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2 Erfolgreiches Lernen als gute

Informationsverarbeitung

Welche der in Kapitel 1 dargestellten Auffas- schulisch-institutionellen Lernen, die durch


sungen vom Lernen man auch bevorzugt, sie die Ergebnisse der nationalen und interna-
implizieren, dass Lernen ein allgegenwärtiges tionalen Schulleistungsvergleiche neue Nah-
Phänomen ist: Wir alle lernen vom Beginn rung erhielt, sind wir davon überzeugt,
unseres Lebens an; ein Leben ohne Lernen ist aufgrund der Theorien und Befunde der
schlichtweg nicht möglich. Denken wir aller- pädagogisch-psychologischen Lehr-Lern-
dings an das Lernen in Schule, Aus- und Forschung ein hoffnungsvolles Bild des Ler-
Weiterbildung, so interessiert weniger die nens skizzieren zu können. Es gibt durchaus
Tatsache, dass dort Lernen stattfindet, son- Grund zum Optimismus. Wir wissen nämlich
dern eher die Frage, wie bzw. unter welchen mittlerweile recht viel – wenn auch bei
Bedingungen dieses Lernen erfolgreich ver- weitem noch nicht alles – darüber, wie
läuft. erfolgreiches Lernen möglich wird.
Der Begriff des erfolgreichen Lernens Die Frage nach den Prinzipien erfolgrei-
weckt unmittelbar die Vorstellung, dass sich chen Lernens lässt sich in der Pädagogischen
lernende Personen in ihren Lernaktivitäten Psychologie grundsätzlich aus zwei verschie-
und im Erfolg dieser Aktivitäten voneinander denen Perspektiven heraus beantworten: aus
unterscheiden (interindividuelle Differen- der des Lehrenden und aus der des Lernen-
zen). Hinzu kommt, dass eine einzelne Person den. Die Perspektive des Lehrenden führt zu
nicht immer gleich erfolgreich in ihren Lern- Instruktionsmethoden und zu Lehrprinzipi-
bemühungen ist (intraindividuelle Variabili- en, die besonders günstig für ein zielorien-
tät). Es ist daher nicht verwunderlich, dass tiertes Lernen sind. Solche Konzepte und
das Thema »Erfolgreiches Lernen« im Fol- Prinzipien werden im zweiten Teil dieses
genden aus einer differenziellen Perspektive Lehrbuches (insbesondere in c Kap. 5 und 6)
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bearbeitet wird. In der Differentiellen Psy- vorgestellt. Im vorliegenden Kapitel wird die
chologie geht es um die Beantwortung der Frage nach dem erfolgreichen Lernen aus der
Frage, warum es zwischen Personen syste- Perspektive des Lernenden beantwortet.
matische interindividuelle Unterschiede gibt Hierzu ist es zunächst hilfreich, die wichtig-
und warum einzelne Personen von Situation sten individuellen Voraussetzungen darzule-
zu Situation in ihren Verhaltensweisen mehr gen, die zum erfolgreichen Lernen gehören.
oder weniger stark variieren. Im Unterschied Als Ausgangspunkt bietet sich das Ende
zu einer allgemeinpsychologischen Betrach- der 1980er Jahre von Pressley, Borkowski
tung von Lernen (c Kap. 1), bei der die Frage und Schneider (1989) skizzierte Modell der
im Vordergrund steht, was Lernen im Allge- »guten Informationsverarbeitung« an, das
meinen ist und wie es prinzipiell funktioniert, sogenannte GIV-Modell (im Folgenden wird
wechseln wir in diesem Kapitel also von einer auch von den Guten Informationsverarbei-
allgemeinen zu einer differenziellen Perspek- tern als GIVs gesprochen). Auf der Basis
tive. Trotz oder vielleicht gerade wegen der der Informationsverarbeitungsmodelle des
häufig geäußerten Unzufriedenheit mit dem menschlichen Gedächtnisses (c Kap. 1.3) ha-

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Teil I Lernen

ben die Autoren das strategische und reflexi- et al. (1989) sprechen davon, dass die »guten
ve Verhalten der Lernenden als Grundlage Informationsverarbeiter« zudem häufiger die
allen erfolgreichen Lernens bezeichnet. Sie Gelegenheit bekommen, sich in »günstigen«
sind der Überzeugung, dass ein planvolles Lernumgebungen zu bewähren.
und selbstgesteuertes, also selbstreguliertes
Besondere Bildungsressourcen, wie sie z. B.
Lernverhalten, Voraussetzung für das Erler- Eliteschulen bieten, werden vornehmlich jenen
nen aller bedeutungshaltigen Inhalte ist zugewiesen, von denen man erwartet, dass sie
(Pressley & McCormick, 1995). am meisten davon profitieren. Auch haben
Studierende, die ihr Examen mit einer Aus-
zeichnung bestehen, weitaus größere Chancen,
Das Modell der guten Informationsver- nachfolgend eine Stelle in Forschungsprojekten
arbeitung. Beim GIV-Modell handelt es der Fakultät angeboten zu bekommen als Stu-
sich um eine Art Merkmals- oder Checkliste dierende mit einem durchschnittlichen Exa-
erfolgreich Lernender. Mit dieser Liste wird men. Es gibt aber noch subtilere Selektionsme-
chanismen. Erfolgreiche Personen werden be-
ein integrativer Rahmen bereitgestellt, der
vorzugt von anderen erfolgreichen Personen als
die unterschiedlichen Befunde aus der ko- Mitarbeiter ausgewählt. So kommt es dann
gnitiven und der motivationalen For- dazu, dass GIVs mehr Gelegenheit zur Koope-
schungstradition bündelt, in Form einer ration mit anderen GIVs erhalten, was zusätz-
Beschreibung kompetenten Lernverhaltens. lich ihren intellektuellen Fortschritt stimuliert.
(Pressley et al., 1989, S. 862)
Pressley et al. (1989) schreiben den »guten
Informationsverarbeitern« die folgenden Die im GIV-Modell aufgelisteten Charakte-
Merkmale zu: ristika erfolgreich Lernender lassen sich im
wesentlichen vier Bereichen individueller
l Sie planen ihr Lernverhalten. Voraussetzungen des Lernens zuordnen:
l Sie nutzen effiziente Lernstrategien. den Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächt-
l Sie wissen, wie, wann und warum solche nisfunktionen bei der Aufnahme und Ver-
Strategien einzusetzen sind. arbeitung von Informationen, dem Umfang
l Sie sind motiviert, diese Strategien einzu- und der Qualität des im Langzeitgedächtnis
setzen. verfügbaren Vorwissens, der Nutzung und
l Sie nutzen Lernstrategien zunehmend metakognitiven Regulation von Lernstrate-
automatisch. gien sowie den motivationalen Dispositionen
l Sie überwachen ihre Lern- und Leistungs- und Selbstkonzepten mit ihren spezifischen
fortschritte. Auswirkungen auf die Intensität und Auf-
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l Sie reflektieren ihr Lernverhalten. rechterhaltung von Lernprozessen. In enger


l Sie verfügen über ein Kurzzeitgedächtnis Anlehnung an das GIV-Modell werden im
mit hoher Kapazität. Folgenden diese vier Bereiche individueller
l Sie verfügen über ein reichhaltiges Welt- Voraussetzungen erfolgreichen Lernens nä-
wissen. her dargestellt.
l Sie vertrauen ihren Lernfähigkeiten. Das Lernen des GIVs ist zwar in der Regel
l Sie sind davon überzeugt, dass sie sich erfolgreicher als das Lernen von Lernenden
stets weiter verbessern können und halten mit weniger guten individuellen Vorausset-
dies auch für wünschenswert. zungen. Aber es gibt durchaus auch bei den
l Sie stellen sich immer wieder neue(n) An- GIVs intraindividuelle Schwankungen in der
forderungen. Qualität guten Lernens, für deren angemes-
sene Erklärung die vier im GIV-Modell
Die aufgelisteten Vorzüge der GIVs bringen angesprochenen Merkmalsbereiche nicht
weitere Vorteile für die individuelle Lern- ausreichen. Deshalb erweitern wir unsere
und Leistungsentwicklung mit sich. Pressley Darstellung der wichtigsten individuellen

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Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen einander verbundene – so aber nicht zum


um die Bereiche der Willensbildung (Voli- Laufen kommende – Zahnräder wurde aus
tion) und die den Lernprozess begleitenden didaktischen Gründen bewusst gewählt. Sie
Emotionen. Grundlage unserer Ausführun- macht nämlich auf einen Blick deutlich, dass
gen in diesem Kapitel ist daher ein heuristi- wir bei aller Detailkenntnis über die rele-
sches Modell, das die fünf Merkmalsberei- vanten individuellen Voraussetzungen er-
che individueller Voraussetzungen erfolgrei- folgreichen Lernens derzeit noch nicht genü-
chen Lernens miteinander verzahnt. Wir gend darüber wissen, wie denn die Voraus-
nennen es das INVO-Modell (INdividuelle setzungen erfolgreichen Lernens genau zu-
VOraussetzungen) erfolgreichen Lernens sammenwirken müssen, um den Lernerfolg
(c Abb. 2.1). Die Darstellungsform über mit- zu garantieren.

selektive
Aufmerksamkeit
und Arbeits-
gedächtnis

motivational-volitional
Motivation
und Selbst-
konzept
kognitiv

Strategien
und meta- erfolgreiches
kognitive
Regulation Lernen

Volition und
lernbegleitende
Emotionen
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Vorwissen

Abb. 2.1: Modell der individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens (INVO-Modell)

Die individuellen Voraussetzungen erfolgrei- diese Entwicklungsabhängigkeiten und indi-


chen Lernens unterliegen zum Teil deutlichen viduellen Besonderheiten des Lernens gehen
Entwicklungsveränderungen und bisweilen wir in diesem Kapitel nicht ein. Sie sind aber
kommt es in dem einen oder anderen Bereich für das Verstehen und Optimieren des Ler-
auch zu massiven Störungen oder Verzöge- nens im pädagogischen Alltag von solch
rungen, die die Lernmöglichkeiten des ein- großer Bedeutung, dass ihnen ein eigenes
zelnen gravierend einschränken können. Auf Kapitel gewidmet ist (c Kap. 4.1).

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Teil I Lernen

Orientierungsfragen

l Welche Funktionen der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses sind Vorausset-


zungen für den Erfolg von Lernen?
l Welche Rolle spielt das Vorwissen für erfolgreiches Lernen?
l Was sind Lernstrategien und wie wird ihre effektive Nutzung durch Metakognitionen
reguliert?
l Welches sind die für Lern- und Leistungssituationen relevanten motivationalen Prozesse
und wie werden sie durch die individuelle Ausprägung des Selbstkonzepts moderiert?
l Welche Rolle spielen Mechanismen der Willensbildung und begleitende Emotionen für
erfolgreiches Lernen?

2.1 Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis

Die Beschreibung erfolgreichen Lernens als sinnstiftendes inhaltsbezogenes Lernen


»gute Informationsverarbeitung« legt es überhaupt stattfinden kann.
nahe, das in Kapitel 1 vorgestellte modale Der Lernprozess im engeren Sinne beginnt
Grundmodell der Informationsverarbeitung erst dann, wenn der Lernende einer Auswahl
(c Abb. 1.2) zum Ausgangspunkt der wei- der in den sensorischen Registern »festgehal-
terführenden Überlegungen zu den indivi- tenen« Reizinformationen seine Aufmerk-
duellen Voraussetzungen des Lernens zu samkeit zuwendet. Diese Aufmerksamkeits-
wählen. Lernen wird dabei als Kette zuwendung kann gezielt oder auch unwill-
von Prozessen der Informationsaufnahme, kürlich erfolgen. Entscheidend für die weite-
-transformation und -organisation beschrie- re Verarbeitung ist jedoch, dass nur die mit
ben. Beim absichtlichen und gezielten Ler- Aufmerksamkeit bedachten Informationsele-
nen wird der Lernende in systematischer mente in das Kurzzeitgedächtnis gelangen,
Weise mit Reizinformationen konfrontiert. das wegen seiner zentralen Funktionen für
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Diese werden in modalitätsspezifischen sen- die komplexen Lernprozesse häufig auch als
sorischen Registern für wenige Millisekun- Arbeitsgedächtnis bezeichnet wird. Das Ar-
den festgehalten, aber noch nicht bewusst beitsgedächtnis hat in Bezug auf die ver-
wahrgenommen. Folgt man beispielsweise arbeitbare Informationsmenge und hinsicht-
einem Vortrag oder liest einen Text, dann lich der Möglichkeit ihrer zeitüberdauernden
wird die gehörte oder die gelesene Sprache Aufbewahrung allerdings nur eine begrenzte
zunächst einmal sensorisch-analog im Sinne Kapazität. Weil aber neue Informationen
einer Repräsentation ihrer physikalischen permanent in das Arbeitsgedächtnis »nach-
Merkmale enkodiert. Erst im weiteren Ver- drängen«, besteht für die im Arbeitsgedächt-
lauf der Informationsverarbeitung erfolgen nis befindliche Information beständig die
sinngebende Interpretationen, die aus den Gefahr, wieder verloren zu gehen.
sensorischen Registrierungen Informatio- Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen
nen für den Lernenden werden lassen. Funk- Vorstellungen zum Informationsfluss wird
tional intakte sensorische Register sind mit- die Auffassung verständlich, dass die Quali-
hin notwendige Voraussetzung dafür, dass tät der dem Lernen zugrunde liegenden In-

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formationsverarbeitung zuallererst von der waren. Auf der Basis zahlreicher Experimen-
Steuerung und Qualität der Aufmerksam- te formulierte Broadbent (1958) die soge-
keitsprozesse und von der Funktionstüchtig- nannte Filtertheorie der Aufmerksamkeit, die
keit des Arbeitsgedächtnisses abhängig ist. von einer grundsätzlich beschränkten Infor-
Tatsächlich haben Forschungsarbeiten ge- mationsverarbeitungskapazität des Men-
zeigt, dass spezifische Funktionen der Auf- schen ausgeht. Danach reguliert die Auf-
merksamkeitszuwendung und des Arbeits- merksamkeit den Informationsfluss von den
gedächtnisses bei verschiedenen Personen sensorischen Registern zum Arbeitsgedächt-
durchaus unterschiedlich gut ausgebildet nis. Die Aufmerksamkeit bzw. die Aufmerk-
sind und damit der Effektivität individueller samkeitszuwendung hat die Funktion eines
Lernprozesse mehr oder weniger enge Gren- Filters und wirkt wie ein früher Engpass oder
zen setzen. Mit anderen Worten: Es gibt Flaschenhals, der im Ergebnis dafür verant-
systematische interindividuelle Differenzen. wortlich ist, dass nur einige wenige Informa-
Insbesondere bei den Aufmerksamkeits- tionen im kognitiven System weitergeleitet
funktionen sind aber zudem starke situative werden.
Variabilitäten zu beobachten. Ein und der- Broadbents Filtertheorie der Aufmerk-
selbe Lernende ist einmal wach und aufnah- samkeit besagt nun, dass die Auswahl der
mebereit, so dass er etwa im Unterricht den weiter zu verarbeitenden Informationen be-
dargebotenen Stoffinhalten seine volle Auf- reits sehr früh im Prozess der Informations-
merksamkeit zuwendet, und ein anderes Mal verarbeitung stattfindet. Die Frage, wann
ist er weniger lernbereit, so dass auch ent- genau die Selektion aufgrund von Informa-
sprechend wenig lehrstoffbezogene Informa- tionsmerkmalen geschieht und welche ihrer
tion im Arbeitsgedächtnis ankommt. Solche Bestandteile in welchem Umfang »voranaly-
situativen Schwankungen werden auch als siert« werden, hat zu zahlreichen experimen-
intraindividuelle Variabilität bezeichnet. Im tellen Analysen und theoretischen Auseinan-
Folgenden werden einige der für die Erklä- dersetzungen geführt (vgl. Pashler, 1998;
rung interindividueller Differenzen und Yantis, 2000). Dabei hat sich herausgestellt,
intraindividueller Variabilität des Lern- dass es wohl unterschiedliche Filter gibt, die
erfolgs relevanten Facetten der Aufmerksam- für den Flaschenhalseffekt verantwortlich
keit und des Arbeitsgedächtnisses näher be- sind. Ihre Funktionsweise wird sowohl von
trachtet. den Reizmerkmalen selbst (Bottom-up) als
auch von den Zielen und dem Vorwissen der
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die Informationen verarbeitenden Person


Selektive Aufmerksamkeit (Top-down) beeinflusst.
Eine hilfreiche Klassifikation der für die
Der Engländer Donald Broadbent hat sich Aufmerksamkeitszuwendung beim absicht-
bereits früh mit der Frage beschäftigt, wie lichen Lernen relevanten Prozesse stammt
unser Informationsverarbeitungssystem die von Neisser (1967). In seiner Zwei-Prozess-
ständige Überflutung durch sensorisch regis- Theorie der selektiven Aufmerksamkeit
trierte Informationsmerkmale bewältigt. Da- unterscheidet Neisser zwischen einem Dis-
bei inspirierte ihn eine Aufmerksamkeitsleis- kriminationsprozess, in dessen Verlauf die
tung der für die Radarüberwachung von in den sensorischen Registern festgehalte-
Flugzeugen zuständigen Soldaten im Zwei- nen Informationsmerkmale danach be-
ten Weltkrieg. Diesen gelang es nämlich, mit urteilt werden, ob sie relevant sind oder
verschiedenen Piloten gleichzeitig zu kom- nicht, und einem Prozess der Zuweisung
munizieren, obgleich deren Stimmen nur der vorhandenen (und begrenzten) Auf-
über einen einzigen Lautsprecher zu hören merksamkeitskapazität auf die als relevant

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erkannten Informationsmerkmale (Fokus- Die Befunde der Untersuchung von Wood


sierung). Die Effizienz beider Prozesse hin- und Cowan (1995) zum Cocktailparty-Phä-
terlässt deutliche Spuren schon bei einfa- nomen zeigen, dass die Diskrimination von
chen Lernanforderungen, wie am Beispiel relevanter und irrelevanter Information und
des Cocktailparty-Phänomens und seiner die Fokussierung der relevanten Information
Wirkungen deutlich wird. entscheidend sind für die Leistung bei einer
recht einfachen kognitiven Anforderung. Sie
zeigen aber auch, dass sich Personen sehr
Fokus: Das Cocktailparty-Phänomen
wohl darin unterscheiden, ob und wie leicht
sie sich von aufgabenirrelevanten Informa-
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf
tionen ablenken lassen. Etwa ein Drittel der
einer Party. Der Geräuschpegel ist relativ
untersuchten Personen ließ sich durch das
hoch und überall im Raum stehen kleine
Hören des eigenen Namens von der vorher
Grüppchen beisammen, die sich lautstark
vereinbarten Aufgabe ablenken. Man kann
unterhalten. Auch Sie sind in ein solches
sich leicht vorstellen, dass auch für das
Gespräch einbezogen. Plötzlich hören Sie,
schulische Lernen interindividuelle Unter-
dass in einer der anderen Gesprächsgrup-
schiede im Bereich der Aufmerksamkeit und
pen Ihr Name fällt und schon wandert
der Aufmerksamkeitskontrolle von großer
Ihre Aufmerksamkeit zu dem Gespräch
Bedeutsamkeit sind. Die bekannten Auf-
der anderen Gruppe, das sie vorher gar
merksamkeits- und Konzentrationsschwie-
nicht wahrgenommen haben.
rigkeiten von Schülerinnen und Schülern
Diese Veränderung der Aufmerksam-
(vgl. Berg & Imhof, 2010) und die mit ihnen
keitsfokussierung ist als Cocktailparty-
häufig einhergehenden Verhaltensauffällig-
Phänomen bekannt geworden (Cherry,
keiten (Döpfner, 2008; Gawrilow, 2012)
1953). Wood und Cowan (1995) haben
sind auch auf Probleme bei der Diskrimina-
sie in einer experimentellen Untersu-
tion und Fokussierung der Aufmerksamkeit
chung etwas genauer unter die Lupe ge-
zurückzuführen.
nommen. Die Teilnehmer an ihrem Expe-
Die Prozesse der selektiven Aufmerk-
riment bekamen einen Kopfhörer aufge-
samkeit sind jedoch nicht nur eine wichtige
setzt, der das sogenannte dichotische
Voraussetzung erfolgreichen Lernens. Sie
Hören ermöglicht: Sie hörten auf jedem
sind gleichzeitig ein Ergebnis vorangegan-
Ohr eine andere Stimme. Beide Stimmen
gener Lernerfolge. Wie in Kapitel 2.2 noch
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lasen einsilbige Wörter vor. Die Aufgabe


ausführlicher dargestellt wird, ist die Effi-
der Versuchsteilnehmer bestand nun dar-
zienz, mit der relevante von irrelevanter
in, nur auf das rechte Ohr zu achten und
Information unterschieden wird, in erheb-
so genau wie möglich die über das rechte
licher Weise von den einschlägigen Vor-
Ohr gehörten Wörter nachzusprechen
kenntnissen des Lernenden abhängig. Wer
(man nennt das »Beschatten«). Irgend-
sich in einem Lernbereich inhaltlich bereits
wann nannte die Stimme auf dem eigent-
sehr gut auskennt, ist im Vergleich zu Laien
lich nicht zu beachtenden linken Ohr den
oder Nichtexperten nämlich sehr viel besser
Namen des Versuchsteilnehmers. Etwa
in der Lage, innerhalb von Sekundenbruch-
ein Drittel der Teilnehmer hörte dies –
teilen zwischen relevanten und weniger
andere Namen als der eigene wurden
relevanten Informationsmerkmalen zu
hingegen nicht wahrgenommen. Die Leis-
unterscheiden (vgl. Bransford, Brown &
tung in der Beschattungsaufgabe war
Cocking, 2000).
natürlich währenddessen kurzeitig beein-
Überhaupt stellt sich die Frage, ob inter-
trächtigt.
individuelle Unterschiede in der Effizienz

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

selektiver Aufmerksamkeit unabhängig von einheiten geschätzt. Bereits im 19. Jahr-


den »hierarchiehöheren« Voraussetzungen hundert wurde von Jacobs (1887) der
erfolgreichen Lernens auftreten. Unter- Grundtyp einer Methode zur Bestimmung
schiede in der Ablenkungsanfälligkeit des der individuellen Gedächtniskapazität
Aufmerksamkeitsfokus durch aufgabenir- vorgelegt, die bis heute weit verbreitet ist
relevante Informationen lassen sich näm- und auch in vielen Intelligenztests Verwen-
lich auch über Unterschiede in der Kapazi- dung findet: Die Prüfung der Gedächtnis-
tät des Arbeitsgedächtnisses erklären (Ble- spanne.
ckley, Durso, Crutchfield, Engle & Khanna,
2003). Bei einer Wiederholung der oben
Definition: Gedächtnisspanne
beschriebenen Untersuchung zum Cocktail-
party-Phänomen wurden die Untersu-
Die individuelle Gedächtnisspanne einer
chungsteilnehmer im Nachhinein danach
Person ist definiert als die maximale
unterteilt, ob sie – ausweislich eines ent-
Anzahl von Items (meist Ziffern oder
sprechenden Testverfahrens – über eine
Wörter), die im Anschluss an eine einma-
überdurchschnittliche oder über eine unter-
lige Darbietung (meist akustisch im Se-
durchschnittliche Arbeitsgedächtniskapazi-
kundenrhythmus) in der vorgegebenen
tät verfügten. Es zeigte sich, dass lediglich
Reihenfolge korrekt wiedergegeben wer-
eine von fünf Personen mit hoher Arbeits-
den kann.
gedächtniskapazität ablenkbar war, aber
fast jeder dritte Versuchsteilnehmer mit
einer eher niedrigen Gedächtniskapazität Schon Atkinson und Shiffrin (1968) haben
hörte seinen eigenen Namen auf dem darauf hingewiesen, dass der Kurzzeitspei-
eigentlich nicht zu beachtenden Ohr (Con- cher beim Verarbeiten von Informationen
way, Cowan & Bunting, 2001). Dies führt die Funktion eines Arbeitsgedächtnisses
uns zu der Frage, was es mit dem Arbeits- übernimmt. Typische Arbeitsgedächtnis-
gedächtnis auf sich hat und inwiefern seine funktionen bestehen etwa in der Nutzung
Merkmale und Besonderheiten wichtige von Strategien und Kontrollprozessen, um
individuelle Voraussetzungen erfolgreichen den Lernfortschritt zu optimieren und den
Lernens sind. späteren Abruf von Informationen aus dem
Gedächtnis zu erleichtern. Das Arbeitsge-
dächtnis (working memory) ist demnach
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Was versteht man unter ein internes kognitives System, das es er-
Arbeitsgedächtnis? möglicht, mehrere Informationen vorüber-
gehend bewusst zu halten und zueinander in
In den frühen Modellen der Informations- Beziehung zu setzen. Die klassische Vor-
verarbeitung ging man davon aus, dass die stellung eines Speichers mit fünf bis neun
mit Aufmerksamkeit bedachte Informa- Speicherplätzen erscheint zu statisch, um
tion in eine Art Kurzzeitspeicher gelangt, ein solch multi-funktionales System wie das
der von begrenzter Kapazität ist und – wie Arbeitsgedächtnis angemessen zu beschrei-
der Name schon sagt – die Information für ben.
kurze Zeit im »Bewusstseinsstrom« des Interindividuelle Unterschiede in der
Lernenden hält (Atkinson & Shiffrin, oben beschriebenen Gedächtnisspanne
1968). Die Kapazität des Kurzzeitgedächt- hängen auch von der Geschwindigkeit ab,
nisses wurde lange Zeit mit Verweis auf die mit der die dargebotenen Informationsein-
klassische Abhandlung von Miller (1956) heiten identifiziert bzw. innerlich nachge-
auf sieben plus/minus zwei Informations- sprochen werden können (Dempster, 1981;

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Hasselhorn, 1988). Dies weist darauf hin, der britischen Arbeitsgruppe um Alan Bad-
dass nicht nur strukturelle, sondern auch deley immer weiter ausgearbeitet wurde.
prozessuale Kapazitätsaspekte von Bedeu- Frühe experimentelle Arbeiten führten Bad-
tung sind. Man spricht daher heute vielfach deley und Hitch (1974) zu der Einsicht, dass
auch von der funktionalen bzw. funktional die damals verbreitete Annahme eines ein-
verfügbaren Kapazität des Arbeitsgedächt- dimensionalen Arbeitsgedächtnisses unan-
nisses. gemessen sei. Bei der gleichzeitigen Bearbei-
Theoretische Modelle zur Funktionsweise tung von Anforderungen unterschiedlicher
des Arbeitsgedächtnisses sind so zahlreich Modalitäten (z. B. Hören und Sehen) zeig-
wie unterschiedlich (vgl. Conway, Jarrold, ten die Untersuchungsteilnehmer zwar Leis-
Kane, Miyake & Towse, 2007). Neben den tungseinbußen; diese fielen aber weit gerin-
Vorstellungen vom Arbeitsgedächtnis als ger aus, als man es bei einer generell be-
einer einheitlichen (eigenen) Ressource, die grenzten Arbeitsgedächtnis-Ressource er-
flexibel und adaptiv bei der Bewältigung warten sollte.
unterschiedlicher Aufgabenanforderungen Baddeley (1986) beschrieb daher das
Verwendung findet (z. B. Case, 1995; Dane- Arbeitsgedächtnis als komplexes Systemge-
man & Carpenter, 1980), gibt es die Auffas- füge, in dem einer Leitzentrale (zentrale
sung, dass die Aufmerksamkeit, das Kurz- Exekutive) spezifische Hilfssysteme für die
zeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis separate Verarbeitung visuell-räumlicher
ohnehin sehr eng miteinander verknüpft bzw. sprachlich-akustischer Informationen
seien. Cowan (2005) hat diese Auffassung untergeordnet sind (c Abb. 2.2). Auch pos-
sehr pointiert formuliert: Das Arbeitsge- tulierte Baddeley (2000) einen Verbin-
dächtnis sei nichts anderes als jene Teilmenge dungsmechanismus (episodischer Puffer)
des Langzeitgedächtnisses, die durch Auf- zwischen den beiden Hilfssystemen, der
merksamkeitsfokussierung temporär gerade Leitzentrale und dem Langzeitgedächtnis.
aktiviert ist. Auch dieser Mechanismus hat aber wiede-
Für die Beschreibung und Erklärung der rum nur eine begrenzte Kapazität. Seine
Funktionen des Arbeitsgedächtnisses beim Aufgabe ist es, die funktionale Kapazität
intentionalen Lernen komplexer Inhalte hat des Arbeitsgedächtnisses zu optimieren,
sich in der europäischen Tradition eine und zwar durch die Integration der Infor-
mehrsystemige Modellvorstellung durchge- mationen aus den Hilfssystemen und aus
setzt, die seit Anfang der 1970er Jahre von dem Langzeitgedächtnis.
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Zentrale
Exekutive

Visuell-räumlicher Episodischer Phonologische


Notizblock Puffer Schleife

Abb. 2.2:
Visuelle Episodisches Modell des Arbeitsgedächt-
Sprache nisses nach Baddeley (1986,
Semantik Langzeitgedächtnis
2000)

