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Warum dieses Buch

Peter Berne

oder
DIE HÖHERE BESTIMMUNG
DES MENSCHEN

Christus-Mystik und buddhistische Weltdeutung


in Wagners letztem Drama

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Warum dieses Buch

Peter Berne

PARSIFAL
oder
DIE HÖHERE BESTIMMUNG DES MENSCHEN
Christus-Mystik und buddhistische Weltdeutung
in Wagners letztem Drama

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Warum dieses Buch

Für das mühsame Korrekturlesen des Manuskripts sowie für


die Hilfe bei der Erstellung der digitalen Tonbeispiele danke
ich meinen Freunden Ute Engelhardt, Sibylle Dahms, Robert
Reimer, Josef Wagner, Renate, Friederike und Einhard
Weber und Johannes Püschel.

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Satz und Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović


Druck und Bindung: Interpress, Budapest

Coverabbildung: Gralstempel, Parsifal, I. Akt, 2. Bild,


Bayreuther Festspiele 1951.
Inszenierung und Bühnenbild: Wieland Wagner.
Musikalische Leitung: Hans Knappertsbusch.
© RWA Nationalarchiv, Bayreuth

Peter Berne: Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen. Christus-Mystik und buddhistische
Weltdeutung in Wagners letztem Drama. Wien: HOLLITZER Verlag, 2017

© HOLLITZER Verlag, Wien 2017

HOLLITZER Verlag
der HOLLITZER Baustoffwerke Graz GmbH
www.hollitzer.at

Alle Rechte vorbehalten.


Die Abbildungsrechte sind nach
bestem Wissen und Gewissen geprüft worden.
Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird
um Mitteilung des Rechteinhabers ersucht.

ISBN 978-3-99012-421-5

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INHALT

Vorwort Warum dieses Buch 9

PROLOG „Der Gott im Menschen“ 13

ERSTER TEIL Wagners Denken zur Parsifal-Zeit 43

1.  Kapitel Die Umdeutung Schopenhauers 45

2.  Kapitel Die „Regenerationsschriften“ 68

ZWEITER TEIL Conditio humana 89

1.  Kapitel Klingsor – Das Problem des Bösen 91

2.  Kapitel Kundry – Das Labyrinth des Unbewussten 107

3.  Kapitel Amfortas – Ich-Werdung und Freiheit 143

4.  Kapitel Titurel und Gurnemanz –


Die alte Gralswelt und der Dreischritt
der Geschichte 162

DRITTER TEIL Der Weg zur Vollendung 175

1.  Kapitel „Der reine Tor“ 177

2.  Kapitel „Durch Mitleid wissend“ 195

3.  Kapitel Die Rückkehr des Speeres 219

4.  Kapitel „Erlösung dem Erlöser“ 247

EPILOG Die Erlösung der Natur 265

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ANHANG 277

Kurze Nacherzählung der Handlung des Dramas 279

Daten zu Wagners Leben und der Entstehung des Parsifal 286

Literaturverzeichnis 291

Anmerkungen 295

Quellennachweis der Notenbeispiele 318

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VORWORT

Warum dieses Buch

Mein Lehrer Kurt Overhoff, dem 1941 die Aufgabe übertragen worden war, Wie-
land Wagner in die Werke seines Großvaters einzuführen, erzählte mir einmal,
wie der Wagner-Enkel nach einer intensiven Unterrichtsstunde schwärmerisch
ausgerufen hatte: „Ach, Parsifal dirigieren und dann sterben!“ – worauf Overhoff
erwiderte: „Nein! Parsifal dirigieren und dann – leben!“
Diese Auffassung des Parsifal als weltbejahendes Werk, das im höchsten Maße
die Fähigkeit besitzt, den Menschen mit dem Leben zu versöhnen, indem es ihm
die Möglichkeit einer höheren, sinnerfüllten Existenz in der Welt zeigt, wurde
prägend für mein eigenes Verständnis und verlieh diesem Drama einen einzigar-
tigen Stellenwert, den es für mich nie wieder eingebüßt hat.
Der unbedingte Glaube an die höhere Bestimmung des Menschen, der im Par-
sifal zum Ausdruck kommt, und der dem menschlichen Leben eine Tiefendimen-
sion verleiht, die in unserer Zeit größtenteils verloren gegangen ist, würde allein
ausreichen, um seine eminente Wichtigkeit für uns zu begründen. Doch Parsifal
besitzt meines Erachtens auch eine ganz besondere Aktualität, die gerade heute
eine Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt dieses Werkes dringend notwen-
dig macht.
Umweltzerstörung, Krieg und soziale Ungerechtigkeit sind ohne Zweifel die
größten Probleme unserer Zeit, und ihre Lösung wird umso dringender, als von
dieser, wie immer deutlicher wird, die Zukunft der ganzen Menschheit abhängt.
Alle drei Übel sind jedoch das Ergebnis einer Wertordnung, die den eigenen Ge-
nuss und die eigene Bequemlichkeit über das Leben als solches stellt, und für die
es selbstverständlich ist, dass der einzelne Mensch anderes Leben als Mittel zur
Steigerung des eigenen Wohlbefindens missbrauchen darf. Damit der Mensch
aber Achtung für anderes Leben empfinden kann, muss er Achtung vor sich selbst
haben; es muss ihm zu Bewusstsein kommen, dass er nicht nur ein Teil jenes gro-
ßen Lebenszusammenhanges ist, von dessen Gedeihen sein eigenes Wohlergehen
abhängt, sondern dass er gerade derjenige Teil ist, der durch die ihm verliehene
Vernunft eine große Aufgabe zugewiesen bekommen hat: die Aufgabe, für ande-
res Leben Verantwortung zu tragen. Nur dann kann er sich über den natürlichen
Egoismus hinaus emporheben und zu einem neuen Verhalten gelangen, das durch
Solidarität und Opferbereitschaft gekennzeichnet ist.
Die Zeit ruft uns also auf zu einer grundlegenden Bewusstseinswandlung und
einer radikalen Veränderung unseres Verhaltens anderem Leben gegenüber. Wie
sollen wir aber dies erreichen? Und welche Richtlinien können uns dabei leiten?

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Gerade auf diese Fragen gibt uns Parsifal eine klare Antwort. Das Menschen-
bild, das dem Werk zugrunde liegt, fasst den Menschen als Träger einer höheren
Kraft auf, der dazu ausersehen ist, Liebe und Harmonie in der Welt zu verbrei-
ten. Es ist ein Menschenbild, das uns heute den Mut geben kann, der allgemeinen
Verf lachung der Zeit entgegenzuwirken und an der Steigerung der eigenen mo-
ralischen Kräfte zu arbeiten. Es fordert von uns aber zugleich ein radikal neues
Verhältnis zu anderem Leben, das, entsprechend unserer höheren Bestimmung,
durch Mitgefühl, Verantwortung und Solidarität mit allem Lebenden bestimmt
werden soll. Der Titelheld von Wagners Drama ist die Verkörperung dieses neuen
Menschenideals. Sein Entwicklungsgang kann uns als Vorbild für unsere eigenen
realen Bemühungen um eine bessere Zukunft dienen.
Natürlich gibt es solche Entwürfe nicht nur im Parsifal. Was diesem Werk den
Stempel der Einzigartigkeit aufdrückt, ist die Tatsache, dass es nicht nur durch
Worte zu unserem Verstand spricht, sondern unser Wesen in seiner Ganzheit
ergreift. Die von Wagner intuitiv erschauten archetypischen Bilder, wie sie in
seinen szenischen Vorschriften festgehalten werden, wirken läuternd auf unsere
unbewusste Gefühlsnatur; und die unvergleichliche Macht von Wagners Musik
besitzt die Fähigkeit, uns in dem innersten Kern unseres Wesens zu ergreifen –
dort, wo die Grundtriebe unseres Handelns entspringen. Nur eine Verwandlung,
die auf diese Weise Denken, Fühlen und Handeln ergreift, kann wirklich dauer-
haft sein und sich in der Welt bewähren.
Wie es möglich war, dass Wagner vor mehr als einem Jahrhundert die Proble-
me und Herausforderungen unserer Zeit vorausahnen und mit solcher Eindring-
lichkeit künstlerisch darstellen konnte, wird ewig ein Rätsel bleiben. Für mich
steht jedenfalls fest, dass es kaum ein anderes Kunstwerk gibt, das so brennend
aktuell ist wie Parsifal. Und deshalb ist es mir ein so dringendes Anliegen, die
Gedankenwelt des Werkes für heutige Menschen zu erschließen.
Dass bei einer solchen inneren Einstellung meine Darstellung teilweise enthu-
siastischen Charakter trägt, wird man mir hoffentlich nicht als Fehler ankreiden.
Doch bei allem inneren Engagement war ich bemüht, so sachlich wie möglich
vorzugehen. Deshalb habe ich versucht, durch Analyse von Dichtung, symbo-
lischen Bildern und Musik die im Werk selbst enthaltene geistige Aussage he-
rauszuarbeiten, anstatt meine eigenen Gedanken und Wünsche von außen hin-
ein zu interpretieren. Als Kontrollinstanz habe ich Wagners eigene Schriften aus
der Parsifal-Zeit herangezogen, in denen er die meisten Gedanken, die im Werk
künstlerisch zum Ausdruck kommen, in begriff licher Form dargestellt hat. Zwar
enthalten diese Aufsätze auch viel Persönliches und Tagespolitisches, das mit dem
Kunstwerk nichts zu tun hat. Doch wo sich Wagners philosophisch-religiöse Ge-
danken mit dem decken, was eine unvoreingenommene Werkanalyse ergibt, kann
man sie als Gewähr dafür nehmen, dass die durch die Analyse gewonnene Werk­

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Warum dieses Buch

interpretation authentisch ist. Nur wo es um Tiefenpsychologisches ging, das per


definitionem dem Autor selbst unbewusst sein musste, habe ich zusätzlich C. G.
Jung zur Erklärung herangezogen, weil dessen Theorien in außerordentlichem
Maße die psychologischen Hintergründe der dramatischen Geschehnisse erhellen
können. Und schließlich habe ich auch die Quellen, aus denen Wagner schöpfte,
in meine Analyse miteinbezogen, da ein Vergleich zwischen diesen und dem Werk
einiges Licht auf Wagners Absichten wirft. Zu diesen Quellen muss man neben
den mittelalterlichen Gralsepen auch die Philosophie Schopenhauers rechnen, die
auf Wagners Denken zur Parsifal-Zeit einen solchen Einf luss ausübte, dass man
ohne weiteres in ihr einen der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Werkes
erblicken muss. Deshalb habe ich ihr im I. Teil des Buches eine ausführliche Dar-
stellung gewidmet.
Da ich bei meiner Werkerklärung möglichst unvoreingenommen das Werk
selbst befragen und allenfalls Wagners eigene Äußerungen als Ergänzung her-
anziehen wollte, habe ich größtenteils auf die Verwendung von Sekundärlitera-
tur verzichtet. Doch es gibt noch einen Grund, weshalb ich die mittlerweile ins
Riesenhafte gewachsene Masse der Wagner-Exegese außer Acht gelassen habe.
Gerade in den letzten Jahrzehnten ist eine solche Menge an nicht nur unseriösen,
sondern auch verleumderischen Äußerungen über Parsifal verbreitet worden, dass
es ein eigenes Buch brauchen würde, um die Haltlosigkeit der vorgebrachten Be-
hauptungen darzulegen. Das kann aber nicht die Aufgabe der gegenwärtigen Stu-
die sein. (Wer sich genauer über das Thema „Wagner und die Juden“, sowie um die
haltlosen Behauptungen über den angeblich antisemitischen Gehalt von Wagners
Drama informieren möchte, kann die seriösen Untersuchungen von Borchmeyer,
Eger, Kaiser und Scholz zu Rate ziehen, die im Literaturverzeichnis am Ende
dieses Buches aufgelistet sind.) Vielmehr hoffe ich, dass durch die hier vorge-
legte Werkerklärung sich jene Irrtümer und Verfälschungen von selbst auf lösen
werden, um so den Blick freizugeben auf ein einzigartiges Kunstwerk, dessen
ethische Aussage gerade auf die orientierungslose und krisengeschüttelte heutige
Menschheit eine heilende Wirkung ausüben kann.

Peter Berne,
Berlin, Juni 2017

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PROLOG

„DER GOTT IM MENSCHEN“

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„Der Gott im Menschen“

He! Ho! Waldhüter ihr,


Schlafhüter mitsammen,
so wacht doch mindest am Morgen!
Hört ihr den Ruf? Nun danket Gott,
dass ihr berufen, ihn zu hören!

Mit diesen Worten beginnt die Handlung des Parsifal. Der alte Ritter Gurnemanz
ist es, der diese Mahnung an die Knappen ergehen lässt, nachdem er sie aus ih-
rem Morgenschlaf wachgerüttelt hat. Der Ruf, auf den die jungen Männer hören
sollen, ist der Weckruf, der eben aus der Gralsburg ertönt ist; die Fanfare, die
man im feierlichen Klang der Trompeten und Posaunen vernimmt, ist identisch
mit dem sogenannten „Abendmahlsmotiv“, das an das Leben und Leiden Christi
erinnern soll. Nun erinnert Gurnemanz die Knappen daran, dass sie angehende
Gralsritter sind, und fordert sie dazu auf, wachsam zu sein und ihre höhere Auf-
gabe ständig im Bewusstsein zu behalten.
Doch worin besteht diese Aufgabe? Wozu ist ein Gralsritter ausersehen, und
worin bestehen die Gefahren, vor denen er wachsam sein soll? Inwiefern steht sein
Wirken im Zusammenhang mit dem Leben und Wirken Christi?
Auf diese Fragen gibt das nun anhebende Drama Antwort. Es ist die Geschich-
te von Parsifals Weg zum „Wissen“; und mit dem angehenden Gralskönig be-
schreiten auch die Zuschauer und Zuhörer den Weg zur Erkenntnis der tiefe-
ren Zusammenhänge des Seins, wie sie in Wagners Werk durch Wort, Bild und
Klang zur Darstellung gelangen. Das Wesen der Realität, die Beschaffenheit der
menschlichen Natur, das Verhältnis des Menschen zum „Göttlichen“, Leid und
Leidbefreiung, der Konf likt zwischen Vernunft und Triebnatur – das sind die
Problemkreise, um die es hier geht und auf die das Werk ein klärendes Licht wirft.
Es sind Themen, die jenseits aller kulturellen Unterschiede den Menschen und
das menschliche Leben an sich berühren: das „Reinmenschliche“, wie Wagner es
mit einem Ausdruck, die in seinen Schriften immer wiederkehrt, zu nennen pf leg-
te. Weil er dieses Menschliche-an-sich zum zentralen Anliegen seines Schaffens
machte, konnte er nicht nur aus den verschiedensten Strömungen der Geistesge-
schichte, wie der griechischen Antike, dem Christentum oder dem alt-indischen
Denken, schöpfen, sondern er konnte die Gedanken, die er diesen Quellen ent-
nahm, auch in die verschiedensten Gewänder kleiden. In der zweiten Hälfte sei-
nes Lebens beschäftigte ihn der Entwurf zu einem Werk mit dem Titel „Die Sie-
ger“, in dem er das Wichtigste, was ihn damals gedanklich bewegte, künstlerisch
gestalten wollte. Hätte er diesen Plan ausgeführt, dann hätten wir, statt des Parsi-
fal mit Christus als unsichtbarem aber allgegenwärtigem Mittelpunkt und einem
Gralsritter als Hauptfigur, ein Drama, in dem der Buddha (Siddhārtha Gautama,
um 500 v. Chr.) als Verkörperung des vollkommenen Menschen und Ananda, der

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Lieblingsjünger des Erhabenen, als läuterungsbedürftiger Held aufträten. Doch


es kam nie zu dieser Ausführung; denn die Gedanken, die im Buddha-Drama zur
Darstellung gelangen sollten, gingen ganz im Parsifal auf.
So ist dieses letzte Werk Wagners ein Drama geworden, in dem buddhisti-
sches Gedankengut im Gewand christlicher Symbolik erscheint. Buddha konnte
jedoch nur deshalb ein christliches Kleid anlegen, weil es Wagners künstlerischer
Intuition gelang, das Reinmenschliche in beiden Religionen zu erkennen, das
sie jenseits aller kulturell und geschichtlich bedingten Verschiedenheit verbin-
det. Parsifal ist also nicht bloß eine Darstellung der buddhistischen Weltsicht im
christlichen Gewand, sondern bringt eine neue Weltsicht, die christliche Mystik
und buddhistische Philosophie zu einer Synthese vereinigt, in der Wagners Idee
des Reinmenschlichen ihre höchste Erfüllung erreicht.
Im Unterschied zum Ring ist Parsifal ein Drama des Innenlebens. Die gesell-
schaftliche Utopie fehlt hier völlig. Hier hat sich Wagners Überzeugung durch-
gesetzt, dass die von ihm erhoffte neue Welt nicht durch Änderung der äuße-
ren Zustände, sondern allein durch eine tiefgehende Verwandlung im Inneren
des menschlichen Wesens entstehen kann. Im Parsifal wird die innere Entwick-
lung eines Einzelnen dargestellt, dessen Erlebnisse, Erkenntnisse und schließlich
„Erlösung“ paradigmatisch für die seelisch-geistige Entwicklung der künftigen
Menschheit sein soll. Erst, nachdem im Seeleninneren die Verwandlung vollzogen
worden ist, kann sie nach außen wirken und ein verwandeltes Leben hervorbrin-
gen, in dem auch die äußeren Zustände eine tiefgreifende Veränderung erfahren.
Dass dieses neue Leben immer noch das letzte Ziel darstellt, beweist die Kar-
freitagsszene, in der uns Wagner die Vision einer völlig verwandelten Welt vor
Augen führt, die nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern alles Lebendige
überhaupt umfasst: letzter und höchster Gipfel seines visionären Idealismus.
Wir wollen jetzt unsere Reise durch die Gedankenwelt des Parsifal damit be-
ginnen, dass wir zwei der wichtigsten Symbole untersuchen, die Wagner verwen-
det, um das Innere des Menschen zur Darstellung zu bringen: den Gral und den
heiligen Speer. Sie werden uns zunächst in die christliche Dimension des Dramas
führen, die, wie gesagt, nicht nur die äußere Gewandung abgibt, sondern auch
Wesentliches zum ideellen Gehalt beiträgt.

1. Der Mensch als GefäSS des Göttlichen

Wagner sprach in seinen letzten Lebensjahren oft vom „Gott im Menschen“. In die-
ser kurzen Formel, die er von dem französischen Religionswissenschaftler Ernest
Renan (1823–1892), mit dessen Büchern er sich damals beschäftigte, übernahm,1
erscheint die Auffassung des menschlichen Wesens, die dem Parsifal zugrunde

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„Der Gott im Menschen“

liegt, aufs Knappste zusammengefasst. Es ist die Überzeugung vom göttlichen


Wesenskern des Menschen, der diesem als Möglichkeit, aber auch als höchste Be-
stimmung und Verpf lichtung innewohnt. Wagners Frau Cosima (1837–1930) be-
richtet in ihren Tagebüchern über ein Gespräch aus dem Jahre 1878:
„Dann liest er mir die schönen Seiten […] in Renan über die Unifikation von Je-
sus mit Gott. Bei R. arbeitet dieses Thema weiter, diesen Gott, der in uns wohnt,
nennt er „das angeborene Gegengift gegen den Willen.“2
„Gott“ wird also aus dem Jenseits in die Welt geholt, wird zu einer weltimmanen-
ten Kraft, die sich vor allem im Menschen offenbart. Dabei handelt es sich keines-
wegs um den persönlichen Gott des kirchlichen Christentums. Diese Vorstellung
war Wagner zeitlebens fremd und wurde von ihm nach seiner Hinwendung zur
Schopenhauer’schen Philosophie aufs Entschiedenste abgelehnt. 3 Was meinte er
aber, als er von dem „Göttlichen in uns“4 sprach?
Obwohl dasjenige, was mit dem Wort „Gott“ oder „das Göttliche“ bezeichnet
wird, seinem Wesen nach irrational und unergründlich ist und deshalb in seiner
letzten Tiefe nicht mit logischen Begriffen erfasst werden kann, besitzt es bei Wag-
ner, vor allem in seinen letzten Lebensjahren, neben dem Unaussprechlichen auch
einen ganz bestimmten, rational erfassbaren Inhalt. Über diesen äußerte er sich mit
großer Deutlichkeit in seiner Spätschrift „Religion und Kunst“. Dort erscheint das
„Göttliche“ als jene grenzenlose Liebe, jenes allumfassende Mitleid, jene Bereit-
schaft zur letzten Selbsthingabe zugunsten anderer, die von Buddha verkündet und
von Jesus auf beispielhafte Art und Weise vorgelebt wurde. Wenn Wagner also be-
hauptet, dass es ein „Göttliches“ gebe, das den Urgrund der menschlichen Seele
bilde, so will er darauf hinweisen, dass der Mensch in sich die Fähigkeit zu solcher
Liebe und zu solchem Mitleid besitzt – und dass die Entwicklung und Steigerung
dieser Fähigkeit die höchste Bestimmung des menschlichen Daseins ist.
Dieses Postulat der potentiellen Göttlichkeit des Menschen ist es, das auch dem
Menschenbild des Parsifal zugrunde liegt. Schon die Sprache, die Wagner in der
Dichtung verwendet, zeigt, dass dort eine Auffassung vorherrscht, die das Gött-
liche mit der dem Menschen innewohnenden Kraft der Liebe und des Mitleids
gleichsetzt. Denn wenn man den Text des Parsifal aufmerksam durchliest, wird
man mit Erstaunen feststellen, dass in diesem hochreligiösen Drama das Wort
„Gott“ – außer in konventionellen Ausdrücken wie z. B. „Nun danket Gott“ –
kaum vorkommt. Dagegen begegnet man umso häufiger dem Wort „göttlich“:
„göttliches Blut“, „göttlicher Gehalt“, „der Göttliche weint“, „göttlichste Güter“
usw. Wenn trotzdem von „Gott“ gesprochen wird, wie z.B. in den Ausdrücken
„Gottesklage“ oder „Gottes Liebesopfer“, so bezieht sich das Wort eindeutig auf
Christus, der auch „der Göttliche“ genannt wird. Christus ist aber der Mensch
gewordene Gott, d.h. die reinste Verkörperung des Göttlichen im Menschen. Und

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

dessen Wesen ist – wie sein Leben und Sterben deutlich zeigen – jene grenzenlose
Liebe und jenes allumfassende Mitleid, in denen Wagner den Inbegriff des Gött-
lichen erkannte.
Nun hat sich dieses Göttliche zwar in der Person des historischen Jesus exempla-
risch verkörpert. Doch seine Offenbarung ist in der Sicht des Parsifal nicht auf diesen
einen Menschen begrenzt; vielmehr wohnt der „Gott im Menschen“ dem Menschen
an sich als Möglichkeit inne und drängt in jedem Menschen nach Verwirklichung.
Diese mystische Kernaussage bringt Wagner durch ein Symbol zum Ausdruck. Das
dem Menschen innewohnende Göttliche erscheint dort im Bild des Grals.
Woher hat Wagner dieses Symbol, und welche Bedeutung besaß es für ihn?
Die Frage, die Parsifal auf seinem Weg in die Gralsburg stellt, ist auch für uns von
größtem Interesse: „Wer ist der Gral?“

2. Die Bedeutung des Grals

Kein anderes Symbol spielt in Wagners Schaffen eine so vorherrschende Rolle wie
jenes geheimnisvolle Gefäß, um das sich eine Schar auserlesener Ritter versam-
melt, die in der Welt für das Gute kämpft. Tatsächlich begleitete der Gral Wag-
ners Denken und Schaffen von dem Augenblick an, als er den inneren Durchbruch
zur geistig-künstlerischen Reife vollzog, beinahe ununterbrochen bis zum Ende
seines Lebens. Schon 1842, als er 29 Jahre alt war und in Paris um geistige Selbst-
findung rang, las er das Buch von Christian Theodor Ludwig Lucas Über den Krieg
von Wartburg, in welchem die Geschichte des Gralsritters Lohengrin erzählt wird;
drei Jahre später, während eines Kuraufenthalts in Marienbad, studierte dann der
32-Jährige eingehend den Parzival des Wolfram von Eschenbach (ca. 1160/80–
1220) und las auch Albrecht von Scharfenbergs (Ende 13. Jh.) Jüngeren Titurel, in
dem die alten Gralsepen mit großer Detailfülle zusammengefasst und weiterge-
sponnen werden. Frucht dieser ersten Auseinandersetzung mit dem Stoff war der
1848 vollendete Lohengrin.
Die mythischen Bilder, die dieser ersten Gralsoper als Grundlage dienten, blie-
ben in Wagners Geist auch noch in den Jahren danach sehr lebendig. Denn als er
sieben Jahre später, im Jahre 1855, den Tristan konzipierte, f locht er, wie er in
seiner Selbstbiographie Mein Leben berichtet, eine Episode ein, die „einen Besuch
des nach dem Gral herumirrenden Parzival an Tristans Siechbette“ beinhaltete.
„Dieser an der empfangenen Wunde siechende und nicht sterben könnende Tris-
tan“ – so fährt er fort – „identifizierte sich in mir nämlich mit dem Amfortas
im Gral-Roman.“5 1857 erfolgte dann jenes berühmte „Karfreitags-Erlebnis“, das
zur ersten Konzeption des Parsifal-Dramas führte. An einem wunderbaren Früh-
lingsmorgen, bei vollem Sonnenschein, grünendem Garten und Vogelgezwit-

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„Der Gott im Menschen“

scher, wird Wagner angesichts der Herrlichkeit der wiederauf blühenden Natur
bewusst, dass es Karfreitag ist. Und da entsinnt er sich, „wie bedeutungsvoll diese
Mahnung mir schon einmal in Wolframs Parzival aufgefallen war“:
„Seit jenem Aufenthalte in Marienbad, wo ich die ‚Meistersinger‘ und ‚Lohengrin‘
konzipierte, hatte ich mich nie wieder mit jenem Gedichte beschäftigt; jetzt trat sein
idealer Gehalt in überwältigender Form an mich heran, und von dem Karfreitags-
Gedanken aus konzipierte ich schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte
geteilt, sofort mit wenigen Zügen f lüchtig skizzierte.“6
Nach der Niederschrift dieses leider verschollenen ersten Entwurfs zu Parsifal ließ
ihn der Stoff nicht mehr los. 1865 verfasste er auf Verlangen König Ludwigs den
ersten erhaltenen Prosaentwurf, dessen Ausführung er jedoch wegen der Vollen-
dung der Meistersinger und des Ring auf Jahre hinausschieben musste. Erst Anfang
1877, nach der Uraufführung der Nibelungen-Tetralogie, hatte er die innere und
äußere Freiheit erlangt, die er für die Vollendung seines zweiten Gralsdramas be-
nötigte. Von da ab bis zur Uraufführung des Werkes im Sommer 1882 bildete
Parsifal den Hauptinhalt seines Lebens. Ein halbes Jahr später ereilte ihn in Vene-
dig der Tod.
So sehen wir Wagner während eines Zeitraums von 40 Jahren beinahe un-
unterbrochen mit dem Gralsstoff beschäftigt: ein einzigartiger Fall in seinem
Leben, der auf eindeutige Weise bezeugt, welch überragende Rolle der Gral in
seiner geistigen Welt spielte. Wer auch nur ein wenig mit Wagners Art vertraut
ist, wird wissen, dass diese Zuwendung weder einer romantischen Schwärmerei
noch einem bloß ästhetischen Interesse an einem ergiebigen ‚Sujet‘ entsprungen
sein kann. Vielmehr muss im Gralsmythos eine tiefere geistige Bedeutung enthal-
ten sein, die aufgrund ihrer existentiellen Wichtigkeit für den Menschen und die
Menschheit Wagner im Innersten seines Wesens zu fesseln vermochte.
Tatsächlich hat das Symbol des Grals seit seiner ersten Erscheinung in der fran-
zösischen Literatur des 12. Jahrhunderts nie aufgehört, die Menschen in seinen
Bann zu ziehen. Die Ursprünge des Gralsmythos lassen sich nicht mit Sicherheit
feststellen.7 Manche Forscher erblicken sie in fernster indoeuropäischer Vergan-
genheit, andere wollen sie dagegen im Keltentum oder in den vorderasiatischen
Kulturen erkennen. Tatsächlich lässt sich das Symbol des Grals keiner bestimmten
Region oder Kultur zuordnen, nicht einmal der übergeordneten kulturellen Ein-
heit des christlichen Abendlands. Gerade darin liegt aber eine tiefere Bedeutung;
denn die Universalität des Grals ist eines seiner hervorragendsten Merkmale. Dem
Gralsmythos wohnt offensichtlich das Bestreben inne, kulturbedingte Grenzen zu
überwinden, weshalb Volker Mertens in seinem Buch Der Gral – Mythos und Li-
teratur von dem „Weltenumfassenden“ und der „kulturübergreifenden Dimension
der Gralsgeschichte“ spricht. 8

19
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Die erste Dichtung, in der Parzival oder Perceval als Held auftritt, und in der
der Gral mit Namen genannt wird, ist das von Chrétien de Troyes (ca. 1140–1190)
am Ende des 12. Jahrhunderts verfasste, unvollendet gebliebene Epos Le Roman
de Perceval ou le Conte du Graal. Wolframs Parzival, der zwischen 1205 und 1210
entstand, lehnt sich eng an Chrétiens Darstellung an; in ihm wird die Parzival-
Geschichte, die bei Chrétien abbricht, bevor der Held zum zweiten Mal zum
Gralstempel kommt, zu Ende erzählt, so dass nun auch Parzivals Einsetzung als
Gralskönig zur Darstellung gelangt. Zwischen diese beiden Fassungen des Parzi-
val-Stoffes fällt die Entstehung des 1201 erschienenen Epos des Robert de Boron
(Ende 12./Beginn 13. Jh.), die Estoire du Graal. Robert behandelt im Gegensatz zu
den beiden anderen Autoren nicht die Geschichte Parzivals, sondern greift weiter
zurück in der Zeit und erzählt von der Herkunft des Grals und dem Schicksal der
ersten Gralshüter. Diese drei Bücher bilden die Trias der Hauptquellen, auf die
alle späteren Darstellungen der Gralsgeschichte zurückgreifen.
Wenn mit dem Beginn der Renaissance die Geschichte des Grals und des Grals-
suchers Parzival auch in Vergessenheit geriet, so bedeutet dies keineswegs, dass sie
ihre Aktualität eingebüßt hatte. Denn bereits im Jahre 1753 trat sie mit einer von
Johann Jakob Bodmer herausgegebenen Auswahl aus Wolframs Parzival wieder ins
Bewusstsein der gebildeten deutschen Öffentlichkeit. Dass dann die Romantiker
starkes Interesse am Gralsstoff zeigten, überrascht nicht. Doch auch Goethe war
von ihm offensichtlich stark beeindruckt, wie sein großartiges, leider unvollendet
gebliebenes religiöses Versepos „Die Geheimnisse“ beweist, in dem die Pilgerfahrt
eines zu besonderen Aufgaben ausersehenen jungen Mannes, sowie eine geheim-
nisvolle Gemeinschaft von Rittermönchen dargestellt werden: zwei Motive, die
ganz offensichtlich den mittelalterlichen Gralserzählungen entlehnt sind.9
Durch Wagners Lohengrin wurde die Gralsgeschichte schließlich auch dem
breiten Publikum bekannt, weshalb man Wagner ohne weiteres zu den allerwich-
tigsten ‚Gralskündern‘ rechnen kann. Doch er stand mit seinem Interesse an dem
alten Stoff keineswegs allein da, wie die zahlreichen vom Gral inspirierten Dich-
tungen, die im 19. Jahrhundert in England erschienen, zur Genüge beweisen.10
Der Gral wurde dann im 20. Jahrhundert für zwei geistige Bewegungen zum
zentralen Symbol. Rudolf Steiner (1861–1925), der Begründer der „Anthroposo-
phie“, nannte seine eigenartige Geschichtsauffassung, in der Christus als der Mit-
telpunkt der gesamten kosmischen Entwicklung erscheint, die „Wissenschaft vom
Gral“11 – und der Psychologe C. G. Jung (Carl Gustav Jung, 1875–1961) sah im
Gral ein zentrales europäisches Symbol, das diejenigen Eigenschaften zum Aus-
druck bringe, die den Gegensatz zwischen dem abendländischen und dem östli-
chen Menschentum ausmachten.12
Was ist nun aber das Besondere an diesem Symbol? Worauf beruht seine große
Faszination?

20
„Der Gott im Menschen“

Die Hauptbedeutung des Grals besteht zweifellos darin, dass er eine Religions-
auffassung zum Ausdruck bringt, die von derjenigen der Kirche und der traditio-
nellen christlichen Theologie stark abweicht. Tatsächlich wirkt die Gralsgeschichte
innerhalb des abendländischen Geisteslebens wie eine unterirdische Strömung, die,
von den offiziellen Vertretern des Christentums unbeachtet, immer wieder her-
vorbricht, um das religiöse Denken und Erleben zu befruchten. Im Gegensatz zur
traditionellen Theologie, die versucht, die Heilsgeschichte in fest umrissene Be-
griffe zu zwängen, die nicht nur begrenzt, sondern zum Teil auch schwer verständ-
lich sind, drückt sich der Gralsmythos in symbolischen Bildern aus, die von jedem
Menschen unmittelbar erfasst werden können.13 Ein zweites besonderes Merkmal
der Gralsgeschichte ist, dass sie die Grenzen des bloß Christlichen sprengt, und den
eigentlichen Kern des Christentums – die Person Jesu und die Leidensgeschichte
– als etwas Reinmenschliches darstellt, das Morgenland und Abendland verbindet
und deshalb alle Menschen, gleich welchem Kulturkreis sie angehören, betrifft.
Charakteristisch für die Gralsgeschichte ist auch, dass der in ihr gezeigte Weg
auf einer welt- und lebensbejahenden Grundhaltung beruht. Schon die Gegenwart
des heiligen Gefäßes im Gralstempel, die ein Zeugnis für die Gegenwart des Gött-
lichen im Irdischen ist, bedeutet eine Aufwertung des irdischen Lebens; und die
Gralssucher sind nicht nur Heilige, die nach seelischer Reinheit streben, sondern
zugleich auch vollendete Ritter, deren Aufgabe es ist, als Träger einer transzenden-
ten Kraft in der Welt für das Gute zu kämpfen.
Vor allem aber ist das Gralschristentum ein mystisches Christentum. Denn
es verkündet die Möglichkeit unmittelbarer, innerer religiöser Erfahrung. Der
Mensch, der den Gral „schaut“, braucht weder Schrift noch vermittelnde Priester,
um mit Gott in Verbindung zu treten; vielmehr erlebt er seine religio, seine Wieder-
anbindung an das Göttliche, als Begegnung in der eigenen Seele.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Religion des Grals universal, weltbe-
jahend und mystisch ist; sie betont den Wert des eigenverantwortlichen Individuums
und drückt sich in der jedem Menschen zugänglichen Sprache symbolischer Bilder aus.
Dieser Entwurf einer völlig andersgearteten Religiosität ist es, was Menschen, denen
das offizielle, kirchliche Christentum nicht genügte, zu allen Zeiten mächtig angezo-
gen hat. Dass eine solche Religionsauffassung auch gerade Wagner besonders beein-
drucken musste, liegt auf der Hand. Denn die Kernideen, die im Gralschristentum
zum Ausdruck kommen: die Steigerung des irdischen Lebens durch die Verbindung
des Menschen mit einer tieferen Dimension des Seins, das Fehlen dogmatischer Theo-
logie, sowie die unmittelbare mystische Begegnung des Einzelnen mit dem Göttlichen
– all das entspricht den Grundtendenzen seines eigenen Denkens und Schaffens.14
In welcher Gestalt aber trat ihm dieses Symbol, das für ihn und sein Werk eine
so große Bedeutung erlangen sollte, zum ersten Mal entgegen? Wie wird der Gral
in den alten Epen beschrieben?

21
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

3. Der Gral in den


mittelalterlichen Dichtungen

Der Gral wurde im Mittelalter seiner Form und seinem Wesen nach sehr verschie-
den aufgefasst. Bei Chrétien wird seine äußere Gestalt überhaupt nicht beschrie-
ben. Wir erfahren nur, dass er „aus purem, lauterem Gold“ gebildet und mit „vie-
lerlei Edelsteinen“ übersät ist, die „zu den kostbarsten und wertvollsten, die Meer
und Erde freigeben“ zählen15 – was darauf hinweist, dass der Gral einen kostbaren
Schatz darstellt, das Wertvollste, was der Mensch auf Erden erlangen kann. Es wird
auch erzählt, dass der Gral „eine so strahlende Helligkeit“ von sich gebe, „dass die
Kerzen ihren Glanz verloren, ebenso wie die Sterne oder der Mond tun, wenn sich
die Sonne erhebt“.16 Der Gral steht auch im Zusammenhang mit einer geheimnis-
vollen Speisung, bei der erlesenste Gerichte in scheinbar unerschöpf licher Fülle
aufgetragen werden; er scheint also eine Art Füllhorn zu sein, das denen, die mit
ihm in Berührung kommen, unendliches Leben spendet. Zugleich ist er aber auch
der Spender rein geistiger Nahrung; denn im Gral wird dem alten König eine Hos-
tie gereicht, die ihn ohne irdische Speise am Leben erhält und stärkt.
Auch bei Wolfram, aus dessen Parzival Wagner in jenem Marienbader Sommer
zum ersten Mal den ganzen Sagenstoff kennenlernte, ist der Gral der Spender
geheimnisvoller Kraft und besitzt als solcher allerhöchsten Wert. Er ist der „Inbe-
griff paradiesischer Vollkommenheit, Anfang und Ende allen menschlichen Stre-
bens“ und übertrifft „alle Vorstellungen irdischer Glückseligkeit“.17 Auch dort
geht vom Gral eine wunderbare Speisung aus; er ist „ein Füllhorn irdischer Köst-
lichkeiten“.18 Und auch dort spendet er ewiges Leben: Wer ihn anblickt, altert
nicht, und auch einem todkranken Menschen kann der Tod nichts anhaben, wenn
er jede Woche den Gral schaut. Dass die Quelle dieser wunderbaren Kraft Chris-
tus ist, wird bei Wolfram besonders betont. Denn jedes Jahr am Karfreitag f liegt
„eine blendend weiße Taube“ – das Symbol des Heiligen Geistes – vom Himmel
herab und legt auf den Gral „eine kleine, weiße Oblate“.19 Der größte Unterschied
zwischen Wolframs und Chrétiens Auffassung des Grals liegt in der Beschreibung
des Stoffes, aus dem dieser gebildet ist. Denn während beim französischen Dichter
der Gral aus Gold gebildet ist, ist er bei Wolfram ein besonders wertvoller Edel-
stein: Er heißt „Lapsit exillis“20 – was wohl ein Wortspiel mit dem lateinischen „ex
caelis“ (‚vom Himmel‘) ist 21 – und ist „makellos rein“. 22 Welche Form dieser Stein
habe, wird jedoch auch hier nicht gesagt.
Genauere Auskunft über Herkunft und Wesen des Grals bekommen wir erst
von Robert de Boron. Allerdings ist das, was wir aus Roberts Gralsepos erfahren,
von dem, was die beiden anderen Dichter erzählen, sehr verschieden. Robert folgt
in seinem Gralsepos offensichtlich einem anderen Überlieferungsstrang, bei dem
nicht die Abenteuer der Ritter, sondern das Schicksal des Grals selbst im Mittel-

22
„Der Gott im Menschen“

punkt steht. Bei ihm ist der Gral das Gefäß, das Jesus beim letzten Abendmahl
verwendete, als er seinen Jüngern Wein anbot mit den Worten: „Das ist mein
Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.“ 23 In diesem Gefäß – so
erfahren wir weiter – wurde von Joseph von Arimathia (oder Arimathäa) nach der
Kreuzigung das aus der Seitenwunde Jesu f ließende Blut aufgefangen. Der Gral
steht also bei Robert in Verbindung mit dem Blut Christi – und das auf zweifache
Art und Weise. Zum einen diente er als Gefäß für das mystische Blut, in das beim
letzten Abendmahl Jesus den Wein verwandelte – zum anderen aber als Behälter
für das wirkliche Blut Jesu, das aus seinem Körper f loss, als er aus grenzenloser
Liebe sein Leben für die Menschheit hingab.
Durch seine Deutung des Grals setzt Robert die Gralssage überhaupt in Ver-
bindung mit den Evangelien. Diese berichten nicht nur von der Stiftung des
Abendmahls, bei dem Wein in das Blut Christi verwandelt wurde, sondern er-
zählen auch, wie Joseph, der ein „heimlicher“ Jünger Jesu war, den Leichnam des
Gekreuzigten von Pilatus erbat. Wichtig für die Deutung der Gralssymbolik ist
vor allem die Fortsetzung der Erzählung. Denn alle vier Evangelien berichten,
dass Joseph, nachdem er geholfen hatte, den Leichnam Jesu vom Kreuz abzuneh-
men, diesen in ein aus dem Felsen gehauenes Grab legte, in dem Jesus nun seiner
Auferstehung entgegenging. Bei Markus lesen wir:
„Da es Rüsttag war, der Tag vor dem Sabbat, und es schon Abend wurde, ging
Joseph von Arimathäa, ein vornehmer Ratsherr, der auch auf das Reich Gottes
wartete, zu Pilatus und wagte es, um den Leichnam Jesu zu bitten. Pilatus war
überrascht, als er hörte, dass Jesus schon tot sei. Er ließ den Hauptmann kommen
und fragte ihn, ob Jesus bereits gestorben sei. Als der Hauptmann ihm das bestä-
tigte, überließ er Joseph den Leichnam. Joseph kaufte ein Leinentuch, nahm Jesus
vom Kreuz, wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen
gehauen war. Dann wälzte er einen Stein vor den Eingang des Grabs.“24
Matthäus fügt noch hinzu, dass es Josephs eigenes Grab war, „das er für sich selbst
in einen Felsen hatte hauen lassen“. 25
Nun ist der Berg oder der Fels in vielen Mythen und Märchen ein Symbol für
den menschlichen Körper, und die Höhle im Inneren des Berges – man denke
nur an den „Heinrich von Ofterdingen“ des Novalis (Friedrich von Hardenberg,
1771–1801) – ein Sinnbild für den verborgenen Innenraum der Seele. Umgekehrt
wurde im von Platon beeinf lussten frühen Christentum der Körper oft als „Grab
der Seele“ betrachtet. Es liegt deshalb nahe, falls man bereit ist, die Evangelien
symbolisch zu deuten, die Erzählung der Grablegung als ein Bild dafür aufzufas-
sen, dass Christus, oder die Kraft, die er verkörperte, nach der letzten Vollendung
durch den freiwilligen Opfertod gleichsam in das Innere des Menschen hineinver-
senkt wurde, wo er nunmehr seiner Auferstehung harrt.

23
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Auf jeden Fall scheint dies die Auffassung zu sein, die der von Robert wie-
dergegebenen Sage zugrunde liegt. Denn dort wird Joseph nach der Grablegung
in einen Turm geworfen, „der hoch aufragte und sich tief in die Erde fortsetz-
te“, wo er auf unbestimmte Zeit in einem Verlies gefangen gehalten werden soll,
„das überaus grauenhaft und dunkel und ganz aus hartem Stein gebaut war“. 26
Der Turm aber, als feste, abschließende, trennende Mauer, ist auch ein Sinnbild
des menschlichen Körpers, so dass man Josephs Gefangennahme als Symbol dafür
auffassen kann, dass dieser heimliche Jünger Jesu – nachdem ihm mit dem Tode
seines Meisters das Licht, das ihm in der Welt geleuchtet und sein Dasein auf eine
höhere, geistigere Stufe gehoben hatte, erloschen war – nunmehr in die Finster-
nis der bloß körperlich-naturhaften Existenz zurückgeworfen wurde, aus der die
göttliche Gegenwart verschwunden war.
Eines Tags erstrahlt aber in der Dunkelheit seines Gefängnisses ein blendendes
Licht – und in diesem Licht erblickt er den auferstandenen Christus (Robert nennt
ihn einfach „Gott“), der ihm den Gral entgegenhält:
„Gott vergalt ihm reichlich, was er für ihn erduldet. Er kam zu ihm in das Verlies
und trug sein Gefäß in der Hand, das eine so große Helligkeit über ihn ergoss, dass
der Kerker im Lichte strahlte. Und als Joseph die Helligkeit erblickte, da freute
er sich in seinem Herzen. Gott brachte ihm sein Gefäß, worin er sein Blut aufge-
fangen hatte. Joseph war im Innersten von der Gnade des Heiligen Geistes ganz
erfüllt, als sein Blick auf das Gefäß fiel […] Alsbald kniete er nieder und dankte
Unserem Herrn dafür: ‚O Herr und Gott, bin ich denn so würdig, dass ich ein so
kostbares Gefäß hüten kann und darf, worin Ihr Euer heiliges Blut strömen lie-
ßet?‘ Gott sprach: ‚Du sollst es mir hüten und auch die, denen Du es anvertrauen
wirst.‘“27
Der „Gott“, der ihm in der Außenwelt weggestorben war, erscheint also nun in
seinem Inneren und hinterlässt ihm mit seinem Blut seine unsterbliche Substanz.
Christus, die Verkörperung des Göttlichen, feiert in der menschlichen Seele seine
Auferstehung.

4. Der Gral im Parsifal

Wie man diese Symbole auch deuten mag, es ist sicherlich kein Zufall, dass Wag-
ner gerade diese Auffassung des Grals für seinen Parsifal übernahm. In einem
Brief an Mathilde Wesendonk aus dem Jahre 1859 – der Stoff arbeitete damals
mächtig in seinem Inneren – verkündete er entschieden seine Abkehr von der
Wolfram’schen Darstellung, der er noch im Lohengrin gefolgt war, und seine Hin-
wendung zu Robert:

24
„Der Gott im Menschen“

„Der Gral ist nun, nach meiner Auffassung, die Trinkschale des Abendmahls,
in welcher Joseph von Arimathia das Blut des Heilands am Kreuz auffing. Wel-
che furchtbare Bedeutung gewinnt nun hier das Verhältnis des Anfortas zu diesem
Wunderkelch …“28
In der Parsifal-Dichtung wird dann die Legende erzählt, nach der Christus seine
Engel auf die Erde niedersandte, um Titurel, dem ersten Gralskönig, ein „höchstes
Wundergut“ zu übergeben:
Ihm neigten sich in heilig ernster Nacht
dereinst des Heilands selige Boten:
daraus der trank beim letzten Liebesmahle,
das Weihgefäß, die heilig edle Schale,
darein am Kreuz sein göttlich Blut auch f loss,
dazu den Lanzenspeer, der dies vergoss –
der Zeugengüter höchstes Wundergut –
das gaben sie in unseres Königs Hut.
Der Gral ist im Parsifal also ein „Weihgefäß“, ein „Heilsgefäß“, dessen „göttli-
cher Gehalt“ das „heiligste Blut“ ist. Das will sagen: Er ist Träger der Essenz des
innersten Wesens Christi, die durch das „göttlich Blut“ symbolisiert wird. Und
dass sich dieser „göttliche Gehalt“ im Inneren des Menschen befindet, geht aus
den Worten und den mythischen Bildern von Wagners Drama eindeutig hervor.
Ausdrücklich wird gesagt, dass sich das heilige Blut Christi „im Herzen“ befindet
– dass also der Gral und das Blut, die man im mystischen Raum des Gralstempels
erblickt, Symbole sind für eine innere Wirklichkeit.
Des Weihgefäßes göttlicher Gehalt
erglüht mit leuchtender Gewalt;
durchzückt von seligsten Genusses Schmerz,
des heiligsten Blutes Quell
fühl ich sich gießen in mein Herz…
– so singt Amfortas während seiner inneren Vision des Gralsleuchtens in der
Gralsszene des I. Akts. Und Parsifal, da er im II. Akt die Qualen des zwischen
Begierde und Heiligkeit hin- und hergerissenen Gralskönigs mitfühlend durch-
leidet, bezeichnet das Herz sogar als ein vom Heiland bewohntes „Heiligtum“:
Nur hier, im Herzen will die Qual nicht weichen.
Des Heilands Klage da vernehm ich,
die Klage, ach! die Klage
um das entweihte Heiligtum:
„Erlöse, rette mich

25
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

aus schuldbef leckten Händen!“


So rief die Gottesklage
furchtbar laut mir in die Seele.
Der Gral kann sich nur im Inneren befinden; denn „kein Weg führt zu ihm durch
das Land“. Er befindet sich in einem Bereich, wo „die Zeit zum Raum wird“:
einem übersinnlichen Bereich also, wo die Grenzen zwischen Zeit und Raum
aufgehoben sind. Und dieser Bereich liegt nicht, wie noch im Lohengrin, droben
im Himmel, sondern im Inneren des Berges. „In Felsenwänden öffnet sich ein
Torweg, welcher die beiden jetzt einschließt“ – so lautet die szenische Vorschrift
Wagners an der Stelle, wo der mystische Gang zur Gralsburg beginnt. Und im III.
Akt, da dieser Weg noch einmal zurückgelegt wird, heißt es:
„Die Gegend verwandelt sich sehr allmählich […] Nachdem die drei eine Zeitlang
sichtbar geblieben, verschwinden sie gänzlich, als der Wald sich immer mehr ver-
liert und dagegen Felsengewölbe näher rücken […] In gewölbten Gängen stets an-
wachsend vernehmbares Geläute […] Hier öffnen sich die Felswände und die große
Grals-Halle, wie im ersten Aufzuge, nur ohne Speisetafeln, stellt sich wieder dar.“
Das, was hier symbolisch ausgedrückt wird, ist der Schlüssel zum Verständnis des
ganzen Parsifal. Denn das Bild des im Inneren des Berges befindlichen Tempels, in
dem das Gefäß mit dem Blut Christi auf bewahrt wird, will sagen, dass im tiefsten
Inneren der menschlichen Seele Christus gegenwärtig ist – als „Gott im Men-
schen“. Und das ganze Drama kreist um die Frage, wie sich der Mensch zu diesem
göttlichen Wesenskern – zu dem Christus im Herzen – verhalten soll.
Dass der Mensch aber als freies Individuum die Möglichkeit besitzt, sich auch
gegen das Göttliche zu stellen, kommt in dem zweiten großen Symbol zum Aus-
druck: dem Speer.

5. Die Symbolik des SPEERES

Schon in den alten Epen nimmt das Symbol des Speeres eine wichtige Stellung
ein. Chrétien beschreibt, wie während Percevals erstem Besuch auf der Gralsburg
eine blutende Lanze vorübergetragen wird:
„Während sie noch über dies und das sprachen, kam aus einer Kammer ein Knappe
mit einer weißen Lanze, deren Schaft er in der Mitte gepackt hielt. Zwischen dem
Feuer und den im Bett Sitzenden schritt er hindurch. Alle im Saal sahen die weiße
Lanze und ihre weiße Spitze, und oben aus dieser quoll ein Blutstropfen und rann
dunkelrot auf die Hand des Knappen.“29
Danach wird von einer Jungfrau der Gral hereingetragen.

26
„Der Gott im Menschen“

Ganz ähnlich spielt sich die Szene bei Wolfram ab. Dort wird von Parzival
erwartet, dass er nicht nur fragt, wen man mit dem Gral bediene, sondern auch,
was es mit der Lanze und dem aus ihr hervorquellenden Blut für eine Bewandtnis
habe.
In diesen beiden ältesten Fassungen des Parzival-Stoffes ist die Herkunft des
Speeres noch unklar. Erst in den späteren französischen Fortsetzungen wird dieser
eindeutig mit jener Lanze gleichgesetzt, mit der der römische Soldat Longinus
die Seitenwunde Jesu stach. Das ist auch die Fassung, die von Wagner im Parsifal
übernommen wurde, und in dieser Form wurde der Speer zu einem der bedeu-
tungsvollsten Symbole des Dramas.
Die überragende Wichtigkeit, die der Speer in der Wagner’schen Fassung des
Gralsstoffes besitzt, geht aus einer Bemerkung hervor, die Cosima in ihren Tage-
büchern festgehalten hat. Unter dem Datum des 30.1.1877 berichtet sie:
„Bei Tische sagte mir R., er sei über das Schwerste im Parzival hinüber; keine Fra-
ge, sondern die Wiedergewinnung der Lanze sei es, worauf es ankomme.“30
Tatsächlich hat Wagner die Überlieferung dahingehend verändert, dass der hei-
lige Speer – der bei Chrétien und Wolfram immer beim Gral ist – aus dem Grals­
tempel entfernt wird und in die Hand Klingsors gerät, so dass die Hauptaufgabe
des Helden nunmehr darin besteht, ihn wiederzugewinnen und zum Gral zurück-
zuführen. Dass dieses Motiv von Wagner ganz bewusst als Mittel der geistigen
Aussage eingesetzt wurde, wird durch eine schon zwölf Jahre früher verfasste
Eintragung im Braunen Buch, das Wagner eine Zeit lang als geistiges Tagebuch
benutzte, bezeugt, in dem wir unter dem Datum des 2.9.1865 folgendes Selbstge-
spräch lesen können:
„Was soll ich mit der blutigen Lanze machen? - Das Gedicht sagt: mit dem Gral sei
zugleich auch die Lanze aufgeführt worden; an ihrer Spitze hing ein Blutstropfen.
– Die Wunde des Amfortas ist jedenfalls von dieser Spitze gestochen: wie hängt dies
aber zusammen? Hier ist große Confusion. Die Lanze gehört, als Reliquie, zu der
Schale; in dieser wird das Blut aufbewahrt, welches durch die Lanzenspitze dem
Schenkel [sic!] des Heilands entf loss. Beide ergänzen sich.“31
Darauf folgt eine Überlegung darüber, warum sich die Lanze überhaupt in der
Hand Klingsors befinde: War sie ursprünglich zusammen mit dem Gral in der
Obhut der Ritter und ist sie erst durch die Katastrophe des Amfortas in Kling­
sors Hand geraten, so dass sie nun wiedergewonnen werden muss? Oder war sie von
Anfang an in Klingsors Gewalt und muss sie deshalb für den Gral überhaupt erst
erobert werden? Wie wir wissen, entschied sich Wagner für die erste Fassung.
Der Grundmythos des Speeres, wie er dann von Wagner im Parsifal gestaltet
wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der römische Soldat Longinus stieß

27
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

nach der Kreuzigung Jesu diesem seine Lanze in die Seite. Daraus f loss Blut, das
teilweise von Joseph von Arimathia in der Gralsschale aufgefangen wurde, teil-
weise an der Spitze des Speeres haften blieb. Dieser Speer wurde später zusammen
mit dem Gral als „Heiltum“ Titurel übergeben. Amfortas zog mit dem Speer zum
verhängnisvollen Kampf gegen Klingsor aus, in dem er, durch Kundry verführt,
diesem unterlag. Klingsor bemächtigte sich des Speeres und schlug damit Am-
fortas – an derselben Stelle, an der einst Longinus Jesus verletzt hatte – eine Wun-
de, die furchtbare Qualen verursacht und die nur durch die Berührung desselben
Speeres wieder geheilt werden kann. Parsifal gelingt es, den Speer wiederzuge-
winnen und zum Gral zurückzuführen, wodurch die Amfortaswunde endlich ge-
schlossen wird.
Was hat dies alles zu bedeuten? Warum hat Wagner dem Speer und dessen
Schicksal eine so überragende Bedeutung beigemessen, so dass er sagen konnte,
„die Wiedergewinnung der Lanze sei es, worauf es ankomme“? Diese Frage kann
man nur beantworten, wenn man sich zuvor klar gemacht hat, welche Symbolik
der Speer ganz allgemein und insbesondere für Wagner beinhaltet.
Zunächst hat man mit dem Speer ein archetypisches Symbol vor sich, das
eindeutig auf Männlichkeit hinweist. Speer und Schale gehören zusammen wie
männlich und weiblich und sind Ausdruck jener Ganzheitlichkeit, die überhaupt
ein Kennzeichnen des Gralsmythos ist. Männlichkeit bedeutet aber auch Wille,
Tatkraft und Entschiedenheit, und insofern ist der Speer – der ja als Waffe ein
Werkzeug der Selbstbehauptung gegen Andere ist – auch Symbol des Eigenwillens.
So wurde er jedenfalls von Wagner aufgefasst; denn schon im Ring ist der Speer
ein Sinnbild der Ichhaftigkeit: Um ihn zu gewinnen, bricht Wotan einen Ast von
der Weltesche ab, womit er sich symbolisch von der organischen Einheit der Natur
trennt und ein mit Eigenwillen begabtes Individuum wird. Die Vermutung, dass
der Speer im Parsifal eine ähnliche Bedeutung besitzt, liegt nahe. Und tatsächlich
zeigt uns die Musik, dass es sich in beiden Fällen um dasselbe Grundphänomen
handelt. Denn das Speermotiv besteht in beiden Werken aus einer sich kräftig und
zielsicher fortbewegenden diatonischen Tonleiter. Während diese jedoch im Ring
nach unten geht, strebt sie im Parsifal in die Höhe:

Der Wotanspeer Der Gralsspeer

Verglichen mit dem Speer Wotans hat also der Gralsspeer eine totale Richtungs-
umkehr vollzogen. Diese musikalische Umkehrung ist aber der symbolische

28
„Der Gott im Menschen“

Ausdruck einer radikalen Willensumkehr – ja, man könnte sogar sagen: einer
ontologischen Veränderung, die sich im Kern des menschlichen Wesens an sich
abgespielt hat. Denn im Parsifal trägt der Speer an seiner Spitze das Blut Christi;
und das bedeutet, dass der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes zum Christo-
phoros, zum ‚Christusträger‘ geworden ist. Das ist der Unterschied zwischen der
Auffassung des menschlichen Wesens, wie sie im Ring und im Parsifal erscheint.
Während im Ring der Wille Wotans noch von Selbstsucht und Eigenmächtigkeit
beherrscht wird, und die Fähigkeit zur Liebe erst errungen werden muss, ist dem
Willen des Menschen, wie er im Parsifal gezeigt wird, durch das beispielhafte Le-
ben und Sterben Jesu bereits das Vermögen verliehen worden, an jener allum-
fassenden Liebe teilzuhaben, die als „das Göttliche“ bezeichnet wird. In beiden
Werken ist es aber die ureigenste Bestimmung des Menschen, diese Liebe in sich
zu verwirklichen. Im Parsifal ist diese Verwirklichung gleichbedeutend mit der
Vereinigung des menschlichen Ich-Willens mit dem Göttlichen. Und das Symbol
dafür ist die Wiedervereinigung von Speer und Gral.
Dieser höchste Zustand ist jedoch dem Menschen auch im Parsifal nicht ein-
fach gegeben, sondern muss von ihm erst erlangt werden. Denn Speer und Gral
können – wie uns die Handlung lehrt – getrennt werden; d.h., der menschliche
Einzelwille kann von dem Göttlichen abfallen und zum Diener der Begierde und
des Egoismus werden. Ob der Mensch seinen Willen in Einklang mit dem Gött-
lichen bringt, oder ob er sich gegen dieses stellt, liegt in seiner freien Entschei-
dung. Hier berührt die Symbolik des Speeres das Mysterium der Freiheit. Denn es
gibt offensichtlich neben dem Gral, als dem innersten „Selbst“ des Menschen, ein
Zweites in seinem Inneren, das ebenfalls „er selbst“ ist, jedoch sich jenem ersten
„Selbst“ entgegenstellen kann. Der Mensch ist in seinem innersten Wesen eins mit
Christus; doch er ist zugleich ein selbstständiges Individuum, das sein Schicksal in
Freiheit und Eigenverantwortlichkeit gestalten kann und muss. Man könnte auch
sagen: Der Mensch ist zwar christusgleich; doch er muss erst aus eigener Kraft
werden, was er ist.
Mit dieser Betonung der Willensfreiheit erweist sich Parsifal als ein eminent
humanistisches Werk. Wagner vertritt hier eine Auffassung, die dem Menschen
und dem Mensch-Sein höchste Bedeutung und höchsten Wert zuspricht. Verleiht
der Gral – als das Göttliche in der menschlichen Seele – dem Menschen eine nicht
zu überbietende Würde, so wird ihm durch die Freiheit größte Verantwortung
auferlegt. Denn das Göttliche kann zwar durch den Menschen in Erscheinung tre-
ten; doch ob dies geschieht, liegt ganz in der freier Wahl des Einzelnen. Während
also das Symbol des Grals im Parsifal die Mystik begründet, macht die Symbolik
des Speeres das Werk zum Verkünder eines Humanismus, in dem die humanisti-
sche Tradition des Abendlandes ihren höchsten Gipfel erreicht. Beide zusammen
ergeben ein Menschenbild, das man als mystischen Humanismus bezeichnen kann.

29
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Zum Schluss sei noch auf die für die humanistische Aussage des Werkes hoch-
bedeutsame Tatsache hingewiesen, dass nur der Speer selbst imstande ist, die von
ihm geschlagene Amfortas-Wunde zu heilen. Parsifal selbst spricht dies am Ende
des Werkes deutlich aus:

Nur eine Waffe taugt: –


die Wunde schließt
der Speer nur, der sie schlug.

Damit wird unmissverständlich auf die höchste Steigerung der Individualität als
das Ziel der menschlichen Höherentwicklung gewiesen. War es das Ich, das als
von Begierde erfüllter Eigenwille den Menschen von seiner Bestimmung ent-
fernte und ihn dadurch ‚verwundete‘, so kann auch die Heilung nur durch das-
selbe Ich erfolgen, das sich auf einem langen Prüfungsweg läutert und in freier
Entscheidung die Begierde überwindet und den Durchbruch zur allumfassenden
Liebe schafft. Nicht Abtötung des Ichs ist der Weg zur Erlösung, sondern seine
Selbstreinigung von Egoismus und Begierde; der Speer ist zugleich Instrument
und höchstes Ziel menschlicher Vollendung. Hier wird man an die Definition
der Liebe erinnert, die Wagner einst während der Entstehung der Ring-Dichtung
in seinem theoretischen Hauptwerk Oper und Drama formuliert hatte. „Die Lie-
be“ – so lesen wir dort – „ist eben nicht Selbstbeschränkung, sondern unendlich
mehr, nämlich – höchste Kraftentfaltung unseres individuellen Vermögens …“ 32
Nur durch diese Kraftentfaltung gelangt der Mensch zur Einheit mit dem Gött-
lichen.

6. Musikalischer Exkurs
Das Vorspiel zum I. Akt

Das, was Wagner als „Gott im Menschen“ bezeichnete, ist auch das Thema des
symphonischen Vorspiels, das dem Drama vorangestellt ist. Wie immer, so ver-
steht es Wagner auch hier, Tiefes und Unaussprechliches durch Töne auszudrü-
cken; und auch hier handelt es sich dabei nicht nur um unbestimmte Gefühlserleb-
nisse, sondern auch um deutliche gedankliche Aussagen, die für denjenigen, der es
versteht, die Wagner’sche Motivsprache zu entziffern, wichtige Aufschlüsse über
den geistigen Gehalt des Werkes liefern.
Schon die ersten Töne umgeben uns mit einem Gefühl des Geheimnisvollen.
Einfach wie ein gregorianischer Choral erklingt im unisono der Streicher und
Holzbläser eine fünftaktige Melodie, die wie ein Motto dem Werk vorangestellt
wird:

30
„Der Gott im Menschen“

Die Bedeutung dieses weit ausgesponnenen Themas ist aus seiner Verwendung
in der Gralsszene des I. Aktes leicht zu erkennen. Dort wird es zu den Worten
gesungen, mit denen, den synoptischen Evangelien zufolge, Jesus am Abend vor
seiner Kreuzigung das heilige Abendmahl einsetzte:

Nehmet hin meinen Leib,


nehmet hin mein Blut
um unserer Liebe willen!

Das Thema wird deshalb traditionell als „Abendmahlmotiv“ bezeichnet. Musik


bringt aber immer den inneren Gehalt einer Sache zum Ausdruck; und der innere
Gehalt der Abendmahlsstiftung, die Quelle, aus der sie entspringt, ist der Wille
Jesu, aus Liebe zu den Menschen seinen Leib und sein Blut hinzugeben. Der ei-
gentliche Inhalt des Motivs ist also jene innere Haltung der unbegrenzten Hinga-
bebereitschaft, welche Jesus zu seiner höchsten Opfertat bewog. Es ist also seinem
inneren Gehalt nach ein Christus-Motiv.
Der unbefangene Zuhörer erlebt dieses „Abendmahlmotiv“ als eine Einheit
und wird von ihrem Gefühlsinhalt und ihrer mystischen Atmosphäre unmittel-
bar ergriffen. Kurt Overhoff (1902–1986) hat jedoch in seinem bahnbrechenden
Parsifal-Buch – Frucht seiner jahrelangen Unterrichtstätigkeit als Lehrer Wieland
Wagners – als Erster darauf hingewiesen, dass die musikalische Linie dieses The-
mas in Wirklichkeit aus vier Einzelmotiven besteht:
−− dem Motiv der göttlichen Liebe
−− dem Motiv der Wunde
−− dem Speermotiv
−− einer kurzen, abschließenden Figur, in der die melodische Linie die Terz um-
spielt, um nachher auf dieser zur Ruhe zu kommen. 33
Wagner hat diese vier Klangsymbole nicht ohne Grund miteinander verbun-
den, um daraus das wichtigste Klangsymbol des Parsifal zu schaffen. Wenn wir
uns die einzelnen Motive genauer anschauen, werden wir sehen, dass sie tatsäch-
lich mitten in die tiefsten Gedanken des Werkes führen.

Das Motiv der göttlichen Liebe

31
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Mit dem Erklingen dieses Motivs in den ersten Takten der Partitur wird uns ver-
kündet, dass das Schicksal der göttliche Liebe bzw. des inneren Christus das ei-
gentliche Thema des Vorspiels ist. Doch dieses Schicksal erscheint gleich zu An-
fang als ein Problem. Denn das Klangsymbol besteht in seiner eigentlichen Gestalt
aus einer frei emporströmenden melodischen Linie. Am Ende des Werkes werden
wir in jener gewaltigen Fanfare, mit der die Partitur ausklingt, diese eigentliche,
reine Form des Motivs vernehmen. Hier jedoch, zu Beginn des Vorspiels, wird
diese Linie jäh unterbrochen und schmerzlich nach unten gebogen:

Beginn des Werkes

Schluss des Werkes

Wodurch aber dieses Problem hervorgerufen wird, das zeigt uns das nächste Teil-
motiv. Denn das gewaltsame Umbiegen der Linie des Motivs der göttlichen Liebe
geschieht durch das Motiv der Wunde.

Das Motiv der Wunde

Die Amfortas-Wunde, die durch dieses Motiv bezeichnet wird, ist das Symbol
der Verletzung des Menschen durch die egoistische Begierde. Diese ist es, die ihm

32
„Der Gott im Menschen“

nicht nur als unerfüllbare Sehnsucht Qualen verursacht, sondern ihn auch von
seiner wahren Bestimmung, christusgleich sein Leben liebevoll in den Dienst an-
derer zu stellen, abbringt und ihn immer wieder in seine egoistische Vereinze-
lung zurückwirft. So ist die Wunde nicht nur ein Sinnbild für die Hemmung der
Liebe im Inneren des Menschen, sondern auch für seine schmerzliche Selbstent-
fremdung. Doch damit nicht genug: Der Mensch, der der egoistischen Begierde
verfällt und seinen Willen auf die Befriedigung eigener Lust richtet, fügt nicht
nur sich selbst eine Wunde zu, sondern verletzt auch das Göttliche in sich, das als
allumfassende Liebe strömen will, nun aber an ihrer Entfaltung gehindert wird.
Deshalb wird hier die aufsteigende Melodie der göttlichen Liebe durch das Motiv
der Wunde gewaltsam nach unten gebogen.
Die Spannung, die durch diesen schmerzlichen Eingriff entsteht, löst sich dann
aber in einem neuen Klangsymbol, in dem die aufwärts strebende Richtung wie-
dergewonnen wird. Es ist das Motiv des Speeres.

Das Speermotiv

Mit dem Klangsymbol des Speeres weist hier die Musik auf die Möglichkeit der
Erlösung hin. Das mythische Bild für diese Erlösung ist die Rückkehr des Speeres
zum Gral. Diese ist aber der symbolische Ausdruck dafür, dass der menschliche
Eigenwille, der durch die egoistische Begierde von seinem wahren Ziel abgekom-
men ist, wieder zu einem Instrument der Liebe geworden ist. Dadurch erreicht
der Mensch den Einklang mit dem durch Christus verkörperten Göttlichen, das
zugleich seine eigene höhere Bestimmung ist; und in dieser Einheit mit dem Gött-
lichen und seinem eigenen höheren Selbst erlebt er den Frieden des erlösten Zu-
standes.
Dieses Zur-Ruhe-Kommen wird durch die Dissonanzauf lösung ausgedrückt,
die den Abschluss des „Abendmahlsmotiv“ bildet.

Die kadenzierende Dissonanzauf lösung

Bei dieser kleinen Figur handelt es sich um den melodischen Teil jener einfachen
Dominante-Tonika-Kadenz, mit der die musikalische Schilderung des Grals-
leuchtens schließt:

33
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Die Kadenz ist in der Musik die elementarste Form der Dissonanz-Auf lösung und
deshalb immer Ausdruck der wieder erlangten Harmonie. Und in diesem Sinne
wird hier auch diese melodische Figur, die stellvertretend für die vollständige
Kadenz steht, als Abschluss des „Abendmahl-Motivs“ verwendet.
Liebe – ihre Hemmung durch die egoistische Natur des Menschen – Befreiung
– und schließlich Erlösung: Das ist es, was uns die vier Einzelmotive des geheim-
nisvollen Themas, das Wagner seinem Werk vorangestellt hat, mitteilen wollen.
Ihm ist es hier gelungen in einer Kürze und mit einer Deutlichkeit, die selbst bei
ihm in Erstaunen setzen, den geistigen Grundgehalt des ganzen Dramas in Tönen
präzise mitzuteilen.
Wie geht es aber im Vorspiel weiter?
Wagner selbst hat für König Ludwig eine kurze Einführung verfasst, die seine
eigene Interpretation der Musik zum Ausdruck bringt. Dort überschreibt er die
drei Teile des Tonstückes mit „Liebe – Glaube: – Hoffen?“. 34 Obwohl diese Worte
einen deutlichen Hinweis auf die Absichten des Komponisten geben, sind sie in
ihrer Knappheit eben nicht mehr als ein Hinweis und fordern zu einer genaueren
Darstellung des musikalischen Geschehens heraus. Wenn man dieses im Detail
analysiert, so kann man präzisieren, dass es im ersten Teil des Vorspiels um eine
musikalische Darstellung des inneren Christus, im zweiten um eine Durchfüh-
rung des Glaubensmotivs und im dritten um eine musikalische Schilderung der
Leidensgeschichte des Menschen Jesus geht. Der erste und dritte Teil, so verschie-
den sie auch sind, behandeln also denselben Gegenstand, nämlich Christus; nur
wird dieser im ersten Abschnitt in seinem inneren, zeitlosen Aspekt, im dritten
dagegen in seinem äußeren, historischen dargestellt.
Auf die Einleitungstakte mit dem „Abendmahlmotiv“ folgt der eigentliche ers-
te Teil des Vorspiels. Dort wird das Wesen des inneren Christus, das in jenen ersten

34
„Der Gott im Menschen“

Takten mit der Knappheit einer abstrakten Aussage beschrieben wird, in seiner
vollen Wirklichkeit musikalisch dargestellt. Es ist dieselbe Musik, die in der Tem-
pelszene des I. Aktes das Leuchten des Grals begleitet. In einem Tongemälde von
ungewöhnlicher Farbigkeit wird zunächst das Bildhafte dieses Leuchtens geschil-
dert. Auf- und abwallende Streicherfiguren bringen die geheimnisvolle Bewegung
des Christusblutes in der Schale höchst anschaulich zum Ausdruck. Allmählich
geht dieses Wallen gleichsam in ein sanftes Leuchten über, das zuletzt im Klang der
hohen Streicher zu einem Glühen von fast unerträglicher Helligkeit wird.
Diese eindrucksvolle Tonmalerei ist jedoch nur die äußere Umrahmung für die
eigentliche Substanz dieser Musik, die aus dem „Abendmahlmotiv“ besteht. Hier
wird nun das Christus-Wesen in seiner vollen Tiefe zum Erlebnis. Glühend vor
sehnsüchtiger Liebe steigt die Melodie im herben Klang der Oboen und der hohen
Streichern empor; durch die geradezu schneidende Farbe der hohen Trompete,
bekommt sie dann den Ausdruck eines fast unerträglichen Schmerzes. Es ist also
eine leidende Liebe, die wir hier erleben: eine Liebe, die nicht frei strömen kann,
und deshalb selbst gleichsam nach Erlösung schreit.
Dieser leidende Aspekt des inneren Christus tritt bei der darauffolgenden
Wiederholung dieser Stelle noch stärker in Erscheinung. Denn bei ihrem zweiten
Erklingen wird die Musik von dem innigen As-Dur nach c-Moll transponiert,
einer Tonart, die traditionell als die „tragische“ gilt. Hinzukommt, dass das ru-
hige Fließen des As-Dur-Themas hier zweimal durch ein schneidendes sforzato
unterbrochen wird, wodurch die Musik einen noch schmerzlicheren Ausdruck als
zuvor bekommt:

Der ganze Abschnitt endet dann nicht mehr mit der tiefen Ruhe der Dur-Auf lö-
sung, sondern mit einer Kadenz in c-moll, die trotz aller Spannungsauf lösung den
Charakter des Traurigen behält.
Da erklingt, in der feierlichen, fanfarenartigen Farbe der Trompeten und Po-
saunen, das sogenannte „Gralsmotiv“:

35
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Wie so viele traditionelle Motivbenennungen, so umschreibt auch dieser Name


den allgemeinen Gehalt des Klangsymbols, ohne jedoch seine eigentliche Bedeu-
tung genau zu treffen. Denn hier, an der Stelle seines ersten Erklingens, spürt
man sofort, dass es den Charakter einer Verheißung besitzt. Wo dieses Motiv auch
auftaucht, ob im zarten piano oder im mächtigen fortissimo, will es den Menschen
offensichtlich daran erinnern, dass er in sich den Gral trägt, und dass er deshalb
in jedem Augenblick – ganz gleich, wie tief er gesunken ist – die Möglichkeit
besitzt, seine unheilvolle Selbstentfremdung zu beenden und sich mit dem ihm
innewohnenden Höheren zu vereinigen.
Als Antwort auf diese Verheißung erklingt dann das Glaubensmotiv, aus des-
sen Durchführung der ganze Mittelteil des Vorspiels besteht:

Der breite Raum, den dieser zweite Teil des Vorspiels einnimmt, zeigt deutlich,
dass dem Glauben im Parsifal eine besondere Aufgabe zukommt. Worin besteht
diese Aufgabe? Ja, was bedeutet hier überhaupt „Glaube“? Es wird sich lohnen,
dieser Frage kurz nachzugehen, bevor wir unsere Analyse der Musik fortsetzen.
Das Wort „Glaube“ umfasst zwei verschiedene Inhalte, die zwar miteinander
verwandt, jedoch unterschiedlich genug sind, dass man sie klar auseinanderhal-
ten sollte. Da ist zunächst der Glaube an eine bestimmte Behauptung, deren Gül-
tigkeit weder durch Vernunfterkenntnis noch sinnliche Erfahrung erwiesen ist,
sondern die man entweder aufgrund eines inneren Gefühls, oder aus Gehorsam
einer äußeren Autorität gegenüber für richtig hält. Die Berechtigung dieser Art
des Glaubens – solange er nicht aufgezwungen ist, sondern aus innerer Über-
zeugung entsteht – liegt darin, dass es eben Dinge gibt, die man durch Vernunft
oder sinnliche Erfahrung allein gar nicht erkennen kann – entweder, weil sie
überhaupt jenseits des rational Erkennbaren liegen, oder weil sie noch nicht in
Erscheinung bzw. in den eigenen Erfahrungsbereich getreten sind. Zu den Din-
gen, die rational nicht zu fassen sind, gehören z.B. die religiösen Grundüber-
zeugungen, die Inhalte aussprechen, die, wie Kant zeigte, außerhalb der Grund-
formen und Kategorien unseres Verstandes liegen, die aber durch unmittelbares
Erleben zur inneren Gewissheit werden können. Zu den Dingen aber, an die man
zuerst glauben muss, bevor sie Wirklichkeit werden, gehören alle großen Entde-
ckungen, denen – vorausgesetzt, dass sie nicht zufällig geschehen – immer eine

36
„Der Gott im Menschen“

Vision vorausgeht. 35 Verwirklicht sich diese Vision, so führt auch hier der Glau-
be zum Wissen und löst damit den Widerspruch, der scheinbar zwischen beiden
Begriffen steht, auf.
Neben dem Glauben dieser Art, der ein Glauben an etwas ist, gibt es jedoch den
Glauben als innere Haltung: d.h. als Vertrauen und Offenheit einem Unbekannten,
Unfassbaren gegenüber, von dem man die tiefe Überzeugung hegt, dass es an sich
gut ist. In seiner höchsten Form äußert sich diese Art des Glaubens als völlige
Selbsthingabe an das, was man mit dem Wort „Gott“ oder „das Göttliche“ be-
zeichnet. Und es ist seit jeher die tiefste Überzeugung aller Mystiker des Westens
und des Ostens gewesen, dass die Vereinigung der Seele mit jenem höchsten Sei-
enden ohne eine solche totale Offenheit und Hingabe nicht möglich ist.
Beide Arten des Glaubens spielen nun eine Rolle bei dem, was im Mittelteil
des Parsifal-Vorspiels als Antwort auf die Gralsverheißung musikalisch darge-
stellt wird. Denn damit diese Verheißung wirksam werden kann, ist zunächst
der Glaube an das Vorhandensein des inneren Christus, sowie an die Möglichkeit
seiner Verwirklichung nötig. Weder das eine noch das andere lässt sich rational
beweisen; sie sind nur als tiefe Ahnung vom Gefühl zu erfassen. Damit aber die-
se innere Kraft in der Seele wirksam werden kann, muss sich der Mensch ihr
in einer Haltung absoluten Vertrauens öffnen. Gerade dieses Sich-Öffnen ist die
ureigenste Leistung seines freien Willens. Denn er kann das Wirken des Höheren
nicht erzwingen; aber er kann die Hindernisse beseitigen, die diesem Wirken im
Wege stehen. Und je stärker sein Glaube ist, desto unbeirrter wird er sich um die
Läuterung seiner Seele bemühen.
Glaube ist also im zweifachen Sinne nötig, damit der Mensch seine höhere Be-
stimmung verwirklichen kann. Und jetzt wird es verständlich, warum er eine so
zentrale Stelle im Parsifal-Vorspiel einnimmt. Dort erfährt er eine musikalische
Darstellung, welche die ganze Größe und Spannweite seiner Macht fühlen lässt.
Das Glaubensmotiv wird durch alle Höhen und Tiefen geführt, von der ätheri-
schen, gleichsam körperlosen Leichtigkeit der hohen Holzbläser bis hinunter zur
massigen Wucht der schweren Blechbläser. Es ist, als ob der Glaube den ganzen
Raum zwischen Himmel und Erde ausfüllte und zugleich den ganzen Menschen in
allen Teilen seines Wesens ergriffe – ihm die Kraft einf lößend, die er braucht, um
in seinem Denken, Fühlen und Handeln seiner höheren Bestimmung zu folgen.
Auf diese Verherrlichung des Glaubens folgt nun der dritte Teil des Vorspiels,
der nach Wagners eigener Aussage eine Darstellung des Mysteriums der Passion
ist. In seiner Einführung für König Ludwig beschreibt Wagner den Inhalt der
Musik wie folgt:
„Da noch einmal aus Schauern der Einsamkeit erbebt die Klage des liebenden Mit-
leides: das Bangen, der heilige Angstschweiß des Ölberges, das göttliche Schmer-

37
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

zensleiden des Golgatha – der Leib erbleicht, das Blut entf ließt und glüht nun mit
himmlischer Segensglut im Kelche auf, über alles, was lebt und leidet, die Gnaden-
wonne der Erlösung durch die Liebe ausgießend.“36
Trotz der pathetisch-exaltierten Sprache, die, wie im ganzen Verkehr zwischen
Wagner und Ludwig, auch hier vorherrscht, geben diese Worte eine sehr genaue
Beschreibung dessen, was in diesem Teil musikalisch vorgeht. Die thematische
Substanz besteht hier fast ausnahmslos aus dem „Abendmahlmotiv“, das schon im
ersten Teil des Vorspiels das musikalische Geschehen beherrschte. Was jedoch dort
als geschlossene Einheit erklungen war, wird nun auseinander genommen und
erfährt eine Art symphonischer Durchführung. Das entspricht auch genau dem
Inhalt der beiden Teile. Denn das Christus-Wesen, das sich im Gralsleuchten als
immergegenwärtige, immaterielle Kraft geoffenbart hat, breitet sich nun in Zeit
und Raum aus und wird zur Erscheinung des historischen Menschen Jesus.
Ein einziges tiefes Tremolo der Bässe lässt die helle Welt des Glaubens ver-
schwinden und versetzt uns in einen dunklen, mystischen Raum, in dem wir vi-
sionär jene Ereignisse erschauen, die sich vor 2000 Jahren in Palästina abspielten.
Mit einfachsten Mitteln lässt Wagner anschließend das irdische Leben Jesu
nach seinem innersten Gehalt zu Klang werden. Das thematische Material, das
den Stoff für diese Darstellung abgibt, besteht aus den ersten drei Takten des
„Abendmahlmotivs“, in denen die Hemmung des Liebesstroms durch die selbst-
süchtige Begierde zum Ausdruck kommt. In immer neuen Ansätzen steigt das
Motiv der göttlichen Liebe empor – und bricht sich immer wieder am Motiv der
Wunde. Es ist Jesus, der sich zu den Menschen hinwendet, um sie an dem Reich-
tum seiner unendlichen Fülle teilnehmen zu lassen – aber von diesen, die in ihrer
Eigenliebe verhärtet sind, immer wieder abgewiesen wird. Das sind die „Schauer
der Einsamkeit“ und die „Klage des liebenden Mitleids“, von denen Wagner in
seiner Einführung spricht.
Da geschieht plötzlich etwas Unerwartetes: Noch einmal taucht das Motiv der
Liebe aus der Tiefe empor und drängt nach oben; noch einmal bricht sie sich an
dem Motiv der Wunde, das hier sogar dreimal wiederholt wird. Doch plötzlich
wird dieses traurige Wechselspiel von Anbieten und Abweisen, von Liebe und
Gleichgültigkeit unterbrochen. Ein verminderter Dreiklang, von dem mystischen
Klang der Posaunen und des Paukenwirbels getragen, hält den Fluss der Musik
auf – um ihn aber nachher endlich frei strömen zu lassen. Es ist, als ob sich ein
Tor plötzlich geöffnet hätte. Was ist geschehen? Es ist der Tod Jesu, dessen Liebe
sich trotz aller Hindernisse und Enttäuschungen bis zum letzten bewährt hat und
sich nun hier erfüllt. Jetzt kann diese Liebe endlich frei f ließen – als immaterielle
Kraft, die, nicht mehr an die körperliche Person des historischen Jesus gebunden,
sich über „alles, was lebt und leidet“ welterlösend ausgießt.

38
„Der Gott im Menschen“

Dass es sich hier tatsächlich um die Ausgießung der „Gnadenwonne der Erlö-
sung durch die Liebe“ handelt, wie es Wagner in seiner Einführung formuliert,
teilt uns die Musik mit. Denn die breit strömende Melodie, in der dieses Aus-
gießen der Christus-Liebe zum Ausdruck kommt, besteht, wie das „Abendmahl-
motiv“, aus mehreren Teilmotiven, die mit größter Klarheit aussagen, was hier
geschildert wird:

Das Erste, was man hört, ist das Motiv des Speeres – gefolgt vom Motiv des Mit-
leids. Das, was hier in der Musik vorgeht, wird später von Amfortas in seiner
großen Klage im I. Akt mit Worten genau beschrieben, wenn er, voller Mitgefühl
mit dem leidenden Christus, von des „Speeres Streich“ singt,
der dort dem Erlöser die Wunde stach,
aus der mit blut’gen Tränen
der Göttliche weint’ ob der Menschheit Schmach
in Mitleids heiligem Sehnen …
Wir erleben hier also das Öffnen der Seitenwunde durch den Speer des Longi-
nus: jener Wunde, aus der das im heiligen Gral auf bewahrte Blut Christi ge-
f lossen ist. Die göttliche Liebe, deren Symbol eben jenes Blut ist, beginnt zu
strömen – aber nicht frei empor; vielmehr sinkt die Linie in einer Folge von
„Wehe-Sekunden“ in die Tiefe – als Mitleid. Denn „das Göttliche weint ob der
Menschheit Schmach“ und wird dies so lange tun, bis der gefallene Mensch seine
egoistische Begierde-Natur überwunden und seine eigentliche höhere Bestim-
mung verwirklicht hat.
Ihren Gipfel erreicht die melodische Linie dann in dem Motiv des Christus-
Blicks. Es ist jener Blick, mit dem der kreuztragende Christus Kundry traf, als
diese ihn und sein Leiden grell auslachte. Im Parsifal ist dieser Blick Symbol des
allertiefsten Mitleids, das auch die verworfenste Kreatur umfasst – aber auch der

39
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

verwandelnden Kraft dieses Mitleids, die auf den, welchen sie trifft, erlösend
wirkt.
Die Musik, in der das Sich-Verströmen der Christus-Kraft dargestellt wird,
klingt aus mit einer Motivfolge, die eine Synthese von Traurigkeit und Hoffnung
beinhaltet. Traurig sind die Sehnsuchts-Sekunden: jene aufsteigenden kleinen Se-
kunden, die im ganzen Werk Wagners ein Klangsymbol für Liebessehnsucht sind
und hier die höchste und edelste Form jener Sehnsucht, „des Mitleids heiliges Seh-
nen“, zum Ausdruck bringen 37; und traurig ist auch das erneute, gleichsam resig-
nierte Zurücksinken der Linie in die fallende Quinte der Wunde. Hoffnungsvoll
ist aber das darauf folgende Speermotiv, das hier wie eine leise Mahnung an den
Menschen ein letztes Mal zaghaft erklingt. Das Speermotiv mündet hier jedoch
nicht in die Ruhe der Erlösung, sondern – in eine offene Frage. Denn das Motiv
der Gottesliebe, mit dem das Vorspiel schließt, breitet sich über einem nicht auf-
gelösten Dominant-Septimenakkord aus. Weder die Melodie noch die Harmonie
erreichen ihr Ziel; vielmehr bleiben beide am Ende in der Schwebe. Und so endet
auch das ganze Vorspiel im Ungewissen.
In diesem Schluss kommt noch einmal die humanistische Grundeinstellung
des Parsifal zum Ausdruck, die dem Menschen Willensfreiheit – und damit auch
höchste Verantwortung zumisst. Jeder Mensch – so will uns die Musik hier sagen
– trägt in der Tiefe seiner Seele die Christus-Kraft; und der historische Jesus hat
beispielhaft vorgelebt, wie man diese Kraft in sich voll zur Entfaltung bringen
kann. Die Möglichkeit der „Erlösung“ ist also dem Menschen an sich gegeben. An
ihm liegt es aber, diese Möglichkeit zu ergreifen – oder achtlos an ihr vorbeizu-
gehen. Und da der Wille des Menschen frei ist, kann man weder bestimmen, noch
überhaupt voraussehen, wie der Einzelne sich entscheiden wird.
Wie wir gesehen haben, hat Wagner seine Einführung in das Parsifal-Vorspiel
mit den Worten „Liebe – Glaube: – Hoffen?“ überschrieben. Das Wort „Hoffen“
hat er mit einem Fragezeichen versehen. Und mit einer offenen Frage hat er auch
seine kurze Erläuterung beendet:
„Auf Amfortas, den sündigen Hüter des Heiligtumes sind wir vorbereitet: wird
seinem nagenden Seelenleiden Erlösung werden?“38
Genauso gut könnte man, auf die innere Entwicklung Parsifals Bezug nehmend,
fragen: Wird es dem Helden gelingen, „durch Mitleid wissend“ zu werden und
den heiligen Speer mit dem Blut Christi zum Gral zurückzuführen?
Als Antwort auf diese Frage vernehmen wir den Mahnruf der Posaunen und
die Aufforderung des Gurnemanz:
So wacht doch mindest am Morgen!

40
„Der Gott im Menschen“

Mit dieser Aufforderung zur Wachsamkeit – d.h. zum stetigen Verharren im Be-
wusstsein der höchsten Lebensaufgabe – beginnt das Drama, das ein Drama nicht
nur des Glaubens und der Liebe, sondern auch der menschlichen Freiheit ist.

41
Warum dieses Buch

ERSTER TEIL

Wagners Denken zur


Parsifal-Zeit

43
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

1. Kapitel
Die Umdeutung Schopenhauers

Wagner bemühte sich zeitlebens, das, was ihn innerlich bewegte, auch in der Form
von Büchern, Aufsätzen, Briefen und Zeitungsartikeln festzuhalten. Die beiden
bedeutendsten Gruppen von Schriften entstanden um den Ring und um Parsi-
fal und bilden für das Verständnis dieser beiden Werke eine unersetzliche Hilfe,
auf die keine ernsthafte Werkdeutung verzichten kann. Welche Weltanschauung
drückt sich in diesen Prosaschriften aus? Was „dachte“ Wagner?
Diese Frage ist schon deshalb nicht leicht zu beantworten, weil Wagner, wie
die meisten Künstler – man denke an Goethe – nicht logisch-systematisch, son-
dern organisch-intuitiv dachte. Sein Biograph Westernhagen meint sogar, man dürfe
bei ihm nicht von „Weltanschauungen“ sprechen, sondern nur von „großen Welt-
gefühlen“, die „seine Seele bewegt haben“. 39 Und diese Gefühle waren in stän-
diger Bewegung begriffen, entwickelten und verwandelten sich wie ein Baum,
der fortwährend neue Äste aus sich heraustreibt. Eine besondere Schwierigkeit
bei Wagner besteht darin, dass man sein Denken in zwei Perioden unterteilen
muss, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Die Trennungslinie zwischen
beiden bildet die im Herbst 1854 erfolgte Bekanntschaft mit der Philosophie Ar-
thur Schopenhauers (1788–1860). Der Einschnitt, den dieses Erlebnis verursach-
te, war so stark, dass man von einer „vor-Schopenhauer’schen“ und einer „nach-
Schopenhauer’schen“ Epoche sprechen muss. Alles, was Wagner nach seinem 41.
Lebensjahr schrieb, verfasste er gleichsam als „bekennender“ Schopenhauerianer.
Und auch das künstlerische Schaffen seiner zweiten Lebenshälfte kann man nur
dann wirklich begreifen, wenn man eine zumindest f lüchtige Kenntnis Schopen-
hauers besitzt.
Dies gilt in besonderem Maße für den Parsifal, dessen geistige Aussage, philo-
sophisch gesehen, gänzlich auf Schopenhauer’schen Begriffen beruht. Und des-
halb wollen wir – bevor wir Wagners eigenes Denken näher betrachten – einen
kurzen Ausf lug in die Schopenhauer’sche Philosophie unternehmen, bei dem wir
versuchen, den Hauptgedankengang des Schopenhauer’schen Systems zumindest
in seinen groben Umrissen nachzuvollziehen. Dazu wird zwar einiges an konzen-
trierter geistiger Anstrengung erforderlich sein; doch die Mühe wird durch den
Gewinn reichlich aufgewogen. Denn wie wir nachher bei der Analyse des Werkes
sehen werden, hat dort beinahe jede Einzelheit ihre Entsprechung in den Gedan-
ken des von Wagner so hochverehrten Philosophen.

45
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

1. Philosophischer Exkurs
Kurzer Umriss des Schopenhauer’schen Systems

Drei große Gedanken sind es, die Wagner von Schopenhauer übernahm, und die
im Parsifal zur Grundlage der geistigen Aussage wurden:

1) Die Einheit alles Lebenden


1) Das leidvolle Wesen der Welt
2) Das Mitleid als Weg zur Erlösung.

Obwohl alle drei etwas Einfaches und Elementares aussagen, das an sich auch ohne
philosophische Überlegungen verstanden werden kann, ist ihre philosophische
Begründung durch Schopenhauer, der sie als Teile eines zusammenhängenden
Systems auffasste, relativ kompliziert. Am schwierigsten nachzuvollziehen ist für
den in Philosophie Unbewanderten wohl die Ableitung der Idee der Einheit alles
Lebenden. Denn um zu diesem schönen Gedanken zu gelangen, geht Schopen-
hauer von einem Begriff aus, der zunächst unserer Erfahrung zu widersprechen
scheint: von der „Idealität der Welt“ – oder, wie es Walter Abendroth in seiner
Schopenhauer-Monographie beschreibt: von der Feststellung, dass „wir die Dinge
nicht so erkennen, wie sie an sich sind, sondern wie sie uns infolge der Beschaffen-
heit unserer Erkenntnisorgane erscheinen“.40 Was ist damit gemeint?

Die Idealität der Welt und die Einheit alles Lebenden


Der naive Mensch nimmt an, dass die „Welt“ – also das, was nicht er selber ist,
und das er als erkennendes Subjekt durch die Vermittlung seiner Sinne als Objekt
wahrnimmt – genau so ist, wie er sie erlebt: So wie sie ihm erscheint, so ist sie.
Wer jedoch ein bisschen darüber nachdenkt, kommt bald zu dem Schluss, dass
diese einfache Gleichung „Erscheinung = Welt, wie sie an sich ist“ nicht so ohne
Weiteres aufrechterhalten werden kann. Denn das, was ich als Welt „da draußen“
erlebe, kann ich nur durch meine Sinnesorgane wahrnehmen; und das Einzige,
wovon ich ein unmittelbares Bewusstsein habe, sind die Vorstellungen, die durch
die Sinneseindrücke entstehen. Wissen kann ich nur, dass ich in meinem Inneren
diese Vorstellungen habe.
Es war die epochemachende Erkenntnis Kants, dass die Vorstellungen keines-
wegs eine unmittelbare Umsetzung der Dinge „da draußen“ sind, sondern dass
der Geist den von außen kommenden Sinneseindrücken Entscheidendes erst hin-
zufügen muss, damit daraus Vorstellungen entstehen können. Denn was die Sinne
empfangen, ist eine mehr oder weniger chaotische Menge an einzelnen Reizen;

46
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

im Falle des Auges sind es Lichtpünktchen, im Falle des Ohres einzelne Schwin-
gungen. Damit daraus die Vorstellung irgendeines Objektes werden kann, müssen
diese Eindrücke zunächst im Raum und in der Zeit geordnet, d.h. in ein Ver-
hältnis von Nebeneinander bzw. Nacheinander gebracht werden. Dann müssen
bestimmte Grundbegriffe auf sie angewendet werden, wie Einheit, Gestalt, Ver-
schiedenheit, Substanz usw. Erst dann formen sich die einzelnen Sinnesreize zu
Gegenständen. Ich kann also nur dann eine Gestalt als etwas Festumrissenes, von
anderem Unterschiedenes, im Raum Stehendes wahrnehmen, wenn ich die Be-
griffe „Raum“, „Gestalt“, „Einheit“, „Verschiedenheit“ usw. zur Verfügung habe.
Und um eine Bewegung als ein “Vorher“ und „Nachher“ wahrzunehmen, brauche
ich auch den Begriff der Zeit. Erst dadurch, dass ich diese Ideen auf die Sinnesein-
drücke anwende, entsteht die Vorstellung – und zwar jede Vorstellung. Das nennt
Kant die „Idealität von Raum und Zeit“: „Idealität“ bedeutet hier, dass sie nicht
den Dingen an sich zukommen, sondern nur in meinem Geist, als „Idee“ existie-
ren. Die Welt, wie sie an sich existiert, und die Welt, wie sie mir erscheint, sind
also nicht dasselbe. Anders gesagt: Die Welt, wie sie mir erscheint, existiert nur
in meiner Vorstellung.
Diese Erkenntnis übernimmt nun Schopenhauer von Kant und kleidet sie in
die berühmte Formulierung, mit dem sein Hauptwerk beginnt: „Die Welt ist
meine Vorstellung“.41 Damit will er sagen, dass die Welt, die ich als die Wirk-
lichkeit wahrnehme – jenes „Draußen“, das sich mir darstellt als eine Vielzahl
verschiedener Objekte, die durch Zeit und Raum geordnet und durch das Prin-
zip der Kausalität miteinander verbunden sind, aber auch ich selbst, insofern ich
mich als einen Körper wahrnehme – dass also all dieses in dieser Form nur in mei-
ner Vorstellung existiere und deshalb nicht die letzte, eigentliche Wirklichkeit
sei. Umgekehrt bedeutet das aber, dass jene eigentliche Wirklichkeit jenseits von
Zeit, Raum, Vielheit und Kausalität liegen muss. Und darauf kommt es hier an.
Denn damit wird eine tiefer liegende Realität postuliert, eine Wirklichkeit hinter
der mit den Sinnen wahrnehmbaren Welt. Und diese eigentliche Wirklichkeit ist
zeitlos, also ewig; raumlos, also unbegrenzt; ohne Vielheit, also Eines; und ohne
Kausalität, also aus sich und durch sich selbst bestehend.
Nun hatte Kant behauptet, dass man über das „Ding an sich“ – also die Wirk-
lichkeit, wie sie an sich, unabhängig von meiner Vorstellung von ihr, existiert
– nichts wissen könne. Damit gibt sich jedoch Schopenhauer nicht zufrieden; er
sieht trotz allem doch eine Möglichkeit, Erkenntnis über jene eigentliche Wirk-
lichkeit, jenes An-sich-Existierende zu gewinnen. Zu dieser Erkenntnis gelangt
er, indem er den Blick von außen nach innen wendet: er schaut in sich selbst hin-
ein, um zu sehen, ob es dort etwas gibt, das nicht Vorstellung ist – das man also
nicht über den Umweg der Sinneswahrnehmung und des Verstandes wahrnimmt
– und das man trotzdem erkennen kann. Und dieses entdeckt er im Willen. Der

47
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Wille ist etwas, das ich unmittelbar erleben kann. Schopenhauer nennt ihn „jenes
Jedem unmittelbar Bekannte“.42 Jedes Mal, wenn ich handle, entspringt die Hand-
lung unmittelbar meinem Willen; ja, dass ich überhaupt als körperliches Indivi-
duum existiere, geht auf einen Willen zurück, der offensichtlich dieses Leben will,
also auf einen „Willen zum Leben“.
Man hat also nach Schopenhauer die Möglichkeit, jenes sonst unerkennbare
„Ding an sich“ doch zu erkennen – und zwar in seinem eigenen Inneren durch
unmittelbares Erleben. Doch bei dieser Feststellung bleibt er nicht stehen. Durch
einen Analogie-Schluss gelangt er zur Ansicht, dass der Wille – wenn er schon als
Grund meiner eigenen Existenz erlebt wird – auch den Existenzgrund aller ande-
ren Lebewesen bilden muss. Ja, er geht noch weiter, indem er behauptet, es sei der
Wille, welcher alles Seiende überhaupt hervorbringe – auch das scheinbar Leblo-
se. An dieser Stelle müssen wir uns aber klar machen, dass, wenn man den Willen
als Seinsgrund z. B. auch eines Steins annimmt, es sich dabei um etwas anderes
handeln muss, als was man sonst mit diesem Wort bezeichnet. Tatsächlich meint
Schopenhauer mit „Wille“ etwas, was weit allgemeiner ist, als jenes bewusste,
zielgerichtete Streben, das den Willen des Menschen kennzeichnet. Wille ist für
ihn „auch die Kraft, welche in der Pf lanze treibt und vegetiert, ja, die Kraft, durch
welche der Kristall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet“, ist
sogar auch „die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein
zur Erde und die Erde zur Sonne zieht.“43 Der Wille ist also eine allgegenwärtige
Kraft, deren Wesen – um einen Ausdruck Schopenhauers zu verwenden, der sein
ganzes Werk durchzieht – ein „blinder Drang“44 nach In-Erscheinung-Treten ist.
Zur ersten Formulierung „Die Welt ist meine Vorstellung“ tritt also eine zwei-
te hinzu, die ebenfalls eine der Grundprämissen des Schopenhauer’schen Systems
wiedergibt: „Die Welt ist zugleich Wille“. Auf diesen Doppelcharakter des Seins,
das also zugleich ein Äußeres und ein Inneres ist, spielt Schopenhauer an, wenn er
seinem Hauptwerk den Titel gibt: „Die Welt als Wille und Vorstellung“.
Wichtig ist nun vor allem die Feststellung, dass die Welt als Vorstellung – also
die Erscheinungswelt, die ich durch meine Sinne wahrnehme – den Prinzipien
Zeit, Raum, Kausalität und Vielheit unterworfen ist, während der Weltengrund –
also die Welt als Wille – zeit- und raumlos, aus sich bestehend und ein unteilbares
Eines ist. Denn das will nichts anderes sagen, als dass die Trennung in verschiede-
ne Einzelwesen oder Einzelgegenstände, die uns als das Wesen der Wirklichkeit
erscheint, gar nicht deren eigentliches, tiefstes Wesen ist; dieses ist vielmehr die
Einheit. Denn in jedem Ding ist derselbe, unteilbare Wille; alles, was existiert, ist
nur eine Erscheinungsform dieses einen Willens. Der Wille ist, wie Schopenhau-
er sagt, „in jeglichem Dinge der Natur, in jedem Lebenden, ganz und ungeteilt
gegenwärtig“.45 Zwar erscheinen uns die Dinge als voneinander getrennt; diese
Trennung ist jedoch für den, der auf den Grund der Dinge blickt, eine Täuschung.

