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DER MEISTER
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Band III:
K�ilosophie, Gegenstari�,1Vletlt de, Mittel
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Die Freimaurerei
ihren Anhängern verständlich gemacht
DIE FREIMAUREREI
IHREN ANHÄNGERN VERSTÄNDLICH GEMACHT
DER MEISTER
LEMAITRE
Vorwort
Wer Oswald Wirth war und was er fllr die Freimaurerei bedeutet,
ist aus deutscher Sicht bislang schwer zu ermessen gewesen.
6 Der Meister
,,L'acacia" und „La Lumiere", bevor er 1912 die Monatszeit
schrift „Le Symbolisme" gründete. Diese Zeitschrift trug zu
Beginn den Untertitel „Organ der universellen Bewegung der
initiatischen Regeneration" und später „Organ der Einweihung
in die Philosophie der hohen Kunst der universellen Konstruk
tion". Es wurden zwischen 1912 und Juni 1940 insgesamt 244
Ausgaben veröffentlicht. 1935 rief ihn der Oberste Rat in seine
Mitte. Wir verdanken Wirth zahlreiche Veröffentlichungen über
die maurerische Symbolik, u. a. die Übersetzung und Kommen
tierung von Goethes „Märchen" unter dem Titel „Le serpent Vert
- Conte symbolique de Goethe traduit et commente par Oswald
Wirth" - Die grüne Schlange - symbolische Erzählung von Goe
the (1922), ,,L'ideal initiatique" - Das initiatische Ideal, wie es
sich aus Riten und Symbolen erschließen lässt (1923, vervoll
ständigte Fassung 1927), ,,Le symbolisme hermetique dans ses
rapports avec !'Alchimie et Ja Franc-mayonnerie" - Die herme
tische Symbolik in ihren Beziehungen zu Alchemie und Frei
maurerei (1930), ,,Les Mysteres de l 'Art Royal" - Die Mysterien
der königlichen Kunst (1932) oder „Notions elementaires de
Mayonnisme" - Grundbegriffe der Maurerei (1934). In seinem
letzten Werk „Qui est regulier? Le pur mayonnisme sous Je Re
gime des Grandes Loges inaugure en 1717" - Wer ist regulär?
- Die echte Maurerei unter dem Regime der 1717 gegründeten
Großlogen (1938), griff Oswald Wirth 26 seiner sehr zahlreichen
in „Le Symbolisme" veröffentlichten Artikel wieder auf. Er starb
am 9. März 1943 in Mouterre-sur-Blourde bei Poitiers im fran
zösischen Departement Vienne.
Vorwort 7
Die vorliegenden Bücher des Lehrlings, des Gesellen und des
Meisters, die regelmäßig in der Originalfassung neu aufgelegt
werden und hier erstmals in deutscher Übersetzung des franzö
sischen Originals zum Abdruck kommen, sind keine Lehrbücher,
anhand derer Schüler Lektionen lernen und diese im Anschluss
fehlerfrei vortragen müssen. Die Initiation als solche und die
Einführung in jeden neuen Erkenntnisgrad lehrt zu denken, also
sich persönlich in Richtung der Wahrheit zu bemühen. Jene wird
den Eingeweihten niemals offenbart; ihre Pflicht ist es, die sie
interessierenden Geheimnisse durch eigene Arbeit zu erfor
schen. Die Kunst, der sie sich dabei widmen, verlangt von ih
nen, dass sie lernen, das Gebäude ihres eigenen Glaubens nach
ihrem persönlichen Belieben zu errichten. Sie verfügen dabei
über die ganze Freiheit, mit sorgfältig ausgesuchten Materialien
ein stabiles Bauwerk zu errichten. Genauso wenig, wie hierzu
jeder Stein annehmbar ist, soll auch nicht jeder Begriff ohne
Überprüfung angenommen werden und so das Zusammenhalten
des Ganzen garantieren. Die Trilogie, die Oswald Wirth den drei
Graden widmete, ist dementsprechend vielmehr als Nachs.chla
gewerk zu sehen, das Lehrlinge, Gesellen und Meister in ihre
jeweils neue Welt einführt.
8 Der Meister
eigener Initiation in die jeweiligen Grade durch Bearbeitung und
Fertigstellung des Manuskriptes unterstützt.
Maria-Rebecca Legat
Berlin, 2013
Vonvort 9
DAS BUCH DES MEISTERS
DEN EINGEWEIHTEN DES 3. GRADES ZUGEEIGNET
Wie kann ich also die Stirn haben, ein „Buch des Meisters" vor
zulegen?
Wenn ich glaubte, dem Wunsch einiger Brüder nachkommen zu
müssen, die das Erscheinen des vorliegenden Handbuchs unge
duldig erwarten, dann nur deshalb, weil meine eigenen Anstren
gungen, zur Meisterschaft zu gelangen, mir ziemlich deutliche
Vorstellungen verschafft haben. Gerade weil ich sehr gut weiß,
was man sein muss, um sich Meister nennen zu dürfen, fühle ich
mich im dritten Grad noch keineswegs angekommen. Weil mir
all das bewusst ist, was mich noch von dem Ideal trennt, kann
ich auch die Wegstrecke ermessen, die es noch zu durchschreiten
gilt, um das Ziel zu erreichen. Ich stehe am Fuße des Berges und
erkenne den Pfad, der zum Gipfel führt. Ich sehe die Schwierig
keiten des Aufstiegs klar vor mir und kann den Tapferen beiste
hen, die ihn in Angriff nehmen wollen.
JO Der Meister
An sie richtet sich Band III der „Freimaurerei, ihren Anhängern
verständlich gemacht'', eines Werkes, dessen Plan im Jahre 1888
im Böhmen der „Freimaurerischen Vereinigung für lnitiatische
Studien" entwickelt wurde. Das „Buch des Lehrlings" wurde
unverzüglich auf den Weg gebracht, konnte aber erst Ende 1892
unter den Auspizien der vollkommenen und gerechten Loge
„Travail et Vrais Amis Fideles" [Arbeit und Wahrhaft Treue
Freunde] das Licht der Welt erblicken.
Das „Buch des Meisters", das nun die Reihe abschließt, konnte
nicht in der Mittleren Kammer erarbeitet werden. Es ist also ver
ständlich, dass ich für die Ansichten, die ich in der vorliegenden,
besonders dornenreichen Abhandlung zu vermitteln versucht
habe, die alleinige Verantwortung übernehme.
Aber es reicht in diesen Dingen nicht aus, sich das Denken eines
anderen anzueignen. Um den zerrissenen Faden vergessener Tra
ditionen wieder zusammenzuknüpfen, muss man die Vergangen
heit durch intensive und persönliche Anstrengung in sich wieder
aufleben lassen. Es geht darum, die alten Zeiten selbst nachzu
leben, indem man die wesentlichsten Zeugnisse und Denkmäler,
die sie hinterlassen haben, vertieft studiert. Ruinen, abergläu
bische Vorstellungen, abgetane philosophische Lehren, fremde
12 Der Meister
durch wird das Urteil vorsichtig und bleibt gerne in der Schwe
be. Wirkliches Begreifen verschließt sich der Verurteilung: alle
zur Sprache kommenden Argumente behalten ihren Stellenwert;
nachsichtiges Erklären greift Platz.
So führt das volle Licht zur Toleranz, die kennzeichnend ist für
die Weisheit des Eingeweihten. Nur wenn man es so weit ge
bracht hat, alles in heiterer Gelassenheit zu beurteilen, hat man
das Recht erlangt, das restliche Fenster im Heiligtum des Den
kens zu öffnen. Die Sonne ist untergegangen, die Aufregung des
Tages beruhigt sich, und Abendfriede breitet sich allmählich
in der Ebene aus. Die Einzelheiten verschwimmen in den tief
er werdenden Schatten; der Abendstern, vor dem alle anderen
Sterne verblassen, gewinnt mehr und mehr an Strahlkraft. Dieser
Stern ist nicht mehr der hochmütige Tupfer, der zu Stolz und Auf
ruhr anstachelt; er ist die Quelle süßer Klarheit, die den Traum
einer idealen Welt vor uns erstehen lässt. Jetzt kann die Nacht
ihre dichten Schleier ausbreiten: Die Finsternisse der Außenwelt
herrschen nicht länger über das Licht von innen. Wenn dann die
Labenden schweigen, beschließen die Toten zu sprechen. Die
Stunde ist gekommen, jene heraufzubeschwören, die über die
Geheimnisse verfügen, die sie einst mit in ihr Grab genommen
haben. Sie sind die Wahren Meister, deren Denken wir wieder
lebendig machen können, wenn wir uns an die vorgeschriebenen
Rituale halten.
Sakramentalen Charakter wollen wir den Zeremonien allerdings
nicht zusprechen. Hiram steht nicht in uns von den Toten auf,
weil wir nach außen seine Rolle gespielt haben. Bei einer Initia
tion zählt immer nur, was sich im Inneren abspielt.
Möge das „Buch des Meisters" euch bei der Verwirklichung des
Großen Werkes leiten.
Oswald Wirth
Vorwort 6
Vorwort der Ausgabe von 1931 10
Teil I
14 Der Meister
Teil II
DIE MYTHEN 87
Das Gilgamesch-Epos 89
Das Jüngste Gericht der Chaldäer 95
Die phönizische Trias 98
Teil III
Inhaltsverzeichnis 15
Teil IV
Teil V
Teil VI
PHILOSOPHISCH-INITIATISCHE ANMERKUNGEN
ZUM MEISTERGRAD 140
DIE FÜR DEN MEISTERGRAD WESENTLICHEN
EIGENSCHAFTEN DER ZAHLEN 140
Das Geheimnis der Zahl Sieben 140
Die sieben:fähige Drei-Einheit 142
Das Gleichgewicht 145
Die Sonnenachtheit 148
Die Neunheit oder dreifache Dreiheit 150
Die Überlieferung 152
Die Musen 154
Das Quadrat des Saturn 155
Die Sephiroth 157
Die magische Kraft 160
Die Zwölfheit 162
Der Sarg von Osiris 168
Adam Kadmon 170
16 Der Meister
Teil VII
Teil VIII
Teil IX
ANMERKUNGEN 200
Inhaltsverzeichnis 17
Teil I
HISTORISCHE
BEMERKUNGEN ÜBER
DEN MEISTERGRAD
Wenn wir von der Familie absehen, die früher da war als jede
gesellschaftliche Bildung im eigentlichen Sinne, was ist dann
die älteste Vereinigung von Menschen, auf die wir zurückgreifen
können? In Anlehnung an die V ölkerkunde antworten die Sozio
logen, dass es sich dabei um den Zusammenschluss erwachsener
Männer in einer geheimen Gesellschaft handelt. Diejenigen, die
mit der Wahrnehmung der Interessen der Gesamtheit des Stam
mes betraut sind, müssen sich natürlich zu gemeinsamen Bera
tungen und Entscheidungen zusammensetzen. Dabei legen sie
Wert darauf, ganz unter sich zu bleiben und weder Frauen noch
Kinder oder Fremde zuzulassen. Der Zutritt zu ihren Treffen ist
demzufolge allen Personen untersagt, die nicht für eine Teil
nahme an der Versammlung qualifiziert sind. Diese nimmt sehr
leicht einen heiligen Charakter an, ebenso wie der Ort, der dafür
bestimmt wird. Hier liegt der Ursprung des Tempels, von dem
die Profanen (von pro fanum: vor dem Tempel) ausgeschlossen
sind.
Sich diesem furchteinflößenden Ort neugierig zu nähern, brach
te Unglück; um ihn betreten zu dürfen, mussten unterschiedliche
Bedingungen erfüllt werden. Manchmal wird der Heranwachsen
de allein auf Grund des Eintritts seiner Volljährigkeit aufgenom-
18 Der Meister
men. Aber es kommt auch vor, dass Proben physischer Ausdauer
verlangt werden oder man den Nachweis ausreichender geistiger
Reife zu erbringen hat. Stets ist es aber so, dass in den Augen der
frühen Menschen kein Vorgang im Leben von so großer Bedeu
tung ist wie die Aufnahme des Jünglings in die Versammlung der
reifen Männer: Bis heute sind deshalb bei den im Zustand der
Naturwüchsigkeit verbliebenen Wilden Zeremonien, Feste und
Freudenfeiern damit verbunden.
Aber dies ist natürlich nicht das einzige feierliche Ereignis, das
man in der Frühzeit und bis heute mit großem Pomp zu begehen
pflegte. Der Brauch, jährlich ein Fest zu Ehren der Jugendlichen
zu feiern, die das Alter der Pubertät erreicht hatten, ist nahezu
weltweit verbreitet. So geht auch die christliche Erstkommunion
dem Grunde nach auf älteste Riten des Altertums zurück. Ent
sprechend verhält es sich mit den meisten religiösen Praktiken
der verschiedenen Kulte, die ihre Wurzeln in den fetischistischen
Zaubereien der Urzeit haben.
Gleich und gleich gesellt sich gern. Die Ähnlichkeit der Charak
tere, der Geschmäcker, der Tätigkeiten, der Rechte und Pflichten
20 Der Meister
Aber wir wollen nicht voreilig verurteilen, bevor wir nicht alles
verstanden haben. In menschlichen Angelegenheiten vermischen
sich Gut und Böse gern miteinander: Man muss lernen, sie ohne
Vorurteil voneinander abzugrenzen. Das eine wie das andere in
allen Dingen zu erkennen ist die Mitgift des Eingeweihten, der
gelernt hat, die berühmte Frucht vom Baum der Erkenntnis des
Guten und des Bösen zu pflücken. Die Psychologie des primi
tiven Priester-Zauberers beschränkt sich nicht auf die ehrgeizige
Anwendung von List und Tücke oder den Wunsch, die Naivität
anderer auszunützen. Wir sind vielmehr gehalten, in ihm einen
Vorläufer unserer heutigen Philosophen und Gelehrten zu se
hen.
Auch wenn sie der Phantasie entsprungen ist, darf man die
se Wissenschaft nicht gering schätzen. Sie hat sich in Mythen
übersetzt, in Symbole, in Allegorien, in eine Fülle von abergläu
bischen Vorstellungen. Hüten wir uns davor, sie zu verachten. Je
absurder sie uns auch auf den ersten Blick vorkommen mögen,
desto mehr sollten sie unsere Aufmerksamkeit fesseln, weil sie
immerhin über Jahrhunderte hinweg weitergegeben, ohne Un
terlass von Orthodoxie wie Rationalismus bekämpft wurden
und dennoch überlebt haben. Die Beharrlichkeit ihres Weiterle
bens kann sich nur aus dem Grund einer verborgenen Wahrheit
erklären, deren erheblich verderbtes Transportmittel sie sind,
vergleichbar einer Perle, die man in einem Haufen schmutziger
Lumpen findet. Als Meister ist es unsere Aufgabe, diese Perle zu
entdecken, ohne uns von dem abschrecken zu lassen, was sie vor
der profanen Neugier verbirgt.
22 Der Meister
Sprachmittler der Gottheit, die öffentliche Meinung gehörig
vorbereitet haben, greifen sie nunmehr kräftig in den Lauf der
Dinge ein und verleihen in unterschiedlichen Formen eine Wei
he, die der Salbung zum König gleichkommt. So gelangt der
siegreiche Stamm mit einem Schlag in den Genuss einer festen,
legitimen und ordnungsgemäßen Regierung.