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Mit Gedächtnisspannenaufgaben der oben


zu den Primaten, weil er aufrecht geht.«).
beschriebenen Art (serielle Reproduktion
Anschließend müssen die jeweils letzten
von Ziffern- oder Wortlisten) lässt sich die
Wörter dieser Sätze in der Reihenfolge
Funktionstüchtigkeit des für die Verarbei-
der Satzdarbietung wiedergegeben wer-
tung von sprachlich-akustischer Informa-
den (also »hat – zurück – geht«). Bei einer
tion zuständigen Hilfssystems gut erfassen.
anderen Aufgabe müssen einfache Re-
Das Arbeitsgedächtnis als Gesamtsystem
chenaufgaben auf ihre Richtigkeit geprüft
ist aber nicht nur für das Speichern und
werden (z. B. »(2  3)  2 ¼ 4« oder »(6/
Abrufen von Reihenfolgeinformationen
3) þ 2 ¼ 8« oder »(4  2) – 5 ¼ 3«).
zuständig, sondern auch für die darüber
Anschließend sind die vorgegebenen Lö-
hinaus gehenden Transformationsprozes-
sungen in der richtigen Reihenfolge wie-
se. Deshalb werden heute komplexere Auf-
derzugeben (also »4  8  3«).
gaben verwendet, um etwas über die Funk-
tionstüchtigkeit des gesamten Arbeitsge-
dächtnisses zu erfahren. Die einfachste Die auf Teilsystemen fußende Grundkon-
Form einer komplexen Anforderung an zeption des Arbeitsgedächtnisses nach Bad-
das Arbeitsgedächtnis ist eine Aufgabe zur deley (1986, 2000) eröffnet Möglichkeiten
Erfassung der sogenannten Rückwärts- für eine sehr anschauliche und differen-
spanne. Wie bei der Erfassung der »Ge- zierte Beschreibung der Funktionsweise
dächtnisspanne vorwärts« werden Se- des Arbeitsgedächtnisses beim Bearbeiten
quenzen von Items dargeboten. Die Leis- komplexer Lernanforderungen. Dies wird
tungsanforderung besteht allerdings darin, mittlerweile auch für die Praxis der Dia-
die dargebotenen Sequenzen in der umge- gnostik individueller Lernpotenziale ge-
kehrten Reihenfolge zu reproduzieren. nutzt. So liegt im deutschen Sprachraum
Verbreitet ist die Aufgabe »Ziffern nach- eine dieser Grundkonzeption verpflichtete
sprechen, rückwärts«, wobei die Ziffern computergestützte und adaptive Arbeitsge-
im Sekundenrhythmus dargeboten werden dächtnistestbatterie für Kinder von 5 bis 12
(z. B. 6  4  2  5) und anschließend in Jahren vor (AGTB 5–12, Hasselhorn, Schu-
umgekehrter Reihenfolge wiederzugeben mann-Hengsteler et al., 2012), mit deren
sind (5  2  4  6). Hilfe individuelle Besonderheiten der Funk-
tionstüchtigkeit der unterschiedlichen Ar-
beitsgedächtnissysteme erfasst werden
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Fokus: Erfassung der können. Auch neuropsychologische Befun-


Arbeitsgedächtnisspanne de stützen die Annahme getrennter und
damit partiell unabhängiger Teilsysteme
Komplexe Anforderungen an das Ar- für die Verarbeitung verbaler und visuell-
beitsgedächtnis beinhalten die Durchfüh- räumlicher Informationsmerkmale (Joni-
rung vielfältiger Speicher- und Transfor- des et al., 1996).
mationsprozesse. In Aufgaben dieser Art
werden Personen beispielsweise aufgefor-
dert, ein Set unzusammenhängender Visuell-räumliches
Sätze zu lesen und den Wahrheitsgehalt
Arbeitsgedächtnis
eines jeden Satzes zu bewerten (z. B. »Der
März ist der erste Monat im Jahr, der 30
In der neuropsychologischen Literatur fin-
Tage hat.« oder »Die Sprachen Englisch
den sich Evidenzen für die Annahme, dass
und Deutsch gehen auf die gleichen Wur-
die Verarbeitung sprachlicher und visuell-
zeln zurück.« oder »Der Mensch gehört
räumlicher Informationen in partiell unab-

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Teil I Lernen

hängigen Teilsystemen erfolgt. Auch das Wesentlichen auf zwei Typen von Anforde-
Generieren visueller Vorstellungen und das rungen: dem Behalten räumlicher Bewegun-
kurzfristige Behalten visuell-räumlicher In- gen und dem Behalten visueller Muster.
formationen haben sich nach Erkenntnissen Typische Varianten dieser unterschiedlichen
aus Studien an Patienten mit Kopfverlet- Anforderungen sind die Corsi-Block-Aufga-
zungen als voneinander unabhängige Funk- be für räumliche Bewegungen und die soge-
tionen erwiesen (vgl. Morton & Morris, nannte Muster-Rekonstruktionsaufgabe. Bei
1995). Während spezifische Schädigungen der Corsi-Block-Aufgabe handelt es sich um
in der linken Hirnhälfte mit Defiziten beim eine Gedächtnisspannenaufgabe für räum-
Generieren von und Operieren mit an- lich-sequentielle Information. Vorgegeben
schaulichen Vorstellungsbildern einher zu wird in der Standardversion ein graues Brett,
gehen scheinen (Farah, 1984), findet man auf dem neun Blöcke in einer unregelmäßi-
eher Zusammenhänge mit Schädigungen gen Anordnung positioniert sind (c Abb.
im rechten posterioren parietalen Cortex, 2.3). Die Blöcke unterscheiden sich nicht
wenn Repräsentations- und Behaltenspro- voneinander. Der Untersuchungsleiter tippt
bleme für visuell-räumliche Informationen einzelne Blöcke in einer bestimmten Reihen-
vorliegen (Beschin, Cocchini, Della Salla & folge im Sekundenrhythmus an. Die Ver-
Logie, 1997). Selbst die Verarbeitung visu- suchsteilnehmer müssen die vorgegebene Se-
eller und räumlicher Informationsmerkma- quenz unmittelbar danach durch Nachtippen
le scheint allerdings durch unterschiedliche replizieren. Die Anzahl der in einer Sequenz
Bereiche des Cortex geleistet zu werden enthaltenen Blöcke wird sukzessive gestei-
(Courtney, Ungerleider, Keil & Haxby, gert, bis eine fehlerfreie Wiedergabe nicht
1996). mehr gelingt. Erwachsene können im Durch-
Experimentelle Analysen zum visuell- schnitt Sequenzen von etwa sechs bis sieben
räumlichen Arbeitsgedächtnis basieren im Blöcken richtig antippen.

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6 7
5
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3 Abb. 2.3:
1 2 Standardversion der Corsi-
Block-Aufgabe

Bei der Muster-Rekonstruktionsaufgabe wer- lage mit ausschließlich weißen Feldern ge-
den in der Regel quadratische Matrizenan- zeigt werden, welche Felder bei der zuvor
ordnungen dargeboten, auf denen einzelne gezeigten Musteranordnung schwarz waren.
Felder schwarz eingefärbt sind, so dass sich Analog zum Vorgehen bei der Corsi-Block-
ein Muster ergibt. Häufig wird dabei die Aufgabe wird die Anzahl der schwarzen
Komplexität der Muster variiert (c Abb. Felder so lange gesteigert, bis das Muster
2.4). Die Darbietungszeit der Muster steigt nicht mehr korrekt wiedergegeben werden
mit zunehmender Anzahl der schwarzen kann. Die durchschnittliche Leistung junger
Felder linear an. Unmittelbar nach der Mus- Erwachsener liegt bei Mustern mit neun
terpräsentation muss auf einer Matrizenvor- schwarzen Feldern.

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

Abb. 2.4:
Beispiel für die Vorlage eines
einfachen (links) und komple-
xen Musters (rechts) bei der
Muster-Rekonstruktionsauf-
gabe

Experimentelle Analysen der Leistungen bei eines inneren Schreibprozesses (Inner Scribe)
Corsi-Block- und Muster-Rekonstruktions- beschreibt. Im visuellen Speicher werden vor
aufgaben haben die Entwicklung der Mo- allem Merkmale der Form und der Farbe
dellvorstellungen über das visuell-räumliche repräsentiert – sein Repräsentationsformat
Hilfssystem nachhaltig beeinflusst. Es zeigte ist statisch. Der räumliche Mechanismus
sich, dass die Kapazität für das Behalten besitzt hingegen ein dynamisches Repräsen-
visueller Muster und die Kapazität für das tationsformat und ist auch dafür zuständig,
Behalten von Bewegungssequenzen im Raum Informationen des visuellen Speichers durch
relativ unabhängig voneinander sind. Ver- eine Art mentalen Abschreibens zu wieder-
sucht man nämlich, die Leistungen bei Auf- holen und damit längerfristig verfügbar zu
gaben dieser Art zu beeinträchtigen, indem halten.
man zeitgleich eine zweite Aufgabe bearbei-
ten lässt, so findet sich ein interessanter
Unterschied: Besteht die Zweitaufgabe z. B. Phonologisches
im Ausführen einer Armbewegung, dann Arbeitsgedächtnis
werden dadurch die dynamischen visuell-
räumlichen Arbeitsgedächtnisleistungen, wie Wiederum unabhängig von der Verarbeitung
sie bei den Corsi-Blocks zu erbringen sind, visuell-räumlicher Informationen werden
gestört, jedoch nicht die Leistungen bei der sprachliche und akustische Informationen
Standardvariante der Muster-Rekonstruk- verarbeitet. Das hierfür zuständige Hilfssys-
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tionsaufgabe, die eher Anforderungen an tem des Arbeitsgedächtnisses wird phonolo-


eine statische Repräsentation im Arbeitsge- gisches Arbeitsgedächtnis genannt. Baddeley
dächtnis stellt (z. B. Logie, Zucco & Badde- (1986) hat dieses System als eine »phonolo-
ley, 1990). Umgekehrt wird das Behalten gische Schleife« bezeichnet. Ähnlich wie
visueller Muster, nicht aber das von räumli- beim visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnis
chen Sequenzen, durch irrelevante visuelle besteht die Schleife aus zwei Komponenten,
Zusatzinformationen (z. B. Wechsel in der einem phonetischen Speicher (Phonological
Farbgestaltung der Mustervorlagen) beein- Store) und einem subvokalen Kontrollpro-
trächtigt (z. B. Logie, 1986). zess (Subvocal Rehearsal). Über die Mecha-
Logie (1995) unterscheidet daher zwi- nismen, mit denen das phonologische Ar-
schen zwei Komponenten des visuell-räum- beitsgedächtnis operiert, weiß man bereits
lichen Arbeitsgedächtnisses: einem visuellen sehr viel genauer Bescheid als über die Me-
Speicher (Visual Cache) und einem Mecha- chanismen des visuell-räumlichen Systems.
nismus für die Aufnahme räumlicher Bewe- Der phonetische Speicher kann klangli-
gungssequenzen, den er über die Metapher che und sprachliche Informationsmerkmale

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Teil I Lernen

für etwa eineinhalb bis zwei Sekunden blematischer, wenn es nicht effizient genutzt
repräsentieren. Die entscheidende Kapazi- wird. Um vor allem beim Hören längerer
tätsdimension ist weniger die Anzahl ver- Sätze am Ende eines Satzes noch zu wissen,
arbeiteter Informationen – wie in Anleh- wovon am Anfang des Satzes die Rede war,
nung an Millers (1956) Ausführungen zur müssen wir wichtige Informationen länger
»magischen Sieben« lange Zeit angenom- verfügbar halten als nur für zwei Sekunden.
men wurde –, als vielmehr die Zeitdauer, Dies leistet der subvokale Kontrollpro-
für die eine gespeicherte Information ver- zess. Durch eine Art »inneres Sprechen« bzw.
fügbar ist. Man kann sich den phonetischen »inneres Wiederholen« wird die Repräsenta-
Speicher wie eine Tonbandendlosschleife tion im phonetischen Speicher immer wieder
mit sehr kurzer Aufnahmekapazität vor- neu aufgefrischt, so dass wichtige Informa-
stellen. Die Schleife ist im aufmerksamen tionen durchaus über einen längeren Zeit-
Zustand permanent auf Empfang geschal- raum für die weitere Verarbeitung präsent
tet. Informationen, die nicht in weiterfüh- bleiben. Als Beleg dafür, dass es sich bei
rende Verarbeitungsprozesse eingebunden diesem Kontrollprozess um ein »inneres
sind, werden allerdings nach etwa zwei Sprechen« handelt, gilt das Phänomen des
Sekunden wieder »überschrieben« und da- Wortlängeneffektes: Die Leistung bei der
mit endgültig dem Zugriff für weiterfüh- oben beschriebenen einfachen Gedächtnis-
rende Verarbeitungen entzogen. Für viele spannen-Aufgabe fällt bei der Darbietung
Sätze unserer gesprochenen Sprache ist dies von Sequenzen kurzer Wörter besser aus als
ein sehr knappes Zeitfenster – umso pro- bei Sequenzen langer Wörter.

Studie: Wortlängeneffekt und Artikulationsdauer

Baddeley, Thomson und Buchanan (1975) untersuchten den Effekt der Wortlänge auf die
Leistung bei einer Gedächtnisspannenaufgabe. Mit ansteigender Silbenzahl der verwende-
ten Wörter sank die Gedächtnisspannenleistung der untersuchten jungen Erwachsenen. Der
Befund tritt auf, wenn die Wortsequenzen akustisch präsentiert werden, er zeigt sich aber
auch bei einer Darbietung von Abbildungen der durch die Wörter bezeichneten Objekte.
Als entscheidend für den Effekt erwies sich die zur Aussprache der Begriffe benötigte Zeit.
Es zeigte sich nämlich, dass selbst bei konstant gehaltener Silben- und Phonemzahl die
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Gedächtnisspanne für Wörter mit kürzerer Artikulationsdauer größer ist als für Wörter mit
längerer Aussprechdauer.
In einem weiteren Experiment fanden die Autoren, dass die Gedächtnisspanne in etwa
der Anzahl von Items entspricht, die eine Person in 1,87 Sekunden aussprechen kann. Zu
ähnlichen Schätzwerten der Kapazität des phonetischen Speichers kommen auch Schwei-
ckert und Boruff (1986) sowie Hasselhorn (1988).

Der hier beschriebene subvokale Kontroll- visuell dargebotenen Materials. Dies gilt
prozess erfolgt schon im Schulalter automa- nicht nur für bedeutungshaltige Bilder (vgl.
tisch. Er dient dem »Auffrischen« von Infor- Baddeley et al., 1975), sondern auch für das
mationen, die bereits in den phonetischen Dekodieren von Graphemen beim leisen
Speicher gelangt sind, erfüllt jedoch noch Lesen (Daneman & Stainton, 1991). Insge-
weitere Funktionen. So dient er der Überset- samt bieten die Mechanismen des phonolo-
zung von bildlicher Information in sprachli- gischen Arbeitsgedächtnisses eine hervorra-
che durch das phonetische Umkodieren des gende Basis für die Verarbeitung von Rei-

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

henfolgeinformation, und zwar nicht nur für Zur Messung der individuellen Kapazität des
verbales Material, sondern auch für die phonetischen Speichers haben Gathercole,
Verarbeitung zeitlicher Muster, wie es sich Willis, Baddeley und Emslie (1994) das Nach-
etwa beim Reproduzieren akustisch darge- sprechen von Kunstwörtern (Nonword Repe-
botener Zeitintervalle im Sekundenbereich tition) vorgeschlagen. Beim Kunstwörter-
zeigt (Grube, 1996). nachsprechen handelt es sich um eine Aufga-
Die bereits mehrfach erwähnte Gedächt- benanforderung, bei der eine akustisch dar-
nisspanne kann auch als Indikator für die gebotene Lautfolge nachzusprechen ist, die
funktional verfügbare Gesamtkapazität des zwar Ähnlichkeiten zu »richtigen« Wörtern
phonologischen Arbeitsgedächtnisses insge- aufweist, jedoch ohne sinnhafte mutter-
samt herangezogen werden. Für die indirekte sprachliche Bedeutung ist (z. B. »wuralten«,
Abschätzung der Geschwindigkeit des in der »kalibritzen«). Das Grundprinzip solcher
Regel automatisch einsetzenden subvokalen Aufgaben wurde bereits in den 1950er Jahren
Kontrollprozesses wird häufig die Artikula- von der Schweizer Logopädin Greta Mottier
tionsdauer bzw. die Sprechrate für das in der (1951) verwendet, um die »akustische Diffe-
jeweiligen Gedächtnisspannenaufgabe ver- renzierungsfähigkeit« von Kindern zu erfas-
wendete Item-Material benutzt. Eine verbrei- sen. Die Kapazität des phonetischen Speichers
tete Methode zur Erfassung der Sprechrate lässt sich so, unbeeinflusst vom »semantischen
wurde von Hulme, Thomson, Muir und Lexikon« einer Person, über die Länge der
Lawrence (1984) eingeführt. Die Autoren Kunstwörter erschließen, bei denen das Nach-
schlugen vor, einfache Wort-Tripel (z. B. sprechen noch weitgehend fehlerfrei gelingt.
»Fisch – Ball – Stern«) vorzugeben und diese
dann zehn Mal hintereinander so schnell wie
Fokus: Das phonologische
möglich nachsprechen zu lassen. Aus der
Arbeitsgedächtnis
dafür benötigten Zeit lässt sich dann die für
das Artikulieren eines Wortes im Durch-
Die folgenden Merkmale beschreiben die
schnitt benötigte Zeit ermitteln.
Funktionsweise des phonologischen Ar-
Die Funktionstüchtigkeit des phoneti-
beitsgedächtnisses (nach Grube, 1999):
schen Speichers lässt sich nach Ansicht
von Gathercole und Baddeley (1993) an- l Sprachbasiert
hand eines weiteren, seit langem bekannten l Funktionale Gesamtkapazität ist be-
Phänomens erkennen, des sogenannten
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grenzt
akustischen Ähnlichkeitseffekts: Gibt man l Phonetischer Speicher ist zeitlich be-
bei einer Gedächtnisspannenaufgabe klang-
grenzt (strukturelle Kapazität)
ähnliche Items vor (z. B. »Schwan, Krahn, l Subvokaler artikulatorischer Kont-
Bahn, Zahn«), anstelle der im Standardver-
rollprozess ist geschwindigkeitsbe-
fahren üblichen klangunähnlichen (z. B.
grenzt (prozessuale Kapazität)
»Topf, Schuh, Baum, Zahn), so fällt die l Speicherformat ist akustisch-phone-
Gedächtnisspannenleistung schlechter aus.
tisch
Anders als der auf subvokales inneres Spre-
l Sprache hat unmittelbaren Speicher-
chen zurückgeführte Wortlängeneffekt
zugang
bleibt der Effekt der akustischen Ähnlich- l Unabhängige simultane Speicherinhal-
keit durch eine belanglose sprachliche
te stören einander (interferieren)
Zweitanforderung (z. B. während der
l Vokale Artikulation (Sprechen) beein-
Item-Darbietung permanent den Laut
trächtigt die subvokale artikulatori-
»bla« zu wiederholen) übrigens unbeein-
sche Kontrolle
flusst (Baddeley, 1986).

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Teil I Lernen

Das von Baddeley (1986) skizzierte Zwei- präzision (Wie »klar« ist das phonetische
Komponenten-Modell des phonologischen Sprachmuster repräsentiert?) zu unterschei-
Arbeitsgedächtnisses ist empirisch gut abge- den. Bei dem subvokalen Kontrollprozess
sichert. Dennoch lassen sich bisweilen Dis- des inneren Sprechens ist es sinnvoll, zwi-
soziationen empirischer Phänomene beob- schen der Geschwindigkeit des Prozesses
achten, die eigentlich der gleichen Kompo- (erfassbar über die Artikulations- bzw.
nente des phonologischen Arbeitsgedächtnis- Sprechrate, s. o.) und dem Automatisierungs-
ses zugeschrieben werden (vgl. Hasselhorn, grad seiner Aktivierung zu unterscheiden.
Grube & Mähler, 2000). Durch eine Aus- Der bereits erwähnte Wortlängeneffekt kann
differenzierung verschiedener Funktionsas- nämlich mit der automatischen Aktivierung
pekte der Speicherkomponente sowie der des subvokalen Kontrollprozesses erklärt
Komponente des subvokalen Kontrollpro- werden. Tritt er nicht auf, was bei Kindern
zesses lassen sich auch solche Dissoziationen im Vorschulalter (Gathercole & Hitch,
oftmals erklären. Hasselhorn et al. (2000) 1993; Jarrold & Tam, 2011) und bei lernbe-
schlagen vor, beim phonetischen Speicher hinderten Grundschulkindern (Mähler &
zwischen der Größe, also der individuellen Hasselhorn, 2003) durchaus der Fall ist,
Kapazität (so macht es einen Unterschied, ob dann ist dies ein wichtiger Hinweis darauf,
die zeitliche Begrenzung 150 oder 200 Milli- dass dieser Prozess noch nicht automatisiert
sekunden beträgt) und der Verarbeitungs- verfügbar ist (c Abb. 2.5).

Größe

Verarbeitungs-
Phonetischer Speicher präzision

Automatisierungs-
grad der Aktivierung

Rehearsal
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Geschwindigkeit

Abb. 2.5: Zwei-Komponenten-Modell des phonologischen Arbeitsgedächtnisses nach Hasselhorn, Grube


& Mähler (2000)

Zentral-exekutive Funktionen tungsmöglichkeiten. Dazu ist eine Überwa-


chung und Kontrolle der Inhalte und Verfü-
Die beschriebenen Hilfssysteme des Arbeits- gungskapazitäten des gesamten Arbeitsge-
gedächtnisses ermöglichen eine differenzierte dächtnisses ebenso erforderlich wie die
modalitätsspezifische Verarbeitung von In- Anpassung und Steuerung der darin ablau-
formationen. Sie bilden damit eine notwen- fenden Verarbeitungsprozesse. Im Modell
dige Voraussetzung der »guten Informa- des Arbeitsgedächtnisses von Baddeley
tionsverarbeitung«. Erfolgreiches Lernen (1986, 2000) werden diese Funktionen einer
erfordert jedoch auch eine intelligente Nut- zentralen Exekutiven zugeschrieben. Die
zung dieser Hilfssysteme und ihrer Verarbei- neuroanatomisch der Region des Frontallap-

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pens zugeordnete zentrale Exekutive wird ernüchternd. So lässt sich kaum absehen, ob
dabei als ein Supervisions- und Kontrollsys- die mit dem Konstrukt der zentralen Exeku-
tem der eigenen Aufmerksamkeit angesehen. tiven verknüpften Hoffnungen berechtigt
Sie überwacht die in den Hilfssystemen akti- sind oder ob nicht eher die theoretische Vor-
vierten Inhalte und verantwortet, welche stellung angemessener ist, dass es sich bei den
Informationen bewusst gemacht oder in ir- zentralen Funktionen um eine große Anzahl
gendeiner Form zur Verarbeitung transfor- unzusammenhängender, hochspezialisierter
miert werden sollen. Verarbeitungs- und Mechanismen handelt (vgl. Towse & Hous-
Handlungspläne werden hier entworfen, um- ton-Price, 2001).
gesetzt, überwacht und modifiziert. Dazu Versuche, die unterschiedlichen Funktio-
koordiniert die zentrale Exekutive Informa- nen der zentralen Exekutiven empirisch fass-
tionen aus verschiedenen Quellen, stellt aus- bar zu machen, um so im Einzelfall feststellen
gewählte Informationen gezielt in den Fokus zu können, was dies im Hinblick auf die
der Aufmerksamkeit, aktiviert Wissen aus individuellen Lernvoraussetzungen bedeutet,
dem Langzeitgedächtnis und sorgt während stehen vor einer vergleichbaren Problemlage:
des Lernprozesses dafür, dass sich aufdrän- Die bereits erwähnten komplexen Gedächt-
gende, aufgabenirrelevante Handlungsim- nisspannenmaße zur Abschätzung der funk-
pulse unterdrückt werden (vgl. Baddeley, tionalen Gesamtkapazität des Arbeitsge-
1996). dächtnisses weisen nämlich nur geringe Zu-
Die funktionelle Spezifizierung eines sammenhänge zu den Leistungen bei ver-
übergeordneten Kontrollsystems des Ar- schiedenen Aufgaben zur Erfassung der
beitsgedächtnisses gehört zu den nicht Aufmerksamkeitsfunktionen auf (z. B. Miya-
abschließend bearbeiteten theoretischen ke, Friedman, Emerson, Witzki, Howerter &
und empirischen Herausforderungen der Wager, 2000), wohl aber zu den Leistungen
Arbeitsgedächtnisforschung. Einem Vor- in herkömmlichen Tests der allgemeinen
schlag von Baddeley (1996) zufolge sollten Intelligenz (Oberauer, Süß, Wilhelm & Witt-
wenigsten vier verschiedene zentral-exeku- mann, 2003).
tive Funktionen voneinander abgegrenzt Miyake et al. (2000) haben eine viel
werden. Neben der Koordinationskapazi- beachtete faktorenanalytisch abgesicherte
tät bei der gleichzeitigen Bearbeitung zwei- Klassifikation exekutiver Funktionen vorge-
er Anforderungen sind das drei weitere legt, in der die drei basalen Funktionen Hem-
Teilfunktionen: die Flexibilität beim Wech- mung (Inhibition), flexibler Aufgabenwech-
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sel von Abrufstrategien, die selektive Fo- sel (Shifting bzw. Set Shifting) und Aktuali-
kussierung relevanter bei Ausblendung ir- sierung des Arbeitsgedächtnisses (Updating)
relevanter Informationen und die selektive unterschieden werden. Möglicherweise lässt
Aktivierung von Wissensinhalten aus dem sich diese empirisch generierte Unterschei-
Langzeitgedächtnis. Diese Funktionen wei- dung zentral-exekutiver Funktionen mit den
sen eine enge Verwandtschaft mit den oben theoretisch konstruierten Vorstellungen Bad-
beschriebenen Mechanismen der selektiven deleys zukünftig gewinnbringend verbinden.
Aufmerksamkeit auf. Allerdings sind wir noch weit davon ent-
Die Vorstellung, eine überschaubare An- fernt, die Funktionsmechanismen der zentra-
zahl kognitiver Mechanismen zu identifizie- len Exekutiven so zu verstehen, dass sich ein
ren, um damit ein brauchbares und empirisch funktionales Modell hiervon skizzieren ließe.
abgesichertes Modell für die Funktionsweise Dennoch scheint unstrittig, dass erfolgreiches
der zentralen Exekutiven zu erhalten, hat Lernen die Folge »guter« und »intelligenter«
etwas Faszinierendes. Die bisherigen For- Informationsverarbeitung ist und dass der
schungsbemühungen hierzu sind jedoch eher Nutzung der exekutiven Funktionen zur

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Teil I Lernen

Überwachung und Kontrolle der Informa- wir im Zusammenhang mit den in Kapitel 2.3
tionsverarbeitung hierbei entscheidende Be- vorgestellten metakognitiven Regulationsme-
deutung zukommt. Diesem Gedanken werden chanismen des Lernens erneut begegnen.