48
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Um diese Tatsache zu verdeutlichen, gebraucht Schopenhauer gern ein Bild aus


der indischen Mythologie: Er spricht vom „Schleier der Maja“. „Maja“: Das be-
deutet „Schein, Täuschung, Gaukelbild“;46 der Schleier, den die Maja über die
Wirklichkeit wirft, ist Ausdruck dafür, dass wir die Wirklichkeit nicht so wahr-
nehmen, wie sie ist, „dass alle Vielheit nur scheinbar sei, dass in allen Individuen
dieser Welt, in so unendlicher Zahl sie auch, nach und neben einander, sich dar-
stellen, doch nur Eines und das selbe, in ihnen allen gegenwärtige und identische,
wahrhaft seiende Wesen sich manifestiere“.47
Das eigentliche Wesen der Wirklichkeit kommt in einem anderen indischen
Wort zum Ausdruck, das bei Schopenhauer eine ganz zentrale Rolle spielt: „Tat­
t­wam-asi“ – d.h.: ‚Das bist Du selbst‘. Dieses Wort, das den altindischen Upani­
shaden entnommen ist, postuliert die innere Einheit alles Seienden; es will darauf
hinweisen, dass Brahman, das Absolute, das als Wesenskern dem Menschen inne-
wohnt, genauso in allen anderen Dingen als Wesenskern zu finden ist. So heißt es
im Chandogya-Upanishad:
„Der feinste Stoff, den du nicht wahrnimmst, aus dem besteht so der große Nya-
grodhabaum. Glaube, mein Lieber, dieser feinste Stoff durchzieht das All, das ist
das Wahre, das ist das Selbst, das bist du ….“48
Für Schopenhauer bedeutet „das“ vor allem das andere Lebewesen; deshalb über-
setzt er das tat-twam-asi mit „Dieses Lebende bist du“.49 So wird dieses „große
Wort“50 zum Ausdruck seiner Überzeugung, dass es in Wirklichkeit keine Tren-
nung zwischen den einzelnen Wesen gibt, sondern dass in seiner innersten Sub­
stanz alles Seiende eine Einheit ist:
„Die Individuation ist bloße Erscheinung, entstehend mittelst Raum und Zeit,
welche nichts weiter als die durch mein zerebrales Erkenntnisvermögen bedingten
Formen aller seiner Objekte sind; daher auch die Vielheit und Verschiedenheit der
Individuen bloße Erscheinung, d.h. nur in meiner Vorstellung vorhanden ist.
Mein wahres inneres Wesen existiert in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es in
meinem Selbstbewusstsein sich mir nur selber kund gibt“51
Das ist die philosophische Begründung jenes großen Gedankens von der Einheit
alles Lebenden, der in Wagners spätem Denken – und auch im Parsifal – eine so
entscheidende Rolle spielt.

Das leidvolle Wesen der Welt


Leichter zu verstehen ist die Begründung der Behauptung, dass alles Leben leid-
voll sei; denn diese beruht auf unmittelbarer Anschauung der Welt, wie sie sich
unserer sinnlichen Wahrnehmung darbietet.

49
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Wenn wir nämlich das irdische Leben betrachten, wie es sich vor unseren Au-
gen abspielt, entdecken wir sehr wenig von jener eben postulierten Einheit alles
Lebenden. Vielmehr scheint sein hervorragendes Merkmal die Entzweiung zu sein.
Dies gilt nicht nur für die Menschen mit ihrer Habgier und Missgunst, ihrem Hass
und Neid, sondern auch für die Tiere. Denn überall in der Natur herrscht das
Gesetz der Nahrungskette, das die Wesen geradezu zwingt, andere Wesen zum
Zwecke der eigenen Selbsterhaltung zu töten:
„Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Tierwelt,
welche die Pf lanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes
Tier die Beute und Nahrung eines anderen wird […] so dass der Wille zum Leben
durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nah-
rung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die
Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht […] und homo homini lupus
wird.52
Ursache dieses Zustandes ist der Egoismus der einzelnen Wesen, in denen der
Wille zum Leben als blinder Wille zu diesem einen Leben erscheint, das er ohne
Rücksicht auf anderes Leben zu erhalten versucht. Den Egoismus prangert Scho-
penhauer als Quelle allen Übels aufs heftigste an. „Der Egoismus ist kolossal: er
überragt die Welt […] Alles für mich, und nichts für die anderen’, ist sein Wahl-
spruch“. 53 In seiner Potenzierung wird er zur „Bosheit“, die „sich bis zur Grau-
samkeit steigert“. 54 Er ist der „Ausgangspunkt alles Kampfes“55; und er ist auch
„die erste und hauptsächlichste […] Macht, welche die moralische Triebfeder zu be-
kämpfen hat“56 Das durch den Egoismus verursachte Leid ist besonders schmerz-
lich unter dem Gesichtspunkt der Einheit alles Seienden. Denn in allen Wesen ist
es derselbe Wille, welcher sowohl handelt als auch erleidet. Wenn irgendein We-
sen einem anderen Leid zufügt, quält es deshalb in Wirklichkeit sich selbst. Das ist
es, was Schopenhauer meint, wenn er von der „Selbstentzweiung des Willens“57
spricht – ein Begriff, der wie ein Leitmotiv sein ganzes Werk durchzieht.
Es steht außer Zweifel, dass Schopenhauer mit seiner Aufdeckung des unver-
meidlichen Leids im Tierreich Recht hat. Und wenn er – angesichts einer Welt,
welcher der „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“ ist, „welche nur
dadurch bestehen, dass eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das
lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Marter-
toden ist“58 – wenn er, angesichts einer solchen Welt den seichten, gedankenlosen
Optimismus „nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose
Denkungsart“ anprangert, 59 so kann man seine Empörung ohne weiteres nach-
empfinden.
Ist nun der blinde Egoismus, der „jedem Dinge in der Natur wesentlich“60 ist
und zur gegenseitigen Zerstörung der einzelnen Wesen führt, die Ursache des

50
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

leidvollen Zustandes der Natur, so gibt es im menschlichen Leben auch andere


Quellen des Leids. Denn der Mensch er-leidet nicht nur, wie das Tier, Nöte und
Plagen aller Art – wozu auch die Krankheit gehört – sondern als hoch entwickel-
tes Wesen ist er auch imstande, Freude und Leid bewusst zu empfinden. Die Emp-
findung des Leides wiegt jedoch nach Schopenhauer bei weitem schwerer als die
Empfindung der Freude. Denn Leid, so meint er, sei das Wesentliche des Lebens;
Freude sei nichts an sich, sondern nur Abwesenheit von Leid. Dies begründet er
mit der Feststellung, dass jede Freude Wunschbefriedigung ist; sie hat ihre Quel-
le in einer Begierde, die gestillt werden will. Das, was wir Freude nennen, ist
also nichts als die Auf hebung eines Mangelzustandes. Das dadurch entstehende
Glücksgefühl ist aber nicht von Dauer; kaum, dass der eine Wunsch befriedigt
worden ist, entsteht der Nächste. So besteht das Leben aus einer fortwährenden
Kette unerfüllter Begierden, die nur durch kürzeste Momente der Befriedigung
unterbrochen wird:
„Zwischen Wollen und Erreichen f ließt nun durchaus jedes Menschenleben fort.
Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sät-
tigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer
neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, so folgt
Öde, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die
Not.“61
Ganz gleich, wie man zu dieser äußerst negativen Sicht des menschlichen Lebens
stehen mag: Schopenhauer hat die Grundwahrheit erkannt, dass Begierde unwei-
gerlich Leid erzeugt. Das ist dieselbe Erkenntnis, die der Buddha in seiner be-
rühmten Predigt im Tierpark zu Benares vor 2500 Jahren so formulierte:
„Dies nun, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: Es
ist dieser Wiedergeburt erzeugende, von Wohlgefallen und Lust begleitete Durst,
der bald hier, bald dort sich ergötzt, das will sagen: der Durst nach Sinnenlust, der
Durst nach Werden, der Durst nach Vernichtung […] nicht zu erlangen, was man
begehrt, ist leidvoll …“62
Diese Erkenntnis, dass der „Durst“ – also die Begierde – die Quelle des Leids ist,
ist auch einer der wichtigsten Grundgedanken des Parsifal.

Das Mitleid als Weg zur Erlösung


Bisher haben wir uns mit der Beschaffenheit der Welt und des Lebens beschäftigt.
Nun ist es aber Zeit, dass wir uns dem Menschen selbst zuwenden. Welche Stel-
lung nimmt dieser in Schopenhauers System ein? Für ihn ist der Mensch vor allem
das Wesen, in dem der Wille zum Bewusstsein seiner selbst gelangt.

51
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Auf allen anderen Stufen des Daseins äußert sich der Wille als „blinder Drang“;
der Mensch ist das erste Wesen, das mit denkendem Bewusstsein begabt ist. Und
das ist ein entscheidender Schritt in der Entwicklung des Lebens. Denn dadurch,
dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, zu erkennen und über das, was er erkennt,
zu ref lektieren, hat er auch die Fähigkeit, sein eigenes Verhältnis zur Welt zu
bestimmen.
Zwei Dinge sind es nun vor allem, die der Mensch anhand der Betrachtung
der Welt erkennen kann: den leidvollen Charakter des Daseins und die innere
Wesensverwandschaft aller Erscheinungen. Das Leid der Welt bietet sich seinem
Blick unmittelbar dar, sowohl im eigenen wie im fremden Leben. Tieferes Nach-
denken lässt ihn aber erkennen, dass alle diese Wesen, die sich gegenseitig quälen,
im Grunde Erscheinungsformen des einen Willens sind:
„Er wird inne, dass der Unterschied zwischen ihm und anderen, welcher dem Bösen
eine so große Kluft ist, nur einer vergänglichen, täuschenden Erscheinung angehört:
er erkennt […] dass das Ansich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist,
nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Wesen jeglichen Dinges ausmacht und in
allem lebt; ja dass dieses sich sogar auf die Tiere und die ganze Natur erstreckt …“63
Wie reagiert er nun auf diese Erkenntnis? Die Beantwortung dieser Frage führt
uns zur edelsten und schönsten Blüte der Schopenhauer’schen Philosophie: zur
Lehre des Mitleids.
Schopenhauer geht bei seinen Gedanken von der Beobachtung aus, dass es
trotz des überall vorhandenen natürlichen Egoismus immer wieder einzelne Bei-
spiele uneigennütziger Handlungen gibt. Dieser unleugbaren Tatsache versucht
er auf den Grund zu gehen, indem er nach der Quelle einer solchen Handlungs-
weise fragt. Was ist es, das einen Menschen dazu bewegen kann, das Wohl eines
anderen seinem eigenen gleichzustellen – oder sogar dieses fremde Wohl über das
eigene zu setzen? Schopenhauers Antwort lautet: allein jene „unmittelbare, ja,
instinktartige Teilnahme am fremden Leiden“, die wir „Mitleid“ nennen:64
„Dieses Mitleid […] ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewusstseins,
ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religi-
onen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung; sondern ist ursprünglich und
unmittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst, hält eben deshalb unter allen
Verhältnissen Stich, und zeigt sich in allen Ländern und Zeiten.“65
Mitleid bedeutet für Schopenhauer nicht nur Mitgefühl im oberf lächlichen Sin-
ne – und schon gar nicht Bedauern – sondern wirkliches Mit-Leiden der Leiden
eines anderen. Damit dies in einem Grad geschehen kann, der den Menschen dazu
bewegt, fremdes Wohl seinem eigenen gleichzustellen, muss das eine Individuum
auf irgendeine Art und Weise mit dem anderen innerlich eins werden. Diesen

52
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Vorgang, den er selbst „mysteriös“ und „das große Mysterium der Ethik“ nennt,66
versucht Schopenhauer in folgenden Worten zu beschreiben:
„Wie ist es irgend möglich, dass das Wohl und Wehe eines anderen, unmittelbar,
d. h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein
Motiv werde, und sogar es bisweilen in dem Grade werde, dass ich demselben mein
eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder we-
niger nachsetze? – Offenbar nur dadurch, dass jener andere der letzte Zweck meines
Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin […] Dies aber setzt notwendig vo-
raus, dass ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle, wie
sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines.
Dies erfordert aber, dass ich auf irgend eine Weise mit ihm identifiziert sei, d. h.,
dass jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem andern, auf welchem ge-
rade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei.“67
Die metaphysische Erklärung für das Vorhanden-Sein des Mitleids kann nur in je-
ner Einheit des Willens liegen, die eben ein Grundpostulat des Schopenhauer’schen
Systems ist. Tatsächlich wird im Mysterium des echten Mit-Leidens die metaphy-
sische Grundtatsache des Seins: dass im Grunde alles Seiende eins ist, zum unmit-
telbaren, nicht mehr hinterfragbaren Erlebnis. Wer mit einem anderen mit-leidet,
sprengt die Grenzen seiner Individualität und verwirklicht die Einheit mit ande-
rem Leben; es wird die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich, zumindest für den
Augenblick, aufgehoben.
Mitleid kann entweder spontan und unmittelbar auftreten – oder auch durch
Erkenntnis der wesenhaften Einheit alles Lebenden hervorgerufen werden. Dabei
muss man annehmen, dass hier eine Wechselwirkung stattfindet. Das Erlebnis des
Mit-Leidens sprengt die Grenzen, die den einzelnen Menschen sonst von anderem
Leben trennen und führt ihn zur Erkenntnis der Einheit alles Seienden; anderer-
seits bewirkt diese Erkenntnis, dass er in immer größerem Ausmaß das Leiden
anderer Wesen wahrnimmt und auch mitfühlt. Das aus Mitleid entspringende
Handeln wiederum kann sich sowohl passiv als auch aktiv äußern. Im ersten Fall
führt das Mitleid zum Gebot des Nicht-Schädigens: Der von Mitleid Erfüllte un-
terlässt jede Handlung, welche einem anderen Wesen Leid bringen könnte. Auf
einer höheren Stufe wird es jedoch zu einer Kraft, welche „nicht bloß mich abhält,
den anderen zu verletzen, sondern sogar mich antreibt, ihm zu helfen.“68 Wichtig
ist auch, dass sich das Mitleid nicht auf die Menschen beschränkt, sondern auch
auf die Tiere erstreckt, in denen sich ebenfalls der eine Wille offenbart, der auch
in mir selbst ist:
„Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder bewährt sich als die echte ferner
dadurch, dass sie auch die Tiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den anderen

53
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist. Die vermeint-


liche Rechtlosigkeit der Tiere, der Wahn, dass unser Handeln gegen sie ohne mo-
ralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, dass es gegen
Tiere keine Pf lichten gebe, ist geradezu eine empörende Rohheit und Barbarei des
Okzidents …“69
In solchen Worten der Empörung spürt man das warmherzige Gefühl des sonst so
spröden und sarkastischen Philosophen. Tatsächlich ist seine Mitleidslehre wohl
der sympathischste und erhebendste Teil seines ganzen Gedankengebäudes. Hier
leuchtet das Ideal des selbstlosen Handelns als hohes Ziel des menschlichen Lebens
in voller Reinheit auf. Die Art, wie Schopenhauer dieses Ideal philosophisch be-
gründet, müsste allein ausreichen, um ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte der
Menschheit zu sichern.

Die Verneinung des Willens zum Leben


Nun ist jede Philosophie für den einzelnen Menschen nur insofern von tieferem
Interesse, als ihre Erkenntnisse im Leben umgesetzt werden können. Deshalb
stellt sich nach der vorangegangenen Darstellung von Schopenhauers Weltsicht
die Frage, welche Konsequenzen diese für das Handeln habe. Diese Frage ist der
eigentliche Angelpunkt des Schopenhauer’schen Systems. Denn an dieser Stelle
kann sich das Denken nach zwei verschiedenen Richtungen wenden, die einander
diametral entgegengesetzt sind.
Wir haben zwei große Gedanken kennengelernt, zu denen Schopenhauer durch
seine Weltbeobachtung und sein philosophisches Nachdenken hingeführt worden
war: die Einheit alles Lebenden und das leidvolle Wesen der Welt. Beide sind von
großer Erhabenheit: der erste deshalb, weil er unser Leben in einen großen, über-
geordneten Zusammenhang hineinstellt, wodurch es einen hohen Sinn erhält; der
zweite, weil er mit schonungsloser, mutiger Ehrlichkeit die Welt darstellt, wie sie
ist, und uns dadurch vor jeder billigen Täuschung bewahrt.
Nimmt man nun an, dass der Seinsgrund an sich das schlechthin Gute ist – dass
er also mit dem identisch ist, was man entweder „Gott“, „Brahman“, „Dao“ oder
schlichtweg „das Göttliche“ nennt – dann muss man daraus schließen, dass die
Welt der Vielheit, die ja die Offenbarung dieses Seinsgrunds in Zeit und Raum
ist, ebenfalls göttlich und gut ist, sowohl in ihrer Ganzheit als auch in jeder ein-
zelnen Erscheinung. Mit anderen Worten: Man gelangt gerade durch die Über-
zeugung, dass die Welt der vergänglichen Erscheinungen nicht die letzte Wirk-
lichkeit ist, sondern ihr eine tiefere zugrunde liegt, zu einer Weltsicht, die diese
Welt unermesslich aufwertet. So führt die Erkenntnis des tat-twam-asi zu einer im
höchsten Sinne optimistischen Weltanschauung, die durch höchste Weltbejahung
gekennzeichnet ist.

54
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Vor dem Hintergrund dieser optimistischen Weltanschauung gewinnt die


Erkenntnis von dem leidvollen Wesen der Welt eine positive Bedeutung für die
Ethik. Denn wenn sich der einzelne Mensch mit allem anderen Leben eins weiß,
und er dieses Leben in allen seinen Erscheinungen als göttlich erkannt hat, dann
muss daraus für ihn die tiefe Verpf lichtung erwachsen, durch selbstloses Handeln
das Leid anderer, soweit es ihm möglich ist, zu vermindern. Und je stärker er das
Leid der Welt empfindet, desto mächtiger wird der Antrieb sein, durch helfende
Tätigkeit diesem Leid entgegenzuwirken. So führt die Erkenntnis des leidvollen
Wesens der Welt zu einer auf Mitleid gegründeten, tätigen Ethik, die sich auf alles
Lebende ausdehnt, und deren Ziel darin besteht, überall, wo es möglich ist, die
„Tragik des Daseins“ – jenes Gesetz, wonach ein Wesen nur durch die Schädigung
oder Vernichtung anderer Wesen leben kann – aufzuheben.
Das ist der eine Weg, der, von den Gedanken der Einheit alles Lebenden und
dem leidvollen Wesen der Welt ausgehend, zur höchsten Weltbejahung hinführt.
Leider war es Schopenhauer selbst nicht möglich, diesen Weg zu gehen. Zwei
Punkte seines Systems sind es, die ihn als Denker daran hindern. Zum einen ist es
seine Gleichsetzung des Weltengrunds mit dem Willen zum Leben. Für ihn ist der
Grund des Seins keineswegs das „Göttliche“, sondern ein blinder Drang, der zu-
dem in sich selbst zerrissen und disharmonisch ist. Die Zerrissenheit und Selbst-
zerstörung, die wir in der Welt der Erscheinungen überall beobachten können,
ist für ihn Ausdruck einer Zerrissenheit, einer Disharmonie des Weltengrunds
selbst, der keineswegs als etwas Positives, sondern im Gegenteil als etwas zutiefst
Negatives gesehen wird.
Der zweite Punkt ist eine philosophische Überlegung, zu deren Verständnis
wir all das bisher Dargelegte benötigen. Wir erinnern uns, dass der Seinsgrund,
als das „Ding an sich“, jenseits von Zeit und Raum ist, da diese ja nur in unserer
Vorstellung existieren. Was aber jenseits von Zeit und Raum ist, ist auch jenseits
von Veränderung, weil diese nur in der Zeit geschehen kann. Mit anderen Worten:
Das Wesen des Willens ist ewig unveränderlich; er wird nie anders wollen, als
er es jetzt gerade tut. Und deshalb wird auch das Wesen der Welt, die ja der un-
mittelbare Ausdruck dieses Willens ist, nie anders sein können, als es jetzt gerade
ist, nämlich leidvoll. Hierin liegt die philosophische Begründung des berühmten
Schopenauer’schen Pessimismus. Dieser besagt nicht, dass die Welt, wie wir sie
vor uns sehen, einfach schlecht sei, sondern dass sie unveränderlich schlecht sei, ohne
irgendeine Möglichkeit, je anders zu werden.
Diese zwei Überlegungen, die sich für ihn zwangsläufig aus seinem systema-
tisch aufgebauten Gedankengang ergeben, nötigen Schopenhauer dazu, an dem
Angelpunkt dieses Systems den entgegengesetzten Weg einzuschlagen: den Weg
der Welt – und Lebensverneinung. Er ruft gleichsam mit Mephistopheles aus:

55
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Alles, was entsteht,


Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
Vor dem Hintergrund dieses radikalen Pessimismus wird sogar Schopenhauers
Mitleidsethik relativiert. Denn ethisches Handeln zum Wohle anderer Wesen
setzt voraus, dass man dem individuellen Leben des einzelnen Wesens einen Wert
beimisst. Mit anderen Worten: Es ist nur auf der Grundlage einer welt- und lebens-
bejahenden Weltanschauung möglich. Denn welchen Sinn hätte es, anderen Wesen
zu helfen und ihr Leben zu fördern, wenn man meint, es wäre besser, wenn sie
gar nicht existierten? Es ist bezeichnend, dass Schopenhauer selbst die Bedeutung
seiner Mitleidslehre abschwächen musste, indem er betonte, dass sie nicht das ei-
gentliche Ziel seines Systems sei. Denn die Selbstentäußerung, die der Mensch
im Mit-Leiden und in der daraus entspringenden Tätigkeit verwirklicht, sei – so
Schopenhauer – nur vorübergehend; die „tugendhafte Handlung“ sei nur „ein
momentaner Durchgang durch den Punkt, zu welchem die bleibende Rückkehr
die Verneinung des Willens zum Leben ist.“ 70 Allein in dieser Verneinung des
Willens zum Leben erblickt Schopenhauer das eigentliche Ziel. Sein Ideal ist der
Heilige, der durch Askese den eigenen Willen gänzlich abtötet, um so „zum Zu-
stande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und
gänzlichen Willenslosigkeit“ zu gelangen.71
Uns interessiert natürlich die Frage, was denn eigentlich übrigbleibt, wenn
der Wille zum Leben verneint wird. Schopenhauers Ansichten über diesen Punkt
sind radikal. Nach all dem bisher Gesagten ist es klar, dass für den Menschen, der
den Willen gänzlich verneint, die Welt, die ja nur die Erscheinung des Willens
ist, gänzlich zu existieren auf hört. Ein solcher Mensch wird dann – um einen
buddhistischen Ausdruck zu gebrauchen – auch nicht mehr wiedergeboren; er ist
für alle Zeit von der Welt befreit. Doch Schopenhauer geht noch viel weiter. Sein
Ideal ist, dass alle Menschen zur Willensverneinung gelangen. Und da die Welt ja
nur in unserer Vorstellung existiert, würde – sobald es keine vorstellenden Wesen
mehr gibt – die Welt an sich verschwinden, mit allem, was sie beinhaltet. Tatsäch-
lich finden wir im letzten Kapitel seines Hauptwerks folgende Stelle, deren radi-
kale Weltverneinung nicht zu überbieten ist:
„Freiwillige, vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der
Verneinung des Willens zum Leben. Sie verneint dadurch die über das individuelle
Leben hinausgehende Bejahung des Willens und gibt damit die Anzeige, dass mit
dem Leben dieses Leibes auch der Wille, dessen Erscheinung er ist, sich aufhebt.
Die Natur, immer wahr und naiv, sagt aus, dass, wenn diese Maxime allgemein
würde, das Menschengeschlecht ausstürbe: und nach dem, was im zweiten Buch

56
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

über den Zusammenhang aller Willenserscheinungen gesagt ist, glaube ich anneh-
men zu können, dass mit der höchsten Willenserscheinung auch der schwächere
Widerschein derselben, die Tierheit, weg fallen würde; wie mit dem vollen Lichte
auch die Halbschatten verschwinden. Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntnis
schwände dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts …“72
„Nichts“: Das scheint also das Ziel von Schopenhauers ganzem Denken zu sein.
Doch sogar er schrickt vor dieser radikalen Konsequenz zurück und versucht an
einigen wenigen Stellen, seinem System ein positives Endziel zuzuweisen. So
schreibt er z.B. gegen Ende seines Hauptwerkes:
„So bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle die, wel-
che zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und
das man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott
usw. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntnis zu nennen
ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur
der eigenen, nicht weiter mitteilbaren Erfahrung zugänglich ist.“73
Wie für die buddhistische Philosophie die „Leere“ und die „Fülle“ zusammen-
fallen, so scheint also Schopenhauers Denken letztendlich doch nicht auf das
„Nichts“ hinzuzielen, sondern auf „etwas“, das zwar keine Welt ist, aber dennoch
ist – auf eine für unseren Verstand unbegreif liche Weise.74

Hier ist nicht der Ort, um eine grundlegende Kritik der Schopenhauer’schen Phi-
losophie zu bringen.75 Trotzdem muss bemerkt werden, dass sein System als sol-
ches – d.h. als logisch zusammenhängendes Gedankengebäude – einer kritischen
Betrachtung mehr als genug Angriffspunkte bietet. Viele seiner Behauptungen,
mögen sie zunächst noch so überzeugend erscheinen, erweisen sich bei näherer
Prüfung als fragwürdig; und dies betrifft nicht nur nebensächliche Details, son-
dern auch die tragenden Pfeiler des ganzen Baus. Der große Philosoph und Ethiker
Albert Schweitzer (1875–1965) hat gewiss Recht, wenn er in seinem Buch über die
indischen Denker feststellt, dass eine konsequent weltverneinende Weltanschau-
ung „nicht durchführbar“ ist,76 und am Ende wird man wohl Kuno Fischer bei-
pf lichten müssen, der in seiner umfangreichen Schopenhauer-Monographie nach
einer gründlichen Kritik feststellte:
„Das System zersetzt sich und geht in Stücke. Doch […] die Stücke enthalten Blei-
bendes von unvergänglichem Wert …“77

57
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Zu diesem „Bleibenden“ gehört ohne Zweifel die Mitleidslehre. Wer einen Ein-
druck davon bekommen will, wie erhebend und fruchtbar ein solcher Ideenkom-
plex an sich, losgelöst vom Rest des Systems, sein kann, braucht nur das letzte
Kapitel der Schrift „Über die Grundlage der Moral“ zu lesen, in dem Sätze wie
die folgenden stehen, in denen Schopenhauer den Unterschied zwischen dem „gu-
ten“ und dem „schlechten“ Charakter beschreibt:
„Dieser empfindet überall eine starke Scheidewand zwischen sich und allem außer
ihm. Die Welt ist ihm ein absolutes Nicht-Ich und sein Verhältnis zu ihr ein ur-
sprünglich feindliches: dadurch wird der Grundton seiner Stimmung Gehässigkeit,
Argwohn, Neid, Schadenfreude. – Der gute Charakter hingegen lebt in einer seinem
Wesen homogenen Außenwelt: die andern sind ihm kein Nicht-Ich, sondern ‚Ich noch
einmal‘. Daher ist sein ursprüngliches Verhältnis zu jedem ein befreundetes: er fühlt
sich allen Wesen im Inneren verwandt, nimmt unmittelbar Teil an ihrem Wohl und
Wehe, und setzt mit Zuversicht dieselbe Teilnahme bei ihnen voraus.“78
Das gehört zum Schönsten und Reinsten, was auf dem Gebiet der Philosophie je
gesagt worden ist, und ist geeignet, dem Menschen als Wegweiser zum wahren,
höheren Menschentum zu dienen. Und so muss es auch Wagner empfunden haben.
Denn es waren vor allem solche Vorstellungen, die ihn nicht nur im tiefsten Inne-
ren ergriffen und geistig verwandelten, sondern auch sein praktisches Wirken und
sein künstlerisches Schaffen mit einem neuen Inhalt erfüllten.

2. Wagners Schopenhauer-Rezeption

Wagner lernte Schopenhauer im Herbst 1854 kennen. Der ihm befreundete Dichter
Herwegh (Georg Herwegh, 1817–1875), der ebenfalls nach seiner Teilnahme an der
Revolution in die Schweiz geflüchtet war – hatte ihn auf den jahrzehntelang in
Deutschland unbeachtet gebliebenen Philosophen aufmerksam gemacht. Welchen
Eindruck diese erste Begegnung auf ihn machte, kann man am besten anhand seines
eigenen Berichts in seiner Selbstbiographie Mein Leben erkennen:
„Wie jedem leidenschaftlich durch das Leben Erregten es ergehen wird, suchte
auch ich zunächst nach der Konklusion des Schopenhauerschen Systems […] so er-
schreckte mich doch, wie jeder in meiner Stimmung Befindliche es erfahren wird, der
der Moral zugewandte Abschluss des Ganzen, weil hier die Ertötung des Willens,
die vollständigste Entsagung als einzige wahre und letzte Erlösung aus den Banden
der nun erst deutlich empfundenen individuellen Beschränktheit in der Auffassung
und Begegnung der Welt gezeigt wird […] Dies wollte denn auch mir für das erste
durchaus nicht munden …“79

58
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Diese instinktiv ablehnende Haltung dem Schopenhauer’schen Pessimismus ge-


genüber dauerte jedoch nicht lange an. Bereits im Sommer des darauf folgenden
Jahres – so berichtet er weiter – hatte er Die Welt als Wille und Vorstellung nicht
weniger als viermal gelesen, und es ist fast eine Untertreibung, wenn er feststellt:
„Die hierdurch allmählich auf mich sich einstellende Wirkung war außerordentlich
und jedenfalls für mein ganzes Leben entscheidend.“80
Parallel zu seinem Schopenhauer-Studium vertiefte er sich – durch dieses an­
geregt – in die indische Philosophie. Im Frühjahr 1855 liest er die von Adolf
Holtz­m ann herausgegebenen Indischen Sagen. In einem Brief an Mathilde We-
sendonk vom 30.11.1855 bezeichnet er diese Lektüre als „meine einzige Wonne“
und fährt fort:
„Wie beschämt steht unsre ganze Bildung da vor diesen reinsten Offenbarungen
edelster Menschlichkeit im alten Orient!“81
Im Winter 1855/1856 las er dann Eugène Burnoufs (1801–1852) Introduction à
l’histoire du buddhisme indien (‚Einführung in die Geschichte des indischen Bud-
dhismus‘) und drang damit in eine Gedankenwelt ein, die ihm bis an sein Lebens-
ende geistige Heimat bleiben sollte.
Die Briefe, die Wagner in der ersten Zeit seiner Schopenhauer-Begeisterung
schrieb, lassen nicht nur erkennen, wie umwälzend das Erlebnis für ihn gewesen ist,
sondern zeugen auch von seinem tiefen Verständnis des Schopenhauer’schen Sys-
tems. So nennt er in seinem umfangreichen Brief an Liszt (Franz Liszt, 1811–1886)
vom 16.12.1854 Schopenhauer „den größten Philosophen seit Kant“;82 und dass er
sehr gut begriffen hat, wo jener mit seiner Philosophie hinauswollte, beweist fol-
gender Satz:
„Sein Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von
furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er wahrlich nicht neu, und nie-
mand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte.“83
Dass er auch gut verstanden hat, welche Konsequenzen dieser Hauptgedanke mit
sich zieht, wenn man ihn in seiner ganzen Radikalität auffasst, ersieht man aus
seiner Definition des „Quietivs“, also der völligen Beruhigung des Willens:
„Es ist die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod: volle Bewusstlosigkeit,
gänzliches Nichtsein, Verschwinden aller Träume – einzigste, endliche Erlösung!“84
Nun wissen wir, dass sich Wagner in der ersten Hälfte seines Lebens zu einer radi-
kal optimistischen, diesseitsbejahenden Weltsicht bekannt hatte, welche die Sin-
nenwelt als die einzige Wirklichkeit anerkannte, 85 die Bestimmung des Menschen
in der Vollendung seiner natürlichen Anlagen erblickte, und die Erschaffung ei-

59
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ner neuen, auf Liebe, Solidarität und freier Selbstverwirklichung beruhenden Ge-
sellschaft zum höchsten Ziel des Handelns proklamierte. Diese Einstellung war
es auch, die ihn 1848/1849 zur Teilnahme an der Dresdner Revolution getrieben
hatte, und tatsächlich ist „revolutionär“ das Stichwort, unter dem man sein ganzes
Leben und Wirken in den Jahren vor der Begegnung mit der Schopenhauer’schen
Philosophie zusammenfassen kann.
Wie kam es dann, dass er plötzlich mit f liegenden Fahnen aus dem Lager der
revolutionären Optimisten in das der quietistischen Pessimisten hinüber wechsel-
te? Wie ist diese erstaunliche Kehrtwendung um 180 Grad zu erklären?
Es liegt nahe, psychologische Gründe anzuführen und diese radikale Verände-
rung der Weltsicht zunächst mit Wagners äußeren Lebensumständen zu erklären.
Tatsächlich war Wagner, als er Schopenhauers Hauptwerk zum ersten Mal in die
Hände bekam, in einer tiefen Lebenskrise. Die Revolution war gescheitert, und
die Weltentwicklung schien eine Richtung zu nehmen, die alle Hoffnungen auf
eine neue, bessere Menschheit zunichtemachte. Deprimierend war auch Wagners
bürgerliche Lage. Fortwährende Geldsorgen, verbunden mit einer unwürdigen
finanziellen Abhängigkeit von Gönnern, stellten seine Zukunft in Frage; eine
verfehlte Ehe, deren Sinnlosigkeit immer offenbarer wurde, verschaffte ihm eine
Häuslichkeit, die eher eine Qual als eine Quelle des Glücks und der Geborgenheit
war. Hinzu kam die Last eines unfreiwilligen Exils, das ihm jeden unmittelba-
ren Kontakt mit der deutschen Musikwelt abschnitt und ihm die Möglichkeit,
seine eigenen Werke aufzuführen, ja überhaupt zu hören, raubte. Dies alles mag
ihn in eine Stimmung versetzt haben, in der er – wie er in einem Brief an Liszt
aus der Zeit seiner ersten Bekanntschaft mit Schopenhauer schrieb – die Welt als
„schlecht, schlecht, grundschlecht“ 86 empfand.
Dies alles reicht jedoch nicht aus, um eine geistige Umkehr von der Größen-
ordnung der hier vorliegenden zu erklären. Richtiger ist es sicherlich, das Haupt-
augenmerk auf die inneren Gründe zu richten. Es scheint, als ob Wagner zu der
Zeit, als er Schopenhauer kennenlernte, für dessen Gedanken einfach reif war.
Tatsache ist, dass er dessen Willensphilosophie bereits im Ring künstlerisch gestal-
tet hatte, bevor er überhaupt den Namen des Philosophen kannte. Wie er in Mein
Leben, auf seine erste Bekanntschaft mit Die Welt als Wille und Vorstellung Bezug
nehmend, schreibt:
„Ich blickte auf mein Nibelungen-Gedicht und erkannt zu meinem Erstaunen, dass
das, was jetzt in der Theorie so befangen machte, in meiner eigenen poetischen Kon-
zeption mir längst vertraut geworden war. So verstand ich erst selbst meinen Wotan
und ging nun erschüttert von neuem an das genauere Studium des Schopenhauer-
schen Buches.“87

60
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Und später sagte er noch rückblickend:


„Ich wüsste keine Dichtung, in welcher die Brechung des Willens – und welches
Willens! Der eine Welt zur Lust sich erschuf! – ohne Einwirkung der Gnade, durch
die eigene Kraft einer stolzen Natur dargestellt ist wie im Wotan […] Ich bin über-
zeugt, Schopenhauer würde sich geärgert haben, dass ich dies gefunden, bevor ich
seine Philosophie gekannt …“88
Doch es war nicht nur die Vorwegnahme der Grundideen Schopenhauers im
Kunstwerk, die Wagner für dessen Philosophie so empfänglich machte, sondern
auch die Unzulänglichkeit seines bisherigen Denkens. Denn Wagners Weltbild
zur Revolutionszeit zeichnete sich durch eine starke Einseitigkeit aus. Einseitig
war die Überzeugung von der alleinigen Wirklichkeit der Sinnenwelt; einseitig
das Ideal der individuellen Selbstverwirklichung, die Wagner damals als Vollen-
dung der natürlichen Anlagen und Glückserfüllung im irdischen Leben aufgefasst
hatte. Auch das Leidproblem wurde verdrängt; Wagner selbst gestand später, dass
er – in der Zeit, als er das Ring-Drama konzipierte – die Individualität des Sieg-
fried gestaltet habe „mit dem Willen ein schmerzloses Dasein hinzustellen“. 89
Wagner muss in zunehmendem Maße diese Weltsicht, die er später ironisch
seine „hellenistisch-optimistische“ 90 nannte, als unzureichend empfunden haben,
so dass es nur der Begegnung mit einer diesem Denken entgegengesetzten Welt-
anschauung bedurfte, um alles, was er bisher für richtig gehalten hatte, über den
Haufen zu werfen. Und der Radikalität seines Wesens entsprechend machte er
gleich eine volle Kehrtwendung um 180 Grad: Aus dem Optimisten wurde ein
Pessimist, aus dem Weltverbesserer mit dem Traum einer vollkommenen Glück-
seligkeit auf Erden ein Weltverneiner, dessen höchstes Ziel nunmehr das gänz-
liche Auf hören des Daseins war. Dieses radikale Umschwenken entsprach aber
offensichtlich einem tiefen Gesetz von Wagners innerem geistigem Wesen. Denn
ihm war bestimmt, mit seinem Lebenswerk eine universale Schau des Seins in
seiner Ganzheit zur künstlerischen Darstellung zu bringen. Hatte er in der ers-
ten Periode seines Wirkens einer „optimistischen“ Weltanschauung gehuldigt, so
musste er nachher, dem Gesetz der Polarität entsprechend, genauso tiefgründig
die andere, dunkle Seite des Seins erforschen und darstellen. Und die Vorausset-
zung dafür war seine Hinwendung zur Schopenhauer’schen Philosophie. Durch
Schopenhauer wurde Wagner gleichsam zum Mystiker; er wandte sich – um seine
eigenen Worte aus seinem Aufsatz „Über Staat und Religion“ zu verwenden –
von „dem täuschenden Tagesschein der Welt ab“ zur „Nacht des tiefsten Inneren
des menschlichen Gemütes“, wo „ein anderes, von der Weltsonne gänzliches ver-
schiedenes, nur aus dieser Tiefe aber wahrnehmbares Licht leuchtet“.91 Und diese
Hinwendung zum Mystischen machte erst sein Denken – und sein Schaffen – zum
Spiegel der Ganzheit der Wirklichkeit.

61
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Trotz der prinzipiellen Verschiedenheit zwischen der optimistischen und der


pessimistischen Weltanschauung gab es auch viele Einzelheiten in Schopenhau-
ers Denken, die Wagner aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit seinen bisherigen Ideen
stark ansprechen mussten. Da sind vor allem zwei zentrale Vorstellungen, die zu
Wagners unveränderlichen geistigen Konstanten gehören, und die er nun bei sei-
nem Philosophen wiederfindet: dass die Quelle allen Übels im Egoismus zu su-
chen sei, und dass man Erlösung von diesem Grundübel nur in der Liebe – deren
höchste Form laut Schopenhauer das Mitleid ist – finden könne. Wichtiger als die
Bestätigung dieser Vorstellungen durch Schopenhauer war jedoch die Tatsache,
dass der Philosoph ihnen eine völlig neue Tiefendimension verlieh, indem er sie
metaphysisch begründete. Durch Schopenhauer erfuhr Wagner, dass der Egois-
mus nicht nur deshalb abzulehnen ist, weil er den Menschen unglücklich macht,
sondern weil die Vorstellung, dass die einzelnen Wesen voneinander getrennt sei-
en, an sich schon auf einer Täuschung beruht. Und die Liebe wird nun nicht mehr
dadurch motiviert, dass sie im höchsten Sinne glücklich macht, sondern durch
die metaphysische Tatsache, dass alle Wesen in ihrem tiefsten Grunde eins sind,
und dass deshalb Selbsthingabe aus Liebe zugleich – in einem über die gewöhnli-
che Bedeutung des Wortes weit hinausgehenden Sinne – höchste Selbstverwirk-
lichung ist.
Schließlich muss noch Schopenhauers großes Mitgefühl mit den Tieren er-
wähnt werden, das den tierliebenden Wagner tief bewegte. Auch hier ist es nicht
nur das Phänomen an sich, sondern auch dessen tiefschürfende philosophische Be-
gründung durch die Erkenntnis der Wesenseinheit alles Lebenden, die den intui-
tiven Künstler besonders beeindruckte. In diesem Sinne schreibt Wagner in einem
Brief vom Mai 1855 an seinen Züricher Freund Jakob Sulzer:
„So erlebe ich denn auch oft die Momente, in denen ich mich […] so vernichtet
fühle, dass ich plötzlich nicht mehr leben zu können vermeine. Vielleicht lachst
Du, wenn ich Dir sage, dass diese Momente namentlich auch entstehen, wenn ich
ein Tier gemartert sehe: es ist ganz unsäglich, was ich dann empfinde, und wie mir
dann mit einem Zauberschlage plötzlich eine Einsicht in das Wesen alles Lebens in
seinem ungeteilten Zusammenhange offen steht, die ich jetzt nicht mehr als weich-
liche Empfindsamkeit, sondern als das echteste und tiefste aller möglichen Anschau-
ung erkenne; weshalb ich namentlich auch Schopenhauer so lieb gewonnen habe,
weil er mich hierüber ganz zu meiner Zufriedenheit belehrt hat.92
Alle diese Faktoren zusammen bewirkten, dass Wagner innerhalb kürzester Zeit
zum entschiedenen Anhänger Schopenhauers wurde. Und die Zeugnisse, die
wir aus der Zeit seiner ersten Begeisterung besitzen, lassen erkennen, dass er
den Schopenhauer’schen Pessimismus mit all seinen Konsequenzen fraglos über-
nahm.93 War aber diese radikale Wendung das Zeichen einer echten, dauerhaften

62
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Verwandlung? Oder war sie nur eine überstürzte Reaktion nach der Zuspitzung
einer geistig-künstlerisch-menschlichen Krise? Diese Frage ist vor allem in Bezug
auf die weltverneinende Tendenz des Schopenhauer’schen Systems von Interesse.
Vertritt Wagner in der zweiten Hälfte seines Lebens wirklich eine Weltanschau-
ung, die die irdische Welt und das irdische Leben verneint und Auslöschung als
höchstes Ziel verkündet? Wäre das wirklich Wagners letztes Vermächtnis an die
Menschheit?

3. Die Umdeutung Schopenhauers im Werke

Wer auch nur ein bisschen mit Wagners Persönlichkeit vertraut ist, weiß, dass er
von seiner ganzen Wesensart her das Gegenteil eines weltabgewandten Heiligen
war. Weltverändernde Tätigkeit war für ihn so notwendig wie die Luft zum At-
men. So überrascht es nicht, dass er nach seiner „Bekehrung“ zum Pessimismus
weiterhin ein durch höchste Aktivität gekennzeichnetes Leben führte, das alle
weltverneinenden Äußerungen Lügen straft. Selbst in den Zeiten relativer Zu-
rückgezogenheit, wie während seines ersten Aufenthalts in Venedig, als er am
Tristan arbeitete, blieb er in regem Kontakt mit der Welt, an deren Verlauf er
lebhaft teilnahm und in deren Ereignisse er auch nach wie vor handelnd eingriff.
Später, als er durch die Freundschaft mit König Ludwig die Möglichkeit bekam,
Einf luss auf dessen Handeln zu nehmen, mischte er sich höchst aktiv in die Politik
ein: Er ließ höchste Regierungsbeamte absetzen, setzte die Berufung von hohen
Staatsministern durch, ließ eine Regierungszeitung gründen, deren Chefredak-
teur er selbst bestimmte – und setzte dieses Treiben fort, bis er von seinen politi-
schen Gegnern zur regelrechten Flucht aus München gezwungen wurde. Das ist
wahrlich nicht das Gebaren eines weltentrückten Asketen, und so sehen wir die
Weltbejahung, der er nach seiner Bekehrung zu Schopenhauer verbal abgeschwo-
ren hatte, sich im Leben mit unverminderter Kraft wieder durchsetzen.
Doch auch in Wagners Kunstschaffen dauerte es nicht lang, bis die Weltbe-
jahung – allerdings in anderer Form als vor dem Schopenhauer-Erlebnis – wie-
der hervorbrach. Zwar hatte er im Tristan mit seiner Todessehnsucht dem Pessi-
mismus ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Doch auf dieses Bekenntnis zur
Weltverneinung folgte in Wagners nächstem Werk, den Meistersingern, ein ebenso
entschiedenes Bekenntnis zur Weltbejahung. Und dass diese Kehrtwendung nicht
etwa nur einem Stimmungsumschwung zu verdanken war – in Wirklichkeit be-
fand sich Wagner, als er die Meistersinger entwarf, in tiefster Lebensverzweif lung
– sondern auf einer tiefgreifenden Änderung im Denken beruhte, zeigt ein Blick
auf die völlig verschiedenen Auffassungen des Weltengrunds in den beiden Wer-
ken. Im Tristan ist es das „Sehnen“, welches alles Sein hervorbringt und erhält: das

63
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ewige Begehren, das, weil es nie zu befriedigen ist, ewig nur Leid erzeugt. Auch in
den Meistersingern liegt dem Sein ein scheinbar Negatives zugrunde: der „Wahn“,
der als eine irrationale, zugleich schaffende und zerstörende Kraft genauso wie
das Tristan’sche Sehnen dem von Schopenhauer postulierten „blinden Drang“
entspricht. Doch dieser Wahn bringt nicht nur Leid hervor, „wühlt“ nicht nur
in wilder Selbstentzweiung „ins eigene Fleisch“. In den Meistersingern enthält die
Welt des „Tages“ auch Herrliches, Schönes, Harmonisches, das in den drei Begrif-
fen Natur, Kunst und Liebe zusammengefasst wird. Dass auch dieses Schöne dem
„Wahn“ entspringt, zeigt, dass der Weltengrund hier bereits seinen rein negati-
ven Charakter verloren hat; er umfasst gleichermaßen Freude und Leid, Ordnung
und Chaos, Schöpfung und Zerstörung. Und die Weltbejahung der Meistersinger
besteht darin, dass das Negative um des Positiven willen angenommen wird. Sie ist
eine Bejahung, die umso stärker erscheint, da sie nicht auf seichtem Optimismus,
sondern auf einer Weltsicht beruht, die durchaus die Schrecklichkeiten des Da-
seins zur Kenntnis nimmt. Aber sie lehnt das Leben wegen des in ihm enthaltenen
Leides nicht ab, sondern nimmt das Leid um des Lebens willen an.
Diese trotzige Bejahung des Lebens kommt auch in der Gestalt des Hans Sachs
zum Ausdruck, der am Ende seiner inneren Entwicklung jene Haltung erreicht,
die man als „heitere Resignation“ bezeichnen kann. Sachs verzichtet auf sein eige-
nes Glück zugunsten anderer – und findet gerade in diesem Verzicht ein höheres
Glück. Schopenhauerisch gesprochen könnte man sagen: Er überwindet seinen
Willen zum Leben – doch nicht, um ihn abzutöten, sondern um ihn vom naturge-
gebenen Egoismus abzuwenden und auf eine höhere, geläuterte Form des Lebens
zu richten. Nun kennt auch Schopenhauer das Phänomen der Resignation, dem
er in seinem Hauptwerk sogar einige sehr schöne Passagen widmet. Doch ihr Ziel
ist keineswegs ein höheres, geklärtes irdisches Leben, sondern die Erlösung aus
dem Leben; sie ist ein „Quietiv des Willens“,94 das letztendlich zur Auf lösung des
Leibes und des Willens hinführen soll. Bei Sachs dagegen findet keine Auf lösung
des Willens statt, sondern eine Willensverwandlung – und das Ergebnis dieser Ver-
wandlung ist ein Leben in der Welt, bei dem das fremde Wohl dem eigenen Wohl
gleichgestellt wird, so dass das Prinzip der Trennung in der Welt der Erschei-
nungen außer Kraft gesetzt wird. Indem Wagner dieses Leben als etwas Positives
darstellt, hebt er die Schopenhauer’sche Philosophie, die diese Trennung als un-
umstößliches Prinzip der Erscheinungswelt postulierte, als zusammenhängendes
System auf.
Die Umdeutung des Weltengrunds, welche in den Meistersingern mit dem Be-
griff des „Wahns“ begonnen hatte, wurde dann in Parsifal vollendet. Dort wird
zwar über den Grund der Welt nichts Unmittelbares ausgesagt; doch es ist anzu-
nehmen, dass dasjenige, was wir dort über den Grund des menschlichen Wesens
erfahren, ebenfalls für die Wesen und Dinge der Welt überhaupt gelten. Und die

64
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

beiden Symbole, in denen das tiefste innere Wesen des Menschen im Parsifal zum
Ausdruck gebracht werden: der Gral und der heilige Speer, die beide das Blut
Christi enthalten, lassen erkennen, dass es dort nun die göttliche Liebe ist, welche
allem Sein zugrunde liegt.
Welch weiter Weg ist zurückgelegt worden von der Vorstellung vom „blinden
Drang“ bis zur Überzeugung, dass der letzte Grund der Welt in der Liebe zu fin-
den ist! Und wie wird die Welt aufgewertet, sobald man sie als Offenbarung eines
göttlichen Seinsgrunds auffasst! Da wird die „Täuschung der Vielheit“ nicht zum
Beweis der Nichtigkeit der Erscheinungswelt, sondern im Gegenteil: Die Welt
bekommt einen hohen Wert und einen tiefen inneren Sinn dadurch, dass sie eben
mehr als bloße Vielfalt ist, nämlich Offenbarung des Göttlichen. Und auch das
Leid ist nicht mehr Beweis für die unveränderliche Schlechtigkeit der Welt und
des Weltengrundes, sondern etwas, was schrittweise überwunden werden kann,
um die Welt zu ihrem wahren Wesen zurückzuführen, das eben die Liebe ist.

4. Die Umdeutung Schopenhauers


in Wagners Schriften

Wenn wir uns nun Wagners Schriften zuwenden, so entdecken wir, dass er dort
die Schopenhauer’schen Gedanken auf ähnliche Weise umgewandelt hat wie in
seinen Kunstwerken. Man kann anhand der 1864 entstandenen Schrift „Über Staat
und Religion“, sowie dem 1870 verfassten, umfangreichen Aufsatz über Beetho-
ven gut verfolgen, wie das Schopenhauer’sche System allmählich relativiert und
durchlöchert wird. So wird z.B. der Weltengrund immer mehr mit positiven At-
tributen belegt: Die Welt – so lesen wir jetzt – sei „göttliche Offenbarung“,95 und
das innerste Wesen der Welt, das man dort wahrnimmt, sei eben das „Göttliche“.96
Ein Gedankenschritt bleibt noch zu tun, um, von der Vorstellung des positiven
Weltengrunds ausgehend, auf die Möglichkeit einer positiven Neugestaltung der
Welt zu schließen. Diesen Schritt vollzieht Wagner in seinen letzten Schriften,
die aufs Engste mit der Entstehung des Parsifal zusammenhängen. Einzelne Ge-
danken, die hier plötzlich auf blitzen, lassen keinen Zweifel daran, dass Wagner
hier nunmehr auch in seinem Denken den Pessimismus überwunden hat und zu
einer Grundeinstellung höchster Weltbejahung gelangt war. Vor allem ist es ein
einzelnes Wort – allerdings ein Wort von größter philosophischer Tragweite – in
dem dieses endlich erreichte Ziel zutage tritt. In seinem Aufsatz „Religion und
Kunst“ spricht Wagner plötzlich von der „Umkehr des missleiteten Willens“.97
„Missleiteter Wille“: ein Wort, das Schopenhauer, hätte er es gehört, zu einer Flut
von Schmähungen und Beschimpfungen hingerissen hätte! Denn Schopenhauers
ganzes Gedankengebäude beruht auf dem Dogma vom unveränderlich schlech-

65
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ten Charakter des mit sich selbst entzweiten Willens. Und nun bestreitet Wagner
nicht nur die Unveränderlichkeit des Willens, sondern behauptet geradezu, dass
der Wille, der sich uns jetzt als Grund einer Welt des Egoismus und des Leides
darstellt, gar nicht der wahre, sondern der „missleitete“ Wille sei – ein Wille also,
der seinem wahren Wesen entfremdet worden sei. Der nächste Schritt ist dann
klar: Der Mensch, der Träger dieses missleiteten – d.h. egoistischen – Willens
ist, wird zur Willensumkehr aufgefordert; er soll in sich die Selbstentfremdung
des Willens auf heben und diesen zu seinem wahren Wesen zurückführen. Der
Wille soll also nicht verneint werden, sondern verwandelt. Mit anderen Worten: Es
wird die Möglichkeit postuliert, ein Leben ohne Egoismus zu führen – und damit
eine neue Welt zu gründen, in der die Selbstzerf leischung des Willens aufgehört
hat und mitten in der Vielheit des Lebens die Einheit verwirklicht wird. Damit
ist Schopenhauers Philosophie als zusammenhängendes System vernichtet.98 Sie
verschwindet jedoch keineswegs; vielmehr werden ihre besten Teile aus dem Ge-
samtgefüge herausgelöst und zu Trägern einer lebensbejahenden Ethik der Welt-
verwandlung umfunktioniert.
Das, was wir hier bei Wagner erleben, ist der Durchbruch eines mächtigen
optimistischen Willens durch die Kruste eines Denkschemas, das diesem Willen
geradezu entgegengesetzt ist. Tatsächlich dient Wagners ganzes Denken zuletzt
dazu, tätige Ethik zu begründen. Denn seine ganze Auseinandersetzung mit Scho-
penhauer mündet zuletzt in der einfachen Forderung, all unser Tun und Handeln
auf die Grundlage des allumfassenden Mitleids zu stellen – nicht jedoch, um aus
der Welt erlöst zu werden, sondern um ein neues irdisches Paradies zu schaffen.
In diesem Sinne schreibt er in seinem „Offenen Brief “ gegen die Tierversuche:
„Dass wir aber dieses einzig uns bestimmende Motiv des unabweisbaren Mitleidens
nicht an die Spitze aller unsrer Aufforderungen und Belehrungen für das Volk zu
stellen uns getrauen, darin liegt der Fluch unserer Zivilisation.“99
Und weiter:
„Sollte uns dagegen vielleicht gerade unsre Empörung gegen die willkürlich ihnen
zugefügten, entsetzlichen Leiden der Tiere, indem wir von diesem unwidersteh-
lichem Gefühle uns leiten lassen, den Weg zeigen, auf dem wir in das einzig erlö-
sende Reich des Mitleids gegen alles Lebende überhaupt, wie in ein verlorenes und
nun mit Bewusstsein wiedergewonnenes Paradies, eintreten würden?“100
So sehen wir Wagner am Ende seines Lebens wieder zu jener Hoffnung zurück-
kehren, die ihn in der Zeit der 1848er Revolution beseelt hatte: der Hoffnung
auf eine neue, bessere irdische Wirklichkeit. Und da ist man versucht zu fra-
gen, ob der ganze mühsame Durchgang durch die komplizierten Gedanken der
Schopenhauer’schen Philosophie überhaupt nötig gewesen sei. Die Antwort dar-

66
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

auf lautet ganz gewiss: Ja! denn Wagners spätes Denken ist eine Synthese aus Scho-
penhauers Weltsicht und seinem eigenen optimistischen Wollen. Was Schopen-
hauer vor allem dazu beisteuerte, war die Tiefendimension, die allen Konstanten
des Wagner’schen Denkens eine neue Bedeutung verlieh. Wagners Optimismus ist
jetzt kein seichter, naiver mehr, sondern beruht auf einem schonungslos ehrlichen
Blick in das Wesen der Welt und der menschlichen Natur. Er weiß nun, dass die
Welt voller Leid ist, und dass der Mensch nicht nur oberf lächlich, sondern in der
innersten Tiefe seines Wesens vom Egoismus beherrscht wird. Aber er weiß auch,
dass es hinter diesem Zustand etwas noch Tieferes gibt, einen letzten Grund, des-
sen Wesen Harmonie ist, und in dem die Einheit alles Lebenden begründet liegt.
Und sein Bestreben ist jetzt nicht mehr allein auf eine Veränderung der äußeren
Zustände des Lebens gerichtet, sondern vor allem auf eine Verwandlung des tiefs-
ten inneren Lebensgrunds – eine Verwandlung, die von selbst zu einer Erneue-
rung der äußeren Zustände führen muss. Um es mit einem Wort zu sagen: Er will
nicht mehr Revolution, sondern Regeneration. Das alles wäre aber ohne die durch
Schopenhauer vermittelte Erkenntnis vom leidvollen Charakter der Welt, von der
Täuschung der Trennung und von der letztendlichen Einheit alles Seienden nicht
möglich gewesen.
Diese durch Wagner vollzogene Begründung eines vertieften ethischen Opti-
mismus ist eine geistige Leistung von einer Tragweite, die bisher kaum gewürdigt
worden ist.101 Wenn es Wagner, der kein systematischer Denker war, auch nicht
gegeben war, diesen Optimismus in seinen letzten Schriften ausführlich darzu-
stellen, so hat er ihn doch mit umso größerer Überzeugungskraft in seinem letz-
ten Werk zum Ausdruck gebracht und damit dem Parsifal auch eine philosophi-
sche Bedeutung verliehen, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

67
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

2. Kapitel
Die „Regenerationsschriften“

1. Wagners Spätschriften

Die Gedanken, die Wagner während der Zeit der Entstehung des Parsifal bewegten,
werden in seinen Spätschriften dargelegt. Da der unvorbereitete Leser in diesen
Schriften manches schwer verständlich, wenn nicht gar befremdlich finden wird, ist
es hier angebracht, zunächst einige Bemerkungen über ihren Charakter, sowie über
die geistig-seelische Verfassung des späten Wagner überhaupt zu machen.
Als erstes muss man bemerken, dass die Sprache dieser Schriften umständlich,
und ihr Gedankengang oft sprunghaft ist; man vermisst die Geschlossenheit und
die klare gedankliche Linie, welche die besten von Wagners früheren Schriften
auszeichnen. Sodann gilt es zu bedenken, dass es größtenteils Kampfschriften
sind, die man als Teil von Wagners Auseinandersetzung mit einer verständnis-
losen und oft genug auch als feindselig empfundenen Umwelt sehen muss. Des-
halb haben sie, obwohl sie sich durch eine radikal-ethische Haltung auszeich-
nen, oft einen polemischen Charakter, so dass man in ihnen neben tiefsinnigen
Durchblicken auch Vorurteile und unbegründete Behauptungen findet, deren
Niveau nicht der gedanklichen Höhe der Hauptaussagen entspricht. Wagner ist
hier offensichtlich bereit, jede Meinung ungeprüft zu übernehmen, die ihm nur
irgendwie zur Untermauerung seines Anliegens dienen kann, weshalb er sich
nicht selten in eine geistige Gesellschaft begibt, die seiner unwürdig ist. Hinzu
kommt, dass die Zerrissenheit und Verbitterung, die – nach einem Leben un-
erhörter Kämpfe und schwerster Enttäuschungen – sich in diesen letzten Jahren
bei ihm persönlich bemerkbar machten, sich auch auf seine Schriften auswirken
und ihn zu sarkastischen Bemerkungen hinreißen, die in manchen Fällen bis zur
Gehässigkeit gehen. Vor allem gießt er seinen Spott über alles aus, was sich seiner
Meinung nach seinem Ideal einer Erneuerung der Menschheit entgegenstellt. Wie
viele seiner Zeitgenossen sucht er in dem „Judentum“ einen Sündenbock für alles,
was er an der modernen deutschen Zivilisation als negativ empfindet. Bei seinem
Antisemitismus handelt es sich also um eine Art „Kulturkampf “, d.h. um eine
Auseinandersetzung zwischen gegensätzlichen Prinzipien, bei der er die Partei
der deutschen Kultur gegen einen vermeintlichen geistigen Feind ergreift. Dass
dieser verbal geführte geistige Kampf, trotz der Taktlosigkeit vieler Bemerkun-
gen, von jeder wie auch immer gearteten inhumanen Tendenz völlig frei ist, sollte
keiner besonderen Erwähnung bedürfen.102 Wegen der heutigen Sensibilisierung
für das Antisemitismus-Thema übersieht man auch oft, dass sich Wagners gallige
Angriffe keineswegs gegen die Juden allein richteten, sondern auch gegen Zeiter-

68
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

scheinungen wie die Presse, die materialistische orientierte Wissenschaft und das
preußische Militär; ja, er wettert überhaupt gegen alles, in dem er eine seinem
eigenen Bestreben feindliche Tendenz vermutet. Seine Ausfälle gegen Bismarck
waren zum Teil so heftig, dass sich Wagners Erben dazu veranlasst sahen, die ent-
sprechenden Stellen in den Cosima-Tagebüchern unkenntlich zu machen.
Störend für diejenigen Leser, die mit Wagners außergewöhnlicher Persönlich-
keit und seinem wahrhaft zermürbendem Leben nicht vertraut sind, kann auch
die häufig festzustellende Diskrepanz zwischen Leben und Lehre sein. Diese tritt
z.B. in seinem Verhältnis zum Vegetariertum deutlich hervor: In seinen Schriften
als Apostel der Pf lanzennahrung auftretend, hat er – wie wir aus Cosimas Ta-
gebuchaufzeichnungen wissen – nicht die Kraft aufgebracht, sein eigenes Leben
umzustellen und auf Fleischspeisen zu verzichten. Es scheint, als ob seine ganze
Lebensenergie – Künstlerschicksal! – in die Schaffung seiner alle bisher bekann-
ten Maße sprengenden Werke hineingef lossen war, so dass davon wenig übrig
blieb, um auf dem Gebiet der eigenen Lebensführung heroische Leistungen zu
vollbringen. Gewiss wäre Wagner menschlich sympathischer, wenn er am Ende
seines Lebens seinen Besitz an die Armen verteilt hätte und, wie Tolstoi, aus dem
Dunst seines großbürgerlichen Hauses gef lüchtet wäre, um selbst das Ideal der
Bedürfnislosigkeit zu verwirklichen. Doch kann man von einem alten Mann, der,
von einem Leben unerhörter Kämpfe und Entbehrungen erschöpft, endlich das
Glück und die Ruhe einer bürgerlichen Geborgenheit gefunden hatte, und im-
merhin der Welt einen Ring und einen Tristan geschenkt hat – kann man von
diesem Menschen verlangen, dass er sich plötzlich in einen Heiligen verwandelt?
Wenn es Wagner nicht vergönnt war, seine eigenen Ideale vorbildlich vorzule-
ben, so kann man ihm deshalb keine Vorwürfe machen, sondern ihn höchstens
bedauern. Und schließlich hat er – wie wir ebenfalls aus Cosimas Aufzeichnungen
wissen – für diese Inkonsequenz genug gebüßt, indem er selbst am meisten unter
seiner inneren Zerrissenheit gelitten hat.
Trotz aller dieser Einwände lohnt es sich jedoch, sich mit diesen Schriften zu
beschäftigen, sobald man bereit ist, die Spreu vom Weizen zu trennen, und Wag-
ners polemische Äußerungen von seinen tieferen philosophischen Überlegungen
zu trennen. Wir wollen im Folgenden jene Gedanken zusammenfassen, die einen
unmittelbaren Bezug zur geistigen Aussage des Parsifal haben und uns helfen kön-
nen, diesen besser zu verstehen.
Den Kern von Wagners späten schriftstellerischen Arbeiten bildet der
1880/1881 – also bereits nach der Vollendung der Parsifal-Dichtung – verfass-
te Aufsatz „Religion und Kunst“ mit seinen beiden Ergänzungen „Erkenne dich
selbst“ und „Heldentum und Christentum“. Diese werden in der Wagner-Lite-
ratur „die Regenerationsschriften“ genannt – aufgrund der programmatischen
Erklärung, mit der der Hauptaufsatz schließt:

69
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

„Wir erkennen den Grund des Verfalles der historischen Menschheit, sowie die
Notwendigkeit einer Regeneration derselben; wir glauben an die Möglichkeit dieser
Regeneration, und widmen uns ihrer Durchführung in jedem Sinne.“103
Diesen Schriften war allerdings im Jahre 1879 ein Aufsatz vorangegangen, der –
obwohl der Anlass zu seiner Entstehung durchaus polemisch war – eine Reihe von
Gedanken enthält, die für Wagners spätes Denken grundlegend sind: das „Offene
Schreiben an Herrn Ernst von Weber“, in dem Wagner Stellung gegen die damals
auf kommenden Versuche an lebenden Tieren nimmt.104 Wir wollen unsere Unter-
suchung mit einer Darstellung dieses offenen Briefes beginnen.

2. Der offene Brief gegen die Tierversuche

In dieser emotional stark engagierten Schrift begnügt sich Wagner nicht damit,
aufs Heftigste gegen die Vivisektion zu protestieren, sondern versucht zugleich
die tieferen Wurzeln der in einer solchen Praxis zutage tretenden Inhumanität
aufzudecken. Und so wird sie zu einer zusammenfassenden Darstellung seiner auf
Schopenhauer beruhenden Gedanken über das Mitleid, die er hier mit der ganzen
Wärme seines eigenen Mitgefühls mit den leidenden Tieren vorträgt.
Der zentrale Begriff, auf dem die ganze Argumentation aufgebaut ist, ist das
tat-twam-asi: die Erkenntnis, „dass in dem Tiere das Gleiche atme, was im Men-
schen“.105 Interessant ist, dass Wagner zur Untermauerung dieses uralten indi-
schen Weisheitsspruches Darwin anführt:
„Abseits, aber fast gleichzeitig mit dem Aufblühen jener, im vorgeblichen Dienste
einer unmöglichen Wissenschaft vollzogenen Tierquälereien, legte uns ein redlich
forschender, sorg fältig züchtender und wahrhaftig vergleichender wissenschaftlicher
Tierfreund, die Lehren verschollener Urweisheit wieder offen, nach welchen in den
Tieren das Gleiche atmet, was uns das Leben gibt, ja dass wir unzweifelhaft von
ihnen selbst abstammen.“ 106
Er erweitert also die metaphysische Erklärung, die Schopenhauer anführt: die
innere Wesensgleichheit aller Lebewesen, durch eine naturwissenschaftliche: die
Abstammungslehre, um das Phänomen des Mitleids mit den Tieren zu erklären.
Dieses besitzt für ihn jedenfalls eine solche Wichtigkeit, dass er darin das Kenn-
zeichen wahren Menschentums überhaupt zu erblicken vermeint:
„Denn unser Schluss in Betreff der Menschenwürde sei dahin gefasst, dass diese
genau auf dem Punkte sich dokumentiere, wo der Mensch vom Tiere sich durch das
Mitleid auch mit dem Tiere zu unterscheiden vermag …“107

70
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Mitleid ist für Wagner auch das Einzige, was imstande ist, ein humanes Verhältnis
des Menschen zu den Tieren zu begründen:
„Wer zur Abwendung willkürlich verlängerter Leiden von einem Tiere eines an-
deren Antriebes bedarf, als den des reinen Mitleidens, der kann sich nie wahrhaft
berechtigt gefühlt haben, der Tierquälerei von seiten eines Nebenmenschen Einhalt
zu tun. Jeder, der bei dem Anblicke der Qual eines Tieres sich empörte, wird hierzu
einzig von Mitleiden angetrieben, und wer sich zum Schutze der Tiere mit anderen
verbindet, wird hierzu nur von Mitleiden bestimmt, und zwar von einem seiner
Natur nach gegen alle Berechnungen gegen die Nützlichkeit oder Unnützlichkeit
durchaus gleichgültigen und rücksichtslosen Mitleiden.“108
Gerade in dem Nützlichkeitsdenken, das anderes Leben nur unter dem Aspekt
des Gewinnes, den man aus ihm ziehen kann, betrachtet und stets bereit ist, das
Wohl eines anderen Wesens aufzuopfern, um das eigene zu vermehren – gerade
also in dieser egoistischen Grundeinstellung sieht Wagner die Wurzel des Übels.
Und dieses gibt ihm das Stichwort für seine radikale Kritik an einer Zivilisation,
in der Dinge wie Versuche an lebenden Tieren nicht nur stillschweigend geduldet,
sondern vom Staat sogar auch unterstützt werden. Aus der modernen Zivilisation,
so meint er, sei „die Verehrung ganz geschwunden“;109 sie huldige einem „Nütz-
lichkeitskultus“110 und kenne keine anderen Triebfedern für das Handeln als „die
Aufsuchung des Nutzens“.111 Mit bitterem Sarkasmus schildert er die Folgen die-
ses Nützlichkeitsdenkens:
„Unser Glaube heißt: Das Tier ist nützlich, namentlich wenn es, unsrem Schutze
vertrauend, sich uns ergibt; machen wir daher mit ihm, was uns für den menschli-
chen Nutzen gut dünkt; wir haben ein Recht dazu, tausende treue Hunde tagelang
zu martern, wenn wir hierdurch einen Menschen zu dem „kannibalischen“ Wohl-
sein von „fünfhundert Säuen“ verhelfen.“112
Und nachdem er die sozialen Ungerechtigkeiten des neu gegründeten Deutschen
Reiches angeprangert hat, die er als einen Beweis dafür ansieht, dass der Miss-
brauch der Tiere auch zu einem Missbrauch anderer Menschen führen muss, stellt
er eine prophetisch anmutende Frage, die uns, die wir den späteren Verlauf der
Geschichte kennen, geradezu erschauern lässt:
„Wollten wir abwarten, dass die Opfer der ‚Nützlichkeit‘ sich auch auf Menschen-
vivisektion erstreckten? Mehr als der Nutzen des Individuums soll uns ja der des
Staates gelten?“113
Das Einzige, was diese Barbarei verhindern könnte, wäre nach Wagners Ansicht
eben das Mitleid – weshalb der ganze Aufsatz in der Forderung nach einer „Re-
ligion des Mitleidens“114 gipfelt. Diese müsste dann zur Entstehung einer neuen

71
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Form des Zusammenlebens auf der Erde führen, die dann kein Ort des Grauens
mehr wäre, sondern ein „mit Bewusstsein wieder gewonnenes Paradies“.115

3. „Religion und Kunst“

Das „Offene Schreiben“ gegen die Tierversuche war aber nur das Vorspiel zu je-
nem umfangreichen Aufsatz mit dem Titel „Religion und Kunst“, der, wie ge-
sagt, die eigentliche Hauptschrift aus Wagners Spätzeit darstellt.116 Dieser Aufsatz
umfasst mit den ihm zugehörigen „Ergänzungen“ etwas über 70 Seiten und ist
mit seinen Gedanken über Verfall und Regeneration der Menschheit das Haupt-
zeugnis für den vertieften Optimismus, zu dem sich Wagner in seinen letzten Le-
bensjahren hindurchgerungen hat. Seinem Hang zur Universalität entsprechend,
dehnt er darin seine Betrachtungen auf die verschiedensten Gebiete des Lebens
aus, so dass man „Religion und Kunst“ als ein Kompendium von Wagners gesam-
tem spätem Denken ansehen kann.
Wie so oft, geht Wagner hier zunächst von einem künstlerischen Thema aus:
dem Verhältnis zwischen Religion und Kunst, um dann das Gebiet allgemeiner
Probleme zu betreten. Als Ausgangspunkt der ganzen Betrachtungen dient fol-
gender Satz, den er an den Anfang des Aufsatzes gestellt hat, und in dem man
unschwer den Entstehungsgrund des Parsifal erkennen kann:
„Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vor-
behalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole,
welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinn-
bildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen
verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“117
Der Sinn dieses Satzes wird anschließend genauer erläutert: Die Religion – so
Wagner – habe sich von Anfang an genötigt gesehen, ihren innersten Kern, der an
sich unaussprechlich und für den Verstand nicht fassbar ist, durch Allegorien und
„mythische Symbole“ zum Ausdruck zu bringen, um ihn überhaupt Menschen,
die selbst keine unmittelbaren religiösen Erfahrungen gemacht haben, mitteilen
zu können. Der Verfall sei dann eingetreten, sobald die Kirche verlangt habe, jene
Bilder – die ja nur Chiffren für geistige Inhalte sind – wörtlich zu nehmen und
an sie wie an Tatsachen zu glauben. Dadurch sei der innere Gehalt der Religion
unkenntlich geworden. Der Kunst sei es nun vorbehalten, diesen Gehalt zu retten.
Diese Aufgabe sei früher der großen, religiös inspirierten Malerei vorbehalten
gewesen; in unserer Zeit sei es dagegen vor allem die Musik, welche „das edelste
Erbe des christlichen Gedankens in seiner außerweltlichen neu gestaltenden Rein-
heit zu erhalten“118 habe.

72
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Nachdem Wagner den Verfall der Religion festgestellt hat, stellt er die Vermu-
tung an, „dass nicht die Religionen selbst an ihrem Verfalle schuld sind, sondern
vielmehr der Verfall des geschichtlich unserer Beurteilung vorliegenden Men-
schengeschlechtes jenen mit nach sich gezogen hat“.119 Das führt ihn dann zur
Frage nach dem sogenannten Sündenfall. Nachdem er, sich auf die indische Phi-
losophie berufend, Sünde kurz und bündig als die „Tötung des Lebendigen“120
definiert hat, zieht er die Schlussfolgerung, dass die Fleischnahrung – in der er das
Paradigma für das unnötige Töten anderen Lebens überhaupt sieht – Schuld am
allgemeinen Niedergang sei. Das führt ihn wiederum zu einer äußerst negativen
Beurteilung der bisherigen Menschheitsgeschichte, in der er nichts als einen fort-
laufenden Prozess der Verrohung erblickt. Denn nachdem sich der Mensch durch
das Töten der Tiere erst an das Töten überhaupt gewöhnt hatte, musste er – so
Wagner – zwangsläufig immer mehr zum Raubtier werden. Blutiges Töten sei
dann auch der eigentliche Inhalt der uns bekannten Geschichte:
„Angriff und Abwehr, Not und Kampf, Sieg und Unterliegen, Herrschaft und
Knechtschaft, alles mit Blut besiegelt, nichts anderes zeigt uns fortan die Geschich-
te der menschlichen Geschlechter; als Folge des Sieges des Stärkeren alsbald ein-
tretende Erschlaffung durch eine, von der Knechtschaft der Unterjochten getragene
Kultur; worauf dann Ausrottung der Entarteten durch neue, rohere Kräfte von noch
ungesättigter Blutgier.“121
Nun könnte man versucht sein, von diesem sehr negativen Geschichtsbild ausge-
hend auf eine prinzipielle Verworfenheit der menschlichen Natur zu schließen.
Um dies zu vermeiden, greift Wagner zu einer Geschichtskonstruktion, welche
die anfängliche Unschuld des Menschen postuliert und die Behauptung aufstellt,
der Mensch sei nur durch klimatische Bedingungen dazu gezwungen worden,
Tiere zu Nahrungszwecken zu töten, wodurch er aus dem ursprünglichen Pa-
radies verstoßen worden sei. Paradies und Sündenfall sind aber in diesem Ge-
schichtsentwurf nur die ersten Teile eines Dreischritts: Nach dem Absturz folgt der
neue Aufstieg, nach dem Fall in die Sündhaftigkeit des unnötigen Tötens kommt
die Regeneration. Denn der Sinn des Sündenfalls bestehe darin, dem Menschen
die Sündhaftigkeit des Tötens zum vollen Bewusstsein zu bringen – woraus dann
wie von selbst eine innere Umkehr erfolgen müsste, durch welche die ursprüng-
liche Güte der menschlichen Natur wiederhergestellt würde. War dem Menschen
vorher das Töten einfach unbekannt, so würde er jetzt bewusst und aus freier Ent-
scheidung darauf verzichten. Das ist das „mit Bewusstsein wieder gewonnene Pa-
radies“, von dem Wagner im offenen Brief gegen die Tierversuche sprach: eine
neue Unschuld, die aber, weil sie auf dem klaren Bewusstsein der verhängnisvollen
Folgen der Sünde beruht, nunmehr unerschütterlich und dauerhaft ist. Das Mittel
zum Erreichen dieses Zieles ist aber das allumfassende Mitleid.

73
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Dieser Aufsatz enthält eine höchst sonderbare Mischung aus Polemik, Phantas-
terei, Philosophie und hohem Idealismus, wie sie sonst in der Literatur nicht leicht
zu finden sein dürfte. Einmal glauben wir, die tiefsinnigen Ausführungen eines
Religionsphilosophen zu vernehmen, dann wiederum haben wir das Gefühl, als
läsen wir in einer populärwissenschaftlichen Kampfschrift für vegetarisches Es-
sen. Gerade deshalb dürfen wir aber in keinem Augenblick vergessen, um was es
hier geht. Wagners Schriften sind keine philosophischen und schon gar keine wis-
senschaftlichen Abhandlungen, sondern Zeugnisse einer oft ins Visionäre gestei-
gerten künstlerischen Intuition, sowie eines mächtigen ethischen Wollens. Und
gerade in diesem seinem letzten Aufsatz wird in ganz besonderem Ausmaß alles
Einzelne diesem Wollen untergeordnet. Deshalb zieht Wagner hier mehr oder
weniger kritiklos alles heran, von dem er meint, dass es seinen optimistischen
Glauben an die Güte der menschlichen Natur, sowie an die Möglichkeit einer
neuen, besseren Welt unterstützen könne. Vor allem ist er den gutgemeinten, aber
haltlosen Behauptungen eines französischen Vegetarierapostels namens Gleizès
( Jean Antoine Gleizès, 1773–1843) aufgesessen, dessen Buch Thalysia, oder das Heil
der Menschheit er sogar als Lektüre ausdrücklich empfiehlt.122
Es gibt jedoch in „Religion und Kunst“ neben den vereinzelten und durchaus
nebensächlichen pseudowissenschaftlichen Behauptungen, über die man getrost
mit einem Schmunzeln hinweggehen kann, auch eine Fülle großartiger und tief-
sinniger Gedanken, die ohne Zweifel der Beachtung wert sind. Diese wollen wir
nun im Folgenden näher betrachten.

Die philosophische Grundlage


Wie alles, was Wagner in der zweiten Hälfte seines Lebens über allgemeine The-
men schrieb, beruht auch „Religion und Kunst“ zunächst auf den Grundbegriffen
des Schopenhauer’schen Systems. Gerade dort finden sich einige seiner entschie-
densten Bekenntnisse zu Schopenhauer, dessen Philosophie, wie er meint, man „in
jeder Beziehung zur Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu
machen“ habe.123 Dementsprechend ist die zentrale Idee, um die sich alle ande-
ren gruppieren, jene „Einheit alles Lebenden“,124 welche hinter der Täuschung der
Vielheit als eigentliche Wirklichkeit zu finden ist. Von dieser Idee gelangt man
dann zwangsläufig zur Vorstellung der „Sündhaftigkeit der Tötung des Lebendi-
gen“, welche die Grundlage der ganzen von Wagner hier vertretenen Ethik bildet.
Die Stelle, an der Wagner diese seine Definition der Sünde begründet, ist ein wich-
tiges Zeugnis für die Art, in der er Schopenhauer – und von diesem ausgehend das
indische Denken – auffasst, und verdient es, hier in ihrer ganzen Länge wiederge-
geben zu werden. Nachdem er die „brahmanische Lehre“,125 dass das Töten eines
anderen Wesens Sünde sei, dargelegt hat, führt er erklärend aus:

74
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

„Bei näherem Eingehen auf den Sinn dieser Lehre und der durch sie begründeten
Abmahnung, dürften wir sofort auf die Wurzel aller wahrhaft religiösen Überzeu-
gung treffen, womit wir zugleich den tiefsten Gehalt aller Erkenntnis der Welt,
nach ihrem Wesen wie nach ihrer Erscheinung, erfassen würden. Denn jene Lehre
entsprang erst der vorangehenden Erkenntnis der Einheit alles Lebenden, und der
Täuschung unserer sinnlichen Anschauung, welche uns diese Einheit als eine un-
fassbar mannig faltige Vielheit und gänzliche Verschiedenheit vorstellte. Jene Lehre
war somit das Ergebnis einer tiefsten metaphysischen Erkenntnis, und wenn der
Brahmane uns die mannig faltigsten Erscheinungen der lebenden Welt mit dem Be-
deuten: ‚das bist du!‘ vorführte, so war uns hiermit das Bewusstsein davon erweckt,
dass wir durch die Aufopferung eines unsrer Nebengeschöpfe uns selbst zerf leischten
und verschlängen. Dass das Tier nur durch den Grad seiner intellektualen [sic!]
Begabung vom Menschen verschieden war, dass das, was aller intellektualen Aus-
rüstung vorausgeht, begehrt und leidet, in jenem aber ganz derselbe Wille zum Le-
ben sei wie im vernunftbegabtesten Menschen, und dass dieser eine Wille es ist,
welcher in dieser Welt der wechselnden Formen und vergehenden Erscheinungen
sich Beruhigung und Befreiung erstrebt, dass diese Beschwichtigung des ungestümen
Verlangens nur durch gewissenhafteste Übung der Sanftmut und des Mitleidens für
alles Lebende zu gewinnen war, – dies ist dem Brahmanen und Buddhisten bis auf
den heutigen Tag unzerstörbares religiöses Bewusstsein geblieben.“126
Es ist bezeichnend, dass Wagner hier von „Beruhigung und Befreiung“ des Wil-
lens, sowie von „Beschwichtigung des ungestümen Verlangens“ spricht, und nicht
von Willensverneinung. Und auch wenn er an anderer Stelle Wörter verwendet,
die an Schopenhauers Pessimismus erinnern,127 so beweist die gesamte, auf Erneu-
erung der Welt zielende Tendenz des Aufsatzes – dessen letzter Zweck ja darin
besteht, den „rechten Weg zur Aufsuchung des Gestades einer neuen Hoffnung
für das menschliche Geschlecht“128 aufzuzeigen – dass er damit keineswegs die
Weltverneinung befürworten will. Tatsächlich findet man, über die ganze Schrift
verstreut, immer wieder Hinweise darauf, dass jene „Welt“, die es zu überwinden
gilt, nicht die Welt an sich, sondern jene von Egoismus und selbstzerf leischendem
Kampf erfüllte Welt ist, wie wir sie aus der Geschichte kennen und auch heu-
te noch erleben. Dieser disharmonische Zustand ist jedoch kein unabänderlicher
Endzustand, sondern eine Verirrung und Selbstentfremdung, welche dem eigent-
lichen Wesen der Welt – der Welt also, wie sie sein sollte – geradezu entgegenge-
setzt ist. Deshalb spricht Wagner einmal vom „verirrten Willen“, der „unter Qual
und Leiden seiner Sündhaftigkeit sich bewusst“129 wird, ein anderes Mal von der
Möglichkeit „eines reinen Lebenstriebes“.130 Und die Selbstentzweiung des Wil-
lens, die in der Blutrünstigkeit des geschichtlichen Menschen so grausig zum Aus-
druck komme, sei nichts als „eine Entartung“, die „durch übermächtige äußere

75
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Einf lüsse verursacht worden“131 und keinesfalls in der Naturanlage des Menschen
begründet sei.
Aus alledem geht deutlich hervor, dass Wagner, wenn er von Willensvernei-
nung spricht, die Verneinung des „missleiteten Willens“ meint, der in seinem ge-
genwärtigen Zustand seiner eigenen innersten Bestimmung entfremdet ist. Wil-
lensverneinung bedeutet für ihn also Willensverwandlung.132 Ihm schwebt ein Wille
ohne egoistische Wünsche, die nach Befriedigung verlangen, vor – also ein Wille
ohne Begierde. Und dieser zu sich selbst „befreite“ Wille soll eine neue, von Zer-
rissenheit und Streit befreite Welt begründen.

Gedanken über Religion


Wenn Wagner Religion als „Erkenntnis der Hinfälligkeit der Welt und der hie-
raus entnommenen Anweisung zur Befreiung von derselben“133 definiert, so fasst
er damit alles zusammen, was er über ihr Wesen zu sagen hat, sowohl was die
gedankliche Grundlage, als auch was das Ziel der religiösen Praxis anbelangt.
Die Erkenntnis, die hier gemeint ist, ist zweifach: Ihr negativer Aspekt ist die Er-
kenntnis der „ungeheuren Tragik dieses Weltendaseins“,134 sowie dessen Ursache,
die in der „Täuschung unserer sinnlichen Anschauung“ liegt, „welche uns diese
Einheit als eine unfassbar mannigfaltige Vielheit und gänzliche Verschiedenheit“
erscheinen lässt. Ihr positiver dagegen liegt in der Erkenntnis der Einheit alles
Lebenden, welche die eigentliche Wirklichkeit und der Grund des Seins ist. Die
damit von selbst gegebene religiöse Praxis kann dann nur in der Überwindung der
Trennung bestehen. Auch diese hat zwei Aspekte: Zum einen bedeutet sie innere
Verwandlung, deren Ziel die Überwindung der egoistischen Begierde ist; zum
anderen aber Verzicht auf jegliche Schädigung anderen Lebens – eine Haltung
der Solidarität, die sich in ihrer aktiven Form als helfende Tat äußert. Das verbin-
dende Glied zwischen Erkenntnis und Praxis ist das Mitleid, das für Wagner der
Inbegriff des Göttlichen ist.
Wie steht es aber mit dem Gottesbegriff? Zwar war Wagner davon überzeugt,
dass es ein ewig Seiendes jenseits von Raum und Zeit gebe; doch dieses war für
ihn keine Wesenheit, sondern eher ein innerer Bewusstseinszustand: eben jener
Zustand, in dem der Mensch die Einheit mit allem Lebenden erkennt und durch
die Auf hebung der Subjekt-Objekt-Dualität auch verwirklicht. Bereits in seiner
Schrift „Über Staat und Religion“ hatte Wagner geschrieben, dass Religion ih-
ren Sitz „im tiefsten, heiligsten Inneren des Individuums“135 habe, und in seinem
Beethoven-Aufsatz betonte er immer wieder, dass die Musik, die für ihn „die
Offenbarung des innersten Traumbildes vom Wesen der Welt“136 ist, uns „das in-
nerste Wesen der Religion, frei von jeder dogmatischen Begriffsfiktion, zum Be-
wusstsein bringt“.137

76
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Eine solche Auffassung des Göttlichen ist natürlich weit entfernt von dem, was
die traditionelle christliche Theologie lehrt. Überhaupt erkennt man in Wagners
Ideen zur Religion unschwer eine vereinfachte Wiedergabe der Grundaussagen
der alten indischen Denker, wie er sie zunächst bei Schopenhauer und später durch
sein eigenes Studium der damals zugänglichen altindischen Schriften kennenge-
lernt hatte. Für ihn war das jedoch kein Widerspruch zum Christentum. Denn er
war der Meinung, dass „die beiden erhabensten Religionen, Brahmanismus mit
dem aus ihm sich lösenden Buddhaismus, und Christentum“138 aus einer Wur-
zel entsprungen und deshalb in ihrer Grundaussage identisch seien. Allerdings
schließt er sich der Ansicht Schopenhauers an, dass das Christentum durch seine
Kontamination mit dem Alten Testament und dessen Vorstellung eines persön-
lichen Schöpfergottes von Anfang an korrumpiert worden sei. Für ihn besteht
das eigentliche Wesen der christlichen Religion einzig und allein in der Lehre
der Selbstüberwindung durch freiwilliges Leiden, wie sie sich in der Person Jesu
verkörpert habe; und diese Lehre deckt sich für ihn vollkommen mit der Aussage
der beiden indischen Religionen.
Der Unterschied zwischen dem Christentum und dem Brahmanismus bzw. dem
Buddhismus besteht nach Wagner darin, dass die indischen Religionen versuchen,
die an sich unaussprechlichen religiösen Grundwahrheiten durch komplizierte Spe-
kulationen dem Verstand zugänglich zu machen, während das Christentum durch
Bilder zu den Gläubigen spricht. Das stärkste und lebendigste Bild ist aber Jesus
selbst, dessen beispielhaftes Leben und Sterben auch dem einfachsten Menschen den
tiefsten Kern der Religion offenbart, während die Brahmanen mit dem ganzen Ap-
parat ihrer philosophischen Spekulation nur die Gebildeten ansprechen:
„In dieser Beziehung haben wir es als eine erhabene Eigentümlichkeit der christ-
lichen Religion zu betrachten, dass die tiefste Wahrheit durch sie mit ausdrücklicher
Bestimmtheit den „Armen am Geiste“ zum Troste und zur Heilsanleitung erschlos-
sen werden sollte; wogegen die Lehre der Brahmanen ausschließlich den „Erken-
nenden“ nur angehörte, weshalb die „Reichen am Geiste“ die in der Natürlichkeit
haftende Menge als von der Möglichkeit der Erkenntnis ausgeschlossene und nur
durch zahllose Wiedergeburten zur Einsicht in die Nichtigkeit der Welt gelangende,
ansahen […] Anders verhielt es sich mit der christlichen Religion. Ihr Gründer war
nicht weise, sondern göttlich; seine Lehre war die Tat des freiwilligen Leidens: an
ihn glauben, hieß: ihm nacheifern und Erlösung hoffen, hieß: mit ihm Vereinigung
suchen. Den „Armen am Geiste“ war keine metaphysische Erklärung der Welt
nötig; die Erkenntnis ihres Leidens lag der Empfindung offen, und nur diese nicht
verschlossen zu halten war göttliche Forderung an den Gläubigen.“139
Mit diesen schönen Worten erweist sich Wagner als ein früher, einsamer Vorläu-
fer jener religiösen Offenheit, die auf eine Verbindung zwischen westlichem und

77
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

östlichem Denken hinzielt – einer Offenheit, die erst in unserer Zeit begonnen
hat, breitere Schichten der Bevölkerung zu ergreifen. Seine Ausführungen sind
auch insofern ernst zu nehmen, als sie bei allem Einheits-Enthusiasmus keines-
wegs den Unterschied zwischen den beiden religiösen Formen außer Acht lassen;
vielmehr spricht aus ihnen die Überzeugung, dass sowohl die abendländische als
auch die asiatische Religiosität einen wichtigen Aspekt der Religion zum Aus-
druck bringen, und dass erst beide zusammen jene Ganzheit ergeben, aus der her-
aus eine künftige Menschheitsreligion entstehen könnte.

Zivilisationskritik
Das Gegenstück zu Wagners Gedanken über Religion bildet seine Zivilisations-
kritik. Anders als in der Revolutionszeit, als er nur die moderne Zivilisation
mit ihrer Naturentfremdung anprangerte, richtet sich seine Kritik hier gegen die
Zivilisation an sich, wie sie überhaupt seit Beginn der Geschichte besteht. Diese
Kritik ist im wahrsten Sinne des Wortes „radikal“. Denn Wagner geht bis zu der
Wurzel aller geschichtlichen Zivilisationen zurück, die er in dem „missleiteten
Willen“ sieht, d.h. in dem Drang, das eigene Leben ohne Rücksicht auf das Leben
anderer Wesen zu erhalten und sich Genuss um den Preis fremden Leidens zu
verschaffen. Hatte sich dieser Drang – so Wagner – zunächst nur als Tötung von
Tieren zu Nahrungszwecken geäußert, so entwickelte sich mit der Zeit zwangs-
läufig daraus auch Grausamkeit anderen Menschen gegenüber: eine Grausam-
keit, die im Verlauf der Geschichte keineswegs durch Kultur eingedämmt wurde,
sondern im Gegenteil immer mehr zunahm. Und da Wagner das geschichtliche
Geschehen nicht, wie der Historiker, als eine Folge von Herrschern und deren
Schlachten betrachtet, sondern mit den Augen eines Mitleidenden, der nach dem
Los der leidenden Wesen fragt, kommt er nicht umhin, die ganze Menschheits-
geschichte als einen fortschreitenden Verfall anzusehen. Diesen prangert er mit
harten Worten an:
„So zeigt uns die Geschichte, von ihrem ersten Aufdämmern an, den Menschen be-
reits als in stetem Fortschritt sich ausbildendes Raubtier. Dieser erobert die Länder,
unterjocht die fruchtgenährten Geschlechter, gründet durch Unterjochung anderer
Unterjocher große Reiche, bildet Staaten und richtet Zivilisationen ein, um seinen
Raub in Ruhe zu genießen.“140
Von dieser Kritik werden nicht einmal die von Wagner so hochgeschätzten Grie-
chen ausgespart. Denn die Muße, welche die Voraussetzung für deren einzigar-
tige „Blüte des Geistes“141 bildete, habe auf der Arbeit von Sklaven beruht; und
auch für dieses der Schönheit zugetane Volk habe das „Recht des Stärkeren“
gegolten:

78
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

„Dem kunstschöpferischen Griechen galt es, nicht minder als dem rohesten Bar-
baren, für das einzige weltgestaltende Gesetz: es gibt keine Blutschuld, die nicht
auch dieses schön gestaltende Volk in zerf leischendem Hasse auf seinen Nächsten
auf sich lud; bis dann der Stärkere auch ihm wieder nahe kam, dieser Stärkere
abermals dem Gewaltsameren unterlag, und so Jahrhunderte auf Jahrhunderte,
stets neue rohere Kräfte in das Spiel führend, uns heute endlich zu unsrem Schutze
hinter alljährlich sich vergrößernde Riesenkanonen und Panzermauern geworfen
haben.“142
Als Folge dieser Kritik wurde Wagner in seinen letzten Jahren zum radikalen
Pazifisten. Immer wieder greift er den Militarismus der modernen Staaten an –
und das mitten in der Blütezeit des Nationalismus und des ganz Europa beherr-
schenden Machtdenkens! Die Völker der sogenannten „zivilisierten Welt“ seien,
so Wagner, „wie zur gegenseitigen Ausrottung bis an die Zähne bewaffnet“, be-
reit, ihren Friedenswohlstand zu vergeuden, „um beim ersten Zeichen des Kriegs-
herren methodisch zerf leischend über sich herzufallen“.143 Diese heftigen Angrif-
fe gegen das Kriegswesen machen vor dem Bismarckstaat keineswegs Halt, und
wenn man bedenkt, wie verschwindend klein die Anzahl der Menschen war, die
noch im Ersten Weltkrieg für den Frieden eintraten, und welchen Angriffen sie
ausgesetzt waren, dann kann man nur den Mut bewundern, mit dem Wagner, nur
neun Jahre nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich und der Gründung des
Deutschen Reiches, Sätze wie die folgende veröffentlichte, in denen er Bismarck
mit Robespierre vergleicht:
„Die deutsche Einheit wurde demzufolge erkämpft und kontraktlich festgesetzt: was
sie aber sagen sollte, war wiederum schwer zu beantworten. Wohl wird es aber für
dereinst in Aussicht gestellt, hierüber Aufschluss zu erhalten, sobald nur erst noch
viel mehr Macht angeschafft worden ist: die deutsche Einheit muss überallhin die
Zähne zeigen, selbst wenn sie nichts damit zu kauen mehr haben sollte. Man glaubt
Robespierre im Wohlfahrtsausschusse vor sich sitzen zu sehen, wenn man das Bild
des in abgeschiedener Einsamkeit sich abmühenden Gewaltigen sich vergegenwär­
tigt, wie er rastlos der Vermehrung seiner Machtmittel nachspürt.“144
Diese Attacken gegen die „Kriegszivilisation“145 gipfeln in jener unheimlichen
Zukunftsvision, die wie eine prophetische Warnung an die Menschen des 21.
Jahrhunderts klingt, und jeden, der in Wagners Zivilisationskritik nur die Aus-
wüchse der überreichen Phantasie eines moralischen Schwärmers sieht, eines Bes-
seren belehren sollte:
„Dennoch muss es Bedenken erwecken, dass die fortschreitende Kriegskunst immer
mehr, von den Triebfedern moralischer Kräfte ab, sich auf die Ausbildung mechanischer
Kräfte hinwendet! Hier werden die rohesten Kräfte der niederen Naturgewalten in

79
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ein künstliches Spiel gesetzt, in welches, trotz aller Mathematik und Arithmetik,
der blinde Wille, in seiner Weise einmal mit elementarischer Macht losbrechend, sich
einmischen könnte. Bereits bieten uns die gepanzerten Monitors, gegen welche sich
das stolze herrliche Segelschiff nicht mehr behaupten kann, einen gespenstisch grau-
enhaften Anblick: stumm ergebene Menschen, die aber gar nicht mehr wie Menschen
aussehen, bedienen diese Ungeheuer, und selbst aus der entsetzlichen Heizkammer
werden sie nicht mehr desertieren: aber wie in der Natur alles seinen zerstörenden
Feind hat, so bildet auch die Kunst im Meere Torpedos und überall sonst Dynamitpa-
tronen u. dgl. Man sollte glauben, dieses alles, mit Kunst, Wissenschaft, Tapferkeit
und Ehrenpunkt, Leben und Habe, könnte einmal durch ein unberechenbares Verse-
hen in die Luft fliegen. Zu solchen Ereignissen in großartigstem Stile dürfte, nachdem
unser Friedenswohlstand dort verpufft wäre, nur noch die langsam, aber mit blinder
Unfehlbarkeit vorbereitete allgemeine Hungersnot ausbrechen: so stünden wir etwa
wieder da, von wo aus unsre weltgeschichtliche Entwicklung ausging …“146

Praktische Massnahmen
Was bietet aber Wagner an Gegenmaßnahmen an? Wie stellt er sich das Leben
einer verwandelten Menschheit vor? Die allgemeine Grundlage der neuen Welt
soll, wie wir gesehen haben, das allumfassende Mitleid sein. Aus diesem würde
dann von selbst eine Haltung der Solidarität mit allen Wesen entstehen, die sich
passiv als Verzicht auf Schädigung anderen Lebens, aktiv jedoch als Helfen äußer-
te. Welche konkreten Formen nimmt aber dieses Helfen an?
Da es Wagner in „Religion und Kunst“ vor allem um Grundsätzliches geht,
gibt er dort nur sehr wenige praktische Vorschläge für die Umsetzung seiner gro-
ßen Idee der Regeneration an. Eigentlich beschränken sich diese Vorschläge auf
die Empfehlung, gewisse bereits bestehende Organisationen zu unterstützen. Da
die Verhinderung der Tierquälerei eines seiner Hauptanliegen ist, liegt es auf der
Hand, dass seine Sympathie den Vegetariervereinigungen sowie den Tierschutz-
vereinen gilt. Hinzu kommen dann die „Mäßigkeitsvereine“, deren Sorge den lei-
denden Menschen gilt – und zwar jenen, welche der „Pest der Trunksucht, welche
sich über alle Leibeigenen unsrer modernen Kriegszivilisation als letzte Vertilge-
rin aufgeworfen hat“,147 verfallen sind.
Große Achtung empfindet er für die sozialistische Bewegung, deren konkre-
te politische Ziele ihn allerdings weniger zu interessieren scheinen als ihr Ein-
satz für Menschlichkeit. Aus den Cosima-Tagebüchern wissen wir, wie empört
Wagner über die sozialen Missstände im neu gegründeten Deutschen Reich war,
und in seinen Schriften spart er nicht mit Kritik an dem herzlosen Umgang der
„Nützlichkeits-Zivilisation“ mit den ärmeren Schichten der Bevölkerung. Schon
in seiner Schrift gegen die Tierversuche hatte er ausgerufen:

80
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

„Wer möchte nun aber nicht Sozialist werden, wenn er erleben sollte, dass wir von
Staat und Reich mit unsrem Vorgehen gegen die Fortdauer der Vivisektion und mit
der Forderung der unbedingten Abschaffung derselben, abgewiesen wurden?“148
In „Religion und Kunst“ prangert er auch die Ausbeutung des Arbeiters an, „der
alles Nützliche schafft, um davon selber den verhältnismäßig geringsten Nut-
zen zu ziehen“,149 und wenn er etwas gegen den Sozialismus einzuwenden habe,
sei es höchstens die Inkonsequenz, mit der dieser sein Anliegen verfolge. Denn
die ethischen Ziele der Sozialisten seien den Zielen des Raubstaates diametral
entgegengesetzt; würden sie jene Ziele durchsetzen, so müsste das die Existenz
des Staates selbst in Frage stellen. Davor schreckten aber die Sozialistenführer
zurück und gingen deshalb Kompromisse ein, welche ihr eigentliches Anliegen
verfälschen:
„Jede, selbst die anscheinend gerechteste Anforderung, welche der sogenannte So-
zialismus an die durch unsre Zivilisation ausgebildete Gesellschaft erheben möch-
te, stellt, genau erwogen, die Berechtigung dieser Gesellschaft sofort in Frage. In
Rücksicht hierauf […] können die Postulate der Sozialisten nicht anders als in einer
Unklarheit sich zu erkennen geben, welche zu falschen Rechnungen führt …“150
Damit die ethischen Anforderungen mit der nötigen Kompromisslosigkeit vertre-
ten werden können, empfiehlt Wagner einen Zusammenschluss aller vier Grup-
pen, die schon jetzt ihre Kraft einsetzen, um anderen, leidenden Wesen zu helfen:
der Vegetariervereinigungen, der Tierschutzvereine, der Mäßigkeitsvereine und
der Sozialisten. Vor allem aber sollen sie sich auf ihre Wurzeln zurückbesinnen,
die bei allen vier letztendlich im Religiösen liegen:
„Was bisher den Begründern aller jener Vereinigungen nur aus der Berechnung der
Klugheit aufgegangen zu sein schien, fußt, ihnen selbst zum Teil wohl unbewusst,
auf einer Wurzel, welche wir ohne Scheu die eines religiösen Bewusstseins nennen
wollten …“151
Mit „religiösem Bewusstsein“ meint Wagner natürlich das Mitleid, woraus sich
die Verantwortung sowohl für die Tiere als auch für andere Menschen ergibt.
Und dieses zu fördern ist der Zweck seiner Schrift.