24 Der Meister
gen. Solange wir nicht gelernt haben, uns selbst an die Stelle
von Priestern und Königen zu setzen, werden uns Priester und
Könige beherrschen, gleichgültig, in welcher Regierungsform
wir leben. Wie kann man sich aber jener Beherrschung anders
entziehen als dadurch, dass man sich an das Sprichwort hält:
„On ne supprime que ce qu'on remplace" [2]. Nicht umsonst
wird der Initiierte dazu aufgefordert, sein eigener König und
sein eigener Priester zu sein. König wird er sein, wenn er sich
selbst beherrscht, wenn das Erhabenste in ihm bei dem, was tie
fer steht, Gehorsam findet. Allein diese Meisterschaft über sich
selbst kann die königliche W ürde verleihen, die für den Bürger
charakteristisch ist, der eifersüchtig über seine nationale Sou
veränität wacht. Andererseits soll niemand die Vorstellungskraft
des Herrschers missbrauchen können. Dieser wird sich deshalb
mit den Geheimnissen der Priesterlichen Kunst vertraut machen,
um weder zum Spielball eines Stellvertreters Gottes zu werden,
der die Glückseligkeit in einer anderen Welt verspricht, noch
eines politischen Scharlatans, der angeblich über das Allheilmit
tel verfügt, alles soziale Elend zu beenden.
Die wahre Meisterschaft befreit von allem Trug und aller Täu
schung, aber sie ist nur zu erreichen, wenn wir dauerhaft mit
aller Anstrengung gegen unsere geistigen und moralischen
Schwächen angehen.
26 Der Meister
Anführers einer Räuberbande sich damit brüstet, der Gesalbte
des Herrn zu sein, dürfen Philosophen sich gestatten laut he
rauszulachen. Es ist auch dem Satiriker nicht verboten, seinen
Witz auf Kosten eines unfehlbaren Papstes auszuleben, dessen
geistliche Herrschaft sich durch die Jahrhunderte zurückführen
lässt auf die sehr zweifelhafte Autorität eines prähistorischen
Oberz.auberers.
Maurerische Verbindungslinien
28 Der Meister
Den nächsten Rang nehmen die Zeremonien der Klans ein, die
sich um den Kult des häuslichen Herdes und der Ahnen ran
ken. Aus solchen Quellen haben öffentliche Begräbniskulte und
Staatsreligionen vielfach geschöpft. Diese Zeremonien waren in
der Antike von solcher Bedeutung, dass beispielsweise Fabius
glaubte, sein Heer mitten im Kampf gegen Hannibal verlassen
zu müssen, um an Ort und Stelle die Opfer darzubringen, die
innerhalb des Geschlechts der Fabier, deren Oberhaupt er war,
traditionellerweise vorgeschrieben waren.
30 Der Meister
In Wirklichkeit interessieren sich Freimaurer nicht besonders für
den Okkultismus, den sie nur studieren, weil sie ihre beständige
Suche nach der Wahrheit eben auf möglichst alle Gebiete aus
dehnen. Sie sind niemals als Wunderheiler aufgetreten, und ihre
Geheimnisse haben nichts gemein mit denen des „Grand" oder
,,Petit Albert" [6].
Seit dem Christentum war diese Anrufung nichts anderes als ein
schlichtes Gebet, wie man es in den Kirchen spricht. Da aber das
gesamte Zeremonial ganz offen als Beschwörung auftritt, steht
es außer Zweifel, dass die Maurer ihre Arbeiten ursprünglich mit
einer magischen Beschwörungsformel eröffneten, die den Gott
der Bauleute herbeirief. Dieses Geistwesen sollte dazu veran
lasst werden, sich im Kreise derer zu verdichten, die um seine
Eingebung flehten. Sie müssen also die Vorstellung gehabt ha
ben, dass der Große Baumeister aller Welten tatsächlich in ihrer
Mitte anwesend war.
32 Der Meister
liehen unser Großes Werk allein in der Wiederauffindung des
Verlorenen Wortes.
Unsere Zeremonien
Wir sollten wirklich nicht zu weit gehen und sorgsam auf die
Dinge schauen, die durch Beschädigung und Sinnverlust erst
recht schlimm werden - optimi corruptio pessima. Unser ganzes
Lehren ist symbolisch. Wenn aber die Symbole uns nichts leh
ren, wenn es ihnen nicht gelingt, uns auf den Weg zu den tiefsten
Geheimnissen des menschlichen Denkens zu weisen, indem sie
uns die Suche geradezu aufzwingen, dann allerdings - und darü
ber dürfen wir uns nicht täuschen - wird unsere Haltung grotesk.
Was für ein armer Kerl ist ein Maurer, der niemals den Sinn der
Prüfungen anlässlich seiner Aufnahme begriffen hat, der seinen
Katechismus kennt, überdies mit dem Schatzmeister seiner Bau
hütte alles ordentlich geregelt hat und der sich damit zufrieden
gibt, seine Abzeichen zu tragen in der vollen Überzeugung, eine
aus Bärlappsamen aufgestiegene Flamme habe ihm ein für alle
Mal das Licht verliehen!
34 Der Meister
Außerdem wird er sich im Tempel niemals so benehmen wie bei
einem profanen Treffen in der Öffentlichkeit. Alles greift viel
mehr so ineinander, wie wenn jeder Einzelakt in seiner Abfolge
einen Widerhall fände im geheimnisvollen Reich der Gefühle.
Im Unterbewussten weist der Schurz auch den Gedankenlosen
darauf hin, dass man nun nicht mehr derselbe Mensch sein darf
wie zuvor. Die unter die Kehle gesetzte Hand hat es tatsächlich
erreicht, die Leidenschaften in der Brust zurückzuhalten, damit
das Zeichen des Winkels wahrhaft bekunden kann: ,,Mein Kopf
ist ruhig und frei, und ich werde hier unvoreingenommen urtei
len mit allem strengen Gerechtigkeitssinn, den mir mein Stand
als Maurer auferlegt." Man müsste ein wirklich schwacher Psy
chologe sein, um Praktiken mit Verachtung abzutun, die nichts
Kindisches an sich haben, vom täuschenden äußeren Anschein
abgesehen.
Ist demnach die Freimaurerei letztlich auch nur eine Kirche wie
andere, da sie doch über Glaubenssätze und Mysterien verfügt?
Wie andere - nein; wie keine andere - schon eher. Der Haupt
unterschied liegt in dem rein menschlichen Charakter der Frei
maurerei, die sich nicht damit brüstet, eine göttlich offenbarte
Wahrheit zu besitzen, sondern ihre Anhänger dazu einlädt, sich
durch eigene Bemühungen vom Irrtum zu befreien, um sich
dann in voller Unabhängigkeit selbstverantwortlich nach jenem
36 Der Meister
tel einer Freien Maurerei zu führen. Nichtsdestoweniger lassen
sich aber gerade jene Pseudo-Maurereien, die sich auf skanda
löseste Weise mit Thron und Altar verbunden haben, nicht daran
hindern, die demokratischen Freimaurerorganisationen als „ir
regulär" zu denunzieren, deren alleiniges Verschulden darin zu
sehen ist, dass sie sich zum Zwecke der Befreiung der V ölker
vorübergehend in politische Auseinandersetzungen hineinziehen
ließen!
Das Mönchtum
Eine Frau zu beschützen, sie zur Mutter zu machen und ihr da
bei zu helfen, die Kinder aufzuziehen - dies war stets die eh
renvollste Aufgabe des Mannes. Sich ihr freiwillig ohne hinrei
chende Entschuldigung zu entziehen ist Feigheit, um nicht zu
sagen ein Sakrileg gegenüber der Natur und der Menschheit.
Das Zölibat ist jedoch dann keine Schande, wenn die Umstände
es verlangen und es nicht in Erfüllung eines Herzenswunsches
gelebt, sondern als unausweichlich schicksalhafte Notwendig
keit ertragen wird. Zusammenschlüssen von Junggesellen wäre
also grundsätzlich nichts vorzuwerfen, wenn sie nicht in ihrem
Hochmut die Behauptung aufstellten und verkündeten, sie hät
ten den besseren Teil erwählt. Der Mystiker, welcher Religion
er auch angehört, verfällt in einen groben Irrtum, wenn er unter
dem Vorwand, sich selbst heiligen zu wollen, bewusst vor den
Aufgaben und der Verantwortung der Vaterschaft flieht. Für die
jenigen, die sich ganz Gott weihen möchten, sollte deshalb ein
bestimmtes kanonisches Alter vorgeschrieben werden.
38 Der Meister
die Organisation der Freimaurer im Mittelalter unmittelbar zu
rückgeht. Diese könnten sich zwar auch einige Geheimnisse der
Templer angeeignet haben; aber nichts in der alten und echten
maurerischen Symbolik deutet auf eine solche Herkunft. Man
braucht sich also bei der Legende nicht aufzuhalten, die aus Jac
ques de Molay den Begründer der Freimaurerei gemacht hat.
Das ist nichts anderes als eine Fiktion ohne den Schatten jeder
historischen Grundlage, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts
von den Erfindern neuer, angeblich maurerischer Grade in die
Welt gesetzt wurde.
Ein letztes Wort über die Mönche, von denen die Grande Loge
de France das Gebäude in der Rue Puteaux Nr. 8 in Paris über
nommen hat. Es waren Franziskaner, die sich der Verehrung
des HI. Antonius von Padua gewidmet hatten, dessen Speziali
tät es ist, beim Wiederfinden verlorener Gegenstände behilflich
zu sein. Die Ehrwürdigen Väter hatten die großartige Idee, die
Öffentlichkeit aufzufordern, ihre guten Dienste in Anspruch zu
nehmen. Sie stellten in allen Kirchen einen Briefkasten und ei
nen Opferstock auf; der eine sollte die schriftlichen Bitten um
einen Gnadenerweis, der andere die Spenden aufnehmen, die
für das eigens gegründete Liebeswerk der Speisung des HI. An
tonius bestimmt waren. Die Bitten wurden in der Rue Puteaux
gesammelt und einmal in der Woche öffentlich verlesen, damit
die Gläubigen sie anschließend mit ihren Fürbitten und Gebeten
unterstützen konnten. Die Mönche vertrauten allerdings ihren
eigenen Anrufungen noch mehr: Nächtens versammelten sie
sich jeweils in einem Andachtsraum, um den HI. Antonius an
zuflehen, ihre „Kundschaft'' zufriedenzustellen. Mit Hilfe ihres
Eifers vollzog sich Gott weiß welche Fonn von Telepathie: Die
verlorenen Gegenstände wurden stets wiedergefunden, wenn
auch nicht in ihrer Gesamtheit, so doch in ausreichender Anzahl,
um jene Ex-voto-Tafeln zu veranlassen, die mit der Zeit alle
Wände der Gnadenkapelle des HI. Antonius mit ihrem Marmor
bedeckten. So erreichte das religiöse Geschäft der Franzsikaner
im durch und durch skeptischen Paris des ausgehenden 19. Jahr
hunderts seinen Höhepunkt. Sie verdienten so viel, dass sie das
von ihnen errichtete Gebäude bezahlen und trotz der für ihre Ge-
DIE MYSTERIEN
Der philosophische Gehalt der griechisch-römischen Einwei
hungsformen ist unbestreitbar in der modernen Freimaurerei
zumindest der lateinischen Spielart wiedererstanden. Das Anse
hen nach außen, die Ehrbarkeit in den Augen der Profanen, auf
die die Angelsachsen einen so hohen Wert legen, kümmern uns
wenig. Unsere französischen, italienischen oder spanischen Lo
gen sind keine Clubs, zu denen zugelassen zu werden zum guten
Ton gehört. Auf ihnen lasten Exkommunikationen nicht bloß
klerikaler Art, denn auch maurerische Bigotterie und sogar so
zialistisches Sektierertum haben ihren Bannstrahl geschleudert!
Sie gelten als verdächtige Grilppchen, in denen Vertreter aller
Gesellschaftsschichten vertraut miteinander umgehen in einer
Freizügigkeit, die einem empfindsamen Gentleman nur missfal
len kann. In ihren Hallen herrscht natürlich eine gewisse frei
willig eingegangene Disziplin, aber ansonsten respektiert man
so gut wie nichts außer den Ansichten, die jeder in völliger Un
abhängigkeit zum Ausdruck bringen darf. In der Loge wird also
über alles diskutiert. Die gegensätzlichsten Ideen prallen fried
lich aufeinander vor einer Zuhörerschaft, die Geschmack findet
am sportlichen Wettkampf der Geister, dessen Protagonisten in
brüderlicher Herzlichkeit zusammenkommen, nachdem sie sich
40 Der Meister
zuvor in der Arena der freien Suche nach der Wahrheit in aller
Heftigkeit geschlagen haben.
Berufsbezogene Initiation
42 Der Meister
über die Kunst der Verwandlung und die Methoden, die in der
Fähigkeit des Abrakadabra gipfeln (Kabbala, Magie, Gestaltung
von Talismanen), aber ihr großes Geheimnis lehrt, gut und voll
kommen zu werden, ohne etwas zu fürchten oder zu erhoffen.
Sie besitzen schließlich eine weltweite Sprache, die nur ihnen
eigen ist."
Man kann mit Locke bedauern, dass nicht die gesamte Mensch
heit aus dem großen Geheimnis der Maurer, das in einer ganz
eigenen Auffassung des Lebens besteht, Nutzen zieht. Dasselbe
wird als einheitlich angesehen. Es beseelt die gesamte Schöp
fung, deren Werk weit davon entfernt ist, am sechsten Tag der
Bibel abgeschlossen zu sein, sondern sich endlos fortsetzt. Sie
ist Gegenstand beständiger Tätigkeit des Großen Baumeisters
aller Welten, dessen Geschöpfe bewusst oder unbewusst an ihr
mitwirken.
Festzuhalten ist, dass die alten Maurer Pythagoras als jenen Ein
geweihten verehrten, der am meisten dazu beigetragen hat, im
Abendland das Licht des Morgenlandes zu verbreiten. In dieser
Hinsicht ist nichts bezeichnender als der Text der bereits zitierten
Handschrift, in der der Name des Philosophen in naiver Form
anglisiert wurde. ,,Peter Gower, ein Grieche", so heißt es darin,
„reiste, um sich zu bilden, nach Ägypten, nach Syrien und in
alle Länder, wo die Venezier (lies: Phönizier) die Maurerei ein
gepflanzt hatten. Als Gast in allen Maurerlogen erwarb er sich
ein breites Wissen, kehrte dann nach Großgriechenland zurück,
wo er daran arbeitete, seine Kenntnisse zu erweitern, so dass er
schließlich ein machtvoller Weiser von weit ausgedehntem Ruf
wurde. Er gründete in dieser Gegend eine bedeutende Loge in
Groton [Kroton], wo er zahlreiche Männer zu Maurern machte.
Unter ihnen auch viele, die nach Frankreich gingen, wo sie ihrer
seits zahlreiche Maurer machten, dank derer in der Folgezeit die
Kunst nach England hinüberkam." Wir sollten in diesen Zeilen
44 Der Meister
nichts anderes sehen als eine Huldigung an die pythagoräischen
Lehren, die aus Betrachtungen über die den Zahlen von Natur
aus innewohnenden Eigenschaften gezogen und von den Anre
gungen getragen waren, die sich aus den Figuren der Geome
trie ergaben. Diese Zahlenphilosophie und -symbolik leitete die
Maurer beim Entwurf ihrer Pläne und in der Wahl der Maßver
hältnisse aller einzelnen Bestandteile ihrer Bauwerke.