2.2 Vorwissen

Die Vorstellung vom Lernen als Wissens- Recht eines der zentralen Anliegen schuli-
erwerb bzw. als Konstruktion von Wissen ist schen Unterrichtens. Erfolgreiches Lernen ist
zentral für die modernen Lerntheorien. In der Aufbau oder Erwerb einer inhaltlichen
Kapitel 1.3 wurde dargelegt, wie Wissen Expertise im Hinblick auf einen Lerngegen-
erworben und wie es repräsentiert, also im stand (Gruber, 2010). In diesem Abschnitt
Langzeitgedächtnis dauerhaft aufbewahrt wird die besondere Rolle des Vorwissens für
wird, was den Erwerb von Wissen erleichtert erfolgreiches Lernen in vier Schritten erläu-
und was den Zugriff auf erworbenes Wissen tert. Zunächst wird anhand der Ergebnisse
beeinträchtigen, aber auch befördern kann. der sogenannten Expertiseforschung und am
Wissen ist das Ziel von Lernen. Das Wissen, Beispiel der Frage, ob denn Vorwissen bei
über das wir bereits verfügen, ist aber nicht hoher Intelligenz nicht eigentlich entbehrlich
lediglich zum Repräsentationsinhalt unseres sei, illustriert, dass Vorwissen von zentraler
Langzeitgedächtnisses geworden – es ist zu- Bedeutung für erfolgreiches Lernen ist. An-
gleich eine der wesentlichen individuellen schließend werden Antworten auf die wei-
Voraussetzungen bzw. Bedingungen für wei- terführenden Fragen gegeben, wann Vorwis-
teres Lernen. Was Sie schon heute über sen das Lernen besonders begünstigt und wie
Lernen und Gedächtnis wissen, beeinflusst genau es das Lernen beeinflusst.
in entscheidender Weise die Qualität und
Schnelligkeit Ihrer Informationsaufnahme
und -verarbeitung beim Lesen dieser Zeilen. Expertiseforschung
Bereits verfügbares Wissen bezeichnen wir
als Vorwissen. In der Regel sind wir beim Eine verbreitete Methode zur Analyse von
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Lernen umso erfolgreicher, je mehr relevan- Vorwissenseffekten beim Lernen und Behal-
tes, d. h. inhaltsbezogenes Vorwissen zur ten neuer Informationen ist der Vergleich von
Verfügung steht. Experten und Novizen in einer definierten
Das Ausmaß und die Qualität inhaltsbe- Wissensdomäne (gemeint sind natürlich
zogenen Vorwissens sind für einen Großteil »Wissensnovizen« in Bezug auf einen spezi-
interindividueller Unterschiede des sichtba- fischen Inhaltsbereich und nicht Mönche
ren Lernerfolgs verantwortlich. Für Schulpä- oder Nonnen in der klösterlichen Probezeit).
dagogen ist dies eine Binsenweisheit, denn Experten unterscheiden sich von Novizen in
schulisches Lernen geht mit fortschreitender der Regel darin, dass sie auf dem Gebiet ihrer
Schulzeit immer stärker mit der Anforderung Expertise über ein umfangreiches und wohl-
einher, neue Informationen mit bereits Be- geordnetes Wissen sowie über reichhaltige
kanntem zu verknüpfen. Da dies umso besser Erfahrungen verfügen.
gelingt, je mehr Vorwissen bereits zu Beginn Zu den ältesten Belegen für Informations-
eines Lernprozesses vorhanden ist, ist der verarbeitungsvorteile von Experten gehören
systematische Aufbau von Vorwissen zu Untersuchungen mit Schachspielern (Dja-

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kow, Petrowski & Rudik, 1927; vgl. auch de


Die größten Unterschiede zwischen den
Groot, 1965; Gruber, 1994). Die Überlegen-
Experten und den Novizen gab es bei der
heit von Schachmeistern gegenüber weniger
Rekonstruktion der sinnvollen Schach-
geübten Schachspielern und Anfängern bei
stellung, hier kam der Vorwissensvorteil
der Rekonstruktion von nur kurz dargebo-
der Experten besonders zum Tragen. Das
tenen Schachkonstellationen aus dem Ge-
Alter spielte keine Rolle, d. h. Kinder- und
dächtnis zeigt eindrucksvoll den Einfluss des
Erwachsenenexperten zeigten das gleiche
Vorwissens auf das Behalten. Chase und
Leistungsniveau und auch Kindernovizen
Simon (1973) konnten zeigen, dass die Leis-
und erwachsene Novizen unterschieden
tungsunterschiede zwischen Schachexperten
sich nicht wesentlich in ihrer Leistung.
und -novizen von der Bedeutungshaltigkeit
Der Expertisevorteil verringerte sich bei
der Schachkonstellation abhängig sind.
der Zufallsstellung und verschwand völ-
Schachmeister, erfahrene Schachspieler und
lig bei der Klötzchenaufgabe.
Spielanfänger (Novizen) unterscheiden sich
in ihren Leistungen deutlich, wenn sie sinn-
volle, d. h. tatsächlich mögliche Schachkon- Dass Experten im Bereich ihrer Domäne
stellationen nach nur fünf Sekunden Darbie- nicht nur über mehr Wissen verfügen als
tungszeit rekonstruieren sollen. Dagegen fin- andere, sondern auch über ein qualitativ
den sich nur geringe oder gar keine Leis- höherwertiges Wissen, scheint unumstritten.
tungsunterschiede für Konstellationen, in Aber wie lässt sich die mit der Expertise
denen zwar die gleichen Positionen des Feldes einhergehende Qualität von Vorwissen näher
belegt sind, jedoch mit Figuren, die den beschreiben? De Jong und Ferguson-Hessler
Feldern per Zufall zugeordnet werden. (1996) haben ein hierfür hilfreiches Klassifi-
kationsmodell vorgelegt. Darin unterschei-
den sie vier Wissensarten, nämlich Wissen
Studie: Expertisevorteil und über Situationen (situationales Wissen), über
Lebensalter Fakten (konzeptuelles Wissen), über Hand-
lungen (prozedurales Wissen) und über die
Schneider, Gruber, Gold und Opwis Möglichkeiten, eigene Handlungen kontrol-
(1993) untersuchten Kinder und Erwach- lieren zu können (strategisches Wissen).
sene, die jeweils entweder Schachexper- Diese vier Wissensarten lassen sich jeweils
ten oder Schachnovizen waren, und lie- durch fünf verschiedene Wissensqualitäten
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ßen sie drei Aufgaben bearbeiten. Die charakterisieren: Das erste Qualitätsmerk-
beiden ersten Aufgaben bestanden darin, mal ist der hierarchische Status von Wissen,
eine nur kurz dargebotene Schachstellung der von »sehr oberflächlich« bis »sehr tief«
aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. variieren kann; die damit eng verwandte
Es handelte sich dabei einmal um eine Eingebundenheit von Wissen charakterisiert
sinnvolle (tatsächlich mögliche) und ein- dessen innere Struktur und hat die Endpole
mal um eine zufällige (den Schachspielre- »isoliert« und »vernetzt«. Drittes Qualitäts-
geln widersprechende) Stellung. Bei der merkmal ist der Automatisierungsgrad von
dritten Aufgabe war eine »Klötzchen- Wissen, der sich darauf bezieht, wie viel
landschaft« auf einem Brett mit unregel- bewusste Anstrengung (und damit Arbeits-
mäßiger Spielfeldstruktur nachzustellen. gedächtniskapazität) erforderlich ist, um das
Mit dieser Aufgabe sollte geprüft werden, Wissen zu aktualisieren und zu nutzen. Beim
ob die Schachexperten generell über ein vierten Qualitätsmerkmal, der Modalität,
besseres visuell-räumliches Arbeitsge- geht es um das Repräsentationsformat von
dächtnis verfügen. Wissen (vor allem um das Gegensatzpaar

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Teil I Lernen

»bildhaft-ganzheitlich« vs. »propositional- Kann Intelligenz Vorwissen


analytisch«), und mit dem Allgemeinheits- ersetzen?
grad von Wissen ist gemeint, ob Wissen eher
»genereller« Natur ist oder eher »bereichs-
spezifisch« begrenzt. Vor dem Siegeszug der Informationsver-
Das skizzierte Klassifikationsmodell der arbeitungsmodelle zur Beschreibung und
Qualitätsmerkmale von (Vor-)Wissen erhebt Erklärung erfolgreichen Lernens galt die
nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. allgemeine Intelligenz als bedeutsamste
Dennoch bietet es eine nützliche Orientie- individuelle kognitive Voraussetzung des
rung, wenn es darum geht, die Komplexität Lernerfolgs und sie wird daher in vielen
und die Besonderheit der Vorwissensqualität einschlägigen Lehrbüchern der Pädagogi-
von Experten zu umschreiben. schen Psychologie noch immer als solche
Expertise-Effekte auf das Verstehen und beschrieben (z. B. Gage & Berliner, 1996;
Behalten neuer Informationen sind mittler- Ormrod, 2011; Slavin, 2006, 2011b; Stern-
weile in einer Vielzahl von Domänen (z. B. berg & Williams, 2002; Woolfolk, 2008).
Physik, Radiologie, Tennis, Fußball, Steno- In vielen Wissensdomänen findet man nun
graphie, Mathematik, Geschichte, Musik) tatsächlich einen überzufälligen, wenn auch
nachgewiesen worden (zusammenfassend: geringen statistischen Zusammenhang zwi-
Reimann & Rapp, 2008). In einer Bilanzie- schen dem Vorwissen und der allgemeinen
rung der Befunde dieser Forschung identifi- Intelligenz: Inhaltliche Experten in so unter-
zierten Bransford et al. (2000) die folgenden schiedlichen Bereichen wie z. B. in der Phy-
sechs Prinzipien der bereichsspezifischen sik, der Geschichte oder der Musik weisen
Wissensqualität von Experten und des damit im Vergleich zu einer Zufallsauswahl von
verbundenen besonderen Lernpotenzials: Novizen zumeist auch bessere Intelligenz-
testwerte auf (vgl. Sternberg & Wagner,
l Experten bemerken Merkmale und Be- 1985). Dies legt die Vermutung nahe, dass
deutungsmuster des Lernmaterials, die die berichteten Vorteile von Experten weni-
von Novizen gar nicht entdeckt werden. ger die Folge ihres höheren Vorwissens als
l Experten haben ein umfangreiches domä- vielmehr die Konsequenz ihrer ohnehin
nenspezifisches Wissen erworben und auf höheren intellektuellen Fähigkeiten sein
einem sehr hohen Verstehensniveau sinn- mögen. Möglicherweise werden nämlich
voll organisiert. nur die intelligenteren Personen zu Exper-
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l Das Vorwissen von Experten lässt sich ten in irgendeiner Domäne.


nicht auf isolierte Fakten, Konzepte oder Um die Frage zu klären, ob die vielfältigen
Handlungsmuster reduzieren, es spiegelt empirischen Belege des Lern- und Leistungs-
vielmehr zugleich eine Vielzahl von An- vorteils bei ausgeprägtem bereichsspezifi-
wendungskontexten wider. schem Vorwissen in Wirklichkeit lediglich
l Experten können wichtige Aspekte ihres die Wirksamkeit von Intelligenzunterschie-
Wissens ohne große Anstrengung abrufen den widerspiegeln, sind unterschiedliche
und scheinbar automatisch nutzen. empirische Analysen denkbar. Eine besteht
l Experten verfügen über variable und fle- darin, eine Wissensdomäne zu untersuchen,
xible Reaktionsmuster im Umgang mit bei der das Vorwissen nicht von vornherein
neuen Situationen. mit der allgemeinen Intelligenz kovariiert. In
l Wie gut Experten ihre besonderen Kennt- einer solchen Domäne könnte man jeweils
nisse auch an andere Personen weiterge- Experten und Novizen mit einer hohen wie
ben können, hat mit ihrem Expertisesta- mit einer niedrigen Intelligenz finden und
tus allerdings nichts zu tun. anhand ihrer jeweiligen Lernerfolge ließe sich

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Geschichte in weiten Teilen gut zu verste-


Definition: Intelligenz
hen, sie enthielt jedoch einige Auslassun-
Unter Intelligenz versteht man die allge- gen, Widersprüche und Ungereimtheiten,
meine Fähigkeit zum Lernen, Denken die den fußballkundigen Experten auffal-
oder Problemlösen, die sich insbesondere len müssten. Bei der Behaltensprüfung
in jenen Situationen zeigt, die für eine zeigte sich der erwartete Alterseffekt: Mit
Person neu bzw. unvertraut sind. zunehmendem Alter konnten die Kinder
Gemessen wird die allgemeine Intelli- die Geschichte vollständiger reproduzie-
genz über standardisierte und normierte ren, mehr angemessene Schlussfolgerun-
Testverfahren, in denen bei vorgegebe- gen aus den Textinhalten ziehen und mehr
ner Zeitbegrenzung Aufgaben zu be- von den »eingebauten« Widersprüchen
arbeiten sind, die von entsprechenden und Ungereimtheiten entdecken. Unab-
Experten, den Testentwicklern, als be- hängig vom Lebensalter zeigten aber die
sonders kritisch für die Bewertung vor- »Fußballexperten« stets bessere Leistun-
handener Intelligenz betrachtet werden. gen als für jene Kinder, die über wenig oder
Die individuell gemessene Intelligenz gar kein Fußballwissen verfügten (c Abb.
wird im Sinne einer Relativierung auf 2.6).
eine Vergleichsgruppe als Intelligenz- Die Tatsache, dass dem bereichspezifi-
quotient (IQ) angegeben. Ein IQ von schen Vorwissen der Kinder ein deutlich
100 entspricht in einem normierten stärkerer Einfluss auf die Behaltensleistung
Intelligenztest der erwarteten Durch- zukam als dem Alter (Klassenstufe) und vor
schnittsleistung der Gleichaltrigen in allem der Intelligenz, weist auf die große
dem jeweiligen Testverfahren. Bedeutung bereichsspezifischen Vorwissens
für erfolgreiches Lernen hin. Auch bei hoher
Intelligenz ist gutes Vorwissen demnach nicht
die Bedeutsamkeit des Vorwissens im Ver- entbehrlich, wenn es darum geht, möglichst
gleich zum Einfluss der Intelligenz beurteilen. gute Lernleistungen in einem Inhaltsbereich
Schneider, Körkel und Weinert (1989, zu erzielen. Die Studie von Schneider et al.
1990) gingen diesen Weg. Dazu wählten sie (1989, 1990) legt sogar den umgekehrten
die Inhaltsdomäne »Wissen über Fußball« Schluss nahe, dass nämlich ein reichhaltiges
aus, bei der das Ausmaß des Vorwissens Vorwissen bisweilen einen Mangel an allge-
nicht in einem statistisch bedeutsamen meiner Intelligenz bis zu einem gewissen
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Zusammenhang (auch nicht negativ!) zur Grade kompensieren kann (vgl. auch Erics-
allgemeinen Intelligenz steht. In ihrer um- son, Krampe & Tesch-Römer, 1993). Eine
fangreichen Untersuchung erfassten die solche kompensatorische Wirkung hat na-
Autoren zunächst das spezifische Fußball- türlich ihre Grenzen. Die bereits erwähnte
wissen und die allgemeine Intelligenz von Tatsache, dass in vielen Wissensdomänen
mehr als 500 Schülerinnen und Schülern tatsächlich korrelative Zusammenhänge
der 3., 5. und 7. Klassenstufe. Den Kindern zwischen dem inhaltlichen Vorwissen und
wurde dann eine Geschichte vorgelesen, der allgemeinen Intelligenz gefunden werden,
die vom Verlauf eines Fußballspiels han- zeigt nämlich an, dass der Erwerb von Vor-
delte und deren Inhalt sie später wiederge- wissen in der Regel den intelligenteren Per-
ben sollten. Selbst für die jüngeren Kinder sonen leichter fällt (vgl. auch Schneider,
und für die Fußballunkundigen war die 1997).

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Teil I Lernen

22
20
18
Anzahl reproduzierter Einheiten

16
14 VW+ / IQ+
_
12 VW+ / IQ
_
10 VW / IQ+
_ _
8 VW / IQ
6
4
2
0
3. Klasse 5. Klasse 7. Klasse

Abb. 2.6: Leistung beim Nacherzählen einer Fußballgeschichte in Abhängigkeit von Vorwissen (hoch:
VWþ; niedrig: VW–), Intelligenz (hoch: IQþ; niedrig: IQ–) und Klassenstufe (Daten aus
Schneider, Körkel & Weinert, 1989, Exp. 2)

Wann begünstigt Vorwissen das und alle Bundesstaaten zum Einprägen prä-
Lernen? sentiert. Einen Tag später sollten die Ver-
suchsteilnehmer alle Präsidenten und Bun-
Relevantes Vorwissen kann nur dann die desstaaten Amerikas aufzählen, an die sie
Lernleistung verbessern, wenn es tatsächlich sich erinnern konnten. Dabei zeigte sich, dass
aktiviert wird (was durchaus nicht selbstver- stets mehr Exemplare aus der jeweils zu
ständlich ist) und wenn es mit der zur Beginn des Lernexperiments aktivierten
Verarbeitung anstehenden Information kom- Kategorie wiedergegeben werden konnten
patibel ist. Dies ließ sich in einer Vielzahl und zwar unabhängig davon, ob die nun
empirischer Untersuchungen finden. So erinnerten Namen während dieser ersten
konnte etwa Peeck (1982) die behaltensför- Phase bereits aufgezählt worden waren oder
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derliche Bedeutung des Vorwissens in seiner nicht.


aktuell aktivierten Form experimentell sehr In einer anderen Untersuchung ließen
anschaulich aufzeigen. Zunächst »mobili- Pressley und Brewster (1990) Schülerinnen
sierte« er bei seinen Versuchsteilnehmern und Schüler der 5. und 6. Klassenstufe Bilder
bestimmte Bereiche ihres Vorwissens, und von Sehenswürdigkeiten bestimmter Land-
zwar durch die Aufforderung, alle ihnen striche als Hintergrundwissen so lange ler-
einfallenden Exemplare einer vorgegebenen nen, bis sie diese Gegenden den Bildern leicht
Kategorie rasch aufzuzählen. Jeweils ein zuordnen konnten (also z. B. die Paulskirche
Drittel der Teilnehmer sollte Namen ameri- und Frankfurt oder der Rhein und die Lore-
kanischer Präsidenten benennen, die ameri- ley). Anschließend sollte eine Reihe von
kanischen Bundesstaaten aufzählen oder alle Detailinformationen über diese Landstriche
Tierarten, die ihnen einfielen, aus dem Ge- gelernt werden. Im Vergleich mit einer Kon-
dächtnis aufsagen. In einer anschließenden trollgruppe, die solches Hintergrundwissen
Darbietungs- und Lernphase wurden die über die Sehenswürdigkeiten der Landstriche
Namen aller amerikanischen Präsidenten zuvor nicht erworben hatte, zeigte sich beim

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Lernen der Detailinformationen keine Über- basierten multimedialen Lernszenarios zei-


legenheit der Vorwissensgruppe. Schüler gen können, dass eine Steigerung von Ver-
allerdings, die aufgefordert wurden, sich die stehensleistungen durch das Bereitstellen von
neuen Fakten mithilfe visueller Vorstellungen Lernhilfen (z. B. graphische Veranschauli-
einzuprägen, profitierten von dem früher chungen beschriebener Zusammenhänge)
erworbenen Hintergrundwissen. Dieses nur bei Personen mit einer mittleren Ausprä-
Experiment weist darauf hin, dass Vorwissen gung an bereichsspezifischem Vorwissen
genutzt werden kann, um die Behaltensleis- möglich war. Personen mit geringen oder
tung zu erhöhen, dass es jedoch nicht unbe- besonders hohen Vorkenntnissen profitierten
dingt in jedem Fall auch spontan genutzt dagegen nicht von den bereitgestellten Ver-
wird. stehenshilfen. Die Beziehung zwischen dem
Weiteren Aufschluss über die Auswirkun- Ausmaß des Vorwissens und der Wirksam-
gen von Vorwissen auf die Lernleistungen keit von Lernhilfen scheint demnach im
gibt eine Studie von Alvermann, Smith und Sinne einer umgekehrten U-Funktion be-
Readence (1985), in der Sechstklässler einen schreibbar (c Abb. 2.7). Das aber ist ein
kurz zuvor gelesenen Text nacherzählen soll- pädagogisches Dilemma: Mit zunehmendem
ten. Ob die Schüler vor dem Lesen des Textes Vorwissen wächst zwar die Fähigkeit, ange-
bereits einen Aufsatz darüber geschrieben botene Lernhilfen angemessen nutzen zu
hatten, was sie über das Thema schon wuss- können, zugleich nimmt aber die Notwen-
ten, hatte Einfluss auf die spätere Behaltens- digkeit ab, solche Hilfen überhaupt in An-
leistung. Die Aktualisierung des Vorwissens spruch zu nehmen. Offensichtlich resultiert
wirkte sich in diesem Fall allerdings nachtei- aus diesem Sachverhalt für das individuelle
lig aus, da die naiven Annahmen und Vor- Lernverhalten eine Art »multiplikativer Zu-
kenntnisse der Kinder über das Thema des sammenhang«, der zu dem oben beschriebe-
Textes (Sonnenlicht und Temperaturen) mit nen Umstand führt, dass die Lernenden mit
den präsentierten Textinhalten, wie sich her- einem mittleren Vorkenntnisniveau ver-
ausstellen sollte, in Konflikt standen. Ob es gleichsweise am meisten von den instruktio-
zu einem positiven Effekt des Vorwissens auf nal angebotenen Lern- und Verstehenshilfen
die Verstehens- und Behaltensleistung profitieren.
kommt, ist demnach nicht nur von der
inhaltlichen Bezogenheit und von der Akti-
vierung des relevanten Vorwissens abhängig, Wie beeinflusst Vorwissen das
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sondern auch von der Kompatibilität dieses Lernen?


Vorwissens mit den neu zu lernenden Infor-
mationen. Die Frage, welche Wirkmechanismen dazu
Insbesondere wenn man sich in die Rolle führen, dass Lernende vom inhaltlichen Vor-
des Lehrenden versetzt, der sich bemüht, wissen profitieren, ist nicht leicht zu beant-
durch geeignete Hilfestellungen die ihm an- worten. Die meisten Erklärungen haben ihre
vertrauten Lernenden zum Lernerfolg zu theoretischen Wurzeln in der erstmals von
führen, sollte man sich vergegenwärtigen, Bartlett (1932, S. 204 f) im Rahmen seiner
dass keinesfalls immer ein linearer Zusam- Schematheorie formulierten Konstruktions-
menhang zwischen dem Ausmaß des Vor- hypothese. Kerngedanke dieser Hypothese
wissens und dem späteren Lernerfolg be- ist, dass das menschliche Gedächtnis bei der
steht. So hat z. B. Seufert (2003; Seufert & Konstruktion neuen Wissens die neuerlich
Brünken, 2004) im Rahmen eines computer- zum Lernen vorgelegte Information nicht

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Teil I Lernen

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Wirksamkeit von Lernhilfen

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Abb. 2.7:
Hypothetischer Zusammen-
hang zwischen dem Ausmaß
bereichsspezifischen Vorwis-
gering mittel hoch sens und der Wirksamkeit von
bereichsspezifisches Vorwissen Lernhilfen

einfach »fotografisch« abbildet, sondern auf erwecken, Vorwissen behindere Lernen eher,
der Basis des vorhandenen Vorwissens inter- als es zu befördern. In der Tat kann das auch
pretiert und dabei durchaus in sehr subjek- passieren. Lernen kann tatsächlich durch
tiver Weise verändert. Bartlett demonstrierte verfügbares Vorwissen beeinträchtigt wer-
die vorwissensbasierten Rekonstruktionen, den. Je nach Art der Lernanforderung und
indem er bestimmte Geschichten vorlegte des Gegenstandsbereichs, über den gelernt
und nacherzählen ließ. Die Inhalte und der werden soll, können die vorwissensbasierten
sprachliche Stil der von ihm verwendeten Nivellierungs-, Akzentuierungs- und Assimi-
Geschichten entstammten einer für seine lationsprozesse unter Umständen Fehl- bzw.
Untersuchungsteilnehmer sehr fremden Kul- Misskonzepte in der Vorstellung der Lernen-
tur. In den Nacherzählungen fand Bartlett den zur Folge haben. So berichten z. B. Spiro,
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eine Reihe von Verzerrungen, die er auf drei Feltovich, Coulson und Anderson (1989),
Arten vorwissensbasierter rekonstruktiver dass bei der Ausbildung medizinischen Fach-
Prozesse zurückführte: personals bisweilen Fehlvorstellungen über
die Druckeigenschaften des cardio-vaskulä-
1. ein Vereinfachen von Sachverhalten (Ni- ren Systems entstehen, wenn die Lernenden
vellierung) durch vorherige Ausbildungsphasen Exper-
2. ein Hervorheben und Überbetonen be- tise über die Funktionsweise von Wasserlei-
stimmter Details (Akzentuierung) tungen und deren Druckeigenschaften er-
3. ein Verändern von Details, was zu einer worben haben. Sie scheinen dann nämlich ihr
besseren Übereinstimmung des Gehörten Vorwissen aus der anderen Domäne als
oder Gelesenen mit dem eigenen Vorwis- (unpassende) Analogie für das Verstehen
sen führt (Assimilation) der noch unbekannten Domäne zu nutzen.
Grundsätzlich ist die Nutzung von Ana-
Die von Bartlett (1932) beschriebenen kon- logien beim Lernen komplexer Sachverhalte
struktiven Prozesse könnten den Eindruck jedoch von Vorteil. Diskrepanzen zwischen

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vertrauten und neu zu lernenden Konzepten eines neuen Sachverhaltes erst ermöglicht
können nämlich auch in lernförderlicher oder zumindest erleichtert. Analoges Verste-
Weise erkannt und für ein erfolgreiches Ler- hen ist übrigens auch dann möglich, wenn
nen genutzt werden. Analoges Zuordnen sich die Eigenschaften und Beziehungen eines
wird bisweilen als ein kognitiver Grundpro- vertrauten Sachverhaltes nur teilweise auf
zess aufgefasst, der notwendig ist, um neue den neuen Sachverhalt übertragen lassen. In
Sachverhalte überhaupt zu verstehen (vgl. Kapitel 3.3 werden wir uns ausführlicher mit
Hasselhorn, 2001). Man spricht daher auch dem wichtigen Thema des Lerntransfers aus-
von analogem Verstehen, wenn ein bekann- einandersetzen.
ter Sachverhalt (Vorwissen) das Verstehen

Beispiel: Lernen durch analoges Verstehen

Ein Schüler beschäftigt sich mit dem »Stromfluss« in einem elektrischen Stromkreis. Um
sich über die Eigenschaften des Stromflusses klar zu werden, nimmt er eine Analogiebildung
vor, indem er die ihm vertraute Vorstellung des Wasserflusses in einem Röhrensystem zu
Hilfe nimmt. Er entdeckt gewisse Gemeinsamkeiten bzw. Korrespondenzbeziehungen. So
erhöht sich z. B. der Wasserdruck, wenn mehr Wasser ins Röhrensystem gepumpt wird, was
seine Entsprechung bei der Zunahme der Spannung bei erhöhter Elektrizitätsmenge im
Stromkreis findet. Eine andere Gemeinsamkeit ist die Funktionsweise des Ventils im
Röhrensystem, das seine Entsprechung im Schalter des Stromkreises hat.
Die Analogie zwischen Röhrensystem und Stromkreis stößt allerdings auf Grenzen. So
bleibt z. B. die magnetische Wirkung des elektrischen Stroms ohne Entsprechung beim
Wasserfluss. Dennoch ist der Schüler durch die Nutzung der Wasser-Analogie zu einem
tieferen Verständnis des neuen Inhaltsbereiches gelangt. Er hat durch analoges Verstehen
Neues gelernt (vgl. Slotta, Chi & Joram, 1995).

Die Frage, wie das Vorwissen das Lernen ten und eine leichtere Verknüpfung dieser
beeinflusst, lässt sich mit Blick auf das INVO- Konzepte untereinander.
Modell erfolgreichen Lernens zusammenfas- 3. Es steigert das Interesse am Lerngegen-
send auch so beantworten: Vorwissen über stand und erhöht somit die Bereitschaft,
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die neu zu lernenden Inhalte fördert die weitere Ressourcen für den Lernprozess
Qualität der Informationsverarbeitung über zu mobilisieren.
wenigstens die folgenden drei Prozesse:
Hinzu kommt ein weiterer Vorteil, der eng
1. Es erleichtert die Entscheidung über die mit der im nächsten Abschnitt behandelten,
Relevanz von Informationen und unter- dritten individuellen Voraussetzung erfolg-
stützt damit die Prozesse der selektiven reichen Lernens zusammenhängt: Inhaltli-
Aufmerksamkeit. ches Vorwissen fördert und erleichtert näm-
2. Es entlastet das Arbeitsgedächtnis durch lich auch die Nutzung von Lernstrategien
eine schnellere Aktivierung von Konzep- und ihre metakognitive Regulation.

