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Familienforschung

Herausgegeben von
A. Steinbach, Duisburg, Deutschland
M. Hennig, Mainz, Deutschland
O. Arránz Becker, Köln, Deutschland
In der Familienforschung lassen sich zwei Grundpositionen zu Familie identifizie-
ren, die seit Jahrzehnten das Spektrum bilden, in dem sich die Untersuchungen zu
diesem Gegenstand bewegen: Einerseits eine institutionelle Perspektive, die Fami-
lie als eine Institution betrachtet, die auch unabhängig von ihren Mitgliedern ge-
dacht werden kann, und andererseits die mikrosoziale Perspektive, innerhalb derer
Familie als Zusammenleben miteinander interagierender Familienmitglieder inter-
pretiert wird. Die Reihe „Familienforschung“ präsentiert Buch-publikationen in
der gesamten Breite der Forschungsthemen zu Partnerschaft und Familie. Die Ver-
öffentlichungen umfassen dabei sowohl sozialwissenschaftliche Grundlagen- als
auch angewandte praxisorientierte Forschung. Einer interdisziplinären Sichtweise
auf Familie Rechnung tragend werden neben der Soziologie auch Untersuchungen
aus anderen Fächern wie z.B. der Psychologie, Pädagogik und den Wirtschaftswis-
senschaften in die Reihe aufgenommen.

Herausgegeben von
Anja Steinbach Oliver Arránz Becker
Universität Duisburg-Essen Universität zu Köln, Deutschland
Deutschland

Marina Hennig
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutschland
Anja Steinbach • Marina Hennig
Oliver Arránz Becker (Hrsg.)

Familie im Fokus
der Wissenschaft
Herausgeber
Anja Steinbach Oliver Arránz Becker
Universität Duisburg-Essen Universität zu Köln
Deutschland Deutschland

Marina Hennig
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutschland

ISBN 978-3-658-02894-7 ISBN 978-3-658-02895-4 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4

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nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de
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trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Lektorat: Katrin Emmerich, Daniel Hawig.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber des Bandes „Familie im Fokus der Wissenschaft“


Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker ................................... 7

Familie und Familienbeziehungen


im sozialen und institutionellen Wandel

Familienformen im historischen Wandel


Heidi Rosenbaum ....................................................................................................... 19

Diversität von Familie in Deutschland


Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach ................................................................... 41

Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen?


Günter Burkart .......................................................................................................... 71

Romantische Liebessemantik im Wandel?


Karl Lenz & Sylka Scholz ......................................................................................... 93

Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften


Karin Jurczyk ............................................................................................................. 117

Familienentwicklung im Lebensverlauf

Familienbeziehungen über Haushaltsgrenzen hinweg – Familie als Netzwerk


Marina Hennig .......................................................................................................... 141
6 Inhaltsverzeichnis

Beruflich bedingte Mobilitätserfahrungen im Lebensverlauf und


ihre Bedeutung für die Familienentwicklung. Ein Kohortenvergleich
Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger ............................................ 173

Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf und ihr Einfluss


auf die Beziehungsstabilität
Thomas Klein & Ingmar Rapp ................................................................................. 203

Bildungsspezifisches Sozialkapital in einheimischen, türkischen und


vietnamesischen Familien in Deutschland
Bernhard Nauck & Vivian Lotter ........................................................................... 225

Familie und Gesellschaft

Familienkulturen in Ost- und Westdeutschland: Zum Gerechtigkeits-


empfinden der Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft
Heike Trappe & Katja Köppen ................................................................................. 257

Generationen in Europa: Theoretische Perspektiven und


empirische Befunde
Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank ............................................ 299

Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig?


Hans Bertram & Carolin Deuflhard ....................................................................... 327

Volksheim oder Shopping Mall? Die Reproduktion der Gesellschaft


im Dreieck von Markt, Sozialstruktur und Politik
Wolfgang Streeck ........................................................................................................ 353
Vorwort der Herausgeber des Bandes
„Familie im Fokus der Wissenschaft“
Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker

Die Familie ist ein Thema, welches in der Öffentlichkeit wie auch in der Wissen-
schaft einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. In Deutschland dominieren den
Diskurs über Familie derzeit insbesondere Diskussionen um die demographische
Entwicklung und um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Forschungs-
programm der Familienforschung umfasst jedoch deutlich mehr. Huinink (2006)
unterscheidet hierbei drei grundlegende Perspektiven, die er auf unterschiedli-
chen Ebenen verortet: (1) Die gesellschaft liche Ebene, auf der Fragen von Fami-
lienstrukturen und ihrem Wandel im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen.
Dabei werden Veränderungen nicht nur beschrieben, sondern auch das Verhält-
nis von Familienstrukturen und Sozialstruktur sowie die Wechselwirkungen
zwischen Familie und anderen gesellschaft lichen Teilsystemen analysiert. (2) Die
zweite Ebene, die familiale Beziehungsebene, konzentriert sich auf das Interak-
tionsgeschehen in der Familie, die innerfamiliale Alltagsgestaltung, den Sozia-
lisationsprozess sowie die intergenerationalen Beziehungen. (3) Auf der dritten
Ebene werden Familienverläufe als individuelle Lebensverläufe betrachtet. Dazu
gehören die Wahl der Lebensformen, Familiengründungs- und Auflösungspro-
zesse sowie Auswirkungen von Familienbeziehungen auf den Lebenslauf von
Eltern und Kindern. Mit anderen Worten umfasst das Themenspektrum der
heutige Familienforschung sowohl Partnerschaft als auch Familie, vor allem aber
die sozialen, wirtschaft lichen und rechtlichen Lebensbedingungen von Familien,
die Auswirkungen der Arbeitswelt auf Partnerschaft und Familie, den Wandel
von Partnerschafts- und Familienstrukturen, die Beziehungen zwischen den Ge-

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
8 Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker

schlechtern sowie die veränderten Rollen von Frauen, Männern und Kindern,
aber auch das Verhältnis der Generationen zueinander.
Da die heutige Familienforschung interdisziplinär angelegt ist, sind die Grenz-
ziehungen zu anderen Wissenschaftsdisziplinen in der Familienforschung nicht
immer eindeutig. Um ein fundiertes Wissen über die Strukturen und Dynamiken
von Familien, Generationen, Geschlechtern, Partnerschaften und die familialen
Lebenswelten zu erlangen, braucht es einen ‚Blick über den eigenen Tellerrand‘
hinaus. Denn „die Trennung nach disziplinär zugeordneten Forschungsfragen
führt [...] zu einer Ineffizienz und Redundanz von Forschung, die wegen der ver-
breiteten, auch der gezielten Abgrenzung dienenden Eigenart der Begriffs- und
Theoriepflege [...] kaum wahrgenommen wird“ (Huinink 2006, S. 241). Somit ver-
bindet die heutige Familienforschung unter anderem Perspektiven aus der Sozio-
logie, Psychologie, Pädagogik, den Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften.
Aber auch innerhalb einer Disziplin – beispielsweise der Soziologie – bestehen
viele Anknüpfungspunkte: Die Familiensoziologie zeigt Überschneidungen mit
einer ganzen Reihe anderer Spezieller Soziologien, zum Beispiel der Arbeits-
marktsoziologie, der Bildungs- und Erziehungssoziologie, der Bevölkerungsso-
ziologie, der Geschlechtersoziologie, der soziologischen Netzwerkforschung oder
der Migrationssoziologie. Das Spektrum der Forschung reicht von der sozial-
wissenschaft lichen Grundlagenforschung bis zur angewandten praxisorientier-
ten Forschung. Dabei wirft die Zunahme populärwissenschaft licher Veröffent-
lichungen zu Familie aber auch die Frage auf, was familiensoziologische Literatur
eigentlich ist. Wo fängt sie an und wo hört sie auf?
Ziel der Reihe ‚Familienforschung‘ des Springer VS Verlages ist es, qualita-
tiv hochwertige Publikationen aus dem Bereich der Familienforschung aus der
großen Zahl von Neuerscheinungen zu bündeln und sichtbarer zu machen. Die
Reihe soll Buchpublikationen in der gesamten Breite der Forschungsthemen zu
Partnerschaft und Familie einschließen. Neben Monographien und Sammelbän-
den ist sie auch dezidiert offen für die Veröffentlichung von Dissertationen und
Habilitationen.
Der vorliegende erste Band der Reihe ‚Familienforschung‘ beim Springer VS
Verlag mit dem Titel ‚Familie im Fokus der Wissenschaft‘ greift verschiedene Per-
spektiven und Themen der Familienforschung auf. Eine Grundannahme dieses
Bandes besteht darin, dass ‚Familie‘ nicht mit einer einzigen, allgemeingültigen
Definition beschrieben werden kann. Vielmehr handelt es sich bei Familie um
einen Prozess, der nicht unabhängig von historischen, kulturellen und sozialen
Rahmenbedingungen zu fassen ist. Den allgemeinen theoretischen Rahmen, der
die vielschichtige Dynamik familialer Prozesse strukturiert, stellt die Lebensver-
laufsperspektive dar, in der Familie als zeitveränderlicher, sozialer Prozess gese-
Vorwort der Herausgeber 9

hen wird, durch den der familiale Zusammenhang mittels aktiver Selektionen,
Konstruktionen und Interaktionen hergestellt und reproduziert wird. Im Le-
bensverlauf stellen sich den Akteuren dabei immer wieder neue, phasenabhän-
gige Entwicklungsaufgaben. Die normative Regelung ‚typischer‘ Lebensverläufe
vollzieht sich jedoch stets in einem spezifischen räumlich-zeitlichen Kontext;
daher variieren Strukturen und Funktionen von Partnerschaften und Familien
beträchtlich. Der vorliegende Band thematisiert solche zeitlichen und regionalen
Variationen, indem familiale Handlungslogiken in ihrer Abhängigkeit von so-
zialem und institutionellem Wandel nachgezeichnet werden. Weithin anerkannte
Familienforscher und Familienforscherinnen haben hier die Gelegenheit ergrif-
fen, ihre jeweils unterschiedlichen Perspektiven auf die Familie und die Familien-
forschung zu erläutern und damit auch auf die folgenden Fragen einzugehen: Was
ist Familie? Was bedeutet Familienforschung aus der jeweiligen Forschungspers-
pektive? Welche theoretischen und methodischen Zugänge sind jeweils nützlich,
um die eigenen Forschungsfragen zu beantworten?
Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Themenbereiche. Im ersten Teil fin-
den sich Beiträge zu Familie und Familienbeziehungen im sozialen und institu-
tionellen Wandel. Die Diskussionen über die gegenwärtige Familie betonen bis-
weilen vermeintliche Defizite im familialen Miteinander vor dem Hintergrund
gesellschaft licher Rationalisierung und Individualisierung, die sich aber nicht
zuletzt aus einer Verklärung des Familienlebens in der Vergangenheit speisen.
Unter diesen Umständen wird die heutige Familie dann als im Verfall begriffen
wahrgenommen, ohne die historischen (Dis-)Kontinuitäten in Rechnung zu stel-
len. Heidi Rosenbaum fragt daher in ihrem Beitrag danach, auf welchen Gestal-
tungs- und Interaktionsprinzipien vormoderne Familien basierten und welche
Verbindungslinien zur modernen Familie identifiziert werden können. Im Zen-
trum ihrer Betrachtung stehen zunächst Bauern- und Handwerkerfamilien im
ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert. Im Weiteren wird dann die bürgerliche
Familie als Vorläufer moderner Familien behandelt. Die Autorin zeigt, dass das
Leben in Kleinfamilien keine Folge von Industrialisierung und Modernisierung,
sondern eine seit Jahrhunderten tradierte Struktur ist. Jedoch erst in der bürger-
lichen Familie verbanden sich eine gesicherte materielle Basis mit der Trennung
von Arbeit und Wohnen und das Motiv der Liebesheirat, so dass sich ein Fokus
auf enge persönliche Beziehungen innerhalb und zwischen den Generationen he-
rausbilden konnte.
Mit den Erscheinungsformen von Familie beschäft igt sich auch der Beitrag von
Anne-Kristin Kuhnt und Anja Steinbach, in dem sie eine Systematisierung vorhan-
dener Familienformen in Deutschland auf Basis des Vorhandenseins von minder-
jährigen Kindern im Haushalt vorstellen. Vor diesem Hintergrund unterscheiden
10 Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker

die Autorinnen fünf Familienformen, die aktuell in Deutschland existieren: (1)


Kernfamilien, (2) Alleinerziehende, (3) Stieffamilien (4) Adoptions- und Pflege-
familien sowie (5) gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern). Auch wenn die Ehe
als Legitimierung einer Familie einen Bedeutungsverlust hinnehmen musste, ist
in Deutschland die konventionelle Kernfamilie – wie aktuelle empirische Studien
belegen – mit etwa 70 Prozent noch immer die am weitesten verbreitete Familien-
form. Bei den nicht-konventionellen Formen stellen Alleinerziehende und Stief-
familien mit jeweils etwa 15 Prozent einen substanziellen Anteil dar, während die
Anzahl von Adoptions- und Pflegefamilien sowie gleichgeschlechtlichen Partner-
schaften mit Kind(ern) mit jeweils weniger als einem Prozent eher marginal ist.
Ausgehend von der in der Familienforschung stark verbreiteten Annahme,
dass in modernen Paarbeziehungen und Familien Aushandlungsprozesse zwi-
schen den beteiligten Akteuren immer mehr an Bedeutung gewonnen hätten,
setzt sich Günter Burkart in seinem Beitrag mit der Frage auseinander, inwieweit
Verhandlungen in Ehe und Familie stärker vertragsförmig werden bzw. private
Beziehungen als kontraktuelle Verbindungen angesehen werden können. Der Au-
tor kommt zu dem Schluss, dass die historische Entwicklung nicht eindimensio-
nal verläuft (‚von Status zu Vertrag‘): Vertragliche und nichtvertragliche Elemente
bestehen vielmehr gleichzeitig, und auch wenn die Vertragsförmigkeit historisch
zunimmt, bleibt doch ein erheblicher Anteil, der sich dieser Form von Rationalität
nicht fügt. Liebesbeziehungen, so die zentrale These, lassen sich besser mit dem
Modell des Gabentausches im Rahmen einer Theorie der Praxis erfassen.
Welche Bedeutung hat die romantische Liebe in der heutigen Gesellschaft?
Diese in der Familiensoziologie kontrovers diskutierte Frage greifen Karl Lenz
und Sylka Scholz in ihrem Beitrag auf. Sie diskutieren die Frage, ob die roman-
tische Liebessemantik, die sich im literarischen Diskurs um 1800 herausbildete
und in der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft rasch zur kulturellen
Leitidee für eine Ehe wurde, noch an Bedeutung zugenommen hat oder, ob sie
im Niedergang begriffen ist. Anhand einer wissenssoziologischen Diskursanalyse
von Ehe- und Beziehungsratgebern zeigen die beiden Autoren auf, dass die ro-
mantische Liebessemantik bis heute von hoher Relevanz für die Begründung und
Stabilität einer Zweierbeziehung ist, obgleich sich Verschiebungen in der Seman-
tik nachweisen lassen.
Die öffentlichen und wissenschaft lichen Diskurse kreisen mit unterschiedli-
chen Betonungen und Wertungen um die Feststellung, dass ein Leben als und in
Familie an Selbstverständlichkeit verloren hat. Zwar ist Familie immer noch auch
eine soziale Institution, die in vielfältiger Weise gesetzlich geregelt ist und Indivi-
duen als solche objektiviert entgegentritt. Vor allem aber ist sie zum ‚Projekt‘ ge-
worden, wie Karin Jurczyk in ihrem Beitrag zeigt. Sie vertritt hier die These, dass
Vorwort der Herausgeber 11

man eine Familie nicht einfach ‚hat‘, sondern dass man sie ‚tun‘ muss. Die Autorin
stellt hierzu unter Bezugnahme auf Praxistheorien und das Konzept der Lebens-
führung aktuelle theoretische Ansätze und empirische Arbeiten vor, welche die
,praxeologische Wende‘ in den letzten zwei Jahrzehnten markieren. Entgren-
zungs- und Individualisierungsprozesse im privaten wie im beruflichen Bereich,
die Möglichkeit und Notwendigkeit der Neuaushandlung von Geschlechterar-
rangements führen dazu, dass nicht mehr selbstverständlich auf Traditionen und
feste Rahmenbedingungen zurückgegriffen werden kann, sondern dass persön-
liche Fürsorgebeziehungen zunehmend das Produkt einer aktiven Herstellungs-
leistung werden. Anhand der Darstellung von Grundformen der Herstellung von
Familie, Handlungsdimensionen und Handlungsmodi sowie von Akteuren, Ad-
ressaten und Handlungsinhalten zeigt die Autorin den Mehrwert einer praxeo-
logischen Perspektive auf.
Im zweiten Teil des Bandes wird die Familienentwicklung im Lebensverlauf auf-
griffen. Viele der Diskussionen über die Krise der Familie oder die Pluralisierung
der Lebensformen basieren auf Aussagen über Haushalte, wie sie in der amtlichen
Statistik erfasst werden. Solche amtlichen Statistiken sind zwar in ihren Messun-
gen objektiv, nicht aber notwendigerweise in ihren Begriffen. So kritisiert Marina
Hennig in ihrem Beitrag, dass die Haushalts- und Familientypen der amtlichen
Statistik nur zum Teil wesentlichen Aspekten des Zusammenlebens gerecht wer-
den und, dass der Wandel der Wohn- und Haushaltsformen, der sich in der amtli-
chen Statistik widerspiegelt, nicht notwendigerweise mit einem Wandel der geleb-
ten Familienbeziehungen einhergehen muss. Ziel ihres Beitrages ist es daher, die
Beziehungsrealität von Familie als Netzwerk in hochdifferenzierten Gesellschaf-
ten und deren sozialen Wandel aufzuzeigen. Die Autorin beschreibt mit Hilfe von
Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel von 1991 und 2011 Veränderungen
in familialen Generationenbeziehungen über Haushaltsgrenzen hinweg und dis-
kutiert die Frage, durch welche Beziehungslogiken sich die gefundenen Muster
am besten charakterisieren lassen. Das zentrale Ergebnis dieser Überlegungen
besteht darin, dass das Konzept des Gabentausches zur Erklärung für intergene-
rationale familiäre Beziehungen besser geeignet scheint als die Konzepte Solidari-
tät, Reziprozität oder sozialer Austausch.
In vielen entwickelten Industrienationen, insbesondere auch in Europa, lässt
sich seit Jahrzehnten ein Wandlungsprozess des generativen Verhaltens beobach-
ten, im Zuge dessen es zu einer Abnahme der endgültigen Kinderzahl kommt.
Neben Erklärungsansätzen, die veränderte Werte und Lebensziele jüngerer Ge-
burtskohorten als Ursache für diese Entwicklung herausstellen, betonen jüngere
Ansätze verstärkt die Bedeutung struktureller Faktoren. In diesem Kontext gehen
Norbert F. Schneider, Thomas Skora und Heiko Rüger in ihrem Aufsatz davon aus,
12 Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker

dass auch Erfahrungen mit beruflich bedingter Mobilität, als Folge gestiegener
Mobilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt, flankiert durch eine zunehmen-
de Erwerbsneigung von Frauen, einem zeitlichen Wandel unterliegen, so dass jün-
gere Jahrgänge familienbezogene Entscheidungen vermehrt vor dem Hintergrund
aktueller Mobilitätserfahrungen bzw. -erwartungen treffen. Daher untersuchen
die Autoren den Zusammenhang von Familienentwicklung und berufl ichen Mo-
bilitätserfahrungen, die zeitlich häufig in die Kernphase der Familiengründung
fallen. Anhand eines Vergleichs zwischen den Geburtskohorten 1952-60, 1961-70
und 1971-77 präsentieren die Autoren mittels Analysen mit der zweiten Welle der
Studie ‚Job Mobilities and Family Lives in Europe‘ empirische Belege für einen
Wandel des Mobilitätsverhaltens in der Phase des frühen Erwachsenenalters, der
auch einen Beitrag zur Erklärung des Wandels im Geburtenverhalten dieser Ko-
horten leistet.
Strukturelle Rahmenbedingungen spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle bei
Partnerwahlprozessen, z.B. in Form von Gelegenheitsstrukturen. Ob es systema-
tische Veränderungen des Altersabstands zwischen Partnern je nach Alter bei
Partnerschaftsbeginn gibt und inwiefern sich der Altersabstand auf die Stabilität
der Beziehung auswirkt, untersuchen Thomas Klein und Ingmar Rapp in ihrem
Beitrag. Auf Basis der amtlichen Eheschließungsstatistik, des Partnermarktsur-
veys sowie eines kumulierten Datensatzes können sie nachweisen, dass sich so-
wohl die altersbezogene Partnerwahl als auch die Bedeutung des Altersabstands
für die Beziehungsstabilität im Lebenslauf systematisch verändern. Im mittleren
Erwachsenenalter nimmt die Spannbreite der Altersabstände deutlich zu, und der
Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungsstabilität verschwindet. Bei der Er-
klärung dieser Entwicklungen spielt möglicherweise die Altersheterogenität von
Lebensphasen eine zentrale Rolle.
Durch Prozesse intergenerationaler Transmission bzw. Mobilität reproduzie-
ren Familien soziale Ungleichheiten. In jüngerer Zeit wird zunehmend diskutiert,
welche Unterschiede zwischen einheimischen Familien und Migrantenfamilien
hinsichtlich der intergenerationalen Weitergabe von kulturellem und sozialem
Kapital bestehen und wie sich diese auf soziale Bildungsungleichheiten auswir-
ken. Im Aufsatz von Bernhard Nauck und Vivian Lotter wird untersucht, inwie-
weit sich Unterschiede im Bildungserfolg zwischen Kindern aus einheimischen
deutschen, türkischen und vietnamesischen Familien auf Unterschiede in ihrem
Sozialkapital zurückführen lassen. Während die Unterschiede in den Sozialbezie-
hungen zwischen den deutschen und türkischen Müttern auf Verteilungsunter-
schiede in Bildungsniveau und Berufsprestige zurückgeführt werden können,
deutet sich bei den vietnamesischen Familien eine stabile Strategie einer auf die
Vorwort der Herausgeber 13

Familie beschränkten Ressourcengenerierung an, wie sie als kulturspezifisch für


ostasiatisch-amerikanische Migrantenfamilien beschrieben worden ist.
Der dritte Teil des Bandes umfasst schließlich verschiedene Beiträge zu Fami-
lie und Gesellschaft. Fast 25 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es noch immer
persistente Unterschiede in verschiedenen Dimensionen familialen Verhaltens,
im Erwerbsverhalten von Frauen sowie in familienbezogenen Einstellungen und
Wertorientierungen zwischen Menschen in den alten und den neuen Bundeslän-
dern. Heike Trappe und Katja Köppen gehen in ihrem Beitrag davon aus, dass
es eine enge Wechselbeziehung von strukturellen und kulturellen Bedingungen
gibt, in deren Ergebnis sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede des familialen
Verhaltens zwischen sozialen Gruppen herausbilden. Sie untersuchen auf Basis
der Daten des ‚Beziehungs- und Familienpanels‘ (pairfam) Gerechtigkeitsvorstel-
lungen in der Arbeitsteilung innerhalb von Paaren in Ost- und Westdeutschland,
da diese einen bislang selten betrachteten, aber außerordentlich gut geeigneten
Indikator darstellen, um einen tieferen Einblick in die normativen Grundlagen
der Arbeitsteilung zu erhalten. Die Autorinnen können zeigen, dass – trotz er-
heblicher Unterschiede in den Erwerbsarrangements und insbesondere bei der
Aufteilung der Kinderbetreuung bei Paaren in Ost- und Westdeutschland – die
Arbeitsteilung insgesamt in beiden Teilen Deutschlands als überwiegend fair
wahrgenommen wird. Ein markanter Ost-West-Unterschied besteht darin, dass
vor allem in Ostdeutschland eine vorrangige Zuständigkeit von Frauen für die
Kinderbetreuung als Verletzung der Fairnessnorm empfunden wird, während in
Westdeutschland die Häufigkeit der Anerkennung, die den Befragten durch ihre
Partner zuteilwird, einen positiven Einfluss auf die Gerechtigkeitswahrnehmung
ausübt.
Familie bildet den Rahmen, innerhalb dessen verschiedene Generationen als
Eltern und Kinder ihr Leben teilen. Angesichts einer andauernden Pluralisierung
von Familien- und Lebensformen, die sich unter anderem in sinkenden Heirats-
ziffern, einem demographischen Wandel mit dauerhaft niedrigen Geburtenzif-
fern und einer stetig steigenden Lebenserwartung spiegelt, stellt sich verstärkt
die Frage nach der zukünft igen Entwicklung und den Solidaritätspotenzialen
generationenübergreifender Netzwerke innerhalb von Familien. Im Zuge dieses
Wandels hat auch die Erforschung der Beziehungen zwischen (Groß-)Eltern und
(Enkel-)Kindern an Bedeutung gewonnen. Der Beitrag von Christian Deindl,
Martina Brandt und Karsten Hank greift die beschriebenen Zusammenhänge
auf und untersucht im internationalen Vergleich die Generationensolidarität in
europäischen Wohlfahrtsstaaten. Dabei geben die Autoren einen Überblick über
die Begriffe und Theorien sowie aktuelle empirische Befunde zum Thema Gene-
rationensolidarität in Europa, wobei der Schwerpunkt auf den Aspekten Wohn-
14 Anja Steinbach, Marina Hennig & Oliver Arránz Becker

entfernung, Kontakthäufigkeit, finanziellen Leistungen und zeitlichen Transfers


zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern sowie dem Einfluss kontextuel-
ler Bedingungen liegt. Die Ergebnisse aus den Analysen mit den SHARE-Daten
sprechen insgesamt für die geteilte Verantwortung von Familie und Staat, nach
der unterschiedliche Hilfeinstanzen unterschiedliche Aufgaben übernehmen.
Ist Familienpolitik gerecht, neoliberal oder nachhaltig? Diese Fragen stellen
sich Hans Bertram und Carolin Deuflhard und zeichnen dazu in ihrem Beitrag
zentrale Veränderungen der Leitlinien der deutschen Familienpolitik seit den
1950er Jahren nach. Während die Familienpolitik zunächst als ‚gerechte Fami-
lienpolitik‘ entwickelt wurde, die einen horizontalen Ausgleich zwischen Fa-
milien und Nicht-Familien anstrebt, hat sich in den 1990er Jahren ein Paradig-
menwechsel zur ‚leistungsorientierten Familienpolitik‘ durchgesetzt, welche die
Unterstützung der Familie über die Leistungen begründet, die die Familie für
die Gesellschaft erbringt. Heute steht die Familienpolitik, so die zentrale These,
am Scheideweg zwischen einer nachhaltigen Familienpolitik, welche den einzel-
nen Mitgliedern der Familie eine subjektiv gelingende Integration verschiedener
gesellschaft lichen Teilhabebereiche ermöglicht, und einer neoliberalen Familien-
politik, die die Fürsorge der Ökonomie unterordnet und sich entsprechend auf
Maßnahmen konzentriert, welche die Marktverfügbarkeit der einzelnen Mitglie-
der der Familie herstellen oder sichern.
Flexible Märkte verlangen flexible Sozialstrukturen, während menschliches
Leben stabile Gesellschaften braucht. Die vorherrschende Auffassung, dass die
kapitalistische Entwicklung traditionale Ordnungen zerschlägt, die Gesellschaft
sich zur Wehr setzt und wohlfahrtstaatliche Politik neue Sicherheit anstelle der
alten organisiert, untersucht Wolfgang Streeck in seinem Beitrag. Am Beispiel der
Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit seit den 1970er Jahren einerseits und den
damit verbundenen demographischen und sozialpolitischen Folgen andererseits
diskutiert der Autor die Frage, welche Schäden die äußere und innere ,Landnah-
me‘ des Marktes in der sozialen Lebenswelt hervorruft und wie unterschiedliche
gesellschaft liche Modelle auf die Dysfunktionen des Marktes reagieren. Führt
mehr Markt zu mehr Staat oder zu noch mehr Markt? Volksheim oder Shopping
Mall?
Wir freuen uns sehr, dass der Springer VS Verlag bereit ist, eine Reihe ‚Fami-
lienforschung‘ in sein Programm aufzunehmen und der Familienforschung da-
mit die Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt, die sie verdient, denn die Familie
wird nicht umsonst als ‚Keimzelle der Gesellschaft‘ bezeichnet. Gleichzeitig sind
wir sehr stolz, dass es uns gelungen ist, für den Start dieser neuen Reihe mit dem
Band ‚Familie im Fokus der Wissenschaft‘ so viele namhafte Autorinnen und
Autoren zu gewinnen, die als Expertinnen und Experten ihre Sicht auf Familie
Vorwort der Herausgeber 15

eröffnen, theoretische Weiterentwicklungen im Bereich der Familienforschung


vorschlagen, neueste empirische Ergebnisse der Familienforschung aus inter-
national vergleichender und lebensverlaufstheoretischer Perspektive vorstellen
und Familie in den gesellschaft lichen Kontext stellen. Damit sich die Reihe im
Verlagsprogramm etabliert, bedarf es jedoch möglichst vieler spannender sowie
hochwertiger Bücher und Sammelbände aus den vielfältigen Disziplinen, die sich
mit Themen der Familienforschung beschäftigen. Daher möchten wir alle For-
scherinnen und Forscher aus dem Bereich der Familienforschung dazu einladen,
dem Verlag oder uns ihre Manuskripte für eine mögliche Veröffentlichung im
Rahmen der Reihe zuzusenden. Wir hoffen, dass die thematisch vielfältigen Bei-
träge des vorliegenden ersten Bandes Anregungen und Impulse hierfür liefern.

Anja Steinbach, Marina Hennig und Oliver Arránz Becker


Duisburg, Mainz und Mannheim, den 30. Mai 2014

Literatur
Huinink, J. (2006). Zur Positionsbestimmung der empirischen Familiensoziologie. Zeit-
schrift für Familienforschung 18; 212-252.
Familie und Familienbeziehungen
im sozialen und institutionellen Wandel
1
Familienformen im historischen Wandel

Heidi Rosenbaum

1 Einleitung

In vielen Diskussionen über die gegenwärtigen Familien und ihre Leistungen,


über Ehebeziehungen, Kindererziehung, Verhältnis der Generationen spielen –
meist unausgesprochene – Vorstellungen über vergangene Familienverhältnisse
eine Rolle. Das ist nicht weiter erstaunlich, weil die Besonderheit einer Situation
sich erst dann erfassen lässt, wenn man sie von einer davon abweichenden ab-
setzt (Rosenbaum 1977). Dies Andere als Gegenbild oder Hintergrund kann in
Familienverhältnissen in anderen Regionen der Erde bestehen oder – das ist der
häufigste Fall - in Vorstellungen über die Familie in der Vergangenheit. Oft bleibt
dabei unklar, an welche Familie und welchen Zeitraum gedacht wird. Wie diese
Vorstellungen nun aber aussehen, bestimmt die Perspektive auf die Gegenwart.
Je positiver das Bild der vergangenen Familie gemalt wird, desto negativer sieht
die Gegenwart aus und umgekehrt. Deshalb ist es notwendig, sich über den Ver-
gleichsmaßstab, also die Familien der Vergangenheit, klar zu werden. Im Fol-
genden frage ich danach, wie diese Familien funktioniert haben, ob und wenn ja
welche Verbindungslinien es zwischen vergangenem und gegenwärtigem Fami-
lienleben gibt. Ich beschränke mich dabei auf die am weitesten verbreiteten Fami-
lienformen. Im Zentrum stehen daher zunächst die bäuerlichen Haushalte. Auf
die teilweise davon abweichenden Verhältnisse im (städtischen) Handwerk wird

1 Diese Thematik habe ich bereits in meiner 1982 veröffentlichten Habilitationsschrift


ausführlich behandelt, auf die ich mich im Folgenden immer wieder beziehe. Dort fin-
den sich auch weitere Literaturverweise.

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
20 Heidi Rosenbaum

jeweils verwiesen. Anschließend wird die bürgerliche Familie als erste Variante
der modernen Familie behandelt, von der sich die gegenwärtigen Familien aber in
mehrfacher Hinsicht unterscheiden. Ich konzentriere mich auf die Zeit seit dem
ausgehenden 18. Jahrhundert, für die die meisten Untersuchungen vorliegen und
in der die entscheidenden Weichen für die Entwicklung der modernen Gesell-
schaft und der modernen Familie gestellt worden sind. Zunächst soll jedoch kurz
weiter zurückgegriffen werden, um einige, für die mitteleuropäischen Familien-
formen charakteristische Strukturen dazustellen.

2 Die Zwei-Generationen-Familie als dominantes


Muster des Zusammenlebens

Im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt war die Eltern-Kind-Gruppe in West-


und Mitteleuropa überwiegend nicht in große Verwandtschaftsverbände ein-
gebunden. Das Leben als Kleinfamilie war deshalb nicht, wie lange unterstellt
wurde, das Ergebnis des Übergangs von der vormodernen zur modernen Fami-
lie (ausführlich Rosenbaum 1998). Vermutlich hatte das nicht nur eine einzige
Ursache. In der Forschung wird einmal verwiesen auf religiöse Gründe, vor allem
die kirchlichen Heiratsverbote, durch die Ehen zwischen Verwandten weitgehend
ausgeschlossen waren (Goody 1986) und den im Christentum fehlenden Ahnen-
kult, der anderswo patrilineare Familienclans begünstigte (Mitterauer 1990a,
2003, 2013). Im Ergebnis existiert in unseren Breiten ein Verwandtschaftssystem,
das keine der beiden Abstammungsseiten, über die jede Person verfügt, bevorzugt
(Eskimo-System). Verwandt ist jede Person also mit allen Personen von der müt-
terlichen und der väterlichen Seite. Da strukturell keine Präferenzen vorgegeben
sind, kann sie selbst entscheiden, mit wem sie Beziehungen unterhalten will. Der
aus Vater, Mutter und Kindern bestehenden Kernfamilie kommt dadurch per se
eine zentrale Bedeutung zu (Rosenbaum 1998, S. 20).
Diese prominente Rolle der Kern- oder Kleinfamilie wurde „unterfüttert“
durch eine bereits seit dem 11. und 12. Jahrhundert entstandene Arbeitsorgani-
sation in den zentralen Bereichen der Gesellschaft: in Landwirtschaft und Ge-
werbe (Handwerk). Sie beruhte auf der arbeitsteiligen, gemeinsamen Arbeit von
Frau und Mann, dem (Ehe-)Paar. Wunder (1992, S. 89ff.) spricht deshalb auch
von einer „Familiarisierung der Arbeit“. Bereits seit dem Hochmittelalter waren
Einzelhaushalte mit Kernfamilien, u.U. ergänzt durch Gesinde, die typischen
Produktionseinheiten in Stadt und Land. Inhaber von Höfen oder Handwerks-
betrieben waren daher normalerweise verheiratet.
Familienformen im historischen Wandel 21

Sowohl auf dem Land als auch im (vornehmlich städtischen) Gewerbe domi-
nierten aus diesem Grunde Betriebsgrößen, die gerade mal eine Familie und ein
paar Hilfskräfte ernähren konnten. Dem Zusammenleben von mehr als zwei Ge-
nerationen standen also in weiten Teilen der Gesellschaft allein schon die ökono-
mischen Bedingungen entgegen. Zudem ist zu bedenken, dass das Zusammenle-
ben von drei Generationen unter den damaligen demographischen Bedingungen
stets nur eine kurze Phase im Familienzyklus war: nämlich die Zeit zwischen der
Geburt des ersten Enkelkindes und dem Tod der Großeltern. Diese Phase war
umso kürzer, je höher das Heiratsalter und je geringer die durchschnittliche Le-
benserwartung (der Erwachsenen) waren. Großfamilien im Sinne von mehreren
zusammen lebenden und arbeitenden Generationen oder andere komplexe Fami-
lienformen einschließlich unverheirateter Verwandter waren deshalb in großen
Teilen West- und Mitteleuropas nicht weit verbreitet. Solche Formen kamen vor,
existierten aber nur dort, wo spezifische ökonomische Bedingungen oder steuer-
rechtliche Voraussetzungen vorhanden waren (Mitterauer 1990b). Typisch war
hingegen die zumindest zeitweise Beschäft igung von Personal: Gesinde (Magd
und Knecht) auf dem Bauernhof, gewerbliche Arbeitskräfte (Lehrling, Geselle)
und Dienstmädchen im Handwerkerhaushalt. Diese Personen waren in die Haus-
halte integriert. Eine Absonderung der Familie und die Entwicklung einer fami-
lialen Privatsphäre waren unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Bedingt durch eine gute Agrarkonjunktur konnten seit dem ausgehenden 18.
Jahrhundert zunehmend mehr Höfe ein Altenteil tragen. Die Lebenserwartung
stieg ebenfalls an, so dass im Lauf des 19. Jahrhunderts auf dem Land tatsächlich
häufiger Drei-Generationen-Familien vorkamen. Wo sie es sich leisten konnten,
führten die Generationen aber getrennte Haushalte, um Konflikten aus dem Weg
zu gehen (Rosenbaum 1982, S. 63f.).
Bei Handwerkern waren Drei-Generationen-Familien noch weniger verbreitet
als bei Bauern, weil normalerweise weder nennenswertes immobiles Vermögen
(wie Grund und Boden) noch nachlassende körperliche Kräfte oder ein grund-
herrliches Interesse die Betriebsübergabe zu Lebzeiten erforderlich machten
(Rosenbaum 1982, S. 136ff.). Außerdem spielte dort bis ins 19. Jahrhundert hin-
ein Vererbung des Betriebes keine große Rolle (Ehmer 2000). Im räumlich sehr
mobilen Bürgertum lebten die Generationen oft weit entfernt voneinander. Aber
auch am selben Ort führten sie meist getrennte Haushalte. Ihr Wohlstand ermög-
lichte ihnen, sich Pflege und Versorgung im Bedarfsfall zu kaufen. Bei den armen
Schichten der Bevölkerung sah das anders aus. Hier waren die erwachsenen Kin-
der häufig nicht vor Ort oder wohnten selbst sehr beengt. Meist waren sie auch fi-
nanziell so schlecht gestellt, dass sie ihre alten Eltern nicht unterstützen konnten.
Arbeit und Plackerei bis ins hohe Alter, nicht selten auch das Leben im Armen-
22 Heidi Rosenbaum

haus oder in Abhängigkeit von der Gemeinde waren ein verbreitetes Schicksal
alter Leute. Für große Gruppen der Bevölkerung fielen Alter und Armut zusam-
men (Rosenbaum und Timm 2008; Rosenbaum 2011).

3 Heiratsbeschränkungen oder: „Wer durfte heiraten?“

In den meisten deutschen Territorien war die Heirat ein Vorgang, der nicht nur
sozial, sondern auch obrigkeitlich kontrolliert wurde, wenn auch in unterschied-
lichem Umfang und unterschiedlicher Intensität.2 Die Abstimmung zwischen Be-
triebs- und Familiengröße erfolgte durch die enge Verbindung von Heirat (und
Familiengründung) mit dem Nachweis einer „ausreichenden Nahrung“. Sie konn-
te bestehen aus einem Hof, einem Handwerksbetrieb, einem einträglichen Han-
del oder sonstigem Vermögen. Besitzende konnten daher leicht heiraten. Nicht-
Besitzende mussten ihre Befähigung nachweisen. Daraus wird bereits deutlich,
dass in Zeiten von Bodenknappheit und geschlossenen Zünften3 Heiratswillige
auf den Erbfall oder die Übertragung des Hofes bzw. des Betriebes oder auf eine
Einheirat angewiesen waren. Am stärksten waren die Angehörigen der unter-
bäuerlichen Gruppen von den Heiratsbeschränkungen betroffen. Es gibt viele
Hinweise darauf, dass nicht nur das Vermögen, die Verdienstmöglichkeiten und
die Arbeitsfähigkeit geprüft wurden, sondern auch Lebenswandel und Charakter
(Lipp 1982). Noch im 18. und 19. Jahrhundert waren die Heiratsbeschränkungen
für die besitzenden und politisch entscheidenden Gruppen, die die Gemeinderäte
und Konsistorien dominierten, ein probates Mittel, die Unterschichten am unte-
ren Ende der sozialen Hierarchie zu halten. Die Heirat blieb so lange ein Privileg
und Statussymbol der Besitzenden.
Entsprechend der ökonomischen Entwicklung sowie dem Umfang und der
Handhabung der Heiratsbeschränkungen variierten ihre Auswirkungen. Es gab
einen großen Spielraum, was als „ausreichende Nahrung“ akzeptiert wurde. Als
seit dem 18. Jahrhundert das unzünft ige Gewerbe zunahm, Hausindustrie und
Manufakturen Beschäft igung für Viele boten, konnte eine „ausreichende Nah-
rung“ nun auch in einem verlässlichen Arbeitseinkommen aus gewerblicher Tä-
tigkeit oder einer Kombination aus einer kleinen Land- oder Gartenwirtschaft
mit einer hausindustriellen Arbeit bestehen. Je mehr verschiedene Erwerbsmög-
lichkeiten in einer Region vorhanden waren und miteinander kombiniert werden

2 Siehe grundlegend zum Heiratsbewillungsrecht (Ehe als „Privileg“) und Scheidungs-


recht am Anfang des 19. Jahrhunderts (Blasius 1987).
3 Zünfte waren geschlossen, wenn von ihnen keine neuen Betriebe zugelassen wurden.
Familienformen im historischen Wandel 23

konnten, desto leichter wurde es selbst für Eigentumslose, eine Familie zu grün-
den. Manche Angehörige der Unterschichten erhielten die Heiratsbewilligung
aber nie. Sie standen deshalb vor der Alternative ledig zu bleiben oder in „wilder
Ehe“ zu leben. In ökonomischen Krisenzeiten war eine Auswanderung die letzte
Möglichkeit, ihre Chancen zu verbessern (Schlumbohm 1994, S. 91f.).

4 Familienbeziehungen bei Bauern und Handwerkern

4.1 Partnerwahl oder: „Wer heiratete wen?“

Da das einen Hof bewirtschaftende Paar stets auch ein Arbeitspaar war, liegt auf
der Hand, dass die Vertrautheit mit den Arbeitsvorgängen und die Fähigkeit, sie
zu erledigen, wichtige Kriterien bei der Auswahl der Ehepartnerin bzw. des -part-
ners waren. Eine wesentliche Rolle spielte zudem die Mitgift der Frau. Das mag
auf den ersten Blick profan erscheinen, war jedoch das Ergebnis von Zwängen,
die die Heirat und der damit nicht immer, aber oft verbundene Erbgang nach sich
zogen (Fertig 2012, S. 144 ff.; Duhamelle und Schlumbohm 2003).
Dort, wo ein Hof ungeteilt übergeben wurde, musste es die Mitgift zumin-
dest ermöglichen, die Erbansprüche der Geschwister zu befriedigen und unter
Umständen ein Altenteil für überlebende Eltern zu fi nanzieren. Wenn darüber
hinaus noch Geld für Investitionen in den Hof übrig waren, umso besser. Dort,
wo Realteilung vorherrschte, d.h. auch der vorhandene Grundbesitz aufgeteilt
wurde, musste das, was beide Partner in die Ehe einbrachten, ausreichen, ihren
Lebensunterhalt und den ihrer Kinder zu sichern. Zudem war die Lage der Feld-
und Wiesenstücke ein wichtiges Kriterium, damit nicht zu viel (Arbeits-)Zeit mit
langen Wegen verbracht werden musste. Die im Schwäbischen geläufige Rede-
wendung „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, wie sich die Wies zum Acker findet“
(Ilien und Jeggle 1978, S. 79) bringt diese Zwänge auf den Punkt. Die Partnerwahl
war also eine Entscheidung, von der nicht nur die Lebenschancen des Paares, son-
dern auch die anderer Personen abhingen. Daraus erklärt sich u.a. die vielfach
belegte Mitwirkung der betroffenen Familien, aber auch die von Heiratsvermitt-
lern, die eine „passende“ Partie vorschlugen. Die in manchen Gegenden üblichen
dörfl ichen Jugendgruppen sorgten ebenfalls für soziale und ökonomische Kom-
patibilität, ermöglichten aber auch – kontrollierte – Freiräume (Gestrich 2003,
S. 497). Man könnte auch sagen: Im bäuerlichen Bereich war die Eheschließung zu
wichtig, um sie den zwei jungen Menschen allein zu überlassen.
Im (überwiegend) städtischen und in Zünften organisierten Handwerk unter-
lag die Partnerwahl ähnlichen Imperativen, unterschied sich aber auch in einigen
24 Heidi Rosenbaum

Punkten. Heiratsfähig war hier nur der Inhaber eines Meisterbetriebs. Der Hand-
werker musste also gelernt, mehrere Jahre als Geselle auf Wanderschaft gearbei-
tet, die Meisterprüfung absolviert und zur Zunft zugelassen worden sein. Erst
dann konnte er eine den zünftischen Vorstellungen von Ehre und Lebenswandel
entsprechende Ehepartnerin präsentieren und auf deren Akzeptanz durch die
Zunft hoffen. Außerdem sollte die künft ige Meisterin bestimmte Qualifi kationen
aufweisen. Vertrautheit mit dem Gewerbe war sicher günstig, wenn auch, weil sie
darin nicht mitarbeiten durfte, nicht notwendig. Auf jeden Fall musste sie in der
Lage sein, einen größeren Haushalt (mit viel Eigenproduktion) zu führen, Perso-
nal anzuleiten, u.U. auch mit Kunden umzugehen. Dort, wo die Zünfte „geschlos-
sen“ waren, blieb dem Handwerker nur die Einheirat, also die Verbindung mit der
Meistertochter oder auch seiner Witwe (Rosenbaum 1982, S. 121ff.).
Aus heutiger Perspektive wirken derartige Überlegungen extrem materialis-
tisch. Es gibt viele Hinweise darauf, dass die genannten Kriterien der Partnerwahl
den Beteiligten nicht oktroyiert worden sind, sondern sie sich selbst, ohne Druck
von außen, ihnen entsprechend verhielten. Die Akteure lebten in einem Umfeld
und unter Bedingungen, in denen sie spezifische Wahrnehmungsmuster entwi-
ckelten. Schließlich sind auch Gefühle an den jeweiligen Kontext gebunden. Ihre
konkrete Ausformung hat mit den Bedingungen zu tun, unter denen sie entste-
hen. Bourdieu (1993, S. 285) hat bei seiner Analyse bäuerlicher Heiratsstrategien
auf diese Koppelung der Wahrnehmung an die Lebenserfahrung hingewiesen
als er schrieb, dass schon durch die früheste Erziehung, „die durch alle sozialen
Erfahrungen verstärkt wird, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata durch-
gesetzt werden dürften, in einem Wort Vorlieben, die unter anderem auch für
potentielle Partner gelten und sogar ohne jede eigentlich ökonomische oder so-
ziale Berechnung Missheiraten zu verhindern trachten: die sozial gebilligte, daher
erfolgsträchtige Liebe ist nichts anderes als jene Liebe zur eigenen gesellschaft li-
chen Bestimmung, welche gesellschaft lich vorbestimmte Partner auf den schein-
bar zufälligen und willkürlichen Wegen der freien Gattenwahl zusammenführt.“
Mit anderen Worten: Die Menschen „sahen“ den Anderen also nie losgelöst von
seiner Umgebung, seinem Besitz, seiner Vergangenheit und Zukunft (Ilien und
Jeggle 1978, S. 78). Es wäre verfehlt, daraus auf die Abwesenheit von Zuneigung
oder Liebe zu schließen. Die Konsequenz derartiger Wahrnehmungsmuster sind
„Ähnlichkeitswahlen“ in sozialer und ökonomischer Hinsicht, die auch heute
noch, unter gänzlich anderen Bedingungen, die Partnerwahl dominieren (Ge-
strich, 2003, S. 503f.).
Familienformen im historischen Wandel 25

4.2 Heiratsalter

Das Heiratsalter lag in Mittel- und Westeuropa relativ hoch, in der zweiten Hälfte
der Zwanziger Jahre, weil die Heirat zwar nicht zwingend, aber häufig mit dem
Tod der Eltern oder der Hofübergabe verbunden gewesen ist. Es konnte in Einzel-
fällen auch sehr niedrig sein, nämlich dann, wenn ein Bauer plötzlich starb und
sein Erbe noch sehr jung, aber schon im heiratsfähigen Alter war. In Realteilungs-
gebieten lag das Alter kaum niedriger, weil die Eltern auf die Arbeitskraft der
Kinder angewiesen waren oder diese im Gesindedienst erst Geld verdienen und
„ansparen“ mussten. Selbst die Angehörigen der ländlichen Unterschicht heira-
teten spät, teilweise noch später als die Bauern, weil auch sie erst einen „Fundus“
für eine Eheschließung erarbeiteten mussten. Es hing deshalb von den lokalen
und regionalen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten ab, wie früh oder spät eine
Heirat möglich wurde (Fertig 2012, S. 242). Bei Handwerkern lag das Heiratsalter
kaum niedriger. Die verschiedenen Qualifi kationsschritte bis zur Meisterprüfung
machten eine Heirat vor dem 25. Lebensjahr unwahrscheinlich. Die häufig vor-
kommende Verbindung zwischen der Meisterwitwe und einem Gesellen, generell
eine hohe Quote von Wiederverehelichungen, führte zu vielen altersungleichen
Ehen (Rosenbaum 1982, S. 151).

4.3 Ehebeziehungen

Die Beziehungen zwischen den Ehepartnern wurden sehr stark durch die ge-
meinsame Arbeit und die Verantwortung für das Florieren des Hofes geprägt.
Feste Vorstellungen von den Frauen und Männern zustehenden Arbeitsberei-
chen regelten den Arbeitsalltag. Sie konnten je nach Ausrichtung der bäuerlichen
Wirtschaft unterschiedlich aussehen. Ungeachtet dessen lässt sich als Faustregel
formulieren: Dem Mann oblagen die Arbeiten außerhalb des Hauses, vor allem
die Feldarbeiten, der Frau alle Arbeiten im und ums Haus herum, einschließ-
lich der Milchwirtschaft, der Kleinviehhaltung, der Besorgung von Wäsche und
Kleidung, unter Umständen die Aufsicht über das weibliche Gesinde, sicher auch
die Sorge für die Kinder. Zur Feldarbeit wurde sie – zumindest auf den größeren
Höfen – nur zu Zeiten erhöhten Arbeitsanfalls herangezogen. Im kleinbäuerli-
chen Bereich musste die Bäuerin hingegen häufiger bei der Feldarbeit mitarbeiten.
In dem einen wie dem anderen Fall hing von ihrer Arbeits- und Leistungsfähig-
keit viel ab. Dennoch charakterisierte der für Mittel- und Westeuropa typische
„strukturelle Statusvorsprung“ des Mannes (Held 1978) auch die Beziehungen
der Geschlechter im Bauernhaus. Hier stand die Bäuerin, selbst in ihren eige-
26 Heidi Rosenbaum

nen Arbeitsbereichen, unter der Oberherrschaft des Mannes und Hausvaters, die
das körperliche Züchtigungsrecht gegenüber allen Hausangehörigen einschloss.
Mitterauer (1979, S. 20) spricht daher vom bäuerlichen Haus als einer „dominant
herrschaft lich organisierte(n) Sozialform“. Die Einhaltung der patriarchalischen
Verfassung wurde von der Dorfgemeinschaft überwacht, Verstöße öffentlich ge-
macht und sanktioniert.
Analog lagen die Verhältnisse im Handwerk. Die Arbeitsteilung war hier aller-
dings strikter. Gewerbliche Arbeit war männliches Privileg. Zwar hatte die Meis-
terfrau einen großen Arbeitsbereich, unterlag aber auch hier im Konfliktfall eben-
falls der männlichen Entscheidungsbefugnis. Hinzu kam, dass Frauenarbeit eine
untergeordnete soziale Wertigkeit hatte. Die Zunft wachte über die Einhaltung
der Arbeitsteilung, insbesondere darüber, dass Frauen (und Kinder) sich nicht an
der gewerblichen Arbeit beteiligten.4
Ebenso wie im Bauernhaus hatte der Hausvater im Handwerk eine umfassen-
de, ökonomische, familiale und öffentliche Funktionen einschließende Position.
Unter den oft räumlich beengten Arbeits- und Lebensverhältnissen, bei denen
sich die Eheleute nicht leicht aus dem Wege gehen konnten, waren die Ehebezie-
hungen häufig konfliktreich (Rosenbaum 1982, S. 153ff.)

4.4 Sexualität

Die Ehe war und blieb lange der einzig legitime Ort für Sexualität. Sexuelle Bezie-
hungen blieben jedoch nicht auf sie beschränkt. Vor- und außereheliche Sexuali-
tät musste heimlich und im Verborgenen praktiziert werden und war mit dem
Makel der Sünde behaftet. Eheliche sexuelle Beziehungen waren nicht unbedingt
für beide Seiten befriedigend. Vermutlich haben weder die Lebensbedingungen
von Bauern und Handwerkern, noch die Wohnverhältnisse und die Arbeitsbe-
lastung viel Intimität zugelassen. Es gibt nur wenige Quellen, die Auskunft über
diesen Lebensbereich geben. Das Wenige, was man weiß, deutet auf gering ent-
wickelte Zärtlichkeit und sehr direkte Befriedigung körperlicher Bedürfnisse
hin. Ilien und Jeggle (1978, S. 80) verweisen in dem Zusammenhang auf die Exis-
tenzbedingungen: „Liebe mit hungrigem Bauch, Zärtlichkeit nach 12-stündiger
Feldarbeit, unverklemmte Sexualität in einer ungeheizten Kammer fällt eben
schwer“. Für Frauen waren sexuelle Beziehungen zudem immer mit der Gefahr

4 Das änderte sich bei vielen Alleinmeistern, deren Zahl nach Einführung der Gewerbe-
freiheit (1810 in Preußen, 1869 im Norddeutschen Bund, 1871 im Deutschen Reich)
enorm zunahm (Rosenbaum 1982, S. 183ff.).
Familienformen im historischen Wandel 27

einer Schwangerschaft verbunden, die ihre Arbeitsleistung beeinträchtigte und


ihren Körper vorzeitig altern ließ. Dort, wo überhaupt Empfängnisverhütung zu
praktizieren versucht wurde, gab es nur die Wahl zwischen Enthaltsamkeit und
coitus interruptus – beides keine befriedigenden Alternativen. Der Mann hatte
immerhin die Möglichkeit, sich bei der Magd schadlos zu halten. Viel anders
dürfte die Situation in den Ehen von Handwerkern auch nicht ausgesehen haben.
Die räumliche und materielle Enge des Lebens belasteten bei beiden Partnern die
sexuellen Beziehungen.
Auch wenn sich feststellen lässt, dass die bäuerliche und die Handwerker-Ehe
an unseren heutigen Ansprüchen nicht gemessen werden kann, so lässt sich den-
noch konstatieren, dass die Konzentration beider Partner auf ihre jeweilige Arbeit
und das gemeinsame Projekt eines florierenden Hofes oder Handwerksbetriebs
durchaus befriedigend sein konnte.

4.5 Kinder

4.5.1 Kinderzahl
Auch wenn im späten 18. und im 19. Jahrhundert die Möglichkeiten der Emp-
fängnisverhütung beschränkt waren, lässt sich aus einigen Studien schließen,
dass sich die Menschen darum bemüht haben.5 In der Regel gab es mehr Schwan-
gerschaften als überlebende Kinder, denn viele Kinder starben bereits als Säug-
linge oder in jungen Jahren.6 Ein Drittel bis die Hälfte der Geborenen erreichte
nicht das Erwachsenenalter. Mehr als drei bis vier Kinder dürften in bäuerlichen
Familien nicht aufgewachsen sein. Kinderreiche Familien waren deshalb bis weit
ins 19. Jahrhundert hinein (Rosenbaum 1982, S. 64f.) Ausnahmen.
Zwischen den Kindern bestanden durch Fehl- und Totgeburten sowie früh
verstorbene Kinder oft große Altersabstände. Geschwister wuchsen deshalb nicht
zwingend gemeinsam auf. Ein jüngstes Kind konnte, weil die anderen schon aus
dem Hause waren, praktisch als Einzelkind aufwachsen, eine Situation, die u.U.

5 Große Altersabstände zwischen den Geburten und ein relativ junges Alter der Frau
bei ihrer letzten Geburt sind Indikatoren für Geburtenkontrolle. Detaillierte Untersu-
chungen gibt es außer für bürgerliche Gruppen einzelner Städte auch für einige Dörfer
(Rosenbaum 1982, S. 64f., 89f.; Gestrich 2003, S. 516-521).
6 Neben den hygienischen Verhältnissen und dem weitgehenden Fehlen medizinischer
Versorgung trugen dazu bestimmte Traditionen der Säuglingsernährung und -behand-
lung (z.B. das Weggeben der Säuglinge zu Ammen), aber auch die Arbeitsbelastung
der Mütter bei. Kinder, die während der Erntezeit geboren wurden, hatten schlechtere
Überlebenschancen (Gestrich, 2003, S. 577).
28 Heidi Rosenbaum

durch die Anwesenheit von ihm im Alter nahen Gesinde gemildert wurde. Die
Notwendigkeit, sich beim frühen Tod des Ehepartners wieder verheiraten zu
müssen, führte zu Konstellationen mit Halb- und Stiefgeschwistern.
Ob und in welchem Umfang Kinder willkommen waren, ist in der Forschung
umstritten (Gestrich 2003, S. 566ff.). Es gibt in den Selbstzeugnissen immer wie-
der Hinweise auf den Tod ihres Kindes betrauernde Eltern, aber auch auf Situa-
tionen, in denen darum nicht viel Aufheben gemacht wurde. Vermutlich konnten
beide Haltungen nebeneinander existieren. Kinder gehörten zu einer Ehe einfach
dazu und wurden als Arbeitskräfte geschätzt. Eins war wohl als Erbe willkom-
men, allerdings wurden Höfe auch an Nicht-Verwandte übertragen oder verkauft
(Ehmer 2000, S. 83). Viele überlebende Kinder konnten zu einem Problem wer-
den, wenn ihre Versorgung die familiale Ökonomie und dadurch den Status der
Familie gefährdeten. Die Aussicht, dass ein früh verstorbenes Kind ohne große
Sünden auf sich geladen zu haben, in den Himmel kam, konnte den Abschied von
ihm erleichtern (Rosenbaum 1982, S. 212ff.; Gestrich 2003, S. 567ff.).
In Handwerkerhaushalten wuchsen noch weniger Kinder heran als im Bauern-
haus. Das mag an der in den Städten höheren Säuglings- und Kindersterblichkeit
gelegen haben, möglicherweise auch am besseren Zugang zu empfängnisverhü-
tenden Kenntnissen und Methoden, teils wohl auch an den vielen altersungleichen
Ehen, aus denen keine Kinder mehr hervorgingen. Da der gewerbliche Nachwuchs
durch die Institution des Gesellenwanderns sehr mobil und die Verselbständi-
gung wegen des für viele Handwerke geringen Kapitalbedarfs relativ einfach war,
waren Kinder selbst als Erben nicht wichtig. Vor dem 19. Jahrhundert wurden
Handwerksbetriebe am häufigsten an nicht-verwandte Personen weitergegeben
(Ehmer 2000, S. 89f.). Als Arbeitskräfte wurden Kinder erst geschätzt, als mit dem
Niedergang des zünftigen Handwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
die Zahl der Alleinmeister zunahm. Unter diesen Bedingungen wurde außer auf
die (gewerbliche) Mitarbeit der Ehefrau auch auf die der Kinder zurückgegriffen
(Rosenbaum 1982, S. 162ff.).

4.5.2 Kindererziehung
Im bäuerlichen Haushalt standen die Kinder nicht im Zentrum des Interesses und
der Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Gegenüber der unabdingbar zu erledigen-
den Arbeit trat ihr Wohlergehen zurück.7 Die Pflege und Erziehung der Kinder
wurde in die alltäglichen Verrichtungen integriert. Entsprechend ihrem Alter
wurden die Kinder zur Arbeit herangezogen. Selbst Kleinkinder konnten schon

7 Auf den Zusammenhang zwischen Säuglingssterblichkeit und Arbeitsanfall weist


Gestrich hin (2003, S. 577).
Familienformen im historischen Wandel 29

einiges tun. Arbeit und Spiel vermischten sich dabei. Mit zunehmendem Alter trat
dann die Arbeit immer mehr in den Vordergrund. Dabei lernten die Kinder durch
Mitahmung und Nachahmung. Erziehung und Ausbildung fanden also gleich-
zeitig statt.8 Gleichsam „natürlich“ wuchsen die Kinder so in ihre Rollen hin-
ein. Die Mitarbeit wurde von ihnen nicht unbedingt als Zwang empfunden. Sie
war nicht nur selbstverständlich, sondern brachte ihnen auch die Anerkennung
der Erwachsenen ein (Rosenbaum 1982, S. 94). Überforderung der Kinder durch
Arbeit gab es allerdings auch.9
Die Kinder wuchsen mit mehreren Bezugspersonen auf. Neben den Eltern
konnten das (jugendliche) Mägde und Knechte oder auch ein noch lebender
Großelternteil, unter Umständen auch nahe lebende Nachbarn sein. Die Bezie-
hungen der Eltern und Kinder folgten dem Muster von Befehl und Gehorsam.
Körperliche Strafen waren gang und gäbe, Zärtlichkeiten selten. Die Kinder ver-
ließen zudem in jungen Jahren das Elternhaus, um in den Gesindedienst zu ge-
hen. Dies geschah umso früher, je ärmlicher die häuslichen Verhältnisse waren.
Vermutlich dürften diese Bedingungen, vor allem die starke Beanspruchung aller
durch die tägliche Arbeit sowie das geringe Niveau von Emotionalität und Intimi-
tät, die starke Identifi kation der Kinder mit einzelnen Personen verhindert haben
(Rosenbaum 1982, S. 93). Wie bei ihren Eltern erhielt in ihrem Denken und Han-
deln der Hof Vorrang vor den Personen.
Ebenso wie im Bauernhaus wuchsen die Kinder von Handwerkern inmitten
von Arbeit auf. Aus den Quellen ergibt sich, dass die Kleinkinder mit verschiede-
nen Methoden „ruhig gestellt“ wurden (Rosenbaum 1982, S. 166ff.). Die beengten
Arbeits- und Wohnverhältnisse erforderten derartige Beschwichtigungsstrate-
gien. Wenn die Kinder, entsprechend den Zunftregeln, auch nicht zur gewerb-
lichen Arbeit herangezogen wurden, so doch zur Hilfe im Haushalt, Garten,
Stall oder bei der Nebenerwerbslandwirtschaft. Sie wurden wohl nicht so stark
damit belastet wie viele Kinder auf dem Lande. Ansonsten regelten ebenso wie
im Bauernhaus Befehl und Gehorsam die Eltern-Kind-Beziehungen. Prügel blie-
ben lange ein probates Erziehungsmittel. In den Haushalt einbezogene Personen,
Lehrling, Geselle, u.U. auch eine Magd, waren zusätzliche Bezugspersonen. Zu-
sammen mit den beengten Wohnverhältnissen stand dies, ebenso wie im Bauern-
haus, der Entwicklung einer familialen Privatsphäre und intimer Eltern-Kind-
Beziehungen entgegen. Der häuslichen Enge entkamen die Kinder beim Spiel auf

8 Auf diese auch heute noch in vielen Gesellschaften verbreitete Haltung gegenüber
Kindern weist Keller (2013, S. 28ff.) hin.
9 Das gilt selbst noch für die erste Hälfte des 20. Jahrhundert (Rosenbaum 2014, S. 433ff,
540ff.).
30 Heidi Rosenbaum

der Straße mit anderen Kindern (Schlumbohm 1979). Das gilt besonders für die
Jungen, da die Mädchen im Allgemeinen stärker zur Hausarbeit herangezogen
und intensiver ans Haus gebunden wurden (Rosenbaum 1982, S. 170). Die Schule
spielte im Leben der Kinder von früher und länger eine Rolle als auf dem Land.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Haushalte von Bauern und Hand-
werkern nicht isoliert, sondern in umfassende soziale Beziehungen eingebun-
den waren. Auf dem Land waren Nachbarschaft und Dorfgemeinde die sozia-
len Institutionen, denen die Kontrolle normgerechten Verhaltens oblag und die
Verstöße sanktionierten (Rosenbaum 1982, S. 113f.). In der Stadt spielte neben
der Nachbarschaft vor allem die Zunft eine wesentliche Rolle. Ihre Bedeutung
erstreckte sich nicht nur auf die Produktionsbedingungen, sondern auf die ge-
samte Lebensführung aller im Hause lebenden Personen. Im Extremfall konnten
Verstöße gegen die Normen des „ehrlichen Handwerks“ zum Ausschluss aus der
Zunft führen (Rosenbaum 1982, S. 128ff.).

5 „Wilde Ehen“

Als Alternativen zur legitimen, kirchlich und weltlich anerkannten Ehe gab es
nur die Existenz als Ledige oder das unverheiratete Zusammenleben eines Paa-
res. Ledig-Sein war jedoch ein Status, der in der Gesellschaft lange Zeit vor al-
lem für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene vorgesehen war. Alle, die in
hausrechtlicher Abhängigkeit lebten, also auch Gesinde, Lehrlinge und Gesellen,
mussten ledig sein. Soldaten und Studenten unterlagen bis ins 19. Jahrhundert
ebenfalls den Heiratsverboten (Möhle 1999, S. 193). Wer im fortgeschrittenen Er-
wachsenenalter noch ledig blieb, war meist in einen Haushalt einbezogen. Eine
unabhängige selbständige Existenz als Ledige oder Lediger war nur selten mög-
lich. Das gilt selbst dort, wo ledige Erwachsene häufiger zu finden waren (Fertig
2012, S. 156ff.).
Abgesehen von einigen unverheirateten bürgerlichen Paaren in der Zeit der
Romantik, von denen die Verbindung zwischen Johann Wolfgang Goethe und
Christiane Vulpius am bekanntesten war und ist, waren „wilde Ehen“ vor allem
in den Unterschichten verbreitet. Auf dem Land kam diese von den Obrigkei-
ten heft ig missbilligte Lebensform allerdings nur selten vor. Selbst jene Paare, die
bereits vor längerer Zeit eine Beziehung eingegangen waren, u.U. auch schon ge-
meinsame Kinder hatten, lebten erst dann langfristig zusammen, wenn sie eine
förmliche Ehe geschlossen hatten (Schlumbohm 1994, S. 242ff.). Das war ihnen
wegen der Heiratsbeschränkungen oft nicht ohne weiteres möglich, selbst wenn
sie es wollten.
Familienformen im historischen Wandel 31

In der Stadt waren „wilde Ehen“ hingegen verbreiteter, weil es hier einfacher
war, sich der obrigkeitlichen Kontrolle zu entziehen. Schätzungen zufolge traf das
in Hamburg in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf jedes fünfte Paar der Unter-
schicht zu (Gröwer 1999, S. 339f.). „Wilde Ehen“ waren im Wesentlichen das Er-
gebnis von Heiratsbeschränkungen und Scheidungsrecht. Es wurde schon darauf
hingewiesen, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein, die Eheschließung kein Recht,
sondern ein Privileg war, das von der Obrigkeit gewährt wurde. Mit Ausnahme
Preußens galt das für alle deutschen Territorien (Möhle 1999, S. 193; Blasius 1987,
S. 82ff ). Die Obrigkeiten knüpften die Genehmigung zur Eheschließung an den
Nachweis des Bürgerrechts (Städte), die Erlaubnis der Heimatgemeinde und an
regelmäßige Einkünfte oder Vermögen. Dass dabei auch Lebenswandel und Cha-
rakter ein Thema waren, wurde bereits erwähnt. Kirchliche Vorschriften schließ-
lich untersagten die Eheschließung zwischen nahen Verwandten. Dispense wa-
ren allerdings möglich, Scheidungen nur begrenzt. Das Scheidungsrecht lag ganz
überwiegend in den Händen der Kirchen. Die katholische Kirche sah überhaupt
keine Scheidung vor. Das komplizierte Annullierungsverfahren war den Angehö-
rigen der Unterschichten praktisch versperrt. Die evangelische Kirche akzeptier-
te als Scheidungsgrund im Wesentlichen nur „böswilliges Verlassen“ oder „Ehe-
bruch“. Lediglich der „unschuldige“ Partner durfte überhaupt Klage erheben. Auf
keinen Fall gestattet wurde die Eheschließung zwischen denjenigen, die Ehebruch
begangen hatten (Blasius 1987, S. 28f.; Möhle 1999, S. 188).10
Analysen zeigen, dass viele „wilde Ehen“ Zweitbeziehungen waren. Ihre Le-
galisierung, die die meisten anstrebten, scheiterte an der fehlenden Scheidung
vom ersten Partner oder am Verbot der Wiederverehelichung für den wegen Ehe-
bruchs schuldig geschiedenen Partner mit dem Scheidungsgrund. Auch die feh-
lende Heiratserlaubnis durch die Heimatgemeinde, der illegale Aufenthalt in der
Stadt u.ä. zählten zu den Gründen für die Vielzahl „wilder Ehen“. Dabei waren
Frauen mit Kindern, die böswillig verlassen wurden oder geschieden waren oder
getrennt vom Ehemann lebten auf eine neue Beziehung dringend angewiesen, weil
sie nicht genug verdienen konnten, um sich und die Kinder ernähren zu können.
Das Zusammenleben mit einem Mann bedeutete für sie und ihre Kinder relative
finanzielle Sicherheit. Männer hingegen suchten und brauchten die Versorgung
durch eine Frau (Gröwer 1999, S. 359ff.). Mit den Kindern aus einer früheren Ver-
bindung und den gemeinsamen entstanden dann überaus komplexe Familien-
strukturen. Das war allerdings nicht ungewöhnlich. Sie konnten auch durch die
verbreitete, auf Verwitwung beruhende Wiederverheiratung zustande kommen.

10 Diese Regelung wurde auch noch in das 1900 in Kraft getretene BGB (§1312) übernom-
men.
32 Heidi Rosenbaum

Bei den von Gröwer und Möhle (1999) untersuchten „wilden Ehen“ handelte es
sich um recht stabile Beziehungen, die innerhalb ihres Milieus nicht diskrimi-
niert wurden und in ein dichtes soziales Netz von Freunden und Nachbarn inte-
griert waren. Sie lebten allerdings in ständiger Sorge vor der „Entdeckung“ durch
die Obrigkeit, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Trennung nach sich ziehen
würde (Gröwer, S. 411ff, 456ff.).

6 Übergang zur Moderne: Bürgerliche Familie

6.1 Das neue Familienkonzept und seine Realisierung

Außer den Familien von Handwerkern und der Unterschicht hatten in den Städten
seit der Frühen Neuzeit, also seit ca. dem 16. Jahrhundert, bürgerliche Familien
gelebt. Es handelte sich dabei überwiegend um Kaufleute und gebildete Verwal-
tungsbeamte. Sie lebten ebenso wie Bauern und Handwerker in Haushalten, die
zugleich ihr Arbeitsplatz oder zumindest eng mit ihm verbunden waren und in
denen Gesinde und sonstige Arbeitskräfte mit der Familie zusammen lebten und
arbeiteten. Infolgedessen bestimmte die Arbeit auch in diesen frühbürgerlichen
Haushalten in hohem Maße das Leben. Dies änderte sich allmählich zum Ende
des 18. Jahrhunderts, als Angehörige des Bürgertums begannen, ihre Berufstätig-
keit aus dem Haus heraus zu verlagern oder aber die Familie aus dem Geschäft s-
haus in ein Privathaus umsiedelte. Im Zusammenhang mit dieser Trennung von
Familie und Erwerb entstanden im Bürgertum neue Ideen über Ehe und Familie,
die zur Keimform der modernen Familie werden sollten (ausführlich Rosenbaum
1982, S. 251ff, 271ff.). Sie veränderten zwar nicht sofort die sozialen Praxis, wirk-
ten aber doch allmählich darauf hin (Habermas 2000). Zentrale Punkte waren:

• Statt primär sachlicher Erwägungen sollten nun Liebe und Zuneigung die Ehe-
leute verbinden. Damit war allerdings (noch) nicht das Ideal „romantischer“
Liebe gemeint, sondern eine „vernünftige“ Liebe, Zuneigung, die durch Ver-
nunft geprüft worden ist. Keinesfalls jedoch sollte Abneigung vorhanden sein.
Das Konzept der „vernünft igen“ Liebe ließ durchaus Raum für sachliche Er-
wägungen. Als ideale Ehe galt jene, in der die beiden Partner nicht nebenein-
ander her leben, sondern sich austauschen, ihre Gedanken und Gefühle kom-
munizieren. Das schloss die Ebene der Sexualität ein. Die Ehe wurde also nicht
mehr gedacht als eine Verbindung zwischen zwei Familien oder Vermögen,
sondern zweier Individuen, nämlich dieser Frau und diesem Mann.
Familienformen im historischen Wandel 33

• Eine veränderte Einstellung zu Kindern. Sie wurden nun als Verkörperung der
einzigartigen Beziehung zwischen den Ehepartnern geschätzt. Man könnte
auch sagen: Die Zuneigung zwischen den Partnern strahlte auf die Beziehung
zu ihren Kindern aus. Kinder erhielten infolgedessen eine zentrale Position
innerhalb der Familie (Trepp 1996).
• Die Familie als Einheit grenzte sich nach außen ab. Einerseits gegenüber der
Sphäre von Produktion und Erwerb, andererseits innerhalb des Haushalts
gegen das Personal, die „familienfremden“ Haushaltsangehörigen. Die Familie
wurde so als reine Privatsphäre entworfen.

Diese Ideen knüpften zwar an soziale Veränderungen in den Lebensverhältnissen


des Bürgertums an, eilten ihnen aber auch teilweise voraus. Zur Zeit der Entste-
hung dieses neuen Familienkonzepts haben erst wenige Angehörige des Bürger-
tums versucht, es zu realisieren. Zum Teil standen die tradierten Lebensverhält-
nisse dem noch entgegen, denn die Trennung zwischen berufl icher und familialer
Sphäre, eine zentrale Voraussetzung des neuen Familienmodells, traf erst rund
100 Jahre später für die Lebensverhältnisse des größten Teils des Bürgertums zu.
Nun erst konnte sich die soziale Praxis in großem Umfang diesen Ideen anpassen.
Im Deutschen Kaiserreich gehörten zum Bürgertum die Unternehmer, die An-
gehörigen der Freien Berufe (also die selbständigen Akademiker) und die höheren
Beamten, die ebenfalls akademische Abschlüsse hatten. Auch wenn die Lebens-
situation dieser verschiedenen Fraktionen des Bürgertums erheblich differier-
te, waren sie doch alle materiell abgesichert, allerdings auf unterschiedlichem
Niveau.
Obgleich das Ideal der Liebesheirat sich im 19. Jahrhundert weiter verbreitet
hatte, spielten gleichwohl sachliche Überlegungen bei der Wahl des Ehepartners
immer noch eine Rolle. Sie waren jedoch nicht so dominant wie in früheren Jahr-
hunderten. Zuneigung war zwar wichtig, Geschäftsverbindungen oder Vermögen
aber auch, denn Frauen mussten versorgt, eine „standesgemäße“ Lebensführung
finanziert werden. Zwischen Idealen und Praktiken tat sich nicht immer, aber
mitunter eine Kluft auf.

6.2 Ehebeziehungen

Da für bürgerliche Frauen nur ein Leben im Hause vorgesehen war, bedeutete die
Ehe für sie die einzig akzeptable Lebensperspektive. Auf dieses Leben waren ihre
Erziehung und Bildung ausgerichtet. Eine ökonomisch selbständige Existenz war
nur wenigen Frauen möglich, ein Leben als Ledige wenig erstrebenswert. Männer
34 Heidi Rosenbaum

waren in einer anderen wirtschaft lichen Situation, aber auch für sie gehörten Ehe
und Familie zu einer respektablen bürgerlichen Existenz dazu.
Ebenso wie in den bisher behandelten Familienformen bestand auch in der
bürgerlichen Familie eine ausgeprägte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die
Frau hatte ihren Lebensbereich und ihre Zuständigkeiten im Hause. Sie war ver-
antwortlich für ein gemütliches und gepflegtes Heim, die Kindererziehung und
die Repräsentation des sozialen Status der Familie. Der Mann fand den Mittel-
punkt seines Lebens außerhalb im Berufsleben und der Öffentlichkeit. Diese Ar-
beits- und Rollenteilung ergab sich für die Zeitgenossen aus dem „Wesen“ der Ge-
schlechter (Hausen 1976; kritisch: Rang 1986) und wurde weitgehend akzeptiert.
Ebenso wie die von Bauern und Handwerkern war die bürgerliche Familie pa-
triarchalisch strukturiert. Der Mann war das unangefochtene Oberhaupt. Seine
Erfolge in Beruf und Geschäft, seine gesellschaft liche Position stützten seine in-
nerfamiliale Autorität, die rechtlich fi xiert war und ihm die Entscheidungsbefug-
nis in allen wesentlichen Fragen sicherte (Rosenbaum 1982, S. 343).

6.3 Kinder und Kindererziehung

Kinder hatten als Arbeitskräfte in bürgerlichen Familien keine Relevanz. Ihre Er-
ziehung und Bildung vollzog sich, vom Erwerbsleben abgeschottet, im häuslichen
Umfeld und der Schule. Ihre Bedeutung resultierte nunmehr aus der Individuali-
sierung der Partnerwahl und ihrer dadurch bedingten Wertschätzung. Die stär-
kere Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung und die Notwendigkeit von
Bildung und Ausbildung (der Söhne) für bürgerliche Karrieren führten dazu, dass
Kinder innerhalb der Familie in eine zentrale Position rückten. Ihr Wohlergehen
und ihre Zukunftsplanung war eine die Eltern verbindende gemeinsame Aufgabe
(Habermas 2000). Selbst jene Familien, deren finanzielle Verhältnisse relativ be-
scheiden waren, investierten viel Geld in die Ausbildung ihrer Sprösslinge (Ro-
senbaum 1982, S. 364f.). Unterstützt wurde diese Entwicklung durch den Rück-
gang der Kinderzahlen. Bürgerliche Gruppen gehörten zu denen, die schon früh
versuchten, die Zahl der Geburten zu beschränken (Gestrich 2003, S.513ff.). Dazu
dürften die Rücksicht auf die Gesundheit der (geschätzten) Frau, aber auch die
hohen Bildungs- und Ausbildungskosten für die Kinder beigetragen haben.
Die Erziehung der Kinder oblag in erster Linie der Frau und Mutter, die, selbst
befreit von schwerer Arbeit und unterstützt von Personal, sich dieser Aufgabe nun
intensiv widmen konnte, dies umso mehr als der Mann und Vater die meiste Zeit
des Tages im Geschäft, Betrieb oder Büro verbrachte. Er blieb bei der Erziehung
der Kinder oft eine Randfigur, wurde gelegentlich sogar zum „Störenfried“ (Bud-
Familienformen im historischen Wandel 35

de 1994, S. 156ff.). Die Beziehung zur Mutter war häufig eng und innig, die zum
Vater meist weniger herzlich, wohl auch distanziert, zumal Zärtlichkeit sich in
dieser Zeit nicht mit Männlichkeit vertrug. Dies betraf in erster Linie die Söhne.
Die Beziehung der Töchter zum Vater war oft besser. Charakteristisch war die
Zuneigung der Kinder zum gegengeschlechtlichen Elternteil. Erstmals war jene
familiale Konstellation mit spezifisch emotionaler Aufladung entstanden, die von
Freud als ödipale Situation beschrieben und analysiert worden ist (Rosenbaum
1982, S. 300f.).
Die Anstrengungen der Eltern konzentrierten sich auf gute und teure Aus-
bildungen für die Söhne, die es ihnen ermöglichen sollten, mindestens den sozia-
len Status der Familie zu halten. In finanziell nicht sehr gut gestellten Familien
mussten die Töchter deshalb nicht selten zurückstecken. In jedem Fall erhielten
sie nur eine Ausbildung, die normalerweise nicht auf Erwerbstätigkeit und eine
selbständige Lebensführung zielte, sondern auf jene haushälterischen und Salon-
Fertigkeiten, die sie auf eine spätere Ehe vorbereiteten.
Großzügige Wohnverhältnisse, separate Räume für die einzelnen Familien-
mitglieder, aber auch Familien- und spezielle Gesellschaftsräume ermöglichten
den Rückzug und die Konzentration auf sich selbst und begünstigten die Ent-
wicklung von Individualität. Sie waren ebenso wie die gelebte Distanz zum Perso-
nal Voraussetzungen für die Entwicklung einer nach außen gegen die Sphäre des
Erwerbs, der Nachbarschaft, der Gemeinde abgegrenzte familiale Privatsphäre.

6.4 Fazit

Es hat sich gezeigt, dass für die Herausbildung der bürgerlichen Familie zwei
Bedingungen zentral gewesen sind: Dies war neben der Trennung zwischen Er-
werbs- und Familiensphäre vor allem eine gesicherte materielle Situation, die es
erlaubte, Frau und Kinder von der Erwerbsarbeit freizustellen und Zeit und Muße
für die Entwicklung persönlicher Beziehungen zu haben. Diese zweite Bedingung
wurde bei der Entstehung der neuen Ideen von Ehe und Familie nicht thematisiert
und auch später nicht erwähnt.11 Erst beides zusammen bildete jedoch das Fun-
dament, auf dem die personalen Beziehungen intensiviert und gepflegt werden
konnten. Das gilt für die Ehebeziehung ebenso wie für die zwischen Eltern und
Kindern. Wie sehr beides untrennbar zusammengehört, zeigt sich daran, dass in
jenen Familienformen, in denen bereits in der Vergangenheit Erwerbs- und Fami-

11 Das Bürgertum, so Gestrich (1999, S. 71) im Anschluss an Bourdieu (1987), sei so wohl-
habend, dass es den Einfluss des Ökonomischen leugnen konnte.
36 Heidi Rosenbaum

lienleben getrennte Bereiche waren wie beispielsweise bei der städtischen Unter-
schicht, die Kultivierung und Emotionalisierung der persönlichen Beziehungen
nicht stattfinden konnte, weil die Sorge um den Lebensunterhalt das beherrschen-
de Familienthema war. Das traf auch noch für die frühe proletarische Familie zu.
Das bürgerliche Familienmodell wurde erst seit Ende des 19., vor allem dann
im frühen 20. Jahrhundert für die Arbeiterschaft ebenso wie für das Kleinbür-
gertum und die entstehende Schicht der Angestellten hoch attraktiv (Rosenbaum
1992, S. 277ff.). Zumindest ansatzweise konnte es aber nur dort realisiert werden,
wo die Voraussetzungen stimmten. In der Arbeiterschaft war das erst dann der
Fall, als sich im späten Kaiserreich die ökonomische Situation bestimmter Grup-
pen qualifizierter Arbeiter verbesserte. Dort fielen die Bemühungen von Sozialde-
mokratie und bürgerlichen Organisationen um eine „Verbesserung“ der Orientie-
rungen und Verhaltensweisen der Arbeiterschaft im Privatleben auf fruchtbaren
Boden (Rosenbaum 1992, S. 249ff.).

7 Verbindungslinien zur Gegenwart

Betrachtet man die gegenwärtige Situation von Familien12 in Deutschland vor


dem Hintergrund der skizzierten historischen Entwicklung, wird deutlich, dass
noch mehr als in den vergangenen Jahrhunderten die Familien als Kleinfamilien
leben. Mehr-Generationen-Haushalte und andere komplexe Familienformen sind
nur in verschwindend geringer Zahl vorhanden. Die Generationen bevorzugen
das Leben in getrennten Haushalten (Rosenbaum und Timm 2008; Rosenbaum
2011). Das bürgerliche Familienmodell ist als Idee und größtenteils auch als Rea-
lität in allen Klassen und Schichten der Bevölkerung präsent. Im Laufe der Zeit
hat es sich allerdings verändert. Neben einer Abschwächung der patriarchalen
Struktur hat sich vor allem die Position von Frauen gewandelt. Für sie hat sich
die Familie geöff net: Töchter erhalten wie die Söhne Bildung und Ausbildung,
werden erwerbstätig und bleiben dies zunehmend auch dann, wenn sie kleine
Kinder haben (Pfau-Effinger 2000). Frauenarbeit ist im Laufe der Zeit überwie-
gend zu außerhäuslicher Erwerbsarbeit geworden, ohne dass die Arbeit im Haus
abgenommen hätte.
Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, dass durch die Trennung zwischen Fa-
milien- und Erwerbsleben Klassen- und Schichtzugehörigkeit, die bei den tra-
ditionellen Familienformen ins Auge springen, als bestimmende Faktoren der

12 Mit „Familie“ wird hier die zusammen in einem Haushalt lebende Gruppe aus einem
oder mehreren Erwachsenen mit Kind(ern) bezeichnet.
Familienformen im historischen Wandel 37

Lebens- und Familiensituation völlig obsolet geworden seien. Das zeigt sich be-
sonders prägnant am Beispiel der Partnerwahl. Auch die heute dominierende
„freie“ Partnerwahl wird von Wahrnehmungen und Orientierungen gesteuert,
denen die „Schicht- oder Klassenzugehörigkeit“ in Gestalt des „kulturellen Ka-
pitals“, also von „Bildung und Umgangsformen“, unterschwellig zugrunde liegt
(Gestrich 2003, S. 498). Auch dort, wo die Eltern den Kindern die Wahl ihres
Ehe- oder Lebenspartners überlassen, präformieren soziale und kulturelle Stan-
dards die Wahrnehmung des oder der Anderen und grenzen von vornherein be-
stimmte Gruppen von Menschen aus. Nicht mehr der materielle Besitz, sondern
der „immateriell“ erscheinende Habitus wird zum zentralen Kriterium. Daraus
erklärt sich die gegenwärtig immer noch frappierend starke soziale Homogamie
der Partnerwahl (Gestrich 2003, S. 503f.).
Zwei Merkmale, die die gegenwärtigen Familien mit den vergangenen teilen,
werden heute intensiv diskutiert. Zum einen ist dies die hohe Quote von Wie-
derverheiratungen oder neuen Partnerschaften, die komplexe Familien- und
Verwandtschaftsverhältnisse mit Stiefmüttern oder -vätern, Stiefk indern und
Halbgeschwistern, mehr als zwei Großelternpaaren nach sich ziehen (Steinbach
2008). Zum anderen handelt es sich um die vielen unverheiratet zusammenle-
benden Paare (Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit oder ohne Kinder), die
als „Nachfolger“ der „wilden Ehen“ aufgefasst werden könnten. Eine derartige
Kontinuität resultiert jedoch aus einer ausschließlich formalen Betrachtung. Tat-
sächlich funktionieren moderne Stieffamilien und Nichteheliche Lebensgemein-
schaften völlig anders als ihre historischen Vorläufer. Wiederverehelichungen auf
Grund von Verwitwung, die in der Vergangenheit wegen der vielen plötzlichen
Todesfälle auch bei jüngeren Erwachsenen häufig vorkamen, haben aus der Per-
spektive von Kindern eine andere Qualität als Wiederverehelichung nach Tren-
nung oder Scheidung der Eltern. Weil die Eltern-Kind-Beziehungen inzwischen
eine hohe emotionale Qualität haben, müssen Kinder, nunmehr damit fertig wer-
den, dass ein geliebter, noch lebender Elternteil sie verlässt. Für die betroffenen
Kinder können damit erhebliche Belastungen verbunden sein. Die „wilden“ Ehen
hingegen waren, anders als das heute verbreitete unverheiratete Zusammenleben
von Paaren, eine unfreiwillig gewählte, durch missliche Umstände oder Armut
erzwungene Familienform, in der die Betroffenen in steter Angst vor Entdeckung
gelebt haben. An ihnen wird besonders deutlich, wie sehr Ehe (und Familie) in
vergangenen Jahrhunderten ein Privileg gewesen ist. Das ist die Ehe inzwischen
nicht mehr. Viele Menschen sehen in ihr lediglich eine unnötige Formalität. Pri-
vilegiert wird die Ehe nur noch durch die Verfassung (Art.6 GG) und das Steuer-
recht. Es ist abzusehen, dass auch diese Zeiten sich dem Ende nähern.
38 Heidi Rosenbaum

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Diversität von Familie in Deutschland

Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

1 Einleitung

Familien in Deutschland haben vielfältige Erscheinungsformen. Für eine Ana-


lyse der Diversität von Familie gilt es entsprechend zunächst den Familienbegriff
abzugrenzen. Auff ällig ist, dass es keine einheitliche Definition des Begriffs „Fa-
milie“ gibt (Nave-Herz 2013, S. 34; Träger 2009, S. 18). Verschiedene Begriffsklä-
rungen weisen jedoch eine Überschneidung hinsichtlich der Reproduktions- und
Sozialisationsfunktion von Familie auf (Hill und Kopp 2013; Huinink und Ko-
nietzka 2007; Marbach 2008; Träger 2009). Dies bedeutet, dass innerhalb einer
Familie mindestens ein Kind vorhanden und damit eine Elternschaftsbeziehung
vorliegen muss. Damit ist gleichzeitig das Merkmal der Generationendifferen-
zierung innerhalb von Familien erfüllt. Denn nur über eine Differenzierung
zwischen Ein- und Zweigenerationenhaushalten lassen sich Veränderungen im
familialen Sektor analysieren (Wagner und Cifuentes 2014, S. 92). In der Vergan-
genheit war Familie weiterhin durch die Verbindung von biologischer und sozia-
ler Elternschaft geprägt (König 2002, S. 57; Nave-Herz 2012, S. 15). In der Gegen-
wart scheint sich diese strikte Verbindung von biologischer und sozialer Ebene
zu entkoppeln (Peuckert 2012, S. 404). Damit erweitert sich der Familienbegriff
über die Blutsverwandtschaft hinaus. Neben der klassischen Zwei-Eltern-Fami-
lie und der Ein-Eltern-Familie, welche biologische und soziale Elternschaft ver-
einen, können alternative Familienformen beobachtet werden, die ausschließlich
auf einer sozialen Elternrolle basieren oder bei denen die biologische Elternschaft
nur für einen Elternteil besteht. Neben Pflege-, Adoptiv- und Stieffamilien kann
dies auch auf „Inseminationsfamilien“ (Peuckert 2012, S. 389) zutreffen. Neuere

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
42 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

Entwicklungen in der Reproduktionsmedizin ermöglichen eine teilweise bis voll-


ständige Entkopplung von sozialer und biologischer Elternschaft. Der rechtliche
Rahmen für Deutschland gestattet bisher lediglich die Samenspende, sodass, rein
rechtlich gesehen, nur eine teilweise Entkopplung von biologischer und sozialer
Elternschaft möglich ist. Würden Ei- und Samenspende zusammenfallen, wäre
die resultierende Familie aus biologischer Perspektive mit einer Adoptionsfamilie
vergleichbar (Peuckert 2012, S. 401). Hauptursache für die Entkopplung sozialer
und biologischer Elternschaft stellt aber eher die zunehmende Zahl von Trennun-
gen und Scheidungen dar.
Für die Betrachtung der Diversität von Familie ist insbesondere die Lebens-
verlaufsperspektive relevant. Auf der einen Seite verweist die Individualisie-
rungsdebatte auf den Lebensverlauf, der offener und gestaltbarer geworden ist
(Beck-Gernsheim 1994, S. 136) und eine Aufweichung des traditionellen „Fami-
lienzyklus“ 1 mit sich gebracht hat (Klein 1999, S. 471). Partnerschafts- und Fa-
milienbiographien werden dadurch komplexer (Kreyenfeld und Konietzka 2012,
S. 234), denn ein und dieselbe Person kann verschiedene Partnerschafts- und Fa-
milienformen im Laufe ihres Lebens durchlaufen (Geissler 1996, S. 111). Auf der
anderen Seite stehen Familienformen in Bezug zu diversen Statusübergängen, die
häufig an ein bestimmtes Lebensalter gebunden sind (Lengerer und Klein 2007,
S. 434). Ausbildungszeiten verlängern sich, sodass Partnerschafts- und Familien-
gründung in ein höheres Alter aufgeschoben werden (Peuckert 2012, S. 231). Mit
fortschreitendem Lebensverlauf werden damit Familienbiografien komplexer,
wenn man mögliche Trennungen, Neu-Verpartnerungen und Familienerweite-
rungen einbezieht.
Neben der biologisch-sozialen Komponente und der Lebensverlaufsperspek-
tive ist der Familienbegriff zusätzlich durch eine räumliche Dimension geprägt.
Familie lässt sich zum einen als soziale Gruppe definieren, die in einem Haus-
halt zusammen lebt (Huinink und Konietzka 2007, S. 25). Zum anderen existieren
Familienstrukturen, die sich durch enge Verwandtschaftsbeziehungen und über
Haushaltsgrenzen hinweg definieren (Verwandtschaftsfamilie). Der hier vorlie-
gende Beitrag nähert sich dem komplexen Begriff „Familie“ über die Existenz von
(minderjährigen) Kindern auf Haushaltsebene an. Familie ist da, wo mindestens
ein Kind im Haushalt lebt und ein Elternschaftsverhältnis besteht (Huinink und
Konietzka 2007, S. 31; Klein 1999, S. 470). Frühere Definitionsversuche haben
neben Kindern als Voraussetzung von Familie auch eine gemeinsame Haushalts-

1 Der „Familienzyklus“ mit seinen unterschiedlichen Phasen stellt einen zentralen As-
pekt der Lebensverlaufsforschung in der Familiensoziologie dar. Für eine ausführliche
Darstellung dieses Konzepts siehe Glick (1947).
Diversität von Familie in Deutschland 43

führung sowie eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Frau und Mann her-
angezogen (Hill und Kopp 2013, S. 10). Abbildung 1 verdeutlicht, dass heutige Fa-
milienformen vielfältiger sind und über die klassische Form Vater-Mutter-Kind
(Kernfamilie) hinausgehen.

Abbildung 1 Abgrenzung des Familienbegriffs auf Basis der Haushaltsebene

Quelle: Krieger und Weinmann (2008, S. 27)

Die Existenz von Kindern als zentrales Merkmal von Familie heranzuziehen,
erlaubt es, sowohl alleinerziehende Elternteile als auch homosexuelle Partner-
schaften, die ein Kind aufziehen, zu berücksichtigen. Paare und Alleinstehende
ohne Kinder werden nicht als Familie definiert, da kein Elternschaftsverhältnis
im Haushalt vorliegt. Die Elternschaftsbeziehung bildet aus unserer Sicht die
zentrale Perspektive, um Familienformen schlüssig zu systematisieren. Eine El-
ternschaftsbeziehung charakterisiert die soziale Beziehung zwischen Elternteil
und Kind, die auf biologischer Abstammung beruhen kann, aber nicht zwingend
muss (Adoption, Pflegekindschaft) (Huinink und Konietzka 2007, S. 31). Damit
können auch Familienformen berücksichtigt werden, die teilweise oder vollstän-
dig auf sozialer Elternschaft beruhen (Stief- bzw. Adoptionsfamilien). Dennoch
weist die Betrachtung der Haushaltsperspektive, wie sie auch in der amtlichen
Statistik verwendet wird, einige Schwächen auf. Haushaltsübergreifende Fami-
44 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

lienformen, die beispielsweise in Folge von Trennung entstehen, können in ihrer


Komplexität nicht angemessen abgebildet werden (Feldhaus und Huinink 2011,
S. 78; Huinink und Konietzka 2007, S. 36). Der Fokus beruht immer auf dem
Haushalt, in dem das Kind (die meiste Zeit) lebt. Hält sich ein Kind die meiste
Zeit im Haushalt der Mutter auf und ist nur zeitweise beim Vater, wird die Fa-
milie im Haushalt der Mutter verortet.2 Der Vater würde in diesem Fall unter
den Begriff „Verwandtschaftsbeziehungen“ fallen und nicht direkt berücksichtigt.
Damit scheinen Familienformen weniger einem Definitions- als einem empiri-
schen Operationalisierungsproblem zu unterliegen. In der Konsequenz liegt die-
sem Beitrag ein weiter Familienbegriff zugrunde, der sich an den Dimensionen
Elternschaft und Partnerschaftsform orientiert, wie Abbildung 1 dokumentiert,
und sich der Familie damit aus „forschungspragmatischer Sicht“ (Marbach 2008,
S. 22) nähert.3
Dieser Beitrag befasst sich mit der Diversität vorhandener Familienformen in
Deutschland. Nachdem die für diese Arbeit geltende Definition des Familienbe-
griffs im vorangegangenen Abschnitt 1 dargestellt wurde, gibt Abschnitt 2 einen
Überblick über die wichtigsten Argumente der Individualisierungs- und Plurali-
sierungsdebatte und zeigt auf, inwiefern diese Thesen für Deutschland zutreffen.
Im Anschluss daran wird in Abschnitt 3 auf die Entwicklung der Familienstruk-
turen eingegangen. Dabei werden zuerst verfügbare Datensätze vorgestellt, die
sich für die Analyse der Verteilung von Familienformen eignen (Abschnitt 3.1). In
einem weiteren Schritt werden dann die vorhanden Familienformen vorgestellt,
definiert und mit empirischen Ergebnissen der vorhandenen Forschungsliteratur
zu Häufigkeit, Anzahl der Kinder im Haushalt und der Erwerbsbeteiligung der
Elternteile beschrieben (Abschnitt 3.2). Der Beitrag endet mit einer Zusammen-
fassung der wichtigsten Erkenntnisse zur Diversität von Familie in Deutschland

2 Beim Wechselmodell – eine Lebens- und Betreuungsform von Kindern, in der sich die
getrennt lebenden Eltern abwechselnd um die Kinder kümmern – ist die Zuordnung
der Kinder zu einem Haushalt allerdings nicht mehr so einfach möglich, da die Kinder
zu einem substantiellen Anteil bei beiden Elternteilen leben (Sünderhauf 2013, S. 61).
Diese Form der Betreuung ist, anders als ein gemeinsames Sorge- oder Umgangsrecht,
an einer gleichberechtigten und gleichverpflichtenden Betreuung der Kinder orien-
tiert. Damit müssten eigentlich auch beide Haushalte der Eltern als Familienhaushalte
erfasst werden. Da das Wechselmodell jedoch noch relativ selten in Deutschland ist
(Sünderhauf 2013, S. 198), bleibt es hier zunächst unberücksichtigt.
3 Eine ausführlichere Diskussion zur wissenschaftlichen Bedeutung und theoretischem
Gehalt des Familienbegriffs findet sich unter anderem in Marbach (2008) und eine
familienpsychologische Perspektive bei Schneewind (2010).
Diversität von Familie in Deutschland 45

und gibt einen Ausblick auf mögliche zukünft ige Entwicklungen im Bereich der
Familienformen (Abschnitt 4).

