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Verlangen wir unseren Kindern zu viel ab?

Viele Schülerinnen und Schüler leiden darunter, dass sie dauernd etwas leisten
müssen, sagt die Erziehungsforscherin Margrit Stamm – hier gibt sie
Ratschläge, wie Eltern ihren Kindern Stress ersparen und sie besser unterstützen
können.
SPIEGEL: Frau Stamm, Sie warnen davor, dass Kinder heute oft unter einem
sehr hohen Druck stünden, der ihnen psychisch schade. Woher kommt der?
Margrit Stamm: Es sind vor allem überehrgeizige Eltern, die ihre Kinder zu
stark pushen, weil sie Angst haben, dass ihnen sonst eine erfolgreiche
Akademikerlaufbahn verwehrt bleibt. Aber es ist falsch, die Eltern allein dafür
verantwortlich zu machen. Sie verhalten sich nur so, wie es unsere
Hochleistungsgesellschaft und das Bildungssystem von ihnen erwarten. Das
Problem ist nicht individuell, es ist systemisch. Und in den vergangenen 15 bis
20 Jahren hat es sich sehr zugespitzt.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Stamm: Seit der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 werden Kinder im
Bildungssystem ständig vermessen, verglichen und bewertet. Das fängt mit
standardisierten Fragebögen im Kindergarten an. Später schlägt es sich in Noten
nieder, die Eltern ständig vorhalten, wo ihr Kind angeblich gerade steht. Das
löst bei vielen Müttern und Vätern Ängste aus, dass ihr Nachwuchs zurückfallen
könnte. Schulen verlangen heute außerdem viel stärker von Eltern, dass sie
ihrem Kind bei den Hausaufgaben und bei der Vorbereitung auf Prüfungen oder
Referate helfen, damit es möglichst gut abschneidet. Das führt dazu, dass viele
Kinder zu sogenannten Überleistern werden, die permanent mehr leisten
müssen, als sie eigentlich können. Sie bekommen oft schon in der Grundschule
Nachhilfe, Logotherapie, Ergotherapie und andere Lernförderungen. Doch wenn
wir Kinder unentwegt mit zu viel Wissen füttern und sie daueroptimieren,
setzen wir sie großem Stress aus und riskieren, dass ihre Seelen Schaden
nehmen.

SPIEGEL: Die PISA-Studien entsprangen dem Wunsch, besser vergleichen zu


können, wie gut die Bildungssysteme verschiedener Länder aufgestellt sind, um
voneinander zu lernen und gegebenenfalls nachbessern zu können. Ist das kein
begrüßenswertes Anliegen?
Stamm: Doch, es ist gut, dass wir dadurch einschätzen können, wie wir
international abschneiden und welches Land Jungen und Mädchen zum Beispiel
in Mathematik oder im Lesen besser fördert. Ich kritisiere aber, dass wir mit der
Orientierung an Leistungstests andere Aspekte vernachlässigt haben. Diese
Tests sagen nichts über die wirklichen Fähigkeiten eines Kindes aus, oder
darüber, wie man Schülerinnen und Schüler auf humane und positive Art darin
unterstützt, sich zu entdecken und zu entfalten. Stattdessen meinen wir, dass wir
den schlechten Rang eines Bundeslands etwa in Mathematik korrigieren
könnten, indem wir darauf hinarbeiten, den Notenschnitt der Kinder anzuheben.
Das löst noch mehr Druck aus, den nicht nur Eltern, sondern auch Lehrpersonen
an die Kinder weitergeben.
SPIEGEL: Wie gehen Kinder mit diesem Druck um?

Stamm: Ich unterscheide vier Typen von Überleistern. Die erste Gruppe umfasst
Kinder aus gut gebildeten Familien, deren Eltern sie dazu, dass sie ein
erfolgreiches Abitur machen und studieren. Sie sind selbst relativ unmotiviert,
aber sie passen sich an, sie leisten und leisten und gelten damit oft als
Vorzeigekinder. Kinder aus der zweiten Gruppe streben zwar eher einen
mittleren Abschluss an, haben aber auch gewisse Lernschwierigkeiten und
ebenfalls ein sehr kontrollierendes Elternhaus. Die dritte Gruppe nenne ich die
»ambitionsbelasteten Aufsteiger«. Sie kommen meist aus bescheidenen Milieus
und setzen selbst alles daran, es schulisch und beruflich weiter zu schaffen als
ihre Eltern und deren hohen Erwartungen zu erfüllen. Dann gibt es noch die
Gruppe der intrinsisch Motivierten, die nicht von ihren Eltern angetrieben
werden, sondern einen inneren Drang nach sehr guten Leistungen verspüren.
Das trifft aber nur auf gut jedes zehnte Überleisterkind zu, wie unsere
Forschungen gezeigt haben. Kindern und Jugendlichen aus allen vier Gruppen
ist gemein, dass sie ausgeprägte Selbstzweifel plagen.

