Sie sind auf Seite 1von 214

OSWALD WIRTH ,,

DIE! 1
FREIMAUREREI·
••
IHREN ANHANGERN VERSTANDLICH GEMACHT·
• •.

1
DER MEISTER
1
Band III:
K�ilosophie, Gegenstari�,1Vletlt de, Mittel
t · -J
', <;

f,
Die Freimaurerei
ihren Anhängern verständlich gemacht

Band III: Der Meister


OSWALD WIRTH

DIE FREIMAUREREI
IHREN ANHÄNGERN VERSTÄNDLICH GEMACHT

Philosophie, Gegenstand, Methode, Mittel

DER MEISTER

übersetzt von Stefan Legat


Bearbeitet von Maria-Rebecca Legat

EDITION KÖNIGLICHE KUNST


© 2014 Edition Königliche Kunst
www.edition-koenigliche-kunst.de
ISBN 978-3-942051-61-3

Autor: Oswald Wirth (1860 - 1943)


Originaltitel: La franc-ma�onnerie rendue intelligible
a ses adeptes / sa philosophie, son objet, sa methode,
ses moyens / III „LE MAITRE" (1931)
Übersetztung: Stefan Legat (1942 - 2005)
Bearbeitung: Maria-Rebecca Legat
Titelbild: Jens Rusch
Satz & Layout: Evert Kommayer
Lektorat: Angelika Radloff
Druck: Leibi, Neu-Ulm

Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme.


Ein Titelsatz dieser Publikation ist bei der
Deutschen Bibliothek (Frankfurt) erhältlich.

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rech­


te, insbesondere das Recht der Vervielfliltigung und
Verbreitung, sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein
Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schrift­
liche Genehmigung des Verlags reproduziert oder
vervielfältigt werden. Dies gilt insbesondere für Ver­
vielfältigungen und Übernahme des Inhalts in elektro­
nische Medien. Nachdruck oder Reproduktion gleich
welcher Art ob Fotokopie, Mikrofilm, Datenerfassung,
Datenträger oder Online nur mit schriftlicher Genehmi­
gung des Verlags. Die Wiedergabe von Warenzeichen,
Handelsnamen, Gebrauchsnamen etc. in diesem Buch
berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht
zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Wa­
renzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu
betrachten und daher zur allgemeinen Benutzung frei­
gegeben wären.

Das Bild des Buchtitels stammt vom Künstler Jens


Rusch. Es ist erhältlich unter: www.jens-rusch.de
La franc-m�onnerie rendue intelligible A ses adeptes
sa philosophie, son objet, sa methode, ses moyens

LEMAITRE
Vorwort

Wer Oswald Wirth war und was er fllr die Freimaurerei bedeutet,
ist aus deutscher Sicht bislang schwer zu ermessen gewesen.

Der am 5. August 1860 als viertes von fünf Geschwistern in


Brienz in der Schweiz geborene Joseph Paul Oswald Wirth, so
sein vollständiger Name, war Magnetiseur (,,Heilende Hände",
1893), Freimaurer, Tarotforscher, Hermetiker und Okkultist.
Nachdem er aufgrund unterschiedlicher religiöser Auffassungen
von den leitenden Patres des Kollegiums St. Michael in Freiburg
verwiesen wurde, verließ Wirth die Schweiz. Nach drei Jahren
in England zog er nach Frankreich, wo er seinen Militärdienst in
Chälons-sur-Marne ableistete. Schließlich wurde er Ministerial­
archivar in Paris. Dort war er in den Jahren 1885 bis 1897 auch
Sekretär von Stanislas de Guaita, einem französischen Dichter
und Okkultisten, Erneuerer der Rosenkreuzer-Bewegung sowie
Gründer des modernen Martinistenordens in Frankreich und
prangerte in dieser Funktion den niederen Okkultismus an. Glü­
hender Spiritualist, diente Wirth als Vorlage fllr Jules Romains
Figur Lengnau im 5. Band von dessen 28-bändigen Romanzy­
klus „Menschen guten Willens". Aufgrund seiner Sekretärstätig­
keit und der auch in Deutschland bekannten, von Guaita und ihm
gemeinsam entwickelten Tarot-Karten sowie den hauptsächlich
auf diesem Themengebiet erschienenen Übersetzungen wird Os­
wald Wirth in deutschen Darstellungen oftmals ausschließlich
mit okkulten Themen in Verbindung gebracht.

In Frankreich hingegen wird Oswald Wirth vorwiegend als Frei­


maurer wahrgenommen. Dort finden sich auch die Ursprünge
seines freimaurerischen Lebens: Am 26. Januar 1884 wurde er
in der Loge „La Bienfaisance Chälonnaise" i.Or. Chälons-sur­
Marne aufgenommen; 1886 tritt er der Pariser Loge „Les Amis
Triomphants" bei, schließt sich dann der schottischen Loge „Tra­
vail et Vrais Amis fideles" n° 137 i.Or. Paris an, die der Grande
Loge de France angehört und deren Meister vom Stuhl er 1890
wird. Er schrieb in zahlreichen maurerischen Zeitschriften wie

6 Der Meister
,,L'acacia" und „La Lumiere", bevor er 1912 die Monatszeit­
schrift „Le Symbolisme" gründete. Diese Zeitschrift trug zu
Beginn den Untertitel „Organ der universellen Bewegung der
initiatischen Regeneration" und später „Organ der Einweihung
in die Philosophie der hohen Kunst der universellen Konstruk­
tion". Es wurden zwischen 1912 und Juni 1940 insgesamt 244
Ausgaben veröffentlicht. 1935 rief ihn der Oberste Rat in seine
Mitte. Wir verdanken Wirth zahlreiche Veröffentlichungen über
die maurerische Symbolik, u. a. die Übersetzung und Kommen­
tierung von Goethes „Märchen" unter dem Titel „Le serpent Vert
- Conte symbolique de Goethe traduit et commente par Oswald
Wirth" - Die grüne Schlange - symbolische Erzählung von Goe­
the (1922), ,,L'ideal initiatique" - Das initiatische Ideal, wie es
sich aus Riten und Symbolen erschließen lässt (1923, vervoll­
ständigte Fassung 1927), ,,Le symbolisme hermetique dans ses
rapports avec !'Alchimie et Ja Franc-mayonnerie" - Die herme­
tische Symbolik in ihren Beziehungen zu Alchemie und Frei­
maurerei (1930), ,,Les Mysteres de l 'Art Royal" - Die Mysterien
der königlichen Kunst (1932) oder „Notions elementaires de
Mayonnisme" - Grundbegriffe der Maurerei (1934). In seinem
letzten Werk „Qui est regulier? Le pur mayonnisme sous Je Re­
gime des Grandes Loges inaugure en 1717" - Wer ist regulär?
- Die echte Maurerei unter dem Regime der 1717 gegründeten
Großlogen (1938), griff Oswald Wirth 26 seiner sehr zahlreichen
in „Le Symbolisme" veröffentlichten Artikel wieder auf. Er starb
am 9. März 1943 in Mouterre-sur-Blourde bei Poitiers im fran­
zösischen Departement Vienne.

Mit der Veröffentlichung seiner Instruktionswerke in den Jah­


ren 1894, 1911 und 1931, die den hellsichtigen wenn nicht gar
ironischen Untertitel tragen „Die Freimaurerei ihren Anhängern
verständlich gemacht", führte Wirth eine völlig neue Gattung
ein. Bis dahin waren die Kenntnisse über die Freimaurerei und
ihre Lehren nur durch mündliche Überlieferung verbreitet wor­
den, allenfalls durch Katechismen zum internen Gebrauch. Die
Idee, die Quellen der Einführungstradition zu untersuchen, die
Riten und Symbole zu erklären und zu kommentieren, war das
große Verdienst von Oswald Wirth. Es wurde sein Lebenswerk.

Vorwort 7
Die vorliegenden Bücher des Lehrlings, des Gesellen und des
Meisters, die regelmäßig in der Originalfassung neu aufgelegt
werden und hier erstmals in deutscher Übersetzung des franzö­
sischen Originals zum Abdruck kommen, sind keine Lehrbücher,
anhand derer Schüler Lektionen lernen und diese im Anschluss
fehlerfrei vortragen müssen. Die Initiation als solche und die
Einführung in jeden neuen Erkenntnisgrad lehrt zu denken, also
sich persönlich in Richtung der Wahrheit zu bemühen. Jene wird
den Eingeweihten niemals offenbart; ihre Pflicht ist es, die sie
interessierenden Geheimnisse durch eigene Arbeit zu erfor­
schen. Die Kunst, der sie sich dabei widmen, verlangt von ih­
nen, dass sie lernen, das Gebäude ihres eigenen Glaubens nach
ihrem persönlichen Belieben zu errichten. Sie verfügen dabei
über die ganze Freiheit, mit sorgfältig ausgesuchten Materialien
ein stabiles Bauwerk zu errichten. Genauso wenig, wie hierzu
jeder Stein annehmbar ist, soll auch nicht jeder Begriff ohne
Überprüfung angenommen werden und so das Zusammenhalten
des Ganzen garantieren. Die Trilogie, die Oswald Wirth den drei
Graden widmete, ist dementsprechend vielmehr als Nachs.chla­
gewerk zu sehen, das Lehrlinge, Gesellen und Meister in ihre
jeweils neue Welt einführt.

Wenngleich der Ansatzpunkt derjenige des in Frankreich weit


verbreiteten Alten und Angenommenen Schottischen Ritus ist
und neben der Esoterik durchaus Strömungen zum Ausdruck
kommen, wie etwa Aspekte des Tarot und der Alchimie, die
insbesondere im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts
eine große Bedeutung hatten, so findet man in den Instruktions­
werken von Oswald Wirth auch aus deutschsprachiger Sicht ein
bisher nicht ausgeschöpftes Gut freimaurerischen Denkens und
Strebens, das Bewahrung, Weitergabe und Nutzung verdient.

Der vorliegenden Übersetzung hat sich mein Vater Stefan Legat,


der in den 1980er Jahren in der Aschaffenburger Loge „Post Nu­
bila Phoebus" aufgenommen wurde, seit 1998 in seiner Zeit als
Alt- und Ehrenstuhlmeister der Loge „Zum Hohen Licht' i.Or.
Kempten gewidmet. Dabei habe ich ihn zunächst vorwiegend als
Muttersprachlerin und später nach seinem Tod im Jahr 2005 und

8 Der Meister
eigener Initiation in die jeweiligen Grade durch Bearbeitung und
Fertigstellung des Manuskriptes unterstützt.

Kürzungen wurden, ebenso wie in dem in Frankreich erschei­


nenden Originalnachdruck, nicht vorgenommen. Nur bezüglich
des seit 1962 im Buch des Lehrlings eingefügten Vorworts des
französischen Schriftstellers und Freimaurers Marius Lepage
war eine Auslassung aus urheberrechtlichen Gründen nötig. An­
ders als in der französischen Original- und Nachdruckfassung
wurde auf die von Oswald Wirth vorgenommenen Hervorhe­
bungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit weitestgehend ver­
zichtet; notwendige Zusatzerläuterungen wurden eingefügt und
als solche gekennzeichnet.

Die europäische Freimaurerei verdankt dem Schweizer, in Paris


ansässig gewordenen Oswald Wirth sehr viel - vor allem, im
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den initiatischen Inhalt dieser
Bewegung hoch gehalten zu haben. Seine Bücher spiegeln da­
rüber hinaus die Freimaurerei in all ihrem Widerspruch wider,
so, wie wir sie noch heute in den verschiedenen Logen - unab­
hängig von der jeweiligen Lehrart - erleben. Ich wünsche mir,
dass sich bei der Lektüre ein aus Hochachtung, historischem In­
teresse und gelegentlicher Verwunderung gut gemischtes Lese­
vergnügen einstellt, das zum Weiterdenken anregt.

Maria-Rebecca Legat
Berlin, 2013

Vonvort 9
DAS BUCH DES MEISTERS
DEN EINGEWEIHTEN DES 3. GRADES ZUGEEIGNET

Vorwort der Ausgabe von 1931


Ehrwürdige Brr. ·. Meister,

Sie wurden in den höchsten Grad der freimaurerischen Hierar­


chie erhoben, davon gibt Ihr Meisterbrief Zeugnis. Aber sind Sie
wirklich Meister? Die Antwort, ein gewisser geheimnisvoller
Zweig sei Ihnen bekannt, löst die Frage nicht, denn eine Ritual­
formel kann jeder auswendig lernen und wiederholen, auch ohne
ihre ganze Tragweite erfasst zu haben.

Wenn wir unsere Ohnmacht vor dem Geheimnis eingestehen, so


liegt darin nichts Demütigendes. Obwohl ich selbst vor neun Lus­
tren in die mittlere Kammer, den Meistertempel, geführt wurde,
kann ich mich nicht damit brüsten, die Akazie zu kennen. Wie
Sie bin ich in Wirklichkeit Geselle geblieben. Meine Reisen sind
nicht beendet, und ich arbeite ohne Unterlass daran, eine Meis­
terschaft zu erringen, die ich noch lange nicht besitze.

Wie kann ich also die Stirn haben, ein „Buch des Meisters" vor­
zulegen?
Wenn ich glaubte, dem Wunsch einiger Brüder nachkommen zu
müssen, die das Erscheinen des vorliegenden Handbuchs unge­
duldig erwarten, dann nur deshalb, weil meine eigenen Anstren­
gungen, zur Meisterschaft zu gelangen, mir ziemlich deutliche
Vorstellungen verschafft haben. Gerade weil ich sehr gut weiß,
was man sein muss, um sich Meister nennen zu dürfen, fühle ich
mich im dritten Grad noch keineswegs angekommen. Weil mir
all das bewusst ist, was mich noch von dem Ideal trennt, kann
ich auch die Wegstrecke ermessen, die es noch zu durchschreiten
gilt, um das Ziel zu erreichen. Ich stehe am Fuße des Berges und
erkenne den Pfad, der zum Gipfel führt. Ich sehe die Schwierig­
keiten des Aufstiegs klar vor mir und kann den Tapferen beiste­
hen, die ihn in Angriff nehmen wollen.

JO Der Meister
An sie richtet sich Band III der „Freimaurerei, ihren Anhängern
verständlich gemacht'', eines Werkes, dessen Plan im Jahre 1888
im Böhmen der „Freimaurerischen Vereinigung für lnitiatische
Studien" entwickelt wurde. Das „Buch des Lehrlings" wurde
unverzüglich auf den Weg gebracht, konnte aber erst Ende 1892
unter den Auspizien der vollkommenen und gerechten Loge
„Travail et Vrais Amis Fideles" [Arbeit und Wahrhaft Treue
Freunde] das Licht der Welt erblicken.

Dieses erste Handbuch ist das Ergebnis gemeinsam entwickelter


und lang diskutierter Vorstellungen; es zeichnete deshalb auch
kein bestimmter Verfasser als verantwortlich. Anders verhielt es
sich mit dem 1911 erschienenen „Buch des Gesellen", das in
sehr viel größerem Ausmaß unter meiner persönlichen Verant­
wortung zustande kam.

Das „Buch des Meisters", das nun die Reihe abschließt, konnte
nicht in der Mittleren Kammer erarbeitet werden. Es ist also ver­
ständlich, dass ich für die Ansichten, die ich in der vorliegenden,
besonders dornenreichen Abhandlung zu vermitteln versucht
habe, die alleinige Verantwortung übernehme.

Um das „Verlorene Wort" wiederzufinden, habe ich natürlich


auf die geistigen Fähigkeiten besonders erfahrener und gebil­
deter Brr. ·. zurückgegriffen. Einige haben meine Überlegungen
im persönlichen Gespräch gefördert, wie etwa Joseph Silber­
mann und Br.·. Hubert, der Herausgeber der Zeitschrift „Chaine
d'Union"; andere wie Ragon, Eliphas Levi, Albert Pike und vor
allem Goethe haben mich durch ihre Schriften belehrt.

Aber es reicht in diesen Dingen nicht aus, sich das Denken eines
anderen anzueignen. Um den zerrissenen Faden vergessener Tra­
ditionen wieder zusammenzuknüpfen, muss man die Vergangen­
heit durch intensive und persönliche Anstrengung in sich wieder
aufleben lassen. Es geht darum, die alten Zeiten selbst nachzu­
leben, indem man die wesentlichsten Zeugnisse und Denkmäler,
die sie hinterlassen haben, vertieft studiert. Ruinen, abergläu­
bische Vorstellungen, abgetane philosophische Lehren, fremde

Vorwort der Ausgabe von 1931 11


Religionen - all das verdient sorgfältige Forschung; aber nichts
ist womöglich erhellender als Gedichte und Mythen.

Die Dichter sind mit ihrer erleuchteten Phantasie in Fragen der


Initiation lehrreicher als die kühlen Theoretiker. Das chaldäische
Epos von Gilgamesch und die Legende der in die Unterwelt ab­
gestiegenen Ishtar - beides Schöpfungen von hoher initiatischer
Bedeutung - sind mehr als fünftausend Jahre alt. Die Erzählung
vom Tod des Osiris und zahlreiche andere Fabeln setzen Lehren
von tiefer Weisheit in Bilder um. Selbst die Bibel ist wertvoll für
den, der sie recht zu lesen weiß. Die Verführung Evas durch die
Schlange ist eine Anspielung auf die Grundprinzipien einer je­
den Einweihung, und dasselbe gilt für eine ganze Reihe anderer,
jüngerer Darstellungen.

Über Generationen hinweg werden scheinbar alberne Phantaste­


reien weitergegeben; aber der denkende Mensch sollte sie nicht
gering schätzen. Sie sind es, die jenes Fenster im Westen zum
Sprechen bringen, dem sich der Initiierte, der am Morgen im
Osten aufgebrochen ist und am Mittag die Dinge in der vollen
Klarheit des Tages geprüft hat, am Abend nähert.

Mit dem Morgenlicht hat seine erwachende Vernunft die ersten


Lichtstrahlen im Fenster des Ostens entdeckt, die seinen Geist
nun ganz durchdringen sollen. Dieser allzu plötzliche Einbruch
des Lichts musste ihn blenden und eitel werden lassen. Unvorbe­
reitet wie er ist, glaubt sich der Verstand in seiner Begeisterung
gegen alle Irrtümer gewappnet. Überall sieht er Vorurteile, die
zu bekämpfen, und Gespenster, die in die Flucht zu schlagen
sind. Das ist das Alter der überstürzten Urteile, das keine fremde
Autorität anerkennt und alles verdammt, was mit der allzu rasch
erworbenen und deshalb unversöhnlichen eigenen Meinung
nicht in Einklang zu bringen ist.
Dieser jugendliche Überschwang mildert sich in der Mitte des
Lebens, jetzt fällt das hellste Licht des Tages nahezu senk­
recht durch das Fenster des Südens ein. Die Gegenstände wer­
fen nur mehr ein Mindestmaß an Schatten und zeigen sich in
ihrer ganzen Wirklichkeit. Dies ist die Stunde, sie ganz genau
zu beobachten und in allen ihren Aspekten zu betrachten. Da-

12 Der Meister
durch wird das Urteil vorsichtig und bleibt gerne in der Schwe­
be. Wirkliches Begreifen verschließt sich der Verurteilung: alle
zur Sprache kommenden Argumente behalten ihren Stellenwert;
nachsichtiges Erklären greift Platz.

So führt das volle Licht zur Toleranz, die kennzeichnend ist für
die Weisheit des Eingeweihten. Nur wenn man es so weit ge­
bracht hat, alles in heiterer Gelassenheit zu beurteilen, hat man
das Recht erlangt, das restliche Fenster im Heiligtum des Den­
kens zu öffnen. Die Sonne ist untergegangen, die Aufregung des
Tages beruhigt sich, und Abendfriede breitet sich allmählich
in der Ebene aus. Die Einzelheiten verschwimmen in den tief­
er werdenden Schatten; der Abendstern, vor dem alle anderen
Sterne verblassen, gewinnt mehr und mehr an Strahlkraft. Dieser
Stern ist nicht mehr der hochmütige Tupfer, der zu Stolz und Auf­
ruhr anstachelt; er ist die Quelle süßer Klarheit, die den Traum
einer idealen Welt vor uns erstehen lässt. Jetzt kann die Nacht
ihre dichten Schleier ausbreiten: Die Finsternisse der Außenwelt
herrschen nicht länger über das Licht von innen. Wenn dann die
Labenden schweigen, beschließen die Toten zu sprechen. Die
Stunde ist gekommen, jene heraufzubeschwören, die über die
Geheimnisse verfügen, die sie einst mit in ihr Grab genommen
haben. Sie sind die Wahren Meister, deren Denken wir wieder
lebendig machen können, wenn wir uns an die vorgeschriebenen
Rituale halten.
Sakramentalen Charakter wollen wir den Zeremonien allerdings
nicht zusprechen. Hiram steht nicht in uns von den Toten auf,
weil wir nach außen seine Rolle gespielt haben. Bei einer Initia­
tion zählt immer nur, was sich im Inneren abspielt.

Bemüht euch also, ehrwürdige Meister der symbolischen Grade,


das Symbol Wirklichkeit werden zu lassen. Verwandelt euch, ihr
Inhaber von Meisterbriefen und Träger von Abzeichen, in den­
kende Menschen, die am unvergänglichen Denken Teil haben!

Möge das „Buch des Meisters" euch bei der Verwirklichung des
Großen Werkes leiten.

Oswald Wirth

Vorwort der Ausgabe von 1931 13


Inhaltsverzeichnis

Vorwort 6
Vorwort der Ausgabe von 1931 10

Teil I

HISTORISCHE BEMERKUNGEN OBER DEN


MEISTERGRAD 18
DIE GEHEIMEN GESELLSCHAFTEN UND DIE
EINGEWEIHTEN 18
Einrichtungen der Frühzeit 18
Die priesterliche und die königliche Kunst 19
Das ideale Meistertum 23
Die Aufgabe der Eingeweihten 25
Maurerische Verbindungslinien 28
Sind wir Zauberer? 30
Unsere Zeremonien 33
Das Mönchtum 37
DIE MYSTERIEN 40
Berufsbezogene Initiation 42
Die Wohltätigkeit 45
Grade und Fähigkeiten 47
Die Maurer handeln, Hiram leitet sie 49
DAS MAURERTUM 52
Das maurerische Licht 54
Das Wirken der Meister 57
Die Hiram-Legende 61

14 Der Meister
Teil II

DAS RITUAL DES MEISTERGRADES 64


RITUELLE EINWEIHUNG 64
Der Weg zurück 64
Niemals endende Lehrzeit 66
Die Mittlere Kammer 68
Die maurerische Legende 71
Das symbolische Drama 72
Die Prüfung des künftigen Meisters 75
Die Auferstehung 77

INTERPRETATION DER LEGENDE 81


Die Erneuerung 85

DIE MYTHEN 87
Das Gilgamesch-Epos 89
Das Jüngste Gericht der Chaldäer 95
Die phönizische Trias 98

Teil III

DER MEISTERGRAD UND SEIN GEISTIGES UMFELD 101


DIE UNSTERBLICHKEIT l O1
Die Unbekannten Oberen 101
Das Geheimnis der Persönlichkeit 103
Die menschliche Göttlichkeit 105
Der Tod 106
Die Unsterblichkeit 108
Das Fortleben 111
Aberglauben 113

DER AUFBAU DER PERSÖNLICHKEIT 115

Inhaltsverzeichnis 15
Teil IV

DIE PFLICHTEN DES MEISTERS 119


DIE VERWIRKLICHUNG 119
Über sich selbst Meister sein 119
Vertiefen 121
Anderen zuhören 124
Jede Illusion verlieren 125
Die Meisterschaft ausüben 127

Teil V

LEHRGESPRÄCH IM MEISTERGRAD 130

Teil VI

PHILOSOPHISCH-INITIATISCHE ANMERKUNGEN
ZUM MEISTERGRAD 140
DIE FÜR DEN MEISTERGRAD WESENTLICHEN
EIGENSCHAFTEN DER ZAHLEN 140
Das Geheimnis der Zahl Sieben 140
Die sieben:fähige Drei-Einheit 142
Das Gleichgewicht 145
Die Sonnenachtheit 148
Die Neunheit oder dreifache Dreiheit 150
Die Überlieferung 152
Die Musen 154
Das Quadrat des Saturn 155
Die Sephiroth 157
Die magische Kraft 160
Die Zwölfheit 162
Der Sarg von Osiris 168
Adam Kadmon 170

16 Der Meister
Teil VII

DIE VORRECHTE DER MEISTERSCHAFT 173


Der Hohe Hut 173
Die Souveränität der Meister 174
Die Befreiung 176

DIE HOCHGRADE 179


Die Perfektionsloge 182

Teil VIII

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE ZUM GEBRAUCH


DER MEISTER 184
Die Lektüre 184
Religion 185
Symbolik 187
Archäologie 188
Philosophie 189
Hermetismus, Alchemie und Okkultismus 190
Freimaurerei 192

Teil IX

ABBILDUNGEN IM BUCH DES MEISTERS 194

ANMERKUNGEN 200

Inhaltsverzeichnis 17
Teil I
HISTORISCHE
BEMERKUNGEN ÜBER
DEN MEISTERGRAD

DIE GEHEIMEN GESELLSCHAFTEN


UND DIE EINGEWEIHTEN

Einrichtungen der Frühzeit

Wenn wir von der Familie absehen, die früher da war als jede
gesellschaftliche Bildung im eigentlichen Sinne, was ist dann
die älteste Vereinigung von Menschen, auf die wir zurückgreifen
können? In Anlehnung an die V ölkerkunde antworten die Sozio­
logen, dass es sich dabei um den Zusammenschluss erwachsener
Männer in einer geheimen Gesellschaft handelt. Diejenigen, die
mit der Wahrnehmung der Interessen der Gesamtheit des Stam­
mes betraut sind, müssen sich natürlich zu gemeinsamen Bera­
tungen und Entscheidungen zusammensetzen. Dabei legen sie
Wert darauf, ganz unter sich zu bleiben und weder Frauen noch
Kinder oder Fremde zuzulassen. Der Zutritt zu ihren Treffen ist
demzufolge allen Personen untersagt, die nicht für eine Teil­
nahme an der Versammlung qualifiziert sind. Diese nimmt sehr
leicht einen heiligen Charakter an, ebenso wie der Ort, der dafür
bestimmt wird. Hier liegt der Ursprung des Tempels, von dem
die Profanen (von pro fanum: vor dem Tempel) ausgeschlossen
sind.
Sich diesem furchteinflößenden Ort neugierig zu nähern, brach­
te Unglück; um ihn betreten zu dürfen, mussten unterschiedliche
Bedingungen erfüllt werden. Manchmal wird der Heranwachsen­
de allein auf Grund des Eintritts seiner Volljährigkeit aufgenom-

18 Der Meister
men. Aber es kommt auch vor, dass Proben physischer Ausdauer
verlangt werden oder man den Nachweis ausreichender geistiger
Reife zu erbringen hat. Stets ist es aber so, dass in den Augen der
frühen Menschen kein Vorgang im Leben von so großer Bedeu­
tung ist wie die Aufnahme des Jünglings in die Versammlung der
reifen Männer: Bis heute sind deshalb bei den im Zustand der
Naturwüchsigkeit verbliebenen Wilden Zeremonien, Feste und
Freudenfeiern damit verbunden.

Aber dies ist natürlich nicht das einzige feierliche Ereignis, das
man in der Frühzeit und bis heute mit großem Pomp zu begehen
pflegte. Der Brauch, jährlich ein Fest zu Ehren der Jugendlichen
zu feiern, die das Alter der Pubertät erreicht hatten, ist nahezu
weltweit verbreitet. So geht auch die christliche Erstkommunion
dem Grunde nach auf älteste Riten des Altertums zurück. Ent­
sprechend verhält es sich mit den meisten religiösen Praktiken
der verschiedenen Kulte, die ihre Wurzeln in den fetischistischen
Zaubereien der Urzeit haben.

Die Männer jedoch, die derartige Tätigkeiten ausübten, dürfen


keineswegs gering geschätzt werden. Wurden sie doch unter den
erfahrensten alten Männern ausgewählt, die in den Versamm­
lungen der Erwachsenen ihre Weisheit, ihren Verstand und ihr
Einfühlungsvermögen bereits unter Beweis gestellt hatten. Zwar
konnten sie aufgrund ihrer körperlichen Hinfälligkeit nicht mehr
an kriegerischen Unternehmungen teilnehmen, aber da ihr Geist
vollkräftig geblieben war, gelang es ihnen oft, einen sehr weit­
reichenden Einfluss zu gewinnen. So verhielt es sich etwa mit
den Druiden und anderen vergleichbaren Priestern. Erinnern wir
uns in diesem Zusammenhang daran, dass das Wort Priester von
presbyter kommt, dessen Wurzel im Griechischen „alter Mann"
bedeutet.

Die priesterliche und die königliche Kunst

Gleich und gleich gesellt sich gern. Die Ähnlichkeit der Charak­
tere, der Geschmäcker, der Tätigkeiten, der Rechte und Pflichten

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 19


drängt zur Gruppenbildung. Deshalb wurden körperlich hinfül­
lige alte Männer zwar als besonders weise angesehen, aber dazu
veranlasst, sich außerhalb der Versammlungen der lebenskräf­
tigen Männer zu treffen, in denen das kriegerische Element vor­
herrschte. Weil sie nur wenige waren, entwickelten sie auch eine
Vorliebe dafür, ihre Zusammenkünfte im Schweigen der Nacht
in einer abgelegenen Hütte abzuhalten.

Da ihr Ansehen und ihr Einfluss aufihrem Rufals weise Männer


beruhte, legten sie großen Wert darauf, sich auch gegenseitig zu
belehren und sich die Früchte ihrer Erfahrungen und Meditati­
onen mitzuteilen. So wurden sie zu Hütern der Stammesüberlie­
ferungen. In ihren Reihen gab es Geschichtenerzähler, die ihre
Zuhörer mit immer weiter ausgeschmückten Berichten über die
den Göttern und Helden zugeschriebenen Großtaten verzaubern
konnten. Es gab Rhapsoden, inspirierte Sänger, die flihig wa­
ren, die Phantasie ihrer Zuhörer zu bewegen. Und manchmal
sagten Seher die Zukunft voraus und wiesen die Heilmittel für
alle Übel.

Die reiche Geistigkeit der körperlich Schwachen galt somit mehr


als die unüberlegte Hast der Starken. Indem sie das Glaubens­
gut, das sie verbreitet hatten, voll ausschöpften, verschaffl:en sie
sich als schwache Männer des Geistes Vertrauen und ließen sich
von der Menge verehren. Vor ihnen neigten sich die furchtlosen
Krieger, die sogar so weit gingen, sich auf Befehl dieser Stell­
vertreter der Götter freiwillig den Tod zu geben. Dies war der
Triumph einer spirituellen Kraft, die ihren Absolutheitsanspruch
nur allzu sehr missbrauchte. Man darf allerdings nicht überse­
hen, dass darin auch ein erstrangiger Faktor des menschlichen
Fortschritts lag. Diese Leute waren es nämlich, die zuerst die
angeborene Brutalität zu zähmen verstanden, indem sie die ein­
geschränkten Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, voll ein­
setzten. Sie beschworen die Schattenbilder der Phantasie herauf
und übten dank ihrer ihren Einfluss auf die Masse der ungebil­
deten Köpfe aus. Hier lag der Beginn jener Priesterlichen Kunst,
die bei der Beherrschung der Menschen noch stets die Hauptrol­
le gespielt hat.

20 Der Meister
Aber wir wollen nicht voreilig verurteilen, bevor wir nicht alles
verstanden haben. In menschlichen Angelegenheiten vermischen
sich Gut und Böse gern miteinander: Man muss lernen, sie ohne
Vorurteil voneinander abzugrenzen. Das eine wie das andere in
allen Dingen zu erkennen ist die Mitgift des Eingeweihten, der
gelernt hat, die berühmte Frucht vom Baum der Erkenntnis des
Guten und des Bösen zu pflücken. Die Psychologie des primi­
tiven Priester-Zauberers beschränkt sich nicht auf die ehrgeizige
Anwendung von List und Tücke oder den Wunsch, die Naivität
anderer auszunützen. Wir sind vielmehr gehalten, in ihm einen
Vorläufer unserer heutigen Philosophen und Gelehrten zu se­
hen.

Um seinen Ruf als Weiser aufrechtzuerhalten, musste er die Fra­


gen beantworten können, die sich angesichts der Naturerschei­
nungen stellten. Demgemäß dürfte er sehr schnell zur Erfindung
einer Schöpfungsgeschichte gekommen sein, die alles dem
Wirken von guten oder bösen unsichtbaren Wesen zuschrieb,
die nach dem Bild des Menschen gestaltet waren. Diese noch
rudimentären Begriffe wurden sodann in den folgenden Gene­
rationen vertieft, und hieraus entwickelte sich schließlich die
gesamte Wissenschaft der Vorzeit.

Auch wenn sie der Phantasie entsprungen ist, darf man die­
se Wissenschaft nicht gering schätzen. Sie hat sich in Mythen
übersetzt, in Symbole, in Allegorien, in eine Fülle von abergläu­
bischen Vorstellungen. Hüten wir uns davor, sie zu verachten. Je
absurder sie uns auch auf den ersten Blick vorkommen mögen,
desto mehr sollten sie unsere Aufmerksamkeit fesseln, weil sie
immerhin über Jahrhunderte hinweg weitergegeben, ohne Un­
terlass von Orthodoxie wie Rationalismus bekämpft wurden
und dennoch überlebt haben. Die Beharrlichkeit ihres Weiterle­
bens kann sich nur aus dem Grund einer verborgenen Wahrheit
erklären, deren erheblich verderbtes Transportmittel sie sind,
vergleichbar einer Perle, die man in einem Haufen schmutziger
Lumpen findet. Als Meister ist es unsere Aufgabe, diese Perle zu
entdecken, ohne uns von dem abschrecken zu lassen, was sie vor
der profanen Neugier verbirgt.

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 21


Die menschliche Intelligenz ist zwar bis in ihre ersten stammeln­
den Äußerungen hinab ehrenwert, aber wir dürfen auch nicht
verkennen, dass gerade feinere Köpfe immer schon dazu neigten,
sich über naive Menschen lustig zu machen. Die kindliche Ein­
falt der primitiven Völkerschaften musste die Erfindungskraft
der Zauberer geradezu anstacheln. Angesichts der Massen, die
alles gelehrig schluckten, schrieben sie sich selbst schließlich
übernatürliche Kräfte zu. Sie behaupteten, durch eigenartige
Zeremonien, Opfer und Spruchformeln Götter und Dämonen
beschwören, ein gutes oder schlechtes Los bestimmen und die
Verwirklichung aller ihrer Träume erreichen zu können. So ver­
breitete sich der Glaube an die Wirksamkeit geheimnisvoller Ri­
ten, deren Überlieferung sich bis in unsere Tage erhalten hat, wo
wir sie im Gottesdienst der Hochreligionen ebenso praktiziert
sehen wie von schlichten afrikanischen Magiern.

Diejenigen, die den Aberglauben ausbeuten, sind zu einem sehr


großen Teil selbst sein Opfer. Sie glauben daran, dass sie mit ge­
heimnisvollen Kräften begabt sind, die ihnen auf magische Wei­
se verliehen wurden. Sie üben ihre Tätigkeit im guten Glauben
aus und lassen sich entsprechend unbefangen für ihre Dienste
bezahlen, denn die erste Aufgabe der priesterlichen Kunst war
es immer schon, ihre Amtsträger zu ernähren.

Darüber hinaus waren sich die Vertreter der geistlichen Macht


noch stets der Vorteile einer engen Verbindung mit den Inhabern
der weltlichen Gewalt bewusst. Konkordate sind kaum jünger
als die Welt, denn sie reichen bis zu den ältesten Dynastien zu­
rück. Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass ein Stamm, der
sich zwar für stärker, aber auch für ärmer hält als den Nachbarn,
beschließt, diesen zu berauben? Um den Raubzug ins Werk zu
setzen, muss man einen energischen Heerführer an die Spitze
stellen. Ist dann alles nach Wunsch verlaufen, ist es unwahr­
scheinlich, dass der siegreiche Feldherr nun seine eigentlich nur
auf Zeit verliehene Macht sogleich wieder aufgibt. Die Notwen­
digkeit, das auf unrechtmäßige Weise erworbene Gut zu vertei­
digen, verlangt nach beständiger Führerschaft. Die ersten, die
dies verstehen, sind die Zauberer. Nachdem sie, die getreuen

22 Der Meister
Sprachmittler der Gottheit, die öffentliche Meinung gehörig
vorbereitet haben, greifen sie nunmehr kräftig in den Lauf der
Dinge ein und verleihen in unterschiedlichen Formen eine Wei­
he, die der Salbung zum König gleichkommt. So gelangt der
siegreiche Stamm mit einem Schlag in den Genuss einer festen,
legitimen und ordnungsgemäßen Regierung.

Der Vorgang verallgemeinert sich, und damit herrschen hinfort


Priester und Könige über die Völker. Das ist nicht schicksalhaft
zum Schaden der Regierten, denn das Interesse der Machthaber
geht durchaus dahin, ihre Aufgabe gut zu erfüllen und so klug
wie möglich zu regieren. Gerechte Könige und ehrliche Priester
haben zum Wohl der menschlichen Herde, zu deren Hirten sie
sich gemacht hatten, zusammengearbeitet. Es steht auch fest,
dass man in Ägypten und Chaldäa besonderes Augenmerk auf
die Erziehung jener Menschen legte, die zur geistlichen oder
weltlichen Herrschaft berufen waren. Schulen lehrten verfeinert
eine Priesterliche Kunst, die der Ausbildung der Geistlichkeit
diente, aber auch die Königliche Kunst, die auf das Amt des
Herrschers vorbereitete. Dieser gehobene Unterricht zielte auf
die größtmögliche Vervollkommnung des Einzelnen in intellek­
tueller und ethischer Hinsicht; er wurde später allen Menschen
zugänglich gemacht, die seiner würdig waren. Im Laufe des
klassischen Altertums bildeten sich dementsprechend zahlreiche
Initiationszentren, in denen einer, sorgsam ausgewählten Elite
die Mysterien enthüllt wurden.

Das ideale Meistertum

Die Königliche Kunst wird auch heute noch gelehrt. Richtig


ist, dass dies unter dem Schleier von Symbolen geschieht, de­
ren Sinn nicht immer ganz erfasst wurde. Die Freimaurer des
17. Jahrhunderts konnten sich als Adepten der Königlichen
Kunst bezeichnen, weil sich einstmals die Könige für die Ar­
beit der Baukorporationen interessierten, die im Mittelalter das
Privileg genossen, heilige Bauten für die gesamte Christenheit
zu errichten [l]. Als die moderne Freimaurerei sich von jeder

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 23


berufsmäßigen Befassung mit der Architektur löste, um allein
den ethisch-geistigen Bau in den Mittelpunkt zu stellen, wurde
Königliche Kunst zum Synonym für Wahre Kunst oder Kunst
an sich. Denn war nicht die Königin der Künste, diese Höchste
Kunst, nach deren Gesetzen das Gebäude der Menschheit als
solches errichtet werden sollte, auch eine Kunst, die auf jeden
einzelnen Menschen anzuwenden war, der ja dazu bestimmt ist,
in jenem gewaltigen Bauwerk seinen Platz einzunehmen?

Aber es ist an der Zeit, dem altüberlieferten Begriff seinen ur­


sprünglichen Sinn zurückzugeben. Die Freimaurerei darf sich
nicht im Unklaren darüber sein, dass es ihre Aufgabe ist, ihre
Anhänger zu wahrhaftem Königtum vorzubereiten: dem eines
souveränen Bürgers im modernen Staat. Dieser Souverän muss
sich vor allem anderen seiner Würde bewusst sein. Er erkennt
keinerlei Macht über sich an, vor der er sich demütigt, um eine
Gunst zu erbitten. Die Öffentlichen Angelegenheiten (,,res pu­
blica": Republik) sind seine Sache, sein Eigen, für das er Verant­
wortung trägt. Er duldet keinen Missbrauch und achtet darauf,
sich niemals zum Komplizen machen zu lassen für Handlungen,
die dem allgemeinen Interesse schaden.

In diesem Sinne muss die Königliche Kunst Republikanern ge­


lehrt werden, denn solange sie nicht zu Königen erzogen sind,
können sie ihre Souveränität nicht wahrnehmen. Diese bleibt
trügerisch bis zu dem Tag, an dem die Bürger von der Pflicht
jenes Königtums, das allen Menschen in ihrer Gesamtheit als
Mitgift geschenkt wurde, ganz durchdrungen sind. Wenn sie sich
nicht durch ihre Sittlichkeit über die Sklaven erheben, werden
alle offiziellen Erklärungen nichts an ihrem Los ändern. Auch
unter dem Etikett reinster Demokratie werden sie weiterhin das
Joch tragen, das abzuschütteln sie nicht die Kraft hatten. Der
Umsturz eines Throns verleiht Freiheit nicht ein für alle Mal.
Diese will ständig neu erobert werden von denen, die sie sich
verdienen wollen. Hüten wir uns also davor, auf den Lorbee­
ren unserer Väter einzuschlafen, die die Bastille erstürmten.
Wir werden niemals frei sein, wenn wir nicht auf Dauer unsere
kleinlichen Strebungen dem allgemeinen Wohl zum Opfer brin-

24 Der Meister
gen. Solange wir nicht gelernt haben, uns selbst an die Stelle
von Priestern und Königen zu setzen, werden uns Priester und
Könige beherrschen, gleichgültig, in welcher Regierungsform
wir leben. Wie kann man sich aber jener Beherrschung anders
entziehen als dadurch, dass man sich an das Sprichwort hält:
„On ne supprime que ce qu'on remplace" [2]. Nicht umsonst
wird der Initiierte dazu aufgefordert, sein eigener König und
sein eigener Priester zu sein. König wird er sein, wenn er sich
selbst beherrscht, wenn das Erhabenste in ihm bei dem, was tie­
fer steht, Gehorsam findet. Allein diese Meisterschaft über sich
selbst kann die königliche W ürde verleihen, die für den Bürger
charakteristisch ist, der eifersüchtig über seine nationale Sou­
veränität wacht. Andererseits soll niemand die Vorstellungskraft
des Herrschers missbrauchen können. Dieser wird sich deshalb
mit den Geheimnissen der Priesterlichen Kunst vertraut machen,
um weder zum Spielball eines Stellvertreters Gottes zu werden,
der die Glückseligkeit in einer anderen Welt verspricht, noch
eines politischen Scharlatans, der angeblich über das Allheilmit­
tel verfügt, alles soziale Elend zu beenden.

Die wahre Meisterschaft befreit von allem Trug und aller Täu­
schung, aber sie ist nur zu erreichen, wenn wir dauerhaft mit
aller Anstrengung gegen unsere geistigen und moralischen
Schwächen angehen.

Die Aufgabe der Eingeweihten

Zu allen Zeiten und unter allen Breitengraden fanden sich ehrliche


Männer, die nach der Wahrheit, dem Wohl ihrer Mitmenschen
und der Beseitigung aller Übel strebten, unter denen sie aus ei­
gener Schuld zu leiden hatten. Solche weisen Männer bildeten
oft eigene Schulen, in denen sie ihre Schüler unterrichteten. Auf­
grund ihrer strengen Lebensführung scheuten sie sich nicht, bei
bestimmten Gelegenheiten öffentlich gegen die Missbräuche der
Zeit aufzutreten. Weil sie Verfolgungen auf sich zogen, wurden
die Reformatoren zur Vorsicht gezwungen; sie zogen sich zu­
rück und umgaben sich mit dem Schleier des Geheimnisvollen,

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 25


ohne jedoch von ihren allgemeinen Überzeugungen Abschied zu
nehmen. So erblickten zahlreiche mehr oder weniger geheime
Gesellschaften unabhängig voneinander das Licht des Tages, die
indessen alle von demselben Geist der Gerechtigkeit und Men­
schenliebe getragen waren.

In dieser Hinsicht ist die gegenwärtige Freimaurerei unbestreit­


bar die Erbin edelster Traditionen. In ihrer Arbeit am mensch­
lichen Fortschritt ist sie sich ihrer emanzipatorischen Rolle
durchaus bewusst. Indem sie sich keiner Denkschule einordnet
und für kein System Partei nimmt, kann sie in voller Unabhän­
gigkeit das Licht suchen, das von aller Sklaverei befreit.

Die Eingeweihten wissen, dass die V ölker nicht zu ewiger Kind­


heit verdammt sind. Sie begleiten daher ihre Entwicklung und
förder n sie, indem sie daran arbeiten, überall das intellektuelle
und sittliche Niveau zu heben. Unglücklicherweise gibt es je­
doch Zusammenschlüsse, die sich in entgegengesetztem Sinn
verschworen haben. Sie sind überzeugt davon, dass es im Inte­
resse der Völker liegt, unter Kuratel gehalten zu werden, und be­
mühen sich deshalb, den normalen Gang der Dinge zu verlang­
samen und dem Fortschritt Hindernisse in den Weg zu legen.

So entsteht ein schicksalhafter Kampf zwischen den Baumeistern


der Zukunft und denjenigen, die aus der ängstlichen Bewahrung
des Vergangenen ihren Nutzen ziehen. Auf beiden Seiten sam­
meln sich zusätzlich weitere Elemente; jeder setzt in diesem
Kampf alle Mittel ein, die ihm zur Verfügung stehen. Was die
Initiierten unter diesem Aspekt auszeichnet, ist ihre Abscheu
vor Gewalt. Nie sind sie es, die blutige Revolutionen anzetteln
oder die Massen aufwiegeln, indem sie bei ihnen Bedürfnisse
erst wecken. Die Eingeweihten handeln aus der Erfahrung von
Jahrhunderten geduldig, aber standfest und sicher.

Bei entsprechender Gelegenheit wird es dann aber auch nicht


an Stimmen fehlen, die einem ungebildeten Priesterstand oder
einer degenerierten Monarchie die bescheidenen Anfiinge ihrer
stolzen Macht vorhalten. Wenn der Abkömmling des primitiven

26 Der Meister
Anführers einer Räuberbande sich damit brüstet, der Gesalbte
des Herrn zu sein, dürfen Philosophen sich gestatten laut he­
rauszulachen. Es ist auch dem Satiriker nicht verboten, seinen
Witz auf Kosten eines unfehlbaren Papstes auszuleben, dessen
geistliche Herrschaft sich durch die Jahrhunderte zurückführen
lässt auf die sehr zweifelhafte Autorität eines prähistorischen
Oberz.auberers.

Aber das sind nur gelegentliche Streiche ungebärdiger Kin­


der. Im Allgemeinen begnügen sich die Initiierten damit, die
menschliche Eitelkeit nur untereinander zu belächeln, denn an
allzu raschem Umsturz ist ihnen nichts gelegen. Aus Furcht,
durch unbeherrschtes Aussprechen der Wahrheit einen Brand
zu entfachen, legen sie sich eine Zurückhaltung auf, die in ih­
rer Kraft im Grunde weit mehr zu fürchten ist. Solange die Zeit
nicht gekommen ist zu sprechen (3], schweigen sie, sammeln,
was sie als richtige Vorstellungen und Begriffe erkannt haben,
und lassen es reifen, bis sie es in die Welt freisetzen.

Sie haben des Weiteren den ungeheuren Vorteil, keine Utopisten


zu sein. Sie wissen, dass das Glück einer Gesamtheit nur aus der
Veränderung der einzelnen Mitglieder fließen kann, aus denen
sie zusammengesetzt ist. Die Gesundheit des Gesellschaftskör­
pers ist abhängig vom Zustand der Zellen, die ihn bilden. Legen
wir also kein übertriebenes Gewicht auf die Veränderung der
Formen politischer oder sozialer Herrschaft. Es sind die nach
dem Winkelmaß zugeschnittenen Steine, die die Standfestigkeit
des Bauwerks sicherstellen. Darüber hat die Praxis der Baukunst
die Freimaurer belehrt, die nach wie vor ihre Baustoffe aufberei­
ten, auch wenn sie dem handwerklichen Bauen abgesagt haben.
Sie bearbeiten an sich selbst den menschlichen rauen Stein, den
sie sorgfli.ltig glätten, damit er den Anforderungen des großen
Baus entsprechen kann. Dabei handelt es sich um jene geistige
und sittliche Reform des Einzelnen, die das Ziel einer jeden
wahrhaften Initiation ist.

Das Arbeitsziel bleibt dasselbe auch in unterschiedlicher Sym­


bolik, wenn etwa die Hermetiker allegorisch die Verwandlung

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 27


von Blei in Gold lehren oder die Rosenkreuzer des 16. und 17.
Jahrhunderts den wiedergeborenen Menschen, der von seinen
Leidenschaften befreit ist, um im klarsten Liebte wiederaufzuer­
stehen, dem mystischen Christkönig gleichsetzen.

Ein solches initiatisches Christentum ist sicherlich nicht das


der breiten Masse der Gläubigen. Aber auch die Freimaurerei
steigt oder fiillt in den Augen der Einzelnen mit dem Grad der
Einweihung, den ihre Mitglieder jeweils erreicht haben. Es ist
daher notwendig, dass sie sich so umfassend wie möglich unter­
richten. Schließlich sind sie ja fest entschlossen, sich von ihren
Vorurteilen zu befreien, ihre Illusionen abzuschütteln und durch
sorgsame Bemühungen für sich wie für andere insgesamt dazu
beizutragen, alle Fähigkeiten des Verstandes und des Herzens im
Einzelnen wie im Allgemeinen zu freier Entfaltung zu bringen.

Maurerische Verbindungslinien

Die Formen primitiven Zusammenlebens, von denen oben die


Rede war, haben sich je nach den Umständen in politische, re­
ligiöse oder gesellschaftliche Zusammenschlüsse von unter­
schiedlichster Vielfalt verwandelt. Wenn wir uns nur einmal die
äußeren Lebensformen und Zeremonien ansehen, die bei den
heutigen Wilden im Sehwange sind, so kann man sechs Gruppen
von Institutionen ausmachen, die dementsprechend auf ältestes
Brauchtum zurückgehen.

An der Spitze stehen dabei die politisch-magischen Geheimge­


sellschaften, die aus Zauberern, Sehern und mehr oder weniger
überzeugenden Heilem bestehen. Gelegentlich setzen sich ver­
botene Kulte, die als unmoralisch angesehen werden, im Ge­
heimen fort und führen zu orgiastischen Hexensabbaten, wie wir
sie aus dem Mittelalter kennen. Solche Gruppierungen können
aber durchaus auch ernsthaft sein, zumindest was die Prüfungen
angeht, die sie ihren Neubewerbern auferlegen. Die Rothäute
etwa kommen insoweit zu echten Initiationsriten [4].

28 Der Meister
Den nächsten Rang nehmen die Zeremonien der Klans ein, die
sich um den Kult des häuslichen Herdes und der Ahnen ran­
ken. Aus solchen Quellen haben öffentliche Begräbniskulte und
Staatsreligionen vielfach geschöpft. Diese Zeremonien waren in
der Antike von solcher Bedeutung, dass beispielsweise Fabius
glaubte, sein Heer mitten im Kampf gegen Hannibal verlassen
zu müssen, um an Ort und Stelle die Opfer darzubringen, die
innerhalb des Geschlechts der Fabier, deren Oberhaupt er war,
traditionellerweise vorgeschrieben waren.

In die dritte Kategorie gehören alle religiösen Bruderschaften,


die ein Noviziat auferlegen, das der Vorbereitung auf ein geist­
liches Leben dient und das gewöhnlichen Sterblichen verschlos­
sen bleibt. Die sittliche Vervollkommnung ist das Ziel, das diese
Bildungen anstreben, seien sie nun christlich, buddhistisch oder
mohammedanisch. Ihr Irrtum liegt indessen darin, dass sie sich
außerhalb des breiten Stroms des normalen menschlichen Le­
bens stellen; damit bleibt ihr Tun steril oder zumindest unaus­
gewogen, wenn man die Ergebnisse mit dem vergleicht, was an
Anstrengungen und Opfern hierfür aufgewendet werden muss.
An vierter Stelle folgen die Mysterien der Antike, deren wesent­
liches Ziel die Suche nach verborgenen Wahrheiten war. Ihre
Anhänger wurden unter dem Siegel des Geheimnisses mit einem
Wissen vertraut gemacht, dessen öffentliche Verbreitung gefähr­
lich gewesen wäre.

Unter die fünfte Rubrik fallen Zusammenschlüsse von Men­


schen, die denselben Beruf ausübten. An erster Stelle sind hier
Vereinigungen aus dem Bereich des Bauwesens zu nennen wie
die römischen Baukollegien und die vor allem bei der Errich­
tung von Brückenbauten tätigen Brüder Brückenbauer. Das
Mittelalter führte ganz allgemein die berufliche Gliederung der
Bevölkerung ein und gründete das gesamte städtische Leben auf
das Zunftwesen.

Zu erwähnen bleiben noch die philanthropischen Vereinigungen


und die Selbsthilfeorganisationen, die gleichfalls uralt sind.
Schon die Römer zahlten Beiträge, um sicherzustellen, dass

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 29


bei ihrem Ableben die ihren Glaubensüberzeugungen entspre­
chenden Begräbnisriten eingehalten wurden [5].

Die moderne Freimaurerei lässt sich nicht ausschließlich einer


dieser Kategorien zuordnen, weil es nicht mehr möglich ist, sie
unter der fünften Gruppe zu erfassen, nachdem sie aufgehört hat,
eine Verbindung von Bauhandwerkern zu sein. In ihr kommen
vielmehr zahlreiche Tendenzen zur Synthese, so dass sich unse­
re Institution jeweils unter dem einen oder dem anderen Aspekt
der von der Soziologie entwickelten Bildungen betrachten lässt.
Gleichzeitig ist es wichtig und notwendig die jeweils vorhan­
denen Unterschiede deutlich herauszuarbeiten, und sei es nur,
um eine in sich geschlossene Charakteristik der freimaurerischen
Bruderschaft zu erreichen.

Sind wir Zauberer?

Glaubt man unseren Gegnern, so betreiben wir schwarze Ma­


gie und geben uns den grässlichsten Praktiken hin: Sakraments­
schändungen, Morden durch Hexerei, Teufelsbeschwörungen,
schwarzen Messen, Orgien ... Keine aus kranken Hirnen erwach­
sene Beschuldigung ist uns erspart geblieben, davon zeugen
ganze Berge einschlägiger Literatur. Die ersten Christen litten
unter einem ähnlich schlechten Ruf, denn auch sie versammel­
ten sich wie wir unter „Deckung", und die Profanen ließen sich
aus lauter Misstrauen immer wieder dazu verleiten, hinter allem,
was sich geschützt und abseits ihrer Neugier abspielte, etwas
Schlechtes zu vermuten.

Wären wir Hexer und Zauberer selbst im harmlosesten Sinne


des Wortes, müssten wir uns darum bemühen, gewisse besonde­
re „psychische" Fähigkeiten zu entwickeln. Dann wären unse­
re Logen Schulen praktischer Magie mit einer Zusatzklasse für
menschlichen Magnetismus, wie es sich Mesmer erträumte, oder
fllr Hellseher nach dem Muster eines Cagliostro, Puysegur oder
der zeitgenössischen Okkultisten.

30 Der Meister
In Wirklichkeit interessieren sich Freimaurer nicht besonders für
den Okkultismus, den sie nur studieren, weil sie ihre beständige
Suche nach der Wahrheit eben auf möglichst alle Gebiete aus­
dehnen. Sie sind niemals als Wunderheiler aufgetreten, und ihre
Geheimnisse haben nichts gemein mit denen des „Grand" oder
,,Petit Albert" [6].

Betreiben wir aber nicht trotzdem unbewusste Magie unter dem


geheimnisvollen Einfluss einer sorgsam versteckten übernatür­
lichen Macht? Hier betreten wir den Bereich blinden Glaubens,
wo die Vernunft ihr Recht verliert.

