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J.B.

METZLER
Benjamin-
Herausgegeben
von Burkhardt Lindner

unter Mitarbeit von


Thomas Küpper und Handbuch
Timo Skrandies
Leben -Werk- Wirkung

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Das Handbuch wurde durch Personal- und Sachmittel
der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Der Herausgeber:
Burkhardt Lindner ist Professor für Geschichte und
Ästhetik der Medien sowie für Neuere deutsche
Literaturwissenschaft an der Universität Frankfurt
am Main.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.ddb.de> abrufbar.
© 2006 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2006
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de

ISBN 978-3-476-01985-1 ISBN 978-3-476-98691-7 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-476-98691-7

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrecht-


lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen
des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti-
gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-
cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
V

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung .......................... VIII Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42


Genderforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Benjamin lesen... über die Konzeption Medienwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
des Handbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Kulturwissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Von Burkhardt Lindner Benjamin als Figur des kulturellen
Hinweise zur Benutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Gedächtnisses .............................. 53
Die Werkanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X
Im Dickicht der Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Der Schriftsteller mit zwei Händen . . . . . . . . . . . XII
Analysen
1. Intellektuelle Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Gershorn Schalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Leben, Werk, Wirkung Von Stephane Moses
1. Zeit und Person. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bertolt Brecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Von Nadine Werner Von Nikolaus Müller-Schöll
Weltkrieg und Revolution: Auf der Suche nach Das Institut für Sozialforschung I Gretel Adorno,
einem neuen System der Metaphysik........... 3 Adorno und Horkheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Weimarer Republik: Autorschaft des Von Christoph Gödde und Henri Lonitz
Intellektuellen im publizistischen Feld . . . . . . . . . 5
Exil: Erwachen aus der Urgeschichte des 19. 2. Messianismus, Ästhetik, Politik
Jahrhunderts, der kommende Krieg. . . . . . . . . . . . 6
Schriften zur Jugend ....................... 107
2. Quellen und Hilfsmittel Von Thomas Regehly
>>Das Leben der Studenten<< I >>Dialog über die
der Benjamin-Forschung.................... 9 Religiosität der Gegenwart<< I >>Metaphysik der
Die Edition des Werks und der Briefe Jugend«
(Nadine Werner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 »Das Glück des antiken Menschen<<. . . . . . . . . . . 118
Bibliographien Von Ansgar Hiliach
(Sarah Steffen und Nadine Werner) ............ 10
Fragmente zur Ästhetik Phantasie und Farbe .. 124
Einführungen und Materialien
Von Heinz Brüggemann
(Katharina Weber) .......................... 12
Das Walter Benjamin Archiv >>Über das Programm der kommenden
(Ursula Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Philosophie<< .............................. 134
Von Peter Fenves
3. Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 >>Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen
Von Thomas Küpper und Timo Skrandies Romantik« ............................... 150
Die Konstruktion des Autors aus dem Von Justus Fetscher
Nachlaß ................................... 17 >>Kapitalismus als Religion« .................. 167
Der Beginn der Benjamin-Rezeption, Von Uwe Steiner
Nachkriegszeit, 68er Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Perspektiven der theoretischen Aneignung . . . . . . 29 Das Theologisch-politische Fragment ......... 175
Marxismus ................................ 32 Von Werner Hamacher
Judentum und Messianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 >>Zur Kritik der Gewalt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Von Axel Honneth
VI Inhaltsverzeichnis

>>Ursprung des deutschen Trauerspiels« ........ 210 Zu Traditionskrise, Technik, Medien . . . . . . . . . . 451
Von Bettine Menke Von Burkhardt Lindner
»Ich packe meine Bibliothek aus« /»Der destruk-
>>Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen tive Charakter<< I »Erfahrungsarmut« I
Reproduzierbarkeit<< . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker« I
Von Burkhardt Lindner »Lichtenberg. Ein Querschnitt« I Sur Seheerbart I
»Vereidigter Bücherrevisor<<
Die Passagenarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Von Irving Wohlfarth 4. Dichtungsanalyse und Autorbild . . . . . . . . . . 465
Unterwegs in den Passagen-Konvoluten ....... 274 »Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin<< ...... 465
Von Timo Skrandies Von Patrick Primavesi

>>Üher den Begriff der Geschichte<< ............ 284 >>Goethes Wahlverwandtschaften<<. Goethe im
Von Jeanne Marie Gagnebin Gesamtwerk .............................. 472
Von Burkhardt Lindner
3. Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Zu Johann Peter Hebel ..................... 493
Publizistik ............................... 301 Von Erdmut Wizisla
>>Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus<<. Zu Gottfried Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
>>Zuschrift an Florens Christian Rang<< ........ 301 Von Erdmut Wizisla
Von Uwe Steiner
>>Zum Bilde Prousts<< . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Von Ursula Link-Heer
Von Michael Opitz
>>Karl Kraus<< .............................. 522
Zur französischen Literatur und Kultur. . . . . . . . 332 Von Alexander Honold
Von Laure Bernardi >>Johann Jakob Bachofen<< ................... 539
Zur russischen Literatur und Kultur I Von Sigrid Weigel
>>Moskauer Tagebuch<<. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Zu Franz Kafka. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Von Sergej A. Romaschko Von Sigrid Weigel
>>Einbahnstraße« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 >>Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai
Von Gerard Raulet Lesskows<< ................................ 557
Zum Kinde ............................... 373 Von Detlev Schöttker
Von Giulio Schiavoni Das Baudelaire-Buch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
»Programm eines proletarischen Kinder-
Von Christine Schmider und Michael Werner
theaters« I >>Eine kommunistische Pädagogik« I
»Das Paris des Second Empire bei Baudelaire« I
Kinderbücher
»Ober einige Motive bei Baudelaire« I »Zentral-
>>Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme park<< I •Notes sur !es Tableaux parisiens
de Baudelaire<<
der europäischen Intelligenz<< . . . . . . . . . . . . . . . . 386
Von Karlheinz Barck
5. Sprachphilosophie; literarisches und
>>Kleine Geschichte der Photographie« ........ 399 autobiographisches Schreiben . . . . . . . . . . . . . . 585
Von Eckhardt Köhn
Die Sonette an Heinle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
Die Rundfunkarbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Von Reinhold Görling
Von Sabine Schiller-Lerg
>>über Sprache überhaupt und über die Sprache
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 420 des Menschen<< ............................ 592
Von Chryssoula Kambas Von Uwe Steiner
»Der Autor als Produzent« I >>Zum gegenwärtigen
gesellschaftlichen Standort des französischen Der Brief an Buher vom 17.7.1916 ............ 603
Schriftstellers<< I •Pariser Brief<< (1/II) Von Samuel Weber
Anthologien des Bürgertums ................ 437 >>Die Aufgabe des übersetzers<< ............... 609
Von Momme Brodersen Von Alfred Hirsch
•Vom Weltbürger zum Großbürger<< I »Deutsche
Menschen<< I >>Allemands de Städtebilder - Reisebilder - Denkbilder . . . . . . . 626
quatre-vingt-neuf« I »Carl Gustav Jochmann« Von Roger W. Müller Farguell
Inhaltsverzeichnis VII

>>Neapel<< I >>Weimar<< I >>Marseille<< I >>Essen<< I


>>Nordische See<< I >>Kurze Schatten<< (I!II) I
Anhang
»>n der Sonne<< I »>bizenkische Folge<< I >> Denkbilder<< I
>>Kleine Kunst -Stücke<< Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
Bildquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
Zur späteren Sprachphilosophie .............. 643
Werkregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697
Von Anja Lemke
>>Lehre vom Ähnlichen<< I >>Über das mimetische Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
Vermögen<< I >>Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
Sammelreferat<< Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . 719

>>Berliner Kindheit um neunzehnhundert<< ..... 653


Von Anja Lemke
Aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
Von Manfred Schneider
Tagebücher I >>Agesilaus Santander<< I Träume I
Drogenprotokolle I >>Verzeichnis der gelesenen
Schriften<<

Briefe und Briefwechsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680


Von Gert Mattenklott
VIII

Vorbemerkung

Von allen deutschen Intellektuellen der Weimarer Re- spiegeln ein Ensemble durchaus widerstreitender Lek-
publik und ihres vom Hitlerreich aufgezwungenen türe-Interessen. Und es sind keineswegs nur >über-
Exils hat sich Walter Benjamin, so darf man ohne zeugte Benjaminianer<, die hier zu Worte kommen.
Übertreibung sagen, als der philosophisch Gewichtig- Benjamin taugt nicht zur Leitfigur. Einer Tendenz aber
ste und der wirkungsgeschichtlich Lebendigste erwie- wird allerdings entschieden entgegengetreten: der Auf-
sen. Die Vielfältigkeit seiner Impulse, das kontroverse fassung, daß Benjamins Schreiben im wesentlichen
Potential seiner Texte und die Radikalität seines Den- essayistisch, metaphorisch, literarisch ausgerichtet sei
kens wirken weiter fort. Davon zeugt eine breite inter- und somit ein Arsenal aparter Formulierungen biete,
nationale Diskussion. Seine Schriften werden in ver- aus dem jedermann sich unbekümmert bedienen
schiedensten Disziplinen rezipiert. Die Ausstrahlung könne.
über den akademischen Bereich hinaus in die Bereiche Dem wurde früh schon widersprochen. Es war Ador-
der Gegenwartsliteratur, der Künste, der Medien und nos Verdienst, die posthume Überlieferung der Schrif-
der Publizistik ist offenkundig. ten und des Nachlasses im Namen der Philosophie auf
Diese außerordentliche Wirkung hat sowohl mit den Weg gebracht zu haben- einer Philosophie frei-
seiner besonderen Denk- und Schreibweise zu tun als lich, die sich mit den akademisch vorsortierten Gren-
auch mit der Gestalt, in der sein Werk heute zugänglich zen nicht begnügen will.
ist. Denn mit dem Abschluß der Ausgabe der Gesam- Danken möchte ich den vielen Autoren für die in-
melten Schriften und mit der sechsbändigen Brief- tensive Kooperation, für wertvolle Gespräche und
Edition (und Editionen des Briefwechsels) ist eine nicht zuletzt für die Beiträge selbst. Weiter gilt der
Textbasis erreicht, die in der ersten Hochphase der Dank den Lektoren des Metzler-Verlags, Uwe Schwei-
Benjaminrezeption im 68er Kontext noch völlig un- kert und Ute Hechtfischer, die durch Lektüre der Ma-
denkbar erschien. Damit ist die Beschäftigung mit nuskripte und durch hilfreiche Beratung das Zustan-
Benjamins Werk vor neue Aufgaben gestellt, die ge- dekommen des Handbuchs sehr befördert haben.
genüber der bisherigen Rezeption Vertiefungen er- Mein besonderer Dank gilt den beiden Mitarbeitern
möglichen und Korrekturen verlangen. Thomas Küpper und Timo Skrandies, die das Projekt
Beide Aspekte- die weitverzweigte Benjamindiskus- von Anfang an mittrugen, sowie den studentischen
sion und die nunmehr gegebene Textbasis- sind An- Redaktionsmitgliedern Ute Bansemir, Inga Betten,
laß, dieses Handbuch vorzulegen und damit einen Sarah Steffen, Katharina Weber und Nadine Werner
Zugang zu Benjamins Werk zu eröffnen, der über die für ihre Beiträge und ihr großes Engagement in allen
begrenzten Ansprüche vorhandener Einführungen Bereichen der Manuskriptherstellung; ebenso danke
und Sammelbände grundsätzlich hinausgeht. ich Ursula Marx vom Benjaminarchiv für ihren Beitrag
Das Handbuch versammelt renommierte Benjamin- und ihre Unterstützung. Zu danken habe ich schließ-
expertinnen und -experten verschiedener Richtungen, lich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die
verschiedener Nationalität und verschiedenen Alters großzügige Bewilligung der FörderungsmitteL
in der Absicht, ausgehend vom Stand der Forschung
das Spektrum der Schriften Benjamins in Einzelana-
lysen neu zu erschließen. Das Ganze war ein Experi- Frankfurt am Main, März 2006 Der Herausgeber
ment, das von Anfang an auf große Bereitschaft, sich
zu beteiligen, stieß, aber auch viel Geduld bis zur end-
gültigen Realisierung abverlangte. Damit wird nun-
mehr eine umfassende Darstellung geboten, die für
alle, die sich für Benjamin interessieren oder sich wei-
ter in sein Werk einarbeiten wollen, grundlegend ist.
Das Handbuch, wie es hier vorliegt, will kein be-
stimmtes Bild von Benjamin durchsetzen; die Beiträge
IX

Benjamin lesen ... Über die Konzeption des Handbuchs


von Burkhardt Lindner

Ein Benjamin-Handbuch? Die Einwände ließen sich dem Benjamins Schriften in Anspruch genommen
rasch aufzählen, warum gerade Benjamins Denken werden. Des weiteren wird auf die außerakademische
und Schreiben sich einer handbuchartigen Erschlie- Rezeption eingegangen. Gerade für diesen Autor ist
ßung gänzlich entziehe. Das mag tatsächlich so sein. kennzeichnend, daß sein Werk nicht allein im engeren
Aber alle, mit denen ich über diesen Plan sprach, ha- Bereich einer >Benjamin-Forschung< wirksam wurde,
ben spontan bestätigt, wie dringlich und wichtig ein sondern sich in davon abgelösten Fernwirkungen, In-
solches Unternehmen sei. Die Konzeption, die dafür anspruchnahmen, Allverwandlungen bewegte.
gefunden wurde, und damit auch der Gebrauchswert, Die ausführlichen Literaturverzeichnisse des ersten
den das Handbuch bieten kann, sollen im folgenden Teils bilden zusammengenommen eine einführende
erläutert werden. Zugleich soll für den Handbuchbe- Benjaminbibliographie, die dem Studierenden eine
nutzer erläutert werden, was die Eigenart der Benja- rasche Orientierung ermöglicht.
minsehen Texte ausmacht, die sehr viel darüber lehren, Der zweite Teil- >>Analysen«- enthält die Artikel zu
was lesen und schreiben, denken und wahrnehmen den wichtigsten Einzelschriften sowie Textgruppen.
heißt. Wie dieser Hauptteil des Handbuchs angelegt ist, wird
in den folgenden Abschnitten näher erläutert.
Schließlich kann der Benutzer über drei Register-
Hinweise zur Benutzung ein Namensregister, ein Sachregister und ein Werkregi-
ster-am Schluß des Handbuchs gezielt nach bestimm-
Das Handbuch ist in zwei unterschiedlich umfangrei- ten Werken Benjamins, nach Personen und nach all-
che Teile gegliedert, die jeweils spezifische Aufgaben gemeinen Sachstichworten suchen und damit
und auch Darstellungsweisen haben. Ausführungen in mehreren Artikeln vergleichend her-
Der erste Teil hat den Charakter einer Einführung anziehen.
in Leben, Werk und Wirkung. Er wurde von der Hand- Zur Zitierweise: Die Zitatnachweise aus Benjamins
buchredaktion verfaßt. Der biographische Abriß er- Werken erfolgen durchgängig nach Zitat direkt im
möglicht eine Orientierung über die wichtigsten Le- Text. Grundlage ist die Edition der Gesammelten
bensdaten und verzeichnet chronologisch die wichtig- Schriften (hg. von Rolf Tiedemann und Hermann
sten Schriften. Wer mit Benjamins Werkbiographie Schweppenhäuser). Der Nachweis erfolgt mit Bandan-
nicht vertraut ist, kann hier nachschlagen. gabe (ohne Nennung der Teilbändel als römische Ziffer
Das anschließende Kapitel stellt zusammen, was und Seitenzahl.
inzwischen das Fundament der Benjaminforschung Die Überprüfung der Benjamin-Zitate erfolgte nach
bildet: Bibliographien, Biographien, Einführungen, der Taschenbuch-Edition der Gesammelten Schriften
Editionen sowie das Archiv des Nachlasses. Es eröffnet von 1991, da nach Auskunft der Herausgeber (vgl. dort
damit dem Leser, der sich in das Werk und die For- die Editorische Notiz VII, 885 vom Januar 1991) nur
schung weiter einarbeiten will, unverzichtbare Quellen sie den neuestenStand der nachträglichen Korrekturen
und Hilfsmittel. von Druck- und Lesefehlern bietet.
Daß Benjamins Werk ganz wesentlich das Resultat Die Zitate aus den Briefen von Benjamin werden
einer posthumen Rezeption darstellt, wird in dem um- mit Bezug auf die sechsbändige Ausgabe der Briefe (hg.
fangreichen Kapitel zur Wirkungsgeschichte behan- von Christoph Gödde und Henri Lonitz) nachgewie-
delt. Den Ausgangspunkt bilden die Darstellung des sen, jeweils mit Bandangabe in arabischer Ziffer und
Editionsbeginns unter den schwierigen Nachkriegsbe- Seitenzahl. Alle Briefe von Benjamin werden einheit-
dingungen und der Explosion der Benjaminrezeption lich nach dieser Ausgabe zitiert, unabhängig davon,
im 68er Kontext. Daß die jüngere Rezeption dann nach daß viele Briefe bereits auszugsweise in den Anmer-
>fachwissenschaftlichen< Diskursen geordnet wird, kungsapparaten der Gesammelten Schriften abge-
entspringt dem pragmatischen Zweck, dem Benutzer druckt waren oder inzwischen auch in Editionen ein-
zugänglich zu machen, auf welch verschiedenen Fe!- zelner Briefwechsel anders zugänglich sind.
X Benjamin lesen ... Über die Konzeption des Handbuchs

Einzelne Texte Benjamins, die nicht in den Gesam- oder zwischen Texten, die definitiv abgeschlossen wur-
melten Schriften abgedruckt sind, wie auch alle übrige den, und Texten, die unabgeschlossen blieben, ge-
Literaturverweise werden durch Kurzangabe (Autor, macht. Derartige editionsphilologische Kriterien ha-
Jahr, Seitenzahl) im Artikel sowie vollständigen Titel ben sich rezeptionsgeschichtlich als völlig trügerisch
im Literaturverzeichnis der jeweiligen Beiträge nach- herausgestellt. Bestimmte Texte Benjamins haben gro-
gewiesen. ßes Interesse ausgelöst unabhängig davon, ob sie früh
Alle Titel, die auf Benjamin selbst zurückgehen, oder spät entstanden, ob sie umfangreich oder kurz,
werden im Text durch Kapitälchen hervorgehoben. ob sie zu Lebzeiten publiziert oder erst aus dem Nach-
Buchtitel anderer Autoren erscheinen kursiviert; die laß ediert wurden. Die sprachphilosophischen Texte
Titel von Aufsätzen sind durch Anführungszeichen oder das Tagebuch der Moskaureise oder die späten
gekennzeichnet. Zitate in Zitaten werden durch einfa- Geschichts-Thesen waren nicht zur Publikation be-
che Anführungszeichen markiert. Weitere Kursivie- stimmt. Aber Benjamin hat die Texte bewahrt und
rungen im Text entsprechen Hervorhebungen seitens damit zur überlieferung vorgesehen. In diesem Sinne
der Autoren. präsentiert das Handbuch, soweit es im vorgegebenen
Rahmen möglich war, alle wichtigen Einzeltexte bzw.
Textgruppen.
Die Werkanalysen Aus analogen Gründen wurde auch eine rein zeitli-
che Anordnung der Artikel verworfen. Ebenso wie eine
Von Anfang an sah die Konzeption des Handbuchs vor, Gliederung nach Haupt- und Nebenschriften sugge-
den Einzelschriften Benjamins einen möglichst großen riert auch eine chronologische Gliederung unvermeid-
Platz einzuräumen und damit alle wichtigen Texte lich die Vorstellung von einer fortschreitenden Werk-
oder Textgruppen für sich zu erschließen. Die Ausrich- entwicklung von den Anfängen bis zur Reife, eine
tung an Einzelschriften hat den Sinn, einer vereinheit- Annahme, die gerade im Falle Benjamins völlig irre-
lichenden Nacherzählung von Werkphasen oder der führend wäre.
vorschnellen Herstellung eines Gesamtbildes entge- Statt dessen werden die Schriften in fünf Abteilun-
genzuwirken. Bewußt wurde deshalb auch darauf ver- gen gruppiert, die nach Schwerpunkten und Schreib-
zichtet, das Handbuch an Überblicksartikeln, die die impulsen, die Benjamins Arbeit lebenslang bestimmt
>übergreifenden Aspekte< des Werks resümieren, aus- haben und die jeweils das Gesamtwerk umspannen,
zurichten. Derartige Zusammenfassungen führen gegliedert sind. Alle fünf Abteilungen sind gleich be-
letztlich von dem ab, worauf es dem Handbuch vor deutsam und gewichtig; die Frage, ob ein einzelner
allem ankommt: von der Lektüre der Texte und der Artikel nicht >eigentlich< in eine andere Abteilung ge-
produktiven Auseinandersetzung mit ihnen, die in hörte, ist insofern als sekundär anzusehen.
vieler Hinsicht überhaupt erst begonnen hat. Die Aus- Der erste Abschnitt >>Intellektuelle Freundschaft<<
richtung der Handbuchartikel auf Einzelschriften er- rückt drei biographische Konstellationen in den Blick,
möglicht darüber hinaus, die Singularität der Textfor- die Benjamin intellektuell wie persönlich ganz wesent-
men, den Spielraum der Schreibweisen und die Radi- lich geprägt haben. Wollte man diesem Stichwort in
kalität der Problemstellungen Benjamins konkret seinem ganzen Umfang gerecht werden, müßten noch
nachzuvollziehen. weitere Personen, zu denen Benjamin intensive Bezie-
Deshalb wurde auch den Autoren kein starres Ab- hungen unterhielt, insbesondere auch Frauen, genannt
fassungsschema oktroyiert und ihnen für die eigene werden. Hier sei ausdrücklich auf die Edition der
Werkanalyse mehr Raum gegeben, als es ein bloß le- Briefe verwiesen. Benjamin war ein großer Briefschrei-
xikalisches Nachschlagewerk zuließe. Zum Nachschla- ber, dem ganz verschiedene Tonfälle und Gesten zur
gen ist das Handbuch allerdings durchaus geeignet. Verfügung standen. Und es ist kein Zufall, daß sich
Der Benutzer hat in jedem Fall die Möglichkeit, sich auch die Artikel dieser Abteilung ganz wesentlich auf
über die Entstehungsgeschichte, die Thematik und die Briefe und die Aufzeichnungen von Gesprächen stüt-
Rezeption der Texte zu informieren; aber er wird bei zen.
genauerer Lektüre feststellen können, daß hier in be- Unter dem Stichwort >>Messianismus, Ästhetik, Po-
trächtlichem Umfang anspruchsvolle Neuinterpreta- litik<< sind Artikel über philosophische Texte Benja-
tionen vorliegen, die die weitere Diskussion heraus- mins zusammengestellt, die keineswegs unter einem
fordern. einheitlichen Thema zusammenzufassen wären, son-
Die Auswahl der Texte ist breit angelegt. Vor allem dern auf verschiedene Weise das im Titel angegebene
wird dabei kein Unterschied zwischen zu Lebzeiten Spannungsfeld austragen. Damit wird deutlich, daß es
publizierten und aus dem Nachlaß publizierten Texten unproduktiv geworden ist, Benjamins Texte in der
Benjamin lesen ... Über die Konzeption des Handbuchs XI

Konkurrenz von Marxismus und Theologie sortieren führen einen geheimen Kompaß mit sich, sie verweisen
zu wollen, ebensowenig wie nach der Unterscheidung auf das verborgene Gravitationszentrum seines Den-
zwischen ästhetischen und politischen Untersuchun- kens und Schreibens. Alle Texte unterhalten geheime
gen. Verbindungen, enthalten teilweise Selbstzitate, neh-
Eine eigene Abteilung ist dem Literaturkritiker und men frühere Problemstellungen wieder auf, wandeln
Publizisten Benjamin gewidmet (>>Literaturkritik, sie ab, konstellieren sie neu. Jeder, der sich intensiv in
Avantgarde, Medien, Publizistik<<). In diesem Bereich Benjamins Schriften versenkt, wird diese Erfahrung
hat Benjamin eigene politische Schreibweisen entwik- machen. Es ist Absicht des Handbuchs, zu dieser Er-
kelt, die eine erstaunliche Vielfalt zeigen und zugleich fahrung einzuladen.
die unterschiedlichen medialen Publikationsbedin-
gungen reflektieren. Anzumerken bleibt, daß die große
Menge der Rezensionen, Feuilletonbeiträge, Polemi- Im Dickicht der Texte
ken, satirischen Glossen, Interviews und Rundfunkar-
beiten im Rahmen des Handbuchs nicht im vollen Die Konzeption des Handbuchs sucht der besonderen
Umfang und in wünschenswerter Detailliertheit be- Gestalt des Werks von Benjamin Rechnung zu tragen,
handelt werden konnte. Der Leser wird aber genügend die erst eigentlich posthum- durch Erschließung des
Anstöße finden, um in Benjamins Texten auf eigene verstreut Publizierten und Transkription des umfang-
Entdeckungsreise gehen zu können. reichen Nachlasses- erkennbar wurde. über die aben-
Die vierte Abteilung» Dichtungsanalyse und Autor- teuerliche Geschichte der Überlieferung und der Nach-
bild<< präsentiert Artikel zu den >literarischen Essays< laßfunde, die noch in die lange Editionsgeschichte der
Benjamins. Auch sie sind, ihrer Textform wie ihrer Gesammelten Schriften hineingewirkt hat, muß hier
Thematik nach, nicht einheitlich; was sie aber verbin- nichts gesagt werden (s. dazu den Teil »Rezeptionsge-
det, ist die Intensität, mit der sie jeweils auf einen ein- schichte<<). Dank Rolf Tiedemann, der die immense
zelnen Autor bzw. auf ein einzelnes Werk eines Autors Entzifferungs- und editorische Sicherungsarbeit der
ausgerichtet sind. Benjamin hat eine besondere Mei- Gesammelten Schriften im wesentlichen trug, können
sterschaft entwickelt, strenge Dichtungsanalyse mit die Benjaminleser heute auf eine so gut wie vollstän-
porträthaften biographischen Zügen zu verknüpfen, dige, philologisch genaue Textgrundlage zurückgrei-
ohne damit einer psychologistischen Werkhermeneu- fen, wie es sie sonst für keinen philosophischen Autor
tik zu verfallen. seiner Generation gibt. In ihr ist der gesamte Nachlaß
Die Artikel der letzten Abteilung »Sprachphiloso- erfaßt und auch das, was nicht oder nur auszugsweise
phie; literarisches und autobiographisches Schreiben<< publiziert wurde, verzeichnet.
rücken im engeren Sinne autobiographische Texte Für das Handbuch bedeutete dies, daß überall die
ebenso wie Aufzeichnungen und Briefe sowie die So- Textgrundlage der Gesammelten Schriften zugrunde-
nette mit den grundlegenden sprachphilosophischen gelegt wird. Nur in einzelnen rezeptionsgeschichtlich
Texten zusammen, die zum wesentlichenunpubliziert wichtigen Fällen wird auf frühere Ausgaben gesondert
blieben. Zwar muß man sagen, daß es keinen Text Ben- verwiesen. Hingegen konnte sich die Anordnung der
jamins gibt, der ohne Reflexion auf die Medialität von Werkanalysen im Handbuch nicht an den Gliederungs-
Sprache, Schreiben und Schrift wäre, aber es erschien prinzipien der Gesammelten Schriften orientieren. Es
gerade für die Zwecke des Handbuchs wichtig, diesen wäre gewiß einfacher gewesen, die Anordnung parallel
Komplex durch eine eigene Abteilung hervorzuheben. zu der nun einmal vorgegebenen (und dem versierten
(Ein vorgesehener Text zu Benjamin als Obersetzer ist Benjaminleser vertrauten) Gliederung folgen zu lassen.
nicht zustandegekommen.) Aber, auch ohne hier in eine Diskussion der Gliede-
Das Handbuch bietet fünf querschnittartige Durch- rungsprinzpien eintreten zu wollen, kann festgestellt
gänge durch das Werk, die damit thematische Konstel- werden, daß sie eine höchst problematische Aufteilung
lationen ergeben. Vom Benutzer/Leser des Handbuchs in Werkformen und Textsorten unternimmt, die zu-
wird erhofft, daß er nicht nur einzelne Artikel nach- dem durch die späteren Nachtragsbände (VIII! und
schlägt, sondern Lust bekommt, selbst Beziehungen 2) und den umfangreichen Nachlaßband (VI) vollends
herzustellen, die über die Anordnung der Autorenar- unübersichtlich geworden ist.
tikel hinaus- und in das Gesamt der hinterlassenen Benjamins Werk besteht in seinem Hauptteil aus
Schriften hineinführen. Einzeltexten; allein die als abgeschlossen geltenden
Das Erstaunliche der Benjaminsehen Produktion Arbeiten umfassen über 500 Titel. Hingegen konnte
besteht ja darin, daß alles Geschriebene eine intellek- Benjamin zu Lebzeiten nur vier Bücher publizieren.
tuelle und stilistische Unverkennbarkeit hat. Alle Texte Und doch sollte man sich hüten, das durch Zeitum-
XII Benjamin lesen ... Über die Konzeption des Handbuchs

stände Verwehrte- Benjamin hat selbst einmal von der und täte man es, würde es nicht Benjamin sondern
»Katastrophen- und Trümmerstätte<< seines Schreibens vielmehr die gedankenlosen Kulturagenten treffen, die
gesprochen - zum Anlaß zu nehmen, das überlieferte das Werk konjunkturentsprechend verwerten.
im Bild der Ruine oder des Fragments zu stilisieren. Was mit der ersten Phase kontroverser Benjamin-
Was auf den ersten Blick als Disparatheit und Ver- aktualisierung im 68er Kontext begann - notwendig
streutheit erscheint, hat sich längst als ein Kraftfeld auch mit überzogenen, gegenüber seinem historischen
erwiesen, demgegenüber jede Vorstellung, Benjamin Kontext unkundigen Aktualisierungen -, hat sich mit
habe die >eigentlichen Werke< nicht schreiben können, neuen Problemstellungen und Akzentverschiebungen
völlig verblaßt. Bei ihm wie sonst wohl bei niemandem fortgesetzt. Inzwischen ist beträchtliche theoretische
anders ist die Qualifizierung von Hauptwerken und wie historische Forschungsarbeit geleistet worden.
Nebenarbeiten völlig hinfallig, ohne daß etwa die text- Und die politische Erosion der letzten 25 Jahre hat das
analytische Unterscheidung zwischen einem Aphoris- Interesse an Benjamin nicht erlahmen lassen. Im Ge-
mus, einer Rezension und einer umfangreichen Ab- genteil könnte man sagen: seine Texte haben diese
handlung deshalb unwesentlich wäre. Diskursverschiebungen nicht nur unbeschädigt über-
Dem Leser wird damit abverlangt, sich diesem Dik- standen, sondern kehren ihre Widerständigkeit neu
kicht der Texte auszusetzen. Das Handbuch will nicht hervor, wie die Beiträge des Handbuchs erweisen und
nur allgemein zur Lektüre der Benjaminsehen Texte mit neuen Impulsen versehen. Den Funktionären des
anregen, sondern ausdrücklich zur extensiven Benut- täglichen Fortschritts in der Katastrophe hat Benjamin
zung der Edition der Gesammelten Schriften auffor- allemal in die Suppe gespuckt.
dern. Es genügt hierzu allerdings nicht, auf das außer- Benjamin verkörpert auf herausragende Weise die
ordentlich akribische »Gesamtinhaltsverzeichnis<< Figur des europäischen, deutschjüdischen Intellektu-
(VII, 899- 1019), das in fünf gesonderten Registern ellen, und damit eine brüchige Tradition, die heute
alle abgedruckten Texte der Gesammelten Schriften wieder in Vergessenheit zu geraten droht. Wenn seine
erschließt, zu verweisen. Wer sich nicht auskennt, wird Schriften diesem Vergessen Widerstand bieten, so be-
hier rasch ratlos werden. ruht dies nicht allein auf bestimmten Theoremen,
Um dem Leser auf die Sprünge zu helfen, wird statt Motiven, Themen und überzeugungen, sondern auf
dessen im Handbuch allen Werkanalyse-Artikeln je- der Eigenart seines Denkens und Schreibens, dessen
weils ein Werkverzeichnis nachgestellt. Die Werkver- Originalität sich gerade darin erweist, daß er zwar ge-
zeichnisse informieren den Benutzer über die für den wiß Bewunderer, aber weder gläubige Schüler noch
Beitrag einschlägigen Texte Benjamins. Insbesondere erfolgreiche Nachahmer gefunden hat. Jeder Leser
werden hier auch die in den Apparaten und im Nach- Benjamins, der über das Gelesene schreiben will, wird
tragsband versteckten Nachlaßteile - Paralipomena, die Erfahrung machen, daß die Texte sich der >Inhalts-
Arbeits-Schemata, ausformulierte Notizen, Literatur- zusammenfassung< entziehen. Ohne die Prägnanz der
listen - aufgelistet. Da Benjamin das Material seiner Formulierung, die einem außerordentlichen Bewußt-
Manuskripte wohl so gut wie nie vernichtet hat, bilden sein der deutschen Sprache entspringt, verflüchtigt
diese Nachlaßteile vielfach ein einzigartiges Archiv des sich ihr Wahrheitsgehalt, weshalb in der Öde mancher
Schreibprozesses. Darüber hinaus wird im Werkver- Sekundärdarstellung ein Benjaminzitat wie ein stra-
zeichnis auf weitere Texte hingewiesen, die in engem fender Lichtblick wirkt.
Bezug zu dem im Artikel behandelten Haupttext ste- Diese sprachliche Souveränität schloß Verknüpfun-
hen, aber in der Schriftenausgabe nicht an diesem Ort gen ein, die auch den Freunden bedenklich oder gar
zu finden sind. So wird über die Ausführungen im zerstörerisch erschienen. Aber es ist nicht Mystifika-
Autorartikel hinaus ein konstruktiver Zugang zu den tion oder rhetorische Maskierung, sondern nüchterne
Gesammelten Schriften eröffnet. Erkenntnis der eigenen Schreibkompetenz, wenn Ben-
jamin gegen Scholems beunruhigte Warnungen dar-
auf beharrt, »die rote Fahne zum Fenster herauszu-
Der Schriftsteller mit zwei Händen hängen<< und vom Parteistandpunkt aus »>gegenrevo-
lutionäre< Schriften<< zu verfassen, ließe sich durchaus
»In jeder Epoche muß versucht werden, die überlie- kombinieren (Brief an Scholem vom 17.4. 1931: 4,
ferungvon neuem dem Konformismus abzugewinnen, 25).
der im Begriff steht, sie zu überwältigen.<< Es wäre zu Den Anspruch - und das Risiko - eines Denkens,
billig, diesem philosophischen Imperativ aus den The- das sich bewußt in Extremen bewegt, hat er in einem
sen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE den exzep- denkwürdigen Brief vom Juni 1934 an Gretel Karplus-
tionellen Nachruhm ihres Autors entgegenzuhalten - Adorno (»Felizitas<<), die sich wegen Brechts verhäng-
Benjamin lesen ... Über die Konzeption des Handbuchs XIII

nisvollem Einfluß auf Benjamin besorgt zeigte, aufs nierungen besser verarbeiten können als viele andere
genaueste beschrieben. »In der Ökonomie meines Da- Intellektuelle seiner Generation.
seins spielen in der Tat einige wenige gezählte Bezie- In einem Korpus von Aufzeichnungen aus dem Ende
hungen eine Rolle, die es mir ermöglichen, einen, dem der 20er Jahre, die sich in der Sammlung Scholems
Pol meines ursprünglichen Seins entgegengesetz[t]en fanden, deren Kontext aber leider nicht genau zu er-
zu behaupten. Diese Beziehungen haben immer den mitteln ist, notiert er: >>Schriftstellern heißt Gedanken-
mehr oder weniger heftigen Protest der mir nächstste- konzerte geben.<< (VII, 877) Im Fortgang vergleicht er
henden herausgefordert, so die zu B[recht] augen- die Gedanken mit den Instrumenten eines Orchesters.
blicklich - und ungleich weniger vorsichtig gefaßt - >>Autorenköpfe [müssen] mit Instrumenten viel besser
den Gerhard Scholems. In solchem Falle kann ich besetzt sein, als der flüchtige Leser annimmt. Nur ver-
wenig mehr tun, als das Vertrauen meiner Freunde halten sie sich die meiste Zeit über schweigend um erst
dafür erbitten, daß diese Bindungen, deren Gefahren an der gegebenen Stelle genau, unter dem Stab des
auf der Hand liegen, ihre Fruchtbarkeit zu erkennen Dirigenten, einzufallen<< (VII, 877). Die Kunst des phi-
geben werden. Gerade Dir ist es ja keineswegs undeut- losophischen Schriftstellers besteht im präzisen Weg-
lich, daß mein Leben so gut wie mein Denken sich in lassen von Gedanken und Wörtern (VI, 209).
extremen Positionen bewegt. Die Weite, die es derge- Was Benjamin (in den zitierten Briefen) als produk-
stalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die tive Konstellation seines Daseins beschreibt, erscheint
als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, hier als innere Ökonomie der Textproduktion. In der
erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr. Eine Gefahr, EINBAHNSTRASSE, in dem Stück TECHNISCHE NoT-
die im allgemeinen auch meinen Freunden nur in Ge- HILFE, findet sich eine analoge Überlegung zur Instru-
stalt jener >gefährlichen< Beziehungen augenfällig er- mentierung der Autorenköpfe. >>Wer wollte die Alarm-
scheint<< (4, 440f.). signale zählen, mit denen das Innere des wahren
Und ein Jahr später, diesmal geht es um die Besorg- Schriftstellers ausgestattet ist? Und schreiben heißt
nis der Adornos, das Expose der Passagenarbeit von nichts anderes als sie in Funktion zu setzen<< (IV, 138).
1935 verleugne die metaphysisch-theologischen Im- In Funktion setzten bedeutete aber nichts anderes als
pulse der ersten Entwürfe, heißt es wiederum in einem Komposition, Kalkulation, Rhythmisierung, die vom
Brief an Gretel Karplus-Adorno: >>Meinen Gedanken- >>Objektiv der Schrift<< (ebd.) diktiert wird. Denn es
flug höher lenkend, muß ich doch bei meiner Person >>gibt nichts Ärmeres als eine Wahrheit, ausgedrückt,
noch einen Augenblick verweilen. Wenn Du nämlich wie sie gedacht ward<< (ebd.).
von meinem >Zweiten Entwurf< schreibst >darin würde Im Kontext der Passagenarbeit hatte Benjamin dazu
man nie die Hand WB's erkennen<, so nenne ich das schließlich notiert: >>Die Konkretion löscht das Den-
doch ein wenig geradezu gesagt [... ]. Der WB hat- und ken, die Abstraktion entzündet es. Jede Antithetik ist
das ist bei einem Schriftsteller nicht selbstverständlich abstrakt, jede Synthesis konkret. (Die Synthesis löscht
- darin aber sieht er seine Aufgabe und sein bestes das Denken)<< (V, 1033). Jeder Text hat die Figur einer
Recht - zwei Hände. Ich hatte es mir mit vierzehn Stillstellung des Denkens und gibt die Löschung an
Jahren eines Tages in den Kopf gesetzt, ich müsse links den Leser weiter, der wiederum auf die >>tausend Tore<<
schreiben lernen. Und ich sehe mich heute noch Stun- (VII, 877) der Worte stößt.
den und Stunden an meinem Schulpult in Haubinda Schriftstellern heißt aber nicht bloß, Gedanken zum
sitzen und üben. Heute steht mein Pult in der Biblio- Druck zu befördern, sondern erst einmal Schriften,
theque Nationale- den Lehrgang so zu schreiben habe Manuskripte, zu erstellen. Benjamin, der nie eine
ich da auf einer höhern Stufe - auf Zeit! -wieder auf- Schreibmaschine benutzte, hat der Praxis der eigenen
genommen. Willst Du es nicht mit mir so ansehen, handschriftlichen Aufzeichnung in der EINBAHN-
liebe Felizitas? Ausführlicher will ich hierzu nicht ge- STRASSE mehrfach eindringliche Reflexionen gewid-
rade sein<< (Brief vom 1.9.35: 5, 151). met (IV, 102; 106f.; 112f.; 131). Daraus wird ersichtlich,
Nochmals gesagt: es wäre verfehlt, derartige warum er immer wieder mit bestimmten Manuskript-
Selbstauskünfte als ein Versteckspiel im Raum des formen und Aufschreibweisen experimentiert hat.
brieflichen Austauschs zu betrachten. Ohne Zweifel Deshalb bildet der umfangreiche Nachlaß der erhalte-
hätte Benjamin diese Formulierungen in einem für die nen Manuskripte einen integralen Bestandteil des
Publikation gedachten Text nicht gebraucht. Aber ihm Werks.
ist der Gedanke, daß sein Denken und Schreiben sich
in heterogenen Konstellationen bewegt, ganz selbst-
verständlich. Benjamin hat damit nicht nur Denkver-
bote unterlaufen, sondern auch politische Desillusio-
Leben, Werk, Wirkung
3

1. Zeit und Person


Von Nadine Werner

Weltkrieg und Revolution: Auf der Suche aber bald enttäuscht werden. Er bemerkt 1914 in ei-
nach einem neuen System der Metaphysik nem Brief an Herbert Blumenthal: >>Die Hochschule
ist eben nicht der Ort, zu studieren<< (1, 242). 1914
Walter Benjamin, geboren 1892, stammt aus einer führt die Kriegsbegeisterung Wynekens zum Bruch
großbürgerlichen Familie; sein Vater war als Kauf- Benjamins mit der Freistudentischen Bewegung, dem
mann, Auktionator und Aktionär zu einem beträcht- Anfang und dem Sprechsaal. Seine distanzierte Hal-
lichen Vermögen gekommen. Benjamins Kindheit, tung gegenüber dem akademischen Lehrbetrieb äußert
Schulzeit und Universitätsstudium verlaufen, soziolo- sich in seiner mit Scholem spielerisch erfundenen Uni-
gisch betrachtet, nicht ungewöhnlich für einen Sohn versität Muri. Sie entwerfen zum Scherz ein Vorle-
aus einer wohlhabenden deutsch-assimilierten jüdi- sungsverzeichnis dieser imaginären Universität, das
schen Familie. In der BERLINER KINDHEIT UM NEUN- unter anderem Seminare von Sigmund Freud >>Woher
ZEHNHUNDERT blickt Benjamin literarisch darauf kommen die kleinen Kinder<< oder A. von Harnacks
zurück, wie er behütet und gut situiert in einer Berliner >>Das Osterei. Seine Vorzüge und Gefahren<< ankündigt
Villenwohnung aufwächst. Sowohl jüdische als auch (IV, 441 ff.).
christliche Feiertage werden in seiner Familie began- Schon früh entdeckt Benjamin seine Leidenschaft
gen; seine Eltern ermöglichen es ihm, seinen eigenen für das Reisen; in die Zeit bis 1923 fallen viele Aus-
Weg zu gehen. Später sind sie allerdings nicht damit landsaufenthalte, die Benjamin nach Italien, Frank-
einverstanden, daß Benjamin keinen regulären Beruf reich und in die Schweiz führen. 1912 unternimmt er
ergreift. über Pfingsten eine Norditalienreise nach Mailand,
Dem akademischen Lehrbetrieb steht Benjamin von Verona, Vicenza und Venedig. In Vicenza sieht er Pal-
Anfang an distanziert gegenüber. Schon in seiner ladios Bühnenbild >>Die Straße<<, das ihn nachhaltig
Schulzeit entwickelt er ein kritisches Bewußtsein für beeindruckt. Ein Jahr später besucht er zusammen mit
die gängige hierarchische Ordnung zwischen Schülern Kurt Tuehier zum ersten Mal Paris. Diese Reisen finden
und Lehrern. Von 1904 bis 1907 besucht Benjamin das ihren literarischen Niederschlag in der Form des Ta-
Landerziehungsheim Haubinda. Die dort im Vorder- gebuchschreibens (VI, 229-292).
grund stehende Gleichberechtigung von Schülern und Bereits für Benjamins frühe Arbeiten ist ihre theo-
Lehrern, vor allem aber die Bekanntschaft mit dem logisch-metaphysische Dimension kennzeichnend, die
Pädagogen Gustav Wyneken, hinterlassen einen nach- aus heutiger Sicht unvertraut erscheinen mag. Der
haltigen Eindruck beim jungen Benjamin und legen traditionsreiche philosophische Begriff Metaphysik,
den Grundstein für sein späteres Engagement in der der mit Namen wie Aristoteles und Kant verbunden
Jugendbewegung. Als Anhänger Wynekens tritt Ben- ist, hat heute eine Diskreditierung erfahren. Aus die-
jamin zwischen 1912 und 1914 für eine Reform der sem Grund muß er als philosophischer Horizont, in
Schule und Erziehung ein. dem sich das Denken des frühen Benjamin situiert, ins
Verbunden mit der Schulreformbewegung ist die Gedächtnis gerufen werden: Die Versuche in den
Zeitschrift Anfang und der sogenannte Sprechsaal, ein 1910er Jahren, Philosophie theologisch und metaphy-
von Benjamin initiierter Versammlungs- und Diskus- sisch zu fundieren, können als Reaktion auf eine viel-
sionsort. Im Oktober 1913 nimmt er an der Jahrhun- fach diagnostizierte Kulturkrise betrachtet werden. In
dertfeier der>> Freideutschen Jugend<< auf dem Hohen diesem Kontext stehen Arbeiten Benjamins wie ÜBER
Meißner teil. Unter dem Eindruck dieses Treffens ent- DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE oder
steht der Text DIE JuGEND SCHWIEG, in dem Benjamin ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE
seinem Unmut über die nationalistische und militari- DES MENSCHEN.
stische Einstellung einzelner Gruppierungen der Ju- Auch Benjamins spätere Texte bis hin zu den Thesen
gendbewegung Ausdruck verleiht. ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE klammern die
Benjamin tritt mit hohen Erwartungen an die uni- Theologie keineswegs aus. Signifikant ist, daß Benja-
versitäre Institution und ihre Angehörigen heran, die min später, in einem Brief an Adorno aus dem Jahr
4 Zeit und Person

1935, von einem >>Umschmelzungsprozeß<< spricht, der Hölderlins Gedichte Dichtermut und Blödigkeit (ZWEI
die »ganze, ursprünglich metaphysisch bewegte Ge- GEDICHTE VON FRIEDRICH HöLDERLIN). Beginn der
dankenmasse<< im Laufe der Arbeit am Passagenprojekt übersetzung von Charles Baudelaires Tableaux Pari-
betrifft (5, 98). siens.
Insofern ist es nicht angemessen, Benjamins Biogra- 1915: Bekanntschaft mit Werner Kraft und Gershorn
phie als einen mühsamen Weg von der metaphysischen Scholem, der einer der wichtigsten, lebenslangen
Spekulation zum politischen Engagement zu begrei- Freunde Benjamins wird. Studium in München, Ben-
fen. Zum einen wirken die metaphysisch-theologi- jamin hört Walter Lehmann, Fritz Strich, Heinrich
schen Impulse in seinen späteren Arbeiten weiter fort; Wölfflin und den Phänomenologen Moritz Geiger.
zum anderen hat auch umgekehrt der Anspruch des Begegnung mit Felix Noeggerath und Rainer Maria
Politischen in seinem Denken von Anfang an eine ent- RiJke. DER REGENBOGEN entsteht, Aufzeichnungen ZU
scheidende Rolle gespielt, wie sein frühes Engagement Phantasie u. farbigem Kinderbuch.
für die Jugendbewegung zeigt. Mit der Zeit verändert 1916: Arbeit an TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE und an
sich lediglich die Ausrichtung seiner politischen Tä- DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE IN TRAUERSPIEL UND
tigkeit, wenn diese sich bald und dann bis zuletzt im TRAGÖDIE, den Urzellen des späteren Trauerspielbuchs,
Kontext eines radikalen Kommunismus spiegelt. und an ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
SPRACHE DES MENSCHEN. DAS GLÜCK DES ANTIKEN
1892: am 15. Juli wird Walter Bendix Schönflies Ben- MENSCHEN entsteht. Beginn der intensiven Freund-
jamin in Berlin, als ältestes von drei Geschwistern, schaft mit Gershorn Scholem.
geboren. 1917: Heirat mit Dora Pollak. Weiterhin Baudelaire-
1910: im Sommer Veröffentlichung erster Gedichte übersetzung. Studium in Bern, Benjamin hört bei
und Aufsätze im Anfang. seinem späteren Doktorvater Richard Herbertz, bei
1912: Abitur und Beginn des Studiums der Philoso- Paul Häberlin, Harry Maync und Anna Tumarkin,
phie und Philologie in Freiburg, Besuch der Vorlesun- Besuch der Vorlesung von Gonzague de Reynold über
gen von Heinrich Rickert »Darwinismus als Weltan- »Charles Baudelaire, Ia critique et Ia poete<<. Arbeit an
schauung<<, Friedrich Meinecke »Allgemeine Ge- ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE,
schichte des 16. Jahrhunderts<<, Jonas Cohn »Das zu der 1918 ein Nachtrag verfaßt wird.
höhere Unterrichtswesen der Gegenwart<< und »Phi- 1918: Arbeit an der Dissertation DER BEGRIFF DER
losophie der gegenwärtigen Kultur<< und Richard Kro- KuNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN RoMANTIK. Geburt
ner »Kants Weltanschauung«. Pfingstreise nach Italien. seines und Doras Sohnes Stefan Rafael in Bern.
Engagement in der von Gustav Wynecken initiierten 1919: Promotion. Bekanntschaft mit Ernst Bloch. Aus-
Freistudentischen Bewegung. Studium in Berlin. Ben- einandersetzung mit den Eltern: Benjamins Vater ver-
jamin hört Georg Simmel, Ernst Cassirer, Benno Erd- langt, sein Sohn solle einer bezahlten Arbeit nachgehen.
mann und Kurt Breysig. Gründung des Sprechsaals. Benjamin ist dazu nicht bereit. Weiterhin Arbeit an den
1913: Studium in Freiburg, Besuch von Rickerts Logik- Baudelaire-übersetzungen. Plan der Habilitation. Ab-
Vorlesung und dessen »übungen zur Metaphysik im schluß der Arbeit SCHICKSAL UND CHARAKTER.
Anschluß an die Schriften von Henri Bergson<<, Jonas 1920: Aufenthalt im Sanatorium in Breitenstein und
Cohns »über Kants und Schillers Begründung der bei den Schwiegereltern in Wien. Bekanntschaft mit
Ästhetik<< und Richard Kroners »Probleme der Natur- Florens Christian Rang in Berlin. Andauern des Zer-
philosophie<<. Freundschaft mit Fritz Heinle. Pfingst- würfnisses mit den Eltern. Veröffentlichung der Dis-
reise mit Kurt Tuehier nach Paris. Erster Aufsatz über sertation. Ende des Jahres: Rückkehr ins Elternhaus.
Erfahrung. Reise nach Basel mit Besichtigung von Dü- 1921: Fertigstellung und Veröffentlichung von ZuR
rers »Ritter«, »Tod und Teufel<< und »Melencolia I<<. KRITIK DER GEWALT. Beschäftigung mit dem Vorwort
Studium in Berlin, Benjamin wohnt bei seinen Eltern zu den Tableaux Parisens, DIE AuFGABE DES ÜBERSET-
in der Delbrückstraße 23. Beginn der Arbeit META- ZERS. Die Ehe mit Dora zerbricht, Benjamin verliebt
PHYSIK DER JuGEND, die im Januar 1914 fertiggestellt sich in Jula Cohn. Kauf des Angelus Novus von Paul
wird. Klee. Aufenthalt in Heidelberg, Benjamin hört bei Kar!
1914: Studium in Berlin, intensiver Einsatz und Vorsitz Jaspers und Gundolf und begegnet Stefan George im
der Freien Studentenschaft. Bekanntschaft mit seiner Schloßpark. Scheitern des ersten Anlaufs zum Habili-·
späteren Frau Dora Pollak. Arbeit an DAs LEBEN DER tationsverfahren. KAPITALISMUS ALS RELIGION ent-
STUDENTEN, veröffentlicht 1916. Fritz Heinleverübt steht; ebenfalls das» Theologisch-politische Fragment<<
gemeinsam mit seiner Verlobten Rika Seligson Selbst- spätestens in diesem Jahr. Unterzeichnung des Vertrags
mord. Benjamin widmet ihm die Arbeit über Friedrich für die nie erschienene Zeitschrift Angelus Novus. Wolf
Weimarer Republik 5

