auf die verschiedenen historischen Etappen
einzugehen, die der Vertragsgedanke durchlaufen hat und wie er Eingang ins Ehe-
recht gefunden hat. Jedenfalls wurde das aufgeklärte Vernunft recht, insbesondere
stärkt – wenn auch nicht unbedingt aus ideologischen, sondern eher aus ökonomischen
Gründen, wie Goody (1986) zeigt, der die Heiratspolitik der mittelalterlichen Kirche
untersucht hat. Die christliche Kirche hat somit ungewollt dem Vertragsgedanken den
Weg bereitet.
6 Auf die sich erst in der Moderne durchsetzende, im Kulturvergleich außerordentliche
Besonderheit der westlichen Konzeption der Ehe als relativ autonom gegenüber dem
Verwandtschaftssystem (besonders deutlich in den USA) verweist Parsons (1943).
7 Die Formel geht zurück auf Henry Sumner Maine (1861). In traditionalen Gesellschaf-
ten ergibt sich die Rechtsfähigkeit des Individuums aus dem Status (der Zugehörigkeit
zu einer Gruppe), später zunehmend über Vertragsfreiheit. Die Idee des Vertrags, ent-
standen aus dem Naturrecht, sieht den Menschen als Subjekt, das mit Hilfe des Ver-
trags sein Zusammenleben mit anderen disponibel, als „in jeder ihrer Ausformungen
kontingent“ gedacht, gestalten kann (Luhmann 1969, S. 10).
76 Günter Burkart
8 Dennoch halten Juristen grundsätzlich an der Unauflösbarkeit der Ehe fest. Im § 1353
des BGB heißt es: „Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen.“ Allerdings wurde dieser
Satz erst mit dem Übergang zum Zerrüttungsprinzip ins BGB aufgenommen. Dies ver-
weist nicht nur darauf, dass er früher selbstverständlich war, sondern auch, dass die
Funktion der lebenslangen Unauflöslichkeit heute eine andere ist: Sie verhindert nicht
die Scheidung, sondern erklärt, warum auch nach der Scheidung noch Verpflichtungen
(Unterhalt) bestehen (Röthel 2010).
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 77
ker durchgesetzt, und im 20. Jahrhundert wurde sie schließlich zur universellen
Norm, zumindest in der „westlichen“ Welt.9
Die romantische Liebe und die Liebesehe stehen also in einem starken Span-
nungsverhältnis zum Modell des rationalen Vertrags und des ökonomisch-
rationalen Austauschverhältnisses. Sie sind deshalb mit entsprechenden Theorien
nur unzureichend zu erfassen. Eine bessere Möglichkeit, so scheint mir, bietet
sich mit dem Modell des Gabentausches, das aus ethnologischen und historischen
Forschungen abgeleitet ist, und dessen moderne Variante sich in der Theorie der
Praxis wiederfindet.
Für diese Perspektive ist es allerdings unumgänglich, die Bahnen der klas-
sischen Handlungstheorie zu verlassen um jenseits des Methodologischen In-
dividualismus nach alternativen theoretischen Konzepten zu suchen, die Ver-
gemeinschaftungsprozesse in Familien und Paarbeziehungen verständlich
machen. Der Methodologische Individualismus bietet sich natürlich in der kon-
ventionellen Survey-Forschung an, wir haben es in der Regel mit Individual-
daten, häufig mit Selbstaussagen der Individuen über ihre Situation zu tun. Im
Zusammenspiel von Rational-Choice-Theorien und der Individualisierungsdis-
kussion hat das aber auch dazu geführt, Paare und Familien immer häufiger als
Kooperationseinheiten von mehr oder weniger rationalen Individuen, die ihre
Interessen individuell verfolgen, anzusehen. Hier ist zweifellos auch eine Mit-
telschicht-Verzerrung am Werk, d.h. die Situation von Doppelkarriere-Paaren,
wo tatsächlich eine Verfolgung von Eigeninteressen von Mann und Frau stär-
ker ist als in der klassischen Versorgungsfamilie, wird tendenziell zum Nor-
malmodell von Familie überhaupt gemacht – so dass wir häufig das Bild haben,
dass Paarbeziehungen und Familien Verhandlungsarenen sind, in denen die
Beteiligten ihre Individualinteressen verfolgen.
Eine Alternative könnte deshalb sein, im Anschluss an das ethnologische
Gabentausch-Modell eine Theorie familialer Praxis zu entwickeln, die stärker als
die klassische Handlungstheorie auf die Einheit der Vergemeinschaftung ausge-
9 Vgl. zum Beispiel Illouz (2003) für die Verbreitung des Modells der Liebesehe in der
amerikanischen Arbeiterklasse in den 1920er Jahren.
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 79
richtet ist.10 Sie betrachtet soziale Beziehungen zwar auch als Austauschbeziehun-
gen, betont jedoch im Gegensatz zum rationalen Modell des Tausches, wie es auch
dem Vertragsmodell zugrunde liegt, nicht so sehr die unterschiedlichen Interes-
sen rationaler Individuen, die – etwa durch Verhandlungen – ihre individuelle
Kosten-Nutzen-Bilanz optimieren wollen, sondern begreift Austauschprozesse
als symbolische Vergemeinschaftungsakte, bei denen der Tausch die sozialen
Bindungen stärkt.
Huinink und Röhler (2005, S 23ff.) zum Beispiel konstatieren, dass man Liebes-
beziehungen zwar als Austauschbeziehung fassen könne, jedoch nicht im Sinne
der klassischen Tauschtheorie – denn die Haltung, die typisch ist für den Kontext
von Liebe in Paarbeziehungen, unterscheide sich „grundlegend von einem rein
instrumentellen Interesse am Austausch, bei dem nur Leistungen erbracht und
Investitionen getätigt werden, die sich ‚rechnen‘ – sei es nun wegen erwarteter
positiver Nutzeffekte oder wegen hoher Opportunitätskosten aufgrund befürch-
teter Sanktionen“ (Huinink und Röhler 2005, S. 26).11
Das Gabentauschmodell impliziert eine andere Form von Reziprozität, bei der
durch gegenseitige Bezugnahme und Anerkennung eine Stabilisierung der Einheit
gefördert wird. „Im Unterschied zur Ware bzw. zur vertraglich gebundenen Leis-
tung ist die Gabe kein beliebiges, von der Individualität des Gebenden loslösbares
Objekt, sondern Teil seiner Persönlichkeit, die dem Beschenkten über den aus-
getauschten Gegenstand zuteil, gewissermaßen ‚nahegebracht‘ werden soll. Die
Gabe hat also die Funktion, die Bindung des anderen zu stärken, ihn z.B. in Form
von Dankbarkeit und Zuneigung auf das Gemeinsame hin zu verpfl ichten und
der gemeinsamen Beziehung Ausdruck zu verleihen“ (Koppetsch 1998, S. 115). Es
geht um die Stiftung eines gemeinsamen Bandes – und nicht darum, eine gleich-
wertige Gegenleistung zu erhalten. So entsteht eine Ökonomie der Dankbarkeit
(‚economy of gratitude‘), wie Hochschild (1989) formuliert hat. Zwar ist auch in
der Theorie des Gabentausches von Mauss (1923, 1924) die Pfl icht zur Gegengabe
ein wichtiges Element, doch bezogen auf die Liebesbeziehung wird man sagen
können: Gegenliebe lässt sich nicht vertraglich einfordern oder einklagen, weil es
sich dabei nicht um eine rationale, auf Äquivalententausch bezogene Beziehung
handelt. Es geht auch nicht um „Geben und Nehmen“. „Soweit es überhaupt um
‚Geben‘ geht, besagt Liebe deshalb: dem anderen zu ermöglichen, etwas zu geben
dadurch, dass er so ist, wie er ist“ (Luhmann 1982, S. 30). Die Liebesbeziehung lebt
davon, dass der andere als ganze Person, einschließlich seiner negativen Seiten,
anerkannt, unterstützt und bevorzugt und nicht als Summe von positiven und
negativen Eigenschaften betrachtet und bewertet wird.
Eine modifizierte Version der Theorie des Gabentausches ist die Theorie der
Praxis, wie sie vor allem von Bourdieu (1976, 1986) entwickelt worden ist. Sie
scheint mir als Alternative zur klassischen Handlungstheorie geeignet zur Erfas-
sung von Vergemeinschaftungsprozessen in Intimbeziehungen. Diese Theorie ist
auch von der Phänomenologie beeinflusst, deren Potential zur Analyse von In-
timgemeinschaften ebenfalls mehr genutzt werden könnte – auch unter Einbezug
der neueren Emotionsforschung (Landweer 2007; Scheve 2009). Die Theorie der
Praxis ist eine Theorie des symbolischen Tausches, und sie betont die vorsprachli-
chen, nicht-intentionalen und leiblichen Elemente von sozialen Beziehungen. Die
Liebesbeziehung als Praxis in diesem Sinn zu begreifen macht verständlich, dass
es bei ihrer alltäglichen Reproduktion nicht so sehr auf sprachliche Reflexion oder
rationale Argumentation ankommt, sondern auf leibliche Kommunikation. Das
heißt, nicht Vernunft und rationaler Diskurs stehen im Vordergrund, sondern
die „Augensprache“, die Berührung, die „Sprache des Körpers“. Das Begehren
und der Wunsch nach Exklusivität sind nicht kognitiv-rational, sondern in der
körperlich-sinnlichen Erfahrung begründet, und werden in gemeinsamen Erleb-
nissen immer wieder stabilisiert, ebenso wie sich die grundlegende, „unbedingte“
Solidarität („Treue“) nicht auf eine quasi vertragliche Vereinbarung oder eine ex-
plizite moralische Regel zurückführen lässt, sondern durch leiblich-emotionale
Erfahrungen grundiert ist. Die Liebesbeziehung kann so als eine besondere Er-
lebens- und Praxisform begriffen werden, die sich von kognitiv-rationalen und
diskursiv vermittelten Kooperationspraktiken deutlich abhebt. Dazu gehört wei-
terhin, dass sich die Realität der Liebesbeziehung zu einem wesentlichen Teil im
„präsymbolischen“, vorbewussten, ritualisierten Raum abspielt (Langer 1965).
Ritualisierte Praktiken in diesem Sinn sind „in Fleisch und Blut übergegangen“
und wirken latent. Die besonderen Geschehnisse der Liebespraxis sind nicht das
Resultat von individuellen Vorentscheidungen, gemeinsamen Planungen und
Aushandlungsprozessen, sondern sie werden zum Beispiel in einem gemeinsa-
men Erlebnis zum Ausdruck gebracht, durch Kooperation, die keinem rationalen
Plan entspricht, sondern eine gemeinsame Hervorbringung im Sinne „interakti-
ver Emergenz“ darstellt. Es geht darum, eine gemeinsam geteilte Situation und
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 81
eine Atmosphäre herzustellen – eine Art von Vereinbarung zu finden, die nicht
auf kognitive Gehalte rekurriert, sondern auf subtile Abstimmungsprozesse, bei
denen Gesten und Bewegungen, Emotionen und leibliche Interaktionen wesent-
liche Elemente darstellen.
Dass mit diesem Ansatz gewisse methodische Schwierigkeiten aufgeworfen
werden, im Vergleich zur Surveyforschung, die beim kognitiv-rationalen Indivi-
duum ansetzt, ist nicht zu übersehen. Andererseits ist ebenso wenig zu überse-
hen, dass die Liebesbeziehung für die herkömmliche empirische Sozialforschung,
auch die qualitative, schwer zu erfassen ist. Sie verschwindet in empirischen
Untersuchungen über Paarbeziehungen meist unter der diskursiven Oberfläche
der Interviews (von Fragebögen ganz zu schweigen). Hier liegt eine große Heraus-
forderung für die Methodologie der Familienforschung, für das Entwickeln neuer
Methoden.12 Wir haben zum Beispiel in einer unserer Studien den phänomeno-
logischen Begriff der Atmosphäre13 aufgegriffen und konnten damit die besonde-
re Situation im so genannten familistischen Milieu gut beschreiben (Koppetsch
und Burkart 1999, S. 237ff.). Eine familiale Atmosphäre in diesem Sinn lässt sich
natürlich nicht mit einem Fragebogen erfassen, sondern nur mit Methoden der
Feldforschung wie Beobachtung oder Interaktionsanalysen.
5 Das Partnerschaftsmodell
Kommen wir zurück zur historischen Entwicklung und dem Erfolg der Liebes-
ehe. Im Bürgertum gab es von Anfang an Vorbehalte gegen die Liebesehe, be-
sonders bei den Besitzbürgern, die etwas zu vererben hatten und deshalb an einer
„guten Partie“ für die Kinder festhalten wollten. Darüber hinaus gab es auch Vor-
behalte gegen die Unvernunft und Willkür der romantischen Liebe, die zwar eine
Beziehung stiften konnte, aber kaum dafür taugte, den Alltag der Ehe zu organi-
sieren und deren Dauerhaftigkeit zu sichern. Diese Vorbehalte fanden Ausdruck
in einer neuen Idee von Partnerschaftlichkeit, die im 19. Jahrhundert als Leitbild
für die Ehe zunehmend Anklang fand – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund
12 Aus dieser Perspektive werden Methoden der Beobachtung oder der Aufzeichnung von
Interaktionsprozessen viel zu selten eingesetzt. Auch in der qualitativen Forschung
steht häufig das Individuum mit seiner subjektiven Perspektive im Mittelpunkt, etwa
beim biographischen Interview, und nicht die Beziehungsstruktur des Paares.
13 Dieser Begriff wurde in der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz entwickelt
(vgl. dazu Landweer 2008).
82 Günter Burkart
der feministischen Kritik an Liebe und Ehe, derzufolge in der Liebesehe keine Ge-
schlechtergleichheit herrsche (Mitchell 1985; Gerhard 2005).
Partnerschaftlichkeit, wie sie heute vielfach in der Ratgeberliteratur beschrie-
ben wird, strebt Ziele an wie Symmetrie und Gegenseitigkeit (Reziprozität),
Gerechtigkeit und Gleichheit.14 Die Mittel und Wege dazu sind intensive Kom-
munikation, radikale Offenheit (Authentizität), permanente Kooperation (Ver-
handlungsbereitschaft) und grundsätzlicher Machtverzicht. Auch der Verzicht
auf tradierte Regeln gehört dazu: Solche Regeln müssen sich immer wieder dem
rational-kritischen Diskurs stellen. In einer partnerschaft lichen Beziehung müs-
sen also die Bedingungen der Arbeitsteilung und der Zusammenarbeit zwischen
den beiden Partnern ausgehandelt werden. Es gibt keine Privilegien. Partner-
schaft ist eine Vereinbarung auf rationaler Grundlage – und auf der Basis komple-
xer psychologischer Kompetenzen, denn dieses Vertragsmodell ist psychologisch
fundiert. Es geht um die Kommunikation zwischen zwei psychologisch geschul-
ten, selbst-reflexiv kompetenten Individuen, die authentisch über ihre Gefühle
sprechen können, die gelernt haben, ihre Bedürfnisse psychologisch zu bewerten
und sich über moralische Vorgaben und soziale Regeln hinwegzusetzen bzw. die-
se als „traditionell“ oder „konventionell“ zu kritisieren und abzulehnen. Diese
Entwicklung lässt sich im Kontext des Aufkommens einer Therapie-, Reflexions-
und Bekenntniskultur verstehen (Burkart 2006; Illouz 2008).
Der Kontrast zu Beschreibungen von romantischer Liebe ist offenkundig. Die
Liebe favorisiert Verschmelzung und Hingabe (statt individueller Autonomie
und authentischer Selbstexpression), Körperlichkeit (statt Argumentation), „frei-
willige Hingabe“ (statt kontraktueller Gleichheit). Gerechtigkeit, Gleichheit oder
Vernunft sind für die romantische Liebe nur von untergeordneter Bedeutung.
Am Vergleich zwischen Partnerschaft und Liebe lässt sich daher die Logik des
Gabentauschs bzw. die Logik der Praxis gut veranschaulichen. Es ist fraglich, ob
das Partnerschaftsmodell in der Praxis überhaupt funktionieren kann, denn es
macht in letzter Konsequenz die Paarbeziehung (mit oder ohne Ehe) zu einem
Gebilde, in dem zwei autonome Individuen ihre Interessen zweckrational gegen
den anderen verteidigen. Es ist letztlich zu individualistisch gedacht. Das Modell
radikalisiert die Autonomie- und Individualitätsansprüche beider Partner, auch
in der Binnenperspektive des Paares (Burkart und Koppetsch 2001; Bethmann
14 Der Begriff Partnerschaft bzw. Partnerschaftlichkeit wird hier weder als Synonym für
Paarbeziehung im Allgemeinen noch für nichteheliche Partnerschaften verstanden,
wie vielfach in der psychologischen Literatur und im Alltag, sondern als ein mögliches
Leitmodell für die Gestaltung von Paarbeziehungen – etwa in Konkurrenz zur Liebe
oder zum Prinzip der patriarchalen Versorgungsehe.
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 83
2013). Ein Grundproblem ist außerdem, dass hier universalistische Werte (wie
Gerechtigkeit oder Vernunft) von außen, von der öffentlichen Sphäre, in die Pri-
vatsphäre hineingetragen werden.
Partnerschaft ist im Diskurs verbreitet, besonders bei Paaren mit höherer Bil-
dung, hat aber für die Organisation der alltäglichen Beziehungspraxis weniger
Bedeutung (Koppetsch und Burkart 1999; Kaufmann 1994; Bethmann 2013).
Insgesamt kann festgehalten werden, dass Liebe und Partnerschaft nicht leicht
zu vereinbaren sind. Partnerschaft allein reicht weder aus, eine Paarbeziehung
in Gang zu bringen und sie aufrechtzuerhalten, noch ihr Dauer und Tiefe zu ver-
leihen (Leupold 1983). Vor allem als leibgebundene Praxis ist Liebe nicht durch
Partnerschaft ersetzbar.
Gleichwohl hat sich das Partnerschaftsmodell als Leitidee immer stärker durch-
gesetzt, vor allem im Zuge der Beobachtung eines neuen Individualisierungs-
schubes im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (Leupold 1983; Giddens 1993).15
Dies hat auch zu einer Renaissance des Gedankens von Ehe- und Partnerschafts-
verträgen beigetragen. Zwar ist das Partnerschaftsmodell zunächst noch nicht
als konkreter, expliziter Vertrag konzipiert – im Gegenteil: manche Vertreter des
Modells würden die vertragliche Festlegung von Vereinbarungen sogar ablehnen;
für sie muss sich eine Vereinbarung sozusagen jeden Tag aufs Neue bewähren.
Generell taucht hier das Problem auf, dass eine Neigung zu Verträgen in persön-
lichen Beziehungen eine Art strukturelles Misstrauen zum Ausdruck bringt, das
die Grundlage solcher Beziehungen unterhöhlt. Dennoch stärkte die diskursive
Durchsetzung des Partnerschaftsmodells die Tendenz zu konkreten Vertrags-
praktiken und verstärkte auch die Tendenz, Ansprüche an den Gesetzgeber zu
richten, den rechtlichen Rahmen für nicht-eheliche Partnerschaften zu konkre-
tisieren. Insbesondere für solche Paare wurde dies interessant, die vielleicht aus
ideologischen Gründen gegen die Ehe eingestellt waren, aber dennoch eine in-
dividuell gestaltete vertragsähnliche Vereinbarung abschließen oder zumindest
keine rechtlichen oder sonstigen Nachteile gegenüber Verheirateten haben woll-
ten. Seit den 1970er Jahren gibt es deshalb eine neue Welle von Überlegungen und
Modellen zu Partnerschaftsverträgen – zunächst insbesondere für nichteheliche
Paare und für homosexuelle Paare.16 In Frankreich gibt es seit 1999 die Möglich-
15 Scholz (2013) kommt (in einer Analyse von Ratgebern) zu dem Ergebnis, dass sich in-
zwischen eine Art „partnerschaftliche Liebe“ durchgesetzt habe.
16 Die positiven Stellungnahmen für Partnerschaften außerhalb der heteronormativen
Ehe mündeten in Deutschland schließlich in das Gesetz für eingetragene Lebenspart-
nerschaften (2001). Für nichteheliche Lebensgemeinschaften gibt es eine Fülle von Be-
ratungshandbüchern, u.a. in Bezug auf Partnerschaftsverträge (z.B. Grziwotz 2006).
84 Günter Burkart
6 Die „Verhandlungsfamilie“
Bisher war vor allem von den Partnern in einer Beziehung die Rede. Doch in der
Familie sind diese Partner auch Eltern – und das Pendant zum Partnerschafts-
modell ist auf der Ebene der Eltern-Kind-Beziehungen die „Verhandlungsfami-
lie“. Unter der Formel „Von der ,Befehlsfamilie‘ zur ‚Verhandlungsfamilie‘“ fi ndet
sich in der Forschungsliteratur der Familiensoziologie, Familienpädagogik und
Sozialisationsforschung die Diagnose, dass die patriarchalen Machtstrukturen
immer mehr zurückgedrängt wurden, nicht nur in Bezug auf die Geschlechter-
verhältnisse, sondern eben auch bezogen auf die Kinder, die immer stärker als
„Partner“ und gleichberechtigte verhandlungsfähige Akteure im Rahmen fami-
lialer Entscheidungsprozesse betrachtet werden (Bois-Reymond 1994; Ecarius
2002; Ecarius et al. 2011).
Ich nenne stichwortartig einige der Elemente, die in der entsprechenden For-
schung zusammengetragen wurden: Als Leitbild hat sich ein permissiver Erzie-
hungsstil durchgesetzt, der einhergeht mit einem deutlichen Rückgang körper-
licher Bestrafung (Bussmann 2007). Die Stärkung der Eigenverantwortung der
Kinder durch Teilhabe an Entscheidungen führte zu einem Erziehungsstil des Ver-
handelns: Erzieherische Anweisungen werden nicht mehr als Befehle markiert,
sondern als Empfehlungen und pädagogische Ratschläge – und diese müssen
begründet werden, wenn das Kind keine Bereitschaft erkennen lässt, ihnen zu
folgen. Damit ist eine Zunahme von Verhandlungsspielräumen für die Kinder
verbunden, wenn sie mit Anweisungen der Eltern konfrontiert sind. Kinder wer-
den von Befehlsempfängern zu ernstzunehmenden Interaktionspartnern, an die
Stelle von Anweisungen und Gehorsam sind freie Persönlichkeitsentfaltung und
eigenverantwortliches Handeln getreten.
17 „Zur allgemeinen Überraschung wurde der Pakt [PACS = pacte civil de solidarité] nicht
so sehr von Schwulen und Lesben in Anspruch genommen“, sondern vor allem von he-
terosexuellen Paaren. 2010 seien mehr als 200.000 Zivilpakte, aber nur noch 250.000
neue Ehen geschlossen worden (Fabian Leber, Gemeinschaft in der Gemeinschaft,
Der Tagesspiegel, 6.3.2013, S. 6). Vgl. dazu auch den Artikel des statistischen Amtes in
Frankreich, „Bilan demographique 2009: Deux pacs pour trois mariages“ (http://www.
insee.fr/fr/themes/document.asp?ref_id=ip1276) Zugegriffen: 8.März 2013
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 85
Die Vorstellung der „Verhandlungsfamilie“ ist nicht nur auf die Sozialisierung
der Kinder beschränkt, sondern lässt sich allgemein auf die Generationsbeziehun-
gen in Familienverbänden beziehen. In den letzten Jahren hat die entsprechende
Forschung ein hohes Maß an wechselseitiger Solidarität zwischen den Familien-
generationen festgestellt, aber auch gezeigt, dass viele Transferleistungen je nach
Familienkonstellation ausgehandelt werden (Kohli und Szydlik 2000; Lüscher
und Liegle 2003; Lauterbach 2004).20 Auch die Forschungen zu Scheidungsfolgen
und Stieffamilien haben gezeigt, dass tradierte Regeln der Verwandtschaftsbe-
ziehungen nicht mehr uneingeschränkt gelten (Sieder 2008; Steinbach 2010). Die
damit gesteigerte Komplexität von Familienbeziehungen spricht für mehr Ver-
handlungen und weniger starre Regeln – gerade in den kompliziert gewordenen
Verwandtschaftsbeziehungen muss vieles entschieden werden, was früher durch
die „Terminologie“ vorbestimmt war. Gleichwohl zeigt die Generationsforschung
insgesamt aber auch, dass Generationsbeziehungen nicht dem Modell des ratio-
nalen Vertrags folgen, sondern eher dem Modell des Gabentausches.
7 Fazit
Als allgemeine Tendenz lässt sich also festhalten: Es gibt in historischer Pers-
pektive immer mehr Aushandlungsprozesse in privaten Beziehungen. Die Paar-
beziehung scheint immer mehr zu einer Verhandlungsarena geworden zu sein.
Damit hat sich auch eine Tendenz der Kontraktualisierung des Privatlebens und
der zunehmenden Vertragsförmigkeit von persönlichen Beziehungen bemerkbar
gemacht. Diese Entwicklung wurde gefördert durch den langfristigen Struktur-
wandel von Ehe und Familie im Sinne einer Schwerpunktverlagerung von der
Familie hin zum konjugalen Paar (der relativen Loslösung des Paares aus dem
Familienverband), weil dadurch den Paaren mehr Autonomie über ihre eigenen
20 Das gilt auch für Übergaberegelungen bei Familienbetrieben (Stamm 2013, Stamm et
al. 2011). Bei der Frage der Betriebsnachfolge stellte Stamm (2013, S. 310) zum Beispiel
fest, dass sich seit den 1980er Jahren allmählich die Selbstverständlichkeit auflöste, mit
der die Kinder in Unternehmerfamilien zur Nachfolge „erzogen“ (und häufig gedrängt)
wurden. Die Selbstverständlichkeit, mit der früher die Lebensplanung von Unterneh-
mersöhnen ganz auf die Betriebsübernahme ausgerichtet war, ist in historischen Stu-
dien belegt (z.B. Groope 2004). Durch den Abbau des Patriarchalismus ist heute die
Nachfolgeregelung ein offenerer Prozess. Es ist komplizierter geworden herauszufin-
den, wer am besten für die Nachfolge geeignet ist. Und im Zweifelsfall wird der Betrieb
eher verkauft, als dass ein möglicherweise ungeeigneter Nachkomme „zur Übernahme
bzw. Weiterführung verpflichtet oder gezwungen wird“ (Breuer 2009, S. 276).
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 87
der Liebe und Solidarität, der Fürsorge und Hingabe. Hier ist für Berechnung
und rationale Verhandlung wenig Platz, kontraktuelle Gleichheit ist in Liebes-
beziehungen nicht von Belang, ebenso wenig wie völlige individuelle Autonomie
und formale Gerechtigkeit.
Private und höchstpersönliche Beziehungen (nichteheliche und eheliche Paar-
beziehungen sowie Familien) können deshalb nur bedingt der Logik von Vertrag
und Verhandlung folgen. Ihre eigentliche Charakteristik ist vielleicht besser zu
verstehen, wenn man nicht versucht, sie mit Hilfe von Verhaltensmodellen aus
Ökonomie und rationaler Psychologie zu beschreiben, sondern mit dem aus der
Kulturanthropologie stammenden Modell des Gabentausches, einer Ökonomie
des Schenkens, deren scheinbar vormoderne Logik auch in der modernen Gesell-
schaft ihre Berechtigung hat.
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Romantische Liebessemantik im Wandel?
1 Einleitung
„Wann kommt denn endlich der blöde Prinz auf seinem dämlichen Gaul?“ Schon
dieser Titel eines aktuellen Ratgebers, wenn auch ironisch gebrochen (vgl. Reiners
2013, S. 150), legt nahe, dass auch in der Gegenwart die romantische Liebensse-
mantik weiterhin von hoher Relevanz ist. Das Bild des Prinzen auf seinem Pferd
ist eine kulturell weit verbreitete Metapher, mit der die Suche nach dem/ der ‚rich-
tigen‘ einzigartigen Partner/in zum Ausdruck gebracht wird: Zwei, die sich fin-
den, um dann dauerhaft zusammen zu bleiben. Ebenso kann trotz aller entgrenz-
ten Sexualität der mehrteilige Mega-Bestseller „Shades of Grey“ (James 2012) mit
der Verklärung der Individualität der beiden Hauptfiguren, dem bedingungslo-
sen Anspruch auf Exklusivität und einer völligen Entwertung der Umweltbezüge
als ein Musterbeispiel für die Kontinuität der romantischen Liebe gelesen werden.
Sind das Ausnahmen? Gibt es überhaupt einen Wandel der romantischen
Liebessemantik? Wie aber passen diese Phänomene mit der heute vielfach ver-
tretenen These eines Niedergangs der romantischen Liebe zusammen? Diesen
Fragen wollen wir in dem folgenden Beitrag genauer nachgehen. Dafür wenden
wir uns zunächst der Liebe als Gegenstand der Soziologie zu. Da das, was unter
romantischer Liebe verstanden wird, durchaus stark variieren kann, werden wir
im zweiten Abschnitt zentrale Charakteristika dieses Kulturmusters darstellen
und auf semantische Traditionslinien hinweisen, die vielfach vernachlässigt wer-
den. Ausgehend von unterschiedlichen Positionen zum aktuellen Wandel der Lie-
bessemantik werden wir im dritten Abschnitt unser eigenes Forschungsdesign
vorstellen. Zentrale Ergebnisse unserer Analyse von populären Ehe- und Bezie-
hungsratgebern folgen im vierten Abschnitt. Im abschließenden Fazit verdichten
wir unsere Ergebnisse in der These der Verschiebungen innerhalb der romanti-
schen Liebessemantik.
In der Soziologie dominiert die These, dass Liebe ein kulturgebundenes Phäno-
men ist. Mit großer Ausstrahlungskraft wird diese These von Luhmann in seinem
Buch „Liebe als Passion“ vertreten, das in der Erstauflage 1982 erschienen ist (vgl.
auch Sommerfeld-Lethen 2008). Dieses Buch ist eingebettet in Luhmanns um-
fangreiche Studien zur Gesellschaftsstruktur und Semantik. Unter Semantik ver-
steht Luhmann (1980) den in einer Gesellschaft verfügbaren Sinnvorrat. Er geht
von der Prämisse aus, dass es im Übergang von einer stratifi katorischen zu einer
funktionalen Systemdifferenzierung mit der Autonomisierung der Funktionssys-
teme zu einem tiefgreifenden Wandel der bestimmenden Semantik gekommen
ist. In seiner historisch-theoretischen Studie, die sich von der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erstreckt, wird schwergewichtig der Über-
gang der Liebessemantik von der „amour passion“, die Luhmann in Frankreich
lokalisiert, zur romantischen Liebe beschrieben.
Diese Auffassung wendet sich gegen die Universalismusthese der Liebe, die
in der amerikanischen Personal-Relationship-Forschung vorherrschend ist. So
schreiben Aron, Fisher und Strong (2006, S. 595) in ihrem Überblicksartikel im
„The Cambridge Handbook of Personal Relationships“: „Romantic love appears to
be a nearly universal phenomenon, appearing in every culture for which data are
available [...] and in every historical era“. Und die stark durch die Evolutionsbiolo-
gie beeinflusste Autor/innengruppe fährt unmittelbar fort: „Analogs to romantic
love are found in a wide variety of higher animal species, and love may well have
played a central role in shaping human evolution“ (Aron et al. 2006, S. 595).
Aus einer soziologischen Perspektive lassen sich zumindest zwei Kritikpunkte
an der Universalitätsthese identifizieren. Erstens wird in den Arbeiten, die diese
These vertreten, der historische Kontext der jeweiligen Aussage zu Liebe vernach-
lässigt; lediglich interessiert, was diese Aussagen dem heutigen Leser beziehungs-
weise der Leserin sagen. Exemplarisch kann dies an der für die Personal-Rela-
tionship-Forschung bedeutsamen Studie von Lee „Colours of Love“ (1973) gezeigt
werden. Lee (1973) hat eine umfangreiche Sammlung bekannter beziehungsweise
besonders prägnanter Äußerungen zu Liebe über einen langgestreckten Zeitraum
von Platon bis Freud zusammengestellt. Er war aber weder an den Autor/innen
Romantische Liebessemantik im Wandel? 95
be verknüpft er mit einer Analyse der modernen Gesellschaft (vgl. Oakes 1989)
und gibt damit ein Thema vor, das in der gegenwärtigen Soziologie in breitem
Umfang aufgegriffen wird. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich, so Simmel
(1985), durch eine fortschreitende Differenzierung und Individualisierung aus,
die zu einer Bedeutungssteigerung persönlicher Beziehungen führt. Dieser starke
Individualisierungsschub finde auch Niederschlag in einer neuen Form der Lie-
be, die in modernen Gesellschaften dominant werde. Die primäre Ausrichtung
an der Individualität des Anderen bildet für Simmel das Kernstück der romanti-
schen – oder wie es Simmel selbst nennt – „absoluten Liebe“ (Simmel 1985, S. 243).
Diese Vorarbeiten der Klassikergeneration wurden in der Soziologie lange Zeit
nicht fortgeführt, Emotionen wurden als Gegenstand der Soziologie stark ver-
nachlässigt. Die Norm der affektiven Neutralität, die im öffentlichen Leben do-
minant ist, war Grundlage der soziologischen Analyse und das auch dann, wenn
private Lebensformen den Gegenstand bildeten. Burkart (1998, S. 27) hat noch
Ende der 1990er Jahre festgestellt, dass „die Liebe in der Familienforschung“ ein
„blinder Fleck“ ist. Erst die beiden von ihm mit Hahn (1998, 2000) herausgege-
benen Bände haben Liebe in diesem Forschungskontext ausführlich zum Gegen-
stand gemacht. Dazu beigetragen hat auch die seit den 1980er Jahren zunächst vor
allem in den USA als eigenständiges Forschungsgebiet etablierte „Soziologie der
Emotionen“ (als Überblick vgl. Gerhards 1988; Flam 2002).
In der Flut von Publikationen über Liebe gleichen die soziologischen Arbei-
ten sprichwörtlich einer Stecknadel im Heuhaufen. Bormans (2013) teilt in „The
World of Love“ mit, dass Google in einer Sekunde zum Thema Liebe 8.930.000.000
Suchergebnisse liefert. Die Mehrzahl an Filmen, Romanen und Lieder kommen
ohne das ‚Mega-Thema‘ Liebe nicht aus. Die Flut an Ratgeberliteratur zeigt, dass
es darüber einen schier unersättlichen Informations- und Verständigungsbedarf
gibt. Was ist Liebe? Woran erkennt man die richtige Liebe? Wie kann Liebe auf
Dauer gestellt werden? Das sind einige der Frage, die bereits in der griechischen
Antike und auch heute fortlaufend aufgeworfen werden und offenkundig eine
immerwährende Aktualität haben. Auch eine große Anzahl von Wissenschafts-
disziplinen befasst sich mit Liebe, darunter die Literaturwissenschaften, Me-
dienwissenschaften, Psychologie, Anthropologie, Sexualforschung oder auch die
Neurowissenschaften und Biochemie. Dies wirft durchaus die berechtigte Frage
auf, ob sich die Soziologie auch noch daran beteiligen solle und was sie genuin
dazu beitragen kann?
Als Beobachtungswissenschaft kann die Soziologie aus unserer Perspektive
die gesellschaft liche Produktion von Dokumenten zum Gegenstand machen.
Statt sich in die unendliche Kette von Deutungsversuchen von Liebe einzurei-
hen, kann die Soziologie eine Metaperspektive einnehmen und aufzeigen, welche
Romantische Liebessemantik im Wandel? 97
(4) Durch die romantische Liebe wird eine Einheit von sexueller Leidenschaft
und affektiver Zuneigung oder – wie es Kluckhohn (1966, S. 607) formuliert – „von
körperlichem und sinnlichem Liebeserleben“ hergestellt. Die Liebe bietet die Basis
für ein leidenschaft liches sexuelles Erleben und ist zugleich auch ihr überzeu-
gendster Ausdruck.
(5) Die neue Liebessemantik umfasst das Postulat der Einheit von Liebe und
Ehe. Liebe und Ehe sind nicht länger getrennte und unvereinbare Erfahrungs-
bereiche. Liebe wird zur einzig legitimen Begründung einer Ehe und es wird
gefordert, dass sie auch in der Ehe ihren Fortbestand hat. Mit diesem neuen Pos-
tulat ist eine vehemente Kritik an den meisten bürgerlichen Ehen verbunden, die
dieser Forderung nicht genügen.
(6) Zudem wird die Elternschaft integriert. Über die Elternschaft erfährt die
auf Liebe gegründete und durch sie getragene Ehe ihre letzte Vollendung. Durch
das Kind wird die Beziehung auf die höchste erreichbare Stufe gestellt, „hat das
Heiligtum der Ehe“, so Julius in einem Brief an Lucinde, „mir das Bürgerrecht im
Stande der Natur gegeben“ (Schlegel 1985, S. 83).
Kontrovers diskutiert wird das mit der romantischen Liebessemantik ver-
bundene Frauenbild. In einigen Bestimmungsversuchen wird davon ausgegan-
gen, dass die romantische Liebe mit der Polarisierung der Geschlechtscharaktere
verknüpft ist, wie diese von Karin Hausen (1976) beschrieben wurde (vgl. etwa
Weigel 1983). Die Gegenposition geht davon aus, dass in der Romantik ein stark
an Gleichheitsprinzipien orientiertes Bild der Geschlechter vertreten wurde, wie
etwa Rehme-Iffert (2001) für Schlegel (1771-1829), der als einer der großen ‚Theo-
retiker‘ der Romantik gilt (vgl. Safranski 2009), aufzeigt. Argumentiert wird, dass
die Frau nicht mehr nur verehrt und idealisiert wurde, sondern ihre Gefühle nun
als ebenso wichtig galten wie die des liebenden Mannes. In der Romanliteratur
des 18. Jahrhunderts wurde die Frau als autonomes Gefühlssubjekt entworfen,
das das Recht auf ein ‚Nein‘ in Liebesangelegenheiten hat (vgl. Tyrell 1987).
Seit dem 19. Jahrhundert hat die romantische Liebe einen – wie es Tyrell (1987,
S. 591) formuliert – „ungeheuren Kulturerfolg“ zu verzeichnen. Bei dem Versuch,
diesen nachzuzeichnen, ist es unerlässlich, romantische Liebe als literarische Idee,
die hier als Idealtypus rekonstruiert wurde, strikt von ihrer Umsetzung in Leit-
vorstellungen und normativen Vorgaben für Zweierbeziehungen, also in Bezie-
hungsnormen, zu unterscheiden. Diese Umsetzung des literarischen Programms
auf die Ebene von Beziehungsnormen in beziehungsrelevante Orientierungs-
vorgaben für Paare erfolgte sukzessive in fortschreitenden Realisierungsstufen,
wie die Eheratgeber des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen. Der große Kulturerfolg
der romantischen Liebe war nur in einer ‚entschärften‘ Fassung möglich, die erst
Schritt für Schritt wieder erweitert werden konnte. Einen ersten Niederschlag
100 Karl Lenz & Sylka Scholz
S. 13) formuliert, „untergründige Beziehung zur Religion“ pflegte und der entzau-
berten Welt der Säkularisierung entkommen wollte. Die Romantik entlehnt die
hohe Bewertung der Liebe aus dem christlichen Kontext und führt eine folgen-
reiche Verschiebung herbei. Die Liebe richtet sich nicht auf Gott und davon abge-
leitet auf den Nächsten, sondern auf eine einzigartige Person, die in innerweltlich
gewendeter religiöser Ekstase geliebt wird. Im Zentrum der romantischen „Reli-
gion der Liebe“ (Hartlieb 2006, S. 130) steht die Liebesehe: „In der Liebesvereini-
gung verschmelzen Mann und Frau zu einer Einheit, die Himmel und Erde, Ver-
gangenheit und Zukunft verbindet, kurz: die Welt und Ich in der Anschauung des
Universums zusammenhält“ (Hartlieb 2006, S. 130). Zugleich wird darin auch die
Differenz zur Religion deutlich, da die romantische Liebe als sexuell-erotische im
radikalen Kontrast zur negativen Bewertung der Sexualität im Christentum steht.
Aber nicht nur vermittelt über das Christentum, sondern auch eigenständig
haben die griechische Antike und ihr Liebesverständnis auf die Romantik einen
starken Einfluss ausgeübt. Die griechische Antike stand in der Romantik hoch im
Kurs, wie Friedrich Hölderlins Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Grie-
chenland“ (orig. 1797–1799) exemplarisch zeigt. Platon und sein Werk „Sympo-
sion“ haben starke Spuren in diesem Werk hinterlassen. Zusammenfassend lassen
sich vor allem drei Sinnmuster identifizieren, die aus dem griechischen Liebes-
diskurs übernommen wurden: (1) Fest eingeschrieben ist der romantischen Liebe
das Streben nach einer Einheit, wie sie mit dem Mythos vom Kugelmenschen im
„Symposium“ vorgetragen wurde. Dass sich ‚Zwei‘ und genau diese Zwei finden,
ist kein Zufall: Sie gehören – wie die beiden getrennten Hälften – schicksalsmäßig
zusammen, weil nur sie in ihrer besonderen Individualität eine Einheit bilden
und füreinander eine unersetzbare Höchstrelevanz besitzen. (2) Aus der Diotima-
Lehre aus diesem Werk wird das Streben nach Schönheit und dem Guten über-
nommen. Dieses gewinnt Gestalt in der anfänglich maßlosen Idealisierung der
geliebten Person, in der durchaus auch Aspekte der Verherrlichung der begehrten
Frau aus der höfischen Liebe fortleben. (3) Aus dieser Lehre wird auch die Kop-
pelung des Strebens nach Einheit mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit aufge-
griffen. Die romantische Liebe dient nicht nur dazu, Einsamkeit zu überwinden,
sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen oder die Generationenabfolge sicherzustellen.
Ihr eigen ist auch der Anspruch auf ewige Dauer.
102 Karl Lenz & Sylka Scholz
(3) Bedeutungssteigerung der romantischen Liebe: Für Beck (1990) ist die ro-
mantische Liebe nicht im Niedergang, sondern heute so wichtig wie noch nie. Die-
se Bedeutungssteigerung resultiert für ihn aus einem neuen Individualisierungs-
schub in den 1970er Jahren. Mit der Freisetzung der Individuen aus traditionellen
Zwängen und der ‚Entzauberung‘ der Welt werde die Liebe zur „paßgerechten
Gegenideologie der Individualisierung“ (Beck 1990, S. 239). Als „Monopol auf
erlebbare Sozietät“ (Beck 1990, S. 135) soll die Liebe jene Sinnstiftung leisten, zu
der die Religion für viele nicht mehr in der Lage ist: Liebe gewinnt bei Beck im
Relevanzsystem der Individuen eine Bedeutung, die bislang nur die Religion für
sich in Anspruch nehmen konnte.