Die Wohltätigkeit
Wie die Mitglieder anderer Verbände waren auch die Maurer ge
halten, sich gegenseitig zu unterstützen. Die Kinder der Kunst
bildeten eine große Familie und erkannten einander in dieser Ei
genschaft als Brüder. Ihre strengen Verpflichtungen erstreckten
sich jedoch nicht über den Kreis des Berufs hinaus, dessen
,,Mys-terien" so eifersüchtig geheimgehalten werden mussten,
damit kein Außenstehender unbefugt an die Solidarität der Adep
ten appellieren konnte.
46 Der Meister
Korrektheit seines gesamten Auftretens. Wohltätigkeit verwech
selt er nicht mit dem, was man sonst allgemein als Spendenfreu
digkeit bezeichnet. Die Schuld, die der Initiierte gegenüber der
Menschheit eingegangen ist, lässt sich nicht dadurch abtragen,
dass man ihr ein paar Brocken hinwirft, die man sowieso nicht
braucht. Gutes tun umfasst ein ganzes Lebensprogramm. Den
Geldbeutel ausleeren genügt nicht, wo es darum geht, sich selbst
rückhaltlos, ganz und auf immer hinzugeben!
Das hohe Ansehen der Zahl Drei liegt wahrscheinlich daran, dass
sich die Dreizahl bei jeder organischen Gestaltung aufdrängt.
Schon das befruchtete Ei, das sich in Zellen teilt, versieht die
se unverzüglich mit drei Häutchen, mit denen sich die spätere
Ausbildung aller Körperorgane verbindet. Die Soziologie wie
derum stellt eine natürliche Neigung des Menschen fest, sich in
drei ganz einfache Gruppen zu gliedern: die Jungen, die reifen
Männer und die Alten. Diese Dreiheit erscheint dann bei allen
menschlichen Einrichtungen, die eine irgendwie geartete Initi
ation einschließen. Überall unterscheidet man den Initiations
fllhigen vom Initiierten und diesen wiederum vom Initianten.
Daraus entstehen Hierarchien wie Lehrling - Geselle - Meister,
Oberschüler - Hochschüler - Doktor, Page - Junker - Ritter
usw.
Der erste Grad wird dem Suchenden verliehen, den man als fii
hig erkannt hat, zu lernen und sich zu entwickeln, um sich des
zweiten Grades als würdig zu erweisen. Diesen darf der Arbei
ter anstreben, dessen Lehrzeit dergestalt abgelaufen ist, dass er
seine Arbeit beherrscht und deshalb sein Handwerk oder seinen
Beruf angemessen ausüben kann. Der dritte Grad schließlich
ist dem Könner vorbehalten, der im Vollbesitz seiner Kunst ist,
nachdem er sich alle Geheimnisse der Praxis und der Theorie
angeeignet hat.
48 Der Meister
Vielleicht hatten die Maurer des 18. Jahrhunderts gesündere
Vorstellungen, als sie dem Freiherrn von Hund die Existenz von
Unbekannten Oberen enthüllten. Unglücklicherweise konnte der
Begründer der Strikten Observanz jedoch ihr Geheimnis nicht
lüften und wurde zum Spielball von Mystifikatoren. Goethe war
klarsichtiger, als er im Anschluss an eine besonders feierliche
Meisterarbeit, an der er teilgenommen hatte, am 15. November
1814 die folgenden Verse unter dem Titel „Symbolum" nieder
schrieb:
Des Maurers Wandeln, Und schwer und ferne Doch rufen von drüben
Es gleichet dem Leben, Hängt eine Hülle Die Stimmen der Geister,
Und sein Bestreben, Mit Ehrfurcht. Stille Die Stimmen der Meister:
Es gleicht dem Handeln Ruhn oben die Sterne Versäumt nicht zu üben
Der Menschen auf Erden. Und unten die Gräber. Die Kräfte des Guten!
Die Zukunft decket Betracht sie genauer! Hier flechten sich Kronen
Schmerzen und Glücke. Und siehe, so melden In ewiger Stille,
Schrittweis dem Blicke, Im Busen der Helden Die sollen mit Fülle
Doch ungeschrecket Sich wandelnde Schauer Die Tatigen lohnen!
Dringen wir vorwärts. Und ernste Gefühle. Wir heißen euch hoffen.
Der Dichter erkennt in den Reisen des Maurers das Bild des
menschlichen Lebens mit seinen Strebungen und Kämpfen.
Die Zukunft verbirgt uns die Prüfungen, die uns erwarten, aber
wir müssen sie mit Festigkeit und ohne Zögern oder Schrecken
durchschreiten. Ein eindrucksvoller Vorhang hemmt indessen
unseren Blick, während in ehrfurchtgebietendem Schweigen in
der Höhe die Sterne erstrahlen und in der Tiefe die Gräber ruhen.
Aber seien wir bedachtsam, denn im Herzen der Tapferen wech
seln Zittern und Trauergefühle ab. Aus dem Jenseits ermahnt sie
die Stimme der Geister, der Meister, bei der Nutzung der Kräfte
des Guten nicht nachlässig zu werden.
50 Der Meister
und anderen konventionellen Besonderheiten bestanden. Wir
müssen allerdings sogleich dazu sagen, dass der Gelehrte sich
im Unrecht befand. Weil er zu wissen glaubte, ließ er es an der
nötigen Aufmerksamkeit fehlen, so dass ihm entgehen musste,
was sich an Bemerkenswertem und Fruchtbarem unter dem be
scheidenen äußeren Anschein verbarg. Die naiven Handwerker,
die sich in durchaus gutem Glauben für die Treuhänder einer
wertvollen Überlieferung hielten, täuschten ihre Klientel von
Rang keineswegs. Die „Geheimnisse" waren wirklich da, sie
standen nur nicht dem Zugriff jedes Erstbesten zur Verfügung,
hätte er sich auch alles Wissen seiner Zeit angeeignet.
DAS MAURERTUM
Die moderne Maurerei sollte keine Minerva sein, die in voller
Rüstung dem Haupt eines ideologischen Jupiters entspringt. Ihr
Programm wurde nicht von einem Gründer vorab entworfen,
der sich entschlossen hatte, die alte Maurerei zu nutzen und für
52 Der Meister
großartige Pläne zu gebrauchen. Im Jahre 1747 hätte kein noch
so genialer Astrologe voraussehen können, zu welcher Höhe
sich die neu geborene Institution erheben würde. Diese ihrerseits
beschäftigte sich zunächst nur damit, ihren Bestand zu sichern.
Sie wollte nach außen gut dastehen und machte sich deshalb auf
die Suche nach Mitgliedern, die geeignet waren, ihr Ansehen zu
heben.
Der höchste Baumeister, in dem die Maurer gern den Gott ih
rer jeweiligen Religion zu sehen belieben, unterscheidet sich
indessen von allen theologisch zu verstehenden Wesenheiten.
Ontologie und Metaphysik spielen nämlich bei der Entstehung
eines Symbols, das mit innerer Logik aus dem Begriff der mau
rerischen Symbolik gewachsen ist, keinerlei Rolle. Diese stellt
den Maurer dar als Arbeiter, der an der Verwirklichung eines
ungeheuren Plans Teil hat, welcher viel zu weitgespannt ist, als
dass der Verstand ihn voll ermessen könnte. Der Fortschritt voll
endet sich jenseits unseres Begreifens und Wollens, als wenn
er von einer über uns stehenden höheren Macht entworfen und
Die Meister wissen, was wir nicht wissen; man darf sie nicht
mit den praktisch tätigen Meistern verwechseln, die an ihrer statt
ausgewählt wurden, um die Lehrlinge auszubilden und die Ge
sellen zu führen. Wie uns das Ritual zu verstehen gibt, sitzen die
Wahren Meister unsichtbar in strahlender Klarheit hinter dem
dichten Vorhang, der sie von den in Nacht und Trauer sich selbst
überlassenen Arbeitern trennt. Ihre Verlassenheit existiert jedoch
mehr dem äußeren Anschein nach als in Wirklichkeit, denn der
Wunsch, gut und richtig zu handeln, ruft jene geheimnisvolle
Hilfe auf den Plan, auf die wir ein Anrecht haben. Seien wir tap
fer, und die Stimme der Meister wird in uns auftönen.
54 Der Meister
des Willens, der Phantasie und des Lebens. Nichts geht verloren,
nichts wird zerstört: Alles findet sich wieder.
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort
war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort gewor
den, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
56 Der Meister
Muss man nun das Licht, das den Eingeweihten mehr und mehr
erfüllt, auf den Logos Platons, auf seinen Großen Baumeister
oder Demiurgen zurückführen? Mit größerer Bescheidenheit
können wir uns mit demjenigen begnügen, den die Maurer Meis
ter Hiram nennen. Aber wie sollen wir uns dieses geheimnis
volle Wesen vorstellen? Weit davon entfernt, reale Person zu
sein, handelt es sich vielmehr um eine Personenverkörperung.
Aber wovon? Ganz einfach des initiatischen Denkens, jener
Gesamtheit von Ideen, die auch dann noch weiterleben, wenn
kein menschliches Gehirn mehr fähig ist, unter ihrem Einfluss
zu schwingen. Was wertvoll ist, stirbt nicht, sondern besteht fort
wie in einem Wartestand bis zu dem Tag, an dem sich erneut
Möglichkeiten ergeben, manifest zu werden. Dann steht Hiram
in der Person jedes neuen Meisters auf.
Bei dieser Sachlage sind unsere Initiatoren, die Herren über un
ser Denken, sicherlich rein spiritueller Art, aber wir täten ihnen
Unrecht, wenn wir ihnen gegenüber in einen grobschlächtigen
Mystizismus verfielen. Als der lebendige Geist des Maurertums
ist Hiram nicht ein bloßes Phantom: Er ist erleuchtende und eben
dadurch leitende Kraft. Wir verdanken ihm alles, was sich in der
Maurerei hinter dem Schleier des Anonymen verbirgt, und zwar
58 Der Meister
die freigelegte Herzgegend drückte. Einmal erhoben, wurde der
neue Bruder in großen Zügen über das unterrichtet, was er wis
sen musste. Zusammen mit den bei Öffnung und Schließung der
Arbeiten zu beachtenden Ritualen ist dies alles, was die moderne
Maurerei von der alten Maurerei beibehalten hat.
60 Der Meister
Da der zweite Grad vor allem das Ziel hatte, den ersten Grad voll
verständlich zu machen, musste der Geselle aufgefordert wer
den, zum Zweck seiner Ausbildung zu reisen. Die Auswahl der
Werkzeuge, deren Gebrauch er nach und nach erlernen soll, ist
sehr geschickt getroffen. Das initiatische Verständnis der Verfas
ser unserer Rituale hat sich dabei genauso wenig verleugnet wie
bei der Entwicklung der Symbole des Flammenden Sterns und
des Buchstabens G sowie bei der Verherrlichung des Prinzips
der Arbeit.
Die Hiram-Legende
Wie dem auch sei, erst ab 1733 lernten die Londoner Logen, in
ritueller Weise über dem Grab jenes Künstlers zu weinen, der
aus Tyros gekommen war, um in den Dienst König Salomos zu
treten. Bis dahin unbeachtet wurde dieser Metallgießer, auf den
nichts als den Architekten des Tempels hinweist, unvermittelt
zur herausragenden Gestalt der Freimaurerei. Diese unerwar
tete Apotheose weckte den Widerstand der Bibelkenner, die mit
dem Text vor Augen gegen eine abgeschmackte Erfindung pro
testierten, die durch die Verse 13 und folgende des 7. Kapitels
des 1. Buchs der Könige widerlegt schien, wo es heißt: ,,König
Salomo ließ Hiram aus Tyros kommen. Dieser war der Sohn ei
ner Witwe aus dem Stamm Naftali. Sein Vater war ein Bronze
schmied aus Tyrus. Er war mit Weisheit, Verstand und Geschick
begabt, um jede Bronzearbeit auszuführen. Er kam zum König
Salomo und führte alle Arbeiten für ihn aus."
62 Der Meister
Im 2. Buch der Chronik, 2. Kapitel, Vers 12 und 13, äußert sich
König Hiram von Tyrus in einem Brief an Salomo seinerseits wie
folgt: ,,Ich schicke dir einen fähigen, klugen Mann, Hiram-Abi
[13), den Sohn einer danitischen Frau. Sein Vater stammt aus
Tyrus. Er versteht es, Arbeiten in Gold, Silber, Bronze, Eisen,
Stein, Holz, rotem und blauem Purpur, Byssus und Karmesin
auszuführen, alle Gravierungen zu besorgen und jeden Plan zu
entwerfen, der ihm aufgetragen wird. Er wird mit deinen Künst
lern und den Künstlern meines Herrn, deines Vaters David, zu
sammenarbeiten."
RITUELLE EINWEIHUNG
Wenn der Geselle der höchsten Stufe der Initiation für würdig
befunden wurde, führt man ihn an den Eingang zu einem düs
teren Ort, in den er schrittweise, den Rücken der Dunkelheit
zugewandt, eindringen soll. Die Dunkelheit wird immer dichter
und umhüllt den kühnen Adepten, der doch so begierig ist auf
das vollkommene Licht, schließlich mit vollkommener Schwär
ze.
Wie alles, was sich in der Maurerei vollzieht, ist auch dieses
Rückwärtsgehen ein Symbol, das vielfältige Interpretationen
zulässt. Man denkt dabei zunächst an die Sonne, die, nachdem
sie ihren Scheitelpunkt erreicht hat, den Bereich also, der den
Gesellen zugewiesen ist, allmählich in die Nacht des Westens
absteigt und dann unterirdisch zum Osten zurückkehrt. Man
muss darin auch eine Anspielung sehen auf den Verzicht, der zur
Meisterschaft führt und die Preisgabe aller Illusionen verlangt,
seien sie auch liebgewordene Frucht früher erworbener initia
tischer Erfahrungen. Um Meister zu werden, muss man schließ
lich unbedingt das in den ersten beiden Graden vermittelte Wis
sen durch und durch beherrschen, woraus sich die Verpflichtung
ergibt, die gesamte bisher zurückgelegte Wegstrecke nochmals
zu durchlaufen.
64 Der Meister
Es geht für den Gesellen also darum, durch die als Pforte zu
verstehenden Säulen J. ·. und B. ·. auf dem eigenen Weg zurück
zugehen, wobei Ausgangspunkt dieses Weges der Flammende
Stern ist, der hier mit der in den Kathedralen vorzufindenden
Rosette zu vergleichen ist, die erst mit Einbruch der Dunkelheit
oberhalb des Portals aufleuchtet. Allein dieser Stern des Verste
hens erhellt den Rückweg des Gesellen, wie er sich auf der Bahn
der fünften Reise vollzieht, die der Kontemplation gewidmet ist.
Aber dieses Mal geht es nicht darum, äußere Eindrücke zu sam
meln. In sich selbst zurückkehrend, meditiert der Eingeweihte
über den Wert seiner eigenen Begriffe und Vorstellungen. Er
macht sich den Abgrund bewusst, der die Wirklichkeit von den
Bildern des Geistes trennt, mit deren Hilfe wir versuchen, sie
uns verständlich zu machen. Verglichen mit der in ihnen verbor
genen Wahrheit sind unsere Ideen nur grobschlächtige Idole; sie
betrügen uns ebenso wie Worte, sobald wir uns mit dem vorder
gründigen Ausdruck zufrieden geben, statt zu erkennen, was da
mit eigentlich ausgesagt werden sollte. In jedem Lebensbereich
ist alles Symbol. Lassen wir uns also nicht täuschen durch das
Symbolisierende, sondern dringen wir vor zum Symbolisierten.