Heinle, Ernst Lewy, Florens Christian Rang, Erich Un- scherbe des eigenen Werks, der eigenen Philosophie.
ger, Samuel Josef Agnon und Gershorn Scholem sollen Auf kreative Weise nutzt Benjamin diese Medien und
als Mitarbeiter gewonnen werden. Publikationsorgane, anstatt Texte in akademischen
1922: Abschluß der Arbeit GoETHES WAHLVERWANDT- Fachorganen zu veröffentlichen.
scHAFTEN. Beginn der Arbeit an URSPRUNG DES DEUT- Um einen Eindruck von der Produktivität Benja-
SCHEN TRAUERSPIELS. mins in den sieben Jahren von 1926 bis 1933 zu gewin-
1923: Aufenthalt in Frankfurt, Krise der Freundschaft nen, lohnt sich ein Blick in das Chronologische Ver-
mit Scholem. Bekanntschaft mit Theodor W. Adorno zeichnis in den Gesammelten Schriften (VII, 934-961 ),
und Siegfried Kracauer. Auswanderungspläne. Erschei- das für diesen Zeitraum ca. 220 Publizistik-Titel auf-
nen der Übersetzung von Baudelaires Tableaux Pari- weist.
siens. Rückkehr nach Berlin. Thematisch lassen sich Benjamins publizistische
Arbeiten kaum zusammenfassen. Die Auswahl der
rezensierten Bücher betreffend, ist er ohnehin abhän-
Weimarer Republik: Autorschaft des gig von den Aufträgen der Redaktionen. Umso er-
Intellektuellen im publizistischen Feld staunlicher ist es, daß noch die kleinste Rezension und
der entlegenste Buchhinweis die unverwechselbare
Im Literaturbetrieb der Weimarer Republik nimmt geistige Handschrift Benjamins aufweisen und im
Benjamin die Position eines Publizisten, Intellektuel- Gradnetz seines Denkens ihren Ort finden. Dabei ver-
len, Essayisten und Kritikers ein. Während das Ende sucht Benjamin nicht, sich als Literaturkritiker im
dieser Lebensphase mit dem Datum 1933 als politi- engeren Sinne, als Spezialist für die schöne Literatur,
scher Einschnitt vorgegeben ist, kann der Zeitraum zu profilieren, sondern bespricht ebenso Sachbücher
1924/1925 als Einsatzpunkt gelten: Benjamin löst sich (s. den Teil »Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Pu-
vom akademischen Kontext und ist als freier Publizist blizistik«, 301 ff.), wobei neben Rezensionen und an-
und Autor genötigt, regelmäßig und rasch für den li- deren kleinen Formen auch große Essays entstehen.
terarischen Markt zu produzieren. Dieser lebensge- Zwei Schwerpunkte lassen sich angeben, mit denen
schichtliche Einschnitt resultiert aus Gegebenheiten, Benjamin eine bestimmte Position im Literaturbetrieb
die sich mit zwei Stichworten erfassen lassen: Ableh- besetzen will: die revolutionäre russische Literatur und
nung der Habilitation und Inflation. Durch das Schei- Kultur und die französische Literatur und Kultur. In-
tern der Habilitation ist Benjamin eine akademische wieweit es ihm gelang, diese Stellung gegenüber der
Karriere versperrt, und die Inflation ruiniert das vä- Konkurrenz zu besetzen, muß dahingestellt bleiben.
terliche Vermögen, so daß nach dem Tod des Vaters Neben seiner verstreuten publizistischen Tätigkeit
(18. Juli 1926) kein nennenswertes Erbe vorhanden verfolgt Benjamin in diesem Lebensabschnitt weiter-
ist. hin Buchprojekte, in denen sich das eigene Denken im
Benjamins publizistische Tätigkeit ist ausgespro- Zusammenhang manifestieren soll. So erscheinen 1928
chen facettenreich, er experimentiert mit unterschied- das Trauerspielbuch und die EINBAHNSTRASSE, doch
lichen Medien und Formen. Die erste Rezension (zu bleiben viele seiner Buchpläne unrealisiert. Benjamin
Kar! Hobreckers Alte vergessene Kinderbücher) veröf- beschäftigt sich mit dem Passagenprojekt und arbeitet
fentlicht er 1924 im Berliner Antiquariatsblatt und in an der BERLINER KINDHEIT, jedoch ohne eine vollstän-
der Illustrierten Zeitung, Leipzig. Anfang 1926, 34jäh- dige Veröffentlichung konkret ins Auge zu fassen. Le-
rig, und von nun an durchgehend in rascher Folge, tritt diglich einzelne Texte der BERLINER KINDHEIT werden
er mit Beiträgen für die von Willy Haas herausgege- in verschiedenen Zeitungen und im Rundfunk veröf-
bene Literarische Welt, die Neue Schweizer Rundschau, fentlicht. Mit dem Rowohlt-Verlag schließt er einen
das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung - wo auch Vertrag über die Publikation seiner literarischen Es-
Kracauer als Redakteur tätig ist- bis hin zu der Am- says, die jedoch wegen finanzieller Schwierigkeiten des
sterdamer Avantgarde-Zeitschrift i 10 in Erscheinung. Verlags nicht zustandekommt.
Darüber hinaus verfaßt Benjamin, vor allem in den
Jahren 1931 und 1932, zahlreiche Arbeiten für den 1924: Reise mit Florens Christian Rang nach Capri,
Südwestdeutschen Rundfunk (Frankfurt am Main) über Genua, Pisa und Neapel. Auch Bloch befindet sich
und die Funkstunde AG (Berlin), die er zum Teil selbst in dieser Zeit auf Capri. Unerfüllte Liebe zu Asja Lacis.
am Mikrophon vorträgt. In diesen >kleineren< publi- Rückkehr nach Berlin, der Tod Florens Christian Rangs
zistischen Arbeiten finden sich grundlegende theore- trifft ihn tief. Arbeit am Trauerspiel buch.
tische Einsichten: Jeder noch so kleine, scheinbar un- 1925: Antrag auf Habilitation in Frankfurt wird abge-
bedeutende Gegenstand ist Benjamin eine Spiegel- lehnt. Beginn der lebenslang andauernden Beschäfti-
6 Zeit und Person

gung mit Kafka. Reise nach Spanien und Italien, Be- Lebenskrise, die nicht allein auf die Krise der Weima-
geisterung für die Werke des Barockmalers Juan de rer Republik und den Zerreißungsprozeß der Linken
Valdes Leal, speziell für dessen Allegorie des Todes. zurückzuführen ist. Ebenso spielen allgemeine Ein-
Rückkehr nach Capri. Unwillkommener Besuch bei samkeit und Depressionen eine Rolle.
Asja Lacis in Riga. Arbeit an einer Proust-Übersetzung,
teilweise zusammen mit Pranz Hesse!.
1926: Erster längerer Aufenthalt in Paris. Weiterhin Exil: Erwachen aus der Urgeschichte
Arbeit an der Proust-übersetzungund häufige Treffen des 19. Jahrhunderts, der kommende Krieg
mit Ernst Bloch. Entstehung einiger Texte für die EIN-
BAHNSTRASSE sowie der Arbeit über JOHANN PETER Im März 1933 verläßt Benjamin Deutschland, das er
HEBEL. Tod seines Vaters. Weitere Reisen nach Mar- danach nicht mehr betritt; im September 1940 nimmt
seille, Agay (Var) und Monaco. Moskaureise: seine er sich in Port Bou das Leben. Hinter diesen beiden
Annäherungsversuche bei Asja Lacis und die Bemü- Daten verbirgt sich eine dramatische Geschichte der
hungen, sich schriftstellerisch zu betätigen, schlagen Exilierung.
fehl. Als Benjamin aus dem Deutschen Reich im März
1927: Rückkehr nach Berlin; das Denkbild MosKAU 1933 emigriert - offiziell ausgebürgert wird er erst
entsteht. Rückkehr nach Paris. Arbeit an der Proust- 1939- ist dies keine plötzliche Zäsur. Das Exil hat sich
übersetzung, Publikation des Aufsatzes über GoTT- bereits mit den seit 1930 zunehmend verschlechterten
FRIED KELLER. Entstehung des ersten Haschischpro- Publikationsbedingungen angebahnt.
tokolls in Berlin. Als Benjamin 1933 erkennt, daß alle Brücken nach
1928: Fortsetzung der Drogenprotokolle. Pläne zur Deutschland abbrechen werden, versucht er nichtsde-
Passagen-Arbeit mit dem ersten Titel: Pariser Passagen. stoweniger im Pariser Exil, seine Arbeit fortzusetzen.
Eine dialektische Feerie. URSPRUNG DES DEUTSCHEN Erstaunlich ist, welche Produktivität Benjamin unter
TRAUERSPIELS, EINBAHNSTRASSE und eine Überset- den ungünstigen Bedingungen an den Tag legt. So ge-
zung von Auszügen aus Louis Aragons Le paysan de hören zu den Arbeiten des Exils einige der Texte, die
Paris erscheinen. Pläne, Schalem in Palästina zu besu- im Mittelpunkt der posthumen Benjamin-Wirkung
chen. Haschischversuche in Marseille. Zeitweilige stehen: der Kunstwerkaufsatz, die BERLINER KINDHEIT
Rückkehr nach Berlin in die Delbrückstraße. Erste und die Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GE-
Gedanken zu DER ERZÄHLER. Wohngemeinschaft mit SCHICHTE.
Asja Lacis. Das Exil steht ganz wesentlich im Zeichen des Insti-
1929: PROGRAMM EINES PROLETARISCHEN KINDER- tuts für Sozialforschung, da dieses Benjamins einzige
THEATERS entsteht. DER SüRREALISMUS und ZuM finanzielle Absicherung darstellt. Die Zeitschrift des
BILDE PROUSTS erscheinen in der Literarischen Welt. Instituts erscheint zunächst noch, weitgehend in deut-
Verschiebung der Palästina-Reise, die nie durchgeführt scher Sprache, in Paris. Die Passagenarbeit wird als
wird. Bekanntschaft mit Brecht. Toskanareise; das Forschungsprojekt des Instituts betrachtet.
Denkbild SAN GIMIGNANO entsteht. Rundfunktätig- Trotz Benjamins vorangegangenen Bemühungen
keit. Auszug aus der Delbrückstraße wegen Eheschei- um Kulturvermittlung kommen keine tragenden Ver-
dungsprozeß. bindungen zu französischen Intellektuellenkreisen
1930: Aufenthalte in Paris und Berlin. Scheidung. See- zustande. Insofern bleibt Benjamin eher ein deutscher
reise nach Norwegen, Finnland und zum Polarkreis. emigrierter Gelehrter und Beobachter der französi-
Es entsteht der Reisebericht NoRDISCHE SEE. Tod der schen Verhältnisse denn ein aktiv Beteiligter.
Mutter. In Paris konzipiert Benjamin die Passagenarbeit neu.
1931: Depression. Aufenthalte in Berlin und Paris. Ar- Ebenso arbeitet er zusammen mit Jean Selz an einer
beit an DIE AUFGABE DES KRITIKERS, KLEINE GE- französischen Fassung der BERLINER KINDHEIT UM
SCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE und KARL KRAUS. lcH NEUNZEHNHUNDERT, die jedoch nicht zustandekommt.
PACKE MEINE BIBLIOTHEK AUS und DER DESTRUKTIVE Bis 1938 erweitert und überarbeitet er die deutsche
CHARAKTER erscheinen. Fassung.
1932: Ibizaaufenthalt alsübergangzum Pariser Exil. Benjamins Lebens- und Publikationsbedingungen
Arbeit an der BERLINER CHRONIK bzw. an der BERLI- bewegen sich im Pariser Exil ständig am Rande des
NER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT. Regelmäßige finanziellen Existenzminimums. Weder hat er einen
Treffen mit Felix Noeggerath. Selbstmordabsichten. bequemen Wohnsitz, noch vergräbt er sich in der Bi-
Reise nach Nizza. Geplanter Selbstmord und Ab- bliotheque Nationale, um sich voll und ganz der Fer-
schiedsbriefe, die nicht abschickt werden. Allgemeine tigstellung der Passagenarbeit zu widmen. Ortswech-
Exil 7

sel, die auf materielle Not und nicht auf die alte Lust Abschluß der im August 1931 begonnenen DENKBIL-
des Reisens zurückzuführen sind, führen ihn mehrfach DER.
nach San Remo, wo er in der Pension seiner geschie- 1934: Arbeit in der Bibliotheque Nationale an den
denen Frau kostenlos Unterkunft findet. Benjamin hält Passagen, neue Schematisierung nach Konvoluttiteln
sich erneut auf Ibiza auf, weil er dort seinen Lebens- liegt vor. PROBLEME DER SPRACHSOZIOLOGIE wird fer-
unterhalt mit geringen Mitteln bestreiten kann, und tiggestellt. Beschäftigung mit dem Essay JoHANN JA-
er besucht Brecht in Dänemark. In Paris bezieht er KOB BACHOFEN. DER AUTOR ALS PRODUZENT entsteht.
immer wieder andere, oftmals beengende Wohnungen, Aufenthalt in Skovsbostrand bei Brecht.
teils zur Untermiete. 1935: Planung des Aufsatzes über Eduard Fuchs für
Es fällt schwer, sich ein konkretes Bild davon zu ma- die Zeitschrift für Sozialforschung. Reise nach Monaco
chen, welche der eigenen Arbeiten und Bücher Benja- und Nizza. Intensivere Planung des Passagenwerks,
min unter diesen Bedingungen zur Verfügung standen. Fertigstellung des Exposes PARIS, DIE HAUPTSTADT DES
Als Benjamin Berlin verläßt, bringt er seine Bibliothek XIX. JAHRHUNDERTS. Fertigstellung von DAs KuNsT-
vorübergehend bei Brecht in Dänemark unter. Dies WERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODU-
verursacht unter anderem Schwierigkeiten für die Ar- ZIERBARKElT. Bekanntschaft mit dem Theologen Fritz
beit am Katka-Aufsatz. So muß Benjamin Robert Lieb.
Weltsch, den Chefredakteur der Jüdischen Rundschau, 1936: Arbeit am Passagenwerk Der Aufsatz DER ER-
bei der der Katka-Essay erscheinen soll, darum bitten, ZÄHLER erscheint. Aufenthalt bei Brecht in Dänemark.
ihm die Katkaliteratur leihweise zur Verfügung zu stel- Die Briefsammlung DEUTSCHE MENSCHEN wird unter
len (vgl. II, 1160). Die Anschaffung neuer Bücher er- dem Pseudonym Detlef Holz veröffentlicht. Reisen
laubt Benjamins finanzielle Situation nicht. Statt des- nach San Remo und - gemeinsam mit seinem Sohn
sen ist er gezwungen, einige seiner Bücher zu verkau- - nach Venedig.
fen. Zudem entfallen die Rezensionsexemplare der 1937: Der Essay über Carl Gustav Jochmann DIE
Verlage. RücKSCHRITTE DER PoESIE wird abgeschlossen. Arbeit
In dieser Situation, in der Benjamin das Publizieren an DAS PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE,
stark erschwert ist, bieten die Briefwechsel und die veröffentlicht wird später CHARLES BAUDELAIRE. EIN
Aufzeichnungen von Gesprächen mit Brecht, Adorno, LYRIKER IM ZEITALTER DES HOCHKAPITALISMUS. Plan
Karl Thieme oder Hesse die Möglichkeit, wichtige Ge- einer Arbeit über das archaische Bild in Auseinander-
danken festzuhalten (vgl. VI, 523-542). setzung mit Ludwig Klages und Carl Gustav Jung.
Auch seinen letzten Text, die Thesen ÜBER DEN BE- 1938: Umzug in das letzte Pariser Domizil: 10, rue
GRIFF DER GESCHICHTE, kann Benjamin ZU Lebzeiten Dombasle. Weiterhin Arbeit am Baudelaire und an der
nur einigen Freunden, wie etwa Hannah Arendt, an- BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT. Einrei-
vertrauen. Die Thesen erscheinen erstmals 1942 in chung eines von Andre Gide, Jules Romains und Paul
dem hektographierten Band Walter Benjamin zum Valery unterstützten Gesuches zur Erlangung der fran-
Gedächtnis, der von Adorno als Sonderausgabe der zösischen Nationalität. Beginn der Notizen zu ZEN-
Zeitschrift for Sozialforschung herausgegeben wird. TRALPARK als Fortsetzung des Baudelaire-Buches.
Benjamins letzter Text erhält den Status eines >Ver- Häufige Treffen mit Georges Bataille und Pierre Klos-
mächtnisses<, das im Wettlauf mit Hitlers Vernich- sowski. Reise nach Skovsbostrand zu Brecht und nach
tungsapparat entsteht. Anstoß für die Konzeption der Kopenhagen.
Thesen ist der Hitler-Stalin-Pakt. 1939: Ausbürgerung aus Deutschland. Weitere Auf-
Der Text ist eine ungeheuer verdichtete und feinge- zeichnungen zu ZENTRALPARK. Regelmäßige Diskus-
fügte Programmschrift, in der sich in der letzten sionsabende mit Hannah Arendt und ihrem späteren
Stunde alles zusammendrängt. Wie testamentarisch an Ehemann Heinrich Blücher. Versuch, über Scholem
die Nachwelt gerichtet sind diese Reflexionen über das ein Visum für Palästina zu erhalten. Arbeit an der drit-
Schreiben von Geschichte: der Intellektuelle stellt die ten Fassung des Kunstwerkaufsatzes. Hoffnung auf
Schrift der Zukunft anheim. eine Übersiedelung in die USA, Planung des Verkaufs
von Klees Angelus Novus. Nichtangriffspakt zwischen
1933: LEHRE VOM ÄHNLICHEN entsteht. Erneuter Auf- Hitler und Stalin: Benjamins Thesen ÜBER DEN BE-
enthalt auf Ibiza. Benjamin geht endgültig ins Pariser GRIFF DER GESCHICHTE entstehen. Ausbruch des Zwei-
Exil. Liebe zu der niederländischen Malerin Annema- ten Weltkriegs. Internierung in Clos St. Joseph, Nevers.
rie (Toet) Blaupot ten Cate, für sie schreibt er AGESI- Rückkehr nach Paris, eine erneute Internierung kann
LAus SANTANDER. Rückkehr nach Paris, schwere Ma- verhindert werden.
lariaerkrankung. Wiederholte Treffen mit Horkheimer. 1940: Vergeblicher Versuch der früheren Ehefrau Dora,
8 Zeit und Person

ihn zur Ausreise nach London zu überreden. Beantra- reise, gestatten ihm aber, vermutlich wegen seines
gung eines Einreisevisums für die USA. Fehlgeschla- schlechten Gesundheitszustands, die Nacht über in
gener Fluchtversuch in die Schweiz (6, 472-474). dem Grenzort Port Bou zu bleiben. Benjamin quartiert
Flucht vor den aufrückenden deutschen Truppen nach sich im H6tel de Francia ein. Dort wird offenbar schon
Lourdes, dann nach Marseille, wo er sich um ein Aus- schnell der Arzt zu dem schwer herzkranken Benjamin
reise- und ein Transitvisum für Spanien bemüht. Ben- gerufen. Soweit rekonstruierbar, nimmt sich Benjamin
jamin erhält nach Adornos Bemühen ein Einreisevi- in der Nacht mit einer Oberdosis Morphium das Le-
sum für die USA, aber kein Ausreisevisum für Frank- ben. Schriftstücke, die Benjamin in einer Aktentasche
reich. Das wird ihm an der spanischen Grenze zum bei seinem Fluchtversuch mit sich geführt hatte und
Verhängnis. Benjamin trifft zu Fuß in Port Bou ein. die er in die USA hatte mitnehmen und retten wollen,
Spanische Grenzwächter verweigern ihm wegen des sind verschollen.
fehlenden Ausreisevisums aus Frankreich die Durch-
9

2. Quellen und Hilfsmittel der Benjamin-Forschung

Die Edition des Werks und der Briefe Ergänzt wird die Ausgabe durch drei Bände, die die
Von Nadine Werner von Benjamin übersetzten Texte enthalten (Supple-
ment 1-III, 1987, 1999).
Mit der Edition der Gesammelten Schriften wurde eine Eine Sonderstellung in der Edition nehmen die
Basis geschaffen, die die zahlreichen vorangegangenen Bände sechs und sieben ein. Der Band sechs stellt zum
Auswahlbände ersetzt und bis zum Erscheinen der einen Fragmente bereit. »Ausschlaggebend bei der
Kritischen Gesamtausgabe die Grundlage jeder wis- Auswahl waren«, wie es in den Anmerkungen der Her-
senschaftlichen Beschäftigung mit Walter Benjamin ausgeber heißt, »erkennbare gedankliche oder konzep-
bildet. Die Ausgabe, die in ihrer Konzeption und den tionelle Selbständigkeit und der rudimentäre, oft weit
Grundsätzen der Textrevision noch von Adorno und und dennoch nicht bis zum optimalen Grad stilisti-
Scholem mitbestimmt ist, wurde von RolfTiedemann scher und gedanklicher Durcharbeitung gediehene
und Hermann Schweppenhäuser als Hauptherausge- Formcharakter der einzelnen Stücke« (VI, 625). Diese
ber betreut (vgl. den Editorischen Bericht, I, 749-796). werden nicht chronologisch aufgeführt, sondern nach
Sie stützt sich auf den gesamten Nachlaß und verzeich- inhaltlichen Kategorien wie beispielsweise Sprachphi-
net auch jene Nachlaß-Texte, die nur auszugsweise losophie und Erkenntniskritik, Literaturkritik oder
publiziert wurden. In der genauen Entzifferung und Ästhetik. Des weiteren enthält dieser Band verschie-
Erschließung dieser Nachlaß-Texte liegt eine außeror- dene autobiographische Schriften wie Lebensläufe,
dentliche editorische Leistung vor. Tagebuchaufzeichnungen oder die BERLINER CHRO-
Die Edition der Gesammelten Schriften begann 1972 NIK. Zusätzlich finden sich im Anhang Protokolle zu
mit dem Erscheinen des dritten Bandes (Kritiken und den Drogenversuchen.
Rezensionen) und des aus zwei Teilbänden bestehenden Einige verlorengeglaubte, unbekannte oder unzu-
vierten Bandes (Kleine Prosa, Baudelaire-übertragun- gängliche Texte wurden erst im Verlauf der Arbeit an
gen). Die >Kleine Prosa< umfaßt Texte wie die EIN- der Edition der Gesammelten Schriften aufgefunden.
BAHNSTRASSE, die BERLINER KINDHEIT, DEUTSCHE Insofern diese Texte nicht mehr in die Bände integrier-
MENSCHEN, Denkbilder, Berichte, Hörmodelle, Satiren, bar waren, denen sie nach sachlichen Gesichtspunkten
Polemiken, Glossen und Miszellen. Zwei Jahre später, zuzuordnen wären, wurden diese in die beiden Teil-
1974, wurde der erste Band in drei Teilbänden heraus- bände des siebten Bandes aufgenommen. Neben der
gegeben: Abhandlungen. Dieser beinhaltet größere zweiten Fassung des Kunstwerkaufsatzes und der Fas-
Arbeiten Benjamins, wie DER BEGRIFF DER KuNSTKRI- sung letzter Hand der BERLINER KINDHEIT wurden
TIK IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK, die Wahlverwandt- hier auch das Verzeichnis der gelesenen Schriften und
schaften-Arbeit, das Trauerspiel-Buch, den Kunstwerk- eine Bibliographie der zu Lebzeiten gedruckten Arbei-
aufsatz, aber auch die Baudelaire-Texte und die Thesen ten zugänglich gemacht. Zudem finden sich in diesem
ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE. 1977 folgten Band Nachträge zu den Anmerkungen der Bände eins
mit den drei Teilbänden des zweiten Bandes (Aufsätze, bis sechs. Der Band enthält außerdem die alphabeti-
Essays, Vorträge) frühe Arbeiten zur Bildungs- und schen Verzeichnisse der abgeschlossenen Schriften, der
Kulturkritik, metaphysisch-geschichtsphilosophische Fragmente und der Gedichte am Ende des zweiten
Studien, literarische und ästhetische Essays, ästhetische Teilbandes. Erwähnt sei zudem der abschließende Be-
Fragmente, Vorträge, Reden, Enzyklopädieartikel, kul- richt zur Edition (VII, 883-885) und die Hinweise auf
turpolitische Artikel und Aufsätze. Der zweiteilige Korrekturen in späteren Auflagen (VII, 885 in der Ta-
fünfte Band (Das Passagen-Werk) versammelte 1982 schenbuchausgabe).
erstmals die im Zusammenhang der Passagenarbeit Mit den Gesammelten Schriften kann das Benjamin-
entstandenen Texte. Erst 1985 erschien der sechste Handbuch auf eine so gut wie vollständige, philologisch
Band (Fragmente, Autobiographische Schriften). Den genaue Textgrundlage zurückgreifen. Sie befolgt das
Abschluß dieser Benjamin-Edition bildeten 1989 die Prinzip einer Aufteilung nach Gattungen bzw. Text-
beiden Teilbände des siebten Bandes (Nachträge). sorten, das nicht immer schlüssig erscheint. Zudem
10 Quellen und Hilfsmittel der Benjamin-Forschung

sind die umfangreichen Anmerkungsapparate jeweils Briefwechsel mit Hannah Arendt (Text und Kritik
am Ende des Bandes und somit vom Text getrennt 166/167 [2005], 58-66), sowie weitere Briefwechsel mit
angeordnet. Dieser Aufbau hat zur Folge, daß sich der Hermann Hesse, Fritz Lieb, Siegfried Kracauer, Max
Benutzer bei der Lektüre zum Teil in drei Abteilungen Horkheimer, Paul Häberlin, Margarete Steffin, Toet
der Edition umsehen muß: Es sind die Anmerkungs- Blaupot ten Cate, Carl Linfert, Asja Lacis, Alfred Cohn
apparate der einzelnen Bände hinzuzuziehen, insofern oder Gretel Karplus (vgl. die Auflistung bei Momme
sie zusätzliche Texte- etwa Paralipomena- enthalten. Brodersen [2005]: Walter Benjamin, Frankfurt a.M.,
Zudem finden sich in der (unvollständigen) Edition 145 f.).
der Fragmente in Band sechs auch Texte, die ins Um-
feld einzelner in den ersten vier Bänden publizierter
Arbeiten gehören. Darüber hinaus enthalten die bei- Bibliographien
den Teilbände des siebten Bandes nochmals Nachträge Von Sarah Steifen und Nadine Werner
zu den Bänden eins bis sechs.
Trotz der Fülle an Nachträgen in Band VII gibt es Angesichts der kaum mehr überschaubaren For-
weiterhin Texte, die nicht in die Gesammelten Schriften schungsproduktivität, die Benjamins Werk internatio-
aufgenommen wurden. Außerhalb der Gesamtausgabe nal inzwischen ausgelöst hat, sind Bibliographien zu
wurden unter anderem folgende Texte Benjamins pu- einem unverzichtbaren Hilfsmittel geworden.
bliziert: Die nach dem Fundort benannte Gießeuer
Fassung der BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUN- 1. Klaus-GuntherWesseling (Hg.) (2003): Walter Ben-
DERT, die vom Theodor W. Adorno Archiv und Rolf jamin. Eine Bibliographie, Nordhausen, 807 Seiten.
Tiedemann herausgegeben wurde (Frankfurt a. M. Wesseling legt die aktuellste und umfangreichste
2000 mit einem Nachwort von Ralf Tiedemann), und Bibliographie vor. Sie verzeichnet sowohl Benjamins
>>Neue Baudelairiana«, ein Literaturbrief an Max Schriften als auch die Sekundärliteratur von 1921 bis
Horkheimer, sowie >>Notizen zu einer Arbeit über die 2004.
Kategorie der Gerechtigkeit<<, die im vierten Band der Nach einer biographischen Einleitung folgt der erste
von Rolf Tiedemann herausgegebenen Frankfurter Teil der unkommentierten Bibliographie. Dieser erfaßt
Adorno Blätter (München 1992) veröffentlicht wurden Texte von Benjamin wie folgt:
(zu neueren Funden siehe auch Reinhard Müller/Erd- A. Selbständige Veröffentlichungen (zu Lebzeiten
mut Wizisla [2005]: >>Kritik der freien Intelligenz<<. und posthum)
Walter Benjamin-Funde im Moskauer »Sonderarchiv<<, B. Unselbständige Veröffentlichungen (ebenfalls zu
in: Mittelweg 36, H. 4, 61-76). Lebzeiten, Gemeinschaftsarbeiten und posthum).
Die Edition der Gesammelten Schriften bildet auch Diese Abschnitte verzeichnen die Texte chronolo-
die Textgrundlage für die zahlreichen neueren Über- gisch nach dem Publikationszeitpunkt. Unter den
setzungen der Werke Benjamins in andere Sprachen unselbständigen Veröffentlichungen werden zusätzlich
(s. dazu Klaus-Gunther Wesseling (Hg.): Walter Ben- nachgelassene Manuskripte und Fragmente, Samm-
jamin. Eine Bibliographie, Nordhausen 2003, 299- lungen und Teilausgaben, Gesamtausgaben, Brief-
387). Die ebenfalls von RolfTiedemann und Hermann wechsel, Hörbücher und schließlich Online-Titel er-
Schweppenhäuser besorgte italienische Ausgabe (Opere faßt, welche alphabetisch angeordnet sind. In dem mit
complete di Walter Benjamin bei Einaudi) enthält ver- >Briefwechsel< überschriebenen Abschnitt sind ledig-
schiedentlich neue Kommentierungen, die sich nicht lich Briefe von Benjamin verzeichnet, obwohl auch
mit denen der Edition der Gesammelten Schriften dek- Briefwechselabdrucke vorliegen.
ken. A. Strukturierte Bibliographie der fremdsprachigen
Seit 1995 ersetzt die sechsbändige Ausgabe der Briefe Ausgaben von Benjamins Werken.
Walter Benjamins, herausgegeben von Christoph Der zweite Teillistet die Sekundärtexte wie folgt
Gödde und Henri Lonitz, die alte, von Adorno und auf:
Schalem edierte Ausgabe von 1966. Einige nach Ab- A. Chronologische Bibliographie (diese enthält auch
schluß der Edition aufgefundene Briefe finden sich in Titel ohne bibliographische Angaben, Abbildungen,
Band 6 auf den Seiten 487-502. Zudem wurden die Photographien etc., Dichtungen zu und für Walter
Briefwechsel Benjamins mit Schalem (Frankfurt a. M. Benjamin sowie eine Filmographie).
1980), mit Adorno (Frankfurt a.M. 1994) und mit B. Online-Literatur, also im Internet veröffentlichte
Gretel Adorno (Frankfurt a.M. 2005) gesondert pu- Sekundärtexte.
bliziert. Weitere Briefe an Benjamin sind nur zum Teil Wesselings Bibliographie verfügt über ein Perso-
und verstreut veröffentlicht worden, unter anderem nen-, Sach- und Titelregister.
Bibliographien 11

Zusätzlich zu den bibliographischen Angaben fin- Wirkung (Bibliographien, Monographien und Sam-
den sich im ersten Teil der Bibliographie Informatio- melbände); anschließend Sonderhefte und -beilagen
nen rund um die Texte anhand eines sehr differenzier- von Zeitschriften und Zeitungen, unveröffentlichte
ten Ordnungsschemas. Jedem aufgeführten Text wer- Hochschulschriften und unselbständig erschienene
den hierbei folgende Angaben vorangestellt: Die ersten Studien. Des weiteren werden Vor- und Nachworte,
beiden Numerierungen des Eintrags verweisen auf die Lexikonartikel und Sammelrezensionen erfaßt.
Bibliographie der zu Lebzeiten gedruckten Arbeiten in Zuletzt folgen Wiederabdrucke erstmals vor 1983
den Gesammelten Schriften Bd. VII, 477-519 und auf erschienener Beiträge, Nachträge zur Bibliografia cri-
seine Auflistung in Memme Brodersens Walter Benja- tica generale (bis 1982) von Momme Brodersen und
min -Eine kommentierte Bibliographie aus dem Jahre Nachträge der im Jahre 1993 erschienen Literatur.
1995. Die dritte Rubrik benennt die Textgattung und Nützlich ist diese Bibliographie vor allem durch ihre
eine vierte verweist im Fettdruck auf die (Wieder-) Kommentare und ihren Registerteil - erfaßt werden
Veröffentlichung in den Gesammelten Schriften. Falls die Autoren der aufgenommenen Einträge sowie
Benjamin unter einem Pseudonym veröffentlicht hat, Werke, Begriffe und die in den Titeln genannten Na-
wird dies in einer eigenen Kategorie erwähnt. Eine men.
sechste und letzte Rubrik verweist auf zum Text zu-
gehörige editorische Notizen in den Gesammelten 2b. Reinhard Markner/Ludger Rehm (1999): >>Biblio-
Schriften. Dieses Ordnungsschema vermittelt sehr graphie zu Walter Benjamin (1993-1997)<<, in: Klaus
komprimiert eine Fülle an Informationen. Da dies auf Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Interna-
kleinstem Raum geschieht, entsteht allerdings ein un- tionaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 3, Mün-
übersichtliches Gesamtbild. chen, 1849-1916.
Wesselings umfassende Bibliographie inkorporiert Markner und Rehm dokumentieren in ihrer un-
den Titelbestand der zuvor erschienenen Bibliogra- kommentierten Bibliographie die von 1993 bis 1997
phien. Dennoch können diese eine wichtige Ergänzung erschienene Literatur über Benjamin. Sie schließt an
sein, da sie durch ihre unterschiedlichen Schwerpunkt- die 1993 erschienene Bibliographie von Markner und
setzungen bestimmte Teilaspekte der Benjaminfor- Weber an und orientiert sich auch an deren Gliede-
schung auf besondere Weise beleuchten und nützliche rung.
Register und Kommentare bieten. Aus diesem Grund Auch durch ihren ausführlichen Wegweiser zu for-
werden im folgenden weitere Bibliographien aufge- schungsrelevanten Internetseiten, der ausgewählte
führt. Websites vorstellt und kommentiert, ist diese Biblio-
graphie immer noch von Interesse, besonders da die
2a. Reinhard Markner/Thomas Weber (Hg.) (1993): Online-Literatur in Wesselings Bibliographie nicht so
Literatur über Walter Benjamin. Kommentierte Biblio- ausführlich dargestellt ist. Darüber hinaus ist eine ei-
graphie 1983-1992, Hamburg, 310 Seiten. gene Rubrik für die große Anzahl von Zeitschriften
Die kommentierte Bibliographie versteht sich als (-Sonder heften) mit dem Schwerpunkt Walter Benja-
Grundlage, die überlieferungsgeschichte Benjamins min angelegt.
kritisch zu betrachten. Deshalb bewegen sich die Kom-
mentare zwischen Rezension und Regeste. Nicht alle 3. Momme Brodersen (1995): Walter Benjamin- Eine
Einträge sind kommentiert, es wird insbesondere zu kommentierte Bibliographie, Morsum, Sylt, 311 Sei-
den Monographien Stellung genommen. Außerdem ten.
bemüht sich die Bibliographie darum, die wichtigsten Die 1995 von Brodersen publizierte kommentierte
Autoren mindestens einmal im Kommentar zu berück- Bibliographie umfaßt ausschließlich Veröffentlichun-
sichtigen und zu einzelnen Themenbereichen Benja- gen von Benjamins Schriften, sowohl zu Lebzeiten als
mins einen Einblick in die Rezeption zu bieten. auch posthum bis zum Jahr 1990. Zu diesem Zeitpunkt
Im Unterschied zu Wesselings Bibliographie werden waren die Gesammelten Schriften, ediert von Tiede-
hier in einem eigenen Abschnitt »Kontextstudien<< mann und Schweppenhäuser, bereits vollständig ver-
Applikationen und Fortschreibungen dokumentiert, öffentlicht. Besonderes Merkmal der Bibliographie ist
die mit den Texten Benjamins arbeiten oder ihn zu die umfassende Auflistung fremdsprachiger Benjamin-
Vergleichszwecken ins Spiel bringen. In ihrem forma- Ausgaben.
len Aufbau verzichtet die Bibliographie auf inhaltlich Die Bibliographie ist folgendermaßen unterteilt:
an Benjamin angelehnte Rubriken. Zunächst findet A. Gesammelte Schriften; B. Sammlungen; C. Einzel-
man Bücher, Darstellungen und Dokumente zu Ben- werke; D. Benjamin als Übersetzer (selbständig und
jamins Biographie; im Hauptteil Studien zu Werk und unselbständig erschienene Publikationen); F. Briefe
12 Quellen und Hilfsmittel der Benjamin-Forschung

und Briefwechsel; G. Übertragungen der Schriften Einführungen und Materialien


Benjamins (nach dem Alphabet der Sprachen unter- Von Katharina Weber
teilt). Die einzelnen Abschnitte Iisten die Schriften in
der chronologischen Folge ihres Erscheinens auf. Ziel der folgenden kommentierten Auflistung von Ein-
Ein sehr ausführliches Register erfaßt Werke, Titel führungen und Materialien zu Benjamin ist es nicht,
der Übersetzungen, Briefempfänger, Rezensionen, Na- eine vollständige bibliographische Übersicht zu bieten.
men und Periodika. Vielmehr handelt es sich um eine Auswahl grundle-
gender Werke.
4. Momme Brodersen (1984): Walter Benjamin: Biblio- Folgende im Anschluß angeführten Publikationen
grafia critica generale (1913-1983), Palermo, 189 Sei- enthalten im größeren Umfang historische Photogra-
ten. phien und faksimiliertes Quellenmaterial: Brodersen
Brodersens Bibliografia critica generaleist insbeson- (1990), Marbacher Magazin (1990), Puttnis/Smith
dere für den an der italienischen Rezeption Benjamins (1991), Scheurmann (1992), van Reijen/van Dorn
Interessierten eine wertvolle Quelle, da ihr Schwer- (2001).
punkt bei den italienischen Publikationen im Zeit- Außerdem sei noch hingewiesen auf: Detlev Schött-
raum von 1913 bis 1983 liegt. Zum Zeitpunkt ihres ker (Hg.) (2004): Schrift Bilder Denken. Walter Benja-
Erscheinens war die deutsche Ausgabe der Gesammel- min und die Künste, Berlin/Frankfurt a.M.; Erdmut
ten Schriften noch nicht vollständig erschienen. Wizisla (2004): Benjamin und Brecht. Die Geschichte
Die Bibliographie ist in zwei chronologisch geord- einer Freundschaft, Frankfurt a.M.
nete Abschnitte unterteilt: 1. Benjamins Werke in den
Kategorien >>Werkeditionen<<, >>Einzelausgaben<<, Über- Einführungen
setzungen, Autobiographische Schriften, Übersetzun- Uwe Steiner (2004): Walter Benjamin, Stuttgart/Wei-
gen ins Italienische, und 2. Schriften über Walter Ben- mar.
jamin. Das Register der Bibliographie ist ein reines Diese solide und fundierte Einführung kann als
Namensregister. Standardwerk für diejenigen gelten, die einen ersten
Zugang zu Benjamins Denken finden wollen. Vorran-
5. Burkhardt Lindner (1971/1979): Kommentierte gig werden hier Benjamins Schriften in ihren biogra-
Übersicht zur Lebens- und Wirkungsgeschichte Ben- phischen und soziokulturellen Kontext eingeordnet.
jamins, in: Text und Kritik 31/32, 2. Aufl., 81-92. Dabei wird dicht an den Schriften vorgegangen und
Lindners kommentierte Bibliographie erschien erst- deren Entstehungs- und Bedeutungszusammenhang
mals 1971, also etwa parallel zum Beginn der Heraus- erläutert.
gabe der Gesammelten Schriften. Sie spiegelt die erste
Rezeptionsphase der Benjaminsehen Schriften wider David S. Ferris (Hg.) (2004): The Cambridge Campan-
und bietet eine Einführung in Benjamins Werk, welche ion to Walter Benjamin, Cambridge.
die Schriften von und über Walter Benjamin vorstellt. Es handelt sich um eine Aufsatzsammlung, in der
Der Teil zur Sekundärliteratur ist nach thematischen fast ausschließlich die englisch-amerikanische Benja-
Schwerpunkten im Werk Benjamins gegliedert, wie minrezeption berücksichtigt wird. Aspekte von Ben-
z. B. politische Philosophie, Sprachtheorie, Messianis- jamins Gesamtwerk werden unter den übergreifenden
mus. Diese Einteilung macht sie zu einem noch immer Begriffen Kunst, Sprache, Mimesis, Geschichte, Ro-
nützlichen Handwerkszeug, da sie ein gezieltes thema- mantik, Avantgarde und Dialektik behandelt.
tisches Suchen nach übergeordneten Begriffen in Ben-
jamins Werk ermöglicht. Zudem setzt sich die Biblio- Sven Kramer (2003): Walter Benjamin zur Einführung,
graphie in einer eigenen Rubrik ausführlich mit der Hamburg.
Edition der Schriften Benjamins auseinander. Diese nach Themen strukturierte Einführung wid-
Gegliedert ist diese Bibliographie in fünf Abschnitte: met sich Benjamins Sprachtheorie, Medientheorie,
I. Bibliographien, II. Werke, III. Briefe, IV. Nachlaß und Geschichtstheorie, Ästhetik und Erkenntnistheorie.
V. Sekundärliteratur. Diese inhaltlichen Schwerpunkte werden in den Schaf-
fensperioden Benjamins verortet Innerhalb der the-
matisch geordneten Kapitel werden Benjamins be-
kannteste Begriffe (wie mimetisches Vermögen, Kritik,
Aura) behandelt.
Einführungen und Materialien 13

Bruno Tackels (2001): Petite introduction ii Walter Ben- tet in den Fließtext, der in einer größtenteils biogra-
jamin, Paris. phisch geordneten Erzählung die Ausstellungsstücke
Diese bei L'Harmattan in der >>Collection Estheti- und ihren Kontext näher erläutert. Weiterhin ist ein
ques<< erschienene französische Einführung stellt Pharus-Plan der Stadt Berlin zu Benjamins Zeiten bei-
Hauptlinien des Benjaminsehen Werks durch drei gelegt, in welchem Benjamins Wohnorte markiert
Schwerpunktsetzungen dar: Sprachtheorie und -kritik, sind.
Kunst und Reproduzierbarkeit, Geschichtsphiloso-
phie. Hans Puttnis/Gary Smith (Hg.) (1991): Benjaminiana:
eine biographische Recherche, Giessen [im Zusammen-
Norbert Bolz/Willern van Reijen (1991): Walter Ben- hang mit der Ausstellung >>Bucklicht Männlein und
jamin, Frankfurt a. M. Engel der Geschichte, Walter Benjamin, Theoretiker
Diese Einführung ist thematisch geordnet und legt der Moderne<< vom 28.12.1990-28.4.1991 in Berlin].
ihren Schwerpunkt auf die Sprachphilosophie. Nah an Dieser außerordentlich schön gestaltete Band ver-
Benjamins Texten werden sein Vorgehen als Autor, sammelt viele Benjamin-Materialien, die in der Sekun-
seine >inverse und politische Theologie<, der Begriff därliteratur selten zu finden sind: >>Zeugnisse eines
der Allegorie, seine Geschichtsphilosophie, Erkennt- lebendigen Judentums, Exilszenen, Klatsch, Briefe und
nistheorie, der anthropologische Materialismus und Kleingedrucktes zu Charakter und Werk<<, wie es im
die Medienästhetik abgehandelt. Abschließend wird Klappentext heißt. Das Buch enthält zahlreiche Pho-
der aktuelle Kontext Benjamins skizziert. tographien, historische Dokomente und Quellen, z. T.
in aufwendigem Farbdruck, sowie Faksimiles Benja-
Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.) (2000): Benja- minscher Texte.
mins Begriffe, 2 Bde., Frankfurt a. M.
In dieser Veröffentlichung werden von verschiede- Geret Luhr (Hg.) (2000): >>was noch begraben lag<<. Zu
nen Autoren in Aufsätzen 23 Schlüsselbegriffe Benja- Walter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente, Berlin.
mins (wie Aura, Allegorie, dialektisches Bild, Rettung, Hier wird versucht, unter der Verwendung von noch
Schicksal, Zitat) behandelt. Die einzelnen Aufsätze unveröffentlichten Materialien Benjamins Exilzeit
verfolgen jeweils die Ausarbeitung des Begriffs in Ben- insbesondere unter Aspekten des Privaten und Sub-
jamins Gesamtwerk; jedem Artikel ist ein Stellenregi- jektiven zu rekonstruieren. Die Briefe und Berichte,
ster und ein Literaturverzeichnis beigegeben. die an Benjamin gerichtet sind oder von ihm handeln,
stammen unter anderem von Dora und Stefan Benja-
Howard Caygill/ Alex Coles/Andrezej Klimowski min, Asja Lacis, Max Aron, Wilhelm Speyer und An-
(2000): Introducing Walter Benjamin, London. nemarie Blaupot ten Cate. Den Briefen vorangestellt
Dieser Band aus der bekannten Serie englischer ist jeweils ein kurzer Abschnitt über das Verhältnis des
Theorie-Einführungen im Comic-Stil gibt in witzigen Absenders zu Benjamin.
Bildern und prägnanten Zitaten einen pointierten Ein-
blick in Leben und Werk Benjamins und bietet insbe- Albrecht Götz von Oienbusen (1997): >>Der Weg vom
sondere für Benjamin-Kenner und Benjaminianer eine Manuskript zum gedruckten Text ist länger, als er bisher
amüsante Lektüre. je gewesen ist«: Walter Benjamin im Raubdruck 1969
bis 1996, Lengwil am Bodensee.
Materialien und biographische Zeugnisse Diese Veröffentlichung zeichnet die Geschichte der
Marbacher Magazin 55/1990: Walter Benjamin. 1892- Raubdrucke Benjaminscher Texte seit den 1968er Jah-
1940 [Ausstellungskatalog anläßlich der Ausstellung ren nach. Hierbei wird auf eine Einbettung in den
des Theodor W. Adorno Archivs in Verbindung mit gesellschaftlich-historischen Kontext Wert gelegt. Im
dem Deutschen Literaturarchiv, bearb. von Rolf Tie- Anhang befindet sich eine ausführliche Bibliographie
demann, Christoph Gödde u. Henri Lonitz]. von 17 Raubdrucken. Aktualisiert wird diese Rekon-
Der Ausstellungskatalog enthält viele private und struktion in dem 2002 erschienen Handbuch der Raub-
offizielle Briefe und Korrespondenzen sowie Fotos von drucke, ebenfalls von Götz von Olenhusen.
Benjamin, seiner Familie und seinen Freunden, zudem
viele Faksimiles, wie unter anderem Teile aus UR- Dani Karavan/Ingrid Scheurmann/Konrad Scheur-
SPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS und GOETHES mann (Hg.) (1995): Hommage an Walter Benjamin:
WAHLVERWANDTSCHAFTEN, Buchumschläge und Zei- der Gedenkort >>Passagen<< in Portbou, Mainz.
tungsartikel, Zeugnisse, Habilitationsantrag. Briefe Ingrid Scheurmann/Konrad Scheurmann ( 1992):
und Manuskripte finden sich auch teilweise eingebet- Für Walter Benjamin, Frankfurt a.M.
14 Quellen und Hilfsmittel der Benjamin-Forschung

Ingrid Scheurmann (1992): Neue Dokumente zum Siegfried Unseid (Hg.) (1972): Zur Aktualität Walter
Tode Walter Benjamins, Bonn [im Rahmen der Aus- Benjamins, Frankfurt a. M.
stellung »Grenzüberschreitungen. Walter Benjamin - Dieser Sammelband erschien nicht allein aus Anlaß
Leben und Werk<< in Kassel vom 5.12.92-31.1.93]. von Benjamins 80. Geburtstag, sondern auch aus An-
Die Veröffentlichung Für Walter Benjamin anläßlich laß des Beginns der Edition der Gesammelten Schriften.
seines 100. Geburtstags umfaßt neben Artikeln zu Le- Hierzu hatte der Verlagsleiter Unseid eine öffentliche
ben und Werk, Fotos und Faksimiles Zeugnisse von Konferenz ausgerichtet, bei der Türgen Habermas den
Arthur Lehning, Jean Selz, Hans Sahl, Lisa Fittko und Hauptvortrag hielt. Dieser Vortrag sowie die Vorträge
anderen. Auch ein Abschnitt über die Gedenkstätte in von Gershorn Scholem und Hermann Schweppenhäu-
Port Bou ist enthalten. Die Entstehung und Realisie- ser werden hier abgedruckt. Hinzu kommen Inedita
rung dieses Gedenkortes ist auch in dem Band Hom- aus Benjamins Nachlaß sowie Erinnerungen von Wer-
mage an Walter Benjamin dokumentiert, der viele ner Kraft, Arienne Monnier und Hans Sahl. Rolf Tie-
Fotos von Port Bou, der Gedenkstätte und ihrer Um- demanns Bibliographie der Erstdrucke von Benjamins
gebung beinhaltet. In diesem Kontext ist auch die Publi- Schriften schließt den Band ab.
kation der Neuen Dokumente zum Tode Walter Benja-
mins zu nennen, in der sein Aufenthalt in Port Bou Ober Walter Benjamin (1968): Frankfurt a.M.
rekonstruiert wird anhand von Dokumenten, die im In diesem Sammelband finden sich Erinnerungen
Original und in deutscher übersetzungwiedergegeben an Benjamin unter anderem von Ernst Bloch, Theodor
sind: unter anderem der amtliche Bericht des zustän- W. Adorno, Gershorn Scholem, Jean Selz und Max
digen Richters sowie Rechnungen und Belege. Rychner.

Willern van Reijen/Herman van Doorn (2001): Auf- Theodor W. Adorno ( 1990 ): Über Walter Benjamin, 2.,
enthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benja- rev. u. erw. Aufl. Frankfurt a. M.
mins. Eine Chronik, Frankfurt a. M. Der Band ist zweigeteilt und enthält im ersten Ab-
Diese biographisch angelegte Chronik befaßt sich schnitt eine vollständige Sammlung von Adornos
mit den Aufenthaltsorten und Lebensumständen, un- Schriften und Erinnerungen zu Benjamin, die der Au-
ter denen Benjamin seine Schriften verfaßte. Zugleich tor zu verschiedenen Anlässen verfaßt hat, wie unter
werden hier auch Erläuterungen zu seinen Werken und anderem die »Charakteristik Walter Benjamins«, die
viele Fotos von seinen Wohnungen und deren Umge- zu Benjamins zehntem Todestag 1950 erstmals in der
bung integriert. Neuen Rundschau (61, 571-584) veröffentlicht wurde,
oder den »Interimsbescheid«, der 1968 zu den dama-
Momme Brodersen (1990): Spinne im eigenen Netz- ligen Auseinandersetzungen um die Edition und In-
Walter Benjamin, Leben und Werk, Bühl-Moos. terpretation Benjamins Stellung bezieht, sowie bislang
Momme Brodersen (2005): Walter Benjamin, Frank- unveröffentlichte Aufzeichnungen »Zur Interpretation
furt a.M. Benjamins<<. Der zweite Teil umfaßt Auszüge aus Brie-
Die Biographie Spinne im eigenen Netz enthält Fotos, fen, die Adorno an Walter Benjamin richtete.
Zeitungsabschnitte und Notizen als Faksimile, auch
solche, die nicht im Marbacher Magazin oder in der Hannah Arendt (1971): Walter Benjamin. Bertolt
Benjaminiana enthalten sind, wie unter anderem einen Brecht. Zwei Essays, München.
Ausriß aus dem Vertrag mit dem Rowohlt-Verlag. Die Arendt hatte Benjamin in seiner Exil-Zeit kennen-
spätere Biographie ist in die drei Hauptabschnitte Le- gelernt. Sie erhielt von ihm ein Exemplar seiner Thesen
ben, Werk und Wirkung gegliedert und kann als Ein- ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE. In ihrem Essay
führung empfohlen werden. über Benjamin liefert sie nicht nur ein privates Porträt
des Freundes, sondern auch Einblicke in den intellek-
Ingeborg Daube: >>Katalog der Kinderbuchsammlung tuellen Austausch beider.
Walter Benjamin«, in: Klaus Doderer (Hg.) (1988):
Walter Benjamin und die Kinderliteratur, Weinheim, Herbert W. Belmore (1975): »Some Recollection of
247-282. Walter Benjamin«, in: German Life and Literature, 28,
Ingeborg Daube erfaßt und beschreibt in ihrem Bei- 119-127.
trag Benjamins Kinderbuchsammlung, die heute am Benjamins Jugendfreund Belmore blickt in diesem
Institut für Jugendbuchforschung der J. W. Goethe- Text auf die gemeinsam mit Benjamin verbrachte
Universität Frankfurt zugänglich ist. Schulzeit zurück und beschreibt Benjamins damalige
Wesensart.
Das Walter Benjamin Archiv 15

Werner Kraft (1973): Spiegelung der fugend. Mit e. ner Papiere« ( 1, 458) war, belegt der erstaunliche Um-
Nachw. von Jörg Drews. Frankfurt a.M. fang, in dem Benjamins Schriften heute überliefert
In dieser Autobiographie von Kraft findet sich ein sind. Ohne die Hilfe seiner Gefährten und Förderer
längerer Bericht über seine Freundschaft mit Benja- wäre es wohl kaum möglich gewesen, seine Arbeiten
min. -darunter auch zu Lebzeiten unpuhUzierte Texte sowie
Arbeitsunterlagen - über die Jahre zu verwahren und
Asja Lacis ( 1971): Revolutionär im Beruf Berichte über schließlich zusammenzuführen. Benjamin wußte um
proletarisches Theater, über Meyerhold, Brecht, Benja- die Wichtigkeit ihrer Hilfe zur Rettung seiner >>verzet-
min und Piscator, hg. von Hildegard Brenner, Mün- telten Arbeiten<< (4, 394). Gershorn Scholems Samm-
chen. lung seiner Schriften vergleicht er schon im Mai 1933
Dies ist eine Autobiographie der Regisseurin Asja mit einem >>Baum der Sorgfalt, dessen Wurzeln in mei-
Lacis, die eine intellektuelle und erotische Beziehung nem Herzen und dessen Blätter in Deinem Archive sich
mit Benjamin unterhielt. Hier finden sich einige Erin- befinden« (222), und am 4. April1937 dankt er ihm
nerungen an die gemeinsame Zeit seit ihrem Kennen- für die sorgfältige Aufbewahrung seiner Arbeiten.
lernen auf Capri 1924. >>Bange Ahnungen sagen mir, daß eine lückenlose
Sammlung von ihnen heute vielleicht nur unsere ver-
Max Rychner (1952): Sphären der Bücherwelt, Zü- einten Archive darstellen könnten« (5, 506f.).
rich. Wenn auch nicht lückenlos, so doch mit größtmög-
Der Herausgeber der Neuen Schweizer Rundschau, licher Vollständigkeit und weiter kontinuierlich wach-
bei der Benjamin mitarbeitete und mit dem Benjamin send, vereint das Walter Benjamin Archiv- seit April
einen wichtigen Briefwechsel unterhielt, widmet Ben- 2004 als eigenständige Einrichtung der Hamburger
jamin ein Kapitel seines Buches. Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur
in der Akademie der Künste, Berlin, bestehend- etwa
Gershorn Scholem (1975): Walter Benjamin- die Ge- 12.000 Blatt Werkmanuskripte, Notizbücher, Arbeits-
schichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. unterlagen, Drucke, Briefe, Photographien sowie pri-
Scholem schreibt hier Erinnerungen an Benjamin vate und geschäftliche Unterlagen seines Namensge-
von 1915-1940 nieder. Diese Erinnerungen sind un- bers. Die Fülle eng beschriebener, oftmals kleinforma-
verzichtbar für alle, die sich näher mit Benjamins Per- tiger Zettel zeigt detailliert die Entstehungsprozesse
son befassen wollen. der Werke und gibt Einblicke in Benjamins ganz spe-
zifische Arbeitsweise: eine klare Gliederung des Text-
Charlotte Wolff (1971): Innenwelt und Außenwelt. trägers, die Verwendung von Farben, die Anlage zahl-
Autobiographie eines Bewußtseins, München. reicher Verzeichnisse und Schemata sowie differenzier-
Charlotte Wolff (1986): Augenblicke verändern uns ter Verweisungssysteme.
mehr als die Zeit. Eine Autobiographie, Frankfurt Das Archiv bündelt drei Nachlaßteile, deren Be-
a.M. zeichnung sich aus dem Standort der Bestände in der
In diesen beiden Veröffentlichungen erinnert sich Zeit zwischen 1972 und 1996 ergibt:
Charlotte Wolffan Benjamin als Person, an ihr Ken- Der Frankfurter Nachlaßteil umfaßt die Materialien,
nenlernen zu der Zeit, in der Benjamin seinen Aufsatz die Benjamin bei seiner Flucht aus Paris im Juni 1940
ZU GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN schrieb, sowie mit sich nahm und die nach seinem Tod - seinem
an die familiäre Situation, in der sich die Benjamins Wunsch entsprechend - mit Hilfe seiner Schwester
befanden. Dora und des Rechtsanwalts Martin Domke in die
USA zu Theodor W. Adorno überführt wurden. Die-
sem Nachlaßteil sind Unterlagen des Instituts für So-
Das Walter Benjamin Archiv zialforschung sowie zahlreiche Manuskripte, Briefe
Von Ursula Marx und Drucke inkorporiert worden, die Adorno und
seine Frau Gretel von Benjamin empfangen oder nach
Schon früh war sich Benjamin sowohl der Bedeutung dessen Tod gesammelt hatten. Unter der Leitung von
als auch der Gefährdung seiner Schriften bewußt. Um Rolf Tiedemann, dem Direktor des Theodor W.
der Gefahr von Verlusten durch sein unstetes Leben Adorno Archivs von 1985 bis 2001, bildete er darin das
und Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu be- ehemals so bezeichnete Benjamin-Archiv Theodor W.
gegnen, deponierte er sie gezielt bei Freunden und Adorno.
Kollegen. Wie vorausschauend diese Vorgehensweise Der Berliner Nachlaßteil beinhaltet die in Benjamins
»in einer so wichtigen Sache als die Verwahrung mei- letzter Pariser Wohnung verbliebenen Unterlagen, die
16 Quellen und Hilfsmittel der Benjamin-Forschung