Völligen Irrtum kann es niemals geben; deshalb müssen wir das


Körnchen Wahrheit suchen, das sich unter der Masse schlimms­
ter Verirrungen und Auffälligkeiten verbergen könnte. Auch in
unserem Brauchtum ist nicht alles durchsichtig, und wir sind
durchaus im Stande, uns in aller Naivität auch zweifelhaften
Riten hinzugeben. So dachten die alten Maurer wohl nicht ein­
mal im Traum daran, dass sie eine magische Handlung in Gang
setzten, wenn sie daran gingen, ein ganz banales Zimmer in ei­
nen wirklichen Tempel zu verwandeln, der zur Durchführung
ihres Kultes geeignet war. Nachdem sie sich vor jeder profanen
Neugier in Sicherheit gebracht hatten, beauftragten die Anhän­
ger der Königlichen Kunst, die jetzt ganz unter sich waren, den
Br.·. Experten damit, mit Kreide oder Kohle ein Rechteck auf
die Mitte des Fußbodens zu zeichnen. Der auf diese Weise ein­
geengte Raum wurde mit dem Akt selbst heilig, niemand durfte
auch nur einen Fuß mehr hineinsetzen. Um die Bedeutung dieses
geschützten Vierecks, das sich nur durch seine rechteckige Form
von den genugsam bekannten magischen Zirkeln unterscheidet,
noch zu unterstreichen, zeichnete man bedeutungsvolle Sym­
bole hinein. An der Stirnseite des Rechtecks zeichnete man ein
kleines gleichseitiges Dreieck, das von den Zeichen für Sonne
und Mond flankiert war und in dessen Mitte ein flammender
Stern abgebildet wurde, der zwei mit den Buchstaben J.·. und
B.·. beschriftete Säulen beherrschte. Nach Fertigstellung dieses
geheimnisvollen Bildes wurden die Werkzeuge der Maurerei in
der Mitte des länglichen Vierecks niedergelegt; Winkelmaß,

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 31


Zirkel, Wasserwaage, Bleilot, Meißel, Hammer und Kelle hat­
ten jeweils ihren festen Platz. Während dieser Vorbereitungen
hatte der Br.·. Zeremonienmeister am Rande des Rechtecks drei
Leuchter aufgestellt, deren Kerzen der Meister und die beiden
Aufseher nacheinander entzünden mussten. Sobald das Licht im
Osten brannte, sprach der Meister würdevoll: ,,Weisheit leite un­
seren Bau". Wenn sich der Westen seinerseits erhellte, rief der
erste Aufseher mit fester Stimme: ,,Stärke führe unsere Arbeit
aus". Und wenn schließlich die dritte Flamme den Süden er­
leuchtete, sagte der zweite Aufseher in sanftem Ton: ,,Schönheit
schmücke unser Werk". Nachdem alle wieder ihren Platz einge­
nommen hatten, rief der Meister den Großen Baumeister aller
Welten an und erklärte sodann die Arbeiten für eröffnet.

Seit dem Christentum war diese Anrufung nichts anderes als ein
schlichtes Gebet, wie man es in den Kirchen spricht. Da aber das
gesamte Zeremonial ganz offen als Beschwörung auftritt, steht
es außer Zweifel, dass die Maurer ihre Arbeiten ursprünglich mit
einer magischen Beschwörungsformel eröffneten, die den Gott
der Bauleute herbeirief. Dieses Geistwesen sollte dazu veran­
lasst werden, sich im Kreise derer zu verdichten, die um seine
Eingebung flehten. Sie müssen also die Vorstellung gehabt ha­
ben, dass der Große Baumeister aller Welten tatsächlich in ihrer
Mitte anwesend war.

Nehmen wir an, dass derartigen Riten mit innerer Überzeugung


ausgeführt wurden. Dann gewinnt allerdings der an jedem be­
liebigen Ort improvisierbare Tempel mit einem Mal ein initi­
atisches Gewicht, über das unsere maurerischen Logen nicht
mehr verfügen. Sie sind zwar luxuriös eingerichtet und nach den
Anforderungen des raffiniertesten Symbolismus dekoriert, aber
dennoch innerlich kalt, tot und unbeseelt. Es handelt sich hier
um eine Art Magie, die wir nicht missachten dürfen. Es geht
dabei nicht um Zauberei nach geschickter Taschenspielerma­
nier, auch nicht auf „psychologischem" Gebiet, denn der Mau­
rerschurz ist nicht dazu bestimmt, sich in eine billige Trickkiste
zu verwandeln. Unsere Mysterien beziehen sich auf eine Art von
höherer Magie, die jeder eitlen Zauberei femsteht. Wir verwirk-

32 Der Meister
liehen unser Großes Werk allein in der Wiederauffindung des
Verlorenen Wortes.

Fügen wir hinzu, dass das Schwert, das Bauleute eigentlich


nicht brauchen, eine magische Waffe darstellt. Sie wird von al­
len Geistererscheinungen gefürchtet, so wie es uns Homer in der
Odyssee berichtet, wenn er das Lob seines Helden anstimmt, als
es diesem gelingt, den Schatten des göttlichen Teiresias zu be­
schwören. Wenn wir gelernt haben, diesen Stahl recht zu gebrau­
chen, dann kann keine Verleumdung uns mehr etwas anhaben.

Unsere Zeremonien

Wenn die Öffentlichkeit einmal so gütig ist, uns nicht der


schwärzesten Untaten zu bezichtigen, dann stellt sie uns immer
noch gern als große Kinder hin, die sich verkleiden, um ritu­
elle Komödien aufzuführen. ,,Die Freimaurer machen sich über
die Pfarrer lustig, führen aber selber einen noch lächerlicheren
Mummenschanz auf" - so das Urteil der selbsternannten aufge­
klärten Köpfe. Jede gutwillig vorgetragene Kritik verdient Be­
achtung. In unserem Fall ist sie gerade deshalb von ernsthafter
Bedeutung, weil sie viele Freimaurer an einem wunden Punkt
triffi:. Diese Brr. ·. schämen sich für ein Zeremonial, das ihnen
hohl vorkommt. Deshalb haben sie nicht gezögert, mit Tradi­
tionen zu brechen, die sich nur mit Altehrwürdigkeit in ihren
Augen nicht mehr rechtfertigen ließen. Daraus hat sich eine
antisymbolistische Bewegung entwickelt, deren Ziel es ist, die
Freimaurerei in rationalem Geist zu modernisieren.

Den Traditionalisten kamen diese Reformatoren vor wie jene


bösen Gesellen, die aus Unwissenheit den ersten Schlag gegen
den Baumeister Hiram geführt hatten. Und in der Tat zielte das
ganze Unternehmen auf nichts Geringeres als auf die Umwand­
lung der Freimaurerei in eine durchaus ehrenwerte profane Ver­
einigung nach Typ sechs unserer soziologischen Klassifikation.
Damit wurde es den Symbolisten leicht gemacht: Sie konnten

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 33


ohne Weiteres den Nachweis führen, dass es ohne Symbolik we­
der eine Initiation noch die Freimaurerei geben kann.

Wir sollten wirklich nicht zu weit gehen und sorgsam auf die
Dinge schauen, die durch Beschädigung und Sinnverlust erst
recht schlimm werden - optimi corruptio pessima. Unser ganzes
Lehren ist symbolisch. Wenn aber die Symbole uns nichts leh­
ren, wenn es ihnen nicht gelingt, uns auf den Weg zu den tiefsten
Geheimnissen des menschlichen Denkens zu weisen, indem sie
uns die Suche geradezu aufzwingen, dann allerdings - und darü­
ber dürfen wir uns nicht täuschen - wird unsere Haltung grotesk.
Was für ein armer Kerl ist ein Maurer, der niemals den Sinn der
Prüfungen anlässlich seiner Aufnahme begriffen hat, der seinen
Katechismus kennt, überdies mit dem Schatzmeister seiner Bau­
hütte alles ordentlich geregelt hat und der sich damit zufrieden
gibt, seine Abzeichen zu tragen in der vollen Überzeugung, eine
aus Bärlappsamen aufgestiegene Flamme habe ihm ein für alle
Mal das Licht verliehen!

Es wäre grausam, das Thema weiter zu vertiefen, denn jede ehr­


liche Haltung verdient Respekt, nicht zuletzt die eines ehrlichen,
von großherzigen Gefühlen bewegten Freimaurers. Macht es
denn wirklich etwas aus, wenn er nicht zu einer klaren Schau
vorgedrungen ist, solange er nur das Herz auf dem rechten Fleck
trägt und diese Einstellung ihn zu maurerischem Handeln hin­
führt?

Darüber hinaus ist kein Ritus gänzlich wertlos. Selbst mecha­


nisch absolviert, entfaltet die rituelle Handlung noch Wirksam­
keit. Stellen wir uns einen Maurer vor, der im Begriff steht,
seinen Tempel zu betreten. Weil er tausend andere Dinge im
Kopf hat, bindet er seinen Schurz um und denkt an diese tau­
send anderen Dinge. Sodann nimmt er automatisch die vorge­
schriebene Haltung ein, tritt ins Zeichen, vollführt den Schritt
seines Grades und nimmt schließlich seinen Platz unter den
Brüdern ein. Obwohl all das gedankenlos, gewohnheitsmäßig
abgewickelt wurde, ist er dabei in seinem Inneren, ohne dass er
sich dessen bewusst geworden wäre, zutiefst beeinflusst worden.

34 Der Meister
Außerdem wird er sich im Tempel niemals so benehmen wie bei
einem profanen Treffen in der Öffentlichkeit. Alles greift viel­
mehr so ineinander, wie wenn jeder Einzelakt in seiner Abfolge
einen Widerhall fände im geheimnisvollen Reich der Gefühle.
Im Unterbewussten weist der Schurz auch den Gedankenlosen
darauf hin, dass man nun nicht mehr derselbe Mensch sein darf
wie zuvor. Die unter die Kehle gesetzte Hand hat es tatsächlich
erreicht, die Leidenschaften in der Brust zurückzuhalten, damit
das Zeichen des Winkels wahrhaft bekunden kann: ,,Mein Kopf
ist ruhig und frei, und ich werde hier unvoreingenommen urtei­
len mit allem strengen Gerechtigkeitssinn, den mir mein Stand
als Maurer auferlegt." Man müsste ein wirklich schwacher Psy­
chologe sein, um Praktiken mit Verachtung abzutun, die nichts
Kindisches an sich haben, vom täuschenden äußeren Anschein
abgesehen.

Sind wir also zurückhaltend, wenn es um die traditionellen


Formen geht. Solange ihre Tragweite nicht ausgelotet ist, ist es
besser, sie zu respektieren. Der Gläubige, der ihnen anhängt, ist
möglicherweise gescheiter als der hochfliegende Verstand, der
sie allzu eilfertig herabsetzt.

Zweifellos unterliegen wir der ärgerlichen Vorherrschaft einer


undurchdringlichen Vergangenheit. Aber was nützt es, sich da­
gegen aufzulehnen, wo es doch nur gilt, die Rätsel aufzulösen.
Studieren wir, suchen wir zu begreifen und sparen wir unser Ur­
teil für später auf. Bei einem Lehrling ist die Ungeduld verzeih­
lich; der Meister aber darf sich nur äußern, wenn er eine Sache
voll durchschaut und überblickt.

Ist demnach die Freimaurerei letztlich auch nur eine Kirche wie
andere, da sie doch über Glaubenssätze und Mysterien verfügt?
Wie andere - nein; wie keine andere - schon eher. Der Haupt­
unterschied liegt in dem rein menschlichen Charakter der Frei­
maurerei, die sich nicht damit brüstet, eine göttlich offenbarte
Wahrheit zu besitzen, sondern ihre Anhänger dazu einlädt, sich
durch eigene Bemühungen vom Irrtum zu befreien, um sich
dann in voller Unabhängigkeit selbstverantwortlich nach jenem

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 35


Licht des Geistes zu orientieren, zu dem alle verständigen Wesen
drängen. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten. Ecclesia bedeutet auf
Griechisch Versammlung, und deshalb kann man nicht leugnen,
dass die Gesamtheit der Freimaurer im etymologischen Sinn
eine „Kirche" bildet. Man kann sogar von Kirche im allgemein
gebräuchlichen Wortsinn sprechen, denn auch wir sind unseren
Schismen nicht entgangen, nachdem kirchenartige Organisati­
onen innerhalb der Weltfreimaurerei namens „Großlogen" damit
begonnen haben, einander die gegenseitige Anerkennung zu ver­
sagen und sich ganz im Sinne des klassischen Kirchenbegriffs zu
exkommunizieren!

Wir teilen das Schicksal der Religionen im Übrigen auch in dem


Sinne, dass unsere Institution ihr Ideal nur sehr unvollkommen
verwirklicht. Von der freimaurerischen Körperschaft, wie sie tat­
sächlich funktioniert, zum reinen Maurertum ist es noch ein wei­
ter Weg. Die Entfernung ist wahrscheinlich genauso groß wie
die, die die christlichen Kirchen von einem Christentum trennt,
wie man es sich erträumt.

Damit bleibt immer noch offen, ob die Freimaurerei nun eine


Religion ist oder nicht. Sollte sie es etwa deshalb nicht mehr
sein, weil die Altäre ihrer Tempel dem Kult von Freiheit, Gleich­
heit und Brüderlichkeit geweiht sind? Haben wir doch den Mut,
uns als religiös zu bezeichnen und als Apostel einer Religion zu
verstehen, die heiliger ist als die anderen! Verbreiten wir die Re­
ligion der Republik, die das Herz der Bürger bilden und die re­
publikanischen Tugenden pflegen soll. Wir denken dabei jedoch
keineswegs an irgendeine amtlich sanktionierte Religionspraxis
oder gar an eine Staatsreligion. Indem wir uns alles Wissen an­
eignen, das die Maurerei oder besser das Maurerische überhaupt
vermitteln kann, sind wir jeweils in unserem persönlichen Le­
benskreis zu einem unabhängigen Priestertum berufen, dessen
einziges Ziel die Befreiung der Köpfe ist.
Es versteht sich von selbst, dass die Maurerei sich niemals in
den Dienst einer Regierung stellt, welche es auch immer sein
mag. Eine maurerische Organisation, die sich zum Werkzeug
der Macht hergibt, hat keinesfalls mehr das Recht, den Ehrenti-

36 Der Meister
tel einer Freien Maurerei zu führen. Nichtsdestoweniger lassen
sich aber gerade jene Pseudo-Maurereien, die sich auf skanda­
löseste Weise mit Thron und Altar verbunden haben, nicht daran
hindern, die demokratischen Freimaurerorganisationen als „ir­
regulär" zu denunzieren, deren alleiniges Verschulden darin zu
sehen ist, dass sie sich zum Zwecke der Befreiung der V ölker
vorübergehend in politische Auseinandersetzungen hineinziehen
ließen!

Das Mönchtum

Eine Frau zu beschützen, sie zur Mutter zu machen und ihr da­
bei zu helfen, die Kinder aufzuziehen - dies war stets die eh­
renvollste Aufgabe des Mannes. Sich ihr freiwillig ohne hinrei­
chende Entschuldigung zu entziehen ist Feigheit, um nicht zu
sagen ein Sakrileg gegenüber der Natur und der Menschheit.

Das Zölibat ist jedoch dann keine Schande, wenn die Umstände
es verlangen und es nicht in Erfüllung eines Herzenswunsches
gelebt, sondern als unausweichlich schicksalhafte Notwendig­
keit ertragen wird. Zusammenschlüssen von Junggesellen wäre
also grundsätzlich nichts vorzuwerfen, wenn sie nicht in ihrem
Hochmut die Behauptung aufstellten und verkündeten, sie hät­
ten den besseren Teil erwählt. Der Mystiker, welcher Religion
er auch angehört, verfällt in einen groben Irrtum, wenn er unter
dem Vorwand, sich selbst heiligen zu wollen, bewusst vor den
Aufgaben und der Verantwortung der Vaterschaft flieht. Für die­
jenigen, die sich ganz Gott weihen möchten, sollte deshalb ein
bestimmtes kanonisches Alter vorgeschrieben werden.

Aber lassen wir das. In gesunder Weise im Laienstand verblie­


ben, sehen die Kinder der Witwe in der Natur ihre Mutter und
gehorchen ihr brav und willig. Sie gehören nicht zu denen, die
sich um ihrer moralischen Reinheit willen zurückziehen, weil sie
die Vergiftung durch eine verderbte Welt fürchten. Als Fermente
des Wandels teilen sie vielmehr alles Elend ihrer Mitbürger,
die sie durch ihr Beispiel sittlich verbessern wollen. Eine so!-

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 37


ehe Aufgabe lässt sich nur mit kraftvollem Einsatz psychischer
Energie verwirklichen. Das spüren Freimaurer; und wenn ihre
Entschlossenheit trotz aller Kämpfe, die sie zu bestehen haben,
niemals nachlässt, liegt das daran, dass sie wissen, woher sie
die moralische Stärke, die sie brauchen, schöpfen können. Ihre
Loge ist ein Fluchtpunkt der Ruhe und heiteren Gelassenheit, in
die kein Widerhall der Aufgeregtheit eindringt, die sich draußen
abspielt. Hier verbinden die Brr. ·. ihre großherzigen Zielvorstel­
lungen miteinander und finden sich in dem unauslöschlichen
Willen zusammen, das möglichst große Glück einer möglichst
großen Zahl von Menschen zu verwirklichen. So bildet sich eine
Heimstatt für Ideale und Aktivitäten, die am Gemeinwohl ausge­
richtet sind. Die einzelnen Mitglieder tauchen in regelmäßigen
Abständen darin ein - und das ist das Geheimnis ihrer immer
neu entstehenden Handlungsfähigkeit. Unter diesem Aspekt
stellt das Kloster in der Tat die größtmögliche Analogie zur Loge
dar. In Wahrheit aber neigt der Geist, der die Mönche bewegt,
dazu, ihre Unternehmungen unfruchtbar zu machen. Trotz ihrer
Mittel, die unvergleichlich viel größer sind als die der Freimau­
rer - wie weit sind sie gekommen? Mit dem eigenen Seelenheil
und dem wirtschaftlichen Wohlstand ihres Ordens beschäftigt
haben sie es nicht verstanden, sich als von persönlichen Interes­
sen freie Künstler ganz dem Großen Werk der Vollendung der
Welt hinzugeben. Kleiner, mystischer Ehrgeiz und der Wunsch,
den eigenen Lebensunterhalt sicherzustellen, hindern sie daran,
ohne jeden Nebengedanken an der Verwirklichung des Plans des
Großen Baumeisters aller Welten mitzuwirken. Im Herzen eines
angeblich atheistischen Freimaurers lebt mehr Religion als im
Kopf des Asketen, der sich im Blick auf die Freuden des künf­
tigen Lebens kasteit.

Dabei ist durchaus festzuhalten, dass die Klöster auch gute


Dienste geleistet haben. Als die Gefahr bestand, die Fackel der
griechisch-römischen Kultur werde erlöschen, retteten gebildete
Mönche die alten Manuskripte vor der Zerstörung. So haben die
Benediktiner die Renaissance vorbereitet. Als große Bauherren
haben sie darüber hinaus sehr stark zur technischen und symbo­
lischen Ausbildung der Baubruderschaften beigetragen, auf die

38 Der Meister
die Organisation der Freimaurer im Mittelalter unmittelbar zu­
rückgeht. Diese könnten sich zwar auch einige Geheimnisse der
Templer angeeignet haben; aber nichts in der alten und echten
maurerischen Symbolik deutet auf eine solche Herkunft. Man
braucht sich also bei der Legende nicht aufzuhalten, die aus Jac­
ques de Molay den Begründer der Freimaurerei gemacht hat.
Das ist nichts anderes als eine Fiktion ohne den Schatten jeder
historischen Grundlage, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts
von den Erfindern neuer, angeblich maurerischer Grade in die
Welt gesetzt wurde.

Ein letztes Wort über die Mönche, von denen die Grande Loge
de France das Gebäude in der Rue Puteaux Nr. 8 in Paris über­
nommen hat. Es waren Franziskaner, die sich der Verehrung
des HI. Antonius von Padua gewidmet hatten, dessen Speziali­
tät es ist, beim Wiederfinden verlorener Gegenstände behilflich
zu sein. Die Ehrwürdigen Väter hatten die großartige Idee, die
Öffentlichkeit aufzufordern, ihre guten Dienste in Anspruch zu
nehmen. Sie stellten in allen Kirchen einen Briefkasten und ei­
nen Opferstock auf; der eine sollte die schriftlichen Bitten um
einen Gnadenerweis, der andere die Spenden aufnehmen, die
für das eigens gegründete Liebeswerk der Speisung des HI. An­
tonius bestimmt waren. Die Bitten wurden in der Rue Puteaux
gesammelt und einmal in der Woche öffentlich verlesen, damit
die Gläubigen sie anschließend mit ihren Fürbitten und Gebeten
unterstützen konnten. Die Mönche vertrauten allerdings ihren
eigenen Anrufungen noch mehr: Nächtens versammelten sie
sich jeweils in einem Andachtsraum, um den HI. Antonius an­
zuflehen, ihre „Kundschaft'' zufriedenzustellen. Mit Hilfe ihres
Eifers vollzog sich Gott weiß welche Fonn von Telepathie: Die
verlorenen Gegenstände wurden stets wiedergefunden, wenn
auch nicht in ihrer Gesamtheit, so doch in ausreichender Anzahl,
um jene Ex-voto-Tafeln zu veranlassen, die mit der Zeit alle
Wände der Gnadenkapelle des HI. Antonius mit ihrem Marmor
bedeckten. So erreichte das religiöse Geschäft der Franzsikaner
im durch und durch skeptischen Paris des ausgehenden 19. Jahr­
hunderts seinen Höhepunkt. Sie verdienten so viel, dass sie das
von ihnen errichtete Gebäude bezahlen und trotz der für ihre Ge-

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 39


meinschaft abgezweigten Beträge noch täglich zahlreiche Arme
mit Nahrung versorgen konnten, die so vom Brot des HI. Anto­
nius zehren durften.

Welche Schlussfolgerungen soll man aus all dem ziehen? Zum


einen, dass die priesterliche Kunst, die in der Lage ist, aus Glau­
bensüberzeugungen und noch immer nicht klar erkannten psy­
chischen Vorgängen ihren Vorteil zu holen, nach wie vor mei­
sterhaft praktiziert wird. Zum anderen, dass noch bei Weitem
nicht alles aufgehellt ist, denn der Erfolg der Franziskaner wirft
Probleme der Metapsychologie auf, zu deren ernsthafter Unter­
suchung gerade die Initiierten aufgerufen sind.

DIE MYSTERIEN
Der philosophische Gehalt der griechisch-römischen Einwei­
hungsformen ist unbestreitbar in der modernen Freimaurerei
zumindest der lateinischen Spielart wiedererstanden. Das Anse­
hen nach außen, die Ehrbarkeit in den Augen der Profanen, auf
die die Angelsachsen einen so hohen Wert legen, kümmern uns
wenig. Unsere französischen, italienischen oder spanischen Lo­
gen sind keine Clubs, zu denen zugelassen zu werden zum guten
Ton gehört. Auf ihnen lasten Exkommunikationen nicht bloß
klerikaler Art, denn auch maurerische Bigotterie und sogar so­
zialistisches Sektierertum haben ihren Bannstrahl geschleudert!
Sie gelten als verdächtige Grilppchen, in denen Vertreter aller
Gesellschaftsschichten vertraut miteinander umgehen in einer
Freizügigkeit, die einem empfindsamen Gentleman nur missfal­
len kann. In ihren Hallen herrscht natürlich eine gewisse frei­
willig eingegangene Disziplin, aber ansonsten respektiert man
so gut wie nichts außer den Ansichten, die jeder in völliger Un­
abhängigkeit zum Ausdruck bringen darf. In der Loge wird also
über alles diskutiert. Die gegensätzlichsten Ideen prallen fried­
lich aufeinander vor einer Zuhörerschaft, die Geschmack findet
am sportlichen Wettkampf der Geister, dessen Protagonisten in
brüderlicher Herzlichkeit zusammenkommen, nachdem sie sich

40 Der Meister
zuvor in der Arena der freien Suche nach der Wahrheit in aller
Heftigkeit geschlagen haben.

Ganz so werden sich die Dinge in Eleusis, Samothrake oder den


dem Attis, der Isis oder dem Mithras geweihten Heiligtümern
nicht abgespielt haben. Die heutigen Initiierten lehnen es ab,
ihr gedankliches Betätigungsfeld zu begrenzen. Stets bedacht
darauf, jeden Irrtum aufzuspüren, sobald er sich verrät, gehen
sie mit uneingeschränkter Härte in ihren Überlegungen bis zum
Äußersten. Ihre Vorgänger im klassischen Altertum waren weit
weniger kühn und begnügten sich damit, die Allegorien der My­
thologie philosophisch zu interpretieren. Dieser Weg führte sie
zu einer vernunftbestimmten Kosmogonie, wobei sie sich aller­
dings nach wie vor innerhalb der verschiedenen Göttersysteme
wiederfinden konnten. Weil sie verstanden hatten, womit die
Götter gleichzusetzen waren, brachten sie sie im Rahmen der
unterschiedlichen mythologischen Systeme zur Deckung und
zielten damit auf eine immer universalere philosophisch-religi­
öse Lehre. Außerdem hatten sie spezielle eigene Vorstellungen
und sahen die Bestimmung des Menschen, Geburt, Leben und
Tod nicht als ein für alle Mal festgelegte unveränderliche Grö­
ßen an. Nach außen war ihnen absolute Zurückhaltung auferlegt,
da Profane nicht durch Theorien beunruhigt werden sollten, die
jenseits ihres Fassungsvermögens lagen. Untereinander jedoch
hatten die Initiierten alle Freiheit, sich gegenseitig aufzuklären.
Das taten sie im Rahmen zufiilliger Begegnungen und freund­
schaftlicher Verbindungen, die sich spontan ergaben; etwas un­
seren diskussionsreichen Logen Vergleichbares scheint es in der
Zeit der heidnischen Einweihungen nicht gegeben zu haben. Ihr
weiteres Schicksal war leicht vorauszusehen: Pomp und Zere­
moniell gewannen die Oberhand, der Geist entwich und floh zu
den Philosophen, deren Schulen sich vervielfachten.

Mit dem Auftreten des Christentums wurde es Brauch, sich dort


einweihen zu lassen, so wie man etwa in den Vereinigten Staa­
ten Freimaurer, Templer oder Odd Fellow wird. Es war Mode
und nicht mit besonders großen Verpflichtungen verbunden. In­
dem sie die Taufe empfingen, bereicherten die Eingeweihten die

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 41


zahlreichen Mysterien des aufstrebenden Christentums mit viel­
fältigen initiatischen Gebräuchen, nicht zuletzt mit dem Kreuz­
zeichen, das es den Christen erlaubte, einander zu erkennen.

Berufsbezogene Initiation

Wenn die Geistigkeit der alten Mysterien in einer dem moder­


nen Verständnis angepassten Form in der Freimaurerei weiter­
lebt, so gehen ihre unmittelbaren Traditionen jedoch auf die
Baubruderschaft des Mittelalters zurück. Damals wurde die
Verarbeitung des Steins dank vertiefter Kenntnisse der prak­
tischen räumlichen Geometrie zu höchster Kunstfertigkeit ge­
steigert. Ausgetüftelte Berechnungen bestimmten überdies die
Beschaffung des Baumaterials, dessen Menge bewusst aufjenes
Mindestmaß verringert wurde, das die Standfestigkeit des Bau­
werks gerade noch unbeeinträchtigt ließ. Obwohl demnach alles
um die Geometrie als ihre Hauptwissenschaft kreiste, ging das
Wissen der Werkmeister doch wesentlich darüber hinaus. Wenn
man einem alten Manuskript glauben kann [7], war ihnen sogar
anempfohlen, sich - wie Pico della Mirandola ausgedrückt hat
- Kenntnisse zu erwerben de omni re scibili et quibusdam ali­
is. In jedem Fall war die Astronomie für sie zumindest deshalb
unerlässlich, um die Achsen des zu errichtenden Bauwerks im
Gelände auszurichten. Festgelegtem Brauch zufolge war die für
Beginn und Ende der Bauarbeiten vorgesehene Stunde darüber
hinaus von solcher Bedeutung, dass es ausgeschlossen scheint,
dass der Grundstein eines Gebäudes zu einer von der Astrologie
als ungünstig eingeschätzten Zeit hätte gelegt werden können.
Außerdem bezeugen die Tierkreiszeichen und andere Symbole
an den Kathedralen eindeutig die astrologische Betätigung der
Architekten, deren Symbolwissen sich zusätzlich auf Hermetis­
mus und Alchimie erstreckt haben dürfte. Der erwähnte Test, der
in Stil und Orthographie dem 15. Jahrhundert entspricht, sagt zu
diesem Thema folgendes:
„Die Maurer verstecken die Kunst, Wunder zu vollbringen und
zukünftige Dinge vorauszusagen, damit übelwollende Menschen
keinen Missbrauch damit treiben können. Ebenso schweigen sie

42 Der Meister
über die Kunst der Verwandlung und die Methoden, die in der
Fähigkeit des Abrakadabra gipfeln (Kabbala, Magie, Gestaltung
von Talismanen), aber ihr großes Geheimnis lehrt, gut und voll­
kommen zu werden, ohne etwas zu fürchten oder zu erhoffen.
Sie besitzen schließlich eine weltweite Sprache, die nur ihnen
eigen ist."

Man kann mit Locke bedauern, dass nicht die gesamte Mensch­
heit aus dem großen Geheimnis der Maurer, das in einer ganz
eigenen Auffassung des Lebens besteht, Nutzen zieht. Dasselbe
wird als einheitlich angesehen. Es beseelt die gesamte Schöp­
fung, deren Werk weit davon entfernt ist, am sechsten Tag der
Bibel abgeschlossen zu sein, sondern sich endlos fortsetzt. Sie
ist Gegenstand beständiger Tätigkeit des Großen Baumeisters
aller Welten, dessen Geschöpfe bewusst oder unbewusst an ihr
mitwirken.

Was die Maurer von anderen unterscheidet, ist die Tatsache,


dass sie an dem Großen Werk in vollem Bewusstsein ihres Tuns
mitarbeiten, weil sie in den Plan des schöpferischen Weltver­
ständnisses eingeweiht und willens sind, gut zu arbeiten. Ihre
Begeisterung für die Größe und Schönheit des Werks überhebt
sie sogar jeder Sorge um den Lohn, so dass sie um der Kunst
willen arbeiten und weder für irgendeine Art von Strafe noch
für irgendwelche Hoffnung auf Entgelt empfänglich sind. Weil
sie keine bezahlten Angestellten sind, erheben sie sich zu Part­
nern des Werkunternehmers: Sie arbeiten auf eigene Rechnung
und kommen dadurch zu jener Meisterschaft, die einer Vergött­
lichung oder Apotheose gleichkommt.

Die weltweit gebrauchte eigene Sprache der Maurer erfließt


aus der durch die Beschäftigung mit Allegorien und Symbolen
erworbenen Hellsicht. Lehrlinge und Gesellen üben sich darin,
die heiligen Worte mehr oder weniger sorgsam zu buchstabieren
und zu entziffern, während die Meister, die die Anfangsschwie­
rigkeiten überwunden haben, über den Schlüssel zu jeder Sym­
bolik verfügen.

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 43


Um für die breite Masse zugänglich zu bleiben, ver�leidet sich
das höchst subtile Denken in grobe Bilder, bei denen der ge­
wöhnliche Verstand verharrt; der Initiierte dagegen bemüht sich
darum herauszufinden, was Sprechen eigentlich heißt. Der wirk­
liche Denker hütet sich, die Fabeln, Mythen und Dogmen der
Religionen oder die Begriffswelt der alten Philosophenschulen
wörtlich zu nehmen. Er geht auf die ursprünglichen, schöpfe­
rischen Begriffe zurück, die Mütter allen menschlichen Wissens
[8]. So initiiert er sich selbst in das Geheimnis des jedem Aus­
druck widerstrebenden Denkens und durchdringt die wahre Trag­
weite aller mystischen Überlieferungen, die in Form unklarer
Legenden, höchst unwahrscheinlicher Heldenlieder, rätselhafter
Kunstwerke oder bei erstem Zusehen abseitig anmutender phi­
losophischer Systeme auf uns gekommen sind. Die wahre Initia­
tion sträubt sich gegen nichts, lässt sich von keinem äußeren An­
schein abschrecken, sondern untersucht scharfsinnig gerade die
verwirrendsten Mysterien in der Überzeugung, dass es wichtig
ist, alles ans Licht zu bringen. Denn der Goldstaub der Wahrheit
muss nun einmal mühselig vom Schlamm der Jahrhunderte und
den Ablagerungen des Vergangenen getrennt werden.

Festzuhalten ist, dass die alten Maurer Pythagoras als jenen Ein­
geweihten verehrten, der am meisten dazu beigetragen hat, im
Abendland das Licht des Morgenlandes zu verbreiten. In dieser
Hinsicht ist nichts bezeichnender als der Text der bereits zitierten
Handschrift, in der der Name des Philosophen in naiver Form
anglisiert wurde. ,,Peter Gower, ein Grieche", so heißt es darin,
„reiste, um sich zu bilden, nach Ägypten, nach Syrien und in
alle Länder, wo die Venezier (lies: Phönizier) die Maurerei ein­
gepflanzt hatten. Als Gast in allen Maurerlogen erwarb er sich
ein breites Wissen, kehrte dann nach Großgriechenland zurück,
wo er daran arbeitete, seine Kenntnisse zu erweitern, so dass er
schließlich ein machtvoller Weiser von weit ausgedehntem Ruf
wurde. Er gründete in dieser Gegend eine bedeutende Loge in
Groton [Kroton], wo er zahlreiche Männer zu Maurern machte.
Unter ihnen auch viele, die nach Frankreich gingen, wo sie ihrer­
seits zahlreiche Maurer machten, dank derer in der Folgezeit die
Kunst nach England hinüberkam." Wir sollten in diesen Zeilen

44 Der Meister
nichts anderes sehen als eine Huldigung an die pythagoräischen
Lehren, die aus Betrachtungen über die den Zahlen von Natur
aus innewohnenden Eigenschaften gezogen und von den Anre­
gungen getragen waren, die sich aus den Figuren der Geome­
trie ergaben. Diese Zahlenphilosophie und -symbolik leitete die
Maurer beim Entwurf ihrer Pläne und in der Wahl der Maßver­
hältnisse aller einzelnen Bestandteile ihrer Bauwerke.

Die Wohltätigkeit

Wie die Mitglieder anderer Verbände waren auch die Maurer ge­
halten, sich gegenseitig zu unterstützen. Die Kinder der Kunst
bildeten eine große Familie und erkannten einander in dieser Ei­
genschaft als Brüder. Ihre strengen Verpflichtungen erstreckten
sich jedoch nicht über den Kreis des Berufs hinaus, dessen
,,Mys-terien" so eifersüchtig geheimgehalten werden mussten,
damit kein Außenstehender unbefugt an die Solidarität der Adep­
ten appellieren konnte.

Als die operative Maurerei zu Beginn des 18. Jahrhunderts end­


gültig spekulativ wurde, wurden die alten Berufspflichten erheb­
lich ausgedehnt, weil die Maurerbruderschaft weltumspannend
wurde, indem der Freimaurer sich zum Bruder aller Menschen
erklärte, ob sie nun initiiert waren oder nicht. Von nun an sollten
die Maurer nie mehr zusammenkommen, ohne zur Linderung
menschlichen Leids beizutragen: Zum Abschluss ihrer Arbei­
ten gehörte obligatorisch das Herumgehen der Schatulle für die
milden Gaben. Da jede wohlgeordnete Mildtätigkeit bei sich
selbst beginnt, achtet die Maurerei mit Hilfe besonderer, auf ihre
Kos-ten unterhaltener Einrichtungen vor allem auf das Schicksal
ihrer älteren Mitglieder, ihrer Witwen und Waisen. Aber auch
bei Gelegenheit allgemeiner Unglücksfiille zeigt sich der Or­
den großzügig. Manche Formen kindlich-rituellen Pomps einer
Maurerei, die die geistige Seite zu sehr vergessen hat, werden
durch ihre breit gestreute und beständige Wohltätigkeit durchaus
entschuldigt. Aber der Erwerb finanzieller Mittel ist für die Lo­
gen weniger wichtig als Reichtum auf anderen Gebieten. Mau-

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 45


rerische Hilfsbereitschaft weiß, dass der Mensch nicht vom Brot
alleine lebt, und so erstreckt sie sich auch auf seine sittlichen und
geistigen Bedürfnisse.

Als Sammelpunkt von Anregungen und Anstößen entfaltet jede


maurerische Bauhütte zumindest für ihre eigenen Mitglieder
eine sehr wirkungsvolle Tätigkeit. Nichts ist nämlich für den
Freimaurer wertvoller als die Achtung seiner Brr. · .. Durch Le­
bensführung und Haltung muss er sich in allem bemühen, der
Gemeinschaft Ehre zu machen, die ihn in ihre Reihen aufgenom­
men hat.

Um sich der Freimaurerei würdig zu erweisen, zögern die Mau­


rer nicht, mehr als ihre gewöhnliche Pflicht zu erfüllen, wenn
die Umstände sie dazu drängen. Zahlreich sind jene überzeugten
Mitglieder, die alles hingaben, um dem Beispiel einer hochste­
henden Moralität zu entsprechen. Mehr als einer erinnerte sich
an die Lehren seiner Loge, als es darum ging, eine letzte Ent­
scheidung zu treffen, die ihn das Leben kosten sollte [9].

Aber Heldentum gehört nicht zu einem gewöhnlichen Lebens­


ablauf, bei dem sich mehr oder minder bedeutungslose Akte wie
an einer Kette fast automatisch aneinanderreihen. Der Durch­
schnittsmensch, der nichts anderes verlangt, als dass man ihn
leben lässt, behauptet gern, dass er nicht besser oder schlechter
handelt als alle anderen. Er wird auch von keinerlei Skrupeln be­
lastet, wenn ein Vorteil ihn dazu veranlasst, eine jener zahllosen
Schäbigkeiten zu begehen, die angesichts der Notwendigkeit des
Kampfes ums Dasein als entschuldigt gelten. Der Maurer kann
sich so nicht gehen lassen, denn Maurerei hält ihn zurück. Sie
erinnert ihn daran, dass er nicht mehr das Recht hat, wie ein Pro­
faner zu leben, also genauso schlecht wie jeder Erstbeste andere.
Er hat sich vorgenommen, insofern ein besseres Leben zu füh­
ren, als er überall gegen Missbrauch und Korruption ankämpft,
um unter Ausschöpfung aller seiner Mittel dazu beizutragen, die
bürgerliche Gesellschaft zu reformieren. Innerhalb dieser wird
der seinen Pflichten getreue Maurer bekannt werden nicht durch
allgemein übliches Verhalten, sondern durch die beispielhafte

46 Der Meister
Korrektheit seines gesamten Auftretens. Wohltätigkeit verwech­
selt er nicht mit dem, was man sonst allgemein als Spendenfreu­
digkeit bezeichnet. Die Schuld, die der Initiierte gegenüber der
Menschheit eingegangen ist, lässt sich nicht dadurch abtragen,
dass man ihr ein paar Brocken hinwirft, die man sowieso nicht
braucht. Gutes tun umfasst ein ganzes Lebensprogramm. Den
Geldbeutel ausleeren genügt nicht, wo es darum geht, sich selbst
rückhaltlos, ganz und auf immer hinzugeben!

Grade und Fähigkeiten

Das hohe Ansehen der Zahl Drei liegt wahrscheinlich daran, dass
sich die Dreizahl bei jeder organischen Gestaltung aufdrängt.

Schon das befruchtete Ei, das sich in Zellen teilt, versieht die­
se unverzüglich mit drei Häutchen, mit denen sich die spätere
Ausbildung aller Körperorgane verbindet. Die Soziologie wie­
derum stellt eine natürliche Neigung des Menschen fest, sich in
drei ganz einfache Gruppen zu gliedern: die Jungen, die reifen
Männer und die Alten. Diese Dreiheit erscheint dann bei allen
menschlichen Einrichtungen, die eine irgendwie geartete Initi­
ation einschließen. Überall unterscheidet man den Initiations­
fllhigen vom Initiierten und diesen wiederum vom Initianten.
Daraus entstehen Hierarchien wie Lehrling - Geselle - Meister,
Oberschüler - Hochschüler - Doktor, Page - Junker - Ritter
usw.

Der erste Grad wird dem Suchenden verliehen, den man als fii­
hig erkannt hat, zu lernen und sich zu entwickeln, um sich des
zweiten Grades als würdig zu erweisen. Diesen darf der Arbei­
ter anstreben, dessen Lehrzeit dergestalt abgelaufen ist, dass er
seine Arbeit beherrscht und deshalb sein Handwerk oder seinen
Beruf angemessen ausüben kann. Der dritte Grad schließlich
ist dem Könner vorbehalten, der im Vollbesitz seiner Kunst ist,
nachdem er sich alle Geheimnisse der Praxis und der Theorie
angeeignet hat.

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 47


So geschickt ein Arbeiter auch sein mag, er bleibt Geselle, solan­
ge er nicht alles verstanden hat, was sich auf seine Kunst bezieht.
Er wird nur dann Meister werden, wenn er die Praxis gedanklich
untermauert, indem er die Regeln, denen jeder Künstler sich
unterwerfen muss, rational erfassen lernt. Nachdem er sich auf
diese Art selbst aufgeklärt hat, kann der Erleuchtete das Licht
ausbreiten, es also mit Erfolg lehren, praktisch anwenden und
entzünden.

Aber das Meistertum ist niemals vollkommen; niemand sollte


sich rühmen, so weit gekommen zu sein. Der erfahrenste Geselle
wird ausgewählt, um die Arbeiten zu leiten und die Instruktion
in Worte zu fassen. Damit ist er zwar berufen, die Funktion des
Meisters zu erfüllen; aber auch wenn er sein Bestes tut, darf er
sich keinen falschen Vorstellungen über seinen wirklichen Rang
hingeben, denn keine Wahl, keine Einweihungszeremonie hat
die Macht, einen Wahren Meister zu schaffen.

Jenes höhere Wesen, das auf eine solche Bezeichnung Anspruch


erheben könnte, kommt so selten unter den Menschen vor, dass
man sich die Frage stellen kann, ob es überhaupt in Fleisch und
Blut existiert. Die Rosenkreuzer hatten sich Weise vorgestellt,
die von allen Begehrlichkeiten befreit und dadurch allen Miss­
helligkeiten des Körpers, der Seele und des Geistes entzogen
seien. In alle Geheimnisse der Natur eingeweiht, sollen diese
Philosophen ein unvorstellbar hohes Alter erreicht haben, bereits
seit Jahrhunderten unter den Lebenden weilen und über ein uni­
versales Wissen verfügen. Im 18. Jahrhundert gab sich der Graf
von Saint-Germain für einen dieser Adepten aus. Aber seine
Ansprüche fallen in sich zusammen, wenn man den Grundsatz
beherzigt, dass der wahre Meister niemals danach strebt, seine
Zeitgenossen zu beeindrucken und zu verblüffen. In unseren Ta­
gen bemühen sich manche Theosophen, uns glauben zu machen,
es gebe sogenannte Mahatmas (Erleuchtete Geister), die in unzu­
gänglichen Gegenden des Himalaja leben. Diese Mystiker sollen
über außerordentliche Fähigkeiten verfügen, insbesondere in der
Lage sein, sich auf der Stelle an jeden Punkt des Universums zu
versetzen. Die Materie sei ihnen unterworfen und verändere sich
nach Maßgabe ihres Willens!

48 Der Meister
Vielleicht hatten die Maurer des 18. Jahrhunderts gesündere
Vorstellungen, als sie dem Freiherrn von Hund die Existenz von
Unbekannten Oberen enthüllten. Unglücklicherweise konnte der
Begründer der Strikten Observanz jedoch ihr Geheimnis nicht
lüften und wurde zum Spielball von Mystifikatoren. Goethe war
klarsichtiger, als er im Anschluss an eine besonders feierliche
Meisterarbeit, an der er teilgenommen hatte, am 15. November
1814 die folgenden Verse unter dem Titel „Symbolum" nieder­
schrieb:
Des Maurers Wandeln, Und schwer und ferne Doch rufen von drüben
Es gleichet dem Leben, Hängt eine Hülle Die Stimmen der Geister,
Und sein Bestreben, Mit Ehrfurcht. Stille Die Stimmen der Meister:
Es gleicht dem Handeln Ruhn oben die Sterne Versäumt nicht zu üben
Der Menschen auf Erden. Und unten die Gräber. Die Kräfte des Guten!
Die Zukunft decket Betracht sie genauer! Hier flechten sich Kronen
Schmerzen und Glücke. Und siehe, so melden In ewiger Stille,
Schrittweis dem Blicke, Im Busen der Helden Die sollen mit Fülle
Doch ungeschrecket Sich wandelnde Schauer Die Tatigen lohnen!
Dringen wir vorwärts. Und ernste Gefühle. Wir heißen euch hoffen.

Der Dichter erkennt in den Reisen des Maurers das Bild des
menschlichen Lebens mit seinen Strebungen und Kämpfen.
Die Zukunft verbirgt uns die Prüfungen, die uns erwarten, aber
wir müssen sie mit Festigkeit und ohne Zögern oder Schrecken
durchschreiten. Ein eindrucksvoller Vorhang hemmt indessen
unseren Blick, während in ehrfurchtgebietendem Schweigen in
der Höhe die Sterne erstrahlen und in der Tiefe die Gräber ruhen.
Aber seien wir bedachtsam, denn im Herzen der Tapferen wech­
seln Zittern und Trauergefühle ab. Aus dem Jenseits ermahnt sie
die Stimme der Geister, der Meister, bei der Nutzung der Kräfte
des Guten nicht nachlässig zu werden.

Die Maurer handeln, Hiram leitet sie

Wir wollen uns nunmehr bemühen, die so rätselhaften Meister


der Freimaurerei bei ihrem Tun aufzuspüren.

Im 17. Jahrhundert hatten die alten Baubruderschaften ihre Exis­


tenzberechtigung verloren. Der mehr und mehr zentralisierte

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 49


moderne Staat machte Organisationen überflüssig, die aus der
Notwendigkeit des gegenseitigen Schutzes von Einzelnen ent­
standen waren. Die enge Zucht der Berufsstände hatte sich gelo­
ckert, und die alt gewordenen Korporationen setzten im Grunde
nur noch die Missbräuche der Zünfte und ihrer Meisterprüfungen
fort, denen dann die Französische Revolution zu Recht ein Ende
machen sollte.

Auf den Britischen Inseln, wo Traditionen zählebig sind, konn­


te sich die Vergangenheit nicht damit abfinden, einfach so zu
verschwinden. Die Freemasons versammelten sich weiterhin
im Geheimen, um ihre der Öffentlichkeit unbekannten Ri­
ten zu praktizieren. Die Verbindung erklärte sich für uralt und
behauptete, über Geheimnisse zu verfügen, die bis auf König
Salomo zurückgingen. Man wusste, dass ein schrecklicher Eid
ihre Angehörigen zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtete
und sie auch unter Einsatz ihres Lebens einander Hilfe leisten
mussten. Die Schweigsamkeit dieser Eingeweihten weckte die
Neugier zahlreicher Gentlemen, die sich bereit erklärten, Ehren­
mitglieder der Bruderschaft zu werden in der Hoflhung, außeror­
dentliche Enthüllungen zu erfahren. Dies war zumindest der Fall
bei Elias Ashmole, dem gelehrten Archäologen, der sich am 16.
Oktober 1646 in Warrington zum Freimaurer aufnehmen ließ.
Aber man muss annehmen, dass dieser durch seine weitgefäch­
erten Kenntnisse ausgezeichnete Mann von dem, was ihm seine
Initiatoren beibringen konnten, enttäuscht war, denn er erschien
erst 35 Jahre später in London wieder in einer Loge, weil man
ihn gebeten hatte, bei der Aufnahme von sechs Gentlemen mit­
zuwirken. Im Gegensatz zu einer von schlecht unterrichteten
Schriftstellern aufgestellten These darf also Ashmole nicht als
der Begründer der modernen Freimaurerei angesehen werden.
Dieser Hermetiker war vielmehr der Auffassung, die Freimaurer
gäben sich kindlichen Spielereien hin. Er machte sich nicht ein­
mal die Mühe, sich mit ihren Überlieferungen und Zeremonien
näher zu beschäftigen. Zweifellos hielt er die bruderschaftlichen
Legenden bezüglich der Weitergabe der Geheimnisse der Bau­
kunst für dürftig und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren
angesichts der „Geheimnisse", die bloß in Erkennungszeichen

50 Der Meister
und anderen konventionellen Besonderheiten bestanden. Wir
müssen allerdings sogleich dazu sagen, dass der Gelehrte sich
im Unrecht befand. Weil er zu wissen glaubte, ließ er es an der
nötigen Aufmerksamkeit fehlen, so dass ihm entgehen musste,
was sich an Bemerkenswertem und Fruchtbarem unter dem be­
scheidenen äußeren Anschein verbarg. Die naiven Handwerker,
die sich in durchaus gutem Glauben für die Treuhänder einer
wertvollen Überlieferung hielten, täuschten ihre Klientel von
Rang keineswegs. Die „Geheimnisse" waren wirklich da, sie
standen nur nicht dem Zugriff jedes Erstbesten zur Verfügung,
hätte er sich auch alles Wissen seiner Zeit angeeignet.

Hiram verlangte damals von seinen Anhängern lediglich, die


traditionellen Riten treulich auszuführen. Ihre Aufgabe war be­
scheiden: Als Hüter einer heiligen Flamme, die niemals erlö­
schen durfte, oblag es ihnen. unter der Asche ihrer Unwissenheit
eine beständige Glut aufrechtzuerhalten. Mit rührender Hingabe
und gläubig beachteten sie Bräuche, deren Bedeutung sie bei
Weitem nicht einmal vermuten konnten. Weil sie sie als unwan­
delbar ansahen, erfüllten sie sie buchstabengetreu, ohne auch nur
die geringste Einzelheit zu vernachlässigen. Jedes einzelne der
vorgeschriebenen Elemente hatte für sie geradezu sakramentalen
Charakter. Sie legten so ihren geheimen Zeremonien entschei­
dendes Gewicht bei und waren überzeugt, dass das Übersehen
auch nur einer· einzigen rituellen Kleinigkeit zur Nichtigkeit der
Initiation führte. Wurde ein Fehler festgestellt, war es zwingend
erforderlich, mit der gesamten Aufnahme neu zu beginnen und
nunmehr nach allen Regeln der Kunst vorzugehen. Solche aber­
gläubischen Pedanterien mussten Schöngeister abstoßen, die auf
kluge Lehren, Systeme und Diskurse begierig waren. Umgetrie­
ben vom Geheimnis des Steins der Weisen oder vergleichbarer
Rätsel, verschmähten diese Liebhaber der Weisheit die beschei­
dene Bearbeitung des Rauen Steins; und so gingen sie durch die
alte Maurerei, ohne daraus Nutzen zu ziehen.

Unter den Freien und Angenommenen Maurern, die also von


der Praxis der Baukunst nichts verstanden, fanden sich dennoch
klarsichtige Köpfe, für die die Symbole nicht nur toter Buchsta-

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 51


be waren. Von der ganz offenkundig ehrlichen Gläubigkeit der
unfähigen Nachfolger der ruhmreichen Künstler des Mittelal­
ters gewonnen, wandten sie sich ernsthaft der Maurerei zu, ent­
schlossen, ihren Geheimnissen unermüdlich nachzuforschen.

Von nun an hatte Hiram auch intellektuelle Schüler, deren Anla­


gen er pflegen konnte, während er zugleich seine frommen Die­
ner ermunterte, an ihrem heilsamen Konservatismus festzuhal­
ten. Zu diesen zählten die schlichten Londoner Freemasons von
1717, die nur von der einen Vorstellung besessen waren, ihre
uralte und verehrungswürdige Bruderschaft nicht zu gefährden.
Aber ach - die Zeiten waren hart. Selbst in London wurde es
schwierig, für die Jahreshauptversammlungen die erforderliche
Zahl von Teilnehmern zu finden, um das Ordensfest in der vor­
geschriebenen Form durchzuführen. Mehr und mehr ausgedünnt
liefen die Logen Gefahr, bald nur noch als Erinnerung der Ver­
gangenheit anzugehören. In dieser Extremsituation schlossen
vier sterbende Logen ihre Kräfte zusammen, um sich, koste es
was es wolle, der endgültigen Auflösung entgegenzustemmen.
Aus dieser mutigen gemeinsamen Entscheidung wurde damals
die moderne Freimaurerei geboren, ein zunächst schwächliches
Kind, vergleichbar jenem, das die Legende in Bethlehem zwi­
schen einem Ochsen und einem Esel zur Welt kommen ließ. Vom
Stall in den Gasthof übertragen verkörpern diese Tiere einerseits
den unbeugsamen Willen zu überleben, andererseits das Fehlen
aller höheren initiatischen Kenntnisse. Was macht es aus, wenn
das maurerische Wort noch nicht zu Tage treten kann, solange es
sich in einer kraftvollen Organisation verkörpert, die es ihm er­
möglicht, die Welt zu erobern und sie, wenn die Zeit gekommen
ist, zu erneuern?

DAS MAURERTUM
Die moderne Maurerei sollte keine Minerva sein, die in voller
Rüstung dem Haupt eines ideologischen Jupiters entspringt. Ihr
Programm wurde nicht von einem Gründer vorab entworfen,
der sich entschlossen hatte, die alte Maurerei zu nutzen und für

52 Der Meister
großartige Pläne zu gebrauchen. Im Jahre 1747 hätte kein noch
so genialer Astrologe voraussehen können, zu welcher Höhe
sich die neu geborene Institution erheben würde. Diese ihrerseits
beschäftigte sich zunächst nur damit, ihren Bestand zu sichern.
Sie wollte nach außen gut dastehen und machte sich deshalb auf
die Suche nach Mitgliedern, die geeignet waren, ihr Ansehen zu
heben.

So stießen gebildete Männer - Denker - zur Freimaurerei, die


sich ab 1723 der Welt mit neuen Grundsätzen präsentieren konn­
te, welche noch keine Vereinigung von Menschen zuvor mit
derselben Klarheit formuliert hatte. Es handelte sich darum, die
Menschen zu lehren, sich über alles zu erheben, was sie trennt,
sie dazu zu bewegen, untereinander wahrhaft unbegrenzte Brü­
derlichkeit zu üben. Die baumeisterliche Initiation wurde Haupt­
thema dieser Lehre, denn man ging davon aus, dass der von den
Freimaurern zu errichtende Tempel die ideale menschliche Ge­
sellschaft verkörpere, die ihre Vollendung finden könne durch
die geistige und sittliche Vervollkommnung des Einzelnen. Die
Freimaurerei gab nicht vor, auf übernatürliche Weise das gol­
dene Zeitalter oder das Reich Gottes auf Erden herbeizuführen;
sie sagte im Gegenteil, dass die Menschen nur auf sich selbst
zählen dürfen, weil sie Steine sind, dazu berufen, sich selbst zu
formen, um sich dem lebendigen Bauwerk einzufügen, das un­
ter der Leitung des Großen Baumeisters aller Welten errichtet
wird.

Der höchste Baumeister, in dem die Maurer gern den Gott ih­
rer jeweiligen Religion zu sehen belieben, unterscheidet sich
indessen von allen theologisch zu verstehenden Wesenheiten.
Ontologie und Metaphysik spielen nämlich bei der Entstehung
eines Symbols, das mit innerer Logik aus dem Begriff der mau­
rerischen Symbolik gewachsen ist, keinerlei Rolle. Diese stellt
den Maurer dar als Arbeiter, der an der Verwirklichung eines
ungeheuren Plans Teil hat, welcher viel zu weitgespannt ist, als
dass der Verstand ihn voll ermessen könnte. Der Fortschritt voll­
endet sich jenseits unseres Begreifens und Wollens, als wenn
er von einer über uns stehenden höheren Macht entworfen und

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 53


gewollt wäre. Diese unbekannte Macht führt die ungerichteten
Strebungen zusammen und weckt Kräfte, um sie für das Große
Werk des Allgemeinen Weltenbaus zu bündeln. Die Maurer stel­
len sich bewusst in ihren Dienst; sie lassen sich initiieren, um
ihre Aufgabe besser verstehen zu können und dadurch in einen
Zustand zu gelangen, der sie zu nützlicher Arbeit besser geeignet
macht.