(4) Verschiebungen innerhalb der romantischen Liebessemantik: Diese Position
richtet sich sowohl gegen die These der Bedeutungssteigerung von romantischer
Liebe wie auch gegen die These ihres Niedergangs (vgl. Lenz 1998). Argumen-
tiert wird, dass die Liebesvorstellungen der Gegenwart das Resultat zweier wider-
sprüchlicher Entwicklungen seien: Es zeigen sich Tendenzen der romantischen
Steigerung als auch des Verlustes romantischer Sinngehalte. Im Sinne einer weiter
fortgeschrittenen Realisierung ist die Liebessemantik dem literarischen Ideal der
romantischen Liebe einerseits näher gerückt, andererseits hat sie sich von diesem
auch entfernt.
Für alle diese Thesen gilt, dass sie nicht das Ergebnis von empirischen Studien
sind, sondern aus Theoriekontexten abgeleitet sind, wie dies ausgeprägt bei Luh-
mann (1982), aber auch bei Beck (1990) der Fall ist, oder aus einer empirischen
Gesamtschau resultieren. Es fehlen bislang auch Studien, welche die Gültigkeit
der Aussagen überprüft haben. Diesem Forschungsdesiderat möchte unser ge-
meinsames Forschungsprojekt entgegenwirken, dass im Rahmen des Sonderfor-
schungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ durchgeführt wurde. Vor
dem Hintergrund tiefgreifender Transformationsprozesse privater Lebensformen
hat sich das Teilprojekt mit den kulturellen Voraussetzungen für die Stabilität
von Paarbeziehungen befasst. Während zum Wandel privater Lebensformen fa-
miliendemografische und sozialstrukturelle Studien stark dominieren, hat sich
dieses Projekt mit der kulturellen Fundierung von Zweierbeziehungen befasst.
Naheliegend bildete die Liebessemantik einen zentralen Schwerpunkt. Als Mate-
rialgrundlage wurden für einen deutsch-deutschen Vergleich, beginnend mit den
1950er Jahren bis in die Gegenwart sowohl beliebte Spielfi lme wie auch populä-
re Ehe- und Beziehungsratgeber verwendet. Methodisch orientieren wir uns am
Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse, wie es Keller (2007, 2008)
entwickelt hat und das von uns für die beiden besonderen Materialgruppen ad-
aptiert und weiterentwickelt wurde. Auf die methodische Vorgehensweise soll
an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da wir diese an anderer Stelle
104 Karl Lenz & Sylka Scholz
(Scholz und Lenz 2013) ausführlich dargestellt haben. Für diesen Beitrag stützen
wir uns auf die Ratgeberanalyse.1 Ausgehend von dem Grundsample von über 900
Ratgebern, die in Ost- und Westdeutschland publiziert wurden, haben wir mithil-
fe von Auflagezahlen und verschiedenen Verkaufslisten 29 Long- und Bestseller
von Beziehungsratgeber für die Analyse ausgewählt.
Das alles dominierende Thema der Ratgeber ist die Frage, wie die Stabilität von
Paarbeziehungen möglich ist. Unterschiedlich sind zwar die Diagnosen, was den
Bestand einer Paarbeziehung gefährden könnte. Das übergreifende Ziel der viel-
fältigen Lösungsansätze ist es aber, Kontinuität und Qualität der Zweierbezie-
hung sicherzustellen. Dazu werden zahlreiche praktische Ratschläge entfaltet.
Wir werden im Folgenden die in den Lösungsansätzen enthaltenen diskursiven
Deutungsangebote bezüglich der idealen Lebensform, den Konstruktionen von
Sexualität und Geschlecht herausarbeiten und die damit in Verbindung stehen-
den – expliziten und impliziten – Vorstellungen von Liebe aufzeigen.
Über den gesamten untersuchten Zeitraum, also von 1950er Jahren bis zur Gegen-
wart, gilt die Ehe als die ideale Lebensform. Wie selbstverständlich wird dabei die
Liebe als Voraussetzung für eine Ehe (oder Paarbeziehung) aufgefasst. Fortge-
schrieben wird das in der Romantik entstandene Konstrukt der Liebesehe, ohne
– dies ist ein Spezifi kum der Ratgeber – explizit auf die Romantik zu rekurrieren.
Dieses romantische Liebeskonstrukt, das historisch erstmals Liebe und Ehe mit-
einander verbindet, wird im Zeitverlauf der Untersuchung jedoch durch andere,
sich verändernde Legitimationen gestützt und in Geltung gesetzt.
1 Zu den Spielfilmanalysen vgl. Scholz, Kusche, Scherber N., Scherber S., und Stiller
(2014) sowie Scholz und Lenz (2014). Die Gesamtergebnisse der Ratgeberanalysen sind
in dem Band „In Liebe verbunden. Zweierbeziehung und Elternschaft in populären
Ratgebern von den 1950ern bis heute“ (Scholz et al. 2013) publiziert. Der vorliegende
Abschnitt fasst zentrale Ergebnisse zusammen. Auf weiterführende Artikel in unserem
Buch wird an den entsprechenden Stellen verwiesen.
Romantische Liebessemantik im Wandel? 105
Die Ehe galt in den 1950ern in Ost- und Westdeutschland als ein ‚soziales
Muss‘ und als der einzige legitime Ort einer Zweierbeziehung. In den meisten
westdeutschen Eheratgebern der 1950er Jahre wurde die Ehe zudem als eine sak-
rale Institution verstanden (vgl. auch Eckardt 2013). Sie wurde mit Rekurs auf die
symbolische Sinnwelt der christlichen Religion, evangelischer oder katholischer
Provenienz, legitimiert und erhielt einen Sinn, der über sie hinausweist, sie trans-
zendiert und auf diese Weise stabilisiert.
Angesichts einer recht weit fortgeschrittenen Pluralisierung der Lebensfor-
men (vgl. etwa Peuckert 2008) ist nun bemerkenswert, dass in den Ratgebern aus
den 2000er Jahren weiterhin die auf Liebe beruhende Ehe als Lebensform favo-
risiert wird. Hans Jellouschek, der bekannteste deutsche „Paartherapeut und Be-
ziehungspapst“ (Nuber 2007, S. 45), rät in seinen zahlreichen Ratgebern, die Be-
ziehung klar zu definieren, um sie auf Dauer zu stellen, und deshalb die Ehe als
Ritual zu schließen: „Ich bin dein Mann, du bist meine Frau. Wir sind ein Paar.
Diese Definition verspricht Verbindlichkeit“ (Jellouschek 2008, S. 14). Auch Eva-
Maria Zurhorst, Beziehungstherapeutin, plädiert in ihrem äußerst erfolgreichen
Ratgeber „Liebe Dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“ aus dem Jahr 2004
für die Eheschließung: „Ich bekenne mich zu dieser so leidenschaft lichen Hom-
mage an die gute alte Ehe“ (Zurhorst 2004, S. 73).
Die Eheschließung ist nun eine individuelle, aber angeratene Option geworden
und die Ehe ist auch keine sakrale Institution mehr. Der Bedeutungsverlust der
Religion in der Gesellschaft wird aber durchaus negativ thematisiert. Der Paar-
therapeut und promovierte Theologe Hans Jellouschek konstatiert: „Früher war
die eheliche Gemeinschaft durch Weltanschauung und Religion abgesichert. Die
kirchliche Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe war zugleich eine gesellschaft-
liche und lange Zeit auch eine rechtlich verbindliche Norm“ (Jellouschek 2007,
S. 16f.), deshalb ist für ihn auch die Stabilität der Ehe gefährdet. Die Paare sollen
heiraten wie seinerzeit in der Kirche. „In diesem Sinne fi nde ich es höchst an-
gemessen, wenn Paare sich, wie es in den Hochzeitsritualen beider christlicher
Kirchen vorgesehen ist, diese Verbindlichkeit zusagen: ‚Bis der Tod uns scheidet‘“
(Jellouschek 2008, S. 22). Das Zitat verweist auf die Notwendigkeit eines sym-
bolischen Sinnüberschusses, der die Gegenwart des einzelnen Paares überschrei-
tet oder – anders ausgedrückt – transzendiert, um die Beziehung auf Dauer zu
stellen. Hans Jellouschek rekurriert auf religiöse Legitimationsmuster, er plädiert
nicht für die Rückkehr zu einer festen religiösen Ordnung, ist aber auf der Suche
nach einem funktionalen Äquivalent.
Im Kontrast zu den 1950er Jahren werden Trennungen nicht mehr tabuisiert,
Scheidungen gelten als legitimer Ausweg aus unbefriedigenden Beziehungen. So
formuliert etwa Arnold Retzer zum Abschluss seiner programmatischen Streit-
106 Karl Lenz & Sylka Scholz
schrift „Lob der Vernunftehe“ Regeln für das „vernünft ig[e] Schluss machen“
(Retzer 2009, S. 252). Gleichwohl ist es das Ziel der Ratgeberautor/innen, Tren-
nungen durch Hinweise und Tipps zu vermeiden. Die kulturelle Leitidee der ro-
mantisch fundierten ‚Liebesehe‘ bleibt demnach auch das zentrale Deutungsan-
gebot in den 2000er Jahren, um eine Zweierbeziehung auf Dauer zu stellen. Sie
wandelt sich jedoch von der ‚Liebesehe als sozialem Muss‘ in den 1950er Jahren
hin zu einer ‚Liebesehe als beste Option‘. Bewusst und reflexiv sollen sich Paare
entschließen, ihrer Beziehung eine „Ordnung“ (Jellouschek 2007, S. 21) zu verlei-
hen. Dies geschieht als eine „Hommage“ (Zurhorst 2004, S. 73) an die Ehe, welche
längst in der Gesellschaft ihre Monopolstellung eingebüßt hat.
Betrachtet man die Konstruktionslogik von Liebe genauer, ist als erstes Resul-
tat festzuhalten, dass übergreifend von den 1950ern bis zur Gegenwart Liebe als
„Entwicklungsprozess“ (Jellouschek 2007, S. 18) entworfen wird. Diese Konstruk-
tion beinhaltet ein spezifisches Deutungsangebot für die Leser/innen, mit den in-
stabilen Gefühlen von Verliebtheit und Liebe in der Alltagspraxis umzugehen:
Die Paarbeziehung werde in der Regel durch Verliebtheit konstituiert – in den
Ratgebern oft als ‚romantische Liebe‘ diskreditiert –, die ‚wirkliche‘, ‚wahre‘, ‚reife‘
Liebe müsse sich aber erst im Verlauf der Beziehung herausbilden, nur sie könne
Dauerhaftigkeit garantieren.
Obwohl in den Ratgebern vordergründig eine Ablehnung des „romantischen
Rausches“ (Zurhorst 2004, S. 132) erfolgt, setzt, dies ist das zweite Resultat, ein
‚hintergründiger Rekurs auf romantische Liebe‘ zentrale Charakteristika des mo-
dernen Liebeskonstrukts in Geltung. So wird die Liebe mit einer individuellen
Entwicklung verknüpft. „Der ‚richtige‘ Partner an Ihrer Seite kann Sie durch seine
Liebe und sein Vertrauen und das Zulassen Ihrer Liebe und Ihres Selbst zu un-
geahnten Höhen führen und zu Leistungen motivieren, die Sie vorher nicht für
möglich gehalten haben“ (Deißler 2010, S. 63). Zwei (moderne) Individuen bestär-
ken sich einander in ihrer Einzigartigkeit gegenseitig, indem der jeweils andere
zu einem wichtigen Bestandteil der individuellen Weltsicht des einen wird. An
dieser und ähnlichen Stellen in den Ratgebern wird ein Bedeutungsaufschwung
der Individualität sichtbar, der sich als eine Steigerung der romantischen Liebes-
semantik interpretieren lässt.
Jedoch argumentieren die Ratgeberautor/innen gegen die „totale Verschmel-
zung“ (Christinger und Schröter 2012, S. 36) des Paares. Betont wird die Gefahr,
die eigene individuelle Entwicklung aufs Spiel zu setzen und die Überforderung
Romantische Liebessemantik im Wandel? 107
der Beziehungspersonen durch das romantische Liebesideal, sollen doch die Be-
ziehungspersonen „Leidenschaft und Romantik, Sex und Freundschaft, fami-
liärer Alltag und spiritueller Austausch“ (Christinger und Schröter 2012, S. 34)
miteinander erleben. Vor diesem Hintergrund kann romantische Liebe „stets nur
eine Leidensgeschichte“ (Christinger und Schröter 2012, S. 36) sein. Die sozia-
le Umwelt des Paares wird aufgewertet: Während im literarischen Ideal der Ro-
mantik Liebe auf Zweisamkeit pur angelegt war und die Außenwelt nur in ihrem
Störungspotenzial thematisiert wurde, werden Umweltbezüge nun zur Voraus-
setzung des dauerhaften Liebesglücks. So gilt bereits für die Partnerwahl: „Er soll
Freunde und Hobbys haben, unabhängig sein, aber Zeit für mich haben und sich
in meinen Freundeskreis integrieren“ (Deißler 2010, S. 59). Das Bedürfnis nach
Anerkennung und Bestätigung der eigenen Person soll nicht nur durch die Bezie-
hungsperson gewährleistet werden, sondern sich auch aus anderen Quellen spei-
sen. Die Liebe wird auf diese Weise ein Lebensbereich neben anderen und umfasst
nicht mehr das ganze Leben oder die Gänze der Person. In dieser Hinsicht lässt
sich ein eklatanter Bedeutungsverlust der romantischen Liebe konstatieren.
In den untersuchten Ratgebern wird – dies lässt sich als drittes Ergebnis fest-
halten –‚Liebe als Transzendenz‘ konstruiert, die individuelle Paarliebe wird
überschritten und mit einem Sinnüberschuss ausgestattet. Dies ist keine Erfi n-
dung der Ratgeberautor/innen, sondern die Liebe ist in den verschiedensten Lie-
bessemantiken mit Überschreitungen der Alltagsrealität verbunden, ja Liebe ist
eine Transzendenzkonstruktion. Dies gilt insbesondere für das Konstrukt der
romantischen Liebe, in dem die individualisierte Liebe zwischen zwei Menschen
sakralisiert und als eine Art Liebesreligion fungiert. In den westdeutschen Ratge-
bern der 1950er Jahre erfolgt diese Überschreitung meist mit Bezug auf die christ-
liche Religion (vgl. auch Eckardt 2013), in den ostdeutschen, darauf sei zumindest
verwiesen, durch Verweis auf die wissenschaft liche Weltanschauung (vgl. Dreßler
2013). In aktuellen Ratgebern wandeln sich die Legitimationen. Arnold Retzer
(2009) beschreibt in seiner Streitschrift „Lob der Vernunftehe“ die Liebe als et-
was, auf das die Menschen nur bedingt Zugriff haben, sie ist eine Art Schicksal
oder Zufall. Andere Autor/innen beziehen sich auf religiöse und/oder spirituelle
Legitimationen. So konstatiert Hans Jellouschek (2008, S. 172): „Aber die Sehn-
sucht nach Entgrenzung bleibt“. Deshalb plädiert er dafür, die erotische Liebe als
„Symbol und Vorerfahrung der göttlichen Vereinigung [zu begreifen], auf die hin
unser Leben letztendlich angelegt ist“ (Jellouschek 2007, S. 157). Er empfiehlt den
Paaren, sich eine „religiös-spirituelle Praxis [zu] suchen und miteinander [zu]
üben“ (Jellouschek 2008, S. 170). Eine ähnliche Argumentation findet sich bei
dem Autorenpaar Allan und Barbara Pease (2008, S. 351): „Einem Engagement
in einer religiösen Gemeinschaft liegt oft schon ein Glaubenssystem zu Grun-
108 Karl Lenz & Sylka Scholz
de. Wenn Sie nicht auf einen Glauben festgelegt sind, beschäftigen Sie sich mit
Glaubensrichtungen, die zu Ihrer Lebensphilosophie passen, oder üben Sie sich in
Meditation oder Yoga“. Wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, so zeigen
sowohl unsere Analysen weiterer Ratgeber für Paare (vgl. Pohl 2013) als auch für
die Partnersuche (vgl. Reiners 2013), dass Rekurse auf Spiritualität ein verbreite-
tes Merkmal aktueller Ratgeber sind.
Die Verknüpfung von Liebe und Sexualität gilt als das zentrale Charakteristikum
der romantischen Liebe. Auch dieser Aspekt überdauert die Zeit: In allen Rat-
gebern gilt Sexualität als bedeutsame Dimension von Liebe und Ehe, jedoch wird
sie besonders in den 1950er Jahren thematisiert und aufgewertet; sie ist in die-
ser Dekade oft mit Fortpflanzung und Elternschaft verknüpft. Ehe und Sexuali-
tät werden in den 2000ern hingegen entkoppelt. Kein/e Autor/in argumentiert
mehr gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr und Seitensprünge, beides zentrale
Themen in den 1950er Jahren. Gleichwohl ist auch in den aktuellen Ratgebern
sexuelle Treue erwünscht. Sexualität gilt weiterhin als wichtiger Bestandteil einer
dauerhaften Paarbeziehung, aber ihr wird keine so zentrale Bedeutung mehr zu-
geschrieben.
Arnold Retzer (2009, S. 241) konstatiert kritisch: „Die Verhältnisse haben sich
praktisch umgekehrt. Die Befreiung [der Sexualität] ist zur belastenden Pflicht
geworden“. Demnach lautet die Lösung in den Beziehungsratgebern, einen maß-
vollen Umgang mit Sexualität zu finden, insofern kann man im Vergleich mit
der ‚Aufwertung der Sexualität‘ in den 1950er Jahren von einer ‚Veralltäglichung
von Sexualität‘ sprechen. Sexualität ist nicht mehr auf Fortpflanzung ausgerichtet,
dennoch argumentieren die Ratgeberautor/innen, dass eine dauerhafte Paarbe-
ziehung mit einem Kinderwunsch einhergeht: „Zwei Menschen raufen sich – am
Anfang ihrer Beziehung – zu einer relativ stabilen Form gemeinsamen Lebens
zusammen. Dann aber verspüren sie den Wunsch nach einem Kind“, so Hans
Jellouschek (2008, S. 150). Kinderlosigkeit gilt in den aktuellen Beziehungsratge-
bern nicht als eine legitime und glückliche Lebensform (vgl. Pestel 2013). Unsere
Analyse von Erziehungsratgebern belegt zudem die Tendenz einer gesteigerten
Individualisierung des Kindes, die mit einer Sakralisierung einhergehen kann:
„Kinder sind eine Offenbarung. […] und der Umgang mit Kindern öff net nicht
nur die Augen, sondern die Herzen“ heißt es etwa bei Jesper Juul (2011, S. 10), dem
aktuellen ‚Erziehungspapst‘. Transzendiert wird das Kind durch den Rückgriff
auf das idealisierte romantische Kindheitsbild (vgl. Lenz und Scholz 2013).
Romantische Liebessemantik im Wandel? 109
Im Folgenden soll auf die Relevanz von Geschlecht für die Konstruktion von
Liebe eingegangen werden. Paarbeziehung, Ehe und Liebe gründen laut den
Ratgeberautor/innen auf dem Fakt, dass Männer und Frauen fundamental ver-
schieden sind. Die symbolische Sinnwelt der Zweigeschlechtlichkeit ist folglich
zugleich Grundlage und Legitimation für die Liebe. Es gibt nur wenige Ratgeber,
die sich für eine Überwindung der freilich auch hier biologisch vorausgesetzten
Geschlechterpolarität einsetzen, wie etwa „Wie Männer und Frauen die Liebe er-
leben“ von Michael Mary (2006). Sein Argument zur Überwindung lautet Ver-
vollständigung der eigenen Individualität. Auch der anfangs zitierte Ratgeber
für die Partnersuche von Oliver Stöwing (2009) distanziert sich von polaren Ge-
schlechterkonstruktionen. Dominant ist jedoch die Tendenz einer ‚Re-Polarisie-
rung von Geschlecht‘, die bereits in den 1990er Jahren einsetzt und als Reaktion
auf die Frauenbewegung und Frauenemanzipation zu verstehen ist. Dafür stehen
etwa Bücher wie „Mars, Venus, Partnerschaft“ des amerikanischen Paarthera-
peuten John Gray, 1996 auf Deutsch publiziert. Evolutionsbiologisch begründet
110 Karl Lenz & Sylka Scholz
2 Dieser Ratgeber gehört nicht zu den Bestsellern, wird jedoch laut Buchlisten im Seg-
ment der Ratgeber für gleichgeschlechtliche Personen viel verkauft. Er wurde im Sinne
einer maximalen Fallkontrastierung in die Untersuchung einbezogen (vgl. dazu Pohl
2013).
Romantische Liebessemantik im Wandel? 111
6 Fazit
Ewigkeitspostulat und die Abschließung von der sozialen Umwelt haben sich von
diesem Diskursideal jedoch entfernt.
Darüber hinausgehend lässt sich zeigen, dass trotz eines gesellschaft lichen Be-
deutungsverlustes von Religion spirituelle Wissensbezüge in den aktuellen Ratge-
bern eine wichtige Rolle spielen. Wir sprechen deshalb von einer ‚Spiritualisierung
des Liebesdiskurses‘. Diese Spiritualisierung erweitert die Psychologisierung, die
Mahlmann (1991, 2003) für den Ehediskurs in Ratgebern als zentral bestimmte
und die sich auch in unserer Analyse bestätigte. Beide Wissensarten können sich
gegenseitig stützen, denn spirituelles Wissen rekurriert in hohem Maße auf psy-
chologisches Wissen und umgekehrt (vgl. dazu Eitler 2010 oder Knoblauch 2009).
Diese Spiritualisierung von Liebe und Sexualität verstehen wir als eine weitere
Steigerung der romantischen Liebesidee, die in ihrer Anlage, wie wir gezeigt ha-
ben, mit transzendenten Deutungsmustern verknüpft ist. Zwar wandeln sich die
Bezüge, bedeutsam ist jedoch, dass die individuelle Paarliebe mit einem Sinn-
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Doing Family – der Practical Turn
der Familienwissenschaften1
Karin Jurczyk
1 Einleitung
Man „hat“ eine Familien nicht einfach, sondern man muss sie „tun“ – dies ist der
Kerngedanke des sogenannten practical turn der Familienwissenschaften. Was
ist damit gemeint, woraus speist sich dieser Gedanke und welche Folgen für die
Erforschung von Familie hat er?
Die öffentlichen und wissenschaft lichen Diskurse kreisen mit unterschiedli-
chen Betonungen und Wertungen um die Feststellung, dass ein Leben als und in
Familie an Selbstverständlichkeit verloren hat – sei es hinsichtlich der Familien-
gründung, der Stabilität von Beziehungen, der Zuteilung von Geschlechterrollen
als auch der vermeintlich klaren Formen des Zusammenlebens. Die empirische
Familienforschung belegt dies in vielfältiger Weise. Familie ist zwar immer noch
auch eine soziale Institution, die in vielfältiger Weise gesetzlich geregelt ist und
Individuen als solche objektiviert entgegentritt. Vor allem aber ist sie zum „Pro-
jekt“ geworden, für das man etwas tun muss – damit sie zustande kommt, damit
sie erhalten bleibt und damit die gewünschte Qualität des Miteinanders entsteht.
Familie zeigt sich als ein historisch und kulturell höchst wandelbares System
persönlicher, fürsorgeorientierter und emotionsbasierter Generationen- sowie
Geschlechterbeziehungen, die zwar auf verlässliche Gemeinsamkeit hin angelegt
1 Der Text greift in vielen Teilen auf meinen Aufsatz „Familie als Herstellungsleistung“
(Jurczyk 2014) zurück.
sind, die aber (re)produziert werden müssen und sich im Familienverlauf und in
verschiedenen Familienkonstellationen immer wieder ändern können.
Die zentrale Frage eines so gewendeten, offenen Blicks auf Familie lautet: Wie
schaffen Familien es praktisch, unter heutigen Bedingungen überhaupt Gemein-
samkeit als Beziehungssystem herzustellen, ‚Care‘ zu erbringen und nicht in lau-
ter individuelle Leben zu zerfallen, wie wird Familie „getan“?
Der vorliegende Text besteht aus vier Teilen. Zunächst werden aktuelle An-
sätze referiert, die trotz aller Unterschiede im Detail eine solche praxeologische,
konstruktivistische oder auch handlungsorientierte Wende in den letzten ein bis
zwei Jahrzehnten markieren. Im zweiten Abschnitt wird dieser neue Fokus auf
Familie zeitdiagnostisch begründet. Denn persönliche Sorgebeziehungen einzu-
gehen und verlässlich zu leben, wird immer komplexer und voraussetzungsvoller.
Entgrenzungs- und Individualisierungsprozesse im privaten wie im beruflichen
Bereich führen dazu, dass sich Gemeinsamkeit nicht mehr von alleine ergibt. Im
dritten, eher konzeptionellen Abschnitt werden die unterschiedlichen Formen
und Dimensionen eines solchen ‚Doing Family‘ genauer beschrieben. Dabei wird
auch gefragt, was es eigentlich bedeutet, dass wir es bei Familie nicht mit einem,
sondern mit vielen und ungleichen Akteuren zu tun haben. Abschließend wird
erläutert, was der Mehrwert einer solchen praxeologischen Perspektive auf Fa-
milie in spätmodernen Gesellschaften des 21. Jahrhundert sein kann, die sich vor
allem für das konkrete Tun und weniger für die Formen und Einstellungen, Wün-
sche und Werte von Familie interessiert.
In den vergangenen 10 Jahren hat es eine Welle von empirischen und theore-
tischen Arbeiten gegeben, die in den Fokus gerückt hat, wie Familie und dabei
Mütter und Väter „gemacht“ werden und welche konkreten Praktiken sich hier
rekonstruieren lassen. Nicht zufällig waren dabei vor allem solche Familien For-
schungsgegenstand, die von der sogenannten Normalfamilie abweichen: Adop-
tiv- und Pflegefamilien (Helming 2014), multilokale Familien (Schier 2013), Stief-
familien (Jokinen 2014) oder Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen
(Almack 2008). Denn hier zeigt sich deutlicher als unter als „normal“ typisierten
Bedingungen, dass sich sowohl das tägliche Zusammenleben als Familie nicht
mehr ‚von alleine‘ ergibt als auch das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Iden-
tität bewusster Leistungen bedarf und nicht zuletzt soziale Väter und Mütter ihre
Rolle als Eltern explizit bestätigen müssen. Familie wird ebenso wie Verwandt-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 119
schaft (Braithwaite 2010; Beck 2014) als Herstellungsleistung und als Ergebnis so-
zialer Konstruktionsprozesse sichtbar. Dies ließe sich an vielen Beispielen zeigen,
etwa daran, wie Kinder aus Pflegefamilien mit ihren Müttern aushandeln, welche
ihrer beiden Mütter sie Mutter nennen dürfen oder sollen und welche nicht (Hel-
ming 2014). Verwandtschaft und die eigenen Eltern kann man sich zwar nicht
aussuchen, gleichwohl aber kann und muss man die Beziehungen zu ihnen ge-
stalten. Ein ‚Un-Doing Family‘ gibt es nicht.
Nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Unterschiede in der konkreten Kon-
stellation der Familien wird jedoch so sichtbar, dass alle Studien einen gleichen
Fokus von Familie identifizieren: die praktische (wenngleich nicht unbedingt ge-
lingende) Gestaltung von ‚Care‘-Beziehungen zwischen Familienmitgliedern. Sie
zeigen, dass es bei dieser Fokussierung von Familie auf die Gestaltung von Be-
ziehungen und die Erbringung von ‚Care‘ nicht um bloße Haltungen, geschweige
denn geäußerte Einstellungen geht, sondern um konkretes Tun, um „Praxis“.
Auff ällig ist, dass zeitgleich zur wachsenden Vielfalt solcher empirischen
Untersuchungen auch zunehmend Ansätze entwickelt werden, die auf das prak-
tische Leben von Familien als Basis ihrer Theoretisierung rekurrieren. Alle gehen
sie mehr oder minder davon aus, dass die „Alltagsvergessenheit“ vieler Theorien
diejenigen verfehlt, die sie beschreiben oder erreichen wollen: Hierzu gehören vor
allem Daly (2003), Rönkä-Korvola (2009), Lüscher (2012) sowie Morgan (2011).
Insbesondere letzterer arbeitet die Spezifität von „family practices“ als intime
Praktiken in Bezug auf Zeit, Raum, Körper und Emotionen heraus und betont,
dass Familie als Prozess zu verstehen ist.
Der ‚practical turn‘ dieser ‚neuen‘ Familientheorien knüpft wiederum an
unterschiedliche sozialwissenschaft liche Theorien an: den Sozialkonstruktivis-
mus (Berger und Luckmann 1980), den sich hier anschließenden ethnomethodo-
logischen Ansatz des ‚Doing Gender‘ (West und Zimmerman 1987)2, sowie kul-
turwissenschaftliche Ansätze (Wohlrab-Sahr 2010). Es sind jedoch vor allem zwei
Theorierahmen, die als Referenzpunkte für die Konzipierung des ‚Doing Family‘
dienen: Praxistheorien sowie das Konzept der Lebensführung.
2 Der Ansatz des ‚Doing Gender‘ hebt hervor, dass Geschlecht keine vorgegebene oder
natürliche Kategorie ist, sondern in sozial und institutionell gerahmten Interaktionen
kontinuierlich, wenngleich kontingent, d.h. ergebnisoffen, hergestellt wird.
120 Karin Jurczyk
Der Ansatz alltäglicher Lebensführung (vgl. Jurczyk et al. 2014; Jurczyk und Rer-
rich 1993; Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995) konzipiert die All-
tagsgestaltung vor dem Hintergrund ökonomischer, kultureller und sozialer
Ressourcen sowie individueller Orientierungen. Bei diesen Praktiken sinnhafter
Alltagsgestaltung geht es um die Koordination von Aktivitäten zu einem Gesamt-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 121
zusammenhang der Lebensführung, das als ein System ‚sui generis‘ hergestellt
wird und auch nicht einfach geändert werden kann.
Lebensführung ist eine aktive Leistung, auch wenn dies den Akteuren nicht
immer bewusst ist. Ganz ähnlich zum Verständnis von Praktiken (Hirschauer
2004) geht es nicht primär um einzelne Handlungen, sondern um Handlungs-
zusammenhänge auf individueller und interpersonaler Ebene. Die wichtigste
Ebene der Alltäglichen Lebensführung ist das praktische Tun in seinen zeitli-
chen, räumlichen, sozialen Dimensionen. Auch wenn sich einzelne Handlungs-
felder wie etwa Hausarbeit, Beruf und Freizeit unterscheiden lassen, zielt doch
die Alltägliche Lebensführung weniger auf einzelne Tätigkeitssegmente als auf
deren Verbindung zu einem spezifischen Muster der Lebensführung. Der „Ort“
der Lebensführung ist dabei nicht die Familie oder der Haushalt, sondern das
permanent Handlungsfelder überschreitende Individuum, das eingebunden ist in
unterschiedlichste gesellschaft liche Sphären. Die Prozessebenen des praktischen
Tuns können Aushandlung, Konfl iktlösung, Planung, Entscheidungsfindung etc.
sein. Der Modus des Handelns bezieht sich z.B. auf Mechanismen, Strategien,
Hilfsmittel (z.B. Technologien). Von Bedeutung sind – auch hier ähnlich zum
praxeologischen Ansatz – Orientierungen, Werte, Präferenzen sowie Selbst- und
Fremdkonzepte, die die Lebensführung subjektiv „lenken“ und biografische Pla-
nungen bestimmen, die aber auch umgekehrt als Deutungsmuster auf die eigene
Alltagsgestaltung und die Biografie – oft mals im Nachhinein – legitimierend oder
erklärend angelegt werden. Lebensführung ist als „Arrangement der Arrange-
ments“ ein Vermittlungsmechanismus zwischen Individuum und Gesellschaft,
der die aktive Integration des Menschen in Gesellschaft beschreibt.
Seit einigen Jahren versucht eine Forschungsgruppe am Deutschen Jugendin-
stitut3, aufbauend auf den Forschungen von Rerrich (1993) und Jürgens (2001),
das am Individuum orientierte Konzept der alltäglichen Lebensführung explizit
hin zur familialen Lebensführung zu erweitern und empirisch zu beforschen (vgl.
Keddi 2014). Ausgangspunkt ist, dass, wenn schon die individuelle Lebensfüh-
rung eine Leistung eigener Art ist, diese komplexer wird, wenn mehrere individu-
elle Lebensführungen, wie in einer Familie notwendig, aufeinander abgestimmt
werden müssen. Familiale Lebensführung wird auf der Basis von Ressourcen und
Orientierungen rekonstruiert als Verschränkung von Handlungen und Hand-
lungsmustern, als Vollzug gemeinsamer Aktivitäten, als Abstimmung und Aus-
handlung von Aktivitäten und Interessen, als (Nicht-)Übereinstimmung von
Gender-, Familien- und Elternschaftskonzepten und Deutungsmustern, als Ver-
teilung von Ressourcen sowie von Macht- und Entscheidungsbefugnissen, die
zwischen den familialen Akteuren ausbalanciert werden müssen oder die gege-
benenfalls auch hierarchisch verfügt werden. Eine besondere Komplexität der
familialen Lebensführung besteht darin, dass familiale Aktivitäten immer nur
einen Teil der Aktivitäten der einzelnen Individuen ausmachen und es immer nur
begrenzte Schnittmengen von individueller und familialer Lebensführung gibt.
Im Ergebnis wird nach der subjektiv wahrgenommenen Lebensqualität gefragt.
Auch bei der familialen Lebensführung gilt, dass diese in mehr-ebige Sozial-
ökologien eingebettet ist (vgl. Bronfenbrenner und Morris 2006). Im Sinne des
subjektorientierten Ansatzes determinieren diese aber das Familienleben nicht,
sondern müssen aktiv angeeignet und gestaltet werden. Das heißt aber auch, dass
sie gestaltet werden können und damit wiederum strukturbildend wirken und
ihre Umwelt verändern. Insbesondere durch Einflussnahme auf kollektive Ak-
teure – z.B. auf politische Akteure – wird so gesellschaft licher Wandel möglich.
Der skizzierte ‚Practical Turn‘ der Familienwissenschaften ist jedoch nicht rein
wissenschaftsimmanent bedingt, indem er „blinde Flecken“ besser ausleuchten
will (Daly 2003), sondern er verdankt sich auch der veränderten Konstitution von
Familie durch einen veränderten soziohistorischen Kontext.
Die Zusammenschau aktueller Analysen weist darauf hin, dass die zunehmend
artikulierten Probleme bei der Familiengründung, im Familienalltag und -ver-
lauf vor allem mit Belastungen und sinkender Lebensqualität zu tun haben
(BMFSFJ 2006). Der subjektive Sinn, der „Eigensinn“ (Jurczyk 2012), der mit Fa-
milie verbunden wird – nämlich Zeit für persönliche Beziehungen, für Erziehung
und Pflege von Familienangehörigen zu haben, sich nicht entlang zweckrationa-
ler Kalküle verhalten zu müssen und „privat“ sein zu dürfen –, lässt sich unter
Bedingungen der späten Moderne offensichtlich immer schwieriger realisieren.
Der Verlust der Selbstverständlichkeit von Familie im Hinblick auf ihr Zustande-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 123
Das „alte“ fordistische Muster der Arbeitsteilung zwischen den Bereichen Familie
und Beruf sowie zwischen Frauen und Männern funktioniert nicht mehr, aber
es ist kein neues an seine Stelle getreten. Zeitstrukturen haben sich gewandelt,
feste Rhythmen sind weggefallen, „getaktet“ wird nun flexibel. Kollektive „Zeit-
institutionen“ wie Feierabend und Wochenende, die für das Leben von Familien
sehr wichtig sind, werden ausgehöhlt. Dazu kommt permanenter Druck durch
den Zwang zum Erhalt der Beschäft igungsfähigkeit. Auch die weibliche Teilzeit-
arbeit ist – wenngleich das meist verbreitete Muster – nicht mehr der Lösungsweg
zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, denn sie selber fi ndet immer häufiger
zu „untypischen“ Zeiten statt, an Nachmittagen, Abenden und Samstagen, wor-
auf jedoch öffentliche Einrichtungen, insbesondere zur Kinderbetreuung, nicht
eingestellt sind. Nach wie vor orientieren sich Infrastrukturen weitgehend am
Bild der verfügbaren Hausfrau, die die Arbeit im Hintergrund leistet. Dieser Mis-
match von entgrenzten Erwerbs- und Familienbedingungen mit starren Infra-
strukturen führt zu erheblichen Reibungsverlusten im Alltag. Es sind nach wie
vor überwiegend die Mütter, die die Fahrdienste für ihre Kinder übernehmen,
um sie zu diversen Förderaktivitäten zu transportieren oder selber ihr Leistungs-
niveau zu optimieren, denn gleichzeitig ist der Betreuungs- und Bildungsdruck
der Kinder massiv gestiegen. Und für die zunehmende, wenngleich immer noch
kleine Gruppe der Männer, die aktive Väter sein möchten (Possinger 2013), stel-
len sich ähnliche Vereinbarkeitsprobleme wie für Frauen.
Vor diesem Hintergrund macht die Rede vom ‚Doing Family‘ und hier insbe-
sondere vom ‚Doing Family Time‘ besonderen Sinn, denn Familienzeiten müssen
heute forciert selber gestaltet werden. Familiale Kopräsenz, d.h. gemeinsame zeit-
126 Karin Jurczyk
Es lassen sich drei Grundformen der Herstellung von Familie unterscheiden, die
familiale Akteure erbringen (vgl. Schier und Jurczyk 2007). Die erste ist das so ge-
nannte Balancemanagement: Es umfasst vielfältige organisatorische, logistische
Abstimmungsleistungen der Familienmitglieder, um Familie im Alltag prak-
tisch lebbar zu machen. Da in Familien mehrere individuelle Lebensführungen
mit unterschiedlicher Teilhabe an Beruf, Familie, Schule etc. und unterschied-
lichen Bedürfnissen und Interessen aufeinander treffen, müssen diese mental und
emotional ausbalanciert sowie zeitlich und räumlich koordiniert werden. Dabei
spielen Rahmenbedingungen – wie beispielsweise Arbeits- oder Schulzeiten oder
räumliche Trennungen – eine große Rolle. Das Balancemanagement zielt auf die
praktische Gewährleistung des „Funktionierens“ von Familie: als Ermöglichung
von Kopräsenz der Familienmitglieder, von Care und dem Verfolgen der je indi-
viduellen Tätigkeiten und Interessen.
Die zweite Form, die Konstruktion von Gemeinsamkeit, umfasst Prozesse, in
denen Familie in alltäglichen Interaktionen als sinnhaftes gemeinschaft liches
Ganzes hergestellt wird. Dies geschieht im gemeinsamen Tun, in der wechselseiti-
gen Bezugnahme aufeinander und der symbolisch aufgeladenen (auch versprach-
lichten) Darstellung als Familie. In Analogie zum sozialkonstruktivistischen
Ansatz des Doing Gender geht es hier um die identitätsorientierte Konstruktion
von Familie als zusammengehörige Gruppe und ihre Selbstdefinition als solche
bzw. um die Abgrenzungen davon. Die Herstellung von Familie ist erst in diesem
eigentlichen Sinn ein „Doing Family“, sieht man von der alltagssprachlich ein-
gängigen Verwendung des ‚Doing Family‘ im Sinne eines umfassenden „Familie
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 129
tun“ ab5. Die empirische Forschung weist nochmals auf die Unterscheidung von
zwei Formen dieses ‚Doing Family‘ hin: Zum einen auf die Herstellung sozialer
Bindungen durch Prozesse der Inklusion und Exklusion derjenigen, die als zu
einer Familie zugehörig verstanden werden (vgl. Nelson 2006) und zum andern
auf die Konstruktion von Intimität durch die Herstellung eines Wir-Gefühls (we-
ness) (vgl. Galvin 2006).
Bedeutsam ist auch die dritte, eher nach außen gerichtete Form des „Display-
ing Family“ (Finch 2007) insbesondere für solche Familien, die nicht dem gängi-
gen Familienbild entsprechen und sich unter Legitimationsdruck sehen, wie etwa
Pflegefamilien (Helming 2014) oder homosexuelle Eltern o.ä. Um sich und ande-
ren zu signalisieren „Wir sind eine Familie!“ wird das Familienleben gezielt und
bewusst ästhetisiert und nach außen inszeniert.
5 Hier gibt es ein doppeltes Sprachproblem, ein Übersetzungsproblem und eines zwi-
schen Alltags- und Wissenschaftssprache. So ist Herstellungsleistung der umfassen-
dere Begriff, am besten zu übersetzen mit dem sperrigen „production effort“. In der
anglo-amerikanischen Soziologie haben sich aber „doing“-Konzepte eingebürgert und
sie sind so einfach ins Deutsche zu integrieren, dass es schwierig ist, stets auf die Diffe-
renzierungen hinzuweisen.
130 Karin Jurczyk
Die Handlungsmodi stellen die Frage nach dem Wie der Herstellung von Fami-
lie noch einmal anders. Insbesondere die genannten Praxistheorien betonen den
Vollzug von Handlungen und nicht deren Intentionalität. Handeln wird dabei
nicht gleichgesetzt mit dem bewussten Ausführen rationaler Planungen, deren
Ziel vorab fest zu stehen scheint. Dass jedoch die Intentionalität von Handlungen
in und als Familie zunimmt, ist Kern der hier vorgestellten zeitdiagnostischen
These von Familie als Herstellungsleistung (s.o.). Insofern besteht die Herstellung
von Familie sowohl aus Praktiken als auch aus dezidierten Handlungen. An die-
ser Stelle hilft möglicherweise auch die Unterscheidung von Regulationsstufen
von Tätigkeiten weiter, indem zwischen Praxis und Tun einerseits und intentio-
nalem und möglicherweise strategischem Handeln differenziert wird (vgl. Voß
1991, S. 211ff.). Als „Tun“ oder „Praxis“ lassen sich viele routinisierte, teilweise
vorbewusst ablaufende alltägliche Tätigkeiten bezeichnen. In diesem Sinn ist Fa-
milie zunächst durch „Tun“ charakterisiert – als unverzichtbarer Korpus für das
tägliche Funktionieren und die Versorgung der Familienmitglieder sichernden
Praktiken. Intentionales sinnhaftes „Handeln“ setzt dagegen Reflexion voraus,
im Idealtypus der „methodischen Lebensführung“ von Max Weber ([1922] 2002)
schließt es sogar strategisches zweckrationales Kalkül ein. Bezieht man diese
Unterscheidung auf das vorher Gesagte, so bedeutet es, dass zwar praktische Tä-
tigkeit die Basis jeder Lebensführung ist (Voß 1991, S. 378), auch und insbesonde-
re der familialen Lebensführung, darüber hinaus muss aber die Herstellung von
Familie unter heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen immer bewusster und
gezielter betrieben werden.