2 Die Individualisierungs- und Pluralisierungsdebatte


in Deutschland

Vor dem Hintergrund von Individualisierung (Beck 1986, 1990; Beck und Beck-
Gernsheim 1990) und Pluralisierung wird in den letzten Jahren in der Bundes-
republik eine angeregte Debatte zum Wandel von Lebens- und Familienformen
geführt. Die Individualisierungsthese rückt allgemeine gesellschaft liche Ent-
wicklungen und ihre Konsequenzen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die In-
dividualisierung einzelner Lebensbereiche wird als Folge einer fortschreitenden
Modernisierung gesehen. Familien werden dabei als Beispiel für diese Entwick-
lungen herangezogen, da sie soziale Beziehungen repräsentieren (Hill und Kopp
2013, S. 261, 266); es werden aber auch andere Lebensbereiche beeinflusst. Aus-
gangspunkt der Debatte um die Individualisierung ist die Auflösung von norma-
tiv geprägten, sozialen Strukturen (Beck-Gernsheim 1994, S. 136; Brüderl 2004,
S. 7). Der Modernisierungsprozess sorgt dafür, dass Personen nun eigenständig
handelnde Akteure sind, aber gleichzeitig auch die Verantwortung des Einzelnen
für die angemessene „Biografisierung des eigenen Handelns“ (Huinink und Ko-
nietzka 2007, S. 106) steigt. In der Vergangenheit haben normative und institutio-
nelle Bindungen die Handlungsoptionen des Einzelnen stark beschränkt, heute
bestimmen und regulieren andere Zwänge, wie die des Arbeitsmarktes, das Leben
des Einzelnen. Als Folge der individualisierten Lebensumstände und gestiegenen
Gestaltungsmöglichkeiten hat sich dabei vor allem die Biografie von Frauen ver-
ändert (Hill und Kopp 2013, S. 265; Nave-Herz 2010, S. 40). Durch das Ablegen
traditioneller Rollenmuster und Abhängigkeitsverhältnisse gehen auf der einen
Seite soziale Sicherheiten verloren (Huinink und Konietzka 2007, S. 107). Auf der
anderen Seite stehen Veränderungen im Bildungs- und Qualifi kationsniveau (Bil-
dungsexpansion), die eine verstärkte Erwerbsbeteiligung von Frauen befördern
und so ihre finanzielle Unabhängigkeit ermöglichen (Brüderl und Klein 2003,
S. 210; Hill und Kopp 2013, S. 265).
Mit steigendem Wohlstand gehen außerdem demografische Entwicklungen
wie sinkende Heirats- und Geburtenziffern sowie steigende Scheidungshäufig-
keiten einher, die verstärkt zu Abweichungen vom institutionellen Lebenslauf
und damit zu mehr Vielfalt bei den Verlaufsmustern im Bereich Familie führen
(Brüderl 2004, S. 8; Huinink und Konietzka 2007, S. 107). Gleichzeitig geht mit
der Individualisierungsthese eine Diskussion um die Aufgabe des theoretischen
46 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

Konstruktes „Familie“ einher, welche zugleich die Pluralität von Familienfor-


men unterstreicht (Nave-Herz 2010, S. 41). Die Diskrepanz zwischen dem Stre-
ben nach Selbstverwirklichung und dem Wunsch nach persönlichen (familialen)
Bindungen impliziert einen Bedeutungsverlust von Familie in der Gegenwartsge-
sellschaft (Kreyenfeld und Konietzka 2012, S. 234; Nave-Herz 2010, S. 40). Diese
Entwicklungen können damit als Grundlage der Debatte zur Pluralisierung von
Familien- und Lebensformen gesehen werden.
Die Pluralisierungsdebatte postuliert zwei unterschiedliche Thesen: Einerseits
wird von einer Zunahme der zu beobachtenden Lebensformen gesprochen, d.h.
es wird davon ausgegangen, dass die Vielfalt tatsächlich zugenommen hat und
neue Lebensformen entstanden sind (Brüderl 2004). Andererseits wird eine Ver-
schiebung der Anteile vorhandener Lebensformen diskutiert (Klein 1999; Nave-
Herz 2010). Dies bedeutet, dass nicht die Anzahl an Formen zugenommen hat,
sondern lediglich die Anteile bereits vorhandener Lebensformen gewachsen oder
geschrumpft sind und dementsprechend deren gesellschaft liche Wahrnehmung,
auch wenn von einer Gleichverteilung noch lange nicht gesprochen werden kann.
Empirische Untersuchungen der 1990er Jahre sehen Pluralisierungstenden-
zen vorrangig im Bereich nicht-familialer Lebensformen; familiale Lebensfor-
men unterliegen hingegen eher starren Strukturen (Nave-Herz 1997; Strohmeier
1993). Zusätzlich wird von einem Bedeutungsverlust der Familie gesprochen, der
sich auch in schrumpfenden Anteilen familialer im Vergleich zu nicht-familia-
len Lebensformen widerspiegelt. In einer Querschnittsbetrachtung der Haushalte
scheint dies zuzutreffen. So sind die Anteile von Ein- und Zweipersonenhaushal-
ten im Zeitverlauf von 1990 bis 2005 deutlich angestiegen (Dorbritz et al. 2008,
S. 62). Gleiches gilt für die Zahl der Alleinstehenden zwischen den Jahren 1996
und 2006 (Krieger und Weinmann 2008, S. 31). Diese Entwicklung könnte da-
hingehend interpretiert werden, dass gegenwärtig weniger Familien gegründet
werden (Nave-Herz 2010, S. 43). Mit Blick auf den oben erwähnten „Familien-
zyklus“ und damit auf die Lebensverlaufsperspektive lässt sich diese „Schrump-
fung“ der Mehrpersonenhaushalte auch anders deuten. Untersuchungen zeigen,
dass die Familiengründung in Deutschland nicht aufgehoben, sondern eher auf-
geschoben wird. Frauen und Männer gründen zu einem späteren Zeitpunkt im
Lebensverlauf, aber doch immer noch überwiegend, eine Familie, auch wenn
die Anteile Kinderloser über die letzten Jahrzehnte angestiegen sind (Dorbritz
und Ruckdeschel 2007; Kreyenfeld und Konietzka 2007; Ruckdeschel und Nade-
ri 2009). Durch die Zurückstellung der Familiengründung entsteht eine Phase,
in der junge Menschen allein oder als Nichteheliche Lebensgemeinschaften in
Zweipersonenhaushalten leben, die statistisch zu einem Anstieg dieser Haushalte
führen (Dorbritz et al. 2008, S. 62; Nave-Herz 2010, S. 43). Zur Erhöhung der
Diversität von Familie in Deutschland 47

Zweipersonenhaushalte trägt ebenso die Zunahme der Lebenserwartung bei, wel-


che eine verlängerte „nachelterliche Phase“ begünstigt (Nave-Herz 2010, S. 44).
Die Anzahl an Familienhaushalten (mit minderjährigen Kindern) ist deshalb in
den letzten Jahren, vor allem in Ostdeutschland deutlich zurückgegangen (Dor-
britz et al. 2008, S. 63; Krieger und Weinmann 2008, S. 33), dennoch gründet
die überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Personen im Verlauf
ihres Lebens eine Familie (Nave-Herz 2010, S. 45). Das Aufschieben bestimmter
Übergänge trifft nicht nur auf die Familiengründung zu. Da Eheschließungen in
der persönlichen Beziehungsbiographie später stattfi nden, entstehen vor allem in
den neuen Bundesländern mehr Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kind.
Diese Entwicklungen unterstreichen eher eine Verschiebung der Anteile von Fa-
milienformen als eine Zunahme der Vielfalt (Wagner und Cifuentes 2014, S. 90).
In Bezug auf die Pluralisierungsdebatte gilt es, zwischen verschiedenen Le-
bensformen – im vorliegenden Beitrag begrenzen wir uns auf die Familienformen
– zu differenzieren. Dabei wird deutlich, dass die Zwei-Eltern-Kind-Familie, der
eine biologische Elternschaft zugrunde liegt, im Vergleich zu Alleinerziehenden-,
Stief-, Adoptions- und Pflegefamilien dominant ist. Rund 72 Prozent der Haus-
halte mit Kindern unter 18 Jahren stellen Kernfamilien dar (Steinbach 2008, S.
165). Darüber hinaus leben gut 75 Prozent der Kinder unter 18 Jahren mit ihren
beiden leiblichen Eltern zusammen (Steinbach 2008, S. 170).
Die Debatte zur Pluralisierung wird weiterhin um den Aspekt des zeitlichen
Referenzrahmens ergänzt. Eine Beurteilung der Veränderung von Anteilen hängt
stark vom historischen Vergleichspunkt ab (Nave-Herz 2010, S. 48). Befürworter
der Pluralisierungsthese orientieren sich an den Entwicklungen der 1960er und
1970er Jahre. Ein Zeitrahmen, der besonders viele Ehen, wenige Scheidungen,
relativ hohe Kinderzahlen hervorbrachte und in dem Nichteheliche Lebensge-
meinschaften wenig verbreitet waren (Nave-Herz 2010, S. 47). Zu anderen Zeit-
punkten in der Geschichte, wie der vorindustriellen Phase, waren die Anteile von
Alleinerziehenden-, Stief-, Adoptions- und Pflegefamilien stärker besetzt, auch
wenn die Entstehungsgründe andere waren (Nave-Herz 2010, S. 47). Während
gegenwärtig eher Trennungen und Scheidungen Ursache für eine Vielzahl von
Familienformen sind, waren es in vorindustrieller Zeit eher Verwitwungen und
außereheliche Geburten (Nave-Herz 2010, S. 48; Peuckert 2012, S. 382; Schwarz
1995, S. 274). Alleinerziehende waren vor allem in der Nachkriegszeit (Kriegs-
witwen), den 1950er Jahren, weit verbreitet und stellen damit auch keine neue
Familienform dar (Bach 2002, S. 83ff.; Bertram 2002, S. 524; Peuckert 2012, S.
345). Ähnliches gilt für Stieffamilien, die nur eingeschränkt als neue Familien-
form bewertet werden können. Ihr Anteil an allen Familienformen scheint über
48 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

die letzten Jahre jedoch infolge gehäuft auft retender Trennungen und Scheidun-
gen gewachsen zu sein.
Als eigentlich einzig neue Familienform können gleichgeschlechtliche Lebens-
gemeinschaften mit Kindern angesehen werden. Diese Gruppe ist jedoch recht
klein. Laut Daten des deutschen Mikrozensus aus dem Jahr 2008 leben lediglich
7.200 Kinder in Haushalten mit gleichgeschlechtlichen Partnern (Eggen und
Rupp 2010, S. 27). Trotz ihres geringen Anteils wird diese Familienform mitt-
lerweile gesellschaft lich akzeptiert sowie rechtlich gestärkt und hat damit in der
Öffentlichkeit eine größere Sichtbarkeit erlangt (Eggen und Rupp 2010, S. 34).
Die Pluralisierungsdebatte kann auch aus einem anderen Blickwinkel betrach-
tet werden. Ein Beitrag von Huinink (2011) sieht die Veränderungen im Bereich
Familie weniger aus Perspektive der Individualisierung und dem damit verbun-
denen Bedeutungsverlust von Familie. Er interpretiert die Veränderungen als an-
gepasste Handlungsstrategien von Familien und ihren Mitgliedern, um familiale
Strukturen – auch vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen – zu
gewährleisten (Huinink 2011, S. 29). Familien haben demnach lediglich ihre All-
tagsorganisation an eine spätmoderne Gesellschaft angepasst. Um den gegenwär-
tigen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es möglichst flexibler Reaktions-
muster und Organisationsformen, auch wenn diese, im Vergleich zur klassischen
Organisationsform von Familie, prekärer ausfallen (Kreyenfeld und Konietzka
2012, S. 235). Ziel der Alltagsorganisation ist es, befriedigende Familienbeziehun-
gen aufrecht zu erhalten, indem Umwelteinflüsse zielgerichtet reguliert werden.
Die unterschiedlichen Strategien, Familienstrukturen aufrecht zu erhalten, füh-
ren dann auf Makroebene zu einer messbaren Diversifizierung von Familienfor-
men (Huinink 2011, S. 24). Unterstrichen wird damit der unveränderte Wunsch
nach Familie, Partnerschaft und Kindern (Kreyenfeld und Konietzka 2012, S. 235;
Kuhnt 2013, S. 374; Kuhnt und Trappe 2013, S. 21).
Die angeführten Thesen zur Pluralisierung, Zunahme der Vielfalt und Ver-
schiebung der Anteile vorhandener Lebensformen, treffen also beide zu, jedoch
in unterschiedlichem Ausmaß. Abhängig vom zeitlichen Referenzrahmen haben
sich die Anteile vorhandener Familienformen verändert. Eine Veränderung der
Anteile lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass eine Zunahme der familiären Viel-
falt stattgefunden hat. Gegenwärtig ist noch immer die Zwei-Eltern-Kind-Familie
die am weitesten verbreitete Familienform. Eine Zunahme der Vielfalt kann des-
halb nur eingeschränkt bestätigt werden. In Deutschland scheinen nur homo-
sexuelle Paare mit Kind als neue Familienform entstanden zu sein, auch wenn
sie quantitativ einen äußerst geringen Anteil ausmachen. Damit kann weder die
Diversität von Familie in Deutschland 49

These zum Bedeutungsverlust von Familie, noch die These zur Pluralisierung der
Familienformen zweifelsfrei überzeugen (Bertram 2002, S. 524).4

3 Entwicklung der Familienstrukturen in Deutschland

3.1 Verfügbare Datensätze für die Analyse der Verteilung


von Familienformen in Deutschland

Daten, welche die Identifi kation verschiedener Familienformen in Deutschland


erlauben, sind sehr begrenzt. Dies liegt vorrangig an den komplexen Strukturen
nicht-konventioneller Familien und dem damit verbundenen Informationsbe-
darf, der adäquaten Daten zugrunde liegen muss (Feldhaus und Huinink 2011,
S. 81; Steinbach 2008, S. 155). Um Familienformen sicher bestimmen zu können,
müsste die vollständige Partnerschafs- und Fertilitätsbiografie eines Individu-
ums vorliegen. Dies würde Informationen zum Kohabitationsstatus, Familien-
stand und dem Zusammenwohnen mit leiblichen und nicht leiblichen Kindern
erfordern. Selbst aufwendige Matching-Verfahren von Fertilitäts- und Partner-
biografien erlauben nicht immer eine zweifelsfreie Zuordnung von Kindern zu
den angegebenen Partnern (Klein 2003, S. 509) Die Anforderungen an das Daten-
material sind entsprechend umfassend und gegenwärtig verfügbare Datensätze
weisen eine Vielzahl von Defiziten auf. Grundsätzlich kann zwischen amtlichen
Daten und Survey-Daten differenziert werden.
Der Mikrozensus bietet die einzige Möglichkeit mit amtlichen Daten Familien-
formen zu identifizieren. Trotz Umstellung auf das Lebensformenkonzept im Jahr
1996 und der damit einhergehenden Verbesserung des Analysepotentials (Lenge-
rer et al. 2005, S. 34ff.), ist eine differenzierte Erfassung von Familienformen noch
immer problematisch (Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012, S. 8). Zum einen
bleibt unklar, ob ein Kind, das im Haushalt lebt, ein leibliches, Stief-, Pflege- oder
Adoptionskind ist (Lengerer et al. 2005, S. 5). Zum anderen werden Kinder, die
nicht (mehr) im Haushalt leben, im Mikrozensus gar nicht berücksichtigt, da es
sich um eine Haushaltsstichprobe handelt (Bayer und Bauereiss 2003, S. 286; Len-
gerer und Klein 2007, S. 435). Darüber hinaus können keine vollständigen Fertili-
tätsbiographien erstellt werden, da retrospektive Informationen fehlen (Feldhaus

4 Auch wenn sich die Pluralisierung der Familienformen nicht eindeutig bestätigen lässt,
finden sich empirische Belege für die Diversifizierung von Lebensformen ohne Kind.
Detailliertere Ausführungen dazu findet sich unter anderem bei Brüderl (2004), Wag-
ner (2008), Brüderl und Klein (2003) sowie Hill und Kopp (2013).
50 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

und Huinink 2011, S. 81). Die Erfassung der Gesamtkinderzahl von Frauen und
Männern, und damit auch von Kinderlosigkeit, ist somit nicht möglich (Kreyen-
feld und Huinink 2003, S. 45; Kreyenfeld et al. 2009, S. 278; Lengerer et al. 2005, S.
34). Weiterführend sind Aussagen zu Stieffamilien nur auf Basis von Schätzungen
möglich (Steinbach 2008, S. 155). Allerdings können mit dem Mikrozensus (mit
einigen Einschränkungen) auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kind
erfasst werden. In einem zusätzlichen Schritt wird seit 2006 bei der Erfassung von
Lebensgemeinschaften auch nach eingetragenen Partnerschaften gefragt (Eggen
und Rupp 2010, S. 25).
Neben den amtlichen Daten existieren eine Reihe Survey-Daten, die in unter-
schiedlichem Maße für die Analyse von Familienstrukturen geeignet scheinen.
Eine Datenquelle, welche regelmäßig zur Analyse von Lebens- und Familien-
formen herangezogen wird, ist der DJI-Familiensurvey. Insgesamt stehen drei
Wellen dieses Surveys aus den Jahren 1988, 1994 und 2000 zur Verfügung. Das
DJI-Familiensurvey setzt sich aus einer Querschnittskomponente (replikative
Stichprobe) und einer Panelstichprobe für die alten Bundesländer zusammen
(Infratest 2000, S. 4ff.). Der Familiensurvey erhebt detaillierte Informationen
zu allen Kindern, also auch zu denen, die bereits nicht mehr im Haushalt leben
(Kreyenfeld und Huinink 2003, S. 47). Es wird erfasst, ob Kinder leibliche, Stief-,
Pflege- oder Adoptivkinder (des aktuellen Partners) sind, wenn diese gegenwärtig
im Haushalt leben oder einmal dort gelebt haben. Kinder des aktuellen Partners,
die nie im Haushalt gelebt haben, werden jedoch in diesem Survey nicht berück-
sichtigt. Informationen zum externen Elternteil des im Haushalt lebenden Kindes
fehlen ebenfalls, weswegen keine Analysen zu sekundären Stieffamilien mit die-
sen Daten vorgenommen werden können bzw. diese Familienform im DJI-Fami-
liensurvey unterschätzt wird (Feldhaus und Huinink 2011, S. 82; Steinbach 2008,
S. 155). Als Weiterführung des DJI-Familiensurveys existiert inzwischen das inte-
grierte Survey Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A) des Deutschen
Jugendinstituts, welches die bisherigen Studien – Familiensurvey, Jugendsurvey,
Kinderpanel und Kinderbetreuungsstudie – zusammenfasst (Rauschenbach und
Bien 2012). Im Fokus steht die gesamte Phase des Aufwachsens von Kindern und
Jugendlichen im Kontext ihrer Familien und deren Haushalte. Dabei handelt es
sich jedoch nicht um eine individuell-biographische Perspektive und auch nicht
um einen individuellen Längsschnitt (Rauschenbach und Bien 2012, S. 14). Durch
die Informationen zu den Partnerschafts- und Kindschaftsverhältnissen können
jedoch im Querschnitt konventionelle und nicht-konventionelle Familienformen
bestimmt werden.
Diversität von Familie in Deutschland 51

Der Generations- and Gender-Survey (GGS) aus den Jahren 2005 und 2009/10
stellt eine weitere Option dar, Familienformen in Deutschland zu analysieren.5
In diesem Datensatz werden alle im Haushalt lebenden Personen und deren Be-
ziehungen zueinander erhoben. Dies beinhaltet auch die Information über den
Elternschaftsstatus. Es wird unterschieden, ob Kinder biologische Kinder des ak-
tuellen Partners der Ankerperson im Haushalt oder aber biologische Kinder eines
früheren Partners sind (Feldhaus und Huinink 2011, S. 82). Durch die differen-
zierte Erfassung der Beziehung des Kindes zur Ankerperson (leibliches Kind eines
früheren Partners bzw. Stiefk ind) können auch Stieffamilien korrekt bestimmt
werden (Steinbach 2008, S. 163). Darüber hinaus werden im GGS die Kinder der
Ankerpersonen und ihrer aktuellen Partner erfasst, die nicht mehr im gemein-
samen Haushalt leben (Ruckdeschel et al. 2006, S. 11). Dies ermöglicht die Be-
stimmung von Familien, in denen Erwachsene Kinder aus früheren Beziehungen
haben, die sich jedoch nicht überwiegend im aktuellen Haushalt aufhalten (Stein-
bach 2008, S. 173).6 Eine Bestimmung dieser Familienform ist mit den Daten des
Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) nicht möglich (Feldhaus und Huinink 2011, S.
83). Im SOEP werden zwar die Kinder des Haushaltsvorstandes und anderer im
Haushalt lebender Personen erfragt, unabhängig davon, ob diese Kinder noch im
Haushalt leben. Da für den Haushaltsvorstand jedoch keine vollständige Partner-
schaftsbiographie vorliegt, ist eine eindeutige Zuordnung aller Kinder (die nicht
mehr im Haushalt leben) nicht möglich. Durch den Längsschnittcharakter des
SOEP und die lange Laufzeit des Panels können mittlerweile allerdings Phasen
des Alleinerziehens und das Zusammenlebens in Stieffamilien bestimmt werden.
Familienformen lassen sich ebenfalls auf Basis der Daten der Deutschen Le-
bensverlaufsstudie ermitteln, die seit 1983 erhoben wird. Im Rahmen der Lebens-
verlaufsstudie, welche den Fokus auf Bildungs- und Arbeitsverläufe legt, werden
u.a. die Partnerschafts- und Familienbiographien verschiedener Geburtskohor-
ten in Ost- und Westdeutschland erhoben (Solga 1996, S. 30; Wagner 1996, S.
23). Die Erfassung der Daten erfolgte dabei retrospektiv. Ein weiteres aktuelles
Panel, welches ebenfalls die Analyse verschiedener Familienformen ermöglicht,
ist das Beziehungs- und Familienpanel (pairfam), welches seit 2008/09 jährlich
durchgeführt wird (Huinink et al. 2011). Es bietet eine differenzierte Erfassung

5 Der GGS ist die Weiterführung des Family and Fertility Survey (FFS) aus dem Jahr
1992. Da diese Daten aufgrund des weit zurückliegenden Erhebungszeitraums weniger
aktuell sind, werden sie an dieser Stelle nicht genauer vorgestellt.
6 Es liegen für den deutschen GGS einige methodische Probleme hinsichtlich der Erfas-
sung der Fertilitätsbiographien vor, die bei Kreyenfeld et al. (2013) kritisch reflektiert
werden.
52 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

der Partnerschafts- und Kindschaftsbiographien. Dies bedeutet, dass Angaben


zu Partnerschafts-, Kohabitations- und Familienstatus vorliegen, ebenso wie An-
gaben über leibliche, nicht im Haushalt wohnende Elternteile der Kinder eines
Befragten. Dies ermöglicht eine differenzierte Darstellung von Familienformen
und -verläufen (Feldhaus und Huinink 2011, S. 85). Einschränkend muss hier
hinzugefügt werden, dass nur drei Geburtskohorten (1971-73, 1981-83 und 1991-
93) betrachtet werden, sodass keine Repräsentativität für alle Altersgruppen in
Deutschland vorliegt.
Die Zusammenschau der potentiell zur Verfügung stehenden Datensätze ver-
deutlicht, dass mit amtlichen Daten nur begrenzt Analysen – gerade zu nicht-
konventionellen Familienformen wie Stieffamilien – möglich sind. Repräsentative
Survey-Daten bieten dagegen eine differenziertere Erfassung der Kindschaftsver-
hältnisse und erlauben so die Identifizierung relativ komplexerer Familienformen.
Da diesen Studien unterschiedliche Stichproben zugrunde liegen, können zwar
Anteile der einzelnen Familienformen ermittelt werden (Feldhaus und Huinink
2011, S. 84; Steinbach 2008, S. 166), aber ein direkter Vergleich der Ergebnisse ist
nur eingeschränkt möglich. Ursache dafür können u.a. unterschiedliche Alters-
stufen oder Kohortenspannen des jeweiligen Samples sein. Ein perspektivischer
Blick in die Zukunft lässt erahnen, dass Survey-Daten mit Längsschnittcharakter
(SOEP, pairfam, GGS) zu einem weiteren Wissensgewinn über den Verlauf von
Familienbiographien und den damit verbundenen Phasen des Zusammenlebens
in unterschiedlichen Familienformen beitragen werden. Mit fortschreitender
Laufzeit der Surveys könnten bestimmte Verlaufsmuster (so denn vorhanden)
deutlicher hervortreten.

3.2 Familienformen in Deutschland

Welche Familienformen können wir nun identifizieren, wenn wir das Zusam-
menleben mit Kindern in Deutschland betrachten? Eine erste Differenzierung
kann zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Familienformen
vorgenommen werden. Als konventionelle Familienform wird die (1) klassische
Form des Zusammenlebens als Familie, bestehend aus Frau und Mann mit min-
destens einem gemeinsamen, leiblichen Kind, verstanden (Kernfamilie). Nicht-
konventionelle Familienformen wie (2) Alleinerziehende, (3) Stieffamilien, (4)
Adoptiv- und Pflegefamilien und (5) gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern),
stellen alle anderen Formen familialen Zusammenlebens dar. Im Folgenden
werden die einzelnen Familienformen genauer betrachtet und die Angaben zu
deren Verbreitung in Deutschland zusammengefasst. Um die Verteilungen der
Diversität von Familie in Deutschland 53

einzelnen aufgeführten Familienformen anschaulich zu gestalten, wurden die Er-


gebnisse verschiedener Studien in Tabelle 1 zusammengetragen. Grundlage der
Übersichtstabelle sind Studien, welche Familien auf Basis des Zusammenlebens
mit Kindern unter 18 Jahren in einem Haushalt definieren.

Tabelle 1 Verteilung von Familienformen (Haushaltsebene, Kinder unter 18 Jahren),


Angaben in Prozent*

Familienformen
Adoptiv- Gleichge-
Allein-
Kern- Stief- und schlechtliche
Studien erzie-
familien familien Pflege- Paare mit
hende
familien Kind
Teubner (2002b),
– – 7,0 – –
Familiensurvey
Steinbach (2008),
71,5 14,8 13,6 0,1 –
GGS
Kreyenfeld und Heintz-
75,0 11,0 14,0 – –
Martin (2012), GGS
Feldhaus und Huinink
73,4 8,5 17,62 1,13 –
(2011), pairfam1
Kreyenfeld und Konietzka
78,5 9,8 12,0 – –
(2012), pairfam4
Kreyenfeld und Heintz-
81,0 10,0 9,0 –
Martin (2012), pairfam
Kreyenfeld und Heintz-
79,0 10,0 11,0 – –
Martin (2012), AID:A
Eggen und Rupp (2010),
– – – – <0,05
Mikrozensus

* Da nicht alle Studien ihre Analysen auf Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren begren-
zen, stellt diese Tabelle nur eine Auswahl verfügbarer Studien zum Thema Familienfor-
men und ihrer Verteilung in Deutschland dar. Die hier aufgeführten Angaben basieren
teilweise auf gewichteten Daten, was ggf. zu einer Einschränkung des Vergleichs der
Anteile führen kann.
1
Es wurden die Ergebnisse der Geburtskohorten 1981-83 sowie 1971-73 zusammen-
addiert.
2
Stieffamilien und Patchworkfamilien wurden hier zusammengezogen, da unserer
Ansicht nach Patchworkfamilien ein Bestandteil von Stieffamilien sind.
54 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

3
Adoptiv- und Pflegefamilien werden im Beitrag von Feldhaus und Huinink (2011) nicht
extra ausgewiesen sondern unter „Sonstiges“ geführt.
4
Die Berechnung der Familienformen basiert auf Ergebnissen der Kohorte 1971-73,
weshalb Abweichungen zu den Ergebnissen von Feldhaus und Huinink (2011) fest-
zustellen sind, die ebenfalls auf den Daten von pairfam basieren, aber zusätzlich die
Kohorte 1981-83 heranziehen.

Kernfamilien

Als Kernfamilie wird in der Familiensoziologie eine Konstellation bezeichnet,


in der Mutter und Vater mit ihren gemeinsamen, leiblichen Kindern in einem
Haushalt leben, also die konventionelle Familienform abbilden. Dabei spielt der
Partnerschaftsstatus – ob verheiratet oder nicht – mittlerweile eine untergeord-
nete Rolle. Neben der Begriffl ichkeit „Kernfamilie“ finden sich häufig auch die
Bezeichnungen Normal- oder Gattenfamilie (Peuckert 2012, S. 20). Mit diesen
beiden Begriffen wird über den Umstand des Zusammenlebens mit leiblichen
Kindern hinaus auch ein Familienleben mit lebenslanger, monogamer Ehe und
dem Mann als Haupternährer assoziiert. Wegen der normativ geringeren Belas-
tung, geben wir dem Begriff Kernfamilien hier den Vorzug. Darüber hinaus hat
er sich in verschiedenen aktuellen Veröffentlichungen zum Thema durchgesetzt
(z.B. Feldhaus und Huinink 2011; Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012; Kreyen-
feld und Konietzka 2012; Marbach 2008; Steinbach 2008; Wagner 2008).
Über die Verteilung dieser Familienform in Deutschland gibt Tabelle 1
Auskunft. Die Angaben zu Kernfamilien schwanken zwischen 72 Prozent (Stein-
bach 2008) und 79 Prozent (Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012), abhängig von
den zugrunde gelegten Daten. Damit wird deutlich, dass die konventionelle Fa-
milie noch immer die am weitesten verbreitete Familienform in Deutschland ist.
Dies gilt ebenfalls für eine differenziertere Betrachtung getrennt nach Ost- und
Westdeutschland. Allerdings ist die Lebensform der Kernfamilie in den alten
Bundesländern weiter verbreitet als in den neuen Bundesländern (Kreyenfeld und
Heintz-Martin 2012, S. 10; Kreyenfeld und Konietzka 2012, S. 244).
Ein weiterer Aspekt von Familie ist die Anzahl der Kinder, die im Haushalt
leben.7 Trotz rückläufiger Geburtenzahlen wächst die Mehrheit der minderjähri-
gen Kinder in Deutschland mit mindestens einem weiteren minder- oder volljäh-

7 Aussagen über die Anzahl der Kinder im Haushalt lassen nicht zwingend Aussagen zur
Gesamtkinderzahl zu, da Kinder bereits aus dem gemeinsamen Haushalt der Eltern/
Stiefeltern/ Elternteile ausgezogen sein können. Dies zeigt eine Schwäche des Familien-
formenkonzeptes auf Basis der Haushaltsebene auf.
Diversität von Familie in Deutschland 55

rigen Geschwisterkind im Haushalt auf (Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012, S.


14; Krieger und Weinmann 2008, S. 36). Allerdings zeigen sich hier Unterschiede
bei der Betrachtung des Partnerschaftsstatus. Verheiratete Paare leben mit deut-
lich mehr Kindern in einem gemeinsamen Haushalt als unverheiratete Lebensge-
meinschaften. Im Jahr 2006 lebten nach Angaben des Mikrozensus in den Haus-
halten verheirateter Paare mit Kind 79 Prozent der Kinder mit mindestens einem
Geschwisterkind zusammen; bei den Lebensgemeinschaften waren es lediglich
56 Prozent (Krieger und Weinmann 2008, S. 37). Diese Differenz könnte sich mit
dem unterschiedlichen Institutionalisierungsgrad der verheirateten und unver-
heirateten Partnerschaften und einer damit einhergehenden Selektion erklären
lassen.
Neben der Anzahl an Kindern, die im Haushalt leben, lassen sich auch Unter-
schiede hinsichtlich der Erwerbstätigkeit zwischen verheirateten und unverhei-
rateten Eltern finden. Der Mikrozensus 2006 weist für 76 Prozent der verheirate-
ten Elternpaare eine traditionelle Form der Erwerbsbeteiligung aus (Krieger und
Weinmann 2008, S. 39). Dies bedeutet, dass der Mann vollzeiterwerbstätig ist,
während die Frau nicht oder in Teilzeit arbeitet. Nicht verheirate Paare folgen
diesem Model zu 54 Prozent (Krieger und Weinmann 2008, S. 40). Bei den nicht
verheirateten Eltern arbeiten in 38 Prozent der Haushalte beide Partner Vollzeit,
bei den verheirateten Paaren mit Kindern sind dies nur 19 Prozent (Krieger und
Weinmann 2008, S. 40).

Alleinerziehende

Als Alleinerziehende werden Elternteile definiert, die mit ihren Kindern, aber
ohne einen Partner in einem Haushalt leben (Nave-Herz 2012, S. 95; Steinbach
2008, S. 164). Das Alleinerziehen schließt dabei eine vorhandene Partnerschaft
nicht aus. Eine Living-Apart-Together-Beziehung (LAT) kann bestehen, jedoch
lebt der Partner nicht im gemeinsamen Haushalt von Elternteil und Kind(ern).
Alleinerziehende finden sich in der Literatur auch unter dem Begriff der „Ein-
Eltern-Familien“ (Peuckert 2012, S. 346). Da eine Ein-Eltern-Familie suggeriert,
dass eine Trennung oder Scheidung – die häufigsten Ursachen für das Entste-
hen von alleinerziehenden Haushalten – die Beziehung zwischen Kind und zwei-
tem Elternteil ebenfalls beendet (Peuckert 2012, S. 346), geben wir dem Begriff
Alleinerziehende in diesem Beitrag den Vorzug. Dies entspricht dem aktuellen
Forschungsstand, in dem die meisten Studien ebenfalls die Begriffl ichkeit des
Alleinerziehens präferieren (z.B. Feldhaus und Huinink 2011; Kreyenfeld und
Heintz-Martin 2012; Kreyenfeld und Konietzka 2012; Steinbach 2008).
56 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

Zur Anzahl der Alleinerziehenden in Deutschland gibt es unterschiedliche


Befunde, wie Tabelle 1 darstellt. Abhängig von der Datengrundlage schwanken
die Anteile zwischen 9 (Feldhaus und Huinink 2011) und 15 Prozent (Steinbach
2008). Eindeutig ist die Zunahme Alleinerziehender in Deutschland zu erkennen
(Jurczyk et al. 2014, S. 25). Zwischen den Jahren 1996 und 2006 ist die Zahl allein-
erziehender Mütter und Väter im Mikrozensus um 23 Prozent angestiegen (Krie-
ger und Weinmann 2008, S. 30).8 Alleinerziehende sind dabei in Ostdeutschland
stärker vertreten als in Westdeutschland (Kreyenfeld und Konietzka 2012, S. 244;
Statistisches Bundesamt 2010, S. 8).
Relevant für diese Familienform ist die Unterscheidung zwischen alleinerzie-
henden Müttern und Vätern. Die überwiegende Mehrheit der Alleinerziehenden
sind Frauen, die Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern fallen dabei
eher gering aus (Kreyenfeld und Konietzka 2012, S. 244; Krieger und Weinmann
2008, S. 30). Im Jahr 2006 waren nach Angaben des Mikrozensus 89 Prozent der
Alleinerziehenden in Deutschland Frauen mit mindestens einem Kind im Haus-
halt (Krieger und Weinmann 2008, S. 30). Mütter kümmern sich dabei eher um
jüngere Kinder und Väter leben eher mit älteren Kindern in einem Haushalt (An-
dreß 2001, S. 20; Peuckert 2012, S. 349). Im Vergleich zu Kernfamilien lebt in
den Haushalten von Alleinerziehenden häufiger nur ein Kind (Krieger und Wein-
mann 2008, S. 36). Der Anteil an Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern
liegt bei 12 Prozent, wobei hier deutlich zwischen alleinerziehenden Müttern (11
Prozent) und Vätern (1 Prozent) differenziert werden muss (Pötzsch et al. 2013, S.
52). Der Anteil an Frauen, die ohne festen Partner ein erstes Kind bekommen, sich
also bewusst für ein Alleinerziehen ab dem Zeitpunkt der Geburt entscheiden
(Schneider et al. 2001, S. 99), liegt in Ostdeutschland bei 12 Prozent und in West-
deutschland bei 8 Prozent (Bastin et al. 2013, S. 135).
Alleinerziehen ist gegenwärtig vermehrt ein Resultat von Scheidung und
Trennung, während früher eher Verwitwung Ursache für die Bildung dieser
Familienform war (Peuckert 2012, S. 345f.). Die Entstehungsbedingungen des
Alleinerziehens nehmen auch Einfluss auf die Erwerbsquoten in dieser Gruppe.
Alleinerziehende Frauen sind im Vergleich zu allen anderen Familienformen am
häufigsten erwerbslos (Teubner 2002a, S. 104). Dies scheint mit dem Alter der
Kinder zu korrelieren. Da sich alleinerziehende Frauen eher um jüngere Kinder
kümmern, sinkt die Erwerbsquote mit dem Alter des jüngsten zu betreuenden
Kindes (Andreß 2001, S. 20). Regionale Unterschiede zeigen sich auch beim zeit-
lichen Umfang der Erwerbsbeteiligung: Alleinerziehende Mütter in Ostdeutsch-

8 Vor dem Jahr 1996 konnte im Mikrozensus nicht zwischen Personen mit und ohne
Partner im Haushalt differenziert werden (Peuckert 2012, S. 346).
Diversität von Familie in Deutschland 57

land sind zu 45 Prozent Vollzeit erwerbstätig; in Westdeutschland arbeiten mit 30


Prozent deutlich weniger alleinerziehende Frauen in Vollzeit (Teubner 2002a, S.
104). Die Erwerbsbeteiligung von alleinerziehenden Männern unterscheidet sich
hingegen kaum von der verheirateter Väter (Andreß 2001, S. 20). Dadurch er-
zielen sie ein höheres Einkommen als alleinerziehende Mütter. Dies unterstreicht
die Heterogenität der Gruppe der Alleinerziehenden (Peuckert 2012, S. 355). Ab-
hängig von Alter, Partnerschaftsbiografie und Ausbildungsniveau ergeben sich
sehr unterschiedliche Bedarfe, die auf den Erwerbsstatus und damit auf die Ein-
kommensverhältnisse Alleinerziehender Einfluss nehmen (Andreß 2001, S. 20;
Peuckert 2012, S. 354; Schneider et al. 2001, S. 104).

Stieffamilien

Stieffamilien sind eine relativ schwer zu systematisierende Familienform, da es


sich um sehr komplexe und heterogene Familienstrukturen handelt (Steinbach
2008, S. 160). Legt man den Haushalt zugrunde und stellt das Kind in den Fokus,
kann diese Familienform wie folgt definiert werden: Stieffamilien sind Haushal-
te, in denen neben dem leiblichen Elternteil ein weiterer Erwachsener lebt, der
zu mindestens einem Kind des Haushalts keine biologische Elternschaft aufweist
(Steinbach 2008, S. 164). Das schließt Haushalte mit ein, in denen biologischer
Elternteil und Stiefelternteil zusätzlich gemeinsame Kinder oder Adoptiv- und
Pflegekinder haben. Es muss nur die Voraussetzung bestehen, dass mindestens
ein Stiefk ind im Haushalt lebt, was bedeutet, dass mindestens ein sozialer Eltern-
teil hinzugekommen ist (Bien et al. 2002, S. 10). Eine Stieffamilie kann also erst
entstehen, wenn ein leiblicher Elternteil eine neue Partnerschaft eingeht. Damit
sind die Verwandtschaftsbeziehungen von Stieffamilien deutlich komplexer als
die von Kernfamilien (Meulders-Klein und Théry 1998, S. 27).
Das Kind definiert durch seinen vorwiegenden Aufenthalt den Haushalt, der
als Alltagsfamilie zählt. Darüber hinaus besteht häufig noch der Haushalt des
anderen leiblichen Elternteils, in dem sich das Kind zu Besuchszeiten wie an den
Wochenenden oder in den Ferien aufhält und der damit als Wochenendfamilie be-
zeichnet werden kann (Bien et al. 2002, S. 11; Steinbach 2008, S. 160). Folgt man
dem Ansatz der Haushaltsebene, gilt es zwischen primären und sekundären Stief-
familien zu unterschieden. Wenn das Elternteil, bei dem sich das Kind überwie-
gend aufhält, eine neue Partnerschaft eingeht, stellt dies eine primäre Stieffamilie
dar, wenn das außerhalb des Haushalts lebende Elternteil eine neue Partnerschaft
eingeht, spricht man von einer sekundären Stieffamilie (Steinbach 2008, S. 160).
58 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

Neben dem Aufenthaltsort des Kindes ergibt sich durch das Geschlecht des
Stiefelternteils eine weitere Differenzierungsmöglichkeit nach Stiefmutter- und
Stiefvaterfamilie (Bien et al. 2002, S. 11; Steinbach 2008, S. 160). Die Zusammen-
setzung des Haushalts eröff net eine weitere Option, Stieffamilien zu unterschei-
den (Steinbach 2008, S. 160): Bringt nur ein Partner Kinder mit in den Haushalt,
handelt es sich um eine einfache Stieffamilie. Bringen beide Partner Kinder in den
Haushalt ein, bezeichnet man diese Konstellation als zusammengesetzte Stieffa-
milie. Leben neben den Stiefk indern gemeinsame leibliche Kinder (oder Adop-
tiv- und Pflegekinder) mit im Haushalt stellt dies eine komplexe Stieffamilie dar.
Komplexe Stieffamilien können sowohl aus einfachen als auch aus zusammenge-
setzten Stieffamilien entstehen, wenn ein gemeinsames Kind geboren wird. Kom-
plexe Stieffamilien werden auch „Patchwork-Familien“ genannt (BMFSFJ 2013,
S. 7; Burkart 2008a, S. 231; Nave-Herz 2013, S. 68).9 Unter Berücksichtigung des
Partnerschaftsstatus der (Stief-)Eltern können zudem Stieffamilien im engeren
Sinne (Ehen und Nichteheliche Lebensgemeinschaften) sowie im weiteren Sinne
(LAT-Beziehungen) unterschieden werden (Bien et al. 2002, S. 11). Darüber kann
auch die Partnerschaftsbiographie und aus dieser der Grund des Auflösens einer
Beziehung (Trennung/Scheidung oder Verwitwung) zur Differenzierung heran-
gezogen werden (Ganong und Coleman 1984, S. 390).
Wie Tabelle 1 dokumentiert, schwanken die Angaben zu den Anteilen von
Stieffamilien in Deutschland zwischen 8 und 18 Prozent. Dies lässt sich einer-
seits mit den unterschiedlichen Datensätzen und den damit verbundenen Mög-
lichkeiten der Identifizierung von Stieffamilien erklären. Andererseits wird auf
Verzerrungen der zugrunde gelegten Sample verwiesen (Steinbach 2008, S. 166).
Betrachtet man die Verteilung von Stieffamilien differenziert nach Ost- und
Westdeutschland, wird außerdem eine Tendenz zu mehr Stieffamilien in Ost-
deutschland sichtbar (BMFSFJ; Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012; Steinbach
2008; Teubner 2002b). Mit den Daten des GGS wurde ein Anteil von 13 Prozent
Stieffamilien in den alten Bundesländern im Vergleich zu 16 Prozent in den neuen
Ländern ermittelt (Steinbach 2008, S. 167). Weitere Unterschiede zwischen bei-
den Regionen Deutschlands werden bei der Betrachtung des Partnerschaftsstatus
deutlich: Stiefeltern in Westdeutschland sind mit 82 Prozent deutlich häufiger

9 Der Ausdruck „Patchwork-Familie“ mag populär sein, weil er im Vergleich zum Begriff
„Stieffamilie“ weniger negativ konnotiert ist. Dennoch bietet er keine adäquate Alter-
native, da (1) Patchwork-Familien letztlich eine spezielle Form der Stieffamilie sind
und (2) für die einzelnen Familienmitglieder keine eigenen Begriffe vorliegen, sodass
für eine eindeutige Zuordnung wieder auf die Begriffe Stiefeltern und Stiefkinder zu-
rückgegriffen wird (Steinbach 2008, S. 155f., Burkart 2008a, S. 231, Meulders-Klein &
Théry 1998, S. 7ff.).
Diversität von Familie in Deutschland 59

verheiratet als Stiefeltern in Ostdeutschland (59 Prozent) (Steinbach 2008, S. 168).


Die Daten der AID:A-Studie belegen zudem, dass 48 Prozent dieser Familienform
Stiefvater-, 27 Prozent Stiefmutter- und 26 Prozent komplexe Stieffamilien sind
(Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012, S. 11). Mit dieser Datengrundlage wurde
auch ermittelt, dass in Stieffamilienhaushalten vorrangig ein Kind lebt. Dies trifft
mit 64 Prozent vor allem auf Haushalte von Stiefvaterfamilien zu (Kreyenfeld und
Heintz-Martin 2012, S. 15).
Hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung wird deutlich, dass sich Stief- von Kern-
familien dahingehend unterscheiden, dass in Stieffamilien häufiger beide Eltern-
teile in Vollzeit arbeiten (24 vs. 15 Prozent) (Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012,
S. 17). Ein Ost-West-Vergleich verweist auf deutliche regionale Unterschiede im
Erwerbsarrangement von Stieffamilien (Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012, S.
17; Teubner 2002a, S. 105). Während in den alten Ländern bei 19 Prozent der Stief-
familien das Zweiverdienermodell verbreitet ist, sind dies in den neuen Ländern
bei 45 Prozent der Fall (Kreyenfeld und Heintz-Martin 2012, S. 17). Hier fällt
die stärkere Erwerbsneigung der Frauen in Ostdeutschland ins Gewicht (Teubner
2002a, S. 122).

Adoptiv- und Pflegefamilien

Als Adoptiv- oder Pflegefamilie werden Ehepaare oder alleinstehende Personen


verstanden, die ein Kind angenommen haben und mit diesem in einem Haushalt
leben (Peuckert 2012, S. 394). Pflege- unterscheiden sich von Adoptionsfamilien
durch den rechtlichen Status. In Pflegefamilien verbleibt das Sorge- und Verfü-
gungsrecht über das Pflegekind bei der Herkunftsfamilie oder dem Jugendamt
(Peuckert 2012, S. 396). Durch eine Adoption wird dem Kind die rechtliche Stel-
lung eines leiblichen Kindes zuteil, alle Beziehungen zur Herkunftsfamilie wer-
den aufgegeben (Walper und Wendt 2011, S. 215). Rechtlich unterscheidet man
zwischen drei Adoptionsverhältnissen: Fremd-, Verwandten- oder Stiefelternad-
option (Peuckert 2012, S. 395). Letzteres führt zu Überschneidungen mit der De-
finition der Kategorie „Stieffamilie“. Ähnliches gilt für Haushalte, in denen neben
Stiefk indern auch adoptierte Kinder leben.
Adoptiv- und Pflegefamilien stellen quantitativ eine sehr kleine Gruppe dar,
wie Tabelle 1 belegt. Die Anzahl von Adoptionsfamilien lässt sich nur indirekt
über die Anzahl erfolgreich abgeschlossener Adoptionsverfahren schätzen (Peu-
ckert 2012, S. 395). Ihre Zahl ist im Zeitverlauf gesunken, wie die Zeitreihe des
Statistischen Bundesamtes zur Anzahl der Adoptionen in Deutschland doku-
mentiert. Während im Jahr 1991 noch 7.124 Kinder adoptiert wurden, waren dies
60 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

im Jahr 2012 nur noch 3.886 (Statistisches Bundesamt 2014a). Die Anzahl der
Adoptivkinder liegt dabei unter 1 Prozent an der Gesamtzahl Minderjähriger in
Deutschland (Peuckert 2012, S. 395). Der Rückgang der Adoptionszahlen ist da-
bei weniger auf ein sinkendes Interesse an Adoptionen zurückzuführen, als auf
die geringe Anzahl zur Adoption stehender Kinder (Walper und Wendt 2011, S.
215). Kinder werden nach aktueller Politik der Jugendämter seltener dauerhaft aus
ihren Familien herausgenommen. Dadurch liegt die Zahl der Adoptionsbewerber
deutlich über der Zahl zur Adoption vorgemerkter Kinder (Peuckert 2012, S. 395).
Rückläufig ist neben der Zahl der Adoptionen insgesamt auch die Zahl der
Fremdadoptionen (Statistisches Bundesamt 2014a). Bei Fremdadoptionen liegt
kein Verwandtschaftsverhältnis zu den Adoptionseltern vor. Im Jahr 2012 lag die
Zahl der Fremdadoptionen deutlich unter der Zahl der Adoptionen durch Ver-
wandte oder Stiefelternteile. Im Jahr 2012 wurden 3 Prozent der Kinder durch
Verwandte, 57 Prozent durch Stiefelternteile und 40 Prozent durch Personen ad-
optiert, bei denen kein Verwandtschaftsverhältnis bestand (Statistisches Bundes-
amt 2014b). Bei 98 Prozent der Adoptiveltern verfügt mindestens ein Elternteil
über eine deutsche Staatsbürgerschaft (Statistisches Bundesamt 2014b).
Die Zahl der Pflegefamilien ist ebenfalls gering. Im Jahr 2008 wurden in
Deutschland 14.500 Kinder in Pflegefamilien untergebracht (van Santen 2010,
S. 21). Ein Großteil der Pflegeverhältnisse wird statistisch jedoch nicht erfasst,
z.B. wenn die Kinder durch ihre Großeltern erzogen werden. Damit dürfte die
tatsächliche Zahl der Pflegschaftsverhältnisse deutlich unterschätzt werden. Die
Verweildauer der Kinder in ihren Pflegefamilien beträgt im Durschnitt 53 Mo-
nate, also etwa viereinhalb Jahre, wobei die Aufenthaltsdauer mit zunehmendem
Alter der Kinder sinkt (van Santen 2010, S. 22). Der Medianwert gibt Aufschluss
darüber, dass die Hälfte aller Kinder ihr Pflegschaftsverhältnis nach 22 Monaten
wieder verlässt, wer nach dieser Zeit noch in seiner Pflegefamilie lebt, bleibt deut-
lich länger in diesem Pflegschaftsverhältnis (van Santen 2010, S. 22). Damit wird
deutlich, dass Kinder in ihren Pflegefamilien oft kein dauerhaftes Zuhause finden.
Bei genauerer Betrachtung sind auch „Inseminationsfamilien“ (Peuckert 2012,
S. 398) eine Art Adoptions- bzw. Stieffamilie. Als Inseminationsfamilien werden
Paare bezeichnet, deren Kinder mit einer Samen- oder Eizellspende (oder bei-
dem) gezeugt wurden (Peuckert 2012, S. 401). Biologische und soziale Elternschaft
können dabei, je nach verwendeter Reproduktionstechnologie, teilweise oder voll-
ständig auseinander fallen. Wird entweder eine Samen- oder Eizellspende hinzu-
gezogen (heterologe Insemination), ähneln die Strukturen im Haushalt nach der
Geburt des Kindes eher der von Stieffamilien. Es gibt einen biologischen Eltern-
teil und einen, der keine biologische Verwandtschaft aufweist. Werden Samen-
und Eizellspende für die Zeugung eines Kindes verwendet (doppelt-heterologe
Diversität von Familie in Deutschland 61

Insemination), fallen biologische und soziale Elternschaft in der Familie gänzlich


auseinander. Die Eltern entscheiden sich also bewusst für die Aufnahme eines
nicht-verwandten Kindes und übernehmen die soziale Elternschaft (Peuckert
2012, S. 401). Das Kind hat dann den gleichen rechtlichen Staus wie ein leibliches
Kind bzw. ein Kind, dass adoptiert wurde. Das deutsche Embryonenschutzgesetz
erlaubt bisher lediglich die Samenspende, sodass letztere Form eher Einzelfälle
darstellen, die sich im Ausland einer reproduktionsmedizinischen Behandlung
unterzogen haben.
Über die Anteile von Inseminationsfamilien in Deutschland lassen sich
nur schwer Aussagen treffen. Schätzungen gehen von etwa 1.000 künstlichen
Befruchtungen aus, bei denen Paare auf Spendersamen zurückgegriffen haben
(Walper und Wendt 2011, S. 221). Auf welcher Datenbasis diese Schätzungen
basieren, bleibt jedoch unklar.

Gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern)

Überschneidungen der Inseminationsfamilien gibt es auch mit der Familien-


form gleichgeschlechtlicher Paare mit Kind(ern). Gleichgeschlechtliche Paare mit
Kind(ern) können zudem Pflegefamilien sein (Funcke 2010, S. 321). Eine Adop-
tion ist bisher noch ausgeschlossen. Die Aufnahme eines Pflegekindes ist aus ju-
ristischer Perspektive die einzige Option gleichgeschlechtlicher Paare gemeinsam
für ein Kind zu sorgen (Funcke 2010, S. 322).
Als gleichgeschlechtliche Paare mit Kind(ern) werden Haushalte definiert, in
denen homosexuelle Partner zusammen mit mindestens einem Kind leben. Da
nicht in allen Befragungen nach der sexuellen Orientierung gefragt wird, blei-
ben Zuordnungsprobleme bestehen und die Zahl dieser Familienform wird somit
unterschätzt (Eggen und Rupp 2010, S. 25). Ein weiterer Aspekt der Unterschät-
zung homosexueller Elternteile ist die Nicht-Berücksichtigung homosexueller
Alleinerziehender (Eggen 2009, S. 13). Für sie besteht ebenfalls ein Identifizie-
rungsproblem in quantitativen Datenquellen.
Die Forschung zu gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kind(ern) steckt in
Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wie die Vereinigten Staaten noch
in den Kinderschuhen (Goldberg und Allen 2013). Dennoch liegen einige Schät-
zungen vor, die Aufschluss über die Verteilung dieser Familienform geben (Eggen
2009; Eggen und Rupp 2010). In Tabelle 1 wird deutlich, dass die Zahl der gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften mit Kind(ern) quantitativ sogar noch geringer
ausfällt als die der Adoptiv- und Pflegefamilien. Dies erschwert eine differenzierte
Betrachtung dieser Familienform. Nach den Daten des Mikrozensus aus dem Jahr
62 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

2008 leben in Deutschland etwa 7.200 Kinder in 5.000 Haushalten mit gleichge-
schlechtlichen Lebenspartnern (Eggen und Rupp 2010, S. 27). Selbst wenn man
von einer deutlichen Unterschätzung dieser Zahl aufgrund der Defi zite bei der
Identifizierung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften ausgeht, ist die
Zahl dieser Familienform sehr gering und bildet eher eine Ausnahme.
Einige Informationen lassen sich dennoch zusammentragen: Die Anteile von
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften mit Kind ist zwischen 1996 (12
Prozent) und 2008 (7 Prozent) zurückgegangen (Eggen und Rupp 2010, S. 28).
Eine Erklärung für diesen Rückgang könnte eine stärkere gesellschaft liche Akzep-
tanz homosexueller Orientierung sein, sodass ein Coming-Out früher stattfindet
und seltener eine heterosexuelle Beziehung eingegangen wird (Eggen 2009, S. 14),
aus der dann Kinder entstehen können (Eggen und Rupp 2010, S. 29). Gegen-
wärtig leben mehr als 90 Prozent der Kinder in gleichgeschlechtlichen Familien
mit zwei Frauen in einem Haushalt (Eggen und Rupp 2010, S. 29). Dies könnte
sich einerseits über die Vergabe des Aufenthaltsrechts erklären lassen, dass in der
Vergangenheit Mütter bevorzugt hat. Andererseits ist es für männliche Lebens-
gemeinschaften deutlich schwerer eine Familienplanung tatsächlich umzusetzen.
Darüber hinaus leben 67 Prozent der Kinder in diesen Haushalten mit Geschwis-
tern zusammen (Eggen und Rupp 2010, S. 32). Die lässt darauf schließen, dass
vor allem zwei und mehr Kinder in den Haushalten gleichgeschlechtlicher Paare
leben. Die Kinder in homosexuellen Partnerschaften sind nach einer Befragung
durch das Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb)
zu 92 Prozent leibliche, zu 2 Prozent adoptierte und zu 6 Prozent Pflegekinder
(Rupp und Bergold 2009, S. 284). Die leiblichen Kinder stammen zu 51 Prozent
aus einer vorherigen Partnerschaft und zu 49 Prozent wurden sie in die aktuelle
Beziehung hinein geboren. Weitere Analysen des ifb dokumentieren, dass 39 Pro-
zent der Kinder in Haushalten von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften
durch heterologe Insemination gezeugt wurden, wovon in der Hälfte der Fälle der
Samenspender auch bekannt ist (Rupp und Bergold 2009, S. 285). Ein Drittel der
bekannten Samenspender wird dann auch als biologischer Vater in das Geburten-
buch eingetragen. Fast alle Kinder (96 Prozent), die auf diese Art entstanden sind,
wurden in die aktuelle Partnerschaft hinein geboren (Rupp und Bergold 2009,
S. 285).
Die Erwerbsbeteiligung gleichgeschlechtlicher Eltern unterscheidet sich von
denen in Kernfamilien durch den höheren Anteil an Haushalten, in denen beide
Elternteile erwerbstätig sind. In 60 Prozent dieser Familien sind beide Elterntei-
le erwerbstätig (Eggen und Rupp 2010, S. 32). Dieses spezifische Erwerbsmuster
scheint für Haushalte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften von Frauen und
Männern zu existieren.
Diversität von Familie in Deutschland 63

4 Schlussfolgerungen

Im Mittelpunkt dieses Beitrags stand die Systematisierung vorhandener Fami-


lienformen auf Basis der Haushaltsebene. Familie definiert sich nach unserer Auf-
fassung über das Vorhandensein von Kindern im Haushalt, weswegen Kinder-
lose in unseren Darstellungen nicht berücksichtigt wurden. Die Haushaltsebene
stellt dabei eine forschungspragmatische Herangehensweise an den Begriff „Fa-
milie“ dar, der gleichzeitig haushaltsübergreifende Familienformen ausblendet.
Doch vor dem Hintergrund, dass beispielsweise das Modell, bei dem die Kinder
zwischen den Haushalten der getrennten Elternteile wechseln (Sünderhauf 2013,
S. 61) bisher noch wenig verbreitet ist, scheint dieser Ansatz gerechtfertigt. Die
Erfassung konventioneller Familienstrukturen scheint im Vergleich zu nicht-
konventionellen Familienformen deutlich einfacher, da sie weniger komplex sind.
Amtliche und Survey-Daten bieten dennoch die Möglichkeit nicht-konventionel-
le Familienstrukturen (ggf. mit Einschränkungen) zu identifizieren und damit
Aufschluss über ihre Zusammensetzung und sozio-demografische Faktoren zu
geben. Analysen zu Familien, die von der konservativen Form Vater-Mutter-
Kind(er) abweichen, leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Forschungsland-
schaft und helfen das Familienleben in Deutschland in seiner Fülle abzubilden.
Quantitative Analysen konnten belegen, dass ein konventioneller Haushalt,
bestehend aus Frau und Mann mit leiblichen Kindern, noch immer die vorherr-
schende Familienform in Deutschland darstellt. Dies bedeutet, dass die über-
wiegende Mehrheit der Frauen und Männer in Deutschland im Verlauf ihres
Lebens eine Familie gründet. Diese Familien können allerdings deutlich von in
der Vergangenheit existierenden Formen abweichen. Entscheidend ist jedoch der
Referenzzeitpunkt, mit dem aktuelle Familienformen verglichen werden. In der
Vergangenheit haben ebenfalls Stief-, Adoptiv- und Pflegefamilien existiert, wenn
auch unter anderen Entstehungsbedingungen (siehe auch Rosenbaum in diesem
Band). Im Vergleich zu den 1960er Jahren nimmt der Anteil dieser nicht-kon-
ventionellen Familienformen gegenwärtig zu, aber neu sind sie im historischen
Kontext nicht. Nicht-konventionelle Familienformen gewinnen jedoch an gesell-
schaft licher Relevanz, sodass eine intensivere Betrachtung dieser Familien für die
zukünft ige Familienforschung bedeutsam(er) wird. Dabei scheint auf Forscher-
seite auch ein sensibler Blick für die Einstufung einer „neuen“ Familienform ge-
fragt zu sein. Durch das Hinzuziehen verschiedener Merkmale wie Institutionali-
sierungsgrad der Beziehung, sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund oder
Erwerbstatus ist es möglich, eine größere Vielfalt zu generieren als sie tatsächlich
vorliegt.
64 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

Darüber hinaus ist auch ein politisches Interesse an Familien, die nicht in
konventionellen Strukturen zusammenleben, gegeben, wie verschiedene Exper-
tisen zu Stieffamilien (BMFSFJ 2013), Alleinerziehenden (Statistisches Bundes-
amt 2010) und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kind(ern) (Familien-
ministerium Baden-Württemberg 2013; Eggen 2009) belegen. Quantitativ stellen
jedoch Alleinerziehende und Stieffamilien den größten Anteil an nicht-konven-
tionellen Familienformen. Die Anteile von Adoptions- und Pflegefamilien sowie
gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kind(ern) an allen Familien fallen sehr
gering aus.
Gesellschaft liche Entwicklungen bringen Veränderungen im Bereich Familie
mit sich. So hat die Ehe als Legitimierung einer Familie einen großen Bedeu-
tungsverlust hinnehmen müssen. Viele Paare leben inzwischen unverheiratet mit
Kindern zusammen (Peuckert 2012, S. 696). Und auch wenn Familie noch im-
mer einen hohen Stellenwert genießt, stehen Kinder in Konkurrenz zu anderen
Lebenszielen. Der Strukturwandel, dem Familie gegenwärtig unterliegt, scheint
noch nicht abgeschlossen zu sein. Damit steht nicht die Frage im Raum, was nach
der Familie kommt, wie sie Beck-Gernsheim (1998, S. 18) formuliert und folge-
richtig mit: „Die Familie!“ beantwortet hat. Vielmehr stellt sich die Frage, wie Fa-
milie in Zukunft aussehen wird. Eine Frage die jede Epoche neu aufwirft (Burkart
2008b, S. 253), denn Familie scheint ein dynamischer Prozess zu sein, der aus
einem Zusammenspiel verschiedener Akteure und den gegebenen (sich wieder-
um verändernden) Rahmenbedingungen entsteht. Werden sich die Anteile in den
vorhandenen Familienformen also weiter verschieben? Werden neue Familien-
formen zu den bestehenden hinzukommen? Und wie werden Familien konkret
auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren?
Dass Familien veränderte Rahmenbedingungen wahrnehmen und auf diese
eingehen, um ein befriedigendes Familienleben aufrecht zu erhalten, wurde von
Huinink (2011) beschrieben. Unsichere Erwerbsverläufe, flexibilisierte Arbeits-
zeiten und räumliche Mobilität stellen besondere Herausforderung für das fami-
liale Zusammenleben dar (Schneider et al. 2009, S. 130f.). Familien reagieren (frei-
willig oder unfreiwillig) durch eine „Marktformierung“ (Peuckert 2012, S. 697)
auf diese Veränderungen, ohne dabei grundlegende Familienstrukturen endgül-
tig aufzugeben. Dies führt zu veränderten Familienformen. Wie diese zukünft ig
aussehen werden, ist nur schwer abzuschätzen.
Vor dem Hintergrund flexibler Partnerschafts- und Familienbiographien
könnten sich die Anteile vorhandener Familienformen weiter verschieben. Fami-
lienphasen im Lebensverlauf wechseln sich mit Phasen des Alleinlebens, des Zu-
sammenlebens mit einem neuen Partner und der Familienerweiterung ab, sodass
Familienstrukturen noch komplexer werden. Für diese Entwicklungen spricht
Diversität von Familie in Deutschland 65

u.a. das „Wechselmodell“ (Sünderhauf 2013, S. 61), welches bisher in Deutsch-


land noch wenig verbreitet ist. Im Rahmen dieses Modells kümmern sich die ge-
trennt lebenden Eltern abwechselnd und gleichberechtigt um ihre Kinder. Dies
bedeutet, dass die Kinder in zwei Elternhäusern leben. Anders als im Rahmen
eines gemeinsamen Sorge- oder Umgangsrechts orientiert sich diese Familien-
form an einer gleichberechtigten und gleichverpflichtenden Betreuung der Kin-
der. Damit sind die Kinder in beiden Elternhaushalten zu Hause, weshalb hier die
Perspektive eines Haushalts als Definitionsgrundlage für Familie obsolet wäre.
Komplexere, haushaltsübergreifende Familienstrukturen infolge von Scheidung
und Trennung scheinen damit eine Richtung zu sein, in die sich Familienstruk-
turen künft ig entwickeln könnten.
Wenn Kinder in mehreren Haushalten zu Hause sind und von den (Stief-)El-
tern Beruf und Familie vereinbart werden müssen, ist verstärkt eine „aktive Her-
stellungsleistung“ (BMFSFJ 2006, S. 128) aller Familienmitglieder erforderlich,
um ein Familienleben aufrecht zu erhalten. Unter dem Begriff „Doing Family“
(siehe auch Jurczyk in diesem Band) werden familial erbrachte Leistungen zu-
sammengefasst, die im alltäglichen Handeln Familie als gemeinschaft liches Gan-
zes fortwährend neu herstellen (Schier und Jurczyk 2007, S. 10). „Doing Family“
beinhaltet auch die Entwicklung von „being“ zu „doing“, die Familien gegenwär-
tig durchlaufen. Aufgrund veränderter gesellschaft licher Rahmenbedingungen
entwickelt sich Familie von einer selbstverständlichen Ressource zu einer zuneh-
mend voraussetzungsvollen Tätigkeit. Physische Anwesenheit stellt eine Voraus-
setzung für Interaktionsprozesse zwischen den einzelnen Familienmitgliedern
dar, denn um Familie als Gemeinschaft zu leben, braucht es Gelegenheiten (Schier
und Jurczyk 2007, S. 11). Nimmt die Mobilität einzelner Familienmitglieder auf-
grund verschiedener Haushalte der Eltern oder beruflicher Mobilität der Eltern-
teile zu, müssen diese Gelegenheiten aktiv geschaffen werden (Schier und Jurczyk
2007, S. 15f.). Je komplexer (haushaltsübergreifende) Familienstrukturen und je
heterogener die Lebenslagen der Familienmitglieder werden, desto aktiver muss
Familie dann auch gestaltet werden (Jurczyk und Szymenderski 2012, S. 99).
Darüber hinaus wäre es möglich, dass der Familienbegriff zukünft ig gänzlich
neu definiert wird. Die Familie der Zukunft bewegt sich in einem Spannungsfeld
zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit (BMFSFJ 2006). Verlässlichkeit kann
auch außerhalb biologischer Strukturen wie in Freundschaftsnetzwerken gefun-
den werden (Burkart 2008b, S. 259). Möglicherweise wird der Familienbegriff sich
auch auf Freundschaftsnetzwerke ausweiten (die nicht zwingend Kinder berück-
sichtigen) und damit wäre gleichzeitig eine neue Familienstruktur entstanden.
Wie solche komplexen Familienformen dann empirisch erfasst werden sollen,
muss vorerst offen bleiben.
66 Anne-Kristin Kuhnt & Anja Steinbach

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Paarbeziehung und Familie als
vertragsförmige Institutionen?
Günter Burkart

1 Einleitung

Die Ansicht, dass die Alltagspraxis von Paarbeziehungen, Ehe und Familie heute
stark durch Aushandlungsprozesse bestimmt wird, ist in der Familienforschung
weit verbreitet.1 Verhandlungen bzw. Aushandlungsprozesse zwischen Familien-
mitgliedern können sich auf eine Vielzahl von Fragen und Themen beziehen, z.B.
auf alltägliche Entscheidungen über Anschaff ungen oder auf die Festlegung von
Regeln für gemeinsame Mahlzeiten oder für den Zeitrahmen, wann die Kinder
abends zuhause sein sollen. Auch Regeln zwischen den Lebenspartnern können
ausgehandelt werden, etwa in Bezug auf das Verhältnis von Erwerbsarbeit, Haus-
arbeit und Kinderbetreuung. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt
allerdings nicht auf konkreten Aushandlungsprozessen dieser Art als vielmehr
bei den sozialen Rahmenbedingungen und den sozio-historischen Veränderun-
gen, die zu dieser Situation geführt haben.
Aushandlungsprozesse haben tendenziell kontraktuellen Charakter, weil sie zu
bestimmten Festlegungen und expliziten Vereinbarungen führen, wenn auch in
der Regel nicht in Form von formalen Verträgen. Damit stellt sich die generel-

1 Der Grundgedanke, dass Aushandlungsprozesse und Verhandlungen den Gang der Er-
eignisse stark – oder sogar stärker bestimmen als festgelegte Strukturen und Regeln,
findet sich – in allerdings ganz unterschiedlicher Ausprägung – in mehreren Theorie-
Familien: Interaktionismus, Rational-Choice-Theorie, Austauschtheorie und Indivi-
dualisierungstheorie.

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
72 Günter Burkart

le Frage, ob Paarbeziehung und Familie vertragsförmige Institutionen sind und


überhaupt sein können. Die Paarbeziehung als eine solche „vertragsförmige Ins-
titution“ zu bezeichnen impliziert, ihr Zustandekommen und ihre Aufrechterhal-
tung wesentlich darauf zurückzuführen, dass sich zwei autonome Individuen
verständigen (in Aushandlungsprozessen), wie sie ihr häusliches Zusammenleben
gestalten wollen, statt vorgegebenen sozialen Regeln (etwa Geschlechtsnormen)
zu folgen; und dass sie miteinander eine geregelte Kooperation oder ein spezi-
fisches Austauschverhältnis vereinbaren, das sich strukturell verfestigt (Institu-
tionalisierung). Die entsprechende historisch orientierte These wäre dann: Aus-
handlungsprozesse haben im Modernisierungsprozess zugenommen, und damit
ist die (eheliche oder nichteheliche) Paarbeziehung immer stärker zu einer ver-
tragsförmigen Institution geworden. Weil soziale Vorgaben an die Ausgestaltung
des Lebens als Paar immer mehr zurückgedrängt wurden (auch im Eherecht),
müssen die Partner nun immer mehr selbst entscheiden, also verhandeln und –
im Extremfall – Verträge abschließen.
Für diese These spricht zunächst einmal, dass sich historisch ein Strukturwan-
del ausmachen lässt, der oft mit der Formel ‚from status to contract‘ umschrieben
wurde (Pateman 1988). Die Ehe – auf die sich diese Formel bezog – wurde im
Verlauf des Modernisierungsprozesses seit dem 18. Jahrhundert immer stärker als
Vertrag (zwischen autonomen Rechtssubjekten) betrachtet und weniger als Fort-
setzung der Verwandtschaftssolidarität, auch nicht mehr so sehr als Sakrament
oder als patriarchales Instrument, das die Vorherrschaft des Mannes stützt. Im
Zuge dieser Entwicklung hat sich dann seit dem 19. Jahrhundert immer stärker
der Partnerschaftsgedanke durchgesetzt, zunächst als Alternative zur Ehe (und
ihrem patriarchalen Charakter), dann immer mehr auch als Grundgedanke der
Ausgestaltung der Ehebeziehung selbst, die daher heute als weitgehend egalitär
gilt und in gewisser Weise auch als „demokratisch“. Und schließlich ist in der
Familienforschung viel von „Verhandlungsfamilie“ die Rede, und damit ist vor
allem gemeint, dass die tradierten Regeln des Zusammenlebens und der Entschei-
dungsmacht in Frage gestellt sind, zugunsten der Möglichkeit der Mitsprache al-
ler Familienmitglieder an allen wichtigen Entscheidungen (Bois-Reymond 1994).
Auch wenn dies kaum einmal explizit vertraglich geregelt ist, handelt es sich doch
insofern um vertragsähnliche Strukturen, als vorausgesetzt wird, dass Konflikte
nicht durch Einsatz von Machtmitteln oder unter Berufung auf tradierte Normen
geregelt werden dürfen, sondern nur durch Verhandlungen zwischen autonomen
Individuen, die sich im Prinzip vernünft ig einigen können.
Viele Theoretiker der Familie würden allerdings den Vertragscharakter von
höchstpersönlichen Beziehungen in diesem Sinn bezweifeln und statt dessen sa-
gen, dass Ehe und Familie Gruppen oder Gemeinschaften sind, in denen gerade
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 73

nicht der Vertragsgedanke oder Zweckrationalität (kontraktuelle Vernunft) vor-


herrschen kann (und auch nicht sollte) – und damit würden auch nicht Verhand-
lungen im Vordergrund stehen, sondern etwa Liebe und Fürsorge, Solidarität und
Verwandtschaftspflichten, aber auch Geschlechtsnormen und andere soziale Re-
geln. Dieser Zweifel an der Vertragsförmigkeit von Paar- und Familienbeziehun-
gen lässt sich unter anderem begründen mit der historischen Herausbildung einer
Privatsphäre, die in gewisser Weise als Ort von Emotionalität und Solidarität
(„Gemeinschaft“) der Sphäre der öffentlichen Rationalität („Gesellschaft“) gegen-
übergestellt werden kann. Verträge – so wäre dann die entsprechende Auffassung
– gehören in die öffentliche, die rationale Sphäre; die Privatsphäre lässt sich da-
gegen nur bedingt kontraktualisieren – und wenn das doch zu geschehen scheint,
wurde dies in der Geschichte der Sozialtheorie oft als problematisch angesehen.2
Im Folgenden wird zunächst kurz der historische Hintergrund skizziert,
vor dem sich allmählich das moderne Prinzip des Vertragsgedankens bzw. das
Prinzip „Verhandlung statt vorgegebene Regeln“ durchsetzt (2.). Allerdings hat
sich im Modernisierungsprozess auch ein anderes Prinzip in den Vordergrund
geschoben, das in einem Spannungs- und Konfliktverhältnis zum Vertragsge-
danken steht: Die Norm der Liebesehe (3.). Die romantische Liebe fügt sich nicht
dem Vertragsmodell, sie ist besser zu erfassen mit dem Modell des Gabentau-
sches bzw. einer Theorie der Praxis (4.). Der Vertragsgedanke wiederum hat sich
insbesondere im Modell der Partnerschaftlichkeit weiter verbreitet. Ihm liegt die
kontraktuelle Vorstellung zugrunde, dass Ehepartner sich ihre Rechte und Pflich-
ten nicht mehr von außen vorgeben lassen, sondern selbstbestimmt und rational
aushandeln (5.). Dem Modell der Partnerschaft lichkeit auf der konjugalen Ebene
entspricht auf der Ebene der Eltern-Kind-Beziehungen die „Verhandlungsfami-
lie“ (6.). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengeführt (7.). Eine These
des Beitrages ist, dass die historische Entwicklung nicht eindimensional verläuft
(„Von Status zu Vertrag“), sondern widersprüchlich und spannungsvoll: Vertrag-

2 Weber (1972) hat eindringlich auf die Gefahren der „Rationalisierung“ hingewiesen,
insbesondere in Bezug auf die Sphären von Religion, Kunst und privaten Lebensver-
hältnissen. Habermas (1981) hat diesen Gedanken in der Formel „Kolonialisierung der
Lebenswelt“ noch zugespitzt. Die Privatsphäre erscheint als bedroht, durch Prozesse
der Rationalisierung (Verrechtlichung, Ökonomisierung usw.). In dieser Traditions-
linie wird gegenwärtig in der Soziologie eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz zur
Kontraktualisierung, vor allem im Sinne einer zunehmenden Marktförmigkeit von
sozialen Beziehungen, kritisch diskutiert (siehe z.B. Bröckling 2007, S. 127ff.). Illouz
(2011) hat auf die Problematik der Rationalisierung von Liebesbeziehungen hingewie-
sen. Sie sieht eine Gefahr, dass die Kraft der romantischen Liebe durch Prozesse der
Verwissenschaftlichung (Psychologisierung), Ökonomisierung (Marktförmigkeit) und
Kontraktualisierung (Partnerschaftlichkeit) geschwächt wird.
74 Günter Burkart

liche und nichtvertragliche Elemente bestehen gleichzeitig, und auch wenn die
Vertragsförmigkeit historisch zunimmt, so bleibt doch ein erheblicher Anteil, der
sich dieser Form von Rationalität nicht fügt.

2 Historischer Hintergrund

Haben sich Ehe und Familie also zu vertragsförmigen Institutionen im oben ge-
nannten Sinn entwickelt?3 Klar ist zunächst, dass Familien in der traditionalen
(vormodernen) Welt noch sehr viel stärker als heute Wirtschaftseinheiten waren
und zum Teil auch – insbesondere in den Oberschichten – politische Einheiten.
Die Familien der Oberschichten waren auch die Zentren wirtschaft licher, sozialer
und politischer Aktivitäten (Luhmann 1980). Sie konnten deshalb die Eheschlie-
ßung ihrer Kinder nicht dem Zufallsprinzip überlassen, etwa der Unberechen-
barkeit von Zuneigungen unter ihren Nachkommen. Besonders die Allianzehe
zwischen mächtigen Familien war deshalb eine wohlüberlegte Sache, die vertrag-
lich abgesichert werden musste. Auch bei der Vererbung von Besitz, wenn sie mit
einer Heirat verbunden war, lag es nahe, die Transaktion vertraglich abzusichern,
etwa durch einen Mitgift-Vertrag (Schönpflug 2013; Goody 1985; Dülmen 1990,
S.140ff.).
Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass Ehe und Familie in der traditiona-
len Welt durchgängig vertragsförmig geregelte Institutionen gewesen wären. Da-
gegen spricht zunächst einmal, dass „Vertrag“ in der Vormoderne etwas anderes
bedeutet als in der Moderne: Zum einen war die Vorstellung eines individuellen
Rechtssubjekts mit Vertragsfähigkeit noch wenig entwickelt, zum zweiten war das
Rechtssystem noch nicht stark genug ausdifferenziert, d.h. gegenüber Politik und
Wirtschaft noch nicht so abgegrenzt und autonom wie heute.4 Dagegen spricht
weiterhin, dass Ehe und Familie – jedenfalls im kulturellen Kontext des Christen-
tums – von der Kirche reglementierte, aber auch geschützte Institutionen waren,
kirchenrechtliche Vorgaben also starken Einfluss hatten.5 Und gegen den Ver-

3 In historischer Perspektive bezieht sich der Prozess der zunehmenden Vertragsförmig-


keit in erster Linie auf die Ehe – im Unterschied zur heutigen Situation, in der gerade
auch nichteheliche Paarbeziehungen von diesem Prozess erfasst werden.
4 Je größer in der Moderne die relative Autonomie des Rechtssystems gegenüber Politik
und Wirtschaft wurde, desto stärker wurden Verträge relativ frei von politischer oder
ökonomischer Einflussnahme (vgl. dazu etwa Luhmann 1989).
5 Das Christentum hat allerdings, im Unterschied zu den meisten anderen Kulturen bzw.
Religionen, den patriarchalen Einfluss geschwächt und den Konsensgedanken ein-
geführt, also die Entscheidungsautonomie der Brautleute gegenüber ihren Eltern ge-
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 75

tragscharakter der traditionalen Familie spricht schließlich auch, dass Ehe und
Familie im Kontext patriarchaler Strukturen auch Instrumente zur Absicherung
von Familienmacht und von männlicher Vorherrschaft waren. Generell war die
Ehe stärker in den sozialen Kontext von Familie und Verwandtschaft eingebun-
den als in der Moderne.6 Die traditionelle Ehe war also kein Vertrag (jedenfalls
kein Vertrag zwischen den individuellen Eheleuten), sondern eine Institution im
Kontext sozio-ökonomischer und kirchlicher Normierungen und Familieninte-
ressen; und dort, wo sie vertragsähnliche Elemente hatte, war sie kein Vertrag
zwischen Individuen, sondern zwischen Familien, Gruppen, Verwandtschafts-
verbänden – und das waren dann in der Regel Verträge mit stark politischer, wirt-
schaft licher und sozialer Funktion.
Doch in der Moderne (seit dem 18. Jahrhundert, in England deutlich früher)
setzte sich dann durch verschiedene individualistische Strömungen (Aufk lärung,
Liberalismus, Utilitarismus) immer mehr der Vertragsgedanke im Sinne des so-
zialphilosophischen „Gesellschaftsvertrags“ durch, demzufolge gesellschaft liche
Ordnung dadurch zustande kommt, dass vernünft ige Individuen sich auf ein Re-
gelwerk einigen, wie etwa die Verfassung, oder, auf speziellen Ebenen, Ordnun-
gen für Arbeits-, Kauf- oder Schuldverträge. Das begünstigte auch die Sichtweise,
dass die Ehe (als Basis der Familie) ein Vertrag sein könnte. Deshalb hat sich in
der einschlägigen Debatte die Formel durchgesetzt: „from status to contract“.7 Al-
lerdings gab es auch schon früh feministische Kritik, derzufolge die Ehe zumin-
dest kein gerechter – und damit kein echter – Vertrag sei (Pateman 1988; Gerhard
2005; Young 2008).
Es ist hier nicht der Ort, im Detail auf die verschiedenen historischen Etappen
einzugehen, die der Vertragsgedanke durchlaufen hat und wie er Eingang ins Ehe-
recht gefunden hat. Jedenfalls wurde das aufgeklärte Vernunft recht, insbesondere

stärkt – wenn auch nicht unbedingt aus ideologischen, sondern eher aus ökonomischen
Gründen, wie Goody (1986) zeigt, der die Heiratspolitik der mittelalterlichen Kirche
untersucht hat. Die christliche Kirche hat somit ungewollt dem Vertragsgedanken den
Weg bereitet.
6 Auf die sich erst in der Moderne durchsetzende, im Kulturvergleich außerordentliche
Besonderheit der westlichen Konzeption der Ehe als relativ autonom gegenüber dem
Verwandtschaftssystem (besonders deutlich in den USA) verweist Parsons (1943).
7 Die Formel geht zurück auf Henry Sumner Maine (1861). In traditionalen Gesellschaf-
ten ergibt sich die Rechtsfähigkeit des Individuums aus dem Status (der Zugehörigkeit
zu einer Gruppe), später zunehmend über Vertragsfreiheit. Die Idee des Vertrags, ent-
standen aus dem Naturrecht, sieht den Menschen als Subjekt, das mit Hilfe des Ver-
trags sein Zusammenleben mit anderen disponibel, als „in jeder ihrer Ausformungen
kontingent“ gedacht, gestalten kann (Luhmann 1969, S. 10).
76 Günter Burkart

in Deutschland, im Verlauf des 19. Jahrhunderts (seit 1848) allmählich zurück-


gedrängt – hin zu einer Konzeption von Ehe (im BGB von 1900) „als eine vom
Willen der Ehegatten weitgehend unabhängige Ordnung“ (Röthel 2010, S. 10), mit
staatlichen Ordnungsvorgaben wie der Vorstellung von Familie als „Keimzelle“
der Gesellschaft und mit stark patriarchalen Elementen. Diese wurden spätestens
seit 1957 (Gleichberechtigungsgesetz) allmählich aufgehoben, und im Verlauf der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schob sich auch im deutschen Eherecht die
Vertragsidee wieder stärker in den Vordergrund.
Ein Vertrag kann im Prinzip gekündigt werden, im Unterschied zu einem Sak-
rament oder einer Verwandtschaftsregel oder einer Machtbeziehung – an der Ent-
wicklung des Scheidungsrechts lassen sich Säkularisierung und Rationalisierung
der Ehe daher besonders gut ablesen. Das Scheidungsrecht ist heute weitgehend
privatisiert, d.h. jeder kann den Vertrag, sogar einseitig, jederzeit aufk ündigen,
ohne Angabe von Gründen. Man könnte auch sagen, es genügen Vernunftgründe.
„Unsere Ehe ist zerrüttet“, stellt man dann nüchtern fest, und die Scheidungs-
richter fragen nicht mehr nach Verfehlungen oder Schuld.8 Das wäre ein weiteres
Argument für die Vertragsförmigkeit der Ehe: Generell lässt sich die Vertrags-
förmigkeit von Institutionen ja auch daran ablesen, dass es keiner moralischen
Begründung zu ihrer Legitimierung bedarf. Verträge sind im Prinzip amoralisch,
d.h. außerhalb der moralischen Sphäre angesiedelt. Es sieht also ganz so aus, als
sei die Ehe immer mehr aus ihrer sozialen Einbettung gelöst worden.

3 Modernisierung von Paarbeziehung und Familie


im Spannungsverhältnis zwischen dem Vertrags-
gedanken und dem Ideal der Liebesehe

Allerdings gibt es aus soziologischer Perspektive erhebliche und grundsätzliche


Zweifel an der Vertragsidee, bezogen auf die moderne Gesellschaft. Der Aufstieg
der Soziologie zur Wissenschaft von der Gesellschaft seit dem Ende des 19. Jahr-
hunderts beruht nicht zuletzt auf einer Kritik des Kontraktualismus. Durkheim
(1977) etwa betonte, dass der „Gesellschaftsvertrag“ erst funktioniert, wenn sich

8 Dennoch halten Juristen grundsätzlich an der Unauflösbarkeit der Ehe fest. Im § 1353
des BGB heißt es: „Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen.“ Allerdings wurde dieser
Satz erst mit dem Übergang zum Zerrüttungsprinzip ins BGB aufgenommen. Dies ver-
weist nicht nur darauf, dass er früher selbstverständlich war, sondern auch, dass die
Funktion der lebenslangen Unauflöslichkeit heute eine andere ist: Sie verhindert nicht
die Scheidung, sondern erklärt, warum auch nach der Scheidung noch Verpflichtungen
(Unterhalt) bestehen (Röthel 2010).
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 77

in der Gesellschaft ein stabiles Vertrauen in die Vertragsidee entwickelt hat. Er


sprach deshalb von der Notwendigkeit von nicht-vertraglichen Grundlagen des
Gesellschaftsvertrags, die er in der religiösen Tradition sah, auch wenn diese
schon zu seiner Zeit durch Säkularisierungsprozesse an Sichtbarkeit verloren hat-
te. Und Parsons (1937) kritisierte später die utilitaristische Idee von Gesellschaft
unter Hinweis auf grundlegende Wertvorstellungen, zu denen auch der Glau-
be gehört, dass Verträge etwas grundsätzlich Positives sind, etwas „Wertvolles“
(ursprünglich im religiösen Sinn des „Heiligen“). Man muss sozusagen an „das
Heilige“ glauben, das den Vertrag fundiert. Letzte Werte (‚ultimate values‘) sind
durch Vernunft nicht begründbar, ein Gedanke, den auch Bourdieu (1997) stark
macht, wenn er grundsätzlich betont, dass man an die Überlegenheit der Ver-
nunft erst einmal glauben muss.
Analog zur Gesellschaft, die allein auf der Grundlage eines „Gesellschaftsver-
trags“ nicht funktionieren würde, ist aus soziologischer Sicht daher auch fraglich,
ob die konjugale Beziehung als Vertrag funktionieren kann – für die Familie, also
die Eltern-Kind-Beziehungen, sind Zweifel ohnehin naheliegend. Der Gedanke
der Vertragsförmigkeit der Ehe betont zu sehr das rationale Moment und die
Autonomie der Partner (auch im Sinne unterschiedlicher Interessen) und ver-
nachlässigt die Bindungswirkung der Institution des Paares. Diese besteht auch
für nichteheliche Lebensgemeinschaften. Auch sie entwickeln, unabhängig von
der Rechtsform, ein institutionelles Binnenverhältnis, ein Bündel von Rechten
und Pflichten, gegenseitiger Verantwortung und Solidarität (‚commitment‘). Wir
können daher für Ehe und Familie grundsätzlich von einer weiterhin geltenden
sozialen Normierung ausgehen – trotz Individualisierung.
Der Vertragsgedanke ist, wenn man die historische Entwicklung betrachtet,
ja ohnehin nur eine Seite der Modernisierung, die gerade in Bezug auf priva-
te Lebensformen auch widersprüchlich ist. Seit dem 18. Jahrhundert sind zwei
unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten, die zwar beide das traditionelle
Verständnis von Ehe und Familie unterhöhlten, sich aber auch gegenseitig in die
Quere kamen: Neben der erwähnten Tendenz in Richtung Vertragsgedanke ha-
ben wir es vor allem mit der Durchsetzung der Liebesehe zu tun. Ein historisch
neues Junktim zwischen romantischer Liebe und bürgerlicher Ehe entstand: Wer
liebt, sollte auch heiraten; und geheiratet werden sollte nur, wenn sich die Braut-
leute liebten (Leupold 1983; Burkart 1998; Lenz 1998). Das war ein klares Votum
gegen die „Sachehe“ (also gegen wirtschaft liche und politische Ehegründe), aber
auch gegen die vernünftige Ehe der Aufk lärung, also den Vertragsgedanken. Je
mehr sich die Liebesehe verbreitet hat, desto stärker ist umstritten, ob die Ehe –
oder gar die intime Beziehung im Allgemeinen – als Vertrag, als Zweckverband
angesehen werden kann. Tatsächlich hat sich die Liebesehe historisch immer stär-
78 Günter Burkart

ker durchgesetzt, und im 20. Jahrhundert wurde sie schließlich zur universellen
Norm, zumindest in der „westlichen“ Welt.9

4 Liebe als Gabentausch – im Rahmen einer Theorie


der Praxis

Die romantische Liebe und die Liebesehe stehen also in einem starken Span-
nungsverhältnis zum Modell des rationalen Vertrags und des ökonomisch-
rationalen Austauschverhältnisses. Sie sind deshalb mit entsprechenden Theorien
nur unzureichend zu erfassen. Eine bessere Möglichkeit, so scheint mir, bietet
sich mit dem Modell des Gabentausches, das aus ethnologischen und historischen
Forschungen abgeleitet ist, und dessen moderne Variante sich in der Theorie der
Praxis wiederfindet.
Für diese Perspektive ist es allerdings unumgänglich, die Bahnen der klas-
sischen Handlungstheorie zu verlassen um jenseits des Methodologischen In-
dividualismus nach alternativen theoretischen Konzepten zu suchen, die Ver-
gemeinschaftungsprozesse in Familien und Paarbeziehungen verständlich
machen. Der Methodologische Individualismus bietet sich natürlich in der kon-
ventionellen Survey-Forschung an, wir haben es in der Regel mit Individual-
daten, häufig mit Selbstaussagen der Individuen über ihre Situation zu tun. Im
Zusammenspiel von Rational-Choice-Theorien und der Individualisierungsdis-
kussion hat das aber auch dazu geführt, Paare und Familien immer häufiger als
Kooperationseinheiten von mehr oder weniger rationalen Individuen, die ihre
Interessen individuell verfolgen, anzusehen. Hier ist zweifellos auch eine Mit-
telschicht-Verzerrung am Werk, d.h. die Situation von Doppelkarriere-Paaren,
wo tatsächlich eine Verfolgung von Eigeninteressen von Mann und Frau stär-
ker ist als in der klassischen Versorgungsfamilie, wird tendenziell zum Nor-
malmodell von Familie überhaupt gemacht – so dass wir häufig das Bild haben,
dass Paarbeziehungen und Familien Verhandlungsarenen sind, in denen die
Beteiligten ihre Individualinteressen verfolgen.
Eine Alternative könnte deshalb sein, im Anschluss an das ethnologische
Gabentausch-Modell eine Theorie familialer Praxis zu entwickeln, die stärker als
die klassische Handlungstheorie auf die Einheit der Vergemeinschaftung ausge-

9 Vgl. zum Beispiel Illouz (2003) für die Verbreitung des Modells der Liebesehe in der
amerikanischen Arbeiterklasse in den 1920er Jahren.
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 79

richtet ist.10 Sie betrachtet soziale Beziehungen zwar auch als Austauschbeziehun-
gen, betont jedoch im Gegensatz zum rationalen Modell des Tausches, wie es auch
dem Vertragsmodell zugrunde liegt, nicht so sehr die unterschiedlichen Interes-
sen rationaler Individuen, die – etwa durch Verhandlungen – ihre individuelle
Kosten-Nutzen-Bilanz optimieren wollen, sondern begreift Austauschprozesse
als symbolische Vergemeinschaftungsakte, bei denen der Tausch die sozialen
Bindungen stärkt.
Huinink und Röhler (2005, S 23ff.) zum Beispiel konstatieren, dass man Liebes-
beziehungen zwar als Austauschbeziehung fassen könne, jedoch nicht im Sinne
der klassischen Tauschtheorie – denn die Haltung, die typisch ist für den Kontext
von Liebe in Paarbeziehungen, unterscheide sich „grundlegend von einem rein
instrumentellen Interesse am Austausch, bei dem nur Leistungen erbracht und
Investitionen getätigt werden, die sich ‚rechnen‘ – sei es nun wegen erwarteter
positiver Nutzeffekte oder wegen hoher Opportunitätskosten aufgrund befürch-
teter Sanktionen“ (Huinink und Röhler 2005, S. 26).11
Das Gabentauschmodell impliziert eine andere Form von Reziprozität, bei der
durch gegenseitige Bezugnahme und Anerkennung eine Stabilisierung der Einheit
gefördert wird. „Im Unterschied zur Ware bzw. zur vertraglich gebundenen Leis-
tung ist die Gabe kein beliebiges, von der Individualität des Gebenden loslösbares
Objekt, sondern Teil seiner Persönlichkeit, die dem Beschenkten über den aus-
getauschten Gegenstand zuteil, gewissermaßen ‚nahegebracht‘ werden soll. Die
Gabe hat also die Funktion, die Bindung des anderen zu stärken, ihn z.B. in Form
von Dankbarkeit und Zuneigung auf das Gemeinsame hin zu verpfl ichten und
der gemeinsamen Beziehung Ausdruck zu verleihen“ (Koppetsch 1998, S. 115). Es
geht um die Stiftung eines gemeinsamen Bandes – und nicht darum, eine gleich-
wertige Gegenleistung zu erhalten. So entsteht eine Ökonomie der Dankbarkeit
(‚economy of gratitude‘), wie Hochschild (1989) formuliert hat. Zwar ist auch in
der Theorie des Gabentausches von Mauss (1923, 1924) die Pfl icht zur Gegengabe
ein wichtiges Element, doch bezogen auf die Liebesbeziehung wird man sagen

10 Um einen für Paarbeziehungen angemessenen Begriff von „Gabentausch“ zu gewin-


nen, muss er von der Verwendung auf Kollektive in archaischen Gesellschaften gelöst
und auf persönliche Beziehungen in modernen Gesellschaften übertragen werden
(Koppetsch 1998). Bei Mauss (1923, 1924) ist der Gabentausch eine grundlegende, uni-
verselle Form der Vergesellschaftung, er spricht deshalb von einer „totalen sozialen
Tatsache“ (‚fait social total‘).
11 Der „über Liebe vermittelte Austausch“ stellt für Huinink und Röhler (2005, S 28) „eine
wichtige Basis für die Stabilität des instrumentellen Austauschs mit gerade diesem be-
stimmten Partner“ dar. Huinink und Röhler sprechen allerdings nicht explizit vom
„Gabentausch“.
80 Günter Burkart

können: Gegenliebe lässt sich nicht vertraglich einfordern oder einklagen, weil es
sich dabei nicht um eine rationale, auf Äquivalententausch bezogene Beziehung
handelt. Es geht auch nicht um „Geben und Nehmen“. „Soweit es überhaupt um
‚Geben‘ geht, besagt Liebe deshalb: dem anderen zu ermöglichen, etwas zu geben
dadurch, dass er so ist, wie er ist“ (Luhmann 1982, S. 30). Die Liebesbeziehung lebt
davon, dass der andere als ganze Person, einschließlich seiner negativen Seiten,
anerkannt, unterstützt und bevorzugt und nicht als Summe von positiven und
negativen Eigenschaften betrachtet und bewertet wird.
Eine modifizierte Version der Theorie des Gabentausches ist die Theorie der
Praxis, wie sie vor allem von Bourdieu (1976, 1986) entwickelt worden ist. Sie
scheint mir als Alternative zur klassischen Handlungstheorie geeignet zur Erfas-
sung von Vergemeinschaftungsprozessen in Intimbeziehungen. Diese Theorie ist
auch von der Phänomenologie beeinflusst, deren Potential zur Analyse von In-
timgemeinschaften ebenfalls mehr genutzt werden könnte – auch unter Einbezug
der neueren Emotionsforschung (Landweer 2007; Scheve 2009). Die Theorie der
Praxis ist eine Theorie des symbolischen Tausches, und sie betont die vorsprachli-
chen, nicht-intentionalen und leiblichen Elemente von sozialen Beziehungen. Die
Liebesbeziehung als Praxis in diesem Sinn zu begreifen macht verständlich, dass
es bei ihrer alltäglichen Reproduktion nicht so sehr auf sprachliche Reflexion oder
rationale Argumentation ankommt, sondern auf leibliche Kommunikation. Das
heißt, nicht Vernunft und rationaler Diskurs stehen im Vordergrund, sondern
die „Augensprache“, die Berührung, die „Sprache des Körpers“. Das Begehren
und der Wunsch nach Exklusivität sind nicht kognitiv-rational, sondern in der
körperlich-sinnlichen Erfahrung begründet, und werden in gemeinsamen Erleb-
nissen immer wieder stabilisiert, ebenso wie sich die grundlegende, „unbedingte“
Solidarität („Treue“) nicht auf eine quasi vertragliche Vereinbarung oder eine ex-
plizite moralische Regel zurückführen lässt, sondern durch leiblich-emotionale
Erfahrungen grundiert ist. Die Liebesbeziehung kann so als eine besondere Er-
lebens- und Praxisform begriffen werden, die sich von kognitiv-rationalen und
diskursiv vermittelten Kooperationspraktiken deutlich abhebt. Dazu gehört wei-
terhin, dass sich die Realität der Liebesbeziehung zu einem wesentlichen Teil im
„präsymbolischen“, vorbewussten, ritualisierten Raum abspielt (Langer 1965).
Ritualisierte Praktiken in diesem Sinn sind „in Fleisch und Blut übergegangen“
und wirken latent. Die besonderen Geschehnisse der Liebespraxis sind nicht das
Resultat von individuellen Vorentscheidungen, gemeinsamen Planungen und
Aushandlungsprozessen, sondern sie werden zum Beispiel in einem gemeinsa-
men Erlebnis zum Ausdruck gebracht, durch Kooperation, die keinem rationalen
Plan entspricht, sondern eine gemeinsame Hervorbringung im Sinne „interakti-
ver Emergenz“ darstellt. Es geht darum, eine gemeinsam geteilte Situation und
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 81

eine Atmosphäre herzustellen – eine Art von Vereinbarung zu finden, die nicht
auf kognitive Gehalte rekurriert, sondern auf subtile Abstimmungsprozesse, bei
denen Gesten und Bewegungen, Emotionen und leibliche Interaktionen wesent-
liche Elemente darstellen.
Dass mit diesem Ansatz gewisse methodische Schwierigkeiten aufgeworfen
werden, im Vergleich zur Surveyforschung, die beim kognitiv-rationalen Indivi-
duum ansetzt, ist nicht zu übersehen. Andererseits ist ebenso wenig zu überse-
hen, dass die Liebesbeziehung für die herkömmliche empirische Sozialforschung,
auch die qualitative, schwer zu erfassen ist. Sie verschwindet in empirischen
Untersuchungen über Paarbeziehungen meist unter der diskursiven Oberfläche
der Interviews (von Fragebögen ganz zu schweigen). Hier liegt eine große Heraus-
forderung für die Methodologie der Familienforschung, für das Entwickeln neuer
Methoden.12 Wir haben zum Beispiel in einer unserer Studien den phänomeno-
logischen Begriff der Atmosphäre13 aufgegriffen und konnten damit die besonde-
re Situation im so genannten familistischen Milieu gut beschreiben (Koppetsch
und Burkart 1999, S. 237ff.). Eine familiale Atmosphäre in diesem Sinn lässt sich
natürlich nicht mit einem Fragebogen erfassen, sondern nur mit Methoden der
Feldforschung wie Beobachtung oder Interaktionsanalysen.

5 Das Partnerschaftsmodell

Kommen wir zurück zur historischen Entwicklung und dem Erfolg der Liebes-
ehe. Im Bürgertum gab es von Anfang an Vorbehalte gegen die Liebesehe, be-
sonders bei den Besitzbürgern, die etwas zu vererben hatten und deshalb an einer
„guten Partie“ für die Kinder festhalten wollten. Darüber hinaus gab es auch Vor-
behalte gegen die Unvernunft und Willkür der romantischen Liebe, die zwar eine
Beziehung stiften konnte, aber kaum dafür taugte, den Alltag der Ehe zu organi-
sieren und deren Dauerhaftigkeit zu sichern. Diese Vorbehalte fanden Ausdruck
in einer neuen Idee von Partnerschaftlichkeit, die im 19. Jahrhundert als Leitbild
für die Ehe zunehmend Anklang fand – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund

12 Aus dieser Perspektive werden Methoden der Beobachtung oder der Aufzeichnung von
Interaktionsprozessen viel zu selten eingesetzt. Auch in der qualitativen Forschung
steht häufig das Individuum mit seiner subjektiven Perspektive im Mittelpunkt, etwa
beim biographischen Interview, und nicht die Beziehungsstruktur des Paares.
13 Dieser Begriff wurde in der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz entwickelt
(vgl. dazu Landweer 2008).
82 Günter Burkart

der feministischen Kritik an Liebe und Ehe, derzufolge in der Liebesehe keine Ge-
schlechtergleichheit herrsche (Mitchell 1985; Gerhard 2005).
Partnerschaftlichkeit, wie sie heute vielfach in der Ratgeberliteratur beschrie-
ben wird, strebt Ziele an wie Symmetrie und Gegenseitigkeit (Reziprozität),
Gerechtigkeit und Gleichheit.14 Die Mittel und Wege dazu sind intensive Kom-
munikation, radikale Offenheit (Authentizität), permanente Kooperation (Ver-
handlungsbereitschaft) und grundsätzlicher Machtverzicht. Auch der Verzicht
auf tradierte Regeln gehört dazu: Solche Regeln müssen sich immer wieder dem
rational-kritischen Diskurs stellen. In einer partnerschaft lichen Beziehung müs-
sen also die Bedingungen der Arbeitsteilung und der Zusammenarbeit zwischen
den beiden Partnern ausgehandelt werden. Es gibt keine Privilegien. Partner-
schaft ist eine Vereinbarung auf rationaler Grundlage – und auf der Basis komple-
xer psychologischer Kompetenzen, denn dieses Vertragsmodell ist psychologisch
fundiert. Es geht um die Kommunikation zwischen zwei psychologisch geschul-
ten, selbst-reflexiv kompetenten Individuen, die authentisch über ihre Gefühle
sprechen können, die gelernt haben, ihre Bedürfnisse psychologisch zu bewerten
und sich über moralische Vorgaben und soziale Regeln hinwegzusetzen bzw. die-
se als „traditionell“ oder „konventionell“ zu kritisieren und abzulehnen. Diese
Entwicklung lässt sich im Kontext des Aufkommens einer Therapie-, Reflexions-
und Bekenntniskultur verstehen (Burkart 2006; Illouz 2008).
Der Kontrast zu Beschreibungen von romantischer Liebe ist offenkundig. Die
Liebe favorisiert Verschmelzung und Hingabe (statt individueller Autonomie
und authentischer Selbstexpression), Körperlichkeit (statt Argumentation), „frei-
willige Hingabe“ (statt kontraktueller Gleichheit). Gerechtigkeit, Gleichheit oder
Vernunft sind für die romantische Liebe nur von untergeordneter Bedeutung.
Am Vergleich zwischen Partnerschaft und Liebe lässt sich daher die Logik des
Gabentauschs bzw. die Logik der Praxis gut veranschaulichen. Es ist fraglich, ob
das Partnerschaftsmodell in der Praxis überhaupt funktionieren kann, denn es
macht in letzter Konsequenz die Paarbeziehung (mit oder ohne Ehe) zu einem
Gebilde, in dem zwei autonome Individuen ihre Interessen zweckrational gegen
den anderen verteidigen. Es ist letztlich zu individualistisch gedacht. Das Modell
radikalisiert die Autonomie- und Individualitätsansprüche beider Partner, auch
in der Binnenperspektive des Paares (Burkart und Koppetsch 2001; Bethmann

14 Der Begriff Partnerschaft bzw. Partnerschaftlichkeit wird hier weder als Synonym für
Paarbeziehung im Allgemeinen noch für nichteheliche Partnerschaften verstanden,
wie vielfach in der psychologischen Literatur und im Alltag, sondern als ein mögliches
Leitmodell für die Gestaltung von Paarbeziehungen – etwa in Konkurrenz zur Liebe
oder zum Prinzip der patriarchalen Versorgungsehe.
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 83

2013). Ein Grundproblem ist außerdem, dass hier universalistische Werte (wie
Gerechtigkeit oder Vernunft) von außen, von der öffentlichen Sphäre, in die Pri-
vatsphäre hineingetragen werden.
Partnerschaft ist im Diskurs verbreitet, besonders bei Paaren mit höherer Bil-
dung, hat aber für die Organisation der alltäglichen Beziehungspraxis weniger
Bedeutung (Koppetsch und Burkart 1999; Kaufmann 1994; Bethmann 2013).
Insgesamt kann festgehalten werden, dass Liebe und Partnerschaft nicht leicht
zu vereinbaren sind. Partnerschaft allein reicht weder aus, eine Paarbeziehung
in Gang zu bringen und sie aufrechtzuerhalten, noch ihr Dauer und Tiefe zu ver-
leihen (Leupold 1983). Vor allem als leibgebundene Praxis ist Liebe nicht durch
Partnerschaft ersetzbar.
Gleichwohl hat sich das Partnerschaftsmodell als Leitidee immer stärker durch-
gesetzt, vor allem im Zuge der Beobachtung eines neuen Individualisierungs-
schubes im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (Leupold 1983; Giddens 1993).15
Dies hat auch zu einer Renaissance des Gedankens von Ehe- und Partnerschafts-
verträgen beigetragen. Zwar ist das Partnerschaftsmodell zunächst noch nicht
als konkreter, expliziter Vertrag konzipiert – im Gegenteil: manche Vertreter des
Modells würden die vertragliche Festlegung von Vereinbarungen sogar ablehnen;
für sie muss sich eine Vereinbarung sozusagen jeden Tag aufs Neue bewähren.
Generell taucht hier das Problem auf, dass eine Neigung zu Verträgen in persön-
lichen Beziehungen eine Art strukturelles Misstrauen zum Ausdruck bringt, das
die Grundlage solcher Beziehungen unterhöhlt. Dennoch stärkte die diskursive
Durchsetzung des Partnerschaftsmodells die Tendenz zu konkreten Vertrags-
praktiken und verstärkte auch die Tendenz, Ansprüche an den Gesetzgeber zu
richten, den rechtlichen Rahmen für nicht-eheliche Partnerschaften zu konkre-
tisieren. Insbesondere für solche Paare wurde dies interessant, die vielleicht aus
ideologischen Gründen gegen die Ehe eingestellt waren, aber dennoch eine in-
dividuell gestaltete vertragsähnliche Vereinbarung abschließen oder zumindest
keine rechtlichen oder sonstigen Nachteile gegenüber Verheirateten haben woll-
ten. Seit den 1970er Jahren gibt es deshalb eine neue Welle von Überlegungen und
Modellen zu Partnerschaftsverträgen – zunächst insbesondere für nichteheliche
Paare und für homosexuelle Paare.16 In Frankreich gibt es seit 1999 die Möglich-

15 Scholz (2013) kommt (in einer Analyse von Ratgebern) zu dem Ergebnis, dass sich in-
zwischen eine Art „partnerschaftliche Liebe“ durchgesetzt habe.
16 Die positiven Stellungnahmen für Partnerschaften außerhalb der heteronormativen
Ehe mündeten in Deutschland schließlich in das Gesetz für eingetragene Lebenspart-
nerschaften (2001). Für nichteheliche Lebensgemeinschaften gibt es eine Fülle von Be-
ratungshandbüchern, u.a. in Bezug auf Partnerschaftsverträge (z.B. Grziwotz 2006).
84 Günter Burkart

keit, an Stelle der Ehe einen „Zivilpakt“ zu schließen. Erstaunlicherweise wurde


dieses Modell weniger von homosexuellen Paaren, für die es eigentlich gedacht
war, in Anspruch genommen, sondern viel häufiger von heterosexuellen Paaren.17

6 Die „Verhandlungsfamilie“

Bisher war vor allem von den Partnern in einer Beziehung die Rede. Doch in der
Familie sind diese Partner auch Eltern – und das Pendant zum Partnerschafts-
modell ist auf der Ebene der Eltern-Kind-Beziehungen die „Verhandlungsfami-
lie“. Unter der Formel „Von der ,Befehlsfamilie‘ zur ‚Verhandlungsfamilie‘“ fi ndet
sich in der Forschungsliteratur der Familiensoziologie, Familienpädagogik und
Sozialisationsforschung die Diagnose, dass die patriarchalen Machtstrukturen
immer mehr zurückgedrängt wurden, nicht nur in Bezug auf die Geschlechter-
verhältnisse, sondern eben auch bezogen auf die Kinder, die immer stärker als
„Partner“ und gleichberechtigte verhandlungsfähige Akteure im Rahmen fami-
lialer Entscheidungsprozesse betrachtet werden (Bois-Reymond 1994; Ecarius
2002; Ecarius et al. 2011).
Ich nenne stichwortartig einige der Elemente, die in der entsprechenden For-
schung zusammengetragen wurden: Als Leitbild hat sich ein permissiver Erzie-
hungsstil durchgesetzt, der einhergeht mit einem deutlichen Rückgang körper-
licher Bestrafung (Bussmann 2007). Die Stärkung der Eigenverantwortung der
Kinder durch Teilhabe an Entscheidungen führte zu einem Erziehungsstil des Ver-
handelns: Erzieherische Anweisungen werden nicht mehr als Befehle markiert,
sondern als Empfehlungen und pädagogische Ratschläge – und diese müssen
begründet werden, wenn das Kind keine Bereitschaft erkennen lässt, ihnen zu
folgen. Damit ist eine Zunahme von Verhandlungsspielräumen für die Kinder
verbunden, wenn sie mit Anweisungen der Eltern konfrontiert sind. Kinder wer-
den von Befehlsempfängern zu ernstzunehmenden Interaktionspartnern, an die
Stelle von Anweisungen und Gehorsam sind freie Persönlichkeitsentfaltung und
eigenverantwortliches Handeln getreten.

17 „Zur allgemeinen Überraschung wurde der Pakt [PACS = pacte civil de solidarité] nicht
so sehr von Schwulen und Lesben in Anspruch genommen“, sondern vor allem von he-
terosexuellen Paaren. 2010 seien mehr als 200.000 Zivilpakte, aber nur noch 250.000
neue Ehen geschlossen worden (Fabian Leber, Gemeinschaft in der Gemeinschaft,
Der Tagesspiegel, 6.3.2013, S. 6). Vgl. dazu auch den Artikel des statistischen Amtes in
Frankreich, „Bilan demographique 2009: Deux pacs pour trois mariages“ (http://www.
insee.fr/fr/themes/document.asp?ref_id=ip1276) Zugegriffen: 8.März 2013
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 85

Einige Elemente dieses neuen Erziehungsstils werden manchmal mit einer


Mittelschichtorientierung in Verbindung gebracht, und zum Teil haben wir es
erst einmal mit einem Leitbild, einem normativen Ideal zu tun (wie es sein sollte,
wie man es sich als fortschrittlicher Pädagoge wünscht). Es gibt gleichwohl empi-
rische Hinweise, dass dieses Ideal über die Mittelschichten hinaus an Bedeutung
gewonnen hat, besonders, wenn man längere Zeiträume betrachtet.18
Grundsätzlich wird diese Entwicklung in der Forschungsliteratur positiv be-
wertet (die ForscherInnen sind ja auch häufig Reformpädagogen oder „Achtund-
sechziger“) – zumal, wenn man sie im Kontext des Kindeswohls sieht, das in den
letzten Jahrzehnten immer stärker in den Mittelpunkt gerückt ist, sowohl im
Familienrecht als auch in der Familienpolitik und der Familienhilfe (Bauer und
Wiezorek 2007). Auch in den Einstellungen und Praktiken der Eltern hat sich in
den letzten Jahrzehnten ein deutlicher Wandel vollzogen: Gewalt als Erziehungs-
maßnahme kann immer weniger mit Zustimmung rechnen, sie ist auch faktisch
deutlich zurückgegangen. Doch es gibt auch Gefahren oder Probleme. Vor allem
besteht die Gefahr, die Kinder zu überfordern, ihnen einen Status zuzuschrei-
ben, den sie noch nicht haben können – gewissermaßen den Status als autono-
me Rechtssubjekte. Es besteht die Gefahr, dass die Eltern in gewisser Weise auf
die Erziehungsverantwortung ganz verzichten, die Kinder sollen sich sozusagen
selbst erziehen. Die Erziehungstätigkeiten verlieren dann ihre Sichtbarkeit, ihren
expliziten Charakter, sie werden vermischt mit anderen Praktiken. Die Familie
hat eine offenere Interaktionsstruktur, die Elternrollen werden zumindest expli-
zit-verbal nicht mehr wahrgenommen, denn Begründungen für elterliche Anwei-
sungen können sich nicht mehr selbstverständlich an der Rolle orientieren („weil
ich dein Vater bin“). Man bringt die Kinder dadurch in einen potentiellen Kon-
flikt, zugleich Partner und Zögling sein zu sollen. Besonders bei Alleinerziehen-
den gibt es eine gewisse Tendenz, das Kind als Partnerersatz zu verstehen (Tyrell
und Herlth 1994).19

18 Diese Einsicht wurde vor allem in Generationsstudien gewonnen. Die Generationen


in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren noch stark an Gehorsam und Pflicht-
erfüllung orientiert, in der unmittelbaren Nachkriegszeit an „Ruhe und Ordnung“
(Ecarius 2002). Diese Werte und entsprechende Erziehungsziele und Erziehungsstile
lösten sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend auf.
19 Dazu kommt eine Tendenz, die man heute gern unter dem Stichwort der Gouverne-
mentalität diskutiert, mit Begriffen wie „Selbstregierung“ und Selbstkontrolle. Es gibt
einen neuen Imperativ der Selbstkontrolle und Selbstreflexion (Burkart 2006), der zu-
nehmend auch auf Kinder übertragen wird. Das Kind muss demzufolge nicht erzogen
werden, die Eltern müssen lediglich beobachten, wie weit es mit seiner Selbstentwick-
lung schon gekommen ist.
86 Günter Burkart

Die Vorstellung der „Verhandlungsfamilie“ ist nicht nur auf die Sozialisierung
der Kinder beschränkt, sondern lässt sich allgemein auf die Generationsbeziehun-
gen in Familienverbänden beziehen. In den letzten Jahren hat die entsprechende
Forschung ein hohes Maß an wechselseitiger Solidarität zwischen den Familien-
generationen festgestellt, aber auch gezeigt, dass viele Transferleistungen je nach
Familienkonstellation ausgehandelt werden (Kohli und Szydlik 2000; Lüscher
und Liegle 2003; Lauterbach 2004).20 Auch die Forschungen zu Scheidungsfolgen
und Stieffamilien haben gezeigt, dass tradierte Regeln der Verwandtschaftsbe-
ziehungen nicht mehr uneingeschränkt gelten (Sieder 2008; Steinbach 2010). Die
damit gesteigerte Komplexität von Familienbeziehungen spricht für mehr Ver-
handlungen und weniger starre Regeln – gerade in den kompliziert gewordenen
Verwandtschaftsbeziehungen muss vieles entschieden werden, was früher durch
die „Terminologie“ vorbestimmt war. Gleichwohl zeigt die Generationsforschung
insgesamt aber auch, dass Generationsbeziehungen nicht dem Modell des ratio-
nalen Vertrags folgen, sondern eher dem Modell des Gabentausches.