1940 vermutlich von der Gestapo beschlagnahmt und von und Briefe an Benjamin aus dem Bestand des ehe-
bei Kriegsende von der Roten Armee in die Sowjet- maligen Sonderarchivs in Moskau, die in Kopie im
union verbracht wurden. Dort verblieben sie im soge- Archiv einzusehen sind. Geplant ist, digitale Repro-
nannten Moskauer Sonderarchiv, bevor sie im Rahmen duktionen von Werkmanuskripten und Briefen aus
von Rückführungsmaßnahmen 1957 an das Deutsche der Benjamin-Sammlung des Scholem-Archivs der
Zentralarchiv in Potsdam gingen. 1972 übergab das Jewish National and University Library in Jerusalem
Zentralarchiv sie an die Akademie der Künste der für die Benutzung bereitzustellen. Schließlich sind
DDR, und 1996 wurden sie aufgrund eigentumsrecht- eine umfangreiche Sammlung postumer Zeitungsaus-
licher Bestimmungen vom Frankfurter Theodor W. schnitte zu Benjamin, Werk-übersetzungen, For-
Adorno Archiv übernommen. Der Bestandsteil setzt schungsliteratur sowie Ton- und Filmaufnahmen
sich zusammen aus einer umfangreichen Korrespon- vorhanden.
denz zwischen 1926 und 1940, einer frühen Hand- Im Vordergrund der Arbeit des Benjamin-Archivs
schrift von DAS PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAU- steht die EDV-gestützte Verzeichnung des Nachlasses
DELAIRE, Arbeiten für den Rundfunk, fremden Manu- und der Sammlungen. Die detaillierte Erfassung und
skripten, Adreßlisten sowie Verträgen und Fotos. vorsichtige Systematisierung des Materials werden
Zum Pariser Nachlaßteil gehören diejenigen Mate- zukünftig eine vernetzte und damit weitaus effizientere
rialien, die 1981 von Giorgio Agamben in der Biblio- Suche innerhalb des Bestandes ermöglichen. Nach
theque Nationale aufgefunden wurden. Georges Ba- Abschluß der Verzeichnung wird der Bestand auch im
taille hatte Texte Benjamins auf dessen Wunsch- u. a. Internet recherchierbar sein.
Sonette auf den Tod Fritz Heinles, Aufzeichnungen Neben der Erschließung des Bestandes ist eine
zum Baudelaire, den Passagen, dem Kunstwerk-Auf- Hauptaufgabe des Archivs die Bestandssicherung.
satz, den KoMMENTAREN ZU GEDICHTEN VON BRECHT Sämtliche Papiere und Dokumente werden restauriert,
sowie einige bedeutende Briefe - nach Benjamins digital reproduziert und als Bilddateien gespeichert.
Flucht aus Paris dort versteckt. Die Bibliotheque Na- Diese Reproduktionen werden perspektivisch eine den
tionale hat sie im Jahr 1997 an die Hamburger Stiftung Originalen weitgehend entsprechende Nutzung der
zur Förderung von Wissenschaft und Kultur überge- Materialien gewährleisten, ohne diese zu gefährden.
ben. Ein Teil dieses Depositums, der 1947 bereits durch Schon jetzt sind alle Manuskripte und Materialien des
Pierre Missac zu Adorno nach New York gelangt war, Walter Benjamin Archivs anhand von Photokopien im
gehört zum Frankfurter Nachlaßteil. Lesesaal des Archivs einsehbar. Originale stehen aus
Daneben finden sich zahlreiche Sammlungsstücke konservatorischen Gründen für Besucher nicht zur
aus Privatbesitz oder anderen Beständen im Archiv. Verfügung. Eine Benutzungsordnung des Archivs der
Dazu gehören u. a. eine frühe Handschrift der BERLI- Akademie der Künste kann auf Wunsch angefordert
NER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT, Korrespon- werden.
denz an Theodor W. und Gretel Adorno sowie aus dem Das Walter Benjamin Archiv unterstützt wissen-
Nachlaß von Florens Christian Rang zahlreiche Briefe schaftliche und journalistische Arbeiten, Ausstellungen
und Postkarten. Diese und ein von Rang annotiertes sowie künstlerische Projekte. Für die neue Kritische
Exemplar von Benjamins Dissertation konnten im Gesamtausgabe der Werke Benjamins, die Christoph
Jahr 2005 für das Archiv erworben werden. Ein Jahr Gödde und Henri Lonitz in Verbindung mit weiteren
zuvor entdeckte Reinhard Müller bislang unbekannte Herausgebern der Einzelbände im Suhrkamp Verlag
handschriftliche Exzerpte, Zeitschriften und Zeitungs- herausgeben, bildet es das Fundament.
ausschnitte, fremde Manuskripte sowie Briefentwürfe
17

3. Rezeptionsgeschichte
Von Thomas Küpper und Timo Skrandies

Die Konstruktion des Autors DER DEUTSCHEN RoMANTIK, URSPRUNG DES DEUT-
aus dem Nachlaß SCHEN TRAUERSPIELS, EINBAHNSTRASSE (beide bei
Rowohlt) und später, pseudonym im Exil: DEuTsCHE
Daß Überlieferung, Rezeption und Wirkung von Ben- MENSCHEN. Verglichen mit dem heutigen Status und
jamins Werk einige Jahrzehnte nach seinem Tod so nun bekannten Umfang des Benjaminsehen CEuvres,
massiv, international und weiterhin anhaltend sein wirkt diese Aufzählung eher nichtssagend. Gleichwohl
würden, war zu seinen Lebzeiten nicht vorhersehbar. wies Adorno darauf hin, daß Benjamin auch zu Leb-
Mehr noch: Seinerzeit wurde Benjamin nicht im Fou- zeiten kein Verkannter war, der erst nach seinem Tod
caultschen Sinne als >>Autor<< (Foucault 2001) in glei- wiederentdeckt worden sei. Benjamins »Qualität
cher Weise mit einem »Werk<< in Verbindung gebracht, konnte nur dem Neid verborgen bleiben; durch publi-
wie es heute selbstverständlich ist. Denn zwar verban- zistische Medien wie die Frankfurter Zeitung und die
den sich als >Gegenstand der Aneignung< (Foucault Literarische Welt wurde sie allgemein sichtbar<<
2001, 1015) mit dem Namen Benjamin einige Publi- (Adorno 1990, 68f., s. auch 101; Brodersen 2004, 71;
kationen- Benjamin war prominenter Mitarbeiter der 2005, 133 f.). Uwe Steiner hingegen ist der Meinung,
Literarischen Welt sowie auch der Frankfurter Zeitung daß Benjamin als Autor zu Lebzeiten »auch in der
und nicht zuletzt mit Vorträgen im Rundfunk ver- Hochzeit seiner journalistischen Präsenz in führenden
nehmbar. So gesehen konnten schon bis 1940 (Benja- Zeitungen und Zeitschriften der Weimarer Republik
mins Todesjahr) einige Texte dem Eigennamen Walter eigentlich nicht bekannt<< war; Gründe dafür seien
Benjamin zugeordnet werden, und es ist kaum abzu- unter anderem »die thematische Heterogenität und
streiten, daß Benjamin - zumal in gewissen die verstreute Publikation seiner Arbeiten, ihre sprach-
»esoterisch[en]<< Kreisen (Scholem 1968, 36)- hohes liehe und gedankliche Komplexität und nicht zuletzt
intellektuelles Ansehen genoß. Allerdings besaß der der fehlende Werkzusammenhang<<. Auch Benjamins
Name Benjamin zu dieser Zeit für eine akademische, Buchpublikationen hätten ihre Wirksamkeit erst nach
wissenschaftliche oder auch kulturelle Öffentlichkeit seinem Tod entfaltet (Steiner 2004, 185). Eine ähnliche
noch keine >Garantie der Einteilung< (im Sinne von Einschätzung findet sich bei Detlev Schöttker: Das
Foucault 2001, 1014). Man kann heute mit dem Au- zeitgenössische Lesepublikum habe sich kein Bild von
tornamen Walter Benjamin Operationen durchführen, Benjamins Produktion machen können (Schöttker
die in diesem Maß damals weder möglich noch erwart- 1999, 19 f.). »Dafür waren die Themen zu unterschied-
bar gewesen wären: Mit einem solchen Namen kann lich, die Publikationen nicht kontinuierlich genug und
man »eine gewisse Zahl von Texten zusammenfassen, auf zu viele Medien und Verlage verteilt. Benjamin
sie abgrenzen und anderen gegenüberstellen. Außer- sprach deshalb [im Briefwechsel mit Scholem] 1935
dem bewirkt er ein In-Beziehung-Setzen der Texte im Hinblick auf seine Schriften selbst von einer >un-
untereinander<< (ebd.). endlich verzettelten Produktion<<< (Schöttker 1992,
Sich für die Frage nach Produktion und Aneignung 269).
des Autors Benjamin (und seines »Werks<<) an das Mo- Wie immer man sich in dieser Diskussion um die
dell Foucaults zu halten, ermöglicht eine Abstand- Bedeutung Benjamins zu Lebzeiten positionieren mag,
nahme von einer im folgenden kurz anzudeutenden, unbestreitbar bleibt, daß wir es heute mit einem an-
langen und bis heute geführten Debatte um Bedeut- deren Autor Benjamin zu tun haben, als dies bis vor
samkeit oder Marginalität Benjamins in den intellek- einigen Jahrzehnten möglich und denkbar war. Die
tuellen Bewegungen etwa der Weimarer Republik. »Legendengestalt<< Benjamin (Schöttker 1999, 119), die
Zahlreiche verstreute Aufträge für verschiedene Zei- in zahlreichen Biographien entworfen wird, erstens,
tungen, Zeitschriften und Radiosender, einige offene, sodann zweitens die Umschichtungen und Ergänzun-
unvollendete Projekte, Übersetzungen, gescheiterte gen des Textkorpus' im Zuge mehrerer editorischer
Publikationsvorhaben, Briefe, vier veröffentlichte Bü- Projekte zwischen 1955 und heute, drittens eine immer
cher ZU Lebzeiten: DER BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN facettenreicher werdende Rezeptionsgeschichte, die
18 Rezeptionsgeschichte

sich von editionsphilologischen oder werkimmanen- zurückzukommen sein). Nicht Siegfried Kracauer (wie
ten Gegebenheiten oft unbeeindruckt zeigt, schließlich ursprünglich mit Benjamin abgesprochen) rezensiert
viertens - quasi auf einer Metaebene - Rezeptionen am 1.6.1924 in der Frankfurter Zeitungdie Benjamin-
und Deutungen der Rezeptionsgeschichte selbst (in sehen Tableaux Parisiens, sondern der >Baudelaire-
Auswahl: Assenova 1994; Garher 1987, 1999, 2005; übersetzer< Stefan Zweig - Benjamin erklärt dazu:
Grossmann 1992; Isenberg 2001; Lienkamp 1992; >>eine Kritik wie sie vielleicht schlechter, nicht aber
Markner 1994; Opitz 1996; Schöttker 1992, 1999; Wag- schädlicher hätte verfaßt werden können<< (2, 459). Die
ner 1990, 1992; und auch: Garvina 1999, zur argenti- Philosophische Fakultät der Frankfurter Universität
nischen Benjamin-Rezeption; Kleiner 1986, zur italie- setzt 1925 ihre institutionelle Macht ein, um Benjamin
nischen; Mitchell1999, zur britischen; Mitsugi 1999, den Weg zu einer Professur zu versperren, indem sie
zur japanischen; Opitz 1999, zu der in der DDR; ihn dazu bringt, das Habilitationsgesuch zurückzuzie-
Pressier 1999 u. Rouanet 1997, zur brasilianischen; Alt hen (vgl. Lindner 1985). 1927 entsteht bei Benjamin
1988; Rumpf 1978, zur Benjamin-Aufnahme in der der Eindruck, daß Rowohlt eine >>bösartige und schein-
Germanistik; polemisch Liessmann 1996). Diese vier bar planmäßige Sabotage des Drucks der Wahlver-
Schichten zusammen ergeben eine Aneignungsge- wandtschaftenarbeit und des Aphorismenbuches<<
schichte, die zugleich eine Geschichte der Konstruk- betreibe (3, 246). 1933, mit dem Beginn des Exils, sind
tion und Konstituierung des Autors (und Menschen) Benjamin viele Publikationsmöglichkeiten bei Zeit-
Benjamin darstellt (Schöttker geht sogar soweit, die schriften und im Rundfunk genommen. Ohne die
Autorproblematik anhand der Foucaultschen Katego- massiven Eingriffe Adornos und Horkheimers in das
rie des >>Diskursivitätsbegründers<< zu erörtern und Baudelaire- und auch das Passagen-Projekt, nicht zu-
findet einleuchtende Belege, vgl. Foucault 2001, letzt in den Kunstwerk-Aufsatz, dürften diese Texte
1021 ff.; Schöttker 1992, 271 f.). durchaus andere Formen und Aussagen bekommen
Das hohe Maß an Ausdifferenzierung und Wider- haben. Diese erweiterbaren Beispiele verweisen auf die
sprüchlichkeit des deutenden Umgangs mit Benjamin andere Seite jener >Konstruktion eines Autors<, auf das
weist auf den heuristischen Status der obigen Formu- Supplement des Produzierten, welches das Positivum
lierung von der einen Geschichte hin, und die folgen- eines Werks selbst als dessen Bedingung produktiv
den Kapitel, die sich mit Benjamins Wirkung und begleitet. Damit ist nicht an das Fragmentarische ge-
Rezeption befassen, zeigen auch, daß dieses Handbuch dacht. Denn auch eine Erörterung des Fragments, des
darauf zielt, gerade die Vielgestaltigkeit der Aneignun- Fragmentarischen verharrte noch in dieser Sphäre des
gen sprechen zu lassen. Das Wort von der >Aneignung Gegebenen, des geschriebenen und lesbaren Textes.
Benjamins< mag hier auch nochmals darauf hinweisen, Benjamin aber wäre wohl einer jener Denker, bei dem
daß der Autor Benjamin nicht nur durch die Gesamt- sich eine Geschichte des Ungesagten im Sinne einer
prozesse der Edition und des Absteckens größerer verhinderten Konstitution von Autorschaft und Werk
Rezeptionsfelder bzw. Deutungshoheiten konstituiert zu schreiben lohnte.
wird, sondern auch durch den produktiven Vorgang
einer jeden einzelnen Darstellung, die stets die Hin- Selbstverständnis und Schreibweise
tergründe des eigenen akademischen Feldes als spezi- Eingangs wurde festgestellt, daß Benjamin zu seinen
fische Deutungsmöglichkeiten ins Spiel bringt. Lebzeiten noch nicht als ein Autor in Erscheinung ge-
Benjamin selbst sprach von seiner Hoffnung auf treten ist, dessen Identität mit der Einheit seines Ge-
eine >>apokryphe Wirksamkeit<< (4, 372). Mit seinen samtwerks in Verbindung gebracht worden wäre. Doch
Aktivitäten der Werksicherung (Manuskripte und Ab- selbst wenn die Verschiedenheit der Themen, Formen,
schriften bei Scholem, Adorno usw.), von denen unten Publikations-Orte und Anlässe es mit sich brachte, daß
noch weiter zu berichten ist, hat er dafür eine Grund- der Zusammenhang seiner Arbeiten damals weitge-
lage geschaffen (Steiner 2004, 186). In einer besonde- hend unbeachtet blieb, legte Benjamin die Texte doch
ren Spannung hierzu stehen - überspitzt formuliert so an, daß sie sich ausdrücklich oder unausdrücklich
-die Erfahrungen der intendierten Autor- bzw. Werk- aufeinander bezogen, und hob sie auf. Dadurch kam
Verhinderung. Wie einige Beispiele zeigen können: Die der weitverzweigten Produktion bereits ein versteckter
ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT: ANGELUS Novus Werkcharakter zu, der in der posthumen Rezeption
(II, 241-246) etwa läßt ahnen, daß für Benjamin selbst freigelegt wurde.
eine Absenz von Autorschaft im Sinne der öffentlichen Der Werkstatus dieser Texte zeigt sich unter anderem
Wahrnehmbarkeit und Zuschreibungsfähigkeit von darin, daß sowohl Benjamin als auch Scholem sie in
Text zu Name durchaus in Kauf zu nehmen sei (darauf möglichster Vollständigkeit sammelten. Von 1915 an,
wird unten im Kontext der Schreibweise Benjamins als Benjamin Scholem kennenlernte, hat er dem Freund
Die Konstruktion des Autors aus dem Nachlaß 19

viele Manuskripte und Abdrucke der eigenen Arbeiten keiner größeren Anzahl von Leserinnen und Lesern
geschenkt: Schalem schien ihm die beste Gewähr dafür anbieten will, sondern es als eine mäzenatische Ein-
zu bieten, daß sie erhalten blieben (vgl. I, 760f.). In richtung von wenigen vorsieht - eine Anpassung der
einem Briefvom 4.4.1937 schreibt Benjamin aus dem Zeitschrift an die Maßgaben der Masse soll vermieden
Pariser Exil Schalem: »Mich erfreut jedesmal, von der werden (vgl. II, 983). Ebenso signifikant ist, daß wich-
Obhut zu hören, die Du der Sammlung meiner Schrif- tige Texte aus Benjamins Frühwerk, unter anderem
ten zuteil werden läßt. Bange Ahnungen sagen mir, daß ZwEI GEDICHTE voN FRIEDRICH HöLDERLIN
eine lückenlose Sammlung von ihnen heute vielleicht (1914/15), ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
nur unsere vereinten Archive darstellen könnten<< (5, SPRACHE DES MENSCHEN (1916) SOWie ÜBER DAS PRO-
506f.). Schalem bewahrte Benjamins Texte in Jerusa- GRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE (1917/18)
lem auf. Dieses Archiv umfaßte viele zu Benjamins seinerzeit unveröffentlicht bleiben und in Form von
Lebzeiten ungedruckte Schriften und wurde dadurch Abschriften oder Hektographien nur in exklusiven
zu einer wichtigen Quelle für spätere Editionen. Zirkeln verwandter Geister kursieren (vgl. Kaulen
Zu den im Blick auf die Nachwelt verfaßten Texten 1999,921 ff.).
gehörten auch die Briefe. Auf diesen Aspekt weist Die zweite Phase ist durch eine Hinwendung zur
Schöttker ( 1999, 94 ff.) hin: Benjamin zählt den Brief- Publizistik bestimmt. Das Scheitern der Habilitation
wechsel etwa in einem Schreiben an Ernst Schoen vom (1925), das Benjamin keine Aussichten auf eine An-
19.9.1919 zu den »Zeugnissen«, die >>Zur Geschichte stellung an Universitäten ließ, und die nähere Ausein-
des Fortlebens eines Menschen<< gehören, wobei diese andersetzung mit marxistischen Positionen tragen
Kategorie von den Begriffen Autorschaft und Werk dazu bei, daß Benjamin zwischen 1925 und 1933- wie
unterschieden wird (2, 47f., Herv. i. Orig.). In der Ar- Bloch, Lukacs, Kracauer u. a. - die Rolle eines unab-
beit über GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN erklärt hängigen Intellektuellen in der Weimarer Republik
Benjamin, >>die Herausgabe des Briefwechsels mit einnimmt. Er liefert als Kritiker regelmäßig Beiträge
Schiller, die Sorge für denjenigen mit Zelter<< seien zu führenden Blättern wie der Frankfurter Zeitung und
Bemühungen Goethes, >>den Tod zu vereiteln<< (I, 151). der Literarischen Welt; ebenso kontinuierlich ist zwi-
Schöttker führt vor Augen, daß auch Benjamin von der schen 1929 und 1933 seine Arbeit für den Rundfunk
>>Idee des Fortlebens in Briefen<< geleitet war: >>Vom -Benjamin nutzt auch dieses neue Medium dazu, die
Überleben dieser Texte konnte ihr Verfasser ausgehen, Öffentlichkeit zu erreichen. Zugleich reflektiert er in
weil sie in Privatarchiven gesammelt wurden (wie im den Texten seine exoterisch ausgerichtete Tätigkeit. So
Falle von Schalem und Adorno ). Darüber hinaus ge- heißt es zum Beispiel im ersten Text der ErN-
hörten einige Briefpartner Benjamins zu den bedeu- BAHNSTRASSE programmatisch, wahre literarische
tendsten Autoren ihrer Zeit (wie Bloch, Brecht, Kra- Aktivität könne >>nicht beanspruchen, in literarischem
cauer, Carl Schmitt und viele andere), so daß Benjamin Rahmen sich abzuspielen<<; nur die >>prompte Sprache<<
damit rechnen konnte, daß auch sie an einer Überlie- von Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftartikeln und
ferung ihrer Briefe interessiert waren<< (Schöttker 1999, Plakaten sei >>dem Augenblick wirkend gewachsen<<
97). (TANKSTELLE, IV, 85). Damit wird die >>anspruchsvolle
Um den Adressatenbezug und das Selbstverständnis universale Geste des Buches<< zurückgestellt zugunsten
des Autors Benjamin näher zu beschreiben, lassen sich der >>unscheinbaren Formen<<: Diese entsprächen eher
im Anschluß an Heinrich Kaulen (1999, 918ff.) drei der bedeutenden literarischen Wirksamkeit, die >>nur
Phasen der Entwicklung unterscheiden. Benjamins in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande
frühe Schriften sind durch Esoterik gekennzeichnet. kommen<< könne (ebd.). Benjamins publizistische Pra-
In der ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT: ANGELUS xis verortet sich auf diese Weise innerhalb des Kräfte-
Novus (1921/22) etwa ist zu lesen, daß >>für die wahre felds damaliger Tendenzen.
Aktualität der Maßstab ganz und gar nicht beim Pu- Wenn Benjamin sich zu Lebzeiten in der Öffentlich-
blikum ruht<<; nach dem Vorbild des romantischen keit einen Namen machen kann, so in dieser Phase
Athenäum hätte jede Zeitschrift »unter gänzlicher seiner Produktion. Die Konstanz seiner Tätigkeit für
Nichtachtung des Publikums, wenn es sein muß, sich vielbeachtete Publikationsmedien verschafft ihm eine
an dasjenige zu halten, was als wahrhaft Aktuelles un- entsprechende Präsenz. Als Ziel nennt Benjamin in
ter der unfruchtbaren Oberfläche jenes Neuen oder einem Brief an Schalem von 1930, >>d'etre considere
Neuesten sich gestaltet, dessen Ausbeutung sie den comme Je premier critique de la Iitterature allemande<<
Zeitungen überlassen soll<< (II, 241 f.). Die Abwendung (3, 502).
vom (zahlungsfähigen) Publikum zeigt sich auch Das Jahr 1933 markiert jedoch einen Einschnitt: Im
darin, daß Benjamin das Abonnement der Zeitschrift Exil sind Benjamins Publikationsmöglichkeiten stark
20 Rezeptionsgeschichte

eingeschränkt, so daß diese Zeit als dritte Phase von deutung, die für ihn der Akt des Schreibens hat, wird
den anderen abgegrenzt werden kann. Während Ben- auch aus einem Brief an Margarethe Steffin ersichtlich:
jamins Wirkungsradius unter diesen Bedingungen Der exilierte Benjamin berichtet ihr 1935 von der
kleiner wird, reflektiert er in Vorträgen und Aufsätzen >>Massenabwanderung der paar Habseligkeiten, auf die
seine Autorrolle und Praxis als Kritiker. Er macht sich ich halte, gipfelnd in dem Verschwinden eines sehr
insbesondere seine Position im Klassenkampfbewußt schönen, für mich unersetzlichen Füllfederhalters<< ( 5,
und hinterfragt unter anderem die Vorstellung, der 174).
proletarisierte Intellektuelle sei nicht mehr dem Bür- Wie aber läßt sich Benjamins Technik einordnen,
gertum verbunden. In den Aufzeichnungen zu der was ist das Spezifische seiner Schreibweise? Eckhardt
Ansprache DER AUTOR ALS PRODUZENT stellt Benja- Köhn weist darauf hin, daß mit Hannah Arendt, Asja
min fest: »Die linksradikale Belletristik und Reportage Lacis, Adrienne Monnier und Charlotte Wolff >>vier
mag sich gebärden wie sie will - sie kann niemals die mit Benjamin verbundene, intellektuell überaus eigen-
Tatsache aus der Welt schaffen, daß selbst die Proleta- ständige Frauen alle gleichermaßen und völlig unab-
risierung des Intellektuellen beinahe niemals einen hängig voneinander ins Zentrum ihrer Begegnung mit
Proleten schafft. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse, Leben und Werk Walter Benjamins die Erfahrung
in Gestalt der Bildung, von Kindheit auf ein Produk- gestellt haben, er sei für sie dem Wesen seines Weltzu-
tionsmittel mitgab, das ihn, auf Grund des Bildungs- gangs nach Schriftsteller gewesen<< (Köhn 1992, 157f.;
privilegs mit ihr, und das, vielleicht noch mehr, sie mit vgl.Arendt 1971, 62; Lacis 1971, 45; Monnier 1972, 72;
ihm solidarisch macht<< (VI, 180; vgl. Il, 700; Ill, 225). Wolff 1986, 88; ferner Krumme 1980; Bub 1993). Die
So führt Benjamin die Widersprüche der Intellektuel- bedeutenden Stellungnahmen der Zeitzeuginnen be-
len vor Augen, die mit dem Proletariat sympathisieren. stärken in der Benjamin-Rezeption die Ansicht, sein
Während Benjamin auf diese Weise das Bildungspri- Werk habe literarischen Charakter. Wie Benjamin
vileg problematisiert, leugnet er keineswegs die eigene seine Texte jedoch argumentativ strukturiert und be-
Herkunft aus dem Bürgertum. grifflich geschärft hat, läßt sich aus den zahlreichen
Indem er solche Widersprüche reflektiert, setzt er Aufzeichnungen, Dispositionen, Schemata, Skizzen,
seinerseits das Produktionsmittel Bildung bewußt ein. Exzerpten und Stichwortsammlungen (zum Teil mit
Viele Werke und Selbstzeugnisse Benjamins zeigen, Siglen) ersehen, die meist versteckt im Anmerkungsteil
daß er für sich als Autor eine besondere Stellung auf- der Gesammelten Schriften abgedruckt sind.
grundseiner Fähigkeiten, etwa der Technik des Schrei- Bereits Adorno weist die Ansicht zurück, daß Ben-
bens, beansprucht. In der BERLINER CHRONIK etwa jamins Schriften im Literarisch-Essayistischen aufge-
geht er auf ein Stilprinzip ein: >>Wenn ich ein besseres hen, und besteht auf ihrem philosophischen Anspruch.
Deutsch schreibe als die meisten Schriftsteller meiner Die bildliehe Darstellung- Adorno spricht vom >>Re-
Generation, so verdanke ich das zum guten Teil der bus<<- zeichnet aus seiner Sicht Benjamins Philosophie
zwanzigjährigen Beobachtung einer einzigen kleinen besonders aus (vgl. Adorno 1990, 10). Burkhardt Lind-
Regel. Sie lautet: das Wort >ich< nie zu gebrauchen, ner bezieht sich auf Adornos Formulierung vom >>Re-
außer in den Briefen. Die Ausnahmen, die ich mir von bus<<, um Benjamins allegorische Denkbilder näher zu
dieser Vorschrift gestattet habe, ließen sich zählen<< beschreiben: Schickt man voraus, daß >>Ding<< oder
(VI, 475). >>Dingwelt« bei Benjamin nicht mit Verdinglichung
Zum Selbstverständnis des Autors Benjamin gehört zusammenfällt, so sind es im Denkbild >>in der Tat die
ferner, daß er dem mit eigener Hand Geschriebenen, Dinge, die die Bedeutungen tragen. Sie >verraten< et-
dem Manuskript, spezifischen Wert beimißt. Wenn er was, sie geben etwas >abzulesen<, sie >künden<, geben
seine Tätigkeit für Zeitschriften und für den Rundfunk ein >Zeichen<, >lehren<, >versprechen<, >wissen<, >blik-
gegenüber Scholem als >>Brotarbeit<< abwertet, gibt ken<, >warten<, sind >Winke<. Ihnen korrespondiert die
Benjamin sich mit dem Verfahren zufrieden, die an- Einsamkeit des Denkenden<< (Lindner 2000, 87).
geblich weniger bedeutenden Texte nicht selbst nie- Auch Sigrid Weigel verortet Benjamins Schreibweise
derschreiben zu müssen, sondern sie diktieren zu in einem Feld des Bilddenkens, allerdings im Sinne
können: Dieses Vorgehen biete ihm >>sogar eine gewisse eines dritten Bereichs zwischen Philosophie und Lite-
moralische Entlastung, indem die Hand damit den ratur. Indem Bilder die Matrix von Benjamins Theo-
edleren Körperteilen allmählich wieder zurückgewon- riebildung sind, fallen nach Weigel die etablierten
nen wird<< (3, 507). An anderer Stelle bemerkt Benja- Trennungen von Form und Inhalt, Theorie und Praxis,
min, daß er es immer mehr lernt, >>Feder und Hand<< Politik und Kunst aus (vgl. Weigel1997, 14ff.). So ar-
auf diese Weise >>für die paar wichtigen Gegenstände beitet Benjamin z. B. im Passagenprojekt an >>einer
zu reservieren<< (4, 77; vgl. Kaulen 1992, 12f.). Die Be- völlig neuen Form des Denkens<< mit der Darstellung
Die Konstruktion des Autors aus dem Nachlaß 21

des Ganzen im Bruchstück, methodisch konkretisiert jamins letzte Lebensjahre«, in: Neue Rundschau 93, Bd. 1,
34-59.
in den Theoremen der allegorischen Anschauung und Kaulen, Heinrich (1992): >>Konversation als Aufklärung.
der monadologischen Struktur der Phänomene. In Überlegungen zu Walter Benjamins Rundfunkarbeiten«,
dieser Form des Denkens gewinnt das Zitat >>eine in: Lorenz Jäger/Tbomas Regehly (Hg.): >>Was nie geschrie-
sprachliche Materialität und Eigenständigkeit, die es ben wurde, lesen<<, Bielefeld, 11-42.
Kaulen, Heinrich ( 1999 ): >>Der Kritiker und die Öffentlichkeit.
vielfältig lesbar, im Sinne einer Konstruktion von Ge-
Wirkungsstrategien im Frühwerk und im Spätwerk Walter
schichte aber auch widerständig machen<< (Weigel Benjamins«, in: Garber/Rehm 1999,918-942.
1997, 199; vgl. V, 570ff.; 13). Gerade in der Eigenart Kleiner, Barbara (1986): >>Links hat sich nichts mehr zu ent-
von Benjamins Schreibweise kann ein Grund für die rätseln«, in: Merkur 40, H. I, 82-86.
Köhn, Eckhardt (1992): >>>Ein Letzter, wie ich es bin.< Bemer-
anhaltende Faszination gesehen werden, die seine
kungen zum schriftstellerischen Selbstverständnis Walter
Schriften ausüben. Die Konstruktion des Autors Ben- Benjamins«, in: Lorenz Jäger/Tbomas Regehly (Hg.): >>Was
jamin erhält dadurch immer neue Facetten. nie geschrieben wurde, lesen«. Frankfurter Benjamin-Vor-
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22 Rezeptionsgeschichte

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tion. Überlegungen zur Wirkungsgeschichte<<, in: Levia- in Vergessenheit, sein Name gehörte, wie Gershorn
than 20, H. 2, 268-280. Schalem sagte, >>zu den verschollensten in der geistigen
Schöttker, Detlev (1999): Konstruktiver Fragmentarismus. Weit<< (Schalem 1983, 9). Daß Benjamins Schriften
Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins.
Frankfurt a. M. daraufhin neue Verbreitung und Aufmerksamkeit ge-
Steiner, Uwe (2004): Walter Benjamin, Stuttgart/Weimar. funden haben, ist zunächst auf die Bemühungen Ador-
Wagner, Gerhard (1990): »Zum Bilde Benjamins. Aspekte der nos zurückzuführen. Adorno setzte sich dafür ein, daß
neueren Rezeption seines kulturhistorischen und ge- Benjamins Schriften posthum zugänglich wurden.
schichtsphilosophisch-ästhetischen Werkes in Westeuropa
1978-1987«, in: Weimarer Beiträge 36, 1492-1513.
Dies begann bereits mit dem hektographierten Pri-
Wagner, Gerhard (1992): Benjamin Bilder. Aspekte der west- vatdruck Walter Benjamin zum Gedächtnis, ein 1942
europäischen Rezeption Walter Benjamins von 1978 bis vom Institut für Sozialforschung herausgegebener
1991, Hamburg. Band, der die Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GE-
Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benja-
mins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M. SCHICHTE enthielt sowie Adornos Aufsatz >>George
Wolff, Charlotte (1986): Augenblicke verändern uns mehr als und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891-1906«.
die Zeit. Eine Autobiographie, Frankfurt a. M. Vor allem in der Nachkriegszeit machte Adorno als
Wolff, Charlotte (1971 ): Innenwelt und Außenwelt. Autobio- erster Herausgeber und als Interpret Benjamins Texte
graphie eines Bewußtseins, München.
bekannt.
Es gelang Adorno, den Suhrkamp-Verlag für Benja-
min-Editionen zu gewinnen. 1950 erschien die BER-
Der Beginn der Benjamin-Rezeption: LINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT mit einem
Nachkriegszeit, 68er Kontext Nachwort von Adorno. Vor allem aber durch Sammel-
bände seiner Schriften rückte Benjamin als Autorfigur
Die Wirkungsgeschichte der Schriften Walter Benja- in den Blick. Nach langen Verhandlungen mit Peter
mins läßt sich in drei Phasen gliedern. Die erste Phase Suhrkamp, die erst kürzlich in der von Wolfgang
ist bestimmt von Theodor W. Adornos Eintreten dafür, Schopf (2003) besorgten Ausgabe von Adornos Brief-
daß die Schriften des älteren Freundes posthum in der wechseln mit seinen Frankfurter Verlegern dokumen-
Bundesrepublik veröffentlicht werden. Zugleich mit tiert sind, edierte Adorno 1955 mit seiner Frau Gretel
seiner Rolle als Herausgeber tritt Adorno als einfluß- und unter Mitwirkung von Friedrich Podszus die
reicher Interpret Benjaminscher Werke hervor. Die Schriften in zwei Bänden (zum Zustandekommen die-
zweite Phase ist durch Kritik an Adornos Deutungs- ser Ausgabe vgl. auch Tiedemann 1989, 8-12). Dabei
und Editionsprinzipien gekennzeichnet: Im Zuge der wurde eine Einteilung nach Gattungen vorgenommen
68er-Bewegung wird Adornos Position vehement in und auf historische Bezüge verzichtet, um den Zugang
Frage gestellt und Benjamin für eine linksrevolutio- zu Benjamins Werk zu erleichtern (vgl. Kambas 1983,
näre Praxis in Anspruch genommen. Aus dieser neo- X). In der Folge erschienen im Suhrkamp-Verlag wei-
marxistischen Aktualisierung von Benjamins Schriften tere Auswahlbände, die Benjamins Bekanntheit erhöh-
geht eine umfangreiche und intensive wissenschaftli- ten: Der eigentliche Durchbruch waren die preisgün-
che Auseinandersetzung hervor, die bis heute anhält stigen Textsammlungen Illuminationen (1961 von
und als dritte Phase der Benjamin-Rezeption bezeich- Siegfried Unseid herausgegeben) und Angelus Novus
net werden kann. Von 1972 1989 erscheinen die (1966). Ebenso trugen die zahlreichen Benjamin-
sieben Bände der von RolfTiedemann und Hermann Bände aus der Reihe >>edition suhrkamp« dazu bei, daß
Schweppenhäuser herausgegebenen Gesammelten seine Texte leicht greifbar wurden; Breitenwirkung hat
Schriften, begleitet von einer breiten historischen und bis heute insbesondere der Band Das Kunstwerk im
theoretischen Aufarbeitung von Benjamins Werk. In Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei
den 70er Jahren etabliert sich die Benjamin-Forschung, Studien zur Kunstsoziologie, der 1963 erstmals erschien
und unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und neben dem Kunstwerk-Aufsatz die KLEINE GE-
perspektivieren und adaptieren sein Werk nach jeweils SCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE sowie EDUARD FucHS,
eigenen Maßgaben. Bevor diese noch heute offenen DER SAMMLER UND DER HISTORIKER enthält (inzwi-
Felder der Benjamin-Diskussion umrissen werden, schen in der 29. Auflage). Als weitere Benjamin-Bei-
wird zunächst der historische Prozeß dargestellt, in träge zu dieser Reihe sind unter anderem zu nennen:
dem sie sich herausbilden. die Städtebilder, die 1963 mit einem Nachwort von
Peter Szondi erschienen sind, ferner Zur Kritik der
Gewalt und andere Aufsätze, 1965 mit einem Nachwort
Der Beginn der Benjamin-Rezeption 23

von Herbert Marcuse publiziert, und nicht zuletzt die beiseite läßt, der Kritischen Theorie geradezu als Motto
Versuche über Brecht, die Rolf Tiedemann 1966 her- gedient haben (Jay 1981, 108).
ausgab. Es war wiederum Adorno, der 1966 gemeinsam Eine weitere Verbindung zwischen Benjamins und
mit Gershorn Scholem im Suhrkamp-Verlag eine zwei- Adornos Philosophie lag in der Idee des Glücks- auch
bändige Auswahl von Benjamins Briefen edierte. Diese diese war von entscheidender Bedeutung für beide
Ausgabe war zwar umstritten (zur kontroversen Auf- Positionen. Adorno beschrieb im Anschluß an Benja-
nahme s. u.), doch sie bot nichtsdestoweniger eine min ein Denken, >>das sich die Impulse der Lust und
neue Grundlage für die Befassung mit Benjamin. des Glücks nicht verbietet und dessen Erfahrungen die
Zugleich hat Adorno Benjamin in einer Reihe von Kraft kindlicher Neugier am Einzelnen und Abseitigen
Schriften charakterisiert: von der Notiz >>Zu Benjamins bewahren<< (Lindner 1977a, 79;vgl.Garber 1987, 126).
Gedächtnis<<, 1940 in der amerikanisch-jüdischen Zeit- So war für Adorno Benjamins Philosophie unwider-
schrift Aufbau erschienen, über die >>Charakteristik stehlich aufgrund des Glücksversprechens. In der
Walter Benjamins<<, aus Anlaß des zehnten Todestags >>Charakteristik Walter Benjamins<< hieß es: >>Was Ben-
Benjamins 1950 in der Neuen Rundschau veröffent- jamin sagte und schrieb, lautete, als nähme der Ge-
licht, und das Nachwort zur BERLINER KINDHEIT UM danke die Verheißungen der Märchen- und Kinderbü-
NEUNZEHNHUNDERT sowie die Einleitung zur Schrif- cher, anstaU mit schmachvoller Reife sie von sich zu
ten-Ausgabe von 1955 bis hin zu der Arbeit, die 1969 weisen, so buchstäblich, daß die reale Erfüllung selber
in Le Monde unter dem Titel >>A l'ecart de tous !es der Erkenntnis absehbar wird. Von Grund auf verwor-
courants<< publiziert wurde. Alle diese Adornoschen fen ist in seiner philosophischen Topographie die Ent-
Texte wurden 1970 in einem Band zusammengeführt sagung<< (Adorno 1990, lOf.).
als >>die bislang wichtigsten Arbeiten über Benjamin, Allerdings war bei Adorno die Perspektive einer
von denen [... ] die Forschung auszugehen hat<<, so der politischen Realisierung des Glücksversprechens ver-
Herausgeber Rolf Tiedemann (Tiedemann 1970, sperrt, wie sie in Benjamins Spätwerk thematisiert
165). worden ist. Wenn Adorno den totalen Verblendungs-
Tatsächlich hat Adorno wie kein anderer die erste zusammenhang der Gesellschaft darstellte, war die
Phase der Benjamin-Rezeption in der Nachkriegszeit Möglichkeit einer verändernden Praxis ferngerückt.
geprägt. Die Sicht, die Adorno auf Benjamins Werk Entsprechend skeptisch verhielt sich Adorno zu Ben-
eröffnete, ging von der eigenen philosophischen Posi- jamins Drängen auf politische Veränderung; es wurde
tion aus. Adornos Philosophie des Nicht-Identischen, von ihm der Naivität verdächtigt. In der >>Charakteri-
die sich in der Begegnung mit Benjamin geformt hatte, stik Walter Benjamins<< war zu lesen: >>In der Tuchfüh-
bildete im Rückblick den Schlüssel zur Gedankenwelt lung mit dem stofflich Nahen, der Affinität zu dem was
Benjamins (vgl. Garher 1987, 126). Für Adorno zeich- ist, war seinem Denken, bei aller Fremdheit und
nete sich Benjamins Denken durch Konkretion aus: Schärfe, stets ein eigentümlich Bewußtloses, wenn man
Benjamin sei es darum gegangen, weder das Besondere will Naives gesellt. Solche Naivität ließ ihn zuweilen
dem Allgemeinen unterzuordnen noch das Allgemeine mit machtpolitischen Tendenzen sympathisieren, wel-
aus dem Besonderen herauszuabstrahieren. In der che, wie er wohl wußte, seine eigene Substanz, unre-
Einleitung zu den Schriften von 1955 bemerkte Adorno, glementierte geistige Erfahrung, liquidiert hätten<<
Benjamin habe >>das Konkrete niemals zum Beispiel (Adorno 1990, 19;vgl.zumVerhältnisvonAdornound
für den Begriff herabgewürdigt [... ]. Soweit es dem Benjamin auch Habermas 1994). So begegnete Adorno
Denken überhaupt nur verstaUet ist, hat er stets die insbesondere Benjamins Freundschaft zu Brecht mit
Knotenpunkte des Konkreten, das Unauflösliche Mißtrauen. Gerade die Herabsetzung der politischen
daran, [... ] als Gegenstand gewählt<< (Adorno 1990, Dimension von Benjamins Werk rief in der Folge die
40). Es lag auf der gleichen Linie, wenn Adorno in der Kritik auf den Plan. Im Kontext der 68er-Bewegung
Vorrede zu Tiedemanns Studien zur Philosophie Walter nahm man Benjamin für eine marxistisch orientierte
Benjamins feststellte, Benjamin habe >>den großen Praxis in Anspruch.
Wahrheitsgehalt im mikrologischen Detail<< aufgesucht
(77). Mit der Aufmerksamkeit für das Konkrete und Kritik an Adornos Benjamin-Bild
Einzelne hat Benjamin einen Grundzug nicht nur von Für die 68er-Bewegung war entscheidend, an Benja-
Adornos Philosophie, sondern der Frankfurter Schule mins Denken der politischen Veränderung festzuhal-
überhaupt vorgeprägt. Benjamins vielzitierter Satz aus ten. Adorno dagegen wurde vorgeworfen, es eigenen
der Passagenarbeit, >>daß das Ewige jedenfalls eher eine Vorbehalten und philosophischen Prämissen zu un-
Rüsche am Kleid ist als eine Idee<< (V, 578), könnte terstellen. Schützenhilfe erhielt diese Kritik durch
nach Martin Jay, wenn man die theologischen Bezüge Helmut Heißenbüttel, der feststellte, Adorno habe, bei
24 Rezeptionsgeschichte

allen seinen Verdiensten um Benjamins Werk, die mar- die mit Benjamin in den Jahren des Exils befreundet
xistisch-materialistische Komponente getilgt- sowohl war. Arendt attackierte sowohl Adorno als auch seinen
in der Schriften-Ausgabe als auch in der mit Scholem Schüler Tiedemann scharf als Benjamin-Herausgeber
herausgegebenen Briefsammlung: »In der zweibändi- und -Interpreten. Sie warf Tiedemann vor, Adornos
gen Werkauswahl von 1955 kommt der Name Brecht Position in dessen Auseinandersetzungen mit Benja-
nur einmal [... ]beiläufig vor; die materialistische Me- min nachträglich zu rechtfertigen und zu verklären.
thode wird im Vorwort umgedeutet in eine vage Bild- Unhaltbar erschien Arendt etwa Tiedemanns Vorgabe,
kategorie, die Unverbindlichkeit einer eher aphoristi- Benjamin habe sich Adornos Einwände gegen den Text
schen Interpretation des Werks in Kauf genommen, DAS PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE ZU
die späte historisch-politische Thematik unaufgelöst eigen gemacht. Arendt merkte dazu an: »Man traut
in die frühe theologische zurückgedeutet usw. Das seinen Augen nicht, wenn man diese aus der Luft ge-
Werk erscheint in einer Uminterpretation, in der der griffenen Behauptungen liest, und man möchte wahr-
überlebende kontroverse Briefpartner seine Auffas- haftig wünschen, daß es sich um nichts Schlimmeres
sung durchsetzt<< (Heißenbüttell967, 240; vgl. auch als die Hirngespinste eines übereifrigen jungen Man-
Brenner 1969; dagegen Tiedemann 1968, 78). Die Be- nes handelt. Denn Adorno ist der einzige Schüler, den
denken gegen Adornos Benjamin-Sicht waren deshalb Benjamin, der ja nicht im akademischen Leben stand,
so gravierend, weil sie seine verschiedenen Rollen als je gehabt- oder doch zu haben geglaubt hat. [... ] Ernst
ehemaliger Weggefährte des Autors, als Herausgeber nehmen müßte man sie nur, wenn sich hier ein Leben-
und einflußreichster Interpret der Schriften zugleich der, der es wahrlich nicht nötig hat, auf Kosten eines
betrafen. So wurde der Verdacht erhoben, Adorno habe Toten, über den er bereits gesiegt hatte, als er noch am
die ehemaligen Kontroversen mit Benjamin nach des- Leben war, hochloben läßt<< (Arendt 1968, 57).
sen Tod für sich entscheiden wollen, die marxistischen Die Vehemenz dieser Angriffe ist signifikant für das
Arbeiten umgedeutet und zugleich Texte aus Benja- Spannungsfeld der späten 60er Jahre. Auch wenn jener
mins Nachlaß im Frankfurter Archiv zurückgehalten, Streit inzwischen historisch ist, wird Adornos Rolle
die das von Adorno lancierte Benjamin-Bild hätten noch heute ambivalent eingeschätzt. Garher etwa weist
korrigieren können. Piet Gruchot etwa sprach in der einerseits auf »das große, durch nichts zu schmälernde
Zeitschrift alternative von einem »Monopol<< der Edi- Verdienst<< Adornos hin, Benjamins Werk in der Nach-
tion, »das Unvollständigkeit und Unzugänglichkeit zu kriegszeit mit hartnäckigen Bemühungen wieder be-
Prinzipien erhebt, damit dann strategische Esoterik kanntgemacht zu haben (Garher 1987, 124).Anderer-
ungestört ihren feinen Interpretationsschleier weben seits problematisiert Garher Adornos Haltung als
darf<< (Gruchot 1967, 204; vgl. auch Brenner 1969, 168; Herausgeber. Begründete Adorno in der Ausgabe von
Gallas 1968; Tiedemann 1968). Benjamins Schriften (1955) die Auslassung einiger
Adorno gab Anlaß zu solchen Verdächtigungen. Bei großer Abhandlungen damit, daß Benjamin sich von
einem Nachdruck von Benjamins Rezension THEO- ihnen >>distanzierte<< (Adorno 1990, 50), so wurde laut
RIEN DES DEUTSCHEN FASCHISMUS (111, 238-250) in Garher >>eine Verantwortung, die allein dem Editor
der Zeitschrift Das Argument bestand Adorno darauf, obliegt, in unzulässiger, weil unkalkulierbarer Weise
den Schlußsatz wegzulassen, der die Möglichkeit in dem Autor selbst überantwortet<< (Garher 1987, 134).
Betracht zieht, daß der nächste Krieg marxistisch in Auch daß Adorno den zu Benjamins Lebzeiten abge-
einen Bürgerkrieg verwandelt werden könnte. Adorno lehnten Text zu Baudelaire nicht in die Auswahl auf-
begründete die Streichung damit, daß Benjamin in der nahm, trägt zu dieser zwiespältigen Einschätzung bei.
Gegenwart, angesichts der DDR, diesen Satz selbst Nach Garher hätte es Adorno als >>dem überlebenden
nicht mehr so formulieren würde (vgl. »Interimsbe- Kontrahenten wohl angestanden, das ehemals kriti-
scheid<<, in: Adorno 1990, 91-96; Skrandies 2003, 77). sierte Stück nun zur öffentlichen Diskussion freizuge-
Gegen solcheEingriffe richtete sich die Kritik, die vor ben, statt es zurückzuhalten und womöglich mit dem
allem in der Berliner Zeitschrift alternative geäußert Makel des vom Autor Preisgegebenen zu behaften<<
wurde (Reise 1968, 68 f.). Auch Gerhard Seidel erklärte (ebd.).
im Vorwort seiner 1970 in der DDR erschienenen Ben- In den 60er Jahren waren diese Streitpunkte vor
jamin-Ausgabe Lesezeichen, der Nachdruck der Rezen- allem aus zwei Gründen wesentlich: Zum einen wur-
sion sei ein Beispiel dafür, daß »editorische Eingriffe den viele Benjamin-Manuskripte in Archiven aufbe-
vorgenommen wurden, die schlechthin als Fälschun- wahrt, die nicht ohne weiteres zugänglich waren- mit
gen bezeichnet werden müssen<< (Seidell970, 7f.). dieser Sperrung sicherten sich die Frankfurter Arbei-
Von besonderem Gewicht war die Stellungnahme ten an der Herausgabe der Texte ab; das Projekt der
der ehemaligen Heidegger-Schülerin Hannah Arendt, Gesammelten Schriften war geplant. Zum anderen war
Der Beginn der Benjamin-Rezeption 25

die Kritik an Adornos Editionspraxis in eine philoso- tion vor: »In der Kollektivrezeption findet Benjamin
phische und politische Grundsatzdebatte eingelassen. die Möglichkeit, das antizipatorische Moment der
Wenn zum Beispiel moniert wurde, daß die Benjamin- Kunst in materielle Gewalt umzusetzen. Gerade in dem
Ausgaben die Zusammenarbeit mit Brecht unzurei- von den Kulturkritikern erschreckt konstatierten Mo-
chend dokumentierten, so stand der Name Brecht für ment der Kollektivrezeption, daß in ihr zu >unsubli-
ein kunstpolitisches Programm, das dezidiert von mierter Vorlust< [... ] aufgestachelt wird, statt ästhe-
Adornos ästhetischer Position abgegrenzt wurde. Es tischen [sie] Sublimation zu fördern, sieht Benjamin
ging einigen studentischen Gruppierungen darum, eine Chance. Daß hier eine kollektive >Nachfrage< mit-
Benjamin wie Brecht für eine exoterische, die Massen tels Kunst erzeugt werden kann, deren >Befriedigung<
einbeziehende, revolutionäre neomarxistische Politik nur in kollektiver Praxis erreicht würde<< (231).
zu reklamieren. Tiedemann dagegen betrachtete in Auch Rosemarie Heise wies in alternative nachdrück-
seiner Dissertation Benjamins Werk unter den Vorzei- lich darauf hin, wie unterschiedlich ihrer Meinung
chen Adornos, der diese Arbeit betreut hatte: Die Kom- nach die Sichtweisen Benjamins und Adornos waren:
munikation mit dem Kollektiv sei Benjamins enigma- >>So sehr Benjamin Adorno als anregenden Freund
tischer Sprache versagt geblieben, aber »durch diese schätzte, so kann m. E. von einer Identität oder auch
Esoterik hindurch hält er den Ausgeschlossenen so nur Konvergenz ihrer Anschauungen nicht gesprochen
genau die Treue, wie das heute irgendeinem gegeben werden. Sie differieren in prinzipiellen Fragen, die sich
ist« (Tiedemann 2002, 133 f.). So verwies Tiedemann letztlich aus dem gegensätzlichen Verhältnis zum Mar-
auf eine Diskussion zwischen Benjamin, Adorno und xismus und zum Klassenkampf der Arbeiterbewegung
Brecht: Der letztere »forderte[ ... ] als Sprache des künf- ergeben<< (Heise 1967, 201). Heise betonte, daß Benja-
tigen Kunstwerks das Pidgin-English; als er mit dieser min den Marxismus nicht auf eine quietistische Kon-
These herausrückte, schlug Benjamin sich auf die Seite zeption reduziere, sondern festhalte an der materiali-
Adornos, welcher über einen Verzicht von Denken und stischen Dialektik >>als Erkenntnis der im Schoße der
Sprache auf Nuancen nie mit sich reden ließ<< (ebd.). kapitalistischen Gesellschaft notwendig erzeugten
Damit rückte Tiedemann Benjamin in die Nähe von Kräfte zu ihrer überwindung<< (ebd.).
Adornos Standpunkt: Das autonome Kunstwerk sollte Wie Ansgar Hiliach rückblickend feststellt, fand der
nicht durch die Bemühung um allgemeine Verständ- studentische Protest bei Benjamin etwas, das Adornos
lichkeit korrumpiert werden - und ebensowenig die Marx-Rezeption gerade nicht zu bieten schien: >>die
politische Theorie. Konkretisierung revolutionärer Transzendenz an den
Zur Signatur der 68er-Bewegung gehörte jedoch geschichtlichen Produktivkräften<< (Hillach 1977, 77).
vielmehr eine scharfe Abgrenzung von Benjamins und Während aus Adornos Perspektive kein kollektives
Adornos Positionen. Neben der Faschismustheorie, revolutionäres Subjekt auszumachen war, das sich der
der Politisierung der Germanistik und der Pädagogik instrumentellen Praxis hätte entziehen können, sah
standen insbesondere die unterschiedlichen Kunstauf- Benjamin Entwicklungstendenzen, die »eine befrei-
fassungen im Zentrum der Debatten. Helmut Lethen ende Allianz von Technik und Arbeitermassen möglich
zum Beispiel ging in der Zeitschrift alternative auf die und notwendig machten<< (64f.). Zusammenfassend
gegensätzlichen Theorien der Kunst ein: Benjamins unterscheidet Lindner drei kulturrevolutionäre Stra-
materialistische Konzeption auf der einen Seite zeichne tegien der damaligen studentischen Kritik: erstens
sich dadurch aus, daß sie die gesellschaftliche Ohn- Kunst als esoterische Widerstandsstelle, nachdem sich
macht der bürgerlichen Kunst nicht hinnehme, son- die Gesellschaft zum totalen Verblendungszusammen-
dern darauf bestehe, >>daß die Versprechen der Kunst hang verfestigte, zweitens Kunst als sozialistisch erneu-
im Materiellen eingelöst werden müssen<< (Lethen erter bürgerlicher Realismus, der Bildungsbürgertum
1967, 228). Adorno auf der anderen Seite gehöre zu und Arbeiterklasse politisch zusammenführt, und drit-
denen, die die >>Konstanz des Unheils<< behaupteten tens Kunst als avantgardistisch veränderter Praxisbe-
und die in der Retrospektive keine Chance der Ände- reich, der neueste Produktionstechniken verarbeitet
rung sähen. >>Durch ihre fatalen Prognosen haben sie und das Alltagsleben verändert (Lindner 1977b, 23).
die für Veränderung Kämpfenden immer schon des- Wollte man die Adorno- und Benjamin-Rezeption der
avouiert<< (225). Die Perspektive auf eine mögliche Studentenbewegung in diese Kategorien einordnen, so
Veränderung wurde an die Beteiligung der Massen könnte Adorno in die erste Rubrik eingeordnet werden
gebunden. Während für Adorno die proletarische und Benjamin in die dritte. Signifikant sind diese Po-
Masse von der Kunstrezeption ausgeschlossen sei, da sitionen vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß sich
Kunst aus seiner Sicht nur dem >>avancierten Bewußt- mit ihnen in den 60er Jahren der Marxismus neu in
sein<< entspreche, sehe Benjamin eine Kollektivrezep- der Bundesrepublik etablierte.
26 Rezeptionsgeschichte