4. „Heldentum und Christentum“

Die wohl kühnsten Gedanken, die Wagner je geäußert hat, finden sich im Auf-
satz „Heldentum und Christentum“, der, als Ergänzung zu „Religion und Kunst“
verfasst, die „Regenerationsschriften“ abschließt. Leider hat Wagner aber gerade

81
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

in diesem Aufsatz die Erschließung der darin enthaltenen, fruchtbaren Denkan-


stöße mehr als sonst erschwert. „Heldentum und Christentum“ ist nicht nur das
Kühnste, sondern gewiss auch das Ambivalenteste – und dadurch am schwersten
Verständliche – was je aus seiner Feder gef lossen ist, und zeigt die innere Zerris-
senheit, die das Merkmal seiner letzten Lebensjahre ist, im grellsten Licht. Der
Aufsatz entstand als Reaktion auf die Gedanken des französischen Schriftstellers
Arthur Graf Gobineau ( Joseph Arthur de Gobineau, 1816–1882), der mit seinem
Buch Essai sur l’inégalité des races humaines den theoretischen Rassismus begründe-
te. Gobineau, der als Dichter – unter anderem des heute noch lesenswerten Buches
Die Renaissance – durchaus ernst zu nehmen war, vertritt in seinem Essai die aus
heutiger Perspektive absurd erscheinende These, dass die weiße Rasse, der man als
einziger die Fähigkeit zur Kultur zusprechen könne, durch Vermischung mit den
„niederen“ Rassen degeneriert sei – und zwar unumkehrbar, so dass der endgülti-
ge Niedergang der menschlichen Zivilisation unausweichlich bevorstehe.
Wagner, der immer auf der Suche nach plausiblen Erklärungen für den von
ihm diagnostizierten Verfall war, fühlte sich durch die Ideen Gobineaus, die für
ihn völlig neu waren, stark angesprochen. Er hatte von Gobineaus Buch im Feb-
ruar 1881 erstmals gehört, als die Dichtung und Komposition des Parsifal schon
längst vollendet waren.152 Bereits im Mai desselben Jahres kam der französische
Graf auf vier Wochen zu Besuch nach Bayreuth. Trotz aller äußeren Zustimmung
– Wagner bekannte sich damals zu Gobineau mit der gleichen radikalen Emphase,
mit der er sich einstmals zu Schopenhauer bekannt hatte – war sein Verhältnis zu
seinem neuen Freund im höchsten Grade zwiespältig. Typisch für Wagners Hin-
und Hergerissen-Sein zwischen den für ihn gänzlich neuen Ideen und den Huma-
nitätsidealen, die seit jeher das wichtigste Fundament seines Denkens bildeten,
war der von Cosima festgehaltene Streit, der am 18. Mai 1881, also gerade eine
Woche nach dem Eintreffen Gobineaus, mit dem Gast ausbrach. Cosima berichtet:
„Abends entspinnt sich ein Streit zwischen dem Grafen und ihm über die Irländer,
welche Gobineau unfähig zur Arbeit erklärt. R. wird sehr heftig, auch er würde
nicht arbeiten unter den Bedingungen, und er geißelt die englischen Vornehmen.
Der Graf geht in seinen Gedanken so weit, dem Evangelium einen Vorwurf daraus
zu machen, für die Armen eingetreten zu sein.“153
Bezeichnend ist auch die Eintragung vom 3. Juni:
„R. hatte eine schlechte Nacht und ist nicht wohl. Bei Tisch explodiert er förmlich
zu Gunsten des Christlichen gegenüber dem Racengedanken.“154
Viele andere Äußerungen Wagners zeigen deutlich, wie wenig er bereit war, die
Rassentheorien konsequent ernst zu nehmen, so z.B. seine Bemerkung anlässlich
der Lektüre eines Zeitungsaufsatzes über die sozialistische Bewegung in China im

82
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

12. Jahrhundert, „dass wir in allem gegen die Orientalen zurück seien, schon da-
durch, dass wir uns einbildeten, es begänne die Welt mit uns“.155 Einen ähnlichen
Eindruck vermittelt auch folgende Eintragung Cosimas, die auf Wagners Lektüre
eines Buches über den vorgeschichtlichen Menschen Bezug nimmt:
„Dann ergeht er sich über die Schönheit eines darin abgebildeten Nubiers und
meint, die weiße Race stamme denn doch von der schwarzen ab.“156
Umso fataler war es, dass Wagner sich dazu gedrängt fühlte, sich öffentlich zu
den Rassentheorien Gobineaus zu bekennen, wie er es in „Heldentum und Chris-
tentum“ tat. Denn obwohl dieser Aufsatz, was seine ethische Absicht anbelangt,
völlig rein ist, lassen die darin vertretenen Thesen von der Überlegenheit der
weißen Rasse und der Verderblichkeit der Rassenmischung Wagner in einem äu-
ßerst ungünstigen Licht erscheinen – vor allem für die Menschen unserer Zeit,
die wissen, welche verheerenden Folgen solche Gedanken haben können, sobald
sie als Grundlage für Machtmissbrauch verwendet werden. Wagner hat in diesem
Falle jedoch das Missverständnis seines Anliegens geradezu herausgefordert, in-
dem er, anstatt durch seine Schrift Klarheit in seine Gedanken hineinzubringen,
seine innere Verworrenheit zum Inhalt einer öffentlichen Kundgebung gemacht
hat. Denn nirgends sonst findet man bei ihm Sublimes und Lächerliches, große
Ideale und absurde Behauptungen so nahe beieinander wie hier; und diese Ge-
gensätze stehen leider nicht nur nebeneinander, sondern vermischen sich oft auf
eine solche Art und Weise, dass es äußerst schwierig ist, die eigentliche Kern-
aussage, um die es letztendlich geht, aus dem Rahmen, in den sie eingebettet ist,
herauszulösen.
In Wirklichkeit ist „Heldentum und Christentum“ eine entschiedene, ja gera-
dezu radikale Absage an jede Art von Rassismus. Denn Wagner übernimmt hier
zwar die Grundgedanken Gobineaus als Ausgangspunkt seiner Überlegungen –
doch er lässt sie nur für die Vergangenheit gelten; d.h., er schließt sich zwar der
Ansicht an, dass die weiße Rasse bisher die alleinige Trägerin der Kultur gewesen,
und dass sie durch Vermischung mit anderen Rassen in Verfall geraten sei; doch
dieser Verfall der weißen Rasse ist für ihn der Anlass, das gesamte Rassenphänomen
als etwas Überholtes abzulehnen. Die weiße Rasse – so Wagner – habe gewiss auf-
grund ihres starken Willens und ihres hoch entwickelten Intellekts bisher die Ge-
schichte bestimmt; doch ihr Verfall hat sie auch zur Trägerin jener „Kriegszivili-
sation“ gemacht, deren Blutrünstigkeit er nicht müde wird anzuprangern. Dieser
verfallenen Rasse stellt er nun die Reinmenschlichkeit Christi gegenüber. Diese
ist etwas unendlich Höheres als alle Rassen; sie ist das, was alle Rassen vereinigt
– oder besser gesagt: was alle Rassen aufhebt. Denn Christus verkörpert das, was
die „Einheit der menschlichen Gattung“ ausmacht: die „Fähigkeit zu bewusstem
Leiden“, also das Mitleid.

83
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Der entscheidende Satz, mit dem Wagner den ganzen, ihn belastenden Ballast
der Gobineau’schen Rassentheorien von sich wirft, lautet:
„Das Blut des Heilandes, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze f lie-
ßend, – wer wollte frevelnd fragen, ob es der weißen oder welcher Rasse sonst ange-
hörte? Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem Quelle ahnungsvoll einzig in
dem, was wir als die Einheit der menschlichen Gattung ausmachend bezeichneten,
zu nahen sein, nämlich in der Fähigkeit zu bewusstem Leiden.“157
Und diesem Reinmenschlichen, das über allen Rassen steht, gehöre die Zukunft.
Mit diesem Gedanken vollzieht Wagner, wie einst in Betreff der Scho­p en­
hauer’schen Philosophie, wieder eine Kehrtwendung um 180 Grad. Er übernimmt
die Grundideen Gobineaus – aber nur, um sie völlig umzudeuten, indem er die
Konsequenzen, die Gobineau daraus gezogen hat, in ihr Gegenteil umkehrt. Go-
bineaus hoffnungsloser Gedanke des unauf haltsamen Rassenverfalls wird bei
Wagner zu einer Quelle höchster Hoffnung: Gerade aus dem Verfall soll eine
Neugeburt von unerhörter Radikalität hervorgehen. Das ganze Rassenphäno-
men ist für Wagner also nichts als ein vorübergehender Zustand, aus dem die
Menschheit sich nunmehr zu befreien habe, um endlich das Höchste zu erreichen:
das Reinmenschliche, die „Einheit der Gattung“. Und wie der Wille zum Leben
einst den Menschen als neue Gattung aus dem Tier hatte entstehen lassen, so wird
er nun, in der höchsten Not des Verfalls, um diese Not zu beheben, den Chris-
tus-Menschen hervorbringen: ein Wesen, das von dem alten, rassisch bedingten
Menschen so verschieden ist, dass wir in ihm geradezu „eine neue Spezies“158 zu
erblicken haben.
Dies ist der Kerngedanke des Aufsatzes. Um diese großartige und kühne Zu-
kunftsvision herum gruppieren sich aber andere Gedanken, die aufs Engste nicht
nur mit dem geistigen Gehalt des Parsifal zusammenhängen, sondern auch mit
dessen Symbolik. So wird hier z.B. der Begriff des „Göttlichen“ deutlich de-
finiert: Es ist das, was die „Einheit der menschlichen Gattung“ ausmacht. Und
dieses ist wiederum nichts anderes als das „göttliche Mitleiden“.159 Träger dieses
Mitleidens ist aber das keiner Rasse mehr angehörende Christusblut, das Wagner
als „Sublimat der Gattung“160 bezeichnet:
„Das in jener wundervollen Geburt sich sublimierende Blut der ganzen leidenden
menschlichen Gattung konnte nicht für das Interesse einer noch so bevorzugten
Rasse f ließen; vielmehr spendet es sich dem ganzen menschlichen Geschlechte zur
edelsten Reinigung von allen Flecken seines Blutes.“161
Wie wird aber die durch das Christus-Blut konstituierte neue Menschheit be-
schaffen sein? Wagner spricht die Befürchtung aus, dass es nach der „Erreichung
voller Gleichheit“ nicht mehr möglich sein werde, eine Kultur im bisherigen Sin-

84
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

ne hervorzubringen. Das werde jedoch nur denjenigen abschrecken, der das Neue
„durch den Dunst unserer Kultur und Zivilisation“162 erblickt. Denn mit dem
neuen Christus-Menschen könnte endlich einmal das entstehen, was es in der von
der weißen Rasse bestimmten Geschichte bisher nie gegeben habe: eine morali-
sche Weltordnung.
„Wollen wir dennoch versuchen, durch alle hier angedeuteten Schrecknisse hin-
durch uns einen ermutigenden Ausblick auf die Zukunft des menschlichen Ge-
schlechtes zu gewinnen, so hat uns nichts angelegentlicher einzunehmen, als noch
vorhandenen Anlagen und aus ihrer Verwertung zu schließenden Möglichkeiten
nachzugehen, wobei wir das eine festzuhalten haben, dass, wie die Wirksamkeit
der edelsten Rasse durch ihre im natürlichen Sinne durchaus gerechtfertigte Be-
herrschung und Ausbeutung der niederen Rassen eine schlechthin unmoralische
Weltordnung begründet hat, eine mögliche Gleichheit aller, durch ihre Vermi-
schung sich ähnlich gewordenen Rassen uns gewiss zunächst nicht einer ästhe-
tischen Weltordnung zuführen würde, diese Gleichheit dagegen einzig aber uns
dadurch denkbar ist, dass sie sich auf den Gewinn einer allgemeinen moralischen
Übereinstimmung gründet, wie das wahrhaftige Christentum sie auszubilden uns
berufen dünken muss.“163
Diesen Sätzen, aus denen der von ihm vertretene Primat des Ethischen klar her-
vorgeht, fügt Wagner einen weiteren hinzu, in dem er die von Albert Schweit-
zer verfochtene Überzeugung, dass wahrhafte Kultur nur aus Ethik hervorgehen
könne, vorwegnimmt:
„Dass nun aber auf der Grundlage einer wahrhaftigen […] Moralität eine wahr-
haftige ästhetische Kunstblüte einzig gedeihen kann, darüber gibt uns das Leben
und Leiden aller großen Dichter und Künstler der Vergangenheit belehrenden Auf-
schluss.“164
Diese Zitate lassen deutlich erkennen, wie sehr sich in diesem Aufsatz große, ide-
alistische Gedanken durch die Vermischung mit unhaltbaren Behauptungen über
Rassenüberlegenheit und Rassenverderbtheit kontaminieren. Doch „Heldentum
und Christentum“ ist nicht nur aus diesem Grund in besonderem Ausmaß für
Missverständnisse anfällig. Gerade seine positiven Hauptgedanken bewegen sich
in einem Bereich, der dem Verstand kaum mehr zugänglich ist. Dies war Wagner
selbst auch bewusst. Schon in seinem Aufsatz bezeichnete er seine Ausführungen
als eine „zwischen Physik und Metaphysik schwankende Spekulation“165 und spä-
ter sagte er im Gespräch zu Cosima, „dass er nie wieder ein Wort über Religion
sagen würde, etwa seinen Gedanken über das Blut Christi zu erklären; das seien
Dinge, die gingen einem ein Mal auf, nun verstehe sie wer könne, auseinanderset-
zen könne man das nicht“.166

85
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Der Entwurf zu einem Buddha-Drama:


„Die Sieger“

So schwerverständlich und ambivalent Wagners Schriften werden, sobald er in


ihnen versucht, rational kaum Fassbares durch Begriffe auszusagen, so rein kom-
men diese tiefen Gedanken in seinen Kunstwerken zum Ausdruck. Zu den Schöp-
fungen, die durch die Begegnung mit Schopenhauer angeregt oder beeinf lusst
wurden, gehören nicht nur Tristan und Isolde und Parsifal, sondern auch der Ent-
wurf zu einem Drama, in dem der Buddha die Hauptrolle innehat. Entstanden im
Mai 1856 als unmittelbare Reaktion auf die Lektüre von Burnouffs Introduction
à l’histoire du Bouddhisme, begleitete diese Skizze Wagner bis an sein Lebensende.
Neben dem darin enthaltenen buddhistischen Gedankengut war es vor allem eine
besondere, dem Stoff selbst inhärente künstlerische Möglichkeit, die ihn faszi-
nierte, weil diese der von ihm entwickelten Technik der „Leitmotive“ auf einzig-
artige Weise entgegenkam. Wie er selbst in Mein Leben berichtet:
„Außer der tiefsinnigen Schönheit des einfachen Stoffes bestimmte mich zu seiner
Wahl alsbald ein eigentümliches Verhältnis desselben zu dem in mir seitdem aus-
gebildeten musikalischen Verfahren. Vor dem Geiste des Buddha liegt nämlich das
vergangene Leben in früheren Geburten jedes ihm begegnenden Wesens offen, wie
die Gegenwart selbst, da. Die einfache Geschichte erhielt nun ihre Bedeutung da-
durch, dass dieses vergangene Leben der leidenden Hauptfiguren als unmittelbare
Gegenwart in die neue Lebensphase hineinspielte. Wie nur der stets gegenwärtig
miterklingenden musikalischen Reminiszenz dieses Doppellebens vollkommen dem
Gefühle vorzuführen möglich werden durfte, erkannte ich sogleich, und dies be-
stimmte mich, die Aufgabe der Ausführung dieser Dichtung mit besonderer Liebe
mir vorzubehalten.“ 167
Leider hat Wagner dieses von ihm „mit besonderer Liebe“ bedachte Projekt nie
ausgeführt – wohl, weil die Hauptgedanken, vor allem die zentrale Idee der Ent-
sagung und der durch sie bewirkten Läuterung der sinnlichen Leidenschaft, von
ihm im Parsifal verarbeitet wurden; auch die Figuren des begehrenden Tschanda-
lamädchens und des standhaften Jüngers Ananda gingen später in den Gestalten
der Kundry und des Parsifal voll auf, so dass ihre nochmalige Ausformung in
einem zweiten Kunstwerk überf lüssig wurde. Der Entwurf ist trotzdem für das
Verständnis des Parsifal höchst aufschlussreich; und weil er zudem eine schöne
Zusammenfassung der geistigen Stimmung Wagners in der zweiten Hälfte seines
Lebens gibt, soll er hier als Abschluss unserer Darstellung von Wagners spätem
Denken ganz wiedergegeben werden.

86
Wagners Denken zur P arsifal -Zeit

Die Sieger

Chakya-Muni, Ananda, Prakriti (deren Mutter), Brahmanen, Jünger, Volk

– Der Buddha auf seiner letzten Wanderung. – Ananda am Brunnen von Prakriti, dem
Tschandalamädchen, getränkt. Heftige Liebe dieser zu Ananda; dieser erschüttert. –

Prakriti, im heftigen Liebesleiden: ihre Mutter lockt Ananda herbei: großer Liebes-
kampf: Ananda bis zu Tränen ergriffen und geängstigt, von Chakya befreit –

Prakriti tritt zu Buddha, am Stadttore unter dem Baume, um von ihm Vereinigung mit
Ananda zu erbitten. Dieser fragt sie, ob sie die Bedingungen dieser Vereinigung erfüllen
wolle? Doppelsinniges Zwiegespräch, von Prakriti auf eine Vereinigung im Sinne ihrer Lei-
denschaft gedeutet; sie stürzt erschreckt und schluchzend zu Boden, als sie endlich hört, sie
müsse auch Anandas Gelübde der Keuschheit ertragen. Ananada von Brahmanen verfolgt.
Vorwürfe wegen der Verfassung Buddhas mit einem Tschandalamädchen. Buddhas Angriff
des Kastengeistes. Er erzählt dann von Prakritis Dasein in einer früheren Geburt; sie war
damals die Tochter eines stolzen Brahmanen; der Tschandalakönig, der sich eines ehema-
ligen Daseins als Brahmane erinnert, begehrt für seinen Sohn des Brahmanen Tochter, zu
welcher dieser heftige Liebe gefasst; aus Stolz und Hochmut versagte die Tochter Gegenliebe
und höhnte dem Unglücklichen. Dies hatte sie zu büßen und ward nun als Tschandalamäd-
chen wiedergeboren, um die Qualen hoffnungsloser Liebe zu empfinden; zugleich aber zu
entsagen und der vollen Erlösung durch Aufnahme unter Buddhas Gemeinde zugeführt zu
werden. – Prakriti beantwortet nun Buddhas letzte Frage mit einem freudigen Ja. Ananda
begrüßt sie als Schwester. Buddhas letzte Lehren. Alles bekennt sich zu ihm. Er zieht dem
Orte seiner Erlösung zu.

Zürich, 16. Mai 1856168

87
Conditio humana

ZWEITER TEIL

Conditio humana

89
Conditio humana

1. Kapitel
KLINGSOR – DAS PROBLEM DES BÖSEN

1. Von Wolframs Clinschor


zu Wagners Klingsor

Alle Personen des Parsifal haben ihr Vorbild in Wolframs Gralsepos Parzival.
Doch es ist keineswegs so, dass Wagner das Vorgefundene einfach übernommen
und in eine neue sprachliche Form gebracht hätte. Im Gegenteil: Gerade im Falle
Wolframs distanzierte er sich betont von seiner Quelle, da er der Meinung war,
der mittelalterliche Dichter habe die Parsifal-Geschichte in ihrer tieferen Bedeu-
tung gar nicht erfasst. In jenem bedeutsamen Brief vom 29.5.1859 an Mathilde
Wesendonk, in dem er zum ersten Mal seine Gedanken über den in ihm gären-
den Stoff ausspricht, findet er nur Worte härtester Kritik für den Verfasser des
Parzival:
„Sehen Sie doch, wie leicht sich’s dagegen schon Meister Wolfram gemacht! Dass er
von dem eigentlichen Inhalt rein gar nichts verstanden, macht nichts aus. Er hängt
Begebnis an Begebnis, Abenteuer an Abenteuer, gibt mit dem Gralsmotiv curiose
und seltsame Vorgänge und Bilder, tappt herum und lässt dem ernst gewordenen die
Frage, was er denn eigentlich wollte? Worauf er antworten muss, ja, das weiß ich
eigentlich selbst nicht mehr …“169
Doch wenn er 1879 im Gespräch zu Cosima sagt, dass seine Dichtung mit Wolf-
rams Epos „nichts zu tun“170 habe, so ist das sicherlich eine Untertreibung; denn in
Wirklichkeit haben beinahe alle Hauptzüge der Parsifal-Handlung zumindest ihre
Vorbilder bei Wolfram und Chrétien. Das Entscheidende ist jedoch, dass Wagner
sowohl die Personen, als auch die Ereignisse, die er dort vorfand, als archetypische
Bilder erlebte; ihm war es vorbehalten, die tiefere Bedeutung jener Bilder, die in
den alten Dichtungen unausgesprochen geblieben war, intuitiv zu erfassen und
in seinem Drama klar zur Darstellung zu bringen. Nur so war es möglich, diesen
Stoff zu einem modernen Drama zu formen, das den heutigen Menschen existen-
tiell anspricht.
Welches Material fand Wagner im Falle des Klingsor bei Wolfram vor? Dort
erscheint „Clinschor“ als ein mit allen Zauberkünsten vertrauter Magier, der über
ein verzaubertes Gebiet herrscht, „Terre marveile“ genannt, auf dem das Zauber-
schloss „Schastel marveile“ steht.171 Dieses Schloss ist von außerordentlich starken
Mauern umgeben; innerhalb der Umfassung befindet sich auch eine ausgedehnte
Wiese, die, wie Wolfram voller Bewunderung sagt, „fast so groß wie das Lech-
feld“172 ist. In der Burg selbst wohnt eine große Schar adeliger Damen und Her-

91
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ren, die dort von Clinschor gefangen gehalten wird und sich nach Erlösung sehnt.
Die Burg ist auch voll von Gefahren; wer jedoch diese besteht, kann den Zauber
brechen und das Schloss mit allen darin befindlichen Menschen erlösen.
Man hat es hier ganz offensichtlich mit einem typischen Erlösungsmärchen zu
tun, wie es auch aus anderen Quellen bekannt ist. Das Besondere an Wolframs Er-
zählung ist jedoch die Biographie des Zauberers. Clinschor war in seiner Jugend in
Liebe zu einer verheirateten Königin entbrannt und hatte ihr seinen Minnedienst
gewidmet. Die beiden wurden während einer Liebesvereinigung vom königli-
chen Gemahl überrascht. Dieser rächte sich für den Ehebruch, indem er Clinschor
entmannte. Durch diese Schmach wurde Clinschor zur Zauberei getrieben. Denn
das Gefühl seiner Impotenz und Ehrlosigkeit verwandelte sich in Hass gegen alle
anderen Menschen. „Gelingt es ihm, ihr Glück zu zerstören, dann behagt ihm das
so recht von Herzen“, heißt es bei Wolfram.173 Um sich zu rächen, braucht er aber
Macht; und um diese zu gewinnen, beschließt er, die Zauberkunst zu erlernen.
Die nötigen Kenntnisse dazu erwirbt er unter anderem im Orient. Mit unbe-
grenzter magischer Kraft ausgestattet, gelingt es ihm nachher, viele Edelleute in
seinem Zauberschloss festzuhalten. Zu den Frauen, die ihm untertan sind, gehört
auch die verführerische Orgeluse, die mit ihrer einzigartigen Schönheit viele Rit-
ter ins Verderben geführt hat. Es wird berichtet, dass es ihr sogar gelungen sei,
den Gralskönig Anfortas zu betören. Parzival dagegen, der allein von Sehnsucht
nach dem Gral erfüllt war, habe ihre Werbung zurückgewiesen.
Das sind die erzählerischen Elemente, die Wagner vorlagen, als er sich an die
Gestaltung seiner Klingsor-Figur machte. Und nun ist es faszinierend zu ver-
folgen, wie seine schöpferische Fantasie aus diesen alten Motiven etwas völlig
Neues formt, das zum Träger einer vielschichtigen geistigen Aussage wird. Aus
dem Aufenthalt im Orient wird ein tiefer Bezug zur arabischen Welt, die hier als
„heidnischer“ Gegensatz zum Christentum erscheint. Aus der Liebe zur Königin
wird jene unstillbare Begierde, die Klingsor am „heilig werden“ verhindert. Und
anstatt dass er vom erzürnten Ehemann verstümmelt wird, entmannt Klingsor
sich selbst, um Macht über andere zu gewinnen.
Auch das Zauberschloss bekommt bei Wagner eine völlig andere Gestalt. Aus
der „weiträumigen Burg“174 mit den vielen Sälen und Geschossen wird ein Turm,
und aus der großen Wiese ein Zaubergarten. Dieser wird nicht von gefangenen
Edelleuten bevölkert, sondern von Blumenmädchen und gefallenen Gralsrittern.
Aus den Mutproben, die der Ritter auf „Schastel marveile“ bestehen muss, um
die Gefangenen zu befreien, wird die moralische Probe der Standhaftigkeit: Wer
der Begierde „trotzt“, bannt den Zauber und vernichtet Klingsors Macht. Und
schließlich ist die Figur der schönen Orgeluse in jener rätselhaften Kundry aufge-
gangen, die zugleich schön und hässlich ist und nicht nur Klingsor dient, sondern
auch dem Gral.

92
Conditio humana

Es sind aber auch andere Überlieferungen in die Klingsor-Gestalt hineinge-


f lossen. Das Motiv der Selbstkastrierung, die der Zauberer an sich vornimmt, um
die Heiligkeit zu erzwingen, geht auf den Kirchenvater Origines (185 – um 254)
zurück, der sich tatsächlich selbst entmannte, weil er nicht imstande war, durch
eigene Seelenkraft seiner Begierde Herr zu werden. Doch Wagner wird sich auch
an jenen anderen Klingsor erinnert haben, der in der mittelalterlichen Geschichte
vom Sängerkrieg auf Wartburg eine wichtige Rolle spielt, und den er wohl schon
in seiner Jugend aus der Erzählung „Der Kampf der Sänger“ seines Lieblings-
schriftstellers E.T.A. Hoffmann (1776–1822) kennengelernt hatte. Auch dort ist
Klingsor ein Zauberkundiger, der aus dem Osten kommt; doch im Gegensatz zu
Wolframs Clinschor, der keinerlei Bezug zum Christentum hat, tritt er entschie-
den als Feind der christlichen Religion auf.
Die Figur, die Wagner aus all diesen Motiven geschaffen hat, wird im Parsifal
zum Symbol des Bösen schlechthin, das so eine präzise Gestalt bekommt. Doch
Klingsor ist nicht nur die Verkörperung eines abstrakten Prinzips, sondern auch
ein vom Bösen erfüllter Mensch, der als solcher auch eine Psychologie und eine
Biographie besitzt. Und gerade seine Biographie ist von besonderem Interesse;
denn sie zeigt, wie Wagner das Böse als psychologisches Phänomen auffasste, und
beantwortet die Frage, wie ein Mensch überhaupt dazu komme, aus Bosheit zu
handeln.

2. Biographie des Widergöttlichen

Alles, was wir aus der Gurnemanz-Erzählung im I. Akt über Klingsors Lebensge-
schichte erfahren, deutet darauf hin, dass wir in ihm vor allem eine Verkörperung
des Egoismus zu erblicken haben. Das erste, was von ihm berichtet wird, ist, dass er
„jenseits im Tale“, wo das „Heidenland“ beginnt, beheimatet sei. Damit wird auf
den Gegensatz zum Christlichen angespielt, der auf jeden Fall ein Kennzeichnen
des Klingsor-Wesens ist.175 Dort war er mit einer Art Ursünde behaftet, in der wir
wohl die unkontrollierte sexuelle Begierde zu erblicken haben, die insofern als
„sündig“ erscheint, als sie den Menschen zum Sklaven seiner Triebe, also unfrei
macht. Die Begierde ist aber auch besitzergreifend und selbstbezogen, weshalb
sie den Egoismus verstärkt und ein Hindernis für echte Liebe bildet. Diese Sün-
de wollte Klingsor tilgen. Doch anstatt in einer seinen persönlichen Fähigkeiten
angemessenen Form beharrlich und geduldig zu „büßen“, greift er in maßloser
Hybris nach dem Höchsten und will sofort – d.h. ohne echte innere Umwand-
lung – „heilig werden“. Seine Motivation ist weder Liebe zum Guten noch Demut
und Gottergebenheit, sondern Machtgier und Geltungsdrang: Er will für sich das
Höchste erzwingen. Das ist aber reine Selbstsucht, und so können wir in Klingsors

93
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Biographie eine weitere Bestätigung für jene Wagner’sche Grundüberzeugung se-


hen, nach der die Quelle allen Übels im Egoismus zu finden ist.
Doch noch etwas Anderes hat Klingsor zum „Sünder“ gemacht, wie wir aus
der folgenden, von Cosima überlieferten Bemerkung Wagners entnehmen kön-
nen:
„Vergleich zwischen Alberich und Klingsor; R. erzählt mir, dass er einst völlige
Sympathie mit Alberich gehabt, der die Sehnsucht des Hässlichen nach dem Schö-
nen repräsentiere. In Alberich die Naivität der unchristlichen Welt, in Klingsor das
Eigentümliche, welches das Christentum in die Welt gebracht…“176
„Welches das Christentum in die Welt gebracht“: Damit spielt Wagner offensicht-
lich auf die Sinnenfeindlichkeit des traditionellen Christentums an, die er – seiner
eigenen, ganzheitlichen Weltanschauung entsprechend – entschieden abgelehnt
hat. Tatsächlich erscheint Klingsor geradezu als ein Opfer dieser naturentfremde-
ten Einstellung, weshalb er – als Mensch – trotz allem unsere Sympathie verdie-
nen kann. Denn Klingsors „sündige“ Begierde ist zunächst nichts anderes als eine
fehlgeleitete Sehnsucht nach Liebe. Sie entspringt, wie jede sexuelle Begierde,
dem Drang, sich mit einem Anderen, einem „Du“ zu vereinigen; ihr Fehler liegt
darin, dass sie den falschen Weg zur Verwirklichung ihres Zieles wählt, indem sie
das „Du“ als Mittel zur Befriedigung ihrer Lust missbrauchen will, anstatt sich
ihm in echter Liebe hinzugeben. Hier tut sich das ganze Problem einer Sexualmo-
ral auf, die ohne Rücksicht auf psychologische Tatsachen und ohne Verständnis
für Entwicklungsprozesse durch starre Verbote rechtes Verhalten bewirken will.
Hätte das Christentum nicht die Begierde an sich zur Sünde gemacht und das
negative Ideal der Keuschheit gepredigt, dann hätte sich auch Klingsors Begierde
durch einen allmählichen Lernprozess in Liebe verwandeln können. Anders ge-
sagt: Wäre Klingsor dazu erzogen worden, in der Liebe das eigentliche positive
Ziel zu sehen, und hätte er nach der Liebe statt nach der erzwungenen Keuschheit
gestrebt, dann hätte sich die selbstsüchtige Begierde, und mit ihr die „Sünde“, mit
der Zeit von selbst aufgelöst; und dann wäre an ihrer Stelle echte Liebe entstan-
den. Statt dessen aber versucht er, seine Begierde zu unterdrücken – mit verhäng-
nisvollen Folgen.
Das „Eigentümliche, welches das Christentum in die Welt gebracht“ besteht
also darin, dass das frühe kirchliche Christentum an die Stelle des positiven Ideals
der Liebe das negative der sexuellen Askese setzte. Wagner hat in „Religion und
Kunst“ den Gesetzes- und Verbotscharakter der kirchlichen Moralvorschriften,
der seiner Meinung nach dem eigentlichen Wesen des Christentums geradezu ent-
gegengesetzt ist, scharf abgelehnt und zur Untermauerung seiner Ansicht folgen-
de Passage aus einem Brief Schillers an Goethe zitiert:

94
Conditio humana

„Hält man sich an den eigentlichen Charakter des Christentums […] so liegt er in
nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes des kantischen Imperativs, an
dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will …“177
Klingsors Entwicklung beleuchtet in voller Schärfe die katastrophalen Folgen ei-
ner auf verneinenden Begriffen und Verboten beruhenden Moral. Denn dieses
negative Ideal hat Klingsor geradezu zum Sünder gemacht, indem es etwas von
ihm forderte, was über seine natürlichen Kräfte ging. Eben weil er nicht imstande
war, „in sich selbst die Sünde zu ertöten“, wurde er zu jener grässlichen Handlung
getrieben, in der das Wesen des Bösen in reinster Form erscheint: der Selbstkas­
trierung.
Was hat Klingsor durch seine Selbstkastration bewirkt? Durch das Abschnei-
den der äußeren Liebesorgane hoffte er, die Begierde, die in seinem Inneren tobte,
abtöten zu können. Doch mit der Begierde hat er zugleich die Liebesfähigkeit
überhaupt zerstört. Was zurückbleibt, ist ein eiskaltes Wesen, das seine innere
Leere durch Hass und Machtgier zu kompensieren versucht. Wie Alberich die Lie-
be verf lucht, um die Weltherrschaft zu erringen, so trennt sich auch Klingsor von
ihr, um die Gralswelt in seine Macht zu bringen – und wird zur Verkörperung
der kalt berechnenden Lieblosigkeit. Und das ist eben in der Sicht des Parsifal das
Böse schlechthin.
Die Selbstkastrierung Klingsors ist also ein hochsymbolisches mythisches
Bild, in dem das Wesen des Bösen anschauliche Gestalt gewinnt. Allerdings wird
uns dieses Bild im Drama nicht direkt vor Augen geführt; wir erfahren allein aus
der Erzählung des Gurnemanz von der frevelhaften Tat. Doch Wagner lässt sie
uns auf andere Weise unmittelbar erleben – und zwar in der Musik. Denn Kling­
sors aus Begierde und Verzweif lung geborene Selbstverstümmelung bildet den
Inhalt des wild aufgewühlten Orchesterstückes, mit dem der II. Akt des Parsifal
beginnt.

3. Musikalischer Exkurs
Das Vorspiel zum II. Akt

Sehen wir zunächst die Motive an, aus denen das Vorspiel besteht.

Das Motiv der Begierde


Es beginnt mit einem Bruchstück jenes Motivs, das in der Folge zum vorherr-
schenden Thema des ganzen Tongemäldes wird:

95
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Overhoff erkannte mit seinem unfehlbaren Instinkt den Bedeutungsgehalt dieses


Themas und nannte es das Motiv der „Triebliebe“.178 Wir wollen dem keineswegs
widersprechen, sondern nur den Begriff etwas allgemeiner fassen und bezeichnen
es als das Motiv der Begierde. Overhoff hat wohl als Erster auch auf die Tatsache
hingewiesen, dass dieses Thema im polaren Gegensatz zum Motiv der göttlichen
Liebe steht, mit dem das Vorspiel zum I. Akt anhebt:

Motiv der göttlichen Liebe Motiv der Begierde

Denn während das Klangsymbol der göttlichen Liebe aus sich heraus strebt und
zuletzt frei in den unendlichen Raum emporströmt, kehrt die melodische Linie
des Begierdemotivs immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück: ein voll-
kommenes Bild des egoistischen Begehrens, das nach einer Befriedigung, die nur
scheinbar ist, das Individuum immer wieder in die Eingrenzung seines Egos zu-
rückführt.179
Die Polarität der beiden Motive weist aber auch darauf hin, dass bei allem
Unterschied doch eine Wesensverwandtschaft zwischen der göttlichen Liebe und
der egoistischen Begierde besteht. Diese Vermutung wird durch die harmonische
Grundlage des Begierdemotivs bestätigt. Denn das Klangsymbol des egoistischen
Begehrens erklingt auf der Grundlage des sogenannten „Tristan-Akkords“. Von
diesem nimmt es seinen Ausgang und zu diesem kehrt es immer wieder zurück,
um von Neuem aus ihm emporzusteigen:

„Tristanakkord“ Begierdemotiv

Der „Tristanakkord“ ist aber bei Wagner das Klangsymbol der Liebessehnsucht.
Und das will sagen: Wie die göttliche Liebe, so entspringt auch die sinnliche Be-

96
Conditio humana

gierde aus der Sehnsucht nach Entgrenzung durch Vereinigung mit dem „Du“.
Doch solange sie sich als Verlangen nach Besitz äußert, solange sie versucht, den
Gegenstand des Begehrens in sich hereinzuziehen, wird sie ewig ihr Ziel verfeh-
len. Denn so wirft sie das vom Anderen getrennte Individuum immer wieder in
den Kerker seines Abgetrennt-Seins zurück. Dagegen sind echte Vereinigung und
echte Entgrenzung nur durch Selbsthingabe zu erreichen. Egoistische Begierde
ist also verfehlte Liebessehnsucht; sie ist, um das Wort aus Wagners Spätschriften
noch einmal zu zitieren, „missleiteter Wille“. Damit ist aber die Starrheit des Sün-
denbegriffs aufgelöst. Was „missleitet“ ist, kann wieder auf den rechten Weg ge-
bracht werden; der Weg der Läuterung steht offen, und richtige Erkenntnis kann
besitzergreifendes Verlangen in Selbsthingabe, Begierde in echte Liebe verwan-
deln. Hier wird schon eine der wichtigsten Kernaussagen des Parsifal angedeutet:
dass das Ziel der menschlichen Höherentwicklung nicht in der Abtötung, sondern
in der Verwandlung der menschlichen Triebnatur bestehe.

Das Klingsor-Motiv

Dieses Klangsymbol ist ein Personenmotiv, das Wagner immer dann benutzt, wenn
die Gestalt Klingsors vor unserem inneren Auge erscheinen soll.180 Seine unruhige,
gleichsam sich windende melodische Linie, verbunden mit der fortwährend modu-
lierenden Harmonie, verleiht ihm etwas Unstetes, Ausweichendes, in dem der Cha-
rakter des Zauberers, der mit Lüge und Trug arbeitet, zum Ausdruck kommt. Es
ist auch kein Zufall, dass die letzten zwei Takte des Motivs identisch sind mit der
Musik, die zu den Worten, mit denen Kundry Parsifal der „Irre“ weiht, erklingt.

Das Motiv der Verzweiflung

Zunächst verlangt die Benennung dieses Motivs eine Erklärung. In der Wagner-
literatur wird es fast immer als „Kundry-Motiv“ bezeichnet. Die Behauptung,
dieses Motiv sei ein Personenmotiv der Kundry, ist jedoch eindeutig falsch. In
Wirklichkeit bezeichnet es, wie Overhoff nachgewiesen hat, einen aufgewühlten,
zerrissenen seelischen Zustand, den man am besten mit dem Wort „Verzweif lung“
umschreiben kann.181 Wagner verwendet es bereits in der Götterdämmerung, um

97
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

die Verzweif lung Gunthers, der sich genötigt sieht, dem Mord an Siegfried zuzu-
stimmen, zum Ausdruck zu bringen:

Obwohl es im Parsifal häufig in Zusammenhang mit Kundry – deren Wesen in be-


sonderem Ausmaß durch Verzweiflung gekennzeichnet ist – erklingt, wird es dort
auch auf Amfortas, Parsifal und – wie wir gleich sehen werden – Klingsor bezogen:

Die Leidensterzen

Dieses Motiv besteht aus einer Folge von großen Terzen, die sich in Halbton-
schritten nach unten bewegen. Der absteigende Halbtonschritt hatte schon im

98
Conditio humana

Barock klangsymbolische Bedeutung; dort war er – als musikalische Umsetzung


des Seufzens – Ausdruck des Schmerzes und der Klage. Im Ring wird er häufig
in Zusammenhang mit dem Wort „Wehe“ verwendet, dessen Sprachmelodie er
wiedergibt; deshalb spricht man von der „Wehe-Sekunde“. Hier wird die kla-
gende Wirkung des einzelnen Intervalls durch die Sequenz noch verstärkt; wir
vernehmen nicht nur einen einzelnen Seufzer, sondern eine schneidende, herz-
zerreißende Klage. Diese Leidensterzen spielen auch in dem großen Ausbruch des
Amfortas in der ersten Gralsszene eine wichtige Rolle; dort wird ihr Charakter
als Wehe-Motiv durch die Verbindung mit dem Text eindeutig bestätigt:

Aus diesen vier Motiven hat Wagner nun das Tongemälde geschaffen, in dem das
Klingsor-Wesen zum Klangerlebnis wird. Die ersten zwei Takte mit dem finste-
ren h-moll-Dreiklang der tiefen Fagotte und dem unruhigen Tremolo der Bässe
lassen die Vorstellung einer brodelnden Tiefe geradezu bildhaft vor unserem in-
neren Auge erstehen. Aus diesem Abgrund steigt dann das Motiv der Begierde
heftig drängend empor, um dann sofort in das Klingsor-Motiv überzugehen:

99
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

In immer neuen Wellen wogt dann das Begierdemotiv auf und ab: Ausdruck der
unbändigen Leidenschaften, die in Klingsors Innerem toben, und zugleich hörba-
res Bild des kochenden Bluts, das im Gegensatz zum Christusblut im Gral nicht
durch Mitleid, sondern durch heiße Begierde bewegt wird:

Bald erreicht die tobende Leidenschaft einen ersten Höhepunkt. Doch es ist keine
Befriedigung, die hier erlangt wird; vielmehr mündet das Begierdemotiv in die
Leidensterzen ein, die ihrerseits in das Motiv der Verzweif lung übergehen. Hier
ist die Urweisheit des Buddhas Klang geworden: die Erkenntnis, dass die Begierde
– der Buddha nennt es den „Durst“ – die Quelle des Leides ist:

Das ganze musikalische Geschehen des Vorspiels ist also eine Schilderung dessen,
was Gurnemanz in seiner großen Erzählung mit den Worten beschreibt: „Ohn-
mächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten“, nämlich der verzweifelten Versuche
Klingsors, seiner Leidenschaften Herr zu werden. Begierde, Leiden und Verzweif-
lung verdichten sich immer mehr, steigern sich bis ins Unerträgliche. Und plötz-
lich – auf dem Höhepunkt eines dreifachen Fortissimo – erstarrt die Bewegung
in einer grässlichen Dissonanz. Es ist die Selbstverstümmelung. Das ganze Toben
der Leidenschaften stürzt jäh in sich zusammen. Noch einmal steigen Bruchstücke
des Begierdemotivs wie das letzte Aufglühen eines schon fast erloschenen Feuers
empor – um sich dann gänzlich in nichts aufzulösen:

100
Conditio humana

Übrig bleibt Leere und eisige Kälte: die Begierde ist abgetötet – aber auch die
Fähigkeit zu lieben. Und diese Unfähigkeit zur Liebe ist eben das Böse.

4. Der Turm und der Zaubergarten

Wenn Klingsors Selbstkastration im Sinne des Mythos seine wesensbegründende


Tat ist, so ist der Turm sein wesensbestimmendes Symbol. Und es zeigt sich, dass
dieses Symbol einen noch tieferen und allgemeineren Aspekt seines Wesens offen-
bart als seine Biographie. Denn wenn im Lebenslauf des Menschen Klingsor der
Egoismus als psychologisches Phänomen zum Ausdruck kommt, so offenbart der
Turm als archetypisches Symbol die metaphysische Dimension dieses Phänomens.
Der Turm ist ein Symbol der Trennung und der Abgrenzung. Und wenn Klingsor
der Herrscher im Turm ist, so können wir in ihm die Verkörperung des Prinzips
der Trennung an sich erkennen.
Dem Symbol des Turms sind wir schon in der Erzählung des Robert de Boron
begegnet. In einer solchen festen Ummauerung war Joseph von Arimathia ein-
geschlossen, als der auferstandene Christus erschien und ihm den Gral übergab.
Wir haben diesen aus hartem Stein gebauten Turm als ein Sinnbild des mensch-
lichen Körpers gedeutet, in dem die Seele gefangen gehalten wird. Der mensch-
liche Körper erscheint aber auch deshalb als Turm, weil er das Individuum durch
Abgrenzung definiert und es von der Außenwelt, sowie von allen Wesen, die sich
jenseits der ab- und einschließenden Umgrenzung befinden, trennt. Deshalb kann
man den Turm in seiner weiteren Bedeutung als ein Symbol der Trennung über-

101
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

haupt ansehen. Und Klingsor, als Herrscher im Turm, ist die Verkörperung des
Prinzips, das diese Trennung und Abgrenzung bewirkt.
Nun hatte Schopenhauer, wie wir gesehen haben, im Prinzip der Vielheit – er
nannte es das „principium individuationis“ – die Voraussetzung für die Existenz der
Erscheinungswelt gesehen, die eben per definitionem aus voneinander abgegrenzten
Einzeldingen besteht. Dieses Prinzip ist aber nach ihm nur in unserem Geist als
„Form unserer Erkenntnis“ vorhanden. In Wirklichkeit – so Schopenhauer – ist
das Sein eine unteilbare Einheit, und die Trennung in Einzelerscheinungen ist
eine von unserem Geist hervorgerufene Illusion.
Diese Gedanken sind für das Verständnis des Parsifal von größter Wichtigkeit.
Denn die Vorstellung, dass die Trennung letztendlich nichts als eine Täuschung
sei, bildet die philosophische Begründung der Idee der wesenhaften Einheit alles
Lebenden; und diese Idee bildet wiederum das Fundament für das gesamte Ge-
dankengebäude von Wagners Drama. Das Symbol des Klingsorturms fasst nun
diesen ganzen, für das rationale Denken so schwerverständlichen Gedankenkom-
plex in ein Bild zusammen, das von jedem Menschen ohne Schwierigkeit unmit-
telbar intuitiv erfasst werden kann. Denn der Zauberer, der im Turm herrscht: das
ist nichts anderes als Schopenhauers „principium individuationis“, das als Prinzip der
Trennung die ganze Welt der Vielheit hervorzaubert und als Wirklichkeit erschei-
nen lässt. Und hier ist auch die metaphysische Quelle des Bösen zu sehen. Denn
die „Sünde“ entspringt, wie Wagner in „Religion und Kunst“ schreibt, aus der
„Täuschung unserer sinnlichen Anschauung“, welche uns die Einheit des Seien-
den „als eine unfassbar mannigfaltige Vielheit und gänzliche Verschiedenheit“182
erscheinen lässt. Diese Täuschung ist es, welche – indem sie die „Einheit alles
Lebenden“ unserem Blick verbirgt – uns die anderen Wesen als fremd empfinden
lässt und schließlich zur „Tötung des Lebendigen“ führt, in der wir die eigent-
liche böse Tat zu erkennen haben. Und diese Täuschung ist es auch, welche die
Begierde erzeugt, indem sie das Sein in „Ich“ und „Nicht-Ich“ spaltet und uns das
Andere, das ich doch selbst bin, zum Gegenstand der Besitz- oder der Genussgier
macht.
Die Art, wie Wagner hier mit einem einzigen Bild – dem Klingsorturm – einen
schwierigen philosophischen Gedankenkomplex durch unmittelbare Anschauung
verständlich macht, ist einzigartig und höchst beeindruckend. Das, was der Turm
zum Ausdruck bringt, wird uns aber durch das zweite Symbol, das Klingsor bei-
gegeben ist, noch deutlicher veranschaulicht: den Zaubergarten. Denn in diesem
Bild erblicken wir die Erscheinungswelt selbst und erkennen sie eben als einen
vom Prinzip der Trennung hervorgezauberten Schein.
Was erfahren wir aus dem Text über diesen Zaubergarten? Gurnemanz erzählt
im I. Akt, wie Klingsor ihn dort habe erstehen lassen, wo eigentlich eine Wüste
gewesen sei:

102
Conditio humana

Die Wüste schuf er sich zum Wonnegarten,


drin wachsen teuf lisch holde Frauen;
dort will des Grales Ritter er erwarten
zu böser Lust und Höllengrauen …
Im II. Akt erleben wir dann tatsächlich, wie Klingsor plötzlich den Garten wie
aus dem Nichts erscheinen lässt. „Er versinkt schnell mit dem ganzen Turme“ – so
lautet Wagners szenische Vorschrift – „zugleich steigt der Zaubergarten auf und
erfüllt die Bühne völlig“. Wie immer, sind auch hier die szenischen Anweisun-
gen von größter Wichtigkeit für die Werkaussage. Denn Wagner will, dass der
Garten plötzlich anstelle des Turms erscheint; es ist offensichtlich, dass in seiner
Vision Turm und Zaubergarten identisch sind. Der Garten ist nur eine andere Er-
scheinungsform des Turmes; anders gesagt: Er ist die sich im Raum ausdehnende
Erscheinung des Prinzips, das durch Klingsor und seinen Turm symbolisiert wird.
Tatsächlich befinden wir uns nach dem Aufsteigen des Gartens noch immer im
Inneren des Turms, dessen Mauer nunmehr die ganze Bühne umfasst: „Nach dem
Hintergrunde zu Abgrenzung durch die Zinne der Burgmauer“ schreibt Wagner
vor; und: „Auf der Mauer steht Parsifal, staunend in den Garten hinabblickend“.
Könnte es ein besseres Bild für Schopenhauers „Welt als Vorstellung“ geben als
diesen von üppigem Leben erfüllten Garten, der sich weit auszudehnen scheint,
sich jedoch in Wirklichkeit im Inneren des Turms befindet?
Klingsor, als „principium individuationis“, hat offenbar den „Schleier der Maja“
ausgeworfen, der als Gaukelbild eine bunte Welt der Vielfalt, voll „tropischer
Vegetation“ und „üppigster Blumenpracht“ vor unsere Seele hervorzaubert. Man
nennt diese Vielfalt auch die „Sinnenwelt“, weil wir sie durch unsere Sinne wahr-
nehmen und sie auch durch unsere Sinne genießen. Und wie verlockend ist es,
diese Sinnenwelt für die eigentliche Wirklichkeit zu halten! Betrachten wir sie
jedoch näher, so entdecken wir, dass ihr jede dauerhafte Substanz abgeht. Denn
der Genuss, den sie unseren Sinnen gewähren soll, ist ebenso vergänglich wie die
einzelnen Erscheinungen selbst, aus denen sie besteht. „Früh welkende Blumen“
– so nennt Kundry die „Blumenmädchen“, die von sich selbst wehmütig singen:
„Wir welken und sterben dahinnen“. Nimmt man den „Schleier der Maja“ weg,
erblickt man – eine Wüste der Vergänglichkeit.
Die verlockende Wirkung, die von der Sinnenwelt ausgeht, kommt vor allem
in den Blumenmädchen zum Ausdruck. Denn diese „“teuf lisch holden Frauen“
sind es, mit denen Klingsor die Gralsritter einfängt. Genauso wie sie, „mit f lüch-
tig übergeworfenen zartfarbigen Schleiern verhüllt“, die Ritter verführen und
im Zaubergarten festhalten, zieht auch der „Schleier der Maja“ die Menschen in
seinen Bann und macht sie blind für die eigentliche Wirklichkeit.
Nun gibt es verschiedene Stufen, verschiedene Stärkegrade der Verführung,
die von harmloser Verlockung zum f lüchtigen, äußerlichen Vergnügen bis zum

103
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

tiefen, dämonischen Erlebnis, das den Menschen in den Grundfesten seiner Exis-
tenz erschüttert, reichen können. Diese zweite Art wird von Kundry verkörpert,
von der im nächsten Kapitel die Rede sein wird. Bei den Blumenmädchen handelt
es sich dagegen um die erste, naive Art der sinnlichen Verführung. Denn das, was
diese Mädchen bieten, sind leichte, angenehme Genüsse, die so naturhaft und un-
schuldig sind wie sie selbst. Gerade auf diesen naturhaft-unschuldigen Charakter
der Mädchen legte Wagner größten Wert. In der szenischen Anweisung werden
sie als „selbst Blumen erscheinend“ beschrieben – was an die Rheintöchter im
Ring erinnert, die ebenfalls die unschuldige Natur verkörpern und deshalb als
eins mit dem sie umgebenden Element, dem Wasser, erscheinen.183 Diese Auffas-
sung wird durch viele andere Äußerungen Wagners bestätigt. So schreibt er z.B.
in seinem Aufsatz „Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882“ lobend über die
Sängerinnen der Blumenmädchen:
„Alsbald gewann ihr Vortrag der schmeichelnden Weisen das kindlich Naive, wel-
chem, wie es anderseits durch einen unvergleichlichen Wohllaut rührte, ein aufrei-
zendes Element sinnlicher Verführung, wie es von gewissen Seiten als vom Kompo-
nisten verwendet vorausgesetzt wurde, gänzlich fern abliegen blieb.“184
Auch zu Cosima äußerte er sich wiederholt in diesem Sinne, wie aus folgenden
Eintragungen in ihren Tagebüchern hervorgeht:
„Er sagt mir heute, dass er die Frauen bei Klingsor als Baumpf lanzen behandeln
wird, die Melodie seines Chores habe ihm das eingegeben; er wolle sie als vergehend,
nicht als Teufelinnen auffassen.“ (12.1.1877)185
„‚Mit einer milden Gabe, wie Kinder, denen man ihr Spielzeug weggenommen,
stürzen meine Mädchen herein, ohne Wut‘.“ (11.3.1878)186
„Abends teilte R. den Freunden seine Trauer über die Kostüm-Entwürfe mit; wo
alles Unschuld sein sollte ‚abgelebte Frauen‘ – ‚in meiner Kunst ist alles keusch‘,
darf er stolz sagen!“ (14.4.1881)187
Diese Mädchen verkörpern also jene Art leichten Sinnengenusses, der den Men-
schen nur an der Oberf läche streift; man könnte dabei an ein gutes Essen denken,
oder an einen Aufenthalt an einem sonnigen Strand. Was das Erotische anbelangt,
so bieten die Blumenmädchen nicht mehr als eine f lüchtige Liebschaft, keineswegs
aber ein dämonisches Erlebnis, das den Menschen in den tiefsten Schichten seiner
Seele aufwühlt. Nun mögen für den gewöhnlichen Menschen solche Sinnenge-
nüsse tatsächlich unschuldig sein. Ganz anders ist es jedoch bei den Gralsrittern.
Für sie bedeutet die Verstrickung in den Zaubergarten eine ernsthafte Angelegen-
heit. Denn sie sind dazu ausersehen, durch ihre helfenden Taten die Einheit alles
Lebenden zu verwirklichen. Wenn sie sich jedoch den Sinnengenüssen – seien

104
Conditio humana

diese auch noch so naiv – hingeben und in den halbschlummernden Zustand der
Blumenmädchen herabziehen lassen, werden sie ihrer höheren Lebensaufgabe ent-
fremdet. Und das ist für sie eine Lebenskatastrophe.

5. Das „Böse“: Realität oder Illusion?

Wenn wir nun all das Gesagte zusammenfassen, können wir uns einen deutlichen
Begriff davon machen, was im Parsifal als das Böse gilt. Die böse Tat ist, objektiv
gesehen, die Tötung des Lebendigen. Wird eine solche Tat wissentlich und vor-
sätzlich begangen, so ist sie subjektiv böse. Die psychologische Quelle dafür liegt
aber im Egoismus, der sich auf einer niedrigen Stufe als natürliche Begierde, in
seiner weiteren Steigerung jedoch als gänzliche Unfähigkeit zur Liebe äußert und
in seiner Pervertierung sogar zu Hass und Rachegier wird. Der metaphysische
Grund des Egoismus ist wiederum im principium individuationis zu erblicken, das
die einzelnen Erscheinungen der lebendigen Welt als gänzlich verschieden und
voneinander getrennt erscheinen lässt und die tiefere Wirklichkeit der “Einheit
alles Lebenden“ verdeckt. Und deshalb ist Klingsor, der Herrscher im Turm, die
Verkörperung des bösen Prinzips.
Das Befreiende an diesem ganzen Gedankenkomplex besteht nun in der Er-
kenntnis, dass die Trennung, in der die Wurzel des Bösen liegt, letztendlich eine
Illusion ist. Auch diese allertiefste Erkenntis wird uns im Parsifal in einem sym-
bolischen Bild vor Augen geführt, das mehr sagt als tausend Worte. Am Ende des
II. Aktes verschwindet vor dem hellsichtigen Blick Parsifals nicht nur die ganze
Zauberpracht des Gartens, sondern auch Klingsor selbst mit seinem Turm – und
zwar so, als hätte er nie existiert. Zurück bleibt nur ein Bild der Vergänglichkeit,
wie es Wagner selbst in seinen szenischen Anweisungen beschreibt:
„Wie durch ein Erdbeben versinkt das Schloss. Der Garten ist schnell zur Einöde
verdorrt; verwelkte Blumen verstreuen sich auf dem Boden.“
Somit ist die Trennung als „Täuschung“ erkannt worden – womit sich auch die
Ursache des Bösen in nichts aufgelöst hat.
Hier stellt sich aber eine wichtige Frage, deren Beantwortung nicht nur für das
Verständnis der Klingsor-Symbolik, sondern auch für die gesamte Aussage des Parsifal
wesentlich ist. Ist mit der Erkenntnis der Illusion der Trennung auch die Welt, die ja
nur als Vielheit denkbar ist, aufgehoben? Ist also das letzte Ziel der Erkenntnis, wie
Schopenhauer meinte, die Aufhebung der Welt? Wenn ja, dann wäre Parsifal – wie die
Schopenhauer’sche Philosophie – von seiner Grundtendenz her weltverneinend.
Die symbolischen Ereignisse des Dramas zeigen, dass dies keineswegs der Fall
ist. Mit der „Täuschung“ der Trennung wird nicht die Vielfalt der Erscheinungen

105
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

aufgelöst, sondern die irrige Ansicht, dass die vergänglichen Einzelerscheinun-


gen die alleinige Wirklichkeit seien. Diese Ansicht ist deshalb falsch, weil sie die
tiefere Dimension der Wirklichkeit außer Acht lässt: jene Einheit alles Seienden,
die der Welt der vergänglichen Erscheinungen zugrunde liegt und dieser erst die
Substanz verleiht. Wie Goethe in seinem Gedicht „Parabase“ mit der ihm eigenen
Treffsicherheit formuliert:
Denn es ist das ewig Eine,
Das sich vielfach offenbart.
Mit der Auf lösung jener „Täuschung“ handelt es sich also um einen Erkennt-
nisprozess, der sich gleichsam in zwei Stufen vollzieht. Auf der ersten wird der
Scheincharakter der Sinnenwelt durchschaut, die vergänglich und deshalb, für
sich allein genommen, ohne eigene Substanz ist. Auf der zweiten wird aber die
Einheit alles Lebenden als Seinsgrund erkannt – wodurch die Sinnenwelt, welche
die Ausbreitung dieses Einen in Zeit und Raum ist, eine neue, höhere Realität
gewinnt. Die erste Stufe erleben wir am Ende des II. Aktes, da der Zaubergarten
verschwindet und die vordem blühenden Blumen verwelkt auf dem Boden her-
umliegen. Die zweite wird uns aber im III. Akt im Bild der Karfreitagsaue vor
Augen geführt. Dort erleben wir, wie dieselben Blumen, die nach dem Versinken
des Klingsorturms verwelkt waren, nunmehr als Karfreitagsaue neu auf blühen.
Denn die einzelne Gestalt ist zwar vergänglich; aber – um noch einmal mit Goe-
the zu reden – das „Vergängliche“ ist ein „Gleichnis“: Gleichnis des Ewigen, das
aus der vergänglichen Form hervorleuchtet wie das Licht aus den Blumen der
Karfreitagsaue. Und das hebt die Welt der Vielfalt nicht auf, sondern verleiht ihr
eine höhere Wirklichkeit.
Wie die Sinnenwelt zugleich wirklich und unwirklich ist, so ist auch das Böse
zugleich Realität und Illusion; man könnte sagen: Es ist eine Realität, die auf ei-
ner Illusion beruht. Solange der Mensch in der Täuschung der Trennung gefangen
ist, ist das Böse real vorhanden. Als Egoismus ist es eine höchst reale psycholo-
gische Macht, die nicht nur eine ständige Gefahr für den höher strebenden Men-
schen bedeutet, sondern auch konkret Böses in der Welt schafft, indem sie den
Menschen dazu treibt, aus Selbstsucht anderes Leben zu schädigen. Erlangt der
Mensch dagegen wahre Erkenntnis, und durchschaut er die Täuschung der Tren-
nung, dann verschwindet in ihm mit dieser Täuschung auch der Egoismus. Und
je größer die Anzahl der Menschen ist, die eine solche Erkenntnis erlangen, desto
mehr wird auch das Böse als konkretes Phänomen aus der Welt verschwinden.
Das Versinken des Klingsor-Turms symbolisiert das Verschwinden dieser Illu-
sion, das automatisch auch den Zusammenbruch des Bösen nach sich zieht. Wie
schon der Buddha lehrte: Erkenntnis ist alles.

106
Conditio humana

2. Kapitel
KUNDRY – DAS LABYRINTH DES UNBEWUSSTEN

Klingsor weiß wohl, dass die oberf lächlichen Reize der Blumenmädchen nicht in
jedem Fall ausreichend sind, um seine Zwecke zu befördern. Es gibt Menschen,
deren Gefühlstiefe und Sendungsbewusstsein so ausgeprägt sind, dass sie nicht
durch die gefälligen, aber schnell verblühenden Blumen der einfachen sinnlichen
Vergnügungen zu Fall gebracht werden können. Gegen sie muss der Herrscher
im Turm einen ganz anderen Zauber anwenden, will er sie ihrer höheren Bestim-
mung entfremden und in seine Gewalt bringen. Dieser Zauber, dem nach Kling­
sors Überzeugung auch der Stärkste verfallen muss, heißt Kundry.
Kundry ist gewiss die geheimnisvollste Figur des Parsifal, wenn nicht in Wag-
ners Schaffen überhaupt. Nicht nur das Doppelwesen dieser zwischen Gral- und
Klingsorwelt hin- und hergerissenen Person, sondern auch ihre Wiedergeburten
geben schwer zu lösende Rätsel auf. Und woher kommt ihr geheimnisvolles Wis-
sen, die nicht nur zeitlich in die fernste Vergangenheit zurückreicht, sondern auch
über die Grenzen des Raumes hinausgreift, so dass sie von Ereignissen zu berich-
ten imstande ist, die sie als Person gar nicht selbst erleben konnte?
Dass Kundry mehr als sonst irgendeine Figur des Dramas symbolisch aufzu-
fassen ist, liegt auf der Hand. Ihre Symbolik ist aber vieldeutig und so schwer zu
fassen wie sie selbst, deren Wesen voller Widersprüche ist und in Tiefen hinab-
reicht, die so bodenlos wie der Klingsorturm zu sein scheinen, aus dem sie, vom
Zauberer beschworen, in „bläulichem Dampf “ emporsteigt.
In Kundry einfach eine Verkörperung der erotischen Verführung zu sehen,
wird ihrer verwirrenden Vielfalt auf keinen Fall gerecht. Zwar wird damit sicher-
lich ein wichtiger Aspekt ihres Wesens getroffen, keineswegs aber dieses in seiner
Ganzheit. Richtiger wäre es, sie als Verkörperung der Begierde aufzufassen – so-
fern man unter diesem Begriff jenen inneren Drang versteht, der den Menschen
dazu bringt, fremde Dinge oder Wesen an sich zu ziehen, um sie zu genießen und
zu besitzen. Doch auch diese Deutung erschöpft keineswegs ihr Wesen. Deshalb
wollen wir hier, anstatt von unzulänglichen Begriffen auszugehen, von ihrer Er-
scheinung als der unmittelbarsten Art der Selbstkundgebung ausgehen. Was sagt
uns diese über ihr inneres Wesen?
Um Kundrys wahre Gestalt zu sehen, müssen wir sie dort aufsuchen, wo sie
sich unverstellt und ohne falschen Schein so gibt, wie sie wirklich ist. Das ist
zunächst der Fall im I. Akt. Wagner beschreibt ihre Erscheinung dort wie folgt:
„Wilde Kleidung, hoch geschürzt; Gürtel von Schlangenhäuten lang herabhän-
gend; schwarzes, in losen Zöpfen f latterndes Haar; tief braun-rötliche Gesichts-

107
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

farbe; stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend, öfters wie todesstarr
und unbeweglich.“
Hier deutet alles auf eine animalische Natur hin. Dieses Animalische ist es auch,
was die Gralsbotin den nach höherer Geistigkeit strebenden Knappen so unheim-
lich macht. Wenn einer von ihnen höhnisch ausruft: „Was liegst Du dort wie
ein wildes Tier?“, so bezeichnen diese Worte treffend das Gebaren des „wilden
Weibs“, das, wie Wagner es in seinen szenischen Anweisungen vorschreibt, „has-
tig, fast taumelnd“ hereinstürzt, und sich nachher wie eine Schlange „unruhig
und heftig“ oder „in wütender Unruhe“ am Boden hin- und herwindet.
Kundry erscheint jedoch nicht nur wie ein Tier, sondern wie ein getriebenes
Tier. Alles, was sie tut, trägt den Charakter des Unfreien, Verkrampften, Trieb-
haften. Nicht anders ist es in der Szene mit Klingsor im II. Akt; auch dort er-
scheint sie als eine krampf haft Getriebene, die durch eine unheimliche Macht
dazu gezwungen wird, fortwährend gegen ihren eigentlichen Willen zu handeln.
Insofern kann man in ihr eine Verkörperung der unbewussten Triebnatur sehen,
die das animalische Erbteil des aus dem Tier hervorgegangenen Menschen ist.
Darauf deutet auch Wagner selbst hin, wenn er in einem Brief an Mathilde We-
sendonk über die Gralsbotin schreibt:
„Aber alles ist dunkel und finster: kein Wissen, nur Drang, Dämmern? […] es ist
nur Instinkt.“188
Doch so sehr diese erweiterte Deutung zutrifft, auch sie schöpft den symboli-
schen Gehalt der Kundry-Figur nicht ganz aus. Denn wie soll man den Trieb nach
„Erlösung“ erklären, der sie immer wieder auf das Gralsgebiet zurückführt, wo
sie sich in helfender Tätigkeit für die Gralsgemeinschaft verausgabt? Und woher
kommt ihr geheimnisvolles Wissen von fernsten Dingen? Und was bedeuten ihre
vielen Wiedergeburten? Um diese Dinge zu erklären, muss man sehr tief gehen
– bis dorthin, wo sich die Grenzen des Individuellen auf lösen und sich der unbe-
wusste Grund des menschlichen Wesens überhaupt auftut. Und da wird es klar,
dass es nur einen Begriff gibt, der das Wesen der Kundry in seiner ganzen Tiefe
und Widersprüchlichkeit bezeichnen kann: das Unbewusste – und zwar in seiner
umfassendsten Bedeutung, wie sie in der Psychologie C. G. Jungs erscheint. Das
unermessliche Reich des Unbewussten, das sowohl Erotik und Begierde als auch
Drang nach Erlösung beinhaltet und in seinen tiefsten Schichten bis zum kollek-
tiven Gedächtnis der Menschheit und sogar bis zum letzten Grund des Seins hin-
abreicht: Das ist es, was aus der bodenlosen Tiefe des Klingsorturms emporsteigt;
das ist die Macht, die imstande ist, Amfortas zu Fall zu bringen und Parsifal in
die große Lebenskrise hineinzutreiben, durch die die Grenzen seines bisherigen
Bewusstseins gesprengt werden.

108
Conditio humana

Was sind aber die Eigenschaften des Unbewussten, wie es sich in der Gestalt
und im Benehmen Kundrys spiegelt?

1. Wagners Vorbilder und die Doppelnatur


der Kundry

Das Erste, was geradezu ins Auge springt, ist Kundrys Doppelwesen. Dies be-
trifft zum einen ihre Handlungen: Hin- und hergerissen zwischen Grals- und
Klingsorwelt, tritt sie einmal als Büßerin auf, die in scheinbarer Selbstlosigkeit
dem Heiligen dient, ein andermal als Verführerin im Dienst der widergöttlichen
Zaubermacht. Doch auch ihr Äußeres ist zweigesichtig: Erscheint sie im I. Akt als
ungepf legte, hässliche Wilde, so tritt sie uns im Blumengarten als junge, betörend
schöne Frau entgegen; und wenn man sie nicht in der vorangegangenen Szene
mit Klingsor in ihrer wilden Zerrissenheit erlebt hätte, würde man gar keinen
Zusammenhang zwischen den beiden Gestalten vermuten.
Tatsächlich hat Wagner die Kundry-Gestalt nach zwei verschiedenen Vorbil-
dern geschaffen, die in den mittelalterlichen Epen überhaupt nichts miteinander zu
tun haben. Das eine ist die Gralsbotin: Chrétiens „laide damoisele“189 (das ‚hässliche
Fräulein‘), die bei Wolfram den Namen „Cundrie“ trägt. Diese wird in beiden Epen
nicht nur als außerordentlich hässlich beschrieben, sondern auch als ein Wesen, das
tatsächlich mehr einem Tier als einem Menschen ähnelt. So lesen wir bei Chrétien:
„… ihre Augen waren zwei Höhlen, klein wie die einer Ratte. Ihre Nase glich
der eines Affen oder einer Katze, ihre Lippen denen eines Esels oder Ochsen. Ihre
Zähne waren eidottergelb verfärbt, auch hatte sie einen Bocksbart.“190
Eine ähnliche Beschreibung bringt dann auch Wolfram:
„Ein Zopf hing über den Hut bis auf den Maultierrücken hinab: er war lang,
schwarz, spröde, hässlich und so geschmeidig wie Schweineborsten. Sie besaß eine
Nase wie ein Hund. Zwei Eberzähne ragten spannenlang aus ihrem Munde […]
Cundrie hatte Ohren wie ein Bär, nicht geschaffen, das zärtliche Verlangen eines
Liebhaber zu erregen […] Dieser anmutige Herzensschatz hatte Hände wie Affen-
haut; die Fingernägel waren lang und schmutzig wie Löwenklauen.“191
Und er fügt hinzu:
„Gewiss hat kein Ritter aus Liebe zu ihr den Zweikampf gesucht.“192
Das genaue Gegenteil davon ist die Verführerin, die im Dienste Klinschors steht.
Sie heißt bei Wolfram „Orgeluse“, was eine deutsche Verballhornung des franzö-
sischen „Orgueilleuse“ (‚die Stolze‘) ist. Orgeluse ist die schönste aller Frauen, „eine

109
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Lockspeise der Liebe“, „eine ungetrübte Lust der Augen, eine Sehne, die den Her-
zensbogen spannt“.193 Kein Mann – außer Parzival – kann ihr widerstehen. Sie wird
von Klinschor eingesetzt, um die Ritter, die zur Eroberung des Zauberschlosses
antreten, ins Verderben zu ziehen. Und sie ist es, die Anfortas zum unheilvollen
Minneabenteuer verführt, aus dem er die furchtbare Wunde davonträgt.
Nun hat jede dieser beiden Figuren Eigenschaften, welche auf eine Doppel-
natur innerhalb des eigenen Wesens hindeuten. So versteckt Cundrie ihren ab-
stoßend hässlichen Leib unter auserlesen schönen Kleidern, so dass Erscheinung
und Wesen auseinanderklaffen;194 Orgeluse dagegen tut immer das Gegenteil von
dem, was sie eigentlich will. Denn während ihr ganzes Trachten darauf gerichtet
ist, den besten aller Ritter für sich zu gewinnen, versucht sie jeden, der um sie
wirbt, ins Unheil zu ziehen, um seine Kraft und Treue auf die Probe zu stellen.
Deshalb heißt sie bei Chrétien einmal „une pucele douce“ (‚eine süße Jungfrau‘),195
ein anderes Mal jedoch „la damoisele estolte“ (‚das hochmütige Fräulein‘)196 bzw. „la
damoisele aniouse“ (‚das boshafte Fräulein‘).197
Zwischen Condrie und Orgeluse besteht jedoch in den alten Epen nicht die
mindeste Beziehung. Es ist Wagners ureigenes Verdienst, diese so gegensätzlichen
Personen zu einer verschmolzen zu haben, wie aus den folgenden Worten hervor-
geht, die er im August 1860 an Mathilde Wesendonk schrieb:
„Sagte ich Ihnen schon einmal, dass die fabelhaft wilde Gralsbotin ein und dasselbe
Wesen mit dem verführerischen Weibe des zweiten Aktes sein soll? Seitdem mir
dies aufgegangen, ist mir fast alles an diesem Stoffe klar geworden. Dies wunderbar
grauenhafte Geschöpf, welches den Gralsrittern mit unermüdlichem Eifer sklaven-
haft dient, die unerhörtesten Aufträge vollzieht, in einem Winkel liegt, und nur
harrt, bis sie etwas Ungemeines, Mühvolles zu verrichten hat, – verschwindet zu
Zeiten ganz, man weiß nicht wie und wohin? –
Dann plötzlich trifft man sie einmal wieder, furchtbar erschöpft, elend, bleich und
grauenhaft: aber von Neuem unermüdlich, wie eine Hündin dem heiligen Grale
dienend, vor dessen Rittern sie eine heimliche Verachtung blicken lässt: ihr Auge
scheint immer den rechten zu suchen, – sie täuschte sich schon – fand ihn aber nicht.
Aber was sie sucht, das weiß sie eben nicht: es ist nur Instinkt […]
Nun raten Sie, wer das wunderbar zauberische Weib ist, die [sic] Parsifal in dem
seltsamen Schlosse findet, wohin sein ritterlicher Mut ihn führt? Raten Sie, was da
vorgeht, und wie da alles wird. Heute sage ich Ihnen nicht mehr! –“198
Der Augenblick, in dem Wagner die Erkenntnis aufging, dass es sich bei der wil-
den Gralsbotin und der schönen Verführerin um eine und dieselbe Person han-
delte, ist von nicht zu überschätzender Bedeutung. Dies ahnte er wohl selbst; fast
20 Jahre später, während der Arbeit an der Komposition, wird er im Gespräch mit
Cosima noch einmal betonen:

110
Conditio humana

„… die Kundry sei seine originellste Frauengestalt; wie er erkannt habe: die Grals-
botin ist dieselbe wie Amfortas’ Verführerin, da habe er alles gehabt, nun hätten Jahre
vergehen können, er habe gewusst, wie es würde.“199
Trotzdem wird Wagner die Bedeutung dieser Erkenntnis in ihrer vollen Tiefe und
Tragweite kaum zum Bewusstsein gekommen sein. Denn die Gestalt, die seine
künstlerische Intuition durch die Verschmelzung dieser beiden Figuren ins Leben
gerufen hat, verkörpert etwas, das erst Jahrzehnte später durch Sigmund Freud
(1856–1939) und seine Schüler zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wur-
de: das unbewusste Leben der menschlichen Seele, die genau so widersprüchlich
und zerrissen ist wie die rätselhafte Gralsbotin selbst.

2. Kundry als Verkörperung der Zwangsneurose

Tatsächlich ist Zerrissenheit das hervorstechendste Merkmal Kundrys. Von tiefster


Sehnsucht nach Erlösung erfüllt, tut sie immer gerade das, was diese Erlösung ver-
hindert. Sie sucht Liebe; aber statt sich selbstlos hinzugeben, versucht sie, den Ge-
genstand ihres Begehrens an sich zu ziehen, um ihn zu besitzen. Sie will im Chris-
tus-Wesen, das der Inbegriff reinster Liebe ist, aufgehen; begegnet sie aber einem
Träger dieser reinen Liebe, überfällt sie ein zwanghafter Trieb, denjenigen, der sie
retten könnte, zu verderben. In fortwährendem Krampfe tut sie, wie Wolframs Or-
geluse, immer das Gegenteil von dem, was sie eigentlich will.
Ein solches Verhalten ist der modernen Tiefenpsychologie wohl bekannt; es wird
unter dem Begriff der „Zwangsneurose“ zusammengefasst. Das Wesen einer solchen
besteht darin, dass ein aus dem Unbewussten aufsteigender Trieb das Bewusstsein
zeitweise überflutet, wodurch der Mensch dazu verleitet wird, etwas zu tun, was
er für falsch erachtet und bei klarem Bewusstsein nicht getan hätte. Dies läuft wie
ein Mechanismus ab, und solange jener Trieb unbewusst bleibt, wird der Mensch
immer wieder so handeln. Das ist aber nur der eine Teil des Problems. Der zweite
entsteht dadurch, dass die unter Zwang verübte Handlung Schuldgefühle erzeugt.
Bleiben auch diese unbewusst, dann führen sie ihrerseits wieder zu Zwangshand-
lungen: Der Mensch wird versuchen, seine Schuld durch büßende Taten zu sühnen.
Während aber eine echte, auf bewusster Reue beruhende Buße eine innere Ver-
wandlung bewirkt, lassen solche zwanghaft vollbrachten Bußübungen die Triebna-
tur unverwandelt. Deshalb wird der Mensch immer wieder vom unbewussten Trieb
überwältigt, der ihn dazu zwingt, seine schuldhafte Handlung zu wiederholen. Auf
diese Weise entsteht eine endlose Kette von Schuld, Buße, neuer Schuld und neuer
Buße. Ein Krampf erzeugt den anderen – und der Mensch wird so lange zwischen
Sünde und Sühne hin- und hergeschleudert, bis der Trieb, aus dem die schuldhafte
Handlung entsteht, endlich ins Bewusstsein heraufgeholt und geläutert wird.

111
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Diese Beschreibung trifft ganz offensichtlich auf das Verhalten der Kundry zu –
und das sogar bis in die Details hinein. Das Zwanghafte ihres Verhaltens wird vor
allem am Anfang des II. Aktes deutlich sichtbar. Diese Szene ist wohl das Kühnste,
was Wagner je gedichtet und komponiert hat. Indem er – der Notwendigkeit, ext-
reme psychische Zustände darstellen zu müssen, gehorchend – den Expressionismus
als Ausdrucksmittel erfindet, treibt er diesen neuen Stil sogleich an seine äußerste
Grenze. Hier werden ohne Rücksicht auf Satzbau und Grammatik extreme Seelen-
zustände unmittelbar durch Laute mitgeteilt; ja, die Musik selbst scheint die Fes-
seln des Kunstvollen völlig gesprengt zu haben und besteht teilweise nur mehr aus
einzelnen Fetzen, in denen wir das Stammeln und Stöhnen einer bis aufs Äußerste
gequälten Seele vernehmen.
Was will Wagner durch diese neuen, radikalen künstlerischen Mittel zum Aus-
druck bringen? Kundry befindet sich hier in dem Stadium zwischen Todesschlaf und
neuer Geburt – in einem Bereich, in dem die Grenzen von Zeit und Raum offen-
sichtlich aufgelockert sind. Deshalb hat sie noch ein dumpfes Bewusstsein von dem,
was sie in ihrem metaphysischen Wesen ist und was sie als solches will – und zugleich
kann sie wie in einer zusammenfassenden Schau das Furchtbare überblicken, das sie
erwartet, sobald sie wieder in das physische Leben tritt und damit in die Gewalt
Klingsors gerät. Wenn sie mit einem grässlichen Schrei erwacht, so ist das ein Aus-
druck des Erschreckens über den furchtbaren Zwang, dem sie bald unterworfen sein
wird, und der ihr Leben zu einer einzigen Hölle der Zerrissenheit machen wird. „Ich
– will nicht!“ – so ruft sie Klingsor aus der Tiefe ihres Wesens zu – worauf dieser
erwidert: „Wohl willst du, denn du musst.“ Wesensbestimmung ringt mit triebhaf-
tem Zwang, das tiefinnerste Wollen stemmt sich gegen das Müssen. Da aber Parsifal
im Garten erscheint, und Klingsor lüstern ausruft: „Ha! – Er ist schön, der Knabe!“,
erklingen im Orchester die Sehnsuchtssekunden aus Tristan und Isolde:200

Da ist es vorbei mit Kundrys Widerstand. Zwanghafte Begierde erfasst sie; sie
„gerät in unheimliches ekstatisches Lachen bis zu krampf haftem Wehegeschrei“

112
Conditio humana

– und mit einem letzten Aufschrei verschwindet sie dann, um nachher völlig ver-
wandelt als Verführerin im Zaubergarten zu erscheinen. Der Konf likt wurde ver-
drängt; die neurotische Selbsttäuschung hat gesiegt und spiegelt nun die sinnliche
Lust als herrliche Liebeserfüllung vor. Der Weg zur nächsten „Sünde“ ist frei, der
Kreislauf von Schuld und Buße beginnt von neuem.
Dass auch das Büßen der Kundry einer Neurose entspringt, erfahren wir aus
ihrem Verhalten im I. Akt. Auch hier ist alles nur Krampf und Zwang. Offen-
sichtlich hat sie ein dumpfes Gefühl von ihrer Schuld. Da Gurnemanz sie fragt:
„Wo schweiftest damals du umher, als unser Herr den Speer verlor?“ heißt es
in Wagners szenischer Anweisung: „Kundry schweigt düster“. Und während er
von der Verführung und Verwundung des Amfortas erzählt, heißt es: „Kundry
hat sich, in wütender Unruhe, oft heftig umgewendet“. Aus diesem Schuldgefühl
heraus vollbringt sie ihre helfenden Taten; sie sind nicht frei, sondern Zwangs-
handlungen, die durch einen unbewussten Trieb nach Sühnung hervorgebracht
werden. Auch dies scheint sie dumpf zu fühlen; denn da Gurnemanz, der zwar gü-
tig und tolerant ist, aber kein Verständnis für das Wesen Kundrys besitzt, sie für
ihre guten Taten lobt, antwortet sie nur düster und traurig: „Nie tu ich Gutes“.
Was Kundry selbst nur ahnt, spricht während dieser ganzen Szene das Orches-
ter mit größter Klarheit aus. Schon bei ihrem ersten Auftreten wird ihr „hastiges“,
„taumelndes“ Hereinstürzen von einem kurzen Motiv begleitet, das Overhoff als
das Klangsymbol der Schuld identifiziert hat:201

Je näher die „wilde Reiterin“ kommt, desto heftiger wird die Musik; die Motive
wiederholen sich, ballen sich zusammen, türmen sich auf, steigern sich fast ins
Unerträgliche. Hier wird Kundry buchstäblich von ihrer Schuld vorangepeitscht.
Auf dem Höhepunkt bricht die Musik aber jäh ab – und die Spannung entlädt sich
im Motiv der Verzweif lung:

113
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Deutlicher könnte das Wesen einer Schuldneurose nicht beschrieben werden, als
es hier Wagner durch die Sprache der Klangsymbole getan hat.
Kundrys ganze Existenz erscheint als ein einziger neurotischer Krampf. Und
wenn wir sie als eine Verkörperung der Triebnatur an sich auffassen, so gewinnt
ihr Zustand allgemein-menschliche Bedeutung. Man hat es nicht mehr mit dem
Krankheitssymptom eines Einzelnen zu tun, sondern mit der conditio humana an
sich. Kundry führt uns die Grundbeschaffenheit der menschlichen Natur auf sei-
ner gegenwärtigen Entwicklungsstufe vor – und diese Natur trägt alle Züge einer
Zwangsneurose. Denn während die tiefste Sehnsucht der menschlichen Natur auf
das Göttliche gerichtet ist – d.h auf Entgrenzung, auf Durchbrechen der Tren-
nung und die Verwirklichung der Einheit alles Lebenden – steht er schon vom
Augenblick seiner Geburt an unter der Herrschaft des entgegengesetzten Prin-
zips; sein Trieb drängt ihn dazu, sich selbst zu behaupten, sich gegenüber anderen
abzugrenzen, anderes Leben als Gegenstand des Genusses oder des Besitzes zu
betrachten. Und indem er diesen Trieb befriedigt, handelt er fortwährend gegen
sein innerstes Wesen und sein tiefstes Wollen. Hier ist Wagners intuitiver Künst-
lerblick sehr tief gedrungen – tiefer als alle wissenschaftliche Psychologie. Er be-
trachtet den Menschen, wie er in der Geschichte und der Gegenwart erscheint
– und diagnostiziert eine kollektive Neurose der ganzen Menschheit.

3. Liebe und Begierde

Am deutlichsten zeigt sich der Grundwiderspruch des menschlichen Innenlebens


im Gegensatz zwischen Liebe und Begierde. Die Liebe will Entgrenzung, Ver-
schmelzung, Auf lösen aller trennenden Schranken – was nur durch Selbsthin-
gabe zu erreichen ist. Die Begierde dagegen verfestigt die Trennung, indem sie
das Begehrte zu einem Objekt macht, aus dem sie Genuss zu gewinnen versucht.
Die tiefste Sehnsucht des Menschen geht nach Ent-grenzung; sein Trieb arbeitet
jedoch dieser Sehnsucht entgegen und verstärkt die Be-grenzung. Das Paradoxe

114
Conditio humana

dabei ist, dass auch die Begierde der Sehnsucht nach Verschmelzen entspringt.
Doch während diese Sehnsucht in der Liebe rein zum Ausdruck kommt, wird sie
in der Begierde in ihr Gegenteil verkehrt. Begierde ist also fehlgeleitete Liebes-
sehnsucht.
Diese Tatsache wird in der Figur der Kundry eindrucksvoll vor Augen ge-
führt. Sie will Liebe – und kann nur begehren. Die Begierde wohnt ihr aber als
Naturtrieb inne. Tatsächlich ist das Begehren nicht nur die Haupttriebfeder all
ihrer Handlungen, sondern bildet geradezu den Grund ihrer ganzen Existenz.
Das zeigt deutlich die Musik, die zu Kundrys Sterben und Wiedergeburt erklingt.
Wer im I. Akt, an der Stelle, wo sie sich ins Gebüsch verkriecht, um in einen
todesähnlichen Schlaf zu verfallen, aufmerksam auf das Orchester achtet, wird
bemerken, dass das Begierdemotiv – dessen Linie nur hier und da durch das Motiv
der Schuld oder das Klangsymbol der Verzweif lung kurz unterbrochen wird –
hier die thematische Substanz bildet:

115
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Und im II. Akt ist die Begierde dann der Zauber, durch den Klingsor die Seele
Kundrys aus der Tiefe zur neuen Verkörperung herauf beschwört:

Begierde und Zerrissenheit als Grundbeschaffenheit der menschlichen Natur:


Wie furchtbar der daraus entstehende Zustand ist, geht aus den Worten hervor,
mit denen Kundry ihr eigenes Dasein beschreibt:
Da lach ich – lache,
kann nicht weinen:
nur schreien, wüten,
toben, rasen
in stets erneueter Wahnsinns Nacht,
aus der ich büßend kaum erwacht.
Hier erfährt die Ansicht Schopenhauers, nach der das Dasein ein einziges Wüten
des Willens gegen sich selbst ist, durch Wagners künstlerische Intuition eine ein-
drucksvolle Bestätigung.
Doch der intuitiv schaffende Künstler geht hier über den denkenden Philoso-
phen weit hinaus. Schopenhauer hatte in dem in sich zerrissenen, gegen sich selbst
wütenden Willen die letzte Ursache und den tiefsten Grund des Daseins gesehen,
weshalb er das Leben selbst als durchaus negativ bewertete. In der Figur der Kundry

116
Conditio humana

dagegen kommt eine ganz andere Ansicht zum Ausdruck. Denn sie steht zwar unter
der Herrschaft Klingsors, der das Prinzip der Trennung verkörpert; doch ihre Zer-
rissenheit entsteht gerade dadurch, dass diese Hörigkeit nicht ihrem innersten Wesen
und ihrer tieferen Bestimmung entspricht. In Wirklichkeit sehnt sie sich nach dem
Heiligen; deshalb erwacht sie auch immer wieder auf dem Gralsgebiet – und des-
halb versucht sie auch, sich mit jenen Menschen, in denen sie eine Verkörperung des
Heiligen zu erkennen vermeint, zu vereinigen. Kundry ist, um das gewichtige Wort
Wagners zu gebrauchen, „missleiteter Wille“. Und das bedeutet, dass die menschli-
che Triebnatur im tiefsten Grunde ihres Wesens doch gut ist.
Diese Erkenntnis ist das Erhebende an Wagners Auffassung der menschlichen
Natur. Denn sie sprengt die starren Mauern des Schopenhauer’schen Pessimismus
und öffnet das Tor zur Verwandlung. Die menschliche Triebnatur, die so viel Leid
verursacht, ist nicht an sich schlecht, sondern nur selbstentfremdet. Es gilt, sie von
der Herrschaft des Ego-Prinzips zu befreien und ihr wahres Wesen freizulegen,
damit sie endlich das werden kann, was sie eigentlich ist. Einfacher ausgedrückt
könnte man sagen: Es gilt, Begierde in echte Liebe zu verwandeln.
So erfährt die Begierde in Wagners Sicht trotz allem eine Rechtfertigung. Sie
ist gleichsam der rohe Stoff, die „prima materia“ der Alchemie, aus dem durch Klä-
rung und Verfeinerung das Gold der Liebe entstehen soll. Die Leidenschaft soll
nicht vernichtet – sondern verwandelt werden: Das ist das Ideal der menschlichen
Natur, wie sie Wagner vorschwebte, als er Parsifal schuf. 202

4. Die Begegnung mit Christus

Es gibt im Entwicklungsgang der Kundry eine Begebenheit, in der man im Sinne


des Mythos ihr wesensbegründendes Ereignis erkennen kann: die Begegnung mit
Christus. In dem Bericht über diese Begegnung wird uns in einem mythischen
Bild höchster Ausdruckskraft die Entstehung der quälenden Gespaltenheit vor
Augen geführt, die den Hauptzug ihres Wesens bildet. Erst seit diesem Ereignis
ist sie jene zwischen dem Tierischen und dem Heiligen hin- und hergerissene Ge-
stalt, in der wir die vollkommene Verkörperung der unerlösten, aber erlösungsfä-
higen menschlichen Triebnatur erblicken.
Was war dort geschehen? Kundry selbst schildert den erschütternden Vorgang
mit knappen Worten:
Ich sah – ihn – ihn –
und – lachte …
da traf mich sein Blick. –
Nun such’ ich ihn von Welt zu Welt,
ihm wieder zu begegnen …

117
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Es ist nicht schwer, das, was hier nur stammelnd angedeutet wird, in seinen Ein-
zelheiten auszumalen. Kundry, noch im Stadium der „Urteufelin“ – d.h. völlig
in der Gewalt der egoistischen Begierde, die sie nicht nur genusssüchtig, sondern
auch hartherzig und grausam macht – trifft auf den kreuztragenden Jesus, der
sich nach Golgatha hinschleppt, um sein Leben aus Liebe zur Menschheit hinzu-
geben. In dieser Begegnung prallen zwei unvereinbare Gegensätze aufeinander:
auf der einen Seite die göttliche Liebe, mit ihrer Bereitschaft zur totalen Selbst-
hingabe – und auf der anderen die triebhafte Begierde, die kein anderes Ziel
kennt als die Befriedigung der eigenen Lust. Deshalb kann Kundry dem Bild,
das sich ihren Augen darbietet, nur völliges Unverständnis entgegenbringen; der
geschundene, blutüberströmte Jesus, der unter der Last des Kreuzes stöhnend im-
mer wieder zusammenbricht und dennoch unbeirrt seinen Opfergang fortsetzt,
muss, sowohl was seine äußere Erscheinung als auch seine inneren Beweggründe
anbelangt, ihr lächerlich erscheinen. Und deshalb empfindet sie kein Mitleid,
sondern nur Hohn – und tut das Ungeheuerliche: Sie lacht ihn aus. Was dann
aber geschieht, muss man sich bildhaft vorstellen: Jesus, der vor Schmerz und
Erschöpfung zu Boden gesunken ist, hört ihr Lachen; er hebt seinen Kopf und –
blickt ihr in die Augen …
Vielleicht dachte Wagner, als er die Begegnung zwischen Kundry und Chris-
tus erfand, auch an die ergreifende Stelle aus den Evangelien, wo die Begegnung
Jesu mit dem reichen Jüngling geschildert wird. Bei Markus heißt es schlicht:
„Jesus sah ihn an und liebte ihn …“
Ähnliches wird wohl in Christus vorgegangen sein, als sein Blick Kundry „traf “:
Mit einem Male erfasste er die ganze Qual ihrer unerlösten, von Begierde er-
füllten Natur – aber auch die tiefe Sehnsucht nach Erlösung, die, ihr selbst un-
bewusst, im tiefsten Grunde ihrer Seele ruht und der Erweckung harrt. Und da
„liebte“ er auch sie – d.h., er wurde von Mitleid ergriffen und vom tief-innigen
Drang, auch sie zu erlösen.
Dieses Mitleid f loss durch seinen Blick nach außen und „traf “ die höhnisch
lachende Kundry. Nun nimmt auch sie das Wesen des so fühllos und grausam
Verlachten unmittelbar in sich auf. Was ihr aus Christi Augen entgegenleuchtet,
ist allumfassendes Mitgefühl und grenzenlose Hingabebereitschaft. Es ist das ganz
Andere, von dessen Existenz sie bisher nicht einmal eine Ahnung gehabt hat: eine
umwälzende Erfahrung, die ihr mit einem Schlag die Welt des Göttlichen eröff-
net – und ihr blitzartig zu Bewusstsein bringt, was der Mensch eigentlich sein
kann und sein soll. Das bewirkt eine radikale Veränderung in ihrem Inneren; mit
einem Male wird ihr die ganze Verworfenheit ihres Zustands bewusst. Und damit
erwacht auch die Sehnsucht nach Erlösung, die bisher wie ein unter Asche glim-
mendes Feuer verborgen in ihr geschlummert hat, und lodert zur hellen Flamme

118
Conditio humana

auf. Damit ist aber ihre Ruhe hin; die Begegnung mit dem Göttlichen hat ihr
nicht Glück, sondern Qual gebracht. Denn der Zwiespalt hat Einzug in ihre Seele
gehalten; sie gehört von nun an zwei Welten – und sie wird keine Rast mehr fin-
den, bis es ihr gelingt, Christus wieder zu finden und in ihm ganz aufzugehen.
Das ist der „Fluch“ der Kundry, der sie „durch Schlaf und Wachen, durch Tod
und Leben, Pein und Lachen, zu neuem Leiden neu gestählt, endlos durch das
Dasein quält.“ Er ist eine ihr von Christus auferlegte Strafe, die ihr aber zum Heil
gereicht. Denn das, was sie quält: das Bewusstsein ihrer Schuld und ihres Elends
– das allein gibt ihr die Möglichkeit der Erlösung.