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Teil I Lernen

2.3 Lernstrategien und ihre metakognitive Regulation

Nicht nur die funktional verfügbare selektive eine kurze Zusammenfassung schreibt, der
Aufmerksamkeit, die Arbeitsgedächtniska- zeigt strategisches Lernverhalten. Was aber
pazität und das bereits vorhandene Vorwis- sind eigentlich Strategien?
sen sind bedeutsam für die Qualität und
Intensität, mit der Informationen im Lern- Eine Strategie besteht aus einer kognitiven
prozess verarbeitet werden. Von entschei- Operation oder einer Sequenz unabhängiger
kognitiver Operationen, die den zwangsläufig
dender Bedeutung sind auch Techniken bzw. beim Bearbeiten einer Aufgabe stattfindenden
Strategien des Lernens und der Informations- Prozessen übergeordnet sind und auf diese
verarbeitung. Schon in den 1960er Jahren zurückgreifen. Strategien dienen kognitiven
konnte man die Bedeutung strategischer Zielen (z. B. dem Verstehen oder Behalten)
und sind potentiell bewusste und kontrollier-
Aktivitäten für die Lernleistung bei einfachen bare Aktivitäten. (Pressley, Forrest-Pressley,
Gedächtnisanforderungen nachweisen. Bei- Elliott-Faust & Miller, 1985, S. 4)
spielsweise las man Untersuchungsteilneh-
mern Wortlisten der folgenden Art vor, mit Die Definition von Pressley et al. (1985) trifft
der Aufforderung, sich die Wörter gut zu schon die beiden Hauptmerkmale, die in
merken, um sie später in beliebiger Reihen- späteren Präzisierungen des Strategiebegriffs
folge reproduzieren zu können: Tisch – Hund als notwendige Bestandteile identifiziert wur-
– Roller – Jacke – Stuhl – Bus – Hose – Lampe den: die Zielgerichtetheit und die Tatsache,
– Vogel – Fahrrad – Socke – Schwein – Zug – dass es sich bei Strategien stets um mehr
Kommode – Pferd – Pullover. handeln muss als nur um die obligatorischen
Um eine solche Behaltensanforderung Vorgänge und Erfordernisse bei der Bearbei-
möglichst gut zu bewältigen, kann man ganz tung von Reizinformationen. Nach einer
unterschiedlich vorgehen. Erwachsene setzen Sichtung der einschlägigen Literatur konnte
in der Regel eine oder mehrere der folgenden Hasselhorn (1996) sechs weitere häufig ange-
Strategien ein: Sie memorieren die Liste, führte Merkmale von Strategien identifizie-
indem sie die gehörten Wörter möglichst ren: dass Strategien (1) absichtlich, (2) be-
mehrmals leise oder lautlos (innerlich) nach- wusst und (3) spontan eingesetzt werden,
sprechen; sie malen sich (innerlich) ein Bild dass sie vom Lernenden (4) ausgewählt und
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aus oder stellen sich eine Szene bzw. eine (5) kontrolliert werden und dass der Strate-
Szenenfolge vor, in der die in der Liste gieeinsatz (6) Anteile der begrenzten Kapa-
vorkommenden Objekte enthalten sind oder zität des Arbeitsgedächtnisses verbraucht.
sie entdecken die kategoriale Ordnungsmög- Nahezu alle diese Bestimmungsmerkmale
lichkeit der Liste – nämlich dass darin vier von Strategien sind bei der Strategienutzung
Einrichtungsgegenstände, vier Tiere, vier in Lern- oder Behaltenskontexten anzutref-
Fahrzeuge und vier Kleidungsstücke enthal- fen, sind aber nicht zwingend notwendig.
ten waren – und organisieren die Begriffe Gegen die Merkmale der Absichtlichkeit und
entsprechend beim Einprägen und Wieder- der Bewusstheit lässt sich einwenden, dass
geben der Liste. Lernende oftmals unbewusst und nahezu
Wer die kategoriale Ordnungssystematik intuitiv Strategien hervorbringen, die sich
beim Lernen einer Liste von Wörtern nutzt, dann als ausgesprochen effektiv erweisen.
wer beim Durcharbeiten eines Lehrbuches Führt beispielsweise ein Lehrer im Mathe-
die besonders wichtig erscheinenden Begriffe matikunterricht die Technik des Zerlegens
unterstreicht und für jedes gelesene Kapitel bei der Addition zweistelliger Zahlen ein

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(41þ16 ¼ 41þ10þ6), so wird er gelegentlich


nigstens eine zusätzliche Eigenschaft auf,
feststellen, dass einige Schüler diese Technik
indem sie entweder intentional, bewusst,
bereits beherrschen und anwenden, ohne sich
spontan, selektiv, kontrolliert und/oder
dessen bewusst zu sein und ohne dass sie sich
kapazitätsbelastend sind bzw. eingesetzt
darüber jemals Gedanken gemacht hätten.
werden.
Wollte man hingegen nur spontanes stra-
tegisches Verhalten als Strategie klassifizie-
ren, so handelte man sich das Folgeproblem Schon die sehr allgemeine definitorische Um-
ein, dass eine Lerntechnik, die erst aufgrund schreibung von Strategien lässt erahnen, dass
einer expliziten Aufforderung von den Schü- die Qualität verfügbarer Strategien zu den
lern gezeigt wird, nicht mehr als Strategie entscheidenden individuellen Bedingungen
gelten könnte. Das Merkmal der Selektivität erfolgreichen Lernens gehört. Im GIV-Mo-
impliziert die Auswahl zwischen alternativen dell von Pressley et al. (1989) steht das
Verhaltensoptionen. Da es aber durchaus strategische Lernverhalten im Zentrum. Um
auch Lernanforderungen gibt, bei denen die Vielzahl der bereits untersuchten Lern-
solche Optionen entweder nicht vorhanden strategien zu ordnen, ist es hilfreich, sie
oder nicht sinnvoll sind und in denen eine weiter zu klassifizieren (was im Übrigen
angemessene Strategieanwendung nur darin zugleich eine effiziente Verstehensstrategie
besteht, die obligatorischen (und automa- darstellt, s. u.).
tisch ablaufenden) Verarbeitungsprozesse Zu den prominentesten Taxonomien von
einfach zu unterbinden, ist eine Auswahl Lernstrategien gehört die Unterscheidung
zwischen alternativen Vorgehensweisen gele- zwischen kognitiven Strategien, metako-
gentlich gar nicht notwendig. gnitiven Strategien und Stützstrategien des
Ähnliche Argumente sprechen dafür, externen Ressourcenmanagements (Danse-
dass auch die Merkmale der Kontrolle und reau, 1985; Weinstein & Mayer, 1986). Als
der Kapazitätsbelastung nicht notwendi- externes Ressourcenmanagement bezeich-
gerweise auf strategisches Verhalten zutref- net man alle Bemühungen zur Optimierung
fen müssen. So kann z. B. bei sehr vertrau- der Lernumwelt, z. B. durch eine angemes-
ten und oft geübten Strategien auf die sene Gestaltung des Arbeits- und Lernplat-
Kontrolle verzichtet werden. Und das zes, durch die Nutzung institutioneller Ge-
Merkmal der Kapazitätsbelastung scheint gebenheiten wie z. B. Sprachlabore, Büche-
eher auf das Anfangsstadium einer neu reien oder Computerräume sowie durch die
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erworbenen Strategie zuzutreffen. Je routi- Bildung von Arbeits- bzw. Lerngruppen.


nierter eine Strategie eingesetzt werden Auf diese, das Lernarrangement betreffen-
kann, desto weniger Kapazität des Arbeits- den Stützstrategien (man nennt sie auch
gedächtnisses wird durch ihre Ausführung sekundäre »Studying Strategies« im Unter-
verbraucht werden. schied zu den primären »Learning Strate-
gies« der Informationsverarbeitung) gehen
wir im Folgenden nicht weiter ein, da wir in
Definition: Lernstrategien
diesem Kapitel die internen Bedingungen
erfolgreichen Lernens fokussieren. Um hier-
Unter Lernstrategien versteht man Pro- zu ein möglichst differenziertes Bild zu
zesse bzw. Aktivitäten, die auf ein Lern- zeichnen, erläutern wir zunächst, was unter
oder Behaltensziel ausgerichtet sind und
kognitiven Strategien und was unter meta-
die über die obligatorischen Vorgänge bei kognitiven Strategien zu verstehen ist. Die
der Bearbeitung einer Lernanforderung effektive Nutzung kognitiver und metako-
hinausgehen. Lernstrategien weisen we-
gnitiver Strategien setzt weitere metakogni-

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Teil I Lernen

tive Kompetenzen voraus, die wir in einem Auswendiglernen von Fakten als hilfreich
dritten Schritt vorstellen. Vor diesem Hin- erweist. Durch das stetige Wiederholen er-
tergrund gehen wir anschließend der Frage folgt eine leichtere Informationsübertragung
nach, wie Strategien erworben werden und in den Langzeitspeicher. Die neuen Infor-
ob es dispositionelle strategische Präferen- mationen werden so zum Bestandteil des
zen beim Lernen (Lerntypen bzw. Lernstile) (Vor-)Wissens, auf das wir später zurück-
gibt. greifen können, ohne dafür Arbeitsgedächt-
niskapazitäten erneut im nennenswerten
Umfang zu benötigen. Das Erlernen des
Kognitive Strategien kleinen Einmaleins ist hierfür ein gutes Bei-
spiel.
Kognitive Strategien werden üblicherweise Ihr besonderes Anwendungsgebiet finden
gemäß ihrer besonderen Funktionen im Lern- die Mnemotechniken dort, wo es um das
prozess unterteilt. Die Bezeichnungen fallen Einprägen isolierter Fakten geht. In der
dabei eher phänomenologisch aus, indem angewandten Gedächtnispsychologie gibt es
zwischen Memorier- oder Wiederholungs- eine lange Tradition der Erforschung effek-
sowie Organisations- und Elaborationsstra- tiver Behaltensstrategien bzw. Mnemotech-
tegien unterschieden wird (z. B. Friedrich & niken für das Einprägen sinnarmer Informa-
Mandl, 1992; Wild, 2000). In Anlehnung an tionen (vgl. Wippich, 1984). Besonders effek-
Mayer (2003a) bevorzugen wir eine funktio- tive Behaltensstrategien nutzen eine Kombi-
nale Beschreibung der unterschiedlichen nation der Funktionsmechanismen der
Kategorien kognitiver Strategien und schla- unterschiedlichen Hilfssysteme des Arbeits-
gen vor, von mnemonischen Strategien, gedächtnisses, indem sie klanglich-sprachli-
strukturierenden Strategien und von genera- che und bildliche Kodierungsformen mitein-
tiven Strategien zu sprechen. ander verknüpfen. Ein prominentes Beispiel
Mnemonische Strategien oder Mnemo- einer insbesondere für das Erlernen fremd-
techniken sind Techniken, die dabei helfen, sprachiger Vokabeln langfristig auch effekti-
neue Informationen im Arbeitsgedächtnis zu ven Behaltensstrategie ist die Schlüsselwort-
halten, um eine Verknüpfung mit dem be- methode, die von Atkinson und Raugh
reits vorhandenen (aber nicht spontan akti- (1975; Raugh & Atkinson, 1975) entwickelt
vierten) Vorwissen zu unterstützen. Ein typi- wurde. Wichtig zu wissen: Mit Hilfe der
sches Beispiel für eine einfache mnemoni- Schlüsselwortmethode sollte man sich nur
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sche Strategie ist das pure Wiederholen von die besonders »hartnäckigen« Vokabeln ein-
Informationen, was sich insbesondere beim prägen.

Beispiel: Die Schlüsselwortmethode

Bei der Schlüsselwortmethode geht es darum, das Erlernen der Verknüpfung zwischen einer
Fremdsprachenvokabel und ihrer muttersprachlichen Bedeutung zu erleichtern. Sie besteht
aus zwei »Brücken«, einer akustischen und einer bildlichen.
Angenommen, es soll die englische Vokabel »Bean« (Bohne) gelernt werden. Der erste
Schritt bei der Schlüsselwortmethode besteht nun darin, ein sogenanntes Schlüsselwort zu
finden, d. h. ein Wort der Muttersprache, das eine hohe Klangähnlichkeit mit der englischen
Vokabel aufweist. Für »Bean« ließe sich z. B. das klangähnliche deutsche Wort »Biene«
hierfür auswählen. Ist ein solches Schlüsselwort als akustische Brücke zwischen englischer
Vokabel und deutscher Bedeutung gefunden, dann wird im zweiten Schritt eine bildhafte

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Vorstellung zwischen Schlüsselwort und der Wortbedeutung (der Sematik) des Fremdwor-
tes hergestellt. In unserem Falle kann man sich das Bild einer Biene ausmalen, die
vergnüglich auf einer Bohne sitzt. Das ist die bildliche Brücke.
In der Prüfsituation »Was heißt ›Bean‹?« wird über die Klangassoziation zur Biene das
Vorstellungsbild einer Biene und damit die bildliche Brücke aktualisiert und genau das,
was an dem Bild »merkwürdig« ist – also, dass die Biene auf einer Bohne sitzt – ist die
gesuchte Übersetzung. Die Behaltenserleichterung ergibt sich daraus, dass die imaginale,
die bildhafte Repräsentation der auf einer Bohne sitzenden Biene, zur verbalen hinzu-
kommt.

Die strukturierenden Strategien (Mayer, Studie: Wirksamkeit von


2003a) zielen auf die internen Verknüpfun- Strukturierungsstrategien
gen und Strukturen des Lernmaterials. Dabei
geht es darum, aus der Vielzahl von Infor- Chmielewski und Dansereau (1998) leg-
mationen die relevanten herauszusuchen und ten ihren Studierenden einen Text über
in einer verstehens- und behaltensförderli- das menschliche Nervensystem vor, mit
chen Weise aufeinander zu beziehen. Struk- der Aufgabe, den Text lesen und sich die
turierungsstrategien dienen der Reduktion Inhalte zu merken. Es war nicht gestattet,
der zu lernenden Inhalte auf das Wesentliche während des Lesens irgendwelche Noti-
und führen dadurch zu einer besseren Orga- zen anzufertigen. Die Hälfte der Studie-
nisation der Lerninhalte. Durch derartige renden hatte vorher an einem dreistündi-
Strategien werden die oft unverbundenen gen Training teilgenommen, um die Kon-
oder nur schwach strukturierten Informa- struktion mentaler Modelle einzuüben.
tionsfluten bei komplexen Lernanforderun- Nach fünf Tagen sollten die Studierenden
gen zu größeren Sinneinheiten zusammenge- alles aufschreiben, was sie noch wussten.
fasst und gruppiert, was ihre Bearbeitung Die Trainierten erinnerten im Vergleich
angesichts der nur begrenzt verfügbaren Ar- zu ihren Kommilitonen mehr als doppelt
beitsgedächtniskapazität erheblich erleich- so viele Informationen.
tert.
Eine in der Grundlagenforschung häufig
untersuchte Strukturierungsstrategie ist das Wittrock (1974) hat Lernen als eine »gene-
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Kategorisieren von Informationen nach se- rative Aktivität« bezeichnet, weil der Ler-
mantischen Merkmalen (vgl. Hasselhorn, nende aktiv Beziehungen zwischen Ideen
1996). Aus angewandter Perspektive sind bzw. Informationen herstellen muss. Solche
die besonders beim Textlernen erfolgrei- Aktivitäten bezeichnen wir in Anlehnung an
chen Strategien der Konstruktion mentaler einen Vorschlag Mayers (2003a) als genera-
Modelle bzw. netzartig geordneter Wissens- tive Strategien. Sie haben zum Ziel, ein
strukturen (Mapping) oder des Anfertigens tieferes Verständnis zu erzeugen. Im Gegen-
zusammenfassender Exzerpte (Outlining) satz zu den Strukturierungsstrategien geht es
zu erwähnen. Bei diesen Strategien geht es dabei nicht um eine Reduktion der Informa-
darum, die Informationen eines gelesenen tionsvielfalt, sondern um eine Elaboration
Textes (oder eines gehörten Vortrages) in relevanter Informationen und um Maßnah-
Form von Flussdiagrammen oder anderer men der Verknüpfung mit dem bereits ver-
Skizzen in ihren hierarchischen, zeitlichen fügbaren Vorwissen.
und/oder funktionalen Beziehungen darzu- Eine generative Strategie wäre z. B. die
stellen. Analogienbildung. Analogien können hilf-

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Teil I Lernen

reich sein, um bestimmte Merkmale des neu Klauer (2000) hat eine hilfreiche Unterschei-
zu Erlernenden besser zu verdeutlichen (z. B. dung für die Zielfestlegung vorgeschlagen,
die zuvor beschriebene Analogie zwischen indem er zwischen den eigentlichen Pla-
dem Röhrensystem der Wasserleitung und nungszielen (primäre Ziele) und den soge-
dem Blutkreislauf). Eine weitere wirksame nannten Effizienzzielen des Lernens (sekun-
Strategie dieser Art ist die Selbstbefragung. däre Ziele) differenziert. Effizient ist, wer mit
Generiert der Lernende Fragen an den Text den vorhandenen Ressourcen so schonend
und versucht diese unter Rückgriff auf den wie möglich umgeht, indem er Pläne verfolgt,
Text und auf sein verfügbares Vorwissen zu die möglichst viele primäre Ziele auf einmal
beantworten, so führt dies zu besseren Ver- fördern. So könnte ein primäres Ziel z. B.
stehens- und Behaltensleistungen (z. B. Sin- darin bestehen, einen Text über den Nieder-
ger, 1978). Ob es sich allerdings bei der gang der Weimarer Republik für eine ange-
Selbstbefragung noch um eine kognitive oder kündigte Klausur im Fach Geschichte durch-
schon um eine metakognitive Strategie han- zuarbeiten, während ein assoziiertes sekun-
delt, ist zumindest fraglich. däres Ziel sein mag, dafür nicht mehr als drei
Stunden Arbeitszeit investieren zu müssen
und (dennoch) eine gute Benotung zu erhal-
Metakognitive Strategien ten. Günstig ist es, seine Ziele möglichst
konkret zu fassen, also Kriterien für die
Je höher die Ansprüche und Anforderungen Zielerreichung bzw. für deren relativen Aus-
des Lernens ausfallen und je anspruchsvoller prägungsgrad festzulegen. So macht es einen
die damit verbundenen Lernziele sind, desto Unterschied, ob ein Leseziel schon als er-
schneller stößt die Nutzung der beschriebe- reicht gilt, wenn alle Seiten gelesen wurden
nen kognitiven Strategien an ihre Grenzen. oder erst dann, wenn man die Inhalte eines
Der flexible, kritische und reflektierte Um- Textes mit eigenen Worten wiedergeben
gang mit kognitiven Strategien gewinnt mit kann.
zunehmender Komplexität der Lernanforde- Ebenso gehört zur Planung eine Vorstel-
rung an Bedeutung. Als Schlüssel eines kri- lung darüber, wie das gesetzte Ziel erreicht
tisch-reflektierten Lernens gelten übergeord- werden kann. Dazu bedarf es einer Auswahl
nete Strategien der Planung, Überwachung, von Strategien und der Festlegung einer
Bewertung und der darauf basierenden Re- bestimmten Reihenfolge des strategischen
gulation des eigenen Lernprozesses. Diese Vorgehens (»Erst werde ich den Text über-
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werden als metakognitive Strategien bezeich- fliegen, dann werde ich ihn abschnittsweise
net, da sie auf die Steuerung und Kontrolle lesen und mir Notizen machen, anschlie-
der kognitiven Strategien ausgerichtet sind ßend …«). Genauso müssen die eigenen
(Brown, 1978; Borkowski & Turner, 1990; Ressourcen eingeschätzt und geplant wer-
c Kap. 6.4). Kritisch-reflexivem Lernen liegt den. Ein Lernender kann sich z. B. überle-
ein Wechselspiel metakognitiver Prozesse gen, wie viel Zeit ihm zur Verfügung steht
zugrunde, das sich je nach Phase des Lern- oder wie lange seine Konzentration erfah-
prozesses, in dem sich die lernende Person rungsgemäß reicht. Beim Planen geht es also
gerade befindet, unterschiedlich ausgestaltet. darum, sowohl das Ziel als auch die Auf-
Die Planung steht am Beginn einer Auf- gabenanforderungen zu antizipieren und
gabe, ist also essentiell für die frühen Phasen dementsprechend einen Handlungsplan zu
eines Lernprozesses. Dazu gehört zum einen entwerfen.
die Feststellung, welches Ziel überhaupt Überwachung bezieht sich nicht nur auf
angestrebt wird, und zum anderen, wie dieses die Feststellung von Ist-Soll-Diskrepanzen,
Ziel erreicht werden kann. Karl Christof sondern auch auf die Korrektur einer Auf-

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gabenbearbeitung bzw. auf das kritische (1995) haben darauf hingewiesen, dass die
Begleiten des eigenen Bearbeitungsfort- Reflektion solcher Fragen auch Auswirkun-
schritts. Hacker (1998) sieht eine wesentli- gen auf die Art der Bearbeitung zukünftiger
che Funktion der Überwachung darin, In- Aufgaben hat. So trägt auch das Bewerten
formationen über den bereits erreichten zu einer ständigen Verbesserung und Ver-
Lernstand bzw. das erreichte Verständnis- feinerung des Lernprozesses und zur stra-
niveau zu sammeln. Dazu gehört auch, die tegischen Expertise bei.
zu bearbeitende Aufgabe in ihrer Zielvorga-
be genau zu identifizieren, die Weiterent-
wicklung bei der Aufgabenlösung zu beob- Klassifikation metakognitiver
achten und vorherzusagen, welches Ergeb- Kompetenzen
nis wohl erzielt werden wird, wenn der
Arbeitsprozess so wie bisher fortschreitet. Metakognitive Strategien gehören in die
Durch die Überwachung angeregt, werden Rubrik der Metakognitionen. Diese umfas-
Prozesse der Regulation ausgelöst, die das sen Phänomene, Aktivitäten und Erfahrun-
Verstehen und Behalten steuern. Im Ergeb- gen, die mit dem Wissen und der Kontrolle
nis tragen diese Regulationsprozesse dazu über eigene kognitive Funktionen (z. B.
bei, die Ressourcen für eine Aufgabenbe- Wahrnehmen, Lernen, Verstehen, Denken)
arbeitung klarer zu definieren, eine konkrete zu tun haben. Von den übrigen mentalen
Abfolge von Schritten für die Bearbeitung Phänomenen, Aktivitäten und Erfahrungen,
festzulegen und die Intensität und Ge- den sogenannten Kognitionen, heben sich
schwindigkeit des strategischen Vorgehens Metakognitionen dadurch ab, dass die ko-
genauer zu bestimmen (Hacker, 1998). Es gnitiven Zustände oder Funktionen selbst
leuchtet ein, dass die Handlungsüber- quasi zu den Objekten der Reflektion wer-
wachung und die Handlungssteuerung sehr den. Metakognitionen übernehmen sozusa-
eng zusammenhängen und auch voneinan- gen die Kommandofunktionen der Kontrol-
der abhängig sind. Nur wem beim Lesen le, Steuerung und Regulation während des
überhaupt auffällt, dass die eigenen Gedan- Lernens. Somit weisen sie eine funktionale
ken ständig vom Text abschweifen, kann Überlappung zur zentralen Exekutiven des
sich bewusst vornehmen, konzentrierter zu Arbeitsgedächtnisses auf (c Kap. 2.1).
arbeiten, oder aber dazu entschließen, eine Schon die frühen Definitionen des Begriffs
Aufgabenbearbeitung abzubrechen. (z. B. Flavell, 1976) enthalten die bis heute
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Die Bewertung erfolgt nach Beendigung verbreitete Zwei-Komponenten-Sichtweise


einer Lernaufgabe. In enger Bezugnahme der Metakognition, der zufolge zwischen
auf den vorangegangenen Planungsprozess dem Wissen über eigene kognitive Funktio-
wird nun beurteilt, ob die Ergebnisse mit nen (den deklarativen Metakognitionen) und
den gesetzten Zielen übereinstimmen. andererseits der Kontrolle der eigenen ko-
Gleichzeitig ist auch von Relevanz, ob der gnitiven Aktivitäten (den prozeduralen
Lernprozess so wie vorgestellt abgelaufen Metakognitionen), unterschieden wird. So
ist. Waren die vorher ausgewählten Strate- sinnvoll die Unterscheidung zwischen meta-
gien wirklich hilfreich gewesen oder zeigte kognitivem Wissen und metakognitiver Kon-
es sich schon während der Aufgabenbe- trolle auch ist, so unzureichend ist sie für die
arbeitung, dass einige Strategien nicht zum Beschreibung der Vielfalt der Metakogni-
erwünschten Effekt führten? Konnte der tionsforschung. Hierfür bedarf es einer de-
selbst gesetzte Zeitplan eingehalten werden, taillierteren Unterscheidung zwischen nicht
oder war die eingeplante Zeit gar zu groß- weniger als fünf verschiedenen Subkatego-
zügig bemessen? Schraw und Moshman rien der Metakognition (c Abb. 2.8).

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Teil I Lernen

1. Systemisches Wissen
a) Wissen über das eigene kognitive System und seine Funktionsgesetze
b) Wissen über Lernanforderungen
c) Wissen über Strategien

2. Epistemisches Wissen
a) Wissen über eigene aktuelle Gedächtniszustände bzw. Lernbereitschaften
b) Wissen über die Inhalte und Grenzen eigenen Wissens
c) Wissen über die Verwendungsmöglichkeiten eigenen Wissens

3. Exekutive Prozesse (Kontrolle)


a) Planung eigener Lernprozesse
b) Überwachung eigener Lernprozesse
c) Steuerung eigener Lernprozesse

4. Sensitivität für die Möglichkeiten kognitiver Aktivitäten


a) Erfahrungswissen
b) Intuition

5. Metakognitive Erfahrungen bezüglich der eigenen kognitiven Aktivität


a) bewusste kognitive Empfindungen
b) bewusste affektive Zustände

Abb. 2.8: Klassifikation metakognitiver Komponenten nach Hasselhorn (1992)

Die ersten beiden Subkategorien weisen auf Eine dritte Subkategorie bilden die exekuti-
zwei voneinander abzugrenzende Facetten ven Metakognitionen, die identisch sind mit
der wissensbezogenen Metakognition hin. In der Kontrollkomponente der traditionellen
Anlehnung an einen Vorschlag von Cava- Zwei-Komponenten-Sichtweise Flavells. In
naugh (1989) kann nämlich zwischen syste- diese Subkategorie gehören die bereits be-
mischem Wissen und epistemischem Wissen schriebenen metakognitiven Strategien der
unterschieden werden. Die systemische Wis- Planung, Überwachung, Bewertung und
sensdomäne umfasst das Wissen über die Steuerung eigener Lernprozesse.
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Gesetzmäßigkeiten, Einflussfaktoren sowie Bereits Flavell war von der Bedeutung


Stärken und Schwächen eigener kognitiver zweier weiterer Facetten der Metakognition
Funktionen. Wenn ich weiß, unter welchen überzeugt, deren Erforschung sich allerdings
Bedingungen ich welche Inhalte besonders als vergleichsweise schwierig erwiesen hat.
gut lernen kann, dann spricht dies für die Dabei handelt es sich zum einen um die
Qualität des systemischen Wissens. Sensitivität, zum anderen um die metako-
Davon unabhängig ist das Wissen über gnitive Erfahrung. Unter Sensitivität versteht
den eigenen Wissensbestand und über seine man das Gespür für die derzeit verfügbaren
Lücken, über den Erwerb des eigenen Wissens Möglichkeiten eigener kognitiver Aktivitä-
und über seine Verwendungsmöglichkeiten ten. Das ist für eine effiziente Nutzung
sowie das Wissen über die aktuelle kognitive exekutiver Überwachungsprozesse unerläss-
Verfassung und Lernbereitschaft. Dieses Wis- lich. Vermutlich kann dieses Gespür sowohl
sen darüber, was ich (über mich und meine die Folge eines hinreichenden Erfahrungs-
Wissensbestände) weiß, ist die epistemische wissens sein als auch der Ausdruck einer
Wissensdomäne der Metakognition. »intuitiven« Sensitivität.

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Während diese Sensitivität keineswegs be- Lesen eines Textes eine metakognitive Er-
wusst sein muss, versteht man unter den fahrung bewusst werden, weil man Inkon-
metakognitiven Erfahrungen bewusste ko- sistenzen zwischen verschiedenen Textab-
gnitive Empfindungen (z. B. »verwirrt sein« schnitten empfindet. Oder man bemerkt bei
über eine scheinbar widersprüchliche Infor- dem Versuch, die Inhalte des gelesenen
mation) oder affektive Zustände bezüglich Textes zusammenzufassen, dass man einen
der eigenen kognitiven Aktivität (z. B. »be- Textabschnitt doch noch nicht verstanden
drückt sein« darüber, dass man eine neue hat und beginnt deshalb von neuem mit der
Information nicht versteht). Planung und Ausführung von Aktivitäten,
Im Verlauf eines Lernprozesses kommt es um das Verständnisproblem zu überwin-
zu einer komplizierten Vernetzung der ver- den. Bei aller Unterschiedlichkeit der Aus-
schiedenen Subkategorien der Metakogni- löser und der metakognitiven Komponen-
tion. Aufgrund dieser Vernetzung ist es oft ten, die an derartigen Lernprozessen betei-
kaum möglich, die verschiedenen Aspekte der ligt sind, lassen sich zwei Merkmale von
Metakognition empirisch auseinanderzuhal- Lernprozessen hervorheben, bei denen
ten. Dennoch erscheint uns die vorgelegte Metakognitionen offenbar eine zentrale
differenzierte Klassifikation sinnvoll und not- Rolle spielen: Zum einen ist das die Refle-
wendig. Denn erstens kann man nur so den xion über den eigenen Lernprozess und zum
Versuch unternehmen, die Metakognitionen anderen sind es die durch diese Reflexion
von anderen Konzepten abgrenzen. Und ausgelösten strategischen Aktivitäten.
zweitens macht erst eine solche Differenzie- Die Reflexion kann dabei sowohl ver-
rung die Beschreibung und Erklärung der gangenheitsbezogen als auch gegenwarts-
mannigfaltigen Einflussnahme von Metako- bezogen sein: vergangenheitsbezogen als
gnitionen auf das Lernverhalten möglich. Nachdenken über Handlungen, gegen-
Noch Anfang der 1980er Jahre war man wartsbezogen als Nachdenken während
skeptisch, ob es überhaupt einen Zusammen- des Handelns. Beide Formen der Reflexion
hang zwischen Metakognitionen und Lern- sind gleichermaßen Ursprung wie Folge von
und Behaltensleistungen gibt. Dies änderte Metakognitionen. So ist etwa das Nach-
sich erst, als Schneider (1985) eine erste denken über Handlungen gleichzeitig die
Metaanalyse vorlegte. Aus 27 Publikationen Folge exekutiver Metakognitionen und der
mit statistischen Zusammenhangsanalysen Ursprung metakognitiver Erfahrungen und
zwischen Metakognition und Leistungen des- systemischen Wissens. In ähnlicher Weise
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tillierte er einen mittleren Zusammenhang zeugt auch die metakognitive Aktivität des
von r ¼.41 – ein Ergebnis, das die Zweifel an Nachdenkens während einer Lernhandlung
der Bedeutsamkeit der Metakognitionen für von metakognitiver Sensitivität und erzeugt
den Lernerfolg auszuräumen vermochte. gleichzeitig epistemisches Wissen. Die
Doch wie nehmen Metakognitionen Ein- Reflexion ist somit Bindeglied zwischen
fluss auf das Lerngeschehen? Man geht verschiedenen metakognitiven Kompeten-
davon aus, dass es nicht nur einen einzigen zen einerseits und zwischen Metakognitio-
Wirkmechanismus gibt. Komponenten der nen und Lernerfolg bzw. Lernleistung ande-
verschiedenen Subkategorien von Metako- rerseits. Gleichzeitig macht sie den Lern-
gnition können dafür verantwortlich sein, prozess bewusst und sorgt dafür, dass ver-
dass beim Bearbeiten einer Lernanforde- fügbare Strategien auch tatsächlich genutzt
rung eine Reflexion über den eigenen Lern- werden. So tragen die metakognitiven
prozess, über den erreichten Wissensstand Kompetenzen des Lernenden zum effizien-
und über die strategischen Lernmöglichkei- ten Ablauf von Lernprozessen und damit
ten in Gang gesetzt wird. So kann z. B. beim zum erfolgreichen Lernen bei. Dies wirft die