Dies zeigt sich auch an der herausgehobenen Bedeutung von familialen Rou-
tinen und Ritualen als zwei Typen von Praktiken (siehe auch Keddi 2014). Sie
geben dem Alltag Struktur und gewährleisten, manchmal über Generationen,
die Reproduktion der familiären Ordnung und Identität. Routinen als „vorherr-
schende Form der sozialen Alltagsaktivität“ machen die „gewohnheitsmäßige, für
selbstverständlich hingenommene Natur der großen Masse der Handlungen des
Alltagslebens“ (Giddens 1988, S. 431) aus. Rituale als normierte und stereotypi-
sierte Handlungsabläufe sichern demgegenüber das Alltagshandeln symbolisch
ab (vgl. Wulf und Zirfas 2004). Insbesondere traditionell vorgegebene Routinen
und Rituale treten in Familien mehr in den Hintergrund, sie können aufgrund
entgrenzter Erwerbsbedingungen sowie kontingenter Geschlechterbeziehungen
auch immer schwerer realisiert werden. Deshalb erfinden sich Familien heute
eigene Regelmäßigkeiten, um sich als Familie zu erfahren und Gemeinsamkeit
zu inszenieren. Hier handelt es sich um neue Hybridformen: um intentionale
Routinen und reflexive Rituale. Ein neuer hybrider Handlungsmodus ist auch
die hergestellte „Beiläufigkeit“ (s.o.). Da Familie nicht auf lineare und effiziente
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 131
Familie als Herstellungsleistung basiert auf den Interaktionen zwischen den ver-
schiedenen Familienmitgliedern, diese können auch in Abwesenheit der signi-
fi kanten Anderen erbracht werden. Familie kann also weder nur als System noch
nur aus der Perspektive Einzelner betrachtet werden. Familiale Gemeinsamkeit
im Sinne einer einheitlichen Sichtweise und Deutung ist nur punktuell gegeben.
An dieser Stelle ist die Vielfalt der Akteure in Familie von Bedeutung, denn die
Rede von „der“ Familie, erst recht von „Gemeinsamkeit“ und „Gemeinschaft“
suggeriert fälschlich das Bild einer Einheit. Gerade der Blick auf Familie muss
jedoch die Einzelperspektiven von Kindern, Müttern, Vätern, Verwandten, Be-
treuungspersonen und Freunden unterscheiden. Dass die Sicht der Familienmit-
glieder auf die gleiche Familie ziemlich weit auseinandergehen, ja ihre Interessen
und Praxen in Konflikt zueinander geraten können, ist kein „Betriebsunfall“, son-
dern konstituiert Familie als Spannungsverhältnis des Interesses sowohl an Ge-
meinschaft als auch an Individualität. Auch wenn in der Perspektive auf familiale
Lebensführung gerade die Integration dieser verschiedenen Individuen fokussiert
wird, so kann der Prozess der Herstellung von Gemeinsamkeit doch keinesfalls
konfliktfrei gedacht werden, er kann auch die Marginalisierung Einzelner bedeu-
ten (vgl. Kousholt 2011) und muss deren Grenzziehungen immer einschließen.
Die einzelnen Mitglieder sind Akteursgruppen zugehörig, die sich durch
kulturell und ökonomisch bedingte, strukturell verankerte Macht- und Res-
sourcenunterschiede kennzeichnen lassen. Denn nicht nur die Perspektive der
unterschiedlichen Familienmitglieder ist zu beachten, vielmehr unterscheiden
sich deren individuelle Zeiten und Zeitbedürfnisse nochmals entlang der sozia-
len Strukturkategorien ‚Geschlecht‘ und ‚Generation‘. Die subjektiven Positionen
und die Beziehungssysteme der Geschlechter und Generationen in Familien sind
nicht einfach individuell aushandelbar und gestaltbar, sie sind gesellschaft lich
eingebettet und vorstrukturiert. Als solche legen sie Kindern, Männern, Frauen
132 Karin Jurczyk
und Alten einen bestimmten Platz im Sozialgefüge von Über- und Unterordnung,
von Zentrum und Peripherie sowie von Definitions- und Gestaltungsmacht nahe.
Trotz des Wandels vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt finden sich zumin-
dest hinsichtlich der Geschlechter und Generationen nach wie vor auch hierarchi-
sche Verhältnisse in Familien. Hinsichtlich der Subdifferenzierung von Familie
gibt es aber ganz unterschiedliche Schnittmengen von Beteiligten. Es geht nicht
nur um die „ganze“ Familie gegenüber Individualperspektiven, sondern auch um
Teilgruppen wie Geschwister, Partner, Eltern-Kind-Dyaden oder Großeltern-En-
kel-Konstellationen. Diese können unter- und gegeneinander Allianzen eingehen
und eigene Akteursgruppen innerhalb der Familie ausmachen.
Zu den an der Herstellung von Familie beteiligten Akteuren gehören jedoch
nicht nur die Familienmitglieder selbst, sondern auch öffentliche Akteure. Die
politischen und staatlichen Institutionen, Schulen, Gewerkschaften, Wirtschaft,
Kirchen, Verbände etc. bilden im Sinne von Bronfenbrenner (vgl. Bronfenbren-
ner und Morris 2006) die unterschiedlichen Meso-, Exo- und Makroebenen der
Sozialökologien, die von außen auf Familie einwirken bzw. mit ihnen mehr oder
weniger interagieren. Die Verknüpfung der mikrosoziologischen Binnenperspek-
tive auf die Handlungen individueller Akteure mit der Perspektive öffentlicher
oder kollektiver Akteure stellt eine weitere Herausforderung an das Konzept von
Familie als Herstellungsleistung dar. 6
Eine nächste Systematisierung bezieht sich auf die Handlungsadressaten. Im
Hinblick auf die Familienmitglieder7 gibt es sowohl individuelle selbstbezogene
Tätigkeiten (wie Aufräumen), explizite Tätigkeiten für Andere (wie Geschenke-
Kaufen) als auch Aktivitäten mit anderen (wie Gemeinsam-Kochen). An Weber
([1922] 2002) anknüpfend, der soziales Handeln immer als auf Andere bezogen
versteht, stellt sich die Frage, ob eigentlich alles Tun bzw. Handeln in Familie so-
ziales Handeln ist. Denn selten sind die eigenen Interessen und die anderer so eng
verknüpft wie in der Familie. Handelt aber nicht die Mutter, die sich für andere
„aufopfert“, zutiefst egoistisch? Und ist der Vater, wenn er seiner Ernährerrolle
nachkommt und Geld verdienen geht, nicht auch froh, die Haustür hinter sich zu
machen zu können? Auch hier zeigt sich die Spannung zwischen Individuierung
und Gemeinschaft, die ge-gendert ist, aber auch entlang des Lebenslaufs variiert.
6 Dieses Zusammentreffen privater und öffentlicher Akteure wird eine umso gewichti-
gere Untersuchungsperspektive sein, umso mehr sich das Leitbild einer gemeinsamen
Verantwortung von Privatheit und Öffentlichkeit als politisches Leitbild durchsetzt.
7 Auch wenn an anderer Stelle argumentiert wird, dass die Leistungen von Familie ge-
sellschaftlich relevant sind, adressieren doch die Familienmitglieder ihr Tun nicht auf
„die“ Gesellschaft, sondern auf signifikante Andere und konkrete Personen in ihrem
Umfeld.
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 133
8 Dies bedeutet keinesfalls, dass solche Theorien nicht durchaus weiterhin für familien-
wissenschaftliche Zwecke sowohl Beschreibungs- wie Erklärungskraft besitzen.
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 135
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Familienentwicklung im Lebensverlauf
Familienbeziehungen über Haushalts-
grenzen hinweg – Familie als Netzwerk
Marina Hennig
1 Einleitung
Viele der Diskussionen über die Krise der Familie oder die Pluralisierung der Le-
bensformen basieren auf Aussagen über Haushalte (vgl. Marbach 2000). Lange
Zeit war die amtliche Statistik die einzige Quelle, um die Entwicklung familiä-
rer Lebensformen darstellen zu können. Amtliche Statistiken sind zwar in ihren
Messungen objektiv, nicht aber notwendigerweise in ihren Begriffen, d.h. dass die
Haushalts- und Familientypen der amtlichen Statistik nur zum Teil soziologisch
wesentlichen Aspekten des Zusammenlebens gerecht werden. Dabei richtet die
Haushaltsstatistik ihren Blick auf die Mitglieder des Zielhaushalts, d.h. wer ver-
heiratet ist und zusammenlebt und Kinder hat wird statistisch als Familie gezählt,
lebt das Paar aber in zwei Haushalten, gelten beide als Single. Darüber hinaus gibt
es weitere Familienkonstellationen, die nicht immer an den Haushalt gebunden
sind, wie das Kind eines geschiedenen Elternteils, das beim Expartner lebt, regel-
mäßig zu Besuch kommt und in fast allen Entscheidungen der Familie eine Rolle
spielt; die studierende Tochter, die in der Woche zwar am Studienort lebt, aber die
meisten Wochenenden im Elternhaus verbringt; der Ehepartner, der aus beruf-
lichen Gründen einen zweiten Haushalt an einem anderen Ort unterhält, mit dem
die befragte Frau jedoch nicht in Trennung lebt. Wie die Beispiele zeigen, ent-
scheidet nach der Definition der amtlichen Statistik allein das Zusammenwoh-
nen darüber, wie Familienentwicklungen und Familienbeziehungen interpretiert
werden. Dabei muss der Wandel der Wohn- und Haushaltsformen, der sich in der
Lebenserwartung ansteigt, so dass Eltern und Kinder heute eine gemeinsame Le-
benszeit von bis zu 55 bis 60 Jahre haben können (Lauterbach 1995). Selbst bei
einem durchschnittlichen Heiratsalter von 28 bis 30 Jahren können Großeltern
davon ausgehen, dass sie die Hochzeit ihrer Enkel noch erleben (vgl. Bertram und
Bertram 2009). Damit überlappen sich die Biografien mehrerer Generationen für
einen sehr langen Lebensabschnitt. Dies führt aber auch dazu, dass wie Bengtson
(2001) in seiner These formuliert, die Beziehungen zwischen mehr als zwei Gene-
rationen sowohl für die Individuen wie für die Familien an Bedeutung gewinnen.
Bengtson geht davon aus, dass für viele US-Amerikaner die Mehrgenerationen-
beziehungen eine größere Bedeutung für das eigene Wohlbefinden und die Unter-
stützung im Lebensverlauf bekommen werden als die Kernfamilie allein, die nach
Parsons (1955) auf der Beziehung zwischen Eltern und Kindern im gemeinsamen
Haushalt basiert. Die Überlappungen gemeinsamer Lebensjahre führen dem-
nach aber auch zu einer Zunahme an Möglichkeiten und Notwendigkeiten für
Beziehungen, Unterstützungen und Einflüssen über mehr als zwei Generationen.
Das heißt in der Konsequenz, dass einerseits die intergenerationale Solidarität
zunimmt und andererseits auf Grund der steigenden Scheidungszahlen die Fa-
milienbeziehungen über mehrere Generationen für den Sozialisationsprozess von
Kindern an Bedeutung gewinnen und für die Familienfunktionen im 21. Jahr-
hundert von grundlegender Bedeutung sein werden (vgl. Bengtson 2001).
Diese Entwicklungen führen nach Bertram (2002) auch zu einer Veränderung
der Bedeutung des gemeinsamen Haushalts. Galt das „gemeinsame Wohnen in
einem Haushalt seit Mitte der 1930er Jahre zunehmend als Synonym für Intimität
und Enge der Beziehungen, so kann man demgegenüber davon ausgehen, dass die
Beziehungen zwischen der neu gegründeten Familie und den Herkunftsfamilien
auch dann fortbestehen, wenn alle in unterschiedlichen Haushalten leben“ (Bert-
ram 2002, S. 526). Das bedeutet aber auch, so Bertram (2002, S. 526) „dass der
Haushalt kein geeigneter Indikator für die Intimität von Familienbeziehungen ist
und die multilokale Mehrgenerationenfamilie nicht über die Haushaltszugehö-
rigkeit erfasst werden kann“. Intime Beziehungen von Paaren und Familien sind
sowohl neolokal wie auch multilokal (vgl. Bertram 2002), so dass die Multilokali-
tät das Konzept der Mehrgenerationenbeziehungen ergänzt.
stand der Analyse gemacht werden, wie es mit Hilfe netzwerktheoretischer An-
sätze möglich ist. Hierbei werden aus der Perspektive des Befragten, also des Ichs,
egozentrierte Netzwerke (vgl. Hennig et al. 2012) erhoben. Egozentrierte Netz-
werkerhebungen werden in der Regel durchgeführt, wenn Ego bekannt ist, aber
nicht dessen Alteri. Diese Studien stützen sich auf die Angaben des Befragten, um
Informationen über seine Beziehungen zu erhalten. Egozentrierte Netzwerkana-
lysen dienen dazu, das individuelle soziale Umfeld einer Person zu erfassen. Sie
sind geeignet für den Einsatz in repräsentativen Massenumfragen und ermög-
lichen den Vergleich der Struktur des interpersonellen Umfeldes für individuelle
Merkmale, für die Variablen des sozialen Kontextes und die geografische Umge-
bung. Will man jedoch auch die Qualität dieser Beziehungen beurteilen oder die
Übereinstimmung in der Wahrnehmung von Beziehungen, wird man auch die
Partner, die im Netzwerk genannt werden, berücksichtigen müssen (Bien 1996).
Umfragedaten wie das Sozio-ökonomische Panel, der Familiensurvey des
DJI oder auch die Daten des pairfam stellen hierfür inzwischen ein umfangrei-
ches Datenmaterial zur Verfügung. Im Rahmen des Sozio-ökonomischen Panels
werden seit 1986 systematisch alle fünf Jahre Daten zu Familienbeziehungen als
Egozentrierte Netzwerkdaten erhoben. Damit ermöglichen die Daten auch die
Abbildung des sozialen Wandels auf der Grundlage der Querschnittdaten für ver-
schiedene Zeitpunkte. Durch einen Vergleich der Panelwellen, lässt sich einerseits
der Einfluss des Älterwerdens in Abgrenzung zu Kohortenunterschieden spezifi-
zieren zum anderen aber auch eine mögliche Zunahme der Bedeutung der Multi-
lokalität für die Generationsbeziehungen über die Zeit beschreiben. Dies soll mit
Hilfe der SOEP Querschnitt- als auch Paneldaten von 1991 und 2011 demonstriert
werden, da damit ein ausreichender Abstand von 20 Jahren zur Dokumentierung
des sozialen Wandels gegeben ist und Familien aus dem gesamten Bundesgebiet
mit erfasst werden1.
1 Der Familiensurvey liefert hingegen nur Daten von 1988 - 2004, während die pairfam-
Daten erst im Jahr 2008/2009 beginnen. Die SOEP Erhebungen wurden erst nach 1990
auf das Gesamte Bundesgebiet ausgedehnt.
146 Marina Hennig
weit diese entfernt wohnen. Bei den folgenden Analysen wurden jedoch nur die
Familienbeziehungen im engeren Sinne berücksichtigt, d.h. Großeltern, Eltern,
Kinder und Enkel. Mit anderen Worten, der hier verwendete Generationenbegriff
ist genealogisch, da er auf den Abstammungsbeziehungen2 basiert.
3
J
J J
J J
J
2,5
B B
B B
B B
2
im Haus Nachbarschaft gleichen Ort anderer Ort weiter entfernt Ausland
B 1991 J 2011
Dieser Anstieg bei der mittleren Generationenzahl pro Kopf drückt aus, dass
Mehrgenerationenkonstellationen 2011 gegenüber 1991 angestiegen sind und die
intergenerationalen Bindungen zugenommen haben.
Betrachtet man die Paneldaten4 (Abbildung 3), so zeigen sich hier die Effekte
des Älterwerdens bei der Generationenzahl pro Kopf, die insgesamt zugenommen
haben.
3 Die Daten für die Querschnittsanalysen wurden mit dem Standardgewicht, welches
vom DIW im Zuge der Datenweitergabe für haushalts- und personenbezogene Ana-
lysen bereitgestellt wird, gewichtet (siehe dazu Wagner et al. 2008).
4 Das DIW bietet neben den Querschnittsdaten auch Paneldaten an, d.h. es handelt es
sich um Befragte, die wiederholt an der SOEP Befragung teilgenommen haben, in die-
sem Fall sowohl 1991 als 2011.
148 Marina Hennig
J
3
J J
J J
B B
B
2,5 B
J
B
B
2
im Haus Nachbarschaft gleichen Ort anderer Ort weiter entfernt Ausland
So hat von 1991 zu 2011 die mittlere Generationenzahl im Haus und auch in den
anschließenden Distanzen leicht zugenommen. Auff ällig ist sowohl im Kohor-
ten-Vergleich wie auch im Lebensverlauf, dass die Tendenz zur Multilokalität der
Familienmitglieder fortbesteht und die Generationen im Wohnbereich spürbar
auseinanderrücken.
Durch die steigende Lebenserwartung insbesondere in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts nimmt die Zahl älterer Menschen in Deutschland zu. Dies führt
dazu, dass immer mehr Kinder und Jugendliche ihre Großeltern erleben. Groß-
elternschaft gehört inzwischen zur Normalität in den Generationenkonstellatio-
nen (vgl. Peuckert 2012, S. 600).
Auch in den hier untersuchten Daten spiegeln sich die Effekte des Älterwer-
dens in der deutschen Gesellschaft in der Verteilung der Altersgruppen bei den
Generationskonstellationen wider.
Familie als Netzwerk 149
100 100
90 90
80 80
70 70
60 60
50 50
40 40
30 30
20 20
10 10
0 0
1 2 3 4 1 2 3 4
Generationenkonstellation 1991 Generationenkonstellation 2011
Quelle: Sozioökonomisches Panel von 1991 (N=11.280) und 2011 (N=15.238), eigene
Berechnungen
So verdeutlichen die Querschnittdaten (Abbildung 4), dass der Anteil der über
56-65 Jährigen und der über 65 Jährigen an den Befragten von 1991 gegenüber
2011 angestiegen ist. 2011 finden sich diese Altersgruppen mehrheitlich bei je-
nen, die angeben keine der abgefragten Familienangehörige zu haben oder bei der
Zweigenerationenkonstellation. Diese Entwicklung ist vor allem auf den Rück-
gang der Geburtenzahlen zurückzuführen. Denn der Anteil der 18-25 Jährigen
und der 26-35 Jährigen Befragten hat von 1991 zu 2011 deutlich abgenommen.
Dies hat zur Folge, dass immer mehr ältere Menschen in Ein- oder Zweigenera-
tionenkonstellationen leben, während die Befragten im mittleren und jüngeren
Alter in Drei- und Viergenerationenkonstellationen leben. Diese Ergebnisse de-
cken sich mit der Studie von Grünheid und Scharein (2011), die die gegenwärti-
gen Verhältnisse von Mehrgenerationenkonstellationen anhand einiger größerer
Surveys der letzten 20 Jahren verglichen haben. Demnach lebt rund die Hälfte der
Befragten ab dem mittleren Alter in einer Dreigenerationenfamilie, etwas mehr
als ein Viertel in Zweigenerationenkonstellationen und ein Fünftel in einer Vier-
generationenfamilie.
Insgesamt zeigen die Daten des SOEP (Tabelle 1), dass die Zahl der familialen
Generationen in den letzten 20 Jahren aufgrund der längeren Lebenserwartung
zugenommen hat. Insbesondere Personen, die allein sind oder mit Peers in Be-
150 Marina Hennig
1991 2011
5 Frage: 1991 wurde nach der erweiterten Familie gefragt. Es sollten nur die Personen
angegeben werden, die nicht im selben Haushalt leben. 2011 wurde die Frage etwas ver-
ändert gestellt: Hier wurde nach dem engeren bzw. erweiterten Familienkreis gefragt
und ob sie im Haushalt leben oder weiter entfernt.
Familie als Netzwerk 151
che Struktur der hier gezeigten Daten verdeutlicht. Auch wenn die zur Verfügung
stehenden Daten nur ansatzweise Analysen zur Dynamik der Generationsbezie-
hungen ermöglichen, zeigt sich doch, dass mit der Alterung der Bevölkerung und
dem Anstieg der Lebenserwartung die Generationsbeziehungen bei gleichzeitig
zunehmender räumlicher Distanz zugenommen haben. Damit lebte die Mehrheit
der Befragten Personen 2011 in multilokalen Mehrgenerationszusammenhängen.
Abbildung 5 Prozentuale Verteilung von Personen, mit denen der/die Befragte über per-
sönliche Gedanken und Gefühle spricht nach Generationenkonstellationen
2011
4
Generationen
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent
Großeltern
Bei der Frage, wer das Vorankommen in Beruf und Ausbildung fördern kann
(Abbildung 6), zeigt sich für alle Generationenkonstellationen, dass neben den
Familienbeziehungen auch sogenannte ‚weak ties‘6 im Sinne von Granovetter
6 In einer der ersten Studien zur beruflichen Mobilität stieß Granovetter (1974) auf die
sogenannte „Stärke schwacher Bindungen“. Während starke Beziehungen mit einem
hohen zeitlichen Aufwand verbunden, einen hohen Grad an emotionaler Verbun-
denheit und gegenseitiger Nähe zeigen und durch Vertrauen und gegenseitige Hilfe-
leistungen gekennzeichnet sind (vgl. Granovetter 1973, S. 1361), weisen schwache
Beziehungen solche Eigenschaften an zeitlicher und emotionaler Intensität nicht auf.
Daher entsprechen schwache Beziehungen eher Gelegenheitskontakten, wie zwischen
Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen (vgl. Granovetter 1973,S. 1361). Während
starke Beziehungen Cliquenbildung befördern und so ein Gesamtnetzwerk fragmentie-
ren, bilden schwache Beziehungen Brücken zwischen ansonsten unverbundenen Teilen
des Gesamtnetzwerkes und erhöhen dadurch die Erfolgschancen für das Handeln der
Akteure. Die Informationen, die man über starke Beziehungen innerhalb einer Gruppe
Familie als Netzwerk 153
(1974) in die Netzwerke eingebunden sind. Das sind z.B. Arbeitskollegen und an-
dere nichtverwandte Personen.
4
Generationen
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent
Großeltern
erhält, unterliegen einer gewissen Redundanz. Schwache Bindungen bieten aber, wenn
sie als Brücken auftreten, die Möglichkeit des Informationsflusses zwischen ansons-
ten isolierten Gruppen. Gerade die „schwachen Brücken“ integrieren nach Granovetter
(1973, S. 1366) die verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft.
154 Marina Hennig
Abbildung 7 Prozentuale Verteilung von Personen, die bei einer langfristigen Pflegebe-
dürft igkeit helfen würden nach Generationenkonstellationen 2011
4
Generationen
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent
Großeltern
Dass das Zusammenleben der Generationen nicht immer nur positiv erlebt wird,
lassen die Ergebnisse zur Frage, mit wem man häufiger in Streit oder Konflikt
gerät erahnen (Abbildung 8). Gestritten wird häufig zwischen Eltern und Kin-
dern, oder Großeltern und Enkeln. Bei der Eingenerationenkonstellation treten
an die Stellen der unmittelbaren Familienmitglieder die entfernten Verwandten,
Arbeitskollegen, Nachbarn sowie andere Personen.
Familie als Netzwerk 155
Abbildung 8 Prozentuale Verteilung von Personen, mit denen man gelegentlich Streit
oder Konfl ikte hat nach Generationenkonstellationen 2011
4
Generationen
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent
Großeltern
Die Ergebnisse zur gelebten Familienrealität zeigen, dass die unmittelbaren Fa-
milienmitglieder zu einem großen Teil bedeutsame soziale Beziehungen für die
Befragten darstellen und dass sie mit Zunahme der Generationenkonstellation
auch immer wichtiger bei den Hilfe- und Unterstützungsleistungen werden. Ins-
besondere im Falle der Pflegebedürftigkeit übernehmen bei der Mehrheit die
Familienmitglieder die Pflegeleistungen (vgl. Brandt 2009; Haberkern 2009). Je
mehr Generationen in einer Familie vorhanden sind, desto eher wird auch zwi-
schen den Familienmitgliedern gestritten. Neben den Familienmitgliedern sind
in die Netzwerke der Befragten auch sogenannte ‚weak ties‘ im Sinne von Grano-
vetter (1973) also Nichtverwandte wie Arbeitskollegen oder Bekannte eingebettet.
Leider ist es nicht möglich, mit den vorhandenen Daten, die Logiken, die der Her-
stellung der sozialen Beziehungen zugrunde liegen, zu analysieren. Dennoch soll
das Thema hier auf theoretischer Ebene angesprochen werden, da bisher nicht
eindeutig geklärt ist, welche sozialen Mechanismen der Ausgestaltung der inter-
156 Marina Hennig
bei denen unklar ist, was sie mit Solidarität zwischen Generationen zu tun haben.
Dies gilt insbesondere für die konsensuelle Solidarität, die über das gemeinsame
Aufwachsen von Eltern und Kindern in den USA operationalisiert wird. Es bleibt
unklar, was das genau bedeutet und warum es Teil der intergenerationalen Solida-
rität ist. Auch bei den anderen Dimensionen fi ndet sich zum Teil eine sehr weite
Bedeutung, deren Einbindung in das theoretische Modell der intergenerationalen
Solidarität nicht wirklich befriedigt (vgl. Grünendahl 2001).
Lüscher und Liegle (2003) kritisieren das Konzept der Solidarität als Grundla-
ge für die Steuerung von Familienbeziehungen, da es die unterschiedlichen Bezie-
hungsdynamiken vernachlässigt und nicht berücksichtigt, dass die Beziehungen
auch Ergebnis von Prozessen wechselseitiger Abstimmung, Kompromissen und
den jeweiligen Rahmenbedingungen sein können (vgl. Lüscher und Liegle 2003,
S. 267ff.) Er bietet dafür das Konzept der Beziehungslogik an. „Unter Beziehungs-
logik verstehen wir die Prinzipien, gemäß derer in Sozietäten Sinngebungen und
Bedeutungen für soziale Beziehungen konstituiert werden (können). Diese Sinn-
gebungen finden, wenn wir uns an den Fall der Generationenbeziehungen halten,
ihren empirischen Ausdruck in der Art und Weise, wie die Angehörigen unter-
schiedlicher Generationen miteinander handeln, wie sie über dieses Handeln
denken und welche Handlungsweisen sie entwickeln. Dazu gehört im Weiteren,
nach welchen Grundsätzen Transfers von Wissen, von Eigentum und Besitz ge-
staltet werden. Wesentlich an dieser Umschreibung ist, dass die Beziehungslo-
gik aufgefasst wird als kulturelle Vorgabe, die Prozesse der Interpretation (eben
durch Reden und durch Handeln) leiten. Die Beziehungslogik kann man sich als
ein hierarchisches System vorstellen, in dem - ausgehend von allgemeinsten Prin-
zipien - zusehends spezifische Regeln formuliert werden“(Lüscher und Pillemer
1996, S. 9). Das bedeutet, dass soziale Beziehungslogiken allgemeine Gestaltungs-
prinzipien sind, deren Ordnungscharakter einerseits auf die empirische Regelhaf-
tigkeit der Interpretationen und andererseits auf die Gestaltungsoffenheit sozialer
Beziehungen verweist (vgl. Hormann 2013). Im Zuge des sozialen Wandels ent-
stehen jedoch Ansprüche und Wertsetzungen, die miteinander in Konflikt stehen
können, denn Generationenbeziehungen und -verhältnisse basieren nicht nur auf
wechselseitiger Unterstützung, sondern sind auch durch Konflikte gekennzeich-
net (Lüscher 1993). Lüscher und Pillemer (1996) verwenden hierfür das Konzept
der Ambivalenz. „Als soziologisches Konzept soll der Begriff der Ambivalenz ver-
wendet werden, um Erfahrungen und Einsichten von Widersprüchen des Han-
delns, sozialer Strukturen, individueller und gesellschaft licher Entwicklung im
Horizont einer prinzipiellen Unauflösbarkeit zu bezeichnen. Ambivalenzen ver-
weisen somit auf die Offenheit von Entscheidungen, denen es letztlich an Ein-
deutigkeit mangelt bzw. mangeln muss“ (Lüscher und Pajung-Bilger 1998, S. 30f.).
158 Marina Hennig
Gerade vor dem Hintergrund der Zunahme älterer Menschen spielen Ambivalen-
zen eine große Rolle, beispielsweise bei der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege
(Naegele und Reichert 1998; Reichert und Naegele 1999). Die Frage, wie sich denn
die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, insbesondere mit dem Blick auf
eine Zunahme von Mehrgenerationenkonstellationen gestalten, ist nicht (allein)
durch den Rückgriff auf gültige Solidaritätsnormen zu beantworten. Hierbei geht
es nach Lüscher (2000) vielmehr um Aushandlungsprozesse zwischen individu-
ellen Wünschen und intergenerationalen Verpflichtungen, zwischen widerstrei-
tenden Gefühlen von Verbundenheit und Eigenständigkeit, zwischen Normen
der Selbstverwirklichung und der sozialen Bindung. Solidarität zwischen den
Generationen kann dabei eine Erklärung bei der Ausgestaltung von Familien-
beziehungen sein, aber es ist keine ausreichende. Denn es kann auch zur Frag-
mentierung von Familien kommen und problematische, konfl iktbehaftete Kon-
stellationen können ebenfalls ein Resultat familialer Entwicklungsprozesse sein.
Das Konzept der Ambivalenz verortet Generationenbeziehungen im Span-
nungsfeld von solidarischem und konfliktbeladenem Handeln und Solidarität
drückt dabei die Verbundenheit der Familienmitglieder bei Abwesenheit von
Konflikten aus. Aus dem Ambivalenzkonzept lässt sich zunächst erst einmal für
die weitere Diskussion ableiten, dass es kein eindeutiges bzw. verbindliches Mus-
ter für besonders positive oder solidarische Generationenbeziehungen gibt. Sie
können sowohl eng als auch behindernd sein.
Es bleibt aber offen welche Beziehungslogiken solidarisches bzw. konfliktbela-
denes Handeln in intergenerationalen Familienbeziehungen beeinflussen, so dass
ich im Folgenden die Konzepte der Reziprozität und des sozialen Austausches
als Beziehungslogiken für das soziale Handeln in Familien diskutieren werde, da
sie neben dem Solidaritätskonzept am häufigsten zur Erklärung von Hilfe und
Unterstützung im intergenerationalen Kontext herangezogen werden (vgl. Grü-
nendahl 2001; Hormann 2013). Zum Schluss werde ich auf das Konzept des Ga-
bentausches, vor allem auf die Weiterentwicklung durch die Anthropologie und
Philosophie eingehen, da aus meiner Sicht dieses Konzept am besten geeignet
scheint, die Beziehungslogiken im Spannungsfeld von solidarischem und kon-
fliktbeladenen Handeln zu erklären8.
8 Neben diesen Konzepten gibt es weitere Beziehungslogiken, wie den Altruismus oder
der Intimität, auf die aber hier nicht gesondert eingegangen werden soll (siehe hierzu
Hormann 2013).
Familie als Netzwerk 159
Diese Norm verlangt, anderen Menschen jene Hilfe zukommen zu lassen, die sie
benötigen, ohne daran zu denken, welche Hilfen diese in der Vergangenheit gege-
ben haben oder in Zukunft geben oder bekommen werden (vgl. Gouldner [1984]
2005). Dieser normative Altruismus wie Gouldner ihn hier formuliert, lässt je-
doch die Frage aufkommen, inwieweit die Reziprozitätserwägungen überhaupt
eine tragfähige Beziehungslogik abgeben, wenn sich die Ressourcenverteilung in
den Generationenbeziehungen soweit verschiebt, dass die jüngere Generation kei-
ne adäquaten Gegenleistungen für ihre Unterstützungen erwarten kann. In die-
sem Zusammenhang weist Hollstein (2005, S. 188 ff.) darauf hin, dass zwei weitere
Aspekte für die Bedeutung der Reziprozitätsnorm in familialen Austauschprozes-
sen relevant sind: zum einen der Zeitraum, den die Tauschpartner ihrer jeweiligen
Bilanzierung der gegebenen und empfangenen Leistungen zugrunde legen, zum
anderen dem Modus der Verknüpfung von Gabe und Gegengabe.
Daher verweist Hollstein (2005) auf die Erweiterung des Reziprozitätskon-
zepts durch Wentowski (1981), die zwischen „unmittelbarer“, „verzögerter“ und
„generalisierter“ Reziprozität unterscheidet. Unmittelbare Reziprozität bezieht
sich dabei auf einen praktisch gleichzeitigen Austausch nahezu äquivalenter Leis-
tungen. Voraussetzung dafür ist, dass die Leistung gut messbar und bei beiden
Interaktionspartnern gleichzeitig vorhanden ist. Da bei der unmittelbaren Rezi-
prozität keine Verpflichtung für eine der beiden „Vertragsseiten“ bestehen bleibt,
kennzeichnet dieses Prinzip vor allem wenig verbindliche und auf kurze Dauer
angelegte Beziehungen (Wentowski 1981). Bei der verzögerten Reziprozität wird
die Geschichte der Reziprozität in stärkerem Maße berücksichtigt, d.h. Vertrauen
in den Fortbestand der Beziehung und das Wissen um bereits erbrachte Leistun-
gen führt zu einer zeitlich ausgedehnteren Vorstellung von Reziprozität. Daher
findet sich die verzögerte Reziprozität vor allem in Beziehungen, die auf Konti-
nuität bzw. Langfristigkeit angelegt sind und ist persönlicher als die unmittelbare
Reziprozität, die häufiger zwischen Nachbarn oder auch Fremden zu finden ist
(Wentowski 1981).
In beiden Formen der Reziprozität sind die Akteure an einem Ausgleich zwi-
schen Geben und Nehmen im Rahmen ihrer Beziehung interessiert. Anders bei
der generalisierten Reziprozität. Hier geht es weniger um den langfristigen Aus-
gleich von Leistung und Gegenleistung als vielmehr um die grundsätzliche Bereit-
schaft eine erhaltene Leistung, dann zurückzugeben, wenn die Gelegenheit dazu
vorhanden ist oder der Bedarf. Das heißt, dass generalisierte Reziprozität über die
Betrachtung einzelner Beziehungen hinausgeht und Anteile einer moralischen
Norm der Gegenseitigkeit implizieren kann (Malinowski 1929). Es wird nicht der
Ausgleich zwischen Geben und Nehmen im Rahmen einer Dyade erwartet „son-
dern das Zustandekommen von ‚Gerechtigkeit’ über ein System von Beziehungen
Familie als Netzwerk 161
und Kontexten hinweg“ (Grünendahl 2001, S. 21). Hierzu bedarf es neben dem
„Glauben an eine gerechte Welt“ (Grünendahl 2001, S. 21) auch der Empathie des
Gebenden, nämlich zu erkennen in welcher Lage sich der Hilfesuchende befindet
und diese nachvollziehen zu können. Anders aber als im normativen Altruismus,
wie ihn Gouldner ([1984] 2005) formuliert, wird im Konzept der generalisierten
Reziprozität eine Pfl icht zur Hilfe mit den Vorleistungen, die aus einer gemeinsa-
men Beziehungsgeschichte resultieren, begründet. Es wurde bereits darauf hin-
gewiesen, dass für eine verzögerte oder auch aufgeschobene Reziprozität Vertrau-
en in eine langfristige Austauschbeziehung eine wesentliche Voraussetzung ist,
umso mehr, je länger die Tauschbeziehung nicht ausgeglichen ist. Damit spielt die
mögliche Dauer einer Beziehung eine wesentliche Rolle für alle Beziehungen, die
auf dem Prinzip der verzögerten Reziprozität beruhen. Insbesondere Verwandt-
schaftsbeziehungen, in denen einer der Tauschpartner auf längere Sicht nicht zu
Gegengaben in der Lage ist, verfügen damit über einen „komparativen Vorteil […]
gegenüber nichtverwandtschaft lichen“ (Diewald 1991, S. 107). Das setzt allerdings
voraus, dass entsprechende Reziprozitätsverpflichtungen, die aus wechselseitigen
Tauschhandlungen resultieren, überhaupt bestehen. In diesem Fall haben vor al-
lem Beziehungen zwischen Eltern und Kindern einen strukturellen Vorteil, „da
sie sich im Unterschied zu den übrigen Verwandtschaftsbeziehungen vor allem
im Vollzug der (all)täglichen Aufgaben und Routinen verwirklichen, aus denen
entsprechende Unterstützungsansprüche resultieren...“ (Hormann 2013, S. 76).
Allerdings sprechen zwei Argumente gegen die Annahme der Reziprozität als
Beziehungslogik für Unterstützungsleistungen in Familien. Zum einen verwei-
sen Studien (Künemund und Hollstein 2000; Silverstein et al. 2002) darauf, dass
die Vorleistungen der Eltern nicht automatisch zu stärkerer zukünft iger Unter-
stützung bei den Kinder führt, sondern, dass vielmehr bei bestimmten Formen
des Austauschs – wie im Falle verminderter gesundheitlicher Ressourcen bei den
Müttern – die Bereitschaft der Kinder, mehr zu leisten, sich dann zu erhöhen
scheint, wenn ein erhöhter Unterstützungsbedarf seitens der Eltern vorliegt. Zum
anderen verweist Wentowski (1981) darauf, dass sich aus gemeinsamen Tausch-
prozessen zwischen Nicht-Verwandten ebenso tiefe Gefühle eines wechselseiti-
gen Vertrauens entwickeln können, die die Erwartung einer Unterstützung von
einer konkreten Gegenleistung unabhängig macht. Damit sind die strukturellen
Unterschiede, in den Beziehungen mit Verwandten und Nicht-Verwandten für
das vermutete Unterstützungspotenzial unbedeutend, wenn die Akteure an der
Vorgeschichte gegenseitiger Hilfe und nicht an der langfristigen Äquivalenz von
Leistungen und Gegenleistungen orientiert sind (vgl. Wentowski 1981, S. 605).
162 Marina Hennig
Eng mit dem Prinzip der Reziprozität ist das Konzept des sozialen Austausches
verbunden. Jedoch wird hierbei Unterstützung aus der Perspektive eines subjektiv
rational handelnden Akteurs betrachtet. Dabei ist der Akteur bestrebt, die ihm
zur Verfügung stehenden Ressourcen so einzusetzen, dass er ein optimales Kos-
ten-Nutzen-Verhältnis durch seine Handlungen erlangt. Die Grundannahme der
Austauschtheorie besagt, dass Menschen neue soziale Beziehungen eingehen, weil
sie erwarten, dass diese mit Belohnungen für sie verbunden sind. Beziehungen zu
bereits vorhandenen Freunden oder Bekannten werden ausgedehnt, weil sie diese
als tatsächlich belohnend empfinden (Blau 1964). Demnach kommt eine soziale
Beziehung durch einen Austausch zustande bzw. wird verstärkt, wobei die be-
teiligten Personen in verschiedene, z.T. multiplexe Typen von Beziehungen ein-
gebunden sein können. Trotz der Nähe zur ökonomischen Theorie ist Austausch
nicht auf Märkte oder ökonomische Gegebenheiten beschränkt, sondern fi ndet
auch als sozialer Austausch statt, indem sich Nachbarn gegenseitig helfen, Ideen
in Diskussionsrunden ausgetauscht werden, Freunde sich gegenseitig unterstüt-
zen und dergleichen mehr. So zielt das Austauschkonzept nach Blau ([1968] 2005,
S. 129) auf alle „[…] freiwilligen sozialen Handlungen ab, die von den belohnen-
den Reaktionen anderer abhängig sind, und die eingestellt werden, wenn diese
erwarteten Reaktionen nicht eintreffen.“.
Blau (1964) geht in Anlehnung an Mauss (1989) vom Reziprozitätsprinzip als
Grundlage für die Herausbildung sozialer Beziehungen aus. Er postuliert aber
keine generalisierte Reziprozitätsnorm, an die sich alle Gesellschaftsmitglieder
halten, sondern führt Reziprozität auf die Bedingungen des Austausches selbst
zurück. So sei es notwendig, dass Personen aufgrund ihres Interesses an fortge-
setztem Erhalt von Gratifi kationen bzw. Diensten, die sie nur innerhalb der sozia-
len Interaktion bekommen können, ihren Verpfl ichtungen gegenüber der jeweils
anderen Person nachkommen. Der soziale Austausch unterscheidet sich vom rein
ökonomischen Austausch dahingehend, dass es keinen festen Preis gibt, sondern
die Gegenleistung im Ermessen desjenigen verbleibt, der sie erbringt. Deshalb
liegt die besondere Bedeutung des sozialen Austauschs in der Entwicklung ver-
trauensvoller und freundschaft licher Beziehungen, die durch „[…] Mechanismen
wie soziale Normen, […] das Aushandeln der Gegenleistung oder die übereilte
Erfüllung der Verpflichtung untersagen“ (Blau [1968] 2005, S. 132), geschützt
werden. Typische Belohnungen, die beim sozialen Austausch auftreten und die
keinen exakten Preis oder materiellen Wert haben, sind bei Blau ([1968] 2005) ge-
sellschaft liche Anerkennung und Respekt.
Familie als Netzwerk 163
Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Annahmen einer sozialen Aus-
tauschtheorie auf die erbrachten familialen Unterstützungsleistungen überhaupt
übertragen werden können. Nach Blau (1964) basiert sozialer Austausch auf frei-
willigen Transfers zwischen Individuen. Diese Freiwilligkeit des Handelns kann
jedoch in Tauschbeziehungen mit Familienangehörigen, insbesondere zwischen
Eltern und Kindern, nicht uneingeschränkt als freiwillig angesehen werden.
Denn einerseits ist der Tausch zwischen Eltern und Kindern prinzipiell auf Lang-
fristigkeit angelegt, andererseits können die Kosten, die entstehen wenn man die-
se Beziehung verlässt, wie gesellschaft liche Ächtung oder rechtliche Sanktionen,
ungleich höher sein (Nye 1979). Hinzukommt, dass die frühen und oft bis ins
Erwachsenalter fortbestehenden Investitionen der Eltern in ihre Kinder in Form
von Erziehung, Fürsorge, finanzieller Unterstützung kaum in äquivalenter Weise
ausgeglichen werden können und es unter einer reinen Nutzenperspektive eher
unwahrscheinlich ist, dass diese handlungsleitend sind (Nye1979).
Die hier gemachten Ausführungen sollten verdeutlichen, dass zumindest aus
theoretischer Sicht starke Bedenken gegenüber dem Versuch Familienbeziehun-
gen aus der Beziehungslogik des sozialen Austausches zu erklären oder als Son-
derfall (Nauck 1989, S. 51) der Austauschtheorie zu betrachten, bestehen. Auch
wenn Nutzenerwägungen möglicherweise Tauschbeziehungen motivieren, liegt
es in der besonderen Natur der Familienbeziehungen, dass ihnen kein besonderes
Gewicht zugemessen werden sollte.