Indem er den Hammer führt, der auf den Meißel schlägt, lernt der
künftige Meister, selbst zu führen. Er zögert also nicht, seine er
ste Gesellenreise nochmals durchzuführen, weil er sehr gut weiß,
dass er nie aufhören darf, an seiner eigenen Vervollkommnung
zu arbeiten. Wie könnte er im Übrigen einem anderen befehlen,
wenn er es nicht geschafft hat, sich selbst zu beherrschen? Jede
Meisterschaft beginnt bei sich selbst: Sein eigener Meister zu
sein öffnet den Weg zu jeder Herrschaft [15].
Auf seinem Rückweg durch die fünf Reisen verliert der Geselle,
der die Meisterschaft anstrebt, niemals den Flammenden Stern
aus den Augen, einen Himmelskörper, dessen Strahlen statt zu
verbleichen immer heller werden, je tiefer der Initiierte in die
66 Der Meister
zunehmend stärker werdende Dunkelheit vordringt. Aber plötz
lich erlischt das ermutigende Leuchten; erneut scheint sich die
Binde des Lehrlings über die Augen des künftigen Meisters zu
legen. Zugleich berührt eine Schale seine Lippen, und er leert in
langen Zügen den Kelch der Bitternis, fest entschlossen, alles zu
erdulden, um seine Aufgabe getreulich erfüllen zu können. So
gestärkt und im sicheren Bewusstsein der Aufrichtigkeit seiner
Opferbereitschaft schreckt der Bewerber nicht zurück, wenn er
sich plötzlich von Flammen umgeben sieht. Er erkennt darin die
Glut seiner ersten Initiation wieder und lässt sich von einer Hit
ze durchdringen, die ihm Gewähr dafür ist, dass auch er an der
Kraft des im Kern wirkenden, alles belebenden Feuers teilhaben
darf.
Im Übrigen tritt nun Ruhe ein. Der Weg steigt an, und kein Lärm
dringt mehr hinauf zu den heiteren Höhen, denen der Einge
weihte zustrebt. Jetzt steht er in der Einsamkeit der Gipfel, von
wo aus der menschliche Geist das Ganze der Menschendinge
zu überschauen meint. Kein Schwindel erfasst den Denker, der
sich keinerlei Illusionen hingibt über eilig erarbeitete Synthesen,
wie sie von ungeduldigen Planem hastig zusammengeschustert
werden: Er kennt Babel und dessen Turmbau der Verwirrung.
Ohne innere Bewegung setzt er sich dem stürmischen Wind aus,
der ihn umweht. Von der Luft getragen, landet er sicher wieder
in der Ebene, in der sich die Menschen abmühen.
68 Der Meister
tote Wahrheit wiederzubeleben und die von Verderbtheit betrof
fenen Institutionen zu erneuern. Diese Höhle, in der die ewige
Verschwörung zum Wiederaufbau beraten wird, dieses Antrum
des Mithras, in dem das Licht, das schon verschwunden war,
wiedergeboren wird, um desto heller zu erstrahlen, dieses Grab
für alles Vergangene, in dem Zukunft geschieht, dieser innere,
verborgene Ort, der nur jenen Eingeweihten zugänglich ist, die
der tiefsten Enthüllungen würdig sind, dieses nur den Meistern
bekannte Heiligtum ist die Mittlere Kammer.
Der Bewerber wird von einer Stimme, die aus weit entfernten
Tiefen zu kommen scheint, ernsthaft befragt. Wenn er die Fragen
in aller Aufrichtigkeit beantwortet hat, wird er aufgefordert, sich
umzudrehen und seine Worte durch die Zeichen und Schritte zu
bekräftigen, die er in seinen bisherigen Graden erlernt hat.
Sodann erfährt er, dass das Werk der Maurerei nach der Ermor
dung des Meisters, der an ihrer Spitze stand, in höchste Gefahr
gebracht wurde. Ihres klarsichtigen Führers beraubt, verlieren
die Arbeiter jedes Vertrauen in sich selbst, wagen sich nicht
mehr an die Fortsetzung ihrer Arbeit und überlassen sich ihrer
Was aber letzten Endes zur völligen Paralysierung all ihrer Kräfte
führt, ist die Gewissheit, dass die Verbrecher unter den Gesellen
zu suchen sind. Die Arbeiter empfinden insgesamt Betroffenheit
angesichts der ungeheuerlichen Tat, die ihre Brr. ·. begangen ha
ben. Sie werfen sich vor, nichts vorausgesehen, sich nur um sich
selbst gekümmert zu haben, ohne auf das Verhalten der anderen
zu achten und die Gefühle ernstzunehmen, die sich im Herzen
Einzelner mehr und mehr anstauten.
Das Unglück ist also geschehen: Hiram ist nicht mehr da, um
jedem der Bauleute seine Aufgabe zuzuweisen. Die Arbeit ist
unterbrochen, und die Arbeiter sind sich bewusst, dass sie erst
in ihren eigenen Reihen Ordnung schaffen müssen, bevor sie sie
wieder aufnehmen können. Jeder einzelne Geselle muss darüber
hinaus beweisen, dass er unschuldig ist am Tode Hirams.
70 Der Meister
Die maurerische Legende
Der Meister war der Sohn einer Witwe, in der wir in mytholo
gischer Hinsicht Isis, die Natur, sehen dürfen. Es handelte sich
also um einen Eingeweihten, der durch das Studium alles dessen,
was die Sinne bewegt, geformt worden war, aber außerdem über
die Geisteskräfte verfügte, die unerlässlich sind, um in jene Ge
heimnisse einzudringen, die der grob vulgären Masse auf ewig
verschlossen bleiben. Aber da es ihm nicht darauf ankam, die
Menschen zu blenden, blieb der Mann aus Tyros stumm. Statt
sich in Worten auszugeben, befasste er sich lieber mit den Wer
ken, die an seiner Statt zur Nachwelt sprechen sollten.
72 Der Meister
Es liegt unglücklicherweise in der Natur des Menschen, mehr
mit sich selbst als mit seinem Los zufrieden zu sein. Zahlreiche
Arbeiter hielten sich für bedeutender als die Stellung, die ihnen
zugewiesen worden war. Unter ihnen befanden sich auch einige
Gesellen, die zu der Überzeugung gelangt waren, ihnen stünde die
Meisterschaft zu, während man ihnen nach wie vor diese höchste
Beförderung, derer sie sich für würdig hielten, verweigerte. Die
gute Meinung, die sie von sich selber hatten, machte sie blind für
ihre Fehler. Opfer ihres mittelmäßigen Verstandes, machten sie
sich gefährliche Illusionen über das Maß ihrer Kenntnisse, denn
gerade derjenige, der am wenigsten weiß, ist am ehesten geneigt,
den Umfang des menschlichen Wissens mit der Enge seines ei
genen geistigen Horizontes in eins zu setzen. Verbittert wandten
sich die Unzufriedenen mit der Zeit gegen alles, dessen Sinn und
Hintergrund sie nicht verstanden. Sie spielten sich als unfehlbare
Richter auf und verurteilten Ansichten und Arbeitsmethoden der
anderen. Wenn man ihnen zuhörte, so waren allein sie im Besitz
der Wahrheit, und alles hätte nach ihren Vorstellungen vor sich
gehen müssen. Und dann gab es noch einige traurige Gestalten,
die sich einen Lohn zubilligen wollten, von dem sie genau wuss
ten, dass sie ihn nicht verdienten. Das waren diejenigen, die den
Entschluss fassten, die Meisterschaft mit Gewalt an sich zu rei
ßen, indem sie andere Gesellen, deren Verärgerung sie geschickt
auszunutzen verstanden, in eine schändliche Verschwörung hi
neinzogen.
Die Verräter spähen also die Stunde aus, in der die Arbeit unter
brochen ist und der Meister seinen täglichen lnspektionsgang
durchführt. Die Mittagsstunde, die der Ruhe gewidmet ist, zeigt
sich als günstig [17]. Nachdem er seinen Rundgang beendet hat
te, begab sich Hiram, der an nichts Böses dachte, zum Östlichen
Tor, um das Gelände zu verlassen, als er plötzlich bemerkte, wie
Der Geselle aber besteht auf seinem Willen und bedroht Hiram
mit erhobenem Maßstab und schlägt ihm, als er unbeugsam
auf seiner Weigerung beharrt, damit über die Kehle, wobei der
Schlag auf die Schulter abgleitet und seinen rechten Arm lähmt.
Eilig bringt sich Hiram vor der Bedrohung in Sicherheit und ver
sucht, das Tor im Süden zu erreichen, aber hier versperrt ihm
ein zweiter Schurke noch bedrohlicher den Weg und versucht
ebenfalls, ihm bisher geheim und heilig gehaltene Enthüllungen
herauszupressen. Außer sich angesichts der Entschlossenheit des
Meisters, versetzt der enttäuschte Geselle ihm einen heftigen
Schlag mit dem Winkelmaß die Herzgegend. Der Verletzte tau
melt und hält sich für verloren. Dennoch raffi er alle seine Kräf
te zusammen, um das Tor im Westen zu erreichen. Aber schon
nach wenigen Schritten steht er dem Verkommensten der drei
Verschwörer gegenüber. Dieser stürzt sich auf den Meister und
packt ihn am Arm, entschlossen, ihm entweder sein Geheimnis
oder sein Leben zu entreißen. Obschon geschwächt, sieht Hiram
dem Angreifer mit festem Blick ins Auge und ruft: ,,Eher sterben,
als die Pflicht vergessen!" Dies waren seine letzten Worte, denn
zitternd vor Wut versetzt ihm der Verräter mit seinem Hammer
einen fürchterlichen Schlag mitten auf die Stirn und streckt ihn
so zu Boden. Nach dem Geschehen treffen die Komplizen zu-
74 Der Meister
sammen und müssen voller Verzweiflung erkennen, wie sinnlos
ihr schreckliches Tun gewesen ist, von dem es jetzt nur noch
alle Spuren zu beseitigen gilt. Sie warten die Nacht ab, die es
ihnen erlaubt, den Leichnam Hirams weit weg zu bringen. Zu
nächst legen sie ihn unter einem Haufen Bauschutt ab, der an der
Nordseite des Tempels aufgetürmt ist; um Mitternacht bringen
sie dann ihre fürchterliche Last aufs flache Land hinaus.
Ist sich der Antragsteller sicher, dass er sich niemals mit ober
flächlichen Köpfen zusammengetan hat, die immer schnell bei
der Hand sind, wenn es zu verdammen gilt, was sie nicht ver
stehen, und zu unterdrücken, was nicht in den Rahmen ihrer
kurzsichtigen Logik hineinpasst? Hat er genug Respekt gezeigt
gegenüber der in Hiram verkörperten Überlieferung, um sich
nicht einer gedankenlosen Kritik anzuschließen, die sich gegen
angeblich lächerliche oder zumindest aus der Mode gekommene
Bräuche richtet? Hat er in durchaus keiner Weise Teil gehabt an
jener Denkungsart, die den schweren Maßstab des ersten Mör
ders auf den Meister niederfallen ließ? Oder muss sich der Ge
selle nicht doch vorwerfen, sich intolerant gezeigt zu haben und
denen mit Hass begegnet zu sein, die ihm widersprachen, wobei
er zugleich ihre guten Absichten in Zweifel zog? Hat er gebilligt,
dass man anders denken und handeln kann als er? Hätte er den
engen Gefühlshorizont jenes Elenden geteilt, der auf das Herz
Hirams zielte und ihn mit einem eisernen Winkelmaß nieder
schlug?
Und schließlich: Wie weit treibt der Bewerber das Vergessen
seiner selbst? Will er nicht Meister sein, um anderen noch mehr
zu dienen? Ist er bereit, von seiner eigenen Person abzusehen,
Nun, da der Leichnam hinter ihm liegt, ist er der Erhebung zur
Meisterschaft würdig. Er hat die Nichtigkeit der dem Verfall
und dem Vergehen preisgegebenen Dinge ausgemessen, um sich
davon zu befreien, ohne sie allerdings zu missachten, denn der
Meister ist kein Asket, der die Materie flieht unter dem Vorwand,
sich im Geistigen in Sicherheit zu bringen. Indem er in Ordnung
tritt, bekundet er zweifelsfrei, dass er allem Niedrigen abgesagt
hat. Kein schlecht unterdrückter gewalttätiger Instinkt, kein
Restbestand ferner Atavismen, der in seinem Inneren unzusam
menhängend Laut gibt, kann ihn mehr beeinflussen. Er ist nur
dann Meister, wenn er alles beherrscht, was ihn zu verknechten
droht. Schon als Lehrling hat er gelernt, seine Leidenschaften
im Zaum zu halten, um in strenger Unparteilichkeit urteilen zu
können. Als Geselle hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den
76 Der Meister
brüllenden Löwen zu zähmen, den er in seinem Inneren trägt, in
dem er so gut wie möglich den chaldäischen Helden Gilgamesch
nachahmte, der sich - insoweit besser beraten als Herkules -
wohlweislich davor hütete, jenes Tier zu töten, das doch als
Symbol für die Kraft steht, die ein Eingeweihter seinem Wil
len unterwerfen können muss. Um die Meisterschaft zu erobern,
muss man zur vollkommenen Beherrschung seiner selbst gelan
gen, und zwar so weit, dass man sich sogar davor zurückhalten
kann, völlig legitimen Strebungen nachzugeben, wenn es darum
geht, dem höchsten Ideal des Gemeinwohls und des allgemeinen
Fortschritts alle persönlichen Bedürfnisse aufzuopfern.
Aber keiner kann sich erheben, der nicht bereit ist, sich zu er
niedrigen. Ebenso wie es nur der freiwillige Tod dem Profanen
ermöglicht, zum höheren Leben der Initiation wiedergeboren zu
werden, muss man auch ein zweites Mal sterben, um die Vor
rechte der unsterblichen Meister zu erringen. Nachdem er sich
seinen Prüfungen unterzogen hat, wird der neue Meister mit Hi
ram dadurch gleichgesetzt, dass er unter denselben Bedingungen
wie der Baumeister des Tempels der Reihe nach von Maßstab,
Winkelmaß und Hammer getroffen wird. Wie jener wird er zu
Boden geworfen und tritt an die Stelle dessen Leichnams, wobei
sich sein Schicksal von nun an in jeder Hinsicht mit dem des
verstorbenen Meisters verbindet [18].
Die Auferstehung
Diese befasste sich nur damit, wie man Hiram tot oder leben
dig wiederfinden könne, und benannte dazu neun Meister, die
jeweils in Dreiergruppen nach Süden, Westen und Osten auszie
hen und sich am neunten Tag der Suche an einem bestimmten
Ort im Norden wieder treffen sollten.
78 Der Meister
zeit kann man sie vielleicht noch erhalten, indem man sich skla
visch an ihre Formen hält. Aber wie jeder Leichnam den Weg
der Verwesung geht, so fällt schließlich auch alles ins Grab, dem
der logische Zusammenhang fehlt. Es handelt sich dabei um ei
nen natürlichen Auflösungsprozess, wie er sich abgespielt hat
mit den verstreuten Überresten des Osiris, die die untröstliche
Isis mühselig zu suchen unternahm, indem sie den ganzen Erd
kreis durchstreifte. Die Reisen der Witwe entsprechen durchaus
den Wanderungen der Meister, die sich bemühen, die Leiche
Hirams wiederzufinden, das heißt die materiellen, zu dunkler
Asche gewordenen Spuren dessen, was einst lichtvolle Synthese
gewesen war. Diese reduzierten Formen, aus denen der Geist
entwichen ist, diese toten und infolge der Trockenheit noch ver
bliebenen Knochen sind dann schließlich das, was abgelebt als
Aberglaube im etymologischen Sinne des Wortes übrigbleibt.