7 Fazit

Als allgemeine Tendenz lässt sich also festhalten: Es gibt in historischer Pers-
pektive immer mehr Aushandlungsprozesse in privaten Beziehungen. Die Paar-
beziehung scheint immer mehr zu einer Verhandlungsarena geworden zu sein.
Damit hat sich auch eine Tendenz der Kontraktualisierung des Privatlebens und
der zunehmenden Vertragsförmigkeit von persönlichen Beziehungen bemerkbar
gemacht. Diese Entwicklung wurde gefördert durch den langfristigen Struktur-
wandel von Ehe und Familie im Sinne einer Schwerpunktverlagerung von der
Familie hin zum konjugalen Paar (der relativen Loslösung des Paares aus dem
Familienverband), weil dadurch den Paaren mehr Autonomie über ihre eigenen

20 Das gilt auch für Übergaberegelungen bei Familienbetrieben (Stamm 2013, Stamm et
al. 2011). Bei der Frage der Betriebsnachfolge stellte Stamm (2013, S. 310) zum Beispiel
fest, dass sich seit den 1980er Jahren allmählich die Selbstverständlichkeit auflöste, mit
der die Kinder in Unternehmerfamilien zur Nachfolge „erzogen“ (und häufig gedrängt)
wurden. Die Selbstverständlichkeit, mit der früher die Lebensplanung von Unterneh-
mersöhnen ganz auf die Betriebsübernahme ausgerichtet war, ist in historischen Stu-
dien belegt (z.B. Groope 2004). Durch den Abbau des Patriarchalismus ist heute die
Nachfolgeregelung ein offenerer Prozess. Es ist komplizierter geworden herauszufin-
den, wer am besten für die Nachfolge geeignet ist. Und im Zweifelsfall wird der Betrieb
eher verkauft, als dass ein möglicherweise ungeeigneter Nachkomme „zur Übernahme
bzw. Weiterführung verpflichtet oder gezwungen wird“ (Breuer 2009, S. 276).
Paarbeziehung und Familie als vertragsförmige Institutionen? 87

Angelegenheiten, relativ zum Einfluss der erweiterten Familie und Verwandt-


schaft zukam.
In der soziologischen Diskussion findet sich bekanntlich die Vorstellung eines
langfristigen Individualisierungsprozesses, in dem auch innerhalb der Paarbezie-
hung die individuelle Autonomie zunimmt, und in dem außerdem traditionelle
Normierungen zurückgedrängt werden. Das gilt für religiös-kirchliche Gebote,
staatliche Ordnungsleitbilder sowie patriarchale Normen. Damit setzt sich die
Leitidee durch, dass Menschen in Paarbeziehungen als autonome Individuen
relativ frei von sozialen Normierungen sind – und eben deswegen miteinander
„verhandeln“ müssen. Zwei entsprechende historische Schübe werden gewöhnlich
unterschieden: der erste im 18. Jahrhundert, der zweite im letzten Drittel des 20.
Jahrhunderts. Doch „Individualisierung“ ist zum Teil eine oberflächliche, unvoll-
ständige Diagnose. Gerade das Vertragsmodell (mit der Vorstellung, Gesellschaft
konstituiere sich wesentlich durch die Interessen und Handlungen freier, auto-
nomer Individuen) hatte immer auch eine ideologische Komponente, und seine
Attraktivität (bei Philosophen und Sozialtheoretikern, Ökonomen oder Juristen)
hing auch mit Konjunkturen des Liberalismus zusammen. So gibt es etwa eine
gewisse Koinzidenz zwischen dem Aufstieg des Neoliberalismus und der Verbrei-
tung der Individualisierungsidee seit Mitte der 1980er Jahre.
Völlige Autonomie der Subjekte (im Sinne der Idee von Vertragsfreiheit) kann
es in Bezug auf eheliche oder nichteheliche Paarbeziehungen nicht geben, weil da-
mit keine intime Gemeinschaft mit einem gewissen Stabilitätsanspruch zustan-
de kommen kann, sondern allenfalls eine temporäre Zweckgemeinschaft.21 Wir
können also davon ausgehen, dass es weiterhin soziale Normierungen gibt. Zwar
hat sich mit der historischen Herausbildung einer Privat- und Intimsphäre und
der Durchsetzung der Liebesehe das konjugale Paar ein Stückweit dem Einfluss
der vertraglich regelbaren Sphäre öffentlicher Rationalität entzogen. Gleichwohl
folgen auch Paarbeziehungen sozialen Regeln.22 Das gilt schon auf der Ebene der
scheinbar weitgehend den Individuen überlassenen Vertragsförmigkeit, wo ratio-
nale Regeln der Partnerschaft lichkeit wie Reziprozität, Gerechtigkeit oder Sym-
metrie von Rechten und Pflichten beachtet werden müssen. Darüber hinaus gibt
es auch weiterhin wirksame Geschlechtsnormen, und es gibt schließlich Regeln

21 Manchmal wird das Aufkommen einer „Lebensabschnittspartnerschaft“ so interpre-


tiert, aber diese muss wohl eher als „Liebespartnerschaft auf Zeit“ interpretiert werden.
22 Interessanterweise verzichtet das Rechtssystem aber immer häufiger darauf, soziale
Normierungen zu verrechtlichen, gerade in der Privatsphäre. Damit erscheint die Pri-
vatsphäre zunehmend als rechtsfreier Raum (vgl. Struck 1996), vielleicht sogar als zu-
nehmend frei von sozialen Normierungen.
88 Günter Burkart

der Liebe und Solidarität, der Fürsorge und Hingabe. Hier ist für Berechnung
und rationale Verhandlung wenig Platz, kontraktuelle Gleichheit ist in Liebes-
beziehungen nicht von Belang, ebenso wenig wie völlige individuelle Autonomie
und formale Gerechtigkeit.
Private und höchstpersönliche Beziehungen (nichteheliche und eheliche Paar-
beziehungen sowie Familien) können deshalb nur bedingt der Logik von Vertrag
und Verhandlung folgen. Ihre eigentliche Charakteristik ist vielleicht besser zu
verstehen, wenn man nicht versucht, sie mit Hilfe von Verhaltensmodellen aus
Ökonomie und rationaler Psychologie zu beschreiben, sondern mit dem aus der
Kulturanthropologie stammenden Modell des Gabentausches, einer Ökonomie
des Schenkens, deren scheinbar vormoderne Logik auch in der modernen Gesell-
schaft ihre Berechtigung hat.

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Romantische Liebessemantik im Wandel?

Karl Lenz & Sylka Scholz

1 Einleitung

„Wann kommt denn endlich der blöde Prinz auf seinem dämlichen Gaul?“ Schon
dieser Titel eines aktuellen Ratgebers, wenn auch ironisch gebrochen (vgl. Reiners
2013, S. 150), legt nahe, dass auch in der Gegenwart die romantische Liebensse-
mantik weiterhin von hoher Relevanz ist. Das Bild des Prinzen auf seinem Pferd
ist eine kulturell weit verbreitete Metapher, mit der die Suche nach dem/ der ‚rich-
tigen‘ einzigartigen Partner/in zum Ausdruck gebracht wird: Zwei, die sich fin-
den, um dann dauerhaft zusammen zu bleiben. Ebenso kann trotz aller entgrenz-
ten Sexualität der mehrteilige Mega-Bestseller „Shades of Grey“ (James 2012) mit
der Verklärung der Individualität der beiden Hauptfiguren, dem bedingungslo-
sen Anspruch auf Exklusivität und einer völligen Entwertung der Umweltbezüge
als ein Musterbeispiel für die Kontinuität der romantischen Liebe gelesen werden.
Sind das Ausnahmen? Gibt es überhaupt einen Wandel der romantischen
Liebessemantik? Wie aber passen diese Phänomene mit der heute vielfach ver-
tretenen These eines Niedergangs der romantischen Liebe zusammen? Diesen
Fragen wollen wir in dem folgenden Beitrag genauer nachgehen. Dafür wenden
wir uns zunächst der Liebe als Gegenstand der Soziologie zu. Da das, was unter
romantischer Liebe verstanden wird, durchaus stark variieren kann, werden wir
im zweiten Abschnitt zentrale Charakteristika dieses Kulturmusters darstellen
und auf semantische Traditionslinien hinweisen, die vielfach vernachlässigt wer-
den. Ausgehend von unterschiedlichen Positionen zum aktuellen Wandel der Lie-
bessemantik werden wir im dritten Abschnitt unser eigenes Forschungsdesign

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
94 Karl Lenz & Sylka Scholz

vorstellen. Zentrale Ergebnisse unserer Analyse von populären Ehe- und Bezie-
hungsratgebern folgen im vierten Abschnitt. Im abschließenden Fazit verdichten
wir unsere Ergebnisse in der These der Verschiebungen innerhalb der romanti-
schen Liebessemantik.

2 Die Liebe und die Soziologie

In der Soziologie dominiert die These, dass Liebe ein kulturgebundenes Phäno-
men ist. Mit großer Ausstrahlungskraft wird diese These von Luhmann in seinem
Buch „Liebe als Passion“ vertreten, das in der Erstauflage 1982 erschienen ist (vgl.
auch Sommerfeld-Lethen 2008). Dieses Buch ist eingebettet in Luhmanns um-
fangreiche Studien zur Gesellschaftsstruktur und Semantik. Unter Semantik ver-
steht Luhmann (1980) den in einer Gesellschaft verfügbaren Sinnvorrat. Er geht
von der Prämisse aus, dass es im Übergang von einer stratifi katorischen zu einer
funktionalen Systemdifferenzierung mit der Autonomisierung der Funktionssys-
teme zu einem tiefgreifenden Wandel der bestimmenden Semantik gekommen
ist. In seiner historisch-theoretischen Studie, die sich von der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erstreckt, wird schwergewichtig der Über-
gang der Liebessemantik von der „amour passion“, die Luhmann in Frankreich
lokalisiert, zur romantischen Liebe beschrieben.
Diese Auffassung wendet sich gegen die Universalismusthese der Liebe, die
in der amerikanischen Personal-Relationship-Forschung vorherrschend ist. So
schreiben Aron, Fisher und Strong (2006, S. 595) in ihrem Überblicksartikel im
„The Cambridge Handbook of Personal Relationships“: „Romantic love appears to
be a nearly universal phenomenon, appearing in every culture for which data are
available [...] and in every historical era“. Und die stark durch die Evolutionsbiolo-
gie beeinflusste Autor/innengruppe fährt unmittelbar fort: „Analogs to romantic
love are found in a wide variety of higher animal species, and love may well have
played a central role in shaping human evolution“ (Aron et al. 2006, S. 595).
Aus einer soziologischen Perspektive lassen sich zumindest zwei Kritikpunkte
an der Universalitätsthese identifizieren. Erstens wird in den Arbeiten, die diese
These vertreten, der historische Kontext der jeweiligen Aussage zu Liebe vernach-
lässigt; lediglich interessiert, was diese Aussagen dem heutigen Leser beziehungs-
weise der Leserin sagen. Exemplarisch kann dies an der für die Personal-Rela-
tionship-Forschung bedeutsamen Studie von Lee „Colours of Love“ (1973) gezeigt
werden. Lee (1973) hat eine umfangreiche Sammlung bekannter beziehungsweise
besonders prägnanter Äußerungen zu Liebe über einen langgestreckten Zeitraum
von Platon bis Freud zusammengestellt. Er war aber weder an den Autor/innen
Romantische Liebessemantik im Wandel? 95

noch am historischen Kontext dieser Äußerungen interessiert. Die Folge dieser


Grundhaltung ist, dass keine Rekonstruktion der Sinngehalte von Liebe im Ent-
stehungszusammenhang des Dokumentes möglich ist, sondern lediglich zum
Vorschein kommt, wie aus der heutigen Sicht diese Aussagen interpretierbar sind.
Auch werden – und das ist der zweite Kritikpunkt – in der Universalitätsthese
zu Liebe die Diskurs- und Praxisebene miteinander vermengt. Mit der Diskurs-
ebene werden die in einer Gesellschaft in einer bestimmten historischen Epoche
vorhandenen und dominanten kollektiven Vorstellungen von Liebe umschrie-
ben. Auf diese Ebene zielt Luhmann (1982) auch mit seinem Semantikbegriff ab.
Davon zu unterscheiden ist die Praxis- oder Handlungsebene; auf dieser geht es
um das Liebeserleben und Liebeshandeln konkreter Paare. Sicherlich ist davon
auszugehen, dass Diskurs- und Praxisebene nicht unabhängig voneinander sind.
Über die Liebespraxis der Paare können Änderungen der kulturell verfügbaren
Liebesideale bewirkt beziehungsweise angestoßen werden. Umgekehrt stellen die
im gesellschaft lichen Wissensvorrat verfügbaren Liebesideale ein umfangreiches
Repertoire an Handlungs- und Gefühlsmustern für die Paare bereit, die dazu an-
leiten, die ‚richtigen‘ Erwartungen an die Liebe zu stellen, die ‚wahre‘ Liebe zu
erkennen, zum Ausdruck zu bringen und zu erleben. Aber dennoch ist die Liebe
zwischen zwei Personen nicht einfach nur eine Umsetzung dessen, was die Kultur
ihnen als Liebe vorgibt. Trotz dieser Verbindungslinien ist es für eine differen-
zierte Analyse unerlässlich, diese beiden Ebenen deutlich auseinanderzuhalten
(vgl. auch Burkart 1997). Was durchaus folgt, wenn dies nicht beachtet wird, zeigt
sich anschaulich bei Aron et al. (2006). Dass die Paarbildung ein universelles Phä-
nomen ist, ist unbestritten, dass aber die damit verbundenen Sinnzuschreibungen
identisch sind, egal ob es sich um eine arrangierte Ehe handelt oder die Paarbe-
ziehung eine exklusive Angelegenheit des Paares ist, ist dagegen weder plausibel
noch empirisch haltbar. Angesichts der Fülle von Liebeslyrik – um nur diese Kul-
turproduktion von Menschenhand zu nennen – gilt dies ebenso für die von den
Autor/innen behauptete Kontinuitätslinie von Menschen zu Tieren.
Für die Soziologie stellt das Thema der Liebe – wie überhaupt das der Emotio-
nen – kein Neuland dar, das erst mit der bereits genannten Arbeit von Luhmann
(1982) betreten worden wäre. Wie Gerhards (1988) und auch Flam (2002) aus-
führlich beschrieben haben, ist das Thema der Emotionen schon bei den Klas-
sikern der Soziologie präsent. In diesem Zusammenhang ist vor allem Simmel
zu nennen. Für Simmel (1985) steht außer Frage, dass ein Zusammenhalt durch
Nutzenorientierung und Zwang allein nicht hergestellt und aufrechterhalten wer-
den kann, sondern einer Abstützung durch Emotionen bedarf. Simmel hat sich
auch bereits mit der Liebe befasst, am ausführlichsten in einem erst posthum als
Fragment veröffentlichten Artikel (Simmel 1985). Seine Thematisierung von Lie-
96 Karl Lenz & Sylka Scholz

be verknüpft er mit einer Analyse der modernen Gesellschaft (vgl. Oakes 1989)
und gibt damit ein Thema vor, das in der gegenwärtigen Soziologie in breitem
Umfang aufgegriffen wird. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich, so Simmel
(1985), durch eine fortschreitende Differenzierung und Individualisierung aus,
die zu einer Bedeutungssteigerung persönlicher Beziehungen führt. Dieser starke
Individualisierungsschub finde auch Niederschlag in einer neuen Form der Lie-
be, die in modernen Gesellschaften dominant werde. Die primäre Ausrichtung
an der Individualität des Anderen bildet für Simmel das Kernstück der romanti-
schen – oder wie es Simmel selbst nennt – „absoluten Liebe“ (Simmel 1985, S. 243).
Diese Vorarbeiten der Klassikergeneration wurden in der Soziologie lange Zeit
nicht fortgeführt, Emotionen wurden als Gegenstand der Soziologie stark ver-
nachlässigt. Die Norm der affektiven Neutralität, die im öffentlichen Leben do-
minant ist, war Grundlage der soziologischen Analyse und das auch dann, wenn
private Lebensformen den Gegenstand bildeten. Burkart (1998, S. 27) hat noch
Ende der 1990er Jahre festgestellt, dass „die Liebe in der Familienforschung“ ein
„blinder Fleck“ ist. Erst die beiden von ihm mit Hahn (1998, 2000) herausgege-
benen Bände haben Liebe in diesem Forschungskontext ausführlich zum Gegen-
stand gemacht. Dazu beigetragen hat auch die seit den 1980er Jahren zunächst vor
allem in den USA als eigenständiges Forschungsgebiet etablierte „Soziologie der
Emotionen“ (als Überblick vgl. Gerhards 1988; Flam 2002).
In der Flut von Publikationen über Liebe gleichen die soziologischen Arbei-
ten sprichwörtlich einer Stecknadel im Heuhaufen. Bormans (2013) teilt in „The
World of Love“ mit, dass Google in einer Sekunde zum Thema Liebe 8.930.000.000
Suchergebnisse liefert. Die Mehrzahl an Filmen, Romanen und Lieder kommen
ohne das ‚Mega-Thema‘ Liebe nicht aus. Die Flut an Ratgeberliteratur zeigt, dass
es darüber einen schier unersättlichen Informations- und Verständigungsbedarf
gibt. Was ist Liebe? Woran erkennt man die richtige Liebe? Wie kann Liebe auf
Dauer gestellt werden? Das sind einige der Frage, die bereits in der griechischen
Antike und auch heute fortlaufend aufgeworfen werden und offenkundig eine
immerwährende Aktualität haben. Auch eine große Anzahl von Wissenschafts-
disziplinen befasst sich mit Liebe, darunter die Literaturwissenschaften, Me-
dienwissenschaften, Psychologie, Anthropologie, Sexualforschung oder auch die
Neurowissenschaften und Biochemie. Dies wirft durchaus die berechtigte Frage
auf, ob sich die Soziologie auch noch daran beteiligen solle und was sie genuin
dazu beitragen kann?
Als Beobachtungswissenschaft kann die Soziologie aus unserer Perspektive
die gesellschaft liche Produktion von Dokumenten zum Gegenstand machen.
Statt sich in die unendliche Kette von Deutungsversuchen von Liebe einzurei-
hen, kann die Soziologie eine Metaperspektive einnehmen und aufzeigen, welche
Romantische Liebessemantik im Wandel? 97

dominanten Deutungsmuster im breiten Strom des Liebesdiskurs vertreten wer-


den. Darüber hinaus kann es nicht Aufgabe der Soziologie sein, den Paaren Wege
aufzuzeigen, wie sie ihre Liebe ‚richtig‘ oder ‚besser‘ gestalten können – das ist
das Terrain der umfangreichen Ratgeberliteratur und der psychologischen Bera-
tungsangebote. Die Soziologie kann aber Auskunft geben, welche Topoi und Ar-
gumentationsfiguren in diesem Spezialdiskurs vorherrschend sind. Bezogen auf
die Unterscheidung zwischen Diskurs- und Praxisebene drängt sich damit für die
Soziologie vor allem auf, Liebe als Kulturmuster zum Gegenstand zu machen und
Fragen nach Wandel und Persistenz aufzuwerfen.

3 Romantische Liebe als modernes Kulturmuster und


ihre Traditionslinien

Dass das Aufkommen der romantischen Liebe einen tiefgreifenden Einschnitt in


die kulturellen Vorgaben zur Liebe darstellt, darüber herrscht weitgehend Einig-
keit (als Übersicht vgl. Hahn 2008; Lenz 2005). Aus einer längerfristigen Perspek-
tive wurde dadurch die Liebescodierung der höfischen Gesellschaft abgelöst, in
der die Galanterie – wie sie Rostand in seinem 1887 verfassten Versdrama „Cy-
rano de Bergerac“ sehr anschaulich beschrieben hat – ein bestimmendes Element
war. Nach und nach etablierte sich im 18. Jahrhundert die romantische Liebe als
dominanter kultureller Code für die Genese und den Bestand von Zweierbezie-
hungen.
Die romantische Liebe hat eine erste Gestalt in den populären Briefromanen
von Richardson (1689-1761) gefunden. Seinen vollsten Ausdruck fand dieser neue
Liebescode gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Romantik. In ihren
literarischen und auch theoretischen Arbeiten entwarfen diese Autoren und Au-
torinnen ein neues Ideal der Liebe (vgl. Safranski 2009; Tripold 2012). Was unter
einer romantischen Liebe verstanden wird, wird in der breiten Literaturproduk-
tion der Romantik an keiner Stelle festgelegt. Bei allen vorhandenen Gemeinsam-
keiten sind immer Unterschiede zwischen den Autor/innen und selbst zwischen
einzelnen Werken ein und desselben Autors oder derselben Autorin vorhanden.
Noch vielfältiger wird das Liebesverständnis, wenn in die Textbasis nicht nur ein
eng umschriebener Literatenkreis einbezogen wird, sondern auch eine erweiterte
Gruppe von Interpret/innen, die dessen Ideen aufgegriffen, verbreitet und popu-
larisiert haben, etwa durch das Verfassen von Eheratgebern. Um angesichts dieser
Vielzahl möglicher Bezugstexte überhaupt zu Aussagen über Bestimmungsmerk-
male der romantischen Liebe kommen zu können, ist die Bildung eines Ideal-
typus unerlässlich. Nach Weber (1973, S. 191) werden Idealtypen durch „einsei-
98 Karl Lenz & Sylka Scholz

tige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss


einer Fülle von diff us und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht,
vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Ge-
sichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde gewonnen“.
In dieser ‚begrifflichen Reinheit‘ sind solche Gedankengebilde in den jeweiligen
Bezugstexten nicht vorhanden; der Anspruch ist lediglich, dass mit dem Ideal-
typus die vorhandenen Grundideen in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht
werden. Eine solche Bestimmung ist auch dringend notwendig, da unter roman-
tischer Liebe – auch in der Soziologie – durchaus Unterschiedliches verstanden
wird und erst auf Grundlage einer Klärung ist es möglich zu entscheiden, ob in
der Argumentation Gemeinsamkeiten und Unterschiede vorhanden sind.
Bezogen auf die deutsche (Früh-)Romantik lassen sich die folgenden zentralen
Merkmale der romantischen Liebe aufzeigen (vgl. Lenz 2005, 2009).
(1) Wie Simmel (1985) und im Anschluss auch Luhmann (1982) mit Nach-
druck hervorgehoben haben, ist das Kernstück der romantischen Liebessemantik
die vollkommene Ausrichtung auf die Individualität des Anderen. Die grenzen-
los gesteigerte Individualität der einander Liebenden steht im Zentrum; dadurch
gewinnen beide füreinander eine unbedingte Höchstrelevanz. Weder das „Gat-
tungsmäßige“, das bloße Begehren des anderen Geschlechts, noch einzelne Qua-
litäten einer Person, die diese mehr oder minder mit allen anderen teilt, können
diese Bindung begründen, sondern einzig und allein die Einmaligkeit der Person
als Ganzes. In den Worten von Simmel ist die Leidenschaft „ganz und gar durch
das Faktum der Individualität bestimmt“ (Simmel 1985, S. 244).
(2) Angesichts dieser absoluten Wertschätzung der Individualität verheißt die
romantische Liebe dem Individuum die Chance, in seiner Einzigartigkeit an-
erkannt und bestätigt zu werden. Durch diese in Aussicht gestellte Chance bindet
die romantische Liebe in einem hohen Maße die Glückserwartungen der Indivi-
duen: Liebe wird zu der wichtigsten Angelegenheit im Leben. Im Verhältnis zu
ihr verblasst alles andere, lässt es klein und nichtig erscheinen (vgl. auch Tyrell
1987; Dux 1994). Die romantische Liebe nimmt die Person total in Anspruch, was
zugleich eine Entwertung aller Umweltbezüge bedingt.
(3) In der romantischen Liebessemantik wird ein hoher Wert auf die emotio-
nale Aufrichtigkeit gelegt. Alle Taktiken in der Anbahnung und in der Erhaltung
einer Liebesbeziehung gelten als verwerflich. Zur Aufrichtigkeit gehört die feste
Überzeugung der Dauerhaftigkeit von Liebe. Für die durch romantische Liebe
Verbundenen ist die Treue selbstverständlich und Eifersucht überflüssig. Diese
Liebe ist kein Strohfeuer, das nur am Anfang einer Zweierbeziehung lichterhell
lodert und dann bald erlischt. Als wahre Liebe ist sie in ihrem Anspruch von sich
aus naturgemäß und, ohne dass es Stabilisatoren braucht, zeitlich unbegrenzt.
Romantische Liebessemantik im Wandel? 99

(4) Durch die romantische Liebe wird eine Einheit von sexueller Leidenschaft
und affektiver Zuneigung oder – wie es Kluckhohn (1966, S. 607) formuliert – „von
körperlichem und sinnlichem Liebeserleben“ hergestellt. Die Liebe bietet die Basis
für ein leidenschaft liches sexuelles Erleben und ist zugleich auch ihr überzeu-
gendster Ausdruck.
(5) Die neue Liebessemantik umfasst das Postulat der Einheit von Liebe und
Ehe. Liebe und Ehe sind nicht länger getrennte und unvereinbare Erfahrungs-
bereiche. Liebe wird zur einzig legitimen Begründung einer Ehe und es wird
gefordert, dass sie auch in der Ehe ihren Fortbestand hat. Mit diesem neuen Pos-
tulat ist eine vehemente Kritik an den meisten bürgerlichen Ehen verbunden, die
dieser Forderung nicht genügen.
(6) Zudem wird die Elternschaft integriert. Über die Elternschaft erfährt die
auf Liebe gegründete und durch sie getragene Ehe ihre letzte Vollendung. Durch
das Kind wird die Beziehung auf die höchste erreichbare Stufe gestellt, „hat das
Heiligtum der Ehe“, so Julius in einem Brief an Lucinde, „mir das Bürgerrecht im
Stande der Natur gegeben“ (Schlegel 1985, S. 83).
Kontrovers diskutiert wird das mit der romantischen Liebessemantik ver-
bundene Frauenbild. In einigen Bestimmungsversuchen wird davon ausgegan-
gen, dass die romantische Liebe mit der Polarisierung der Geschlechtscharaktere
verknüpft ist, wie diese von Karin Hausen (1976) beschrieben wurde (vgl. etwa
Weigel 1983). Die Gegenposition geht davon aus, dass in der Romantik ein stark
an Gleichheitsprinzipien orientiertes Bild der Geschlechter vertreten wurde, wie
etwa Rehme-Iffert (2001) für Schlegel (1771-1829), der als einer der großen ‚Theo-
retiker‘ der Romantik gilt (vgl. Safranski 2009), aufzeigt. Argumentiert wird, dass
die Frau nicht mehr nur verehrt und idealisiert wurde, sondern ihre Gefühle nun
als ebenso wichtig galten wie die des liebenden Mannes. In der Romanliteratur
des 18. Jahrhunderts wurde die Frau als autonomes Gefühlssubjekt entworfen,
das das Recht auf ein ‚Nein‘ in Liebesangelegenheiten hat (vgl. Tyrell 1987).
Seit dem 19. Jahrhundert hat die romantische Liebe einen – wie es Tyrell (1987,
S. 591) formuliert – „ungeheuren Kulturerfolg“ zu verzeichnen. Bei dem Versuch,
diesen nachzuzeichnen, ist es unerlässlich, romantische Liebe als literarische Idee,
die hier als Idealtypus rekonstruiert wurde, strikt von ihrer Umsetzung in Leit-
vorstellungen und normativen Vorgaben für Zweierbeziehungen, also in Bezie-
hungsnormen, zu unterscheiden. Diese Umsetzung des literarischen Programms
auf die Ebene von Beziehungsnormen in beziehungsrelevante Orientierungs-
vorgaben für Paare erfolgte sukzessive in fortschreitenden Realisierungsstufen,
wie die Eheratgeber des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen. Der große Kulturerfolg
der romantischen Liebe war nur in einer ‚entschärften‘ Fassung möglich, die erst
Schritt für Schritt wieder erweitert werden konnte. Einen ersten Niederschlag
100 Karl Lenz & Sylka Scholz

fand das romantische Beziehungsideal in der Norm der Liebesheirat. Während


im literarischen Entwurf der Romantik Liebe und Ehe gleichgesetzt wurden und
die Dauer der Ehe nur durch die Dauer der Liebe begründbar war, beinhaltete die
Liebe auf der normativen Ebene eine zeitliche ‚Zähmung‘ der Leidenschaft auf
die Werbephase. Auch wurde – zumindest für die Frauen – die erste Liebe zu der
Wahren geadelt. Die Romantik kennt diese Gleichsetzung nicht, im Gegenteil:
Für sie ist die wahre Liebe für beide Geschlechter an Beziehungserfahrungen ge-
bunden.
Im Bürgertum des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts wurde einerseits die
Liebe als Eheschließungsmotiv betont und verklärt, aber andererseits zugleich vor
einer stürmischen, leidenschaft lichen und blinden Liebe gewarnt. Das Bürger-
tum verließ sich bei der Eheschließung nicht auf den Zufall der Gefühle, sondern
favorisierte auf der Ebene der Beziehungsnormen eine ‚vernünftige Liebe‘, welche
die Gefühle betont, aber zumindest auch offen bleibt für ein genaues Abwägen der
materiellen Vor- und Nachteile einer Verbindung (Sieder 1995; Lenz 2003). Aus-
schlaggebend war weiterhin, dass der Werber in den Augen der Eltern als ‚gute
Partie‘ für die Tochter betrachtet werden konnte.
Damit die literarische Idee stärker in die Beziehungsnormen einfl ießen konn-
te, war ein Wandel der sozialstrukturellen Rahmenbedingungen für die Paarbil-
dung erforderlich: Je unwichtiger der Besitz für eine Ehe ist, sei es als Erwerbs-
quelle oder Mitgift, je stärker der Lebensunterhalt aus unselbstständiger Arbeit
bestritten wird und je mehr sich die Berufswelt – zumindest als Alternative – auch
für die Frauen öff net, desto mehr Raum kann den Gefühlen der Beteiligten zu-
gestanden werden. Bedingungen, die sich erst im Laufe des 20. Jahrhundert für
immer mehr Paare einstellten.
Die herausragende Relevanz der romantischen Liebe hat in der soziologischen
Debatte dazu geführt, dass die Kontinuitätslinien dieser Semantik weitgehend
außer Acht gelassen wurden. Zum besseren Verständnis ist aber unerlässlich, die-
se Traditionslinien in den Blick zu nehmen. Gleichwohl wäre es verfehlt, in der
romantischen Liebe lediglich eine Fortschreibung dieser Tradition zu sehen. Die
Romantik hat eine eigenständige Codierung geschaffen, in die aber Sinnmuster
aus früheren Liebessemantiken eingegangen sind. Relevant für die romantische
Liebe sind zwei Kontinuitätslinien: die der christlichen Religion und die der grie-
chischen Antike (ausführlicher hierzu vgl. Lenz et al. 2013).
Entgegen der Säkularisierungsthese, wonach im Übergang zur modernen Ge-
sellschaft Religion ihre Relevanz als symbolische Sinnwelt verloren hat, steht die
romantische Liebe durchaus in einer gewissen Kontinuität der Liebessemantik
des Christentums (vgl. Tanner 2005). Dies ist auch naheliegend, da die Romantik
– in Abgrenzung zur Religionskritik der Aufk lärung – eine, wie Safranski (2009,
Romantische Liebessemantik im Wandel? 101

S. 13) formuliert, „untergründige Beziehung zur Religion“ pflegte und der entzau-
berten Welt der Säkularisierung entkommen wollte. Die Romantik entlehnt die
hohe Bewertung der Liebe aus dem christlichen Kontext und führt eine folgen-
reiche Verschiebung herbei. Die Liebe richtet sich nicht auf Gott und davon abge-
leitet auf den Nächsten, sondern auf eine einzigartige Person, die in innerweltlich
gewendeter religiöser Ekstase geliebt wird. Im Zentrum der romantischen „Reli-
gion der Liebe“ (Hartlieb 2006, S. 130) steht die Liebesehe: „In der Liebesvereini-
gung verschmelzen Mann und Frau zu einer Einheit, die Himmel und Erde, Ver-
gangenheit und Zukunft verbindet, kurz: die Welt und Ich in der Anschauung des
Universums zusammenhält“ (Hartlieb 2006, S. 130). Zugleich wird darin auch die
Differenz zur Religion deutlich, da die romantische Liebe als sexuell-erotische im
radikalen Kontrast zur negativen Bewertung der Sexualität im Christentum steht.
Aber nicht nur vermittelt über das Christentum, sondern auch eigenständig
haben die griechische Antike und ihr Liebesverständnis auf die Romantik einen
starken Einfluss ausgeübt. Die griechische Antike stand in der Romantik hoch im
Kurs, wie Friedrich Hölderlins Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Grie-
chenland“ (orig. 1797–1799) exemplarisch zeigt. Platon und sein Werk „Sympo-
sion“ haben starke Spuren in diesem Werk hinterlassen. Zusammenfassend lassen
sich vor allem drei Sinnmuster identifizieren, die aus dem griechischen Liebes-
diskurs übernommen wurden: (1) Fest eingeschrieben ist der romantischen Liebe
das Streben nach einer Einheit, wie sie mit dem Mythos vom Kugelmenschen im
„Symposium“ vorgetragen wurde. Dass sich ‚Zwei‘ und genau diese Zwei finden,
ist kein Zufall: Sie gehören – wie die beiden getrennten Hälften – schicksalsmäßig
zusammen, weil nur sie in ihrer besonderen Individualität eine Einheit bilden
und füreinander eine unersetzbare Höchstrelevanz besitzen. (2) Aus der Diotima-
Lehre aus diesem Werk wird das Streben nach Schönheit und dem Guten über-
nommen. Dieses gewinnt Gestalt in der anfänglich maßlosen Idealisierung der
geliebten Person, in der durchaus auch Aspekte der Verherrlichung der begehrten
Frau aus der höfischen Liebe fortleben. (3) Aus dieser Lehre wird auch die Kop-
pelung des Strebens nach Einheit mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit aufge-
griffen. Die romantische Liebe dient nicht nur dazu, Einsamkeit zu überwinden,
sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen oder die Generationenabfolge sicherzustellen.
Ihr eigen ist auch der Anspruch auf ewige Dauer.
102 Karl Lenz & Sylka Scholz

4 Abschied von der romantischen Liebe?


Thesen und Forschungsdesign

Während die Kontinuitätslinien der romantischen Liebe in der Soziologie bislang


weitgehend eine Leerstelle sind, ist die Frage nach der Transformation der roman-
tischen Liebessemantik das Topthema in den aktuellen soziologischen Beiträgen
zur Liebe. Gefragt wird, ob die romantische Liebe auch in der Gegenwartsgesell-
schaft noch Bestand hat. Dieses Thema hat bereits Niklas Luhmann am Ende
seiner Studie „Liebe als Passion“ aufgeworfen und festgestellt, „dass der seman-
tische Gehalt von ‚romantisch / Romantik‘ unter der Hand längst ausgetauscht
worden ist“ (Luhmann 1982, S. 201): Sexualität als symbiotischer Mechanismus
für Intimbeziehungen sei zur „Sache selbst“ geworden. Die Suche nach der Liebe
diene in erster Linie der Validierung der Selbstdarstellung. Kurz gefasst lautet sei-
ne Diagnose: „Skepsis gegenüber Hochstimmungen jeder Art verbindet sich mit
anspruchsvollen, hochindividualisierten Erwartungshaltungen“ (Luhmann 1982,
S. 197).
Auch wenn die These vom Niedergang der romantischen Liebe umstritten ist,
gibt es in der aktuellen Diskussion einen breiten Konsens darüber, dass die ro-
mantische Liebessemantik gegenwärtig einem tiefgreifenden Transformations-
prozess unterworfen ist. Zusammenfassend lassen sich vier unterschiedliche
Position identifizieren.
(1) Ablösung durch eine neue Liebessemantik: Neben Luhmann wird diese The-
se von Giddens (1993) in seinem Buch „Wandel der Intimität“ vertreten. An die
Stelle der romantischen Liebe sei eine neue Liebessemantik, die Giddens als „con-
fluent love“ bezeichnet, die in der deutschen Übersetzung aber als „partnerschaft-
liche Liebe“ übersetzt wurde. Diese Liebessemantik ist nicht mehr auf ein roman-
tisches „für immer“ beziehungsweise „de[n] oder die einzige“ (Giddens 1993, S.
73) gerichtet. Die Beziehung habe nur solange Bestand wie sie den Wünschen der
beiden autonomen Beziehungspartner entspricht. Giddens’ These von der part-
nerschaft lichen Liebe als neue Semantik fand in der deutschen Soziologie eine
breite Rezeption. Daneben gibt es auch weitere Vorschläge für eine neue Liebes-
semantik, wie z.B. „androgynous love“ von Cancian (1987).
(2) Konkurrenz von Liebes- bzw. Beziehungssemantiken: Autorinnen wie Leu-
pold (1983) und Koppetsch (1998) konstatieren ein Nebeneinander von Liebe und
Partnerschaft. Im Unterschied zur Liebe werde in der Beziehungssemantik der
Partnerschaft die individuellen Interessen stärker akzentuiert und die Beziehung
zur Umwelt hin geöffnet. Von einem Nebeneinander unterschiedlicher Semanti-
ken gehen auch Bellah et al. (1987) und Swidler (2001) aus.
Romantische Liebessemantik im Wandel? 103

(3) Bedeutungssteigerung der romantischen Liebe: Für Beck (1990) ist die ro-
mantische Liebe nicht im Niedergang, sondern heute so wichtig wie noch nie. Die-
se Bedeutungssteigerung resultiert für ihn aus einem neuen Individualisierungs-
schub in den 1970er Jahren. Mit der Freisetzung der Individuen aus traditionellen
Zwängen und der ‚Entzauberung‘ der Welt werde die Liebe zur „paßgerechten
Gegenideologie der Individualisierung“ (Beck 1990, S. 239). Als „Monopol auf
erlebbare Sozietät“ (Beck 1990, S. 135) soll die Liebe jene Sinnstiftung leisten, zu
der die Religion für viele nicht mehr in der Lage ist: Liebe gewinnt bei Beck im
Relevanzsystem der Individuen eine Bedeutung, die bislang nur die Religion für
sich in Anspruch nehmen konnte.
(4) Verschiebungen innerhalb der romantischen Liebessemantik: Diese Position
richtet sich sowohl gegen die These der Bedeutungssteigerung von romantischer
Liebe wie auch gegen die These ihres Niedergangs (vgl. Lenz 1998). Argumen-
tiert wird, dass die Liebesvorstellungen der Gegenwart das Resultat zweier wider-
sprüchlicher Entwicklungen seien: Es zeigen sich Tendenzen der romantischen
Steigerung als auch des Verlustes romantischer Sinngehalte. Im Sinne einer weiter
fortgeschrittenen Realisierung ist die Liebessemantik dem literarischen Ideal der
romantischen Liebe einerseits näher gerückt, andererseits hat sie sich von diesem
auch entfernt.
Für alle diese Thesen gilt, dass sie nicht das Ergebnis von empirischen Studien
sind, sondern aus Theoriekontexten abgeleitet sind, wie dies ausgeprägt bei Luh-
mann (1982), aber auch bei Beck (1990) der Fall ist, oder aus einer empirischen
Gesamtschau resultieren. Es fehlen bislang auch Studien, welche die Gültigkeit
der Aussagen überprüft haben. Diesem Forschungsdesiderat möchte unser ge-
meinsames Forschungsprojekt entgegenwirken, dass im Rahmen des Sonderfor-
schungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ durchgeführt wurde. Vor
dem Hintergrund tiefgreifender Transformationsprozesse privater Lebensformen
hat sich das Teilprojekt mit den kulturellen Voraussetzungen für die Stabilität
von Paarbeziehungen befasst. Während zum Wandel privater Lebensformen fa-
miliendemografische und sozialstrukturelle Studien stark dominieren, hat sich
dieses Projekt mit der kulturellen Fundierung von Zweierbeziehungen befasst.
Naheliegend bildete die Liebessemantik einen zentralen Schwerpunkt. Als Mate-
rialgrundlage wurden für einen deutsch-deutschen Vergleich, beginnend mit den
1950er Jahren bis in die Gegenwart sowohl beliebte Spielfi lme wie auch populä-
re Ehe- und Beziehungsratgeber verwendet. Methodisch orientieren wir uns am
Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse, wie es Keller (2007, 2008)
entwickelt hat und das von uns für die beiden besonderen Materialgruppen ad-
aptiert und weiterentwickelt wurde. Auf die methodische Vorgehensweise soll
an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da wir diese an anderer Stelle
104 Karl Lenz & Sylka Scholz

(Scholz und Lenz 2013) ausführlich dargestellt haben. Für diesen Beitrag stützen
wir uns auf die Ratgeberanalyse.1 Ausgehend von dem Grundsample von über 900
Ratgebern, die in Ost- und Westdeutschland publiziert wurden, haben wir mithil-
fe von Auflagezahlen und verschiedenen Verkaufslisten 29 Long- und Bestseller
von Beziehungsratgeber für die Analyse ausgewählt.

5 Spuren der Liebessemantik in Ehe- und Beziehungs-


ratgebern

Das alles dominierende Thema der Ratgeber ist die Frage, wie die Stabilität von
Paarbeziehungen möglich ist. Unterschiedlich sind zwar die Diagnosen, was den
Bestand einer Paarbeziehung gefährden könnte. Das übergreifende Ziel der viel-
fältigen Lösungsansätze ist es aber, Kontinuität und Qualität der Zweierbezie-
hung sicherzustellen. Dazu werden zahlreiche praktische Ratschläge entfaltet.
Wir werden im Folgenden die in den Lösungsansätzen enthaltenen diskursiven
Deutungsangebote bezüglich der idealen Lebensform, den Konstruktionen von
Sexualität und Geschlecht herausarbeiten und die damit in Verbindung stehen-
den – expliziten und impliziten – Vorstellungen von Liebe aufzeigen.

5.1 Die ideale Lebensform

Über den gesamten untersuchten Zeitraum, also von 1950er Jahren bis zur Gegen-
wart, gilt die Ehe als die ideale Lebensform. Wie selbstverständlich wird dabei die
Liebe als Voraussetzung für eine Ehe (oder Paarbeziehung) aufgefasst. Fortge-
schrieben wird das in der Romantik entstandene Konstrukt der Liebesehe, ohne
– dies ist ein Spezifi kum der Ratgeber – explizit auf die Romantik zu rekurrieren.
Dieses romantische Liebeskonstrukt, das historisch erstmals Liebe und Ehe mit-
einander verbindet, wird im Zeitverlauf der Untersuchung jedoch durch andere,
sich verändernde Legitimationen gestützt und in Geltung gesetzt.

1 Zu den Spielfilmanalysen vgl. Scholz, Kusche, Scherber N., Scherber S., und Stiller
(2014) sowie Scholz und Lenz (2014). Die Gesamtergebnisse der Ratgeberanalysen sind
in dem Band „In Liebe verbunden. Zweierbeziehung und Elternschaft in populären
Ratgebern von den 1950ern bis heute“ (Scholz et al. 2013) publiziert. Der vorliegende
Abschnitt fasst zentrale Ergebnisse zusammen. Auf weiterführende Artikel in unserem
Buch wird an den entsprechenden Stellen verwiesen.
Romantische Liebessemantik im Wandel? 105

Die Ehe galt in den 1950ern in Ost- und Westdeutschland als ein ‚soziales
Muss‘ und als der einzige legitime Ort einer Zweierbeziehung. In den meisten
westdeutschen Eheratgebern der 1950er Jahre wurde die Ehe zudem als eine sak-
rale Institution verstanden (vgl. auch Eckardt 2013). Sie wurde mit Rekurs auf die
symbolische Sinnwelt der christlichen Religion, evangelischer oder katholischer
Provenienz, legitimiert und erhielt einen Sinn, der über sie hinausweist, sie trans-
zendiert und auf diese Weise stabilisiert.
Angesichts einer recht weit fortgeschrittenen Pluralisierung der Lebensfor-
men (vgl. etwa Peuckert 2008) ist nun bemerkenswert, dass in den Ratgebern aus
den 2000er Jahren weiterhin die auf Liebe beruhende Ehe als Lebensform favo-
risiert wird. Hans Jellouschek, der bekannteste deutsche „Paartherapeut und Be-
ziehungspapst“ (Nuber 2007, S. 45), rät in seinen zahlreichen Ratgebern, die Be-
ziehung klar zu definieren, um sie auf Dauer zu stellen, und deshalb die Ehe als
Ritual zu schließen: „Ich bin dein Mann, du bist meine Frau. Wir sind ein Paar.
Diese Definition verspricht Verbindlichkeit“ (Jellouschek 2008, S. 14). Auch Eva-
Maria Zurhorst, Beziehungstherapeutin, plädiert in ihrem äußerst erfolgreichen
Ratgeber „Liebe Dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“ aus dem Jahr 2004
für die Eheschließung: „Ich bekenne mich zu dieser so leidenschaft lichen Hom-
mage an die gute alte Ehe“ (Zurhorst 2004, S. 73).
Die Eheschließung ist nun eine individuelle, aber angeratene Option geworden
und die Ehe ist auch keine sakrale Institution mehr. Der Bedeutungsverlust der
Religion in der Gesellschaft wird aber durchaus negativ thematisiert. Der Paar-
therapeut und promovierte Theologe Hans Jellouschek konstatiert: „Früher war
die eheliche Gemeinschaft durch Weltanschauung und Religion abgesichert. Die
kirchliche Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe war zugleich eine gesellschaft-
liche und lange Zeit auch eine rechtlich verbindliche Norm“ (Jellouschek 2007,
S. 16f.), deshalb ist für ihn auch die Stabilität der Ehe gefährdet. Die Paare sollen
heiraten wie seinerzeit in der Kirche. „In diesem Sinne fi nde ich es höchst an-
gemessen, wenn Paare sich, wie es in den Hochzeitsritualen beider christlicher
Kirchen vorgesehen ist, diese Verbindlichkeit zusagen: ‚Bis der Tod uns scheidet‘“
(Jellouschek 2008, S. 22). Das Zitat verweist auf die Notwendigkeit eines sym-
bolischen Sinnüberschusses, der die Gegenwart des einzelnen Paares überschrei-
tet oder – anders ausgedrückt – transzendiert, um die Beziehung auf Dauer zu
stellen. Hans Jellouschek rekurriert auf religiöse Legitimationsmuster, er plädiert
nicht für die Rückkehr zu einer festen religiösen Ordnung, ist aber auf der Suche
nach einem funktionalen Äquivalent.
Im Kontrast zu den 1950er Jahren werden Trennungen nicht mehr tabuisiert,
Scheidungen gelten als legitimer Ausweg aus unbefriedigenden Beziehungen. So
formuliert etwa Arnold Retzer zum Abschluss seiner programmatischen Streit-
106 Karl Lenz & Sylka Scholz

schrift „Lob der Vernunftehe“ Regeln für das „vernünft ig[e] Schluss machen“
(Retzer 2009, S. 252). Gleichwohl ist es das Ziel der Ratgeberautor/innen, Tren-
nungen durch Hinweise und Tipps zu vermeiden. Die kulturelle Leitidee der ro-
mantisch fundierten ‚Liebesehe‘ bleibt demnach auch das zentrale Deutungsan-
gebot in den 2000er Jahren, um eine Zweierbeziehung auf Dauer zu stellen. Sie
wandelt sich jedoch von der ‚Liebesehe als sozialem Muss‘ in den 1950er Jahren
hin zu einer ‚Liebesehe als beste Option‘. Bewusst und reflexiv sollen sich Paare
entschließen, ihrer Beziehung eine „Ordnung“ (Jellouschek 2007, S. 21) zu verlei-
hen. Dies geschieht als eine „Hommage“ (Zurhorst 2004, S. 73) an die Ehe, welche
längst in der Gesellschaft ihre Monopolstellung eingebüßt hat.

5.2 Die Konstruktion von Liebe

Betrachtet man die Konstruktionslogik von Liebe genauer, ist als erstes Resul-
tat festzuhalten, dass übergreifend von den 1950ern bis zur Gegenwart Liebe als
„Entwicklungsprozess“ (Jellouschek 2007, S. 18) entworfen wird. Diese Konstruk-
tion beinhaltet ein spezifisches Deutungsangebot für die Leser/innen, mit den in-
stabilen Gefühlen von Verliebtheit und Liebe in der Alltagspraxis umzugehen:
Die Paarbeziehung werde in der Regel durch Verliebtheit konstituiert – in den
Ratgebern oft als ‚romantische Liebe‘ diskreditiert –, die ‚wirkliche‘, ‚wahre‘, ‚reife‘
Liebe müsse sich aber erst im Verlauf der Beziehung herausbilden, nur sie könne
Dauerhaftigkeit garantieren.
Obwohl in den Ratgebern vordergründig eine Ablehnung des „romantischen
Rausches“ (Zurhorst 2004, S. 132) erfolgt, setzt, dies ist das zweite Resultat, ein
‚hintergründiger Rekurs auf romantische Liebe‘ zentrale Charakteristika des mo-
dernen Liebeskonstrukts in Geltung. So wird die Liebe mit einer individuellen
Entwicklung verknüpft. „Der ‚richtige‘ Partner an Ihrer Seite kann Sie durch seine
Liebe und sein Vertrauen und das Zulassen Ihrer Liebe und Ihres Selbst zu un-
geahnten Höhen führen und zu Leistungen motivieren, die Sie vorher nicht für
möglich gehalten haben“ (Deißler 2010, S. 63). Zwei (moderne) Individuen bestär-
ken sich einander in ihrer Einzigartigkeit gegenseitig, indem der jeweils andere
zu einem wichtigen Bestandteil der individuellen Weltsicht des einen wird. An
dieser und ähnlichen Stellen in den Ratgebern wird ein Bedeutungsaufschwung
der Individualität sichtbar, der sich als eine Steigerung der romantischen Liebes-
semantik interpretieren lässt.
Jedoch argumentieren die Ratgeberautor/innen gegen die „totale Verschmel-
zung“ (Christinger und Schröter 2012, S. 36) des Paares. Betont wird die Gefahr,
die eigene individuelle Entwicklung aufs Spiel zu setzen und die Überforderung
Romantische Liebessemantik im Wandel? 107

der Beziehungspersonen durch das romantische Liebesideal, sollen doch die Be-
ziehungspersonen „Leidenschaft und Romantik, Sex und Freundschaft, fami-
liärer Alltag und spiritueller Austausch“ (Christinger und Schröter 2012, S. 34)
miteinander erleben. Vor diesem Hintergrund kann romantische Liebe „stets nur
eine Leidensgeschichte“ (Christinger und Schröter 2012, S. 36) sein. Die sozia-
le Umwelt des Paares wird aufgewertet: Während im literarischen Ideal der Ro-
mantik Liebe auf Zweisamkeit pur angelegt war und die Außenwelt nur in ihrem
Störungspotenzial thematisiert wurde, werden Umweltbezüge nun zur Voraus-
setzung des dauerhaften Liebesglücks. So gilt bereits für die Partnerwahl: „Er soll
Freunde und Hobbys haben, unabhängig sein, aber Zeit für mich haben und sich
in meinen Freundeskreis integrieren“ (Deißler 2010, S. 59). Das Bedürfnis nach
Anerkennung und Bestätigung der eigenen Person soll nicht nur durch die Bezie-
hungsperson gewährleistet werden, sondern sich auch aus anderen Quellen spei-
sen. Die Liebe wird auf diese Weise ein Lebensbereich neben anderen und umfasst
nicht mehr das ganze Leben oder die Gänze der Person. In dieser Hinsicht lässt
sich ein eklatanter Bedeutungsverlust der romantischen Liebe konstatieren.
In den untersuchten Ratgebern wird – dies lässt sich als drittes Ergebnis fest-
halten –‚Liebe als Transzendenz‘ konstruiert, die individuelle Paarliebe wird
überschritten und mit einem Sinnüberschuss ausgestattet. Dies ist keine Erfi n-
dung der Ratgeberautor/innen, sondern die Liebe ist in den verschiedensten Lie-
bessemantiken mit Überschreitungen der Alltagsrealität verbunden, ja Liebe ist
eine Transzendenzkonstruktion. Dies gilt insbesondere für das Konstrukt der
romantischen Liebe, in dem die individualisierte Liebe zwischen zwei Menschen
sakralisiert und als eine Art Liebesreligion fungiert. In den westdeutschen Ratge-
bern der 1950er Jahre erfolgt diese Überschreitung meist mit Bezug auf die christ-
liche Religion (vgl. auch Eckardt 2013), in den ostdeutschen, darauf sei zumindest
verwiesen, durch Verweis auf die wissenschaft liche Weltanschauung (vgl. Dreßler
2013). In aktuellen Ratgebern wandeln sich die Legitimationen. Arnold Retzer
(2009) beschreibt in seiner Streitschrift „Lob der Vernunftehe“ die Liebe als et-
was, auf das die Menschen nur bedingt Zugriff haben, sie ist eine Art Schicksal
oder Zufall. Andere Autor/innen beziehen sich auf religiöse und/oder spirituelle
Legitimationen. So konstatiert Hans Jellouschek (2008, S. 172): „Aber die Sehn-
sucht nach Entgrenzung bleibt“. Deshalb plädiert er dafür, die erotische Liebe als
„Symbol und Vorerfahrung der göttlichen Vereinigung [zu begreifen], auf die hin
unser Leben letztendlich angelegt ist“ (Jellouschek 2007, S. 157). Er empfiehlt den
Paaren, sich eine „religiös-spirituelle Praxis [zu] suchen und miteinander [zu]
üben“ (Jellouschek 2008, S. 170). Eine ähnliche Argumentation findet sich bei
dem Autorenpaar Allan und Barbara Pease (2008, S. 351): „Einem Engagement
in einer religiösen Gemeinschaft liegt oft schon ein Glaubenssystem zu Grun-
108 Karl Lenz & Sylka Scholz

de. Wenn Sie nicht auf einen Glauben festgelegt sind, beschäftigen Sie sich mit
Glaubensrichtungen, die zu Ihrer Lebensphilosophie passen, oder üben Sie sich in
Meditation oder Yoga“. Wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, so zeigen
sowohl unsere Analysen weiterer Ratgeber für Paare (vgl. Pohl 2013) als auch für
die Partnersuche (vgl. Reiners 2013), dass Rekurse auf Spiritualität ein verbreite-
tes Merkmal aktueller Ratgeber sind.

5.3 Sexualität und Liebe

Die Verknüpfung von Liebe und Sexualität gilt als das zentrale Charakteristikum
der romantischen Liebe. Auch dieser Aspekt überdauert die Zeit: In allen Rat-
gebern gilt Sexualität als bedeutsame Dimension von Liebe und Ehe, jedoch wird
sie besonders in den 1950er Jahren thematisiert und aufgewertet; sie ist in die-
ser Dekade oft mit Fortpflanzung und Elternschaft verknüpft. Ehe und Sexuali-
tät werden in den 2000ern hingegen entkoppelt. Kein/e Autor/in argumentiert
mehr gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr und Seitensprünge, beides zentrale
Themen in den 1950er Jahren. Gleichwohl ist auch in den aktuellen Ratgebern
sexuelle Treue erwünscht. Sexualität gilt weiterhin als wichtiger Bestandteil einer
dauerhaften Paarbeziehung, aber ihr wird keine so zentrale Bedeutung mehr zu-
geschrieben.
Arnold Retzer (2009, S. 241) konstatiert kritisch: „Die Verhältnisse haben sich
praktisch umgekehrt. Die Befreiung [der Sexualität] ist zur belastenden Pflicht
geworden“. Demnach lautet die Lösung in den Beziehungsratgebern, einen maß-
vollen Umgang mit Sexualität zu finden, insofern kann man im Vergleich mit
der ‚Aufwertung der Sexualität‘ in den 1950er Jahren von einer ‚Veralltäglichung
von Sexualität‘ sprechen. Sexualität ist nicht mehr auf Fortpflanzung ausgerichtet,
dennoch argumentieren die Ratgeberautor/innen, dass eine dauerhafte Paarbe-
ziehung mit einem Kinderwunsch einhergeht: „Zwei Menschen raufen sich – am
Anfang ihrer Beziehung – zu einer relativ stabilen Form gemeinsamen Lebens
zusammen. Dann aber verspüren sie den Wunsch nach einem Kind“, so Hans
Jellouschek (2008, S. 150). Kinderlosigkeit gilt in den aktuellen Beziehungsratge-
bern nicht als eine legitime und glückliche Lebensform (vgl. Pestel 2013). Unsere
Analyse von Erziehungsratgebern belegt zudem die Tendenz einer gesteigerten
Individualisierung des Kindes, die mit einer Sakralisierung einhergehen kann:
„Kinder sind eine Offenbarung. […] und der Umgang mit Kindern öff net nicht
nur die Augen, sondern die Herzen“ heißt es etwa bei Jesper Juul (2011, S. 10), dem
aktuellen ‚Erziehungspapst‘. Transzendiert wird das Kind durch den Rückgriff
auf das idealisierte romantische Kindheitsbild (vgl. Lenz und Scholz 2013).
Romantische Liebessemantik im Wandel? 109

Während in einer Reihe der untersuchten aktuellen Beziehungsratgeber Se-


xualität nur eine untergeordnete Position einnimmt, lassen sich im Liebesdiskurs
weitere Diskurspositionen differenzieren. Eva-Maria Zurhorst (2004) beschäft igt
sich in ihrem bereits genannten Longseller sowie in dem gemeinsam mit ihrem
Ehemann publizierten Buch „Beziehungsglück. Wie ‚Liebe dich selbst‘ im Alltag
funktioniert“ von 2010 ausführlich mit einem Wandel der Sexualität. In beiden
Büchern wird gegen den „alten Sex“ (Zurhorst und Zurhorst 2010, S. 80) mit seiner
Fixierung auf den Orgasmus ein „neuer Sex“ gesetzt, der mehr den Prinzipien von
Ganzheitlichkeit folgt und die Beziehung ‚heilen‘ soll. Die von uns analysierten
Sexualitätsratgeber (vgl. Gottwald 2013) verknüpfen ganz ähnlich wie Eva-Maria
und Wolfram Zurhorst (2010) Sexualität und Liebe. Sie verweisen möglicherweise
auf eine neue Tendenz: Konstatiert Eder eine seit den 1960er Jahren zunehmende
„Abspaltung“ (Eder 2010, S. 116) der Sexualität von Liebe, so belegen unsere Rat-
geberanalysen eine erneute Verknüpfung von Liebe und Sexualität. Sexualität hat
ihren legitimen Ort in einer auf Liebe beruhenden, dauerhaften, ehelichen oder
eheähnlichen Paarbeziehung. Zudem wird Sexualität in unterschiedlich starkem
Ausmaß – ähnlich wie die Liebe – spiritualisiert (vgl. Gottwald 2013). In diesem
Diskurssegment wird auch der weiblichen Sexualität eine zentrale Rolle zugewie-
sen und die sexuellen Befreiungsdiskurse aus den 1960er und 70er Jahren in einer
entpolitisierten Weise fortgeschrieben.

5.4 Geschlecht und Liebe

Im Folgenden soll auf die Relevanz von Geschlecht für die Konstruktion von
Liebe eingegangen werden. Paarbeziehung, Ehe und Liebe gründen laut den
Ratgeberautor/innen auf dem Fakt, dass Männer und Frauen fundamental ver-
schieden sind. Die symbolische Sinnwelt der Zweigeschlechtlichkeit ist folglich
zugleich Grundlage und Legitimation für die Liebe. Es gibt nur wenige Ratgeber,
die sich für eine Überwindung der freilich auch hier biologisch vorausgesetzten
Geschlechterpolarität einsetzen, wie etwa „Wie Männer und Frauen die Liebe er-
leben“ von Michael Mary (2006). Sein Argument zur Überwindung lautet Ver-
vollständigung der eigenen Individualität. Auch der anfangs zitierte Ratgeber
für die Partnersuche von Oliver Stöwing (2009) distanziert sich von polaren Ge-
schlechterkonstruktionen. Dominant ist jedoch die Tendenz einer ‚Re-Polarisie-
rung von Geschlecht‘, die bereits in den 1990er Jahren einsetzt und als Reaktion
auf die Frauenbewegung und Frauenemanzipation zu verstehen ist. Dafür stehen
etwa Bücher wie „Mars, Venus, Partnerschaft“ des amerikanischen Paarthera-
peuten John Gray, 1996 auf Deutsch publiziert. Evolutionsbiologisch begründet
110 Karl Lenz & Sylka Scholz

wird eine grundlegend unterschiedliche kommunikative Fähigkeit zwischen den


Geschlechtern postuliert: Männer und Frauen sprechen „eine andere Sprache“
(Gray 1996, S. 173). Auch seien sie je unterschiedlich befähigt, Tätigkeiten im
Haushalt zu übernehmen: „Frauen sind von der Natur für die Liebe bestimmt,
sie sind die Gebenden, und diese Tendenz sollte nicht unterdrückt werden“ (Gray
1996, S. 43). Diese Unterschiede müssen anerkannt werden, denn sonst sei die
Paarbeziehung gefährdet.
Auch der untersuchte Ratgeber für gleichgeschlechtliche Paare „Gemeinsam
zweisam: Der Beziehungsratgeber für Schwule“ von Carsten Heider (2003) rekur-
riert auf polar entworfene Geschlechterstereotype.2 Der Ratgeber richtet sich an
‚echte‘ Männer, im Mittelpunkt steht die Sexualität. Zwar beruhe auch die gleich-
geschlechtliche Beziehung auf Liebe – Heider entwirft ebenso wie die anderen
Ratgeber ein Entwicklungsmodell von Liebe – jedoch konstatiert er: „Schwule
Männer gestalten ihre Beziehungen nach anderen Maßstäben als Heterosexuelle“
(Heider 2003, Einband). Der Grund ist die Gleichgeschlechtlichkeit und die beid-
seitige Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht. Aus ihr resultiert die starke
Orientierung an Sexualität hinter der die Bedeutung von Liebe zurücktritt. Diese
Fokussierung von Sexualität korrespondiert mit der Tatsache, dass die meisten
Ratgeber für gleichgeschlechtlich orientierte Menschen keine Beziehungs-, son-
dern Sexualitätsratgeber sind. Obwohl es durch die weibliche Codierung der Lie-
be (vgl. etwa Giddens 1993 oder Hartlieb 2006) eigentlich naheliegt, dass sich
auf dem Ratgebermarkt ein Angebot an Beziehungsratgebern für lesbische Paare
findet, haben unsere Recherchen ins Leere geführt.
Die enge Verbindung von Liebe und Geschlechterkonstruktionen geht wieder-
um auf die Romantik zurück. Die Diskursivierung der Liebe erfolgt in der Roman-
tik auf Basis der bipolaren Geschlechterordnung, wie sie sich um 1800 formiert
hat. In den romantischen Texten finden sich unterschiedlichste Geschlechter-
konstruktionen, die miteinander konkurrieren. Diese Rivalität resultiert daraus,
dass die Texte einerseits den Geschlechterdualismus rekonstruieren, andererseits
jedoch die Überwindung der Geschlechterdifferenz durch die Liebe thematisiert
wird. So wird durchaus auch eine erotische Anziehungskraft zwischen Männern
im Kontext von Liebe erörtert. Man kann also davon sprechen, dass Geschlecht
und Liebe in den romantischen Texten kontingente Konstruktionen sind und dies
macht die ‚Modernität‘ der Romantiker/innen bis heute aus (vgl. Tholen 2014).

2 Dieser Ratgeber gehört nicht zu den Bestsellern, wird jedoch laut Buchlisten im Seg-
ment der Ratgeber für gleichgeschlechtliche Personen viel verkauft. Er wurde im Sinne
einer maximalen Fallkontrastierung in die Untersuchung einbezogen (vgl. dazu Pohl
2013).
Romantische Liebessemantik im Wandel? 111

Gerade die Möglichkeit einer gleichgeschlechtlichen romantischen Liebe, einer


„queer Romance“ (Gammerl 2013, S. 15), wird in den aktuellen Bestsellern jedoch
nicht fortgeschrieben; dem hegemonialen heterosexuellen Liebesdiskurs wird
kein entsprechender Gegendiskurs entgegengesetzt.
Geschlechterkonstruktionen werden in den Ratgebern nicht nur in Bezug auf
Liebe und Sexualität virulent, sondern zugleich im Kontext von Emanzipation,
Gleichberechtigung und Gerechtigkeit verhandelt, auf diesen Aspekt kann nur
kurz verwiesen werden (vgl. dazu Scholz 2013). Für die 1950er Jahre konnte auf-
gezeigt werden, dass die Geschlechterpolarität in den meisten westdeutschen Rat-
gebern als Legitimation einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung fungierte,
die zugleich die Ehe stabilisiert. Nur in einigen wenigen westdeutschen Ratgebern
und in allen ostdeutschen Ratgebern wurde die ‚Partnerehe‘ als Ideal vertreten
(vgl. Dreßler 2013; Scholz 2013). In den Ratgebern der 2000er Jahre werden die
Emanzipation und das Postulat der Gleichberechtigung verbunden mit dem Ideal
der partnerschaft lichen Ehe oder eheähnlichen Beziehung als Norm betrachtet.
Diese gelte es jedoch zu hinterfragen und zu verändern. So wird insbesondere
von Autorinnen wie Eva-Maria Zurhorst (2004) die Forderung nach einer ‚neuen‘
Emanzipation laut, welche es der modernen Frau ermöglicht, in Übereinstim-
mung mit ihrer ‚Natur‘ zu leben. Doch trotz der Kritik wollen die Verfasser/innen
nicht missverstanden werden, sie wollen „das Rad der Geschichte“ (Retzer 2009,
S. 82) nicht anhalten oder gar zurückdrehen, sie argumentieren gegen eine aus
ihrer Sicht zu weit gehende Emanzipation, deshalb sprechen wir von einer ‚aufge-
klärten Re-Polarisierung‘. Sie geht in einer Reihe von Ratgebern mit Ironisierun-
gen einher, welche den Eindruck der Reflexivität erzeugen, jedoch verdecken, dass
unter der Hand traditionelle Geschlechterkonstrukte wieder in Geltung gesetzt
werden (vgl. Pohl 2013).

6 Fazit

Als zentrales Ergebnis unserer wissenssoziologischen Diskursanalyse lässt sich


zusammenfassen, dass die romantische Liebe keineswegs verschwunden ist; sie
bestimmt als eine Art „Tiefendiskurs“ (Reinhardt-Becker 2005, S. 234) die Be-
ziehungsratgeber. Dabei lassen sich in Bezug auf das oben beschriebene litera-
rische Ideal bestimmte Verschiebungen zeigen: In einigen Aspekten wie der
Steigerung von Individualität, der auf freier Partnerwahl beruhenden Liebesehe,
der Verknüpfung von Liebe und Sexualität kommt es zu einer fortschreitenden
Realisierung des Diskursideals der romantischen Liebe. Andere Aspekte wie das
112 Karl Lenz & Sylka Scholz

Ewigkeitspostulat und die Abschließung von der sozialen Umwelt haben sich von
diesem Diskursideal jedoch entfernt.
Darüber hinausgehend lässt sich zeigen, dass trotz eines gesellschaft lichen Be-
deutungsverlustes von Religion spirituelle Wissensbezüge in den aktuellen Ratge-
bern eine wichtige Rolle spielen. Wir sprechen deshalb von einer ‚Spiritualisierung
des Liebesdiskurses‘. Diese Spiritualisierung erweitert die Psychologisierung, die
Mahlmann (1991, 2003) für den Ehediskurs in Ratgebern als zentral bestimmte
und die sich auch in unserer Analyse bestätigte. Beide Wissensarten können sich
gegenseitig stützen, denn spirituelles Wissen rekurriert in hohem Maße auf psy-
chologisches Wissen und umgekehrt (vgl. dazu Eitler 2010 oder Knoblauch 2009).
Diese Spiritualisierung von Liebe und Sexualität verstehen wir als eine weitere
Steigerung der romantischen Liebesidee, die in ihrer Anlage, wie wir gezeigt ha-
ben, mit transzendenten Deutungsmustern verknüpft ist. Zwar wandeln sich die
Bezüge, bedeutsam ist jedoch, dass die individuelle Paarliebe mit einem Sinn-
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Doing Family – der Practical Turn
der Familienwissenschaften1
Karin Jurczyk

1 Einleitung

Man „hat“ eine Familien nicht einfach, sondern man muss sie „tun“ – dies ist der
Kerngedanke des sogenannten practical turn der Familienwissenschaften. Was
ist damit gemeint, woraus speist sich dieser Gedanke und welche Folgen für die
Erforschung von Familie hat er?
Die öffentlichen und wissenschaft lichen Diskurse kreisen mit unterschiedli-
chen Betonungen und Wertungen um die Feststellung, dass ein Leben als und in
Familie an Selbstverständlichkeit verloren hat – sei es hinsichtlich der Familien-
gründung, der Stabilität von Beziehungen, der Zuteilung von Geschlechterrollen
als auch der vermeintlich klaren Formen des Zusammenlebens. Die empirische
Familienforschung belegt dies in vielfältiger Weise. Familie ist zwar immer noch
auch eine soziale Institution, die in vielfältiger Weise gesetzlich geregelt ist und
Individuen als solche objektiviert entgegentritt. Vor allem aber ist sie zum „Pro-
jekt“ geworden, für das man etwas tun muss – damit sie zustande kommt, damit
sie erhalten bleibt und damit die gewünschte Qualität des Miteinanders entsteht.
Familie zeigt sich als ein historisch und kulturell höchst wandelbares System
persönlicher, fürsorgeorientierter und emotionsbasierter Generationen- sowie
Geschlechterbeziehungen, die zwar auf verlässliche Gemeinsamkeit hin angelegt

1 Der Text greift in vielen Teilen auf meinen Aufsatz „Familie als Herstellungsleistung“
(Jurczyk 2014) zurück.

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
118 Karin Jurczyk

sind, die aber (re)produziert werden müssen und sich im Familienverlauf und in
verschiedenen Familienkonstellationen immer wieder ändern können.
Die zentrale Frage eines so gewendeten, offenen Blicks auf Familie lautet: Wie
schaffen Familien es praktisch, unter heutigen Bedingungen überhaupt Gemein-
samkeit als Beziehungssystem herzustellen, ‚Care‘ zu erbringen und nicht in lau-
ter individuelle Leben zu zerfallen, wie wird Familie „getan“?
Der vorliegende Text besteht aus vier Teilen. Zunächst werden aktuelle An-
sätze referiert, die trotz aller Unterschiede im Detail eine solche praxeologische,
konstruktivistische oder auch handlungsorientierte Wende in den letzten ein bis
zwei Jahrzehnten markieren. Im zweiten Abschnitt wird dieser neue Fokus auf
Familie zeitdiagnostisch begründet. Denn persönliche Sorgebeziehungen einzu-
gehen und verlässlich zu leben, wird immer komplexer und voraussetzungsvoller.
Entgrenzungs- und Individualisierungsprozesse im privaten wie im beruflichen
Bereich führen dazu, dass sich Gemeinsamkeit nicht mehr von alleine ergibt. Im
dritten, eher konzeptionellen Abschnitt werden die unterschiedlichen Formen
und Dimensionen eines solchen ‚Doing Family‘ genauer beschrieben. Dabei wird
auch gefragt, was es eigentlich bedeutet, dass wir es bei Familie nicht mit einem,
sondern mit vielen und ungleichen Akteuren zu tun haben. Abschließend wird
erläutert, was der Mehrwert einer solchen praxeologischen Perspektive auf Fa-
milie in spätmodernen Gesellschaften des 21. Jahrhundert sein kann, die sich vor
allem für das konkrete Tun und weniger für die Formen und Einstellungen, Wün-
sche und Werte von Familie interessiert.

2 Familie als Handlungs- und Praxiszusammenhang –


neue Ansätze

In den vergangenen 10 Jahren hat es eine Welle von empirischen und theore-
tischen Arbeiten gegeben, die in den Fokus gerückt hat, wie Familie und dabei
Mütter und Väter „gemacht“ werden und welche konkreten Praktiken sich hier
rekonstruieren lassen. Nicht zufällig waren dabei vor allem solche Familien For-
schungsgegenstand, die von der sogenannten Normalfamilie abweichen: Adop-
tiv- und Pflegefamilien (Helming 2014), multilokale Familien (Schier 2013), Stief-
familien (Jokinen 2014) oder Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen
(Almack 2008). Denn hier zeigt sich deutlicher als unter als „normal“ typisierten
Bedingungen, dass sich sowohl das tägliche Zusammenleben als Familie nicht
mehr ‚von alleine‘ ergibt als auch das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Iden-
tität bewusster Leistungen bedarf und nicht zuletzt soziale Väter und Mütter ihre
Rolle als Eltern explizit bestätigen müssen. Familie wird ebenso wie Verwandt-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 119

schaft (Braithwaite 2010; Beck 2014) als Herstellungsleistung und als Ergebnis so-
zialer Konstruktionsprozesse sichtbar. Dies ließe sich an vielen Beispielen zeigen,
etwa daran, wie Kinder aus Pflegefamilien mit ihren Müttern aushandeln, welche
ihrer beiden Mütter sie Mutter nennen dürfen oder sollen und welche nicht (Hel-
ming 2014). Verwandtschaft und die eigenen Eltern kann man sich zwar nicht
aussuchen, gleichwohl aber kann und muss man die Beziehungen zu ihnen ge-
stalten. Ein ‚Un-Doing Family‘ gibt es nicht.
Nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Unterschiede in der konkreten Kon-
stellation der Familien wird jedoch so sichtbar, dass alle Studien einen gleichen
Fokus von Familie identifizieren: die praktische (wenngleich nicht unbedingt ge-
lingende) Gestaltung von ‚Care‘-Beziehungen zwischen Familienmitgliedern. Sie
zeigen, dass es bei dieser Fokussierung von Familie auf die Gestaltung von Be-
ziehungen und die Erbringung von ‚Care‘ nicht um bloße Haltungen, geschweige
denn geäußerte Einstellungen geht, sondern um konkretes Tun, um „Praxis“.
Auff ällig ist, dass zeitgleich zur wachsenden Vielfalt solcher empirischen
Untersuchungen auch zunehmend Ansätze entwickelt werden, die auf das prak-
tische Leben von Familien als Basis ihrer Theoretisierung rekurrieren. Alle gehen
sie mehr oder minder davon aus, dass die „Alltagsvergessenheit“ vieler Theorien
diejenigen verfehlt, die sie beschreiben oder erreichen wollen: Hierzu gehören vor
allem Daly (2003), Rönkä-Korvola (2009), Lüscher (2012) sowie Morgan (2011).
Insbesondere letzterer arbeitet die Spezifität von „family practices“ als intime
Praktiken in Bezug auf Zeit, Raum, Körper und Emotionen heraus und betont,
dass Familie als Prozess zu verstehen ist.
Der ‚practical turn‘ dieser ‚neuen‘ Familientheorien knüpft wiederum an
unterschiedliche sozialwissenschaft liche Theorien an: den Sozialkonstruktivis-
mus (Berger und Luckmann 1980), den sich hier anschließenden ethnomethodo-
logischen Ansatz des ‚Doing Gender‘ (West und Zimmerman 1987)2, sowie kul-
turwissenschaftliche Ansätze (Wohlrab-Sahr 2010). Es sind jedoch vor allem zwei
Theorierahmen, die als Referenzpunkte für die Konzipierung des ‚Doing Family‘
dienen: Praxistheorien sowie das Konzept der Lebensführung.

2 Der Ansatz des ‚Doing Gender‘ hebt hervor, dass Geschlecht keine vorgegebene oder
natürliche Kategorie ist, sondern in sozial und institutionell gerahmten Interaktionen
kontinuierlich, wenngleich kontingent, d.h. ergebnisoffen, hergestellt wird.
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2.1 Praxeologische Konzepte

Die praxeologischen Konzepte weisen enge Bezüge zu Handlungstheorien auf,


sie stellen den Vollzug als Praxis ins Zentrum, an der unterschiedliche Akteure
aktiv beteiligt sind, die sich in ihrem Verhalten aneinander orientieren (z.B. Bour-
dieu 1976; Hirschauer 2004; Rathmayr et al. 2009; Reckwitz 2003; Schatzki et al.
2001). Soziale Strukturen werden als von Akteuren durch ihre Praktiken produ-
ziert verstanden und umgekehrt Praktiken als durch diese Strukturen konstitu-
iert (Giddens 1988). Diese als „practical turn“ (vgl. Reckwitz 2003) bezeichnete
theoretische wie empirische Neufassung von Individuum, Sozialität und Kultur
(Hörning und Reuter 2004, S. 10) betont mit unterschiedlichen Akzentuierungen
Aspekte von Konstruktion und ein nichtimperialistisches Verhältnis von Indi-
viduum und Struktur (Reckwitz 2003, S. 283ff.), sehr ähnlich wie im Konzept
der subjektorientierten Soziologie (vgl. Voß und Pongratz 1997). Handlungen
werden als „Feld verkörperter, öffentlicher, beobachtbarer, raumzeitlich sich voll-
ziehender, materiell situierter, symbolisch codierter Praktiken“ (Rathmayr et al.
2009, S. 24) definiert. Hirschauer (2004, S. 73) macht allerdings auf einen – für die
Konzeption des ‚Doing Family‘ folgenreichen – Unterschied aufmerksam, indem
er eine Handlung als „Atom“ beschreibt, die nach einem Impuls verlangt und
einem Sinnstiftungszentrum, eine „Praxis läuft dagegen immer schon, die Frage
ist nur, …wie ‚Leute‘ sie praktizieren“. De Certeau (1988) verweist darauf, dass
der Gebrauch von Praktiken Signifi kationsprozesse mit einschließt. Sinn und Be-
deutungen entstünden nicht bloß, weil Menschen miteinander kommunizieren,
sondern weil sie miteinander handeln und eine „community of practice“ bilden.
Und Schatzki u.a. (2001) sehen in Praktiken die kleinsten Einheiten des Sozialen
als eines routinisierten „nexus of doings and sayings“, zusammengehalten durch
implizites praktisches Wissen. Vor- und unbewussten, nicht direkt motivierten
Praktiken kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu, ohne aber bewusstem, inten-
diertem oder reflexivem Handeln Bedeutung abzusprechen.

2.2 Das Lebensführungskonzept

Der Ansatz alltäglicher Lebensführung (vgl. Jurczyk et al. 2014; Jurczyk und Rer-
rich 1993; Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995) konzipiert die All-
tagsgestaltung vor dem Hintergrund ökonomischer, kultureller und sozialer
Ressourcen sowie individueller Orientierungen. Bei diesen Praktiken sinnhafter
Alltagsgestaltung geht es um die Koordination von Aktivitäten zu einem Gesamt-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 121

zusammenhang der Lebensführung, das als ein System ‚sui generis‘ hergestellt
wird und auch nicht einfach geändert werden kann.
Lebensführung ist eine aktive Leistung, auch wenn dies den Akteuren nicht
immer bewusst ist. Ganz ähnlich zum Verständnis von Praktiken (Hirschauer
2004) geht es nicht primär um einzelne Handlungen, sondern um Handlungs-
zusammenhänge auf individueller und interpersonaler Ebene. Die wichtigste
Ebene der Alltäglichen Lebensführung ist das praktische Tun in seinen zeitli-
chen, räumlichen, sozialen Dimensionen. Auch wenn sich einzelne Handlungs-
felder wie etwa Hausarbeit, Beruf und Freizeit unterscheiden lassen, zielt doch
die Alltägliche Lebensführung weniger auf einzelne Tätigkeitssegmente als auf
deren Verbindung zu einem spezifischen Muster der Lebensführung. Der „Ort“
der Lebensführung ist dabei nicht die Familie oder der Haushalt, sondern das
permanent Handlungsfelder überschreitende Individuum, das eingebunden ist in
unterschiedlichste gesellschaft liche Sphären. Die Prozessebenen des praktischen
Tuns können Aushandlung, Konfl iktlösung, Planung, Entscheidungsfindung etc.
sein. Der Modus des Handelns bezieht sich z.B. auf Mechanismen, Strategien,
Hilfsmittel (z.B. Technologien). Von Bedeutung sind – auch hier ähnlich zum
praxeologischen Ansatz – Orientierungen, Werte, Präferenzen sowie Selbst- und
Fremdkonzepte, die die Lebensführung subjektiv „lenken“ und biografische Pla-
nungen bestimmen, die aber auch umgekehrt als Deutungsmuster auf die eigene
Alltagsgestaltung und die Biografie – oft mals im Nachhinein – legitimierend oder
erklärend angelegt werden. Lebensführung ist als „Arrangement der Arrange-
ments“ ein Vermittlungsmechanismus zwischen Individuum und Gesellschaft,
der die aktive Integration des Menschen in Gesellschaft beschreibt.
Seit einigen Jahren versucht eine Forschungsgruppe am Deutschen Jugendin-
stitut3, aufbauend auf den Forschungen von Rerrich (1993) und Jürgens (2001),
das am Individuum orientierte Konzept der alltäglichen Lebensführung explizit
hin zur familialen Lebensführung zu erweitern und empirisch zu beforschen (vgl.
Keddi 2014). Ausgangspunkt ist, dass, wenn schon die individuelle Lebensfüh-
rung eine Leistung eigener Art ist, diese komplexer wird, wenn mehrere individu-
elle Lebensführungen, wie in einer Familie notwendig, aufeinander abgestimmt

3 Zu dieser Forschergruppe am DJI gehören Waltraud Cornelißen, Christine Entleitner,


Karin Jurczyk, Barbara Keddi, Josefine Klinkhardt und Claudia Zerle-Elsässer. Im
Rahmen des integrierten DJI-Survey AID:A (Aufwachsen in Deutschland: Alltags-
welten) wird zudem das in qualitativer Forschung generierte Konzept der familialen
Lebensführung quantitativ operationalisiert und ausgewertet (vgl. etwa Zerle und
Keddi 2011). Methodologisch entstammen alle bislang genannten Studien und Ansät-
ze – nicht zufällig – qualitativen Forschungskontexten. Zum Brückenschlag zwischen
qualitativer und quantitativer Forschung vgl. Keddi (2014).
122 Karin Jurczyk

werden müssen. Familiale Lebensführung wird auf der Basis von Ressourcen und
Orientierungen rekonstruiert als Verschränkung von Handlungen und Hand-
lungsmustern, als Vollzug gemeinsamer Aktivitäten, als Abstimmung und Aus-
handlung von Aktivitäten und Interessen, als (Nicht-)Übereinstimmung von
Gender-, Familien- und Elternschaftskonzepten und Deutungsmustern, als Ver-
teilung von Ressourcen sowie von Macht- und Entscheidungsbefugnissen, die
zwischen den familialen Akteuren ausbalanciert werden müssen oder die gege-
benenfalls auch hierarchisch verfügt werden. Eine besondere Komplexität der
familialen Lebensführung besteht darin, dass familiale Aktivitäten immer nur
einen Teil der Aktivitäten der einzelnen Individuen ausmachen und es immer nur
begrenzte Schnittmengen von individueller und familialer Lebensführung gibt.
Im Ergebnis wird nach der subjektiv wahrgenommenen Lebensqualität gefragt.
Auch bei der familialen Lebensführung gilt, dass diese in mehr-ebige Sozial-
ökologien eingebettet ist (vgl. Bronfenbrenner und Morris 2006). Im Sinne des
subjektorientierten Ansatzes determinieren diese aber das Familienleben nicht,
sondern müssen aktiv angeeignet und gestaltet werden. Das heißt aber auch, dass
sie gestaltet werden können und damit wiederum strukturbildend wirken und
ihre Umwelt verändern. Insbesondere durch Einflussnahme auf kollektive Ak-
teure – z.B. auf politische Akteure – wird so gesellschaft licher Wandel möglich.
Der skizzierte ‚Practical Turn‘ der Familienwissenschaften ist jedoch nicht rein
wissenschaftsimmanent bedingt, indem er „blinde Flecken“ besser ausleuchten
will (Daly 2003), sondern er verdankt sich auch der veränderten Konstitution von
Familie durch einen veränderten soziohistorischen Kontext.

3 Doppelte Entgrenzung – Zeitdiagnostische


Hintergründe und Folgen für das ‚Doing Family‘

3.1 Späte Moderne und doppelte Entgrenzung

Die Zusammenschau aktueller Analysen weist darauf hin, dass die zunehmend
artikulierten Probleme bei der Familiengründung, im Familienalltag und -ver-
lauf vor allem mit Belastungen und sinkender Lebensqualität zu tun haben
(BMFSFJ 2006). Der subjektive Sinn, der „Eigensinn“ (Jurczyk 2012), der mit Fa-
milie verbunden wird – nämlich Zeit für persönliche Beziehungen, für Erziehung
und Pflege von Familienangehörigen zu haben, sich nicht entlang zweckrationa-
ler Kalküle verhalten zu müssen und „privat“ sein zu dürfen –, lässt sich unter
Bedingungen der späten Moderne offensichtlich immer schwieriger realisieren.
Der Verlust der Selbstverständlichkeit von Familie im Hinblick auf ihr Zustande-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 123

kommen, ihr alltägliches Funktionieren sowie ihre Kontinuität im biografischen


Verlauf wird in Theorien der späten Moderne verortet (vgl. Giddens 1991; Heaphy
2007; Morgan 2011) und mit Zeitdiagnosen zu Ent-Traditionalisierung, Indivi-
dualisierung und Postfordismus verbunden:
Ent-Traditionalisierung meint hier, dass fraglose Gegebenheiten (Werte, Re-
geln) nicht mehr akzeptiert, sondern durch Reflexivität ersetzt werden. Damit ist
auch ein Leben in Familie und die Gründung einer eigenen Familie nicht mehr
der einzig denkbare Lebensentwurf.
Individualisierung meint die (teilweise) Ent-Bindung von Individuen aus vor-
gegebenen Gruppen wie Stand und Klasse, aber eben auch aus Familie, das Recht
auf und den Zwang zu einem selbstständig geführten Leben. Dies bedeutet zwar
ein Ende der Zwangsvergemeinschaftung in Ehe und Familie qua Tradition; es
tun sich hiermit jedoch neue Spannungsverhältnisse auf zwischen Autonomie
und Gemeinschaft, die Familie unausweichlich bedeutet. Gerade dieses Span-
nungsverhältnis macht unter Bedingungen von später Moderne die Herstellung
von ideeller Gemeinsamkeit und praktischer Gemeinschaft zu einem andauern-
den Prozess mit hohem Fragilitätsgrad.
Der Verlust der Selbstverständlichkeit von Familie hat zudem mit struk-
turellen Verschiebungen zwischen gesellschaft lichen Bereichen in Richtung
Postfordismus zu tun. Im Verlauf der Industrialisierung hatte sich – mit einem
besonderen Schub nach 1945 – in Deutschland zunächst ein fordistisches Ge-
sellschaftsmodell mit einem stabilen, arbeitsteiligen Verhältnis zwischen Familie
und Erwerbsarbeit gefestigt. Familie und Erwerb bildeten zwei voneinander ge-
trennte Sphären, die ideologisch verankert und mit klaren Aufgabenzuweisungen
an Frauen und Männern verbunden waren. Traditionelle Geschlechterverhält-
nisse charakterisierten die Arbeitsteilung zwischen Beruf und Familie, ungeach-
tet eines stets vorhandenen Anteils erwerbstätiger Mütter. Die Ernährerrolle des
Mannes war unhinterfragt, Eltern waren nahezu alle verheiratet und lebten mit
ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zusammen. Erwerbsarbeit fand
zum größten Teil in dafür bestimmten Räumen statt, z.B. in Büro- oder Fabrik-
gebäuden. So genannte Normalarbeitsverhältnisse, sozialrechtlich abgesicherte
Vollzeiterwerbsarbeit mit stabilen, geregelten Arbeitszeiten dominierten. Seinen
Beruf ergriff man(n) meist für das gesamte Leben. Die Zeiten zwischen Beruf und
Familie sowie von Frauen und Männern waren entsprechend dieses industriege-
sellschaft lichen Modells getaktet.
Seit den späten 1960er Jahren zeigte sich ein gesellschaft licher und ökonomi-
scher Wandel, der die Grenzen zwischen Arbeit und Leben, Privatem und Öf-
fentlichem, Arbeitszeit und Freizeit durchlässiger machte. Mit dem Wandel zur
Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft erodierte der fordistische Modus, rigi-
124 Karin Jurczyk

de lineare industrielle Zeittakte wurden dysfunktional, die „24/7“-Gesellschaft


zur neuen Normalität (Presser 2003). Es veränderte sich jedoch nicht nur die Er-
werbswelt, sondern auch die Familie selber und – stets verschränkt mit beiden
Sphären – die Geschlechterverhältnisse. Das heuristische Konzept der „Entgren-
zung“ (Gottschall und Voß 2003), erweitert um das der „doppelten Entgrenzung“
(Jurczyk et al. 2009) umschreibt die zunehmende Brüchigkeit bis dahin sicherer
(oder zumindest für sicher gehaltener) struktureller Ab- und Begrenzungen von
Sphären der Gesellschaft und des persönlichen Lebens. Dies betrifft die zeitliche
und räumliche Organisation von Arbeiten und Leben sowie die Geschlechterver-
hältnisse. Denn heute geht es nicht mehr darum, zwei stabile und klar struktu-
rierte Sphären, Erwerb und Familie, – bspw. durch weibliche Teilzeitarbeit – zuei-
nander passfähiger zu machen. Es geht vielmehr um die Bewältigung gleichzeitig
stattfindender, aber nicht aufeinander abgestimmter Prozesse der Entgrenzung
und in der Folge um die Notwendigkeit individueller Grenzziehungen als „Boun-
dary Management“ oder „Doing Boundary“, damit Familienleben und Careleis-
tungen weiterhin möglich sind (Jurczyk et al. 2009).
Die Entgrenzung von Familie bedeutet, dass die „fordistische Ära“, die als Blüte-
zeit des männlichen Ernährermodells, des männlichen Alleinverdieners und der
Hausfrauenehe der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gelten kann, zu Ende
geht und das Familienleben in vielen unterschiedlichen Formen und geschlechts-
bezogenen Erwerbsarrangements stattfindet. Familie ändert sich in dreierlei Hin-
sicht: Morphologisch gibt es erstens einen Bedeutungsverlust von Blutsverwandt-
schaft, Ehe und traditioneller Arbeitsteilung. Zweitens ist Familie sozialräumlich
immer weniger mit einem Haushalt vor Ort gleichzusetzen, sondern vielmehr als
multilokales Netzwerk zu verstehen. Drittens ist der Begründungszusammen-
hang von Familie immer weniger traditional vorgegeben; Familie ist keine selbst-
verständlich gegebene Ressource für Individuen und Gesellschaft mehr, auf die
einfach zurückgegriffen werden kann, sondern eine alltägliche und biografische
praktische Herstellungsleistung.
Die Entgrenzung von Erwerbsarbeit besagt, dass das sog. Normalarbeitsver-
hältnis gegenüber atypischer Arbeit an Bedeutung verloren hat, Erwerbsarbeit ist
prekärer, flexibler, mobiler und verdichteter geworden (Jurczyk et al. 2009). Neben
der Pluralisierung und Prekarisierung der Beschäft igungsformen, insbesondere
von Frauen, polarisieren sich die Arbeitszeiten (vgl. Jurczyk und Klinkhardt 2014,
S. 59ff. sowie 67ff.): Hochqualifizierte arbeiten immer länger, in Dienstleistungs-
berufen wachsen aber gerade die Teilzeit- und Minijobs. Der Trend geht zur Aus-
weitung von Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit. Erwerbsarbeit ist in den
letzten Jahrzehnten also zeitlich flexibler und unregelmäßiger geworden. Das gilt
für die Arbeitszeit im Tages- und Wochenverlauf wie für die lebenszeitliche Ver-
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 125

teilung von Arbeit durch diskontinuierlichere Erwerbsbiographien, zunehmend


auch für Männer. Die Zunahme erwerbsbedingter räumlicher Mobilität führt
zudem zu längeren Arbeitswegen, mehreren Arbeitsorten, Arbeiten unterwegs
sowie Wochenend- und Fernpendeln. Erwerbsarbeit löst sich tendenziell von der
Bindung an bestimmte Arbeitsorte. Auch der verstärkte Einsatz neuer Informati-
ons- und Kommunikationstechnologien forciert die Flexibilisierung des Arbeits-
ortes. Darüber hinaus wird Erwerbsarbeit verdichtet und „subjektiviert“, d.h. die
Verantwortung für die Arbeitsorganisation und ihren Erfolg wird mehr auf die
einzelnen Beschäft igten selbst verlagert (Haubl und Voß 2011). Dies erhöht den
Arbeits- und Zeitdruck auf die Beschäft igten, die zunehmend Stress- und Burn-
out-Phänomene aufweisen (Haubl und Voß 2011).

3.2 ‚Doing Boundary‘ – ‚Doing Family Time‘

Das „alte“ fordistische Muster der Arbeitsteilung zwischen den Bereichen Familie
und Beruf sowie zwischen Frauen und Männern funktioniert nicht mehr, aber
es ist kein neues an seine Stelle getreten. Zeitstrukturen haben sich gewandelt,
feste Rhythmen sind weggefallen, „getaktet“ wird nun flexibel. Kollektive „Zeit-
institutionen“ wie Feierabend und Wochenende, die für das Leben von Familien
sehr wichtig sind, werden ausgehöhlt. Dazu kommt permanenter Druck durch
den Zwang zum Erhalt der Beschäft igungsfähigkeit. Auch die weibliche Teilzeit-
arbeit ist – wenngleich das meist verbreitete Muster – nicht mehr der Lösungsweg
zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, denn sie selber fi ndet immer häufiger
zu „untypischen“ Zeiten statt, an Nachmittagen, Abenden und Samstagen, wor-
auf jedoch öffentliche Einrichtungen, insbesondere zur Kinderbetreuung, nicht
eingestellt sind. Nach wie vor orientieren sich Infrastrukturen weitgehend am
Bild der verfügbaren Hausfrau, die die Arbeit im Hintergrund leistet. Dieser Mis-
match von entgrenzten Erwerbs- und Familienbedingungen mit starren Infra-
strukturen führt zu erheblichen Reibungsverlusten im Alltag. Es sind nach wie
vor überwiegend die Mütter, die die Fahrdienste für ihre Kinder übernehmen,
um sie zu diversen Förderaktivitäten zu transportieren oder selber ihr Leistungs-
niveau zu optimieren, denn gleichzeitig ist der Betreuungs- und Bildungsdruck
der Kinder massiv gestiegen. Und für die zunehmende, wenngleich immer noch
kleine Gruppe der Männer, die aktive Väter sein möchten (Possinger 2013), stel-
len sich ähnliche Vereinbarkeitsprobleme wie für Frauen.
Vor diesem Hintergrund macht die Rede vom ‚Doing Family‘ und hier insbe-
sondere vom ‚Doing Family Time‘ besonderen Sinn, denn Familienzeiten müssen
heute forciert selber gestaltet werden. Familiale Kopräsenz, d.h. gemeinsame zeit-
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räumliche Anwesenheit der Familienmitglieder, wird zur knappen Ressource.


Sie muss oft erst gefunden, ja geplant werden. Familienzeiten ergeben sich nicht
mehr „von alleine“, sondern werden zu einer aktiven Herstellungsleistung aller
Beteiligten. Die Familienmitglieder versuchen selber, durch individuelles Grenz-
management berufliche und familiale Erfordernisse zu verbinden. Erhebliche
Anstrengungen und Einfallsreichtum sind notwendig, um unter Entgrenzungs-
bedingungen eine gemeinsame familiale Lebensführung zu etablieren. Familie
wird oft in den Zeitlücken der Erwerbsarbeit gelebt, dabei haben die Beschäft igten
wenig Einfluss auf ihre Arbeitszeitpläne, ihre Arbeitseinsätze sind häufig kurz-
fristig und wenig planbar. Familienleben muss gleichsam „auf Knopfdruck“ und
verdichtet stattfinden, wenn gerade Zeit dafür ist. Insbesondere projektförmige
Arbeit und flexibilisierte Teilzeitarbeit, aber auch überlange Arbeitszeit erzwin-
gen in Verbindung mit den räumlichen Anforderungen, dass gemeinsame Fami-
lienzeit aktiv hergestellt, geplant und ihr Zustandekommen immer wieder neu
gewährleistet werden muss.
Abhängig von der Spezifi k der Arbeitsbedingungen erwerbstätiger Elternteile
lassen sich fünf unterschiedliche Muster der körperlich-räumlichen Kopräsenz
in Familien empirisch rekonstruieren (Jurczyk et al. 2009, S. 120ff.): erstens eine
zeitlich knappe körperlich-räumliche Kopräsenz, zweitens eine Zerstückelung
der körperlich-räumlich kopräsenten Zeiten in Familien, drittens umfängliche
und ausgiebige körperlich-räumliche Kopräsenz in einzelnen zeitlichen Phasen,
die aber mit gänzlicher Abwesenheit abwechseln, viertens selbst gestaltete Muster
körperlich-räumlicher Kopräsenz, und schließlich fünftens verlässliche und re-
gelmäßige körperlich-räumlich kopräsente Familienzeiten. Nur das letzte Muster
entspricht der herkömmlichen Vorstellung von Familie.
Prekär wird häufig das Moment der Verlässlichkeit und damit die beiläufige
Ansprechbarkeit von Familienmitgliedern für Interaktionen. Große Teile des
Beziehungsaustauschs zwischen Eltern und Kindern – etwa das Zuhören oder
Trösten – sind eingebunden in alltägliche Routinen – etwa in die gemeinsame
Mahlzeit –; sie geschehen eher ‚nebenher‘ und spontan. Gerade dies macht die
Beziehungsqualität von Familie aus, beruht allerdings auf hinreichend verläss-
lichen Gelegenheiten zum Austausch. Unter Entgrenzungsbedingungen schält
sich insbesondere der Sonntag als eine wichtige „temporale Bastion“ im Fami-
lienalltag heraus. Hier werden vielfache Bedürfnisse, die unter der Woche nicht
erfüllt werden können, bedient. Allerdings findet diese Funktion des Sonntags
als Zeit-Raum für Familien ihre Grenzen, weil Bedürfnisse nach Austausch und
Aufmerksamkeit eben nicht beliebig aufgeschoben werden können. In der Folge
entwickeln und erproben Familien neue Praktiken, verstetigen und ritualisie-
ren diese Schritt für Schritt – beispielsweise durch die explizite Definition von
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 127

besonderen Essenszeiten oder gemeinsamen Mediennutzungszeiten. Auf diese


Weise werden aktiv Gelegenheiten geschaffen, in denen über den Modus der Bei-
läufigkeit (s.u.), etwa den Austausch von Befi ndlichkeiten und Trivialitäten, das
„eigentlich Wichtige“ entstehen kann. Beispielsweise fahren Eltern ihre Kinder
extra mit dem Auto zur Schule, weil sich hier eher „nebenher“ ein Gespräch ergibt
als im verplanten stressreichen Alltag (Jurczyk et al. 2009, S. 154).
Die „doppelte Entgrenzung“ führt zu Zeit-, Energie- und Aufmerksamkeits-
konkurrenzen, die eine aktive Beteiligung der Einzelnen am Familienleben er-
schweren, zu „erschöpften Familien“ (Lutz 2012) und „Eltern unter Druck“
(Henry-Huthmacher und Borchard, 2008). Auch Selbstsorge wird zur knappen
Ressource, obgleich sie eine notwendige Voraussetzung für das Leisten von Für-
sorge und für die Herstellung von Familie ist. Eltern sind aber häufig so erschöpft,
dass sie kaum zum pragmatischen Vereinbarkeitsmanagement, noch weniger aber
zur Herstellung von Gemeinsamkeit beitragen können. Selbstsorge wie Fürsorge
werden oft an der Grenze der Belastbarkeit praktiziert, reduziert wird jedoch we-
niger die Zeit für Kinder als die für Partnerschaft und die eigene Regeneration.
Gesundheitliche Folgen, aber auch Belastungen für die Partnerschaft sind nur
eine Frage der Zeit.
Die doppelte Entgrenzung hat einen ambivalenten Charakter. Auch wenn
die Erosion der Normalfamilie und die vermehrte Frauenerwerbstätigkeit weit-
gehend positiv besetzt sind und flexible Arbeitszeiten sowie berufliche Mobilität
neue Spielräume für Individuen und Familien eröff nen können, stellen sie sich
doch als folgenreiche und vor allem als höchst zwiespältige Prozesse dar. Fast
immer zeigen sich neben Optionssteigerungen und Flexibilitätsgewinnen auch
Probleme der Orientierung und Neuordnung im alltäglichen Leben, der Alltag
wird noch mehr zur Arbeit (Jurczyk und Rerrich 1993), v.a. hinsichtlich der Not-
wendigkeit des ‚Doing Boundary‘.
Damit hängt das Gelingen von Familie als System mit Eigenlogik und Eigen-
sinn unter Entgrenzungsbedingungen von aktiven Gestaltungsleistungen ab und
wird sehr störanfällig. Denn Gestaltungsleistungen werden nicht als monolithi-
sche Handlungen, sondern in Form von fein austarierten Interaktionsprozessen
zwischen den Familienakteuren und vielfältigen anderen Akteuren unter oft
nicht passfähigen Rahmenbedingungen erbracht. Angesichts wachsender sozialer
Ungleichheiten sind die Ressourcen und die Kompetenzen für diese Gestaltungs-
leistungen zudem ungleich verteilt.4

4 Die Perspektive der sozialen Ungleichheit zwischen Familien und Familienmitgliedern


kann hier nicht vertieft werden.
128 Karin Jurczyk

4 Dimensionen von ‚Doing Family‘ und Familie


als Herstellungsleistung

Der skizzierte zeitdiagnostische Hintergrund – die Erosion des fordistischen


„Reproduktionspaktes“ als institutionell gerahmter und politisch legitimierter
arbeitsteiligen Ordnung von Produktion sowie sozialer und individueller Repro-
duktion – belegt die Notwendigkeit, Familie alltäglich und im Lebensverlauf im-
mer wieder herzustellen, zu praktizieren und anzupassen. Wie lässt sich dies nun
konzipieren? Einige ausgewählte Dimensionen der weiter in Entwicklung befind-
lichen Ansätze ‚Doing Family‘ und „Familie als Herstellungsleistung“ (Jurczyk
2014) werden im Folgenden näher beschrieben.

4.1 Grundformen der Herstellung von Familie

Es lassen sich drei Grundformen der Herstellung von Familie unterscheiden, die
familiale Akteure erbringen (vgl. Schier und Jurczyk 2007). Die erste ist das so ge-
nannte Balancemanagement: Es umfasst vielfältige organisatorische, logistische
Abstimmungsleistungen der Familienmitglieder, um Familie im Alltag prak-
tisch lebbar zu machen. Da in Familien mehrere individuelle Lebensführungen
mit unterschiedlicher Teilhabe an Beruf, Familie, Schule etc. und unterschied-
lichen Bedürfnissen und Interessen aufeinander treffen, müssen diese mental und
emotional ausbalanciert sowie zeitlich und räumlich koordiniert werden. Dabei
spielen Rahmenbedingungen – wie beispielsweise Arbeits- oder Schulzeiten oder
räumliche Trennungen – eine große Rolle. Das Balancemanagement zielt auf die
praktische Gewährleistung des „Funktionierens“ von Familie: als Ermöglichung
von Kopräsenz der Familienmitglieder, von Care und dem Verfolgen der je indi-
viduellen Tätigkeiten und Interessen.
Die zweite Form, die Konstruktion von Gemeinsamkeit, umfasst Prozesse, in
denen Familie in alltäglichen Interaktionen als sinnhaftes gemeinschaft liches
Ganzes hergestellt wird. Dies geschieht im gemeinsamen Tun, in der wechselseiti-
gen Bezugnahme aufeinander und der symbolisch aufgeladenen (auch versprach-
lichten) Darstellung als Familie. In Analogie zum sozialkonstruktivistischen
Ansatz des Doing Gender geht es hier um die identitätsorientierte Konstruktion
von Familie als zusammengehörige Gruppe und ihre Selbstdefinition als solche
bzw. um die Abgrenzungen davon. Die Herstellung von Familie ist erst in diesem
eigentlichen Sinn ein „Doing Family“, sieht man von der alltagssprachlich ein-
gängigen Verwendung des ‚Doing Family‘ im Sinne eines umfassenden „Familie
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 129

tun“ ab5. Die empirische Forschung weist nochmals auf die Unterscheidung von
zwei Formen dieses ‚Doing Family‘ hin: Zum einen auf die Herstellung sozialer
Bindungen durch Prozesse der Inklusion und Exklusion derjenigen, die als zu
einer Familie zugehörig verstanden werden (vgl. Nelson 2006) und zum andern
auf die Konstruktion von Intimität durch die Herstellung eines Wir-Gefühls (we-
ness) (vgl. Galvin 2006).
Bedeutsam ist auch die dritte, eher nach außen gerichtete Form des „Display-
ing Family“ (Finch 2007) insbesondere für solche Familien, die nicht dem gängi-
gen Familienbild entsprechen und sich unter Legitimationsdruck sehen, wie etwa
Pflegefamilien (Helming 2014) oder homosexuelle Eltern o.ä. Um sich und ande-
ren zu signalisieren „Wir sind eine Familie!“ wird das Familienleben gezielt und
bewusst ästhetisiert und nach außen inszeniert.

4.2 Handlungsdimensionen und Handlungsmodi

Hier geht es um praxistheoretische Kernfragen: Wie wird in Familien gehandelt,


in welchen Dimensionen und Modi? Hinsichtlich der Handlungsdimensionen
kann weitgehend auf die im Konzept der alltäglichen Lebensführung vorgenom-
menen Unterscheidungen zurückgegriffen werden, denen zufolge der Alltag vor
allem zeitlich, räumlich, sachlich (d.h. hinsichtlich der Arbeitsgegenstände), so-
zial (d.h. hinsichtlich der Arbeitsteilung), medial (d.h. hinsichtlich der Nutzung
von Hilfsmitteln), emotional sowie kognitiv (d.h. hinsichtlich des Wissens und der
Wahrnehmungen) strukturiert ist (vgl. Voß 1991, S. 261). Sowohl in der Konzep-
tion als auch in der Empirie ist die emotionale, vor allem jedoch die körperliche
Dimension bislang unterbelichtet. Die „Körpervergessenheit“ weiter Teile der Fa-
milienforschung ist umso erstaunlicher, als doch nicht nur jedes Handeln körper-
gebunden ist (vgl. Böhle und Weihrich 2010), sondern Körper in Familien sowohl
bei Pflege und Versorgung zentrale „Arbeitsgegenstände“ sowie Medium für Lust
und Intimität, und nicht zuletzt für die Fortpflanzung sind (vgl. Villa et al. 2011).
In besonderer Weise gälte es herauszuarbeiten, was das Diktum von Hirschauer
(2004, S. 75), der „Körper stecke in den Praktiken“, ohne aber Körper „aprioris-
tisch vorauszusetzen“, für eine Praxistheorie von Familie bedeutet.

5 Hier gibt es ein doppeltes Sprachproblem, ein Übersetzungsproblem und eines zwi-
schen Alltags- und Wissenschaftssprache. So ist Herstellungsleistung der umfassen-
dere Begriff, am besten zu übersetzen mit dem sperrigen „production effort“. In der
anglo-amerikanischen Soziologie haben sich aber „doing“-Konzepte eingebürgert und
sie sind so einfach ins Deutsche zu integrieren, dass es schwierig ist, stets auf die Diffe-
renzierungen hinzuweisen.
130 Karin Jurczyk

Die Handlungsmodi stellen die Frage nach dem Wie der Herstellung von Fami-
lie noch einmal anders. Insbesondere die genannten Praxistheorien betonen den
Vollzug von Handlungen und nicht deren Intentionalität. Handeln wird dabei
nicht gleichgesetzt mit dem bewussten Ausführen rationaler Planungen, deren
Ziel vorab fest zu stehen scheint. Dass jedoch die Intentionalität von Handlungen
in und als Familie zunimmt, ist Kern der hier vorgestellten zeitdiagnostischen
These von Familie als Herstellungsleistung (s.o.). Insofern besteht die Herstellung
von Familie sowohl aus Praktiken als auch aus dezidierten Handlungen. An die-
ser Stelle hilft möglicherweise auch die Unterscheidung von Regulationsstufen
von Tätigkeiten weiter, indem zwischen Praxis und Tun einerseits und intentio-
nalem und möglicherweise strategischem Handeln differenziert wird (vgl. Voß
1991, S. 211ff.). Als „Tun“ oder „Praxis“ lassen sich viele routinisierte, teilweise
vorbewusst ablaufende alltägliche Tätigkeiten bezeichnen. In diesem Sinn ist Fa-
milie zunächst durch „Tun“ charakterisiert – als unverzichtbarer Korpus für das
tägliche Funktionieren und die Versorgung der Familienmitglieder sichernden
Praktiken. Intentionales sinnhaftes „Handeln“ setzt dagegen Reflexion voraus,
im Idealtypus der „methodischen Lebensführung“ von Max Weber ([1922] 2002)
schließt es sogar strategisches zweckrationales Kalkül ein. Bezieht man diese
Unterscheidung auf das vorher Gesagte, so bedeutet es, dass zwar praktische Tä-
tigkeit die Basis jeder Lebensführung ist (Voß 1991, S. 378), auch und insbesonde-
re der familialen Lebensführung, darüber hinaus muss aber die Herstellung von
Familie unter heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen immer bewusster und
gezielter betrieben werden.
Dies zeigt sich auch an der herausgehobenen Bedeutung von familialen Rou-
tinen und Ritualen als zwei Typen von Praktiken (siehe auch Keddi 2014). Sie
geben dem Alltag Struktur und gewährleisten, manchmal über Generationen,
die Reproduktion der familiären Ordnung und Identität. Routinen als „vorherr-
schende Form der sozialen Alltagsaktivität“ machen die „gewohnheitsmäßige, für
selbstverständlich hingenommene Natur der großen Masse der Handlungen des
Alltagslebens“ (Giddens 1988, S. 431) aus. Rituale als normierte und stereotypi-
sierte Handlungsabläufe sichern demgegenüber das Alltagshandeln symbolisch
ab (vgl. Wulf und Zirfas 2004). Insbesondere traditionell vorgegebene Routinen
und Rituale treten in Familien mehr in den Hintergrund, sie können aufgrund
entgrenzter Erwerbsbedingungen sowie kontingenter Geschlechterbeziehungen
auch immer schwerer realisiert werden. Deshalb erfinden sich Familien heute
eigene Regelmäßigkeiten, um sich als Familie zu erfahren und Gemeinsamkeit
zu inszenieren. Hier handelt es sich um neue Hybridformen: um intentionale
Routinen und reflexive Rituale. Ein neuer hybrider Handlungsmodus ist auch
die hergestellte „Beiläufigkeit“ (s.o.). Da Familie nicht auf lineare und effiziente
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 131

Zweckerfüllung, sondern auf emotionale und oft körpergebundene Erfahrungen


zielt, besteht die besondere subjektive Qualität der Erfahrungen in persönlichen
Beziehungen gerade darin, nicht rational kalkuliert und auch nur schwer planbar
zu sein, sondern sie beiläufig „geschehen“ zu lassen. Angesichts entgrenzter Le-
bens- und Arbeitsbedingungen müssen nun solche Beiläufigkeiten paradoxerwei-
se zunehmend bewusst hergestellt werden. Sehr flexible, wechselhafte und nicht
vorhersehbare Anforderungen an Familien werden zudem teilweise mit einem
situativen Handlungsmodus beantwortet.

