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Björk

Medúlla

Viele Gerüchte gab es im Vorfeld um das neue Björk-Album. Sieben Studios waren als Aufnahmeort
genannt, verschiedene Arbeitstitel wie beispielsweise „Ink“ oder „The Lake Experience“ waren im
Umlauf... Doch fest stand: Es würde ein gewaltiges, experimentelles Opus werden, das ganz auf die
klanglichen Möglichkeiten der menschlichen Stimme ausgelegt ist. Und laßt Euch überzeugen: So
etwas habt Ihr noch nie gehört! Aber Ihr solltet...

Björk
Medúlla

„Alles Reden über Musik ist wie Tanzen über Architektur!“

Nie habe ich diese Aussage mehr eingesehen als am Anfang dieser Review. Wie soll man etwas so
Gewaltiges in Worte fassen, derer so arm unsere Sprache doch gar nicht ist? (Immerhin schafft sie’s
ja auch, Quelle aller Mißverständnisse zu sein.)

„Medúlla“, das Mark, das Innerste unserer Knochen, aber auch Organe, ja, sogar Haare.
Das ist der Ort, bis zu dem jeder einzelne Ton des Albums durchdringt. Eindringt. Manchmal ganz
sanft, in einer Welle des Wohlgefühls, manchmal schon fast schmerzhaft in seiner Intensität.

Nein, Dinge die einem durch Mark und Gebein fahren, sind zuweilen nicht die angenehmsten. Auch
wenn es nur der kleine, geile Lendenwirbelsäulenzuckungsschmerz ist... Doch Björk schien noch nie
daran interessiert, ausschließlich Freunde des konventionellen christlichen Dreiklangs zu bedienen.
Kunstvoll drapiert sie Note an Note, und fächert somit Akkorde auf, die die herkömmliche
Harmonielehre das Fürchten lehren mögen. Im Sinne von Ehrfurcht, wohlgemerkt!

All diese Klänge bringt allein die menschliche Stimme hervor. Manchmal verfremdet durch Hall, da
und dort gepitched... einmal (zugegeben) sogar um ein Piano ergänzt – Doch prinzipiell Sound,
erzeugt ausschließlich von Stimmbändern, Kehlkopf, Gaumensegel, Bauch, Resonanzräumen, Zunge
und Zwerchfell. Björk zur Seite stehen dabei internationale Vokalkünstler von Rang und Namen:
Rahzel beispielsweise, die Human Beatbox der Roots. Faith No More-Kopf Mike Patton. Die
grönländische Oberton-Sängerin Tanya Tagaq. Dokaka, gefeierter Stimmartist aus Japan... Damit
seien nur einige genannt. Natürlich nicht zu vergessen die beiden Chöre: Einer aus Island und einer
aus London.

Sie alle produzieren Klänge, die uns auf eine weite Reise führen durch Meere und Kontinente, Himmel
und Hölle, Tod und Geburt, zurück zur Essenz, zu dem, was allem innewohnt: der medúlla.
Und da die Stimme als Ausdrucksform nicht immer zwangsläufig auf den Schöngesang zurückgreift,
hören wir auch vielerlei Varianten von Atem: Seufzend, stöhnend, wütend, klagend, bedrohend,
hechelnd, röchelnd, beruhigend... Dabei ist es immer nur Luft. Trotzdem ist es einfach alles!
Und es beraubt uns beizeiten desselben.

Die vierzehn Tracks von Björks neuem Album fordern den Hörer heraus. Sicher werdet Ihr diese CD
nicht als Berieselung zum Lesen oder als Dinnermusik auflegen. (Man pfeift sich ja auch Samstag
abend vor der Party keinen Lars von Trier-Film rein...) Sie braucht Eure volle Aufmerksamkeit.
Gewährt sie ihr! Es lohnt sich.

„Medúlla“ bildet eine intelligente, inspirierte Einladung zum bewußten Hören, die einem – kommt man
ihr nach – unglaubliche Welten öffnet. Klangwelten einerseits; vor allem, wenn in einem perfekten,
breiten Akkord plötzlich durch einen winzigen Halbtonschritt einer Chorstimme eine ganz leichte
dissonante Reibung entsteht, die Härchen um Härchen aufstellt, um uns dann, ehe es zu
unangenehm wird, Erlösung durch Auflösung zu schenken. Andererseits aber auch die Welten, die
während des Hörens in uns entstehen können. Jeder einzelne Track verleiht Eurer Phantasie Flügel
oder Flossen, je nachdem, kitzelt Bilder aus Eurem Unterbewußten heraus, die Ihr dort niemals
verborgen glaubtet. Stimmungen transportieren sich, und mit ihnen Geschichten. Doch für jeden von
Euch werden es andere sein.
Björk vollbringt beispielsweise das Kunststück, das große, weite Meer in Töne zu fassen – Mit
Textzeilen von e. e. cummings, mit musikalischen Wellen und Strudeln, aber auch mit
vorbeihuschenden Fischschwärmen und ruhig dahinschwebenden Quallen. Damit ist der
Eröffnungssong der olympischen Spiele - „Oceania“ - eines der gefälligeren Stücke...
Doch laßt Euch auf alles ein, was Euch dieses wagemutige, durchaus experimentelle und
avantgardistische Werk zu bieten hat. Es ist nämlich das verdammt beste Album dieses Jahres!

Schon das Booklet zeigt, daß schwarz nicht gleich schwarz ist. Auch die Dunkelheit offenbart ihre
Schattierungen erst bei genauerer Betrachtung.

Henry David Thoreau verbrachte viele Jahre einsiedelnd am Walden Pond, um „das Mark des Lebens“
in sich aufzusaugen. Eine Dreiviertelstunde intensiven Hörens dieses Albums kann mitunter eine
akustische Ahnung dessen darstellen, was er dabei an Erfahrungswerten gewonnen hat. Vielleicht
macht es uns auch alle zu Philosophen, wer weiß?

Was auch immer es mit Euch anstellen wird: Laßt Euch von „Medúlla“ betören und verstören!

10 von 10 Púnnktssön...
Ach was: 11 von 10!!!

Dagmar Goller

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