Aber wenn sie sich nicht bewusst waren, im Dunkeln zu sein,


warum sollten sie dann das Licht suchen? Sie müssen sich den
Meistern unterlegen fühlen, wenn sie sich in ihre Schule bege­
ben und von ihnen Anregungen erbitten.

Die Meister wissen, was wir nicht wissen; man darf sie nicht
mit den praktisch tätigen Meistern verwechseln, die an ihrer statt
ausgewählt wurden, um die Lehrlinge auszubilden und die Ge­
sellen zu führen. Wie uns das Ritual zu verstehen gibt, sitzen die
Wahren Meister unsichtbar in strahlender Klarheit hinter dem
dichten Vorhang, der sie von den in Nacht und Trauer sich selbst
überlassenen Arbeitern trennt. Ihre Verlassenheit existiert jedoch
mehr dem äußeren Anschein nach als in Wirklichkeit, denn der
Wunsch, gut und richtig zu handeln, ruft jene geheimnisvolle
Hilfe auf den Plan, auf die wir ein Anrecht haben. Seien wir tap­
fer, und die Stimme der Meister wird in uns auftönen.

Wer sind nun diese Führer und Lehrmeister, diese Unbekannten?


Die Maurerei stellt die Frage, ohne sie zu beantworten, wie um
ihre Anhänger dazu anzustacheln, das Geheimnis zu durchdrin­
gen, in das sich das letzte Arkanum jeder Initiation einhüllt.

Das maurerische Licht

Wenn wir dem großen Geheimnis näher kommen wollen, müs­


sen wir uns bewusst sein, dass bei letzter Betrachtung alles nur
Schwingung ist. Licht, Wärme, Klang, Elektrizität, Magnetismus
- alles löst sich in Wellen von mehr oder weniger großen Ampli­
tuden auf. Ebenso ist es in dem subtileren Bereich des Denkens,

54 Der Meister
des Willens, der Phantasie und des Lebens. Nichts geht verloren,
nichts wird zerstört: Alles findet sich wieder.

Diese Grundsätze, die in vollem Umfang und in jedem einzel­


nen Aspekt des Gesagten von der modernen Naturwissenschaft
bestätigt werden, interessieren uns hier nur insoweit, als sie sich
auf das menschliche Denken anwenden lassen. Von allein und
ohne zusätzliche Kommunikation verbreitet es sich nach Ansicht
der Initiierten in Form der ihm eigenen Schwingungsart.

Eine vom Gehirn und seiner Funktion unabhängige Objektivität


entspräche damit dem Licht des Geistes, dessen Eroberung sich
durch jede maurerische Initiation fortsetzt. Weit davon entfernt,
Schöpfer dieses Lichtes zu sein, ist unser Denkorgan nur eine
Art Glühlampe, die aufleuchtet, sobald der notwendige elek­
trische Strom sie durchfließt. Man kann es auch mit einem Re­
sonanzboden vergleichen, der unter der Einwirkung besonderer
Wellen ins Schwingen gerät.

Das Denken lässt sich keinesfalls einschränken auf das bloße


Produkt gewisser Nervenzellen, deren Funktion nicht darin be­
steht, dieses Denken zu erzeugen, sondern es uns lediglich zu
enthüllen, es nachvollziehbar zu machen. Wie überall, so schaffi
auch hier die Funktion das Organ. Unsere Gehirnlappen haben
sich unter dem Einfluss einer priiexistenten Dynamik des Den­
kens entwickelt, das darauf angelegt war, sich in uns zu manifes­
tieren. Mit anderen Worten: Unsere Entwicklung, die der Welt
und aller Wesen, ist eingepasst in jenes Programm der Schritt
für Schritt sich aufbauenden Großen Initiation, dessen ewiger
Initiator in der platonischen Lehre den Namen Logos angenom­
men hat. Dieses griechische Verb, das Sprache, Vernunft, Wort
bedeutet, bezieht sich in Wahrheit auf das angeborene, allem vo­
raus liegende Licht des Geistes. Vergessen wir in diesem Zusam­
menhang nicht, dass der Maurereid einstens auf das Johannes­
evangelium abgelegt wurde, das mit folgenden Worten beginnt:

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort
war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort gewor­
den, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 55


In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es
nicht erfasst."

Dieser Text ist geeignet, die Initiierten zum Nachdenken an­


zuregen. Er vergöttlicht die Erkenntnis, die sich allen Wesen
zunächst in Form des Instinkts, dann in zunehmend vollkom­
menerer Bewusstheit und Einsichtsfähigkeit mitteilt und dadurch
schrittweise das Chaos auflöst. Das universelle Leben besteht in
einer ungeheuren Aufbauarbeit, die nicht blindlings abgeleistet
werden kann. Von einer immer weiter schreitenden Organisati­
on, also von Planung kann man nur sprechen, weil Erkenntnis
eintritt. Aber nicht alle Bauleute sind gleichermaßen aufgeklärt.
Es gibt solche, die Gesetzen brav gehorchen, die sie nicht verste­
hen, während andere zu einem mehr oder weniger hohen Grad
von Initiation vorgedrungen sind, soweit sie eben gelernt haben,
den Plan des Großen Werks zu durchschauen. In diesem Zusam­
menhang ist es für den Lehrling ausreichend, fest entschlossen
zu sein, sich in einer Kunst auszubilden, von der er zunächst nur
eine vage theoretische Vorstellung hat. Der Geselle übt sich in
der Praxis, aber noch zögerlich, und es bleibt oft bei tastenden
Versuchen, die nicht immer glücklich verlaufen. Um der Un­
sicherheit der Empirie zu entkommen, muss er sich selbst zur
Meisterschaft erheben, soweit er nicht von der Führung durch
einen in vollem Umfang erleuchteten Meister profitieren kann.

Bleibt noch, dem Geheimnis der Erleuchtung nachzugehen.


Wenn manche Menschen sich hellsichtiger zeigen als andere
und dadurch ihresgleichen nützliche Belehrung und Führung
angedeihen lassen können - wo nehmen sie selbst jenes höhere
Begreifen und die überraschende geistige Klarheit her, die sie an
den Tag legen? Niemand bezweifelt, dass ernsthafte intensive
Studien, lange Erfahrung und tiefgehende Meditationen allein
sie für diese Aufgabe nicht vorbereiten können. Bei einer Ge­
samtwürdigung beruht ihre Überlegenheit auf der vollkommenen
Ausbildung ihrer gedanklichen Fähigkeiten. Sie haben sich zu­
gänglicher gemacht für die Schwingungen des initiatischen
Lichts, und daraus folgt ihre Initiation in die dem gewöhnlichen
Verstand noch unenthüllten Geheimnisse.

56 Der Meister
Muss man nun das Licht, das den Eingeweihten mehr und mehr
erfüllt, auf den Logos Platons, auf seinen Großen Baumeister
oder Demiurgen zurückführen? Mit größerer Bescheidenheit
können wir uns mit demjenigen begnügen, den die Maurer Meis­
ter Hiram nennen. Aber wie sollen wir uns dieses geheimnis­
volle Wesen vorstellen? Weit davon entfernt, reale Person zu
sein, handelt es sich vielmehr um eine Personenverkörperung.
Aber wovon? Ganz einfach des initiatischen Denkens, jener
Gesamtheit von Ideen, die auch dann noch weiterleben, wenn
kein menschliches Gehirn mehr fähig ist, unter ihrem Einfluss
zu schwingen. Was wertvoll ist, stirbt nicht, sondern besteht fort
wie in einem Wartestand bis zu dem Tag, an dem sich erneut
Möglichkeiten ergeben, manifest zu werden. Dann steht Hiram
in der Person jedes neuen Meisters auf.

Das Wirken der Meister

Die großherzigen Bestrebungen, die feingesponnenen Träume


von Männern, die an der Unvollkommenheit der menschlichen
Lebensbedingungen gelitten haben, schaffen im psychischen
Lebensraum des Planeten eine dauernde Spannung, deren Ein­
fluss alle denkenden Menschen spüren. Über unseren Köpfen,
im Blau der Idealität schwebt wie eine leuchtende Wolke das
geistige und moralische Erbe des Menschengeschlechts. Jeder
Gedanke, der sich über die Enge egoistischer Zielsetzung er­
hebt, strebt danach, sich mit dieser Quelle der Erleuchtung zu
verbinden. Genau genommen ist deshalb kein großer Gedanke
mein persönliches Eigentum. Wenn wir denken, beschwören wir
somit nur Erinnerungen herauf; was wir hier heraufbeschwören,
ist nur das, was bereits präexistent ist.

Bei dieser Sachlage sind unsere Initiatoren, die Herren über un­
ser Denken, sicherlich rein spiritueller Art, aber wir täten ihnen
Unrecht, wenn wir ihnen gegenüber in einen grobschlächtigen
Mystizismus verfielen. Als der lebendige Geist des Maurertums
ist Hiram nicht ein bloßes Phantom: Er ist erleuchtende und eben
dadurch leitende Kraft. Wir verdanken ihm alles, was sich in der
Maurerei hinter dem Schleier des Anonymen verbirgt, und zwar

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 57


so sehr, dass gerade die bemerkenswertesten Werke keinem na­
mentlich bekannten Urheber zugeschrieben werden können.

Von diesen Schöpfungen ist keine beachtlicher als die Rituale


unserer drei ersten Grade, wie sie uns am Ende des 18. Jahrhun­
derts oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor Augen stehen. Es
ist fast unvorstellbar, aber sie haben wirklich keinen „Verfas­
ser", sie haben sich, wenn man so sagen darf, unter der Hand
unzähliger Kopisten selbst geschrieben, die sie immer wieder
umformulierten und sie in diesem oder jenem Punkt je nach ih­
rem Gefühl und unter Berücksichtigung des herrschenden Ge­
schmacks auch veränderten. Wie also konnte aus einer so dem
Zufall überlassenen Gemeinschaftsarbeit ein Meisterwerk ent­
stehen? Denn man darf sich nicht täuschen: Das ursprüngliche
englische Ritual hatte bei Weitem nicht den initiatischen Wert
jener unvergleichlichen Synthese, deren wahrhaft meisterliches
Ineinandergreifen die vorliegenden Bücher des Lehrlings, Ge­
sellen und Meisters verständlich machen wollen.

Sehen wir uns in diesem Zusammenhang einmal an, wie viele


,,unveränderliche" Bräuche sich unmerklich umgeformt haben.
Echte Urkunden des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen, dass man
damals, wenn auch nicht überall, so doch in Schottland, jenem
Land, auf das sich ausgerechnet die 33 Grade des sogenannten
Schottischen Ritus beziehen, nur eine einzige Einweihungszere­
monie praktizierte. Allein durch die Wirkung dieser Aufnahme
glaubte man, ,,Maurer machen" zu können, die in die Geheim­
nisse der Zunft eingeweiht waren und ihre Rechte als Werkleute
wahrnehmen konnten. Die Förmlichkeiten bestanden in der Vor­
bereitung des Aufzunehmenden, der, nachdem man ihm seine
Metalle und einen Teil seiner Kleidung abgenommen hatte, mit
verbundenen Augen in die Loge geführt wurde. Dort ging er im
Dunkeln im Kreis umher, um das Licht zu suchen, das ihm nach
einigen Fragen und Antworten erteilt wurde, woraufhin der Ne­
ophyt den Eid leistete. Dabei hatte er das nackte rechte Knie
gebeugt, das den Boden in Form eines geöffneten Metallzirkels
berührte. Gleichzeitig legte er die rechte Hand auf eine geöffnete
Bibel, während er mit der Linken die Spitze eines Zirkels an

58 Der Meister
die freigelegte Herzgegend drückte. Einmal erhoben, wurde der
neue Bruder in großen Zügen über das unterrichtet, was er wis­
sen musste. Zusammen mit den bei Öffnung und Schließung der
Arbeiten zu beachtenden Ritualen ist dies alles, was die moderne
Maurerei von der alten Maurerei beibehalten hat.

Dieses rudimentäre Zeremonial wurde nach l 717 in England


weiterentwickelt. Als Erstes erarbeitete man den Grad des
Lehrlings, dann den Gesellengrad; aber die englischen Maurer
beschränkten den Ausbau auf die Hinzufügung von Ausschmü­
ckungen, die ohne jede initiatische Bedeutung waren.

In Frankreich war es anders: Dort musste sich eine vertiefte


Umgestaltung des Rituals bereits deshalb aufdrängen, weil es
unübersetzbar war. Der englische Text wimmelt nämlich von
archaischen Wendungen, die im Original von großer Schönheit
sind, aber ins Groteske umschlagen, wenn sie wörtlich in eine
andere Sprache übertragen werden. Schon aus diesem Grund
mussten die Franzosen sich bemühen, das Ritual ihrem eige­
nen Geist anzupassen. Dies taten sie, indem sie sich von den
Vorstellungen leiten ließen, die sie sich von den Initiationsriten
der Antike gemacht hatten. Hier kommen nun die Meister ins
Spiel, denn das französische Ritual wurde mit einem Sachver­
stand ausgeführt, über den selbst die brillantesten Köpfe der Zeit
nicht verfügten. Die maurerischen Reformatoren des 18. Jahr­
hunderts schätzten die Arbeitergrade gering ein und träumten
überdies von einer ritterschaftlichen Hierarchie, die schließlich
mit immer pompöseren Würden allem übergestülpt wurde. Kein
maurerischer Autor begriff seinerzeit die grundlegende Dreiheit,
der gegenüber sich alle sogenannten höheren Grade als jämmer­
lich unbedeutend erweisen. In Wahrheit leitete jedoch der Geist
reinster Initiation in allen Einzelpunkten jene Kette unbekannter
Maurer, die den Auftrag hatten, die Rituale für die jeweils neu
entstandenen Logen zu kopieren. Jeder hielt sich für gut beraten,
wenn er den Text ein wenig retuschierte, eine kleine, als glück­
lich angesehene Variante anbrachte oder einen Zusatz einfügte,
der gute Wirkung zu machen versprach. So überwog am Ende
die Summe bedeutender Veränderungen.

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 59


Zunächst wurde die zunftmäßige Aufnahme, deren formaler Ab­
lauf weder Prüfungen im eigentlichen Sinne noch Reinigungen
enthielt, in eine Einweihungshandlung analog den griechisch­
römischen Mysterien umgewandelt. Zu diesem Zweck glaubte
man, den Aufzunehmenden durch die vier Elemente reinigen zu
müssen. Der Raum mit geschlossenen Vorhängen, in dem sich
die Vorbereitung des Bewerbers vollzog, wurde in der Folge­
zeit zu einer Grabhöhle, zur Begräbnisstätte des künftigen Ini­
tiierten, der dazu verdammt war, der profanen Welt zu sterben,
um einem höheren Leben wiedergegeben zu werden. So baute
man die klassische Erdprobe ein, die sich durch einen symbo­
lischen Abstieg in die Unterwelt ausdrückte und das Absterben
des Saatkorns aufnahm, das in frommem Gehorsam gegen die
Göttin Ceres der Ackerfurche anvertraut wurde. Die Abfassung
eines Testaments, ein Brauch, den die Angelsachsen nicht kann­
ten, war ebenso eine glückliche Neuerung wie die Inschriften in
der Dunklen Kammer sowie deren Einrichtung als solche: ein
Stück Brot, ein Krug Wasser, ein Totenschädel, Schwefel und
Salz [10].

Im Tempel vollzog der Kandidat mit verbundenen Augen drei


Reisen, in deren Verlauf er der Reihe nach durch Luft, Wasser
und Feuer gereinigt wurde, wie es die in diesem Punkt völlig
übereinstimmenden initiatischen Traditionen vorsahen. In Eleu­
sis beispielsweise lag die Vorstellung zu Grunde, dass der Keim­
ling, nachdem er sich im Erdboden entwickelt hat, in die freie
Luft vorstößt, wo das aus dem Himmel herabfallende Wasser
dann der Pflanze seine nährende Kraft mitgibt, während das
Feuer der Sonne nicht nur austrocknet, sondern zugleich das
neue Samenkorn zur Reife bringt. Der Hermetismus wiederum
unterwirft die für das Große Werk benötigte Materie zunächst
der Putrefaktion, die den Stoff tötet, der schwarz wird wie der
Kopf eines Raben, dann der Sublimation, die die Freisetzung des
flüchtigen oder luftigen Anteils bewirkt, im Anschluss daran der
Reinigung, einer Waschung, die die weiße Farbe hervortreten
lässt, und schließlich der Verkohlung, in deren Verlauf das Feuer
aktiv wird, bis die rote Farbe erreicht ist, die das sichere Zeichen
darstellt für die glückliche Beendigung der ersten Operationen.

60 Der Meister
Da der zweite Grad vor allem das Ziel hatte, den ersten Grad voll
verständlich zu machen, musste der Geselle aufgefordert wer­
den, zum Zweck seiner Ausbildung zu reisen. Die Auswahl der
Werkzeuge, deren Gebrauch er nach und nach erlernen soll, ist
sehr geschickt getroffen. Das initiatische Verständnis der Verfas­
ser unserer Rituale hat sich dabei genauso wenig verleugnet wie
bei der Entwicklung der Symbole des Flammenden Sterns und
des Buchstabens G sowie bei der Verherrlichung des Prinzips
der Arbeit.

Alle diese französischen „Erfindungen", bei denen man übrigens


den Kelch der Bitternis nicht vergessen darf, gehen im Vergleich
zu dem Wissen, das man selbst in den aufgeklärtesten älteren
Bauhütten antreffen konnte, wesentlich tiefer. Sollte es also doch
der Teufel gewesen sein, der sie diktiert hatte, oder vielleicht ein
Dämon, verwandt jenem bekannten Daimonion des Sokrates?

Die Hiram-Legende

War es den französischen Maurern vorbehalten, dem Ritual der


beiden ersten Grade einen wahrhaft initiatischen Charakter zu
verleihen, kommt wiederum England die hohe Ehre zu, die wun­
derbare Symbolik des Meistergrades entwickelt zu haben. Über
seiner Entstehung liegt nach wie vor ein undurchdringliches
Geheimnis, das auch die scharfsinnigsten und kenntnisreichsten
Historiker schier zur Verzweiflung gebracht hat [11].

Zwei Tatsachen stehen außer Streit: Keine der alten maure­


rischen Handschriften spielt irgendwie auf den tragischen Tod
des Baumeisters des salomonischen Tempels an; und es gibt kei­
nerlei Hinweis auf das Aufnahmezeremonial des dritten Grades
vor dem Jahr 1725.

Etwa um diese Zeit, und zwar allem Anschein zufolge später


als 1723, denn die Erstauflage des Konstitutionenbuchs kennt
den Meistergrad noch nicht, stellt ein Unbekannter erstmals die
dramatische Geschichte vollständig dar, die sich um den Tod

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 61


Hirams von der Hand dreier Böser Gesellen rankt. Sie waren
entschlossen, ihm in verbrecherischer Weise die Geheimnisse
der Meisterschaft zu entreißen. Wenn man bedenkt, dass diese
Dramatisierung unter dem Gesichtspunkt von Mythenforschung
und Symbolkunde ein einzigartiges Meisterwerk ist, das sei­
nesgleichen sucht, kann man über die Quelle einer derart licht­
vollen Inspiration nicht im Zweifel sein. Die Meister, und zwar
die wahren Meister, wollten der modernen Maurerei ihren Stem­
pel aufdrücken. Wen haben sie sich als Sprachrohr ausgesucht?
Vielleicht einen arglosen Historiker der Philo-Musicae etArchi­
tecturae SocietasApollini [12], den sie als unbewusstes Medium
gebrauchten!

Wie dem auch sei, erst ab 1733 lernten die Londoner Logen, in
ritueller Weise über dem Grab jenes Künstlers zu weinen, der
aus Tyros gekommen war, um in den Dienst König Salomos zu
treten. Bis dahin unbeachtet wurde dieser Metallgießer, auf den
nichts als den Architekten des Tempels hinweist, unvermittelt
zur herausragenden Gestalt der Freimaurerei. Diese unerwar­
tete Apotheose weckte den Widerstand der Bibelkenner, die mit
dem Text vor Augen gegen eine abgeschmackte Erfindung pro­
testierten, die durch die Verse 13 und folgende des 7. Kapitels
des 1. Buchs der Könige widerlegt schien, wo es heißt: ,,König
Salomo ließ Hiram aus Tyros kommen. Dieser war der Sohn ei­
ner Witwe aus dem Stamm Naftali. Sein Vater war ein Bronze­
schmied aus Tyrus. Er war mit Weisheit, Verstand und Geschick
begabt, um jede Bronzearbeit auszuführen. Er kam zum König
Salomo und führte alle Arbeiten für ihn aus."

Wie die Heilige Schrift durchgehend berichtet, beschränkte sich


Hiram auf Metallarbeiten. Er goss die beiden Säulen der Pforte
mit ihren Kapitellen, wobei er die Säule rechter Hand bei ih­
rer Errichtung mit dem Namen Jakin versah und die andere zur
linken Boas nannte. Er machte auch das erzgegossene Meer,
das von zwölf bronzenen Rindern getragen wurde. Außerdem
machte er zehn Gestelle aus Kupfer, die zehn Kupferkessel tru­
gen, von denen jedes auf vier Rädern von demselben Metall
stand, und anderes mehr.

62 Der Meister
Im 2. Buch der Chronik, 2. Kapitel, Vers 12 und 13, äußert sich
König Hiram von Tyrus in einem Brief an Salomo seinerseits wie
folgt: ,,Ich schicke dir einen fähigen, klugen Mann, Hiram-Abi
[13), den Sohn einer danitischen Frau. Sein Vater stammt aus
Tyrus. Er versteht es, Arbeiten in Gold, Silber, Bronze, Eisen,
Stein, Holz, rotem und blauem Purpur, Byssus und Karmesin
auszuführen, alle Gravierungen zu besorgen und jeden Plan zu
entwerfen, der ihm aufgetragen wird. Er wird mit deinen Künst­
lern und den Künstlern meines Herrn, deines Vaters David, zu­
sammenarbeiten."

Nichts rechtfertigt also biblisch gesehen die Legende unseres


dritten Grades, da Hiram niemals berufen wurde, den Bau des
Tempels zu leiten und das ungeheure Heer von Arbeitern zu füh­
ren, die sich in Lehrlinge, Gesellen und Meister gliederten. Im
18. Jahrhundert wurde diese biblische Gestalt aus dem Bedürfnis
nach hochfliegender Symbolik zum Architekten befördert und
hinsichtlich seiner Klugheit durchaus zum Rivalen König Salo­
mos erhoben, dessen Scharfsinn sich in glanzvoller Weise vor
allem zeigte, als es darum ging, die von der Königin von Saba
gestellten Rätsel zu lösen [14).

Historische Anmerkungen über den Meistergrad 63


Teil II
DAS RITUAL DES
MEISTERGRADES

RITUELLE EINWEIHUNG

Der Weg zurück

Wenn der Geselle der höchsten Stufe der Initiation für würdig
befunden wurde, führt man ihn an den Eingang zu einem düs­
teren Ort, in den er schrittweise, den Rücken der Dunkelheit
zugewandt, eindringen soll. Die Dunkelheit wird immer dichter
und umhüllt den kühnen Adepten, der doch so begierig ist auf
das vollkommene Licht, schließlich mit vollkommener Schwär­
ze.

Wie alles, was sich in der Maurerei vollzieht, ist auch dieses
Rückwärtsgehen ein Symbol, das vielfältige Interpretationen
zulässt. Man denkt dabei zunächst an die Sonne, die, nachdem
sie ihren Scheitelpunkt erreicht hat, den Bereich also, der den
Gesellen zugewiesen ist, allmählich in die Nacht des Westens
absteigt und dann unterirdisch zum Osten zurückkehrt. Man
muss darin auch eine Anspielung sehen auf den Verzicht, der zur
Meisterschaft führt und die Preisgabe aller Illusionen verlangt,
seien sie auch liebgewordene Frucht früher erworbener initia­
tischer Erfahrungen. Um Meister zu werden, muss man schließ­
lich unbedingt das in den ersten beiden Graden vermittelte Wis­
sen durch und durch beherrschen, woraus sich die Verpflichtung
ergibt, die gesamte bisher zurückgelegte Wegstrecke nochmals
zu durchlaufen.

64 Der Meister
Es geht für den Gesellen also darum, durch die als Pforte zu
verstehenden Säulen J. ·. und B. ·. auf dem eigenen Weg zurück­
zugehen, wobei Ausgangspunkt dieses Weges der Flammende
Stern ist, der hier mit der in den Kathedralen vorzufindenden
Rosette zu vergleichen ist, die erst mit Einbruch der Dunkelheit
oberhalb des Portals aufleuchtet. Allein dieser Stern des Verste­
hens erhellt den Rückweg des Gesellen, wie er sich auf der Bahn
der fünften Reise vollzieht, die der Kontemplation gewidmet ist.
Aber dieses Mal geht es nicht darum, äußere Eindrücke zu sam­
meln. In sich selbst zurückkehrend, meditiert der Eingeweihte
über den Wert seiner eigenen Begriffe und Vorstellungen. Er
macht sich den Abgrund bewusst, der die Wirklichkeit von den
Bildern des Geistes trennt, mit deren Hilfe wir versuchen, sie
uns verständlich zu machen. Verglichen mit der in ihnen verbor­
genen Wahrheit sind unsere Ideen nur grobschlächtige Idole; sie
betrügen uns ebenso wie Worte, sobald wir uns mit dem vorder­
gründigen Ausdruck zufrieden geben, statt zu erkennen, was da­
mit eigentlich ausgesagt werden sollte. In jedem Lebensbereich
ist alles Symbol. Lassen wir uns also nicht täuschen durch das
Symbolisierende, sondern dringen wir vor zum Symbolisierten.

Über die Unmöglichkeit, die Wahrheit ganz zu besitzen, die sich


ja doch in keine Form pressen lässt, ist der Geselle voll unter­
richtet, aber dennoch braucht er für sein Handeln Gewissheit.
Deshalb stößt er bei seinem Weg zurück wiederum auf die Werk­
zeuge der vierten Reise, Winkelmaß und Lineal. Wie groß auch
unter verstandesmäßigem Gesichtspunkt seine Unsicherheit sein
mag - der Eingeweihte zögert niemals, wenn es um die Frage
geht, wie er sich entscheiden soll. Sein Verhalten ist unfehlbar
bestimmt von den Erfordernissen des Bauens, das nach recht­
winklig behauenen Steinen verlangt. Wer im einzelmenschlichen
und gesellschaftlichen Bereich bauen will, weiß also immer, wie
er sich in Bezug auf andere zu benehmen hat, denn er legt bei al­
len Dingen das Maß von Gleichbehandlung und Rechtlichkeit an
(Winkelmaß). Andererseits ist er hinsichtlich seiner Zielrichtung
unverrückbar festgelegt, denn er wird geleitet von dem tiefen
und beständigen Bestreben, das Gute zu tun (Lineal).

Das Ritual des Meistergrades 65


Dass der künftige Meister in seiner persönlichen Pflichtauffas­
sung beispielhaft ist, genügt jedoch nicht. Wer am Kubischen
Stein arbeitet, wirkt zweifellos auf seine Umgebung ein, die
er dazu führt, ihrerseits eine bestimmte Gestalt anzunehmen.
Manchmal muss er dabei auch kraftvoll zupacken, um die
schwerfälligen Massen zu bewegen und sie zumindest aus ihrer
Unbeweglichkeit zu lösen. Dazu braucht er den Hebebalken, der
ihm in die Hand gegeben wird, sobald der Rückweg ihn wieder
auf die Spuren seiner dritten Gesellenreise führt.

Da der Kraft des Willens (Krampe), die in rechtlich absolut ein­


wandfreier Weise eingesetzt wird (Lineal), nichts widerstehen
kann, kommt es entscheidend darauf an, jede Verwechselung
von Abstraktem und Konkretem zu vermeiden. Deshalb muss
auch die zweite Reise wiederholt werden, die unter den Leitvor­
stellungen von Lineal und Zirkel, von gerader Linie und Kreis
steht. Eine nach allen Regeln der Logik aufgebaute Theorie
muss unfruchtbar bleiben, wenn sie nicht die Gegebenheiten des
Zufalls und der Relativität einbezieht. Der Zirkel ist insoweit das
eigentliche Werkzeug des Meisters, denn letztlich kann nur der
Sinn für die Realität zur Meisterschaft führen.

Indem er den Hammer führt, der auf den Meißel schlägt, lernt der
künftige Meister, selbst zu führen. Er zögert also nicht, seine er­
ste Gesellenreise nochmals durchzuführen, weil er sehr gut weiß,
dass er nie aufhören darf, an seiner eigenen Vervollkommnung
zu arbeiten. Wie könnte er im Übrigen einem anderen befehlen,
wenn er es nicht geschafft hat, sich selbst zu beherrschen? Jede
Meisterschaft beginnt bei sich selbst: Sein eigener Meister zu
sein öffnet den Weg zu jeder Herrschaft [15].

Niemals endende Lehrzeit

Auf seinem Rückweg durch die fünf Reisen verliert der Geselle,
der die Meisterschaft anstrebt, niemals den Flammenden Stern
aus den Augen, einen Himmelskörper, dessen Strahlen statt zu
verbleichen immer heller werden, je tiefer der Initiierte in die

66 Der Meister
zunehmend stärker werdende Dunkelheit vordringt. Aber plötz­
lich erlischt das ermutigende Leuchten; erneut scheint sich die
Binde des Lehrlings über die Augen des künftigen Meisters zu
legen. Zugleich berührt eine Schale seine Lippen, und er leert in
langen Zügen den Kelch der Bitternis, fest entschlossen, alles zu
erdulden, um seine Aufgabe getreulich erfüllen zu können. So
gestärkt und im sicheren Bewusstsein der Aufrichtigkeit seiner
Opferbereitschaft schreckt der Bewerber nicht zurück, wenn er
sich plötzlich von Flammen umgeben sieht. Er erkennt darin die
Glut seiner ersten Initiation wieder und lässt sich von einer Hit­
ze durchdringen, die ihm Gewähr dafür ist, dass auch er an der
Kraft des im Kern wirkenden, alles belebenden Feuers teilhaben
darf.

Wenn er danach den tosenden Fluten des Styx gegenübersteht,


taucht er ohne Furcht vor der Gewalt einer Strömung, der die
Schwachen nicht standhalten können, in jenes Wasser, das un­
besiegbar macht, um schwimmend das jenseitige Ufer zu errei­
chen. Kaum hat er wieder Boden unter den Füßen, sieht er sich
verstrickt in die unauflösliche Gemengelage von Wesen, die
wild entschlossen sind, einander zu zerstören. Er geht daran vo­
rüber, ohne sich um diesen Kampf um das Dasein zu kümmern,
auf dem die reale Existenz beruht, denn der Meister steht über
jedem persönlichen Ehrgeiz und denkt ausschließlich daran, sei­
ne Pflicht als Mitarbeiter an dem Großen Werk voll und ganz zu
erfüllen.

Im Übrigen tritt nun Ruhe ein. Der Weg steigt an, und kein Lärm
dringt mehr hinauf zu den heiteren Höhen, denen der Einge­
weihte zustrebt. Jetzt steht er in der Einsamkeit der Gipfel, von
wo aus der menschliche Geist das Ganze der Menschendinge
zu überschauen meint. Kein Schwindel erfasst den Denker, der
sich keinerlei Illusionen hingibt über eilig erarbeitete Synthesen,
wie sie von ungeduldigen Planem hastig zusammengeschustert
werden: Er kennt Babel und dessen Turmbau der Verwirrung.
Ohne innere Bewegung setzt er sich dem stürmischen Wind aus,
der ihn umweht. Von der Luft getragen, landet er sicher wieder
in der Ebene, in der sich die Menschen abmühen.

Das Ritual des Meistergrades 67


Dies ist jedoch nicht der Endpunkt, denn vor dem nach umfas­
sender Vertiefung begierigen Denken öffnet sich nun die Erde.
Der Meisterschaftskandidat stürzt sich gewissermaßen in einen
klaffenden Abgrund, um auf den Grund der Dinge zu gelangen.
Anders als bei allem, was er bisher zu leisten hatte, will er ins
Innere vordringen, um seine Entscheidungen künftig von innen
nach außen zu treffen.

Wo aber stürzt er nun zu Boden, der Geselle, der seine zweifache


Initiation in allen Einzelheiten nochmals durchlaufen hat? Was
ist das für eine Dunkle Kammer, in der sein Rückweg endet?
Von welcher Art sind die phosphoreszierenden Gebeine, die er
wahrnimmt, die schimmernden Tränen, die die Seitenwände des
gewaltigen Grabmals bedecken, in dem sich seltsame Tote ver­
eint zu haben scheinen?

Die Mittlere Kammer

In der Antike bereiteten sogenannte Kleine Mysterien auf die


große Einweihung vor, die allein denen vorbehalten war, die sich
zur geistigen Elite zählten. Auch die Maurerei initiiert zweimal,
denn auf die Lehrlingszeit folgt der Stand des Gesellen; in den
zwei Graden wird der gesamte Inhalt der Vorbereitung vermit­
telt, die ihren Abschluss findet in der durch die Meisterschaft
verkörperten endgültigen Initiation. Man kann sie nicht in einem
Anlauf übertragen, denn sie schließt sich logisch an die erreich­
ten Fortschritte an. Man muss die beiden ersten Grade durch und
durch beherrschen, wenn man den dritten Grad anstreben will;
und daraus erwächst die Notwendigkeit, den Weg zum ursprüng­
lichen Ausgangspunkt nochmals zu durchlaufen, um sich von
dort aus in eine neue Richtung wenden zu können.

Der Weg zurück endet für den Meisterschaftsaspiranten dennoch


nicht in der engen Höhle seines ersten initiatischen Todes. Dieses
Mal ist er sehr viel tiefer in das Herz der Erde vorgestoßen; er
ist zu jenem dunklen Mittelpunkt gekommen, in dem der Gedan­
ke des schöpferischen Wandels entsteht, der in der Lage ist, die

68 Der Meister
tote Wahrheit wiederzubeleben und die von Verderbtheit betrof­
fenen Institutionen zu erneuern. Diese Höhle, in der die ewige
Verschwörung zum Wiederaufbau beraten wird, dieses Antrum
des Mithras, in dem das Licht, das schon verschwunden war,
wiedergeboren wird, um desto heller zu erstrahlen, dieses Grab
für alles Vergangene, in dem Zukunft geschieht, dieser innere,
verborgene Ort, der nur jenen Eingeweihten zugänglich ist, die
der tiefsten Enthüllungen würdig sind, dieses nur den Meistern
bekannte Heiligtum ist die Mittlere Kammer.

Der Geselle muss sein ernstes Streben gründlich genug nachwei­


sen, bevor er sie betreten darf. Seine Meister müssen ihn einen
pünktlichen, fleißigen, gescheiten Arbeiter nennen können. Auf
seiner Suche nach der Meisterschaft hat er sich weder von Ei­
telkeit noch von billigem Ehrgeiz verlocken lassen, denn er will
sich in der Großen Kunst nur deshalb vervollkommnen, um noch
nützlichere Arbeit zu leisten, noch größere Dienste zu erbrin­
gen, um schließlich auch seine weniger gelehrten Brr. ·. aus dem
Wissen und den Fähigkeiten Nutzen ziehen zu lassen, die er zu
erreichen wünscht.

Der Bewerber wird von einer Stimme, die aus weit entfernten
Tiefen zu kommen scheint, ernsthaft befragt. Wenn er die Fragen
in aller Aufrichtigkeit beantwortet hat, wird er aufgefordert, sich
umzudrehen und seine Worte durch die Zeichen und Schritte zu
bekräftigen, die er in seinen bisherigen Graden erlernt hat.

Es herrscht nahezu vollkommene Dunkelheit; nur ein leuchten­


der Totenkopf lässt einen vor dem zu Erhebenden aufgeschla­
genen Sarg erkennen. Allenfalls meint er noch schattenhafte
Gestalten ausmachen zu können, die in unaussprechliche Trauer
versunken sind.

Sodann erfährt er, dass das Werk der Maurerei nach der Ermor­
dung des Meisters, der an ihrer Spitze stand, in höchste Gefahr
gebracht wurde. Ihres klarsichtigen Führers beraubt, verlieren
die Arbeiter jedes Vertrauen in sich selbst, wagen sich nicht
mehr an die Fortsetzung ihrer Arbeit und überlassen sich ihrer

Das Ritual des Meistergrades 69


Mutlosigkeit. Die Werkzeuge entfallen ihren Händen, sie sind
untröstlich und klagen laut, unfähig, ein Bauwerk zu beenden,
dessen Plan sie, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft verstanden
hatten. Die allgemeine Harmonie des Ganzen entzieht sich ihnen
ebenso wie die einzelnen Bauabschnitte, die durchlaufen werden
müssen, um zu jener Harmonie zu gelangen.

Was aber letzten Endes zur völligen Paralysierung all ihrer Kräfte
führt, ist die Gewissheit, dass die Verbrecher unter den Gesellen
zu suchen sind. Die Arbeiter empfinden insgesamt Betroffenheit
angesichts der ungeheuerlichen Tat, die ihre Brr. ·. begangen ha­
ben. Sie werfen sich vor, nichts vorausgesehen, sich nur um sich
selbst gekümmert zu haben, ohne auf das Verhalten der anderen
zu achten und die Gefühle ernstzunehmen, die sich im Herzen
Einzelner mehr und mehr anstauten.

Das Unglück ist also geschehen: Hiram ist nicht mehr da, um
jedem der Bauleute seine Aufgabe zuzuweisen. Die Arbeit ist
unterbrochen, und die Arbeiter sind sich bewusst, dass sie erst
in ihren eigenen Reihen Ordnung schaffen müssen, bevor sie sie
wieder aufnehmen können. Jeder einzelne Geselle muss darüber
hinaus beweisen, dass er unschuldig ist am Tode Hirams.

Sind seine Handschuhe weiß geblieben? Ist sein Schurz makel­


los rein? Lautet die Antwort ja, so ist der Bewerber über jeden
Verdacht erhaben. Diese allzu sehr im Symbolischen angesie­
delte Beweisführung verlangt indessen einen neuen Denkan­
satz, sobald die Mörder bekannt sind. Denn niemand wird sich
schmeicheln dürfen, in keiner nur denkbaren Weise am Tode
des Meisters mitschuldig gewesen zu sein. Nach Abschluss der
Untersuchung muss deshalb jeder nochmals eine eigene Gewis­
senserforschung vornehmen, ob er durch Unwissenheit, Fanatis­
mus oder Ehrgeiz nicht auch an dem Verbrechen beteiligt war.

70 Der Meister
Die maurerische Legende

Salomo war auf Grund seiner außerordentlichen Weisheit in der


Lage, die Idee des Tempelbaus zu entwickeln, seine Gesamtpla­
nung anzuordnen, den Bauplatz auszuwählen, die Werkleute zu­
sammenzuholen, die erforderlichen Materialien herbeischaffen
zu lassen und die notwendige Versorgung sicherzustellen. Aber
trotz aller Fähigkeit beim Entwurf, bei Abschluss der fälligen
Verträge und ganz allgemein der bestmöglichen Organisation
konnte der König den Bau dennoch nicht selbst errichten oder
im Heer der Bauleute die Ordnung aufrechterhalten. Er machte
sich deshalb auf die Suche nach einem Architekten und ließ
schließlich einen Künstler von unbestrittener Begabung aus Ty­
ros kommen.

Der Meister war der Sohn einer Witwe, in der wir in mytholo­
gischer Hinsicht Isis, die Natur, sehen dürfen. Es handelte sich
also um einen Eingeweihten, der durch das Studium alles dessen,
was die Sinne bewegt, geformt worden war, aber außerdem über
die Geisteskräfte verfügte, die unerlässlich sind, um in jene Ge­
heimnisse einzudringen, die der grob vulgären Masse auf ewig
verschlossen bleiben. Aber da es ihm nicht darauf ankam, die
Menschen zu blenden, blieb der Mann aus Tyros stumm. Statt
sich in Worten auszugeben, befasste er sich lieber mit den Wer­
ken, die an seiner Statt zur Nachwelt sprechen sollten.

Salomo verfügte über die großartige Fähigkeit, in der mensch­


lichen Seele zu lesen, und erkannte deshalb den Fremden als
seines Vertrauens würdig und übertrug ihm in allem, was den
Tempelbau anging, weitreichendste Vollmachten. Der Mann,
den der König von Tyros aus Verehrung Hhuram Abi (Hiram,
mein Vater) genannt hatte, wurde also an die Spitze aller Bau­
arbeiter gestellt. Diese zögerten nicht, sich dem Stellvertreter
des Königs zu unterwerfen, denn der Meister gründete seine An­
sprüche nicht auf die ihm von außen übertragene Autorität. Da er
selbst die Kunst bis in ihre kleinsten Verästelungen beherrschte,
konnte er wertvolle Ratschläge geben und jedem behilflich sein,
seine jeweiligen Schwierigkeiten zu überwinden, Begabungen

Das Ritual des Meistergrades 71


ermutigen und dem erkennbar guten Willen beispringen. Dem­
entsprechend trat ihm niemand mit Furcht gegenüber, und alle
Arbeiter nannten ihn Hiram Abi, weil man ihn wie einen Vater
verehrte. Alle waren glücklich über seine Führung, die gleicher­
maßen geprägt war von Gerechtigkeit und Güte. Man war ihm
dankbar, dass er die Arbeit angemessen verteilte und den Lohn
an den Fähigkeiten des Einzelnen ausrichtete. Zu diesem Zweck
hatte Hiram die Arbeiter in drei verschiedene Klassen eingeteilt:
die Lehrlinge, die sich an der Säule J. ·. versammelten, um dort
Schulung, Lebensmittel und den gerechten Lohn für ihre Mühen
zu empfangen; die Gesellen, die zu demselben Zweck zur Säule
B. ·. gerufen wurden; und schließlich die Meister, die berech­
tigt waren, sich im Inneren des Tempels zu versammeln. Jede
dieser Gruppen hatte ihre besonderen „Geheimnisse", so dass
ein Arbeiter sich auf den ersten Blick als Lehrling, Geselle oder
Meister zu erkennen geben konnte. Gewisse Worte, die mit ei­
ner festgelegten Körperhaltung und Gestik gesprochen wurden,
spielten dabei eine wichtige Rolle.

Das symbolische Drama

Die von einer Führungspersönlichkeit mit derart kaum vorstell­


barer Begabung und Menschenfreundlichkeit ins Werk gesetzte
Organisation hätte durchaus auf unbestimmte Zeit in perfekter
Weise funktionieren können. Aber Vollkommenheit liegt nicht
in der Natur der Sache: Sie ist ein Idealzustand, an dem sich die
Menschen und ihre Institutionen zwar ausrichten, den sie aber
nie erreichen können. Da alles nur existiert, um zu werden, ist
das Vollkommene (oder Vollendete) von jeder objektiven Exis­
tenz ausgeschlossen [16].

Hiram jedenfalls musste in seiner Person leidvoll erfahren, bis


zu welchem Punkt sich trotz aller Bemühungen um Ausbildung
und trotz der Klugheit aller im Interesse der Allgemeinheit ge­
troffenen Maßnahmen tückische Verderbtheit in die Herzen der
Menschen einschleichen kann.

72 Der Meister
Es liegt unglücklicherweise in der Natur des Menschen, mehr
mit sich selbst als mit seinem Los zufrieden zu sein. Zahlreiche
Arbeiter hielten sich für bedeutender als die Stellung, die ihnen
zugewiesen worden war. Unter ihnen befanden sich auch einige
Gesellen, die zu der Überzeugung gelangt waren, ihnen stünde die
Meisterschaft zu, während man ihnen nach wie vor diese höchste
Beförderung, derer sie sich für würdig hielten, verweigerte. Die
gute Meinung, die sie von sich selber hatten, machte sie blind für
ihre Fehler. Opfer ihres mittelmäßigen Verstandes, machten sie
sich gefährliche Illusionen über das Maß ihrer Kenntnisse, denn
gerade derjenige, der am wenigsten weiß, ist am ehesten geneigt,
den Umfang des menschlichen Wissens mit der Enge seines ei­
genen geistigen Horizontes in eins zu setzen. Verbittert wandten
sich die Unzufriedenen mit der Zeit gegen alles, dessen Sinn und
Hintergrund sie nicht verstanden. Sie spielten sich als unfehlbare
Richter auf und verurteilten Ansichten und Arbeitsmethoden der
anderen. Wenn man ihnen zuhörte, so waren allein sie im Besitz
der Wahrheit, und alles hätte nach ihren Vorstellungen vor sich
gehen müssen. Und dann gab es noch einige traurige Gestalten,
die sich einen Lohn zubilligen wollten, von dem sie genau wuss­
ten, dass sie ihn nicht verdienten. Das waren diejenigen, die den
Entschluss fassten, die Meisterschaft mit Gewalt an sich zu rei­
ßen, indem sie andere Gesellen, deren Verärgerung sie geschickt
auszunutzen verstanden, in eine schändliche Verschwörung hi­
neinzogen.

Die Legende beschränkt bekanntlich die Zahl der verbreche­


rischen Arbeiter auf drei; aber man darf nicht vergessen, dass
jeder von ihnen einen bestimmten Geisteszustand verkörpert,
der in unserer Zeit noch genauso weit verbreitet ist wie in den
ältesten Epochen der Vergangenheit.

Die Verräter spähen also die Stunde aus, in der die Arbeit unter­
brochen ist und der Meister seinen täglichen lnspektionsgang
durchführt. Die Mittagsstunde, die der Ruhe gewidmet ist, zeigt
sich als günstig [17]. Nachdem er seinen Rundgang beendet hat­
te, begab sich Hiram, der an nichts Böses dachte, zum Östlichen
Tor, um das Gelände zu verlassen, als er plötzlich bemerkte, wie

Das Ritual des Meistergrades 73


ihm einer der Verschwörer entgegentrat. Der Meister blieb über­
rascht stehen, um den Arbeiter zu fragen, welcher Anlass ihn
denn um diese ungewohnte Stunde in den Tempel führe. ,,Seit
langem", antwortete der Geselle, ,,hält man mich auf einem
niederen Rang, obwohl ich ein Recht auf Beförderung habe -
nehmt mich also in die Reihen der Meister aufl"

,,Du weißt wohl", erwiderte Hiram mit ruhiger Freundlichkeit,


„dass ich dir diese Gunst nicht von mir aus erweisen kann. Wenn
du der Beförderung würdig bist, so stelle dich der Versammlung
der Meister vor, die dir Gerechtigkeit wird widerfahren lassen!"
,,Ich will nicht länger warten und werde euch nicht verlassen,
bevor ich nicht das Meisterwort empfangen habe."
,,Unverständiger! So darf man für sich nichts fordern. Arbeite,
und du wirst belohnt werden!"

Der Geselle aber besteht auf seinem Willen und bedroht Hiram
mit erhobenem Maßstab und schlägt ihm, als er unbeugsam
auf seiner Weigerung beharrt, damit über die Kehle, wobei der
Schlag auf die Schulter abgleitet und seinen rechten Arm lähmt.
Eilig bringt sich Hiram vor der Bedrohung in Sicherheit und ver­
sucht, das Tor im Süden zu erreichen, aber hier versperrt ihm
ein zweiter Schurke noch bedrohlicher den Weg und versucht
ebenfalls, ihm bisher geheim und heilig gehaltene Enthüllungen
herauszupressen. Außer sich angesichts der Entschlossenheit des
Meisters, versetzt der enttäuschte Geselle ihm einen heftigen
Schlag mit dem Winkelmaß die Herzgegend. Der Verletzte tau­
melt und hält sich für verloren. Dennoch raffi er alle seine Kräf­
te zusammen, um das Tor im Westen zu erreichen. Aber schon
nach wenigen Schritten steht er dem Verkommensten der drei
Verschwörer gegenüber. Dieser stürzt sich auf den Meister und
packt ihn am Arm, entschlossen, ihm entweder sein Geheimnis
oder sein Leben zu entreißen. Obschon geschwächt, sieht Hiram
dem Angreifer mit festem Blick ins Auge und ruft: ,,Eher sterben,
als die Pflicht vergessen!" Dies waren seine letzten Worte, denn
zitternd vor Wut versetzt ihm der Verräter mit seinem Hammer
einen fürchterlichen Schlag mitten auf die Stirn und streckt ihn
so zu Boden. Nach dem Geschehen treffen die Komplizen zu-

74 Der Meister
sammen und müssen voller Verzweiflung erkennen, wie sinnlos
ihr schreckliches Tun gewesen ist, von dem es jetzt nur noch
alle Spuren zu beseitigen gilt. Sie warten die Nacht ab, die es
ihnen erlaubt, den Leichnam Hirams weit weg zu bringen. Zu­
nächst legen sie ihn unter einem Haufen Bauschutt ab, der an der
Nordseite des Tempels aufgetürmt ist; um Mitternacht bringen
sie dann ihre fürchterliche Last aufs flache Land hinaus.

Die Prüfung des künftigen Meisters

Jeder, der sich um die Meisterschaft bewirbt, kennt das Verbre­


chen der bösen Gesellen genau; er sieht darin das Ergebnis einer
Verschwörung, in die auch er ohne sein Zutun hätte verwickelt
werden können. Deshalb klagen die treuen Meister vor dem
Leichnam Hirams, der die Geheimnisse der Kunst besaß.

Ist sich der Antragsteller sicher, dass er sich niemals mit ober­
flächlichen Köpfen zusammengetan hat, die immer schnell bei
der Hand sind, wenn es zu verdammen gilt, was sie nicht ver­
stehen, und zu unterdrücken, was nicht in den Rahmen ihrer
kurzsichtigen Logik hineinpasst? Hat er genug Respekt gezeigt
gegenüber der in Hiram verkörperten Überlieferung, um sich
nicht einer gedankenlosen Kritik anzuschließen, die sich gegen
angeblich lächerliche oder zumindest aus der Mode gekommene
Bräuche richtet? Hat er in durchaus keiner Weise Teil gehabt an
jener Denkungsart, die den schweren Maßstab des ersten Mör­
ders auf den Meister niederfallen ließ? Oder muss sich der Ge­
selle nicht doch vorwerfen, sich intolerant gezeigt zu haben und
denen mit Hass begegnet zu sein, die ihm widersprachen, wobei
er zugleich ihre guten Absichten in Zweifel zog? Hat er gebilligt,
dass man anders denken und handeln kann als er? Hätte er den
engen Gefühlshorizont jenes Elenden geteilt, der auf das Herz
Hirams zielte und ihn mit einem eisernen Winkelmaß nieder­
schlug?
Und schließlich: Wie weit treibt der Bewerber das Vergessen
seiner selbst? Will er nicht Meister sein, um anderen noch mehr
zu dienen? Ist er bereit, von seiner eigenen Person abzusehen,

Das Ritual des Meistergrades 75


oder unterliegt er anflugsweise der Verführung der Eitelkeit? Ist
er getrieben von dem Stolz, befehlen oder in einer herausgeho­
benen Position glänzen zu dürfen? Hat er nie die Hand ausge­
streckt nach jenem tödlichen Hammer, der den Mord an Hiram
vollendete?

Wenn er sich reinen Herzens weiß, muss der künftige Meister


ohne zu zittern über den zu seinen Füßen hingestreckten Leich­
nam schreiten. Ausgehend vom Schädel, den er ausspart, quert
er die Brustpartie, indem er den rechten Fuß gegen den rechten
Arm des Toten stellt. Danach vollzieht der linke Fuß die gleiche
Bewegung, hält jedoch nicht inne, sondern wird in einem bogen­
förmigen Schritt über den Unterkörper geführt und neben dem
linken Fuß des Leichnams niedergesetzt. Sodann wird der rechte
Fuß dem linken beigesellt, aber erst niedergesetzt vor dem rech­
ten Fuß des Toten, wohin sogleich der linke Fuß nachfolgt, so
dass beide Füße ein geöflhetes Winkelmaß bilden. Sobald dieser
Schritt vollzogen ist, lässt der Geselle seinen linken Arm fallen,
den er im rechten Winkel zum Himmel erhoben hatte. Gleich­
zeitig führt er die rechte Hand von der Herzgegend zum rech­
ten Unterbauch und zeigt mit dieser Geste seine Bereitschaft,
sich eher die Eingeweide herausreißen zu lassen, als seinen Ver­
pflichtungen als Meister nicht nachzukommen.

Nun, da der Leichnam hinter ihm liegt, ist er der Erhebung zur
Meisterschaft würdig. Er hat die Nichtigkeit der dem Verfall
und dem Vergehen preisgegebenen Dinge ausgemessen, um sich
davon zu befreien, ohne sie allerdings zu missachten, denn der
Meister ist kein Asket, der die Materie flieht unter dem Vorwand,
sich im Geistigen in Sicherheit zu bringen. Indem er in Ordnung
tritt, bekundet er zweifelsfrei, dass er allem Niedrigen abgesagt
hat. Kein schlecht unterdrückter gewalttätiger Instinkt, kein
Restbestand ferner Atavismen, der in seinem Inneren unzusam­
menhängend Laut gibt, kann ihn mehr beeinflussen. Er ist nur
dann Meister, wenn er alles beherrscht, was ihn zu verknechten
droht. Schon als Lehrling hat er gelernt, seine Leidenschaften
im Zaum zu halten, um in strenger Unparteilichkeit urteilen zu
können. Als Geselle hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den

76 Der Meister
brüllenden Löwen zu zähmen, den er in seinem Inneren trägt, in­
dem er so gut wie möglich den chaldäischen Helden Gilgamesch
nachahmte, der sich - insoweit besser beraten als Herkules -
wohlweislich davor hütete, jenes Tier zu töten, das doch als
Symbol für die Kraft steht, die ein Eingeweihter seinem Wil­
len unterwerfen können muss. Um die Meisterschaft zu erobern,
muss man zur vollkommenen Beherrschung seiner selbst gelan­
gen, und zwar so weit, dass man sich sogar davor zurückhalten
kann, völlig legitimen Strebungen nachzugeben, wenn es darum
geht, dem höchsten Ideal des Gemeinwohls und des allgemeinen
Fortschritts alle persönlichen Bedürfnisse aufzuopfern.

Aber keiner kann sich erheben, der nicht bereit ist, sich zu er­
niedrigen. Ebenso wie es nur der freiwillige Tod dem Profanen
ermöglicht, zum höheren Leben der Initiation wiedergeboren zu
werden, muss man auch ein zweites Mal sterben, um die Vor­
rechte der unsterblichen Meister zu erringen. Nachdem er sich
seinen Prüfungen unterzogen hat, wird der neue Meister mit Hi­
ram dadurch gleichgesetzt, dass er unter denselben Bedingungen
wie der Baumeister des Tempels der Reihe nach von Maßstab,
Winkelmaß und Hammer getroffen wird. Wie jener wird er zu
Boden geworfen und tritt an die Stelle dessen Leichnams, wobei
sich sein Schicksal von nun an in jeder Hinsicht mit dem des
verstorbenen Meisters verbindet [18].

Die Auferstehung

Hiram hatte stets das Beispiel strengster Pünktlichkeit in der


Erfüllung seiner Aufgaben gegeben. Sobald daher die Arbeiter
bemerkten, dass er nicht zur gewohnten Stunde bei ihnen er­
schien, wurden sie unruhig und fragten sich, was ihm zugesto­
ßen sein mochte. Sie erinnerten sich an gewisse Bemerkungen,
denen keiner von ihnen Bedeutung beigemessen hatte, die sich
aber nun zu einer tragischen Wolke des Verdachts über der Grup­
pe der Gesellen verdichteten. Dies fand ein Echo auch bei den
Meistem, und sie beschlossen, eine Zusammenkunft abzuhalten.
Keiner von ihnen wagte auch nur daran zu denken, die Nachfol-

Das Ritual des Meistergrades 77


ge des lyrischen Künstlers anzutreten, aber immerhin musste ei­
ner seiner erfahrensten Vertrauten den Vorsitz der Versammlung
übernehmen.