5. Der Teufelskreis der Begierde

Nach der Begegnung mit Christus ist Kundrys Seele erfüllt von Sehnsucht nach
dem Heiland; sie sucht ihn rast- und ruhelos „von Welt zu Welt“. Trotzdem ge-
lingt es ihr nicht, sich aus Klingsors Gewalt zu befreien und Ruhe zu finden. Wa-
rum verfällt sie immer wieder seiner Macht? Warum löst sich nicht der Krampf
ihres gequälten Daseins? Gibt es keine Möglichkeit, dem Fluch zu entkommen?
Parsifal gibt die Antwort auf diese Frage, wenn er, von Kundry bedrängt und
zur körperlichen Vereinigung aufgefordert, mit folgenden Worten das Grundpro-
blem ihres Daseins ausspricht:
Auch dir bin ich zum Heil gesandt,
bleibst du dem Sehnen abgewandt.
Die Labung, die dein Leiden endet,
beut nicht der Quell, aus dem es f ließt,
das Heil wird nimmer dir gespendet,
eh’ jener Quell sich dir nicht schließt […]
O, Elend! Aller Rettung Flucht!
O, Weltenwahns Umnachtung:
in höchsten Heiles heißer Sucht
nach der Verdammnis Quell zu schmachten!
Das sind sehr rätselhafte Worte, die einer Erklärung bedürfen. Was will Parsifal
damit sagen?
Zunächst lohnt es sich, einige allgemeine Überlegungen anzustellen. Wir ha-
ben festgestellt, dass Kundry die Verkörperung der menschlichen Triebnatur ist;
wir haben auch gesehen, dass diese Natur in ihr ganz und gar durch die Begierde
beherrscht wird. Zwar schlummert im Grunde der menschlichen Seele eine tiefe
Sehnsucht nach echter Liebe, deren Ziel Entgrenzung und Vereinigung mit der
All-Einheit ist. Doch die Form, in der sich diese Liebessehnsucht äußert, ist die

119
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Begierde. Allerdings muss dieser Begriff hier sehr weit gefasst werden. Denn mit
„Begierde“ ist nicht nur das sexuelle Begehren, auch nicht das Streben nach Ge-
nuss oder Besitz gemeint, sondern jede Art von Ich-bezogenem Wollen, welches
das Ich in Gegensatz zum Nicht-Ich setzt und andere Dinge oder Wesen als Ob-
jekt des Begehrens betrachtet.
Ein solches „Ich will“ ist an sich schon deshalb problematisch, weil es das ei-
gene Ich von der Ganzheit des Seins abtrennt. Das „Ich will“ setzt eine Priorität:
Wer ein anderes Ding oder Wesen zum Objekt des Begehrens macht, setzt das
eigene Wohl über das Wohl das Anderen bzw. des Ganzen. Und damit ist auch
schon der Egoismus begründet. Wer also „Ich will“ sagt, schafft schon dadurch
Trennung und grenzt sich ab – nicht nur von anderen Wesen, sondern auch von
der großen Einheit des Seins, die wir „Gott“ oder „das Göttliche“ nennen. Des-
halb spricht Parsifal von „sündigem Verlangen“: „Sündig“ ist jedes Wollen, wel-
ches das eigene Ich höher bewertet als die Ganzheit des Seins.
Diese Trennung von der Ganzheit ist aber auch leidvoll, weil sie dem innersten
Drang nach Vereinigung, der in der Tiefe der menschlichen Seele wohnt, wider-
spricht. Durch die Begierde wird der Mensch gleichsam zum Leid „verdammt“.
Deshalb nennt Parsifal die Begierde „der Verdammnis Quell“. Doch auch in an-
derer Hinsicht schafft das „Ich will“ Leid. Denn wie Schopenhauer bereits klar
zeigte, ist Begierde nie dauerhaft zu befriedigen. Das „Sehnen“ ist seiner Natur
nach unstillbar; jede scheinbare Erfüllung erzeugt nur neues Begehren. Diese Er-
kenntnis wurde bereits vor 2500 Jahren von dem Buddha ausgesprochen, der in
den „Vier edlen Wahrheiten vom Leiden“ verkündet:
Dies nun, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidvoll, Alter
ist leidvoll, Krankheit ist leidvoll, Sterben ist leidvoll; mit Unlieben vereint zu sein
ist leidvoll; von Lieben getrennt zu sein, ist leidvoll; nicht zu erlangen, was man
begehrt, ist leidvoll. Kurz gesagt, die ‚fünf Gruppen des Ergreifens‘ sind leidvoll.
Dies nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: Es
ist dieser Wiedergeburt erzeugende, von Wohlgefallen und Lust begleitete Durst,
der bald hier, bald dort sich ergötzt, das will sagen: der Durst nach Sinnenlust, der
Durst nach Werden, der Durst nach Vernichtung.“203
Der Buddha hat aber auch den Weg zur Erlösung vom Leiden aufgezeigt:
Dies nun, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist
eben dieses Durstes restlose, durch Gleichmut erreichte Aufhebung, seine Aufgabe,
Preisgabe, die Erlösung und das Freisein von ihm.“204
Es geht also bei der „Erlösung“ nicht um die Auf hebung oder Unterdrückung
dieser oder jener besonderen Begierde, sondern um die völlige Auf lösung der Be-
gierde überhaupt. Das Problem muss an der Wurzel – d.h. radikal – angefasst wer-

120
Conditio humana

den; nur eine totale Sinnesänderung, eine Richtungsumkehr, bei der das ganze
Seelenleben eine Neuorientierung erfährt, kann eine dauerhafte Lösung bringen.
Bleibt irgendwo noch ein Rest von „Ich will“ zurück, dann ist die Verwandlung
nicht wirklich erfolgt. Der Mensch bleibt in der Gewalt des Ego-Prinzips und der
Begierde und ist nicht frei.
Diese Gedanken waren Wagner aus seinem Schopenhauerstudium, aber auch
aus seiner Beschäftigung mit dem buddhistischen Denken wohl bekannt und sind
offensichtlich in das Werk mit eingef lossen. Und genau das ist es, was Parsifal
meint, wenn er zu Kundry sagt, er könne ihr Heil bringen, wenn sie „dem Sehnen
abgewandt“ bleibe – und dass sie das Heil nicht werde finden können, bevor sich
nicht „der Quell“, aus dem das Leiden f ließe, geschlossen habe. Nicht diese oder
jene Sehnsucht muss also überwunden werden, sondern das „Sehnen“ an sich als
innere Haltung. Das Einzige, was Kundry „Heil“ bringen kann, ist eine radikale
Abwendung von der Grundhaltung des Begehrens
Nun befindet sich unter den verschiedenen Arten von „Durst“, die nach An-
sicht des Buddhas aufgehoben werden müssen, neben dem Durst nach Sinnenlust
und Werden auch der Durst nach „Vernichtung“. „Vernichtung“ bedeutet aber
hier das höchste Ziel des Buddhismus: „Nirvana“, das Aufgehen der Einzelexistenz
in der großen Leere, die Erlösung. Der Buddha will also sagen: Nicht einmal die
Erlösung darf man begehren; denn auch dieses „Ich will“ bindet den Menschen an
die Begierde und das Ego-Prinzip. So paradox es klingt: Wer erlöst werden will,
verhindert gerade dadurch seine Erlösung; und wer begehrt, frei von Begehren zu
sein, verstrickt sich dadurch nur desto stärker in die Begierde.
Damit ist die Antwort auf die Frage gegeben, warum Kundry, trotz aller Sehn-
sucht nach dem Heil, dieses nicht finden kann. Denn bei ihr, die doch die Verkör-
perung der Triebnatur ist, ist alles Begierde – auch der Wunsch nach Erlösung. So-
gar die Sehnsucht nach Ruhe ist bei ihr ein ichhaftes Wollen. „Nur Ruhe will ich.
Nur Ruhe, ach, der Müden!“ stöhnt sie im I. Akt, wenn die sich ins Gebüsch ver-
kriecht, um dort in Schlaf zu versinken – und wir haben schon gesehen, wie an dieser
Stelle im Orchester leise, aber unüberhörbar das Motiv der Begierde erklingt. Das
Klangsymbol sagt hier alles: Kundry begehrt Erlösung – und kann sie gerade deshalb
nicht finden. Sie will sich aus der Gewalt Klingsors befreien – und gerade weil sie
dies will, wacht sie wieder bei ihm auf. Kundry versucht, um das Bild Parsifals zu
gebrauchen, das Leiden zu „enden“ und „Labung“ zu erhalten, indem sie aus dem
„Quell“, aus dem dieses Leiden fließt, trinkt, der eben die Begierde ist. Sie sucht
„Heil“ und „schmachtet“ zugleich nach „der Verdammnis Quell“. Das ist der „Durst
nach Vernichtung“, den es nach den Worten des Buddhas auch zu überwinden gilt.
Diese ichhafte Begierde nach Erlösung bringt Wagner durch ein Bild von ge-
radezu krasser Deutlichkeit zum Ausdruck: Kundry will sich mit dem Erlöser se-
xuell vereinigen. Radikaler könnte die Diskrepanz zwischen Zweck und Mittel, das

121
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Zerrissen-Sein durch den Konf likt zwischen tiefer Sehnsucht und zwanghaftem
Trieb nicht gezeigt werden. Kundry sucht den Heilbringer „von Welt zu Welt“,
wähnt „sein Auge“ – den mitleidsvollen, Erlösung spendenden Blick Christi –
„schon nah“ – und wird dann von dem krampf haften Drang überfallen, den von
ihr als Retter Herbeigesehnten zu begierdehafter, körperlicher Lust zu verführen.
Indem sie den Heilbringer im wahrsten Sinne des Wortes begehrt, gibt sie sich erst
recht der Begierde hin, von der sie geheilt werden will.
Dass Kundrys Heilsstreben gerade an ihrer Begierde nach Erlösung scheitert,
will auf die Radikalität der inneren Verwandlung hinweisen, die nötig ist, damit
der Mensch seine eigentliche, höhere Bestimmung verwirklichen könne. Es gibt
keine Heilung innerhalb der Welt der Begierde; nur eine totale innere Umkehr –
eine „metanoia“, welche die Begierde selbst auf hebt – kann verhindern, dass der
Mensch wieder in den alten Egoismus zurückfällt, der nicht nur ihn selbst zum
Leiden „verdammt“, sondern auch Leid über andere bringt.
Wie wäre aber eine religiöse Haltung beschaffen, die nicht auf der Begierde
nach Erlösung beruhte? Sie wäre durch völliges „Loslassen“ und „Sich-Öffnen“
gekennzeichnet, durch totale Hingabe an das, was wir „Gott“ oder „das Göttli-
che“ nennen – ohne jedes eigene Wollen, ohne Gedanken an das eigene Ich, von
grenzenlosem Vertrauen in das erfüllt, was dieses Ich transzendiert. Gerade die-
se Haltung ist es, die im Parsifal mit dem Wort „Glaube“ bezeichnet wird. Und
deshalb erklingt zu Parsifals Worten: „Doch wer erkennt ihn klar und hell, des
einz’gen Heiles wahren Quell“, im Orchester wie eine leise Mahnung das Glau-
bensmotiv:

122
Conditio humana

6. Die Wiedergeburten der Kundry

Zu den Merkmalen der Kundry, die ganz offensichtlich auf Wagners Beschäfti-
gung mit dem Buddhismus zurückgehen, gehören auch ihre zahlreichen Wieder-
geburten. Was haben diese für eine Bedeutung?
Gurnemanz, dem das dämonische Wesen der Gralsbotin an sich ein Rätsel ist,
rührt an das Geheimnis dieses zyklischen Kommens und Gehens, wenn er sagt:
Ja, eine Verwünschte mag sie sein.
Hier lebt sie heut, –
vielleicht erneut,
zu büßen Schuld aus früh’rem Leben,
die dorten ihr noch nicht vergeben.
Tatsächlich erleben wir kurz danach, wie sie sich ins nahe Gebüsch hinschleppt,
um dort in einen todesähnlichen Schlaf zu versinken – aus dem sie dann im
Klingsorturm mit einem Schrei wieder erwachen wird.
Klingsor, der Kundry mit seinem Zauber in ein neues Leben holt, gibt sogar
nähere Auskunft über ihre früheren Existenzen:
Dein Meister ruft dich, Namenlose:
Urteufelin, Höllenrose!
Herodias warst du, und was noch?
Gundryggia dort, Kundry hier …
Die beiden hier namentlich genannten Personen sind Verkörperungen einer wil-
den Triebhaftigkeit, die sich in ihnen bis zu Grausamkeit und Mordlust gesteigert
hat. Der Name „Gundryggia“ wurde von Wagner selbst als „Strickerin des Krie-
ges“ 205 gedeutet; und Herodias war nicht nur wegen ihrer zügellosen sexuellen
Begierde berüchtigt, sondern ging auch in die Geschichte ein als die Frau, die ihre
Tochter Salome dazu bewog, als Belohnung für ihren Tanz das abgeschlagene
Haupt Johannes des Täufers auf einer Silberschüssel zu verlangen.
Alle diese Tatsachen scheinen darauf hinzudeuten, dass Wagner in der Figur
der Kundry jene für die indischen Religionen so zentrale Lehre des „Karma“ dar-
stellen wollte, nach der sich der einzelne Mensch immer wieder neu verkörpern
muss, um im neuen Leben den Lohn oder die Strafe für die Taten zu empfangen,
die er im früheren verübt hat. Das ist auch die Auffassung, auf die Gurnemanz an-
spielt, wenn er meint, dass Kundry immer wieder auf dem Gralsgebiet erscheint,
um „Schuld aus früh’rem Leben zu büßen“.
Vordergründig betrachtet ist dies auch sicherlich der Fall. So berichtet Cosima
von einer Äußerung aus dem Jahre 1878, aus der hervorgeht, dass Wagner der Idee
der Wiedergeburt große Bewunderung entgegenbrachte:

123
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

„Er spricht anhaltend über Indien und seine Kultur, gegen welche wir Barbaren
sind, denn wie verhielten sich die großen Dichtungen wie der ‚Faust‘ z.B. zu ihrer
Zeit, und wie ließen sich unsere Dogmen mit dem Dogma der Seelenwanderung
vergleichen?“206
Trotzdem lassen die Wiedergeburten der Kundry verschiedene Deutungen zu. 207
Zwar kann man nach den Worten des Gurnemanz in ihr sehr wohl eine indi-
viduelle Seele erblicken, die sich immer wieder verkörpert, um frühere Schuld
abzubüßen. Klingsor scheint jedoch tiefer zu blicken, wenn er sie nicht nur als
„Gundryggia“ und „Herodias“ – also als Personen – anspricht, sondern auch mit
allgemeinen, überpersönlichen Namen wie „Urteufelin“ und „Höllenrose“ be-
zeichnet – und sogar die „Namenlose“ nennt. Das alles deutet darauf hin, dass wir
in Kundry nicht nur eine Person, sondern zugleich auch die Verkörperung einer
überpersönlichen Kraft zu erblicken haben. Wenn man alles heranzieht, was man
sonst über sie weiß, dann ist es klar, dass diese Kraft nichts anderes sein kann als
die Begierde selbst: der „Durst“, der nach der Auffassung des Buddhas als „Durst
nach Werden“ den Menschen immer wieder ins irdische Dasein drängt. Auf die-
sen „Durst nach Werden“ spielt Wagner an, wenn er in einem Brief an Mathilde
Wesendonk schreibt:
„Sie kennen die Buddhistische Weltentstehungstheorie. Ein Hauch trübt die Him-
melsklarheit:

Das schwillt an, verdichtet sich, und in undurchdringlicher Massenhaftigkeit steht


endlich die ganze Welt wieder vor mir …“208
Das musikalische Zitat, das Wagner hier beifügt, um seine Aussage zu verdeut-
lichen, ist das Sehnsuchtsmotiv aus Tristan und Isolde. Aus Sehnsucht – so will er
sagen – entsteht die Welt.
Was Wagner hier andeutet, wird, wie wir gesehen haben, auch durch die Mu-
sik bestätigt. Denn sowohl das Einschlafen als auch das Wiedererwachen Kundrys
werden im Orchester durch das Motiv der Begierde begleitet; diese ist es, das als
Unvergängliches den Tod überdauert, und diese ist es auch, die aus der Tiefe des
Klingsor-Turms wieder ins Leben empordrängt. Um mit Schopenhauer zu reden:
Es ist der Wille zum Leben, der in immer neuen Formen ins Dasein strebt; und
die verschiedenen Formen, welche die Kundry annimmt, bringen die Vielfalt der
individuellen Gestaltungen dieses Willens zum Ausdruck. „Teuf lisch“ sind diese
Gestalten nur insofern, als sie auf dem Prinzip der Trennung beruhen und vom
natürlichen Egoismus erfüllt sind, der sich in seiner krassesten Form als maßlose

124
Conditio humana

Lüsternheit und grausame Mordlust äußern kann – wie im Falle der „Gundryg-
gia“ und der Herodias. Deshalb stehen die Verkörperungen der Kundry gänzlich
unter der Herrschaft Klingsors, der ja mit dem Ego-Prinzip identisch ist. Erst
wenn der „missleitete Wille“ durch eine tiefgreifende Verwandlung zu seinem ei-
gentlichen Wesen hingeführt wird, kann er sich aus der Gewalt Klingsors befrei-
en. Und erst dann wird der „Durst“ auf hören und in der eigenen Selbstauf lösung
endlich Ruhe finden.

Bisher haben wir Kundry als Symbol der menschlichen Triebnatur betrachtet.
Wenn wir zur Erläuterung und Untermauerung dieser Deutung buddhistische
Ideen herangezogen haben, so haben wir uns dabei in den Fußstapfen Wagners
bewegt, dem solche Ideen ganz sicherlich gegenwärtig waren, als er die Kundry-
Figur gestaltete. Wir haben oben jedoch gesagt, dass die Bedeutung Kundrys in
ihrem vollen Umfang nur dann zu erfassen ist, wenn man sie als eine Verkörpe-
rung des Unbewussten überhaupt auffasst. Nun liegt es auf der Hand, dass auch
die westliche Psychologie, die sich seit Freud wissenschaftlich mit dem Unbe-
wussten beschäftigt hat, einiges Wesentliche über dessen Beschaffenheit zu sagen
hat. Zwar verlassen wir, wenn wir diese Erkenntnisse zur Deutung der Kundry-
Symbolik heranziehen, in einem gewissen Sinne den Boden der ‚authentischen‘
Interpretation; denn von den Theorien und Erfahrungen Freuds und seiner Nach-
folger konnte Wagner schon wegen des zeitlichen Abstands noch nichts wissen,
und wenn er solchen Theorien in seinen Werken künstlerische Gestalt verlieh, so
geschah dies intuitiv und ihm selbst unbewusst, weshalb wir keine Bestätigung
dafür in seinen Schriften finden. Doch ein Vergleich zwischen der modernen Tie-
fenpsychologie und dem, was Kundry durch ihr Wesen und Verhalten zum Aus-
druck bringt, lässt keinen Zweifel daran, dass Wagner mit seiner künstlerischen
Intuition schon vieles ‚gewusst‘ hat, was erst Generationen später wissenschaft-
lich erforscht werden sollte. Deshalb bilden die Erkenntnisse der wissenschaftli-
chen Psychologie einen der wichtigsten Zugänge zur Deutung der Kundry-Figur,
und vieles, was uns sonst unklar oder geheimnisvoll bleiben müsste, wird erst bei
dieser Betrachtungsweise verständlich.
Es zeigt sich dabei, dass von den verschiedenen psychologischen Schulen die-
jenige Wagners Darstellung des Unbewussten am besten gerecht wird, die dieses
Phänomen am weitesten und tiefsten fasst: die Schule C. G. Jungs. Gerade was die
Deutung des Parsifal anbelangt, liefert die Jung’sche Psychologie dem, der tiefer in
sie eindringt, viele wichtige Schlüssel, die fortwährend Türen öffnen, welche die
Sicht auf Zusammenhänge freigeben, die sonst unserem Blick verborgen bleiben
müssten. Deshalb ist es an dieser Stelle angebracht, uns für einige Augenblicke

125
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

von Wagners Werk abzuwenden, um einen kurzen Exkurs in das Gebiet der wis-
senschaftlichen Tiefenpsychologie zu unternehmen.

7. Psychologischer Exkurs
Kurzer Umriss der Psychologie C. G. Jungs

Das „kollektive Unbewusste“


Mit dem Begriff des „Unbewussten“ bezeichnet man in der Psychologie jenen
Teil der menschlichen Seele, der dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich ist, und
dessen Inhalte – im Gegensatz etwa zu den einfachen Erinnerungen – nicht ohne
Weiteres bewusst gemacht werden können. Freud stellte fest, dass dieser unbe-
wusste Bereich erheblich größer als das Bewusste ist, und verwendete, um das zu
verdeutlichen, das berühmte Gleichnis vom Eisberg, dessen sichtbare Spitze das
Bewusstsein darstellt, während der Bereich des Unbewussten durch die unermess-
lich große Masse des unter Wasser befindlichen Teils symbolisiert wird. Ist der
Begriff des „Unbewussten“ überhaupt der zentrale Begriff der Tiefenpsychologie,
so ist das „kollektive Unbewusste“ der wichtigste und wohl bekannteste Begriff
der Psychologie C. G. Jungs; mit ihm wird die Eigenart seines Systems begründet,
und durch ihn grenzt sich dieses am deutlichsten von den Theorien Freuds ab.
Denn während Freud das Unbewusste als ein Sammelbecken für persönlich Erleb-
tes auffasste, das entweder vergessen oder verdrängt wurde, misst ihm Jung eine
Bedeutung bei, die weit über das bloß Persönliche hinausgeht. Für ihn enthält das
Unbewusste neben dem Persönlichen auch Dinge, die das Individuelle transzen-
dieren und der gesamten menschlichen Gattung angehören:
„Zunächst beschränkte sich der Begriff des Unbewussten darauf, den Zustand ver-
drängter oder vergessener Inhalte zu bezeichnen. Bei Freud ist das Unbewusste […]
im wesentlichen nichts als der Sammelort eben dieser vergessenen und verdrängten
Inhalte und hat nur vermöge dieser eine praktische Bedeutung. Dementsprechend ist
es nach dieser Ansicht ausschließlich persönlicher Natur, obschon andererseits schon
Freud die archaisch-mythologische Denkweise des Unbewussten gesehen hat.
Eine gewissermaßen oberf lächliche Schicht des Unbewussten ist zweifellos persön-
lich. Wir nennen sie das persönliche Unbewusste. Dieses ruht aber auf einer
tieferen Schicht, welche nicht mehr persönlicher Erfahrung und Erwerbung ent-
stammt, sondern angeboren ist. Diese tiefere Schicht ist das sogenannte kollektive
Unbewusste …209
Bei diesen kollektiven Inhalten handelt es sich teilweise um Erlebnisse früherer
Geschlechter, deren Essenz gleichsam in die Erbsubstanz der Menschheit einge-

126
Conditio humana

gangen ist; in diesem Sinne enthält das kollektive Unbewusste die „Niederschläge
aller Erfahrungen der Ahnenreihe“ 210 und stellt eine Art Menschheitsgedächtnis
dar. Andererseits handelt es sich um Dinge, die zum menschlichen Wesen an sich
gehören und wohl schon immer vorhanden waren, seitdem der Mensch Mensch
wurde. Ja, es ist, wie Jolande Jacobi in ihrer grundlegenden Monographie Die
Psychologie von C. G. Jung sagt, „sogar vielleicht allgemein tierisch“. 211 Deshalb ist
das Unbewusste als kollektives Phänomen auch uralt:
„Das Unbewusste ist älter als das Bewusstsein. Es ist ‚das ursprünglich Gegebene‘,
aus dem sich das Bewusstsein immer wieder neu hervorhebt.“212
Nun könnte man meinen, dass das kollektive Unbewusste einfach ein Sammelbe-
griff für die angeborenen Instinkte bzw. die natürlichen Triebe des Menschen sei.
In gewissem Sinne trifft dies zu. 213 Doch auch wenn das kollektive Unbewusste
„Grundmuster instinkthaften Verhaltens“214 enthält, so besteht doch ein wesentli-
cher Unterschied zwischen ihm und den Trieben. Denn während die Triebe, zu-
mindest in der gewöhnlichen Auffassung, bloß körperlich-animalisch sind, besitzt
das kollektive Unbewusste bei Jung numinosen Charakter – d.h., er berührt den Be-
reich des Göttlichen. Das ist auch das Faszinierende an Jungs Auffassung: Dadurch,
dass der Mensch in seiner eigenen Seelentiefe ein unermessliches Reich besitzt, das
weit über seine individuelle Person hinausreicht, erhält sein ganzes Sein eine ande-
re Dimension und Qualität, und sein Leben bekommt einen tieferen Sinn.
Tatsächlich sind die Inhalte des kollektiven Unbewussten mythisch; d.h., die
Bilder, die aus ihm auftauchen, entsprechen den Göttern und den göttlichen Ta-
ten, von denen die verschiedenen Mythologien der Menschheit erzählen. Ja, es
ist sogar so, dass die Götter, welche jene Mythologien bevölkern, aus dem kol-
lektiven Unbewussten hervorgegangen sind; sie sind nichts anderes als Symbole
für die dort wirkenden Kräfte, sind „psychische Manifestationen […] welche das
Wesen der Seele darstellen“. 215 Wie die alten Götter sind auch die Inhalte des kol-
lektiven Unbewussten, da sie die Grenzen unseres persönlichen Bewusstseins weit
überschreiten, ehrfurchtgebietend. Das heißt jedoch nicht, dass sie ‚gut‘ sind. Im
Gegenteil: Das kollektive Unbewusste ist ambivalenten Charakters; es ist sowohl
segensreich und heilbringend als auch gefährlich und irreführend. Denn einer-
seits enthält es „hilfreiche Kräfte, die in der tieferen Natur des Menschen schlum-
mern“, 216 und beherbergt den „Schatz“, der „in der Wassertiefe ruht“;217 anderer-
seits birgt es Tendenzen in sich, die den einzelnen Menschen daran hindern, zu
sich zu finden, und die er deshalb erkennen und unter Kontrolle bringen muss.
Es gibt deshalb keine volle Menschwerdung, ohne dass sich das Individuum
mit dem kollektiven Unbewussten auseinandersetzt – sei es, um sich von dessen
schädlichen Einf lüssen zu befreien, sei es, um das Wertvolle, das es bereit hält,
freizulegen und für sich zu nützen. Nur wenn der Mensch Bewusstsein und Un-

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

bewusstes vereinigt und in ständiger Verbindung mit dem Numinosen, das er


in seiner Seelentiefe trägt, bleibt – nur dann kann er die Ganzheitlichkeit seines
Wesens verwirklichen.

Die „Archetypen“
Der zweite Kernbegriff der Jung’schen Psychologie sind die „Archetypen“, die
den Inhalt des kollektiven Unbewussten bilden. Ihrer Natur entsprechend, sind sie
schwer zu definieren. Jung geht jedenfalls von der Grundüberzeugung aus, dass
es in der menschlichen Seele etwas wie ein präformiertes Abbild der Welt und des
Lebens gibt, das jedem Menschen angeboren ist. Dabei geht es nicht um einzelne
Erscheinungen, sondern um allgemeine Ideen, um Urbilder bzw. Grundmuster von
Situationen und Verhaltensweisen, welche unser Erleben und Handeln bestimmen.
Die Archetypen sind das eigentlich Numinose im kollektiven Unbewussten;
ihr Reich ist das Reich der „Mütter“ aus dem II. Teil von Goethes Faust, das man
nur mit Schaudern betritt. Sie sind keine abstrakten Begriffe, sondern tatsächlich
vorhandene, wirkende Kräfte, die in ungeahntem Ausmaß das Leben jedes Men-
schen bestimmen. Jung geht sogar so weit, von „Wesenheiten“ 218 zu sprechen.
Die Archetypen, die man am ehesten als „Geschehensmuster“ 219 bezeichnen
kann, erscheinen im Bewusstsein als archetypische Bilder. Es sind dieselben, die wir
aus Mythen, Märchen und Träumen kennen, und die offensichtlich Symbole für
etwas Großes, Geheimnisvolles, Ehrfurchtgebietendes sind. 220 Wichtige Arche-
typen sind z.B. der Erlöser, der Teufel, der „alte Weise“ und natürlich auch der
Vater und die Mutter – wobei mit diesen letzteren „das Väterliche“ und „das Müt-
terliche“ gemeint sind, die in den verschiedensten Formen erscheinen können.
Zu den wichtigsten Archetypen gehört aber auch das, was Jung das „Seelen-
bild“ nannte.

Die „Anima“
Es ist eine der Grundüberzeugungen der Jung’schen Psychologie, dass das Unbe-
wusste in einem „komplementären“ Verhältnis zum Bewusstsein steht. Denn im
Unbewussten befindet sich all das, was im Bewusstsein fehlt, weshalb das Unbe-
wusste gleichsam als ein Korrektiv fungiert, das die Einseitigkeit des Bewusst-
seins kompensiert, indem es das auf bewahrt, was zur Ganzwerdung der Persön-
lichkeit nötig ist. Deshalb besitzt das Unbewusste im Verhältnis zum Bewusstsein
gegensätzlichen Charakter. Da nun der Mann in seiner bewussten Einstellung
naturgemäß männlich orientiert ist, wird nach diesem Prinzip seine unbewusste
Seele vor allem weibliche Züge aufweisen. Deshalb spricht Jung – soweit es den
Mann betrifft – von der „femininen Qualität der Seele“. 221 Denn dort werden alle
weiblichen Eigenschaften, die das Bewusstsein als unpassend verdrängt hat – aber

128
Conditio humana

auch angeborene psychische Strukturen, die weibliche Züge tragen – auf bewahrt,
und bilden einen Komplex von Inhalten, welcher der ganzen unbewussten Seele
einen weiblichen Charakter verleiht. Bei der Frau ist es umgekehrt: Da ihr Be-
wusstsein naturgemäß weiblich geprägt ist, ist ihre unbewusste Seele vorwiegend
durch Männlichkeit gekennzeichnet. Um diesen unbewussten Teil der Seele bei
dem Mann und der Frau zu bezeichnen, hat Jung den Ausdruck „Anima“ bzw.
„Animus“ geprägt. Da uns hier die Psychologie vor allem in Bezug auf die Sym-
bolik der Kundry-Figur interessiert, werden wir uns im Folgenden mit der Anima
– also dem weiblichen Seelenbild des Mannes – beschäftigen.
Für Jung ist die Anima, obwohl sie nur ein Archetypus unter vielen ist und als
solcher nur einen Aspekt des Unbewussten darstellt, dennoch so etwas wie ein Tor
zum kollektiven Unbewussten überhaupt und deshalb „ein Faktor von höchster
Wichtigkeit in der Psychologie des Mannes, wo immer Emotionen und Affekte
am Werke sind“. 222 Wie jenes besitzt sie numinosen Charakter – und auch die
Ambivalenz des Numinosen:
„Mit dem Archetypus der Anima betreten wir das Reich der Götter beziehungs-
weise das Gebiet, welches sich die Metaphysik reserviert hat. Alles, was die Anima
berührt, wird numinos, das heißt unbedingt, gefährlich, tabuisiert, magisch.“223
Man hat es also auch hier mit höheren, ehrfurchtgebietenden Mächten zu tun, die
für den Menschen auch eine Gefahr bedeuten. Deshalb ist es für den Einzelnen
nötig, dass er sich von der Anima unterscheidet. Er muss lernen, seine „Verschie-
denheit […] von der Anima einzusehen“, 224 damit diese nicht auf unkontrollierte
Art und Weise sein inneres Leben und sein Handeln bestimmt.
Zur Reifwerdung der männlichen Persönlichkeit gehört also auch eine Ausei-
nandersetzung mit der Anima. Da nun alle „autonomen Komplexe“ dazu neigen,
„sich unmittelbar zu personifizieren“, 225 erscheint die Anima in Mythen, Märchen
und Träumen meist als Frau verkörpert. Mit dieser Frau ist es also nötig, einen
richtiggehenden Dialog zu führen; man muss sie als Person, als „handelndes und
erleidendes Subjekt“ 226 anerkennen, und derjenige, der sich von der Herrschaft
der Anima befreien will, „tut daher das einzig Richtige, wenn er die Figur der
Anima als eine autonome Persönlichkeit auffasst und persönliche Fragen an sie
richtet“. 227 Dieser Dialog ist aber nicht ungefährlich:
„Denn die Beziehung zur Anima ist wiederum eine Mutprobe und ein Feuerordal
für die geistigen und die moralischen Kräfte des Mannes. Man darf nie vergessen,
dass es sich gerade bei der Anima um psychische Tatbestände handelt, die sozusagen
niemals zuvor Besitz des Menschen waren…“228
Die Anima ist aber nicht nur als Verkörperung der „Emotionen und Affekte“
gefährlich, sondern kann auch heilbringend wirken. Auch wenn „ihre erste Begeg-

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

nung in der Regel eher auf alles andere schließen lässt als auf Weisheit“, 229 kann
sie als Tor zum kollektiven Unbewussten dem Menschen auch den Zugang zum
Bereich des Göttlichen eröffnen:
„Sie ist zwar chaotischer Lebensdrang, aber daneben haftet ihr ein seltsam Be-
deutendes an, etwas wie geheimes Wissen oder verborgene Weisheit, in merkwür-
digstem Gegensatz zu ihrer irrationalen elfischen Natur.“230
Wer sich mit der Anima auseinandersetzt, erkennt,
„dass hinter all dem grausamen Spiel mit menschlichem Schicksal etwas steckt wie
geheime Absicht, die einer überlegenen Kenntnis der Lebensgesetze zu entsprechen
scheint.“231
Deshalb kann die Anima den Menschen bei seiner Höherentwicklung helfend ge-
leiten; ja, sie kann sogar „zum höchsten Sinne führen …“ 232
Jung gibt selbst zu, dass diese ganzen Erkenntnisse, die er aufgrund seiner psy-
chologischen Praxis empirisch gewonnen hat, keineswegs neu, sondern vor allem
von Künstlern schon längst intuitiv erfasst wurden. Er stellt lapidar fest:
„Den Dichtern ist die Figur der Anima, wie ich oben bereits bemerkte, keineswegs
entgangen.“233
Zu den Künstlern, die er zur Untermauerung dieser Behauptung anführt, gehört
auch Wagner. In seinem Buch Symbole der Wandlung widmet Jung z.B. viele Sei-
ten der Figur der Brünnhilde aus Wagners Ring, die seiner Ansicht nach „zu Va-
ter Wotan im Verhältnis der Tochter-Anima“ 234 steht. Als typische Anima-Figur
nennt er aber auch Kundry, „die dämonische Gralsbotin von göttlich-tierischer
Natur“;235 und wenn Jacobi, die große Kennerin von Jungs Gesamtwerk, schreibt:
„Eine besonders charakteristische Animagestalt ist z.B. die Kundry der Parsifal-
sage …“, 236 so zeigt das deutlich, dass Jung von seiner Seite ausgehend auch ein
klares Bewusstsein davon hatte, wie sehr Wagners unheimliche Verführerin Er-
kenntnisse der modernen Tiefenpsychologie widerspiegelt.

Der Mutterarchetypus
Jung stellte während seiner psychologischen Arbeit fest, dass die Anima so gut
wie immer in Verbindung mit einem anderen Archetypus erscheint, mit dem sie
offensichtlich innig verquickt ist: dem Archetypus der Mutter.
Nun ist der „Mutterkomplex“ auch in der Psychologie Freuds, wo das „Ödipa-
le“ eine herausragende Rolle spielt, ein bekanntes Phänomen. Während es sich je-
doch bei Freud um eine Bindung an die wirkliche Mutter handelt, erweitert Jung
den Begriff und dehnt die Mutter-Sohn-Problematik auf die Mutter als mytholo-

130
Conditio humana

gische bzw. archetypische Gestalt aus. Denn er geht davon aus, dass das Kind die
Anima schon von Anfang an auf die wirkliche Mutter projiziert, wodurch diese
zur Trägerin überpersönlicher Eigenschaften wird. 237
Nun ist schon die Beziehung zur wirklichen Mutter als Person ambivalent.
Denn einerseits gewährt sie dem Sohn Geborgenheit und Schutz; andererseits
hat sie die Tendenz, ihn an sich zu binden, wodurch seine Reifwerdung verhin-
dert wird. Umso mehr gilt das, wenn die Mutter mit dem Archetypus der Anima
„kontaminiert“ ist:
„Weil die Mutter die erste Trägerin des Seelenbildes ist, ist die Abtrennung von
ihr eine ebenso delikate wie wichtige Angelegenheit von höchster erzieherischer Be-
deutung […] Bloßes Erwachsenwerden und äußere Trennung genügen nicht …“238
Weil die Anima ein mächtiger Archetypus ist, führt die Verquickung mit ihr zu
einer „Übermacht der Mutter“, 239 von der der Sohn sich oft nur schwer befreien
kann. Diese Macht wird dadurch ins Unendliche erweitert, dass die Anima mit
dem gesamten Unbewussten zusammenhängt. Nach Jung ist es nicht mehr bloß
die wirkliche Mutter, die den Sohn festhalten will, nicht allein die Anima, die
ihn mit ihren Affekten zu überwältigen versucht, sondern es ist das Unbewusste
an sich, das in der Gestalt der „Großen Mutter“ das Bewusstsein überf lutet und
mit seiner „orgiastischen Emotionalität“ und „unterweltlichen Dunkelheit“ 240 das
bewusste Ich des Individuums in seine unermessliche Tiefe hinabzuziehen droht.
Das ist der Grund, weshalb in den Mythologien die Muttergottheiten meist den
Doppelaspekt des Bergenden und Verschlingenden aufweisen und oft mit gefähr-
lichen, verschlingenden Tieren assoziiert werden, wie Drachen und Schlangen.
Doch der Mutterarchetypus hat eben zwei Gesichter; er ist nicht nur „das
Verschlingende, Verführende und Vergiftende, das Angsterregende und Unent-
rinnbare“, sondern auch „das Gütige, Hegende, Tragende, Wachstum-, Frucht-
barkeit- und Nahrungspendende“. 241 Er öffnet das Tor zur tieferen Erkenntnis,
zur „Weisheit“ und zur „geistigen Höhe jenseits des Verstandes“;242 ja, er ist sogar
„die Stätte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt“. 243 Auf jeden Fall ist
die Auseinandersetzung mit dem Mutterbild unumgänglich für die Entwicklung
des nach seelischer Ganzheit und Reife strebenden Mannes. Denn solange er von
ihm unbewusst beherrscht wird, wird es ihn immer wieder „an die Mutterbrust“
zurückziehen und ihn daran hindern, das zu werden, was seine innerste Bestim-
mung ist: ein freies, selbständiges Individuum.

Das „Selbst“ und der „Individuationsprozess“


Das höchste Ziel der menschlichen Entwicklung bezeichnet Jung mit einem Aus-
druck, den er dem indischen Denken entlehnt hat: das „Selbst“.

131
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

In diesem Wort ist alles enthalten, was man sonst mit den Begriffen der Ganz-
heit oder der Vollständigkeit zu umschreiben versucht. Das Selbst ist der letz-
te Grund und Ursprung der Seele; es ist, um mit Jacobi zu reden, „ein Hinweis
auf den psychischen Urgrund schlechthin, der nicht weiter begründbar ist“. 244 Im
Selbst sind Bewusstsein und Unbewusstes zu einer Einheit verschmolzen, denn es
ist der gemeinsame Grund, aus dem beide entsprungen sind:
„Das Selbst ist nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch der Umfang, der Bewusst-
sein und Unbewusstes einschließt; es ist das Zentrum der psychischen Totalität, wie
das Ich das Bewusstseinszentrum ist.“245
Das Selbst ist mehr als das Individuum; denn ist es der Punkt, an dem das In-
dividuelle zum Überindividuellen wird, an dem sich die individuelle Seele als
Teil des Ganzen erlebt. Es ist, in den Worten Jacobis, „unser individueller Anteil
an Gott“. 246 Genaueres lässt sich darüber nicht sagen; denn das Selbst, in dem
alle Gegensätze aufgehoben sind, liegt nach Jung „jenseits des Vermögens unseres
Verstandes“. 247 Das Selbst kann man nur als Wirklichkeit erleben.
Den Weg zur Verwirklichung des Selbst nennt Jung den „Individuationspro-
zess“. Dessen Ziel ist die Herstellung einer psychischen Totalität im Menschen,
bei der große Teile des Unbewussten in das Bewusstsein integriert werden. Dies
kann aber nur durch schwere Auseinandersetzungen mit den unbewussten Seelen-
teilen bewerkstelligt werden. 248
Vor allem ist die „Befreiung von den Tücken der Triebnatur“249 ein großes Wagnis;
denn dieser Prozess ist, auch wenn man dadurch die menschliche Natur ihrer höchsten
Bestimmung zuführt, zunächst ein „opus contra naturam“250 – d.h. ein Werk gegen die
Natur – und ruft als solches alle Widerstände der unbewussten Triebe auf den Plan.
Doch durch die Läuterung der Triebnatur erfährt die Seele eine unermessli-
che Erweiterung; sie wächst aus dem Egoismus heraus und verbindet sich mit der
Ganzheit des Lebens. Wie Jung schreibt:
„Dadurch entsteht ein Bewusstsein, das nicht mehr in einer kleinlichen und per-
sönlich empfindlichen Ich-Welt befangen ist, sondern an einer weiteren Welt, an
der Welt der Objekte teilnimmt. Dieses weitere Bewusstsein ist nicht mehr jener
empfindliche, egoistische Knäuel von persönlichen Wünschen, Befürchtungen,
Hoffnungen, der durch unbewusste persönliche Gegentendenzen kompensiert oder
etwa auch korrigiert werden muss, sondern es ist eine mit dem Objekt, der Welt,
verknüpfte Beziehungsfunktion, welche das Individuum in eine unbedingte, ver-
pf lichtende und unauf lösbare Gemeinschaft mit ihr versetzt.“251
Das ist eine echte Wiedergeburt; und derjenige, dem es gelingt, diesen Weg zu Ende
zu gehen, kann – so Jung – „ein höherer Mensch werden, der das Christussymbol
verwirklicht“. 252 Und damit hat er das höchste Ziel seiner Existenz erreicht.

132
Conditio humana

8. Kundry im Lichte der Psychologie C. G. Jungs

Die Parallelen zwischen diesen Gedanken und den Ideen, die Wagner im Parsifal
zum Ausdruck bringt, sind offenkundig. Die Art, wie der Titelheld z.B. sein be-
schränktes Bewusstsein zur Erkenntnis der Einheit alles Lebenden ausweitet, wie
er die Grenzen seines naturgegebenen Egos sprengt, um zur höheren Individua-
lität zu gelangen – dies alles entspricht genau dem, was Jung mit dem Wort „In-
dividuationsprozess“ bezeichnet. Im Gral wiederum, dessen Wesen „sich nicht
sagen lässt“, und zu dem „kein Weg führt durch das Land“, erkennt man un-
schwer ein Symbol jenes „Selbst“, das sich als innerster Seinsgrund dem Zugriff
des Denkens entzieht und dessen Erlebnis dennoch das höchste Ziel menschlichen
Strebens bildet. Die Aufzählung solcher Parallelen ließe sich endlos fortsetzen.
Am aufschlussreichsten sind jedenfalls jene, die sich auf die Kundry-Figur be-
ziehen. Ja, im Lichte der Jung’schen Ideen erscheint gerade das, was diese Figur
so schwer verständlich macht – das Disparate, Widersprüchliche ihres Wesens
– als schlüssig und notwendig; denn wir erkennen nun in diesen Eigenschaften
einen Spiegel des Unbewussten, das in seiner unergründlichen Tiefe und seiner
verwirrenden Mannigfaltigkeit genauso irrational ist wie Wagners heilsüchtige
Verführerin.
Zunächst sind es einzelne Details, die ihre frühere Rätselhaftigkeit verlieren
und sich nun der Deutung erschließen. Da ist z.B. Kundrys geheimnisvolles Wis-
sen, das offensichtlich weit über das hinausgeht, was sie als individuelle Person
hätte erfahren können. Auf dieses spielt Gurnemanz an, wenn er sagt:
Was tat dir das Weib? Es sagte wahr;
denn nie lügt Kundry, doch sah sie viel.
Und sie selbst bekennt sich dazu, wenn sie zu Parsifal sagt:
Von weither kam ich, wo ich viel ersah.
Tatsächlich erzählt sie gleich darauf nicht nur die intimsten Begebnisse aus dem
Leben Parsifals und seiner Mutter, sondern berichtet auch vom Tod seines Vaters
Gamuret, der sich weit weg im fernen Arabien ereignet hat. Hier kann es sich nur
um jenes „geheime Wissen“ und jene „verborgene Weisheit“ handeln, von denen
Jung im Zusammenhang mit dem kollektiven Unbewussten spricht.
Doch auch das Unheimliche, Magische, das die Kundry-Gestalt an sich um-
gibt, wird verständlich, wenn wir bedenken, dass mit dem kollektiven Unbewuss-
ten eine dem gewöhnlichen Bewusstsein völlig fremde, numinose Dimension in
unsere Erfahrung tritt. „Fern – fern ist meine Heimat!“ sagt sie bedeutungsvoll
von sich, und schon von ihrem ersten Erscheinen im Zaubergarten an, wo sie
mit ihrem von fremdartig-magischer Harmonik getragenen „Parsifal“-Ruf die

133
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Aufmerksamkeit unwiderstehlich an sich zieht, spüren wir deutlich, dass mit ihr
sich eine im wahrsten Sinne des Wortes „andere Welt“ auftut. Hier ist es nicht die
sinnliche Begierde, ja, nicht einmal die tiefe Macht des Eros allein, die Parsifal in
ihren Bann zieht, sondern das gesamte Unbewusste, das aus der dunklen Tiefe des
Turmes emporgestiegen ist, um das Bewusstsein des Helden zu überf luten und
ihn in jene Tristan’sche „Nacht“, in jenes „Urvergessen“ hinabzuziehen, in der
alles Leid, aber auch alle Verantwortung aufgelöst wird – wie es im Tristan heißt:
„Unbewusst – höchste Lust.“
Auch die Doppelgestaltigkeit der Kundry erscheint nun in einem neuen Licht.
Wenn dieselbe Person, die wir in der Gralsszene als tierhafte Wilde und in der
Szene mit Klingsor als hysterische Verzweifelte erlebt haben, im Zaubergarten
plötzlich als betörend schöne Verführerin erscheint, und wenn diese Person mit
gleichem Eifer dem Gral und Klingsor dient, so kommt darin nicht nur die Am-
bivalenz der Begierde zum Ausdruck, die dem Menschen Wonne vorspiegelt,
aber in Wirklichkeit Leid und Verzweif lung bringt, sondern wir erkennen darin
auch die Doppelnatur des Unbewussten überhaupt, das zugleich bergend und ver-
schlingend, heilbringend und bedrohlich ist und sich nicht nur als Quelle höchster
Weisheit, sondern auch blinder Triebhaftigkeit erweist.
Den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Kundry gibt uns aber der von
Jung geprägte Begriff der „Anima“ in die Hand. Es ist offensichtlich, dass die
große Auseinandersetzung zwischen Parsifal und Kundry eine Auseinanderset-
zung des Helden mit seiner eigenen Seele ist. Darauf weist schon die Symbolik
des szenischen Geschehens hin: Parsifal, der „auf der Mauer“ des Klingsorturms
stehend „staunend in den Garten“ hinabblickt, schaut in die Tiefe seines eigenen
Inneren hinab – aus der sein „Seelenbild“ in Gestalt des verführerischen Weibs
emporgetaucht ist. Alles, was nun folgt, spielt sich also in Parsifals Seele ab. Es ist
eine Begegnung mit seinem eigenen Unbewussten – und der erste, notwendige
Schritt auf dem Weg zur „Individuation“.
Tatsächlich trifft alles, was Jung über die Anima sagt, genau auf die Kundry zu
– sowohl das Negative als auch das Positive. Sie ist „chaotischer Lebensdrang“, die
Verkörperung von „Emotionen und Affekten“ – aber zugleich Trägerin von „ge-
heimem Wissen“ und „verborgener Weisheit“ und das Tor zur „Wiedergeburt“.
Parsifal muss sich mit ihr bewusst auseinandersetzen, um sich von ihrer Macht
zu befreien – aber diese Auseinandersetzung eröffnet ihm zugleich den Zugang
zu den tieferen Schichten des Unbewussten, in denen die Grenzen des Egos ver-
schwinden und das Individuum sich als eins mit allem Lebenden erfährt.
Vor allem aber wird nun die merkwürdige Beziehung zwischen Kundry und
Parsifals Mutter Herzeleide verständlich. Denn es handelt sich dabei nicht um
zwei wirkliche Personen, die in einem unerklärlichen Verhältnis zueinander ste-
hen, sondern um innerseelische Wirklichkeiten: die Anima und das Bild der Mut-

134
Conditio humana

ter. Diese sind Jungs Theorien zufolge beim Mann miteinander verquickt, so dass
er zwischen beiden nicht zu unterscheiden vermag. Wenn also Kundry alle Be-
gebenheiten aus dem Leben der Herzeleide weiß und diese so erzählt, als ob sie
sie selbst erlebt hätte, wenn sie sich gleichsam in Parsifals Mutter verwandelt, um
ihn als Mutter zu verführen, so kann dies nur deshalb geschehen, weil Anima und
Mutterbild miteinander so eng verschmolzen sind, dass beide geradezu identisch
sind. Subjektiv gesehen also ist Kundry tatsächlich Parsifals Mutter.
Das Mutterbild beinhaltet aber viel mehr als nur die Erinnerung an die wirk-
liche Mutter. Das, was Parsifal in der Begegnung mit Kundry-Herzeleide erlebt,
ist „das Mütterliche“ schlechthin, mit allen dazu gehörigen Eigenschaften. Das
aber hebt sein erotisches Erlebnis weit über das Ödipale im Sinne Freuds hinaus.
Was ihn hier so betörend umstrickt, ist nicht die Mutter als Person, sondern das
gesamte Unbewusste, das ihm, durch die Vermittlung der Anima, hier als Mutter
erscheint und, das Bewusstsein überf lutend, ihn in die Geborgenheit des dunklen
Mutterschoßes hinabziehen will. Das erklärt auch die ungeheure Gewalt dieser
Verführung, die ihn buchstäblich in die Knie zwingt und ihn beinahe seine höhe-
re Bestimmung, die darin besteht, ein freies sittliches Individuum zu werden, ver-
gessen lässt. Die Mutter, die schon als wirkliche Person Parsifal festhalten wollte
und sich weigerte, ihn in die Freiheit und Verantwortlichkeit des Erwachsenenle-
bens hinauszulassen, wird hier zum Archetypus: zum tiefen Abgrund, zum Meer,
zum Drachen, der das Bewusstsein verschlingt und den Menschen daran hindert,
den Weg zum „Selbst“ zu beschreiten.
Das Paradoxe ist jedoch, dass dasselbe Unbewusste, welches das Bewusstsein in
seinen Fluten zu ertränken droht, zugleich auch die „Individuation“ herbeisehnt,
die doch nur durch höchste Bewusstheit zu erlangen ist. Wenn trotzdem das Un-
bewusste in der Form der triebhaften Begierde das Bewusstsein überf lutet, so ar-
beitet es fortwährend gegen seine eigene „geheime Absicht“. Und hierin liegt die
Erklärung dafür, weshalb es Kundry trotz aller Heilssehnsucht nicht gelingt, sich
von ihrem Fluch zu befreien. Denn das Unbewusste ist mit sich selbst uneins; und
nur das Bewusstsein kann das Chaos der widerstreitenden Kräfte, die dort herr-
schen, ordnen, kann das Segensreiche und Förderliche von dem Schädlichen und
Hinderlichen sondern, um den Weg freizumachen für die Verwirklichung der tie-
feren Absichten, die dort verborgen liegen. Das ist auch das Ziel jeder sinnvollen
psychologischen Arbeit: durch „Analyse“ eine Klärung des Unbewussten herbei-
zuführen. Es gilt, dem Unbewussten zu helfen, zu sich selbst zu finden; und wie
das Unbewusste das Bewusstsein braucht, um von dem inneren Widerstreit befreit
zu werden, so braucht Kundry einen „Heiland“, der durch Erkenntnis Klarheit
schafft und sie dadurch von dem Fluch ihrer Zerrissenheit erlöst.
Nun besteht das größte Problem bei einer in die Tiefe gehenden Psychoanalyse
darin, dass das Bewusstsein ständig in Gefahr ist, durch die unbewussten Inhalte

135
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

überwältigt zu werden, wodurch eine Überf lutung der Persönlichkeit durch das
Unbewusste stattfinden würde. Deshalb muss der Analysand seine ganze Kraft
darauf richten, dem Ansturm aus der Tiefe standzuhalten; sonst würde das Unbe-
wusste das Bewusstsein zu sich herabziehen, wodurch jede Möglichkeit der Hö-
herentwicklung abgeschnitten würde. Bleibt er aber auf diese Weise standhaft,
dann klären sich die Inhalte von selbst, und die Energien, welche die neuroti-
schen Zwänge verursachten, werden allmählich erschöpft. Genauso ist es auch mit
Kundry. „Ha! Wer dir trotzte, löste dich frei“, sagt ihr Klingsor. Parsifal muss
die Stärke haben, sich vom Toben der Leidenschaften nicht mitreißen zu lassen;
er muss ihnen „trotzen“. Dann werden sie von selbst ihre wahre Natur enthüllen
und dadurch ihre gefährliche Macht einbüßen. Und dann, so könnte man sagen,
ist die Analyse geglückt.

9. Die groSSe Auseinandersetzung mit der Anima

Tatsächlich kann man in der großen Szene zwischen Kundry und Parsifal die Dar-
stellung einer glücklich verlaufenden Jung’schen Analyse sehen. Die Mittel, die
das Unbewusste in der Gestalt Kundrys hier verwendet, um das Bewusstsein zu
schwächen und sich gefügig zu machen, sind Bestrickung und Erpressung – wobei
mit „Erpressung“ ein moralischer Druck gemeint ist, der sich gerade bei einem
Menschen mit stark ausgeprägtem moralischem Gefühl als besonders wirksam er-
weisen muss. Beides sind aber unbewusste psychische Mechanismen, die – wie
wir aus der Klingsorszene wissen, wo Kundry sich gegen die ganze Verführung
heftig wehrt – nicht von ihr im engeren Sinne gewollt sind, sondern als triebhafte
Handlungen unter Zwang ablaufen.
Das ganze Verhalten der Kundry ist ein Schulbeispiel für unbewusst ablaufen-
de psychische Prozesse. Ihre Annäherung an Parsifal beginnt mit der erotischen
Verführung; diese ist es auch, die zunächst ins Auge springt. Von Anfang an be-
sitzt diese Verführung jedoch eine tiefere Dimension, die sie über die Ebene des
bloß sexuellen Genusses hebt. Denn sie geschieht ganz im Zeichen des Ödipalen,
also der Erotik, die sich in der Kindheit zwischen Sohn und Mutter entwickelt.
Kundry schildert, um diese frühkindlichen Erlebnisse aus der Tiefe der Seele he-
raufzurufen, mit größter Eindeutigkeit das erotische Fluidum, das einst Parsifal
mit Herzeleide verband:
Hei! Was ihr das Lust und Lachen schuf,
wenn sie suchend dann dich ereilt;
wann dann ihr Arm dich wütend umschlang,
ward dir es wohl gar beim Küssen bang?

136
Conditio humana

Und ganz den Theorien Freuds vom verdrängten Inzestwunsch entsprechend lässt
sie Parsifal in seiner Phantasie die Stelle seines Vaters als Liebhaber seiner Mutter
einnehmen:
Die Liebe lerne kennen,
die Gamuret umschloss,
als Herzeleids Entbrennen
ihn sengend überf loss!
Die Erinnerung an die Mutter verwendet Kundry aber auch, um eine den Wil-
len schwächende Gefühlsweichheit in Parsifal hervorzurufen. Indem sie ihm vom
Tode seiner Mutter erzählt, erweckt sie wehmütige Empfindungen in seiner See-
le, die allmählich das Bewusstsein überf luten sollen, um den moralischen Wi-
derstand aufzuweichen, den er der Verführung entgegensetzt. Doch nicht nur
das; Kundry benutzt die Erinnerung an Herzeleide auch, um die moralische Er-
pressung Parsifals einzuleiten. Diese geschieht vor allem durch das Erwecken von
Schuldgefühlen. Kundry hält Parsifal vor, dass er durch seine plötzliche Flucht
den Tod seiner Mutter verursacht habe. Durch die Trennung von der Mutter habe
er sich also in ein Verhältnis der Schuldigkeit gesetzt; und sie redet ihm ein, dass
er seine Schuld nur dann tilgen könne, wenn er sich von neuem der Mutter hinge-
be. Schuldgefühle sollen also das entlaufene Kind wieder in die Arme der Mutter
zurückführen: einer der klassischen Mechanismen der Mutter-Kind-Beziehung,
mit dem die Mutter versucht, das Kind auch nach dem Erreichen des Erwachse-
nenalters weiterhin an sich zu binden. Herzeleide hat, wie wir wissen, als wirkli-
che Mutter versucht, Parsifal am Eintritt ins Erwachsenenleben zu hindern. Und
jetzt tut sie es als Bild in seiner Seele.
Es ist aber nicht nur die wirkliche Mutter, die hier als inneres Bild auf Parsifal
einwirkt, sondern auch der Mutterarchetypus. Wie eine riesige Höhle tut sich
in seiner Seele die dunkle Tiefe des Mutterschoßes auf, der als das Bergende und
Beschützende ihm die „höchste Lust“ eines vorbewussten Zustands vorspiegelt,
in dem es keine Verantwortung und deshalb auch keinen Konf likt und kein Leid
gibt.
Mit dieser Mischung aus Sexualität, Gefühlsweichheit, Schuldgefühlen und
regressiver Mutterbindung versucht Kundry, Parsifals Widerstand einzuschlä-
fern. Würde Parsifal dieser Verführung erliegen, dann wäre es vorbei mit sei-
ner höheren Bestimmung. Doch Kundrys Verführungsversuche rufen in ihm die
entgegengesetzte Wirkung hervor. Je deutlicher das Bild seiner Mutter vor seine
Seele tritt, je schmerzlicher das Bewusstsein seiner Schuld ihr gegenüber wird,
desto mehr erwacht sein sittliches Bewusstsein und desto stärker wird sein Gefühl
für die viel tiefere Schuld, die er dem Gral gegenüber hat:

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Die Mutter, die Mutter konnt’ ich vergessen!


Ha! Was alles vergaß ich wohl noch?
Wes war ich je noch eingedenk?
Nur dumpfe Torheit lebt in mir!
Kundrys Umgarnung wirkt also nicht betörend, sondern erweckend; durch sie
wird das Bewusstsein nicht eingeschläfert, sondern im Gegenteil zu höchster
Wachheit gesteigert. Mit dem Erlebnis des Kusses geschieht dann der Durchbruch
zur Erkenntnis: Parsifal durchschaut den vorgetäuschten Schein und beginnt des-
halb Widerstand zu leisten. Dies bewirkt aber auch eine Veränderung im Verhal-
ten Kundrys, die nun beginnt, die wahre Natur ihrer Leidenschaft zu offenbaren.
Ihre erste Reaktion auf Parsifals Standhaftigkeit ist „leidenschaftliche Bewun-
derung“. Diese Reaktionsweise ist insofern interessant, als es sich bei ihr um eine
positive Selbstenthüllung handelt; denn sie ist ein Zeichen dafür, dass Kundry,
trotz aller verzweifelten Versuche, Parsifal zu verführen, den Widerstand, den er
ihr entgegensetzt, selbst will. Hier bricht aus tieferen Schichten des Unbewussten
plötzlich die Erlösungssehnsucht hervor. Gerade an Parsifals abweisender Haltung
erkennt Kundry, dass er – im Gegensatz zum „schwachen“ Amfortas – imstande
ist, ihren Verlockungen zu „trotzen“. Nun ist er also da, der Starke, Reine, der
sie von ihrem Fluch erlösen könnte. Doch sofort zeigt sich wieder die tiefe Zer-
rissenheit ihres Wesens: Die „leidenschaftliche Bewunderung“ geht über in den
wahnwitzigen Versuch, den gefundenen „Heiland“ sexuell zu verführen – was
gleichbedeutend mit seiner Vernichtung als „Erlöser“ wäre. In blinder Triebhaf-
tigkeit tut also das Unbewusste das genaue Gegenteil von dem, was seine eigene
„geheime Absicht“ ist und verhindert selbst deren Verwirklichung.
Dieser neue Verführungsversuch bricht aber in dem Moment ab, da Parsifal,
der den ganzen Wahnwitz ihres Verhaltens erkannt hat, Kundry von sich stößt.
Da kippt die „Bewunderung“ plötzlich in eine „höchste Leidenschaft“ um, die
alle Züge der Verzweif lung trägt. Nun beginnt die Begierde, die vorher so schön
und harmonisch erschienen war und höchste Wonne versprochen hatte, sich als
das zu zeigen, was sie wirklich ist: triebhafte Gier, die als Zwang erlitten wird und
nicht Glück, sondern Leid mit sich bringt. Und zugleich beginnt ein neuer Me-
chanismus abzulaufen: das Mitleid-Erwecken. Kundry erzählt Parsifal ihr eigenes
furchtbares Schicksal – in der Hoffnung, ihn dadurch an sich binden zu können:
Grausamer!
Fühlst du im Herzen
nur anderer Schmerzen,
so fühle jetzt auch die meinen.
Oh! –
Kenntest du den Fluch,

138
Conditio humana

der mich durch Schlaf und Wachen,


durch Tod und Leben,
Pein und Lachen,
zu neuem Leiden neu gestählt,
endlos durch das Dasein quält!
Nachdem sie also erfahren musste, dass Parsifal gegen die Verführung durch vor-
gespiegelte Wonne gefeit ist, versucht sie ihn nun am Kern seines sittlichen We-
sens zu fassen: an der „Fähigkeit zu bewusstem Mitleiden“. Dabei kommt noch
ein weiterer Mechanismus des Unbewussten ins Spiel: die Rationalisierung. Mit
diesem Ausdruck wird der Versuch bezeichnet, einen rein triebhaften Wunsch
dadurch für das Bewusstsein annehmbar zu machen, dass scheinbar rationale Ar-
gumente zu seiner Rechtfertigung angeführt werden. Genau das tut Kundry,
nachdem sie Parsifals Mitleid angesprochen hat, indem sie versucht, ihm einzure-
den, er könne sie am besten dadurch von ihrem Leid befreien, dass er sich mit ihr
sexuell vereinigt:
Bist du Erlöser,
was bannt dich, Böser,
nicht mir auch zum Heil dich zu einen?
Den ich ersehnt in Todesschmachten,
den ich erkannt, den blöd’ Verlachten,
lass mich an seinem Busen weinen,
nur eine Stunde mich dir vereinen,
und, ob mich Gott und Welt verstößt!
in dir entsündigt sein und erlöst!
Das ist natürlich eine wahnwitzige Verdrehung der Tatsachen; doch Kundry ist in
einem solchen Ausmaß von der Leidenschaft besessen, dass sie den offenkundigen
Unsinn ihrer „logischen“ Argumentation nicht bemerkt. Und deshalb versteigt sie
sich zuletzt zu dem nur als „paranoisch“ zu bezeichnenden Vorschlag, ihr eigenes
Heil aufzuopfern für das Heil Parsifals – indem sie sich für eine Stunde mit ihm
sexuell vereinigt:
So war es mein Kuss,
der welthellsichtig dich machte?
Mein volles Liebesumfangen
lässt dich dann Gottheit erlangen!
Die Welt erlöse, ist dies dein Amt:–
schuf dich zum Gott die Stunde,
für sie lass mich ewig dann verdammt,
nie heile mir die Wunde!

139
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Sexuelle Verführung, Ödipuskomplex, Schuldgefühle, Mitleid, Rationalisie-


rung: Das sind die Mittel, die Kundry einsetzt, um Parsifal in ihre Gewalt zu
bringen, und die sie zu einem getreuen Spiegel des Unbewussten macht, wie es
von Freud und seinen Schülern erforscht und beschrieben wurde. Hinter all die-
sen Mechanismen steht aber die Macht der Begierde als Haupttriebfeder der un-
geläuterten Seele. Und gerade diese ist es, die sich zuletzt vollständig demaskiert
und in ihrer ganzen Hässlichkeit zeigt. Vor dem Kuss hat sich die Begierde noch
als Liebe getarnt; da sie jedoch Widerstand erfährt, beginnt sie sich immer mehr
als zwanghafte Leidenschaft zu enthüllen. Sobald sie sich aber jeder Hoffnung auf
Erfüllung beraubt sieht, zeigt sie ganz offen ihr wahres Wesen und entpuppt sich
dann als nackte Besitzgier. Diese Demaskierung spiegelt sich in der äußeren Ver-
änderung, die wir an Kundry wahrnehmen. Zeigte sie sich am Anfang der Szene
als „ein jugendliches Weib von höchster Schönheit“, die mit souveräner Ruhe ihre
verführerischen Künste entfaltet, so wird sie nun immer mehr von krampf hafter
Wildheit und heftiger Verzweif lung erfasst, die sich schließlich zum „wilden Wut­
rasen“ steigern. Und weil es ihr nicht gelingt, den Gegenstand ihres Wunsches an
sich zu ziehen, kehrt sich die vorgetäuschte Liebe zuletzt völlig um und wird zu
blankem Hass. Am Ende versucht sie das, was sie nicht besitzen kann, zu zerstö-
ren: Sie ruft Klingsor zu Hilfe und fordert ihn dazu auf, Parsifal mit dem Speer
zu treffen.
Damit ist die Demaskierung der Triebnatur vollendet. Und da Parsifal auch
diesem letzten Angriff erfolgreich standhält, stürzt die ganze Begierde wie eine
mächtige Woge, die sich an einem Felsen bricht, in sich zusammen. Zurück bleibt
– eine Einöde.

10. Kundry verflucht Parsifal

Bevor es zum Zusammenbruch kommt, ereignet sich etwas, was in einem doppel-
ten Sinne den Gipfel von Kundrys Selbstenthüllung bildet. Auf dem Höhepunkt
ihrer Verzweif lung und Zerstörungswut schleudert sie Parsifal einen Fluch ent-
gegen:
Und f löhest du von hier, und fändest
alle Wege der Welt,
den Weg, den du suchst,
des Pfade sollst du nicht finden:
denn Pfad’ und Wege,
die dich mir entführen,
so verwünsch ich sie dir:

140
Conditio humana

Dieser Fluch gehört zu den wichtigsten Begebenheiten des ganzen Dramas, und
es ist merkwürdig, dass seine Bedeutung in der Wagner-Literatur bisher kaum
bzw. gar nicht gewürdigt worden ist. Denn obwohl es – auch für sie selbst – den
Anschein hat, als ob Kundry mit ihrer Verwünschung Parsifal vernichtet und ihm
jeden Weg zum Gral auf ewig versperrt, ist es in Wirklichkeit so, dass sie durch
ihren Bannspruch Parsifals Aufstieg zum Gralskönig erst ermöglicht – und dadurch
auch endlich ihre eigene Befreiung erzwingt.
Wie ist diese scheinbar paradoxe Behauptung zu verstehen? Um diese Frage zu
beantworten, muss man nur den Wortlaut des Fluches genau anschauen. Kundry
verwünscht alle Wege, die Parsifal von ihr weg führen. Umgekehrt bedeutet das
aber, dass Parsifal nur dann das Gralsgebiet wieder erreichen kann, wenn sich auch
Kundry dort befindet. Anders ausgedrückt: Er kann nur dann zum Gral gelangen,
wenn er Kundry dorthin mit sich nimmt. Kundry kann aber nur vor den Gral tre-
ten, wenn sie so geläutert ist, dass ihre innere Reinheit der des Grales entspricht.
Und so erzwingt Kundry durch den Fluch ihre eigene Verwandlung. Will Parsifal
wieder zum Gral gelangen und sich zum Gralskönig krönen lassen, dann muss
vorher Kundry so geläutert werden, dass sie gemeinsam mit ihm in den Gralstem-
pel eintreten kann.
Jetzt wird es auch klar, warum diesem Fluch eine so überragende Bedeutung
für die Werkaussage beizumessen ist. Denn er bedeutet, dass Parsifal nur dann
Anspruch darauf hat, Gralskönig zu werden, wenn es ihm gelingt, seine unbe-
wusste Triebnatur so zu läutern, dass kein Rest von Begierde darin zurückbleibt,
sondern alles in Liebe verwandelt wird. Hier bricht das Wagner’sche Ideal des
ganzheitlichen Menschen voll durch: Nicht nur der Geist soll sich dem Göttli-
chen zuwenden, sondern die gesamte menschliche Natur muss in einem solchen
Ausmaß verwandelt werden, dass kein Konf likt mehr besteht zwischen Geist und
Natur, Vernunft und Trieb, und der Mensch in der Ganzheit seiner irdischen Exis-
tenz auf eine neue, höhere Stufe des Seins gehoben wird. In diesem Ideal kommt
die höhere Welt- und Lebensbejahung zum Ausdruck, die die eigentliche Kern-
botschaft des Parsifal ist.
Der Fluch, den Kundry gegen Parsifal ausspricht, bewirkt also das Gegenteil
von dem, was sie oberf lächlich mit ihm bezweckt. Denn sie will – nachdem sie
selbst mit ihrem sexuellen Werben gescheitert ist – dass auch er in dem scheitert,
was sein innigster Wunsch ist: nämlich zum Gral zurückzukehren, und übergibt
ihn deshalb der „Irre“; doch in Wirklichkeit schafft sie durch ihren Fluch die Be-
dingung für seine Rückkehr. Offensichtlich steigt hier etwas aus tieferen Schich-
ten ihres Wesens auf und durchkreuzt die Absichten der triebhaften Leidenschaft.
Was ist es aber für eine Kraft, die hier gegen die gewaltige Macht der Triebnatur
die Wendung zum Heil erzwingt?

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Den Schlüssel zu diesem Rätsel geben uns die Worte, die Kundry, kurz bevor
sie Parsifal die Verwünschung entgegenschleudert, als Antwort auf dessen Frage,
wer Amfortas mit dem heiligen Speer verwunden konnte, ausspricht:
Er – er –,
der einst mein Lachen bestraft:
Sein Fluch – ha! – mir gibt er Kraft …
Schon die plötzliche Eindunklung, die die Musik an dieser Stelle erfährt, um-
gibt diese Aussage mit der Aura des Geheimnisvollen; und tatsächlich spricht hier
Kundry etwas aus, das die Sphäre tiefster Mystik berührt. Denn mit „Er“ kann
nur Christus gemeint sein. Er war es, der Kundry „bestrafte“, indem er ihr durch
seinen Mitleidsblick das Bewusstsein ihrer Verworfenheit gab – und damit zu-
gleich die Möglichkeit der Erlösung; sein „Fluch“ war es, der eine Strafe zu sein
schien und doch zum Heil führen sollte. Und es war auch Christus – so will uns
Kundry hier sagen – der Amfortas mit dem heiligen Speer die Wunde schlug.
Christus, als Verkörperung der dem Menschen vorausbestimmten Vollkom-
menheit, steht also hinter allem Geschehen als letzte, verborgene Ursache. Und
wie er es einst war, der Kundry durch seinen Fluch die Möglichkeit der Erlösung
gab und Amfortas verwundete, um ihn durch Leid zu läutern, so ist er es nun, der
den Bannf luch über Parsifal verhängt, um ihn auf diesem Weg zur ganzheitlichen
Vollendung zu führen.
Die Tatsache, dass dieser Fluch durch Kundry ausgesprochen wird, führt uns
an die letzten Geheimnisse des Unbewussten heran. Denn dieses reicht offensicht-
lich in Tiefen hinab, wo sogar der Gegensatz zwischen Unbewusstem und Be-
wusstsein verschwindet und etwas zu ahnen ist, das als letzter Seinsgrund beides
umfasst und durch beides wirkt, alles Geschehen nach einem für den Menschen
unerforschlichen Plan lenkend. Es ist das „Selbst“, das als unsichtbare Kraft den
Menschen seiner Vollendung entgegenführt – auch wenn der leidvolle Weg dort-
hin als „Fluch“ erscheint.

Mit der Verf luchung Parsifals ist die Enthüllung der Kundry vollendet und ihre
Macht gebrochen; nun kann ihre Verwandlung beginnen. Die Läuterung der
Triebnatur gehört jedoch zum Entwicklungsweg Parsifals und soll deshalb in ei-
nem späteren Kapitel behandelt werden. Wir wollen uns nun von dem Labyrinth
des Unbewussten verabschieden und jener Figur zuwenden, in der der bewusst
handelnde Mensch verkörpert erscheint: Amfortas, dem Gralskönig.

142
Conditio humana

3. Kapitel
AMFORTAS – ICH-WERDUNG UND FREIHEIT

Wenn man die verschiedenen Figuren des Parsifal als Symbolgestalten und Kundry
als eine Verkörperung des Unbewussten auffasst, dann muss man in Amfortas
eine Verkörperung des bewussten Ichs erkennen. Er ist der König und gebietet
über den Speer, der das „Ich will“ symbolisiert. Er ist auch der Träger morali-
scher Verantwortung, der zwischen Gral und Klingsor, Gut und Böse steht und
zwischen beiden zu entscheiden hat. Und er ist der Erste, der dem Unbewussten
in der Gestalt der Kundry begegnet und sich der Auseinandersetzung mit diesem
unheimlichen Bereich der Seele stellt. Das sind alles Eigenschaften, die wir mit
dem Ich verbinden. Als Ich steht Amfortas aber auch für den ganzen Menschen,
denn das Ich ist der Mittelpunkt der Persönlichkeit, in dem alle anderen Teile
zusammentreffen und auch alle Gegensätze aufeinanderprallen. Mit Amfortas
identifizieren wir uns als denkende und bewusst handelnde Menschen; er ist die
Verkörperung der conditio humana, an der auch wir als noch „unerlöste“ Indivi-
duen teilhaben.
Wagner war sich der zentralen Bedeutung und der Tragweite dieser Figur be-
wusst, als er sich 1857 in Zürich nach dem Karfreitagserlebnis wieder dem Parsi-
fal-Stoff zuwandte. In diesem Sinne schreibt er in dem bedeutenden Brief vom 30.
Mai 1859 an Mathilde Wesendonk:
„Genau betrachtet ist Anfortas der Mittelpunkt und Hauptgegenstand. Das ist
denn nun keine üble Geschichte das. Denken Sie um des Himmels willen, was
da los ist! Mir wurde das plötzlich schrecklich klar: es ist mein Tristan des dritten
Aktes mit einer unendlichen Steigerung […] Wo ist Ende, wo Erlösung? Leiden der
Menschheit in alle Ewigkeit fort! […] Und so etwas soll ich noch ausführen? Und
gar noch Musik dazu machen? – Bedanke mich schönstens! Das kann machen, wer
Lust hat; ich werde mir’s bestens vom Halse halten!“253
Tatsächlich verdichtet sich in der Figur des Amfortas, wie Wagner sie auffass-
te, die gesamte Grundproblematik des Menschen und der menschlichen Natur
und steigert sich zu einer beinahe unerträglichen Intensität. Alle Probleme, die
Wagner in seinen anderen männlichen Hauptfiguren zum Ausdruck gebracht hat,
finden wir in der Person und dem Schicksal des leidenden Gralskönigs vereinigt:
die Hybris des Holländers, der Geist-Sinnlichkeit-Konf likt des Tannhäuser, die
scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen göttlicher und irdischer Sphäre, an
der Lohengrin scheitert, die Problematik der Ich-Werdung und der Freiheit, die
sich in Wotan und Siegfried verkörpert, und schließlich das ungeheure Leiden
Tristans, der „vor Sehnsucht“ nicht zu sterben vermag. Ja, die Amfortas-Gestalt

143
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

enthält in einem gewissen Sinne auch das Grundproblem des Hans Sachs; denn
der Verzicht, die heitere Resignation, mit der der alternde Schuster-Poet seine
unerfüllbare Liebessehnsucht überwindet, ist eben die Aufgabe, an der Amfortas
scheitert.
So kann man in Amfortas die zentrale Gestalt innerhalb von Wagners gesam-
tem Schaffen überhaupt erblicken. Alles, was ihn je bewegt hat, f ließt in dieser
Figur zusammen und findet in ihr seine letzte und höchste Ausprägung.

1. Die Lebensgeschichte des Amfortas

Erste Kunde über Amfortas erhalten wir von Gurnemanz, als dieser das Siechtum
des leidenden Königs beklagt. Wir erfahren, dass dieser „Herr“ eines “siegrei-
chen Geschlechtes“ ist und von blühender Männlichkeit wäre, wenn das furcht-
bare Leiden nicht seine Kraft zerstört hätte. Das deutet darauf hin, dass Amfortas
von seiner Anlage her ein starker Held ist, und tatsächlich wird er nicht nur als
„kühn“ beschrieben, sondern als „allzukühn“. Diese Eigenschaften sind es wohl
auch, die ihn zu seiner wesensbestimmenden Handlung bewegen: Ohne Auftrag
durch den Gral, durch edlen Tatendrang zwar, aber auch durch Ruhmsucht, Stolz
und Eigenwillen getrieben, beschließt er, allein gegen Klingsor zu ziehen, um
das Böse zu besiegen und die Gefahr, die von diesem für die Gralswelt ausgeht,
zu beseitigen. Um diese Heldentat zu vollbringen, benötigt er eine Waffe; des-
halb nimmt er den heiligen Speer, der bisher immer untrennbar mit dem Gral
verbunden gewesen ist, an sich und zieht damit zum Kampf aus. Zum Angriff auf
Klingsor kommt es jedoch gar nicht; denn der Zauberer schickt ihm Kundry in
der Gestalt eines „furchtbar schönen Weibs“ entgegen. Unfähig, der Verführung
zu widerstehen, sinkt Amfortas in ihre Arme. Seine edle Absicht vergessend, lässt
er den Speer fallen. Dieser kann leicht von Klingor ergriffen werden; mit der
heiligen Waffe stößt er dem lusttrunkenen Gralskönig in die Seite und fügt ihm
eine schwere Wunde zu. Amfortas gelingt es zu f liehen – doch der Speer bleibt
zurück in Klingsors Gewalt. Von nun an trägt der König eine furchtbare Wun-
de an seiner Seite, die sich trotz aller Bemühungen um Heilung nicht schließen
will. Er erleidet entsetzliche Qualen, die sich ins Unermessliche steigern, sobald
er seinen Dienst als Gralskönig verrichtet; denn gerade die heilige Handlung der
Gralsenthüllung erinnert ihn an sein moralisches Scheitern und lässt ihn seine
tiefe Unwürdigkeit fühlen, so dass zu den körperlichen Schmerzen ein seelisches
Leiden hinzukommt, das ihn innerlich zu zerreißen droht.
Eines Tages erscheint ihm aber, vom Gral ausgehend, ein Traumgesicht, das die
Form eines geheimnisvollen Spruches annimmt:

144
Conditio humana

Durch Mitleid wissend


der reine Tor;
harre sein,
den ich erkor.
Amfortas, dem jede Hoffnung auf Genesung entschwunden ist, deutet die Verhei-
ßung als Hinweis auf die Erlösung im Tod. Zunächst ergibt er sich in Sanftmut
der Vorstellung, auf diese Weise vom Leid befreit zu werden. Je länger aber sein
Leiden anhält, desto mehr verwandelt sich seine Ergebenheit in heftiges Begeh-
ren: Er will nunmehr um jeden Preis sterben, damit er mit dem Leben auch sein
Leiden beende. Da er aber nicht sterben kann, solange er den Gral schaut, be-
schließt er zuletzt, den Tod mit Gewalt herbeizuzwingen, indem er sich weigert,
den Gral zu enthüllen. Dadurch werden aber auch die Gralsritter des lebens- und
kraftspendenden Anblicks beraubt und beginnen in Siechtum dahin zu welken.
Ja, mehr noch: Sein Vater Titurel, der in hohem Alter nur durch das Anschauen
des Grals am Leben erhalten worden ist, stirbt, da ihm der Anblick verweigert
wird. Auf diese Weise wird Amfortas zuletzt zum Vatermörder. Doch nichts kann
ihn von seinem Versuch abbringen, seinen eigenen Tod zu erzwingen. Er gerät
in wilde Verzweif lung, fordert die Ritter auf, ihre Schwerter in seine Wunde
zu stoßen, um endlich sein Leben und damit seine Qual zu beenden. Auf dem
Höhepunkt seiner Raserei erscheint aber Parsifal, der den Speer zurückbringt. In
dem Moment, in dem die Spitze der heiligen Lanze die Wunde berührt, wird die-
se geheilt. Amfortas ist von seinem Leiden erlöst und huldigt Parsifal als neuem
Gralskönig. –
Der Beschluss, allein zur Heldentat auszuziehen – die Trennung des Speeres vom
Gral – die Verführung durch Kundry und der Verlust des Speeres – die Verwun-
dung durch Klingsor – die Heilsweissagung – der Versuch, durch Verweigerung der
Gralsenthüllung den Tod herbeizuzwingen – und schließlich die Erlösung durch
Parsifal: Das sind die Bilder, aus denen die Amfortas-Handlung besteht. Jedes dieser
Handlungselemente ist aber ein archetypisches Bild, das eine große Bedeutungsfülle
in sich birgt und uns tiefsinnige Erkenntnisse über die existentiellen Probleme des
Menschen vermittelt. Was können wir ihnen entnehmen?

2. Ich-Werdung und Sündenfall

Wenden wir uns zunächst den beiden mythischen Bildern zu, in denen die we-
sensbegründende Tat des Amfortas zum Ausdruck kommt: die Trennung des
Speeres vom Gral und der Auszug zum Kampf gegen Klingsor. Man erkennt auf
den ersten Blick, dass es sich dabei um einen Sündenfall-Mythos handelt.

145
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Was versteht man unter „Sündenfall“? Im Alten Testament wird die Geschich-
te von Adam und Eva erzählt, die nach dem Genuss der Frucht vom Baum der
Erkenntnis, die ihnen die Fähigkeit verleiht, zwischen gut und böse zu unter-
scheiden, aus der paradiesischen Einheit mit Gott hinausgestoßen werden und in
die „Sünde“ hinabfallen.
In diesen hochsymbolischen Bildern gewinnt ein Archetypus Gestalt, den man
als Archetypus der Ich-Werdung bezeichnen kann. Wir haben es hier mit einem
Grundmuster zu tun, das in seiner allereinfachsten Form die Heraustrennung ei-
nes Einzelnen aus der Gesamtheit darstellt. Auf das menschliche Bewusstsein be-
zogen – und diese Sichtweise wird durch den Baum der Erkenntnis nahegelegt,
der hier eine so wichtige Rolle spielt – erweist sich der Sündenfallmythos als eine
Darstellung der Entstehung des menschlichen Selbstbewusstseins mit allem, was
dazu gehört. Der Mensch, der uranfänglich in der Geborgenheit der einheitlichen
Ganzheit des Seins gelebt hat, erwacht zum Bewusstsein seiner abgegrenzten In-
dividualität; und indem er sich zum ersten Mal als „Ich“ erlebt, empfindet er sein
Anders-Sein als die ihn umgebende Welt. Zugleich entsteht in ihm die Fähigkeit
zum selbständigen Denken; er kann zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden
und wird dadurch zum moralischen Subjekt, der nunmehr für seine Handlungen
selbst verantwortlich ist. „Sündig“ und ein „Fall“ ist diese ganze Entwicklung
insofern, als die Ich-Werdung nur dadurch vollzogen werden kann, dass sich der
Mensch von „Gott“ trennt, wodurch die ursprüngliche Einheit des Seins zerstört
wird.
Nun gibt es auch in einem anderen Drama Wagners ein markantes Ereignis, in
dem der Archetypus des Sündenfalls zum Ausdruck kommt: die Erschaffung des
Speeres durch Wotan im Ring. 254 Dort wird berichtet, wie der junge Wotan zur
Weltesche tritt und von dieser einen Ast abbricht, aus dem er dann seinen Speer
formt, mit dem er sich die Welt unterwirft; zugleich trinkt er aus dem „Weisheits-
quell“, der unter dem Weltenbaum hervorsprudelt. Auch in dieser Erzählung geht
es ganz offensichtlich um die Ich-Werdung des Menschen, der seinen Eigenwillen
– hier durch den Speer symbolisiert – von der einheitlichen Ganzheit des Seins
trennt und dadurch das Vermögen selbständiger Erkenntnis und freier Entschei-
dung erlangt. Auch dieser Vorgang bedeutet Trennung und somit auch Zerstö-
rung der ursprünglichen Einheit. Denn mit dem Abbrechen des Astes fügt Wotan
der Weltesche eine unheilbare Wunde zu; und indem er seinen Speer benützt, um
sich gegenüber der Welt, die er nunmehr als ein Anderes, ihm Gegenüberstehen-
des erlebt, durchzusetzen, verursacht er Zwist und Zerstörung.
Die Ähnlichkeit dieser Urtat Wotans mit der wesensbegründenden Tat des
Amfortas springt geradezu ins Auge. In beiden Fällen wird eine ursprüngliche
Einheit – dort der Weltenbaum, hier die durch das Blut Christi miteinander ver-
bundenen Gegenstände Gral und Speer – durch einen gewaltsamen Eingriff zer-

146
Conditio humana

stört; in beiden ist auch der Speer das Symbol des so entstehenden Eigenwillens,
der den Menschen dazu veranlasst, aus der ursprünglichen Geborgenheit heraus-
zutreten, seine Freiheit zu ergreifen und zu selbstständigem Tun aufzubrechen.
Für die herkömmliche Theologie ist diese geistige Selbständigkeit etwas Ver-
dächtiges; denn der Sündenfall wird dort durchaus als etwas Negatives angese-
hen. Gott – so meint man – hat dem Menschen verboten, vom Baum der Er-
kenntnis zu essen; deshalb ist die Ich-Werdung ein Akt des Ungehorsams gegen
Gott und insofern schlecht. Ganz anders stellt sich jedoch der Sündenfall in der
Sicht des Humanismus dar. Denn die Loslösung aus der Geborgenheit ist der erste
Schritt in die Freiheit – und Freiheit ist die Voraussetzung für die Entfaltung vol-
len Menschseins. Freiheit ist für eine humanistische Weltsicht ein nicht weiter zu
hinterfragendes, höchstes Ideal. Denn nur wer Freiheit im Denken und Urteilen
besitzt, kann in freier Selbstentscheidung und Eigenverantwortlichkeit das Gute
und Rechte tun; und dieses sittliche Handeln ist das höchste Ziel allen humanis-
tischen Strebens. Ja, Freiheit im Denken und Handeln ist es, was den Menschen
überhaupt zum wirklichen Menschen macht. Wollte man diesen humanistischen
Gedanken in der Sprache der traditionellen Theologie ausdrücken, so könnte man
sagen: Gott selbst will, dass der Mensch sich von Ihm befreie. Er will keine Skla-
ven, sondern freie Mitarbeiter an seinem Werk.
Nun ist die Freiheit als Voraussetzung höheren, sittlichen Menschentums einer
der Kernbegriffe in Wagners Denken überhaupt. Alle seine positiven Hauptfi-
guren sind Rebellen, die es wagen, aus der Geborgenheit gegebener Zustände
auszubrechen, und sich in radikaler Weise gegen überkommene Denk- und Hand-
lungsweisen stellen; dies gilt genauso für zarte Frauengestalten wie Evchen oder
Elsa wie für männliche Helden wie Tannhäuser oder Tristan. Am deutlichsten
kommt diese Verherrlichung der Freiheit im Ring zum Ausdruck. Ihr Symbol ist
dort das Schwert „Notung“, und die großartige, markige Kraft des sogenannten
„Schwertmotivs“ ist ein klares musikalisches Zeugnis dafür, mit welcher Begeis-
terung Wagner diesem Ideal anhing.
So ist auch die Trennung von Speer und Gral durch Amfortas – auch wenn sie
die Harmonie der alten Gralsgemeinschaft zerstört und dem König selbst schwe-
res Leid beschert – von einem höheren Standpunkt aus gesehen ein positives Er-
eignis; denn sie ist der erste Schritt in die Freiheit und somit das Tor zur höheren
sittlichen Individualität. Ohne Freiheit gäbe es keinen Parsifal-Weg; nur der freie
Mensch in der vollen Entfaltung seiner Individualität kann zu jenem sittlichen
Ich werden, das am Ende des Dramas imstande ist, das Werk der Erlösung zu voll-
bringen. Allerdings ist der Eintritt in den Stand der Freiheit tatsächlich auch ein
„Fall“; denn der Weg, auf dem man zum Gipfel gelangt, führt zunächst durch ein
tiefes Tal, in dem schwere Prüfungen und Gefahren den Menschen erwarten. Als
Ziel leuchten in der Ferne das freie Ich, die freie Erkenntnis und die freie sittliche

147
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Entscheidung; doch diesen vorgelagert sind das Ego, der Irrtum und die Willkür.
Der Abstieg in dieses Tal ist der Preis, den der Mensch bezahlen muss, um den
Berg der Vollendung zu erreichen.

3. Freiheit und Willkür

Wenn ein Individuum aus der Fremdbestimmung durch bisher fraglos übernom-
mene Denkmuster oder Autoritäten heraustritt, hat es zunächst das Gefühl, tat-
sächlich frei zu sein. Diese Empfindung beruht jedoch auf einer Täuschung. In
Wirklichkeit stellen sich dem Menschen mancherlei schwer zu überwindende
Hindernisse in den Weg, bevor er sich zur echten Freiheit erheben kann; denn
die Loslösung aus der Fremdbestimmung ist ein Sprung in einen leeren Raum,
in dem sich der Mensch erst zurechtfinden muss. Der Halt, den ihm bisher eine
feststehende Ordnung gegeben hatte, ist verschwunden; er steht allein da und hat
nichts, woran er sich klammern kann, als seine eigene Urteilsfähigkeit, die er bis-
her kaum gebraucht hat und deshalb erst entwickeln muss.
Zu den einzelnen Problemen, die dem Menschen durch das Geworfen-Sein in
die Freiheit entstehen, gehört zunächst der Irrtum. In dem Moment, in dem man
zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden kann, hat man nicht nur die Möglich-
keit, selbständig zu entscheiden, sondern auch falsche Entscheidungen zu treffen.
Dies tut Amfortas, indem er, in Überschätzung seiner Kräfte, zum Kampf gegen
Klingsor auszieht, ohne zu ahnen, dass er dabei unterliegen werde. Dass er damit
einen Irrtum begeht, wird dadurch symbolisch zum Ausdruck gebracht, dass er
seine Tat beschließt, ohne dass der Gral dazu einen Auftrag gegeben hat – was so
viel heißen will, als dass er eine Handlung ausführt, die nicht im Einklang mit
den tieferen Gesetzen seines Seins steht.
Das Scheitern des Amfortas beweist, dass sein Auszug, für sich genommen, ein
Irrtum war. Als selbständiges Individuum muss er nun die Folgen seiner miss-
glückten Tat tragen; denn Selbständigkeit bedeutet auch Verantwortung. Diese
ist die Kehrseite der Freiheit, und wenn der Mensch, der sich aus der Fremd-
bestimmung losgewunden hat, diesen neuen Zustand zunächst als Erleichterung
empfindet, so wird er bald gewahr, dass er sich damit auch eine schwere Last
aufgebürdet hat, die alles andere als angenehm ist. Bei dieser Last allein bleibt
es jedoch nicht. Zur Bürde der Verantwortung tritt die der Schuld. Denn der
Mensch, der in Eigenverantwortlichkeit handelt, muss nicht nur objektiv die
Folgen seiner Handlungen tragen, sondern lädt sich, sobald er Unrecht begeht,
auch subjektiv eine Schuld auf. Kein Mensch ist vollkommen, und es kann nicht
ausbleiben, dass er sich irrt und unrecht handelt. Und so gehört die Kette von
Freiheit, Irrtum, Verantwortung und Schuld zur conditio humana schlechthin; die

148
Conditio humana

Weigerung, sie anzunehmen, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, überhaupt


mündiger Mensch zu sein.
Durch die Ich-Werdung tut sich aber ein weiteres Problem auf, das uns zu
tieferem Nachdenken auffordert: das Problem der Willkür, die oft mit Freiheit
verwechselt wird, obwohl sie deren genaues Gegenteil ist. Was versteht man unter
diesem Begriff?
Sobald sich der Mensch aus den Fesseln der Fremdbestimmung gelöst hat,
meint er, frei zu sein; denn nun kann er endlich tun, „was er will“. Sein „Wollen“
wird jedoch in den meisten Fällen durch seine sinnliche Natur bestimmt: Entwe-
der folgt er blind den spontanen Eingebungen seiner unbewussten Triebe – oder
er handelt bewusst mit dem Ziel, seine egoistischen Wünsche zu befriedigen. Das
ist aber alles andere als echte Freiheit. Denn in Wirklichkeit ist der Mensch, der
so handelt, Sklave seiner Leidenschaft; für ein Wesen, dessen hervorragendstes
Merkmal die Vernunft ist, kann jedoch die wahre Freiheit nur darin bestehen,
die Art seines Handelns aus eigener Einsicht zu bestimmen. Um mit dem gro-
ßen Philosophen Kant zu reden: (Immanuel Kant, 1724–1804): Der wirklich freie
Mensch – d.h. derjenige, der von der Herrschaft der Leidenschaften frei ist – kann
nicht anders handeln als im Einklang mit dem Gesetz, von dessen Richtigkeit er
überzeugt ist. Alles andere ist eben Willkür.
Diese Problematik spielt auch im Denken Wagners eine große Rolle. In seinen
Schriften schließt er sich der Meinung der deutschen Klassik an, nur dass er meist
statt „Gesetz“ das Wort „Notwendigkeit“ gebraucht. 255 In einem zur Zeit der Ent-
stehung der Ring-Dichtung niedergeschriebenen Entwurf „Das Künstlertum der
Zukunft“ befindet sich z.B. folgende Notiz:
„Notwendigkeit: d.i. Freiheit. – Willkür: d.i. Unfreiheit, Wahl und Unbestimmt-
heit …“256
Diesen Gedanken führt er dann weiter aus, indem er schreibt:
„Der Mensch, wie er der Natur gegenübersteht, ist willkürlich und deshalb un-
frei: aus seiner Entgegengesetztheit, seinem willkürlichen Zwiespalt mit ihr, sind
all seine Irrtümer (in Religion und Geschichte) hervorgegangen: erst wenn er die
Notwendigkeit in den natürlichen Erscheinungen und seinen unlösbaren Zusam-
menhang mit ihr begreift und sich ihrer bewusst wird, ihren Gesetzen sich fügt,
wird er frei.“257
Im Parsifal ist es offensichtlich, dass Amfortas nicht dem Gesetz bzw. dem Notwen-
digen folgt, sondern der Willkür verfällt. Schon sein Beschluss, gegen Klingsor
zu kämpfen, ist – trotz der edlen Absicht – ein Akt der Willkür, da bei ihm auch
Stolz und Ruhmsucht als Motive mitwirken. Wenn er dann Kundry begegnet,
gibt er seine Freiheit gänzlich preis. Er wird von der Triebnatur geradezu über-

149
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

schwemmt, und sein Denken – das ja die Voraussetzung jeder freien Tat ist – setzt
völlig aus; er ist gar nicht mehr fähig, überhaupt eine bewusste Entscheidung zu
treffen. Mit großartiger Einfachheit bringen die mythischen Bilder diesen Vor-
gang um Ausdruck. Indem Amfortas Kundry in die Arme sinkt, lässt er den Speer
– das Symbol seines Willens – fallen; dieser kann dann leicht von Klingsor, der
das Ego-Prinzip verkörpert, ergriffen werden, der ihn dadurch in seine Gewalt
bekommt. Sein Wille steht nunmehr unter der Herrschaft des Ego; er richtet sich
nicht mehr auf höhere Ziele, sondern strebt nach der Befriedigung der eigenen
Begierde.
Mannigfach sind also die Probleme, die durch die individuelle Freiheit auf den
Menschen zukommen, und es ist nur allzu verständlich, dass es, um den Titel eines
Buches des scharfsinnigen Psychologen Erich Fromm (1900–1980) zu zitieren, eine
„Furcht vor der Freiheit“ gibt. Diese Probleme werden noch verschärft durch die
Tatsache, dass das Erwachen zur Freiheit Hand in Hand mit dem Erwachen des
selbständigen Denkens geht, das dem Menschen die Fähigkeit verleiht, sein eigenes
Tun zu ref lektieren und zu bewerten. Wenn er nun triebhaft handelt, so kann er
nicht umhin, über dieses Handeln nachzudenken und dessen Richtigkeit nach dem
Maßstab zu beurteilen, den ihm sein Geist liefert. So entsteht mit der Ich-Werdung
zugleich ein Konf likt, der dem „paradiesischen“ Menschen unbekannt war: der
Konf likt zwischen Geist und Sinnlichkeit, Vernunft und Trieb. Das Hin- und Her-
gerissen-Sein zwischen diesen beiden Polen gehört nach dem Sündenfall auch zur
conditio humana. Allerdings erfährt diese Problematik in Amfortas eine Steigerung,
die bis an die Grenzen dessen geht, was der Mensch ertragen kann.

4. Der Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit

Der Widerspruch zwischen den Forderungen des Geistes und den Trieben der
sinnlichen Natur tritt uns in den Werken Wagners am deutlichsten im Tannhäu-
ser entgegen. Dort werden die beiden Pole des menschlichen Wesens durch zwei
göttliche Wesen symbolisiert: Maria, die das rein geistige, und Venus, die das
rein sinnliche Prinzip verkörpert. Zwischen diese Pole, die beide für sich ge-
nommen einseitig sind, wird der Mensch hineingestellt. Wagners Ideal ist aber
die Ganzheit, die nur in einer vollendeten Synthese beider bestehen kann. Eine
solche Synthese streben Tannhäuser und Elisabeth an: Er, indem er, vom Venus-
berg kommend, durch Elisabeth an das Geistige herangeführt wird; sie, indem sie
Tannhäusers Sinnlichkeit in sich aufnimmt. Beide streben also, von entgegenge-
setzten Richtungen kommend, die Integration des jeweiligen Gegensatzes an, um
auf diese Weise vollendete Menschen zu werden, die Geist und Sinnlichkeit zu
einer harmonischen Einheit verbinden. 258

150
Conditio humana

Nun ist es so, dass im Tannhäuser die Verwirklichung der Synthese scheitert.
Woran aber liegt das? Warum ist der Gegensatz zwischen den beiden Polen nicht
aufzuheben? Ja, warum sind sie überhaupt Gegensätze? Warum fordert der Geist
etwas anderes als das, wozu uns unsere Triebnatur drängt?
In der christlichen Tradition wird das Geist-Sinnlichkeits-Problem oft im Rah-
men der Sexualmoral gesehen: „Sündig“ sei das „Fleischliche“, d.h. die körperliche
Lust, während der Geist uns dazu auffordere, uns ganz Gott hinzugeben und auf den
körperlichen Genuss zu verzichten. Die Vorstellung, dass die Sexualität Sünde sei,
ist jedoch Wagner gänzlich fern. Bei ihm geht es immer um Tieferes; der Urkonflikt,
der ihn beschäftigt, ist der zwischen Trennung und Einheit. Das „Göttliche“ oder
„Heilige“ ist für ihn – vor allem nach seinem Schopenhauer-Studium – die Einheit,
die der Vielheit zugrunde liegt; unser Geist fordert uns dazu auf, diese Einheit zu
verwirklichen, indem wir uns christusgleich zugunsten anderer hingeben. Unsere
sinnliche Natur ist jedoch ganz auf die Befriedigung eigener Wünsche gerichtet. Da-
mit verstärkt sie die Trennung und verhindert die Verwirklichung dessen, was der
Geist gebietet. So scheinen Geist und Sinnlichkeit völlig auseinanderzugehen.
Dieser Konf likt wird nun von Amfortas in seiner höchsten Potenzierung er-
lebt. Denn beides – sowohl das geistige als das sinnliche Element – sind in ihm in
außergewöhnlicher Fülle vorhanden. Dass er eine starke Sinnlichkeit besitzt, er-
sehen wir nicht nur aus der Leichtigkeit, mit der er der Verführung durch Kundry
erliegt, sondern dies wird auch von ihm selbst eindrucksvoll beschworen, indem er
von „des sündigen Blutes Gewell“ und dem „heißen Sündenblut“ singt, das „sich
mit wilder Scheu in die Welt der Sündensucht ergießt“. Darauf deutet aber auch
die Beschreibung des Gurnemanz, der Amfortas als kühnen Helden schildert, der
im gesunden Zustand „der Mannheit stolze Blüte“ wäre – wie sein Vorbild bei
Wolfram, der nicht nur ein starker, mit besonderer Schönheit ausgestatteter Held,
sondern auch voller erotischer Begierde ist. 259
Was aber den Geist-Sinnlichkeits-Konf likt bei Amfortas ins Unermessliche
und schier Unerträgliche steigert, ist die Tatsache, dass er Gralskönig ist: d.h.,
dass er nicht nur um die hohe Bestimmung des Menschen weiß, sondern auch das
Bewusstsein hat, dazu berufen zu sein, diese Bestimmung selbst vorbildlich zu
verwirklichen. Seine Aufgabe wäre es, in jedem Augenblick christusgleich sein
Leben bis zum letzten, höchsten Opfer in den Dienst anderer zu stellen. Doch
seine sinnliche Natur treibt ihn dazu, stattdessen auf höchst egoistische Weise
Befriedigung der eigenen körperlichen Lust zu suchen. Dieses Bewusstsein der
eigenen hohen Aufgabe – und das Bewusstsein, vor dieser Aufgabe zu versagen –
ist der Grund für die furchtbaren Qualen, die er erleiden muss. Sein Leiden ist die
Gewissenspein eines im höchsten Maße sich selbst entfremdeten Menschen.
Man hat im Abendland immer wieder versucht, diesen unheilvollen Zwie-
spalt aufzulösen. Dies geschah aber meistens nach guter Kriegsmanier: Man legte

151
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

den Streit so bei, dass die eine Partei die andere besiegte und zur Unterwerfung
zwang. Focht man auf der Seite des Geistes, so unterdrückte man die Triebnatur,
damit die Vernunft ungehindert seine Ansprüche durchsetzen konnte. Dies war
der Weg der Askese; aber es war auch der Weg Kants, der behauptete, dass eine
sittliche Entscheidung allein durch die Vernunft bestimmt werde – ja, dass sie
sogar nur dann sittlich genannt werden dürfe, wenn sie gegen den Trieb der sinn-
lichen Natur gefällt werde. Wer dagegen für die Sinnlichkeit stritt, musste dem
Geist und den sittlichen Geboten jeglichen Einf luss auf das Leben verbieten. Das
war – und ist heute noch – der Weg all jener, die das ungehemmte Ausleben der
Triebe und die schrankenlose Selbstverwirklichung als Ideal propagieren. Beide
sind in der Sicht des Parsifal zu verwerfen: die Leugnung des Geistes, weil sie dem
natürlichen Egoismus freie Bahn verschafft, die Abtötung der natürlichen Triebe,
weil sie zu Gefühlskälte und somit zur Lieblosigkeit führt. Dass gerade der zweite
Weg verfehlt ist, zeigt die Geschichte Klingsors, der durch seine Selbstkastration
zum Inbegriff des Bösen wird.
Es war das Verdienst Schillers (Friedrich Schiller, 1759–1805), erkannt zu ha-
ben, dass, sobald die Vernunft die Triebe, oder die Triebe die Vernunft unterdrü-
cken, beide im gleichen Ausmaß das Ideal der Freiheit verraten. Ihm tat sich ein
dritter Weg auf, welcher die Versöhnung der beiden gegensätzlichen Prinzipien
herbeiführen könnte. Am Sittengesetz – so sagte er sich – lässt sich nicht rütteln;
das Gebot, andere Wesen zu respektieren und ihr Wohl dem eigenen gleich zu
stellen, besitzt, da es auf Vernunfterkenntnis beruht, absolute Gültigkeit. Die Lö-
sung muss also von der anderen Seite her kommen: Die sinnliche Natur müsste
irgendwie dazu gelangen, von sich aus dasselbe zu wollen wie die Vernunft. Nur
dann könnten beide Teile des menschlichen Wesens in völliger Freiheit auf ein
gleiches Ziel hinstreben. Demnach bestünde der einzige gangbare Weg zur Frei-
heit und Ganzheitlichkeit darin, die menschliche Triebnatur so zu läutern, dass
sie ihre eigene Befriedigung darin findet, solidarisch mit anderen zu sein. Dann
wäre das menschliche Wesen frei und würde eine harmonische Ganzheit bilden.
Die Kraft – so Schiller – welche die Triebe so zu läutern vermag, dass diese
von sich aus das Rechte wollen, ist die Liebe. Denn das Wesen der Liebe besteht
darin, durch Selbsthingabe glücklich zu werden. In ihr treffen tatsächlich Pf licht
und Neigung, sittliches Gebot und spontaner Gefühlsdrang zusammen. Denn wer
liebt, empfindet die Beschränkung des eigenen Wesens, die durch die Aufopfe-
rung für andere verursacht wird, als tiefe Befriedigung; wer liebt, verliert, um zu
gewinnen, und gelangt gerade durch die Selbsthingabe zur höchsten Erfüllung.
Kein Sittengesetz muss ihm den rechten Weg vorschreiben, den ihm sein Gefühl
in spontaner Entscheidung von sich aus weist. Das ist es, was Schiller meinte, als
er jene von Wagner in „Religion und Kunst“ zitierten Worte über die christliche
Religion schrieb, deren Verdienst in der „Auf hebung des Gesetzes oder des Kan-

152
Conditio humana

tischen Imperativs“ bestehe, „an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung
gesetzt haben will“. 260
Im Parsifal ist es dann das Mitleid, das als höchste und reinste Form der Liebe
die Aufgabe übernimmt, Geist und Sinnlichkeit miteinander zu versöhnen. Mit-
leid ist es, das die harte Schale des Egoismus durchbricht und dem Menschen seine
metaphysische Zusammengehörigkeit mit anderen Wesen zu Bewusstsein bringt;
Mitleid bewirkt, um mit Schopenhauer zu sprechen, „dass jener gänzliche Un-
terschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus
beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei“. Wenn ich von Mit-
leid erfüllt bin, empfinde ich „das Wohl und Wehe eines Anderen, unmittelbar,
d. h. ganz so wie sonst nur mein eigenes“, so dass „ich demselben mein eigenes
Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger
nachsetze.“ 261 Mitleid hebt also den natürlichen Egoismus der Triebnatur auf und
bewirkt, dass das Gefühl von sich aus das Sittliche will. Mit anderen Worten: Wer
„durch Mitleid wissend“ wird, löst dadurch den Zwiespalt zwischen Geist und
Sinnlichkeit auf.
Die Tragik des Amfortas besteht darin, dass er diese Möglichkeit nicht er-
kennt. Unfähig, seine Begierde zu besiegen und genauso unfähig, sein Gewissen
zum Schweigen zu bringen, sieht er keine Möglichkeit, aus dem quälenden Kon-
f likt herauszukommen, der sein Leben zur Hölle macht. Deshalb kann er sich
Erlösung nur im Tod vorstellen; und in diesem Sinne deutet er den Heilsspruch,
der ihm den mitleidsvollen Retter verheißt:
Der reine Tor!
Mich dünkt, ihn zu erkennen:
dürft’ ich den Tod ihn nennen!
Amfortas begehrt also zu sterben, um von seinem unerträglichen Leiden erlöst zu
werden. Dass er aber gerade durch dieses Begehren sein Leiden steigert – und die
Erlösung, die er so sehnlich herbeiwünscht, verhindert – diese so paradox anmu-
tende Tatsache führt uns in eine noch tiefere Schicht der Amfortas-Problematik
hinein.