Und es ist auch durchaus angebracht, das, was ohne logische
Berechtigung fortbesteht, dem Aberglauben zuzurechnen, wie
etwa Rituale, die aus bloßer Gewohnheit oder Ehrerbietung vor
der Vergangenheit weitergeführt werden, obwohl niemand mehr
weiß, wofür sie stehen. Hiram ist der Geist, der die maurerische
Tradition beseelt: Er lebt in uns wieder auf, sobald wir das ganze
Geheimnis der Maurerei begriffen und uns genaueste Rechen
schaft abgelegt haben über die Daseinsberechtigung ihrer sym
bolischen Bräuche.
80 Der Meister
schaft verliehen hätten, wird nun der neue Meister geehrt, als ob
Hirarn in ihm wiedergeboren wäre. Mit einem Schlag verwan
delt sich die düstere Mittlere Kammer in ein lichtdurchflutetes
Heiligtum. Der dicht geschlossene Vorhang, der die unsichtbar
im Osten sitzenden Meister verbarg, öffnet sich, und von nun an
verkehrt ein jeder in aller Freiheit mit ihnen.
Jedes Mal folgt der Sohn der Verwesung seinem ermordeten Va
ter strahlender, so wie Horus, die Morgensonne, täglich den Weg
der Osiris aufnimmt, der sich von Mittag an zu neigen beginnt,
um am Abend in die Finsternis des Westens einzutauchen.
Maurerei beginnt also bei sich selbst, indem sie sich bemüht, die
Laster der schleichenden Zerstörung in ihrem eigenen Inneren
auszumerzen. Sie wird ihre Aufgabe erst an dem Tag erfüllen
können, an dem alle ihre Mitglieder sich als kenntnisreich, tole
rant und uneigennützig zeigen. Dann, aber auch nur dann, wird
sich ihr geistiger und sittlicher Einfluss als unwiderstehlich er
weisen.
82 Der Meister
dauernswertesten maurerischen Unwissenheit bewegen. Gerade
weil sie von Maurerei nichts verstehen, kritisieren sie gnadenlos
alles, was ihr wenig ausgeprägtes Begriffsvermögen übersteigt.
Im Namen eines bornierten Rationalismus fordern sie die Ab
schaffung von Formen und Bräuchen, deren Sinn und Zweck sie
nicht verstehen. Ihr Vandalismus nährt sich aus einer starren Lo
gik und einem engen Dogmatismus, deren Symbol der Zollstock
ist, der Hirams Schulter trifft und seinen rechten Arm lähmt. Der
Möglichkeit beraubt, sich zeichenhaft nach außen darzustellen,
sieht sich der maurerische Geist in der Tat zur Machtlosigkeit
verdammt auf Grund der Verstümmelungen und Veränderungen,
die die überlieferte Symbolik erfahren hat. Ein irgendwie gear
teter initiatischer Unterricht ist unmöglich, wenn es die Symbole
nicht mehr gibt, auf die er sich stützen sollte. Nach dem Ge
schmack der Gegner des Symbolismus rationalisiert, gleicht die
Freimaurerei einer Lehranstalt, in der Schüler, die nicht lesen
können, die Abschaffung des Alphabets beschlossen haben ...
Aber die Enge des Herzens ist noch schlimmer als die des Ver
standes. Die Maurerei lehrt die Menschen, einander trotz allem,
was sie trennt, zu lieben. Wir müssen uns über das Trennende
erheben, damit wir uns miteinander austauschen können mit
Hilfe jener wechselseitigen Toleranz, außerhalb derer es keine
Freimaurerei gibt. Was soll man von diesem Standpunkt aus von
angeblichen Maurern halten, die glauben, sie allein seien im
Besitz der maurerischen Wahrheit, und deshalb hasserfüllt auf
jeden herabsehen, der nicht so denkt wie sie? Als wenn sie sich
als unfehlbar in ihren Meinungen erklärt hätten, machen jene
Päpste ihre Auffassungen zu Dogmen und schleudern ständig
Exkommunikationen gegen die Häretiker, die die Dinge anders
sehen als sie selbst. Sie wollen die Maurerei zerbrechen und auf
den Stand einer engen Kirche zurückführen, während doch die
Loge sich vom Osten zum Westen und vom Süden zum Norden
erstreckt, um dadurch zu bekunden, wie weit unsere grundsätz
lichjedem Sektierertum fremde Institution geprägt ist vom Geist
des Universalismus. Indem er sich in allen möglichen Verklei
dungen unter uns ausbreitet, lässt der Geist des Sektierertums
den Mörtel unserer universalen Bruderschaft zu Staub zerfallen.
Wie alle Laster, so kommt auch der Fanatismus aus der Über
spannung einer guten Eigenschaft, denn um handeln zu können,
muss man sich zuvor eine Überzeugung gebildet haben. Der
besonders aktive Geselle kann sich nicht mit einem frei schwe
benden Skeptizismus aufhalten, er braucht unter allen Umstän
den eine zumindest relative Gewissheit als Grundlage seines
Bauens. Aus guter Überlegung heraus wird er also gewisse Prin
zipien akzeptieren und sie als Leitsterne für sein Handeln über
nehmen. Aber da er sich selbst frei entschieden hat, wird er auch
die Freiheit der anderen respektieren, indem er sich bewusst
macht, dass die Unterschiede der Meinungen sich aus dem kom
plexen Zustand der Dinge ergeben, wodurch nicht nur einzelne
Brr. · ., sondern mehr noch viele Profane in aller Ehrlichkeit zu
ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen können.
Wenn mangelnder Verstand und Sektierertum ihr Werk getan
haben, muss Hiram nur noch den Gnadenstoß empfangen. Zu
Boden geschlagen, haucht er unter dem Hammer der Ehrgei
zigen sein Leben aus. Sie denken nur daran, ihren Profit aus
einer verfälschten Institution zu ziehen, die auf dem Weg ist,
sich ganz zu verlieren. Sie sprechen ihr eine unmittelbar aktuelle
Aufgabenstellung zu, die ihren Plänen zu Gute kommen könnte,
und lenken sie dadurch von ihrem hohen Ziel ab. So wird die
Freimaurerei zum Werkzeug einer machtgierigen Kamarilla
oder auch einer gegen die Interessen der Allgemeinheit gerich
teten Verschwörung. Und das ist der Tod des Maurerturns, dem
von nun an nichts mehr liegt am weiteren Schicksal des eigenen
Leichnams.
84 Der Meister
Die Erneuerung
Das ist der Sinn der Kette des schöpferischen Lebens. Diejeni
gen, die sie bilden, geben sich nicht damit zufrieden, über die
wiederbelebte tote Tradition nachzudenken. Sie stimmen ihre
Seelen aufeinander ein, bündeln ihre höchsten Strebungen und
heißesten Wünsche. So setzen sie eine aktive psychische Kraft
frei, die den Leichnam nach und nach wieder mit Leben erfüllt,
während die Lebenden ihn aufheben und sich mit ihm in den
Fünf Punkten der Gesellenschaft verbinden. Die Zusammenfüh
rung von Fuß, Knie, Brust und rechter Hand und der gleichzei
tige Zugriff der linken Hand stehen damit für die vollkommene
Verbindung der Werkleute, die entschlossen sind, sich auf ein
bestimmtes einheitliches Ziel hinzubewegen (Fuß), sich zu dem
selben Kult der Arbeit zu bekennen (Knie), gleiche Gefühle mit
einander zu teilen (Brust), ihre Anstrengungen aufs Engste zu
verknüpfen (rechte Hand) und sich gegenseitig zu unterstützen
(linke Hand).
86 Der Meister
DIE MYTHEN
88 Der Meister
auch wenn sich die Herrin des Landes ohne Wiederkehr noch so
sehr dagegen zur Wehr setzt. Ishtar wird also ins Leben zurück
gerufen und von Pforte zu Pforte an den Ausgang der düsteren
Heimstatt zurückgebracht. Beim Durchschreiten der verhäng
nisvollen Räume gelangt sie wieder in den Besitz alles dessen,
was ihr gehört. Sie findet den Schleier wieder, der ihre Scham
verhüllt, die um ihre Fesseln gelegten Ringe, ihre Armbänder,
den mit Fruchtbarkeitssteinen geschmückten Gürtel, ihr buntes
Obergewand, ihren Opalhalsschmuck, die Ohranhänger und
schließlich ihre mächtige Krone. Damit hat lshtar ihr Königtum
zurückerlangt, und das Leben auf Erden geht wieder seinen nor
malen Gang [20).
Das Gilgamesch-Epos
In ihrer Raserei fleht Ishtar zum Himmel und erlangt die Erschaf
fung eines riesenhaften Stieres mit giftigem Atem. Das Unge
heuer steigt aus den Höhen herab, um die Göttin zu rächen, wird
aber nach kräftezehrenden Kämpfen besiegt; seine berühmten
Hörner aus Elfenbein, die von Lapislazuli eingefasst sind, wer
den als Siegestrophäe nach Uruk gebracht. Aus der Höhe ihrer
90 Der Meister
Burgmauern verflucht die verzweifelte Ishtar die Sieger. Darauf
hin schickt der brutale Gefährte Gilgameschs der Göttin „das
wahre Stück" des himmlischen Stieres, eine Reliquie, die in der
Folgezeit von Ishtar und ihren Hierodulen [21] beweint wird.
Danach wäscht sich Gilgamesch mit seinem Freund im Euphrat
und erscheint alsdann „glänzend über alle Menschen hinaus".
Der Held antwortet mit einem Hymnus an das Licht, einer Be
schwörung, die ihm den schwarzen Gang öffnet, der durch das
Gebirge getrieben wurde. Während zweimal elf Stunden geht er
weiter und weiter, ohne auch nur den kleinsten Schimmer von
Helligkeit zu sehen, dann wird die Dunkelheit schwächer, und
die letzten beiden Stunden seines Weges vollziehen sich in der
Dämmerung. Der Weg endet im lichtdurchfluteten Garten der
Göttin Sidouri, dessen Anlage sich bis ans Meer erstreckt und
dessen göttliche Bäume kostbare Steine als Früchte tragen. Gil
gamesch erschreckt die junge Schönheit, die über das seelen
lose Paradies herrscht. Sie versteckt sich vor ihm und zeigt sich
schließlich nur in schamhafter Verhüllung, um ihm die vernünf
tigsten Ratschläge zu erteilen, die man sich denken kann. ,,Nie
mand außer der Sonne", sagt sie zu ihm, ,,kann das gefährliche
Meer überqueren, wo die Wasser des Todes aufschäumen. Lass
also ab, Gilgamesch, von deinem unsteten Wanderdasein, denn
das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden. Als die Götter
den Menschen erschufen, haben sie den Tod zu seiner Bestim
mung erkoren und behielten das Leben in ihrer Hand." Dann
preist die Göttin in überzeugender Weise die Freuden des flüch
tigen Daseins, das man so nehmen sollte, wie es sich bietet, um
alle Befriedigung zu kosten, die möglich ist. Der Weise gibt sich
damit zufrieden, in seinen Kindern weiterzuleben, und macht die
Frau glücklich, die sich ihm verbindet.
92 Der Meister
Aber das Verlangen Gilgameschs ist unwiderstehlich auf Utna
pishtim gerichtet; er will sich jedem Hindernis stellen, um zu
jenem Lehrmeister zu gelangen, der ihm die höchsten Geheim
nisse enthüllen soll. So viel Beharrlichkeit und so viel Opfer
bereitschaft im menschlichen Bereich rühren die bezaubernde
Sidouri. Sie entschließt sich deshalb, den Helden an den Schiffer
Amel-Ea zu verweisen, der bereit ist, ihn an Bord seines Schiffes
zu nehmen. Dieses Schiff durchpflügt die Wellen mit so wunder
barer Schnelligkeit, dass es nach drei Tagen die Gewässer des
Todes erreicht. In denen setzt sich die Seereise trotz äußerster
Gefahr fort, bis trotz bisher unerhörter Schwierigkeiten endlich
die Grenzen der Welt erreicht sind, wo der unsterbliche Utna
pishtim herrscht.
Zufrieden begibt sich der Held wieder aufs Meer, wobei er den
kostbaren Zweig und sieben Brote mit sich führt, die die Frau
Utnapishtims für ihn zubereitet hat. Alles verläuft gut, und
Gilgamesch betritt nach wenigen Tagen Seefahrt wieder festes
Land. Dort wäscht er sich in einem Tümpel mit Süßwasser.
Währenddessen entwendet ihm eine Schlange das verjüngende
Kraut. In der Hoffnung, die Schlange wiederzufinden, beschließt
er, auf dem Landweg nach Uruk zurückzukehren. Er lässt also
das Schiff zurück und macht sich in Begleitung vonAmel-Ea auf
den Weg. Nach langer Wanderung betritt der König schließlich
die Stadt, deren Herrscher er ist. Er betraut den Schiffsführer
wegen seiner Treue mit der Überwachung aller Bautätigkeit.Aus
der Höhe der Befestigungen wird er von nun an die Herstellung
der Ziegel und die Reparaturarbeiten am Mauerwerk leiten.
94 Der Meister
ihnen bleiben nur die auf der Straße fortgeworfenen Essensreste,
um ihr Dasein zu fristen ...
Der Hinweis wird verstanden. Aber wie soll der Erbauer der Ar
che das Unternehmen seinen erstaunten Mitbürgern erklären?
„Du wirst sagen", antwortet Ea, ,,dass Bel dich mit seinem Hass
verfolgt und du deshalb von seiner Erde fliehen musst und in das
Reich des Ea segelst."
Die Götter werden rasch von Schrecken ergriffen über ihr Werk;
sie flüchten in den obersten aller Himmel, wo sie den Verlust des
Menschengeschlechts beweinen. Nach Ablauf von sechs Tagen
kehrt wieder Ruhe ein und am folgenden Morgen zerschellt die
Arche am Berge Nissir. Sieben weitere Tage vergehen in Erwar
tung, dann lässt man nacheinander eine Taube, eine Schwalbe
und einen Raben fliegen. Als dieser nicht zurückkehrt, kann die
Arche evakuiert werden. Diejenigen, die durch sie gerettet wur
den, empfinden das Bedürfnis, den Göttern zu danken und ihnen
Speise- und Trankopfer darzubringen. Der gesamte chaldäische
Götterhimmel drängt sich um die Opfergaben, deren er seit der
Katastrophe beraubt war. Die Göttermutter ist der Auffassung,
Bel, der Anstifter allen Übels, dürfe an dem den Göttern Ange
botenen keinen Anteil haben. Aber Bel erscheint trotzdem zorn
erfüllt, weil die Menschheit nicht vollständig vernichtet wurde.
Schon bedroht er die Überlebenden, als Ninib, der Gott des
Krieges, seinen Zorn auf Ea ablenken kann, den er verdächtigt,
die Rettung der überlebenden angeregt zu haben. Angesichts
dieser Beschuldigungen wirft Ea Bel seine übereilte Hast vor:
Da allein das Menschengeschlecht den Zorn der Götter erregt
habe, hätte sich die Sühne auch auf die Menschen beschränken
müssen. Um sich ihrer zu bemächtigen, sei es nicht erforderlich
gewesen, alles zu ertränken, was atmet. Plagen wie der geflü
gelte Löwe, der wilde Hund, der Hunger und der Würger lra
hätten den Zweck mehr als erfüllt. Ea verteidigt sich außerdem
96 Der Meister
für den Verrat des Geheimnisses der Götter damit, dass nichts
ihm verboten hätte, seinen frommen Diener mit einem Traum zu
belohnen, dessen Bedeutung zu erraten jener eben begabt genug
gewesen sei.