Diese befasste sich nur damit, wie man Hiram tot oder leben­
dig wiederfinden könne, und benannte dazu neun Meister, die
jeweils in Dreiergruppen nach Süden, Westen und Osten auszie­
hen und sich am neunten Tag der Suche an einem bestimmten
Ort im Norden wieder treffen sollten.

Als die Sucher entkräftet am Treffpunkt eintrafen, zeigten ihre


entmutigten Mienen nur allzu deutlich die Erfolglosigkeit ihrer
Bemühungen. Einer jedoch erstattete einen Bericht, der ihren
Hoffnungen neuen Auftrieb gab. Buchstäblich von Müdigkeit zu
Boden gestreckt, hatte dieser Meister an einem Akazienzweig
Halt suchen wollen. Zu seiner großen Überraschung sei ihm je­
doch der Zweig in den Händen geblieben, weil er lose in frisch
umgegrabene Erde gesteckt worden war. Nach dieser Mitteilung
war all ihre Erschöpfung verschwunden, sie machten sich auf
und folgten dem Führer in jenes trostlose Gelände, aus dem sich
ein Hügel erhob, der von dem Zweig der Hoffimng gekrönt war.
Kein Zweifel, dies ist der Ort, an dem die Überreste des Meisters
ruhen, denn neben dem grünen Zweig, dem aus dem Grabhü­
gel sprießenden Symbol der Hoffimng, liegen ein Zirkel und ein
Winkelmaß. Mit Hilfe ihrer Kellen heben die Meister die Erde
aus und entdecken in geringer Tiefe den Körper Hirams, dessen
Gesicht unter dem Schurz verborgen ist, der das Zeichen seiner
Würde darstellt. Mit entschlossener Geste wird dieser Schleier
fortgerissen. Die erhabenen Züge des Toten werden sichtbar, un­
verändert, so, als wenn das Leben sie noch durchströmte. Unaus­
sprechlicher Schrecken lässt die Meister in einer Stellung ver­
harren, in der sie von nun an bis in alle Zukunft zum Ausdruck
bringen werden, dass sie den leblosen Körper aufgefunden und
in Besitz genommen haben, wie es der maurerischen Tradition
entspricht.

Eine Tradition jedoch, die nicht mehr verstanden wird, stirbt


auch in den Köpfen der Menschen. Für eine gewisse Übergangs-

78 Der Meister
zeit kann man sie vielleicht noch erhalten, indem man sich skla­
visch an ihre Formen hält. Aber wie jeder Leichnam den Weg
der Verwesung geht, so fällt schließlich auch alles ins Grab, dem
der logische Zusammenhang fehlt. Es handelt sich dabei um ei­
nen natürlichen Auflösungsprozess, wie er sich abgespielt hat
mit den verstreuten Überresten des Osiris, die die untröstliche
Isis mühselig zu suchen unternahm, indem sie den ganzen Erd­
kreis durchstreifte. Die Reisen der Witwe entsprechen durchaus
den Wanderungen der Meister, die sich bemühen, die Leiche
Hirams wiederzufinden, das heißt die materiellen, zu dunkler
Asche gewordenen Spuren dessen, was einst lichtvolle Synthese
gewesen war. Diese reduzierten Formen, aus denen der Geist
entwichen ist, diese toten und infolge der Trockenheit noch ver­
bliebenen Knochen sind dann schließlich das, was abgelebt als
Aberglaube im etymologischen Sinne des Wortes übrigbleibt.
Und es ist auch durchaus angebracht, das, was ohne logische
Berechtigung fortbesteht, dem Aberglauben zuzurechnen, wie
etwa Rituale, die aus bloßer Gewohnheit oder Ehrerbietung vor
der Vergangenheit weitergeführt werden, obwohl niemand mehr
weiß, wofür sie stehen. Hiram ist der Geist, der die maurerische
Tradition beseelt: Er lebt in uns wieder auf, sobald wir das ganze
Geheimnis der Maurerei begriffen und uns genaueste Rechen­
schaft abgelegt haben über die Daseinsberechtigung ihrer sym­
bolischen Bräuche.

Wenn der zu Tage gebrachte Leichnam Hirams in unzerstörter


Gänze erscheint, als wenn er im nächsten Augenblick wieder ins
Leben treten wollte, dann beruht dies darauf, dass es den ge­
treuen Meistem gelungen ist, die Überlieferung in ihrem vollem
Umfang wiederherzustellen. Es bleibt ihnen nur noch, den Toten
unter Anwendung des üblichen Rituals zum Leben wiederzuer­
wecken. Der mit der Betreuung der Lehrlinge beauftragte Aufse­
her geht voran und setzt den Inhalt des Wortes Ja-kin in die Tat
um, indem er den Zeigefinger der rechten Hand des Leichnams
erfasst. Damit appelliert er an die innere Energie, an das schöp­
ferische Feuer, das die Wesen aus eigenem Antrieb handeln lässt.
Aber nichts rührt sich, und der Aufseher lässt von seinem Vor­
haben ab und sagt mit einem Aufstöhnen: ,,Das Fleisch löst sich

Das Ritual des Meistergrades 79


vom Bein!" Sein Amtsgenosse, der die Gesellen unterrichtet,
hofft, es besser machen zu können, indem er den Mittelfinger
anrührt und dabei das Wort Bo-as ausspricht. Aber er hat auch
nicht mehr Glück, denn die äußere Kraft, die in den Einzelnen
einfließt, um seine Lebenskraft in Gang zu bringen, bleibt wir­
kungslos, wenn sie unter der Asche einer endgültig erloschenen
Feuerstelle nicht einmal mehr den kleinsten Funken vorfindet.
Also muss auch dieser Eingeweihte an seinen Möglichkeiten
verzweifeln, gibt sein Vorhaben auf und stöhnt: ,,Die Haut löst
sich vom Fleisch!" Jetzt greift der Vormann ein. ,,Als einzelne",
sagt er, ,,sind wir machtlos. Vereinigen wir uns also kraftvoll,
wenn wir Wunder vollbringen wollen. Bilden wir eine lebende
Kette um diesen Leichnam, und setzen wir die äußersten Mit­
tel der Kunst ins Werk, um ihn wiederzubeleben!" Nachdem die
Kette ritualgemäß gebildet wurde, treten alle zurück. Der An­
führer, der zu Füßen des Toten steht, löst sich aus dem Kreis
und nimmt die rechte Hand des Leichnams, indem er bis zum
Handgelenk hinaufgreift. Dann zieht er ihn an sich, während
die beiden Aufseher Hiram an den Schultern aufrichten und ihn
schließlich ganz erheben, und zwar dergestalt, dass der aufer­
standene Meister dem leitenden Bruder von Angesicht zu An­
gesicht gegenübersteht, der ihn empfängt mit dem rechten Fuß
gegen den rechten Fuß, Knie gegen Knie, Brust an Brust, die
rechten Hände ineinander verschränkt und die linke Hand um
die Schulter gelegt, um den Schwankenden aufrecht zu halten,
denn noch ist die Wiederbelebung nicht vollendet. Nur das ve­
getative Leben pulst aufs Neue, aber der Geist ist noch taub. Um
ihn zu erwecken, werden demjenigen, der die Stelle von Hirams
Leichnam einnimmt, Worte des Lebens ins Ohr geflüstert. So
nennt man ihn Mac Benahh, anders gesagt: Sohn der Verwesung.
Als wenn diese Worte den letzten Schlüssel zu jeder Meister-

80 Der Meister
schaft verliehen hätten, wird nun der neue Meister geehrt, als ob
Hirarn in ihm wiedergeboren wäre. Mit einem Schlag verwan­
delt sich die düstere Mittlere Kammer in ein lichtdurchflutetes
Heiligtum. Der dicht geschlossene Vorhang, der die unsichtbar
im Osten sitzenden Meister verbarg, öffnet sich, und von nun an
verkehrt ein jeder in aller Freiheit mit ihnen.

INTERPRETATION DER LEGENDE


Von allen menschlichen Institutionen ist die Freimaurerei die
einzige, die ihren eigenen Niedergang vorausgesehen und die
entsprechende Methode zur Selbstheilung vorab entwickelt hat.
Sie macht sich keine Illusionen über die innere Gefahr, die als
Todeskeim alle Lebewesen und auf Grund der stets bestehen­
den Auflösungstendenzen alle Organisationen bedroht. Äußere
Feinde können unser Tun behindern und sogar völlig zum Still­
stand bringen, aber sie töten uns nur ausnahmsweise. Es sind
die aus inneren Problemen erwachsenen Krankheiten, die uns
am häufigsten ins Grab bringen. Jede vorbeugende Hygiene
wird also jene Auflösungselemente zu berücksichtigen haben,
die unsere Existenz unterminieren, aber dennoch ihre Funkti­
on in unserem Leben erfüllen. Wer dem Tod widerstehen will,
muss seine Agenzien kennen, um ihr düsteres Werk auf Dauer in
Schranken halten zu können.

In der Maurerei hat die Standfestigkeit des Gebäudes nichts zu


fürchten vom Regen, vom Wind oder den wütenden Stürmen,
die von außen her andrängen. Die Zunft wird vielmehr belastet,
ja nahezu umgebracht von Arbeitern, die schlecht und in böser
Gesinnung ans Werk gehen, wenn es an der Kraft fehlt, solcher
Auflösung ausreichend Widerstand entgegenzusetzen.

Eine für die Weiterentwicklung der Menschheit unverzichtbare


Institution kann indessen gar nicht verschwinden, denn sie lebt
aus einem Geist des Lebens, der sie nach dem Muster des Phö­
nix immer wieder aus ihrer Asche neu entstehen lässt. Dem ver-

Das Ritual des Meistergrades 81


brauchten oder missbrauchten Werkzeug, das dahingeht, stellt
die unzerstörbare Weltseele (das schöpferische Feuer) ständig
neue Organismen zur Verfügung, die immer besser an ihre Auf­
gaben angepasst sind.

Jedes Mal folgt der Sohn der Verwesung seinem ermordeten Va­
ter strahlender, so wie Horus, die Morgensonne, täglich den Weg
der Osiris aufnimmt, der sich von Mittag an zu neigen beginnt,
um am Abend in die Finsternis des Westens einzutauchen.

Um aber wirklich stärker und großartiger wiederaufzuerstehen,


muss die Maurerei sich rechtzeitig gegen das Übel wappnen, das
für den Verlust bestimmend war, den sie erlitten hat. Es handelt
sich dabei um eine dreifach ausgeprägte Schwäche, verkörpert
in Unwissenheit, Fanatismus und Ehrgeiz. Dies sind die drei
unwürdigen Gesellen, die den Meister Hiram, d. h. die in ihm
personifizierten maurerischen Traditionen, in der Substanz be­
drohen. Da die Verbrecher der Legende nach Arbeiter sind, die
zusammen mit uns an der Errichtung des Tempels mitgewirkt
haben, dürfen wir die gefährlichsten Feinde der Maurerei nicht
außerhalb suchen. Gewiss richten die genannten drei Laster ihre
Verwüstungen in der gesamten Menschheit an, und es ist wich­
tig, sie Schritt für Schritt von Unwissenheit, Fanatismus und
Aberglauben zu heilen. Bevor wir uns aber allzu ehrgeizig zum
Heiler anderer Menschen aufwerfen, sollten wir bescheiden sein
und vor allem anderen zunächst unsere eigene Gesundheit ins
Auge fassen.

Maurerei beginnt also bei sich selbst, indem sie sich bemüht, die
Laster der schleichenden Zerstörung in ihrem eigenen Inneren
auszumerzen. Sie wird ihre Aufgabe erst an dem Tag erfüllen
können, an dem alle ihre Mitglieder sich als kenntnisreich, tole­
rant und uneigennützig zeigen. Dann, aber auch nur dann, wird
sich ihr geistiger und sittlicher Einfluss als unwiderstehlich er­
weisen.

Entlarven wir also Hirams Mörder! Sie sind leider zahlreich,


aber oft genug wissen sie nicht, was sie tun, da sie sich in der be-

82 Der Meister
dauernswertesten maurerischen Unwissenheit bewegen. Gerade
weil sie von Maurerei nichts verstehen, kritisieren sie gnadenlos
alles, was ihr wenig ausgeprägtes Begriffsvermögen übersteigt.
Im Namen eines bornierten Rationalismus fordern sie die Ab­
schaffung von Formen und Bräuchen, deren Sinn und Zweck sie
nicht verstehen. Ihr Vandalismus nährt sich aus einer starren Lo­
gik und einem engen Dogmatismus, deren Symbol der Zollstock
ist, der Hirams Schulter trifft und seinen rechten Arm lähmt. Der
Möglichkeit beraubt, sich zeichenhaft nach außen darzustellen,
sieht sich der maurerische Geist in der Tat zur Machtlosigkeit
verdammt auf Grund der Verstümmelungen und Veränderungen,
die die überlieferte Symbolik erfahren hat. Ein irgendwie gear­
teter initiatischer Unterricht ist unmöglich, wenn es die Symbole
nicht mehr gibt, auf die er sich stützen sollte. Nach dem Ge­
schmack der Gegner des Symbolismus rationalisiert, gleicht die
Freimaurerei einer Lehranstalt, in der Schüler, die nicht lesen
können, die Abschaffung des Alphabets beschlossen haben ...

Aber die Enge des Herzens ist noch schlimmer als die des Ver­
standes. Die Maurerei lehrt die Menschen, einander trotz allem,
was sie trennt, zu lieben. Wir müssen uns über das Trennende
erheben, damit wir uns miteinander austauschen können mit
Hilfe jener wechselseitigen Toleranz, außerhalb derer es keine
Freimaurerei gibt. Was soll man von diesem Standpunkt aus von
angeblichen Maurern halten, die glauben, sie allein seien im
Besitz der maurerischen Wahrheit, und deshalb hasserfüllt auf
jeden herabsehen, der nicht so denkt wie sie? Als wenn sie sich
als unfehlbar in ihren Meinungen erklärt hätten, machen jene
Päpste ihre Auffassungen zu Dogmen und schleudern ständig
Exkommunikationen gegen die Häretiker, die die Dinge anders
sehen als sie selbst. Sie wollen die Maurerei zerbrechen und auf
den Stand einer engen Kirche zurückführen, während doch die
Loge sich vom Osten zum Westen und vom Süden zum Norden
erstreckt, um dadurch zu bekunden, wie weit unsere grundsätz­
lichjedem Sektierertum fremde Institution geprägt ist vom Geist
des Universalismus. Indem er sich in allen möglichen Verklei­
dungen unter uns ausbreitet, lässt der Geist des Sektierertums
den Mörtel unserer universalen Bruderschaft zu Staub zerfallen.

Das Ritual des Meistergrades 83


Er lockert die Steine des Bauwerks unter dem Vorwand, sie pass­
genau zusammenfügen zu wollen. Die Intoleranten, die Sektie­
rer und die Fanatiker treffen also gerade mit dem Winkelmaß
ihrer eigenen Auffassung von dem, was richtig ist, das Herz des
Meisters Hiram.

Wie alle Laster, so kommt auch der Fanatismus aus der Über­
spannung einer guten Eigenschaft, denn um handeln zu können,
muss man sich zuvor eine Überzeugung gebildet haben. Der
besonders aktive Geselle kann sich nicht mit einem frei schwe­
benden Skeptizismus aufhalten, er braucht unter allen Umstän­
den eine zumindest relative Gewissheit als Grundlage seines
Bauens. Aus guter Überlegung heraus wird er also gewisse Prin­
zipien akzeptieren und sie als Leitsterne für sein Handeln über­
nehmen. Aber da er sich selbst frei entschieden hat, wird er auch
die Freiheit der anderen respektieren, indem er sich bewusst
macht, dass die Unterschiede der Meinungen sich aus dem kom­
plexen Zustand der Dinge ergeben, wodurch nicht nur einzelne
Brr. · ., sondern mehr noch viele Profane in aller Ehrlichkeit zu
ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen können.
Wenn mangelnder Verstand und Sektierertum ihr Werk getan
haben, muss Hiram nur noch den Gnadenstoß empfangen. Zu
Boden geschlagen, haucht er unter dem Hammer der Ehrgei­
zigen sein Leben aus. Sie denken nur daran, ihren Profit aus
einer verfälschten Institution zu ziehen, die auf dem Weg ist,
sich ganz zu verlieren. Sie sprechen ihr eine unmittelbar aktuelle
Aufgabenstellung zu, die ihren Plänen zu Gute kommen könnte,
und lenken sie dadurch von ihrem hohen Ziel ab. So wird die
Freimaurerei zum Werkzeug einer machtgierigen Kamarilla
oder auch einer gegen die Interessen der Allgemeinheit gerich­
teten Verschwörung. Und das ist der Tod des Maurerturns, dem
von nun an nichts mehr liegt am weiteren Schicksal des eigenen
Leichnams.

84 Der Meister
Die Erneuerung

Menschen und Institutionen verschwinden, aber die Menschheit


besteht weiter mit ihrem Bedürfnis nach Fortschritt und Erfüllung
ihrer Bestimmung. Wenn ihr also das Organ, das ihren Marsch
nach vorne sicherstellt, plötzlich fehlt, lässt sie sich nicht davon
abhalten, es zu ersetzen, denn Stillstand widerspräche ihrer Na­
tur. Deshalb bleibt Hiram niemals für lange Zeit gestorben.

Sobald er seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, versammeln


sich seine wahren Schüler, um ihn zu beweinen. Wenn sie dann
das ganze Ausmaß des Übels begriffen haben, das sie betrauern,
suchen sie nach den Gründen und entdecken das Verbrechen der
bösen Gesellen.

Die Eingeweihten erkennen, dass alles verloren ist - für den


Augenblick. Aber sie verzagen niemals ganz, was auch immer
kommen mag. ,,Hiram ist unter der unvollkommenen Form ge­
storben, die ihm seine Zeit gegeben hat. Möge er nunmehr bes­
ser gewappnet für die ihm obliegende Aufgabe wiedergeboren
werden!"

Um ihn wieder zum Leben zu erwecken, muss man zunächst


seinen Leichnam finden, d. h. die materielle Überlieferung wie­
derherstellen. Die Symboliker machen sich an die Arbeit: Sie
untersuchen die Initiation unter all ihren Gesichtspunkten, ver­
gleichen Riten, Embleme, Mythen, Religionen und Philosophien
in der Absicht, zu erkennen, was wahrhaft initiatisch ist. Dann
lassen sie die alten Bräuche der Freimaurerei Revue passieren,
verwerfen, was überflüssig und parasitär oder aus nicht tragfä­
higen Phantasievorstellungen erwachsen ist, und entwickeln so
den zum Wiederaufbau geeigneten Gesamtkomplex. Das ist es,
was man unter dem Ausschwärmen in alle Himmelsrichtungen
versteht, das dazu dient, die sterblichen Überreste des ermor­
deten Meisters wiederzufinden. Aber der Leichnam erhebt sich
nicht von selbst: Er antwortet nicht auf den Anruf, der das in ihm
vielleicht noch vorhandene Restleben anspricht (Ja-kin), und
vergeblich versucht man, ihn mit Stromstößen wiederzuleben

Das Ritual des Meistergrades 85


(Bo-as). Das vormalige Leben kehrt nicht mehr in ihn zurück.
Man muss ihm einen neuen Atem einhauchen, der in den Dienst
des unvergänglichen Ideals der Initiation gestellt ist.

Das ist der Sinn der Kette des schöpferischen Lebens. Diejeni­
gen, die sie bilden, geben sich nicht damit zufrieden, über die
wiederbelebte tote Tradition nachzudenken. Sie stimmen ihre
Seelen aufeinander ein, bündeln ihre höchsten Strebungen und
heißesten Wünsche. So setzen sie eine aktive psychische Kraft
frei, die den Leichnam nach und nach wieder mit Leben erfüllt,
während die Lebenden ihn aufheben und sich mit ihm in den
Fünf Punkten der Gesellenschaft verbinden. Die Zusammenfüh­
rung von Fuß, Knie, Brust und rechter Hand und der gleichzei­
tige Zugriff der linken Hand stehen damit für die vollkommene
Verbindung der Werkleute, die entschlossen sind, sich auf ein
bestimmtes einheitliches Ziel hinzubewegen (Fuß), sich zu dem­
selben Kult der Arbeit zu bekennen (Knie), gleiche Gefühle mit­
einander zu teilen (Brust), ihre Anstrengungen aufs Engste zu
verknüpfen (rechte Hand) und sich gegenseitig zu unterstützen
(linke Hand).

Ist der erneuerte Leib wieder in aufrechte Position gebracht, d.h.


wieder physiologisch funktionsbereit, muss man ihm noch das
Bewusstsein seiner selbst verschaffen. Er muss sich ganz und
gar über den Sinn seines Lebens klar werden, über seine Be­
stimmung, seinen wahren Charakter und seine Handlungsmög­
lichkeiten. Diese völlige Rückführung auf das eigene Ich ist die
Folge der Einwirkung des Verlorenen Wortes, das spontan aus
der Inspiration der Umstände wiedergefunden wurde. Das ma­
gische Wort bedeutet im Übrigen für sich allein nur wenig [19),
aber es ist gut, dass der Sohn weiß, dass er aus der Verwesung
hervorgegangen ist. Bewegen wir uns nicht hier unten auf dem
Dunghaufen des Werdens, in dem sich alles ohne Unterlass auf­
löst, wo zeitbedingt kurzlebige Bildungen auseinanderfallen, um
den Stoff bereitzustellen für den lebenswichtigen, ständig erneu­
erten Neubau auf allen Gebieten? Man muss das Geheimnis des
schöpferischen Todes durchdrungen haben, um sich eine richtige
Vorstellung von Geburt und Leben machen zu können.

86 Der Meister
DIE MYTHEN

Dem zu sterben, was wichtig ist, um zu höherem Leben wieder­


geboren zu werden - das ist das Grundthema aller Initiationen.
Überall und zu allen Zeiten spielt der Tod, der zur Auferstehung
führt, die Hauptrolle in denAufuahmeriten der Priester-Zauberer.
Selbst die katholische Kirche ist dieser Tradition treugeblieben,
wenn sie die Sterbegebete über den unter einem Leichentuch
ausgestreckten Diakon sprechen lässt, bevor ihm gestattet wird,
sich zu erheben, um mit der ganzen Fülle seiner priesterlichen
Befugnisse ausgestattet zu werden.

Vergleiche drängen sich im Übrigen auf zwischen dem Leidens­


weg Hirams und der Passion Christi. In beiden Fällen wird der
Meister Opfer derselben Schändlichkeit und kehrt ins Leben zu­
rück, um seine Jünger nicht im Stich zu lassen, die bei der Erfül­
lung ihrer Aufgabe der Leitung bedürfen. Diese besteht für den
Christen darin, dank der allgemeinen Verbreitung christlicher
Tugenden das Reich Gottes auf Erden, eine Art zurückerobertes
Paradies, zu verwirklichen. Die Maurer verfolgen dasselbe Ide­
al, wenn sie sich vornehmen, den Bau des Tempels weltweiter
Brüderlichkeit zu errichten, jedoch ist ihre Methode nicht die
der Religionen. Statt sich unterschiedslos an alle Menschen
zu wenden, um sie unter den Fahnen eines bestimmten, wenn
schon nicht völlig blinden, so doch ohne wirksame Infragestel­
lung übernommenen Glaubens zu versammeln, richtet sich die
Maurerei nur an freie Geister, die fähig sind, sich selbst nach
den Prinzipien zu bestimmen, die sie als richtig und sinnvoll an­
erkannt haben. Wenn Christus also in einer sehr allgemeinen Art
und Weise das Licht der Erlösung symbolisiert, das alle Men­
schen erleuchtet, um sie dahin zu bringen, einander brüderlich
zu lieben, so muss man in Hiram zwar ein vergleichbares Licht
sehen, aber unter einem weitaus enger gefassten Blickwinkel.
Der Meister der Freien Bauleute, die auf eigenes Risiko und ei­
gene Gefahr in voller Unabhängigkeit die Wahrheit suchen, ohne
sich vor irgendeinem geoffenbarten Dogma zu beugen, verkör­
pert den Geist der Initiation in ganz besonderer Weise.

Das Ritual des Meistergrades 87


Die Evangelien haben den Gründer des Christentums im Üb·
rigen zu einer mythischen Gestalt umgeformt dadurch, dass sie
ihm das Schicksal anderer zur Göttlichkeit erhobenen Heroen
zuschrieben. Unter diesen genoss keiner im Altertum ein solches
Ansehen wie Adonis, dessen Auferstehung jährlich im Frühling
mit großer Pracht gefeiert wurde. Die Syrer und Griechen hat­
ten die Legende dieses Hirten, des Geliebten der Venus, der mit
der Pflanzenwelt wieder neu geboren wurde, von den Chaldäern
übernommen.

Ein tieferer esoterischer Sinn verbindet sich mit dem uralten


poetischen Bericht vom Abstieg der Ishtar in die Unterwelt. Je­
der Frivolität müde, wendet sich die babylonische Göttin von
den Lebenden ab und begibt sich an den Aufenthaltsort der To­
ten. Dort stößt sie auf sieben verschlossene Räume, die sie nur
durchschreiten kann, indem sie sich nach und nach ihrer Metal­
le und Kleidungsstücke entledigt. So tritt sie dann im Zustand
vollkommener Nacktheit vor die Königin der Unterwelt, ihre
Schwester. Diese hält ihr zunächst ihre Fehler vor und bringt
sie damit dazu, sich gegen sie zu empören: Zur Strafe legt sie
ihr alsdann alle Übel der Welt auf und hält sie als Gefangene
fest. Während dieser Zeit hatten die Lebenden die Liebe und die
Riten ihres Vollzugs vergessen. Die Rassen waren vom Ausstet·
ben bedroht, und die Götter müssen erkennen, dass es ihnen nur
allzu bald an Verehrung und Weihegaben fehlen wird. Mangels
Anbetung wird auch ihre Göttlichkeit erlöschen! In dieser äu·
ßerst kritischen Lage wenden sich die niederen Götter an die
höheren um Hilfe und erflehen die sofortige Freilassung Ishtars.
Schließlich gelangt der Vorgang durch alle hierarchischen Stu­
fen auch zu Ea, dem Gott der höchsten Weisheit, der sich er­
schüttert zeigt. Denn einerseits widerstrebt es ihm, die Gesetze
zu brechen, die er der Schöpfung auferlegt hat, andererseits kann
er es aber auch nicht zulassen, dass die Welt unfruchtbar wird,
wenn er die Göttin der Fruchtbarkeit weiter im dunklen Avalon
schmachten lässt. Der an keine Fesseln gebundene Verstand in­
dessen ist voller Erfindungsreichtum: Es ist ihm ein Kinderspiel,
die an sich unwandelbaren Regeln umzudrehen. Entgegen aller
Legalität wird die Hölle gezwungen, ihre Beute herauszugeben,

88 Der Meister
auch wenn sich die Herrin des Landes ohne Wiederkehr noch so
sehr dagegen zur Wehr setzt. Ishtar wird also ins Leben zurück­
gerufen und von Pforte zu Pforte an den Ausgang der düsteren
Heimstatt zurückgebracht. Beim Durchschreiten der verhäng­
nisvollen Räume gelangt sie wieder in den Besitz alles dessen,
was ihr gehört. Sie findet den Schleier wieder, der ihre Scham
verhüllt, die um ihre Fesseln gelegten Ringe, ihre Armbänder,
den mit Fruchtbarkeitssteinen geschmückten Gürtel, ihr buntes
Obergewand, ihren Opalhalsschmuck, die Ohranhänger und
schließlich ihre mächtige Krone. Damit hat lshtar ihr Königtum
zurückerlangt, und das Leben auf Erden geht wieder seinen nor­
malen Gang [20).

Dieser Mythos, der mindestens 5000 Jahre zurückgeht, spielt an


auf die im Frühling erfolgende Erneuerung der Vegetation. Aber
es wäre falsch, ihm nicht auch eine tiefere Bedeutung beizumes­
sen. Abstieg in die Hölle, Verlust und Rückgabe aller Metalle,
Tod und Auferstehung bezeichnen auch einen sich bei allen Ini­
tiationen konstant wiederholenden Geschehensablauf. Betrach­
ten wir also die Erzählung, deren assyrische Fassung uns fast
vollständig erhalten ist, als den ersten Ring jener langen Kette
initiatischer Texte, die zuletzt in die Hiramslegende einmünden.

Das Gilgamesch-Epos

Ein weiteres Meisterwerk der uralten chaldäischen Literatur


verdient unsere Aufmerksamkeit. Es handelt sich um zwölf Ge­
sänge zu Ehren des Gilgamesch, des Königs und Bauherrn von
Uruk, der initiatischen Stadt mit den sieben Wallmauern.

Nicht weniger weise als Salomo rund zwanzig Jahrhunderte


später denkt der junge Herrscher zunächst nur daran, die hei­
lige Stadt zu befestigen. Er unterdrückt seine Untertanen und
zwingt sie zu pausenlosen Bauarbeiten. In dieser ausschließlich
dem Bauen gewidmeten Jugendlichkeit scheint der König für
das Prinzip zu stehen, das in jedem lebenden Wesen die Lebens­
aktivität anregt, um die Entwicklung des gesamten Organismus

Das Ritual des Meistergrades 89


zu beschleunigen. Der Heranwachsende zögert denn auch nicht,
sich mit einem Satyr zu verbünden, der den schöpferischen Trieb
in seiner ganzen Kraft und in allen seinen Aspekten verkörpert.

Sobald Gilgamesch über die ausufernde Energie dieses Gefähr­


ten verfügt, der um seinetwillen die Steppe verlassen hat, in der
er nach Art der wilden Tiere lebte, tritt das Interesse des könig­
lichen Bauherrn an Uruk deutlich zurück. Er stürzt sich vielmehr
in deutlich abseitigere Unternehmungen (Ende der Lehrzeit, die
der kontrollierten Sammlung der Arbeitskraft dient; Beginn der
aktiven Gesellenzeit).

Die Freunde wenden sich zunächst gegen Khumbaba, den Schre­


cken des Orients, den Wächter eines Waldes heiliger Zedern, in
den niemand einzudringen vermag, ohne sogleich all seine Kraft
zu verlieren. Aber alles Zauberwerk ist vergebens, die sieg­
reichen Eingeweihten bringen nicht nur das Haupt ihres Feindes
nach Uruk zurück, sondern auch die Statue der Göttin Irnina,
die sie aus dem Heiligtum geholt hatten, das auf dem unzugäng­
lichen Berg der Götter errichtet worden war. Dieser befreiende
Sieg scheint über eine dogmatische Tyrannei errungen worden
zu sein, die die Furcht der gutgläubigen Massen ausbeutete. Er
müsste demnach geistiger und psychischer Art gewesen sein.

Als nun Ishtar Gilgamesch im vollen Glanz seines Triumphs be­


obachtete, wurde sie von einer unwiderstehlichen Leidenschaft
für ihn ergriffen und sie forderte ihn auf, ihr Liebhaber zu wer­
den. Nun pflegte aber die Göttin denen, die sie liebte, Unglück
zu bringen. So beherrscht unser Held seine Sinnlichkeit, weist
ihre Annäherung zurück und kränkt damit die rachsüchtige Göt­
tin tödlich.

In ihrer Raserei fleht Ishtar zum Himmel und erlangt die Erschaf­
fung eines riesenhaften Stieres mit giftigem Atem. Das Unge­
heuer steigt aus den Höhen herab, um die Göttin zu rächen, wird
aber nach kräftezehrenden Kämpfen besiegt; seine berühmten
Hörner aus Elfenbein, die von Lapislazuli eingefasst sind, wer­
den als Siegestrophäe nach Uruk gebracht. Aus der Höhe ihrer

90 Der Meister
Burgmauern verflucht die verzweifelte Ishtar die Sieger. Darauf­
hin schickt der brutale Gefährte Gilgameschs der Göttin „das
wahre Stück" des himmlischen Stieres, eine Reliquie, die in der
Folgezeit von Ishtar und ihren Hierodulen [21] beweint wird.
Danach wäscht sich Gilgamesch mit seinem Freund im Euphrat
und erscheint alsdann „glänzend über alle Menschen hinaus".

Der treue Gefährte seiner Großtaten hat indessen nicht unge­


straft die giftigen Ausdünstungen des rächenden Stieres ein­
geatmet; eine lähmende Krankheit befällt ihn und versetzt ihn
in einen Schlaf, der mehr und mehr dem Tode ähnelt. Und so
erlischt unmerklich die schöpferische Lebenskraft. Gilgamesch
ist untröstlich über den Tod seines Freundes, denn er befürchtet
für sich selbst ein vergleichbares Schicksal. Von nun an sind ihm
ruhmvolle Unternehmungen gleichgültig; er sucht die Einsam­
keit und zieht sich in die W üste (der Meditation) zurück, um
seinem Vorfahren Utnapishtim nahezukommen, dessen Name
bedeutet, ,,er hat das Leben gefunden".

Um die Unsterblichkeit zu erobern, verlässt der König von Uruk


sein Land und wendet sich nach Westen, wo er Hunger und
Durst erduldet und den Angriffen wilder Tiere ausgesetzt ist.
Schließlich steht er vor einer Kette unübersteigbarer Berge, an
deren Flanke sich ein düsterer Durchgang öffnet, der von einem
Riesenpaar, halb Mensch, halb Skorpion, bewacht wird. Diese
Ungeheuer lassen schon durch ihren bloßen Anblick jeden vor
Schreck erstarren; Gilgamesch aber, weit davon entfernt, zu­
rückzuweichen oder vor Angst zu sterben, tritt ihnen entschlos­
sen entgegen. Dieser übermenschliche Mut lässt den Skorpion­
mann glauben, dass ihm ein vergöttlichtes Wesen entgegentritt.
In derartigen Dingen erfahren, erkennt auch die Skorpionfrau,
dass der Initiierte zu zwei Dritteln der göttlichen Natur angehört
und Mensch nur zu einem Drittel seines Wesens ist. Daran lässt
sich erkennen, dass er die Fähigkeiten des Gesellentums voll­
umfänglich erreicht hat und würdig ist, nach der Meisterschaft
zu streben.

Das Ritual des Meistergrades 91


Der männliche Skorpion hält Gilgamesch zunächst an und fragt
ihn, wohin er gehe. Als er erfährt, dass der Reisende sich zu Ut­
napishtim begeben will, um von ihm das Geheimnis des Lebens
zu erfahren, erklären die schrecklichen Wächter das Vorhaben
für nicht durchführbar, denn sie dürfen keinen Zugang zu der
Schlucht gewähren, die auf die andere Seite der Mashu-Berge
führt. Gilgamesch bleibt fest und beschwört Shamash, den Son­
nengott, als Zeugen der Leiden, die er in der W üste ertragen hat.
Der Gott neigt ihm sein Ohr, appelliert allerdings an die Ver­
nunft seines Schützlings und bemüht sich, ihn von der bedroh­
lichen Jagd abzubringen, auf die er sich eingelassen hat, denn er
könne in Wahrheit nicht hoffen, wirklich das zu finden, wonach
er sucht.

Der Held antwortet mit einem Hymnus an das Licht, einer Be­
schwörung, die ihm den schwarzen Gang öffnet, der durch das
Gebirge getrieben wurde. Während zweimal elf Stunden geht er
weiter und weiter, ohne auch nur den kleinsten Schimmer von
Helligkeit zu sehen, dann wird die Dunkelheit schwächer, und
die letzten beiden Stunden seines Weges vollziehen sich in der
Dämmerung. Der Weg endet im lichtdurchfluteten Garten der
Göttin Sidouri, dessen Anlage sich bis ans Meer erstreckt und
dessen göttliche Bäume kostbare Steine als Früchte tragen. Gil­
gamesch erschreckt die junge Schönheit, die über das seelen­
lose Paradies herrscht. Sie versteckt sich vor ihm und zeigt sich
schließlich nur in schamhafter Verhüllung, um ihm die vernünf­
tigsten Ratschläge zu erteilen, die man sich denken kann. ,,Nie­
mand außer der Sonne", sagt sie zu ihm, ,,kann das gefährliche
Meer überqueren, wo die Wasser des Todes aufschäumen. Lass
also ab, Gilgamesch, von deinem unsteten Wanderdasein, denn
das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden. Als die Götter
den Menschen erschufen, haben sie den Tod zu seiner Bestim­
mung erkoren und behielten das Leben in ihrer Hand." Dann
preist die Göttin in überzeugender Weise die Freuden des flüch­
tigen Daseins, das man so nehmen sollte, wie es sich bietet, um
alle Befriedigung zu kosten, die möglich ist. Der Weise gibt sich
damit zufrieden, in seinen Kindern weiterzuleben, und macht die
Frau glücklich, die sich ihm verbindet.

92 Der Meister
Aber das Verlangen Gilgameschs ist unwiderstehlich auf Utna­
pishtim gerichtet; er will sich jedem Hindernis stellen, um zu
jenem Lehrmeister zu gelangen, der ihm die höchsten Geheim­
nisse enthüllen soll. So viel Beharrlichkeit und so viel Opfer­
bereitschaft im menschlichen Bereich rühren die bezaubernde
Sidouri. Sie entschließt sich deshalb, den Helden an den Schiffer
Amel-Ea zu verweisen, der bereit ist, ihn an Bord seines Schiffes
zu nehmen. Dieses Schiff durchpflügt die Wellen mit so wunder­
barer Schnelligkeit, dass es nach drei Tagen die Gewässer des
Todes erreicht. In denen setzt sich die Seereise trotz äußerster
Gefahr fort, bis trotz bisher unerhörter Schwierigkeiten endlich
die Grenzen der Welt erreicht sind, wo der unsterbliche Utna­
pishtim herrscht.

Einmal an Land gegangen, wird Gilgamesch zu seinem geheim­


nisumwobenen Vorfahren nur vorgelassen aus Mitleid mit den
Leiden, die er ausgehalten hat. Aber, ach!, man berichtet ihm
nur über die Art und Weise, wie die Toten von den Announaki
abgeurteilt werden, die über ihr weiteres Los bestimmen, denn
der Tod ist ebenso begrenzt wie das Leben. Dieses Gespräch be­
gründet in dem Helden die Überzeugung dass er sich mit dem
Sterben abfinden muss. Aber wie hat Utnapishtim die Unsterb­
lichkeit erringen können? An dieser Stelle folgt nun die Erzäh­
lung vom Untergang der Welt, deren Analyse den Gegenstand
eines eigenen Kapitels bildet.

Bevor er sich zur Rückfahrt einschifft, nimmt Gilgamesch Wa­


schungen vor, die ihn von jeder Befleckung reinigen und ihn von
den Schuppen befreien, die das Meer abgelagert hat. Nach dem
Verlassen dieses Bades zieht der Eingeweihte ein Reisegewand
an, das bis zum Wiedereintreffen in Uruk keinerlei Schaden
nehmen wird. Während die Stadt die materielle Welt verkörpert,
sind die Wanderungen Gilgameschs unkörperlich zu verstehen.
In seiner Seele und im Geiste begibt er sich zum Meister, den er
nur verlässt, indem er sich entpersönlicht, d. h. sich frei macht
von seinem persönlichen geistigen Umfeld, das von all jenen
Beschäftigungen gebildet wird, die sich auf das Ich beziehen.
Sobald Gilgamesch sich gereinigt hat, wird ihm erlaubt, in die

Das Ritual des Meistergrades 93


Tiefen eines Süßwasserteichs zu tauchen, um dort ein scharf­
schneidendes Kraut zu pflücken, das die Jugend zurückgeben
kann.

Zufrieden begibt sich der Held wieder aufs Meer, wobei er den
kostbaren Zweig und sieben Brote mit sich führt, die die Frau
Utnapishtims für ihn zubereitet hat. Alles verläuft gut, und
Gilgamesch betritt nach wenigen Tagen Seefahrt wieder festes
Land. Dort wäscht er sich in einem Tümpel mit Süßwasser.
Währenddessen entwendet ihm eine Schlange das verjüngende
Kraut. In der Hoffnung, die Schlange wiederzufinden, beschließt
er, auf dem Landweg nach Uruk zurückzukehren. Er lässt also
das Schiff zurück und macht sich in Begleitung vonAmel-Ea auf
den Weg. Nach langer Wanderung betritt der König schließlich
die Stadt, deren Herrscher er ist. Er betraut den Schiffsführer
wegen seiner Treue mit der Überwachung aller Bautätigkeit.Aus
der Höhe der Befestigungen wird er von nun an die Herstellung
der Ziegel und die Reparaturarbeiten am Mauerwerk leiten.

Gilgamesch seinerseits ist ganz er­


füllt vom Gedanken an den Tod, der
ihn erwartet, und denkt deshalb nur
noch daran, den Schatten des Ge­
fährten seiner Jugend zu beschwören.
Dank des Eingreifens von Ea, dem
Freund der Menschen, öffnen die höl­
lischen Mächte die Erde und lassen
den Hauch aufwallen, der den macht­
vollen Helfer des Königs beseelt
hatte. Der König befragt den Wie­
dergekehrten nach dem Los der Ver­
storbenen, das je nachArt ihres Todes
und des Begräbnisses verschieden ist.
Die Krieger, die auf dem Schlachtfeld
gefallen sind, genießen in der Unter­
welt eine bevorzugte Behandlung.
Wehe aber den Schatten, um die sich
auf Erden niemand kümmerte, denn

94 Der Meister
ihnen bleiben nur die auf der Straße fortgeworfenen Essensreste,
um ihr Dasein zu fristen ...

So endet die älteste aller epischen Dichtungen, der die Juden


die Geschichte vom Jüngsten Gericht entnommen haben, die wir
nun noch in Anlehnung an die Urfassung darzustellen haben.

Das Jüngste Gericht der Chaldäer

Auf Veranlassung von Bel, dem Herrn der irdischen Oberwelt,


beschlossen die Götter, einen Weltuntergang heraufzubeschwö­
ren, von dessen Kommen die Menschen vorher nichts erfahren
sollten. Aber Ea, der Gott der Gewässer über den Himmeln, möch­
te seinen glühendsten Anbeter erretten, der in Eridu wohnt. An
die Geheimhaltung gegenüber den Menschen gebunden, richtet
der spitzfindige Gott, der sich von keiner Schwierigkeit abhalten
lässt, die Kraft seines Geistes auf ein Rosenspalier am Hause
seines Schützlings. Dieser hört sodann, wie die Mauer nach Art
eines neuzeitlichen Phonographen zu ihm spricht: ,,Zimmere dir
ein schwimmendes Haus! Lass deinen Reichtum fahren, suche
das Leben! Verachte, was du besitzest, und bewahre das Leben!
Nimm in das Boot Lebewesen aller Art mit hinein!"

Der Hinweis wird verstanden. Aber wie soll der Erbauer der Ar­
che das Unternehmen seinen erstaunten Mitbürgern erklären?
„Du wirst sagen", antwortet Ea, ,,dass Bel dich mit seinem Hass
verfolgt und du deshalb von seiner Erde fliehen musst und in das
Reich des Ea segelst."

Das Hausboot wird gebaut. Sechs Dächer bedecken es, sieben


Bordwände schützen es, und neun Zwischenwände bilden im
Inneren zehn Abteile. Alles wird sorgsam mit Teer abgedichtet
Als die Vorbereitungen beendet sind, schaffi der Freund Eas
sein Gold und Silber in die Arche. Dann bringt er seine Fami­
lie und seine Tiere unter, wobei letztere ausschließlich Vögel
und Grasfresser sind. Auch Handwerksmeister, die sich auf die
unterschiedlichsten Techniken verstehen, werden eingeschiffi,

Das Ritual des Meistergrades 95


allen voran diejenigen, die beim Bau der rettenden Unterkunft
mitgearbeitet haben. Schließlich begibt sich der Leiter des Un­
ternehmens eines Abends selbst an Bord und beauftragt seinen
Schiffsführer, von nun an alles Weitere in die Hand zu nehmen.
Am nächsten Morgen, als die Sonne den Mittelpunkt der Kon­
stellation der Zwillinge erreicht hat, bricht ein schrecklicher
Sturm los. Adad, der Gott der Unwetter, entfesselt alle Elemente,
getrieben von Marduk, dem Herrn des himmlischen Feuers, und
Nabou, seinem unermüdlichen Boten. Zur selben Zeit setzt der
Südwind die Meere in Bewegung, die sodann die ganze Erde
überfluten, auf der die Menschen ertrinken, während die Arche
nach Norden getrieben wird.

Die Götter werden rasch von Schrecken ergriffen über ihr Werk;
sie flüchten in den obersten aller Himmel, wo sie den Verlust des
Menschengeschlechts beweinen. Nach Ablauf von sechs Tagen
kehrt wieder Ruhe ein und am folgenden Morgen zerschellt die
Arche am Berge Nissir. Sieben weitere Tage vergehen in Erwar­
tung, dann lässt man nacheinander eine Taube, eine Schwalbe
und einen Raben fliegen. Als dieser nicht zurückkehrt, kann die
Arche evakuiert werden. Diejenigen, die durch sie gerettet wur­
den, empfinden das Bedürfnis, den Göttern zu danken und ihnen
Speise- und Trankopfer darzubringen. Der gesamte chaldäische
Götterhimmel drängt sich um die Opfergaben, deren er seit der
Katastrophe beraubt war. Die Göttermutter ist der Auffassung,
Bel, der Anstifter allen Übels, dürfe an dem den Göttern Ange­
botenen keinen Anteil haben. Aber Bel erscheint trotzdem zorn­
erfüllt, weil die Menschheit nicht vollständig vernichtet wurde.
Schon bedroht er die Überlebenden, als Ninib, der Gott des
Krieges, seinen Zorn auf Ea ablenken kann, den er verdächtigt,
die Rettung der überlebenden angeregt zu haben. Angesichts
dieser Beschuldigungen wirft Ea Bel seine übereilte Hast vor:
Da allein das Menschengeschlecht den Zorn der Götter erregt
habe, hätte sich die Sühne auch auf die Menschen beschränken
müssen. Um sich ihrer zu bemächtigen, sei es nicht erforderlich
gewesen, alles zu ertränken, was atmet. Plagen wie der geflü­
gelte Löwe, der wilde Hund, der Hunger und der Würger lra
hätten den Zweck mehr als erfüllt. Ea verteidigt sich außerdem

96 Der Meister
für den Verrat des Geheimnisses der Götter damit, dass nichts
ihm verboten hätte, seinen frommen Diener mit einem Traum zu
belohnen, dessen Bedeutung zu erraten jener eben begabt genug
gewesen sei.
Zufriedengestellt betritt Bel die Arche, in die sich Eas Schütz­
ling aus Vorsicht zurückgezogen hat. Der Gott lässt ihn ebenso
wie seine Frau auf festen Boden herabsteigen und befiehlt dem
Paar niederzuknien. Dann spricht Bel zu ihnen: ,,Bis hierher wart
ihr Sterbliche, von nun an werden Utnapishtim und seine Frau
Götter sein wie wir." Zugleich berührt er das Paar mit seinem
Szepter, segnet es und bringt es an einen fernen Ort, damit es
dort seine Unsterblichkeit an den Mündungen der Flüsse genie­
ße, d. h. am äußersten Ende der Welt, jenseits des Ortes, den man
später die Säulen des Herkules nennen wird.

Berosc erzählt, dass auch der Kapitän der Arche unsterblich ge­
macht wurde. Was die anderen Überlebenden der Sintflut angeht,
so kehrten sie nach Babylonien zurück, wo sie entsprechend den
ihnen erteilten Befehlen die in Sippar verborgenen Tontafeln
ausgruben, um unter den Menschen die Lehren zu verbreiten,
die darauf niedergelegt waren.

Utnapishtim ist der initiatische Name dessen, der das Leben ge­
funden hat, indem er Unsterblichkeit errang. Wenn Gilgamesch
die Tragweite der Erzählung seines Vorfahren begriffen hätte,
hätte er vor dem Tod nicht mehr gezittert.

Der chaldäische Noah wurde zuerst mit dem Namen Atrakhasis


oder Khasisatra bezeichnet, woraus Berosc Xisuthros gemacht
hat, was als Ehrentitel für die Weisheit des Schützlings des Ea
stehen soll. Denn indem die Zeitgenossen ihm ,,riesige Ohren"
(so der Sinn des Wortes) zuschrieben, spielten sie auf eine geistig
verstandene Überfeinerung des Gehörs an. Xisuthros hörte also
etwas, das nicht jedermann aufnehmen konnte. Weil er besser
verstand, war er weiser und vorausschauender als die anderen.

Ea gehorchend, band er sich nicht an das, was die übrigen Men­


schen verführt. Aber indem er die Arche baute und darin alles

Das Ritual des Meistergrades 97


versammelte, was des Überdauerns würdig ist, suchte er das
Leben. Wenn wir uns unsterblich machen wollen, dann müssen
wir es wie er machen: Identifizieren wir uns also mit dem Un­
vergänglichen! Das Leben des Einzelnen nimmt seinen Ausgang
von einem allgemeineren Leben, das wir in uns zur Vorherrschaft
bringen müssen. Diesem Zweck dient in erster Linie das Abse­
hen von privaten Interessen. Man muss der Mann Eas werden,
das heißt der schöpferischen Intelligenz, die dem Großen Bau­
meister aller Welten entspricht. Der Maurer, der für die Arbeit
lebt, statt zu arbeiten, um zu leben, findet das Leben, indem er
sich zur wahren Meisterschaft erhebt.

Die phönizische Trias

An der Spitze der von Hiram zur abschließenden Vollendung des


Tempels von Jerusalem ausgeführten Arbeiten nennt die Bibel
die beiden Säulen des Portikus, Jakin und Boas. Nun berichtet
uns aber Herodot, dass im ältesten Tempel von Tyros die Gott­
heit allein durch die beiden von Ous'oos, dem Stadtgründer, zu
Ehren des Feuers und des Windes errichteten Stelen abgebildet
war. Diese Säulen erlangten damit in den Augen der Phönizier
einen heiligen Charakter. Später errichteten sie an den beiden
Ufern der Meerenge von Gibraltar zwei Monumente, die im Al­
tertum als die Säulen von Melkart oder die Säulen des Herkules
(Herakles) bekannt waren.

Diese grundlegende Zweiheit verkörpert den doppelten Aspekt


des beseelenden Prinzips allen Lebens. Das Feuer entzündet sich
in allen Wesen und stellt ihren festen Ort, ihr Wachstum, ihre
Entwicklung sicher, also ihren dem Plan der Gattung entspre­
chenden Bau. Als allgemeines Zeichen hierfür gilt das gleichsei­
tige Dreieck /1, das auf akkadisch rou heißt und bauen bedeutet.
Die Alchimisten haben daraus ihr Zeichen für Schwefel entwi­
ckelt�. das für das innere, aktiv tätige und aufbauende Feuer
steht, dem die Säule Jakin entspricht. Dieses Feuer bleibt inaktiv
in der Keimzelle, ist also in latenter Form vorhanden, solange
es nicht erweckt, angefacht und dauernd unterhalten wird vom

98 Der Meister
Wind, der in den Augen der Hermetiker durch das Quecksilber
� verkörpert wird. Den Botenstoff beider stellt ein feiner Luft­
strom dar, der überall eindringt, und zwar selbst in die dichtesten
Körper. Dies ist der Träger des universellen Lebens, von dem
gesagt wird, es liege in ihm die Kraft, was der Sinn des Wortes
Boas ist.

Das kosmogonische Feuer und der geheimnisvolle Wind, der es


entfacht, genügten der Phantasie der Leute als göttliche Erschei­
nungen nicht. Also bot die Religion der breiten Masse die Anbe­
tung weniger abstrakter Gottheiten an. In der Sonne gebündelt
wird das universelle Feuer zu Baal, dem Allesverbrennenden,
dem schrecklichen Gott, dem in Zeiten des Elends Eltern ihre
liebsten Kinder opferten. Dieser leidenschaftslose, unbewegte
Gott in der Höhe findet in der Natur eine ergebene, wenn auch
launische und wechselhafte Dienerin, personifiziert in Astarte,
einer Göttin, die in ihrer Eigenschaft als Verkörperung der
fruchtbaren Elemente Erde und Wasser in sich Kybele, Ceres,
Diana und Venus zusammenfasst. Aber das schöpferische Feuer
(Baal) zeugt das Leben nur, um es zu verzehren: Wie Kronos­
Saturn verschlingt es seine Kinder. Seine unstillbare Aktivität
verbraucht die Organe und tötet die Individuen ebenso, wie un­
unterbrochene Hitze alle Vegetation austrocknet. Der feurige
Kern, der in allen Wesen vorhanden ist, entwickelt sich im Üb­
rigen nur unter dem Einfluss der Luft, d. h. des quecksilbrigen
Windes, der ursprünglich in untrennbarer Einheit zusammen mit
dem Feuer angebetet wurde. Später wird dieses ausschließlich
wohltätige Lebensagens für die V ölker Kleinasiens der geliebte
Gott, den jedermann Adoni, mein Herr, nennt. Dank dieses Lieb­
habers der Astarte (der Ishtar der Chaldäer) erblühen die Feld­
er im Frühling in der Pracht ihrer aufbrechenden Blumen. Aber
Adonis (Tamouz, Doumouzi oder Eshmoun) wird jedes Jahr von
der rednerischen Jahreszeit getötet; dann wird er öffentlich be­
weint, und seine Anhängerinnen und Anhänger tragen ganz offen
Trauer. Schließlich ziehen Klageprozessionen über die Felder,
um das Grab des Gottes zu suchen. Wenn seine Statue ausgegra­
ben ist und im Triumph zurückgebracht wird, bricht lärmende
Freude aus, um den Heiland zu feiern, der wieder für Blühen und
Gedeihen sorgen wird.

Das Ritual des Meistergrades 99


Byblos war besonders berühmt für diesen Kult, von dem sich
das christliche Osterfest anregen ließ. Die Auferstehung des
Gottes zog jährlich unzählige Pilger an, die begierig waren, die
großzügige Gunst der Phönizierinnen zu nutzen, die sie ihnen in
ihrer mystischen Verzückung nicht verweigern konnten.

Hat nun der am meisten verbreitete asiatische Mythos manche


Einzelheiten der Hiram-Legende geprägt, die bei ihrem Auftau­
chen um 1730 als eine aus Ovid und Vergil entnommene, bil­
lig erfundene Geschichte abgetan wurde? Die Antwort bleibt
unentschieden, denn im Bereich der Symbolik gibt es schick­
salhafte Begegnungen. So konnte Goethe in der zutiefst initi­
atischen Erzählung Die grüne Schlange [22] eine Sidouri [23]
auftreten lassen, die er die Schöne Lilia nennt, ohne das Epos
von Gilgamesch zu kennen, das erst fast ein Jahrhundert später
wieder zu Tage gefürdert wurde. Jede geniale Phantasie schöpft
ihre Bilder aus einem den Künstlern und Dichtern aller Epochen
gemeinsamen Bereich. Die Meisterschaft des Denkens hebt uns
in diese Region empor, in der die von jeder sinnlichen Banali­
tät befreiten Geister miteinander kommunizieren und dabei eine
gemeinsame Sprache verstehen, die sich in Formen und Bildern
der Schönheit ausdrückt.