Benjamin 1968- Sprengsatz im Fokus In welchem Maß Benjamin für die Studentenbewe-
des Neo-Marxismus gung zum Aushängeschild wurde, zeigt sich unter an-
Die Benjamin-Rezeption im Kontext der Studenten- derem an der vorübergehenden Umbenennung des
bewegung hat maßgeblich zu einer Umakzentuierung Germanistischen Instituts der Universität Frankfurt
linker Theoriebildung beigetragen. Folgt man David am Main 1968 in >>Walter-Benjamin-Institut<<. Eine
Bathrick, so verschob sich der Schwerpunkt in der >>Basisgruppe Walter-Benjamin-Institut<< etwa vertrat
zweiten Hälfte der 60er Jahre von der Analyse des kul- eine >>Gegen-Germanistik<<, deren Ziel es war, >>die
turindustriellen Verblendungszusammenhangs (etwa Sprachproduktion innerhalb der arbeitsteiligen Ge-
im Sinne Adornos und Horkheimers) hin zu einer samtproduktion, ihr funktionales Verhältnis zur ma-
Betonung politisch-kulturrevolutionärer Aktivität: teriellen Aneignung von Natur und menschlicher
Entscheidend war dann gerade, daß innerhalb der so- Arbeitskraft sowie den Gang ihrer Erzeugnisse im Ver-
zialen Ordnung Potential zu ihrer Veränderung aus- wertungsprozeß<< zu analysieren (Basisgruppe Walter-
gemacht werden konnte (Bathrick 1979, 246). Diese Benjamin-Institut 1968, 164).
wiederaufgekommene Form des Marxismus in der Angeeignet, auch im wörtlichen Sinne, wurden Ben-
Bundesrepublik ist der Hintergrund des Streits um jamins Schriften nicht zuletzt durch Raubdrucke. Ein
Benjamin, Adorno und Brecht (vgl. Brodersen 2005). Beispiel dafür ist die Ausgabe Eine kommunistische
So ist die Aneignung von Benjamins Werk in den Pädagogik, die 1969 vom >>Zentralrat der sozialisti-
60er Jahren nicht loszulösen von der Erfahrung einer schen Kinderläden West-Berlin<< herausgegeben wurde
politischen Krise, zu der unter anderem der Vietnam- und unter anderem Benjamins PROGRAMM EINES PRO-
krieg und die Auseinandersetzungen um die Not- LETARISCHEN KINDERTHEATERS enthielt. Der Text
standsgesetze gehörten (vgl. Garher 1987, 153). In wurde durch den Raubdruck erstmals verfügbar ge-
dieser zugespitzten Situation fanden Benjamins The- macht und erregte Aufsehen- die Zusammenstellung
sen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE besondere veranlaßte diverse Theaterexperimente linker Grup-
Aufmerksamkeit: Heinz-Dieter Kittsteiner zum Bei- pen, und Benjamin wurde >>für das Modell der antiau-
spiel stellte in alternative heraus, daß >>Revolution[ ... ] toritären Kindererziehung der Kinderläden der Stu-
die Basis für Benjamins Konzeption der >Jetztzeit<<< ist dentenbewegung vereinnahmt<< (Götz von Oieuhusen
(Kittsteiner 1967, 250). In einem Resümee der Benja- 1997, 30). Ziel der Broschüre war es, >>die politische
min-Aufnahme in der Studentenbewegung fragt Kar! Stufe der literarischen Arbeit Benjamins zu verdeutli-
Heinz Bohrer 30 Jahre später: >>Konnte einer Genera- chen und[ ... ] die >intensive Einsicht in die Aktualität
tion, die glaubte, mit einer revolutionären Situation eines radikalen Kommunismus< zu befördern<< (zit. n.
im Bunde zu sein, ein faszinierenderer Satz gesagt wer- Götz von Oieuhusen 1997, 89). An diesem Beispiel
den als der vom >Bewußtsein, das Kontinuum der Ge- zeigt sich, welcher politische Anspruch mit den Raub-
schichte aufzusprengen<, wenn der >Augenblick< der drucken verbunden war. Sie erschienen wie aktuelle
>Aktion< gekommen sei?<< (Bohrer 1997, 1074; vgl. I, Flugschriften.
701). Benjamins Begriff des historischen Augenblicks Zugleich wurde die Editionspraxis der Frankfurter
habe als deutsche Version des französischen Situatio- Nachlaßverwalter zurückgewiesen. In dem Band Eine
nismus gedient, vor allem was seine Rezeption im Jahr kommunistische Pädagogik von 1969 hieß es etwa: >>Die
1968 betrifft. So habe die Bewegung anhand von For- Herausgabe dieser Broschüre verstehen wir als einen
mulierungen aus Benjamins Schriften sich Prinzipien Beitrag dazu, die Verbreitung der Arbeiten Walter Ben-
des Situationismus zu eigen gemacht. Bohrer stellt jamins nicht gänzlich den Frankfurter Monopolarchi-
heraus, daß Benjamin >>der einzige deutsche Intellek- varen zu überlassen [... ]. [... ] Adorno und seine Spei-
tuelle gewesen ist, der den Surrealismus, ohne den die chellecker scheuen sich nicht, die interessierte Öffent-
französischen Vordenker von '68 nicht vorstellbar sind, lichkeit [... ] mit der Ankündigung einer ehrwürdigen
in seiner Epoche entdeckt und rezipiert hat<< (Bohrer aber unbrauchbaren Gesamtausgabe des benjamin-
1997, 1075). Entsprechend sei die Wiederveröffentli- sehen Werkes abzuspeisen und die Konvolute einzula-
chung von Benjamins Aufsatz DER SüRREALISMus im gern hinter Tresorwände<< (zit. n. Götz von Oieuhusen
Jahr 1966 >>sozusagen genau in den Vormittag der kul- 1997, 89). Es wurde erklärt: >>Das >Programm eines
turrevolutionären Entwicklung<< gefallen (ebd.). Wie proletarischen Kindertheaters< ist der Verfügungsgewalt
Bohrer deutlich macht, wurde Benjamin >>buchstäblich der Frankfurter Benjamin-Verwalter und den Händen
zum Inspirator einer kulturrevolutionären Stimmung, revisionistischer Kulturpolitiker entrissen worden. [... ]
die mehr spirituell denn politisch war und entspre- Wir ergriffen die Gelegenheit, um das Manuskript jetzt
chend auch Kreise erfaßte, die sich eher im Geist denn für unsere praktische Arbeit, die Teil der Selbstorgani-
in der Praxis zu Hause fühlten<< (1074). sation der Basis ist, zu sozialisieren<< (90).
Der Beginn der Benjamin-Rezeption 27

Politischen Anspruch erhoben auch spätere Raub- riebildung entscheidenden Postulate einer Politisie-
drucke. 1976 erschien der unautorisierte Band Inte- rung der Kunst und einer Einbeziehung der Massen.
gration und Desintegration, der neben Benjamins ÜBER Auch 1970, als die Bewegung bereits sehr abgeschwächt
DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE unter anderem Ader- war, wurden die kulturrevolutionären Impulse des
nos >>Reflexionen zur Klassentheorie<< enthielt und Kunstwerkaufsatzes noch einmal in vielbeachteten
unter dem Namen J. Peachum (nach der Figur aus Beiträgen aufgegriffen: Michael Scharang versuchte in
Brechts Dreigroschenoper) herausgegeben wurde. seinem Aufsatz »Zur Emanzipation der Kunst<< im er-
Peachum stellte fest, Benjamins Thesen seien zu einer sten Heft der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation
»theoretischen Selbstbestimmung der Linken unum- Benjamin durch eine Verschärfung der theoretischen
gänglich<< (zit. n. Götz von Olenhusen 1997, 36f.). Position zu aktualisieren. Ziel war es, den Begriff der
Auch die Verdächtigungen, man halte brisante Texte Politisierung der Kunst radikaler als bei Benjamin zu
im Frankfurter Archiv zurück, wurden in den weiteren fassen (Scharang 1970,76 u. 78; vgl. Hiliach 1977, 83).
illegalen Ausgaben fortgeschrieben, zum Beispiel in Auch Hans Magnus Enzensberger schloß an den
einem Nachdruck von Benjamins Passagenarbeit, we- Kunstwerk-Aufsatz an und legte in seinem »Baukasten
nige Monate nachdem diese 1982 als Band 5 der Ge- zu einer Theorie der Medien<<, im Kursbuch erschienen,
sammelten Schriften erschienen war (vgl. 38 ff.; Götz der marxistischen Linken nahe, die emanzipatorischen
von Olenhusen 2000, 107ff.). Momente avanciertester Produktivkräfte wie des Fern-
Für die 68er-Bewegung waren die Raubdrucke be- sehens zu nutzen. Benjamin wurde bei diesem Plä-
sonders signifikant; sie entsprachen dem Selbstver- doyer zum Vorbild: »Mit einer einzigen großen Aus-
ständnis, die finanzielle Existenzgrundlage nicht in nahme, der Walter Benjamins (und in seiner Nachfolge
einer entfremdeten Arbeit zu beschaffen, sondern die Brechts), haben aber die Marxisten die Bewußtseins-
Produktivkraft >Intelligenz< in selbstbestimmter Weise Industrie nicht verstanden und [... ] nicht ihre soziali-
einzusetzen (Götz von Olenhusen 1997, 65). So berief stischen Möglichkeiten wahrgenommen<< (Enzensber-
sich die >Raubdruckbewegung< in den Anfangsjahren ger 1997, 119).
als Teil der antiautoritären Studentenbewegung auf die Auch wenn der avantgardistische Impetus seither
Forderung Benjamins, nicht mehr den bestehenden nachgelassen hat, ist die um 1968 explosionsartig aus-
Apparat zu beliefern, sondern ihn im Sinne des Sozia- geweitete Benjamin-Rezeption nicht wieder zurück-
lismus zu verändern (16f.; vgl. Il, 691). Zum Bezugs- gegangen. An sie wurden zunehmend andere, vor allem
punkt wurde damit Benjamins Ansprache DER AuTOR wissenschaftliche Anforderungen gestellt.
ALS PRODUZENT, 1966 erschienen als »ein Text, der
ganz für die Gegenwart verfasst schien<<, so Lindner Das Erscheinen der Gesammelten Schriften
(Skrandies 2003, 76). Piet Gruchot etwa zog diese und die Etablierung der Benjamin-Forschung
Schrift heran, um Benjamins avantgardistische Kon- In den 70er Jahren veränderte sich der Charakter der
zepte vorzustellen - sie schlossen für Gruchot das Benjamin-Diskussion in der Bundesrepublik: Die po-
»Durchbrechen der konventionellen Schranken etwa litisch motivierten und polemisch geführten Debatten
zwischen den Gattungen, zwischen Wissenschaft und wurden allmählich abgelöst von einer akademischen
Kunst, zwischen Autor und Publikum<< in sich ein Auseinandersetzung; Benjamins Werk wurde zu einem
(Gruchot 1967, 209). Auch Frank Benseler rekurrierte regulären Forschungsgegenstand philologischer und
auf »Benjamins großen und befreienden Vortrag<< DER philosophischer Disziplinen. Gegenüberstellungen von
AUTOR ALS PRODUZENT (Benseler 1969, 76) und griff Benjamins und Adornos Positionen etwa erhielten
die Forderung nach Veränderung des bestehenden dadurch einen neuen Akzent: Es ging nun darum, Phi-
Apparats auf (87). Zentral war für Benseler das Postu- losophiegeschichte aufzuarbeiten, und weniger darum,
lat, »aus Konsumenten Mitwirkende zu machen<< (78). ihre Impulse unmittelbar in der gegenwärtigen politi-
Benjamin diente hier auch als Vorbild marxistischer schen Praxis umzusetzen. Das Jahr 1969 markierte in
Literatursoziologie, die sich mit den wirtschaftlichen dieser Hinsicht einen Einschnitt: Die studentische Pro-
Voraussetzungen der Buchproduktion befaßte. Ben- testbewegungkam zum Erliegen; zudem starb Adorno
seler konstatierte: »Alle Arbeiten von Walter Benjamin und entzog sich dadurch den weiteren Diskussionen
[... ] sind durchzogen von dem Bewußtsein, auf dem - er wurde unweigerlich zu einer historischen Figur
Markt zu stehen<< (61). (vgl. Wiggershaus 1987, 705).
Nicht zuletzt gehörte DAs KuNSTWERK IM ZEITAL- Signifikant für das neue Verhältnis ist die Tagung
TER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKElT ZU anläßlich von Benjamins 80. Geburtstag 1972, mit der
den Texten, die für die Studentenbewegung grundle- zugleich die neue Ausgabe Gesammelte Schriften vor-
gend waren. Hier fand man die für die eigene Theo- gestellt wurde. Anstelle des verstorbenen Peter Szondi,
28 Rezeptionsgeschichte

der als Hauptsprecher eingeladen war, hielt Jürgen bliziert (vgl. Hartung 1990, 994): 1949 erschien in Sinn
Habermas eine Rede, die in den erweiterten Tagungs- und Form Benjamins AufsatzÜBER EINIGE MOTIVE BEI
band Zur Aktualität Walter Benjamins (1972) einge- BAUDELAIRE, 1956 waren in der Zeitschrift Aufbau
gangen ist. Habermas stellt in seinem Beitrag »Be- Benjamins KOMMENTARE ZU GEDICHTEN VON BRECHT
wußtmachende oder rettende Kritik« zwar im Unter- zu lesen. Der Aufsatz GoTTFRIED KELLER fand sich
titel ausdrücklich die Frage nach der »Aktualität 1957 mit einer Einführung von Gerhard Seidel in Neue
Walter Benjamins<<, damit ist jedoch geschichtliche deutsche Literatur und die Uraufführungskritik von
Distanz zu dessen Philosophie bereits vorausgesetzt. Brechts Die Mutter mit dem Titel EIN FAMILIENDRAMA
Wie Weigel bemerkt, geht die Frage nach Benjamins AUF DEM EPISCHEN THEATER 1957 in Sinn und Form
Aktualität »implizit von der Annahme historischer (vgl. Heise 1967a, 194).
Begrenzung und zeitgebundener Geltung seines Den- Lange Zeit fehlte jedoch eine Textsammlung. Erst
kens aus, um dann dessen - jeweils relativierte bzw. 1970 erschien im Redam-Verlag Leipzig die von Ger-
modifizierte- Gültigkeit für die Gegenwart zu begrün- hard Seidel herausgegebene Auswahl Lesezeichen, die
den<< (Weigel 1997, 213). Dennoch hält Habermas durch den Staatsapparat der DDR kritisch beäugt
daran fest, daß die Auseinandersetzungen um Benja- wurde (Götz von Olenhusen 1997, 23f.). Sie mußte
min weiterhin notwendig kontrovers geführt werden indes aus anderen Gründen eingestampft werden -
müssen und nicht durch die entstehende Benjamin- trotz Protest im westdeutschen Feuilleton: Redam war
Philologie ersetzt werden können: »Zum Streit der vertraglich gebunden, das Vorwort und das Nachwort
Parteien, in dem das Bild Benjamins nahezu zersplit- vor der Publikation dem Suhrkamp-Verlag vorzulegen,
tert, bietet die akademische Behandlung der Sache aber diese Bedingung wurde nicht erfüllt (vgl. Opitz
womöglich ein Korrektiv, aber sicher keine Alterna- 1999, 1292). Zum Problem wurde, daß das Vorwort
tive<< (Habermas 1972, 176). starke Invektiven gegen die Frankfurter Editionsarbei-
1972 erhielt die wissenschaftliche Befassung mit ten enthielt (Seidel 1970; zur Widerlegung vgl. IV,
Benjamin eine neue Grundlage: In diesem Jahr erschie- 997 f.). Der Streit beeinträchtigte die philologische
nen die ersten Bände (III und IV) der von RolfTiede- Forschung zu Benjamin sowohl in der DDR als auch
mann und Hermann Schweppenhäuser herausgege- in der BRD: Bis in den 80er Jahren wurde den Frank-
benen Gesammelten Schriften. Revidierte Benjamin- furter Benjamin-Herausgebern der Zugang zum in der
Ausgaben hatte es zuvor bereits gegeben, so kann etwa DDR befindlichen Nachlaß häufig verwehrt, und in
die von Tiedemann besorgte Edition des Trauerspiel- der DDR war es mangels Lizenzen wiederum schwie-
Buches, die 1963 erschienen war, als erster Schritt zur rig, Benjamins Texte zu publizieren (vgl. Opitz 1999,
kritischen Edition Gesammelte Schriften gelten. Letz- 1292).
tere verfolgte das Ziel, erstmals »die Schriften Benja- Eine neue, von Sebastian Kleinschmidt herausgege-
mins mit der erreichbaren Vollständigkeit zu versam- bene Textsammlung erschien im Leipziger Redam-
meln<< (I, 751)- ein Unternehmen, das erst 1989 mit Verlag 1984 unter dem Titel Allegorien kultureller Er-
dem Nachtragsband VII abgeschlossen wurde (vgl. fahrung. Im Nachwort wurde Benjamin gegen eine
auch Tiedemann 1989 u. 2003). Damit ist, bis zum einseitige Aufnahme verwahrt durch den Hinweis, daß
Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe, vorläufig »der Band auch solche Texte enthält, die das metaphy-
ein Fundament für die Benjamin-Forschung gegeben. sisch-spirituelle und theologische Moment im Denken
Seit den 70er Jahren differenzierte sich die Benjamin- Benjamins deutlich machen, das im Zuge seiner spe-
Diskussion in unterschiedlichen wissenschaftlichen zifischen Marxismusaneignung wohl modifiziert, nicht
Feldern aus, die in den nächsten Abschnitten umrissen aber zum Verschwinden gebracht wurde<< (Klein-
werden. schrnidt 1984, 451). Besondere Bedeutung kam den
Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE ZU, die
Exkurs: Benjamin-Rezeption in der DDR in der DDR bis zu diesem Zeitpunkt unpubliziert wa-
Anderen Bedingungen unterlag die Verbreitung von ren. Das Provozierende dieser Schrift im damaligen
Benjamins Schriften in der DDR. Hier wurde die Li- Kontext lag insbesondere darin, daß in ihr planer Zu-
teratur einem sozialistischen Realismus verpflichtet, kunftsoptirnismus und Fortschrittsglaube zurückge-
den man in Georg Luk;ics' Ästhetik formuliert fand, wiesen und überdies auf Theologie rekurriert wurde.
während Benjamins Nähe zur Moderne und zu den >>Das Benjaminsehe Geschichtsdenken<<, so Michael
historischen Avantgarden problematisch erschien (vgl. Opitz, >>war wie kaum ein anderes geeignet, das offizi-
Opitz 1999). In den ersten Nachkriegsjahren wurden ell ausgestellte Sozialismus-Bild kritisch zu hinterfra-
allerdings, zum Teil nach Bemühungen von Bertolt gen« (Opitz 1999, 1302; vgl. auch 1299).
Brecht und Ernst Bloch, einzelne Benjamin-Texte pu-
Der Beginn der Benjamin-Rezeption 29

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30 Rezeptionsgeschichte

Perspektiven der theoretischen Aneignung sich einen ersten Überblick anhand bekannter allge-
meiner Stichworte verschaffen kann und erfährt, wie
Seitdem mit der Studentenbewegung 1968 eine breite verschieden die >Baustellen< der Benjaminrezeption
Benjamin-Rezeption in Gang gekommen ist, differen- sind. Mit der Anordnung wird keine Linie des Hand-
ziert sich seine Wirkung in vielen unterschiedlichen buchs vorgegeben, aber vereinzelt auf dessen Artikel
Feldern aus. Diese Heterogenität entspricht der Beson- verwiesen, das ja selbst Teil der Rezeption ist.
derheit von Benjamins Schriften, disparate Aspekte Verfehlt wäre es allerdings, wenn durch die Fokus-
miteinander zu verbinden. Habermas hat daraufhin- sierung auf wissenschaftliche Diskurse der Eindruck
gewiesen, daß die Kontroversen der Rezeptionsge- erweckt würde, die Wissenschaft könnte einen privi-
schichte bereits in der Biographie des Autors vorge- legierten Zugang zu Benjamins Werk beanspruchen.
zeichnet sind - vor allem durch die Verschiedenheit Es wird statt dessen von unterschiedlichen Gruppen
der Personen, die Benjamin nahestanden. So sind »die aufgegriffen und >gehört< insofern allen. Auch die in
konkurrierenden Interpretationen Benjamin nicht der 68er-Bewegung praktizierten Formen der Benja-
übergestülpt; es ist wohl nicht bloß Geheimniskräme- min-Aneignung sind nicht in Vergessenheit geraten
rei, die, wie Adorno berichtet, Benjamin veranlaßt hat, (vgl. Markner 1994, 39). Helmut Salzinger etwa
seine Freunde voneinander fernzuhalten: nur als sur- schreibt die Benjamin-Rezeption der studentischen
realistische Szene vollziehbar wäre etwa die Vorstel- Gruppen fort, wenn er ihn als Vorbild für eine verän-
lung, Scholem, Adorno und Brecht zum friedlichen derte Literaturwissenschaft in Anspruch nimmt, die
Symposion am runden Tisch, unter dem Breton oder die »parasitäre Scheinproduktivität« der »bürger-
Aragon hocken, während Wyneken an der Tür steht, liche[n) Geisteswissenschaft« überwinden soll: »Denn
versammelt zu sehen, sagen wir zu einem Disput über die Forschungsergebnisse der bürgerlichen Literatur-
den >Geist der Utopie< oder gar den >Geist als Wider- wissenschaft tragen nicht nur nichts zur Erkenntnis
sacher der Seele«< (Habermas 1972, 176). Ähnlich di- des historisch-gesellschaftlichen Prozesses bei. Viel-
vergent sind die Positionen der Benjamin-Diskussion mehr besteht ihre gesellschaftliche Funktion geradezu
bis heute. darin, im Bereich der Literatur solche Erkenntnisse
Die folgenden Darstellungen konzentrieren sich auf nach Möglichkeit zu verhindern« (Salzinger 1973, 42).
einige Hauptlinien, wobei die wissenschaftliche Aus- Um Benjamin als Gegenfigur zur etablierten Kultur zu
einandersetzung mit Benjamin im Vordergrund steht. profilieren, stellt Salzinger heraus, daß Benjamin ein
Indes wird bewußt darauf verzichtet, ein Gesamtbild »Hascher« (98) gewesen sei: Benjamin gehörte »ZU den
des >Forschungsstandes< entwerfen zu wollen. Die Auf- ersten, die sich in dem nachmaligen Hippie-Paradies,
teilung ist- anders als in den Benjamin-Bibliographien auf der Insel Ibiza, einnisteten, und zwar schon im
- nicht durch Teile des Benjaminsehen Werks vorge- Jahre 1932. Rauschgiftsüchtig ist er[ ... ] auch gewesen«
geben. Obwohl nicht durchgängig das Gesamtwerk (22). Unübersehbar werden hier Gedanken der 68er-
rezipiert wurde, sondern immer andere Texte entdeckt Bewegung weitergeführt.
und neu gelesen wurden, orientiert sich die Rekon- Ohne Zweifel hat die wissenschaftliche Benjamin-
struktion nicht an solchen> Konjunkturen< bestimmter Rezeption durch die 68er-Bewegung viele Impulse
Schriften. Leitfaden sind vielmehr die verschiedenen erhalten. Indessen ist diese akademisch-fachspezifische
wissenschaftlichen Diskurse, in denen Benjamins Aufnahme stärker bestimmt von philologisch-syste-
Schriften aufgegriffen wurden und werden. Bei dieser matischen und kritischen Interpretationsinteressen.
Skizzierung offener Felder der Benjamin-Aneignung Gerhard Kurz bemerkt: »Meist setzen sich solche In-
wird davon abgesehen, Profile einzelner Benjamin- terpretationsinteressen durch, wenn der Gegenstand
Forscherinnen und -Forscher beziehungsweise be- inaktuell geworden ist. Es scheint aber, daß die kriti-
stimmter Arbeiten zu zeichnen. Einige verdienstvolle sche und philologisch-systematische Lektüre Benja-
Beiträge, etwa die zeit-und philosophiegeschichtlichen mins eine Aktualität seines Werkes entwickelt, die weit
Studien, die Benjamins Schriften im Kontext der Wei- verläßlicher ist als die kultisch vermittelte« (Kurz 1976,
marer Republik oder des Exils genauer verorten, kön- 162).
nen in diesem Zusammenhang nicht eingehend be- Benjamins Aktualität für die wissenschaftliche For-
rücksichtigt werden (als Beispiele seien erwähnt: Bolz schung beruht darauf, daß sich die verschiedenen Dis-
1991; Braese 1998; Brodersen 1990; Deuber-Man- ziplinen nach jeweils eigenen Kriterien seine Schriften
kowsky 2000; Jäger 1998; Kambas 1983; Wizisla 2004; aneignen. Mit neuen akademischen Strömungen ent-
vgl. auch die zwölf Studienvoraussetzungen für die stehen zugleich neue Benjamin-Bilder: »Noch hat jede
Befassung mit Benjamin nach G. Steiner 2004). akademische Mode ihren eigenen Walter Benjamin
Der Vorteil des Verfahrens besteht darin, daß man entdeckt. Noch hat aber auch so manche akademische
Perspektiven der theoretischen Aneignung 31

Mode in Benjamin neue, bisher übersehene Seiten als Philosoph deutbar. So setzt sich etwa Habermas
entdeckt<< (U. Steiner 2004, 189). Die Zeit- und Stand- mehrfach mit ihm auseinander (Habermas 1972;
punktbezogenheit der Benjamin-Rezeption stellt daher 1973 ), und in Der philosophische Diskurs der Moderne
kein Defizit dar. Man kann sich hier ein Wort Benja- nutzt er die Erörterung des Benjaminsehen >>dialekti-
mins aus dem Vortrag E.T.A. HOFFMANN UND ÜSKAR schen Bildes<<, der Jetztzeit und der Fortschrittskritik,
PANIZZA zu eigen machen: »die sogenannte Ewigkeit um die eigene Position zu schärfen (Habermas 1988,
der Werke [ist] ganz und gar nicht identisch mit ihrer bes. 19-26). Eine wesentliche Referenz war Benjamin
lebendigen Dauer<< (II, 641). Entsprechend kommen auch für Jacques Derrida. So legt er 1987 eine Analyse
auch in der vitalen Auseinandersetzung mit Benjamins zu Benjamins Übersetzungstheorie vor, die in den
Texten aktuelle Momente zum Tragen. 1990er Jahren von weiteren Texten gefolgt wird und in
Freilich ist nicht zu übersehen, daß Benjamin längst der Dankesrede zur Verleihung des Adorno-Preises in
in den Kanon der Klassiker und bedeutendsten Philo- Frankfurt am Main 2001 gipfelt (s. auch das Literatur-
sophen des 20. Jh.s aufgenommen worden ist. So wird verzeichnis und den Abschnitt >>Dekonstruktion<<).
etwa seine Sprachphilosophie und Fortschrittskritik Gegenwärtig ist Giorgio Agamben sicherlich der be-
mit der von Wittgenstein verglichen (Thomä 1999), deutendste und populärste jener Philosophen, deren
oder Benjamins Überlegungen zu Modernität und Denken sich von Einsichten, Thesen und Motiven Ben-
zum Kunstwerk werden denen von Heidegger gegen- jamins beeinflußt weiß. Die Rezeption der Schriften
übergestellt (etwa: Desideri 1999; Heidbrink 1999). Agambens setzte in Deutschland erst spät ein; die mei-
Längst hat sich eine breite, die zentralen Fachbereiche sten Übersetzungen seiner Hauptwerke stammen aus
der Geistes- und Kulturwissenschaften abdeckende den vergangeneu Jahren, obgleich sie im Original in
Benjamin-Forschung etabliert und ausdifferenziert, den 1990er, teils in den 1980er oder gar l970er Jahren
deren Produktivität nur noch anhand eigener Biblio- verfaßt wurden. Agambens sogenannte Homo-sacer-
graphien überschaut werden kann. Eingesetzt hat die Trilogie (Agamben 2002; 2003; 2004) ist durchwoben
postume Rezeption (dazu das vorangegangene Kapitel) von Bezügen auf Benjamin und Auslegungen seiner
allerdings mit einem Blick auf Benjamin, der ihn de- Texte im Kontext der politischen und Rechtsphiloso-
zidiert als Philosophen bzw. philosophischen Denker phie, der Kulturgeschichte und -theorie. Das >>bloße
wahrnahm. Adorno hat mit seinen Texten über Ben- Leben<< aus ZuR KRITIK DER GEWALT (vgl. Il, 201) wird
jamin und den theoretischen Referenzen auf Benjamin hier ebenso weitergedacht, wie die Fragen nach Gewalt,
in anderen Gedankengängen diesen Blick ermöglicht Macht und Ausnahmezustand. Doch nicht nur auf
und auch keinen Zweifel an dessen Richtigkeit gelas- diesem eher der Politischen Philosophie angehörenden
sen. So schreibt er etwa zum Kontext der Passagenar- Denkfeld läßt sich eine Nähe Agambens zu Benjamin
beit: Als Benjamin sie »schließlich[ ... ] konzipierte[ ... ], ausmachen. In seinen der Literatur, der Kunst und
glaubte ich, er sei wirklich dieser Idee, einer gänzlich Mythologie zugewandten Texten wirkt der Einfluß
in Material gearbeiteten, zugleich konkreten und tran- Benjamins bis in die Geste des Schreibens hinein, wie
szendenten Philosophie unendlich nahegekommen. etwa in >>Idee der Prosa<< (Agamben 2003a) oder
[... ]Als ich [... ] die Nachricht von seinem Tode emp- >>Kindheit und Geschichte<< (Agamben 2004a) - in
fing, hatte ich wirklich und ganz buchstäblich das letzterem findet sich zudem unter dem Titel>> Der Prinz
Gefühl, als ob durch diesen Tod [... ] die Philosophie und der Frosch. Das Problem der Methode bei Adorno
um das Beste gebracht worden wäre, was sie überhaupt und Benjamin<< eine kurze Reflexion über den be-
hätte erhoffen können<< (Adorno 1968, 14 f.). Bekann- rühmten Briefwechsel Benjamins mit Adorno zu dem
termaßen gibt es schon kurz danach eine ganz andere umstrittenen Essay DAS PARIS DES SECOND EMPIRE BEI
Einschätzung durch die Philosophin Haunah Arendt. BAUDELAIRE (I, 511-604; Agamben 2004a, 153-174).
Ihr ist daran gelegen, die Vielgestaltigkeit Benjamins In den folgenden Abschnitten werden - ohne An-
herauszuarbeiten und neben der berühmten Einsicht, spruch aufVollständigkeitund im Wissen um die Un-
daß Benjamin, >>ohne ein Dichter zu sein, dichterisch möglichkeit einer eindeutigen Chronologie der Rezep-
dachte<< (Arendt 1971, 22), stellt sie ihn vor als Litera- tionsbewegungen - einige besonders einflußreiche
turkritiker, Sammler, Zitierkünstler und insbesondere Rezeptionslinien und Alleignungen vorgestellt, mit
als homme de lettres (36f.). >>Die Philosophie Walter denen Benjamin konstruktiv aufgegriffen und weiter-
Benjamins- damit erweist man ihm keine Ehre; er hat, gedacht worden ist und wird.
obwohl er Philosophie studiert hat, von ihr genau so
gering gedacht wie Goethe<< (17 f.). Literatur
Gleichwohl bleibt Benjamin für philosophische Re- Adorno, Theodor W. (1968): >>Erinnerungen<<, in: Über Wal-
zeptionsinteressen bis heute wichtig, instruktiv und ter Benjamin, Frankfurt a.M., 9-15.
32 Rezeptionsgeschichte

Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht Kambas, Chryssoula (1983): Walter Benjamin im Exil. Zum
und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frank- Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik, Tübingen.
furt a.M. Kurz, Gerhard (1976): >>Benjamin: Kritischer gelesen<<, in:
Arendt, Hannah (1971): Walter Benjamin. Bertolt Brecht, Philosophische Rundschau 23, 161-190.
München. Löwenthal, Leo (1983): >>Die Integrität des Intellektuellen.
Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz bleibt. Das Zum Andenken Walter Benjamins<<, in: Merkur 37, H. 6,
Archiv und der Zeuge, übers. von Stefan Monhardt, Frank- 223-227.
furt a.M. Markner, Reinhard (1994): >>Walter Benjamin nach der Mo-
Agamben, Giorgio (2003a): Idee der Prosa, übers. von Dag- derne. Etwas zur Frage seiner Aktualität angesichts der
mar Leupold u. Clemens-Carl Härle, Frankfurt a. M. Rezeption seit 1983<<, in: Schattenlinien 8/9,37-47.
Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand, übers. von Rosen, Charles (1977): »The Ruins ofWalter Benjamin<<, in:
Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt a.M. The NewYork Review ofBooks 24, Nr. 17,31-40.
Agamben, Giorgio (2004a): Kindheit und Geschichte. Zerstö- Salzinger, Helmut (1973): Swinging Benjamin, Frankfurt
rung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, übers. a.M.
von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. Sontag, Susan (1978): >>The Last Intellectual«, in: The New
Bolz, Norbert ( 1991): Auszug aus der entzauberten Welt. Phi- York Review of Books 25, Nr. 15, 75-82.
losophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, 2., Steiner, George (2004): >>Von Walter Benjamin sprechen<<, in:
unveränd. Aufl. München. Sinn und Form 56, H. 4, 725-737.
Braese, Stephan (1998): >>Auf der Spitze des Mastbaums. Wal- Steiner, Uwe (2004): Walter Benjamin, Stuttgart/Weimar.
ter Benjamin als Kritiker im Exil<<, in: Exil und Avantgar- Thomä, Dieter (1999): >>Benjamin, Wittgenstein. Schwierig-
den, hg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung von keiten beim Philosophieren gegen den Fortschritt<<, in:
Claus-Dieter Krohn u.a., München, 56-86. Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 2,
Brodersen, Momme (1990): Spinne im eigenen Netz. Walter München, 1229-1250.
Benjamin. Leben und Werk, Bühl-Moos. Wizisla, Erdmut (2004): Benjamin und Brecht. Die Geschichte
Buck-Morss, Susan (1977): The Origin ofNegative Dialectics. einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
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Institute, New York/London.
Derrida, Jacques (1987): >>Des tours de Babel<<, in: ders.: Psy-
che. Inventions de l'autre, Paris, 203-235 (dt. >>Babyloni- Marxismus
sche Türme. Wege, Umwege, Abwege<<, übers. von Alexan-
der Garcia Düttmann, in: Alfred Hirsch (Hg.) (1997): Seitdem die Studentenbewegung von 1968 Benjamin
übersetzungund Dekonstruktion. Frankfurt a.M., 119- als revolutionären Autor in den Blick gerückt und für
165).
Derrida, Jacques (1990): Limited lnc, Paris (dt. Limited Inc., sich beansprucht hat, bildet der Marxismus einen prä-
übers. von Werner Rapp! u. Dagmar Travner, Wien gnanten Kontext der Benjamin-Rezeption in der Bun-
2001). desrepublik Unter anderem wird in wissenschaftlichen
Derrida, Jacques ( 1991 ): Gesetzeskraft. Der >mystische Grund Disziplinen wie Sozialphilosophie und Soziologie, Äs-
der Autorität<, übers. von Alexander Garda Düttmann,
Frankfurt a. M. thetik und Literaturwissenschaft die marxistische Di-
Derrida, Jacques (1993): >>Back from Moscow, in the USSR<<, mension von Benjamins Werk diskutiert.
in: Mark Poster (Hg.): Politics, Theory and Contemporary Vielbeachtet ist Habermas' Beitrag >>Bewußtma-
Culture, NewYork, 197-235. chende oder rettende Kritik<<, der sich mit Benjamins
Derrida, Jacques (2001 ): >>Fichu<<, Dankesrede zur Verleihung
des Theodor W. Adorno-Preises 2001, Frankfurt a. M. Bedeutung für die neomarxistische Theoriebildung
Desideri, Fabrizio (1999): >>Benjamin und Heidegger. Der auseinandersetzt. Für Habermas vertritt Benjamin das
Ursprung des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Konzept der >>rettenden Kritik<<, die in ihrer Alleignung
Reproduzierbarkeit<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): der Geschichte gefährdetes semantisches Potential zu
global benjamin, Bd. 2, München, 1193-1205.
bewahren sucht (Habermas 1972, 206). Von diesem
Deuber-Mankowsky, Astrid (2000): Der frühe Walter Benja-
min und Hermann Cohen. Jüdische Werte, kritische Phi- Modell grenzt Habermas die >>bewußtmachende<< oder
losophie und vergängliche Erfahrung, Berlin. Ideologie-Kritik ab, die zeigt, daß sich hinter dem
Habermas, Jürgen ( 1972): >>Zwischen Kunst und Politik. Eine scheinbar allgemeinen Interesse das besondere der
Auseinandersetzung mit Walter Benjamin<<, in: Merkur 26,
Herrschenden verbirgt. Habermas ist der Ansicht, >>daß
H. 9, 856-869.
Habermas, Jürgen (1973): >> Bewußtmachende oder rettende aus der rettenden Kritik keineswegs, wie aus der be-
Kritik- die Aktualität Walter Benjamins<<, in: ders.: Kultur wußtmachenden, eine immanente Beziehung zur po-
und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a. M., 302-344. litischen Praxis zu gewinnen ist<< (212). Damit stuft
Habermas, Jürgen (1988): Der philosophische Diskurs der
Habermas, wie Hiliach feststellt, den politischen An-
Moderne, Frankfurt a. M.
Heidbrink, Ludger (1999): >>Kritik der Moderne im Zeichen spruch von Benjamins Denken noch hinter den jener
der Melancholie. Walter Benjamin und Martin Heidegger<<, Ideologiekritik zurück, von der sich studentische
in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. Gruppierungen aus einem unmittelbar politischen
2,München, 1206-1228.
Bedürfnis abgewandt haben ( Hiliach 1977, 86). Nichts-
Jäger, Lorenz (1998): Messianische Kritik. Studien zu Leben
und Werk von Florens Christian Rang (Europäische Kul- destoweniger sieht Habermas Benjamins Aktualität
turstudien 8), Köln/Weimar/Wien. darin, die dialektische Theorie des Fortschritts durch
Marxismus 33

die Kategorie des Glücks bereichert zu haben. »Könnte tischen Anliegen der revoltierenden Studentenschaft
eines Tages<<, gibt Habermas zu bedenken, >>ein eman- entsprang, sich über den gesamtgesellschaftlichen
zipiertes Menschengeschlecht in den erweiterten Spiel- Standort der Intellektuellen im kapitalistischen Ver-
räumen diskursiver Willensbildung sich gegenüber- wertungsprozeß Klarheit zu verschaffen und die ihm
treten und doch des Lichtes beraubt sein, in dem es adäquate Form revolutionärer Praxis zu bestimmen,
sein Leben als ein gutes zu interpretieren fähig ist? [... ) hatte sie kein anderes Interesse, als diesen Prozeß po-
Ohne die Zufuhr jener semantischen Energien, denen litischer Identitätstindung voranzutreiben<< (Hering
Benjamins rettende Kritik galt, müßten die endlich 1979, 11). Die politische Relevanz wird ausdrücklich
folgenreich durchgesetzten Strukturen des praktischen den akademischen Belangen übergeordnet.
Diskurses veröden<< (Habermas 1972, 220). Habermas' Hering stellt zugleich fest, daß gesellschaftskritische
Beitrag ist insofern signifikant für die neomarxistische Ansätze in den intellektuellen und insbesondere den
Benjamin-Rezeption innerhalb der Wissenschaft, als akademischen Disziplinen seit dem Ende der Studen-
er anstelle einer distanzlosen Verehrung kritisch auf- tenbewegung sich vermindert haben - die wissen-
zeigt, welcher Stellenwert Benjamin in der gegenwär- schaftliche Intelligenz ist >>längst zur routinierten
tigen Sozialphilosophie zukommt. nichtmaterialistischen Tagesordnung übergegangen<<
Auch die Kanonisierung Benjamins als Vordenkers (Hering 1979, 12). Die philologische Forschung igno-
neomarxistischer Ästhetik schließt gerade die Mög- riert zum Teil die politische Entschiedenheit und theo-
lichkeit kritischer Bezugnahmen ein. 1974 erscheint retische Brauchbarkeit von Benjamins Schriften, »um
Heinz Paetzolds Neomarxistische Ästhetik, Teil I: Bloch, sie als Zeugnisse eines tiefsinnigen Ästheten genießbar
Benjamin. Bereits der Titel macht deutlich, daß sich zu machen<< (Lindner 1978, 8). Entsprechend zeigt sich
dieses Gebiet mit eigenen Referenzautoren herausge- an der Benjamin-Rezeption der 1970er Jahre, wie Ger-
bildet hat. Paetzold stellt Benjamins Relevanz für eine hard Wagner bemerkt, >>weitgehend die Zurückdrän-
materialistische Theorie der Ästhetik in systematischer gung der Linken und ihres publizistischen Einflusses<<
Hinsicht heraus (Paetzold 1974, 130) und kritisiert ihn (Wagner 1992, 13). In diesem Zusammenhang wird
mit Argumenten, die auf Adorno zurückgehen: >>Ben- das Bild Benjamins als des ökonomisch-sozial deklas-
jamin [... ) unterschätzt die Technizität der autonomen sierten Intellektuellen verbreitet, der dem Marxismus
Kunstwerke, während er die der technisch reprodu- zugeneigt war und scheiterte; es dient nach Wagner als
zierbaren überschätzt<< (166; vgl. Garher 1987, 177). Spiegel einer desillusionierten linken Generation (vgl.
Auch Helmut Pfotenhauer konfrontiert in seiner Un- ebd.).
tersuchung Ästhetische Erfahrung und gesellschaftliches Kennzeichnend für diese Rezeptionsphase ist die
System unter anderem Benjamins und Adornos Kon- Polemik von Fritz J. Raddatz, der Benjamin für einen
zeptionen des autonomen sowie des technisch repro- >>preußischen Snob und jüdischen Melancholiker<<
duzierbaren Kunstwerks miteinander (Pfotenhauer ausgibt (Raddatz 1979). Wenn Benjamin in seiner An-
1975, 84ff.). Das Ziel besteht darin, wie es im Unter- sprache DER AUTOR ALS PRODUZENT (II, 683-701) auf
titel heißt, Methodenprobleme einer materialistischen die Solidarität des Schriftstellers mit dem Proletariat
Literaturanalyse am Spätwerk Walter Benjamins aufzu- hinzielt, handelt es sich für Raddatz um >>pures Ge-
arbeiten. Abermals wird Benjamin dazu herangezogen, rede<<, um eine »nahezu hochmütige - weil unernste
neomarxistische Ansätze innerhalb einer Disziplin- in -Metapher des >radical chic<<< (Raddatz 1979, 196). So
diesem Fall: der Literaturwissenschaft - zu etablieren wendet Raddatz Benjamins Kritik an Publizisten >>vom
(zur materialistischen Literaturwissenschaft s. u.). Ent- Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky<< (LINKE
sprechend rekonstruiert Bernd Witte die Kontroverse MELANCHOLIE, 111, 280) gegen ihn selbst: >>Ihre Funk-
zwischen Benjamin und Lukacs als grundlegend für tion ist, politisch betrachtet, nicht Parteien sondern
die gegenwärtige materialistische Literaturtheorie Cliquen, literarisch betrachtet, nicht Schulen sondern
(Witte 1975). Moden, ökonomisch betrachtet, nicht Produzenten
Während der Kanonisierung Benjamins in den Gei- sondern Agenten hervorzubringen<< (ebd.). Laut Rad-
steswissenschaften ist auch die Frage aufgekommen, datz ist nicht zu entdecken, >>worin sich der parteilose
ob sein Marxismus nicht eher politisch denn akade- Benjamin, publizierend in bürgerlichen Blättern und
misch aufzunehmen ist. Christoph Hering etwa erklärt Verlagen, lebend vom vermögenden Elternhaus und
1979 im Vorwort seiner Benjamin-Arbeit Der Intellek- die Annehmlichkeiten einer erlesenen Bibliothek wohl
tuelle als Revolutionär, sie habe >>nie die Absicht gehabt, schätzend, sich von diesen Kollegen unterschieden
nur akademischem Bedürfnis Genüge zu leisten: ge- hätte; und hätte unterscheiden können<< (Raddatz
schrieben zu einem Zeitpunkt, als die Bemühung um 1979, 197). Damit werden Benjamins Überlegungen
Walter Benjamins >Materialismus< dem konkret poli- zur gesellschaftlichen Stellung der Intelligenz desavou-
34 Rezeptionsgeschichte

iert, ohne in Rechnung zu stellen, welche kritische »Vorteil gegenüber dem> fortschrittsorientierten Evo-
Selbstreflexion des Autors sie in sich einschließen. lutionismus<, wenn man ein Jahrhundert zu verstehen
Diskreditierungen der Schriftstellerfigur Benjamin, versucht, dessen Hauptmerkmal die Verschmelzung
wie die genannte Polemik, lassen sich daraufhin befra- von Moderne und Barbarei (wie in Auschwitz und
gen, ob sie nicht auch und vor allem gegen diejenigen Hiroshima) ist<< (Löwy 1992, 560).
gerichtet sind, die sich mit ihm als Idol selbst links Benjamins Geschichts-Thesen werden auch bei
positionieren. Otto Kar! Werckmeister vertritt die An- Fredric Jameson aufgegriffen. Wenn ihnen zufolge
sicht, Benjamin sei gerade als politisch entmündigter Kultur und Barbarei untrennbar miteinander verbun-
Intellektueller im Exil zum Vorbild des Marxismus in den sind (I, 696), so muß eine marxistische Kulturana-
der Bundesrepublik geworden, der um 1970 nur noch lyse, die von diesem Prinzip ausgeht, nach Jameson
akademisch, aber nicht mehr politisch verankert sei. zweierlei Perspektiven einnehmen: Zum einen gilt es
Unter diesen Bedingungen werde Benjamins Aus- zu untersuchen, welche ideologischen Funktionen
schluß vom politischen Handeln nachgestellt und zum Kulturartefakte erfüllen; zum anderen aber soll aufge-
Privileg. Der Gestus der Abweichung verkomme zur zeigt werden, welche utopische Kraft diese Objekte
theoretischen Attitüde (Werckmeister 1997, 13; 21). besitzen. In einer Umkehrung des Schlusses von Kultur
Besondere Bedeutung erlangt nach Werckmeister die auf Barbarei erklärt Jameson, »daß alles, was wirklich
literarische und künstlerische Öffentlichkeit: Der mar- ideologisch ist, zugleich notwendig utopisch ist<<
xistischen Kulturkritik im Kapitalismus diene >>die (Jameson 1988, 283). Entsprechend soll dialektisches
literarische und künstlerische Öffentlichkeit als alter- Denken beide genannten Fragestellungen einbe-
natives Argumentationsfeld konsequenzloser ideolo- ziehen.
gischer Debatten<< (12). Abermals wird eine Kritik Michael Hardt und Antonio Negri rekurrieren auf
artikuliert, deren Muster in Benjamins Besprechung Benjamins Begriff des »positiven Barbarentums<<, um
LINKE MELANCHOLIE bereits angelegt ist, wenn er die einen Neuanfang gegenüber der globalen Herrschafts-
»Umsetzung revolutionärer Reflexe [... ] in Gegen- ordnung zu beschreiben, die sie »Empire<< nennen. Der
stände der Zerstreuung, des Amüsements<< (III, 280 f.) Menge (multitude) rechnen sie die Fähigkeit zu, »ein
vor Augen führt (vgl. Hartung 1978, 21 f.). Gegen-Empire aufzubauen, den weltweiten Strömen
Auch nach den Abwertungen linker Benjamin-Re- und Austauschverhältnissen eine andere politische
zeption in den 70er Jahren ist er ein zentraler Referenz- Gestalt zu geben<< (Hardt/Negri 2002, 13). Ebenso wie
autor des Neomarxismus geblieben. Die folgenden der Barbar im Sinne Benjamins von vorn beginnt (vgl.
Beispiele zeigen, wie in der Auseinandersetzung mit ERFAHRUNG UND ARMUT, Il, 215; vgJ. Lindner 1980;
Benjamin marxistische Konzeptionen weitergedacht Raulet 2004; Schneider 1996), zeichnen sich die neuen
werden. Barbaren für Hardt und Negri dadurch aus, zu zerstö-
Michael Löwy erklärt, daß Benjamin in der Ge- ren und neue Lebenswege zu bahnen (Hardt/Negri
schichte des modernen marxistischen Denkens einen 2002, 227). Die produktive Aneignung von Benjamins
einzigartigen Platz einnimmt: als »der erste historische Schriften im Neomarxismus wird mit solchen Beiträ-
Materialist, der radikal mit der Fortschrittsideologie gen fortgeschrieben.
bricht<< (Löwy 1992, 557). So ist es gerade die »ent-
schieden kritische Qualität<< von Benjamins Marxis- Literatur
mus, die ihn nach Löwyvon ehedem dominanten und Bathrick, David (1979): »Reading Benjamin from East to
West<<, in: Colloquia Germanica 12, 246-255.
»offiziellen<< Formen absetzt und ihm beträchtliche Cohen, Margaret: »Benjamin's Marxisms<<, in: dies.: Profane
methodologische Überlegenheit verschafft (ebd.). Als Illumination: Walter Benjamin and the Paris of Surrealist
Paradigma gilt die Kritik, die Benjamin im Fuchs-Auf- Revolution, Berkeley/Los Angeles/London, 17-55.
Derrida, Jacques (1993): »Back from Moscow, in the USSR<<,
satz und in den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GE-
in: Mark Poster (Hg.): Politics, Theory and Contemporary
SCHICHTE an dem Fortschrittsglauben übt, mit dem Culture, New York, 197-235.
marxistische Positionen gewöhnlich verbunden wer- Garber, Klaus (1987): Rezeption und Rettung. Drei Studien
den. Habermas sieht ein Problem darin, daß Benja- zu Walter Benjamin, Tübingen.
Habermas, Jürgen (1972): »Bewußtmachende oder rettende
mins Geschichtskonzeption kaum mit demjenigen
Kritik - die Aktualität Walter Benjamins<<, in: Siegfried
historischen Materialismus vereinbar ist, »der mit Unseid (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt
Fortschritten in der Dimension nicht nur der Produk- a.M., 174-223.
tivkräfte, sondern auch der Herrschaft rechnet<< (Ha- Hardt, Michael!Antonio Negri (2002): Empire. Die neue
Weltordnung, Frankfurt a. M./New York.
bermas 1972, 207). Für Löwy hingegen macht die Hartung, Günter (1978): >>Der Stratege im Literaturkampf<<,
pessimistisch-revolutionäre Haltung gerade den be- in: Lindner 1978, 15-29.
sonderen Wert von Benjamins Marxismus aus, einen Hering, Christoph ( 1979): Der Intellektuelle als Revolutionär.
Judentum und Messianismus 35