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Teil I Lernen

Frage auf, wann und wie solche Strategien (den sogenannten Mediatoren) zu mangeln.
als individuelle Voraussetzungen erfolgrei- Denn selbst wenn ein kompetentes Modell
chen Lernens eigentlich erworben werden. die in Frage stehende Strategie demonstriert
und wenn die Kinder aufgefordert werden,
die so demonstrierte Strategie selbst zu nut-
Wie werden Strategien zen, sind sie dazu nicht in der Lage. Dieses
erworben? Stadium wird in der Entwicklungspsycholo-
gie mit dem Begriff des Mediationsdefizits
Der Erwerb von Strategien ist ein mühsames umschrieben – es ist in der Regel nur bei sehr
Geschäft. In den wenigsten Fällen kommt es jungen Kindern anzutreffen.
beiläufig und zufällig zum Strategieerwerb, Anders sieht es bei Kindern aus, die zwar
wie es mit vielen Bausteinen unseres Vorwis- spontan eine bestimmte Strategie nicht ein-
sens geschieht. Auch einfache biologische setzen oder nutzen, aber nach entsprechen-
Reifungsmechanismen bringen keine kogni- den hilfreichen Hinweisen dazu in der Lage
tiven Strategien hervor. Sie sind bestenfalls sind und dann auch davon profitieren. Sie
geeignet, die Genese basaler strategischer befinden sich im zweiten Stadium des Stra-
Verhaltensmöglichkeiten zu erklären. Kom- tegieerwerbs, dem Stadium des sogenannten
plexe Lernstrategien werden in der Regel erst Produktionsdefizits. Hier verfügen die Kin-
ab der Sekundarstufe erworben. Baumert der zwar im Prinzip über die zur Umsetzung
und Köller (1996) berichten, dass sich ein der Strategie notwendigen Prozeduren bzw.
Repertoire differenziert einsetzbarer Lern- Mediatoren, sie übernehmen eine Strategie
strategien überhaupt erst im Alter von 15 aber nicht in ihr spontanes Verhaltensreper-
bis 16 Jahren ausbildet. Diese Einschätzung toire. Dass ihnen die Nachahmung der
gilt sicherlich für komplexe und vor allem Strategien noch schwerfällt, lässt sich daran
metakognitive Lernstrategien. Einzelne Be- beobachten, dass sie eine Strategie wieder
haltensstrategien werden aber schon von aufgeben, sobald sie nicht mehr explizit
Kindern im Grundschulalter spontan gezeigt. dazu aufgefordert werden, sie zu nutzen.
Die Frage, wann Strategien erworben wer- Vermutlich liegt das Produktionsdefizit dar-
den, lässt sich nicht leicht beantworten, weil in begründet, dass das Wissen über die
dies in hohem Maße von der Art und Kom- Nützlichkeit einer Strategie (als Teil des
plexität der Strategien sowie von den in- deklarativen systemischen Metagedächtnis-
struktionalen Rahmenbedingungen einer ses) noch nicht hinreichend ausgebildet ist
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Lernsituation abhängig ist. (vgl. Hasselhorn, 1996). Mit anderen Wor-


Dennoch weiß man einiges darüber, wie ten: Die Kinder sind noch nicht hinreichend
Strategien überhaupt erworben werden. Be- davon überzeugt, dass sich ein (zunächst
sonders gut erforscht ist die Entwicklung aufwendiger) Strategieeinsatz später einmal
basaler Behaltensstrategien im Grundschul- auszahlen wird.
alter, z. B. des Wiederholens und Kategori- Miller (1990) hat darauf hingewiesen,
sierens von Informationen. Im ersten Sta- dass mit dem Übergang vom Produktions-
dium des Strategieerwerbs bringen die Kin- defizit zum effektiven Strategiegebrauch in
der eine Strategie weder spontan hervor, der Regel noch ein weiteres Stadium zu
noch sind sie in der Lage, eine durch ein beobachten ist, das mit den Begriffen
kompetentes Modell demonstrierte Strategie Nutzungsdefizit (Miller, 1994) bzw. Nut-
selbst zu übernehmen. Es scheint ihnen an zungsineffizienz (Hasselhorn, 1996) um-
den notwendigen kognitiven Voraussetzun- schrieben wird. In diesem Stadium bringen
gen bzw. an den zur Strategieanwendung die Kinder zwar die betreffende Strategie
notwendigen vermittelnden Vorbedingungen spontan hervor, jedoch wirkt sich die

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Strategienutzung noch nicht in der zu Schneider, 1999), so dürfte dieses Stadium


erwartenden Weise günstig auf die ent- beim Erwerb komplexer Lernstrategien,
sprechende Lernleistung aus. Miller und wie sie in Schule und Unterricht vermittelt
Seier (1994) vermuten, dass diese (vorü- werden sollen, eher die Regel sein. Will
bergehende) Ineffizienz der Strategienut- man solche Strategien im Unterricht ver-
zung hauptsächlich auf zwei Mechanismen mitteln, muss also damit gerechnet wer-
zurückzuführen ist: auf die unzureichende den, dass beim Erlernen einer neuen Stra-
Automatisierung der Strategie und/oder tegie erhebliche motivationale Probleme
auf die mangelnde Sensitivität dafür, wann auftreten können. Da nämlich die ersten
und wie die Strategie wirkungsvoll ein- Anwendungen der neuen Strategie oftmals
setzbar ist. Eine unzureichende Automati- keineswegs zu den erhofften Leistungsstei-
sierung der Strategienutzung hat auch zur gerungen führen, ist zunächst eine Durst-
Konsequenz, dass zu viel Kapazität des strecke, ein »Motivationstal« zu überwin-
Arbeitsgedächtnisses (s. o.) für die Ausfüh- den, weil sich der erhoffte Nutzen nicht
rung der strategischen Prozeduren benö- gleich realisieren lässt (c Abb. 2.9). Oft ist
tigt wird. Die mangelnde Sensitivität für es sogar so, dass der anfängliche Ein-
den wirkungsvollen Einsatz der Strategie satz einer neuen Strategie derart viel Ar-
zeigt einmal mehr die Bedeutung metako- beitsgedächtniskapazität erfordert, dass
gnitiver Kompetenzen für erfolgreiches manchmal nicht nur kein neuer Nutzen
strategisches Lernen. entsteht, sondern die Leistungsresultate
Auch wenn in der entwicklungspsycho- gegenüber dem Lernen mit Hilfe der alten
logischen Grundlagenforschung mittler- Strategie sogar ungünstiger ausfallen kön-
weile mit guten Argumenten bezweifelt nen. Erst wenn die neue (mächtigere)
wird, dass das Stadium der Nutzungsin- Strategie hinreichend automatisiert ist,
effizienz beim Strategieerwerb notwendi- erlebt der Lernende den erwünschten Leis-
gerweise auftreten muss (vgl. Sodian & tungsvorteil.
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Lernleistung

Motivationstal

Abb. 2.9: A B C D
Motivationstal der Nutzungs-
ineffizienz beim Erwerb einer alte erste Nutzung spätere
Strategie nach Miller & Seier Strategie der neuen Srategienutzung
(1994) Strategie

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Teil I Lernen

Lerntypen und Lernstile: des Lernens, also den von einer Person
Individuelle Präferenzen in der bevorzugten Lernstil. Offner (1924) unter-
scheidet zwischen »mechanischen«, »logi-
Art strategischen Lernens?
schen« und »mnemotechnischen« Lernsti-
len. Einige Jahre zuvor hatte Meumann
Seit langem weit verbreitet ist die im Lichte (1911, S. 231) bereits zwischen »analyti-
vorliegender empirischer Befunde weitge- schen« und »synthetischen Lernern« unter-
hend kritisch zu hinterfragende Annahme, schieden. Aber auch die Differenzierungen
dass sich Lernende systematisch darin unter- nach formalen Lerntypen erwiesen sich als
scheiden, welche Lernstrategien sie beson- problematisch und ließen sich empirisch
ders effektiv und erfolgreich einsetzen kön- nicht stützen. Das Aufkommen faktoren-
nen. Der französische Nervenarzt Charcot analytischer Untersuchungsmethoden führ-
legte in den 1880er Jahren eine erste Taxo- te schon bald dazu, individuelle Differenzen
nomie verschiedener Vorstellungs- bzw. Ge- im Lernverhalten bzw. in den Lernleistun-
dächtnistypen vor, indem er zwischen einem gen als Folge unterschiedlicher Ausprägun-
visuellen, einem akustischen, einem motori- gen einer Vielzahl von Fähigkeiten (z. B.
schen und einem indifferenten Typus unter- mechanisches Denken, logisches Denken)
schied. Je nach Typus – so glaubte er – zu beschreiben. Erst zu Beginn der zweiten
würden eher visuelle, eher akustische oder Hälfte des 20. Jahrhunderts griff man unter
eher motorisch-enaktive Inhalte bzw. Mate- dem Stichwort kognitive Stile ein den for-
rialien besser gelernt werden. Anfang des 20. malen Lerntypen ähnelndes Konzept wie-
Jahrhunderts wurde der Gedanke der indivi- der auf.
duellen Lerntypen in pädagogischen Kreisen Im Unterschied zu den eher unipolaren
lebhaft diskutiert. und eindimensionalen Fähigkeitskonzepten
Das seinerzeit viel gelesene Lehrbuch von (z. B. Intelligenz) versteht man unter kogni-
Offner (1924) fasst die wesentlichen Ergeb- tiven Stilen bipolar beschreibbare intraindi-
nisse dieser Diskussionen zusammen. Danach viduell stabile Präferenzen der Informations-
unterschied man zwischen formalen und verarbeitung. Nach Messick (1994) handelt
materialen Lerntypen. Zu den materialen es sich dabei um persönlichkeitsabhängige
Lerntypen gehören z. B. die in der Taxonomie Vorlieben des Wahrnehmens, Erinnerns,
von Charcot beschriebenen, da hier die indi- Denkens und Problemlösens, die relativ un-
viduellen Unterschiede am bevorzugten Inhalt abhängig sind von der allgemeinen Intelli-
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bzw. am Material des Lernstoffs festgemacht genz. Die bekanntesten empirisch untersuch-
werden. Die besonderen Lern- und Gedächt- ten kognitiven Stile sind die »Impulsivität vs.
nisleistungen mancher Maler, Musiker oder Reflexivität« und die »Feldabhängigkeit vs.
Sportler und das – im Erwachsenenalter Feldunabhängigkeit«. Die Erwartung, dass
höchst selten auftretende – Phänomen eines die bipolare Differenzierung dieser kogniti-
überaus stark und lange anhaltenden Nach- ven Stile vor allem mit qualitativen, nicht
bildes sensorisch wahrnehmbarer Ereignisse jedoch mit quantitativen Leistungsunter-
(Eidetik) waren beliebte Belege für die ver- schieden beim Lernen einhergehe und dass
meintliche Existenz der materialen Lerntypen. diese Unterschiede intelligenzunabhängig
Doch schon Offner (1924) musste feststellen, seien, hat sich jedoch empirisch nicht bestä-
dass »ein ganz einseitiger Typus […] eine tigen lassen (McKenna, 1990; Tiedemann,
Ausnahme [ist] […]. Vorherrschend sind ge- 1983). Am Beispiel der Feldabhängigkeit/
mischte Disponibilitätstypen« (S. 174). Feldunabhängigkeit lässt sich gut zeigen,
Unter dem formalen Lerntyp verstand dass die sogenannten kognitive Stile eher
man die Präferenz für eine bestimmte Art intelligenzverwandte Fähigkeiten darstellen

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

als individuelle und intelligenzunabhängige unabhängige nicht nur in der Art, sondern
Strategiepräferenzen beim Lernen. auch in der Quantität ihrer Lernleistungen
unterscheiden. Die Annahme, dass Feldun-
abhängige Informationen flexibler verarbei-
Fokus: Feldabhängigkeit vs.
ten und deshalb auch weniger kontextge-
Feldunabhängigkeit
bunden mental verfügbar haben, prüfte
Frank (1983) im Rahmen eines Experiments
Um 1940 herum beobachtete der Psycho-
zum Paarassoziationslernen. Die Versuchs-
loge Herman Witkin, dass einige Flug-
teilnehmer mussten Wortpaare auswendig
zeugpiloten, wenn sie in eine Wolken-
lernen, die aus einem mit Großbuchstaben
bank hineinflogen, häufig mit ihrem
geschriebenen Zielwort und einem assoziativ
Flieger in gekippter Lage aus der Wol-
damit verknüpften Hinweiswort bestanden
kenbank wieder herauskamen, ohne zwi-
(z. B. Pilz – SCHIMMEL). Als Zielwörter
schenzeitlich die Änderung der Lage des
wurden Homographen, also Wörter mit zwei
Flugzeugs realisiert zu haben. Bei der
unterschiedlichen Bedeutungen gewählt. Die
Untersuchung dieses und anderer Phäno-
spätere Verfügbarkeit des Gelernten wurde
mene der Wahrnehmung einzelner Fak-
entweder unter Vorgabe der in der Lernphase
toren in einem visuellen Gesamtfeld, stieß
dargebotenen Hinweiswörter (z. B. Pilz) oder
Witkin auf systematische interindividuel-
unter Vorgabe von Wörtern, die mit der
le Unterschiede, die er als Feldabhängig-
anderen Bedeutung des Homographen asso-
keit vs. Feldunabhängigkeit beschrieb
ziativ verknüpft waren (z. B. Pferd) oder aber
(Witkin, Moore, Goodenough & Cox,
ganz ohne Vorgabe eines Hinweiswortes
1977).
erfasst. Während sich die Behaltensleistung
Feldabhängige Personen tendieren
von Feldunabhängigen und Feldabhängigen
dazu, (visuelle) Muster ganzheitlich wahr-
bei Vorgabe des Original-Hinweiswortes
zunehmen. Sie haben Schwierigkeiten,
nicht voneinander unterschieden, waren die
wichtige Details aus einer Situation her-
Feldunabhängigen in den beiden anderen
auszulösen und zu fokussieren und es fällt
Experimentalbedingungen den Feldabhängi-
ihnen schwerer, beim Lernen den Einsatz
gen überlegen. Die Überlegenheit der Feld-
von Lernstrategien selbst zu überwachen.
unabhängigen war besonders deutlich bei
Diese Personen arbeiten gut in Gruppen,
der schwierigsten Bedingung, der ohne Hin-
haben ein gutes Gedächtnis für soziale
weiswort.
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Informationen und interessieren sich häu-


Die größere Kontextunabhängigkeit des
figer für Literatur und Geschichte. Im
Informationserwerbs Feldunabhängiger legt
Gegensatz dazu überwachen feldunab-
die Vermutung nahe, dass sie Lernstrategien
hängige Personen in höherem Maße ihre
flexibler nutzen als Feldabhängige. Nach
eigenen Informationsverarbeitungspro-
Cochran und Davis (1987) basiert die Über-
zesse. Sie können die unterschiedlichen
legenheit feldunabhängiger Personen aber
Teile eines Gesamtmusters leichter wahr-
auch auf einer vergleichsweise größeren Ar-
nehmen und separieren und sie können
beitsgedächtniskapazität, die sich z. B. in
ein Muster komponentenweise analysie-
einer größeren Gedächtnisspanne für Sätze
ren. Ihre Interessen liegen eher in den
niederschlägt. Durso, Reardon und Jolly
Bereichen Mathematik und Naturwissen-
(1985) fanden außerdem eine Überlegenheit
schaften.
Feldunabhängiger in der Überwachung eige-
ner kognitiver Prozesse und damit eines
Bereits Davis und Frank (1979) wiesen dar- zentralen Aspektes exekutiver Metakogni-
auf hin, dass sich Feldabhängige und Feld- tionen.

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Teil I Lernen

Ein im Vergleich zum Konzept der kogniti- Es wurden auch etliche Fragebögen entwi-
ven Stile weniger genereller Erklärungsan- ckelt, mit deren Hilfe Lernstile und Lernprä-
spruch ist mit dem Begriff der Lernstile ferenzen diagnostiziert werden sollten. Sie
verbunden. Im Gegensatz zu dem oben sind jedoch aus pädagogisch-psychologi-
dargelegten Konzept der Lernstrategien scher Sicht nur von begrenztem Nutzen.
umfassen Lernstile nämlich die Präferenzen Einerseits findet man nämlich enge Zusam-
für unterschiedliche Lernsituationen (z. B. menhänge zwischen dem »tiefen Verarbei-
Vortrag, Diskussion, Projekt), für Merk- ten« und der allgemeinen und verbalen Intel-
male der Lernumgebung (z. B. Temperatur, ligenz sowie zwischen dem »elaborierten
Geräuschpegel) sowie für das Ausmaß an Verarbeiten« und dem Vorstellungsvermö-
sozialer Unterstützung (z. B. Tutorien, Ar- gen bzw. der räumlich-visuellen Intelligenz.
beitsgruppen). Schmeck (1988) unterschei- Andererseits ist die Zuverlässigkeit (Reliabi-
det z. B. drei Muster von Informationsver- lität) und Gültigkeit (Validität) der Instru-
arbeitungsaktivitäten, die er als Lernstile mente für eine individuelle Lernstildiagnos-
oder -präferenzen bezeichnet: eine tiefe, tik in der Regel nicht ausreichend (Stahl,
eine elaborative und eine oberflächliche 2002). Unklar bleibt auch, was aus einer
Verarbeitungspräferenz. Personen mit einer Lernstildiagnostik eigentlich folgen würde:
»tiefen« Verarbeitungspräferenz gehen
Menschen sind verschieden und es gehört
beim Erwerb neuen Wissens kritisch prü-
zur guten pädagogischen Praxis, individuelle
fend vor und bevorzugen konzeptuell-orga- Unterschiede zu erkennen und sich darauf
nisierende Strategien, »elaborative« Infor- einzustellen. Ebenfalls gute Praxis ist es, neue
mationsverarbeiter sind bemüht, beim En- Informationen auf unterschiedliche Weise und
kodieren eine Verknüpfung der neuen Lern- in verschiedenen Modalitäten darzubieten.
Aber es ist nicht klug, Lernende einfach zu
inhalte mit persönlichen Erfahrungen klassifizieren und die Lernmethoden einzig auf
herzustellen, und »oberflächlich« Lernende der Grundlage von Testverfahren mit fragwür-
bedienen sich überwiegend einfacher Me- diger Güte festzulegen. […] Die Idee der Lern-
morierstrategien. stile ist verlockend, aber eine kritische Prüfung
dieses Ansatzes sollte Lehrende skeptisch ma-
In ähnlicher Weise haben andere Arbeits- chen. (Snider, 1990, S. 53)
gruppen in den 1980er Jahren vom Ober-
flächen- und Tiefenlernen gesprochen, von Zusammenfassend lässt sich also festhalten,
extrinsisch motiviert Lernenden mit einer dass die nach wie vor große Popularität von
»Reproducing Orientation« und von einer Lerntypen-Klassifikationen in der einschlä-
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intrinsisch motivierten »Meaning Orienta- gigen empirischen Befundlage eigentlich


tion« (vgl. Wild, 2000). Lernende mit einer keine Entsprechung findet und dass die häu-
Präferenz zur tiefen Verarbeitung haben fig propagierten Lerntypen offenbar gar
Interesse am Lernen um des Lerngegenstan- nicht existent sind (Pashler, McDaniel, Rohr-
des willen und machen sich daher wenig er & Bjork, 2009). Es mag zwar sein, dass
Gedanken darum, wie ihre Lernleistungen manche Personen davon überzeugt sind, dass
bewertet werden. Bevorzugt oberflächlich sie eher von visuellen oder eher von akusti-
verarbeitende Personen lassen sich in ihrem schen Unterstützungen ihrer Lernprozesse
Lernverhalten eher durch die in Aussicht profitieren. In der Regel wird dies jedoch die
stehenden Belohnungen, wie gute Noten, Folge von gewohnheitsbedingten Präferen-
beeinflussen und es ist ihnen wichtiger als zen von Modi der Informationsverarbeitung
anderen, dass sie positiv bewertet werden sein und nicht die Folge entsprechender
(vgl. Snow, Corno & Jackson, 1996). typologisierbarer Dispositionen.

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

2.4 Motivation und Selbstkonzept

Es scheint zu den Binsenweisheiten des päda- (geringere kognitive Fähigkeiten können


gogischen Alltags zu gehören, dass motiva- durch große Anstrengungen kompensiert
tionale Voraussetzungen zu den wichtigsten werden und umgekehrt).
Determinanten erfolgreichen Lernens zählen. Zu den wichtigsten motivationalen Vor-
Die Bereitschaft, sich Lernanforderungen zu aussetzungen erfolgreichen Lernens gehört
stellen, sich diesen gezielt und ausdauernd zu die Qualität des eigenen Lern- und Leistungs-
widmen und sich dabei anzustrengen, gilt als motivsystems, das sich durch Erfolgsorien-
Anzeichen für eine günstige motivationale tierung bzw. Misserfolgsängstlichkeit, den
Voraussetzung des Lernens. Überraschender-
weise fallen jedoch die empirisch ermittelten
Definition: Motivation und Motiv
Zusammenhänge zwischen derartigen moti-
vationalen Parametern und der beobachtba-
Unter Motivation oder Motiviertheit ver-
ren Lernleistung eher bescheiden aus. In einer
steht man die Bereitschaft einer Person,
Metaanalyse über die Daten aus 355 empi-
sich intensiv und anhaltend mit einem
rischen Studien fanden Fraser, Walberg,
Gegenstand auseinanderzusetzen. Moti-
Welch und Hattie (1987) einen durchschnitt-
vation kann als Prozess aufgefasst wer-
lichen Zusammenhang von r ¼.12 zwischen
den, in dessen Verlauf zwischen Hand-
Motivation und Leistung; d. h. weniger als
lungsalternativen auswählt wird. Das
2 % der Leistungsvarianz ließ sich durch
spätere Handeln wird dann auf die aus-
motivationale Unterschiede zwischen den
gewählten Ziele ausrichtet und auf dem
Lernenden erklären.
Weg dorthin in Gang gehalten, also mit
Hieraus den Schluss zu ziehen, dass der
psychischer Energie versorgt.
Lernmotivation beim Lernen eine weitaus
Von Motiv sprechen wir, wenn es um
geringere Rolle zukommt, als es dem päda-
individuelle zeitüberdauernde Vorlieben
gogischen Überzeugungswissen vieler Prak-
für bestimmte Klassen von Zuständen
tiker entspricht, wäre allerdings voreilig.
geht. So sprechen wir vom Anschlussmo-
Weinert (1990) hat überzeugend dargelegt,
tiv, wenn es jemand besonders attraktiv
dass der Einfluss motivationaler Faktoren
findet, sich in sozialen Gruppen aufzu-
aufgrund vielfältiger Probleme bei ihrer
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halten, vom Machtmotiv, wenn die Be-


angemessenen methodischen Analyse noto-
einflussung anderer Menschen als beson-
risch unterschätzt wird. Eines dieser Proble-
ders anziehend erlebt wird, und vom
me kommt dadurch zustande, dass motiva-
Leistungsmotiv, wenn man sich gerne
tionale Voraussetzungen mit den zuvor be-
im Lösen herausfordernder Aufgaben
handelten kognitiven Voraussetzungen des
als kompetent und tüchtig erlebt.
Lernens – je nach Schwierigkeitsgrad der
Greifen wir nur ein einziges Motiv, wie
Lernanforderung – einmal verzahnt, d. h.
z. B. das Lern- und Leistungsmotiv her-
gekoppelt sind und einmal nicht. Bei schwie-
aus, so findet man systematische interin-
rigen Lernaufgaben scheint eher ein Kopp-
dividuelle Unterschiede (Dispositionen)
lungsmodell zu greifen, was nichts anderes
in der Art und Stärke der Annäherung
heißt, als dass sowohl eine hohe Ausprägung
an einen angestrebten (motivbezogenen)
kognitiver Kompetenzen als auch große An-
Zielzustand. Um diesen Sachverhalt zu
strengung für erfolgreiches Lernen notwen-
charakterisieren, sprechen wir vom indi-
dig ist. Bei leichteren Aufgaben hingegen
viduellen Motivsystem.
wird ein Kompensationsmodell unterstellt

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Teil I Lernen

eng damit verknüpften Attributionsstil so- Interesse führt zu einer »epistemischen


wie durch das leistungsbezogene Selbstver- Orientierung« (Prenzel, 1988), die sich vor
trauen bzw. durch die lern- und leistungsre- allem für komplexe Lernziele als außeror-
levanten Selbstkonzepte gut charakterisie- dentlich hilfreich erweist: Dem Interesse an
ren lässt. Bevor wir einige interindividuelle einer Sache folgt der Wunsch, mehr über
Unterschiede des Lern- und Leistungsmotiv- diese Sache zu erfahren, sich ausführlicher zu
systems skizzieren, ist es aber notwendig, auf informieren und das eigene Wissen immer
die Rolle des Interesses bzw. der intrinsi- wieder zu aktualisieren. Nicht selten geht mit
schen Motivation für den Lernerfolg einzu- diesem Wunsch eine Identifikation mit dem
gehen. Gegenstand des Interesses einher, was nicht
ohne Auswirkungen auf die Herausbildung
des eigenen Selbstkonzepts bleibt (Hanno-
Interesse und intrinsische ver, 1998).
Motivation Krapp (2010) beschreibt in der pädago-
gisch-psychologischen Interessenforschung
Interessante Tätigkeiten gehen uns leicht von zwei unterschiedliche Forschungstraditio-
der Hand. Das Interesse an einer Fragestel- nen. In der einen Tradition werden vorrangig
lung bringt uns dazu, ein einschlägiges Buch situationsspezifische Prozesse fokussiert.
darüber zu lesen, ohne dass uns jemand dazu Streng genommen handelt es sich dabei um
anhält oder dafür belohnt. Beobachtungen die Analyse von Interessantheit (situationales
dieser Art sprechen dafür, dass das Interesse Interesse). Empfindet ein Lernender ein The-
an einer Sache ein wichtiger Bestandteil der ma oder eine Situation, in der ein Lernstoff
motivationalen Voraussetzungen erfolgrei- dargeboten wird (z. B. eine bestimmte Unter-
chen Lernens ist. Schon zu Beginn des 20. richtsstunde) als interessant, so hat das den
Jahrhunderts beschäftigte man sich daher Vorteil, dass sich sein kognitives System auf
mit dem Interesse als motivationalem Faktor einem optimalen Funktionsniveau befindet.
des Lernens (z. B. Dewey, 1913; Kerschens- Vor allem die Mechanismen der Aufmerk-
teiner, 1922). Eine systematische Interessen- samkeitssteuerung und des Arbeitsgedächt-
forschung und eine Untersuchung der moti- nisses (c Kap. 2.1) funktionieren dann »auf
vationalen Auswirkungen von Interessen für hohem Niveau«, da die starke Valenz der
das Lernen setzte jedoch erst im letzten Lernanforderung potenziellen Ablenkungen
Quartal des 20. Jahrhunderts ein (vgl. Krapp durch aufgabenirrelevante Reizinformatio-
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& Prenzel, 1992). nen wenig Raum lässt. Im Zusammenhang


Aber was ist Interesse und wie wirkt es mit dem Unterrichtsmerkmal der »Klassen-
sich auf das Lerngeschehen aus? Mit Prenzel, führung« (c Kap. 7.3) werden wir darauf
Krapp und Schiefele (1986) lässt sich Inte- zurückkommen.
resse auffassen als eine besondere Beziehung Die zweite von Krapp (1998, 2010) be-
einer Person zu einem Gegenstand. Ein sol- schriebene Linie der Interessenforschung be-
cher Gegenstand kann ein Objekt, ein Thema schäftigt sich mit situationsübergreifenden
oder eine Tätigkeit sein. interindividuellen Differenzen. Dort werden
Interessen als individuelle Dispositionen be-
Die Besonderheit einer interessenthematischen trachtet. Im Kontext akademischen Lernens
Beziehung äußert sich im subjektiven Erleben sind hier vor allem thematische Interessen
durch die Verbindung von positiven emotiona- angesprochen. Diese haben sich unabhängig
len Zuständen während der Interessenhandlung
und einer hohen subjektiven Wertschätzung des
von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der
Interessengegenstandes (emotionale und wert- Lernenden als bedeutsame Prädiktoren erfolg-
bezogene Valenz). (Krapp, 2010, S. 312) reichen Lernens erwiesen (vgl. Evans, 1971).