100 Der Meister


Teil III
DER MEISTERGRAD UND
SEIN GEISTIGES UMFELD

DIE UNSTERBLICHKEIT

Die Unbekannten Oberen

GEBURT - LEBEN - TOD: Diese Dreiheit entspricht den drei


symbolischen Graden. Der Lehrling entwickelt sich weiter, um
zu einem neuen Leben geboren zu werden; er befindet sich im
Zustand der Zeugung und wird das Licht erst am Ende seiner
intrauterinen Prüfungen im Anschluss an eine Niederkunft erbli­
cken, wie sie in einigen antiken Mysterien in Szene gesetzt wur­
de. Der Geselle wird für das Leben ausgerüstet, anders gesagt,
um nach außen zu handeln mit dem Ziel, seine Arbeit in Ge­
meinschaft mit anderen zu vollenden. Was den Meister angeht,
so hat er sein Leben damit verbracht, Erfahrungen zu sammeln,
aber er geht dem Ende entgegen und muss sich darauf vorberei­
ten, zu sterben.

In dem Bestreben, ein höheres Leben zu verwirklichen, bemü­


hen sich die Mystiker, die drei Wege zu gehen. Der erste, Weg
der Reinigung genannt, zielt auf die sittliche Reinigung (Lehr­
lingszeit); der zweite, der bei dem Gläubigen das Verständnis für
die Mysterien weckt, wird als Weg der Erleuchtung bezeichnet
(Gesellenzeit); und der dritte, im Verlaufe dessen das persön­
liche Wollen mit dem göttlichen Wollen zusammenfällt, heißt
der Weg der Vereinigung (Meisterschaft).

Aber das Vereinigungsideal des religiös gebundenen Menschen,


sei er Christ, Moslem oder Buddhist, neigt zu einer Hingabe an

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 101


Gott, die das Selbst mehr oder weniger auslöscht. Die Initiier­
ten ihrerseits zielten auf die Apotheose durch Angleichung an
die Götter, die als unstoftliche Geistwesen gedacht wurden, die
die Welt von oberhalb der auf der Weltkugel herumwimmelnden
Menschenmassen regieren. In diesem Sinne ermahnt Pythago­
ras seine Schüler, sich zu vergöttlichen: ,,Wenn du schließlich,
indem du deinen Leib hier unten zurücklässt, deinen freien
Auftlug zum Himmel vorgenommen hast, wirst du von nun an
unvergänglich, ein unsterblicher Gott sein, geschützt vor den
Schlägen des Todes." [24]

Die pythagoräische Unsterblichkeit schließt im Übrigen jede


ewige Ruhe und jede faule Seligkeit aus. Die Götter haben in­
nerhalb des Lebens des Universums ihre eigene Aufgabe: Sie ar­
beiten auf einer höheren Ebene, denn wenn sie nicht arbeiteten,
verlören sie jede Daseinsberechtigung und hörten auf zu existie­
ren. In allem, was ist, gilt übereinstimmend und absolut der Satz,
dass das Leben nur dem zukommt, der zum Wohl der Gesamt­
heit tätig ist. Der Egoismus ist ein Irrweg, der notwendigerweise
zum Tode führt, denn er isoliert vom allgemeinen Leben, dessen
Strom er abschneidet. Inaktivität wiederum ist ein Synonym für
Vernichtung: Die endgültige Ruhe entspricht dem Nichts. Unter
diesen Voraussetzungen gibt es kein anderes Mittel, um sich un­
sterblich zu machen, als sich mit den Mächten zu verbinden, die
das Weltganze regieren.

Zu diesem Zweck muss man die Mächte nicht unbedingt kennen,


die die Menschen sich nach ihrem Bilde vorstellen und Götter,
Geister und Dämonen nennen. Die Meister - denn so bezeichnen
sie die Eingeweihten - hüllen sich in ein undurchdringliches Ge­
heimnis; sie bleiben unsichtbar hinter dem dichten Vorhang, der
uns vom Jenseits trennt. Wenn sich aber nun schon der Schleier
nicht für uns hebt, so ist es doch wünschenswert, dass wir uns
ihm nähern und in Beziehung treten zur Quelle unserer frucht­
barsten Eingebungen. Lernen wir, die Stimmen der Meister zu
hören, denn sie wollen nichts anderes, als uns im Schweigen
und im Ernten zu unterrichten [25]. Es geht keineswegs um Ne­
kromantie oder Beschwörung der Toten nach den Vorschriften

J 02 Der Meister
der antiken Magie oder den Praktiken des modernen Spiritis­
mus. Was von den Toten bleibt, ist ihr Denken, ist das Ideal, dem
sie ihr Leben geweiht haben. Unsere Meister sind alle Märtyrer
des Geistes, die vorverstorbenen Handwerker des menschlichen
Fortschritts. Zwischen ihnen und uns, die wir ihr Werk weiter
verfolgen, entwickeln sich geheimnisvolle Kommunikationsli­
nien. Stets im Verborgenen, treiben sie unser Denken aus dem
Dunkel heraus an bei der beständigen Suche nach der Wahrheit
und stutzen unseren Willen in dem unaufhörlichen Kampf, der
uns auferlegt ist.

Wenn der Lehrling sich mutig in die Finsternis stürzt, um das


Licht zu suchen, ist es ein unsichtbarer Meister, der ihn von Prü­
fung zu Prüfung führt und ihn vor der Gefahr beschützt. Der Ge­
selle wird nicht mehr in derselben Art geführt, denn er muss aus
eigener Vorstellung seinen Weg bestimmen können, indem er die
Erfahrung der Älteren benutzt, die sich für ihn zum Dolmetsch
der Weisheit der Meister machen. Diese aber, die wahren Meis­
ter, sind nicht mehr Arbeiter, die Steinblöcke zurechthauen und
sie an der für den großen Bau erforderlichen Stelle einpassen:
Sie arbeiten nur noch am Reißbrett, d. h. geistig am Entwurf des­
sen, was gebaut werden soll. Das sind die schöpferischen Köpfe
dieser Welt, wirkungsvolle Mächte für die Eingeweihten, die in
Beziehung treten mit den Unbekannten Oberen der Überliefe­
rung.

Das Geheimnis der Persönlichkeit

Wir erscheinen vorübergehend auf der Bühne der Welt, um dort


eine bestimmte Rolle zu spielen; aber wir können die Szene nicht
betreten, ohne uns zuvor eine bestimmte Persönlichkeit zuzule­
gen (persona bedeutet im Lateinischen Maske und im weiteren
Sinne Rolle, Schauspieler) [26]. Wir entleihen zu diesem Zweck
von der am höchsten entwickelten Tierart des Planeten einen Or­
ganismus, werden sodann mit allen Merkmalen einer Rasse ge­
boren, um danach den Einflüssen der nationalen und familiären
Umgebung ausgesetzt zu werden. So bildet sich die Person, die

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 103


wir verkörpern: Sie hat ihren Namen und glaubt sich zu kennen
dank des Spiegels, vor welchem sie sich schminkt. Der ist ein
einzigartiger Schauspieler, der seine Rolle mit vollkommener
Überzeugungskraft spielt, weil er sich in jeder Hinsicht mit der
dargestellten Figur identifiziert.

Die Verkörperung ist indessen begrenzt. Wenn der Vorhang füllt,


hört der Schauspieler auf zu spielen und kehrt ins wirkliche Le­
ben zurück. Die Figur, die er für die Zwecke des Stückes verkör­
perte, ist dann gänzlich belanglos: König oder Bettler, Herr oder
Diener - alles war nur Spiel. Nun ist er nur noch ein Künstler,
der mehr oder weniger zufrieden ist mit der Art, in der er die
Vorstellung des Autors gespielt und interpretiert hat.

Gefangen von dem, was die Sinne bewegt, legt der normale
Mensch sein ganzes Herz in seine Rolle und lebt sie, als wenn
sein wirkliches Leben sich auf den Brettern abspielte. Selten sind
die Akteure in der menschlichen Komödie, die sich bewusst ma­
chen, dass sie spielen und gut spielen und lernen, ohne sich von
ihrer Rolle täuschen zu lassen. Diese Weisen machen sich keine
Illusionen über den Reichtum der Dekorationen oder die Pracht
der Kostüme; sie lassen sich nicht außerhalb aller Vernunft von
den schicksalhaften Wendungen des Dramas beeindrucken, das
gespielt wird. Es sind Initiierte, die es verstanden haben, den
Zauber der theatralischen Oberfläche zu durchbrechen; sie wis­
sen, dass sie den Erfordernissen ihrer Rolle entsprechend ver­
kleidet sind, und vergessen niemals, was sie in der Wirklichkeit
des Lebens sind.

Sich selbst bis an diesen Punkt der Initiation zu kennen - das


war das große Problem des Sokrates. Wenn der Einzelne erken­
nen könnte, was er ist, besäße er das geheimste Geheimnis aller
transzendenten Philosophie. Ein geheimnisvoller Schauspieler
ist in die Rolle unserer Person geschlüpft. Wer ist dieser Künst­
ler, der sich nur auf der Bühne verwirklicht und sich nur verwan­
delt sehen lässt? Wenn wir die Antwort wissen wollen, müssen
wir dem Ritual folgen. Wenden wir uns innerlich von der objek­
tiven Welt oder der Welt des Theaters ab und kehren in uns selbst

104 Der Meister


zurück, um in die Nacht der Subjektivität einzutauchen. Steigen
wir hinab in die Hölle, in diese Schwärze, die für das Gelingen
des Großen Werkes unverzichtbar ist. Hören wir dort die Enthül­
lungen des Schweigens und der Dunkelheit; ein Gott wird sich
zeigen, wenn wir wirklich in der Lage waren, der äußeren Welt
zu sterben, dem Verhaftetsein an die äußeren Erscheinungen, das
die Profanen gefangen hält. Dieser Gott hat nichts von den Ido­
len, die eine kindliche Phantasie entwickelt. Er gehört nicht dem
Bereich der fassbaren Formen an, ist aber wesenhaft lebendig
und tätig; er ist das Agens oder der Akteur in jedem Sinne des
Wortes, eine zutiefst reale Erscheinung im Vergleich zu den irre­
führenden Phantomen der Erscheinungen der Außenwelt.

Die menschliche Göttlichkeit

Der Denker, der sich hinter der Maske der Persönlichkeit zu


erkennen verstand, tritt dadurch in das initiatische Leben ein.
Er gibt sich nicht mehr mit der Scheinexistenz des Theaters zu­
frieden und befasst sich, ohne seine Rolle zu vernachlässigen,
mit dem ernsthaften Leben des von den Brettern abgegangenen
Schauspielers. Dieses Leben ist weniger flüchtig als das andere.
Wir können uns weder seinen Anfang noch sein Ende richtig
vorstellen; es ist göttlich, und wir selbst machen uns göttlich,
indem wir bewusst an ihm teilnehmen. Es ist unsere Sache, uns
zur Göttlichkeit zu erheben, indem wir uns unsere wahre Natur
bewusst machen. Die Initiation war schon immer der Weg zur
Heiligung des Gott-Menschen. Sie lehrt, das menschliche Tier
abzustreifen, das uns in dem engen Umfeld des stofflichen Füh­
lens einsperrt, und erhebt den Anspruch uns zu befreien, indem
sie uns zu einem höheren Leben, einer unbegrenzten Weite be­
ruft ...

Der Eingeweihte besitzt das wirkliche und ewige Leben, weil


er sich gelöst hat von dem offenkundig nur Vorübergehenden,
um sich an die dauerhafte Wirklichkeit zu binden. Wenig be­
deutet ihm sein Theaterschicksal, das er der höheren und weit­
gespannteren Aufgabe seiner Individualität unterordnet. Als Ar-

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 105


heiter am Großen Werk wirkt er mit an der ewigen Verwandlung
der Dinge. Eine Ewigkeitsaufgabe erfüllen, indem man ihr all
seine Kraft widmet, heißt Anteil zu haben an jenem göttlichen
Leben, das das Vereinigungsideal der Mystiker verwirklichen
will. Diese täuschen sich jedoch insoweit, als sie nicht begrif­
fen haben, dass leben handeln heißt. Das Leben existiert nicht
um seiner selbst willen: Wir leben nicht, um zu leben, sondern
um eine Funktion im Körper des universalen Lebens zu erfül­
len. Der Eingeweihte wird sich dessen bewusst und will seine
Mission erfüllen. Er setzt seinen ganzen Verstand ein, um zu be­
greifen, was von ihm verlangt wird, und ist von vornherein fest
entschlossen, allen Widerständen zu trotzen und keine Mühe zu
scheuen, um gute Arbeit zu leisten. Der Maurer, der so arbeitet,
macht sich durch seine Arbeit unsterblich. Er weiß, dass seine
äußere Person nichts ist, und legt ihr kein besonderes Gewicht
bei. Aber er steigt auf zum inneren Antriebsprinzip, das er er­
rät, ohne es genau zu erkennen, zum unbekannten Gott in seiner
geheimnisvollen Wirklichkeit. Das ist das transzendente Ich,
das vielleicht in allen denkenden Wesen dasselbe ist. Dieses Ich
nimmt keinen festen Platz im Raum ein und kann zeitlich nicht
eingegrenzt werden; es ist also göttlicher Natur. So wendet sich
auch der 82. Psalm an die Initiierten, wenn man dort in Vers 6
die Worte liest: ,,Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle
seid Söhne des Höchsten."

Der Tod

Wenn die Vorstellung vorüber ist, tritt der Schauspieler aus der
Maske (persona) und wird wieder er selbst. Inwiefern kann diese
Rückkehr zu sich ihn berühren? Wird das wirkliche Leben für
ihn eine Entzauberung sein? Bei einem Künstler, der sich seiner
Kunst bewusst ist und nicht zum Opfer seines eigenen Spiels
wird, kann es etwas Derartiges niemals geben. Eine Rolle ist für
ihn nur eine Episode in seiner Laufbahn, und sein Ehrgeiz geht
gerade dahin, zahlreiche Verpflichtungen auf anständige Weise
auszufüllen, indem er von Mal zu Mal besser spielt.

106 Der Meister


Genauso verhält es sich mit dem vermummten Schauspieler un­
serer Persönlichkeit. Diese interessiert ihn nur, soweit sie ihm
Gelegenheit gibt, seine Kunst zu beweisen und sich darin zu
vervollkommnen. Wenn er Künstler ist, lebt er für die Kunst und
nicht für die Rolle (persona): vita brevis, ars longa. Dies gilt für
das Leben, das kurz ist, wenn es sich auf die Persönlichkeit be­
schränkt, das jedoch an der Dauerhaftigkeit der Kunst teilnimmt,
sobald es sich mit ihr identifiziert. Mit anderen Worten: Für den
Künstler gibt es keinen Tod.

Die Aufgabe eines verbrauchten oder unbrauchbar gewordenen


Organismus, der seine Funktionen nicht mehr erfüllen kann, be­
deutet für den Arbeiter nur einen vergleichsweise unbedeutenden
Wechsel des Werkzeugs, wenn er richtig zu arbeiten versteht.
Der gute Arbeiter bleibt niemals ohne Beschäftigung, nicht ein­
mal in dem schäbigen Bereich unseres Wirkens auf diesem Pla­
neten. Dies gilt erst recht für eine höhere Ordnung der Dinge, in
der wie in der Physik oder Chemie nichts zerstört wird. Seien
wir also die schöpferische Kraft und verschwenden wir keinen
Gedanken an unsere Zukunft.

Wenn unsere Personenstandspersönlichkeit erlischt, sind die


Spuren, die sie hinterlässt, nur von mäßigem Interesse. Für sie
muss man nach dem Tode nichts erwarten. Post mortem nihil!
Aber das Werkzeug darf nicht mit dem Arbeiter verwechselt
werden.

Im Übrigen: Wonach strebt denn der Initiierte, wenn nicht da­


nach, sich zu verwandeln? Selbst Agens der Verwandlung, wie
könnte er da an seiner eigenen Metamorphose zweifeln? Um
Fortschritte zu machen und aufzusteigen, muss man alle Belas­
tungen abstreifen. Lernen wir, uns von allem zu lösen, was uns
beschwert, und gewinnen wir an Kraft, was wir an stofflicher
Dichte verlieren. Nehmen wir überdies Abstand davon, uns das
nichtpersonale Leben vorstellen zu wollen, denn in diesem Be­
reich sind alle Vorstellungen vergeblich. Es genügt, dass uns die
Akazie bekannt ist, anders gesagt, dass wir uns des wirklichen
Lebens bewusst sind. Aber der Zweig der Enthüllung ist un-

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 107


trennbar verbunden mit Winkelmaß und Zirkel, den Werkzeugen
des Maßes und der festen Bestimmtheit, die dafür sorgen, dass
unsere Handlungen sich an Recht und Gerechtigkeit orientieren
und unsere theoretischen Begriffe sich in sorgsam kontrollierter
Stringenz entwickeln.

Ein Maurer wird sich also niemals im Unbekannten verlieren. Er


weiß das Geheimnis recht in Anschlag zu bringen und wird es
immer ablehnen, sich als ein Hoher Priester aufzuspielen, der fä­
hig sei,jede Neugier zufrieden zu stellen. Seine Überzeugungen
bleiben praktischer Natur. Er behauptet nur in dem Maße, in
dem er feststellt. Weil er die Verbindung erkannt hat, die das
Leben stets mit einem Leben größerer Allgemeingültigkeit ver­
bindet, sieht er das menschliche Individuum als lebende Zelle
des großen Organismus der Menschheit. Dieses Kollektivwesen
entspricht dem Großen Adam der Kabbalisten, der injenem hö­
heren Leben existiert, das den Eingeweihten versprochen wurde,
die es verstehen, ihrer profanen Persönlichkeit zu sterben.

Die Unsterblichkeit

Unter der Vielzahl der unendlich wechselnden äußeren Erschei­


nungen verbirgt sich eine innere Wirklichkeit, deren wesentliche
Eigenschaft die Einheit ist. Es ist das, was die Alten ev -ro 1tav,
eins-in-alles, benannt haben. Sie verstanden darunter eine ein­
zige Substanz, die unter beständig wechselnden Aspekten der
Materie verborgen ist. Weil sie darüber hinaus glaubten, dass ein
und dasselbe Leben in allen lebenden Wesen fließt, nahmen sie
in analoger Weise an, dass sich auch in jedem Denken ein ein­
ziges geistiges Licht offenbare.

In dem Maße, in dem wir uns der allen Wesen und Dingen zu
Grunde liegenden Einheit verbinden, sind wir auch mehr oder
weniger unsterblich. Wenn die All-Einheit die uns beseelende
Mitte ausfüllt, nehmen wir am Ewigen und Unzerstörbaren teil.
Wenn sich dagegen nur das Vorübergehende in uns bricht, gibt
es keinen Grund, dass wir überleben sollten, was seiner eigent-

108 Der Meister


liehen Natur nach ephemer und flüchtig oder, wie die Mystiker
sagen, zeitlich ist.

Die Initiierten wiederum stellen sich ein ewiges Leben vor, das
sich von dem Leben unterscheidet, das sie in dieser niederen
Welt führen. Sie begreifen nicht, dass das Leben notwendiger­
weise eins ist und wir schon jetzt in der Ewigkeit leben. Sie las­
sen sich dadurch täuschen, dass sich das eine Leben in unserer
Persönlichkeit verdoppelt,je nachdem,ob wir auf der Bühne der
Objektivität erscheinen oder uns für den Augenblick davon zu­
rückziehen. Diese Rückzugsphasen sind gekennzeichnet durch
den Schlaf und den Tod,einander ähnliche Zustände, deren einer
nicht beunruhigender ist als der andere. Während wir schlafen,
löst sich der Schauspieler aus unserer Haut,in die er im wahrsten
Sinne des Wortes geschlüpft ist, um seine Rolle zu spielen, und
wird für kurze Zeit wieder er selbst. Aber nach einigen Stunden
kehrt er auf die Szene zurück bis zu dem Tag, an dem er dem
Theater gänzlich abschwört und nicht wiederkehrt: Dann voll­
zieht sich, was man sich angewöhnt hat, den Tod zu nennen -
bezogen auf das Prinzip,das in uns denkt und handelt,ein bloßer
Zwischenfall.

Da nichts verloren geht oder zerstört werden kann, setzt sich


jede Aktivität unter einer anderen Anwendungsform fort. So
sieht die maurerische Tradition den Freimaurer als einen Men­
schen, der zur Arbeit in einer höheren Ebene abberufen wurde.
Es gab in ihm eine dem Großen Werk geweihte Energie, eine
wie alle anderen Kräfte unzerstörbare Kraft. Diese Energie ist
von ihrem Werkzeug, mit dessen Hilfe sie sich unter uns zeigte,
unabhängig. Sie verwandelt sich, ohne zu erlöschen. Will man
auf initiatischem Boden bleiben, ist es indessen angebracht, an
dieser Stelle den Erklärungsversuch nicht weiter zu verfolgen.

Wenn wir uns der Symbolik des dritten Grades zuwenden, so


sind wir vom Jenseits durch einen undurchdringlichen Schleier
getrennt. Wir sind so gebaut, dass wir in dem eingeschränkten
Bereich arbeiten müssen, den uns unsere Sinne zeigen. Erfüllen
wir also unsere Aufgabe,ohne uns durch indiskrete Neugier vom

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 109


gegenwärtigen Zustand unserer Lebensbedingungen ablenken zu
lassen. Ein Arbeiter, der einen Taucheranzug übergestreift hat,
um den Erfordernissen gerecht zu werden, die er unter der Was­
seroberfläche zu erwarten hat, wäre schlecht beraten, wollte er
dem weiten Horizont des Meeresspiegels nachtrauern. Er muss
sich mit dem Wenigen zufrieden geben, das er im Halbdunkel
der schlammigen Tiefe erkennt, in der ihn seine Bleisohlen fest­
halten. Das Gerät, dessen Gefangener er ist, erlaubt es ihm, in
einer Umgebung tätig zu sein, die nicht die seine ist; solange
er dort eingeschlossen ist, lässt der Taucher, um sich ganz sei­
ner Arbeit widmen zu können, alle Erinnerungen an die freie
Luft beiseite. So verhält es sich auch mit uns, soweit wir Mate­
rie geworden sind. Wir müssen also das Bestmögliche aus den
Organen machen, über die wir verfügen, und uns dazu zwingen,
unseren Beruf als Taucher sorgfältig auszuüben. Dennoch wird
von den Männern im Taucheranzug nicht verlangt, etwa daran
zu glauben, dass sie ihr ganzes Leben in der Tiefe des Wassers
zubringen müssen. Sie sind nur hinabgestiegen, um eine Mission
der Oberwelt zu erfüllen. Ist es nicht genauso bei dem geheim­
nisvollen Schauspieler, der sich zur Erfüllung eines höheren
Zwecks mit unserer Persönlichkeit vermummt hat?

Die Weisen des Altertums haben niemals behauptet, in diesen


Dingen klarer zu sehen als der Gemeinste der Sterblichen. Sie
rühmten sich keiner anormalen Sensibilität, die ihnen die Ge­
heimnisse der anderen Welt oder des anderen Lebens zu enthül­
len vermöchte. Meditation brachte sie auf den Weg vernünftiger
Deutungen, über die sie lieber Schweigen bewahrten, während
sie zugleich alle Spekulationen über das, was normalerweise un­
erkennbar ist, Wahrsagern und Hexen überließen.

Was nach dem Tode bleibt, ist im Übrigen vor allem die Erinne­
rung. Ein ehrenhaftes Gedenken zu hinterlassen sollte der Ehr­
geiz eines jeden sein. So bescheiden die Rolle auch ist, es kommt
immer darauf an, gut zu spielen; denn die Kunst, ein gutes Leben
zu führen, ist die größte aller Künste, die große Kunst schlecht­
hin, die Königliche Kunst, der sich die Initiierten verschreiben.

110 Der Meister


Wer recht gelebt hat, macht sich unsterblich, und sei es in
Form eines bei den Nachgeborenen fortlebenden glücklichen
Einflusses, einer Strömung, die sich noch verstärkt, wenn die
Nachkommenschaft dem Kult der Ahnen treulich dient. Dieser
Kult hat seine Wurzeln in einem sehr sicheren Instinkt. Er hat zu
kindischen Praktiken geführt, aber er ist in der Reinheit seiner
Grundlagen zutiefst ehrenwert. Wir müssen so leben, dass wir
eine Dynamik des Guten hinterlassen, eine wertvollere Erbschaft
als diejenige, auf die der Fiskus zurückgreift. Diese immaterielle
Erbfolge eröffnet sich im Übrigen zum Vorteil all derer, die sie
zu nutzen wissen, und zwar ohne dass irgendeiner der Beteilig­
ten jemals enttäuscht wäre.

Der wohltätige Einfluss, der auf diese Weise ausgeübt wird,


hängt nicht von dem Lärm ab, der um eine bestimmte Person
gemacht wurde. Das Schweigen, das sich über diejenigen senkt,
die am meisten von sich reden gemacht haben, lässt nicht lange
auf sich warten. Der Ruhm erzeugt nur eine ziemlich jämmer­
liche Unsterblichkeit, geradezu eine Karikatur der wirklichen
Unsterblichkeit.
Wenn wir lernen, gut und recht zu leben, ist auch der Tod für uns
nur ein Mittel, noch besser, noch sinnvoller zu leben.

Das Fortleben

Wer ein Werk hinterlässt, hat das Gefühl, nicht gänzlich zu ster­
ben. Seit die Menschheit des Nachdenkens fähig wurde, führt
jeder Mensch, der weder über Kunstfertigkeit noch Handwerks­
geschick verfügte, das Große Werk durch Fortzeugung der
Gattung weiter. Alles, was sich auf die Zeugung bezieht, wur­
de heilig. In Form des Menhir aufgerichtet, wurde das männ­
liche Geschlechtsorgan zum ersten Symbol der Schöpferkraft;
im Kreise der Familie fühlte sich der Vater vergöttlicht, daher
das Patriarchat der Urzeit. Ohne Nachkommenschaft zu sterben
galt damals als das schlimmste Unglück, als wenn derjenige zur
Gänze stürbe, der nicht ein menschliches Wesen zurücklässt, um
sein Andenken zu ehren.

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 111


Später, als der Nomade sesshaft geworden war, schien er am Le­
ben des Baumes teilhaben zu wollen, den er gepflanzt hatte. Der
Begründer eines Hauswesens wurde zu seinem Schutzgott, und
die Öffentlichkeit vergöttlichte in gleicher Weise den Erbauer ei­
ner Brücke, eines Aquädukts oder den Mann, der einen Brunnen
gegraben hatte. Dies führte dazu, dass sich die großen Herren
bemüßigt fühlten, sich durch die Errichtung großartiger, un­
zerstörbarer Bauwerke, die ihnen als Grabstätte dienen sollten,
unsterblich zu machen. Die Pyramiden zeugen von diesem kin­
dischen Ehrgeiz.

Auf edlerer Stufe steht die Suche nach Schönheit, von der die
Menschen besessen waren, seit sie sich über ihre tierische Na­
tur erhoben hatten. Das Bedürfnis, Gegenstände zu verzieren,
ihnen eine harmonische Form zu geben, zeigt sich schon in den
ältesten Spuren menschlicher Arbeit. Es kam zur Herausbildung
von Künstlerpersönlichkeiten, die ihrem Werk so viel liebende
Hingabe schenkten, dass es wert wurde, auch von künftigen Ge­
nerationen noch bewundert zu werden. Nun ist aber derjenige
nicht tot, der Schönheit lebendig werden ließ; er lebt in all den
Menschen weiter, die demselben Kult huldigen, in allen Herzen,
in denen die Harmonie fortschwingt, die er in die Tat umgesetzt
hat.

Unter diesem Blickwinkel erheben sich Musik und Dichtkunst


über Malerei und Plastik. Es waren zunächst die Rhapsoden, die
in rhythmischer Sprache, die das Gedächtnis leicht bewahrt, die
mündlicher Überlieferung vorbehaltenen Legenden vortrugen.
Dann erlaubte es die Schrift, das gesprochene Wort festzuhalten,
und seither gilt die Kunst des Schreibens als eines der sichersten
Mittel zur Unsterblichkeit.

Aber im Bereich des Fortlebens ist alles, was auf gegenständ­


lich fassbaren Werken beruht, mehr als relativ. Meisterwerke
gehen unter, und wir vergessen ihre Urheber. Was aber demge­
genüber niemals untergeht, ist die gute und großherzige Tat, die
zum Wohl der breiten Masse unternommen wird. Sie erwächst
aus einer Kraft, die den einzelnen Menschen beseelt und nicht

112 Der Meister


aufhört zu wachsen. Mögen diese auch von uns gehen - es ist
nicht von Bedeutung, solange nur die Energie fortbesteht, die in
ihnen wirksam war! Sorgen wir uns also nicht um eine Unsterb­
lichkeit, die wir uns als individuell geprägt vorstellen. Unsere
Person wird verlöschen, und sollte sich irgendjemand später die
Hoffnung machen, durch Beschwörung mit uns in Verbindung
treten zu können, so wird er bestenfalls ein Schattenbild aufbau­
en, wenn er die Einzelheiten zusammenfügt, die an uns erinnern.
Trotz angestrengtester Bemühung kann er nur fassbar machen,
was in seinem eigenen Geist vorhanden ist, denn jede Nekro­
mantie ist nur ein Spiel mit Trugbildern, die aus dem erwachsen,
was der sie Beschwörende selbst einsetzt.

Der Initiierte wird also niemals versuchen, irgendjemanden, wer


immer es auch sei, heraufzubeschwören. Das Gefäß, die Maske
(persona) ist nichts in seinen Augen; er interessiert sich nur für
den Inhalt, die lebenspendende Energie, die allein unvergäng­
lich ist. Diese Energie wird angezogen von der Sehnsucht, Gutes
zu tun und Leib und Seele dem Großen Werk zu widmen. Was
also wirkt in uns, wenn nicht die Kraft, die unsere Vorgänger
beseelte? Der auferstandene Hiram ist Wirklichkeit. Lernen wir
zu meditieren und zu begreifen.

Aberglauben

Indem sie das Joch der Vorurteile abwirft, erhebt sich die Ver­
nunft gegen alles, was die Prüfung durch den kritischen Verstand
nicht aushält. Nichts könnte besser sein - aber ist der Richter,
der das Urteil spricht, auch sicher, dass er selbst voll und ganz
aufgeklärt ist?

Nichts existiert ohne Grund. Vertiefen wir also, bevor wir ver­
werfen. Dieses Vorgehen ist nicht revolutionär, aber initiatisch.
Die ungeduldige Jugend kann sich dazu kaum verstehen, das
Alter jedoch muss es als Richtschnur übernehmen. Der Meister
urteilt nur aus völliger Kenntnis der Sache.

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 113


Wenn er erfasst hat, was der Leichnam Hirams bedeutet, wird er
nichts mehr verachten, was menschlich ist. Er wird sich insbe­
sondere davor hüten, mit unreflektierter Missachtung alles nie­
derzumachen, was ein enger Rationalismus nur allzu schnell als
absurd verwirft.

Unser Überlegen hat nichts Unfehlbares, und seine Klarheit er­


streckt sich nur auf einen begrenzten Bezirk. Außerdem ist vieles
noch weit davon entfernt, geklärt zu sein, so dass kluge Zurück­
haltung sich vor allem empfiehlt im Hinblick auf festsitzende
Überzeugungen, die sich trotz der herrschenden Religionen und
aller schöngeistig-philosophischen Systeme von Jahrhundert zu
Jahrhundert erhalten haben. Es sind dies Erscheinungen, die wir
Aberglauben nennen. In seinem weitesten Verständnis erfasst
dieser Begriff alles, was überlebt (superstes). Jeder Aberglau­
be ist also etwas überlebendes: das überleben eines Brauchs
oder einer Praxis, die buchstabengetreu dem folgt, was ihnen
ursprünglich zu Grunde lag.
Wir wissen nicht mehr, warum wir bestimmte Verhaltensweisen
des gesellschaftlichen Lebens fortsetzen, die nur indessen an ih­
rem Beginn logisch klar definiert waren. Heute vollziehen wir
sie mechanisch, um der Sitte zu genügen und ohne uns mit ihrer
rationalen Rechtfertigung zu befassen. So ist unser Leben ein
ganzes Geflecht aus Aberglauben, der zumeist allerdings ganz
harmlos ist.

Andere abergläubische Vorstellungen sind es weniger; statt un­


bemerkt zu bleiben, erschrecken sie jeden Freund der Vernunft.
Hier nun unterscheidet sich der denkende Meister vom Lehr­
ling, der sein Denkvermögen erst einübt. Aberglaube setzt sich
umso mehr in denkenden Köpfen fest, je weiter verbreitet, alt­
hergebrachter und gröber er nach außen auftritt. Man muss aller­
dings a priori feststellen, dass wir, wenn wir schon die absolute
Wahrheit nicht erfassen können, keinesfalls vor einem von allen
Menschen weithin und dauerhaft akzeptierten Irrweg stehen. Sie
hängen trotz aller gut gemeinten Ratschläge beharrlich nur an
solchen Vorstellungen, die nicht ganz und gar falsch sind, son­
dern deren ursprüngliche Wahrheit lediglich verdunkelt wurde.

114 Der Meister


Ebenso wie der Flussschlamm kaum wahrnehmbare Goldplätt­
chen mitschwemmt, gibt es auch in dem grotesken Plunder des
Aberglaubens immer etwas Wahres. Waschen wir also den Bo­
densatz der Jahrhunderte aus, um aus ihm das kostbare Metall
herauszulösen.

Vergessen wir nicht, dass unsere Riten und Symbole in Formen


des Aberglaubens auf uns gekommen sind, das heißt als mit Lie­
be treu bewahrte Überlieferungen, die niemand mehr logisch
erklären konnte. Die Vergangenheit hat uns noch nicht alle ihre
Geheimnisse preisgegeben. Sie verdient gerade in denjenigen
ihrer Nachlassstücke sorgfältig studiert zu werden, die uns am
meisten verunsichern. Schon jetzt, im Lichte eines vertieften
Wissens um die menschlichen Begabungen, zucken wir bei Be­
richten von besonderen Fähigkeiten, die sogenannten Hexen­
meistern zugeschrieben werden, nicht mehr bloß mit den Schul­
tern. Klugerweise geben wir uns Mühe, uns in die Vorstellungen
der Betroffenen hineinzuversetzen und dabei zugleich das Wahr­
scheinliche vom Märchenhaften zu trennen. Der Volksglaube,
wie man ihn bis hin zu den Wilden gesammelt hat, wimmelt
von unschätzbaren Hinweisen auf das, was man die natürliche
Offenbarung nennen könnte. Hier liegt ein ungeheures Feld für
Untersuchungen vor uns, das der Eingeweihte nicht vernachläs­
sigen darf, wenn er wirklich das Verlorene Wort wiederfinden
will. Der Leichnam Hirams liegt vor uns: Beugen wir uns über
ihn, heben wir ihn auf und geben, indem wir ihm unser Leben
einhauchen, das Leben demjenigen zurück, der nur darauf war­
tet, das Wort zu ergreifen, um uns zu belehren!

Der Aufbau der Persönlichkeit


Es wird gemeinhin angenommen, dass sich die antike Initiation
vor allem auf zwei große Geheimnisse erstreckte, wobei das eine
die Existenz eines einzigen Gottes als Synthese der vielen von
der breiten Masse angebeteten Götter betraf, das andere die Un­
sterblichkeit der menschlichen Seele!

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 115


Da die initiatische Methode es sich versagt, überhaupt irgendet­
was aufzudrängen, darf man keineswegs davon ausgehen, dass
im Rahmen der Mysterien irgendeine festumrissene Lehre ver­
mittelt wurde. Der Adept hat die Aufgabe, selbst herauszufin­
den, was er als wahr annehmen will. Seine Lehrmeister hüten
sich davor, Dogmen zu formulieren, die den Anspruch erheben,
alle Probleme lösen zu können, die sich dem menschlichen Ver­
stand stellen. Der Eingeweihte widmet sich der beständigen Su­
che nach einer Wahrheit, von der er weiß, dass er sie niemals
erreichen wird. Er überlässt es also den Religionen und philo­
sophischen Systemen, die Neugierigen zufriedenzustellen, die,
weil sie zu jeder persönlichen Suche unfähig sind, nach aner­
kannten Lösungen suchen, die von einer seriösen Kirche oder
einer Denkschule von unbestreitbarem Ruf abgesichert sind!

Weit davon entfernt, die Mühe des Denkens zu ersparen, zwingt


die Inititation zum Denken. Mit Hellsichtigkeit die Probleme
darzulegen ist ihr wichtiger, als sie zu lösen. Wenn wir entspre­
chend den pythagoräischen Vorschriften die Zahlen befragen,
kommen wir zweifellos dazu, die Einheit eines handelnden und
intelligenten universalen Prinzips zu formulieren. Es ist lobens­
wert, wenn wir auf dieser Grundlage die Metaphysik unserer
Wahl aufbauen; aber wir hätten keineswegs das Recht, unsere
persönlichen Vorstellungen in ein initiatisches Lehrgebäude um­
zusetzen.

Was den Großen Baumeister aller Welten angeht, muss man


sich klarmachen, dass dieser Ausdruck keineswegs darauf ab­
zielt, irgendeinen Glauben aufzudrängen. Die Bauleute mussten
natürlich dazu kommen, sich die ganze Welt als eine gewaltige
Baustelle vorzustellen. Vom Kleinen auf das Große schließend,
zögerten sie nicht, die Überzeugung zu vertreten, dass alles eine
einzige Baukonstruktion sei, wobei die Arbeit der Natur nur da­
rauf gerichtet ist, immer vollkommenere Wesen zu entwickeln.
Diese Auffassung betrachtet jeden Organismus als Bauwerk und
demzufolge auch den Menschen selbst als beseelten Bau.

116 Der Meister


Die maurerische Symbolik treibt die Analogie noch weiter,
indem sie unterstellt, dass der Mikrokosmos oder die Welt im
Kleinen genauso gebaut ist wie der Makrokosmos oder die Welt
im Großen. Wir hätten also in uns einen Baumeister, der in sei­
nem Bereich an Stelle des universalen Großen Baumeisters tätig
wird.

Die Hermetiker, deren Allegorien von der Chemie inspiriert sind,


verlegen die konstruktive Energie jedes Individuums in den ihr
innewohnenden Schwefel, eine sich ausdehnende innere Glut,
die die Entwicklung des Keims, des Wachstums und schließlich
das völlige Erlöschen der Wesen bestimmt. Dieses geheimnis­
volle Prinzip wird aus dem Stadium des Möglichen durch Be­
fruchtung in den Bereich des Wirklichen überführt. Das setzt
eine rasche Vervielfältigung der befruchteten Zelle in Gang, de­
ren Nachkommenschaft sich mehr und mehr differenziert, indem
sie sich an die komplexen Funktionen der sich herausbildenden
Gesamtheit anpasst. Jeder von uns ist eine Menschheit im Klei­
nen, hervorgegangen aus einer ursprünglich männlichen und
weiblichen Eizelle. Es ist sogar zulässig, im intrauterinen Leben
jene Phase wiederzufinden, die dem Garten Eden der biblischen
Legende entspricht.

Wie dem auch sei, der Organismus bildet sich nicht aus Zufall,
sondern nach gewissen Regeln der Kunst, die darauf abzielen, ei­
nen normalen, robusten und der von ihm einmal auszufüllenden
Rolle gut angepassten Einzelmenschen zu formen. Darin zeigen
sich allgemeingültige Gesetze der Baukunst, die durch die Wei­
tergabe der Gattung vorgezeichnet sind. Alles läuft so ab, als
ob die individuelle Keimzelle einer Bauplanung gehorchte, die
jede Zelle dazu beruft, eine von den Bedürfnissen des Ganzen
bestimmte Funktion zu erfüllen. Es gibt eine Zielvorstellung und
eine Vorausschau, anders gesagt die Ausführung eines vorher­
bestimmten Plans. Dies trifft für jede Entwicklung alles irgend­
wie Lebendigen zu, so winzig es auch sein mag. Der geringste
pflanzliche Organismus geht von einem Idealtypus aus, nach
dem er sich gestaltet. Weitaus komplexer lehnt sich der Aufbau
des menschlichen Organismus ebenfalls an einen allgemeinen

Der Meistergrad und sein geistiges Umfeld 117


und dauerhaften Typus der Rasse an, der in den Familien in einer
vergänglichen Weise als Sonderbildung auftritt. Das Individuum
ist damit das einerseits vorübergehende, andererseits immer wie­
derholte Produkt einer ewigen Ursache baulicher Natur.

Hüten wir uns also davor, jener Denkweise nachzugeben, die


den Großen Baumeister der Eingeweihten mit dem Gott der
Gläubigen verwechselt. Der universale Bauplan ist Wirklichkeit.
Kleine und große Lebewesen bauen sich jeweils nach dem Ide­
alplan ihrer Gattung auf, allerdings modifiziert in ihren Ausprä­
gungen, um der jeweils besonderen Bestimmung (dem Schicksal)
des Einzelnen zu entsprechen. Es handelt sich nicht darum, den
Problemen aus dem Weg zu gehen, sondern darum, in völliger
geistiger Freiheit Lösungen zu finden. Um in die Tiefe des Ge­
heimnisses vorzustoßen, muss man es fest in den Griff nehmen,
nicht aber sich von ihm abwenden. Für den denkenden Men­
schen ist alles Gegenstand des Nachdenkens: Er fürchtet weder,
sich in die Nacht zu stürzen, um dort die Schatten einzufangen,
noch in die Dunkelheit des Unermesslichen einzutauchen, wenn
er dort Elemente des Lichts aufzufinden hofft. Hiram steht nur
von den Toten auf, indem er sich aus dem Grab erhebt.

118 Der Meister


Teil IV
DIE PFLICHTEN
DES MEISTERS

DIE VERWIRKLICHUNG

Über sich selbst Meister sein

Aufgerufen, uns dem Großen Werk des Weltenbaus einzuglie­


dern, müssen wir uns vor allem erst einmal das notwendige
Werkzeug schaffen. Dieses Arbeitsinstrument ist unser Organis­
mus, der im Hinblick auf die Aufgabe konstruiert wurde, die auf
uns zukommt. Er ist wie ein Gebäude, dessen tragende Steine
lebende Zellen sind; das Gesamte aber hat seine physiologische
Eigenständigkeit, und der freie Verstand beherrscht das Tierische
niemals völlig. Er wurde mit Beginn des Lebens durch den In­
stinkt überlagert und taucht erst Schritt für Schritt in einem gei­
stigen Reifeprozess wieder auf. Dann tritt er in den Kampf ein
mit den Leidenschaften, um in einem späten Stadium, wenn jene
sich besänftigt haben, schließlich doch die Oberhand zu gewin­
nen.

Sich zum Meister seiner selbst zu machen, entspricht also zu


einem Großteil dem Lernprogramm des Lebens. Wir nehmen
unsere Organe und unsere Fähigkeiten nach und nach in Besitz,
ohne indessen immer auch alle Möglichkeiten voll auszuschöp­
fen. Die Initiation versetzt uns unter diesem Gesichtspunkt in
die Lage, das Durchschnittsmaß zu übersteigen: Es zeichnet den
Eingeweihten aus, dass er sich besser und vollständiger besitzt
als der gemeine Mann. Aber die Aufgabe ist hart; die Anforde­
rungen richten sich nach dem jeweils erreichten Grad der Initi­
ation.

Die Pflichten des Meisters 119


Indem er in Ordnung tritt, gibt der Lehrling zu verstehen, dass er
sich in geistiger Hinsicht beherrscht. Im Winkel unter das Kinn
gelegt, bewahrt seine Hand den Kopf vor jeder heftigen Bewe­
gung, die aus der Brust emporsteigt, wo die Leidenschaften bro­
deln. Der junge Initiierte urteilt in Ruhe, unparteiisch, als ein
ehrlicher und uneigennütziger Sucher nach der Wahrheit.

Aber es genügt nicht, sich durch Gedankenarbeit zu einer lo­


benswerten gelassenen Heiterkeit zu erheben. Wenn wir uns
daran machen, möglichst richtige Vorstellungen zu entwickeln,
folgen wir nicht einem müßigen Zeitvertreib aus bloßer Freude
an der Diskussion oder um uns steril in höherer Geistigkeit zu
vervollkommnen. Wir wollen vielmehr klar sehen, weil wir über­
legt handeln wollen, denn das Handeln ist unser Ziel, nicht die
Spekulation. Nun ist es nicht das Gehirn, das unser Tun anregt,
denn alles Tun erwächst aus dem Gefühl, dessen symbolisches
Organ das Herz ist. Es ist demnach die Aufgabe des Gesellen,
dessen vornehmste Pflicht ja die tätige Umsetzung des Denkens
ist, den Lehrling im Bereich des Ich zu übertreffen. Zur geistigen
Disziplin fügt er die des Gefühls hinzu: Er unterwirft dem Ver­
stand die Kräfte, die zum Handeln treiben; er koordiniert sie,
ohne sie zu schwächen, und gebraucht sie mit Bedacht. Seine
Leidenschaften dienen ihm, weil er sie zu beherrschen weiß.

Der Meister vollendet die Unterwerfung dessen, was zu ge­


horchen hat. Seine Meisterschaft erstreckt sich bis hin zu den
Instinkten, die das menschliche Tier leiten. Er unterdrückt sie
nicht, denn sie sind notwendig; aber er zähmt sie, wie es die
für den dritten Grad charakteristische Haltung zu verstehen gibt.
Vom Hals hat sich die Hand zum Herzen bewegt und schließ­
lich zum Bauch, dem Sitz der Begehrlichkeiten, die der Initiierte
zum Schweigen bringt.

Unter dem Vorwand der absoluten Souveränität des Geistes wol­


len einige Denkschulen den Organismus einer Diktatur unter­
werfen, die dem Lehrauftrag der wahren Initiation fremd ist. In
allen Dingen maßvoll und abgewogen, verfällt sie in keinerlei
Übertreibung. Sie verwirft insbesondere die psycho-physische

120 Der Meister


Akrobatik von Fakiren, Derwischen und anderen Asketen. Man
sollte sie kennen, aber, auch wenn sie zu einmaligen Effekten
führt, keinesfalls anstreben. Der wirklich Eingeweihte träumt
nicht davon, irgendjemanden zu beeindrucken; er befasst sich
nur mit der ihm übertragenen Aufgabe und strebt nach meister­
hafter Beherrschung der von ihm verwendeten Handlungsinstru­
mente nur, um jene so gut und vollständig wie möglich erfüllen
zu können. An und für sich hat dieses Instrumentarium keinerlei
sonstiges Interesse. Es in vollkommen gebrauchsfähigem Zu­
stand zu erhalten ist nicht das Hauptziel des Adepten, der sich
dem Großen Werk widmet. Die Kunst, den Verfall und das Al­
tern bei voller Geisteskraft zu vermeiden, ist also nicht das letz­
te Wort der Initiation, obwohl das Elixier langen Lebens keine
bloße Schimäre ist. Eine kluge körperliche und geistige Hygiene
verlängert das Leben des Einzelnen: Es gibt alte Menschen, die
das Geheimnis der ganz natürlichen Verjüngung besitzen, ohne
auf irgendeinen Teufelszauber zurückzugreifen. Legenden wie
die von Doktor Faustus, der fähig war, den im toten Buchsta­
ben gefangenen Geist zu befreien, sind für den Initiierten sehr
lehrreich.
Die Erhaltung der physischen Gesundheit begünstigt die sittliche
Vervollkommnung. Diese ist ihr aber nicht nachgeordnet, denn
es kann in Ausnahmefällen vorkommen, dass der Leib einer hö­
heren Sache geopfert werden muss. Der gute Reiter pflegt sein
Pferd und setzt die Anstrengung, die er von ihm fordert, maßvoll
ein. Angesichts einer höheren Notwendigkeit hört er indessen
auf, das Tier zu schonen.

Vertiefen

Keiner ist Meister, der die Kunst nicht bis auf den Grund be­
herrscht. Nur der Lehrling darf sich mit raschen, allgemeinen
und oberflächlichen Bemerkungen zufriedengeben: Seine Sache
sind übereilte Theorien und jugendliche Gewissheit. Von der
Praxis belehrt, beobachtet der Geselle sorgfältig und überprüft
die Vorgaben der Theorie, wobei er mit der Zeit die Erfahrung
gewinnt, die zur Meisterschaft führt. Diese jedoch belohnt den

Die Pflichten des Meisters 121


Arbeiter nur, wenn er es verstanden hat, sich zur ganzen Größe
der Kunst zu erheben, die er begreifen und spüren muss.

Treu den erkannten Prinzipien arbeitet der Geselle sauber nach


den anerkannten Regeln, aber er gestattet sich nicht, diese
Grundsätze bei ihrer Anwendung zu erneuern oder abzuändern
und neue Arbeitsmethoden einzuführen.

Nun entwickelt sich die Kunst wie alles andere weiter und passt
sich den Notwendigkeiten an, da sie schließlich dazu bestimmt
ist, ohne Unterlass fortzuschreiten. In dieser Hinsicht ist der
Fortschritt das Werk der Meister, die die Überlieferungen auffin­
den und aus der Routine befreien. Weit entfernt von knechtischer
Enge sind sie beseelt vom reinen Geist der Kunst und fürchten
sich nicht davor, das zu reformieren, was sie in einem veralteten
Stil festhält oder im blinden Kult der Vergangenheit versteinert.
Der Künstler vibriert so stark unter den Einflüssen der Kunst,
die er in seinem Inneren spürt, dass er zum freien Interpreten
des Werkes wird, dem er sich gewidmet hat und mit dem er ganz
verschmolzen ist. Der Eingeweihte seinerseits weiht sich der
Großen Kunst, die die Kunst des Lebens ist; er strebt also nach
lebendiger Meisterschaft: Es ist das Leben, das wahre Leben,
das er begreifen und spüren muss.

Ein vernünftiges Verständnis des Lebens liegt in der Tat jeder


initiatischen Klugheit zu Grunde. Dem Denker gelingt es, sich
von den Lügengebilden der äußeren Erscheinungen freizuma­
chen, die die oberflächlichen Köpfe betören. Sein höherer Rang
liegt also in seiner Kraft zur Vertiefung. Diese Kraft muss der
Eingeweihte entwickeln; aber erst am Ende seines Weges, wenn
er sich bereits der Meisterschaft nähert, wird er zum völligen
Erfolg kommen. Er wird stets gegen die Illusion ankämpfen
müssen, die uns Fallen stellt bei allem, was wir als gefühlsmäßig
Beteiligte aufnehmen oder uns vorstellen wollen.

Auf den Grund der Dinge gehen, das ist das ewige Thema der
Philosophie, die wesentliche Aufgabe des denkenden Meisters.
Die Hermetiker mussten den Verlorenen Stein der Weisen im

122 Der Meister


Inneren der Erde suchen [27). Dieselben Tiefen enthüllen dem
Maurer das Verlorene Wort. Kraft des Abstiegs dringt man in die
Mittlere Kammer vor, wo das zentrale Licht leuchtet, das alle
Rätsel erhellt. Allein die aus den Tiefen emporgetragene Klar­
heit erlaubt es dem Meister, seine Brüder aufzuklären und so den
Tod Hirams zu verhindern.

Wenn dem Instruktor diese Fähigkeit zur Durchdringung fehlt,


wenn er nicht zum Sitz des lichten Verstehens hinabgestiegen
ist, reicht der schwache Schimmer, den er eingefangen hat,
nicht aus, die bösen Gesellen von ihrem verbrecherischen Vor­
haben abzuhalten. Die Verschwörung ist untrennbar verknüpft
mit der unbewussten Komplizenschaft der falschen Meister, die
nichts anderes sind als Blinde, die andere Blinde anführen. Eine
schwere Verantwortung lastet also auf dem Maurer, der sich mit
den Insignien des dritten Grades schmückt, wenn er nicht daran
arbeitet, sich das volle Verständnis der Kunst anzueignen. Er ist
für die Fehler, die begangen werden, verantwortlich, weil er es
nicht verstanden hat, sie zu verhindern. Wer zum Meister erho­
ben wird, geht die Verpflichtung ein, nicht einfach für sich al­
lein, sondern vor allem für andere zu arbeiten. Ihm ist der Geist
vieler anvertraut, denn er schuldet den Lehrlingen und Gesellen
das zur Erfüllung ihrer Aufgabe unerlässliche Licht.

Wir erreichen den Gipfelpunkt freimaurerischer Hierarchie also


nicht, um uns auszuruhen. Wir müssen dort vielmehr unsere be­
ständigen Bemühungen verdoppeln, damit nichts von allem, was
die Kunst betrifft, für uns im Dunkeln bleibt. Während die ein­
fachen Arbeiter sich von den Mühen des Tages ausruhen, ist es
Sache des Meisters, in der Stille der Nacht zu wachen, um sich
immer besser in die tiefgründigen Meditationen versenken zu
können, die die Gegenwart erhellen und es möglich machen, im
Lichte einer klarsichtigen Beschwörung der Vergangenheit den
Blick in die Zukunft zu eröffnen.

Die Pflichten des Meisters 123


Anderen zuhören

In der Initiation vollzieht sich alles im Wechselspiel, woran die


grundlegend wichtigen Säulen J. ·. und B. ·. erinnern, die den bei­
den Schalen der Waage entsprechen, die ohne Unterlass das nö­
tige Gleichgewicht herstellen. Nun gäbe es eine Störung dieses
Gleichgewichts, wenn der Meister sich bei der Meditation darauf
beschränkte, nur auf die eigene innere Erleuchtung abzuzielen.
Die schweigende Meditation hat ihr Gegenstück und, falls nötig,
ihr Korrektiv in der freien Diskussion, die umso fruchtbarer ist,
je mehr die ausgetauschten Gedanken einander widersprechen.
Weit davon entfernt, den Widerspruch zu fliehen, sucht ihn der
Denker geradezu. Er hat keine Angst, von Gegnern etwas zu
lernen, was er guten Gewissens übernehmen könnte. Indem er
ihren Standpunkt einnimmt, erkennt er einerseits die Schwächen
ihrer Argumentation und kommt zumeist andererseits dahin, sei­
ne eigene Meinung auf eine breitere Basis zu stellen. Auf diese
Weise erhebt sich der Meister mehr und mehr in den Bereich des
Verstehens; er erfasst das Denken der anderen, um davon fest­
zuhalten, was mit dem seinigen übereinstimmt. Die beständige
Bemühung, sich alles Wahre anzueignen, aus welcher Quelle es
auch fließen mag, entwickelt in ihm überdies das Gefühl der To­
leranz jener für den echten Freimaurer wesentlichen Tugend.

Eine winzige Maurerkelle aus Silber, auf dem Herzen getragen,


bezeichnete einstmals den Eingeweihten, vor dem jeder sich
rückhaltlos aussprechen konnte in der Gewissheit, sich an ei­
nen Verstand zu wenden, der in der Lage war zu verstehen, und
an ein Herz, das allen edlen Gefühlen offen stand. Der Meister
muss sein Zeichen rechtfertigen, wenn er nicht vor denen als
Schwindler dastehen will, die sich im Vertrauen auf Symbole an
ihn wenden.

Hüten wir uns davor, systematisch alles schlecht zu machen, was


wir nicht kennen. Wenn wir den Gegner verurteilen, ohne seine
Argumente abgewogen zu haben, weil wir bereits davon über­
zeugt sind, dass er sich nur in einem Irrtum befinden kann, dann
sind wir diejenigen, die dem Irrtum verfallen, jede weit verbrei-

124 Der Meister


tete Meinung enthält etwas Wahres. Denn die Wahrheit nimmt
den menschlichen Geist selbst dann gefangen, wenn sie sich un­
ter abstoßenden Äußerlichkeiten verbirgt. Keine Überzeugung
ist verachtenswert, denn keine ist in sich absolut falsch.

Der Initiierte hört also gerne und mit Wohlwollen alle an, die
glauben, Recht zu haben. Er verkehrt mit Gläubigen, die be­
strebt sind, ihn zu ihrer Religion zu bekehren, ebenso wie mit
Philosophen, denen alles daran liegt, ihr System auszubreiten.
Angeregt durch das Beispiel der Weisen der Antike, klopft er an
die Pforte aller Heiligtümer und verschmäht keine Denkschu­
le. Meinungsverschiedenheiten belehren ihn, denn er diskutiert
nicht, um zu überzeugen, sondern um überall das reine Metall
aus den Stollenwänden zu befreien und die verstreuten Splitter
aufzusammeln. So können die schlichtesten Menschen dazu bei­
tragen, den Eingeweihten zu bereichern, vorausgesetzt, er inte­
ressiert sich wirklich für die Besonderheit eines jeden Milieus
und sieht überall die prima materia des Großen Werks. In dieser
Hinsicht entdeckt der Weise an jedem Ort und im Überfluss, was
der Dummkopf nirgendwo zu finden weiß [28] .