Walter Benjamins Analyse intellektueller Praxis, Mün- Werk das Zeugnis eines Denkers der Transzendenz vor,
chen.
Hillach, Ansgar ( 1977): >> Walter Benjamin- Korrektiv Kriti- dessen eigene Grundlagen und Wurzeln im Theologi-
scher Theorie oder revolutionäre Handhabe? Zur Rezep- schen, Kabbalistischen, Messianischen liegen?
tion Benjamins durch die Studentenbewegung<<, in: W. Gershorn Schalem jedenfalls stellte die theologi-
Martin Lüdke (Hg.): Literatur und Studentenbewegung, schen Züge von Benjamins Denken heraus. So neigte
Opladen, 64-89.
)ameson, Fredric (1988): Das politische Unbewußte. Literatur er beispielsweise dazu, im Hinblick auf die Thesen
als Symbol sozialen Handelns, Reinbek. ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE VOn >>einer me-
Lindner, Burkhardt (1978): >»Links hatte noch alles sich zu lancholischen, ja desperaten Ansicht der Geschichte«
enträtseln ... <Zu diesem Band<<, in: ders. (Hg.): »Links hatte zu sprechen, >>für die die Hoffnung, sie könne durch
noch alles sich zu enträtseln ... << Walter Benjamin im Kon-
text, Frankfurt a.M., 7-11. einen Akt wie die Erlösung oder die Revolution auf-
Lindner, Burkhardt (1980): »Positives Barbarenturn- aktua- gesprengt werden, immer noch etwas von jenem
lisierte Vergangenheit. Über einige Widersprüche Benja- Sprunge in die Transzendenz hat, die diese Thesen zur
mins<<, in: alternative, H. 132/33, 130-139. Geschichte zwar zu verleugnen scheinen, die aber noch
Löwy, Michael (1992): »Benjamins Marxismus«, in: Das Ar-
gument34,557-562. immer als geheimer Kern in ihren materialistischen
Lukacs, Georg (1978): »On Walter Benjamin<<, New Left Re- Formulierungen steckt« (Schalem 1983, 67). Schalem
view llO, 83-88. zufolge ist Benjamin die Symbiose von Materialismus
Paetzold, Heinz (1974): Neomarxistische Ästhetik. Teil 1: und Theologie nicht gelungen. Vielmehr halte eine
Bloch, Benjamin, Düsseldorf.
Pfotenhauer, Helmut (1975): Ästhetische Erfahrung und ge- gewisse Form der Zweideutigkeit Einzug in die späten
sellschaftliches System. Untersuchungen zu Methodenpro- Arbeiten Benjamins, sein >>wirkliches«, nämlich an die
blemen einer materialistischen Literaturanalyse am Spät- Theologie angelehntes metaphysisches Denkverfahren
werk Walter Benjamins, Stuttgart. decke sich mit dem materialistischen nicht (23). Dies
Raddatz, Fritz ). (1979): »Die Kräfte des Rausches für die
Revolution gewinnen. Der Literaturbegriff des preußischen hatte Schalem Benjamin ehedem auch brieflich mit-
Snobs und jüdischen Melancholikers Walter Benjamin<<, geteilt- wie etwa im Kontext der Auseinandersetzung
in: ders.: Revolte und Melancholie, Frankfurt a.M., 183- um Benjamins Kraus-Essay 1931 (>>Selbstbetrug« und
213. >>Phraseologie« sind nur zwei der schärferen Worte
Raulet, Gerard (2004): Positive Barbarei. Kulturphilosophie
und Politik bei Walter Benjamin. Münster. Scholems; s. in den Briefen 4, 27; vgl. den Artikel zu
Schiewe, j ürgen ( 1989): »Benjamin, jochmann, Marx und der Schalem, 59-76). Spätere Äußerungen Scholems sind
historische Materialismus<<, in: ders.: Sprache und Öffent- weniger rauh, haben aber immer das Ziel, einen me-
lichkeit. Carl Gustav Jochmann und die politische Sprach-
taphysisch-theologischen Kern Benjamins zu identifi-
kritik der Spätaufklärung, Berlin, 149-162.
Schneider, Manfred (1996): >>Der Barbar der Bedeutungen. zieren, der von anderen Motiven oder >Methoden<
Walter Benjamins Ruinen<<, in: Norbert Bolz/Willern van lediglich überdeckt werde: »Seine Einsichten sind im-
Reijen (Hg.): Ruinen des Denkens. Denken in Ruinen, mer noch in allem Entscheidenden die des Metaphy-
Frankfurt a.M., 215-236.
sikers, der zwar eine Dialektik der Betrachtung ent-
Traverso, Enzo (1997): »Benjamin und Trotzki: Wahlver-
wandtschaften<<, in: Das Argument 39, 697-704. wickelt hat, die aber von der materialistischen him-
Wagner, Gerhard ( 1992): Benjamin Bilder: Aspekte der west- melweit entfernt ist. Seine Einsichten sind die eines ins
europäischen Rezeption Walter Benjamins von 1978 bis Profane verschlagenen Theologen« (Schalem 1968,
1991, Hamburg.
Werckmeister, Otto K. (1997): Linke Ikonen. Benjamin, Ei- 149; auch Schalem 1983, 23).
senstein, Picasso - nach dem Fall des Kommunismus, Ohne eine solch vehemente Positionierung, wie sie
München. - verständlicherweise-bei Schalem zu finden ist, aber
Witte, Bernd ( 1975): »Benjamin and Lukacs. Historical Notes doch mit einem dezidierten Interesse, theologische
on the Relationship Between Their Political and Aesthetic
Theories«, in: New German Critique 5, 3-26. Residuen in Benjamins Denken zu heben und zu si-
chern, rekonstruiert Stephane Moses die geschichts-
philosophischen Theoreme von Benjamin (und Pranz
Judentum und Messianismus Rosenzweig und Gershorn Schalem). >>Indem Ro-
senzweig, Benjamin und Schalem«, so Moses, >>den
Messianismus oder Materialismus? Mit dieser Frage Gedanken an den Sinn der Geschichte aufgaben, ver-
läßt sich eine Debatte der frühen Benjaminrezeption zichteten sie keineswegs auf den Begriff der Hoffnung
und -wirkung zusammenfassen, der es um >den ganzen als historische Kategorie. Ganz im Gegenteil erhebt
Benjamin< ging. Ist Benjamin ein materialistischer sich für sie gerade auf den Trümmern der historischen
Philosoph, der sich, im Zuge eines eigenwilligen Erbes Vernunft die Hoffnung als historische Kategorie. Der
Marxens, der immanenten, d.h. hier materialen, sozi- Begriff der Utopie, die nun nicht mehr als Glaube an
alen und politischen Seite von Geschichte und Gegen- die notwendige Verwirklichung des Idealsam Ende der
wart zuwendet, oder liegt mit dem Benjaminsehen Geschichte verstanden wird, taucht- in der Kategorie
36 Rezeptionsgeschichte

der Erlösung- wieder auf, und zwar so, als könne sie theoretischen Position als das explosive Gemisch seis-
in jedem Augenblick möglich sein. In diesem Modell mographischer Denk- und Geschichtserfahrungen
einer ungewissen, in jedem Moment für den unvor- überliefern. [... ] Benjamin hat offenkundig [... ] sein
hersehbaren Einbruch des Neuen offenen Zeit wird die Denken und Schreiben bewußt als Schauplatz von
unmittelbar bevorstehende Verwirklichung des Ideals Widersprüchen angeordnet.« Es komme darauf an, so
als eine der aus der unergründlichen Vielfalt des hi- Lindner, »in Benjamins Schreibweise die Entschlos-
storischen Prozesses angebotenen Möglichkeiten senheit zu erkennen, mit den ritualisierten Formen des
denkbar<< (Moses 1994, 21). Der »Engel der Ge- wissenschaftlichen und des journalistischen Betriebs
schichte«, so zeigt sich bei Moses, bildet bei allen dreien zu brechen, Abgrenzungen akademischer Disziplinen
ein symbolisches Zentrum für >>die jüdische messiani- nicht anzuerkennen, geltende Begriffsbestimmungen
sche Hoffnung«, daß in den »Rissen der Geschichte« durch suggestive Neubestimmungen außer Kraft zu
(22), jenseits ihrer vermeintlichen Kontinuität und setzen« (Lindner 1985, 7; 8; 10).
Fortschrittlichkeit, Raum und Zeit ist für ein messia- Zum Auslaufen der Opposition von theologischer
nisches Ereignis der Offenbarung und Erlösung (s. oder marxistischer Benjamin-Lektüre faßt später auch
auch Menninghaus 1980; zum Motiv der Offenbarung Menke zusammen: »In den letzten Jahren[ ... ] haben
und dessen Verschränkung mit Benjamins früher sich die Akzente in der Sekundärliteratur verschoben.
Sprachtheorie s. auch Menke 1991, 59-77). Die alten Frontlinien an fruchtlosen Alternativen sind
Benjamin aber, so hielt später Irving Wohlfarth Moses in der neueren Literatur weitgehend verlassen und die
entgegen, habe ein solches Ereignis nicht als Erschütte- Frage> Theologie< oder >Materialismus< wird so zurecht
rung einer historischen Vernunft konzipiert, sondern nicht mehr gestellt. Den Debatten an diesen fixieren-
vielmehr als »deren innerste Struktur: die revolutionäre den Grenzziehungen, seien sie nun vermutet zwischen
Chance, die ihr jederzeit gegeben sei« (Wohlfarth 1999, der frühen und der späten Philosophie Benjamins,
39). Die marxistische Rezeption Benjamins (s. dort) zwischen Messianismus und Materialismus, zwischen
sieht in dieser vermeintlichen Uneindeutigkeit Benja- esoterischem Philosophieren und exoterischer Wen-
mins den Ansatz, ihn - zumindest was seine späteren dung zum Politischen, darf die Lektüre der Benjamin-
Arbeiten betrifft- als materialistischen Denker umzu- sehen Texte sich nun enthoben sehen, weniger weil die
nutzen. Wohlfarth jedoch, der an Benjamins Aktuali- Fragen geklärt wären, als weil sie sich totgelaufen ha-
täts-Begriff und der Frage seiner Aktualisierbarkeit ben« (Menke 1991, lOf.).
interessiert ist, korreliert die beiden Seiten, Theologie Das >Enthobensein<, oder: die Beruhigung der De-
und Materialismus: Zwar »erscheint das buchlichte batte um >Theologie versus Materialismus<, hat, wie es
Männlein der Ersten Geschichtsphilosophischen These oben mit Wohlfarth, Lindner und Menke sich andeu-
als ein rettender Fremdkörper innerhalb des materiali- tete, tatsächlich einige Untersuchungen angestoßen,
stischen Apparats. Dennoch stellt der historische Mate- die sich im Feld theologischer Fragestellungen bewe-
rialismus in Benjamins Augen den einzigen Zufluchtsort gen, ohne damit die frühere Frontstellung zur mate-
dar, der der Theologie noch übrigbleibt. Beide Instanzen rialistischen Benjamindeutung zu restituieren. (Frei-
sind somit aufeinander angewiesen« (Wohlfarth 1999, lich soll damit nicht unterschlagen werden, daß es
39; s. auch Wohlfarth 1985, 79f.). solche auch schon früher gegeben hat. Zu nennen ist
Schon sehr früh hatte sich Henning Günther in sei- hier etwa Winfried Menninghaus' bereits 1980 erst-
ner Studie Walter Benjamin und der humane Marxis- mals erschienene und wirkungsreiche Studie zur
mus, die Garher wiederum als »überaus problemati- »Theorie der Sprachmagie«, in der die Spuren des
sche« bezeichnet (Garber 1987, 172), mit dieser Dua- sprachmystischen Motivs von Hamann, Humboldt,
lität bei Benjamin beschäftigt (Günther 1974, 8f.; der Frühromantik und anderen in den sprachtheore-
53ff.; 74ff.), und auch Fangritz (2000) ist hier exem- tischen Ausführungen Benjamins rekonstruiert wer-
plarisch zu nennen, der in Benjamins Begriffe das Mo- den, s. Menninghaus 1980).
tiv und den Denkansatz des Theologischen werkge- In einem Vortrag verfolgt Hermann Schweppenhäu-
schichtlich verfolgt. ser 1991 die Funktion des theologischen Höllen-Mo-
Die Frage nach der Korrelation oder Dialektik von tivs für Benjamins Bemühungen um eine Analyse der
Theologie und Materialismus bei Benjamin rückt in Moderne (Schweppenhäuser 1992). Die Autoren des
ein anderes Licht, wenn man sie im Zusammenhang Sammelbandes ]ewish Writers, German Literature in-
mit Benjamins Schreibweise betrachtet. »Der Streit um teressiert weniger das Theologische als vielmehr die
die richtige Aneignung der Schriften konnte freilich Frage des Verhältnisses von Judentum und deutscher
nicht posthum im Namen Benjamins entschieden wer- Nationalität bei Benjamin (und Nelly Sachs): »Benja-
den, weil die Schriften selbst weniger die Synthese einer min could be categorized in turn as an emigre writer
Judentum und Messianismus 37

and a New left or Frankfurt school writer, and as he handeiniger >>Kontrastpaare<< auf, um zu zeigen, daß
then emerged as a German philosopher and critic of das>> religionsphilosophische und theologische Denken
the first order, the Jewish themes and motifs of his [ein] konstitutives Merkmal des Benjaminsehen Den-
work could be studiously avoided. The paradox, then, kens ist und das wir als >Messianische Ursprungsdia-
is that Jewishness and Germanness cohabit no better lektik< bezeichnen<< (Lienkamp 1998, 7).
in the reception of their work than they did in the Die Frage nach Eigenart, Bedeutung und Funktion
treatments of their Jives; nor do their individualities des Messianismus in Benjamins Werk ist sicher eine
as distinctive writers and their places within the col- der schwierigsten der gesamten Benjaminforschung
lective tradition of German literature« (Bahti/Fries (vgl. den Artikel zum Theologisch-politischen Frag-
1995, 2). ment, 175-192). So hat etwa Wolfgang Bock (2000)
Eine Philosophie und Kulturtheorie verbindende das Motiv des Messianismus aufgegriffen, indem er
Arbeit liegt mit dem Buch Astrid Deuber-Mankowskys diesen vor dem Hintergrund von Astralmagie und
vor, die sehr genau die Bedeutung Hermann Cohens Melancholietheorie (vor allem im Benjaminsehen
für den frühen Benjamin nachzeichnet. »Cohen war Spätwerk: Passagenarbeit, Baudelaire, Thesen) zu deu-
sich der Bedeutung [der] Korrelationen zwischen Kul- ten und zu erörtern versucht. Auch und insbesondere
tur, Religion und Philosophie bewußt. Aus diesem im Umfeld der Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GE-
Wissen heraus ist das Projekt einer Religion der Ver- SCHICHTE sind hierzu einige Positionen publiziert
nunft aus den Quellen des Judentums entstanden. Die- worden. Heinz-Dieter Kittsteiner etwa unterscheidet
ses Wissen teilt und verbindet Benjamin mit Cohen. zwischen einer mystischen und einer rationalen Seite
Sein Konzept philosophischer Kritik ist aus der Aus- von Benjamins Geschichtsauffassung: Die mystische
einandersetzung mit Cohens Zusammenführung von sei im Bild des rückwärtsgewandten Propheten dar-
Erkenntniskritik, Primat der Ethik und Judentum her- gestellt, der der unterdrückten Vergangenheit Glück
vorgegangen<< (Deuber-Mankowsky 2000, 9). verheiße, und die rationale bestehe im marxistischen
Ähnlich wie in der Rezeption von Emmanuel Levi- Kampf, der die Idee von Glück überhaupt aufrechter-
nas hat sich auch in der Benjaminforschung ein eigenes halte- der historische Materialist begreife die mysti-
Feld ergeben, das sich als eine theologische Rezeption sche Seite als in der rationalen aufhebbar (Kittsteiner
bezeichnen läßt. Hier ist etwa Gillian Rose zu nennen, 1967, 245). Rolf Tiedemann betrachtet die Thesen als
die Benjamins Bezüge zum Judaismus offenlegen und einen Versuch, ein Junktim von historischem Mate-
stark machen möchte (Rose 1993); auch Bernhard rialismus und Theologie herzustellen, so daß sich der
Wunder, der nicht nur Benjamins Begriff der Theolo- Materialismus des Wahrheitsgehaltes der Religion
gie an der >>Schachspielthese<< (Wunder 1997, 48 ff.) vergewissert: >>Wie die wahre Theologie auf den Ma-
und den Begriff des Messianischen am >>Theologisch- terialismus verweist, so bringt der wahre Materialis-
politischen Fragment<< zu entwickeln versucht, son- mus die Theologie erst heim. Zuzeiten hat der histo-
dern im ersten Teil seiner Untersuchung einen aus- rische Materialismus von der Theologie zu lernen, daß
führlichen überblick zur christlichen Rezeption Ben- es keine Erlösung gibt, es sei denn die ganze<< (Tiede-
jamins gibt. Ottmar John (1999) erörtert Benjamins mann 1975, 113f.).
>>mikrologisches Denken<< als Chance für eine sich In einem Aufsatz des italienischen Philosophen Gior-
auch politisch verstehende, doch den Wahrheitsan- gio Agamben zur >>Struktur der messianischen Zeit<<,
spruch des Offenbarungsglaubens nicht aufgebende einem Text zu den Paulinischen Briefen, kommt Ben-
Theologie. Helmut Thielen (1999) setzt strukturell jamin zwar nur kurz, aber an entscheidender Stelle vor;
ähnlich an, indem auch er ein spezifisches Moment wie überhaupt der Benjaminsehe Hintergrund für die
des Benjaminsehen Denkens isoliert, das >>Eingeden- in diesem Zusammenhang stehenden geschichtsphi-
ken<<, und dieses- nach einer eigenständigen, kurzen losophischen überlegungenAgambens deutlich spür-
Rezeptionsgeschichte des Theologie-Materialismus- bar ist. Agamben schreibt also an zentraler Stelle: >>Der
Verhältnisses bei Benjamin - anhand von zentralen Messias ist schon angekommen, das messianische Er-
Metaphern oder Bildern aus Benjamins CEuvre hin- eignis ist schon vollendet, aber seine Gegenwart trägt
sichtlich seiner theologischen Implikationen verfolgt. in sich eine andere Zeit, welche die parousia ausdehnt,
Christoph Lienkamp (1996 u. 1999) geht in seinen jedoch nicht um sie zu verschieben, sondern im Ge-
Publikationen der Frage nach, wie Benjamin für die genteil, um sie erfassbar zu machen. Deshalb kann den
religionsphilosophische Forschung fruchtbar zu ma- Worten Walter Benjamins zufolge jeder Augenblick die
chen sei; neben einer resümierenden Darstellung der >kleine Pforte sein, durch die der Messias eintritt<<<
>>Situation der gegenwärtigen religionsphilosophischen (Agamben 2005, 178).
Diskussion<< schlüsselt er das Benjaminsehe Werk an- Eine der prominentesten Einlassungen zum Messia-
38 Rezeptionsgeschichte

nismus in bezug auf Benjamin stammt von Jacques lektik. Religionsphilosophische Implikationen im Denken
Walter Benjamins«, in: Garber/Rehm 1999, Bd. 1, 425-
Derrida, der auf die langanhaltende Debatte und die 448.
teils vehemente Kritik an seinem 1993 erschienenen Lindner, Burkhardt (1985): »>Links hatte noch alles sich zu
Buch Spectres de Marx mit einem eigenen Text wie- enträtseln ... «<, in: ders. (Hg.): Walter Benjamin im Kon-
text, Königstein, Ts, 7-11.
derum reagierte (Derrida 2004; das frz. Original er-
Menke, Bettine (1991): Sprachfiguren. Name- Allegorie-
schien 2002). Derrida nimmt hier u.a. Bezug auf die Bild nach Walter Benjamin, München.
Benjaminsehe Formulierung einer >>schwachen mes- Menninghaus, Winfried (1980): Walter Benjamins Theorie
sianischen Kraft<< (I, 694) und die Position seiner ei- der Sprachmagie, Frankfurt a. M.
Moses, Stephane (1994): Der Engel der Geschichte. Pranz
genen Formulierung eines >>Messianischen ohne Mes- Rosenzweig. Walter Benjamin. Gershorn Scholem, Frank-
sianismus<< (Derrida 2004, 81): Dieser >>ist kein abge- furta.M.
schwächter Messianismus, eine verminderte Kraft der Pangritz, Andreas (2000): »Theologie«, in: Michael Opitz/
messianischen Erwartung. Es ist eine andere Struktur, Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt
a.M., 774-825.
eine Struktur der Existenz, der ich weniger durch den Rabinbach,Anson (1985): »BetweenEnlightenmentandApo-
Bezug auf religiöse Traditionen, sondern aufMöglich- calypse: Benjamin, Bloch, and Modern German Jewish
keiten gerecht zu werden versuche, deren Interpreta- Messianism«, in: New German Critique 12, H. 34, 78-
tionen ich gerne verfolgen, verfeinern, komplexer 124.
Rose, Gillian ( 1993 ): »Walter Benjamin- Out of the Sources
machen und kritisieren möchte<<. Es handelt sich >>um of Modern Judaism«, in: Judaism and Modernity: Philo-
eine Erwartung ohne Erwartung, eine Erwartung, de- sophical Essays, Oxford, 175-210.
ren Horizont in gewisser Weise durch das Ereignis Scholem, Gershorn (1968): »Walter Benjamin«, in: über Wal-
ter Benjamin, Frankfurt a.M., 132-162.
einen Sprung bekommen hat (erwartet, ohne erwartet
Scholem, Gershorn ( 1975): Walter Benjamin- die Geschichte
zu sein), die Erwartung eines >Ankünftigen<, das, um einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
>anzukommen<, jede bestimmte Antizipation überstei- Scholem, Gershorn (1983): Walter Benjamin und sein Engel.
gen und überraschen muß<< (82; der gesamte Gedan- 14 Aufsätze und kleinere Beiträge, hg. v. Rolf Tiedemann,
Frankfurt a. M.
kengang: 78-90). Schweppenhäuser, Hermann (1992): »Infernalische Aspekte
der Moderne. Anthropo-theologische Elemente in Benja-
Literatur mins Geschichtsbegriff«, in: ders.: Ein Physiognom der
Agamben, Giorgio {2005): >>Die Struktur der messianischen Dinge. Aspekte des Benjaminsehen Denkens, Lüneburg,
Zeit«, übers. von Judith Kasper, in: Nikolaus Müller-Schöll/ 153-170.
Saskia Reither (Hg.): Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Thielen, Helmut (1999): »Eingedenken. Walter Benjamins
Raum, Text und Kunst, Schliengen, 172-182. theologischer Materialismus«, in: Garber/Rehm 1999, Bd.
Bahti, Timothy/Marilyn Sibley Fries (Hg.) (1995): Jewish 3, 1371-1409.
Writers, German Literature. The Uneasy Examples ofNelly Tiedemann, Rolf {1975): »Historischer Materialismus oder
Sachs and Walter Benjamin, Ann Arbor. politischer Messianismus? Politische Gehalte in der Ge-
schichtsphilosophie Walter Benjamins«, in: Bulthaup 1975,
Bock, Wolfgang (2000): Walter Benjamin - Die Rettung
77-121.
der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, Biele-
Wohlfarth, Irving ( 1985): »Der >Destruktive Charakter<. Ben-
feld.
jamin zwischen den Fronten«, in: Burkhardt Lindner
Bulthaup, Peter (Hg.) (1975): Materialien zu Benjamins The-
(Hg.): Walter Benjamin im Kontext, Königstein/Taunus,
sen >über den Begriff der Geschichte<, Frankfurt a. M.
65-99.
Derrida, Jacques (2004): Marx & Sons, übers. von Türgen
Wohlfarth, Irving (1986): >»Immer radikal, niemals konse-
Schröder, Frankfurt a. M.
quent... < Zur politischen Standortbestimmung Walter
Deuber-Mankowsky, Astrid (2000): Der frühe Walter Benja-
Benjamins«, in: Norbert Bolz/Richard Faber (Hg.): Antike
min und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Phi-
und Moderne. Zu Walter Benjamins >Passagen<, Würzburg,
losophie, vergängliche Erfahrung, Berlin.
116--137.
Garber, Klaus (1987): Rezeption und Rettung, Tübingen. Wohlfarth, Irving (1999): >»Einige schwere Gewichte<? Zur
Garber, Klaus/Ludger Rehm (Hg.) (1999): global benjamin, >Aktualität< Walter Benjamins«, in: Garber/Rehm 1999, Bd.
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Günther, Henning (1974): Walter Benjamin und der humane Wohlfarth, Irving (2002): »Messianischer Nihilismus. Zu
Marxismus, Olten/Freiburg i. Br. Walter Benjamins Theologisch-politischem Fragment«, in:
John, Ottmar (1999): »Benjamins mikrologisches Denken. AshrafNoor/JosefWohlmuth (Hg.): >Jüdische< und >christ-
überlegungenaus theologischer Perspektive<<, in: Garber/ liche< Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert, Paderborn,
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Kim, Young-Ok (1995): Selbstportrait im Text des Anderen. Wunder, Bernhard (1997): Konstruktion und Rezeption der
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Kittsteiner, Heinz-Dieter (1967): »Die >geschichtsphilosophi- politische Fragment«, Würzburg.
schen Thesen«<, in: alternative 10, H. 56/57, 243-251.
Lienkamp, Christoph (1998): Messianische Ursprungsdialek-
tik. Die Bedeutung Walter Benjamins für Theologie und
Religionsphilosophie, Frankfurt a.M.
Lienkamp, Christoph (1999): »Messianische Ursprungsdia-
Dekonstruktion 39

Dekonstruktion dezu anzubieten. Und nicht nur das - möglich, daß


Benjamins Denken und insbesondere Schreiben selbst
Im Unterschied zu den meisten anderen der hier vor- dekonstruktiv war (etwa Menke 1991; Derrida 1990).
gestellten offenen Felder der Benjamindiskussion, die Gleichwohl dauert es bis 1980, da Derrida sich in ei-
etwa die medientheoretischen, literarischen oder lite- nem Text Benjamin zuwendet: Mit >>Des tours de Ba-
raturästhetischen, die marxistischen Momente in Ben- bel<< (1987/1997) legt er eine intensive Lektüre von
jamins Werk fokussieren, wird es in diesem Abschnitt Benjamins DIEAUFGABE DES ÜBERSETZERS (IV, 9-21)
zur >>Dekonstruktion<< darum gehen müssen, eine Um- vor. Demnach tritt schon in der biblischen Erzählung
gangsweise mit Benjamins Schriften zu skizzieren, die des Turmbaus zu Babel die unumgängliche Notwen-
sowohl eine philosophische Form bzw. >Schule< als digkeit von übersetzung zutage. Diese Notwendigkeit
auch eine spezifische Lektüre darstellt. meint auch, daß keine übersetzung je das wird mit-
Dekonstruktion wird erst innerhalb eines bereits teilbar restituieren oder fortschreiben können, von wo
begrifflich oder ästhetisch konstatierten Kontextes sie herkommt. Eine jede Übersetzung ist und bleibt
aktiv. Eine dekonstruktive Intervention setzt diesen ein Versprechen hierauf. >>Aber ein Versprechen ist
auseinander hinsichtlich des durch die eigenen Be- nicht nichts; die übersetzung zeichnet sich nicht nur
griffe und Thesen produzierten Ausgegrenzten, des durch das aus, was ihm fehlt, um eingelöst zu werden.
ihnen Differenten (insbesondere der rhetorischen und Als Versprechen ist die Übersetzung schon ein Ereignis,
signifikanten Textebenen). So werden jene Vorannah- die entscheidende Signatur eines Vertrags<< (Derrida
men kenntlich, die die jeweiligen Texte dazu führen 1997, 148). Hiermit liegt nun eine typisch dekonstruk-
konnten, den Gedankengang als in sich abgeschlossen tive Zuspitzung vor: Zwar ist die übersetzungein >>sel-
und wahr zu setzen. Eine der ethischen Implikationen tenes und bedeutendes Ereignis<< (ebd.), doch ist das,
der Dekonstruktion besteht demnach darin, die Kon- was sich in ihr zeigt, nicht die Wahrheit des Ereignens.
textualisierung von Wahrheit, ihre Differenzialität und Die übersetzung ist nicht wesentlich ein Medium der
eine unerläßliche Offenheit ihrer eigenen Infragestel- Mitteilung, wie Derrida in Orientierung an Benjamin
lung gegenüber zu ermöglichen. Erst hierdurch wird, festhält (Derrida 1997, 135), sondern in der genannten
dem dekonstruktiven Gedanken nach, eine Chance des Struktur des Versprechens liegt vielmehr die >>Erfah-
Weiterdenkens bewahrt. rung<< einer >>Entfernung<< (160f.)- dievon der >>reinen
Mitte der 1960er Jahre tritt >die Dekonstruktion< Sprache<<, auf die alle Sprache selber in der überset-
durch erste Publikationen Jacques Derridas ins Licht zung >>als babylonisches Ereignis« zielt ( 159 ), und jene
der akademischen Öffentlichkeit. Der Autor legte da- >>Entfernung« vom >>messianische[n] Ende der Ge-
mals eine neuartige Theorie von Sprache und Schrift schichte« (IV, 14).
vor (De la Grammatologie, 1967) und publizierte ge- Der us-amerikanische Literaturtheoretiker Paul de
radezu zeitgleich eine Sammlung kritischer Auseinan- Man reagiert 1986- ebenso dekonstruktiv- auf Ben-
dersetzungen mit modernen und zeitgenössischen jamins Übersetzer-Aufsatz und auf Derridas Ausfüh-
Autoren (Hege!, Freud, Levinas, Foucault,Artaud u.a.) rungen, indem er u. a. die Folgen von Übersetzungs-
im Sinne eben jener >>Grammatologie<< (L'ecriture et la fehlern des Benjaminsehen Textes bespricht, oder auch
difference, 1967). Seither- und zahlreiche Publikatio- auf die Mehrdeutigkeit des Wortes >>Aufgabe« als
nen und Grabenkämpfe später- hat sich die Dekon- >>task« und im Sinne des >>to give up« abhebt: >>The
struktion als kulturtheoretische Größe in der univer- translator has to give up in relation to the task of re-
sitären, architektonischen, künstlerischen und journa- finding what was there in the original« (de Man 1986,
listischen Welt etabliert. Und wenngleich nicht jeder 80). Im Zentrum vondeMans Text- dem sich die
sich mit dekonstruktiven Verfahren, Positionen oder Abschrift der Vortragsdiskussion anschließt (de Man
Darstellungsformen anzufreunden versteht, sind sie 1986, 94-1 04) - stehen die Analysen einzelner Begriffe
dennoch aus den genannten, internationalen und fä- (wie etwa >>Übersetzen«, >>Nachreife«, >>Meinen«, >>Wort
cherübergreifenden Kontexten nicht mehr wegzuden- und Satz«), der Metaphorik Benjamins und der Ver-
ken. Die dekonstruktive Debatte um Benjamin hat sich hältnisbestimmungvon Übersetzung, >>critical philo-
vor allem auf zwei Felder konzentriert: das der Sprach- sophy, literary theory, history« und >>poetry« (de Man
und Übersetzungstheorie und die Frage nach dem 1986, bes. 80-84; vgl. Greenblatt 1994, 79ff.).
Verhältnis von Gewalt und Gerechtigkeit, ausgehend Die beiden prominenten Analysen von Derrida und
von ZuR KRITIK DER GEWALT (li, 179-203). de Man haben im Zuge der allgemeinen Verbreitung
Ein Denker wie Benjamin, dessen Werk von begriff- und Ausdifferenzierung dekonstruktiver Perspektiven
lichen und sprachtheoretischen Reflexionen durchzo- größere Aufmerksamkeit auf den Benjaminsehen
gen ist, scheint sich dem dekonstruktiven Blick gera- übersetzer-Aufsatz gelenkt. Auf dem Feld der Sprach-
40 Rezeptionsgeschichte

reflexionen konnten günstig, im Zusammenhang mit Geyer-Ryan (1993), Bannet (1993), Park (1994), Rüf-
anderen explizit sprachtheoretischen Texten Benja- fer (1992) und Menke (1995).
mins, weitere Kommentierungen und Kontextualisie- Die Auseinandersetzung Derridas mit ZuR KRITIK
rungen angeschlossen werden. Hier sind Analysen zu DER GEWALT ist konzentriert auf zwei Vorträge, die
finden, in denen Benjamin zwar immer noch behan- später gesammelt erschienen (Derrida 1991). Im Ok-
delt wird, dies aber vermittelt ist über die Auseinan- tober 1989 hält er den Eröffnungsvortrag eines Kollo-
dersetzung mit der Benjamin-Deutung (prominenter) quiums an der Cardozo Law School zum Thema »De-
Autoren wie etwa de Man oder Derrida. Das dekon- construction and the Possibility of Justice<<, im April
struktive Moment schwächt sich nicht selten ab, kann 1990 dann einen Vortrag zum Kolloquium »Nazism
gerade zum eigentlichen Gegenstand der Kritik wer- and the >Final Solution<: Prohing the Limits ofRepre-
den, oder die durch dekonstruktive Reflexionen auf- sentation<< an der University of California, Los Angeles.
geworfenen Fragen und Themen sind schlicht Anlaß Derrida verfolgt dabei verschiedene Motive: Wieder
für weiterführende Anschlüsse an Denker, Theoreme sind es die vermeintlichen Oppositionen, die sich in
oder Themen. der rechtsphilosophischen Debatte finden und die auch
So wird mit Bettine Menkes umfangreicher Studie in die Reflexionen Benjamins aufgenommen sind -
zur Sprachphilosophie Benjamins dessen quasi-dekon- jene von Positivem Recht und (göttlicher) Gerechtig-
struktive Denk- und Schreibweise ausgelegt und vor- keit, von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt,
geführt, wenn sie hier sowohl eine Theorie von Sprach- von affirmativem Streik und Generalstreik. Außerdem
figuren als auch eine Theorie »in/als Figuren des Um- - in einiger Entfernung zu Benjamins Text - werden
wegs« (Menke 1991, 9) sieht. Diese Dopplung zeitigt in vier Zügen Aporien juristischen Handeins und Ent-
eine entscheidende Konsequenz für das Verhältnis von scheidens herauspräpariert (Derrida 1991, 33ff.) und
Wahrheit und Text: »Im Ausgang von Benjamins frü- eine eigene Gedankenfigur der Gerechtigkeit mit der
hem, fragmentarischen und nur als Konfiguration Dekonstruktion verbunden (30). Die Ausführungen
seiner Elemente lesbaren Aufriß einer Sprachphiloso- Derridas haben also zwei Stoßrichtungen: Einerseits
phie wird eine Konzeption von >Wahrheit< lesbar, die fokussieren sie anhand des Benjamintextes vermeint-
dem Bemühen der >Philosophie<, >Wahrheit< unabhän- liche rechtsphilosophische Oppositionen, deren apo-
gig von Umwegen, Derivationen, Verfehlungen der retische Struktur und Aufeinander-Verwiesensein in
Sprache zu denken, entgegensteht, weil sie diese an die Benjamins Text und aber auch mit seiner Hilfe vorge-
Sprache konstitutiv bindet und ihre Bestimmungen führt werden, andererseits kann Derrida diese Analysen
als solche ihrer Darstellung in der Sprache allein zu nutzen, um einen eigenen dekonstruktiven Ansatz zur
geben sucht<< (ebd., explizit zum Derrida-Bezug auch Gerechtigkeitstheorie zu formulieren.
11; kritisch hierzu Markner 1994, 43 f.). Auch bezüglich dieses zweiten großen Themenfel-
Hirsch, ganz im Sinne der Bochumer phänomeno- des, der dekonstruktiven Auslegung von ZuR KRITIK
logischen Schule Waldenfels', führt im Abschlußkapi- DER GEWALT im Ausgang von Derridas Vorträgen, lie-
tel seines Dialog[s] der Sprachen (1995), einer einge- gen zahlreiche Kommentierungen und Weiterentwick-
henden Verhältnisbestimmung des »Sprach- und lungen vor. Hier ist auch immer wieder Derridas kur-
Übersetzungsdenkens<< von Benjamin und Derrida, zes »Postscriptum<< (Derrida 1991, 115ff.) hervorge-
dieses durch den von Levinas geprägten Gedanken hoben worden, in dem er die Vorstellung, den
einer »Spur des Anderen<< weiter. Zwei Jahre später Holocaust im Sinne des Benjaminsehen Theorems
(Hirsch 1997) gibt er mit Obersetzung und Dekonstruk- einer reinen, unblutigen, entsühnenden göttlichen
tion einen reichhaltigen Sammelband heraus (in dem Gewalt deuten zu können, andenkt, was »UDS<<, so Der-
auch zwei Texte von Derrida erscheinen; u. a. die deut- rida, »in Angst und Schrecken<< versetzt (124).
sehe übersetzungvon »Des tours de Babel<<), in dem Gillian Rose (1993, bes. 79-87) setzt sich sehr kri-
die Dekonstruktivität von übersetzung und der Bezug tisch mit der Derridaschen Lesart des Benjamin-Auf-
auf den Benjaminsehen Obersetzer-Aufsatz durchge- satzes auseinander. Nicht nur, daß sie Derrida in bezug
hender Fokus ist. »Denn gerade dieübersetzunglöst auf die verschiedenen Gewaltbegriffe Fehllektüren
in ein und demselben Ereignis bestehende Texturen oder Verkürzungen nachzuweisen versucht, insbeson-
auf und schafft neue; sie konstituiert und destruiert dere wirft sie ihm vor, daß die durch ihn hergestellte
zugleich. Der Prozeß derübersetzungerhellt damit in Nähe von Benjamins Ausführungen zum Holocaust
paradigmatischer Weise die brüchige, inkohärente und unzulässig sei. Zudem verstelle sich Derrida hierdurch
zugleich bedeutungskonstitutive Struktur der Sprache die Möglichkeit einer weiterführenden und ernstzu-
im allgemeinen<< (Hirsch 1997, 11). Weitere, kürzere nehmenden dekonstruktiven Rechtstheorie (Rose
Einzeluntersuchungen hierzu sind etwa zu finden bei 1993, 86).
Dekonstruktion 41

In einer Ausgabe der New Comparison (1994) sind oder Entsetzung, im Moment der Setzung >>hemmt,
dazu gleich drei Artikel erschienen (Roberts, Rogow- verleugnet und kompromittiert<< (Hamacher 1994,
ski, Geyer-Ryan). Helga Geyer-Ryan bezieht hier die 340).
Gesetzeskraft-Debatte auf Kafka und sieht in der Li- Neben den beiden großendekonstruktiven Debat-
teratur den Ort, an dem omnipräsente juristische ten um einerseits Benjamins Sprachphilosophie und
Macht bzw. Gewalt einer (dekonstruktiven) Zerset- andererseits den Aufsatz ZuR KRITIK DER GEWALT
zung oder zumindest Infragestellung unterzogen wer- seien drei verstreute, etwas anders gelagerte Ausfüh-
den kann (Geyer-Ryan 1994, bes. 163 f.). rungen noch genannt.
In dem materialreichen Herausgeberband von Ha- Allläßlich einer Reise nach Moskau (1990) verfaßt
verkamp (1994) finden sich dekonstruktive Aufsätze, Derrida einen Text zu drei anderen Moskau- bzw. Ruß-
die die Denkwege und Argumente Benjamins und land-Reisen: denen von Etiemble, Gide und Benjamin
Derridas erläutern und Bezüge zur rechtstheoretischen (plus einer kurzen Reflexion zu dem Beatles-Stück
Debatte in den USA herstellen, solche, die sich auf die >>Back in the USSR<<, von dem sich der Derrida-Text
Theoriebezüge der beiden Protagonisten konzentrie- auch die Anspielung im Titel leiht, Derrida 1993, 202 ).
ren, und wieder andere, die sich durchaus kritisch mit Derrida verweist hier auf die Notwendigkeit der der
der dekonstruktiven Deutung auseinandersetzen. Benjaminsehen Textgestalt eignenden erzählerischen
Sowohl Lindner (1999) als auch Gehring (1997, zu Offenheit dem Zukünftigen gegenüber, angesichtsder
finden in einem Sammelband, der sich um die Darstel- existenziellen und phänomenologischen Unsicherhei-
lung der verschiedenen >>Denkwege<< Derridas bemüht) ten, die Benjamin in Moskau zu gegenwärtigen hatte.
widmen sich einer möglichst gerrauen Rekonstruktion In >>Entferntes Verstehen<< widmet sich Hamacher
der Derridaschen Benjaminlektüre. Lindner, indem er 1998 ausführlich und eingehend dem Dialog Benja-
den Gedanken- und Argumentationsgang Benjamins min-Kafka: In der Auseinandersetzung mit den >>wol-
in einer eigenen, auch am Benjaminsehen Werkkontext kigen<< Stellen (Hamacher 1998, 284), die Benjamin
orientierten Darstellung nachzeichnet und diese dann bei Kafka ausmacht, und der Auseinanderlegung des
der Derridaschen konfrontiert. Er geht auch ausführ- Nicht-Namens >>Odradek << (305 ff.) erhellt Hamacher,
lich auf die Holocaust-Thematisierung Derridas ein, wie Verstehen stets aufgeschoben bleibt, da es einge-
die durch Verweise auf den biographischen und auch bunden ist in Gesten des Geschriebenen und der
den Werk-Kontext zurückgewiesen wird: >>Eine derar- Schreib- als Verstehensprozesse. Die »wolkige Stelle in
tige Interpretation ist selbst ganz unverantwortlich und der Parabel [Kafkas) ist das Gesetz, das seine Darstel-
erschreckend. Die Vorstellung, daß vom Staat einge- lung verbietet, aber zugleich ist es selber dies verbotene
setztes tödliches Gas als Manifestation der reinen gött- Gesetz: ist also das verbotene und das verbietende und
liehen Gewalt gedacht werden könnte, wäre Benjamin also das sich selbst und jedes Selbst verbietende Gesetz,
nicht in den Sinn gekommen<< (Lindner 1999, 1722). das Gesetz als Entzug des Gesetzes, ein Gesetz ohne
Gehring konzentriert sich vor allem auf Derrida und Gesetz<< (287). Und Odradek >>ist der Name, der sich
verfolgt dessen Motive sehr genau und immer wieder dem Gesetz des Sinns, der familialisierten und teleo-
fokussiert auf rechtsphilosophische Fragen und Be- logisch gebändigten Geschichte entzieht und keinen
griffsbildungen, um so auch den >>Abstand<< zwischen Rat, keine Lehre, keine verbindliche Moral enthält. Er
Benjamin und Derrida formulieren zu können (Geh- verspricht seine Verallgemeinerung und Übersetzung
ring 1997, bes. 236 ff.; zur Differenz von Benjamin und in die Sprache einer transparenten Fabel nur, indem
Derrida s. auch de Vries 1992). er sein Versprechen mit der gleichen Geste zurück-
Hamacher ( 1994) entwickelt in der Auseinanderset- nimmt<< (313).
zung mit Benjamins ZuR KRITIK DER GEWALT ein ei- Schließlich sei auf Derridas Dankesrede zur Verlei-
genes Theorem des >>Afformativ<<, das wiederum hung des Theodor W. Adorno-Preises 2001 verwiesen.
ebenso kritisch wie gewinnbringend sich auf die u. a. Hier >träumt< er- einen Traumbericht Benjamins und
sprechakttheoretische - und auch dekonstruktiv ge- das Wort >>fichu<< motivisch umkreisend - von der
führte (Derrida 1990)- Debatte um das >>Performa- denkerischen Nähe zu Benjamin, Adorno und der
tive<< beziehen läßt. >>Das ironische Gesetz des Affor- Frankfurter Schule. >>Des Traumes sich entschlagen,
mativen ist das Gesetz seiner Bastardisierung mit dem ohne ihn zu verraten, das ist es, was es Benjamin [... ]
Performativen << (Hamacher 1994, 371). Anders gesagt: zufolge gilt: Aufwachen, das Wachen und die Wach-
Jede performative Setzung (und damit ist auf ein zen- samkeit pflegen, ohne die Bedeutung eines Traums
trales, wenn nicht auf das Motiv des Benjaminsehen außer Acht zu lassen, ohne seinen Lehren und seiner
Gewalt-Aufsatzes verwiesen) ist begleitet von Gewalt, Hellsicht untreu zu werden, das bedenken, was der
die sich aber, durch ein ihr eigenes Moment der Zer- Traum zu denken gibt, vor allem dort, wo er uns die
42 Rezeptionsgeschichte

Möglichkeit des Unmöglichen zu denken aufgibt. Die Hirsch, Alfred (1995): Der Dialog der Sprachen. Studien zum
Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und
Möglichkeit des Unmöglichen kann nur als geträumte
Jacques Derridas, München.
sein<< (Derrida 2001). Rund 35 Jahre nach Aufkom- Hirsch, Alfred (Hg.) (1997): Übersetzung und Dekonstruk-
men der Dekonstruktion und über 20 Jahre nach der tion, Frankfurt a. M.
ersten dekonstruktiven Lektüre eines Benjamintextes Lindner, Burkhardt (1999): »Derrida. Benjamin. Holocaust.
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legorie bij Paul de Manen Walter Benjamin<<, in: Benjamin Diskussion ist Benjamins Entwurf einer Vorrede zum
Journaal1, 85-100 (eng!. in dies.: Fahles of desire. Studies Baudelaire-Buch, den RolfTiedemann 1970 im Kurs-
in the ethics of art and gender, Cambridge, Mass. 1994,
buch 20 unter dem nicht von Benjamin stammenden
193-203).
Geyer-Ryan, Helga (1994): »Justice, Literature, Deconstruc- Titel >>Fragment über Methodenfragen einer marxisti-
tion: Homer to Kafka<<, in: New Comparison 18, 152-164. schen Literatur-Analyse<< vorstellte. Tiedemann sprach
Greenblatt, Stephen (1984): Wunderbare Besitztümer, Ber- von einer >>neue[n] Methode der Kunsttheorie<<, die in
lin. dem Text entwickelt werde (Tiedemann 1970, 8). Das
Grossman, Jeffrey ( 1992 ): »The Reception ofWalter Benjamin
in the Anglo-American Literary Institution<<, in: The Ger- starke Interesse an dem Methodenfragment zeigt sich
man Quarterly 65, H. 3/4,414-428. unter anderem daran, daß es 1972 als Raubdruck bei
Hamacher, Werner (1998): »Die Geste im Namen. Benjamin dem Untergrundverlag Paco Press erschien (vgl. Götz
und Kafka<<, in: ders.: Entferntes Verstehen. Studien zu von Olenhusen 2000). Benjamins Fragment wurde
Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt
grundlegend für marxistisch orientierte Ansätze in der
a.M., 280-323.
Haverkamp,Anselm (Hg.) (1994): Gewalt und Gerechtigkeit. Literaturwissenschaft. Neben anderen Texten aus dem
Derrida - Benjamin, Frankfurt a. M. Spätwerk, wie EDUARD FuCHS, DER SAMMLER UND DER
Literaturwissenschaft 43

HISTORIKER (li, 465-505) SOWie ÜBER DEN BEGRIFF gen Lesers, der sich Werke der Vergangenheit aneignet,
DER GESCHICHTE (I, 691-704), stellte das Methoden- zu berücksichtigen. Dieses Prinzip der Rezeptionsäs-
fragment ein Konzept der überlieferungs- und Rezep- thetik sieht Jauß bei Benjamin vorformuliert; Jauß
tionskritik bereit. zitiert aus Benjamins LITERATURGESCHICHTE UND LI-
>>Es ist eine vulgärmarxistische Illusion<<, heißt es in TERATURWISSENSCHAFT, in der Benjamin das Leben
dem Fragment programmatisch, >>die gesellschaftliche und die Wirkung der Werke neben ihre Entstehung
Funktion eines sei es geistigen, sei es materiellen Pro- treten läßt: >>Denn es handelt sich ja nicht darum, die
dukts unter Absehung von den Umständen und den Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit
Trägern seinerüberlieferungbestimmen zu können<< darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden,
(Benjamin 1970, 1; vgl. I, 1164; auch zit. bei Bürger die Zeit, die sie erkennt- das ist die unsere- zur Dar-
1979, 169; Garher 1976, 13 u.ö.). Die Faktoren der stellung zu bringen<< (I, 290; vgl. Jauß 1970, 170f.).
überlieferung eines Werks der Vergangenheit müssen Während Jauß Benjamin als einen Vordenker der Re-
untersucht werden, da sie es in das Licht rücken, in zeptionsästhetik hinstellt, weist Garher auf eine Diffe-
dem es erscheint. Detlev Schöttker faßt diesen Gedan- renz zwischen Benjamin und Jauß hin: Aus Garbers
ken zusammen: >>Setzen sich im Verlauf der Rezepti- Sicht zeichnet sich die Benjaminsehe Konzeption im
onsgeschichte neue Auffassungen durch (in Editionen Gegensatz zu Jauß' Ansatz gerade dadurch aus, >>daß
oder Deutungen), dann verändert sich nicht nur die sie auf der Basis einer historisch-marxistischen Gesell-
Rezeption, sondern auch das Werk selbst. [... ] Die Ana- schaftstheorie das Werk gegen seine überlieferungund
lyse der Rezeption bleibt deshalb einem Werk nicht seine überlieferung gegen das Werk aufzubieten ver-
äußerlich, sondern ist Bedingung seiner Erkenntnis<< mag<< (Garher 1976, 15). Für Benjamin, so Garber, ist
(Schöttker 1996, 552). es nicht damit getan, >>den Erwartungshorizont des
In der Literaturwissenschaft wird Benjamins Postu- Publikums über den jeweils erreichten Stand der Gat-
lat der Rezeptionskritik aufgegriffen; Peter Bürger etwa tungs-Evolution zu rekonstruieren<<, vielmehr ist die
stellt heraus, daß Benjamins Methode von der Über- historische Arbeit so anzulegen, daß sie >>zum Ferment
lieferung ausgeht, aber sich derselben nicht überläßt, gesellschaftlicher Erkenntnis und Praxis aufrücken
sondern nach den gesellschaftlichen Kräften fragt, die kann, indem sie das in der überlieferung nicht zur
diese überlieferungtragen (vgl. Bürger 1979, 169; auch Geltung Gekommene und Unterdrückte in kritischer
Pfotenhauer 1975, 8). Dabei ist ein Bruch mit der Tra- verändernder Absicht mobilisiert<< (Garher 1987, 40 f.;
dition impliziert. Auch Garher hebt dieses Spannungs- vgl. auch Kaulen 1987, 178ff.).
verhältnis hervor, wenn er in seiner Arbeit Martin Neben dem Gedanken der überlieferungskritikhat
Opitz- »der Vater der deutschen Dichtung<< Benjamins vor allem auch Benjamins Allegorie-Begriff die Grund-
späte Rezeptionstheorie als Forschungsgrundlage ver- lagen literaturwissenschaftlicher Forschung erneuert.
wendet. Im Anschluß an Benjamin betrachtet Garher Lindner stellt in seiner 1970 erschienenen Untersu-
den Einbezug der Überlieferungsgeschichte als uner- chung zu »Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk<<
läßlich für eine historisch-materialistische Untersu- heraus, daß Benjamin der Allegorie kunstphilosophi-
chung von Werken der Vergangenheit. Benjamin ist sche Würde verleiht und damit eine einseitige Orien-
nach Garher zu entnehmen, in welchem Maß die ge- tierung an Goethes Symbolbegriff vermeidet. Während
genwärtige Aneignung der Werke eine geschichtlich man unter Berufung auf Goethe alles poetisch >Tiefe<
vermittelte ist: Der überlieferungsprozeß muß verfolgt als symbolisch auffaßte, als Einheit von Wesen und
werden, um die Determinanten der gegenwärtigen Erscheinung, kann im Anschluß an Benjamin der Al-
Aneignung zu überprüfen und ggf. deren Macht bre- legorie, dem ruinenhaften Bruchstück, ein genuin ei-
chen zu können (vgl. Garher 1976, 12). gener Wert zugemessen werden (vgl. Lindner 1970,
Mit dieser Applikation Benjaminscher Methodolo- 15ff.; Naeher 1977, 18; ferner Lindner 2000, ein Bei-
gie grenzt Garher sich kritisch von Hans Robert Jauß trag, in dem der Allegorie-Begriff erstens im Kontext
ab, der bei der Begründung seiner Rezeptionsästhetik des Trauerspielbuchs, zweitens der Baudelaire-Arbei-
sich ebenfalls auf Benjamin beruft. Jauß geht davon ten rekonstruiert und drittens auf Benjamins eigene
aus, daß sowohl der ästhetische Charakter der Litera- Schreibweise bezogen wird). Lindner geht von Benja-
tur als auch ihre gesellschaftliche Funktion von der mins Einschätzung Jean Pauls als »des größten Allego-
Dimension der Rezeption und Wirkung nicht zu tren- rikers unter den deutschen Poeten<< aus, um das Alle-
nen sind: >>Das geschichtliche Leben des literarischen gorische von Jean Pauls Prosa näher zu bestimmen
Werks ist ohne den aktiven Anteil seines Adressaten (Lindner 1970, 13 ff.). Bürger hingegen erklärt, daß
nicht denkbar<< (Jauß 1970, 169). So ist auch für Jauß Benjamins Allegorie-Begriff erst im avantgardisti-
entscheidend, die Gegenwartsbezogenheit des jeweili- schen, nicht-organischen Werk >>seinen adäquaten
44 Rezeptionsgeschichte