Ein Konzept, aus dem das Prinzip der Reziprozität seinen Ursprung nahm, das
aber davon unabhängig eine Weiterentwicklung insbesondere durch die Anth-
ropologie und die Philosophie erfahren hat, ist der Gabentausch. Zentral am Ga-
bentausch ist im Gegensatz zur Reziprozität, dass es für die Gabe keine Gegen-
leistung gibt. Die Gabe hat keinen Preis und wird dadurch unschätzbar. Dabei
umfasst die Gabe zweierlei Aspekte, zum einen die Sache die man gibt, als Ge-
schenk und zum anderen den Akt des Gebens, also die Geste jemanden etwas zu
geben. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Ricœur (2006) spricht beim
Gabentausch von der Geste der Großherzigkeit, die von den in den Rechtsbezie-
hungen herrschenden Äquivalenzformen befreit ist. Es gibt beim Gabentausch
keine Trennung zwischen der Gabe und der Interaktion zwischen dem, der gibt,
und dem, der nimmt, sondern es entsteht vor dem Hintergrund der Gabe eine
soziale Beziehung. Auch wenn dem Gabentausch zunächst eine Tauschbeziehung
zugrunde liegt, unterscheidet sich diese aber vom sozialen Austausch dadurch,
164 Marina Hennig
dass hierbei der Grad der sozialen Nähe zwischen den Transakteuren betont wird.
Der Gabentausch schafft laut Gregory (1997) eine qualitative Beziehung, d.h. eine
soziale Beziehung zwischen den Personen. Dabei ist der Gabentausch, wie bei
Mauss (1968) und Goulder (1960) angenommen nicht als Dyade von Gabe und
Gegengabe zu verstehen (Weiner 1980, S. 71), denn der Akt des Tausches steht in
einer Kette von „früheren und zukünft igen Transaktionen und darüberhinaus-
gehenden Beziehungen“ (Deterts 2002, S. 35). Aus diesem Grund fasst Deterts
(2002) „den Gabentausch als einen Mechanismus, der eine soziale Beziehung
zwischen den Transakteuren sichtbar macht, wobei er bestehende Beziehungen
erneuert und neue schafft. Eine Gegengabe beendet eine Transaktion, aber nicht
eine soziale Beziehung... Eine soziale Beziehung endet, wenn sie nicht stets, zum
Beispiel durch Besuche, Unterstützung und Gaben aktiviert wird oder wenn sie
nicht anderweitig, zum Beispiel durch Konflikte unterbrochen wird. Die Trans-
akteure bedürfen aber der Gaben, um ihre sozialen Beziehungen zu erneuern und
sichtbar zu machen...“ (Deterts 2002, S. 35). Insofern werden Gaben durch soziale
Beziehungen konstituiert und sie konstituieren soziale Beziehungen. Dabei ist die
Gabe nicht entfremdbar9 (Weiner 1985), denn sie ist an eine soziale Beziehung
gebunden. Sie macht dabei „nicht nur aktuelle Beziehungen sichtbar, sondern re-
flektiert auch vergangene und bewirkt zukünft ige“ (Deters 2002, S. 39). Das be-
deutet jedoch nicht, wie von Weiner (1985) angenommen, dass die Verbindung
zwischen Gabe und Geber aus der Kontrolle und den Rechten an den Objekten
hergeleitet werden kann, noch dass hierarchische Beziehungen untermauert oder
dauerhaft tradiert werden. Deterts (2002) verweist darauf, dass zwischen Kont-
rolle und anhaltenden Rechten zum einen und zwischen Erinnerungen und kul-
turellen Assoziationen zum anderen unterschieden werden muss (Deterts 2002,
S 39). Das bedeutet, dass die Beziehungen zwischen Gabe und Geber im Moment
des Gebens besteht, darüber hinaus aber nicht tradiert werden muss. Sie bleibt
dann als aufgenommene soziale Beziehung in der Erinnerung des Nehmers. An-
ders ausgedrückt, wenn auch der Name des Gebers nicht weitergegeben wird, so
bleibt doch der Gabentausch als Ausdruck sozialer Beziehungen als Referenz be-
stehen. Damit kommt auch zum Ausdruck, dass die Gabe vor allem symbolische
9 Weiner (1985) hat sich mit der „Nicht-Entfremdbarkeit“ (zit. nach Deterts 2002, S. 38)
von Gaben auseinandergesetzt. Sie betont, dass es insbesondere in hierarchisch geglie-
derten Gesellschaften Objekte gibt, die nicht weitergegeben werden. Solche Objekte
schaffen durch ihre Verbindung zum Ursprung Identitäten von Personen und Gruppen
und unterstreichen damit deren Kontinuität (vgl. Weiner 1985, S. 210). Deterts geht
noch ein Stück weiter in dem sie die Gabe als Ausdruck der sozialen Beziehung des
Gebers, mit dem sie stets in Verbindung steht, betrachtet, so dass sie in diesem Sinne
nicht „entfremdbar“ ist (Deterts 2002, S. 38).
Familie als Netzwerk 165
Bedeutung hat. Insbesondere Liebe oder Freundschaft sind Akte oder Formen
des Gebens, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wird, dass heißt ohne Kal-
kül. Insbesondere die Nächstenliebe, ist wie Kirkegaard (2004) betont ein Akt
des Gebens ohne Kalkül. Hier muss man seinen Nächsten lieben wie sich selbst,
denn im Gebot der Nächstenliebe sieht man in der anderen Person nichts anderes
als eine Person wie sich selbst, d.h. man sieht sich darin selbst ungeachtet dessen
was den anderen ausmacht, was ihn charakterisiert. Mit anderen Worten man
ignoriert alle Eigenschaften und Merkmale, die jemanden sympathisch oder un-
sympathisch machen bzw. man gibt unabhängig von sich selbst und unbestimmt
vom Anderen. Aber dennoch besteht Kirkegaard (2004) darauf, dass man sich
selbst genauso lieben muss, wie den Nächsten. Dahinter steckt der Gedanke, dass
die altruistische Liebe, die altruistische Großzügigkeit auf der Eigenliebe beruht.
Dabei ist Eigenliebe von Eigensucht zu unterscheiden, weil Eigensucht immer den
Anderen braucht, Eigenliebe hingegen nicht.
Die Güte der Gabe hängt von der Fähigkeit ab, sie anzunehmen, wie Mauss
(1968) schon betonte. Eine Gabe muss selbstlos gegeben werden und unbefangen
angenommen werden, um eine Gabe zu bleiben, ansonsten wird sie zur Schuld.
Wichtiger als die Gabe an sich ist die Geste des Gebens. Paul Ricœur (2006) be-
tont, dass die Geste des Gebens bezeichnet ist, nämlich als eine soziale Bezie-
hung. Indem sie diese bezeichnet bzw. symbolisiert stellt sie diese her. Die Geste
dient dazu, eine Beziehung herzustellen und aufrechtzuerhalten, zwischen dem,
der das Geschenk macht, und dem, der das Geschenk erhält. In ihrem Buch „The
gender of the gift“ setzt sich Strathern (1988) mit dem Handeln und den sozia-
len Beziehungen auseinander. In ihrem Konzept der melanesischen Gesellschaft
sieht sie „Menschen nicht als autonome selbstbestimmte, eine abgeschlossene
Einheit verkörpernde Individuen... ; vielmehr als teilbare Personen... Personen
‚sind’ (nach Iteanu 1990) Beziehungen mit einer Vielzahl anderer Personen und
sie (inter)agieren in Hinsicht auf diese Beziehungen10. Indem die aus Beziehungen
zusammengesetzte Person interagiert, kehrt sie ihre Beziehungen nach außen, ak-
tiviert sie und macht sie so sichtbar“ (zit. nach Deters 2002, S. 46). Hierbei sind die
Handlungen von Personen stets sowohl Ursache als auch Ergebnis weiterer Hand-
lungen. Das bedeutet zum einen, dass „agents do not cause their own actions, they
are not the authors of their own acts. They simply do them“ (Strathern 1988, S.
10 So kamen wir im Rahmen unserer Studien zum Einfluss des Habitus auf die Heraus-
bildung von Netzwerkstrukturen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass anders als der Begriff
des Knoten suggeriert, die Akteure selbst als ein Geflecht von Beziehungen aufgefasst
werden müssen (vgl. Hennig und Kohl 2011). Von der Struktur dieses Beziehungsge-
flechtes hängt es dann ab, was dem Einzelnen möglich ist und was nicht.
166 Marina Hennig
14f.). Zum anderen bedeutet es, dass auf einen aktiven Zustand ein passiver Zu-
stand folgt, denn eine passive Person ist zuvor eine aktive gewesen. Es handelt sich
dabei um einen dynamischen Prozess, der auch Spannungen und Widersprüche,
sowie konstruktive und destruktive Einflüsse miteinschließt.
Eine Person verändert im Laufe ihres Lebens, durch die Lebensstufen bedingt,
die sozialen Beziehungen. Darüber hinaus werden diese Übergänge11 durch den
Gabentausch sichtbar gemacht. Der Gabentausch verändert die Identität einer
Person, indem die Gabe soziale Beziehungen schafft, die vom Geber „gelöst“ vom
Nehmer angenommen werden und somit ihr soziales Netzwerk und ihre Identität
verändern. Der Prozess der Identitätsänderung basiert nicht allein auf einer ein-
zelnen aktuellen Tauschhandlung, sondern greift darüber hinaus auf die Tausch-
handlungen der Vergangenheit zurück und antizipiert die Zukunft. Insofern trägt
der Gabentausch zur sozialen Reproduktion bei, indem sich die Gaben einerseits
und die sozialen Beziehungen und sozialen Identitäten andererseits wechselseitig
hervorbringen.
Fasst man die hier vorgetragenen Argumente zusammen, zeigt sich, dass Fa-
milienbeziehungen nicht von der Durchsetzung einer bestimmten Beziehungs-
logik abhängen. Sowohl die heutigen Generationenbeziehungen und die damit
verbundene Erweiterung des gemeinsamen Aufgabenspektrums als auch die
zunehmenden außerverwandtschaft lichen Kontakte erhöhen die Möglichkeiten
wie auch die Notwendigkeiten, soziale Unterstützung im persönlichen Netzwerk
zu gewährleisten. Wie und wer Hilfeleistungen im familialen Netzwerken gibt
bzw. erhält und wovon diese abhängen, scheint letztendlich ein Aushandlungs-
prozess zwischen den Akteuren zu sein, wobei sich diese aus den verschiedenen
Beziehungslogiken ergeben, die situationsspezifisch verwendet werden (Finch
und Mason 1993). Vor allem das weiterentwickelte Konzept des Gabentausches,
in dem die Gabe von den in den Rechtsbeziehungen herrschenden Äquivalenz-
formen befreit ist, scheint für die Art und Weise von Unterstützungsleistungen
in intergenerationalen Beziehungen ein hohes Erklärungspotential zu haben. Die
Überlegungen, dass Personen eine Art Knoten sozialer Beziehungen darstellen,
die aus einer Vielzahl von Interaktionen mit anderen Personen aus diesen Be-
ziehungen resultieren (vgl. Hennig und Kohl 2011; Strathern 1988), verdeutlichen
die Komplexität, die bei der Präferenzordnung, wann und wie Familienbeziehun-
gen vor anderen Beziehungen rangieren (Künemund und Hollstein 2000) zum
Tragen kommt. Dass es sich dabei um einen dynamischen Prozess handelt, der
Ambivalenzen, d.h. auch Spannungen und Widersprüche, sowie konstruktive
und destruktive Einflüsse miteinschließt, darauf verweisen sowohl Lüscher und
Pillemer(1996) als auch Strathern (1988).
4 Fazit
Lassen wir das Gesagte Revue passieren, so kann man festhalten, dass sich Fa-
milien nicht ausschließlich durch gemeinsames Wohnen und Wirtschaften
konstituieren, sondern als ein privates soziales Netz aufgefasst werden können,
welches von den Familienmitgliedern immer wieder hergestellt wird, und dass
sich über verschiedene Funktionen konstituiert, in deren Zentrum gegenseitige
Bindungen und Unterstützung stehen. Familiennetzwerke umfassen das Zusam-
menleben mehrerer Generationen, wobei dieses Zusammenleben nicht an den
Haushalt gebunden ist, wie die räumliche Struktur der vorgestellten Daten ver-
deutlichte. In sozialer Hinsicht spiegeln die Ergebnisse eine Beziehungsrealität
wider, die zeigt, dass neben Angehörigen der Kernfamilie, der Herkunftsfamilien
sowie der weiteren Verwandtschaft auch Nichtverwandte in das Familienleben
eingebunden sind. Auch wenn die zur Verfügung stehenden Daten des SOEP nur
ansatzweise Analysen zur Dynamik der Generationsbeziehungen ermöglichen,
zeigt sich doch, dass mit der Alterung der Bevölkerung und dem Anstieg der Le-
benserwartung die Generationsbeziehungen zugenommen haben, bei gleichzeitig
zunehmender räumlicher Distanz. Dass das Zusammenleben der Generationen
im Familiennetzwerk nicht immer konfliktfrei erfolgt, lassen die Daten zur Frage,
mit wem man häufiger in Streit oder Konflikt gerät, erahnen. Die Dynamik in den
Familiennetzwerken resultiert vor allem aus dem Älterwerden der Familienmit-
glieder und aus den Veränderungen im Familienstand. Das bedeutet, dass jene,
die ihre Lebensform in den letzten 20 Jahren gewechselt haben - das betrifft je-
doch nur 35% aller Befragten im Panel - auch Veränderungen in ihren Familien-
netzwerken erfahren haben, während sich die Generationenkonstellationen und
auch die räumliche Struktur im Zusammenleben bei der Mehrheit aufgrund des
Älterwerdens (bei etwas mehr als 60%) der Befragten verändert hat.
Die Diskussion um die Frage, welche sozialen Mechanismen der familiären
Beziehungsgestaltung in hochdifferenzierten Gesellschaften zugrunde liegen,
ließ sich nicht eindeutig beantworten. Im Ergebnis dieser Diskussion kann je-
doch resümiert werden, dass die familialen Beziehungen insbesondere bei den
Motiven sozialer Unterstützungsleistungen nicht nach einer Beziehungslogik ge-
168 Marina Hennig
staltet werden. Es zeigte sich dabei, dass Belastungen und Unterstützung durch
intergenerationale Beziehungen in gleicher Weise zu berücksichtigen sind und
dass es kein verbindliches Muster für besonders positive oder solidarische Ge-
nerationsbeziehungen gibt. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der ver-
schiedenen Generationen können auch zu eng und hinderlich für die individuelle
oder gemeinschaft liche Entwicklung sein. Insofern ist es wichtig bei der Analyse
von intergenerationalen Beziehungen die gesamte Lebenssituation der jeweiligen
Personen mit einzubeziehen, um die dahinterliegende Beziehungslogik zu erken-
nen. Denn wie die Diskussion insbesondere hinsichtlich des Konzepts des Ga-
bentausches gezeigt hat, sind Personen keine autonomen selbstbestimmten und
abgeschlossenen Einheiten, sondern ein Bündel sozialer Beziehungen, die aus
einer Vielzahl von Interaktionen mit anderen Personen aus diesen Beziehungen
resultieren. Damit agieren die Individuen auch in intergenerationalen Beziehun-
gen immer in Relationen zu Anderen, so dass Familie eine Herstellungsleistung
ist, ein dynamischer Prozess, der konstruktive und destruktive Einflüsse, d.h.
Ambivalenzen (Spannungen und Widersprüche) miteinschließt. Das Besondere
aber bei intergenerationalen Beziehungen gegenüber anderen Beziehungen ist,
dass insbesondere in der Familie Hilfe und Unterstützung nicht zwangsläufig aus
einer vorhandenen Vorleistung resultieren muss, wie beim Konzept der Rezipro-
zität angenommen. Daher scheint mir das weiter entwickelte Konzept des Gaben-
tauschs als Beziehungslogik hier besser geeignet, da es die soziale Nähe zwischen
den Akteuren betont, die eine qualitative soziale Beziehung schafft und weder
kulturelle Vorgaben noch moralische Normen oder Kosten-Nutzen-Kalküle für
das Handeln heranzieht, sondern vielmehr die Geste einer Gabe, die eine soziale
Beziehung herstellt und aufrechterhält. Um die Beziehungslogiken von intergene-
rationalen Familienbeziehungen empirisch sichtbar zu machen, bedarf es daher
eines netzwerkanalytischen Zugangs, der aber nicht nur die Beziehungen der ein-
zelnen Akteure zueinander und zu anderen erfasst, sondern auch die dahinter-
liegenden Geschichten oder Stories (White 1992). Denn erst mit Hilfe einer Story
wird die Beziehungslogik, die die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen
der Beteiligten einbeziehen, sichtbar. Indem die Story im Netzwerk zirkuliert,
werden zum einen Erwartungen der Beteiligten koordiniert, zum anderen aber
auch die Erwartungen Dritter. Das heißt, dass soziale Beziehungen ihre soziale
Realität erst durch ihre Reproduktion im Narrativen erlangen. Denn für alle Ak-
teure stellt sich immer wieder die Frage, wie bestehende Verbindungen zu inter-
pretieren sind und welche Verbindungen ein Netzwerk tatsächlich ermöglicht.
Der Blick auf die Familie über die Haushaltsgrenzen hinweg, eröff net uns den
Blick auf die vernachlässigten Seiten einer Beziehungsrealität, die der Haushalts-
sicht entgeht, aber den Familienalltag mitprägt. So sind die Familiennetzwerke
Familie als Netzwerk 169
nach wie vor eine grundlegende Stütze für die Gesellschaft insbesondere bei der
Pflege der Angehörigen und für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, wie die
Intensivierung der Generationenbeziehungen und die Unterstützung im Pflege-
fall in den vorgestellten Ergebnissen zeigten. Vor dem Hintergrund der zuneh-
menden Alterung der Gesellschaft und der zunehmenden Flexibilisierung der
Arbeitswelt, stellt sich jedoch die Frage, ob das was heute in den Familiennetzwer-
ken geleistet wird, auch zukünft ig noch in diesem Umfang realisiert werden kann.
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Beruflich bedingte Mobilitätserfahrungen
im Lebensverlauf und ihre Bedeutung
für die Familienentwicklung.
Ein Kohortenvergleich
Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
2 Konzeptionelle Überlegungen
zum Forschungsgegenstand „Familie“
Was ist Familie? Eine Antwort auf diese Frage mutet auf den ersten Blick einfach
an. Sie ist bei genauerem Hinsehen jedoch weder trivial, noch wird sie einheitlich
beantwortet. Ergebnisse einer aktuellen Studie über die Normalitätsvorstellungen
und Leitbilder zum Familienleben von Menschen in Deutschland zeigen etwa,
dass die überwiegende Mehrheit insbesondere Lebensformen mit Kindern als
Familie bezeichnet (Gründler et al. 2013). Eher von untergeordneter Bedeutung
sind die sexuelle Orientierung sowie der Ehestatus, d. h. die Frage, ob das Paar
hetero- oder homosexuell, verheiratet oder unverheiratet ist. Gleichwohl ließ sich
in der Studie nur eine Lebensform identifizieren, die ausnahmslos von allen Be-
fragten als Familie bezeichnet wird: ein heterosexuelles Ehepaar mit Kindern. Die
Befunde weisen darauf hin, dass ein traditionelles Familienverständnis nach wie
vor weit verbreitet ist. Dieses stimmt jedoch mit der Lebenspraxis einer wachsen-
den Zahl von Menschen nicht mehr überein. Nichteheliche Lebensgemeinschaf-
ten mit und ohne Kinder, alleinerziehende Mütter und Väter oder Paare mit und
ohne Kinder, die nicht zusammenwohnen, aber solidarisch verbunden sind und
füreinander sorgen, sind Lebensformen, die sich in den letzten Jahrzehnten neben
der klassischen Familie etabliert haben. Eine zeitgenössische Familiensoziologie,
die der empirischen Vielfalt der Lebensweisen gerecht werden will, richtet ihr Stu-
dium demzufolge auch auf nichtkonventionelle Lebensformen, also solche, die
nicht der Kernfamilie entsprechen (weiterführend Schneider et al. 1998).
Da der Begriff Familie historisch wandelbar und zudem stark ideologisch auf-
geladen ist, ist er für sozialwissenschaft liche Analysen nur eingeschränkt ver-
wendbar. Angemessener ist die Verwendung eines objektiven Begriffs, wie der der
privaten Lebensform. Private Lebensformen bezeichnen haushaltsübergreifende,
relativ stabile Beziehungsmuster im privaten Bereich. Die Dreigenerationenfa-
milie ist demnach ebenso eine private Lebensform wie der Singlehaushalt oder
die Fernbeziehung. Der Begriff Lebensform wird dabei innerhalb der Soziologie
durchaus unterschiedlich defi niert. Vielfach wird er analog zu Haushaltstypen
verwendet (vgl. z. B. Hradil 1992). Lebensformen können jedoch über den Haus-
haltskontext hinausreichen. Zwei alleinwohnende Personen, die miteinander in
einer Partnerschaft leben, sind aus familiensoziologischer Sicht sinnvollerweise
nicht als zwei Singles oder Einpersonenhaushalte zu begreifen, sondern als eine
eigenständige Lebensform, die als Living Apart Together, Long Distance Rela-
tionship, Fernbeziehung (Schneider 2009) oder bilokale Paarbeziehung bezeich-
net wird (z. B. Dorbritz 2009). Familiale Lebensformen sind dabei eine Teilmenge
176 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
privater Lebensformen und zeichnen sich durch das Vorhandensein von Eltern-
Kind-Beziehungen aus.
Private Lebensformen sind keine starren Strukturtypen. Sie sind in ihrem
Entwicklungsverlauf durch wechselnde Aufgaben, Leistungen und Beziehungs-
muster geprägt. Sie sind ferner nicht über den gesamten Lebensverlauf bestän-
dig. Vielmehr entwickeln sich individuelle Lebensverläufe durch eine zeitliche
Abfolge unterschiedlicher Lebens- und Familienformen, deren Wechsel durch
Übergänge markiert wird. Entsprechend den Annahmen der Lebensverlaufsper-
spektive vollzieht sich diese Abfolge in wechselseitiger Abhängigkeit von anderen
Lebensbereichen (Elder 1994; Mayer 1990), wobei einzelne Lebensverlaufsdimen-
sionen in unterschiedlichen Lebensphasen eine unterschiedliche Priorität für die
Lebensgestaltung haben (Blossfeld und Huinink 2001). In modernen Gesellschaf-
ten werden familienrelevante Übergänge häufig an Übergängen in der Ausbil-
dungs- und Berufsbiografie orientiert. So erfolgt eine Familiengründung verbrei-
tet erst dann, wenn eine hinreichend stabile Berufsposition erreicht wurde und
infolgedessen gesicherte ökonomische Verhältnisse vorliegen (z. B. Blossfeld und
Huinink 1991). Prozesse der Partnerschafts- und Familienentwicklung entfalten
sich zudem stets in enger Beziehung zu den Lebensverläufen anderer Menschen
und finden in spezifischen räumlich-zeitlichen Kontexten statt (Elder 1994; Bloss-
feld und Huinink 2001). Lebensverläufe sind das Resultat eines Prozesses indivi-
dueller Handlungen und Entscheidungen, die an makrostrukturellen Rahmen-
bedingungen und kumulierten biografischen Erfahrungen orientiert sind (Mayer
1990). Regelmäßigkeiten zwischen Lebensverläufen hinsichtlich des Auft retens,
der biografischen Platzierung und der Dauer von Zuständen sind folglich we-
sentlich durch Werte, Normen und Institutionen beeinflusst. In räumlicher bzw.
zeitlicher Differenzierung sind demnach Variationen typischer Familienkarrie-
ren und -strukturen zu erwarten. Zugleich nimmt die kollektive Gestaltung von
Lebensverläufen Einfluss auf gesellschaft liche Strukturen. Eine Analyse typischer
Lebensverläufe unterschiedlicher Geburtskohorten kann somit zum Verständnis
des sozialen Wandels von Gesellschaften beitragen (Ryder 1965).
Ursachen von räumlicher Mobilität und ihre Folgen auf verschiedene Aspekte des
Lebensverlaufs sind schon seit längerer Zeit Gegenstand sozialwissenschaft licher
Forschung. In vielen Forschungsarbeiten, die das Zusammenwirken zwischen
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 177
ihrer empirischen Relevanz sind Formen zirkulärer Mobilität weitaus seltener als
Formen der Umzugsmobilität Gegenstand der wissenschaft lichen Auseinander-
setzung. Ebenfalls erfolgt selten eine Fokussierung auf räumliche Mobilität, die
auf beruflichen Gründen beruht. Es ist jedoch anzunehmen, dass berufl ich ver-
anlasster Mobilität andere Entscheidungs- und Handlungslogiken zugrunde lie-
gen als privat motivierten Nahumzügen und sich Zusammenhänge mit familialen
Prozessen demzufolge unterscheiden. So finden Studien, die ihren Fokus explizit
auf berufsbedingte räumliche Mobilität richten, Hinweise darauf, dass die Bereit-
schaft von Frauen berufl ich mobil zu sein deutlich sinkt, wenn sie mit Kindern
in einer Partnerschaft leben, währen dies für Männer nicht gilt (z. B. Rüger und
Becker 2011). Dieser Befund weist darauf hin, dass die Verantwortung für Familie
und Haushalt und die damit verbundenen Aufgaben nur unzureichend mit be-
rufsbezogenen Mobilitätsanforderungen vereinbar sind.
Auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse ist jedoch von einer wechsel-
seitigen Beziehung zwischen berufsbedingter räumlicher Mobilität und Prozes-
sen der privaten Lebensführung auszugehen. So wurden ebenfalls Evidenzen für
einen Einfluss berufsbedingter Mobilität auf Prozesse der Partnerschafts- und
Familienentwicklung gefunden. Eine wichtige Voraussetzung für Familien-
gründungsprozesse ist das Vorliegen einer stabilen Paarbeziehung (z. B. Eck-
hard 2006). Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen berufsbedingter
räumlicher Mobilität und Partnerschaftsprozessen auseinandersetzen, finden
Anhaltspunkte, dass berufsbedingte Mobilität bei Frauen die Etablierung einer
dauerhaften, höher institutionalisierten Partnerschaft erschweren kann. So sind
zirkulär mobile Frauen seltener verheiratet als nicht mobile Frauen (Rüger et al.
2011) und Partnerschaften einem erhöhten Trennungsrisiko ausgesetzt, wenn die
Frau (nicht jedoch der Mann) über weite Strecken zum Arbeitsplatz pendelt (Kley
2012). Einflüsse berufsbedingter Mobilität auf die Familienbildung können somit
teilweise bereits durch mobilitätsinduzierte Barrieren bei der Partnerschaftsent-
wicklung begründet sein.
Meil (2010a, b) untersuchte den Zusammenhang zwischen berufsbedingter
Mobilität und Prozessen der Partnerschafts- und Familienentwicklung mit Daten
der ersten Erhebungswelle der Studie „Job Mobilities and Family Lives in Euro-
pe“. Neben Informationen zur Partnerschafts- und Fertilitätsgeschichte wurden
in der Untersuchung auch subjektive Einschätzungen der Befragten bezüglich der
Bedeutung berufsbezogener Gründe für ihre familienbiografischen Erfahrungen
berücksichtigt. Demnach sind Personen mit gegenwärtigen oder vergangenen
kuläre Mobilität registriert wurde. Für die anderen untersuchten Länder zeigten sich
ähnliche Verteilungen.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 179
3 Die Daten der ersten Erhebungswelle der genannten Studie bieten detaillierte Infor-
mationen über Art und Umfang der berufsbedingten räumlichen Mobilität zum Be-
fragungszeitpunkt. Darüber hinaus liegen Informationen vor, ob die Befragten für
vergangene Tätigkeiten in der ein oder anderen Form hochgradig räumlich mobil wa-
ren (vgl. Schneider et al. 2011). Diese Informationen ermöglichen es, zwischen gegen-
wärtigen und vergangenen Mobilitätserfahrungen zu unterscheiden. Eine retrospek-
tive Erfassung sämtlicher bisheriger Mobilitätserfahrungen inklusive der Zeitpunkte
ihrer Aufnahme und Beendigung im Lebensverlauf erfolgte hingegen ausschließlich
im Rahmen der zweiten Erhebungswelle, die Grundlage des vorliegenden Beitrags ist.
4 Meil (2010a, S. 221; 2010b, S. 193) interpretiert diesen Befund als Ausdruck eines Selbst-
selektionsprozesses. Demnach beenden Frauen ihre Mobilität innerhalb ihrer repro-
duktiven Phase, wenn sie eine Familiengründung anstreben. Dem Autor zufolge wird
diese Interpretation durch den Befund gestützt, dass der Anteil mobiler Frauen mit
180 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
zunehmendem Alter stark zurückgeht. Für Männer lässt sich keine vergleichbare Al-
tersabhängigkeit feststellen.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 181
Die empirischen Analysen beruhen auf Daten der zweiten Welle der Studie „Job
Mobilities and Family Lives in Europe“. Die Erhebung der ersten Welle erfolg-
te im Jahr 2007. In sechs europäischen Ländern (Belgien, Frankreich, Spanien,
Schweiz, Polen und Deutschland) wurden insgesamt 7.220 zufällig ausgewählte
Personen im Alter zwischen 25 und 54 Jahren zu ihren Erfahrungen mit berufsbe-
dingter räumlicher Mobilität sowie zu unterschiedlichen Aspekten ihres Privat-
und Berufslebens befragt. In den Jahren 2010 und 2011 wurden in Deutschland,
Frankreich, Spanien und der Schweiz im Rahmen einer Wiederholungsbefragung
insgesamt 1.735 Teilnehmer der ersten Erhebung erneut befragt (Wiederbefra-
182 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
Tabelle 1 Anteile der Frauen mit mindestens einem Kind bis zum Alter von 33 Jahren,
nach Kohorte und Erhebungsland (in %)
Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten
Analysen nicht berücksichtigt. Die im Folgenden berichteten Ergebnisse auf Basis der
Stichproben aus Deutschland, Frankreich und Spanien verändern sich hinsichtlich des
generellen Trends jedoch nicht, wenn die Schweizer Stichprobe in die Analysen ein-
bezogen wird. Der Kontext in der Schweiz scheint mit Blick auf den untersuchten Sach-
verhalt einen gesonderten Fall dazustellen, der einer eigenen Untersuchung bedarf.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 185
Für Frauen der deutschen und der spanischen Stichprobe zeichnet sich zu den
jüngeren Geburtskohorten hin ein monotoner Rückgang des Anteils von Müt-
tern bis zum 34. Lebensjahr ab. Für Frauen der französischen Stichprobe zeigt
sich der größte Anteil an Müttern unter den 33-Jährigen in den Jahrgängen der
1960er Jahre. In der jüngsten Kohorte fällt aber auch hier der Anteil wie erwartet
am deutlich geringsten aus. Insgesamt lassen sich damit in der Stichprobe die
bekannten demografischen Trends eines zunehmenden Aufschubs der Ersteltern-
schaft in das vierte Lebensjahrzehnt abbilden.
Vor dem Hintergrund der Fragestellung ist von Interesse, ob Wandlungsten-
denzen im Mobilitätsaufkommen die beobachtbaren Veränderungsprozesse hin-
sichtlich des generativen Verhaltens beeinflusst haben könnten. Der Fokus der
vorliegenden Analysen richtet sich demnach auf Mobilitätsereignisse und -epi-
soden, die vor Geburt eines ersten Kindes begonnen wurden. Entsprechend der
Annahme, dass die Kohortendifferenzen hinsichtlich des Übergangs in die El-
ternschaft bei konstantem Mobilitätsgeschehen geringer ausfallen würden, wer-
den die Effekte der Geburtskohorte auf die Elternschaft ohne und mit Berücksich-
tigung von Mobilitätserfahrungen anhand von binär logistischen Regressionen
untersucht. Wir berücksichtigen dabei sukzessive unterschiedliche Dimensionen
des Mobilitätsgeschehens bis zum 34. Lebensjahr bzw. bis zur Geburt des ers-
ten Kindes: das Auft reten (differenziert nach Mobilitätsform), die Anzahl sowie
das Timing von Mobilitätsereignissen bzw. Mobilitätsepisoden im Lebensver-
lauf. Als Maße der Effektstärke werden die durchschnittlichen Marginaleffekte
(average marginal effects) herangezogen, welche den durchschnittlichen Effekt
einer unabhängigen Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, dass die abhängige
Variable den Wert eins annimmt (Elternschaft bis 33), ausweisen und für einen
Vergleich zwischen verschiedenen Modellen geeignet sind (Mood 2010; Best
und Wolf 2010). In allen Modellen wird für den höchsten erreichten Bildungs-
abschluss kontrolliert. Dies trägt dem empirischen Befund Rechnung, dass höher
gebildete Personen häufiger mobil sind als Personen mit vergleichsweise geringem
Bildungsniveau (Wagner 1989; Fischer und Malmberg 2001; Lück und Ruppent-
hal 2010). Ein hohes Bildungsniveau erhöht zugleich die Neigung, Geburten in
ein höheres Lebensalter zu verschieben, sowie die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft
kinderlos zu bleiben (Blossfeld und Huinink 1991; Gustafsson et al. 2002; Fürn-
kranz-Prskawetz et al. 2012). Darüber hinaus ist im Zuge der Bildungsexpansion
der Anteil an Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen in der Jahrgangsabfolge
gestiegen (Blossfeld und Jaenichen 1992; Müller et al. 1997). Eine Kontrolle für
das Bildungsniveau soll somit gewährleisten, dass Veränderungen in der Effekt-
stärke der Geburtsjahrgänge nach Aufnahme von Mobilitätsindikatoren nicht auf
186 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
5 Ergebnisse
Der sektorale Wandel von der Industrie- über die Dienstleistungs- zur wissens-
basierten Gesellschaft forciert die Herausbildung neuer Berufsgruppen, deren Tä-
tigkeit ein hohes Maß an Mobilität verlangt. Hochqualifi zierte und spezialisierte
Fachkräfte werden zunehmend in Projektzusammenhängen an wechselnden Ein-
satzorten benötigt. Diese Mobilitätserfordernisse manifestieren sich unter ande-
rem in häufigen Abwesenheiten unterschiedlicher Dauer vom Wohnort. Darüber
hinaus fördern Globalisierungsprozesse ein flexibles Personalmanagement (Kal-
leberg 2000). Dabei gehen insbesondere befristete Beschäftigungsverhältnisse mit
einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, aus beruflichen Gründen räumlich
mobil zu sein (z. B. Lück und Ruppenthal 2010). Eine zweite gesellschaft liche Ent-
wicklung, die eine zunehmende Verbreitung beruflich bedingter Mobilitätserfah-
rungen zur Folge haben dürfte, ist der Abbau geschlechtstypischer Differenzen
im Bildungsbereich und die zunehmende Arbeitsmarktpartizipation von Frauen.
Frauen werden zunehmend erwerbstätig und besetzen häufiger Stellen mit hohen
Qualifi kationsanforderungen. Die zunehmende Berufsorientierung von Frauen
hat zur Folge, dass ein steigender Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
mit der Forderung bzw. der Gelegenheit konfrontiert ist, berufsbedingt räumlich
mobil zu werden. Die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen führt darüber hinaus
zu einer Zunahme von Zweiverdienerpaaren. Für diese Paare können zirkuläre
Mobilitätsformen eine Möglichkeit bieten, die beruflichen Erfordernisse beider
Partner miteinander zu vereinbaren. Diese Entwicklungen begründen die An-
nahme eines (moderaten) Anstiegs beruflich bedingter Mobilitätserfahrungen
während der letzten Jahrzehnte, der insbesondere auf einer Zunahme zirkulärer
Mobilität beruht.
Im Folgenden wird die These einer zunehmenden Verbreitung beruflicher Mo-
bilitätserfahrungen in der Kohortenabfolge überprüft. Hierfür erfolgt ein Rück-
griff auf die vollständigen Berufs- und Mobilitätsbiografien der Befragten bis zum
Alter von 33 Jahren. Vor dem Hintergrund der Zielsetzung, mögliche Unterschie-
de im Mobilitätsgeschehen anschließend mit dem sich wandelnden Geburtenver-
halten in Verbindung zu bringen, richtet sich der Fokus auf Mobilitätsereignisse
und -episoden, die vor Geburt eines ersten Kindes begonnen wurden.8 Die fol-
genden Abbildungen 1 bis 3 geben, getrennt für die drei Geburtskohorten, die
kumulierten Anteile derjenigen Personen wieder, die in einem bestimmten Alter
mindestens einmal Erfahrungen mit berufsbedingter räumlicher Mobilität ge-
sammelt haben.
Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten
Ein Vergleich der Mobilitätserfahrungen zwischen den drei Kohorten zeigt, dass
Befragte der jüngsten Kohorte bis zum 34. Lebensjahr am häufigsten Erfahrun-
gen mit berufsbedingter Mobilität gesammelt haben (vgl. Abbildung 1a). Anstelle
eines monotonen Anstiegs des Anteils im Kohortenverlauf zeichnet sich jedoch
ein eher U-förmiger Verlauf des Anteils erster Mobilitätserfahrungen bis zum 34.
Lebensjahr im Zeitverlauf ab. So fällt der Anteil mobilitätserfahrener Personen in
der mittleren Geburtskohorte 1961-1970 im 34. Lebensjahr um 3,8 Prozentpunkte
geringer aus als in der ältesten. Anschließend steigt der Anteil mobilitätserfahre-
ner Befragter um 7,5 Prozentpunkte auf 47,6% in der jüngsten Kohorte.
Differenziert nach Mobilitätsform wird offensichtlich, dass der Anstieg von
Mobilitätserfahrungen ausschließlich auf eine zunehmende Verbreitung zirku-
lärer Mobilität zurückzuführen ist (vgl. Abbildung 1b und 1c). Hinsichtlich der
Verbreitung von Migrationserfahrungen zeigen sich keine nennenswerten Dif-
ferenzen (jeweils etwa jeder Fünfte hat Migrationserfahrungen). Demgegenüber
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 189
haben in der jüngsten Geburtskohorte zwei von fünf Befragten (42%) bis zum 34.
Lebensjahr Erfahrungen mit Fernpendeln oder häufigen berufsbedingten Aus-
wärtsübernachtungen gesammelt. Der Zuwachs gegenüber den Geburtskohorten
1952 bis 1960 und 1961 bis 1970 beträgt für dieses Altersjahr zwischen 8 und 9
Prozentpunkten. Im Folgenden wird daher ausschließlich das zirkuläre Mobili-
tätsverhalten differenzierter betrachtet.
Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten
Eine Differenzierung nach Erhebungsland ergibt, dass Personen der jüngsten Ko-
horte am häufigsten Erfahrungen mit zirkulärer Mobilität gesammelt haben (vgl.
Abbildung 2). Die Voraussetzung unserer Fragestellung, dass Mobilitätserfahrun-
gen tendenziell zur jüngsten Kohorte hin zugenommen haben (vgl. Abschnitt 4),
ist damit in allen Länderstichproben gegeben. Darüber hinaus lassen sich einige
Differenzen zwischen den Verläufen der drei Erhebungsländer feststellen. Auff äl-
190 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
lig sind die sprunghaften Anstiege erster Mobilitätserfahrungen bei der jüngsten
Geburtskohorte in der französischen Stichprobe. Diesem Verlauf liegt jedoch eine
sehr geringe Fallzahl zugrunde, eine inhaltliche Interpretation erscheint daher
nicht sinnvoll. Des Weiteren zeichnen sich Niveauunterschiede hinsichtlich der
Verbreitung von Mobilitätserfahrungen ab. So deuten die Befunde darauf hin,
dass die Wohnbevölkerung in Spanien deutlich seltener bis zum 34. Lebensjahr
zirkulär mobil wird, als in Deutschland oder Frankreich. Die Niveauunterschiede
bleiben auch dann bestehen, wenn zusätzlich Mobilitätsepisoden Berücksichti-
gung finden, die nach Geburt eines ersten Kindes begonnen haben (nicht dar-
gestellt).
Eine nach Geschlecht differenzierte Betrachtung offenbart: Während sich für
Männer nur vergleichsweise geringe Differenzen in Bezug auf die Verbreitung von
zirkulären Mobilitätserfahrungen bis zum 34. Lebensjahr im Kohortenvergleich
feststellen lassen (nicht dargestellt), ist für die jüngste Geburtskohorte ab dem
24. Lebensjahr ein starkes Anwachsen des Anteils mobilitätserfahrener Frauen zu
verzeichnen, der nach dem 26. Lebensjahr die Anteile der früher geborenen Ko-
horten übersteigt und im 34. Lebensjahr einen Wert von 35,8% erreicht. Demnach
fallen insbesondere die Mobilitätserfahrungen der 1970er-Jahrgänge in die Kern-
phase der Familiengründung, während sich die Zuwachsrate der Mobilitätserfah-
rungen für die Geburtskohorten 1952-1960 und 1961-1970 ab dem 25. Lebensjahr
abschwächt (vgl. Abbildung 3a).