Zufriedengestellt betritt Bel die Arche, in die sich Eas Schütz
ling aus Vorsicht zurückgezogen hat. Der Gott lässt ihn ebenso
wie seine Frau auf festen Boden herabsteigen und befiehlt dem
Paar niederzuknien. Dann spricht Bel zu ihnen: ,,Bis hierher wart
ihr Sterbliche, von nun an werden Utnapishtim und seine Frau
Götter sein wie wir." Zugleich berührt er das Paar mit seinem
Szepter, segnet es und bringt es an einen fernen Ort, damit es
dort seine Unsterblichkeit an den Mündungen der Flüsse genie
ße, d. h. am äußersten Ende der Welt, jenseits des Ortes, den man
später die Säulen des Herkules nennen wird.
Berosc erzählt, dass auch der Kapitän der Arche unsterblich ge
macht wurde. Was die anderen Überlebenden der Sintflut angeht,
so kehrten sie nach Babylonien zurück, wo sie entsprechend den
ihnen erteilten Befehlen die in Sippar verborgenen Tontafeln
ausgruben, um unter den Menschen die Lehren zu verbreiten,
die darauf niedergelegt waren.
Utnapishtim ist der initiatische Name dessen, der das Leben ge
funden hat, indem er Unsterblichkeit errang. Wenn Gilgamesch
die Tragweite der Erzählung seines Vorfahren begriffen hätte,
hätte er vor dem Tod nicht mehr gezittert.
98 Der Meister
Wind, der in den Augen der Hermetiker durch das Quecksilber
� verkörpert wird. Den Botenstoff beider stellt ein feiner Luft
strom dar, der überall eindringt, und zwar selbst in die dichtesten
Körper. Dies ist der Träger des universellen Lebens, von dem
gesagt wird, es liege in ihm die Kraft, was der Sinn des Wortes
Boas ist.
DIE UNSTERBLICHKEIT
J 02 Der Meister
der antiken Magie oder den Praktiken des modernen Spiritis
mus. Was von den Toten bleibt, ist ihr Denken, ist das Ideal, dem
sie ihr Leben geweiht haben. Unsere Meister sind alle Märtyrer
des Geistes, die vorverstorbenen Handwerker des menschlichen
Fortschritts. Zwischen ihnen und uns, die wir ihr Werk weiter
verfolgen, entwickeln sich geheimnisvolle Kommunikationsli
nien. Stets im Verborgenen, treiben sie unser Denken aus dem
Dunkel heraus an bei der beständigen Suche nach der Wahrheit
und stutzen unseren Willen in dem unaufhörlichen Kampf, der
uns auferlegt ist.
Gefangen von dem, was die Sinne bewegt, legt der normale
Mensch sein ganzes Herz in seine Rolle und lebt sie, als wenn
sein wirkliches Leben sich auf den Brettern abspielte. Selten sind
die Akteure in der menschlichen Komödie, die sich bewusst ma
chen, dass sie spielen und gut spielen und lernen, ohne sich von
ihrer Rolle täuschen zu lassen. Diese Weisen machen sich keine
Illusionen über den Reichtum der Dekorationen oder die Pracht
der Kostüme; sie lassen sich nicht außerhalb aller Vernunft von
den schicksalhaften Wendungen des Dramas beeindrucken, das
gespielt wird. Es sind Initiierte, die es verstanden haben, den
Zauber der theatralischen Oberfläche zu durchbrechen; sie wis
sen, dass sie den Erfordernissen ihrer Rolle entsprechend ver
kleidet sind, und vergessen niemals, was sie in der Wirklichkeit
des Lebens sind.
Der Tod
Wenn die Vorstellung vorüber ist, tritt der Schauspieler aus der
Maske (persona) und wird wieder er selbst. Inwiefern kann diese
Rückkehr zu sich ihn berühren? Wird das wirkliche Leben für
ihn eine Entzauberung sein? Bei einem Künstler, der sich seiner
Kunst bewusst ist und nicht zum Opfer seines eigenen Spiels
wird, kann es etwas Derartiges niemals geben. Eine Rolle ist für
ihn nur eine Episode in seiner Laufbahn, und sein Ehrgeiz geht
gerade dahin, zahlreiche Verpflichtungen auf anständige Weise
auszufüllen, indem er von Mal zu Mal besser spielt.
Die Unsterblichkeit
In dem Maße, in dem wir uns der allen Wesen und Dingen zu
Grunde liegenden Einheit verbinden, sind wir auch mehr oder
weniger unsterblich. Wenn die All-Einheit die uns beseelende
Mitte ausfüllt, nehmen wir am Ewigen und Unzerstörbaren teil.
Wenn sich dagegen nur das Vorübergehende in uns bricht, gibt
es keinen Grund, dass wir überleben sollten, was seiner eigent-
Die Initiierten wiederum stellen sich ein ewiges Leben vor, das
sich von dem Leben unterscheidet, das sie in dieser niederen
Welt führen. Sie begreifen nicht, dass das Leben notwendiger
weise eins ist und wir schon jetzt in der Ewigkeit leben. Sie las
sen sich dadurch täuschen, dass sich das eine Leben in unserer
Persönlichkeit verdoppelt,je nachdem,ob wir auf der Bühne der
Objektivität erscheinen oder uns für den Augenblick davon zu
rückziehen. Diese Rückzugsphasen sind gekennzeichnet durch
den Schlaf und den Tod,einander ähnliche Zustände, deren einer
nicht beunruhigender ist als der andere. Während wir schlafen,
löst sich der Schauspieler aus unserer Haut,in die er im wahrsten
Sinne des Wortes geschlüpft ist, um seine Rolle zu spielen, und
wird für kurze Zeit wieder er selbst. Aber nach einigen Stunden
kehrt er auf die Szene zurück bis zu dem Tag, an dem er dem
Theater gänzlich abschwört und nicht wiederkehrt: Dann voll
zieht sich, was man sich angewöhnt hat, den Tod zu nennen -
bezogen auf das Prinzip,das in uns denkt und handelt,ein bloßer
Zwischenfall.
Was nach dem Tode bleibt, ist im Übrigen vor allem die Erinne
rung. Ein ehrenhaftes Gedenken zu hinterlassen sollte der Ehr
geiz eines jeden sein. So bescheiden die Rolle auch ist, es kommt
immer darauf an, gut zu spielen; denn die Kunst, ein gutes Leben
zu führen, ist die größte aller Künste, die große Kunst schlecht
hin, die Königliche Kunst, der sich die Initiierten verschreiben.
Das Fortleben
Wer ein Werk hinterlässt, hat das Gefühl, nicht gänzlich zu ster
ben. Seit die Menschheit des Nachdenkens fähig wurde, führt
jeder Mensch, der weder über Kunstfertigkeit noch Handwerks
geschick verfügte, das Große Werk durch Fortzeugung der
Gattung weiter. Alles, was sich auf die Zeugung bezieht, wur
de heilig. In Form des Menhir aufgerichtet, wurde das männ
liche Geschlechtsorgan zum ersten Symbol der Schöpferkraft;
im Kreise der Familie fühlte sich der Vater vergöttlicht, daher
das Patriarchat der Urzeit. Ohne Nachkommenschaft zu sterben
galt damals als das schlimmste Unglück, als wenn derjenige zur
Gänze stürbe, der nicht ein menschliches Wesen zurücklässt, um
sein Andenken zu ehren.
Auf edlerer Stufe steht die Suche nach Schönheit, von der die
Menschen besessen waren, seit sie sich über ihre tierische Na
tur erhoben hatten. Das Bedürfnis, Gegenstände zu verzieren,
ihnen eine harmonische Form zu geben, zeigt sich schon in den
ältesten Spuren menschlicher Arbeit. Es kam zur Herausbildung
von Künstlerpersönlichkeiten, die ihrem Werk so viel liebende
Hingabe schenkten, dass es wert wurde, auch von künftigen Ge
nerationen noch bewundert zu werden. Nun ist aber derjenige
nicht tot, der Schönheit lebendig werden ließ; er lebt in all den
Menschen weiter, die demselben Kult huldigen, in allen Herzen,
in denen die Harmonie fortschwingt, die er in die Tat umgesetzt
hat.
Aberglauben
Indem sie das Joch der Vorurteile abwirft, erhebt sich die Ver
nunft gegen alles, was die Prüfung durch den kritischen Verstand
nicht aushält. Nichts könnte besser sein - aber ist der Richter,
der das Urteil spricht, auch sicher, dass er selbst voll und ganz
aufgeklärt ist?
Nichts existiert ohne Grund. Vertiefen wir also, bevor wir ver
werfen. Dieses Vorgehen ist nicht revolutionär, aber initiatisch.
Die ungeduldige Jugend kann sich dazu kaum verstehen, das
Alter jedoch muss es als Richtschnur übernehmen. Der Meister
urteilt nur aus völliger Kenntnis der Sache.
Wie dem auch sei, der Organismus bildet sich nicht aus Zufall,
sondern nach gewissen Regeln der Kunst, die darauf abzielen, ei
nen normalen, robusten und der von ihm einmal auszufüllenden
Rolle gut angepassten Einzelmenschen zu formen. Darin zeigen
sich allgemeingültige Gesetze der Baukunst, die durch die Wei
tergabe der Gattung vorgezeichnet sind. Alles läuft so ab, als
ob die individuelle Keimzelle einer Bauplanung gehorchte, die
jede Zelle dazu beruft, eine von den Bedürfnissen des Ganzen
bestimmte Funktion zu erfüllen. Es gibt eine Zielvorstellung und
eine Vorausschau, anders gesagt die Ausführung eines vorher
bestimmten Plans. Dies trifft für jede Entwicklung alles irgend
wie Lebendigen zu, so winzig es auch sein mag. Der geringste
pflanzliche Organismus geht von einem Idealtypus aus, nach
dem er sich gestaltet. Weitaus komplexer lehnt sich der Aufbau
des menschlichen Organismus ebenfalls an einen allgemeinen
DIE VERWIRKLICHUNG
Vertiefen
Keiner ist Meister, der die Kunst nicht bis auf den Grund be
herrscht. Nur der Lehrling darf sich mit raschen, allgemeinen
und oberflächlichen Bemerkungen zufriedengeben: Seine Sache
sind übereilte Theorien und jugendliche Gewissheit. Von der
Praxis belehrt, beobachtet der Geselle sorgfältig und überprüft
die Vorgaben der Theorie, wobei er mit der Zeit die Erfahrung
gewinnt, die zur Meisterschaft führt. Diese jedoch belohnt den
Nun entwickelt sich die Kunst wie alles andere weiter und passt
sich den Notwendigkeiten an, da sie schließlich dazu bestimmt
ist, ohne Unterlass fortzuschreiten. In dieser Hinsicht ist der
Fortschritt das Werk der Meister, die die Überlieferungen auffin
den und aus der Routine befreien. Weit entfernt von knechtischer
Enge sind sie beseelt vom reinen Geist der Kunst und fürchten
sich nicht davor, das zu reformieren, was sie in einem veralteten
Stil festhält oder im blinden Kult der Vergangenheit versteinert.
Der Künstler vibriert so stark unter den Einflüssen der Kunst,
die er in seinem Inneren spürt, dass er zum freien Interpreten
des Werkes wird, dem er sich gewidmet hat und mit dem er ganz
verschmolzen ist. Der Eingeweihte seinerseits weiht sich der
Großen Kunst, die die Kunst des Lebens ist; er strebt also nach
lebendiger Meisterschaft: Es ist das Leben, das wahre Leben,
das er begreifen und spüren muss.
Auf den Grund der Dinge gehen, das ist das ewige Thema der
Philosophie, die wesentliche Aufgabe des denkenden Meisters.
Die Hermetiker mussten den Verlorenen Stein der Weisen im
Der Initiierte hört also gerne und mit Wohlwollen alle an, die
glauben, Recht zu haben. Er verkehrt mit Gläubigen, die be
strebt sind, ihn zu ihrer Religion zu bekehren, ebenso wie mit
Philosophen, denen alles daran liegt, ihr System auszubreiten.
Angeregt durch das Beispiel der Weisen der Antike, klopft er an
die Pforte aller Heiligtümer und verschmäht keine Denkschu
le. Meinungsverschiedenheiten belehren ihn, denn er diskutiert
nicht, um zu überzeugen, sondern um überall das reine Metall
aus den Stollenwänden zu befreien und die verstreuten Splitter
aufzusammeln. So können die schlichtesten Menschen dazu bei
tragen, den Eingeweihten zu bereichern, vorausgesetzt, er inte
ressiert sich wirklich für die Besonderheit eines jeden Milieus
und sieht überall die prima materia des Großen Werks. In dieser
Hinsicht entdeckt der Weise an jedem Ort und im Überfluss, was
der Dummkopf nirgendwo zu finden weiß [28] .
Betrachten wir auch die Institutionen kritisch, mit denen wir ver
bunden sind. Verfällen wir nicht in den Aberglauben, wir seien
frei, weil unsere Vorfahren für die Freiheit gestorben sind. Un
abhängigkeit überträgt sich nicht im Wege des Erbgangs: Man
muss sich jeden Tag frei machen, um frei zu werden und zu
bleiben. Unter einer Unzahl von perfiden Formen bedroht uns
die Sklaverei ohne Unterlass; sie drückt sich unserem Geist auf,
wenn Denkfaulheit uns davon abhält, selbständig die Wahrheit
zu suchen; sie lähmt uns moralisch, wenn unser Wille bei ego
istischen Beschäftigungen einschläft; sie erfasst uns schließlich
politisch, sobald wir unsere Pflichten vernachlässigen und unse
re Würde als Staatsbürger vergessen.
Bemühen wir uns also darum, als Einzelne rein zu sein. Verlan
gen wir von unseren Vertretern keine Gunstbeweise, damit wir
uns das Recht erhalten, sie mit Unnachsichtigkeit zu kontrollie
ren, ohne ihnen die geringste Schwäche durchgehen zu lassen.
In einer Demokratie ist jeder Bürger für das allgemeine Wohl
verantwortlich. Vergesst es nicht, die ihr in eurer Eigenschaft
als Meister auch Erzieher sein müsst. Um Republikaner zu sein,
genügt es nicht, an einem bestimmten Tag zur Wahl zu gehen
und in Öffentlichen Versammlungen das Wort zu ergreifen; die
Aufgabe ist härter und strenger. Die Republik gibt sich nicht
damit zufrieden, ausgerufen und dann als Etikett behandelt zu
werden; sie muss jeden Bürger und jede Institution bis ins Mark
durchdringen.
Lernen wir, in dieser Hinsicht klar zu sehen. Erfüllen wir unsere
Pflicht, wir, die wir des äußeren Scheins müde sind, danach stre
ben, Wirklichkeit an seine Stelle zu setzen.
Um der Nation alle Dienste zu leisten, die sie von uns als gänz
lich aufgeklärten Bürgern erwarten darf, ist es unerlässlich, dass
wir auch in Bezug auf die Maurerei unserer Rolle als Freimaurer
in vollem Umfang gerecht werden.