4.3 Akteure, Adressaten, Handlungsinhalte

Familie als Herstellungsleistung basiert auf den Interaktionen zwischen den ver-
schiedenen Familienmitgliedern, diese können auch in Abwesenheit der signi-
fi kanten Anderen erbracht werden. Familie kann also weder nur als System noch
nur aus der Perspektive Einzelner betrachtet werden. Familiale Gemeinsamkeit
im Sinne einer einheitlichen Sichtweise und Deutung ist nur punktuell gegeben.
An dieser Stelle ist die Vielfalt der Akteure in Familie von Bedeutung, denn die
Rede von „der“ Familie, erst recht von „Gemeinsamkeit“ und „Gemeinschaft“
suggeriert fälschlich das Bild einer Einheit. Gerade der Blick auf Familie muss
jedoch die Einzelperspektiven von Kindern, Müttern, Vätern, Verwandten, Be-
treuungspersonen und Freunden unterscheiden. Dass die Sicht der Familienmit-
glieder auf die gleiche Familie ziemlich weit auseinandergehen, ja ihre Interessen
und Praxen in Konflikt zueinander geraten können, ist kein „Betriebsunfall“, son-
dern konstituiert Familie als Spannungsverhältnis des Interesses sowohl an Ge-
meinschaft als auch an Individualität. Auch wenn in der Perspektive auf familiale
Lebensführung gerade die Integration dieser verschiedenen Individuen fokussiert
wird, so kann der Prozess der Herstellung von Gemeinsamkeit doch keinesfalls
konfliktfrei gedacht werden, er kann auch die Marginalisierung Einzelner bedeu-
ten (vgl. Kousholt 2011) und muss deren Grenzziehungen immer einschließen.
Die einzelnen Mitglieder sind Akteursgruppen zugehörig, die sich durch
kulturell und ökonomisch bedingte, strukturell verankerte Macht- und Res-
sourcenunterschiede kennzeichnen lassen. Denn nicht nur die Perspektive der
unterschiedlichen Familienmitglieder ist zu beachten, vielmehr unterscheiden
sich deren individuelle Zeiten und Zeitbedürfnisse nochmals entlang der sozia-
len Strukturkategorien ‚Geschlecht‘ und ‚Generation‘. Die subjektiven Positionen
und die Beziehungssysteme der Geschlechter und Generationen in Familien sind
nicht einfach individuell aushandelbar und gestaltbar, sie sind gesellschaft lich
eingebettet und vorstrukturiert. Als solche legen sie Kindern, Männern, Frauen
132 Karin Jurczyk

und Alten einen bestimmten Platz im Sozialgefüge von Über- und Unterordnung,
von Zentrum und Peripherie sowie von Definitions- und Gestaltungsmacht nahe.
Trotz des Wandels vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt finden sich zumin-
dest hinsichtlich der Geschlechter und Generationen nach wie vor auch hierarchi-
sche Verhältnisse in Familien. Hinsichtlich der Subdifferenzierung von Familie
gibt es aber ganz unterschiedliche Schnittmengen von Beteiligten. Es geht nicht
nur um die „ganze“ Familie gegenüber Individualperspektiven, sondern auch um
Teilgruppen wie Geschwister, Partner, Eltern-Kind-Dyaden oder Großeltern-En-
kel-Konstellationen. Diese können unter- und gegeneinander Allianzen eingehen
und eigene Akteursgruppen innerhalb der Familie ausmachen.
Zu den an der Herstellung von Familie beteiligten Akteuren gehören jedoch
nicht nur die Familienmitglieder selbst, sondern auch öffentliche Akteure. Die
politischen und staatlichen Institutionen, Schulen, Gewerkschaften, Wirtschaft,
Kirchen, Verbände etc. bilden im Sinne von Bronfenbrenner (vgl. Bronfenbren-
ner und Morris 2006) die unterschiedlichen Meso-, Exo- und Makroebenen der
Sozialökologien, die von außen auf Familie einwirken bzw. mit ihnen mehr oder
weniger interagieren. Die Verknüpfung der mikrosoziologischen Binnenperspek-
tive auf die Handlungen individueller Akteure mit der Perspektive öffentlicher
oder kollektiver Akteure stellt eine weitere Herausforderung an das Konzept von
Familie als Herstellungsleistung dar. 6
Eine nächste Systematisierung bezieht sich auf die Handlungsadressaten. Im
Hinblick auf die Familienmitglieder7 gibt es sowohl individuelle selbstbezogene
Tätigkeiten (wie Aufräumen), explizite Tätigkeiten für Andere (wie Geschenke-
Kaufen) als auch Aktivitäten mit anderen (wie Gemeinsam-Kochen). An Weber
([1922] 2002) anknüpfend, der soziales Handeln immer als auf Andere bezogen
versteht, stellt sich die Frage, ob eigentlich alles Tun bzw. Handeln in Familie so-
ziales Handeln ist. Denn selten sind die eigenen Interessen und die anderer so eng
verknüpft wie in der Familie. Handelt aber nicht die Mutter, die sich für andere
„aufopfert“, zutiefst egoistisch? Und ist der Vater, wenn er seiner Ernährerrolle
nachkommt und Geld verdienen geht, nicht auch froh, die Haustür hinter sich zu
machen zu können? Auch hier zeigt sich die Spannung zwischen Individuierung
und Gemeinschaft, die ge-gendert ist, aber auch entlang des Lebenslaufs variiert.

6 Dieses Zusammentreffen privater und öffentlicher Akteure wird eine umso gewichti-
gere Untersuchungsperspektive sein, umso mehr sich das Leitbild einer gemeinsamen
Verantwortung von Privatheit und Öffentlichkeit als politisches Leitbild durchsetzt.
7 Auch wenn an anderer Stelle argumentiert wird, dass die Leistungen von Familie ge-
sellschaftlich relevant sind, adressieren doch die Familienmitglieder ihr Tun nicht auf
„die“ Gesellschaft, sondern auf signifikante Andere und konkrete Personen in ihrem
Umfeld.
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 133

Abschließend sei skizziert, was denn eigentlich in Familie hergestellt wird, um


welche Handlungsinhalte es geht. Dies ist zum Ersten die Herstellung von Familie
als gemeinsamen generationalen Lebenszusammenhang in persönlichen Bezie-
hungen, sowohl auf der Alltagsebene als auch auf der Ebene der sich im Familien-
verlauf immer wieder ändernden und neu zu justierenden Formen des Zusam-
menlebens sowie auch der Reproduktion der nächsten Generation. Dies erfordert
zum Zweiten die Herstellung gemeinsamer Zeit-Räume und die Ermöglichung
von Kopräsenz. Zum Dritten ist dies eng verknüpft mit der Herstellung von Er-
möglichungsbedingungen für die Erbringung von Care. Die physische und psy-
chische Sorge für andere – als Vielfalt von betreuen, fördern, zuwenden, pflegen,
versorgen – ist jedoch keine private Angelegenheit, auch wenn sie im Privaten
stattfindet. Denn diese in Familie erbrachten Leistungen sind von zentraler ge-
sellschaft licher Bedeutung, die im historischen Prozess des industriellen Kapi-
talismus zunehmend ins Private ausgegliedert und an Frauen delegiert wurden.
Sie sind die unsichtbare andere, private Seite des Erwerbssystems und des So-
zialstaates, ohne die beide – zumindest unter gegenwärtigen Bedingungen der
meisten Industriegesellschaften – nicht auskommen würden. Familie ist somit
die Vorbedingung geldwerter Arbeit, indem sie zum einen Kinder als künftige
Arbeitskräfte großzieht und zum andern für die tägliche Reproduktion und Re-
generation der Erwachsenen sowie für die Pflege alter Familienangehöriger einen
erheblichen Anteil leistet. Damit fokussiert ‚Care‘ auf den Aspekt der existenziel-
len Abhängigkeit von Menschen von Versorgung durch Andere. Wir sind aus der
Care-Perspektive alle sorgebedürftig, weil die Tatsache menschlicher Bedürftig-
keit, Verletzlichkeit und Endlichkeit beinhaltet, dass alle Menschen am Anfang,
viele zwischenzeitlich und sehr viele am Ende ihres Lebens versorgt werden müs-
sen (Brückner 2011). In einem weiter gefassten Verständnis ist ‚Care‘ „Lebens-
sorge“ (Klinger 2013), die das sich Kümmern um alle Lebensprozesse der inneren
und äußeren Natur, der Versorgung und Pflege, der wechselseitigen Zuwendung
zwischen (gesunden) Erwachsenen sowie der Selbstsorge umfasst. Das „Exter-
ritorium“ der privaten Lebenswelt erfüllt damit nicht substituierbare Funktion
für das ‚System‘: Es erzeugt die „menschlichen Akteure, die das System in Gang
setzen und in Schwung halten“ (Klinger 2013). Ohne die subsidiären Beiträge aus
der Lebenswelt müsste der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat, der dem moderat-fa-
milialistischen Modell folgt (Esping-Andersen 2009), grundlegend anders kons-
truiert werden.
134 Karin Jurczyk

5 Der Mehrwert einer praxeologischen Perspektive


auf Familie – Fazit

Die vorgestellten empirischen Ergebnisse und konzeptionellen Überlegungen


zum ‚Doing Family‘ lassen gewiss viele Fragen offen und weisen Unschärfen auf.
An vielen Stellen bedarf es weiterer konzeptueller Arbeit und empirischer Vertie-
fung. Gleichwohl lässt sich argumentieren, dass angesichts des konstatierten so-
zialen Wandels eine solche Sicht auf Familie als Handlungszusammenhang einen
spezifischen Mehrwert gegenüber folgenden Ansätzen erbringen kann8, die in der
Familienwissenschaft häufig Verwendung finden: Systemtheorie und Struktur-
funktionalismus, Einstellungs- und Werteforschung, interpretative und phäno-
menologische Ansätzen, Rational Choice-Theorien, morphologische Konzepte
sowie Vereinbarkeits- und Zeitbudgetkonzepte (vgl. hierzu genauer Jurczyk 2014).
Eine praxeologische Perspektive auf Familie kann demgegenüber erstens All-
tagsnähe erzeugen, indem sie die Komplexität des Alltags als Vielfalt zusammen-
treffender äußerer und innerer Dimensionen und Ebenen in Familien erfasst.
Zweitens kann sie auf die Interaktionen zwischen den verschiedenen Familien-
mitgliedern fokussieren und Familie nicht vorrangig aus der Perspektive Ein-
zelner (bislang meist Frauen) und bezogen auf Einzelne betrachten. Eine Mul-
ti-Aktor-Perspektive kann Widersprüche, Konflikte und Abhängigkeits- und
Machtverhältnisse in besonderer Weise sichtbar machen. Drittens berücksichtigt
sie systematisch den Einfluss sich wandelnder sozial-ökologischer Umwelten auf
Familie und ihre Wechselwirkungen. Erst die Mischung endogener und exoge-
ner, kultureller und ökonomischer Einflüsse und ihre Aneignung in alltäglichen
Praktiken erklärt viertens die Dynamiken des Familienalltags und des familialen
Wandels, und nur so können fünftens auch alltagsnahe Bedarfe von Familien er-
mittelt werden.
Der Charme der praxeologischen Perspektive des ‚Doing Family‘ liegt aber
neben allen diesen Potenzialen auch darin, dass hier Familie nicht ideologisch
gefasst wird. Denn bei der Rede von „Familie als Herstellungsleistung“ geht es
nicht um ihr „Gelingen“ entlang gesellschaft licher Normen, sondern um die Re-
konstruktion von Praktiken vor dem Hintergrund subjektiven Sinns. Familien
unternehmen selbst unter den widrigsten Bedingungen vielfältige Anstrengun-
gen, Beziehungen zu gestalten (und sei es durch Beziehungsabbrüche). Das ‚Do-
ing Family‘-Konzept impliziert damit keinen harmonistischen Blick auf Fami-
lie, sondern einen auf die Gestaltung einer prinzipiell „conflictual community“

8 Dies bedeutet keinesfalls, dass solche Theorien nicht durchaus weiterhin für familien-
wissenschaftliche Zwecke sowohl Beschreibungs- wie Erklärungskraft besitzen.
Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften 135

(Kousholt 2011). Anstelle ideologischer Mutmaßungen und Zuschreibungen wird


in den Vordergrund gerückt, dass, will man heute enge persönliche (Sorge-)Bezie-
hungen mit Anderen leben und akzeptiert man existenzielle Angewiesenheiten,
Praktiken der alltäglichen und biographischen Herstellung von Familie als aktive
Leistungen notwendig sind. Diese gilt es zu untersuchen.
Es geht hier also nicht nur um die Aufdeckung „blinder Flecke“ der Familien-
forschung hinsichtlich dessen, wie Familien leben und wie komplex und voraus-
setzungsvoll Leistungen zur Verschränkung des Alltags von Frauen, Männern,
Kindern unter den Bedingungen der Späten Moderne sind, sondern auch um die
gesellschaftspolitische Relevanz der Perspektive. Denn sie rückt in den Blick, dass
das ‚Doing Family‘ und die Herstellung von Familie als aktive Leistung Voraus-
setzungen dafür sind, dass Familie überhaupt die von ihr erwarteten gesellschaft-
lichen Leistungen für Gesellschaft – wie Erziehung, Bildung, etc. – erbringen
kann. Die politischen, wirtschaft lichen, kulturellen und gesellschaft lichen Rah-
menbedingungen müssen deshalb so gestaltet sein, dass Familien und ihre Mit-
glieder darin unterstützt werden, sich – gleich in welcher konkreten Form – als
„eigensinniger“ alltäglicher praktischer Lebenszusammenhang (Jurczyk 2012)
immer wieder neu zu konstituieren.

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Marina Hennig

1 Einleitung

Viele der Diskussionen über die Krise der Familie oder die Pluralisierung der Le-
bensformen basieren auf Aussagen über Haushalte (vgl. Marbach 2000). Lange
Zeit war die amtliche Statistik die einzige Quelle, um die Entwicklung familiä-
rer Lebensformen darstellen zu können. Amtliche Statistiken sind zwar in ihren
Messungen objektiv, nicht aber notwendigerweise in ihren Begriffen, d.h. dass die
Haushalts- und Familientypen der amtlichen Statistik nur zum Teil soziologisch
wesentlichen Aspekten des Zusammenlebens gerecht werden. Dabei richtet die
Haushaltsstatistik ihren Blick auf die Mitglieder des Zielhaushalts, d.h. wer ver-
heiratet ist und zusammenlebt und Kinder hat wird statistisch als Familie gezählt,
lebt das Paar aber in zwei Haushalten, gelten beide als Single. Darüber hinaus gibt
es weitere Familienkonstellationen, die nicht immer an den Haushalt gebunden
sind, wie das Kind eines geschiedenen Elternteils, das beim Expartner lebt, regel-
mäßig zu Besuch kommt und in fast allen Entscheidungen der Familie eine Rolle
spielt; die studierende Tochter, die in der Woche zwar am Studienort lebt, aber die
meisten Wochenenden im Elternhaus verbringt; der Ehepartner, der aus beruf-
lichen Gründen einen zweiten Haushalt an einem anderen Ort unterhält, mit dem
die befragte Frau jedoch nicht in Trennung lebt. Wie die Beispiele zeigen, ent-
scheidet nach der Definition der amtlichen Statistik allein das Zusammenwoh-
nen darüber, wie Familienentwicklungen und Familienbeziehungen interpretiert
werden. Dabei muss der Wandel der Wohn- und Haushaltsformen, der sich in der

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
142 Marina Hennig

amtlichen Statistik widerspiegelt, nicht notwendigerweise mit einem Wandel der


gelebten Beziehungen einhergehen. Durch die alleinige Betrachtung der Haus-
haltsperspektive wird ignoriert, dass Familie und familienähnliche Formen des
Zusammenlebens und der Haushalt unterschiedliche Grundgesamtheiten umfas-
sen. Während die Familie im Kern auf den Beziehungen zwischen erwachsenen
Partnern und ihren Kindern basiert, handelt es sich bei Haushalten um sozio-
ökonomische Einheiten von Personen, die zusammen wohnen und wirtschaften
(Pöschl 1989, S. 627). Auch wenn Haushalt und Familie von der amtlichen Sta-
tistik und der Mehrzahl der sozialwissenschaft lichen Umfragen begrifflich klar
unterschieden werden, gelten im forschungspraktischen Umgang Familien häufig
als Teilmenge von privaten Haushalten (vgl. Marbach 2000).
Familienleben und Familienbeziehungen sind aber nicht an Haushaltsgrenzen
gebunden. Im siebten Familienbericht (BMFSFJ 2006) floss diese Erkenntnis in
die Konstruktion eines Familienbegriffs ein, der Familie als eine Gemeinschaft
mit starken Bindungen definiert, in der mehrere Generationen füreinander sor-
gen und Verantwortung füreinander übernehmen. Sie ist ein privates soziales
Netz der besonderen Art, welches von den Familienmitgliedern immer wieder
hergestellt wird. Es handelt sich hierbei nicht um eine vorgegebene Institution
oder „Urinstitution“ (Tyrell 1978), sondern Familie ist ein Prozess, der für die
Mitglieder erst dadurch seinen institutionellen Charakter erhält. Angelehnt an
die demographische Entwicklung einer alternden Gesellschaft löst sich dieser
Familienbegriff bewusst von der Vorstellung des gemeinsamen Wohnens und
Wirtschaftens mit ledigen Kindern und betont die sozialen Beziehungen, insbe-
sondere gegenseitige Hilfe und Anteilnahme, zu einem weiten Personenkreis aus
verwandten und verschwägerten Personen (Schweitzer 1987, S. 162).
Das heißt, dass sich die Familiennetzwerke – anders als Haushalte – nicht
ausschließlich durch gemeinsames Wohnen und Wirtschaften konstituieren,
sondern über verschiedene Funktionen, in deren Zentrum die gegenseitigen Bin-
dungen und Unterstützungen stehen. Familiennetzwerke sind dadurch sozial und
räumlich diff user als Haushalte. In sozialer Hinsicht spiegeln Familiennetzwer-
ke mehr und andere, zumindest bisher vernachlässigte Seiten einer Beziehungs-
realität wider, die der Haushaltssicht entgehen, aber den Familienalltag mitprägt.
In diese Beziehungsrealität sind neben Angehörigen der Kernfamilie, der Her-
kunftsfamilie und der weiteren Verwandtschaft auch Nichtverwandte eingebun-
den. Familiennetzwerke haben damit auch eine Brückenfunktion zwischen Indi-
viduum und Gesellschaft. Der 7. Familienbericht spricht daher auch von Familie
als privatem und sozialem Netz der Familienmitglieder.
Im Rahmen dieses Beitrages möchte ich die Beziehungsrealität von Familie,
die der Haushaltssicht entgeht, aber den Familienalltag mitprägt aufzeigen. Dabei
Familie als Netzwerk 143

betrachte ich Familie in Anlehnung an den 7. Familienbericht als soziales Netz


von mindestens zwei sozial oder biologisch verbundenen Generationen, das im
Kern durch gegenseitige Bindungen und wechselseitige Unterstützungen gekenn-
zeichnet ist und sich nicht auf den Haushalt beschränkt. Resultate einer solchen
Netzwerkbetrachtung von Familie finden sich in der Fachliteratur in Begriffen wie
der „Supplementären Mehrgenerationen-Familie“ (Trotha 1990), der „multiloka-
len Mehrgenerationen-Familie“ (Bertram 1995) oder auch „Multilokalität später
Familienphasen“ (Lauterbach 1998). Daher werde ich zunächst das Konzept der
Multilokalen Mehrgenerationenfamilie vertiefen, um dann mit Hilfe der Daten
aus dem Sozio-ökonomischen Panel von 1991-2011 die gelebte Familienrealität
über die Haushaltsgrenzen hinweg am Beispiel der Generationenbeziehungen ab-
zubilden. Im Rahmen einer theoretischen Diskussion behandle ich zum Schluss
verschiedene Konzepte von Beziehungslogiken, um mich der Frage anzunähern,
nach welchen Prämissen die Individuen in hochdifferenzierten Gesellschaften
ihre intergenerationalen familiären Beziehungen gestalten.

2 Generationenbeziehungen und Multilokalität:


Die multilokale Mehrgenerationenfamilie

In der Auseinandersetzung mit König (1946) und Parsons (1955) formulierte


Bertram die These „dass die fordistisch organisierte neolokale Gattenfamilie,
die im Wesentlichen nur den Generationenzusammenhang zwischen Eltern und
Kindern bei einer gleichzeitig klaren, nach innen differenzierten Macht und Auf-
gabenteilung kannte, zunehmend abgelöst wird durch eine multilokale Mehr-
generationenfamilie, in der Macht und Aufgaben ausgehandelt werden müssen.
Neben die Sozialisation der kindlichen Persönlichkeit und die Stabilisierung der
Persönlichkeit der Erwachsenen tritt zudem eine weitere Funktion der Familie,
nämlich die Solidarität mit der älteren Generation und die Bereitschaft, für diese
auch Fürsorge zu übernehmen“ (Bertram 2002, S. 519). Bereits in den 1960er Jah-
ren bezeichnete Rosemayr (1965) die Beziehung zwischen alt gewordenen Eltern
und ihren Kindern, die meist in eigenen Haushalten leben, als eine „Intimität auf
Distanz“. Damit meinte er, dass trotz des Lebens in unterschiedlichen Haushal-
ten zwischen den erwachsenen Kinder und ihren Eltern die sozialen Beziehungen
auch noch nach dem Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haushalt bestehen
bleiben und sich die Generationen gegenseitig unterstützen. Für Bertram (2005)
führen die seit Anfang der 1970er Jahre laufenden demographischen Verände-
rungen der Alterspyramide in fortgeschrittenen postindustriellen Gesellschaften
zu einer Vertikalisierung der familiären Beziehungen, die darauf beruht, dass die
144 Marina Hennig

Lebenserwartung ansteigt, so dass Eltern und Kinder heute eine gemeinsame Le-
benszeit von bis zu 55 bis 60 Jahre haben können (Lauterbach 1995). Selbst bei
einem durchschnittlichen Heiratsalter von 28 bis 30 Jahren können Großeltern
davon ausgehen, dass sie die Hochzeit ihrer Enkel noch erleben (vgl. Bertram und
Bertram 2009). Damit überlappen sich die Biografien mehrerer Generationen für
einen sehr langen Lebensabschnitt. Dies führt aber auch dazu, dass wie Bengtson
(2001) in seiner These formuliert, die Beziehungen zwischen mehr als zwei Gene-
rationen sowohl für die Individuen wie für die Familien an Bedeutung gewinnen.
Bengtson geht davon aus, dass für viele US-Amerikaner die Mehrgenerationen-
beziehungen eine größere Bedeutung für das eigene Wohlbefinden und die Unter-
stützung im Lebensverlauf bekommen werden als die Kernfamilie allein, die nach
Parsons (1955) auf der Beziehung zwischen Eltern und Kindern im gemeinsamen
Haushalt basiert. Die Überlappungen gemeinsamer Lebensjahre führen dem-
nach aber auch zu einer Zunahme an Möglichkeiten und Notwendigkeiten für
Beziehungen, Unterstützungen und Einflüssen über mehr als zwei Generationen.
Das heißt in der Konsequenz, dass einerseits die intergenerationale Solidarität
zunimmt und andererseits auf Grund der steigenden Scheidungszahlen die Fa-
milienbeziehungen über mehrere Generationen für den Sozialisationsprozess von
Kindern an Bedeutung gewinnen und für die Familienfunktionen im 21. Jahr-
hundert von grundlegender Bedeutung sein werden (vgl. Bengtson 2001).
Diese Entwicklungen führen nach Bertram (2002) auch zu einer Veränderung
der Bedeutung des gemeinsamen Haushalts. Galt das „gemeinsame Wohnen in
einem Haushalt seit Mitte der 1930er Jahre zunehmend als Synonym für Intimität
und Enge der Beziehungen, so kann man demgegenüber davon ausgehen, dass die
Beziehungen zwischen der neu gegründeten Familie und den Herkunftsfamilien
auch dann fortbestehen, wenn alle in unterschiedlichen Haushalten leben“ (Bert-
ram 2002, S. 526). Das bedeutet aber auch, so Bertram (2002, S. 526) „dass der
Haushalt kein geeigneter Indikator für die Intimität von Familienbeziehungen ist
und die multilokale Mehrgenerationenfamilie nicht über die Haushaltszugehö-
rigkeit erfasst werden kann“. Intime Beziehungen von Paaren und Familien sind
sowohl neolokal wie auch multilokal (vgl. Bertram 2002), so dass die Multilokali-
tät das Konzept der Mehrgenerationenbeziehungen ergänzt.

2.1 Familie über Haushaltsgrenzen hinweg

Um die gelebte Familienrealität über die Haushaltsgrenzen hinaus empirisch ab-


zubilden, bedarf es jedoch entsprechender Daten, welche die amtliche Statistik
aber nicht zur Verfügung stellt. Denn dazu müssen die Beziehungen zum Gegen-
Familie als Netzwerk 145

stand der Analyse gemacht werden, wie es mit Hilfe netzwerktheoretischer An-
sätze möglich ist. Hierbei werden aus der Perspektive des Befragten, also des Ichs,
egozentrierte Netzwerke (vgl. Hennig et al. 2012) erhoben. Egozentrierte Netz-
werkerhebungen werden in der Regel durchgeführt, wenn Ego bekannt ist, aber
nicht dessen Alteri. Diese Studien stützen sich auf die Angaben des Befragten, um
Informationen über seine Beziehungen zu erhalten. Egozentrierte Netzwerkana-
lysen dienen dazu, das individuelle soziale Umfeld einer Person zu erfassen. Sie
sind geeignet für den Einsatz in repräsentativen Massenumfragen und ermög-
lichen den Vergleich der Struktur des interpersonellen Umfeldes für individuelle
Merkmale, für die Variablen des sozialen Kontextes und die geografische Umge-
bung. Will man jedoch auch die Qualität dieser Beziehungen beurteilen oder die
Übereinstimmung in der Wahrnehmung von Beziehungen, wird man auch die
Partner, die im Netzwerk genannt werden, berücksichtigen müssen (Bien 1996).
Umfragedaten wie das Sozio-ökonomische Panel, der Familiensurvey des
DJI oder auch die Daten des pairfam stellen hierfür inzwischen ein umfangrei-
ches Datenmaterial zur Verfügung. Im Rahmen des Sozio-ökonomischen Panels
werden seit 1986 systematisch alle fünf Jahre Daten zu Familienbeziehungen als
Egozentrierte Netzwerkdaten erhoben. Damit ermöglichen die Daten auch die
Abbildung des sozialen Wandels auf der Grundlage der Querschnittdaten für ver-
schiedene Zeitpunkte. Durch einen Vergleich der Panelwellen, lässt sich einerseits
der Einfluss des Älterwerdens in Abgrenzung zu Kohortenunterschieden spezifi-
zieren zum anderen aber auch eine mögliche Zunahme der Bedeutung der Multi-
lokalität für die Generationsbeziehungen über die Zeit beschreiben. Dies soll mit
Hilfe der SOEP Querschnitt- als auch Paneldaten von 1991 und 2011 demonstriert
werden, da damit ein ausreichender Abstand von 20 Jahren zur Dokumentierung
des sozialen Wandels gegeben ist und Familien aus dem gesamten Bundesgebiet
mit erfasst werden1.

2.1.1 Die räumliche Struktur von Familienbeziehungen


Ein zentraler Aspekt von Familie als Netzwerk ist die Erweiterung der Perspektive
über den einzelnen Haushalt hinaus. Mit Hilfe der Querschnittdaten von 2011
wird zunächst der Einfluss der Wohnentfernung auf die Zusammensetzung der
Familien nach der Generationenzahl untersucht. Im Rahmen des SOEP wurden
die Befragten gebeten, Angaben zu ihrem engeren und entfernten Familienkreis
zu machen. Dabei sollten sie angeben, ob sie bestimmte Verwandte haben und wie

1 Der Familiensurvey liefert hingegen nur Daten von 1988 - 2004, während die pairfam-
Daten erst im Jahr 2008/2009 beginnen. Die SOEP Erhebungen wurden erst nach 1990
auf das Gesamte Bundesgebiet ausgedehnt.
146 Marina Hennig

weit diese entfernt wohnen. Bei den folgenden Analysen wurden jedoch nur die
Familienbeziehungen im engeren Sinne berücksichtigt, d.h. Großeltern, Eltern,
Kinder und Enkel. Mit anderen Worten, der hier verwendete Generationenbegriff
ist genealogisch, da er auf den Abstammungsbeziehungen2 basiert.

Abbildung 1 Generationenkonstellation (kumulativ) über die Wohnentfernung, 2011

Quelle: Sozio-ökonomisches Panel 2011, eigene Berechnungen N=14.500

Das Flächendiagramm (Abbildung 1) gibt die kumulierte prozentuale Verteilung


der Familien nach Generationenzahl über sieben Ausprägungen der Wohnentfer-
nung wieder. Es zeigt sich, dass zwei Generationen sehr häufig in einem Haushalt
zusammenleben, während die Dreigenerationenkonstellation insgesamt, über
alle Kategorien hinweg, flächenmäßig den größten Anteil an den Familienzusam-
mensetzungen überhaupt ausmachen. Die größte Konzentration von Dreigenera-
tionenkonstellationen findet sich unter Familien, die in der unmittelbaren Nach-
barschaft leben. Konstellationen mit vier und mehr Generationen fangen erst an
sich in dieser Distanz bemerkbar zu machen. Wir sehen aber auch, dass sich der
Einfluss der Wohnentfernung gleichförmig und monoton über die gesamte Ent-

2 Stief-/Adoptiv-/Pflegekinder wurden nicht in die Analyse einbezogen, da hier nicht


genügend Informationen vorlagen.
Familie als Netzwerk 147

fernungsskala erstreckt, so dass es nicht zu einer Häufung von Familiengeneratio-


nen in der Nachbarschaft kommt. Zur Eingenerationenkonstellation gehören Per-
sonen, die angeben keine Beziehungen zu unmittelbaren Familienangehörigen zu
haben, sondern nur zu entfernten Verwandten oder Peers.
Betrachtet man die mittlere Zahl der genannten Personen für die jeweilige Ge-
nerationenzugehörigkeit (Abbildung 2) und deren Verteilung über die Distanzen
der Wohnentfernung, dann zeigt sich ein deutlicher Anstieg von 1991 zu 2011.3

Abbildung 2 Mittlere Generationenzahl nach Wohnentfernung

3
J

J J
J J
J
2,5

B B
B B
B B

2
im Haus Nachbarschaft gleichen Ort anderer Ort weiter entfernt Ausland

B 1991 J 2011

Quelle: Sozio-ökonomisches Panel von 1991 und 2011, eigene Berechnungen

Dieser Anstieg bei der mittleren Generationenzahl pro Kopf drückt aus, dass
Mehrgenerationenkonstellationen 2011 gegenüber 1991 angestiegen sind und die
intergenerationalen Bindungen zugenommen haben.
Betrachtet man die Paneldaten4 (Abbildung 3), so zeigen sich hier die Effekte
des Älterwerdens bei der Generationenzahl pro Kopf, die insgesamt zugenommen
haben.

3 Die Daten für die Querschnittsanalysen wurden mit dem Standardgewicht, welches
vom DIW im Zuge der Datenweitergabe für haushalts- und personenbezogene Ana-
lysen bereitgestellt wird, gewichtet (siehe dazu Wagner et al. 2008).

4 Das DIW bietet neben den Querschnittsdaten auch Paneldaten an, d.h. es handelt es
sich um Befragte, die wiederholt an der SOEP Befragung teilgenommen haben, in die-
sem Fall sowohl 1991 als 2011.
148 Marina Hennig

Abbildung 3 Mittlere Generationenzahl nach Wohnentfernung (Panel)

J
3
J J
J J
B B
B
2,5 B
J
B
B

2
im Haus Nachbarschaft gleichen Ort anderer Ort weiter entfernt Ausland

B Panel 1991 J Panel 2011

Quelle: Paneldaten Soep 1991, 2011 (N=8.047), eigene Berechnung

So hat von 1991 zu 2011 die mittlere Generationenzahl im Haus und auch in den
anschließenden Distanzen leicht zugenommen. Auff ällig ist sowohl im Kohor-
ten-Vergleich wie auch im Lebensverlauf, dass die Tendenz zur Multilokalität der
Familienmitglieder fortbesteht und die Generationen im Wohnbereich spürbar
auseinanderrücken.

2.2 Geteilte Lebenszeit

Durch die steigende Lebenserwartung insbesondere in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts nimmt die Zahl älterer Menschen in Deutschland zu. Dies führt
dazu, dass immer mehr Kinder und Jugendliche ihre Großeltern erleben. Groß-
elternschaft gehört inzwischen zur Normalität in den Generationenkonstellatio-
nen (vgl. Peuckert 2012, S. 600).
Auch in den hier untersuchten Daten spiegeln sich die Effekte des Älterwer-
dens in der deutschen Gesellschaft in der Verteilung der Altersgruppen bei den
Generationskonstellationen wider.
Familie als Netzwerk 149

Abbildung 4 Anteile der Befragten nach Altersgruppen an den Generationenkonstella-


tionen für 1991 und 2011 (in Prozent)

100 100
90 90
80 80
70 70
60 60
50 50
40 40
30 30
20 20
10 10
0 0
1 2 3 4 1 2 3 4
Generationenkonstellation 1991 Generationenkonstellation 2011

18-25 j. 26-35 J. 46-45 J. 46-55 J. 56-65 J. älter 65 J.

Quelle: Sozioökonomisches Panel von 1991 (N=11.280) und 2011 (N=15.238), eigene
Berechnungen

So verdeutlichen die Querschnittdaten (Abbildung 4), dass der Anteil der über
56-65 Jährigen und der über 65 Jährigen an den Befragten von 1991 gegenüber
2011 angestiegen ist. 2011 finden sich diese Altersgruppen mehrheitlich bei je-
nen, die angeben keine der abgefragten Familienangehörige zu haben oder bei der
Zweigenerationenkonstellation. Diese Entwicklung ist vor allem auf den Rück-
gang der Geburtenzahlen zurückzuführen. Denn der Anteil der 18-25 Jährigen
und der 26-35 Jährigen Befragten hat von 1991 zu 2011 deutlich abgenommen.
Dies hat zur Folge, dass immer mehr ältere Menschen in Ein- oder Zweigenera-
tionenkonstellationen leben, während die Befragten im mittleren und jüngeren
Alter in Drei- und Viergenerationenkonstellationen leben. Diese Ergebnisse de-
cken sich mit der Studie von Grünheid und Scharein (2011), die die gegenwärti-
gen Verhältnisse von Mehrgenerationenkonstellationen anhand einiger größerer
Surveys der letzten 20 Jahren verglichen haben. Demnach lebt rund die Hälfte der
Befragten ab dem mittleren Alter in einer Dreigenerationenfamilie, etwas mehr
als ein Viertel in Zweigenerationenkonstellationen und ein Fünftel in einer Vier-
generationenfamilie.
Insgesamt zeigen die Daten des SOEP (Tabelle 1), dass die Zahl der familialen
Generationen in den letzten 20 Jahren aufgrund der längeren Lebenserwartung
zugenommen hat. Insbesondere Personen, die allein sind oder mit Peers in Be-
150 Marina Hennig

ziehungen stehen, sind prozentual zurückgegangen, während Lebensformen mit


drei oder mehr Generationen deutlich zugenommen haben.

Tabelle 1 Anteile der Befragten nach Lebensformen (Angaben in Prozent)5

1991 2011

Allein 18,3 7,5

Mit Eltern 30,3 14,1

Mit Kindern 13 19,8

Mit Großeltern 7,4 0

Mit Enkeln 0,5 0,3

Mit Eltern und Kindern 12,5 32,4

Mit Eltern und Großeltern 14,6 17,4

Mit Kind und Großeltern 0,13 0,1

Mit Kind, Eltern und Großeltern 3 8,12

Mit Eltern, Großeltern und Enkeln 0,1 0

Mit Kind, Eltern, Großeltern und Enkel 0,1 0,19

Quelle: Sozio-ökonomisches Panel 1991 und 2011, eigene Berechnungen

Inwieweit jedoch die Viergenerationenfamilie zur Normalität wird, muss ange-


sichts des steigenden Alters der Mütter bei der Geburt der Kinder offen bleiben,
„denn wenn dieses Alter schneller steigt als die Lebenserwartung, ist eher mit
einem Rückgang der gemeinsamen Lebenszeit der vier Generationen zu rechnen“
(Peuckert 2012, S. 598).
Wir können an dieser Stelle zunächst festhalten, dass sich Familiennetzwerke
nicht ausschließlich durch gemeinsames Wohnen und Wirtschaften konstituie-
ren und dass sie sozial und räumlich diff user sind als Haushalte, wie die räumli-

5 Frage: 1991 wurde nach der erweiterten Familie gefragt. Es sollten nur die Personen
angegeben werden, die nicht im selben Haushalt leben. 2011 wurde die Frage etwas ver-
ändert gestellt: Hier wurde nach dem engeren bzw. erweiterten Familienkreis gefragt
und ob sie im Haushalt leben oder weiter entfernt.
Familie als Netzwerk 151

che Struktur der hier gezeigten Daten verdeutlicht. Auch wenn die zur Verfügung
stehenden Daten nur ansatzweise Analysen zur Dynamik der Generationsbezie-
hungen ermöglichen, zeigt sich doch, dass mit der Alterung der Bevölkerung und
dem Anstieg der Lebenserwartung die Generationsbeziehungen bei gleichzeitig
zunehmender räumlicher Distanz zugenommen haben. Damit lebte die Mehrheit
der Befragten Personen 2011 in multilokalen Mehrgenerationszusammenhängen.

2.3 Zur Ausgestaltung der Familienbeziehungen

Unterstreichen die bisherigen Analysen vor allem die Mehrgenerationenfamilien


über die Haushaltsgrenzen hinaus, soll in diesem Abschnitt, ein Blick auf die
Ausgestaltung der Familienbeziehungen geworfen werden. Auch wenn die hier
verwendeten Daten keinen Hinweis auf die Qualität der Beziehungen zwischen
den Familienmitgliedern geben, lässt sich mit den im SOEP erhobenen Netzwerk-
beziehungen die gelebte Beziehungsrealität in den Generationenkonstellationen
abbilden. Hierzu wurden über eine Auswahl möglicher Beziehungsaspekte ego-
zentrierte Netzwerke der Befragten erhoben, so dass für die verschiedenen Ge-
nerationenkonstellationen aufgezeigt werden kann, wer in welcher Weise zum
Netzwerk des Befragten gehört. Die Befragten wurden gefragt, mit wem sie per-
sönliche Gedanken und Gefühle teilen, wer sie im Vorankommen in Beruf und
Ausbildung fördern würde, wer im Falle einer langfristigen Pflegebedürftigkeit
helfen würde, mit wem man sich gelegentlich streitet und wer einem unangeneh-
me Wahrheiten sagen dürfe. Pro Frage durften fünf Personen genannt werden.
Gut erkennbar ist in den nachfolgenden Abbildungen, dass der größte Teil der
Unterstützungsleistungen durch die Familienmitglieder erbracht wird und selbst
bei denjenigen, die keine weiteren Familienmitglieder angegeben haben, treten an
die Stelle der Eltern, Kinder oder Großeltern entfernte Verwandte. Fragt man, wer
mit wem über persönliche Gedanken und Gefühle spricht (Abbildung 5), dann
zeigt sich, dass bei den zwei und mehr Generationenkonstellationen neben den
Partnern, vor allem die Eltern und Kinder wichtige Bezugspartner und bei den
Drei- und Mehrgenerationenkonstellationen des weiteren noch die Großeltern
wichtige Bezugspersonen sind. Aber auch andere Verwandte sind bei dieser Frage
wichtige Gesprächspartner. Mit anderen Worten, das Sprechen über persönliche
Gefühle findet vorrangig im weiteren Familienkreis statt. Dennoch sind auch
Arbeitskollegen, Nachbarn und andere Personen Ansprechpartner bei dieser Fra-
ge, vor allem für diejenigen, die keine Eltern oder Kinder (mehr) haben.
152 Marina Hennig

Abbildung 5 Prozentuale Verteilung von Personen, mit denen der/die Befragte über per-
sönliche Gedanken und Gefühle spricht nach Generationenkonstellationen
2011

4
Generationen

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent

Ehepartner, Partner Enkel Personen aus der Nachbarschaft

ehemaliger (Ehe-)Partner Verwandte Personen aus Verein, Freizeit

Eltern Arbeitskollegen Bezahlte Helfer, ambulanter Dienst etc.

Kinder Personen aus Ausbildung Andere Personen(en)

Großeltern

Quelle: Sozioökonomisches Panel 2011, N = 51.119 Netzpersonen, eigene Berechnungen

Bei der Frage, wer das Vorankommen in Beruf und Ausbildung fördern kann
(Abbildung 6), zeigt sich für alle Generationenkonstellationen, dass neben den
Familienbeziehungen auch sogenannte ‚weak ties‘6 im Sinne von Granovetter
6 In einer der ersten Studien zur beruflichen Mobilität stieß Granovetter (1974) auf die
sogenannte „Stärke schwacher Bindungen“. Während starke Beziehungen mit einem
hohen zeitlichen Aufwand verbunden, einen hohen Grad an emotionaler Verbun-
denheit und gegenseitiger Nähe zeigen und durch Vertrauen und gegenseitige Hilfe-
leistungen gekennzeichnet sind (vgl. Granovetter 1973, S. 1361), weisen schwache
Beziehungen solche Eigenschaften an zeitlicher und emotionaler Intensität nicht auf.
Daher entsprechen schwache Beziehungen eher Gelegenheitskontakten, wie zwischen
Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen (vgl. Granovetter 1973,S. 1361). Während
starke Beziehungen Cliquenbildung befördern und so ein Gesamtnetzwerk fragmentie-
ren, bilden schwache Beziehungen Brücken zwischen ansonsten unverbundenen Teilen
des Gesamtnetzwerkes und erhöhen dadurch die Erfolgschancen für das Handeln der
Akteure. Die Informationen, die man über starke Beziehungen innerhalb einer Gruppe
Familie als Netzwerk 153

(1974) in die Netzwerke eingebunden sind. Das sind z.B. Arbeitskollegen und an-
dere nichtverwandte Personen.

Abbildung 6 Prozentuale Verteilung von Personen, die das Vorankommen im Beruf,


Ausbildung fördern nach Generationenkonstellationen 2011

4
Generationen

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent

Ehepartner, Partner Enkel Personen aus der Nachbarschaft

ehemaliger (Ehe-)Partner Verwandte Personen aus Verein, Freizeit

Eltern Arbeitskollegen Bezahlte Helfer, ambulanter Dienst etc.

Kinder Personen aus Ausbildung Andere Personen(en)

Großeltern

Quelle: Sozioökonomisches Panel 2011, N = 51.119 Netzpersonen, eigene Berechnungen

Im Falle einer langfristigen Pflegebedürftigkeit (Abbildung 7) resultiert die


Unterstützung mehrheitlich aus den Familien- und Verwandtschaftsbeziehun-
gen. Selbst bei der Eingenerationenkonstellation beträgt der Anteil bezahlter Hel-
fer gerade einmal 20 Prozent.

erhält, unterliegen einer gewissen Redundanz. Schwache Bindungen bieten aber, wenn
sie als Brücken auftreten, die Möglichkeit des Informationsflusses zwischen ansons-
ten isolierten Gruppen. Gerade die „schwachen Brücken“ integrieren nach Granovetter
(1973, S. 1366) die verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft.
154 Marina Hennig

Abbildung 7 Prozentuale Verteilung von Personen, die bei einer langfristigen Pflegebe-
dürft igkeit helfen würden nach Generationenkonstellationen 2011

4
Generationen

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent

Ehepartner, Partner Enkel Personen aus der Nachbarschaft

ehemaliger (Ehe-)Partner Verwandte Personen aus Verein, Freizeit

Eltern Arbeitskollegen Bezahlte Helfer, ambulanter Dienst etc.

Kinder Personen aus Ausbildung Andere Personen(en)

Großeltern

Quelle: Sozioökonomisches Panel 2011, N = 51.119 Netzpersonen, eigene Berechnungen

Dass das Zusammenleben der Generationen nicht immer nur positiv erlebt wird,
lassen die Ergebnisse zur Frage, mit wem man häufiger in Streit oder Konflikt
gerät erahnen (Abbildung 8). Gestritten wird häufig zwischen Eltern und Kin-
dern, oder Großeltern und Enkeln. Bei der Eingenerationenkonstellation treten
an die Stellen der unmittelbaren Familienmitglieder die entfernten Verwandten,
Arbeitskollegen, Nachbarn sowie andere Personen.
Familie als Netzwerk 155

Abbildung 8 Prozentuale Verteilung von Personen, mit denen man gelegentlich Streit
oder Konfl ikte hat nach Generationenkonstellationen 2011

4
Generationen

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Angaben in Prozent

Ehepartner, Partner Enkel Personen aus der Nachbarschaft

ehemaliger (Ehe-)Partner Verwandte Personen aus Verein, Freizeit

Eltern Arbeitskollegen Bezahlte Helfer, ambulanter Dienst etc.

Kinder Personen aus Ausbildung Andere Personen(en)

Großeltern

Quelle: Sozioökonomisches Panel 2011, N = 51.119 Netzpersonen, eigene Berechnungen

Die Ergebnisse zur gelebten Familienrealität zeigen, dass die unmittelbaren Fa-
milienmitglieder zu einem großen Teil bedeutsame soziale Beziehungen für die
Befragten darstellen und dass sie mit Zunahme der Generationenkonstellation
auch immer wichtiger bei den Hilfe- und Unterstützungsleistungen werden. Ins-
besondere im Falle der Pflegebedürftigkeit übernehmen bei der Mehrheit die
Familienmitglieder die Pflegeleistungen (vgl. Brandt 2009; Haberkern 2009). Je
mehr Generationen in einer Familie vorhanden sind, desto eher wird auch zwi-
schen den Familienmitgliedern gestritten. Neben den Familienmitgliedern sind
in die Netzwerke der Befragten auch sogenannte ‚weak ties‘ im Sinne von Grano-
vetter (1973) also Nichtverwandte wie Arbeitskollegen oder Bekannte eingebettet.
Leider ist es nicht möglich, mit den vorhandenen Daten, die Logiken, die der Her-
stellung der sozialen Beziehungen zugrunde liegen, zu analysieren. Dennoch soll
das Thema hier auf theoretischer Ebene angesprochen werden, da bisher nicht
eindeutig geklärt ist, welche sozialen Mechanismen der Ausgestaltung der inter-
156 Marina Hennig

generationalen familiären Beziehungen von Individuen in hochdifferenzierten


Gesellschaften zu Grunde liegen.

3 Beziehungslogiken des Familienhandelns

Intergenerationale Beziehungen werden in verschiedenen Studien als Solidari-


tätsbeziehungen (z.B. Hoff 2006; Schütze 1997)7 gekennzeichnet, die, auf der im
Sozialisationsprozess verinnerlichten Verpfl ichtung zur Unterstützung von Fa-
milienangehörigen (normative Solidarität) verbunden mit Reziprozitätsvorstel-
lungen – d.h. Vorstellungen vom balancierten Geben und Nehmen (vgl. Peuckert
2012, S. 608) beruhen. Dabei wird der Familie bei der Herausbildung solidarischer
Grundhaltungen eine entscheidende Funktion zugewiesen (Höpflinger 1992). So
wird davon ausgegangen, dass Kinder im Zuge der Sozialisation in verschiedener
Hinsicht Solidarität erlernen (z.B. normative und affektive Solidarität).
Insbesondere mit dem Begriff der „intergenerationalen Solidarität“ (Bengtson
et al. 1976) wird eine positive Sichtweise vor allem auf die älterwerdenden Mehr-
generationen-Familien angedeutet. Bengtson und Roberts (1991) weisen bei der
innerfamilialen Solidarität zwischen den Generationen auf verschiedene, mitei-
nander in Beziehung stehende Aspekte hin. So auf die strukturelle Solidarität,
die sich auf die Familienstruktur und die Opportunitätsstrukturen bezieht, die
assoziative Solidarität, die das Ausmaß an persönlichen Kontakten erfasst, die
affektive Solidarität beschreibt die emotionale Komponente des intergeneratio-
nalen Verhältnisses, die konsensuelle Solidarität den Grad der Übereinstimmung
allgemeiner Werte und Einstellungen, die normative Solidarität den Grad der
Übereinstimmung bei Fragen gegenseitiger Hilfe und Unterstützung und die
funktionale Solidarität kann mit Hilfe- und Unterstützungsleistungen gleichge-
setzt werden (Bengtson und Roberts 1991). Problematisch bei den von Bengtson
(Bengtson et al. 1976; Bengtson und Schrader 1982) verwendeten sechs Dimensio-
nen intergenerationaler Solidarität ist jedoch, dass diese zu einem zu weiten und
vagen Solidaritätsbegriff führen, der nur unzureichend zwischen den Vorbedin-
gungen der Solidarität, wie der Familienstruktur und der daraus resultierenden
Solidarität unterscheidet. Zum anderen werden Aspekte in das Modell integriert,

7 Der dabei verwendete Solidaritätsbegriff umfasst je nach theoretischer Grundposition


Aspekte der gesellschaftlichen Ordnung bzw. Kennzeichen individuellen Handelns.
Dabei bezieht er sich auf reziproken Austausch wie auch auf asymmetrische Hilfe und
wird sowohl im deskriptiven als auch im normativen Zusammenhang verwendet (Bay-
ertz 1998). Ausführlich zum Solidaritätsbegriff siehe auch Tesch-Römer et al. (2000).
Familie als Netzwerk 157

bei denen unklar ist, was sie mit Solidarität zwischen Generationen zu tun haben.
Dies gilt insbesondere für die konsensuelle Solidarität, die über das gemeinsame
Aufwachsen von Eltern und Kindern in den USA operationalisiert wird. Es bleibt
unklar, was das genau bedeutet und warum es Teil der intergenerationalen Solida-
rität ist. Auch bei den anderen Dimensionen fi ndet sich zum Teil eine sehr weite
Bedeutung, deren Einbindung in das theoretische Modell der intergenerationalen
Solidarität nicht wirklich befriedigt (vgl. Grünendahl 2001).
Lüscher und Liegle (2003) kritisieren das Konzept der Solidarität als Grundla-
ge für die Steuerung von Familienbeziehungen, da es die unterschiedlichen Bezie-
hungsdynamiken vernachlässigt und nicht berücksichtigt, dass die Beziehungen
auch Ergebnis von Prozessen wechselseitiger Abstimmung, Kompromissen und
den jeweiligen Rahmenbedingungen sein können (vgl. Lüscher und Liegle 2003,
S. 267ff.) Er bietet dafür das Konzept der Beziehungslogik an. „Unter Beziehungs-
logik verstehen wir die Prinzipien, gemäß derer in Sozietäten Sinngebungen und
Bedeutungen für soziale Beziehungen konstituiert werden (können). Diese Sinn-
gebungen finden, wenn wir uns an den Fall der Generationenbeziehungen halten,
ihren empirischen Ausdruck in der Art und Weise, wie die Angehörigen unter-
schiedlicher Generationen miteinander handeln, wie sie über dieses Handeln
denken und welche Handlungsweisen sie entwickeln. Dazu gehört im Weiteren,
nach welchen Grundsätzen Transfers von Wissen, von Eigentum und Besitz ge-
staltet werden. Wesentlich an dieser Umschreibung ist, dass die Beziehungslo-
gik aufgefasst wird als kulturelle Vorgabe, die Prozesse der Interpretation (eben
durch Reden und durch Handeln) leiten. Die Beziehungslogik kann man sich als
ein hierarchisches System vorstellen, in dem - ausgehend von allgemeinsten Prin-
zipien - zusehends spezifische Regeln formuliert werden“(Lüscher und Pillemer
1996, S. 9). Das bedeutet, dass soziale Beziehungslogiken allgemeine Gestaltungs-
prinzipien sind, deren Ordnungscharakter einerseits auf die empirische Regelhaf-
tigkeit der Interpretationen und andererseits auf die Gestaltungsoffenheit sozialer
Beziehungen verweist (vgl. Hormann 2013). Im Zuge des sozialen Wandels ent-
stehen jedoch Ansprüche und Wertsetzungen, die miteinander in Konflikt stehen
können, denn Generationenbeziehungen und -verhältnisse basieren nicht nur auf
wechselseitiger Unterstützung, sondern sind auch durch Konflikte gekennzeich-
net (Lüscher 1993). Lüscher und Pillemer (1996) verwenden hierfür das Konzept
der Ambivalenz. „Als soziologisches Konzept soll der Begriff der Ambivalenz ver-
wendet werden, um Erfahrungen und Einsichten von Widersprüchen des Han-
delns, sozialer Strukturen, individueller und gesellschaft licher Entwicklung im
Horizont einer prinzipiellen Unauflösbarkeit zu bezeichnen. Ambivalenzen ver-
weisen somit auf die Offenheit von Entscheidungen, denen es letztlich an Ein-
deutigkeit mangelt bzw. mangeln muss“ (Lüscher und Pajung-Bilger 1998, S. 30f.).
158 Marina Hennig

Gerade vor dem Hintergrund der Zunahme älterer Menschen spielen Ambivalen-
zen eine große Rolle, beispielsweise bei der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege
(Naegele und Reichert 1998; Reichert und Naegele 1999). Die Frage, wie sich denn
die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, insbesondere mit dem Blick auf
eine Zunahme von Mehrgenerationenkonstellationen gestalten, ist nicht (allein)
durch den Rückgriff auf gültige Solidaritätsnormen zu beantworten. Hierbei geht
es nach Lüscher (2000) vielmehr um Aushandlungsprozesse zwischen individu-
ellen Wünschen und intergenerationalen Verpflichtungen, zwischen widerstrei-
tenden Gefühlen von Verbundenheit und Eigenständigkeit, zwischen Normen
der Selbstverwirklichung und der sozialen Bindung. Solidarität zwischen den
Generationen kann dabei eine Erklärung bei der Ausgestaltung von Familien-
beziehungen sein, aber es ist keine ausreichende. Denn es kann auch zur Frag-
mentierung von Familien kommen und problematische, konfl iktbehaftete Kon-
stellationen können ebenfalls ein Resultat familialer Entwicklungsprozesse sein.
Das Konzept der Ambivalenz verortet Generationenbeziehungen im Span-
nungsfeld von solidarischem und konfliktbeladenem Handeln und Solidarität
drückt dabei die Verbundenheit der Familienmitglieder bei Abwesenheit von
Konflikten aus. Aus dem Ambivalenzkonzept lässt sich zunächst erst einmal für
die weitere Diskussion ableiten, dass es kein eindeutiges bzw. verbindliches Mus-
ter für besonders positive oder solidarische Generationenbeziehungen gibt. Sie
können sowohl eng als auch behindernd sein.
Es bleibt aber offen welche Beziehungslogiken solidarisches bzw. konfliktbela-
denes Handeln in intergenerationalen Familienbeziehungen beeinflussen, so dass
ich im Folgenden die Konzepte der Reziprozität und des sozialen Austausches
als Beziehungslogiken für das soziale Handeln in Familien diskutieren werde, da
sie neben dem Solidaritätskonzept am häufigsten zur Erklärung von Hilfe und
Unterstützung im intergenerationalen Kontext herangezogen werden (vgl. Grü-
nendahl 2001; Hormann 2013). Zum Schluss werde ich auf das Konzept des Ga-
bentausches, vor allem auf die Weiterentwicklung durch die Anthropologie und
Philosophie eingehen, da aus meiner Sicht dieses Konzept am besten geeignet
scheint, die Beziehungslogiken im Spannungsfeld von solidarischem und kon-
fliktbeladenen Handeln zu erklären8.

8 Neben diesen Konzepten gibt es weitere Beziehungslogiken, wie den Altruismus oder
der Intimität, auf die aber hier nicht gesondert eingegangen werden soll (siehe hierzu
Hormann 2013).
Familie als Netzwerk 159

3.1 Das Konzept der Reziprozität

Eine Vielzahl von Studien im Generationenkontext sehen in der Beziehungslo-


gik der Reziprozität einen Erklärungsansatz für das Zustandekommen sozialer
Beziehungen (Rossi und Rossi 1990; Antonucci und Jackson 1990; Uehara 1990;
Silverstein et al. 2002; Leopold und Raab 2011). Reziprozität basiert dabei auf
den Tauschprozessen in der Familie und wird als ein Muster gegenseitiger Hil-
fe zwischen Individuen oder Gruppen betrachtet, das von der moralischen Ver-
pflichtung zur Erwiderung einer empfangenen Gabe zu unterscheiden ist. Mauss
stellte in seinem „Essai sur le don“ (1923/24 deutsch 1968) eine Theorie des Ga-
bentausches auf, wonach der Gabentausch nicht zwischen Individuen, sondern
zwischen „moralischen Personen“ stattfindet, die nicht nur Dinge, sondern auch
Leistungen und Personen tauschen. Dabei ist die freiwillig und uneigennützig er-
scheinende Gabe tatsächlich in einem Kontext der sozialen Verpflichtung – des
Gebens, Annehmens und Erwiderns – eingebunden. So geht Mauss (1968) von
einer generalisierten Reziprozitätsnorm in der Gesellschaft aus, die darauf ba-
siert, dass die Annahme einer Gabe eine Selbstverpflichtung zur Gegenleistung
und damit zur Fortsetzung der Tauschbeziehung hervorruft. Wer Hilfe annimmt,
begibt sich damit – ebenso freiwillig wie stillschweigend (Bourdieu [1998] 2005) –
in ein Schuldverhältnis gegenüber dem Helfer. „The norm of reciprocity holds that
people should help those who help them and, therefore, those whom you have hel-
ped have an obligation to help you“ (Gouldner 1960, S. 173). Demnach erfordert
Reziprozität immer die Rückzahlung einer Gabe – auch wenn ihr Wert nicht fest-
geschrieben ist. Gleichzeitig regelt aber die Reziprozitätsnorm auch das Verhalten
des Empfängers, nämlich, dass man nicht nehmen kann, ohne zu geben (vgl. Ue-
hara 1995, S. 486). Anderseits impliziert die Reziprozitätsnorm keine Verpflich-
tung, mehr für Andere zu tun, als sich nach Maßgabe subjektiver Äquivalenz aus
dem vergangenen Verhalten des Interaktionspartners ergibt. So setzt die Norm
der Reziprozität nach Gouldner (1960) nur wenige Anreize zur Aufrechterhaltung
von sozialen Beziehungen bei Personen, die über wenige Ressourcen verfügen,
die sie als Gegengabe einsetzen können. „[…] the norm may lead individuals to
establish relationships only or primarily with those who can reciprocate, thus in-
ducing neglect of the needs of those unable to do so“ (Gouldner 1960, S. 178).
Damit gibt es für Gouldner ([1984] 2005, S. 110) noch etwas mehr als nur die
Norm der Reziprozität, „denn es wird immer Menschen geben, die die empfan-
gene Wohltat nicht erwidern können“. Aus diesem Grunde erweitert er das Kon-
zept der Norm der Reziprozität um eine weitere moralische Komponente – die
„Norm der Wohltätigkeit, der Güte“, „die von Menschen verlangt mehr zu tun, als
sich nur an der Reziprozitätsnorm zu orientieren“ (Gouldner [1984] 2005, S. 110).
160 Marina Hennig

Diese Norm verlangt, anderen Menschen jene Hilfe zukommen zu lassen, die sie
benötigen, ohne daran zu denken, welche Hilfen diese in der Vergangenheit gege-
ben haben oder in Zukunft geben oder bekommen werden (vgl. Gouldner [1984]
2005). Dieser normative Altruismus wie Gouldner ihn hier formuliert, lässt je-
doch die Frage aufkommen, inwieweit die Reziprozitätserwägungen überhaupt
eine tragfähige Beziehungslogik abgeben, wenn sich die Ressourcenverteilung in
den Generationenbeziehungen soweit verschiebt, dass die jüngere Generation kei-
ne adäquaten Gegenleistungen für ihre Unterstützungen erwarten kann. In die-
sem Zusammenhang weist Hollstein (2005, S. 188 ff.) darauf hin, dass zwei weitere
Aspekte für die Bedeutung der Reziprozitätsnorm in familialen Austauschprozes-
sen relevant sind: zum einen der Zeitraum, den die Tauschpartner ihrer jeweiligen
Bilanzierung der gegebenen und empfangenen Leistungen zugrunde legen, zum
anderen dem Modus der Verknüpfung von Gabe und Gegengabe.
Daher verweist Hollstein (2005) auf die Erweiterung des Reziprozitätskon-
zepts durch Wentowski (1981), die zwischen „unmittelbarer“, „verzögerter“ und
„generalisierter“ Reziprozität unterscheidet. Unmittelbare Reziprozität bezieht
sich dabei auf einen praktisch gleichzeitigen Austausch nahezu äquivalenter Leis-
tungen. Voraussetzung dafür ist, dass die Leistung gut messbar und bei beiden
Interaktionspartnern gleichzeitig vorhanden ist. Da bei der unmittelbaren Rezi-
prozität keine Verpflichtung für eine der beiden „Vertragsseiten“ bestehen bleibt,
kennzeichnet dieses Prinzip vor allem wenig verbindliche und auf kurze Dauer
angelegte Beziehungen (Wentowski 1981). Bei der verzögerten Reziprozität wird
die Geschichte der Reziprozität in stärkerem Maße berücksichtigt, d.h. Vertrauen
in den Fortbestand der Beziehung und das Wissen um bereits erbrachte Leistun-
gen führt zu einer zeitlich ausgedehnteren Vorstellung von Reziprozität. Daher
findet sich die verzögerte Reziprozität vor allem in Beziehungen, die auf Konti-
nuität bzw. Langfristigkeit angelegt sind und ist persönlicher als die unmittelbare
Reziprozität, die häufiger zwischen Nachbarn oder auch Fremden zu finden ist
(Wentowski 1981).
In beiden Formen der Reziprozität sind die Akteure an einem Ausgleich zwi-
schen Geben und Nehmen im Rahmen ihrer Beziehung interessiert. Anders bei
der generalisierten Reziprozität. Hier geht es weniger um den langfristigen Aus-
gleich von Leistung und Gegenleistung als vielmehr um die grundsätzliche Bereit-
schaft eine erhaltene Leistung, dann zurückzugeben, wenn die Gelegenheit dazu
vorhanden ist oder der Bedarf. Das heißt, dass generalisierte Reziprozität über die
Betrachtung einzelner Beziehungen hinausgeht und Anteile einer moralischen
Norm der Gegenseitigkeit implizieren kann (Malinowski 1929). Es wird nicht der
Ausgleich zwischen Geben und Nehmen im Rahmen einer Dyade erwartet „son-
dern das Zustandekommen von ‚Gerechtigkeit’ über ein System von Beziehungen
Familie als Netzwerk 161

und Kontexten hinweg“ (Grünendahl 2001, S. 21). Hierzu bedarf es neben dem
„Glauben an eine gerechte Welt“ (Grünendahl 2001, S. 21) auch der Empathie des
Gebenden, nämlich zu erkennen in welcher Lage sich der Hilfesuchende befindet
und diese nachvollziehen zu können. Anders aber als im normativen Altruismus,
wie ihn Gouldner ([1984] 2005) formuliert, wird im Konzept der generalisierten
Reziprozität eine Pfl icht zur Hilfe mit den Vorleistungen, die aus einer gemeinsa-
men Beziehungsgeschichte resultieren, begründet. Es wurde bereits darauf hin-
gewiesen, dass für eine verzögerte oder auch aufgeschobene Reziprozität Vertrau-
en in eine langfristige Austauschbeziehung eine wesentliche Voraussetzung ist,
umso mehr, je länger die Tauschbeziehung nicht ausgeglichen ist. Damit spielt die
mögliche Dauer einer Beziehung eine wesentliche Rolle für alle Beziehungen, die
auf dem Prinzip der verzögerten Reziprozität beruhen. Insbesondere Verwandt-
schaftsbeziehungen, in denen einer der Tauschpartner auf längere Sicht nicht zu
Gegengaben in der Lage ist, verfügen damit über einen „komparativen Vorteil […]
gegenüber nichtverwandtschaft lichen“ (Diewald 1991, S. 107). Das setzt allerdings
voraus, dass entsprechende Reziprozitätsverpflichtungen, die aus wechselseitigen
Tauschhandlungen resultieren, überhaupt bestehen. In diesem Fall haben vor al-
lem Beziehungen zwischen Eltern und Kindern einen strukturellen Vorteil, „da
sie sich im Unterschied zu den übrigen Verwandtschaftsbeziehungen vor allem
im Vollzug der (all)täglichen Aufgaben und Routinen verwirklichen, aus denen
entsprechende Unterstützungsansprüche resultieren...“ (Hormann 2013, S. 76).
Allerdings sprechen zwei Argumente gegen die Annahme der Reziprozität als
Beziehungslogik für Unterstützungsleistungen in Familien. Zum einen verwei-
sen Studien (Künemund und Hollstein 2000; Silverstein et al. 2002) darauf, dass
die Vorleistungen der Eltern nicht automatisch zu stärkerer zukünft iger Unter-
stützung bei den Kinder führt, sondern, dass vielmehr bei bestimmten Formen
des Austauschs – wie im Falle verminderter gesundheitlicher Ressourcen bei den
Müttern – die Bereitschaft der Kinder, mehr zu leisten, sich dann zu erhöhen
scheint, wenn ein erhöhter Unterstützungsbedarf seitens der Eltern vorliegt. Zum
anderen verweist Wentowski (1981) darauf, dass sich aus gemeinsamen Tausch-
prozessen zwischen Nicht-Verwandten ebenso tiefe Gefühle eines wechselseiti-
gen Vertrauens entwickeln können, die die Erwartung einer Unterstützung von
einer konkreten Gegenleistung unabhängig macht. Damit sind die strukturellen
Unterschiede, in den Beziehungen mit Verwandten und Nicht-Verwandten für
das vermutete Unterstützungspotenzial unbedeutend, wenn die Akteure an der
Vorgeschichte gegenseitiger Hilfe und nicht an der langfristigen Äquivalenz von
Leistungen und Gegenleistungen orientiert sind (vgl. Wentowski 1981, S. 605).
162 Marina Hennig

3.2 Sozialer Austausch

Eng mit dem Prinzip der Reziprozität ist das Konzept des sozialen Austausches
verbunden. Jedoch wird hierbei Unterstützung aus der Perspektive eines subjektiv
rational handelnden Akteurs betrachtet. Dabei ist der Akteur bestrebt, die ihm
zur Verfügung stehenden Ressourcen so einzusetzen, dass er ein optimales Kos-
ten-Nutzen-Verhältnis durch seine Handlungen erlangt. Die Grundannahme der
Austauschtheorie besagt, dass Menschen neue soziale Beziehungen eingehen, weil
sie erwarten, dass diese mit Belohnungen für sie verbunden sind. Beziehungen zu
bereits vorhandenen Freunden oder Bekannten werden ausgedehnt, weil sie diese
als tatsächlich belohnend empfinden (Blau 1964). Demnach kommt eine soziale
Beziehung durch einen Austausch zustande bzw. wird verstärkt, wobei die be-
teiligten Personen in verschiedene, z.T. multiplexe Typen von Beziehungen ein-
gebunden sein können. Trotz der Nähe zur ökonomischen Theorie ist Austausch
nicht auf Märkte oder ökonomische Gegebenheiten beschränkt, sondern fi ndet
auch als sozialer Austausch statt, indem sich Nachbarn gegenseitig helfen, Ideen
in Diskussionsrunden ausgetauscht werden, Freunde sich gegenseitig unterstüt-
zen und dergleichen mehr. So zielt das Austauschkonzept nach Blau ([1968] 2005,
S. 129) auf alle „[…] freiwilligen sozialen Handlungen ab, die von den belohnen-
den Reaktionen anderer abhängig sind, und die eingestellt werden, wenn diese
erwarteten Reaktionen nicht eintreffen.“.
Blau (1964) geht in Anlehnung an Mauss (1989) vom Reziprozitätsprinzip als
Grundlage für die Herausbildung sozialer Beziehungen aus. Er postuliert aber
keine generalisierte Reziprozitätsnorm, an die sich alle Gesellschaftsmitglieder
halten, sondern führt Reziprozität auf die Bedingungen des Austausches selbst
zurück. So sei es notwendig, dass Personen aufgrund ihres Interesses an fortge-
setztem Erhalt von Gratifi kationen bzw. Diensten, die sie nur innerhalb der sozia-
len Interaktion bekommen können, ihren Verpfl ichtungen gegenüber der jeweils
anderen Person nachkommen. Der soziale Austausch unterscheidet sich vom rein
ökonomischen Austausch dahingehend, dass es keinen festen Preis gibt, sondern
die Gegenleistung im Ermessen desjenigen verbleibt, der sie erbringt. Deshalb
liegt die besondere Bedeutung des sozialen Austauschs in der Entwicklung ver-
trauensvoller und freundschaft licher Beziehungen, die durch „[…] Mechanismen
wie soziale Normen, […] das Aushandeln der Gegenleistung oder die übereilte
Erfüllung der Verpflichtung untersagen“ (Blau [1968] 2005, S. 132), geschützt
werden. Typische Belohnungen, die beim sozialen Austausch auftreten und die
keinen exakten Preis oder materiellen Wert haben, sind bei Blau ([1968] 2005) ge-
sellschaft liche Anerkennung und Respekt.
Familie als Netzwerk 163

Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Annahmen einer sozialen Aus-
tauschtheorie auf die erbrachten familialen Unterstützungsleistungen überhaupt
übertragen werden können. Nach Blau (1964) basiert sozialer Austausch auf frei-
willigen Transfers zwischen Individuen. Diese Freiwilligkeit des Handelns kann
jedoch in Tauschbeziehungen mit Familienangehörigen, insbesondere zwischen
Eltern und Kindern, nicht uneingeschränkt als freiwillig angesehen werden.
Denn einerseits ist der Tausch zwischen Eltern und Kindern prinzipiell auf Lang-
fristigkeit angelegt, andererseits können die Kosten, die entstehen wenn man die-
se Beziehung verlässt, wie gesellschaft liche Ächtung oder rechtliche Sanktionen,
ungleich höher sein (Nye 1979). Hinzukommt, dass die frühen und oft bis ins
Erwachsenalter fortbestehenden Investitionen der Eltern in ihre Kinder in Form
von Erziehung, Fürsorge, finanzieller Unterstützung kaum in äquivalenter Weise
ausgeglichen werden können und es unter einer reinen Nutzenperspektive eher
unwahrscheinlich ist, dass diese handlungsleitend sind (Nye1979).
Die hier gemachten Ausführungen sollten verdeutlichen, dass zumindest aus
theoretischer Sicht starke Bedenken gegenüber dem Versuch Familienbeziehun-
gen aus der Beziehungslogik des sozialen Austausches zu erklären oder als Son-
derfall (Nauck 1989, S. 51) der Austauschtheorie zu betrachten, bestehen. Auch
wenn Nutzenerwägungen möglicherweise Tauschbeziehungen motivieren, liegt
es in der besonderen Natur der Familienbeziehungen, dass ihnen kein besonderes
Gewicht zugemessen werden sollte.

3.3 Soziale Beziehungen im Konzept des Gabentauschs

Ein Konzept, aus dem das Prinzip der Reziprozität seinen Ursprung nahm, das
aber davon unabhängig eine Weiterentwicklung insbesondere durch die Anth-
ropologie und die Philosophie erfahren hat, ist der Gabentausch. Zentral am Ga-
bentausch ist im Gegensatz zur Reziprozität, dass es für die Gabe keine Gegen-
leistung gibt. Die Gabe hat keinen Preis und wird dadurch unschätzbar. Dabei
umfasst die Gabe zweierlei Aspekte, zum einen die Sache die man gibt, als Ge-
schenk und zum anderen den Akt des Gebens, also die Geste jemanden etwas zu
geben. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Ricœur (2006) spricht beim
Gabentausch von der Geste der Großherzigkeit, die von den in den Rechtsbezie-
hungen herrschenden Äquivalenzformen befreit ist. Es gibt beim Gabentausch
keine Trennung zwischen der Gabe und der Interaktion zwischen dem, der gibt,
und dem, der nimmt, sondern es entsteht vor dem Hintergrund der Gabe eine
soziale Beziehung. Auch wenn dem Gabentausch zunächst eine Tauschbeziehung
zugrunde liegt, unterscheidet sich diese aber vom sozialen Austausch dadurch,
164 Marina Hennig

dass hierbei der Grad der sozialen Nähe zwischen den Transakteuren betont wird.
Der Gabentausch schafft laut Gregory (1997) eine qualitative Beziehung, d.h. eine
soziale Beziehung zwischen den Personen. Dabei ist der Gabentausch, wie bei
Mauss (1968) und Goulder (1960) angenommen nicht als Dyade von Gabe und
Gegengabe zu verstehen (Weiner 1980, S. 71), denn der Akt des Tausches steht in
einer Kette von „früheren und zukünft igen Transaktionen und darüberhinaus-
gehenden Beziehungen“ (Deterts 2002, S. 35). Aus diesem Grund fasst Deterts
(2002) „den Gabentausch als einen Mechanismus, der eine soziale Beziehung
zwischen den Transakteuren sichtbar macht, wobei er bestehende Beziehungen
erneuert und neue schafft. Eine Gegengabe beendet eine Transaktion, aber nicht
eine soziale Beziehung... Eine soziale Beziehung endet, wenn sie nicht stets, zum
Beispiel durch Besuche, Unterstützung und Gaben aktiviert wird oder wenn sie
nicht anderweitig, zum Beispiel durch Konflikte unterbrochen wird. Die Trans-
akteure bedürfen aber der Gaben, um ihre sozialen Beziehungen zu erneuern und
sichtbar zu machen...“ (Deterts 2002, S. 35). Insofern werden Gaben durch soziale
Beziehungen konstituiert und sie konstituieren soziale Beziehungen. Dabei ist die
Gabe nicht entfremdbar9 (Weiner 1985), denn sie ist an eine soziale Beziehung
gebunden. Sie macht dabei „nicht nur aktuelle Beziehungen sichtbar, sondern re-
flektiert auch vergangene und bewirkt zukünft ige“ (Deters 2002, S. 39). Das be-
deutet jedoch nicht, wie von Weiner (1985) angenommen, dass die Verbindung
zwischen Gabe und Geber aus der Kontrolle und den Rechten an den Objekten
hergeleitet werden kann, noch dass hierarchische Beziehungen untermauert oder
dauerhaft tradiert werden. Deterts (2002) verweist darauf, dass zwischen Kont-
rolle und anhaltenden Rechten zum einen und zwischen Erinnerungen und kul-
turellen Assoziationen zum anderen unterschieden werden muss (Deterts 2002,
S 39). Das bedeutet, dass die Beziehungen zwischen Gabe und Geber im Moment
des Gebens besteht, darüber hinaus aber nicht tradiert werden muss. Sie bleibt
dann als aufgenommene soziale Beziehung in der Erinnerung des Nehmers. An-
ders ausgedrückt, wenn auch der Name des Gebers nicht weitergegeben wird, so
bleibt doch der Gabentausch als Ausdruck sozialer Beziehungen als Referenz be-
stehen. Damit kommt auch zum Ausdruck, dass die Gabe vor allem symbolische

9 Weiner (1985) hat sich mit der „Nicht-Entfremdbarkeit“ (zit. nach Deterts 2002, S. 38)
von Gaben auseinandergesetzt. Sie betont, dass es insbesondere in hierarchisch geglie-
derten Gesellschaften Objekte gibt, die nicht weitergegeben werden. Solche Objekte
schaffen durch ihre Verbindung zum Ursprung Identitäten von Personen und Gruppen
und unterstreichen damit deren Kontinuität (vgl. Weiner 1985, S. 210). Deterts geht
noch ein Stück weiter in dem sie die Gabe als Ausdruck der sozialen Beziehung des
Gebers, mit dem sie stets in Verbindung steht, betrachtet, so dass sie in diesem Sinne
nicht „entfremdbar“ ist (Deterts 2002, S. 38).
Familie als Netzwerk 165

Bedeutung hat. Insbesondere Liebe oder Freundschaft sind Akte oder Formen
des Gebens, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wird, dass heißt ohne Kal-
kül. Insbesondere die Nächstenliebe, ist wie Kirkegaard (2004) betont ein Akt
des Gebens ohne Kalkül. Hier muss man seinen Nächsten lieben wie sich selbst,
denn im Gebot der Nächstenliebe sieht man in der anderen Person nichts anderes
als eine Person wie sich selbst, d.h. man sieht sich darin selbst ungeachtet dessen
was den anderen ausmacht, was ihn charakterisiert. Mit anderen Worten man
ignoriert alle Eigenschaften und Merkmale, die jemanden sympathisch oder un-
sympathisch machen bzw. man gibt unabhängig von sich selbst und unbestimmt
vom Anderen. Aber dennoch besteht Kirkegaard (2004) darauf, dass man sich
selbst genauso lieben muss, wie den Nächsten. Dahinter steckt der Gedanke, dass
die altruistische Liebe, die altruistische Großzügigkeit auf der Eigenliebe beruht.
Dabei ist Eigenliebe von Eigensucht zu unterscheiden, weil Eigensucht immer den
Anderen braucht, Eigenliebe hingegen nicht.
Die Güte der Gabe hängt von der Fähigkeit ab, sie anzunehmen, wie Mauss
(1968) schon betonte. Eine Gabe muss selbstlos gegeben werden und unbefangen
angenommen werden, um eine Gabe zu bleiben, ansonsten wird sie zur Schuld.
Wichtiger als die Gabe an sich ist die Geste des Gebens. Paul Ricœur (2006) be-
tont, dass die Geste des Gebens bezeichnet ist, nämlich als eine soziale Bezie-
hung. Indem sie diese bezeichnet bzw. symbolisiert stellt sie diese her. Die Geste
dient dazu, eine Beziehung herzustellen und aufrechtzuerhalten, zwischen dem,
der das Geschenk macht, und dem, der das Geschenk erhält. In ihrem Buch „The
gender of the gift“ setzt sich Strathern (1988) mit dem Handeln und den sozia-
len Beziehungen auseinander. In ihrem Konzept der melanesischen Gesellschaft
sieht sie „Menschen nicht als autonome selbstbestimmte, eine abgeschlossene
Einheit verkörpernde Individuen... ; vielmehr als teilbare Personen... Personen
‚sind’ (nach Iteanu 1990) Beziehungen mit einer Vielzahl anderer Personen und
sie (inter)agieren in Hinsicht auf diese Beziehungen10. Indem die aus Beziehungen
zusammengesetzte Person interagiert, kehrt sie ihre Beziehungen nach außen, ak-
tiviert sie und macht sie so sichtbar“ (zit. nach Deters 2002, S. 46). Hierbei sind die
Handlungen von Personen stets sowohl Ursache als auch Ergebnis weiterer Hand-
lungen. Das bedeutet zum einen, dass „agents do not cause their own actions, they
are not the authors of their own acts. They simply do them“ (Strathern 1988, S.

10 So kamen wir im Rahmen unserer Studien zum Einfluss des Habitus auf die Heraus-
bildung von Netzwerkstrukturen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass anders als der Begriff
des Knoten suggeriert, die Akteure selbst als ein Geflecht von Beziehungen aufgefasst
werden müssen (vgl. Hennig und Kohl 2011). Von der Struktur dieses Beziehungsge-
flechtes hängt es dann ab, was dem Einzelnen möglich ist und was nicht.
166 Marina Hennig

14f.). Zum anderen bedeutet es, dass auf einen aktiven Zustand ein passiver Zu-
stand folgt, denn eine passive Person ist zuvor eine aktive gewesen. Es handelt sich
dabei um einen dynamischen Prozess, der auch Spannungen und Widersprüche,
sowie konstruktive und destruktive Einflüsse miteinschließt.
Eine Person verändert im Laufe ihres Lebens, durch die Lebensstufen bedingt,
die sozialen Beziehungen. Darüber hinaus werden diese Übergänge11 durch den
Gabentausch sichtbar gemacht. Der Gabentausch verändert die Identität einer
Person, indem die Gabe soziale Beziehungen schafft, die vom Geber „gelöst“ vom
Nehmer angenommen werden und somit ihr soziales Netzwerk und ihre Identität
verändern. Der Prozess der Identitätsänderung basiert nicht allein auf einer ein-
zelnen aktuellen Tauschhandlung, sondern greift darüber hinaus auf die Tausch-
handlungen der Vergangenheit zurück und antizipiert die Zukunft. Insofern trägt
der Gabentausch zur sozialen Reproduktion bei, indem sich die Gaben einerseits
und die sozialen Beziehungen und sozialen Identitäten andererseits wechselseitig
hervorbringen.
Fasst man die hier vorgetragenen Argumente zusammen, zeigt sich, dass Fa-
milienbeziehungen nicht von der Durchsetzung einer bestimmten Beziehungs-
logik abhängen. Sowohl die heutigen Generationenbeziehungen und die damit
verbundene Erweiterung des gemeinsamen Aufgabenspektrums als auch die
zunehmenden außerverwandtschaft lichen Kontakte erhöhen die Möglichkeiten
wie auch die Notwendigkeiten, soziale Unterstützung im persönlichen Netzwerk
zu gewährleisten. Wie und wer Hilfeleistungen im familialen Netzwerken gibt
bzw. erhält und wovon diese abhängen, scheint letztendlich ein Aushandlungs-
prozess zwischen den Akteuren zu sein, wobei sich diese aus den verschiedenen
Beziehungslogiken ergeben, die situationsspezifisch verwendet werden (Finch
und Mason 1993). Vor allem das weiterentwickelte Konzept des Gabentausches,
in dem die Gabe von den in den Rechtsbeziehungen herrschenden Äquivalenz-
formen befreit ist, scheint für die Art und Weise von Unterstützungsleistungen
in intergenerationalen Beziehungen ein hohes Erklärungspotential zu haben. Die
Überlegungen, dass Personen eine Art Knoten sozialer Beziehungen darstellen,
die aus einer Vielzahl von Interaktionen mit anderen Personen aus diesen Be-
ziehungen resultieren (vgl. Hennig und Kohl 2011; Strathern 1988), verdeutlichen
die Komplexität, die bei der Präferenzordnung, wann und wie Familienbeziehun-

11 Verschiedene Phasen im Lebensverlauf und die damit verbundenen Lebenszykluszere-


monien markieren Momente, in denen sich die Identität und soziale Beziehungen einer
Person grundlegend verändern. So sind Heirat, Geburt und Tod Situationen, die das
Netzwerk von Personen am deutlichsten sichtbar machen und wo durch den Tausch
von Gaben neue Beziehungen geschaffen oder die vorhergehenden Beziehungen einer
Person erneuert werden (Deterts 2002, S. 278f.).
Familie als Netzwerk 167

gen vor anderen Beziehungen rangieren (Künemund und Hollstein 2000) zum
Tragen kommt. Dass es sich dabei um einen dynamischen Prozess handelt, der
Ambivalenzen, d.h. auch Spannungen und Widersprüche, sowie konstruktive
und destruktive Einflüsse miteinschließt, darauf verweisen sowohl Lüscher und
Pillemer(1996) als auch Strathern (1988).

4 Fazit

Lassen wir das Gesagte Revue passieren, so kann man festhalten, dass sich Fa-
milien nicht ausschließlich durch gemeinsames Wohnen und Wirtschaften
konstituieren, sondern als ein privates soziales Netz aufgefasst werden können,
welches von den Familienmitgliedern immer wieder hergestellt wird, und dass
sich über verschiedene Funktionen konstituiert, in deren Zentrum gegenseitige
Bindungen und Unterstützung stehen. Familiennetzwerke umfassen das Zusam-
menleben mehrerer Generationen, wobei dieses Zusammenleben nicht an den
Haushalt gebunden ist, wie die räumliche Struktur der vorgestellten Daten ver-
deutlichte. In sozialer Hinsicht spiegeln die Ergebnisse eine Beziehungsrealität
wider, die zeigt, dass neben Angehörigen der Kernfamilie, der Herkunftsfamilien
sowie der weiteren Verwandtschaft auch Nichtverwandte in das Familienleben
eingebunden sind. Auch wenn die zur Verfügung stehenden Daten des SOEP nur
ansatzweise Analysen zur Dynamik der Generationsbeziehungen ermöglichen,
zeigt sich doch, dass mit der Alterung der Bevölkerung und dem Anstieg der Le-
benserwartung die Generationsbeziehungen zugenommen haben, bei gleichzeitig
zunehmender räumlicher Distanz. Dass das Zusammenleben der Generationen
im Familiennetzwerk nicht immer konfliktfrei erfolgt, lassen die Daten zur Frage,
mit wem man häufiger in Streit oder Konflikt gerät, erahnen. Die Dynamik in den
Familiennetzwerken resultiert vor allem aus dem Älterwerden der Familienmit-
glieder und aus den Veränderungen im Familienstand. Das bedeutet, dass jene,
die ihre Lebensform in den letzten 20 Jahren gewechselt haben - das betrifft je-
doch nur 35% aller Befragten im Panel - auch Veränderungen in ihren Familien-
netzwerken erfahren haben, während sich die Generationenkonstellationen und
auch die räumliche Struktur im Zusammenleben bei der Mehrheit aufgrund des
Älterwerdens (bei etwas mehr als 60%) der Befragten verändert hat.
Die Diskussion um die Frage, welche sozialen Mechanismen der familiären
Beziehungsgestaltung in hochdifferenzierten Gesellschaften zugrunde liegen,
ließ sich nicht eindeutig beantworten. Im Ergebnis dieser Diskussion kann je-
doch resümiert werden, dass die familialen Beziehungen insbesondere bei den
Motiven sozialer Unterstützungsleistungen nicht nach einer Beziehungslogik ge-
168 Marina Hennig

staltet werden. Es zeigte sich dabei, dass Belastungen und Unterstützung durch
intergenerationale Beziehungen in gleicher Weise zu berücksichtigen sind und
dass es kein verbindliches Muster für besonders positive oder solidarische Ge-
nerationsbeziehungen gibt. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der ver-
schiedenen Generationen können auch zu eng und hinderlich für die individuelle
oder gemeinschaft liche Entwicklung sein. Insofern ist es wichtig bei der Analyse
von intergenerationalen Beziehungen die gesamte Lebenssituation der jeweiligen
Personen mit einzubeziehen, um die dahinterliegende Beziehungslogik zu erken-
nen. Denn wie die Diskussion insbesondere hinsichtlich des Konzepts des Ga-
bentausches gezeigt hat, sind Personen keine autonomen selbstbestimmten und
abgeschlossenen Einheiten, sondern ein Bündel sozialer Beziehungen, die aus
einer Vielzahl von Interaktionen mit anderen Personen aus diesen Beziehungen
resultieren. Damit agieren die Individuen auch in intergenerationalen Beziehun-
gen immer in Relationen zu Anderen, so dass Familie eine Herstellungsleistung
ist, ein dynamischer Prozess, der konstruktive und destruktive Einflüsse, d.h.
Ambivalenzen (Spannungen und Widersprüche) miteinschließt. Das Besondere
aber bei intergenerationalen Beziehungen gegenüber anderen Beziehungen ist,
dass insbesondere in der Familie Hilfe und Unterstützung nicht zwangsläufig aus
einer vorhandenen Vorleistung resultieren muss, wie beim Konzept der Rezipro-
zität angenommen. Daher scheint mir das weiter entwickelte Konzept des Gaben-
tauschs als Beziehungslogik hier besser geeignet, da es die soziale Nähe zwischen
den Akteuren betont, die eine qualitative soziale Beziehung schafft und weder
kulturelle Vorgaben noch moralische Normen oder Kosten-Nutzen-Kalküle für
das Handeln heranzieht, sondern vielmehr die Geste einer Gabe, die eine soziale
Beziehung herstellt und aufrechterhält. Um die Beziehungslogiken von intergene-
rationalen Familienbeziehungen empirisch sichtbar zu machen, bedarf es daher
eines netzwerkanalytischen Zugangs, der aber nicht nur die Beziehungen der ein-
zelnen Akteure zueinander und zu anderen erfasst, sondern auch die dahinter-
liegenden Geschichten oder Stories (White 1992). Denn erst mit Hilfe einer Story
wird die Beziehungslogik, die die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen
der Beteiligten einbeziehen, sichtbar. Indem die Story im Netzwerk zirkuliert,
werden zum einen Erwartungen der Beteiligten koordiniert, zum anderen aber
auch die Erwartungen Dritter. Das heißt, dass soziale Beziehungen ihre soziale
Realität erst durch ihre Reproduktion im Narrativen erlangen. Denn für alle Ak-
teure stellt sich immer wieder die Frage, wie bestehende Verbindungen zu inter-
pretieren sind und welche Verbindungen ein Netzwerk tatsächlich ermöglicht.
Der Blick auf die Familie über die Haushaltsgrenzen hinweg, eröff net uns den
Blick auf die vernachlässigten Seiten einer Beziehungsrealität, die der Haushalts-
sicht entgeht, aber den Familienalltag mitprägt. So sind die Familiennetzwerke
Familie als Netzwerk 169

nach wie vor eine grundlegende Stütze für die Gesellschaft insbesondere bei der
Pflege der Angehörigen und für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, wie die
Intensivierung der Generationenbeziehungen und die Unterstützung im Pflege-
fall in den vorgestellten Ergebnissen zeigten. Vor dem Hintergrund der zuneh-
menden Alterung der Gesellschaft und der zunehmenden Flexibilisierung der
Arbeitswelt, stellt sich jedoch die Frage, ob das was heute in den Familiennetzwer-
ken geleistet wird, auch zukünft ig noch in diesem Umfang realisiert werden kann.

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Beruflich bedingte Mobilitätserfahrungen
im Lebensverlauf und ihre Bedeutung
für die Familienentwicklung.
Ein Kohortenvergleich
Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

1 Einleitung und Fragestellung

In vielen entwickelten Industrienationen, insbesondere auch in Europa, ist seit


Jahrzehnten ein Wandlungsprozess des generativen Verhaltens zu beobachten,
der u. a. durch einen Aufschub von Geburten in ein höheres Lebensalter, einer zu-
nehmenden Verbreitung von Kinderlosigkeit und einer Abnahme der endgültigen
Kinderzahl zum Ausdruck kommt (z. B. van de Kaa 1987; Schneider 2011). Neben
Erklärungsansätzen, die veränderte Werte und Lebensziele jüngerer Geburts-
kohorten als Ursache für diese Entwicklung herausstellen (Theorie des zweiten
demografischen Übergangs; van de Kaa 1987; Lesthaeghe 2010), betonen jünge-
re Ansätze verstärkt die Bedeutung struktureller Faktoren. Danach beeinflussen
veränderte Opportunitätsstrukturen, die vor allem aus den steigenden Bildungs-
und Erwerbsoptionen von Frauen sowie den veränderten Arbeitsmarktbedingun-
gen resultieren, vermittelt über die Wahrnehmung und Bewertung der persön-
lichen Situation, familienbezogene Verhaltensweisen und Entscheidungen (z. B.
Blossfeld und Huinink 1991; Bernardi et al. 2008; Kreyenfeld 2010). In diesem
Kontext ist davon auszugehen, dass Erfahrungen mit berufsbedingter räumlicher
Mobilität, als Folge gestiegener Mobilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt,
und flankiert durch eine zunehmende Erwerbsneigung von Frauen, einem zeit-
lichen Wandel unterliegen (z. B. Schneider et al. 2014). Infolge dieses Wandels

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
174 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

treffen jüngere Jahrgänge familienbezogene Entscheidungen vermehrt vor dem


Hintergrund aktueller Mobilitätserfahrungen bzw. -erwartungen.
Inwieweit Erfahrungen mit berufsbedingter räumlicher Mobilität tatsächlich
zugenommen haben und ob diesbezügliche Entwicklungen einen Beitrag zur
Erklärung des historisch zu beobachtenden Veränderungsprozesses im genera-
tiven Verhalten leisten können, soll im vorliegenden Beitrag untersucht werden.
Wir gehen dabei von einem negativen Einfluss berufsbedingter Mobilität auf das
Geburtenverhalten aus. So sind finanzielle Aufwendungen, Belastungen für die
psychische und physische Gesundheit sowie ein hohes Zeiterfordernis typische
Charakteristika intensiver berufsbedingter Mobilität, die den Spielraum und
die Qualität familienbezogener Interaktionen einschränken können (Lück und
Schneider 2010). Infolgedessen können Kinderwünsche aufgrund aktueller Mo-
bilität nicht realisiert oder ihre Realisierung aufgeschoben werden. Sind in der
Kohortenabfolge immer mehr Menschen mit Mobilität konfrontiert, könnten
differenzielle fertilitätsbezogene Entscheidungen und Verhaltensweisen zwischen
mobilen und nicht mobilen Personen merklich zum Wandlungsprozess des gene-
rativen Verhaltens beitragen.
Die zentrale Fragestellung des Beitrag lautet demnach: Ist ein Wandel des Mo-
bilitätsverhaltens in der Phase des frühen Erwachsenenalters zwischen den Ge-
burtskohorten 1952-60, 1961-70 und 1971-77 zu beobachten und welchen Beitrag
leistet dieser zur Erklärung des Wandels bei der Familienentwicklung? Die Unter-
suchung der Fragestellung differenziert sich dementsprechend in zwei Schritte.
Zunächst werden historische Wandlungsprozesse hinsichtlich der Verbreitung
beruflich bedingter Erfahrungen mit intensiver räumlicher Mobilität im Rah-
men eines Kohortenvergleichs beschrieben. Anschließend werden die möglichen
Wandlungstendenzen im Mobilitätsverhalten mit Unterschieden zwischen den
Kohorten hinsichtlich der Familienentwicklung in Verbindung gebracht.
Der Beitrag ist so aufgebaut, dass zunächst die hier eingenommene besondere
Perspektive auf Familie kurz skizziert wird (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 wird der
Forschungsstand zum Zusammenhang von beruflichen Mobilitätserfahrungen
und Partnerschafts- bzw. Familienentwicklung präsentiert. Abschnitt 4 beinhal-
tet eine Beschreibung der zugrunde gelegten Daten und Methoden. In Abschnitt
5 werden die Ergebnisse hinsichtlich der zentralen Fragestellung präsentiert. In
Abschnitt 6 erfolgt eine Zusammenfassung und Diskussion der Befunde.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 175

2 Konzeptionelle Überlegungen
zum Forschungsgegenstand „Familie“

Was ist Familie? Eine Antwort auf diese Frage mutet auf den ersten Blick einfach
an. Sie ist bei genauerem Hinsehen jedoch weder trivial, noch wird sie einheitlich
beantwortet. Ergebnisse einer aktuellen Studie über die Normalitätsvorstellungen
und Leitbilder zum Familienleben von Menschen in Deutschland zeigen etwa,
dass die überwiegende Mehrheit insbesondere Lebensformen mit Kindern als
Familie bezeichnet (Gründler et al. 2013). Eher von untergeordneter Bedeutung
sind die sexuelle Orientierung sowie der Ehestatus, d. h. die Frage, ob das Paar
hetero- oder homosexuell, verheiratet oder unverheiratet ist. Gleichwohl ließ sich
in der Studie nur eine Lebensform identifizieren, die ausnahmslos von allen Be-
fragten als Familie bezeichnet wird: ein heterosexuelles Ehepaar mit Kindern. Die
Befunde weisen darauf hin, dass ein traditionelles Familienverständnis nach wie
vor weit verbreitet ist. Dieses stimmt jedoch mit der Lebenspraxis einer wachsen-
den Zahl von Menschen nicht mehr überein. Nichteheliche Lebensgemeinschaf-
ten mit und ohne Kinder, alleinerziehende Mütter und Väter oder Paare mit und
ohne Kinder, die nicht zusammenwohnen, aber solidarisch verbunden sind und
füreinander sorgen, sind Lebensformen, die sich in den letzten Jahrzehnten neben
der klassischen Familie etabliert haben. Eine zeitgenössische Familiensoziologie,
die der empirischen Vielfalt der Lebensweisen gerecht werden will, richtet ihr Stu-
dium demzufolge auch auf nichtkonventionelle Lebensformen, also solche, die
nicht der Kernfamilie entsprechen (weiterführend Schneider et al. 1998).
Da der Begriff Familie historisch wandelbar und zudem stark ideologisch auf-
geladen ist, ist er für sozialwissenschaft liche Analysen nur eingeschränkt ver-
wendbar. Angemessener ist die Verwendung eines objektiven Begriffs, wie der der
privaten Lebensform. Private Lebensformen bezeichnen haushaltsübergreifende,
relativ stabile Beziehungsmuster im privaten Bereich. Die Dreigenerationenfa-
milie ist demnach ebenso eine private Lebensform wie der Singlehaushalt oder
die Fernbeziehung. Der Begriff Lebensform wird dabei innerhalb der Soziologie
durchaus unterschiedlich defi niert. Vielfach wird er analog zu Haushaltstypen
verwendet (vgl. z. B. Hradil 1992). Lebensformen können jedoch über den Haus-
haltskontext hinausreichen. Zwei alleinwohnende Personen, die miteinander in
einer Partnerschaft leben, sind aus familiensoziologischer Sicht sinnvollerweise
nicht als zwei Singles oder Einpersonenhaushalte zu begreifen, sondern als eine
eigenständige Lebensform, die als Living Apart Together, Long Distance Rela-
tionship, Fernbeziehung (Schneider 2009) oder bilokale Paarbeziehung bezeich-
net wird (z. B. Dorbritz 2009). Familiale Lebensformen sind dabei eine Teilmenge
176 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

privater Lebensformen und zeichnen sich durch das Vorhandensein von Eltern-
Kind-Beziehungen aus.
Private Lebensformen sind keine starren Strukturtypen. Sie sind in ihrem
Entwicklungsverlauf durch wechselnde Aufgaben, Leistungen und Beziehungs-
muster geprägt. Sie sind ferner nicht über den gesamten Lebensverlauf bestän-
dig. Vielmehr entwickeln sich individuelle Lebensverläufe durch eine zeitliche
Abfolge unterschiedlicher Lebens- und Familienformen, deren Wechsel durch
Übergänge markiert wird. Entsprechend den Annahmen der Lebensverlaufsper-
spektive vollzieht sich diese Abfolge in wechselseitiger Abhängigkeit von anderen
Lebensbereichen (Elder 1994; Mayer 1990), wobei einzelne Lebensverlaufsdimen-
sionen in unterschiedlichen Lebensphasen eine unterschiedliche Priorität für die
Lebensgestaltung haben (Blossfeld und Huinink 2001). In modernen Gesellschaf-
ten werden familienrelevante Übergänge häufig an Übergängen in der Ausbil-
dungs- und Berufsbiografie orientiert. So erfolgt eine Familiengründung verbrei-
tet erst dann, wenn eine hinreichend stabile Berufsposition erreicht wurde und
infolgedessen gesicherte ökonomische Verhältnisse vorliegen (z. B. Blossfeld und
Huinink 1991). Prozesse der Partnerschafts- und Familienentwicklung entfalten
sich zudem stets in enger Beziehung zu den Lebensverläufen anderer Menschen
und finden in spezifischen räumlich-zeitlichen Kontexten statt (Elder 1994; Bloss-
feld und Huinink 2001). Lebensverläufe sind das Resultat eines Prozesses indivi-
dueller Handlungen und Entscheidungen, die an makrostrukturellen Rahmen-
bedingungen und kumulierten biografischen Erfahrungen orientiert sind (Mayer
1990). Regelmäßigkeiten zwischen Lebensverläufen hinsichtlich des Auft retens,
der biografischen Platzierung und der Dauer von Zuständen sind folglich we-
sentlich durch Werte, Normen und Institutionen beeinflusst. In räumlicher bzw.
zeitlicher Differenzierung sind demnach Variationen typischer Familienkarrie-
ren und -strukturen zu erwarten. Zugleich nimmt die kollektive Gestaltung von
Lebensverläufen Einfluss auf gesellschaft liche Strukturen. Eine Analyse typischer
Lebensverläufe unterschiedlicher Geburtskohorten kann somit zum Verständnis
des sozialen Wandels von Gesellschaften beitragen (Ryder 1965).