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 191
Abbildung 3 Zirkuläre Mobilitätserfahrungen bis zum Alter von 33 Jahren bei Frauen,
kumuliert, nach Geburtskohorten und Mobilitätsform
Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten
1 2 3 4 5 6 7
Erhebungsland (Ref.=Deutschland)
Frankreich 0,156** 0,144** 0,148** 0,148** 0,140** 0,144** 0,138**
Spanien 0,112* 0,087† 0,097* 0,095* 0,084† 0,088† 0,082†
Bildung (Ref.=ISCED 0 – 2)
ISCED 3 - 4 -0,036 -0,034 -0,025 -0,042 -0,029 -0,033 -0,032
ISCED 5 - 6 -0,131** -0,116* -0,111* -0,134** -0,115* -0,115* -0,068
Geburtsjahrgang (Ref.=1971 – 1977)
1952 - 1960 0,117† 0,104† 0,117† 0,093 0,095 0,103† 0,076
1961 - 1970 0,114* 0,091† 0,101† 0,099† 0,090† 0,092† 0,061
Zirkuläre Mobilität
(Ref.=keine zirkuläre -0,158**
Mobilität)
Fernpendeln
-0,145**
(Ref.=kein Fernpendeln)
Übernachten
-0,206**
(Ref.=kein Übernachten)
Kombinationen zirkulärer Mobilität (Ref.=keine zirkuläre Mobilität)
Nur Fernpendeln -0,112†
Nur Übernachten -0,155†
Fernpendeln und
-0,405**
Übernachten
Zahl zirkulärer Mobilitätsepisoden (Ref.=keine zirkuläre Mobilität)
1 -0,135*
2+ -0,233**
Alter bei erster zirkulärer Mobilität (Ref.=keine zirkuläre Mobilität)
14 - 23 -0,033
24 - 33 -0,408**
Chi² (Wald) 20,07 30,14 28,25 26,57 38,20 32,96 46,40
Pseudo-R² (Mc Fadden) 0,044 0,068 0,060 0,063 0,077 0,070 0,100
Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten (ungewichtetes N=708); **=p<0,01; *=p<0,05; †=p<0,1; p-Werte basieren
auf robusten Standardfehlern (Huber und White)
194 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger
10 Ohne Kontrolle für das Bildungsniveau fällt vornehmlich der für die Geburtskohorte
1952-1960 ermittelte Effekt höher aus (average marginal effect: 0,133). Insgesamt re-
flektieren die auf Basis gewichteter Daten berechneten Effekte die bekannten Trends
eines zunehmenden Aufschubs der Erstelternschaft. Werden die durchschnittlichen
Marginaleffekte der Kohortenvariable ohne Datengewichtung ermittelt, fallen diese in
allen Modellen hochsignifikant (p<0,01) aus und verlieren — wie in Tabelle 2 auf Ba-
sis gewichteter Daten dargestellt — bei Kontrolle für Mobilitätserfahrungen an Stärke,
was insgesamt die Robustheit der Ergebnisse unterstreicht.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 195
Ziel des Beitrags war es, die Bedeutung von Veränderungen des berufsbedingten
räumlichen Mobilitätsverhaltens für das generative Verhalten zu untersuchen. Die
zunehmende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung, insbesondere von Frauen, führt,
so die These, in Verbindung mit gestiegenen beruflichen Mobilitätserfordernissen
zu einer Zunahme beruflich bedingter räumlicher Mobilität. Zugleich weisen bis-
herige Forschungsergebnisse darauf hin, dass Erfahrungen mit berufsbedingter
räumlicher Mobilität in Partnerschaften häufig mit einem Aufschub von Kinder-
wünschen einhergehen. Demnach besteht die Möglichkeit, dass Trends hinsicht-
lich des Fertilitätsverhaltens während der letzten Jahrzehnte, insbesondere der
Aufschub von Geburten in höhere Lebensalter, auch auf Veränderungen des Mo-
bilitätsverhaltens im selben Zeitraum zurückzuführen sind. Ob tatsächlich eine
Veränderung des berufsbedingten räumlichen Mobilitätsgeschehens im Sinne
einer Zunahme stattgefunden hat, ist bislang jedoch kaum empirisch untersucht
worden. Darüber hinaus wurden berufsbedingte Mobilitätserfahrungen im wis-
senschaft lichen Diskurs über potenzielle Einflussfaktoren des generativen Ver-
haltens bislang weitgehend vernachlässigt. Daher wurde im vorliegenden Beitrag
für die Kohorten 1952-1960, 1961-1970 und 1971-1977 untersucht, ob Verände-
rungen des Mobilitätsverhaltens empirisch feststellbar sind und welchen Beitrag
sie zur Erklärung des Wandels des Fertilitätsverhaltens leisten.
Grundlage der Untersuchung bildeten Daten zur Berufs-, Mobilitäts- und
Familienbiografie für die Länder Deutschland, Spanien und Frankreich, die im
Rahmen der zweiten Welle der Studie „Job Mobilities and Family Lives in Europe“
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 197
erfahrungen. Wir gehen allerdings davon aus, dass berufliche Mobilität im Le-
bensverlauf als relevantes Ereignis erlebt wird und deshalb relativ gut erinnerbar
bleibt.
Für die Interpretation der Ergebnisse ist ferner hervorzuheben, dass diese
keinen abschließenden Beleg für einen kausalen Effekt von Veränderungen im
Mobilitätsverhalten auf die Veränderungen hinsichtlich der Familienentwicklung
bieten können. So müssten für den Nachweis eines kausalen Effekts unter ande-
rem sämtliche Faktoren, die sowohl einen Einfluss auf die Mobilitätsneigung als
auch auf die Realisierung von Geburten haben, statistisch kontrolliert werden,
um Scheinkorrelationen ausschließen zu können. Unsere Analyse muss jedoch
auf eine umfassende Berücksichtigung potenziell relevanter Drittvariablen ver-
zichten, da diese zumeist zeitveränderlich sind und ihre Ausprägungen für den
Beobachtungszeitpunkt nicht bekannt sind. Unsere multivariaten Analysen fo-
kussieren auf eine Kontrolle für das Bildungsniveau, das sich in vergangenen Stu-
dien sowohl für die Mobilitätsneigung als auch für das Fertilitätsverhalten von
Frauen als wichtiger Einflussfaktor erwies. Um einem möglichen Einfluss der
Ausbildungsdauer auf die Ergebnisse noch adäquater zu berücksichtigen, wurden
alternative Regressionsanalysen mit Kontrolle für das Alter bei Berufseintritt be-
rechnet. Für diese Analysen wurden Frauen, die bis zum 34. Lebensjahr keiner
Erwerbstätigkeit nachgingen, aus der Betrachtung ausgeschlossen. Die Ergebnis-
se der entsprechenden Regressionsmodelle unterschieden sich jedoch nicht subs-
tanziell von den dargestellten Ergebnissen.
Vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer kausalen Interpretation der Er-
gebnisse ist ferner zu beachten, dass ebenfalls ein Effekt der Kinderlosigkeit auf
die Mobilitätsbereitschaft vorliegen kann. Eine Zunahme und zeitliche Verlage-
rung des Mobilitätsgeschehens bei jüngeren Frauenjahrgängen wäre, dieser Inter-
pretationsweise nach, die Folge einer zunehmenden Verbreitung von Kinderlosig-
keit bis in das vierte Lebensjahrzehnt hinein.
Um die Richtung eines kausalen Zusammenhangs möglichst eindeutig be-
stimmen zu können, fanden Mobilitätsepisoden, die nach Geburt eines ersten
Kindes begonnen wurden, in den Analysen keine Berücksichtigung. Daher gehen
wir davon aus, dass die Veränderungen beim Mobilitätsverhalten einen Erklä-
rungsbeitrag zum veränderten generativen Verhalten bieten können. So zeigen
empirische Studien, dass Kinder für die meisten Menschen nach wie vor ein zen-
traler Bestandteil der Lebensführung darstellen und ein Großteil der Kinderlosen
sich Kinder wünscht (z. B. Dorbritz et al. 2005; Bujard et al. 2012). Dies gilt über-
wiegend auch für Personen, die aus beruflichen Gründen räumlich hoch mobil
sind. Empirische Belege hierfür bietet die Untersuchung von Huinink und Feld-
haus (2012), die zeigt, dass Personen, die über eine größere Distanz zum Arbeits-
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 199
platz pendeln, sich nur unwesentlich von nicht mobilen Personen hinsichtlich
ihrer Kinderwünsche unterscheiden. Bisherige Befunde verweisen auf den inst-
rumentellen Charakter räumlicher Mobilität im Kontext des Zusammenwirkens
von Berufs- und Familienbiografie. Demnach erfolgt räumliche Mobilität häufig
mit der Intention, eine angemessene Berufsposition zu erreichen, die materielle
Ressourcen zur Versorgung einer Familie hinreichend sichert. Zugleich erschwert
intensive räumliche Mobilität die Organisation des Familienlebens. Insbesonde-
re für Frauen zeigt sich räumliche Mobilität als Barriere zur Familiengründung.
Eine Realisierung von Kinderwünschen erfolgt, wenn aufwändige Mobilitätsar-
rangements reduziert oder beendet werden können. Solange dies jedoch nicht ge-
lingt, bleiben Kinderwünsche zunächst vielfach unverwirklicht.
Insgesamt bieten die vorliegenden Befunde wichtige Hinweise auf die Be-
deutsamkeit eines sich wandelnden Mobilitätsgeschehens für die Erklärung ver-
änderter Verhaltensweisen im Bereich der Familienentwicklung. Dabei konnten
Veränderungsprozesse vornehmlich für die zirkulären Mobilitätsformen des
Fernpendelns und des berufsbedingten Auswärtsübernachtens verzeichnet wer-
den. Zukünft ige Forschung zum Wandel des generativen Verhaltens sollte daher
insbesondere dem zirkulären Mobilitätsverhalten eine stärkere Beachtung schen-
ken.
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Die altersbezogene Partnerwahl
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auf die Beziehungsstabilität
1 Einleitung
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ters ebenfalls Vorschub leistet. Und schließlich werden die mit größeren Alters-
unterschieden einhergehenden Attraktivitätsunterschiede mit kompensierenden
Statusunterschieden in Zusammenhang gebracht. Unter diesem letztgenannten
Aspekt wird das Fortbestehen des Altersunterschieds nicht selten vorschnell als
Hinweis auf ein Fortleben traditioneller Geschlechterrollen interpretiert (Klein
1996b, S. 281f.).
Die Bedeutung, die der Altersabstand bei der Partnerwahl spielt, lässt auch
erwarten, dass die Beziehungsstabilität je nach Altersabstand variiert. Das Motiv,
einen Partner bzw. eine Partnerin in einem bestimmten Alter zu suchen, ist im
Prinzip dasselbe, wie mit ihm bzw. mit ihr zusammen zu bleiben – z. B. gemeinsa-
me Werte und Interessen oder die mit dem Alter verbundene Attraktivität. Das-
selbe gilt für normative, intersubjektiv geteilte Vorstellungen über die ‚passende‘
Partnerwahl, die sowohl die Partnerwahl steuern als auch – je nach Passung der
Partner – die Stabilität der Paarbeziehung beeinflussen.
Verschiedene im Folgenden ausgeführte Überlegungen legen nahe, dass sich
sowohl der durchschnittliche Altersabstand und die Bandbreite, in der sich der
Altersabstand zumeist bewegt, als auch die Bedeutung des Altersabstands für
die Beziehungsstabilität mit steigendem Alter der Partner verändert. Der vor-
liegende Beitrag überprüft verschiedene Hypothesen zu der Frage, wie sich der
partnerschaft liche Altersabstand und der Einfluss des Altersabstands auf die
Beziehungsstabilität im Lebenslauf ändern.
2 Theoretische Überlegungen
2 Der umgekehrte Effekt stellt sich in den höchsten Altersstufen ein, wenn es kaum noch
Ältere gibt.
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 207
Hypothese Begründung
Hypothese Begründung
3 Der Median gibt hier den Altersabstand an, bei dem 50% der Paare einen höheren und
50% einen geringeren Altersabstand haben.
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 211
20
Altersabstand (Alter der Partnerin minus eigenes Alter)
10
95%-Perzentil
-10 75%-Perzentil
50%-Perzentil
25%-Perzentil
5%-Perzentil
-20
-30
-40
18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84
Heiratsalter des Mannes
Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Statistik der Eheschlie-
ßungen für das Jahr 2010, eigene Berechnung. Ausgewiesen sind Perzentile mit einer Basis
von mindestens 60 Fällen.
Aus Abbildung 1 geht hervor, dass beide Partner im Mittel gleich alt sind, wenn
der Mann mit 20 Jahren heiratet. Männer, die mit 30 Jahren vor den Traualtar
treten, heiraten im Mittel eine zwei Jahre jüngere Frau. Bei einem Heiratsalter
des Mannes von 50 Jahren ist die Frau im Mittel vier Jahre jünger als der Mann,
und sie ist sogar zehn Jahre jünger, wenn der Mann bei der Eheschließung 70
Jahre alt ist. Mit steigendem Heiratsalter des Mannes wird die Partnerin also im-
mer jünger. Zudem öff net sich mit steigendem Heiratsalter des Mannes die Schere
zwischen den unteren und oberen Perzentilkurven, d. h. die Bandbreite nimmt
zu, in der sich der Altersabstand bewegt. Die Spanne zwischen dem 25. und dem
75. Perzentil beispielsweise beträgt mit 20 Jahren nur drei Jahre und mit 30 Jah-
ren erst vier Jahre, mit 50 Jahren dagegen schon acht und mit 70 Jahren bereits
elf Jahre.
212 Thomas Klein & Ingmar Rapp
20
Altersabstand (Alter des Partners minus eigenes Alter)
10
95%-Perzentil
-10 75%-Perzentil
50%-Perzentil
25%-Perzentil
5%-Perzentil
-20
-30
-40
18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84
Heiratsalter der Frau
Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Statistik der Eheschlie-
ßungen für das Jahr 2010, eigene Berechnung. Ausgewiesen sind Perzentile mit einer
Basis von mindestens 60 Fällen.
Abbildung 2 zeigt für Frauen ein Bild, das nur teilweise dem für Männer ent-
spricht. Auch für Frauen gilt, dass der Partner mit steigendem Heiratsalter im
Mittel immer jünger wird, allerdings bleibt der Partner bis weit ins hohe Er-
wachsenenalter hinein im Mittel etwas älter als die Frau. Ebenso wie für Männer
nimmt aber auch für Frauen die Bandbreite, in der sich der partnerschaft liche
Altersabstand zumeist bewegt, mit steigendem Heiratsalter zu.
Die Ergebnisse zur Veränderung der altersbezogenen Partnerwahl im Lebens-
lauf stimmen nur teilweise mit den Erwartungen überein (vgl. Tabelle 1). Eine
Tendenz zu einer jüngeren Partnerwahl (Hypothese 1) zeigt sich bei Männern
über den gesamten Lebenslauf, bei Frauen hingegen ist dieser Trend nur sehr
schwach ausgeprägt. Die Ergebnisse bestätigen eine beträchtliche Ausweitung
des Altersranges im mittleren Erwachsenenalter (Hypothese 2), geben aber keine
Hinweise darauf, dass sich die Altersabstände nach einiger Zeit wieder verrin-
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 213
*) Die abgebildeten Werte basieren auf den beiden Fragen: „Bitte geben Sie mir zunächst
das Alter an, das [ein/ eine] <Partner/ Partnerin> mindestens haben sollte, damit Sie sich
eine Beziehung mit dieser Person vorstellen könnten?“ sowie „Und welches Alter sollte
[ein/ eine] <Partner/ Partnerin> höchstens haben, damit Sie sich eine Beziehung mit dieser
Person vorstellen könnten?“, jeweils verrechnet mit dem eigenen Alter. Datengrundlage
sind 736 Männer und 1.119 Frauen.
zeptablen Altersabstände hingegen stärker vom eigenen Alter ab. Während Män-
ner mit Anfang 20 eine Partnerin präferieren, die höchstens zwei bis drei Jahre
älter oder jünger ist, reicht die akzeptable Spanne mit Anfang 50 von einer in
etwa gleichaltrigen bis zu einer 15 Jahre jüngeren Partnerin. Mit steigendem Alter
präferieren Männer also zunehmend jüngere Partnerinnen.
Abbildung 4a-d Relatives Trennungsrisiko von Ehen nach dem Altersabstand zwischen
den Ehepartnern
Quelle: Kumulierte Daten aus dem GGS, der Lebensverlaufsstudie, der Mannheimer
Scheidungsstudie und dem SOEP (vgl. Rapp 2013), eigene Berechnung auf Basis der Re-
gressionskoeffi zienten aus Tabelle 3 im Anhang, wo auch die Signifi kanz der Effekte aus-
gewiesen ist.
bis sieben Jahre älter als die Frau, zeigt sich noch kein erhöhtes Trennungsrisiko,
deutlich erhöhte Trennungsrisiken zeigen sich aber für Ehen, bei denen der Mann
acht bis zehn Jahre oder sogar mehr als zehn Jahre älter ist als die Frau, in diesen
Fällen ist das Trennungsrisiko knapp eineinhalb mal bzw. etwas mehr als doppelt
so hoch wie bei altershomogamen Ehen. Auch bei den 30- bis 39-jährigen Frauen
gehen größere Altersabstände mit einem erhöhten Trennungsrisiko einher, aber
der Einfluss des Altersabstands (das relative Risiko) fällt geringer aus (siehe Abbil-
dung 4b). Ist die Frau 40 bis 49 Jahre alt, gehen Altersunterschiede zwischen den
Partnern hingegen nicht mehr mit einem signifi kant höheren Trennungsrisiko
einher (siehe Abbildung 4c). Dasselbe gilt für Ehen, bei denen die Frau 50 Jahre
alt oder älter ist. Bei diesen Ehen ist das Trennungsrisiko sogar tendenziell am
niedrigsten, wenn der Mann deutlich älter ist als die Frau (siehe Abbildung 4d).
Der destabilisierende Effekt von Altersunterschieden in jungen Jahren steht
mit der Hypothese in Einklang, wonach aus der Einbindung der Partner in unter-
schiedliche Lebensphasen eine geringere Übereinstimmung von Werten und
Interessen resultiert, weil zum Beispiel ein Partner noch in Ausbildung und der
andere Partner bereits erwerbstätig ist. Im Einklang mit den eingangs formulier-
ten Hypothesen nimmt der Einfluss des Altersabstands auf das Trennungsrisi-
ko im mittleren Lebensalter ab, wenn breitere Lebensphasen auch im Falle von
Altersunterschieden zu ähnlichen Lebenslagen führen (Hypothese 4) bzw. wenn
sich die Alternativen der Partner auch bei größeren Altersabständen immer we-
niger unterscheiden (Hypothese 5). Interessanterweise gewinnt der Altersabstand
jedoch nach dem mittleren Erwachsenenalter, wenn sich die alterstypischen Le-
bensumstände im späteren Lebenslauf wieder schneller verändern, nicht wieder
an Bedeutung für die Beziehungsstabilität (Hypothese 4).
In Bezug auf den abnehmenden Einfluss des Altersabstands auf das Tren-
nungsrisiko im Lebenslauf stellt sich allerdings die Frage, inwieweit nicht das
Lebensalter, sondern die mit dem Lebensalter steigende Beziehungsdauer und
damit einhergehende Anpassungs- und Selektionsprozesse ausschlaggebend sind
(Hypothese 6). Um dieser Frage nachzugehen, beziehen sich die Abbildungen
5a-c, im Unterschied zu den Abbildungen 4a-d, nur auf die ersten zehn Ehejah-
re. Veränderungen des Zusammenhangs zwischen dem Altersabstand und dem
Trennungsrisiko können somit nur noch sehr eingeschränkt darauf beruhen,
dass spätere Lebensabschnitte mit längeren Ehedauern korrespondieren.
218 Thomas Klein & Ingmar Rapp
Abbildung 5a-c Relatives Trennungsrisiko von Ehen, die nicht länger als 10 Jahre andau-
ern, nach dem Altersabstand zwischen den Ehepartnern.
Quelle: Kumulierte Daten aus dem GGS, der Lebensverlaufsstudie, der Mannheimer
Scheidungsstudie und dem SOEP (vgl. Rapp 2013), eigene Berechnung auf Basis der Re-
gressionskoeffizienten aus Tabelle 4 im Anhang.
Die Abbildungen 5a-c zeigen, dass der Einfluss des Altersabstands auf die Ehesta-
bilität im Lebensverlauf auch dann abnimmt, wenn die Betrachtung auf die ersten
zehn Ehejahre beschränkt ist. Dies bedeutet, dass der nachlassende Einfluss des
Altersabstands auf die Beziehungsstabilität im Lebenslauf tatsächlich an das stei-
gende Lebensalter geknüpft ist (Hypothesen 4 und 5) und nicht nur auf steigende
Beziehungsdauern zurückzuführen ist (Hypothese 6).
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 219
5 Ausblick
Der vorliegende Beitrag zeigt, dass sich sowohl die altersbezogene Partnerwahl
als auch die Bedeutung des Altersabstands für die Beziehungsstabilität im Le-
benslauf verändern. Im mittleren Erwachsenenalter nimmt die Spannbreite der
Altersabstände deutlich zu und der Einfluss des Altersabstands auf die Bezie-
hungsstabilität verschwindet.
Bei der Erklärung dieser Entwicklungen spielt möglicherweise die Altershe-
terogenität von Lebensphasen eine zentrale Rolle. Sowohl die zunehmende Al-
tersheterogenität von Paarbeziehungen als auch die nachlassende Bedeutung des
Altersabstands für die Beziehungsstabilität werden nachvollziehbar, wenn man
sich vor Augen führt, mit welchem Tempo sich die alterstypischen Lebensum-
stände im Lebenslauf verändern. Während Lebensphasen und Lebensumstände
im jungen Erwachsenenalter häufig wechseln und Statusübergänge dicht auf dicht
folgen, existiert im mittleren Erwachsenenalter ein breiter Altersbereich, in dem
sich die Lebensumstände nur graduell verändern. Auch über größere Altersunter-
schiede hinweg bestehen dadurch ähnliche Interessen, und auch größere Alters-
unterschiede stehen deshalb weder dem Beginn noch der Aufrechterhaltung einer
Paarbeziehung im Wege. Die breitere Lebensphase im mittleren Erwachsenen-
alter führt außerdem dazu, dass die Handlungskontexte altersheterogamer sind
als in jungen Jahren, und begünstigt auch auf diesem Wege die zunehmende Al-
tersheterogenität von Paarbeziehungen.
Sofern die Bedeutung des Altersabstands bei der Partnerwahl und bei der Be-
ziehungsstabilität mit ähnlichen Lebensumständen zusammenhängt, kann man
vermuten, dass der Übergang in das höhere Erwachsenenalter und die damit ein-
hergehenden Veränderungen der Lebensumstände den relevanten Altersabstand
bei der Partnersuche erneut einschränken und den Einfluss des Altersabstands
auf die Beziehungsstabilität wieder vergrößern. Die vorliegende Untersuchung
gibt zwar hierauf keine Hinweise, was aber die Bedeutung der Altersheterogeni-
tät von Lebensphasen für die Partnerwahl und für die Beziehungsstabilität nicht
generell in Frage stellt. Denn eventuell ist nur die Annahme einer verringerten
Altersheterogenität im höheren Alter unzutreffend. Wünschenswert wären daher
weitere Untersuchungen, die näher beleuchten, wie sich die Altersheterogenität
der Handlungskontexte über den gesamten Lebenslauf hinweg verändert.
220 Thomas Klein & Ingmar Rapp
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222 Thomas Klein & Ingmar Rapp
Anhang
Tabelle 3 Effekte der Altershomogamie und weitere Determinanten des Trennungsrisi-
kos von westdeutschen Ehen (relative Risiken, generalisiertes Sichel-Modell)
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 223
1 Einleitung
Aus Bourdieus Konzeption von Kapitalien ergibt sich weiterhin, dass es sich um
Investitionen handelt, aus denen Renditen erzielt werden, die sich entweder auf
die gleichen oder andere Kapitalien beziehen, d.h. sie sind - durch zusätzliche In-
vestitionen und unter Inkaufnahme von Opportunitätskosten - ineinander trans-
ferierbar. Gewinne im Bereich einer Kapitalart sind somit immer mit Kosten im
Bereich anderer Kapitalarten verbunden. „Die Tatsache der gegenseitigen Kon-
vertierbarkeit der verschiedenen Kapitalarten ist der Ausgangspunkt für Strate-
gien, die die Reproduktion des Kapitals (und der Position im sozialen Raum) mit
Hilfe möglichst geringer Kapitalumwandlungskosten (Umwandlungsarbeit und
inhärente Umwandlungsverluste) erreichen möchten“ (Bourdieu 1983, S. 197).
Nimmt man dieses Postulat der Konvertierbarkeit von Kapitalien zum Aus-
gangspunkt, dann sind Zuwanderungsminoritäten insofern ein interessanter
Spezialfall (Diefenbach und Nauck 1997; Nauck 2011), als sich die Synchronität
der Ausstattung mit Kapitalien durch die Migration verändert. Während in der
stationären Bevölkerung wegen der Konvertierbarkeit von einem recht hohen Zu-
sammenhang in der Ausstattung mit kulturellem, sozialem und ökonomischen
Kapital ausgegangen werden kann, ist dies bei Migranten keineswegs der Fall:
Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt müssen nicht der Qualifizierung im Bil-
dungssystem entsprechen und soziales Kapital wird durch Migration und den
damit verbundenen Wechsel des sozialen Kontext in erheblichem Umfang ver-
nichtet. Für Coleman z.B. ist geographische Mobilität der ,klassische‘ Fall der
Unterbrechung außerfamiliärer Netzwerke: „For families that have moved often,
the social relations that constitute social capital are broken at each move“ (Cole-
man 1988, S. 113).
In der Migrationsforschung haben die drei Kapitalien mit sehr unterschied-
lichen Schwerpunkten Eingang gefunden. Während bezüglich des kulturellen
und ökonomischen Kapitals vor allem die Konsequenzen der Migration für Bil-
dungserfolg und Bildungsrenditen auf dem Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen
(Granato und Kalter 2001), ist Sozialkapital vor allem als Ursache von Wande-
rungsprozessen (Kalter 2011; Palloni et al. 2001) thematisiert worden (Völker et
al. 2008, S. 326): Bereits vorhandene Sozialbeziehungen zu Migranten begünsti-
gen Kettenmigration von Verwandtschaftsmitgliedern (Haug 2000) ebenso wie
Heiratsmigration (Baykara-Krumme und Fuß 2009), da diese die Kosten der In-
formationsbeschaff ung ebenso verringern wie die Transaktionskosten der Migra-
tion (MacDonald und MacDonald 1964, S. 82). Aus solchen Kettenwanderungen
resultieren dann räumliche Konzentrationen von Verwandtschaftsnetzwerken
und ethnischen Gemeinschaften am Zielort, die wiederum für das Entstehen von
ethnischem Sozialkapital von Bedeutung sind (Haug 2007, S. 90).
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 227
Die Generierung von Sozialkapital hängt einerseits von den jeweiligen Opportu-
nitätsstrukturen ab, d.h. den Gelegenheiten, solche Netzwerkbeziehungen aufzu-
bauen (Blau 1994), die für die Optimierung von Wohlfahrtszielen instrumentell
sind. Diese Gelegenheiten werden bestimmt durch die jeweilige Kontakthäufigkeit
mit Mitgliedern sozialer Gruppen (wie z.B. Angehörigen der Bevölkerungsmi-
norität und -mehrheit, verschiedenen Geschlechts und Alters, unterschiedlicher
Berufe) und der Zeitdauer, da soziales Kapital schneller verfällt als ökonomisches
und kulturelles Kapital und deshalb dauerhaft gepflegt werden muss. Anderer-
seits hängt die Generierung von Sozialkapital von den jeweiligen durch die Posi-
tion in der Sozialstruktur geprägten Strategien der Wohlfahrtsmaximierung ab.
Lin (2001, S. 20) benennt vier Mechanismen, durch die die in sozialen Netz-
werken eingebetteten Ressourcen die Handlungsresultate steigern: „information,
influence, social credentials, and reinforcement may explain why social capital
works in instrumental and expressive actions not accounted for by forms of perso-
nal capital such as economic or human capital“. Diese Mechanismen sind mit ty-
pischen Netzwerkeigenschaften verknüpft, die sich danach unterscheiden lassen,
ob sie primär der Ressourcensicherung (expressive actions) oder der Ressourcen-
230 Bernhard Nauck & Vivian Lotter
erweiterung (instrumental actions) dienen (Baier und Nauck 2006, S. 56; Nauck
2011, S. 79). Die Unterscheidung von Granovetter (1973) in „strong ties“ und
„weak ties“ aufgreifend, macht Lin (2001, S. 75ff.) deutlich, dass die Effizienz von
engen Sozialbeziehungen in der sozialen Beeinflussung und Kontrolle (influence)
sowie in der Verhaltensbestätigung (reinforcement) liegt und der Ressourcen-
sicherung dienen, wohingegen schwache Sozialbeziehungen ihre Effizienz in der
Vermittlung nicht-redundanter Informationen (information) und (insbesondere
durch Inhaber von höheren Positionen in der Sozialstruktur) in der Vermittlung
von Reputation (credentials) liegen und der Ressourcenerweiterung dienen. Lin
(2001, S. 75) nimmt hierzu weiterhin an: „Maintaining resources is the primary
motivation for action; therefore, expressive action is the primary form of action“.
Aus der Kombination von Gelegenheitsstrukturen und Handlungsstrategien
lassen sich Annahmen über die Verteilung von Netzwerkstruktur und Sozialkapi-
tal auf Mütter türkischer, vietnamesischer und deutscher Herkunft ableiten:
• Aus der Konvertierbarkeit von Kapitalien folgt, dass mit der Höhe des kultu-
rellen Kapitals (Bildungsniveau) auch das soziale Kapital durch Kumulation
heterogener Sozialkontakte steigt (weak ties) und insbesondere der Zugang
zu Netzwerkmitgliedern mit hohem sozialem Status wahrscheinlicher wird.
Da die Bildung der Mütter zwischen den ethnischen Gruppen unterschiedlich
verteilt ist, sollte das Sozialkapital von deutschen Müttern deutlich höher sein
als das türkischer und vietnamesischer Mütter.
• Die Gelegenheit für heterogene Sozialkontakte (weak ties) ist für erwerbstätige
Mütter größer als für nichterwerbstätige Mütter (Völker und Flap 2007). Da
die Erwerbstätigkeit der Mütter sich in Art und Umfang deutlich voneinander
unterscheidet, sollte die Erwerbstätigkeit der Mütter positiv mit ihrem Sozial-
kapital kovariieren.
• Da die Generierung von Sozialkapital Zeit erfordert, steigt das Sozialkapital
mit der Länge der Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland bzw. am Aufenthalts-
ort (Völker et al. 2008, S. 332). Da die türkischen Mütter durchschnittlich be-
reits länger in Deutschland leben als vietnamesische Mütter, sollte ihr Sozial-
kapital höher sein als das vietnamesischer Mütter. In gleicher Weise sollte das
Sozialkapital mit dem Lebensalter der Mütter ansteigen.
• Da die Generierung von eigenethnischem Sozialkapital von den entspre-
chenden Gelegenheitsstrukturen abhängt, mit Mitgliedern dieser Gruppe in
Kontakt zu treten (Blau 1994; Völker et al. 2008, S. 330), sollte das eigeneth-
nische Sozialkapital der deutschen Mütter am größten sein. Wegen der weit
fortgeschrittenen Kettenmigration sollten auch türkische Mütter ausreichen-
de Gelegenheiten für die Etablierung eigenethnischer Netzwerke haben. Viet-
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 231
Insgesamt ergibt sich damit eine deutliche Asymmetrie in der Struktur der Netz-
werkbeziehungen von einheimischen und Müttern mit Migrationshintergrund.
Während für die deutschen Mütter innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe alle
Möglichkeiten bestehen, sowohl „starke“ Beziehungen zur Verhaltensbestätigung
und zur wechselseitigen sozialen Kontrolle als auch „schwache“ Beziehungen zur
Ressourcenerweiterung durch Information und Reputation zu generieren, er-
geben sich für die Migrantenmütter strukturelle Nachteile aus einer Netzwerk-
Homophilie (Nauck 2011, S. 81). Einerseits ist in ihrer sozialstrukturellen Platzie-
rung die Sicherung von Ressourcen durch expressive Handlungen eine effiziente
Handlungsstrategie. Andererseits sind wegen des Migrationsstatus die Informa-
tionssuche und damit verbundene (ethnisch) heterogene Sozialkontakte eine Vo-
raussetzung für den Eingliederungsprozess und die schulische Platzierung der
Kinder, zumal credentials in aller Regel nur durch Mitglieder der Aufnahmege-
sellschaft zu erhalten sind. Damit wird für Migrantenfamilien closure in Netz-
werken zur Falle, die Coleman (1988; 1990) als positiven Effekt des Sozialkapitals
beschreibt. Er nimmt an, dass Individuen in dichten, multiplexen Netzwerken
mit größerer Wahrscheinlichkeit soziales Kapital akkumulieren als Individuen in
lockeren, monofunktionalen Netzwerken. Dies ist in multiplexen Netzwerken mit
geringerem Aufwand erreichbar, da soziales Kapital relativ instabil ist und durch
beständige Interaktionen stets erneuert und bekräft igt werden muss. Coleman
(1988) selbst hat aus diesen Annahmen unmittelbare Konsequenzen für die Bil-
dung von Humankapital bei Kindern gezogen: Je dichter die wechselseitige Bezie-
hung zwischen allen Eltern (in einer Schule) und je höher deren physische Präsenz
232 Bernhard Nauck & Vivian Lotter
bei den Kindern, je höher die Investitionen in gemeinsam verbrachte Zeit sowie
gemeinsame Aktivitäten mit Kindern und je höher Hilfe und Kontrolle bei den
schulischen Aufgaben, desto wahrscheinlicher sei deren Bildungserfolg. „Closure
is present only when there is a relation between adults who themselves have a
relation to the child. The adults are able to observe the child’s actions in different
circumstances, talk to each other about the child, compare notes, and establish
norms. The closure of the network can provide the child with support and rewards
from additional adults that reinforce those received from the first and can bring
about norms and sanctions that could not be instituted by a single adult alone“
(Coleman 1990, S. 593).
Daten. Die folgenden empirischen Analysen basieren auf Daten, die im Projekt
„Herkunft und Bildungserfolg (HeBe)“ in einem 2 x 3 x 4 Design zwischen Herbst
2012 und Herbst 2013 erhoben worden sind, d.h. in zwei Aufnahmekontexten,
drei unterschiedliche Herkunftsnationalitäten der Mütter und vier Altersgruppen
der Kinder. Insgesamt stehen Daten von insgesamt 1523 Mutter-Kind-Dyaden
zur Verfügung.
• Die Stichprobe wurde in den beiden Bundesländern Sachsen (in den drei größ-
ten Städten Chemnitz, Dresden, Leipzig) und Hamburg gezogen, sodass der
Aufnahmekontext durch die unterschiedliche Zusammensetzung der Migran-
tenpopulation bestimmt ist. Die Gruppe der Vietnamesen ist in Sachsen mit
8,1 Prozent (in Hamburg 0,7 Prozent) und die Gruppe der Türken hingegen in
Hamburg mit 20,7 Prozent (in Sachsen 4,0 Prozent) die jeweils größte Zuwan-
derungsgruppe (Statistisches Bundesamt 2013a, S. 87ff.).
• Die Herkunftsnationalität der Mütter erstreckt sich auf drei Staatsangehörig-
keiten, d.h. es wurde insgesamt eine jeweils gleichgroße Gruppe von deut-
schen, vietnamesischen und türkischen Müttern berücksichtigt. Mit diesen
Nationalitäten sind unterschiedliche Merkmale verknüpft, die bei den Analy-
sen mit einbezogen werden, wie die unterschiedliche Herkunftskultur, der mit
unterschiedlichen Aufenthaltsdauern verbundene Aufenthaltsstatus, sowie die
unterschiedliche Verteilung von sozialstrukturellen Merkmalen. Vietnamesen
sind im Vergleich zu den Türken später zugewandert und sind als ehemalige
Vertragsarbeiter der DDR in ihrer Mehrzahl in Ostdeutschland angesiedelt.
Anders als die meisten anderen Zuwandererminoritäten sind sie zudem eine
visible minority und können damit ihrem Minoritätenstatus durch Verhal-
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 233
• Sozialkapital wird mit Hilfe eines Positionsgenerators erfasst (Lin und Dumin
1986; Lin et al. 2002; van der Gaag et al. 2008): Für 14 Berufspositionen mit
variierendem Berufsprestige wurden die Mütter gefragt, ob es in der Ver-
wandtschaft, im Freundes- oder Bekanntenkreis eine Person gibt, die diesen
Beruf ausübt. Die Hälfte der Berufe wurde so ausgewählt, dass sie einen Be-
zug zur Entwicklung und Bildung des Kindes haben. Anschließend wurde für
Genannte gefragt, ob es sich um einen Angehörigen der eigenen ethnischen
Gruppe handelt und wie häufig der Kontakt zu dieser Person ist. Den Berufs-
positionen wurde ein Prestigescore entsprechend der ISEI-Klassifi kation 2008
zugewiesen (Ganzeboom und Treiman 1996, 2003). Das maximale Sozialka-
pital wäre gegeben, wenn eine Mutter zu allen 14 Berufsprestige-Positionen
Kontakt hätte. Für jede Befragte wurde ihr Anteil am Maximalscore sowohl
für das Sozialkapital insgesamt als auch für das eigenethnische und das bil-
dungsbezogene Sozialkapital berechnet.
• Die egozentrierten Netzwerke der befragten Mütter wurden mit Hilfe einer
Kombination von Namens- und Ressourcengenerator erfasst (van der Gaag
und Snijders 2005; Hennig et al. 2012, S. 86ff.). Bis zu 10 Netzwerkmitglieder
wurden über 6 Fragen generiert, mit wem die Befragte Gedanken und Gefühle
teilt, gemeinsam etwas unternimmt, bei wem sie Rat in praktischen oder er-
zieherischen Fragen einholt, und wer bei der Kinderbetreuung und in schuli-
schen Angelegenheiten hilft. Anschließend wurden für die Genannten deren
verwandtschaft liche Stellung, emotionale und räumliche Distanz, Geschlecht
und ethnische Zugehörigkeit erhoben. Insgesamt wurden 6068 Mitglieder des
egozentrierten Netzwerks der Mütter generiert.
Während der Positionsgenerator vornehmlich die Reichweite der „weak ties“ der
Mütter erfasst, ist es über den Ressourcengenerator möglich, die Verfügbarkeit
von „strong ties“ und deren Struktur nach „closure“ und Multiplexität zu bestim-
men.
Tabelle 1 zeigt die prozentuale Verteilung der von den Müttern genannten Berufs-
inhaber in den drei ethnischen Gruppen. Die Berufspositionen sind absteigend
nach ihrem Status entsprechend der ISEI-Klassifi kation geordnet.
* p < .05; ** p < .01; *** p < .001; + bildungsbezogenes Sozialkapital; a) deutsch - türkisch
p < .001; b) türkisch - vietnamesisch p < .001; c) deutsch - vietnamesisch p < .001
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 237
Mit zwei Ausnahmen haben die deutschen Mütter jeweils höhere Anteile der je-
weiligen Berufsinhaber unter ihren Bekannten, Familien- und Verwandtschafts-
mitgliedern. Die Ausnahmen betreffen häufigere Nennungen eines Hoca bei den
türkischen Müttern, was auf die allgemein höhere Religiosität und religiöse Pra-
xis bei türkischen Migranten verweist (Diehl und König 2009). Floristen sind da-
gegen bei den vietnamesischen Müttern stark überrepräsentiert, was Ausdruck
der beruflichen Segmentation von Vietnamesen als selbständige Unternehmer
und self-employed im Verkauf von Blumen und Gemüse sowie in der Gastrono-
mie ist. Auch im Vergleich zwischen türkischen und vietnamesischen Müttern
gibt es hinsichtlich der Nennung von Berufspositionen klare Unterschiede zu-
gunsten höherer Nennungen bei den Türkinnen - mit Ausnahme der Nennungen
bei den Floristen und selbständigen Unternehmern - was auf die höheren Anteile
von abhängig Beschäft igten zurückzuführen ist. Insgesamt spiegeln sich darin die
längere Aufenthaltsdauer türkischer Mütter und die damit verbundene Gelegen-
heit zur Knüpfung von Kontakten wieder.
Auff ällig ist, dass die Unterschiede zwischen den einheimischen und zugewan-
derten Familien insbesondere bei den Berufsgruppen sehr stark sind, die einen
Bezug zur Erziehung und Bildung haben: Kinderärzte, Sozialarbeiter und Lehrer
werden mehr als doppelt so häufig von den deutschen Müttern genannt, Psycho-
logen und Sporttrainer sogar mehr als dreimal so häufig. Auch Erzieher werden
sehr unterschiedlich genannt: Während deutsche Mütter einen Erzieher zu über
der Hälfte zu ihren Freunden und Bekannten zählen, sind es bei den türkischen
Müttern kaum ein Drittel und bei den Vietnamesinnen unter 10 Prozent. Die-
se Befunde lassen eine deutliche Distanz der Migrantinnen zum deutschen Bil-
dungssystem erkennen.
* p < .05; ** p < .01; *** p < .001; a) deutsch - türkisch p < .001; b) türkisch - vietnamesisch
p < .001; c) deutsch - vietnamesisch p < .001
238 Bernhard Nauck & Vivian Lotter
Dieser Befund bestätigt sich tendenziell, wenn das allgemeine Sozialkapital mit
dem bildungsbezogenen Sozialkapital verglichen wird (Tabelle 2). Zunächst zeigt
sich, dass das Sozialkapital der deutschen Mütter (sie erreichen im Durchschnitt
37 Prozent des möglichen Höchstwertes) bedeutend höher als das der türkischen
Mütter (21 Prozent) ist, deren Wert wiederum deutlich über dem der vietname-
sischen Mütter (13 Prozent) liegt. Wie die Einzelanalyse in Tabelle 1 gezeigt hat,
ist dieser Befund vor allem dadurch zustande gekommen, dass die deutschen
Mütter in allen Berufsgruppen mehr Freunde und Bekannte haben, wohingegen
eine stärkere Konzentration auf statushohe Berufe nur eine untergeordnete Rolle
spielt. Im Hinblick auf bildungsbezogene Berufe zeigt sich allerdings, dass die
Unterschiede zwischen den einheimischen und den Migrantenmüttern noch grö-
ßer sind als beim allgemeinen Sozialkapital.
Aufgrund der Gelegenheitsstrukturen ist es nicht unerwartet, dass für die
deutschen Mütter die Berufspositions-Inhaber zu 95 Prozent ebenfalls Deutsche
sind. Auch bei den türkischen Müttern sind 81 Prozent der Kontakte innerhalb
der eigenen ethnischen Gruppe, was (neben deren Präferenzen für eigenethni-
sche Kontakte) auf einen hohen Grad der Vervollständigung der türkischen Com-
munity schließen lässt. Bei den vietnamesischen Müttern sind dagegen nur 69
Prozent der Berufspositions-Inhaber ebenfalls Vietnamesen, d.h. aufgrund der
Gelegenheitsstrukturen sind einerseits die Kontakte der vietnamesischen Mütter
insgesamt geringer und andererseits sind unter den wenigen häufiger Kontakte zu
Einheimischen.
In Tabelle 3 sind die Unterschiede zwischen den drei ethnischen Gruppen
hinsichtlich der genannten Netzwerkmitglieder im kombinierten Namens- und
Ressourcengenerator zusammengestellt. Zunächst werden die prozentualen Nen-
nungen eines Netzwerkmitglieds bei den sechs Namensgeneratoren berichtet.
Diese Befunde werden ergänzt durch die durchschnittliche Anzahl von Genann-
ten und durch die relative Multiplexität der Netzwerkbeziehung. Die Multiplexi-
tät ist maximal, wenn dasselbe Netzwerkmitglied bei allen sechs Namensgenera-
toren genannt wird, d.h. das mit denselben Personen alle erfragten Aktivitäten
ausgeführt werden. In der unteren Tabellenhälfte wird zudem die Verteilung der
Netzwerkmitglieder bezüglich ausgewählter Deskriptoren berichtet.