Jede Illusion verlieren

Sich mit klangvollen Worten und eitlen Äußerlichkeiten abspei­


sen zu lassen ist nur allzu oft das Los von Menschen, die sich für
ernsthafte und nüchterne Denker halten. Der wirklich denkende
Mensch entgeht dieser Täuschung, indem er sich überall umhört
und nicht ablässt, immer weiter in die Tiefe zu gehen. Da nichts
ihn täuscht, gelingt es ihm schließlich, die Wirklichkeit von ihren
verführerischen Außenansichten befreit zu sehen, die die Augen
der breiten Masse blenden. Der durchdringende Blick des Wei­
sen erfasst das Skelett der Dinge. Dies ist der Sinn der entspre­
chenden Zeichnungen an den Wänden der Mittleren Kammer.
Der Meister schiebt den auf die Sinne wirkenden Schmuck bei­
seite, der die bedrückende innere Wahrheit maskiert: Er macht
sich keinerlei Illusionen und fiillt selbst über das. was er am meis­
ten liebt, sein unerbittliches Urteil.

Die Pflichten des Meisters 125


In dieser Hinsicht beurteilt er vor allem zuerst sich selbst ohne
Mitleid. Indem er seine Mängel und Schwächen erkennt, hütet
er sich wohl davor, sich irgendeine Überlegenheit über seine Ge­
führten im Elend zuzuschreiben. Der Einzelne besitzt als Eige­
nes nur die mehr oder weniger starke und dauerhafte Sehnsucht,
durch sein Tun sein Ideal zu verwirklichen. Dieses tief verwur­
zelte Gefühl macht unsere eigentliche Größe aus. Erhalten wir es
uns sorgsam, denn wir sind davon überzeugt, dass wir mit jedem
Schritt, den wir tun, unter dem bescheidensten Äußeren einem
Menschen begegnen können, der mehr ist als wir.

Betrachten wir auch die Institutionen kritisch, mit denen wir ver­
bunden sind. Verfällen wir nicht in den Aberglauben, wir seien
frei, weil unsere Vorfahren für die Freiheit gestorben sind. Un­
abhängigkeit überträgt sich nicht im Wege des Erbgangs: Man
muss sich jeden Tag frei machen, um frei zu werden und zu
bleiben. Unter einer Unzahl von perfiden Formen bedroht uns
die Sklaverei ohne Unterlass; sie drückt sich unserem Geist auf,
wenn Denkfaulheit uns davon abhält, selbständig die Wahrheit
zu suchen; sie lähmt uns moralisch, wenn unser Wille bei ego­
istischen Beschäftigungen einschläft; sie erfasst uns schließlich
politisch, sobald wir unsere Pflichten vernachlässigen und unse­
re Würde als Staatsbürger vergessen.

Man hat der Freimaurerei oft vorgeworfen, sie befasse sich zu


sehr mit Politik. In Wirklichkeit hat sie es eben nicht verstan­
den, so einzugreifen, wie sie gesollt hätte. Die Logen sind nicht
dazu bestimmt, Wahlbüros zu bilden, und noch weniger dazu,
sich in Agenturen zur Beschaffung staatlicher Vergünstigungen
zu verwandeln. Aber sie müssen Heimstätten demokratischer
Erziehung sein. An ihrem Schoß muss sich das Priestertum des
republikanischen Glaubensbekenntnisses bilden, denn das Va­
terland, die Öffentliche Sache (Res publica), ist einer kultischen
Verehrung wert, die aufzurichten Sache der Freimaurer ist. Ihre
Aufgabe liegt dabei darin, durch das Beispiel praktizierter re­
publikanischer Tugenden zu predigen. Diese erfließen aus mu­
tigem Bürgersinn, der zur Verteidigung der Interessen der All­
gemeinheit eingesetzt wird. Eifersüchtig auf seine Souveränität

126 Der Meister


bedacht, fühlt sich der Bürger durch jeden Missbrauch persön­
lich angegriffen. Weit davon entfernt, sich durch sein Schweigen
oder durch das Paktieren mit den Profiteuren zum Komplizen zu
machen, zögert er nicht, seine persönlichen Vorteile aufzuopfern
und mit Entschlossenheit alles zu bekämpfen, was geeignet ist,
die öffentlichen Sitten zu verderben. Die Völker haben immer
nur die Regierungen, die sie verdienen. Wenn sie selbst korrum­
piert sind, können sie nicht erwarten, mit Integrität regiert zu
werden.

Bemühen wir uns also darum, als Einzelne rein zu sein. Verlan­
gen wir von unseren Vertretern keine Gunstbeweise, damit wir
uns das Recht erhalten, sie mit Unnachsichtigkeit zu kontrollie­
ren, ohne ihnen die geringste Schwäche durchgehen zu lassen.
In einer Demokratie ist jeder Bürger für das allgemeine Wohl
verantwortlich. Vergesst es nicht, die ihr in eurer Eigenschaft
als Meister auch Erzieher sein müsst. Um Republikaner zu sein,
genügt es nicht, an einem bestimmten Tag zur Wahl zu gehen
und in Öffentlichen Versammlungen das Wort zu ergreifen; die
Aufgabe ist härter und strenger. Die Republik gibt sich nicht
damit zufrieden, ausgerufen und dann als Etikett behandelt zu
werden; sie muss jeden Bürger und jede Institution bis ins Mark
durchdringen.
Lernen wir, in dieser Hinsicht klar zu sehen. Erfüllen wir unsere
Pflicht, wir, die wir des äußeren Scheins müde sind, danach stre­
ben, Wirklichkeit an seine Stelle zu setzen.

Die Meisterschaft ausüben

Um der Nation alle Dienste zu leisten, die sie von uns als gänz­
lich aufgeklärten Bürgern erwarten darf, ist es unerlässlich, dass
wir auch in Bezug auf die Maurerei unserer Rolle als Freimaurer
in vollem Umfang gerecht werden.
In diesem Bereich wie in jedem anderen darf keinerlei Illusion
die Klarheit unseres Urteils trüben. Die maurerische Organisa­
tion hat ihre Unvollkommenheiten, ihre Mängel und ihre heil­
baren Krankheiten, zu deren Beseitigung der Meister-Maurer

Die Pflichten des Meisters 127


seinen Teil beizutragen bemüht ist. In seiner Eigenschaft als Arzt
wird er sich zunächst einmal damit befassen, das Übel zu erken­
nen, indem er seine alarmierenden Symptome feststellt. Indem
er sodann auf die Ursachen der festgestellten Beschwerden zu­
rückgeht, macht er sich ein klares Bild vom Ausmaß der Unord­
nung und setzt Heilmittel ein. Es kann sein, dass die Krankheit
schwer ist und sogar unheilbar erscheint. Manchmal haben sich
die Dinge so weit entwickelt, dass man versucht ist, überhaupt
nichts Freimaurerisches mehr in dem zu erkennen, was diesen
Namen trägt. Dann wiederum steht man vor Vereinigungen, die
sich unmerklich vom maurerischen Ideal entfernt haben, die ei­
nen in dieser Richtung, andere, indem sie eine diametral entge­
gengesetzte Richtung verfolgen.

Der erfahrene und von reinem maurerischen Gefühl getragene


Freimaurer kommt schließlich dahin, dass er die eigentliche
Maurerei sucht, ohne sie in einer der bestehenden Gruppierungen
finden zu können. Angesichts der verwirrenden Abweichungen
fragt er sich, ob die wahre Maurerei nicht eine Utopie sei, eine
Träumerei im spirituellen Bereich, die in der Praxis nicht zu ver­
wirklichen ist, solange die Menschen nicht aufgehört haben, so
zu sein, wie sie sind.

Die Initiation verlangt, dass wir für das profane Leben sterben,
um zu einem höheren Leben wiedergeboren zu werden. Nun be­
gnügen sich aber die Maurer damit, viel zu symbolisch zu sterben:
Das initiatische Ritual genügt ihnen, und sie vergessen, sich dem
Lehrinhalt anzupassen, dessen allegorische Darstellungsweise
es ist. Ergebnis: Die Maurerei existiert nur symbolisch und der
Maurer ist nur Symbol dessen, was er eigentlich sein sollte. So
darf es nicht länger sein. Die allzu ausschließlich rituelle Mau­
rerei hat ihre Zeit gehabt. Unsere Institution befindet sich nicht
mehr im Stadium ihrer Kindheit, wo sie instinktiv in frommem
Gehorsam Rituale ausführte, deren Bedeutung sie nicht kannte.
Jetzt will Hiram wieder lebendig werden und das Verlorene Wort
aussprechen. Die tote Überlieferung, die ihn einzig als mumifi­
zierten Leichnam behandelte, muss in unserem Verständnis und
unserem Wollen neues Leben gewinnen. Machen wir Hiram in

128 Der Meister


der Wirklichkeit lebendig. Kommen wir zu diesem Zweck auf
das reine maurerische Ideal zurück und errichten ihm einen Altar
im Heiligtum unseres Verstandes. Indem wir den Geist herauf­
beschwören, der den unverstandenen Formen einen lebendigen
Sinn verleiht, erwecken wir auch die Weisheit der Jahrhunderte
wieder zum Leben.

Die moderne Freimaurerei ist nicht dazu bestimmt, das zu blei­


ben, was sie einmal war. Sie hat ihr Ideal bisher weder in der
Vergangenheit noch in der Gegenwart verwirklichen können;
aber die Zukunft, die sich ihr öflhet, ist voller Versprechungen.
Auf das Stadium kindlicher Unbewusstheit und unkontrollierter
Entwicklung, die die am 24. Juni 1917 abgelaufenen zwei Jahr­
hunderte kennzeichnen, muss ein Zeitalter der Vernunft und der
Gedankenarbeit folgen. Die maurerische Idee hat sich bisher nur
in rituelle Handlungen umgesetzt, die ohne rechte Überzeugung
ausgeführt wurden, weil die „Geheimnisse" eben geheimnisvoll
geblieben sind. Beeilen wir uns, sie diesen Charakter verlieren
zu lassen. Die Nacht des Geheimnisses nimmt ein Ende mit
der morgendlichen Klarheit der neuen Zeiten. Aber der spiri­
tuelle neue Tag kommt nicht ohne unsere aktive Mitwirkung:
Die beschwörenden Worte der Meister sind es, die die Sonne
des Geistes zwingen, die Nebel am Horizont zu durchbrechen.
Lernen wir, das Licht heraufzubeschwören, damit es uns durch
die Erhellung unseres Begriffsvermögens erlaubt, zu lehren und
verständlich zu machen, was wir an Vertiefung erreicht haben.

Wenn es in der Maurerei aufgeklärte Meister gibt, die fähig sind,


die heilige Sprache zu lesen und zu schreiben, dann wird unse­
re Institution vom Symbol zur Realität übergehen. Sie wird die
wahre Einweihung verkörpern und tatsächlich den Tempel der
höchsten menschlichen Weisheit errichten. Indem er die Dinge
in ihrem wahren Wert erkennbar macht, wird der vollkommen
ausgebildete Maurer nicht mehr bei dem toten Buchstaben einer
noch so ehrwürdigen Tradition verharren, denn er begreift den
belebenden Geist, der es ihm erlaubt, die Meisterschaft wirklich
auszuüben und die große Transmutation der Unwissenheit zum
Wissen und des Bösen zum Guten zu vollenden.

Die Pflichten des Meisters 129


Teil V
LEHRGESPRÄCH
IM MEISTERGRAD
Frage: Sind Sie Meister?
Antwort: Prüfen Sie mich: Die Akazie ist mir bekannt.

Frage: Warum antworten Sie so?


Antwort: Weil die Akazie das Symbol eines unzerstör­
baren Lebens ist, dessen Geheimnisse mir
enthüllt worden sind.

Frage: Wo wurden Sie zum Meister erhoben?


Antwort: In der Mittleren Kammer.

Frage: Was ist das für ein Ort?


Antwort: Der Mittelpunkt, an dem sich alle treffen, die
gelernt haben, in die Tiefe zu gehen.

Frage: Was sahen Sie bei Ihrem Eintritt?


Antwort: Trauer und Bestürzung.

Frage: Was war der Grund dafür?


Antwort: Die Erinnerung an ein düsteres Geschehen.

Frage: Was ist das für ein Geschehen?


Antwort: Die Ermordung des Meisters Hiram.

Frage: Von wem wurde er umgebracht?


Antwort: Von drei verschwörerischen Gesellen.

Frage: Ist dieser Mord wirklich gtrschehen?


Antwort: Es handelt sich um eine symbolhafte Fiktion,
die aber zutiefst wahr ist durch die Lehre, die
sich daraus ableiten lässt.

130 Der Meister


Frage: Welche Lehre ist das?
Antwort: Die im Baumeister des Salomonischen
Tempels verkörperte reine freimaurerische
Überlieferung, die beständig in Gefahr
gebracht wird durch die Unwissenheit, den
Fanatismus und den Ehrgeiz von Maurern,
die die Maurerei nicht verstanden und sich
auch ihrem geistvoll hohen Werk nicht in der
rechten Weise verschrieben haben.

Frage: Was sahen Sie an dem Ort, an den Sie ge­


bracht wurden?
Antwort: Das Grab Hirams, das ein schwaches Licht
erhellte.

Frage: Welche Maße hat dieses Grab?


Antwort: Drei Fuß in der Breite, fünf in der Tiefe und
sieben in der Länge.

Frage: Worauf spielen diese Ziffern an?


Antwort: Auf die heiligen Zahlen, die der Meditation
der Lehrlinge, Gesellen und Meister anemp­
fohlen sind.

Frage: Welche Beziehung haben diese Zahlen zum


Grab Hirams?
Antwort: Dieses Grab umschließt das Große Geheimnis
der Initiation, das sich nur den denkenden
Menschen enthüllt, die fähig sind, die Ge­
gensätze in der Dreiheit aufzuheben, die mit
dem Verstand erkennbare Quintessenz zu
erfassen, die unter dem physischen Äußeren
verborgen ist, und das Gesetz der Siebenheit
bei jedem Tätigwerden anzuwenden.

Frage: An welchem Zeichen konnte man das Grab


Hirams erkennen?
Antwort: An einem Akazienzweig, der in frisch aufge­
worfene Erde gesteckt war.

Lehrgespräch im Meistergrad 131


Frage: Was bedeutet dieser grünende Zweig?
Antwort: Er verkörpert das Fortleben der Kräfte, die
der Tod nicht zerstören kann.

Frage: Als Sie an das Grab Hirams geführt wurden,


was taten Sie mit dem Akazienzweig?
Antwort: Ich nahm ihn an mich auf Anweisung derer,
die mich führten.

Frage: Was ist der Sinn dieser Handlung?


Antwort: Indem ich die Akazie ergreife, verbinde ich
mich mit allem, was aus der maurerischen
Tradition überlebt hat. Damit verspreche ich,
mit höchstem Eifer die Freimaurerei in allem
zu studieren, was aus ihrer Vergangenheit
überkommen ist, ihre Riten, ihre Bräuche und
Praktiken, ohne mich dabei von einem Hi­
storismus ablenken zu lassen, der dem Ge­
schmack des Tages zuwider läuft.

Frage: Welcher Prüfung wurden Sie vor dem Grab


Hirams unterzogen?
Antwort: Ich hatte mich zu rechtfertigen gegen den
Verdacht, an der Verschwörung der Mörder
Hirams teilgenommen zu haben.

Frage: Wie haben Sie Ihre Unschuld bewiesen?


Antwort: Indem ich an den Leichnam herantrat und
über ihn ohne Furcht und reinen Gewissens
hinwegschritt.

Frage: Worauf bezieht sich der Schritt, den Sie aus­


führten?
Antwort: Auf den Jahresumlauf der Sonne durch die
Zeichen des Tierkreises.

132 Der Meister


Frage: Warum wird er ohne Unterbrechung durch­
geführt?
Antwort: Weil er auch ein Bild des irdischen Lebens
ist, das in einem einzigen Ansturm von der
Geburt bis zum Tode abläuft.

Frage: Wie wurden Sie zum Meister erhoben?


Antwort: Ich wanderte vom Winkel zum Zirkel.

Frage: Ist der Zirkel also in besonderer Weise den


Meistem vorbehalten?
Antwort: Ja, denn sie allein können dieses Werkzeug
mit Gewinn handhaben.

Frage: Welchen Gebrauch machen sie vom Zirkel?


Antwort: Sie messen alle Dinge im Hinblick auf ihre
Beziehungen zueinander. Ihr Denken ist fest
wie der Kopf des Zirkels und erfasst die Ge­
genstände durch den unterschiedlichen Ansatz
beider Schenkel in ihren Maßen. Das Urteil
des Eingeweihten wird getragen nicht von
den starren Einteilungen des Maßstabs, son­
dern von einer Einsicht, die auf der sorgfäl­
tigen Anwendung der Logik auf die Wirklich­
keit beruht.

Frage: Was ist das Zeichen der Meister?


Antwort: Das mit dem Zirkel verschränkte Winkelmaß.

Frage: Was bedeutet die Verschränkung dieser bei­


den Werkzeuge?
Antwort: Das Winkelmaß kontrolliert die Arbeit des
Maurers, der in allem rechtlich handeln und
sich leiten lassen soll von sorgsamster Billig­
keit. Der Zirkel leitet diese Tätigkeit, indem
er sie durchschaubar macht, damit sie so sorg­
fältig und fruchtbar wie möglich vollzogen
werden kann.

Lehrgespräch im Meistergrad 133


Frage: Wenn ein Meister verloren geht, wo werden
Sie ihn finden?
Antwort: Zwischen dem Winkelmaß und dem Zirkel.

Frage: Wie deuten Sie diese Antwort?


Antwort: Der gesuchte Meister zeichnet sich aus durch
die Sittlichkeit seines Handelns und die
praktische Richtigkeit seines Denkens. Damit
befindet er sich zwischen Winkelmaß und
Zirkel.

Frage: Was suchen die Meister?


Antwort: Das Verlorene Wort.

Frage: Was ist dieses Wort?


Antwort: Der Schlüssel zum maurerischen Geheimnis,
anders gesagt, das Verstehen dessen, was von
Profanen und unvollkommen Eingeweihten
verstandesmäßig nicht begriffen werden kann.

Frage: Wie ging dieses Wort verloren?


Antwort: Durch die drei starken Schläge, die unwür­
dige und verkommene Gesellen gegen die
lebendige Überlieferung der Maurerei zu
führen wussten.

Frage: Wie wurde es wiedergefunden?


Antwort: Als Hiram ermordet war, beschlossen seine
glühendsten Anhänger, seine Grabstätte zu
öffnen, die ihnen durch einen Akazienzweig
entdeckt worden war. Sie kamen überein, den
Toten freizulegen und dabei auf das Wort zu
achten, das ihnen entführe, wenn sie des
Leichnams ansichtig würden, aber auch
auf die Geste, die sie dabei nicht zurückhalten
könnten. Das eine wie die andere wollten sie
sodann als das Geheimnis des Grades verein­
baren und übernehmen.

134 Der Meister


Frage: Wie lautet das neue heilige Wort, das so an
die Stelle des alten getreten ist?
Antwort: M.C.B.N.C.

Frage: Was bedeutet es?


Antwort: Sohn der Verwesung oder Sohn des toten
Meisters (genau: Er lebe im Sohn). - Man
sagt auch: Das Fleisch löst sich vom Bein,
was M.H.B.N. entspricht, einer weiteren
Bezeichnung fllr das Meisterwort.

Frage: Hat man denn gar keine Vorstellung von dem


ursprünglichen Wort, das die Verschwörer
Hiram vergebens zu entreißen suchten?
Antwort: Man glaubt, dass es dem Tetragramm ,;,,;, ent
spricht, das allein der Hohe Priester von Jeru­
salem aussprechen durfte.

Frage: Wie wird das heilige Wort der Meister weiter­


gegeben?
Antwort: Durch die fünf Punkte der vollkommenen
Meisterschaft.

Frage: Welches sind diese?


Antwort: Fuß gegen Fuß, Knie gegen Knie, Brust
gegen Brust, die rechte Hand zur Klaue ge­
krümmt und dazu die linke Hand um die
Schulter gelegt.

Frage: Worauf spielen sie an?


Antwort: Auf Hirams Auferstehung. Das Aneinan­
derstellen der Füße besagt außerdem, dass
die Maurer einander ohne Zögern zu Hilfe
eilen; die Knie, die sich berühren, bedeu­
ten ein Eingreifen im Notfall; das Berühren
der Brust ist ein Zeichen des Mitfühlens und
derselben Art zu empfinden; die dreifach in­
einander verschlungenen Hände stehen für

Lehrgespräch im Meistergrad 135


die Gewissheit, dass man trotz aller äußeren
Schwierigkeiten gemeinsam gleichgerichtet
arbeitet; der Griff um die Schulter bewahrt
gegenseitig vor dem möglichen Sturz.

Frage: Welches Zeichen haben die Maurer ange­


nommen, um sich zu erkennen?
Antwort: Es ist das Zeichen des Erschreckens, das sie
nicht unterdrücken konnten, als Hirams
Leichnam freigelegt wurde.

Frage: Haben sie ein anderes Zeichen, das sie nicht


missbrauchen dürfen?
Antwort: Ja, das Notzeichen, das für Fälle höchster
Gefahr vorgesehen ist. Es wird mit ineinander
verschränkten Fingern und mit über den Kopf
erhobenen Händen ausgeführt zugleich mit
dem „Auf mich, Ihr K.·. der W.·.!"

Frage: Gibt es eine Variante dieses Zeichens?


Antwort: Es kann auch nur mit einer Hand gegeben
werden, die flach auf den Kopf aufgelegt
wird; dann werden die Finger einer nach dem
anderen erhoben mit den Worten: Sem, Cham,
Japhet! [29]

Frage: Wer ist die Witwe, als deren Söhne sich die
Maurer bezeichnen?
Antwort: Das ist Isis, die Verkörperung der Natur,
die universale Mutter, die Witwe des Osiris,
des unsichtbaren Gottes, der den Verstand
erleuchtet.

Frage: Was ist das Passwort des dritten Grades?


Antwort: G.B.L.M. So bezeichnet die Bibel die Stein­
metze, die mit den Maurern Salomos und
Hirams, des Königs von Tyros, am Bau des
Tempels von Jerusalem mitarbeiteten ( 1.
Buch Könige, Kap. 5, Vers 18). [30]

136 Der Meister


Frage: Wie klopfen die Meister?
Antwort: Mit drei Schlägen, deren letzter verstärkt ist,
um an den Tod Hirams zu erinnern; da diese
Schlagfolge aber den Lehrlingen zugewiesen
wurde, wiederholen sie die Meister, um sich
von jenen zu unterscheiden, drei Mal. [31]

Frage: Wie alt sind Sie?


Antwort: Sieben Jahre und mehr.

Frage: Warum diese Zahl?


Antwort: Der Lehrling beginnt bei seinen Meditationen
mit der Einheit und der Zweiheit, um sich
vertieft der Dreiheit zuzuwenden, bevor er
sich der Vierheit widmet, deren Studium dem
Gesellen vorbehalten ist. Dieser geht von der
Vier aus, um sich lange mit der Fünf zu be­
schäftigen, bevor er die Sechs erreichen kann
und sich anschicken darf, das Studium der
Sieben zu beginnen. Es ist Sache des Mei­
sters, die Geheimnisse der Siebenheit auf­
zuhellen und mit der pythagoräischen Metho­
de an die nächsthöheren Zahlen heranzuge­
hen. Daher beträgt mein Alter als Eingeweih­
ter sieben Jahre und mehr.

Frage: Wie reisen die Meister?


Antwort: Vom Osten nach Westen und von Süden nach
Norden über den ganzen Erdkreis.

Frage: Warum?
Antwort: Um das Licht zu verbreiten und zu sammeln,
was zerstreut war. In anderen Worten, um zu
lehren, was sie wissen, und zu lernen, was sie
nicht wissen, wobei sie überall dazu beitra­
gen, die Herrschaft von Harmonie und Brü­
derlichkeit unter den Menschen zu begrün­
den.

Lehrgespräch im Meistergrad 13 7
Frage: Woran arbeiten die Meister?
Antwort: Am Reißbrett.

Frage: Sie beschränken sich also darauf, die Pläne


zu zeichnen, die andere ausführen sollen?
Antwort: Die Meister bereiten die Zukunft vor, die
sie voraussehen können, indem sie sich auf
die Erfahrung der Vergangenheit stützen.

Frage: Welchen Gebrauch machen die Meister von


der Kelle?
Antwort: Sie dient ihnen dazu, die Unvollkommen­
heiten der Arbeit der Lehrlinge und Gesellen
auszugleichen.

Frage: Wofür steht sie als Sinnbild?


Antwort: Für das Gefühl der Nachsicht, die den auf­
geklärten Menschen gegenüber jeder Schwä­
che erfüllt, deren Gründe er nachvollziehen
kann.

Frage: Wo empfangen die Meister ihren Lohn?


Antwort: In der Mittleren Kammer, das heißt in jenem
Zentrum, wo der Geist erleuchtet wird.

Frage: Wie lautet der Name eines Meister-Maurers?


Antwort: Gabaon.

Frage: Was bedeutet dieser allen Meistem gemein­


same Name?
Antwort: Er drängt sie dazu, sich zu fragen, was sie
wirklich sind, denn der zufällige Name, den
wir im täglichen Leben tragen, ist nicht der
des Meisters in unserem wahren Sein als
Person.

138 Der Meister


Frage: Was ist das weitere Ziel der Meisterschaft?
Antwort: Den Meister zu suchen, der in Gestalt eines
leblosen Leichnams in uns ruht, und den
Toten aufzuerwecken, damit er in uns wirk­
sam werden kann.

Lehrgespräch im Meistergrad 139


Teil VI
PHILOSOPHISCH-INITIATISCHE
ANMERKUNGEN
ZUM MEISTERGRAD

DIE FÜR DEN MEISTERGRAD


WESENTLICHEN
EIGENSCHAFTEN DER ZAHLEN

Das Geheimnis der Zahl Sieben

Um seinem initiatischenAlter gerecht zu werden, muss der Meis­


ter einiges wissen von den Spekulationen, die die Alten an die
wesentlichen Eigenschaften der Zahlen knüpften. Die Gesellen­
zeit hat ihn zur Siebenheit geführt, indem er die sieben Stufen
des Tempels überschritt [32]. Jetzt geht es darum, von der Sie­
ben aus weiterzugehen, um sich zur ganzen Folge der größeren
Zahlen zu erheben.
Stellen wir zunächst fest, dass die Zahl Sieben eine ganz he­
rausragende Stellung einnimmt. Schon die Chaldäer hielten
sie für heiliger als die anderen Zahlen. Indem sie sieben Stein­
quader aufeinander stellten, errichteten sie Türme, die die Erde
mit dem Himmel verbinden sollten, denn die Gottheit wirkte in
ihren Augen durch Zwischenschaltung einer universalen Herr­
schaftsorganisation, die sieben Ministerien umfasste. Diese Ver­
waltungsabteilungen entsprachen den Gestirnen, die das Him­
melsgewölbe durchliefen, als wären sie aktiver als die Fixsterne.
Sonne 0, Mond <r, Mars d, Merkur !;\, Jupiter 2', Venus 9 und
Saturn 1'i teilten sich so in die Herrschaft der Welt.

Von den Dichtern zum Zwecke mythologischer Dramatisierung


personalisiert, sollte sich diese Siebenheit in der Folgezeit im
Denken der Metaphysiker vergeistigen.

140 Der Meister


Der Turm mit den sieben Quadern des Bel-Tempels erschien
dann als Symbol der wesenhaften Erstursache, wobei jede der
sieben Stufen eine der das Universum gestaltenden Zweitursa­
chen verkörperte.

Diesen siebenfältigen Ursachen muss man das Werk der Schöp­


fung zuschreiben, wie es uns in den Kosmogonien begegnet, von
denen die hebräische Genesis nur ein besonderes Beispiel dar­
stellt. Diese hat uns im Übrigen die geheimnisvollen Begriffe
überliefert, die sich in Form von Geheimlehren im Herzen der
Einweihungsschulen des Westens erhalten haben, in denen man
stets davon überzeugt war, dass das Licht nur aus dem Osten
kommen könne.

So haben die hermetischen Philosophen sieben unterschiedliche


Einflüsse ausgemacht, die in jedem organischen Wesen wirken,
sei es im Makrokosmos (der Welt im Großen) oder im Mikrokos­
mos (der Welt im Kleinen), der sich in den einzelnen mensch­
lichen, tierischen oder pflanzlichen Spezies verkörpert. In die­
sem Zusammenhang ist zu bemerken, dass jene Philosophen das
Mineralienreich nur verkörpert sahen in Atomen, chemischen
Molekülen und Himmelskörpern.

Im Übrigen drängte sich eine Unterscheidung auf zwischen der


elementaren Natur, die der Vierheit der Elemente [33] unter­
worfen ist, und einer in Folge ihres Einklangs mit den Schwin­
gungen der sieben Noten, die die Tonleiter der universalen Har­
monie bilden, geläuterteren Natur. Diese Noten zu kennen ist
von wesentlicher Bedeutung für denjenigen, der danach strebt,
sich in die Musik der Sphären einzuleben, die Pythagoras angeb­
lich hören konnte. Sie entsprechen den Wochentagen, die trotz
aller religiösen Umwälzungen der göttlichen Siebenheit geweiht
bleiben, wie sie vor mehr als siebentausend Jahren von jenen
Weisen erstmals gelehrt wurde, auf die das Zeitalter des Wahren
Lichts zurückgeht.

Wenn diese Siebenheit sich nur auf die den Alten bekannten
sieben Planeten und sieben Metalle bezöge, brauchte man da-

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 141


rum heutzutage nicht mehr viel Wesens zu machen. Sie grün­
det indessen mit viel größerem Recht auf der Beobachtung der
menschlichen Natur als auf altertümlichen astronomischen Stu­
dien oder einer noch in den Kinderschuhen steckenden Metal­
lurgie. Bei den Menschen ein und derselben Rasse unterscheidet
man jeweils sieben Typen, die sich ganz klar sowohl physisch
wie moralisch voneinander abgrenzen lassen. Die Chiroman­
tiker und die Astrologen haben uns diesbezüglich Traditionen
hinterlassen, die nicht zu verachten sind, denn sie stellen eine
Anwendung des allgemeinen Gesetzes der Siebenheit dar, des­
sen vollständige Bedeutung die Eingeweihten zu erfassen haben.
Sie werden nur zur Meisterschaft gelangen, wenn sie sich klar
machen, dass alles zugleich eins, dreifach und siebenfältig ist.
Wir wollen versuchen, den Scharfsinn des Lesers durch einige
Übersichten anzuregen.

Die siebenfähige Drei-Einheit

Im Dreieck angeordnet schmücken die Rosetten aus blauer Seide


den Schurz der Meister. Symbolisch gesehen sind es Ringe, die
man einander annähern und sich verknüpfen lässt, um eine Drei­
Einheit zu erhalten, die sich sodann als Siebenheit herausstellt.

GOLD SILBER

BRONZE

142 Der Meister


Nichts könnte einfacher sein als diese stumme Zeichnung, die
dennoch philosophische Vorstellungen heraufbeschwört, deren
Darlegung eine Reihe umfangreicher Bände füllen würde. Be­
schränken wir uns hier auf knappe Hinweise, die dazu bestimmt
sind, die nach wahrer Meisterschaft Strebenden weiterzuführen:
1. Der Goldene Kreis - Sonne 0, unbeweglicher und fester Mit­
telpunkt, von dem jede Aktivität ausgeht. Geist, der die Materie
beseelt. Der Schwefel der Alchemisten�- Inneres Feuer des Ein­
zelnen. Erzeuger der Farbe Rot: Blut, Tat, Hitze, Licht.
2. Der Silberne Kreis - Mond CC, Wechselstern, Spiegel, der
Einflüsse aufnimmt; Gussform, die über jede Gestaltbildung
bestimmt. Passive Substanz, Gattin des Geistes, Merkur der
Hermetiker fil, Gefährt der geistigen Intelligenz, die alles durch­
dringt. Der Raum, die Farbe Blau: Luft, Gefühl, Empfindsam­
keit, Aufnahmefähigkeit.
3. Der Bronzene oder Bleierne Kreis - Saturn 12, der aus dem
Himmel gestürzte Gott, der über alles herrscht, was Gewicht hat.
Stofflichkeit, Regelgebundenheit, realitätsbezogene Schwere.
Farbe Gelb, die dazu neigt, sich zu verdunkeln, erst zu Braun,
dann zu Schwarz zu werden: Knochenbau, solide Basis jedes
Bauwerks, der Fels, der den rauen Stein liefert, Ausgangspunkt
des Großen Werks.
4. Schnittfläche von 1 und 2. Der Sohn, geboren aus der Heirat
von Vater und Mutter. Jupiter �. dem das Zinn geweiht ist, das
leichteste der Metalle. Als Gegner des Saturn, den er entthront
hat, entspricht dieser Gott der Geistigkeit an sich. Er ist es, der
entscheidet und befiehlt, indem er den Blitz des Willensstroms
schleudert. Farbe Purpur oder Violett (Komplementärfarbe
zu Gelb): Idealismus, Gewissen, Verantwortungsbewusstsein,
Selbstbeherrschung.
5. Das Mittlere Feld, in dem die drei ursprünglichen Farben sich
zur Synthese des weißen Lichts verbinden, Flammender Stern,
das Quecksilber der Gelehrten I;\, die Quintessenz. Das Flüch­
tig-Stoflliche, das die Persönlichkeit zusammenhält. Lebendiger
Äther, in dem alles widerhallt. Das Fluidum der Magnetiseure,
das große magische Agens.

Philosophisch-lnitiatische Anmerkungen 143


6. Der Bereich der Überschneidung von 2 und 3 - Venus 9, Kup­
fer, Vitalität, die zeugende Feuchtigkeit aller Wesen. Farbe Grün:
Sanftheit, Zärtlichkeit, physische Empfindlichkeit.
7. Schnittfläche von 1 und 3 - Materielle Aktivität, Mars cJ, das
Eisen, die Notwendigkeit des Handelns, die Beweglichkeit, die
die Lebensenergie verschwendet und verbraucht. Das verschlin­
gende Feuer, Farbe der Flamme, scharlachfarbenes Gelb-Rot:
Gefühl des Bewahrens, Egoismus, Wildheit, aber auch uner­
müdliche Kraft in der Verwirklichung.

Die so skizzierte Siebenheit findet sich wieder bis hin zu den


sieben Hauptsünden, deren Unterscheidung auf initiatischen
Vorgaben beruht:
1. Stolz, schädlich, weil er von oberflächlicher Eitelkeit herrührt,
verbindet sich mit der Sonne, die die Schwachen blendet.
2. Faulheit stammt aus der lunaren Passivität, macht schlaff und
führt zu maßloser Untätigkeit.
3. Geiz ist das Laster der Saturnmenschen [34], die vorausschau­
end und bis zum Exzess vorsichtig sind.
4. Völlerei wirft man demgegenüber dem Jupitermenschen vor,
gastfreundlichen und großzügigen Leuten, die sich selbst nie­
mals vergessen.
5. Neid plagt die umtriebigen Merkurmenschen, die niemals zu­
frieden sind und sich nicht davon abhalten lassen können, mit
größtem Aufwand das zu erstreben, was sie nicht besitzen.
6. Unzucht wird geboren aus der Übertreibung der Eigenschaften
der Venus.
7. Zorn schließlich ist der Fehler des Mars, dessen Gewalt und
Ausbrüche er emportreibt.

Man wird feststellen, dass 1 im Gegensatz steht zu 6, 2 zu 7 und


3 zu 4, während 5 eigentlich zu keiner im Widerstand steht und
dadurch insgesamt ein allgemeines Gleichgewicht wahrt.

144 Der Meister


Außerdem ist festzuhalten, dass die Welt, wenn man nur eine der
sieben Todsünden unterdrücken würde, zu bestehen aufhörte.
Nichts verdeutlicht besser die Bedeutung der Siebenheit, so wie
sie die Eingeweihten verstehen.

Das Gleichgewicht

Vom Verständnis der Sieben kann man leicht zum Begreifen der
Acht übergehen, wenn man die Bedeutung der Säulen J. ·. und
B.·. erfasst hat - Sieben ist nämlich in Bezug aufAcht, was J. ·.
in Bezug aufB.·. bedeutet.

Sieben führt ein, gründet, schafft, organisiert, koordiniert, har­


monisiert, produziert.

Acht konsolidiert, stabilisiert, bewahrt, schafft Ordnung und


erhält die Harmonie. Es ist die Zahl der Festigkeit, die zum
statischen Sein zurückführt, was die Sieben zum dynamischen
Sein hingeführt hatte. Sieben entwirrt das Chaos und baut die.
Welt (Makrokosmos und Mikrokosmos), dessen Weiterleben
und Funktionieren die Acht regelt. Fortschritt entsteht aus dem
siebenfältigen Tun, das das Zusammenwirken der Bewegungen
lenkt, aber ihre jeweilige Dynamik führt im Widerstand gegen­
einander zur Verwirklichung des Gleichgewichts, wie es das von
den Bewohnern von Akkad zur Kennzeichnung des göttlichen
Namens verwendete Ideogramm darstellt:

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 145


Hier befinden wir uns nicht mehr im Bereich der schöpferischen
Initiative (J. · .), in der beweglichen und tätigen Instabilität, denn
alles gleicht sich in dieser Zeichnung aus, als wenn jede Hand­
lung neutralisiert werden müsste mit dem Ziel, um einen Fix­
punkt herum eine Gesamtheit von wechselseitig im Zaum gehal­
tenen Energien (B. ·.)zu stabilisieren. Sieben entspricht Mars d
- dem tätigen Feuer, und Acht der Venus 9, der Feuchtigkeit, die
das Leben erhält. Sieben bezieht sich auf das fruchtbare männ­
liche Prinzip, auf das universale unsichtbare Feuer, das auf ge­
heimnisvolle Weise alle Dinge belebt und bildet, während Acht
die befruchtete weibliche Wesenheit heraufbeschwört, Isis, die
Gattin des Osiris, anders gesagt die Natur, die in Ishtar, Astarte
oder der Artemis von Ephesos verkörpert ist.

Nun standen der Großen Göttin, der Nährerin der Lebenden, den
Phöniziern zu Folge acht Nebengötter zu Diensten, die Kabirim
(die Starken, die Mächtigen) genannt wurden. Diese Zahl ist be­
zeichnend, denn sie kann nicht angewendet werden auf die das
Chaos ordnenden Agenzien, auf die Sekundärursachen, die filr
den Bau der notwendig siebenfältigen Drei-Einheit notwendig
sind. Symmetrisch angeordnet, widersprechen sich die aktiven
Gegensätze in der Achtheit und zielen auf die relative Unbeweg­
lichkeit und Festigkeit in Bezug auf den Mittelpunkt. Die im
Spiel befindlichen Energien sind also im Wesentlichen bewah­
render Natur, und zwar so sehr, dass es gestattet ist, in den Ka­
birim die Mächte zu sehen, die das gute Funktionieren der Welt
sicherstellen, zu deren Bau sie beigetragen haben. Man rief sie
zur Hilfe gegen die Entfesselung der Elemente, und die Seeleute
rechneten auf ihren Schutz in Sturmgefahr. Sie glaubten sehen
zu können, wie sie sich in den Mastspitzen in Form eines glän­
zenden Schimmers manifestierten, der seither unter dem Namen
Elmsfeuer bekannt ist. Der Kult dieser Gottheiten ging auf die
Griechen über, die zu ihren Ehren die Mysterien von Samothra­
ke ins Leben riefen. Später verbreitete sich die Verehrung der
Kabiren in der ganzen römischen Welt.

Aber durch ihre Popularisierung musste die ursprüngliche initi­


atische Lehre sich in fataler Weise verdunkeln. Die allzu rätsel-

146 Der Meister


Die Sonnenachtheit

Die Zahl Acht, die Zahl der semitischen Kabirim, findet sich im
babylonischen Sonnenemblem, dessen Strahlen sich in einem
doppelten Kreuz ausbreiten. Vertikal und horizontal sind die ei­
nen geradlinig und beziehen sich auf die Vierheit der Elemente
ebenso wie auf die physischen Wirkungen des Lichts und der
Hitze. Die schräg verlaufenden Strahlen zeigen durch ihre Wel­
lenform an, dass sie lebendig sind. Und da jeder von ihnen auch
noch dreifach angeordnet ist, spielen sie auf die Zwölferteilung
der Ekliptik an, von der weiter unten die Rede sein wird.

Die Sonne wurde als eines der sieben großen Agenzien aufge­
fasst, die die Welt koordinieren, aber man schrieb ihr außerdem
einen dauerhaften, wesentlich regulierenden Einfluss zu. Sie ist
es, die den Ablauf der Jahreszeiten, die gleichmäßige Abfolge
von Tag und Nacht so gut sicherstellt, dass schließlich im Wege
der Ausweitung jeder normale Gang der Dinge als ihr Werk
betrachtet wurde. Der Licht-Gott hasst jede Unordnung, die er
überall zurückdrängt. Dergestalt fördert er auch das klare Den­
ken, das die Vorstellungen nach den Gesetzen einer gesunden
Logik ordnet. Zugleich mäßigt er die Leidenschaften, damit sie
die Heiterkeit, für deren Zuteilung er verantwortlich ist, nicht
beunruhigen können. Er greift schließlich sogar in den Organis­
mus ein, denn es missfällt Apoll, wenn nicht alles darin nach
Wunsch abläuft. Dementsprechend wurde die Medizin unter die
Schirmherrschaft des ordnenden Gottes gestellt, dessen Sohn

148 Der Meister


haften Götter der Syrer wurden hellenisiert als Söhne oder Enkel
des Hephaistos, später bekannt unter dem Namen Vulkan, des
Gottes der unterirdischen Arbeit und des inneren Feuers. Man
schrieb ihnen als Mutter eine Tochter des Proteus zu, der Aus­
geburt des Meeres, der die Form alles Lebendigen anzunehmen
weiß, da er nichts anderes ist als die Vitalfeuchtigkeit. Diese
Kinder des irdischen Feuers und Wassers nehmen dann in der
Phantasie die Gestalt von schmiedenden Zwergen an, die Ham­
mer und Amboss beherrschen. Sie sind es, die das Aufschießen
des Pflanzenmarks bewirken, daher ihre enge Beziehung zu
Demeter (Ceres) und Dionysos (Bacchus); unter diesem Aspekt
werden sie zu Genien der Fruchtbarkeit.

Welche Rolle haben sie außerdem noch gespielt in den Mysteri­


en, die die Geschicke der menschlichen Seele enthalten? Einige
Gravuren auf etruskischen Spiegeln lehren uns, dass einer der
Kabiren von seinen jüngeren Brüdern getötet, dann von Hermes
unter Mitwirkung der Mörder wieder zum Leben erweckt wur­
de. Diese Auferstehung wurde später mit derjenigen Hirarns in
Verbindung gebracht.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 147


Hier befinden wir uns nicht mehr im Bereich der schöpferischen
Initiative (J. ·.),in der beweglichen und tätigen Instabilität,denn
alles gleicht sich in dieser Zeichnung aus,als wenn jede Hand­
lung neutralisiert werden müsste mit dem Ziel, um einen Fix­
punkt herum eine Gesamtheit von wechselseitig im Zaum gehal­
tenen Energien (B. ·.) zu stabilisieren. Sieben entspricht Mars d'
- dem tätigen Feuer,und Acht der Venus 9,der Feuchtigkeit,die
das Leben erhält. Sieben bezieht sich auf das fruchtbare männ­
liche Prinzip, auf das universale unsichtbare Feuer, das auf ge­
heimnisvolle Weise alle Dinge belebt und bildet, während Acht
die befruchtete weibliche Wesenheit heraufbeschwört, Isis, die
Gattin des Osiris, anders gesagt die Natur,die in Ishtar,Astarte
oder der Artemis von Ephesos verkörpert ist.

Nun standen der Großen Göttin,der Nährerin der Lebenden,den


Phöniziern zu Folge acht Nebengötter zu Diensten,die Kabirim
(die Starken,die Mächtigen) genannt wurden. Diese Zahl ist be­
zeichnend,denn sie kann nicht angewendet werden auf die das
Chaos ordnenden Agenzien, auf die Sekundärursachen, die für
den Bau der notwendig siebenfältigen Drei-Einheit notwendig
sind. Symmetrisch angeordnet, widersprechen sich die aktiven
Gegensätze in der Achtheit und zielen auf die relative Unbeweg­
lichkeit und Festigkeit in Bezug auf den Mittelpunkt. Die im
Spiel befindlichen Energien sind also im Wesentlichen bewah­
render Natur,und zwar so sehr,dass es gestattet ist, in den Ka­
birim die Mächte zu sehen,die das gute Funktionieren der Welt
sicherstellen, zu deren Bau sie beigetragen haben. Man rief sie
zur Hilfe gegen die Entfesselung der Elemente,und die Seeleute
rechneten auf ihren Schutz in Sturmgefahr. Sie glaubten sehen
zu können, wie sie sich in den Mastspitzen in Form eines glän­
zenden Schimmers manifestierten,der seither unter dem Namen
Elmsfeuer bekannt ist. Der Kult dieser Gottheiten ging auf die
Griechen über,die zu ihren Ehren die Mysterien von Samothra­
ke ins Leben riefen. Später verbreitete sich die Verehrung der
Kabiren in der ganzen römischen Welt.

Aber durch ihre Popularisierung musste die ursprüngliche initi­


atische Lehre sich in fataler Weise verdunkeln. Die allzu rätsel-

146 Der Meister


Außerdem ist festzuhalten, dass die Welt, wenn man nur eine der
sieben Todsünden unterdrücken würde, zu bestehen aufhörte.
Nichts verdeutlicht besser die Bedeutung der Siebenheit, so wie
sie die Eingeweihten verstehen.

Das Gleichgewicht

Vom Verständnis der Sieben kann man leicht zum Begreifen der
Acht übergehen, wenn man die Bedeutung der Säulen J.·. und
B.·. erfasst hat - Sieben ist nämlich in Bezug aufAcht, was J.·.
in Bezug aufB.·. bedeutet.

Sieben führt ein, gründet, schaffi:, organisiert, koordiniert, har­


monisiert, produziert.

Acht konsolidiert, stabilisiert, bewahrt, schaffi Ordnung und


erhält die Harmonie. Es ist die Zahl der Festigkeit, die zum
statischen Sein zurückführt, was die Sieben zum dynamischen
Sein hingeführt hatte. Sieben entwirrt das Chaos und baut die.
Welt (Makrokosmos und Mikrokosmos), dessen Weiterleben
und Funktionieren die Acht regelt. Fortschritt entsteht aus dem
siebenfältigen Tun, das das Zusammenwirken der Bewegungen
lenkt, aber ihre jeweilige Dynamik führt im Widerstand gegen­
einander zur Verwirklichung des Gleichgewichts, wie es das von
den Bewohnern von Akkad zur Kennzeichnung des göttlichen
Namens verwendete Ideogramm darstellt:

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 145


6. Der Bereich der Überschneidung von 2 und 3 - Venus 9, Kup­
fer, Vitalität, die zeugende Feuchtigkeit aller Wesen. Farbe Grün:
Sanftheit, Zärtlichkeit, physische Empfindlichkeit.
7. Schnittfläche von 1 und 3 - Materielle Aktivität, Mars cJ, das
Eisen, die Notwendigkeit des Handelns, die Beweglichkeit, die
die Lebensenergie verschwendet und verbraucht. Das verschlin­
gende Feuer, Farbe der Flamme, scharlachfarbenes Gelb-Rot:
Gefühl des Bewahrens, Egoismus, Wildheit, aber auch uner­
müdliche Kraft in der Verwirklichung.

Die so skizzierte Siebenheit findet sich wieder bis hin zu den


sieben Hauptsünden, deren Unterscheidung auf initiatischen
Vorgaben beruht:
1. Stolz, schädlich, weil er von oberflächlicher Eitelkeit herrührt,
verbindet sich mit der Sonne, die die Schwachen blendet.
2. Faulheit stammt aus der lunaren Passivität, macht schlaff und
führt zu maßloser Untätigkeit.
3. Geiz ist das Laster der Saturnmenschen [34 ], die vorausschau­
end und bis zum Exzess vorsichtig sind.
4. V öllerei wirft man demgegenüber dem Jupitermenschen vor,
gastfreundlichen und großzügigen Leuten, die sich selbst nie­
mals vergessen.
5. Neid plagt die umtriebigen Merkurmenschen, die niemals zu­
frieden sind und sich nicht davon abhalten lassen können, mit
größtem Aufwand das zu erstreben, was sie nicht besitzen.
6. Unzucht wird geboren aus der Übertreibung der Eigenschaften
der Venus.
7. Zorn schließlich ist der Fehler des Mars, dessen Gewalt und
Ausbrüche er emportreibt.

Man wird feststellen, dass 1 im Gegensatz steht zu 6, 2 zu 7 und


3 zu 4, während 5 eigentlich zu keiner im Widerstand steht und
dadurch insgesamt ein allgemeines Gleichgewicht wahrt.

144 Der Meister


Nichts könnte einfacher sein als diese stumme Zeichnung, die
dennoch philosophische Vorstellungen heraufbeschwört, deren
Darlegung eine Reihe umfangreicher Bände füllen würde. Be­
schränken wir uns hier auf knappe Hinweise, die dazu bestimmt
sind, die nach wahrer Meisterschaft Strebenden weiterzuführen:
1. Der Goldene Kreis - Sonne 0, unbeweglicher und fester Mit­
telpunkt, von dem jede Aktivität ausgeht. Geist, der die Materie
beseelt. Der Schwefel der Alchemisten�. Inneres Feuer des Ein­
zelnen. Erzeuger der Farbe Rot: Blut, Tat, Hitze, Licht.
2. Der Silberne Kreis - Mond «:, Wechselstern, Spiegel, der
Einflüsse aufnimmt; Gussform, die über jede Gestaltbildung
bestimmt. Passive Substanz, Gattin des Geistes, Merkur der
Hermetiker !i:, Gefährt der geistigen Intelligenz, die alles durch­
dringt. Der Raum, die Farbe Blau: Luft, Gefühl, Empfindsam­
keit, Aufnahmefähigkeit.
3. Der Bronzene oder Bleierne Kreis - Saturn ?l, der aus dem
Himmel gestürzte Gott, der über alles herrscht, was Gewicht hat.
Stofflichkeit, Regelgebundenheit, realitätsbezogene Schwere.
Farbe Gelb, die dazu neigt, sich zu verdunkeln, erst zu Braun,
dann zu Schwarz zu werden: Knochenbau, solide Basis jedes
Bauwerks, der Fels, der den rauen Stein liefert, Ausgangspunkt
des Großen Werks.
4. Schnittfläche von 1 und 2. Der Sohn, geboren aus der Heirat
von Vater und Mutter. Jupiter �. dem das Zinn geweiht ist, das
leichteste der Metalle. Als Gegner des Saturn, den er entthront
hat, entspricht dieser Gott der Geistigkeit an sich. Er ist es, der
entscheidet und befiehlt, indem er den Blitz des Willensstroms
schleudert. Farbe Purpur oder Violett (Komplementärfarbe
zu Gelb): Idealismus, Gewissen, Verantwortungsbewusstsein,
Selbstbeherrschung.
5. Das Mittlere Feld, in dem die drei ursprünglichen Farben sich
zur Synthese des weißen Lichts verbinden, Flammender Stern,
das Quecksilber der Gelehrten �. die Quintessenz. Das Flüch­
tig-Stoffliche, das die Persönlichkeit zusammenhält. Lebendiger
Äther, in dem alles widerhallt. Das Fluidum der Magnetiseure,
das große magische Agens.

Philosophisch-lnitiatische Anmerkungen 143


rum heutzutage nicht mehr viel Wesens zu machen. Sie grün­
det indessen mit viel größerem Recht aµf der Beobachtung der
menschlichen Natur als auf altertümlichen astronomischen Stu­
dien oder einer noch in den Kinderschuhen steckenden Metal­
lurgie. Bei den Menschen ein und derselben Rasse unterscheidet
man jeweils sieben Typen, die sich ganz klar sowohl physisch
wie moralisch voneinander abgrenzen lassen. Die Chiroman­
tiker und die Astrologen haben uns diesbezüglich Traditionen
hinterlassen, die nicht zu verachten sind, denn sie stellen eine
Anwendung des allgemeinen Gesetzes der Siebenheit dar, des­
sen vollständige Bedeutung die Eingeweihten zu erfassen haben.
Sie werden nur zur Meisterschaft gelangen, wenn sie sich klar
machen, dass alles zugleich eins, dreifach und siebenfiiltig ist.
Wir wollen versuchen, den Scharfsinn des Lesers durch einige
Übersichten anzuregen.

Die siebenfäbige Drei-Einheit

Im Dreieck angeordnet schmücken die Rosetten aus blauer Seide


den Schurz der Meister. Symbolisch gesehen sind es Ringe, die
man einander annähern und sich verknüpfen lässt, um eine Drei­
Einheit zu erhalten, die sich sodann als Siebenheit herausstellt.

GOLD SILBER

BRONZE

142 Der Meister


Der Turm mit den sieben Quadern des Bel-Tempels erschien
dann als Symbol der wesenhaften Erstursache, wobei jede der
sieben Stufen eine der das Universum gestaltenden Zweitursa­
chen verkörperte.

Diesen siebenfältigen Ursachen muss man das Werk der Schöp­


fung zuschreiben, wie es uns in den Kosmogonien begegnet, von
denen die hebräische Genesis nur ein besonderes Beispiel dar­
stellt. Diese hat uns im Übrigen die geheimnisvollen Begriffe
überliefert, die sich in Form von Geheimlehren im Herzen der
Einweihungsschulen des Westens erhalten haben, in denen man
stets davon überzeugt war, dass das Licht nur aus dem Osten
kommen könne.

So haben die hermetischen Philosophen sieben unterschiedliche


Einflüsse ausgemacht, die in jedem organischen Wesen wirken,
sei es im Makrokosmos (der Welt im Großen) oder im Mikrokos­
mos (der Welt im Kleinen), der sich in den einzelnen mensch­
lichen, tierischen oder pflanzlichen Spezies verkörpert. In die­
sem Zusammenhang ist zu bemerken, dass jene Philosophen das
Mineralienreich nur verkörpert sahen in Atomen, chemischen
Molekülen und Himmelskörpern.

Im Übrigen drängte sich eine Unterscheidung auf zwischen der


elementaren Natur, die der Vierheit der Elemente [33] unter­
worfen ist, und einer in Folge ihres Einklangs mit den Schwin­
gungen der sieben Noten, die die Tonleiter der universalen Har­
monie bilden, geläuterteren Natur. Diese Noten zu kennen ist
von wesentlicher Bedeutung für denjenigen, der danach strebt,
sich in die Musik der Sphären einzuleben, die Pythagoras angeb­
lich hören konnte. Sie entsprechen den Wochentagen, die trotz
aller religiösen Umwälzungen der göttlichen Siebenheit geweiht
bleiben, wie sie vor mehr als siebentausend Jahren von jenen
Weisen erstmals gelehrt wurde, auf die das Zeitalter des Wahren
Lichts zurückgeht.