5. „Leiden der Menschheit in alle Ewigkeit fort!“

Im bereits zitierten Brief an Mathilde Wesendonk vom 29. Mai 1859, der das ers-
te Zeugnis seiner tieferen Beschäftigung mit dem Parsifal ist, beschreibt Wagner
zum ersten Mal seine Auffassung der Amfortas-Figur :
„Mir wurde das plötzlich schrecklich klar: es ist mein Tristan des dritten Aktes mit
einer unendlichen Steigerung. Die Speerwunde, und wohl noch eine andere – im

153
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Herzen, kennt der Arme in seinen fürchterlichen Schmerzen keine andere Sehn-
sucht, als die zu sterben; dieses höchste Labsal zu gewinnen, verlangt es ihn immer
wieder nach dem Anblick des Grals, ob der ihm wenigstens die Wunden schlösse,
denn alles Andere ist ja unvermögend, nichts – nichts vermag zu helfen: – aber der
Gral gibt ihm immer nur das Eine wieder, eben dass er nicht sterben kann; gerade
sein Anblick vermehrt aber nur seine Qualen, indem er ihnen noch Unsterblichkeit
gibt […] Er lebt, lebt von neuem, und furchtbarer als je brennt die unselige Wunde
ihm auf, seine Wunde! Die Andacht wird ihm selbst zur Qual! Wo ist Ende, wo
Erlösung? Leiden der Menschheit in alle Ewigkeit fort!“262
Hier fasst Wagner alles zusammen, was das fürchterliche Leiden des Amfortas
ausmacht – und, um dieses in seiner vollen Größe erscheinen zu lassen, vergleicht
er den Gralskönig mit dem Tristan des III. Aktes. Worin aber besteht das Leiden
des Tristan?
Das, was diesem so furchtbare Qualen bereitet, ist zunächst das „Sehnen“, d.h die
Begierde an sich, die nie wirkliche Erfüllung finden kann, weil jedes Begehren nach
einer Scheinbefriedigung nur neues Begehren erzeugt. Dieses von Schopenhauer
klar erkannte Problem kommt hier in der Hoffnungslosigkeit von Tristans Liebe zu
Isolde zum Ausdruck: eine Liebe, die in der Welt, in der sie leben, nie erfüllt wer-
den kann. Diese Problematik erfährt jedoch im III. Akt eine unerhörte Steigerung.
Denn Tristan weiß, dass er nur im Tod das Ziel seiner Sehnsucht erreichen kann;
nur in der großen Leere des „Urvergessens“, in der es keine Zeit, keinen Raum und
keine Vielfalt mehr gibt, und alles Individuelle verschwindet, kann er die völlige
Eins-Werdung mit Isolde erlangen, die hier, in diesem Leben, durch die ehernen
Schranken der Individualität von ihm getrennt ist. Deshalb sehnt er sich nach dem
Tod. Doch je heftiger er zu sterben begehrt, desto mehr versperrt er sich den Weg
zur Vereinigung; denn das „Ich will“ verfestigt nur die Mauer, die ihn von allem
anderen trennt, und verhindert dadurch die Auflösung, die ihm die ersehnte Ver-
schmelzung mit der Geliebten bringen soll. Deshalb sein verzweifelter Ausruf:
Im Sterben mich zu sehnen,
vor Sehnsucht nicht zu sterben!
Auch Amfortas leidet auf diese Weise zweifach an der Begierde. Zum einen quält
ihn, wie jeden Menschen, die Begierde an sich, die bei ihm auch deshalb uner-
füllbar ist, weil das Bewusstsein seiner höheren Aufgabe es ihm verbietet, sich ihr
ganz hinzugeben. Dieses Leiden ist es, das Parsifal meint, wenn er, die Qualen des
Amfortas mit-leidend, ausruft:
Hier! Hier im Herzen der Brand!
Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,
das alle Sinne mir fasst und zwingt!

154
Conditio humana

Doch bei Amfortas kommt auch noch das zweite Leiden Tristans hinzu: das
Nicht-Sterben-Können. Denn er befindet sich nicht nur in der furchtbaren Situ-
ation, dass gerade der Anblick des lebensspendenden Gefäßes ihm immer wieder
Leben schenkt, wodurch ihm die so heiß ersehnte Erlösung verwehrt wird; son-
dern auch bei ihm ist es die „Sehnsucht“ nach Befreiung – um mit dem Buddha
zu reden: der „Durst nach Vernichtung“ – die ihm paradoxerweise den Weg zur
Befreiung versperrt. Solange Amfortas die eigene Erlösung – die ja die Erlösung
von seiner quälenden Begierde ist – begehrt, wird er diese nicht finden; ja, je mehr
er sie begehrt, desto ferner rückt sie. Es ist dasselbe Problem, das wir bei Kundry
festgestellt haben: Indem sie die Erlösung von der Begierde begehrt, verstrickt sie
sich nur immer mehr in das, wovon sie erlöst werden will.
Damit ist aber das Höchstmaß des Leides noch nicht erreicht. Wagner nennt
Amfortas den „Tristan des dritten Aktes mit einer unendlichen Steigerung“. Tat-
sächlich geht Amfortas über Tristan in einem wesentlichen Punkt weit hinaus:
Bei ihm kommt hinzu, dass er die furchtbarsten Qualen des Gewissens leiden
muss. Denn er ist Gralskönig. Jedes Mal, wenn er den Gral enthüllt, um den ihm
auferlegten Dienst zu vollziehen, wird er an seine höhere Bestimmung gemahnt;
und jedes Mal wird ihm bewusst, dass er, „einz’ger Sünder unter allen“, versagt
hat und fortwährend Verrat an dem ihm anvertrauten Heiligen ausübt. Dieses
Bewusstsein existentiellen Scheiterns ist die höchste Stufe des Amfortas-Leidens;
in ihm erreicht die seelische Qual eine wahrhaft unerträgliche Intensität, so dass
dem sündigen König tatsächlich kein anderer Ausweg zu bleiben scheint als der
Tod.
Wagner hat also in der Figur des Amfortas alles zusammengefasst, was der
Mensch überhaupt leiden kann – körperlich, seelisch und geistig – und dieses bis
zur höchstmöglichen Intensität gesteigert. Der leidende Gralskönig ist auch wohl
eine der erschütterndsten Gestalten, die je von einem Künstler ins Leben gerufen
worden sind, und seine beiden Klagen im I. und III. Akt, in denen er nach Er-
lösung f leht, gehören auch zu den ergreifendsten Szenen in Wagners gesamtem
Schaffen. In Amfortas findet das leidvolle Wesen des unerlösten Menschen seine
höchste und umfassendste Verkörperung.

6. Der Gralskönig als Vatermörder

Das „Sehnen“ nach Erlösung im Tod ist angesichts der Ungeheuerlichkeit des
Leides, das Amfortas zu ertragen hat, nur allzu verständlich, was ihn zu einer
wahrhaft tragischen Figur macht. Deshalb verdient auch sein Versuch, den Tod
herbeizuzwingen, indem er sich weigert, den Gral zu enthüllen, unser tiefes Mit-
gefühl. Diese Auf lehnung gegen seine Verpf lichtung als Gralskönig zeigt aber

155
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

auch auf radikale Art und Weise, wohin letztendlich die Begierde führen muss,
wenn es dem Menschen nicht gelingt, sich von ihrer Herrschaft zu befreien. Tat-
sächlich bedeutet der Versuch des Königs, die eigene Erlösung durch den Tod zu
erzwingen, eine Katastrophe für die ganze Gralswelt; denn der Gral erhält nicht
nur ihn am Leben, sondern spendet der gesamten Ritterschaft Lebenskraft. Indem
Amfortas den ihm anvertrauten Menschen den Anblick des heiligen Gefäßes ver-
weigert, entzieht er ihnen gleichsam ihre Lebensgrundlage. Dadurch werden die
Ritter in Elend gestürzt; doch mehr noch: Titurel, „den nun des Grales Anblick
nicht mehr labte“, stirbt – „ein Mensch wie alle“. Amfortas wird also durch seine
Erlösungsbegierde zum Mörder des eigenen Vaters.
In diesem Bild wird uns deutlich vor Augen geführt, wie triebhafte Begierde,
sich selbst überlassen, am Ende zu rücksichtslosem Egoismus führen muss. Denn Am-
fortas stellt zuletzt auf radikale Art und Weise sein eigenes Wohl über das Wohl
der anderen. Sein Verhalten ist das gerade Gegenteil von dem, was Christus vor-
gelebt hat und das Ideal des Gralsritters sein sollte. Denn Christus hat unermess-
liches Leid auf sich genommen, um anderen Leid zu ersparen. Amfortas dagegen
bringt unermessliches Leid über andere, um selbst frei von Leid zu werden. Tiefer
konnte er gar nicht sinken.

7. Die Wunde

Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie Wagners künstlerische Einbil-


dungskraft komplexe gedankliche Zusammenhänge in einfache mythische Bilder
fasst. So gelingt es ihm, die gesamte Problematik des Amfortas zu einem einzigen
Symbol zu verdichten, das alle Schichten des Leidens in sich vereinigt. Es ist das
Symbol der Wunde.
Versuchen wir, die verschiedenen Bedeutungsebenen der Amfortas-Wunde zu
beleuchten. Konkret handelt es sich dabei um eine wirkliche Verletzung, die Am-
fortas ganz reale, körperliche Schmerzen bereitet. Physischer Schmerz ist jedoch
nur der vordergründige Aspekt des Leidens an der Wunde. Dass die Verletzung
des Amfortas weit mehr als nur eine körperliche Wunde ist, geht aus den Worten
hervor, mit denen Parsifal in seiner großen Mitleidsvision die Qualen des Grals-
königs beschreibt:
Nein! Nein! Nicht die Wunde ist es.
Fließe ihr Blut in Strömen dahin!
Hier! Hier im Herzen der Brand!
Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,

156
Conditio humana

das alle Sinne mir fasst und zwingt!


Oh! – Qual der Liebe! –
Wie alles schauert, bebt und zuckt
in sündigem Verlangen!
„Das Sehnen, das furchtbare Sehnen“: Aus diesen Worten entnehmen wir, dass das
Leiden des Amfortas vor allem ein seelisches ist. Es ist die Begierde, die ihn quält,
weil sie nie dauerhaft befriedigt werden kann. Dass das Leiden an der Wunde ein
Leiden an der Begierde ist, bringen die symbolischen Ereignisse der Handlung
auch dadurch zum Ausdruck, dass Amfortas seine Verletzung während seines ero-
tischen Abenteuers mit Kundry empfängt. Sinnliches Begehren und Wunde – das
wollen die mythischen Bilder hier sagen – sind eins.
Die Wunde steht jedoch nicht nur in Zusammenhang mit Kundry, sondern
auch mit Klingsor; dieser ist es, der den Speer in seine Gewalt bringt und Am-
fortas damit verletzt. Klingsor ist aber die Verkörperung des Ego-Prinzips; und
wenn er Amfortas mit dessen eigenem Speer verwundet, so will das auf den Zu-
sammenhang zwischen der Begierde und dem Egoismus hinweisen.
Selbstentfremdung des Menschen durch Egoismus: Dieser Aspekt weist auf
eine noch tiefere Bedeutungsschicht der Wunden-Symbolik hin. Diese bringt
Wagner auf geniale Art und Weise durch die Musik zum Ausdruck. Schauen wir
das Klangsymbol der Wunde genauer an. Wir sehen sogleich, dass es aus zwei Tei-
len besteht: einer aufsteigenden Sekunde, die sogleich wieder nach unten gebogen
wird – und einer aus vier Noten bestehenden melodischen Figur, die man als das
eigentliche Wundenmotiv bezeichnen kann:

Den ersten Teil haben wir bereits bei unserer Analyse des Vorspiels kennenge-
lernt: Die aufsteigende Sekunde, bei Wagner immer Ausdruck der Sehnsucht, ist
im sogenannten „Abendmahlsmotiv“ Teil der aufsteigenden Linie der göttlichen
Liebe, die sich danach sehnt, frei nach oben zu strömen – jedoch gewaltsam daran
gehindert wird, indem die Linie durch das Motiv der Wunde nach unten gezwun-
gen wird. Durch die Begierde wird die göttliche Liebe, die den eigentlichen We-
senskern des Menschen bildet, an ihrer freien Entfaltung gehindert, wodurch der
Mensch seinem eigenen innersten Wesen entfremdet wird.
Der zweite Teil des Wundenmotivs ist aber identisch mit einem Motiv, das
wir aus Tristan und Isolde kennen: Es sind jene vier Noten, die mit schneidender
Schärfe den II. Akt einleiten:

157
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Diese vier Noten bilden im Tristan das Motiv des „Tages“. Der „Tag“: Das ist die
Sinnenwelt, die Welt der Erscheinungen, in der wir im hellen Licht der Sonne
die einzelnen Dinge und Wesen als scharf voneinander unterschieden erleben. Er
steht im polaren Gegensatz zur „Nacht“, deren Dunkelheit alle Unterschiede aus-
löscht, und in der wir das Sein als eine unteilbare Einheit erleben.
Der „Tag“ ist also das Prinzip der Trennung an sich. Und wenn der Hauptteil
des Wundenmotivs im Parsifal mit dem Motiv des „Tages“ aus Tristan und Isolde
identisch ist, so bringt die Musik damit zum Ausdruck, dass die Wunde in ihrer
tiefsten und umfassendsten Bedeutung das Leiden an der Trennung schlechthin
symbolisiert: der Trennung des Menschen vom Göttlichen sowie der Trennung
des Einzelnen von den Mitmenschen – aber auch der Trennung des Menschen von
seiner höheren Bestimmung.

8. Die zwei Arten des Blutes

Es ist die Begierde, die ungeläuterte Triebnatur, die den Menschen immer wieder
dazu zwingt, seiner höheren Bestimmung entgegen zu handeln. Der Konf likt
zwischen Geist und Sinnlichkeit, der dadurch entsteht, kommt in der Symbolik
des Blutes zum Ausdruck.
Amfortas trägt in sich zwei verschiedene Arten von Blut, die beide symboli-
sche Bedeutung besitzen. Da ist das „heiße Sündenblut“, das „ewig erneut aus des
Sehnens Quelle“ aus der Wunde f ließt; dieses steht aber in schroffem Gegensatz
zum Christus-Blut des Grales, dessen Gegenwart Amfortas im eigenen Herzen
empfindet. Das „sündige“ Blut ist Träger des Egoismus und der Begierde; die
Substanz des Christus-Blutes dagegen ist, wie Wagner in „Heldentum und Chris-
tentum“ sagt, „die Einheit der menschlichen Gattung“ und die „Fähigkeit zu be-
wusstem Leiden“, also Mitleid und allumfassende Liebe. Das „heilige“ und das
„sündige“ Blut treffen nun in Amfortas aufeinander – einerseits in seinem Herzen,
das von „Sünde“ erfüllt ist, in das sich aber auch „des heiligen Blutes Quell“ aus
dem Gral sich ergießt, andererseits in der Wunde, wo Reste des Christus-Blutes,
das am heiligen Speer haftet, zurückgeblieben sind. An beiden Orten wird das

158
Conditio humana

reine Blut Christi durch das unreine der egoistischen Begierde „entweiht“. Und
das Bewusstsein dieser Entweihung des Heiligen durch die „sündige“ Triebnatur
– d.h. des Versagens vor dem Göttlichen und vor seiner eigenen höheren Bestim-
mung – dieses Bewusstsein quält Amfortas mehr als alles andere.
Das Verhältnis zu Christus, das, anstatt Amfortas zu erheben, ihm zur Quelle
des Leides wird, kommt auch durch die nähere Beschaffenheit der Wunde zum
Ausdruck. Es war gewiss ein wichtiger Augenblick in der Entstehungsgeschichte
des Parsifal, als Wagner beschloss, die Wolfram’sche Darstellung, nach der der
König an den Genitalien verletzt war, zu verwerfen, und die Wunde an der Sei-
te des Amfortas zu lokalisieren. Dadurch entstand eine Art von Gleichheit zwi-
schen dem Gralskönig und Christus, die jenem allerdings erst recht seine eigene
Verkommenheit qualvoll zum Bewusstsein bringen musste. Beide tragen die Ver-
letzung an der Seite; beide Wunden wurden „geschlagen von desselben Speeres
Streich“. Doch während die Wunde Christi ein Sinnbild der liebenden Selbsthin-
gabe und des Mit-Leidens ist, ist die Amfortas-Wunde ein Symbol des Leidens an
der eigenen Begierde. So wird Amfortas durch die Wunde fortwährend an Chris-
tus – und dadurch an seine höhere Bestimmung – erinnert, und zugleich daran,
dass er diese Bestimmung verraten hat. Das ist auch der Sinn jener erschütternden
Worte, in denen der Gralskönig selbst den tiefsten Grund seines Leidens preisgibt:
Hier durch die Wunde, der seinen gleich,
geschlagen von desselben Speeres Streich,
der dort dem Erlöser die Wunde stach,
aus der mit blut’gen Tränen
der Göttliche weint’ ob der Menschheit Schmach
in Mitleids heiligem Sehnen –
und aus der nun mir, an heiligster Stelle,
dem Pf leger göttlichster Güter,
des Erlösungsbalsams Hüter,
das heiße Sündenblut entquillt,
ewig erneut aus des Sehnens Quelle,
das ach! Keine Büßung je mir stillt!

9. Amfortas als Verkörperung der


modernen Menschheit

Ist die Figur des Amfortas mit ihrem vielfachen Leid schon als Einzelperson er-
greifend, so gewinnt ihre Tragik eine noch größere Bedeutung, wenn man sich
klar macht, dass es sich bei dem leidenden Gralskönig nicht nur um eine bestimm-

159
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

te Einzelperson, sondern auch um eine symbolische Figur handelt, in der mensch-


liches Schicksal schlechthin verkörpert erscheint. Ja mehr noch: Amfortas und
sein Schicksal stehen in unmittelbarer Beziehung zu uns; denn er ist auch eine
Verkörperung der ganz besonderen Problematik des modernen abendländischen
Menschen.
Dies geht schon aus der Symbolik des Speeres deutlich hervor. Wie Amfortas
den Speer vom Gral trennt und mit kühner Selbstherrlichkeit zu weltverwandeln-
den Taten auszieht, so hat sich die neuzeitliche Menschheit in der Renaissance aus
der Bevormundung durch die geistige und gesellschaftliche Ordnung des Mit-
telalters gelöst und, ihre Freiheit ergreifend, sich in das Abenteuer eines nur auf
den Menschen und seine eigene Kraft gestellten Weltbewältigung hineinbegeben.
Und wie Amfortas scheitert auch der neuzeitliche Mensch an seiner eigenen mo-
ralischen Schwäche; denn auch er handelt nicht im Einklang mit den großen Ge-
setzen des Seins, sondern lässt sich von Egoismus und Willkür leiten. Beide wer-
den so ihrer ursprünglichen Aufgabe, für das Leben einzutreten, entfremdet und
beginnen das ihnen anvertraute Leben zu zerstören, anstatt es zu beschützen – der
eine, um eigenes Leid zu vermeiden, der andere, um Genuss zu erlangen. Und wie
Amfortas am Ende in eine hoffnungslose Situation hineingerät, in der ihm das
Weiterleben unmöglich erscheint, so hat sich in unserer Zeit die Entwicklung der
Menschheit bis zur tödlichen Krise zugespitzt, aus der es für viele keinen Ausweg
mehr zu geben scheint.
Besonders deutlich tritt uns diese Parallele vor Augen, wenn wir uns klar
machen, was die Weigerung des Amfortas, den Gral zu enthüllen, symbolisch
bedeutet. In dieser trotzigen Haltung kommt die nihilistische Einstellung eines
Menschen zum Ausdruck, der, weil er unfähig ist, die Diskrepanz zwischen seiner
geahnten höheren Bestimmung und seiner als Tatsache erlebten, gegenwärtigen
Unvollkommenheit zu überbrücken, den Konf likt dadurch zu lösen versucht, dass
er das Höhere einfach aus seinem Bewusstsein verdrängt. Klingsor hatte einen
ähnlichen Konf likt erlitten und versuchte ihm dadurch zu entkommen, dass er
das Sinnliche abtötete; Amfortas geht den entgegengesetzten Weg und versucht,
das Geistige zu negieren. Ist das aber nicht genau jene Leugnung des Göttlichen,
die in der westlichen Gesellschaft seit Nietzsche in zunehmendem Maße zu einer
Verherrlichung des bloß Triebhaften geführt hat? Und ist diese Leugnung – die
oft als eine mutige Tat gepriesen wird – wirklich etwas anderes als ein feiges
Zurückweichen vor einem Konf likt: dem Urkonf likt des menschlichen Wesens
zwischen Geist und Sinnlichkeit, Vernunft und Trieb, sittlichem Bewusstsein
und Egoismus – dem man dadurch entgehen zu können meint, dass man die eine
Seite des menschlichen Wesens einfach ignoriert? Ist diese „Gralsverhüllung“ –
die Leugnung der eigenen höheren Bestimmung – nicht der tiefere Grund für
den Hedonismus und die Missachtung anderen Lebens, die immer mehr zur vor-

160
Conditio humana

herrschenden Einstellung der heutigen Menschheit werden? Und wenn sich der
Mensch – wie es heute immer öfter geschieht – sogar ganz offen zu dieser Ein-
stellung bekennt, ist das nicht Amfortas, der am Höhepunkt seiner Verzweif lung
sein Kleid öffnet, so dass die ganze Hässlichkeit der Wunde für alle sichtbar wird?
In der Figur des Amfortas hat Wagner also eine erschreckende Diagnose der
Krankheit des modernen Menschen dargestellt. In den Worten des Heilsspruches
wird aber der Weg zur Heilung angegeben:
Durch Mitleid wissend,
der reine Tor:
harre sein,
den ich erkor.
Der Heilsspruch weist aber auch darauf hin, dass es Amfortas nicht vergönnt ist,
sich selbst auf diese Weise zu erlösen, sondern dass er eines anderen harren soll,
der dies für ihn vollbringt. Denn es bedarf einer völlig neuen Seelenkraft und
einer völlig neuen Art des Denkens, um diese Heilung zu vollziehen. Amfortas
verkörpert den alten Menschen mit all seinen geistig-seelischen Strukturen; ein
radikal neues Bewusstsein ist jedoch nötig, um die erlösende Wende herbeizu-
führen. Es gilt also, in einer Haltung des „Glaubens“ der Ankunft dieses neuen
Bewusstseins zu „harren“. In die Sprache der symbolischen Bilder übersetzt heißt
das: Amfortas muss das Amt des Gralskönigs an Parsifal übergeben.

161
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

4. Kapitel
TITUREL UND GURNEMANZ –
Die alte Gralswelt und der Dreischritt
der Geschichte

1. Das Gralsrittertum als Ausdruck


vertiefter Weltbejahung

Im Gegensatz zu Lohengrin, wo die Gralswelt an sich, in die Ferne einer bloß ima-
ginierten, jenseitigen Welt entrückt, gar nicht in Erscheinung tritt, ist die Grals-
gemeinschaft im Parsifal fortwährend gegenwärtig und bildet den Hintergrund,
vor dem sich das Schicksal der einzelnen Personen abspielt. Was hat diese Ge-
meinschaft für eine Bedeutung? Warum übte das Phänomen des Gralsrittertums
auf Wagner eine solche Faszination aus, dass er ihm eine so wesentliche Rolle
innerhalb seines letzten Werkes zuwies?
Schon der Name „Gralsritter“ weist darauf hin, dass hier zwei scheinbare Ge-
gensätze zu einer Einheit verschmolzen werden: das Irdische und das Heilige. Denn
als Ritter kämpfen die Mitglieder der Gralsgemeinschaft in der Welt; das Wort
Gral will dagegen sagen, dass dieser Kampf im Dienste jenes „Göttlichen“ steht, das
sich im Leben Christi geoffenbart hat. Die Gralsritter verkörpern also im höchsten
Ausmaß die Synthese von Göttlichem und Weltlichem und sind somit ihrem Wesen
nach Ausdruck jener Grundeinstellung vertiefter Welt- und Lebensbejahung, wel-
che nicht nur die geistige Aussage des Parsifal bestimmt, sondern auch den tieferen
Sinn von Wagners Leben und Schaffen überhaupt bildet. Gralsritter sein bedeutet,
in der Welt tätig sein, um das Irdische zu verwandeln und auf eine höhere Stufe zu
heben. Ein Gralsritter ist – um ein Wort Albert Schweitzers zu gebrauchen – ein
Mensch, der in der Welt lebt und wirkt als einer, der anders ist als die Welt. 263
Obwohl das Gralsrittertum mit seinem Ideal weltumgestaltender Tätigkeit in
scharfem Gegensatz zum mittelalterlichen Ideal der Erfüllung im Jenseits steht,
verdankt es gerade jener Epoche seine Entstehung. Damals kamen die Ritteror-
den auf: Männergesellschaften, deren Mitglieder nach mönchischen Prinzipien
lebten, jedoch nicht in ihren Ordenshäusern eingeschlossen waren, sondern in die
Welt hinausgingen, um gegen die Feinde des christlichen Glaubens zu kämpfen.
Als beispielhaft für eine solche Gemeinschaft kann der Templerorden gelten; be-
zeichnenderweise nennt Wolfram die Gralsritter auch „templeise“, also Tempelher-
ren. 264 Diese verkörperten das Ideal des Gottesstreiters, der Tätigkeit und Streben
nach Heiligkeit in sich vereinigt. Wie Wolfgang Spiewok im Nachwort zu seiner
Ausgabe von Wolframs Parzival schreibt:

162
Conditio humana

Bemerkenswert ist das Gemeinschaftsbewusstsein dieser Ritter, die in geschlossenen


Grenzsicherungsgruppen zur Verteidigung der Gralswelt aufbrechen und dazu ei-
nen klaren, politisch-religiös motivierten Auftrag haben. Sie kämpfen nicht um ihr
persönliches Ansehen oder im Dienste einer Dame, sondern um den Gral zu schüt-
zen und um Buße für ihre Sünden zu leisten.265
Auf Wagner scheint dieses Ideal des heiligen Kämpfers eine große Faszination
ausgeübt zu haben. Aus den Cosima-Tagebüchern wissen wir, dass er sich gerne
der Vision eines neuen Ritterordens hingab, der nach dem von ihm erwarteten
totalen Umsturz des Bestehenden eine entscheidende Rolle spielen sollte. So liest
man z.B. unter dem Datum 8. Juli 1877:
„R. spricht zugunsten der Wiederbelebung der Klöster, von wo aus die Tätigkeit
ausgehen sollte, Besuche der Armen, Gefangenen, Leidenden aller Art.“266
Auch folgende Eintragung zeugt davon, wie sehr diese Vorstellung Wagner be-
schäftigte:
„ … dann über Religion und Klöster auf den Höhen: ‚Kommt zu mir, die ihr be-
laden‘, Bergpredigt, und von den Bergen müssten die Brüder, welche kein Gelübde
zwänge und die nicht in der Jugend, sondern im Mannesalter sich zurückzögen, he-
rabkommen, um alle Leiden mit zu tragen und immer für das Recht einzutreten.“267
Diesem Gedanken eines auf religiösem Erleben gegründeten Helfens verlieh er
dann in den Gralsrittern des Parsifal sichtbare Gestalt. Worin ihre Aufgabe besteht,
umreißen die Ritter selbst mit den knappen Worten: „Zu wirken des Heilands
Werke“. Mitarbeiter Gottes also sollen sie sein – heldenhafte, todbereite Kämpfer,
die jedoch ihre heroische Kraft nicht zur Zerstörung, sondern zum Schutze an-
deren Lebens einsetzen. Ihre Stärke aus der mystischen Berührung mit dem Gral
empfangend, verzichten sie auf weltliche Genüsse und widmen ihr Dasein ganz
dem Dienst des Göttlichen. Sobald ein „Ruf zu heil’gen Kämpfen aus der Ferne“
eintrifft und der Gral sie zum heiligen Einsatz auffordert, ziehen sie in die Welt
hinaus, um für das Gute zu streiten. Sie sind, wie Gurnemanz sagt, Brüder, „die
zu höchsten Rettungswerken des Grales Wunderkräfte stärken“. Man könnte sie
auch „Helden der Humanität“ nennen.
Nun bleibt zwar die Zielsetzung der Gralsritter immer gleich; doch sie selbst
sind, wie alles Lebendige, der Veränderung unterworfen. Deshalb macht die
Gralsritterschaft im Laufe der Zeit eine Entwicklung durch – und zwar eine des
Bewusstseins. Diese vollzieht sich aber nach dem Schema des „Dreischritts“. Was
haben wir unter diesem Begriff zu verstehen?

163
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

2. Die Geschichtshypothese des „Dreischritts“

Der Dreischritt ist ein Denkmodell, das in der deutschen Klassik dazu diente,
den inneren Sinn der Entwicklung, welche die abendländische Geschichte seit der
griechischen Antike genommen hatte, zu verdeutlichen. Dieses Modell wird vor
allem von Schiller vertreten, und zwar in seinen Briefen über die ästhetische Er-
ziehung des Menschen. Dort wird es verwendet, um den Verfall des neuzeitlichen
Menschen zu erklären, und zugleich, um eine Richtlinie für die künftige Ent-
wicklung der Menschheit aufzustellen.
Der Dreischritt setzt immer eine frühere Harmonie oder Ganzheitlichkeit vo-
raus, die durch ein neues Prinzip zerstört worden ist, dann aber auf einer höheren
Ebene in neuer Gestalt wiederhergestellt werden soll. 268 Er ist, wie man auf den
ersten Blick sieht, eine Ausprägung des dialektischen Schemas von These – Anti-
these – Synthese und lässt sich durch folgendes Schema zusammenfassen:

These Einheit  Antithese: Trennung und Gegensatz   Synthese: Neue Einheit

Dieses dynamische und optimistische Geschichtsmodell wird nun von Wagner


übernommen, um seinem Glauben an die Höherentwicklung des Bewusstseins
Ausdruck zu verleihen. In seiner Fassung ist die These die unbewusste Einheit
des Menschen mit Gott oder der Natur; die Antithese, in der diese ursprüngli-
che Ganzheit zerstört wird, ist die Ich-Werdung, durch die das ref lektierende
Selbstbewusstsein und die individuelle Freiheit entstehen. Wenn dann im dritten
Schritt, der Synthese, die Einheit wiederhergestellt wird, so geschieht dies durch
einen mit Bewusstsein und in Freiheit vollzogenen Akt des Menschen selbst. Und
dieser erhebt sich durch seine freie Tat auf eine Ebene, die unendlich viel höher
liegt, als der Punkt, von dem die Entwicklung ausgegangen ist. So erhält der
Sündenfall in Egoismus und selbstsüchtige Begierde einen tieferen Sinn und er-
weist sich als ein notwendiger Schritt auf dem Weg hinauf zum sittlichen Men-
schen.
Man kann also das Schema des Dreischritts, wie er von Wagner aufgefasst
wurde, wie folgt darstellen:

These: Unbewusste Einheit


Antithese: Trennung durch Entstehung des ref lektierenden Bewusstseins
Synthese: Bewusste Wiederherstellung der Einheit

Noch einfacher drückt es der Mythos aus: Paradies – Sündenfall – Neues Paradies.
Im Dreischritt gibt es kein Zurück, sondern nur das Vorwärts. Mit den Wor-
ten Erich Fromms:

164
Conditio humana

„Einmal gelöste primäre Bindungen können nicht mehr gef lickt werden; in ein ein-
mal verlassenes Paradies kann der Mensch nicht zurückkehren. Es gibt nur eine
einzige produktive Lösung für die Beziehung des einzelnen Menschen zur Welt:
seine aktive Solidarität mit allen Mitmenschen und sein spontanes Tätigsein, Liebe
und Arbeit, die ihn wieder mit der Welt einen, nicht durch primäre Bindungen,
sondern als freies, unabhängiges Individuum.“269
Im Parsifal ist dieses von Fromm beschriebene Schema der seelischen Entwicklung
am Schicksal des Speeres deutlich zu erkennen. Der ursprüngliche Zustand, in
dem die „Heiltümer“ Titurel übergeben wurden, ist die Einheit von Speer und
Gral; durch die Ich-Werdung des Amfortas werden die beiden voneinander ge-
trennt, so dass Klingsor sich des Speeres bemächtigen kann; zuletzt aber gewinnt
Parsifal durch eine mit höchstem Bewusstsein und in Freiheit vollbrachte Tat den
Speer zurück und stellt die verlorengegangene Einheit von Speer und Gral wieder
her. Zugleich wird jede dieser Stufen durch eine herrschende Person verkörpert.
Es sind die drei Gralskönige Titurel, Amfortas und Parsifal, die in ihrer Auf-
einanderfolge den Weg der Gralsritterschaft von der unbewussten Einheit mit
dem Göttlichen über die Ich-Werdung bis zu jenem „mit Bewusstsein wiederge-
wonnenen Paradies“ markieren, das Wagner in seinem „Offenen Brief “ gegen die
Tierversuche als das Ziel jeder individuellen und menschheitlichen Entwicklung
bezeichnet.

3. Das Gralskönigtum des Titurel

Die alte Gralsgemeinschaft, wie sie durch Titurel begründet wurde, ist eine Welt,
in der das Gute als etwas Selbstverständliches vorhanden ist. Sie ist eine Welt der
Geborgenheit, die ein Dasein ohne Konf likte, ohne die Last der Eigenverantwor-
tung und deshalb ohne Sünde ermöglicht. Sie ist eine Welt naiver Unschuld und
Heiligkeit. Der Preis, den man für diese Geborgenheit zahlen muss, ist jedoch das
Fehlen von Freiheit – im Denken, Fühlen und Tun.
Dieser Zustand der Unfreiheit kommt in vielen Einzelheiten der Handlung
zum Ausdruck. Was das Tun anbelangt, so stehen die Ritter in einem Verhält-
nis unbedingten Gehorsams – nicht nur dem Gral gegenüber, der, der alten Sage
nach, durch eine an seinem Rand auf leuchtende Schrift die einzelnen Männer zu
den von Gott gewollten Taten aufruft, sondern auch dem König. Deshalb ruft
Amfortas, da ihm gemeldet wird, dass Gawan aus freiem Antrieb in die Welt hin-
ausgezogen ist, um Heilkräuter zu suchen, erschrocken aus:
Ohn’ Urlaub? – Möge das er sühnen,
dass schlecht er Gralsgebote hält!

165
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Nicht der einzelne Ritter entscheidet, was er tun soll, nicht das freie Ich ist es, das
handelt, sondern Gott. Die Mitglieder der Gralsgemeinschaft sind deshalb keine
Mitarbeiter Gottes, sondern unfreie Werkzeuge in seiner Hand. Diese Unfreiheit
bringt Wagner dadurch zum Ausdruck, dass er die Gralsritter in der ersten Grals-
szene immer im unisono singen lässt. Zwar besitzt ihr Gesang deshalb eine gleich-
sam unbesiegbare Kraft; doch es ist die Kraft des Kollektivs, das ohne individuelle
Unterschiede ‚wie ein Mann‘ handelt. Erst bei der Begräbnisfeier für Titurel löst
sich die Einstimmigkeit auf – als Zeichen, dass die Ordnung, die bisher das ganze
Leben bestimmt hat, auseinandergefallen ist.
Dass auch im Reich des Denkens Unfreiheit herrscht, ersehen wir daraus, dass
Titurels Reich ausschließlich ein Reich des „reinen Glaubens“ ist. Nun ist der
Glaube im Parsifal ein durchaus positiver Begriff, bildet er doch die Grundlage,
auf dem der Mensch zum „Wissen“ gelangen kann. Aber er ist es nur in dem Aus-
maß, als er tatsächlich zum echten Wissen hinführt. Herrscht jedoch in einem
Reich der „reine Glaube“ unveränderlich und ohne Bezug auf das höhere Ziel des
Wissens, dann wird er mit der Zeit zu einem Hindernis für die Bewusstseinsent-
wicklung. Denn Glaube heißt: etwas fraglos übernehmen. Wer beim Glauben ste-
hen bleibt, verzichtet darauf, durch eigene Geistestätigkeit nach Wahrheit zu stre-
ben und durch eigenes Erleben Erkenntnis zu gewinnen. Schon Titurel hatte den
Gral und alles, was mit ihm zusammenhängt, gleichsam als etwas Fertiges aus den
Händen der Engel übernommen, anstatt durch eigenes Bemühen in dessen Besitz
zu kommen. Man kann in ihm deshalb die Verkörperung des prä-individuellen,
gleichsam von Gott geschenkten Glaubens erkennen, und es ist nur folgerichtig,
dass sein Klangsymbol beinahe identisch mit dem Motiv des Glaubens ist:

Titurel-Motiv Glaubensmotiv

So beruht auch die ganze von Titurel beherrschte Gemeinschaft auf einer nicht
durch eigenes Denken und eigenes Erleben erworbenen geistigen Grundlage. Sie
ist, um mit Kant zu reden, geborgen in einem Zustand „geistiger Unmündigkeit“.
Dass die Ritter aber auch im Fühlen unfrei sind, geht daraus hervor, dass sie
in einem Zustand natürlicher, vom Gral gespendeter Keuschheit leben. Offen-
sichtlich verleiht das heilige Gefäß nicht nur Leben, sondern auch Reinheit. Denn
in dem Augenblick, in dem den Rittern der Anblick des Grals verweigert wird,
werden sie plötzlich durch vorher nicht gekannte Triebe und Gelüste gepeinigt;
erst von diesem Augenblick ab werden sie genötigt, gegen ihre Leiblichkeit zu
kämpfen und Askese zu üben, um nicht der sinnlichen Begierde zu verfallen. Und

166
Conditio humana

dann wird das Streben nach Heiligkeit – das ihnen sonst Seligkeit schenkte – ge-
nau wie die Begierde zu einer Quelle des Leids, da es sie in einen qualvollen Zwie-
spalt stürzt. Das ist der Sinn jener so rätselhaft anmutenden Worte, die Parsifal am
Ende des II. Aktes zu Kundry spricht:
Ein andres ist’s – ein andres, ach!
nach dem ich jammernd schmachten sah
die Brüder dort in grausen Nöten
den Leib sich quälen und ertöten.270
In der Geborgenheit der alten Gralswelt waren sie dagegen durch die Kraft, die
ihnen der Gralsdienst einf lößte, gegen alles Schlechte völlig abgeschirmt, und
wenn sie rein blieben, dann nicht deshalb, weil sie den Kampf gegen die Versu-
chung bestanden, sondern weil sie diese nie kennengelernt hatten.
Wie sehr die Ritter der alten Gralsgemeinschaft in einem Zustand naiver Un-
schuld leben, geht aus der Tatsache hervor, dass sie sich weder mit Klingsor noch
mit Kundry je auseinandergesetzt haben. Klingsor haben sie aus ihrem Bereich
völlig ausgeklammert. Sogar Titurel hat die Auseinandersetzung mit dem gro-
ßen Feind des Glaubens gescheut; statt sich dem Gegner zu stellen und ihn durch
Überzeugungskraft zu bekehren, „stieß“ er ihn, wie es im Text heißt, „verach-
tungsvoll von sich“. Die Gralsritter haben also nie das Böse kennengelernt und
haben deshalb nie in freier Entscheidung zwischen gut und böse wählen müssen.
Auch im Denken haben sie nie die Versuchung kennengelernt, die dort in der
Form des Zweifels erscheint, haben sich nie, auf die eigene Denkkraft gestützt,
durch die Wüste des Skeptizismus und des Nihilismus hindurchkämpfen müssen,
um das sichere Wissen zu erlangen, das nur durch das dialektische Abwägen beider
Seiten eines Problems zu erlangen ist.
Genau so wenig hat sich die Ritterschaft je einer Begegnung mit Kundry in
ihrer Eigenschaft als sinnliche Verführerin gestellt. Die unbewusste Triebnatur
wird von ihnen einfach ausgeklammert, als ob es sie gar nicht gäbe: ein klassi-
scher Fall von Verdrängung. Man begegnet dem ganzen Unbewussten mit größ-
tem Misstrauen – spürt man doch, welche Abgründe sich unter der gerade noch
wahrnehmbaren Oberf läche auftun. Angst vor den „tierischen“ Trieben bekun-
det sich deutlich im Verhalten der Knappen Kundry gegenüber. „He! Du da! –
Was liegst du dort wie ein wildes Tier?“ fragt boshaft einer der jungen Männer;
und da Kundry ihm mit den tiefsinnigen Worten entgegnet: „Sind die Tiere hier
nicht heilig?“ – sie hätte auch sagen können: „Ist die ‚tierische‘ Triebnatur des
Menschen nicht auch erlösungsfähig?“ – antwortet er: „Ja, doch ob heilig du, das
wissen wir grad’ noch nicht.“ Auch sonst sind die Bemerkungen der Knappen
über Kundry durch hämisches Misstrauen gekennzeichnet. Denn sie ahnen, dass
es „ihre Schuld“ ist, „die so manche Not gebracht“ – d.h., dass derjenige, der es

167
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

wagt, sich seiner ungeläuterten Triebnatur zu stellen, in die Gefahr kommt, von
ihr eine „Amfortaswunde“ zu empfangen …
Dieser Zustand paradiesischer Geborgenheit in Unfreiheit kann jedoch nicht
dauern. Die ganze menschliche Entwicklung strebt nach Freiheit, und was der
Entfaltung der Freiheit im Wege steht, muss früher oder später weichen. Doch
auch in praktischer Hinsicht erweist sich das Beharren in Unfreiheit als unmög-
lich. Denn es setzt voraus, dass der Mensch nie vor die Wahl zwischen richtig und
falsch gestellt wird. Irgendwann wird auch der am sorgsamsten behütete Mensch
in die Welt geworfen, wo er dann das „Andere“ kennenlernt, das bisher von ihm
ferngehalten wurde; die Nabelschnur wird durchtrennt und er muss für sein Tun
und Lassen selbst einstehen. Naivität ist gleichbedeutend mit Weltfremdheit; sie
kann nur innerhalb der schützenden Mauern der Unwissenheit bestehen, und ihr
Fortbestand hängt davon ab, dass nie etwas von „draußen“ durch jene Umhegung
eindringt. Wie oft sind doch traditionelle Kulturen zusammengebrochen, sobald
die Welt „da draußen“ mit ihrer modernen Zivilisation in den schönen Frieden
der alten Beschränktheit gewaltsam eingebrochen ist! Und wie viele naiv-gläu-
bige Menschen sind in schwere Krisen gestürzt worden, als der moderne Skepti-
zismus in ihren engen Gedankenkreis eindrang und dem schönen Gebäude ihres
beschränkten Glaubens den Boden entzog. Ähnlich ergeht es mit der sinnlichen
Unschuld. Diese ist nur so lange zu halten, als der Mensch nicht „in Versuchung
geführt“ wird. Begegnet er plötzlich der sinnlichen Verführung, so hat er, da er
sich nie mit der eigenen Triebnatur bewusst auseinandergesetzt hat, nichts, was er
ihren Verlockungen entgegensetzen kann.
Die Unhaltbarkeit des unfreien Zustandes wird im Parsifal durch die Tatsache
verdeutlicht, dass die Gralsritter, sobald sie aus der Geborgenheit der Gralswelt
heraustreten, wehrlos den Verführungen der Klingsorwelt erliegen. Und es ist
klar, dass diese naive Unschuld, die bei der leisesten Berührung mit der Realität
in sich zusammenbricht, nicht der Endpunkt der Entwicklung sein kann – vor al-
lem für eine Gemeinschaft, deren Ziel darin besteht, in der Welt zu wirken. Eine
Veränderung tut not.
Dass die Zeit für diese Veränderung gekommen ist, kommt in den symboli-
schen Bildern dadurch zum Ausdruck, dass Titurel alt wird und die Herrschaft
an seinen Sohn Amfortas übergeben muss. Die Bewusstseinsentwicklung der
Menschheit schreitet voran. Der Mensch muss das alte Paradies verlassen, um
durch den „Sündenfall“ der Ich-Werdung hindurch zur Höhe des freien, sittli-
chen Individuums emporzusteigen. Der Weg führt über Amfortas hin zu Parsifal.

168
Conditio humana

4. Gurnemanz als Verkörperung der Tradition

Wenn man nun die drei Stufen der Entwicklung im Parsifal vereinzelt betrachtet,
so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sie gar nichts miteinander gemein-
sam hätten; jede neue Stufe scheint einen totalen Bruch mit der vorangegangenen
vorauszusetzen. Schon die Ich-Werdung des Amfortas sprengt die alte Gralsge-
meinschaft völlig auseinander und bringt ein Prinzip zum Durchbruch, welches
das gerade Gegenteil des früher vorherrschenden ist. Bezeichnend ist in diesem
Zusammenhang, dass Titurel gar kein Verständnis für das Leiden seines Sohnes
hat; auf dessen herzzerreißende Klage antwortet er nur; „Du büß im Dienste dei-
ne Schuld!“ – ein Rat, der an sich richtig sein mag, jedoch bar jedes Mitgefühls
und ist und deutlich verrät, wie sehr die ganze Problematik der Ich-Werdung
ihm fremd ist. Doch auch die Ritter haben für das, was Amfortas innerlich be-
wegt, kein Empfinden, weshalb Wagner in seiner Schrift über die Uraufführung
des Werkes von dem „weithin unverstandenen Leiden“ 271 des Gralskönigs spricht.
Parsifal seinerseits verkörpert ebenfalls eine völlig neue Kraft. Ja, er ist nur des-
halb imstande, das Amfortas-Leiden zu heilen, weil das, was er in die Gralswelt
hineinträgt, eben wiederum das radikal Andere ist. Die totale Unwissenheit des
jungen Helden ist das Zeichen dafür, dass er mit allem, was früher war, auch nicht
das Geringste zu tun hat.
Die unfreie Gemeinschaft der Titurel-Stufe, die egoistische Vereinzelung des
Amfortas und die in Freiheit neu geschaffene Gemeinschaft Parsifals scheinen also
völlig beziehungslos nebeneinander zu stehen. Ist es aber wirklich so? Tatsäch-
lich gibt es in der Entwicklung der Gralsgesellschaft etwas, das die verschiedenen
Stufen miteinander verbindet und das Dauerhafte, Zeitlos-Wertvolle der Titurel-
und Amfortas-Epoche in die von Parsifal gegründete neue Gemeinschaft hinüber-
rettet. Dieses Verbindende ist die Tradition; und Gurnemanz, der sie verkörpert,
spielt deshalb eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der neuen Welt.
Dieser in seiner Güte so sympathisch wirkende Greis – „Ich liebe Gurnemanz“,
sagte Wagner einmal zu Cosima, worauf sie erwiderte: „und wie muss man ihn
lieben!“ 272 – stellt schon durch sein Alter eine Verbindung zwischen den drei ver-
schiedenen Epochen der Entwicklung dar. Der Generation Titurels angehörend,
der sein „alter Waffenherr“ war, muss er die Herrschaft des „sündigen“ Amfortas
bis zum Ende ertragen und erlebt schließlich die Einsetzung Parsifals als Gralskö-
nig. Doch nicht nur äußerlich schafft er Kontinuität; auch seine innere Einstellung
macht ihn zum Vermittler zwischen den drei so verschiedenen Entwicklungsstu-
fen. Von Natur aus versöhnlich – wie sein Verhalten der Kundry gegenüber zeigt,
der er, im Gegensatz zu den anderen Rittern, immer mit Güte und Verständnis
begegnet – bleibt er Amfortas trotz Missbilligung seiner „Sünde“ treu ergeben,
was ihn jedoch nicht daran hindert, zugleich das Neue, das in Gestalt des Parsifal

169
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

erscheint, zu fördern. Man kann in ihm die Zeit überdauernde Essenz der alten
Titurel-Welt erblicken, die nicht mit dem alten König stirbt, sondern als ein Le-
bendiges bis in die Neugründung der Gralsgemeinschaft durch Parsifal hinein
weiterwirkt.
Das Mittel, wodurch Gurnemanz diese Kontinuität schafft, ist die Bewahrung
und Weitergabe überlieferter Weisheit. Als ein Weiser tritt er uns von allem An-
fang an entgegen. Er ist für die Gralsritter der, „der doch alles weiß“, und tatsäch-
lich schauen alle zu ihm als einem an Kenntnissen Überlegenen auf. Schon seine
äußere Gestalt – als „rüstig-greisenhaft“ wird er von Wagner in der Dichtung
beschrieben – aber noch viel mehr seine gütig belehrende Art lassen ihn als eine
Verkörperung dessen erscheinen, was C. G. Jung den „Archetypus des alten Wei-
sen“ nennt. Tatsächlich trifft Jungs Schilderung dieser Figur genau auf das Wesen
des Gurnemanz:
„Der Alte stellt also einerseits Wissen, Erkenntnis, Überlegung, Weisheit, Klug-
heit und Intuition, andererseits aber auch moralische Eigenschaften, wie Wohlwol-
len und Hilfsbereitschaft, dar …“273
Und weiter: Er ist der „ebenso überlegene wie hilfreiche Alte“, 274 der „die Frage
nach dem Wer, Warum, Woher und Wohin“ stellt, „um damit die Selbstbesinnung
und Sammlung der moralischen Kräfte in die Wege zu leiten …“ 275 Gerade in
diesen letzten Worten vermeint man eine genaue Beschreibung des Verhaltens zu
vernehmen, das Gurnemanz Parsifal gegenüber an den Tag legt, wenn er ihm die
Bedeutung des von ihm gedankenlos verübten Schwanenmords klar macht und
ihn dann über seinen Namen und seine Herkunft ausfragt.
Nun könnte man sich fragen, warum es nicht der alte und weise Gurnemanz
ist, der Amfortas erlöst – weiß er doch um den Heilsspruch, der die Mittel dazu
angibt, und ist er doch von Mitlied mit dem dahinsiechenden König erfüllt. Was
ihn daran hindert, sind eben sein Alter und seine Weisheit. Hier begegnen wir
Wagners Grundüberzeugung, dass es nur einem von allen alten Denk- und Ver-
haltensweisen völlig freien jungen Menschen gelingen kann, den Durchbruch zu
jenem radikal Neuen zu schaffen, das allein imstande ist, die „Erlösung“ zu voll-
bringen. Gurnemanz ist dagegen die Verkörperung der Überlieferung; sein Wis-
sen – mag es auch das Wertvollste der alten Welt in sich schließen – gehört in
der Form, in der er es besitzt, eben jener alten Welt an. Wie Wotan sehnt er das
Neue herbei und tut alles, was er kann, um es zu fördern; doch er selbst ist nicht
imstande, sich vollkommen vom Alten zu befreien, und deshalb kann er das Neue
nicht selber schaffen.
Hinzu kommt, dass er zwar weise ist, doch nicht jenes „Wissen“ besitzt, das
zur Erlösung des Amfortas nötig ist. Gurnemanz ist von einem unmittelbaren Er-
leben der Amfortas-Qualen weit entfernt. Genauso wenig wie Titurel hat er sich

170
Conditio humana

je mit Kundry auseinandergesetzt; deshalb kann er zwar mit Amfortas mitfühlen


– doch nicht dessen Leiden an der Begierde in Sinne Schopenhauers mit-leiden, als
ob es das eigene wäre. Nur wer sich selbst den Verführungskünsten der Kundry
ausgesetzt hat, kann empfinden, was Amfortas empfunden hat, und nur wer sich
selbst in die Hölle des Amfortas hinabbegeben hat, kann ihn daraus erlösen.
Gurnemanz ist sich seiner Begrenztheit offensichtlich bewusst. Denn nie er-
hebt er den Anspruch, selbst der Erlöser zu sein. Er ist in dieser Hinsicht, wie Hans
Sachs, eine Johannesgestalt: Seine Aufgabe ist es, Wegbereiter und Geburtshelfer
des Neuen zu sein. Deshalb tritt er Parsifal gegenüber vor allem als Erzieher auf.

5. Gurnemanz als Geburtshelfer des Neuen

Der alte Weise als Erzieher des jungen Helden: Dieses Bild fand Wagner bereits in
seinen mittelalterlichen Quellen vorgebildet. Dort gibt es zwei Gestalten, die sich
des naiven Parsifals belehrend annehmen: den Edelmann Gurnemanz de Grâharz
(bei Chrétien heißt er Gornemans de Gorhaut), der ihm die Grundlagen höfischen
Benehmens beibringt – und den Einsiedler Trevrizent, Bruder des Anfortas, der
ihn am Karfreitag über seine Herkunft auf klärt und ihm die Geheimnisse des
Grals und des christlichen Glaubens offenbart. Wagner hat diese beiden Figuren
zu einer einzigen Person verschmolzen, wobei der Edelmann den Namen, der
Einsiedler jedoch die Persönlichkeit und die Funktion abgab.
Zwei Episoden sind es, in denen Wagners Gurnemanz als Erzieher Parsifals in
Erscheinung tritt: die Belehrung nach der Tötung des Schwans im I. Akt und die
Karfreitagsunterweisung im III. Akt. Beide sind Musterbeispiele für das rechte
Verhältnis des Alten zum Jungen und lassen erkennen, welche Rolle die Tradition
bei der Entstehung einer neuen Menschheit spielen sollte. Tatsächlich hatte Wag-
ner bereits in der Revolutionszeit erkannt, dass die Erziehung paradigmatische
Bedeutung für das richtige Verhalten der alten Kräfte gegenüber dem Neu-Ent-
stehenden besitzt, weshalb er diesem Thema einen wichtigen Abschnitt in seinem
theoretischen Hauptwerk Oper und Drama widmete. Die Gedanken, die er dort
entwickelt, sind von erstaunlicher Modernität. Sie gehen nicht nur von dem Prin-
zip der Liebe sowie der Ehrfurcht vor der individuellen Eigenart des Einzelnen
aus, sondern auch von der Überzeugung, dass das Neue – soll es diesen Namen
wirklich verdienen – eben gänzlich neu zu sein hat und deshalb vom Alten weder
vorausgesehen noch vorausbestimmt werden kann. Dementsprechend fallen dem
Erzieher vor allem zwei Aufgaben zu. Die erste besteht darin, dem Jungen dazu
zu verhelfen, eigene Erfahrungen zu machen:
„Eine durch Mitteilung uns gelehrte Erfahrung wird für uns zu einer erfolgreichen
erst, wenn wir durch unwillkürliches Handeln sie wiederum selbst machen. Die

171
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

wahre vernünftige Liebe des Alters zur Jugend bestätigt sich also dadurch, dass es
seine Erfahrungen nicht zu dem Maße für das Handeln der Jugend macht, sondern
sie selbst auf Erfahrung anweist …“276
Die zweite Aufgabe des Alten besteht darin, dem Jungen, der bisher ohne Re-
f lexion spontan aus der eigenen Wesenstiefe gehandelt hat, die Bedeutung und
Tragweite seiner Handlungen bewusst zu machen. Nie darf er – so Wagner – dem
Zögling vorschreiben, was er zu tun habe, da dies dem Prinzip der individuellen
Eigenart widersprechen und das Neue an seiner Entfaltung hindern würde; aber
er darf und soll seine reiche Erfahrung dazu verwenden, dem Schüler die großen
Zusammenhänge zum Bewusstsein zu bringen, innerhalb derer seine Taten ihren
Sinn erhalten. Mit anderen Worten: Er bestimmt nicht die Handlungen des Jun-
gen, sondern deutet sie. Das meint Wagner, wenn er schreibt:
„Das bereits erfahrene Alter ist vermögend, die Taten der Jugend, in welchen diese
nach unwillkürlichem Drange und mit Unbewusstsein sich kundgibt, nach ihrem
charakteristischen Gehalte zu fassen und in ihrem Zusammenhange zu überbli-
cken: es vermag diese Taten also vollkommener zu rechtfertigen als die handeln-
de Jugend selbst, weil es sie sich zu erklären und mit Bewusstsein darzustellen
weiß.“277
Die Szene, in der Gurnemanz Parsifal nach der Tötung des Schwans belehrt, ist
ein vollendetes Beispiel für die erste Art der Erziehung. Hier gilt es, dem völlig
naiven Helden den Unterschied zwischen gut und böse klar zu machen. Dies tut
Gurnemanz jedoch nicht, indem er logische Überlegungen anstellt oder gar Ge-
bote vorgibt, denen der Junge aufgrund einer äußeren Autorität zu befolgen hät-
te, sondern indem er Parsifal die Folgen seines Handelns vor Augen hält. Er lenkt
die Aufmerksamkeit des gedankenlosen „Sünders“, der eben Leben vernichtet hat,
auf den toten Schwan, der blutbef leckt auf dem Boden liegt:
Hier – schau her! – hier trafst du ihn,
da starrt noch das Blut, matt hängen die Flügel,
das Schneegefieder dunkel bef leckt –
gebrochen das Aug’, siehst du den Blick?
Wirst deiner Sündentat du inne? –
Gurnemanz führt Parsifal also zu eigener, unmittelbarer Erfahrung. Hier bedarf
es dann keiner Worte mehr, denn durch diese Erfahrung wird ein Erkenntnispro-
zess in Gang gesetzt, der aus eigener Wesenstiefe entspringt und bisher verbor-
gene moralische Qualitäten in Parsifals Seele freilegt. Das Gebot „Du sollst kein
Lebendiges töten“ drängt sich ihm nicht von außen auf, sondern wird in seiner
Seele neu geboren.

172
Conditio humana

Das große Beispiel für die zweite Art der Erziehung, in der der Lehrer dem
Zögling seine Taten deutet, haben wir in der Karfreitagsunterweisung im III.
Akt. Hier erklärt der alte Gurnemanz dem jungen Parsifal den Sinn von Christi
Opfertod und stellt dadurch das Handeln des Helden, der einen ähnlichen Weg
des Verzichts und der Selbstüberwindung gegangen und weiterhin zu gehen be-
stimmt ist, in den großen Zusammenhang der Heilsgeschichte. Auf diese Weise
wird Parsifal der Sinn seiner vergangenen Taten bewusst – und zugleich gewinnt
er Klarheit darüber, wie er in Zukunft zu handeln habe. Erst dadurch wird er reif
dafür, die Herrschaft anzutreten; erst jetzt ist er imstande – aus freiem Entschluss
und mit vollem Bewusstsein der Bedeutung seines Handelns – als Gralskönig „des
Heilands Werke zu wirken“.
So bildet Gurnemanz die Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen. Durch
seine vermittelnde Tätigkeit kann nun das, was Titurel aus bloßem Glauben tat,
durch Parsifal „wissend“ vollzogen werden. Die von Gurnemanz verkörperte
Tradition bildet den notwendigen Gegenpol zu der radikalen Neuheit der von
Parsifal verkörperten „erlösenden“ Kraft. Sie verleiht der Vergangenheit Dauer,
indem sie diese in die Zukunft hinüberführt – und sie gibt dem Künftigen ein
festes Fundament, so dass die Neugeburt der Menschheit nicht ein Beginn ex nihilo
ist, sondern das Gebäude der neuen Welt auf der Grundlage des Zeitlos-Gültigen
der alten Kultur errichtet werden kann.

173
Warum dieses Buch

DRITTER TEIL

Der Weg zur Vollendung

175
Der Weg zur Vollendung

1. Kapitel
„Der reine Tor“

1. Der Weg „durch das Tal“

Wie in allen Dramen Wagners so geht es auch im Parsifal um die Liebe als erlösen-
de Macht. Den durch Schopenhauer beeinf lussten späten Gedanken Wagners ent-
sprechend, erscheint sie dort in ihrer reinsten und edelsten Form als Mitleid. Nun
ist Mitleid ein urbuddhistischer Begriff; doch die Auffassung, dass Mitleid ein
wirkliches Leiden bedeutet, bringt eine starke christliche Komponente in Wagners
Erlösungsvision. Denn wir wissen, dass er, den Gedanken Schopenhauers ent-
sprechend, unter „Mitleid“ kein bloßes Bedauern, keine distanzierte Teilnahme
verstand, sondern ein wirkliches Mit-Erleben des Leidens anderer. Während der
Buddha als Ideal die völlige Freiheit von Leid, d.h. eine Haltung völliger Ruhe
und vollendeten Gleichmuts, predigte, wird im Parsifal die freiwillige Annahme
des Leidens gefordert. Wie Christus darf der Mensch, der sich und andere erlösen
will, das Leid nicht scheuen, sondern im Gegenteil, das Leid aller Kreatur als
wirklich empfundene Qual am eigenen Leib und in der eigenen Seele mit-leiden.
Nicht der in abgeklärter Ruhe hoch über dem leidvollen Dasein thronende Weise,
wie wir ihn aus so vielen Darstellungen der asiatischen Kunst kennen, ist also das
Symbol des Parsifal-Weges, sondern der dornengekrönte Christus, der das Leid
der Welt freiwillig auf sich nimmt und bis in seine letzten Tiefen als das eigene
erlebt – damit es dann in der Liebe aufgehoben werden kann.
Parsifals Aufgabe führt ihn also durch tiefstes Leid zur Überwindung des Lei-
dens; es ist ein Weg in die Tiefe. Dies kommt auch in seinem Namen zum Aus-
druck. Denn „Perceval“, wie der Held der Gralsgeschichte in den französischen
Quellen heißt, wird meist gedeutet als „perce-val“, d.h. ‚durchbohre das Tal‘. 278
Der Parsifal-Weg ist auch tatsächlich eine Talfahrt; er ist ein schwerer Gang durch
Finsternis und Bedrängnis. Wie Dante in seiner Divina commedia kann der künf-
tige Gralskönig nur dann auf den Berg des Paradieses gelangen, wenn er zuerst
durch das Grauen der Unterwelt schreitet.
Psychologisch betrachtet, handelt es sich bei diesem In-die-Tiefe-Gehen um
einen Gang in den unbewussten Untergrund der Persönlichkeit, d.h. um eine
Auseinandersetzung mit der eigenen Triebnatur, die man erkennen und anneh-
men muss, um sie verwandeln zu können. Bewusstseinsgeschichtlich gesehen, ist
das Absteigen ins tiefe Tal gleichbedeutend mit dem „Sündenfall“. Und für den,
der als Ziel die freie, mündige Individualität vor sich erblickt, führt kein Weg an
diesem Fall vorbei. Denn nur wer die Ich-Werdung mit all ihren Gefahren und

177
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Anfechtungen auf sich nimmt, kann sich zur verantwortungsbewussten, sittli-


chen Persönlichkeit emporentwickeln.
Doch auch das Mitleid an sich ist eine Talfahrt. Wer seine Seele öffnet und
beginnt, die Qualen anderer zu empfinden, begibt sich aus den lichten Höhen
selbstzufriedenen Glücks in die dunklen Tiefen der Schmerzen und der Verzweif-
lung. Diesem Weg liegt also kein verborgener Egoismus zugrunde, der unter dem
Deckmantel eines scheinbar selbstlosen Zieles nur das eigene persönliche Glück
anstrebt. Denn hier geht es nicht um die eigene Leidfreiheit, sondern um die Er-
lösung des Menschen an sich, und das bedeutet: um die Zukunft der Menschheit
und der ganzen Erde. Und dafür muss man bereit sein, Opfer auf sich zu nehmen.
Damit man aber diesen Weg gehen kann, muss man ein „reiner Tor“ sein. Wer
von alten Denkmustern belastet ist, kann nicht die radikale innere Umkehr voll-
ziehen, welche die Voraussetzung für die Überwindung der Begierdenatur und
die Verwandlung des natürlichen Egoismus in liebevolle Selbsthingabe ist. Denn
die neue Haltung grenzenloser Solidarität mit anderen Wesen ist für den bloß na-
türlichen Menschen etwas so grundlegend Neues, dass nur eine Seele, die gleich-
sam ein unbeschriebenes Blatt ist, für sie empfänglich sein kann. Tatsächlich gilt
es, alles, was für die Menschen normalerweise als höchster Wert gilt – Macht,
Besitz, Genuss, ja sogar die Priorität der Selbsterhaltung – aufzugeben. Doch auch
eine völlig neue Art des Bewusstseins ist gefordert, für die die Sinnenwelt, so-
wie die Aufspaltung des Seins in einzelne Erscheinungen nicht mehr die alleinige
Wirklichkeit bilden. Das alles kann nur der erreichen, der wie ein leeres Gefäß ist,
bereit, ohne Widerstand das ganz Andere in sich aufzunehmen. 279
„Tor“-Sein muss man also im Sinne des Jesus-Wortes von den „Armen im Geis-
te“ auffassen. Nur die „Unmündigen und Kinder“ – also die Unverbildeten – und
nicht die durch alte Denkweisen belasteten „Weisen“ sind imstande, die Wahrheit
zu erfassen. Um ein anderes Gleichnis aus dem Evangelium zu verwenden: Neuer
Wein muss in neue Schläuche gefüllt werden.

2. Parsifals Kindheit

Unter dem Datum 25. November 1877 notiert Cosima in ihrem Tagebuch:
„Er arbeitet und sagt mir zu Mittag, er habe einen Einfall gehabt, der würde mich
freuen, im Augenblick, wo die Knappen den Spruch wiederholen, ‚der reine Tor‘,
bei dem Worte Tor kommt der Pfeil und Parsifal, so dass der Spruch nicht vollendet
wird.“280
So hat es Wagner auch tatsächlich bei der Ausarbeitung des Werkes gestaltet. Nach-
dem Gurnemanz am Ende seiner großen Erzählung den atemlos lauschenden Knap-

178
Der Weg zur Vollendung

pen von dem Heilsspruch, der als leuchtende Schrift am Gral erschienen ist, berichtet,
wiederholen die Jungen „in großer Ergriffenheit“ die Erlösung verheißenden Worte:
Durch Mitleid wissend,
der reine Tor …
Doch bevor sie den Spruch zu Ende singen können, werden sie durch ein keckes
Thema unterbrochen, das im schmetternden forte der Hörner erklingt. Es ist das
Parsifal-Motiv. Vorstellung wird zur Wirklichkeit, die Realität bricht jäh in die
ideale Sphäre der Erzählung ein.
Es bedurfte allerdings dieses dramaturgischen Einfalls nicht, um den Zuschau-
ern klar zu machen, dass sie in Parsifal den angekündigten Toren vor sich haben.
Denn als ein solcher erweist er sich unmissverständlich durch die Art, in der er in
die Gralswelt eintritt. Seinen natürlichen Trieben folgend, erschießt er mutwillig
und ohne jede Notwendigkeit einen Schwan, der über dem heiligen See des Grals-
gebietes kreist. Das ist aber „Tötung des Lebendigen“ – nach Wagners Auffassung
die Sünde schlechthin. Da Gurnemanz ihn fragt: „Sag’, Knab’! Erkennst du deine
große Schuld? Wie konntest du sie begehen?“, antwortet er nur: „Ich wusste sie
nicht.“ Parsifal ist im Zustand der paradiesischen Unschuld; er hat noch nicht ge-
lernt, zwischen gut und böse zu unterscheiden.
Diesem ersten Auftritt des rein triebhaft handelnden Knaben ist eine Geburts-
und Kindheitsgeschichte vorausgegangen, die Kundry in den knappen Worten
zusammenfasst:281
Den Vaterlosen gebar die Mutter,
als im Kampf erschlagen Gamuret;
vor gleichem frühen Heldentod
den Sohn zu wahren, waffenfremd
in Öden erzog sie ihn zum Toren …
Parsifals Vater ist also kurz nach der Zeugung des Kindes gestorben. Hier begeg-
nen wir einem Topos, der in Wagners Werken immer wiederkehrt: Die Eltern
bezahlen die Weitergabe des Lebens mit ihrem Tod. So ist es bei der Geburt Sieg-
frieds; sein Vater Siegmund stirbt am Tag nach der Zeugung, und seine Mutter
Sieglinde während der Niederkunft. Auch die Eltern Tristans geben ihr Leben hin,
damit der Sohn seines empfangen kann:
Da er mich zeugt’ und starb,
Sie sterbend mich gebar …
Nun stirbt zwar Parsifals Mutter nicht bei der Geburt; doch da ihr Sohn sie ver-
lässt, um in die Welt zu ziehen – was auch eine Art von Geburt ist, die Geburt des
selbständigen Erwachsenen – erliegt sie dem übermäßigen Schmerz, der sie bei

179
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

der Trennung überwältigt hat. So wird auch hier das Leben des Sohnes mit dem
Tod der Mutter bezahlt.
Diese Ereignisse sind deshalb so wichtig, weil sie gleich zu Anfang von Par-
sifals Lebensweg die Urproblematik sichtbar machen, unter deren Zeichen seine
ganze Entwicklung stehen wird. Es gibt kein Leben – so wollen uns diese Bil-
der sagen – das nicht durch Leid und Tod bezahlt werden muss. Hier tritt uns
die einfache Feststellung entgegen, die einst den Ausgangspunkt für das Denken
Schopenhauers sowie des Buddhas bildete: Alles Leben ist wesenhaft Leid. Parsi-
fals eigene Geburt, die zum Zeugnis für diese Tatsache wird, bestimmt auch die
Schicksalsaufgabe des eben geborenen Kindes: den Weg zur Überwindung des
Leides zu finden und diesen Weg beispielhaft zu beschreiten.
Ist die Tatsache der vaterlosen Geburt für Parsifals Entwicklung von entschei-
dender Bedeutung, so ist es nicht minder die Reaktion der Mutter auf dieses trau-
rige Ereignis. Denn aus Angst davor, dass ihr Sohn das gleiche Geschick wie sein
Vater erleiden könnte, versucht sie, ihn von jedem Kontakt mit der Welt fernzu-
halten. Deshalb zieht sie sich mit ihm in die Waldeseinsamkeit zurück, wo das
Kind ohne jede menschliche Gesellschaft außer der der Mutter aufwächst.
Die Parallele zu Siegfried ist auffallend. Wie dieser verbringt der künftige
Gralskönig seine Kindheit und Jugend fern der Menschen und fern jeder Beein-
f lussung durch die Zivilisation. Doch der Grund, weshalb dies geschieht, ist hier
ein anderer. Während der Wotanspross allein aufwachsen soll, damit er sich ohne
jede Fremdbestimmung ungestört nach seinem eigenen inneren Gesetz entwi-
ckeln kann, wird Parsifal von seiner Mutter in der Einsamkeit zurückgehalten,
damit er sich gar nicht entwickle. Nicht Freiheit ist also das Ziel der Fürsorge
Herzeleides, sondern Unfreiheit: Parsifal soll nicht erwachsen werden, weil der
Eintritt ins Erwachsenenleben für die Mutter den Verlust des Kindes bedeuten
würde.
Diese Konstellation ist ein klassisches Beispiel für eine krankhafte Mutterbin-
dung, wie sie erst Jahrzehnte nach Wagner von der modernen Psychologie postu-
liert wurde. Herzeleide möchte, dass ihr Sohn ewig Kind bleibe. Ihren Gatten hat
sie durch den Tod verloren; nun versucht sie mit allen Mitteln zu verhindern, dass
ihr Sohn – der ihr gleichsam als einziger Besitz geblieben ist – ihr ebenso entrissen
werde. Indem sie aber den Knaben auf diese Weise an sich bindet, verhindert sie
seinen Eintritt ins Erwachsenenleben und damit seine Entwicklung zum selbstän-
digen Individuum. In der Erzählung kommt das dadurch bildhaft zum Ausdruck,
dass die Mutter ihren Sohn in der Waldeinsamkeit zurückhält und ihn gegen jede
Berührung mit der Welt abschirmt. In archetypische Bilder übersetzt heißt das:
Der Sohn bleibt in der Geborgenheit des Mutterschoßes. Das ist auch der Grund,
weshalb er in diesem Stadium keinen „Namen“ hat.

180
Der Weg zur Vollendung

Wie gesagt, ist diese Mutterbindung für den Lebensweg Parsifals von größter
Bedeutung. Tatsächlich wird er im entscheidenden Augenblick seiner Entwick-
lung – in der Auseinandersetzung mit der Kundry im II. Akt – zwischen den
beiden Polen der Regression und der Progression entscheiden müssen. Auf der
einen Seite erfährt er den Sog des Mutterarchetypus, der ihn in die sorgenfreie,
problemlose Geborgenheit des unfreien, vor-individuellen Zustandes zurückzie-
hen möchte – und auf der anderen zieht ihn sein innerster Drang hin zu dem, was
seine eigentliche Lebensaufgabe ist: seine Freiheit zu ergreifen und eine vollbe-
wusste, selbständige sittliche Persönlichkeit zu werden.
Zwar erweist sich, von einem höheren Standpunkt aus gesehen, das Verhal-
ten der Herzeleide als letztendlich sinnvoll; denn indem sie ihren Sohn in der
Einsamkeit festhält, verhindert sie, dass er mit den herrschenden Meinungen
und Denkmustern seiner Zeit in Berührung kommt. So wird Parsifal zu einem
zweiten Siegfried; wie dieser ist er in seinem Denken und Fühlen auf sich selbst
angewiesen und kennt keinen anderen Handlungsantrieb als seine eigene Natur.
Mit anderen Worten: Er wird zum „Toren“ – der eben deshalb imstande ist, zu
radikal Neuem vorzustoßen. Doch Parsifals Mutter lädt mit dem Versuch, ihr
heranwachsendes Kind an sich zu binden, trotzdem eine große Schuld auf sich;
denn sie verhindert dadurch die freie Entwicklung des ihr anvertrauten Lebens.
Zum Glück ist Parsifals Lebenstrieb so stark, dass es ihm gelingt, sich dem
hemmenden Einf luss Herzeleides zu entziehen. Da eines Tages eine Schar Ritter
an seiner Behausung vorbeizieht, springt er einfach auf und folgt ihr nach – unbe-
kümmert um die Reaktion seiner Mutter. Das Gamuret-Blut regt sich offensicht-
lich in seinen Adern; die „glänzenden Männer“, „auf schönen Tieren sitzend“,
sprechen Urverwandtes in seiner Seele an, und ein unwiderstehlicher Drang treibt
ihn dazu, sich ihnen anzuschließen. Parsifal hat sein inneres Rittertum entdeckt.
Er wird jedoch einen langen Weg noch zurücklegen müssen, bis er lernt, seine
ritterliche Kraft und seinen ritterlichen Mut mit vollem Bewusstsein für den Gral
einzusetzen.

3. Erste Mitleidserlebnisse:
Der tote Schwan und der Tod der Mutter

Dass sich der knabenhafte Parsifal noch im unfertigen Zustand befindet, wird
gleich in jener Tat sichtbar, mit der er in das Bühnengeschehen eintritt: der Tö-
tung des Schwans. Hier erscheint er tatsächlich als ein zweiter Siegfried – mit
all der Problematik, die dieser Figur im Ring anhaftet. Denn schon dort geht
aus der Handlung klar hervor, dass Arglosigkeit und Gutmütigkeit allein nicht

181
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

genug sind, um ein sittliches Verhalten zu gewährleisten; tatsächlich verübt Sieg-


fried – aus Mangel an Bewusstheit – an Brünnhilde einen schändlichen Verrat und
beschwört durch seine Handlungen zuletzt eine Katastrophe größten Ausmaßes
herauf. 282 Auch Parsifal ist bei seinem ersten Erscheinen bloß „reiner Tor“ – ohne
Bewusstsein für die Folgen seines Tuns. Deshalb ist seine erste Tat allen Anfor-
derungen des sittlichen Handelns geradezu diametral entgegengesetzt. Er tötet
Leben.
Zwar mag in den allertiefsten Schichten seiner Seele das Bewusstsein von der
Einheit alles Lebenden und der daraus hervorgehenden Verantwortung des Men-
schen für andere Wesen schlummern; aber dieses latente Wissen ist durch eine
dicke Schicht natürlicher Triebe zugedeckt, die erst durch bewusste Erkenntnis
geklärt und geläutert werden müssen. Nicht Verantwortung für anderes Leben
bestimmt die Handlungen des „verrückten Knaben“, sondern stürmischer Taten-
drang, Freude an der eigenen jugendlichen Kraft und unbändiger Mut: Das ist es,
was er bekundet, da er mit entwaffnender Naivität ausruft:
Gewiss! Im Fluge treff ’ ich, was f liegt.
Da ist zwar nichts von Hass, Neid, Missgunst oder bewusster Freude an der Zer-
störung eines anderen Lebewesens, wohl aber ein totaler Mangel an Bewusstsein
für die Heiligkeit des Lebens – und für die Bedeutung der eigenen Taten. Und
dieser Mangel an Bewusstsein macht den „Toren“ zum Mörder.
Soll er in seine höhere Aufgabe hineinwachsen, so muss zur Reinheit die Be-
wusstheit hinzukommen. Der „Tor“ muss also „wissend“ werden. Dazu ist aber
zweierlei nötig: Erziehung und eigene Erlebnisse. Parsifals Weg besteht fortan
aus beiden. Die Erlebnisse beschert ihm das Leben; Erziehung erfährt er durch
Gurnemanz.
Die erste Etappe auf Parsifals Weg zum Wissen ist die geradezu geniale Beleh-
rung, die ihm durch den alten Gralsritter nach der Tötung des Schwans zuteil-
wird. Wie wir bereits gesehen haben, besteht diese Belehrung darin, dass Gur-
nemanz, ohne irgendwelche Ge- oder Verbote auszusprechen, dem Übeltäter die
Folgen seiner Taten deutlich macht. Nicht von außen kommt also die Erkenntnis;
Parsifal soll durch eigene Erfahrung Wissen erwerben. Indem er, vom Älteren
geleitet, seine Aufmerksamkeit auf das von ihm ermordete Tier richtet, das, einst
ein in herrlicher Reinheit erblühendes Lebewesen, nun blutbef leckt und mit ge-
brochenem Auge daliegt, wird ihm in elementarer Weise bewusst, dass die „Tö-
tung des Lebendigen“ Sünde ist. Die so gewonnene Erkenntnis ergreift ihn in
seiner Wesenstiefe. Als spontane Reaktion darauf „zerbricht er seinen Bogen und
schleudert die Pfeile von sich“: sichtbares Zeichen dafür, dass er beschlossen hat,
nie wieder mutwillig Leben zu schädigen. Welche Kraft es ist, die diesen Ent-
schluss in ihm hervorruft, erfahren wir aus der Musik. Schon während er den

182
Der Weg zur Vollendung

Worten des Alten zuhörte – „mit wachsender Ergriffenheit“, wie es in Wagners


szenischer Vorschrift heißt – war im Orchester das Motiv des Mitleids erklungen.
Dieses ist es nun auch, das als deutender Kommentar das Zerbrechen des Bogens
begleitet:

Bspl. 42

Das ist das erste Mitleidserlebnis Parsifals und die erste Etappe auf seinem Weg
zum Wissen.
Dass dieser Weg nicht in einem Augenblick zurückgelegt werden kann, son-
dern ein langer, schwieriger und auch schmerzlicher Lernprozess ist, der sich über
viele Stufen erstreckt und nur mit Rückschlägen vollendet werden kann, zeigt das
nächste Erlebnis, das Parsifal auf dem Gralsgebiet zuteilwird. Da Gurnemanz den
sorglosen Knaben an seine Mutter erinnert, die, allein gelassen, sich über ihren
entlaufenen Sohn grämt, fährt Kundry jäh dazwischen und schleudert ihm mit
schonungsloser Härte die Nachricht ins Gesicht, dass Herzeleide tot sei. Parsifal
ist von dieser Mitteilung bis ins Mark erschüttert; wieder ergreift ihn das Schick-
sal eines anderen Wesens, als sei es das eigene. Doch anstatt Trauer über das Los
seiner Mutter und Reue über sein eigenes Verhalten zu empfinden, springt er
Kundry wütend an den Hals und will sie erwürgen. In diesem Bild tritt wieder
der ungeläuterte seelische Zustand des „Toren“ klar zutage. Parsifals übermäßiger
Schmerz verwandelt sich in Aggression; und diese, da sie noch undifferenziertes
Gefühl ist, entlädt sich am vollkommen falschen Objekt. Der bloße Entschluss,
nie wieder Leben zu schädigen, war also lange nicht ausreichend, um richtiges
Verhalten zu gewährleisten. Solange seine Triebnatur nicht durch bewusste Er-

183
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

kenntnis geläutert worden ist, und solange sein Handeln nicht durch bewusste
Achtsamkeit kontrolliert wird, wird Parsifal gerade durch seine Spontaneität im-
mer wieder dazu veranlasst werden, gegen seine eigenen innersten Absichten zu
handeln. Wiederum zeigt es sich, wie notwendig es ist, dass zur „Torheit“ das
„Wissen“ hinzukommt.
Der heftige Schmerz, den Parsifal bei der Nachricht vom Tod seiner Mutter er-
fährt, hat jedoch auch eine positive Bedeutung für seine weitere innere Entwick-
lung. Denn sobald seine spontane Wut verklungen ist, gerät er in einen Zustand,
der ihn reif macht für die nächste Etappe auf seinem Erkenntnisweg. In Wagners
Regieanweisung heißt es:
„Nachdem Gurnemanz Kundry befreit, steht Parsifal lange wie erstarrt; dann ge-
rät er in ein heftiges Zittern.“
Es gelingt ihm gerade noch, die zwei Worte „Ich verschmachte“ zu stammeln,
wie vor einer drohenden Ohnmacht. Sein ganzes seelisches Gefüge ist also durch
die gewaltige Erschütterung ins Wanken geraten; offensichtlich ist er dabei, das
Bewusstsein für die Sinnenwelt zu verlieren. Das macht ihn aber empfänglich für
eine andere Art von Bewusstsein: Sein Blick wird nach innen geöffnet. Er hat
jenen Zustand der Leere erreicht, in dem nicht nur die Sinneswahrnehmungen,
sondern alle Gedanken und Willensregungen zum Schweigen gekommen sind.
Der Blick kann sich nun tief in die eigene Seele wenden; Parsifal ist reif für das,
was die Mystiker die „Kontemplation“ nennen: jene übersinnliche Wesensschau,
bei der das innerste Wesen der Erscheinungen dem rein schauenden Geist offenbar
wird.
Tatsächlich ist der Knabe jetzt in einem Zustand totaler Willenlosigkeit. Dies
kommt bildhaft dadurch zum Ausdruck, dass er sich gänzlich der Führung Gur-
nemanz’ überlässt. Wie es in Wagners szenischer Anweisung heißt, hat der alte
Ritter „Parsifals Arm sich sanft um den Nacken gelegt, und hält dessen Leib
mit seinem eigenen Arm umschlungen; so geleitet er ihn bei sehr allmählichem
Schreiten“. Ihre Schritte führen sie aber ins Innere des Berges – zum Gral.
„Wer ist der Gral?“ fragt Parsifal. Und Gurnemanz erklärt ihm, dass es sich
um ein übersinnliches Erlebnis handle, das der rein empfangenden Seele nur durch
Gnade zuteilwerden könne:
Kein Weg führt zu ihm durch das Land,
und niemand könnte ihn beschreiten,
den er nicht selber möcht’ geleiten.
Auf Parsifals verwunderte Feststellung: „Ich schreite kaum, – doch wähn ich
mich schon weit“, antwortet dann der alte Weise mit dem berühmten Satz:

184
Der Weg zur Vollendung

Du siehst, mein Sohn,


zum Raum wird hier die Zeit.
Unauslotbar tiefsinnige Worte! Was hier der inspirierte Dichter in einer einzig-
artigen Verbindung von Philosophie und Poesie ausspricht, lässt sich nur unzu-
länglich in Begriffe umsetzen. Wenn, wie in der Aussage des Gurnemanz, Zeit
zum Raum wird, so bedeutet das, dass ein mystischer Raum betreten wird, in
dem alle Zeiten zugleich gegenwärtig sind. Dort ist kein Werden mehr, kein
Aufeinanderfolgen einzelner Erscheinungen; sondern die Zeit ist aufgehoben
– oder vielmehr sind alle Zeiten zu einem einzigen, zeitlosen Augenblick zu-
sammengefasst. Alles, was sich je ereignet hat und je ereignen wird, wird un-
mittelbare Gegenwart. Parsifal hat das Bewusstsein von der Erscheinungswelt
verloren; dafür erlebt er, indem er das Innere des Berges betritt, eine Vision des
innersten Wesens der Welt.
Damit ist jedoch der Wunder nicht genug! Raum und Zeit sind ineinander ge-
f lossen; deshalb wird der mystische Raum, in dem diese Vision stattfindet, nicht
als Raum, sondern als Zeit erlebt. Denn die Wesenschau wird Parsifal in einer
Form zuteil, die ganz der Dimension der Zeit angehört: Er erlebt sie als Musik.
Diese musikalische Vision bildet den Inhalt des symphonischen Zwischenspiels,
das während Parsifals Gang zum Gralstempel erklingt.

4. Musikalischer Exkurs
Die erste Verwandlungsmusik

Parsifals Weg zur Wesensschau beginnt mit einer Ek-stasis: einem ‚Heraustreten‘
aus dem Raum der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung, welches die Vorausset-
zung dafür ist, dass sich der Blick für das Übersinnliche auftut. Diese Entrückung
geschieht in der Musik durch eine Serie von „Terzverwandschaften“: ruckartige
Übergänge in eine jeweils neue, fremd klingende Tonart, bei denen der Zuhörer
tatsächlich das Gefühl hat, als ob sich immer wieder neue Räume dem staunen-
den Blick eröffneten. Wie vor dem geistigen Auge des „Schreitenden“ sich der
Raum ständig ausweitet, bis er schließlich in dem Bereich des Grals, zu dem „kein
Weg führt durch das Land“, anlangt, so schreitet die Musik von einer Tonart zur
anderen, bis nach achtmaliger Modulation endlich der tonale Raum des As-Dur
erreicht wird, der den Rahmen für die nun anhebende Vision abgibt. As-Dur: Das
ist die Tonart der tiefen Innerlichkeit, der Weltentrücktheit, wie wir sie sie aus
dem II. Akt von Tristan und Isolde kennen, wo die beiden Liebenden aus der Welt
des trennenden „Tages“ in den raum- und zeitlosen Bereich der „Nacht“ eintreten,
in dem Ich und Welt zu einer Einheit verschmelzen. So auch hier: Nach Gur-

185
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

nemanz’ Worten „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“, da sich
die letzte Modulation nach As-Dur vollzieht, weitet sich plötzlich der Raum ins
Unermessliche; die Musik bekommt den Charakter des Großartigen, Mächtigen,
und man hat das Gefühl, als ob in diesem Klangraum die ganze Welt enthalten
wäre.
Die Töne, die an dieser Stelle so mächtig den Raum erfüllen, sind die gleichen,
die in der großen Gurnemanz-Erzählung erklungen sind, als dieser von „den Brü-
dern“ gesungen hat, „die zu höchsten Rettungswerken des Grales Wunderkräfte
stärken“. Auf- und niedersteigende Linien sind es, die hier – um mit Goethes Faust
zu reden – „wie Himmelskräfte auf und nieder steigen“ und „harmonisch all das
All durchklingen“. Die aufsteigende Linie ist dem Gralsmotiv entnommen, aus
dem auch das Speermotiv gebildet ist; sie verbindet sich hier mit der niederstei-
genden Linie des Glaubensmotivs, um vollendeter musikalischer Ausdruck einer
Wirklichkeit zu werden, in der sich unten und oben, Sinnliches und Übersinn-
liches, Menschliches und Göttliches zu einem Ganzen weben, und die Liebe als
wirkende Kraft alles Sein durchdringt:

Bspl. 43

Diese Klänge, die wir zunächst als sanftes, ruhiges Fließen wahrnehmen, be-
kommen anschließend allmählich den Charakter machtvoller Großartigkeit. Die
auf- und niedersteigenden Linien werden nicht mehr im weichen Legato gespielt,
sondern die einzelnen Noten werden nun kräftig gestoßen. Dadurch bekommt
die ganze Musik auch einen drängenden Charakter, dem sogar etwas Unruhi-
ges anhaftet. Tatsächlich ist dem Zustand der Harmonie hier keine lange Dauer
beschieden. Denn nach wenigen Takten löst sich aus dem Themengef lecht eine
chromatische Linie, die in der grellen Farbe der Trompete das harmonische We-
ben wie ein Schmerzensschrei durchschneidet:

186
Der Weg zur Vollendung

Motivisch lässt sich diese Melodie, die nur hier erklingt, nicht genau bestim-
men; doch man erkennt in ihr unschwer die aufsteigende Sekunde, die bei Wag-
ner immer Klangsymbol für die Sehnsucht ist; und man hört auch, wie die Li-
nie nach zweimaligem Empordrängen gleichsam resigniert wieder in die Tiefe
sinkt. Dadurch wird man unwillkürlich an jenes unstillbare „Sehnen“ erinnert,
das in der Weltsicht des Parsifal die Quelle alles Leidens ist. Mit dieser Melodie
geschieht der plötzliche Einbruch des Schmerzes und der Klage in eine sonst
heile Welt.
Tatsächlich beginnen nun die auf- und absteigenden Linien des Gralswebens
immer schwerer und unruhiger zu werden; ja, sie bekommen einen fast drohen-
den Charakter – so, als wäre der Gral keine segenbringende Macht mehr, sondern
eine erdrückende Last. Und plötzlich sagt uns die Musik, warum dies so ist. Mit
dem grellen Oktavsprung der Trompete mündet das Klanggeschehen in die Dar-
stellung des leidenden Gralskönigs Amfortas ein:

Bspl. 45

Dieses komplexe, aus mehreren Motiven gebildete Thema ist dasselbe, das nachher
in der großen Klage des Amfortas erklingt, dort, wo der König mit den Worten
„Oh Strafe! Strafe ohnegleichen des – ach! – gekränkten Gnadenreichen“ die Qual
beschreibt, die ihm das Bewusstsein verursacht, als Unwürdiger den Gralsdienst
versehen zu müssen. Davor wird es aber auch vom Chor gesungen, und zwar zu
den Worten:

187
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Den sündigen Welten


Mit tausend Schmerzen
Wie einst sein Blut gef lossen …
In diesem Thema wird also der ganze Bereich der „Sünde“, sowie des aus ihr
entspringenden Leids zusammengefasst: die „sündigen Welten“, deren innerstes
Wesen Leid ist, das Leiden des „sündigen“ Königs Amfortas – aber auch das Lei-
den Christi, jenes „gekränkten Gnadenreichen“, der aus Mitleid mit den sündigen
Menschen die Qualen seiner Passion auf sich nimmt. Es ist das Leid, das der aus
der göttlichen Ordnung herausgefallene Mensch sich selbst und dem Göttlichen
auf bürdet. Und all das erscheint zusammengebündelt im Leiden des Amfortas,
das hier als Vision vor dem inneren Auge Parsifals emporsteigt.
Die einzelnen Motive, aus denen sich dieses viertaktige Tongemälde zusam-
mensetzt, künden von den verschiedenen Aspekten dieses Leidens. Der Oktav-
sprung, mit dem das Thema einsetzt, und der wie ein von Schmerz verzerrter
Aufschrei klingt, ist ein Klangsymbol des Sündenbewusstseins und der Reue; als
solches kommt er bereits in Tannhäuser vor, wo er in Verbindung mit zwei wie
durch eine schwere Last in die Tiefe gedrückten Sekundschritten das Motiv der
„Sündenlast“ bildet:283

Auch im Parsifal mündet die „Reueoktave“ in eine Serie von fallenden Sekund-
schritten ein, die hier jedoch zu absteigenden Terzparallelen geworden sind:

Diese absteigenden großen Terzen, die durch die starre Unveränderlichkeit des
Intervalls Unentrinnbarkeit zum Ausdruck bringen, hat Overhoff als „Leidens-
terzen“ identifiziert; er sieht in ihnen das eigentliche Leidensmotiv des Parsifal,
das „die ganze Partitur in allen nur denkbaren Kombinationen“ 284 durchzieht.

188
Der Weg zur Vollendung

Zugleich mit diesen beiden Hauptmotiven erklingen in den Nebenstimmen


verschiedene scharf stechende Figuren, in denen wir Klangsymbole für die ver-
schiedenen Aspekte der Verwundung erkennen. Neben den zackig-punktierten
Figuren in den Violinen zieht vor allem ein Quartaufsprung in Trompete und
Posaune die Aufmerksamkeit auf sich. Er erinnert an den markigen Auftakt des
Schwertmotivs aus dem Ring; und da er aus den Ecktönen des Speermotivs besteht,
kann man ihn unschwer als musikalische Umsetzung jenes Speerstiches identifi-
zieren, durch den sowohl Amfortas als auch Christus ihre Wunde empfingen:

Schwertmotiv im Ring

Verwandlungsmusik im Parsifal

Im dritten Takt geht dann die melodische Hauptlinie der Leidensterzen in ein
anderes Motiv über, das wir anhand seiner Verwendung im II. Akt, wo er zu
Kundrys Worten „Nun such’ ich ihn von Welt zu Welt“ erklingt, als Klangsym-
bol der Erlösungssehnsucht identifizieren können:

189
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Reue – Leiden an der Sünde – Verwundung – Erlösungssehnsucht: Das sind die


Komponenten, aus denen sich das Leiden des Amfortas zusammensetzt, dessen
Darstellung hier den ersten Höhepunkt in Parsifals Vision bildet.
Doch wie in einem Traum alles ineinander f ließt, und sich die Bestandteile ei-
nes eben geschauten Bildes aus ihrem Zusammenhang lösen können, um ein neues
aus sich hervorzubringen, so lösen sich motivische Bruchstücke aus der eben ge-
hörten Leidensmusik heraus und werden zur thematischen Substanz eines neuen
Tongemäldes:

Hier erklingen auch die Leidensterzen – aber nicht mehr grell aufschreiend, son-
dern schwer und müde; auch der punktierte Rhythmus des Schreitens – er hatte
am Anfang der Verwandlungsmusik, als Parsifal seinen Gang in das Innere des
Berges begann, das musikalische Geschehen beherrscht – wirkt nun im dumpfen
pizzicato der Bässe müde und schleppend. Das Motiv des Christus-Blickes, aus
dem sich dann das Motiv der Erlösungssehnsucht herausentwickelt, sagt uns, was
in diesen Klängen zur Darstellung kommt. Es ist das Leiden der Kundry, die, von
ihrem Fluch getrieben, sich „endlos durch das Dasein quält“. Die Worte, mit de-
nen sie im II. Akt selbst ihr Schicksal beschreibt:
Da traf mich sein Blick. –
Nun such’ ich ihn von Welt zu Welt,
Ihm wieder zu begegnen …
– diese Worte sind hier Klang geworden. Ja, die musikalische Umsetzung geht so
weit, dass bald nach dem Erklingen des Motivs der Erlösungssehnsucht sich die
vier ersten Töne der Melodie aus der Gesamtlinie herauslösen, um in einer schier
endlos erscheinenden Folge von aufsteigenden Sequenzen in die Höhe zu streben.

190
Der Weg zur Vollendung

Man hat das Gefühl, als ob die Musik in diesen einander überlagernden Figuren
einen verzweifelten Versuch machte, die Schwere zu überwinden und endlich den
Durchbruch in die Höhe und ins Licht zu schaffen. In diesen Sequenzen kommen
die endlosen Wiedergeburten der Kundry zum Ausdruck – ihre Wanderung „von
Welt zu Welt“, durch die sie sich mühsam schleppt in der stets betrogenen Hoff-
nung, Erlösung zu finden:

So kommt zu den Qualen des gefallenen Menschen das Leiden der unerlösten
menschlichen Natur. Parsifal hat ins innerste Wesen des Menschen und des mensch-
lichen Lebens geblickt, und alles, was er gesehen hat, war Leid. Er hat die erste der
„Vier edlen Wahrheiten“ des Buddhas erkannt: die „Wahrheit vom Leiden“.
Diese Erkenntnis kann nicht mehr ergänzt, sondern nur in ihrer Intensität ge-
steigert werden. Deshalb mündet die Darstellung des Kundry-Schicksals wieder
in das Tongemälde, das die Qualen des Amfortas zum Ausdruck bringt. Dieses
erfährt bei seiner Wiederholung eine derartige Steigerung, dass die ganze Welt
unter der Last des Leides zusammenzubrechen scheint. Als Antwort darauf ertönt
aus der Gralsburg das Motiv der göttlichen Liebe – ein Weckruf, der Trost und
Mahnung zugleich bedeutet.
Zusammenbruch und Weckruf werden wie zur Bestätigung wiederholt; und
dann hört man aus der Gralsburg die wuchtigen Schläge der Gralsglocken. Par-
sifals Vision ist zu Ende. Mit dem Motiv der Gralsverheißung, das im mächtigen
fortissimo des vollen Orchesters ertönt, betritt er mit Gurnemanz den Innenraum
des Gralstempels.

191
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

5. Parsifal im Gralstempel

In der nun folgenden Szene wird das, was Parsifal eben während seines Ganges in
das Berginnere als Klangvision erlebt hat, zum sichtbaren Ereignis. Er sieht mit
eigenen Augen die segensbringende Wirkung des Grals, sieht, wie der Gral ent-
hüllt und durch einen Lichtstrahl von oben zum Leuchten gebracht wird, und wie
Amfortas die in Purpur erglühende Schale hochhebt, um damit Brot und Wein
des heiligen Mahles zu segnen. Und er sieht, wie die Ritter das so Gesegnete zu
sich nehmen und dadurch der göttlichen Kraft des Grals teilhaftig werden. Doch
er erlebt auch die herzzerreißende Klage des Amfortas, er sieht das frevelhaf-
te Auf begehren des Gralskönigs gegen das ihm auferlegte heilige Amt, und er
wird zuletzt Zeuge, wie die Wunde heftig zu bluten beginnt: Bilder furchtbarsten
Leidens, die ihm mit erschütternder Deutlichkeit die conditio humana vor Augen
führen. Hier wird Parsifal unmittelbar mit jenem Leid konfrontiert, dessen Be-
wältigung ihm als Lebensaufgabe vorausbestimmt ist.
Diese Eindrücke bewirken, dass Parsifal die dritte seelische Erschütterung
nach dem Schwanenmord und dem Tod seiner Mutter erfährt. Alles weist darauf
hin, dass er angesichts des Leidens des Amfortas durch ein Mitleidserlebnis nie
gekannter Stärke bis ins innerste Mark seiner Seele getroffen ist. Das geht aus den
szenischen Anweisungen Wagners an dieser Stelle deutlich hervor:
„Parsifal hatte bei dem vorangegangenen stärksten Klagerufe des Amfortas eine
heftige Bewegung nach dem Herzen gemacht, welches er krampfhaft eine Zeitlang
gefasst hielt; jetzt steht er noch wie erstarrt, regungslos da.“
Jetzt kommt alles darauf an, ob Parsifal durch dieses Erlebnis auch Erkenntnis er-
langt. Gurnemanz ist sich bewusst, dass hier der entscheidende Punkt liegt. Schon
als er Parsifal in den Tempel führte, hatte er ihn in diesem Sinne gemahnt, indem
er ihm zurief:
Nun achte wohl, und lass’ mich sehn:
bist du ein Tor und rein,
welch Wissen dir auch mag beschieden sein.
Er hatte dann auch an der Rittertafel einen Platz für Parsifal frei gehalten, in der
Hoffnung, dieser würde durch seine Teilnahme am Mahl seine Zugehörigkeit zur
Gralswelt bekunden. 285 Doch das erwartete Zeichen, aus dem man hätte schließen
können, dass dem Knaben seine Aufgabe bewusst sei, bleibt aus; dieser ist „starr
und stumm, wie gänzlich entrückt“ neben der Tafel stehen geblieben. Zuletzt,
nachdem das Mahl zu Ende ist, und die Ritter den Saal verlassen haben, tritt Gur-
nemanz „missmutig“ an Parsifal heran und fragt ihn barsch:

192
Der Weg zur Vollendung

Was stehst du noch da?


Weißt du, was du sahst?
Doch Parsifal, anstatt zu antworten, „fasst sich krampf haft am Herzen und schüt-
telt dann ein wenig sein Haupt“. Dazu erklingt aber im Orchester das Mitleids-
motiv:

Darauf sagt Gurnemanz ärgerlich: „Du bist doch eben nur ein Tor“ – und wirft
den Knaben aus dem Gralstempel hinaus.
Parsifal hat offensichtlich ein tiefes Mitleidserlebnis gehabt – doch er ist da-
durch nicht zum „Wissenden“ geworden. Denn sein Mitleid ist hier noch reines,
unref lektiertes Gefühl. Anstatt in ihm Erkenntnis auslösen, hat es im Gegenteil
gerade durch seine Wucht sein Bewusstsein eingenebelt, wie aus den vielen Regie-
vorschriften Wagners hervorgeht, die Parsifal als „verzaubert“, „entrückt“, „er-
starrt“ oder „regungslos“ beschreiben. Er hat die Qualen des Amfortas, soweit er
diese durch das Zuschauen und Zuhören erfassen konnte, mit-gefühlt; doch er
ist nicht bis zum Kern, bis zum „Quell“ dieses Leidens gedrungen. Er ist wie ein
Arzt, der zwar die Krankheitssymptome erfasst, jedoch die eigentliche Ursache
der Krankheit noch nicht erkannt hat, weshalb er nicht imstande ist, sie zu heilen.
Hier zeigt sich noch einmal, wie sehr Wagner durch buddhistisches Gedan-
kengut beeinf lusst war. Denn der Weg des Buddhas ist in starkem Ausmaß ein
Erkenntnisweg: Nur durch klares, bewusstes Erkennen der jeweiligen Ursache
ist ein Problem zu lösen; nur Wissen bringt „Erlösung“. Deshalb heißt die zweite
der „Vier edlen Wahrheiten“ die „Wahrheit von der Entstehung des Leidens“. Erst
wer diese zweite verstanden hat, kann zu den nächsten Wahrheiten schreiten: den
Wahrheiten „von der Auf hebung des Leidens und vom Weg, der zur Auf hebung
des Leidens führt“. 286
Will Parsifal den Ursprung des Amfortas-Leidens erkennen, dann muss er auch
die Begierde, welche die tiefste Ursache dieses Leidens ist, am eigenen Leib und
an der eigenen Seele erleben, so wie Amfortas sie erlebt hat, als er der Verführung

193
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

der Kundry erlag. Erst dadurch kann er das Leiden des Gralskönigs bis in ihre
letzten Tiefen als das eigene mit-leiden. Und erst dann wird er imstande sein, die
Ursache dieses Leidens bewusst zu erkennen und den Weg zu seiner Auf hebung
zu beschreiten. Das ist das „Wissen“, das es noch zu erwerben gilt. Und nur wenn
er dieses „Wissen“ besitzt, kann er zur „Auf hebung des Leidens“, d.h. zur Erlö-
sung schreiten.
Wenn Gurnemanz den wie betäubt dastehenden Parsifal aus dem Gralstempel
wirft, so tut er dies aus Enttäuschung und Ärger über dessen Versagen. Doch
ohne dass es ihm bewusst ist, trägt er durch diese Behandlung dazu bei, dass der
unreife Knabe auf dem ihm vorausbestimmten Erkenntnisweg weiterschreiten
kann. Denn Parsifal wird durch diesen barschen Hinauswurf in die Welt hinaus-
gestoßen. Und nur dort, inmitten der Welt und des Lebens, kann er die Erfahrun-
gen machen, durch die er schließlich zum „Wissenden“ wird. Parsifal verlässt den
Gralstempel – und beginnt seinen Abstieg „durch das Tal“.