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

derliche Einfluss des Interesses während der


Beispiel: Interessanter Unterricht
Sekundarstufe verändert: Ist das mathemati-
sche Interesse in der Sekundarstufe I eher
Der Wunsch lernwilliger Schüler nach
geringfügig mit der Mathematikleistung
»interessantem« Unterricht ist ange-
assoziiert, nimmt die Stärke der Beziehung
sichts der positiven Auswirkungen auf
in der Sekundarstufe II deutlich zu, was sich
die Informationsverarbeitung durchaus
vor allem auch an den Kurswahlen in der
verständlich. Die Forderung nach inte-
gymnasialen Oberstufe zeigt. Die Autoren
ressantem Unterricht ist jedoch leichter
vermuten, dass das Lernverhalten der jünge-
formuliert als umgesetzt. Zwar gibt es
ren Schüler noch vorrangig durch extrinsi-
vielfältige didaktische Konzepte, um
sche Anreize (z. B. durch häufige schriftliche
Unterricht interessant zu machen, aber
Leistungsproben) reguliert wird, während in
Interessantheit ist nur in begrenztem
der Oberstufe die extrinsischen Anreize an
Maße objektivierbar. So unterscheiden
Valenz verlieren und die Selbstbestimmungs-
sich Lernende darin, ob sie eine Lernsi-
möglichkeiten zunehmen. Ein höherer Grad
tuation für interessant halten oder nicht.
an Selbstbestimmung lässt auch den Einfluss
Ein und dieselbe Unterrichtssituation
des Interesses auf die Regulation des eigenen
kann von manchen Lernenden als inter-
Lernverhaltens ansteigen.
essant, von anderen aber als uninte-
Möglicherweise wird der Einfluss des
ressant empfunden werden.
Interesses auf den Lernerfolg über die ver-
mehrte Nutzung strukturierender und gene-
Schiefele, Krapp und Schreyer (1993) trugen rativer Lernstrategien vermittelt. Der empi-
die empirischen Daten aus 21 einschlägigen rische Nachweis dieser Annahme ist zwar
Studien im Zeitraum zwischen 1965 und bisher nur in Teilen gelungen (z. B. Schiefele,
1990 zusammen und fanden einen durch- Wild & Winteler, 1995). Man vermutet
schnittlichen Zusammenhang von r ¼ .30 jedoch, dass vor allem dann, wenn den
zwischen Interesse und Lernleistung. Es zeig- Lernenden relativ große Spielräume bei der
ten sich dabei allerdings beträchtliche Unter- Auswahl und Bearbeitung eines Lerngegen-
schiede zwischen den Fächern: Während das standes eingeräumt werden, das vorhandene
thematische Interesse relativ viel zum Lern- Sachinteresse die Qualität der Strategienut-
erfolg in Mathematik, Physik, Chemie und in zung mit beeinflussen wird (Krapp, 1998;
den Fremdsprachen beizutragen scheint, ist Wild, 2000).
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seine Rolle sehr viel bescheidener in Fächern Die thematischen Interessen sind eng ver-
wie Biologie, Sozialkunde und im Literatur- knüpft mit dem auch in der Umgangssprache
unterricht. Interessanterweise fiel der Zu- mittlerweile weit verbreiteten Begriff der
sammenhang zwischen Interesse und Lern- intrinsischen Motivation bzw. der intrinsi-
erfolg für Jungen generell höher aus als für schen Handlungsvalenz. Intrinsisch moti-
Mädchen, was vielleicht ein Hinweis darauf viert sind solche Verhaltensweisen, die kein
ist, dass Mädchen eher als Jungen bereit sind, offensichtliches Ziel außerhalb der Hand-
sich ungeachtet ihrer Interessen in allen lung selbst besitzen (Koch, 1956). Dabei
Fächern anzustrengen. kann der Wunsch, ein Verhalten auszufüh-
Die Ergebnisse einer Längsschnittstudie ren, durch Eigenschaften des Gegenstandes
von Köller, Baumert und Schnabel (2001) ausgelöst sein (gegenstandszentrierte intrin-
zum Zusammenhang zwischen Interesse an sische Motivation) oder aber durch die Freu-
Mathematik und den Mathematikleistungen de an der Ausführung einer Handlung (tätig-
vom Ende der 7. bis Mitte der 12. Klasse keitszentrierte intrinsische Motivation).
sprechen dafür, dass sich der leistungsför- Sportliche Aktivitäten liefern bisweilen ein

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Teil I Lernen

gutes Beispiel für das Phänomen der tätig- scher Anreiz). Als Erklärung für dieses Phä-
keitszentrierten intrinsischen Motivation: nomen wird auf die wahrgenommene Über-
Der Jogger fühlt sich beim regelmäßigen veranlassung (Overjustification) des eigenen
Laufen gut; der Hobby-Fußballer erfreut sich Handelns verwiesen (Greene & Lepper,
am Balltreten auch dann, wenn es gar keinen 1977). Wird man für etwas, was man ohne-
Wettkampfcharakter hat. hin gerne tut (intrinsische Motivierung), zu-
Beim akademischen Lernen spielt vermut- sätzlich auch noch belohnt (extrinsische
lich vor allem die gegenstandszentrierte in- Motivierung), so nimmt man das eigene
trinsische Motivation eine Rolle. Das Inte- Verhalten als »überveranlasst« wahr, wird
resse am Thema führt dazu, dass der Ler- unsicher in der Frage, was eigentlich der
nende die Beschäftigung mit dem Lernstoff Grund des eigenen Handelns ist und beginnt
als etwas Angenehmes, ja sogar Lustvolles zu zweifeln, dass man aus freien Stücken
erlebt. Warum es zu diesen motivierenden gehandelt hat.
Empfindungen kommt, wird in der Motiva- Ein solcher Korrumpierungseffekt der
tionsforschung durchaus kontrovers disku- intrinsischen Motivation durch Belohnun-
tiert (vgl. Heckhausen, 1989). Als Antrieb gen für Lernleistungen steht im krassen
gegenstandszentrierter intrinsischer Motiva- Gegensatz zu den Annahmen der in Kapitel
tion im Bereich schulischen und akademi- 1.2 dargestellten behavioristischen Lern-
schen Lernens hat deCharms (1968) das theorien, die im pädagogischen Alltag weit
Streben des Menschen nach einem persönli- verbreitet sind. Es ist daher nicht verwun-
chen Verursachungserleben des eigenen Han- derlich, dass die Frage, was die experimen-
delns genannt: Wo immer eigenes Handeln tell nachweisbaren negativen Effekte von
nicht als fremdbestimmt, sondern in hohem Belohnung für die Praxis akademischen
Maße als selbst verursacht und selbst gewollt
erlebt wird, entsteht ein innerer Belohnungs-
Fokus: Korrumpiert Belohnung?
mechanismus, der das Verhalten (intrinsisch)
motiviert. Deci und Ryan (1985) haben
Edward Deci und Richard Ryan als
diesen Grundgedanken weiterentwickelt
Hauptvertreter der Korrumpierungsthese
und dabei herausgearbeitet, dass Lernen
haben sich mit Judy Cameron zu dieser
insbesondere in jenen Bereichen intrinsisch
Frage heftige Diskussionen geliefert (Ca-
motiviert erfolgt, in denen man sich als
meron, 2001; Deci, Koestner & Ryan,
selbstbestimmt, autonom und kompetent
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1999, 2001; Eisenberger, Pierce & Ca-


wahrnimmt.
meron, 1999). Beide Seiten bedienen sich
Intrinsische Motivation basiert auf den ange- der statistischen Metaanalyse, um ihre
borenen, organismischen Bedürfnissen nach Argumentation zu stützen. Inhaltlich
Kompetenz und Selbstbestimmung. Sie ver- scheint uns das Anliegen beider Positio-
sorgt eine Vielzahl von Verhaltensweisen und
psychischen Prozessen mit Energie, wobei als
nen berechtigt zu sein: Extrinsische Be-
primäre Verstärker die erlebte eigene Wirk- lohnungen können tatsächlich die intrin-
samkeit und Autonomie fungieren. (Deci & sische Motivation schwächen, was An-
Ryan, 1985, S. 32) lass genug sein sollte, über die Praxis von
Belohnungsstrategien im Bildungssystem
Aus seiner Theorie der Selbstverursachung
nachzudenken. Andererseits sind auch
als Leitprinzip intrinsischer Motivation hat
extrinsische Lernanreize häufig wirksam
DeCharms (1968) abgeleitet, dass die intrin-
und können sich am Ende sogar förder-
sische Motivation geschwächt wird, wenn
lich auf die intrinsische Motivation aus-
das, was man aus freien Stücken gerne tut,
wirken.
zusätzlich von außen belohnt wird (extrinsi-

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

Lernens bedeuten, Gegenstand heftiger Dis- bereitet), um später einen Platz in ihrem
kussionen geworden ist (vgl. Cameron & Traumstudiengang zu erhalten. Die Person
Pierce, 1994; Ryan & Deci, 1996). lernt also, weil sie es wichtig für die Erfül-
In ihrer Selbstbestimmungstheorie gehen lung persönlich relevanter Ziele und Wün-
Deci und Ryan (1985; Ryan & Deci, 2000) sche findet. Die am stärksten selbstbe-
davon aus, dass uns Menschen eine ange- stimmte Form der extrinsischen Motivation
borene Tendenz zu Lernen und Entwick- ist die integrierte Motivation. Diese Art der
lung innewohnt. Diese angeborene Tendenz Motivation ist empirisch kaum von der
wird in intrinsisch motiviertem Verhalten intrinsischen Motivation abzugrenzen. Der
deutlich, wie man es etwa beim kindlichen einzige Unterschied besteht darin, dass die
Spielen beobachten kann. Drei grundlegen- so motivierten Lernhandlungen durchge-
de universelle Bedürfnisse müssen der führt werden, um ein bestimmtes Ergebnis
Theorie zufolge beachtet werden, damit zu erzielen und nicht (wie bei der intrinsi-
diese angeborene Tendenz zur Entfaltung schen Motivation) aus der reinen Freude an
kommen kann: Das Bedürfnis nach Selbst- der Tätigkeit selbst. Untersuchungen haben
bestimmung, nach Kompetenzerleben und gezeigt, dass eine erhöhte Wahrnehmung
nach sozialer Eingebundenheit. Entschei- von Selbstbestimmtheit und eigener Kom-
dend ist dabei weniger die Stärke als viel- petenz zu einem stärkeren Lernengagement,
mehr die Art der Motivation. Ryan und einem tieferen Verständnis und zu einem
Deci (2000) postulieren verschiedene Arten erhöhten subjektiven Wohlbefinden führt
oder Qualitäten der Motivation, die sich (Ryan & Deci, 2009). Der oben beschrie-
darin unterscheiden, wie weit dem Grad bene Korrumpierungseffekt verdeutlicht,
nach Selbstbestimmung Rechnung getragen dass das selbstbestimmte Lernen auch
ist. Die am wenigsten selbstbestimmte Form unterminiert oder »beschädigt« werden
der Motivation wird demnach als externale kann: Wird bei einem ursprünglich stark
Lernmotivation bezeichnet, weil Verhal- selbstbestimmt motivierten Verhalten der
tensweisen nur ausgeführt werden, um eine Grad der Selbstbestimmung, des Kompe-
Belohnung zu erhalten (z. B. eine gute Note) tenzerlebens und/oder der sozialen Einge-
oder um eine Bestrafung zu vermeiden (z. B. bundenheit nämlich reduziert (etwa durch
einen Tadel). Ein Gefühl der Selbstbestim- das Einführen externaler Belohnungssyste-
mung bleibt dabei aus. Eine zweite verbrei- me), dann kann eine verminderte Anstren-
tete Variante extrinsischer Motivation ist gungsbereitschaft die unerwünschte Folge
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die introjizierte Lernmotivation. Sie ist da- sein (Ryan & Deci, 2000).
durch charakterisiert, dass die lernende
Person das äußere Belohnungssystem weit-
gehend verinnerlicht hat und z. B. durch ein Lern- und Leistungsmotivation
schlechtes Gewissen oder aus einem Pflicht-
gefühl heraus lernt, oder um Angst bzw. Neben den thematischen Interessen, die den
Scham zu vermeiden. Lernerfolg in themenspezifischen Kontex-
Eine eher selbstbestimmte Form der ex- ten oder bei themenspezifischen Inhalten
trinsischen Motivation ist die identifizierte begünstigen, haben Motivationspsycholo-
Lernmotivation. Die Person lernt dabei gen auch themenunspezifische dispositio-
stärker von sich aus, weil sie die damit nelle Merkmale identifiziert, die die Heran-
verbundenen Ziele selbst für wichtig erach- gehensweise an Lern- und Leistungssitua-
tet. Dies trifft etwa auf Schüler zu, die sich tionen prägen. Diese relativ zeitstabilen
sehr intensiv auf die Abiturprüfungen vor- interindividuellen Unterschiede hängen
bereiten (was ggf. nicht immer Freude mit dem Lern- und Leistungsmotivsystem

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Teil I Lernen

einer Person zusammen. Rheinberg und forderung besitzt zwar einen sehr hohen
Vollmeyer (2012) haben zu Recht darauf Erfolgsanreiz, da allerdings die Erfolgswahr-
hingewiesen, dass umgangssprachliche Be- scheinlichkeit extrem niedrig ist, motiviert sie
griffe wie »Fleiß«, »Anstrengung« oder nicht wirklich zum Leistungshandeln. Um-
»Strebsamkeit« zwar etwas Ähnliches aus- gekehrt motiviert auch eine subjektiv als sehr
drücken, nicht aber deckungsgleich sind mit leicht wahrgenommene Aufgabenanforde-
einem günstig ausgeprägten Leistungsmo- rung trotz extrem hoher Erfolgswahrschein-
tivsystem. lichkeit nicht unbedingt zum Handeln, weil
kein besonderer Erfolgsanreiz gegeben ist.
Leistungsmotiviert im psychologischen Sinne Besonders motivierend sind dagegen subjek-
ist ein Verhalten nur dann, wenn es auf die
Selbstbewertung eigener Tüchtigkeit zielt, und tiv als mittelschwer erlebte Aufgaben, weil
zwar in Auseinandersetzung mit einem Güte- bei ihnen das Zusammenspiel (das Produkt)
maßstab, den es zu erreichen oder zu übertref- aus Erfolgswahrscheinlichkeit und Erfolgs-
fen gilt. Man will wissen, was einem in einem anreiz (Erwartung mal Wert) maximalen
Aufgabenfeld gerade noch gelingt und was
Gewinn verspricht.
nicht, und strengt sich deshalb besonders an.
(Rheinberg & Vollmeyer, 2012, S. 60) So plausibel das Atkinson’sche Risiko-
Wahl-Modell auch ist, in der Empirie ist zu
Die Motivation, sich mit einer vorgegebe- beobachten, dass sich nicht alle Personen
nen Lernanforderung auseinanderzusetzen, modellgemäß verhalten und sich bevorzugt
hängt also ab von einem subjektiv akzeptier- den Anforderungen einer subjektiv als
ten Gütemaßstab, der die Messlatte dafür mittelschwierig erlebten Aufgabe stellen.
liefert, wann ich mich als tüchtig wahrneh- Manche Personen scheinen generell Auf-
me. Dieser Gütemaßstab ist durchaus situa- gaben mittleren Schwierigkeitsniveaus zu
tionsabhängig definiert: Wenn ich z. B. aus meiden und stattdessen – wenn sie frei
Krankheitsgründen nur an der Hälfte des auf wählen dürfen – sehr leichte (bisweilen
eine Prüfung vorbereitenden Unterrichts teil- auch sehr schwere) Aufgaben zu bevorzu-
nehmen konnte, wird der subjektive Güte- gen. Offensichtlich gibt es systematische
maßstab niedriger angelegt als wenn ich interindividuelle Unterschiede im Leis-
nicht krank gewesen wäre. Ob die eigene tungsmotiv bzw. im Lern- und Leistungs-
Leistung in einer Prüfung subjektiv als Erfolg motivsystem. Diese können aus unter-
oder als Misserfolg erlebt wird, hängt also schiedlichen theoretischen Perspektiven
auch davon ab, was man sich vorgenommen beschrieben werden, von denen drei der
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hatte. Dieser subjektive und situationsab- einflussreichsten im Folgenden etwas näher


hängige Gütemaßstab wird in der Motiva- betrachtet werden.
tionspsychologie als Anspruchsniveau be-
zeichnet.
Eine gute Beschreibung dessen, wovon die
individuelle Anspruchsniveausetzung ab-
Erfolgsmotivierte vs.
hängt, hat Atkinson (1957) in seinem Risi- Misserfolgsängstliche
ko-Wahl-Modell geleistet, das als Proto-
typ moderner Erwartungs-mal-Wert-Theo- Um die interindividuellen Unterschiede im
riender Motivation gilt (c Abb. 2.10). Dieses Leistungsmotiv zu erklären, postulierte At-
Modell basiert auf der Annahme, dass die kinson (1957), dass das individuelle Leis-
Anspruchsniveausetzung von der Erfolgs- tungsmotiv aus zwei unabhängigen Anteilen
wahrscheinlichkeit (Erwartungskomponen- bestehe: dem sogenannten Erfolgsmotiv (Me)
te) und vom Erfolgsanreiz (Wertkomponen- und dem sogenannten Misserfolgsmotiv
te) abhängt. Eine subjektiv schwierige An- (Mm). Unter Erfolgsmotiv verstand er dabei

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

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Motivierung
mittel-
hoch

Abb. 2.10:
Abhängigkeit der Lern- und
Leistungsmotivierung von der
extrem
subjektiven Aufgabenschwie- niedrig
rigkeit (Erfolgswahrschein-
extrem mittel- extrem
lichkeit) und dem Erfolgsan- leicht schwer schwierig
reiz gemäß dem Risiko-Wahl-
Modell von Atkinson (1957) subjektive Aufgabenschwierigkeit

die Tendenz, Anforderungssituationen eher forderungen wählen. Die eigentlich angemes-


erfolgszuversichtlich anzugehen, unter Miss- senen Aufgaben eines subjektiv mittelschwe-
erfolgsmotiv die Tendenz, sie aus Furcht vor ren Anforderungsniveaus sind für Personen
Misserfolg eher zu meiden. Obwohl beide mit dominierendem Misserfolgsmotiv am
Motivanteile grundsätzlich bei jedem Men- bedrohlichsten, weil sie am ehesten ihre
schen vorhanden seien, komme es zur relativ eigene Tüchtigkeit erkennbar werden lassen.
zeitstabilen und situationsübergreifenden Da ihre Gedanken aber vom möglichen
Dominanz der einen oder der anderen Ten- Misserfolg gefesselt sind, fürchten sie, bei
denz. Bei klarer Dominanz des Erfolgsmotivs der Bearbeitung solcher Aufgaben die eigene
über das Misserfolgsmotiv werden Aufgaben Inkompetenz aufgezeigt zu bekommen. Sie
mittlerer Schwierigkeit bevorzugt, wie es wählen also entweder sehr leichte Aufgaben,
das Risiko-Wahl-Modell auch vorhersagt weil dabei der Misserfolg so gut wie ausge-
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(c Abb. 2.10). Bei Dominanz des Miss- schlossen ist, oder aber sehr schwere Aufga-
erfolgsmotivs kommt es dagegen zu einer ben, weil dort das Scheitern keine Schluss-
Meidungstendenz für Aufgaben mittlerer folgerung auf die eigene Tüchtigkeit erlaubt:
subjektiver Schwierigkeit. Das Misserfolgs- Man muss nicht inkompetent sein, wenn
motiv lässt eine Person defensiv agieren. Sie man bei einer sehr schweren Aufgabe ver-
denkt eher an die negativen Konsequenzen sagt.
eines Misserfolgs als an die positiven Konse- Heckhausen (1963, 1989) hat darauf
quenzen eines (für unwahrscheinlich gehal- hingewiesen, dass es sich beim Atkin-
tenen) Erfolgs. Wenn sie könnte, würde sie son’schen Leistungsmotiv nicht um ein typo-
der Anforderungssituation ganz aus dem logisch trennscharfes Entweder-Oder-Kon-
Weg gehen. Drängt man eine misserfolgs- zept handelt, sondern um ein Kontinuum
ängstliche Person, eine Aufgabe zu bearbei- zwischen Erfolgszuversichtlichkeit und Miss-
ten und lässt ihr dabei die freie Wahl des erfolgsängstlichkeit. Um die Auswirkungen
Schwierigkeitsniveaus, so wird sie entweder der individuellen Motivausprägung auf das
sehr leichte oder sehr schwere Aufgabenan- Verhalten in Lern- und Leistungssituationen

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Teil I Lernen

besser zu verstehen, wurden in der Regel der Lernleistung nur bei einem hinreichenden
Extremgruppenvergleiche durchgeführt, d. h. Anregungsgehalt der Lernsituation zu erwar-
Personen mit überwiegender Erfolgszuver- ten. Nur wenn eine Lernsituationen über-
sicht wurden mit solchen verglichen, bei haupt als ernsthafte Prüfsituationen der per-
denen die Misserfolgsängstlichkeit überwog. sönlichen Tüchtigkeit eingeschätzt wird und
Dabei zeigte sich, dass sich auch die Erfolgs- nur wenn die Lernenden meinen, ein mögli-
zuversichtlichen nicht exakt nach dem Risi- ches Handlungsergebnis sei ausschließlich
ko-Wahl-Modell verhielten, sondern dass sie von ihrem persönlichen Einsatz und/oder
tendenziell etwas riskanter agierten und eher von ihrer eigenen Kompetenz abhängig,
höhere Aufgabenschwierigkeiten wählten. können Unterschiede im Leistungsmotiv
Die Misserfolgsmotivierten zeigten sich in zum Tragen kommen. Zum anderen ist für
den empirischen Studien insgesamt als weni- das Ausmaß der investierten Anstrengung
ger konsistente Gruppe. Wie von Atkinson nicht nur die Dominanz des erfolgszuver-
vermutet wählten einige von ihnen eher zu sichtlichen Leistungsmotivs, sondern auch
leichte, andere eher zu schwere Aufgaben. die Motivationsstärke entscheidend. So
Aber nicht nur bei der Wahl unterschied- unterscheiden sich Erfolgsmotivierte in der
lich schwieriger Aufgaben unterscheiden sich Stärke ihres Leistungsmotivs zum Teil erheb-
Erfolgszuversichtliche und Misserfolgsäng- lich voneinander und die Intensität und
stliche. Auch hinsichtlich der Ausdauer, mit Ausdauer ihrer Bemühungen hängen von
der sie vorgelegte Aufgaben bearbeiten, zei- der Motivstärke ab. Schließlich ist zu beach-
gen sich systematische Unterschiede: Erfolgs- ten, dass vermehrte Lernanstrengungen und
motivierte sind insgesamt ausdauernder als eine erhöhte Ausdauer, nicht zwangsläufig
Misserfolgsängstliche. Zusätzlich zeigt sich auch zu einer besseren Lernleistung führen
jedoch ein differenzielles Befundmuster: müssen. Ein Schüler mit stark ausgeprägtem
Während Erfolgsmotivierte besonders aus- Leistungsmotiv mag viel Zeit und Anstren-
dauernd sind, wenn sie mit einer als leicht gung in die Vorbereitung einer Klausur in-
eingestuften, jedoch bislang nicht gelösten vestieren und dabei viele Seiten im Schulbuch
Aufgabe konfrontiert werden, zeigen Miss- durchlesen. Das garantiert aber noch lange
erfolgsängstliche eine größere Ausdauer, nicht, dass die Inhalte auch so gründlich
wenn die bislang noch nicht gelöste Aufgabe verarbeitet werden, wie es für das Beantwor-
als extrem schwer eingestuft war. ten der Klausurfragen erforderlich wäre. Der
Angesichts der (modellhaft optimalen) Umfang, also das zeitliche Ausmaß des moti-
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Bevorzugung mittelschwerer Anforderun- vierten Lernverhaltens und seine Qualität


gen, eines realistischeren Anspruchsniveaus können also durchaus auseinanderklaffen.
und den damit verbundenen »vernünftige- Betrachtet man anstelle der kurzzeitigen
ren« Zielsetzungen und angesichts der offen- Lernergebnisse aus den laborexperimentel-
kundig größeren Ausdauer von Lernenden len Studien die Resultate langfristiger kumu-
mit einer Dominanz der Erfolgszuversicht lativer Lernprozesse, so werden die Vorteile
sollte man nun erwarten, dass die Erfolgs- eines erfolgszuversichtlichen Leistungsmo-
motivierten auch erfolgreicher lernen. In tivs eher deutlich. Ruhland, Gold und Feld
experimentellen Studien zum kurzfristigen (1978) berichteten über bessere Schulleistun-
Behalten von Informationen fand sich jedoch gen der Erfolgsmotivierten – zumindest
nur selten ein Leistungsvorteil Erfolgsmoti- dann, wenn sie bei ihrem Lernverhalten nicht
vierter. Heckhausen (1989) und Rheinberg in Rollenkonflikte verwickelt und in ihren
(1996) diskutieren verschiedene Gründe für Klassen sozial gut integriert waren. Zu Rol-
diese Befundlage: Zum einen ist ein Zusam- lenkonflikten kann es für die erfolgreich
menhang zwischen dem Erfolgsmotiv und Lernenden kommen, wenn ihr »vorbildli-

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

ches« Lern- und Leistungsverhalten von den Attributionsstile


Lehrpersonen (positiv) und von Mitschülern
davon abweichend (zurückhaltend) bewertet Dass wir nach Gründen und Ursachen für die
wird. In einer retrospektiven Befragung von Ereignisse um uns herum suchen, scheint zur
Studierenden fand Ludwig (1982) Leistungs- Natur des Menschen zu gehören. In der
vorteile der Erfolgsmotivierten. Wenn beim Psychologie spricht man von Kausalattribu-
Leistungsmotiv die erfolgszuversichtlichen tionen, wenn wir Ereignissen, die wir wahr-
Anteile dominierten, ließen sich 36 % der nehmen, Ursachen zuschreiben. Zu solchen
Varianz selbst berichteter Lernaktivitäten Ursachenzuschreibungen kommt es auch im
während des Studiums durch das Leistungs- Zusammenhang mit Leistungsergebnissen in
motiv vorhersagen, 17 % der Varianz der Lern- und Leistungssituationen, insbesonde-
Studienleistungen und immerhin noch 12 % re in Folge von Leistungsbewertungen durch
der Varianz des Abiturdurchschnitts. Benotung. Erlebt man z. B. das Resultat in
der letzten Klausur als einen persönlichen
Erfolg, dann hat man dafür ebenso schnell
Studie: Auswirkungen des
eine Erklärung parat (z. B. »Die Klausur war
Leistungsmotivs auf die Leistung bei
nicht besonders schwer«) wie im Falle eines
komplexen Lernanforderungen
subjektiv erlebten Misserfolgs (z. B. »Ausge-
rechnet das Thema, das behandelt wurde, als
Bei komplexen Lernanforderungen geht
ich krank war, kam dran«).
es oft darum, Probleme zu lösen, bei
Weiner (z. B. 1979, 1992) hat Kausalat-
denen eine Vielzahl von Parametern zu
tributionen in Leistungssituationen systema-
berücksichtigen sind. Ein didaktisch be-
tisch erforscht und auf schulisches Lernen
liebtes Instrument zum Einüben komple-
bezogen. Er stellte dabei fest, dass unter-
xen Problemlösens stellen Computersi-
schiedliche Arten der Ursachenzuschreibung
mulationen dar. Hesse, Spies und Lüer
einen Einfluss darauf haben, ob wir bei der
(1983) setzten ihre Versuchspersonen vor
nächsten Lernanforderung eher einen Erfolg
ein computersimuliertes Problem, das sie
oder einen Misserfolg erwarten, welche emo-
lösen sollten. Es handelte sich dabei um
tionalen Befindlichkeiten wir gegenüber
den Ausbruch einer Epidemie in einer
Lernanforderungen entwickeln und wie wir
kleinen Stadt. Die Anforderung bestand
uns in nachfolgenden Lern- und Leistungssi-
darin, als Leiter der Gesundheitsbehörde
tuationen verhalten.
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der Stadt innerhalb von 20 simulierten


Weiner (1992) unterscheidet drei Dimen-
Wochen die Zahl der erkrankten Perso-
sionen der Ursachenzuschreibung: die Loka-
nen so weit wie möglich zu reduzieren.
tion (den Ort der vermeintlichen Ursache),
Experimentell variiert wurde die »Stärke
ihre zeitliche Stabilität und ihre subjektive
der persönlichen Betroffenheit« über die
Kontrollierbarkeit. Die Lokationsdimension
Gefährlichkeit der Epidemie, die Reali-
ist für die erlebten Selbstbewertungsaffekte
tätsnähe mit der die Situation vorgestellt
entscheidend. Der Ort einer Ursache kann
wurde und die Betonung der persönlichen
entweder internal, d. h. in der Person selbst,
Verantwortung. Während bei geringer
oder external, d. h. in äußeren Gegebenheiten
persönlicher Betroffenheit die Lösungs-
liegen. Internale Ursachenzuschreibungen
güte von Erfolgsmotivierten und Miss-
(z. B. die eigene Fähigkeit oder die investierte
erfolgsmotivierten vergleichbar war, er-
Anstrengung) führen bei Erfolgserlebnissen
zielten die Erfolgszuversichtlichen bei
zu Stolz, bei erlebtem Misserfolg zu Beschä-
hoher persönlicher Betroffenheit eine
mung. Die wahrgenommene zeitliche Stabili-
weitaus bessere Leistung.
tät einer Ursache beeinflusst dagegen die

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Teil I Lernen

Erwartungen darüber, wie man künftig ab- wortlich. Handelt es sich bei den Attributio-
schneiden wird. Glaubt man, dass ein erlebter nen nach erlebtem Erfolg um kontrollierbare
Misserfolg auf zeitlich stabile Faktoren (z. B. Ursachen (z. B. die investierte Anstrengung),
auf eine geringe eigene Fähigkeit) zurückzu- dann werden der erlebte Stolz sowie die
führen ist, reduziert sich die Erwartung, beim zuversichtliche Erwartung für künftige Leis-
nächsten Versuch eine entsprechende Aufga- tungen umso intensiver ausfallen. Einige
be erfolgreich lösen zu können. Die Dimen- typische Ursachenzuschreibungen nach ei-
sion der Kontrollierbarkeit ist für die Inten- nem erlebten Misserfolg in einer Klassen-
sität der Affekte und Erwartungen verant- arbeit sind in c Abbildung 2.11 dargestellt.