In diesem Bereich wie in jedem anderen darf keinerlei Illusion
die Klarheit unseres Urteils trüben. Die maurerische Organisa
tion hat ihre Unvollkommenheiten, ihre Mängel und ihre heil
baren Krankheiten, zu deren Beseitigung der Meister-Maurer
Die Initiation verlangt, dass wir für das profane Leben sterben,
um zu einem höheren Leben wiedergeboren zu werden. Nun be
gnügen sich aber die Maurer damit, viel zu symbolisch zu sterben:
Das initiatische Ritual genügt ihnen, und sie vergessen, sich dem
Lehrinhalt anzupassen, dessen allegorische Darstellungsweise
es ist. Ergebnis: Die Maurerei existiert nur symbolisch und der
Maurer ist nur Symbol dessen, was er eigentlich sein sollte. So
darf es nicht länger sein. Die allzu ausschließlich rituelle Mau
rerei hat ihre Zeit gehabt. Unsere Institution befindet sich nicht
mehr im Stadium ihrer Kindheit, wo sie instinktiv in frommem
Gehorsam Rituale ausführte, deren Bedeutung sie nicht kannte.
Jetzt will Hiram wieder lebendig werden und das Verlorene Wort
aussprechen. Die tote Überlieferung, die ihn einzig als mumifi
zierten Leichnam behandelte, muss in unserem Verständnis und
unserem Wollen neues Leben gewinnen. Machen wir Hiram in
Frage: Wer ist die Witwe, als deren Söhne sich die
Maurer bezeichnen?
Antwort: Das ist Isis, die Verkörperung der Natur,
die universale Mutter, die Witwe des Osiris,
des unsichtbaren Gottes, der den Verstand
erleuchtet.
Frage: Warum?
Antwort: Um das Licht zu verbreiten und zu sammeln,
was zerstreut war. In anderen Worten, um zu
lehren, was sie wissen, und zu lernen, was sie
nicht wissen, wobei sie überall dazu beitra
gen, die Herrschaft von Harmonie und Brü
derlichkeit unter den Menschen zu begrün
den.
Lehrgespräch im Meistergrad 13 7
Frage: Woran arbeiten die Meister?
Antwort: Am Reißbrett.
Wenn diese Siebenheit sich nur auf die den Alten bekannten
sieben Planeten und sieben Metalle bezöge, brauchte man da-
GOLD SILBER
BRONZE
Das Gleichgewicht
Vom Verständnis der Sieben kann man leicht zum Begreifen der
Acht übergehen, wenn man die Bedeutung der Säulen J. ·. und
B.·. erfasst hat - Sieben ist nämlich in Bezug aufAcht, was J. ·.
in Bezug aufB.·. bedeutet.
Nun standen der Großen Göttin, der Nährerin der Lebenden, den
Phöniziern zu Folge acht Nebengötter zu Diensten, die Kabirim
(die Starken, die Mächtigen) genannt wurden. Diese Zahl ist be
zeichnend, denn sie kann nicht angewendet werden auf die das
Chaos ordnenden Agenzien, auf die Sekundärursachen, die filr
den Bau der notwendig siebenfältigen Drei-Einheit notwendig
sind. Symmetrisch angeordnet, widersprechen sich die aktiven
Gegensätze in der Achtheit und zielen auf die relative Unbeweg
lichkeit und Festigkeit in Bezug auf den Mittelpunkt. Die im
Spiel befindlichen Energien sind also im Wesentlichen bewah
render Natur, und zwar so sehr, dass es gestattet ist, in den Ka
birim die Mächte zu sehen, die das gute Funktionieren der Welt
sicherstellen, zu deren Bau sie beigetragen haben. Man rief sie
zur Hilfe gegen die Entfesselung der Elemente, und die Seeleute
rechneten auf ihren Schutz in Sturmgefahr. Sie glaubten sehen
zu können, wie sie sich in den Mastspitzen in Form eines glän
zenden Schimmers manifestierten, der seither unter dem Namen
Elmsfeuer bekannt ist. Der Kult dieser Gottheiten ging auf die
Griechen über, die zu ihren Ehren die Mysterien von Samothra
ke ins Leben riefen. Später verbreitete sich die Verehrung der
Kabiren in der ganzen römischen Welt.
Die Zahl Acht, die Zahl der semitischen Kabirim, findet sich im
babylonischen Sonnenemblem, dessen Strahlen sich in einem
doppelten Kreuz ausbreiten. Vertikal und horizontal sind die ei
nen geradlinig und beziehen sich auf die Vierheit der Elemente
ebenso wie auf die physischen Wirkungen des Lichts und der
Hitze. Die schräg verlaufenden Strahlen zeigen durch ihre Wel
lenform an, dass sie lebendig sind. Und da jeder von ihnen auch
noch dreifach angeordnet ist, spielen sie auf die Zwölferteilung
der Ekliptik an, von der weiter unten die Rede sein wird.
Die Sonne wurde als eines der sieben großen Agenzien aufge
fasst, die die Welt koordinieren, aber man schrieb ihr außerdem
einen dauerhaften, wesentlich regulierenden Einfluss zu. Sie ist
es, die den Ablauf der Jahreszeiten, die gleichmäßige Abfolge
von Tag und Nacht so gut sicherstellt, dass schließlich im Wege
der Ausweitung jeder normale Gang der Dinge als ihr Werk
betrachtet wurde. Der Licht-Gott hasst jede Unordnung, die er
überall zurückdrängt. Dergestalt fördert er auch das klare Den
ken, das die Vorstellungen nach den Gesetzen einer gesunden
Logik ordnet. Zugleich mäßigt er die Leidenschaften, damit sie
die Heiterkeit, für deren Zuteilung er verantwortlich ist, nicht
beunruhigen können. Er greift schließlich sogar in den Organis
mus ein, denn es missfällt Apoll, wenn nicht alles darin nach
Wunsch abläuft. Dementsprechend wurde die Medizin unter die
Schirmherrschaft des ordnenden Gottes gestellt, dessen Sohn
Das Gleichgewicht
Vom Verständnis der Sieben kann man leicht zum Begreifen der
Acht übergehen, wenn man die Bedeutung der Säulen J.·. und
B.·. erfasst hat - Sieben ist nämlich in Bezug aufAcht, was J.·.
in Bezug aufB.·. bedeutet.
GOLD SILBER
BRONZE
Wenn diese Siebenheit sich nur auf die den Alten bekannten
sieben Planeten und sieben Metalle bezöge, brauchte man da-
Die sonnenhafte Tugend zielt auf die Vertreibung allen Übels; sie
lässt Klarheit in die Köpfe Einzug halten, Friede in die Seelen,
und gibt dem Körper die Gesundheit zurück. Ihr Tun ist heilend
und heilbringend, so dass die Sonne als der große Freund der
Lebenden, als ihr Heiland oder Erlöser betrachtet wurde. In Be
zug darauf ist es durchaus angebracht, ihre Strahlen in Kreuzes
form anzuordnen oder besser noch in einem doppelten Kreuz.
Das aufstrebende Christentum ist weitgehend von diesen uralten
Vorstellungen geprägt worden.
Wenn in einer Loge die Acht die Zahl des Redners ist, entspricht
die Sieben dem Meister, der die Arbeiten leitet, und die Neun
dem Br.·. Sekretär, der mit dem Bauriss betraut ist, der die Kon
tinuität des Werks sicherstellt.
Die Überlieferung
Jeder von uns sammelt ein geistiges und sittliches Erbe an mit
der Aufgabe, es Früchte tragen zu lassen, um es reicher an die
folgende Generation weiterzugeben. Darin liegt die verehrungs
würdige Tradition, die Heilige Kabbala der Eingeweihten. Der
Meister ist verantwortlich für diesen in Jahrhunderten ange
sammelten Schatz. Wenn er versteht, was die edelsten Geister
gewollt haben, und wenn er seinerseits aus dem tiefsten Grund
seines Wesens dasselbe Ideal verwirklichen will, wird er dadurch
zum würdigen Nachfolger der im Verborgenen lebenden Wei
sen, die vom Beginn der menschlichen Gesellschaften an nicht
aufgehört haben, sich zum Besseren zu verschwören.
Die Musen sind die Lehrerinnen, die uns beibringen, die initia
tischen Hieroglyphen zu entziffern und so im ewigen Buch der
heiligen Überlieferung zu lesen. Sie beflügeln den bildenden
Künstler, den Musiker, den Barden, den Dichter, aber auch und
vor allem den Denker, denn das Denken entspricht der subtilsten
aller Künste, zu der sich niemand erheben kann, wenn er nicht
durch die Schule Apollos und der neun Schwestern gegangen
ist, jener heiteren Spenderinnen von rechtem Takt und harmo
nischem Maß. So erklang die Leier Amphions in so vollkom
menen Akkorden, dass durch sie die Steine der Mauern The
bens sich wieder zusammenfügten, die sich dadurch von selbst
aufrichteten, um die heilige Stadt mit einem unüberwindlichen
Bollwerk zu umgeben.
Man muss die Wahrheit verstehen können, die sich in der Spra
che einer Fabel an uns wendet.
Die Sephiroth
1. Die Krone nimmt den Platz des M. ·.v. ·.St.·. ein, der die
Arbeiten leitet, den die Schenkel des Zirkels mit der
2. Weisheit - Vernunft, dem Redner, und der
3. Verstand - erfassendes Gespür, dem Sekretär, verbinden.
4. Gnade, und
5. Strenge, entsprechen dem Gabenpfleger und dem Schatz
meister, aber diese Beamten müssen ihre Plätze tauschen,
wenn sie in der Logik des sephirotischen Systems bleiben
wollen.
7. Sieg, Festigkeit, und
8. Glanz, Ordnung, verbinden sich mit dem Ersten und
Zweiten Aufseher, während
Die Zwöltheit
6. Feuer y � i+
V Erde tj DJ? '!,
A Luft lf '-'L
V Wasser e 111_ l(
So wird jedes Zeichen durch einen Planeten und durch ein Ele
ment charakterisiert. Sehen wir nun, was sich aus diesen Vorga
ben in Bezug auf die Initiation ergibt.
WIDDER
Feuer, Mars - Es handelt sich um den
.m�IH>. Schwefel der Alchemisten �. das schöp
ferische innere Feuer, das jedes Wachs
tum und jede Entwicklung anregt. Einge
schlossen während des Winters erwacht
es im Frühjahr, lässt das Saatkorn sprie
ßen und treibt das Aufblühen der Knos
pen voran. Er verkörpert die persönliche Initiative, die sich un
ter dem Anstoß eines allgemeinen äußeren Einflusses auftut, wie
sich die im Keim eingeschlossene Energie auf das Zeichen der
Sonne hin in Bewegung setzt. - Die initiatische Glut, die dazu
führt, die Einweihung zu suchen.
STIER
Erde, Wasser - Das Salz 9, empfangen
de Materie, in der die Befruchtung statt
findet. Die innere Entwicklung. - Der
Suchende wird nach sorgflUtiger Vorbe
reitung zu den Prüfungen zugelassen.
KREBS
�����'J.;J2'/ Wasser, Mond - Das innere Mark füllt
' die Formen aus, die dadurch zu ihrer
Fülle anwachsen. Die Vegetation ist ver
schwenderisch. Es ist die Jahreszeit der
Blätter, Kräuter und Nährpflanzen, aber
Körner und Früchte sind noch grün. Die
Tage sind lang: Das Licht ist überreich
vorhanden. - Der Eingeweihte lernt, in-
dem er sich die initiatischen Lehren an
eignet.
LÖWE
Feuer, Sonne - Wenn die schwefelige
und innere Glut des Widders sich ihrer
schöpferischen Aufgabe entledigt hat,
greift das äußere Feuer ein, um alles aus
zutrocknen und abzutöten, was nur flüs
�::e='U'i&li:iilii:rf>;.;.;a sige Struktur hat, um die Hülle der feuer-
geborenen Keime aufzukochen und zur
Reife zu bringen. Die gnadenlose Ver
nunft übt ihre scharfe Kritik an allen auf
genommenen Begriffen. - Der Initiierte
kontrolliert von sich aus mit Strenge die
Ideen, die ihn verführen könnten.
WAAGE
Luft, Venus - Gleichgewicht der auf
bauenden und zerstörenden Kräfte. Rei
fe: die Frucht in all ihrer Größe. - Der
Geselle im Zustand der Entfaltung seiner
höchsten, aufs Nützliche gerichteten Ak
tivität.
!:==:;;/ff=.�
SKORPION
Wasser, Mars - Die feuchte Masse gärt.
Die Elemente der Lebensbausteine tren
nen sich, um neue Verbindungen einzu
gehen. Umwälzende Veränderungen der
bestehenden Ordnung. Die Sonne be
�iH�;al�l��i schleunigt ihren Absturz in die südliche
Hemisphäre. - Verschwörung der bösen
Gesellen. Hiram wird erschlagen.
STEINBOCK
Erde, Saturn - Nichts lebt mehr: Die
Erdensubstanz ist unbeweglich, passiv,
aber bereit zu neuer Befruchtung. - Das
Grab Hirams wird entdeckt dank des
Akazienzweiges, dem einzigen Hinweis
auf das entschwundene Leben.
WASSERMANN
Luft, Saturn - Die schöpferischen Ele
mente erneuern sich in der ruhenden
Erde, die sich auf neue Zeugungsan
strengungen vorbereitet. Sie sättigt sich
mit lebenspendender Dynamik. - Der
Leichnam des Baumeisters wird zu Tage
......�'•"-..-II"'"--oll,
gebracht, und die Kette bildet sich, . um
ihn auferstehen zu lassen.
FISCHE
Wasser, Jupiter - Das Eis bricht; der
Schnee schmilzt und tränkt die Sonne
���ij j��fff/ mit jenen Flüssigkeiten, die geeignet
sind, zum Leben berufen zu werden. Die
Tage werden rasch länger, die Herrschaft
des Lichts setzt sich durch. - Hiram ist
auferstanden; er erlangt das Bewusstsein
wieder: Das Verlorene Wort ist wieder
gefunden.
Zwölfbeschließt den Kreis der Zahlen, mit denen sich die philo
sophische Spekulation mit Vorliebe beschäftigte. Den zwölfAr
beiten des Herkules und den zwölf Zeichen des Tierkreises ließ
man ebenso viele Phasen der Verwirklichung des Großen Werks
entsprechen. Aber da die Zwölf den Kreis abschließt, bleibt die
Dreizehn ausgeschlossen, daher der dieser Zahl zugeschriebene
unheilbringende Charakter, der das Tarot das Bild des Todes zu
ordnet, der alles dahinrafft, was nur eine vorübergehende Exis
tenz besitzt.
1 2 3 10 11 12
4 5 6 13 14 15
7 8 9 16 17 18
Aber unsere Sklaverei muss ein Ende nehmen, denn ein Erlöser:
19, ist uns versprochen. Das Arkanum XIX identifiziert ihn mit
der Sonne, die die Menschen ein für alle Mal erleuchtet, indem
sie sie zur gesunden Vernunft bekehrt. Das ist die Ankunft des
wahren Lichts, dessen Strahlen zur Wiedergeburt führen, wie
es das Arkanum XX (Gericht/Urteil) zeigt, so dass daraus die
universale Harmonie der neu geschaffenen Welt hervorgeht (Ar
kanum XXI). Der ideale Tempel, den die Maurer bauen, wird
so durch die Zahl 21 verkörpert, die Synthese einer dreifachen
Siebenheit oder siebenfachen Dreiheit.