Gegenstand findet<<, und verwendet ihn entsprechend Jauß, Hans Robert (1970): >>Literaturgeschichte als Provoka-
tion der Literaturwissenschaft«, in: ders.: Literaturge-
im Zusammenhang der Theorie der Avantgarde (Bürger schichte als Provokation, Frankfurt a.M., 144-207.
1974, 93 ). Auch auf andere Gegenstände der Literatur- Kahl, Michael (1992): >>Der Begriff der Allegorie in Benjamins
wissenschaft wird Benjamins Allegorie-Konzeption Trauerspielbuch und im Werk Paul de Mans«, in: Willern
angewandt: Gert Mattenklott untersucht in Anlehnung van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt
a.M., 392-317.
an Benjamins URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUER- Kaulen, Heinrich (1987): Rettung und Destruktion. Unter-
SPIELS, inwiefern die Trauerspiele des Sturm und suchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins, Tübin-
Drang, vergleichbar mit denen des Barock, zur Alle- gen.
gorisierung neigen (Mattenklott 1968). Heinz Schlaf- Lindner, Burkhardt ( 1970 ): >>Satire und Allegorie in Jean Pauls
Werk. Zur Konstitution des Allegorischen«, in: Jahrbuch
fer knüpft insbesondere auch an Benjamins Baude- der Jean-Paul-Gesellschaft 5, 7-61.
laire-Arbeiten an, um allegorische Formprinzipien von Lindner, Burkhardt (2000): »Allegorie«, in: Michael Opitz/
Goethes Faust II herauszuarbeiten. So ordnet Schlaffer Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1, Frankfurt
a.M., 50-94.
Goethes Allegorie in den Zusammenhang der Geld-
Mattenklott, Gert (1968): Melancholie in der Dramatik des
wirtschaft und des Warenverkehrs des 19. Jh.s ein Sturm und Drang, Stuttgart.
(Schlaffer 1998, 135; vgl. dazu Alt 1988, 141 f.). Menke, Bettine (1991): Sprachfiguren. Name- Allegorie-
Indem Benjamin ein Merkmal der Allegorie darin Bild nach Walter Benjamin, München.
Naeher, Jürgen (1977): Walter Benjamins Allegorie-Begriff
sieht, daß die Beziehung zwischen Bezeichnendem und
als Modell. Zur Konstitution philosophischer Literatur-
Bezeichnetem willkürlich, beliebig wird, gibt er auch wissenschaft, Stuttgart.
Anregungen zu dekonstruktivistischen Lektüren in der Pfotenhauer, Helmut (1975): Ästhetische Erfahrung und ge-
Literaturwissenschaft (vgl. Hamacher 1979, 10 f.; Kahl sellschaftliches System. Untersuchungen zum Spätwerk
Walter Benjamins, Stuttgart.
1992; Menke 1991). Zugleich wird Benjamin mit seiner Rumpf, Michael ( 1978): >>Walter Benjamins Nachleben«, in:
Beschreibung des Melancholikers als >>Grübler [s] über Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Zeichen<< (I, 370) zum >>Kronzeugen der postmodernen Geistesgeschichte 52, H. 1, 137-166.
Faszination durch das Thema Melancholie<< (Wagner- Schlaffer, Heinz (1998): Faust zweiter Teil. Die Allegorie des
19. Jahrhunderts, 2. Auf!. Stuttgart.
Egelhaaf 1997, 16; 175). Schöttker, Detlev (1996): »Theorien der literarischen Rezep-
tion«, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.):
Literatur Grundzüge der Literaturwissenschaft, München, 537-
Alt, Peter-Andre (1988): >>Benjamin und die Germanistik. 554.
Tiedemann, Rolf (1970): »Notiz zu einem Fragment Benja-
Aspekte einer Rezeption<<, in: Norbert Oellers (Hg.): Ger-
manistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Techno- mins«, in: Kursbuch 20, 5-9.
Wagner-Egelhaaf, Martina (1997): Die Melancholie der Lite-
logie. Vorträge des Germanistentages Berlin 1987, Bd. 1,
ratur, Stuttgart.
Tübingen, 133-146.
Alt, Peter-Andre (1995): Begriffsbilder. Studien zur literari-
schen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen,
insbes. 22 f. Genderforschung
Arabatzis, Stavros (1998): Allegorie und Symbol: Untersu-
chung zu Walter Benjamins Auffassung des Allegorischen
in ihrer Bedeutung für das Verständnis von Werken der Seit den 1980er Jahren richten feministische Forschun-
Bildenden Kunst und Literatur, Regensburg. gen und Gender Studies verstärkte Aufmerksamkeit
Benjamin, Walter (1970): >>Fragment über Methodenfragen auf Geschlechterkonzeptionen in Benjamins Texten.
einer marxistischen Literatur-Analyse<<, in: Kursbuch 20,
1-5.
Dabei werden unterschiedliche Perspektiven einge-
Bürger, Peter (1974): Theorie der Avantgarde, Frankfurt nommen: Zunächst rückt in den Blick, ob Benjamin
a.M. die Unterscheidung von Männern und Frauen hierar-
Bürger, Peter (1979): >>Benjamins >rettende Kritik<. Vorüber- chisch faßt. Dieser Frage wird unter anderem in femi-
legungen zum Entwurf einer kritischen Hermeneutik«
nistischen Untersuchungen nachgegangen. Ihnen geht
[1973], in: ders.: Vermittlung- Rezeption- Funktion,
Frankfurt a.M., 160-172. es darum, Positionen kritisch zu hinterfragen, die die
Garber, Klaus (1976): Martin Opitz- >>der Vater der deut- Gleichwertigkeit von Männern und Frauen nicht an-
schen Dichtung<<, Stuttgart. erkennen (vgl. Hof 1995). Darüber hinaus aber wird
Garber, Klaus (1987): >>Benjamins ästhetische Theorie der
Benjamins Werk unter dem Gesichtspunkt betrachtet,
Rezeption«, in: ders.: Rezeption und Rettung, Tübingen,
3-58. inwiefern es jene Männer/Frauen- Unterscheidung
Götz von Olenhusen, Albrecht (2000): >>Kritische Theorie, überhaupt als selbstverständlich und unhintergehbar
Benjamin-Rezeption und Studentenbewegung«, in: Die setzt. Hält es nicht auch Irritationen gegenüber der
Aktion Nr. 175-180,98-116.
>Geschlechter-Ontologie< bereit, indem es gerade nicht
Hamacher, Werner ( 1979): >>Unlesbarkeit«, in: Paul de Man:
Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Wer- von einer fraglosen Trennung des Männlichen und des
ner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt a. M., 7-26. Weiblichen ausgeht? Mit derartigen Fokussierungen
Genderforschung 45

greifen Gender Studies, die das Geschlecht als Kon- Auf Affinitäten von Benjamins Philosophie und heu-
strukt analysieren, Impulse von Benjamin auf. tiger feministischer Theoriebildung weist auch Sigrid
In diesem Zusammenhang werden sexualisierte Fi- Weigel hin. Weigel bezieht sich unter anderem auf den
guren, die in Benjamins Schriften zu finden sind, be- Teil DAS GESPRÄCH aus METAPHYSIK DER JUGEND, in
sonders berücksichtigt: etwa die Hure, die unfrucht- dem es heißt: »Die Sprache der Frauen blieb ungeschaf-
bare Frau, die Lesbierin und die Androgyne in den fen. Sprechende Frauen sind von einer wahnwitzigen
späten Arbeiten zu Baudelaire und zum 19. Jh. Chri- Sprache besessen<< (II, 95). Laut Weigel könnte sich
stine Buci-Glucksmann weist unter anderem auf den Luce Irigaray diesem Satz durchaus anschließen mit
utopischen Gehalt der Entwürfe zur Androgynie hin, der Ansicht, daß Frauen in den etablierten Diskursen
die von Benjamin dem Saintsirnanismus entnommen keinen Ort haben und sich deshalb deren Sprache nur
werden. >>Von heute aus betrachtet<<, so Buci-Glucks- in Form einer verstellenden Mimesis bedienen (vgl.
mann, sind diese Aufzeichnungen Benjamins >>absolut Weigel 1999, 1639). Zudem zieht Weigel eine Verbin-
erstaunlich, denn die historischen und theoretischen dungslinie zu Julia Kristeva: Benjamin akzentuiert in
Intuitionen von Benjamin sind sehr weitreichend. Hier den Frühschriften >>die gleichsam unsichtbare, andere
ruht eine gigantische anthropologische Utopie der Produktivität der Frauen, die an deren unhörbare Spra-
Moderne<< (Buci-Glucksmann 1984, 29; vgl. I, 594f.; che geknüpft ist und dennoch als Voraussetzung der
V, 973 ff.; Buck-Morss 1994, 107; Deuber-Mankowsky kulturellen Produktion zu gelten hat- ähnlich wie Kri-
1992, 13ff.; Weigel1997, 185f.). Barbara Kleiner hält steva von der Produktivität der Frauen spricht als [... ]
dem entgegen, die Androgyne sei eine Erscheinungs- eine stumme Stütze des Systems, die selbst nicht in
form des Weiblichen unter den Bedingungen der Wa- Erscheinung tritt<< ( 1641). Weigel gibt zu bedenken, daß
renwirtschaft und weise nicht über dessen verdinglich- die Frauen, wenn Benjamin das Schweigen als produk-
ten Charakter hinaus (vgl. Kleiner 1999, 1648; kritisch tive weibliche Position ausgibt, in diesen stummen
auch Weinbach 1997, 218 ff.). Bereich verwiesen bleiben (vgl. ebd.).
Daß eine >>männlich-weibliche Janushäuptigkeit<< Eine feministische Lesart von Benjamins URSPRUNG
genuin für Benjamins eigenes Denken und Schreiben DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS findet sich bei Helga
ist, hebt Marleen Stoessel ( 1983, 78; vgl. 3, 438) hervor. Geyer-Ryan. Im Zentrum steht die Gewalt, die nach
Stoessel verweist insbesondere auf eine Auseinander- Benjamin kennzeichnend für die Allegorie ist: >>The
setzung des jungen Benjamin mit Herbert Belmore, in allegorical intention is seen as a production of meaning
der Benjamin bemerkt, wie sehr Männliches und Weib- in which the signifier is male and the body into which
liches sich im Menschen durchdringen: »Europa be- the new meaning is grafted appears to be female<<
steht aus Individuen (in denen Männliches und Weib- (Geyer-Ryan 1994, 200). So spricht Benjamin unter
liches ist) nicht aus Männern und Weibern<< (1, 126). anderem davon, daß >>die Bedeutung als finsterer Sul-
Diese Diskussion hat für Stoessel kaum an Aktualität tan im Harem der Dinge herrscht<< (I, 360). Damit ist
verloren, zumal Benjamin sich »im Geiste dieser Hal- die von Benjamin untersuchte Struktur der Allegorie,
tung vom herrschenden Diskurs seiner und auch noch wie Geyer-Ryan bemerkt, paradigmatisch für die Un-
unserer Zeit unterscheidet<< (Stoessel1983, 78f.). terwerfung des weiblichen Körpers im Patriarchat (vgl.
Eva Geulen stellt den hermaphroditischen sexuellen Geyer-Ryan 1994, 197ff.).
Charakter der paradiesischen Namensprache heraus,
die Benjamin in seinem frühenAufsatzÜBER SPRACHE Literatur
ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN Asai, Kenjiro ( 1999): >>Frau, Mode, Hure- Zum >Weiblichen<
(II, 140-157) beschreibt: als Bindungvon Spontaneität bei Walter Benjamin<<, in: Garber/Rehm 1999, Bd. 3, 1659-
und Empfängnis (vgl. Geulen 1996, 170ff.). Das Herm- 1667.
aphroditische durchzieht als Figur der Ambivalenz, Buci-Glucksmann, Christine (1984): Walter Benjamin und
die Utopie des Weiblichen, Hamburg.
wie Geulen zeigt, Benjamins gesamte Philosophie (vgl. Buck-Morss, Susan (1994): »Der Flaneur, der Sandwichman
167). Gerade wenn Benjamins Position in Fragen se- und die Hure. Dialektische Bilder und die Politik des Mü-
xueller Differenz irritiert und nicht festlegbar ist, stellt ßiggangs<<, in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.): Passagen.
er nach Geulen eine Herausforderung für die gegen- Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhun-
derts, München, 96-113.
wärtige feministische Theoriebildung dar: >>Where Buck-Morss, Susan (1981): »Walter Benjamin- Revolution-
Benjamin's work poses problems for feminism, it ex- ary Writer<<, in: New Left Review 128, 50-75, New Left
poses feminism to its own epistemological and the- Review 129, 77-95.
oretical problematic. And that might weil turn out to Deuber-Mankowsky, Astrid (1989): »Kritik der Moderne im
Zeichen des Geschlechts. Zu Ort und Erscheinungsform
be its most significant contribution to contemporary des Geschlechterverhältnisses in Walter Benjamins Mate-
feminist thought<< (162; vgl. 168 f.). rialien zum Passagenwerk<<, in: dies./Ulrike Ramming!E.
46 Rezeptionsgeschichte

Walesca Tielsch (Hg.): 1789/1989. Die Revolution hat nicht mung von Original und Reproduzierbarkeit (heute
stattgefunden, Tübingen, 87-97.
zum Theorem der Simulation fortgeführt), die Aus-
Deuber-Mankowsky,Astrid (1992): >>Die Frau: Das kostbarste
Beutestück im >Triumph der Allegorie«<, in: Concordia 21, differenzierung von Sprach- und Texttheorie, der An-
2-19. spruch einer Archäologie von Medienformen und
Garber, Klaus/Ludger Rehm (Hg.) (1999): global benjamin, ihrer ästhetischen Eigenheiten, die Beachtung der ma-
3 Bde, München.
Geulen, Eva (1996): »Toward a Genealogy of Gender in Wal- terialen und werkzeughaften Grundlagen von Kom-
ter Benjamin's Writing«, in: German Quaterly 69, H. 2, munikation, die Verbindung medialer Fragen mit
161-180. solchen der Kulturgeschichte und -theorie (etwa zu
Geyer-Ryan, Helga (1994): Fahles of Desire. Studies in the Erinnerung und Gedächtnis, Fortschritt, Schreibver-
Ethics of Art and Gender, Cambridge.
Hof, Renate (1995): »Die Entwicklung der Gender Studies«, fahren, Urbanität), die Berücksichtigung des Wechsel-
in: dies./Hadumod Bußmann (Hg.): Genus. Zur Ge- verhältnisses von Öffentlichkeit und Medialität. Diese
schlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart, Spuren hat Benjamin ausgelegt und durch Thesen,
3-33. Theoreme oder Beschreibungen so zugespitzt, daß er
Kleiner, Barbara (1999): >>An-Sprache oder Sprache über-
haupt. Zur Frage der (sexuellen) Differenz bei Walter Ben- bis heute zu den bedeutendsten Referenzen (und Ge-
jamin«, in: Garber/Rehm 1999, Bd. 3, 1648-1658. genständen) der medienwissenschaftlichen Reflexion
Stoessel, Marleen (1983): Aura, das vergessene Menschliche. und Theoriebildung in Forschung, Lehre und publi-
Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, Mün- zistischer Öffentlichkeit zählt.
chen.
Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benja- Benjamin referiert vielfältig auf Medialität: Wäh-
mins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M. rend etwa im frühen Sprachaufsatz die Sprache als
Weigel, Sigrid (1990): »>Leib- und Bildraum< (Benjamin). Zur Medium der Mitteilung gedacht wird, tritt im Kontext
Problematik und Darstellbarkeit einer weiblichen Dialek- der Dissertation der Zusammenhang zur Kunst und
tik der Aufklärung«, in: dies.: Topographien der Geschlech-
ter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei in der Auseinandersetzung mit Proust der zur Konstel-
Hamburg, 18-42. lation von Gedächtnis und Erinnerung auf- um nur
Weigel, Sigrid (1990): >>Traum- Stadt- Frau. Zur Weiblichkeit einige besonders markante Beispiele zu nennen. Wo
der Städte in der Schrift«, in: dies.: Topographien der Ge- Benjamin sich im Spätwerk mit der Medialität von
schlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur,
Reinbek, 204-227. Kultur befaßt, ist sein durchgängiges Anliegen, diese
Weigel, Sigrid (1999): >»Weiblich-Gewesenes< und der >männ- Medialität ästhetisch, und das heißt hier: von der
liche Erstgeborene seines Werkes<. Von Bildern zu dialek- Wahrnehmung her (aisthesis), zu denken (VII, 381 f.).
tischen Bildern: Geschlechterdifferenz in Benjamins Schrif- Benjamin pointiert dieses Interesse im Kunstwerk-
ten«, in: Garber/Rehm 1999, Bd. 3, 1635-1647.
Weinbach, Heike (1997): Philosoph und Freier. Walter Ben- Aufsatz, indem er Sinnlichkeit und kollektive kulturelle
jamins Konstruktionen der Geschlechterverhältnisse, Mar- Entwicklung verknüpft: >>Die Art und Weise, in der
burg. menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert -
Wolff, Janet (1993): >>Memoirs and micrologies. Walter Ben- das Medium, in dem sie erfolgt- ist nicht nur natürlich
jamin, feminism and cultural analysis«, in: New Forma-
tions 20, 113-122. sondern auch geschichtlich bedingt<< (I, 478). Bolz
schreibt zu diesem Kontext, daß die Ästhetik als Theo-
rie der Wahrnehmung bei Benjamin zu einer >>neuen
Leitwissenschaft« werde (Bolz 1990, 105).
Medienwissenschaft Die Debatten um die obengenannten Motive sind
heute stark ausdifferenziert und haben sich sinnvol-
Benjamin war kein Medienwissenschaftler im heutigen lerweise oft mit den Analysen zu spezifischen Texten
Sinne. Er hat sich nicht systematisch zu Geschichte, Benjamins vermischt bzw. sich daran entwickelt (Ro-
Technik, Formen, Ästhetik oder ökonomischen Struk- mantikstudie, sprachtheoretische Texte, Trauerspiel-
turen >der Medien< geäußert. Es sind bei ihm auch buch, EINBAHNSTRASSE, Kunstwerk-Aufsatz, BERLINER
keine Bezüge auf die medienwissenschaftliche For- KINDHEIT, Passagenarbeit etc.). Für Detailfragen-
schungsdiskussion zu finden. Woran liegt das? Benja- etwa auch zu Analysen einzelner bei Benjamin behan-
min gehört- etwa neben Kracauer, Adorno und später delter Medienformen wie Photographie oder Film -
McLuhan oder auch Flusser - zu jenen Theoretikern, wird daher auf die Autorenartikel und die unten auf-
die den Diskurs medienwissenschaftlicher Reflexionen geführte Forschungsliteratur (die auch ausgewählte
und Theoriebildungen allererst begründet haben. Die Einzeluntersuchungen enthält) verwiesen. Hier seien
Herausbildung einer geistes- und kulturwissenschaft- lediglich einige markante Stationen und Positionen
liehen Medienwissenschaft hat sich auch durch die benannt.
Diskussion der Motive seiner medienkulturwissen- Daß Benjamin auch in medientheoretischen Fragen
schaftlichen Texte vollzogen: die Verhältnisbestim- zum Kanon der Referenzautoren gehört, zeigt nicht
Medienwissenschaft 47

zuletzt ein Blick auf die steigende Anzahl der Einfüh- seine zeichentheoretische Analyse des veränderten,
rungs-Literatur. Zwei Beispiele: In Medientheorien. modernen Produktions- und Arbeitsparadigmas (Bau-
Eine Einführungvon Daniela Kloock und Angela Spahr drillard 1982), die dann in den Folgejahren zu jener
eröffnet Benjamin den Reigen, der dann mit McLuhan, allgemeinen Simulationstheorie weitergedacht wird,
Flusser, Kittler u.a. fortgeführt wird (2000). In der für die sein Name heute insgesamt steht. Die Ausein-
Benjamin-Einführung von Sven Kramer nimmt das andersetzung mit dem Benjaminsehen Reproduzier-
Kapitel zu »Medienpraxis, Medientheorie« neben je- barkeits-Theorem nimmt hierfür eine Schlüsselstel-
nen zur »Sprachtheorie<<, >>Ästhetik<< und >>Geschichts- lung ein.
theorie<< einen zentralen Platz ein (Kram er 2003). Das Eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den
sind zwei jüngere Beispiele von zahlreichen, die die beziehungsreichen Medienreflexionen Benjamins fin-
Etablierung Benjamins als Medientheoretiker und die det man in Lindners Publikationen, die sich mit den
Etablierung der Medienwissenschaft durch die Befas- Wechselbeziehungen von spezifischer Medialität,
sung mit Benjamin indizieren. Die Beschäftigung mit Theorie der Wahrnehmung, Reproduzierbarkeit, Aura,
Benjamins Medienkulturanalysen hat allerdings be- Bildhaftigkeit und Kulturindustrie befassen (s. Litera-
reits rund dreißig Jahre früher eingesetzt. turverzeichnis). So entwickelt beispielsweise der Auf-
Benjamins Kunstwerk-Aufsatz ist schon in den satz >>Medienbilder, Aura, Geschichtszeit. Nach Kra-
1970er Jahren Spiegelfläche einer beginnenden medi- cauer und Benjamin<< (Lindner 1990), ausgehend von
enwissenschaftlichen Reflexion. Im seinerzeit vieldis- den damaligen Berichterstattungen zu Mauerfall und
kutierten Kursbuch 20 >>Üher ästhetische Fragen<< Wiedervereinigung, überlegungen zu Parametern ei-
(1970) wird der Abdruck von Benjamins >>Fragment ner sich systematisch konstituierenden, geistes- und
über Methodenfragen einer marxistischen Literatur- kulturwissenschaftlichen Medienforschung. Auch im
Analyse<< von Martin Jürgens' Aufsatz >>Der Staat als Hinblick auf Benjamins Aurabegriff geht es darum,
Kunstwerk. Bemerkungen zur >Ästhetisierung der Po- >>die (schon bei Benjamin selbst vorhandenen) unter-
litik<<< und Hans Magnus Enzensbergers >>Baukasten schiedlichen Ansatzpunkte - die Umformulierung der
zu einer Theorie der Medien<< (Enzensberger 1970) Sprachtheorie als Mimesistheorie, die Technikutopie des
gefolgt, die beide auf Benjamin rekurrieren. Kunstwerkaufsatzes und das Verhältnis von Text und
Enzensbergers engagierter, emanzipatorischer ( 160) Bild- in ihrem (schwierigen) Zusammenhang zu dis-
und von einem aufklärerischen Anspruch der notwen- kutieren<< (Lindner 1992, 217). Zudem arbeitet Lind-
dig einzuführenden Interaktivität der Massenmedien ner heraus, daß die Reproduktion, die >>ZUm Bereich
geleiteter Text enthält für das Programm einer zukünf- der Kopie<< gehört, von der Reproduzierbarkeit zu un-
tigen Medientheorie auch eine klare Empfehlung: >>Bei terscheiden ist, da diese die >>Transformation eines
der Konstruktion einer Ästhetik, die der veränderten Bereichs [bezeichnet], dessen Objekte nur mehr als
Lage angemessen wäre, ist von der Arbeit des einzigen Reproduktionen produziert werden<< (Lindner 2001a,
marxistischen Theoretikers auszugehen, der die eman- 271; vgl. auch 2001). Hervorzuheben an der heutigen
zipatorischen Möglichkeiten der neuen Medien er- medienwissenschaftlichen Debatte um Benjamin ist
kannt hat. Schon vor fünfunddreißig Jahren, zu einem auch die Tatsache der zahlreichen und differenzierten
Zeitpunkt also, da die Bewußtseins-Industrie noch Kontextualisierungen, die seine Thesen und Motive
relativ wenig entfaltet war, hat Walter Benjamin dieses -entweder quer durchs Werk verfolgt oder an Einzel-
Phänomen einer hellsichtigen dialektisch-materiali- texten exemplifiziert - mit Themen gegenwärtiger
stischen Analyse unterwgen. Sein Ansatz ist von der Medienkulturanalysen zu dialogisieren versuchen. Das
seitherigen Theorie nicht eingeholt, geschweige denn ist ein fortsetzendes Denken, das es wagt, die allzu
weitergeführt worden<< ( 178 f.). Im Rekurs auf Benja- bekannten Medien-Thesen Benjamins aufzugreifen,
mins Analysen der technisch-medialen Moderne sah neu durchzuformulieren und auf aktuellen Feldern zu
Enzensberger auch die Chance, dem festgefahrenen erproben (Simulation, Bildpraxis, Digitalisierung, zeit-
Manipulationstheorem, den thematischen Berüh- genössische Kinorezeption, Erinnerung u.ä.). Hier ist
rungsängsten linker bzw. sozialistischer und bürgerli- etwa Boris Groys (2003, bes. 9-46) zu nennen, der in
cher Theoretiker zu entkommen (163 f.; 166f.; 173; Auseinandersetzung mit dem Aura-Begriff ein neues
gegen McLuhan 177f.). Verständnis des Museums als Medium und als Instal-
Schöttker weist zu Recht daraufhin (Schöttker 2002, lation gewinnt. Zu solchen Aktualisierungsversuchen
414f.), daß Benjamin in Frankreich durch Baudrillard zählen auch Studien, die sich im Gefolge der Forschun-
schon 1976 eine Rezeption erfuhr. Baudrillard entwik- gen zur Materialität der Kommunikation der Produk-
kelt am Benjaminsehen Gedanken des auf Reprodu- tivität medialer Gesten zuwenden. So etwa Alexander
zierbarkeit hin angelegten (Kunst- )Werkes vorerst Honold (2000), der aus dem Benjaminsehen Werk eine
48 Rezeptionsgeschichte

Theorie des Lesens filtert, entsprechend Karlheinz finden, wenn man nur die richtigen, >sensiblen< Para-
Barck (1999), der sich dem Gestus des Schreibens bei digmen identifiziert. So geschehen bei Samuel Weber
Benjamin widmet. Ein solcher grammatologischer Ef- ( 1996), der den Spuren des Topos' >>Bild« in Benjamins
fekt der Schriften und Projekte Benjamins ist auch Texten nachgeht und diese mit Heideggers Vortrag
relevant für Nicolas Pethes (1999), der sich dem Wech- >>Die Zeit des Weltbildes<< von 1938 in einen Dialog
selspiel von Konstitution und Destruktion des Erin- bringt. Weber schließt: >> What is condemned in the Age
nerns widmet, und Heiko Reisch (1992), der an den of Technical Reproductibility is not aura as such, but
Benjamins Texte bestimmenden >>Diskursmaterialitä- the aura of art as a work of representation, a work that
ten Schrift, Stimme/Ton, Bild und Film<< (Reisch 1992, has its fixed place, that would take its place in and as
9) eine Differenzierung des Erfahrungsbegriffs vor- a world picture. What remains is the mediaura of an
nimmt. Daß der Zusammenhang von Erfahrungsbe- apparatus whose glance takes up everything and gives
griff und Medientheorie von großer Bedeutung ist, nothing back, except perhaps in the blinking of an eye<<
macht auch Graeme Gilloch klar, der die Medientexte (Weber 1996, 49).
in den Kontext des Benjaminsehen Spätwerks stellt
(Gilloch 2002, 163-197). >>These media suggested to Literatur
Benjamin practices for the imagistic presentation of Barck, Karlheinz ( 1999): »Schrift/Schreiben als Transgression.
the recent past, techniques for the critical and redemp- Walter Benjamins Konstruktion von Geschichte(n)«, in:
Garber/Rehrn 1999, Bd. 1, 231-251.
tive historian [... ]. The critical historian [... ] is dedica-
Baudrillard, Jean (1982): Der symbolische Tausch und der
ted to capturing, developing and preserving such Tod, übers. von Gerd Bergfleth/Gabriele Ricke/Ronald
[dialectical] images, images in which the incidental, Vouille, München.
the marginal and the neglected are disclosed and re- Benjamin, Andrew (Hg.) (2005): Walter Benjamin and Art,
London/New York.
membered, images in which are to nourish the struggles
Berg, Ronald (2001): Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung
of the present, images about to vanish<< ( 165; 197). der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und
Der Frage der Aktualisierbarkeit des gesamten Barthes, München.
Kunstwerk-Aufsatzes >>in the digital Age<< wendet sich Bolle, Willi (1999): >>Geschichtsschreibung als ästhetische
Passion«, in: Literaturforschung heute, hg. von Eckart Goe-
der Band Mapping Benjamin (2003) zu, in dem Hans
bel!Wolfgang Klein, Berlin, 98-111.
Ulrich Gumbrecht und Michael Marrinan dreißig in- Bolz, Norbert (1990): »Was heißt Ästhetik bei Benjamin?<<,
ternationale und interdisziplinäre Autoren und Auto- in: Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte. Walter
rinnen für kürzere Einlassungen zusammengeführt Benjamin. Theoretiker der Moderne (Ausstellungsrnaga-
haben. Das >>Mapping« ist hier ernstgemeint, tritt die zin), hg. vorn Werkbund-Archiv Berlin, Gießen, 105-106.
Costello, Peter R. (2004): »Walter Benjamin and Cinerna Pa-
Topographie des Bandes doch hochformalisiert auf: radiso: Teaching Aura, Loss and Recovery«, in: Teaching
Die Herausgeber haben sechzehn >>critical terms<< iso- Philosophy 27, 3, 237-249.
liert, die sie wiederum zu acht Zweiergruppen (quasi Enzensberger, Hans Magnus (1970): »Baukasten zu einer
die Hauptkapitel des Bandes) angeordnet und diesen Theorie der Medien«, in: Kursbuch 20, 159-186.
Ferguson, Jeanine (1997): Developing cliches. Walter Benja-
- wiederum unter je einem der sechzehn Stichworte min and Roland Barthes at the Iimits of photographic
-die Beiträge zugeordnet haben. Solche >>terms« lauten theory. Diss. Univ. of Minnesota, Minneapolis.
etwa: >>Replication<<, >>Technology<<, >>History« oder Fues, Wolfram Malte (1999): »Reproduktion und Sinnlich-
auch >>Fetish<< und >>Presence<<. Man mag dieser Sche- keit. Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz und die Ästhe-
tik der Postmoderne<<, in: Garber/Rehrn 1999, Bd. 1,
matisierung skeptisch, hilflos oder auch kreativ gegen- 634-656.
übertreten, die Herausgeber haben damit ein sinnvol- Fürnkäs, Josef, (1999). »Benjamin und die Philatelie. Medien-
les Ziel verfolgt: >>to duster the different readings of ästhetik im Kleinen«, in: Garber/Rehrn 1999, Bd. 1, 373-
Benjamin into overlapping zones of intellectual inter- 390.
Garber, Klaus/Ludger Rehrn (Hg.) (1999): global benjarnin,
est and intensity<< (Mapping Benjamin 2003, XV), um 3 Bde, München.
eine vielfältige, aktualitätsbezogene Lektüre des Kunst- Gilloch, Graerne (2002): Walter Benjamin. Critical Constel-
werk-Aufsatzes zu ermöglichen- >>despite our >full lations, Carnbridge/England.
immersion< in the data streams of the digital age<< Groys, Boris (2003): Topologie der Kunst, München.
Honold, Alexander (2000): Der Leser Walter Benjamin.
(Mapping Benjamin 2003, XVI; vgl. zum Konnex von Bruchstücke einer Literaturgeschichte, Berlin.
Kunstwerk-Aufsatz und Informationstechnologien Kappelhoff, Hermann (2004): >>Der Lesende im Kino. Allego-
auch Fues 1999; Raulet 2004). rie, Fotografie und Film bei Walter Benjamin<<, in: Malte
Eine solche Aktualitätsrelevanz Benjamins als Me- Hagener/Johann N. Schrnidt/Michael Wedel (Hg.): Die
Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Mo-
dientheoretiker läßt sich bei genauer und behutsamer derne, Berlin, 330--340.
Lektüre auch jenseits heute einschlägiger Themen (wie Kloock, Daniela/Angela Spahr (2000): Medientheorien. Eine
etwa dem der Digitalisierung oder der Simulation) Einführung, 2. Auf!. München.
Kulturwissenschaft 49

Kram er, Sven (2003 ): Walter Benjamin zur Einführung, Harn- Schulte, Christian (Hg.) (2005): Walter Benjamins Medien-
burg. theorie, Konstanz.
Kraniauskas, )ohn (2005): »Laughing at Americanism. Ben- Soll, lvan (1994): >>Mechanical Reproducibility and the Re-
jamin, Mari<itegui, Chaplin<<, in: Peter Osborne (Hg.): conceptualisation of Art: Thoughts in the Wake ofWalter
Walter Benjamin. Critical Evaluations in Cultural Theory, Benjamin<<, in: New Comparison 18,24-41.
London, 368-377. Wagner, Gerhard (1992): Walter Benjamin. Die Medien der
Krauss, RolfH. (1998): Walter Benjamin und der neue Blick Moderne, Berlin.
auf die Photographie, Ostfildern. Wagner, Gerhard (1992): >>Zum Bilde Benjamins. Aspekte
Kubo, Tetsuji (1993): >>Das Ende der schönen Kunst. Zu Wal- seiner medienwissenschaftlichen Rezeption in Westeuropa
ter Benjamins Medientheorie<<, in: Das Verstehen von Hö- von 1980 bis 1990<<, in: Medien, Künste, Kommunikation,
ren und Sehen. Aspekte der Medienästhetik, hg. von )osef hg. von Peter HoffiDieter Wiedemann, Berlin, 170-190.
Fürnkäs, Bielefeld, 39-51. Weber, Samuel (1996): >>Mass Mediauras; or, Art Aura, and
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Lindner, Burkhardt (1992): >>Benjamins Aurakonzeption: Kulturwissenschaft
Anthropologie und Technik, Bild und Text<<, in: Uwe Stei-
ner (Hg.): Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburts- Einige der prägnantesten und wirkmächtigsten Ge-
tag,Bern,217-248. danken Benjamins thematisieren ein gewisses Unbe-
Lindner, Burkhardt (2001): Les medias, l'art et Ia crise de Ia
tradition. Pour une theorie de Ia reproductibilite<<, in: Lou-
hagen an der Kultur: Daß der >Engel der Geschichte<
ise MerzeauiThomas Weber (Hg.): Memoire et Medias, auf die vergangene (Kultur-)Geschichte als eine Folge
Paris, 13-25. von Katastrophen zu schauen hat (I, 697 f. ), findet sich
Lindner, Burkhardt (2001a): >>Das Optisch-Unbewußte. Zur wieder in dem berühmten Gedanken von der dialek-
medientheoretischen Analyse der Reproduzierbarkeit<<, in:
Georg Christoph Tholen u.a. (Hg.): Übertragung- Über-
tischen Verschränkung von Kultur und Barbarei (1,
setzung - Überlieferung. Episteme und Sprache in der 696f.) und läßt Benjamins Plädoyer für ein positives,
Psychoanalyse Lacans, Bielefeld, 271-289. >>neue[s] Barbarentum<< (II, 215) verständlich erschei-
Lindner, Burkhardt (2004): >>Mickey Mouse und Charlie Cha- nen. Schon früh ist die - auch von Adornos Position
plin. Benjamins Utopie der Massenkunst<<, in: Detlev
Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin
her bekannte- Reserviertheit und Skepsis Benjamins
und die Künste, Frankfurt a.M., 144-155. dem Kulturbegriff gegenüber erörtert worden (etwa
Ma, Hea Ryun (2000): Überlegungen zur medientheoreti- Hiliach 1982, ein Aufsatz, der schon 1978 abgeschlos-
schen Konzeption bei Walter Benjamin: der Verfall der sen war- der Autor verknüpft hier die Debatte um den
Aura und der Strukturwandel der Wahrnehmung im Zeit-
alter der technischen Reproduzierbarkeit, Berlin (Diss.).
Kulturbegriff mit Benjamins Faschismusanalyse. Lind-
Mapping Benjamin. The Work of Art in the Digital Age ner, 1985, rekonstruiert die Gründe für die Distan-
(2003), hg. von Hans Ulrich Gumbrecht/Michael Marri- ziertheit Benjamins zum Kulturbegriff in den Kontex-
nan, Stanford. ten Erfahrungsarmut, Geschichtsphilosophie und
Meek,Allen (1995): Mourning and the televisual. The case of
Walter Benjamin, Diss. Univ. of Florida.
Kulturindustrie; vgl. den Artikel >>Zu Traditionskrise,
Mitchell, W.). Thomas (2003): >>The Work of Art in the Age Technik, Medien<<, 451-464).
of Biocybernetic Reproduction<<, in: Modernismlmodern- Jenseits der Benjaminforschung ist >>Kultur<< im in-
ity 10, H. 3, 481-500. ternationalen Kontext - ausgehend von den, auch
Pethes, Nicolas ( 1999): Mnemographie. Poetiken der Erinne-
sozialwissenschaftlich interessierten anglo -amerikani-
rung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen.
Pivecka, Alexander ( 1993): Die künstliche Natur. Walter Ben- sehen Cultural Studies - und in interdisziplinären
jamins Begriff der Technik, Frankfurt a. M. u. a. Perspektiven begrifflich und phänomenorientiert in-
Raulet, Gerard ( 2004): »Bildsein ohne Ähnlichkeit. Jenseits tensiv untersucht und diskutiert worden. Im deutsch-
der Reproduzierbarkeit<<, in: ders.: Positives Barbarentum.
sprachigen Raum finden diese Debatten seit einigen
Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin, Mün-
ster, 173-185. Jahren unter der Bezeichnung >>Kulturwissenschaft<<
Reisch, Heiko ( 1992): Das Archiv und die Erfahrung. Walter statt: Fragen der materiellen und medialen Grundla-
Benjamins Essays im medientheoretischen Kontext, Würz- gen der Gesellschaft; individuelle und kollektive Pro-
burg.
zesse des Gedächtnisses, der Erinnerung und der Zer-
Schöttker, Detlev (2002): >>Benjamins Medienästhetik<<, in:
Walter Benjamin. Medienästhetische Schriften, Frankfurt störung; Bedingungen der Geschlechtsidentitäten und
a.M., 411-433. ihrer überschreitungen; kulturhistorische und ästhe-
50 Rezeptionsgeschichte

tische Analysen in der Perspektive postkolonialer, in- ehenden Literatur erwartungsgemäß auch Themen der
terkultureller Zusammenhänge; von der Medizin bis gängigen Diskurse auf, wie etwa zu Erinnerung und
zur Kunstgeschichte übergreifende Bildforschung; Stu- Gedächtnis (bspw. Folkers 1991; Hortian 1999; Pethes
dien zu kulturellen Topographien etc. Das sind The- 1999) oder auch zu Benjamins Arbeiten in und mit
men, an denen sich das neue Fach Kulturwissenschaft Bildern, Figuren oder >Konstellationen< (bspw. Weigel
erprobt, formiert und mit seinen transdisziplinär an- 1992; Kaffenberger 2001; Baumann 2002; Baecker
gelegten Fragen und Forschungsdesigns den traditio- 2003). Und die Nutzbarmachung der Benjaminsehen
nellen geisteswissenschaftlichen Fächer- und Zustän- Fortschritts- und Historismuskritik für die Kulturge-
digkeitskanon irreversibel, wenngleich nicht ohne schichtsschreibung liegt ebenfalls noch im Rahmen
Kontroversen in Bewegung gebracht hat. Allerdings: etablierter Interessen. So etwa bei Simonis (1998), die
»Die Zukunft der Kulturwissenschaft als Einzeldiszi- die für die Geschichtsschreibung basale Figur des Ge-
plin ist noch offen. [... ] [Sie] wird diese Identität nur netischen nicht nur in Benjamins Trauerspielbuch,
gewinnen können, wenn es ihr gelingt, die Spannung sondern auch bei Burckhardt, Lukacs und Curtius er-
zwischen den Motiven der komplexitätssteigernden örtert; und auch Caygill (2004), der die Bezüge Ben-
Synthese und der Abstandsverringerung von Wissen- jamins zu Burckhardt, Wölfflin, Riegl und Warburg
schaft und kultureller Praxis auf hohem Niveau aus- prüft.
zuhalten, statt an einem der beiden Pole stillzustehen<< Im Zuge des skizzierten akademischen und diszipli-
(Böhme 2000, 203; 205). nären Konstituierungs- und Differenzierungsprozesses
Diese Spannung, zu der auch eine kritische Refle- ist es indes nicht erstaunlich, daß einige Beiträge zu
xion des Kultur-Begriffs gehört, ist- und das gilt auch Benjamin versuchen, die Möglichkeiten und Unmög-
für die Beiträge aus dem Kontext der Benjamin-For- lichkeiten einer Benjamin-Adaption für eben jene
schung- wichtiger als die Frage nach den Fächergren- weitgefaßten Cultural Studies noch weitergehend zu
zen und ihren >zuständigen< Vertretern. Denn die oben eruieren und zu debattieren. So formuliert eine Reihe
angedeuteten Forschungsperspektiven ergeben sich von Autoren ihr Interesse an Benjamin, indem sie die
gerade aus der neuartigen Formulierung jener Span- Frage nach der Aktualität bzw. Aktualisierbarkeit mit
nung. Auf diese kulturtheoretischen Themenfelder jener nach der >Lesbarkeit< Benjamins im Kontext der
wird längst von Forschern zugegriffen, die ihrer insti- Cultural Studiesund insbesondere postkolonialer Dis-
tutioneilen Zuordnung nach (noch) als Philosophen, kurse verknüpft.
Kunsthistoriker, Philologen, Medienwissenschaftler Bei solchen Texten, die die Lektüre Benjaminscher
usw. zu bezeichnen wären, dem Selbstverständnis nach Texte zum Anlaß nehmen, über die die Cultural Stu-
aber nicht (mehr) nur an Kanonfragen interessiert dies konstituierenden Parameter zu reflektieren, läßt
sind. Und die Zahl derjenigen, die das Fach Kulturwis- sich das Leitmotiv der >Orientierung am Konkreten<,
senschaft selbst (oft versehen mit weiteren Schwer- am sinnlichen Material bemerken. Die ermüdende
punktsetzungen wie etwa Ethnologie, Anthropologie, Omnipräsenz von Metareflexionen über Theoriede-
Medien, Kunst) vertreten, ist in der am kulturtheore- signs der Cultural Studies, von Begriffsbildungen und
tischen Diskurs beteiligten Gesamtgruppe (noch) ge- -abgrenzungen, von Sekundär- oder Tertiärkommen-
ring. Das Ganze ist also sowohl in personeller, institu- taren der einschlägigen Literatur, läßt eine (Re- )Ori-
tioneller wie auch thematischer Hinsicht ein in der Tat entierung am Primärphilosophen Benjamin ratsam
aktuelles und >offenes< Feld der Benjaminrezeption. erscheinen. Janet Wolff bezieht das auf die Interessen
Angela McRobbie schreibt in ihrem Aufsatz zum Ver- der Cultural Studies und deren Schreib- bzw. Arbeits-
hältnis von Passagenarbeit und Cultural Studies von weisen: >>I think there are two major reasons for the
der methodischen und fachlichen (d.i. interdisziplinä- current revival of interest in Benjamin's work in cul-
ren) Chance, die sich durch dieBefassungmit Benja- tural studies: memoirs and micrologies. That is, the
mins Werk ergibt: >>For the Passagenwerktobe use to interplay of the autobiographical and the critical in his
Cultural Studies it would be necessary for those work- work accords weil with contemporary tendencies to
ing in Cultural Studies to remernher the value of ex- integrate these two modes of writing; at the same time,
perimentation, the importance of interdisciplinarity, the analytics of the concrete are very much in tune
the breaking down of the distinctions not just between with the current rejection of abstract theory, and the
philosophy, history, literary criticism and cultural ana- desire for specificity« (Wolff 1993, 116). Noch einen
lysis, but also between art and criticism, not for the Schritt weiter - im Sinne einer selbstkritischen Be-
sake of the new, but for social change and transforma- standsaufnahme - geht Esther Leslie, die zumindest
tion« (McRobbie 1992, 167). im Titel ihres Aufsatzes eine Dichotomie aufbaut:
Diese Chancen nutzend, tauchen in der entspre- >>Walter Benjamin versus Cultural Studies« (Leslie
Kulturwissenschaft 51

1999, 110). Letztere erhalten hier vorerst kein gutes der Sprachhaltung- ein machtvolles Subjekt der Dar-
Zeugnis: >>Cultural studies is too cinched in theory, too stellung vorstelle, das mit der Möglichkeit einer, heute
embroiled in schemas and arguments. It is not the unhaltbar gewordenen, universalgeschichtlichen Per-
study of culture, but the study of studies of culture. It spektive einhergehe (etwa Chow 1993; Bolle 1994;
is too far removed from its objects, too negotiated. It Larsen 1998; referierend: Goebel1999 u. 2001).
forgot the world. The glare of dialectical imagery illu- Der andere Zug - der manches Mal in den zuvor
minates the stretch between critical theory and cul- genannten Texten zugleich zu finden ist- nimmt sich
tural studies« (Leslie 1999, 113). Diese Frontstellung Benjamin weniger als Objekt vor, denn als Ideengeber,
zum Lob an Benjamins (undAdornos) Arbeiten wird als Fundgrube an Theoremen und Zitaten, mit denen
schließlich vermittelt, indem sie den Cultural Studies Gedankengang und Problematik des eigenen Textes
ein dialektisches, am Material orientiertes Arbeiten konturiert oder forciert werden können. Dies wird
anempfiehlt. meist durch ein dekontextualisierendes Zitieren er-
Für Tom Cohen ist diese vermeintliche Gegensätz- reicht (für dessen Rechtfertigung wiederum Benjamin
lichkeit von (Meta-) Theoriediskursen über Begriffe selbst teils als Kronzeuge bemüht wird; s. etwa Goebel
wie Geschichte, Ideologie und Politik einerseits und 1999, 535; auch Chow 1993, 43).
der Orientierung am Materiellen der Kultur, ihrer Pra- So ergibt sich ein etwas ungeordneter, doch zumeist
xis und Alltäglichkeit andererseits wiederum eine in- produktiver und anregender Reigen interkultureller
nerhalb der Cultural Studies zugespitzte Debatte, wie und postkolonialer Adaptationen Benjaminscher Aus-
seine Rekonstruktion der Positionen zeigt. Er bricht führungen; so etwa zum Begriff der historisch und
dies auf, indem er in Auseinandersetzung mit Paul de ethnographisch >>Unterdrückten<< (Chow 1993); zur
Man, Michael Bachtin und Walter Benjamin auf die Bedeutung des alten Mexico in der ErNBAHNSTRASSE
Sprachlichkeit und ihre Darstellungsstrategien refe- (Kraniauskas 1994); zu Benjamins übersetzungstheo-
riert. Bei den Abschnitten zu Benjamin steht die Alle- rie als Grundlage einer interkulturellen Literaturwis-
gorie im Mittelpunkt (Cohen 1998, bes. die Einfüh- senschaft (Görling 1997); zur globalisierten Aktualität
rung und die Kapitel3 und 7). des Flaneurs (Goebel200 1); zum Zusammenhang von
Auf dem an postkolonialen Fragen orientierten Feld Benjamin, Zizek und Derrida für eine Theorie von
der Cultural Studies sind es weniger die oben skizzier- >>Europa<< (Richter 2002); zum Rausch als Erfahrungs-
ten, selbstbezüglichen Konstituierungsfragen eines modus des Aufbrechens eines eurozentrischen und
Faches. >>>Kultur< wird hier im weitesten Sinne verstan- subjektzentrierten Blicks auf >den Orient< (Stemmler
den als die nicht totalisierbare Summe der Lebenswei- 2004).
sen, institutionalisierten Praktiken und Repräsentati- Auch einer der Hauptvertreter der interkulturell
onsformen in der multikulturellen Gesellschaft der und politisch orientierten Cultural Studies, Homi K.
spätkapitalistischen und post- oder neokolonialen Bhabha, bezieht sich häufig auf Ausführungen Benja-
Gegenwart. (In diesem Kontext], der sich nicht nur in mins. In Die Verortung der Kultur geht er den Verwer-
Amerika, sondern auch in Deutschland verstärkt ab- fungen zwischen einer sich als Hegemonialmacht
zeichnet, hat Benjamin eine Neuentdeckung erfahren, verstehenden westlichen Kultur und sogenannten eth-
durch die seine Kernkategorien - Aura, technische nographischen Minderheiten nach. Da es hier um
Reproduzierbarkeit, der Sammler, Jetztzeit- in immer Phänomene und eine Problematisierung von Ge-
weiteren Kreisen der Aneignung, Umdeutung und schichtsschreibung, Deutungsmacht und interkultu-
Manipulation zirkulieren<< (Goebel1999, 533). reller übersetzung geht, eignen sich einige Benjamin-
Diese Aneignungen setzen sich aus zwei einander texte (übersetzeraufsatz, Geschichtsthesen, Passagen-
stützenden Zügen zusammen: Der eine besteht in der arbeit) besonders gut (vgl. auch Said 1994, 309).
kritischen überprüfung Benjaminscher Theoreme Es sei exemplarisch eine Passage genannt, an der
oder Aussagen bezüglich der für postkoloniale Inter- auch deutlich wird, wie die o.a. Zitations-Form der
essen wichtigen Analyseparameter wie Eurozentris- Dekontextualisierungen als Aneignung und Aktuali-
mus, Position des Subjekts, Konstruktion substanziel- sierung sich vollzieht. In derBefassungmit den kultu-
ler (ethnologischer) Authentizität. Benjamin gerät hier relle Hybridität und Unterdrückung thematisierenden
durchaus zu einem in den Postcolorrial Studies nicht Texten Frantz Fanons schreibt Bhabha: >>Worin besteht
eben positiv gesehenen >modernen, bürgerlichen, eu- die Kraft, die Fanons Vision auszeichnet? Meiner An-
ropäischen Intellektuellen<, der sich- so die kritischen sicht nach entstammt sie der Tradition der Unter-
Stimmen - mit europäischen Metropolen als Zentren drückten, der Sprache eines revolutionären Bewußt-
moderner Kultur beschäftige, ohne deren Relativität seins darüber, daß- wie Walter Benjamin meint- >der
im globalen Kontext zu sehen, und doch zugleich- in >Ausnahmezustand<, in dem wir leben, die Regel ist.
52 Rezeptionsgeschichte

Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, actuality is [ ... ] inseparable from the question [ ... ]
der dem entspricht.< Und der Ausnahmezustand (state that our actuality asks of us. Where we stand in relation
of emergency) ist immer auch ein Zustand des Neuent- to Benjamin depends on where we stand vis-a-vis the
stehens (emergence). Der Kampf gegen die koloniale present - assuming that we are still standing and not
Unterdrückung ändert nicht nur den Verlauf der Ge- merelywobbling about« (Wohlfarth 1998, 34).
schichte des Westens, sondern stellt sich darüber hin- Die Aktualität Benjamins, seine Aktualisierbarkeit,
aus seiner historistischen Auffassung von der Zeit als ist unlösbar verbunden mit Benjamins» Jetzt« als dem
einer progressiven, geordneten Ganzheit entgegen« uns Gegenwärtigen. Ein solcher Begriff des »Jetzt«
(Bhabha 2000, 61). wirft die Frage auf, in welchem Spannungsverhältnis
Diese Vorgehensweise des dekontextualisierten Zi- wir selbst zur Gegenwart stehen.
tierens ruft auch kritische Stimmen hervor. So etwa
die von Jeffrey Grassman (dem es in seinem Text al-
Literatur
lerdings vor allem um eine kritische Auseinanderset-
Assenova, Daniela (1994): Walter Benjamin- ein Vorläufer
zung mit der dekonstruktiven Lektüre Benjamins postmoderner Denkstrategien? Untersuchungen zur aktu-
geht): >>Within literary and academic systems, Benja- ellen Benjamin-Rezeption, Leipzig.
min and his writings function as signs which various Baecker, Dirk (Hg.) (2003): Kapitalismus als Religion, Ber-
discourses attempt to rewrite according to their own lin.
Baumann, Valerie (2002): Bildnisverbot Zu Walter Benjamins
model. In each case, these discourses emphasize vari- Praxis der Darstellung: Dialektisches Bild - Traumbild -
ous concepts, works, or themes in order to valorize Vexierbild, Eggingen.
their own arguments, which may, however, have less Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, übers.
to do with Benjamin's work than with their own. A von Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl, Tübingen.
Böhme, Hartmut u.a. (2000): Orientierung Kulturwissen-
process of reduction almost inevitably occurs, and the schaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek.
image of Benjamin thereby created excludes some Bolle, Willi ( 1994 ): Physiognomik der modernen Metropole.
aspects of his work which extends beyond the scope Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin, Köln u. a.
of the critic's project« (Grassman 1992, 414). Bolz, Norbert (1994): »Walter Benjamin and the postmod-
ern<<, in: New Comparison 18, 9-23.
So werden die o.a. Beispiele manch alteingesessenem Caygill, Howard (2004): >>Walter Benjamin's concept of
Benjaminleser und-interpretenein zumindest metho- cultural history«, in: David S. Ferris (Hg.): The Cam-
disches Unbehagen an der Kultur( wissenschaft) berei- bridge Companion to Walter Benjamin, Cambridge/UK,
ten, gleichwohl erschließen sich damit wichtige the- 73-96.
Chow, Rey (1993): Writing Diaspora. Tactics oflntervention
matische Felder durch eine (Kultur- )Wissenschaft, die
in Contemporary Cultural Studies, Indianapolis.
zwar nicht >im< Benjaminsehen CEuvre arbeitet, doch Cohen, Tom ( 1998): Ideology and Inscription: Cultural Stu-
gleichsam >mit< ihm. Allen diesen Aneignungen ist dies after Benjamin, de Man, and Bakhtin, Cambridge.
gemein, daß sie nicht primär an einer philologischen Folkers, Horst ( 1991 ): »Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis
aufWalter Benjamins Begriff der Erinnerung«, in: Aleida
oder werkkontextuellen Rekonstruktion oder Deutung
Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und
der Benjaminsehen Schriften interessiert sind. So ge- Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M.,
sehen gehören sie nicht zur >Benjaminforschung< im 363-337.
engeren Sinne - gleichwohl werden hierdurch Blicke Geist, Johann Friedrich ( 1992 ): >>Die Passage in der Literatur«,
auf Benjamin und Blicke mit Benjamin auf gegenwär- in: Passagen. Katalog-Buch zur Ausst. »Nach dem Passa-
gen-Werk«, Mainz, 50-61.
tige Problemlagen ermöglicht, die die Frage der Ak- Goebel, Rolf J. (1999): >> Postkoloniale Kritik und kulturelle
tualität und Aktualisierbarkeit dieses Autors der klas- Authentizität. Zur Rezeption Walter Benjamins in der ame-
sischen Moderne als produktiv und positiv beantwor- rikanischen Kulturtheorie«, in: Weimarer Beiträge 45, H.
tet erscheinen lassen. 4, 532-546.
Goebel, Rolf J. (2001): Benjamin heute- Großstadtdiskurs,
Gleichwohl: Die Aktualität Benjamins (die übrigens Postkolonialität und Flanerie zwischen den Kulturen,
beizeiten auch unter dem Stichwort der »Postmo- München.
derne« verhandelt wird; etwa: New Camparisan 1994; Görling, Reinhold ( 1997): Heterotopia. Lektüren einer inter-
Bolz 1994; Assenova 1994; van Reijen 1995) für unsere kulturellen Literaturwissenschaft, München.
Grossman, Jeffrey ( 1992 ): >> The Reception ofWalter Benjamin
Zeit (und seine Aktualität setzte immer schon still- in the Anglo-American Literary Institution«, in: The Ger-
schweigend seine Aktualisierbarkeit voraus) läßt sich man Quarterly 65, H. 3/4,414-428.
nur solange mit leichter Hand beschreiben oder be- Hortian, Ulrich (1999): »Metaphorae Memoriae. Zur Meta-
schwören, wie nicht eine Reflexion sowohl über unse- phorik des Gedächtnisses bei Walter Benjamin«, in: Klaus
Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 3, Mün-
ren Ort jener Aktualität als auch über den Benjamin- chen, 1526-1543.
sehen Begriff der Aktualität (oder des »Jetzt«) einge- Kaffenberger, Helmut (2001): Orte des Lesens- Alchimie-
setzt hat. Irving Wohlfarth: »The question of his Monade, Würzburg.
Benjamin als Figur des kuturellen Gedächtnisses 53