Lokation
intern extern

zeitliche Stabilität zeitliche Stabilität


stabil variabel stabil variabel

Nachhilfe- Freunde
Kontrollierbarkeit
hoch

schlecht lehrer ist haben


Faulheit versäumt zu
vorbereitet inkompetent
helfen

Kopf-
geringe schmerzen hoher
niedrig

Fähigkeit während der Anspruch Pech


Prüfung des Lehrers

Abb. 2.11: Typische Ursachenzuschreibung nach Misserfolg im Rahmen des Klassifikationsschemas nach
Weiner (1992)
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Interessanterweise unterscheiden sich die eher denen man im Erfolgsfall hoch positive Selbst-
erfolgsmotivierten von den eher misserfolgs- bewertungsaffekte erlebt. Im Misserfolgsfall
kann zwar auch Ärger auftreten. Wegen der
ängstlichen Personen in systematischer Weise
Zeitvariabilität der Attribution bleibt aber die
in ihren Kausalattributionen nach Erfolg und Aussicht auf Erfolg bei einem erneuten Ver-
Misserfolg (vgl. Meyer, 1973), so dass man in such. Dieses Attributionsmuster wirkt also auf
der Literatur von Attributionsstilen spricht. Erwartung und Anreiz motivational ausge-
sprochen günstig.
Danach haben Erfolgsmotivierte die Tendenz, Die typische Ursachenerklärung von Miss-
eigene Erfolge internalen Faktoren, insbeson- erfolgsängstlichen fällt dagegen deutlich un-
dere der eigenen Fähigkeit zuzuschreiben. Bei günstiger aus. Im Vergleich zu Erfolgszuver-
Misserfolg ist dagegen die Stabilitätsdimension sichtlichen erklären sie eigene Misserfolge häu-
entscheidend. Erfolgszuversichtliche schreiben figer mit einem Mangel an Fähigkeit. Eigene
Misserfolge zeitvariablen Faktoren (z. B. man- Erfolge werden dagegen häufiger dem Glück
gelnder Anstrengung, Pech) zu. Diese Vorein- oder der Aufgabenleichtigkeit zugeschrieben.
genommenheit der Ursachenerklärung macht Damit haben Leistungssituationen im Erfolgs-
Leistungssituationen zu Gelegenheiten, bei fall geringen Belohnungswert. Im Misserfolgs-

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fall führt dagegen dieses Attributionsmuster zu für die Motivierung in Lern- und Leistungs-
starker Betroffenheit und nimmt zugleich die situationen verantwortlich sind. Diese indi-
Hoffnung auf künftig besseres Abschneiden.
(Rheinberg & Vollmeyer, 2012, S. 83–84)
viduelle Erwartungskomponente der Leis-
tungsmotivation hängt unmittelbar davon
Man unterscheidet zwischen selbstwert- ab, inwieweit sich eine Person im aktuellen
unterstützenden und motivationsfördernden Anforderungskontext als begabt oder fähig
Attributionen. Als selbstwertunterstützend einschätzt. Wer sich für sehr kompetent hält,
gelten Attributionen, die Leistungserfolge setzt sich auch hohe Ziele.
eher internal, Misserfolge external attribuie- Die asymmetrischen Attributionsstile Er-
ren. Als motivationsförderlich gilt es darüber folgsmotivierter und Misserfolgsängstlicher
hinaus, einen erlebten Misserfolg internal- lassen vermuten, dass sich letztere als weniger
variabel, d. h. durch eine zu geringe eigene kompetent erleben. Tatsächlich finden sich in
Anstrengung zu erklären. der Mehrzahl einschlägiger Studien auch ent-
sprechende Zusammenhänge zwischen dem
Leistungsmotiv und der Einschätzung der eige-
Lernrelevante Selbstkonzepte nen Fähigkeit. Interessanterweise deuten zu-
dem die Befunde der von Meyer (1984) zu-
Vergleicht man die Unterschiede in den Attri- sammengetragenen Untersuchungen darauf
butionsstilen von Erfolgsmotivierten und hin, dass Erfolgsmotivierte im Vergleich zu
Misserfolgsängstlichen, so wird deutlich, dass Misserfolgsängstlichen auch dann ein besseres
die Attributionen erfolgszuversichtlicher Per- und realistischeres Fähigkeitsselbstkonzept zei-
sonen günstiger für die Selbstbewertung sind: gen, wenn sich beide Gruppen nicht in ihrem
Die internale Attribuierung von Erfolgserleb- tatsächlichen Fähigkeitsniveau unterscheiden.
nissen erhöht mit jedem Erfolgserlebnis zu-
gleich das Vertrauen in die eigenen Fähigkei-
Beispiel: Fähigkeitsselbstkonzept als
ten. Glücklicherweise tendieren Menschen
Abbild der eigenen Fähigkeit?
häufig zu einer selbstwertdienlichen Verzer-
rung bei der Ursachenzuschreibung nach Er-
Individuelle Einschätzungen der eige-
folg. So analysierten Möller und Köller (1999)
nen Begabungen und Fähigkeiten entspre-
die spontanen Attributionen von Studieren-
chen nicht immer den tatsächlichen Bega-
den nach Examensprüfungen und von Schü-
bungen und Fähigkeiten. Häufig kommt
lern nach der Rückgabe von Klassenarbeiten.
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es zu Über- oder Unterschätzungen. Den-


Vor allem erwartungswidrige Noten führten
nis glaubt z. B. ein guter Fußballspieler zu
zu vermehrter Ursachensuche. Selbst Schüler
sein, obwohl ein (sozialer) Vergleich mit
mit einem eher geringen Vertrauen in die
den Klassenkameraden im Sportunterricht
eigene Leistungsfähigkeit begründeten eine
diese Selbsteinschätzung leicht widerlegen
erwartungswidrig gute Leistung häufig spon-
könnte. Dennoch hat die (positive) Selbst-
tan mit der eigenen Fähigkeit. Solche Ursa-
einschätzung Konsequenzen, indem Den-
chenzuschreibungen sind geeignet, das Selbst-
nis einem Fußballverein beitritt und mit
konzept der eigenen Begabung zu erhöhen.
der Zeit seine Spielstärke tatsächlich ver-
Es ist wenig verwunderlich, dass bei Er-
bessert. Andere glauben, nicht singen zu
folgsmotivierten im Vergleich zu Miss-
können, obwohl sie es nie richtig auspro-
erfolgsängstlichen in der Regel ein günstige-
biert haben. Aber das negative Selbstkon-
res Selbstkonzept eigener Begabung zu finden
zept bewirkt, dass sie sich nicht zutrauen,
ist. Wir haben oben dargelegt, dass das
im Schulchor mitzusingen, obwohl sie es
Anspruchsniveau und die subjektive Erfolgs-
wegen der netten Leute gerne täten.
wahrscheinlichkeit in entscheidender Weise

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Teil I Lernen

Das Fähigkeitsselbstkonzept ist in der Regel entwicklung scheint allerdings der Effekt
zeitlich recht stabil. Dennoch verändert es der sozialen Vergleiche der stärkere zu sein
sich bisweilen erstaunlich schnell und deut- (Marsh, Kong & Hau, 2000; Trautwein &
lich, wenn sich der schulische Kontext ver- Lüdtke, 2005).
ändert und das mit ihm verbundene Leis- Überschrieben haben wir dieses Teilka-
tungsniveau der Lerngruppe. In einer Längs- pitel mit »Motivation und Selbstkonzept«,
schnittuntersuchung zum Wechsel von der da dem Selbstkonzept eigener Fähigkeiten
Grundschule zur Sekundarschule mit über für ein motiviertes Lernverhalten eine ent-
600 Schülerinnen und Schülern fanden Jeru- scheidende Rolle zukommt. Sowohl in der
salem und Schwarzer (1992), dass sich das Selbstbestimmungstheorie der intrinsischen
schulbezogene Fähigkeitsselbstkonzept der Motivation als auch in der Theorie der
leistungsschwächeren Viertklässler beim Leistungsmotivation spielt der Grundge-
Wechsel auf die Hauptschule innerhalb danke eine zentrale Rolle, dass die Initiie-
weniger Monate deutlich verbesserte. Mit rung von Lernhandlungen etwas mit den
Marsh (1987, 2005) lässt sich dieses Phä- Vorstellungen, Einschätzungen und Bewer-
nomen auf den »Big-Fish-Little-Pond«-Ef- tungen zu tun hat, die die eigene Person
fekt (BFLPE) zurückführen: Zwei Lernende betreffen. Seit Mitte der 1970er Jahre hat
mit gleichem Leistungsniveau besuchen sich daher eine eigene Forschungstradition
Schulen mit unterschiedlichem Leistungsan- zum Thema Selbstkonzept etabliert. Als
spruch. Der Lernende in der Schule mit dem Selbstkonzept bezeichnet man die Wahr-
niedrigeren Leistungsniveau zieht einen für nehmung und Einschätzung eigener Fähig-
den Selbstwert günstigeren sozialen Ver- keiten und Eigenschaften. Vielfältige empi-
gleich, da er zu den Leistungsstarken in rische Befunde verweisen auf eine multidi-
seiner Klasse gehört (großer Fisch im kleinen mensionale Struktur des Selbstkonzepts.
Teich). Sein Fähigkeitsselbstkonzept entwi- Das Selbstbild einer Person differenziert
ckelt sich deshalb positiv. Der andere, sich demnach zunächst einmal in verschie-
eigentlich gleich Leistungsfähige, der die dene Inhaltsbereiche (Shavelson, Hubner &
leistungsstärkere Schule besucht, gehört Stanton, 1976), vor allem in einen akade-
eher zu den Leistungsschwächeren seiner mischen und einen nicht-akademischen Be-
Klasse (kleiner Fisch im großen Teich); reich. Wo der akademische Bereich ange-
entsprechend wird sich sein Fähigkeits- sprochen ist, geht es um die Selbstwahrneh-
selbstkonzept aufgrund der sozialen Ver- mung eigener schulischer Fähigkeiten. Das
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gleiche negativ entwickeln. nicht-akademische Selbstkonzept umfasst


Dem auf sozialen Vergleichen basieren- hingegen körperbezogene und soziale As-
den negativen Bezugsgruppeneffekt kann pekte der Selbstwahrnehmung, wie z. B. ein
bisweilen die positive Tendenz entgegen- Selbstkonzept der eigenen Sportlichkeit, ein
wirken, das eigene Selbstkonzept deshalb Selbstkonzept des Aussehens, ein Selbst-
höher einzustufen, weil man sich des an- konzept für die Beziehungen zu Peers und
spruchsvollen Kontextes bewusst ist, inner- eines für die Beziehung zu den Eltern
halb dessen man sich bewegt (»Basking-In- (Marsh, 1990). Das Selbstkonzept im All-
Reflected-Glory«-Effekt). Dieser Effekt gemeinen wie auch das akademische Selbst-
könnte beispielsweise in Eliteschulen oder konzept sind hierarchisch aufgebaut. Die
-universitäten auftreten. In vielen Fällen ursprüngliche Annahme von Shavelson
wird es vermutlich zu einer Konfundierung et al. (1976), dass es so etwas wie ein
von BFLP-Effekten mit Effekten der »ruhm- »globales« akademisches Selbstkonzept ge-
reichen Umgebung« kommen. In seiner ben würde, hat sich allerdings empirisch
Bedeutsamkeit für die schulische Leistungs- nicht belegen lassen. Das akademische

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Selbstkonzept differenziert sich vielmehr wird. So haben Arens, Yeung, Craven und
schon im frühen Schulalter aus und umfasst Hasselhorn (2011) eine Studie vorgelegt,
die Einschätzung und Bewertung so unter- deren Ergebnisse tatsächlich in diesem
schiedlicher Inhaltsbereiche wie des Rech- Sinne für eine »zweifache Multidimensio-
nens sowie des Lesens und des Schreibens nalität« des akademischen Selbstkonzeptes
(Byrne, 1996). Marsh, Craven und Debus sprechen. Dass es funktional angemessen
(1999) warfen darüber hinaus die Frage ist, zwischen einer Kompetenz- und einer
auf, ob nicht die Bereichsspezifität des aka- Affektdimension der Selbsteinschätzung zu
demischen Selbstkonzeptes noch weiter unterscheiden, zeigte sich nämlich daran,
ausdifferenziert werden müsste, indem je- dass allein die Kompetenz- und nicht die
weils zwischen einer Kompetenz- (wie gut Affektdimension des Selbstkonzepts mit
meine ich etwas zu können) und einer dem Leistungsverhalten der Schüler kova-
Affektdimension der Selbsteinschätzung riierte.
(wie gerne mag ich etwas) unterschieden

Studie: Dimensionalität des Selbstkonzepts

Den Nachweis der »zweifachen Multidimensionalität« des akademischen Selbstkonzepts


erbrachten Arens et al. (2011) durch zwei Analyseschritte: (1) eine konfirmatorische
Faktorenanalyse zur Überprüfung der internen Struktur des akademischen Selbstkonzepts
und (2) die Untersuchung des Zusammenhangs der Selbstkonzeptfacetten zur Schulleis-
tung.
Schülern der Klassenstufen 3 bis 6 wurden Fragen zu ihren Selbstwahrnehmungen
(Selbstkonzept) in Deutsch und Mathematik vorgelegt. Ein Teil der Fragen (Items) bezog
sich auf die Selbstwahrnehmung der eigenen Fähigkeiten in Deutsch und Mathematik
(z. B. »In Deutsch bin ich gut.«, »In Mathe lerne ich schnell.«), ein anderer Teil auf die
motivationalen und affektiven Reaktionen der Schüler bezüglich Deutsch und Mathe-
matik (z. B. »Ich freue mich auf Deutsch.«, »Ich mag Mathe.«). In einer konfirmato-
rischen Faktorenanalyse wurde untersucht, ob die Variabilität der Antworten auf eine
oder mehrere Dimensionen zurückzuführen sind. Dazu wurden drei verschiedene
Faktormodelle auf ihre Güte getestet: ein erstes Modell, das von einem globalen Faktor
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für das akademische Selbstkonzept ausgeht und daher weder zwischen Mathe und
Deutsch, noch zwischen kompetenzbezogen und affektbezogen unterscheidet; ein
zweites Modell, in dem im Sinne der Bereichsspezifität des akademischen Selbstkonzepts
zwischen einem verbalen und mathematischen Selbstkonzept differenziert wird; sowie
einem dritten Modell, in dem zusätzlich zu der Bereichsspezifität des akademischen
Selbstkonzepts zwischen einer Kompetenz- und Affektdimension unterschieden wird.
Das dritte Modell zeigte eine bessere Passung zu den Daten als die beiden anderen
Modelle. Das spricht für eine »zweifache Multidimensionalität« des akademischen
Selbstkonzepts.
Zusätzlich wurde untersucht, ob die vier Facetten des akademischen Selbstkonzepts
(Mathe-Kompetenz, Mathe-Affekt, Deutsch-Kompetenz, Deutsch-Affekt) unterschiedliche
Zusammenhänge zu den Deutsch- und Mathematikleistungen aufweisen. Die Kompetenz-
dimensionen des mathematischen und verbalen Selbstkonzepts korrelierten jeweils höher
mit der Schulleistung als die Affektdimensionen. Dieses Muster zeigte sich sowohl innerhalb
der Kompetenzbereiche als auch zwischen den beiden Bereichen. Die Kompetenzdimension

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Teil I Lernen

des mathematischen Selbstkonzepts zeigte im Vergleich zur Affektdimension nicht nur


einen engeren Zusammenhang zur Mathematiknote, sondern auch zur Deutschnote.
Parallel dazu zeigte die Kompetenzdimension des verbalen Selbstkonzepts im Vergleich zur
Affektdimension einen engeren Zusammenhang zur Deutschnote, aber auch zur Mathe-
matiknote. Dieses Befundmuster erweitert die empirische Evidenz zur »zweifachen
Multidimensionalität« des akademischen Selbstkonzepts um einen funktionalen Aspekt:
Zur Vorhersage und Erklärung von mathematischen und verbalen Leistungen erweist sich
die Kompetenzdimension des entsprechenden bereichsspezifischen akademischen Selbst-
konzepts der Affektdimension als überlegen.

Für die Genese des akademischen Selbst- (sozialer Vergleich), sondern sie vergleichen
konzepts sind vor allem Leistungsrückmel- auch ihre eigenen Leistungen in den ver-
dungen signifikanter Anderer (z. B. Lehrer) schiedenen Lernbereichen miteinander,
sowie soziale und dimensionale Vergleiche z. B. ihre Leistungen in den sprachlichen
bedeutsam. So vergleichen Schüler ihre mit ihren Leistungen in den naturwissen-
eigenen Fähigkeiten und Leistungen nicht schaftlichen Fächern (dimensionaler Ver-
nur mit denen der anderen Mitschüler gleich).

Fokus: Das Modell des »Internal vs. External Frame of Reference« (I/E-Modell)

Das I/E-Modell von Marsh (1990) erklärt, wie es zur Ausdifferenzierung des akademischen
Selbstkonzepts in einen mathematischen und verbalen Bereich kommt. Grundlage ist das
Zusammenspiel von zwei simultan ablaufenden Vergleichsprozessen. In einem sozialen
(externalen) Vergleich vergleichen Schüler ihre eigenen fachlichen Leistungen mit den
Leistungen ihrer Mitschüler im gleichen Fach. Da im Grundschulalter Schüler, die gut in
Deutsch sind, meist auch gut in Mathematik sind, sollte der soziale Vergleichsprozess dazu
führen, dass Schüler mit einem positiven verbalen Selbstkonzept auch über ein eher
positives mathematisches Selbstkonzept verfügen. Wenn diese Annahme stimmt, sollte es
also positive Korrelationen zwischen dem verbalen und dem mathematischen Selbstkon-
zept geben.
Die Empirie sieht jedoch anders aus. Zumeist finden sich keine bedeutsamen Korrela-
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tionen zwischen dem verbalen und dem mathematischen Selbstkonzept. Verantwortlich ist
dafür ein zweiter Vergleichsprozess. Beim dimensionalen (internalen) Vergleich werden die
eigenen Leistungen in einem Fach den eigenen Leistungen in einem anderen Fach
gegenübergestellt. Dieser Vergleichsprozess bewirkt einen Kontrasteffekt, wodurch das
Selbstkonzept für denjenigen akademischen Bereich gestärkt wird, für den die individuell
besten Leistungen wahrgenommen werden. Nimmt ein Schüler z. B. wahr, dass er besser in
Mathematik ist als in Deutsch, so wird sein mathematisches Selbstkonzept gestärkt, sein
verbales Selbstkonzept jedoch geschwächt. Somit führt der dimensionale Vergleich am
Ende dazu, dass es zu einem negativen Zusammenhang zwischen dem mathematischen und
verbalen Selbstkonzept kommt. Durch das Zusammenspiel des externalen und des
internalen Vergleichsprozesses kommt es letztlich zu einer Unabhängigkeit des mathema-
tischen vom verbalen Selbstkonzept, da sich der positive Zusammenhang nach dem sozialen
Vergleichsprozess und der negative Zusammenhang nach dem dimensionalen Vergleichs-
prozess ausgleichen.

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Das Zusammenspiel von sozialen und dimensionalen Vergleichsprozessen erklärt auch die
Bereichsspezifität von Einflüssen der Schulleistung auf das Selbstkonzept (vgl. Marsh &
Craven, 2006). So konnte gezeigt werden, dass gute Mathematikleistungen sich positiv auf
das Selbstkonzept in Mathematik, aber negativ auf das verbale Selbstkonzept auswirken.
Ebenso beeinflussen gute verbale Leistungen das verbale Selbstkonzept positiv, das
mathematische Selbstkonzept jedoch negativ. Der positive Einfluss von Leistung auf das
Selbstkonzept innerhalb eines Inhaltsbereichs lässt sich auf den vom I/E-Modell angenom-
menen sozialen Vergleichsprozess zurückführen, während der negative Einfluss auf das
Selbstkonzept in anderen Inhaltsbereichen durch den dimensionalen Vergleichsprozess
bedingt zu sein scheint.

Für den individuellen Lernerfolg ist das einen Einfluss auf das Selbstkonzept ausübt,
Selbstkonzept von hoher Relevanz. Dies als auch das Selbstkonzept die Leistungs-
belegt vor allem der empirisch gesicherte entwicklung beeinflusst (Marsh & Craven,
Zusammenhang zwischen Selbstkonzept 2006).
und schulischer Leistung (Guay, Ratelle, Aber kommen wir abschließend noch
Roy & Litalien, 2010; Marsh & Craven, einmal auf das Verhältnis von Leistungsmo-
2006). Für die Erklärung des Zusammen- tiv und Fähigkeitsselbstkonzept zurück. Ob
hangs von Selbstkonzept und Leistung das Leistungsmotiv das Fähigkeitsselbstkon-
findet man allerdings zwei gegensätzliche zept determiniert oder ob sich der Kausal-
theoretische Erklärungsansätze. Nach dem zusammenhang gerade anders herum dar-
Self-Enhancement-Ansatz stellt das Selbst- stellt, ist genauso schwer zu beantworten
konzept eine Determinante der schulischen wie das berüchtigte Henne-Ei-Problem. Da
Leistung dar, während der Skill-Develop- allerdings die theoretischen Modellvorstel-
ment-Ansatz davon ausgeht, dass es die lungen zum Leistungsmotiv im Vergleich zu
schulische Leistung ist, die das Selbstkon- denen des Selbstkonzepts elaborierter aus-
zept beeinflusst (Guay, Marsh & Boivin, fallen, scheint uns die Konzeption des Leis-
2003). Die Unterscheidung dieser beiden tungsmotivs besser geeignet, interindividu-
Ansätze ist nicht nur von theoretischer, elle Unterschiede individueller motivationa-
sondern auch von praktischer Relevanz. So ler Voraussetzungen des Lernens zu um-
geht der Self-Enhancement-Ansatz davon schreiben. Um deutlich zu machen, dass das
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aus, dass sich eine Verbesserung des Selbst- Konzept der eigenen Begabung (oder andere
konzepts direkt in einer Verbesserung des verwandte Konzepte, wie z. B. das Konzept
individuellen Lernzuwachses niederschlägt der Selbstwirksamkeitserwartungen) nicht
(vgl. Haney & Durlak, 1998). Von einer schon vollständig in dem motivationspsy-
gezielten Förderung des Selbstkonzepts wä- chologischen Konzept des Leistungsmotivs
ren demnach positive Effekte auf die schu- enthalten sind, sprechen wir vom Lern- und
lische Entwicklung zu erwarten. Auf der Leistungsmotivsystem als einem relativ zeit-
Grundlage des Skill-Development-Ansatzes stabilen Personmerkmal, das durch die Ein-
wäre aufgrund der hypothetisch gegenteili- schätzungen der eigenen Fähigkeit, durch
gen Wirkrichtung die pädagogische Konse- differenzielle Attribuierungstendenzen nach
quenz jedoch eine andere. Da beide Ansätze Erfolgs- bzw. Misserfolgserlebnissen und
in der Literatur vielfach Untermauerung durch die assoziierten Zielsetzungen, Selbst-
gefunden haben (Valentine, DuBois & Coo- bewertungen und damit verbundenen emo-
per, 2004), wird mittlerweile davon ausge- tionalen Empfindungen näher charakteri-
gangen, dass sowohl die schulische Leistung siert ist.

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Teil I Lernen

2.5 Volition und lernbegleitende Emotionen

Jahrzehntelang hat sich die Motivations- »Willensbetätigung« untersucht worden


psychologie mit den individuellen Voraus- war. Um die Volition einerseits von der
setzungen erfolgreichen Lernens beschäf- Motivation abzugrenzen und andererseits
tigt, die dazu führen, dass überhaupt Lern- deutlich zu machen, dass beide im Hand-
absichten gebildet werden. Interesse an den lungsablauf eng aufeinander bezogen sind,
spezifischen Inhalten einer Lernanforde- haben Heckhausen, Gollwitzer und Wein-
rung, die Hoffnung auf Lernerfolg und eine ert (1987) das Rubikon-Modell zielgerich-
gute Leistung sowie der damit verbundene teter Handlungen formuliert (c Abb. 2.12).
Wunsch, sich ein weiteres Mal in seinem Der Grundgedanke dieses Modells ist, dass
eigenen Leistungsvermögen bestätigt zu in dem Moment der Entscheidung für das
sehen, motiviert zum Lernen. Diese Motive Umsetzen einer Handlung die Grenzlinie
können dazu antreiben, eine Lernabsicht zwischen Motivation und Volition über-
auszubilden und Anstrengungen in die Be- schritten wird. Heckhausen et al. (1987)
wältigung von Lernaufgaben zu investieren. haben die Bezeichnung Rubikon-Modell
Die Absicht, ein Ziel zu erreichen, ist jedoch gewählt, um an die folgenreiche Entschei-
bekanntlich nicht identisch mit ihrer Reali- dung Caesars zur bewaffneten Überque-
sierung. Hierfür bedarf es der Initiierung rung des Grenzflusses Rubikon zwischen
und Ausführung geeigneter Handlungen, Gallia Cisalpina und Rom (im Jahr 49 v.
die – weil sie ja gewollt sind – als volitional Chr.) zu erinnern. Das war ein Staats-
bezeichnet werden (Heckhausen & Kuhl, streich. Caesar kam damit seiner geplanten
1985). Entmachtung durch den römischen Senat
Damit wird eine Thematik wieder auf- zuvor. Von dem Moment an, in dem
gegriffen, die bereits zu Beginn des 20. Caesar seine Absicht zum Überschreiten
Jahrhunderts von Narziß Ach (1905) unter des Rubikon gefasst hatte, gab es kein
der Bezeichnung »Willenstätigkeit« bzw. Zurück mehr.

Intentions- Intentions- Intentions- Intentions-


bildung initiierung realisierung deaktivierung
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Motivation Volition Volition Motivation


prädezisional präaktional aktional postaktional
»Rubikon«

Abwägen Planen Handeln Bewerten

Abb. 2.12: Das Rubikonmodell des Handelns nach Heckhausen (1989; modifiziert übernommen aus
Rheinberg & Vollmeyer, 2012)

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Verspürt eine Person einen hinreichend ernst- stand. In der motivationalen Phase konkur-
haften Wunsch, etwas zu tun, so beginnt sie rieren dann erneut die unterschiedlichen
damit, die Machbarkeit und die Konsequen- Wünsche und Bedürfnislagen, bevor es zu
zen seiner Umsetzung und die Wünschbar- einer neuen Absichtsbildung kommen mag.
keit dieser Konsequenzen zu beurteilen. Dem Die volitionalen Kräfte zeigen sich in
Rubikon-Modell zufolge befindet sich die besonderen Verhaltensweisen, die wir ge-
Person dabei zunächst in einer realitätsorien- meinhin als Hinweise auf ein diszipliniertes
tierten motivationalen Phase, in der sie offen und gewissenhaftes Lernen werten. Gewis-
für alle entscheidungsrelevanten Informatio- senhaftigkeit wird übrigens auch in der Per-
nen ist. Insbesondere werden auch negative sönlichkeitspsychologie als eine der zentralen
Informationen sondiert, geradezu so, als Dispositionen angesehen, in der sich Men-
wolle die Person sich selbst davon überzeu- schen systematisch voneinander unterschei-
gen, dass es sich nicht lohne, dem Wunsche den (McCrae & Costa, 1999).
folgend zu handeln. Nur wenn sich die
Überzeugung einstellt, dass die Folgen einer
Beispiel: Gewissenhaftigkeit
Nicht-Realisierung des Wunsches im Ver-
gleich zu den Folgen seiner Realisierung
Seit einiger Zeit hat man sich um eine
unannehmbar sind, kommt es zur Intentions-
Klärung der Prädiktionskraft nicht-kog-
bildung: Aus dem Wunsch wird eine Absicht.
nitiver Persönlichkeitsmerkmale für be-
Das ist der entscheidende Punkt.
rufliche Leistungen bemüht. Barrick und
Mit der Absichtsbildung ist der Rubikon
Mount (1991) kommen nach einer Sich-
überschritten, so dass sich die Bewusstseins-
tung vorliegender Daten zu den von
lage der Person schlagartig ändert. Die Person
McCrae und Costa (1999) postulierten
tritt in eine realisierungsorientierte Volitions-
fünf Hauptfaktoren der menschlichen
phase ein, in der vorzugsweise solche Infor-
Persönlichkeit (Extraversion, emotionale
mationen beachtet werden, die für die Reali-
Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaf-
sierung der Absicht relevant sind. Wenn die
tigkeit und Offenheit für Erfahrungen) zu
Absicht etwa darin besteht, einen bestimmten
folgendem Befund: Nur die Gewissenhaf-
schulischen Bildungsabschluss zu erreichen,
tigkeit ist ein valider Prädiktor der Per-
dann gewinnen in der Volitionsphase jene
formanz über alle Stichproben und Be-
psychischen Kräfte an Bedeutung, die über
rufsgruppen hinweg. Vermutlich handelt
das notwendige »Motiviertsein« und über die
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es sich bei diesem Konstrukt um ein


notwendige Bereitschaft, Anstrengung zu in-
Konglomerat motivationaler und volitio-
vestieren, hinausgehen. Erst die volitionalen
naler Dispositionen.
Kräfte ermöglichen es, die Umsetzung der
gebildeten Absicht unbeirrt und hartnäckig
zu verfolgen. Sie äußern sich z. B. in protek- Hoch ausgeprägte volitionale Kompetenzen
tiv-handlungsleitenden Einstellungen und erhöhen die Selbstkontrolle und das Selbst-
Überzeugungen, so etwa in der Überzeugung, regulationspotenzial. Dies kommt dem Ler-
die bevorstehenden Ereignisse und Handlun- nenden insbesondere in solchen Lernsitua-
gen selbst vollständig kontrollieren zu kön- tionen zu Gute, in denen die Lernziele relativ
nen (Gollwitzer, 1991). Erst wenn das eigene global und vage sind.
Handeln zur Realisierung der Absicht geführt
hat, lässt der volitionale Bewusstseinszustand Angemessen eingesetzte volitionale Kontrolle
hilft Personen, das zu tun, was sie tun wollen,
nach. Es kommt dann zur Deaktivierung der indem sie ihre kognitiven, motivationalen und
Intention und die Person kehrt zurück in emotionalen Prozesse zielführend regulieren.
einen realitätsorientierten Bewusstseinszu- (Corno & Kanfer, 1993, S. 303)