194
Der Weg zur Vollendung

2. Kapitel
„Durch Mitleid wissend“

1. Parsifals Weg zum Zaubergarten

Über das, was Parsifal zwischen dem Verlassen der Gralsburg und dem plötzlichen
Erscheinen in Klingsors Zaubergarten getan und erlebt hat, erfahren wir so gut
wie nichts. Er selbst spricht später nur von „wilden Knabentaten“, und dass er als
„blöder, taumelnder Tor“ herumirrte, „seiner Mutter vergessend“. Die Torheit,
auf die er hier anspielt, muss jedoch mehr sein als die Naivität des unerzogenen
Knaben, die man im I. Akt an ihm wahrgenommen hat. Denn Parsifal hat während
seines Aufenthalts im Tempel Erlebnisse gehabt, die ihn aufs Tiefste erschütterten.
Er war nach der Klage des Amfortas und der Gralsenthüllung mit dem darauffol-
genden Mahl der Ritter in einen Zustand tiefer Betäubung gefallen. Offensicht-
lich war er noch nicht imstande, das dort Gesehene und Gehörte zu verarbeiten;
zu mächtig waren sowohl das Erhabene als auch das Furchtbare, die auf seine
unvorbereitete Seele mit jäher Gewalt einstürmten. Die natürliche Reaktion auf
eine solche Erfahrung ist, wie wir aus der Psychologie wissen, die Verdrängung;
die Seele, die durch übermächtige Eindrücke aus dem Gleichgewicht zu geraten
droht, schiebt diese in die Tiefe des Unbewussten, um so die Gefahr zu bannen.
Ähnliches spielt sich wohl bei Parsifal nach dem Hinauswurf aus dem Gralstem-
pel ab. Nicht nur das dort Erlebte wird verdrängt, sondern auch die Tötung des
Schwans und der Tod seiner Mutter; er versucht, die innere Erschütterung durch
Übermut und Sorglosigkeit zu überspielen, und wird zum „taumelnden Toren“.
Das alles geschieht aber deshalb, weil er noch nicht imstande ist, das, was er im
Gralsbereich fühlend erlebt hat, mit „Wissen“ zu durchdringen.
Zu den „wilden Knabentaten“, die sich Parsifal später mit heftiger Selbstan-
klage vorwerfen wird, gehört auch der Kampf, den er bei seinem Einfall in den
Zaubergarten gegen die dort festgehaltenen Gralsritter ausficht. Klingsor, der
diesen Kampf beobachtet, gibt in seinen dazwischen geworfenen Bemerkungen
eine anschauliche Schilderung des übermütigen Eindringlings:
Ha! – Er ist schön, der Knabe!
Haha! Der fürchtet sich nicht …
„Stolz“ nennt er ihn auch – und „kindisch“. Schön, furchtlos, stolz, kindisch:
Das sind lauter Attribute des jungen Siegfried, und tatsächlich erscheint Parsifal
hier noch einmal als einer, der, wie der Held im Ring, ohne jede Ref lexion spon-
tan seinen Trieben folgt. Hass und Bosheit kennt er nicht; aber sein unbändiger
Tatendrang und die Lust an der eigenen Kraft treiben ihn dazu, sich einen Weg

195
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

durch alle Hindernisse zu bahnen, wobei er sich nicht im Geringsten um die Aus-
wirkung seiner Taten auf andere Wesen kümmert. Da die Mädchen ihn fragen:
„Was schlugst du unsere Geliebten?“, antwortet er mit entwaffnender Naivität:
Ihr schönen Kinder, musst’ ich sie nicht schlagen?
Zu euch, ihr Holden, ja wehrten sie mir den Weg.
Er ist also, wie bei seinem ersten Auftreten, immer noch jenseits von gut und böse,
d.h. ohne Bewusstsein von den Folgen seines Tuns. Nur so ist es zu erklären, dass
er, der doch nach dem Schwanenmord seinen Bogen zerbrochen und seine Pfeile
von sich geworfen hatte, wieder gegen anderes Leben kämpft.
Parsifal ist also noch weit davon entfernt, sittliche Persönlichkeit zu sein. Soll
er auf seinem Weg weiterkommen, so ist es nötig, dass er zuerst aus dem Sta-
dium der Kindheit heraustritt, um überhaupt Persönlichkeit zu werden – d.h.,
er muss sich als ein selbstständiges, verantwortungsfähiges Ich bewusst erleben.
Eine solche Entwicklung geschieht in jener Lebensphase, die man als „Pubertät“
bezeichnet. Und tatsächlich ist Parsifal jetzt in einem Alter, in dem der Eintritt in
diese Phase ein natürlicher Vorgang ist. Es handelt sich also bei dem, was ihm im
Zaubergarten widerfährt, zunächst um eine Pubertätserfahrung.
Was geschieht, da Parsifal, auf der Mauer stehend, „staunend in den Garten
hinabblickt“? Ein Knabe erlebt zum ersten Mal mit voller Intensität die Sinnen-
welt. „Sinnenwelt“ – die Welt der Sinne: Das Wort ist hier in seiner doppelten
Bedeutung aufzufassen. Denn einerseits erlebt Parsifal hier mit einer ihm bisher
unbekannten Bewusstheit die bunte, verlockende Welt der vielfältigen Erschei-
nungen, wie sie seiner Wahrnehmung durch die Sinneseindrücke vermittelt wer-
den; andererseits erlebt er die Macht der eigenen Sinnlichkeit, die mit Lust oder
Unlust auf die wahrgenommenen Erscheinungen reagiert. Beides bewirkt, dass er
sich bewusst als ein Ich erlebt, d.h. als ein in sich Abgeschlossenes, dem die Welt
„da draußen“ als etwas von ihm Verschiedenes und Getrenntes gegenübersteht.
In diese Sinnenwelt taucht nun Parsifal ein – als „reiner Tor“. Tor ist er, weil
er noch unerfahren ist; denn es ist seine erste Begegnung mit den Verlockungen
durch die Sinne und die sinnlichen Erscheinungen. „Noch nie sah ich solch zierli-
ches Geschlecht“ – so ruft Parsifal, der nach Wagners szenischer Anweisung „voll
Verwunderung“ inmitten der bunten Schar steht, den ihn umringenden Mädchen
zu. Doch er ist auch rein; und das bedeutet: Er ist ohne Besitzdenken. Wie dem
jungen Siegfried so ist auch ihm das Haben-Wollen fremd; deshalb erlebt er die
Mädchen als Blumen – d.h. als Wesen, die durch ihr bloßes Dasein erfreuen, ohne
animalische Begierde oder gar menschliche Berechnung zu erwecken. Wie die
Rheintöchter – die im Ring den Zustand paradiesischer Unschuld verkörpern –
absichtslos mit dem Gold spielen, so hat Parsifal sein Genügen daran, sich mit den
Mädchen spielend zu vergnügen. Erst wenn sich die Erotik in das unschuldige

196
Der Weg zur Vollendung

Spiel einmischt – „An deinen Busen nimm mich – Lass’ mich die Wange dir füh-
len – Den Mund lass’ mich dir küssen“ – erst da fühlt er sich genötigt, die Mäd-
chen sanft abzuwehren. Und sobald das erotische Begehren zu Besitzen-Wollen
wird oder gar zum Streit um den Besitz führt – „Nein uns! Nein, mir gehört er
an! – Nein, uns! Ja uns! Ja uns!“ – sobald dies geschieht, wird Parsifal verdrießlich
und versucht zu f liehen.
Parsifal ist also nicht nur „reiner Tor“, sondern, wie Kundry später sagen wird,
„tör’ger Reiner“. Die Erscheinungen der Sinnenwelt sind für ihn kein Objekt des
Begehrens; er will sie weder festhalten, noch Macht über sie bekommen, sondern
nur mit ihnen in ungetrübter Freude spielen. Und darum gelingt es den Blumen-
mädchen nicht, ihn für Klingsor einzufangen.
Doch Parsifal ist auch in einem anderen Sinn ein Reiner. Denn er ist der künf-
tige Gralskönig. Und das bedeutet, dass er trotz seiner Jugend bereits jetzt auf
einer sehr hohen Entwicklungsstufe steht, die ihn für die einfachen Verlockungen
der Sinnenwelt unempfänglich macht. Trotz aller knabenhaften Unreife besitzt er
einen königlichen Charakter, der sich durch Ernst und Adel auszeichnet. Durch
triviale, oder gar gemeine Genüsse kann ein solcher Mensch nicht verführt wer-
den. Will man Einf luss über ihn gewinnen, so muss man an seine edleren Ins-
tinkte appellieren. Hier liegt die wirkliche Gefahr auch für Parsifal. Gelingt es
irgendeiner Person oder irgendeiner Macht in seinem eigenen Unbewussten, ihn
davon zu überzeugen, dass es moralisch gut sei, wenn er sich dem Sinnengenuss
hingibt, dann kann er zu Fall gebracht werden. Nicht als sinnliches, sondern als
moralisches Wesen muss man ihn also ansprechen. Dies weiß Klingsor wohl; und
er weiß auch, wer in dieser Kunst Meisterin ist: Kundry. Mit ihrem Erscheinen
beginnt für Parsifal die eigentliche Prüfung.

2. Die Begegnung mit Kundry

Parsifals Auseinandersetzung mit Kundry ist die zentrale Szene des ganzen Dra-
mas; in ihr fällt die Entscheidung, ob der zu Individuation bestimmte Mensch
seiner höheren Aufgabe, sittliches Individuum zu werden, treu bleibt – oder durch
die Macht der natürlichen Triebe von dieser Aufgabe herabgezogen wird. Nun
kann man das, was sich hier abspielt, auf verschiedene Art und Weise deuten, je
nachdem, wie man die Figur der Kundry selbst interpretiert. So kann man in der
Verführerin eine wirkliche Frau sehen, die durch ihre raffinierte Kunst den Kna-
ben Parsifal erotisch zu verführen versucht. Doch das ist nur die oberf lächliche
Bedeutung dieser Begegnung, die ihre ganze Sinnfülle erst dann enthüllt, wenn
wir uns daran erinnern, dass Kundry eine Verkörperung des Unbewussten ist.
Dann können wir die ganze Szene auffassen als die Auseinandersetzung eines zur

197
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Reife erwachenden jungen Menschen mit den aus der eigenen Seelentiefe aufstei-
genden unbewussten Inhalten.
Diese Auffassung wird durch die symbolischen Bilder bestätigt. Denn wenn
kurz nach dem Auftauchen Kundrys die Blumenmädchen die Szene verlassen, so
ist das ein Zeichen dafür, dass in der nun beginnenden Phase von Parsifals Erfah-
rungen die äußere Sinneswelt mit ihren bunten Eindrücken und Verlockungen aus
dem Bewusstsein verschwindet, und die nun einsetzenden Erlebnisse von innen
kommen. Tatsächlich ist Kundry, die jetzt die ganze Aufmerksamkeit auf sich
zieht, eben aus der dunklen Tiefe des Turmes emporgestiegen – ein Bild, dessen
Symbolik keiner Erklärung bedarf. Sie erscheint hier jedoch nicht mehr als wild-
zerrissene Leidende wie in der Klingsor-Szene, sondern als „ein jugendliches
Weib von höchster Schönheit“. Durch diese Verwandlung der äußeren Gestalt,
durch die ihr wahres Wesen verdeckt wird, ist Kundry zur Verführerin gewor-
den, und die betörend schöne Musik, die sie bei ihrem ersten „Parsifal“-Ruf wie
ein schwerer, betäubender Duft umgibt, lässt ahnen, wie gefährlich die Prüfung
sein wird, die Parsifal jetzt zu bestehen hat.
Gleich der Beginn der Verführungsszene macht deutlich, dass es sich bei dieser
Prüfung um einen Reifwerdungsprozess handelt. Denn als erstes ruft Kundry
Parsifal bei seinem Namen. Den eigenen Namen zu erfahren, bedeutet aber, sich
seiner Individualität bewusst zu werden. Es ist also wieder ein Pubertätserlebnis,
das sich hier abspielt: Indem der Knabe das Bewusstsein seiner eigenen Individu-
alität erlangt, tritt er aus dem Kindheitsstadium heraus und wird zu einem mit
Selbstbewusstsein begabten, verantwortungsfähigen Erwachsenen.
Mit der namentlichen Anrufung berührt Kundry den bisher „Namenlosen“
gleichsam mit einem Zauberstab und hebt ihn dadurch augenblicklich auf eine
höhere Stufe der Reife. Durch diese Berührung wird er aber auch in den Zau-
berbann der Verführerin gezogen. Denn mit der Pubertät erwacht zugleich der
erotische Trieb. Nun ist der Eros, genauso wie die Ich-Werdung, etwas sehr Am-
bivalentes. Er kann den Menschen aus der Umgrenzung seines Egos hinausführen
– oder ihn in dieser festhalten, je nachdem, ob er sich als Hingabebereitschaft
oder Genusssucht äußert. Er kann den Menschen zur Höhe der Erkenntnis des
Göttlichen führen, wie es Platon in seinem Gastmahl beschreibt – oder ihn in die
Niederungen des Animalischen hinabziehen, wo er andere Wesen als Mittel zur
Befriedigung seiner Begierde missbraucht. Doch auch in seinem positiven Aspekt
als Befreier des Menschen aus der Umgrenzung der Individualität erweist sich der
Eros als ambivalent. Denn er kann zu echter Sittlichkeit hinführen, indem er den
Menschen dazu antreibt, selbstlos zum Wohl anderer Wesen zu handeln; er kann
ihn jedoch auch zur Regression in den vor-individuellen Zustand führen, indem
er ihm die Selbstaufgabe als Genuss anbietet, der ihn von der Last der Verantwor-
tung befreit. Selbstsucht und Selbstauf lösung sind also die großen Gefahren, die

198
Der Weg zur Vollendung

dem Menschen drohen, sobald er der Macht des Eros verfällt. Beide ziehen ihn
von seiner wahren Bestimmung herab, sittliches Individuum zu werden.
Dass mit der Namensgebung auch die Umstrickung durch den Eros beginnt,
erkennen wir daran, dass Kundry schon bei ihrer ersten Erscheinung Parsifal in
den Bereich des Mütterlichen zieht.
Parsifal …?
So nannte träumend mich einst die Mutter
– das sind die ersten Worte, mit denen der magisch Berührte auf den Ruf der
Unbekannten reagiert. Tatsächlich ist mit dem Erscheinen der Kundry der Mut-
terarchetypus mit seiner verschlingenden Gewalt aus der Tiefe des Unbewussten
aufgetaucht. Und nun versucht er, den eben zu sich Erwachten wieder in die Ge-
borgenheit des kindlichen Zustandes zurückzuziehen.
Mit dem Bild der Mutter taucht aber auch das des Vaters empor. Kaum hat
Kundry Parsifal zu umstricken begonnen, holt sie die Erinnerung an Gamuret
und dessen tragischen Tod aus der Tiefe seiner Seele herauf:
So rief, als in arab’schem Land er verschied,
dein Vater Gamuret dem Sohne zu,
den er, im Mutterschoß verschlossen,
mit diesem Namen sterbend grüßte.
Damit versetzt sie Parsifal noch weiter in die Kindheit zurück und macht ihn emp-
fänglich für die Regression. Doch sie tut auch etwas Anderes: Indem sie erzählt, wie
sein Vater mit dem Namen des geliebten Sohnes auf den Lippen – jenes Sohnes, den
zu sehen ihm nie vergönnt war – starb, erweckt sie Parsifals Mitleid. Dieses ist aber
das edelste Gefühl, dessen Parsifal fähig ist; ja, es ist das Göttliche in seiner Seele.
Und indem Kundry an dieses Gefühl appelliert, spricht sie Parsifal im Kern seines
moralischen Wesens an – und findet dadurch Zugang zum Innersten seiner Seele.
Das Mitleid, das sich am Vaterbild entzündet hat, soll nun aber durch die Er-
innerung an die Mutter unendlich gesteigert werden. Deshalb erzählt Kundry als
nächstes die Geschichte von Parsifals Kindheit – als Geschichte seiner tief beküm-
merten Mutter, deren Leben ein einziges Klagen um den Verlust des Gatten und
eine einzige Angst um den Verlust des Sohnes gewesen sei. „Das Leid im Herzen“
– „bang in Sorgen“ – „der heiße Tau der Muttertränen“ – „Nur Weinen war sie,
Schmerzgebaren“ – „Nur Sorgen war sie, ach! Und Bangen“: Mit solchen Worten
versucht Kundry, Parsifal in ihren Bann zu ziehen und ihn für die erotische Ver-
führung empfänglich zu machen.
Dass es diese ist, um die es eigentlich geht, erkennt man daran, dass Kundry
in ihrer Erzählung die Schilderung von Herzeleides Schmerz von Anfang an mit
Anspielungen auf die Mutter-Kind-Erotik vermischt.

199
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Hei! Was ihr das Lust und Lachen schuf,


wann sie suchend dann dich ereilt;
wann dann ihr Arm dich wütend umschlang,
ward dir es wohl gar beim Küssen bang?
Das sind handfeste erotische Bilder, die dazu dienen sollen, Parsifals Sexualität zu
wecken. Doch es ist eine ödipale Sexualität, die Kundry hervorrufen will; anstatt
sich durch die erotische Bindung an einen anderen Menschen von der Mutter los-
zulösen, um den Weg zur Individuation zu beschreiten, soll er als Erwachsener an
der Mutter-Kind-Beziehung haften bleiben. Hier zeigt sich der Mutterarchetypus
in seinem verschlingenden Aspekt – als gefährlicher Sog, der den Menschen in
die problemlose Geborgenheit des Mutterschoßes zurückziehen will, wo es keine
Freiheit und deshalb auch keine sittliche Verantwortung gibt. Unter dem An-
schein, Parsifal durch das erotische Erlebnis zur Reifwerdung zu verhelfen, ver-
sucht Kundry sein Reifwerden vielmehr zu verhindern.
Mit der Erzählung von Herzeleides Tod wird schließlich das Mitleid bis auf
den höchsten Grad gesteigert. Und da führt Kundry eine weitere Waffe ins Feld,
um Parsifal zu Fall zu bringen: die Schuldgefühle. Ihr Bericht, der in dicken Far-
ben aufgetragen ist und äußerst wirksame rhetorische Mittel verwendet, lässt
in Parsifal das Gefühl entstehen, als ob der Tod seiner Mutter allein durch das
rücksichtslose Verhalten ihres Sohnes verursacht worden sei. Keine Rede also von
dem höchst problematischen Verhalten Herzeleides, von ihrem Versuch, Parsifal
zum Ersatz für ihren verstorbenen Gatten zu machen, ihn im Zustand des Kindes
zu erhalten und für immer an sich zu binden –Verhaltensweisen, durch die die
Mutter selbst eine schwere Schuld auf sich lädt. Im Gegenteil: In Parsifal soll das
Gefühl entstehen, als ob er sich schuldig gemacht hätte, indem er sich aus dieser
Umklammerung gelöst hat. Und daran knüpfend baut nun Kundry eine Gedan-
kenkette von gefährlicher Überzeugungskraft auf, die genau dem entspricht, was
Freud „Rationalisierung“ nannte. „Du hast deine Mutter durch deine Entfernung
von ihr unermessliches Leid aufgebürdet“ – so redet sie ihm ein – „also musst du
deine Schuld wiedergutmachen, indem du jetzt für immer zu deiner Mutter zu-
rückkehrst.“ Wieder versucht die verschlingende Mutter das Kind in den bergen-
den Schoß zurückzuziehen – dieses Mal, indem sie ihm vorspiegelt, die Mutter-
Bindung sei eine moralische Verpf lichtung.
Durch alle diese Mittel versucht Kundry Parsifal weich zu machen. Je mehr sie
ihn erschüttert – so hofft sie – desto weniger Widerstand wird er ihrer Verfüh-
rung entgegensetzen können. Auf diese Weise soll er reif werden für den „Trost“,
den sie ihm in Form des erotischen Erlebnisses zu spenden verspricht.

200
Der Weg zur Vollendung

Es hat zunächst den Anschein, als ob Parsifals Widerstand auch tatsächlich ge-
brochen sei. Das ist auch der Eindruck, den das sichtbare Geschehen vermittelt.
Dann an der Stelle, an der der zutiefst Erschütterte in heftigem Selbstvorwurf
ausruft:
Wehe! Wehe! Was tat ich? Wo war ich?
Mutter: Süße, holde Mutter!
Dein Sohn, dein Sohn musste dich morden!
schreibt Wagner in seinen szenischen Anweisungen: „Parsifal, immer ernsthafter,
endlich furchtbar betroffen, sinkt, schmerzlich überwältigt, zu Kundrys Füßen
nieder.“
Parsifal scheint sich also willenlos dem Einf luss Kundrys zu überlassen. Doch
dieser Schein trügt. Denn Parsifal ist, wie wir wissen, kein gewöhnlicher Mensch,
sondern steht auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe. Anstatt, wie von Kundry
erwartet, immer tiefer in willenloser Unbewusstheit zu versinken, beginnt sich
in ihm höhere Erkenntnis zu regen. Sein Bewusstsein wird durch die seelische
Erschütterung nicht eingeschläfert, sondern geschärft. Das erfahren wir, wie so oft
bei Wagner, aus der Musik. Da Parsifal in seiner Zerknirschung darüber, dass er
seine Mutter „vergessen“ konnte, ausruft: „Ha! Was alles vergaß ich wohl noch!“,
erklingt im Orchester, wie ein plötzlich auftauchender Gedanke, das Speermotiv,
gefolgt vom Motiv des Mitleids – eine Verbindung, die, wie wir aus dem Vorspiel
zum I. Akt wissen, das Klangsymbol des Opfertods Christi bildet:

201
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Hier kündigt sich bereits die innere Umkehr an, die Parsifal zum „Wissen“ füh-
ren soll. Indem sein Geist von der Sinnenwelt abgelenkt wird, wendet er sich tief
nach innen; und aus der aufgewühlten Seelentiefe löst sich plötzlich das bisher
schlummernde Bewusstsein der eigenen höheren Bestimmung, das hier wie eine
leise Ahnung aufsteigt und kurz vor seinem inneren Auge auf blitzt.
Parsifal ist, obwohl er Kundry wie willenlos zu Füßen gesunken ist, in seinem
Inneren hellwach. Er befindet sich im selben Zustand wie im I. Akt bei der ersten
Nachricht vom Tod seiner Mutter. Es ist, als ob durch die empfangene Erschüt-
terung die gewohnten Strukturen des Denkens gelockert worden wären, und der
Geist nunmehr bereit wäre, seine bisherigen Grenzen zu überschreiten. In der
Sprache des Buddhismus heißt das: Parsifal ist bereit für das „Erwachen“.
In diesem Zustand empfängt er von Kundry den Kuss.

3. Wie lange dauert der Kundry-Kuss?

Der Augenblick, in dem Kundry „ihre Lippen zu einem langen Kusse“ auf Parsi-
fals Mund heftet, ist der Angelpunkt des Dramas. Er ist auch der Punkt, an dem
die Menschheitsentwicklung, wie sie im Ring gezeigt wird, und jene, die in Par-
sifal zur Darstellung gelangt, auseinandergehen. Auch im Ring wird dem „reinen“
Helden eine erotische Begegnung zuteil, die durch einen Kuss symbolisiert wird;
und auch er erfährt an diesem Erlebnis die Macht der Leidenschaft und der Be-
gierde. Doch während dort sowohl Siegfried als auch Brünnhilde nach dem Kuss
von der Leidenschaft überwältigt werden, so dass sie ihre höhere Lebensaufgabe
vergessen und die Menschheit geradezu in eine Katastrophe hineintreiben, ge-
schieht bei Parsifal das genaue Gegenteil: Die Begierde löst in ihm eine Erkennt-
nis aus, die dann zur völligen Aufhebung der Begierde führt – und zur Heilung
von Mensch und Welt. Was hat es mit diesem Kuss für eine Bewandtnis?
Die Antwort auf diese Frage wird verschieden ausfallen, je nachdem von wel-
chem Standpunkt aus man die mythischen Bilder betrachtet. Nimmt man den
Kundry-Kuss als reales, zwischen zwei Menschen sich abspielendes Ereignis, so
handelt es sich um eine einmalige Erfahrung, bei welcher der bisher völlig un-
erfahrene Parsifal im Augenblick der ersten Hingabe an den erotischen Genuss
eine blitzartig auf leuchtende, sein inneres Wesen total verwandelnde Erkenntnis
empfängt. Auf eine solche Auffassung scheinen zwei Äußerungen hinzuweisen,
die Wagner im Sommer und Herbst 1878, als er an der Komposition des II. Aktes
arbeitete, Cosima gegenüber machte:
„Er … will seine Arbeit unterbrechen, ist bis zu ‚O Qual der Liebe!‘ gekommen.
Er spricht von seinem jetzt ihn beschäftigenden Thema und sagt, wie mit diesem

202
Der Weg zur Vollendung

Gott in sich in den Entwicklungsjahren Wesen wie die Jung frau von Orléans und
Parsifal der Sinnenlust auf ewig durch einen großen Eindruck entrissen seien.“287
„Gestern abend freute er sich Parsifals als Gestalt, er habe darin das richtig angege-
ben, was in der Entwicklungszeit ein erhabener Eindruck hervorbringt, so dass der
Naturtrieb umschlägt; das ist das Vorbild aller Heiligen …“288
Es ist jedoch möglich, den Kuss auf ganz andere Art und Weise aufzufassen, und
zwar als das, was Wagner das „dichterische Wunder“ nannte. 289 Dies ist ein vom
Dichter erfundenes, symbolisches Ereignis, in dem eine größere Anzahl räumlich
und zeitlich auseinanderliegender, aber ähnlicher Begebenheiten in ein Bild zu-
sammengefasst wird, damit der gemeinsame Inhalt jener Begebenheiten dem Zu-
schauer in einem einzigen Augenblick vor Augen geführt werden kann. Es liegt
nahe, in dem „langen Kuss“, den Kundry auf Parsifals Mund heftet, ein solches
Symbol zu sehen, d.h. ihn als ein mythisches Bild aufzufassen, das zeitlich und
räumlich weit Auseinanderliegendes zu einem einzigen symbolischen Ereignis
zusammendrängt. Das würde aber bedeuten, dass Parsifal, nach seinem Eintritt
in die Entwicklungsjahre, genau wie Siegfried eine längere Phase durchmacht, in
der er die Macht des Eros erlebt – allerdings mit dem Unterschied, dass er dieser
Macht nie ganz verfällt. Im Gegenteil: Ihm kommt mit jedem Erlebnis deutli-
cher zum Bewusstsein, wie verhängnisvoll die Wirkung der triebhaften Begierde
ist – bis schließlich die befreiende Erkenntnis zum Durchbruch kommt, dass das
Begehren die Ursache des Leides ist.
Doch letztendlich ist es nebensächlich, ob die innere Umkehr im Augenblick
der ersten Berührung durch den Eros oder erst nach einer längeren Reihe eroti-
scher Erfahrungen geschieht. Wesentlich ist, dass es zu dieser Erfahrung über-
haupt kommt – ja, dass es dazu kommen muss, soll Parsifal in seiner Entwicklung
fortschreiten. Denn er ist kein weltentrücktes, überirdisches Wesen, sondern ein
Mensch, der voll in die Körperlichkeit eingetaucht ist und die Macht der mensch-
lichen Triebnatur nun am eigenen Leibe erlebt. Und nur ein solcher Mensch
kann dem Ideal der Freiheit entsprechen, die für Wagners Weltanschauung eine
so wesentliche Rolle spielt; denn nur derjenige, der durch eigene Erfahrung die
„Sünde“ kennengelernt hat, kann frei wählen zwischen dem „Sündigen“ und dem
„Heiligen“. 290
Doch wie steht es mit dem Verhältnis zum Erotischen nach dieser für die Er-
kenntnis notwendigen Erfahrung? Soll das sexuelle Erlebnis nur dazu dienen,
Parsifal ein für allemal von der Sexualität zu befreien? Ja, wird hier die Sexuali-
tät überhaupt als etwas Negatives abgelehnt? Da diese Frage von nicht geringer
Wichtigkeit für die Werkaussage ist, ist an dieser Stelle ein kleiner Exkurs über
dieses Thema angebracht.

203
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

4. Ist „Parsifal“ sexualfeindlich?

Die Frage, welche Einstellung zur Sexualität Wagners letztem Drama zugrunde
liegt, hat von jeher sowohl Bewunderer als auch Kritiker beschäftigt. Vordergrün-
dig betrachtet, hat es den Anschein, als ob die Sexualität im Parsifal tatsächlich mit
der „Sünde“ gleichgesetzt würde. Kundry, das „jugendliche Weib von höchster
Schönheit“, verführt Amfortas sexuell und macht ihn dadurch zum „Sünder“; das
Gleiche versucht sie, wenn auch vergeblich, mit Parsifal. Wenn Amfortas vom
„sündigen Verlangen“ und vom „heißen Sündenblut“ spricht, so scheint damit die
Identität von sexueller Lust und „Sünde“ gegeben zu sein – so, als ob das Sexuelle
das Böse schlechthin sei, von dem der Mensch befreit werden müsse.
Dieser Schein hält jedoch einer genaueren Untersuchung nicht stand. Zum ei-
nen ist Klingsor, der im Drama eindeutig das Böse verkörpert, völlig asexuell;
das Böse an ihm ist nicht das Vorhandensein oder die Ausübung der Sexualität,
sondern das Fehlen jeglicher Liebesfähigkeit; seine böse Tat besteht gerade darin,
dass er sein Geschlechtliches buchstäblich abgeschnitten hat.
Doch auch die Gleichsetzung der Kundry-Verführung mit sexueller Betäti-
gung ist irrig. Denn Kundry verkörpert, wie wir gesehen haben, weit mehr als
nur Erotik. Es ist das Unbewusste selbst mit seiner ganzen Vielschichtigkeit, das
in Gestalt des „jugendlichen Weibs“ an Parsifal herantritt, und die Gefahr, die von
ihr ausgeht, ist nicht die Verführung zum Sexuellen, sondern die Überschwem-
mung des Bewusstseins durch das animalisch Triebhafte, das den „zu höchsten
Rettungswerken“ Auserkorenen von seiner höheren Bestimmung herabzieht.
Die Frage nach dem prinzipiellen Ja oder Nein zur Sexualität ist deshalb so
schwer zu beantworten, weil sie falsch gestellt ist. In Wirklichkeit geht es im
Parsifal um ganz andere Dinge. Negativ gesehen, kreist die Thematik um die Ent-
fernung des Menschen von seinem innersten Wesen und seiner höheren Bestim-
mung, wie sie in der Symbolik der Trennung von Speer und Gral zum Ausdruck
kommt. Diese Selbstentfremdung hat ihre tiefste Wurzel in dem durch Klingsor
verkörperten Ego-Prinzip, das dem Menschen vorspiegelt, er sei von allen ande-
ren Wesen absolut getrennt. Durch die Illusion der Trennung verliert der Einzel-
ne das Bewusstsein seines Zusammenhangs mit der Ganzheit des Seins und wird
zu dem verleitet, was Wagner in seinen Spätschriften als „Sünde“ definiert, und
was auch Gurnemanz in seiner Belehrung nach dem Schwanenmord als „Sünden-
tat“ und „schwere Schuld“ brandmarkt: der „Tötung des Lebendigen“. Zwar wird
die Trennung durch die besitzergreifende, sexuelle Begierde verstärkt – aber auch
durch den Sog des Mutterarchetypus, der den Menschen in die Unmündigkeit
zurückziehen will und ihn daran hindert, als freie, sittliche Persönlichkeit durch
Taten der Solidarität die Einheit alles Lebenden zu verwirklichen. Das „Böse“ ist
also die Trennung, und „sündig“ ist das, was diese Trennung verstärkt. Vor die-

204
Der Weg zur Vollendung

sem Hintergrund betrachtet, ist die Sexualität nur dann als negativ zu bewerten,
wenn sie bloße Begierde ist, die das eigenständige Lebensrecht anderer Menschen
missachtet und diese als Gegenstand der Lustbefriedigung verwendet – oder wenn
sie in ihrer infantilen, ödipalen Form befangen bleibt, wodurch der Mensch an
seiner Entwicklung zur sittlichen Persönlichkeit gehindert wird.
Man kann jedoch diesen ganzen Gedankenkomplex auch von einem positiven
Standpunkt aus betrachten. Und da stellt man fest, dass die Thematik des Parsifal,
wie in allen anderen Werken Wagners, vor allem um die Liebe kreist. So gesehen
ist die Frage, um die es eigentlich im Werk geht: Wie ist echte Liebe zu verwirkli-
chen? Und von dieser Frage aus betrachtet, muss die Sexualität als etwas durchaus
Positives erscheinen, sobald sie zur echten, reifen Liebe beiträgt.
Wir wissen sowohl aus den Schriften als auch aus den Werken Wagners, dass
er in der Liebe eine ganzheitliche Kraft gesehen hat, die den Menschen in al-
len drei Teilen seines Wesens – Körper, Seele und Geist – erfasst und diese Teile
zu einer Einheit verbindet. In den Schriften, die im Umkreis der Ring-Dichtung
entstanden sind, spricht er in diesem Sinne von der „vollen, wallenden Herzens-
liebe … die das sinnliche Lustempfinden adelt, und den unsinnlichen Gedanken
vermenschlicht“, 291 und setzt die Sehnsucht nach Liebe mit der Sehnsucht gleich,
„voller, ganzer, warm empfundener Mensch“ 292 zu sein. Deshalb ist im Tannhäu-
ser die „Sünde“ im Venusberg beheimatet, wo die Sexualität als rein körperliche
Lustbefriedigung vom Menschen völlig Besitz ergreift und so die Verwirklichung
echter Liebe, die nicht nur das Körperliche, sondern auch das Seelische und Geis-
tige umfasst, verhindert.
Zur Zeit der Entstehung der Ring-Dichtung definierte Wagner die Liebe als
den „notwendigen Drang der Selbstaufopferung zugunsten eines geliebten Ge-
genstandes“. 293 In Parsifal erscheint nun diese Bereitschaft zur Selbsthingabe, den
Gedanken Schopenhauers und des Buddhismus entsprechend, als allumfassendes
Mitleid. Als solches ist sie das positive Ideal, das „Gute“ schlechthin, das es un-
bedingt zu erstreben gilt. Und „böse“ ist – neben der „Tötung des Lebendigen“
– alles, was die Verwirklichung dieses Guten verhindert oder erschwert. Das ist
die einzige Bewertung, die im Werk selbst begründet werden kann.
Die Missverständnisse entstehen dadurch, dass die Sexualität, die wir im Dra-
ma erleben, in einer Form erscheint, in der sie den Menschen tatsächlich vom
Guten herabzieht. Denn die Kundry-Verführung geschieht einerseits durch die
Erweckung der rein körperlichen Lust, die, weil sie sich als Begierde äußert, den
Menschen in den trennenden Grenzen seines Egos festhält – und durch den Mutter­
archetypus, der, indem er den Menschen im infantilen Zustand festhält, die Aus-
übung des Mitleids durch die freie sittliche Tat verhindert. Wenn das als „Sünde“
bezeichnet wird, so wird nicht die Sexualität an sich verurteilt, sondern sie wird
nur in ihrer negativen Form als Begierde oder als ödipale Regression abgelehnt.

205
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Und auch in dieser Form erscheint sie nur deshalb als absolut negativ, weil sie den
Menschen durch Überschwemmung des Bewusstseins zutiefst unfrei macht. Die
Frage, ob es möglich sei, ein Sexualleben zu haben, ohne dass man durch den Se-
xualtrieb überwältigt und unterjocht wird – mit anderen Worten: ob es möglich
sei, aus einer Haltung allumfassenden Mitleids heraus zu leben und zu wirken und
sich trotzdem im Rahmen echter Liebe sexuell zu betätigen – diese höchst prakti-
sche Frage wird im Parsifal einfach nicht gestellt. Die glückliche Ehe eines wohl-
tätigen Menschen würde auch keinen Stoff für ein mythisches Drama abgeben.
Fest steht nur, dass sowohl die rein körperliche, von aller echten Liebe los-
gelöste Lust, wie sie als Mittel der Verführung von Kundry angewandt wird,
als auch die gewaltsame Unterdrückung dieser Lust, wie sie Klingsor durch sei-
ne Selbstverstümmelung vollzieht, im Parsifal als „böse“ oder „sündig“ bewertet
werden. 294
Wenn man über dieses Thema weiter nachdenken will, so lohnt es sich auch
festzustellen, dass Parsifal von seiner ganzen Grundhaltung her ein weltbejahendes
Werk ist – im Gegensatz zu Schopenhauer, dessen Forderung nach extremer As-
kese das Ziel verfolgt, die Welt dadurch aufzuheben, dass man kein neues Leben
mehr zeugt. Wer die Welt aber erhalten will, kann nicht umhin, die körperliche
Fortpf lanzung zu bejahen, und muss deshalb die Sexualität – zumindest für den
Menschen, der noch in der Blüte seiner Jahre steht – als etwas Positives ansehen.
Will man trotzdem aus dem Parsifal eine Ablehnung der Sexualität herauslesen,
so kann eine solche aus dem eben angeführten Grunde nur für den außergewöhn-
lichen Menschen gelten – man denke z.B. an Jesus oder an den Buddha – welcher
die ganze Kraft seines Wesens ausschließlich dem allumfassenden Mitleid widmen
will, ohne durch irgendeine persönliche Bindung an der Erfüllung dieser hohen
Aufgabe gehindert zu werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tat-
sache, dass seit jeher in vielen Religionen Asiens die Überzeugung anzutreffen
ist, dass Sexualität und Erleuchtung Gegensätze seien. Diese Ansicht entspringt
nicht moralischen Erwägungen; sie hat nichts damit zu tun, dass die Sexualität
etwa „sündig“ wäre. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die höchste Stufe
der Vollendung nur von demjenigen erreicht werden kann, dem es gelingt, jene
Lebenskraft, die sich im natürlichen Menschen als Fortpf lanzungstrieb äußert,
bis zu einem solchen Grad zu läutern, dass sie sich schließlich in höhere geistige
Schöpferkraft verwandelt. 295
Zuletzt sei auch die merkwürdige Parallelität erwähnt, die zwischen der Sym-
bolik der Kundry-Figur und dem sogenannten „Kundalini-Yoga“ besteht. Der Name
Kundalini bezeichnet die Lebensenergie, die beim natürlichen Menschen zunächst
als Sexualkraft erscheint. Sie wird, wie der Physiker Carl Friedrich von Weizsä-
cker (1912–2007) in seiner Einleitung zum Buch Biologische Basis religiöser Erfahrung
schreibt, im Bild einer „am unteren Ende der Wirbelsäule in dreieinhalb Win-

206
Der Weg zur Vollendung

dungen eingerollt schlafenden“296 Schlange visualisiert. Gelingt es, durch geistige


Zucht und moralische Läuterung die Herrschaft über diese Kraft zu erlangen, dann
kann man sie dazu bringen, die Wirbelsäule emporzusteigen, bis sie schließlich den
höchsten Punkt des Scheitels erreicht, wo sie sich in höchstes Bewusstsein verwan-
delt. Es wird also, wie Weizsäcker feststellt, „die Bewusstseinsentwicklung von den
in der Kundalini enthaltenen sexuellen Kräften gespeist“.297 Und weiter:
„Die Sexualität kann der Evolution in der Fortpf lanzung oder in der Steigerung
des Bewusstseins dienen. Aber in gewissen Stufen der Intensität der Bewusstsein-
sentwicklung reicht sie bei den meisten Menschen, die diese überhaupt erfahren,
nicht für beides aus. So entsteht das sinnvolle Ideal der Enthaltung …“298
Wagner wird kaum von den Praktiken des Kundalini-Yoga gewusst haben. Es ist je-
doch nicht ausgeschlossen, dass er uralte Menschheitsweisheit intuitiv erahnt und
ihr in seinem Werk unbewusst künstlerische Gestalt verliehen hat. Doch an dieser
Stelle muss eine sachliche orientierte Werkdeutung haltmachen. Alles andere ist
Spekulation …

5. Erlebnis schlägt in Erkenntnis um

Wir kehren zum Drama zurück. „Ein Augenblick dämonischen Versenkens“:


Mit diesen Worten beschrieb Wagner das, was Parsifal im Kundry-Kuss erlebt.
Und Cosima, die diese Äußerung in ihren Tagebüchern festgehalten hat, fügt
hinzu, dass in der Musik, die den Kuss begleitet, „das tödliche, wie Gift sich
schlängelnde Motiv der Liebessehnsucht vernichtend wirkt.“ 299 Tatsächlich ist es
wieder die Orchesterbegleitung, die uns mit ihren Klangsymbolen hier mitteilt,
was sich in diesem entscheidenden Augenblick in Parsifals Seele abspielt. Was
geht hier vor?
Das erste, was wir vernehmen, ist der sogenannte „Tristan-Akkord“: jenes Ur-
Klangsymbol des unerfüllbaren Sehnens, das sich hier wie ein geheimnisvoller,
dunkler Abgrund in den tiefen Hörnern und Posaunen ausbreitet. Aus diesem Ur-
grund steigt dann in den Violoncelli, zunächst zaghaft und dann zielbewusster,
eine Linie empor, die dann in jenes „tödliche, wie Gift sich schlängelnde Mo-
tiv“ übergeht, das Cosima als das „Motiv der Liebessehnsucht“ bezeichnete, wir
aber das „Motiv der Begierde“ genannt haben. Dieses Klangsymbol, das hier in
der schmerzlich-glühenden Farbe der Bratschen und hohen Violoncelli erklingt,
scheint unmittelbar aus jenem tiefen Grund der Sehnsucht hervorzugehen. Seh-
nend windet es sich hinauf, erreicht mit dem E-Dur-Akkord der Violinen und
Holzbläser scheinbar sein Ziel und seine Erfüllung – doch nur, um wieder in jene
dunkle Tiefe hinabzusinken, aus der es emporgetaucht war:

207
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

In diesem Auf- und Niedersteigen, das den Eindruck eines endlos sich wieder-
holenden Kreislaufs erweckt, erlebt Parsifal das innerste Wesen der Begierde als
unerfüllbare Sehnsucht: jenes „sündige Verlangen“, das, über sich hinausgreifend,
das „Du“ als Besitz an sich zu ziehen versucht, anstatt im „Du“ aufzugehen –
und den Menschen immer wieder in sich selbst zurückwirft, ihn endlosem Leiden
preisgebend.
Das Sehnen wird drängender; dreimal strebt die melodische Linie mit den
ebenfalls aus dem Tristan bekannten „Sehnsuchtssekunden“ nach oben, wie in ei-
nem heftigen Versuch, über sich selbst hinaus zu gelangen. Die mündliche Regie-
anweisung, die Wagner während der Proben zur Uraufführung des Werkes dazu
gab, und die die Wirkung der Begierde auf den von ihm ergriffenen Menschen
bildhaft verdeutlicht, lautet: „Parsifal tief atmend“:300

Im Tristan-Vorspiel findet sich eine Stelle, die eine unübersehbare Parallele zu


diesen Takten bildet:

208
Der Weg zur Vollendung

Während jedoch im Tristan die Sehnsuchtssekunden in die Scheinbefriedigung ei-


nes Trugschlusses einmünden, kippt die melodische Linie im Parsifal plötzlich um
und stürzt mit einem Quintensprung nach unten. Das neue Motiv aber, das durch
den jähen Quintenabsturz entsteht, ist das Klangsymbol der Wunde:

Hier ist der Augenblick, in dem Erlebnis zur Erkenntnis wird. Parsifal erfährt die
ganze Gewalt der Begierde am eigenen Leib und in der eigenen Seele – und er-
kennt, dass der Mensch durch das ichhafte Begehren nicht beglückt, sondern ver-
wundet wird. Und damit dringt er auch bis zur Ursache des Leidens vor. Wie die
ihm zuteil gewordene Erkenntnis genau beschaffen ist, teilen uns die Klangsym-
bole mit, die nach dem Motiv der Wunde im Orchester zu hören sind:

209
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Die Leidensterzen und das Motiv der Verzweif lung bedürfen keines Kommen-
tars. Das Speermotiv besitzt jedoch an dieser Stelle eine zweifache Bedeutung.
Denn der Speerstich ist nicht nur die Ursache der äußeren Wunde; durch den
Verlust des Speeres ist der Mensch dem Ego-Prinzip anheimgefallen und dadurch
sich selbst und seinem göttlichen Kern entfremdet worden. Das ist der tiefere As-
pekt der Verwundung und die Ursache der geistig-seelischen Qual des unerlösten
Menschen.
Parsifal erkennt hier also blitzartig den Zusammenhang, der zwischen der Be-
gierde und dem Leiden besteht. Doch es ist keine bloß abstrakte Erkenntnis, die
ihm hier auf leuchtet; denn die Gefühle, die ihn im Augenblick des Kusses durch-
dringen, sind dieselben, die Amfortas überwältigt haben, als er der Verführung
der Kundry erlag. Es sind also die Begierde und das Leid des siechen Gralskönigs,
die Parsifal nunmehr mit seinem ganzen Wesen als die eigenen erlebt, so dass er
innerlich mit Amfortas vollkommen eins wird. Und das löst in ihm die zwei-
te große Erkenntnis aus. Indem er das Leiden des Amfortas als sein eigenes im
wahrsten Sinne des Wortes mit-leidet, durchbricht er die Schranken seiner indi-
viduellen Persönlichkeit und erkennt erlebend die Einheit alles Lebenden. Er ist
„durch Mitleid wissend“ geworden.
Die Verwandlung, die Parsifal hier durchmacht, hat Schopenhauer mit bewe-
genden Worten in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung beschrieben:
„Dann folgt von selbst, dass ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein in-
nerstes und wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die
seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muss. Ihm
ist kein Leiden mehr fremd. Alle Qualen anderer, die er sieht und so selten zu lin-
dern vermag, alle Qualen, von denen er unmittelbar Kunde hat, ja die er nur als
möglich erkennt, wirken auf seinen Geist wie seine eigenen. Es ist nicht mehr das
wechselnde Wohl und Wehe seiner Person, was er im Auge hat, wie dies bei dem
noch im Egoismus befangenen Menschen der Fall ist; sondern, da er das principium
individuationis durchschaut, liegt ihm alles gleich nahe.“301
Es ist das Erlebnis, das Albert Schweitzer „das große Ereignis in der Entwicklung
des Seins“ nennt:
„Der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht: Das Leben, das zugleich Miterleben ist,
wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Exis­
tenz das Leben als solches zum Bewusstsein seiner selbst kommt – das Einzeldasein
aufhört, das Dasein außer uns in das unsrige hereinf lutet.“302
Diese große Erkenntnis, die die Musik im Augenblick des Kusses in höchster Kon-
zentration wiedergibt, wird nun in der Szene, die auf den Kuss folgt, gleichsam
in seine einzelnen Bestandteile zerlegt und in Worten mitgeteilt. Als Erstes stößt

210
Der Weg zur Vollendung

Parsifal einen schmerzverzerrten Schrei aus: „Amfortas!“ – dem im Orchester die


wild herabstürzende Figur des Verzweif lungsmotivs folgt. Er erkennt also, dass
das Leid, das er jetzt selber erlebt, dasselbe ist, das er während seines Besuches im
Gralstempel am kranken König wahrgenommen hatte. Doch zugleich wird ihm
auch bewusst, dass es nicht die körperliche Wunde ist, an der Amfortas leidet,
sondern dass seine Qualen aus der Seele, dem „Herzen“ kommen:
Nein, nein! Nicht die Wunde ist es.
Fließe ihr Blut in Strömen dahin!
Hier! Hier im Herzen der Brand!
Das Sehnen, das furchtbare Sehnen,
das alle Sinne mir fasst und zwingt!
Doch nicht nur mit dem siechen König leidet er mit. Die Mauern seines Egos sind
gesprengt; jetzt gibt es keine Grenzen mehr, die ihn von dem Leben „da draußen“
überhaupt trennen könnten. Deshalb weitet sich sein Mitgefühl auf den ganzen
Kreis des Lebens aus, das als ein Ganzes unter der Qual der unstillbaren Sehnsucht
leidet:
Oh! – Qual der Liebe! –
Wie alles schauert, bebt und zuckt
in sündigem Verlangen!
Später wird er auch explizit die Gralsritter in den Kreis seines erweiterten Be-
wusstseins mit einbeziehen, wenn er sein Mitleid mit den durch die eigene Askese
gequälten Brüdern bekundet:
Ein andres ist’s, – ein andres, ach!
nach dem ich jammernd schmachten sah
die Brüder dort, in grausen Nöten
den Leib sich quälen und ertöten.
Seinen Gipfel erreicht das Mitleidserlebnis jedoch mit dem Mit-Leiden der Qua-
len des inneren Christus:
Nur hier, im Herzen, will die Qual nicht weichen.
Des Heilands Klage da vernehm ich,
die Klage, ach! die Klage
um das entweihte Heiligtum:
„Erlöse, rette mich
aus schuldbef leckten Händen!“
So rief die Gottesklage
furchtbar laut mir in die Seele.

211
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Amfortas – die Gralsritter – die ganze Menschheit – Christus: Mit allen leidet
nun Parsifal im Herzen mit und verwirklicht durch dieses Mit-Erleben die große
Einheit. Damit hat er die volle Erkenntnis gewonnen: Er weiß nun um die we-
senhafte Einheit alles Lebenden – und er weiß auch, dass es die Begierde ist, die
diese Einheit zerstört und somit zur Quelle des Leidens wird. Der „reine Tor“ ist
„durch Mitleid wissend“ geworden.
Mit dem Ausruf: „Ha! – dieser Kuss! – Verderberin! Weiche von mir!“ stößt er
Kundry von sich und sagt sich damit symbolisch von der Begierde los.
Mit diesem Entschluss ist jedoch die Auseinandersetzung mit Kundry noch kei-
neswegs beendet. Hartnäckig hält diese an ihren alten Mechanismen und Verhal-
tensweisen fest, und je standhafter sich Parsifal zeigt, desto heftiger bäumt sie sich
dagegen auf. Noch einmal führt Kundry ihre bewährten Kampfesmittel ins Feld, um
diesmal mit noch größerer Wucht anzugreifen. Hatte sie früher an Parsifals Mitleid
mit der Mutter appelliert, so versucht sie jetzt, ihn zum Mitleid mit ihrem eigenen
Schicksal zu bewegen. Und hatte sie vorher versucht, ihn mit dem Argument zu be-
zwingen, dass es seine moralische Verpflichtung sei, sich mit der Mutter wieder zu
vereinigen, so wartet sie jetzt mit einer noch raffinierteren Rationalisierung auf: Sie
appelliert an sein Sendungsbewusstsein und versucht, ihm einzureden, dass, wenn
der bloße Kuss ihn „welt-hellsichtig“ gemacht habe, die volle sexuelle Vereinigung
ihn zum Gott machen müsse – d.h. ihm die Fähigkeit geben müsse, die ganze Welt zu
erlösen. Hier zeigt Wagner auf geniale Art und Weise die doppelte Gefährdung, wel-
cher der religiöse Mensch emotional und geistig ausgesetzt ist: die Gefahr, in durch
religiöse Vorstellungen getarnte, gemeine Sinnlichkeit abzugleiten – und die Gefahr,
in hybride Selbstüberhebung zu fallen.303 Hier wird Parsifal – wie Jesus bei seiner
Versuchung in der Wüste – dazu aufgefordert, scharf zwischen solchen Auswüchsen
und echter Religiosität zu unterscheiden. Würde er seine Reinheit aufgeben, um als
Welterlöser Macht und Ruhm zu gewinnen, oder der Wahnvorstellung verfallen, er
könne durch Befriedigung der körperlichen Begierde höheres Bewusstsein erlangen,
dann wäre er als sittliche Persönlichkeit verloren. Doch er durchschaut den Trug
und, von Ekel erfüllt, stößt er Kundry wieder heftig von sich.
Diese, sobald sie sieht, dass auch ihre raffiniertesten Mittel auf Parsifal keine
Wirkung ausüben, bricht jäh in unverhohlene Wut aus. Die ungeläuterte Begier-
denatur lässt die Maske fallen und zeigt sich als das, was sie wirklich ist. Von
nun an beherrscht das Motiv der Verzweif lung das musikalische Geschehen: Der
Zauber ist verschwunden, und zurückbleibt nur Hässlichkeit und Raserei. Die
vorgespiegelte Liebe verwandelt sich in nackte Besitzgier, die, weil sie das Objekt
ihres Begehrens nicht zu erobern vermag, sich nunmehr gegen dieses richtet und
seine Vernichtung herbeizuführen versucht.
In diesem Augenblick greift Kundry zu ihrem allerletzten Mittel: Sie ruft
Klingsor herbei.

212
Der Weg zur Vollendung

6. Der Sieg über Klingsor


und das Speerwunder

Da Kundry nicht nur Person, sondern auch Symbol für Parsifals eigene Trieb-
natur ist, ist ihre Selbstentblößung zugleich Symbol für den Erkenntnisprozess,
der sich im Bewusstsein des Helden abspielt; die Paroxysmen der enttäuschten
Verführerin, die der Zuschauer als Bühnengeschehen erlebt, sind zugleich Sinn-
bild für das Unbewusste, wie es nun Parsifals innerem Auge erscheint. Hier,
am Ende des II. Aktes, hat Parsifal die wahre Beschaffenheit der Begierdenatur
durchschaut; er weiß, dass sie, da ihr ungestilltes Begehren nie befriedigt wer-
den kann, nicht zum Glück, sondern letztendlich zu Krampf und Verzweif lung
führen muss. Noch hat er aber ihren tiefsten Grund nicht erkannt. Diese letz-
te Erkenntnis kommt in dem plötzlichen Erscheinen Klingsors symbolisch zum
Ausdruck.
Es ist, als ob die Triebnatur, aufs Äußerste durch den Widerstand des erwach-
ten Bewusstseins gereizt, in ihrer Raserei ihr Innerstes nach außen kehren würde.
Und da wird auf einmal ihr eigentlicher Kern, die tiefste Ursache ihrer Existenz
sichtbar. Es ist das durch Klingsor verkörperte Prinzip der Trennung. Denn der
letzte Grund der Begierde ist jene Täuschung, die dem Menschen vorgaukelt, er
sei von allem anderen Leben wie durch eine ihn umschließende Mauer getrennt.
Diese Täuschung ist es, welche die Welt „da draußen“, mit allem, was sie enthält,
zum Gegenstand des Begehrens macht. Nur weil es ein Ich gibt, das sich als von
allem Anderen getrennt empfindet, ist es möglich, „Ich will haben“ zu sagen. Die
Aufspaltung der ursprünglichen Einheit des Seins in Subjekt und Objekt ist die
letzte und tiefste Ursache der Begierde.
Tatsächlich ist von allen Täuschungen, welche der „Schleier der Maja“ über
die Wirklichkeit wirft, die Subjekt-Objekt-Spaltung, die Illusion vom abso-
lut abgegrenzten Ich, am schwierigsten zu durchschauen. Deshalb wird sie von
Kundry gleichsam als letzte Waffe eingesetzt, um Parsifal zu Fall zu bringen. Es
ist, als ob sie ihm sagen wollte: „Du hast der Begierde erfolgreich widerstanden;
du kannst aber nicht auf hören, dich als ein Ich, das der Welt gegenübersteht, zu
empfinden, und deshalb musst du früher oder später wieder anfangen ‚Ich will
haben‘ zu sagen – womit du mir wieder verfallen sein wirst. Mich hast du jetzt
zurückgewiesen; doch die Mauern des Klingsorturms stehen unzerstörbar da,
und ich werde immer wieder von neuem aus der Tiefe emporsteigen, um dich in
meinen Bann zu reißen.“
Doch Parsifal, dessen Bewusstsein nun vollkommen erwacht ist, durchschaut
auch diese letzte Täuschung. Durch das allumfassende Mitleidserlebnis ist ihm
die Einheit alles Lebenden zur unmittelbaren Gewissheit geworden, und er weiß
nun, dass es im letzten Grund der Wirklichkeit keine Aufspaltung des einen Seins

213
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

in Subjekt und Objekt gibt, sondern alles Seiende eine unzerstörbare Einheit bil-
det. Und deshalb weiß er auch, dass die Mauer, die das Ich von allem anderen
Leben trennt, eine Illusion ist.
Klingsor schleudert Parsifal den Speer entgegen und meint, er könne ihn da-
mit verwunden – denn für ihn, der das Prinzip der Trennung verkörpert, ist
das Ich nur in der Form des Egos denkbar, für das alles andere Leben Objekt des
Begehrens und Mittel zum Genuss ist. Parsifal weiß jedoch um ein anderes Ich:
eine Individualität, die im Bewusstsein der Einheit alles Lebenden lebt und aus
diesem Bewusstsein heraus sich selbst an anderes Leben hingibt, anstatt es für
sich zu begehren. Und dieses wahre Ich ist es, das er ergreift, als der Speer über
seinem Kopf schweben bleibt. Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um
„seines Meisters Speer“; denn was Parsifal nun endlich in der Hand hält, ist die
heilige Lanze mit dem Blut Christi an der Spitze. Christus aber, der, von allum-
fassendem Mitleid erfüllt, sein Leben für andere hingegeben hat, ist im Parsifal
die Verkörperung des Prinzips der Einheit alles Lebenden. Und deshalb muss
der Klingsorturm, der die Trennung symbolisiert, sich in nichts auf lösen, sobald
Parsifal mit dem Speer das Zeichen des Kreuzes macht. Tatsächlich verschwindet
sogleich die umschließende Mauer, und mit ihr Klingsor selbst, als ob beide nie
da gewesen wären. Die letzte Illusion, die Illusion des getrennten Ich, wurde
durchschaut. Das „Wissen“ ist vollendet.
Die Szene, in der sich dies alles ereignet, ist von der Aura des Wunderbaren
umgeben. Schon die symbolischen Bilder, die sich vor den Augen des Zuschauers
abspielen, sind Ausdruck eines Wunders; denn wenn der von Klingsor geschleu-
derte Speer in der Luft schweben bleibt, wird das Naturgesetz der Schwerkraft
aufgehoben. Doch auch die Musik hat hier wunderbaren Charakter. Das plötzli-
che Umkippen des wuchtigen fortissimo ins zarteste pianissimo, sowie das gleich-
sam ins Nichts entschwindende glissando der Harfe lässt das Gefühl entstehen, als
ob das Grob-Materielle plötzlich aufgelöst wäre, und eine völlig andere Dimen-
sion in die irdische Wirklichkeit einbrechen würde.
In einem gewissen Sinne handelt es sich auch bei dem, was hier geschieht, um
ein Wunder. Wie Overhoff festgestellt hat, 304 besteht eine merkwürdige Paralle-
lität zwischen diesem Ereignis und jenem, das sich am Ende der Götterdämmerung
abspielt, da der tote Siegfried seine Hand erhebt, um zu verhindern, dass Hagen
den Ring bekommt. Tatsächlich beruht die Musik an beiden Stellen auf dersel-
ben, höchst ungewöhnlichen Modulation, die vom dunklen b-moll über das noch
dunklere ges-moll nach D-Dur hinführt:

214
Der Weg zur Vollendung

In der Götterdämmerung

Im Parsifal

Das Merkwürdige an dieser Modulation ist, dass die dunklen Akkorde b-moll
und ges-moll eigentlich nach Eses-Dur führen müssten: einer Tonart von sol-
cher Dunkelheit, dass es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Stattdessen kippt die
Harmonie um und mündet, wie Overhoff schreibt, „in das mystische Licht ei-
nes strahlenden D-Durs ein“, 305 das sich hier als mit dem Eses-Dur enharmonisch
identisch erweist. An beiden Stellen hat man, um mit Overhoff zu sprechen, das

215
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Gefühl, als ob mit der plötzlichen Erscheinung dieses Lichtes in der Finsternis
„die Grenzschwelle überschritten, das Tor ins Jenseits geöffnet“ 306 würde.
Dass auch in der Götterdämmerung etwas Wunderbares geschieht, ist offenkun-
dig; denn wenn ein Toter mahnend seine Hand erhebt, werden die Grenzen des
bloß Natürlichen durchstoßen. Was durch dieses Wunder ausgesagt werden soll,
teilt uns das Schwertmotiv mit, das im Orchester die Geste Siegfrieds begleitet.
Das Schwert „Notung“ ist im Ring das Symbol der inneren Freiheit; und wenn
das Klangsymbol dieses Schwertes zu einem Bild erklingt, bei dem ein Toter
gleichsam wieder lebendig wird, kann das nur bedeuten, dass hier die Freiheit
als eine übernatürliche Kraft, die in einem Bereich jenseits von Zeit und Raum
beheimatet ist, in die Zeitlichkeit der natürlichen Welt einbricht, um dort zu
wirken.
Auch in Parsifal geschieht ein solcher Einbruch des Übernatürlichen in die na-
türliche Welt; die Überwindung der Triebnatur, wie sie Parsifal vollzieht, ist ein
Akt höchster Freiheit, und deshalb wirkt auch sie innerhalb dieser Welt wie ein
Wunder. Denn wie kann es Freiheit in einer durch das Kausalgesetz beherrschten
Welt geben? Wie kann ein innerhalb der Natur entstandenes Wesen dazu gelan-
gen, das Grundprinzip dieser Welt – das principium individuationis, auf dem die gan-
ze Vielfalt der Erscheinungen beruht – aufzuheben? Oder um mit Schopenhauer
zu sprechen: Wie kann der Wille sich selbst überwinden?
Dass Wagner das hier stattfindende Wunder in diesem Sinne aufgefasst hat,
zeigt folgende Passage aus „Religion und Kunst“:
„Bezeichnen wir nun als Wunder einen Vorgang, durch welchen die Gesetze der
Natur aufgehoben werden, und erkennen wir bei reif licher Überlegung, dass die
Gesetze in unserem eigenen Anschauungsvermögen begründet und unlösbar an
unsere Gehirnfunktionen gebunden sind, so muss uns der Glaube an Wunder als
ein fast notwendiges Ergebnis der gegen alle Natur sich erklärenden Umkehr des
Willens zum Leben begreif lich werden. Das größte Wunder ist für den natürlichen
Menschen jedenfalls diese Umkehr des Willens, in welcher die Aufhebung der Ge-
setze der Natur selbst enthalten ist …“307
Goethe drückt dasselbe einfacher aus mit den berühmten Versen aus seinem reli-
giösen Epos „Die Geheimnisse“:
Von dem Gesetz, das alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.
Diese Selbstüberwindung des Willens ist es, das in dem Wunder des schwebenden
Speeres symbolisch zum Ausdruck kommt.
Von dem Moment an, in dem Parsifal den Speer ergreift, ereignet sich tat-
sächlich alles in einem wunderbaren Bereich, in dem alle Gegensätze aufgehoben

216
Der Weg zur Vollendung

zu sein scheinen. Ich und Ichlosigkeit bestehen nebeneinander – das Individuum


erreicht seine höchste Vollendung, indem es sich selbst auf hebt … Das alles ist
paradox und nur in Bildern zu erfassen.
Doch was geschieht nach der Selbstüberwindung Parsifals mit der Natur?
Schopenhauer hatte postuliert, dass mit der Selbstüberwindung des Willens auch
die Welt verschwinden müsse. Denn wo kein Subjekt ist, ist auch kein Objekt.
Die mythischen Bilder des Parsifal scheinen zunächst diese Ansicht zu bestätigen.
Indem Parsifal das Prinzip der Trennung als Illusion durchschaut, ist der „Schleier
der Maja“ zerrissen, und die Welt der Erscheinungen erweist sich als eine trügeri-
sche Vorspiegelung der Sinne. Deshalb verschwindet mit dem Klingsorturm zu-
gleich auch der Zaubergarten; er ist „zur Einöde verdorrt“, und die einst so lebens-
vollen Blumenmädchen liegen verstreut auf dem Boden als „verwelkte Blumen“.
Eine „Einöde“: Ist das wirklich das Ende und das Ziel aller Entwicklung? Wäre
denn die „Botschaft“ des Parsifal jene Welt- und Lebensverneinung Schopenhau-
ers, welche die Auf hebung der Welt und des irdischen Lebens als höchstes Ziel
verkündet? In Wirklichkeit ist hier der Punkt, an dem die Grundeinstellung des
Parsifal und die Weltverneinung Schopenhauers völlig auseinander gehen. Für
Schopenhauer war das, was eben geschehen ist, tatsächlich das erstrebte Ziel: Der
Wille hat sich selbst überwunden und dadurch die Welt aufgehoben; zurück bleibt
nur das Nichts, die „Einöde“. Das Ziel des Parsifal ist jedoch nicht die Auf hebung
der Welt, sondern deren Verwandlung. Die alte Form, die auf dem Prinzip der
Trennung beruhte, ist zerbrochen; nun gilt es, die Welt in neuer Gestalt wieder
auferstehen zu lassen. Wie das Ich, nachdem es sich selbst als Ego aufgehoben hat,
als allumfassendes Christus-Ich neu ersteht, so soll auch die Natur, nachdem sie
als vergängliche Erscheinungswelt in ihrer Nichtigkeit erkannt worden ist, als
etwas Höheres, Unvergängliches wieder auferstehen. Das ist freilich ein parado-
xer Vorgang; denn Erscheinung und Dauer, Vielfalt und Einheit sind Gegensätze,
die sich scheinbar ausschließen. Aber wir befinden uns hier in einem Bereich hö-
herer Wahrheit, in dem das Paradoxe allein die Wirklichkeit beschreiben kann.
Tatsächlich werden wir dem in sich zusammengesunkenen Zaubergarten Kling­
sors im III. Akt in völlig verwandelter Gestalt wieder begegnen: als leuchtende
Karfreitagswiese. Dort wird das Paradoxe im mythischen Bild zum Ereignis. Die
symbolische Bedeutung dieses Bildes, das als Darstellung der „erlösten Natur“
von größter Wichtigkeit für die geistige Aussage des Werkes ist, wollen wir im
„Epilog“ näher betrachten.
Doch kehren wir zu den Ereignissen des II. Aktes zurück. Kundry ist beim
Verschwinden des Klingsor-Turms „schreiend zusammengesunken“ – genau so,
wie die Blumenmädchen in sich zusammengefallen und zu verwelkten Blüten
geworden sind. Auch das soll kein Endpunkt sein; denn das höchste Ziel ist im
Parsifal nicht die Vernichtung des natürlichen Menschen, sondern seine Läuterung

217
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

zur ganzheitlichen, sittlichen Persönlichkeit. Und wenn sich der Mensch zu ei-
ner Ganzheitlichkeit erheben soll, in der auch seine körperliche und emotionale
Natur aufgeht, so muss zuerst die wild-verzweifelte Verführerin, die diese Natur
verkörpert, verwandelt werden. Die Macht der Begierde ist gebrochen; nun gilt
es, die seelische Substanz, die sich bisher als egoistische Begierde geäußert hat, in
echte Liebe zu verwandeln.
Kundry hat auf dem Höhepunkt ihrer Raserei über Parsifal einen Fluch ausge-
sprochen: Sie hat alle Wege, die ihn von ihr wegführen, verwünscht. Damit hat
sie aber, ohne es zu wissen, durch tiefste, unbewusste Sehnsucht getrieben, ihre
eigene Verwandlung eingeleitet. Denn Parsifal will zum Gral; der Fluch bedeu-
tet aber, dass er nur dann den Gralstempel betreten kann, wenn Kundry eben-
falls dorthin gelangt. Das Ziel ist der ganzheitliche Mensch, in dem Natur und
Geist, Sinnlichkeit und Sittlichkeit zu einer schönen Harmonie vereint sind. Das
ist Parsifal auch bewusst; und deshalb fordert er selbst Kundry auf, ihm dorthin
zu folgen, wohin seine Schritte ihn nun lenken werden: zum Gral. Seine letzten
Worte an sie sind:
Du weißt –
wo du mich wieder finden kannst!
Die Verwandlung der durch Kundry verkörperte Triebnatur wird die letzte Etap-
pe auf seinem Weg zur Vollendung sein.

218
Der Weg zur Vollendung

3. Kapitel
Die Rückkehr des Speeres

1. Parsifals Irrfahrt

Wie wir aus der Erzählung Parsifals im III. Akt erfahren, folgt auf seinen Sieg
über Klingsor eine leidvolle Irrfahrt, die ihn bis an den Rand der Verzweif lung
und des Nihilismus bringt.
Die Irrfahrt des Helden ist ein Motiv, das man in vielen Märchen und Mythen
findet: Der Königssohn muss, nachdem er die verzauberte Prinzessin befreit hat,
viele Kämpfe bestehen, bevor er sich mit ihr endgültig vermählen kann. Auch
im Ring hat der Held einen solchen Prüfungsweg zu durchschreiten: Siegfried
muss, nachdem er die auf dem Bergesgipfel schlafende Jungfrau wachgeküsst und
sich mit ihr vereinigt hat, „zu neuen Taten“ in die Welt hinabsteigen, wo er die
neu errungene Verbindung mit Brünnhilde auch inmitten der Anfechtungen des
Lebens rein erhalten und in sinnvolle Tätigkeit umsetzen soll. Dass es sich bei
dieser Weltenfahrt tatsächlich um eine Prüfung handelt, ersieht man daraus, dass
der Held daran scheitert: Siegfried ist nicht imstande, seine Treue zu Brünnhilde
im wirklichen Leben zu bewahren, so dass er das, was er im mystischen Bereich
der „seligen Öde auf sonniger Höh’“ erlangt hat, in den Niederungen der Welt
wieder verliert.
Die Idee der Irrfahrt steht in engem Zusammenhang mit der Grundhaltung
der Weltbejahung. Für denjenigen, der Sinnerfüllung in der Welt und im irdi-
schen Leben anstrebt, ist es nicht genug, eine innere Erfahrung im rein geistigen
Bereich zu machen; denn der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, das zugleich
der geistigen und der irdischen Welt angehört, und was er innerlich erlebt, be-
kommt erst dadurch seinen Wert, dass es sich in der Bewältigung des irdischen
Lebens bewährt. Nur eine Verwandlung, die den ganzen Menschen als Einheit
von Leib, Seele und Geist ergreift, kann diese Bewährungsprobe bestehen; und
das Ausmaß, in dem sich die neuerrungene innere Einstellung als neue Verhaltens-
weise äußert, ist der Prüfstein für die Echtheit des inneren Erlebnisses.
In der Irrfahrt muss der Held beweisen, dass er bereit und fähig ist, seine in-
neren Entschlüsse in wirkliche Taten umzusetzen. Nur wenn dies zutrifft, kann
er den Anspruch erheben, eine neue Stufe der Entwicklung erklommen zu haben
– und nur dann ist er berechtigt, ein „König“ zu sein, dessen Würde darin be-
steht, dass er seine Kräfte verantwortungsvoll zum Segen anderer Wesen einsetzt.
Zugleich dienen die Prüfungen dazu, den Helden zu festigen. Denn jede bestan-
dene Prüfung macht ihn stärker und lehrt ihn die rechten Mittel, seinen Willen
erfolgreich durchzusetzen. So wird das, was er sich an Neuem angeeignet hat,

219
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

für ihn zum unverlierbaren Besitz und für die Welt zu einer Quelle lebendiger
Höherentwicklung.
Es überrascht nicht, dass auch in der Gralssage, in der es um eine totale Ver-
wandlung des inneren und äußeren Lebens geht, das Motiv der Irrfahrt eine we-
sentliche Rolle spielt. So muss in Wolframs Epos der Held eine lange Periode des
Leidens und Irrens durchmachen, bevor es ihm gelingt, die Gralsburg wieder zu
finden, wo er sein Erlösungswerk vollbringen soll. 308 Wagner konnte also, wie bei
den anderen Hauptmotiven seines Dramas, auch hier an die Darstellung Wolframs
anknüpfen. Doch auch hier musste er seiner mittelalterlichen Quelle Wesentliches
hinzufügen, damit der alte Sagenstoff zum Träger seiner eigenen Ideen werden
konnte. Wie erscheint die Irrfahrt in Wagners Werk?
Wie alle entscheidenden Ereignisse des Dramas erleben wir auch den Prü-
fungs- und Läuterungsweg Parsifals zugleich als Wort, Bild und Klang. In Worten
erzählt Parsifal selbst von der „Irrnis“, die er bestehen musste, bevor er den Weg
zum Gralsgebiet wieder finden konnte. Das Ziel, weshalb er sich überhaupt in die
Irre begeben hat, ist dasselbe, das auch Wolframs Helden durch die Welt trieb:
die Erlösung des leidenden Gralskönigs. Und wie der Held des mittelalterlichen
Epos, so muss auch Parsifal nicht nur äußere Kämpfe, sondern auch innere An-
fechtungen ertragen. Ihm ist es auferlegt, alle Qualen der Hoffnungslosigkeit zu
durchleiden, da er daran zweifeln muss, je sein Ziel zu erreichen:
Doch – ach! –
Den Weg des Heiles nie zu finden,
in pfadlosen Irren
trieb ein wilder Fluch mich umher:
zahllose Nöte,
Kämpfe und Streite
zwangen mich ab vom Pfade,
wähnt’ ich ihn recht schon erkannt.
Da musste mich Verzweif lung fassen …
In der Irrfahrt bewährt sich Parsifals Glaube an sein Ideal. Es gilt, allen seelischen
„Nöten“ zum Trotz unbeirrt auf dem „Weg des Heiles“ voranzuschreiten. Das Ziel
wird um seiner selbst willen verfolgt – sogar auch dann, wenn die letzte Hoffnung
schwindet, es erreichen zu können. Das ist die schwerste Prüfung, die der Glaube
an ein Ideal zu bestehen hat, und indem Parsifal sie besteht, beweist er die absolute
Unerschütterlichkeit seines Willens, das angestrebte Ziel zu erreichen.
Trotz aller Anlehnung an das Vorbild geht aber Wagners Darstellung von Parsi-
fals Irrfahrt in einem wesentlichen Punkt über die Wolfram’sche Dichtung hinaus.
Während der mittelalterliche Held nur das ganz konkrete Ziel verfolgt, den Gral
wieder zu finden und den König von seinem Leiden zu erlösen, geht es in Wagners

220
Der Weg zur Vollendung

Drama zusätzlich um die Bewährung einer Idee, die mit der Leidüberwindung in
engstem Zusammenhang steht: die Idee der Einheit alles Lebenden. Parsifal hatte
im II. Akt die Täuschung der Trennung durchschaut und war zur Erkenntnis jener
Einheit gelangt. Soll diese Erkenntnis nun lebendige Wirklichkeit werden, so muss
sie aus dem Bereich des rein Geistigen heraustreten und sich im Handeln des Erken-
nenden offenbaren. Und wie dieses verwandelte Handeln auszusehen habe, darüber
kann es keinen Zweifel geben. Denn wer einmal von der Gewissheit des tat-twam
asi bis in seine Wesenstiefe durchdrungen worden ist, kann keinen Wertunterschied
mehr machen zwischen seinem eigenen Leben und dem Leben anderer. Deshalb ist
es ihm unmöglich, andere Menschen zu töten, oder ihnen auch nur Schaden zuzu-
fügen – in letzter Konsequenz auch dann, wenn es darum geht, sein eigenes Leben
zu verteidigen. Denn wenn er andere angreift und verletzt, so wütet er damit ge-
gen sich selbst; er „wühlt“, wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt, „ins eigne
Fleisch“. Deshalb darf Parsifal den heiligen Speer, dieses Symbol des höheren, von
allem Egoismus gereinigten Willens, auf keinen Fall als Waffe gegen andere wenden
– auch wenn er dadurch sich selbst der Verletzung preisgibt. Denn täte er dies, so
wäre er wieder dem Klingsor-Prinzip verfallen, das dem Menschen vorspiegelt, er
sei ein von allem anderen Leben getrenntes Wesen und habe daher das Recht, ande-
res Leben zu schädigen, wenn es ihm selbst zum Vorteil gereicht.
Diese radikal-ethische Haltung bringt Wagner durch ein großartiges Bild zum
Ausdruck. Es ist das Bild des in Hoffnungslosigkeit und Verzweif lung schwer
dahinschreitenden Ritters, der inmitten der heftigsten Angriffe gegen seine Per-
son unbeirrt den Speer hochhält – den er auf keinen Fall als Waffe gegen andere
einzusetzen bereit ist:
Da musste mich Verzweif lung fassen,
das Heiltum heil mir zu bergen,
um das zu hüten, das zu wahren,
ich Wunden jeder Wehr mir gewann;
denn nicht ihn selber
durft’ ich führen im Streite;
unentweiht
führ ich ihn mir zur Seite,
den nun ich heimgeleite,
der dort dir schimmert heil und hehr:
des Grales heil’gen Speer.
Parsifal mit dem hoch erhobenen Speer: In diesem Bild ist das mystische Erlebnis
des II. Aktes, in dem die Einheit alles Lebenden zur unmittelbaren Gewissheit
wurde, zur praktischen Ethik des Nicht-Schädigens anderen Lebens geworden.
Und Parsifal bleibt dieser Ethik mitten im wirklichen Leben treu.

221
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Parsifals Irrfahrt ist jedoch nicht nur ein Prüfungsweg, sondern zugleich auch
ein Prozess der seelischen Läuterung. Denn er kann die Erkenntnis, die er im II.
Akt erlangt hat, nur dann im Leben umsetzen, wenn diese Erkenntnis, die sich zu-
nächst nur im Bereich des Verstandes abgespielt hat, auch seine ganze Gefühlsna-
tur in all ihren Schichten ergreift. Tatsächlich ist die Verwandlung der Triebnatur
das zentrale Thema von Parsifals Irrfahrt. Dabei wird dies in der Dichtung mit
keinem Wort erwähnt; wiederum ist es hier die Musik, die uns die tiefste Bedeu-
tung des dramatischen Geschehens offenbart.
Deshalb wollen wir uns nun dem Vorspiel zum III. Akt zuwenden, in dem
nach Wagners eigener Aussage Parsifals Irrfahrt musikalisch zur Darstellung ge-
langt. 309

2. Musikalischer Exkurs
Das Vorspiel zum III. Akt

Das Erste, was uns bei diesem Musikstück auffällt, ist, dass Wagner in ihm auf
meisterhafte Weise die Gefühle und Bilder, die Parsifals Wort-Erzählung von sei-
ner Irrfahrt in uns wachruft, in Klang umgesetzt hat. Die „Kämpfe und Streite“
– die „Verzweif lung“ – die Angst, „den Weg des Heiles“ nie zu finden – vor allem
aber das Hochhalten des heiligen Speeres, den Parsifal „unentweiht“ zum Gral
zurückbringen will: Das alles wird hier durch die klare Sprache der Tonsymbole
als gedankliche Aussage präzise mitgeteilt – und entsteht zugleich vor unserem
inneren Auge als lebendiges Bild.
Das Vorspiel besteht aus drei deutlich voneinander zu unterscheidenden Ab-
schnitten. Im ersten Teil wird das Leid der Gralswelt geschildert, das den un-
mittelbaren Anlass zu Parsifals Wanderung bildet; im zweiten erleben wir seine
Sehnsucht nach dem Gral, sowie seine scheinbar hoffnungslosen Versuche, diesen
wieder zu finden; im dritten wird ein kurzes, aber reichhaltiges Tongemälde dar-
geboten, in dem uns das Bild des in unerschütterlicher Standhaftigkeit dahin-
schreitenden Helden vor das innere Auge gezaubert wird.
Das Gralselend, das den Inhalt des ersten Abschnittes bildet, wird Gurnemanz
später mit folgenden Worten beschreiben:
Die heil’ge Speisung bleibt uns nun versagt,
gemeine Atzung muss uns nähren;
darob versiegte unsrer Helden Kraft:
Nie kommt uns Botschaft mehr,
noch Ruf zu heil’gen Kämpfen aus der Ferne;
bleich und elend wankt umher
die mut- und führerlose Ritterschaft.

222
Der Weg zur Vollendung

Wagner bringt diesen traurigen Zustand durch einen wunderbaren polyphonen


Streichersatz zum Ausdruck, der bei aller weichen Schönheit unendliche Schwer-
mut zum Ausdruck bringt. Dies war auch seine Absicht; wie Cosima in einer
Tagebucheintragung aus der Zeit der Komposition berichtet:
„R. spricht von den traurigen Klängen, welche er jetzt zu komponieren habe; es
dürfe nicht ein Lichtstrahl darin fallen …“310
In diesem ergreifenden Klanggemälde kann man einzelne Motive heraushören,
welche jeweils eine eigenständige Bedeutung besitzen. Da ist zunächst der abstei-
gende Tritonus, der wie ein Zerrbild der kraftvoll-gesunden Quarten der Grals-
glocken klingt und hier zum Klangsymbol des Siechtums geworden ist. Danach
hören wir einen wie in Sehnsucht weit über sich hinausgreifenden Septimen-
sprung, der auch später im Klanggef lecht eine Rolle spielen wird, und der hier
in eine Reihe kraftlos herabsinkender „Wehe-Sekunden“ einmündet. Und mitten
darin vernehmen wir das Motiv der Schuld:

In diesen Motiven findet man alles ausgedrückt, was den Zustand der Gralsge-
meinschaft in diesem Augenblick kennzeichnet: Siechtum, Kraftlosigkeit, Hoff-
nungslosigkeit sowie müdes Auf begehren, das in sanfte Ergebung in das schein-
bar Unvermeidliche übergeht. Eine Sonderstellung nimmt das Motiv der Schuld
ein, da es eine Verbindung zwischen der siechen Gralswelt und Parsifal herstellt.
Tatsächlich kann man diese ganze musikalische Darstellung des Gralselends, ob-
wohl sie zunächst eine objektive Schilderung gegebener äußerer Zustände zu sein
scheint, auch psychologisch auffassen: als Ausdruck dessen, was Parsifal angesichts
des Gralselends innerlich erlebt. Und dazu gehört nicht nur Trauer und Hoff-
nungslosigkeit, sondern auch das Gefühl der Schuld. Denn Amfortas hat zwar

223
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

durch seine Verweigerung, den Gral zu enthüllen, all dies Elend unmittelbar her-
vorgerufen; doch Parsifal empfindet sich selbst als den eigentlichen Urheber dieser
trostlosen Zustände, da er in seiner Unreife nicht imstande war, die heilende Tat
zu vollbringen, die Amfortas und die Gralswelt von ihrem Leid erlöst hätte.
Der Bezug zu Parsifal wird am Ende dieser kurzen Darstellung des Gralselends
noch deutlicher. Denn in den letzten beiden Takten dieses ersten Abschnitts er-
klingt ein Motiv, das im weiteren Verlauf des Vorspiels eine entscheidende Rolle
spielen wird: das Motiv der Begierde.

Das Motiv der Begierde ist vor allem der Kundry zugeordnet, und mit ihm wird
hier der eigentliche Inhalt von Parsifals Irrfahrt ausgesprochen: die Verwandlung
der Triebnatur, welche eines der wichtigsten Themen des ganzen Werkes bildet.
Denn dass Parsifal selbst, trotz aller „Torheit“ und „Reinheit“, eine kraftvolle
Triebnatur besitzt, beweist er wiederholt durch seine „wilden Knabentaten“ – und
noch mehr durch die heftige Auseinandersetzung mit Kundry, die ja eine Verkör-
perung seines eigenen Unbewussten ist. Und wenn nun das Motiv der Begierde
hier noch einmal erklingt, so kann das nur heißen, dass diese Auseinandersetzung
mit dem Ende des II. Aktes keineswegs zu Ende ist, sondern hier noch fortgesetzt
wird. 311
Die Anfechtungen, denen Parsifal während seiner Irrfahrt standhalten muss,
kommen also auch aus dem eigenen Inneren und sind zum großen Teil Angriffe
der ungeläuterten Begierdenatur. Unter Begierde ist nicht nur das sinnliche Ver-
langen zu verstehen, sondern der „missleitete“ Wille überhaupt, der den Men-
schen in den Kerker des Egoismus zwingt und ihn dazu treibt, sein eigenes Wohl
auf Kosten anderer zu suchen. Diesem Urtrieb der menschlichen Natur – man
könnte ihn auch den „natürlichen Egoismus“ nennen – muss Parsifal widerstehen,
soll der Speer nicht wieder an Klingsor zurückfallen, sondern „unentweiht“ zum
Gral zurückkehren. Nur wenn sein ganzes Wesen bis in die letzten Tiefen seiner
Triebnatur hinab von jeder Spur der egoistischen Begierde gereinigt ist, kann sich
sein Wille mit dem Göttlichen vereinigen, das durch das Christus-Blut im heili-
gen Gefäß symbolisiert wird.

224
Der Weg zur Vollendung

Die Geschichte von Parsifals langer Irrfahrt ist also die Geschichte der allmäh-
lichen Läuterung seiner Triebnatur. Da aber diese Natur durch Kundry verkör-
pert wird, ist die Irrfahrt zugleich die Geschichte ihrer Verwandlung.
Doch kehren wir zur Musik zurück. Auf die zwei Takte, in denen das Begier-
de-Motiv so bedeutungsvoll erklingt, folgt der zweite Abschnitt des Vorspiels,
der eine anschauliche Schilderung der „Irrnis“ bringt. Wagner verwendet hier,
um das immer wieder enttäuschte Streben nach einem scheinbar unerreichbaren
Ziel zum Ausdruck zu bringen, eine Serie von aufsteigenden Sehnsuchtsinterval-
len. Einmal sind es Sekundschritte, einmal Terzen, die in immer neuen Ansätzen
nach oben drängen – doch nur um sich immer wieder zu verf lüchtigen, wie eine
ausgestreckte Hand, die ins Leere greift:

Nach fünf Takten solchen scheinbar hoffnungslosen Strebens sinken dann die auf-
steigenden Sehnssuchtsintervalle wie resigniert zurück und gehen in ein Motiv
über, das mit seiner halt- und ziellos auf- und abwallenden Linie schon im II. Akt
erklungen ist – und zwar zu Kundrys Worten „Nun such’ ich ihn von Welt zu
Welt“. Es ist das Motiv der Erlösungssehnsucht, das Parsifals scheinbar hoffnungs-
loses Streben in Beziehung zur unbefriedigten Sehnsucht der ruhelosen Gralsbo-
tin setzt:

225
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Ein kurzes, eintaktiges Zwischenspiel mit den Klangsymbolen der siechen Grals-
gemeinschaft schließt sich an – man hat das Gefühl, als ob sich der enttäuschte
Sucher für einen Moment resigniert in das Unvermeidliche ergeben würde – und
dann beginnt das Streben von Neuem, dieses Mal aber drängender und auch ziel-
gerichteter. Tatsächlich beginnt sich nun das Gralsmotiv aus der emporstrebenden
melodischen Linie heraus zu entwickeln, womit die Musik das eigentliche Ziel
von Parsifals Suche bezeichnet. Mit jeder Welle, die aufsteigt, scheint dieses Ziel
näher zu rücken; doch jedes Mal löst sich das Motiv wieder in Nichts auf, bevor
es seine Gestalt vollenden kann:

Bspl. 66

Beim letzten Mal scheint der Gral tatsächlich greif bar nahe zu sein – doch da
wendet sich die aufsteigende Linie jäh nach unten und geht in das Motiv der Ver-
zweif lung über:

226
Der Weg zur Vollendung

Mit diesem Motiv beginnt der dritte Abschnitt des Vorspiels. Was wir nun ver-
nehmen, ist ein Klanggemälde, das auf vollendete Weise den Inhalt von Parsifals
Irrfahrt zusammenfasst. Nachdem wir in den vorangegangenen Teilen das Elend
der Gralswelt, die Schuldgefühle Parsifals, seine Anfechtung durch die Begierde
und die scheinbare Hoffnungslosigkeit seines Strebens nach dem „Heil“ erlebt
haben, entsteht nun vor unserem inneren Auge ein großartig-mächtiges Bild des
durch die „Irre“ schreitenden, von allen Seiten schwer bedrängten Helden. Cosi-
ma, der Wagner diese Stelle kurz nach der Komposition vorspielte, beschreibt die
Musik, die wir hier vernehmen, mit folgenden Worten:
„Ich erkenne das Thema von der Lanze, dazu die unheimliche Figur von Klingsor
und Parsifals Motiv, aber wie gehemmt. Man empfindet und sieht im Geiste, wie er
den Speer hoch gerade trägt und wie die Irre ihn umschlängelt. R. sagt, das Gute sei
auch daran, dass das Lanzen-Thema chromatisch abschließt, wehmutsvoll, während
das Motiv von P. frisch und keck. Er preist die kontrapunktische Form, welche so
viel ermöglicht.“312
In Wirklichkeit beinhaltet diese großartige Stelle viel mehr, als Cosima beim ers-
ten Anhören heraushörte (wobei man auch bedenken muss, dass Wagner unmög-
lich auf dem Klavier alle Motive gleichzeitig spielen konnte). Sechs verschiedene
Klangsymbole sind es, die hier zu einem Tongemälde zusammenkontrapunktiert
werden:

227
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Oben erklingt in den Violinen die herabstürzende Linie des Verzweif lungsmo-
tivs; in den Hörnern hören wir eine Serie von absteigenden Wehe-Sekunden (es
ist der „wehmutsvoll“ chromatische Abschluss des Speermotivs, von dem Wag-
ner spricht), in denen wir einen Ausdruck tiefer Qual erkennen können. Nicht
zu überhören ist das Klangsymbol der Begierde, das hier, in immer neuen Wel-
len herandrängend, aus der Tiefe emporsteigt. Es wird begleitet von jenem weit
ausgreifenden Septimensprung, der bereits im ersten Abschnitt des Vorspiels er-
klungen ist, und in dem wir einen Ausdruck schmerzlichen Sehnens erkennen
können.
Diesen vier Motiven, welche die mannigfaltigen inneren Anfechtungen, denen
Parsifal ausgesetzt wird, darstellen, setzt nun Wagner zwei andere entgegen, in
denen die Standhaftigkeit des Helden zum Ausdruck kommt. Da ist zunächst das
Motiv der Heilswahrsagung (Cosima nennt es „Parsifals Motiv“), das uns wäh-
rend des ganzen Werkes als musikalische Umsetzung der Worte „Durch Mitleid
wissend, der reine Tor“ begegnet, und das man als ein Klangsymbol für Parsifals
höhere Sendung auffassen kann. Es bildet hier den harmonischen Rahmen des
ganzen Abschnittes, und die unerschütterliche Markigkeit, mit der es hier, inmit-
ten des heftigen Ansturms der Anfechtungen, erklingt, will gleichsam sagen, dass
es das Bewusstsein seiner Sendung ist, das Parsifal hier jene innere Kraft einf lößt,
die er benötigt, um nicht ins Wanken zu geraten.
Das dominierende Motiv des ganzen Tongemäldes ist jedoch das Klangsymbol
des Speeres, das hier im mächtigen Klang der Posaune aus dem ganzen Klang-
gewoge hervorragt und wie ein Fels inmitten der wilden Brandung steht. Mit
großartiger Eindringlichkeit lässt Wagner hier das Bild des tragisch-duldenden
Helden vor unserem inneren Auge entstehen, wie er unbeirrt, mit hoch erhobe-

228
Der Weg zur Vollendung

nem Speer, mitten durch alle Anfechtungen und Gefahren schreitet, ohne je der
Versuchung nachzugeben, seine Waffe zum Kampf gegen anderes Leben einzu-
setzen. Das ist das heroische „ahimsa“ Gandhis (Mohandās Karamchand Gāndhī,
genannt Mahatma Gandhi, 1869–1948): jenes Ideal der Nicht-Schädigung ande-
ren Lebens, das dem Menschen jegliche Anwendung von Gewalt zur Verteidigung
der eigenen Interessen verbietet – auch wenn er deshalb „Wunden jeder Wehr“
empfangen oder sogar das eigene Leben hingeben müsste. Es ist auch das Ideal
der Bergpredigt mit ihrer radikalen Forderung, „die andere Backe hinzuhalten“,
anstatt sich mit Gewalt gegen feindliche Angriffe zu wehren. Und es ist die ein-
zig mögliche praktische Konsequenz aus jenem “Wissen“, das Parsifal durch sein
Mitleidserlebnis im II. Akt erlangt hat: das Wissen um die Einheit alles Lebenden.
Parsifals Standhaftigkeit beinhaltet jedoch auch eine wichtige psychologische
Aussage. Denn wenn das immer wieder aufsteigende Motiv der Begierde, das in
dieser musikalischen Schilderung der Irrfahrt unüberhörbar die Hauptbedrängnis
darstellt, unmissverständlich darauf hinweist, dass es aufsteigende Inhalte des ei-
genen Unbewussten sind, die Parsifal hier angreifen, so teilt das Speermotiv eben-
so unmissverständlich mit, dass er auch gegen diese inneren Bedrängnisse keine
Gewalt anwenden darf. Auch hier ist es also seine Aufgabe, seine Feinde durch
Standhaftigkeit und Beharren zu besiegen. Wie Christus und Gandhi, anstatt ihre
Widersacher anzugreifen, sie durch Liebe und Wahrheit zu bekehren suchten, so
soll Parsifal die ihn bedrängenden Triebe nicht bekämpfen, sondern verwandeln,
indem er ihnen dazu verhilft, die in ihnen verborgenen positiven Tendenzen zu
entfalten. In der Sprache der Psychologie heißt das: Man soll verdrängte seelische
Inhalte, sobald sie ins Bewusstsein treten, weder unterdrücken noch bekämpfen,
sondern sie annehmen. Auf diese Weise gibt man diesen Inhalten, die bisher im
Unbewussten gleichsam eingesperrt waren, die Möglichkeit, sich wieder frei zu
bewegen. Der Krampf kann sich lösen, die aufgestaute Energie kann wieder un-
gehindert f ließen – und der verborgene innere Kern kann sich allmählich aus der
neurotischen Verhüllung befreien. So kann sich auch die Begierde, die ja nur fehl-
geleitete Sehnsucht nach Vereinigung ist, sich in Liebe verwandeln.
Die mythischen Bilder des Dramas bringen diesen Prozess auf ihre Art und Wei-
se zum Ausdruck. Denn Parsifals Unbewusstes erscheint in der Gestalt der Kundry
verkörpert; und wenn der Held während seiner Irrfahrt erfolgreich allen Anfech-
tungen einer aufgewühlten Triebnatur standhält, so bedeutet das nicht nur seine
eigene innere Läuterung, sondern zugleich auch die Verwandlung der Kundry. Als
Ergebnis der Irrfahrt wird also Kundry von ihrem Fluch befreit, so dass sie endlich
den Gral schauen darf. Dass dies tatsächlich der Sinn von Parsifals langem Leidens-
weg war, erfahren wir nach dem Ende des Vorspiels mit voller Deutlichkeit im Bild.
Die musikalische Schilderung der Irrfahrt ist zu Ende; der Vorgang öffnet sich –
und da erwacht Kundry, völlig verwandelt, auf dem Gebiet des Grals.

229
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

3. „Wie anders schreitet sie als sonst!“

Wagner – der seinen eigenen Werken nach ihrer Vollendung oft wie etwas Frem-
dem gegenüberstand – war sich der Beziehung zwischen Parsifals Irrfahrt und
der Verwandlung der Kundry zumindest ahnend bewusst. So sagte er z.B. einmal
während der Komposition zu Cosima:
„Man kann annehmen, der Fluch der Kundry verliert an Kraft mit ihrem Erwa-
chen, und dieses Erwachen zieht Parsifal an, lauter geheimnisvolle Beziehungen.“313
Was Wagner als Betrachter seines eigenen Werkes nur ahnte, sprechen die mythi-
schen Bilder mit voller Deutlichkeit aus. Denn die Kundry, die uns nach ihrem
Wiedererwachen auf dem Gralsgebiet entgegentritt, ist eine völlig andere als die,
die wir vor der Irrfahrt erlebt haben. Damals war ihr ganzes Wesen durch Wild-
heit und krampf haftes Getrieben-Sein gekennzeichnet; als eine in Verzweif lung
wild Tobende, die schließlich schreiend zusammenbricht, haben wir sie am Ende
des II. Aktes zum letzten Mal erblickt. Nun, am Anfang des III. Aktes, besteht sie
nur mehr aus ruhiger Sanftmut und tiefer Demütigkeit. Wie Wagner selbst in sei-
ner szenischen Vorschrift bemerkt: „Aus Miene und Haltung ist die Wildheit ver-
schwunden.“ Diese Veränderung spiegelt sich auch in der Musik; ein neues Motiv
taucht auf, um Kundrys innere Verfassung zu charakterisieren. Fallende Terzen
in den Klarinetten setzen die Geste des Sich-Neigens oder Sich-Niederbeugens in
Klang um und bringen so schon durch ihre äußere Gestalt die Haltung demütiger
Hingabe zum Ausdruck:

Bspl. 69

Gurnemanz fasst ihr verändertes Wesen zusammen, indem er erstaunt ausruft:


„Wie anders schreitet sie als sonst!“
Kundrys neue Haltung kommt aber nicht nur in ihrer Erscheinung und ihrem
äußeren Benehmen zum Ausdruck, sondern offenbart sich auch durch den Inhalt
ihrer Tätigkeit. Kaum erwacht, „erhebt sie sich, ordnet sich Kleidung und Haar
und lässt sich sofort wie eine Magd zur Bedienung an“. Was sie tut, entspringt jetzt
offensichtlich dem Bedürfnis, anderen zu helfen. Und dieser Drang, sich selbstlos
in den Dienst anderer zu stellen, scheint sie so ausschließlich zu erfüllen, dass sie,
die früher eine sprudelnde Quelle von Mitteilungen aller Art war, nun beinahe

230
Der Weg zur Vollendung

gänzlich stumm bleibt – äußeres Zeichen dafür, dass sie mit ihrem ganzen Wesen
in ihrer Tätigkeit aufgeht, die hier weder der Erklärung noch der Rechtfertigung
bedarf. „Dienen … Dienen!“ sind die einzigen Worte, die sie im III. Akt von sich
gibt. Sie ist zur reinen Verkörperung der tätigen Selbsthingabe geworden.
Was uns Wagner hier mit dieser radikalen Haltung des selbstlosen Dienens
vor Augen führen will, ist die totale Verwandlung der Triebnatur. Die seelische
Kraft Kundrys – Freud würde sagen ihre „Libido“, Schopenhauer „der Wille zum
Leben“ in ihr – ist nicht, wie bei Klingsor, abgetötet, nicht, wie bei den Gralsrit-
tern, unterdrückt worden, sondern hat eine neue Richtung und ein völlig neues
Ziel erhalten. Sie richtet sich nicht mehr nach den eigenen Bedürfnissen, sondern
nach den Bedürfnissen anderer; Nehmen ist zu Geben geworden, und das Wohl
und Wehe des anderen bewegt ihren Willen wie sonst nur das eigene. Der Trieb
nach Vereinigung, die sich im ungeläuterten Zustand als Begierde nach Besitz und
sinnlichem Genuss geäußert hatte, offenbart sich nun als Liebe in ihrer höchsten
und edelsten Form: als der Drang nach Selbsthingabe zugunsten anderer.
Nun war Kundry schon im I. Akt als Dienende aufgetreten, die bis in die ferns-
ten Winkel der Welt gereist war, um Heilmittel für die Wunde des Amfortas zu su-
chen. Doch diese helfende Tätigkeit unterscheidet sich in grundlegender Weise von
dem Dienen im III. Akt. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Kundrys Helfen
im I. Akt im Orchester immer vom Klangsymbol der Schuld begleitet wurde. Tat-
sächlich waren es unbewusste, nicht aufgearbeitete Schuldgefühle, die sie dort zum
Handeln drängten. Diese konnten, da sie unbewusst waren, keinerlei verwandelnde
Wirkung auf ihr inneres Wesen haben, das weiterhin unverändert blieb; vielmehr
führten sie zu einem neurotischen Teufelskreis von sündigen, büßen und wieder
sündigen. Die scheinbar guten Taten, die sie verrichtete, waren nur krampfhafte
Ersatzhandlungen, die anstelle der ausbleibenden inneren Verwandlung stattfanden.
Zudem waren sie von ihrem Ursprung her egoistisch; denn ihr Zweck war die Be-
ruhigung der eigenen Schuldgefühle, nicht das Wohl des anderen.
Wie anders ist nun das Helfen im III. Akt! Kundry hat inzwischen eine ech-
te innere Wesensveränderung erlebt. Jetzt ist die Begierde, welche die Quelle der
„Sünde“ war, aufgelöst. Kundry kann nicht mehr sündigen; denn nun ist sie rein
und braucht keine Ersatzhandlungen mehr, um sich selbst das Gefühl der Reinheit
zu geben. Jetzt tut sie das Gute um des Guten Willen, ohne Zwang und ohne jedes
egoistische Streben. Und deshalb hat ihr Dienen erst jetzt einen moralischen Wert.
Auch dieser neue Zustand spiegelt sich in der Musik. Während Kundrys Auf-
tritt im I. Akt ganz im Zeichen des Schuldmotivs stand, das nach einer wilden
Steigerung in das heftig herabstürzende Motiv der Verzweif lung einmündete,
taucht das Motiv bei ihrem Erwachen im III. Akt nur mehr bruchstückhaft auf –
wie der letzte Rest von etwas bereits Überwundenem – um sich dann aufzulösen
in der f ließenden Linie des wieder erwachenden Lebens:

231
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Noch deutlicher tritt der Unterschied zutage, wenn man die beiden Stellen ver-
gleicht, an denen Kundry dem ohnmächtig niedersinkenden Parsifal helfend
beispringt. Im I. Akt wurde Kundrys Tat im Orchester allein durch das heftig
vorandrängende Schuldmotiv begleitet, das wiederum in das Verzweif lungsmo-
tiv überging: eine eindeutige Aussage über die versteckte Motivation der Hel-
fenden, die von sich selbst sagte: „Nie tu’ ich Gutes; nur Ruhe will ich …“. Im
III. Akt dagegen hören wir am Anfang zwar auch das Schuldmotiv; doch anstatt
in das Motiv der Verzweif lung einzumünden, sinkt die Linie wieder zurück, um
dann in die aufsteigenden „Sehnsuchts-Sekunden“, die wir aus dem Tristan-Vor-
spiel kennen, überzugehen; diese sinken ihrerseits wieder wie erschöpft zurück,
bis die Melodie, nach einem letzten Auff lackern der Sehnsucht, sich schließlich
im Raum verliert. Man kann hier förmlich hören, wie jenes „Sehnen“, welches
Parsifal im II. Akt als „der Verdammnis Quell“ bezeichnet hatte, sich in nichts
auf löst:314

232
Der Weg zur Vollendung

Tatsächlich verschwinden nach dieser Stelle sowohl das Schuldmotiv als auch
das Sehnsuchtsmotiv aus der Partitur. Kundrys dienende Hingabe ist nunmehr
rein.
Mit dem Bild der dienenden Kundry beginnt das Geschehen des Parsifal immer
mehr in die Nähe der Bilderwelt des Evangeliums zu rücken. Schon die Gestalt
der Kundry an sich weist deutliche Parallelen zu Maria Magdalena auf. Das Hin-
und Hergerissen-Sein zwischen Begierde und Heilsstreben – die ambivalente Lie-
be zum Heiland – die Verwandlung der großen Sünderin in die große Büßerin,
die zuletzt zur Verkörperung reinster Hingabe wird: Das alles ist beiden Figuren
gemeinsam. Doch die dienende Kundry, die nach Parsifals Ankunft in die Hütte
geht, „wo sie sich zu schaffen macht“, erinnert auch stark an die Gestalt jener
Martha, die, als Jesus das Haus ihrer Familie in Bethanien besuchte, dem Heiland
durch eifrige Bemühung im Haushalt zu dienen versuchte, während ihre Schwes-
ter Maria sich damit begnügte, ihm liebevoll zuzuhören. Martha, so heißt es bei
Lukas, „machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen“. 315 Solche Bilder bereiten
die Zuschauer auf das Heilsgeschehen vor, das sich nun im weiteren Verlauf des
Dramas vor ihren Augen abspielen wird.