SPIEGEL: Würden Eltern, die ihr Kind lieben, das nicht merken und
gegensteuern?
Stamm: Es mangelt nicht an Liebe, im Gegenteil. Viele Studien zeigen, dass die
Elternliebe heute enorm ist. Die große Mehrheit der Mütter und Väter möchte
ihrem Kind möglichst viel Fürsorge, Zuneigung und Feingefühl schenken. Das
Problem liegt darin, dass unser gesellschaftlicher Blick auf Kinder
defizitorientiert ist. Bis vor 15, 20 Jahren galten Kinder als widerstandsfähig
und resilient. Heute sehen wir sie vorwiegend als vulnerabel und
schutzbedürftig.

SPIEGEL: Daraus folgt aber doch auch, dass wir den Bedürfnissen von Kindern
mehr Beachtung schenken als früher.

Stamm: Ja, aber das ist nur dann eine gute Entwicklung, wenn wir das Kind in
seinen Fähigkeiten, sich selbst zu entfalten, unterstützen. Wir müssen es in
seinen Stärken fördern und als Individuum sehen. Das heißt dann aber auch,
dass wir akzeptieren, wenn ein Kind träumerischer, schüchterner oder schulisch
langsamer ist als andere Kinder. Leider sehen wir in Kindern jedoch zu oft
Tonklumpen, die sich beliebig formen lassen. Das führt zu Druck, und der führt
zu Überleistung. Es gibt eine Studie, die besagt, dass mindestens jeder dritte
Jugendliche, der aufs Gymnasium geht, eigentlich nicht dorthin gehört.
SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass das vor allem Kinder aus
Akademikerhaushalten betrifft. Was ist mit Kindern aus Arbeiterfamilien?

Stamm: Sie stehen tendenziell nicht unter so einem hohen Leistungsdruck, aber
dafür sind sie häufiger sich selbst überlassen und werden in ihren Möglichkeiten
eher unterfordert. Ihre Eltern sind zum Beispiel seltener daran interessiert, dass
sie das Abitur schaffen. Es ist ähnlich wie im Leistungssport: Der Prozess der
Selektion ist problematisch. Häufig werden die Kinder ausgewählt, die
leistungswillige Eltern haben, und danach werden ihre Fähigkeiten regelrecht
ausgepresst. Andere, die vielleicht ein größeres Talent haben, fallen durchs
Raster.

SPIEGEL: Was sollte sich konkret ändern?

Stamm: Eltern sollten akzeptieren, dass ein Kind nicht dumm ist, nur weil es
schlechte Noten hat. Aber auch Schulen und die Bildungspolitik sind gefragt. Es
sollte in den Schulen weniger um die Noten in einer Mathearbeit gehen als
darum, was die Kinder gelernt haben, was sie daran interessiert hat und wie sie
aus ihren Fehlern lernen können. Hausaufgaben sollten abgeschafft oder
zumindest ganz in die Verantwortung der Schüler gelegt werden, um zu
verhindern, dass sie nur widerspiegeln, wie bemüht die Eltern sind. Und es
sollte weniger Fokus auf den Lernstoff und viel mehr auf die
Lebenskompetenzen gerichtet werden. So viele Forschungen haben gezeigt,
dass die viel bedeutsamer für den längerfristigen Erfolg der Kinder sind.
SPIEGEL: Welche Kompetenzen meinen Sie?

Stamm: Selbstvertrauen, Hartnäckigkeit, Selbstwirksamkeit und


Frustrationstoleranz. Kinder sollten lernen, an einer Sache dranzubleiben, an
sich zu glauben, an Niederlagen zu wachsen. Dafür mit ihnen Strategien zu
entwickeln, sollte Aufgabe der Schulen sein.

SPIEGEL: Wie erkennen Eltern, ob sich ihr Kind im Überleistermodus


befindet?

Stamm: Wenn Kinder ständig arbeiten und deshalb selten ihre Freunde treffen,
wenn sie immer die Noten und die nächste Prüfung im Kopf haben, mit einer
Zwei nicht zufrieden sind und unter Schlafproblemen, Bauchweh oder
Panikattacken leiden, sollten Eltern genauer hinschauen.

SPIEGEL: Das Ziel sollten »authentische Kinder« sein, schreiben Sie in Ihrem
Buch. Doch was ist, wenn ein Kind ganz authentisch am liebsten den ganzen
Tag auf dem Sofa liegt und Serien schaut?

Stamm: Ich habe schon viele Zuschriften von Eltern bekommen, die mir erzählt
haben, wie motiviert und ehrgeizig ihre Kinder plötzlich geworden seien, als sie
sie nicht mehr angetrieben und mit anderen Kindern verglichen haben. Eltern
sollten versuchen, ihr Kind in seiner Ganzheit zu sehen und wohlwollend zu
unterstützen. Wenn sie dann feststellen, dass aus ihm vielleicht doch kein
Leistungssportler oder Hochschulstudent wird, sollten sie ihre Pläne
zurückfahren, ihre Ängste im Zaum halten und weiter an ihr Kind glauben.

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