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 239
Namensgeneratoren
Deskriptoren
* p < .05; ** p < .01; *** p < .001; a) deutsch - türkisch p < .001; b) türkisch - vietnamesisch
wp < .001; c) deutsch - vietnamesisch p < .001
Bei den Namensgeneratoren zeigen die drei ethnischen Gruppen jeweils ein in
sich ausgeglichene Verteilung auf die einzelnen Generatoren. Auff ällig ist allen-
falls, dass die deutschen Mütter bei der „Hilfe in schulischen Angelegenheiten“
deutlich weniger Nennungen haben als bei den übrigen Generatoren, was auf ge-
240 Bernhard Nauck & Vivian Lotter
ringen Bedarf schließen lässt. Bei den vietnamesischen Müttern gibt es weniger
Nennungen für informelle Kontakte und Unternehmungen, was möglicherweise
mit deren häufiger Involviertheit in Familienunternehmen zusammenhängt und
auf geringe disponible Zeit schließen lässt. Die drei ethnischen Gruppen unter-
scheiden sich jedoch deutlich hinsichtlich der Anzahl der Genannten: Die deut-
schen Mütter nennen durchschnittlich 5,5 Personen im Namensgenerator, die
türkischen Mütter 3,7 und die vietnamesischen Mütter lediglich 2,6, was jedoch
durch die Anzahl der Aktivitäten mit diesen Personen kompensiert wird. D.h. bei
den vietnamesischen Müttern ist die Multiplexität der Netzwerkbeziehungen am
stärksten ausgeprägt (29 Prozent der maximal möglichen Multiplexität, die dann
erreicht wird, wenn dieselbe Person bei allen sechs Generatoren genannt wird),
gefolgt von den türkischen Müttern mit 23 Prozent, wohingegen die Multiplexität
bei den deutschen Müttern am geringsten ist.
Ergänzt wird dieser Befund durch die Charakteristika der genannten Perso-
nen: Bei den vietnamesischen Müttern sind 51 Prozent der Genannten Mitglieder
der eigenen Herkunfts- und Kernfamilie (d.h. Partner, eigene Kinder, Geschwis-
ter und Eltern), während nur 38 Prozent der Genannten mit der Befragten nicht
verwandt sind (die übrigen - nicht dargestellten - Genannten sind Verwandte der
Befragten). Bei den deutschen Müttern ist die Relation genau umgekehrt mit 50
Prozent Nicht-Verwandten und 40 Prozent (Kern-)Familienmitgliedern. Weiter-
hin leben bei den vietnamesischen Müttern die Genannten am häufigsten im
selben Haushalt (29 Prozent) oder im Ausland (16 Prozent), bei den deutschen
Müttern jeweils am seltensten (17 bzw. 6 Prozent).
Damit sind bei den „starken“ Sozialbeziehungen die vietnamesischen Mütter
am stärksten auf die zahlenmäßig begrenzten Ressourcen angewiesen, die inner-
halb der eigenen Familie generiert werden, wohingegen außerfamiliäre Ressour-
cen am wenigsten in Anspruch genommen werden oder zur Verfügung stehen.
Bei den deutschen Müttern ist die Situation insofern umgekehrt, als ihre sozialen
Ressourcen zahlenmäßig am größten sind, sich die Ressourcen auf unterschiedli-
che Personen stärker verteilen und nichtverwandte Personen hierbei eine größere
Bedeutung haben.
Die türkischen Mütter nehmen sowohl hinsichtlich der Anzahl der Genann-
ten und der Netzwerkmultiplexität, als auch in den Anteilen der Nennung von
Familien- und Haushaltsmitgliedern eine Mittelstellung ein. Charakteristisch
für ihre Sozialbeziehungen ist zusätzlich, dass die Nennungen Angehöriger der
eigenen Ethnie fast genauso hoch sind wie die der deutschen Mütter (trotz unter-
schiedlicher Gelegenheitsstruktur), und der Anteil von Frauen (70 Prozent) und
zu Personen mit enger emotionaler Bindung (71 Prozent) am größten ist. In die-
ser Hinsicht unterscheiden sie sich deutlich von den vietnamesischen Müttern,
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 241
bei denen der Anteil von Frauen (wegen der Konzentration auf die Familie) und
von Mitglieder der eigenen Ethnie (wegen der hierfür ungünstigen Gelegenheits-
struktur) am geringsten ist. Diese Unterschiede zwischen den Müttern aus den
beiden Migrantenminoritäten lassen die Konsequenzen der unterschiedlichen
Gelegenheitsstrukturen erkennen: Die vietnamesischen Mütter sind einerseits
stärker darauf angewiesen, innerfamiliäre Ressourcen zu mobilisieren und ande-
rerseits Kontakte zu Personen außerhalb der eigenen Verwandtschaft mit weniger
emotional geprägten Beziehungen aufzubauen. Zugleich weisen sie einen höheren
Anteil von Genannten im Herkunftsland auf als die türkischen Mütter, für die die
verwandtschaft liche Kettenmigration weitgehend abgeschlossen ist.
5 Multivariate Ergebnisse
Der Erwerb von Sozialkapital hängt einerseits von den Gelegenheitsstrukturen ab,
die sowohl nach ethnischer Zugehörigkeit als auch nach der hierfür verfügbaren
Zeit, die durch die Länge des Aufenthalts begrenzt wird, unterschiedlich verteilt
sind. Andererseits hängt der Erwerb des Sozialkapitals von der jeweiligen Stellung
in der Sozialstruktur der Aufnahmegesellschaft ab, die wiederum nach Ethnie und
Wanderungszeitpunkt unterschiedlich verteilt ist. Um diese Zusammenhänge zu
prüfen, werden für die Analyse zwei Gruppen von Variablen unterschieden, von
denen Effekte auf die Verfügbarkeit von allgemeinem (Modell 1 und 2 in Tabelle
4) und bildungsspezifischem (Modell 3 und 4) Sozialkapital erwartet werden. Sie
werden nacheinander jeweils blockweise in die Regressionsanalyse aufgenommen.
Zunächst werden nur die Zugehörigkeit zur jeweiligen ethnischen Gruppe,
der Migrantenstatus und der Aufnahmekontext sowie Wechselwirkungen zwi-
schen Ethnie und Aufnahmekontext berücksichtigt (Modelle 1 und 3). Bei den
ethnischen Gruppen dienen die deutschen Mütter als Referenz, mit denen die
Türkinnen und Vietnamesinnen verglichen werden. Beim Migrationsstatus
werden Mütter, die in Deutschland geboren wurden (Einheimische und „Zweite
Generation“), von solchen unterschieden, die im Ausland geboren wurden und
nach ihrem Schulabschluss („Erste Generation“) bzw. vor dem Abschluss ihrer
Bildungskarriere im Ausland („1,5 Generation“) nach Deutschland migriert sind.
Der Vermeidung von Multikollinearität kommt hierbei entgegen, dass auch unter
den deutschen Müttern Zuwanderinnen gewesen sind. Interaktionseffekte zwi-
schen Aufnahmekontext und Ethnie wurden deshalb in die Analysen einbezogen,
weil Vietnamesinnen und Türkinnen in Sachsen und Hamburg sehr unterschied-
lich verteilt sind und deshalb sehr unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen für
den Erwerb von Sozialkapital vorfinden.
242 Bernhard Nauck & Vivian Lotter
1)
Referenz: Deutsche Mütter; 2) Referenz: In Deutschland geboren; 3) Referenz: Hamburg
* p < .05; ** p < .01; *** p < .001
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 243
In Modell 1 bestätigen sich zunächst die bivariaten Befunde: Türkische und ins-
besondere vietnamesische Mütter verfügen über deutlich geringeres Sozialkapital
als die deutschen Mütter (Tabelle 2), und Migrantinnen verfügen über geringeres
Sozialkapital als Mütter, die bereits in Deutschland geboren sind. Allerdings ist
der Zusammenhang mit der Länge des Aufenthalts nicht linear, denn Mütter, die
als Erwachsene nach Deutschland gekommen sind, verfügen über mehr Sozial-
kapital als solche, die als Kinder oder Jugendliche zugewandert sind. Mütter in
Sachsen verfügen über signifi kant weniger Sozialkapital als Mütter in Hamburg.
Die Einbeziehung von Interaktionseffekten zeigt dann zusätzlich positive Effekte
für Türkinnen als auch für Vietnamesinnen. Dieser Zusammenhang kommt da-
durch zustande, dass das Sozialkapital der deutschen Mütter in Hamburg beson-
ders groß ist. Hier liegt der Mittelwert für die deutschen Mütter bei .40 (Sachsen:
.34), für die türkischen Mütter bei .22 (Sachsen: .19), während für die vietnamesi-
schen Mütter mit .12 ein niedrigeres Sozialkapital als in Sachsen (.14) zu verzeich-
nen ist. Diese Wechselwirkungs-Befunde belegen, dass die Gelegenheitsstruktur
ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Generierung von Sozialkapital ist.
Die zusätzliche Berücksichtigung von Bildungs- und Berufsfaktoren steigert
die Varianzaufk lärung um 10 Prozent auf R² = .33. Ein zentraler Befund hier-
bei ist, dass der Zusammenhang zwischen Migrationsstatus und Sozialkapital
durch die Kontrolle von Bildungs- und Berufsstatus insignifi kant wird und sich
auch die türkischen Mütter im Sozialkapital nicht mehr von deutschen Müttern
unterscheiden. D.h. die Unterschiede zwischen Migrantinnen und Nichtmig-
rantinnen bzw. zwischen türkischen und deutschen Müttern sind auf deren Ver-
teilungsunterschiede im Bildungs- und Berufsstatus zurück zu führen. Erhalten
bleiben jedoch die Effekte des jeweiligen Aufnahmekontextes als auch dessen
Wechselwirkung mit den Migrantenminoritäten. Das jeweilige Bildungsniveau,
das Niveau der Beherrschung der deutschen Sprache und der Berufsstatus ha-
ben den theoretisch erwarteten positiven Zusammenhang mit der Verfügbarkeit
von Sozialkapital, d.h. dem Zugang zu vielen Personen mit unterschiedlichem
Berufsprestige. Überraschend ist, dass die aktuelle Erwerbstätigkeit der Mütter
in keinem Zusammenhang mit dem Sozialkapital steht. Entgegen theoretischen
Erwartungen bietet der aktuelle Arbeitsplatz keine Gelegenheit für die Mütter, ihr
Sozialkapital zu erweitern.
Zwar wird der Effekt der Zugehörigkeit zur vietnamesischen Ethnie durch die
Berücksichtigung von kulturellem und ökonomischem Kapital von Beta = -.49
auf -.35 abgeschwächt, bleibt aber weiterhin der stärkste Einzeleffekt. D.h., auch
nach Kontrolle des Migrationsstatus, des Berufsstatus, des Bildungsniveaus und
der Sprachkompetenz unterscheiden sich vietnamesische Mütter deutlich durch
ihren niedrigeren Zugang zu Sozialkapital von den türkischen Müttern. Damit ist
244 Bernhard Nauck & Vivian Lotter
Multiplexität Betreuungsressourcen
räumliche Nähe .27*** .30*** .22*** .27*** .39*** .34*** .40*** .44***
emotionale Nähe .16*** .16*** .11*** .20*** .09*** .10*** .05 .17***
Befragte
Kontext Sachsen2) .02* .02 .05*** -.02 .02** .01 .07*** -.02
Referenz: Deutsche Mütter; 2) Referenz: Hamburg; * p < .05; ** p < .01; *** p < .001
Konstante .03 -.07 .05 .03 .03 -.04 .02 .01
Bernhard Nauck & Vivian Lotter
Diese Zusammenhänge zeigen sich bei allen drei ethnischen Gruppen gleicher-
maßen, lediglich die Effektstärke weist graduelle Unterschiede auf: So hängt die
Multiplexität der Netzwerkbeziehungen bei den deutschen Müttern stärker von
der räumlichen, bei den vietnamesischen Müttern auch von der emotionalen Nähe
ab. Für beide Migrantengruppen steht die Möglichkeit spezifischer Ressourcen-
mobilisierung mit der Verfügbarkeit von Sozialkapital, d.h. von Kontakten mit
Mitgliedern unterschiedlicher Berufsgruppen in der Aufnahmegesellschaft in
engem Zusammenhang, wobei insbesondere die vietnamesischen Mütter diesbe-
züglich stark von hohem Sozialkapital profitieren.
Wie zuvor in Tabelle 4 beim Vergleich zwischen allgemeinem und bildungs-
spezifischem Sozialkapital akzentuieren sich auch in Tabelle 5 die Unterschie-
de in den Modellen zur Analyse der Ressourcen von Müttern für die Betreuung
ihrer Kinder. Noch stärker wird von den Müttern für die Unterstützung der Er-
ziehungsaufgaben auf Verwandte bzw. auf Personen in guter Erreichbarkeit zu-
rückgegriffen. Alle Eigenschaften der jeweiligen Netzwerkmitglieder spielen bei
den Migranten-Müttern eine größere Rolle als bei den deutschen Müttern, wobei
insbesondere für die vietnamesischen Mütter die Mobilisierung von Betreuungs-
ressourcen von spezifischen Bedingungen abhängt. Es sind vorzugsweise Per-
sonen in unmittelbarer Umgebung (B = .44), Verwandte (B = .17), von großer
emotionaler Nähe (B = .17) und - wenn sie keine Verwandte sind - eher Einhei-
mische (B = -.20). Auch bei der Mobilisierung von Betreuungsressourcen spielt
das verfügbare Sozialkapital der vietnamesischen Mütter eine große, wenngleich
unerwartete Rolle: Je mehr Kontakte sie zu verschiedenen Berufssegmenten in
der Aufnahmegesellschaft haben, desto geringer ist ihre Bereitschaft zur Mobili-
sierung von Betreuungsressourcen innerhalb ihres sozialen Netzwerks (B = -.21).
Dies lässt - auch im Zusammenhang mit der geringen Größe ihres Netzwerks -
darauf schließen, dass die vietnamesischen Mütter in der Unterstützung bei der
Betreuung ihrer Kinder eher eine Notlösung sehen, die allenfalls an nahe, ver-
wandte Personen herangetragen werden kann und auf die verzichtet wird, sobald
es ihnen möglich ist. Entsprechend hat die Autonomie und Selbstgenügsamkeit
der Kernfamilie eine hervorgehobene Bedeutung.
sichtigt, zeigen die empirischen Befunde von Sun (1998), dass ostasiatische Fa-
milien ihr Investitionsverhalten in den Bildungserfolg ihrer Kinder vor allem auf
finanzielle Aufwendungen für Kulturgüter und für den Besuch kultureller Veran-
staltungen stützen. „Different from their investment strategies in other resources,
East-Asian parents consistently invest less in outside-family social capital, even
though such investment greatly promotes performance... East-Asian families
may deliberately keep social distance from the outer world so as to preserve their
unique values and norms regarding their offsprings’ education“ (Sun 1998, S. 452).
Entsprechend wird die hohe Multiplexität der sozialen Netzwerke für „intergene-
rational closure“ in der sozialen Kontrolle der Kinder und Jugendlichen genutzt
(Coleman 1988; Bankston und Zhou 2002).
Offensichtlich ist diese Konzentration auf die innerfamilialen Ressourcen
unter bestimmten Bedingungen eine effektive Strategie in der Migrationssitua-
tion: „The family’s capacity to provide compensatory social capital in the form
of parental support can buffer and conditionally compensate for the loss of other
sources of social closure in the community that result from family moves“ (Hagan
et al. 1996, S. 372). Künft ige Forschung wird zu prüfen haben, worin diese beson-
deren Bedingungen bestehen. Nicht nur die starken systematischen Unterschiede
hinsichtlich des sozialen Kapitals zwischen den einzelnen Zuwandererminoritä-
ten und den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft , sondern auch anwendungs-
bezogene Überlegungen zur Stärkung innerfamiliärer Ressourcen geben hierzu
Anlass.
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Familie und Gesellschaft
Familienkulturen in Ost- und
Westdeutschland: Zum Gerechtigkeits-
empfinden der Arbeitsteilung innerhalb
der Partnerschaft
Heike Trappe & Katja Köppen
1 Einleitung
Auch nahezu 25 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es fortbestehende Unter-
schiede in einigen Dimensionen familialen Verhaltens, im Erwerbsverhalten von
Frauen sowie in bestimmten Einstellungsbereichen zwischen Menschen in den
alten und den neuen Bundesländern. Prominente Beispiele dafür sind das in Ost-
deutschland im Durchschnitt frühere Alter bei der ersten Geburt und der höhere
Anteil nichtehelicher Geburten, die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und
insbesondere Müttern sowie die liberaleren Einstellungen zu Geschlechterrollen
und zu den Konsequenzen der Frauenerwerbstätigkeit (Blohm 2013; Huinink
et al. 2012). In Bezug auf andere Aspekte familialen Verhaltens, wie das durch-
schnittliche Alter bei der ersten Heirat und die Häufigkeit von Trennungen und
Scheidungen, ist es hingegen eher zu einer Annäherung gekommen, obgleich
die Konstatierung konvergenter und divergenter Entwicklungen mitunter will-
kürlich erscheint (Schneider 2013). Auch die bei jüngeren Kohorten fortbeste-
henden Unterschiede im familialen Verhalten werden häufig im Spannungsfeld
von Kultur, Sozialisation und intergenerationaler Transmission von Traditionen
einerseits sowie Opportunitätsstrukturen andererseits (z.B. bezüglich des unter-
schiedlichen Ausmaßes der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen
für kleine Kinder oder der ökonomischen Notwendigkeit der Frauenerwerbs-
tätigkeit) gedeutet. Der Vergleich von ost-west-mobilen Frauen oder Paaren mit
nicht mobilen ost- und westdeutschen Frauen oder Paaren wird mitunter als so-
zialwissenschaft liche Strategie genutzt, um strukturelle und kulturelle Faktoren
und deren jeweiliges Gewicht für die interessierenden Gemeinsamkeiten und
Unterschiede im Verhalten voneinander abgrenzen zu können (Arránz Becker
und Lois 2010; Grunow und Müller 2012; Vatterrott 2011, 2012).
Im Allgemeinen wird jedoch davon ausgegangen, dass es eine enge Wechsel-
beziehung von strukturellen und kulturellen Bedingungen gibt und sich in deren
Ergebnis Gemeinsamkeiten und Unterschiede des familialen Verhaltens zwi-
schen sozialen Gruppen herausbilden. Kultur ist untrennbar mit sozialen Bezie-
hungen verbunden, denn sie basiert auf geteilten sozialen Erfahrungen und einem
gemeinsamen Verständnis relevanter Tatbestände. Aus dieser Perspektive sind
Kultur und Struktur zwei mögliche Abstraktionen derselben sozialen Vorgänge
(Tilly 1998). Im Sinne einer engen Verwobenheit struktureller und kultureller Be-
dingungsfaktoren hinsichtlich des Verständnisses von Ost-/Westunterschieden
und -gemeinsamkeiten im familialen Verhalten argumentieren auch Huinink,
Kreyenfeld und Trappe (2012), dass strukturelle Rahmenbedingungen auch indi-
viduelle Überzeugungen und Orientierungen prägen. Diese wirken wiederum auf
die Rahmenbedingungen zurück und tragen somit zu einer spezifischen Fami-
lien- und Geschlechterkultur bei. Die Autoren gehen zusätzlich davon aus, dass es
gerade in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels, wie sie gesellschaft liche Trans-
formationsphasen zweifelsohne darstellen, zu ungleichzeitigen Entwicklungen
zwischen strukturellen und kulturellen Wandlungsprozessen kommt:
„Sich rasch vollziehender struktureller Wandel interferiert mit dem eher
Kontinuität sichernden Mechanismus der Kohortenabfolge. Schneller struktu-
reller Wandel beschleunigt in der Tendenz kulturellen Wandel und durchbricht
das Transmissionsprinzip des Wandels, da eine lebenslange Konstanz von Wer-
ten und Einstellungen unwahrscheinlicher wird. Die intergenerationale Trans-
mission hat im Gegenzug Einfluss auf die Optionen und die Wahrscheinlichkeit
schneller Veränderungen und begrenzt das Ausmaß, in dem Menschen bereit
sind, auf strukturelle Veränderungen auch mit Verhaltensanpassungen zu reagie-
ren. Welcher Wandlungsmechanismus jeweils die Oberhand hat, ist nicht allge-
mein zu bestimmen“ (Huinink et al. 2012, S. 12).
Zur näheren Auseinandersetzung mit dieser Thematik sind familiensozio-
logische Untersuchungen zum Vergleich von Ost- und Westdeutschland auch
theoretisch relevant. In der diesbezüglichen Forschung, die kulturelle Aspekte
einschließt, dominieren einerseits makrostrukturelle Diagnosen. So konstatieren
Kreyenfeld und Konietzka (2013, S. 269) den „Fortbestand zweier ‚Familienre-
gime‘ in Deutschland“, während Boehnke (2013) für Ostdeutschland einen so-
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 259
3 Theoretische Überlegungen
auch von den eigenen Wünschen und Erwartungen an eine Beziehung ab. Mit-
unter kann zum Beispiel die Zufriedenheit in einer Beziehung Vorrang vor einer
als gerecht empfundenen häuslichen Arbeitsteilung haben. Auch die Anerken-
nung vom Partner oder von der Partnerin kann ein solches Ziel in einer Partner-
schaft darstellen. Studien haben Anerkennung als einen wesentlichen Einfluss-
faktor für die Beurteilung der Fairness der Arbeitsteilung identifi ziert (Carriero
2011; Hawkins et al. 1995; Kawamura und Brown 2010): Je mehr gefühlte An-
erkennung Frauen von ihren Partnern erhalten, umso eher geben sie an, dass die
Arbeitsteilung als gerecht angesehen wird, unabhängig von der faktischen Ver-
teilung der Hausarbeit.
Anerkennungshypothese: In Partnerschaften, in denen die Partner von einer
hohen Anerkennung ihrer Arbeit berichten, sollte die Arbeitsteilung häufiger als
fair empfunden werden als in Partnerschaften mit geringer subjektiver Anerken-
nung.
Der zweite Aspekt innerhalb der Theorie der Verteilungsgerechtigkeit bezieht
sich auf die soziale Vergleichsgruppe. Es wird angenommen, dass das Gerechtig-
keitsempfinden davon abhängt, mit wem man sich vergleicht. Danach wird die
ungleiche Aufteilung von Hausarbeit und Kinderbetreuung nur dann als unge-
recht empfunden, wenn sie nicht dem entspricht, was als angemessen wahrge-
nommen wird. Was angemessen ist und was nicht, hängt von dem sozialen Ver-
gleichsmaßstab ab. Dies können Angehörige des gleichen Geschlechts, es kann
aber auch der eigene Partner sein. Der innergeschlechtliche Vergleich führt häufig
dazu, dass keine große Diskrepanz zwischen dem eigenen und dem Verhalten
anderer Frauen oder Männer wahrgenommen wird (Hochschild 1989; Major
1993; Steil 1994). In Gesellschaften, in denen sich Frauen noch für einen Großteil
der Hausarbeit zuständig sehen, die sozialen Normen bezüglich der Zuständig-
keiten im Haushalt auf die Frau zielen und Geschlechtergerechtigkeit die indi-
viduelle Ebene noch nicht oder nur ansatzweise erreicht hat, sollten sich Frauen
und Männer eher mit anderen Frauen und Männern vergleichen anstatt mit dem
eigenen Partner oder der Partnerin. Dies führt im Allgemeinen dazu, dass auch
eine ungleiche Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft als gerecht empfunden
wird, vor allem wenn die Vergleichsgruppe ein ähnliches Arbeitsteilungsmuster
aufweist. Mit der steigenden Arbeitsmarktpartizipation von Frauen ändern sich
jedoch auch die etablierten Geschlechterrollenvorstellungen und -erwartungen
bezüglich der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Je stärker die
ökonomische Unabhängigkeit vom Partner ist, je größer der Anteil der Zeit ist,
die auf dem Arbeitsmarkt verbracht wird und je verbreiteter egalitäre Rollenvor-
stellungen werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Frauen und Männer
direkt mit ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin vergleichen und dadurch eine un-
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 263
4.1 Daten
Als Datenbasis dienen das Beziehungs- und Familienpanel pairfam sowie die ost-
deutsche Ergänzungsstichprobe DemoDiff.1 Das Beziehungs- und Familienpanel
ist eine multidisziplinäre Längsschnittstudie zur Erforschung partnerschaft licher
und familialer Lebensformen in Deutschland (Huinink et al. 2011). Die jährli-
che Befragung enthält Informationen von über 12.000 bundesweit zufällig aus-
gewählten Personen der Geburtskohorten 1971-73, 1981-83 und 1991-93. Die
erste Welle dieser Panelstudie wurde in den Jahren 2008/2009 lanciert. Im Jahr
2009/2010 wurde das erste Mal eine Zusatzbefragung unter ostdeutschen Perso-
nen der Geburtskohorten 1971-73 und 1981-83 durchgeführt, die bis 2011/2012
jährlich wiederholt und seit 2012 in die pairfam-Stichprobe eingegliedert wurde.
Mit Hilfe von DemoDiff können so ausführlichere Vergleiche zwischen ost- und
westdeutschen Befragten durchgeführt werden (Kreyenfeld et al. 2012). Mittler-
weile liegt die vierte Befragungswelle des Beziehungs- und Familienpanels vor.
4.2 Stichprobenauswahl
Die vorliegende Studie nutzt die ersten drei Wellen von pairfam und DemoDiff.
In Welle 1 und Welle 3 wurde die Einschätzung der Gerechtigkeit von bezahlter
und unbezahlter Arbeit innerhalb einer Partnerschaft abgefragt. Wir nutzen den
Panelcharakter der Daten, indem wir die Informationen zur Gerechtigkeitsein-
schätzung aus Welle 3 (2010/2011) verwenden und mögliche ursächliche Faktoren,
die das Gerechtigkeitsempfinden beeinflussen können, aus den vorangegangenen
Wellen berücksichtigen. Unsere Stichprobe besteht deshalb aus heterosexuellen
1 Diese Arbeit nutzt Daten des Beziehungs- und Familienpanels pairfam, welches von
Josef Brüderl, Johannes Huinink, Bernhard Nauck und Sabine Walper geleitet wird.
Die Studie wird als Langfristvorhaben durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG) gefördert.
266 Heike Trappe & Katja Köppen
Paaren, die in Welle 3 seit mindestens zwei Jahren ehelich oder nichtehelich zu-
sammengelebt und die Frage zur Gerechtigkeitseinschätzung beantwortet haben.
Die Informationen zum Erwerbsstatus und der konkreten Aufteilung von unbe-
zahlter Arbeit werden ebenfalls aus Welle 3 bezogen. Um Kausalitätsprobleme zu
reduzieren und der Problematik einer möglichen Anpassung von Einstellungen
an die tatsächlich praktizierte Arbeitsteilung zuvorzukommen, wurden die An-
gaben zu den Geschlechterrollenvorstellungen aus Welle 1 sowie die der Anerken-
nung durch den Partner oder die Partnerin und der Beziehungszufriedenheit aus
Welle 2 genutzt. Zudem werden nur Befragte der beiden älteren Kohorten in den
Analysen berücksichtigt, da die Angehörigen der jüngsten Kohorte (1991-93)
größtenteils noch nicht mit einer Partnerin oder einem Partner dauerhaft zusam-
menleben. Wir erreichen so eine endgültige Fallzahl von 3545 Personen. Da wir
davon ausgehen, dass die Fairnesseinschätzung der Arbeitsteilung im Lebensver-
lauf variiert, haben wir unsere Stichprobe in kinderlose Befragte und Eltern auf-
geteilt und führen getrennte Analysen für beide Gruppen durch. Von allen Per-
sonen in der Stichprobe sind 758 Befragte kinderlos und 2787 bereits Eltern. Eine
Übersicht der Verteilung aller Variablen findet sich in Tabelle A1 im Anhang.
4.3 Variablen
sollten sich genauso an der Hausarbeit beteiligen wie Frauen“, „Ein Kind unter
6 Jahren wird darunter leiden, wenn seine Mutter arbeitet“, und „Kinder leiden
oft darunter, dass sich ihre Väter zu sehr auf die Arbeit konzentrieren“. Der neue
Geschlechterrollenindex umfasst Werte von 4 (sehr traditionell) bis 20 (sehr mo-
dern). Für die Interaktionen mit dem Geschlechterrollenindex wurden die Kate-
gorien anhand der Terzile in drei Gruppen zusammengefasst in „traditionell“,
„moderat“ und „modern“.
Berufsabschluss der Mutter. Um die intergenerationale Vermittlung von Rol-
lenbildern abzubilden, wird der höchste berufliche Abschluss der Mutter der
Befragten untersucht. Idealerweise würde man für die Überprüfung der Hypo-
these die tatsächliche Arbeitsteilung der Eltern der Befragten nutzen. Da dies
im Beziehungs- und Familienpanel jedoch nicht abgefragt wird, beschränken
wir uns auf ein näherungsweises Maß und nehmen an, dass eine höhere Bildung
bzw. ein höherer Berufsabschluss der Mutter eine stärker egalitäre Einstellung
zur Arbeitsteilung impliziert. Es wird gemessen, ob die Mutter überhaupt einen
Berufsabschluss hat und wenn ja, ob sie studiert oder eine berufliche Ausbildung
abgeschlossen hat.
Desweiteren kontrollieren wir für eine Vielzahl weiterer Variablen, die sich in
verschiedenen empirischen Studien zur Arbeitsteilung und Gerechtigkeitswahr-
nehmung als einflussreich erwiesen haben: Geschlecht, Geburtsjahr, Familien-
stand, Dauer des Zusammenlebens, Größe des Wohnortes, Anzahl der Kinder
sowie Alter des jüngsten Kindes für Eltern, berufl iche Ausbildung des Paares so-
wie Beziehungszufriedenheit.
4.4 Methode
Für die deskriptiven Analysen nutzen wir ein Designgewicht, das von pairfam
bzw. DemoDiff bereitgestellt wurde, um die Über- oder Unterrepäsentation der
Kohorten in der Stichprobe an ihre aus der amtlichen Statistik ermittelte Vertei-
lung in der Bevölkerung anzupassen (Kreyenfeld et al. 2013).
Da unsere abhängige Variable mehr als zwei Kategorien aufweist, wurden für
die multivariaten Modelle jeweils getrennt für Kinderlose und Eltern multino-
miale logistische Regressionen geschätzt. Da die Effekte der geschätzten Koeffi-
zienten in multinomialen logistischen Regressionen, wenn sie als relative Risiken
dargestellt werden, mitunter schwer interpretierbar sind, haben wir uns ent-
schieden diese als durchschnittliche marginale Effekte (average marginal effects,
AME) abzubilden. Diese geben den durchschnittlichen Einfluss einer erklärenden
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 269
5 Ergebnisse
Frauen und Männer aus beiden Teilen Deutschlands tendieren nahezu gleicher-
maßen dazu, ihre praktizierte Arbeitsteilung als fair einzuschätzen (vgl. Ab-
bildung 1). Eine Ausnahme bilden hier ostdeutsche Frauen, die insbesondere
wenn sie Mütter sind, etwas häufiger angeben, dass die Arbeitsteilung zu ihren
Ungunsten ausfällt. Am seltensten wird sowohl von Frauen als auch von Män-
nern geäußert, dass die Aufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit in ihrer
Partnerschaft unfair für den Mann bzw. Partner ist. Die dargestellte Verteilung
ist sehr stabil über Gruppen hinweg und gilt für Frauen und Männer, Eltern und
Kinderlose, Ost- und Westdeutsche in sehr ähnlicher Weise. Insofern zeichnen
sich keine deutlichen Ost-/Westunterschiede im Hinblick auf die Gerechtigkeits-
einschätzung der Arbeitsteilung ab.
Hinsichtlich der Erwerbsarrangements der Paare und der Aufteilung der unbe-
zahlten Arbeit zeigen sich jedoch die erwarteten Unterschiede. So praktizieren
ostdeutsche Paare häufiger als westdeutsche Paare eine doppelte Vollzeiterwerbs-
tätigkeit und seltener ein modernisiertes Ernährermodell, bei dem der Mann voll-
zeit- und die Frau teilzeiterwerbstätig ist (vgl. Abbildung 2).
Von kinderlosen Frauen und Männern wird die Aufteilung der Routinehaus-
arbeiten als deutlich egalitärer wahrgenommen als von Eltern (vgl. Abbildung 3).
Auff ällig ist, dass kinderlose ostdeutsche Frauen etwas häufiger als alle anderen
Kinderlosen angeben, dass die Aufteilung der Hausarbeit zu ihren Ungunsten
ausfällt.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 271
Abbildung 3 Aufteilung von Routinehausarbeiten für Frauen und Männer nach Eltern-
schaftsstatus und Herkunftsregion
Sowohl west- als auch ostdeutsche Eltern praktizieren eine Aufteilung der häus-
lichen Arbeiten, die überwiegend zulasten der Frauen bzw. Partnerinnen erfolgt.
Bei westdeutschen Paaren ist diese Form der Arbeitsteilung jedoch noch etwas
stärker ausgeprägt.
Insbesondere bezüglich der Aufteilung der Kinderbetreuung sind Ost-/West-
unterschiede markant (vgl. Abbildung 4). Ostdeutsche Frauen und Männer sind
deutlich häufiger der Auffassung, dass diese etwa paritätisch erfolgt, während bei
westdeutschen Befragten die mit der Kinderbetreuung in Zusammenhang ste-
henden Aufgaben überwiegend der Frau bzw. Partnerin obliegen.
272 Heike Trappe & Katja Köppen
Abbildung 4 Aufteilung der Kinderbetreuung für Mütter und Väter nach Herkunfts-
region
Vor dem Hintergrund dieser deskriptiven Darstellungen zur Aufteilung von be-
zahlter und unbezahlter Arbeit lässt sich insbesondere für die Gruppe der Eltern
konstatieren, dass recht unterschiedliche Muster der Arbeitsteilung innerhalb der
Partnerschaft bei west- und ostdeutschen Frauen und Männern zu einer vergleich-
baren Fairnesswahrnehmung führen. Dies ist ein erster Hinweis für die Geltung
der Sozialisationshypothese, nach der in Westdeutschland aufgewachsene Frauen
und Männer eine ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit eher
als gerecht empfinden als Ostdeutsche.
teilung der Routinehausarbeiten aus. Erfolgt diese etwa paritätisch, dann wird die
Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft am ehesten als gerecht empfunden.
Die Relevanz der gelebten Praxis der partnerschaft lichen Arbeitsteilung für
deren Bewertung als fair bestätigt sich auch für die Gruppe der Eltern. Erfolgt
die Hausarbeit oder die Kinderbetreuung überwiegend durch die Frauen (ver-
glichen mit einer paritätischen Aufgabenteilung), so steht dies im Gegensatz zu
einer als fair bewerteten Arbeitsteilung. Gleichzeitig begünstigen, wie schon bei
den Kinderlosen, Erwerbskonstellationen, bei denen die Frau nicht erwerbstätig
ist, während ihr Partner Vollzeit arbeitet, eine faire Wahrnehmung der prakti-
zierten Aufteilung aller anfallenden Aufgaben. Mütter bewerten die Aufteilung
der Arbeit signifi kant seltener als fair als Väter. Darüber hinaus ist dies in Groß-
städten, bei Personen mit modernen Auffassungen von Geschlechterrollen und
für Ostdeutsche seltener der Fall. Für die Gruppe der Eltern deuten sich nach
Kontrolle aller relevanten Einflussfaktoren Ost-/Westunterschiede in der erwar-
teten Richtung an. Als positiv für die Gerechtigkeitswahrnehmung erweist sich
erneut die Zufriedenheit mit der Beziehung, aber darüber hinaus auch die An-
erkennung durch die Partnerin oder den Partner. Je häufiger diese erfolgt, umso
eher wird die praktizierte Arbeitsteilung als gerecht wahrgenommen. Je seltener
Frauen und Männer Anerkennung innerhalb ihrer Partnerschaft erfahren, desto
stärker wird die Arbeitsteilung als unfair für die Frau empfunden. Weiterfüh-
rende Analysen (vgl. Tabelle A5) zeigen darüber hinaus, dass die Häufigkeit der
Anerkennung insbesondere bei westdeutschen Eltern eine als fair wahrgenomme-
ne Arbeitsteilung begünstigt. Dies bestätigt die für andere Gesellschaften bereits
nachgewiesene Anerkennungshypothese insbesondere für westdeutsche Eltern.
Weder für Kinderlose noch für Eltern gibt es hingegen Belege für die Gültigkeit
der Intergenerationalitätshypothese, denn von dem höchsten Ausbildungsab-
schluss der Mutter geht kein zusätzlicher Effekt auf die Gerechtigkeitswahrneh-
mung der Arbeitsteilung aus.2
Die Überprüfung der übrigen Hypothesen erfolgte durch die Berücksichti-
gung von relevanten Interaktionen innerhalb der Grundmodelle für Kinderlose
und für Eltern.3 Hinsichtlich des Zusammenwirkens der Aufteilung von Haus-
2 Die auch in Modellen, die nicht für die eigene Bildung kontrollieren, nur schwach aus-
geprägten Effekte des höchsten Ausbildungsabschlusses der Mutter können auch dar-
auf zurückzuführen sein, dass mit dieser Operationalisierung die im Elternhaus erlebte
Arbeitsteilung nur unzureichend erfasst wird.
3 Die diesbezüglichen Ergebnisse sind vollständig im Anhang ausgewiesen (Tabellen A4
und A5). Im Text werden diese nur in Auszügen wiedergegeben.
274 Heike Trappe & Katja Köppen
arbeit bzw. Kinderbetreuung und der Herkunftsregion zeigen sich für Kinderlose
und Eltern unterschiedliche Effekte (vgl. Tabelle 1).
Kinderlose Eltern
Herkunftsregion*Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Westdeutschland + Hausarbeit 50/50)
Westdeutschland + überwiegend Frau Hausarbeit -0,211 *** -0,172 ***
**
Westdeutschland + überwiegend Mann Hausarbeit -0,369 0,117
***
Ostdeutschland + überwiegend Frau Hausarbeit -0,235 -0,222 ***
Ostdeutschland + Hausarbeit 50/50 -0,043 0,024
Ostdeutschland + überwiegend Mann Hausarbeit – 0,037
Herkunftsregion*Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Westdeutschland + Kinderbetreuung 50/50)
Westdeutschland + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,016
Westdeutschland + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,231 **
Ostdeutschland + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,094 **
Ostdeutschland + Kinderbetreuung 50/50 – 0,003
Ostdeutschland + überwiegend Mann Kinderbetreuung – 0,291
Bei kinderlosen Frauen und Männern zeigen sich keine nennenswerten Unter-
schiede bei Ost- und Westdeutschen hinsichtlich des Einflusses der Aufteilung
der Hausarbeit auf die Fairnesseinschätzung. Ostdeutsche Eltern hingegen emp-
finden entsprechend der Vergleichsgruppenhypothese eine zulasten der Frauen
erfolgende Aufteilung stärker als ungerecht als westdeutsche Eltern. Noch deut-
lichere Unterschiede treten hinsichtlich der Kinderbetreuung zutage. Eine vor-
rangige Zuständigkeit der Mutter stellt demzufolge für westdeutsche Eltern keine
Verletzung der Fairnessnorm dar, wohl aber eine überwiegende Zuständigkeit des
Vaters. Bei ostdeutschen Eltern geht eine vorwiegend durch die Mutter erfolgende
Kinderbetreuung mit einem geringer ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden ein-
her.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 275
Kinder- Eltern
lose
Erwerbsarrangement*Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Beide Vollzeit + Hausarbeit 50/50)
Beide Vollzeit + überwiegend Frau Hausarbeit -0,202 *** -0,259 ***
Beide Vollzeit + überwiegend Mann Hausarbeit – -0,065
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Frau Hausarbeit -0,173 ** -0,183 ***
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + Hausarbeit 50/50 -0,035 -0,022
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Mann Hausarbeit – -0,166
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Frau Hausarbeit – -0,108 *
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + Hausarbeit 50/50 – 0,002
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Mann Hausarbeit – –
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Frau -0,127 + -0,137 **
Hausarbeit
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + Hausarbeit 50/50 0,166 0,175 +
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Mann – -0,093
Hausarbeit
Erwerbsarrangement*Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Beide Vollzeit + Kinderbetreuung 50/50)
Beide Vollzeit + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,103 *
Beide Vollzeit + überwiegend Mann Kinderbetreuung – 0,063
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Frau Kinderbetreu- – -0,023
ung
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + Kinderbetreuung 50/50 – 0,055
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Mann Kinderbetreu- – -0,414 **
ung
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Frau Kinderbe- – 0,078 +
treuung
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + Kinderbetreuung 50/50 – 0,042
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Mann Kinder- – –
betreuung
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Frau – 0,040
Kinderbetreuung
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + Kinderbetreuung 50/50 – 0,120 *
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Mann – -0,182
Kinderbetreuung
276 Heike Trappe & Katja Köppen
Kinderlose Eltern
Vorstellungen von Geschlechterrollen*Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Moderat + Hausarbeit 50/50)
Traditionell + überwiegend Frau Hausarbeit -0,247 *** -0,218 ***
Traditionell + Hausarbeit 50/50 0,081 -0,086
Traditionell + überwiegend Mann Hausarbeit -0,058 -0,183
Moderat + überwiegend Frau Hausarbeit -0,130 * -0,239 ***
Moderat + überwiegend Mann Hausarbeit -0,449 + -0,050
Modern + überwiegend Frau Hausarbeit -0,206 *** -0,278 ***
Modern + Hausarbeit 50/50 -0,058 -0,048
Modern + überwiegend Mann Hausarbeit -0,132 0,036
Vorstellungen von Geschlechterrollen*Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Moderat + Kinderbetreuung 50/50)
Traditionell + überwiegend Frau Kinderbetreuung – 0,012
Traditionell + Kinderbetreuung 50/50 – 0,063
Traditionell + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,083
Moderat + überwiegend Frau Kinderbetreuung – 0,076 *
Moderat + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,063
Modern + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,025
Modern + Kinderbetreuung 50/50 – 0,024
Modern + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,021
Hausarbeit wird als unfair empfunden und dies nahezu unabhängig von den Vor-
stellungen von Geschlechterrollen. Insofern findet die Geschlechterrollenhypo-
these keine Bestätigung.
Kinderlose Eltern
Vorstellungen von Geschlechterrollen*Herkunftsregion
(Referenz: Moderat + Westdeutschland)
Traditionell + Westdeutschland -0,044 -0,030
Traditionell + Ostdeutschland – -0,005
Moderat + Ostdeutschland 0,005 -0,055 +
Modern + Westdeutschland 0,004 -0,019
Modern + Ostdeutschland -0,058 -0,082 **
6 Fazit
sozialisatorische Erfahrungen. Generell zeigt sich, dass die Aufteilung von be-
zahlter und unbezahlter Arbeit am stärksten als unfair erlebt wird, wenn es zu
einer Kumulation von Anforderungen im Erwerbs- und im häuslichen Bereich
kommt, die im Sinne einer Doppelbelastung empfunden wird. Dies trifft insbe-
sondere bei Eltern vermehrt auf Frauen zu. Hier zeigt sich darüber hinaus, dass
Routinehausarbeit und Kinderbetreuung unterschiedliche Dimensionen darstel-
len, da Hausarbeit eher als Belastung wahrgenommen wird.