4. Die mythischen Bilder der Erlösung

Mit der Beendigung der Irrfahrt scheint der Vollendungsweg Parsifals abge-
schlossen zu sein. Der Gang durch das Tal – perce-val – ist vollbracht; der Weg
zum Aufstieg ist frei. Es bedarf nur noch einiger Schritte, und die weite Aussicht,
die sich vom Gipfel des Berges dem Auge darbietet, wird sich auftun. Gibt es

233
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

noch etwas, was Parsifal erreichen muss, bevor er sein Erlösungswerk vollbringen
kann? Ist dieses Werk mit der Vollendung seiner inneren Verwandlung nicht be-
reits vollbracht?
Tatsächlich gibt es auf dem Weg noch eine letzte Etappe, die Parsifal bewäl-
tigen muss, bevor er sein Ziel erreicht. Ihm muss noch bewusst werden, was er
durch seine innere Läuterung eigentlich erreicht hat, und welche Bedeutung dies
für sein eigenes Leben, sowie für das Leben der Menschheit hat. Dieses letzte
„Wissen“ wird ihm in der Karfreitagsunterweisung vermittelt. Erst nach diesem
Erlebnis wird er zum vollkommen „Erwachten“.
Der Karfreitagsbelehrung gehen jedoch einige Ereignisse voraus, die auf den
ersten Blick wie weitere Stufen auf dem Weg zur Erlösung aussehen: die Rück-
führung des Speeres, die Fußwaschung, die Salbung zum König. In Wirklichkeit
bezeichnen diese Geschehnisse aber keine neuen Entwicklungsstufen, sondern
sind vielmehr symbolische Bilder, welche dazu dienen, das bereits Erreichte von
immer neuen Seiten zu beleuchten und in immer neuen Formen zur Anschauung
zu bringen. Es handelt sich also um eine ganz besondere Art der Dramaturgie, die
damit zusammenhängt, dass Parsifal ein mythisches Drama ist. Denn der Mythos,
wie Erich Fromm in seinem Buch Märchen, Mythen, Träume – Eine Einführung in
das Verständnis einer vergessenen Sprache erläutert, bedient sich einer symbolischen
Bildersprache, der eine ganz eigene Logik innewohnt. Während das rationale Be-
wusstsein die Ereignisse in zeitlicher Abfolge und kausal verknüpft wahrnimmt,
dienen sie im Mythos dazu, „die wachsende Intensität des gleichen Gefühls“ 316
zum Ausdruck zu bringen – sind also nur verschiedene Erscheinungsformen eines
Inhalts.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheinen nun die mythischen Bilder
im III. Akt des Parsifal in einem anderen Licht. Alles, was nach der Vollendung
der Irrfahrt „geschieht“, ist nur der symbolische Ausdruck der einen Tatsache:
dass Parsifal in seinem Inneren die Erlösung vollzogen hat. Das erste Bild, das
nach dem Erwachen der völlig verwandelten Kundry den neuen Zustand zum
Ausdruck bringt, ist Parsifals Wiedereintreffen auf dem Gralsgebiet. Das ist das
Zeichen dafür, dass seine Irrfahrt zu Ende ist. Und da sich auch Kundry auf Grals-
gebiet befindet – als eine Verwandelte, der bald auch die Gralsschau zuteil wird –
ist es nun klar, dass Parsifal als ganzer Mensch – d.h. als Geist-Seele-Leib-Einheit
– sein Ziel erreicht hat. 317
Das deutlichste Symbol für die Erlangung dieser Einheit ist die Heimführung
des Speeres. Der Augenblick, in dem Parsifal die Lanze zurückbringt, ist einer
der bewegendsten Momente des ganzen Dramas. Hier erleben wir im sichtbaren
Bild, wie das Ziel des höheren Strebens endlich erreicht wird. Das menschliche
Ich, das durch seine Trennung vom Göttlichen in die “Sünde“ des Egoismus, der
Begierde und der Lebenszerstörung gefallen war, ist gleichsam heimgekehrt und

234
Der Weg zur Vollendung

hat sich mit der durch Christus verkörperten Liebe wiedervereinigt; der „miss-
leitete“ Wille hat zu seiner wahren Bestimmung zurückgefunden. Wenn Parsifal
dann feierlich verkündet:
„Unentweiht
führ ich ihn mir zur Seite,
den nun ich heim geleite,
der dort dir schimmert heil und hehr,
des Grales heil’gen Speer“
– erfasst Gurnemanz sofort die Größe dieses Ereignisses. „In höchstes Entzücken
ausbrechend“, kann er seiner Erschütterung nur stammelnd Ausdruck verleihen,
indem er ausruft:
O Gnade! Höchstes Heil!
O Wunder! Heilig hehrstes Wunder!
Die Musik bringt die Bedeutung dieses einzigartigen Augenblicks mit höchster
Eindringlichkeit zum Ausdruck. Das Motiv der göttlichen Liebe, das bisher im-
mer durch das Motiv der Wunde gewaltsam und schmerzlich nach unten gebogen
wurde, f ließt nun plötzlich frei empor und erreicht endlich ohne Hindernis sein
Ziel:

235
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Es ist das erste Mal in der ganzen Partitur, dass dieses Motiv in seiner eigentlichen
Gestalt erklingt. Die Wirkung ist befreiend und erhebend: großartiges Zeugnis
eines großartigen Ereignisses von einzigartiger Bedeutung für die gesamte Ent-
wicklung der Menschheit!
Parsifal selbst bedarf allerdings noch einiger Zeit, um zum vollen Bewusstsein
dessen, was er selbst vollbracht hat, zu gelangen. Er weiß nur, dass er das Gralsge-
biet wieder erreicht hat; doch er weiß nicht, dass mit seiner inneren Verwandlung
auch die Erlösung vollzogen worden ist. Als Gurnemanz Parsifal vom Elend der
Gralsgemeinschaft berichtet, wird dieser nicht nur von Mitleid mit den Rittern
erfasst, sondern er meint sogar, dass er dieses ganze Elend selbst verschuldet habe.
Von dem Gefühl seiner Schuld plötzlich überwältigt, droht er in Ohnmacht zu
sinken. Wieder vermeint er, „in Irrnis wild verloren zu sein“ und sieht nun „der
Rettung letzten Pfad“ vor sich schwinden.
Es bedarf erst einer symbolischen Reinigung, um Parsifal klar zu machen,
dass er bereits am Ziel seines Weges angelangt ist. Diese erfolgt zunächst durch
Kundry, die Parsifal, wie einst Christus den Jüngern, die Füße wäscht – dann aber
durch Gurnemanz, der, indem er Parsifals Haupt mit Wasser besprengt, eine Art
Taufe an ihm vollzieht. Dass es sich nicht um eine wirkliche Reinigung handelt,
sondern um eine Bestätigung der bereits erlangten Reinheit, spricht Gurnemanz
selbst aus, indem er sagt: „Gesegnet sei, du Reiner, durch das Reine!“
Mit der darauf folgenden Salbung Parsifals erreichen die symbolischen Bil-
der der Erlösung dann einen neuen Höhepunkt. Auch diese geschieht zweifach
– durch Kundry und Gurnemanz. Zuerst salbt Kundry Parsifal die Füße. Wagner
beschreibt in seiner Regieanweisung genau, wie diese Handlung vor sich gehen
soll: Kundry nimmt, so liest man dort,
„ein goldenes Fläschchen aus ihrem Busen und gießt seinen Inhalt auf Parsifals
Füße aus; jetzt trocknet sie diese mit ihren schnell aufgelösten Haaren.“
Dieses bewegende Bild, das von einer Musik von glühender Gefühlsintensität
begleitet wird, hat Wagner unmittelbar dem Johannes-Evangelium entnommen.
Dort wird berichtet, wie Maria, die Schwester jener Martha, die Jesus durch ge-
schäftiges Tun dienen wollte, den Heiland durch genau die gleiche Handlung ehr-
te, die Kundry jetzt an Parsifal vollzieht:
„Sechs Tage vor dem Paschafest kam Jesus gen Bethanien, wo Lazarus war, den er
von den Toten auferweckt hatte. Dort bereiteten sie ihm ein Mahl; Martha bediente
und Lazarus war unter denen, die mit Jesus bei Tisch waren. Da nahm Maria ein
Pfund echtes, kostbares Nardenöl, salbte Jesus die Füße und trocknete sie mit ihrem
Haar. Das Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt.“318

236
Der Weg zur Vollendung

Mit dieser Handlung ist die liebevolle Selbsthingabe der Kundry vollendet; sie
vereinigt nunmehr Tätigkeit und stille Verehrung in sich.
Mit der auf die Fußwaschung durch Kundry folgenden Salbung des Hauptes
durch Gurnemanz wird dann Parsifal symbolisch die Königswürde verliehen.
Auch diese Handlung ist, was Parsifals innere Entwicklung anbelangt, nur die
Bestätigung eines bereits Erreichten; denn seit der Vollendung seines Prüfungs-
weges ist Parsifal bereits ein „königlicher“ Mensch. Die sichtbare Verleihung des
hohen Amtes durch die Salbung dient zudem als Anlass, diese Tatsache auch durch
die Musik zum Ausdruck zu bringen, die hier, der Bedeutung des Augenblicks
entsprechend, einen der ganz großen Höhepunkte der Parsifal-Partitur bildet.
Das letzte mythische Bild vor dem Erblühen der Karfreitagsaue ist die Tau-
fe der Kundry. Auch diese bezeichnet keine neue Entwicklungsstufe, sondern
bringt, um mit Fromm zu reden, „die wachsende Intensität des gleichen Gefühls“
zum Ausdruck. Mit dieser symbolischen Handlung wird der Verwandlung der
Kundry das letzte Siegel aufgedrückt. Wagner lässt an dieser Stelle eine Musik
von einzigartiger Zartheit und Innigkeit erklingen: ein Höhepunkt im pianissimo,
welches das Gegenstück zum mächtigen fortissimo der Königssalbung bildet:

Bspl. 73

Man erkennt hier die Leidensterzen, die in die Motive des Christus-Blickes und
der Erlösungssehnsucht übergehen: die ganze Vergangenheit der Kundry in drei
Takten zusammengefasst! Diese ganze Motivfolge wird begleitet von fünf mysti-
schen pizzicato-Schlägen, die von den Violoncelli und Kontrabässen im zartesten
piano gespielt werden. 319 Über diese fünf Noten – sie sollten ursprünglich von der
Pauke gespielt werden, wurden von Wagner jedoch bei der Instrumentierung den

237
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Bässen zugeteilt – die hier wie ein banger Herzschlag wirken, gibt es eine schöne
und bedeutungsvolle Bemerkung Wagners, die er während der Komposition Co-
sima gegenüber machte. In ihren Tagebüchern lesen wir unter dem Datum des 2.
Februar 1879 folgende Worte:
„Plötzlich ist er wieder oben bei mir: ‚Ich rief aus der Halle den Kindern, damit
sie dich riefen, niemand hörte mich, ich komme heraus, um dir zu sagen, dass der
Eintritt der g-Pauke das Schönste ist, was ich je gemacht habe.‘ Ich begleite ihn
hinunter, er spielt mir die Salbung Parsifals durch Titurel [sic!] mit dem wunder-
baren Kanon und die Taufe von Kundry mit dem Vernichtungsklang der Pauke;
‚Vernichtung des ganzen Wesens, jedes irdischen Wunsches‘, sagt R.“320
Dass die Taufe der Kundry das Verschwinden des irdischen Wünschens – d.h.
der egoistischen Begierde – bezeichnet, ist richtig. Doch wenn Wagner – oder
Cosima – dafür das den Ausdruck „Vernichtung des ganzen Wesens“ verwendet,
ist das sicherlich eine unglückliche Wortwahl. Denn Kundrys Wesen wird hier
weder zerstört, noch wird sie zu nichts. Vielmehr deutet hier alles auf Verwand-
lung hin. Schon die Taufe bedeutet nicht Tod, sondern Neugeburt; der Zeitpunkt,
zu dem sie vollzogen wird, weist ebenfalls darauf hin, dass es sich hier um kein
Ende, sondern um einen Neubeginn handelt, denn Karfreitag bedeutet nicht nur
Tod, sondern auch Auferstehung. Wenn man sich der Wirkung der Musik mit
ihren mystischen pizzicato-Schlägen hingibt, so ist es nicht Vernichtung, was man
empfindet, sondern sanfte Auf lösung. Tatsächlich löst sich Kundry bei der Taufe in
Tränen der Reue auf; „sie scheint heftig zu weinen“, lautet die Regieanweisung
Wagners. Indem sich aber das Alte auf löst, löst sich etwas Neues aus dem Zerfal-
lenden: die neue, erlöste Natur, die hier durch die neu auf blühende Karfreitagsaue
symbolisiert wird. Hier wird die äußere Natur zum Symbol der inneren; Kundrys
altes Wesen stirbt – um als leuchtende Frühlingswiese wieder aufzuerstehen. In
diesem Sinne wird Kundrys Weinen auch von Parsifal gedeutet:
Auch deine Träne ward zum Segenstaue:
du weinest – sieh! es lacht die Aue.
Auf-lösung als Er-lösung: Die Musik, die zu Kundrys Taufe erklingt, wird in
nahtlosem Übergang zum Anfang des „Karfreitagszaubers“. Tod und Auferste-
hung in der Seele und in der Natur – das Sterben des Alten ist zugleich das Auf-
blühen eines neuen, verwandelten Lebens.
Die Karfreitagssymbolik, die für die Werkaussage zentrale Bedeutung besitzt,
wird uns noch weiter beschäftigen, zunächst in ihren ethischen Implikationen.
Bevor wir uns jedoch diesen zuwenden, gibt es noch ein wichtiges Problem zu
klären. Gurnemanz hatte, da er die symbolische Taufe an Parsifal vollzog, diese
Handlung mit folgenden Worten begleitet:

238
Der Weg zur Vollendung

So weiche jeder Schuld


Bekümmernis von dir!
Auch sonst spielt die „Schuld“ Parsifals in dieser Szene eine große Rolle. Wie ist
das aber zu verstehen? Das Problem der Schuld ist seit der griechischen Tragö-
die eines der großen Themata der abendländischen Kultur. Welche Antwort gibt
Wagner in seinem Werk darauf? Ist Parsifal wirklich schuldig?

5. Moralischer Exkurs
Das Problem der Schuld im Parsifal

Zunächst gilt es, eine klare Unterscheidung zwischen der objektiven und der sub-
jektiven Schuld zu machen. Die objektive Schuld betrifft das äußere Handeln und
dessen Auswirkungen in der Welt. Sie entsteht dadurch, dass der Mensch etwas
tut, das eine irgendwie schädliche Wirkung nach sich zieht. An etwas schuldig
zu sein bedeutet in diesem Sinne dasselbe wie Verursacher von etwas zu sein. Die
subjektive Schuld dagegen betrifft das Wollen und damit die seelische Beschaf-
fenheit des Handelnden. Sie setzt das Wissen um die Schädlichkeit bzw. die Ver-
werf lichkeit der Handlung voraus, die der Mensch entweder mit Absicht ausführt
oder mit Bewusstsein geschehen lässt. Das hat aber zur Voraussetzung, dass er
zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden und die Folgen seiner Tat übersehen
kann. Deshalb kann ein Tier oder ein Kind auf diese Weise nicht schuldig werden.
Die subjektive Schuld allein gehört der Kategorie des Moralischen an, während
die bloß objektive, für sich allein genommen, die moralische Beschaffenheit des
Handelnden nicht tangiert.
Diese beiden Arten von Schuld erfordern auch unterschiedliche Arten der Be-
wältigung. Eine bloß objektive Schuld verlangt die Beseitigung der äußeren Fol-
gen. Auch wenn der Mensch die schädliche Handlung ohne Absicht begangen
hat, trägt er die Verantwortung für die Wirkungen seiner Taten und hat deshalb
die Aufgabe, den Schaden, den er verursacht hat, nach Möglichkeit zu beheben.
In diesem Sinne kann man von „Sühne“ sprechen. Die subjektive Schuld erfor-
dert dagegen eine Änderung der inneren Beschaffenheit des Handelnden; denn
sie betrifft den Willen als Quelle der Tat. Wer in „böser“ Absicht eine schädliche
Handlung begeht, bedarf einer seelischen Reinigung. Hier sind Buße und Reue
nötig, deren Ziel es ist, die Seele so zu verwandeln, dass eine Wiederholung der
Tat nicht mehr möglich ist.
Oft gehen beide Arten von Schuld Hand in Hand. Doch wie ein Mensch eine
moralisch verwerf liche Handlung wollen kann, ohne sie auszuführen – wodurch
die Schuld eine bloß subjektive bleibt – so kann er auch eine schädliche oder ver-

239
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

werf liche Tat vollbringen, ohne dass ihm der schuldhafte Charakter seiner Hand-
lungsweise bewusst ist. Dies kann aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit gesche-
hen – oder auch dadurch, dass der Mensch in äußere Umstände gerät, die ihn zu
einer solchen Handlungsweise zwingen. In diesem Falle bleibt die Schuld eine bloß
objektive. Das klassische Beispiel eines Menschen, der auf diese Weise schuldlos-
schuldig wird, ist der Oidipos der griechischen Sage: Ohne dass er es weiß, führt
ihn das Schicksal dazu, den eigenen Vater zu töten und die eigene Mutter zur
Gattin zu nehmen. Durch diese „Bef leckung“ gerät die ganze Weltordnung aus
dem Gefüge; obwohl Oidipos keine subjektive Schuld an dem Schaden trägt, ist
er objektiv dafür verantwortlich und muss die nötige Sühne leisten, damit die
Harmonie wieder hergestellt werden kann.
Nach dieser Begriffsklärung können wir uns nun dem Problem von Parsifals
Schuld zuwenden. Die erste Frage, die wir zu untersuchen haben, ist, ob er sich
durch irgendeine Tat im moralischen Sinne, d.h. subjektiv schuldig macht. Diese
Frage muss man eindeutig mit „Nein“ beantworten. Denn es ist offensichtlich,
dass er keine Handlung in der Absicht oder mit dem Bewusstsein vollführt, etwas
Verwerf liches zu tun. Als paradigmatisch für seine Handlungsweise kann die Tö-
tung des Schwans gelten. Objektiv hat er den Tod des schönen Tieres verursacht;
subjektiv trifft ihn jedoch keine Schuld, da er als unwissender Knabe noch keinen
Begriff von „gut“ und „böse“ hat und sich der Auswirkungen seiner Tat nicht
bewusst ist. Wenn Gurnemanz ihm zuruft: „Sag’, Knab’! Erkennst du deine große
Schuld?“, so kann damit also nur eine objektive Schuld gemeint sein, und Parsifals
Entschluss, nie wieder zu töten, bedeutet keine moralische Reinigung, sondern
bezeichnet das Erwachen des moralischen Bewusstseins überhaupt. Erst von die-
sem Zeitpunkt an, da er den Unterschied zwischen „gut“ und böse“ begriffen hat,
existiert er als moralisches Subjekt, das fähig ist, im subjektiven Sinne schuldig
zu werden.
Geschieht die Tötung des Schwans aus Unwissenheit, so stürzt sich Parsifal in
den Kampf gegen die im Zaubergarten gefangenen Gralsritter aus Vergesslich-
keit. Er ist, da er den Klingsor-Bereich betritt, von dem, was er im Gralstempel
erlebt hat, derart betäubt, dass er wieder in den Zustand „dumpfer Torheit“ zu-
rückgefallen ist, in dem er sich bei dem Tiermord befunden hat; die moralische
Belehrung, die er durch Gurnemanz empfangen hatte, ist einfach aus seinem Be-
wusstsein verschwunden. Deshalb geschieht die Lebensschädigung, die er an den
Rittern verübt, ohne jede böse Absicht. Auch sie ist also höchstens eine objektive,
keineswegs aber eine moralische Schuld.
Neben diesen beiden „Knabentaten“ gibt es aber zwei andere Ereignisse, die
Parsifal selbst stark belasten, da er sich als deren Urheber empfindet, weshalb er
sich bis zum Schluss zutiefst schuldig fühlt. Das eine ist der Tod seiner Mutter,
die aus Gram über die Trennung von ihm gestorben ist; das andere ist die aus-

240
Der Weg zur Vollendung

gebliebene Erlösung des Amfortas, die Parsifal mit allen ihren Folgen als seine
eigene persönliche Schuld empfindet. Beide Ereignisse werden im II. Akt Anlass
zu heftigen Selbstanklagen:
Mutter: Süße, holde Mutter!
Dein Sohn, dein Sohn musste dich morden!
– so stellt er mit bitterem Selbstvorwurf fest, nachdem ihm Kundry das Sterben
der Herzeleide geschildert hat. Und nachdem er in visionärer Entrücktheit nicht
nur die Qualen des Amfortas, sondern auch die Klage des durch „schuldbef leckte
Hände“ entweihten inneren Christus vernommen hat, ruft er, „verzweif lungsvoll
auf die Knie stürzend“, aus:
Erlöser! Heiland! Herr der Huld!
Wie büß ich Sünder meine Schuld?
Im III. Akt ist es dann das Elend der Gralsgemeinschaft – die ja eine Folge der
unerlösten Leiden des Amfortas ist – das Parsifal wieder zu einer heftigen Selbst-
anklage veranlasst, die sich in den Worten kundgibt:
Und ich – ich bin’s,
der all dies Elend schuf!
Wie kommt Parsifal dazu, solche bedrückenden Schuldgefühle zu entwickeln, ob-
wohl weder beim Tod seiner Mutter noch bei der versäumten Erlösung des Am-
fortas eine bewusste Absicht, Schaden anzurichten, vorgelegen hat? Es lohnt sich,
diese beiden Ereignisse, die er sich selbst als Schuld auf bürdet, näher zu untersu-
chen. Sie werden uns zu einer überraschenden Vertiefung des Schuld-Begriffes
führen, die ihrerseits ein Licht auf viele sonst schwer verständliche Einzelheiten
der Werkaussage werfen wird.
Wie gesagt, ist Herzeleide aus Gram über die Trennung von ihrem Sohn ge-
storben. Nun besteht hier insofern eine objektive Schuld, als Parsifals plötzliches
Davonlaufen tatsächlich das Leid verursachte, das schließlich zum Tode seiner
Mutter führte. Dieses Sich-Losreißen von seiner Mutter war jedoch eine Natur-
notwendigkeit, der Parsifal folgen musste. Denn seine Mutter hatte versucht, ihn
gegen alle Gesetze der natürlichen Entwicklung an sich zu binden und am Er-
wachsen-Werden zu hindern; was wie Sorge für das Kind aussah, war in Wirk-
lichkeit nur das egoistische Bestreben, den Sohn wie einen Besitz festzuhalten.
Parsifal konnte also nicht anders, als sich durch eine plötzliche Tat aus dieser na-
turwidrigen Lebenshemmung zu befreien, die ihn nicht nur an seiner persönli-
chen Reifung, sondern auch an der Verwirklichung seiner höheren Bestimmung
hinderte. Was hier geschehen ist, geht aber weit über das bloß Persönliche hinaus.
In Wirklichkeit handelt es sich um eine archetypische Situation. Denn es gibt

241
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

keine individuelle Reifung des Kindes ohne die Trennung von Vater und Mutter;
der Preis, den die Natur für die Entwicklung des Individuums fordert, ist der
Schmerz, der dadurch für die Eltern entsteht. Was Parsifal hier als persönliche
Schuld empfindet, ist also allgemeines Menschenlos und liegt in der menschlichen
Natur begründet. Es ist ein Aspekt der „Tragik des Daseins“: jenes Urgesetz der
natürlichen Welt, das besagt, dass Leben nur dadurch gedeihen kann, dass es an-
derem Leben Schmerz und Schaden zufügt.
Ähnlich verhält es sich mit der anderen vermeintlichen Schuld Parsifals. Denn
der Grund, weshalb er es versäumt, Amfortas zu erlösen, ist auch in der mensch-
lichen Natur an sich zu suchen. Da er dem leidenden Gralskönig zum ersten Mal
begegnet, ist er noch ein unreifer Knabe, der weder intellektuell noch emotional
imstande ist, das, was er erlebt, zu verstehen. Er ist, wie er später rückblickend
sagen wird, zu diesem Zeitpunkt noch ein „blöder, taumelnder Tor“. Doch das ist
keine Schuld, sondern der natürliche Zustand eines Menschen seines Alters. Und
soll er dem Stadium der „Torheit“ entwachsen und zur sittlichen Persönlichkeit
heranreifen, so ist es gerade deshalb nötig, dass er in die Welt hinauszieht, um
durch „wilde Knabentaten“ seine Kräfte zu erproben und in der Auseinanderset-
zung mit dem Leben zu sich selbst zu finden – wozu auch das Erlebnis des Ero-
tischen in der Begegnung mit Kundry gehört. Auch hier handelt es sich also um
allgemeine Gesetze der menschlichen Natur, die Parsifal zu einer Handlungsweise
drängen, durch die er unwissend anderem Leben Schaden zufügt.
Um es kurz zu sagen: Parsifal wird schuldig, weil er Mensch ist. Sein Schuldig-
Werden ist untrennbar damit verbunden, dass er überhaupt als Mensch in der Welt
lebt, wo er nur innerhalb der Gesetze dieser Welt und der menschlichen Natur
– d.h. im Rahmen der unvermeidlichen „Tragik des Daseins“ – seine Bestim-
mung erfüllen kann. Deshalb empfindet er auch alle Einzelschuld, die aus dem
Mensch-Sein entspringt, als die eigene. Deshalb bricht er - wenn Gurnemanz ihm
das Elend schildert, in das die Gralsritterschaft durch die Amtsverweigerung des
Amfortas gestürzt worden ist – in eine Selbstanklage aus, die weit über den mo-
mentanen Anlass hinausgeht:
Und ich – ich bin’s,
der all dies Elend schuf!
Ha! Welcher Sünden,
welches Frevels Schuld
muss dieses Toren Haupt
seit Ewigkeit belasten …
Die letzten Zeilen lassen keinen Zweifel daran, dass Parsifal sich nicht nur für
das Leid des Amfortas und das Elend der Gralsgemeinschaft verantwortlich fühlt,
sondern für alle „Sünden“, die je von Menschen begangen worden sind. Mit ande-

242
Der Weg zur Vollendung

ren Worten: Nachdem er die Erkenntnis der Einheit alles Lebenden erlangt hat,
empfindet er sich nicht mehr als Einzelmensch, sondern als Menschheit. Und das
betrifft auch sein Schuldbewusstsein.
Was soll er aber angesichts dieser niederschmetternden Erkenntnis tun? Scho-
penhauer hat aus seiner Sicht eine radikale Lösung des Problems vorgeschlagen:
Da das Leben unvermeidlich Schuld mit sich bringt – so seine Überlegung – wäre
es besser, es gäbe das Leben gar nicht. Verneinung des Lebens und Auf hebung der
Welt sind also seine Antwort auf die „Erbsünde“; denn wer nicht mehr lebt, kann
auch nicht mehr schuldig werden. Dies kann jedoch nicht die Antwort des Parsifal
sein. Denn wenn das Leben als Offenbarung des Göttlichen etwas Heiliges ist,
kann man es nicht aufgrund der Schuldproblematik verneinen. Vielmehr muss
man den umgekehrten Weg gehen: Man muss bereit sein, das Schuldig-Werden als
zum Leben gehörend anzunehmen.
Tatsächlich bürdet die Annahme der Schuld dem Menschen nicht nur eine
schwere Last auf, sondern spornt ihn auch zur Höherentwicklung an. Denn die
bewusste Annahme von Schuld führt zur Reue; und diese bewirkt wiederum Rei-
nigung. So kann man das erdrückende Gefühl der Schuld, das Parsifal zunächst
verzweifeln lässt, als eine positive Kraft ansehen, die seine seelische Läuterung
vorantreibt. Je schwerer die vergangene Schuld auf ihm lastet, desto stärker wird
der Wille sein, künftige Schuld zu vermeiden – und die innere Verwandlung zu
vollziehen, die dies allein möglich macht.
Das Bewusstsein der Schuld spornt aber auch zur Tätigkeit an. Denn wer Ver-
antwortung für entstandenes Leid übernimmt, fühlt sich gedrängt, dieses Leid
nach Möglichkeit wieder aufzuheben. So entsteht aus Parsifals bewusst angenom-
mener Schuld ein mächtiger Ansporn zu ethischer Wirksamkeit. Und da er die
Schuld der ganzen Menschheit als die eigene auf sich nimmt, fühlt er die Ver-
pf lichtung, jedes Leid, das ihm begegnet, zu mildern. So wird er zu einem uner-
müdlichen Kämpfer gegen die „Tragik des Daseins“, deren Härte er durch helfen-
de Tätigkeit fortwährend zu lindern versucht.
Und damit sind wir wieder beim Drama angelangt. Denn gerade diese Ver-
pf lichtung bildet den Inhalt der langen Unterweisung, die Gurnemanz dem eben
zum Gralskönig gesalbten Parsifal erteilt.

6. Die Ethik der Karfreitagsunterweisung

Diese Belehrung, in der der alte Ritter dem jungen König den Sinn des Karfreitags
erläutert, erfüllt eine doppelte Funktion. Zum einen dient sie als Gefäß für die
Verkündigung einer neuen Ethik von allergrößter Tragweite; zum anderen bringt
Wagner darin einen wichtigen Aspekt seines Erziehungsideals zum Ausdruck.

243
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Wir erinnern uns daran, dass er in Oper und Drama eine der Hauptaufgabe der
Erziehung darin sah, „die Taten der Jugend, in welchen diese nach unwillkürli-
chem Drange und mit Unbewußtsein sich kundgibt, nach ihrem charakteristi-
schen Gehalte zu fassen und in ihrem Zusammenhange zu überblicken“. 321 Zwar
dürfe der Ältere das Handeln des Jüngeren auf keinen Fall beeinf lussen; wohl aber
könne er ihm dazu verhelfen, die Bedeutung seiner Taten zu verstehen, indem er,
aus seiner reichen Erfahrung und Weltkenntnis schöpfend, das „unwillkürliche“
Handeln des jungen Menschen in einen größeren Zusammenhang hineinstelle.
Wenn wir nun die Karfreitagsunterweisung des Gurnemanz anschauen, so
erkennen wir sogleich, dass sie genau diesem Erziehungsideal entspricht. Gur-
nemanz, der Alte, durfte und konnte den jungen Parsifal beim Beschreiten seines
Weges, der ihn in unerforschtes Neuland tragen sollte, nicht beeinf lussen. Aber
er kann den zurückgelegten Weg deuten, indem er dem jungen Helden, der sich
während seiner Irrfahrt der Welt gänzlich verschlossen hatte, die großen Welten-
zusammenhänge erklärt, innerhalb derer das „unwillkürliche“ Handeln des ein-
samen Überwinders seinen Sinn erhält. Auf diese Weise kann der Welterfahrene
dem Einzelgänger, der bisher ganz auf sein Innenleben konzentriert gewesen ist,
auch helfen, das, was er in seiner Seele erlebt und erreicht hat, für das tätige Leben
in der Welt fruchtbar zu machen. So bildet er eine Brücke zwischen Innen und
Außen; durch seine Unterweisung wird Mystik zur Ethik.
Um Parsifal die Bedeutung seines bisherigen Lebensweges klarzumachen,
stellt Gurnemanz seine Taten in den großen Zusammenhang des christlichen
Heilsgeschehens. Doch es ist nicht die kirchliche Theologie, die hier zur Sprache
kommt; vielmehr steht alles, was der alte Weise dem staunenden Jüngling darlegt,
in Bezug zu jener Auffassung der Christus-Gestalt, die Wagner von Schopenhau-
er übernommen hat, und die in dem Heiland den Inbegriff des allumfassenden
Mitleids sieht.
Die Parallelen zwischen diesem Christus und Parsifal sind offensichtlich. Bei-
de haben einen Leidensweg durchschritten; beide sind erfüllt vom Bewusstsein
der Einheit; beide sind frei von jeder Selbstsucht und handeln aus allumfassen-
den Mitleid. Indem Gurnemanz hier, am Ende von Parsifals Entwicklungsweg,
diesem von Christus erzählt, spricht er diese Parallelität an. Christi Passion – so
erklärt der Alte – geschah um der Erlösung der Menschen willen; deshalb ist der
Karfreitag, der Parsifal wie ein „höchster Schmerzenstag“ erscheint, ein Tag der
Freude, an dem der „erlöste Mensch“ sich „frei von Sündenlast und Grauen“ füh-
len darf. Und einen ähnlichen Sinn – so will er sagen – hat auch Parsifals langer
und schmerzlicher Läuterungsweg gehabt; denn auch er soll nun der „Erlösung“
dienen. Dieser Begriff wird hier aber ganz konkret aufgefasst und erhält einen
greif baren, praktischen Inhalt. Parsifals Aufgabe ist es von nun an, das „Wissen“,
das er erlangt hat – das Wissen um die wesenhafte Einheit alles Lebenden – in

244
Der Weg zur Vollendung

äußere Taten zum Wohle anderer Wesen umzusetzen, damit diese von ihrem Leid
erlöst werden können.
Anhand dieses Gedankens entwickelt Gurnemanz nun eine neue Ethik, die
über die von Christus verkündete und praktizierte hinausgeht. Der Gedanke ist
so einfach wie tief. Die Ethik Christi, die in der grenzenlosen Hingabe aus Liebe
zu anderen Wesen bestand, war allein auf die Menschen bezogen. Parsifal soll nun
diese Einstellung auf „alle Kreatur“ ausdehnen. Wie Christus, der Göttliche, sein
Leben für die unter ihm stehenden Menschen hingab, so soll nun der neue Mensch
bereit sein, jedes Opfer zu bringen, um die Natur von ihrem Leiden zu erlösen.
Mit Worten von höchster Poesie, die zum Schönsten gehören, was Wagner je ge-
dichtet hat, wird diese neue Ethik verkündet:
Nun freut sich alle Kreatur
auf des Erlösers holder Spur,
will ihr Gebet ihm weihen.
Ihn selbst am Kreuze kann sie nicht erschauen:
da blickt sie zum erlösten Menschen auf;
der fühlt sich frei von Sündenlast und Grauen,
durch Gottes Liebesopfer rein und heil.
Das merkt nun Halm und Blume auf den Auen,
dass heut des Menschen Fuß sie nicht zertritt,
doch wohl, wie Gott mit himmlischer Geduld
sich sein erbarmt’ und für ihn litt,
der Mensch auch heut in frommer Huld
sie schont mit sanftem Schritt.
Das dankt dann alle Kreatur,
was all’ da blüht und bald erstirbt,
da die entsündigte Natur
heut ihren Unschuldstag erwirbt.
Hier wird, um mit dem Johannes-Evangelium zu sprechen, ein „neues Gebot der
Liebe“ aufgestellt: eines, das die christliche Forderung der Nächstenliebe und
der höchsten Opferbereitschaft mit der indischen Vorstellung der Einheit alles
Lebenden verbindet. Damit gibt Wagner eine Antwort auf die Frage, wie sich
der Mensch angesichts der Unvermeidlichkeit der „Tragik des Daseins“ verhalten
soll. Gerade die Erkenntnis, dass jeder Einzelne die Schuld der ganzen Menschheit
trägt, führt zum Bewusstsein der unbegrenzten Verantwortung gegenüber allem,
„was da blüht, was atmet, lebt und wieder lebt“. Und indem der Einzelne, überall,
wo er kann, anderes Leben beschützt und fördert, trägt er dazu bei, dass auch jene
objektive Schuld, die schon durch die bloße Bejahung des eigenen Lebens entsteht,
so weit wie möglich gesühnt wird. Die Tragik des Daseins, die durch die Nah-

245
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

rungskette bedingt ist, kann man nicht gänzlich auf heben; doch durch achtsames
Befolgen des großen Gebotes der Ehrfurcht vor dem Leben kann der Einzelne
dazu beitragen, dass sie vermindert wird.
Was Wagner hier als Künstler in poetischer Form vorträgt, hat ein halbes Jahr-
hundert später Albert Schweitzer als philosophischen Gedanken formuliert:
„Mit der gesamten Kreatur unter dem Gesetz der Selbstentzweiung des Willens
zum Leben stehend, kommt der Mensch fort und fort in die Lage, sein eigenes Leben
wie auch Leben überhaupt nur auf Kosten von anderem Leben erhalten zu können.
Ist er von der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben berührt, so schädigt und ver-
nichtet er Leben nur aus Notwendigkeit, der er nicht entrinnen kann, niemals aus
Gedankenlosigkeit. Wo er ein Freier ist, sucht er nach Gelegenheit, die Seligkeit
zu kosten, Leben beistehen zu können und Leid und Vernichtung von ihm abzu-
wehren.“322
Das ist genau die ethische Botschaft des Parsifal.

246
Der Weg zur Vollendung

4. Kapitel
„Erlösung dem Erlöser“

Nirgends in Wagners Werken wird die „Erlösung“ – dieses Hauptthema des


Wagner’schen Dramas – musikalisch und szenisch so ausführlich dargestellt wie
im Parsifal. Während z.B. im Ring der neue Zustand nur in den letzten sieben Tak-
ten der Götterdämmerung als Klang zum Ausdruck kommt, gelangt er im Parsifal
während des ganzen III. Aktes nicht nur musikalisch, sondern auch als Bild zur
Darstellung. Wagners letztes Werk ist also zugleich dasjenige, das am meisten in
die Zukunft weist, und bildet auch in diesem Sinne Gipfel und Erfüllung seines
gesamten Schaffens.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Darstellung in der Schluss-Szene des Dramas.
Die Sorgfalt, die der Komponist der musikalischen Ausgestaltung dieser Szene
widmete, zeugt für die überragende Wichtigkeit, die er ihr beimaß. Wie Cosima
in einer Eintragung vom Herbst 1879 berichtet:
„Am Nachmittag findet R. den Schluss von Parsifal und spielt ihn mir, wie er ihn
endgültig festsetzt. Er sagt mir, dass er wohl 30 bis 40 Mal sich das Ganze im Kop-
fe vorgehalten habe, bis er es so angeordnet.“323
Tatsächlich fasst Wagner hier alles, was bereits in den vorangegangenen Szenen
des III. Aktes in den verschiedensten Bildern von immer neuen Standpunkten aus
beleuchtet wurde, noch einmal zusammen. In Bildern und Klängen von höchs-
ter Intensität erleben wir sowohl den leidvollen Zustand, aus dem der Mensch
erlöst werden soll, als auch die Taten und Ereignisse, durch die diese Befreiung
geschieht. Wir haben dabei das Gefühl, mehr noch als in den vorangegangenen
Szenen ein archetypisches Geschehnis zu erleben – ein Geschehnis also, das sich
im tiefsten Grund des Seins abspielt. Tatsächlich weist die Symbolik des im In-
neren des Berges befindlichen Tempels darauf hin, dass wir hier einem Vorgang
beiwohnen, der sich im innersten Heiligtum der menschlichen Seele ereignet und
deshalb den innersten Wesenskern des Menschen betrifft.
Damit aber der Vorgang der Erlösung von uns in seiner ganzen Bedeutung er-
fasst werden kann, führt uns Wagner zunächst den unerlösten Zustand noch ein-
mal in seiner ganzen Schrecklichkeit vor Augen. Wir erleben Amfortas auf dem
Höhepunkt seiner Qual und die Gralsgemeinschaft auf dem Tiefpunkt ihres Ver-
falls. Doch auch Parsifal muss noch einmal tief in die Dunkelheit hinabtauchen,
bevor er den endgültigen Durchbruch zum Licht vollziehen kann. Er muss, wie es
Wagner einmal Cosima gegenüber ausdrückte, „noch einmal ganz Mensch“ wer-
den“, 324 bevor er zum Gralskönig erhoben werden kann – d.h., er muss noch ein-
mal die ganze conditio humana, das ganze Leid und die ganze Schuld des unerlösten

247
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Menschen erleben, bevor er, durch dieses Erlebnis zu höchster Kraftanspannung


angetrieben, dieses Leid und diese Schuld überwinden und die menschliche Natur
auf die Höhe des Göttlichen erheben kann.
Die Leiden des Amfortas und der Gralsgemeinschaft führt uns Wagner zu Be-
ginn der zweiten Gralsszene als Bild vor Augen. Dass aber auch Parsifal noch
einmal das Tal des Leides durchschreiten muss, dass er sich noch einmal mit der
gefallenen menschlichen Natur ganz vereinigen muss, um diese erlösen zu kön-
nen: dies teilt uns Wagner in jener Sprache mit, die er immer verwendet, wenn
es darum geht, die tiefsten Geheimnisse des Dramas zum Ausdruck zu bringen,
der Sprache der Musik. Parsifals erneute Menschwerdung erleben wir im sym-
phonischen Zwischenspiel, das den zweiten Gang des Helden in das Innere des
Berges begleitet, als Klang. Und diesem großen Tongemälde wollen wir nun ei-
nen musikalischen Exkurs widmen, bevor wir uns der eigentlichen Schluss-Szene
zuwenden.

1. Musikalischer Exkurs
Die zweite Verwandlungsmusik

Dass dieses Zwischenspiel in erster Linie eine musikalische Schilderung dessen


ist, was sich in Parsifals Innerem abspielt, wird durch eine Eintragung in Cosimas
Tagebuch bestätigt. Am 20. März 1879 notierte sie:
„Vor dem Abendbrot kommt er zu mir herauf, spricht mir von ‚der Elegie‘ und dass
er sie mir spielen wollte, er spielt sie mir auch, diese einzige Elegie, den Vorgang
in Parsifals Seele, wo er noch einmal ‚ganz Mensch ist‘, bevor er König wird.“325
Doch das Seelenleben des Helden ist nicht der alleinige Inhalt dieses Musikstü-
ckes. Wie alles im mythischen Drama, so besitzt auch die zweite Verwandlungs-
musik mehrere Bedeutungsschichten. Da die Vorstellungen, die Parsifal bedrän-
gen, zu einem nicht geringen Teil die äußeren Zustände der Gralswelt zum Inhalt
haben, ist dieses Tongemälde zugleich eine Schilderung des Gralselends sowie der
Leiden des Amfortas, die beide nunmehr auch objektiv ihrem Höhepunkt zustre-
ben. So f ließen Außen- und Innenwelt zusammen und finden in der Musik ihren
gemeinsamen Ausdruck.
Gleichviel ob wir diese Musik auf Parsifals Seelenleben oder auf die Zustände
der äußeren Welt beziehen: dass wir hier wieder in die Niederungen des Leids
hinabsteigen, fühlen wir schon in den ersten Takten. Denn das Parsifal-Motiv,
mit dem die Verwandlungsmusik beginnt, besitzt einen ganz anderen Charakter
als die lichten Klänge des „Karfreitagszaubers“, die wir eben vernommen haben.
Wuchtig und ernst wird es von den schweren Blechbläsern intoniert – so, als ob

248
Der Weg zur Vollendung

mit der feierlichen Einkleidung des Helden, der nunmehr das Amt des Königs
übernimmt, auch eine schwere Last auf seine Schultern gelegt würde: 326

Bspl. 74

Tatsächlich leitet dieses Motiv unmittelbar in jene schwer schleppende Basslinie


über, auf der sich später der Trauermarsch für den toten Gralskönig Titurel auf-
bauen wird:

Bspl. 75

Wagner selbst meinte, der Bass würde hier so „schwer gehen […] wie die Ritter
selbst mit ihrem Schrein“. 327 Wir werden also mit diesen Klängen sofort in die
Welt der trauernden Gralsgemeinschaft versetzt, die sich als inneres Bild schwer
lastend auf Parsifals Seele legt. Dass sich jedoch der schleppende Gang nicht nur
auf das äußere Ereignis der Trauerfeier bezieht, sondern zugleich den seelischen
Zustand des Helden wiedergibt, erfahren wir gleich aus den nächsten Takten.

249
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Denn die „schwer gehende“ Basslinie dient hier als Grundlage für das Motiv der
Herzeleide, das nun, von einem scharfen sforzato eingeleitet, wie ein schneidender
Schmerz in die Seele dringt:

Bspl. 76

Wir kennen dieses Motiv aus dem II. Akt, wo es in der großen Auseinander-
setzung mit Kundry erklungen ist – teilweise als Schilderung von Herzeleides
Schmerzen, teilweise als Ausdruck der Selbstvorwürfe Parsifals, der, vom Gefühl
überwältigt, am Tod seiner Mutter schuldig zu sein, in heftiger Selbstanklage
ausgerufen hat:
Wehe! Wehe! Was tat ich? Wo war ich?
Mutter: Süße, holde Mutter!
Dein Sohn, dein Sohn musste Dich morden!
Es ist also offensichtlich nicht nur das Elend der Gralsgemeinschaft, das Parsifal
hier bedrückt, sondern die Erinnerung an den Tod der Mutter mit all den daraus
entstandenen Schuldgefühlen. Dieses Bewusstsein der Schuld scheint hier nun sei-
ne Seele ganz auszufüllen. Doch es ist nicht nur seine eigene, individuelle Schuld,
die ihn niederdrückt. Indem er die Verantwortung für den Tod seiner Mutter
annimmt, lädt er, wie wir gesehen haben, zugleich die Schuld der ganzen Mensch-
heit auf sich. Das ist es, was Wagner meint, wenn er sagt, Parsifal sei „noch einmal
ganz Mensch“ geworden. Parsifal wird hier von dem Bewusstsein überwältigt,
dass alles Leid, das der Mensch durch sein bloßes Mensch-Sein verursacht und
verursachen muss, von ihm selbst verursacht worden ist, da auch er teilhat an der
menschlichen Natur.
Doch gerade das Bewusstsein dieser ungeheuren Schuld gibt Parsifal die Kraft,
sein großes Erlösungswerk zu vollbringen. Denn je deutlicher ihm das Ausmaß
des Leidens bewusst wird, das der Mensch durch seine angeborene Triebnatur
verursacht, desto gebieterischer zeigt sich für ihn die Notwendigkeit, den Kreis-
lauf von Begierde und Leid zu durchbrechen, indem er diese Triebnatur läutert
und verwandelt. Die Schuld also, die er hier noch einmal in ihrer ganzen Schwere
empfindet, wird zum Antrieb, die erlösende Tat zu vollbringen. In einer eben-
falls von Cosima festgehaltenen Äußerung sagte Wagner, Parsifal habe, da er „zur

250
Der Weg zur Vollendung

Burg zum zweiten Mal einkehrt“, „den Tod der Mutter überwunden …“. 328 Per-
sönliche und allgemein-menschliche Schuld f ließen hier zusammen und werden
beide durch innere Läuterung getilgt.
Dass hier im symphonischen Zwischenspiel tatsächlich noch einmal die Proble-
matik der Schuld aufgerollt wird, erkennen wir deutlich am weiteren Verlauf der
Musik. Denn auf das zweimalige Erklingen des Herzeleide-Motivs folgt eine breit
ausgeführte musikalische Darstellung des Gralselends, welches, wie wir wissen, das
zweite Ereignis ist, das Parsifal als eigene Schuld empfindet, obwohl es, wie der Tod
der Mutter, zur unvermeidlichen „Tragik des Daseins“ gehört. Das Elend, in das
die Gralswelt gesunken ist, wird hier durch die verschiedensten Klangsymbole zum
Ausdruck gebracht. Als erstes hören wir jenes Motiv, das bereits im Vorspiel zum III.
Akt als Ausdruck der in Kraftlosigkeit dahinsiechenden Ritterschaft erklungen war:

Bspl. 77

Diese einfache, aus einem absteigenden Tritonus bestehende Figur wird nun mit
einem anderen melodischen Fragment verbunden, in der wir eine abgewandelte
Form jener Dissonanz-Auf lösung erkennen können, die schon im Vorspiel zum I.
Akt als Ausdruck der Erlösungssehnsucht erklungen war. Es ist dieselbe Melodie,
mit der Amfortas, da er den Tod als „der Sünde mildeste Sühne“ bezeichnet, seine
Sehnsucht nach dem Sterben zum Ausdruck bringt:

Bspl. 78

Zusammen mit dem Tritonus ergibt diese auf- und absinkende Figur ein neues
Motiv, in welchem sich Siechtum mit Todessehnsucht verbindet, um den krank-
haften Zustand der Gralsritterschaft zum Ausdruck zu bringen:

251
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Dieses Motiv steigert sich im Verlauf weniger Takte bis zum mächtigen forte. Mit
wuchtiger Kraft stoßen nun die zwei Töne des Tritonus nieder wie eine schwere
Last, die alles unter sich zu zermalmen droht. Dann mündet das Motiv der kran-
ken Gralsgemeinschaft in den eigentlichen Trauermarsch ein, dessen monotone,
aus Sekundschritten bestehende melodische Bewegung die tragische Sinnlosigkeit
des leiderfüllten Daseins auszudrücken scheint. Zu diesem Trauermarsch treten
auch die Gralsglocken hinzu, die hier jedoch mit ihrer Wuchtigkeit nicht wie
sonst feierlich wirken, sondern einen geradezu bedrohlichen Charakter angenom-
men haben:

Bspl. 80

Zugleich tritt ein neues Motiv in Erscheinung. Es besteht aus einer absteigen-
den Skala, die, von den Posaunen und der tiefen Trompete intoniert, sogleich die
Herrschaft über das musikalische Geschehen übernimmt:

252
Der Weg zur Vollendung

Dieses Motiv ist seinem Gefühlsinhalt nach den vorangegangenen Motiven des
Siechtums und des Trauermarsches verwandt. Unerbittlich und schwer stoßen die
aneinander gereihten Sekundschritte nieder, als ob sie mit ihrer Wucht alles unter
sich zu Boden drücken wollten. Die Bedeutung dieses neuen Klangsymbols lässt
sich leicht bestimmen. Denn wir kennen ein ähnliches Motiv aus dem Ring: das
Motiv von Wotans Speer, das ebenfalls aus einer Serie von absteigenden Sekund-
schritten besteht:

In diesem Motiv kommt sowohl der mächtige Eigenwille des Weltenherrschers


zum Ausdruck als auch das starre Gesetz, das Wotan der Welt aufgezwungen hat,
und das mit seiner Starre das Lebendige unterjocht.
Wenn wir nun die absteigende Skala des Parsifal auch in diesem zweifachen
Sinne deuten, erkennen wir darin eine Darstellung der qualvollen Lage des Am-
fortas. Als Klangsymbol des Willens zeigt sie mit greller Klarheit, bis zu welchem
Grade das ganze Wesen des Königs durch den Egoismus pervertiert worden ist.
Denn die aufsteigende Skala des Gralsspeeres, welche das musikalische Symbol
für jenen Zustand des „Heiles“ ist, in dem der Einzelwille in Einklang mit den
göttlichen Kräften des Lebens steht, ist hier in ihr Gegenteil verkehrt worden:
höchste Selbstentfremdung des gefallenen Menschen. Als Klangsymbol des Ge-
setzes bringt sie das ebenfalls pervertierte Verhältnis des gefallenen Königs zu
seinem Amt zum Ausdruck. Denn anstatt Quelle der Freude und des Lebens zu

253
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

sein, ist dieses Amt zu einem unerträglichen Müssen geworden, das seinen Träger
wie unter einer schweren Last zu zermalmen droht. Der drohende Ausruf „Du
musst, du musst!“, welchen die Ritter bald ihrem rebellischen Herrscher entge-
genschleudern werden: dieser starre Zwang ist hier Klang geworden. So wird das
Speermotiv aus dem Ring hier zum Ausdruck des Amfortas-Leidens, das an dieser
Stelle seinen letzten Höhepunkt erreicht.
Auch dieses Leid – wie das Leid seiner Mutter – empfindet Parsifal nun als
seine eigene, individuelle Schuld. Und dass diese bewusste Übernahme der Schuld
anderer den eigentlichen Inhalt des seelischen Vorganges bildet, den wir in diesem
breit ausgeführten Tongemälde erleben, das teilt uns mit grandioser Eindeutig-
keit die Musik mit. Denn am Ende des Zwischenspiels, wenn die Felswände sich
öffnen und den Blick auf die große Gralshalle freigeben, bäumt sich noch einmal
im vollen fortissimo der schweren Blechbläser das Motiv des Siechtums riesenhaft
auf – um dann in das Motiv der Schuld einzumünden:

Parsifal hat, wie Christus, die Schuld der Menschheit auf sich genommen, um sich
ganz mit der menschlichen Natur zu vereinigen. Und nur, weil er sich mit der
menschlichen Natur auf diese Weise vereinigt hat, kann er sie bis in ihre letzte
Tiefe verwandeln. Die volle Menschwerdung ist die notwendige Voraussetzung
für das Werk der Erlösung, das Parsifal in der nun folgenden Schluss-Szene voll-
ziehen wird.

254
Der Weg zur Vollendung

2. Die Wunde schlieSSt sich

Zu Beginn der zweiten Gralsszene wird uns der tief verkommene Zustand der
Ritterschaft, den wir im symphonischen Zwischenspiel als Klang erlebt haben,
als Bild vor Augen geführt. Was wir dort erblicken, ist eine unermessliche Stei-
gerung dessen, was wir im I. Akt als Leid der Gralswelt geschaut haben. Lebte
damals Titurel noch, wenn auch nur als schwacher Greis, so wird nun das traurige
Totenfest des inzwischen verstorbenen Königs gefeiert. Die Qualen des Amfortas,
die sich im I. Akt als erschütternde Klage äußerten, haben nun durch den von ihm
verschuldeten Tod des Vaters einen unerhörten Höhepunkt erreicht; seine Weige-
rung, den Gral zu enthüllen, die dort noch im Stadium des Wunsches geblieben
war, ist nun volle Wirklichkeit geworden. Die Gralsritter schließlich, die früher
die Weigerung des Königs widerstandslos zur Kenntnis nahmen, befinden sich
nun in vollem Aufruhr und lehnen sich offen gegen ihr Oberhaupt auf.
Alle diese Ereignisse haben ein tiefe symbolische Bedeutung und lassen erken-
nen, auf welchem Tiefpunkt die Menschheit an diesem entscheidenden Wende-
punkt ihrer Entwicklung angelangt ist. Mit dem Tod Titurels ist der alte, naive
Glaube gestorben, der, mag er auch in seiner Naivität den Anforderungen einer
neuen, mündigen Menschheit nicht genügen, dennoch in der Vergangenheit den
Menschen Halt und Richtung gab und ihnen die Verbindung mit der höheren
Welt des Göttlichen vermittelte. Der nun eingetretene, totale Verlust jeder Be-
ziehung zu jener Welt kommt in der Amtsverweigerung des Amfortas zum Aus-
druck. Das Göttliche ist zwar da; da jedoch der Mensch nicht gewillt ist, seinen
Anforderungen nachzukommen, zieht er es vor, dessen Existenz zu leugnen. Der
Gral bleibt verhüllt, und die Ritter, die einstmals von ihm geistige Nahrung emp-
fingen, müssen nun „gemeine Atzung“ suchen – d.h., sie müssen sich mit dem
begnügen, was ihnen die materielle Welt an Scheinbefriedigungen bietet. Der Va-
termord des Amfortas ist Ausdruck des nunmehr sich ausbreitenden Egoismus in
seiner krassesten Gestalt – als ein rücksichtsloses Durchsetzen des eigenen Interes-
ses, das nicht davor zurückschreckt, andere Menschen zur Sicherung des eigenen
Wohlbefindens zu töten. Und schließlich steht die offene Auf lehnung der Ritter
gegen ihren König für die totale Auf lösung aller zwischenmenschlichen Ord-
nungsstrukturen, wie sie notwendigerweise aus dem Verlust der geistig-morali-
schen Bindung an ein höheres Prinzip erfolgen muss. Das ist die erlösungsbedürf-
tige Menschheit auf ihrem tiefsten Stand; es ist eine lebensbedrohliche Krise der
alten Zivilisation, die nur mit Untergang oder völliger Neugeburt enden kann.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“: Das berühmte Hölderlin-Wort
gilt auch hier. In der tiefsten Finsternis wird – dem Archetypus von Tod und Auf-
erstehung entsprechend – das Licht geboren. Da Amfortas, „in furchtbarer Extase“,
seine eiternde Wunde entblößt und die Ritter dazu auffordert, ihre Schwerter tief

255
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

in sein faules Fleisch einzutauchen, tritt Parsifal aus dem Hintergrund hervor und
„streckt den Speer aus, mit dessen Spitze er Amfortas Seite berührt“…
Mit dieser heilenden Handlung wird die Geburt des neuen Menschen symbo-
lisch vollzogen. Eine neue seelische Kraft, die bisher im Verborgenen gereift ist,
bricht hervor und übernimmt die Führung; eine völlige Neuordung und Neuorien-
tierung des menschlichen Wesens findet statt. Der natürliche Egoismus, der bisher
den Menschen beherrschte, tritt zurück; an seine Stelle tritt ein neues Ich, das sich
mit dem inneren Christus eins weiß und aus diesem Bewusstsein heraus handelt.
Damit findet jedoch keine Auflösung der individuellen Persönlichkeit statt; viel-
mehr erfährt diese hier ihre Vollendung.
Die Bedeutung, die der Individualität hier am Ende des Werkes zukommt, tritt
uns deutlich aus den ersten Worten entgegen, die Parsifal nach der Übernahme des
Königtums ausspricht: „Denn ich verwalte nun dein Amt.“ Die auffallende Betonung,
die Wagner hier dem Wort „Ich“ verleiht – er lässt den Sänger nach dem „Denn“ ab-
setzen, wodurch das darauf folgende „Ich“ stark hervorgehoben wird – lässt keinen
Zweifel daran, dass es das Individuum, die individuelle Persönlichkeit ist, welche hier
in neuer, verwandelter Form die Herrschaft übernimmt. Es ist, als ob der neue König
in Wirklichkeit sagen wollte: „Denn das Ich verwaltet nun dein Amt.“
Dieses neue Ich unterscheidet sich vom alten Ego dadurch, dass es mit dem Gött-
lichen vereinigt ist – was in der Sprache des Parsifal heißt, dass es von allumfassen-
dem Mitgefühl gänzlich durchdrungen ist. Durch den „Sündenfall“ der Trennung
war der Mensch dem Egoismus preisgegeben; das war aber die Voraussetzung da-
für, dass er Selbstständigkeit und Freiheit erlangen konnte. Durch Mitleid und Er-
kenntnis konnte die Trennung wieder überwunden werden; und nun steht der neue
Mensch da, der seine Individualität vollendet, indem er seine voll ausgebildeten
Kräfte aus eigener, freier Entscheidung christusgleich zum Wohle anderen Lebens
einsetzt. Dieses neue Ich ist im höchsten Grade paradox. Denn es ist zugleich in sich
abgeschlossen und nach außen hin völlig offen. Es unterscheidet sich von anderen
Wesen durch seinen starken, freien Eigenwillen – und weiß sich trotzdem eins mit
allem anderen Leben und mit Gott.
Dies alles kommt in der Symbolik des Speeres zum Ausdruck. Wie der „Sün-
denfall“ in den Egoismus durch die Trennung des Speeres vom Gral symbolisiert
wurde, so erkennen wir in der Rückkehr des Speeres das Symbol für die aus freier,
individueller Entscheidung vollzogene Wiedervereinigung des menschlichen Ei-
genwillens mit dem göttlichen Seinsgrund. Der „missleitete“ Wille hat wieder zu
sich gefunden; der natürliche Mensch ist zur sittlichen Persönlichkeit geworden,
die sich eins mit allem Lebenden weiß und aus diesem Bewusstsein heraus alle ihre
Handlungen vollbringt.
Hand in Hand mit der Rückführung des Speeres geht jene andere Tat, durch
welche der dramatische Knoten der Handlung endlich gelöst wird: die Heilung

256
Der Weg zur Vollendung

der Amfortas-Wunde. Das Drama hatte vom Leiden des Amfortas seinen Ausgang
genommen; die Frage, wie die scheinbar unheilbare Wunde geschlossen werden
könne, war von allem Anfang an der Motor der dramatischen Handlung. Hier in
der Schluss-Szene wird die Antwort auf diese Frage zum Ereignis. Parsifal hat die
Begierde überwunden und damit die Quelle des Leidens beseitigt, und allumfas-
sendes Mitgefühl ist an Stelle des triebhaften Verlangens getreten. Nun berührt er
die Seite des Amfortas mit dem heiligen Speer, den er aus den Händen Klingsors
befreit hat; das Christus-Blut, das an der Spitze der Lanze haftet, f ließt in die
Wunde und heilt sie, indem es das „sündige“ Blut mit der reinen Kraft der göttli-
chen Liebe durchdringt und verwandelt.
Der Mensch ist nun „heil, entsündigt und gesühnt“. Der „heile“ Mensch ist
aber zugleich der ganzheitliche Mensch, in dem sich alle Gegensätze zu einer schö-
nen, harmonischen Fülle vereinigen. Durch die Rückkehr des Speeres zum Gral
– d.h. die Vereinigung des individuellen Willens mit dem Seinsgrund der göttli-
chen Liebe – ist der Ur-Gegensatz schlechthin aufgehoben worden: jener, der im
ganzen Universum als Gegensatz zwischen „Himmel“ und „Erde“ waltet und sich
im Menschen als Widerspruch zwischen Geist und Natur, Vernunft und Trieb,
All-Einheit und Individuum äußert. Im neuen Ich verschmelzen Göttliches und
Irdisches zu einer neuen, harmonischen Ganzheit. Diese Vereinigung der Gegen-
sätze, die vom logischen Denken nicht zu fassen ist, lässt uns Wagner jenseits aller
trennenden Begriffe durch die Musik unmittelbar erleben. Nachdem Parsifal mit
den Worten: „Den heil’gen Speer – ich bring’ ihn euch zurück“ die Wiederverei-
nigung von Speer und Gral verkündet hat, erklingt im Orchester jenes Motiv der
„Gnade“, dessen unvergleichlicher Zauber darin besteht, dass in ihm zwei Linien
wie aus größter Entfernung aufeinander zubewegen – die obere nach unten, die
untere nach oben strebend – um sich zuletzt in der Mitte zu vereinigen: hör- und
sichtbares Bild des „mit Bewusstsein wieder gewonnenen Paradieses“, in dem sich
Himmel und Erde versöhnt haben, und die ursprüngliche Einheit des Seins wieder
hergestellt worden ist:329

257
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Durch diese Erfüllung bekommt auch alles vorangegangene Leid rückwirkend Sinn
und Rechtfertigung. Denn ohne den „Sündenfall“ des Amfortas in Begierde und
Egoismus hätte die freie, sittliche Persönlichkeit, die hier in der Gestalt des Parsifal
als höchste Vollendung des menschlichen Lebens ins Dasein tritt, nicht entstehen
können. Deshalb singt Parsifal, nachdem er die Wunde des Amfortas geheilt hat:
Gesegnet sei dein Leiden,
das Mitleids höchste Kraft
und reinsten Wissens Macht
dem zagen Toren gab!
Der Weg führt durch das Tal – „perce-val“. Nur durch Leid gelangt man zur Voll-
endung.

3. Der Tod der Kundry

Zu den Bildern, die in der Schlusszene die Erlösung symbolisch veranschaulichen,


gehört auch der Tod der Kundry. Er erfolgt, nachdem die Gralsbotin und verwan-
delte Sünderin endlich den Gral schauen durfte, womit das Ende ihrer unseligen
„Irre“ und das Ziel ihres Daseins erreicht worden sind. Wagners szenische Anwei-
sung lautet:
„Kundry sinkt, mit dem Blicke zu ihm auf, vor Parsifal entseelt langsam zu
Boden.“
Dieser Vorgang hat zu mannigfachen Missverständnissen Anlass gegeben. Wenn
Kundry – so meinen die Kritiker – als Verkörperung der Triebnatur „stirbt“, be-
deutet das nicht, dass die Natur im Menschen, die doch verwandelt werden soll,
abgetötet wird? Und wenn sie, die doch die einzige weibliche Hauptfigur des Dra-
mas ist, als Einzige nach der Erlösung nicht weiterlebt, kommt darin nicht eine
frauenfeindliche Grundtendenz zum Ausdruck?

258
Der Weg zur Vollendung

Diese Missverständnisse sind unschwer zu beseitigen. Sie entstehen größten-


teils durch eine mangelnde Vertrautheit mit dem Wesen des mythischen Dramas.
Hier lohnt es sich, einen kurzen Blick auf Wagners andere Frauengestalten zu
werfen. Denn das Sterben der weiblichen Hauptfigur, wie es am Ende des Parsifal
geschieht, ist kein Einzelfall. Fast immer enden Wagners Dramen mit dem Tod
der Frau; und fast immer handelt es sich dabei um einen Opfertod, der aus Liebe
vollzogen wird. Senta stürzt sich ins Meer, um den Holländer von seinem leidvol-
len Schicksal zu befreien; Elisabeth gibt sich hin, um Vergebung für Tannhäuser
zu erlangen; und Brünnhilde sprengt auf ihrem Ross ins Feuer, um die Welt vom
Fluch des Ringes zu erlösen. Wagner will aber mit einem solchen Tod weder eine
welt- und lebensverneinende Tendenz zum Ausdruck bringen, noch den Wert der
Frau herabsetzen. In Wirklichkeit geht es ihm dabei um etwas ganz anderes. Alle
jene Frauen sind Verkörperungen der Liebe; die Liebe aber ist für Wagner in ihrer
höchsten Form „der notwendige Drang der Selbstaufopferung zugunsten eines
geliebten Gegenstandes.“ 330 Da eine mythische Verkörperung diejenige Kraft oder
Eigenschaft, welche sie symbolisiert, in ihrer höchsten Potenzierung darstellen
muss, kann das Leben jener Frauen nicht anders enden als mit der völligen Selbst-
aufopferung – also mit dem freiwilligen Tod. Indem sie sich selbst hingeben, um
andere zu retten, führen sie uns durch diese eine Tat die Liebe in ihrer höchsten,
edelsten Gestalt vor Augen. Das ist der Sinn des freiwilligen Opfertodes, der im
mythischen Drama Wagners als ein symbolischer Akt zu verstehen ist, durch den
das Wesen der Liebe offenbar wird.
Wenn man nun den Tod der Kundry von diesem Gesichtspunkt aus betrach-
tet, wird es klar, dass auch er ein solches symbolisches Ereignis ist. Indem sie am
Ende des Dramas sterbend niedersinkt, wird sie zum sichtbaren Bild vollkomme-
ner Selbsthingabe – d.h., sie wird zur vollkommenen Verkörperung jener Eigen-
schaft, in die sich ihre einstige wilde Triebnatur nunmehr verwandelt hat. Ihr
Sterben ist keine Abkehr vom Leben und der menschlichen Natur, sondern die
Vollendung des Lebens und der menschlichen Natur durch die Liebe. Und könn-
te es ein besseres Bild für diese Liebe geben als Kundrys langsames Zu-Boden-
Sinken vor Parsifal? Ja, ist es Wagner nicht auf geniale Art und Weise gelungen,
in diesem Bild auch die Verwandlung der Triebnatur zur Anschauung zu bringen,
die nunmehr als reine Liebe im neuen, ganzheitlichen Menschen aufgeht?331
Doch auch wenn man Kundry als wirklichen Menschen betrachtet, lässt sich
aus ihrem Tod keine frauenfeindliche Tendenz herauslesen. Denn hatte sie nicht
selbst immer nach „Ruhe“ verlangt? War nicht der Fluch, der sie „endlos durch das
Dasein“ quälte, die Ursache ihres Leidens? Und könnte ihr etwas Schöneres wider-
fahren, als endlich von ihrem Leid befreit zu werden? Aus buddhistischer Sicht lässt
Wagner Kundry das Wertvollste erlangen, was es überhaupt gibt: die Freiheit von
„Durst“ – auch vom „Durst nach Werden“. Wie sie durch die Taufe – die auch eine

259
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Art Tod ist – die „Vernichtung jedes irdischen Wunsches“ erlebt hatte, so erreicht
sie nun im Sterben jene „Ruhe“, die sich Wotan so sehnlich wünscht, und die in je-
nem nicht komponierten Schlussgesang Brünnhildes beschrieben wird, den Wagner
nach seiner Begegnung mit Schopenhauers Philosophie dichtete:
Des ew’gen Werdens
offene Tore
schließ’ ich hinter mir zu:
nach dem wunsch- und wahnlos
heiligsten Wahlland,
der Welt-Wanderung Ziel,
von Wiedergeburt erlöst,
zieht nun die Wissende hin.
Kundry geht – so könnte man sagen – „von Wiedergeburt erlöst“, ins „Nirwana“
ein. Und das ist bekanntlich ein Zustand, der jenseits von Tod und Leben ist. 332
Sollte es noch einen Zweifel an der positiven Bedeutung von Kundrys „ent-
seeltem Zu-Boden-Sinken“ geben, so verschwindet dies, sobald man sich der Wir-
kung der Musik hingibt, die dieses Ereignis begleitet. Der Augenblick, in dem sich
das Sterben der Kundry vollzieht, ist in der Partitur genau bezeichnet: Es ist jener
a-Moll-Akkord, der kurz vor dem Ende des Werkes, nachdem der Gral bereits in
höchster Helligkeit zu erglühen begonnen hat, das sanfte Weben der im Des-Dur
ruhig dahinströmenden Musik für einen kurzen Moment jäh unterbricht:

260
Der Weg zur Vollendung

Die Wirkung dieses Akkordes ist gewaltig. Das Tor zu einer unbekannten, fernen
Welt scheint sich plötzlich aufzutun – einer Welt, deren Unermesslichkeit teils
Schrecken, teils wonnige Erschütterung auslöst. Es gibt kaum einen Zuhörer, der
angesichts der mystischen Erhabenheit dieses Erlebnisses nicht in seinem ganzen
Wesen erschauert. Über diesen Akkord besitzen wir eine bedeutsame Äußerung
Wagners, die von Cosima in ihrem Tagebuch wiedergegeben wird. Dort lesen
wir:
„Mir sagt er, der a moll Akkord (wo Kundry zusammensinkt) würde mir Eindruck
machen; es sei der Schrecken der Heiligkeit, der da ausstrahle.“333
„Heiligkeit“: Was ist das anderes als die Vollendung des menschlichen Wesens
durch die göttliche Liebe? Durch die Musik wird Kundry also auf die denkbar
höchste Stufe menschlicher Vollendung gehoben, wird geradezu zum Vorbild. 334

4. Das letzte Wort

Das letzte Bild, das der Zuschauer erlebt, bevor er durch das Fallen des Vorhangs
aus der Traumwelt der mythischen Symbole wieder in die äußere Wirklichkeit
entlassen wird, ist das helle Erglühen des nunmehr wieder enthüllten Grals.
Viel ist geschehen, seitdem wir in der I. Gralsszene das Leuchten des heiligen
Gefäßes erschauten: ein ganzes Weltendrama, das den Menschen auf eine neue
Stufe des Seins erhoben hat. Die Auswirkung dieser Geschehnisse spiegelt sich
auch in den mythischen Bildern. Denn das Gralsleuchten am Schluss des Werkes
geschieht auf ganz andere Art und Weise als jenes, das wir im I. Akt erlebt haben,
und im Unterschied zwischen beiden können wir erkennen, wie umwälzend die
Veränderungen sind, die während der dramatischen Handlung stattgefunden ha-
ben – Veränderungen, die sowohl den innersten Kern des menschlichen Wesens
als auch das Verhältnis des Menschen zur Ganzheit des Seins betreffen. Wenn man
Wagners szenische Vorschriften, in denen er seine intuitive Vision der archetypi-
schen Symbole festgehalten hat, genau betrachtet, stellt man fest, dass der Gral im
I. Akt durch ein Licht von oben gleichsam durch äußere Einwirkung zum Glühen
gebracht wird, während er im III. Akt von selbst leuchtet und das Licht aus der
Höhe wie eine Antwort darauf empfängt. Wagners Angaben sind hier eindeutig.
In der I. Gralsszene heißt es:
„Ein blendender Lichtstrahl dringt von oben auf die Schale herab, diese erglüht im-
mer stärker in leuchtender Purpurfarbe.“
In den szenischen Vorschriften der zweiten Gralsszene lesen wir dagegen:

261
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

„Allmählich sanfte Erleuchtung des ‚Grales‘. Zunehmende Dämmerung in der


Tiefe bei wachsendem Lichtschein aus der Höhe. Lichtstrahl: hellstes Erglühen des
‚Grales‘.“
Noch deutlicher kommt dieser Unterschied im Prosaentwurf aus dem Jahre 1865,
der den Stempel der unmittelbaren Inspiration trägt, zum Ausdruck. Dort be-
schreibt Wagner das Gralsleuchten im I. Akt wie folgt:
„Aus der Kuppel dringt ein blendender Lichtstrahl in die Schale: diese beginnt in
feurigem Purpurrot zu erglänzen.“335
Im III. Akt heißt es dagegen:
„Anfortas, plötzlich genesen, hat den Gral aus dem Schrein gehoben: dieser leuchtet
nun sofort im hellsten Glanze auf; eine Glorie breitet sich über alle aus.“336
Hier wird in der Sprache der mythischen Bilder nichts Geringeres als die Vollen-
dung des Menschen verkündet. Während in der alten, unfreien Gralsgemeinschaft
der Mensch das Göttliche als eine von außen kommende Kraft erlebte, erglüht
diese Kraft im neuen Königtum Parsifals als des Menschen eigener Wesenskern.
Der Mensch ist mündig geworden; der innere Christus, der er selbst ist, ist in ihm
hervorgetreten. Er gehorcht nicht mehr einem von außen kommenden Gebot,
sondern handelt frei aus seinem eigenen innersten Wesen heraus; er wird nicht
mehr von Gott geführt, sondern sein Wille ist mit dem Willen Gottes eins ge-
worden. Die Vollendung des göttlichen Werkes liegt nunmehr in seiner Hand;
er selbst ist es, der in weltzugewandter Tätigkeit das Leid beseitigt, das Leben
veredelt und das gesamte Sein auf eine höhere Stufe erhebt.
Verschieden wie die mythischen Bilder sind auch die Klänge, die das Leuch-
ten des Grals begleiten. War die Musik, die im I. Akt erklang, von brennendem
Schmerz erfüllt, ist die Musik der Schluss-Szene ein einziges freies Strömen, das
von Frieden und Seligkeit durchdrungen ist. Klangsymbole des „Heils“ erfüllen
den Raum; das Motiv der Heilsverheißung, des Glaubens und des Grales schaf-
fen die Atmosphäre, in der die Erlösung zum Ereignis wird. Auch hier erklingt
das „Abendmahlsmotiv“ als Klangsymbol des im Gral leuchtenden Christusblutes
– doch in völlig verwandelter Form. Die emporstrebende Linie der göttlichen
Liebe wird nicht mehr, wie in der ersten Gralsszene, durch das Motiv der Wunde
gewaltsam nach unten gebogen, sondern f ließt jetzt frei nach oben, von jedem
schmerzlichem Zwang befreit. Hier offenbart sich der letzte Sinn des Parsifal-
Dramas. Durch die Überwindung der Begierde ist der innere Christus freigelegt
worden; der Kerker, in dem er gefangen gehalten wurde, ist gesprengt worden,
und die göttliche Liebe kann nun ihrem innersten Wesen gemäß frei strömen. Die
große Aufgabe, die dem Menschen durch die „Gottesklage“ gestellt worden war:

262
Der Weg zur Vollendung

Erlöse, rette mich


aus schuldbef leckten Händen“
– diese Aufgabe ist nun erfüllt. Der „Gott im Menschen“ ist von seinem Leiden
an der Unvollkommenheit der menschlichen Natur befreit worden. Die Seligkeit,
welche die Schlussmusik des Parsifal ausströmt, ist nichts anderes als das unge-
hinderte Strömen der göttlichen Liebe. Zu den Worten „Erlösung dem Erlöser“
strömt sie durch alle Stimmen des Chores empor – um sich zuletzt in der Höhe
der Ewigkeit zu verlieren.
Es ist also nicht nur die Wonne des erlösten Menschen, die wir hier in den von
höchster Harmonie erfüllten Klängen der Schluss-Szene erleben, sondern auch
die Seligkeit des Göttlichen, das durch den Menschen von seiner leidvollen Behin-
derung erlöst worden ist. Das ist auch der Sinn jenes geheimnisvollen Spruches,
mit dem die Parsifal-Dichtung ausklingt: „Erlösung dem Erlöser“.
Nietzsche hatte ins beginnende 20. Jahrhundert seinen berühmten Spruch
„Gott ist tot“ hineingeschleudert. Der Parsifal ruft dagegen einer künftigen
Menschheit zu: „Lasst das Göttliche in Euch wieder auferstehen!“
Dieser wieder auferstandene „Gott im Menschen“ ist es, der uns als letztes
Wort des Parsifal mahnend aus dem „mystischen Abgrund“ des Orchesters entge-
gentönt:

263
Epilog

EPILOG

Die Erlösung der Natur

265
Epilog

Als Wagner im Jahre 1857, während seines Züricher Exils, sich des Parsifal-Stoffes
wieder erinnerte, den er mehr als zehn Jahre zuvor während seines Aufenthal-
tes in Marienbad aus Wolframs Dichtung kennengelernt hatte, war es die Kar-
freitagsszene, welche plötzlich vor seinen Geist trat und ihn mächtig anzog. Das
innere Ergriffen-Sein durch den Karfreitag wurde durch das äußere Erlebnis der
wieder auf blühenden Natur ausgelöst. Wagner war gerade dabei, das kleine, ihm
von Otto Wesendonk zur Verfügung gestellte Haus zu beziehen. Eines Morgens
wachte er in seinem neuen Heim auf und sah, dass der Frühling gekommen war.
Wie er selbst in seiner Autobiographie Mein Leben berichtet:
„Nun brach auch schönes Frühlingswetter herein; am Karfreitag erwachte ich zum
ersten Male in diesem Haus bei vollem Sonnenschein: das Gärtchen war ergrünt,
die Vögel sangen, und endlich konnte ich mich auf die Zinne des Häuschens setzen,
um der langersehnten, verheißungsvollen Stille mich zu erfreuen. Hiervon erfüllt,
sagte ich mir plötzlich, dass heute ja ‚Karfreitag‘ sei, und entsann mich, wie bedeu-
tungsvoll diese Mahnung mir schon einmal in Wolframs Parzival aufgefallen war.
Seit jenem Aufenthalte in Marienbad, wo ich die „Meistersinger“ und „Lohengrin“
konzipierte, hatte ich mich nie wieder mit jenem Gedichte beschäftigt; jetzt trat sein
idealer Gehalt in überwältigender Form an mich heran, und von dem Karfreitags-
Gedanken aus konzipierte ich schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte
geteilt, sofort mit wenigen Zügen f lüchtig skizzierte.“337
Es war also ein Naturerlebnis, das den schlummernden Stoff in Wagners Geist
wieder wachrief; die Wiederauferstehung der Natur im Frühling war der Schlüs-
sel, der ihm das Tor zum „idealen Gehalt“ von Wolframs Dichtung aufschloss.
Auch im vollendeten Drama bildet die Karfreitagsszene den idealen Mittelpunkt
des Geschehens. Im Bild der neu auf blühenden und verwandelten Natur, wie sie
uns dort vor Augen geführt wird, kommt jene Idee zum Ausdruck, in der die gan-
ze Gedankenwelt des Werkes ihre letzte Krönung erfährt: die Idee der erlösten
Natur.
Nun haben wir bereits über die Karfreitagsszene ausführlich gesprochen. Vor
allem sind wir auf die Verhaltensregeln eingegangen, die Gurnemanz in seiner
schönen Unterweisung dem eben zum Gralskönig gesalbten Parsifal nahelegt.
Dort wird verkündet, dass es die Aufgabe des erwachten Menschen sei, die Natur
zu schonen und zu hegen, um so zumindest einen Teil jenes Leides aufzuheben,
das als „Tragik des Daseins“ in allem Lebendigen waltet. Und das Blühen der
Frühlingswiese wird damit erklärt, dass sich die Natur über die neue, von Ehr-
furcht vor dem Leben getragene Haltung des Menschen freue. Das ist der ethische
Aspekt der Karfreitagsszene.
Doch im mythischen Drama ist alles vielschichtig. Dies gilt in besonderem
Maße für ein symbolisches Bild von so zentraler Wichtigkeit wie die Karfreitags­

267
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

aue. Und so überrascht es nicht, dass diesem Bild auch eine tiefere Bedeutung
innewohnt, die über das rational Erfassbare weit hinausgeht. Je mehr man dieses
Bild auf sich wirken lässt, desto deutlicher kommt es einem zum Bewusstsein,
dass diese ganze Szene auch einen mystischen Aspekt besitzt. Man erkennt, dass
das Wiederauf blühen der Natur, wie es sich hier in den einzelnen Blumen der
Frühlingswiese ereignet, nicht nur ein Ergebnis des veränderten Verhaltens der
Menschen ist, die durch konkrete Taten einzelne Lebewesen von ihrem Leid be-
freit haben, sondern dass sich in der blühenden Karfreitagsaue auch eine tiefe We-
sensverwandlung im Inneren der Natur selbst offenbart. So wird die Blumenwiese
zum Symbol der Erlösung der Natur, die hier auf eine neue, gleichsam übernatür-
liche Stufe des Seins erhoben wird.
Nun geht schon aus diesen Worten hervor, dass wir es hier mit einer Vor-
stellung zu tun haben, die das Rationale übersteigt. Denn wie kann eine Natur
„übernatürlich“ sein? Das ist eine Aussage, die logisch genau so unfassbar ist wie
jene, dass die Trennung zwischen den einzelnen Erscheinungen aufgehoben wer-
den könne, ohne dass dadurch die Welt zu existieren auf hörte, oder dass es ein Ich
geben könne, das zugleich umgrenzt und grenzenlos wäre. Mit der Vorstellung
der ins Übernatürliche verwandelten Natur begeben wir uns auf das Gebiet jener
Geheimnisse, von denen Goethe sagte, dass man sie nur durch die Kunst mitteilen
könne, „weil sie sich nur in Widersprüchen ausdrücken lassen, welche dem Men-
schenverstand nicht einwollen“. 338 Und dennoch ist eine solche Vorstellung hier
legitim; denn sie wird von Wagner selbst – wenn auch nur f lüchtig und gleich-
sam stammelnd – in „Religion und Kunst“ angedeutet, wenn er in Anlehnung an
Schopenhauers Gedanken 339 schreibt:
„Rein und friedenssehnsüchtig ertönt uns dann nur die Klage der Natur, furchtlos,
hoffnungsvoll, allbeschwichtigend, welterlösend. Die in der Klage geeinigte Seele
der Menschheit, durch diese Klage sich ihres hohen Amtes der Erlösung der ganzen
mitleidenden Natur bewusst werdend, entschwebt da dem Abgrund der Erschei-
nungen …“340
Ist es uns verwehrt, diesen Gedanken rational zu erfassen, so können wir zumin-
dest versuchen, uns ihm mit jenem Mittel zu nähern, das Goethe in solchen Fällen
für allein angemessen hielt: die Kunst. Befragen wir also die mythischen Bilder
und die Musik, was unter einer „übernatürlichen Natur“ zu verstehen sei.

1. Die Karfreitagsaue als mythisches Bild

Um die symbolische Bedeutung des Bildes, das uns Wagner in der Karfreitagssze-
ne vor Augen führt, zu verstehen, müssen wir uns zunächst bewusst machen, was

268
Epilog

diese Blumen eigentlich sind, die da als leuchtende Frühlingswiese die Aufmerk-
samkeit Parsifals auf sich ziehen.
Wir haben im Drama schon vorher Pf lanzen auf der Bühne gesehen: Es waren
jene „Blumenmädchen“ im Zaubergarten Klingsors, in denen wir Verkörperun-
gen der vergänglichen Erscheinungen der Sinnenwelt erkannt haben. Wenn nun
wieder Blumen in einem Werk erscheinen, das sich vorwiegend der symbolischen
Bildersprache bedient, liegt die Vermutung nahe, dass sie eine ähnliche Bedeu-
tung wie jene ersten besitzen. Tatsächlich sagt uns unser Gefühl, dass die „Halme,
Blüten und Blumen“, die im III. Akt als Karfreitagswiese auf blühen, dieselben
sind, die am Ende des II. Aktes verwelkt auf dem Boden herumlagen. Und wenn
Parsifal fragt:
Ich sah sie welken, die einst mir lachten:
ob heut sie nach Erlösung schmachten?
so sind diese Worte eine Bestätigung dessen, was wir ohnehin schon fühlend er-
kannt haben. Nach dem Verschwinden des Klingsor-Turms, als die ganze ver-
gängliche Sinnenwelt vor den Augen des „wissend“ gewordenen Parsifal in sich
zusammengestürzt war, waren die Blumen des Zaubergartens wie tot zu Boden
gesunken. Diese Blumen sind es nun, die wieder zu neuem Leben auferstehen. Die
Karfreitagswiese also ist die wiederauferstandene Welt der vergänglichen Erschei-
nungen. Sie ist neugeborene Natur.
Es ist jedoch nicht die gewöhnliche Wiederauferstehung der Natur im Früh-
ling, die sich hier ereignet. Jene geschieht zyklisch und ist nicht mehr als eine
Wiederherstellung des alten Zustandes nach der winterlichen Unterbrechung. In
der Karfreitagsaue dagegen erscheinen die Blumen ganz anders als im II. Akt; sie
sind nicht nur wieder auferstanden, sondern haben auch eine tiefgehende Ver-
wandlung erlebt. Das fällt auch Parsifal sofort auf, wie aus den ersten Worten, die
er nach dem Beginn des „Karfreitagszaubers“ spricht, hervorgeht:
Wie dünkt mich doch die Aue heut so schön!
Wohl traf ich Wunderblumen an,
Die bis zum Haupte süchtig mich umrankten;
Doch sah ich nie so mild und zart
Die Halme, Blüten und Blumen,
Noch duftet All’ so kindlich hold
Und sprach so lieblich zu mir.
Er spricht hier deutlich aus, worin die stattgefundene Verwandlung besteht: Das
„Süchtige“ ist aus der Natur verschwunden. Wie der Mensch durch innere Läu-
terung sich selbst von der egoistischen Begierde befreit hat, so sind hier die ein-
zelnen Blumen offensichtlich von dem natürlichen Egoismus, der sich in ihnen

269
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

als unbewusster Drang nach Selbsterhaltung äußerte und sie dazu veranlasste, ih-
ren Mitgeschöpfen Leid zu bereiten, nunmehr frei geworden; sie sind nunmehr
„kindlich“, „mild“ und „zart“. Aus einer Welt leidvollen Begehrens ist eine des
Friedens geworden. Die Natur ist, wie Gurnemanz sagt, nunmehr „entsündigt“
und erlebt „ihren Unschuldstag“.
Kehren wir zum Bild zurück. Wagners szenische Anweisungen verlangen an
dieser Stelle, dass Wald und Wiese „im Vormittagslichte leuchten“. Auch das ist
von symbolischer Bedeutung. Denn Licht ist das Attribut des Göttlichen. Und
wenn man dieses Bild anschaut und dazu die lichterfüllte Musik, die es begleitet,
auf sich wirken lässt, hat man das Gefühl, als ob die Aue selbst die Quelle ihres
eigenen Leuchtens wäre. Ein inneres Licht scheint von den Blumen nach außen
zu strahlen – Kunde gebend von einer neuen, gleichsam verklärten Leiblichkeit.
Nun geht aus der Musik und den mythischen Bildern klar hervor, dass die-
se Verwandlung der Natur in engem Zusammenhang mit der Taufe der Kundry
steht. Schon zu Beginn des III. Aktes, da Gurnemanz das völlig verwandelte We-
sen der früher so wilden Frau bemerkt, erklingt zu seinen Worten: „Wie anders
schreitet sie als sonst“ eine Vorwegnahme des Motivs der Karfreitagsaue:

Später, da Kundry dann tatsächlich die Taufe empfängt, beginnt in demselben


Augenblick, in dem Parsifal das Haupt der „Sünderin“ mit dem Wasser aus der
heiligen Quelle netzt, die Frühlingswiese zu leuchten. Wer mit den Gesetzen der
mythischen Sprache vertraut ist, erkennt aus dieser Gleichzeitigkeit die innere
Wesensgleichheit der beiden Vorgänge: Die blühende Karfreitagsaue ist die äuße-
re Entsprechung dessen, was sich im Inneren der Kundry vollzieht. Mit Kundrys
Taufe wird die menschliche Natur verwandelt und erlöst; im Bild der leuchtenden

270
Epilog

Blumenwiese erleben wir die Verwandlung der äußeren Natur – die Erlösung von
allem, „was da blüht, was atmet, lebt und wieder lebt“. Und beide – die innere
wie die äußere Erlösung – hat Parsifal durch seine Selbstläuterung bewirkt. Der
Mensch ist zum Erlöser der Natur geworden.
Wie kann aber ein Mensch die Natur erlösen? Um diesen Vorgang zumindest
ahnend zu verstehen, müssen wir uns wieder jenem Bereich zuwenden, in dem
sich jene tiefsten Geheimnisse, die, wie Goethe sagt, „dem Menschenverstand
nicht einwollen“, doch offenbaren können: der Musik.

2. Musikalischer Exkurs
Der „Karfreitagszauber“

Fünf Klangsymbole sind es, welche die Substanz des „Karfreitagszaubers“ aus-
machen. Da sind zunächst das „Abendmahlsmotiv“ und das Motiv der Kreuzi-
gung:341

In diesen beiden Motiven wird der Bezug zu Christus hergestellt – und dadurch
auch zum Archetypus von Tod und Auferstehung, der als inneres Gesetz des Er-

271
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

lösungsvorgangs hier wirksam ist und sich als sichtbares Geschehen in der Natur
offenbart.
Wichtig für den musikalischen Ablauf ist auch das Motiv der „Entsühnung“,
welches das ganze Tongemälde in immer neuen Formen durchzieht. 342 Es besteht
aus einer sich sehnsüchtig emporschwingenden Quinte, die von einer abfallenden
großen Sekunde gefolgt wird:

Bspl. 89

Diese große Sekunde bildet den positiven Gegenpol zur kleinen „Wehe“-Sekunde
des Kreuzigungsmotivs. Überall, wo sie erklingt, löst sie ein Gefühl der Erleich-
terung und Entlastung aus – eine Wirkung, die hier, im Entsühnungsmotiv, da-
durch verstärkt wird, dass die Sekunde, harmonisch gesehen, in die Tonika zu-
rücksinkt. Es geschieht also eine Dissonanzauf lösung; die Musik kehrt gleichsam
zu ihrem ursprünglichen, heilen Zustand zurück. 343 So wird das Motiv zu einem
Ausdruck erfüllter Sehnsucht und neu erlangter Reinheit; in ihm kann man un-
mittelbar fühlen, wie nun auch die Natur „frei von Sündenlast und Grauen“ ge-
worden ist.
Noch wesentlicher für die Aussage des „Karfreitagszaubers“ ist das Gralsmo-
tiv, das zuerst bei den Worten „Nun freut sich alle Kreatur auf des Erlösers holder
Spur“ ruhig webend den Klangraum erfüllt:

272
Epilog

Hier bringt die Musik unmittelbar das innerste Wesen der Erlösung zum Aus-
druck, wie sie sich hier an der Natur vollzieht. Denn im Weben des Gralsmotivs
erleben wir, wie die göttliche Substanz, die im Inneren des Menschen anwesend
ist, nunmehr die ganze Natur durchdringt. Hier ist Klang geworden, was Wagner
in seiner Einführung zum Parsifal-Vorspiel mit Worten zu beschreiben versucht
hatte: Das heilige Blut „glüht nun mit himmlischer Segensglut im Kelche auf,
über alles, was lebt und leidet, die Gnadenwonne der Erlösung durch die Liebe
ausgießend.“ 344
Das wichtigste Motiv in diesem Klanggemälde ist aber das Motiv der Kar-
freitagsaue selbst, in dem das innerste Wesen der blühenden Blumenwiese sich
offenbart:

Wenn man diese so zart bewegte Melodie, in der man sowohl das sanfte Leuch-
ten der Aue als auch das leise Schwanken der Halme und Blüten wahrzunehmen

273
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

vermeint, genauer betrachtet, entdeckt man, dass sie aus einer leicht veränderten
Form des Parsifal-Motivs besteht, dessen kühne Kraft sich hier in das ruhige Strö-
men einer „ewigen Melodie“ verwandelt hat:

Parsifalmotiv Motiv der Karfreitagsaue

Parsifal und die Karfreitagsaue, scheint uns die Musik zu sagen, sind wesens­e ins;
es ist das Parsifal-Wesen selbst, das als innerste Substanz aus der neu auf blühen-
den Blumenwiese leuchtet. Das, was der Mensch im eigenen Inneren erreicht hat,
dehnt sich nun in geheimnisvoller Wechselwirkung auf das ganze Reich des Le-
bendigen aus. Die Seele des erlösten Menschen kehrt sich nach außen und wird
zur erlösten Natur. Das ist die Erlösung der Natur als mystischer Vorgang.
Ist aber die Idee der erlösten Natur nur ein Hirngespinst, ein bloßes Spiel der
Phantasie?
Goethe sprach in seinem „Vermächtnis“ den berühmten Satz aus: „Was frucht-
bar ist, allein ist wahr.“ In diesem Sinne ist die Idee der erlösten Natur eminent
wahr – doch anders als eine rational erfassbare oder wissenschaftlich beweisbare
Tatsache. Denn sie ist ein Ideal. Und das Wesen des Ideals besteht gerade darin,
dass es etwas scheinbar Unerreichbares darstellt. Ein Ideal ist wie ein Stern am
Himmel, der zwar in unerreichbarer Ferne glänzt, aber dem Schiffer, der zu ihm
hinauf blickt, Ziel und Weg anzeigt. Und je ferner dieses Ziel erscheint, desto
weiter wird der Mensch kommen, der ihm nachstrebt. 345
An die Erlösung der Natur zu glauben, heißt, der Natur die Möglichkeit
unendlicher Steigerung zuzutrauen. Die Vorstellung, dass es eine Natur geben
könnte, in der die „Tragik des Daseins“ gänzlich aufgehoben wird, ist die Voraus-
setzung dafür, dass man versucht, diese Tragik im Einzelnen aufzuheben. Das ist
aber das Ziel jedes ethischen Wirkens.
Es ist kein Zufall, dass gerade Albert Schweitzer, der mit seiner Ethik der „Ehr-
furcht vor dem Leben“ die Menschen dazu aufforderte, auch das Leben von Tieren
und Pf lanzen zu beschützen und zu fördern, diese Vorstellung in sein Denken
aufnahm. In seinen Ausführungen zur Idee des „Reichs Gottes“ machte er dar-
auf aufmerksam, dass die Vision eines vollkommenen irdischen Zustandes, wie er
in diesem Reich herrschen sollte, schon im Alten Testament keineswegs auf die
menschliche Gesellschaft beschränkt war, sondern die gesamte Natur umschloss.
Beim Propheten Jesaia finden wir jene berühmten Worte, in denen geschildert
wird, wie die wilden Tiere ihre blutigen Gewohnheiten ablegen und so die Nah-
rungskette durchbrechen:

274
Epilog

„Und der Wolf wird neben dem Lamm wohnen und der Parder neben dem Böck-
lein lagern. Rind und Löwe und Mastvieh werden zusammen weiden und ein klei-
ner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden weiden und ihre Jungen neben
einander lagern, und der Löwe wird sich wie die Rinder von Stroh ernähren […]
Sie werden keinen Schaden und kein Verderben zufügen in meinem ganzen heiligen
Berglande. Denn das Land wird von Erkenntnis Jahwes voll sein wie von Wassern,
die das Meer bedecken.“346
Für Schweitzer war das kein bloßes Hirngespinst; er war vielmehr davon über-
zeugt, dass jene Vision einen unmittelbaren und wichtigen Bezug zu unserer Ge-
genwart hatte. Deshalb seine Mahnung:
„Beginnender Untergang der Menschheit ist unser Erlebnis […] Für die Menschheit,
wie sie heute ist, handelt es sich darum, ob sie dazu kommt, Reich Gottes verwirk-
lichen zu wollen oder unterzugehen. Für uns nimmt die Verkündigung ‚Das Reich
Gottes ist nahe herbeigekommen‘ die Bedeutung an: ‚Das Reich Gottes muss nahe
herbeigekommen sein, wenn die Menschheit nicht verloren gehen soll‘. Aus der Not
heraus, in der wir uns befinden, müssen wir an seine Verwirklichung glauben und
mit ihr ernst machen.“347
Die blühende Karfreitagsaue im Parsifal ist das Symbol dafür. Sie ist das abendlän-
dische Gegenstück zum „Nirvana“ der Buddhisten. Sie ist ein Aufruf an die Men-
schen, sich ihrer Verantwortung der ganzen Natur gegenüber bewusst zu werden,
und zeigt das große Ziel, auf das sich alles ethische Streben zu richten hat. Sie ist
nicht die aufgehobene, sondern die verwandelte Welt. Und an dieser Verwandlung
durch mystische Versenkung und ethisches Handeln mitzuarbeiten: Das ist die
Aufgabe, zu der uns Gurnemanz mit seinen Worten: „Hört ihr den Ruf?“ auffor-
dern will.