Kraniauskas, John (1994): »Beware Mexican Ruins! >Üne- Benjamin als Figur des kulturellen
Way-Street< and the Colonial Unconscious«, in: Andrew
Gedächtnisses. Kunst und Literatur,
Benjamin/PeterOsborne (Hg.): Walter Benjamin's Philo-
sophy: Destruction and Experience, London/New York, Ausstellungen
139-154.
Kraniauskas, John (2004): >>Laughing at Americanism: Ben- Verglichen mit der Rezeption anderer Philosophen des
jamin, Mariategui, Chaplin<<, in: Peter Osborne (Hg.):
20. Jh.s, liegt eine Besonderheit von Benjamins Wir-
Walter Benjamin. Critical Evaluations in Cultural Theorie,
Bd. 3, London, 368-377. kungsgeschichte darin, daß es neben der akademischen
Larsen, Svend Erik (1998): >>Benjamin. A Literary Critic?<<, in: Debatte auch eine besonders rege und intensive kura-
New Literary History 29, 135-151. tarisch-dokumentarische sowie künstlerische Ausein-
Leslie, Esther (1999): >>Space and West End Girls: Walter Ben-
andersetzung mit seinem Leben und seinem Werk gibt.
jamin Versus Cultural Studies<<, in: New Formations 38,
110-124. Sie ist zum einen, im Kontext der Erinnerungskul-
Lindner, Burkhardt (1985): »Technische Reproduzierbarkeit tur, mit den großen Benjamin-Jubiläen (etwa zum
und Kulturindustrie<<, in: ders. (Hg.): Walter Benjamin im 50. Todestag) verbunden. Zum anderen sind solche
Kontext, Königstein, Ts, 180-223.
künstlerischen Arbeiten, Ausstellungen oder Doku-
McRobbie, Angela (1992): >>The Passagenwerk and the Place
ofWalter Benjamin in Cultural Studies: Benjamin, Cultu- mentationen Teil der Popularisierung und Adaption
ral Studies, Marxist Theories of Art«, in: Cultural Studies Benjaminscher Ausführungen und Theoreme (Repro-
6, H. 2, 147-169. duzierbarkeit, Aura-Verlust, Topos der Passage, Engel
New Comparison 18 (1994): Walter Benjamin in the Postmod-
der Geschichte, >Geschichte als Katastrophe< etc.)- mit
ern.
Novero, Cecilia (2000): Eating Bodies, eating Texts. Metapho- der Kanonisierung im wissenschaftlichen Bereich geht
res of Incorporation and Consumption in Walter Benja- auf diese Weise eine kreative, bildhafte, künstlerische
min, Dada and Futurism, Chicago, Ill. oder kuratarische Alleignung Benjamins einher.
Osborne, Peter (Hg.) (2004): Walter Benjamin. Critical Eval-
Die Arten des Zugriffs sind hierbei sehr unterschied-
uations in Cultural Theory, 3 Bde, London/New York.
Pethes, Nicolas (1999): Mnemographie. Poetiken der Erinne- lich. Entsprechend warnt Michael Rumpf in seinem
rung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen. Aphorismus zum Benjamin->>Fisch<<: >>Als Zierfisch
Reijen, Willern van (1994): Die authentische Kritik der Mo- ungeeignet, geht er in Aquarien zugrunde. Vorsicht
derne, München.
beim Entschuppen! Einige Schuppen lassen sich nicht
Richter, Gerhard (2002): >>Sites of Indeterminacy and the
Spectres of Eurocentrism«, in: Culture, Theory and Criti- ablösen, ohne daß Fleisch verloren geht<< (vgl. Glück-
que 43, H. 1, 51-65. loser Engel1992, 9).
Said, Edward W. (1994): Culture and Imperialism, New Wie heterogen die künstlerischen Beiträge sind, wird
York.
Simonis, Linda (1998): Genetisches Prinzip. Zur Struktur der etwa an der literarischen Auseinandersetzung mit Ben-
Kulturgeschichte, Tübingen. jamin deutlich. Vermutlich unmittelbar nach dem
Stemmler, Susanne (2004): Topografien des Blicks. Eine Phä- Erhalt von Benjamins Todesnachricht schrieb Bertolt
nomenologie literarischer Odentalismen des 19. Jahrhun- Brecht vier Gedichte über oder auch an den Freund:
derts in Frankreich, Bielefeld.
Weigel, Sigrid (Hg.) (1992): Leib- und Bildraum. Lektüren »Die Verlustliste<<, >>Wo ist Benjamin, der Kritiker?<<,
nach Benjamin, Köln u.a. >>Zum Freitod des Flüchtlings W.B.<<, >>An Walter Ben-
Weigel, Sigrid (Hg.) (1995): Flaschenpost und Postkarte. Kor- jamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte<<
respondenzen zwischen kritischer Theorie und Poststruk- (Brecht 1993, 43; 339; 48; 41). Diese Gedichte >>heben
turalismus, Köln.
Weigel, Sigrid (l995a): »Kommunizierende Röhren. Michel Benjamins Gegnerschaft zur Hitler-Diktatur hervor;
Foucault und Walter Benjamin<<, in: dies. (Hg.): Flaschen- sein Tod verlangt nach der Auflehnung gegen seine
post und Postkarte. Korrespondenzen zwischen kritischer Häscher<< (Wizisla 2004, 286). Eine lyrische Bezug-
Theorie und Poststrukturalismus, Köln, 25-48. nahme auf Benjamin findet sich auch bei Paul Celan,
Weigel, Sigrid (2004): Literatur als Voraussetzung der Kultur-
geschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, etwa in den Gedichten >>Port Bou- Deutsch?<< (Celan
München. 2003), >>Miterhoben<< (Celan 1983b) oder auch >>Aus
Wohlfarth, Irving (1998): >>The measure of the possible, the dem Moorboden<< ( Celan 1983a). Die poetische Befas-
weight of the real and the heat of the moment: Benjamin's
sung mit Benjamin hält bis heute an (vgl. Den Pessi-
actualitytoday<<, in: Laura Marcus/Lynda Nead (Hg.): The
Actuality ofWalter Benjamin, London, 13-39. mismus organisieren 1991, Glückloser Engel 1992,
Wolff, Janet (1993): >>Memoirs and Micrologies: Walter Ben- Jäger 1999), wobei das Spektrum von der triviallitera-
jamin, Feminism and Cultural Analysis<<, in: New Forma- rischen Darstellung von Benjamins (Intim- )Leben
tions 20, 113-122.
(Parini 1997) bis zum Jugendbuch (Hetmann 2004)
Wolff, Janet (1998): >>Memoirs and Micrologies: Walter
Benjamin's artwork essay reconsidered<<, in: Laura Marcus/ reicht.
Lynda Nead (Hg.): The Actuality ofWalter Benjamin, Lon- Am 25. 5. 2004 wurde in München die Oper >>Sha-
don, 156-171. dowtime<< mit Musik von Brian Ferneyhough und
einem Libretto von Charles Bernstein uraufgeführt,
54 Rezeptionsgeschichte

die Walter Benjamin als Intellektuellen darstellt, aus- ter anderem mit der Zusammenarbeit von Benjamin
gehend von der Situation kurz vor seinem Tod. Im und Pranz Hesse! befaßte (Centre National d'Art
Zusammenhang akustischer Medien sind zudem die 1994). Am 26. September 1940, amEndeseiner Flucht
verschiedenen Neuproduktionen von Benjamins vor den Nazis, hatte sich Benjamin in der spanischen
Rundfunkarbeiten (Hörmodell, Hörspiele und Vor- Hafen- und Grenzstadt Portbou das Leben genommen.
träge) zu erwähnen (s.u. das Verzeichnis» Neuprodu- Im Mai 1994 wurde dort der Gedenkort für Walter
zierte Hörstücke<<). Benjamin unter dem Titel >>Passages<< der Öffentlich-
Auch in der Bildenden Kunst gibt es zahlreiche Ben- keit übergeben, für den der israelische Künstler Dani
jamin-Adaptionen; bezogen auf das Medium Photo- Karavan beauftragt worden war. Das Memorial befin-
graphie etwa wäre als Beispiel Jeff Walls »The Story- det sich außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe an den
teller<< (1986) zu nennen. Wall selbst stellt die Nähe zu Klippen, neben dem Friedhof (auf dem auch eine Ge-
Benjamins Erzähler-Aufsatz in einem Interview her denktafel an Benjamin erinnert). Das Environment
(Lauter o.J., 86). Und mit der Einbindung der Benja- besteht aus mehreren Einzelteilen: Von der Stadt kom-
minsehen Ausführungen in medienkritische, postko- mend, fällt zuerst links die steile, in den Fels geschla-
loniale und kunsthistorisch-ikonographische Kontexte gene, zum Meer abfallende und mit rostigen Stahlplat-
in der Photographie vermeidet Wall ein rein mimeti- ten verkleidete Trasse auf. Folgt man ihr, geht der Blick
sches Zitationsverhältnis zu Benjamin (vgl. den Artikel unweigerlich zu einem Meeresstrudel, der sich weit
>>Der Erzähler<<, insbes. 565). unterhalb befindet. Der Gang endet an einer transpa-
Darüber hinaus setzt sich eine Vielzahl von Ausstel- renten Plexiglasscheibe, in die zwei Sätze eingraviert
lungen mit Benjamins Leben und Werk auseinander. sind: >>Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen
Vom 28. 8. bis 14. 10.1990 zum Beispiel, anläßlich des zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der
50. Todestags, zeigte das Adorno-Archiv in Zusam- Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.<<
menarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Mar- (I, 1241) Wieder aufwärts gehend, an einem Oliven-
bach im Schiller Nationalmuseum Marbach am Neckar baum vorbei, gelangt man auf eine Treppe und damit
eine Ausstellung unter dem Titel >>Walter Benjamin teilweise um den oberen Rand des Friedhofs herum,
1892-1940<< (dokumentiert in: Walter Benjamin 1990). zu einem Stahlwürfel, von wo aus der Blick auf das
Für die Ausstellung wurde den Marbachern das Mate- östlich liegende Ufer Frankreichs fällt (s. a. Skrandies
rial aus den Beständen des (damaligen) Adorno-Ar- 2004). Der Installierung des Kunstwerks war eine jah-
chivs zur Verfügung gestellt und mit Marbacher Do- relange Auseinandersetzung um die Finanzierung des
kumenten ergänzt. Vom 21. 10. bis 9. 12. 1990 war diese Ortes durch die beteiligten Institutionen vorangegan-
Ausstellung dann noch im Literaturhaus Berlin zu se- gen (s. Assheuer 1994; Köhler 1994; Ritter 1994;
hen. Scheurmann, in: Scheurmann 1992, 249-264). Das
Vom 28. 12. 1990 bis 28. 4. 1991 wurde Benjamin Projekt wurde gleichwohl schon im Vorfeld gut doku-
im Berliner Martin-Gropius-Bau die Ausstellung mentiert und in Ausstellungen gezeigt (s. Scheurmann
>>Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte<< ge- 1992 u. 1993) und hat zur Einweihung des Gedenkor-
widmet (vom Werkbund-Archiv). Das Vorwort des tes auch die GeneraHtat de Catalunya zu einer künst-
Katalogs gibt Auskunft, wie die >>Intention der Ausstel- lerischen, aus Gedichten und Photographien bestehen-
lung<< sich mit Benjamins Gedankenwelt verbindet: den Dokumentation angeregt (Generalitat de Cata-
>>das zu machen, was im Medium Ausstellung heute lunya 1994). Karavans Gedenkort trägt zwar den Titel
mit Benjamins Denken zu machen ist, nicht gestern >>Passages<<, referiert aber nur entfernt auf Benjamins
und nicht morgen. Der richtige Weg schien uns zu sein, Passagenarbeit. Peter Rautmann und Nicolas Schalz
seine Arbeitsweise: >Denkbilder< zu entwerfen, auf die haben sich ausführlich mit der auf Benjamin bezug-
Produktion von Bildräumen zu übertragen. [... ] Die nehmenden Verarbeitung der Passagen (in Bildender
Ausstellung versucht also, räumliche Entsprechungen Kunst und auch Musik) beschäftigt (1999).
für Benjamins Imaginationen zu finden. Was wir von Walter Benjamins Geburtsstadt Berlin hat ihm
vornherein nicht wollen: eine Interpretation des Werks ebenfalls einen Erinnerungsort gewidmet: Ein Platz
von Benjamin, nicht einmal eine >Einführung<. Am im Stadtteil Charlottenburg trägt seinen Namen. Ge-
ehesten eine> Verführung<: Kein Besucher soll die Aus- rade auch in Berlin wird die Reihe der Ausstellungen
stellung verlassen können ohne den dringenden zu Benjamin fortgesetzt- zuletzt, vom 31. 10. 2004 bis
Wunsch, sich in Benjamins Schriften zu vertiefen<< zum 30. l. 2005, fand im Haus am Waldsee die Aus-
(Werkbund-Archiv Berlin 1990, 7f.). stellung >>Walter Benjamin und die Kunst der Gegen-
1994 gab es im Centre Pompidou die Ausstellung wart<< statt, die den 50. Jahrestag des Erscheinens der
»Walter Benjamin- Le passant, Ia trace<<, die sich un- von den Adornos edierten Schriften-Ausgabe Benja-
Benjamin als Figur des kuturellen Gedächtnisses 55

mins im Suhrkamp-Verlag zum Anlaß hatte. Es wur- Celan, Paul (2003): »Port Bou- Deutsch?«, in: ders.: Die Ge-
dichte. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. von Barbara
den sehr unterschiedliche zeitgenössische Arbeiten Wiedemann, Frankfurt a.M., 510.
gezeigt; zu den Künstlerinnen und Künstler zählten Centre National d'Art et de Culture Georges Pompidou/Bi-
Christian Boltanski, CandidaHöferund Via Lewan- bliotheque Publique d'Information (1994): »Walter Ben-
dowski. Die Werke konnten in den Benjaminsehen jamin, Le Passant, Ia trace«. Ce journal a ete realise a
l'occasion de l'exposition »Walter Benjamin, Le Passant, Ia
Kontext gerückt werden, obwohl nicht alle unmittelbar trace«, organisee par Ia Bibliotheque publique d'information
auf Benjamin rekurrieren. Einige der Exponate wie- au Centre Pompidou du 23 fevrier au 23 mai 1994. Crea-
derum zitieren Benjamin direkt auf eine mimetische tion graphique et maquette: Lionel Le Neouanic, Paris.
Weise (kopierte Covers des Kunstwerk-Aufsatzes; eine Den Pessimismus organisieren (1991). Heiner Müller liest
Walter Benjamin. Mitschnitt (des NDR) einer Lesung im
junge Frau als Engel der Geschichte auf einem Müll- »Freihafen« der Hamburger Kammerspiele, 4.11.1990,
berg mitten in Berlin; die Nachbildung des Schachau- Berlin (Audiokassette).
tomaten etc. ). Andreas Bernard sieht- etwa angesichts Generalitat de Catalunya. Commissionat per a Actuanions
verkäuflicher, Benjamin darstellender Tonfiguren - Exteriors (1994): Catalunya a Walter Benjamin I Katalo-
nien zu Walter Benjamin (Ausstellungskatalog), o.O.
eine Tendenz zu Verniedlichung und Kulturindustrie Glückloser Engel. Dichtungen zu Walter Benjamin (1992),
gegeben: >>Das ist der vordringlichste Eindruck beim hg. von Erdmut Wizisla/Michael Opitz, Frankfurt a.M./
Gang durch die Museumsräume: dass hier eine Ikone Leipzig.
der Gegenwartskunst verfertigt wird, deren Präsenz Hetmann, Frederik (2004): Reisender mit schwerem Gepäck.
Die Lebensgeschichte des Walter Benjamin, Weinheim.
am Ende so massiv ist, dass man am Verkaufstisch auf Jäger, Lorenz ( 1999): »Benjamins Sprache und ihre Rezeption
Benjamin-Schlüsselanhänger und -Kaffeetassen zu in der Dichtung der Gegenwart«, in: Klaus Garber/Ludger
treffen glaubt<< (Bernard 2004, 16). Die Ausstellung Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 3, München, 1453-
wurde von einem Band begleitet, der das Verhältnis 1465.
Köhler, Andrea (1994): »Passage und letzte Station«, in: Die
Benjamin-Kunst unter den Schwerpunkten >>Benjamin Zeit Nr. 21 v. 20.5.1994, 62.
und die Künste in Berlin<<, >>Kunst, Medien und Ästhe- Lauter, Rolf (Hg.) (o.J.): )effWall. Figures and Places (Aus-
tik bei Benjamin<< und >>Benjamin-Rezeption in den stellungskatalog), München u. a.
Parini, )ay (1997): Dunkle Passagen. Ein Waller-Benjamin-
Künsten« wissenschaftlich dokumentiert und erörtert
Roman, München.
(Schöttker 2004). Pasch, Ralf (2005): »Publikumserschaffung«, in: Frankfurter
Die Aktualität von Benjamins Theorien innerhalb Rundschau v. 1.2.2005, 17.
der Kunst zeigt sich nicht zuletzt in der Ankündigung Rautmann, Peter/Nicolas Schalz (1999): "'···die Landschaft
einer Passage<. Fragmente aus Kunst und Musik der Ge-
Roger M. Buergels, des Leiters der documenta XII, den
genwart«, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global
Benjaminsehen - und von Giorgio Agamben weiter- benjamin, Bd. 3, München, 1466-1508.
geführten- Begriff des >>bloßen Lebens« zu einem der Ritter, Henning (1994): »Ein Baum, ein Zaun, die Bucht«, in:
zentralen Themen des 2007 in Kassel stattfindenden Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.5.1994.
Scheurmann, Ingrid und Konrad (1992): Für Walter Benja-
internationalen Kunstevents zu machen. Für Buergel
min. Dokumente, Essays und ein Entwurf, Frankfurt
steht dieser Begriff für ein >>von allen staatlichen At- a.M.
tributen befreites Leben« (Pasch 2005). Scheurmann, Ingrid und Konrad (1993): Passages. Dani Ka-
ravan. An Environment in Remembrance of Walter Ben-
jamin [Ausst.-Kat.], Kassel.
Literatur Scheurmann, lngrid und Konrad ( 1995): Hommage an Wal-
ler Benjamin. Der Gedenkort »Passagen« in Portbou,
Assheuer, Thomas (1994): >>Die unübertretbare Grenze<<, in: Mainz.
Frankfurter Rundschau v. 17.5.1994. Schöttker, Detlev (Hg.) (2004): Schrift Bilder Denken. Walter
Below, Jrene (1996): »Das Bild der Welt in der Bilderwelt- Benjamin und die Künste. Frankfurt a. M.
Walter Benjamins Kunsttheorie heute«, in: Bund deutscher Skrandies, Timo (2004): »Moderne Grenzüberschreitungen.
Kunsterzieher-Mitteilungen 32, H. 4, 7-15. Benjamins Passagenräume«, in: Vittoria Borso/Reinhold
Bernard, Andreas (2004): »Die Spuren der Dinge«, in: Süd- Görling (Hg.): Kulturelle Topografien, Stuttgart/Weimar,
deutsche Zeitung v. 1.12.2004, 16. 327-346.
Bourriaud, Nicolas E. (1992): »The work of art in the age of Werkbund-Archiv Berlin (Hg.) (1990): Bucklicht Männlein
ecological recycling. Benjamin's auraturn green«, in: Flash und Engel der Geschichte. Walter Benjamin. Theoretiker
art Nr. 167, 60-63. der Moderne [Ausstellungsmagazin], Gießen.
Brecht, Bertolt (1993): Werke. Große kommentierte Berliner Walter Benjamin 1892-1940. Eine Ausstellung des Theodor
und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a., Bd. W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit
15, Frankfurt a. M. dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, be-
Celan, Paul (1983a): »Aus dem Moorboden«, in: ders.: Ge- arb. von RolfTiedemann/Christoph Gödde!Henri Lonitz,
sammelte Werke in 5 Bde, Bd. 2, hg. von Beda Allemann/ Marbacher Magazin 55 (1990).
Stefan Reicher!, Frankfurt a. M., 389. Wizisla, Erdmut (2004): Benjamin und Brecht. Die Geschichte
Celan, Paul (1983b): »Miterhoben«, in: ders.: Gesammelte einer Freundschaft. Frankfurt a, M.
Werke in 5 Bde, Bd. 2, hg. von Beda Allemann/Stefan Rei-
cher!, Frankfurt a.M., 399.
56 Rezeptionsgeschichte

Neuproduzierte Hörstücke Gehaltserhöhung?- Wo denken Sie hin! Von Walter Benjamin


und Wolf Zucker. Regie: Hartmut Kirste. Produktion: SWF
Aufklärung für Kinder. Von Kaspar Hauser, einem alten Ge- Baden-Baden 1986.
fangnis, Pompeji und Hunden- nicht nur für Kinder. Von
Lichtenberg - Ein Querschnitt. Von Walter Benjamin. Pro-
Walter Benjamin. Regie: Holger Rink. Sprecher: Harald duktion: SWF Baden-Baden 1989.
Wieser. Produktion: Radio Bremen. Hörbuch. Harnburg
Radau um Kasperl. Von Walter Benjamin. Regie: Urs Hel-
2003. mensdorfer. Produktion: Radio DRS Bern 1972.
Das kalte Herz. Von Walter Benjamin und Ernst Schoen nach
Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben.
Wilhelm Hauff. Regie: Hermann Naber. Produktion: SWF
Von Walter Benjamin. Produktion: SWF Baden-Baden
Baden-Baden 1979.
1972.
Analysen
59

1. Intellektuelle Freundschaft

Gershorn Scholem Entstehung einer Freundschaft (1915-1918)


Von Stephane Moses
Gerhard Scholem (der sich damals noch nicht Gershorn
nennen ließ) hat den um fünf Jahre älteren Walter
Die Quellen zur Geschichte der Beziehungen zwischen Benjamin am 21.7.1915 persönlich kennengelernt.
Walter Benjamin und Gershorn (Gerhard) Scholem Beide stammten aus bürgerlichen jüdischen Häusern,
werden, wenigstens zum Teil, von einer Asymmetrie aber Benjamins Eltern gehörten zum Berliner Groß-
beherrscht. Scholem hat nämlich sämtliche an ihn von bürgertum aus dem alten Westen, während Scholem,
1915 bis 1932 gerichteten Briefe Benjamins aufbe- dessen Vater Drucker und Verleger war, aus einer zwar
wahrt, während Scholems entsprechende Briefe an wohlhabenden, aber dem Geiste nach kleinbürgerli-
Benjamin nach dem Einmarsch der Deutschen in chen Familie aus dem volkstümlicheren Alt-Berlin
Frankreich von der Gestapo beschlagnahmt wurden stammte. Dieser soziale Unterschied fand auch seinen
und 1945 mit der Zerstörung der Gestapo-Archive Ausdruck in den unterschiedlichen Umgangsformen
verloren gegangen sind (vgl. Vorwort zu Scholem der jungen Leute: Während Benjamin stets >>Von pro-
1980). In seinem Buch Walter Benjamin. Die Geschichte noncierter Höflichkeit« war, zeichnete Scholem sich
einer Freundschaft (1975) hat Scholem dann die Bezie- durch eine charakteristische Berlinerische >>Kalt-
hungen mit Hilfe von Benjamins Briefen an ihn, meh- schnäuzigkeit<< aus (Scholem 1975, 17). Beide standen
rerer seiner eigenen Briefe, von denen er ausnahms- mit ihrem Elternhaus auf eher schlechtem Fuß, Scho-
weise eine Kopie gemacht hatte, seiner Tagebuch-Ein- lem insbesondere mit seinem Vater. Er studierte Ma-
tragungen aus den Jahren seiner Jugend und thematik und Philosophie, aber auch >>mit mindestens
zahlreichen anderen Quellen rekonstruiert. Aber es ebensolcher Intensität, Hebräisch und die Quellen des
handelt sich dabei um ein nachträgliches und notwen- jüdischen Schrifttums<< (12). Schon drei Jahre früher
digerweise lückenhaftes Konstrukt, insofern als Scho- hatte er den inneren Entschluß gefaßt, sich vom assi-
lem nicht mehr imstande war, den genauen Inhalt, den milierten Judentum seiner Familie loszulösen, in dem
Tonfall und die Stimmung seiner eigenen Briefe an er bereits früh einen radikalen >>Selbstbetrug<< gesehen
Benjamin wieder hervorzurufen. So kann sich das heu- hatte (Scholem 1977, 39). Für ihn stand der Wille zur
tige Bild der Beziehungen zwischen beiden Freunden Assimilation der Mehrheit des deutsch-jüdischen Bür-
von 1915 bis 1932 einerseits auf die vollständig veröf- gertums, also zum >>Verschwinden im deutschen Volk<<,
fentlichten Briefe Benjamins stützen, die mit den ge- schon damals in klarem Gegensatz zum wachsenden
schilderten Ereignissen gleichzeitig sind, während man Antisemitismus. Hinzu kam das Gefühl, daß dieses
andererseits auf die nachträgliche Perspektive des über assimilierte Judentum, zu dem seine Familie zählte,
70 Jahre alten Scholem angewiesen ist. sich in einem Zustand der >>geistigen Zerfaserung<<
Für die Jahre von 1933 bis 1940 konnte jedoch die befand. Im Protest gegen die Assimilation hatte der
Symmetrie zwischen der Perspektive Benjamins und junge Scholem begonnen, Hebräisch zu lernen und
der Scholems wiederhergestellt werden mit der Ent- regelmäßige Talmud-Unterweisungen bei dem von
deckung von Scholems Briefen an Benjamin aus dieser ihm hoch geschätzten Rabbiner Dr. Isaak Bleichrode
Zeit im Potsdamer Zentralarchiv der DDR, die Scho- zu hören. Zugleich hatte sich Scholem dem Ideal eines
lem 1977 übergeben wurden. Der von ihm herausge- geistigen Zionismus verschrieben, in dem er die
gebene Briefwechsel zeugt von dem oft leidenschaftli- Chance zur Erneuerung des Judentums sah. Die Kom-
chen Zwiegespräch beider Freunde, und dies vor dem promißlosigkeit, mit der er verlangte, diese Ideologie
Hintergrund einschneidender weltgeschichtlicher Er- auch praktisch umzusetzen, also Hebräisch zu lernen
eignisse, die einen wesentlichen Teil ihres damaligen und dann so schell wie möglich nach Palästina auszu-
Lebens bestimmten. wandern, brachte ihn sehr bald in Konflikt mit anderen
Mitgliedern der zionistischen Jugendbewegung. übri-
gens erschien ihm schon damals (und dies bis 1933)
60 Intellektuelle Freundschaft

die Gründung eines jüdischen Staates keineswegs als Im Oktober 1915 fuhr Benjamin nach München, wo
das Hauptziel des Zionismus, obwohl er es in Diskus- er bis Ende 1916 blieb. Während dieser Zeit schickte
sionen verteidigte (73 ). er dem in Berlin gebliebenen Scholem nur sehr kurze,
Der junge Mensch, den Walter Benjamin im Juli inhaltlich belanglose Nachrichten- aus Furcht vor der
1915 kennenlernte, mußte ihm also gewissermaßen Militärzensur, die von den Plänen zur Übersiedlung
als ein Unikum vorkommen. Benjamin, der mit Aus- in die Schweiz, die er damals hegte, natürlich nichts
bruch des Krieges der Jugendbewegung endgültig wissen sollte. Eine Ausnahme bildet der Brief vom
abgesagt hatte, stand der Frage des Judentums und des 11.11.1916, in dem er Scholem die Übersendung seines
Zionismus mit wohlwollendem, aber distanziertem Aufsatzes ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
Interesse gegenüber. >>Im ganzen Komplex meiner SPRACHE DES MENSCHEN ankündigte (1, 343f.).
Gesinnungen, die ja im Politischen in bestimmter Inzwischen hatten sich beide während Benjamins
Richtung zusammenzuziehen sind, spielt das Jüdische Besuch in Berlin im Sommer 1916 ausführlich unter-
nur eine Teilrolle<<, hatte er seinem Freund Ludwig halten können. Unter anderem sprachen sie über ihr
Strauß 1913 geschrieben (1, 83). Und weiter: >>[N]icht Verhältnis zu Buher und über ihre Reaktion auf die
sowohl das National-Jüdische der zionistischen Pro- erste Nummer von Buhers Zeitschrift Der Jude. Ob-
paganda ist mir wichtig, als der heutige, intellektuelle wohl Scholem anfangs von Buhers Schriften ziemlich
Literaten-Jude [... ]. [D]er politische Energiepunkt beeinflußt worden war, hatte er ihm gegenüber eine
liegt[ ... ] irgendwo in der Linken<< (ebd.). Jenseits die- starke Ambivalenz entwickelt, und Benjamin stand
ser Unterschiede aber fanden Benjamin und Scholem Buher noch viel ablehnender gegenüber. Beide waren
in ihrem gemeinsamen Interesse an metaphysischen über zwei Aufsätze, die den Krieg behandelten, ganz
Fragen zusammen. Auch in ihrer entschiedenen Ab- besonders empört, und zwar über Buhers Einleitung
lehnung des Krieges stimmten sie überein. Scholem, >>Die Losung<< und Hugo Bergmanns Aufsatz >>Der jü-
der damals dem Pazifismus seines älteren Bruders dische Nationalismus nach dem Krieg<<. Nachdem
Werner und dem Anarchismus Gustav Landauers sehr Buher Benjamin gebeten hatte, einen Beitrag für die
nahe stand, war in seiner politischen Haltung sogar nächste Nummer seiner Zeitschrift zu schreiben, ant-
noch radikaler als Benjamin. So berichtet Scholem wortete ihm Benjamin ablehnend, und dies nach Ab-
z. B., Benjamin habe sich in den ersten Augusttagen sprache mit Scholem. Seine negative Antwort begrün-
1914 in Berlin freiwillig gestellt, >>nicht aus Kriegsbe- dete er einerseits mit seinem Widerspruch gegen die
geisterung, sondern um der unausweichlichen Einbe- zwei oben erwähnten Aufsätze, andererseits aber mit
rufung in einer Weise zuvorzukommen, die erlaubt sprachphilosophischen Erwägungen. Er könne den
hätte, unter Freunden und Gleichgesinnten zu blei- sprachlichen Duktus des Juden nicht akzeptieren, denn
ben<<, was Scholem, der eine starke Sympathie für die >> [f] ür eine Zeitschrift kommt die Sprache der Dichter
extreme Linke der sozialistischen Internationale emp- der Propheten oder auch der Machthaber, kommen
fand, sicher nicht eingefallen wäre. Als es dann zur Lied Psalm und Imperativ[ ... ] nicht in Frage, sondern
regulären Musterung von Benjamins Jahrgang kam, nur die sachliche Schreibart<< (1, 327). Benjamin
präsentierte sich dieser allerdings als >>Zitterer<< und brachte Buher sein Leben lang die gleiche, fortdau-
wurde für ein Jahr zurückgestellt (Scholem 1975, ernde Abneigung entgegen. Ähnlich war zum Teil auch
20 f.). Scholem mußte sich seinerseits Ende 1915 stel- Scholem eingestellt: Daß der Prophet eines geistigen
len, wurde aber für nervlich unbrauchbar erklärt und Zionismus so lange im nationalsozialistischen Deutsch-
bis März 1917 entlassen. land blieb und erst im letzten Augenblick nach Palä-
Beide teilten zudem die Empörung über Martin stina ging, konnte er ihm kaum verzeihen. Aber nach-
Buhers in der zionistischen Zeitschrift Die Jüdische dem Buher sich 1938 endlich entschlossen hatte,
Rundschau 1915 erschienenen Aufsatz >>Wir und der Deutschland zu verlassen, und in Jerusalem Fuß faßte,
Krieg<<, in dem es hieß: >>So kam es, daß wir in den fühlte Scholem sich durch diese Schicksalsgemein-
Krieg zogen, nicht obwohl wir Juden, sondern weil wir schaft doch im wesentlichen mit ihm verbunden.
Zionisten waren<<. Dazu schrieb Scholem einen, aller- 1916, als Benjamin sich noch in München aufhielt,
dings unveröffentlicht gebliebenen, Protest-Brief, in- freundete er sich mit der damals noch verheirateten
folge dessen er wegen >>unpatriotischer Gesinnung<< Dora Pollack an, die sich schließlich von ihrem Mann
aus dem Luisenstädtischen Realgymnasium verwiesen scheiden ließ und Benjamins Frau wurde. 1917 gelang
wurde. Er durfte allerdings sein Abitur als >>externer es ihm, sich endgültig vom Militärdienst befreien zu
Schüler<< machen, ja aufgrund einer besonderen Be- lassen, und er zog mit Dora in die Schweiz. Scholem
stimmung noch vor dem Examen vier Semester an der widmete sich in Berlin der Übersetzung aus dem He-
Universität Berlin studieren. bräischen ins Deutsche (Scholem 1977, 109ff.). Ein
Gershorn Scholem 61

bedeutendes Motiv des Briefwechsels zwischen Benja- gekommen ist Ihnen allein eben an Sie gerichtet wor-
min und Scholem aus dieser Zeit betrifft daher die den sein muß und wieder für einen Augenblick in
Theorie und die Praxis der Übersetzung, aber auch unser Leben getreten ist. Ich bin in eine neue Zeit mei-
Probleme der Sprachtheorie im allgemeinen, mit der nes Lebens eingetreten da das was mich mit planeta-
Benjamin sich seit seinem Sprachaufsatz von 1916 in- rischer Geschwindigkeit von allen Menschen löste und
tensiv beschäftigte. So reagiert erz. B. am 17.7.1917 auf mir auch noch die nächsten Verhältnisse außer meiner
eine von Scholem unternommene Übersetzung des Ehe zu Schatten machte unerwartet an einem andren
Hohen Liedes, indem er ihm schreibt: >>Ihnen [... ] ist Orte auftaucht und verbindet<< (I, 398). Dazu schrieb
die deutsche Sprache nicht gleich nahe wie die hebräi- Scholem fast 60 Jahre später: >>Diese Zeilen und meine
sche und darum sind Sie nicht der berufene Übersetzer Reaktion darauf in einer längeren Tagebucheintragung
des Hohen Liedes« (I, 371). Dieselbe Kritik kehrt ei- legen Zeugnis von einem starken emotionellen Mo-
nige Monate später in bezug auf Scholems Übertra- ment in unserer Beziehung ab. [... ] Seine Figur hatte
gungen von hebräischen Klageliedern wieder: >>Auch [... ]etwas Prophetisches für mich erhalten<< (Scholem
diese Übersetzungen[ ... ] haben was Ihre Relation zum 1975, 66).
Deutschen angeht letzten Endes den Charakter von Übrigens war während der ganzen Zeit zwischen
Studien. [... ] Sie empfangen in dieser Beziehung von 1915 und 1917 die Anrede in Benjamins Briefen an
der deutschen Sprache keine Eingebung<< (443 f.). Scholem trotzder wachsenden Freundschaft stets >>lie-
Andererseits hatte Benjamin 1918 zwei Aufsätze zur ber Herr Scholem<< geblieben, und dies bis zur Nach-
Theorie des Trauerspiels geschrieben, und zwar TRAU- richt von Scholems provisorischer Entlassung aus dem
ERSPIEL UND TRAGÖDIE (IJ, 133-137) und DIE BEDEU- Militär, am 6.9.1917, als er ihm in einer verschlüsselten
TUNG DER SPRACHE IN TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE Formel schrieb: >>Lieber Gerhard, erlauben Sie daß ich
(137-140), während Scholem schon etwas früher eine die Erinnerung an ihren Kampf und Sieg mit der Ein-
Abhandlung über Klage und Klagelied verfaßt hatte. führung des Vornamens unter uns verbinde<< (1, 379).
Zu dieser thematischen Konstellation entwickelt Ben- Das >>Du<< wurde zwischen ihnen erst im Mai 1921
jamin in seinem Brief vom 30.3.1918 Überlegungen, eingeführt, also 6 Jahre nachdem sie sich kennenge-
die die geistige Verwandtschaft ihrer Gedankengänge lernt hatten (2, 152).
trotzaller Verschiedenheit hervorheben: >>[A]us mei-
nem Wesen als Jude heraus war mir das eigene Recht,
die >vollkommen autonome Ordnung< der Klage wie In der Schweiz (1918-1919)
der Trauer aufgegangen<<. >>Ohne Beziehung zum he-
bräischen Schrifttum<< habe er das Verhältnis von Am 14.1.1918 war Scholem endgültig aus dem Heer
Trauer und Klage in seinem Aufsatz DIE BEDEUTUNG entlassen worden (Scholem 1975, 68). Einige Monate
DER SPRACHE IN TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE behan- später erhielt er die Erlaubnis, sich in die Schweiz zu
delt (1, 442). >>Im Deutschen tritt[ ... ) die Klage sprach- begeben, und kam am 8.5.1918 in Bern an. Die andert-
lich hervorragend nur im Trauerspiel hervor<<. Er habe halb Jahre, die er in der Schweiz mit Benjamin ver-
>>auf den fundamentalen Gegensatz von Trauer und brachte, waren eine Periode >>intensiven Zusammen-
Tragik<< hingewiesen, >>den Sie nach Ihrer Arbeit zu seins und gemeinsamen Studiums<<, aber zugleich auch
schließen noch nicht erkannt haben<< (443). eine Zeit von äußerst schmerzlichen Spannungen zwi-
Kurz zuvor hatten die Beziehungen zwischen Scha- schen den Freunden. >>Die Erwartungen, die jeder von
lem und Benjamin einen Höhepunkt erreicht, den sie seiner Sicht aus auf diese Zeit gesetzt hatte, waren zu
später nie mehr wiederfanden, der sie aber für immer überspannt<<, schrieb Scholem nachträglich. >>Ich er-
begleiten sollte. Benjamin hatte Scholem nämlich das wartete an ihm etwas Prophetisches, eine nicht nur
Manuskript seines Aufsatzes über Dostojewskijs Ro- geistig, sondern auch moralisch überragende Gestalt.
man Der Idiot (II, 237-241) zu lesen gegeben, und Walterund Dora hatten [... ] sehr hohe Erwartungen
Scholem hatte ihn als eine esoterische Äußerung über auf mein Verständnis für seine Welt gesetzt, die ich so
Benjamins Freund C.F. Heinle gedeutet, der sich zu unkritisch [... ] nicht erfüllen konnte. Vor allem aber
Anfang des Krieges das Leben genommen hatte. Auf hatten diese Spannungen ihren Grund [... ] in der Ver-
diese Deutung reagierte Benjamin am 3.12.1917 mit schiedenheit unserer Charaktere. Das kam in der Hal-
folgenden Zeilen: >>Mir ist seitdem ich Ihren Briefbe- tung zur bürgerlichen Welt (Geldfragen, Stellung zum
kommen habe oft feierlich zumute. Es ist als wäre ich Elternhaus, Umgang mit Menschen und dergleichen)
in eine Festzeit eingetreten und ich muß in dem was zum Ausdruck[ ... ]. Sein Leben hatte nicht jenes un-
sich Ihnen eröffnet hat die Offenbarung verehren. geheure Maß von Reinheit, das sein Denken auszeich-
Denn es ist doch nicht anders daß das was Ihnen zu- nete<< (Scholem 1975, 66).
62 Intellektuelle Freundschaft

Das grundsätzliche Mißverständnis, das Scholem nachharten Wohnungen. In Erinnerung an diese Zeit
hier erwähnt, hat die Beziehungen beider Freunde zu- erfanden sie dann die imaginäre »Universität Muri«,
einander bis zu Benjamins Tod begleitet. Scholem war die noch lange Jahre als privates Scherzgebilde eine
seinem tiefsten Wesen nach ein Puritaner, für den die wichtige Rolle in ihren Beziehungen spielte. Sie ver-
Moral (oder das, was er unter ihr verstand) den höch- faßten satirische >>Akten der Universität«, darunter ein
sten Lebenswert darstellte. Moral bedeutete aber für Vorlesungsverzeichnis, Statuten der Akademie und ein
ihn absolute Übereinstimmung der Gedanken mit ih- von Scholem geschriebenes» Lehrgedicht der Philoso-
rer praktischen Verwirklichung. Was er bei Benjamin phischen Fakultät«. Benjamin zeichnete als Rektor,
nicht akzeptierte, war die Diskrepanz, die er zwischen Scholem als >>Pedell des Religionsphilosophischen Se-
seinem Denken und seinem konkreten Verhalten fest- minars« (1, 476 sowie die >>Acta Muriensa« in IV,
stellen zu können glaubte. >>So groß in jedem Sinn das 441-448). Benjamin arbeitete zu dieser Zeit sehr in-
Leben [Benjamins] ist, das einzige, das metaphysisch tensiv an seiner Dissertation über den BEGRIFF DER
in meiner Nähe geführt wird<<, schrieb Scholem damals KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK, SO daß
in einer Tagebucheintragung, >>so trägt es doch in viele der Gespräche um dieses Thema kreisten. Zudem
furchtbarem Maße die Elemente der Decadence in hatte Benjamin zwischen November 1917 und März
sich« (Scholem 1975, 92). Benjamin (und Dora) fan- 1918 seinen Aufsatz ÜBER DAS PROGRAMM DER KOM-
den sich mit den zum Wesen des Menschen gehören- MENDEN PHILOSOPHIE verfaßt, in dem er Kants Begriff
den Inkonsequenzen ab. In Bern hatte Scholem gelernt, der Erfahrung einer radikalen Kritik unterzieht. Da er
Benjamin in fast allen Geldangelegenheiten grundsätz- sich auch weiterhin mit Kant auseinandersetzte, las er
lich zu mißtrauen, was später, in den letzten Jahren zusammen mit Scholem Hermann Cohens Arbeit über
von Benjamins Leben, zu bitteren Mißverständnissen Kants Theorie der Erfahrung, in deren Ablehnung sie
führen sollte. sich einig waren: Für Scholem war das Buch die >>größte
Wie dem auch sei, brachte die Entdeckung jener philosophische Enttäuschung, die [er] bisher erlebt
>>amoralischen« Seiten Benjamins den jungen Scholem [hatte]« (Scholem 1994, Bd. 1, 169), während Benja-
an den Rand der Verzweiflung. Gewiß spielten bei den min >>mit [diesem] rationalistischen Positivismus[ ... ]
immer wiederkehrenden Spannungen, Krisen, Wut- nichts anfangen [konnte]« (Scholem 1975, 78). In der
ausbrüchen und Kränkungen zwischen Scholem, Ben- Zeit von Muri, schreibt Scholem, >>bezogen sich unsere
jamin und Dora noch andere, verborgenere Motive Gespräche oft auf jüdische Theologie und die Grund-
mit. Das von Leidenschaften aufgeladene Dreieck lud begriffe jüdischer Ethik, aber kaum aufkonkrete Dinge
zweifellos zur Entladung unbewußter Affekte ein. Un- und Verhältnisse. In diesen Gesprächen spielten Aus-
terschiedliche Formen der Eifersucht spielten dabei einandersetzungen über Offenbarung und Erlösung,
wohl eine nicht geringe Rolle. Davon zeugen u. a. die Gerechtigkeit, Recht, Gottesfurcht und Versöhnung oft
Briefe, die Dora zu dieser Zeit im Namen ihres vier genug eine zentrale Rolle« (93). Sie berührten noch
Monate alten Sohnes Stefan an Scholem richtete. In keine der spezifischen Motive der jüdischen Mystik,
einem dieser Briefe heißt es: >>Was Du von meiner wie Scholem bezeugt: >>Um diese Zeit spielte Kabbali-
Mutter verlangst, kann sie Dir nicht geben weil Du sie stisches [bei mir] noch so gut wie gar nicht mit, ob-
nicht liebst; sie hat zuviele Menschen gekannt die es wohl ich schon begonnen hatte, mir darüber hier und
taten um sich darin zu täuschen. Doch aber könntest da Gedanken zu machen« (93 f.).
Du vieles von ihr empfangen was Du aber nicht siehst Nach Scholems Bericht >>nahm in diesen Jahren,
weil Du nach anderm verlangst welches nicht adäquat zwischen 1915 und mindestens 1927, die religiöse
ist« (Scholem 1975, 97). Ob es Dora geglückt ist, die Sphäre für Benjamin eine zentrale Bedeutung ein, in
wirklichen Motive von Scholems Verhalten ihr gegen- deren Mittelpunkt der Begriff der >Lehre< stand, die
über zu entziffern, soll dahingestellt bleiben. Auf jeden für ihn den philosophischen Bereich zwar einschloß,
Fall scheint dieser Brief Scholem tief gekränkt zu ha- aber durchaus transzendentierte [... ].Es hatte mit sei-
ben. nem, immer mehr eine mystische Note annehmenden
Aber jenseits dieser Irritationen war das Zusammen- Begriffvon Tradition viel zu tun« (73). In der Tat be-
sein Scholems und Benjamins in Bern zweifellos eine saß Benjamin die drei Bände von Molitors klassischem
der bedeutendsten und fruchtbarsten Episoden in der Werk Philosophie der Geschichte oder über die Tradition
Geschichte ihrer Freundschaft. >>Wir haben uns damals (1827-1857), einer >>noch immer beachtenswert[en]«
wohl besonders stark gegenseitig beeinflußt«, sagte (53) Einleitung in die Kabbala. Als Gabe für Benjamin
Scholem später (Scholem 1975, 79). Die ersten drei verfaßte Scholem damals die 95 Thesen über Judentum
Monate ihres Zusammenseins verbrachten Benjamin und Zionismus, die erst im Jahr 2000 mit den Tagebü-
und Scholem in Muri, einem Vorort von Bern, in be- chern veröffentlicht wurden.
Gershorn Schalem 63

Ende 1918 und 1919 führten beide auch rege Ge- sehen Schalem und Benjamin erreichten im Juli 1923
spräche über die bolschewistische Revolution. Sie wa- einen Höhepunkt, bei dem es fast zu einem endgülti-
ren sich in ihrer Sympathie für die russische >>Sozial- gen Bruch zwischen ihnen kam. Benjamin war durch
Revolutionäre Partei<< (die Menschewiki) einig. In Scholems Verhalten in scheinbar belanglosen Angele-
diesem Zusammenhang behandelten sie auch die Frage genheiten des Alltags tief verletzt, während Schalem
der Diktatur. Dabei war Schalem der Radikalere, in- Benjamins Ressentiment nicht verstehen konnte. Es
dem er die Idee der Diktatur verteidigte, während kam zu einer telephonischen Szene, nach der Schalem
Benjamin sie damals noch vollkommen verwarf. Al- in einem Briefvom 9.7.1923 an seine Verlobte Escha
lerdings handelte es sich bei Schalem dabei nicht so Buchhardt schrieb, >>der Jammer<< habe >>nun ein Ende<<:
sehr um die von den Bolschewiki verteidigte >>Diktatur >>Ich habe, offen gestanden, ein Gefühl der Befreiung,
des Proletariats<<, sondern um eine wohl ziemlich un- ich sage mir in klarer Einsicht: dieser Walter ist ret-
bestimmte >>Diktatur der Armut<< (Schalem 1975, tungslos zerstört, und die acht Jahre, die unsere Bezie-
100 f.). Was die deutsche Revolution betraf, zeigte sich hung gedauert hat, von denen muß ich freilich nur die
Schalem eher gleichgültig: >>Sehr tief beteiligt war ich letzten Zeiten bereuen, aber die Sache ist rechtmäßig
freilich nicht<<, schrieb er damals an Werner Kraft. >>Pa- und legitim aus<< (Schalem 1994, Bd. 2, 339 f.). Der
lästina erregt und interessiert mich durchaus mehr als Hintergrund dieser Aufgebrachtheit lag vielleicht in
die deutsche Revolution<<. Im Frühling 1919 wurde Benjamins und Doras damaliger Verwicklung in ein
Benjamin mit Ernst Bloch bekannt, dessen Geist der außereheliches >>Viereck<<; beide hatten sich nämlich
Utopie ein Jahr zuvor erschienen war. Nach einem Be- leidenschaftlich verliebt, Benjamin in Jula Cohn und
such beider Freunde bei ihm, erklärte Bloch Benjamin, Dora in ihren gemeinsamen Freund Ernst Schoen.
Schalem sei >>ein Esel<< (102 f.). Scholems Haltung Schalem, dem diese Lage wohl aus moralischen Grün-
Bloch gegenüber war Jahre lang sehr negativ, während den äußerst mißfiel, war erneut von Benjamin tief
Benjamins Beziehungen zu Bloch stets zwischen Irri- enttäuscht. Hinzu kam, daß er überzeugt war, Dora
tation und Bewunderung schwankten. Erst sehr viel >>hasse<< ihn. Allerdings lud Schalem Benjamin zu einer
später revidierte Schalem sein Urteil über Bloch. Aussprache ein, die dann auch am 20.7. stattfand und
Im Mai 1919 teilte Schalem Benjamin sein Ziel mit, laut Schalem einen guten Ausgang hatte (343).
jüdischer Gelehrter zu werden. Damals faßte er auch Ein anderer Grund der stets latenten Spannungen
den Entschluß, sich »auf das Studium der kabbalisti- zwischen beiden lag wahrscheinlich schon damals in
schen Literatur zu werfen, und eine Dissertation über ihrer unterschiedlichen Haltung zum Judentum. Scha-
die Sprachtheorie der Kabbalah zu verfassen<< (106f.). lem bemerkt in der Geschichte einer Freundschaft, er
(Er kam jedoch erst fünfzig Jahre später dazu, mit dem habe 1921 gedacht, >>daß Benjamins Wendung zur in-
Erscheinen seines großen Aufsatzes >>Der Name Gottes tensiven Beschäftigung mit dem Judentum direkt vor
und die Sprachtheorie der Kabbalah<<). Ende August der Tür stünde<< (Schalem 1975, 117). Indessen hatte
1919 verließ Schalem die Schweiz und fuhr nach M ün- Benjamin ihm schon Ende 1920 klar zu verstehen ge-
chen, wo er sich in das Studium kabbalistischer Ma- geben, daß diese Wendung zur Zeit keineswegs aktuell
nuskripte vertiefte. war: >>Ich kann mich den jüdischen Dingen nicht mit
meiner letzten Intensität zuwenden, bevor ich aus mei-
nen europäischen Lehrjahren dasjenige bezogen habe,
Von München bis zur Übersiedelung was wenigstens irgend eine Chance ruhiger Zukunft
nach Palästina (1919-1923) [... ]begründen kann<< (2, 117). Dies galt auch für Ben-
jamins Verhältnis zum Hebräischen, das zu lernen er
Schalem schreibt in der Geschichte einer Freundschaft sich immer wieder vornahm, aber stets vergeblich.
über den Stand ihrer Beziehungen, daß sie sich >>nach Schalem meint, Benjamin habe unter Hemmungen
der Rückkehr nach Deutschland sehr harmonisch (ge- gegenüber der hebräischen Sprache gelitten (Schalem
stalteten)<< (112), und dies offenbar im Gegensatz zu 1975, 118). Wie dem auch sei, ermunterte er seinen
ihrem stürmischen Verhältnis in der Schweiz. In Wirk- Freund wieder und wieder, sich dem Kommentar der
lichkeit aber wurde die Freundschaft zwischen beiden großen Texte des Judentums zu widmen (144). Scha-
auch während jener vier Jahre von ständigen und von lem mußte sich damit trösten, daß Benjamin sich vom
Zeit zu Zeit äußerst heftigen Krisen begleitet. Im Un- Wahlverwandtschaften-Aufsatz an tatsächlich immer
terschied zu der erwähnten Harmonie, spricht Schalem intensiver (obwohl nicht ausschließlich) mit dem
einige Seiten weiter von dem >>Daimon, der zuweilen Kommentar zu Werken großer europäischer Autoren
in Walter steckte und sich in despotischem Auftreten (Proust, Kar! Kraus, Kafka, Lesskow, Brecht, Baude-
und Anspruch äußerte<< (121). Die Spannungen zwi- laire) befaßte.
64 Intellektuelle Freundschaft

In den Jahren 1921-1924 ging es überdies um wich- Scholem empfohlen worden. Ob Benjamin es vollstän-
tige theoretische Versuche, wie die beiden 1921 ver- dig gelesen hat, bleibt höchst zweifelhaft. Am
faßten Essays ZuR KRITIK DER GEWALT und DIE AuF- 30.12.1922 schickte er Scholem einen Bericht von sei-
GABE DES ÜBERSETZERS, den kurzen, heute unter dem nem Besuch bei dem damals schon sehr kranken Ro-
Namen >>Theologisch-politisches Fragment<< bekann- senzweig in Frankfurt, wobei er bemerkte: >>es [machte]
ten Text und vor allem um die Habilitationsschrift das Gespräch schwer, daß ich überall die Initiative ge-
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS. Scholem ben mußte ohne das Buch entsprechend genau zu
arbeitete seinerseits an seiner 1923 abgeschlossenen kennen<< (2, 300). So darf man sein ein Jahr zuvor
und im selben Jahr veröffentlichten Dissertation über Scholem mitgeteiltes Urteil über das Buch, und zwar
das Buch Bahir. In diesem Zusammenhang hatte er daß es >>dem Unvoreingenommnen freilich seiner
sich auch intensiv mit der Gedankenwelt des spani- Struktur nach, die Gefahr es zu überschätzen notwen-
schen Kabbalisten aus dem 13. Jh. Abraham Abulafia dig nahe legt<< (208), wohl als etwas übereilt betrach-
beschäftigt, in deren Mittelpunkt eine mystische ten. Und dies um so mehr, als Benjamin später den
Sprachtheorie steht. Dazu berichtet Scholem, daß Ben- Stern der Erlösung an zentralen Stellen des Trauerspiel-
jamin, der damals an der ERKENNTNISKRITISCHEN buches und des großen Kafka-Aufsatzes von 1934 mit
VORREDE zu seinem Trauerspielbuch arbeitete, in der größter Bewunderung zitieren wird.
die Sprachphilosophie eine zentrale Rolle spielt, die Zu Scholems und Benjamins gemeinsamen Bekann-
Berichte seines Freundes über Abulafia mit größtem ten gehörte auch Werner Kraft (1896-1991). Scholem
Interesse aufnahm (Scholem 1975, 118). und Benjamin hatten ihn 1915 in Berlin kennenge-
Zu dieser Zeit erwähnte Benjamin in seinen Briefen lernt Als Kraft während des Krieges als Sanitäter diente
häufig gemeinsame Bekannte von ihm und Scholem. und unter schweren Depressionen litt, schrieb ihm
Ein wichtiges Thema war Bloch, über dessen Buch Geist Scholem regelmäßig, um ihn zu ermuntern und ihm
der Utopie sich Scholem sehr kritisch geäußert hat, ins- seelisch zu helfen. Scholem stand Kraft sein Leben lang
besondere über das Kapitel >>Der Jude<<, das er wegen nahe, während Benjamin sich mit dessen introvertier-
der >>zentralen Christologie, die uns dort untergescho- ter und schwieriger Persönlichkeit nicht abfinden
ben wird<< (114) heftig angriff. Benjamin stimmte in konnte. Im Januar 1921 kam es zu einem Bruch zwi-
diesem Punkt mit ihm überein und teilte ihm seine schen Benjamin und Kraft, über dessen Hintergrund
»radikale Ablehnung dieser Gedanken<< mit (2, 75). Benjamin Scholem einen ausführlichen Bericht
Eine weitaus negativere Rolle spielte sowohl bei Ben- schickte (129).
jamin als auch bei Scholem die Gestalt des Religions- Im Jahr 1921 hatte Benjamin Paul Klees Aquarell
philosophen Oskar Goldberg, Verfasser des 1924 er- Angelus Novus in München erworben. Das Bild, dem
schienenen Werkes Wirklichkeit der Hebräer, der in in Benjamins Leben und Werk große Bedeutung zu-
Berlin als der geistige Leiter eines Kreises von Jüngern, kam, hing eine Zeit lang in Scholems Münchner Woh-
die ihm blind unterworfen waren, zu erscheinen nung. Als er es Benjamin am 15.7.1921 zu dessen Ge-
pflegte. Goldberg verbreitete esoterische Lehren über burtstag zurückschickte, wurde es von einem Gedicht
das Wesen des Judentums, deren zentralste die einer mit dem Titel »Gruß vom Angelus<< begleitet, dessen
wesentlichen Beziehung der biblischen Hebräer zu den letzte Strophe lautet: >>Ich bin ein unsymbolisch Ding/
magisch-biologischen Kräften war, die laut Goldberg bedeute was ich bin/ du drehst umsonst den Zauber-
die Natur regieren. Benjamin und Scholem verab- ring/ Ich habe keinen Sinn<< (175).
scheuten den Mann und seine Thesen. >>Benjamin<<, Im September 1923 verließ Scholem Deutschland,
schreibt Scholem dazu, »empfand Goldberg gegenüber um sich in Palästina niederzulassen. Am 30.9. kam er
[... ] eine starke Antipathie, die so weit ging, daß er in Jerusalem an, wo er bis zu seinem Tode, im Jahre
einmal physisch unfähig war, Goldbergs zur Begrü- 1982, leben sollte.
ßung ausgestreckte Hand zu ergreifen. Er sagte mir,
Goldberg sei von einer so unreinen Aura umgeben
gewesen, daß er es einfach nicht hätte fertigbringen Benjamins Hinwendung zum Kommunismus
können<<. Zugleich aber habe >>das Interesse an dieser (1924-1932)
[... ]jüdischen Sekte Benjamin noch bis in die Hitler-
zeit begleitet<< (Scholem 1975, 125 f.). »Die Jahre unserer Trennung bis zu Benjamins Tod[ ... ]
Ganz im Gegensatz dazu gestaltet sich Benjamins zeichnen sich durch rückhaltlose, nur selten man-
Entdeckung von Franz Rosenzweigs großem philoso- gelnde Offenheit aus, die auf Vertrauen gegründet
phischen Werk Der Stern der Erlösung. Das Buch war war<<, schreibt Scholem in der Geschichte einer Freund-
ihm kurz nach seinem Erscheinen im Jahre 1921 von schaft (Scholem 1975, 153). Dies gilt allenfalls für die
Gershorn Scholem 65