3 Forschungsstand zum Zusammenhang


zwischen berufsbedingter räumlicher Mobilität
und Familienentwicklung

Ursachen von räumlicher Mobilität und ihre Folgen auf verschiedene Aspekte des
Lebensverlaufs sind schon seit längerer Zeit Gegenstand sozialwissenschaft licher
Forschung. In vielen Forschungsarbeiten, die das Zusammenwirken zwischen
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 177

räumlicher Mobilität und Prozessen der Familienentwicklung analysieren, wer-


den allerdings ausschließlich Umzüge betrachtet. Gängig ist dabei eine Differen-
zierung zwischen Nahumzügen, die häufig privat motiviert sind, und Fernum-
zügen, für die vornehmlich berufliche Gründe vermutet werden (vgl. für einen
Überblick: Kulu und Milewski 2007). Eine Vielzahl von Forschungsergebnissen
bestätigte beispielsweise wiederholt, dass Geburten häufig mit (Nah-)Umzügen
einhergehen, da Paare bestrebt sind, die Wohnsituation den veränderten Anfor-
derungen anzupassen (Kulu 2008; Rabe und Taylor 2010; Myers 2010). Längerfris-
tig wirken sich Ereignisse des Partnerschafts- und Familienverlaufs, wie die Bil-
dung einer Paarbeziehung oder die Gründung einer Familie, hingegen hemmend
auf die Umzugsbereitschaft aus (Fischer und Malmberg 2001). Nachbarschaft lich
gewachsene Kontakte sowie Freundschaften sind individuell geprägte Sozialbe-
ziehungen, die zu einem großen Teil lokal gebunden sind. Auch stabile Beschäf-
tigungsverhältnisse binden Menschen an Orte. Derartige lokale Bindungen, so
zeigen empirische Befunde, reduzieren die Umzugsbereitschaft und -wahrschein-
lichkeit (Fischer und Malmberg 2001; Sandefur und Scott 1981; Wagner 1989;
Kalter 1998).
Obschon grenzüberschreitende Migrationsprozesse sowie Fern- und Nahum-
züge innerhalb von Landesgrenzen im Rahmen sozialwissenschaft licher Ana-
lysen seit längerer Zeit eine hohe Aufmerksamkeit erfahren, manifestiert sich
räumliche Mobilität, verstanden als Bewegung von Menschen und Objekten im
physischen Raum, nicht ausschließlich in Form eines dauerhaften Wohnorts-
wechsels. So verweisen neuere Untersuchungen auf Basis repräsentativer Daten
des international vergleichenden Forschungsprojektes „Job Mobilities and Fa-
mily Lives in Europe“ auf die hohe Verbreitung zirkulärer räumlicher Mobilität,
die durch eine wiederkehrende Überwindung größerer Distanzen ausgehend
von einem festen Lebensmittelpunkt gekennzeichnet ist, wie etwa häufiges Rei-
sen aus beruflichen Gründen sowie tägliches oder wöchentliches Fernpendeln1
zum Arbeitsplatz (z. B. Lück und Ruppenthal 2010; Schneider et al. 2014).2 Trotz

1 Werden Zweiverdienerpaare oder Familien mit berufsbedingten Mobilitätsanforde-


rungen konfrontiert, dann bietet das tägliche oder wöchentliche Pendeln zum Arbeits-
platz über weite Strecken zunehmend eine Alternative zu einem Umzug (z. B. Kalter
1994; Fischer und Malmberg 2001; Abraham und Schönholzer 2009).
2 Der Untersuchung von Lück und Ruppenthal (2010) zufolge, beruhte lediglich 22% des
im Erhebungsjahr 2007 registrierten Mobilitätsgeschehens der in Deutschland wohn-
haften Erwerbsbevölkerung auf Umzugsmobilität, während 68% der mobilen Erwerbs-
tätigen zu diesem Zeitpunkt zirkulärer mobil waren. Weitere 9% der mobilen Personen
waren nicht eindeutig zuordenbar, da für sie sowohl ein kürzlich stattgefundener be-
ruflich bedingter Fernumzug als auch eine zum Erhebungszeitpunkt vorliegende zir-
178 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

ihrer empirischen Relevanz sind Formen zirkulärer Mobilität weitaus seltener als
Formen der Umzugsmobilität Gegenstand der wissenschaft lichen Auseinander-
setzung. Ebenfalls erfolgt selten eine Fokussierung auf räumliche Mobilität, die
auf beruflichen Gründen beruht. Es ist jedoch anzunehmen, dass berufl ich ver-
anlasster Mobilität andere Entscheidungs- und Handlungslogiken zugrunde lie-
gen als privat motivierten Nahumzügen und sich Zusammenhänge mit familialen
Prozessen demzufolge unterscheiden. So finden Studien, die ihren Fokus explizit
auf berufsbedingte räumliche Mobilität richten, Hinweise darauf, dass die Bereit-
schaft von Frauen berufl ich mobil zu sein deutlich sinkt, wenn sie mit Kindern
in einer Partnerschaft leben, währen dies für Männer nicht gilt (z. B. Rüger und
Becker 2011). Dieser Befund weist darauf hin, dass die Verantwortung für Familie
und Haushalt und die damit verbundenen Aufgaben nur unzureichend mit be-
rufsbezogenen Mobilitätsanforderungen vereinbar sind.
Auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse ist jedoch von einer wechsel-
seitigen Beziehung zwischen berufsbedingter räumlicher Mobilität und Prozes-
sen der privaten Lebensführung auszugehen. So wurden ebenfalls Evidenzen für
einen Einfluss berufsbedingter Mobilität auf Prozesse der Partnerschafts- und
Familienentwicklung gefunden. Eine wichtige Voraussetzung für Familien-
gründungsprozesse ist das Vorliegen einer stabilen Paarbeziehung (z. B. Eck-
hard 2006). Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen berufsbedingter
räumlicher Mobilität und Partnerschaftsprozessen auseinandersetzen, finden
Anhaltspunkte, dass berufsbedingte Mobilität bei Frauen die Etablierung einer
dauerhaften, höher institutionalisierten Partnerschaft erschweren kann. So sind
zirkulär mobile Frauen seltener verheiratet als nicht mobile Frauen (Rüger et al.
2011) und Partnerschaften einem erhöhten Trennungsrisiko ausgesetzt, wenn die
Frau (nicht jedoch der Mann) über weite Strecken zum Arbeitsplatz pendelt (Kley
2012). Einflüsse berufsbedingter Mobilität auf die Familienbildung können somit
teilweise bereits durch mobilitätsinduzierte Barrieren bei der Partnerschaftsent-
wicklung begründet sein.
Meil (2010a, b) untersuchte den Zusammenhang zwischen berufsbedingter
Mobilität und Prozessen der Partnerschafts- und Familienentwicklung mit Daten
der ersten Erhebungswelle der Studie „Job Mobilities and Family Lives in Euro-
pe“. Neben Informationen zur Partnerschafts- und Fertilitätsgeschichte wurden
in der Untersuchung auch subjektive Einschätzungen der Befragten bezüglich der
Bedeutung berufsbezogener Gründe für ihre familienbiografischen Erfahrungen
berücksichtigt. Demnach sind Personen mit gegenwärtigen oder vergangenen

kuläre Mobilität registriert wurde. Für die anderen untersuchten Länder zeigten sich
ähnliche Verteilungen.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 179

Mobilitätserfahrungen3 häufiger als Personen ohne beruflich bedingte Mobili-


tätserfahrungen der Ansicht, dass ihre Kinderlosigkeit mit ihrer beruflichen Si-
tuation zusammenhängt, dass Kinderwünsche aus beruflichen Gründen später
als ursprünglich geplant realisiert wurden bzw. gegenwärtig Kinderwünsche auf-
geschoben werden und dass aufgrund beruflicher Erfordernisse insgesamt we-
niger Kinder als ursprünglich geplant geboren wurden. Die Unterschiede treten
bei Frauen deutlicher hervor, sie sind jedoch auch bei Männern signifi kant. In
Übereinstimmung mit diesen Einschätzungen unterscheiden sich Personen mit
aktuellen Mobilitätserfahrungen von Personen ohne gegenwärtige oder vergan-
gene Mobilitätserfahrungen hinsichtlich ihres tatsächlichen Geburtenverhaltens,
wobei auch hier deutlichere Unterschiede für Frauen vorliegen. So lassen sich
für Personen mit aktuellen Mobilitätserfahrungen Hinweise auf einen Aufschub
von Geburtsereignissen feststellen, der sich für mobile Männer und Frauen, die
ihre reproduktive Phase noch nicht abgeschlossen haben (Altersgruppe 25-40),
in einem höheren Kinderlosenanteil (Frauen: 62% zu 30%; Männer: 60% zu 50%)
sowie in einer geringeren durchschnittlichen Kinderzahl (Frauen: 1,54 zu 1,98;
Männer: 1,77 zu 1,89) im Vergleich zu Personen ohne aktuelle oder vergangene
Mobilitätserfahrungen niederschlägt. Werden nur Personen betrachtet, die zum
Befragungszeitpunkt ihre reproduktive Phase weitgehend abgeschlossen haben
(Altersgruppe 41-54), dann sind gegenwärtige Mobilitätserfahrungen bei Frau-
en, nicht jedoch bei Männern, im Durchschnitt mit einer geringeren endgültigen
Kinderzahl (Frauen: 2,06 zu 2,27; Männer: 2,20 zu 2,21) und einer höheren Kin-
derlosigkeit (Frauen: 25% zu 10%; Männer: 15% zu 18%) verknüpft. Frauen und
Männer dieser Altersgruppe, die ihre Mobilität bis zum Erhebungszeitpunkt be-
reits beendet hatten, unterscheiden sich hinsichtlich des Kinderlosenanteils und
der durchschnittlichen Kinderzahl hingegen nicht von Personen ohne Mobilitäts-
erfahrungen.4

3 Die Daten der ersten Erhebungswelle der genannten Studie bieten detaillierte Infor-
mationen über Art und Umfang der berufsbedingten räumlichen Mobilität zum Be-
fragungszeitpunkt. Darüber hinaus liegen Informationen vor, ob die Befragten für
vergangene Tätigkeiten in der ein oder anderen Form hochgradig räumlich mobil wa-
ren (vgl. Schneider et al. 2011). Diese Informationen ermöglichen es, zwischen gegen-
wärtigen und vergangenen Mobilitätserfahrungen zu unterscheiden. Eine retrospek-
tive Erfassung sämtlicher bisheriger Mobilitätserfahrungen inklusive der Zeitpunkte
ihrer Aufnahme und Beendigung im Lebensverlauf erfolgte hingegen ausschließlich
im Rahmen der zweiten Erhebungswelle, die Grundlage des vorliegenden Beitrags ist.
4 Meil (2010a, S. 221; 2010b, S. 193) interpretiert diesen Befund als Ausdruck eines Selbst-
selektionsprozesses. Demnach beenden Frauen ihre Mobilität innerhalb ihrer repro-
duktiven Phase, wenn sie eine Familiengründung anstreben. Dem Autor zufolge wird
diese Interpretation durch den Befund gestützt, dass der Anteil mobiler Frauen mit
180 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

Deutliche Hinweise, dass aktuelle Mobilitätserfahrungen Familienbildungs-


prozesse beeinflussen, finden auch Rüger et al. (2011) im Rahmen einer Analy-
se der beiden Surveys „Job Mobilities and Family Lives in Europe“ und „Bezie-
hungs- und Familienpanel“ (pairfam). Für beide Stichproben fiel für Personen
in bestehenden Partnerschaften die Wahrscheinlichkeit, kinderlos zu sein, höher
aus, wenn für sie aufwändigere Mobilitätsarrangements zum Befragungszeit-
punkt vorlagen. Signifi kante Interaktionseffekte mit Geschlecht in beiden Stich-
proben deuten ferner darauf hin, dass der Effekt zirkulärer räumlicher Mobilität
auf die Wahrscheinlichkeit kinderlos zu bleiben vornehmlich auf unterschied-
liche Anteile Kinderloser bei zirkulär mobilen und bei nicht mobilen Frauen zu-
rückzuführen ist. Der Befund verweist auf die Relevanz beruflicher Mobilität für
familienbezogene Entscheidungsprozesse vor dem Hintergrund verschärfter Ver-
einbarkeitsprobleme von Beruf, Mobilität und Familie bei Frauen.
Neben Untersuchungen, die ihren Fokus vornehmlich auf das tatsächliche Ge-
burtenverhalten richten, finden sich Studien, die explizit den Einfluss von Um-
zügen oder zirkulärer Mobilität auf die Herausbildung von Fertilitätsintentionen
analysieren (z. B. Myers 2010; Huinink und Feldhaus 2012). Unter Rückgriff auf
Daten der ersten drei Wellen des Beziehungs- und Familienpanels (pairfam) ana-
lysierten Huinink und Feldhaus (2012) die Effekte intensiver Pendelmobilität auf
die Intention von Frauen und Männern, innerhalb der nächsten zwei Jahre ein
Kind zu haben, sowie auf die Wahrscheinlichkeit, dass diese Absicht tatsächlich
realisiert wird. Die von den Autoren verwendete Datenbasis ermöglichte es ihnen,
zeitliche Veränderungen hinsichtlich der Fertilitätsintention in Abhängigkeit von
potenziellen Veränderungsprozessen im Mobilitätsverhalten zu modellieren. Ent-
gegen den Annahmen der Autoren erwies sich intensives Fernpendeln nicht als
hemmender Faktor für die Herausbildung einer Fertilitätsintention. Das Ausblei-
ben eines negativen Effektes führen die Autoren auf einen Ressourceneffekt be-
rufsbedingter Mobilität zurück, der mit der Herausbildung von Kinderwünschen
mindestens ebenso stark assoziiert sein könnte, wie antizipierte Vereinbarkeits-
probleme zwischen (mobiler) Berufstätigkeit und Elternschaft. So fanden bereits
vergangene Studien Hinweise darauf, dass Mobilität bei Frauen unter anderem
mit dem Ziel verknüpft ist, vor der Familiengründung eine berufliche Position
zu erreichen, die die zukünftigen materiellen Ressourcen hinreichend sicherstellt
(Schneider et al. 2002). Im Hinblick auf die Realisierung von Kinderwünschen
fanden hingegen auch Huinink und Feldhaus (2012) einen negativen Effekt des
Fernpendelns, der sich vornehmlich für Frauen zeigte. Der Befund, dass Frau-

zunehmendem Alter stark zurückgeht. Für Männer lässt sich keine vergleichbare Al-
tersabhängigkeit feststellen.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 181

en mit ausgeprägter Fertilitätsintention diese mit einer deutlich verringerten


Wahrscheinlichkeit zwei Jahre später auch realisiert haben, wenn sie dauerhaft
pendelten oder zwischenzeitlich mit dem Berufspendeln begonnen haben, ver-
weist darauf, dass berufsbedingte Mobilität eine Barriere sein kann, vorhandene
Kinderwünsche zu verwirklichen. Für Männer konnten nicht realisierte Fertili-
tätsintentionen hingegen nur für die Aufnahme berufsbedingten Pendelns fest-
gestellt werden, nicht jedoch bei kontinuierlicher Pendelmobilität. Dies lässt sich,
so die Autoren, eher als „Kurzzeiteffekt biografischer Mobilität“ (Huinink und
Feldhaus 2012, S. 486), denn als Ausdruck wahrgenommener Vereinbarkeitspro-
bleme interpretieren.
Empirische Studien weisen demnach auf einen deutlichen Zusammenhang
zwischen beruflich bedingter Mobilität und familialen Prozessen hin. Der Zu-
sammenhang gründet vermutlich auf einem Interdependenzverhältnis. So vari-
iert die Mobilitätsneigung nicht nur in Abhängigkeit von der Lebensform und
Prozessen der Partnerschafts- und Familienentwicklung. Ebenso erweist sich
Mobilität als eine bedeutsame Einflussgröße für familienbezogene Entscheidun-
gen und Verhaltensweisen. Der Wirkungszusammenhang zwischen beruflich be-
dingter Mobilität und Familienentwicklung wird dabei in hohem Maße durch
das Geschlecht moderiert. So finden empirische Analysen für Frauen deutlichere
Effekte als für Männer, für die bislang nur punktuelle Anhaltspunkte für eine ne-
gative Assoziation zwischen berufsbedingter Mobilität und Familiengründungs-
prozessen gefunden wurden. Für Frauen lassen sich hingegen deutliche Hinweise
für ein mobilitätsbedingtes Aufschubverhalten hinsichtlich der Realisierung von
Fertilitätsintentionen finden. Mithin weisen die empirischen Befunde auf Verein-
barkeitskonflikte zwischen beruflichen und familiären Erfordernissen für Frauen
hin, die durch zunehmende Mobilitäterfordernisse verschärft werden.

4 Daten und Methoden

Die empirischen Analysen beruhen auf Daten der zweiten Welle der Studie „Job
Mobilities and Family Lives in Europe“. Die Erhebung der ersten Welle erfolg-
te im Jahr 2007. In sechs europäischen Ländern (Belgien, Frankreich, Spanien,
Schweiz, Polen und Deutschland) wurden insgesamt 7.220 zufällig ausgewählte
Personen im Alter zwischen 25 und 54 Jahren zu ihren Erfahrungen mit berufsbe-
dingter räumlicher Mobilität sowie zu unterschiedlichen Aspekten ihres Privat-
und Berufslebens befragt. In den Jahren 2010 und 2011 wurden in Deutschland,
Frankreich, Spanien und der Schweiz im Rahmen einer Wiederholungsbefragung
insgesamt 1.735 Teilnehmer der ersten Erhebung erneut befragt (Wiederbefra-
182 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

gungsquote: 34,5%). Im Rahmen der Wiederholungsbefragung wurden unter


anderem vergangene Erfahrungen mit berufsbedingter räumlicher Mobilität so-
wie die bisherige Erwerbs-, Partnerschafts- und Familienbiografie in detaillierter
Weise zusätzlich retrospektiv erfasst.
Für unsere Untersuchung greifen wir auf die im Rahmen der zweiten Erhe-
bungswelle erfassten Angaben zur Berufs- und Mobilitätsbiografie sowie zur Fa-
milienbiografie zurück, für die jahresgenaue Informationen über die hier inter-
essierenden Ereignisse (Beginn und Beendigung von Mobilitätsepisoden sowie
Geburtszeitpunkte) bis zum Erhebungszeitpunkt vorliegen. Zentraler Bestandteil
der Untersuchung ist ein Vergleich von Mobilitätserfahrungen verschiedener Ge-
burtsjahrgänge. Um die Biografien zwischen den Geburtsjahrgängen vergleich-
bar zu machen, müssen die Analysen auf jene Lebensjahre beschränkt bleiben, die
von allen Untersuchungseinheiten erreicht wurden. Dies bedeutet zugleich, dass
prinzipiell umso weniger Personen in der Analyse berücksichtigt werden können,
je mehr Lebensjahre in die Betrachtung aufgenommen werden. Auch für die Ab-
bildung von Wandlungsprozessen durch einen Kohortenvergleich sind durch die-
sen Trade-off gewisse Grenzen gesetzt, da späte Jahrgänge im Vergleich zu älteren
Befragten kürzere Lebensverläufe aufweisen. Für die vorliegende Untersuchung
wurde ein Betrachtungszeitraum bis zum Alter von 33 Jahren (34. Lebensjahr)
gewählt. Dieser Festlegung liegt zugrunde, die hier interessierenden Ereignisse
– Mobilitätserfahrungen und Familiengründungen – für die Phase des Berufs-
einstiegs bzw. des jungen Erwachsenenalters möglichst umfassend zu berücksich-
tigen und zugleich eine ausreichende Fallzahl für eine aussagekräftige Kohorten-
analyse zu gewährleisten. Unser Augenmerk richtet sich daher im Folgenden auf
mobilitäts- und familienbiografische Ereignisse der Geburtskohorten 1952-1960,
1961-1970 und 1971-1977.
Grundlage für die Ermittlung von Mobilitätserfahrungen bilden die retros-
pektiv erfassten Berufs- und Mobilitätsbiografien. Für jede Tätigkeit, die mindes-
tens ein Jahr andauerte, wurde das Jahr der Tätigkeitsaufnahme sowie das Jahr
ihrer Beendigung erfasst. Für jede genannte Tätigkeit wurde zudem ermittelt, ob
der Befragte für diese Tätigkeit umgezogen ist (über mehr als 50 km), täglich eine
Stunde oder länger für die einfache Wegstrecke pendelte und ob die Tätigkeit sehr
häufige Übernachtungen (zusammengenommen ungefähr 60 Übernachtungen
oder mehr pro Jahr) außer Haus erforderte. Es kann somit untersucht werden,
ob die verschiedenen Geburtskohorten bis zu einem bestimmten Lebensjahr in
unterschiedlichem Ausmaß beruflich mobil wurden. Schließlich lassen sich die
Anteile mobilitätserfahrener Personen bis zum Ende des Betrachtungsfensters
für alle Lebensjahre bestimmen. Lebensabschnitte, in denen Mobilitätserfahrun-
gen besonders häufig gemacht werden, und diesbezügliche Differenzen zwischen
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 183

den Geburtskohorten können so aufgedeckt werden. Bei zirkulärer Mobilität


(d. h. der Befragte war Fernpendler oder „Übernachter“), die über die Gesamt-
dauer einer Tätigkeit hinweg oder aber für einen bestimmten Zeitraum prakti-
ziert wurde, liegen jahresgenaue Angaben zum Zeitraum des Mobilseins vor. War
der Befragte innerhalb der Gesamtdauer einer Tätigkeit für mehrere Zeiträume
mobil, so wurde er hingegen gebeten, die gesamte Dauer dieser Zeiträume (durch
Aufsummieren der unterschiedlichen Zeiträume) zu schätzen. Für die hier vor-
liegende Analyse wurde bei diesen Fällen der Zeitpunkt des Tätigkeitsbeginns
als Näherung an den Zeitpunkt, zu dem die Mobilitätserfahrungen im Rahmen
dieser Tätigkeit einsetzten, verwendet. Ebenso wurde bei beruflich begründeten
Umzügen, die über eine Distanz von mindestens 50 Kilometern erfolgten, das
Jahr der Tätigkeitsaufnahme näherungsweise als Umzugszeitpunkt gewählt. In-
formationen zum Geburtenverhalten wurden der retrospektiv erfassten Fertili-
tätsbiografie entnommen. Insgesamt wurden 23 Fälle aus den Analysen ausge-
schlossen, da Angaben zu analyserelevanten Dimensionen der Biografien fehlten
oder als fehlerhaft eingestuft wurden. Für alle Analysen sind die Daten gewichtet.
Die Gewichtung korrigiert Verzerrungen, die entweder auf das Verfahren der
Stichprobenziehung oder auf selektive Ausfälle im Zuge der Erst- oder Wieder-
holungsbefragung zurückzuführen sind.5
Um die zentrale Fragestellung untersuchen zu können, müssen verschiedene
Bedingungen in den Daten erfüllt sein. Erstens, die Kohorten unterscheiden sich
in ihrem Fertilitätsverhalten dahingehend, dass der Übergang zur Ersteltern-
schaft bis zu einem bestimmten Lebensalter (hier von 33 Jahren) zur jüngeren
Kohorte hin tendenziell seltener realisiert worden ist. Ein solcher Unterschied
zwischen den Kohorten soll in der Folge mit Unterschieden im Mobilitätsverhal-
ten „erklärt“ werden. Zweitens, die Kohorten unterscheiden sich hinsichtlich des
Mobilitätsverhaltens dahingehend, dass die Mobilitätserfahrungen zur jüngsten
Kohorte hin tendenziell zugenommen haben. Drittens, es besteht ein negativer
Zusammenhang zwischen Mobilitäts- und Fertilitätsverhalten.6

5 Die deskriptiven Analysen in Abschnitt 5.1 basieren auf einer Gewichtungsvariable,


die die relativen Fallzahlen der einzelnen Länderstichproben entsprechend der relati-
ven Größe der jeweiligen Grundgesamtheiten in den Untersuchungsländern adjustiert.
Demgegenüber greifen die multivariaten Analysen in Abschnitt 5.2 auf eine Gewich-
tung zurück, die alle Länderstichproben auf dieselbe Fallzahlgröße transformiert, um
unterschiedlich starke Einflüsse der Länderkontexte auf die Ergebnisse infolge unter-
schiedlicher Stichprobengrößen zu vermeiden. Eine detaillierte Beschreibung der ver-
wendeten Gewichtungsvariablen findet sich in Skora et al. (2013).
6 Die erste und die dritte Bedingung sind für die Stichprobe der Schweiz nach Gewich-
tung der Daten nicht erfüllt. Die Schweizer Stichprobe wird daher für die folgenden
184 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

Die Grundgesamtheit der Untersuchung umfasst die Wohnbevölkerung in


Deutschland, Frankreich und Spanien im Jahr 2007 (Erhebungsjahr der ersten
Welle), wobei ausschließlich die Altersjahrgänge 1952 bis 1977 betrachtet werden.
Die folgenden Analysen, die das Mobilitätsverhalten der verschiedenen Kohor-
ten untersuchen (vgl. Abschnitt 5.1), basieren somit auf einer Teilstichprobe von
1.150 Individuen (708 Frauen und 442 Männer). Diese Analysen zeigen, dass die
zweite Bedingung der Zunahme des Mobilitätsgeschehens insbesondere für Frau-
en zutrifft. Weiterführende Analysen zeigen darüber hinaus, dass auch die dritte
Bedingung eines negativen Zusammenhangs zwischen Mobilitäts- und Fertili-
tätsverhalten in erster Linie auf Frauen zutrifft. Daher werden die Analysen, in
denen die differenziellen Mobilitätsverläufe der drei Geburtskohorten mit deren
generativem Handeln in Verbindung gebracht werden, ausschließlich für Frauen
vorgenommen. Dabei fokussieren wir auf einen Aspekt des generativen Handelns,
den Übergang in die Erstelternschaft bis zum 34. Lebensjahr. Dieser Indikator
spiegelt sowohl den allgemeinen Trend eines zunehmenden Aufschubs der Erst-
elternschaft in ein höheres Lebensalter als auch die zunehmende Verbreitung von
(dauerhafter) Kinderlosigkeit wieder.
Die Anteile der Frauen mit mindestens einem Kind im 34. Lebensjahr in den
drei untersuchten Geburtskohorten sind, getrennt für die drei Erhebungsländer,
in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1 Anteile der Frauen mit mindestens einem Kind bis zum Alter von 33 Jahren,
nach Kohorte und Erhebungsland (in %)

1952 – 1960 1961 – 1970 1971 – 1977

Deutschland 76,9 71,4 58,0

Frankreich 82,9 86,4 73,1

Spanien 82,4 80,2 70,4

Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten

Analysen nicht berücksichtigt. Die im Folgenden berichteten Ergebnisse auf Basis der
Stichproben aus Deutschland, Frankreich und Spanien verändern sich hinsichtlich des
generellen Trends jedoch nicht, wenn die Schweizer Stichprobe in die Analysen ein-
bezogen wird. Der Kontext in der Schweiz scheint mit Blick auf den untersuchten Sach-
verhalt einen gesonderten Fall dazustellen, der einer eigenen Untersuchung bedarf.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 185

Für Frauen der deutschen und der spanischen Stichprobe zeichnet sich zu den
jüngeren Geburtskohorten hin ein monotoner Rückgang des Anteils von Müt-
tern bis zum 34. Lebensjahr ab. Für Frauen der französischen Stichprobe zeigt
sich der größte Anteil an Müttern unter den 33-Jährigen in den Jahrgängen der
1960er Jahre. In der jüngsten Kohorte fällt aber auch hier der Anteil wie erwartet
am deutlich geringsten aus. Insgesamt lassen sich damit in der Stichprobe die
bekannten demografischen Trends eines zunehmenden Aufschubs der Ersteltern-
schaft in das vierte Lebensjahrzehnt abbilden.
Vor dem Hintergrund der Fragestellung ist von Interesse, ob Wandlungsten-
denzen im Mobilitätsaufkommen die beobachtbaren Veränderungsprozesse hin-
sichtlich des generativen Verhaltens beeinflusst haben könnten. Der Fokus der
vorliegenden Analysen richtet sich demnach auf Mobilitätsereignisse und -epi-
soden, die vor Geburt eines ersten Kindes begonnen wurden. Entsprechend der
Annahme, dass die Kohortendifferenzen hinsichtlich des Übergangs in die El-
ternschaft bei konstantem Mobilitätsgeschehen geringer ausfallen würden, wer-
den die Effekte der Geburtskohorte auf die Elternschaft ohne und mit Berücksich-
tigung von Mobilitätserfahrungen anhand von binär logistischen Regressionen
untersucht. Wir berücksichtigen dabei sukzessive unterschiedliche Dimensionen
des Mobilitätsgeschehens bis zum 34. Lebensjahr bzw. bis zur Geburt des ers-
ten Kindes: das Auft reten (differenziert nach Mobilitätsform), die Anzahl sowie
das Timing von Mobilitätsereignissen bzw. Mobilitätsepisoden im Lebensver-
lauf. Als Maße der Effektstärke werden die durchschnittlichen Marginaleffekte
(average marginal effects) herangezogen, welche den durchschnittlichen Effekt
einer unabhängigen Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, dass die abhängige
Variable den Wert eins annimmt (Elternschaft bis 33), ausweisen und für einen
Vergleich zwischen verschiedenen Modellen geeignet sind (Mood 2010; Best
und Wolf 2010). In allen Modellen wird für den höchsten erreichten Bildungs-
abschluss kontrolliert. Dies trägt dem empirischen Befund Rechnung, dass höher
gebildete Personen häufiger mobil sind als Personen mit vergleichsweise geringem
Bildungsniveau (Wagner 1989; Fischer und Malmberg 2001; Lück und Ruppent-
hal 2010). Ein hohes Bildungsniveau erhöht zugleich die Neigung, Geburten in
ein höheres Lebensalter zu verschieben, sowie die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft
kinderlos zu bleiben (Blossfeld und Huinink 1991; Gustafsson et al. 2002; Fürn-
kranz-Prskawetz et al. 2012). Darüber hinaus ist im Zuge der Bildungsexpansion
der Anteil an Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen in der Jahrgangsabfolge
gestiegen (Blossfeld und Jaenichen 1992; Müller et al. 1997). Eine Kontrolle für
das Bildungsniveau soll somit gewährleisten, dass Veränderungen in der Effekt-
stärke der Geburtsjahrgänge nach Aufnahme von Mobilitätsindikatoren nicht auf
186 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

Bildungseffekten beruhen.7 Daneben wird in allen Regressionsmodellen für die


Zugehörigkeit nach Erhebungsland kontrolliert, um die Beeinflussung der Ergeb-
nisse durch Stichprobendifferenzen und unterschiedliche Länderkontexte weit-
gehend ausschließen zu können.

5 Ergebnisse

5.1 Mobilitätserfahrungen im Kohortenvergleich

Verschiedene Analysen der gegenwärtigen gesellschaft lichen Entwicklung for-


mulieren die Annahme, dass berufliche Mobilitätserfordernisse im Zuge der
Globalisierung während der letzten Jahrzehnte angestiegen sind (Giddens 1995;
Sennett 2000; Urry 2007). An die Stelle dauerhafter Beschäft igungsverhältnisse
trete zunehmend die Forderung der Arbeitgeber nach mobilen Individuen, die
möglichst flexibel in unterschiedlichen Projekten und an unterschiedlichen Or-
ten einsetzbar sind. Ob tatsächlich eine Zunahme des berufsbedingten räum-
lichen Mobilitätsgeschehens stattgefunden hat, ist jedoch empirisch bislang
keinesfalls bestätigt. Gleichwohl liefern einige Untersuchungen erste Hinweise
auf eine Zunahme berufsbedingter Mobilität in Deutschland sowie in anderen
europäischen Ländern während der letzten Jahre (z. B. Haas und Hamann 2008;
Ruppenthal und Lück 2009). Auch aufgrund von theoretischen Überlegungen ist
es plausibel, von einer Zunahme beruflicher Mobilitätserfordernisse und folglich
des Mobilitätsgeschehens auszugehen. Der Wandlungsprozess im Mobilitätsauf-
kommen kann unter anderem auf zwei gesellschaft liche Entwicklungen zurück-
geführt werden (vgl. Schneider et al. 2009; Rüger und Becker 2011). Als erstes
sind Wandlungsprozesse am Arbeitsmarkt zu nennen. Die Globalisierung und
Internationalisierung von Arbeits- und Produktmärkten sowie die damit einher-
gehende Intensivierung von Kooperationen und Verflechtungen räumlich ent-
fernter Unternehmungen lassen den Bedarf an mobilen Arbeitskräften ansteigen.

7 Als eine wesentliche Ursache für das skizzierte Geburtenverhalten hochgebildeter


Frauen wird u. a. ihre relativ lange Verweildauer im Bildungssystem vermutet. Dieser
Argumentation zufolge werden ein fehlendes Einkommen und eine noch nicht erfolgte
berufliche Etablierung während der (Aus-)Bildungszeit als ungünstige Rahmenbedin-
gung für die Familiengründung wahrgenommen („Institutioneneffekt“). Dieser An-
nahme eines direkten Einflusses der Ausbildungsdauer Rechnung tragend, wurden al-
ternative Regressionsanalysen mit Kontrolle für das Alter bei Berufseintritt berechnet.
Diese Ergebnisse unterscheiden sich jedoch nicht substanziell von den hier referierten,
die auf Regressionsmodellen mit Kontrolle für das Bildungsniveau beruhen.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 187

Der sektorale Wandel von der Industrie- über die Dienstleistungs- zur wissens-
basierten Gesellschaft forciert die Herausbildung neuer Berufsgruppen, deren Tä-
tigkeit ein hohes Maß an Mobilität verlangt. Hochqualifi zierte und spezialisierte
Fachkräfte werden zunehmend in Projektzusammenhängen an wechselnden Ein-
satzorten benötigt. Diese Mobilitätserfordernisse manifestieren sich unter ande-
rem in häufigen Abwesenheiten unterschiedlicher Dauer vom Wohnort. Darüber
hinaus fördern Globalisierungsprozesse ein flexibles Personalmanagement (Kal-
leberg 2000). Dabei gehen insbesondere befristete Beschäftigungsverhältnisse mit
einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, aus beruflichen Gründen räumlich
mobil zu sein (z. B. Lück und Ruppenthal 2010). Eine zweite gesellschaft liche Ent-
wicklung, die eine zunehmende Verbreitung beruflich bedingter Mobilitätserfah-
rungen zur Folge haben dürfte, ist der Abbau geschlechtstypischer Differenzen
im Bildungsbereich und die zunehmende Arbeitsmarktpartizipation von Frauen.
Frauen werden zunehmend erwerbstätig und besetzen häufiger Stellen mit hohen
Qualifi kationsanforderungen. Die zunehmende Berufsorientierung von Frauen
hat zur Folge, dass ein steigender Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
mit der Forderung bzw. der Gelegenheit konfrontiert ist, berufsbedingt räumlich
mobil zu werden. Die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen führt darüber hinaus
zu einer Zunahme von Zweiverdienerpaaren. Für diese Paare können zirkuläre
Mobilitätsformen eine Möglichkeit bieten, die beruflichen Erfordernisse beider
Partner miteinander zu vereinbaren. Diese Entwicklungen begründen die An-
nahme eines (moderaten) Anstiegs beruflich bedingter Mobilitätserfahrungen
während der letzten Jahrzehnte, der insbesondere auf einer Zunahme zirkulärer
Mobilität beruht.
Im Folgenden wird die These einer zunehmenden Verbreitung beruflicher Mo-
bilitätserfahrungen in der Kohortenabfolge überprüft. Hierfür erfolgt ein Rück-
griff auf die vollständigen Berufs- und Mobilitätsbiografien der Befragten bis zum
Alter von 33 Jahren. Vor dem Hintergrund der Zielsetzung, mögliche Unterschie-
de im Mobilitätsgeschehen anschließend mit dem sich wandelnden Geburtenver-
halten in Verbindung zu bringen, richtet sich der Fokus auf Mobilitätsereignisse
und -episoden, die vor Geburt eines ersten Kindes begonnen wurden.8 Die fol-
genden Abbildungen 1 bis 3 geben, getrennt für die drei Geburtskohorten, die
kumulierten Anteile derjenigen Personen wieder, die in einem bestimmten Alter
mindestens einmal Erfahrungen mit berufsbedingter räumlicher Mobilität ge-
sammelt haben.

8 Die Ergebnisse unter Berücksichtigung sämtlicher Mobilitätsepisoden bis zum Alter


von 33 Jahren unterscheiden sich jedoch nicht wesentlich hinsichtlich der dargestellten
Trends.
188 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

Abbildung 1 Mobilitätserfahrungen bis zum Alter von 33 Jahren, kumuliert, nach


Geburtskohorten und Mobilitätsform

Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten

Ein Vergleich der Mobilitätserfahrungen zwischen den drei Kohorten zeigt, dass
Befragte der jüngsten Kohorte bis zum 34. Lebensjahr am häufigsten Erfahrun-
gen mit berufsbedingter Mobilität gesammelt haben (vgl. Abbildung 1a). Anstelle
eines monotonen Anstiegs des Anteils im Kohortenverlauf zeichnet sich jedoch
ein eher U-förmiger Verlauf des Anteils erster Mobilitätserfahrungen bis zum 34.
Lebensjahr im Zeitverlauf ab. So fällt der Anteil mobilitätserfahrener Personen in
der mittleren Geburtskohorte 1961-1970 im 34. Lebensjahr um 3,8 Prozentpunkte
geringer aus als in der ältesten. Anschließend steigt der Anteil mobilitätserfahre-
ner Befragter um 7,5 Prozentpunkte auf 47,6% in der jüngsten Kohorte.
Differenziert nach Mobilitätsform wird offensichtlich, dass der Anstieg von
Mobilitätserfahrungen ausschließlich auf eine zunehmende Verbreitung zirku-
lärer Mobilität zurückzuführen ist (vgl. Abbildung 1b und 1c). Hinsichtlich der
Verbreitung von Migrationserfahrungen zeigen sich keine nennenswerten Dif-
ferenzen (jeweils etwa jeder Fünfte hat Migrationserfahrungen). Demgegenüber
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 189

haben in der jüngsten Geburtskohorte zwei von fünf Befragten (42%) bis zum 34.
Lebensjahr Erfahrungen mit Fernpendeln oder häufigen berufsbedingten Aus-
wärtsübernachtungen gesammelt. Der Zuwachs gegenüber den Geburtskohorten
1952 bis 1960 und 1961 bis 1970 beträgt für dieses Altersjahr zwischen 8 und 9
Prozentpunkten. Im Folgenden wird daher ausschließlich das zirkuläre Mobili-
tätsverhalten differenzierter betrachtet.

Abbildung 2 Zirkuläre Mobilitätserfahrungen bis zum Alter von 33 Jahren, kumuliert,


nach Geburtskohorten und Erhebungsland

Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten

Eine Differenzierung nach Erhebungsland ergibt, dass Personen der jüngsten Ko-
horte am häufigsten Erfahrungen mit zirkulärer Mobilität gesammelt haben (vgl.
Abbildung 2). Die Voraussetzung unserer Fragestellung, dass Mobilitätserfahrun-
gen tendenziell zur jüngsten Kohorte hin zugenommen haben (vgl. Abschnitt 4),
ist damit in allen Länderstichproben gegeben. Darüber hinaus lassen sich einige
Differenzen zwischen den Verläufen der drei Erhebungsländer feststellen. Auff äl-
190 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

lig sind die sprunghaften Anstiege erster Mobilitätserfahrungen bei der jüngsten
Geburtskohorte in der französischen Stichprobe. Diesem Verlauf liegt jedoch eine
sehr geringe Fallzahl zugrunde, eine inhaltliche Interpretation erscheint daher
nicht sinnvoll. Des Weiteren zeichnen sich Niveauunterschiede hinsichtlich der
Verbreitung von Mobilitätserfahrungen ab. So deuten die Befunde darauf hin,
dass die Wohnbevölkerung in Spanien deutlich seltener bis zum 34. Lebensjahr
zirkulär mobil wird, als in Deutschland oder Frankreich. Die Niveauunterschiede
bleiben auch dann bestehen, wenn zusätzlich Mobilitätsepisoden Berücksichti-
gung finden, die nach Geburt eines ersten Kindes begonnen haben (nicht dar-
gestellt).
Eine nach Geschlecht differenzierte Betrachtung offenbart: Während sich für
Männer nur vergleichsweise geringe Differenzen in Bezug auf die Verbreitung von
zirkulären Mobilitätserfahrungen bis zum 34. Lebensjahr im Kohortenvergleich
feststellen lassen (nicht dargestellt), ist für die jüngste Geburtskohorte ab dem
24. Lebensjahr ein starkes Anwachsen des Anteils mobilitätserfahrener Frauen zu
verzeichnen, der nach dem 26. Lebensjahr die Anteile der früher geborenen Ko-
horten übersteigt und im 34. Lebensjahr einen Wert von 35,8% erreicht. Demnach
fallen insbesondere die Mobilitätserfahrungen der 1970er-Jahrgänge in die Kern-
phase der Familiengründung, während sich die Zuwachsrate der Mobilitätserfah-
rungen für die Geburtskohorten 1952-1960 und 1961-1970 ab dem 25. Lebensjahr
abschwächt (vgl. Abbildung 3a).
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 191

Abbildung 3 Zirkuläre Mobilitätserfahrungen bis zum Alter von 33 Jahren bei Frauen,
kumuliert, nach Geburtskohorten und Mobilitätsform

Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten

Eine Differenzierung der zirkulären Mobilitätserfahrungen nach Mobilitätsform


weist ferner auf unterschiedliche Entwicklungstrends hinsichtlich der Verbrei-
tung der beiden Formen Fernpendeln und berufsbedingtes Übernachten hin.
So unterscheidet sich der Anteil an Frauen mit Fernpendelerfahrungen im 34.
Lebensjahr zwischen der ältesten und der jüngsten Kohorte nur unwesentlich
(24% bzw. 22,6%), während dieser in der mittleren Kohorte mit 14,2% deutlich ge-
ringer ausfällt (vgl. Abbildung 3b). Demgegenüber kann für häufige Erfahrungen
mit beruflich bedingten Übernachtungen außerhalb der eigenen (Haupt-)Woh-
nung eine deutliche kontinuierliche Zunahme in der Kohortenabfolge festgestellt
werden (vgl. Abbildung 3c).
Auf Basis der präsentierten Befunde muss die These einer im historischen Zeit-
verlauf zunehmenden Verbreitung beruflich bedingter Mobilität mithin differen-
ziert beantwortet werden. Die Zunahme betrifft in erster Linie zirkuläre Mobilität
192 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

und beruht vorwiegend auf einer zunehmenden Verbreitung zirkulärer Mobili-


tätserfahrungen bei Frauen. Der Anteil an Frauen mit häufigen berufsbedingten
Abwesenheiten von zuhause über Nacht ist dabei über die Kohortenabfolge kon-
tinuierlich und deutlich gestiegen. Hinsichtlich der Verbreitung von Fernpendel-
erfahrungen kann für die jüngsten Jahrgänge lediglich gegenüber der mittleren
Geburtskohorte ein Zuwachs verzeichnet werden.

5.2 Welchen Beitrag leistet der Wandel des Mobilitäts-


verhaltens zwischen den Kohorten zur Erklärung
des Wandels bei der Familienentwicklung?

Im Folgenden werden nun die differenziellen Mobilitätsverläufe der drei Geburts-


kohorten mit dem Geburtenverhalten in Verbindung gebracht. Können die verän-
derten Mobilitätsbiografien zu einem veränderten Geburtenverhalten zwischen
den Kohorten beigetragen haben? Bisher konnte gezeigt werden, dass eine Zu-
nahme berufsbedingter Mobilität vorwiegend bei Frauen stattgefunden hat (vgl.
Abschnitt 5.1). Zugleich verweisen empirische Befunde vornehmlich für erwerbs-
tätige Frauen auf einen Einfluss berufsbedingter Mobilität auf Elternschaftsent-
scheidungen hin (vgl. Abschnitt 3). Die folgenden Analysen beschränken sich
demzufolge wiederum auf die Gruppe der Frauen. Darüber hinaus fokussieren
wir auf einen Aspekt des generativen Verhaltens: den Übergang in die Ersteltern-
schaft bis zum 34. Lebensjahr.
Aufbauend auf der Annahme, dass die Kohortendifferenzen hinsichtlich des
Übergangs in die Elternschaft bis zum Alter von 33 Jahren bei konstantem Mo-
bilitätsgeschehen geringer ausfallen müssten, werden im Folgenden die Effekte
des Geburtsjahrganges auf die Elternschaft ohne und mit Berücksichtigung von
Mobilitätserfahrungen untersucht. Dabei werden sukzessive unterschiedliche Di-
mensionen des Mobilitätsverhaltens bis zur Geburt des ersten Kindes bzw. bis
zum 34. Lebensjahr berücksichtigt: das Auftreten (differenziert nach Mobilitäts-
form), die Anzahl sowie das Timing von Mobilitätsereignissen bzw. Mobilitäts-
episoden im Lebensverlauf. Für die Interpretation ist zu berücksichtigen, dass in
allen Modellen für den höchsten erreichten Bildungsabschluss9 und nach dem Er-
hebungsland kontrolliert wird.

9 Um eine Vergleichbarkeit der Bildungsniveaus zu gewährleisten, wurden die verschie-


denen nationalen Bildungsabschlüsse in die ISCED-97-Klassifikation („International
Standard Classification of Education“) überführt und zu drei Kategorien zusammen-
gefasst, die aufsteigend ein zunehmendes Bildungsniveau repräsentieren.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 193

Tabelle 2 Zusammenhang zwischen Geburtskohorte, mobilitätsbiografischen Merkma-


len und Elternschaft bis zum Alter 33 bei Frauen (average marginal effects)

1 2 3 4 5 6 7
Erhebungsland (Ref.=Deutschland)
Frankreich 0,156** 0,144** 0,148** 0,148** 0,140** 0,144** 0,138**
Spanien 0,112* 0,087† 0,097* 0,095* 0,084† 0,088† 0,082†
Bildung (Ref.=ISCED 0 – 2)
ISCED 3 - 4 -0,036 -0,034 -0,025 -0,042 -0,029 -0,033 -0,032
ISCED 5 - 6 -0,131** -0,116* -0,111* -0,134** -0,115* -0,115* -0,068
Geburtsjahrgang (Ref.=1971 – 1977)
1952 - 1960 0,117† 0,104† 0,117† 0,093 0,095 0,103† 0,076
1961 - 1970 0,114* 0,091† 0,101† 0,099† 0,090† 0,092† 0,061
Zirkuläre Mobilität
(Ref.=keine zirkuläre -0,158**
Mobilität)
Fernpendeln
-0,145**
(Ref.=kein Fernpendeln)
Übernachten
-0,206**
(Ref.=kein Übernachten)
Kombinationen zirkulärer Mobilität (Ref.=keine zirkuläre Mobilität)
Nur Fernpendeln -0,112†
Nur Übernachten -0,155†
Fernpendeln und
-0,405**
Übernachten
Zahl zirkulärer Mobilitätsepisoden (Ref.=keine zirkuläre Mobilität)
1 -0,135*
2+ -0,233**
Alter bei erster zirkulärer Mobilität (Ref.=keine zirkuläre Mobilität)
14 - 23 -0,033
24 - 33 -0,408**
Chi² (Wald) 20,07 30,14 28,25 26,57 38,20 32,96 46,40
Pseudo-R² (Mc Fadden) 0,044 0,068 0,060 0,063 0,077 0,070 0,100

Quelle: Job Mobilities and Family Lives (Welle 2, 2010/2011); eigene Berechnungen;
gewichtete Daten (ungewichtetes N=708); **=p<0,01; *=p<0,05; †=p<0,1; p-Werte basieren
auf robusten Standardfehlern (Huber und White)
194 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

Das Regressionsmodell 1 (Tabelle 2) zeigt den Effekt des Geburtsjahrgangs auf


die Wahrscheinlichkeit einer Erstelternschaft bis zum 34. Lebensjahr für Frauen,
ohne Berücksichtigung mobilitätsbiografischer Erfahrungen. Es wird deutlich,
dass Frauen der beiden älteren Geburtskohorten bei Kontrolle für das Bildungs-
niveau mit einer um durchschnittlich 11,7 bzw. 11,4 Prozentpunkten höheren
Wahrscheinlichkeit bis zum 34. Lebensjahr den Übergang in die Elternschaft
vollziehen im Vergleich zu Frauen der jüngsten Kohorte, die hier als Referenz-
gruppe dienen.10
In den Modellen 2 bis 5 wird nun zusätzlich für das Auft reten mindestens einer
zirkulären Mobilitätsepisode kontrolliert, wobei in den Modellen 3 bis 5 eine Dif-
ferenzierung nach den beiden zirkulären Mobilitätsformen „Fernpendeln“ und
„berufsbedingtes Übernachten“ erfolgt. Die Effekte zeigen einen negativen Ein-
fluss zirkulärer Mobilitätserfahrungen auf die Wahrscheinlichkeit, dass bis zum
34. Lebensjahr ein erstes Kind geboren wird. Dies gilt für beide betrachteten Mo-
bilitätsformen. Insbesondere Frauen, die Erfahrungen mit beiden Mobilitätsfor-
men sammelten, blieben im Betrachtungszeitraum deutlich häufiger kinderlos als
nicht mobile Frauen (Modell 5). Deutlich wird ferner, dass sich die Kohorteneffek-
te reduzieren, wenn mobilitätsbiografische Merkmale in den Regressionsmodel-
len berücksichtigt werden. Dabei variieren die Veränderungen der Koeffizienten
für die Geburtsjahrgänge je nach fokussierter Mobilitätsform. Wie in Abschnitt
5.1 dargestellt, ist der Anteil zirkulärer Mobilitätserfahrungen unter Frauen der
Geburtskohorte 1970-1971 im Vergleich zur Geburtskohorte 1952-1960 moderat
und im Vergleich zur Geburtskohorte 1961-1970 deutlich angestiegen. Bei Kon-
trolle für das Auftreten zirkulärer Mobilität ohne Differenzierung nach Mobili-
tätsform reduziert sich dementsprechend vornehmlich der Effekt des mittleren,
1960er Jahrgangs (Modell 2). Ferner wurde infolge einer Differenzierung nach
Mobilitätsform sichtbar, dass die Unterschiede in der Verbreitung beruflicher
Mobilität unter den Frauen im Kohortenvergleich auf zwei Entwicklungstrends
beruhen: einem U-förmigen Verlauf der Fernpendelerfahrungen und einer mono-
tonen Zunahme beruflich begründeter Übernachtungen außerhalb der eigenen
Wohnung. In Übereinstimmung mit diesen deskriptiven Befunden reduziert sich

10 Ohne Kontrolle für das Bildungsniveau fällt vornehmlich der für die Geburtskohorte
1952-1960 ermittelte Effekt höher aus (average marginal effect: 0,133). Insgesamt re-
flektieren die auf Basis gewichteter Daten berechneten Effekte die bekannten Trends
eines zunehmenden Aufschubs der Erstelternschaft. Werden die durchschnittlichen
Marginaleffekte der Kohortenvariable ohne Datengewichtung ermittelt, fallen diese in
allen Modellen hochsignifikant (p<0,01) aus und verlieren — wie in Tabelle 2 auf Ba-
sis gewichteter Daten dargestellt — bei Kontrolle für Mobilitätserfahrungen an Stärke,
was insgesamt die Robustheit der Ergebnisse unterstreicht.
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 195

ausschließlich der Kohorteneffekt des Jahrgangs 1961-1970, wenn die Fernpendel-


erfahrungen kontrolliert werden (Modell 3). Werden stattdessen Erfahrungen mit
berufsbedingten Übernachtungen in das Modell aufgenommen, so reduziert sich,
entsprechend der monoton zunehmenden Verbreitung dieser Mobilitätsform
über die Kohorten, der Effekt der ältesten (1952-1960) noch stärker als jener der
mittleren Kohorte (Modell 4). Der differenziellen Entwicklung berufsbedingter
zirkulärer Mobilität wird in Modell 5 durch eine umfassende, nach Form diffe-
renzierte Erfassung zirkulärer Mobilitätserfahrungen Rechnung getragen, wobei
Frauen, die Erfahrungen mit beiden Mobilitätsformen machten (sei es zeitgleich
im Lebensverlauf oder zeitlich versetzt), im Rahmen einer zusätzlichen Katego-
rie berücksichtigt werden. Die Effektstärken der Koeffizienten der beiden älteren
Geburtskohorten sind in Modell 5 im Vergleich zu Modell 1 merklich reduziert.
Insgesamt stützen die Befunde somit die Annahme, dass ein Teil der Kohorten-
unterschiede bei der Familienentwicklung dadurch zu erklären ist, dass zirkuläre
Mobilität bei den Frauen der jüngeren Jahrgänge weiter verbreitet ist.
Stehen neben der gestiegenen Prävalenz mobilitätsbiografischer Erfahrungen
auch veränderte Mobilitätsverläufe in einem Zusammenhang mit dem Geburten-
verhalten? In Modell 6 wird demnach die Häufigkeit zirkulärer Mobilitätserfah-
rungen mit dem Geburtenverhalten in Verbindung gebracht.11 Der negative Effekt
zirkulärer Mobilitätserfahrungen auf die Wahrscheinlichkeit einer Elternschaft
fällt im Falle von zwei oder mehr Mobilitätsepisoden stärker aus als bei einer
Mobilitätsepisode. Infolge der insgesamt geringen Differenzen zwischen den Ko-
horten lassen sich jedoch gegenüber Modell 2 (Kontrolle für zirkuläre Mobilität
ohne Differenzierung nach Anzahl der Episoden) keine weiteren Reduktionen der
Kohorteneffekte feststellen.
In Modell 7 wird schließlich nach dem Alter des Auft retens erster Mobilitäts-
erfahrungen differenziert. In Abschnitt 5.1 wurden kohortenspezifische Differen-
zen hinsichtlich des Zeitpunktes erster Mobilitätserfahrungen im Lebensverlauf

11 Deskriptive Analysen bezüglich der Anzahl begonnener zirkulärer Mobilitätsepisoden


bis zum Alter 33 in den drei untersuchten Geburtskohorten zeigen, dass der Anteil
an Frauen mit mehr als einer Mobilitätsepisode in der Kohortenabfolge zugenommen
hat (1952-1960: 6%; 1961-1970: 9,3%; 1971-1977: 12,1%). Es ist plausibel, als Ursache
für diesen Anstieg die häufig vermutete, empirisch jedoch nicht eindeutig bestätigte
Zunahme befristeter und fragiler Beschäftigungsverhältnisse anzunehmen (vgl. für
neuere empirische Analysen zur These einer zunehmenden Destabilisierung von Be-
rufskarrieren in Deutschland z. B. Giesecke und Heisig 2010; Biemann et al. 2011). Die
Differenzen schrumpfen jedoch, wenn Mobilitätsepisoden, die nach der Geburt eines
Kindes begonnen haben, aus der Betrachtung ausgeschlossen werden (1952-1960: 4,7%;
1961-1970: 6,5%; 1971-1977: 7,8%).
196 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

deutlich. So schwächt sich die Zuwachsrate für die Geburtskohorten 1952-1960


und 1961-1970 ungefähr ab dem 25. Lebensjahr ab. Demgegenüber machen vie-
le Frauen der jüngsten Geburtskohorte ihre ersten Mobilitätserfahrungen erst
später, im Alter zwischen 24 und 33 Jahren, die damit in die Kernphase der Fa-
miliengründung fallen. Die Kontrolle für Mobilitätserfahrungen unter Berück-
sichtigung des Timings hat eine deutliche Reduktion der Kohorteneffekte zur
Folge. Der deutlich negative Effekt später Mobilitätserfahrungen auf die Wahr-
scheinlichkeit einer Elternschaft könnte demnach als Ausdruck einer gewissen
Unvereinbarkeit zwischen dem Praktizieren berufsbedingter Mobilität und der
Familiengründung bei Frauen interpretiert werden. Insgesamt könnten die Zu-
nahme zirkulärer beruflicher Mobilität sowie die zunehmende Verlagerung erster
Mobilitätserfahrungen in ein höheres Lebensalter zum beobachtbaren Wandel
des Geburtenverhaltens beitragen.

6 Zusammenfassung und Diskussion

Ziel des Beitrags war es, die Bedeutung von Veränderungen des berufsbedingten
räumlichen Mobilitätsverhaltens für das generative Verhalten zu untersuchen. Die
zunehmende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung, insbesondere von Frauen, führt,
so die These, in Verbindung mit gestiegenen beruflichen Mobilitätserfordernissen
zu einer Zunahme beruflich bedingter räumlicher Mobilität. Zugleich weisen bis-
herige Forschungsergebnisse darauf hin, dass Erfahrungen mit berufsbedingter
räumlicher Mobilität in Partnerschaften häufig mit einem Aufschub von Kinder-
wünschen einhergehen. Demnach besteht die Möglichkeit, dass Trends hinsicht-
lich des Fertilitätsverhaltens während der letzten Jahrzehnte, insbesondere der
Aufschub von Geburten in höhere Lebensalter, auch auf Veränderungen des Mo-
bilitätsverhaltens im selben Zeitraum zurückzuführen sind. Ob tatsächlich eine
Veränderung des berufsbedingten räumlichen Mobilitätsgeschehens im Sinne
einer Zunahme stattgefunden hat, ist bislang jedoch kaum empirisch untersucht
worden. Darüber hinaus wurden berufsbedingte Mobilitätserfahrungen im wis-
senschaft lichen Diskurs über potenzielle Einflussfaktoren des generativen Ver-
haltens bislang weitgehend vernachlässigt. Daher wurde im vorliegenden Beitrag
für die Kohorten 1952-1960, 1961-1970 und 1971-1977 untersucht, ob Verände-
rungen des Mobilitätsverhaltens empirisch feststellbar sind und welchen Beitrag
sie zur Erklärung des Wandels des Fertilitätsverhaltens leisten.
Grundlage der Untersuchung bildeten Daten zur Berufs-, Mobilitäts- und
Familienbiografie für die Länder Deutschland, Spanien und Frankreich, die im
Rahmen der zweiten Welle der Studie „Job Mobilities and Family Lives in Europe“
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 197

retrospektiv erfasst wurden. Untersucht wurden sowohl berufl ich veranlasste


Fernumzüge als auch Formen zirkulärer Pendelmobilität.
Die Befunde zu den Veränderungen im Mobilitätsverhalten zeigen, dass Frau-
en der 1970er Jahrgänge im Vergleich zu älteren Geburtsjahrgängen bis zum Alter
von 33 Jahren häufiger Erfahrungen mit berufsbedingter räumlicher Mobilität
machen. Für die Männer waren ähnliche Tendenzen feststellbar, die jedoch ins-
gesamt deutlich geringer ausfielen. Insbesondere der Anteil an Frauen mit häu-
figen berufsbedingten Abwesenheiten von zuhause über Nacht ist über die drei
betrachteten Kohorten hinweg kontinuierlich und deutlich angestiegen. Hin-
sichtlich der Verbreitung von Fernpendelerfahrungen zeigte sich über die Ko-
hortenabfolge ein eher U-förmiger Verlauf. Eine Zunahme von Erfahrungen mit
Umzugsmobilität ist hingegen weder bei Frauen noch bei Männern festzustellen.
Insgesamt unterstreichen die Befunde die quantitative Bedeutsamkeit zirkulärer
Mobilität, die im Verlauf der letzten Jahre zugenommen hat. Frauen der jüngsten
Geburtskohorte machen jedoch nicht nur häufiger Erfahrungen mit zirkulärer
Mobilität als ältere Jahrgänge, sie machen erste Erfahrungen, vermutlich als Folge
verlängerter Ausbildungszeiten, auch durchschnittlich später im Lebensverlauf.
Aufwändige Mobilitätsarrangements fallen für jüngere Frauenjahrgänge somit
vermehrt in die Kernphase der Familiengründung.
Für die Gruppe der Frauen wurde anhand von Regressionsanalysen überprüft,
ob die mobilitätsbiografischen Wandlungsprozesse zu einem veränderten Fertili-
tätsverhalten zwischen den Kohorten beigetragen haben könnten. Als Indikator
wurde der Übergang in die Erstelternschaft bis zum 34. Lebensjahr betrachtet.
Ausgehend vom Befund, dass der Übergang zur Erstelternschaft bis zum Alter
von 33 Jahren zur jüngeren Kohorte hin tendenziell seltener realisiert worden ist,
konnte anhand einer schrittweisen Erweiterung des Regressionsmodells um mo-
bilitätsbezogene Merkmale gezeigt werden, dass sich der Kohorteneffekt auf die
Wahrscheinlichkeit einer Erstelternschaft bis zum Alter 33 reduziert, wenn Ko-
hortendifferenzen hinsichtlich des Auft retens und des Timings zirkulärer Mobi-
litätserfahrungen kontrolliert werden. Die Befunde weisen demnach darauf hin,
dass ein Teil der Kohortenunterschiede bei der Familienentwicklung auch da-
durch zu erklären ist, dass Erfahrungen mit zirkulärer Mobilität unter den Frau-
en der jüngeren Jahrgänge weiter verbreitet sind und diese Erfahrungen zudem
verstärkt in die Kernphase der Familiengründung fallen.
Für die vorliegende Untersuchung sind einige Limitationen zu beachten. Zu-
nächst sei darauf verwiesen, dass retrospektive Erhebungsverfahren prinzipiell
Spielräume für Messfehler durch fehlerhaftes Erinnern bieten. Mobilitätsepiso-
den, die länger zurückliegen, dürften demzufolge tendenziell häufiger vergessen
und ungenauer datiert werden als aktuelle oder kürzlich gemachte Mobilitäts-
198 Norbert F. Schneider, Thomas Skora & Heiko Rüger

erfahrungen. Wir gehen allerdings davon aus, dass berufliche Mobilität im Le-
bensverlauf als relevantes Ereignis erlebt wird und deshalb relativ gut erinnerbar
bleibt.
Für die Interpretation der Ergebnisse ist ferner hervorzuheben, dass diese
keinen abschließenden Beleg für einen kausalen Effekt von Veränderungen im
Mobilitätsverhalten auf die Veränderungen hinsichtlich der Familienentwicklung
bieten können. So müssten für den Nachweis eines kausalen Effekts unter ande-
rem sämtliche Faktoren, die sowohl einen Einfluss auf die Mobilitätsneigung als
auch auf die Realisierung von Geburten haben, statistisch kontrolliert werden,
um Scheinkorrelationen ausschließen zu können. Unsere Analyse muss jedoch
auf eine umfassende Berücksichtigung potenziell relevanter Drittvariablen ver-
zichten, da diese zumeist zeitveränderlich sind und ihre Ausprägungen für den
Beobachtungszeitpunkt nicht bekannt sind. Unsere multivariaten Analysen fo-
kussieren auf eine Kontrolle für das Bildungsniveau, das sich in vergangenen Stu-
dien sowohl für die Mobilitätsneigung als auch für das Fertilitätsverhalten von
Frauen als wichtiger Einflussfaktor erwies. Um einem möglichen Einfluss der
Ausbildungsdauer auf die Ergebnisse noch adäquater zu berücksichtigen, wurden
alternative Regressionsanalysen mit Kontrolle für das Alter bei Berufseintritt be-
rechnet. Für diese Analysen wurden Frauen, die bis zum 34. Lebensjahr keiner
Erwerbstätigkeit nachgingen, aus der Betrachtung ausgeschlossen. Die Ergebnis-
se der entsprechenden Regressionsmodelle unterschieden sich jedoch nicht subs-
tanziell von den dargestellten Ergebnissen.
Vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer kausalen Interpretation der Er-
gebnisse ist ferner zu beachten, dass ebenfalls ein Effekt der Kinderlosigkeit auf
die Mobilitätsbereitschaft vorliegen kann. Eine Zunahme und zeitliche Verlage-
rung des Mobilitätsgeschehens bei jüngeren Frauenjahrgängen wäre, dieser Inter-
pretationsweise nach, die Folge einer zunehmenden Verbreitung von Kinderlosig-
keit bis in das vierte Lebensjahrzehnt hinein.
Um die Richtung eines kausalen Zusammenhangs möglichst eindeutig be-
stimmen zu können, fanden Mobilitätsepisoden, die nach Geburt eines ersten
Kindes begonnen wurden, in den Analysen keine Berücksichtigung. Daher gehen
wir davon aus, dass die Veränderungen beim Mobilitätsverhalten einen Erklä-
rungsbeitrag zum veränderten generativen Verhalten bieten können. So zeigen
empirische Studien, dass Kinder für die meisten Menschen nach wie vor ein zen-
traler Bestandteil der Lebensführung darstellen und ein Großteil der Kinderlosen
sich Kinder wünscht (z. B. Dorbritz et al. 2005; Bujard et al. 2012). Dies gilt über-
wiegend auch für Personen, die aus beruflichen Gründen räumlich hoch mobil
sind. Empirische Belege hierfür bietet die Untersuchung von Huinink und Feld-
haus (2012), die zeigt, dass Personen, die über eine größere Distanz zum Arbeits-
Mobilitätserfahrungen und Familienentwicklung 199

platz pendeln, sich nur unwesentlich von nicht mobilen Personen hinsichtlich
ihrer Kinderwünsche unterscheiden. Bisherige Befunde verweisen auf den inst-
rumentellen Charakter räumlicher Mobilität im Kontext des Zusammenwirkens
von Berufs- und Familienbiografie. Demnach erfolgt räumliche Mobilität häufig
mit der Intention, eine angemessene Berufsposition zu erreichen, die materielle
Ressourcen zur Versorgung einer Familie hinreichend sichert. Zugleich erschwert
intensive räumliche Mobilität die Organisation des Familienlebens. Insbesonde-
re für Frauen zeigt sich räumliche Mobilität als Barriere zur Familiengründung.
Eine Realisierung von Kinderwünschen erfolgt, wenn aufwändige Mobilitätsar-
rangements reduziert oder beendet werden können. Solange dies jedoch nicht ge-
lingt, bleiben Kinderwünsche zunächst vielfach unverwirklicht.
Insgesamt bieten die vorliegenden Befunde wichtige Hinweise auf die Be-
deutsamkeit eines sich wandelnden Mobilitätsgeschehens für die Erklärung ver-
änderter Verhaltensweisen im Bereich der Familienentwicklung. Dabei konnten
Veränderungsprozesse vornehmlich für die zirkulären Mobilitätsformen des
Fernpendelns und des berufsbedingten Auswärtsübernachtens verzeichnet wer-
den. Zukünft ige Forschung zum Wandel des generativen Verhaltens sollte daher
insbesondere dem zirkulären Mobilitätsverhalten eine stärkere Beachtung schen-
ken.

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Die altersbezogene Partnerwahl
im Lebenslauf und ihr Einfluss
auf die Beziehungsstabilität

Thomas Klein & Ingmar Rapp

1 Einleitung

Häufig sind aktuelle Entwicklungen oder dramatische Veränderungen der An-


lass, ein Thema und damit verbundene Fragestellungen genauer zu analysieren.
Nicht so beim Altersabstand zwischen Mann und Frau. Zumindest nicht auf den
ersten Blick. Denn zumindest der durchschnittliche Altersabstand von etwa drei
bis vier Jahren, um die der Mann älter ist, hat sich über viele Jahrzehnte hinweg
kaum verändert. In Bezug auf den Altersabstand besteht vielmehr die immer wie-
der gestellte Frage darin, warum es im Durchschnitt so wenig Veränderung gibt.
Denn damit verknüpft sind meist sehr voreilige Interpretationen, wie beispiels-
weise: „Ist der Altersunterschied größer oder die Frau gar älter, ist es nicht mehr
weit her mit der Akzeptanz“ (Violetta Simon in Süddeutsche.de vom 29. Oktober
2013).
Dem Alter des Partners bzw. dem Altersabstand wird bei der Partnerwahl
unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben. Im Vordergrund steht die Vorstel-
lung, dass ein ähnliches Alter die Entstehung einer Partnerschaft begünstigt,
nicht nur, weil dies der gesellschaft lichen Norm entspricht und die Akzeptanz
einer Partnerschaft erhöht, sondern insbesondere auch, weil sich damit die Über-
einstimmung von Werten und Interessen vergrößert. Davon abgesehen ist das
Alter ein Maßstab für körperliche Attraktivität, und auf dem Heiratsmarkt fi n-

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
204 Thomas Klein & Ingmar Rapp

det tendenziell ein Ausgleich der Attraktivität statt,1 was der Ähnlichkeit des Al-
ters ebenfalls Vorschub leistet. Und schließlich werden die mit größeren Alters-
unterschieden einhergehenden Attraktivitätsunterschiede mit kompensierenden
Statusunterschieden in Zusammenhang gebracht. Unter diesem letztgenannten
Aspekt wird das Fortbestehen des Altersunterschieds nicht selten vorschnell als
Hinweis auf ein Fortleben traditioneller Geschlechterrollen interpretiert (Klein
1996b, S. 281f.).
Die Bedeutung, die der Altersabstand bei der Partnerwahl spielt, lässt auch
erwarten, dass die Beziehungsstabilität je nach Altersabstand variiert. Das Motiv,
einen Partner bzw. eine Partnerin in einem bestimmten Alter zu suchen, ist im
Prinzip dasselbe, wie mit ihm bzw. mit ihr zusammen zu bleiben – z. B. gemeinsa-
me Werte und Interessen oder die mit dem Alter verbundene Attraktivität. Das-
selbe gilt für normative, intersubjektiv geteilte Vorstellungen über die ‚passende‘
Partnerwahl, die sowohl die Partnerwahl steuern als auch – je nach Passung der
Partner – die Stabilität der Paarbeziehung beeinflussen.
Verschiedene im Folgenden ausgeführte Überlegungen legen nahe, dass sich
sowohl der durchschnittliche Altersabstand und die Bandbreite, in der sich der
Altersabstand zumeist bewegt, als auch die Bedeutung des Altersabstands für
die Beziehungsstabilität mit steigendem Alter der Partner verändert. Der vor-
liegende Beitrag überprüft verschiedene Hypothesen zu der Frage, wie sich der
partnerschaft liche Altersabstand und der Einfluss des Altersabstands auf die
Beziehungsstabilität im Lebenslauf ändern.

2 Theoretische Überlegungen

2.1 Motive und Gelegenheiten

Partnerwahl und Beziehungsstabilität werden nicht nur durch individuelle Mo-


tive und kulturelle Normen gesteuert, sondern auf unterschiedliche Weise auch
von den Quantitäten des Partnermarkts beeinflusst. Was die Beziehungsstabilität
betrifft, so ist der Partnermarkt vor allem im Hinblick auf Beziehungsalternati-
ven von Bedeutung, die in der Literatur (insbesondere Becker et al. 1977; Lewis

1 Homogame Partnerwahl beruht nicht notwendigerweise auf homogamer Partner-


suche, sondern Homogamie erklärt sich auch als Ergebnis des Wettbewerbs auf dem
Partnermarkt, selbst wenn jede(r) nach einem möglichst attraktiven Partner bzw. einer
möglichst attraktiven Partnerin sucht: Denn liegen die Vorstellungen, was ein attrak-
tiver Partner ist, nicht allzu weit auseinander, entsteht ein Ausgleich der Attraktivität,
wenn jeder die Partnerschaft mit einem weniger attraktiven Partner ablehnt.
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 205

und Spanier, 1979) als wichtige Determinante der Beziehungsstabilität angesehen


werden.
Was die Partnerwahl betrifft, bestimmt die gesellschaft liche Altersstruktur
ebenso wie die Bildungsstruktur, die Konfessionsstruktur usw. über die Chance,
einen potenziellen Partner mit den betreffenden Merkmalen überhaupt kennen
zu lernen. In Bezug auf das Alter werden interessanterweise die quantitativen Ge-
legenheiten durch den existierenden Altersabstand selbst geprägt, denn dieser
bringt mit sich, dass in jedem Alter der Anteil der noch ungebundenen Frauen
geringer ist als der der noch ungebundenen Männer (vgl. hierzu Klein 1996a, S.
351f.). Auf dem Partnermarkt existiert somit eine unterschiedliche Altersstruk-
tur verfügbarer Männer und Frauen. Da diese Altersstrukturierung des Partner-
markts erneut zu entsprechenden Altersunterschieden beiträgt, wird der Alters-
unterschied stetig von Generation zu Generation weitergegeben. Man kann in
diesem Sinn von einer in der Partnermarktdynamik angelegten historischen Per-
petuierung des durchschnittlichen Altersunterschieds zwischen Partnern spre-
chen. Natürlich ist damit nicht geklärt, warum der durchschnittliche Altersunter-
schied gerade drei bis vier Jahre beträgt und wie dieser ‚ursprünglich‘ zustande
gekommen ist. Aber die beschriebene Partnermarktdynamik macht verständlich,
warum sich veränderte Werte und veränderte Partnerschaftsvorstellungen nur
sehr langsam auf den durchschnittlichen Altersunterschied der Partner auswir-
ken können.
Zusätzlich zu dem Muster der historischen Perpetuierung werden die Gele-
genheiten der altersbezogenen Partnerwahl auch durch eine soziale Steuerung
des Kennenlernens bestimmt. Individuen sind über den Arbeitsplatz und andere
kurzfristig nicht frei wählbare Aktivitäten in verschiedene Handlungskontexte
eingebunden, die als Brennpunkte der Begegnung verstanden werden können,
wodurch die sozialen Interaktionsgelegenheiten vorstrukturiert werden (Feld
1981; ausgehend von Simmel 1955; Granovetter 1973). In Bezug auf die Partner-
wahl lassen sich die Brennpunkte der Begegnung als Teilheiratsmärkte begreifen,
wobei homogene Teilheiratsmärkte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, einem ähn-
lichen Partner zu begegnen. Ein Paradebeispiel für altershomogene Teilheirats-
märkte sind die (Aus-) Bildungsinstitutionen, wobei verlängerte Bildungswege
im Zuge der Bildungsexpansion die Altersähnlichkeit begünstigen (Blossfeld und
Timm 2003). Viele Teilheiratsmärkte sind jedoch altersheterogen und lassen ent-
sprechend größere Altersabstände erwarten.
206 Thomas Klein & Ingmar Rapp

2.2 Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf

Verschiedene Überlegungen geben Anlass zu der Vermutung, dass sich sowohl


die Motive als auch die Gelegenheiten der altersbezogenen Partnerwahl im Le-
benslauf ändern. Im Hinblick auf das Bestreben, mit einem attraktiven Partner
zusammen zu sein, ist zwar nicht von einer Änderung im Lebenslauf auszugehen,
aber mit steigendem Alter bei der Partnerwahl ist ein attraktiver Partner zuneh-
mend jünger als man selbst. Steigendes Alter bei der Partnerwahl lässt deshalb
einen zunehmenden Altersabstand zugunsten eines jüngeren Partners erwar-
ten. Dabei kann man den Wunsch nach einem attraktiven Partner bei Männer
und Frauen gleichermaßen unterstellen – es erhebt sich lediglich die Frage, ob
bei Frauen ein traditionelles Geschlechtsrollenbild und/oder (damit in Einklang)
der Austausch von Status- und Attraktivitätsunterschieden dem zunehmenden
Altersabstand zugunsten eines jüngeren Partners im Lebenslauf entgegenwirken.
Dieselbe Hypothese eines zunehmenden Altersabstands resultiert allerdings
auch aus den Gelegenheiten der Partnerwahl: Mit zunehmendem Alter ist ein
zunehmend größerer Teil der annähernd Gleichaltrigen schon gebunden, sodass
sich die Gelegenheiten der Partnerwahl zugunsten jüngerer Partner verschieben
(z. B. Klein 1996a). In besonderem Maße gilt letzteres in Bezug auf die Heirat
an der Grenze des Mindestheiratsalters, die in Deutschland in der Regel bei 18
Jahren liegt und bei der jüngere Alternativen zumindest für die Eheschließung
nicht relevant sind.2 Auch diese Argumente gelten für Männer und Frauen glei-
chermaßen!
In Bezug auf die Gelegenheiten ist allerdings auch von Bedeutung, dass mit zu-
nehmendem Lebensalter eine Verengung und Verknappung des altersähnlichen
Partnermarkts stattfindet, auf dem außerdem die tendenziell weniger ‚idealen‘
Kandidaten übrig geblieben sind. Dies lässt vermuten, dass die Altersähnlichkeit
neben anderen Kriterien der Partnerwahl an Gewicht verliert und die Spannbreite
der Altersabstände umso größer wird, je höher das Alter bei der Partnerwahl ist.
Geht man dennoch davon aus, dass die an den Altersabstand gekoppelte Über-
einstimmung von Interessen und Werten eine gleichbleibende Wichtigkeit über
den Lebenslauf behält, so hat der Altersabstand trotzdem je nach Lebensalter
unterschiedliche Bedeutung für die Übereinstimmung von Interessen und Wer-
ten. Während Lebensphasen und Lebensumstände im jungen Erwachsenenalter
häufig wechseln und Statusübergänge dicht auf dicht folgen, existiert im mittleren
Erwachsenenalter – der Erwerbs- und Familienphase – ein breiter Altersbereich,

2 Der umgekehrte Effekt stellt sich in den höchsten Altersstufen ein, wenn es kaum noch
Ältere gibt.
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 207

in dem Statusübergänge seltener sind und sich die alterstypischen Lebensumstän-


de nur graduell verändern. Es ist deshalb anzunehmen, dass Interessen und Werte
im mittleren Erwachsenenalter auch bei vergleichsweise großen Altersabständen
übereinstimmen. Bei einer Partnerwahl im mittleren Erwachsenenalter ist des-
halb mit anderen Worten eine größere Spannbreite der Altersabstände zu erwar-
ten als im jungen Erwachsenenalter.
Erneut lässt sich aber dieselbe Hypothese auch mit den Gelegenheiten des
Kennenlernens begründen. Der vergleichsweise breite Altersbereich der mittleren
Lebensphase führt dazu, dass auch die Handlungskontexte im mittleren Erwach-
senenalter altersheterogener sind als in jungen Jahren, in denen Bildungseinrich-
tungen Gleichaltrige in denselben Klassen und Seminaren versammeln (McPher-
son et al. 2001, S. 424). Dieselbe Lebensphase führt also potenzielle Partner über
einen größeren Altersabstand hinweg zusammen als im jungen Erwachsenenalter.
Die durch gemeinsame Lebensphasen geschaffene Ähnlichkeit von Interessen
und die durch sie geschaffenen Gelegenheiten des Kennenlernens begründen al-
lerdings, dass die Veränderungen der Lebensumstände, die beim Übergang in das
höhere Erwachsenenalter eintreten, den relevanten Altersabstand bei der Partner-
suche erneut einschränken könnten, wenn der Eintritt in den Ruhestand stattfin-
det oder wenn chronische Krankheiten auft reten. Soweit die altersbezogene Part-
nerwahl mit gemeinsamen Lebensumständen zusammenhängt, ist somit bis ins
mittlere Lebensalter von einer Vergrößerung und anschließend eher wieder von
einer Verkleinerung der Spannbreite des Altersabstands auszugehen. In Tabelle 1
sind die ausgeführten Hypothesen zusammengestellt.
208 Thomas Klein & Ingmar Rapp

Tabelle 1 Hypothesen zur Veränderung der altersbezogenen Partnerwahl im Lebenslauf

Hypothese Begründung

1) Zunehmende Tendenz zu jüngeren Wunsch nach Attraktivität.


Partnern. Verschiebung der Gelegenheiten
zugunsten jüngerer Partner.

2) Vergrößerung der Spannbreite der Verknappung des Partnermarkts.


Altersabstände über den gesamten
Lebenslauf.

3) Erst Vergrößerung, dann Verrin- Reduzierte Statusübergänge und breitere


gerung der Spannbreite der Alters- Lebensphase im mittleren Lebensalter
abstände. … führen auch im Falle von größeren Alters-
unterschieden zu ähnlichen Interessen.
… führen zu altersheterogameren Kontakt-
gelegenheiten.

Quelle: eigene Zusammenstellung

2.3 Einflüsse des Altersabstands


auf die Beziehungsstabilität im Lebenslauf

Die Bestimmungsgründe der altersbezogenen Partnerwahl im Lebenslauf las-


sen vermuten, dass sich auch destabilisierende Effekte von Altersunterschieden
auf die Beziehungsstabilität, die unter anderem in geringerem Wertekonsens, in
unterschiedlichen Rollenerwartungen und in größeren Spannungen in altershe-
terogamen Paarbeziehungen begründet sind (Klein 1999, S. 146 f.), im Lebenslauf
ändern.
Mit Bezug auf die unterschiedliche Altershomogenität bzw. -heterogenität der
Lebensphasen ist davon auszugehen, dass eine Übereinstimmung von Interessen
im mittleren Erwachsenenalter über größere Altersabstände hinweg besteht als
insbesondere im jungen Erwachsenenalter. Aus diesem Grund ist zu erwarten,
dass der negative Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungsstabilität bis zum
mittleren Lebensalter zurückgeht und dann wieder zunimmt. Diese erst abneh-
mende und dann eventuell wieder zunehmende Bedeutung des Altersabstands
für die Beziehungsstabilität beruht allerdings nur auf der (Nicht-) Übereinstim-
mung von Interessen, während der korrespondierende Verlauf der altersbezoge-
nen Partnerwahl auch aus den Gelegenheiten des Kennenlernens resultiert und
deshalb möglicherweise ausgeprägter ist.
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 209

Die Verknappung des Partnermarkts ist andererseits eine prominente Erklä-


rung dafür, dass die Beziehungsstabilität im Lebenslauf zunimmt, weil Alternati-
ven zunehmend rar werden (vgl. Rapp 2013, S. 32ff.). Ein größerer Altersabstand
bedeutet deshalb, dass die Alternativen für beide Partner unterschiedlich zahl-
reich sind. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass der Einfluss des Alters-
abstands auf die Beziehungsstabilität bei gegebenem eigenen Alter davon abhängt,
ob der Partner / die Partnerin jünger oder älter ist, wobei ein jüngerer Partner mit
einer geringeren und ein älterer Partner mit einer höheren Beziehungsstabilität
einhergeht. Der jeweilige Einfluss des Altersabstands dürfte jedoch im Lebensver-
lauf abnehmen, da sich die Alternativen der Partner zunehmend weniger unter-
scheiden. Denn geht man beispielsweise von einem 10-Jahres-Altersabstand aus,
so reduzieren sich die verfügbaren Kandidaten im Altersbereich zwischen 25 und
35 Jahren – d. h. in dem Altersbereich, in dem der Lebenspartner häufig gewählt
wird – deutlich stärker als etwa im Altersbereich zwischen 45 und 55 Jahren.
Der Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungsstabilität könnte sich
schließlich im Lebenslauf auch deshalb verringern, weil die Beziehungsdauer zu-
nimmt. Vor allem zwei Faktoren sind hierfür maßgeblich: Zum einen findet in
der Regel eine Anpassung der Partner aneinander statt, sodass die mit dem Al-
tersabstand verbundene Unähnlichkeit von Werten und Interessen an Bedeutung
verliert. Zum anderen bleiben mit steigender Beziehungsdauer zunehmend nur
diejenigen zusammen, die ggf. trotz eines Altersabstands eine stabile Beziehung
führen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die ausgeführten Hypothesen.

Tabelle 2 Hypothesen zum Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungsstabilität im


Lebens- und Beziehungsverlauf

Hypothese Begründung

4) Erst abnehmender und später wieder Breitere Lebensphase im mittleren


zunehmender Einfluss des Altersabstands Lebensalter führt auch im Falle von
auf die Beziehungsstabilität im Lebenslauf. größeren Altersunterschieden zu
ähnlichen Interessen.

5) Abnehmender Einfluss des Altersabstands Alternativen der Partner unterschei-


auf die Beziehungsstabilität im Lebenslauf. den sich auch bei größeren Alters-
unterschieden immer weniger.

6) Abnehmender Einfluss des Altersabstands Anpassungs- und Selektionsprozesse.


auf die Beziehungsstabilität im Beziehungs-
verlauf.

Quelle: eigene Zusammenstellung


210 Thomas Klein & Ingmar Rapp

3 Ergebnisse I: die altersbezogene Partnerwahl


im Lebenslauf

Die folgenden Ergebnisse beleuchten zunächst die Veränderungen der altersbe-


zogenen Partnerwahl im Lebenslauf auf Basis der amtlichen Eheschließungssta-
tistik (Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Statistik
der Eheschließungen für das Jahr 2010, eigene Berechnung). Die Analysen bezie-
hen sich zwar auf Eheschließungen, weil in amtlichen Daten nur Eheschließun-
gen registriert werden, die Ergebnisse sind aber trotzdem auf die altersbezogene
Partnerwahl im Allgemeinen übertragbar. Grundlage der Darstellung sind Daten
über alle im Jahr 2010 in Deutschland geschlossenen Ehen.
Die Abbildungen 1 und 2 informieren darüber, wie sich der partnerschaft liche
Altersunterschied mit steigendem Heiratsalter des Mannes (Abbildung 1) bzw.
mit steigendem Heiratsalter der Frau (Abbildung 2) verändert. Dargestellt sind
sogenannte Perzentilkurven. Das 50%-Perzentil entspricht dem Median3 und
zeigt den mittleren Altersabstand an. Das 25%- und das 75%-Perzentil begrenzen
gemeinsam den Bereich, in dem die mittleren 50% der Ehen liegen, und das 5%-
und das 95%-Perzentil umschließen zusammen 90% der Verteilung. Die unteren
und oberen Perzentilkurven informieren somit über die Bandbreite, in der sich
der Altersabstand zumeist bewegt. Werte größer Null für den Altersabstand be-
deuten, dass der Partner bzw. die Partnerin älter ist als man selbst, Werte kleiner
Null zeigen ein jüngeres Alter des Partners bzw. der Partnerin.

3 Der Median gibt hier den Altersabstand an, bei dem 50% der Paare einen höheren und
50% einen geringeren Altersabstand haben.
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 211

Abbildung 1 Perzentilkurven für den Altersabstand zwischen Eheschließenden nach


dem Heiratsalter des Mannes

20
Altersabstand (Alter der Partnerin minus eigenes Alter)

10

95%-Perzentil
-10 75%-Perzentil
50%-Perzentil
25%-Perzentil
5%-Perzentil
-20

-30

-40
18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84
Heiratsalter des Mannes

Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Statistik der Eheschlie-
ßungen für das Jahr 2010, eigene Berechnung. Ausgewiesen sind Perzentile mit einer Basis
von mindestens 60 Fällen.

Aus Abbildung 1 geht hervor, dass beide Partner im Mittel gleich alt sind, wenn
der Mann mit 20 Jahren heiratet. Männer, die mit 30 Jahren vor den Traualtar
treten, heiraten im Mittel eine zwei Jahre jüngere Frau. Bei einem Heiratsalter
des Mannes von 50 Jahren ist die Frau im Mittel vier Jahre jünger als der Mann,
und sie ist sogar zehn Jahre jünger, wenn der Mann bei der Eheschließung 70
Jahre alt ist. Mit steigendem Heiratsalter des Mannes wird die Partnerin also im-
mer jünger. Zudem öff net sich mit steigendem Heiratsalter des Mannes die Schere
zwischen den unteren und oberen Perzentilkurven, d. h. die Bandbreite nimmt
zu, in der sich der Altersabstand bewegt. Die Spanne zwischen dem 25. und dem
75. Perzentil beispielsweise beträgt mit 20 Jahren nur drei Jahre und mit 30 Jah-
ren erst vier Jahre, mit 50 Jahren dagegen schon acht und mit 70 Jahren bereits
elf Jahre.
212 Thomas Klein & Ingmar Rapp

Abbildung 2 Perzentilkurven für den Altersabstand zwischen Eheschließenden nach


dem Heiratsalter der Frau

20
Altersabstand (Alter des Partners minus eigenes Alter)

10

95%-Perzentil
-10 75%-Perzentil
50%-Perzentil
25%-Perzentil
5%-Perzentil
-20

-30

-40
18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84
Heiratsalter der Frau

Quelle: FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Statistik der Eheschlie-
ßungen für das Jahr 2010, eigene Berechnung. Ausgewiesen sind Perzentile mit einer
Basis von mindestens 60 Fällen.

Abbildung 2 zeigt für Frauen ein Bild, das nur teilweise dem für Männer ent-
spricht. Auch für Frauen gilt, dass der Partner mit steigendem Heiratsalter im
Mittel immer jünger wird, allerdings bleibt der Partner bis weit ins hohe Er-
wachsenenalter hinein im Mittel etwas älter als die Frau. Ebenso wie für Männer
nimmt aber auch für Frauen die Bandbreite, in der sich der partnerschaft liche
Altersabstand zumeist bewegt, mit steigendem Heiratsalter zu.
Die Ergebnisse zur Veränderung der altersbezogenen Partnerwahl im Lebens-
lauf stimmen nur teilweise mit den Erwartungen überein (vgl. Tabelle  1). Eine
Tendenz zu einer jüngeren Partnerwahl (Hypothese 1) zeigt sich bei Männern
über den gesamten Lebenslauf, bei Frauen hingegen ist dieser Trend nur sehr
schwach ausgeprägt. Die Ergebnisse bestätigen eine beträchtliche Ausweitung
des Altersranges im mittleren Erwachsenenalter (Hypothese 2), geben aber keine
Hinweise darauf, dass sich die Altersabstände nach einiger Zeit wieder verrin-
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 213

gern, weil sich die Lebensumstände im höheren Erwachsenenalter wieder schnel-


ler verändern (Hypothese 3).
Die Vergrößerung der Spannbreite der Altersabstände im mittleren Erwach-
senenalter lässt sich mit der Verengung des Partnermarkts und mit der breiteren
Lebensphase im mittleren Lebensalter erklären, die einerseits zu altersheteroga-
meren Kontaktgelegenheiten und andererseits zu ähnlichen Interessen auch im
Falle von größeren Altersunterschieden führt. Die im Lebenslauf zunehmende
Tendenz zu einer jüngeren Partnerin besonders bei Männern lässt sich sowohl mit
dem Wunsch nach einer attraktiven Partnerin erklären als auch mit der Verschie-
bung der Gelegenheiten zugunsten jüngerer Partner. Es stellt sich allerdings die
Frage, welches Gewicht Präferenzen versus Gelegenheiten hierbei zukommt und
warum die Tendenz zu jüngeren Partnern bei Frauen schwächer ausfällt. Mög-
licherweise sind ein bei Frauen stärker ausgeprägter Wunsch nach einem Partner
mit hohem Status und ein bei Männern stärkerer Wunsch nach Jugendlichkeit
verantwortlich. Im Einklang mit dieser Vermutung kamen vorliegende Studien
wiederholt zudem Ergebnis, dass Frauen bei der Partnerwahl größeren Wert auf
den sozioökonomischen Status von Männern legen als umgekehrt (Borkenau
1993; Buss 1989; Feingold 1992; Franzen und Hartmann 2001; Skopek et al. 2009).
Abbildung 3 beleuchtet die geschlechtsspezifischen Präferenzen der alters-
bezogenen Partnerwahl. Datengrundlage ist der im Jahr 2009 erhobene und für
Deutschland repräsentative Partnermarktsurvey (Klein et al. 2010). Die Abbil-
dung 3 informiert darüber, wie sich die Präferenzen über das Alter, das ein Part-
ner mindestens haben sollte, und das Alter, das ein Partner höchstens haben darf,
für Frauen und Männer im Lebensverlauf ändern. Als Bezugsgröße dient dabei
das eigene Alter, so dass die abgebildeten Werte über die minimal und über die
maximal akzeptable Altersdifferenz informieren.
214 Thomas Klein & Ingmar Rapp

Abbildung 3 Mindestaltersabstand und höchster Altersabstand, den eine Person haben


darf, um als Partner in Frage zu kommen, nach Alter und Geschlecht
(Medianwerte, gleitender 5-Jahres-Durchschnitt)*

Quelle: Partnermarktsurvey 2009, eigene Berechnung.

*) Die abgebildeten Werte basieren auf den beiden Fragen: „Bitte geben Sie mir zunächst
das Alter an, das [ein/ eine] <Partner/ Partnerin> mindestens haben sollte, damit Sie sich
eine Beziehung mit dieser Person vorstellen könnten?“ sowie „Und welches Alter sollte
[ein/ eine] <Partner/ Partnerin> höchstens haben, damit Sie sich eine Beziehung mit dieser
Person vorstellen könnten?“, jeweils verrechnet mit dem eigenen Alter. Datengrundlage
sind 736 Männer und 1.119 Frauen.

Aus Abbildung 3 geht hervor, dass die altersbezogenen Partnerwahlpräferenzen


von Frauen über die gesamte im Partnermarktsurvey erfasste Altersspanne von
18 bis 55 Jahren recht stabil sind. Im frühen Erwachsenenalter soll ein Partner im
Mittel der Befragten nicht mehr als sechs bis sieben Jahre älter und nicht jünger
sein. Mit steigendem Alter nimmt die Spannbreite akzeptabler Altersabstände für
Frauen in beide Richtungen ein wenig zu, und ab einem Altersbereich Ende 20
beginnen Frauen auch einen Partner der etwas jünger ist als sie selbst in Betracht
zu ziehen. Insgesamt bleiben die Alterspräferenzen von Frauen jedoch über die
gesamte hier betrachtete Altersspanne recht stabil. Bei Männern hängen die ak-
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 215

zeptablen Altersabstände hingegen stärker vom eigenen Alter ab. Während Män-
ner mit Anfang 20 eine Partnerin präferieren, die höchstens zwei bis drei Jahre
älter oder jünger ist, reicht die akzeptable Spanne mit Anfang 50 von einer in
etwa gleichaltrigen bis zu einer 15 Jahre jüngeren Partnerin. Mit steigendem Alter
präferieren Männer also zunehmend jüngere Partnerinnen.

4 Ergebnisse II: Einflüsse des Altersabstands


auf die Beziehungsstabilität im Lebenslauf

Frühere Untersuchungen zum Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungs-


stabilität finden entweder keinen Zusammenhang oder zeigen, dass größere Al-
tersunterschiede das Trennungsrisiko erhöhen (zum Überblick Arránz Becker
2008, S. 67f.; Rapp 2013, S. 60). Ursache für inkonsistente Ergebnisse sind mög-
licherweise zu geringe Fallzahlen, denn auf der Grundlage der Zusammenfassung
mehrerer Stichproben (dem Generations and Gender Survey, der Lebensverlaufs-
studie, der Mannheimer Scheidungsstudie und dem Sozioökonomischen Panel)
zeigt sich für Altersabstände in beide Richtungen ein eindeutig höheres Tren-
nungsrisiko als für altershomogame Ehen (Rapp 2013).
Die folgenden Ergebnisse beruhen auf der von Rapp (2013) kumulierten und
harmonisierten Datenbasis und beleuchten für westdeutsche Ehen, wie sich der
Einfluss des Altersabstands auf die Beziehungsstabilität im Lebensverlauf ändert.4
Zur besseren Übersichtlichkeit sind die Ergebnisse in den Abbildungen 4a-d und
5a-c grafisch dargestellt. Die Grafi ken beziehen sich jeweils auf den Zusammen-
hang zwischen Altersabstand und Trennungsrisiko in einem bestimmten Alters-
bereich. Dargestellt sind jeweils relative Trennungsrisiken; Vergleichsmaßstab
sind jene Ehen, bei denen die Partner gleich alt oder höchstens ein Jahr unter-
schiedlich alt sind. Ein Wert von 1 bedeutet, dass das Trennungsrisiko genau so
groß ist wie in der Vergleichsgruppe der Ehen mit etwa gleich alten Partnern.
Kleinere Werte als 1 weisen auf ein niedrigeres Trennungsrisiko hin, größere
Werte als 1 auf ein höheres Trennungsrisiko. Die Regressionstabellen, die den fol-
genden Abbildungen zugrunde liegen, sind im Anhang numerisch nachzulesen.

4 Zu diesem Zweck wurden ereignisanalytische Regressionsmodelle geschätzt, die Inter-


aktionseffekte zwischen dem Altersabstand und dem Lebensalter berücksichtigen. Als
Kontrollvariablen sind in allen Modellen die Ehedauer, das Heiratsjahr und das Hei-
ratsalter berücksichtigt, sowie ob es sich um eine erste Ehe oder um eine Folgeehe von
mindestens einem der Partner handelt.
216 Thomas Klein & Ingmar Rapp

Abbildung 4a-d Relatives Trennungsrisiko von Ehen nach dem Altersabstand zwischen
den Ehepartnern

Quelle: Kumulierte Daten aus dem GGS, der Lebensverlaufsstudie, der Mannheimer
Scheidungsstudie und dem SOEP (vgl. Rapp 2013), eigene Berechnung auf Basis der Re-
gressionskoeffi zienten aus Tabelle 3 im Anhang, wo auch die Signifi kanz der Effekte aus-
gewiesen ist.

Abbildung 4a informiert zunächst darüber, wie sich Altersunterschiede zwischen


den Ehepartnern auf das Trennungsrisiko auswirken, solange die Frau jünger
als dreißig Jahre alt ist. In diesem Altersbereich weisen Ehen, bei denen die Frau
mehr als vier Jahre älter ist als der Mann, ein mehr als zweieinhalb mal so ho-
hes Trennungsrisiko auf wie Ehen von gleichaltrigen Partnern. Ist der Mann fünf
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 217

bis sieben Jahre älter als die Frau, zeigt sich noch kein erhöhtes Trennungsrisiko,
deutlich erhöhte Trennungsrisiken zeigen sich aber für Ehen, bei denen der Mann
acht bis zehn Jahre oder sogar mehr als zehn Jahre älter ist als die Frau, in diesen
Fällen ist das Trennungsrisiko knapp eineinhalb mal bzw. etwas mehr als doppelt
so hoch wie bei altershomogamen Ehen. Auch bei den 30- bis 39-jährigen Frauen
gehen größere Altersabstände mit einem erhöhten Trennungsrisiko einher, aber
der Einfluss des Altersabstands (das relative Risiko) fällt geringer aus (siehe Abbil-
dung 4b). Ist die Frau 40 bis 49 Jahre alt, gehen Altersunterschiede zwischen den
Partnern hingegen nicht mehr mit einem signifi kant höheren Trennungsrisiko
einher (siehe Abbildung 4c). Dasselbe gilt für Ehen, bei denen die Frau 50 Jahre
alt oder älter ist. Bei diesen Ehen ist das Trennungsrisiko sogar tendenziell am
niedrigsten, wenn der Mann deutlich älter ist als die Frau (siehe Abbildung 4d).
Der destabilisierende Effekt von Altersunterschieden in jungen Jahren steht
mit der Hypothese in Einklang, wonach aus der Einbindung der Partner in unter-
schiedliche Lebensphasen eine geringere Übereinstimmung von Werten und
Interessen resultiert, weil zum Beispiel ein Partner noch in Ausbildung und der
andere Partner bereits erwerbstätig ist. Im Einklang mit den eingangs formulier-
ten Hypothesen nimmt der Einfluss des Altersabstands auf das Trennungsrisi-
ko im mittleren Lebensalter ab, wenn breitere Lebensphasen auch im Falle von
Altersunterschieden zu ähnlichen Lebenslagen führen (Hypothese 4) bzw. wenn
sich die Alternativen der Partner auch bei größeren Altersabständen immer we-
niger unterscheiden (Hypothese 5). Interessanterweise gewinnt der Altersabstand
jedoch nach dem mittleren Erwachsenenalter, wenn sich die alterstypischen Le-
bensumstände im späteren Lebenslauf wieder schneller verändern, nicht wieder
an Bedeutung für die Beziehungsstabilität (Hypothese 4).
In Bezug auf den abnehmenden Einfluss des Altersabstands auf das Tren-
nungsrisiko im Lebenslauf stellt sich allerdings die Frage, inwieweit nicht das
Lebensalter, sondern die mit dem Lebensalter steigende Beziehungsdauer und
damit einhergehende Anpassungs- und Selektionsprozesse ausschlaggebend sind
(Hypothese 6). Um dieser Frage nachzugehen, beziehen sich die Abbildungen
5a-c, im Unterschied zu den Abbildungen 4a-d, nur auf die ersten zehn Ehejah-
re. Veränderungen des Zusammenhangs zwischen dem Altersabstand und dem
Trennungsrisiko können somit nur noch sehr eingeschränkt darauf beruhen,
dass spätere Lebensabschnitte mit längeren Ehedauern korrespondieren.
218 Thomas Klein & Ingmar Rapp

Abbildung 5a-c Relatives Trennungsrisiko von Ehen, die nicht länger als 10 Jahre andau-
ern, nach dem Altersabstand zwischen den Ehepartnern.

Quelle: Kumulierte Daten aus dem GGS, der Lebensverlaufsstudie, der Mannheimer
Scheidungsstudie und dem SOEP (vgl. Rapp 2013), eigene Berechnung auf Basis der Re-
gressionskoeffizienten aus Tabelle 4 im Anhang.

Die Abbildungen 5a-c zeigen, dass der Einfluss des Altersabstands auf die Ehesta-
bilität im Lebensverlauf auch dann abnimmt, wenn die Betrachtung auf die ersten
zehn Ehejahre beschränkt ist. Dies bedeutet, dass der nachlassende Einfluss des
Altersabstands auf die Beziehungsstabilität im Lebenslauf tatsächlich an das stei-
gende Lebensalter geknüpft ist (Hypothesen 4 und 5) und nicht nur auf steigende
Beziehungsdauern zurückzuführen ist (Hypothese 6).
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 219

5 Ausblick

Der vorliegende Beitrag zeigt, dass sich sowohl die altersbezogene Partnerwahl
als auch die Bedeutung des Altersabstands für die Beziehungsstabilität im Le-
benslauf verändern. Im mittleren Erwachsenenalter nimmt die Spannbreite der
Altersabstände deutlich zu und der Einfluss des Altersabstands auf die Bezie-
hungsstabilität verschwindet.
Bei der Erklärung dieser Entwicklungen spielt möglicherweise die Altershe-
terogenität von Lebensphasen eine zentrale Rolle. Sowohl die zunehmende Al-
tersheterogenität von Paarbeziehungen als auch die nachlassende Bedeutung des
Altersabstands für die Beziehungsstabilität werden nachvollziehbar, wenn man
sich vor Augen führt, mit welchem Tempo sich die alterstypischen Lebensum-
stände im Lebenslauf verändern. Während Lebensphasen und Lebensumstände
im jungen Erwachsenenalter häufig wechseln und Statusübergänge dicht auf dicht
folgen, existiert im mittleren Erwachsenenalter ein breiter Altersbereich, in dem
sich die Lebensumstände nur graduell verändern. Auch über größere Altersunter-
schiede hinweg bestehen dadurch ähnliche Interessen, und auch größere Alters-
unterschiede stehen deshalb weder dem Beginn noch der Aufrechterhaltung einer
Paarbeziehung im Wege. Die breitere Lebensphase im mittleren Erwachsenen-
alter führt außerdem dazu, dass die Handlungskontexte altersheterogamer sind
als in jungen Jahren, und begünstigt auch auf diesem Wege die zunehmende Al-
tersheterogenität von Paarbeziehungen.
Sofern die Bedeutung des Altersabstands bei der Partnerwahl und bei der Be-
ziehungsstabilität mit ähnlichen Lebensumständen zusammenhängt, kann man
vermuten, dass der Übergang in das höhere Erwachsenenalter und die damit ein-
hergehenden Veränderungen der Lebensumstände den relevanten Altersabstand
bei der Partnersuche erneut einschränken und den Einfluss des Altersabstands
auf die Beziehungsstabilität wieder vergrößern. Die vorliegende Untersuchung
gibt zwar hierauf keine Hinweise, was aber die Bedeutung der Altersheterogeni-
tät von Lebensphasen für die Partnerwahl und für die Beziehungsstabilität nicht
generell in Frage stellt. Denn eventuell ist nur die Annahme einer verringerten
Altersheterogenität im höheren Alter unzutreffend. Wünschenswert wären daher
weitere Untersuchungen, die näher beleuchten, wie sich die Altersheterogenität
der Handlungskontexte über den gesamten Lebenslauf hinweg verändert.
220 Thomas Klein & Ingmar Rapp

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Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 221

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222 Thomas Klein & Ingmar Rapp

Anhang
Tabelle 3 Effekte der Altershomogamie und weitere Determinanten des Trennungsrisi-
kos von westdeutschen Ehen (relative Risiken, generalisiertes Sichel-Modell)
Die altersbezogene Partnerwahl im Lebenslauf 223

Tabelle 4 Effekte der Altershomogamie und weitere Determinanten des Trennungs-


risikos von westdeutschen Ehen, die nicht länger als 10 Jahre andauern (relative
Risiken, generalisiertes Sichel-Modell)
Bildungsspezifisches Sozialkapital
in einheimischen, türkischen und viet-
namesischen Familien in Deutschland1

Bernhard Nauck & Vivian Lotter

1 Einleitung

Sieht man von Diskriminierung im Bildungs- und Beschäftigungssystem als Er-


klärungsfaktor für Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen in der interge-
nerationalen Statustransmission in Familien ab, rücken vor allem Unterschiede
in der elterlichen Ressourcenausstattung und deren bildungsbezogenen Inves-
titionsstrategien in den Mittelpunkt des soziologischen Erklärungsinteresses.
Nimmt man die Unterscheidung von ökonomischem, kulturellem und sozialem
Kapital zum Ausgangspunkt (Bourdieu 1983) und betrachtet sie als erschöpfend,
dann richten sich Erklärungsversuche insbesondere auf systematische Unter-
schiede zwischen ethnischen Gruppen in der Ausstattung von Familien mit die-
sen drei Kapitalien, in der Interdependenz dieser Kapitalien und deren interge-
nerationale Transmission. Der Transfer dieser Kapitalien auf die Folgegeneration
ist der wichtigste Mechanismus der Statusübertragung und intergenerationaler
Mobilität in Familien.

1 Der Beitrag entstammt dem Forschungsprojekt „Warum sind unterschiedliche Her-


kunftsgruppen unterschiedlich bildungserfolgreich? Zum Zusammenspiel zwischen
sozialem und kulturellem Kapital im Bildungsverhalten von Migrantenfamilien“, das
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird (P.I.s Bernhard
Nauck, Technische Universität Chemnitz, und Ingrid Gogolin, Universität Hamburg)

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
226 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

Aus Bourdieus Konzeption von Kapitalien ergibt sich weiterhin, dass es sich um
Investitionen handelt, aus denen Renditen erzielt werden, die sich entweder auf
die gleichen oder andere Kapitalien beziehen, d.h. sie sind - durch zusätzliche In-
vestitionen und unter Inkaufnahme von Opportunitätskosten - ineinander trans-
ferierbar. Gewinne im Bereich einer Kapitalart sind somit immer mit Kosten im
Bereich anderer Kapitalarten verbunden. „Die Tatsache der gegenseitigen Kon-
vertierbarkeit der verschiedenen Kapitalarten ist der Ausgangspunkt für Strate-
gien, die die Reproduktion des Kapitals (und der Position im sozialen Raum) mit
Hilfe möglichst geringer Kapitalumwandlungskosten (Umwandlungsarbeit und
inhärente Umwandlungsverluste) erreichen möchten“ (Bourdieu 1983, S. 197).
Nimmt man dieses Postulat der Konvertierbarkeit von Kapitalien zum Aus-
gangspunkt, dann sind Zuwanderungsminoritäten insofern ein interessanter
Spezialfall (Diefenbach und Nauck 1997; Nauck 2011), als sich die Synchronität
der Ausstattung mit Kapitalien durch die Migration verändert. Während in der
stationären Bevölkerung wegen der Konvertierbarkeit von einem recht hohen Zu-
sammenhang in der Ausstattung mit kulturellem, sozialem und ökonomischen
Kapital ausgegangen werden kann, ist dies bei Migranten keineswegs der Fall:
Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt müssen nicht der Qualifizierung im Bil-
dungssystem entsprechen und soziales Kapital wird durch Migration und den
damit verbundenen Wechsel des sozialen Kontext in erheblichem Umfang ver-
nichtet. Für Coleman z.B. ist geographische Mobilität der ,klassische‘ Fall der
Unterbrechung außerfamiliärer Netzwerke: „For families that have moved often,
the social relations that constitute social capital are broken at each move“ (Cole-
man 1988, S. 113).
In der Migrationsforschung haben die drei Kapitalien mit sehr unterschied-
lichen Schwerpunkten Eingang gefunden. Während bezüglich des kulturellen
und ökonomischen Kapitals vor allem die Konsequenzen der Migration für Bil-
dungserfolg und Bildungsrenditen auf dem Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen
(Granato und Kalter 2001), ist Sozialkapital vor allem als Ursache von Wande-
rungsprozessen (Kalter 2011; Palloni et al. 2001) thematisiert worden (Völker et
al. 2008, S. 326): Bereits vorhandene Sozialbeziehungen zu Migranten begünsti-
gen Kettenmigration von Verwandtschaftsmitgliedern (Haug 2000) ebenso wie
Heiratsmigration (Baykara-Krumme und Fuß 2009), da diese die Kosten der In-
formationsbeschaff ung ebenso verringern wie die Transaktionskosten der Migra-
tion (MacDonald und MacDonald 1964, S. 82). Aus solchen Kettenwanderungen
resultieren dann räumliche Konzentrationen von Verwandtschaftsnetzwerken
und ethnischen Gemeinschaften am Zielort, die wiederum für das Entstehen von
ethnischem Sozialkapital von Bedeutung sind (Haug 2007, S. 90).
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 227

Vergleichende sozialwissenschaft liche Analysen über die Komposition von


sozialen Netzwerken und die Verteilung von Sozialkapital in einheimischen
und Migrantenfamilien verschiedener ethnischer Zugehörigkeit in Deutsch-
land liegen bislang nicht vor. Einige Anhaltspunkte geben Analysen von Haug
(2003, 2004, 2007), in denen die Größe und ethnische Komposition von sozialen
Netzwerken bei jungen Erwachsenen (bis 30 Jahre) italienischer, türkischer und
deutscher Herkunft miteinander verglichen und die jeweilige „Netzwerkgröße“
umstandslos mit „sozialem Kapital“ gleichgesetzt wird. In einer Analyse mit aus-
schließlich türkischen Müttern und Vätern verwenden Nauck und Kohlmann
(1998) einen Netzwerkgenerator, um die Netzwerkkomposition im Hinblick auf
ethnische und verwandtschaft liche Zugehörigkeit zu analysieren. Nauck et al.
(1997) analysieren anhand desselben Datensatzes den Zusammenhang zwischen
der Netzwerkkomposition der Eltern und ihren jugendlichen Kindern und wie
dies sich auf deren Eingliederungsprozess auswirkt. Diese Fragestellung ist in ver-
gleichenden Analysen zu Eltern-Kind-Dyaden aufgegriffen worden, in die auch
italienische, griechische Migrantenfamilien, sowie Aussiedler nach Deutschland
und Israel einbezogen wurden (Nauck 2001a, 2001b, 2009). Anhand von eigen-
und fremdethnischen Freundschaftsbeziehungen untersucht Farwick (2009) de-
ren Effekte auf die Arbeitsplatz- und Wohnungssuche von türkischen Familien.
Diesen Analysen ist gemeinsam, dass sie sich vornehmlich auf die Proportio-
nen zwischen eigen- und fremdethnischer Netzwerkgröße und deren Effekt auf
Eingliederungsprozesse beziehen. Da diese Analysen in ihren Erklärungsan-
sätzen zwar mit „sozialem Kapital“ argumentieren und sich auf entsprechende
Theorien beziehen, jedoch kein direktes Maß für „soziales Kapital“ verwenden,
müssen sie sich auf entsprechend „starke“ Annahmen verlassen, dass „Netzwerk-
größe“ hierfür eine angemessene Proxy-Variable ist und entsprechend hoch mit
„Sozialkapital“ korreliert. Dass diese Annahme durchaus problematisch ist, er-
gibt sich aus der gemeinsamen Prämisse sowohl der Kulturtheorie von Bourdieu
(1983) als auch der Humankapitaltheorie von Coleman (1990): Soziale Beziehun-
gen sind nur insofern Sozialkapital, als sie instrumentelle Investitionsgüter für
Wohlfahrtsziele sind. Es geht also beim „kulturellen Kapital“ ebenso wenig um
Menge an Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen „an sich“ (wie es gern über den
„Bücherbesitz“ bestimmt wird), wie es beim „sozialen Kapital“ um die Größe von
Netzwerken oder die Menge an sozialen Beziehungen „an sich“ geht. Vielmehr in-
teressieren ausschließlich die relativen Vorteile, die spezifische Wissensbestände
oder spezifische soziale Zugänge im jeweiligen Handlungsfeld (z.B. im deutschen
Bildungssystem) erbringen (Nauck 2011, S. 76): So wird z.B. der kompetitive Vor-
teil der fließenden Beherrschung der aramäischen Sprache in den meisten beruf-
lichen Bewerbungssituationen in Deutschland nur auf ein sehr kleines Markt-
228 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

segment begrenzt sein, wohingegen das diesbezügliche Marktsegment für die


englische Sprache bedeutend größer sein wird, obwohl der Aufwand für die In-
korporation beider Sprachen wahrscheinlich gleich groß ist. Ebenso wird die Ver-
fügbarkeit der Migrantenfamilie über ein verzweigtes Verwandtschaftsnetzwerk
mit hoher Interaktionsdichte in der Herkunftsgesellschaft nicht unmittelbar dazu
beitragen, die Informationen für die Auswahl eines Kindergartens für das eigene
Kind in der Aufnahmegesellschaft zu optimieren, die zufällige Nachbarschaft zu
einer einzigen Erzieherin dagegen schon.
Die folgende Analyse soll dazu beitragen, die Forschungslücke über die Struk-
tur sozialer Netzwerke und die Verfügbarkeit in einheimischen und Migranten-
familien in Deutschland zu schließen. Die Analyse konzentriert sich dabei auf
einen Vergleich zwischen Familien türkischer und vietnamesischer Herkunft mit
deutschen Familien als Referenz. Die beiden Migrantenminoritäten sind ausge-
wählt worden, weil sie sich in Bezug auf zwei Merkmale deutlich voneinander
unterscheiden: Erstens bilden türkische Migranten die bei weitem größte Mig-
rantenminorität, der es aus diesen Gründen in vielen urbanen Ballungsgebieten
möglich ist, sich institutionell zu vervollständigen (Breton 1965) und ihren Mit-
gliedern damit Gelegenheitsstrukturen bietet, die Alltagsorganisation in eigen-
ethnischen Kontexten vorzunehmen (Friedrichs und Triemer 2009, S. 71ff.).
Vietnamesische Migranten finden solche Gelegenheitsstrukturen aufgrund der
geringen Bevölkerungsdichte dieser Minorität nicht vor. Während in Deutsch-
land 2012 mehr als 1.5 Millionen Personen türkischer Nationalität lebten, wa-
ren es zum gleichen Zeitpunkt lediglich 83 Tausend Vietnamesen (Statistisches
Bundesamt 2013a, S. 89ff.); weiterhin sind allein zwischen 2000 und 2012 556.321
Personen türkischer Herkunft in Deutschland eingebürgert worden, während es
bei den Vietnamesen im gleichen Zeitraum lediglich 25.552 Personen gewesen
sind (Statistisches Bundesamt 2005, S. 71, 2013c, S. 18ff.). Zweitens unterscheiden
sich beide Migrantenminoritäten erheblich in der Effektivität intergenerationaler
Bildungsinvestitionen. Während der Bildungserfolg von Jugendlichen türkischer
Herkunft deutlich hinter dem der deutschen Referenzpopulation zurück bleibt
(Diefenbach 2010, S. 54ff.), zeichnen sich vietnamesische Jugendliche durch einen
Bildungserfolg aus, der größer als der deutscher Jugendlicher ist (Walter 2011).
Während im Schuljahr 2012/13 29,6 Prozent der deutschen Schüler ein Gymna-
sium besuchten, waren es bei den türkischen Schülern 18,8 Prozent und bei den
vietnamesischen Schülern 62,4 Prozent (Statistisches Bundesamt 2013d, S. 238ff.).
Die Analyse konzentriert sich außerdem auf die sozialen Netzwerke und das
Sozialkapital von Müttern mit Kindern in verschiedenen Stadien der Bildungs-
karriere ihrer Kinder. Bei Müttern ist zu erwarten, dass zwei Faktoren von er-
heblicher Bedeutung für die Struktur ihrer Netzwerke und für die Reichweite
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 229

ihres sozialen Kapitals sind: Die mögliche Unterbrechung von Sozialbeziehun-


gen durch die Migration und durch die Beendigung oder Unterbrechung der Er-
werbstätigkeit. Dabei ist der Zusammenhang zwischen beiden Faktoren von be-
sonderem Interesse, d.h. in welchem Maße sich die Erwerbstätigkeit der Mütter
in beiden Migrantenminoritäten voneinander unterscheidet. Einen Hinweis auf
deutliche Unterschiede geben bevölkerungsstatistische Befunde, nach denen in
Deutschland 2012 unter Frauen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit im Alter
von 25 bis 45 Jahren 45,4 Prozent keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, wohingegen
der Anteil bei den Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit 18,1 Prozent beträgt
(Statistisches Bundesamt 2013b, S. 299ff.). Welche Konsequenzen dies für die Ver-
fügbarkeit von Netzwerken und die Reichweite des sozialen Kapitals hat, ist eine
bislang offene Forschungsfrage.
Entsprechend der Prämisse, das Sozialkapital ein Investivgut in spezifischen
Handlungsfeldern ist, werden vor allem die Netzwerkbeziehungen des Sozialkapi-
tals, von denen anzunehmen ist, dass sie für Investitionen in die Bildungskarrie-
re der Kinder besonders handlungswirksam sind, berücksichtigt. Dies geschieht
sowohl bei der Operationalisierung der Erhebungsinstrumente als auch bei der
anschließenden Diskussion der Befunde.