*
* *

275
Warum dieses Buch

ANHANG

277
Anhang

Kurze Nacherzählung
der Handlung des Dramas

Vorgeschichte

Es wird erzählt:

Engel brachten einst zwei kostbare Gaben auf die Erde und übergaben sie der
Obhut eines frommen Ritters mit dem Namen Titurel. Die erste dieser Gaben
war der „Gral“: die Schale, aus der Christus beim letzten Abendmahl getrunken,
und in der Joseph von Arimathia nach der Kreuzigung das aus der Seitenwunde
herausf ließende heilige Blut aufgefangen hatte. Die zweite war der Speer, mit
dem der römische Soldat eben diese Wunde geöffnet hatte, und an dessen Spitze
auch das Blut Christi haftete. Um diese unschätzbaren Heiligtümer zu bewahren
und zu pf legen, baut Titurel an einem für Uneingeweihte unzugänglichen Ort im
Inneren eines Berges den Gralstempel und gründet die Gemeinschaft der Grals-
ritter, deren Aufgabe es ist, das Werk Christi in der Welt fortzusetzen. Die Kraft
zu dieser Tätigkeit empfangen die Ritter durch das aus Brot und Wein bestehende
heilige Mahl, das sie angesichts der wunderbaren Schale zu sich nehmen.
„Jenseits der Berge“ wohnt der Zauberer Klingsor. Auch er will in die Grals-
gemeinschaft aufgenommen werden; doch er ist aufgrund seiner heftigen Trieb-
haftigkeit nicht imstande, die von einem Gralsritter verlangte Keuschheit zu er-
langen. Da er jedoch von seinem ehrgeizigen Ziel nicht abstehen will, greift er
zu einem radikalen Mittel: Er entmannt sich selbst, um so seine Begierde zum
Schweigen zu bringen. Diese gewaltsame Selbstverstümmelung bringt ihm jedoch
keineswegs die ersehnte Aufnahme in die Rittergemeinschaft; vielmehr weist ihn
der entsetzte Titurel umso schroffer ab. Dadurch wird Klingsor zum erbitter-
ten Gegner der Gralsritter. Seitdem richtet sich sein ganzes Streben danach, den
Gral in seine Gewalt zu bringen und Titurel mit seinem Gefolge zu verderben.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat er einen Zaubergarten entstehen lassen, der von
blumenartigen Mädchen bevölkert wird, welche die Gralsritter, die sich dorthin
verirrten, verführen, um sie so dem Klingsor dienstbar zu machen. Zu demselben
Zweck hat er eine geheimnisvolle Frau in seine Gewalt gebracht: Kundry, von
der es heißt, dass sie in früheren Leben verschiedene große Sünderinnen verkör-
pert hat, und die nun abwechselnd den Gralsrittern und dem Zauberer dient. Ihr
stehen besondere Verführungskünste zur Verfügung, die – wenn sie bei Klingsor
anwesend ist – dort eingesetzt werden, wo die Blumenmädchen versagen.

279
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Im hohen Alter übergibt Titurel das Amt des Gralskönigs an seinen Sohn Am-
fortas. Dieser, von jugendlichem Übermut erfüllt, ergreift eines Tages den heili-
gen Speer, der sonst immer zusammen mit dem Gral auf bewahrt wird, und zieht
damit in die Welt hinaus, um Klingsor zu besiegen. Dieser schickt ihm Kundry
entgegen; Amfortas ist zu schwach, um ihren Künsten zu widerstehen, und sinkt
ihr willenlos in die Arme. Da tritt Klingor hinzu und entreißt dem jungen König
den heiligen Speer, mit dem er dem Wehrlosen eine Wunde zufügt, die trotz aller
Bemühungen nicht heilen will. Das ist für die Rittergemeinschaft ein furchtbarer
Schlag, und es scheint keine Hoffnung auf Rettung zu geben – bis eines Tages
eine leuchtende Schrift auf dem Gral erscheint, die den Rittern einen geheimnis-
vollen Retter verheißt: „Durch Mitleid wissend, der reine Tor: Harre sein, den
ich erkor.“
Tief im Walde ist ein Knabe aufgewachsen, den seine Mutter Parsifal nennt.
Sein Vater ist noch vor seiner Geburt im Kampf gefallen; um dem Sohn dieses
Schicksal zu ersparen, hat ihn die Mutter bei sich behalten und will ihn vor jeder
Berührung mit der Welt bewahren. Der Kindheit entwachsen, strebt Parsifal je-
doch trotz aller behütenden Bemühungen der Mutter aus der Einsamkeit hinaus.
Eines Tages reitet eine Gruppe von Rittern vorbei. Der Knabe ist von dem An-
blick so hingerissen, dass er, ohne seiner Mutter Lebewohl zu sagen, ihnen nach-
läuft und in die Welt hinauszieht, wo er, ganz dem Gefühl seiner jugendlichen
Kraft hingegeben, auf seine Art und Weise Heldentaten vollbringt. Seine Mutter
aber stirbt vor Gram über den Verlust ihres Sohnes.

ERSTER AKT

1. Szene: Auf Gralsgebiet, im heiligen Walde


Eines Morgens ist der alte Gralsritter Gurnemanz mit einigen jungen Knappen
im heiligen Wald. Auch Kundry ist zugegen, die dem Gral als Botin dient. Zwar
erscheint ihr ganzes Wesen triebhaft und wild; doch sie bemüht sich, dem leiden-
den Gralskönig Amfortas zu helfen, und hat dem Kranken gerade einen Balsam
gebracht, von dem sie hofft, dass er ihm Linderung verschaffen wird. Da stürzt
plötzlich ein weißer Schwan vom Himmel, durch einen Pfeil tödlich verwun-
det. Die entsetzten Ritter verlangen die Bestrafung des Frevlers, der sehr bald
von einigen Knappen und Rittern hereingeführt wird: Es ist Parsifal, der ohne
irgendein Bewusstsein seiner Schuld sich mit sorglosem Übermut zu seiner Tat
bekennt. Gurnemanz aber, anstatt den Knaben zu bestrafen, versucht ihm die
Folgen seines Tuns bewusst zu machen und zeigt ihm das tote Tier, das nun blut-
überströmt leblos da liegt. Tatsächlich wird Parsifal durch den Anblick des von
ihm getöteten Schwans derart ergriffen, dass er seinen Bogen zerbricht – gleich-

280
Anhang

sam als Beweis dafür, dass er nie wieder mutwillig Leben zerstören wird. Darauf
beginnt Gurnemanz ihn nach seinem Namen und seiner Herkunft zu fragen.
Da Parsifal aber auf jede Frage immer nur „Ich weiß es nicht“ antwortet, taucht
bei dem alten Ritter die Vermutung auf, dass dieser naive Knabe vielleicht je-
ner „reine Tor“ sein könnte, welcher der Gralsgemeinschaft als Retter verheißen
wurde. Da mischt sich Kundry ins Gespräch: Sie erzählt von Parsifals Geburt
und Kindheit, von seinem behüteten Leben im Wald – und dass seine Mutter
jetzt tot ist. Diese letzte Mitteilung, die mit schonungsloser Härte hingeworfen
wird, ruft im Knaben eine solche Erschütterung hervor, dass er Kundry an die
Kehle springt, um sie zu erwürgen. Gleich darauf verfällt er aber in eine Art
Erstarrung; und es ist in diesem außergewöhnlichen Zustand, dass er von Gur-
nemanz – der von wachsender Ahnung erfüllt ist – für würdig befunden wird, in
den Gralstempel geleitet zu werden. Zusammen betreten sie dann den Weg, der
in das Innere des Berges führt.

2. Szene: Im Gralstempel
Mächtige Glockenschläge verkünden, dass man sich dem Gralstempel nähert.
Dort ziehen die Ritter ein, den Gral vor sich hertragend, der dann auf einen al-
tarartigen Tisch niedergesetzt wird, vor dem das Ruhebett des kranken Amfortas
steht. Aus dem Hintergrund hört man die Stimme des Titurel, der seinen Sohn
dazu auffordert, sein Amt zu versehen und den Gral zu enthüllen. Doch Amfortas
bäumt sich heftig dagegen auf. In einer langen, herzzerreißenden Klage schildert
er seine furchtbaren Qualen, die nicht nur von seinen körperlichen Schmerzen
herrühren, sondern viel mehr von dem vernichtenden Bewusstsein seines eige-
nen Unwertes: Er, der unreine Sünder, sei als Gralskönig dazu „verdammt“, den
Dienst an Christus, dem Reinsten zu vollziehen. Doch aus der Höhe ertönt die
Heilswahrsagung: „Durch Mitleid wissend der reine Tor …“, und so ergibt sich
Amfortas in sein Schicksal und enthüllt das heilige Gefäß. Während die Ritter
den Abendmahlspruch „Nehmet hin meinen Leib, nehmet hin mein Blut“ sin-
gen, beginnt der Gral, durch einen Lichtstrahl von oben getroffen, in Purpurfarbe
zu erglühen. Die Ritter nehmen dann das aus Brot und Wein bestehende heilige
Mahl ein, das ihre einzige Nahrung bildet, und durch das sie die Kraft erhalten,
„zu wirken des Heilands Werke“. Nach Beendigung des Mahles ziehen sie mit
Amfortas ab, so dass Gurnemanz mit Parsifal allein zurückbleibt. Der alte Rit-
ter will nun wissen, ob der Knabe, der mit sichtbarer Erschütterung der Klage
des Amfortas gelauscht hat, tatsächlich der „durch Mitleid wissend“ gewordene
„reine Tor“ ist, den der Heilsspruch verkündet hat. Doch auf die Frage, ob er nun
„wisse“, was er gesehen hat, antwortet Parsifal nur mit einem Kopfschütteln –
worauf ihn der enttäuschte Gurnemanz barsch aus dem Tempel hinauswirft.

281
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

ZWEITER AKT

1. Szene: Im Inneren des Klingsor-Turmes


Klingsor bereitet sich in seinem Turm auf die Ankunft Parsifals vor, der sich,
ohne es zu wissen, dem Gebiet des Zauberers naht. Die Schwierigkeiten voraus-
sehend, die ihm der Knabe bereiten wird, beschließt er, seine gefährlichste Waffe
einzusetzen: Kundry. Diese ist, nachdem sie Parsifal vom Tod seiner Mutter be-
richtet hat, auf dem Gralsgebiet in einen todesähnlichen Schlaf versunken. Jetzt
ist sie wieder im Bereich Klingsors und befindet sich in der Tiefe des Turmes.
Durch eine magische Beschwörung lässt sie der Zauberer emporsteigen und weckt
sie aus ihrem todesähnlichen Zustand. Kundry tritt mit einem grässlichen Schrei
in das neue Leben ein; denn ihr tiefster Wille wehrt sich gegen das Aufwachen in
der Sphäre des widergöttlichen Zauberers. Dieser hat sie jedoch in seiner Gewalt;
und nachdem er ihr die Schönheit des herannahenden Parsifal geschildert hat,
verschwindet sie unter krampf haftem Lachen und Stöhnen, um das vom Klingsor
befohlene Werk der Verführung zu beginnen.

2. Szene: Im Zaubergarten
Parsifal ist nun in den Bereich Klingsors eingedrungen und hat den Rittern, die
ihm den Zugang zu wehren versuchten, alle besiegt. Die Blumenmädchen, die den
Zaubergarten bevölkern, sind in heller Aufregung über den kühnen Eindringling;
doch sobald sie des schönen Knaben gewahr werden, beruhigen sie sich und be-
ginnen, ihn schmeichelnd zu umwerben. Parsifal will jedoch mit ihnen nur harm-
lose Spiele treiben und lässt sich nicht verführen. Da erscheint plötzlich Kundry
– jetzt in der Gestalt einer betörend schönen Frau – und ruft ihn mit seinem
Namen, den er seit seiner Kindheit, als seine Mutter ihn so nannte, nicht gehört
hat. Die magische Anziehung, die von diesem Ruf ausgeht, ist eine ganz andere
als die sanfte Schmeichelei der Blumenmädchen und schlägt den Knaben sofort
in ihren Bann. Die Mädchen verschwinden und lassen Parsifal allein mit Kundry,
die jetzt ihr Werk beginnen kann. Das Mittel, das sie benützt, um Parsifal zu
verführen, besteht darin, die Gestalt der Mutter aus der Tiefe seiner Seele herauf-
zuholen. Indem sie die Erinnerung an seine Kindheit und an die durch infantile
Erotik geprägte Beziehung zur Mutter wachruft, gelingt es ihr, die verborgenen
Tiefen seiner Triebnatur freizulegen. Mit der Erzählung vom Tod der Mutter lässt
sie auch schwere Schuldgefühle in ihm entstehen. Durch diese Erlebnisse zutiefst
erschüttert, sinkt Parsifal wie willenlos zu Kundrys Füßen. Da neigt sie sich zu
ihm hinab und haftet einen langen Kuss auf seinen Mund … Doch da geschieht et-
was völlig Unerwartetes: Anstatt besiegt in die Arme der Verführerin zu sinken,
springt Parsifal auf und stößt in höchstem Schmerz einen Schrei aus: „Amfortas

282
Anhang

– die Wunde!“ Nun folgt eine Reihe von inneren Erlebnissen, bei denen er nicht
nur die ganzen Qualen des Amfortas durchleidet, sondern im eigenen Herzen
den Aufschrei der in Schuld verstrickten, leidenden Menschennatur vernimmt.
Kundry setzt ihre Verführungsversuche fort. Da jedoch Parsifal standhaft wider-
steht, lässt sie die Maske plötzlich fallen; von ohnmächtiger Wut durchwühlt, ruft
sie Klingsor zu Hilfe. Bevor dieser kommt, stößt sie einen Fluch aus: Alle Pfade,
die Parsifal von ihr wegführen, sollen ihm verwehrt sein; solange er sich weige-
re, sich mit ihr zu vereinigen, sei er dem ziellosen Herumirren geweiht. Dann
erscheint Klingsor auf der Mauer seines Turmes, den heiligen Speer schwingend;
er meint, den Knaben besiegen zu können, indem er die Waffe gegen ihn schleu-
dert, wie er es einst mit Amfortas getan hat. Doch der Speer bleibt wie durch ein
Wunder über Parsifals Haupt schweben. Dieser ergreift ihn und macht mit ihm
das Zeichen des Kreuzes – und im selben Augenblick stürzt der Kling­sorturm
mit allem, was sich darin befindet, ein und verschwindet so spurlos, als ob es nie
dagewesen wäre. Kundry bricht mit einem Schrei zusammen – und zurück bleibt
eine Einöde, in der nichts mehr zu sehen ist als verwelkte Blumen, die dort her-
umliegen, wo vorher die Blumenmädchen ihr Spiel mit Parsifal getrieben hatten.

Vor dem dritten Akt


Parsifal ist nach seinem Sieg über Klingsor ziellos durch die Welt geirrt und wird
zahllosen Prüfungen ausgesetzt. Den heiligen Speer führt er mit sich; doch er
darf ihn nicht als Kampfeswaffe verwenden und muss daher ohne Gegenwehr die
Angriffe seiner Feinde geduldig ertragen. Zwar will er das Gralsgebiet wieder
erreichen, um den Speer zurückzubringen und Amfortas von seinem Leiden zu
heilen; doch Kundry hat ihm die Wege, die ihn von ihr wegführen, verf lucht, so
dass er zuletzt alle Hoffnung verliert, je wieder zum Gralstempel zu gelangen.
Dort ist auch inzwischen Schwerwiegendes geschehen. Die Gralsgemeinschaft
ist in tiefen Verfall geraten; denn Amfortas, der nicht mehr gewillt ist, seine Qua-
len zu ertragen, versucht den Tod zu erzwingen, indem er sich weigert, den leben-
spendenden Gral zu enthüllen. Damit entzieht er aber auch den Gralsrittern ihre
einzige Nahrung, so dass diese nun im tiefsten Elend dahinsiechen. Ja mehr noch:
Seinem eigenen Vater hat Amfortas den Tod gegeben. Denn der altersschwache
Titurel wurde nur durch den Anblick des Grales am Leben erhalten; sobald ihm
dies verwehrt wurde, musste er sterben.

283
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

DRITTER AKT

1. Szene: Im heiligen Wald des Grales


Eines Morgens – es ist Karfreitag – entdeckt Gurnemanz, der nun fern von der
verfallenden Gralsgemeinschaft als Einsiedler im Wald lebt, eine schlafende Frau-
engestalt: Es ist Kundry, die wieder auf Gralsgebiet zu neuem Leben erwacht. Sie
erscheint jedoch völlig umgewandelt; alles Tierisch-Wilde ist aus ihrem Wesen
verschwunden, und sie hat nur einen Drang: in selbstloser Hingabe dienend zu
helfen. Kaum ist sie erwacht, erscheint am Rande des Waldes die düstere Gestalt
eines Ritters, der mit geschlossenem Visier schweren Schrittes einhergeht und in
der Hand eine Lanze trägt. Da der Ritter auf Geheiß des Gurnemanz seinen Helm
abnimmt, erkennt der Alte zu seiner Verwunderung in ihm den törichten Kna-
ben, den er einst aus dem Tempel gewiesen hatte. Tatsächlich hat jetzt Parsifal,
nachdem Kundry auf Gralsgebiet erwacht ist, auch selbst endlich den Weg dorthin
gefunden. Sobald Gurnemanz auch den heiligen Speer wiedererkannt hat, weiß
er, dass seine einstige Hoffnung nun in Erfüllung gehen wird: Parsifal ist der ver-
heißene Retter, der durch Mitleidserlebnisse „wissend“ Gewordene, der Amfortas
von seinem Leiden heilen und die gesunkene Gralsgemeinschaft wieder aufrich-
ten wird. Nachdem Kundry, in einem spontanen Akt der Verehrung, Parsifals
Füße gewaschen und mit ihren eigenen Haaren getrocknet hat, salbt Gurnemanz
das Haupt des zurückgekehrten Wanderers und weiht ihn durch diese feierliche
Handlung zum neuen Gralskönig. Parsifal aber verrichtet sein erstes Amt, indem
er Kundry, der großen Sünderin, die reinigende Taufe spendet. Dabei bemerkt
er mit Verwunderung, wie im Augenblick, da Kundry die Taufe empfängt, die
ganze Natur plötzlich auf blüht und in sanftem Licht zu leuchten beginnt. Des-
halb wendet er sich an Gurnemanz mit der erstaunten Frage, wie es denn möglich
sei, dass an diesem traurigsten aller Tage, dem Tag, an dem Christus ans Kreuz
geschlagen wurde, das Leben in solcher Herrlichkeit erblühen könne. Als Ant-
wort darauf erteilt ihm der alte Ritter eine Unterweisung, bei der er nicht nur
das Karfreitags-Mysterium von Christi Tod und Auferstehung erklärt, sondern
auch eine neue Ethik verkündet, welche die Menschen Ehrfurcht vor aller Kreatur
lehrt und sie dazu verpf lichtet, von jeglicher Schädigung anderen Lebens Abstand
zu nehmen. Erst nach dieser Belehrung ist Parsifal wirklich reif, Gralskönig zu
werden – und nun kann er zusammen mit Gurnemanz und Kundry den Weg zum
Gralstempel betreten.

2. Szene: Im Gralstempel
Dort findet die Trauerfeier für den verstorbenen Titurel statt. Amfortas soll hier
noch einmal, seinem Vater zu Ehren, den Gral enthüllen. Wie jedoch die Ritter

284
Anhang

ihn dazu drängen wollen, bäumt er sich in wilder Verzweif lung dagegen auf; er
fühlt sich selber kurz vor dem Tod und will nicht noch einmal in das Leben mit
seinen Qualen zurückgeworfen werden. Statt den Gral zu enthüllen, reißt er den
Verband von seiner Wunde ab und fordert die Ritter dazu auf, ihre Schwerter
dort einzutauchen, damit er endlich sterben könne. In diesem Augenblick betritt
Parsifal den Gralstempel. Er schreitet auf Amfortas zu und berührt dessen Wunde
mit dem heiligen Speer; die Wunde schließt sich, und Amfortas ist von seinen
Qualen erlöst. Parsifal, der von allen als neuer König anerkannt wird, lässt den
Gral enthüllen, der jetzt in hellem Licht erglüht. Kundry sinkt, endlich von ihrem
ruhelosen Streben erlöst, vor Parsifal zu Boden. Alle huldigen dem Gral und dem
Speer, und das Werk schließt mit den geheimnisvollen Worten „Erlösung dem
Erlöser“.

285
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Daten zu Wagners Leben


und der Entstehung des Parsifal

(Die Daten, welche die Entstehung des Parsifal betreffen,


sind durch Fettdruck gekennzeichnet)

1813
22. Mai. Richard Wagner in Leipzig geboren

1822–1830
Wagner besucht die Kreuzschule in Dresden und das Nikolai-Gymnasium in Leipzig

1831
Privatstudium der Musik bei Theodor Weinlig

1833–1839
Theaterengagements als Kapellmeister in Würzburg, Lauchstädt, Magdeburg,
Königsberg und Riga

1836
Heirat mit der Schauspielerin Minna Planer

1840
Wagner zieht mit seiner Frau Minna nach Paris, um dort sein Glück als Opern-
komponist zu versuchen

1842
Erste Begegnung mit dem Gral: Wagner liest in Paris zum ersten Mal eine
Zusammenfassung der Lohengrin-Sage
April. Wagner zieht nach Dresden und wird dort Kapellmeister am Hoftheater.
Uraufführung des Rienzi

1843
Uraufführung des Fliegenden Holländers

1845
Juli. Während eines Kuraufenthaltes in Marienbad liest Wagner den Par-
zival des Wolfram von Eschenbach und das Titurel-Epos des Albrecht von
Scharfenberg

286
Anhang

1848
Wagner verfasst einen Aufsatz „Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der
Sage“, in dem er den Gral als den idealen Gehalt des stauf ischen Kaiser-
tums auffasst

1849
Wagner verfasst den Entwurf zu einem Drama Jesus von Nazareth, das ein
Zeugnis seiner intensiven Beschäftigung mit der Jesus-Figur und den
Evangelien ist
Beteiligung Wagners an der Dresdner Revolution. Flucht aus Deutschland und
Niederlassung in Zürich

1850
Uraufführung des Lohengrin in Weimar

1851–1857
Dichtung und Komposition des Ring. Die Komposition wird nach dem II. Akt
Sieg fried abgebrochen

1854
Wagner vertieft sich in die Lektüre Schopenhauers und liest die von Adolf
Holtzmann herausgebenen Indischen Sagen

1855
Wagner liest Eugène Burnoufs Introduction á l’histoire du Bouddhisme indien;
er plant, den herumirrenden Parsifal an Tristans Siechbett kommen zu
lassen

1856
16. Mai. Wagner schreibt den Entwurf zu einem Drama Die Sieger nieder,
in dem Buddha die Hauptrolle spielt

1857
April. Einzug in das „Asyl“ neben dem Haus von Otto und Mathilde Wesen-
donk in Zürich. Dichtung und Beginn der Komposition des Tristan
Frühling. Sogenanntes „Karfreitagserlebnis“: Wagner wird durch das
Wiederauf blühen der Natur wieder an die Parzival-Dichtung Wolframs
gemahnt und verfasst danach den ersten, verloren gegangenen Prosaent-
wurf zum Parsifal

287
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

1858
Wagner verlässt das „Asyl“ und begibt sich nach Venedig, wo er den II. Akt
Tristan komponiert
1. Oktober. Langer Brief an Mathilde Wesendonk, in dem Wagner seine
Gedanken über das Mitleid ausführt

1859–1862
Wagner ist wieder auf Wanderschaft mit längeren Aufenthalten in Paris, wo er
wieder versucht, seine Werke bekannt zu machen

1859
30. Mai. Langer Brief an Mathilde Wesendonk, in dem Wagner Amfortas
mit dem Tristan des III. Aktes vergleicht und sich zu der Auffassung des
Grales als Abendmahlsschale bekennt
August. Beendigung der Tristan-Partitur

1860
Anfang August. Brief an Mathilde Wesendonk mit Gedanken über Wie-
dergeburt und über die Doppelnatur der Kundry
12. August. Wagner betritt nach 11 Jahren wieder deutschen Boden

1861
Durch Skandale gestörte Erstaufführung des Tannhäuser in Paris. Wagner be-
ginnt die Arbeit an den Meistersingern

1862–1864
Unstete Wanderschaft. Wagner auf der Flucht vor seinen Gläubigern

1864
König Ludwig II. beruft Wagner nach München

1865
10. Juni. Uraufführung des Tristan am Münchner Hoftheater
August. Wagner verfasst für König Ludwig den ersten erhaltenen Ent-
wurf zum Parsifal
Dezember. Wagner muss auf Druck der Bayerischen Regierung München verlassen

1866
Wagner zieht zusammen mit Cosima von Bülow und ihren Kindern nach Trib-
schen bei Luzern

288
Anhang

1867
Oktober. Wagner vollendet die Meistersinger

1868
Mai. Wagner beschäftigt sich erneut mit seinem Buddha-Drama Die Sieger
November. Wagner nimmt die Arbeit am Ring wieder auf

1869
Weihnachten. Wagner liest Nietzsche den Parsifal-Entwurf vor

1870
25. August. Wagner heiratet Cosima von Bülow

1872
Wagner zieht nach Bayreuth

1874
November. Wagner vollendet die Partitur des Ring – 25 Jahre nach dem ersten
Entwurf

1876
August. Erste Bayreuther Festspiele mit der Uraufführung des Ring

1877
Januar/Februar. Niederschrift des 2. erhaltenen Prosaentwurfes zu Parsi-
fal
März/April. Niederschrift der Dichtung
August. Beginn der Komposition

1878
Weihnachten. Private-Aufführung des Vorspiels in Wahnfried

1879
April. Beendigung der Komposition
August. Beginn der Instrumentierung
September. Wagner verfasst das „Offene Schreiben an Herrn Ernst von
Weber“, in dem er vehement gegen die Versuche an lebenden Tieren Stel-
lung nimmt

289
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

1880
Mai. Im Palazzo Rufolo bei Amalf i entdeckt Wagner einen üppig-
verwachsenen Garten, den er zum Vorbild für Klingsors Zaubergarten
nimmt
August. Wagner sieht zum ersten Mal den Dom zu Siena, dessen Innen-
raum zum Vorbild für den Gralstempel wird

1881
August/September. Wagner verfasst den Aufsatz „Heldentum und Chris-
tentum“, in dem er seine Gedanken über eine durch das Christus-Wesen
gereinigte zukünftige Menschheit zu erklären versucht

1882
13. Januar. Beendigung der Partitur des Parsifal
26. Juli. Uraufführung in Bayreuth
Herbst. Wagner verfasst den Aufsatz „Das Bühnenweihfestspiel in Bay-
reuth“. Er liest Hermann Oldenburgs Buddha und denkt wieder an Die
Sieger

1883
13. Februar. Tod Wagners in Venedig

290
Anhang

Literaturverzeichnis

Abendroth, Walter: Arthur Schopenhauer – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt


von Walter Abendroth, Reinbek bei Hamburg, 1967 (Abendroth)
Berne, Peter: Apokalypse – Weltuntergang und Welterneuerung in Richard Wagners ‚Ring des
Nibelungen‘ – eine Werkeinführung für das dritte Jahrtausend, Worms, 2006 (Berne, Apo-
kalypse)
Derselbe: Richard Wagner – Ein ‚Alternativer‘ des 19. Jahrhunderts. Seine Regenerationsidee,
in: Richard Wagner Blätter, Heft 3–4, Dezember 1984, Tutzing, 1984 (Berne, Alter-
nativer)
Derselbe: Albert Schweitzer und Richard Wagner: Von Bayreuth nach Lambarene, in: Albert
Schweitzer Rundbrief Nr. 100, Jahrbuch 2008 für die Freunde von Albert Schweitzer,
Frankfurt am Main, 2008 (Berne, Schweitzer/Wagner).
Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner und der Antisemitismus, Freiburg im Breisgau, 1984
Derselbe: Wie antisemistisch sind Richard Wagners Musikdramen?, in: Programmheft „Meis-
tersinger“ der Bayreuther Festspiele 1983
Burnouf, Eugène: Introduction à l’Histoire du Bouddhisme Indien, Paris, 1844
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Haich, Elisabeth: Sexuelle Kraft und Yoga, München, Engelberg/Schweiz, 1971 (Haich)

291
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

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Jacobi, Jolande: Die Psychologie von C. G. Jung, Frankfurt am Main, 1978 ( Jacobi)
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Derselbe: Grundwerk in neun Bänden, Olten, 1984/85 ( Jung, GW)
Jung, Emma: Die Graalslegende in psychologischer Sicht, Olten, 1980
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1972
Derselbe: Zum Raum wird hier die Zeit – Die Gralsgeschichte, Stuttgart, 1980 (Meyer, Gral)
Das Neue Testament, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift – Ökumenischer Text, Stuttgart,
1980 (Neues Testament)
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gong Yangsheng“, Ausgabe 2007, Uelzen, 2007
Overhoff, Kurt: Die Musikdramen Richard Wagners – Eine thematisch-musikalische Interpreta-
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Overhoff, Kurt: Richard Wagners Parsifal, Lindau im Bodensee, 1951 (Overhoff, Parsifal)
Robert de Boron: Die Geschichte des heiligen Gral, aus dem Altfranzösischen übersetzt von
Konrad Sandkühler, Stuttgart, 1979 (Robert)
Robinet, Isabelle: Taoist Meditation, Albany, New York, 1993 (Robinet)
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Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, herausgegeben von Emil Staiger, Frankfurt
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Scholz, Dieter David: Richard Wagners Antisemitismus: Jahrhundertgenie im Zwielicht; eine
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Derselbe, „Aus meinem Leben und Denken“, Stuttgart, o. J.
Derselbe: Predigten 1898 – 1948, München, 2001 (Schweitzer, Predigten)

292
Anhang

Derselbe: Reich Gottes und Christentum, München, 1995 (Schweitzer, Reich Gottes)
Wagner, Cosima: Die Tagebücher, Band I und II, München, 1976 (CTB)
Wagner, Richard: Briefe, ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von Hanjo Kesting,
München, 1983 (RWB)
Derselbe: Das braune Buch – Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882, Zürich, 1975 (Braunes
Buch)
Derselbe: Mein Leben, München, 1963 (Mein Leben)
Derselbe: Oper und Drama, Stuttgart, 1984 (OuD)
Derselbe: Parsifal, Klavierauszug mit Text, herausgegeben von Felix Mottl, Leipzig, 1914
Derselbe: Parsifal, Partitur, Leipzig (Edition Peters), o.J.
Derselbe: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Julius Kapp, Leipzig, o. J. (RWGS)
Derselbe: Sämtliche Briefe, Leipzig, ab 1979 (RWSB)
Derselbe: Richard Wagner an Mathilde Wesendonk – Tagebuchblätter und Briefe, Berlin, 1904
(Wesendonk)
Derselbe: Richard Wagner über Parsifal – Aussprüche des Meisters über sein Werk, Leipzig, 1913
Weizsäcker, Carl Friedrich von: siehe Krishna, Gopi
Westernhagen, Curt von: Wagner, Zürich/Freiburg i. Br., 1968 (Westernhagen, Wagner)
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Wolfram von Eschenbach: Parzival, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart, 1981
(Wolfram)

293
Anhang

ANMERKUNGEN

1 Vgl. Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band I und II, München 1976 (CTB), Band II,
S. 556 (Eintragung vom 27.6.1880).
2 CTB, Band II, S. 115 (Eintragung vom 11.6.1878).
3 Unter dem 19.7.1878 berichtet Cosima: „Er liest in Strauß’ ‚Leben Jesu‘ und findet
es im ganzen besser, als er es erwartet hatte, nur dass ‚sie unter Gott immer den
jüdischen Weltschöpfer verstehen und nicht zugeben, dass das Göttliche sich hier
offenbart hat‘.“ CTB, Band II, S. 141.
4 CTB, Band II, S. 116 (Eintragung vom 13.6.1878).
5 Richard Wagner, Mein Leben, München, 1963 (Mein Leben), S. 524.
6 Ebenda, S. 561.
7 Vgl. hierzu Volker Mertens, Der Gral, Stuttgart, 2003 (Mertens), S. 10ff.
8 Ebenda, S. 144.
9 Goethe selbst schreibt in seinen Erklärungen zu diesem Gedicht – Bezug nehmend
auf den angeblichen Ort der Gralsburg in Nordspanien – dass dessen Zweck darin
bestehe, den Leser „durch eine Art von ideellem Montserrat“ zu führen bzw. ihn
in den Gesinnungen zu befestigen, „in welchen ganz allein der Mensch auf seinem
eigenen Montserrat Glück und Ruhe finden kann“. Johann Wolfgang von Goethe,
Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, München, 1981 (Goethe Werke), Band II, S. 283f.
10 Vgl. hierzu das Kapitel in: Mertens „Der Gral in England: Tennyson, Burne-Jones,
Eliot“.
11 Rudolf Meyer, Zum Raum wird hier die Zeit – Die Gralsgeschichte, Stuttgart, 1980
(Meyer, Gral) S. 285.
12 In seiner Selbstbiographie „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ berichtet Jung von
einer Indienreise, bei der er so starke Eindrücke empfing, dass er in Gefahr war,
seine Identität als Abendländer zu verlieren. Darauf hatte er einen Traum, in dem
er selbst als Gralsritter erschien: „Der Traum wischte mit starker Hand alle noch
so intensiven indischen Tageseindrücke weg und versetzte mich in das allzu lange
vernachlässigte Anliegen des Abendlandes, das sich einstmals in der Quest des Hl.
Gral, wie auch in der Suche nach dem ‚Stein der Philosophen‘ ausgedrückt hatte. Ich
wurde aus der Welt Indiens herausgenommen und daran erinnert, dass Indien nicht
meine Aufgabe war, sondern nur ein Stück des Weges – wenn auch ein bedeutendes
– der mich meinem Ziel annähern sollte. Es war, als ob der Traum mich fragte: ‚Was
tust du in Indien? Suche lieber für deinesgleichen das heilende Gefäß, den salva-
tor mundi, dessen ihr dringend bedürft.‘“ Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume,
Gedanken von C. G. Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé, Olten, 1971
( Jung, Erinnerungen), S. 286.
13 Zwar enthalten die alten Epen auch Ermahnungen, die sich streng an das kirchliche
Dogma halten; aber diese bilden mit ihrer Lehrhaftigkeit einen Fremdkörper inner-

295
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

halb der reichen symbolischen Darstellungen, die sonst den Charakter dieser Dich-
tungen prägen, und man hat das Gefühl, als ob solche kirchentreuen Passagen von
den Autoren nur als Vorsichtsmaßnahme eingefügt worden seien, um dem Verdacht
der Ketzerei zu entgehen.
14 Dies wird auch durch verschiedene Aussprüche aus der Zeit seiner intensiven Be-
schäftigung mit dem Gralsstoff bestätigt. So berichtet Cosima in ihren Tagebüchern
von einer Äußerung Wagners, wonach im „Gralsmysterium […] das Blut zu Wein
wird, dadurch also wir gestärkt der Erde uns zuwenden dürfen, während die Wand-
lung des Weines in Blut uns von der Erde abzieht.“ Ein anderes Mal sagte er, während
er sich mit der Gralsgeschichte beschäftigte, dass es ihn freue, „sich in der Behand-
lung derselben den Griechen verwandt zu denken, deren Mystik gleichfalls nichts
von einem Weltschöpfer gewusst habe“. Und Cosima schreibt 1875 in einem Brief an
ihre Freundin Marie von Schleinitz – offensichtlich die Gedanken Wagners wieder-
gebend, der sich gerade zusammen mit ihr „sehr in Parzival versenkt“ habe – „dass
der Gral die Sehnsucht der christlichen Seele ausspreche, abseits der Kirche, ohne
Hierarchie mit dem Erlöser zu verkehren“. CTB, Band I, S. 1072 (Eintragung vom
26.9.1877); Curt von Westernhagen, Wagner, Zürich/Freiburg i. Br., 1968 (Western-
hagen, Wagner), S. 425, 455.
15 Chrétien de Troyes, Perceval ou Le Conte du Graal – Der Percevalroman oder Die Erzäh-
lung vom Gral, Altfranzösisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Felicitas
Olef-Krafft, Stuttgart, 1991 (Chrétien), S. 181.
16 Ebenda.
17 Wolfram von Eschenbach, Parzival, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart,
1981 (Wolfram), Band I, S. 401.
18 Ebenda, S. 407.
19 Ebenda, Band II, S. 69.
20 Ebenda, S. 67.
21 Vgl. dazu Meyer, Gral, S. 48.
22 Ebenda.
23 Markus 14, 24, in: Das Neue Testament, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift – Öku-
menischer Text, Stuttgart, 1980 (Neues Testament), S. 74.
24 Markus 15, 42–46, in: ebenda, S. 77.
25 Matthäus 27, 59, in: ebenda, S. 52.
26 Robert de Boron, Die Geschichte des heiligen Gral, aus dem Altfranzösischen übersetzt von
Konrad Sandkühler, Stuttgart, 1979 (Robert), S. 22.
27 Ebenda, S. 23, 25f.
28 Richard Wagner, Richard Wagner an Mathilde Wesendonk – Tagebuchblätter und Briefe,
Berlin, 1904 (Wesendonk), S. 144f (Brief vom 30.5.1859).
29 Chrétien, S. 179.
30 CTB, Band I, S. 1028.

296
Anhang

31 Richard Wagner, Das braune Buch – Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882, Zürich,
1975 (Braunes Buch), S. 75.
32 Richard Wagner, Oper und Drama, Stuttgart, 1984 (OuD), S. 367.
33 Kurt Overhoff, Richard Wagners Parsifal, Lindau im Bodensee, 1951 (Overhoff, Parsi-
fal), S. 88ff.
34 Richard Wagner, Gesammelte Schriften, herausgegeben von Julius Kapp, Leipzig, o. J.
(RWGS), Band IX, S. 67.
35 Zu diesen Dingen gehören auch alle großen Kunstwerke. Ohne Glauben gibt es also
weder Religion noch wissenschaftlichen Fortschritt noch künstlerisches Schaffen.
36 RWGS, Band IX, S. 67.
37 Vgl. Kurt Overhoff, Die Musikdramen Richard Wagners – Eine thematisch-musikalische
Interpretation, Salzburg, 1984 (Overhoff, Musikdramen), S. 273. Die Sehnsuchtsse-
kunde erscheint als Klangsymbol nicht nur im „Liebesmotiv“ aus Tristan und Isolde,
sondern auch im Motiv von Siegfrieds Sehnsucht nach der Mutter („Ach, möchte’
mich Sohn meine Mutter sehen!“), sowie in der Liebesthematik in der Schlussszene
des I. Aktes der Walküre („O lass in Nähe zu dir mich neigen“).
38 RWGS, Band IX, S. 67.
39 Westernhagen, Wagner, S. 554.
40 Walter Abendroth, Arthur Schopenhauer – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dar-
gestellt von Walter Abendroth, Reinbek bei Hamburg, 1967 (Abendroth), S. 45.
41 Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke in fünf Bänden, Großherzog Wilhelm Ernst
Ausgabe, Leipzig, o. J. (Schopenhauer), Band I, S. 33. (Die Zitate aus dieser Ausgabe
wurden in der Rechtschreibung vorsichtig modernisiert.)
42 Ebenda, S. 153.
43 Ebenda, S. 165.
44 Vgl. ebenda, S. 216.
45 Ebenda, S. 189.
46 Schopenhauer, Band III, S. 666.
47 Ebenda, S. 664.
48 Der Hinduismus, ausgewählt und zusammengestellt von Alfred Hillebrand, Leopold
von Schroeder und Adolf Holtzmann, Paderborn, o. J. (Hinduismus), S. 129.
49 Schopenhauer, Band I, S. 299.
50 Ebenda.
51 Schopenhauer, Band III, S. 667.
52 Schopenhauer, Band I, S. 212.
53 Schopenhauer, Band III, S. 589.
54 Schopenhauer, Band I, S. 478.
55 Ebenda, S. 438.
56 Schopenhauer, Band III, S. 591.
57 Vgl. ebenda, S. 505.

297
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

58 Zitiert nach Abendroth, S. 58


59 Schopenhauer, Band I, S. 432.
60 Ebenda, S. 439.
61 Ebenda, S. 416.
62 Konrad Meisig, Klang der Stille – der Buddhismus, Freiburg, Basel, Wien, 1995 / 2003
(Meisig), S. 81.
63 Schopenhauer, Band I, S. 489.
64 Schopenhauer, Band III, S. 622.
65 Ebenda, S. 606f.
66 Ebenda, S. 602.
67 Ebenda, S. 601f.
68 Ebenda, S. 621.
69 Ebenda, S. 634.
70 Zitiert nach Abendroth, S. 96.
71 Schopenhauer, Band I, S. 497.
72 Ebenda, S. 499.
73 Ebenda, S. 536.
74 Jedenfalls kommt Schopenhauer in dem 30 Jahre nach dem Hauptwerk verfassten
II. Teil von Die Welt als Wille und Vorstellung zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass der
Wille vielleicht doch nicht der letzte Grund des Daseins ist, sondern selbst nur eine
„Erscheinungsform“ eines noch tiefer liegenden, nun wirklich nicht mehr weiter
ableitbaren Grundes: „Demzufolge lässt, auch nach diesem letzten und äußersten
Schritt, sich noch die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt
und als die Welt darstellt, zuletzt schlechthin an sich sei? d.h. was er sei, ganz abgese-
hen davon, dass er sich als Wille darstellt, oder überhaupt erscheint, d. h. überhaupt
erkannt wird. – Diese Frage ist nie zu beantworten: weil, wie gesagt, das Erkannt-
werden selbst schon dem Ansichsein widerspricht und jedes Erkannte schon als sol-
ches nur Erscheinung ist.“ Und dann gibt er zu, dass das Ding an sich „Daseinsweisen
haben mag, welche für uns schlechthin unerkennbar und unfasslich sind“, und welche
„übrig bleiben, wann sich dieses […] als Wille frei aufgehoben hat …“ Schopenhauer,
Band II, 923f.
75 Eine schonungslose, aber keineswegs böswillige und deshalb sehr fruchtbare Kritik
findet man am Ende von Kuno Fischers umfangreicher Schopenhauer-Monographie
(Kuno Fischer, Schopenhauers Leben, Werke und Lehre, Heidelberg, 1934).
76 Albert Schweitzer, Ausgewählte Werke in fünf Bänden, Berlin, o. J. (Schweitzer), Band
II, S. 436.
77 Kuno Fischer, Schopenhauers Leben, Werke und Lehre, Heidelberg, 1934 (Fischer),
S. 515.
78 Schopenhauer, Band III, S. 668.
79 Mein Leben, S. 522.

298
Anhang

80 Ebenda, S. 523.
81 Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Leipzig, ab 1979 (RWSB), Band VII, S. 123.
82 RWSB, Band VI, S. 298.
83 Ebenda.
84 Ebenda. Wagner ist aber auch tief in die komplexen Gedankengänge eingedrun-
gen, die zu diesem Schlussstein des pessimistischen Systems hinführen, wie man
aus den ausführlichen Erklärungen ersehen kann, die er Röckel in einem langen
Brief vom April 1855 darbietet. Dort lässt er sich aus über die Kant’sche Grundla-
ge des Schopenhauer’schen Denkens, erläutert seinem Freund die Bedeutung von
Kants Entdeckung der „Idealität der Zeit, des Raumes und der Kausalität als bloßer
Formen der Erkenntnis“, und klärt ihn auf über den Willen als blinden Drang, der
„nichts weiter will, als immer leben, d.h. fressen (durch Vertilgung anderer) und
sich fortpf lanzen“, und der „sich selbst immer auffrisst, um sich selbst immer wieder
zu produzieren“. Von der „Einheit des Willens in allem Lebenden“ ausgehend, legt
er auch die Mitleidslehre dar und weist darauf hin, wie die Ideen Schopenhauers
und Buddhas „uns durch unser Mitleiden Eins mit allem Lebenden machen“. Beach-
tenswert ist auch Wagners Ablehnung des humanitären Handelns. Er bemerkt ganz
richtig, dass das Helfen nur dann einen Sinn habe, wenn wir den Willen zum Leben
– und damit die einzelnen Individuen – bejahen; wer das Leben „angenehmer zu
machen“ versuche, beweise damit nur, dass er die Erscheinungswelt noch für wirk-
lich halte und die Erkenntnis „des Truges der Individuation“ noch nicht gewonnen
habe. Die wirkliche Erlösung – so Wagner – bestehe in der „bewussten Verneinung
des Willens, d.h. Innewerden seiner Verwerf lichkeit, Lossagung von der Teilnahme
an ihm …“ Ebenda, S. 127f, 128, 130, 131.
85 Wagners damalige Weltsicht kommt am deutlichsten in folgenden Worten zum Aus-
druck, die er seinem Freund und Kollegen August Röckel in einem während der Ent-
stehung der Ring-Dichtung verfassten Brief schrieb: „‚Das Wirkliche‘, ‚das wirklich
Seiende‘, und ‚wirklich‘ ist nur das, was ‚sinnlich‘ ist, während das ‚Unsinnliche‘ ge-
wiss auch das ‚Unwirkliche‘ ist, nämlich das nur ‚Gedachte‘, ‚Vorgestellte‘ […] Nur
was Wechsel hat, ist wirklich: wirklich sein, leben – heißt: gezeugt werden, wach-
sen, blühen, welken und sterben; ohne Notwendigkeit des Todes keine Möglichkeit
des Lebens; kein Ende hat nur das, was keinen Anfang hat – anfanglos ist aber nichts
Wirkliches, sondern nur das Gedachte. Somit hieße in der vollsten Wahrheit auf-
gehen sich als empfindender Mensch der vollen Wirklichkeit hingeben: Zeugung,
Wachstum, Blüte – Welken und Vergehen rückhaltlos, mit Wonne und Trauer emp-
finden und dadurch nur leben wollen, dass wir in Lust und Leid leben und – sterben.“
Brief an August Röckel vom 26./26.1.1854. Richard Wagner, Briefe, ausgewählt,
eingeleitet und kommentiert von Hanjo Kesting, München 1983 (RWB), S. 276f.
86 RWB, S. 249.
87 Mein Leben, S. 523.

299
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

88 Zitiert nach Westernhagen, Wagner, S. 199.


89 RWSB, Band VIII, S. 153 (Brief an August Röckel vom 23.8.1856).
90 Ebenda.
91 RWGS, Band XIV, S. 30.
92 RWSB, Band VII, S. 149. Vgl. auch den Brief an Röckel vom April 1855, in dem er
sich ähnlich darüber ausspricht. Ebenda, S. 131.
93 Dieses Umschwenken auf Schopenhauer ging so weit, dass er sogar seinem Ring –
diesem weltbejahndsten aller Dichtungen – eine Schopenhauer’sche Bedeutung bei-
zulegen versuchte, wie aus seinem Brief an Röckel vom 23.8.1856 bezeugt. Vgl.
RWSB, Band VIII, S. 152ff. In diesem Sinne entwarf er auch zwei neue Fassungen
der Schlussszene der Götterdämmerung, die ganz auf Schopenhauer und Buddha beru-
hen und wie Fremdkörper innerhalb der Dichtung wirken, weshalb er später bei der
Komposition doch auf ihre Verwendung verzichtete. Vgl. Curt von Westernhagen,
Vom Holländer zum Parsifal – Neue Wagner-Studien, Freiburg i. Br./Zürich, 1962 (Wes-
ternhagen, Holländer bis Parsifal), S. 85ff.
94 Schopenhauer, Band I, S. 520.
95 RWGS, Band XIV, S. 27.
96 Ebenda, S. 28.
97 Ebenda, S. 175.
98 Wagner ist immer noch von so großer Verehrung erfüllt, dass er diese totale Umdeu-
tung Schopenhauers ins Optimistische als die Beseitigung eines Missverständnisses
darstellt; er habe, so meint er, Schopenhauers Ideen endlich richtig begriffen und
sie sogar im Sinne des Philosophen zu Ende gedacht. Die Passage, in der Wagner auf
diese Weise Schopenhauers Pessimismus in Optimismus verwandelt, ist so wichtig,
dass sie hier, obwohl sie sprachlich und gedanklich schwierig zu verstehen ist, in ihrer
vollen Länge wiedergegeben soll: „Wer sich von der Verwirrung des modernen Den-
kens, von der Lähmung des Intellekts unserer Zeit einen Begriff machen will, beachte
nur die ungemeine Schwierigkeit, auf welche das richtige Verständnis der klarsten
aller philosophischen Systeme, des Schopenhauers, stößt. Wiederum muss uns dies
aber sehr erklärlich werden, sobald wir eben ersehen, dass mit dem vollkommenen
Verständnisse dieser Philosophie eine so gründliche Umkehr unseres bisher gepf leg-
ten Urteiles eintreten muss, wie sie ähnlich nur dem Heiden durch die Annahme des
Christentums zugemutet war. Dennoch bleibt es bis zum Erschrecken verwunderlich,
die Ergebnisse einer Philosophie, welche sich auf eine vollkommenste Ethik stützt,
als hoffnungslos empfunden zu sehen; woraus denn hervorgeht, dass wir hoffnungs-
voll sein wollen, ohne uns einer wahren Sittlichkeit bewusst sein zu müssen. Dass
auf der hiermit ausgedrückten Verderbtheit der Herzen Schopenhauers unerbittliche
Verwerfung der Welt, wie diese eben als geschichtlich erkennbar sich einzig uns dar-
stellt, beruht, erschreckt nun diejenigen, welche die gerade von Schopenhauer einzig
deutlich bezeichneten Wege der Umkehr des missleiteten Willens zu erkennen sich

300
Anhang

nicht bemühen. Diese Wege, welche sehr wohl zu einer Hoffnung führen können,
sind aber von unsrem Philosophen, in einem mit den erhabensten Religionen über-
einstimmenden Sinne, klar und bestimmt gewiesen worden, und es ist nicht seine
Schuld, wenn ihm die richtige Darstellung der Welt, wie sie ihm einzig vorlag, so
ausschließlich beschäftigen musste, dass er jene Wege wirklich aufzufinden und zu
betreten uns selbst zu überlassen genötigt war; denn sie lassen sich nicht wandeln
als auf eigenen Füßen.“ RWGS, Band XIV, S. 175f. Was Wagner hier sagen will, ist:
1. dass Schopenhauer eigentlich eine optimistische Philosophie entworfen habe, die
uns Hoffnung einf lößen sollte; 2. dass er nicht dazu gekommen sei, diesen optimis-
tischen Aspekt selbst auszuführen, weshalb wir das Recht besäßen, seine Gedanken
in diesem Sinne weiterzuführen; 3. dass der springende Punkt des Missverständnisses
darin liege, dass man Schopenhauers schonungslose Darstellung des gegenwärtigen
Zustands der Welt für eine Darstellung ihres unveränderlichen Wesens gehalten habe,
während dieser Zustand in Wirklichkeit nur Ausdruck einer Selbstentfremdung des
Weltengrundes sei, die es durch eine Willensumkehr zu beseitigen gelte; 4. dass man
die Wahrheit dieser Behauptung nur erfahren kann, indem man „auf eigenen Füßen“
den Weg der Umkehr gehe, also durch die eigene innere Verwandlung. Das hat alles
mit Schopenhauer viel und zugleich nichts zu tun: Viel, indem Wagner das ganze
Schopenhauer’sche Begriffsgerüst übernimmt, nichts, indem er diese Begriffe in ei-
nem Sinne verwendet, der Schopenhauers Denken ganz offensichtlich grundlegend
widerspricht. Dass Wagner selbst diese gewaltige Diskrepanz nicht bemerkte, zeigt
wieder einmal mehr, wie sehr er Willensmensch und nicht Philosoph war.
99 RWGS, Band XIII, S. 301.
100 Ebenda, S. 305.
101 Wagner erweist sich hier als Vorläufer des großen Ethikers Albert Schweitzer, der
ebenfalls, auf dem Boden der Schopenhauer’schen Weltsicht auf bauend, zur positi-
ven Ethik gelangte. Wie Wagner übernahm auch Schweitzer den Begriff des Willens
zum Leben, sowie die Überzeugung vom leidvollen Wesen der Welt und der Einheit
alles Lebenden; und wie Wagner trennte er sich von Schopenhauer am entscheiden-
den Angelpunkt seines Systems, wo aus jenen Prämissen die praktischen Schlussfol-
gerungen gezogen werden sollten, und begründete, auf ihnen fußend, seine Ethik
der „Ehrfurcht vor dem Leben“ mit der Forderung, Leben zu beschützen, erhalten
und auf seinen höchsten Stand zu bringen. S. dazu Peter Berne, Albert Schweitzer und
Richard Wagner: Von Bayreuth nach Lambarene, in: Albert Schweitzer Rundbrief Nr.
100, Jahrbuch 2008 für die Freunde von Albert Schweitzer, Frankfurt am Main,
2008 (Berne, Schweitzer/Wagner).
102 Wer Wagners Umgang mit seinen vielen jüdischen Freunden und seine Äußerun-
gen über „die Juden“ und „das Judentum“, die Cosima in ihren Tagebüchern festge-
halten hat, unvoreingenommen untersucht, wird bemerken, dass sein Verhältnis zu
dem ganzen Phänomen in Wirklichkeit höchst ambivalent war; neben der Irritation

301
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

durch den damals stark wachsenden jüdischen Einf luss im öffentlichen Leben ist in
seinen Reaktionen auch nicht wenig heimliche Bewunderung zu spüren.
103 RWGS, Band XIV, S. 181.
104 Für eine ausführlichere Darstellung des Inhalts dieser Schrift vgl. Peter Berne, Ri-
chard Wagner – Ein ‚Alternativer‘ des 19. Jahrhunderts. Seine Regenerationsidee, in: Ri-
chard Wagner Blätter, Heft 3–4, Dezember 1984, Tutzing, 1984 (Berne, Alternati-
ver), S. 150–155.
105 RWGS, Band XIII, S. 305.
106 Ebenda, S. 308.
107 Ebenda, S. 314.
108 Ebenda, S. 301.
109 Ebenda, S. 311.
110 Ebenda, S. 299.
111 Ebenda, S. 300.
112 Ebenda, S. 307.
113 Ebenda, S. 313.
114 Ebenda, S. 305.
115 Ebenda, S. 305.
116 Für eine ausführlichere Darstellung des Inhalts der „Regenerationsschriften“ vgl.
Berne, Alternativer, S. 155–171.
117 RWGS, Band XIV, S. 130.
118 Ebenda, S. 141.
119 Ebenda, S. 143.
120 Ebenda.
121 Ebenda, S. 146.
122 Vgl. ebenda, S. 157. Phantastisch mutet auch Wagners Vision einer großen, freiwilli-
gen Auswanderung der nördlichen Völker in südliche Gegenden an, wo sie imstande
wären, sich allein von Pf lanzen zu ernähren – eine Vorstellung, die er sehr ernst
nahm, wie aus vielen von Cosima in ihren Tagebüchern wiedergegebenen Äußerun-
gen hervorgeht. Doch gerade das Phantastische solcher Gedanken kann man als ein
Zeugnis dafür auffassen, wie kompromisslos Wagners optimistisches Wollen war. Als
ein Beispiel für viele die Eintragung vom 23.2.1882: „ … er glaubt an eine Katastro-
phe, welche die Migration ermöglicht und die Bildung von Gemeinden in südlichen
Ländern.“ CTB, Band II, S. 896.
123 RWGS, Band XIV, S. 176. Vgl. auch ebenda, S. 175.
124 Ebenda, S. 143. Vgl. auch ebenda, S. 131.
125 Ebenda, S. 143.
126 Ebenda, S. 143f.
127 So z.B., wenn er die Religion als „Erkenntnis der Hinfälligkeit der Welt und der hie-
raus entnommenen Anweisung zur Befreiung von derselben“ definiert, oder wenn er

302
Anhang

von Raffaels Sixtinische Madonna meint, sie sei Ausdruck „des göttlichen Dogmas
von der Nichtigkeit der Erscheinungswelt“, und die „göttliche Liebe“, welche aus
ihrer unnahbaren Schönheit auf uns blickt, sei „aus innerster Verneinung der Welt“
geboren. Ebenda, S. 131, 141, 136.
128 Ebenda, S. 142.
129 Ebenda, S. 147.
130 Ebenda, S. 166.
131 Ebenda, S. 155.
132 Die Stelle, in denen dieser Schritt vom Pessimismus zum Optimismus vollzogen wird,
lautet folgendermaßen: „So lange wir dagegen das Werk des Willens, der wir selbst
sind, zu vollziehen haben, sind wir in Wahrheit auf den Geist der Verneinung ange-
wiesen, nämlich der Verneinung des eigenen Willens selbst, welcher, als blind und nur
begehrend, sich deutlich wahrnehmbar nur in dem Unwillen gegen das kundgibt, was
ihm als Hindernis oder Unbefriedigung widerwärtig ist. Da er aber doch selbst wiede-
rum allein nur dieses sich Entgegenstrebende ist, so drückt sein Wüten nichts anderes
als seine Selbstverneinung aus, und hierüber zur Selbstbesinnung zu gelangen, darf
endlich nur das dem Leiden entkeimende Mitleid ermöglichen, welches dann als Auf-
hebung des Willens die Negation einer Negation ausdrückt, die wir nach den Regeln
der Logik als Affirmation verstehen.“ Ebenda, S. 163. Hinter dem, was Wagner hier
in schwerverständlichen Abstraktionen zu erklären versucht, steht folgender einfacher
Gedankengang: Wir streben, dazu angeleitet von der Erkenntnis des überall gegen-
wärtigen Leidens in der Welt, die Verneinung des Willens an, dessen Selbstentzweiung
dieses Leid verursacht. Dieser Wille ist jedoch selbst schon eine Verneinung, und zwar
eine Selbstverneinung; denn er kämpft ständig gegen sich selbst, indem er die einzelnen
Wesen dazu treibt, anderen zu schaden, um sich selbst Befriedigung zu verschaffen.
Wenn ich also den Willen durch Verneinung aufhebe, hebe ich nur eine Verneinung
auf; ich beseitige einen Zustand, in dem der Wille fortwährend sein eigenes Wesen,
welches Einheit und Harmonie ist, negiert. Was dann übrig bleibt ist demnach etwas
Positives: der befreite, zu sich gekommene Wille, dessen Befreiung ich durch meine Ver-
neinung des blinden, mit sich selbst entzweiten Dranges ermöglicht habe. Das ist es,
was Wagner meint, wenn er von einer durch doppelte Negation entstandenen „Affir-
mation“ spricht. Mit diesem Gedanken knüpft Wagner ganz offensichtlich an die Fest-
stellung Schopenhauers an, dass das „Nichts“ kein absolutes Nicht-Sein sei, sondern
nur ein Fehlen dessen, was wir, die wir in der Welt der Erscheinungen befangen sind,
bisher als „Sein“ aufgefasst haben – und dass es hinter dem Willen zum Leben durchaus
etwas Anderes geben könne, was dem Sein zugrunde liege. Nur verwendet Wagner
diese Feststellung keineswegs im Sinne Schopenhauers, sondern setzt hier vielmehr den
Hebel an, mit dem er den ganzen Pessimismus aus den Angeln hebt und Schopenhauers
System gleichsam auf den Kopf stellt. Schopenhauer hatte gesagt: Der Wille zum Leben
bejaht sich, indem er sich in den einzelnen Wesen auf Kosten der anderen durchsetzt;

303
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Wagner sagt dagegen: Mit dieser Selbstzerstörung verneint sich der Wille. Schopenhau-
er hatte gesagt: Wenn der Mensch den Willen überwindet, verneint er ihn; Wagner sagt
dagegen: Durch die Überwindung des blinden, egoistischen Dranges bejaht der Mensch
den Willen, indem er ihn von seiner Selbstentfremdung befreit und zu seinem eigentli-
chen Wesen zurückführt. Und schließlich hatte Schopenhauer behauptet, dass es nach
der Selbstüberwindung des Willens entweder gar nichts geben werde – oder etwas, was
gar kein Wille zum Leben mehr ist; Wagner ist dagegen überzeugt, dass es nach der
Selbstüberwindung einen verwandelten Willen geben wird – und dementsprechend eine
verwandelte, von egoistischer Selbstzerfleischung erlöste Welt.
133 RWGS, Band XIV, S. 131.
134 Ebenda, S. 165.
135 Ebenda, S. 29.
136 RWGS, Band VIII, S. 191
137 Ebenda, S. 163.
138 RWGS, Band XIV, S. 142.
139 Ebenda, S. 131, 132. Vgl. auch die schönen Worte über Jesus und seine Bedeutung
auf S. 149.
140 Ebenda, S. 144, 146.
141 Ebenda, S. 147.
142 Ebenda, S. 148f.
143 Ebenda, S. 151.
144 Ebenda, S. 173.
145 Ebenda, S. 174.
146 Ebenda, S. 170f.
147 Ebenda, S. 158.
148 RWGS, Band XIII, S. 314.
149 RWGS, Band XIV, S. 159.
150 Ebenda, S. 159.
151 Ebenda.
152 Um die absurde Behauptung, dass die Rassen-Ideen Gobineaus bei der Entstehung
des Parsifal mitgewirkt hätten, zu widerlegen, genügt es darauf hinzuweisen, dass
die Parsifal-Dichtung im April 1877, die Komposition im April 1879 beendet wurden
(Beendigung der Kompositionsskizze, in der die Musik bereits bis auf die Instrumen-
tation festgelegt wurde), Wagner jedoch erst im Februar 1881 von Gobineaus Buch
überhaupt erfuhr.
153 CTB, Band II, 739.
154 Ebenda, S. 744.
155 Ebenda, S. 783 (Eintragung vom 20.8.1881).
156 Ebenda, S. 807 (Eintragung vom 13.10.1881).
157 RWGS, Band XIV, S. 199.

304
Anhang

158 Ebenda, S. 200.


159 Ebenda, S. 199.
160 Ebenda, S. 201.
161 Ebenda.
162 Ebenda, S. 201.
163 Ebenda, S. 202f.
164 Ebenda, S. 203.
165 Ebenda, S. 201.
166 CTB, Band II, S. 1069 (Eintragung vom 14.12.1882).
167 Mein Leben, S. 542.
168 RWGS, Band VI, S. 278f.
169 Wesendonk, S. 146.
170 „Wie er das Epos gelesen, habe er sich zuerst gesagt, damit ist nichts zu tun, ‚nun
bleiben einige Bilder haften, der Karfreitag, die wilde Erscheinung von Condrie –
das ist es‘.“ CTB, Band II, S. 369 (Eintragung vom 20.6.1879). Vgl. auch die Eintra-
gungen vom 29.7.1878 und 28.3.1879, ebenda, S. 149, 323.
171 Wolfram, Band II, S. 214.
172 Ebenda, S. 229.
173 Ebenda, S. 387.
174 Ebenda, S. 229.
175 Rudolf Meyer widmet diesem Motiv in seinem Buch „Zum Raum wird hier die
Zeit“ breiten Raum und sieht einen wesentlichen Gegensatz zwischen der „kalten
Intelligenz“ der arabischen Kultur, die in dieser Hinsicht dem Abendland überlegen
war, und der Herzensfrömmigkeit des Christentums. Vgl. Meyer, S. 213ff.
176 CTB, Band II, S. 52 (Eintragung vom 2.3.1878).
177 RWGW, Band XIV, S. 177. Das Zitat heißt in seiner vollständigen Form: „Hält man
sich an den eigentlichen Charakter des Christentums, der es von allen monotheisti-
schen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Auf hebung
des Gesetzes des kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie
Neigung gesetzt haben will …“ Die merkwürdige Formulierung: „der es von allen
monotheistischen Religionen unterscheidet“ müsste entweder heißen: „der es von
allen anderen monotheistischen Religionen unterscheidet“ – oder sie bezieht sich auf
die Tatsache der Dreifaltigkeit, die den reinen Monotheismus auf löst und, indem er
den Gottessohn Christus Gottvater gleichsetzt, das Gesetz durch die Liebe ersetzt.
178 Overhoff, Musikdramen, S. 362.
179 Vgl. ebenda, S. 361.
180 Es erklingt zum ersten Mal in der Gurnemanz-Erzählung nach den Worten: „Drum
blieb es dem, nach dem ihr fragt verwehrt“, Klingsor’n, wie hart ihn Müh’ auch drob
beschwert“.
181 Vgl. Overhoff, S. 370ff.

305
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

182 RWGS, Band XIV, S. 143.


183 Vgl. Peter Berne, Apokalypse – Weltuntergang und Welterneuerung in Richard Wagners
‚Ring des Nibelungen‘ – eine Werkeinführung für das dritte Jahrtausend, Worms, 2006
(Berne, Apokalypse), S. 79ff.
184 RWGS, Band II, S. 370.
185 CTB, Band I, S. 1031.
186 Ebenda, Band II, S. 55.
187 Ebenda, S. 727.
188 Wesendonk, S. 244.
189 Chrétien, S. 258: „Une damoisele qui vint […] onques rien si laide a devise, ne fu neis dedens
enfer.“
190 Ebenda, S. 259, 261.
191 Wolfram, Band I, S. 533.
192 Ebenda.
193 Ebenda, Band II, S. 135.
194 Vgl. Wolfram, Band I, S. 530ff. Dasselbe trifft auch für das Maultier zu, auf dem
Cundrie hereinreitet; obwohl es selbst „dürr“ und „schlitznasig“, „einem ungari-
schen Klepper gleich“ ist, sind sein Zaum und Reitzeug „kunstvoll gearbeitet und
kostbar“. Ebenda, S. 531.
195 Chrétien, S. 372, 373.
196 Ebenda, S. 383, 384.
197 Ebenda, S. 400, 401.
198 Wesendonk, S. 243f.
199 CTB, Band II, S. 351 (Eintragung vom 17.5.1879).
200 Wie in so vielen anderen Fällen, verdanken wir auch die Kenntnis dieses Details der
bahnbrechenden Arbeit Kurt Overhoffs. Vgl. Overhoff, Musikdramen, S. 332; auch:
Overhoff, Parsifal, S. 36.
201 Vgl. Overhoff, Musikdramen, S. 359f. Das Motiv ist leicht an jener Stelle im III.
Akt zu identifizieren, wo es zu Parsifals Worten: „Ha! Welcher Sünden, welches
Frevels Schuld muss dieses Toren Haupt seit Ewigkeit belasten“ erklingt. Das Motiv
wurde von Wagner in derselben Bedeutung schon in Tristan und Isolde verwendet: in
der Szene zwischen den beiden Titelfiguren im I. Akt, da Tristans Schuld gegenüber
Isolde wie eine riesenhafte Mauer zwischen den beiden zu stehen scheint.
202 Dass Wagner ein solcher Gedanke auch tatsächlich bewusst war, darauf deutet eine
höchst aufschlussreiche Bemerkung aus dem Jahr 1882. Er war damals in Venedig,
wo er unter anderem auch die Accademia delle Belle Arti besuchte, Dort sah er eine
Madonna von Giovanni Bellini. Cosima berichtet darüber: „Der glühende Kopf der
Maria bringt ihm seinen Gedanken wieder des Geschlechtstriebes: das einzig Mäch-
tige, nun von allem Begehren befreit, der Wille entzückt und erlöst.“ CTB, Band II,
S. 938 (Eintragung vom 25.4.1882).

306
Anhang

203 Zitiert nach: Meisig, S. 81.


204 Ebenda.
205 CTB, Band I, S. 1037 (Eintragung vom 14.3.1877): „R. dichtet am Bühnenweihfest-
spiel; bei Tisch sagt er mir, ‚ sie wird Gundrigia, Strickerin des Krieges heißen‘, dann
aber meint er, wird er bei ‚Kundry‘ bleiben.“
206 CTB, Band II, S. 139 (Eintragung vom 15.7.1878). Auch jene Gedanken über Lohen-
grin, die er achtzehn Jahre davor in einem Brief an Mathilde Wesendonk äußerte,
lassen vermuten, dass er das Phänomen der Wiedergeburt – zumindest im Rahmen
unseres Lebens in Zeit und Raum – durchaus ernstnahm: „Nur die tiefsinnige An-
nahme der Seelenwanderung konnte mir den trostreichen Punkt zeigen, auf welchen
endlich Alles zur gleichen Höhe der Erlösung zusammenläuft, nachdem die verschie-
denen Lebensläufe, welche in der Zeit getrennt nebeneinander laufen, außer der Zeit
sich verständnisvoll berührt haben. Nach der schönen buddhistischen Annahme
wird die f leckenlose Reinheit des Lohengrin einfach daraus erklärlich, dass er die
Fortsetzung Parzifals – der die Reinheit sich erst erkämpfte – ist. Ebenso würde Elsa
in ihrer Wiedergeburt bis zu Lohengrin hinanreichen.“ Wesendonk, S. 242 (Brief
von Anfang August 1860).
207 Schopenhauer bringt eine ganz andere Deutung des, wie er es nennt, Wiederge-
burts-„Mythos“. Vgl. Schopenhauer, Band I, S. 468f, 470 und Band II, S. 1408.
208 Wesendonk, S. 217 (Brief vom 3.3.1860).
209 „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: Carl Gustav Jung, Grund-
werk in neun Bänden, Olten, 1984/85 ( Jung, GW), Band II, S. 77.
210 Jung, „Anima und Animus“ in: Jung, GW, Band III, S. 73.
211 Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung, Frankfurt am Main, 1978 ( Jacobi),
S. 20.
212 Jung, „Kindertraumseminar, 1938/39“; zitiert nach: Jacobi, S. 20.
213 Vgl. Jung, „Der Begriff des kollektiven Unbewussten“ in: Jung, GW, Band II,
S. 115.
214 Ebenda.
215 Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: ebenda, S. 79.
216 Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: ebenda, S. 94.
217 Ebenda, S. 97.
218 Ebenda, S. 144.
219 Vgl. Ebenda, S. 147.
220 Vgl. Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: ebenda, S. 79.
221 Jung, „Anima und Animus“ in: Jung, GW, Band III, S. 71.
222 Jung, „Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffes“
in: Jung, GW, Band II, S. 141.
223 Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: ebenda, S. 100.
224 Ebenda, S. 81.

307
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

225 Ebenda, S. 80.


226 Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: ebenda, S. 80.
227 Jung, „Anima und Animus“ in: Jung, GW, Band III, S. 84.
228 Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: Jung, GW, Band II,
S.102.
229 Ebenda, S. 103.
230 Ebenda.
231 Ebenda, S. 103f.
232 Ebenda, S. 101.
233 Jung, „Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffes“
in: ebenda, S. 141.
234 Jung, „Heros und Mutterarchetyp (Symbole der Wandlung 2)“ in: Jung, GW, Band
VIII, S. 244. S. auch 215ff, 243ff.
235 Jung, „Die Mana-Persönlichkeit“ in: Jung, GW, Band III, S. 110.
236 Jacobi, S. 117.
237 Vgl. Jung, „Anima und Animus“ in: Jung, GW, Band III, S. 80.
238 Ebenda.
239 Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ in: Jung, GW, Band II,
S.102.
240 Jung, „Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus“ in: ebenda, S. 149.
241 Ebenda.
242 Ebenda.
243 Ebenda.
244 Jacobi, S. 132.
245 Jung, „Psychologie und Alchemie“, zitiert nach: Jacobi, S. 130.
246 Jacobi, S. 132.
247 Jung, „Die Mana-Persönlichkeit“, in: Jung, GW, Band III, S. 121.
248 Vgl. Jacobi, S. 127.
249 Ebenda, S. 133.
250 Ebenda.
251 Jung, „Die Funktion des Unbewussten“, in: Jung, GW, Band III, S. 61.
252 Jung, „Kommentar zu ‚Das Geheimnis der goldenen Blüte‘“, zitiert nach: Jacobi,
S. 134.
253 Wesendonk, S. 144f.
254 Zur Symbolik dieser Handlung vgl. Berne, Apokalypse, S. 92ff.
255 Zur Idee der Freiheit bei Wagner vgl. ebenda, S. 200ff.
256 RWGS, Band X, S. 210.
257 Ebenda, S. 209.
258 Die weit verbreitete Meinung, dass Elisabeth der Gegenpol zur Venus darstellen
würde, ist in vielerlei Hinsicht nicht haltbar. Erstens kann ein Mensch nicht der Ge-

308
Anhang

genpol einer Gottheit sein; ein Mensch ist in die Polarität hineingestellt, ist wandel-
bar und erfährt ein Schicksal, eine Gottheit ist statisch und schicksalslos. Zweitens
geht eine solche Meinung völlig am Charakter der Elisabeth vorbei. Sie bewundert
Tannhäusers Kunst gerade weil er in seinen Liedern die rein geistige Liebe ablehnt
und die Bedeutung der Sinnlichkeit betont; bezeichnenderweise ist sie die einzige,
die während des Sängerkriegs laut Wagners Regieanweisungen Tannhäusers kühnen
Ansichten Beifall spendet. Durch dieses grobe Missverständnis, dem auch ein so fun-
dierter Wagner-Kenner wie Westernhagen verfällt, wird der ganze Sinn des Dramas
verfälscht, das alles andere als ein Loblied der asketischen Anbetung ist und das viel-
mehr das Ideal des ganzheitlichen Menschen aufstellt – in Tannhäuser, dem Künstler,
und Elisabeth, der Liebenden.
259 Wolfram, Band II, S. 82.
260 Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, herausgegeben von Emil Staiger. Frank-
furt am Main, 1966 (Schiller/Goethe), Band I, S. 127 (Brief von Schiller an Goethe
vom 17.8.1795).
261 Schopenhauer, Band 1, S. 601f.
262 Wesendonk, S. 144f.
263 „Wie kann ich zugleich in der Welt und zugleich in Gott sein? Antwortet das Evan-
gelium Jesu: Indem du in der Welt lebst und wirkst als einer, der anders ist als die
Welt …“ „Das Christentum und die Weltreligionen“, Schweitzer, Band II, S. 709.
264 Wolfram, Band II, S. 66, 67.
265 Ebenda, S. 698f.
266 CTB, Band I, S. 1058.
267 Ebenda, Band II, S. 154 (Eintragung vom 4.8.1878). Ähnlich äußerte sich Wagner
auch am 27.11.1878 (ebenda, Band II, S. 242), nur dass er dort versucht, seine Gedan-
ken über die Tätigkeit zum Wohle anderer in das Gewand der Schopenhauer’schen
Weltverneinung zu kleiden, was natürlich zu einem unauf lösbaren Widerspruch
führt!
268 In Bezug auf die Zerstückelung der menschlichen Natur nach dem Untergang der
antiken Kultur schreibt Schiller z.B.: „Wieviel also auch für das Ganze der Welt
durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag,
so ist nicht zu leugnen, dass die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch die-
ses Weltzweckes leiden […] Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über
irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen? […] Es muss also falsch sein, dass die
Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder
wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muss es bei uns stehen,
diese Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere
Kunst wiederherzustellen.“ „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer
Reihe von Briefen“, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, München, 1959 (Schil-
ler), Band V, S. 588.

309
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

269 Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt am Main/Berlin, 1983 (Fromm,
Freiheit), S. 38.
270 Der Sinn dieser Stelle ist allerdings nicht genau zu bestimmen. Overhoff meint, dass
die Ritter durch den Anblick des Grals eine natürliche Keuschheit genießen, die jede
sinnliche Versuchung von ihnen fernhalte: „Im Gegensatz zu den Blumenmädchen
gibt es ein natürliches Triebleben für die ausschließlich durch den Anblick des Grals
ernährten und vermöge seiner Kraft überirdisch gestärkten Ritter überhaupt nicht.
Sie sind – solange der Gral ihnen enthüllt wird und sie ‚gemeiner Atzung‘ nicht
bedürfen – keineswegs etwa Asketen, sondern sie sind ebenso göttlich keusch be-
dürfnislos, wie die Blumenmädchen unkeusch und bedürftig sind.“ Overhoff, Mu-
sikdramen, S. 326. Im mündlichen Unterricht vertrat er mir gegenüber deshalb die
Auffassung, dass sich jene Worte auf den Zustand nach der Amtsverweigerung des
Amfortas beziehen; erst dadurch seien sie zu asketischen Übungen gezwungen wor-
den. Möglich ist jedoch auch die Auffassung, dass sich Parsifal auf seine Erlebnisse
im Gralstempel bezieht – was bedeuten würde, dass die Ritter schon vorher ihre
Reinheit durch asketische Übungen bewahrten. Allerdings deutet nichts in der ers-
ten Gralsszene auf einen solchen Tatbestand.
271 „Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882“, in: RWGS, Band II, S. 376.
272 CTB, Band II, S. 238 (Eintragung vom 23.11.1878).
273 „Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen“, in: Jung, GW, Band II, S. 219.
274 Ebenda, S. 223.
275 Ebenda, S. 218.
276 OuD, S. 212.
277 Ebenda, S. 213.
278 Vgl. Chrétien, S. 587.
279 Es ist auffallend, dass die rettende Person auch in anderen Werken Wagners oft als
tabula rasa erscheint – in der Gestalt eines jungen Menschen, der von den alten Denk-
und Handlungsweisen völlig unberührt ist. So ist es bei Siegfried, der ohne jede
Erziehung und fern aller Menschen im Wald aufwächst; und so ist es auch bei Walter
von Stolzing, der nichts von den alten Regeln der Meister weiß, und deshalb imstan-
de ist, die Kunst von Grund auf zu erneuern. Die Jugend und die Unerfahrenheit
dieser Menschen weisen darauf hin, dass es sich bei der notwendigen Erneuerung um
eine radikale Änderung handelt, der nicht innerhalb des Alten, sondern nur durch
dessen vollständige Ablösung durch das Neue erfolgen kann.
280 CTB, Band I, S. 1088.
281 Die Elemente dieser Geschichte fand Wagner alle bei Wolfram vorgebildet; er muss-
te sie nur zusammenraffen, um sie seinen eigenen Intentionen dienstbar zu machen.
Auch hier ist es erstaunlich, wie sehr die mittelalterlichen Quellen seinen durch
Schopenhauer und den Buddhismus geprägten Gedanken entgegenkamen. Schon die
Ereignisse um Parsifals Geburt bringen wesentliche Grundideen der Wagner’schen

310
Anhang

Weltanschauung zum Ausdruck. Bei Wolfram heißen die Eltern des künftigen Hel-
den Herzeloyde und Gachmuret; der Lebensgeschichte des letzteren widmet der
Dichter zwei ganze Kapitel am Anfang seines Epos. Detailliert werden Gachmurets
Taten beschrieben, die er vor allem im Orient verübt, wohin ihn seine unbändige
Abenteuerlust geführt hat. Das Meiste lässt Wagner jedoch als irrelevant für seine
Aussage beiseite und übernimmt aus der ganzen Wolfram’schen Erzählung nur ein
Motiv. Der unruhige, nach kühnen Taten verlangende Gachmuret, so wird dort be-
richtet, nachdem er mit Herzeloyde ein Kind gezeugt hatte, hielt es bei seiner Frau
nicht lange aus, sondern kehrte in den Orient zurück, wo er bald im Kampfe den Tod
fand. Auch Parzivals Vater starb also kurz nach der Zeugung; von diesem tragischen
Ereignis wird die Geburt des Sohnes umdüstert.
282 Vgl. hierzu Berne, Apokalypse, S. 236ff.
283 Die Analyse dieser Stelle, sowie des ganzen Zwischenspiels folgt im Großen und
Ganzen den Erkenntnissen Overhoffs, wie sie teilweise in seinem Buch „Die Musik-
dramen Richard Wagners“ niedergelegt, teilweise mir mündlich mitgeteilt wurden.
Vgl. Overhoff, Musikdramen, S. 373ff.
284 Ebenda, S. 375.
285 Das Motiv des leeren Platzes, der einst vom neuen Gralskönig eingenommen werden
sollte, hat Wagner dem Epos des Robert de Boron entnommen. Vgl. Robert, S. 62ff.
286 Meisig, S. 82.
287 CTB, Band II, S. 115 (Eintragung vom 12.6.1878).
288 Ebenda, S. 178 (Eintragung vom 19.9.1878).
289 In seinem zur Zeit der Entstehung der Ring-Dichtung verfassten Buch Oper und Dra-
ma schrieb Wagner darüber Folgendes: „Stellen wir uns das Verfahren des Dichters
in der Bildung seines Wunders deutlicher vor, so sehen wir zunächst, dass er, um
einen großen Zusammenhang gegenseitig sich bedingender Handlungen zu ver-
ständlichem Überblicke darstellen zu können, diese Handlungen in sich selbst zu
einem Maße zusammendrängen muss, in welchem sie bei leichtester Übersichtlich-
keit dennoch nichts von der Fülle ihres Inhalts verlieren.“ OuD, S. 221. Als er jene
Worte schrieb, dachte Wagner offensichtlich an den Vergessenstrank, den Gutrune
im I. Akt der Götterdämmerung Siegfried anbietet, und der dort ohne Zweifel als
symbolische Zusammenfassung einer ganzen Reihe erotischer Erlebnisse zu sehen
ist, die auf Siegfried nach seinem Abstieg in die Menschenwelt einstürmen und sein
Bewusstsein so verändern, dass er seine höhere Schicksalsaufgabe vergisst. Vgl. dazu
auch Berne, Apokalypse, S. 240.
290 Tatsächlich ist es ein häufig vorkommender Topos der christlichen Heiligenvita,
dass der zur Heiligkeit ausersehene Mensch zunächst ein „sündiges“ Leben führt,
bevor er, durch eine plötzliche innere Umkehr verwandelt, sich endgültig Gott zu-
wendet. Auch Hermann Hesse lässt seinen Siddharta eine Periode sinnlichen Genus-
ses durchleben, bevor er, durch eigene Erfahrung belehrt, aus freiem Entschluss zur

311
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

Entsagung findet. Die gleiche Vorstellung findet sich im indischen Denken; wie Eli-
sabeth Haich in ihrem Buch „Sexuelle Kraft und Yoga“ schreibt: „Den Yoga-Weg zu
betreten bedeutet nicht, dass wir mit enthaltsamem Leben anfangen sollen. Am An-
fang des Yoga-Weges müssen wir zuerst in jeder Hinsicht lernen, wie man gesund,
mit der Natur und nicht gegen die Natur, lebt […] Ich muss durch die Erfahrungen
hindurchgehen, ich muss mit der sexuellen Kraft gründlich, mit allen ihren Schi-
kanen, mit allen ihren Fallen, die sie dem Menschen stellt, bekannt werden, bis ich
diese Form der schöpferischen Energie vollkommen durchschaue.“ Elisabeth Haich,
Sexuelle Kraft und Yoga, München, Engelberg/Schweiz, 1971 (Haich), S. 33, 80.
291 „Das Kunstwerk der Zukunft“, II/4, in: RWGS, Band X, S. 210.
292 „Eine Mitteilung an meine Freunde“, in: RWGS, Band I, S. 124.
293 OuD, S. 367.
294 Die gewaltsame Askese der Gralsritter, die diese nach der Amtsverweigerung des
Amfortas an sich verüben, wird ebenfalls als negativ bewertet, weil sie Leid verur-
sacht und keinen echten Weg zur Selbstvervollkommnung darstellt.
295 So pf legten z.B. die Daoisten des mittelalterlichen Chinas bestimmte Techniken,
die den Zweck verfolgten, den „groben Körper“ in einen „subtilen und unsterbli-
chen Körper“ umzuwandeln; durch Zurückhaltung der Samenf lüssigkeit sollte es
möglich sein, die Lebenskraft („Qi“) „bis zum Hirn steigen“ zu lassen, wodurch eine
„Spiritualisierung“ dieser Kraft erreicht werden sollte. Vgl. Isabelle Robinet: Taoist
Meditation, Albany, New York, 1993 (Robinet), S. 89. (Die Übersetzung aus dem
Englischen besorgte der Autor.)
296 Gopi Krishna und Carl Friedrich von Weizsäcker, Biologische Basis religiöser Erfahrung,
Weilheim/Obb., 1971 (Weizsäcker), S. 18.
297 Ebenda, S. 26.
298 Ebenda, S. 31f. Der Prozess der Verwandlung, wie er von den Praktizierenden dieses
Yogas beschrieben wird, wird von Elisabeth Haich in ihrem Buch Sexuelle Kraft und
Yoga genauer beschrieben: „In Indien finden wir dieselbe ‚Schlange‘, ‚Kundalini‘
genannt. Solange der Mensch unbewusst ist und seine höheren Nervenzentren sich
noch in einem latenten Zustand befinden, ruht sie zusammengerollt im untersten
Energiezentrum, das seinen Sitz im untersten Wirbelknochen, im Steißbein, hat,
also im Sitz des negativen Pols der Lebensspannung! Wenn der Mensch allmählich
bewusst wird und dadurch seine Energiezentren aktiviert werden, rollt sich die
Kundalinischlange langsam aus und steigt immer höher, nimmt die Nervenzentren,
eines nach dem anderen, in ihren Besitz, belebt sie, und steigt weiter hinauf, bis zum
allerhöchsten Zentrum, das sich im obersten Teil des Kopfes, im Scheitel, befin-
det. Dort vereinigt sie sich mit dem positiven Pol, der seinen Sitz hier, im siebten
Energiezentrum hat. Dann steht sie ebenso aufrecht wie die Äskulapschlange.“ Vgl.
Haich, S. 54f. Die Ähnlichkeit zu Parsifal ist in dieser Beschreibung unübersehbar.
Hier die „Kundalini“, dort die „Kundry“; hier die zusammengerollte Schlange, dort

312
Anhang

die Frau mit wilden Schlangenhaaren; hier das Aufsteigen vom tiefsten Punkt der
Wirbelsäule bis zum höchsten Punkt der Schädeldecke, dort das Emportauchen aus
der Tiefe des Turms und das Schreiten „in aufsteigenden Gängen“ bis zum Kuppel-
saal des Gralstempels; hier die Vereinigung des negativen und positiven Pols, dort
die Vereinigung der sinnlichen Verführerin mit dem heiligen Gral …
299 CTB, Band II, S. 108 (Eintragung vom 4.6.1878).
300 Wiedergegeben von Felix Mottl in der von C. F. Peters herausgegebenen Partitur.
301 Schopenhauer, Band I, S. 497.
302 Albert Schweitzer, Predigten 1898 – 1948, München, 2001 (Schweitzer, Predigten),
S. 1242 (Predigt vom 23.2.1919).
303 Das Abgleiten in den als Religion getarnten sexuellen Genuss ist ein wohl bekanntes
Phänomen. Man denke nur an die zahlreichen Fälle solcher Art, die sich innerhalb
Sekten ereignen, aber auch an die vielen populären Angebote für „Tantra-Yoga“,
hinter denen sich oft nichts als Sexorgien verbergen.
304 Vgl. Overhoff, Musikdramen, S. 24ff. Overhoff bezieht auch die Stelle aus dem III.
Akt von Tristan und Isolde mit ein, wo zu den Worten „göttlich ew’ges Urvergessen“
eine ähnliche Modulation aus dem dunklen as-moll-Bereich nach D-Dur stattfindet.
305 Ebenda, S. 24f.
306 Ebenda, S. 24.
307 RWGS, Band XIV, S. 132f.
308 Bei Wolfram ist es auch, wie bei Wagner, die Kundry, welche durch ihre Verf luchung
den Helden in die Irre hinaustreibt. Doch während bei Wagner der Fluch durch die
Verführerin ausgesprochen wird, die, als Verkörperung der Triebnatur dadurch ihre
eigene Verwandlung erzwingen will, ist es bei Wolfram die Gralsbotin, die aus Sorge
um das Schicksal des Grales Parzival, der dem weltlichen Leben zu verfallen droht,
dazu zwingen will, seine eigentliche Lebensaufgabe wieder zu ergreifen. (Freilich
kann bei Kundry in der tiefsten Tiefe ihrer Seele beides zusammentreffen …)
309 Vgl. die Eintragung Cosimas vom 18.10.1878: „Er geht an die Arbeit, und wie er
mich zum Mittagessen ruft, sagt er mir, er wisse nun genau, wie es stünde, und dass
er nichts einzeln bringen dürfe, sondern dass alles im Zusammenhang sein müsse,
also sein Vorspiel zum 3ten Akt das Thema von Titurels Bestattung bringen werde,
wie er im Vorspiel zum 1sten Akt den Gesang der Grals-Ritter hatte. So eine große
‚unanhängige [sic] Geschichte‘, Parsifals Irrfahrt, das ginge nicht.“ CTB, Band II,
S. 202. Vgl. auch die Eintragungen vom 24.10. und 28.10.1878 , CTB, Band II,
S. 209, 212.
310 CTB, Band II, S. 209 (Eintragung vom 24.10.1878).
311 Tatsächlich ist die Verwandlung der inneren Natur ein unendlich langer Entwick-
lungsprozess. Es gibt viele Fälle von hochgesinnten Menschen, die eine innere Um-
kehr erlebten und den Entschluss zur Änderung ihres Lebenswandels fassten, ohne
dass sie sich tatsächlich im wirklichen Leben von den alten Verhaltensweisen frei-

313
Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

machen konnten, was darauf hinweist, dass die innere Umwandlung noch nicht das
ganze Wesen erfasste. Ein Beispiel dafür gibt uns Wagner im Wotan des III. Sieg-
fried-Aktes: Sein starker Wille, der nach der Auseinandersetzung mit Erda völlig
„gebrochen“ zu sein schien, bäumt sich in der Begegnung mit Siegfried noch einmal
heftig auf – so, als hätte eine Willensumkehr nie stattgefunden!
312 CTB, Band II, S. 207 (Eintragung vom 22.10.1878).
313 Ebenda, S. 121 (Eintragung vom 22.6.1878). Ein anderes Mal meinte er: „... alles
ist unausgesprochene Ekstase, wie Parsifal da heimkehrt und den Blick auf dieses
arme Weib wirft.“ Ebenda, S. 302 (Eintragung vom 3.2.1879). Und bei den Proben
zur Uraufführung des Werkes in Bayreuth sagte er während der Fußwaschung, die
Kundry an Parsifal vollzieht: „Was zwischen allen vorgeht, ist ein ungeheures Ge-
heimnis, man weiß nicht, ob Parsifal Kundry erkennt oder nicht.“ Wiedergegeben
von Felix Mottl in dem im Verlag C. F. Peters erschienenen Klavierauszug, S. 236.
314 Eine detaillierte Analyse dieser Stelle bekräftigt das Gesagte. Nach der ersten Se-
quenz von aufsteigenden „Sehnsuchts-Sekunden“ erklingen jene drei absteigenden
„Wehe-Sekunden“, die in der Blumenmädchen-Szene, sowie beim Zusammenbruch
des Zaubergartens als Klage der Natur über ihre Vergänglichkeit zu deuten sind;
nach der zweiten und letzten Sequenz geht die Musik über in jenes aus zwei abstei-
genden Quartschritten bestehende Motiv, das, da es zum ersten Mal markant zu
Kundrys Worten „Lass mich an seinem Busen weinen“ erklingt, als Klangsymbol des
Erlösungsverlangens gedeutet werden kann; danach geht dieses Motiv seinerseits in
die reinen Quartsprünge der Gralsglocken über. Die Aussage heißt also stichwortar-
tig: Schuldgefühle – Sehnsucht – Erkenntnis der Vergänglichkeit des bloß Natürli-
chen – Auf lösung der Sehnsucht – Erlösungsverlangen – Heiligkeit.
315 Lukas 10:40, in: Neues Testament, S. 97.
316 Erich Fromm, Märchen, Mythen, Träume – Eine Einführung in das Verständnis einer ver-
gessenen Sprache, Reinbek bei Hamburg, 1981 (Fromm, Märchen), S. 25.
317 Parsifals Wiedererscheinen ist allerdings zunächst noch alles andere als strahlend
und lichtvoll. Wir erleben hier den Helden nicht als Sieger, sondern so, wie er wäh-
rend seiner Irrfahrt durch die Welt erschienen ist. Er hält den Speer jetzt gesenkt;
denn die äußeren Angriffe sind abgewehrt worden und die Kämpfe haben aufgehört.
Doch eine innere Prüfung muss er bis zum allerletzten Augenblick durchmachen:
die Hoffnungslosigkeit. Dieser muss er noch standhalten; das Gefühl, „den Weg des
Heiles nie zu finden“, darf ihn nicht davon abhalten, in seiner Haltung der Gewalt-
losigkeit unerschütterlich weiterzuschreiten. Der Zustand der Hoffnungslosigkeit
kommt darin symbolisch zum Ausdruck, dass er gänzlich in schwarz gekleidet ist
und, wie Wagner schreibt, „gebeugten Hauptes“ dahin geht. Das „träumerisch zö-
gernde“ Schreiten „mit geschlossenem Helme“ zeigt dagegen, dass er, um von sei-
nem Ziel nicht abgelenkt zu werden, sich völlig von der Außenwelt abgeschlossen
hat. Parsifal ist am Ziel angelangt – aber er weiß es noch nicht. Er ist wie ein Mensch,

314
Anhang

der durch einen langen Tunnel gegangen ist: Da er endlich aus der Finsternis heraus
kommt und ins Licht tritt, bemerkt er es nicht, weil er die Augen noch geschlos-
sen hat. Deshalb reagiert er auch auf den Hinweis des Gurnemanz, dass „heute der
allerheiligste Karfreitag ist“, mit einem traurigen Senken des Hauptes. Er hat die
Passion kennengelernt, weiß aber noch nicht um die Auferstehung, die Sinn und Ziel
des Leidensweges ist. Sein ganzes Wesen ist auf das eine Ziel konzentriert, das er,
ohne sich durch die scheinbare Hoffnungslosigkeit seiner Bemühungen entmutigen
zu lassen, unbeirrt verfolgt: die Heimführung des Speeres. Und es wirkt wie ein Beweis
dafür, wenn er, nachdem er auf die Aufforderung des Gurnemanz hin seine Rüstung
abgenommen und damit die Verbindung mit der Außenwelt wieder hergestellt hat,
als erstes auf die Knie sinkt, um mit einem langen, stummen Gebet die Spitze der
heiligen Lanze zu verehren, an der das Blut Christi haftet.
318 Johannes 12:1-3, in: Neues Testament, S. 137.
319 Die gleichen pianissimo-Schläge erklingen – dort wirklich von der Pauke gespielt –
am Ende des Vorspiels zum III. Akt sowie bei Parsifals Wiedererscheinen auf Grals-
gebiet: ein deutlicher Hinweis auf den Zusammenhang, der zwischen Parsifal und
Kundry bzw. zwischen Parsifals Irrfahrt und der Taufe der Kundry besteht.
320 CTB, Band II, S. 303 (Eintragung vom 2. Februar 1879).
321 OuD, S. 213. Vgl. Auch Apokalypse, S. 293ff.
322 Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, Stuttgart, o. J. (Schweitzer, Leben
und Denken), S. 225.
323 CTB, Band II, S. 406 (Eintragung vom 9.9.1879).
324 Ebenda, S. 318 (Eintragung vom 20.3.1879).
325 Ebenda.
326 Vgl. die Eintragung in Cosimas Tagebücher vom 1.8.1879: „…bei den Akkorden, wo
Parsifal das Gralsritter-Gewand bekommt, bemerkt R., wie ein furchtbare Verände-
rung mit ihm geschieht, alles ist abgeschlossen …“. CTB, Band II, S. 391.
327 Ebenda, S. 321 (Eintragung vom 24.3.1879).
328 Ebenda, S. 573 (Eintragung vom 20.7.1880).
329 Vgl. die beiden ähnlichen Motive aus Tannhäuser und Lohengrin, in denen ebenfalls
zwei einander von oben und unten entgegenstrebende Linien die Verschmelzung
der beiden Sphären klangsymbolisch zum Ausdruck bringen. Das eine erklingt am
Anfang des III. Aktes des Tannhäuser nach Wolframs Worten „O heil‘ger Liebe ew’ge
Macht“, das andere ganz am Ende des Lohengrin-Vorspiels nach dem Abklingen des
fortissimo. Vgl. auch Overhoff, Musikdramen, S. 103, 376.
330 Vgl. OuD, S. 367.
331 Hätte Wagner moderne filmische Mittel zur Verfügung gehabt, dann hätte er viel-
leicht eine Möglichkeit gefunden, dass sich die Gestalt der Kundry tatsächlich in Par-
sifal auf löste, also die einstige Begierdenatur als Liebe in die neue, von Parsifal verkör-
perte Ganzheit des menschlichen Wesens einginge, um Teil von ihr zu werden.

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

332 Wollte man die rationalistische und realistische Deutung der Kundry-Figur auf die
Spitze treiben, könnte man sagen, dass sie, da sie Befreiung erlangt habe, nach ihrem
Tod wie ein Boddhisattwa jederzeit freiwillig wieder ins Leben treten könne, um auf
der Erde Gutes zu wirken … Doch solche Deutungen widersprechen prinzipiell der
symbolischen Darstellungsweise des mythischen Dramas.
333 CTB, Band II, S. 872 (Eintragung vom 13.1.1882).
334 Auch die Behauptung, dass die reine Männergemeinschaft der Ritter auf eine frau-
enfeindliche Tendenz des Werkes hindeute, beruht wie die meisten Vorurteile gegen
Wagner und sein Werk auf Unwissenheit. Denn bei Wolfram, aus dessen Epos Wag-
ner die äußeren Elemente seines Drama entnahm, ist die Gralsgesellschaft keineswegs
rein männlich, und es gibt bei ihm sogar eine Gralsträgerin – Repanse de Schoye,
eine Schwester des Anfortas – die eine wichtige Rolle in der Handlung spielt. Dass
Wagner bei der Uraufführung des Werkes ebenfalls eine solche Gestalt auftreten
ließ, wissen wir aus den Tagebüchern Cosimas, wo es in der Eintragung vom 17. Juli
1882 lakonisch heißt: „Wir haben Gralsträgerin, Knappe und Dr. Stecker mit Frau
zu Tisch.“ (vgl. CTB, Band II, S. 980.) Wer die Aufgabe, das allerheiligste Gefäß
beim rituellen Mahl zu tragen, einer Frau überträgt, entlarvt damit den Vorwurf der
Frauenfeindlichkeit als völlig haltlos.
335 Braunes Buch, S. 61.
336 Ebenda, S. 70.
337 Mein Leben, S. 561. Dass Wagner, wie er später zu Cosima sagte, sich hier irrte,
und „dass nur die Stille im Garten des Asyls die Karfreitag-Stimmung zurückrief,
nicht dass Karfreitag gerade gewesen sei“, ändert nichts am Kern des Erlebnisses, das
durch die „Stille“ der neu auf blühenden Natur ausgelöst wurde. S. CTB, Band II,
S. 36 (Eintragung vom 13.1.1878).
338 Goethe Werke, Band I, S. 732.
339 Nach Schopenhauer ist es der eine Wille, der in allen Dingen ganz und unteilbar als
deren Wesensgrund wohnt. Wenn nun dieser Wille sich in einer einzelnen Erschei-
nung überwindet, dann überwindet er sich als Wille überhaupt; und diese Selbst-
überwindung muss sich auch in allen anderen Erscheinungen auswirken. Die innere
Verwandlung also, die sich in einem einzelnen Menschen vollzieht, muss die Ver-
wandlung der ganzen Natur nach sich ziehen. Wie im mythischen Weltbild ent-
spricht hier das Innere dem Äußeren; die Erlösung des Menschen ist zugleich die
Erlösung der Natur.
340 RWGS, Band XIV, 167f.
341 Vgl. Overhoff, Musikdramen, S. 358f.
342 Vgl. ebenda, S. 381.
343 Sie erklingt auch mit betörender Schönheit während der Fußwaschung.
344 RWGS, Band IX, S. 67.

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Anhang

345 Die Idee der erlösten Natur ist im Abendland nichts Neues. Schon Paulus hat im
8. Kapitel des Römerbriefes (10–22) den Gedanken der Apokatastasis, der ‚Rückkehr
aller Dinge zu Gott‘, klar formuliert: „Das sehnsüchtige Harren der Schöpfung war-
tet auf die Offenbarwerdung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung war der Ver-
gänglichkeit unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterwarf,
auf Hoffnung dahin, dass auch sie, die Schöpfung, von dem Dienst der Verwesung
soll befreit werden zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Wir wissen ja,
dass die ganze Schöpfung mitseufzt und mit in Wehen liegt.“ Zitiert nach: Albert
Schweitzer, Reich Gottes und Christentum, München, 1995 (Schweitzer, Reich Gottes),
S. 171. Dieser Gedanke wurde jahrhundertelang durch die Kirche so gut wie igno-
riert, bis er dann im Denken des Franziskus von Assisi mächtig wieder auf loderte.
(Vgl. das Kapitel „Welterlösung“ in: Helmut Feld, Franziskus von Assisi und seine Be-
wegung, Darmstadt, 1994). Später tauchte er überall dort wieder auf, wo sich kühner
Idealismus mit Liebe zur irdischen Welt verband – so, um nur zwei Beispiele zu nen-
nen, in den Visionen des Novalis (vgl. dazu Rudolf Meyer, Novalis – Das Christus­
erlebnis und die neue Geistesoffenbarung, Stuttgart, 1972) oder im philosophisch-theolo-
gischen System des katholischen Denkers Teilhard de Chardin.
346 Zitiert nach: Schweitzer, Reich Gottes, S. 40.
347 Schweitzer, Reich Gottes, S. 350.

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Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen

QUELLENNACHWEIS DER NOTENBEISPIELE

Wagner, Parsifal, Klavierauszug, herausgeben von Karl Klindworth, Mainz, 1910:


Seite 34, 36, 98 2. u. 3. Bspl., 99, 100, 101, 112, 116, 190, 191, 193, 201, 208
oben und Mitte, 209, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 230, 232, 233, 235, 237,
249 unten, 250, 251, 252, 253 oben, 254, 257, 258, 260, 263, 270, 271, 272, 273
Wagner, Parsifal, Klavierauszug, herausgeben von Felix Mottl, Leipzig, 1914: Sei-
te 32 Mitte, 35 unten, 113 unten, 114, 115, 122, 183, 186, 187 unten, 189 Mitte
und unten, 201, 215 unten, 249 oben, 270
Wagner, Götterdämmerung, Klavierauszug, herausgegeben von Felix Mottl, Leip-
zig, 1914: Seite 98 oben, 215 oben
Wagner, Tannhäuser, Klavierauszug, herausgegeben von Karl Klindworth, Mainz,
1905: Seite 188 oben
Wagner, Tristan und Isolde, Klavierauszug, herausgeben von Felix Mottl und Gus-
tav Friedrich Kogel, Leipzig, 1914: Seite 158

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www.hollitzer.at

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