Weil er von sich selbst absehen kann, wird der Meister in der
Tat fähig zu herrschen, und zwar nicht als Despot oder gewöhn
licher Potentat, sondern als Adept der Königlichen Kunst, der
würdig ist, den Thron Salomos einzunehmen, des weisesten al
ler Könige. Der Einzelne, der sich selbst beherrscht und keinem
Augenblicksimpuls unterliegt, erhebt sich zur königlichen Wür
de der Eingeweihten. Da nichts ihm befehlen kann, ist er frei
und trifft seine Entscheidungen nur unter dem Einfluss klarster
Vernunft. Jeder Meister muss sich bemühen, dieses Ideal zu ver
wirklichen, das ihm bedeutende Vorrechte einräumt, wofür das
Tragen des Hutes ein zwar auf den ersten Anschein plumpes,
aber letztlich dennoch subtiles Symbol ist.
In der Maurerei gibt es keine höhere Autorität als die des Meis
ters. Oberhalb des Meisters gibt es nichts. Derjenige, der die
Arbeiten der Loge leitet, ist nicht mehr als die anderen Meister
und muss ihnen Rechenschaft ablegen über seine Amtsführung.
Ein Großmeister ist selbst nur ein Delegierter der Meister und
regiert in ihrem Namen und unter ihrer Kontrolle einen Bund
von Logen.
Keine maurerische Spitzenorganisation verfügt im Übrigen über
irgendwelche Macht aus sich selbst. Sie ist schlicht und einfach
ausführendes Organ des Willens ihrer Auftraggeber, und ihre
Aufgabe beschränkt sich auf die Vertretung der Interessen der
Gesamtheit.
Es ist deshalb wichtig, dass die zur Führung und Leitung der Lo
gen berufenen Meister sich ihrer Souveränität bewusst sind, über
die sie auch eifersüchtig wachen sollten. Sie haben nur solchen
Entscheidungen zu gehorchen, die im allgemeinen Interesse ge
troffen werden, und müssen es eindeutig ablehnen, legislativen
Einflüssen nachzugeben, die dem maurerischen Geist widerspre
chen. In dieser Beziehung weiß der wahre Meister sein Urteil zu
treffen, oder seine Erhebung in den dritten Grad war nichts als
ein grotesker Mummenschanz. Derjenige, in dem Hiram einen
Nachdem wir das Ideal, dem wir uns zuneigen sollten, so vor
behaltlos formuliert haben, ist es wichtig, daran zu erinnern,
dass in der Praxis nur die Anerkennung einer gewissen Disziplin
eine Zusammenarbeit möglich macht. Es ist deshalb klüger, sich
einer kritisierbaren Regel zu unterwerfen, als vorzugeben, nur
nach seinem eigenen Kopf handeln zu können. Der wahre Mei
ster wird unterscheiden können und nur tätig werden, indem er
sich vom wirklichen Wohl des Ordens bestimmen lässt. Er wird
überdies nie den Respekt vergessen, den jeder Initiierte dem Ge
setz schuldet, wie unvollkommen es auch sein mag [43].
Die Befreiung
Es ist an der Zeit, dass dieser Skandal ein Ende nimmt. Zu die
sem Zweck jedoch müssen die Meister Hiram auferwecken und
den Logen die Rechte wieder zurückgeben, die sie sich nur des
halb gewaltsam haben abnehmen lassen, weil es ihnen an Meis
tern fehlte.
DIE HOCHGRADE
Aber da sich der 4. Grad in der Praxis als nicht wesentlich glück
licher erwies als der 3. Grad, kam es bald zu einem Überangebot
in der Vervielfachung der Grade. Warum sollte man bei 4 stehen
bleiben, wo doch 7 eine wesentlich sinnträchtigere Zahl ist? In
der ausgezeichneten Absicht, die Maurerei zu vervollkommnen
und die wahre Meisterschaft zu verwirklichen, machten sich
zahlreiche Ritualisten ans Werk und entwickelten geradezu bis
ins Unendliche ganze Hierarchien von Graden.
Diese Kritik ist zu einem sehr großen Maß berechtigt, denn wenn
das Ritual der drei sogenannten symbolischen Grade sichtbar die
Handschrift der Meister trägt, ist demgegenüber nichts weniger
meisterhaft als die Symbolik der sogenannten philosophischen
Grade. Alles riecht hier nach mühsamer Nachahmung, und die
initiatische Idee setzt sich nirgends in eine lichtvolle Synthese
um.
Die Hochgrade empfehlen sich also für Maurer, die die Meister
schaft anstreben und sich aus eigener Kraft in der Meisterloge
nicht dazu erheben konnten. Um ihnen zu Hilfe zu kommen,
bietet ihnen das Schottentum Wiederholungskurse an, die ihren
Wert haben, aber keineswegs unverzichtbar sind.
Bis es soweit ist, wollen wir nichts zerstören. Strengen wir uns
lieber an, unsere Grade initiatisch zu machen und dabei jede
sich bietende Belehrung anzunehmen. Der Meister schult sich
überall, selbst in fragwürdigsten Lehranstalten, die auf schlecht
verstandenen Traditionen beruhen. Wenn er es nicht versteht, be
ständig alles auf den Prüfstand zu stellen und immer wieder auf
den Punkt zu bringen, indem er die Wahrheit auch noch unter
einem unglücklichem Ausdruck, der sie verunstaltet, zu erraten
versteht, zeigt dies nur, dass er das Licht des dritten Grades noch
nicht gefunden hat.
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BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
ZUM GEBRAUCH DER MEISTER
Die Lektüre
Meister, die auf diese Art arbeiten wollen, werden in Werken wie
den folgenden wertvolle Bausteine finden:
Religion
Symbolik
Philosophie
Freimaurerei
S. 17:
Der Vogel der Minerva sieht klar inmitten aller Finsternisse, weil
er sich auf den Maßstab abstützt (Rechtlichkeit des Urteilens)
und sich bedeckt hält und geschützt wird vom Zirkel (Vernunft
gemäße Selbstbeschränkung bei der Erforschung der Welt des
Geheimnisvollen).
s. 63:
Die zur Ermordung Hirams gebrauchten Werkzeuge. Die drei
phönizischen Schriftzeichen entsprechen den hebräischen Buch
staben nil.J, die Hurom oder Hiram gelesen werden können.
s. 80:
Winkelmaß und Zirkel umschließen einen Totenkopf, der sich
von einem schwarzen Pentagon abhebt, das die erfassbare mate
rielle Welt darstellt (der Sarg Hirams). Das Ganze ist mit dem zur
Entdeckung führenden Akazienzweig unterlegt als dem Symbol
dessen, was unzerstörbar ist.
S.94:
Der chaldäische Heros Gilgamesch nach einer assyrischen Statue
im Louvre. Der babylonische Herkules hat sich zu Recht davor
gehütet, den Löwen leidenschaftlicher Aufwallungen zu töten,
sondern sich damit zufriedengegeben, ihn mit Hilfe einer weich
s. 118:
Die auf ideographische Elemente zurückgeführte Lilie. Das üb
liche Zeichen für die Vollendung des Großen Werks wird ge
krönt von einer Raute 0, die für Schöpfungen geistiger Art steht
im Gegensatz zum objektiv und auf das Materielle bezogenen
Quadrat. Aus dem animischen Dreieck (Wasser, Seele) wächst
dementsprechend eine ideale und beherrschende Vierheit, die
von einem binären Rautenwerk (J.·. und B.·.) im Gleichgewicht
gehalten wird. Das Ganze bestätigen die Heraldiker, die einst die
emanzipatorische Mission Frankreichs vorausgeahnt hatten, der
zur Herrschaft durch den Geist berufenen Nation, welchen sie
als strahlendes Licht zunächst nur unbewusst gefühlt, dann aber
sowohl durch kraftvolle Gedankenarbeit (J. · .) als auch durch
glühende, großherzige Überzeugungskraft (B. ·.) in die Wirklich
keit umzusetzen wusste.
s. 139:
Der Eremit des Tarot. Dieser Einsiedler ist vor allen Gefühlsauf
wallungen geschützt, denn sein Mantel fängt wie der des Apollo
nius alle äußeren Einflüsse ab. Ganz Meister seiner selbst, son
diert er sorgfältig das Terrain, auf dem er voranschreitet, da jede
Hast dazu führen kann, das Werk des Fortschritts zu gefährden.
Teilweise verhüllt, konzentriert seine Laterne ihren hellen Schein
auf den zurückzulegenden Weg und verstreut ihre Strahlen nicht
sinnlos in alle Richtungen. Auf diese Art macht sich auch der
Weise daran, in der Praxis die menschliche Entwicklung zu er
hellen, ohne sich indessen mit der Enthüllung von Geheimnissen
zu brüsten, die die neugierigen Köpfe umtreibt, denn in dieser
Beziehung ist Zurückhaltung dringend erforderlich.
s. 142:
Schema der von der Dreiheit erzeugten Siebenheit.
s. 147:
Zwischen zwei Kabiren stehend erweckt Merkur eine dritte, die
ihre Gefährtinnen getötet haben. Wiedergabe einer etruskischen
Spiegelgravur.
s. 148:
Das Sonnensymbol, wie es sich auf chaldäischen Monumenten
findet.
s. 149:
Abzeichen des Redners einer Loge des 18. Jahrhunderts.
s. 150:
Die kubische Achtheit.
s. 151:
Das Quadrat der dreifachen Dreiheit.
s. 156:
Das magische Quadrat des Saturn.
s. 159:
Der Baum der kabbalistischen Sephiroth.
s. 160:
Der Stern des Mikrokosmos (Pentagramm) inmitten des Sterns
des Makrokosmos (Siegel Salomos).
s. 162:
Natürliche Einteilung des Kreises in zwölf gleiche Teile.
s. 163:
Die Gesamtheit aller Tierkreiszeichen mit den zugehörigen as
trologischen Häusern (nach ihren Ziffern und lateinischen Na-
s. 168:
Mit den Zeichen des Tierkreises geschmückte Mumie, die die
Entsprechung jener mit den einzelnen Teilen des Körpers in Er
innerung ruft.
s. 183:
Die Kua oder Trigramme des Fö-hi. Der chinesische Symbo
lismus geht von einer grundsätzlichen Unterscheidung aus, wie
folgt:
- Das, was eins ist, einheitlich, unteilbar. Das Absolute, Spi
rituelle, die wirkende Ursache, das nicht Wahrnehmbare.
• • Das, was zusammengesetzt ist, unterschiedlich, teilbar. Das
Relative, die Materie, die hervorgebrachten Wirkungen,
die sichtbare Natur (die beiden Augen).
-•••=•
Durch Kombination wächst aus dieser Zweiheit die folgende
Vierheit.
Feinsinnigkeit, Verstand, Sonne, Feuer.
-••
••
Ruhe, Sensibilität, Mond, Wasser.
Wachheit, Kritikvermögen, Fixsterne, Luft.
Ruhe, Schlaf, Planeten, Erde.
Die Trigramme treiben die Verästelungen noch weiter, indem sie
- hier mit ihren gebräuchlichen Namen bezeichnete - komplexe
Vorstellungen heraufbeschwören.
--
Feuer. Hitze. Ausdehnung, Ausweitung.
••
•• Blitz. Zusammengeballte innere Hitze.
•-•
•• Wind. Bewegende, beseelende Geistigkeit.
-•••
••
•
Wasser unter der Erde, Kreislauf des Lebens.
S. 193:
Oannes, der Fisch-Gott der Babylonier. Bei Tagesanbruch aus
dem Meer entstiegen, pflegte er Umgang mit den Menschen bis
zum Sonnenuntergang, um sie dabei die Schrift, Wissenschaften
und Künste zu lehren, aber auch die Regeln zur Gründung von
Städten und zum Bau von Tempeln und schließlich die Grund
begriffe von Recht und Gesetz bis hin zur Geometrie, ganz zu
schweigen von den Vorschriften über Ackerbau, Aussaat und
Ernte usw. (Nach der Überlieferung des Berosios, eines babylo
nischen Priesters der alexandrinischen Zeit.)
s. 199:
Das Glücksrad (Arkanum X des Tarot). Es dreht sich und hält
über den Wirbel des Lebens das rätselhafte Prinzip der indivi
duellen Dauer (Sphinx) fest. Die Stabilität ergibt sich aus dem
Gleichgewicht zwischen Aufbauendem (aufsteigender Anubis)
und Zerstörerischem (absteigender Typhon).
s. 205:
Von Oswald Wirth gezeichnetes Titelblatt für die bei Nourry
1926 erschienene Neuausgabe von J.-M. Ragons La Ma9onnerie
[3] Die Frage, die vor der Eröffimng der Arbeit gesellt wird, wel
che Zeit es denn jetzt sei, gehört zum verpflichtenden Bestand
des Rituals.
[8] Goethe stellt im zweiten Teil seines Faust diese Mütter als
furchterregende Gottheiten dar, denen sich der Eingeweihte nur
nähern kann, wenn er in die äußersten Tiefen hinabsteigt, sofern
er sich nicht zu den höchsten Höhen des Sublimen zu erheben
weiß, was, will man Mephisto glauben, auf dasselbe hinaus
läuft.
[9] Die Loge „Travail et Vrais Amis Fideles" (Arbeit und Wahr
haft Treue Freunde) ist im Besitz eines Briefes ihres vormaligen
M.·.v.·.St.·. Noel Salvadori, in dem die Gründe dargelegt sind,
[15] Man sollte nachlesen, was im Buch des Gesellen über die
Anmerkungen 201
fiinfReisen und die Symbolik der Werkzeuge ausgeführt ist (dt.
Fassung).
[16] Wenn wir uns den Bericht über den Sturz der Engel anse
hen, wie er der derzeit herrschenden Orthodoxie entspricht, so
hätte man selbst im Himmel vor der Schöpfung der materiellen
Welt keine Vollkommenheit angetroffen, da ja gerade dort die
furchtbarste aller Revolten gegen die göttliche Ordnung losbre
chen konnte. Waren also die Beni Elohim, diese aus Gott, ihrem
Vater, hervorgegangenen reinen Geister, von Unvollkommenheit
befleckt oder waren es nur schreiende Missstände, die sie zu ih
rem legitimen Aufstand bewegten?
[25] Siehe die Legende von Atrakhasis, dem Mann mit den fei
nen Ohren, dem guten Zuhörer, den Ea, die höchste Weisheit,
beschützt.
[26] Siehe Buch des Lehrlings, dt. Fassung, und Buch des Ge
sellen, dt. Fassung.
Anmerkungen 203
[33] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Ausgabe.
1 •,
. ,
Interpretation erläutert.
..: /\
Ausgangspunkt für Wirths Betrachtungen ist de.r imFrankreich des späten 19. Jahr-
hunderts praktizierte Schottisthe Ritu�. GleichwQhrsind:seine Instruktionen�
• unabhängig von der jeweils prakfizierte� Lehrart -_von grnßem Nutzen und stoßen
· · ,· ·
aµf großes Interesse.
Lesart der modernen Frei�aurerei und spiegelt die· maurerische Vielseitigkeit wider.
Für Oswald Wirth war die spekulative Freimau·rer,ei nicht so sehr von äußeren
Gegnern als von zwei· großen inneren Gefahren bedroht: d·e_m Abgleiten in einen
bloßen Geselligkeitsbetrieb und dem Versinken in den My_stizismus. Vor diesen
Gefahren wollte er sie durch sorgsame Pflege des Rituals und _der Symbolik sowie
ständige Besin·nung auf ihre ursprünglichen Zielsetzungen· bewahren, denen die
Freimaurerei ihre weltweite Verbreitung und ihren jahrhundertelangen Bestand
verdankt. Sein Lebenswerk „Die Freimaurerei, ihren Anhängern verständlich gemacht"
war und ist richtungweisend; seine Aktualität ist bis heute ungebrochen.
°
Das Standardinstruktionswerk 111 liegt nun erstmals in deutsc·her Sprache vor.'
ISBN 978-3�942051-'61-3