Wenn diese Siebenheit sich nur auf die den Alten bekannten
sieben Planeten und sieben Metalle bezöge, brauchte man da-

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 141


Teil VI
PHILOSOPHISCH-INITIATISCHE
ANMERKUNGEN
ZUM MEISTERGRAD

DIE FÜR DEN MEISTERGRAD


WESENTLICHEN
EIGENSCHAFTEN DER ZAHLEN

Das Geheimnis der Zahl Sieben

Um seinem initiatischenAlter gerecht zu werden, muss der Meis­


ter einiges wissen von den Spekulationen, die die Alten an die
wesentlichen Eigenschaften der Zahlen knüpften. Die Gesellen­
zeit hat ihn zur Siebenheit geführt, indem er die sieben Stufen
des Tempels überschritt [32). Jetzt geht es darum, von der Sie­
ben aus weiterzugehen, um sich zur ganzen Folge der größeren
Zahlen zu erheben.
Stellen wir zunächst fest, dass die Zahl Sieben eine ganz he­
rausragende Stellung einnimmt. Schon die Chaldäer hielten
sie für heiliger als die anderen Zahlen. Indem sie sieben Stein­
quader aufeinander stellten, errichteten sie Türme, die die Erde
mit dem Himmel verbinden sollten, denn die Gottheit wirkte in
ihren Augen durch Zwischenschaltung einer universalen Herr­
schaftsorganisation, die sieben Ministerien umfasste. Diese Ver­
waltungsabteilungen entsprachen den Gestirnen, die das Him­
melsgewölbe durchliefen, als wären sie aktiver als die Fixsterne.
«:,
Sonne 0, Mond Mars d, Merkur �. Jupiter 2i, Venus 9 und
Saturn ti teilten sich so in die Herrschaft der Welt.

Von den Dichtern zum Zwecke mythologischer Dramatisierung


personalisiert, sollte sich diese Siebenheit in der Folgezeit im
Denken der Metaphysiker vergeistigen.

140 Der Meister


Frage: Was ist das weitere Ziel der Meisterschaft?
Antwort: Den Meister zu suchen, der in Gestalt eines
leblosen Leichnams in uns ruht, und den
Toten aufzuerwecken, damit er in uns wirk­
sam werden kann.

Lehrgespräch im Meistergrad 139


Asklepios oder Aeskulap die Macht hat zu heilen, indem er die
Harmonie im Lebensrhythmus wiederherstellt, die durch Krank­
heit misstönend geworden war.

Die sonnenhafte Tugend zielt auf die Vertreibung allen Übels; sie
lässt Klarheit in die Köpfe Einzug halten, Friede in die Seelen,
und gibt dem Körper die Gesundheit zurück. Ihr Tun ist heilend
und heilbringend, so dass die Sonne als der große Freund der
Lebenden, als ihr Heiland oder Erlöser betrachtet wurde. In Be­
zug darauf ist es durchaus angebracht, ihre Strahlen in Kreuzes­
form anzuordnen oder besser noch in einem doppelten Kreuz.
Das aufstrebende Christentum ist weitgehend von diesen uralten
Vorstellungen geprägt worden.

Eine Sonne, deren Strahlen acht Bündel bilden, schmückte den


Redner der Logen des 18. Jahrhunderts. Dieses Emblem be­
zeichnet sehr richtig den Beamten, der über die Einhaltung des
Gesetzes wacht und den Geist des Neophyten bezüglich der Ge­
heimnisse ihrer Initiation erleuchten soll.
Merken wir noch an, dass unsere Ziffer Acht aus zwei überein­
andergestellten Vierecken abgeleitet ist (siehe nächste Seite).
Letztere Form ist uns im phönizischen Chet s vorgegeben, dem
achten Buchstaben des alten Alphabets, der in vereinfachter
Form zu unserem H, aber auch zur Zahl Acht geworden ist. Dies
führt uns zurück zu dem länglichen Viereck, das die Loge oder
genauer gesagt das unverletzliche Heiligtum des höchsten mau­
rerischen Ideals bildet.

Philosophisch-lnitiatische Anmerkungen 149


Die Zahl Acht ist darüber hinaus die dritte Potenz von Zwei, was
graphisch in der nebenstehenden Abbildung ausgedrückt ist. Sie
zeigt, dass ein Kubus nur kubisch wird durch Vervielfachung
in Verwirklichung der Achtheit, der höheren Einheit im Bereich
der drei Dimensionen. Acht wird so die Zahl des konstruktiven
Zusammenhalts, zur Quelle der Festigkeit des maurerischen
Großen Werks.

Die Neunheit oder dreifache Dreiheit

Wenn in einer Loge die Acht die Zahl des Redners ist, entspricht
die Sieben dem Meister, der die Arbeiten leitet, und die Neun
dem Br.·. Sekretär, der mit dem Bauriss betraut ist, der die Kon­
tinuität des Werks sicherstellt.

Symbolisch wird dieser Bauriss auf einer Platte ausgeführt, die


in neun Quadrate aufgeteilt ist, deren nummerische Anordnung
die Bedeutung angibt.

Die drei Zahlenreihen entsprechen den Graden des Lehrlings,


des Gesellen und des Meisters. Sie beziehen sich auch auf das
Denken, den Willen und die Tat. Die vertikalen Reihen drücken
demgegenüber die jeder einheitlichen Erscheinung inhärente
Dreiheit aus, in der sich notwendigerweise drei Begriffe unter­
scheiden lassen:

150 Der Meister


1. Das Subjekt, das handelt, das tätige Prin­
1 2 3 zip, die aktive Ursache, das ausströmende
Zentrum, das Agens.
4 5 6 2. Das Wort, die Aktivität, die Arbeit, die
strahlende Emanation, die tätige Tugend.
7 8 9 3. Das Objekt, das Ergebnis, das vollendete
Werk, die ausgeführte Tat.

Wenn man diese allgemeinen Begriffe auf jeden einzelnen Ter­


minus der dreifachen Dreiheit anwendet, wird man zu Deutungen
geführt wie den folgenden:
1. Das denkende Prinzip, Zentrum der Aussendung des Ge-
dankens
2. Das Denken, die Tätigkeit des Denkens
3. Die Idee, der formulierte oder freigegebene Gedanke
4. Das wollende Prinzip, Zentrum des freigegebenen Willens
5. Die volitive Energie, die Tätigkeit des Wollens
6. Das gewollte Wollen, der Wunsch, die Sehnsucht
7. Das handelnde Prinzip, das über die Kraft zur Ausführung,
zur Leitung und Verwirklichung verfügt
8. Die operative Tätigkeit
9. Die vollendete Tat und ihre dauernde Rückwirkung; die
Erfahrung des Vergangenen als Saat der Zukunft

Worte sind nur unvollkommen geeignet, alles zu vermitteln, was


die Anordnung der Ziffern den Eingeweihten eröffilet. Wir be­
finden uns hier im Bereich der nicht mitteilbaren Geheimnisse:
Man muss selbst entdecken, was sich weder unmittelbar auf­
drängt noch zum Gegenstand einer an das Gedächtnis gerichte­
ten Lektion werden kann.

Es handelt sich im Ergebnis darum, sich in der methodischen


Ordnung unserer Begriffe zu üben und dabei zu vermeiden, die
verschiedenen Bereiche oder Kategorien zu verwechseln. Das
ist zu einem Gutteil das, was man die Arbeit an einer aufzule­
genden Zeichnung nennt.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 151


Wichtig ist überdies, die richtigen Lehren aus den Tatsachen zu
ziehen. Diese aber sind in ihrer Entstehung mit der Idee, von
der sie ausgehen, untrennbar verknüpft. Jeder Fortschritt nimmt
seinen Ursprung aus einem Traum oder einer Utopie, die nach
und nach in den Köpfen Gestalt annehmen. Die Idee wird dann
zur Kaiserin (Arkanum III des Tarot [35]) und macht sich zur
Schöpferin des Willens (IV, der Kaiser des Tarot [36]). Indem sie
auf allgemeine Zustimmung stößt, den moralischen Konsens (V,
der Papst), breitet die Strebung sich aus und gewinnt an Span­
nung (VI, der Liebhaber [37]). Von nun an drängt sich die Um­
setzung in die Wirklichkeit auf und VII (der Karren) setzt sich
in Bewegung im Einklang mit VIII (die Gerechtigkeit [38]), um
in IX einzumünden (der Eremit), den Weisen, den erfahrenen
Philosophen, den Meister.

Aus der Improvisation entsteht nichts Ernsthaftes, nichts Dau­


erndes. Man muss den Acker pflügen, die Saat ausbringen, reifen
und zur Frucht wachsen lassen, um sehr viel später eine auf den
Punkt ausgereifte Ernte einfahren zu können. Sofortige Erfül­
lung anstreben zu wollen ist ein Irrtum. Sich aus dem Impuls des
Augenblicks in etwas hineinstürzen heißt in den meisten Fällen,
die Beute für ihren Schatten hinzugeben. Ein Rat an sogenann­
te Realpolitiker! Der Maurer muss sich so weit zurücknehmen,
dass er selbst keinen persönlichen Gewinn aus seiner initia­
tischen Arbeit zieht. Wenn er auf seiner Arbeitstafel eine in jeder
Hinsicht abgewogene Zeichnung abliefert, wird die Ausführung
nicht lange auf sich warten lassen. Der Logenmeister fragt nach
der rechten Zeit zur Ötlhung und Schließung der Arbeiten: Darin
liegt eine Lehre, deren Tragweite man wird erfassen müssen.

Die Überlieferung

Wie arbeiten die Meister am Reißbrett? Diese Frage beantwortet


der Katechismus wohlweislich nicht, auch wenn sie von höchster
Bedeutung ist. Die Arbeitstafel, auf der gezeichnet wird, was zur
Ausführung kommen soll, ist wie alle Besonderheiten des Meis­
tertums als des höchsten Grades der Einweihung ausgesprochen

152 Der Meister


geheimnisvoll. Das Holz, auf das die Meister ihre Pläne mit Hil­
fe von Lineal und Zirkel aufzeichnen, ist nicht der Marmor oder
die Bronze, in denen sich Geschichte einzugraben pflegt, nicht
einmal der Tonziegel mit Keilschriftzeichen, auf dem uns die
Wissenschaft der Babylonier überliefert ist. Jeder von uns ver­
fügt über seine eigene bescheidene Arbeitstafel, die keineswegs
unvergänglich ist. Wir legen darauf für unsere Nachfolger bei
der Verwirklichung des Großen Werks unseren letzten Willen
als Bauleute fest, die Gesamtheit aller Willensanstrengungen,
die nach uns verwirklicht werden sollen.

Der Bauriss geschieht in Tätigkeitsschritten: Unser gelebtes


Denken, unser in Handeln umgesetzter Wille schlagen sich auf
der Arbeitstafel nieder, von der sich die Arbeiter von morgen
inspirieren lassen. Wir sind von unseren Vorgängern beeinflusst
und beeinflussen wiederum unsere Erben. Sie werden von un­
serem Denken profitieren, das sich wie ein Samenkorn, das wir
ausgesät haben, in ihrer Geistigkeit entwickeln wird. Sie werden
aus unserem Willen die nötige Energie schöpfen, um unseren
Traum zu erfüllen.

Jeder von uns sammelt ein geistiges und sittliches Erbe an mit
der Aufgabe, es Früchte tragen zu lassen, um es reicher an die
folgende Generation weiterzugeben. Darin liegt die verehrungs­
würdige Tradition, die Heilige Kabbala der Eingeweihten. Der
Meister ist verantwortlich für diesen in Jahrhunderten ange­
sammelten Schatz. Wenn er versteht, was die edelsten Geister
gewollt haben, und wenn er seinerseits aus dem tiefsten Grund
seines Wesens dasselbe Ideal verwirklichen will, wird er dadurch
zum würdigen Nachfolger der im Verborgenen lebenden Wei­
sen, die vom Beginn der menschlichen Gesellschaften an nicht
aufgehört haben, sich zum Besseren zu verschwören.

Der Fortschritt verwirklicht sich nicht bloß, weil er gewollt wird.


Wir müssen lernen, uns mit Leib und Seele in die Kette jener
Kräfte einzureihen, die Böses in Gutes verwandeln. Leben wir
für das Werk als Maurer, die ihren Lohn allein in der Mittleren
Kammer empfangen.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 153


Die Musen

Neun Schwestern, Töchter des höchsten Verstandeswesens (Zeus


oder Jupiter) und des Gedächtnisses (Mnemosyne), verkörper­
ten in den Augen der Griechen die geheimnisvollen Kräfte der
künstlerischen und dichterischen Inspiration. Diese Jungfrauen,
die den Menschen empfänglich machen für die Akkorde feinster
Harmonie, die das Schöne hervorbringen, werden von Apollo
geleitet, dem Gott der Künste.

Nun wird niemand Meister, wenn er sich selbst ausgeliefert bleibt


und nicht in Verbindung tritt mit dem, was in ihm an harmo­
nischer Schwingung existiert. Solange wir nicht eine bestimmte
Art von Musik jenseits der physischen Welt erfassen, können
wir zur Schaffung von etwas wirklich Großem nicht berufen
werden. Ein grober Klotz kann nicht sinnvoll am Großen Werk
mitwirken, so geschickt und gebildet er auf seine Art auch sein
mag, denn sein Tun äußert sich in allzu unharmonischer Weise.
Der Geselle musste sich in den freien Künsten kundig machen
[39], um sich zur Meisterschaft zu erheben; als Adept des drit­
ten Grades verschmilzt er die Kunst mit dem, was sein Wesen
ausmacht. Er wird in allgemeiner Weise Künstler, jedenfalls was
seine psychische Kraft angeht, wenn nicht gar im materiellen
Tun.

Wenn der Meister oder Innenkünstler in Harmonie mit dem


Schönen fühlt, schwingt, lebt, ist es ohne Bedeutung, was er
davon nach außen in die Tat umsetzt, denn er sendet eine wohl­
tätige Strahlung aus, die gewiss ihren sinnvollen Platz findet.
Er zeichnet auf seiner Arbeitstafel Figuren, die den Wert von
Pentakeln haben. Dieser den Hermetikern vertraute Begriff be­
zeichnet einen mehr oder weniger symbolischen Aufriss, in dem
sich eine ganze Philosophie konzentriert. Die alte Magie machte
davon reichlich Gebrauch: Sie versprach, durch die Macht ge­
eigneter Abbilder, die in Amulette graviert waren, Dämonen zu
beschwören und Krankheiten zu vertreiben. In unseren Tagen hat
die Kirche aus dem Kruzifix ein solches Pentakel gemacht, das
den Teufel in die Flucht schlägt, von den unzähligen Medaillen

154 Der Meister


gar nicht zu reden, die alle in ihrem Bereich von wundersamer
Wirksamkeit sind. In Wirklichkeit ruht die pentakuläre Kraft in
der Idee, in den Gefühlen, die Energien erzeugen, oder in dem
Seelenzustand, den das Bild jeweils hervorruft. Aus sich heraus
kann es nicht wirken, denn die christliche Auffassung geht ja da­
hin, dass auf diesem Gebiet allein der Glaube zu wirken vermag.
Was soll man aber sagen zu einem unsichtbaren Pentakel, das im
Verlauf eines ganzen tätigen Lebens gezeichnet wurde, das dem
Dienst an einem höheren Ideal geweiht war? Hier handelt es sich
nicht mehr um Kindereien aus einem Zauberbuch, sondern um
die Verstärkung der geheimen Kräfte der Initiierten. Weder de­
ren Anz.ahl noch ihre sorg:fältige Organisation war irgendwann
für jene von entscheidender Bedeutung, sondern immer nur der
Wert dessen, was sie auf ihre rätselhafte Arbeitstafel aufzuzeich­
nen wussten.

Die Musen sind die Lehrerinnen, die uns beibringen, die initia­
tischen Hieroglyphen zu entziffern und so im ewigen Buch der
heiligen Überlieferung zu lesen. Sie beflügeln den bildenden
Künstler, den Musiker, den Barden, den Dichter, aber auch und
vor allem den Denker, denn das Denken entspricht der subtilsten
aller Künste, zu der sich niemand erheben kann, wenn er nicht
durch die Schule Apollos und der neun Schwestern gegangen
ist, jener heiteren Spenderinnen von rechtem Takt und harmo­
nischem Maß. So erklang die Leier Amphions in so vollkom­
menen Akkorden, dass durch sie die Steine der Mauern The­
bens sich wieder zusammenfügten, die sich dadurch von selbst
aufrichteten, um die heilige Stadt mit einem unüberwindlichen
Bollwerk zu umgeben.

Man muss die Wahrheit verstehen können, die sich in der Spra­
che einer Fabel an uns wendet.

Das Quadrat des Saturn

Die Zahlen können dergestalt in Quadraten angeordnet werden,


dass man unveränderlich dieselbe Summe erhält, ob man sie nun

Phi/osophisch-Initiatische Anmerkungen 155


horizontal, vertikal oder diagonal addiert.
8 1 6 So bildet man magische Quadrate, deren
einfachstes sich auf die neun ersten Zahlen
3 5 7 beschränkt und den Okkultisten zufolge dem
Saturn entspricht. Es gruppiert die ungera­
4 9 2 den Zahlen in Kreuzform und verweist die
geraden Zahlen in die Ecken.

So kindisch es scheinen mag, aber jede Zahlenkombination ist


lehrreich, wenn es auch manchmal schwierig ist, daraus eine in­
itiatische Lehre zu entwickeln. Was das klassische Quadrat des
Saturn angeht, so muss sich unsere Aufmerksamkeit zu allererst
auf die mittlere Kolonne richten, die uns den Anfang, die Mitte
und das Ende der Zahlenreihe gibt. Das erlaubt es uns, l, 5 und 9
dem Lehrling, Gesellen und Meister zuzuordnen, die dann zwi­
schen den Säulen J.·. (8, 3, 4) und B.·. (6, 7, 2) platziert sind. Der
Lehrling muss also zwischen (8) und (6) unterscheiden und so­
dann den Gegensatz beider Ziffern versöhnen. Nun bezeichnen
8 und 6 Vernunft und Gefühl, also Sorgfalt, Gerechtigkeit und
Strenge im Gegensatz zu Sanftmut, Güte und Verzeihen.

Dem Gesellen empfiehlt sich die entsprechende Unterscheidung


zwischen (3) und (7), zwischen dem theoretischen und abstrakten
Verständnis, das von reinem Idealismus beseelt ist: (3), und der
praktischen, konkreten Ausführung, die alle Zusammenhänge
berücksichtigt: (7).

Der Meister schließlich entwirft seine Pläne, indem er den ma­


thematischen, kalt beobachtenden und berechnenden Regelsinn:
(4) mit den subtilen Fähigkeiten der Intuition und der seherischen
Zukunftsahnung: (2) versöhnt.

Das Geheimnis, das noch unerforschte Unbekannte: (2) steht in


der Diagonale des Weiteren gegen die: (8), die Ziffer, die Logik,
Ordnung, Gesetz, den unter die Strahlung der Sonne fallenden
intellektuellen Bereich beinhaltet. Derselbe Gegensatz zwischen
(4) und (6): das positive Wollen, das befiehlt (4) und das ge­
fühlsmäßige Streben, das sich in der Passivität des bloßen Wün­
schens ausdrückt (6).

156 Der Meister


Wenn die Einweihung mit den Überlegungen des Lehrlings be­
ginnt, die sich in den engen Grenzen des Kreises bewegen, den
der Zirkel umschreibt: (8), dann nur deshalb, um zur Klarsicht
des Meisters vorzudringen: (2), die die Tiefen des Grenzenlosen
auslotet und das Licht im Herzen der Finsternis aufbrechen
lässt.

Die Sephiroth

Tradition heißt auf Hebräisch Qabbalah: Die Kabbala ist außer­


dem eine Lehre, die auf initiatische Weise von Geschlecht zu
Geschlecht weitergegeben wurde. Sie beruht auf Zahlenspeku­
lationen, die in der Theorie der Sephiroth (Ziffern) zusammen­
gefasst und deren Bestreben es ist, das Relative mit dem Abso­
luten, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Endliche mit
dem Unendlichen oder die Erde mit dem Himmel zu verbinden.
Diese Verknüpfung arbeitet mit Hilfe der zwischengeschalteten
Dekade, deren jeder Durchlauf eine charakteristische Bezeich­
nung trägt.
1.KETHER
Krone oder Diadem - Einheit, Mittelpunkt, Prinzip, aus dem al­
les hervorgeht und alles einschließt an Kraft, Keim oder Saat.
Der Vater, Quelle und Ausgangspunkt jeder Tätigkeit. Denken­
des und bewusstes Agens, das sagt: Ehyeh - ,,Ich bin!"
2.HOCHMAH
Weisheit - Schöpferisches Denken, unmittelbare Emanation des
Vaters: sein Erstgeborener, der Sohn, Begriff, Wort, Logos oder
Höchste Vernunft.
3.BINAH
Verstand, Verstehen - Begriff und Zeugung der Idee, Isis, Jung­
frau-Mutter, die die Urbilder aller Dinge hervorbringt.
4.HESED
Gnade, Mitleid, Dank, oder GEDULAH, Größe, Pracht - Schöp­
ferische Güte, die die Wesen zum Sein beruft.Kraft, die das Le­
ben gibt und ausbreitet.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 157


5.GEBURAH
Starrheit, Strenge; REHAD, Strafe, Furcht oder DIN, Urteil -
Leitung, Ordnung des vorgegebenen Lebens. Pflicht, Selbstbe­
herrschung.Moral, die zurückhält. Diskretion, Bescheidung, die
zur Selbstbeschränkung verpflichtet.
6.TIPHERETH
Schönheit - Das Ideal, nach dem alle Dinge sich aufbauen wol­
len. Gefühl, Verlangen, Strebungen, Willensäußerungen im Zu­
stand der Ruhe.
7. NEZAH
Sieg, Triumph, Festigkeit - Die Unterscheidungsfähigkeit, die
das Chaos entwirrt, die konstruktiven Kräfte der Welt zusam­
menfasst, ihren Einsatz steuert und den Fortschritt sicherstellt:
der Große Baumeister aller Welten.
8.HOD
Glanz, Ruhm - Die ordnende Gestaltung, das Gesetz, die in­
newohnende Gerechtigkeit, die Logik der Dinge. Notwendige
Verbindung von Ursache und Wirkung.
9. JESOD
Grundlage, Gründung - Nichtstoffiicher Plan, nach dem sich al­
les aufbaut. Latente Möglichkeiten. Der vorzulegende Aufriss.
Präexistentes Bild dessen, was kommen muss.
10.MALKUTH
Königreich - Die Schöpfung.Das Rad des ewigen Werdens.Das
Aussehen, die Erscheinung. Die Materie, Quelle von Illusion
und Täuschung.

Die zehnte Sephira führt die neun vorhergehenden zur Ein­


heit zurück. Sie stellt die Sonne dar, über der sich der Träger
der Krone erhebt, das heißt der Mensch als solcher, der große
spirituelle Adam, dessen Leib sich wie folgt unter die anderen
Sephiren verteilt: Weisheit - Gehirn; Verstand - Kehle, Stimm­
organe; Gnade - rechter Arm; Strenge - linker Arm; Schönheit
- Brust, Herz; Sieg - rechtes Bein; Glanz - linkes Bein; Basis
- Zeugungsorgane.

158 Der Meister


Die sephirotische Dekade ist auch
verglichen worden mit einem Baum,
der an den Lebensbaum der alten
Kosmogonien erinnert. Dieser Auf­
fassung entspricht das nachstehende
Schema.

Die drei ersten Sephiren bilden dabei


eine geistige Dreiheit, die sich in ei­
ner zweiten moralisch-sittlichen oder
psychischen Triade widerspiegelt,
die von einer dritten dynamischen
oder physischen Dreierbildung ge­
stützt wird. Die mittlere Säule 1, 6,
9, l O ist neutral oder androgyn, ver­
söhnt die Gegensätze von rechts und
links, wobei hier 2, 4, 7 die männ­
lich-aktive Säule J.·. verkörpern, 3,
5 und 8 dagegen die weiblich-pas­
sive Säule B.·..

Die maurerische Symbolik stimmt mit der Kabbala in dem über­


ein, was an ihr wesentlich ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist
es interessant, eine Verbindung herzustellen mit dem Baum der
Sephiroth und der Beamtenhierarchie einer Loge.

1. Die Krone nimmt den Platz des M. ·.v. ·.St.·. ein, der die
Arbeiten leitet, den die Schenkel des Zirkels mit der
2. Weisheit - Vernunft, dem Redner, und der
3. Verstand - erfassendes Gespür, dem Sekretär, verbinden.
4. Gnade, und
5. Strenge, entsprechen dem Gabenpfleger und dem Schatz­
meister, aber diese Beamten müssen ihre Plätze tauschen,
wenn sie in der Logik des sephirotischen Systems bleiben
wollen.
7. Sieg, Festigkeit, und
8. Glanz, Ordnung, verbinden sich mit dem Ersten und
Zweiten Aufseher, während

Philosophisch-lnitiatische Anmerkungen 159


9. die Basis oder Gründung, sich bezieht auf den Br.·. Experten,
den Hüter der Überlieferungen.
Schließlich ist
10. Königreich oder profane Welt, der Bereich des Br.·.
Wachhabenden, der von außen über die Sicherheit der
Arbeiten wacht.

Weisheit, Stärke und Schönheit, die drei Säulen, die symbolisch


den Tempel tragen, fassen im Übrigen die Theorie der Sephiroth
zusammen, indem sie sie von den metaphysischen Spitzfindig­
keiten befreien, denen schon die alten Werkmaurer zu entkom­
men strebten. Ihre vereinfachte Formel gibt sich damit zufrie­
den, der Weisheit (2. Sephira) den Begriff der maurerischen
Arbeit zuzuordnen, deren Ausführung der Stärke (7. Sephira)
überlassen wird, während die Schönheit (6. Sephira) die Aufga­
be hat, zu schmücken, zu verzieren und so alles endgültig wohl
zu bestellen.

Die magische Kraft

Die Zahl Elf wurde als ganz besonders geheimnisvoll angese­


hen, zweifellos, weil sie in sich 5 und 6 vereinigt, die Ziffern des
Mikrokosmos und des Makrokosmos [40], deren Tragweite das
folgende Schema verdeutlicht:

Der Stern in der Mitte ist der des mensch­


lichen Genius, des praktischen Ver­
standes, dem die Organe des Auffassens
und Handelns dienstbar sind. Ins Herz
der Welt im Großen (Makrokosmos) hi­
neingestellt wird dieses Gestirn das, was
man den Großen Flammenden Stern nen­
nen könnte. Es handelt sich anders ausge­
drückt um den Menschen im Besitz sei­
ner größten Verwirklichungsmöglichkeiten, der über die Kraft
zur Ausführung verfügt, die sich mit der 7. Sephira verbindet
und die das Arkanum XI des Tarot unter dem Bild einer Frau
darstellt, die einen Löwen besiegt [41].

160 Der Meister


Aber der Geist des einzelnen Menschen triumphiert nur (7. Se­
phira), insofern er Handlungszentrum der Allgemeinseele ist, in­
dem er also auf jeden Egoismus verzichtet, um sich rückhaltlos
in den Dienst des großen Ganzen zu stellen. Der wahre Einge­
weihte neigt dazu, die weithin ausgedehnt verstreuten Energien
auf sich zu konzentrieren; dadurch verfügt er in sehr realer Art
und Weise über unbegrenzte Macht, die im initiatischen Sinne
des Wortes von den Göttern [42] stammt. Der Maurer, der sich
mit seinem ganzen Verstand und seinem ganzen Herzen der
Ausführung des Plans des Höchsten Baumeisters gewidmet hat,
kann eine Arbeit verrichten, die seine persönlichen Mittel um
ein Vielfaches übersteigt: Er ist nicht allein, denn ihm treten alle
Energien zur Seite, die derselbe gute Wille in Bewegung setzt.
Das Band der Vereinigung wirkt für jeden ehrlichen Adepten,
der ins Gleichgewicht gekommen ist: 8 und nun in dem Maße
empfängt, in dem er gibt, wobei er aus der Strömung Nutzen
zieht, die er geschaffen hat, indem er sie weiterleitet.

Um die Untersuchung der Zahl Elf abzuschließen, ist es gut, sie


- nachdem man sie als die Summe aus 5 und 6 erfasst hat - zu
zerlegen in 4 + 7, 3 + 8, 2 + 9, 1 + 10, wobei man diesen Ziffern
jeweils die Wertigkeit beilegt, die sie aus der dreifachen Dreiheit
und dem Baum der Sephiroth gewinnen.

4 und 7 lassen die Kraft der 11 aus energischem, unerschütter­


lich festem und regelbewusstem Wollen entstehen: 4, verbunden
mit dem Unterscheidungsvermögen, das mit Takt zu führen und
zu befehlen weiß, indem es jeden an seinen Platz stellt, während
es zugleich Harmonie herstellt: 7.

3 und 8 zielen auf den sorgfältigen Gebrauch der in 11 gelegenen


Handlungsmacht, dank dessen sie sich entwickelt und erhält. Das
ist der Verstand: 3, der gute Geschäftsführung sicherstellt: 8.

2 und 9 lassen die initiatische Kraft erstehen: 11 in der Strahlung


der Weisheit: 2, gebündelt in dem zu entwerfenden Aufriss: 9.
Der Initiierte schließt einen heimlichen Pakt, indem er die zu­
vor zerstreuten Einzelstrahlen bündelt; er beeinflusst in okkulter

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 161


Weise das, was werden soll: Dies ist das Geheimnis seiner unwi­
derstehlichen Macht.

1 und 10 zeigen uns schließlich in 11 die Synthese der Zehner­


reihe. Zur Einheit zurückgeführt macht sich das Ganze bereit
zur Verwirklichung der Wunder jener „einen Sache", von der die
smaragdene Tafel des Hermes Trismegistos handelt. Gelingt es
uns hier, ins Zentrum vorzudringen, so wird uns alles untertan
sein.

Die Zwöltheit

Zwölf entspricht der ältesten und natürlichsten Einteilung des


Kreises, vorgegeben durch die beiden Durchmesser, die sich im
rechten Winkel und in vier Bogen schneiden, vom selben Radius
wie der Umfang und so gezeichnet, dass man als Mittelpunkt die
äußersten Enden des Kreuzes annimmt.

Diese Teilung wurde auf den Himmel


angewandt, wo sie zwölf gleiche Flä­
chen bestimmt, die die Sonne in ihrem
scheinbaren jährlichen Umlauf um die
Erde regelmäßig durchläuft. Die Kon­
stellationen, die einstmals mit diesen
Flächen zusammenfielen, haben ihnen
ihre Namen gegeben, die von Tieren oder
beseelten Wesen entlehnt wurden. So bil­
dete sich die Zwöltbeit des Tierkreises, dessen Symbolik von
höchster Bedeutung ist, denn das Jahr wird zum Prototyp aller
Zyklen und stellt allegorisch ebenso die Phasen des mensch­
lichen Lebens wie die der Initiation dar.

In den Mysterien der Ceres nahm der Eingeweihte an der Be­


stimmung des dem Boden anvertrauten Saatkorns teil. Wie
dieses musste er dem Einfluss der Sonne ausgesetzt sein, um
sich zu entwickeln und zur Frucht zu werden, um sodann durch
jene Reihung von Metamorphosen hindurchzugehen, aus denen

162 Der Meister


sich der kreisförmige Umlauf des Lebens ergibt. Jedes Zeichen
des Tierkreises gewinnt unter diesem Gesichtspunkt eine beson­
dere Bedeutung, die festzulegen wir uns bemühen wollen, nach­
dem wir einige allgemeine Hinweise auf die Symbolik der zwölf
Zeichen gegeben haben.

Die vorstehende Abbildung fasst die Überlieferungen zusam­


men, die sich auf den Tierkreis beziehen, dessen Zeichen sich
mit der Siebenheit der Planeten in dem Sinne verbinden, dass die
Sonne O ihren Wohnsitz hat im Zeichen des Löwen Q. und dass
der Mond«: bei sich zu Hause ist im Zeichen des Krebses GP. Die
übrigen Bereiche oder Einflusssphären verteilen sich wie folgt:

Merkur/? Zwillinge lf und Jungfrau DJ'


Venus 9 Stier� und Waage ,A,
Mars cJ WidderY und Skorpion "I.
Jupiter 21 Fische l( und Schütze++
Saturn fl Wassermann = und Steinbock ;f,

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 163


Jedes Zeichen hat andererseits auch Teil an der Natur eines der
vier Elemente, woraus sich dann folgende Einteilung ergibt:

6. Feuer y � i+
V Erde tj DJ? '!,
A Luft lf '-'L

V Wasser e 111_ l(
So wird jedes Zeichen durch einen Planeten und durch ein Ele­
ment charakterisiert. Sehen wir nun, was sich aus diesen Vorga­
ben in Bezug auf die Initiation ergibt.

WIDDER
Feuer, Mars - Es handelt sich um den
.m�IH>. Schwefel der Alchemisten �. das schöp­
ferische innere Feuer, das jedes Wachs­
tum und jede Entwicklung anregt. Einge­
schlossen während des Winters erwacht
es im Frühjahr, lässt das Saatkorn sprie­
ßen und treibt das Aufblühen der Knos­
pen voran. Er verkörpert die persönliche Initiative, die sich un­
ter dem Anstoß eines allgemeinen äußeren Einflusses auftut, wie
sich die im Keim eingeschlossene Energie auf das Zeichen der
Sonne hin in Bewegung setzt. - Die initiatische Glut, die dazu
führt, die Einweihung zu suchen.

STIER
Erde, Wasser - Das Salz 9, empfangen­
de Materie, in der die Befruchtung statt­
findet. Die innere Entwicklung. - Der
Suchende wird nach sorgflUtiger Vorbe­
reitung zu den Prüfungen zugelassen.

164 Der Meister


ZWILLINGE
Luft, Merkur - Die Kinder der vom
Feuer befruchteten Erde. Das doppelte
Quecksilber der Alchemisten, symboli­
siert durch zwei Schlangen oder durch
eine Schlange mit zwei Köpfen. Schöp-
Mllll"IC�J-"T.'lr--- ferische und ordnende Vitalität. Die Sub­
limierung der Materie in der Blume, die
verlöscht. - Der Neophyt empfängt das
Licht.

KREBS
�����'J.;J2'/ Wasser, Mond - Das innere Mark füllt
' die Formen aus, die dadurch zu ihrer
Fülle anwachsen. Die Vegetation ist ver­
schwenderisch. Es ist die Jahreszeit der
Blätter, Kräuter und Nährpflanzen, aber
Körner und Früchte sind noch grün. Die
Tage sind lang: Das Licht ist überreich
vorhanden. - Der Eingeweihte lernt, in-
dem er sich die initiatischen Lehren an­
eignet.

LÖWE
Feuer, Sonne - Wenn die schwefelige
und innere Glut des Widders sich ihrer
schöpferischen Aufgabe entledigt hat,
greift das äußere Feuer ein, um alles aus­
zutrocknen und abzutöten, was nur flüs­
�::e='U'i&li:iilii:rf>;.;.;a sige Struktur hat, um die Hülle der feuer-
geborenen Keime aufzukochen und zur
Reife zu bringen. Die gnadenlose Ver­
nunft übt ihre scharfe Kritik an allen auf­
genommenen Begriffen. - Der Initiierte
kontrolliert von sich aus mit Strenge die
Ideen, die ihn verführen könnten.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 165


JUNGFRAU
Erde, Merkur - Die befruchtete Sub­
stanz, jungfräuliche Gattin des befrucht­
enden Feuers, kommt nieder und findet
ihre Jungfräulichkeit wieder. Die Ernte
ist reif, die Hitze weniger glühend. -
Nachdem er seine Wahl unter den Bau­
stoffen getroffen hat, sammelt der Ein­
geweihte sie, um ihre Ecken und Kanten
abzuschlagen und sie im Blick auf ihre
Bestimmung zu behauen.

WAAGE
Luft, Venus - Gleichgewicht der auf­
bauenden und zerstörenden Kräfte. Rei­
fe: die Frucht in all ihrer Größe. - Der
Geselle im Zustand der Entfaltung seiner
höchsten, aufs Nützliche gerichteten Ak­
tivität.
!:==:;;/ff=.�

SKORPION
Wasser, Mars - Die feuchte Masse gärt.
Die Elemente der Lebensbausteine tren­
nen sich, um neue Verbindungen einzu­
gehen. Umwälzende Veränderungen der
bestehenden Ordnung. Die Sonne be­
�iH�;al�l��i schleunigt ihren Absturz in die südliche
Hemisphäre. - Verschwörung der bösen
Gesellen. Hiram wird erschlagen.

166 Der Meister


SCHÜTZE
Feuer, Jupiter - Der beseelende Geist hat
sich von der Leiche getrennt und schwebt
in den Höhen. Die Natur bekommt ein
trostloses Aussehen. - Die richtungslos
zurückgelassenen Arbeiter jammern. Sie
verstreuen sich, um den Leichnam des
ermordeten Meisters zu suchen.

STEINBOCK
Erde, Saturn - Nichts lebt mehr: Die
Erdensubstanz ist unbeweglich, passiv,
aber bereit zu neuer Befruchtung. - Das
Grab Hirams wird entdeckt dank des
Akazienzweiges, dem einzigen Hinweis
auf das entschwundene Leben.

WASSERMANN
Luft, Saturn - Die schöpferischen Ele­
mente erneuern sich in der ruhenden
Erde, die sich auf neue Zeugungsan­
strengungen vorbereitet. Sie sättigt sich
mit lebenspendender Dynamik. - Der
Leichnam des Baumeisters wird zu Tage
......�'•"-..-II"'"--oll,
gebracht, und die Kette bildet sich, . um
ihn auferstehen zu lassen.

FISCHE
Wasser, Jupiter - Das Eis bricht; der
Schnee schmilzt und tränkt die Sonne
���ij j��fff/ mit jenen Flüssigkeiten, die geeignet
sind, zum Leben berufen zu werden. Die
Tage werden rasch länger, die Herrschaft
des Lichts setzt sich durch. - Hiram ist
auferstanden; er erlangt das Bewusstsein
wieder: Das Verlorene Wort ist wieder­
gefunden.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 167


Der Sarg von Osiris

Da ein einziges Gesetz das Universum beherrscht, baut sich alles


nach denselben Bauprinzipien auf. Man muss also im Kleinen
wiederfinden, was im Großen vorkommt. Von diesem Ansatz
ausgehend, haben die Alten eine analoge Beziehung hergestellt
zwischen den Tierkreiszeichen des Makrokosmos und den Tei­
len des Körpers des Mikrokosmos. Danach ergeben sich die fol­
genden Entsprechungen:

Widder Y, Kopf, Schädel, Hirn.

Stier 6, Hals, Kiefer, Halswirbel, Mund,


Rachen, Sprechwerkzeuge.

Zwillinge lt, Arme, Schulterblätter,


Schlüsselbeine und muskulärer Bewe­
gungsapparat. Organe des äußeren Han­
delns, der Arbeit und der Ausführung.

Diese erste Dreiheit lässt sich also auf


die Formel zurückführen: Gedanke
-Wort-Tat.
Sie bezieht sich auf den Geist oder Ver­
stand und deren Erscheinungsformen.

Krebse, Brust, Thorax, Lunge, At­


mungsorgane, die das Leben erhalten,
indem sie es beständig erneuern.

Löwe Q., Herz, Magen, Solarplexus, Rü­


ckenwirbel. Der Blutkreislauf, der das
Feuer des Lebens im gesamten Körper
verbreitet.

Jungfrau 'IIJ', Abdomen, Lendenwirbel, Eingeweide, Nahrungs­


aufnahme, die Quelle der beständigen Erneuerung der Gewebe.

168 Der Meister


Diese zweite Dreiheit, die nichts Geistiges an sich hat, gehört
gänzlich dem Vitalbereich an. Sie findet Anwendung bei der
Produktion und Weitergabe des Lebens ebenso wie bei der Ver­
teilung der mit den Vitalfunktionen verbundenen Abnutzung.

Waage .a., Hüften, Beckenknochen, Nieren, Sekretions- und


Ausscheidungsorgane. Erhaltung des Lebensgleichgewichts
durch Abstoßung verbrauchter Elemente.

Skorpion 81., After, Scham, Geschlechtsorgane, Fortpflanzung,


brünstige Verwirrungen.

Schütze ++, Oberschenkel, Steißbein (Sitzfläche, Abschluss des


Rumpfes). Die Muskelfasern, ihre Elastizität und ihre Kraftre­
serven. Tierischer Magnetismus.

Diese dritte Dreiheit entspricht ganz besonders dem Instinkt, der


den Organismus überwacht und schützt, die Art weiterträgt und
zwischen den Einzelnen jene nicht vernunftgesteuerte Anzie­
hung und Abstoßung hervorruft, die auf die sexuelle Polarisie­
rung zurückgeht.

Steinbock �, die Knie und in Erweiterung die Gelenke im All­


gemeinen. Bänder. Was die Knochen miteinander verbindet und
ihnen erlaubt, den Muskeln zu gehorchen. Der Zement der Bau­
symbolik.

Wassermann =, die Beine, ihre beiden Knochen und in Erwei­


terung der Knochenbau. Die Organe des Bewegungsapparates,
die es dem Menschen ermöglichen, sich einander zu nähern und
miteinander zu arbeiten.

Fische X, die Füße, die es erlauben, sich aufrecht zu halten. Die


aufrechte Haltung als Zeichen der Überlegenheit über das Tier.

Diese letzte Dreiheit scheint auf das soziale Leben anzuspielen.


Achtung vor der Hierarchie (das Knie, das sich beugt), Konser­
vatismus, Religion. Freiheit und Fortschritt (Beine, die gehen).
Würde des Menschen, Selbstachtung, Kult des Menschentums.

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 169


AdamKadmon

Zwölfbeschließt den Kreis der Zahlen, mit denen sich die philo­
sophische Spekulation mit Vorliebe beschäftigte. Den zwölfAr­
beiten des Herkules und den zwölf Zeichen des Tierkreises ließ
man ebenso viele Phasen der Verwirklichung des Großen Werks
entsprechen. Aber da die Zwölf den Kreis abschließt, bleibt die
Dreizehn ausgeschlossen, daher der dieser Zahl zugeschriebene
unheilbringende Charakter, der das Tarot das Bild des Todes zu­
ordnet, der alles dahinrafft, was nur eine vorübergehende Exis­
tenz besitzt.

In Wirklichkeit jedoch, wenn es denn darum geht, das Studium


der Zahlen über die Zwölfergruppe hinaus zu betreiben, muss
man auf der dreifachen Dreiheit des Reißbretts aufbauen und
im Anschluss daran eine neue Gruppierung nach 9 ins Auge fas­
sen.

1 2 3 10 11 12
4 5 6 13 14 15
7 8 9 16 17 18

Diese dreifache Dreiergruppen oder Neunheiten können sich


überlagern, so dass 10, 11 und 12 den symbolischen Wert von 1,
2 und 3 annehmen und so fort bei den übrigen Zahlen. Aber Ent­
sprechung und Analogie bedeuten nicht Identität. Es geht also
darum, zu einer Transposition der Bedeutungen vorzudringen,
wobei man die neun ersten Ziffern so betrachtet, als bezögen
sie sich in ihrer Gesamtheit auf den Menschen nach seiner me­
taphysischen oder abstrakten Natur, auf den Adam Kadmon der
Kabbalisten, den höheren oder himmlischen Adam, den sie dem
niederen oder irdischen Adam entgegensetzen, dem konkreten
Menschen des Kollektivs, aufden sich die Gesamtheit der zwei­
ten dreifachen Dreiergruppe bezieht.

170 Der Meister


Die Einheit des himmlischen Adam resultiert aus einer dreifa­
chen Drei-Einheit, die abzuleiten ist aus dem Satz: Ich denke.
Diese beiden Worte setzen nämlich ein denkendes Subjekt vo­
raus: 1, Ursache, die als solche nur da ist, weil man denkt, an­
dernfalls hätte man nicht gedacht. 2: Ausführung, also indem
man an etwas denkt. 3: Wirkung. Aber wenn wir auch logisch
Ursache, Ausführung und Wirkung voneinander unterscheiden,
so gibt es in Wirklichkeit hier nur eine einheitliche Dreiheit, die
notwendigerweise allem zu Grunde liegt. Aus dem Bereich der
reinen Vorstellung verwandelt sie sich in den des Wollens, denn
wenn ich denke, bin ich mir dessen bewusst und stimme dem zu:
Ich will denken. 4: Willensursache. Aber auch hier will ich nur
in Ausführung eines freiwilligen Aktes - 5, und indem ich etwas
will - 6. Das ist noch nicht alles: Der Wille wird nicht im Leeren
tätig; sein Befehl richtet sich an Kräfte, die er selbst erzeugt hat:
7, die er zum Handeln bringt: 8, und die er bündelt: 9.

Diese Gesamtheit wird zusammengefasst in 10, der geistigen


Monade, aus der der irdische Adam hervorgeht. Die eigentliche
Aktivität dieser Monade ist 11 und das unmittelbare Ergebnis
dieses Handelns 12.

Was die Zahl 13 betrifft, dringen wir zu ihrer Bedeutung vor,


wenn wir uns an die 4. Sphäre erinnern. Diese nun entspricht
der Güte, die das Leben ausbreitet, während die 13 mit der Vor­
stellung des Todes verbunden ist, also mit der Zerstörung des
Lebens. Der Gegensatz scheint unauflöslich, und trotzdem nährt
sich die gesamte Lebenskraft des irdischen Großen Adam (Men­
schenreich) von dem durch die Auflösung des Gefäßes befreiten
Inhalt. Der Tod zerstört nicht die Lebensenergie; er beschränkt
sich darauf, sie lediglich in den allgemeinen Kreislauf zurückzu­
führen: 14. Das Arkanum XIV des Tarot zeigt nun die Mäßigung
unter den Zügen eines Engels, der den universalen Strom des
Lebens unablässig von einer Amphore in die andere umgießt.
Dieses Fluidum bestimmt im Übrigen die sexuellen Gegensät­
ze, die das animalische Leben regieren und dem Gott Pan: 15,
entsprechen, der im Mittelalter Teufel getauft wurde (Arkanum
XV des Tarot).

Philosophisch-Initiatische Anmerkungen 171


Die zur Harmonie führende Erkenntnis: 7, macht im irdischen
Adam der egoistischen Verblendung Platz: 16, die den Kampf
um das Leben entfesselt. Die Gerechtigkeit: 8, herrscht damit
nur im Himmel, ohne dass deshalb die Erde gleichzeitig voll­
ständiger Anarchie ausgeliefert wäre, denn das Interesse der
Gemeinschaft beeinflusst die Einzelnen und weckt in ihnen ei­
nen gewissen Sinn für Schönheit und Ausgeglichenheit: 17, der
durch die Sterne im Arkanum XVII des Tarot versinnbildlicht
wird. Die theoretische Erfahrung: 9, wird sich jedoch nie durch
die Tat beweisen, wenn nicht der Schmerz sie dazu drängt. Halb
aufgeklärt macht die Menschheit durchaus Fortschritte, aber
nur unter dem Stachel einer harten Notwendigkeit. Die Arbeit
wird fertig, aber nicht ganz freiwillig: Sie drängt sich auf, sie
wird erzwungen. Dieser Zustand des Verfalls entspricht der 18
und der Baustelle des Lebens, auf die die unsichere Klarheit des
Mondes im Arkanum XVIII des Tarot niederfällt.

Aber unsere Sklaverei muss ein Ende nehmen, denn ein Erlöser:
19, ist uns versprochen. Das Arkanum XIX identifiziert ihn mit
der Sonne, die die Menschen ein für alle Mal erleuchtet, indem
sie sie zur gesunden Vernunft bekehrt. Das ist die Ankunft des
wahren Lichts, dessen Strahlen zur Wiedergeburt führen, wie
es das Arkanum XX (Gericht/Urteil) zeigt, so dass daraus die
universale Harmonie der neu geschaffenen Welt hervorgeht (Ar­
kanum XXI). Der ideale Tempel, den die Maurer bauen, wird
so durch die Zahl 21 verkörpert, die Synthese einer dreifachen
Siebenheit oder siebenfachen Dreiheit.

Diese Hinweise finden ihre zeichnerische Erläuterung im Tarot,


dessen Untersuchung Gegenstand einer Arbeit unter dem Titel
Le Tarot des Imagiers du Moyen Age (Das Tarot der bildenden
Künstler des Mittelalters) darstellt.

172 Der Meister


Teil VII
DIE VORRECHTE
DER MEISTERSCHAFT

DIE VORRECHTE DER MEISTERSCHAFT

Der Hohe Hut

Der Meister, der im 18. Jahrhundert die Arbeiten seiner Loge


leitete, blieb zum Zeichen seiner Autorität bedeckt. Die in den
3. Grad erhobenen Brr. ·. bedeckten ihr Haupt ebenfalls in der
Meisterloge, um so die Gleichheit mit ihrem Vorsitzenden her­
vorzuheben. Die angelsächsischen Logen kennen diesen Brauch
derzeit nicht, er hat sich jedoch in Deutschland erhalten und
wurde so allgemein, dass alle Brr. ·., selbst die Lehrlinge, sich
im Tempel mit dem Hohen Hut schmücken. Aber es handelt sich
hier nicht mehr um eine Demonstration der Gleichheit, da das
Ritual vorschreibt, jedes Mal den Hut zu lüften, wenn der Große
Baumeister aller Welten erwähnt wird.

Symbolisch gesehen, beschränkt sich das Interesse am Hut auf


die Tatsache, dass er an die Stelle der Krone tritt (Kether, 1.
Sephira der Kabbalisten). Als Emblem der Souveränität hat er
die Aufgabe, seinem Träger begreiflich zu machen, dass er sich
nicht in herausgehobener Stellung befindet, um willkürlich nach
seinem persönlichen Gutdünken Befehle zu erteilen. Ein wah­
rer Souverän übt Herrschaft aus, er ist kein bloßer Befehlshaber.
Man herrscht aber nur wirklich, wenn man den allgemeinen Wil­
len umsetzt. Der Meister leitet also seine Loge nicht nach seiner
Vorstellung, sondern lässt sich von den höchsten Strebungen der
Gemeinschaft anregen: Es ist die Idealvorstellung des Kollek­
tivs, die das leuchtende Diadem bildet, die Krönung des Baums
der Sephiroth, an die einstmals der Dreispitz des Logenmeisters
erinnern sollte.

Die Vorrechte der Meisterschaft 173


In unseren Tagen, in unseren lateinischen Logen, bedecken sich
die Meister nur noch zur Arbeit im dritten Grad. Alle geben da­
durch kund, dass sie in der Lage sind, den ersten Hammer zu
führen und gegebenenfalls als würdige Träger der initiatischen
Herrschaft aufzutreten.

Weil er von sich selbst absehen kann, wird der Meister in der
Tat fähig zu herrschen, und zwar nicht als Despot oder gewöhn­
licher Potentat, sondern als Adept der Königlichen Kunst, der
würdig ist, den Thron Salomos einzunehmen, des weisesten al­
ler Könige. Der Einzelne, der sich selbst beherrscht und keinem
Augenblicksimpuls unterliegt, erhebt sich zur königlichen Wür­
de der Eingeweihten. Da nichts ihm befehlen kann, ist er frei
und trifft seine Entscheidungen nur unter dem Einfluss klarster
Vernunft. Jeder Meister muss sich bemühen, dieses Ideal zu ver­
wirklichen, das ihm bedeutende Vorrechte einräumt, wofür das
Tragen des Hutes ein zwar auf den ersten Anschein plumpes,
aber letztlich dennoch subtiles Symbol ist.

Die Souveränität der Meister

In der Maurerei gibt es keine höhere Autorität als die des Meis­
ters. Oberhalb des Meisters gibt es nichts. Derjenige, der die
Arbeiten der Loge leitet, ist nicht mehr als die anderen Meister
und muss ihnen Rechenschaft ablegen über seine Amtsführung.
Ein Großmeister ist selbst nur ein Delegierter der Meister und
regiert in ihrem Namen und unter ihrer Kontrolle einen Bund
von Logen.
Keine maurerische Spitzenorganisation verfügt im Übrigen über
irgendwelche Macht aus sich selbst. Sie ist schlicht und einfach
ausführendes Organ des Willens ihrer Auftraggeber, und ihre
Aufgabe beschränkt sich auf die Vertretung der Interessen der
Gesamtheit.

Aber die Logen unterliegen keinerlei Zwang, die Verwaltung


seitens irgendeines anderen Gremiums hinzunehmen. Wenn sie
das Bedürfnis hatten, geführt zu werden, dann nur insofern sie

174 Der Meister


noch Logen im Embryonalzustand waren, Bauhütten, die nicht
aus eigener Kraft arbeiten konnten, woraus sich dann die Not­
wendigkeit ergab, sie zu lenken und unter Vormundschaft zu hal­
ten. Dies wird jedoch niemals der Fall sein bei einer wirklichen
Loge, die von Meistern geführt wird, die vom Geiste Hirams
beseelt sind, denn dort wird es niemals an Arbeit fehlen, und sie
wird jede Frucht bringen, die man berechtigterweise auch ohne
jede Anregung von außen erwarten darf.

Die autonome Loge ist der einzige grundlegende Organismus


des maurerischen Lebens. Es sind die Logen, die maurerisch ar­
beiten, die untereinander jene Weltmaurerei bilden, der sich erst
seit 1717 Großlogen und sonstige maurerische Jurisdiktionen
oder Kräfte beigesellt haben, um ihre Existenz in Frage zu stel­
len, indem sie Meinungsunterschiede und Schismen vervielfach­
ten. Die wahre Maurerei verträgt jedoch keine Spaltung, denn
es gehört zu ihrem Wesen, einig zu sein. Aber die maurerische
Einheit ist nur zu verwirklichen unter freien Logen, die nicht der
willkürlichen Gesetzgebung durch lokale Gruppierungen unter­
worfen sind. Wenn es für die Logen richtig ist, Verbindungen
miteinander einzugehen, dann ist es auch lobenswert, sich einer
gemeinsamen Obödienz zu unterstellen. Aber eine Gruppe von
Logen kann nicht auf eigene Rechnung Gesetzgeber spielen und
hat nicht das Recht, über andere vergleichbare Gruppen den Stab
zu brechen. Wer einen anderen verurteilt, verurteilt sich selbst,
indem er sich von der Universalität ausschließt. Dies ist eines
der zwingenden Gesetze der reinen und unverfälschten Freimau­
rerei, das nur allzu oft verkannt wird.

Es ist deshalb wichtig, dass die zur Führung und Leitung der Lo­
gen berufenen Meister sich ihrer Souveränität bewusst sind, über
die sie auch eifersüchtig wachen sollten. Sie haben nur solchen
Entscheidungen zu gehorchen, die im allgemeinen Interesse ge­
troffen werden, und müssen es eindeutig ablehnen, legislativen
Einflüssen nachzugeben, die dem maurerischen Geist widerspre­
chen. In dieser Beziehung weiß der wahre Meister sein Urteil zu
treffen, oder seine Erhebung in den dritten Grad war nichts als
ein grotesker Mummenschanz. Derjenige, in dem Hiram einen

Die Vorrechte der Meisterschaft 175


Leib gefunden hat, wird wahrhaft Meister in der Maurerei und
beugt sich nicht vor irgendeinem Befehl; der spiritus rector der
Institution ist in ihm und beeinflusst ihn in allem, was er auf
Grund seiner Souveränität tut.

Aber es ist schwierig, Meister zu sein; so suchen etwa Logen,


die sich nur mit schwacher Hand geführt empfinden, die im In­
neren fehlende Leitung außerhalb. Sie unterwerfen sich dann
einer „Obödienz", was geradezu die Negation der Freimaurerei
bedeutet, dieser höchsten Schule der Freiheit.

Nachdem wir das Ideal, dem wir uns zuneigen sollten, so vor­
behaltlos formuliert haben, ist es wichtig, daran zu erinnern,
dass in der Praxis nur die Anerkennung einer gewissen Disziplin
eine Zusammenarbeit möglich macht. Es ist deshalb klüger, sich
einer kritisierbaren Regel zu unterwerfen, als vorzugeben, nur
nach seinem eigenen Kopf handeln zu können. Der wahre Mei­
ster wird unterscheiden können und nur tätig werden, indem er
sich vom wirklichen Wohl des Ordens bestimmen lässt. Er wird
überdies nie den Respekt vergessen, den jeder Initiierte dem Ge­
setz schuldet, wie unvollkommen es auch sein mag [43].