2 Mechanismen der Generierung von Sozialkapital

Die Generierung von Sozialkapital hängt einerseits von den jeweiligen Opportu-
nitätsstrukturen ab, d.h. den Gelegenheiten, solche Netzwerkbeziehungen aufzu-
bauen (Blau 1994), die für die Optimierung von Wohlfahrtszielen instrumentell
sind. Diese Gelegenheiten werden bestimmt durch die jeweilige Kontakthäufigkeit
mit Mitgliedern sozialer Gruppen (wie z.B. Angehörigen der Bevölkerungsmi-
norität und -mehrheit, verschiedenen Geschlechts und Alters, unterschiedlicher
Berufe) und der Zeitdauer, da soziales Kapital schneller verfällt als ökonomisches
und kulturelles Kapital und deshalb dauerhaft gepflegt werden muss. Anderer-
seits hängt die Generierung von Sozialkapital von den jeweiligen durch die Posi-
tion in der Sozialstruktur geprägten Strategien der Wohlfahrtsmaximierung ab.
Lin (2001, S. 20) benennt vier Mechanismen, durch die die in sozialen Netz-
werken eingebetteten Ressourcen die Handlungsresultate steigern: „information,
influence, social credentials, and reinforcement may explain why social capital
works in instrumental and expressive actions not accounted for by forms of perso-
nal capital such as economic or human capital“. Diese Mechanismen sind mit ty-
pischen Netzwerkeigenschaften verknüpft, die sich danach unterscheiden lassen,
ob sie primär der Ressourcensicherung (expressive actions) oder der Ressourcen-
230 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

erweiterung (instrumental actions) dienen (Baier und Nauck 2006, S. 56; Nauck
2011, S. 79). Die Unterscheidung von Granovetter (1973) in „strong ties“ und
„weak ties“ aufgreifend, macht Lin (2001, S. 75ff.) deutlich, dass die Effizienz von
engen Sozialbeziehungen in der sozialen Beeinflussung und Kontrolle (influence)
sowie in der Verhaltensbestätigung (reinforcement) liegt und der Ressourcen-
sicherung dienen, wohingegen schwache Sozialbeziehungen ihre Effizienz in der
Vermittlung nicht-redundanter Informationen (information) und (insbesondere
durch Inhaber von höheren Positionen in der Sozialstruktur) in der Vermittlung
von Reputation (credentials) liegen und der Ressourcenerweiterung dienen. Lin
(2001, S. 75) nimmt hierzu weiterhin an: „Maintaining resources is the primary
motivation for action; therefore, expressive action is the primary form of action“.
Aus der Kombination von Gelegenheitsstrukturen und Handlungsstrategien
lassen sich Annahmen über die Verteilung von Netzwerkstruktur und Sozialkapi-
tal auf Mütter türkischer, vietnamesischer und deutscher Herkunft ableiten:

• Aus der Konvertierbarkeit von Kapitalien folgt, dass mit der Höhe des kultu-
rellen Kapitals (Bildungsniveau) auch das soziale Kapital durch Kumulation
heterogener Sozialkontakte steigt (weak ties) und insbesondere der Zugang
zu Netzwerkmitgliedern mit hohem sozialem Status wahrscheinlicher wird.
Da die Bildung der Mütter zwischen den ethnischen Gruppen unterschiedlich
verteilt ist, sollte das Sozialkapital von deutschen Müttern deutlich höher sein
als das türkischer und vietnamesischer Mütter.
• Die Gelegenheit für heterogene Sozialkontakte (weak ties) ist für erwerbstätige
Mütter größer als für nichterwerbstätige Mütter (Völker und Flap 2007). Da
die Erwerbstätigkeit der Mütter sich in Art und Umfang deutlich voneinander
unterscheidet, sollte die Erwerbstätigkeit der Mütter positiv mit ihrem Sozial-
kapital kovariieren.
• Da die Generierung von Sozialkapital Zeit erfordert, steigt das Sozialkapital
mit der Länge der Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland bzw. am Aufenthalts-
ort (Völker et al. 2008, S. 332). Da die türkischen Mütter durchschnittlich be-
reits länger in Deutschland leben als vietnamesische Mütter, sollte ihr Sozial-
kapital höher sein als das vietnamesischer Mütter. In gleicher Weise sollte das
Sozialkapital mit dem Lebensalter der Mütter ansteigen.
• Da die Generierung von eigenethnischem Sozialkapital von den entspre-
chenden Gelegenheitsstrukturen abhängt, mit Mitgliedern dieser Gruppe in
Kontakt zu treten (Blau 1994; Völker et al. 2008, S. 330), sollte das eigeneth-
nische Sozialkapital der deutschen Mütter am größten sein. Wegen der weit
fortgeschrittenen Kettenmigration sollten auch türkische Mütter ausreichen-
de Gelegenheiten für die Etablierung eigenethnischer Netzwerke haben. Viet-
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 231

namesische Mütter haben dagegen sowohl die geringsten Gelegenheiten, als


auch die geringste Aufenthaltszeit, so dass bei ihnen einerseits das geringste
eigenethnische Kapital zu erwarten ist. Wegen der geringen Verfügbarkeit von
eigenethnischen Kontakten für vietnamesische Mütter führt dies entweder
dazu, dass größere Anreize zur Aufnahme von Kontakten mit Mitgliedern der
Aufnahmegesellschaft bestehen oder die Sozialkontakte insgesamt auf einem
sehr niedrigen Niveau verbleiben.
• Deutsche Mütter unterscheiden sich von türkischen und vietnamesischen
Müttern gleichermaßen hinsichtlich ihrer höheren Stellung in der Sozialstruk-
tur. Entsprechend ist zu erwarten, dass ihre Strategie der Netzwerkgenerie-
rung eher auf Ressourcenerweiterung ausgerichtet ist, wohingegen die Mütter
in Migrantenfamilien eher die Sicherung von Ressourcen anstreben. Deren
Netzwerkzusammensetzung wird deshalb zu größeren Anteilen starke, multi-
plexe Sozialbeziehungen aufweisen als die der statushöheren, einheimischen
Mütter.

Insgesamt ergibt sich damit eine deutliche Asymmetrie in der Struktur der Netz-
werkbeziehungen von einheimischen und Müttern mit Migrationshintergrund.
Während für die deutschen Mütter innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe alle
Möglichkeiten bestehen, sowohl „starke“ Beziehungen zur Verhaltensbestätigung
und zur wechselseitigen sozialen Kontrolle als auch „schwache“ Beziehungen zur
Ressourcenerweiterung durch Information und Reputation zu generieren, er-
geben sich für die Migrantenmütter strukturelle Nachteile aus einer Netzwerk-
Homophilie (Nauck 2011, S. 81). Einerseits ist in ihrer sozialstrukturellen Platzie-
rung die Sicherung von Ressourcen durch expressive Handlungen eine effiziente
Handlungsstrategie. Andererseits sind wegen des Migrationsstatus die Informa-
tionssuche und damit verbundene (ethnisch) heterogene Sozialkontakte eine Vo-
raussetzung für den Eingliederungsprozess und die schulische Platzierung der
Kinder, zumal credentials in aller Regel nur durch Mitglieder der Aufnahmege-
sellschaft zu erhalten sind. Damit wird für Migrantenfamilien closure in Netz-
werken zur Falle, die Coleman (1988; 1990) als positiven Effekt des Sozialkapitals
beschreibt. Er nimmt an, dass Individuen in dichten, multiplexen Netzwerken
mit größerer Wahrscheinlichkeit soziales Kapital akkumulieren als Individuen in
lockeren, monofunktionalen Netzwerken. Dies ist in multiplexen Netzwerken mit
geringerem Aufwand erreichbar, da soziales Kapital relativ instabil ist und durch
beständige Interaktionen stets erneuert und bekräft igt werden muss. Coleman
(1988) selbst hat aus diesen Annahmen unmittelbare Konsequenzen für die Bil-
dung von Humankapital bei Kindern gezogen: Je dichter die wechselseitige Bezie-
hung zwischen allen Eltern (in einer Schule) und je höher deren physische Präsenz
232 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

bei den Kindern, je höher die Investitionen in gemeinsam verbrachte Zeit sowie
gemeinsame Aktivitäten mit Kindern und je höher Hilfe und Kontrolle bei den
schulischen Aufgaben, desto wahrscheinlicher sei deren Bildungserfolg. „Closure
is present only when there is a relation between adults who themselves have a
relation to the child. The adults are able to observe the child’s actions in different
circumstances, talk to each other about the child, compare notes, and establish
norms. The closure of the network can provide the child with support and rewards
from additional adults that reinforce those received from the first and can bring
about norms and sanctions that could not be instituted by a single adult alone“
(Coleman 1990, S. 593).

3 Daten und Instrumente

Daten. Die folgenden empirischen Analysen basieren auf Daten, die im Projekt
„Herkunft und Bildungserfolg (HeBe)“ in einem 2 x 3 x 4 Design zwischen Herbst
2012 und Herbst 2013 erhoben worden sind, d.h. in zwei Aufnahmekontexten,
drei unterschiedliche Herkunftsnationalitäten der Mütter und vier Altersgruppen
der Kinder. Insgesamt stehen Daten von insgesamt 1523 Mutter-Kind-Dyaden
zur Verfügung.

• Die Stichprobe wurde in den beiden Bundesländern Sachsen (in den drei größ-
ten Städten Chemnitz, Dresden, Leipzig) und Hamburg gezogen, sodass der
Aufnahmekontext durch die unterschiedliche Zusammensetzung der Migran-
tenpopulation bestimmt ist. Die Gruppe der Vietnamesen ist in Sachsen mit
8,1 Prozent (in Hamburg 0,7 Prozent) und die Gruppe der Türken hingegen in
Hamburg mit 20,7 Prozent (in Sachsen 4,0 Prozent) die jeweils größte Zuwan-
derungsgruppe (Statistisches Bundesamt 2013a, S. 87ff.).
• Die Herkunftsnationalität der Mütter erstreckt sich auf drei Staatsangehörig-
keiten, d.h. es wurde insgesamt eine jeweils gleichgroße Gruppe von deut-
schen, vietnamesischen und türkischen Müttern berücksichtigt. Mit diesen
Nationalitäten sind unterschiedliche Merkmale verknüpft, die bei den Analy-
sen mit einbezogen werden, wie die unterschiedliche Herkunftskultur, der mit
unterschiedlichen Aufenthaltsdauern verbundene Aufenthaltsstatus, sowie die
unterschiedliche Verteilung von sozialstrukturellen Merkmalen. Vietnamesen
sind im Vergleich zu den Türken später zugewandert und sind als ehemalige
Vertragsarbeiter der DDR in ihrer Mehrzahl in Ostdeutschland angesiedelt.
Anders als die meisten anderen Zuwandererminoritäten sind sie zudem eine
visible minority und können damit ihrem Minoritätenstatus durch Verhal-
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 233

tensänderung nicht entgehen. Im Vergleich dazu haben Türken in Deutsch-


land durch die Initiierung ihrer Zuwanderung als Arbeitsmigranten vor 1973
höhere Anteile mit verstetigtem Aufenthaltsstatus und einen beträchtlichen
Anteil von Müttern, die bereits selbst in Deutschland geboren sind. Beiden
ethnischen Gruppen gemeinsam ist ihre hohe sozial-kulturelle Distanz zur
Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft und die Nicht-Mitgliedschaft ihrer
Herkunftsländer zur Europäischen Union.
• Die Altersgruppen der Kinder markieren vier bildungsspezifische Übergänge
im Deutschen Bildungssystem: der Übergang in den Kindergarten (zum Er-
hebungszeitpunkt: Geburtskohorte 2007-2008), der Übergang in die Grund-
schule (2005-2006) der Übergang in die Sekundarstufe I (2000-2002) und der
Übergang in die Sekundarstufe II bzw. in Berufsausbildung (1995-1998).

Die Bruttostichproben für alle drei Nationalitäten sind in beiden Bundesländern


als Registerstichproben der Einwohnermeldeämter gezogen worden. Bei der Zie-
hung wurde jeweils die Staatsbürgerschaft der Mutter und die Zugehörigkeit eines
Kindes zu einer Geburtskohorte berücksichtig. Vergleichbare empirische Daten
sind von 544 deutschen Familien, 508 vietnamesischen Familien und 471 tür-
kischen Familien verfügbar. Die Größe der ethnischen Gruppen in beiden Bun-
desländern wurde insofern im Stichprobendesign berücksichtigt, als Türken in
Hamburg und Vietnamesen in Sachsen in jeweils gleicher Stärke überrepräsen-
tiert sind. Dies war deshalb notwendig, weil der Stichprobenplan bei den jeweils
kleineren Zuwanderergruppen in der Nähe einer Totalerhebung liegt. Für die
Analysen wurden die geringfügigen Abweichungen vom Stichprobenplan, der
eine Gleichverteilung auf die vier Altersgruppen und zwischen den drei ethni-
schen Gruppen vorsieht, durch Gewichtung ausgeglichen.
Die Daten wurden mittels standardisierten Fragebögen über computergestütz-
te, persönliche Interviews (CAPI) mit der Mutter gewonnen. Die Mütter konnten
gegenüber den bilingualen Interviewern wählen, ob das Interview in deutscher
oder in der Herkunftssprache durchgeführt wird. Die Äquivalenz der bilingualen
Fragebögen wurde durch voneinander unabhängige Übersetzungen und Rück-
übersetzungen sichergestellt.
234 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

Instrumente. Für die Explananda Netzwerkstruktur und Sozialkapital stehen


zwei Instrumente zur Verfügung:

• Sozialkapital wird mit Hilfe eines Positionsgenerators erfasst (Lin und Dumin
1986; Lin et al. 2002; van der Gaag et al. 2008): Für 14 Berufspositionen mit
variierendem Berufsprestige wurden die Mütter gefragt, ob es in der Ver-
wandtschaft, im Freundes- oder Bekanntenkreis eine Person gibt, die diesen
Beruf ausübt. Die Hälfte der Berufe wurde so ausgewählt, dass sie einen Be-
zug zur Entwicklung und Bildung des Kindes haben. Anschließend wurde für
Genannte gefragt, ob es sich um einen Angehörigen der eigenen ethnischen
Gruppe handelt und wie häufig der Kontakt zu dieser Person ist. Den Berufs-
positionen wurde ein Prestigescore entsprechend der ISEI-Klassifi kation 2008
zugewiesen (Ganzeboom und Treiman 1996, 2003). Das maximale Sozialka-
pital wäre gegeben, wenn eine Mutter zu allen 14 Berufsprestige-Positionen
Kontakt hätte. Für jede Befragte wurde ihr Anteil am Maximalscore sowohl
für das Sozialkapital insgesamt als auch für das eigenethnische und das bil-
dungsbezogene Sozialkapital berechnet.
• Die egozentrierten Netzwerke der befragten Mütter wurden mit Hilfe einer
Kombination von Namens- und Ressourcengenerator erfasst (van der Gaag
und Snijders 2005; Hennig et al. 2012, S. 86ff.). Bis zu 10 Netzwerkmitglieder
wurden über 6 Fragen generiert, mit wem die Befragte Gedanken und Gefühle
teilt, gemeinsam etwas unternimmt, bei wem sie Rat in praktischen oder er-
zieherischen Fragen einholt, und wer bei der Kinderbetreuung und in schuli-
schen Angelegenheiten hilft. Anschließend wurden für die Genannten deren
verwandtschaft liche Stellung, emotionale und räumliche Distanz, Geschlecht
und ethnische Zugehörigkeit erhoben. Insgesamt wurden 6068 Mitglieder des
egozentrierten Netzwerks der Mütter generiert.

Während der Positionsgenerator vornehmlich die Reichweite der „weak ties“ der
Mütter erfasst, ist es über den Ressourcengenerator möglich, die Verfügbarkeit
von „strong ties“ und deren Struktur nach „closure“ und Multiplexität zu bestim-
men.

Als Prädiktoren wurden folgende Variablen in die Analyse einbezogen:

• Bezüglich des Migrationsstatus wurde unterschieden, ob die Mütter in Deutsch-


land geboren sind, vor Abschluss der allgemeinen Bildung mit 16 Jahren oder
danach (als Erwachsene) zugewandert sind. Keine der vietnamesischen Müt-
ter wurde in Deutschland geboren, 43 Prozent kamen als Erwachsene nach
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 235

Deutschland. Von den türkischen Müttern sind 11 Prozent in Deutschland ge-


boren, 37 Prozent sind als Erwachsene nach Deutschland gekommen. Auch bei
den deutschen Müttern finden sich 5 Prozent, die als Kinder und Jugendliche
und 2 Prozent, die als Erwachsene nach Deutschland gekommen sind.
• Deutliche Unterschiede ergeben sich ebenfalls hinsichtlich des Bildungs-
niveaus, das für die Abschlüsse im Herkunfts- und Aufnahmeland nach der
internationalen ISCED-Klassifi kation (UNESCO 2006) in fünf Stufen einge-
teilt wurde (Eta = .56). 1 Prozent der deutschen Mütter, 2 Prozent der viet-
namesischen Mütter, aber 9 Prozent der türkischen Mütter erreichte keinen
Schulabschluss. Einen Universitätsabschluss erlangten 35 Prozent der deut-
schen, 18 Prozent der vietnamesischen und 4 Prozent der türkischen Mütter.
Die Überrepräsentierung von akademischer Bildung gegenüber der Bevöl-
kerung in Deutschland ist wahrscheinlich darauf zurück zu führen, dass die
Registerstichproben ausschließlich in Universitätsstädten gezogen worden ist.
• Die Sprachkompetenz in der deutschen Sprache ist über ein differenziertes
Verfahren der Selbstauskunft erhoben worden. In den vier Sprachfertigkeiten
Verstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben wurden jeweils sechs nach ihrem
Schwierigkeitsgrad likert-skalierte Variablen verwendet, die von „einzelne
Wörter und Teile von Sätzen verstehen“ bis „klare, flüssige, stilistisch ange-
messene Berichte, Artikel und anspruchsvolle Briefe verfassen“ reichen und
somit auch für deutsche Mütter einsetzbar sind. Gleichwohl sind die Gruppen-
unterschiede deutlich (Eta = .73): Deutsche Mütter erreichten im Mittel einen
Score von 21,6, türkische Mütter einen Score von 13,5 und vietnamesische
Mütter einen Score von 11,1.
• Da Erwerbstätigkeit eine wichtige Quelle der Generierung von Sozialkontak-
ten ist, die über die engen privaten Beziehungen hinausreichen, wurde in die
Analysen einbezogen, ob die Mütter zum Befragungszeitpunkt einer bezahl-
ten Beschäftigung nachgingen. Dies war bei 78 Prozent der deutschen Mütter,
bei 74 Prozent der vietnamesischen, aber nur bei 37 Prozent der türkischen
Mütter der Fall (Eta = .56).
• Der Berufsstatus der Mütter wurde entsprechend der internationalen ISEI-
Klassifi kation 2008 zugewiesen (Ganzeboom und Treiman 1996, 2003). Wäh-
rend die deutschen Mütter im Mittel einen Score von 47,2 erreichten, lag dieser
bei den vietnamesischen Müttern bei 20,9 und bei den türkischen Müttern bei
17,8 (Eta = .61).
236 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

4 Deskriptive Ergebnisse zum Positions- und zum


kombinierten Namens- und Ressourcengenerator

Tabelle 1 zeigt die prozentuale Verteilung der von den Müttern genannten Berufs-
inhaber in den drei ethnischen Gruppen. Die Berufspositionen sind absteigend
nach ihrem Status entsprechend der ISEI-Klassifi kation geordnet.

Tabelle 1 Berufsinhaber in Familie, Freundschaft s- und Bekanntenkreis (Positionsgene-


rator) und Nationalität (in Prozent, n = 1.523)

Deutsch Türkisch Vietnamesisch Eta

Kinderarzt + 24,0a) 12,1 8,5c) .19***


a) b) c)
Anwalt 42,9 27,5 11,5 .29***

Psychologe + 31,3a) 10,0b) 3,7c) .33***


a) b) c)
Lehrer + 63,8 32,9 16,7 .40***

Journalist 27,3a) 11,0 8,8c) .23***

Gewerkschaftsvertreter 8,7 7,5 4,0 .08**


a) b) c)
Sporttrainer + 33,3 11,9 5,2 .32***

Priester 17,5 22,1b) 2,1c) .25***

Selbständiger Unternehmer 76,3a) 41,2b) 52,7c) .30***


a) c)
Sozialarbeiter + 41,5 20,8 18,3 .24***

Krankenpfleger 49,6 45,2b) 15,8c) .31***


a) b) c)
Erzieher + 52,9 31,7 9,6 .38***

Kfz-Mechaniker 36,0a) 23,1b) 14,6c) .20***

Florist 17,3a) 9,8b) 44,4c) .35***

Quelle: Eigene Darstellung

* p < .05; ** p < .01; *** p < .001; + bildungsbezogenes Sozialkapital; a) deutsch - türkisch
p < .001; b) türkisch - vietnamesisch p < .001; c) deutsch - vietnamesisch p < .001
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 237

Mit zwei Ausnahmen haben die deutschen Mütter jeweils höhere Anteile der je-
weiligen Berufsinhaber unter ihren Bekannten, Familien- und Verwandtschafts-
mitgliedern. Die Ausnahmen betreffen häufigere Nennungen eines Hoca bei den
türkischen Müttern, was auf die allgemein höhere Religiosität und religiöse Pra-
xis bei türkischen Migranten verweist (Diehl und König 2009). Floristen sind da-
gegen bei den vietnamesischen Müttern stark überrepräsentiert, was Ausdruck
der beruflichen Segmentation von Vietnamesen als selbständige Unternehmer
und self-employed im Verkauf von Blumen und Gemüse sowie in der Gastrono-
mie ist. Auch im Vergleich zwischen türkischen und vietnamesischen Müttern
gibt es hinsichtlich der Nennung von Berufspositionen klare Unterschiede zu-
gunsten höherer Nennungen bei den Türkinnen - mit Ausnahme der Nennungen
bei den Floristen und selbständigen Unternehmern - was auf die höheren Anteile
von abhängig Beschäft igten zurückzuführen ist. Insgesamt spiegeln sich darin die
längere Aufenthaltsdauer türkischer Mütter und die damit verbundene Gelegen-
heit zur Knüpfung von Kontakten wieder.
Auff ällig ist, dass die Unterschiede zwischen den einheimischen und zugewan-
derten Familien insbesondere bei den Berufsgruppen sehr stark sind, die einen
Bezug zur Erziehung und Bildung haben: Kinderärzte, Sozialarbeiter und Lehrer
werden mehr als doppelt so häufig von den deutschen Müttern genannt, Psycho-
logen und Sporttrainer sogar mehr als dreimal so häufig. Auch Erzieher werden
sehr unterschiedlich genannt: Während deutsche Mütter einen Erzieher zu über
der Hälfte zu ihren Freunden und Bekannten zählen, sind es bei den türkischen
Müttern kaum ein Drittel und bei den Vietnamesinnen unter 10 Prozent. Die-
se Befunde lassen eine deutliche Distanz der Migrantinnen zum deutschen Bil-
dungssystem erkennen.

Tabelle 2 Allgemeines und ethnisches Sozialkapital nach Nationalität (n = 1.523)

Deutsch Türkisch Vietnamesisch Eta

Allgemeines Sozialkapital .37a) .21b) .13c) .46***


a) b) c)
Ethnisches Sozialkapital .35 .17 .09 .53***

Bildungsbezogenes Kapital .39a) .19b) .10c) .48***

Quelle: Eigene Darstellung

* p < .05; ** p < .01; *** p < .001; a) deutsch - türkisch p < .001; b) türkisch - vietnamesisch
p < .001; c) deutsch - vietnamesisch p < .001
238 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

Dieser Befund bestätigt sich tendenziell, wenn das allgemeine Sozialkapital mit
dem bildungsbezogenen Sozialkapital verglichen wird (Tabelle 2). Zunächst zeigt
sich, dass das Sozialkapital der deutschen Mütter (sie erreichen im Durchschnitt
37 Prozent des möglichen Höchstwertes) bedeutend höher als das der türkischen
Mütter (21 Prozent) ist, deren Wert wiederum deutlich über dem der vietname-
sischen Mütter (13 Prozent) liegt. Wie die Einzelanalyse in Tabelle 1 gezeigt hat,
ist dieser Befund vor allem dadurch zustande gekommen, dass die deutschen
Mütter in allen Berufsgruppen mehr Freunde und Bekannte haben, wohingegen
eine stärkere Konzentration auf statushohe Berufe nur eine untergeordnete Rolle
spielt. Im Hinblick auf bildungsbezogene Berufe zeigt sich allerdings, dass die
Unterschiede zwischen den einheimischen und den Migrantenmüttern noch grö-
ßer sind als beim allgemeinen Sozialkapital.
Aufgrund der Gelegenheitsstrukturen ist es nicht unerwartet, dass für die
deutschen Mütter die Berufspositions-Inhaber zu 95 Prozent ebenfalls Deutsche
sind. Auch bei den türkischen Müttern sind 81 Prozent der Kontakte innerhalb
der eigenen ethnischen Gruppe, was (neben deren Präferenzen für eigenethni-
sche Kontakte) auf einen hohen Grad der Vervollständigung der türkischen Com-
munity schließen lässt. Bei den vietnamesischen Müttern sind dagegen nur 69
Prozent der Berufspositions-Inhaber ebenfalls Vietnamesen, d.h. aufgrund der
Gelegenheitsstrukturen sind einerseits die Kontakte der vietnamesischen Mütter
insgesamt geringer und andererseits sind unter den wenigen häufiger Kontakte zu
Einheimischen.
In Tabelle 3 sind die Unterschiede zwischen den drei ethnischen Gruppen
hinsichtlich der genannten Netzwerkmitglieder im kombinierten Namens- und
Ressourcengenerator zusammengestellt. Zunächst werden die prozentualen Nen-
nungen eines Netzwerkmitglieds bei den sechs Namensgeneratoren berichtet.
Diese Befunde werden ergänzt durch die durchschnittliche Anzahl von Genann-
ten und durch die relative Multiplexität der Netzwerkbeziehung. Die Multiplexi-
tät ist maximal, wenn dasselbe Netzwerkmitglied bei allen sechs Namensgenera-
toren genannt wird, d.h. das mit denselben Personen alle erfragten Aktivitäten
ausgeführt werden. In der unteren Tabellenhälfte wird zudem die Verteilung der
Netzwerkmitglieder bezüglich ausgewählter Deskriptoren berichtet.
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 239

Tabelle 3 Soziale Ressourcen nach Nationalität (in Prozent, n = 6.068)

Deutsch Türkisch Vietnamesisch Eta

Namensgeneratoren

Sprechen über Gefühle 17,5a) 24,1b) 31,7c) .13***

Rat in praktischen Dingen 17,0a) 22,0b) 29,4c) .12***


a) c)
Unternehmungen 17,4 24,4 23,9 .08***

Erziehungsschwierigkeiten 17,0a) 22,0b) 29,4c) .12***

Hilfe bei Kinderbetreuung 16,7a) 22,6b) 30,1c) .13***


a) b) c)
schul. Angelegenheiten 12,4 19,8 28,2 .16***

Anzahl Genannter 5,5a) 3,7b) 2,6c) .56***

Multiplexität 16,3a) 22,5b) 28,9c) .20***

Deskriptoren

Familienmitglied 39,5a) 44,5b) 51,4c) .11***


a) c)
Nicht verwandt 50,1 39,8 38,1

lebt im Haushalt 16,6a) 26,0 29,0c) .14***

lebt im Ausland 6,1a) 9,1b) 15,7c)

Weiblich 64,7a) 69,7b) 58,9c) .08***

eigene Ethnizität 87,7 87,5b) 82,9c) .06***

sehr enge Beziehung 43,9a) 71,0b) 51,1c) .23***

n (2993) (1755) (1320)

Quelle: Eigene Darstellung

* p < .05; ** p < .01; *** p < .001; a) deutsch - türkisch p < .001; b) türkisch - vietnamesisch
wp < .001; c) deutsch - vietnamesisch p < .001

Bei den Namensgeneratoren zeigen die drei ethnischen Gruppen jeweils ein in
sich ausgeglichene Verteilung auf die einzelnen Generatoren. Auff ällig ist allen-
falls, dass die deutschen Mütter bei der „Hilfe in schulischen Angelegenheiten“
deutlich weniger Nennungen haben als bei den übrigen Generatoren, was auf ge-
240 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

ringen Bedarf schließen lässt. Bei den vietnamesischen Müttern gibt es weniger
Nennungen für informelle Kontakte und Unternehmungen, was möglicherweise
mit deren häufiger Involviertheit in Familienunternehmen zusammenhängt und
auf geringe disponible Zeit schließen lässt. Die drei ethnischen Gruppen unter-
scheiden sich jedoch deutlich hinsichtlich der Anzahl der Genannten: Die deut-
schen Mütter nennen durchschnittlich 5,5 Personen im Namensgenerator, die
türkischen Mütter 3,7 und die vietnamesischen Mütter lediglich 2,6, was jedoch
durch die Anzahl der Aktivitäten mit diesen Personen kompensiert wird. D.h. bei
den vietnamesischen Müttern ist die Multiplexität der Netzwerkbeziehungen am
stärksten ausgeprägt (29 Prozent der maximal möglichen Multiplexität, die dann
erreicht wird, wenn dieselbe Person bei allen sechs Generatoren genannt wird),
gefolgt von den türkischen Müttern mit 23 Prozent, wohingegen die Multiplexität
bei den deutschen Müttern am geringsten ist.
Ergänzt wird dieser Befund durch die Charakteristika der genannten Perso-
nen: Bei den vietnamesischen Müttern sind 51 Prozent der Genannten Mitglieder
der eigenen Herkunfts- und Kernfamilie (d.h. Partner, eigene Kinder, Geschwis-
ter und Eltern), während nur 38 Prozent der Genannten mit der Befragten nicht
verwandt sind (die übrigen - nicht dargestellten - Genannten sind Verwandte der
Befragten). Bei den deutschen Müttern ist die Relation genau umgekehrt mit 50
Prozent Nicht-Verwandten und 40 Prozent (Kern-)Familienmitgliedern. Weiter-
hin leben bei den vietnamesischen Müttern die Genannten am häufigsten im
selben Haushalt (29 Prozent) oder im Ausland (16 Prozent), bei den deutschen
Müttern jeweils am seltensten (17 bzw. 6 Prozent).
Damit sind bei den „starken“ Sozialbeziehungen die vietnamesischen Mütter
am stärksten auf die zahlenmäßig begrenzten Ressourcen angewiesen, die inner-
halb der eigenen Familie generiert werden, wohingegen außerfamiliäre Ressour-
cen am wenigsten in Anspruch genommen werden oder zur Verfügung stehen.
Bei den deutschen Müttern ist die Situation insofern umgekehrt, als ihre sozialen
Ressourcen zahlenmäßig am größten sind, sich die Ressourcen auf unterschiedli-
che Personen stärker verteilen und nichtverwandte Personen hierbei eine größere
Bedeutung haben.
Die türkischen Mütter nehmen sowohl hinsichtlich der Anzahl der Genann-
ten und der Netzwerkmultiplexität, als auch in den Anteilen der Nennung von
Familien- und Haushaltsmitgliedern eine Mittelstellung ein. Charakteristisch
für ihre Sozialbeziehungen ist zusätzlich, dass die Nennungen Angehöriger der
eigenen Ethnie fast genauso hoch sind wie die der deutschen Mütter (trotz unter-
schiedlicher Gelegenheitsstruktur), und der Anteil von Frauen (70 Prozent) und
zu Personen mit enger emotionaler Bindung (71 Prozent) am größten ist. In die-
ser Hinsicht unterscheiden sie sich deutlich von den vietnamesischen Müttern,
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 241

bei denen der Anteil von Frauen (wegen der Konzentration auf die Familie) und
von Mitglieder der eigenen Ethnie (wegen der hierfür ungünstigen Gelegenheits-
struktur) am geringsten ist. Diese Unterschiede zwischen den Müttern aus den
beiden Migrantenminoritäten lassen die Konsequenzen der unterschiedlichen
Gelegenheitsstrukturen erkennen: Die vietnamesischen Mütter sind einerseits
stärker darauf angewiesen, innerfamiliäre Ressourcen zu mobilisieren und ande-
rerseits Kontakte zu Personen außerhalb der eigenen Verwandtschaft mit weniger
emotional geprägten Beziehungen aufzubauen. Zugleich weisen sie einen höheren
Anteil von Genannten im Herkunftsland auf als die türkischen Mütter, für die die
verwandtschaft liche Kettenmigration weitgehend abgeschlossen ist.

5 Multivariate Ergebnisse

Der Erwerb von Sozialkapital hängt einerseits von den Gelegenheitsstrukturen ab,
die sowohl nach ethnischer Zugehörigkeit als auch nach der hierfür verfügbaren
Zeit, die durch die Länge des Aufenthalts begrenzt wird, unterschiedlich verteilt
sind. Andererseits hängt der Erwerb des Sozialkapitals von der jeweiligen Stellung
in der Sozialstruktur der Aufnahmegesellschaft ab, die wiederum nach Ethnie und
Wanderungszeitpunkt unterschiedlich verteilt ist. Um diese Zusammenhänge zu
prüfen, werden für die Analyse zwei Gruppen von Variablen unterschieden, von
denen Effekte auf die Verfügbarkeit von allgemeinem (Modell 1 und 2 in Tabelle
4) und bildungsspezifischem (Modell 3 und 4) Sozialkapital erwartet werden. Sie
werden nacheinander jeweils blockweise in die Regressionsanalyse aufgenommen.
Zunächst werden nur die Zugehörigkeit zur jeweiligen ethnischen Gruppe,
der Migrantenstatus und der Aufnahmekontext sowie Wechselwirkungen zwi-
schen Ethnie und Aufnahmekontext berücksichtigt (Modelle 1 und 3). Bei den
ethnischen Gruppen dienen die deutschen Mütter als Referenz, mit denen die
Türkinnen und Vietnamesinnen verglichen werden. Beim Migrationsstatus
werden Mütter, die in Deutschland geboren wurden (Einheimische und „Zweite
Generation“), von solchen unterschieden, die im Ausland geboren wurden und
nach ihrem Schulabschluss („Erste Generation“) bzw. vor dem Abschluss ihrer
Bildungskarriere im Ausland („1,5 Generation“) nach Deutschland migriert sind.
Der Vermeidung von Multikollinearität kommt hierbei entgegen, dass auch unter
den deutschen Müttern Zuwanderinnen gewesen sind. Interaktionseffekte zwi-
schen Aufnahmekontext und Ethnie wurden deshalb in die Analysen einbezogen,
weil Vietnamesinnen und Türkinnen in Sachsen und Hamburg sehr unterschied-
lich verteilt sind und deshalb sehr unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen für
den Erwerb von Sozialkapital vorfinden.
242 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

Anschließend wurden das Bildungsniveau, die Kompetenz in der Verkehrs-


sprache des Aufnahmelandes, die eigene Erwerbstätigkeit (zum Befragungszeit-
punkt) sowie der Berufsstatus des zuletzt ausgeübten Berufs aufgenommen (Mo-
delle 2 und 4). Hier kommt die gegebene Variabilität der Sprachkompetenz auch
bei den deutschen Frauen der Vermeidung von Multikollinearität entgegen. Die
schrittweise Berücksichtigung dieser Variablen dient einerseits der Prüfung, ob
etwaige Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen und dem Wanderungs-
status auf die damit verbundenen Verteilungsunterschiede im Bildungs- und Be-
rufsstatus zurück zu führen sind. Andererseits werden von der Stellung in der
Sozialstruktur eigenständige Effekte erwartet, die auf der Transferierbarkeit zwi-
schen sozialem, kulturellem (Bildung) und ökonomischem (Berufsstatus) Kapital
beruhen. Zusätzliche (nicht berichtete) Analysen unter Kontrolle des Alters der
Kinder und der Wanderungs-, Bildungs- und Berufscharakteristika des Partners
der Mütter erbrachten keinen Gewinn an Varianzaufk lärung.

Tabelle 4 Allgemeines und bildungsspezifisches Sozialkapital von deutschen, türkischen


und vietnamesischen Müttern (Beta-Koeffi zienten)

Sozialkapital Allgemein Bildungsspezifisch


Modell (1) (2) (3) (4)
Türkische Mütter1) -.30*** -.07 -.34*** -.11*
Vietnamesische Mütter1) -.49*** -.35*** -.50*** -.36***
2)
Migration bis zum Alter16 -.19*** -.04 -.15*** -.01
Migration nach dem Alter 162) -.09* .03 -.06 .05
3)
Aufnahmekontext Sachsen -.16*** -.14*** -.10** -.08*
Türkisch x Sachsen .07* .08** .07* .08**
Vietnamesisch x Sachsen .18*** .12* .10 .04
Bildungsniveau .22*** .25***
Sprachkompetenz Deutsch .19*** .17***
Erwerbstätigkeit .03 .02
Berufsstatus .15*** .16***
R² .23 .33 .25 .35

Quelle: Eigene Darstellung

1)
Referenz: Deutsche Mütter; 2) Referenz: In Deutschland geboren; 3) Referenz: Hamburg
* p < .05; ** p < .01; *** p < .001
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 243

In Modell 1 bestätigen sich zunächst die bivariaten Befunde: Türkische und ins-
besondere vietnamesische Mütter verfügen über deutlich geringeres Sozialkapital
als die deutschen Mütter (Tabelle 2), und Migrantinnen verfügen über geringeres
Sozialkapital als Mütter, die bereits in Deutschland geboren sind. Allerdings ist
der Zusammenhang mit der Länge des Aufenthalts nicht linear, denn Mütter, die
als Erwachsene nach Deutschland gekommen sind, verfügen über mehr Sozial-
kapital als solche, die als Kinder oder Jugendliche zugewandert sind. Mütter in
Sachsen verfügen über signifi kant weniger Sozialkapital als Mütter in Hamburg.
Die Einbeziehung von Interaktionseffekten zeigt dann zusätzlich positive Effekte
für Türkinnen als auch für Vietnamesinnen. Dieser Zusammenhang kommt da-
durch zustande, dass das Sozialkapital der deutschen Mütter in Hamburg beson-
ders groß ist. Hier liegt der Mittelwert für die deutschen Mütter bei .40 (Sachsen:
.34), für die türkischen Mütter bei .22 (Sachsen: .19), während für die vietnamesi-
schen Mütter mit .12 ein niedrigeres Sozialkapital als in Sachsen (.14) zu verzeich-
nen ist. Diese Wechselwirkungs-Befunde belegen, dass die Gelegenheitsstruktur
ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Generierung von Sozialkapital ist.
Die zusätzliche Berücksichtigung von Bildungs- und Berufsfaktoren steigert
die Varianzaufk lärung um 10 Prozent auf R² = .33. Ein zentraler Befund hier-
bei ist, dass der Zusammenhang zwischen Migrationsstatus und Sozialkapital
durch die Kontrolle von Bildungs- und Berufsstatus insignifi kant wird und sich
auch die türkischen Mütter im Sozialkapital nicht mehr von deutschen Müttern
unterscheiden. D.h. die Unterschiede zwischen Migrantinnen und Nichtmig-
rantinnen bzw. zwischen türkischen und deutschen Müttern sind auf deren Ver-
teilungsunterschiede im Bildungs- und Berufsstatus zurück zu führen. Erhalten
bleiben jedoch die Effekte des jeweiligen Aufnahmekontextes als auch dessen
Wechselwirkung mit den Migrantenminoritäten. Das jeweilige Bildungsniveau,
das Niveau der Beherrschung der deutschen Sprache und der Berufsstatus ha-
ben den theoretisch erwarteten positiven Zusammenhang mit der Verfügbarkeit
von Sozialkapital, d.h. dem Zugang zu vielen Personen mit unterschiedlichem
Berufsprestige. Überraschend ist, dass die aktuelle Erwerbstätigkeit der Mütter
in keinem Zusammenhang mit dem Sozialkapital steht. Entgegen theoretischen
Erwartungen bietet der aktuelle Arbeitsplatz keine Gelegenheit für die Mütter, ihr
Sozialkapital zu erweitern.
Zwar wird der Effekt der Zugehörigkeit zur vietnamesischen Ethnie durch die
Berücksichtigung von kulturellem und ökonomischem Kapital von Beta = -.49
auf -.35 abgeschwächt, bleibt aber weiterhin der stärkste Einzeleffekt. D.h., auch
nach Kontrolle des Migrationsstatus, des Berufsstatus, des Bildungsniveaus und
der Sprachkompetenz unterscheiden sich vietnamesische Mütter deutlich durch
ihren niedrigeren Zugang zu Sozialkapital von den türkischen Müttern. Damit ist
244 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

es unwahrscheinlich, dass diese interethnischen Unterschiede (allein) auf die spä-


tere Zuwanderung oder die mangelnde Verfügung über kulturelle oder ökonomi-
sche Ressourcen zurück zu führen ist. Vielmehr deutet dies - im Zusammenhang
mit den deskriptiven Befunden - darauf hin, dass damit Unterschiede in der All-
tagsorganisation verbunden sind, die durch eine weitgehende Zentrierung auf die
eigene Kernfamilie und den Verzicht auf Sozialbeziehungen mit größerer Reich-
weite in die Aufnahmegesellschaft charakterisiert sind.
Im Vergleich zum allgemeinen Sozialkapital akzentuieren sich die Unterschie-
de zwischen den drei ethnischen Gruppen beim bildungsspezifischen Sozialkapi-
tal weiter (Modelle 3 und 4). Das bildungsspezifische Sozialkapital der türkischen
Mütter (Beta = .-11) und der vietnamesischen Mütter (Beta = -.36) ist auch nach
Kontrolle des Migrations-, Bildungs- und Berufsstatus signifi kant niedriger als
das der deutschen Mütter.
Tabelle 5 gibt die Befunde zu den Determinanten der Multiplexität in den ego-
zentrierten Netzwerken der Mütter und zu den Betreuungsressourcen für ihre
Kinder als Mehrebenenmodelle wieder. In die Mehrebenenmodelle gehen einer-
seits die Eigenschaften der insgesamt 6.068 genannten Netzwerkmitglieder ein,
d.h. ob sie mit den Müttern verwandt sind oder derselben ethnischen Gruppe an-
gehören, in welcher Entfernung sie zu ihnen leben und wie eng die Beziehung zu
diesen Netzwerkmitgliedern ist. Andererseits werden Charakteristika der 1.523
befragten Mütter in die Modelle einbezogen. Zunächst wird jeweils ein Gesamt-
modell mit allen drei ethnischen Gruppen präsentiert (Spalte 1 und 5), anschlie-
ßend werden getrennte Modelle für die drei ethnischen Gruppen berechnet um
zu prüfen, ob diese jeweils unterschiedliche Konstellationen von egozentrierten
Netzwerkbeziehungen aufweisen. Um eine größtmögliche Vergleichbarkeit der
Effekte zu erzielen, sind die einbezogenen Variablen standardisiert worden.
Die Anzahl verschiedener Ressourcen, die ein Netzwerkmitglied bietet, ist ge-
nerell umso größer, je geringer dessen Wohnentfernung (B = .27) und je größer
die emotionale Nähe (B = .16) ist. Angehörige der eigenen Ethnie, die nicht Ver-
wandtschaftsmitglieder sind, werden dagegen eher für spezifische Ressourcen ge-
nutzt, d.h. multiplexe Beziehungen sind mit diesen Personen unwahrscheinlich.
In Sachsen sind die Netzwerkbeziehungen häufiger multiplex als im urbanen Bal-
lungsgebiet Hamburg mit seinen erweiterten Möglichkeiten, Ressourcen jeweils
spezifisch zu mobilisieren. Wie bereits bei den deskriptiven Befunden deutlich
geworden ist, haben vietnamesische Mütter häufiger multiplexe Netzwerke als
deutsche Mütter; da dieser Befund auch bei Kontrolle sozialstruktureller Fakto-
ren bestehen bleibt, ist dieser Unterschied nicht auf Verteilungsunterschiede im
Bildungs- und Berufsstatus zurückzuführen. Sowohl die Beherrschung der Ver-
kehrssprache des Aufnahmelandes als auch das eigene Sozialkapital vergrößern
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 245

die Gelegenheiten, Ressourcen jeweils spezifisch zu mobilisieren und nicht für


alle Probleme auf den begrenzten Personenkreis der eigenen Familie und Ver-
wandtschaft zurückgreifen zu müssen. Entsprechend weisen beide Faktoren einen
negativen Zusammenhang mit der Multiplexität der Netzwerkbeziehungen auf.
1)
246

Multiplexität Betreuungsressourcen

Mütter alle deutsch türkisch vietnam. alle deutsch türkisch vietnam.

Eigenschaften der genannten Netzwerkmitglieder

Verwandte .06*** .08*** .05*** .07*** .13*** .12*** .14*** .17***

räumliche Nähe .27*** .30*** .22*** .27*** .39*** .34*** .40*** .44***

Quelle: Eigene Darstellung


eigene Ethnie -.09*** -.08*** -.05*** -.14*** -.12*** -.08*** -.13*** -.20***

emotionale Nähe .16*** .16*** .11*** .20*** .09*** .10*** .05 .17***

Befragte

Türkin1) -.01 -.01

Vietnamesin1) .06*** .07***

Kontext Sachsen2) .02* .02 .05*** -.02 .02** .01 .07*** -.02

Bildungsniveau .06*** .03 .08*** .02 .07*** .04 .10*** .03

Sprachkompetenz -.05** -.02 -.03 -.03 -.06** -.02 -.04 -.05


Deutsch

Erwerbstätigkeit -.01 -.01 -.01 -.01 .00 -.01 -.01 -.01

Berufsstatus -.02 -.02 -.02 -.04 -.02 -.02 -.01 -.06


deutschen, türkischen und vietnamesischen Müttern (B-Koeffizienten)

Sozialkapital -.08*** -.03 -.07** -.23*** -.06** -.02 -.05 -.21***

Referenz: Deutsche Mütter; 2) Referenz: Hamburg; * p < .05; ** p < .01; *** p < .001
Konstante .03 -.07 .05 .03 .03 -.04 .02 .01
Bernhard Nauck & Vivian Lotter

Tabelle 5 Multiplexität des egozentrierten Netzwerks und Betreuungsressourcen von


Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 247

Diese Zusammenhänge zeigen sich bei allen drei ethnischen Gruppen gleicher-
maßen, lediglich die Effektstärke weist graduelle Unterschiede auf: So hängt die
Multiplexität der Netzwerkbeziehungen bei den deutschen Müttern stärker von
der räumlichen, bei den vietnamesischen Müttern auch von der emotionalen Nähe
ab. Für beide Migrantengruppen steht die Möglichkeit spezifischer Ressourcen-
mobilisierung mit der Verfügbarkeit von Sozialkapital, d.h. von Kontakten mit
Mitgliedern unterschiedlicher Berufsgruppen in der Aufnahmegesellschaft in
engem Zusammenhang, wobei insbesondere die vietnamesischen Mütter diesbe-
züglich stark von hohem Sozialkapital profitieren.
Wie zuvor in Tabelle 4 beim Vergleich zwischen allgemeinem und bildungs-
spezifischem Sozialkapital akzentuieren sich auch in Tabelle 5 die Unterschie-
de in den Modellen zur Analyse der Ressourcen von Müttern für die Betreuung
ihrer Kinder. Noch stärker wird von den Müttern für die Unterstützung der Er-
ziehungsaufgaben auf Verwandte bzw. auf Personen in guter Erreichbarkeit zu-
rückgegriffen. Alle Eigenschaften der jeweiligen Netzwerkmitglieder spielen bei
den Migranten-Müttern eine größere Rolle als bei den deutschen Müttern, wobei
insbesondere für die vietnamesischen Mütter die Mobilisierung von Betreuungs-
ressourcen von spezifischen Bedingungen abhängt. Es sind vorzugsweise Per-
sonen in unmittelbarer Umgebung (B = .44), Verwandte (B = .17), von großer
emotionaler Nähe (B = .17) und - wenn sie keine Verwandte sind - eher Einhei-
mische (B = -.20). Auch bei der Mobilisierung von Betreuungsressourcen spielt
das verfügbare Sozialkapital der vietnamesischen Mütter eine große, wenngleich
unerwartete Rolle: Je mehr Kontakte sie zu verschiedenen Berufssegmenten in
der Aufnahmegesellschaft haben, desto geringer ist ihre Bereitschaft zur Mobili-
sierung von Betreuungsressourcen innerhalb ihres sozialen Netzwerks (B = -.21).
Dies lässt - auch im Zusammenhang mit der geringen Größe ihres Netzwerks -
darauf schließen, dass die vietnamesischen Mütter in der Unterstützung bei der
Betreuung ihrer Kinder eher eine Notlösung sehen, die allenfalls an nahe, ver-
wandte Personen herangetragen werden kann und auf die verzichtet wird, sobald
es ihnen möglich ist. Entsprechend hat die Autonomie und Selbstgenügsamkeit
der Kernfamilie eine hervorgehobene Bedeutung.

6 Zusammenfassung und Diskussion

Obwohl an die Verfügbarkeit von Sozialkapital sehr weitreichende Schlussfol-


gerungen hinsichtlich des Eingliederungsprozesses von Migrantenfamilien und
der intergenerationalen Statustransmission geknüpft worden sind, haben verglei-
chende Analysen zur Verteilung von Sozialkapital zwischen einheimischen und
248 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

Migrantenfamilien in Deutschland bislang nicht vorgelegen. Mit einem Vergleich


zwischen vietnamesischen, türkischen und deutschen Müttern konnten einige
wichtige Mechanismen der Generierung von Netzwerkbeziehungen und Sozial-
kapital unter Migrationsbedingungen identifiziert werden. Die türkische Mig-
rantenminorität ist nicht nur zahlenmäßig die größte in Deutschland, sondern
ihr war es auch möglich, in vielen urbanen Ballungsgebieten ein hohes Maß an
institutioneller Vervollständigung zu erreichen. Für ihre Mitglieder bietet dies
wiederum Gelegenheiten, auch innerhalb der eigenen Minorität Sozialkapital
und Netzwerkbeziehungen zu etablieren. Demgegenüber ist die vietnamesische
Minorität nicht nur deutlich später nach Deutschland zugewandert, sie ist auch
zahlenmäßig relativ klein und bietet deshalb nur begrenzte Gelegenheiten zur
Generierung von innerethnischem Sozialkapital.
Bei den empirischen Befunden sind allgemeine Mechanismen der Generie-
rung von Sozialkapital von migranten- und minoritätenspezifischen Faktoren zu
unterscheiden. Bezüglich der allgemeinen Mechanismen zeigen die Befunde die
Konsequenzen der wechselseitigen Transferierbarkeit von sozialem, kulturellem
und ökonomischen Kapital, die insgesamt zu einer Kumulation von Ressourcen
führt: Mit hohem Bildungs- und Berufsstatus steigt auch die Wahrscheinlichkeit
der Verfügung über soziales Kapital, wobei dieser Effekt weniger über eine Seg-
mentierung der Kontakte in jeweils unterschiedliche Schichten der Gesellschaft ,
sondern vielmehr über die Menge der Kontakte zu Angehörigen unterschiedli-
cher Berufsgruppen der gesamten Statushierarchie zustande kommt. Bedeutsam
hierbei ist, dass mit der Höhe des verfügbaren Sozialkapitals die Multiplexität der
Netzwerkbeziehungen der Mütter abnimmt. D.h. Mütter mit hohem Sozialkapital
sind eher in der Lage, Ressourcen für ihre jeweiligen Bedürfnislagen spezifisch zu
mobilisieren und müssen nicht immer wieder auf den engen Personenkreis der
eigenen Herkunfts- und Kernfamilie oder auf ihre Verwandten zurückgreifen. Da
der Bildungs- und Berufsstatus in den Migrantenfamilien deutlich unter dem der
einheimischen Familien liegt, führt bereits dieser allgemeine Mechanismus zu
einer geringeren Verfügbarkeit von Sozialkapital und zu einer Begrenzung der
Netzwerkressourcen. Unerwartet und durch die verfügbaren Daten nicht aufzu-
klären ist der durchgängige Befund, dass die aktuelle Erwerbstätigkeit der Mütter
keinerlei Einfluss auf ihr Sozialkapital oder die Struktur ihres sozialen Netzwerks
hat.
Bezüglich der migrations- und minoritätenspezifischen Faktoren zeigen die
Befunde, dass sich die Situation im Flächenstaat Sachsen deutlich von der in Ham-
burg unterscheidet. Insbesondere die großen Statusdisparitäten bei den einheimi-
schen Familien in Hamburg führt dazu, dass dort die Unterschiede zwischen den
deutschen und den ausländischen Müttern besonders stark sind, wohingegen die
Sozialkapital in einheimischen, türkischen und vietnamesischen Familien 249

größere Statushomogenität in Sachsen zur Einebnung der Unterschiede zwischen


Migranten- und einheimischen Familien führt, die insbesondere den vietname-
sischen Familien zugute kommt. Insgesamt unterscheidet sich die Situation in
den türkischen Migrantenfamilien deutlich von der vietnamesischer Familien:
Die Größe der türkischen Minorität, deren Konsolidierung durch Kettenmi-
gration infolge eines Migrationszyklus, der mehr als eine Generation umfasst,
hat dazu beigetragen, dass die türkischen Mütter in den deskriptiven Befunden
durchweg eine Mittelposition zwischen den deutschen und den vietnamesischen
Müttern einnehmen. Werden die Bildungs- und Berufsunterschiede kontrolliert,
verschwinden die Differenzen zwischen Türkinnen und Deutschen im allgemei-
nen Sozialkapital, in der Multiplexität des Netzwerkes und in den Betreuungs-
ressourcen gänzlich und die Unterschiede im bildungsspezifischen Sozialkapital
reduzieren sich drastisch.
Anders als bei den türkischen Müttern kann die geringe Ausstattung der viet-
namesischen Familien mit allgemeinem und bildungsspezifischem Sozialkapital
sowie die geringe Anzahl von Netzwerkmitgliedern und die hohe Multiplexität
der Netzwerkstruktur von vietnamesischen Müttern nicht auf sozialstrukturel-
le Verteilungsunterschiede zurück geführt werden. Vielmehr bleiben die Unter-
schiede auch nach Kontrolle solcher Faktoren in erheblicher Stärke erhalten. Auch
bieten die Befunde keine Anhaltspunkte, dass eine kürzere individuelle Aufent-
haltsdauer der Mütter oder die kollektive Anwesenheit der vietnamesischen Mi-
grantenminorität die starken Unterschiede erklären könnten. Dieser Befund ist
umso bemerkenswerter, als die geringe Verfügbarkeit von Sozialkapital oder von
Netzwerkressourcen nicht einen mangelnden Erfolg vietnamesischer Familien
in der intergenerativen Statustransmission nach sich zieht, wie die einleitend er-
wähnten vergleichenden Befunde zur Bildungsbeteiligung gezeigt haben. Es liegt
deshalb nahe anzunehmen, dass diese Besonderheiten im Zusammenhang mit
kulturspezifischen elterlichen Investitionsstrategien stehen. Hinweise hierzu ge-
ben empirische Studien zu ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten, in
denen analoge Befunde bezüglich des niedrigen sozialen Kapitals bei gleichzeitig
hohem Bildungserfolg berichtet und als „Asian effect“ bezeichnet werden (Kao
1995; Sun 2011): „Differences in math and science performances among racial
groups were striking with East-Asian students significantly outperforming stu-
dents from other races... For measures of outside-family social capital, East-Asian
parents scored either lowest (number of parents known and parent-school-con-
tact) or next to lowest (participation in PTA activities and belonging to organiza-
tions with other parents), while White parents clearly scored the highest in these
measures“ (Sun 1998, S. 440ff.; Kao und Tienda 1995). In einem Investitionsmo-
dell, das ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen gleichermaßen berück-
250 Bernhard Nauck & Vivian Lotter

sichtigt, zeigen die empirischen Befunde von Sun (1998), dass ostasiatische Fa-
milien ihr Investitionsverhalten in den Bildungserfolg ihrer Kinder vor allem auf
finanzielle Aufwendungen für Kulturgüter und für den Besuch kultureller Veran-
staltungen stützen. „Different from their investment strategies in other resources,
East-Asian parents consistently invest less in outside-family social capital, even
though such investment greatly promotes performance... East-Asian families
may deliberately keep social distance from the outer world so as to preserve their
unique values and norms regarding their offsprings’ education“ (Sun 1998, S. 452).
Entsprechend wird die hohe Multiplexität der sozialen Netzwerke für „intergene-
rational closure“ in der sozialen Kontrolle der Kinder und Jugendlichen genutzt
(Coleman 1988; Bankston und Zhou 2002).
Offensichtlich ist diese Konzentration auf die innerfamilialen Ressourcen
unter bestimmten Bedingungen eine effektive Strategie in der Migrationssitua-
tion: „The family’s capacity to provide compensatory social capital in the form
of parental support can buffer and conditionally compensate for the loss of other
sources of social closure in the community that result from family moves“ (Hagan
et al. 1996, S. 372). Künft ige Forschung wird zu prüfen haben, worin diese beson-
deren Bedingungen bestehen. Nicht nur die starken systematischen Unterschiede
hinsichtlich des sozialen Kapitals zwischen den einzelnen Zuwandererminoritä-
ten und den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft , sondern auch anwendungs-
bezogene Überlegungen zur Stärkung innerfamiliärer Ressourcen geben hierzu
Anlass.

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Familie und Gesellschaft
Familienkulturen in Ost- und
Westdeutschland: Zum Gerechtigkeits-
empfinden der Arbeitsteilung innerhalb
der Partnerschaft
Heike Trappe & Katja Köppen

1 Einleitung

Auch nahezu 25 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es fortbestehende Unter-
schiede in einigen Dimensionen familialen Verhaltens, im Erwerbsverhalten von
Frauen sowie in bestimmten Einstellungsbereichen zwischen Menschen in den
alten und den neuen Bundesländern. Prominente Beispiele dafür sind das in Ost-
deutschland im Durchschnitt frühere Alter bei der ersten Geburt und der höhere
Anteil nichtehelicher Geburten, die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und
insbesondere Müttern sowie die liberaleren Einstellungen zu Geschlechterrollen
und zu den Konsequenzen der Frauenerwerbstätigkeit (Blohm 2013; Huinink
et al. 2012). In Bezug auf andere Aspekte familialen Verhaltens, wie das durch-
schnittliche Alter bei der ersten Heirat und die Häufigkeit von Trennungen und
Scheidungen, ist es hingegen eher zu einer Annäherung gekommen, obgleich
die Konstatierung konvergenter und divergenter Entwicklungen mitunter will-
kürlich erscheint (Schneider 2013). Auch die bei jüngeren Kohorten fortbeste-
henden Unterschiede im familialen Verhalten werden häufig im Spannungsfeld
von Kultur, Sozialisation und intergenerationaler Transmission von Traditionen
einerseits sowie Opportunitätsstrukturen andererseits (z.B. bezüglich des unter-
schiedlichen Ausmaßes der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen
für kleine Kinder oder der ökonomischen Notwendigkeit der Frauenerwerbs-

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
258 Heike Trappe & Katja Köppen

tätigkeit) gedeutet. Der Vergleich von ost-west-mobilen Frauen oder Paaren mit
nicht mobilen ost- und westdeutschen Frauen oder Paaren wird mitunter als so-
zialwissenschaft liche Strategie genutzt, um strukturelle und kulturelle Faktoren
und deren jeweiliges Gewicht für die interessierenden Gemeinsamkeiten und
Unterschiede im Verhalten voneinander abgrenzen zu können (Arránz Becker
und Lois 2010; Grunow und Müller 2012; Vatterrott 2011, 2012).
Im Allgemeinen wird jedoch davon ausgegangen, dass es eine enge Wechsel-
beziehung von strukturellen und kulturellen Bedingungen gibt und sich in deren
Ergebnis Gemeinsamkeiten und Unterschiede des familialen Verhaltens zwi-
schen sozialen Gruppen herausbilden. Kultur ist untrennbar mit sozialen Bezie-
hungen verbunden, denn sie basiert auf geteilten sozialen Erfahrungen und einem
gemeinsamen Verständnis relevanter Tatbestände. Aus dieser Perspektive sind
Kultur und Struktur zwei mögliche Abstraktionen derselben sozialen Vorgänge
(Tilly 1998). Im Sinne einer engen Verwobenheit struktureller und kultureller Be-
dingungsfaktoren hinsichtlich des Verständnisses von Ost-/Westunterschieden
und -gemeinsamkeiten im familialen Verhalten argumentieren auch Huinink,
Kreyenfeld und Trappe (2012), dass strukturelle Rahmenbedingungen auch indi-
viduelle Überzeugungen und Orientierungen prägen. Diese wirken wiederum auf
die Rahmenbedingungen zurück und tragen somit zu einer spezifischen Fami-
lien- und Geschlechterkultur bei. Die Autoren gehen zusätzlich davon aus, dass es
gerade in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels, wie sie gesellschaft liche Trans-
formationsphasen zweifelsohne darstellen, zu ungleichzeitigen Entwicklungen
zwischen strukturellen und kulturellen Wandlungsprozessen kommt:
„Sich rasch vollziehender struktureller Wandel interferiert mit dem eher
Kontinuität sichernden Mechanismus der Kohortenabfolge. Schneller struktu-
reller Wandel beschleunigt in der Tendenz kulturellen Wandel und durchbricht
das Transmissionsprinzip des Wandels, da eine lebenslange Konstanz von Wer-
ten und Einstellungen unwahrscheinlicher wird. Die intergenerationale Trans-
mission hat im Gegenzug Einfluss auf die Optionen und die Wahrscheinlichkeit
schneller Veränderungen und begrenzt das Ausmaß, in dem Menschen bereit
sind, auf strukturelle Veränderungen auch mit Verhaltensanpassungen zu reagie-
ren. Welcher Wandlungsmechanismus jeweils die Oberhand hat, ist nicht allge-
mein zu bestimmen“ (Huinink et al. 2012, S. 12).
Zur näheren Auseinandersetzung mit dieser Thematik sind familiensozio-
logische Untersuchungen zum Vergleich von Ost- und Westdeutschland auch
theoretisch relevant. In der diesbezüglichen Forschung, die kulturelle Aspekte
einschließt, dominieren einerseits makrostrukturelle Diagnosen. So konstatieren
Kreyenfeld und Konietzka (2013, S. 269) den „Fortbestand zweier ‚Familienre-
gime‘ in Deutschland“, während Boehnke (2013) für Ostdeutschland einen so-
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 259

ziokulturell verankerten Familialismus und für Westdeutschland eine kulturelle


De-Familialisierung hervorhebt. Punken (2006) betont die Relevanz generatio-
nenspezifischer Familienkulturen für die Herausbildung einer gesamtdeutschen
Identität. Ein weiterer Forschungsstrang benutzt angenommene innerkulturel-
le Unterschiede als Interpretationsfolie, um Erwerbskonstellationen von Eltern
(Wirth und Tölke 2013), die Rückkehr von Müttern in den Beruf nach einer
familienbedingten Erwerbsunterbrechung (Grunow und Müller 2012) oder die
Erwerbsbeteiligung von Müttern in Abhängigkeit von ihrer Lebensform (Geisler
2013) besser zu verstehen. Schließlich fungieren innerdeutsche Unterschiede in
Orientierungen und Einstellungen auch als zu erklärender Tatbestand, beispiels-
weise hinsichtlich der Rolle der Frauen im Erwerbssystem und in der Familie
(Bauernschuster und Rainer 2012) oder bezüglich der öffentlichen Kinderbetreu-
ung (Goerres und Tepe 2012). In diese Forschungslinie ordnet sich auch unser
Beitrag ein.
Im vorliegenden Beitrag werden Gerechtigkeitsvorstellungen der Arbeits-
teilung innerhalb der Partnerschaft im Vergleich von Paaren in Ost- und West-
deutschland näher untersucht. Ausgangspunkt dafür ist, dass diese Gerechtig-
keitsvorstellungen einen bislang selten betrachteten, aber außerordentlich gut
geeigneten Indikator darstellen, um einen tieferen Einblick in die normativen
Grundlagen der Arbeitsteilung zu erhalten: „It’s important to remember that fair-
ness isn’t just about absolute equality. It’s about the perception of equality“ (Senior
2014, S. 3). An eine knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Zu-
sammenhang von partnerschaft licher Arbeitsteilung und Gerechtigkeitsempfin-
den schließt sich ein Überblick über die theoretischen Überlegungen und unsere
daraus abgeleiteten Hypothesen an. Dann werden die Daten, deren Operationa-
lisierung und die verwendeten Methoden erläutert. Im Anschluss an die Darstel-
lung und Diskussion der Ergebnisse wird ein Fazit gezogen.

2 Synopse des Forschungsstandes

Im Folgenden werden zunächst Studien zusammengefasst, in denen die Fairness-


beurteilung der Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft als erklärende Variab-
le fungiert, bevor dann auf die für diesen Beitrag besonders relevanten Untersu-
chungsergebnisse eingegangen wird, bei denen es die Gerechtigkeitseinschätzung
der Arbeitsteilung an sich zu erklären gilt.
260 Heike Trappe & Katja Köppen

2.1 Fairnessbeurteilung der Arbeitsteilung


als erklärende Variable

Das subjektive Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung innerhalb der Part-


nerschaft wurde bislang insbesondere im Zusammenhang mit der Beziehungszu-
friedenheit oder möglichen Partnerschaftskonflikten und andererseits in Verbin-
dung mit Fertilitätsintentionen untersucht. So zeigen beispielsweise Greenstein
(2009) sowie Andrade und Mikula (2014) in international vergleichenden Studien
zur Zufriedenheit mit dem Familienleben und der Arbeitsbelastung von Frau-
en, wie relevant der nationale Kontext und entsprechend unterschiedliche Ver-
gleichsmaßstäbe für die Beziehung zwischen Fairnesseinschätzung der Arbeits-
teilung und Zufriedenheit bzw. wahrgenommenen Konflikten sind. Studien für
die Schweiz (Meuwly et al. 2011) und für die USA (Stevens et al. 2005) belegen,
dass die subjektive Bewertung der Arbeitsteilung bedeutender für die Bezie-
hungszufriedenheit ist als die tatsächliche Aufteilung der Aufgaben innerhalb der
Partnerschaft. Insofern legen diese Untersuchungsergebnisse nahe, dass die al-
leinige Berücksichtigung der Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft zu kurz
greift, um die Zufriedenheit mit der Partnerschaft umfassend zu verstehen.
Die Forschung zum Einfluss der Gerechtigkeitswahrnehmung der partner-
schaft lichen Arbeitsteilung auf Fertilitätsintentionen und generatives Verhalten
steht noch ganz am Anfang. Erste Ergebnisse für Portugal (Andrade und Bould
2012) und für Norwegen (Dommermuth et al. 2013) weisen darauf hin, dass ins-
besondere bei Eltern mit einem Kind die Fairnesseinschätzung der Arbeitsteilung
relevant für weitere Fertilitätsintentionen und letztlich für die Familienerweite-
rung ist.

2.2 Fairnessbeurteilung der Arbeitsteilung


als Explanandum

Studien, welche den Zusammenhang der Arbeitsteilung innerhalb der Partner-


schaft und der Einschätzung der Fairness derselben zum Gegenstand haben, för-
dern häufig ein Paradoxon zutage. Demzufolge zeigt sich, dass obgleich Frauen
den überwiegenden Anteil der häuslichen Aufgaben und auch der Kinderbetreu-
ung erledigen, sowohl sie als auch ihre Partner dazu tendieren, die praktizier-
te Arbeitsteilung dennoch als gerecht einzuschätzen (Mikula 1998). Neben der
Aufgabenteilung innerhalb der Partnerschaft (Baxter 2000) haben offensichtlich
weitere Faktoren Einfluss auf die Gerechtigkeitswahrnehmung, wie Vorstellun-
gen von Geschlechterrollen (DeMaris und Longmore 1996; Kirchler und Venus
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 261

2000), der herangezogene Vergleichsmaßstab (Gager 1998) sowie die persönliche


Anerkennung und die empfundene Wertschätzung für die geleistete Arbeit (Car-
riero 2011; Kawamura und Brown 2010). In diesem Sinne schlussfolgern Baxter
et al. (2013) aus ihrer Längsschnittanalyse der Veränderung der Gerechtigkeits-
einschätzung beim Übergang in die Ehe und in die Elternschaft in Australien,
dass diese sich nicht in erster Linie auf eine vergleichbare Aufgabenteilung stützt,
sondern besser mit Konzepten von distributiver Gerechtigkeit zu verstehen ist.
Darüber hinaus fällt auf, dass die meisten empirischen Studien sich bei der Ein-
schätzung der Fairness nur auf den häuslichen Bereich und mitunter auch auf
die Kinderbetreuung stützen. Insofern kann unser Beitrag hier eine wesentliche
Lücke füllen, da die Wahrnehmung der Gerechtigkeit der partnerschaft lichen
Arbeitsteilung sich sowohl auf unbezahlte als auch auf bezahlte Arbeit bezieht.

3 Theoretische Überlegungen

Der Ausgangspunkt der meisten theoretischen Überlegungen basiert auf dem


Paradoxon, dass die Mehrheit aller Frauen die häusliche Arbeitsteilung in ihrer
Partnerschaft als fair empfindet, auch wenn sie de facto den Großteil der Arbeit
verrichten (Major 1993; Mikula 1998). Verschiedene theoretische Ansätze wurden
entwickelt, um diese Diskrepanz zwischen der faktisch ungleichen Arbeitsteilung
auf der einen und dem fehlenden Ungerechtigkeitsgefühl seitens der Frauen auf
der anderen Seite zu erklären.
Ausgehend von der Annahme, dass das individuelle Gerechtigkeitsempfinden
abhängig ist von den Erwartungen, die an die Arbeitsteilung innerhalb der Part-
nerschaft gestellt werden, entwickelten Thompson (1991) und Major (1993) die
Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, die auf die Relevanz sozialer Vergleichspro-
zesse rekurriert. Drei Faktoren wurden identifiziert, die das Gerechtigkeitsemp-
finden beeinflussen können: (1) individuelle Wünsche und Wertvorstellungen
bezüglich der Arbeitsteilung und der Beziehung im Allgemeinen, (2) die soziale
Vergleichsgruppe, an der sich gemessen und mit der sich verglichen wird sowie
(3) Gründe, die das eigene Verhalten und das des Partners bzw. der Partnerin zu
rechtfertigen versuchen.
Wertvorstellungen bezüglich der Arbeitsteilung und der Partnerschaft bezie-
hen sich auf die individuelle Einstellung zur Hausarbeit und zur Paarbeziehung
an sich. Wird Hausarbeit von denjenigen, die sie überwiegend ausführen, als posi-
tiv wahrgenommen, ist es wahrscheinlicher, dass auch eine ungleiche Verteilung
an Aufgaben innerhalb des Haushalts zwischen den Partnern als fair eingeschätzt
wird. Zudem hängt die subjektive Einschätzung der Fairness der Arbeitsteilung
262 Heike Trappe & Katja Köppen

auch von den eigenen Wünschen und Erwartungen an eine Beziehung ab. Mit-
unter kann zum Beispiel die Zufriedenheit in einer Beziehung Vorrang vor einer
als gerecht empfundenen häuslichen Arbeitsteilung haben. Auch die Anerken-
nung vom Partner oder von der Partnerin kann ein solches Ziel in einer Partner-
schaft darstellen. Studien haben Anerkennung als einen wesentlichen Einfluss-
faktor für die Beurteilung der Fairness der Arbeitsteilung identifi ziert (Carriero
2011; Hawkins et al. 1995; Kawamura und Brown 2010): Je mehr gefühlte An-
erkennung Frauen von ihren Partnern erhalten, umso eher geben sie an, dass die
Arbeitsteilung als gerecht angesehen wird, unabhängig von der faktischen Ver-
teilung der Hausarbeit.
Anerkennungshypothese: In Partnerschaften, in denen die Partner von einer
hohen Anerkennung ihrer Arbeit berichten, sollte die Arbeitsteilung häufiger als
fair empfunden werden als in Partnerschaften mit geringer subjektiver Anerken-
nung.
Der zweite Aspekt innerhalb der Theorie der Verteilungsgerechtigkeit bezieht
sich auf die soziale Vergleichsgruppe. Es wird angenommen, dass das Gerechtig-
keitsempfinden davon abhängt, mit wem man sich vergleicht. Danach wird die
ungleiche Aufteilung von Hausarbeit und Kinderbetreuung nur dann als unge-
recht empfunden, wenn sie nicht dem entspricht, was als angemessen wahrge-
nommen wird. Was angemessen ist und was nicht, hängt von dem sozialen Ver-
gleichsmaßstab ab. Dies können Angehörige des gleichen Geschlechts, es kann
aber auch der eigene Partner sein. Der innergeschlechtliche Vergleich führt häufig
dazu, dass keine große Diskrepanz zwischen dem eigenen und dem Verhalten
anderer Frauen oder Männer wahrgenommen wird (Hochschild 1989; Major
1993; Steil 1994). In Gesellschaften, in denen sich Frauen noch für einen Großteil
der Hausarbeit zuständig sehen, die sozialen Normen bezüglich der Zuständig-
keiten im Haushalt auf die Frau zielen und Geschlechtergerechtigkeit die indi-
viduelle Ebene noch nicht oder nur ansatzweise erreicht hat, sollten sich Frauen
und Männer eher mit anderen Frauen und Männern vergleichen anstatt mit dem
eigenen Partner oder der Partnerin. Dies führt im Allgemeinen dazu, dass auch
eine ungleiche Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft als gerecht empfunden
wird, vor allem wenn die Vergleichsgruppe ein ähnliches Arbeitsteilungsmuster
aufweist. Mit der steigenden Arbeitsmarktpartizipation von Frauen ändern sich
jedoch auch die etablierten Geschlechterrollenvorstellungen und -erwartungen
bezüglich der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Je stärker die
ökonomische Unabhängigkeit vom Partner ist, je größer der Anteil der Zeit ist,
die auf dem Arbeitsmarkt verbracht wird und je verbreiteter egalitäre Rollenvor-
stellungen werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Frauen und Männer
direkt mit ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin vergleichen und dadurch eine un-
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 263

gleiche Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft als unfair empfinden. Nicht


nur der innergeschlechtliche Vergleich wirkt sich demnach auf das Gerechtig-
keitsempfinden aus, sondern durch die Aufhebung der ehemals klaren Zustän-
digkeit für Haus- und Erwerbsarbeit zwischen den Partnern wird immer häufiger
auch der eigene Partner als Vergleichsmaßstab gewählt und damit der Standard
neu definiert (Gager und Homann-Marriott 2006).
Vergleichsgruppenhypothese: Die kontinuierliche Erwerbsbeteiligung der Frau-
en in Ostdeutschland führt dazu, dass Frauen und Männer sich dort eher mit ihrem
Partner bzw. ihrer Partnerin vergleichen als Frauen und Männer in Westdeutsch-
land. Dies hat zur Folge, dass eine ungleiche Arbeitsteilung in Ostdeutschland eher
als ungerecht empfunden wird als in Westdeutschland.
Als dritter Faktor wird berücksichtigt, ob und wie die Arbeitsteilung im Haus-
halt gerechtfertigt bzw. legitimiert wird. Diese Rechtfertigung beinhaltet Gründe
und Umstände, die zu einer ungleichen Aufteilung der Arbeit beitragen und diese
legitimieren oder akzeptierbar machen (Mikula 1998). So kann neben der unbe-
zahlten Arbeit ebenfalls die bezahlte Arbeit berücksichtigt werden. Wenn Paare
den gesamten Arbeitsaufwand in ihr subjektives Gerechtigkeitsempfinden mit
einbeziehen, kann zum Beispiel in einer Partnerschaft eines vollzeiterwerbstäti-
gen Mannes und einer teilzeitbeschäft igten Frau der geringere Anteil des Mannes
an der Hausarbeit damit gerechtfertigt werden, dass er mehr Erwerbszeit auf-
bringt als sie und dass somit die weibliche Verantwortung für Hausarbeit und
Kinderbetreuung ein gerechter Ausgleich für die männliche Aufgabe des Allein-
versorgers ist (Major 1993). Die Gesamtbilanz ist demnach entscheidend (Cover-
man 1985). Verwenden beide Partner jedoch gleich viel Zeit für bezahlte Arbeit,
z. B. in Partnerschaften mit zwei Vollzeitverdienern, sollte eine Situation, in der
ein Partner mehr Arbeit im Haushalt macht als der andere, häufiger als ungerecht
erlebt werden.
Doppelbelastungshypothese: In einer Partnerschaft, in der beide Partner zu
gleichen Teilen erwerbstätig sind und einer gleichzeitig den überwiegenden Teil der
Hausarbeit bzw. der Kinderbetreuung übernimmt, wird die Verteilung von bezahl-
ter und unbezahlter Arbeit eher als ungerecht eingeschätzt.
In Verbindung mit gesellschaft lichen Normen, die Frauen und Männern be-
stimmte Rollen innerhalb und außerhalb des Haushaltes zuschreiben, kann eine
ungleiche Arbeitsteilung auch mit dem Bestreben gerechtfertigt werden, die so-
ziale Geschlechterrollennorm zu erfüllen (Brines 1994). Paare mit traditionellen
Rollenvorstellungen sollten eher dazu bereit sein, eine Situation als gerecht zu
empfinden, in der Frauen den Großteil der häuslichen Arbeit übernehmen als
Frauen und Männer mit stärker egalitären Ansichten.
264 Heike Trappe & Katja Köppen

Geschlechterrollenhypothese: Frauen und Männer mit egalitären Geschlech-


terrollenvorstellungen bewerten eine ungleiche Arbeitsteilung eher als ungerecht als
Individuen mit traditionellen Auffassungen von Geschlechterrollen.
Die Einstellung zur Arbeitsteilung kann per Sozialisation weitergegeben wer-
den, z. B. durch Rollenbilder, die intergenerational vermittelt wurden. Eine ega-
litäre Arbeitsteilung der Eltern in der Kindheit der Befragten kann dazu führen,
dass auch in der eigenen Beziehung dieses Rollenbild als wünschenswert betrach-
tet wird und eine ungleiche Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit in-
nerhalb der Partnerschaft als unfair angesehen wird (Cunningham 2001).
Intergenerationalitätshypothese: Frauen und Männer, die mit Eltern aufge-
wachsen sind, die eine egalitäre Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit
praktiziert haben, empfinden eine ungleiche Arbeitsteilung in ihrer eigenen Bezie-
hung eher als unfair als Frauen und Männer aus traditionellen Elternhäusern.
An das Argument der intergenerationalen Transmission von Normen schließt
sich das Argument der Übernahme gesellschaft lich geprägter Geschlechterideo-
logien an. In Ostdeutschland, mit seinem kulturellen Leitbild des ‚dual-earner/
state-carer-Modells‘ (Rosenfeld et al. 2004) und seinen eher egalitären Geschlech-
terrollenvorstellungen (Mays 2012), ist es wahrscheinlicher, dass eine ungleiche
Aufteilung der Arbeit weniger akzeptiert wird und dementsprechend stärker
als unfair empfunden wird als in Westdeutschland. Frauen und Männer, die im
Westen Deutschlands sozialisiert worden sind, wurden stark durch das Allein-
verdienermodell geprägt, in dem die Rollenverteilung eindeutig ist: Der Vater
arbeitet und die Mutter ist prinzipiell für den Haushalt und die Kinderbetreuung
zuständig, auch wenn mittlerweile eine Teilzeiterwerbstätigkeit ebenfalls akzep-
tiert wird. Dies führt dazu, dass von Paaren aus den alten Bundesländern eine un-
gleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit eher als fair empfunden
werden sollte als von Frauen und Männern, die in Ostdeutschland aufwuchsen.
Theoretisch lässt sich dieses Argument auch durch den Doing-Gender-Ansatz
(West und Zimmerman 1987) belegen, der versucht, die ungleiche Arbeitsteilung
anhand der Notwendigkeit reproduzierter Geschlechtsidentitäten von Frauen und
Männern zu erklären. Trotz einer stärkeren Integration von Frauen ins Erwerbs-
leben und ihrer verbesserten Einkommenschancen, werden deshalb Arbeiten im
Haushalt in Gesellschaften, in denen das Bild des männlichen Familienernährers
und der weiblichen Zuverdienerin kulturell und strukturell stark verankert ist,
weiterhin größtenteils von der Frau übernommen (Wengler et al. 2009). In Kon-
texten, in denen sich egalitäre Vorstellungen von Geschlechterrollen durchgesetzt
haben, trifft dieses Argument nicht zu. Eine ungleiche Arbeitsteilung führt dort
eher zu einer Wahrnehmung von Ungerechtigkeit als in Kontexten, in denen wei-
terhin die soziale Norm des (teil-)modernisierten Ernährermodells gilt.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 265

Sozialisationshypothese: Paare in Westdeutschland sind mit eher traditionellen


kulturellen Leitbildern aufgewachsen. In Westdeutschland wird deshalb eine un-
gleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit eher als gerecht empfun-
den als in Ostdeutschland.

4 Daten, Methode und Operationalisierung

4.1 Daten

Als Datenbasis dienen das Beziehungs- und Familienpanel pairfam sowie die ost-
deutsche Ergänzungsstichprobe DemoDiff.1 Das Beziehungs- und Familienpanel
ist eine multidisziplinäre Längsschnittstudie zur Erforschung partnerschaft licher
und familialer Lebensformen in Deutschland (Huinink et al. 2011). Die jährli-
che Befragung enthält Informationen von über 12.000 bundesweit zufällig aus-
gewählten Personen der Geburtskohorten 1971-73, 1981-83 und 1991-93. Die
erste Welle dieser Panelstudie wurde in den Jahren 2008/2009 lanciert. Im Jahr
2009/2010 wurde das erste Mal eine Zusatzbefragung unter ostdeutschen Perso-
nen der Geburtskohorten 1971-73 und 1981-83 durchgeführt, die bis 2011/2012
jährlich wiederholt und seit 2012 in die pairfam-Stichprobe eingegliedert wurde.
Mit Hilfe von DemoDiff können so ausführlichere Vergleiche zwischen ost- und
westdeutschen Befragten durchgeführt werden (Kreyenfeld et al. 2012). Mittler-
weile liegt die vierte Befragungswelle des Beziehungs- und Familienpanels vor.

4.2 Stichprobenauswahl

Die vorliegende Studie nutzt die ersten drei Wellen von pairfam und DemoDiff.
In Welle 1 und Welle 3 wurde die Einschätzung der Gerechtigkeit von bezahlter
und unbezahlter Arbeit innerhalb einer Partnerschaft abgefragt. Wir nutzen den
Panelcharakter der Daten, indem wir die Informationen zur Gerechtigkeitsein-
schätzung aus Welle 3 (2010/2011) verwenden und mögliche ursächliche Faktoren,
die das Gerechtigkeitsempfinden beeinflussen können, aus den vorangegangenen
Wellen berücksichtigen. Unsere Stichprobe besteht deshalb aus heterosexuellen

1 Diese Arbeit nutzt Daten des Beziehungs- und Familienpanels pairfam, welches von
Josef Brüderl, Johannes Huinink, Bernhard Nauck und Sabine Walper geleitet wird.
Die Studie wird als Langfristvorhaben durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG) gefördert.
266 Heike Trappe & Katja Köppen

Paaren, die in Welle 3 seit mindestens zwei Jahren ehelich oder nichtehelich zu-
sammengelebt und die Frage zur Gerechtigkeitseinschätzung beantwortet haben.
Die Informationen zum Erwerbsstatus und der konkreten Aufteilung von unbe-
zahlter Arbeit werden ebenfalls aus Welle 3 bezogen. Um Kausalitätsprobleme zu
reduzieren und der Problematik einer möglichen Anpassung von Einstellungen
an die tatsächlich praktizierte Arbeitsteilung zuvorzukommen, wurden die An-
gaben zu den Geschlechterrollenvorstellungen aus Welle 1 sowie die der Anerken-
nung durch den Partner oder die Partnerin und der Beziehungszufriedenheit aus
Welle 2 genutzt. Zudem werden nur Befragte der beiden älteren Kohorten in den
Analysen berücksichtigt, da die Angehörigen der jüngsten Kohorte (1991-93)
größtenteils noch nicht mit einer Partnerin oder einem Partner dauerhaft zusam-
menleben. Wir erreichen so eine endgültige Fallzahl von 3545 Personen. Da wir
davon ausgehen, dass die Fairnesseinschätzung der Arbeitsteilung im Lebensver-
lauf variiert, haben wir unsere Stichprobe in kinderlose Befragte und Eltern auf-
geteilt und führen getrennte Analysen für beide Gruppen durch. Von allen Per-
sonen in der Stichprobe sind 758 Befragte kinderlos und 2787 bereits Eltern. Eine
Übersicht der Verteilung aller Variablen findet sich in Tabelle A1 im Anhang.

4.3 Variablen

Die abhängige Variable ist das wahrgenommene Gerechtigkeitsempfinden der


Arbeitsteilung. Als Indikator der Fairnesseinschätzung der Arbeitsteilung wurde
folgende Frage verwendet: „Wenn Sie einmal alles zusammennehmen, also Haus-
arbeit und Berufstätigkeit: Wie gerecht finden Sie die Arbeitsteilung zwischen
Ihnen und Ihrem Partner/Ihrer Partnerin insgesamt?“ Aus den Informationen
der Angaben der Männer und Frauen wurde eine neue Variable erstellt, die drei
Ausprägungen annimmt: 1 „unfair für die Frau“, 2 „fair für beide“ sowie 3 „unfair
für den Mann“. Die Ausprägung „unfair für die Frau“ setzt sich aus weiblichen
Befragten zusammen, die angeben, viel mehr oder etwas mehr als ihren gerechten
Anteil zu erledigen sowie aus männlichen Befragten, die angeben, sie erledigen
viel weniger oder etwas weniger als ihren gerechten Anteil. Die rekodierte Fair-
nessvariable erhält zudem die Ausprägung „fair für beide“ wenn Männer oder
Frauen angeben, dass sie ungefähr ihren gerechten Anteil leisten. Sagen Männer,
sie erledigen viel mehr oder etwas mehr als ihren gerechten Anteil und Frauen, sie
erledigen viel weniger oder etwas weniger als ihren gerechten Anteil, nimmt die
Variable die Ausprägung „unfair für den Mann“ an.
Die wichtigsten erklärenden Variablen lassen sich aus den vorab aufgestellten
Hypothesen ableiten.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 267

Regionale Herkunft. Ausgehend von der Annahme, dass Sozialisationsprozesse


eine wichtige Rolle bei der Einschätzung der Arbeitsteilung spielen, wird gefol-
gert, dass die Herkunftsregion einen größeren Einfluss ausübt als der derzeitige
Wohnort. Um Ost-/Westunterschiede erhellen zu können, werden deshalb die
Informationen zum Herkunftsland der Befragten verwendet (Westdeutschland/
BRD, Ostdeutschland/DDR oder anderes Land).
Erwerbsarrangement des Paares. Um die konkrete Aufteilung von bezahlter
und unbezahlter Arbeit zu messen, verwenden wir den kombinierten derzeitigen
Erwerbsstatus beider Partner. Fünf Kategorien werden dabei insgesamt berück-
sichtigt: beide Partner sind vollzeiterwerbstätig, der Mann arbeitet Vollzeit und
die Frau arbeitet Teilzeit bzw. ist geringfügig beschäft igt, der Mann arbeitet Voll-
zeit und die Frau ist in Elternzeit, der Mann arbeitet Vollzeit und die Frau ist nicht
erwerbstätig, sowie andere Konstellationen, wie z. B. Befragte in Ausbildung oder
Arbeitslosigkeit.
Aufteilung der Hausarbeit und Kinderbetreuung. Desweiteren wird der Ein-
fluss der Aufteilung der unbezahlten Arbeit auf die Gerechtigkeitswahrnehmung
der Arbeitsteilung geschätzt, indem zum einen die Aufteilung von sogenannten
Routinehausarbeiten (Wäsche waschen, Kochen und Saubermachen) und zum
anderen die Aufteilung der Kinderbetreuung untersucht wird. Diese Aktivitäten
können überwiegend oder (fast) vollständig von den Befragten übernommen wer-
den, etwa paritätisch geteilt werden, oder überwiegend oder (fast) vollständig von
dem Partner ausgeführt werden. Auch hier werden wieder die Informationen von
Männern und Frauen genutzt, indem eine Variable konstruiert wird, die misst, ob
diese Tätigkeiten überwiegend oder (fast) vollständig von der Frau bzw. der Part-
nerin übernommen werden, ob Männer und Frauen aussagen, sich die Arbeit zu
teilen oder ob die Aufgaben überwiegend oder (fast) vollständig von dem Mann
bzw. dem Partner übernommen werden.
Anerkennung. Da wir annehmen, dass die Anerkennung des Partners bzw. der
Partnerin relevant für die Gerechtigkeitswahrnehmung ist, beziehen wir die In-
formationen zur empfundenen Anerkennung in unsere Analysen mit ein. Opera-
tionalisiert wird dies anhand der wahrgenommenen Häufigkeit der vom Partner
bzw. von der Partnerin gezeigten Anerkennung auf einer Skala von eins bis fünf
(nie bis immer).
Geschlechterrollen. Zur Messung individueller Geschlechterrollenvorstellun-
gen wurden vier verschiedene Einstellungsvariablen, die Ansichten zu Familie
und Familienleben erfassen, zu einem Geschlechterrollenindex zusammenge-
fasst. Die vier Meinungen konnten auf einer Skala von eins bis fünf (von stimme
überhaupt nicht zu bis stimme voll zu) beantwortet werden und lauten: „Frau-
en sollten sich stärker um die Familie kümmern als um ihre Karriere“, „Männer
268 Heike Trappe & Katja Köppen

sollten sich genauso an der Hausarbeit beteiligen wie Frauen“, „Ein Kind unter
6 Jahren wird darunter leiden, wenn seine Mutter arbeitet“, und „Kinder leiden
oft darunter, dass sich ihre Väter zu sehr auf die Arbeit konzentrieren“. Der neue
Geschlechterrollenindex umfasst Werte von 4 (sehr traditionell) bis 20 (sehr mo-
dern). Für die Interaktionen mit dem Geschlechterrollenindex wurden die Kate-
gorien anhand der Terzile in drei Gruppen zusammengefasst in „traditionell“,
„moderat“ und „modern“.
Berufsabschluss der Mutter. Um die intergenerationale Vermittlung von Rol-
lenbildern abzubilden, wird der höchste berufliche Abschluss der Mutter der
Befragten untersucht. Idealerweise würde man für die Überprüfung der Hypo-
these die tatsächliche Arbeitsteilung der Eltern der Befragten nutzen. Da dies
im Beziehungs- und Familienpanel jedoch nicht abgefragt wird, beschränken
wir uns auf ein näherungsweises Maß und nehmen an, dass eine höhere Bildung
bzw. ein höherer Berufsabschluss der Mutter eine stärker egalitäre Einstellung
zur Arbeitsteilung impliziert. Es wird gemessen, ob die Mutter überhaupt einen
Berufsabschluss hat und wenn ja, ob sie studiert oder eine berufliche Ausbildung
abgeschlossen hat.
Desweiteren kontrollieren wir für eine Vielzahl weiterer Variablen, die sich in
verschiedenen empirischen Studien zur Arbeitsteilung und Gerechtigkeitswahr-
nehmung als einflussreich erwiesen haben: Geschlecht, Geburtsjahr, Familien-
stand, Dauer des Zusammenlebens, Größe des Wohnortes, Anzahl der Kinder
sowie Alter des jüngsten Kindes für Eltern, berufl iche Ausbildung des Paares so-
wie Beziehungszufriedenheit.

4.4 Methode

Für die deskriptiven Analysen nutzen wir ein Designgewicht, das von pairfam
bzw. DemoDiff bereitgestellt wurde, um die Über- oder Unterrepäsentation der
Kohorten in der Stichprobe an ihre aus der amtlichen Statistik ermittelte Vertei-
lung in der Bevölkerung anzupassen (Kreyenfeld et al. 2013).
Da unsere abhängige Variable mehr als zwei Kategorien aufweist, wurden für
die multivariaten Modelle jeweils getrennt für Kinderlose und Eltern multino-
miale logistische Regressionen geschätzt. Da die Effekte der geschätzten Koeffi-
zienten in multinomialen logistischen Regressionen, wenn sie als relative Risiken
dargestellt werden, mitunter schwer interpretierbar sind, haben wir uns ent-
schieden diese als durchschnittliche marginale Effekte (average marginal effects,
AME) abzubilden. Diese geben den durchschnittlichen Einfluss einer erklärenden
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 269

Variable auf die Realisierungswahrscheinlichkeit einer Ausprägung der zu erklä-


renden Variable wieder (Best und Wolf 2010).

5 Ergebnisse

5.1 Deskriptive Befunde

Frauen und Männer aus beiden Teilen Deutschlands tendieren nahezu gleicher-
maßen dazu, ihre praktizierte Arbeitsteilung als fair einzuschätzen (vgl. Ab-
bildung 1). Eine Ausnahme bilden hier ostdeutsche Frauen, die insbesondere
wenn sie Mütter sind, etwas häufiger angeben, dass die Arbeitsteilung zu ihren
Ungunsten ausfällt. Am seltensten wird sowohl von Frauen als auch von Män-
nern geäußert, dass die Aufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit in ihrer
Partnerschaft unfair für den Mann bzw. Partner ist. Die dargestellte Verteilung
ist sehr stabil über Gruppen hinweg und gilt für Frauen und Männer, Eltern und
Kinderlose, Ost- und Westdeutsche in sehr ähnlicher Weise. Insofern zeichnen
sich keine deutlichen Ost-/Westunterschiede im Hinblick auf die Gerechtigkeits-
einschätzung der Arbeitsteilung ab.

Abbildung 1 Gerechtigkeitswahrnehmung der Arbeitsteilung für Frauen und Männer


nach Herkunftsregion
270 Heike Trappe & Katja Köppen

Hinsichtlich der Erwerbsarrangements der Paare und der Aufteilung der unbe-
zahlten Arbeit zeigen sich jedoch die erwarteten Unterschiede. So praktizieren
ostdeutsche Paare häufiger als westdeutsche Paare eine doppelte Vollzeiterwerbs-
tätigkeit und seltener ein modernisiertes Ernährermodell, bei dem der Mann voll-
zeit- und die Frau teilzeiterwerbstätig ist (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2 Erwerbsarrangements nach Herkunftsregion

Von kinderlosen Frauen und Männern wird die Aufteilung der Routinehaus-
arbeiten als deutlich egalitärer wahrgenommen als von Eltern (vgl. Abbildung 3).
Auff ällig ist, dass kinderlose ostdeutsche Frauen etwas häufiger als alle anderen
Kinderlosen angeben, dass die Aufteilung der Hausarbeit zu ihren Ungunsten
ausfällt.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 271

Abbildung 3 Aufteilung von Routinehausarbeiten für Frauen und Männer nach Eltern-
schaftsstatus und Herkunftsregion

Sowohl west- als auch ostdeutsche Eltern praktizieren eine Aufteilung der häus-
lichen Arbeiten, die überwiegend zulasten der Frauen bzw. Partnerinnen erfolgt.
Bei westdeutschen Paaren ist diese Form der Arbeitsteilung jedoch noch etwas
stärker ausgeprägt.
Insbesondere bezüglich der Aufteilung der Kinderbetreuung sind Ost-/West-
unterschiede markant (vgl. Abbildung 4). Ostdeutsche Frauen und Männer sind
deutlich häufiger der Auffassung, dass diese etwa paritätisch erfolgt, während bei
westdeutschen Befragten die mit der Kinderbetreuung in Zusammenhang ste-
henden Aufgaben überwiegend der Frau bzw. Partnerin obliegen.
272 Heike Trappe & Katja Köppen

Abbildung 4 Aufteilung der Kinderbetreuung für Mütter und Väter nach Herkunfts-
region

Vor dem Hintergrund dieser deskriptiven Darstellungen zur Aufteilung von be-
zahlter und unbezahlter Arbeit lässt sich insbesondere für die Gruppe der Eltern
konstatieren, dass recht unterschiedliche Muster der Arbeitsteilung innerhalb der
Partnerschaft bei west- und ostdeutschen Frauen und Männern zu einer vergleich-
baren Fairnesswahrnehmung führen. Dies ist ein erster Hinweis für die Geltung
der Sozialisationshypothese, nach der in Westdeutschland aufgewachsene Frauen
und Männer eine ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit eher
als gerecht empfinden als Ostdeutsche.

5.2 Ergebnisse multivariater Analysen

Mittels multinomialer logistischer Regressionen wurde nun überprüft, welche


Determinanten der Fairnesseinschätzung der Arbeitsteilung zugrunde liegen (vgl.
Anhang Tabellen A2 und A3). Für die Gruppe der Kinderlosen erweisen sich nur
wenige der überprüften Zusammenhänge als statistisch signifi kant. Interessant
ist, dass eine höhere Zufriedenheit mit der Beziehung mit einer als fair wahrge-
nommenen Arbeitsteilung einhergeht. Darüber hinaus wirkt sich ein klassisches
Alleinverdienermodell des Mannes bzw. Partners, verglichen mit einem doppel-
ten Vollzeiterwerbsmodell, positiv auf eine als fair für beide Partner bewertete
Arbeitsteilung aus. Der stärkste Einfluss geht jedoch von der praktizierten Auf-
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 273

teilung der Routinehausarbeiten aus. Erfolgt diese etwa paritätisch, dann wird die
Arbeitsteilung innerhalb der Partnerschaft am ehesten als gerecht empfunden.
Die Relevanz der gelebten Praxis der partnerschaft lichen Arbeitsteilung für
deren Bewertung als fair bestätigt sich auch für die Gruppe der Eltern. Erfolgt
die Hausarbeit oder die Kinderbetreuung überwiegend durch die Frauen (ver-
glichen mit einer paritätischen Aufgabenteilung), so steht dies im Gegensatz zu
einer als fair bewerteten Arbeitsteilung. Gleichzeitig begünstigen, wie schon bei
den Kinderlosen, Erwerbskonstellationen, bei denen die Frau nicht erwerbstätig
ist, während ihr Partner Vollzeit arbeitet, eine faire Wahrnehmung der prakti-
zierten Aufteilung aller anfallenden Aufgaben. Mütter bewerten die Aufteilung
der Arbeit signifi kant seltener als fair als Väter. Darüber hinaus ist dies in Groß-
städten, bei Personen mit modernen Auffassungen von Geschlechterrollen und
für Ostdeutsche seltener der Fall. Für die Gruppe der Eltern deuten sich nach
Kontrolle aller relevanten Einflussfaktoren Ost-/Westunterschiede in der erwar-
teten Richtung an. Als positiv für die Gerechtigkeitswahrnehmung erweist sich
erneut die Zufriedenheit mit der Beziehung, aber darüber hinaus auch die An-
erkennung durch die Partnerin oder den Partner. Je häufiger diese erfolgt, umso
eher wird die praktizierte Arbeitsteilung als gerecht wahrgenommen. Je seltener
Frauen und Männer Anerkennung innerhalb ihrer Partnerschaft erfahren, desto
stärker wird die Arbeitsteilung als unfair für die Frau empfunden. Weiterfüh-
rende Analysen (vgl. Tabelle A5) zeigen darüber hinaus, dass die Häufigkeit der
Anerkennung insbesondere bei westdeutschen Eltern eine als fair wahrgenomme-
ne Arbeitsteilung begünstigt. Dies bestätigt die für andere Gesellschaften bereits
nachgewiesene Anerkennungshypothese insbesondere für westdeutsche Eltern.
Weder für Kinderlose noch für Eltern gibt es hingegen Belege für die Gültigkeit
der Intergenerationalitätshypothese, denn von dem höchsten Ausbildungsab-
schluss der Mutter geht kein zusätzlicher Effekt auf die Gerechtigkeitswahrneh-
mung der Arbeitsteilung aus.2
Die Überprüfung der übrigen Hypothesen erfolgte durch die Berücksichti-
gung von relevanten Interaktionen innerhalb der Grundmodelle für Kinderlose
und für Eltern.3 Hinsichtlich des Zusammenwirkens der Aufteilung von Haus-

2 Die auch in Modellen, die nicht für die eigene Bildung kontrollieren, nur schwach aus-
geprägten Effekte des höchsten Ausbildungsabschlusses der Mutter können auch dar-
auf zurückzuführen sein, dass mit dieser Operationalisierung die im Elternhaus erlebte
Arbeitsteilung nur unzureichend erfasst wird.
3 Die diesbezüglichen Ergebnisse sind vollständig im Anhang ausgewiesen (Tabellen A4
und A5). Im Text werden diese nur in Auszügen wiedergegeben.
274 Heike Trappe & Katja Köppen

arbeit bzw. Kinderbetreuung und der Herkunftsregion zeigen sich für Kinderlose
und Eltern unterschiedliche Effekte (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1 Interaktion zwischen Herkunftsregion und Arbeitsteilung (Average Marginal


Effects für Ausprägung „Fair für beide“)

Kinderlose Eltern
Herkunftsregion*Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Westdeutschland + Hausarbeit 50/50)
Westdeutschland + überwiegend Frau Hausarbeit -0,211 *** -0,172 ***
**
Westdeutschland + überwiegend Mann Hausarbeit -0,369 0,117
***
Ostdeutschland + überwiegend Frau Hausarbeit -0,235 -0,222 ***
Ostdeutschland + Hausarbeit 50/50 -0,043 0,024
Ostdeutschland + überwiegend Mann Hausarbeit – 0,037
Herkunftsregion*Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Westdeutschland + Kinderbetreuung 50/50)
Westdeutschland + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,016
Westdeutschland + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,231 **
Ostdeutschland + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,094 **
Ostdeutschland + Kinderbetreuung 50/50 – 0,003
Ostdeutschland + überwiegend Mann Kinderbetreuung – 0,291

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: Kontrolliert für alle Variablen im Grundmodell sowie Kategorie „übrige
Konstellationen“.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001.
Unbesetzte Kategorien werden durch - ausgewiesen.

Bei kinderlosen Frauen und Männern zeigen sich keine nennenswerten Unter-
schiede bei Ost- und Westdeutschen hinsichtlich des Einflusses der Aufteilung
der Hausarbeit auf die Fairnesseinschätzung. Ostdeutsche Eltern hingegen emp-
finden entsprechend der Vergleichsgruppenhypothese eine zulasten der Frauen
erfolgende Aufteilung stärker als ungerecht als westdeutsche Eltern. Noch deut-
lichere Unterschiede treten hinsichtlich der Kinderbetreuung zutage. Eine vor-
rangige Zuständigkeit der Mutter stellt demzufolge für westdeutsche Eltern keine
Verletzung der Fairnessnorm dar, wohl aber eine überwiegende Zuständigkeit des
Vaters. Bei ostdeutschen Eltern geht eine vorwiegend durch die Mutter erfolgende
Kinderbetreuung mit einem geringer ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden ein-
her.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 275

Tabelle 2 Interaktion zwischen Erwerbsarrangement und Arbeitsteilung (Average


Marginal Effects für Ausprägung „Fair für beide“)

Kinder- Eltern
lose
Erwerbsarrangement*Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Beide Vollzeit + Hausarbeit 50/50)
Beide Vollzeit + überwiegend Frau Hausarbeit -0,202 *** -0,259 ***
Beide Vollzeit + überwiegend Mann Hausarbeit – -0,065
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Frau Hausarbeit -0,173 ** -0,183 ***
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + Hausarbeit 50/50 -0,035 -0,022
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Mann Hausarbeit – -0,166
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Frau Hausarbeit – -0,108 *
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + Hausarbeit 50/50 – 0,002
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Mann Hausarbeit – –
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Frau -0,127 + -0,137 **
Hausarbeit
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + Hausarbeit 50/50 0,166 0,175 +
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Mann – -0,093
Hausarbeit
Erwerbsarrangement*Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Beide Vollzeit + Kinderbetreuung 50/50)
Beide Vollzeit + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,103 *
Beide Vollzeit + überwiegend Mann Kinderbetreuung – 0,063
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Frau Kinderbetreu- – -0,023
ung
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + Kinderbetreuung 50/50 – 0,055
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit + überwiegend Mann Kinderbetreu- – -0,414 **
ung
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Frau Kinderbe- – 0,078 +
treuung
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + Kinderbetreuung 50/50 – 0,042
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit + überwiegend Mann Kinder- – –
betreuung
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Frau – 0,040
Kinderbetreuung
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + Kinderbetreuung 50/50 – 0,120 *
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig + überwiegend Mann – -0,182
Kinderbetreuung
276 Heike Trappe & Katja Köppen

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: Kontrolliert für alle Variablen im Grundmodell sowie Kategorie „übrige
Konstellationen“.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001.
Unbesetzte Kategorien werden durch - ausgewiesen.