Die Ergebnisse unserer Analysen bestätigen im Wesentlichen die aus sozial-
psychologischen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit abgeleiteten Hypothesen.
So erweisen sich die innerhalb der Partnerschaft empfundene Anerkennung, der
individuelle Vergleichsmaßstab, die erlebte Beanspruchung durch Erwerbs- und
Hausarbeit sowie die im Sozialisationsprozess angeeigneten Vorstellungen von
Geschlechterrollen als relevant für die Gerechtigkeitseinschätzung der Arbeits-
teilung. Der Erklärungsgehalt dieser Faktoren bezieht sich vor allem auf die von
Eltern empfundene Fairness der Arbeitsteilung, obgleich sich das Ausmaß der
wahrgenommenen Gerechtigkeit bei Kinderlosen und Eltern kaum voneinander
unterscheidet. Offensichtlich verändern sich mit dem Übergang zur Elternschaft
nicht nur die praktizierte Arbeitsteilung, sondern auch die ihrer Gerechtigkeits-
wahrnehmung zugrundeliegenden Erklärungszusammenhänge.
Neben der wesentlichen Differenzierung zwischen Eltern und Kinderlosen
weisen unsere Analysen eindrucksvoll aus, dass insbesondere innerhalb der
Gruppe der Eltern markante Ost-/Westunterschiede hinsichtlich der Bedeutung
verschiedener Faktoren für die Gerechtigkeitseinschätzung der partnerschaft li-
chen Arbeitsteilung bestehen. Diese kommen beispielsweise darin zum Ausdruck,
dass die innerhalb der Partnerschaft empfundene Anerkennung insbesondere für
westdeutsche Eltern positive Auswirkungen auf die Gerechtigkeitseinschätzung
der Arbeitsteilung hat. Möglicherweise stellt die Anerkennung innerhalb der
Partnerschaft deutlich stärker als bei ostdeutschen Eltern eine Art Kompensation
für eine sich mit der Elternschaft verstärkende ungleiche Verteilung von bezahl-
ter und unbezahlter Arbeit dar und trägt somit auch zu deren Reproduktion bei.
Hingegen bewirkt die vorrangige Zuständigkeit der Frau für die Kinderbetreuung
ausschließlich bei ostdeutschen Eltern eine Verletzung der Fairnessnorm. Dies
führen wir darauf zurück, dass vor dem Hintergrund einer höheren und kontinu-
ierlicheren Erwerbsbeteiligung von Müttern in Ostdeutschland, die sich auch auf
der normativen Ebene bereits über Generationen etabliert hat, sehr viel stärker als
bei westdeutschen Paaren der Partner bzw. die Partnerin als Vergleichsmaßstab
für die Einschätzung der Gerechtigkeit herangezogen wird. Im Ergebnis dessen
wird, anders als beim innergeschlechtlichen Vergleich, eine ungleiche Auftei-
lung der Kinderbetreuung als unfair empfunden. Darüber hinaus unterstützen
280 Heike Trappe & Katja Köppen
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Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 283
Anhang
Tabelle A1 Verteilung der abhängigen und unabhängigen Variablen nach Elternschaft s-
status der Befragten, Spaltenprozente
Tabelle A1 Fortsetzung
Variable Kinderlose Eltern
Mehr als 20.000 und bis zu 100.000 Einwohner 27,1 27,3
Mehr als 100.000 Einwohner 27,2 22,5
Anzahl der Kinder
1 – 33,5
2 – 44,7
3+ – 21,8
Alter des jüngsten Kindes
Fehlender Wert – 0,6
0-3 – 45,1
4-6 – 20,9
7+ – 33,4
Höchster Berufsabschluss der Partner
Beide keinen Abschluss 3.5 4,4
Beide berufl iche Ausbildung 40.8 46,2
Beide (Fach-)Hochschulausbildung 20.0 14,5
Frau geringer als Mann 17.1 21,4
Mann geringer als Frau 18.6 13,5
Häufigkeit der Anerkennung durch Partner/in
Nie – 0,5
2 2,3 6,4
3 17,5 25,9
4 61,7 53,9
Immer 18,5 13,4
Erwerbsarrangement der Partner
Fehlender Wert 1,1 0,7
Beide Vollzeit 55,5 15,7
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit 7,6 35,5
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit – 16,6
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig 16,8 16,4
Andere Kombinationen 19,0 15,1
286 Heike Trappe & Katja Köppen
Tabelle A1 Fortsetzung
Variable Kinderlose Eltern
Arbeitsteilung: Hausarbeit
Überwiegend Frau 47,6 76,0
50/50 49,0 20,9
Überwiegend Mann 3,4 3,1
Arbeitsteilung: Kinderbetreuung
Fehlender Wert – 1,6
Überwiegend Frau – 61,9
50/50 – 34,2
Überwiegend Mann – 2,3
Beziehungszufriedenheit (Skala von 0-10)
Mittelwert (SE) 8,3 (2,02) 8,0 (2,21)
Geschlechterrollenindex (Skala von 4-20)
Mittelwert (SE) 14,7 (2,41) 14,2 (2,65)
Gesamt 100 (n = 100 (n =
758) 2787)
Tabelle A2 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Halbe/Halbe)
Überwiegend durch Frau 0,300 *** 0,03 -0,220 *** 0,03 -0,080 *** 0,02
**
Überwiegend durch Mann 0,149 0,09 -0,253 0,10 0,104 *** 0,03
Moderne Vorstellungen 0,010 0,01 -0,008 0,01 -0,002 0,004
von Geschlechterrollen
(4-20)
Anerkennung durch -0,021 0,02 0,032 0,03 -0,012 0,01
Partner/in
(1-5)
Höchster beruflicher Abschluss der Mutter (Referenz: Berufl iche Ausbildung)
Kein Abschluss 0,004 0,05 -0,031 0,06 0,027 0,03
Studium 0,011 0,04 -0,008 0,05 -0,003 0,03
n = 758
Likelihood Ratio = 170,96 ***
Pseudo R2 = 0,14
Tabelle A3 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
Erwerbsarrangement des Paares (Referenz: Beide Vollzeit)
Mann Vollzeit/Frau Teil- -0,050 * 0,02 0,050 + 0,03 -0,001 0,01
zeit
Mann Vollzeit/Frau -0,133 *** 0,03 0,132 *** 0,03 -0,002 0,01
Elternzeit
Mann Vollzeit/Frau NET -0,126 *** 0,03 0,113 *** 0,03 0,013 0,01
Übrige Konstellationen -0,043 0,03 0,059 + 0,03 -0,016 0,01
Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Halbe/Halbe)
Überwiegend durch Frau 0,234 *** 0,02 -0,213 *** 0,02 -0,021 * 0,01
***
Überwiegend durch Mann -0,028 0,08 -0,030 0,07 0,058 0,01
Aufteilung der Kinderbetreuung (Referenz: Halbe/Halbe)
Überwiegend durch Frau 0,064 ** 0,08 -0,061 ** 0,02 -0,003 0,01
Überwiegend durch Mann 0,091 0,07 -0,111 0,07 0,019 0,01
Moderne Vorstellungen 0,009 * 0,003 -0,007 + 0,001 -0,002 0,001
von Geschlechterrollen
(4-20)
Anerkennung durch -0,039 ** 0,01 0,040 ** 0,01 -0,001 0,005
Partner/in
(1-5)
Höchster beruflicher Abschluss der Mutter (Referenz: Berufl iche Ausbildung)
Kein Abschluss 0,013 0,02 -0,007 0,03 -0,006 0,01
Studium -0,023 0,03 0,022 0,03 0,003 0,01
n = 2787
Likelihood Ratio = 359,44 ***
Pseudo R2 = 0,09
Tabelle A4 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
OD + überw. Frau HH 0,306 *** 0,04 -0,235 *** 0,05 -0,071 * 0,04
OD + Hausarbeit 50/50 0,050 0,05 -0,043 0,06 -0,006 0,02
OD + überw. Mann HH – – – – – –
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: moderat + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Traditionell + 0,275 *** 0,05 -0,247 *** 0,06 -0,029 0,03
überw. Frau HH
Traditionell + -0,098 0,09 0,081 0,09 0,017 0,03
Hausarbeit 50/50
Traditionell + 0,032 0,19 -0,058 0,19 0,026 0,06
überw. Mann HH
Moderat + überw. Frau HH 0,221 *** 0,04 -0,130 * 0,05 -0,091 * 0,04
Moderat + 0,229 0,22 -0,449 + 0,25 0,221 *** 0,05
überw. Mann HH
Modern + überw. Frau HH 0,297 *** 0,05 -0,206 *** 0,06 -0,091 * 0,04
Modern + Hausarbeit 50/50 -0,058 0,06 -0,058 0,06 -0,0003 0,02
Modern + überw. Mann HH 0,132 0,12 -0,132 0,14 -0,0008 0,06
Herkunftsregion und Häufigkeit der Anerkennung durch Partner/in
(Referenz: WD + häufig Anerkennung)
WD + selten oder -0,004 0,12 -0,056 0,13 0,060 0,06
nie Anerkennung
WD + 0,040 0,05 -0,006 0,06 -0,034 0,04
manchmal Anerkennung
WD + immer Anerkennung -0,013 0,05 -0,013 0,06 0,026 0,03
OD + selten oder – – – – – –
nie Anerkennung
OD + manchmal 0,113 0,08 -0,177 * 0,08 0,064 0,04
Anerkennung
OD + häufig Anerkennung -0,008 0,04 -0,0004 0,04 0,009 0,02
OD + immer Anerkennung – – – – – –
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Herkunftsregion (Referenz: Moderat +
Westdeutschland)
Traditionell + 0,019 0,05 -0,044 0,06 0,024 0,03
Westdeutschland
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 293
Tabelle A4 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
Traditionell + – – – – – –
Ostdeutschland
Moderat + Ostdeutschland -0,025 0,05 0,005 0,05 0,019 0,03
Modern + Westdeutschland 0,025 0,04 0,004 0,05 -0,029 0,03
Modern + Ostdeutschland 0,052 0,05 -0,058 0,05 -0,004 0,03
Tabelle A5 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Beide Vollzeit + -0,049 0,16 0,063 0,16 0,007 0,02
überw. Mann KI
M. VZ/F. TZ + überw. F. KI 0,029 0,03 -0,023 0,03 -0,006 0,01
M. VZ/F. TZ + KI 50/50 -0,051 0,04 0,055 0,04 -0,004 0,01
M. VZ/F. TZ + überw. M. KI 0,409 ** 0,15 -0,414 ** 0,16 0,005 0,04
+
M. VZ/F. Elternzeit + -0,071 0,04 0,078 + 0,04 -0,007 0,02
überw. F. KI
M. VZ/F. Elternzeit + -0,016 0,06 0,042 0,06 -0,027 0,03
KI 50/50
M. VZ/F. Elternzeit + – – – – – –
überw. M. KI
M. VZ/F. NET + -0,045 0,04 0,040 0,04 0,005 0,01
überw. F. KI
M. VZ/F. NET + KI 50/50 -0,137 * 0,06 0,120 * 0,06 0,017 0,02
M. VZ/F. NET + 0,184 0,15 -0,182 0,16 -0,002 0,04
überw. M. KI
Übrige Konst.-en + 0,030 0,04 0,005 0,05 -0,035 0,02
überw. F. KI
Übrige Konst.-en + KI 50/50 -0,018 0,04 0,049 0,04 -0,031 0,02
Übrige Konst.-en + -0,162 0,16 0,149 0,15 0,013 0,02
überw. M. KI
Herkunftsregion und Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Westdeutschland +
Hausarbeit Halbe/Halbe)
WD + überw. Frau HH 0,193 *** 0,04 -0,172 *** 0,04 -0,021 + 0,01
WD + überw. Mann HH -0,179 0,12 0,117 0,12 0,062 *** 0,02
*** *** *
OD + überw. Frau HH 0,261 0,04 -0,222 0,04 -0,039 0,01
OD + Hausarbeit 50/50 -0,010 0,05 0,024 0,05 -0,014 0,01
OD + überw. Mann HH -0,086 0,15 0,037 0,15 0,049 * 0,02
Herkunftsregion und Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Westdeutschland + Kinderbetreuung Halbe/Halbe)
WD + überw. Frau KI 0,031 0,03 -0,016 0,03 -0,014 0,01
**
WD + überw. Mann KI 0,217 0,09 -0,231 0,09 0,014 0,02
296 Heike Trappe & Katja Köppen
Tabelle A5 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
*** ** +
OD + überw. Frau KI 0,120 0,03 -0,094 0,03 -0,026 0,01
OD + Kinderbetreuung 0,018 0,03 0,003 0,03 -0,021 + 0,01
50/50
OD + überw. Mann KI -0,269 0,21 0,291 0,20 -0,022 0,04
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: moderat + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Traditionell + überw. Frau 0,227 *** 0,04 -0,218 *** 0,04 -0,008 0,02
HH
Traditionell + Hausarbeit 0,047 0,07 -0,086 0,07 0,035 * 0,02
50/50
Traditionell + überw. Mann 0,144 0,11 -0,183 0,11 0,039 0,02
HH
Moderat + überw. Frau HH 0,240 *** 0,04 -0,239 *** 0,04 -0,001 0,01
Moderat + überw. Mann -0,047 0,16 -0,050 0,15 0,097 *** 0,02
HH
Modern + überw. Frau HH 0,290 *** 0,04 -0,278 *** 0,04 -0,015 0,02
Modern + Hausarbeit 50/50 0,045 0,05 -0,048 0,05 0,003 0,02
Modern + überw. Mann HH -0,102 0,13 0,036 0,13 0,066 0,02
Tabelle A5 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Herkunftsregion und Häufigkeit der Anerkennung durch Partner/in
(Referenz: WD + häufig Anerkennung)
WD + selten oder nie An- 0,144 ** 0,04 -0,166 *** 0,05 0,022 0,01
erkennung
WD + manchmal 0,039 0,03 -0,032 0,03 -0,007 0,01
Anerkennung
WD + immer Anerkennung 0,002 0,04 0,026 0,04 -0,028 0,02
OD + selten oder nie 0,130 + 0,07 -0,126 + 0,08 -0,004 0,03
Anerkennung
OD + manchmal 0,049 0,04 -0,003 0,05 -0,046 + 0,02
Anerkennung
OD + häufig Anerkennung 0,075 0,03 -0,058 ** 0,03 -0,017 0,01
OD + immer Anerkennung 0,080 0,06 -0,082 0,06 0,002 0,02
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Herkunftsregion (Referenz: Moderat +
Westdeutschland)
Traditionell + 0,025 0,03 -0,030 0,03 0,005 0,01
Westdeutschland
Traditionell + 0,022 0,04 -0,005 0,04 -0,018 0,02
Ostdeutschland
Moderat + Ostdeutschland 0,061 + 0,03 -0,055 + 0,03 -0,006 0,01
Modern + Westdeutschland 0,029 0,03 -0,019 0,03 -0,010 0,01
*** ** *
Modern + Ostdeutschland 0,116 0,03 -0,082 0,03 -0,034 0,01
Die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern gehören zu den wichtigsten
und langlebigsten in der Familie. In seiner Auseinandersetzung mit verschiede-
nen Definitionen des Begriffs ‚Familie‘ schlägt Schneider (2008, S. 13) vor, diese
als „eine exklusive Solidargemeinschaft, die auf relative Dauer angelegt ist“ zu be-
greifen. Damit wird Familie aus einer Mikroperspektive als sozialer Interaktions-
rahmen für Individuen beschrieben, der seinen exklusiven Charakter durch eine
spezifische, in der Regel generationenübergreifende Rollenstruktur (Vater – Mut-
ter – Kind) und die Solidarbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern erhält.
Entsprechend sind die Existenz und der Fortbestand der Familie unter anderem
darin begründet, dass diese spezifische Solidargemeinschaft bei der Produktion
bestimmter Leistungen Effizienzvorteile gegenüber anderen Organisations-
formen (z.B. Wohlfahrtsstaaten) mit sich bringt. So existieren ganz bestimmte
gesellschaft liche Vorstellungen, was die Familie und vor allem Eltern und ihre
Kinder füreinander zu leisten haben. Diese spiegeln sich in den unterschiedlichen
sozial- und familienpolitischen Ausgestaltungen verschiedener Wohlfahrtsstaa-
ten. Politik hat damit umgekehrt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Fa-
milien- und Generationenbeziehungen, was sich zum Beispiel beim Einfluss von
Sozialpolitik auf die Unterstützungsfunktion der Familie zeigt (z.B. Brandt und
Deindl 2013). Was Generationenbeziehungen soziologisch weiterhin spannend
macht, ist die Tatsache, dass sie familiale und gesellschaft liche Generationen, also
(Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder und Jung und Alt verbinden. Familie ist damit
der Rahmen, in dem verschiedene gesellschaft liche Generationen als Eltern und
Kinder ihr Leben teilen. Angesichts einer andauernden Pluralisierung von Fami-
lien- und Lebensformen (z.B. Peuckert 2012) – die sich u.a. in sinkenden Heirats-
ziffern sowie einer zunehmenden Instabilität von Partnerschaften widerspiegelt
– sowie eines massiven demographischen Wandels mit dauerhaft niedrigen Ge-
burtenziffern und einer stetig steigenden Lebenserwartung stellt sich verstärkt
die Frage nach der zukünft igen Entwicklung und den Solidaritätspotenzialen ge-
nerationenübergreifender Netzwerke innerhalb von Familien (z.B. Murphy 2011;
Tomassini und Wolf 2000).
Im Zuge dieses Wandels hat auch die Erforschung der Beziehungen zwischen
(Groß-)Eltern und (Enkel-)Kindern an Bedeutung gewonnen, über die in diesem
Beitrag ein kurzer Überblick gegeben werden soll. Da sich die beschriebenen Zu-
sammenhänge am besten im internationalen Vergleich erforschen lassen, wird
der Fokus dabei auf Generationensolidarität in europäischen Wohlfahrtsstaaten
liegen.
Der Begriff „Generation“ trägt eine doppelte Bedeutung und bezeichnet einerseits
„familiale“ und andererseits „gesellschaft liche Generationen“ (Szydlik 2000). Fa-
miliale Generationen bezeichnen Mitglieder der Abstammungslinie einer Fami-
lie, und damit (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder. Die Zuordnung des Einzelnen
– Eltern sind ja immer auch Kinder – ist dabei eine Frage der Perspektive. Ge-
sellschaft liche Generationen grenzen hingegen unterschiedliche soziale Gruppen
voneinander ab. Der Begriff beschreibt damit mehr als bloß eine Geburtskohorte
(die Gleichbehandlung von Kohorten und Generationen ist wahrscheinlich der
häufigste Fehler bei der Verwendung des Generationenbegriffs). Nach Mannheim
(1964) muss eine „Generationenlagerung“, ein „Generationenzusammenhang“
und eine „Generationeneinheit“ existieren, um eine Generation in der Gesell-
schaft zu konstituieren. Mitglieder einer solchen Generation sind also nicht nur
zur selben Zeit geboren (Lage), sie teilen auch ein gemeinsames Schicksal (Zu-
sammenhang) und ein gemeinsames Bewusstsein (Einheit).
Während also in der Familie von „Generationenbeziehungen“ zwischen Eltern
und Kindern und vom „Generationenzusammenhalt“ die Rede ist, geht es auf ge-
sellschaft licher Ebene vorrangig um „Generationenverhältnisse“ zwischen Jung
und Alt und um den sogenannten „Generationenvertrag“ (Kaufmann 1993; Szyd-
lik und Künemund 2009). Gesellschaft liche Generationen lassen sich in weitere
Untergruppen unterteilen, je nachdem auf welchem Gebiet sich die Gemeinsam-
Generationen in Europa 301
keiten finden (Kohli und Szydlik 2000, S. 7f.): Eine „politische Generation“ ist
zum Beispiel die sogenannte 68er-Generation, die „Generation Golf“ könnte als
„kulturelle Generation“ genannt werden, während es sich bei der „Wirtschafts-
wundergeneration“ um eine „ökonomische Generation“ handelt – wobei die
Bereiche nicht immer ganz trennscharf abgegrenzt werden können. Wenn im
Weiteren von Generationen die Rede ist, meinen wir familiale Generationen und
intergenerationale Beziehungen, also die Beziehung zwischen Eltern, Kindern,
Großeltern und Enkelkindern – die aber natürlich gesellschaft liche Generationen
untereinander verbinden und über Solidaritätspotentiale, Konfl ikte und Ambiva-
lenzen Aufschluss geben können (siehe z.B. Prinzen 2014).
Die Beziehungen zwischen Generationen lassen sich aus der Perspektive der „So-
lidarität“, des „Konflikts“, der „Ambivalenz“ oder der „Segregation“ beschreiben
(Höpflinger 1999). Die Segregationsperspektive wurde in den sechziger Jahren
des letzten Jahrhunderts vor allem von Vertretern wie Talcott Parsons (1943) ein-
genommen, der einen Bedeutungs- und Funktionsverlust der Familie durch die
zunehmende Isolierung der Kernfamilie sah. Dieser Sicht widersprechen aber bis
heute die meisten Forschungsergebnisse, die einen regen Austausch zwischen Ge-
nerationen belegen, auch wenn die Kinder aus dem Haushalt ausgezogen sind und
eine eigene Familie gründen (Arber und Attias-Donfut 2000). Das von Bengtson
und Kollegen (Bengtson 2001; Bengtson und Roberts 1991) vorgeschlagene Mo-
dell intergenerationaler Solidarität ist damit auch der heute in der Familiensozio-
logie dominierende Ansatz zur Erforschung der Beziehungen zwischen (Groß-)
Eltern und (Enkel-)Kindern. Der diesem Modell zu Grunde liegende Solidaritäts-
begriff ist als „Metakonstrukt“ (Lüscher und Liegle 2003, S. 269) angelegt, das
sechs Komponenten bzw. Dimensionen familialer Generationenbeziehungen sub-
sumiert – wenn sich dies auch empirisch nicht einwandfrei zeigen lässt (Bengtson
und Roberts 1991, S. 859).
(1) „Strukturelle Solidarität“ bezeichnet die Gelegenheitsstruktur für Aus-
tausch zwischen den Generationen, wie sie sich etwa in der Wohnentfernung zwi-
schen Eltern und Kindern widerspiegelt.
302 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank
(2) „Assoziative Solidarität“ bezieht sich auf die Häufigkeit und Muster der
Interaktion zwischen Familienmitgliedern, wie zum Beispiel die Kontakthäufig-
keit oder gemeinsame Unternehmungen.
(3) „Funktionale Solidarität“ beschreibt den Austausch von Ressourcen zwi-
schen den Generationen und schließt sowohl finanzielle Transfers als auch prak-
tische Hilfe ein.
(4) „Affektive Solidarität“ umfasst das Ausmaß und die Gegenseitigkeit der
positiven Gefühle zwischen den Familienangehörigen.
(5) „Konsensuelle Solidarität“ bezeichnet den Grad der Übereinstimmung der
Einstellungen, Ansichten und Meinungen der Familienmitglieder.
(6) „Normative Solidarität“ beschreibt die Stärke, mit der man sich an familiä-
re Rollen und Verpflichtungen gebunden fühlt.
Mit dieser Differenzierung geht Bengtsons Modell über schlichte Dichotomien
wie jene von der „Bilderbuchfamilie“ einerseits oder dem „Verfall der Familie“
andererseits hinaus und erlaubt eine angemessene Analyse der facettenreichen
und komplexen Beziehungen zwischen Familienmitgliedern – denn nicht immer
gehen die einzelnen Solidaritätsformen Hand in Hand (Höpflinger 2008) und sie
werden von unterschiedlichen individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen,
von Familienstrukturen und auch kontextuellen Faktoren beeinflusst (Szydlik
2000). Zudem sind die beschriebenen Dimensionen empirisch sehr gut erfassbar
und damit eine äußerst beliebte Grundlage für die (international vergleichende)
quantitative Generationenforschung. Trotz allem bleibt der Ansatz nicht ohne
Kritik. Neben dem Vorwurf der fehlenden analytischen Unterscheidung zwi-
schen Solidaritätsausdruck, womit konkrete Handlungen gemeint sind, und So-
lidaritätspotential, also der Möglichkeit zu aufeinander bezogenen solidarischen
Handlungen (z.B. Szydlik 2000, 2012), bezieht sich eine weitere Kritik auf die
mangelnde Berücksichtigung von Konflikten und der Ambivalenz familiärer Be-
ziehungen (siehe jedoch Bengtson et al. 2002).
Konflikt sollte nicht als Gegenteil von Solidarität betrachtet werden, sondern
als eigenständige Dimension (Daatland und Herlofson 2003) – nicht zuletzt, da
ein hohes Maß an Nähe auch Konflikte hervorruft (Halpern 1994). Vor allem mit
heranwachsenden Kindern, die noch bei ihren Eltern wohnen, kommt es häufig
zu Konflikten (Osborne und Fincham 1994). Später sind es dann wechselseitige
Abhängigkeiten zwischen älteren Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die zu
Konflikten führen können – wie beispielsweise ein Pflegebedarf der Eltern (Daat-
land 1990), oder auch langfristige finanzielle Abhängigkeiten der Kinder (Lüscher
und Pillemer 1998).
Das Konzept der Ambivalenz vereinigt die Solidaritäts- und die Konflikt-
perspektive – und beseitigt damit einige Schwächen beider Betrachtungsweisen
Generationen in Europa 303
steht der Altruismus, das Geben ohne die Erwartung einer Gegengabe. Bei einem
altruistischen Motiv steht das Wohl des Empfängers einer Gabe im Vordergrund
(Monroe 2001). Auch wenn reiner Altruismus ohne jeglichen Nutzen für den Ge-
ber auch in der Familie nur schwer zu belegen ist, werden beide Theorien häufig
in der ökonomischen (z.B. Altonji et al. 1997; Feinerman und Seiler 2002; Stark
1995) und soziologischen (z.B. Brandt et al. 2008; Eggebeen 2005; Leopold und
Raab 2011; Lillard und Willis 1997; Silverstein et al. 2002) Forschung angewendet.
Neben diesen klassischen Theorien zu Transfermotiven in Generationenbe-
ziehungen wird in der Literatur auch eine Reihe weiterer Motive diskutiert, die
sich in den meisten Fällen als Spezialfall von altruistischen oder reziproken bezie-
hungsweise Austausch-Motiven ansehen lassen. Der sogenannten „warm glow“
(Andreoni 1990) bezeichnet eine altruistisch motivierte Gabe, die jedoch mit dem
Gefühl belohnt wird, etwas Gutes getan zu haben. Das Geben um des Gebens
Willen wird in der Literatur auch unter dem Stichwort „Geben aus Freude“ disku-
tiert (Björnberg und Latta 2007; Lüth 2001). Wenn Gaben vornehmlich erfolgen,
um den eigenen Kindern bessere Bedingungen zu schaffen, wird dies auch als
„kinship altruism“ bezeichnet. Hierbei wird vermutet, dass diese Transfers das
Überleben der eigenen Gene sichern sollen – was sich jedoch beim Vergleich zwi-
schen biologischen und sozialen Kindern nicht eindeutig belegen lässt (Kalbarc-
zyk-Steclik und Nicinska 2012). Von Pollak (1988) als „paternalism“ beschrieben
findet sich ein ähnliches Motiv, wenn Eltern mit dem Auszug ihrer Kinder aus
dem elterlichen Haushalt nicht aufhören, sich um sie zu sorgen. Schließlich wer-
den Transfers möglicherweise auch geleistet, um anderen ein Vorbild zu sein –
Eltern erhoffen sich dann später von ihren Kindern dasselbe Verhalten und damit
mehr Unterstützung – ein Phänomen, das auch „demonstration effect“ (Cox und
Stark 1994) genannt wird. Um solch unterschiedliche theoretische Strömungen
und Argumente zu vereinen, schlagen Silverstein und Kollegen (2012, S. 1246)
nun das Konzept des „moral capital“ vor, defi niert als „the stock of internalised
social norms that obligate children to care for and support their older parents –
the transmission of which lies at the intersection of self-interest (for parents) and
altruism (for children)“.
Generell haben die meisten Eltern und Kinder nach eigenen Angaben ein enges
Verhältnis, wobei „in Deutschland die engsten Beziehungen zwischen ostdeut-
schen Müttern und Töchtern, die vergleichsweise flüchtigsten zwischen westdeut-
schen Söhnen und Vätern“ bestehen (Szydlik 1995, S. 75). Zurückgehend auf eine
Arbeit von Bengtson und Kuypers (1971) scheint sich zudem ein „intergenera-
tional stake“ zu zeigen: Eltern schätzen die Beziehung zu ihren Kinder positiver
ein als Kinder die Beziehung zu ihren Eltern (Lynott und Roberts 1997). Empi-
risch kann man allerdings häufig keinen solchen Unterschied zwischen der Ein-
schätzung der Eltern und der Kinder feststellen (Kopp und Steinbach 2009). Die
Zusammenhänge mit der räumlichen Entfernung und Kontakten sind ebenfalls
nicht eindeutig: Auch bei größeren Wohnentfernungen kann die Beziehung zwi-
schen Eltern und ihren Kindern gut sein, was Bengtson (2001) als „intimate but
distant“ charakterisiert. Interessanterweise hat auch die Kontakthäufigkeit kei-
nen eindeutigen Einfluss auf die Enge der Beziehung und umgekehrt, zumindest
bei Männern (Lawton et al. 1994).
In der Forschung wird Wohnentfernung als ein struktureller Indikator be-
trachtet, der viele weitere Solidaritätsformen bedingt, während Kontakthäufigkeit
ein Indikator für assoziative Solidarität ist. Beide Indikatoren sind vergleichswei-
se gut quantitativ zu erfassen und wenig anfällig für individuelle Einschätzun-
gen. Daher eigenen sie sich besonders gut für internationale Vergleiche (siehe z.B.
Hank 2007; Isengard 2013).
Generationen in Europa 307
SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2) eigene Berechnungen, ungewich-
tet. n Eltern-Kind-Dyaden a) 91‘159, b) 69‘918, c) 13‘752, d) 13‘536. SE=Schweden, DK=Dä-
nemark, IR=Irland, NL=Niederlande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich,
Generationen in Europa 309
Ein „Extrem“ der Wohnentfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kin-
dern ist die Koresidenz, wenn also Kinder, die – obwohl sie schon selbständig
sein könnten – noch bei ihren Eltern wohnen (White 1994). Teils kann es sich
dabei um Rückzüge handeln, weil das Kind die Hilfe der Eltern benötigt (sog.
„Boomerang kids“) (Goldscheider 2012), teils ziehen Kinder auch wieder zu ihren
Eltern und umgekehrt, da die Eltern hilfsbedürft ig sind und sich Hilfe in einem
gemeinsamen Haushalt leichter arrangieren lässt. Im europäischen Vergleich sind
die Koresidenzraten zwischen erwachsenen Kindern und älteren Eltern im Süden
am höchsten (Abbildung 1 a & c, siehe auch Isengard und Szydlik 2012). Die deut-
lichen Länder- und Altersunterschiede beim Zusammenwohnen deuten darauf
hin, dass einer der Hauptgründe in den Bedürfnissen der Kinder liegt, so kann
beispielsweise eine höhere Jugendarbeitslosigkeit in Italien, Spanien und Grie-
chenland den Start in ein selbstständiges Leben und damit auch den Auszug aus
dem Elternhaus verzögern (ausführlich dazu Isengard und Szydlik 2012; Deindl
und Isengard 2011). Koresidenz im höheren Alter (d.h. zwischen über 50jährigen
und ihren Eltern) übersteigt nur in Spanien noch die fünf-Prozent-Marke. Die
stärkere Betonung von Bedürfnissen der Kinder im Süden Europas zeigt sich auch
in einem Vergleich zwischen Großbritannien und Italien im Bezug auf die Wohn-
entfernung: Während in Italien die Bedürfnisse der Kinder eine größere Rolle
für (geringe) Wohnentfernungen spielen, sind es in Großbritannien vor allem die
Bedürfnisse der Eltern, die Kinder dazu bringen, in deren Nähe zu ziehen (Glaser
und Tomassini 2000).
Aus einer Lebensverlaufsperspektive scheinen Kinder, die später aus dem El-
ternhaus ausziehen, im weiteren Verlauf auch räumlich näher bei ihren Eltern zu
bleiben und mehr Kontakt und Austausch zu pflegen (Leopold 2012). Aus Abbil-
dung 1 ist zudem ersichtlich, dass zwar die räumliche Distanz zwischen Genera-
tionen im Lebensverlauf zunimmt, diese aber auch im höheren Alter immer noch
erstaunlich gering ist. So leben im Schnitt über alle SHARE-Länder ungefähr 65
Prozent der Befragten nicht weiter als 25 km von ihren Eltern bzw. Kindern ent-
fernt. Es lässt sich also generell sagen, dass die meisten Kinder in Europa in der
Nähe ihrer Eltern wohnen und sich dabei auch keine deutlichen Länderunter-
schiede zeigen (siehe Hank 2007 oder Isengard 2013 für ausführlichere Analysen).
Auch die Kontakthäufigkeit zwischen Generationen in Europa ist außeror-
dentlich hoch (Hank 2007). Abbildung 1 zeigt, dass es kaum Unterschiede zwi-
schen den Richtungen gibt: Befragte im Alter 50 und mehr haben ebenso viel
Kontakt zu ihren Eltern wie zu ihren erwachsenen Kindern. Hierbei wird auch
310 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank
Eltern (64+)
2% 22% 14%
4% 1%
0%
Befragte (50+)
3% 8% 2%
23% 8% 1%
Kinder (18+)
SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2), eigene Berechnungen, unge-
wichtet. n = 38,258 (mindestens ein Kind), n = 12,063 (mindestens ein lebendes Elternteil)
der Reziprozität über den familialen Lebenslauf (Brandt et al. 2008) illustriert der
Forschungsstand damit den Gedanken, den Forscher beim Konzept der „Sand-
wich generation“ (Grundy und Henretta 2006) hatten: in der Mitte des Lebens
fallen die meisten Unterstützungsanforderungen für ältere Eltern, erwachsene
Kinder und deren Nachwuchs an. Bei all diesen Transferströmen sind jedoch
nicht nur Bedürfnisse, Möglichkeiten und Familienstrukturen von Bedeutung,
sondern auch kontextuelle Einflüsse, die zu deutlichen Unterschieden zwischen
den europäischen Ländern führen, auf die wir im Folgenden genauer eingehen.
Abbildung 3 Finanzielle Transfers von min. 250 EUR der Befragten (50+) an und von
Kind (18+) im letzten Jahr
SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2), eigene Berechnungen, ungewich-
tet. n = 60‘485 Eltern-Kind-Dyaden. SE=Schweden, DK=Dänemark, IR=Irland, NL=Nie-
derlande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich, AT=Österreich, CH=Schweiz,
ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tschechien, PL=Polen, SH=SHARE.
Abbildung 4 Hilfe der Befragten (50+) an und von Elternteil (64+) im letzten Jahr
SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2), eigene Berechnungen, ungewich-
tet. n = 13‘764 Kind-Eltern-Dyaden. SE=Schweden, DK=Dänemark, IR=Irland, NL=Nie-
derlande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich, AT=Österreich, CH=Schweiz,
ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tschechien, PL=Polen, SH=SHARE.
DK
SE
NL
15
BE
DE
CH FR
10
AT
CZ IT
PL
GR ES
5
r=-0.73**
0
0 5 10 15 20 25
SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2) und OECD (2007), eigene Be-
rechnungen, ungewichtet. n = 13 Länder. SE=Schweden, DK=Dänemark, NL=Nieder-
lande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich, AT=Österreich, CH=Schweiz,
ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tschechien, PL=Polen, Korrelationen
r signifi kant auf ** 1-%-Niveau (für weitere Informationen s. Brandt und Deindl 2013).
mer im selben Haushalt), haben häufige Kontakte (wenn auch nicht immer täglich)
und unterstützen sich auf vielfältige Weise im Alltag (wenn auch in unterschied-
licher Form und Intensität). Während Generationen also über alle europäischen
Länder hinweg eng verbunden sind, unterscheiden sich die Unterstützungsmuster
je nach kontextuellen Bedingungen – und im Falle der geteilten Verantwortung
von Familie und Staat macht jeder das, was er am besten kann (Brandt 2013). Im
Zuge der Diskussion um crowding in und crowding out kann man damit sicher-
lich nicht von „lost“, wohl aber von „changed solidarity“ (Daatland und Herlofson
2003) sprechen. Mit längeren Beobachtungszeiträumen in Panelstudien werden
Forscher die Einflüsse des Wandels demographischer und sozialpolitischer Be-
dingungen auf intergenerationale Beziehungen und Transfers besser erfassen und
damit auch zukünft ige Entwicklungen immer treffender projizieren können.
Die Verfügbarkeit neuer nationaler Daten verspricht zudem in naher Zukunft
weitere Erkenntnisfortschritte in Bereichen, die gerade in Zeiten von Pluralisie-
rung und Globalisierung an Bedeutung gewinnen werden – in diesem Kapitel
aber ausgespart werden mussten:
Intergenerationale Beziehungen „beyond the nuclear family“ (Bengtson 2001)
sind sicherlich ein noch wenig erforschtes Feld, gerade im internationalen Ver-
gleich. Die zukünft ige Forschung sollte nicht nur Stieffamilien (z.B. Steinbach
2010) und Schwiegereltern (z.B. Shuey und Hardy 2003; Willson et al. 2003) mit
in den Blick nehmen, sondern auch das weitere soziale Unterstützungsnetzwerk
(Freunde, Nachbarn, Bekannte) einbeziehen – welches gerade bei einem steigen-
den Anteil kinderloser Älterer vermutlich an Bedeutung gewinnen wird (z.B. Al-
bertini und Mencarini 2013; Albertini und Kohli 2009; Deindl und Brandt 2013).
Die Lebensverlaufsperspektive ist damit nicht nur für die Soziologie insgesamt
(vgl. Mayer 2009) sondern gerade auch für die Untersuchung intergenerationaler
Beziehungen von zentraler Bedeutung. Von Interesse ist in diesem Zusammen-
hang beispielsweise die Frage nach der Bedeutung „kritischer“ Ereignisse (plötz-
liche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, Scheidung, etc.) für den in-
tergenerationalen Austausch (z.B. Leopold und Schneider 2011; Ogg und Renaut
2013).
Während in der Literatur zwar sowohl die Sicht der älteren als auch jene der
jüngeren Generation regelmäßig untersucht wird, werden beide Perspektiven nur
selten simultan analysiert. Dies ist jedoch nicht nur aus methodischer Sicht span-
nend, sondern auch um Hypothesen in Hinblick auf „intergenerational stake“,
intergenerationale Konflikte und Ambivalenz überprüfen zu können (z.B. Kim et
al. 2011; Kopp und Steinbach 2009).
Weiterhin ist wichtig, den häufig stark auf westliche Gesellschaften gerichteten
Blick auf familiäre Generationenbeziehungen auf andere Kulturkreise auszuwei-
Generationen in Europa 319
ten (z.B. Nauck und Arránz Becker 2013). Insbesondere Asien verdient große Auf-
merksamkeit, und zwar nicht allein wegen seiner generellen demographischen
Bedeutung, sondern auch weil dort die intergenerationalen Beziehungen in der
Familie durch andere Normen und Werte geprägt sind, als in westlichen Kulturen
(z.B. Ko und Hank 2014; Lin und Yi 2013; Yasuda et al. 2011). Nicht zuletzt müs-
sen im globalen Kontext auch Migrantenfamilien in den Blick genommen werden
(z.B. Baykara-Krumme 2013; Foner und Dreby 2011).
Zusammenfassend kann man festhalten, dass der demographische Wandel als
einer der Megatrends des 21. Jahrhunderts ebenso neue Chancen (wie die längere
geteilte Lebenszeit zwischen Generationen) wie auch Herausforderungen (wie
einen steigenden Anteil Kinderloser) für Familien mit sich bringt. Gleiches gilt
für Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse oder den Prozess der Glo-
balisierung, in deren Folge zum Beispiel die Bedeutung von Stief- und Migran-
tenfamilien wachsen wird. Krisenszenarien, die einen „Verfall der Familie“ pro-
phezeien (z.B. Popenoe 1993) erscheinen jedoch auf Grundlage der existierenden
Forschung als unangemessen: die Familie überlebt den gesellschaft lichen Wandel,
weil sie selbst eine dynamische und anpassungsfähige soziale Institution ist. Al-
lerdings scheint auch klar zu sein, dass sich gerade dort, wo die intergeneratio-
nalen Beziehungen heute noch besonders eng sind, der demographische Wandel
eine Herausforderung darstellen wird, der Familie und Wohlfahrtsstaat nur in
gemeinsamer Verantwortung erfolgreich werden begegnen können.
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Familienpolitik:
gerecht, neoliberal oder nachhaltig?
1 Gerechte Familienpolitik
Schon vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 gab es
in der amerikanischen Militärverwaltung eine intensive Diskussion um die Stel-
lung der Familie in einer demokratischen Gesellschaft im zukünft igen Deutsch-
land. Einerseits galt es, die Familie zu stärken, weil die Stärkung der Elternrechte
gegenüber dem Staat diesen in seinem Anspruch, die nachwachsende Generation
zu erziehen, deutlich begrenzt, aber es ging andererseits auch um die innerfami-
liären Beziehungen. Denn die starke patriarchale Stellung des autoritären Vaters
wurde als eine wesentliche Ursache für die Entwicklung autoritärer Charakter-
strukturen angesehen (Hentschke 2001; Adorno et al. 1950).
Artikel 6 des Grundgesetzes formuliert auch sehr detaillierte Vorgaben für die
Ausgestaltung der Lebensbedingungen von Familien und Kindern:
1. Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ord-
nung.
2. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die
zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche
Gemeinschaft.
3. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund
eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberech-
tigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen
drohen.
4. Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft .
5. Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedin-
gungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der
Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
Es ist nicht nur das Recht, sondern vor allem die Pfl icht der Eltern, Zeit und Geld
für ihre Kinder zu investieren, weil sie nur so gepflegt und erzogen werden kön-
nen. Die staatliche Gemeinschaft wacht über die Wahrnehmung dieser Pflicht,
und der Staat hat auch das Recht einzugreifen, wenn die Eltern ihre Pfl icht nicht
erfüllen. Der Mutter wird in diesem Grundgesetzartikel mit ihrem besonderen
Anspruch auf Schutz und Fürsorge durch die staatliche Gemeinschaft eine beson-
ders starke Stellung eingeräumt. Die Fürsorgepfl icht und Erziehungspflicht der
Eltern bezieht sich auf alle ihre Kinder, unabhängig von der jeweiligen Lebens-
form. Die Vorgaben dieses Grundgesetzartikels gegenüber den Eltern sind sehr
klar und ohne jede Ausnahme formuliert. Zudem kann dieser Artikel nur dann
neu gefasst werden, wenn die gesamte Verfassung neu geschrieben wird. Die Ver-
fassung der Bundesrepublik kennt keine weiteren Artikel, die die Verpflichtung
von Personen gegenüber anderen Personen und deren staatliche Überwachung
so detailliert und rigoros festlegen. Angesichts dessen ist gut nachzuvollziehen,
warum Familienpolitik in der Bundesrepublik nicht nur durch das Parlament
gestaltet wurde, sondern bestimmte Verfassungsartikel auch durch das Verfas-
sungsgericht in einer Reihe von Urteilen interpretiert, ausgelegt und weiterent-
wickelt wurden.
Die große Bedeutung rechtlicher Vorgaben für die Gestaltung von Familien-
politik ist keinesfalls spezifisch deutsch, sondern findet sich sowohl in anderen
Ländern als auch in neueren Verfassungsdokumenten, etwa in der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union (2010). So beschreibt der französische His-
toriker Donzelot (1980) die rechtliche Entwicklung der französischen Kernfami-
lie im 19. Jahrhundert als Versuch des französischen Staates einerseits den Unter-
halt der Kinder und andererseits die Erziehungsmöglichkeiten der Kinder durch
die Mütter sicherzustellen. Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union von
2010 betont in den Kapiteln 7, 9, 14, 24 und 33 das Recht auf ein Familienleben,
das Recht eine Familie zu gründen, das Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer
Kinder, das ungehinderte Umgangsrecht der Kinder mit beiden Eltern, sowie
den rechtlichen und wirtschaft lichen Schutz von Familien. Selbst die besondere
Stellung der Mutter wird in Art. 33 herausgestellt, wo der Anspruch auf Mutter-
schaftsurlaub und Elternurlaub ebenso als ein Grundrecht defi niert wird wie das
Verbot der Entlassung aus einem Grund, der mit der Mutterschaft zusammen-
hängt. Auch ohne hier die Ursachen und Gründe für diese starke Betonung der
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 329
kaum möglich, ein Modell von Gerechtigkeit zu konstruieren, das den Lasten-
ausgleich an die Lebensform knüpft. Die Familienpolitik der 1950er und 1960er
Jahre bindet den Lastenausgleich aber im Wesentlichen an die Ehe. Entsprechend
greift das Konzept der horizontalen Gerechtigkeit nur vollständig, wenn ein oder
mehrere Kinder bis zum 18. Lebensjahr mit beiden verheirateten Elternteilen zu-
sammenleben.
Das zweite Problem dieses Konzeptes einer horizontalen Gerechtigkeit liegt
darin, dass die Interessen der Eltern untereinander und die Interessen von Eltern
und Kindern darin als einander nicht widersprechend interpretiert werden. In
einem solchen Modell spielt die Gleichberechtigung der Ehepartner und damit
das Recht der Ehepartner, aufgrund der eigenen persönlichen Entscheidung an
verschiedenen gesellschaft lichen Bereichen, etwa der Arbeitswelt, zu partizipie-
ren, keine Rolle. Obwohl die vier „Mütter des Grundgesetzes“, die Sozialdemo-
kratinnen Friederike Nadig (1897-1970) und Elisabeth Selbert (1896-1986), die
Christdemokratin Helene Weber (1881-1962) und Helene Wessel (1898-1969)
vom Zentrum, schon 1948 bei den Diskussionen im Parlamentarischen Rat die
Aufnahme des sehr einfachen Satzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“
(Art. 3,2) durchsetzten, dauerte es bis 1958, bis das Bürgerliche Gesetzbuch an
diesen einfachen Verfassungsartikel angepasst wurde. Spätestens seit dieser Zeit
hätte die Familienpolitik nicht nur den Ausgleich zwischen Familien und Nicht-
Familien thematisieren müssen, sondern auch die unterschiedlichen Möglich-
keiten von Männern und Frauen im Familienmodell der Nachkriegszeit an der
gesellschaft lichen Entwicklung teilzuhaben.
Obwohl den meisten Familienpolitikern durchaus bewusst war, dass ein Mo-
dell der Familienpolitik, das die Familie im Wesentlichen mit ihrer Arbeitstei-
lung des außerhäuslich erwerbstätigen Mannes und der fürsorgenden Mutter zu
Hause voraussetzt, dem Gleichstellungsanspruch des Grundgesetzes eigentlich
nicht gerecht wurde, haben sich die meisten Elemente dieser Familienpolitik bis
heute gehalten. Der Familienminister Bruno Heck stellte schon 1968 im Ersten
Familienbericht der Bundesregierung (Deutscher Bundestag 1968) fest, dass die
Teilhabe der Frauen an der gesellschaft lichen Entwicklung im Rahmen dieses Fa-
milienmodells nur begrenzt möglich sei. Auch war zu jener Zeit längst bekannt,
dass Leistungen für Familien, die im Wesentlichen an dieses Familienmodell ge-
koppelt sind, gegenüber anderen Lebensformen, etwa den alleinerziehenden Müt-
tern, zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen. So hat Helga Schmucker schon
1961 darauf hingewiesen, dass die überwiegende Mehrzahl der rund 18 Prozent
Kinder, die damals in Familien lebten, die nicht alle existenziellen Bedürfnisse
der Kinder materiell befriedigen konnten (Schmucker et al. 1961), bei alleinerzie-
henden Müttern aufwuchsen, die - wenn sie erwerbstätig waren - für ihre Rente
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 331
und ihre Krankenkasse allein sorgen mussten und gleichzeitig auch noch wie Al-
leinstehende besteuert wurden.
Nicht der Anspruch, eine Familienpolitik zu betreiben, die Gerechtigkeit zwi-
schen denen herstellt, die Fürsorge für Kinder leisten und denjenigen, die das
nicht tun, hat zu den hier skizzierten Schwierigkeiten geführt, sondern die enge
Verknüpfung des Gerechtigkeitsarguments mit einer spezifischen Lebensform,
die immer nur für einen Teil der Familien und Kinder gegolten hat. Denn auch
zu den Zeiten des Babybooms in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren mit
vielen großen Familien und sehr wenigen kinderlosen Paaren und Alleinlebenden
gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine große Zahl von alleinerziehenden
Witwen und eine große Zahl berufstätiger Mütter, die trotz fehlender Kinderbe-
treuung im Wesentlichen Vollzeit arbeiteten (Pfeil 1961).
An diesem Beispiel wird noch ein drittes zentrales Problem einer Familien-
politik deutlich, die vor allem als Lastenausgleich im Sinne einer horizontalen
Gerechtigkeit zwischen Familien und Nicht-Familien konzipiert wird. Die unter-
schiedliche Leistungsfähigkeit einzelner familiärer Lebensformen und die unter-
schiedlichen sozioökonomischen Positionen der Eltern führen hinsichtlich der
Lebenssituation und Möglichkeiten von Kindern notwendigerweise zu einer ver-
tikalen Ungerechtigkeit, die durch eine solche Familienpolitik nicht thematisiert
und politisch bekämpft werden kann.
tal zu schaffen, das die Existenz einer jeden Gesellschaft sichert. Man mag die
teilweise sehr ökonomische Sprache befremdlich finden, doch macht das Konzept
der Leistungen der Familie für die Gesellschaft deutlich, dass die Unterstützung
für Familien kein reines Gerechtigkeitsproblem, sondern einen existenziellen Teil
der Daseinsvorsorge einer Gesellschaft, darstellt.
Dieser Perspektivenwechsel bedeutet nicht, die Gerechtigkeitsperspektive auf-
zugeben, sondern in einem ersten Schritt zu prüfen, in welcher Weise Eltern und
Kinder zu unterstützen sind, um die Bildung des Humanvermögens sicherzu-
stellen. Erst danach ist zu prüfen, ob diese Unterstützungsleistungen möglicher-
weise nicht intendierte Effekte haben, die zu einer gesellschaft lichen Ungleichbe-
handlung einzelner Gruppen führen können. Diese Perspektive hat unzweifelhaft
den Vorteil, dass sich nun alle familienpolitischen Leistungen darin überprüfen
lassen, ob sie die Eltern und die Kinder bei der Bildung des Humanvermögens
tatsächlich unterstützen. Damit lassen sich nun auch die historisch gewachsenen
Leistungen auf den Prüfstand stellen. Die Neudefinition des Familienlastenaus-
gleichs als Familienleistungsausgleich im Fünften Familienbericht hat der Politik
nicht nur die Möglichkeit gegeben, die Familienleistungen insgesamt zusammen-
zustellen (BMFSFJ 2009), sondern auch ein Konzept zur Evaluation dieser Leis-
tungen in Hinblick auf familienpolitische Ziele zu entwickeln. Auf dieser Basis
ermöglicht es dieser Perspektivwechsel angemessen auf die gewandelten Lebens-
bedingungen von Kindern und Familien zu reagieren.
3 Neoliberale Familienpolitik:
Zur Effizienz von Maßnahmen
ge und Erziehung eingebunden sein können, und das Wohlergehen von Kindern
und eine positive Entwicklung der Fertilitätsrate erschließen sich als Grundele-
mente der Entwicklung des Humanvermögens fast von selbst.
Doch ist die Frage außerordentlich schwer zu beantworten, wie in sich konsis-
tente und eindeutige Indikatoren eigentlich empirisch zu benennen sind, wie man
beispielsweise im Detail das kindliche Wohlergehen und die Effekte auf dieses
Wohlergehen erfassen kann. Bis heute ist sich die Forschung nicht einig darüber,
welche einzelnen Indikatoren heranzuziehen sind und welche der gemessenen In-
dikatoren längerfristig eine Bedeutung haben (Bertram 2013; Gábos und Györky
2011; OECD 2009a). Das Gleiche gilt für die Frage der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, weil sich das für alleinerziehende Mütter anders darstellt als für eine
Familie mit Vater und Mutter und wieder anders für eine Familie mit mehreren
Kindern. Selbst bei der Fertilitätsrate ist es außerordentlich umstritten, wie hoch
sie eigentlich sein sollte, um das Humanvermögen der Gesellschaft zu sichern
(Lutz 2008), ebenso umstritten ist, ob hier überhaupt ein Einfluss der Familien-
politik anzunehmen ist (Gauthier 2007).
Um die Effizienz familienpolitischer Maßnahmen zu messen, ist es unerläss-
lich, diese generellen Ziele in einzelne, konkrete Teilziele zu übersetzen. Auch
braucht es Annahmen über die Wirkung der familienpolitischen Maßnahmen auf
diese Ziele. Denn Mütter und Väter haben auch abhängig von ihren unterschied-
lichen Qualifi kationen in ihrer Sozialisation bestimmte Präferenzen entwickelt,
die die Wirkungen von Maßnahmen in erheblichem Umfang beeinflussen kön-
nen. Zudem können geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen der Müt-
ter und Väter angenommene Wirkungen von bestimmten Maßnahmen konter-
karieren. Im Siebten Familienbericht (Bertram et al. 2006a) wurde schon darauf
hingewiesen, dass Mütter in ganz Europa dazu tendieren, Kinder und Beruf als
gleich wichtige Lebensziele mit klarer Präferenz für die Kinder einzuschätzen;
Väter geben hingegen, trotz klarer Präferenzen für Kinder, dem Beruf ein viel
höheres Gewicht. Wollte man alle diese verschiedenen Präferenzen und Lebens-
bedingungen, die verschiedenen familiären Lebensformen und Familiengrößen
und das unterschiedliche Alter der Kinder in entsprechende Wirkungsmodelle
übersetzen, käme man schnell zu einer solchen Komplexität, dass ihre Aussage-
kraft außerordentlich begrenzt wäre.
Bei der Evaluation der familienpolitischen Leistungen wurde dieses Problem
- theoretisch nachvollziehbar - dadurch gelöst, dass auf solche Differenzierungen
verschiedener Präferenzen weitgehend verzichtet und ein generalisiertes Anreiz-
modell zu Grunde gelegt wurde (DIW 2012, 2013; IFO 2013). Mit so einem ge-
nerellen Ansatz kommt man dann auch zu klaren Aussagen, wie etwa: „Die Er-
gebnisse der Wirkungsanalysen zeigen, dass durch eine Kindergelderhöhung bei
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 335
Müttern negative Beschäft igungseffekte auftreten können, die sich in einer Ver-
ringerung der Arbeitsstunden zeigen. Mütter mit Partnern – vor allem in Haus-
halten mit niedrigem Einkommen – verringern die Vollzeittätigkeit zugunsten
der Teilzeittätigkeit, während die Erwerbsquoten weitgehend stabil bleiben.“ (IFO
2013, S. 36); oder: „Die Effizienzanalyse ergibt, dass die tatsächlichen Kosten einer
Kindergeldreform in etwa doppelt so hoch liegen wie die nominalen Kosten. Im
Gegensatz zu infrastrukturellen familienpolitischen Leistungen wie der öffent-
lich geförderten Kinderbetreuung sind kostendämpfende Selbstfinanzierungsef-
fekte beim Kindergeld nicht zu erwarten. Durch die verringerte Arbeitszeit der
Mütter infolge der Erhöhung der Kindergeldleistung entstehen indirekte Kosten
auf Seiten des Staates: Da Mütter bei einer Kindergelderhöhung ihre bezahlten
Arbeitsstunden reduzieren, entgehen dem Staat Steuereinnahmen und Sozialver-
sicherungsbeiträge. Im Mittel der Schätzungen liegt die Höhe dieser zusätzlichen
indirekten Kosten in etwa auf dem gleichen Niveau wie die direkten Kosten einer
Kindergelderhöhung.“ (IFO 2013, S. 36).
Bei solchen Ergebnissen spielen nicht die subjektiven Einstellungen der Müt-
ter zu ihren Kindern und ihre Vorstellungen von Kindererziehung eine Rolle,
sondern einzig und allein die Höhe des Kindergeldes: Ein hohes Kindergeld ver-
mindert die Bereitschaft zur Arbeit, wenig Kindergeld erhöht die Bereitschaft zur
Arbeit. Das hier aufscheinende Dilemma, das den gesamten Bericht durchzieht,
liegt darin, dass die elterlichen Entscheidungen und Lebensvorstellungen in Bezug
auf ihren persönlichen Beitrag zur Entwicklung ihrer Kinder auf ökonomische
Anreize reduziert werden. Können die Eltern durch entsprechende Arbeitsmarkt-
partizipation ökonomisch auf eigenen Füßen stehen, hat das positive Effekte für
das kindliche Wohlergehen, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie
für die ökonomische Stabilität der Familie. Das Wohlbefinden der Kinder wird
im Wesentlichen durch eine hinreichende Infrastruktur gewährleistet. Implizit
wird auch die Annahme gemacht, dass bei einer verstärkten Präsenz am Arbeits-
markt und einer entsprechenden Infrastruktur nicht nur die ökonomische Exis-
tenz einer Familie gesichert ist, sondern auch eine positive Fertilitätsentwicklung
zu erwarten ist. Damit wird aus dem Grundgedanken des Familienleistungsaus-
gleichs ein Modell einer neoliberalen Familienpolitik.
Denn der Neoliberalismus unterstellt, dass das menschliche Wohlbefi nden
dann am größten ist, wenn die Gesellschaft allein durch den Markt reguliert
wird: „Neoliberalism is a theory of political economic practices that proposes that
human well-being can best be advanced by liberating individual entrepreneurial
freedoms and skills within an institutional framework characterized by strong
property rights, free markets, and free trade.“ (Harvey 2005, S. 2). Die Rolle des
Staates ist in diesem Modell entsprechend auf die institutionelle Herstellung der
336 Hans Bertram & Carolin Deuflhard
Marktfreiheit begrenzt: „The role of the state is to create and preserve and insti-
tutional framework appropriate to such practices.“ (Harvey 2005, S.2). Eine neo-
liberale Familienpolitik stellt den besonderen Schutz der Familie, den der Fami-
lienlastenausgleich über das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit etabliert hat,
entsprechend in Frage und rechtfertigt sich über die paradoxe Annahme, dass das
Wohlbefinden der Familie und ihrer einzelnen Mitglieder dann maximiert wird,
wenn sie verstärkt individuell marktabhängig sind. Denn dem Staat kommt im
neoliberalen Denken keine Rolle darin zu, die Rahmenbedingungen so zu gestal-
ten, dass Familien ihre Freiheit auch leben können.
Wie auch immer man zu einer solchen neoliberalen Familienpolitik steht, sind
zwei zentrale Punkte zu bedenken. Die Verfassung schreibt den Eltern zwingend
vor, Zeit und Geld für die eigenen Kinder aufzuwenden. Damit begrenzt sich die
Zeit, die Eltern am Arbeitsmarkt verbringen können, immer durch die Zeit, die
sie für ihre Kinder und für die kindliche Entwicklung für erforderlich halten.
Diese Zeit hängt aber von den elterlichen Präferenzen, ihren Möglichkeiten und
auch von ihren spezifischen Lebensformen ab. Eine Familie mit zwei Kindern, bei
denen Vater und Mutter anwesend und berufstätig sind, kann Zeit und Fürsorge
in anderer Weise miteinander teilen und die eigene ökonomische Existenz sichern
als eine Familie mit einem Elternteil. Damit kämpft ein solches Modell der neo-
liberalen Familienpolitik ebenso wie das Modell des Familienlastenausgleichs mit
dem Problem, dass sich die Vielfalt der Lebensbedingungen und Lebensformen
von Familien und Kindern nicht in dieser Form abbilden lassen.
Auch sind die Annahmen über die Wirkungen bestimmter familienpolitischer
Maßnahmen im internationalen Vergleich teilweise umstritten. So weist Adema
(2012) beim Vergleich der familienpolitischen Maßnahmen in den OECD-Län-
dern darauf hin, dass Mütter mit mehreren Kindern in allen OECD-Ländern eine
signifi kant geringere Arbeitszeit aufweisen als Mütter mit einem Kind. Das gilt
für die skandinavischen Länder ebenso wie für Großbritannien und die USA oder
auch für die südeuropäischen Länder und für Frankreich. Die Zeit, die Mütter
in den OECD-Ländern für ihre Kinder aufwenden, hängt unabhängig von den
jeweiligen nationalen familienpolitischen Rahmenbedingungen im Wesentlichen
von der Zahl und dem Alter der Kinder ab.
Damit wird ein entscheidendes Dilemma einer neoliberalen Familienpolitik
deutlich, die Familienleistungen im Wesentlichen unter der Perspektive betrach-
tet, wie sich die Präsenz der Eltern am Arbeitsmarkt verbessern und stabilisieren
lässt. Sowohl das Grundgesetz wie auch die Eltern selbst betrachten die Zeit für
Kinder im Gegensatz zu den Autoren der Evaluation nicht als „freie Zeit“, son-
dern als eine Zeit, die das gleiche Gewicht und die gleiche - möglicherweise sogar
eine größere Bedeutung hat - als die berufliche Zeit. Das muss nicht für alle Le-
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 337
bensphasen gelten und auch nicht für alle Väter und Mütter, aber doch für einen
signifi kanten Teil. Damit wird deutlich, dass die Messung der Wirkungen von
familienpolitischen Maßnahmen ohne die Berücksichtigung der individuellen
Präferenzen und Lebensentwürfe von Vätern und Müttern an der Lebensrealität
der Eltern vorbeigeht.
Bei aller Kritik an einer neoliberalen Familienpolitik, wie sie im Konzept der
Evaluation familienpolitischer Maßnahmen vertreten wird (BMFSFJ 2013; DIW
2012, 2013; IFO 2013), ist es der große Verdienst dieser Perspektive, deutlich ge-
macht zu haben, dass zwischen den ökonomischen Strukturen einer Gesellschaft,
der ökonomischen Basis der Familie und den Möglichkeiten der Eltern, Zeit und
Geld in ihre Kinder zu investieren, ein außerordentlich enger Zusammenhang
besteht. Denn das Familienmodell, das dem klassischen Ansatz des Familien-
lastenausgleichs zu Grunde lag, war das Modell der industriegesellschaft lichen,
arbeitsteilig organisierten Familie, das durch die Trennung der Rollen von Vater
und Mutter in ökonomische Fürsorge und personale Fürsorge ein „traditionell-
warmes“ Familienmodell propagiert hat, in dem eine Person (die Mutter) sich frei
von ökonomisch vorgegebenen Zeitstrukturen nur der Erziehung und Fürsorge
der Kinder widmen konnte (Hochschild 1995). Dieses Modell ermöglichte die
Fürsorge und Erziehung der Kinder und zugleich einen Dreischichtenbetrieb der
industriellen Güterproduktion, der sich nicht nach den spontanen Bedürfnissen
von Kindern richten konnte. Der Preis dieser Arbeitsteilung war der Rückzug der
Mütter aus vielen gesellschaft lichen Bereichen, was René König schon 1946 als
„Desintegration der Familie“ kritisierte.
Denn in einer Gesellschaft, in der neben der industriellen Güterproduktion
zunehmend soziale, finanzielle und informationstechnische Dienstleistungen
an Bedeutung gewinnen und neue virtuelle Güter und Formen kommunikati-
ver Netzwerke entstehen, kann zur Sicherung des Wohlstands nicht mehr auf das
Humankapital der qualifizierten Frauen verzichtet werden. Das klassische indus-
triegesellschaft liche Modell der familiären Arbeitsteilung kommt daher aufgrund
des ökonomischen Strukturwandels an seine Grenzen. Diese Stärke des neolibe-
ralen Ansatzes wird aber in dem Evaluationsmodell - und darin liegt genau seine
zentrale Schwäche - so interpretiert, dass durch die Leistungen für Familien im
Wesentlichen die Marktverfügbarkeit der Mütter zu sichern ist. Damit wird aber
gerade die Frage der Fürsorglichkeit für Kinder und auch zunehmend für ältere
338 Hans Bertram & Carolin Deuflhard
Sowohl das Grundgesetz als auch die EU Charta sehen in der Fürsorge und Er-
ziehung für Kinder eine Aufgabe der Eltern, für die beide Eltern Zeit und Geld zu
investieren haben. Das gilt nicht nur für die ersten anderthalb Lebensjahre eines
Kindes, sondern, wie die EU Charta betont, für die gesamte Zeit der kindlichen
Erziehung und Entwicklung. Damit müssen die Eltern ihre persönlichen Lebens-
perspektiven und Lebensläufe in Einklang mit der kindlichen Entwicklung und
den Erziehungsprozessen organisieren können. Die zeitliche Balance zwischen
den verschiedenen Lebensbereichen bezieht sich nicht nur auf die ersten Lebens-
jahre eines Kindes und auch nicht nur auf die Organisation der Alltagszeit, son-
dern auch auf den Lebensverlauf. Nachhaltige Familienpolitik, die es den jungen
Erwachsenen ermöglichen will, ihre eigenen persönlichen Lebensvorstellungen
in den verschiedenen gesellschaft lichen Bereichen, wie Bildung, Beruf, Familie,
zivilgesellschaft liches Engagement und auch freie Zeit, zu gestalten, wird daher
ihre familienpolitischen Ziele und Maßnahmen immer unter der Perspektive
analysieren müssen, wie diese Ziele sowohl im Lebensverlauf und als auch im All-
tag von jungen Frauen und Männern zu realisieren sind.
Bis auf die Regelungen zum Mutterschutz und der Elternzeit, die auch die EU
Charta als ein Grundrecht formuliert, ist die nachhaltige Familienpolitik hinsicht-
lich Lebenszeit und Lebenslauf in Deutschland bisher kein zentraler Bestandteil
wissenschaft licher und politischer Diskussionen. Zwar skizziert beispielsweise
der Achte Familienbericht (BMFSFJ 2012) eine Lebenslaufperspektive, aber seine
Vorschläge beziehen sich im Wesentlichen auf die Organisation der Alltagszeit.
Der Siebte Familienbericht (Bertram et al. 2006a) hat allerdings darauf hinge-
wiesen, dass die heutige Organisation des Lebenslaufs eine gleichwertige Integra-
tion von Fürsorge für Kinder und berufl icher Karriere ausschließt. Denn durch
eine höhere und damit auch länger dauernde Qualifi kation der nachwachsenden
Generation erfolgt der Einstieg ins Berufsleben für einen großen Teil der jungen
Erwachsenen viel später als in der Elterngeneration; gleichzeitig sind heute die
Übergänge in feste Berufspositionen für einen großen Teil der jungen Erwachse-
nen schwieriger als in der klassischen Industriegesellschaft (Bertram et al. 2014).
Die Möglichkeit, sich später für Kinder zu entscheiden, ist allerdings schon aus
biologischen Gründen begrenzt, sodass die Zeit für eine Entscheidung für Kinder,
für die Erziehung dieser Kinder und die eigene Karriereplanung viel kürzer ist als
in der Generation der Eltern.
Diese „Rushhour des Lebens“ (Bertram et al. 2005) lässt sich nicht dadurch
auflösen, dass durch Kinderbetreuungseinrichtungen und flexible Arbeitszeiten
342 Hans Bertram & Carolin Deuflhard
sation der Arbeit zu ermöglichen, und zugleich durch angemessene Angebote der
Infrastruktur auch entsprechende Unterstützungen schaffen kann. Allerdings gilt
auch für die Alltagszeit, dass die Infrastruktur, wie Krippen und Kindergärten,
nicht automatisch zu einer Entlastung der Eltern führt. Denn die Zeit, die Eltern
mit ihren Kindern verbringen, hat in den USA ebenso wie in Deutschland und
anderen europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen
(Bianchi et al. 2006). Das ist gut nachvollziehbar, weil die Leistungsanforderun-
gen an die Kinder deutlich gewachsen sind. Wenn heute 50 Prozent eines Alters-
jahrgangs gegenüber 8 Prozent in den 1960er Jahren zum Abitur geführt werden,
ist es nur plausibel, dass die Eltern heute viel mehr Zeit für ihre Kinder aufwen-
den, um die kindliche Entwicklung zu fördern.
Rolle mehr spielt. Zudem wäre darin der Gedanke der Sicherung der familiären
Leistungen für das gesellschaft liche Humanvermögen nachvollziehbar umgesetzt
und die von der neoliberalen Familienpolitik erwartete ökonomische Selbststän-
digkeit der jungen Frauen vorausgesetzt.
Seit 1995 gibt es den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und seit 2013
den Rechtsanspruch auf den Besuch einer Kinderkrippe. Obwohl beide Ansprü-
che in Deutschland gegenüber andern Ländern erst spät durchgesetzt wurden,
ist deren Umsetzung in den Kommunen erstaunlich schnell vollzogen worden.
Auch wenn dabei geholfen hat, dass die Kindergarten- und Krippenplätze durch
den Rückgang der Kinderzahlen teilweise neu organisiert werden konnten, ist der
Aufbau einer recht teuren Infrastruktur in relativ kurzer Zeit doch erstaunlich,
wenn man die Entwicklung mit anderen Ländern vergleicht. So hatte der fran-
zösische Präsident Mitterrand zu Beginn seiner Amtszeit 300.000 Krippenplät-
ze versprochen, aber in zehn Jahren lediglich 60.000 realisiert (Morgan 2002).
Frankreich hat den Ausbau der Infrastruktur für Kinder unter drei Jahren letzt-
lich nur dadurch geschafft , dass es neben den relativ teuren Krippen in erhebli-
chem Umfang in die preisgünstigere Lösung der Tagesmutter investiert hat.
So sehr Krippen und Kindergärten den Vorzug haben, bei entsprechender
Ausstattung auch eine entsprechende Qualität gewährleisten zu können (Bock-
Famulla und Lange 2013), sollte nicht übersehen werden, dass durch Tageskrip-
pen, Kindergärten und Tagesschulen die Kindheit „institutionalisiert“ wird und
damit die Kinder letztlich aus der Gesellschaft „herausorganisiert“ werden. Zin-
necker (1979, 1990) hat schon früh gezeigt, dass die kindliche Entwicklung und
das selbstständig werden von Kindern und Jugendlichen in einer institutionali-
sierten Welt nicht nur viel schwieriger ist als in einer Welt, die sie teilweise selbst
gestalten können, sondern dass ihnen auch zentrale Erfahrungsmöglichkeiten
ihrer eigenen Lebenswelt vorenthalten werden. Zudem bedeutet die Institutio-
nalisierung des kindlichen Lebens für die Eltern, dass sie ihren Rhythmus von
Alltag und Berufszeit den Strukturen und Zeiterwartungen der Organisationen
unterordnen müssen. Wer je drei Kinder im Alter von zwei, vier und sechs Jahren
morgens in die Krippe, den Kindergarten und die Schule gebracht hat, weiß, was
das bedeutet.
James Coleman hat schon 1982 in seiner Analyse der asymmetrischen Gesell-
schaft gezeigt, dass die kindliche Entwicklung nur dann erfolgreich sein kann,
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 347
wenn Gemeinde und Nachbarschaft die Eltern bei diesem Prozess unterstützen
(Coleman 1986). Wenn die Gemeinden für den Ausbau von Krippe und Kinder-
garten und deren Qualitätssicherung zuständig sind, stellt sich die Frage, wie
eigentlich die Nachbarschaft und das Umfeld der Kinder die kindliche Lebens-
welt mitgestalten können. Biedenkopf hat dazu den Begriff der „kleinen Lebens-
kreise“ vorgeschlagen (Biedenkopf et al. 2009), um deutlich zu machen, dass die
Unterstützung für Kinder und Familien sich nicht nur auf die Familie selbst
konzentrieren sollte, sondern auch Initiativen im unmittelbaren Lebensumfeld
der Kinder zu entwickeln sind. Ein Beispiel dafür sind etwa die „Bündnisse für
Familien“, die in vielen Gemeinden dafür Sorge tragen, dass der kindliche Alltag
auch außerhalb von Krippe und Kindergarten Anregungspotential und Entfal-
tungsmöglichkeiten für die Kinder bereithält. Lesepatenschaften, Netzwerke für
gesunde Kinder, Initiativen für Brücken zwischen Schule und Berufswelt, um den
Weg in die Berufswelt zu erleichtern, sind nachhaltige Beispiele für ein solches zi-
vilgesellschaft liches Engagement zur Unterstützung der kindlichen Entwicklung.
Unter der Perspektive einer nachhaltigen Familienpolitik sind diese Initiativen
ebenso wichtig wie der Ausbau der institutionellen Kinderbetreuung, denn nur
so kann gesichert werden, dass auf der einen Seite die Eltern jene Unterstützung
erfahren, die James Coleman als zwingende Voraussetzung für eine erfolgreiche
Sozialisation von Kindern benannt hat. Auf der anderen Seite haben auch die
Kinder dadurch die Möglichkeit, in eine Erwachsenenwelt hineinzuwachsen, die
nicht nur aus den Institutionen Krippe, Kindergarten und Schule auf der einen
und der Familie auf der andern Seite besteht, sondern eine moderne Variante von
Nachbarschaft ermöglicht, die für die kindliche Entwicklung von entscheidender
Bedeutung ist. Das gilt besonders für benachteiligte Kinder, weil sich in solchen
Initiativen auch Defizite, die in Betreuungsinstitutionen und im Elternhaus nicht
ausgeglichen werden können, durchaus überwinden lassen (Brooks-Gunn und
Duncan 1997; Laventhal und Brooks-Gunn 2001).
Wenn nun die hier nur sehr knapp skizzierten Grundprinzipien nachhaltiger Fa-
milienpolitik auf die vorher dargestellten Ansätze bezogen werden, so zeigen sich
einige Neudefinitionen der Begriffe bei gleichzeitiger Fortführung bestimmter
Ansprüche. Horizontale Gerechtigkeit sollte als zentrales Bestimmungselement
des klassischen Modells des Familienlastenausgleichs sicherstellen, dass Eltern
348 Hans Bertram & Carolin Deuflhard
nicht bloß an institutionellen Orten und der Familie, sondern wird sich nur dann
positiv im Sinne des kindlichen Wohlbefindens beeinflussen lassen, wenn das Le-
bensumfeld der Kinder auch zwischen den kommunalen Institutionen und dem
Elternhaus so gestaltet ist, dass Kinder auch in ihrem unmittelbaren Nahraum
Erfahrungen machen können, die für ihre Entwicklung unerlässlich sind.
Nachhaltige Familienpolitik wird immer dann zu einer Herausforderung für
andere Politikbereiche, wenn die hier formulierten Ansprüche auch umgesetzt
werden sollen. Das gilt nicht nur für die Bildungspolitik oder die Gesundheits-
politik, sondern vor allem für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. In diesem
Sinne wird das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit deutlich erweitert: Für-
sorge für andere kostet Zeit im Lebensverlauf. Diese Zeit führt heute in der Regel
zu einer Diskriminierung derjenigen, die diese Zeit aufgewandt haben. Das ist
Konsequenz der Tatsache, dass sich die Lebensläufe heute wesentlich am Muster
beruflicher Karrieren orientieren, wie es Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts ein-
geführt hat. Daher besteht die größte Herausforderung für die Familienpolitik
der Zukunft darin - bei der Fürsorge für Kinder wie für die Älteren - die Lebens-
verläufe so den gewonnenen Lebensjahren und der gewonnenen Vitalität im Alter
anzupassen, dass diejenigen, die Fürsorgeleistungen erbringen, nicht gegenüber
anderen benachteiligt sind. Erst wenn es gelingt, die Lebensverläufe auch im be-
ruflichen Bereich so vielgestaltig zu organisieren, dass man nach Unterbrechun-
gen immer wieder neu anfangen kann, ist die horizontale Gerechtigkeit, wie sie
die nachhaltige Familienpolitik versteht, in Ansätzen realisiert.
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Volksheim oder Shopping Mall?
Die Reproduktion der Gesellschaft
im Dreieck von Markt, Sozialstruktur
und Politik1
Wolfgang Streeck
1 Aus: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 8, 2011, Heft 2, 43-64
der Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit seit den 1970er Jahren, dem gleich-
zeitigen Rückgang der Geburtenraten als Folge der Expansion des Arbeitsmarkts
und der Herausbildung einer neuen staatlichen Familienpolitik, die auf eine So-
zialisierung der physischen Reproduktion der Gesellschaft hinausläuft, genauer
untersuchen.
Ein ebenso gutes Beispiel für das, was Jens Beckert die „Anspruchsinflation
des Wirtschaftssystems“ (2009) genannt hat, wäre die Verwandlung des privaten
Bankenwesens der reichen Länder aus einer Art halböffentlicher industrieller In-
frastruktur in eine globale Geldindustrie. Bekanntlich haben deren unerwartete
Nebenfolgen erst kürzlich dazu geführt, dass die Staaten der westlichen Welt ihre
fiskalische Handlungsfähigkeit fast völlig verloren haben. Gleichfalls einschlägig,
wenn auch weniger dramatisch, erscheint die Entwicklung im Markt für Arbeit,
wo mehr Markt gleichbedeutend ist mit weniger paternalistischer Fürsorge-
pflicht des Arbeitgebers und, zunächst, entsprechend mehr Kündigungsschutz
und Arbeitslosenversicherung. Wenn es dann noch „flexibler“ zugehen soll oder
muss, kann es noch teurer werden: siehe die immensen Aufwendungen für „ak-
tive Arbeitsmarktpolitik“ in Ländern wie Dänemark und den Niederlanden mit
ihren hohen Ausgaben für Übergangsgelder, Weiterbildung und eine flächende-
ckende Arbeitsverwaltung (Streeck 2009).
Was die Ausweitung der weiblichen Erwerbstätigkeit und ihre demografischen
und sozialpolitischen Folgen betrifft, so gibt es zu dem Thema eine politisch kor-
rekte Standarderzählung, die ungefähr wie folgt verläuft. Ende der 1960er Jahre
begannen die gesellschaft lichen Vorurteile gegen eine volle Beteiligung der Frau-
en am Erwerbsleben allmählich zu fallen. Immer mehr Frauen konnten sich ihren
lang gehegten Wunsch erfüllen und in Lohnarbeit eintreten. Als Folge ihrer Aus-
wanderung aus der Subsistenzwirtschaft der Familie in die Freiheit des Arbeits-
markts gingen die Kinderzahlen zurück. Danach dauerte es Jahrzehnte, bis die
von Männern dominierte staatliche Politik die ihr damit zugewachsenen neuen
Aufgaben verstanden hatte: vor allem die Bereitstellung öffentlicher Einrichtun-
gen der Kinderbetreuung zur Verbesserung dessen, was heute „Vereinbarkeit von
Familie und Beruf“ heißt. Je weiter die Verantwortung für die Versorgung von
Kindern von den Familien auf den Staat übertragen wurde, desto schneller erhol-
ten sich die Geburtenraten dann wieder. Während in den 1970er Jahren OECD-
Länder mit hohen Frauenerwerbsquoten niedrige Geburtenraten hatten, ist es seit
den 1990ern, so hören wir, umgekehrt (Ahn und Mira 2002): Infolge der neuen,
familienpolitisch orientierten Sozialpolitik haben Länder nunmehr umso höhere
Kinderzahlen, je größer der Anteil der Frauen ist, die berufstätig sind.
Diese Geschichte ist nicht völlig falsch. Aber sie unterschlägt eine Anzahl von
Problemen und Paradoxien, und wohl durchaus mit Absicht. Auf einige dieser
Volksheim oder Shopping Mall? 355
Probleme möchte ich im Folgenden eingehen, um ein komplexeres Bild vom Ver-
hältnis zwischen Marktentwicklung, sozialer Lebenswelt und politischer Inter-
vention – und insbesondere von den fiskalischen Kosten von Märkten und der
Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Ausgleichs der sozialen
Nebenfolgen von Markterweiterung durch Erweiterung und Strukturanpassung
des modernen Wohlfahrtsstaats – zu zeichnen, ein Bild, das mir über den hier be-
handelten Fall hinaus von Interesse zu sein scheint.
Die Auswanderung der Frauen aus der Subsistenzwirtschaft der Familie und ihre
Einwanderung in den Arbeitsmarkt seit dem Ende der 1960er Jahre (Abbildung
1) lässt sich nicht nur als Befreiungs-, sondern auch als Vertreibungsgeschich-
te erzählen. Die Befreiungsgeschichte der weiblichen Erwerbsarbeit berichtet
vom verdienten Ende der repressiven Single-Breadwinner-Familie, vom lang er-
sehnten und hart erkämpften Zugang der Frauen zur Freiheit des Marktes und
vom Glück des endlich eigenen Geldes und des selbstbestimmten Konsums. Die
Vertreibungsgeschichte dagegen beginnt mit der Krise der Lohnarbeit in den in-
dustrialisierten Ländern nach 1968, die auch durch die nach langem ununter-
brochenem Wachstum eingetretene Ausschöpfung des Arbeitsangebots bedingt
war, und berichtet von der Inflation und dem profit squeeze des anschließenden
Jahrzehnts, als dem Kapitalismus die Massenbasis abhandenzukommen drohte.
Nichts wurde damals dringender gebraucht als die Zufuhr einer neuen Klasse en-
thusiastischer Lohnarbeiter, die für die Wiederherstellung flexibler Arbeitsmärk-
te sorgen würde und für Druck auf den zu hoch gewordenen family wage und die
von einer gewerkschaft lich organisierten Arbeitnehmerschaft durchgesetzten, für
den ersehnten „Strukturwandel“ als zu „rigide“ empfundenen Beschäft igungs-
bedingungen.
356 Wolfgang Streeck
Quelle: OECD. In Prozent aller Frauen zwischen 15 und 65 Jahren. Dargestellt sind sie-
ben Länder, die für jeweils andere Muster von Erwerbstätigkeit und Sozialstruktur stehen:
die angelsächsischen Demokratien Großbritannien (UK) und Vereinigte Staaten (US); die
kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten Deutschland und Frankreich; Italien als Ver-
treter des mediterranen Gesellschaftstyps; sowie Schweden als Repräsentant des skandina-
vischen und Japan als Vertreter des asiatischen Sozialsystems.
und ihres Lebens auf dem Arbeitsmarkt verkauften, diente keineswegs immer der
„Emanzipation“, sondern oft auch und vor allem der Verteidigung eines gewohn-
ten Lebensstandards beziehungsweise des gewohnten Anstiegs desselben gegen
die Aufkündigung der Nachkriegsordnung des New Deal durch Arbeitgeber und
Politik. Im Übrigen können durchaus beide Erzählungen zugleich zutreffen: die
Befreiungserzählung für die neue Mittelschicht und die Landnahme-Erzählung
für die absinkende alte Arbeiterklasse.
Im öffentlichen Diskurs war die letztere freilich kaum präsent. Hier domi-
nierte und dominiert das Idol der erfolgreichen Anwältin, Managerin, Wissen-
schaft lerin usw., für die Lohnarbeit nichts anderes sein kann als reine Freude:
nur pull, niemals push. Dabei blieb die kulturelle Rehabilitation der Lohnarbeit,
so dringend gebraucht angesichts der wachstumsgefährdenden Engpässe beim
Arbeitsangebot, bei einer hedonistisch-konsumeristischen Begründung nicht ste-
hen. Mit fortschreitender Zeit kam, so scheint es, ein starkes Element von mora-
lischer Verpflichtung hinzu und machte aushäusige Erwerbstätigkeit für Frauen
mehr oder weniger kulturell obligatorisch, unabhängig vom Haushaltseinkom-
men und der Zahl der Kinder: Frauen, die kein Geld verdienen und damit „nicht
arbeiten“, also „Hausfrauen“, haben kaum noch Aussicht auf Respekt in der neo-
protestantischen Arbeitskultur von heute, auch und gerade bei ihren Schwestern,
und finden es entsprechend schwer, sich selbst zu respektieren. Selbst Halbtags-
arbeit, vor zwanzig Jahren noch ein akzeptabler Ausweg, unterliegt zunehmend
kultureller Ächtung: Vollzeit muss es sein, Karriere als Selbstzweck und soziale
Verpflichtung, Maximierung des Einkommens statt der arbeitsfreien Zeit, ein Le-
ben in dauerndem Zeitmangel als Ausweis berufl ichen Erfolgs, wenn nicht um
des Geldes willen, dann allein schon, um den Töchtern kein schlechtes Beispiel
zu geben. Wer über den Zusammenhang zwischen funktionaler Notwendigkeit
und kultureller Anpassung, zwischen einem sich historisch entwickelnden kapi-
talistischen oder wohlfahrtsstaatlichen „Verwertungsinteresse“ und den in einer
Gesellschaft herrschenden Ideen und Werten spekulieren möchte, findet hier ein
materialreiches Forschungsfeld.
2 Flexible Familien
Abbildung 2
360 Wolfgang Streeck
Wie immer die Kommodifizierung der weiblichen Arbeitskraft und die neue
Familienstruktur im Einzelnen zusammenhängen mögen: an dem in allen rei-
chen Industriegesellschaften seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Einbruch
der Geburtenzahlen (Abbildung 3) waren offenkundig beide beteiligt. Mit der,