Die Befreiung

Die Unabhängigkeit der Logen und die Souveränität der Meister


treten mit der Gründung der Bauhütte zu Tage. Diese konstitu­
iert sich nach dem Willen der Meister, die sich zusammengetan
haben mit dem Ziel der Schaffung eines neuen Zentrums mau­
rerischen Lebens. Diese Meister üben insoweit ein ungeschrie­
benes Recht der Meisterschaft aus; sie sind es, die die Loge, die
sie gründen, legitimieren, ohne dass sie die Erlaubnis hierzu von
irgendjemandem hätten erbitten müssen. Sie sind keineswegs
verpflichtet, ihre Loge an eine bereits bestehende Gruppierung
anzubinden; und wenn es ihnen passt, die Bauhütte für von jeder
höheren maurerischen Stelle unabhängig zu erklären, so handeln
sie in voller Ausübung ihres Rechtes, was vor 1717 auch von
niemandem bestritten wurde.

176 Der Meister


In diesem Jahr hat es vier im Niedergang befindlichen Londoner
Logen gefallen, sich zu einer Großloge zu vereinen, einer Neu­
erung, die erhebliche Konsequenzen hatte, denn daraus ist die
moderne Maurerei entstanden. Was die Größe dieser Maurerei
ausmacht, sind die Grundsätze, die in ihrem Namen im Jahre
1723 formuliert wurden [44]. Ihre Schwäche liegt demgegen­
über in der Einrichtung maurerischer Führungsgremien. Diese
haben sich von Anfang an als diktatorisch erwiesen. Sie nahmen
sich das Recht heraus, in maurerischen Angelegenheiten Gesetze
zu erlassen und von den Logen eine demütigende Unterwerfung
zu verlangen. In einer solchen Obödienz werden die Logen wie
kleine Mädchen behandelt, die nichts unternehmen dürfen, ohne
zuvor die Erlaubnis einer Zentralbehörde eingeholt zu haben, die
jeden ihrer Schritte kontrolliert. Nicht umsonst werden diese Lo­
gen Tochterlogen der Mutterloge genannt, der sie ihre Existenz
verdanken. Das Schlimmste ist, dass die Großlogen sich zum
Richter über die „Regularität" von anderen Großlogen aufwer­
fen und sie nach ihrem Gutdünken „anerkennen" oder exkom­
munizieren, wobei sie Vorwände vorschieben, die jeden maure­
rischen Geist verleugnen.

Es ist an der Zeit, dass dieser Skandal ein Ende nimmt. Zu die­
sem Zweck jedoch müssen die Meister Hiram auferwecken und
den Logen die Rechte wieder zurückgeben, die sie sich nur des­
halb gewaltsam haben abnehmen lassen, weil es ihnen an Meis­
tern fehlte.

Wenn es aber innerhalb der Logen an wirklich Initiierten fehlt,


dann deshalb, weil die Meisterschaft nicht für jeden Erstbesten
bestimmt ist. Zu viele Bauhütten betreiben intensive Mitglieder­
werbung, um ihren materiellen Wohlstand zu sichern, wobei sie
vergessen, dass sich, um ein antikes Sprichwort aufzunehmen,
nicht aus jedem Klotz ein Merkur schnitzen lässt, dass also ein
Profaner, wie gutwillig er auch sein mag, nicht immer auch das
Zeug zum Meister hat. In der Tat sind die Logen aller Riten
und Obödienzen vollgestopft mit Elementen, für die die Meis­
terschaft nur eine Angelegenheit bloßer Konvention ist. Diese
Logen sind dementsprechend keine Heimstätten wahren mau-

Die Vorrechte der Meisterschaft 177


rerischen Lebens; es sind Gruppierungen, in denen Tätigkeiten
vorherrschen, die von der Maurerei kaum berührt sind. Dort
gibt man sich damit zufrieden, die Rituale zu vollziehen und ein
durchaus löbliches Gemeinschaftsleben zu pflegen, ohne jemals
die Not anderer zu vergessen, die zu lindem man sich zur Aufga­
be macht. Das ist ein guter Anfang, aber dabei darf man es nicht
bewenden lassen. Hätten wir auf unserer Aktivseite nur unsere
wohltätigen Werke, blieben wir weit hinter einer Vielzahl von
profanen Vereinigungen zurück, die sich speziell gebildet haben,
um unglücklichen Menschen zu helfen.

In Wahrheit ist unsere Art, Gutes zu tun, nur in ganz geringem


Maße dazu bestimmt, sich in materieller Unterstützung auszu­
drücken. Unsere Arbeit soll weniger den Einzelnen als vielmehr
der Menschheit im Ganzen Nutzen bringen. Sie kann nur frucht­
bar sein, wenn sie gut organisiert und geführt wird, woraus sich
die Notwendigkeit ergibt, Meister entsprechend auszubilden,
wenn Maurerei Wirklichkeit werden soll.
Aber die Freimaurerei wird aus ihrer bei Weitem zu ausschließ­
lich zeremoniellen und zu wenig aktiv tätigen Phase nur heraus­
finden, wenn sie gegen das Übermaß an Materialismus vorgeht,
das sie belastet. In zweihundert Jahren hat sie sich eine Form
gegeben, die nicht notwendigerweise endgültig ist. Das Amt
des Br.·. Schatzmeister hat infolge des Ehrgeizes der Logen, ei­
nen Ort zur ausschließlich eigenen Verfügung zu haben, viel zu
große Bedeutung erlangt. Für denjenigen, der geistig tätig sein
will, sind Finanzen und Besitz schwere Lasten, von denen sich
frei zu machen die Tradition uns lehrt.

Überzeugte Maurer, die arbeiten wollen, brauchen keinen auf­


wendig geschmückten Tempel, denn sie beherrschen die Kunst,
jede beliebige Räumlichkeit in ein Heiligtum zu verwandeln. Sie
können sich also in völliger Regularität als Loge konstituieren,
wann und wo es ihnen beliebt. Sie müssen dazu keine Diplome
austauschen oder Halbjahrespassworte angeben. Bei der wahren
Initiation sind die Pergamente nichts als Eselshaut, und ein ins
Ohr geflüstertes Wort genügt nicht, um als zugehörig anerkannt
zu werden.

178 Der Meister


Die Maurerei wird erst an dem Tag volljährig, frei und hand­
lungsfähig sein, an dem die Meister sich kundtun.

Möge das vorliegende Handbuch dazu beitragen, die Schüler


Hirams aufzuklären und ihnen zu helfen, das Wort des Lebens
zu finden, das durch die Tat das Opfer der schlechten Arbeiter
wieder auferstehen lässt.

Erheben wir uns und seien wir Meister!

DIE HOCHGRADE

Die Meisterschaft ist ein Gipfel, das schicksalhafte Ende jedes


Aufstiegs: Derjenige, der sich als Meister fühlt, hat nichts mehr
zu erstreben. Aber nicht alle, die die Rolle Hirams gespielt haben,
sind auch voll in den Geist des Rituals eingedrungen. Sie haben
sich passiv einem Zeremonial unterzogen, mit dem sich keine
heiligmachende Gnade verbindet, so dass sie, weil sie nichts von
sich einzubringen wussten, nachher geblieben sind, was sie vor­
her waren. Wie viele Adepten, die auch nur einen bescheidenen
Anfang in der Meisterschaft gemacht haben, kommen auf die
mehr als vier Millionen Maurer, die sich mit den Insignien des
dritten Grades schmücken? Wie viele Logen sind befugt, sich
,,gerecht und vollkommen" zu nennen, weil sie darauf verwei­
sen können, dass diejenigen, die an ihrer Spitze stehen, wirklich
Meister sind?

Die gesamte sogenannte symbolische Maurerei ist leider wirk­


lich nur Symbol dessen, was sie eigentlich sein sollte. Dessen ist
man sich im 18. Jahrhundert bewusst geworden, nachdem die
moderne Maurerei einige Verbreitung gefunden hatte. Als die­
jenigen, die sich in gewissem Maße für Meister halten durften,
feststellten, dass nicht alle, die sich Meister nannten, es auch
wirklich waren, empfanden sie das Bedürfnis, die Meisterschaft
in eigens zu diesem Zweck eingerichteten Bauhütten weiterzu­
entwickeln.

Die Vorrechte der Meisterschaft 179


So sollte durch die Schottischen Meister, die um 1740 erstmals
mit dem Anspruch auftraten, in einem 4. Grad die wirklichen
Meister zu bilden, die den blauen Logen fehlten, eine bessere
Auslese geschaffen werden [45], wobei von nun an Rot die Far­
be der höheren Bauhütten wurde.

Aber da sich der 4. Grad in der Praxis als nicht wesentlich glück­
licher erwies als der 3. Grad, kam es bald zu einem Überangebot
in der Vervielfachung der Grade. Warum sollte man bei 4 stehen
bleiben, wo doch 7 eine wesentlich sinnträchtigere Zahl ist? In
der ausgezeichneten Absicht, die Maurerei zu vervollkommnen
und die wahre Meisterschaft zu verwirklichen, machten sich
zahlreiche Ritualisten ans Werk und entwickelten geradezu bis
ins Unendliche ganze Hierarchien von Graden.

Alle Autoren, die die grundlegende Dreiheit der Freimaurerei


vertieft behandelt haben, verdammten mit Strenge das „Unkraut
der Hochgrade" als Ausgeburt bloßer Phantasie, die nur dazu
beitrüge, den Geist auf Abwege zu führen und das reine Maurer­
turn unkenntlich zu machen.

Diese Kritik ist zu einem sehr großen Maß berechtigt, denn wenn
das Ritual der drei sogenannten symbolischen Grade sichtbar die
Handschrift der Meister trägt, ist demgegenüber nichts weniger
meisterhaft als die Symbolik der sogenannten philosophischen
Grade. Alles riecht hier nach mühsamer Nachahmung, und die
initiatische Idee setzt sich nirgends in eine lichtvolle Synthese
um.

Auch wenn sie nicht besonders glücklich inspiriert waren, soll


man dennoch die Erfinder der Hochgrade nicht steinigen. Sie
verfolgten das Ideal der wahren Meisterschaft, und wenn sie bei
der Suche nach dem großen Arkanum den falschen Weg ein­
schlugen, bleiben ihre fruchtlosen Versuche doch verdienstvoll,
und auch ihre Irrtümer sind lehrreich.

Alle höheren maurerischen Systeme des 18. Jahrhunderts ver­


schmolzen schließlich in die dreißig Grade, die der Schottische

180 Der Meister


Ritus der ursprünglichen Dreiheit aufgesetzt hatte. Historisch
gesehen ist dieser Stufenbau von unbestreitbarem Interesse; er
hat darüber hinaus eine besondere Bedeutung unter internatio­
nalen Gesichtspunkten erlangt, denn die Vereinigten Obersten
Räte verwirklichen in ihrem eigenen Bereich die maurerische
Universalität, die in der blauen Maurerei den Stein des Anstoßes
bildet.

Es haben sich überdies unter den Hochgrad-Brr. ·. Maurer von


breiter Gelehrsamkeit gefunden, die große Anstrengungen unter­
nahmen, um aus den Graden, die sie nicht selbst erfunden hatten,
das Bestmögliche herauszuholen. Es ist nur gerecht, in dieser
Beziehung dem Gedächtnis des Br.·. Albert Pike hohen Tribut
zu zollen, der von 1859 bis 1891 Souveräner Großkommandeur
des Obersten Rates der Südlichen Jurisdiktion der Vereinigten
Staaten war. Als Schriftsteller von großer Begabung wollte die­
ser Bruder das Schottentum vergeistigen, indem er jedem Grad
tiefgründige initiatische Lehren beigab, die in einem gelehrten
Werk mit dem Titel Morals and Dogma niedergelegt sind. Man
kann ihm nichts anderes vorwerfen, als dass er sich von den drei­
ßig Graden hat blenden lassen, die als höherwertig galten, und
es deshalb verschmähte, die eigentlichen Grundlagen der Frei­
maurerei zu vertiefen. Die Hochgrade hatten nämlich die ungute
Nebenwirkung, eine ganze Reihe von Maurern vom beständigen
Nachdenken über die zuförderst wichtige Synthese der Dreiheit
abzuhalten. Insoweit haben sie sich als schädlich ausgewirkt und
verdienen die harten Anschuldigungen von Historikern wie etwa
Finde!.

Dank der Initiative klarsichtiger Brr. ·. hat sich innerhalb des


Schottentums eine Evolution vollzogen. Unter Aufgabe nicht
mehr zu rechtfertigender Ansprüche bemüht man sich zumindest
in Frankreich, Belgien und der Schweiz nicht mehr darum, auch
das initiatische Programm der drei ersten Grade zu bearbeiten.

Die Vorrechte der Meisterschaft 181


Die Perfektionsloge

Die unmittelbar auf die Meisterschaft folgenden Grade, die in der


Perfektionsloge erteilt werden, sind in dieser Beziehung charak­
teristisch. Der Geheime Meister (4. Grad) geht in gewisser Weise
erneut durch die Prüfungen des Lehrlingsgrades, wobei er dieses
Mal aufgefordert ist, dessen Esoterik zu erfassen. So vorbereitet,
bemüht sich der Hochgradlehrling zum Vollkommenen Meister
(5. Grad) zu werden, indem er am Begräbnis Hirams teilnimmt,
das in feierlich-prachtvoller Weise von König Salomo begangen
wird. Dieser Grad ist unglücklicherweise höchst inhaltsleer wie
so viele andere, die zahlreiche Wiederholungen enthalten. Es gibt
auch Grade, deren Inhalt sich als falsch erweist und unvereinbar
ist mit der reinen maurerischen Auffassung. Diese ungeschickt
konzipierten Grade sind im Stufenbau häufig, aber das ist auch
schon alles, denn sie werden nicht in extenso erteilt: Man über­
springt sie und beschränkt sich darauf, dem Empfllnger zu erklä­
ren, dass er sie erhalten hat. Die Schottischen Stufen werden also
nicht eine nach der anderen erstiegen; nur die lehrreichsten sind
Gegenstand einer rituellen Aufnahme; aber das in der Perfekti­
onsloge vornehmlich verfolgte Ziel ist allein die Gestaltung der
maurerischen Erziehung wahrhafter Meister.

Die Hochgrade empfehlen sich also für Maurer, die die Meister­
schaft anstreben und sich aus eigener Kraft in der Meisterloge
nicht dazu erheben konnten. Um ihnen zu Hilfe zu kommen,
bietet ihnen das Schottentum Wiederholungskurse an, die ihren
Wert haben, aber keineswegs unverzichtbar sind.

Manche angeblich höheren Grade sind in Wirklichkeit von ei­


ner geradezu jammervollen Thematik, die nichts Initiatisches an
sich hat.

Nichts ist beispielsweise unter diesem Gesichtspunkt falscher,


als die Bestrafung der Mörder Hirams in Szene zu setzen, dessen
Tod eben nicht gerächt wurde. Die Eingeweihten strafen niemals
und rächen sich noch weniger. In Bezug auf das Böse sind sie
Ärzte, die heilen. Als Maurer bauen sie wieder auf, was zerstört

182 Der Meister


wurde; sie bekämpfen die hasserfüllte Unwissenheit durch die
großherzige Ausbreitung des Lichts und setzen dem blinden Fa­
natismus nur ihre vollkommen aufgeklärte Toleranz entgegen.
Und wenn ein verderbter Ehrgeiz das allgemeine Wohl in Ge­
fahr bringt, lassen die Weisen aus der Korruption durch die Bün­
delung gesunder Willenskräfte eine bessere Ordnung erstehen.
Sie beleben das Ideal wieder, dessen die menschlichen Gesell­
schaften bedürfen, um sich als ihrer selbst würdig zu erweisen.
Kurz gesagt, das Bedürfnis nach Hochgraden hätte sich niemals
bemerkbar gemacht, wenn die drei grundlegenden Grade nicht
in der Praxis toter Buchstabe geblieben wären. Die höheren Gra­
de verlören jede Daseinsberechtigung, zeigten sich die Logen
einmal in der Lage, wirkkräftige Meister heranzubilden.

Bis es soweit ist, wollen wir nichts zerstören. Strengen wir uns
lieber an, unsere Grade initiatisch zu machen und dabei jede
sich bietende Belehrung anzunehmen. Der Meister schult sich
überall, selbst in fragwürdigsten Lehranstalten, die auf schlecht
verstandenen Traditionen beruhen. Wenn er es nicht versteht, be­
ständig alles auf den Prüfstand zu stellen und immer wieder auf
den Punkt zu bringen, indem er die Wahrheit auch noch unter
einem unglücklichem Ausdruck, der sie verunstaltet, zu erraten
versteht, zeigt dies nur, dass er das Licht des dritten Grades noch
nicht gefunden hat.

Mögen die Leser dieses Handbuchs es einst besitzen und in den


wahren Sinn dessen eindringen, was sich dort an Rätselhaftem
oder ungewollt Geheimnisvollem findet!

-- --- .
••
•• ••
-
••
•• ••
••
••
•• -
- - -••
••

Die Vorrechte der Meisterschaft 183


Teil VIII
BIBLIOGRAPHISCHE
HINWEISE ZUM GEBRAUCH
DER MEISTER
Anm. d. Hrsg.: Die vorliegende Ausgabe ist eine Übersetzung
des unveränderten Nachdrucks der Ausgabe von 1931.

Einige der vom Verfasser aufgeführten Werke sind heute äußerst


selten.

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
ZUM GEBRAUCH DER MEISTER

Die Lektüre

Die initiatische Tradition reicht in eine Zeit zurück, in der Bü­


cher unbekannt waren. Wer lernen wollte, musste seinerzeit
beobachten, nachdenken, erraten und schweigen. Das Schwei­
gen drängte sich auf, denn noch hatte sich keine philosophische
Sprache herausgebildet, so dass die Worte fehlten, um Vorstel­
lungen höherer Ordnung auszudrücken. Auch das Denken hatte
noch nicht die Schärfe, die ihm die Griechen verleihen sollten:
Es blieb wolkig und fließend, eher geeignet, durch Symbole an­
gesprochen zu werden, als sich in verbale Formen fassen zu las­
sen, die Stoff zu Diskussionen hätten geben können.

Heutzutage ist alles anders. Die Worte beherrschen unsere Geis­


tigkeit so sehr, dass wir nicht mehr außerhalb ihrer denken kön­
nen. Die Dinge sprechen nicht mehr zu uns, und wir haben auf­
gehört, die Orakel des Großen Pan zu hören.

184 Der Meister


Wir sind also gezwungen, uns an das in Büchern ausgebreitete
tote Wort zu halten. Nachdem uns die Geheimnisse der Buch­
stabenschrift enthüllt wurden, steht uns das gesamte mensch­
liche Wissen zur Verfügung. Verstehen wir es recht, in dieser
Ansammlung von Worten zu graben, geben wir uns aber nicht
damit zufrieden, uns das Ergebnis des Denkens eines anderen
anzueignen. Lesen wir immer mit dem Ziel vor Augen, unsere
eigene Fähigkeit zum Nachdenken anzuregen. Wenig lesen und
viel selbst denken - das sollte für den Meister die Regel sein. Als
Architekt seines geistigen Bauwerks sammelt er Materialien, die
er nach eigenem Plan einbaut, indem er sie nach seinen Bedürf­
nissen zuschneidet. Er lässt sich von niemandem indoktrinieren
und behält nur, was er sich mit jener durchdringenden Schärfe
des Geistes zu eigen gemacht hat, die den Grund einer Idee in
Besitz nimmt und sich nicht bloß damit zufriedengibt, ihre Form
zu erfassen.

Meister, die auf diese Art arbeiten wollen, werden in Werken wie
den folgenden wertvolle Bausteine finden:

Religion

DIE HEILIGE SCHRIFT. Übersetzung der Originaltexte. (Die


protestantischen Bibeln liefern in dieser Hinsicht in der Regel
zufriedenstellende Ergebnisse.) Werden die Überlieferungen,
die durch Vermittlung der Juden zu uns gekommen sind, von
einem Initiierten studiert, enthüllen sie die interessantesten eso­
terischen Lehren. Die sehr sorgsame Lektüre der Bibel empfiehlt
sich also für jene Freimaurer, die davon absehen können, ihre
Loge durch das Auflegen allein des Heiligen Buchs der Juden
und Christen auf dem Altar symbolisch zu erleuchten, da sie ab­
seits jedes formalistischen Pomps daraus wertvolle Hinweise zu
ziehen vermögen.

LEDRAIN, E. La Bible. [Die Bibel] Neue Übersetzung. 10 Bde.


Paris (Lemerre)

Bibliographische Hinweise zum Gebrauch der Meister 185


LEDRAIN, E. Histoire d'Israel. [Geschichte Israels.] Mit einem
Anhang von J. Oppert. Paris, 1879-82 (Lemerre)

FABRE D'OLIVET. La langue hebrai"que restituee et le veritable


sens des mots hebrai"ques retablis, usw. ... [Die wiederhergestell­
te hebräische Sprache und der wahre Sinn der neu erarbeiteten
hebräischen Worte ...] 2 Bde. in-4 °, Paris, 1815-16 (Reprogra­
fischer Nachdruck 2 Bde., 1931, Dorbon-Aine)
Unter linguistischen Gesichtspunkten darf man diesem Werk
nicht aufs Wort folgen. Sein Verdienst liegt in der Kosmogonie
des Moses, die genial konstruiert ist und unerwartete Schlag­
lichter wirft auf die religiöse Metaphysik.- Die Neuausgabe, die
wir dem Verleger Dorbon d. Ä. verdanken, ist von besonderem
Interesse, denn sie enthält im Anhang die Faksimile-Wiederga­
be eines unveröffentlichten, bedauerlicherweise unvollendeten
Manuskripts, in dem Fabre d'Olivet im Jahre 1823 die Entste­
hungsgeschichte seiner „Langue hebrai"que restituee" nachzeich­
net und die Gründe für ihre Abfassung darlegt, wobei er einige
Punkte besonders herausarbeitet und sich mit der Kritik, die sie
hervorgerufen haben, auseinandersetzt.

REIN ACH, SALOMON. Orpheus. Histoire generale des Re­


ligions. [Allgemeine Geschichte der Religionen.] in-18. Paris,
1909
Von naturwissenschaftlichem Geist durchtränkt sieht der Verfas­
ser allzu stark vom eigentlich religiösen Element der Religionen
ab. Er beurteilt sie oberflächlich als Profaner, liefert aber nichts­
destoweniger sehr wertvolle Hinweise.

HUBY, JOSEPH. Christus. Manuel d'histoire des Religions.


[Handbuch der Geschichte der Religionen.] in-16. Paris, 1916
Katholische Antwort auf die vorstehend genannte Arbeit. Die
Verfasser der einzelnen Kapitel behandeln ihr Thema kompe­
tent. Da sie allerdings davon überzeugt sind, dass nur das Chri­
stentum über die Wahrheit verfügt, gelingt es ihnen nicht, den
Geist der übrigen Religionen zu erfassen. Eine gerechte Über­
sicht über die Glaubensvorstellungen der Menschheit kann nur
von einem unparteiischen religiösen Denker vorgelegt werden,
der fähig ist, in den Religionen die Religion zu erspüren.

186 Der Meister


DIDE, AUGUSTE. La Fin des Religions. [Das Ende der Religi­
onen.] in-16. Paris

Symbolik

LANOE-VILLENE. Principes generaux de la Symbolique des


Religions. [Allgemeine Grundsätze der Symbolik der Religi­
onen.] in-16. Paris, 1915

BANIER, Abbe / MASCRIER, Abbe. Histoire generale des ce­


remonies, mreurs et coutumes religieuses de tous les peuples du
monde. [Allgemeine Geschichte der religiösen Zeremonien, Sit­
ten und Gebräuche aller Völker der Welt] 7 Bde. in-folio. Paris,
1741 (Rollin d. J.)

PORPHYRIUS. L'Antre des Nymphes. [Die Grotte der Nym­


phen.] Mit einem Essay über die Grotten in den magisch-reli­
giösen Kulten und der primitiven Symbolik von P. Saintyves.
Paris, 1918

WARRAIN, F. Le Mythe du Sphinx. [Der Mythos der Sphinx.]


Paris, 1910

WIRTH, OSWALD. Le Symbolisme hermetique dans ses rap­


ports avec l'Alchimie et la Franc-Ma�onnerie. [Die hermetische
Symbolik in ihren Beziehungen zu Alchemie und Freimaurerei.]
Reihe Symbolisme. Paris

WIRTH, OSWALD. L'Ideal Initiatique, tel qu'ils se degage des


rites et des symboles. [Das initiatische Ideal, wie es sich aus Ri­
ten und Symbolen erschließen lässt.] Reihe Symbolisme. Paris,
1926

SYMBOLISME, LE. Monatsschrift zur Erforschung und In­


terpretation initiatischer Symbole. Herausgeber: Oswald Wirth
[46].

Bibliographische Hinweise zum Gebrauch der Meister 187


Archäologie

DICTIONNAIRE DES ANTIQUITES GRECQUES ET RO­


MAINES d'apres les textes et les monuments. [Lexikon der grie­
chischen und römischen Altertümer nach Texten und Denkmä­
lern.] Herausgegeben von einem Kollektiv von Fachgelehrten,
Archäologen und Professoren unter der Leitung von Ch. Darem­
berg und Edm. Saglio. 9 Bde. in-4 °. Paris (Hachette)

MORGAN, J. DE. Les Premieres Civilisations. [Die ersten


Hochkulturen.] gr. in-8° . Paris, 1909 (E. Leroux).

MASPERO, G. Histoire ancienne des peuples de l'Orient clas­


sique. [Alte Geschichte der Völker des klassischen Orients.] 3
Bde. in-4 ° . Paris, 1908

GOBLET D'ALVIELLA. Croyances, Rites, Institutions. [Glau­


bensvorstellungen, Riten, Institutionen.] 3 Bde. in-8° . Paris,
1911

LAJARD, F. Recherches sur le culte public et les mysteres de


Mithra en Orient et en Occident. [Untersuchungen über den öf­
fentlichen Kult und die Mysterien des Mithras im Orient und im
Okzident.] in-4 ° . Paris, 1867 (Kaiserliche Druckerei)

DHORME, PAUL. Choix de textes religieux Assyro-Babylo­


niens. Transcription, Traduction, Commentaire. [Auswahl reli­
giöser assyrisch-babylonischer Texte. Umschrift, Übersetzung,
Kommentar.] Paris, 1907

REVUE D'ASSYRIOLOGIE ET D'ARCHEOLOGIE ORI­


ENTALE. [Zeitschrift für Assyriologie und Archäologie des
Orients.] Herausgegeben unter Leitung von V. Scheil und F.
Thureau-Dangin. Paris (Emest Leroux)

COURCELLE-SENEUIL, J.-L. La Recherche de l'Utile dans


les temps prehistoriques (Atsina- Kasisatra - Krusaor). [Die Su­
che nach dem Nützlichen in prähistorischer Zeit...] 3 Bde. Paris,
1919 und 1920 (Le Livre mensuel)

188 Der Meister


FUSTEL DE COULANGES. La Cite antique. [Die antike Stadt.]
in-16. Paris (Hachette)

CAILLOT, A.-C. EUGENE. Mythes, legendes et traditions des


Polynesiens. (Mythen, Legenden und Überlieferungen der Poly­
nesier.] in-1 °. Paris, 1914 (E. Leroux)

Philosophie

BERGSON, HENRI. L'Evolution creatrice. [Die schöpferische


Entwicklung.] 3. Auflage. in-8° . Paris, 1907

COMMELIN, P. Pensees de Marc-Aurele Antonin, precedees de


la vie de cet empereur, suivies du Manuel d'Epictete et du Ta­
bleau de Cebes. [Betrachtungen des Marcus Aurelius Antoninus,
mit einem Lebensbild dieses Kaisers, gefolgt vom Handbüchlein
des Epiktet und der Bilddeutung des Kebes.] in-18. Paris

DAUDET, LEON. L'Heredo : essai sur le drame interieur. 1: Le


Monde des Images.- 2: Le Reve eveille. [Der Erbkranke: Essay
über das innere Drama. 1: Die Welt der Bilder.- 2: Der erweckte
Traum.] 3 Bde. in-18. Paris

MATTER, M. St. Martin, le Philosophe inconnu, sa vie et ses


ecrits, son maitre Martinez et leurs groupes. [Saint Martin, der
unbekannte Philosoph, sein Leben und seine Schriften, sein
Lehrmeister Martinez und ihre Anhänger.] in-12. Paris, 1861.

FRANCK, AD. Dictionnaire des Sciences Philosophiques. [Le­


xikon der Philosophischen Wissenschaften.] kl. in-4 °. Paris,
1885 (Hachette)

WARRAIN, F. La Synthese concrete - etude metaphysique de la


Vie. [Die konkrete Synthese - Metaphysische Betrachtung über
das Leben.] Paris, 1906

Bibliographische Hinweise zum Gebrauch der Meister 189


Hermetismus, Alchemie und Okkultismus

MENARD, LOUIS. Hermes Trismegiste, traduction complete,


precedee d'une etude sur !es livres hermetiques. [Hermes Tris­
megistos, vollständige Übersetzung mit einer Untersuchung
über die hermetischen Bücher.] in-18. Paris, 1910 (Perrin)

BERTHELOT, M. Origines de l'Alchimie. (Ursprünge der Al­


chemie.] in-8°. Paris, 1885 (Steinbeil)

BERTHELOT, M. Introduction a l'Etude de la Chimie des anci­


ens et du Moyen-Age. [Einführung: in das Studium der Chemie
der Antike und des Mittelalters.] in-4 °. Paris, 1889 (Steinbeil)

PERNETY, ANTOINE-JOSEPH. Dictionnaire Mytho-Herme­


tique. [Mythisch-Hermetisches Lexikon.] in-16° . Paris, 1758
(Bauche)

PERNETY, ANTOINE-JOSEPH. Les Fahles egyptiennes et


grecques devoilees et reduites au meme principe, avec une ex­
plication des hieroglyphes et de la Guerre de Troye. [Entschlei­
erung der ägyptischen und griechischen Fabeln und ihre Rück­
führung auf eine gemeinsame Grundlage, nebst einer Erklärung
der Hieroglyphen und des Trojanischen Krieges.] in-16 °. Paris,
1758 (Bauche)

HAATAN, ABEL. Contribution a l'etude de l'Alchimie. Theo­


rie et pratique du Grande <Euvre. [Ein Beitrag zum Studium der
Alchemie. Theorie und Praxis des Großen Werks.] in-8 °. Paris,
1905

HEINRICH CORNELIUS AGRIPPA VON NETTESHEIM. La


Philosophie Occulte. [Die okkulte Philosophie.] 2 Bde. in-8°.
Den Haag, 1727
Äußerst gelehrte Zusammenstellung der abergläubischen Vor­
stellungen des Altertums.

190 Der Meister


HEINRICH CORNELIUS AGRIPPA VON NETTESHEIM. Pa­
radoxe sur l'Incertitude, Vanite et Abus des Sciences. [Parado­
xon über die Unsicherheit, die Eitelkeit und den Missbrauch der
Wissenschaft.] in-12. o.O., 1603.

DOUTTE, EDMOND. Magie et Religion dans l'Afrique du


Nord. [Magie und Religion in Nordafrika.] in-8 °. Algier, 1909

SAINTYVES, P. La Force Magique. Du Mana des primitifs au


Dynamisme scientifique. [Die magische Kraft. Vom Mana der
Primitiven zur naturwissenschaftlichen Dynamik.] Paris, 1914

SAINTYVES, P. Des origines de la Medecine. Empirisme ou


Magie? [Die Ursprünge der Medizin. Empirie oder Magie? ] Pa­
ris, 1920

LEVI, ELIPHAS. Le Grand Arcane ou l'Occultisme devoile.


[Das große Arkanum oder der entschleierte Okkultismus.] 2.
Auflage. in-8° . Paris, 1921

FRANCK, AD. La Kabbale ou la Philosophie religieuse des He­


breux. [Die Kabbala oder die religiöse Philosophie der Hebräer.]
in-8 ° . Paris, 1843 (Hachette).

SCHURE, EDOUARD. Les Grands Inities Esquisse de l'histoire


secrete des religions (Rama, Krishna, Moise, Orphee, Pythagore,
Platon, Jesus). [Die großen Eingeweihten. Abriss der Geheim­
geschichte der Religionen. (Rama, Krischna, Moses, Orpheus,
Pythagoras, Platon, Jesus.] in-18. Paris, 1889

SCHURE, EDOUARD. Sanctuaires d'Orient: Egypte, Grece,


Palestine. [Heiligtümer des Orients - Ägypten, Griechenland,
Palästina.] in-18. Paris, 1898

PAPUS. ABC illustre d'Occultisme. [Illustriertes ABC des Ok­


kultismus.] in-8° . Paris, 1925 (Dorbon-Aine)

Bibliographische Hinweise zum Gebrauch der Meister 191


PAPUS. Traite methodique de Science Occulte, suivi d'un Glos­
saire d'Occultisme. [Methodische Abhandlung über die Okkulte
Wissenschaft nebst einem Glossar des Okkultismus.] 2 Bde. in-
80. Paris, 1929 (Dorbon-Aine)

Freimaurerei

GOBLET D'ALVIELLA. Des origines du Grade de Maitre dans


Ja Franc-Ma9onnerie. [Über die Ursprünge des Meistergrades in
der Freimaurerei.] Brüssel, 1907
Beim Wettbewerb des Grand Orient de Belgique preisgekrönte
Abhandlung.

AMIABLE, LOUIS. Une Loge Ma9onnique d'avant 1789: La


R. · .L. ·. Les Neuf Sreurs. [Eine Freimaurerloge vor 1789: Die
Vollkommene und Gerechte Loge Zu den Neun Schwestern.]
Paris, 1887 (F. Alcan)

MICHA, A. Le Temple de la Verite ou Ja Franc-Ma9onnerie dans


sa veritable doctrine. Science et Religion, Theosophie et Initia­
tion. [Der Tempel der Wahrheit oder die Freimaurerei in ihrer
wahren Lehre. Naturwissenschaft und Religion, Theosophie und
Initiation.] Paris, 1916 (Librairie de )'Art Independant)

ENDRES, F. C. Le Secret du Franc-Ma9on. [Das Geheimnis des


Freimaurers.] in-12. Paris, 1930 (Dorbon-Aine)

LE FORESTIER. La Franc-Ma9onnerie occultiste au XVIIle


siecle et )'Ordre des Elus Coens. [Die okkultistische Freimau­
rerei im 18. Jahrhundert und der Orden der Elus Coens.] in-8°.
Paris, 1929 (Dorbon-Aine)

DEUX SIECLES DE FRANC-MA<;ONNERIE: 1719-1919.


[Zwei Jahrhunderte Freimaurerei ...] -Sonderausgabe der Mit­
teilungen des Bureau International des relations ma9onniques,
herausgegeben aus Anlass des Zweihundertjährigen Bestehens
der modernen Freimaurerei. in-8°. Bern, 1917

192 Der Meister


Bibliographische Hinweise zum Gebrauch der Meister 193
Teil IX
DIE ABBILDUNGEN IM
BUCH DES MEISTERS

ABBILDUNGEN IM BUCH DES MEISTERS

Kurz gefasste Hinweise auf ihren Ursprung und ihre symbo­


lische Bedeutungen.

S. 17:
Der Vogel der Minerva sieht klar inmitten aller Finsternisse, weil
er sich auf den Maßstab abstützt (Rechtlichkeit des Urteilens)
und sich bedeckt hält und geschützt wird vom Zirkel (Vernunft­
gemäße Selbstbeschränkung bei der Erforschung der Welt des
Geheimnisvollen).

s. 63:
Die zur Ermordung Hirams gebrauchten Werkzeuge. Die drei
phönizischen Schriftzeichen entsprechen den hebräischen Buch­
staben nil.J, die Hurom oder Hiram gelesen werden können.

s. 80:
Winkelmaß und Zirkel umschließen einen Totenkopf, der sich
von einem schwarzen Pentagon abhebt, das die erfassbare mate­
rielle Welt darstellt (der Sarg Hirams). Das Ganze ist mit dem zur
Entdeckung führenden Akazienzweig unterlegt als dem Symbol
dessen, was unzerstörbar ist.

S.94:
Der chaldäische Heros Gilgamesch nach einer assyrischen Statue
im Louvre. Der babylonische Herkules hat sich zu Recht davor
gehütet, den Löwen leidenschaftlicher Aufwallungen zu töten,
sondern sich damit zufriedengegeben, ihn mit Hilfe einer weich

194 Der Meister


schwingenden Knute nur zu betäuben. Er drückt das gezähmte
Tier an sein Herz, um seine kraftvollen Energien zu nutzen, die
es in den Dienst einer heiteren Weisheit zu stellen gilt.

s. 118:
Die auf ideographische Elemente zurückgeführte Lilie. Das üb­
liche Zeichen für die Vollendung des Großen Werks wird ge­
krönt von einer Raute 0, die für Schöpfungen geistiger Art steht
im Gegensatz zum objektiv und auf das Materielle bezogenen
Quadrat. Aus dem animischen Dreieck (Wasser, Seele) wächst
dementsprechend eine ideale und beherrschende Vierheit, die
von einem binären Rautenwerk (J.·. und B.·.) im Gleichgewicht
gehalten wird. Das Ganze bestätigen die Heraldiker, die einst die
emanzipatorische Mission Frankreichs vorausgeahnt hatten, der
zur Herrschaft durch den Geist berufenen Nation, welchen sie
als strahlendes Licht zunächst nur unbewusst gefühlt, dann aber
sowohl durch kraftvolle Gedankenarbeit (J. · .) als auch durch
glühende, großherzige Überzeugungskraft (B. ·.) in die Wirklich­
keit umzusetzen wusste.

s. 139:
Der Eremit des Tarot. Dieser Einsiedler ist vor allen Gefühlsauf­
wallungen geschützt, denn sein Mantel fängt wie der des Apollo­
nius alle äußeren Einflüsse ab. Ganz Meister seiner selbst, son­
diert er sorgfältig das Terrain, auf dem er voranschreitet, da jede
Hast dazu führen kann, das Werk des Fortschritts zu gefährden.
Teilweise verhüllt, konzentriert seine Laterne ihren hellen Schein
auf den zurückzulegenden Weg und verstreut ihre Strahlen nicht
sinnlos in alle Richtungen. Auf diese Art macht sich auch der
Weise daran, in der Praxis die menschliche Entwicklung zu er­
hellen, ohne sich indessen mit der Enthüllung von Geheimnissen
zu brüsten, die die neugierigen Köpfe umtreibt, denn in dieser
Beziehung ist Zurückhaltung dringend erforderlich.

s. 142:
Schema der von der Dreiheit erzeugten Siebenheit.

Abbildungen im Buch der Meister 195


s. 145:
Das Hinweiszeichen auf die assyro-babylonischen Götternamen.
In den Keilschriften kündigt dieses Ideogramm an, dass das fol­
gende Wort der Name eines Gottes oder einer Göttin ist.

s. 147:
Zwischen zwei Kabiren stehend erweckt Merkur eine dritte, die
ihre Gefährtinnen getötet haben. Wiedergabe einer etruskischen
Spiegelgravur.

s. 148:
Das Sonnensymbol, wie es sich auf chaldäischen Monumenten
findet.

s. 149:
Abzeichen des Redners einer Loge des 18. Jahrhunderts.

s. 150:
Die kubische Achtheit.

s. 151:
Das Quadrat der dreifachen Dreiheit.

s. 156:
Das magische Quadrat des Saturn.

s. 159:
Der Baum der kabbalistischen Sephiroth.

s. 160:
Der Stern des Mikrokosmos (Pentagramm) inmitten des Sterns
des Makrokosmos (Siegel Salomos).

s. 162:
Natürliche Einteilung des Kreises in zwölf gleiche Teile.

s. 163:
Die Gesamtheit aller Tierkreiszeichen mit den zugehörigen as­
trologischen Häusern (nach ihren Ziffern und lateinischen Na-

196 Der Meister


men). Die Planeten nehmen die äußeren Winkel des Dreiecks
ihres jeweiligen Elements ein. In der Mitte das Kreuz der Vier­
heit der Jahreszeiten, Lebensalter usw.

S. 164 bis 167:


Die Pentakel der einzelnen Tierkreiszeichen in Verbindung mit
ihren Planeten und Elementen.

s. 168:
Mit den Zeichen des Tierkreises geschmückte Mumie, die die
Entsprechung jener mit den einzelnen Teilen des Körpers in Er­
innerung ruft.

s. 183:
Die Kua oder Trigramme des Fö-hi. Der chinesische Symbo­
lismus geht von einer grundsätzlichen Unterscheidung aus, wie
folgt:
- Das, was eins ist, einheitlich, unteilbar. Das Absolute, Spi­
rituelle, die wirkende Ursache, das nicht Wahrnehmbare.
• • Das, was zusammengesetzt ist, unterschiedlich, teilbar. Das
Relative, die Materie, die hervorgebrachten Wirkungen,
die sichtbare Natur (die beiden Augen).

-•••=•
Durch Kombination wächst aus dieser Zweiheit die folgende
Vierheit.
Feinsinnigkeit, Verstand, Sonne, Feuer.

-••
••
Ruhe, Sensibilität, Mond, Wasser.
Wachheit, Kritikvermögen, Fixsterne, Luft.
Ruhe, Schlaf, Planeten, Erde.
Die Trigramme treiben die Verästelungen noch weiter, indem sie
- hier mit ihren gebräuchlichen Namen bezeichnete - komplexe
Vorstellungen heraufbeschwören.

= Himmel. Das Prinzip jedes Handelns in den drei


- Welten des Geistes, der Seele und der Materie.

Abbildungen im Buch der Meister 197


-•--•
••
- Dämpfe, sublimierte Materie. Wasser vom Himmel.

--
Feuer. Hitze. Ausdehnung, Ausweitung.
••
•• Blitz. Zusammengeballte innere Hitze.

•-•
•• Wind. Bewegende, beseelende Geistigkeit.

-•••
••

Wasser unter der Erde, Kreislauf des Lebens.

Berg. Die Stofflichkeit als Stütze des Geistigen.


••
••
•• Materie. Allen Agenzien offene Passivität.
Im Mittelpunkt der Achtheit der Kua findet sich das Tai-Khi, das
Bild der schöpferischen Gegensätze in seiner doppelten Einheit
und damit als das Drei-Eine.

S. 193:
Oannes, der Fisch-Gott der Babylonier. Bei Tagesanbruch aus
dem Meer entstiegen, pflegte er Umgang mit den Menschen bis
zum Sonnenuntergang, um sie dabei die Schrift, Wissenschaften
und Künste zu lehren, aber auch die Regeln zur Gründung von
Städten und zum Bau von Tempeln und schließlich die Grund­
begriffe von Recht und Gesetz bis hin zur Geometrie, ganz zu
schweigen von den Vorschriften über Ackerbau, Aussaat und
Ernte usw. (Nach der Überlieferung des Berosios, eines babylo­
nischen Priesters der alexandrinischen Zeit.)

s. 199:
Das Glücksrad (Arkanum X des Tarot). Es dreht sich und hält
über den Wirbel des Lebens das rätselhafte Prinzip der indivi­
duellen Dauer (Sphinx) fest. Die Stabilität ergibt sich aus dem
Gleichgewicht zwischen Aufbauendem (aufsteigender Anubis)
und Zerstörerischem (absteigender Typhon).

s. 205:
Von Oswald Wirth gezeichnetes Titelblatt für die bei Nourry
1926 erschienene Neuausgabe von J.-M. Ragons La Ma9onnerie

198 Der Meister


occulte. Bei dieser Synthese freimaurerisch-initiatischer Lehren
fehlt nichts. Die offenkundig inspirierte Zeichnung kommt vom
Licht her und strahlt in höchstem Maße Licht aus. Für den Den­
ker, der nach innen blickt, kann sie der Schlüssel sein zu seiner
Mittleren Kammer, dem Sitz des Geheimnisvollen Worts, das es
zu „hören" und zu „sehen" gilt, wenn man die wahre Meister­
schaft besitzen will. In seinem Werk Le Symbolisme occulte de
la Franc-Ma�onnerie gibt der Meister O.W. eine Deutung dieses
bemerkenswerten „Stücks Architektur'' [47].

Abbildungen im Buch der Meister 199


ANMERKUNGEN

[1] Siehe Das Buch des Lehrlings.

[2] Man beseitigt nur, was man ersetzt. - Anm. d. Übers.

[3] Die Frage, die vor der Eröffimng der Arbeit gesellt wird, wel­
che Zeit es denn jetzt sei, gehört zum verpflichtenden Bestand
des Rituals.

[4] Siehe ROBERT C. WRIGHT, IndianMasonry.

[5] Die vorstehende Aufgliederung ist entlehnt von Br.·. Roscoe


Pound, Professor der Rechtswissenschaft an der Harvard-Uni­
versität, dessen Werk The Philosophy ofMasonry fünf Vorträge
enthält, die auf Einladung des Großmeisters von Massachusetts
1914 in Boston gehalten wurden.

[6] In Frankreich stark verbreitete Zauberbücher, die dem Theo­


logen AlbertusMagnus zugeschrieben wurden.- Anm. d. Übers.

[7] Es handelt sich um die mutmaßliche Befragung eines Stein­


metzen durch König Heinrich VI., einen Test, den der Philosoph
John Locke in einer Abschrift mit Anmerkungen versehen haben
soll.

[8] Goethe stellt im zweiten Teil seines Faust diese Mütter als
furchterregende Gottheiten dar, denen sich der Eingeweihte nur
nähern kann, wenn er in die äußersten Tiefen hinabsteigt, sofern
er sich nicht zu den höchsten Höhen des Sublimen zu erheben
weiß, was, will man Mephisto glauben, auf dasselbe hinaus­
läuft.

[9] Die Loge „Travail et Vrais Amis Fideles" (Arbeit und Wahr­
haft Treue Freunde) ist im Besitz eines Briefes ihres vormaligen
M.·.v.·.St.·. Noel Salvadori, in dem die Gründe dargelegt sind,

200 Der Meister


die ihn dazu veranlassten, seine militärischen Vorgesetzten dazu
zu bewegen, ihm jene gefährliche Stellung anzuvertrauen, in der
er an der Spitze seiner Kompanie am 12. Oktober 1916 getötet
wurde.

[10) V gl. Das Buch des Lehrlings, dt. Fassung.

[11) V gl. GOBLET D'ALVIELLA, Des Origines du Grade de


Maitre dans Ja Franc-Mai;onnerie, Brüssel 1907; die Abhand­
lung wurde bei einem Wettbewerb des Grand Orient de Belgique
preisgekrönt.

[12) Diese Vereinigung von freimaurerischen Musikfreunden hat


Protokolle hinterlassen, die vom 18. Februar 1725 bis zum 23.
März 1727 reichen. Aus ihnen geht hervor, dass den Mitgliedern
drei verschiedene Grade verliehen wurden; dabei beschränkte
sich jedoch der Meisterteil auf die Mitteilung dürftiger Geheim­
nisse (Passwörter usw.), ohne dass eine symbolische Darstellung
der Wiederauferstehung Hirams in der Person des neuen Meis­
ters stattgefunden hätte.

[13) Wörtlich: Hiram-mein-Vater, ein Titel, der die Verehrung


ausdrücken soll, die der König für seinen Architekten empfin­
det.

[14) Die Königin hat keinerlei Anteil an der maurerischen Le­


gende. Sie spielt jedoch eine wichtige Rolle in der romanhaften
Schilderung Gerard de Nervals in seiner Voyage en Orient. Dort
wird Hiram zum Gegenspieler Salomos und verkörpert den de­
mokratischen Geist, der über das Königtum triumphieren wird.
Es handelt sich um eine auf die Ebene der Politik herabgezogene,
von poetischen Wendungen umrankte Symbolik, die keinerlei
Raum bietet für eine irgendwie geartete initiatische Auslegung.
Im Übrigen geht es dem Autor ausschließlich um Literatur, sein
gestelzter Stil hat allerdings einen verführerischen Einfluss auf
die Verfasser des schottischen Rituals ausgeübt.

[15] Man sollte nachlesen, was im Buch des Gesellen über die

Anmerkungen 201
fiinfReisen und die Symbolik der Werkzeuge ausgeführt ist (dt.
Fassung).

[16] Wenn wir uns den Bericht über den Sturz der Engel anse­
hen, wie er der derzeit herrschenden Orthodoxie entspricht, so
hätte man selbst im Himmel vor der Schöpfung der materiellen
Welt keine Vollkommenheit angetroffen, da ja gerade dort die
furchtbarste aller Revolten gegen die göttliche Ordnung losbre­
chen konnte. Waren also die Beni Elohim, diese aus Gott, ihrem
Vater, hervorgegangenen reinen Geister, von Unvollkommenheit
befleckt oder waren es nur schreiende Missstände, die sie zu ih­
rem legitimen Aufstand bewegten?

[17] Auch die Stunde des Sonnenuntergangs ist vertretbar, ob­


wohl weniger glücklich im Hinblick auf den Sonnenlauf, der
sich ja bereits von Mittag an dem Untergang zuneigt.

[18] Diese Identifikation des künftigen Meisters mit Hiram


entspricht genau der Lehre der antiken Mysterien, nach der der
Myste die Rolle des Gottes zu spielen hatte, dem er geweiht wur­
de. V gl. ALFRED LOISY, Les Mysteres paiens et le Mystere
chretien, sowie die Aufsätze von CH. LETAU in Symbolisme,
September 1920 und Januar/Februar 1921.

[19] Es heißt auf Hebräisch: Er lebt im Sohn.

[20] Vgl. Le Poeme d'Ishtar, in der Reihe Symbolisme.

[21] Heilige Kurtisanen, von der großen asiatischen Göttin ge­


schätzte Priesterinnen.

[22] Eine französische kommentierte Übersetzung ist unter Ver­


antwortung der Zeitschrift Symbolisme erschienen. Die Erz.äh­
lung ist in gewisser Weise eine glänzende dichterische Gestal­
tung des Meistergrades.

[23] Siehe oben.

202 Der Meister


[24] A. SIONVILLE, Les Vers d'Or de Pythagore. Sammlung
Symbolisme, Paris 1913.

[25] Siehe die Legende von Atrakhasis, dem Mann mit den fei­
nen Ohren, dem guten Zuhörer, den Ea, die höchste Weisheit,
beschützt.

[26] Siehe Buch des Lehrlings, dt. Fassung, und Buch des Ge­
sellen, dt. Fassung.

[27] Siehe im Buch des Lehrlings, dt. Ausgabe, die Erläuterung


des Wortes Vitriol.

[28] Die hermetischen Philosophen haben sich darin gefallen,


bezüglich ihres Urstoffs, der zugleich überall und nirgends ist,
eine Vielzahl von Rätseln aufzustellen. ,,Die Armen", so sagen
sie, ,,besitzen ihn ebenso wie die Reichen. Allen bekannt, ist er
doch auch allen unbekannt. Der Ungebildete stößt ihn mit Ver­
achtung zurück, während er vom Philosophen sorgfältig gesam­
melt wird." (Vgl. OSWALD WIRTH, Le symbolisme herme­
tique dans ses rapports avec !'Alchimie et la Franc-Mayonnerie,
s. 177).
[29] Die Söhne Noahs sind die Urväter der verschiedenen
menschlichen Rassen, auf die sich die Freimaurerei in ihrer Uni­
versalität erstreckt.

[30] Les ouvriers de Salomon, ceux de Hiram, et les Guibliens,


les taillerent, et ils preparaient les bois et les pierres pour bätir
la maison : » Martin Luther : ,,Und die Bauleute Salomo und die
Bauleute Hiram und die Giblim hieben aus und bereiteten zu
Holz und Steine zu Bauen das Haus." (Anm. d . Übers.)

[31] Die Schlagfolge muss immer aus drei Schlägen bestehen:


Lehrling --x, Geselle ---, Meister x--.

[32] Siehe Das Buch des Gesellen, dt. Ausgabe.

Anmerkungen 203
[33] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Ausgabe.

[34] Ein besonderer Menschentyp, ebenso wie es Jupiter-,


Mars-, Solar-, Lunar- und Venustypen gibt.

[35] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Fassung.

[36] Siehe Das Buch des Gesellen, dt. Fassung.

[37] Siehe Das Buch des Gesellen, dt. Fassung.

[38] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Fassung.

[39] Siehe Das Buch des Gesellen, dt. Fassung.

[40] Siehe Das Buch des Gesellen, dt. Fassung.

[41] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Fassung.

[42] Einstmals wurde alles, was unsichtbar wirkt, vergöttlicht.

[43] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Ausgabe.

[44] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Ausgabe.

[45] Siehe Das Buch des Lehrlings, dt. Ausgabe.

[46] Heute eine Dreimonatsschrift. Herausgeber: M. LEPAGE.


23, rue Ande de Loheac, Laval (Departement Mayenne), Frank­
reich.- Anm. d. Hrsg.

[47] Anm. d. Herausgebers.- Die Abbildung ist in der frz. Aus­


gabe von 1977 (1993) nicht enthalten; sie wurde dem Buch Le
Symbolisme occulte de la Franc-Ma�onnerie von Oswald Wirth,
Fotomechanischer Nachdruck Paris 1997 (Dervy), S. 11, ent­
nommen. [Anm. d. Obers.]

204 Der Meister


Anmerkungen 205
Das Buch des Meisters enthält als letzter Teil der diesen drei maurerischen Graden
gewidmeten Trilogie einen vollständigen Ausblick auf die maurerische Mythologie
des entsprechendell Gra4�01!t Das Ritual, die initiatischf Philosophie des Meister­
grades, sein geistig.es Umfeld sowie di� Pflichten des Meisters werden dabei unter
dem Blickwinkel einer.in der maurerischen Tradition' verankerten esoterischen

..,...:..··· .. .
: .
·:
.
' '

1 •,
. ,

Interpretation erläutert.
..: /\

Ausgangspunkt für Wirths Betrachtungen ist de.r imFrankreich des späten 19. Jahr-
hunderts praktizierte Schottisthe Ritu�. GleichwQhrsind:seine Instruktionen�
• unabhängig von der jeweils prakfizierte� Lehrart -_von grnßem Nutzen und stoßen
· · ,· ·
aµf großes Interesse.

usiatd Wirth (1860-1943), geboren und auf gewachsen in der alemannischen


ScHwe,iz, sesshaft geworden in Frankreich, betätigte sich dort aktiv in der Freimau�
,re·f.el;\insbesondere auch als leidenschaftlicher. fo_tscher. und Autor zahlreicher
Schriften. Sein Werk gilt in Frankreich als ejnes der wic.htigsten in der symbolischen
{f':;

Lesart der modernen Frei�aurerei und spiegelt die· maurerische Vielseitigkeit wider.

Für Oswald Wirth war die spekulative Freimau·rer,ei nicht so sehr von äußeren
Gegnern als von zwei· großen inneren Gefahren bedroht: d·e_m Abgleiten in einen
bloßen Geselligkeitsbetrieb und dem Versinken in den My_stizismus. Vor diesen
Gefahren wollte er sie durch sorgsame Pflege des Rituals und _der Symbolik sowie
ständige Besin·nung auf ihre ursprünglichen Zielsetzungen· bewahren, denen die
Freimaurerei ihre weltweite Verbreitung und ihren jahrhundertelangen Bestand
verdankt. Sein Lebenswerk „Die Freimaurerei, ihren Anhängern verständlich gemacht"
war und ist richtungweisend; seine Aktualität ist bis heute ungebrochen.

°
Das Standardinstruktionswerk 111 liegt nun erstmals in deutsc·her Sprache vor.'

EDITION KÖNIGLICHE KUNST 14:95 €


1111 1 11 l 1111 1 1111 1111 111 1 11
9 783942 051613 111 15,40 € [A]
19.95 CHF

ISBN 978-3�942051-'61-3

Das könnte Ihnen auch gefallen