Zur Überprüfung der Doppelbelastungshypothese wurde eine Interaktion zwi-


schen dem Erwerbsarrangement des Paares und der Aufteilung von Hausarbeit
bzw. Kinderbetreuung herangezogen (vgl. Tabelle 2). Bei den kinderlosen Frauen
und Männern deutet sich bereits an, dass eine Aufteilung der Hausarbeit zulas-
ten der Frauen umso seltener als fair empfunden wird, desto stärker die Frauen
erwerbstätig sind. Bei den Eltern zeigt sich diese Abstufung der Stärke der Ef-
fekte noch deutlicher. Insofern wird eine ungleiche Verteilung von Erwerbs- und
Hausarbeit innerhalb der Partnerschaft im Sinne der Doppelbelastungshypothe-
se als unfair empfunden. Hinsichtlich der Kombination aus der Aufteilung der
Kinderbetreuung und der praktizierten Erwerbsarrangements zeigen sich keine
systematischen Effekte bezüglich der Gerechtigkeitswahrnehmung der Arbeits-
teilung. Dies ist ein Beleg dafür, dass Kinderbetreuung und Routinehausarbeiten
unterschiedliche Dimensionen darstellen, die in Kombination mit einer Erwerbs-
tätigkeit nicht gleichermaßen als Belastung empfunden werden.
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 277

Tabelle 3 Interaktion zwischen Geschlechterrollenvorstellungen und Arbeitsteilung


(Average Marginal Effects für Ausprägung „Fair für beide“)

Kinderlose Eltern
Vorstellungen von Geschlechterrollen*Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Moderat + Hausarbeit 50/50)
Traditionell + überwiegend Frau Hausarbeit -0,247 *** -0,218 ***
Traditionell + Hausarbeit 50/50 0,081 -0,086
Traditionell + überwiegend Mann Hausarbeit -0,058 -0,183
Moderat + überwiegend Frau Hausarbeit -0,130 * -0,239 ***
Moderat + überwiegend Mann Hausarbeit -0,449 + -0,050
Modern + überwiegend Frau Hausarbeit -0,206 *** -0,278 ***
Modern + Hausarbeit 50/50 -0,058 -0,048
Modern + überwiegend Mann Hausarbeit -0,132 0,036
Vorstellungen von Geschlechterrollen*Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Moderat + Kinderbetreuung 50/50)
Traditionell + überwiegend Frau Kinderbetreuung – 0,012
Traditionell + Kinderbetreuung 50/50 – 0,063
Traditionell + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,083
Moderat + überwiegend Frau Kinderbetreuung – 0,076 *
Moderat + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,063
Modern + überwiegend Frau Kinderbetreuung – -0,025
Modern + Kinderbetreuung 50/50 – 0,024
Modern + überwiegend Mann Kinderbetreuung – -0,021

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: Kontrolliert für alle Variablen im Grundmodell sowie Kategorie „übrige
Konstellationen“.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001.

Die Auseinandersetzung mit der Geschlechterrollenhypothese erfolgt mittels einer


Interaktion der Ausprägung von Geschlechterrollen und der Aufteilung von
Hausarbeiten und der Kinderbetreuung innerhalb der Partnerschaft (vgl. Tabelle
3). Hier zeigt sich, dass insbesondere die reale Aufteilung der Routinehausarbeit
einen möglichen Einfluss individueller Vorstellungen von Geschlechterrollen
überlagert. Eine vorrangige Zuständigkeit von Frauen für die Erledigung der
278 Heike Trappe & Katja Köppen

Hausarbeit wird als unfair empfunden und dies nahezu unabhängig von den Vor-
stellungen von Geschlechterrollen. Insofern findet die Geschlechterrollenhypo-
these keine Bestätigung.

Tabelle 4 Interaktion zwischen Geschlechterrollenvorstellungen und Herkunftsregion


(Average Marginal Effects für Ausprägung „Fair für beide“)

Kinderlose Eltern
Vorstellungen von Geschlechterrollen*Herkunftsregion
(Referenz: Moderat + Westdeutschland)
Traditionell + Westdeutschland -0,044 -0,030
Traditionell + Ostdeutschland – -0,005
Moderat + Ostdeutschland 0,005 -0,055 +
Modern + Westdeutschland 0,004 -0,019
Modern + Ostdeutschland -0,058 -0,082 **

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: Kontrolliert für alle Variablen im Grundmodell, fehlenden Werten sowie
Kategorie „anderes Land“.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001.
Unbesetzte Kategorien werden durch - ausgewiesen.

Individuelle Präferenzen für Geschlechterrollen erweisen sich entsprechend der


Sozialisationshypothese in Verbindung mit der Herkunftsregion als relevant für
die Fairnessbeurteilung der Arbeitsteilung. Innerhalb der Gruppe der Eltern be-
günstigen moderne Vorstellungen von Geschlechterrollen allein bei Frauen und
Männern, die in Ostdeutschland sozialisiert wurden, eine Wahrnehmung der
praktizierten Arbeitsteilung als unfair, während diese bei westdeutschen Eltern
für die Gerechtigkeitswahrnehmung irrelevant sind.

6 Fazit

Auch für Frauen und Männer junger Geburtskohorten in Deutschland weisen


unsere Ergebnisse das Paradoxon einer überwiegend als fair empfundenen un-
gleichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit innerhalb der Partner-
schaft nach. Neben der realen Arbeitsteilung als wesentlicher Determinante der
Fairnesseinschätzung erweisen sich weitere Aspekte als relevant. Dazu zählen
Wertvorstellungen und Vergleichsmaßstäbe, aber auch Legitimationsgründe und
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 279

sozialisatorische Erfahrungen. Generell zeigt sich, dass die Aufteilung von be-
zahlter und unbezahlter Arbeit am stärksten als unfair erlebt wird, wenn es zu
einer Kumulation von Anforderungen im Erwerbs- und im häuslichen Bereich
kommt, die im Sinne einer Doppelbelastung empfunden wird. Dies trifft insbe-
sondere bei Eltern vermehrt auf Frauen zu. Hier zeigt sich darüber hinaus, dass
Routinehausarbeit und Kinderbetreuung unterschiedliche Dimensionen darstel-
len, da Hausarbeit eher als Belastung wahrgenommen wird.
Die Ergebnisse unserer Analysen bestätigen im Wesentlichen die aus sozial-
psychologischen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit abgeleiteten Hypothesen.
So erweisen sich die innerhalb der Partnerschaft empfundene Anerkennung, der
individuelle Vergleichsmaßstab, die erlebte Beanspruchung durch Erwerbs- und
Hausarbeit sowie die im Sozialisationsprozess angeeigneten Vorstellungen von
Geschlechterrollen als relevant für die Gerechtigkeitseinschätzung der Arbeits-
teilung. Der Erklärungsgehalt dieser Faktoren bezieht sich vor allem auf die von
Eltern empfundene Fairness der Arbeitsteilung, obgleich sich das Ausmaß der
wahrgenommenen Gerechtigkeit bei Kinderlosen und Eltern kaum voneinander
unterscheidet. Offensichtlich verändern sich mit dem Übergang zur Elternschaft
nicht nur die praktizierte Arbeitsteilung, sondern auch die ihrer Gerechtigkeits-
wahrnehmung zugrundeliegenden Erklärungszusammenhänge.
Neben der wesentlichen Differenzierung zwischen Eltern und Kinderlosen
weisen unsere Analysen eindrucksvoll aus, dass insbesondere innerhalb der
Gruppe der Eltern markante Ost-/Westunterschiede hinsichtlich der Bedeutung
verschiedener Faktoren für die Gerechtigkeitseinschätzung der partnerschaft li-
chen Arbeitsteilung bestehen. Diese kommen beispielsweise darin zum Ausdruck,
dass die innerhalb der Partnerschaft empfundene Anerkennung insbesondere für
westdeutsche Eltern positive Auswirkungen auf die Gerechtigkeitseinschätzung
der Arbeitsteilung hat. Möglicherweise stellt die Anerkennung innerhalb der
Partnerschaft deutlich stärker als bei ostdeutschen Eltern eine Art Kompensation
für eine sich mit der Elternschaft verstärkende ungleiche Verteilung von bezahl-
ter und unbezahlter Arbeit dar und trägt somit auch zu deren Reproduktion bei.
Hingegen bewirkt die vorrangige Zuständigkeit der Frau für die Kinderbetreuung
ausschließlich bei ostdeutschen Eltern eine Verletzung der Fairnessnorm. Dies
führen wir darauf zurück, dass vor dem Hintergrund einer höheren und kontinu-
ierlicheren Erwerbsbeteiligung von Müttern in Ostdeutschland, die sich auch auf
der normativen Ebene bereits über Generationen etabliert hat, sehr viel stärker als
bei westdeutschen Paaren der Partner bzw. die Partnerin als Vergleichsmaßstab
für die Einschätzung der Gerechtigkeit herangezogen wird. Im Ergebnis dessen
wird, anders als beim innergeschlechtlichen Vergleich, eine ungleiche Auftei-
lung der Kinderbetreuung als unfair empfunden. Darüber hinaus unterstützen
280 Heike Trappe & Katja Köppen

moderne Vorstellungen von Geschlechterrollen insbesondere bei ostdeutschen


Eltern eine als unfair für die Frau bzw. Partnerin eingeschätzte Arbeitsteilung.
Dieses Ergebnis interpretieren wir als Ausdruck unterschiedlicher im Sozialisa-
tionsprozess vermittelter kultureller Leitbilder.
Die für junge Kohorten aufgezeigten Gemeinsamkeiten zwischen ost- und
westdeutschen Frauen und Männern bezüglich der Fairnesseinschätzung ihrer
Arbeitsteilung beziehen sich vor allem auf deren Ausmaß und hinsichtlich der
Determinanten auf die Gruppe der Kinderlosen, die jedoch mehrheitlich eher
eine Lebensphase verkörpert. Die für die Eltern weiterhin existierenden Ost-/
Westunterschiede in den Mechanismen, welche der Gerechtigkeitswahrnehmung
zugrundeliegen, sind Ausdruck der kontextspezifischen Wirkung der Normen
der Verantwortlichkeit für bezahlte und unbezahlte Arbeit innerhalb der Part-
nerschaft. Diese in Abhängigkeit vom sozialen Kontext variierenden Normen der
Zuständigkeit sind eine Basis für die Tradierung von Verhaltensunterschieden
über Generationen hinweg. Die Untersuchung der Fairnesswahrnehmung der
partnerschaft lichen Arbeitsteilung ist nach unserer Auffassung sehr gut geeignet,
um die normativen Grundlagen der Arbeitsteilung besser zu verstehen. Es zeigt
sich, dass die nach wie vor bestehenden Unterschiede im familialen Verhalten
in Ost- und Westdeutschland auch kulturellen Normen und Wertvorstellungen
entspringen, die über Einstellungsindikatoren teilweise erfasst werden können.

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284 Heike Trappe & Katja Köppen

Anhang
Tabelle A1 Verteilung der abhängigen und unabhängigen Variablen nach Elternschaft s-
status der Befragten, Spaltenprozente

Variable Kinderlose Eltern


Fairnesseinschätzung der Arbeitsteilung
Unfair für Frau/Partnerin 25,5 30,2
Fair für beide 67,5 66,2
Unfair für Mann/Partner 7,0 3,6
Kohorte
1981-83 65,4 26,1
1971-73 34,6 73,9
Höchster Ausbildungsabschluss Mutter von Anker
Kein Berufsabschluss 12,0 21,0
Lehre/Fachschule/Beamtenausbildung 71,0 64,5
(Fach-)Hochschule 14,6 9,6
Fehlender Wert 2,4 4,9
Geschlecht
Männer 51,1 38,9
Frauen 48,9 61,1
Familienstand
Nichteheliche Lebensgemeinschaft 54,6 13,2
Ehe 45,4 86,8
Partnerschaftsdauer
Weniger als 5 Jahre 50,3 15,9
5-10 Jahre 34,1 32,0
Mehr als 10 Jahre 15,6 52,1
Herkunftsland
Westdeutschland 72,0 63,2
Ostdeutschland 17,8 20,1
Anderes Land 10,2 16,7
Stadtgröße
Bis 20.000 Einwohner 45,7 50,2
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 285

Tabelle A1 Fortsetzung
Variable Kinderlose Eltern
Mehr als 20.000 und bis zu 100.000 Einwohner 27,1 27,3
Mehr als 100.000 Einwohner 27,2 22,5
Anzahl der Kinder
1 – 33,5
2 – 44,7
3+ – 21,8
Alter des jüngsten Kindes
Fehlender Wert – 0,6
0-3 – 45,1
4-6 – 20,9
7+ – 33,4
Höchster Berufsabschluss der Partner
Beide keinen Abschluss 3.5 4,4
Beide berufl iche Ausbildung 40.8 46,2
Beide (Fach-)Hochschulausbildung 20.0 14,5
Frau geringer als Mann 17.1 21,4
Mann geringer als Frau 18.6 13,5
Häufigkeit der Anerkennung durch Partner/in
Nie – 0,5
2 2,3 6,4
3 17,5 25,9
4 61,7 53,9
Immer 18,5 13,4
Erwerbsarrangement der Partner
Fehlender Wert 1,1 0,7
Beide Vollzeit 55,5 15,7
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit 7,6 35,5
Mann Vollzeit/Frau Elternzeit – 16,6
Mann Vollzeit/Frau nicht erwerbstätig 16,8 16,4
Andere Kombinationen 19,0 15,1
286 Heike Trappe & Katja Köppen

Tabelle A1 Fortsetzung
Variable Kinderlose Eltern
Arbeitsteilung: Hausarbeit
Überwiegend Frau 47,6 76,0
50/50 49,0 20,9
Überwiegend Mann 3,4 3,1
Arbeitsteilung: Kinderbetreuung
Fehlender Wert – 1,6
Überwiegend Frau – 61,9
50/50 – 34,2
Überwiegend Mann – 2,3
Beziehungszufriedenheit (Skala von 0-10)
Mittelwert (SE) 8,3 (2,02) 8,0 (2,21)
Geschlechterrollenindex (Skala von 4-20)
Mittelwert (SE) 14,7 (2,41) 14,2 (2,65)
Gesamt 100 (n = 100 (n =
758) 2787)

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3, gewichtete Ergebnisse


Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 287

Tabelle A2 Multinomiale logistische Regression (Grundmodell ohne Interaktionen) für


Kinderlose: Einschätzung der Fairness der Arbeitsteilung

Unfair für die Fair für Beide Unfair für den


Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Kohorte (Referenz: 1981-83)
1971-73 -0,035 0,04 0,013 0,04 0,022 0,02
Geschlecht (Referenz: Mann)
Frau 0,025 0,03 -0,003 0,03 -0,022 0,02
Familienstand (Referenz: NEL)
Verheiratet -0,049 0,03 0,061 0,04 -0,012 0,02
Dauer des Zusammenlebens (Referenz: 5-10 Jahre)
Weniger als 5 Jahre -0,033 0,03 0,019 0,04 0,014 0,02
Mehr als 10 Jahre -0,031 0,05 0,002 0,06 0,029 0,03
Regionale Herkunft (Referenz: Westdeutschland/BRD)
Ostdeutschland/DDR -0,002 0,03 -0,005 0,04 0,006 0,02
Anderes Land -0,004 0,06 -0,007 0,06 0,011 0,03
Größe des Wohnorts (Referenz: Bis 20.000 Einwohner)
20.000-100.000 EW 0,024 0,04 -0,033 0,04 0,008 0,02
> 100.000 EW -0,002 0,04 0,007 0,04 -0,005 0,02
Berufliche Bildung des Paares (Referenz: Beide berufl iche Ausbildung)
Beide ohne AB 0,096 0,09 -0,101 0,10 0,005 0,05
Beide Studium 0,025 0,04 -0,053 0,05 0,027 0,03
Frau < Mann 0,037 0,04 -0,063 0,05 0,027 0,02
Frau > Mann 0,067 0,04 -0,072 0,05 0,006 0,03
Beziehungszufriedenheit -0,008 0,01 0,015 * 0,01 -0,007 + 0,004
(0-10)
Erwerbsarrangement des Paares (Referenz: Beide Vollzeit)
Mann Vollzeit/Frau Teilzeit -0,077 0,06 0,060 0,06 0,016 0,04
Mann Vollzeit/Frau NET -0,154 *** 0,05 0,129 * 0,05 0,025 0,02
Übrige Konstellationen 0,033 0,04 -0,031 0,05 -0,002 0,02
288 Heike Trappe & Katja Köppen

Tabelle A2 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Halbe/Halbe)
Überwiegend durch Frau 0,300 *** 0,03 -0,220 *** 0,03 -0,080 *** 0,02
**
Überwiegend durch Mann 0,149 0,09 -0,253 0,10 0,104 *** 0,03
Moderne Vorstellungen 0,010 0,01 -0,008 0,01 -0,002 0,004
von Geschlechterrollen
(4-20)
Anerkennung durch -0,021 0,02 0,032 0,03 -0,012 0,01
Partner/in
(1-5)
Höchster beruflicher Abschluss der Mutter (Referenz: Berufl iche Ausbildung)
Kein Abschluss 0,004 0,05 -0,031 0,06 0,027 0,03
Studium 0,011 0,04 -0,008 0,05 -0,003 0,03
n = 758
Likelihood Ratio = 170,96 ***
Pseudo R2 = 0,14

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: kontrolliert für fehlende Werte in Erwerbsarrangements und beruflichem
Abschluss der Mutter.
AME=average marginal effects (durchschnittliche Marginaleffekte); SE=Standardfehler.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 289

Tabelle A3 Multinomiale logistische Regression (Grundmodell ohne Interaktionen) für


Eltern: Einschätzung der Fairness der Arbeitsteilung

Unfair für die Fair für Beide Unfair für den


Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Kohorte (Referenz: 1981-83)
1981-83 0,000 0,02 -0,007 0,03 0,007 0,01
Geschlecht (Referenz: Mann)
Frau 0,092 *** 0,02 -0,070 *** 0,03 -0,022 ** 0,01
Familienstand (Referenz: NEL)
Verheiratet -0,009 0,03 0,025 0,03 -0,016 + 0,01
Dauer des Zusammenlebens (Referenz: 5-10 Jahre)
Weniger als 5 Jahre 0,039 0,03 -0,036 0,03 -0,002 0,01
Mehr als 10 Jahre 0,028 0,02 -0,021 0,02 -0,007 0,01
Regionale Herkunft (Referenz: Westdeutschland/BRD)
Ostdeutschland/DDR 0,057 ** 0,02 -0,041+ 0,02 -0,016 + 0,01
Anderes Land 0,030 0,03 -0,040 0,03 0,011 0,01
Größe des Wohnorts (Referenz: Bis 20.000 Einwohner)
20.000-100.000 EW 0,007 0,02 0,002 0,02 -0,008 0,01
** **
> 100.000 EW 0,063 0,02 -0,074 0,02 0,011 0,01
Anzahl der Kinder (Referenz: 1 Kind)
2 Kinder 0,010 0,02 -0,003 0,02 -0,007 0,01
3 und mehr Kinder 0,009 0,03 0,019 0,03 -0,027 * 0,01
Alter des jüngsten Kindes (Referenz: 0-3 Jahre)
4-6 Jahre -0,024 0,03 0,029 0,03 -0,005 0,01
+
7 Jahre und älter -0,041 0,02 0,037 0,03 0,005 0,01
Berufliche Bildung des Paares (Referenz: Beide berufl iche Ausbildung)
Beide ohne AB -0,001 0,05 -0,015 0,05 0,018 0,01
Beide Studium -0,015 0,03 0,022 0,03 -0,006 0,01
Frau < Mann -0,006 0,02 0,002 0,02 0,004 0,01
Frau > Mann 0,015 0,03 -0,009 0,02 -0,006 0,01
Beziehungszufriedenheit -0,012 ** 0,004 0,014 *** 0,004 -0,003 + 0,001
(0-10)
290 Heike Trappe & Katja Köppen

Tabelle A3 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
Erwerbsarrangement des Paares (Referenz: Beide Vollzeit)
Mann Vollzeit/Frau Teil- -0,050 * 0,02 0,050 + 0,03 -0,001 0,01
zeit
Mann Vollzeit/Frau -0,133 *** 0,03 0,132 *** 0,03 -0,002 0,01
Elternzeit
Mann Vollzeit/Frau NET -0,126 *** 0,03 0,113 *** 0,03 0,013 0,01
Übrige Konstellationen -0,043 0,03 0,059 + 0,03 -0,016 0,01
Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Halbe/Halbe)
Überwiegend durch Frau 0,234 *** 0,02 -0,213 *** 0,02 -0,021 * 0,01
***
Überwiegend durch Mann -0,028 0,08 -0,030 0,07 0,058 0,01
Aufteilung der Kinderbetreuung (Referenz: Halbe/Halbe)
Überwiegend durch Frau 0,064 ** 0,08 -0,061 ** 0,02 -0,003 0,01
Überwiegend durch Mann 0,091 0,07 -0,111 0,07 0,019 0,01
Moderne Vorstellungen 0,009 * 0,003 -0,007 + 0,001 -0,002 0,001
von Geschlechterrollen
(4-20)
Anerkennung durch -0,039 ** 0,01 0,040 ** 0,01 -0,001 0,005
Partner/in
(1-5)
Höchster beruflicher Abschluss der Mutter (Referenz: Berufl iche Ausbildung)
Kein Abschluss 0,013 0,02 -0,007 0,03 -0,006 0,01
Studium -0,023 0,03 0,022 0,03 0,003 0,01
n = 2787
Likelihood Ratio = 359,44 ***
Pseudo R2 = 0,09

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: kontrolliert für fehlende Werte in Alter des jüngsten Kindes, Aufteilung
der Kinderbetreuung, Erwerbsarrangements und berufl ichem Abschluss der Mutter.
AME=average marginal effects (durchschnittliche Marginaleffekte); SE=Standardfehler.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 291

Tabelle A4 Multinomiale logistische Regression (Interaktionen im Modell für Kinder-


lose): Einschätzung der Fairness der Arbeitsteilung (n = 758)

Unfair für die Fair für Beide Unfair für den


Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Erwerbsarrangement des Paares und Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Beide Vollzeit + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Beide Vollzeit + 0,305 *** 0,04 -0,202 *** 0,05 -0,103 ** 0,04
überw. Frau HH
Beide Vollzeit + – – – – – –
überw. Mann HH
M. VZ/F. TZ + 0,189 ** 0,07 -0,173 ** 0,08 -0,016 0,04
überw. Frau HH
M. VZ/F. TZ + 50/50 0,041 0,11 -0,035 0,12 -0.006 0,06
M. VZ/F. TZ + – – – – – –
überw. Mann HH
M. VZ/F. Elternzeit + – – – – – –
überw. F. HH
M. VZ/F. Elternzeit + – – – – – –
HH 50/50
M. VZ/F. Elternzeit + – – – – – –
überw. Mann HH
M. VZ/F. NET + 0,152 * 0,06 -0,127 + 0,07 -0.026 0,03
überw. Frau HH
M. VZ/F. NET + -0,177 + 0,10 0,166 0,10 0,010 0,03
Hausarbeit 50/50
M. VZ/F. NET + – – – – – –
überw. Mann HH
Übrige Konst.-en + 0,315 *** 0,05 -0,264 *** 0,07 -0,054 0,05
überw. Frau HH
Übrige Konst.-en + 0,023 0,06 -0,059 0,07 0,036 0,03
Hausarbeit 50/50
Übrige Konst.-en + 0,232 * 0,09 -0,229 * 0,11 -0,003 0,06
überw. Mann HH
Herkunftsregion und Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Westdeutschland +
Hausarbeit Halbe/Halbe)
WD + überw. Frau HH 0,326 *** 0,04 -0,211 *** 0,05 -0,114 ** 0,04
* ** **
WD + überw. Mann HH 0,253 0,11 -0,369 0,12 0,115 0,04
292 Heike Trappe & Katja Köppen

Tabelle A4 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
OD + überw. Frau HH 0,306 *** 0,04 -0,235 *** 0,05 -0,071 * 0,04
OD + Hausarbeit 50/50 0,050 0,05 -0,043 0,06 -0,006 0,02
OD + überw. Mann HH – – – – – –
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: moderat + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Traditionell + 0,275 *** 0,05 -0,247 *** 0,06 -0,029 0,03
überw. Frau HH
Traditionell + -0,098 0,09 0,081 0,09 0,017 0,03
Hausarbeit 50/50
Traditionell + 0,032 0,19 -0,058 0,19 0,026 0,06
überw. Mann HH
Moderat + überw. Frau HH 0,221 *** 0,04 -0,130 * 0,05 -0,091 * 0,04
Moderat + 0,229 0,22 -0,449 + 0,25 0,221 *** 0,05
überw. Mann HH
Modern + überw. Frau HH 0,297 *** 0,05 -0,206 *** 0,06 -0,091 * 0,04
Modern + Hausarbeit 50/50 -0,058 0,06 -0,058 0,06 -0,0003 0,02
Modern + überw. Mann HH 0,132 0,12 -0,132 0,14 -0,0008 0,06
Herkunftsregion und Häufigkeit der Anerkennung durch Partner/in
(Referenz: WD + häufig Anerkennung)
WD + selten oder -0,004 0,12 -0,056 0,13 0,060 0,06
nie Anerkennung
WD + 0,040 0,05 -0,006 0,06 -0,034 0,04
manchmal Anerkennung
WD + immer Anerkennung -0,013 0,05 -0,013 0,06 0,026 0,03
OD + selten oder – – – – – –
nie Anerkennung
OD + manchmal 0,113 0,08 -0,177 * 0,08 0,064 0,04
Anerkennung
OD + häufig Anerkennung -0,008 0,04 -0,0004 0,04 0,009 0,02
OD + immer Anerkennung – – – – – –
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Herkunftsregion (Referenz: Moderat +
Westdeutschland)
Traditionell + 0,019 0,05 -0,044 0,06 0,024 0,03
Westdeutschland
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 293

Tabelle A4 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
Traditionell + – – – – – –
Ostdeutschland
Moderat + Ostdeutschland -0,025 0,05 0,005 0,05 0,019 0,03
Modern + Westdeutschland 0,025 0,04 0,004 0,05 -0,029 0,03
Modern + Ostdeutschland 0,052 0,05 -0,058 0,05 -0,004 0,03

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: kontrolliert für fehlende Werte in Erwerbsarrangements, anderes Land
und Hausarbeit.
AME=average marginal effects (durchschnittliche Marginaleffekte); SE=Standardfehler.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001.
Unbesetzte Kategorien werden durch – ausgewiesen.
294 Heike Trappe & Katja Köppen

Tabelle A5 Multinomiale logistische Regression (Interaktionen im Modell für Eltern):


Einschätzung der Fairness der Arbeitsteilung (n = 2.787)

Unfair für die Fair für Beide Unfair für den


Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Erwerbsarrangement des Paares und Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: Beide Vollzeit + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Beide Vollzeit + 0,263 *** 0,04 -0,259 *** 0,05 -0,004 0,02
überw. Frau HH
Beide Vollzeit + -0,019 0,16 -0,065 0,16 0,085 *** 0,02
überw. Mann HH
M. VZ/F. TZ + 0,203 *** 0,04 -0,183 *** 0,04 -0,020 0,02
überw. F. HH
M. VZ/F. TZ + HH 50/50 0,004 0,06 -0,022 0,06 0,018 0,02
**
M. VZ/F. TZ + 0,081 0,17 -0,166 0,18 0,085 0,03
überw. M. HH
M. VZ/F. Elternzeit + 0,116 * 0,05 -0,108 * 0,05 -0,008 0,02
überw. F. HH
M. VZ/F. Elternzeit + -0,003 0,08 0,002 0,08 0,001 0,03
HH 50/50
M. VZ/F. Elternzeit + – – – – – –
überw.M. HH
M. VZ/F. NET + 0,138 ** 0,05 -0,137 ** 0,05 -0,0001 0,02
überw. F. HH
M. VZ/F. NET + HH 50/50 -0,215 ** 0,09 0,175 + 0,09 0,041 0,02
*
M. VZ/F. NET + 0,030 0,22 -0,093 0,22 0,062 0,03
überw. M. HH
Übrige Konst.-en + 0,218 *** 0,05 -0,208 *** 0,05 -0,010 0,02
überw. F. HH
Übrige Konst.-en + -0,026 0,06 0,041 0,06 -0,016 0,02
HH 50/50
Übrige Konst.-en + -0,128 0,11 0,078 0,11 0,051 * 0,02
überw. M. HH
Erwerbsarrangement des Paares und Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Beide Vollzeit + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Beide Vollzeit + 0,095 * 0,04 -0,103 * 0,04 -0,040 0,04
überw. Frau KI
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 295

Tabelle A5 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Beide Vollzeit + -0,049 0,16 0,063 0,16 0,007 0,02
überw. Mann KI
M. VZ/F. TZ + überw. F. KI 0,029 0,03 -0,023 0,03 -0,006 0,01
M. VZ/F. TZ + KI 50/50 -0,051 0,04 0,055 0,04 -0,004 0,01
M. VZ/F. TZ + überw. M. KI 0,409 ** 0,15 -0,414 ** 0,16 0,005 0,04
+
M. VZ/F. Elternzeit + -0,071 0,04 0,078 + 0,04 -0,007 0,02
überw. F. KI
M. VZ/F. Elternzeit + -0,016 0,06 0,042 0,06 -0,027 0,03
KI 50/50
M. VZ/F. Elternzeit + – – – – – –
überw. M. KI
M. VZ/F. NET + -0,045 0,04 0,040 0,04 0,005 0,01
überw. F. KI
M. VZ/F. NET + KI 50/50 -0,137 * 0,06 0,120 * 0,06 0,017 0,02
M. VZ/F. NET + 0,184 0,15 -0,182 0,16 -0,002 0,04
überw. M. KI
Übrige Konst.-en + 0,030 0,04 0,005 0,05 -0,035 0,02
überw. F. KI
Übrige Konst.-en + KI 50/50 -0,018 0,04 0,049 0,04 -0,031 0,02
Übrige Konst.-en + -0,162 0,16 0,149 0,15 0,013 0,02
überw. M. KI
Herkunftsregion und Aufteilung der Hausarbeit (Referenz: Westdeutschland +
Hausarbeit Halbe/Halbe)
WD + überw. Frau HH 0,193 *** 0,04 -0,172 *** 0,04 -0,021 + 0,01
WD + überw. Mann HH -0,179 0,12 0,117 0,12 0,062 *** 0,02
*** *** *
OD + überw. Frau HH 0,261 0,04 -0,222 0,04 -0,039 0,01
OD + Hausarbeit 50/50 -0,010 0,05 0,024 0,05 -0,014 0,01
OD + überw. Mann HH -0,086 0,15 0,037 0,15 0,049 * 0,02
Herkunftsregion und Aufteilung der Kinderbetreuung
(Referenz: Westdeutschland + Kinderbetreuung Halbe/Halbe)
WD + überw. Frau KI 0,031 0,03 -0,016 0,03 -0,014 0,01
**
WD + überw. Mann KI 0,217 0,09 -0,231 0,09 0,014 0,02
296 Heike Trappe & Katja Köppen

Tabelle A5 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
*** ** +
OD + überw. Frau KI 0,120 0,03 -0,094 0,03 -0,026 0,01
OD + Kinderbetreuung 0,018 0,03 0,003 0,03 -0,021 + 0,01
50/50
OD + überw. Mann KI -0,269 0,21 0,291 0,20 -0,022 0,04
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Aufteilung der Hausarbeit
(Referenz: moderat + Hausarbeit Halbe/Halbe)
Traditionell + überw. Frau 0,227 *** 0,04 -0,218 *** 0,04 -0,008 0,02
HH
Traditionell + Hausarbeit 0,047 0,07 -0,086 0,07 0,035 * 0,02
50/50
Traditionell + überw. Mann 0,144 0,11 -0,183 0,11 0,039 0,02
HH
Moderat + überw. Frau HH 0,240 *** 0,04 -0,239 *** 0,04 -0,001 0,01
Moderat + überw. Mann -0,047 0,16 -0,050 0,15 0,097 *** 0,02
HH
Modern + überw. Frau HH 0,290 *** 0,04 -0,278 *** 0,04 -0,015 0,02
Modern + Hausarbeit 50/50 0,045 0,05 -0,048 0,05 0,003 0,02
Modern + überw. Mann HH -0,102 0,13 0,036 0,13 0,066 0,02

Vorstellungen von Geschlechterrollen und Aufteilung der Kinderbetreuung


(Referenz: moderat + Kinderbetreuung Halbe/Halbe)
Traditionell + überw. Frau -0,025 0,03 0,012 0,03 0,013 0,01
KI
Traditionell + KI 50/50 -0,048 0,04 0,063 0,04 -0,015 0,02
Traditionell + überw. Mann 0,071 0,11 -0,083 0,12 0,011 0,03
KI
Moderat + überw. Frau KI -0,090 ** 0,03 0,076 * 0,03 0,014 0,01
+
Moderat + überw. Mann KI 0,022 0,12 -0,063 0,12 0,041 0,02
Modern + überw. Frau KI 0,035 0,03 -0,025 0,03 -0,010 0,01
Modern + KI 50/50 -0,025 0,03 0,024 0,03 0,001 0,01
Modern + überw. Mann KI 0,008 0,12 -0,021 0,12 0,013 0,02
Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitsteilung 297

Tabelle A5 Fortsetzung
Unfair für die Fair für Beide Unfair für den
Frau/Partnerin Mann/Partner
AME SE AME SE AME SE
Herkunftsregion und Häufigkeit der Anerkennung durch Partner/in
(Referenz: WD + häufig Anerkennung)
WD + selten oder nie An- 0,144 ** 0,04 -0,166 *** 0,05 0,022 0,01
erkennung
WD + manchmal 0,039 0,03 -0,032 0,03 -0,007 0,01
Anerkennung
WD + immer Anerkennung 0,002 0,04 0,026 0,04 -0,028 0,02
OD + selten oder nie 0,130 + 0,07 -0,126 + 0,08 -0,004 0,03
Anerkennung
OD + manchmal 0,049 0,04 -0,003 0,05 -0,046 + 0,02
Anerkennung
OD + häufig Anerkennung 0,075 0,03 -0,058 ** 0,03 -0,017 0,01
OD + immer Anerkennung 0,080 0,06 -0,082 0,06 0,002 0,02
Vorstellungen von Geschlechterrollen und Herkunftsregion (Referenz: Moderat +
Westdeutschland)
Traditionell + 0,025 0,03 -0,030 0,03 0,005 0,01
Westdeutschland
Traditionell + 0,022 0,04 -0,005 0,04 -0,018 0,02
Ostdeutschland
Moderat + Ostdeutschland 0,061 + 0,03 -0,055 + 0,03 -0,006 0,01
Modern + Westdeutschland 0,029 0,03 -0,019 0,03 -0,010 0,01
*** ** *
Modern + Ostdeutschland 0,116 0,03 -0,082 0,03 -0,034 0,01

Daten: Pairfam/DemoDiff, Wellen 1-3.


Zur Beachtung: kontrolliert für fehlende Werte in Aufteilung der Kinderbetreuung,
Erwerbsarrangements, anderes Land und Hausarbeit.
AME=average marginal effects (durchschnittliche Marginaleffekte); SE=Standardfehler.
Signifi kanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001.
Unbesetzte Kategorien werden durch – ausgewiesen.
Generationen in Europa: Theoretische
Perspektiven und empirische Befunde
Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

1 Generationenbeziehungen in der Gesellschaft

Die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern gehören zu den wichtigsten
und langlebigsten in der Familie. In seiner Auseinandersetzung mit verschiede-
nen Definitionen des Begriffs ‚Familie‘ schlägt Schneider (2008, S. 13) vor, diese
als „eine exklusive Solidargemeinschaft, die auf relative Dauer angelegt ist“ zu be-
greifen. Damit wird Familie aus einer Mikroperspektive als sozialer Interaktions-
rahmen für Individuen beschrieben, der seinen exklusiven Charakter durch eine
spezifische, in der Regel generationenübergreifende Rollenstruktur (Vater – Mut-
ter – Kind) und die Solidarbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern erhält.
Entsprechend sind die Existenz und der Fortbestand der Familie unter anderem
darin begründet, dass diese spezifische Solidargemeinschaft bei der Produktion
bestimmter Leistungen Effizienzvorteile gegenüber anderen Organisations-
formen (z.B. Wohlfahrtsstaaten) mit sich bringt. So existieren ganz bestimmte
gesellschaft liche Vorstellungen, was die Familie und vor allem Eltern und ihre
Kinder füreinander zu leisten haben. Diese spiegeln sich in den unterschiedlichen
sozial- und familienpolitischen Ausgestaltungen verschiedener Wohlfahrtsstaa-
ten. Politik hat damit umgekehrt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Fa-
milien- und Generationenbeziehungen, was sich zum Beispiel beim Einfluss von
Sozialpolitik auf die Unterstützungsfunktion der Familie zeigt (z.B. Brandt und
Deindl 2013). Was Generationenbeziehungen soziologisch weiterhin spannend
macht, ist die Tatsache, dass sie familiale und gesellschaft liche Generationen, also
(Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder und Jung und Alt verbinden. Familie ist damit

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
300 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

der Rahmen, in dem verschiedene gesellschaft liche Generationen als Eltern und
Kinder ihr Leben teilen. Angesichts einer andauernden Pluralisierung von Fami-
lien- und Lebensformen (z.B. Peuckert 2012) – die sich u.a. in sinkenden Heirats-
ziffern sowie einer zunehmenden Instabilität von Partnerschaften widerspiegelt
– sowie eines massiven demographischen Wandels mit dauerhaft niedrigen Ge-
burtenziffern und einer stetig steigenden Lebenserwartung stellt sich verstärkt
die Frage nach der zukünft igen Entwicklung und den Solidaritätspotenzialen ge-
nerationenübergreifender Netzwerke innerhalb von Familien (z.B. Murphy 2011;
Tomassini und Wolf 2000).
Im Zuge dieses Wandels hat auch die Erforschung der Beziehungen zwischen
(Groß-)Eltern und (Enkel-)Kindern an Bedeutung gewonnen, über die in diesem
Beitrag ein kurzer Überblick gegeben werden soll. Da sich die beschriebenen Zu-
sammenhänge am besten im internationalen Vergleich erforschen lassen, wird
der Fokus dabei auf Generationensolidarität in europäischen Wohlfahrtsstaaten
liegen.

2 Was sind Generationen?

Der Begriff „Generation“ trägt eine doppelte Bedeutung und bezeichnet einerseits
„familiale“ und andererseits „gesellschaft liche Generationen“ (Szydlik 2000). Fa-
miliale Generationen bezeichnen Mitglieder der Abstammungslinie einer Fami-
lie, und damit (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder. Die Zuordnung des Einzelnen
– Eltern sind ja immer auch Kinder – ist dabei eine Frage der Perspektive. Ge-
sellschaft liche Generationen grenzen hingegen unterschiedliche soziale Gruppen
voneinander ab. Der Begriff beschreibt damit mehr als bloß eine Geburtskohorte
(die Gleichbehandlung von Kohorten und Generationen ist wahrscheinlich der
häufigste Fehler bei der Verwendung des Generationenbegriffs). Nach Mannheim
(1964) muss eine „Generationenlagerung“, ein „Generationenzusammenhang“
und eine „Generationeneinheit“ existieren, um eine Generation in der Gesell-
schaft zu konstituieren. Mitglieder einer solchen Generation sind also nicht nur
zur selben Zeit geboren (Lage), sie teilen auch ein gemeinsames Schicksal (Zu-
sammenhang) und ein gemeinsames Bewusstsein (Einheit).
Während also in der Familie von „Generationenbeziehungen“ zwischen Eltern
und Kindern und vom „Generationenzusammenhalt“ die Rede ist, geht es auf ge-
sellschaft licher Ebene vorrangig um „Generationenverhältnisse“ zwischen Jung
und Alt und um den sogenannten „Generationenvertrag“ (Kaufmann 1993; Szyd-
lik und Künemund 2009). Gesellschaft liche Generationen lassen sich in weitere
Untergruppen unterteilen, je nachdem auf welchem Gebiet sich die Gemeinsam-
Generationen in Europa 301

keiten finden (Kohli und Szydlik 2000, S. 7f.): Eine „politische Generation“ ist
zum Beispiel die sogenannte 68er-Generation, die „Generation Golf“ könnte als
„kulturelle Generation“ genannt werden, während es sich bei der „Wirtschafts-
wundergeneration“ um eine „ökonomische Generation“ handelt – wobei die
Bereiche nicht immer ganz trennscharf abgegrenzt werden können. Wenn im
Weiteren von Generationen die Rede ist, meinen wir familiale Generationen und
intergenerationale Beziehungen, also die Beziehung zwischen Eltern, Kindern,
Großeltern und Enkelkindern – die aber natürlich gesellschaft liche Generationen
untereinander verbinden und über Solidaritätspotentiale, Konfl ikte und Ambiva-
lenzen Aufschluss geben können (siehe z.B. Prinzen 2014).

3 Theoretische Ansätze der Generationenforschung

3.1 Generationenbeziehungen: Solidarität, Konflikt,


Ambivalenz und Segregation

Die Beziehungen zwischen Generationen lassen sich aus der Perspektive der „So-
lidarität“, des „Konflikts“, der „Ambivalenz“ oder der „Segregation“ beschreiben
(Höpflinger 1999). Die Segregationsperspektive wurde in den sechziger Jahren
des letzten Jahrhunderts vor allem von Vertretern wie Talcott Parsons (1943) ein-
genommen, der einen Bedeutungs- und Funktionsverlust der Familie durch die
zunehmende Isolierung der Kernfamilie sah. Dieser Sicht widersprechen aber bis
heute die meisten Forschungsergebnisse, die einen regen Austausch zwischen Ge-
nerationen belegen, auch wenn die Kinder aus dem Haushalt ausgezogen sind und
eine eigene Familie gründen (Arber und Attias-Donfut 2000). Das von Bengtson
und Kollegen (Bengtson 2001; Bengtson und Roberts 1991) vorgeschlagene Mo-
dell intergenerationaler Solidarität ist damit auch der heute in der Familiensozio-
logie dominierende Ansatz zur Erforschung der Beziehungen zwischen (Groß-)
Eltern und (Enkel-)Kindern. Der diesem Modell zu Grunde liegende Solidaritäts-
begriff ist als „Metakonstrukt“ (Lüscher und Liegle 2003, S. 269) angelegt, das
sechs Komponenten bzw. Dimensionen familialer Generationenbeziehungen sub-
sumiert – wenn sich dies auch empirisch nicht einwandfrei zeigen lässt (Bengtson
und Roberts 1991, S. 859).
(1) „Strukturelle Solidarität“ bezeichnet die Gelegenheitsstruktur für Aus-
tausch zwischen den Generationen, wie sie sich etwa in der Wohnentfernung zwi-
schen Eltern und Kindern widerspiegelt.
302 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

(2) „Assoziative Solidarität“ bezieht sich auf die Häufigkeit und Muster der
Interaktion zwischen Familienmitgliedern, wie zum Beispiel die Kontakthäufig-
keit oder gemeinsame Unternehmungen.
(3) „Funktionale Solidarität“ beschreibt den Austausch von Ressourcen zwi-
schen den Generationen und schließt sowohl finanzielle Transfers als auch prak-
tische Hilfe ein.
(4) „Affektive Solidarität“ umfasst das Ausmaß und die Gegenseitigkeit der
positiven Gefühle zwischen den Familienangehörigen.
(5) „Konsensuelle Solidarität“ bezeichnet den Grad der Übereinstimmung der
Einstellungen, Ansichten und Meinungen der Familienmitglieder.
(6) „Normative Solidarität“ beschreibt die Stärke, mit der man sich an familiä-
re Rollen und Verpflichtungen gebunden fühlt.
Mit dieser Differenzierung geht Bengtsons Modell über schlichte Dichotomien
wie jene von der „Bilderbuchfamilie“ einerseits oder dem „Verfall der Familie“
andererseits hinaus und erlaubt eine angemessene Analyse der facettenreichen
und komplexen Beziehungen zwischen Familienmitgliedern – denn nicht immer
gehen die einzelnen Solidaritätsformen Hand in Hand (Höpflinger 2008) und sie
werden von unterschiedlichen individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen,
von Familienstrukturen und auch kontextuellen Faktoren beeinflusst (Szydlik
2000). Zudem sind die beschriebenen Dimensionen empirisch sehr gut erfassbar
und damit eine äußerst beliebte Grundlage für die (international vergleichende)
quantitative Generationenforschung. Trotz allem bleibt der Ansatz nicht ohne
Kritik. Neben dem Vorwurf der fehlenden analytischen Unterscheidung zwi-
schen Solidaritätsausdruck, womit konkrete Handlungen gemeint sind, und So-
lidaritätspotential, also der Möglichkeit zu aufeinander bezogenen solidarischen
Handlungen (z.B. Szydlik 2000, 2012), bezieht sich eine weitere Kritik auf die
mangelnde Berücksichtigung von Konflikten und der Ambivalenz familiärer Be-
ziehungen (siehe jedoch Bengtson et al. 2002).
Konflikt sollte nicht als Gegenteil von Solidarität betrachtet werden, sondern
als eigenständige Dimension (Daatland und Herlofson 2003) – nicht zuletzt, da
ein hohes Maß an Nähe auch Konflikte hervorruft (Halpern 1994). Vor allem mit
heranwachsenden Kindern, die noch bei ihren Eltern wohnen, kommt es häufig
zu Konflikten (Osborne und Fincham 1994). Später sind es dann wechselseitige
Abhängigkeiten zwischen älteren Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die zu
Konflikten führen können – wie beispielsweise ein Pflegebedarf der Eltern (Daat-
land 1990), oder auch langfristige finanzielle Abhängigkeiten der Kinder (Lüscher
und Pillemer 1998).
Das Konzept der Ambivalenz vereinigt die Solidaritäts- und die Konflikt-
perspektive – und beseitigt damit einige Schwächen beider Betrachtungsweisen
Generationen in Europa 303

(Connidis und McMullin 2002). Ambivalenz beschreibt „Gegensätze des Fühlens,


Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung, die für die Kons-
titution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, [die] zeitweise
oder dauernd als unlösbar interpretiert werden“ (Lettke und Lüscher 2002, S.
441). Dabei wird zwischen Ambivalenzen auf der individuellen und der institu-
tionellen Ebene unterschieden. Auf der individuellen Ebene sind es Emotionen
und Motivationen, die zur Ambivalenzen führen, auf der institutionellen Ebene
sind es Rollen und Normen, die Ambivalenzen auslösen (Lüscher und Pillemer
1998; Lüscher 2002). Ambivalenz entsteht also beispielsweise, wenn man zwar
selbstlos helfen möchte, jedoch auch gerne eine Gegenleistung bekäme. Die Lö-
sung von Ambivalenzen kann friedvoll oder nicht friedvoll stattfi nden und zu
vier verschiedenen Zuständen führen. Bei einer friedvollen Lösung kommt es ent-
weder zu „Solidarität“ („übereinstimmend bewahren“) oder zur „Emanzipation“
(„einvernehmlich entwickeln“), bei einer nicht friedvollen Lösung der Ambiva-
lenz kommt es zur „Kaptivation“ („uneinig ausharren“) oder zur „Auflösung“ der
Beziehung („unversöhnlich lossagen“) (Lüscher und Liegle 2003, S 291). In der
Forschung findet das Konzept der Ambivalenz neben dem der Solidarität rege
Anwendung (siehe z.B. Birditt et al. 2009; Lowenstein 2007; Peters et al. 2006;
Willson et al. 2006).

3.2 Motive für Generationentransfers:


Austausch, Reziprozität und Altruismus

Eine der wichtigsten Theorien, um Transfers zwischen Generationen zu erklä-


ren, ist die Austauschtheorie (Silverstein et al. 2002), nach der der Erhalt einer
Gabe beim Beschenkten das Gefühl erweckt, eine Gegengabe leisten zu müssen.
Angewandt auf Generationenbeziehungen stehen damit insbesondere Kinder le-
benslang in der Schuld ihrer Eltern, da sie in frühen Familienphasen ein „Gut-
habenkonto“ bei ihren Kindern angelegt haben, das sie bei Bedarf in Anspruch
nehmen können. Allerdings werden gerade Leistungen innerhalb der Familie
meist nicht in Erwartung einer unmittelbaren, womöglich rechtlich zertifi zier-
ten Gegenleistung erbracht, sondern vielmehr in Erwartung von zum Zeitpunkt
der Leistungserbringung oft nicht spezifizierten, tendenziell langfristig erwart-
baren Gegenleistungen, die durch (lebenslange) Reziprozitätsnormen abgesichert
werden (Hollstein und Bria 1998). So lässt sich die Austauschtheorie in empiri-
schen Studien zu Generationentransfers oft nicht belegen, da die untersuchten
Zeiträume zu klein und die Kausalbeziehungen zwischen Gabe und Gegengabe
nicht immer klar ersichtlich sind (Leopold und Raab 2011). Im Gegensatz dazu
304 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

steht der Altruismus, das Geben ohne die Erwartung einer Gegengabe. Bei einem
altruistischen Motiv steht das Wohl des Empfängers einer Gabe im Vordergrund
(Monroe 2001). Auch wenn reiner Altruismus ohne jeglichen Nutzen für den Ge-
ber auch in der Familie nur schwer zu belegen ist, werden beide Theorien häufig
in der ökonomischen (z.B. Altonji et al. 1997; Feinerman und Seiler 2002; Stark
1995) und soziologischen (z.B. Brandt et al. 2008; Eggebeen 2005; Leopold und
Raab 2011; Lillard und Willis 1997; Silverstein et al. 2002) Forschung angewendet.
Neben diesen klassischen Theorien zu Transfermotiven in Generationenbe-
ziehungen wird in der Literatur auch eine Reihe weiterer Motive diskutiert, die
sich in den meisten Fällen als Spezialfall von altruistischen oder reziproken bezie-
hungsweise Austausch-Motiven ansehen lassen. Der sogenannten „warm glow“
(Andreoni 1990) bezeichnet eine altruistisch motivierte Gabe, die jedoch mit dem
Gefühl belohnt wird, etwas Gutes getan zu haben. Das Geben um des Gebens
Willen wird in der Literatur auch unter dem Stichwort „Geben aus Freude“ disku-
tiert (Björnberg und Latta 2007; Lüth 2001). Wenn Gaben vornehmlich erfolgen,
um den eigenen Kindern bessere Bedingungen zu schaffen, wird dies auch als
„kinship altruism“ bezeichnet. Hierbei wird vermutet, dass diese Transfers das
Überleben der eigenen Gene sichern sollen – was sich jedoch beim Vergleich zwi-
schen biologischen und sozialen Kindern nicht eindeutig belegen lässt (Kalbarc-
zyk-Steclik und Nicinska 2012). Von Pollak (1988) als „paternalism“ beschrieben
findet sich ein ähnliches Motiv, wenn Eltern mit dem Auszug ihrer Kinder aus
dem elterlichen Haushalt nicht aufhören, sich um sie zu sorgen. Schließlich wer-
den Transfers möglicherweise auch geleistet, um anderen ein Vorbild zu sein –
Eltern erhoffen sich dann später von ihren Kindern dasselbe Verhalten und damit
mehr Unterstützung – ein Phänomen, das auch „demonstration effect“ (Cox und
Stark 1994) genannt wird. Um solch unterschiedliche theoretische Strömungen
und Argumente zu vereinen, schlagen Silverstein und Kollegen (2012, S. 1246)
nun das Konzept des „moral capital“ vor, defi niert als „the stock of internalised
social norms that obligate children to care for and support their older parents –
the transmission of which lies at the intersection of self-interest (for parents) and
altruism (for children)“.

3.3 Generationentransfers im Wohlfahrtsstaat:


Crowding in, crowding out und Komplementarität

Der Zusammenhang zwischen dem sozialpolitischen Kontext und Generationen-


beziehungen in der Familie rückt in neuerer Zeit immer mehr in den Fokus (Koh-
li 1999). Die Diskussion über den Zusammenhang zwischen Staat und Familie
Generationen in Europa 305

besteht aus zwei Hauptargumentationslinien. Ökonomisch wird argumentiert,


dass staatliche Unterstützung zu einem Rückzug der Familie, also einem „crow-
ding out“ führt (Reil-Held 2006). Nach dieser These wird die Familie als primä-
re Unterstützungsquelle nicht mehr gebraucht, wenn der Staat adäquate Hilfen
zur Verfügung stellt. Solch ein Zusammenhang sollte vor allem auft reten, wenn
Transfers zwischen Familienmitgliedern ausschließlich altruistisch motiviert,
also rein der Bedarfsdeckung gewidmet wären und staatliche Leistungen fami-
liale Transfers substituierten (Künemund und Rein 1999). Da Transfers zwischen
Generationen jedoch unter anderem auch durch reziproke Motive motiviert sind,
finden empirische Studien auch in Staaten, in denen ein breites Angebot an öf-
fentlicher Unterstützung für Familien und Bedürft ige bereitsteht, ausgeprägte
intergenerationale Transfers (z.B. Attias Donfut et al. 2005). Ein gut ausgebauter
Wohlfahrtsstaat scheint familiale Transfers zumindest in einigen Bereichen sogar
zu fördern (z.B. Deindl und Brandt 2011) – was die sogenannte „crowding in“ The-
se stützt, wonach sich die Familie verstärkt engagiert, wenn der Staat Aufgaben
übernimmt. Weiterhin ersetzt die Familie zum Teil auch zurückgehende staatli-
che Transferleistungen („reverse substitution“) (Johansson et al. 2003). Crowding
out und crowding in sind damit keine unvereinbaren Gegensätze. Staatliche und
familiale Transfers gehen Hand in Hand, es scheint eine gemeinsame Verantwor-
tung („mixed responsibility“) bzw. Komplementarität („complementarity“) zwi-
schen Familie und Staat zu existieren (Daatland und Herlofson 2003; Litwak 1985;
Motel-Klingebiel et al. 2005). Durch Spezialisierung unterschiedlicher Instanzen
kommt dann eine Arbeitsteilung zustande (Litwak et al. 2003), wenn beispielswei-
se öffentliche Anbieter vor allem medizinischen notwendige, regelmäßig planbare
Pflegedienste übernehmen, und Familienmitglieder dann eher mit sporadischen
Hilfen auf individuelle Bedürfnisse der bedürftigen Person eingehen (Brandt
2013). Dies lässt sich belegen, wenn unterschiedliche Aufgaben oder Intensitäten
der Unterstützung empirisch voneinander abgegrenzt werden: Lingsom (1997)
zeigte beispielsweise auf Basis von Längsschnittdaten, dass mit mehr staatlicher
Unterstützung private Hilfe zwar weniger zeitintensiv war, aber häufiger vorkam,
d.h. mehr Helfer die anfallenden Aufgaben teilten. Neuere Ergebnisse belegen da-
mit, dass man nicht mehr von einer Dichotomie zwischen Verdrängung und Ver-
stärkung ausgehen kann, sondern dass öffentliche und private Leistungen Hand
in Hand gehen – und wenn manche Leistungen „verdrängt“, andere gleichzeitig
„gefördert“ werden (Brandt und Deindl 2013). International vergleichende Stu-
dien liefern zu diesen Zusammenhängen zahlreiche weitere Belege (z.B. Brandt
et al. 2009; Schmid et al. 2012). Wir werden uns bei der folgenden Darstellung
empirischer Ergebnisse auf die am besten erforschten Dimensionen – nämlich
306 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

strukturelle, assoziative und funktionale Solidarität – zwischen Eltern und Kin-


dern in Europa beschränken.

4 Empirische Befunde: Generationensolidarität


in Europa

4.1 Enge der Beziehung, Wohnentfernung


und Kontakthäufigkeit

Generell haben die meisten Eltern und Kinder nach eigenen Angaben ein enges
Verhältnis, wobei „in Deutschland die engsten Beziehungen zwischen ostdeut-
schen Müttern und Töchtern, die vergleichsweise flüchtigsten zwischen westdeut-
schen Söhnen und Vätern“ bestehen (Szydlik 1995, S. 75). Zurückgehend auf eine
Arbeit von Bengtson und Kuypers (1971) scheint sich zudem ein „intergenera-
tional stake“ zu zeigen: Eltern schätzen die Beziehung zu ihren Kinder positiver
ein als Kinder die Beziehung zu ihren Eltern (Lynott und Roberts 1997). Empi-
risch kann man allerdings häufig keinen solchen Unterschied zwischen der Ein-
schätzung der Eltern und der Kinder feststellen (Kopp und Steinbach 2009). Die
Zusammenhänge mit der räumlichen Entfernung und Kontakten sind ebenfalls
nicht eindeutig: Auch bei größeren Wohnentfernungen kann die Beziehung zwi-
schen Eltern und ihren Kindern gut sein, was Bengtson (2001) als „intimate but
distant“ charakterisiert. Interessanterweise hat auch die Kontakthäufigkeit kei-
nen eindeutigen Einfluss auf die Enge der Beziehung und umgekehrt, zumindest
bei Männern (Lawton et al. 1994).
In der Forschung wird Wohnentfernung als ein struktureller Indikator be-
trachtet, der viele weitere Solidaritätsformen bedingt, während Kontakthäufigkeit
ein Indikator für assoziative Solidarität ist. Beide Indikatoren sind vergleichswei-
se gut quantitativ zu erfassen und wenig anfällig für individuelle Einschätzun-
gen. Daher eigenen sie sich besonders gut für internationale Vergleiche (siehe z.B.
Hank 2007; Isengard 2013).
Generationen in Europa 307

Abbildung 1 Räumliche Nähe und Kontakthäufigkeit zwischen Generationen in Europa

Abbildung 1a) Entfernung zum Kind (18+)

Abbildung 1b) Kontakt zum Kind (18+)


308 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

Abbildung 1c) Entfernung zu Eltern (64+)

Abbildung 1d) Kontakt zu Eltern (64+)

SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2) eigene Berechnungen, ungewich-
tet. n Eltern-Kind-Dyaden a) 91‘159, b) 69‘918, c) 13‘752, d) 13‘536. SE=Schweden, DK=Dä-
nemark, IR=Irland, NL=Niederlande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich,
Generationen in Europa 309

AT=Österreich, CH=Schweiz, ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tsche-


chien, PL=Polen, SH=SHARE.

Ein „Extrem“ der Wohnentfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kin-
dern ist die Koresidenz, wenn also Kinder, die – obwohl sie schon selbständig
sein könnten – noch bei ihren Eltern wohnen (White 1994). Teils kann es sich
dabei um Rückzüge handeln, weil das Kind die Hilfe der Eltern benötigt (sog.
„Boomerang kids“) (Goldscheider 2012), teils ziehen Kinder auch wieder zu ihren
Eltern und umgekehrt, da die Eltern hilfsbedürft ig sind und sich Hilfe in einem
gemeinsamen Haushalt leichter arrangieren lässt. Im europäischen Vergleich sind
die Koresidenzraten zwischen erwachsenen Kindern und älteren Eltern im Süden
am höchsten (Abbildung 1 a & c, siehe auch Isengard und Szydlik 2012). Die deut-
lichen Länder- und Altersunterschiede beim Zusammenwohnen deuten darauf
hin, dass einer der Hauptgründe in den Bedürfnissen der Kinder liegt, so kann
beispielsweise eine höhere Jugendarbeitslosigkeit in Italien, Spanien und Grie-
chenland den Start in ein selbstständiges Leben und damit auch den Auszug aus
dem Elternhaus verzögern (ausführlich dazu Isengard und Szydlik 2012; Deindl
und Isengard 2011). Koresidenz im höheren Alter (d.h. zwischen über 50jährigen
und ihren Eltern) übersteigt nur in Spanien noch die fünf-Prozent-Marke. Die
stärkere Betonung von Bedürfnissen der Kinder im Süden Europas zeigt sich auch
in einem Vergleich zwischen Großbritannien und Italien im Bezug auf die Wohn-
entfernung: Während in Italien die Bedürfnisse der Kinder eine größere Rolle
für (geringe) Wohnentfernungen spielen, sind es in Großbritannien vor allem die
Bedürfnisse der Eltern, die Kinder dazu bringen, in deren Nähe zu ziehen (Glaser
und Tomassini 2000).
Aus einer Lebensverlaufsperspektive scheinen Kinder, die später aus dem El-
ternhaus ausziehen, im weiteren Verlauf auch räumlich näher bei ihren Eltern zu
bleiben und mehr Kontakt und Austausch zu pflegen (Leopold 2012). Aus Abbil-
dung 1 ist zudem ersichtlich, dass zwar die räumliche Distanz zwischen Genera-
tionen im Lebensverlauf zunimmt, diese aber auch im höheren Alter immer noch
erstaunlich gering ist. So leben im Schnitt über alle SHARE-Länder ungefähr 65
Prozent der Befragten nicht weiter als 25 km von ihren Eltern bzw. Kindern ent-
fernt. Es lässt sich also generell sagen, dass die meisten Kinder in Europa in der
Nähe ihrer Eltern wohnen und sich dabei auch keine deutlichen Länderunter-
schiede zeigen (siehe Hank 2007 oder Isengard 2013 für ausführlichere Analysen).
Auch die Kontakthäufigkeit zwischen Generationen in Europa ist außeror-
dentlich hoch (Hank 2007). Abbildung 1 zeigt, dass es kaum Unterschiede zwi-
schen den Richtungen gibt: Befragte im Alter 50 und mehr haben ebenso viel
Kontakt zu ihren Eltern wie zu ihren erwachsenen Kindern. Hierbei wird auch
310 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

deutlich, dass Segregation zwischen Generationen im Sinne von Kontaktabbrü-


chen so gut wie nicht stattfindet. Obwohl sich auch bei den Kontakthäufigkeiten
ein Nord-Süd-Gefälle erkennen lässt, sind diese mit wöchentlichem Kontakt in
etwa 80 Prozent der Eltern-Kind-Dyaden insgesamt sehr hoch und geben kei-
nen Hinweis auf eine Zerrüttung der Generationenbeziehungen. Neuere Studien
konnten auch im Zeitverlauf keinen Rückgang der Kontakthäufigkeit zwischen
getrennt voneinander lebenden Eltern und Kindern feststellen (Kalmijn und De
Vries 2009; Treas und Gubemskaya 2012). Die Voraussetzungen dafür, dass sich
die Generationen gegenseitig unterstützen können, scheinen also – zumindest so-
weit sie sich in den Dimensionen struktureller und assoziativer Solidarität wider-
spiegeln – in ganz Europa gegeben zu sein.

4.2 Transfers von Zeit und Geld

Räumliche Nähe und regelmäßige Kontakte können als grundlegende Oppor-


tunitätsstruktur für intergenerationalen Austausch bzw. funktionale Solidarität
verstanden werden. Die Grenzen zwischen Solidaritätspotenzial und Solidaritäts-
ausdruck sind jedoch mitunter fließend. So argumentieren etwa Albertini und
Kollegen (2007, S. 326), Koresidenz sei, anders als in Nordeuropa, „the Southern
European way of transferring resources from parents to children and vice versa“.
Dabei kann Koresidenz als indirekter fi nanzieller Transfer verstanden werden
(weil das gemeinsame Wohnen Kosten für den Lebensunterhalt, insbesondere
die Miete, spart) oder als indirekte instrumentelle Hilfe (weil Synergien bei der
Bewältigung alltäglicher Herausforderungen, z.B. Einkaufen, Kochen, etc., ent-
stehen, vgl. Deindl und Isengard 2011).
Generationen in Europa 311

Abbildung 2 Finanzielle und zeitliche Transfers zwischen Generationen in Europa

Geld Hilfe im Haushalt Hilfe bei bürokratischen


Angelegenheiten

Eltern (64+)

2% 22% 14%
4% 1%
0%

Befragte (50+)

3% 8% 2%
23% 8% 1%

Kinder (18+)

SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2), eigene Berechnungen, unge-
wichtet. n = 38,258 (mindestens ein Kind), n = 12,063 (mindestens ein lebendes Elternteil)

Finanzielle Transfers in Europa folgen einem Kaskadenprinzip (Attias-Donfut


1995; Motel und Szydlik 1999), sie fließen also hauptsächlich von Alt nach Jung
und sind damit vor allem Leistungen von Eltern für ihre Kinder (siehe auch Abbil-
dung 2). Dabei folgen sie sowohl den Möglichkeiten als auch den Bedürfnissen der
Familiengenerationen heute. Viele Angehörige der Elterngeneration haben Zeiten
des relativen Wohlstandes erlebt und konnten so zum Teil beträchtliche monetäre
Ressourcen erwirtschaften, die sie nun durch finanzielle Transfers an ihre Kinder
weitergeben – zudem sind auch ihre Renten heute noch weitgehend stabil. Kinder
haben gerade in der Zeit der Ausbildung und Familiengründung häufig Bedarf an
Unterstützung und stehen finanziell noch nicht auf eigenen Beinen. Später hin-
gegen sind es die älteren Eltern, die Unterstützungsbedarf bei alltäglichen Dingen
wie Hausarbeiten oder auch bei bürokratischen Angelegenheiten benötigen – und
diese dann auch von ihren Nachkommen erhalten (Abbildung 2). Pflegeleistun-
gen – als extreme Form der Hilfe – werden im Vergleich nur von wenigen der
über 50jährigen in Europa geleistet und sind auf Zeiten beschränkt, in denen aus-
gesprochener Bedarf herrscht (Haberkern und Szydlik 2008). Eine weitere Form
der Hilfe, die allerdings nur Großeltern betrifft, sind Betreuungsleistungen an die
Enkelkinder – auch diese werden vorrangig von der „mittleren Generation“ über-
nommen (Hagestad 2006; Hank und Buber 2009; Igel und Szydlik 2011). Neben
312 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

der Reziprozität über den familialen Lebenslauf (Brandt et al. 2008) illustriert der
Forschungsstand damit den Gedanken, den Forscher beim Konzept der „Sand-
wich generation“ (Grundy und Henretta 2006) hatten: in der Mitte des Lebens
fallen die meisten Unterstützungsanforderungen für ältere Eltern, erwachsene
Kinder und deren Nachwuchs an. Bei all diesen Transferströmen sind jedoch
nicht nur Bedürfnisse, Möglichkeiten und Familienstrukturen von Bedeutung,
sondern auch kontextuelle Einflüsse, die zu deutlichen Unterschieden zwischen
den europäischen Ländern führen, auf die wir im Folgenden genauer eingehen.

4.2.1 Finanzielle Transfers in Europa


Finanzielle Transfers werden entweder „inter vivos“, also zwischen Lebenden
ausgetauscht oder es handelt sich um „mortis causa“ Transfers, also Erbschaf-
ten – sozusagen als „letzte Solidarleistung“ (siehe auch Szydlik 2000). Im euro-
päischen Vergleich von inter vivos Transfers zwischen Generationen (Abbildung
3) wird das oben beschriebene Kaskadenmodell nochmals klar ersichtlich: Leis-
tungen von Eltern an Kinder kommen in allen Ländern häufiger vor als Leistun-
gen von Kindern an Eltern. Der Forschungsstand zu finanziellen Transfers zeigt
über Europa hinweg recht eindeutig, dass finanzielle Transfers sowohl geleistet
werden, um Bedarf abzufedern (Motel und Szydlik 1999), als auch um jemanden
eine Freude zu machen (Björnberg und Latta 2007). Daneben hängen finanzielle
Transfers auch stark von den Möglichkeiten der Geber ab: Wer mehr hat, kann
mehr und häufiger geben (Deindl 2011). So können finanzielle Transfers auch
soziale Ungleichheiten verstärken (Albertini und Radl 2012; Fritzell und Len-
nartsson 2005). Es gibt allerdings deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen
Ländern: Während in Schweden in über 20 Prozent der Eltern-Kind-Beziehungen
finanzielle Transfers geleistet werden, sind dies in Spanien nur unter fünf Prozent
(Abbildung 3). Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen Kontexteigen-
schaften und finanziellen Transfers hin, der in der Vergangenheit wiederholt be-
legt wurde (Brandt und Deindl 2013; Deindl 2011): Je mehr Sozialleistungen ver-
fügbar sind, desto eher leisten Eltern fi nanzielle Transfers an Kinder– allerdings
fallen die Summen geringer aus. Weiterhin ist auff ällig, dass obwohl finanzielle
Transfers von Kindern an ihre Eltern in den meisten Ländern kaum eine Rolle
spielen, in den wenig ausgebauten Sozialstaaten Griechenland und in Tschechien
mit über fünf Prozent der Dyaden sehr wohl nennenswerte Transfers von Kin-
dern an ihre Eltern zu finden sind – eventuell um eine fehlende staatliche Ab-
sicherung im Alter aufzufangen.
Generationen in Europa 313

Abbildung 3 Finanzielle Transfers von min. 250 EUR der Befragten (50+) an und von
Kind (18+) im letzten Jahr

SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2), eigene Berechnungen, ungewich-
tet. n = 60‘485 Eltern-Kind-Dyaden. SE=Schweden, DK=Dänemark, IR=Irland, NL=Nie-
derlande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich, AT=Österreich, CH=Schweiz,
ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tschechien, PL=Polen, SH=SHARE.

Im Alter verzichten Eltern dann eventuell zu Gunsten von größeren Schenkungen


auf kleinere Transferleistungen. Schenkungen und mortis causa Transfers (Erb-
schaften) sind allerdings im internationalen Vergleich deutlich weniger erforscht
(siehe aber Szydlik 2011) – nicht zuletzt da unterschiedliche rechtliche Regelun-
gen den internationalen Vergleich erschweren (siehe Beckert 2004). Leopold und
Schneider (2010) zeigen anhand von Daten des sozio-ökonomischen Panels, dass
Schenkungen ähnlichen Faktoren wie kleinere Transfers unterworfen sind: Sie
werden zum einen bei Bedürft igkeit gegeben, bspw. im Falle einer Scheidung,
aber auch aus erfreulichen Anlässen, wie einer Hochzeit. Ob Schenkungen und
Erbschaften über die Generationen hinweg zu einer Kumulation von Ressourcen
(„wer hat, dem wird gegeben“) und damit einem Anstieg sozialer Ungleichhei-
ten führen, ist in der Forschung umstritten. Szydlik (2004) fi ndet Anzeichen für
314 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

eine Verstärkung sozialer Unterschiede durch Erbschaften, da es nicht Bedürftige


sind, die Gelder erhalten, sondern zumeist Personen, die schon über ausreichen-
de finanzielle Ressourcen verfügen. Vogel und Kollegen (2011) plädieren dafür,
dass man die Auswirkungen von Erbschaften auf soziale Ungleichheit nur im
Längsschnitt erfassen kann und vorhandene Querschnittsanalysen darum zu
kurz greifen. Sie stellen fest, dass Haushalte mit größerem Vermögen von Erb-
schaften kaum profitieren, sich hingegen die Stellung von Haushalten mit weni-
ger Vermögen verbessert. Eine generell ungleichheitsverstärkende Eigenschaft
von Erbschaften kann also nicht festgestellt werden. Im Ländervergleich finden
sich allerdings wieder deutliche Unterschiede: In reichen Ländern wie Schweden,
Dänemark, Belgien und der Schweiz wird häufiger geerbt als im Rest Europas, in
den ehemals sozialistischen Staaten sind größere Schenkungen und Erbschaften
hingegen besonders selten (Szydlik 2011).

4.2.2 Zeitliche Transfers in Europa


Abgesehen vom Geben und Nehmen von Geld und (Wohn-)Raum umfasst funk-
tionale Solidarität auch zeitliche Transfers bzw. instrumentelle Hilfen zwischen
Generationen (Szydlik 2000), die zum Beispiel Haushaltshilfen, Pflegeleistungen
oder auch die Betreuung der Enkel umfassen können. Solche Hilfen wurden im
internationalen Vergleich in den letzten Jahren umfassend erforscht – nicht zu-
letzt da sie im engen Zusammenhang mit unterschiedlichen sozialpolitischen
Maßnahmen (soziale Dienstleistungen, Pflegeangebote, Kinderbetreuungs-
angebote etc.) stehen. Diese kontextuellen Einflüsse zeigen sich deutlich in der
vergleichenden empirischen Forschung: Zeitliche Unterstützungsleistungen
sind insgesamt häufiger aber weniger (zeit-)intensiv, wenn mehr sozialstaatliche
Unterstützungsangebote der jeweiligen – zur privaten Leistung komplementären
– Art vorhanden sind.
Der Hauptteil der Unterstützung bei Haushalts- und bürokratischen Angele-
genheiten im letzten Jahr fließt in allen Ländern an die älteren Eltern, während
in jüngeren Jahren Hilfen zwischen Eltern und Kindern eher gegenseitig statt-
finden (siehe auch Abbildung 2). Sporadische Hilfen im Haushalt an die Eltern
sind im Norden Europas insgesamt häufiger als in Kontinental- und Südeuropa
(Abbildung 4).
Generationen in Europa 315

Abbildung 4 Hilfe der Befragten (50+) an und von Elternteil (64+) im letzten Jahr

SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2), eigene Berechnungen, ungewich-
tet. n = 13‘764 Kind-Eltern-Dyaden. SE=Schweden, DK=Dänemark, IR=Irland, NL=Nie-
derlande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich, AT=Österreich, CH=Schweiz,
ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tschechien, PL=Polen, SH=SHARE.

Zusätzlich zum deutlichen Nord-Süd-Gefälle bei der Wahrscheinlichkeit inter-


generationaler Hilfe zeigen Studien, dass die Stunden, die diese Hilfen umfassen
und ihre Regelmäßigkeit im Süden deutlich höher ist (Abbildung 5, siehe auch
Brandt 2009; Brandt 2013; Brandt und Deindl 2013; Brandt und Szydlik 2008).
Insgesamt scheint die Art der Unterstützung (häufig, sporadisch/selten, intensiv)
abhängig von unterschiedlichen sozialen Dienstleistungsangeboten und der Fra-
ge inwieweit Staat und Familie die Verantwortung für Unterstützungsleistungen
teilen (Motel-Klingebiel et al. 2005). Pflegeleistungen – meist zeitintensive und
notwendige Leistungen, die fast ausschließlich an Ältere gerichtet sind (zur Tren-
nung Hilfe-Pflege siehe auch Walker et al. 1995) – werden im Süden Europas viel
häufiger von der Familie übernommen – wo wenig öffentliche Pflegeangebote be-
stehen (Brandt et al. 2009; Haberkern und Szydlik 2008). Auch für die Betreuung
316 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

der Enkel gilt: Je mehr Kinderbetreuungsangebote, desto wahrscheinlicher ist es,


dass sich Großeltern engagieren, sie tun dies aber weniger intensiv, d.h. mit we-
niger Stunden pro Woche (Igel und Szydlik 2011). Nicht zuletzt sind es bei allen
zeitlichen Leistungen vor allem die Frauen, die sich um die (zeit-)intensiveren
Aufgaben kümmern. Somit ist in ausgebauten Wohlfahrtsstaaten, wo intensive
Unterstützungsleistungen eher von Dienstleistern übernommen werden, die Ge-
schlechterungleichheit bei familialen Hilfen am geringsten (Schmid et al. 2012).

Abbildung 5 Sozialpolitik und Hilfe in Europa

Abbildung 5 a) Wahrscheinlichkeit der Hilfe an Kinder (18+) im letzten Jahr


Generationen in Europa 317

Abbildung 5 b) Intensität der Hilfe an Kinder (18+) im letzten Jahr


20

DK
SE
NL
15

BE
DE
CH FR
10

AT
CZ IT
PL
GR ES
5

r=-0.73**
0

0 5 10 15 20 25

Hilfestunden pro Woche

SHARE (jeweils das erste Interview Welle 1 oder Welle 2) und OECD (2007), eigene Be-
rechnungen, ungewichtet. n = 13 Länder. SE=Schweden, DK=Dänemark, NL=Nieder-
lande, BE=Belgien, DE= Deutschland, FR=Frankreich, AT=Österreich, CH=Schweiz,
ES=Spanien, IT=Italien, GR= Griechenland, CZ=Tschechien, PL=Polen, Korrelationen
r signifi kant auf ** 1-%-Niveau (für weitere Informationen s. Brandt und Deindl 2013).

5 Fazit und Ausblick

Der vorliegende Überblick über die wichtigsten theoretischen Perspektiven und


den aktuellen Stand der empirischen Forschung zu intergenerationalen Bezie-
hungen in Europa hat sich auf einige Kernbereiche dieses weiten Themenfeldes
konzentriert. Dabei standen europäische Gemeinsamkeiten und Unterschiede
im Vordergrund. Trotz der historisch gewachsenen und bis heute fortdauern-
den Vielfalt von Familien in Europa (vgl. Reher 1998) existieren überall auf dem
Kontinent lebendige Beziehungen zwischen den Generationen. Im Allgemeinen
leben Eltern und erwachsene Kinder in erreichbarer Nähe (wenn auch nicht im-
318 Christian Deindl, Martina Brandt & Karsten Hank

mer im selben Haushalt), haben häufige Kontakte (wenn auch nicht immer täglich)
und unterstützen sich auf vielfältige Weise im Alltag (wenn auch in unterschied-
licher Form und Intensität). Während Generationen also über alle europäischen
Länder hinweg eng verbunden sind, unterscheiden sich die Unterstützungsmuster
je nach kontextuellen Bedingungen – und im Falle der geteilten Verantwortung
von Familie und Staat macht jeder das, was er am besten kann (Brandt 2013). Im
Zuge der Diskussion um crowding in und crowding out kann man damit sicher-
lich nicht von „lost“, wohl aber von „changed solidarity“ (Daatland und Herlofson
2003) sprechen. Mit längeren Beobachtungszeiträumen in Panelstudien werden
Forscher die Einflüsse des Wandels demographischer und sozialpolitischer Be-
dingungen auf intergenerationale Beziehungen und Transfers besser erfassen und
damit auch zukünft ige Entwicklungen immer treffender projizieren können.
Die Verfügbarkeit neuer nationaler Daten verspricht zudem in naher Zukunft
weitere Erkenntnisfortschritte in Bereichen, die gerade in Zeiten von Pluralisie-
rung und Globalisierung an Bedeutung gewinnen werden – in diesem Kapitel
aber ausgespart werden mussten:
Intergenerationale Beziehungen „beyond the nuclear family“ (Bengtson 2001)
sind sicherlich ein noch wenig erforschtes Feld, gerade im internationalen Ver-
gleich. Die zukünft ige Forschung sollte nicht nur Stieffamilien (z.B. Steinbach
2010) und Schwiegereltern (z.B. Shuey und Hardy 2003; Willson et al. 2003) mit
in den Blick nehmen, sondern auch das weitere soziale Unterstützungsnetzwerk
(Freunde, Nachbarn, Bekannte) einbeziehen – welches gerade bei einem steigen-
den Anteil kinderloser Älterer vermutlich an Bedeutung gewinnen wird (z.B. Al-
bertini und Mencarini 2013; Albertini und Kohli 2009; Deindl und Brandt 2013).
Die Lebensverlaufsperspektive ist damit nicht nur für die Soziologie insgesamt
(vgl. Mayer 2009) sondern gerade auch für die Untersuchung intergenerationaler
Beziehungen von zentraler Bedeutung. Von Interesse ist in diesem Zusammen-
hang beispielsweise die Frage nach der Bedeutung „kritischer“ Ereignisse (plötz-
liche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, Scheidung, etc.) für den in-
tergenerationalen Austausch (z.B. Leopold und Schneider 2011; Ogg und Renaut
2013).
Während in der Literatur zwar sowohl die Sicht der älteren als auch jene der
jüngeren Generation regelmäßig untersucht wird, werden beide Perspektiven nur
selten simultan analysiert. Dies ist jedoch nicht nur aus methodischer Sicht span-
nend, sondern auch um Hypothesen in Hinblick auf „intergenerational stake“,
intergenerationale Konflikte und Ambivalenz überprüfen zu können (z.B. Kim et
al. 2011; Kopp und Steinbach 2009).
Weiterhin ist wichtig, den häufig stark auf westliche Gesellschaften gerichteten
Blick auf familiäre Generationenbeziehungen auf andere Kulturkreise auszuwei-
Generationen in Europa 319

ten (z.B. Nauck und Arránz Becker 2013). Insbesondere Asien verdient große Auf-
merksamkeit, und zwar nicht allein wegen seiner generellen demographischen
Bedeutung, sondern auch weil dort die intergenerationalen Beziehungen in der
Familie durch andere Normen und Werte geprägt sind, als in westlichen Kulturen
(z.B. Ko und Hank 2014; Lin und Yi 2013; Yasuda et al. 2011). Nicht zuletzt müs-
sen im globalen Kontext auch Migrantenfamilien in den Blick genommen werden
(z.B. Baykara-Krumme 2013; Foner und Dreby 2011).
Zusammenfassend kann man festhalten, dass der demographische Wandel als
einer der Megatrends des 21. Jahrhunderts ebenso neue Chancen (wie die längere
geteilte Lebenszeit zwischen Generationen) wie auch Herausforderungen (wie
einen steigenden Anteil Kinderloser) für Familien mit sich bringt. Gleiches gilt
für Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse oder den Prozess der Glo-
balisierung, in deren Folge zum Beispiel die Bedeutung von Stief- und Migran-
tenfamilien wachsen wird. Krisenszenarien, die einen „Verfall der Familie“ pro-
phezeien (z.B. Popenoe 1993) erscheinen jedoch auf Grundlage der existierenden
Forschung als unangemessen: die Familie überlebt den gesellschaft lichen Wandel,
weil sie selbst eine dynamische und anpassungsfähige soziale Institution ist. Al-
lerdings scheint auch klar zu sein, dass sich gerade dort, wo die intergeneratio-
nalen Beziehungen heute noch besonders eng sind, der demographische Wandel
eine Herausforderung darstellen wird, der Familie und Wohlfahrtsstaat nur in
gemeinsamer Verantwortung erfolgreich werden begegnen können.

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Familienpolitik:
gerecht, neoliberal oder nachhaltig?

Hans Bertram & Carolin Deuflhard

1 Gerechte Familienpolitik

Schon vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 gab es
in der amerikanischen Militärverwaltung eine intensive Diskussion um die Stel-
lung der Familie in einer demokratischen Gesellschaft im zukünft igen Deutsch-
land. Einerseits galt es, die Familie zu stärken, weil die Stärkung der Elternrechte
gegenüber dem Staat diesen in seinem Anspruch, die nachwachsende Generation
zu erziehen, deutlich begrenzt, aber es ging andererseits auch um die innerfami-
liären Beziehungen. Denn die starke patriarchale Stellung des autoritären Vaters
wurde als eine wesentliche Ursache für die Entwicklung autoritärer Charakter-
strukturen angesehen (Hentschke 2001; Adorno et al. 1950).
Artikel 6 des Grundgesetzes formuliert auch sehr detaillierte Vorgaben für die
Ausgestaltung der Lebensbedingungen von Familien und Kindern:

1. Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ord-
nung.
2. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die
zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche
Gemeinschaft.
3. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund
eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberech-
tigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen
drohen.

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
328 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

4. Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft .
5. Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedin-
gungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der
Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Es ist nicht nur das Recht, sondern vor allem die Pfl icht der Eltern, Zeit und Geld
für ihre Kinder zu investieren, weil sie nur so gepflegt und erzogen werden kön-
nen. Die staatliche Gemeinschaft wacht über die Wahrnehmung dieser Pflicht,
und der Staat hat auch das Recht einzugreifen, wenn die Eltern ihre Pfl icht nicht
erfüllen. Der Mutter wird in diesem Grundgesetzartikel mit ihrem besonderen
Anspruch auf Schutz und Fürsorge durch die staatliche Gemeinschaft eine beson-
ders starke Stellung eingeräumt. Die Fürsorgepfl icht und Erziehungspflicht der
Eltern bezieht sich auf alle ihre Kinder, unabhängig von der jeweiligen Lebens-
form. Die Vorgaben dieses Grundgesetzartikels gegenüber den Eltern sind sehr
klar und ohne jede Ausnahme formuliert. Zudem kann dieser Artikel nur dann
neu gefasst werden, wenn die gesamte Verfassung neu geschrieben wird. Die Ver-
fassung der Bundesrepublik kennt keine weiteren Artikel, die die Verpflichtung
von Personen gegenüber anderen Personen und deren staatliche Überwachung
so detailliert und rigoros festlegen. Angesichts dessen ist gut nachzuvollziehen,
warum Familienpolitik in der Bundesrepublik nicht nur durch das Parlament
gestaltet wurde, sondern bestimmte Verfassungsartikel auch durch das Verfas-
sungsgericht in einer Reihe von Urteilen interpretiert, ausgelegt und weiterent-
wickelt wurden.
Die große Bedeutung rechtlicher Vorgaben für die Gestaltung von Familien-
politik ist keinesfalls spezifisch deutsch, sondern findet sich sowohl in anderen
Ländern als auch in neueren Verfassungsdokumenten, etwa in der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union (2010). So beschreibt der französische His-
toriker Donzelot (1980) die rechtliche Entwicklung der französischen Kernfami-
lie im 19. Jahrhundert als Versuch des französischen Staates einerseits den Unter-
halt der Kinder und andererseits die Erziehungsmöglichkeiten der Kinder durch
die Mütter sicherzustellen. Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union von
2010 betont in den Kapiteln 7, 9, 14, 24 und 33 das Recht auf ein Familienleben,
das Recht eine Familie zu gründen, das Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer
Kinder, das ungehinderte Umgangsrecht der Kinder mit beiden Eltern, sowie
den rechtlichen und wirtschaft lichen Schutz von Familien. Selbst die besondere
Stellung der Mutter wird in Art. 33 herausgestellt, wo der Anspruch auf Mutter-
schaftsurlaub und Elternurlaub ebenso als ein Grundrecht defi niert wird wie das
Verbot der Entlassung aus einem Grund, der mit der Mutterschaft zusammen-
hängt. Auch ohne hier die Ursachen und Gründe für diese starke Betonung der
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 329

Rechte von Familien im Einzelnen nachzuzeichnen, ist für die Familienpolitik


und ihre Weiterentwicklung zunächst einmal festzustellen, dass sie sich in der
europäischen Gemeinschaft sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegen-
wart und in der Zukunft immer auch mit grundrechtlichen Rahmenbedingungen
auseinandersetzen muss, die in ihrer Konkretheit häufig über die Rahmenbedin-
gungen anderer Politikbereiche hinausgehen.
Angesichts dieses rechtlichen Rahmens ist relativ gut nachzuvollziehen, dass
die deutsche Familienpolitik nach der Gründung des Familienministeriums
(1957) zunächst im Wesentlichen als eine Politik definiert wurde, die durch einen
Familienlastenausgleich die Benachteiligung von Familien mit Kindern gegen-
über denjenigen ausgleichen sollte, die nicht in einer Familie lebten. Viele der
familienpolitischen Maßnahmen der 1950er und 1960er Jahre sind von diesem
Grundkonzept einer horizontalen Gerechtigkeit geprägt, das sich in der beitrags-
freien Mitversicherung von Ehepartnern in den Sozialversicherungssystemen, im
Ehegattensplitting und im Kindergeld - um einige wichtige Instrumente zu nen-
nen - ebenso ausdrückt wie in der Dynamisierung der Witwenrente 1957; letztere
wurde explizit damit begründet, dass die Kriegerwitwen in gleicher Weise wie
alle anderen an der wirtschaft lichen Entwicklung teilhaben sollten.
In einer gesellschaft lichen Situation, in der wie in den 1950er Jahren die Schei-
dungsraten deutlich sinken, die Geburtenzahlen deutlich steigen und ein zuneh-
mend größerer Prozentsatz von Männern und Frauen ein Familienleben führen
kann, in dem das Einkommen des Mannes ausreicht, um für die ganze Familie ein
angemessenes Lebensniveau zu sichern, ist solch eine am Familienlastenausgleich
orientierte Politik gut nachzuvollziehen. Sie traf auch auf eine breite Akzeptanz
in der Bevölkerung (Köcher 1985), weil Vorstellungen von Gerechtigkeit als Basis
von Politik immer dann positiv bewertet werden, wenn die Gerechtigkeitsregeln
für einen großen Teil der betroffenen Menschen verständlich sind.
So theoretisch überzeugend und konsistent eine Familienpolitik ist, die sich
den Prinzipien von Gerechtigkeit und Nachteilsausgleich von Familien gegen-
über Anderen verpflichtet fühlt, so evident sind aber auch die Nachteile eines
solchen Ansatzes. Solange die überwiegende Mehrzahl aller Kinder in Familien
aufwächst, in denen die ökonomische Basis der Familie durch den Vater gesichert
ist und die Mütter sich im Wesentlichen um die Kinder und den Haushalt küm-
mern, ist eine Abgrenzung von Familien zu anderen Lebensformen leicht mög-
lich, weil das entscheidende Differenzkriterium die Fürsorge für Kinder ist. In
dem Maße aber, in dem sich die Lebensformen ausdifferenzieren und Kinder in
ihrer Entwicklungszeit in unterschiedlichen familiären Lebensformen aufwach-
sen - etwa als Kleinstkinder bei einer ledigen Mutter, dann bei einer verheirateten
Mutter, dann bei einer geschiedenen Mutter als alleinerziehende Mutter - ist es
330 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

kaum möglich, ein Modell von Gerechtigkeit zu konstruieren, das den Lasten-
ausgleich an die Lebensform knüpft. Die Familienpolitik der 1950er und 1960er
Jahre bindet den Lastenausgleich aber im Wesentlichen an die Ehe. Entsprechend
greift das Konzept der horizontalen Gerechtigkeit nur vollständig, wenn ein oder
mehrere Kinder bis zum 18. Lebensjahr mit beiden verheirateten Elternteilen zu-
sammenleben.
Das zweite Problem dieses Konzeptes einer horizontalen Gerechtigkeit liegt
darin, dass die Interessen der Eltern untereinander und die Interessen von Eltern
und Kindern darin als einander nicht widersprechend interpretiert werden. In
einem solchen Modell spielt die Gleichberechtigung der Ehepartner und damit
das Recht der Ehepartner, aufgrund der eigenen persönlichen Entscheidung an
verschiedenen gesellschaft lichen Bereichen, etwa der Arbeitswelt, zu partizipie-
ren, keine Rolle. Obwohl die vier „Mütter des Grundgesetzes“, die Sozialdemo-
kratinnen Friederike Nadig (1897-1970) und Elisabeth Selbert (1896-1986), die
Christdemokratin Helene Weber (1881-1962) und Helene Wessel (1898-1969)
vom Zentrum, schon 1948 bei den Diskussionen im Parlamentarischen Rat die
Aufnahme des sehr einfachen Satzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“
(Art. 3,2) durchsetzten, dauerte es bis 1958, bis das Bürgerliche Gesetzbuch an
diesen einfachen Verfassungsartikel angepasst wurde. Spätestens seit dieser Zeit
hätte die Familienpolitik nicht nur den Ausgleich zwischen Familien und Nicht-
Familien thematisieren müssen, sondern auch die unterschiedlichen Möglich-
keiten von Männern und Frauen im Familienmodell der Nachkriegszeit an der
gesellschaft lichen Entwicklung teilzuhaben.
Obwohl den meisten Familienpolitikern durchaus bewusst war, dass ein Mo-
dell der Familienpolitik, das die Familie im Wesentlichen mit ihrer Arbeitstei-
lung des außerhäuslich erwerbstätigen Mannes und der fürsorgenden Mutter zu
Hause voraussetzt, dem Gleichstellungsanspruch des Grundgesetzes eigentlich
nicht gerecht wurde, haben sich die meisten Elemente dieser Familienpolitik bis
heute gehalten. Der Familienminister Bruno Heck stellte schon 1968 im Ersten
Familienbericht der Bundesregierung (Deutscher Bundestag 1968) fest, dass die
Teilhabe der Frauen an der gesellschaft lichen Entwicklung im Rahmen dieses Fa-
milienmodells nur begrenzt möglich sei. Auch war zu jener Zeit längst bekannt,
dass Leistungen für Familien, die im Wesentlichen an dieses Familienmodell ge-
koppelt sind, gegenüber anderen Lebensformen, etwa den alleinerziehenden Müt-
tern, zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen. So hat Helga Schmucker schon
1961 darauf hingewiesen, dass die überwiegende Mehrzahl der rund 18 Prozent
Kinder, die damals in Familien lebten, die nicht alle existenziellen Bedürfnisse
der Kinder materiell befriedigen konnten (Schmucker et al. 1961), bei alleinerzie-
henden Müttern aufwuchsen, die - wenn sie erwerbstätig waren - für ihre Rente
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 331

und ihre Krankenkasse allein sorgen mussten und gleichzeitig auch noch wie Al-
leinstehende besteuert wurden.
Nicht der Anspruch, eine Familienpolitik zu betreiben, die Gerechtigkeit zwi-
schen denen herstellt, die Fürsorge für Kinder leisten und denjenigen, die das
nicht tun, hat zu den hier skizzierten Schwierigkeiten geführt, sondern die enge
Verknüpfung des Gerechtigkeitsarguments mit einer spezifischen Lebensform,
die immer nur für einen Teil der Familien und Kinder gegolten hat. Denn auch
zu den Zeiten des Babybooms in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren mit
vielen großen Familien und sehr wenigen kinderlosen Paaren und Alleinlebenden
gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine große Zahl von alleinerziehenden
Witwen und eine große Zahl berufstätiger Mütter, die trotz fehlender Kinderbe-
treuung im Wesentlichen Vollzeit arbeiteten (Pfeil 1961).
An diesem Beispiel wird noch ein drittes zentrales Problem einer Familien-
politik deutlich, die vor allem als Lastenausgleich im Sinne einer horizontalen
Gerechtigkeit zwischen Familien und Nicht-Familien konzipiert wird. Die unter-
schiedliche Leistungsfähigkeit einzelner familiärer Lebensformen und die unter-
schiedlichen sozioökonomischen Positionen der Eltern führen hinsichtlich der
Lebenssituation und Möglichkeiten von Kindern notwendigerweise zu einer ver-
tikalen Ungerechtigkeit, die durch eine solche Familienpolitik nicht thematisiert
und politisch bekämpft werden kann.

2 Vom Familienlastenausgleich zum Familienleistungs-


ausgleich: Von der Gerechtigkeit zur Leistung

Es ist erstaunlich, dass dieses familienpolitische Grundmodell des Lastenaus-


gleichs die 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre überdauert hat. Denn in dieser Zeit
gab es eine Fülle von kulturellen, strukturellen und ökonomischen Veränderun-
gen in der Bundesrepublik, auf die viele andere Politikfelder reagiert haben. Die
Bildungsreform, die dazu geführt hat, dass „das katholische Arbeitermädchen
vom Lande“ (Dahrendorf 1965) als klassische Metapher für die Bildungsbenach-
teiligung in den 1960er Jahren heute in dieser Form nicht mehr existiert, ist dafür
ein ebenso gutes Beispiel wie die vielen Veränderungen in der Gleichstellungs-
politik oder beim Eherecht (1978), um nur einige Bereiche zu nennen, die un-
mittelbar mit den Existenzbedingungen von Familien und dem Aufwachsen von
Kindern verknüpft sind.
Im europäischen Ausland haben etwa Frankreich oder die nordeuropäischen
Staaten wie Finnland in den 1970er Jahren auf die zunehmende außerhäusliche
Erwerbstätigkeit von Frauen mit dem Ausbau einer entsprechenden Infrastruktur
332 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

zur Unterstützung der Kinderbetreuung reagiert (Vinken 2007; Gerlach 2010).


Obwohl dies auch in Deutschland in der Wissenschaft und teilweise auch in der
Politik diskutiert wurde, konnte der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz
ab drei Jahren erst 1995 von der damaligen Jugendministerin Merkel durchge-
setzt werden. Dabei war die Realisierung dieses Rechtsanspruchs wiederum Er-
gebnis eines Kompromisses im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit der
Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfeände-
rungsgesetz 1995).
Im Rückblick fällt es schwer zu beurteilen, warum die Bundesrepublik
Deutschland in diesem Punkt so zögerlich agierte, weil die in jener Zeit im Amt
befindlichen Politikerinnen und Politiker selbst keinesfalls mehr jenem Bild von
Familie und Familienpolitik verbunden waren, das die 1950er Jahre beherrschte.
Von Katharina Focke, die unter Willy Brandt das Amt als Familienministerin
übernahm und sich schon damals für die frühkindliche Betreuung von Kleinkin-
dern durch Tagesmütter stark gemacht hatte, über Rita Süssmuth, die den eigen-
ständigen Erziehungsanspruch der Jugendhilfe als familienergänzende Leistung
in der Reform des KJHG durchgebracht hat, bis zu Ursula Lehr, die schon damals
die bekannten wissenschaft lichen Befunde dokumentiert hat (Lehr 1978), dass die
kindliche Entwicklung in einer außerhäuslichen Betreuung bei entsprechender
Qualität auch bei kleinen Kindern positive Effekte haben kann. Möglicherweise
ist das als ein Indikator dafür zu interpretieren, wie machtlos die Akteurinnen
und Akteure der Familienpolitik letztlich gegenüber anderen Politikbereichen
und gegenüber denjenigen gewesen sind, die die Richtlinien der Politik bestimm-
ten. Doch auch wenn das sicher eine mögliche Erklärung ist, sollte nicht verkannt
werden, dass es trotz einer Fülle von Publikationen und Gutachten durch den
Wissenschaft lichen Beirat für Familienfragen (1979, 1980, 1984) bis zum Fünften
Familienbericht 1994 dauerte (Deutscher Bundestag 1994), zum ersten Mal eine
theoretisch und politisch klare Alternative zum klassischen Modell des Familien-
lastenausgleichs zu formulieren. Der Fünfte Familienbericht bricht im Grundsatz
mit diesem Modell und ersetzt es durch das Modell des Familienleistungsaus-
gleichs (Deutscher Bundestag 1994).
Diese nur kleine begriffliche Veränderung hat enorme Konsequenzen, wie die
Autoren im Fünften Familienbericht ausführlich darstellen. Denn nun wird das
Theorem zu Grunde gelegt, dass in der Familie die Basis für das Humankapital
der modernen Gesellschaften und damit des gesellschaft lichen Humanvermögens
überhaupt gelegt wird. Ohne diese familiären Leistungen, die neben der Geburt
der Kinder ebenso, wie es Artikel 6 des Grundgesetzes fordert, die Fürsorge, Pfle-
ge und Erziehung der Kinder einschließen, hat keine Gesellschaft eine Chance,
aus diesem Humanvermögen durch Bildung und Ausbildung jenes Humankapi-
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 333

tal zu schaffen, das die Existenz einer jeden Gesellschaft sichert. Man mag die
teilweise sehr ökonomische Sprache befremdlich finden, doch macht das Konzept
der Leistungen der Familie für die Gesellschaft deutlich, dass die Unterstützung
für Familien kein reines Gerechtigkeitsproblem, sondern einen existenziellen Teil
der Daseinsvorsorge einer Gesellschaft, darstellt.
Dieser Perspektivenwechsel bedeutet nicht, die Gerechtigkeitsperspektive auf-
zugeben, sondern in einem ersten Schritt zu prüfen, in welcher Weise Eltern und
Kinder zu unterstützen sind, um die Bildung des Humanvermögens sicherzu-
stellen. Erst danach ist zu prüfen, ob diese Unterstützungsleistungen möglicher-
weise nicht intendierte Effekte haben, die zu einer gesellschaft lichen Ungleichbe-
handlung einzelner Gruppen führen können. Diese Perspektive hat unzweifelhaft
den Vorteil, dass sich nun alle familienpolitischen Leistungen darin überprüfen
lassen, ob sie die Eltern und die Kinder bei der Bildung des Humanvermögens
tatsächlich unterstützen. Damit lassen sich nun auch die historisch gewachsenen
Leistungen auf den Prüfstand stellen. Die Neudefinition des Familienlastenaus-
gleichs als Familienleistungsausgleich im Fünften Familienbericht hat der Politik
nicht nur die Möglichkeit gegeben, die Familienleistungen insgesamt zusammen-
zustellen (BMFSFJ 2009), sondern auch ein Konzept zur Evaluation dieser Leis-
tungen in Hinblick auf familienpolitische Ziele zu entwickeln. Auf dieser Basis
ermöglicht es dieser Perspektivwechsel angemessen auf die gewandelten Lebens-
bedingungen von Kindern und Familien zu reagieren.

3 Neoliberale Familienpolitik:
Zur Effizienz von Maßnahmen

Die 2013 vorgelegte Evaluation familienpolitischer Leistungen (BMFSFJ 2013)


und die dazu publizierten Gutachten (DIW 2012, 2013; IFO 2013) machen die
Stärken und Schwächen des Konzepts des Leistungsausgleichs gut sichtbar. Da
sich in einer empirischen Analyse ein globales und umfassendes Ziel wie die Ent-
wicklung des Humanvermögens einer Gesellschaft schlecht prüfen lässt, erfordert
ein solches Konzept notwendigerweise eine Präzisierung der familienpolitischen
Ziele. Die benannten Ziele, wie Stärkung der wirtschaft lichen Stabilität von Fa-
milien, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Wohlergehen der Kinder und eine
positive Entwicklung der Fertilität, sind in dieser Allgemeinheit sicherlich Ziele,
die wesentlich zur Stärkung und Entwicklung des Humanvermögens in der Ge-
sellschaft beitragen können. Denn wirtschaft lich selbstständige Familien können
die Fürsorgeleistung für ihre Kinder autonom gestalten, die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf stellt sicher, dass Väter und Mütter in den Prozess von Fürsor-
334 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

ge und Erziehung eingebunden sein können, und das Wohlergehen von Kindern
und eine positive Entwicklung der Fertilitätsrate erschließen sich als Grundele-
mente der Entwicklung des Humanvermögens fast von selbst.
Doch ist die Frage außerordentlich schwer zu beantworten, wie in sich konsis-
tente und eindeutige Indikatoren eigentlich empirisch zu benennen sind, wie man
beispielsweise im Detail das kindliche Wohlergehen und die Effekte auf dieses
Wohlergehen erfassen kann. Bis heute ist sich die Forschung nicht einig darüber,
welche einzelnen Indikatoren heranzuziehen sind und welche der gemessenen In-
dikatoren längerfristig eine Bedeutung haben (Bertram 2013; Gábos und Györky
2011; OECD 2009a). Das Gleiche gilt für die Frage der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, weil sich das für alleinerziehende Mütter anders darstellt als für eine
Familie mit Vater und Mutter und wieder anders für eine Familie mit mehreren
Kindern. Selbst bei der Fertilitätsrate ist es außerordentlich umstritten, wie hoch
sie eigentlich sein sollte, um das Humanvermögen der Gesellschaft zu sichern
(Lutz 2008), ebenso umstritten ist, ob hier überhaupt ein Einfluss der Familien-
politik anzunehmen ist (Gauthier 2007).
Um die Effizienz familienpolitischer Maßnahmen zu messen, ist es unerläss-
lich, diese generellen Ziele in einzelne, konkrete Teilziele zu übersetzen. Auch
braucht es Annahmen über die Wirkung der familienpolitischen Maßnahmen auf
diese Ziele. Denn Mütter und Väter haben auch abhängig von ihren unterschied-
lichen Qualifi kationen in ihrer Sozialisation bestimmte Präferenzen entwickelt,
die die Wirkungen von Maßnahmen in erheblichem Umfang beeinflussen kön-
nen. Zudem können geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen der Müt-
ter und Väter angenommene Wirkungen von bestimmten Maßnahmen konter-
karieren. Im Siebten Familienbericht (Bertram et al. 2006a) wurde schon darauf
hingewiesen, dass Mütter in ganz Europa dazu tendieren, Kinder und Beruf als
gleich wichtige Lebensziele mit klarer Präferenz für die Kinder einzuschätzen;
Väter geben hingegen, trotz klarer Präferenzen für Kinder, dem Beruf ein viel
höheres Gewicht. Wollte man alle diese verschiedenen Präferenzen und Lebens-
bedingungen, die verschiedenen familiären Lebensformen und Familiengrößen
und das unterschiedliche Alter der Kinder in entsprechende Wirkungsmodelle
übersetzen, käme man schnell zu einer solchen Komplexität, dass ihre Aussage-
kraft außerordentlich begrenzt wäre.
Bei der Evaluation der familienpolitischen Leistungen wurde dieses Problem
- theoretisch nachvollziehbar - dadurch gelöst, dass auf solche Differenzierungen
verschiedener Präferenzen weitgehend verzichtet und ein generalisiertes Anreiz-
modell zu Grunde gelegt wurde (DIW 2012, 2013; IFO 2013). Mit so einem ge-
nerellen Ansatz kommt man dann auch zu klaren Aussagen, wie etwa: „Die Er-
gebnisse der Wirkungsanalysen zeigen, dass durch eine Kindergelderhöhung bei
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 335

Müttern negative Beschäft igungseffekte auftreten können, die sich in einer Ver-
ringerung der Arbeitsstunden zeigen. Mütter mit Partnern – vor allem in Haus-
halten mit niedrigem Einkommen – verringern die Vollzeittätigkeit zugunsten
der Teilzeittätigkeit, während die Erwerbsquoten weitgehend stabil bleiben.“ (IFO
2013, S. 36); oder: „Die Effizienzanalyse ergibt, dass die tatsächlichen Kosten einer
Kindergeldreform in etwa doppelt so hoch liegen wie die nominalen Kosten. Im
Gegensatz zu infrastrukturellen familienpolitischen Leistungen wie der öffent-
lich geförderten Kinderbetreuung sind kostendämpfende Selbstfinanzierungsef-
fekte beim Kindergeld nicht zu erwarten. Durch die verringerte Arbeitszeit der
Mütter infolge der Erhöhung der Kindergeldleistung entstehen indirekte Kosten
auf Seiten des Staates: Da Mütter bei einer Kindergelderhöhung ihre bezahlten
Arbeitsstunden reduzieren, entgehen dem Staat Steuereinnahmen und Sozialver-
sicherungsbeiträge. Im Mittel der Schätzungen liegt die Höhe dieser zusätzlichen
indirekten Kosten in etwa auf dem gleichen Niveau wie die direkten Kosten einer
Kindergelderhöhung.“ (IFO 2013, S. 36).
Bei solchen Ergebnissen spielen nicht die subjektiven Einstellungen der Müt-
ter zu ihren Kindern und ihre Vorstellungen von Kindererziehung eine Rolle,
sondern einzig und allein die Höhe des Kindergeldes: Ein hohes Kindergeld ver-
mindert die Bereitschaft zur Arbeit, wenig Kindergeld erhöht die Bereitschaft zur
Arbeit. Das hier aufscheinende Dilemma, das den gesamten Bericht durchzieht,
liegt darin, dass die elterlichen Entscheidungen und Lebensvorstellungen in Bezug
auf ihren persönlichen Beitrag zur Entwicklung ihrer Kinder auf ökonomische
Anreize reduziert werden. Können die Eltern durch entsprechende Arbeitsmarkt-
partizipation ökonomisch auf eigenen Füßen stehen, hat das positive Effekte für
das kindliche Wohlergehen, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie
für die ökonomische Stabilität der Familie. Das Wohlbefinden der Kinder wird
im Wesentlichen durch eine hinreichende Infrastruktur gewährleistet. Implizit
wird auch die Annahme gemacht, dass bei einer verstärkten Präsenz am Arbeits-
markt und einer entsprechenden Infrastruktur nicht nur die ökonomische Exis-
tenz einer Familie gesichert ist, sondern auch eine positive Fertilitätsentwicklung
zu erwarten ist. Damit wird aus dem Grundgedanken des Familienleistungsaus-
gleichs ein Modell einer neoliberalen Familienpolitik.
Denn der Neoliberalismus unterstellt, dass das menschliche Wohlbefi nden
dann am größten ist, wenn die Gesellschaft allein durch den Markt reguliert
wird: „Neoliberalism is a theory of political economic practices that proposes that
human well-being can best be advanced by liberating individual entrepreneurial
freedoms and skills within an institutional framework characterized by strong
property rights, free markets, and free trade.“ (Harvey 2005, S. 2). Die Rolle des
Staates ist in diesem Modell entsprechend auf die institutionelle Herstellung der
336 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

Marktfreiheit begrenzt: „The role of the state is to create and preserve and insti-
tutional framework appropriate to such practices.“ (Harvey 2005, S.2). Eine neo-
liberale Familienpolitik stellt den besonderen Schutz der Familie, den der Fami-
lienlastenausgleich über das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit etabliert hat,
entsprechend in Frage und rechtfertigt sich über die paradoxe Annahme, dass das
Wohlbefinden der Familie und ihrer einzelnen Mitglieder dann maximiert wird,
wenn sie verstärkt individuell marktabhängig sind. Denn dem Staat kommt im
neoliberalen Denken keine Rolle darin zu, die Rahmenbedingungen so zu gestal-
ten, dass Familien ihre Freiheit auch leben können.
Wie auch immer man zu einer solchen neoliberalen Familienpolitik steht, sind
zwei zentrale Punkte zu bedenken. Die Verfassung schreibt den Eltern zwingend
vor, Zeit und Geld für die eigenen Kinder aufzuwenden. Damit begrenzt sich die
Zeit, die Eltern am Arbeitsmarkt verbringen können, immer durch die Zeit, die
sie für ihre Kinder und für die kindliche Entwicklung für erforderlich halten.
Diese Zeit hängt aber von den elterlichen Präferenzen, ihren Möglichkeiten und
auch von ihren spezifischen Lebensformen ab. Eine Familie mit zwei Kindern, bei
denen Vater und Mutter anwesend und berufstätig sind, kann Zeit und Fürsorge
in anderer Weise miteinander teilen und die eigene ökonomische Existenz sichern
als eine Familie mit einem Elternteil. Damit kämpft ein solches Modell der neo-
liberalen Familienpolitik ebenso wie das Modell des Familienlastenausgleichs mit
dem Problem, dass sich die Vielfalt der Lebensbedingungen und Lebensformen
von Familien und Kindern nicht in dieser Form abbilden lassen.
Auch sind die Annahmen über die Wirkungen bestimmter familienpolitischer
Maßnahmen im internationalen Vergleich teilweise umstritten. So weist Adema
(2012) beim Vergleich der familienpolitischen Maßnahmen in den OECD-Län-
dern darauf hin, dass Mütter mit mehreren Kindern in allen OECD-Ländern eine
signifi kant geringere Arbeitszeit aufweisen als Mütter mit einem Kind. Das gilt
für die skandinavischen Länder ebenso wie für Großbritannien und die USA oder
auch für die südeuropäischen Länder und für Frankreich. Die Zeit, die Mütter
in den OECD-Ländern für ihre Kinder aufwenden, hängt unabhängig von den
jeweiligen nationalen familienpolitischen Rahmenbedingungen im Wesentlichen
von der Zahl und dem Alter der Kinder ab.
Damit wird ein entscheidendes Dilemma einer neoliberalen Familienpolitik
deutlich, die Familienleistungen im Wesentlichen unter der Perspektive betrach-
tet, wie sich die Präsenz der Eltern am Arbeitsmarkt verbessern und stabilisieren
lässt. Sowohl das Grundgesetz wie auch die Eltern selbst betrachten die Zeit für
Kinder im Gegensatz zu den Autoren der Evaluation nicht als „freie Zeit“, son-
dern als eine Zeit, die das gleiche Gewicht und die gleiche - möglicherweise sogar
eine größere Bedeutung hat - als die berufliche Zeit. Das muss nicht für alle Le-
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 337

bensphasen gelten und auch nicht für alle Väter und Mütter, aber doch für einen
signifi kanten Teil. Damit wird deutlich, dass die Messung der Wirkungen von
familienpolitischen Maßnahmen ohne die Berücksichtigung der individuellen
Präferenzen und Lebensentwürfe von Vätern und Müttern an der Lebensrealität
der Eltern vorbeigeht.