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Teil I Lernen

Der funktionalen Beschreibung von Corno


Beispiel: Handlungsinitiierung
und Kanfer (1993) ist zu entnehmen, dass die
Kontrolle unterschiedlichster Prozesse wäh-
Ein durchaus begabter Schüler hat in den
rend des Lernens den Kern der Volition aus-
letzten Monaten in seinen schulischen
macht. Insofern hat das Konzept der Volition
Leistungen so deutlich nachgelassen, dass
große Ähnlichkeiten mit dem in Kapitel 2.3
seine Versetzung gefährdet ist. Nach
dargestellten Konzept der Metakognition, das
einem klärenden Gespräch mit seinen
die Potenziale zur Kontrolle und Regulation
Eltern entscheidet er sich, die Rückstände
kognitiver Prozesse beschreibt. Folgt man der
in den besonders kritischen Fächern
Terminologie von Corno und Kanfer (1993),
systematisch aufzuarbeiten. Er lässt sich
dann ließen sich Metakognitionen auch als
von den Lehrern einen Stoffplan aufstel-
Teilmenge der Volition auffassen, denn Voli-
len und nimmt sich vor, diesen Plan
tion bezieht sich sowohl auf die Kontrolle der
abzuarbeiten. Aber die Nachmittage ver-
kognitiven als auch auf die Kontrolle der
gehen, ohne dass er in sein Lernpro-
motivationalen und emotionalen Prozesse.
gramm einsteigt. Irgendwie »steht er sich
Während wir kognitive und motivationale
auf dem Fuß«; es gibt immer irgendwel-
Prozesse in den vorangehenden Abschnitten
che Umstände, warum es jetzt gerade
dieses Kapitels bereits kennengelernt haben,
nicht gut passt und der Beginn immer
war von emotionalen Prozessen bisher noch
wieder verschoben wird. Die Initiierung
nicht die Rede. Dies wird am Ende dieses
der ersten Lernschritte, um den Ent-
Kapitels nachgeholt mit einer kurzen Skizze
schluss umzusetzen, wird zum Problem.
der bei Lernleistungen relevanten Emotionen.
Zunächst führen wir aus, worin die volitiona-
len Probleme beim Lernen bestehen können, Ist die Handlungsinitiierung gelungen, indem
welche Handlungskontrollfunktionen durch beispielsweise der Einstieg in einen komple-
volitionale Prozesse erfüllt werden und welche xen Lernprozess vollzogen wurde, können
stabilen interindividuellen Differenzen (voli- jedoch weitere volitionale Probleme hinzu-
tionale Stile) dabei zu beachten sind. kommen: Vor allem muss die Handlungsten-
denz andauern, d. h. sie muss so lange das
Handeln leiten, bis das Ziel einer Handlung
Volitionale Probleme erreicht ist. In dem oben skizzierten Beispiel
wird das Erreichen des Lernzieles vermutlich
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In der Willenspsychologie werden vor allem Wochen oder gar Monate in Anspruch neh-
drei Arten von Volitionsproblemen unter- men. In dieser Zeit wird der betroffene
schieden (vgl. Heckhausen, 1989): die Initi- Schüler immer wieder neue Probleme der
ierung einer Handlung, ihre Persistenz und, Handlungsinitiierung erleben, wenn es dar-
damit eng verknüpft, die Überwindung von um geht, einen nächsten Lernschritt zu reali-
Handlungshindernissen. Viele Motivations- sieren. Auch werden sich Hindernisse unter-
theorien gehen implizit davon aus, dass eine schiedlichster Art auftun (z. B. Ärger, dass ein
Handlung automatisch initiiert wird, wenn intensiv bearbeiteter Sachverhalt doch nicht
nur eine hinreichend starke Motivationsten- verstanden wurde; Einladung zum Kinobe-
denz entstanden ist. Häufig ist dies jedoch such), um eine initiierte Handlungstendenz
nicht der Fall, da erst der »richtige Zeit- zu blockieren. Lernende unterscheiden sich
punkt« zur Realisierung einer eigenen Ab- in ihrer Fähigkeit, einmal gefasste Lernent-
sicht kommen muss. Motivationstendenzen schlüsse gegen konkurrierende Handlungs-
erhöhen allerdings die Bereitschaft, eine impulse abzuschirmen und Persistenz im
beabsichtigte Handlung auszuführen. Lernverhalten zu zeigen (»Warum sitze ich

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eigentlich hier und lerne, wenn ich doch Diskrepanz durch fortgesetzte Handlungen
nichts verstehe?«). zu verringern. Sieht man die Möglichkeit, die
Diskrepanz durch eigenes Tun merklich ver-
Auf einer ersten Stufe besteht Persistenz nur in
ringern zu können, werden (4) die notwen-
der Fähigkeit einer unerledigten Handlungs-
tendenz, sich wieder zu melden, wenn die digen Bewältigungstätigkeiten initiiert. Bei
Situation die Aufmerksamkeit nicht anderwei- großer wahrgenommenen Diskrepanz und
tig in Beschlag nimmt und wenn keine andere geringer Kompetenzüberzeugung, diese durch
Handlungstendenz stärker ist. Höhere Anfor- eigenes Tun merklich verringern zu können,
derungen an Persistenz werden erfüllt, wenn
die unerledigte Handlungstendenz die Anre- wird der Zyklus der Selbstregulation aller-
gungswirkung starker Stimuli der umgebenden dings abgebrochen.
Situation ausblenden kann. Diese Persistenz Eine eher funktionale Klassifikation der
auf zweiter Stufe könnte noch von einer Per- unterschiedlichen Prozesse der volitionalen
sistenz auf dritter Stufe übertroffen werden,
wenn es gelänge, einer Handlungstendenz selbst
Handlungskontrolle stammt von Julius Kuhl
gegen konkurrierende Handlungstendenzen von (1987, 1996). Kuhl unterscheidet sechs Ar-
größerer Stärke zeitweiligen Vorrang zu geben. ten von Strategien, die ein Lernender mit
(Heckhausen, 1989, S. 192) günstigen volitionalen Voraussetzungen ein-
setzt, wenn sich innere oder äußere Hinder-
nisse der Absichtsrealisierung in den Weg
Volition als Handlungskontrolle stellen oder wenn die der Handlungsabsicht
zugrunde liegende Motivation zu schwach ist
Die Frage, wie es gelingen kann, Handlungs- und gegen andere, stärkere Tendenzen abge-
absichten tatsächlich zu realisieren, zielfüh- schirmt werden soll.
rende Handlungen zu beginnen und sie allen
konkurrierenden Handlungsimpulsen zum
Fokus: Strategien der
Trotz bis zur Zielerreichung andauern zu
Handlungskontrolle (nach Kuhl, 1996)
lassen, ist Gegenstand von Theorien der
Selbstregulation bzw. der Handlungskon-
1. Aufmerksamkeitskontrolle: Ausblen-
trolle. Kanfer (1996) hat in seinem Selbstre-
den von Informationen, die absichts-
gulationsmodell die Schritte eines selbstregu-
widrige Motivationstendenzen stärken.
lativen Zyklus am Beispiel des Auftretens
2. Enkodierungskontrolle: Fokussieren
von Handlungshindernissen folgenderma-
der Verarbeitungsfunktionen auf ziel-
ßen beschrieben: Wenn es zur Unterbrechung
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relevante Informationen.
einer Lernhandlung gekommen ist, so wird
3. Motivationskontrolle: Steigerung der
die Situation (1) zunächst daraufhin be-
eigenen Motivation, die beabsichtigte
urteilt, ob sie überhaupt noch unter der
Handlung auszuführen.
Kontrolle des Handelnden steht. Ist dies nicht
4. Emotionskontrolle: Beeinflussung eige-
mehr der Fall, wird der Selbstregulationspro-
ner Gefühlslagen zur Steigerung der
zess abgebrochen. Erscheint die Situation
Handlungseffizienz.
hingegen als prinzipiell kontrollierbar, so
5. Misserfolgs- bzw. Aktivierungskon-
wird (2) geprüft, ob es sich bei dem aufge-
trolle: Unterbinden von Tendenzen,
tretenen Hindernis um ein wichtiges Anlie-
einem Misserfolg lange in Gedanken
gen der Person handelt. Ist das der Fall, dann
nachzuhängen und Abstandnehmen
kommt es (3) zu einer Prüfung des erreichten
von unerreichbaren Zielen.
Standes der unterbrochenen Handlung. Da-
6. Initiierungskontrolle: Vermeiden über-
bei wird die Diskrepanz zum Handlungsziel
mäßig langen Abwägens von Hand-
festgestellt und es wird geprüft, inwieweit
lungsalternativen.
man sich selbst in der Lage sieht, diese

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Teil I Lernen

Die Anwendung solcher Handlungskon- übermäßig langen Nachgrübeln darüber, wie


trollstrategien ist hilfreich, aber nicht ein- es dazu gekommen ist oder wer daran Schuld
fach. Leicht vorstellbar ist, dass es zu man- habe. Stattdessen beginnen sie sehr bald
cherlei »Störungen« der Handlungskon- wieder damit, verschiedene Handlungsmög-
trolle kommen kann. Versagt etwa die lichkeiten zu generieren. Lageorientierte Per-
Emotionskontrolle, dann kann es dazu sonen dagegen verharren in einer Fixierung
kommen, dass etwa ein Gefühl der Verär- auf eine eingetretene oder vorgestellte miss-
gerung über eine Bemerkung eines Lehrers liche Lage, was ein Verhalten hervorbringt,
oder auch ein lähmendes Gefühl, das sich das wir in Kapitel 1.2 als Phänomen der
nach einer unangenehmen Nachricht ein- »erlernten Hilflosigkeit« beschrieben haben.
stellt, nachfolgend zu einer fortgesetzten
Die Forschung hat zunächst gezeigt, dass Lage-
Unaufmerksamkeit im Unterricht führt, orientierung eigentlich durchaus etwas Positi-
obwohl eigentlich die Absicht bestand, ves sein kann: Zögern und Nachdenken kann
heute besonders gut aufzupassen. gegenüber einem allzu schnellen Handeln Vor-
teile haben, besonders in komplexen Situatio-
nen, die zahlreiche, oft gar nicht sofort erkenn-
bare Risiken bergen. Lageorientierte zeigen in
Volitionale Stile der Tat auch bei [komplexeren] Alltagsaufga-
ben […] (z. B. Erarbeitung eines Lehrbuchtex-
Aus Alltagsbeobachtungen mag man bis- tes) gegenüber Handlungsorientierten Leis-
weilen den Eindruck gewinnen, dass sich tungsvorteile, wenn sie nicht unter Zeitdruck
gesetzt werden und sich überhaupt in einer
Menschen systematisch in der Art und relativ entspannten Situation befinden. […]
Weise unterscheiden, wie sie mit Hand- Lageorientierung bringt erst dann mehr Nach-
lungsstörungen umgehen. Die Niederge- teile als Vorteile, wenn der Wechsel zur Hand-
schlagenheit, die eine unangenehme Nach- lungsorientierung auch dann nicht mehr ge-
lingt, wenn es wirklich Zeit ist zu handeln.
richt auslösen kann, beeinträchtigt das
(Kuhl & Kazen, 2003, S. 205 f)
Lernverhalten des einen Schülers nur für
wenige Stunden, das eines anderen aber für Individuelle Unterschiede in der Handlungs-
Tage und Wochen. Bei ihm hält das läh- versus Lageorientierung lassen sich anhand
mende Gefühl fortwährend an, so dass er des Fragebogens HAKEMP erfassen (Kuhl &
nur noch über seine missliche Lage nach- Beckmann, 1994). Dabei werden drei Facet-
denken kann und ihm jeglicher Schwung ten des volitionalen Stils unterschieden, die
fehlt, sich auf die neu anstehenden Lern- von den Autoren als prospektive Handlungs-
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aufgaben zu konzentrieren. Kuhl (1981) hat vs. Lageorientierung (HOP-LOP), als Hand-
aufgrund von Beobachtungen dieser Art auf lungs- vs. Lageorientierung nach Misserfolg
stabile Persönlichkeitsunterschiede in der (HOM-LOM) und als Handlungs- vs. Lage-
Herangehensweise an beabsichtigte Hand- orientierung während der Tätigkeitsausfüh-
lungen geschlossen. Er unterscheidet in rung (HOT-LOT) bezeichnet werden. Diese
diesem Zusammenhang zwischen lage- drei Facetten beziehen sich auf die Initiierung
orientierten und handlungsorientierten Per- von Handlungen, die man sich vorgenom-
sonen. men hat (d. h. auf die generelle Handlungs-
Der Begriff der Handlungsorientierung bereitschaft), auf die Fähigkeit zur Miss-
bezeichnet eine Disposition, die die erfolgrei- erfolgskontrolle (d. h. auf die »erschwerte«
che Umsetzung von Absichten in die Tat Handlungsbereitschaft, nachdem man be-
begünstigt. Handlungsorientierten gelingt reits mit Misserfolgen oder anderen aversi-
die Handlungskontrolle in der Regel beson- ven Ereignissen konfrontiert wurde) sowie
ders gut (vgl. Kuhl & Kazen, 2003): Eine auf die Persistenz des Handelns (d. h. auf die
missliche Lage führt bei ihnen nicht zu einem Bereitschaft, an einer Tätigkeit festzuhalten).

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sichten, indem ihnen vier Aspekte der Ver-


Beispiel: Der Fragebogen HAKEMP
haltensplanung gleichermaßen deutlich
(nach Kuhl & Beckmann, 1994)
sind (vgl. Kuhl & Beckmann, 1994):
Wenn meine Arbeit als völlig unzurei-
1. der angestrebte zukünftige Zustand,
chend bezeichnet wird, dann
2. der zu verändernde gegenwärtige Zu-
stand,
a. lasse ich mich davon nicht lange beir-
3. die zu überwindende Diskrepanz zwi-
ren (HOM)
schen Ist- und Soll-Zustand und
b. bin ich zuerst wie gelähmt (LOM)
4. die beabsichtigte Handlung, mit der die
Diskrepanz reduziert werden soll.
Wenn ich sehr viele Dinge zu erledigen
habe, dann
Bei Lageorientierten findet man demgegen-
über häufig sogenannte degenerierte Absich-
a. überlege ich oft, wo ich anfangen soll
ten (Kuhl, 1987) durch eine unausgewogene
(LOP)
Präsenz der skizzierten Aspekte. Nach einem
b. fällt es mir leicht, einen Plan zu ma-
Misserfolgserlebnis kreisen z. B. ihre Gedan-
chen und ihn auszuführen (HOP)
ken nur um den gegenwärtigen Zustand (also
den 2. Aspekt). Mit einigem zeitlichen Ab-
Wenn ich mit einem Nachbarn über ein
stand kommt vielleicht auch der Gedanke ins
interessantes Thema rede, dann
Spiel, wie schön doch ein Erfolg gewesen
wäre (1. Aspekt). Solange jedoch nicht darü-
a. entwickelt sich leicht ein ausgedehntes
ber nachgedacht wird, worin die aktuelle
Gespräch (HOT)
Diskrepanz zwischen dem erreichten und
b. habe ich bald wieder Lust, etwas
dem erwünschten Zustand besteht (3. As-
anderes zu tun (LOT)
pekt) und vor allem, was man tun könnte,
um sie zu überwinden (4. Aspekt), wird es in
Dem aufmerksamen Leser wird nicht ent- der aktuellen Lernsituation nur schwerlich
gangen sein, dass der volitionale Stil der zur Realisierung einer notwendigen Hand-
Handlungsorientierung an die motivatio- lung kommen.
nale Disposition der Erfolgszuversichtlich- Die bis hierhin beschriebenen Mechanis-
keit erinnert und dass auch Ähnlichkeiten men und Prozesse der volitionalen Kompo-
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zwischen der Lageorientierung und der nenten des Lernens mögen dem kritischen
Misserfolgsängstlichkeit bestehen. Offen- Leser erstaunlich rational, kühl und in ge-
kundig besteht ein enger Zusammenhang wisser Weise distanziert erscheinen. Aber
zwischen den motivationalen und den voli- entspricht das der von Lernenden subjektiv
tionalen Voraussetzungen des Lernens. Bei erlebten Realität? Vermutlich nicht ganz,
aller Ähnlichkeit gibt es jedoch einen ent- denn auch Emotionen spielen eine wichtige
scheidenden Unterschied: Während moti- Rolle für den Erfolg von Lernprozessen. Da
vationale Dispositionen entscheidend sind ohne die Berücksichtigung der oft mit dem
für die vom Lernenden bevorzugten Ziel- erlebten Erfolg oder Misserfolg in Lernsitu-
setzungen und die Auswahl von Aktivitä- ationen einhergehenden Emotionen die Be-
ten, wird die konkrete Realisierung moti- trachtung der nicht-kognitiven individuellen
vierten Verhaltens durch die volitionale Voraussetzungen erfolgreichen Lernens un-
Orientierung determiniert. Handlungs- vollständig wäre, wird im Folgenden der
orientierte verfügen in der Regel über voll- Frage nach der Rolle der Emotionen nachge-
ständig und angemessen ausgebildete Ab- gangen.

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Teil I Lernen

Welche Emotionen sind für Ereignisse reagieren können. Emotionen und


Lernleistungen relevant? Gestimmtheiten befördern auch die kogniti-
ven Funktionen, indem sie sehr frühzeitig im
Man stelle sich einmal vor, wie es wäre, wenn Prozess der Informationsverarbeitung Ein-
man zwar denken und rational handeln, aber fluss darauf nehmen, worauf wir achten
nicht fühlen könnte. Man würde dann keine (selektive Aufmerksamkeit) oder wie wir
Angst, keine Wut und keine Traurigkeit mehr uns selbst wahrnehmen (Selbstkonzept).
verspüren, aber auch keine Freude, keine Wichtige Überlegungen zur Rolle von
Hoffnung, keine Zufriedenheit und keine Emotionen bei der Informationsverarbei-
Leidenschaft. Mit anderen Worten: Man tung hat Bower (1981, 1991) angestellt. In
lebte ohne Emotionen. seinem Modell geht er davon aus, dass ein
Gefühlszustand, den eine Person in einer
Definition: Emotionen bestimmten Situation erlebt, zusammen mit
den anderen in dieser Situation wahrge-
Unter Emotionen versteht man komplexe nommenen Ereignissen und Sachverhalten
Muster körperlicher und mentaler Ver- als kontextgebundene Episode im Gedächt-
änderungen. Sie umfassen physiologische nis gespeichert wird. Durch die Einbindung
Erregungen, Gefühle, kognitive Prozesse einer Emotion in die Gedächtnisrepräsen-
und Reaktionen im Verhalten als Ant- tation kommt es zu einer stimmungskon-
worten auf eine Situation, die als persön- gruenten Verarbeitung von Informationen
lich bedeutsam wahrgenommen wurde. und in der Folge auch zur Stimmungsab-
Diese Muster können relativ überdauern- hängigkeit der Erinnerungsleistung. Unter
der, dispositioneller Art sein oder aber stimmungskongruenter Verarbeitung ver-
auch intraindividuell sehr variabel aus- steht man das Phänomen, dass Lernende
fallen. Im letzteren Fall spricht man häu- selektiv solche Informationen verarbeiten
fig auch von Stimmungen und ihren (und später abrufen können), die zu ihrer
Schwankungen. gegenwärtigen Gestimmtheit passen. Stim-
mungskongruenter Information wird mit
größerer Wahrscheinlichkeit Aufmerksam-
Auch wenn man sich gelegentlich darüber keit zugewandt, so dass es für diese Infor-
ärgern kann, dass negative Emotionen er- mation zu einer gründlicheren und tieferen
folgreiches Handeln behindern mögen, so Verarbeitung kommt. Wer in trauriger
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übernehmen Emotionen in unserem Leben Stimmung einen Film anschaut, wird sich
doch viele wichtige und nützliche Funktio- später eher an das Verhalten einer im Film
nen. Gefühle ermöglichen, dass wir rasch ebenfalls traurig gestimmten Person und an
und flexibel auf wichtige und gefährliche traurige Details der Filmhandlung erinnern.

Fokus: Neuroanatomie, Emotionen und Lernen

Der besondere Einfluss von Emotionen auf das Lernen und Behalten von Informationen
basiert auch darauf, dass in emotional gefärbten Situationen zusätzliche neuronale
Strukturen aktiviert sind. In Kapitel 1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die
Hirnstruktur des Hippocampus (c Abb. 1.1) am Lernen durch Konditionierung, aber auch
bei der Aktivierung deklarativer Gedächtnisinhalte beteiligt ist. Emotional bedeutsame
Reize (z. B. angstbesetzte Ereignisse) führen zu einem »Durchschalten« des Signals in die
direkt an den Hippocampus angrenzende Amygdala (Mandelkern). Eine zentrale Unter-

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

struktur des Mandelkerns (Nucleus centralis) leitet die emotionale Information breitgefä-
chert an weitere Systeme des Organismus weiter. Die Amygdala ist an der Enkodierung und
beim Abruf von emotionsbesetzten Erinnerungen maßgeblich beteiligt, ob sie auch den
Speicherort für solche Gedächtnisinhalte darstellt, ist ungeklärt.
Obwohl die Amygdala bei den nicht-deklarativen emotionalen Erinnerungen und der
Hippocampus bei den deklarativen Erinnerungen eine Rolle spielt, arbeiten beide Systeme
zusammen, was dazu führen kann, dass lernbegleitende Emotionen das Erinnerungsver-
mögen verbessern. Dies zeigte sich z. B. in Untersuchungen mit hirngeschädigten Patienten,
denen Geschichten erzählt wurden, die durch die Präsentation von Bildern unterstützt
wurden. In einer der Geschichten ging es um einen Jungen, der von einem Auto angefahren
wurde und notoperiert werden muss. Patienten mit spezifischen Verletzungen der Amygdala
erinnerten sich an die nicht-emotionalen Teile der Geschichte genau so gut wie unverletzte
Personen. Anders als diese erinnerten sie aber die gefühlsbeladenen Teile der Geschichte
nicht besser als die übrigen Inhalte. Patienten mit Verletzungen des Hippocampus bei
intakter Amygdala erinnerten sich insgesamt an sehr viel weniger Details der Geschichte,
zeigten aber die auch bei den unverletzten Personen gefundene Tendenz, sich an die
emotional besetzten Inhalte der Geschichte besser zu erinnern als an die neutralen (vgl.
Cahill & McGaugh, 1998; Hamann, Cahill, McGaugh & Squire, 1997).

Eine systematische empirische Analyse der dächtnis belasten können, dürfte der moti-
Wirkmechanismen, die für den Beitrag der vationsfördernde Effekt positiver Emotionen
Emotionen zum erfolgreichen oder weniger den Nachteil einer zusätzlichen Kapazitäts-
erfolgreichen Lernen verantwortlich sind, belastung mehr als ausgleichen.
steht noch aus. Pekrun und Schiefele (1996) Zu den aktivierenden negativen Emotio-
nehmen jedoch an, dass sich Emotionen auf nen gehören Angst und Ärger. Diese stimu-
wenigstens vier Arten von kognitiven Pro- lieren die psychische und physische Hand-
zessen auswirken: (1) auf die Auswahl und lungsbereitschaft und damit auch die Nut-
Nutzung von Strategien, (2) auf die Prozesse zung von Lernstrategien. Dennoch sind sie in
der Informationsspeicherung im Langzeitge- ihrer Auswirkung oftmals eher schädlich für
dächtnis und des Abrufs von Vorwissen, (3) die resultierende Lernleistung, da sie zugleich
auf die Transformationsprozesse im Arbeits- Anteile der aufgabenbezogenen Aufmerk-
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gedächtnis und (4) auf die Prozesse und samkeit abziehen und damit jene Lernpro-
Zustände der lern- und leistungsrelevanten zesse beeinträchtigen, die eigentlich einer
Motivationen. Dabei ist davon auszugehen, optimalen Kapazitätsausnutzung des Ar-
dass unterschiedliche Emotionen in durchaus beitsgedächtnisses bedürften. Zusätzlich ist
unterschiedlicher Weise auf das Lern- und bei Zuständen von Angst und Ärger mit einer
Leistungsverhalten einwirken. Pekrun und Reduktion der intrinsischen Motivation zu
Schiefele (1996) unterscheiden diesbezüglich rechnen.
zwischen drei Sorten von Emotionen: positi-
Insgesamt aber sind die Motivationsfolgen
ven, aktivierend negativen und desaktivie- solcher Emotionen komplexerer Art, was man
rend negativen. sich am Beispiel von Angst leicht klarmachen
Positive Emotionen wie Lernfreude, leis- kann. Angst motiviert grundsätzlich zur Ver-
tungsbezogene Hoffnungen oder Stolz wir- meidung einer bedrohlichen Situation bzw. zur
Flucht aus dieser Situation. Im Leistungsbe-
ken sich günstig auf die intrinsische Hand- reich handelt es sich dabei vor allem um
lungsmotivation aus. Obgleich sie – so wie befürchtete Mißerfolgssituationen. Misserfol-
auch negative Emotionen – das Arbeitsge- ge aber lassen sich häufig nicht durch Vermei-

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Teil I Lernen

dung oder Flucht, sondern – im Gegenteil – nur zum Einfluss von Stimmungen (d. h. zeit-
durch ein Hineingehen in die Situation und eine lich variablen Emotionen) auf Lernleistun-
Investition von Anstrengung vermeiden: Geht
ein Schüler nicht zu schulischen Prüfungen, so
gen fortführen. Es gibt einige Hinweise
ist ihm der schulische Misserfolg sicher. Folg- darauf, dass individuelle Stimmungen und
lich ist anzunehmen, dass Angst zwar die Gestimmtheiten wie eine Art mentaler
intrinsische Motivation reduziert, gleichzeitig Schalter dafür verantwortlich sind, ob
aber extrinsische Motivation zu Mißerfolgs- und wenn ja, auf welche Art und Weise,
meidung produziert, die in entsprechend res-
tringierten Situationen zu einer Steigerung der Information verarbeitet wird (vgl. Abele,
Gesamtmotivation führt. Die Gesamteffekte 1996). So geht z. B. Kuhl (1983) davon aus,
von Angst und anderen aktivierenden negati- dass Informationen je nach Stimmungslage
ven Emotionen dürften im Einzelfall davon unterschiedlich verarbeitet werden. Nega-
abhängen, in welchen Relationen diese unter-
schiedlichen, teils gegenläufigen Aufmerksam-
tive Emotionen sollen demzufolge eher
keits- und Motivationseffekte jeweils stehen. zu einer detailgenauen und systematischen,
(Pekrun & Jerusalem, 1996, S. 12 f) sequentiell-analytischen, also »vorsichtige-
ren« Informationsverarbeitung führen.
Hoffnungslosigkeit oder Langeweile fallen in Positive Emotionen sollen demgegenüber
die Gruppe der desaktivierenden negativen eher eine globale, intuitiv-holistische Ver-
Emotionen, weil sie einer tieferen Verarbei- arbeitung auslösen, deren Vorteil darin
tung von Informationen entgegenstehen und bestehen soll, dass eine simultane Verarbei-
die intrinsische (wie auch die extrinsische) tung komplexer Informationen besser ge-
aufgabenbezogene Motivation reduzieren. lingt. Wenn sich negative Emotionen in
Ebenso wie die aktivierenden negativen intraindividuell stabilen Dispositionen nie-
Emotionen beeinträchtigen auch die desak- derschlagen (z. B. im Sinne einer manife-
tivierenden die notwendige Aufmerksam- sten Prüfungsangst) und wenn dadurch die
keitszuwendung bei der Aufgabenbearbei- Möglichkeiten der Informationsverarbei-
tung. tung beim Lernen quasi habituell einge-
Die in Kapitel 2.3 begonnene Diskus- schränkt sind, kann diese Einschränkung
sion über Lernstile lässt sich vor dem durch Maßnahmen volitionaler Kontrolle
Hintergrund von Theorien und Befunden relativiert werden.

Zusammenfassung
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Erfolgreiches Lernen wird durch eine Reihe individueller Voraussetzungen erleichtert. Zu


den relevanten individuellen Voraussetzungen gehört die Funktionstüchtigkeit kognitiver
(selektive Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis, Vorwissen, Strategien und deren
metakognitive Regulation), motivationaler und volitionaler Merkmale.
Die Funktionen der (selektiven) Aufmerksamkeit und der verschiedenen Teilsysteme des
Arbeitsgedächtnisses restringieren die in einer Zeiteinheit zu verarbeitenden Informatio-
nen. Ein umfangreiches und elaboriertes Vorwissen kann diesen Flaschenhals weiten. Auch
mit Hilfe unterschiedlicher kognitiver und metakognitiver Strategien lässt sich die
Informationsverarbeitung optimieren.
Günstige motivationale Voraussetzungen sind für den Erfolg des Lernens wichtig. Als
dispositionelle Merkmale gelten das Ausmaß an Erfolgszuversicht bzw. Misserfolgsängst-
lichkeit. Aber auch typische Ursachenzuschreibungen (Attributionen) nach Erfolg und
Misserfolg und die spezifischen Selbstkonzepte eigener Begabung sind bedeutsame Ein-
flußfaktoren der Leistungsentwicklung.

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2 Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

Werden aus Wünschen Absichten, dann verändert sich der Bewusstseinszustand einer
Person von einer motivationalen Realitätsorientierung zu einer volitionalen Realisierungs-
orientierung, die psychische Kräfte der hartnäckigen Zielverfolgung mobilisiert.
Auch die den Lernprozess begleitenden Emotionen nehmen Einfluss auf die Art und auf
den Erfolg des Lernens, indem sie die Aktivierung der kognitiven und motivationalen
Mechanismen begünstigen oder behindern. Sie können auch die Wahrscheinlichkeit
erhöhen, dass eine Lernabsicht tatsächlich umgesetzt wird. Dieser Einfluss der Emotionen
wird wiederum durch einen dispositionellen Rahmen begrenzt, der durch die volitionalen
Besonderheiten des Lernenden vorgegeben ist: die Handlungsorientierung oder die Lage-
orientierung.

Literaturhinweis

Pressley, M. & Harris, K.R. (2006). Cognitive psychology (pp. 265–286). Mahwah, NJ: Erl-
strategies instruction: From basic research baum.
to classroom instruction. In P.A. Alexander & Rheinberg, F. & Vollmeyer, R. (2012). Motivation
P.E. Winne (Eds.), Handbook of educational (8. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
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