4 Stärken und Schwächen einer neoliberalen


und einer gerechten Familienpolitik

Bei aller Kritik an einer neoliberalen Familienpolitik, wie sie im Konzept der
Evaluation familienpolitischer Maßnahmen vertreten wird (BMFSFJ 2013; DIW
2012, 2013; IFO 2013), ist es der große Verdienst dieser Perspektive, deutlich ge-
macht zu haben, dass zwischen den ökonomischen Strukturen einer Gesellschaft,
der ökonomischen Basis der Familie und den Möglichkeiten der Eltern, Zeit und
Geld in ihre Kinder zu investieren, ein außerordentlich enger Zusammenhang
besteht. Denn das Familienmodell, das dem klassischen Ansatz des Familien-
lastenausgleichs zu Grunde lag, war das Modell der industriegesellschaft lichen,
arbeitsteilig organisierten Familie, das durch die Trennung der Rollen von Vater
und Mutter in ökonomische Fürsorge und personale Fürsorge ein „traditionell-
warmes“ Familienmodell propagiert hat, in dem eine Person (die Mutter) sich frei
von ökonomisch vorgegebenen Zeitstrukturen nur der Erziehung und Fürsorge
der Kinder widmen konnte (Hochschild 1995). Dieses Modell ermöglichte die
Fürsorge und Erziehung der Kinder und zugleich einen Dreischichtenbetrieb der
industriellen Güterproduktion, der sich nicht nach den spontanen Bedürfnissen
von Kindern richten konnte. Der Preis dieser Arbeitsteilung war der Rückzug der
Mütter aus vielen gesellschaft lichen Bereichen, was René König schon 1946 als
„Desintegration der Familie“ kritisierte.
Denn in einer Gesellschaft, in der neben der industriellen Güterproduktion
zunehmend soziale, finanzielle und informationstechnische Dienstleistungen
an Bedeutung gewinnen und neue virtuelle Güter und Formen kommunikati-
ver Netzwerke entstehen, kann zur Sicherung des Wohlstands nicht mehr auf das
Humankapital der qualifizierten Frauen verzichtet werden. Das klassische indus-
triegesellschaft liche Modell der familiären Arbeitsteilung kommt daher aufgrund
des ökonomischen Strukturwandels an seine Grenzen. Diese Stärke des neolibe-
ralen Ansatzes wird aber in dem Evaluationsmodell - und darin liegt genau seine
zentrale Schwäche - so interpretiert, dass durch die Leistungen für Familien im
Wesentlichen die Marktverfügbarkeit der Mütter zu sichern ist. Damit wird aber
gerade die Frage der Fürsorglichkeit für Kinder und auch zunehmend für ältere
338 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

Menschen den Erfordernissen des Arbeitsmarktes und der ökonomischen Ent-


wicklung untergeordnet. Floglich scheint in diesem Ansatz der gleiche Fehler auf
wie bei dem Konzept der horizontalen Gerechtigkeit. Eine klare Differenzierung
nach verschiedenen Lebensformen, nach den unterschiedlichen Möglichkeiten
von Vätern und Müttern aufgrund verschiedener ökonomischer Situationen in
den jeweiligen Berufen und nach den unterschiedlichen Notwendigkeiten für
kindliche Sorge und Erziehung je nach Familiengröße, Alter, Entwicklung oder
Gesundheit eines Kindes, findet nicht statt, weil die Zeit für Kinder und die Zeit
für Fürsorge in diesem Ansatz als „freie Zeit“ interpretiert wird.
Das Konzept von Familienpolitik als Leistungsausgleich ermöglicht die Be-
rücksichtigung dieser Vielfalt demgegenüber, weil die Unterstützungsleistun-
gen für Familien nicht mehr an die Lebensform geknüpft werden, sondern an
die konkret zu erbringenden Fürsorge- und Erziehungsleistungen. Entsprechend
beinhaltet es diesbezüglich einen Fortschritt gegenüber dem Lastenausgleich. Al-
lerdings ist das Konzept des Leistungsausgleichs relativ losgelöst von der ökono-
mischen Entwicklung der Gesellschaft, weil primär die Unterstützungsleistungen
für Familien thematisiert werden und nicht die unterschiedlichen Bedingungen,
unter denen diese erbracht werden.
Zusammenfassend lässt sich als Kritik an den drei Ansätzen feststellen, dass
der Ansatz des Familienlastenausgleichs Gerechtigkeit im Wesentlichen für das
Familienmodell der Industriegesellschaft thematisiert und alle anderen Lebens-
formen mehr oder minder benachteiligt hat. Das Modell der Familienleistungen
hat den gesellschaft lichen Wandel, insbesondere die stärkere ökonomische Inte-
gration der Frauen in die Erwerbswelt und die damit verbundenen unterschiedli-
chen ökonomischen Möglichkeiten verschiedener familiärer Lebensformen nicht
berücksichtigt. Der neoliberale Ansatz hat zwar den gesellschaft lichen Wandel
thematisiert, ordnet aber die Fürsorge für Kinder und Ältere dem Markt und da-
mit der Ökonomie unter.

5 Nachhaltige Familienpolitik im internationalen


Vergleich

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die amerikanische Besatzungsmacht erheb-


lich Einfluss auf die Familienpolitik in der Bundesrepublik, um mit der Stärkung
der Familienerziehung und der Stärkung der Rolle der Mutter die demokratische
Entwicklung zu fördern (Hentschke 2001). Während der sozialliberalen Koalition
in den 1970er Jahren, aber auch in den 1980er Jahren, etwa bei der Reform des
damaligen Erziehungsurlaubs oder des KJHG, hat die Politik immer versucht zu
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 339

prüfen, ob und wie Einzelmaßnahmen im Bereich der Familienpolitik aus ande-


ren Ländern auf Deutschland übertragen werden sollten. Konzeptionell waren die
Politikansätze demgegenüber immer stark auf Deutschland bezogen, und das gilt
bis heute: Etwa folgt die wissenschaft liche Aufbereitung der familienpolitischen
Leistungen (BMFSFJ 2009) einem deutschen Konzept, statt sich die Konzepte der
OECD mit einer Fülle internationaler Vergleiche zu familienpolitischen Leistun-
gen zu eigen zu machen.
Der Siebte Familienbericht (Bertram et al. 2006a) hat die Grundlagen für die
nachhaltige Familienpolitik wesentlich konzipiert und plädierte von Anfang an
dafür, auch die deutsche Familienpolitik auf der Basis von Vergleichsdaten in
einen internationalen Kontext einzubetten. Denn der Wandel der familiären Le-
bensformen, die Konzentration alleinerziehender Eltern in den großen urbanen
Zentren, die Konzentration bestimmter Migrantengruppen in verschiedenen Re-
gionen, die zunehmende berufliche Qualifi kation von Müttern mit Kindern, der
Wandel der ökonomischen Strukturen und der Rückgang der Kinderzahlen sind
kein deutsches Phänomen und sie sind auch in Deutschland kein einheitliches
Phänomen, sondern stellen sich teilweise genauso vielfältig dar wie die Entwick-
lung in anderen europäischen Ländern. Auch die theoretische Diskussion, wie
ein „traditional-warmes“ Familienmodell zu einem „modern-warmen“ Familien-
modell entwickelt werden kann, in dem die Zeit für Kinder und die Fürsorge für
ältere Menschen nicht nur von den ökonomischen Rahmenbedingungen abhän-
gen, sondern von der persönlichen Willensentscheidung der Eltern und den Ent-
wicklungsperspektiven des Kindes, wird in anderen Ländern in gleicher Weise
intensiv geführt.
Insbesondere aber liegen inzwischen durch die Entwicklung entsprechender
Datenbanken durch die OECD (OECD 2009b, 2009c, 2009d; Bujard 2011) und
durch europaweite Erhebungen wie ESS und EU-SILC Datensätze vor, die qua-
litativ ebenso hochwertig wie die deutschen Datensätze sind, zugleich aber eine
internationale Vergleichbarkeit ermöglichen. Das ist vor allem deshalb wichtig,
weil der europäische oder internationale Vergleich kulturell unterschiedlicher
Entwicklungen in einzelnen Ländern die Möglichkeit eröffnet, die Stärken und
Schwächen einzelner familienpolitischer Maßnahmen zu prüfen, ohne für spezi-
fische Menschen krude Thesen über die Anreizwirkung von Geld zu formulie-
ren. Die These, bei einer Erhöhung des Kindergelds würden vor allem die wenig
Qualifizierten in schlecht bezahlten Jobs ihre Arbeit aufgeben, lässt sich im euro-
päischen Vergleich ebenso prüfen wie die These, dass eine größere Präsenz am
Arbeitsmarkt die Kinderarmut signifi kant verringert.
Nicht zuletzt aber hat die EU Charta für die Länder der Europäischen Union
eine klare und gut nachvollziehbare rechtspolitische Struktur geschaffen, in der
340 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

sich die Familienpolitik mit den jeweiligen gesetzlichen Besonderheiten in den


einzelnen Ländern zu bewegen hat. Die in der Grundrechts-Charta der EU (2010)
formulierten Rechte der Familie auf rechtlichen, wirtschaft lichen und sozialen
Schutz, das Recht auf Mutterschutz und Elternurlaub, um Familie und Berufsle-
ben miteinander in Einklang zu bringen, das Recht der Eltern, die Erziehung und
den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihrer eigenen Überzeugungen sicher-
zustellen sowie das Recht des Kindes auf ungehinderten persönlichen Zugang zu
seinen Eltern, stehen im Einklang mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik. Sie
machen zugleich deutlich, dass eine Familienpolitik in einem Nationalstaat der
EU auf den gleichen Grundlagen aufbauen kann, die auch in den anderen Staaten
der EU gelten. Das gilt auch für die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf,
die explizit in die Grundrechtscharta der EU aufgenommen ist.
In der Charta wird aber immer betont, dass die konkrete Ausgestaltung dieser
Rechte dem jeweiligen Nationalstaat obliegt. Daher ist das Konzept des Siebten
Familienberichts mit dem internationalen Vergleich und seinen Empfehlungen
nur plausibel. Die Entwicklung einer nachhaltigen Familienpolitik setzt voraus,
statt nationalstaatlicher empirischer Einzelanalysen international vergleichende
Analysen innerhalb der EU vorzunehmen und zu prüfen, inwieweit die eigenen
Vorstellungen und Perspektiven mit der Grundrechtscharta übereinstimmen und
ob und inwieweit für die im eigenen Land erkannten Probleme bereits in anderen
Ländern Lösungen erarbeitet wurden. Anschließend ist zu prüfen, ob und inwie-
weit diese Lösungen den jeweiligen kulturellen, sozialen und ökonomischen Be-
sonderheiten des jeweiligen Nationalstaats so entsprechen, dass sie auch konkret
zur Lösung bestimmter Probleme beitragen.
In der Vergangenheit haben die Länder gerade in der Familienpolitik schon
immer geprüft, welche Lösungen ihre Nachbarländer für spezifische Probleme
entwickelt haben, um von ihnen zu lernen (Mitterauer 2003). Das einkommens-
abhängige Elterngeld hat der Siebte Familienbericht (Bertram et al. 2006a) in sei-
nen Grundzügen wesentlich dem finnischen Modell des Elterngeldes nachgebil-
det; es stellt ein gutes Beispiel für das Konzept eines empirischen internationalen
Vergleichs innerhalb der EU unter Übertragung von Regelungen in den rechtli-
chen und ökonomischen Kontext der Bundesrepublik Deutschland dar.
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 341

6 Strategien einer nachhaltigen Familienpolitik:


Lebenszeit und Alltagszeit

Sowohl das Grundgesetz als auch die EU Charta sehen in der Fürsorge und Er-
ziehung für Kinder eine Aufgabe der Eltern, für die beide Eltern Zeit und Geld zu
investieren haben. Das gilt nicht nur für die ersten anderthalb Lebensjahre eines
Kindes, sondern, wie die EU Charta betont, für die gesamte Zeit der kindlichen
Erziehung und Entwicklung. Damit müssen die Eltern ihre persönlichen Lebens-
perspektiven und Lebensläufe in Einklang mit der kindlichen Entwicklung und
den Erziehungsprozessen organisieren können. Die zeitliche Balance zwischen
den verschiedenen Lebensbereichen bezieht sich nicht nur auf die ersten Lebens-
jahre eines Kindes und auch nicht nur auf die Organisation der Alltagszeit, son-
dern auch auf den Lebensverlauf. Nachhaltige Familienpolitik, die es den jungen
Erwachsenen ermöglichen will, ihre eigenen persönlichen Lebensvorstellungen
in den verschiedenen gesellschaft lichen Bereichen, wie Bildung, Beruf, Familie,
zivilgesellschaft liches Engagement und auch freie Zeit, zu gestalten, wird daher
ihre familienpolitischen Ziele und Maßnahmen immer unter der Perspektive
analysieren müssen, wie diese Ziele sowohl im Lebensverlauf und als auch im All-
tag von jungen Frauen und Männern zu realisieren sind.
Bis auf die Regelungen zum Mutterschutz und der Elternzeit, die auch die EU
Charta als ein Grundrecht formuliert, ist die nachhaltige Familienpolitik hinsicht-
lich Lebenszeit und Lebenslauf in Deutschland bisher kein zentraler Bestandteil
wissenschaft licher und politischer Diskussionen. Zwar skizziert beispielsweise
der Achte Familienbericht (BMFSFJ 2012) eine Lebenslaufperspektive, aber seine
Vorschläge beziehen sich im Wesentlichen auf die Organisation der Alltagszeit.
Der Siebte Familienbericht (Bertram et al. 2006a) hat allerdings darauf hinge-
wiesen, dass die heutige Organisation des Lebenslaufs eine gleichwertige Integra-
tion von Fürsorge für Kinder und berufl icher Karriere ausschließt. Denn durch
eine höhere und damit auch länger dauernde Qualifi kation der nachwachsenden
Generation erfolgt der Einstieg ins Berufsleben für einen großen Teil der jungen
Erwachsenen viel später als in der Elterngeneration; gleichzeitig sind heute die
Übergänge in feste Berufspositionen für einen großen Teil der jungen Erwachse-
nen schwieriger als in der klassischen Industriegesellschaft (Bertram et al. 2014).
Die Möglichkeit, sich später für Kinder zu entscheiden, ist allerdings schon aus
biologischen Gründen begrenzt, sodass die Zeit für eine Entscheidung für Kinder,
für die Erziehung dieser Kinder und die eigene Karriereplanung viel kürzer ist als
in der Generation der Eltern.
Diese „Rushhour des Lebens“ (Bertram et al. 2005) lässt sich nicht dadurch
auflösen, dass durch Kinderbetreuungseinrichtungen und flexible Arbeitszeiten
342 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

die Vereinbarkeit verschiedener Aufgaben verbessert wird, obwohl das wichti-


ge Maßnahmen sind. Ihr kann nur durch eine grundlegende Veränderung des
Lebenslaufs entgegengewirkt werden, wie es die EU in ihrem Grünbuch 2005
empfohlen hat (Europäische Kommission 2005). Bildungs- oder Weiterbildungs-
phasen und Fürsorgephasen für Kinder oder alt gewordene Eltern können die
berufliche Karriere dann problemlos unterbrechen, wenn sich diese Zeit im Le-
benslauf dadurch nachholen lässt, dass man auch nach einer Unterbrechung wie-
der neu starten kann und die eigene aktive Lebensarbeitszeit zugleich verlängern
kann. Der Autor des Grünbuchs, Wim Kock, schlägt sogar vor, die „Rente“ dazu
zu nutzen, diese zeitlichen Unterbrechungen zu finanzieren und dies durch eine
längere aktive Lebenszeit auszugleichen.
Aber die Frage der Finanzierung ist nur eins der zu lösenden Probleme. Das
zentrale Problem besteht darin, dass moderne Gesellschaften lernen müssen, dass
Lebensläufe nicht in kontinuierliche Berufskarrieren zu übersetzen sind, sondern
auch diskontinuierliche Karrieren möglich sein sollten. Warum sollte eine 17-jäh-
rige junge Frau, die gern Erzieherin wird, nicht eine Fachschule besuchen und
diesen Beruf dann zehn Jahre ausüben, möglicherweise mit einer zwischenzeit-
lichen Erziehungszeit von 15 Monaten oder auch drei Jahren. Entscheidend ist, ob
die Gesellschaft Lebensläufe akzeptiert, die es dieser jungen Frau ermöglichen,
mit 35 Jahren noch einmal neu zu studieren, um möglicherweise mit 45 Jahren
als Richterin tätig zu werden und dann bis zum 75. Lebensjahr Recht zu sprechen.
Viele Berufe lassen solche Wechsel zwischen verschiedenen Lebensbereichen und
Berufen sinnvoll erscheinen, doch sind unsere gegenwärtige Berufsstruktur und
unsere Berufslaufbahnen sowohl im öffentlichen Dienst wie in der freien Wirt-
schaft nicht auf solche Perspektiven angelegt.
Welch geringe Bedeutung eine solche Politik, die auf eine Veränderung des Le-
benslaufs mit Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Lebensbereichen und
verschiedenen Berufen abzielt, gegenwärtig hat, lässt sich an der aktuellen Ren-
tenpolitik der Bundesregierung nachzeichnen. Viele junge Frauen, insbesondere
in Westdeutschland, haben für zwei oder drei Kinder ihre berufliche Tätigkeit
für längere Zeit unterbrochen. Für sie ist es ausgeschlossen, mit dem 63. Lebens-
jahr auf jene 45 Jahre zu kommen, die erforderlich sind, um vorzeitig in Rente zu
gehen. Das können nur die Männer machen, die in dem arbeitsteiligen Familien-
modell der Industriegesellschaft gelebt haben, in dem die Fürsorgeleistung allein
von den Frauen erbracht wurde. Obwohl der Art. 23 der EU Charta explizit eine
Diskriminierung nach Geschlecht in Bezug auf Arbeitsmarktregelungen aus-
schließt, wird in der Bundesrepublik heute eine solche Regelung durchgesetzt.
Damit wird hinsichtlich der Lebenslaufperspektive das klassische Lebenslauf-
modell in der Sozialpolitik und Rentenpolitik zementiert und der Druck auf die
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 343

jungen Erwachsenen erhöht, die ökonomischen Ressourcen für die Rentnergrup-


pe zu erwirtschaften. Gleichzeitig sind die Frauen, die sich für mehrere Kinder
entschieden haben und wieder berufstätig geworden sind, von dieser Regelung a
priori ausgeschlossen.
Die Analysen zum Lebenslauf und den Karriereverläufen des Führungsper-
sonals der 30 Dax-Konzerne (Kearney 2013) zeigen, dass die entscheidenden
Weichenstellungen für Führungspositionen zwischen dem 30. und 35. Lebens-
jahr erfolgen. Wer in dieser Zeit nicht auf entsprechende Positionen aufrückt und
Personalverantwortung übernehmen kann, hat im weiteren Verlauf nur geringe
Chancen, eine Führungsposition zu übernehmen. Als Konsequenz dieser Lebens-
verlaufsmuster entspricht in den 30 Dax-Konzernen die Zahl der jungen Frauen
mit 30 Jahren, die für Führungspositionen infrage kommen, in etwa der Zahl der
in dem jeweiligen Unternehmen beschäftigten qualifizierten Mitarbeiterinnen.
Mit 35 Jahren hat sich diese Zahl halbiert, und im weiteren Verlauf ändert sich an
diesen Zahlen nichts mehr. Das Gleiche gilt für den öffentlichen Dienst, wo selbst
die Akademikerinnen den Einkommensvorsprung ihrer männlichen Kollegen im
weiteren Lebensverlauf nicht mehr einholen können.
Eine nachhaltige Familienpolitik, die eine lebensverlaufsorientierte Familien-
politik vorantreiben will, muss also im Sinne einer guten Querschnittspolitik
auch dafür sorgen, dass nicht in anderen Politikfeldern, etwa der Rentenpolitik,
Weichen gestellt werden, die zu einer Diskriminierung von Fürsorgearbeit bei-
tragen. Eine lebensverlaufsorientierte Familienpolitik betont auch, dass der Aus-
bau der Infrastruktur für Kleinstkinder und Kinder im Vorschulalter nur eine
partielle Entlastung der Fürsorgearbeit von Eltern bedeutet, weil sich spätestens
beim Schuleintritt die Fürsorge- und Erziehungsleistungen der Eltern bei der
deutschen Vormittagsschule kaum kompatibel mit den berufl ichen Anforderun-
gen und Erwartungen gestalten lassen. Unter einer Lebensverlaufsperspektive
zeigt sich, dass sich die zeitlichen Karrieremuster in Deutschland vor allem in den
qualifizierten Berufen nicht mit den Anforderungen an die Fürsorge für Kinder
und Ältere vereinbaren lassen.
Im europäischen Kontext gibt es verschiedene Beispiele, wie man sich mit
diesem Problem auseinandergesetzt hat: Die Niederlande etwa organisieren die-
se Kombination im Wesentlichen über Teilzeit; Finnland kennt eine dreijährige
Auszeit (Bertram et al. 2014) und danach wieder die volle Erwerbstätigkeit. Unter
einer vergleichenden Nachhaltigkeitsperspektive müssten die Erfahrungen dieser
Länder mit den verschiedenen Modellen daraufh in geprüft werden, ob sie auch in
der Bundesrepublik zu realisieren wären. Theoretisch wie praktisch viel einfacher
zu lösen, ist die Organisation der Alltagszeit, weil der Gesetzgeber einerseits die
Möglichkeit hat, durch gesetzliche Vorgaben zeitliche Flexibilität in der Organi-
344 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

sation der Arbeit zu ermöglichen, und zugleich durch angemessene Angebote der
Infrastruktur auch entsprechende Unterstützungen schaffen kann. Allerdings gilt
auch für die Alltagszeit, dass die Infrastruktur, wie Krippen und Kindergärten,
nicht automatisch zu einer Entlastung der Eltern führt. Denn die Zeit, die Eltern
mit ihren Kindern verbringen, hat in den USA ebenso wie in Deutschland und
anderen europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen
(Bianchi et al. 2006). Das ist gut nachvollziehbar, weil die Leistungsanforderun-
gen an die Kinder deutlich gewachsen sind. Wenn heute 50 Prozent eines Alters-
jahrgangs gegenüber 8 Prozent in den 1960er Jahren zum Abitur geführt werden,
ist es nur plausibel, dass die Eltern heute viel mehr Zeit für ihre Kinder aufwen-
den, um die kindliche Entwicklung zu fördern.

7 Strategien einer nachhaltigen Familienpolitik: Ökono-


mische Selbstständigkeit und finanzielle Transfers

Das einkommensabhängige Elterngeld wurde vom Siebten Familienbericht


(Bertram et al. 2006a) und den begleitenden Gutachten (Bertram et al. 2006b)
wesentlich damit begründet, dass die Fürsorge für Kinder für die Gesellschaft die
gleiche Bedeutung hat wie die jeweilig ausgeübte Berufstätigkeit. Die Einführung
der Vätermonate wurde damit begründet, dass die Kinder die Möglichkeit haben
sollten, in gleicher Weise von Vater und Mutter betreut zu werden. Dass die Väter-
monate nicht von vornherein auf die Hälfte der Elternzeit ausgedehnt wurden, hat
seinen Grund darin, dass der Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeig-
te, dass auch dort ein stufenweises Modell zur Angleichung von väterlicher und
mütterlicher Fürsorge gewählt wurde. Denn solche tiefen Eingriffe in die private
Lebensführung von Eltern setzen voraus, dass die Eltern die Vorgaben akzeptie-
ren. Das Konzept des einkommensabhängigen Elterngeldes geht davon aus, dass
die jungen Mütter und Väter vor der Geburt des Kindes ökonomisch selbststän-
dig sind und damit selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Mit diesem
Konzept sind nicht nur die Vorgaben des Grundgesetzes zur Gleichbehandlung
der Geschlechter erfüllt, sondern auch die Vorgaben der EU Charta, die explizit
eine Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsleben einfordert.
Dieses Modell setzt allerdings auch voraus, dass nach Abschluss der Eltern-
zeit eine Rückkehr ins Berufsleben und damit die Möglichkeit der ökonomischen
Selbstständigkeit gewährleistet ist. Nach den empirischen Ergebnissen (Bertram
und Spieß 2011; Kluve und Tamm 2009) ziehen jedoch die meisten jungen Müt-
ter nach der Geburt des Kindes und dem Auslaufen der Elternzeit eine Teilzeit-
tätigkeit vor, und die Einkommensverluste der Familie werden durch eine Zu-
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 345

nahme der Arbeitstätigkeit der Väter ausgeglichen. Es ist schwer vorherzusagen,


ob dieses gegenwärtig zu beobachtende Verhalten auch für zukünft ige Elternge-
nerationen gilt. Der europäische Vergleich (Bertram et al. 2014) zeigt, dass sich
das Verhalten der Eltern beim Wiedereinstieg in das Berufsleben deutlich unter-
scheidet, selbst in den skandinavischen Ländern. Etwa bleiben die Finninnen bis
zum dritten Lebensjahr des Kindes in der Regel zu Hause und sind dann wieder
voll erwerbstätig; die Schwedinnen mit unter dreijährigen Kindern zeigen sehr
unterschiedliche Erwerbsformen von vollzeitnaher Tätigkeit bis zu Minijobs, wo-
hingegen die Däninnen durchgehend vollzeitnah arbeiten. In Frankreich gibt es
ähnlich vielfältige Variationen wie in Schweden, in den Niederlanden hingegen
eine durchgehende Teilzeittätigkeit. Daher kann kaum eine Prognose über die
langfristige Wirkung des einkommensabhängigen Elterngeldes und des Ausbaus
der Infrastruktur für Kinder abgegeben werden.
Allerdings zeigt der europäische Vergleich auch, dass die ökonomische Selbst-
ständigkeit durch die Beteiligung am Arbeitsmarkt in allen europäischen Län-
dern voraussetzt, dass die Paare, die sich für Kinder entscheiden, zusammenleben
und gemeinsam wirtschaften und nur ein Kind haben. In allen europäischen Län-
dern (Stock et al. 2012) haben alleinerziehende Mütter in der Regel große Schwie-
rigkeiten, genügend Einkommen für sich selbst und ihre Kinder zu erzielen. Bei
Mehrkinderfamilien sinkt in allen europäischen Ländern die Partizipation der
Mütter am Erwerbsleben, unabhängig von der Familienpolitik. Eine neolibera-
le Familienpolitik, die allein auf die Existenzsicherung durch den Arbeitsmarkt
setzt, um die ökonomische Selbstständigkeit aller Familienformen sicherzustel-
len, nimmt damit billigend in Kauf, dass ein großer Teil der Kinder, die allein von
ihren Müttern großgezogen werden, in relativer Armut lebt. Denn die Einkom-
mensmöglichkeiten dieser jungen Mütter reichen offensichtlich nirgends aus, um
ein für Mutter und Kind ausreichendes Einkommen zu erzielen.
Wenn eine nachhaltige Familienpolitik dazu beitragen will, die ökonomische
Selbstständigkeit von Vater und Mutter zu ermöglichen und gleichzeitig sicher-
zustellen, dass die Kinder nicht in relativer Armut aufwachsen, ist es sinnvoller,
die ökonomischen Leistungen für Familien im Wesentlichen auf die Kinder zu
konzentrieren. Auf der einen Seite wird dadurch erwartet, dass es allen Müttern
und Vätern gelingt ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, um sich selbst zu
versorgen; auf der anderen Seite werden ihre Kinder aber durch eine Kinder-
grundsicherung versorgt. Eine solche Kindergrundsicherung würde auch das Ge-
rechtigkeitsproblem der horizontalen Gerechtigkeit lösen. Denn die finanziellen
Transfers werden nicht mehr an die Lebensform der Eltern gebunden, sondern als
Existenzsicherung für Kinder ausgewiesen, sodass die Lebensform der Eltern für
die Existenzsicherung der Kinder und die staatliche Unterstützungsleistung keine
346 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

Rolle mehr spielt. Zudem wäre darin der Gedanke der Sicherung der familiären
Leistungen für das gesellschaft liche Humanvermögen nachvollziehbar umgesetzt
und die von der neoliberalen Familienpolitik erwartete ökonomische Selbststän-
digkeit der jungen Frauen vorausgesetzt.

8 Strategien einer nachhaltigen Familienpolitik:


Kleine Lebenskreise und Infrastruktur

Seit 1995 gibt es den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und seit 2013
den Rechtsanspruch auf den Besuch einer Kinderkrippe. Obwohl beide Ansprü-
che in Deutschland gegenüber andern Ländern erst spät durchgesetzt wurden,
ist deren Umsetzung in den Kommunen erstaunlich schnell vollzogen worden.
Auch wenn dabei geholfen hat, dass die Kindergarten- und Krippenplätze durch
den Rückgang der Kinderzahlen teilweise neu organisiert werden konnten, ist der
Aufbau einer recht teuren Infrastruktur in relativ kurzer Zeit doch erstaunlich,
wenn man die Entwicklung mit anderen Ländern vergleicht. So hatte der fran-
zösische Präsident Mitterrand zu Beginn seiner Amtszeit 300.000 Krippenplät-
ze versprochen, aber in zehn Jahren lediglich 60.000 realisiert (Morgan 2002).
Frankreich hat den Ausbau der Infrastruktur für Kinder unter drei Jahren letzt-
lich nur dadurch geschafft , dass es neben den relativ teuren Krippen in erhebli-
chem Umfang in die preisgünstigere Lösung der Tagesmutter investiert hat.
So sehr Krippen und Kindergärten den Vorzug haben, bei entsprechender
Ausstattung auch eine entsprechende Qualität gewährleisten zu können (Bock-
Famulla und Lange 2013), sollte nicht übersehen werden, dass durch Tageskrip-
pen, Kindergärten und Tagesschulen die Kindheit „institutionalisiert“ wird und
damit die Kinder letztlich aus der Gesellschaft „herausorganisiert“ werden. Zin-
necker (1979, 1990) hat schon früh gezeigt, dass die kindliche Entwicklung und
das selbstständig werden von Kindern und Jugendlichen in einer institutionali-
sierten Welt nicht nur viel schwieriger ist als in einer Welt, die sie teilweise selbst
gestalten können, sondern dass ihnen auch zentrale Erfahrungsmöglichkeiten
ihrer eigenen Lebenswelt vorenthalten werden. Zudem bedeutet die Institutio-
nalisierung des kindlichen Lebens für die Eltern, dass sie ihren Rhythmus von
Alltag und Berufszeit den Strukturen und Zeiterwartungen der Organisationen
unterordnen müssen. Wer je drei Kinder im Alter von zwei, vier und sechs Jahren
morgens in die Krippe, den Kindergarten und die Schule gebracht hat, weiß, was
das bedeutet.
James Coleman hat schon 1982 in seiner Analyse der asymmetrischen Gesell-
schaft gezeigt, dass die kindliche Entwicklung nur dann erfolgreich sein kann,
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 347

wenn Gemeinde und Nachbarschaft die Eltern bei diesem Prozess unterstützen
(Coleman 1986). Wenn die Gemeinden für den Ausbau von Krippe und Kinder-
garten und deren Qualitätssicherung zuständig sind, stellt sich die Frage, wie
eigentlich die Nachbarschaft und das Umfeld der Kinder die kindliche Lebens-
welt mitgestalten können. Biedenkopf hat dazu den Begriff der „kleinen Lebens-
kreise“ vorgeschlagen (Biedenkopf et al. 2009), um deutlich zu machen, dass die
Unterstützung für Kinder und Familien sich nicht nur auf die Familie selbst
konzentrieren sollte, sondern auch Initiativen im unmittelbaren Lebensumfeld
der Kinder zu entwickeln sind. Ein Beispiel dafür sind etwa die „Bündnisse für
Familien“, die in vielen Gemeinden dafür Sorge tragen, dass der kindliche Alltag
auch außerhalb von Krippe und Kindergarten Anregungspotential und Entfal-
tungsmöglichkeiten für die Kinder bereithält. Lesepatenschaften, Netzwerke für
gesunde Kinder, Initiativen für Brücken zwischen Schule und Berufswelt, um den
Weg in die Berufswelt zu erleichtern, sind nachhaltige Beispiele für ein solches zi-
vilgesellschaft liches Engagement zur Unterstützung der kindlichen Entwicklung.
Unter der Perspektive einer nachhaltigen Familienpolitik sind diese Initiativen
ebenso wichtig wie der Ausbau der institutionellen Kinderbetreuung, denn nur
so kann gesichert werden, dass auf der einen Seite die Eltern jene Unterstützung
erfahren, die James Coleman als zwingende Voraussetzung für eine erfolgreiche
Sozialisation von Kindern benannt hat. Auf der anderen Seite haben auch die
Kinder dadurch die Möglichkeit, in eine Erwachsenenwelt hineinzuwachsen, die
nicht nur aus den Institutionen Krippe, Kindergarten und Schule auf der einen
und der Familie auf der andern Seite besteht, sondern eine moderne Variante von
Nachbarschaft ermöglicht, die für die kindliche Entwicklung von entscheidender
Bedeutung ist. Das gilt besonders für benachteiligte Kinder, weil sich in solchen
Initiativen auch Defizite, die in Betreuungsinstitutionen und im Elternhaus nicht
ausgeglichen werden können, durchaus überwinden lassen (Brooks-Gunn und
Duncan 1997; Laventhal und Brooks-Gunn 2001).

9 Familienpolitik im europäischen Kontext:


Plurale Lebensläufe, Kindergrundsicherung
und zivilgesellschaftliches Engagement

Wenn nun die hier nur sehr knapp skizzierten Grundprinzipien nachhaltiger Fa-
milienpolitik auf die vorher dargestellten Ansätze bezogen werden, so zeigen sich
einige Neudefinitionen der Begriffe bei gleichzeitiger Fortführung bestimmter
Ansprüche. Horizontale Gerechtigkeit sollte als zentrales Bestimmungselement
des klassischen Modells des Familienlastenausgleichs sicherstellen, dass Eltern
348 Hans Bertram & Carolin Deuflhard

finanziell gegenüber Nicht-Eltern nicht benachteiligt werden. Geht man in einer


modernen Gesellschaft davon aus, dass Männer und Frauen, unabhängig davon,
ob sie Väter und Mütter sind, ökonomisch auf eigenen Füßen stehen und an allen
Lebensbereichen so teilhaben, wie sie das selbst wollen, kann horizontale Gerech-
tigkeit in einem solchen Konzept nur heißen, dass man von Vätern und Müttern
nicht mehr verlangen kann als von anderen. Eine Gesellschaft kann erwarten,
dass Väter und Mütter gleichberechtigt ihre eigene Existenz sichern, sie kann aber
im Sinne einer horizontalen Gerechtigkeit nicht erwarten, dass noch zusätzlich in
jedem Fall die Existenz des Kindes gesichert werden kann. Eine Kindergrundsi-
cherung ist in diesem Sinne ein zentrales Element der horizontalen Gerechtigkeit
in einer nachhaltigen Familienpolitik, weil die Erwartung der Existenzsicherung
auch der Kinder, insbesondere als Alleinerziehende, an diese Familien höhere
ökonomische Erwartungen formuliert als an diejenigen, die keine Kinder haben.
Familien erbringen im Lebenslauf erhebliche zeitliche und ökonomische Leis-
tungen für ihre Kinder. Das wird auch von der Verfassung erwartet, und kommen
die Eltern dieser Erwartung nicht nach, so hat der Staat das Recht und die Pfl icht
einzugreifen. In bestimmten Lebensphasen der Kinder ist aber die Fürsorge für
Kinder so dominant, dass die ökonomische Selbstständigkeit zumindest eines El-
ternteils nicht zu gewährleisten ist. Mittel wie das einkommensabhängige Eltern-
geld ermöglichen es den Eltern, diese Fürsorgeleistung zu erbringen, weil diese
Leistung für die Gesellschaft im Rahmen des familiären Leistungsausgleichs so
finanziert wird, als ob eines der Familienmitglieder berufstätig wäre.
Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie sie unsere Verfassung be-
schreibt, und die klare Vorstellung der EU Charta, dass niemand wegen seines
Geschlechts am Arbeitsmarkt diskriminiert werden darf, ist nur dann zu reali-
sieren, wenn die Familienpolitik sicherstellen kann, dass zwischen den Fürsorge-
und Erziehungsleistungen für Kinder und den Lebensvorstellungen der Eltern,
ihr Können und Vermögen auch am Arbeitsmarkt einzubringen, in allen Alters-
phasen des Kindes eine Balance hergestellt wird, die den Bedürfnissen der Kin-
der nach Umgang mit den Eltern und den Bedürfnissen der Eltern nach Teilhabe
am Familien- und Erwerbsleben gerecht wird. Diese „Work-Life-Balance“ kann
nur erreicht werden, wenn von der Kinderkrippe über den Kindergarten bis zur
Ganztagsschule verlässliche Infrastrukturangebote für die Kinder in hoher Qua-
lität zur Verfügung gestellt werden, die sicherstellen, dass Eltern und Kinder diese
verschiedenen Lebensbereiche auch aufeinander beziehen können.
Unter der Perspektive einer nachhaltigen Familienpolitik ist es allerdings ein
Irrtum, zu glauben, dass der Ausbau der Infrastruktur für Kinder ausreichend
ist, um die kindliche Entwicklung so zu fördern, wie es den Entwicklungsmög-
lichkeiten der Kinder entspricht. Denn die kindliche Entwicklung vollzieht sich
Familienpolitik: gerecht, neoliberal oder nachhaltig? 349

nicht bloß an institutionellen Orten und der Familie, sondern wird sich nur dann
positiv im Sinne des kindlichen Wohlbefindens beeinflussen lassen, wenn das Le-
bensumfeld der Kinder auch zwischen den kommunalen Institutionen und dem
Elternhaus so gestaltet ist, dass Kinder auch in ihrem unmittelbaren Nahraum
Erfahrungen machen können, die für ihre Entwicklung unerlässlich sind.
Nachhaltige Familienpolitik wird immer dann zu einer Herausforderung für
andere Politikbereiche, wenn die hier formulierten Ansprüche auch umgesetzt
werden sollen. Das gilt nicht nur für die Bildungspolitik oder die Gesundheits-
politik, sondern vor allem für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. In diesem
Sinne wird das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit deutlich erweitert: Für-
sorge für andere kostet Zeit im Lebensverlauf. Diese Zeit führt heute in der Regel
zu einer Diskriminierung derjenigen, die diese Zeit aufgewandt haben. Das ist
Konsequenz der Tatsache, dass sich die Lebensläufe heute wesentlich am Muster
beruflicher Karrieren orientieren, wie es Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts ein-
geführt hat. Daher besteht die größte Herausforderung für die Familienpolitik
der Zukunft darin - bei der Fürsorge für Kinder wie für die Älteren - die Lebens-
verläufe so den gewonnenen Lebensjahren und der gewonnenen Vitalität im Alter
anzupassen, dass diejenigen, die Fürsorgeleistungen erbringen, nicht gegenüber
anderen benachteiligt sind. Erst wenn es gelingt, die Lebensverläufe auch im be-
ruflichen Bereich so vielgestaltig zu organisieren, dass man nach Unterbrechun-
gen immer wieder neu anfangen kann, ist die horizontale Gerechtigkeit, wie sie
die nachhaltige Familienpolitik versteht, in Ansätzen realisiert.

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Volksheim oder Shopping Mall?
Die Reproduktion der Gesellschaft
im Dreieck von Markt, Sozialstruktur
und Politik1
Wolfgang Streeck

Die Entwicklung moderner Gegenwartsgesellschaften lässt sich als Prozess fort-


schreitender Markterweiterung beschreiben – oder mit Rosa Luxemburg: als äu-
ßere und innere „Landnahme“ des Marktes gegenüber der sozialen Lebenswelt
(Luxemburg 1913). In dem Maße, wie dabei soziale Beziehungen zu Marktbezie-
hungen werden, löst sich menschliches Handeln von traditionellen Verpflichtun-
gen und folgt durchgerechneten Interessen. Leistungen für andere, die nicht aus
Eigennutz erbracht werden, entfallen. Wenn die Gesellschaft auf sie nicht verzich-
ten will, muss sie sie durch formale Regulierung erzwingen oder mit öffentlichen
Mitteln selbst erstellen. Dies ist die eigentlich treibende Kraft hinter dem Wachs-
tum der Staatstätigkeit und der Staatsausgaben im Kapitalismus und Prämisse
jeder wohlfahrtsstaatlichen Politik.
Allerdings haben Staaten ihre eigenen Probleme. Regulierung muss nicht im-
mer funktionieren; öffentliche Leistungen kosten Geld, das durch Steuern, Ge-
bühren oder Kreditaufnahme beschafft werden muss; staatliche Eingriffe können
unerwartete und unerwünschte Nebenfolgen haben; und nicht zuletzt können
sie ebenso schwierige moralische Probleme aufwerfen wie der Markt, dessen ab-
trägliche Folgen für den gesellschaft lichen Zusammenhalt sie doch eigentlich
ausgleichen sollen. Diesen Zusammenhang möchte ich am Verhältnis zwischen

1 Aus: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 8, 2011, Heft 2, 43-64

A. Steinbach et al. (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft, Familienforschung,


DOI 10.1007/978-3-658-02895-4_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
354 Wolfgang Streeck

der Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit seit den 1970er Jahren, dem gleich-
zeitigen Rückgang der Geburtenraten als Folge der Expansion des Arbeitsmarkts
und der Herausbildung einer neuen staatlichen Familienpolitik, die auf eine So-
zialisierung der physischen Reproduktion der Gesellschaft hinausläuft, genauer
untersuchen.
Ein ebenso gutes Beispiel für das, was Jens Beckert die „Anspruchsinflation
des Wirtschaftssystems“ (2009) genannt hat, wäre die Verwandlung des privaten
Bankenwesens der reichen Länder aus einer Art halböffentlicher industrieller In-
frastruktur in eine globale Geldindustrie. Bekanntlich haben deren unerwartete
Nebenfolgen erst kürzlich dazu geführt, dass die Staaten der westlichen Welt ihre
fiskalische Handlungsfähigkeit fast völlig verloren haben. Gleichfalls einschlägig,
wenn auch weniger dramatisch, erscheint die Entwicklung im Markt für Arbeit,
wo mehr Markt gleichbedeutend ist mit weniger paternalistischer Fürsorge-
pflicht des Arbeitgebers und, zunächst, entsprechend mehr Kündigungsschutz
und Arbeitslosenversicherung. Wenn es dann noch „flexibler“ zugehen soll oder
muss, kann es noch teurer werden: siehe die immensen Aufwendungen für „ak-
tive Arbeitsmarktpolitik“ in Ländern wie Dänemark und den Niederlanden mit
ihren hohen Ausgaben für Übergangsgelder, Weiterbildung und eine flächende-
ckende Arbeitsverwaltung (Streeck 2009).
Was die Ausweitung der weiblichen Erwerbstätigkeit und ihre demografischen
und sozialpolitischen Folgen betrifft, so gibt es zu dem Thema eine politisch kor-
rekte Standarderzählung, die ungefähr wie folgt verläuft. Ende der 1960er Jahre
begannen die gesellschaft lichen Vorurteile gegen eine volle Beteiligung der Frau-
en am Erwerbsleben allmählich zu fallen. Immer mehr Frauen konnten sich ihren
lang gehegten Wunsch erfüllen und in Lohnarbeit eintreten. Als Folge ihrer Aus-
wanderung aus der Subsistenzwirtschaft der Familie in die Freiheit des Arbeits-
markts gingen die Kinderzahlen zurück. Danach dauerte es Jahrzehnte, bis die
von Männern dominierte staatliche Politik die ihr damit zugewachsenen neuen
Aufgaben verstanden hatte: vor allem die Bereitstellung öffentlicher Einrichtun-
gen der Kinderbetreuung zur Verbesserung dessen, was heute „Vereinbarkeit von
Familie und Beruf“ heißt. Je weiter die Verantwortung für die Versorgung von
Kindern von den Familien auf den Staat übertragen wurde, desto schneller erhol-
ten sich die Geburtenraten dann wieder. Während in den 1970er Jahren OECD-
Länder mit hohen Frauenerwerbsquoten niedrige Geburtenraten hatten, ist es seit
den 1990ern, so hören wir, umgekehrt (Ahn und Mira 2002): Infolge der neuen,
familienpolitisch orientierten Sozialpolitik haben Länder nunmehr umso höhere
Kinderzahlen, je größer der Anteil der Frauen ist, die berufstätig sind.
Diese Geschichte ist nicht völlig falsch. Aber sie unterschlägt eine Anzahl von
Problemen und Paradoxien, und wohl durchaus mit Absicht. Auf einige dieser
Volksheim oder Shopping Mall? 355

Probleme möchte ich im Folgenden eingehen, um ein komplexeres Bild vom Ver-
hältnis zwischen Marktentwicklung, sozialer Lebenswelt und politischer Inter-
vention – und insbesondere von den fiskalischen Kosten von Märkten und der
Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Ausgleichs der sozialen
Nebenfolgen von Markterweiterung durch Erweiterung und Strukturanpassung
des modernen Wohlfahrtsstaats – zu zeichnen, ein Bild, das mir über den hier be-
handelten Fall hinaus von Interesse zu sein scheint.

1 Befreiung oder Vertreibung?

Die Auswanderung der Frauen aus der Subsistenzwirtschaft der Familie und ihre
Einwanderung in den Arbeitsmarkt seit dem Ende der 1960er Jahre (Abbildung
1) lässt sich nicht nur als Befreiungs-, sondern auch als Vertreibungsgeschich-
te erzählen. Die Befreiungsgeschichte der weiblichen Erwerbsarbeit berichtet
vom verdienten Ende der repressiven Single-Breadwinner-Familie, vom lang er-
sehnten und hart erkämpften Zugang der Frauen zur Freiheit des Marktes und
vom Glück des endlich eigenen Geldes und des selbstbestimmten Konsums. Die
Vertreibungsgeschichte dagegen beginnt mit der Krise der Lohnarbeit in den in-
dustrialisierten Ländern nach 1968, die auch durch die nach langem ununter-
brochenem Wachstum eingetretene Ausschöpfung des Arbeitsangebots bedingt
war, und berichtet von der Inflation und dem profit squeeze des anschließenden
Jahrzehnts, als dem Kapitalismus die Massenbasis abhandenzukommen drohte.
Nichts wurde damals dringender gebraucht als die Zufuhr einer neuen Klasse en-
thusiastischer Lohnarbeiter, die für die Wiederherstellung flexibler Arbeitsmärk-
te sorgen würde und für Druck auf den zu hoch gewordenen family wage und die
von einer gewerkschaft lich organisierten Arbeitnehmerschaft durchgesetzten, für
den ersehnten „Strukturwandel“ als zu „rigide“ empfundenen Beschäft igungs-
bedingungen.
356 Wolfgang Streeck

Abbildung 1 Weibliche Erwerbsbeteiligung in Prozent, 1970-2005

Quelle: OECD. In Prozent aller Frauen zwischen 15 und 65 Jahren. Dargestellt sind sie-
ben Länder, die für jeweils andere Muster von Erwerbstätigkeit und Sozialstruktur stehen:
die angelsächsischen Demokratien Großbritannien (UK) und Vereinigte Staaten (US); die
kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten Deutschland und Frankreich; Italien als Ver-
treter des mediterranen Gesellschaftstyps; sowie Schweden als Repräsentant des skandina-
vischen und Japan als Vertreter des asiatischen Sozialsystems.

Ich lasse dahingestellt sein, welche kausalen Zusammenhänge zwischen dem


massenhaften Einzug der Frauen in die Erwerbsarbeit und dem Bedürfnis des
stagnierenden Kapitalismus der 1970er Jahre nach erneuter „Landnahme“ – der
Begriff wurde von Burkart Lutz (1984) für die Soziologie der Nachkriegszeit wie-
derentdeckt – im Einzelnen bestanden haben mögen. Jedenfalls bescherte die
Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit der Wirtschaft dringend benötigte wil-
lige und gefügige Arbeitskräfte – eine mächtige Schar eifriger Zeuginnen für den
Segen der Lohnarbeit – zu einem Zeitpunkt, als die überwiegend männlichen
Arbeitnehmer der zweiten Nachkriegsgeneration unakzeptabel anspruchsvoll ge-
worden waren. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass Entgewerkschaft ung
und Lohndruck gerade in einem Land wie den USA, wo die Feminisierung des
Arbeitsmarkts am schnellsten vorankam, mindestens ebenso Ursache wie Fol-
ge derselben waren. Dass viele Familien einen immer größeren Anteil ihrer Zeit
Volksheim oder Shopping Mall? 357

und ihres Lebens auf dem Arbeitsmarkt verkauften, diente keineswegs immer der
„Emanzipation“, sondern oft auch und vor allem der Verteidigung eines gewohn-
ten Lebensstandards beziehungsweise des gewohnten Anstiegs desselben gegen
die Aufkündigung der Nachkriegsordnung des New Deal durch Arbeitgeber und
Politik. Im Übrigen können durchaus beide Erzählungen zugleich zutreffen: die
Befreiungserzählung für die neue Mittelschicht und die Landnahme-Erzählung
für die absinkende alte Arbeiterklasse.
Im öffentlichen Diskurs war die letztere freilich kaum präsent. Hier domi-
nierte und dominiert das Idol der erfolgreichen Anwältin, Managerin, Wissen-
schaft lerin usw., für die Lohnarbeit nichts anderes sein kann als reine Freude:
nur pull, niemals push. Dabei blieb die kulturelle Rehabilitation der Lohnarbeit,
so dringend gebraucht angesichts der wachstumsgefährdenden Engpässe beim
Arbeitsangebot, bei einer hedonistisch-konsumeristischen Begründung nicht ste-
hen. Mit fortschreitender Zeit kam, so scheint es, ein starkes Element von mora-
lischer Verpflichtung hinzu und machte aushäusige Erwerbstätigkeit für Frauen
mehr oder weniger kulturell obligatorisch, unabhängig vom Haushaltseinkom-
men und der Zahl der Kinder: Frauen, die kein Geld verdienen und damit „nicht
arbeiten“, also „Hausfrauen“, haben kaum noch Aussicht auf Respekt in der neo-
protestantischen Arbeitskultur von heute, auch und gerade bei ihren Schwestern,
und finden es entsprechend schwer, sich selbst zu respektieren. Selbst Halbtags-
arbeit, vor zwanzig Jahren noch ein akzeptabler Ausweg, unterliegt zunehmend
kultureller Ächtung: Vollzeit muss es sein, Karriere als Selbstzweck und soziale
Verpflichtung, Maximierung des Einkommens statt der arbeitsfreien Zeit, ein Le-
ben in dauerndem Zeitmangel als Ausweis berufl ichen Erfolgs, wenn nicht um
des Geldes willen, dann allein schon, um den Töchtern kein schlechtes Beispiel
zu geben. Wer über den Zusammenhang zwischen funktionaler Notwendigkeit
und kultureller Anpassung, zwischen einem sich historisch entwickelnden kapi-
talistischen oder wohlfahrtsstaatlichen „Verwertungsinteresse“ und den in einer
Gesellschaft herrschenden Ideen und Werten spekulieren möchte, findet hier ein
materialreiches Forschungsfeld.

2 Flexible Familien

Versucht man, den dramatischen Wandel des sogenannten „Frauenbildes“ genau-


er zu verstehen, so stößt man auf den Umstand, dass der Einzug der Frauen in
den Arbeitsmarkt mit tief greifenden Veränderungen der Familienstruktur zu-
sammentraf: der Zerfall des Normalarbeitsverhältnisses der Nachkriegszeit mit
dem Zerfall der Normalfamilie, und die fortschreitende Flexibilisierung der Be-
358 Wolfgang Streeck

schäft igungs- mit einer parallel verlaufenden Flexibilisierung der Familienver-


hältnisse (Streeck 2009). In den 1970er Jahren stiegen die Scheidungsraten überall
an, auch infolge eines immer weiter liberalisierten Familienrechts; die Zahl der
Eheschließungen ging zurück; und unverheiratetes Zusammenleben und ein Da-
sein als single wurden zu akzeptierten Lebensformen (Abbildung 2). Gemeinhin
wurde und wird diese Entwicklung mit der sogenannten „sexuellen Revolution“
in Beziehung gesetzt, die wiederum unter anderem auf die etwa gleichzeitig ein-
setzende Verbreitung sicherer Mittel der Empfängnisverhütung und die Entkri-
minalisierung der Abtreibung zurückgeführt wird.
Volksheim oder Shopping Mall? 359

Abbildung 2
360 Wolfgang Streeck

Auch hier bestehen enge Wechselwirkungen zur Ausweitung der weibli-


chen Erwerbstätigkeit, und in der Tat lässt sich auch in Bezug auf die Fa-
milienstruktur eine Doppelgeschichte von Befreiung und Vertreibung er-
zählen. Gab Erwerbstätigkeit einerseits den Frauen die Möglichkeit, ohne
einen Besitzansprüche erhebenden Ehemann auf eigenen Füßen zu ste-
hen, ermöglichte sie es andererseits Männern, sich von ihren Ehefrau-
en zu trennen, die ja jetzt für sich selbst sorgen konnten und dies nach Maß-
gabe des sich entwickelnden Scheidungsrecht zunehmend können müssen.2
Auch mussten Männer, wenn sie mit einer Frau zusammenleben wollten, diese
erstmals in der neueren Menschheitsgeschichte nicht mehr heiraten und damit
für sie und etwaige gemeinsame Kinder gewissermaßen lebenslänglich Verant-
wortung übernehmen. So kam es in beiden Bereichen, Arbeitsmarkt und Familie,
in den 1970er Jahren und danach zur Herausbildung gelockerter sozialer Bezie-
hungen mit häufigeren Partnerwechseln: zur Entstehung nicht nur eines markt-
förmigeren Arbeits-, sondern auch eines flexibleren Beziehungsmarkts.
Dass die typische Ausgestaltung der beiden Bereiche im Übrigen tatsächlich
nicht unabhängig voneinander ist, zeigt der Vergleich zwischen den USA am
einen Ende des Spektrums: dem klassischen Land sowohl der Ehescheidung als
auch von hire and fire und employment at will, und am anderen Ende Ländern
wie Italien und Spanien, wo bis in die 1970er Jahre nicht nur Scheidungen, son-
dern auch Kündigungen schlechthin verboten waren. In Deutschland, wo die De-
regulierung von Ehe und Familie rascher vorankam als die des Arbeitsmarkts,
zeigte sich das Bewusstsein von der Vergleichbarkeit von Arbeits- und Familien-
recht in dem lange häufig in Arbeitgeberkreisen zu hörenden Bonmot, wonach es
wegen des „Reformstaus im Arbeitsmarkt“ mittlerweile leichter und billiger sei,
seine Ehefrau loszuwerden als einen langjährigen Beschäft igten. Seitdem freilich
sind die Beziehungen in weiten Teilen der Arbeitswelt auch in Deutschland eben-
so prekär geworden wie in der Familienwelt, egal ob mit Ehe oder ohne.

3 Keine Zeit für Kinder

Wie immer die Kommodifizierung der weiblichen Arbeitskraft und die neue
Familienstruktur im Einzelnen zusammenhängen mögen: an dem in allen rei-
chen Industriegesellschaften seit den 1970er Jahren zu beobachtenden Einbruch
der Geburtenzahlen (Abbildung 3) waren offenkundig beide beteiligt. Mit der,

2 Die familienrechtliche Abschaffung der Ehe als „Versorgungseinrichtung“ erwies sich


als hoch effektive Maßnahme zur Steigerung des weiblichen Arbeitsangebots.
Volksheim oder Shopping Mall? 361

um Keynes zu paraphrasieren, Euthanasie der Hausfrau und der säkularen Lo-


ckerung gesellschaft licher „Ligaturen“ (Dahrendorf 1994) schrumpften die für
Kinder zur Verfügung stehenden zeitlichen und sozialen Ressourcen. Selbst ver-
heiratete Paare verbrachten nun so viel Zeit in bezahlter Beschäftigung, dass die
Versuchung groß werden musste, die kurze verbliebene „Freizeit“ nicht noch
mit Familienpflichten vollzupacken. Zugleich ließen die höheren Familienein-
kommen der sogenannten „Doppelverdiener“ die Opportunitätskosten von auf
Kinder verwendeter Zeit ansteigen. Höhere Opportunitätskosten ergaben sich
auch in sexueller Hinsicht, was die Eheneigung ebenso senkte wie es die Schei-
dungs- und Trennungsrisiken erhöhte. Beides bedeutete vor allem für Frauen eine
realistische Aussicht, nach einem jederzeit möglichen Abgang des nunmehr so
genannten „Lebensabschnittspartners“ alleinerziehend in wirtschaft licher Armut
zurückzubleiben.

Abbildung 3 Geburtenraten: Kinder pro Frau. Die Geburtenrate (Fruchtbarkeitsziffer)


gibt die Zahl der Kinder an, die die heute lebenden Frauen in ihrer Lebens-
zeit durchschnittlich und schätzungsweise zur Welt bringen werden. Sie
wird aus den altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern in einem gegebenen
Jahr berechnet. Für die Erhaltung des Bevölkerungsstandes ist eine Gebur-
tenrate von 2,1 Kindern pro Frau erforderlich.
362 Wolfgang Streeck

Gleichzeitig stiegen die Ansprüche der Arbeitswelt an die Beschäft igten. In


Deutschland hatten sich Forderungen der Gewerkschaften, eine obligatorische
30-Stunden-Woche für Männer und Frauen durchzusetzen, auch um Platz für
ein Familienleben zu reservieren, in den 1980er Jahren als illusorisch erwiesen.
Danach nahm die Arbeitszeit in weiten Bereichen nicht ab, sondern zu, nicht zu-
letzt im Übergang zur sogenannten „Dienstleistungsgesellschaft“ und im Zuge
einer allgemeinen Deregulierung der Arbeitsmärkte (Tabelle 1). Unter Verweis
auf einen verschärften Wettbewerb verlangten Arbeitgeber von ihren Beschäft ig-
ten immer mehr Flexibilität, Mobilität und „volles Engagement“ bei abnehmen-
der Sicherheit des Arbeitsplatzes. Frauen, die ihre Beschäftigungs- und Aufstiegs-
chancen wahren wollten, taten unter diesen Umständen gut daran, sich nicht
auch noch mit Kindern zu belasten – und tatsächlich ist es kein Geheimnis, dass
in vielen Branchen der bloße Sachverhalt, dass Frauen Menschen sind, die Kinder
bekommen können, als solcher ein nur schwer überwindbares Beschäft igungs-
und Beförderungshindernis ist.

Tabelle 1 Stärke des arbeitsrechtlichen Beschäft igungsschutzes, 1990 und 2006

Insgesamt Befristete Beschäft igung


1990 2006 1990 2006
Deutschland 3,2 2,2 3,8 1,8
Frankreich 2,7 3,0 3,1 3,6
Italien 3,6 1,9 5,4 2,1
Japan 2,1 1,8 1,8 1,3
Schweden 3,5 2,2 4,1 1,6
UK 0,6 0,7 0,4 0,4
US 0,2 0,2 0,3 0,3

Quelle: OECD Employment Outlook, verschiedene Ausgaben. Die Werte sind ein aus der
jeweiligen nationalen Rechtslage errechneter Indikator für die Stärke des legalen Beschäf-
tigungsschutzes. Sie zeigen, dass sich die Deregulierung des Arbeitsmarkts in den vergan-
genen zwei Jahrzehnten besonders an dessen Rand, bei den befristeten Beschäft igungs-
verhältnissen, abgespielt hat. Betroffene sind vor allem Berufsanfänger und potentielle
Familiengründer.

Zunehmend androgyne Arbeitsmärkte und gelockerte Familienstrukturen be-


wirkten nicht nur sinkende Kinderzahlen, sondern auch und zugleich eine
Entfamilialisierung der Aufzucht der weniger gewordenen, verbliebenen Kin-
Volksheim oder Shopping Mall? 363

der. Am relativ geringsten war der Rückgang der Geburtenrate paradoxerweise


in den Ländern, in denen der Anteil der außerhalb der Ehe geborenen Kinder
– ein Anteil, der überall gewachsen ist – am stärksten zugenommen hat (Abbil-
dung  4).3 Gesellschaften, heißt das, in denen Kinder immer noch vornehmlich
in der Ehe geboren werden oder besser: nur dort geboren werden können, wei-
sen den steilsten Geburtenrückgang auf und haben heute die wenigsten Kinder.
Dies nicht, weil Verheiratete weniger Kinder hätten als Unverheiratete, oder weil
die relative Sicherheit einer rechtlich institutionalisierten Verbindung nicht mehr
zählen würde, sondern weil immer weniger Ehen geschlossen werden: aus dem,
was die Populärpsychologie „Bindungsscheu“ nennt; aus Ungewissheit über die
wirtschaft liche Zukunft; und weil es in den flexiblen Arbeitsmärkten der Gegen-
wart so viel länger dauert, bis jemand einen einigermaßen sicheren Arbeitsplatz
gefunden hat.

3 „Während in Deutschland die Geburtenzahl insgesamt zurückgeht, steigt die Anzahl


der Kinder an, deren Eltern zum Zeitpunkt ihrer Geburt nicht miteinander verheiratet
sind. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, wurden im Jahr 2008 knapp
210 000 Kinder außerhalb einer Ehe geboren, das waren 32% aller geborenen Kinder.
1998, als mit der Reform des Kindschaftsrechts die Rechtsstellung nichtehelicher Kinder
verbessert wurde, waren es 157 000 (20%) und 1993 118 000 Kinder (15%). Innerhalb
Deutschlands bestehen erhebliche Unterschiede. Im Norden und Osten ist der Anteil
der außerhalb einer Ehe geborenen Kinder höher als im Süden und Westen. Die höchs-
ten Anteile an unehelichen Geburten gab es 2008 in Sachsen-Anhalt mit 64% und Meck-
lenburg-Vorpommern mit 63%, die niedrigsten in Baden-Württemberg mit 22% und
Hessen mit 24%.“ (Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 4. Mai 2010)
364 Wolfgang Streeck

Abbildung 4.1 Uneheliche Geburten in Prozent aller Geburten, 1970-2005

Abbildung 4.2 Rückgang der Geburtenrate und Zunahme der Unehelichkeit, 1970-2005
Volksheim oder Shopping Mall? 365

4 Vater Staat

Eine Gesellschaft, die sich Kinder wünscht, darf sich nicht von einer Lebensform
abhängig machen, die offenkundig zu einem Auslaufmodell geworden ist. Statt-
dessen muss sie darauf setzen, dass ihr Nachwuchs außerhalb fester Partnerschaf-
ten geboren oder großgezogen wird. Dies legt eine Sozialpolitik nah, die Frauen
(nicht Männern, denn ob Kinder geboren werden oder nicht, wird heute allein
von den Frauen entschieden) die Gewissheit gibt, dass sie die Kinder, zu denen
sie sich heute entschließen, während der folgenden zwei Jahrzehnte auch dann
werden ernähren können, wenn sie, was sie jederzeit für möglich halten müssen,
dabei auf sich allein gestellt sein sollten. Im Ergebnis tritt damit die Gesellschaft
an die Stelle von männlichen „Partnern“, auf die weniger Verlass ist denn je, weil
sie es sich leisten können, jederzeit an Frau und Kind die Lust zu verlieren.
Tatsächlich wurden spätestens in den 1990er Jahren Maßnahmen zur Er-
höhung der Geburtenraten bei gleichzeitiger Steigerung der Erwerbsquote in
fast allen reichen Industrieländern zu einem festen Bestandteil der Sozialpoli-
tik. Beraten und gedrängt wurden die Staaten dabei durch die OECD, deren
Hauptanliegen die Wiederbelebung des wirtschaft lichen Wachstums und die
Sanierung der schneeballfinanzierten Sozialversicherungssysteme durch Re-
krutierung neuer Beitragszahler war. Schweden, das schon während seines
Wirtschaftsbooms im Zweiten Weltkrieg mit einer pronatalistischen Gleich-
stellungspolitik zur Steigerung der Geburtenzahlen bei zunehmender weib-
licher Erwerbstätigkeit zu experimentieren begonnen hatte, wurde weithin
zum Vorbild. Wie in Schweden ging es bei der neuen Familienpolitik nicht
nur um höhere Kinderzahlen, sondern auch um eine möglichst vollständi-
ge Mobilisierung auch der Mütter kleiner Kinder für den Arbeitsmarkt. Hier-
für bot sich der Aufbau eines öffentlichen Systems der Kinderbetreuung an.4
Selbst die Arbeitgeber, sonst gegen nahezu jede Ausweitung der Staatstätigkeit,
unterstützten die immer lauter werdenden Forderungen nach Einschulung von
Kleinkindern in staatliche Krippen und Kindergärten, und mehr oder weniger
zögerlich schlossen sich die wirtschaftsnahen christlich-konservative Parteien,
bis dahin entschiedene Verfechter des Familialismus, ihnen an.
Märkte haben ihren Preis, und in der Tat war die neue, feministische Sozial-
politik alles andere als billig. 2005 wandte ein Land wie Schweden nicht weniger
als 3,2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Familienpolitik und weitere 2,5

4 Längere Auszeiten für Mütter und Väter, etwa in Form von verkürzten Arbeitszeiten
oder Sabbatjahren, standen dagegen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen nie wirklich
zur Debatte.
366 Wolfgang Streeck

Prozent für eine Arbeitsmarktpolitik auf, die abnehmende Arbeitsplatz- durch


höhere Beschäft igungssicherheit ausgleichen und dadurch den Widerspruch
zwischen flexibility und security aufheben sollte (Tabelle 2). In den anderen
skandinavischen Ländern lagen die Dinge ähnlich. In Japan hingegen und in
Mittelmeerländern wie Italien, wo Politik und Gesellschaft an familialistischen
Traditionen festhielten, blieben die Ausgaben für Familienpolitik entsprechend
niedrig. Dasselbe galt allerdings auch für die Geburtenraten, da in Ermangelung
einer die Mütter entlastenden öffentlichen Infrastruktur die Geburt von Kindern
auf die wenigen noch zustande kommenden Ehen beschränkt blieb.

Tabelle 2 Staatliche Ausgaben für Familien- und Arbeitsmarktpolitik, 2005

Arbeitsmarkt-
Familienpolitik politik Insgesamt
Deutschland 2,2 3,2 5,4
Frankreich 3,0 2,5 5,5
Italien 1,3 1,4 2,7
Japan 0,8 0,7 1,5
Schweden 3,2 2,5 5,7
UK 3,2 0,6 3,8
US 0,6 0,3 0,9

Quelle: OECD Statistics on Social Expenditure and on Labour Market Programmes

5 Volksheim oder Shopping Mall

Beweist dies, dass die neue, erstaunlich rasch zum mainstream gewordene
Arbeitsmarkt-, Familien- und Bevölkerungspolitik die abträglichen Folgen einer
fortschreitenden Vermarktung der Arbeitskraft für die physische Reproduk-
tionsfähigkeit der Gesellschaft auszugleichen vermag? Zunächst spricht einiges
dafür, dass die erwähnte Umkehr des statistischen Verhältnisses zwischen weib-
licher Erwerbstätigkeit und Kinderzahl in den 1990er Jahren nicht daran liegt,
dass die Zahl der Kinder in den post-familialen Reproduktionsregimen gestiegen
wäre, sondern vielmehr daran, dass sie in den familialistischen Systemen wei-
ter gesunken ist (Tabelle 3). Selbst in Schweden, dem Modellland pronatalisti-
scher Arbeitsmarkt- und Familienpolitik, bleibt die Fertilität beharrlich unter
Volksheim oder Shopping Mall? 367

dem für die Erhaltung des Bevölkerungsbestands erforderlichen Niveau. Des


Weiteren gibt es gute Gründe zu bezweifeln, dass das „schwedische Modell“
sich überhaupt auf ein Land wie Deutschland übertragen ließe. Einer davon
sind seine hohen fiskalischen Kosten, die unter den Bedingungen einer weltwei-
ten staatlichen Finanzkrise die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand selbst
in einem Hochsteuerland wie Schweden auf die Dauer überfordern könnten.5
Man darf bezweifeln, ob im Deutschland der Haushaltskonsolidierung nach den
Tributzahlungen an das Weltfinanzsystem (Streeck und Mertens 2010) der Auf-
bau des versprochenen flächendeckenden Systems staatlicher Kinderbetreuung in
den kommenden Jahren noch möglich sein wird.

5 Seit den Finanzkrisen der 1980er und 1990er Jahre ist das schwedische Besteuerungs-
niveau kontinuierlich von 53,0 Prozent der Wirtschaftsleistung (1990) auf 47,6 Prozent
(2008) zurückgenommen worden und liegt heute nur noch knapp oberhalb des franzö-
sischen (44,1 Prozent).
368 Wolfgang Streeck

Tabelle 3 Weibliche Erwerbstätigkeit und Geburtenraten, 1970 und 2005

1979

Geburtenrate
Niedrig Hoch
Weibliche Niedrig Deutschland (47/2.03) Frankreich (47/2.48)
Erwerbstätigkeit Italien (29/2.43)
Hoch Japan (53/2.13) US (49/2.48)
Schweden (59/1.94) UK (47/2.43)

2005

Geburtenrate
Niedrig Hoch
Weibliche Niedrig Italien (50/1.32) Frankreich (64/1.92)
Erwerbstätigkeit Japan (61/1.26)
Deutschland (67/1.34)
Hoch US (69/2.05)
UK (70/1.79)
Schweden (78/1.77)

Die Zahlen in Klammern geben den Anteil der Frauen in Erwerbstätigkeit sowie die Ge-
burtenrate an (Erwerbsquote/Geburtenrate). 1970 besteht bei den sieben untersuchten
Ländern kein Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Geburtenrate. 2005 da-
gegen lagen fast alle Länder in den Zellen für niedrig/niedrig und hoch/hoch: die – positive
– Korrelation war also so gut wie vollständig. Die einzige Ausnahme ist Frankreich: dass es
trotz einer hohen Geburtenrate eine relativ niedrige weibliche Erwerbstätigkeit aufweist,
liegt an der allgemein niedrigen französischen Erwerbsquote. Zwischen 1970 und 2005
haben drei Länder die Zelle gewechselt: Italien und Japan wegen seiner stark gesunkenen
Geburtenrate; Japan wegen einer relativ gesunkenen, wenn auch absolut gestiegenen weib-
lichen Erwerbsquote; und Schweden wegen einer relativ gestiegenen, wenn auch absolut
gesunkenen Geburtenrate. In allen Ländern ist die Geburtenrate gefallen; 1970 hatten die
Länder mit hohen Geburtenraten im Durchschnitt 2,46 Geburten pro Frau, 2005 nur noch
1,89; bei den Ländern mit niedrigen Geburtenraten fiel der Durschnitt noch stärker, von
2,03 auf 1,31. Auch dort, wo 2005 Erwerbstätigkeit und Geburtenrate hoch waren, ist die
erstere seit 1970 gestiegen und die letztere gefallen.

Hinzu kommt, dass die Struktur der weiblichen Beschäft igung in Deutschland
eine ganz andere ist als in Skandinavien, wo die meisten Frauen in einem breit
Volksheim oder Shopping Mall? 369

ausgebauten öffentlichen Dienstleistungssektor tätig sind.6 Damit genießen sie


ein Maß an Beschäft igungs- und Beförderungssicherheit, das in einem über-
wiegend privaten Arbeitsmarkt undenkbar ist – zumal wenn dessen „Flexibili-
tät“ durch immer neue institutionelle Reformen immer weiter gesteigert wird.
Die vergleichsweise hohen skandinavischen Geburtenzahlen dürften zu einem
nicht unerheblichen Teil auch dem Umstand zu verdanken sein, dass weibliche
Beschäftigung unter staatsfeministischen Vorzeichen weniger dem Wettbewerb
ausgesetzt, weniger unreguliert und insgesamt weniger unsicher ist als in den
überwiegend privatwirtschaft lichen Beschäft igungssystemen anderer Länder.7
Auch diese sind allerdings unter bestimmten Bedingungen durchaus mit ho-
hen Geburtenraten vereinbar. Hier empfiehlt es sich, den großen „Ausreißer“
unserer Länderauswahl, die Vereinigten Staaten, genauer zu betrachten. Die USA
geben so gut wie gar nichts für Familienpolitik aus (Tabelle 2) und haben kaum
öffentliche Beschäft igung, und dennoch eine Geburtenrate oberhalb des schwe-
dischem Niveaus – ebenso wie sie sich einen hochflexiblen Arbeitsmarkt leisten
können, ohne für ihn mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik bezahlen zu müs-
sen.8 Die Erklärung für beides ergibt sich aus der für unregulierte Arbeitsmärkte
charakteristischen hohen sozialen Ungleichheit, verbunden mit umfangreicher
Einwanderung. In den USA ermöglicht es eine extreme Spreizung der Einkom-
men, dass erwerbstätige Familien und Frauen der gut verdienenden Mittelschicht
sich die Dienstleistungen, die sie für die Versorgung ihrer Kinder benötigen, aus
eigenen Mitteln am Markt beschaffen können. Was skandinavischen Müttern im
folkhemmet (wörtlich übersetzt: „Volksheim“) des feministischen Wohlfahrts-

6 Und in der Tat häufig in eben jenen Kindertagesstätten, in denen Frauen ihre Kinder
abgeben, um selber auch in anderen Kindertagesstätten arbeiten gehen zu können. Der
Ironie dieser Art von Kreislaufwirtschaft ist man sich gerade in den skandinavischen
Ländern durchaus bewusst.
7 Ein Indiz dafür, dass der für die Geburtenrate ausschlaggebende Faktor die Sicher-
heit des Arbeitsplatzes sein könnte (und nicht beispielsweise die Zahl der Krippen-
plätze), liefert die frühere DDR. Dort begann Mitte der 1970er Jahre ein Babyboom,
nachdem die Geburtenraten in Ost- und Westdeutschland ein Jahrzehnt lang parallel
eingebrochen waren. Die Wende in der Geburtenentwicklung fiel zusammen mit der
Einführung langer gesetzlicher Auszeiten für Mütter bei uneingeschränkt garantierter
Rückkehr an den Arbeitsplatz. Während die Geburtenrate in der Bundesrepublik nach
1975 weiter auf 1,4 fiel, stieg sie in der DDR im selben Zeitraum auf 1,9 an und blieb
bis zur Wiedervereinigung deutlich oberhalb der westdeutschen Geburtenrate. Danach
stürzte sie in sehr kurzer Zeit auf etwa 0,7 ab, trotz des von der DDR geerbten massiven
Überangebots an Kindertagesstätten, und erreichte erst gegen Mitte der 2000er Jahre
wieder das – niedrige – westdeutsche Niveau (Statistisches Bundesamt 2007).
8 Eine weitgehend ähnliche Situation besteht in Großbritannien.
370 Wolfgang Streeck

staats mit seinen geschlossenen Betreuungssystemen gegen hohe Besteuerung


geboten wird, bietet sich amerikanischen Müttern gegen bare Zahlung in den
shopping malls einer offenen Dienstleistungsökonomie. Was in Europa der ein-
greifende Staat besorgt oder besorgen soll, besorgt in den USA der freie Markt, zu
hohen sozialen, dafür aber niedrigen Lohn- und fiskalischen Kosten.
Immigration und Armut erhöhen die Geburtenrate nicht nur auf dem Umweg
über ihre guten Dienste an der Mittelschicht, sondern auch direkt. Der kalten
Analyse des Ökonomen Gary Becker zufolge haben Frauen, die kein „Humanka-
pital“ ihr Eigen nennen, keine „Opportunitätskosten“, wenn sie statt Geld zu ver-
dienen Kinder bekommen (Becker 1993). Je mehr Arme also, desto mehr Kinder
– sowohl am oberen Rand der Gesellschaft, wo eine kaufk räft ige Nachfrage nach
Haushaltsdienstleistungen in der glücklichen Lage ist, auf ein flächendeckendes
preiswertes Angebot derselben zu treffen, als auch unten. Ebenfalls der Gebur-
tenrate zuträglich ist es, wenn die Einwanderer aus traditionalen Gesellschaften
stammen, wo das Gebären von Kindern für Frauen eine soziale Verpflichtung
darstellt, die individuellen Interessen vorgeht. So kann Einwanderung den Im-
port von Haltungen und Handlungen ermöglichen, die in modernen Gesellschaf-
ten nicht mehr vorkommen und, soweit möglich, durch fiskalisch teure wohl-
fahrtsstaatliche Maßnahmen ersetzt werden müssten.

6 Die Wunschkinder des Wohlfahrtsstaats

Natürlich sehen wir als gute Europäer das, was wir „das amerikanische Sozial-
modell“ nennen, mit gebührendem Abscheu. Aber sind wir wirklich so weit weg
von Amerika, wie wir glauben möchten und es gerne wären? Auch in Europa
nehmen Immigration und Ungleichheit ja zu, in Ländern wie Deutschland be-
sonders rasch (OECD 2008). Wie groß ihr Anteil an den deutschen oder schwe-
dischen Geburtenraten heute schon ist, wissen wir nicht genau, unter anderem
weil die statistische Erfassung von Familien „mit Migrationshintergrund“ nicht
nur technisch, sondern auch politisch schwierig ist.9 Impressionistische Evidenz
legt jedoch nah, dass es hier nicht um Kleinigkeiten geht. Zu dieser Evidenz ge-
hört die auch in der Öffentlichkeit immer salonfähiger werdende Befürchtung,
dass die zur Geburtenförderung verfügbaren knappen fiskalischen Mittel den

9 Von den 2008 in Deutschland geborenen Kindern hatten 23 Prozent mindestens ein
ausländisches Elternteil (Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 11. Mai
2010). Kinder, deren beide Eltern deutsche Staatsbürger „mit Migrationshintergrund“
sind, werden nicht gesondert erfasst.
Volksheim oder Shopping Mall? 371

Falschen zugutekommen: Man erinnere sich an den früheren Berliner Haushalts-


sanierer und späteren Bundesbankdirektor Th ilo Sarrazin (SPD) und seine Rede
von der Überproduktion „ständig neuer kleiner Kopft uchmädchen“.10 Derartige
Äußerungen sprechen für die Vermutung, dass ein Wohlfahrtsstaat, der zu „Vater
Staat“ wird, dazu neigen dürfte, neben der Globalsteuerung der Nachwuchspro-
duktion auch eine Art von Feinsteuerung zu versuchen: also zwischen politisch
und fiskalisch mehr oder weniger wünschenswerten Kindern zu unterscheiden.11
Tatsächlich ist die Sorge, dass aus den immer zahlreicheren Kindern „mit Mi-
grationshintergrund“ die Problemkinder, Problemjugendlichen und Problem-
arbeitnehmer der Zukunft werden könnten und es den Staat teuer, und vielleicht
zu teuer, zu stehen kommen könnte, ihre künft ige wirtschaft liche Performanz auf
das Niveau einer deutschen „Wissensgesellschaft“ hochzuschleusen, schon heute
deutlich im Hintergrund des familien-, bildungs- und arbeitsmarktpolitischen
Diskurses zu erkennen. Dass derartige Befürchtungen in den USA nur selten auf-
kommen, liegt übrigens wohl vor allem daran, dass der amerikanische Staat für
die Regulierung der Arbeitsbedingungen und die soziale Sicherung seiner Bürger
keine Verantwortung übernimmt, sowie an der entsprechend hohen Aufnahme-
fähigkeit des Arbeitsmarkts für gering oder gar nicht qualifizierte Arbeitskräfte.
Hinzu kommt der Umstand, dass unter dem Immigrationsregime einer offenen
kapitalistischen Marktwirtschaft auch die am oberen Ende des Arbeitsmarkts be-
nötigten Arbeitskräfte leicht aus dem Ausland eingeführt werden können, nach-
dem sie beispielsweise in chinesischen, indischen, koreanischen oder japanischen
Familien und Schulen die Mathematik gelernt haben, die man in amerikanischen
Familien und an amerikanischen High Schools immer weniger oder jedenfalls
nicht mehr in ausreichendem Maße lernen kann.
Ein Indiz für eine wachsende Neigung im wohlfahrtsstaatlichen Volksheim,
die Hervorbringung von Kindern einem politischen Qualitätsmanagement nach
Maßgabe von Kosten-Nutzen-Analysen zu unterwerfen, ist die Debatte um die
fehlenden sogenannten „Akademikerkinder“. Sie vor allen anderen sind die
Wunschkinder des Interventionsstaats, weil man glaubt, hoffen zu können, dass
Paare von „Akademikern“, wenn sie sich denn einmal zur Beteiligung an der ge-
sellschaft lichen Nachwuchsproduktion bereitgefunden haben, bestimmte, für

10 Interview mit „Lettre International“, September 2009, unter der Überschrift „Klasse
statt Masse“. Der Vortrag wurde vor dem Erscheinen des Buches mit den in der Öffent-
lichkeit sogenannten „Sarrazin-Thesen“ gehalten (Sarrazin 2010).
11 Man könnte auch sagen: den Versuch zu machen, bei der Immigration von innen
(durch die nachwachsende Generation) ebenso zu verfahren wie man, idealiter, bei der
Immigration von außen verfahren können möchte.
372 Wolfgang Streeck

hohe wirtschaft liche Wettbewerbsfähigkeit sorgende Sozialisationsleistungen


besser und billiger zu erbringen vermögen als der Staat. (Insofern, was die „ge-
bildete“ Mittelschicht angeht, scheint das Subsidiaritätsprinzip durchaus noch zu
gelten.) Staatlich organisierte Kinderverwahrung reicht aber anscheinend selbst
in Schweden nicht aus, um die potenziellen Eltern von Premium-Kindern dazu
zu bringen, diese auch zu zeugen; Transferzahlungen müssen hinzukommen, die
den Viel- und Gutbeschäftigten einen Teil des Einkommens ersetzen, das ihnen
entgeht, wenn einer der Eltern oder beide nach Geburt eines Kindes zwischen-
zeitlich auf außerhäusliche Erwerbsarbeit verzichten. Charakteristisch für der-
artige Zahlungen ist, dass sie bis zu einer Obergrenze mit dem Einkommen stei-
gen, um das erreichte schichtspezifische Konsumniveau nicht zu sehr unter der
Kindeslast einbrechen zu lassen. Damit begünstigen sie verteilungspolitisch die
Besserverdienenden. Dennoch ist das sogenannte „Elterngeld“ im sozialdemo-
kratischen Schweden erfunden und auf Betreiben der SPD in das rot-grüne und
später schwarz-rote Deutschland übernommen worden, wo es nach wie vor als
bedeutende familienpolitische Innovation gilt.12

7 Geld statt Zeit?

Bevölkerungspolitische Wirkungen scheint das Elterngeld allerdings mindestens


in Deutschland noch nicht entfaltet zu haben, vor allem nicht in der Mittelschicht,
auf die es zielt. Hier sind die Geburtenraten allem Anschein nach gleich geblieben
oder gar weiter gefallen.13
Ein Jahr oder 14 Monate freie Zeit ist wohl doch zu wenig im Vergleich zu den
dann folgenden langen Jahren elterlicher Doppellast – oder die gezahlten Beträge
sind zu niedrig, um die mit Kindern verbundenen Konsum- und Komfortschä-
den und die Gefahr eines Arbeitsplatz- oder Karriereverlusts auszugleichen. So
geht denn das Elterngeld überwiegend an Geringverdiener und betrug 2009 im

12 Siehe dazu nunmehr den sozialdemokratischen Genossen und Bevölkerungspolitiker


Sarrazin, der in seinem mittlerweile in Millionenauflage verkauften Buch vorträgt,
es könne „beispielsweise bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vol-
lendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von
50.000 Euro ausgesetzt werden. … Die Prämie – und das wird die politische Klippe
sein – dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden, nämlich für jene Gruppen, bei
denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität
der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist“ (Sarrazin 2010, S. 389f.).
13 Dazu jüngst „Immer weniger Kinder: Deutschland bei Geburtenrate Schlusslicht in
Europa“, Süddeutsche Zeitung vom 28. Juli 2010, S. 5.
Volksheim oder Shopping Mall? 373

Durchschnitt nicht mehr als 699 Euro.14 In Reaktion darauf wird seit Kurzem die
Parole ausgegeben, dass erst ein nahtloser Übergang in die kostenlose Kinder-
betreuung ab dem zweiten Lebensjahr dem Elterngeld zu seiner vollen Wirkung
verhelfen könne. Aber wo sollen nach dem Bankenkrach die Mittel für eine flä-
chendeckende öffentliche Krippenversorgung noch herkommen?
Geld kann, so scheint es, in einer Erwerbsgesellschaft, wo Zeit Geld ist, Zeit
weder kaufen noch ersetzen. Das gilt allerdings nicht für alle. Vom Staat bezahl-
te Freistellung vom Arbeitszwang gibt es durchaus: So wendet die Sozialpolitik
Milliarden auf, um das Renteneintrittsalter langsamer steigen zu lassen als die
Lebenserwartung, und sie hat jahrzehntelang die Frühverrentung auf das Groß-
zügigste subventioniert (Ebbinghaus 2006). Bei Müttern aber ist es anders: Sie
müssen „aktiviert“ werden, weil Wirtschaft und Politik ihr „frisches Blut“, ihre
von Senioritätszuschlägen freien niedrigeren Löhne, ihre geringeren Ansprüche
und höhere Fügsamkeit sowie ihre staatlich finanzierte, auf dem letzten Stand
befindliche Ausbildung dringend benötigen, und sie wollen es auch, weil sie be-
fürchten müssen, nach einer „Familienpause“ in einem zunehmend deregulierten
Arbeitsmarkt nicht wieder Fuß fassen zu können.
So müssen die Erfolgsmeldungen für die neue Familienpolitik von einem
Nebenkriegsschauplatz kommen: dem des Geschlechterkampfs. Wenn das El-
terngeld schon keine zusätzlichen Kinder hervorbringt, dann muss es eben in
Gestalt der sogenannten „Vätermonate“ als öffentliche Umerziehungsmaßnahme
zur Refamilialisierung des Mannes – als Korrektur seiner durch die langjährige
Deregulierung der Familie beförderten Entfamilialisierung – verkauft werden.
Nachrichten über die wachsende Zahl der Väter, die sich staatlich subventioniert
zwischen zwei Monate und einem halben Jahr Zeit nehmen, um ihre neugebore-
nen Kinder zu Hause zu betreuen, werden gerne verbreitet und gehört.15 Ob das
„Wickelvolontariat“ der Väter bleibende Effekte hat, weiß niemand. Unterstellt

14 2009 hatten 28,4 Prozent der Elterngeldbezieher kein Einkommen und erhielten den
für diese Gruppe vorgesehenen Pauschalbetrag von 300 Euro. 20,6 Prozent erhielten
zwischen 300 und 500 Euro, was auf ein Einkommen von unter 800 Euro im Monat
schließen lässt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2010).
15 Typisch Spiegel Online vom 11. Juni 2010, „Warum das Elterngeld doch ein Erfolg ist“.
Siehe auch „Wo kommen die Kinder her? Die Debatte“, Frankfurter Allgemeine Sonn-
tagszeitung, 19. April 2010, S. 16. Ferner siehe die damalige Familienministerin in einer
Pressekonferenz im Oktober 2008: „Elterngeld und Vätermonate bringen die Macht
des Faktischen in die Betriebe hinein“. Bericht unter der Überschrift „Elterngeld: ‚Ein
uneingeschränkter Erfolg‘“, FAZ.NET 30. Oktober 2008. Zum Elterngeld allgemein
siehe die diversen Veröffentlichungen des zuständigen Bundesministeriums (etwa
2008, 2010) sowie RWI (2009).
374 Wolfgang Streeck

wird interessanterweise, dass Männer (wenn schon nicht Frauen) die Erfahrung
häuslicher Säuglingsbetreuung als solche erfreulich genug fi nden, um sie freiwil-
lig weiterhin und immer wieder machen zu wollen.
Dafür, dass es sich bei den „Vätermonaten“ um Symbolpolitik für die Abtei-
lung „Modernes Leben“ der Tageszeitungen handelt, spricht, dass sie nichts an
den tiefen Verwerfungen der Sozialstruktur ändern, die die Zahl der alleinerzie-
henden Mütter ständig steigen und Kinder allein zu erziehen zum weitaus größ-
ten Armutsrisiko für Frauen haben werden lassen.16 Die Beteiligung der staatli-
chen Politik am geschlechterpolitischen Kulturkampf soll wohl davon ablenken,
dass ihr die Folgen der von ihr selbst vorangetriebenen Deregulierung und Fle-
xibilisierung nicht nur der Arbeitsmärkte, sondern auch der Familienstrukturen
längst über den Kopf gewachsen sind. Hauptzweck scheint zu sein, den Konfl ikt
zwischen universeller „Aktivierung“ für einen immer flexibleren Arbeitsmarkt
und den Erfordernissen gelingender Nachwuchsproduktion vergessen zu ma-
chen, der vor allem ein Konfl ikt über die Verteilung der Zeit zwischen Arbeit
und Leben ist: die Zeit für das, was Weber den „Marktkampf“ genannt hat, geht
von der Elternzeit ab und kann anscheinend auch durch Elterngeld nicht zurück-
gekauft werden.17

8 Wenig Geld, viel Zeit

Viele Kinder gibt es, wo Frauen viel Zeit haben: in der oberen Oberschicht, be-
sonders aber in Armut und Arbeitslosigkeit: in der ausgekoppelten Überschuss-
bevölkerung der sogenannten Wissensgesellschaft.18 Allerdings bekommt letztere
aus der ökonomistischen Perspektive, die in den letzten Jahrzehnten tief in das
Alltagsverständnis eingedrungen ist, die falsche Sorte von Kindern. Hier stößt
der bevölkerungspolitisch aktivierte Wohlfahrts- und Interventionsstaat auf eine

16 Für eine umfassende Übersicht über die Lage der rapide wachsenden Anzahl allein-
erziehender Eltern in Deutschland – überwiegend Frauen – siehe nunmehr Statisti-
sches Bundesamt (2010).
17 Vor diesem Hintergrund erscheint die durchaus berechtigte, wenn man so will: „ord-
nungspolitische“ Frage, ob und wie weit staatliche Politik das Recht haben soll, gesell-
schaftliche Lebensweisen mithilfe finanzieller Anreize marktkonform umzugestalten,
eher von zweitrangiger Bedeutung – zumal so etwas in aller Regel ja sowieso nicht
funktioniert.
18 Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren 2008 90 Prozent der Frauen mit einem
Jahreseinkommen von unter 20.000 Euro Mütter. Bei Frauen mit einem Einkommen
von 40 bis 50.000 Euro lag der entsprechende Anteil bei 58 Prozent.
Volksheim oder Shopping Mall? 375

verzwickte Gemengelage, über die bis jetzt öffentlich bestenfalls kodiert gespro-
chen werden kann. Ich möchte zum Schluss kurz die starken Versuchungen zu
einer marktorientierten Sozialeugenik beschreiben, denen eine post-familiale Be-
völkerungspolitik, wie ich glaube: unvermeidlich, ausgesetzt ist.
Was Deutschland angeht, so ist nicht das viel gefeierte Elterngeld das erfolg-
reichste Geburtenförderungsprogramm, sondern, mit weitem Abstand, Hartz IV.
Frauen in Langzeitarbeitslosigkeit, ganz anders als die umworbenen „Akademi-
kerinnen“, haben Nachwuchs oberhalb der demografischen Bestandserhaltungs-
quote.19 Auch in Deutschland profitieren die Geburtenraten nicht nur von der
Immigration, sondern auch von jenem Armutseffekt, der in den USA und Groß-
britannien schon lange wirksam ist. Unterschwellige Vermutungen, worauf die-
ser beruhen könnte, richten sich auf ein Zusammentreffen wohlfahrtsstaatlicher
Großzügigkeit mit persönlicher Arbeitsscheu: Hartz-IV-Frauen kriegen Kinder,
und immer mehr Kinder, um nicht „arbeiten“ zu müssen und sich von Kinderzu-
lagen, Kindergeld, Familiengeld, jetzt Elterngeld, möglicherweise bald auch noch
Betreuungsgeld ein gutes oder doch bequemes Leben zu machen.
Damit ist das aus der amerikanischen Innenpolitik der 1960er und 1970er Jah-
re stammende Gespenst der „welfare mother“ auch in Deutschland angekommen.
In den USA gab und gibt es Sozialhilfe nur für Kinder unverheirateter Mütter,
und seitdem es sie gibt, gibt es auch die Figur der ledigen, in der Regel schwarzen
und arbeitslosen vielfachen Mutter, als populäres Beispiel für die „Fehlanreize“
eines noch so minimalen Wohlfahrtsstaats und seine unvermeidlich destruktiven
sozialen Folgen.20 In der Tat scheint die Ausgestaltung der Sozialhilfe in den USA
ihren Teil dazu beigetragen zu haben, dass der Anteil der unehelichen Geburten
in der schwarzen Bevölkerungsgruppe seit den 1960er Jahren kontinuierlich von
etwa 20 auf heute rund 70 Prozent (2005: 69,4 Prozent) gestiegen ist (U.S. Census
Bureau, Statistical Abstract of the United States). Eine ähnliche Wirkung wird bei
uns übrigens der Konstruktion der sogenannten „Bedarfsgemeinschaften“ nach
Hartz IV nachgesagt.

19 Unter Zugrundelegung von Zahlen des Deutschen Landkreistags gelangt Heinsohn


(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Mai 2010, S. 30) zu der Feststellung, dass „bei
den 58,5 Millionen Einwohnern unter 65 Jahren, die sich selbst versorgen, … die Kin-
der unter fünfzehn Jahren nur einen Anteil von sechzehn Prozent (ausmachen) … Bei
den sieben Millionen Bürgern auf Hartz IV jedoch schaffen die Kinder unter fünfzehn
Jahren mit vitalen 24,3 Prozent … einen Anteil, bei dem einem um weiteres Bevölke-
rungswachstum nicht bange sein muss“. Siehe auch den hohen Anteil der Hartz IV-
Empfänger (ein knappes Drittel) an den Empfängern von Elterngeld.
20 Die endlose und längst unüberschaubare Debatte zu diesem Thema beginnt mit dem
sogenannten „Moynihan Report“ (United States Department of Labor 1965).
376 Wolfgang Streeck

Anders als bei den gut ausgebildeten Frauen in der Mitte der neuen Dienst-
leistungsgesellschaft, heißt das, scheinen materielle Anreize zur Kinderproduk-
tion bei den Armen tatsächlich zu funktionieren. Freilich gilt, was die Politik
sich von der Mittelschicht vergebens erhofft, bei der Unterschicht als moralisch
anstößig. Die Gestalt der welfare mother erscheint dabei als die hässliche Kehr-
seite des ansonsten zum allgemeinen Kulturideal erhobenen Homo oeconomicus.
Indem sie wie dieser ihr Leben ganz auf die Verfolgung materieller Vorteile hin
durchrationalisiert, tut sie, was kapitalistische Gesellschaften grundsätzlich für
recht und billig halten, allerdings als Karikatur und Provokation, nicht so sehr,
weil sie dafür ihren Körper einsetzt – das soll die „Akademikerin“ ja auch – son-
dern offenbar, weil sie sich an staatlichen statt an Marktanreizen orientiert. Zu-
gleich erinnert sie auf unbequeme Weise daran, dass Frauen mehr Kinder haben
können, wenn sie Zeit haben und nicht neben den Ungewissheiten des modernen
Familienlebens auch noch die eines deregulierten Arbeitsmarkts auf sich nehmen
müssen.21
Versuche, die Überproduktion von Kindern schlechter Eltern einzudämmen
– auch um den Preis noch weiter sinkender allgemeiner Geburtenraten – sind
längst im Gang. Die hohe Fruchtbarkeit der ausgesonderten Randbevölkerung,
ob eingewandert oder eingeboren, führt zu deutlicher Überfremdungsfurcht bei
den Mittelschichten, die mit der Angst einhergeht, für die staatliche Nachsozia-
lisierung einer Generation von Kindern minderer Qualität – mit Sarrazin: Masse
statt Klasse22 – auch noch besteuert zu werden.23 Gelegentliche Sterilisierungs-

21 In der empirischen Forschung, die fast ohne Ausnahme von dem neo-protestantischen
Wertsystem der flexibilisierten Marktgesellschaft mit allgemeiner Erwerbspflicht auch
für Mütter durchtränkt ist, findet sich die Beobachtung, dass „highly educated wo-
men postpone parenthood when subject to employment uncertainties“, während „those
with low levels of education often respond to these situations by becoming mothers“
– im Jargon des „rational choice“: „as a strategy to structure their otherwise uncertain
lifecourse“ (Kreyenfeld 2010, S. 351, 361).
22 Wobei sich die der Debatte zugrundeliegenden sozio-genetischen Annahmen natür-
lich durchaus infrage stellen lassen. Zahlreiche „Leistungsträger“ der deutschen Nach-
kriegsgesellschaft, unter ihnen mindestens zwei Bundeskanzler, stammen ja aus Fa-
milien- und Schichtverhältnissen, die alles andere als gutsituiert waren. Aus der heute
weithin akzeptierten „Rational-Choice“-Perspektive ließen sich die Warnungen der
Mittelschicht vor der „Masse“ der Unterschichtkinder vielleicht auch als Teil einer Stra-
tegie der Statussicherung und Marktschließung zugunsten der – wenigen – eigenen
Kinder verstehen.
23 Siehe Gunnar Heinsohn, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen,
unter der Überschrift „Gefährliches Wachstum“, in der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung vom 31. Mai 2010, S. 30: „… darf man davon ausgehen, dass bei den Versorgten die
Volksheim oder Shopping Mall? 377

phantasien scheitern an, historisch freilich noch neuen und möglicherweise un-
gefestigten, normativen Schranken; bis in die 1960er Jahre wurden noch in einem
Land wie Schweden Frauen der Unterschicht von Amtsärzten notfalls auch gegen
ihren Willen unfruchtbar gemacht.24
Heute ist das Mittel der Wahl die „Aktivierung“ langzeitarbeitsloser Mütter
für den Arbeitsmarkt, durch die ihnen ihre auf Kinder verwendete Zeit ebenso
abhandenkommen würde wie den „arbeitenden“ Frauen. Aktivierung hat den
Vorteil, dass sie die Kosten des Wohlfahrtsstaats senkt und seine Einnahmen er-
höht; auch aus diesem Grund kommt der Druck zur Vermarktung der mensch-
lichen Arbeitskraft heute längst nicht mehr nur von den Unternehmen. Die Ein-
gliederung von Hartz-IV-Müttern in den Arbeitsmarkt allerdings kostet mehr
als sie einbringt, weil sie einen breiten Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung
erfordert; ähnliches hat man schon in den USA nach Clintons Abschaff ung von
„welfare as we know it“ lernen müssen. Auch setzt Aktivierung voraus, dass es Jobs
gibt, von denen eine Frau mit Kindern leben kann; bei fortschreitender Entge-
werkschaftung und ohne gesetzliche Mindestlöhne ist das alles andere als garan-
tiert.25 So wird es wohl zunächst bei staatlich fi nanzierter Nichterwerbstätigkeit
als wirksamstem Instrument der Geburtenförderung bleiben.
Politisch führen die Verzwicktheiten einer pronatalistischen Bevölkerungs-
politik in einer immer ungleicher werdenden Gesellschaft mit wohlfahrtsstaat-
lichen Traditionen zu erstaunlichen Frontverläufen. So haben, wie erwähnt,
Sozialdemokraten und Konservative nicht nur in Schweden und Deutschland
gemeinsam Sozialleistungen beschlossen, die vor allem doppelt verdienenden
Paaren der Mittelschicht zugutekommen sollen. Es sind denn auch nicht die „Vä-
termonate“, die gegenwärtig der Haushaltskonsolidierung zum Opfer fallen, son-
dern das pauschalierte Elterngeld von 300 Euro im Monat für Hartz-IV-Familien.

Vermehrung sehr viel effektiver verläuft als bei den Bürgern, die für sie aufkommen“.
Die dabei entstehenden Kinder müssten „in die Klassen mit den guten Schulnoten (he-
rübergezogen)“ werden: „Leicht wird das nicht. Denn die Schulnoten werden nicht da-
durch besser, dass die Frauen mehr Geld für dritte oder vierte Kinder bekommen …“,
usw.
24 Ende der 1990er Jahre berichtete eine Artikelserie in Dagens Nyheter, dass in Schwe-
den zwischen 1935 und 1976 über 60.000 Menschen gegen ihren Willen zwangssterili-
siert wurden, weil sie nach den damals geltenden Gesetzen als „rassisch minderwertig“
oder „sozial abweichend“ eingestuft worden waren. Zum Zeitpunkt der Berichte, die
die Einsetzung einer Regierungskommission zur Folge hatten, sollen etwa 20.000 bis
25.000 Betroffene, vornehmlich Frauen, noch am Leben gewesen sein.
25 Zu Armutslöhnen in Deutschland siehe kürzlich, neben vielen anderen, Kalina und
Weinkopf (2010).
378 Wolfgang Streeck

Da diese bisher den Löwenanteil des Elterngeldes kassiert haben (siehe oben, Fuß-
note 14), soll auf diese Weise, bei hoher fiskalischer Ersparnis, die künftige Leis-
tungsstruktur endgültig so marktkonform werden wie ursprünglich gewollt. Und
wenn versprengte Restkatholiken einen Teil des Geldes, das ein Kita-Platz kosten
würde, als „Betreuungsgeld“ an Familien ausschütten wollen, die die Zeit haben
oder sich nehmen wollen, ihre Kinder zu Hause zu versorgen, opponieren Wirt-
schaftsliberale und Progressive gleichermaßen: die einen, weil ihnen dies zu we-
nig „Aktivierung“ und zu viel Umverteilung nach unten ist 26; die anderen, weil es
Frauen am „Herd“ subventioniert statt da, wo sie nach gut sozialdemokratischer
Auffassung hingehören: am Arbeitsplatz; und beide aus Angst vor der Produktion
von noch mehr Kindern niedriger Qualität.
Allerdings: Einer vollständigen Durchrationalisierung der staatlichen Gebur-
tenförderung stehen die gegen die Marktlogik gerichteten Traditionen des Wohl-
fahrtsstaats noch immer im Weg. Solange sie überleben, wird die aus dem Markt
herausgefallene und vom Sozialstaat alimentierte Unterschicht auch weiterhin
mehr Zeit zur Nachwuchsproduktion haben als die erwerbstätige Mehrheitsge-
sellschaft. Die Hartz-IV-Gesetze hatten die Kinderzuschläge für Sozialhilfeemp-
fänger niedrig angesetzt, nicht zuletzt um keine, wie die Ökonomen es nennen:
perversen Anreize für mögliche welfare mothers zu schaffen. Aber die Standard-
logik der Mikroökonomie ist trotz aller Reformen noch immer nicht dieselbe wie
die des Sozialstaats. Anfang 2010 hat das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom
9. Februar 2010) Regierung und Parlament dazu verurteilt, die Kinderzuschläge
neu und so zu berechnen, dass Kinder armer Eltern eine mehr als nur illusorische
Aussicht haben, chancengleich in die Gesellschaft hineinzuwachsen. Dazu gehört
nach geltendem Recht, dass sie „leben können müssen, ohne sogleich als Leis-
tungsempfänger aufzufallen“ (Lenze 2010, S. 14). Kritiker befürchten, dass höhere
Kinderzuschläge die Überschussbevölkerung zu entsprechend höherer Kinder-
produktion anregen werden, zumal die Eltern die Zuschläge ja auch für sich selbst
verwenden könnten. Vielleicht sollte man ihnen nur Sachleistungen oder Gut-
scheine geben?27 Aber niemand weiß, ob das Gericht das mitmachen würde, und
die Kosten der Bürokratie kämen zu denen der höheren Zuschläge noch hinzu.
Guter Rat ist teuer, ebenso wie bei den Qualitätskindern, die der Staat gerne hät-
te, aber im Wettbewerb mit den Verlockungen und Zwängen des Marktes weder

26 Dabei würde das „Betreuungsgeld“ seine Empfänger lediglich dafür entschädigen, dass
sie mit ihren Steuern zur Finanzierung der, im Idealfall natürlich gebührenfreien Kita-
Plätze der doppeltverdienenden Mittelschicht herangezogen werden.
27 Siehe Sarrazin, a.a.O.: „Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: Weg von
Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht.“
Volksheim oder Shopping Mall? 379

bekommt noch bezahlen kann. Was tun, wenn Familienzeit, wo man sie braucht
und nicht hat, durch Geld nicht zu ersetzen ist und nur dort vorkommt, wo sie
wirtschaft lich nutzlos ist? Wenn man die Kinder nicht bekommt, für die man
Verwendung hätte und zahlen würde, und stattdessen für Kinder zahlen muss,
die man nicht brauchen kann und nicht will?

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