Fragen, die die ideologischen Positionen beider neuen (und für Schalem völlig unerwarteten) Interesse
Freunde betrafen. Scholem zögerte nicht, Benjamin am Kommunismus berichtete, sollte offenbar als eine
von seiner tiefen Entmutigung angesichts der Kluft versteckte Andeutung ihres Einflusses auf ihn verstan-
zwischen seinem zionistischen Ideal und der konkreten den werden. Ab Sommer 1924 hatten sich in der Tat
Wirklichkeit der im Aufbau begriffenen israelischen die Anspielungen auf >>die Aktualität eines radikalen
Gesellschaft zu erzählen. Andererseits nahm er kein Kommunismus<< oder auf die >>politische Praxis des
Blatt vor dem Mund, um Benjamins neue marxistische Kommunismus<< angehäuft. Gleichzeitig hatte Benja-
Haltung heftig anzugreifen. Benjamin, den diese An- min Georg Lukacs' Buch Geschichte und Klassenbe-
griffe offensichtlich tiefbetrübten, versuchte Schalem wußtsein entdeckt, das einen starken Eindruck auf ihn
seine Position so aufrichtig wie nur möglich klarzu- gemacht hatte.
machen. Aber diese Auseinandersetzungen führten zu In einem Brief aus Capri vom 16.9.1924- also drei
neuen Spannungen, die durch die physische Entfer- Monate nach der Bekanntschaft mit Asja Lacis -
nung sowie durch die unvermeidlichen Störungen, mit schreibt er Schalem, daßes-neben privaten Motiven
denen jede rein briefliche Beziehung verbunden ist, -die für den Kommunismus kennzeichnende Verbin-
noch verschärft wurden. Was jedoch die privaten dung zwischen Theorie und Praxis sei, die ihn haupt-
Schwierigkeiten betraf, unter denen beide zu dieser sächlich überzeugt habe (2, 483 ). Wir wissen nicht, wie
Zeit unabhängig voneinander zu leiden hatten, so Schalem auf Benjamins plötzliches Interesse für den
wurde vieles verschwiegen oder blieb nur angedeutet, Kommunismus brieflich reagiert hat, aber wir können
was dann wiederum neue Mißverständnisse erzeugte. es uns leicht vorstellen. Benjamin widmete sich damals
Aber es gab auch genug ausgesprochene bzw. halb- ganz und gar der Arbeit am Trauerspielbuch, das be-
ausgesprochene Schwierigkeiten, die die Beziehungen kanntlich von einem starken metaphysischen Impuls
beider zueinander schwer belasteten, wie Benjamins beherrscht war. In der ERKENNTNISKRITISCHEN VoR-
Schweigen über sein Verhältnis zu Asja Lacis und das REDE hatte er zentrale Gedankengänge seines frühen,
verhängnisvolle Scheitern des mit Schalem entworfe- von theologischen Motiven genährten Aufsatzes üBER
nen Projekts, demzufolge Benjamin als Dozent an der SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
Hebräischen Universität nach Jerusalem hätte kom- MENSCHEN (1916) wieder aufgenommen. Sein reger
men sollen. Gedankenaustausch mit dem evangelischen Theologen
Zwischen Juni und September 1924 erzählte Benja- Florens Christian Rang, den auch Schalem hoch-
min Schalem in unklaren Anspielungen, er habe auf schätzte, zeugt von der Bedeutung, die Benjamin die-
Capri eine >>russische Bolschewistin<< kennengelernt, sem theologischen Kontext beimaß.
ohne je ihren Namen zu erwähnen (3, 467). Es han- Schalem, dem Benjamin über seine Arbeiten regel-
delte sich um die aus Riga stammende Theater-Regis- mäßig berichtete, war wahrscheinlich von dieser plötz-
seurin Asja Lacis (1891-1979), in die sich Benjamin lichen Begeisterung für den Kommunismus wie vom
leidenschaftlich verliebt hatte. Zwischen 1924 und Blitz getroffen. >>Über die Praxis der Kommunisten
1929, also während der Jahre seiner innigsten, wenn wußte ich mehr als er<<, schreibt er in der Geschichte
auch meist unglücklichen Liebe zu ihr, nannte er sie einer Freundschaft (Schalem 1975, 155 ), wobei er wohl
Schalem gegenüber immer nur >>meine russische auf die Erfahrungen mit seinem Bruder Werner, dem
Freundin<<, >>meine Bekannte<<, oder gar >>eine Freun- kommunistischen Reichstagsabgeordneten, hinweist.
din<<. Ganz im Gegensatz zur >>Offenheit<<, die ihre Lange Zeit stand Schalem der >>Zweigleisigkeit<< von
Beziehungen beherrscht hätten, klagt Schalem selber Benjamins Denken verständnislos gegenüber. Erst
über Benjamins Verheimlichungs-Strategie, bei allem, nachträglich scheint er sich mit dieser doppelten In-
was sein Verhältnis zu Lacis und seine Hinwendung spiration versöhnt zu haben, an der Benjamin so ent-
zum Kommunismus betraf: >>Wenn ich die Briefe lese, schieden festhielt >>Es [trat] nun<<, so Schalem, >>ein oft
die er in den drei Jahren zwischen seiner Reise nach rätselhaftes Nebeneinander der beiden Denkarten, der
Capri und unserem erneuten Zusammensein in Paris metaphysisch-theologischen und der materialistischen
im August 1927 schrieb, konsterniert es mich, in wie ein, oder beide verschränkten sich ineinander. Es ist
geringem Maße die [... ] neue Wendung auch auf dieser diese Verschränkung, die ihrer Natur nach zu keinem
Ebene persönlicher und vertrauter Mitteilung zur Gel- Ausgleich kommen konnte, die gerade den Arbeiten
tung gekommen ist<< (Schalem 1975, 161). Benjamins, die solcher Haltung entstammen, ihre be-
Auch die persönlichen Gründe seiner Moskauer deutende Wirkung und jenen Glanz aus der Tiefe ver-
Reise (6.12.1926-1.2.1927)- vor allem der brennende leihen<< (156).
Wunsch, Asja wiederzusehen -ließ er in seinen Briefen 1929 machte Benjamin- wohl durch die Vermitt-
an Schalem im Unklaren. Daß er zugleich von seinem lung von Lacis - die Bekanntschaft Brechts, dessen
66 Intellektuelle Freundschaft

>>plumpes Denken<< einen entscheidenden Einfluß auf min Magnes, ihm ein Stipendium für sein geplantes
ihn ausübte. Von nun an verstand Scholem, daß Ben- Studium des Hebräischen zu gewähren. In Jerusalem
jamins Hinwendung zum Kommunismus keine vor- bemühte sich Scholem um die Gelder dazu. Am
übergehende Grille war, sondern daß sie eine radikale 1.8.1928 >>war seine Reise nach Palästina[ ... ] beschlos-
Zäsur in seinem Denken darstellte. >>Die Auseinander- sene Sache<<. Am 20.9. erhielt Scholem einen Brief, in
setzung zwischen seiner metaphysischen Denkweise dem es hieß: >>Nicht aber möchte ich diese Zahlungen
und der marxistischen<<, schreibt er in der Geschichte unbedingt an den Termin meines Erscheinens in Jeru-
einer Freundschaft, >>hat sein geistiges Leben von 1929 salem gebunden wissen<<, da >>der Zeitpunkt der Reise
an in durchaus unverwechselbarer Weise geprägt<< auch heute für mich nicht ganz einfach festzulegen
(155). Für Scholem lag aber Benjamins Größe ein für [ist]<<. >>Unser Schock war groß<<, schreibt Scholem, >>als
alle Mal in der Metaphysik (in der er wohl stillschwei- Benjamin mir am 18. Oktober, gänzlich unerwartet,
gend die philosophische Version der Theologie sah), den Empfang der Sendung des gesamten Betrages von
so daß er die Hinwendung seines Freundes zum Kom- Seiten Magnes' mitteilte[ ... ]. Von diesem Moment an
munismus gewissermaßen als einen Verrat an seiner schwand unsere Zuversicht, Benjamin wirklich in Je-
höchsten geistigen Berufung verurteilen mußte. rusalem zu sehen<< (187ff.). Etwas später verschob er
die Reise auf das Frühjahr 1929, dann auf den Herbst
desselben Jahres. Ende Mai 1929 begannen die tägli-
Das Treffen in Paris und das gescheiterte chen Hebräisch-Stunden, die weniger als zwei Monate
Jerusalem-Projekt (1927-1929) dauerten und dann nicht wieder aufgenommen wur-
den. Am 20.1.1930 schrieb Benjamin Scholem auf
Im Sommer 1927 fuhr Scholem für einige Monate nach französisch einen Brief, in dem er ihm erklärte, er setze
Europa und traf sich mehrmals mit Benjamin in Paris. jeder Hoffnung einen Schlußstein, solange er in
Beide hatten sich seit 1923 nicht mehr gesehen. >>Als Deutschland sei, hebräisch zu lernen. Sein Ehrgeiz sei
wir uns wiedersahen<<, heißt es in der Geschichte einer nunmehr darauf gerichtet, der bedeutendste Kritiker
Freundschaft, >>traf ich einen Menschen, der in einem der deutschen Literatur zu werden (3, 501 ff.). In der
intensiven Prozeß der Gärung begriffen, dessen ge- Geschichte einer Freundschaft meint Scholem, der
schlossene Weltansicht gesprengt und verfallen war, wahre Grund für Benjamins Verzicht auf das Jerusale-
und der sich in einem Aufbruch befand - zu neuen mer Projekt sei sein Liebesverhältnis mit Lacis gewe-
Ufern, die ihm selbst zu bestimmen noch nicht mög- sen, die damals in Berlin mit ihm zusammenlebte. (Das
lich war [... ]. So waren diese Tage in Paris eine Periode Geld des Stipendiums hatte Benjamin inzwischen, wie
großer Aufgeschlossenheit und fruchtbarer Spannung Scholem vermutete, beim Glücksspiel ausgegeben.)
zwischen uns<< (168). Was die Frage seiner politischen Man darf den Schock, den dieser Briefbei Scholem
Wende betraf, so sagte er Scholem schon damals, >>er auslöste, aufkeinen Fall unterschätzen. Und dies nicht
könne sich [... ]keinen Widerspruch zwischen der Ge- nur wegen des Scheiterns des für sie beide so hoch-
stalt, in der die radikal-revolutionären Perspektiven symbolischen Projekts oder wegen der heiklen Lage,
für seine Arbeit fruchtbar werden könnten, und der in die Benjamins Verhalten ihn der Jerusalemer Uni-
von ihm bisher verfolgten, wenn auch ins Dialektische versität und den Geldgebern gegenüber versetzt hatte,
transformierten Betrachtungsweise vorstellen<< sondern auch weil dieses Verhalten ihn an seine
(170). schlimmsten Vermutungen aus der Berner Zeit in be-
Einen für Scholem vielversprechenden Höhepunkt zug auf Benjamins Unzuverlässigkeit in allen Geldan-
dieser Pariser Periode, der sich aber später als höchst gelegenheiten erinnern mußte. In den kommenden
verhängnisvoll erweisen sollte, bildete das von Scho- Jahren sollte dieses Mißtrauen einen düsteren Schatten
lem, Benjamin und Judah Leon Magnes, dem damali- auf Scholems Beziehungen zu Benjamin werfen. Aber
gen Rektor der Jerusalemer Universität, gemeinsam noch tiefer enttäuscht hatte ihn wohl Benjamins
entworfene Projekt, Benjamin als Dozenten nach Je- scheinbar endgültiger Verzicht, sich mit den Grund-
rusalem kommen zu lassen. Nach Scholems Schilde- fragen des Judentums ernsthaft auseinanderzusetzen.
rung in der Geschichte einer Freundschaft hat Benjamin Diesen Punkt sprach er in einem Brief an Benjamin
Magnes erklärt, er habe vor, >>sich durch das Medium an: >>Ich möchte dich [... ] veranlassen, dich [über Dein
des Hebräischen den großen Texten der jüdischen Li- Verhältnis zum Judentum] mit der Offenheit, die ich
teratur nicht als Philologe, sondern als Metaphysiker dir entgegenbringe [... ], mir gegenüber zu erklären
zu nähern [... ]. Er denke daran, im Sommer oder [... ].Ich bin ja gewiß der Mensch, der es mit Fassung
Herbst 1928 nach Jerusalem zu kommen<< (173f.). Die und [... ] auch leidlichem Begreifen ertragen wird,
Verhandlungen gingen 1928 weiter. Dabei bat Benja- wenn sich herausstellt, daß Du in diesem Leben nicht
Gershorn Scholem 67

mehr mit einer wirklichen Begegnung mit dem Juden- dann aber einen Satz hinzu, dessen Anfang Scholem
tum außer im Medium unsrer Freundschaft rechnen nur beglücken, dessen Schluß ihn jedoch nur entrüsten
kannst und rechnest. [... ] [I]ch müsste nicht das für konnte: »ich habe nie anders forschen und denken
Dich fühlen, was ich fühle, wenn ich nicht unter dieser können als in einem, wenn ich so sagen darf, theolo-
Situation litte<< (3, 524). In seiner Antwort greift Ben- gischen Sinn- nämlich in Gemäßheit der talmudi-
jamin Scholems Formel >>außer im Medium unserer schen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder
Freundschaft<< wieder auf, indem er seine Reaktion Thorastelle. Nun: Hierarchien des Sinns hat meiner
scheinbar nur auf jene rein persönliche Ebene bezieht, Erfahrung nach die abgegriffenste kommunistische
dadurch aber die prinzipielle Frage, die Scholem ihm Plattitüde mehr als der heutige bürgerliche Tiefsinn,
gestellt hatte, indirekt beantwortet: >>Lebendiges Ju- der immer nur den einen der Apologetik besitzt<<
dentum habe ich in durchaus keiner anderen Gestalt (19 f.). In seiner Antwort wirft Scholem ihm »Zwei-
kennengelernt als in Dir.<< Diese vorsichtige, für Ben- deudigkeit<<, ja einen grundlegenden »Selbstbetrug<<
jamins oft kryptische Schreibweise recht charakteri- vor. Offensichtlich betrachtet er die von Benjamin
stische Formulierung gibt Scholem zu verstehen, daß dargelegte Vermittlungsstrategie zwischen Theologie
sein Freund ihn (wohl zu Recht) als ein Unikum in der und Materialismus als einen verzweifelten Versuch,
geistigen Landschaft des zeitgenössischen Judentums zwei unvereinbare Welten zu versöhnen. In Wirklich-
betrachtet und daß diese einzigartige Erfahrung eines keit bestehe eine »verblüffende Fremdheit und Bezie-
lebendigen Judentums ihm als solche noch nicht ge- hungslosigkeit [... ]zwischen [seinem] wirklichen und
stattet, auf eine »wirkliche Begegnung mit dem Juden- [seinem] vorgegebenen Denkverfahren<< (27). Dem-
tum<< zu rechnen. Daher kann die Frage seines Verhält- zufolge wäre Benjamin »zwar [... ] nicht das letzte, aber
nisses zum Judentum für ihn keine ideologische, ge- vielleicht das unbegreiflichste Opfer der Konfusion von
schweige gesellschaftlich-politische, sein, sondern nur Religion und Politik<< (30).
eine rein private: »Die Frage, wie ich zum Judentum In seiner dramatisch formulierten Antwort vom
stehe, ist immer die Frage wie ich- ich will nicht sagen 17.4.1931 geht Benjamin gar nicht auf die von Scholem
zu Dir (denn meine Freundschaft wird hier von keiner hervorgehobenen Aporien seines Denkansatzes ein,
Entscheidung mehr abhängen) -zu den Kräften, die sondern beschreibt nur die Situation, in der er sich
Du in mir berührt hast, mich verhalte<< (520). befindet, zu einer Zeit, in der seiner Meinung nach nur
noch die Kommunisten fähig sind, den drohenden
Nationalsozialismus erfolgreich zu bekämpfen:
Die Auseinandersetzungen über Benjamins »[W]illst Du mir [... ] verwehren, die rote Fahne zum
Kommunismus (1931 und 19341 Fenster herauszuhängen?<< (25) Er sei wie >>[e]in Schiff-
brüchiger, der auf einem Wrack treibt, [... ],indem er
Wenn Scholem die Revolution in Benjamins geistiger auf die Spitze des Mastbaums klettert, der schon zer-
Haltung immerhin noch bis 1931 mit einiger Fassung mürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner
ertragen konnte, so brach im März 1931 zwischen bei- Rettung ein Signal zu geben<< (26). Daß es dabei kei-
den eine bittere, sowohl ideologische als auch persön- neswegs um rein theoretische Ansätze gehe, sondern
liche Auseinandersetzung zur Frage von Benjamins um eine wahrhaft lebenswichtige Position, hebt er ei-
Kommunismus aus. Dessen Ausgangspunkt war ein nige Tage später hervor. Es handle sich »keineswegs
Brief Benjamins an den Schweizer Kritiker Max Rych- um blanke Standpunkte sondern um eine Entwick-
ner, von dem er Scholem eine Kopie geschickt hatte. lung[ ... ],[ ... ] welche sich unter den schwersten Span-
Dort versucht Benjamin zuerst, seinem Gesprächspart- nungen vollzieht. [... ] [I]ch meine Spannungen des
ner die besondere Konsistenz seines Vermittlungsver- politischen, gesellschaftlichen Lebensraumes, von de-
suchs zwischen dialektischem Materialismus und jü- nen kein Mensch und am wenigsten ein Schriftsteller
discher Theologie klarzumachen. In der Tat gebe es bei seinen Arbeiten absehen[ ... ] kann<< (44).
»von [seinem] sehr besonderen sprachphilosophischen Drei Jahre später erreichte diese Auseinandersetzung
Standort aus [... ] zur Betrachtungsweise des dialekti- einen neuen Höhepunkt. Im Frühling 1934 hatte Ben-
schen Materialismus eine - wenn auch noch so ge- jamin Scholem einen Sonderdruck seines soeben in der
spannte und problematische- Vermittelung<< (4, 18). Zeitschrift für Sozialforschungveröffentlichten Aufsatzes
Er sehe sich keineswegs als »ein Vertreter des dialekti- ZUM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STAND-
schen Materialismus [... ],sondern [als ein] Forscher ORT DES FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTELLERS geschickt.
[... ] dem die Haltung des Materialisten wissenschaft- Scholem reagierte darauf äußerst irritiert, indem er
lich und menschlich in allen uns bewegenden Dingen behauptete, er habe ihn nicht verstanden, fügte aber die
fruchtbarer scheint als die idealistische<< (19). Er fügt offensichtlich provokative Frage hinzu: »Soll das ein
68 Intellektuelle Freundschaft

kommunistisches Credo sein?<< Besonders kennzeich- danken des Kommunismus, während Scholem die
nend für Scholems Widerstand, Benjamins Hinwen- zeitgenössische Politik der zionistischen Bewegung
dung zum Marxismus anzuerkennen, erscheint die einer vernichtenden Kritik unterzog. In einem Brief
Tatsache, daß er mit solchem Erstaunen und mit sol- vom 1.8.1931 an Benjamin beklagte Scholem »das ra-
cher Heftigkeit auf einen Aufsatz reagiert, dessen Tenor dikale Auseinanderfallen [seiner] Intention des Zio-
ihn doch nicht hätte überraschen sollen. >>Ich muß Dir nismus, welche [er] als eine religiös-mystische schließ-
gestehen, daß ich in diesem Jahr schon überhaupt nicht lich mit Zustimmung charakterisieren [hörte], und
mehr weiß wo Du stehst. Es ist mir nie gelungen, trotz de[s] empirischen Zionismus, der von einem unmög-
aller Versuche [... ] auch früher zu einer Klärung dieser lichen und provokatorischen Zerrbild einer politischen
Deiner Stellung mit Dir zu gelangen. Und jetzt [... ] wird angeblichen >Lösung der Judenfrage< ausgeht[ ... ]. Ich
es mir leider noch weniger gelingen. Und das ist über- glaube ja nicht, daß es etwas gibt wie eine >Lösung der
aus beklagenswert<< (Scholem 1980, 136). Judenfrage< im Sinne einer Normalisierung der Juden,
Benjamin war von dieser Reaktion umso tiefer ver- und glaube gewiß nicht, daß in einem solchen Sinn in
letzt, als er damals schon ein halbes Jahr vergebens auf Palästina die Frage gelöst werden kann- mir war und
eine Antwort auf seinen neuen sprachphilosophischen ist nur von jeher klar gewesen, daß Palästina notwen-
Aufsatz ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN (1933) dig ist, und das war ja genug<< (Scholem 1975, 214ff.).
wartete, dessen Inspiration Scholem hätte faszinieren Diese Auffassung des Zionismus als einer wesentlich
müssen. Wie dem auch sei, die erhoffte Antwort blieb geistigen und nicht unbedingt politischen Bewegung
aus, und der Aufsatz wurde erst bei Scholems Pariser (die der des jüdischen Denkers Achad Haam sehr äh-
Begegnung mit Benjamin im Februar 1938 unter ihnen nelt) beruht bei Scholem auf seinem Glauben, das
besprochen. Benjamins Reaktion auf Scholems Frage Wesen des Judentums sei grundsätzlich ein metaphy-
zeugt von seiner Verbitterung, stellt aber auch einen sisch-religiöses, so daß es keinen Sinn habe, von einer
Versuch dar, seine Position so klar wie nur möglich »Normalisierung<< des jüdischen Volkes im Sinne von
darzulegen: »Solche Fragen ziehen - so scheint mir - dessen vollkommener Säkularisierung zu sprechen.
auf dem Wege über den Ozean Salz an und schmecken Jenseits dieser überzeugungverrät sein Brief an Ben-
dann dem Gefragten leicht bitter[ ... ]. [Mein Kommu- jamin aber auch offenbar mystische, ja apokalyptische
nismus] ist- um den Preis seiner Orthodoxie- nichts, Züge: »Der Zionismus<<, schreibt er dort, »hat sich tot
aber gar nichts, als der Ausdruck gewisser Erfahrun- gesiegt<<. Er stelle einen Sieg im Sichtbaren dar, »bevor
gen, die ich in meinem Denken und in meiner Existenz er im Unsichtbaren, und zwar in der Erneuerung der
gemacht habe [... ].Du zwingst mich es auszusprechen, Sprache, entschieden war[ ... ]. Der Zionismus hat die
daß jene Alternativen, die offenkundig deiner Besorg- Nacht mißachtet<<. Er sei zu »einer Prostitution der
nis zu Grunde liegen, für mich nicht einen Schatten letzten Reste unserer Jugend entartet [... ].Das war
von Lebenskraft besitzen<< (4, 407ff.). Daß Scholem nicht der Platz, den wir zu finden kamen<< (214f.).
auf diese Beteuerungen Benjamins nicht mehr einging, Diese Thesen, welche die Krise widerspiegeln, die
beweist wohl nur, daß für ihn die Alternative zwischen Scholem zu Beginn seines Aufenthalts in Palästina
Theologie und Materialismus immerhin noch eine durchmachte, drücken seine Ernüchterung, ja seine
gewisse Lebenskraft besaß. Verzweiflung ausangesichtsdes brutalen Zusammen-
pralls der geistigen Ideale, in deren Namen er nach
Palästina gegangen war, und der politischen und sozi-
Scholems Kritik des politischen Zionismus alen Realität, die er dort vorfand. Denn der Zionismus
(1931) der osteuropäischen Gründergeneration trug die
Merkmale eines radikalen Bruchs mit der religiösen
Es ist für die geistige Entwicklung Benjamins und Welt des Judentums, während der junge Scholem von
Scholems höchst bezeichnend, daß beide fast zur glei- dem Drang getrieben war, im Zionismus die geistigen
chen Zeit, und zwar 1931, sich bemühten, mit ihren Quellen seiner Identität wiederzufinden. Einer Ideo-
jeweiligen ideologisch-politischen Positionen ins Reine logie des Bruchs mit der Tradition stand hier eine
zu kommen. Dies allerdings mit zwei bedeutenden Ideologie der »Dissimilation<<, also der Rückkehr zur
Unterschieden: Einerseits geschah dieser Klärungsver- Tradition entgegen. Hinzu kam Scholems radikale
such bei Benjamin nicht spontan, sondern unter dem Kritik an der Araber-Politik der zionistischen Politiker,
Druck von Scholems insistenten Fragen, während die- so daß Benjamin ihm wenig später sein Einverständnis
ser seine Vorbehalte dem politischen Zionismus ge- mitteilen konnte: »Vorstellbar wäre mir<<, schrieb er
genüber aus eigenem Antrieb vorbrachte. Andererseits ihm am 3.10.1931, »daß auf dem Wege über diese Fra-
trennte Benjamin sich letztlich nicht von Grundge- gen wir zu einer überraschenden Verständigung in
Gershorn Schalem 69

jenen andern, nur sehr scheinbar ihnen fremden, ge- Höchst kennzeichnend für die Vielschichtigkeit der
langen würden, die seit einiger Zeit zwischen uns offen Beziehungen zwischen beiden Freunden ist Benjamins
sind<< (4, 57). relativ späte Antwort vom 3.10.1931. Von Kafka ist
dort zuerst überhaupt nicht die Rede; erst in einem
Postskriptum greift Benjamin das Thema auf, aber
Kafka(1934-1938) ohne auf Scholems theologische Ausführungen, sei es
auch nur mit einem Wort, einzugehen. Hingegen er-
Scholems und Benjamins Gedankenaustausch über die zählt er mit offensichtlicher Genugtuung, daß er >>in
Interpretation des Werkes von Pranz Kafka begann einigen Gesprächen, die in besagte Wochen fallen«, von
1931 und erreichte ihren Höhepunkt im Sommer Brechts (von dem er wußte, daß dessen Name auf
1934, als Benjamin im Begriff war, seinen großen Scholem wie ein rotes Tuch wirkte) durchaus positiver
Kafka-Aufsatz abzuschließen. In dem soeben erwähn- Stellung zu Kafkas Werk überrascht war (4, 56).
ten Brief vom 1.8.1931 hatte Schalem auf Benjamins Anfang Mai 1934, also drei Jahre später, erhielt Ben-
Bitte ihm einige seiner »Separatgedanken« über Kafka jamin von Robert Weltsch, den Scholem daraufhin
mitgeteilt. Besonders aufschlußreich für Scholems angesprochen hatte, den Auftrag, einen Aufsatz über
Haltung zu dieser Zeit ist der Satz, in dem er festlegt, Kafka aus Anlaß der 10. Wiederkehr seines Todestages
daß Kafka »keinerlei Stellung in dem Kontinuum des für die jüdische Rundschau zu schreiben. In seiner
deutschen Schrifttums« habe, weil er dem jüdischen prinzipiell positiven Antwort erklärt er, daß er sich >>in
Schrifttum angehöre. Im übrigen müsse jede Untersu- keiner Weise die gradlinige theologische Auslegung
chung über Kafka vom Buch Hiob aus beginnen, >>oder Kafkas [... ] zueigen zu machen« vermag (423). Aller-
zum mindesten von einer Erörterung über die Mög- dings bittet er Scholem kurz danach, ihm seine >>be-
lichkeit des Gottesurteils«. Im Hintergrund dieser sonderen, aus den jüdischen Einsichten hervorgehen-
Interpretation steht der Gedanke, daß Kafkas zentrales den Anschauungen über Kafka« mitzuteilen, da diese
Thema die Frage des Gesetzes sei; dieses Thema sei ihm >>bei diesem Unternehmen von größter Bedeutung
aber mit der Frage des Urteils eng verwandt. Insofern - um nicht zu sagen nahezu unentbehrlich« seien
als Kafka dieses Motiv gleichsam ins Absolute proji- (425). Nachdem er aber am 2.6.1934 Scholem mitge-
ziert, könne man es, laut Scholem, als eine, allerdings teilt hatte, daß seine Arbeit >>virtuell ungefähr abge-
säkularisierte, Wiederaufnahme der altjüdischen Vor- schlossen« sei (435), antwortete dieser, offensichtlich
stellung des Gottesurteils betrachten. Es gehe bei Kafka gekränkt: >>Du wirst Deine Linie ja zweifellos am be-
also wesentlich um die Möglichkeit eines absolut gel- sten ohne die mystischen Vorurteile, welche allein ich
tenden Urteils in einer Welt, in der Gott nicht mehr auszustreuen imstande bin, verfolgen« (Scholem 1980,
vorkommt. Diese Problematik aber komme vor allem 146). Dies hinderte Benjamin nicht daran, Scholem
in Kafkas Sprache zum Vorschein, die >>in ihrer Affini- erneut um die Mitteilung seiner Gedanken über Kafka
tät an die Sprache des jüngsten Gerichts das Prosaische zu bitten. >>Wenn ich mich nicht irre«, schreibt er Scho-
in seiner kanonischsten Form« darstellt. Scholem be- lem am 9.7.1034, >>wird die Arbeit [... ] noch für eine
zieht sich auf die Schriften der altjüdischen Gesetzes- Weile aktuell bleiben. Mittelbar ist diese Arbeit durch
lehrer (der >>Halachisten«), wenn er bemerkt: >>So muß dich veranlaßt; ich sehe keinen Gegenstand, in dem
ja wohl, wenn sie möglich wäre (das freilich ist die unsere Kommunikation näherliegend wäre. Und mir
Hypothese der Vermessenheit!!), die moralische Refle- scheint nicht, daß du meine Bitte abschlagen kannst«
xion eines Halachisten aussehen, der die sprachliche (4, 453f.). Scholem sandte ihm ein damals noch un-
Paraphrase eines Gottesurteils versuchen wollte«. Und gedrucktes >>Lehrgedicht« zu, das er Anfang 1933 ver-
in einer impliziten Kritik an Pranz Rosenzweigs zen- faßt hatte; die überschrift war >>Mit einem Exemplar
tralem Gedanken der >>Vorwegnahme der Erlösung« von Kafkas >Prozeß«< (II, 1161 f.). Es besteht aus fünf-
in der ritualen Erfahrung des jüdischen Volkes fügt er zehn Vierzeilern, die in der Sprache der religiösen
hinzu: >>Hier ist einmal die Welt zur Sprache gebracht, Sinngedichte des Barock geschrieben sind. Dieses Ge-
in der Erlösung nicht vorweggenommen werden dicht stellt keinen Versuch dar, eine regelrechte litera-
kann«. Für Scholem kann nämlich in Kafkas unwie- rische Interpretation von Kafkas Prozeß zu geben; es
derbringlich gottlos gewordenen Welt die Offenbarung ist vielmehr eine persönliche Meditation. Wie beim
nur noch in der sprachlichen Schilderung ihrer Abwe- späten Benjamin stoßen hier zwei scheinbar einander
senheit erwähnt werden: >>So gnadenlos wie hier fremde Welten blitzhaft aufeinander, die von Kafkas
brannte noch nie das Licht der Offenbarung. Das ist Werken und die der Kabbala, und erzeugen eine neue
das theologische Geheimnis der vollkommenen Prosa« geistige Konstellation. Scholems >>Lehrgedicht« spiegelt
(Scholem 1975, 212 f.). die tiefe weltanschauliche, ja metaphysisch-theologi-
70 Intellektuelle Freundschaft

sehe Krise wider, die Scholem schon kurze Zeit nach verstehe darunter einen Stand, in dem sie bedeutungs-
seiner Ankunft in Palästina befiel. Seine schon er- leer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in
wähnte politische Ernüchterung verband sich mit sei- dem sie gilt, aber nicht bedeutet. Wo der Reichtum der
nem immer stärker werdenden Interesse an den häre- Bedeutung wegfällt und das Erscheinende, wie auf
tischen Bewegungen innerhalb des Judentums, um ihn einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, dennoch
bis an die Grenze eines radikalen Nihilismus zu führen. nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas
In seinem >>Lehrgedicht« wird der für ihn nun zentrale Erscheinendes), da tritt sein Nichts hervor. Es versteht
Gedanke der Abwesenheit Gottes in der Welt veran- sich, daß im Sinn der Religion dies ein Grenzfall ist,
schaulicht - durch die systematische Zurücknahme von dem sehr fraglich bleibt, ob er realiter vollziehbar
der drei in der jüdischen Tradition wesentlichen Er- sei« (Scholem 1980, 175). Das »Nichts der Offenba-
scheinungsformen des Göttlichen: Schöpfung, Offen- rung« bezeichnet also für Scholem einen paradoxen
barung, Erlösung. So handelt die vierte Strophe von Augenblick in der Geschichte der Tradition, den eines
der Infragestellung des Begriffs der Offenbarung in entscheidenden Bruchs, wo die Offenbarung- die hier
einer Zeit, in der Gott unsichtbar geworden ist: >>So für den Begriff des Gesetzes steht - ihre Bedeutung
allein strahlt Offenbarung/ In die Zeit, die dich ver- schon eingebüßt hat, ihr Schatten sich aber noch vor
warf./ Nur dein Nichts ist die Erfahrung,/ Die sie von dem Hintergrund von Kafkas Werken abzeichnet. Dies
dir haben darf<< (II, 1161). meint Scholem mit der etwas kryptischen Formel, daß
Der Begriff vom >>Nichts der Offenbarung« stellt den die Offenbarung bei Kafka zwar >>bedeutungsleer« ge-
Kern von Scholems Kafka-Interpretation dar. In einem worden sei, daß sie aber immer noch gelte. Zugleich
Briefvom 17.7.1934 versucht er, diesen Gedanken ge- sei diese paradoxe Situation aber auch die unserer
nauer zu erläutern: >>Die Welt Kafkas«, schreibt er dort, Welt, die Kafka in seinen Romanen schildere. Aller-
»ist die Welt der Offenbarung, freilich in jener Perspek- dings stelle jenes Paradox »einen Grenzfall der Reli-
tive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird«. gion« dar, da es ständig in Gefahr schwebe, als bloßer
Unter diesem >>Nichts<< versteht er aber keineswegs die Atheismus zu erscheinen oder (wie im Fall des Sabba-
metaphysische Leugnung der Offenbarung, auch nicht tianismus, dem Scholems Forschungen zu dieser Zeit
deren Unmöglichkeit in der profanen Welt, sondern galten) als religiöser Anarchismus. Doch eben wegen
vielmehr »die Unvollziehbarkeit des Geoffenbarten«. dieses Schwankens diesseits und jenseits einer stets sich
Dies steht im Gegensatz zu Benjamins These von der verschiebenden Grenze kann das >>Nichts der Offen-
Affinität der Kafkaschen Welt zu dem von Bachofen barung« nicht in rein logischen Begriffen verstanden,
geschilderten >>hetärische[n]« (428) Stadium der ar- sondern nur in der Sprache der literarischen Fiktion
chaischen Menschheit. Dabei will Scholem keineswegs dargestellt werden.
leugnen, daß >>etwas von der >hetärischen< Schicht« Die These, nach der die Offenbarung auch dann
darin sei und daß Benjamin dieses Motiv >>ganz un- noch gilt, wenn sie bedeutungsleer geworden ist, und
glaublich meisterhaft herausgeholt<< habe (Scholem daß man sie folglich als Interpretations-Kategorie auf-
1980, 15 7 f.). Für Scholem schildern die Romane Kaf- stellen kann, unterscheidet grundsätzlich Scholems
kas indes »eine Welt, in der die Dinge so unheimlich Position von der Benjamins. Die Auseinandersetzung
konkret und jeder Schritt so unvollziehbar wird«. Der zwischen beiden kreist um eine Formulierung Benja-
Begriff der Unvollziehbarkeit der Offenbarung, die im mins, welche die Gestalten der Gehilfen, vor allem der
Judentum ja wesentlich Offenbarung des Gesetzes ist, Studenten, die in Kafkas drei Romanen vorkommen,
bezieht sich in Scholems Kafka-Interpretation offen- betrifft. Der Kontext dieser Äußerung läßt keinen
sichtlich auf das endlose Schwanken von Kafkas Ge- Zweifel über den Sinn von Benjamins Säkularisierung
stalten, auf ihre Unentschlossenheit vor der unbedeu- von zentralen jüdischen Begriffen bestehen: >>Die
tendsten Entscheidung. So scheinen sie eine Übertra- Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium. Und doch
gung jener perfektionistischen Besessenheit, die die wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen
religiöse Praxis des gesetzestreuen Judentums kenn- zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora
zeichnet, in die Welt der Fiktion darzustellen. geschlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener,
Benjamin scheint Scholems Absichten nicht völlig denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die
verstanden zu haben, da er ihn am 11.8.1934 darum Schrift abhanden gekommen ist« (li, 437). Dieser Satz
bittet, ihm die Formel: Kafka stelle >>die Welt der Of- verdeutlicht Benjamins Urteil über die Lage der jüdi-
fenbarung in jener Perspektive dar, in der sie auf ihr schen Tradition in der durch und durch profanen Welt.
Nichts zurückgeführt wird«, zu erläutern (4, 479). Kein Wunder, daß Scholem gerade an diesem SatzAn-
Scholem antwortet ihm am 20.9.1934: >>Du fragst, was stoß nimmt: »Nicht so sehr Schüler, denen die Schrift
ich unter dem >Nichts der Offenbarung< verstände? Ich abhanden gekommen ist [... ],als Schüler, die sie nicht
Gershorn Schalem 71

enträtseln können, sind jene Studenten, von denen Du matischen Brief zu diesem Thema. Dabei geht er im-
am Ende sprichst<< (Scholem 1980, 158). Diese ebenso plizit von einer Analyse des Romans Das Schloß aus.
verschlüsselte Formel wie die Benjamins will zu ver- Obwohl dieses Werk nicht ausdrücklich erwähnt wird,
stehen geben, daß, obwohl wir >>die Schrift<< - also die bezieht sich Benjamin ganz offenbar auf die Erfahrun-
Texte der jüdischen Tradition- heutzutage nicht mehr gen des Helden im Dorf, in dem dieser sich vorüber-
verstehen können, diese ihre Gültigkeit nicht für im- gehend einquartiert hat. Benjamin bemerkt, daß es
mer verloren haben, sondern daß noch eine Zeit kom- diesem gar nicht so sehr darauf ankommt (wie Max
men kann, in der sie wieder zu den Menschen sprechen Brod behauptet hatte), das Schloß zu erreichen, als
wird. Als Benjamin ihm darauf erwidert, daß beide vielmehr die Wahrheit über das Schloß zu erfahren.
Interpretationen im Grunde auf dasselbe hinauslaufen Rasch stellt sich jedoch heraus, daß diese Wahrheit
- zumindest in bezug auf die gegenwärtige Wirklich- unerkennbar ist, ja daß es sie vielleicht überhaupt nicht
keit-, betont Scholem nachdrücklich, daß für ihn der gibt. Die zahlreichen Angaben, die die Einwohner des
wesentliche Unterschied gerade im Urteil über die Zu- Dorfes dem Helden machen, sind nämlich so wider-
kunft der Tradition liege. Ist »der Faden der Tradition<< sprüchlich, daß dieser schließlich bezweifelt, ob eine
für immer zerrissen, wie Hannah Arendt (1971) es glaubwürdige Wahrheit über das Schloß überhaupt da
formulieren wird, oder wurde die Tradition nur vor- sei. Diese Unschlüssigkeit drücke aber Kafkas gleich-
läufig unterbrochen? Mit anderen Worten: Ist die Tra- sam metaphysische Überzeugung aus, daß es in unse-
dition imstande, sich radikal zu erneuern, um eines rer Welt keine verbindliche Wahrheit gebe. Bei Kafka,
Tages noch unvorhersehbare Formen anzunehmen, schreibt Benjamin, sei die Wahrheit in ihrer haggadi-
die ihr die verlorengegangene Aussagekraft wiederge- schen [d.h. epischen] Konsistenz verschwunden. In
ben werden? Auf genau diesem Glauben an die unbe- diesem Sinne spiegele das Werk Kafkas eine »Erkran-
grenzte Plastizität der Tradition beruht Scholems ne- kung der Tradition<< (6, 112) wider. Das eigentlich
gative Theologie, und eben darin unterscheidet sie sich Geniale an Kafka bestehe darin, daß er diese Erkran-
von Benjamins Überzeugung, die religiöse Tradition kung zum Gegenstand seiner Erzählungen gemacht
sei als solche erloschen, und nur ihre radikale Säkula- habe. Kafka, schreibt Benjamin, »gab die Wahrheit
risierung sei noch imstande, einige ihrer Bruchstücke preis, um an [deren] Tradierbarkeit [... ] festzuhalten<<
zu retten. (113). An die Stelle der unmöglich gewordenen Dar-
Benjamin stellt gegenüber Scholem die Punkte her- stellung der Wahrheit trete »das Gerücht von den wah-
aus, in denen er in seinem Aufsatz auf jüdisch-theolo- ren Dingen (eine Art von theologischer Flüsterzeitung,
gische Begriffe zurückgreift. »Ich [... ] behaupte<<, so in der es um Verrufenes und Obsoletes geht)<< (ebd.).
Benjamin, »daß auch meine Arbeit ihre breite- freilich Eine unbarmherzigere Analyse des gegenwärtigen
beschattete - theologische Seite hat<< (4, 459). Dabei Standes der religiösen Tradition kann man sich wohl
erwähnt er die »kleine[] widersinnige[] Hoffnung<<, kaum vorstellen.
den »Versuch der Verwandlung des Lebens in Schrift<<, In gewissem Sinne hätte Scholem mit dem Begriff
in dem er den Sinn der »Umkehr<< sieht, »auf welche der »Erkrankung der Tradition<< sehr wohl überein-
zahlreiche Gleichnisse Kafkas [... ]hindrängen<<, wobei stimmen können, da diese ja mit der Krise der Offen-
er hervorhebt, daß die >Umkehr< oder das >Studium< barung, die er in seinem »Lehrgedicht<< geschildert
Kafkas »messianische Kategorie« darstellen. Indessen hatte, scheinbar zusammenfällt. Doch ebenso wie er
erklärt er zugleich, in unbedingtem Gegensatz zu seinerzeit den Gedanken der unwiederbringlichen
Scholem, daß er >>Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz Verlorenheit der Schrift nicht akzeptieren konnte, so
[... ]für den toten Punkt seines Werkes<< halte (478f.). ist er jetzt nicht bereit, im gegenwärtigen Verfall aller
Ganz besonders kennzeichnend ist hier Benjamins klassischen Überlieferungsformen das Zeichen eines
Versuch, Scholem klarzumachen, daß es ihm wesent- unabänderlichen Erlöseheus der Tradition zu sehen.
lich darauf angekommen sei, metaphysisch-theologi- Vertraut mit der historischen Dialektik der jüdi-
sche Begriffe in profane umzudeuten, und zwar um sie schen Tradition, wußte Scholem, daß diese von jeher
gerade dadurch zu retten. Scholem ist von Benjamins Höhen und Tiefen gekannt hatte. Ja selbst die Mög-
Interpretationen offensichtlich tief beeindruckt, kann lichkeit einer langen Periode des Schweigens sei in
sich aber mit dessen Umdeutung des Theologischen ihrer Historizität angelegt: »Die Antinomie des Hag-
ins Profane nicht abfinden (vgl. Scholem 1980, 174). gadischen<<, schreibt er Benjamin, »ist keine der Kaf-
In den Jahren 1937-1938 hatte Schalem Benjamin kaschen Haggada [Erzählkunst] allein eigene, sie grün-
mehrmals gebeten, ihm den neuesten Stand seiner det eher in der Natur des Haggadischen selber [... ]: daß
Überlegungen zu Kafka mitzuteilen. Am 12.6.1938 Tradierbarkeit der Tradition allein noch als ihr Leben-
schickte Benjamin ihm endlich einen langen program- diges erhalten bleibt, ist im Verfall der Tradition, in
72 Intellektuelle Freundschaft

ihren Wellenbergen, nur natürlich<< (Scholem 1980, Antwort auf Scholems Einladung, sich an der Diskus-
286). sion zu beteiligen. >>An den Gedanken der bloßen Mög-
lichkeit der in ihr beschlossenen Veränderung<< würde
er nur >>mit äußerster Behutsamkeit herantreten<<. Die
Neue Mißverständnisse: Hauptfrage lautete dann: >>Ist dort für mich- das was
Benjamins gescheiterte Reisepläne ich kann und weiß- mehr Raum als in Europa? [... ]
nach Jerusalem (1934-19381 [W]enn ich mein Wissen und mein Können dort ver-
mehren könnte, ohne das Erworbene preiszugeben,
Scholem hatte die welthistorische Dimension der [würde es] an meiner Entschlossenheit dazu nicht feh-
Machtergreifung durch die Nazis und die verheeren- len<< (4, 238).
den Folgen dieser Katastrophe sofort verstanden. »Wir Scholem, der die Vorbehalte Benjamins sehr wohl
alle sind der Meinung<<, schrieb er Benjamin am gespürt hatte, antwortete ihm mit realistischem Blick:
3.4.1933, »daß es noch schrecklicher kommen wird >> [W] ir sehen hier keine Möglichkeit für Dich, Arbeit
und für [die] Juden eine völlig auswegslose Situation und Beschäftigung zu finden, die Dir halbwegs gemäß
sein wird<< (Scholem 1980, 53). Benjamin ließ es sei- wäre. [... ] [Es] ist uns fraglich, ob man sich in diesem
nerseits an Andeutungen über seine materielle Not Land wohlfühlen kann, wenn man keinen unmittel-
nicht fehlen. Am 28.2.1933 schrieb er Scholem, daß baren Anteil an ihm nimmt. [... ] Unsere Erfahrung ist,
er nicht wisse, wie er die nächsten Monate in oder daß auf die Dauer hier nur der leben kann, der sich
außerhalb Deutschlands überstehen könne: >>Es gibt durch alle Problematik und Bedrücktheit hindurch mit
Orte, an denen ich ein Minimum verdienen und sol- dem Lande und der Sache des Judentums verbunden
che, an denen ich von einem Minimum leben kann, fühlt. [... ] Mein Leben hier ist nur möglich [... ],weil
aber nicht einen einzigen, auf den diese beiden Bedin- ich mich dieser Sache bis in den Untergang und die
gungen zusammentreffen« (4, 163). Scholem antwor- Verzweiflung hinein verpflichtet fühle, sonst würde
tete ihm am 20.3.1933 nicht sehr ermutigend: >>Die mich die Fragwürdigkeit einer Erneuerung, die vor
evidente Unmöglichkeit für Dich, hier Geld zu ver- allem als Sprachverfall und Hybris auftritt, schon
dienen, wird ja wohl auch im Falle einer Ortsverän- längst gesprengt haben<< (Scholem 1980, 87f.). Diese
derung Deine Schritte nicht gerade hierher lenken Zeilen zeugen erneut von Scholems bemerkenswerter
[... ].So viel Platz zur Zeit wenigstens für Arbeiter in Offenheit, was seine radikale Kritik des realen Zionis-
Palästina ist, so wenig für Akademiker<< (Scholem mus betrifft. Zugleich betont die insistente Benutzung
1980, 46f.). Am gleichen Tag (die Briefe haben sich des >>wir<< seine trotz allem irrimer noch bestehende,
offenbar gekreuzt) kündigte Benjamin Scholem an, und seit der Katastrophe des deutschen Judentums
daß er Deutschland verlassen werde, trotz der sogar noch tiefere, Identifikation mit der kollektiven
>>äußerste[n] politische[n] Zurückhaltung<<, die er Dimension des zionistischen Unternehmens. Gerade
>>seit jeher und mit gutem Grunde<< geübt habe und dieses >>Wir<< soll Benjamin zu verstehen geben, daß
die ihn >>Zwar vor planmäßiger Verfolgung, aber nicht seine Position als westlicher Intellektueller, für den der
vor dem Verhungern<< schützen könne (4, 169 f. ). Auf Kampf gegen den Faschismus vor allem in Europa
diesen erneuten Wink antwortete Scholem nur mit ausgefochten werden müßte, ihm den Zugang zu jener
der Versicherung, er freue sich sehr, daß Benjamin kollektiven Erfahrung um so schwieriger, wenn nicht
>>nun doch noch herausgegangen<< sei (Scholem 1980, unmöglich machte.
53). Etwas später schrieb ihm Benjamin, der sich pro- Benjamins Reaktion auf diese Erwägungen Scho-
visorisch auflbiza aufhielt, daß er >>die Chancen einer lems ist äußerst kennzeichnend für die fast undurch-
Tätigkeit in Frankreich [... ] außerordentlich skep- schaubare Komplexität der Beziehungen zwischen
tisch<< ( 182) beurteile. beiden Freunden. Denn gerade Scholems Fragezeichen
Erst am 23.5.1933 ging Scholem ernsthaft auf Ben- in bezugauf Benjamins >>Verbundenheit mit der Sache
jamins Andeutungen ein: >>Das Problem, ob Du hier des Judentums<< (im Unterschied zu einer eventuellen
leben a) könntest b) solltest, ist im Kreise Deiner Ver- >>Verbundenheit mit der Sache des Zionismus<<, von
ehrer und Verehrerinnen mehrfach behandelt worden. der Benjamin ironisch sagt, daß keiner von ihnen sie
Kitty [Steinschneider] sagt daß sie Dir ihr Billet gleich wohl zu untersuchen wünsche) scheint ihn gekränkt
geben wollte. Wünschst Du Dich an der Diskussion zu haben. Hätte Scholem etwa von vornherein auf die
vielleicht durch eine Meinungsäußerung zu beteiligen? Möglichkeit verzichtet, >>die Frage [seiner] Verbunden-
Mich beschäftigt der Gedanke oft<< (Scholem 1980, 68). heit mit der Sache des Judentums dem Votum der
Daß Benjamins Anspielungen aber ihrerseits höchst Erfahrung zu unterstellen<<? Schrieb nicht Scholem
zweideutig waren, beweist seine sehr zurückhaltende selber in seinem Brief, daß beide über diese Frage
Gershorn Schalem 73

>>nach so vielen Jahren<< nichts wissen könnten? (Scha- den politischen Spannungen zwischen beiden Freun-
lem 1980, 94). den kommen in Scholems Antwortbrief vom 26.8.1936
Diese Situation sollte sich - allerdings unter noch so klar wie nur möglich zum Ausdruck, indem er >>den
dramatischeren Vorzeichen- zwischen 1933 und 1938 Anteil der Kommunisten an der antijüdischen Agita-
wiederholen. Während der Jahre seines Pariser Exils tion« erwähnt, an der, mehreren Gerüchten nach,
klagte Benjamin wieder und wieder über seinen chro- >>deutsche Juden, die vor kurzer Zeit erst ins Land ge-
nischen Geldmangel und über seine demütigenden kommen sind«, Anteil nehmen sollen (Scholem 1980,
Lebensbedingungen, da das Stipendium, das er seit 225).
Ende 1933 vom Institut für Sozialforschung aus New Daß Benjamin unter dem ständigen Aufschub der
York erhielt, ihm nur den minimalen Lebensunterhalt geplanten Begegnung mit Scholem außerordentlich
sichere. In diesem Zusammenhang scheint er noch- litt, beweisen folgende Zeilen eines Briefes vom
mals große Hoffnungen auf eine eventuelle Reise nach 11.2.1937: >>kein Mann von kurzem Atem kenne ich
Jerusalem gesetzt zu haben. Ganz im Gegensatz zu doch Stunden, in denen es mir rechtungewiß wird, ob
einer oft gegen Scholem erhobenen Kritik, er habe auf wir noch einmal einander begegnen werden. Eine
Benjamin ständigen Druck ausgeübt, um ihn zu über- Weltstadt wie Paris ist ein sehr gebrechliches Ding ge-
zeugen, nach Palästina zu kommen, beweist der Brief- worden und wenn zutrifft, was ich über Palästina ver-
wechsel zwischen beiden Freunden, daß es Benjamin nehme, so weht ein Wind dort, in dem selbst Jerusalem
war, der vergeblich darauf wartete, nach Jerusalem zu schwanken beginnen könnte gleich einem Rohr«
wenigstens zu Besuch kommen zu dürfen, während (5, 461). Scholem konnte die in diesen Formulierun-
Scholem die Realisierung der prinzipiellen Einladung, gen versteckte Andeutung nicht überhören und signa-
die er an ihn gerichtet hatte, jedesmal von neuem - lisierte Benjamin erneut - allerdings sehr zurückhal-
und aus noch zu erörternden Gründen - verschob. tend- die Möglichkeit einer Einladung nach Jerusa-
Benjamin, der die wahren Gründe von Scholems aus- lem. Diese Einladung wurde dann für Ende 193 7/Beginn
weichender Haltung nicht erraten konnte, drückte ihm 1938 in konkreterer Form wiederholt. Aber bald darauf
gegenüber mehrmals seine Enttäuschung, ja seinen teilte er Benjamin mit, daß er im Frühling 1938 als
Kummer aus. So schrieb er ihm am 29.3.1936: >>Die Gastprofessor am Jewish Theological Seminary nach
vielfältigen und enttäuschenden Schwankungen im NewYork fahre, daß er Jerusalem schon am 15.2.1938
Termin unsres Wiedersehens [... ] belasten mich noch verlassen müsse und daß er ihm vorschlage - wenn
mehr, wenn sie in mir die Frage hervorrufen, ob du Benjamin letzten Endes nicht nach Jerusalem komme
von der Bedeutung, ja Fälligkeit dieses Wiedersehens -ihn bei der Hinreise in Paris >>ganz kurz und auf der
im gleichen Maß durchdrungen bist wie ich« (5, 264 f.). anderen etwas länger« zu treffen (Scholem 1980, 245).
Erst am 19.4.1936ließ Scholem ihn wissen, daß er sich Aber am 5.8.193 7 schrieb Benjamin ihm, daß er seine
vor kurzem von Escha Burchhardt habe scheiden las- Einladung nach Jerusalem annehme. Scholem teilte
sen, daß diese Entscheidung ihn fast acht Monate ge- ihm daraufhin mit, daß er leider schon am 1.2.1938
kostet habe und daß Benjamins Reise leider diesen aus Jerusalem wegreisen werde, und schlug ihm vor,
Entwicklungen zum Opfer gefallen sei (vgl. Scholem nur für einen Monat nach Jerusalem zu kommen.
1980, 215). Einige Monate später teilte er ihm seine Diese erneute Verschiebung veranlaßte Benjamin ihm
Heirat mit seiner ehemaligen Studentin Fania Freud zu schreiben, daß >> [e] ine Palästinareise von einem
mit. Monat[ ... ] für [ihn] wegen der Kosten außer Betracht«
Dies war auch die Zeit schwerer arabischer Unruhen falle ( 5, 5 70). Und nicht ohne bittere Ironie beendete
in Palästina, über die Scholem mit wachsender Besorg- er seinen Brief mit folgendem Satz: >>Zur Zeit schlägt
nis berichtete. Benjamin, der den Zionismus ohnehin durch den blauen herbstlichen Dunst ein rechter Eis-
mißtrauisch betrachtete, teilte den Pessimismus seines hauch, von dem für diesmal mich das gelobte Land
Freundes, um so mehr als er seinerseits auch die Hal- nicht bewahren wird. Und was der liebe Gott, der bei
tung der jüdischen Bevölkerung kritisierte: Es wäre den einheimischen Juden soviel zu tun hat (und soviel
>>sehr bedenklich, wenn die Bewegung der Araber gegen die Araber) für mich unternehmen kann, steht
wirklich im Orient so populär wäre, wie man es hier dahin« (571).
erzählt. Ich fürchte, daß kaum weniger schädlich als
die materiellen Aktionen der Araber die psychischen
Reaktionen der Juden sein mögen«. Er fügte sofort Das zweite Treffen in Paris (Februar 1938)
hinzu: >>Die europäische Lage sehe ich, ihrer latenten
Struktur nach, nicht zuversichtlicher als die palästi- Auch die vorgesehene Begegnung in Paris, die Benja-
nensische an« (5, 316f.). Die zu dieser Zeit zunehmen- mins nicht zustandegekommene Reise nach Jerusalem
74 Intellektuelle Freundschaft

kompensieren sollte, war seitens Scholems mit einem min seinem Freund systematisch je ein Exemplar aller
Hin und Her verbunden. Zuerst erklärte dieser, er seiner Werke, so daß Scholem im Besitz eines fast voll-
könne auf der Hinreise nur einen halben Tag in Paris ständigen Archivs von Benjamins Texten war. Aber
bleiben. Er habe aber vor, ihn auf der Rückreise im seine Reaktionen darauf- und oft reagierte er über-
Sommer 1938länger zu sehen. Darauf zeigte sich Ben- haupt nicht- waren meist spröde, wenn nicht ableh-
jamin von diesen Terminen enttäuscht. Scholem ließ nend. So beklagte Benjamin sich am 24.10.1935 dar-
sich überreden und die auf fünf Tage verlängerte Be- über, daß Scholem seinen Aufsatz ÜBER DAS MIMETI-
gegnung fand Mitte Februar 1938 statt. Zu den bespro- SCHE VERMÖGEN (1933) und dessen Affinität ZU
chenen Themen gehörten Benjamins kommunistische Themen aus dem Bereich der Mystik nicht verstanden
Orientierung vor dem Hintergrund der Moskauer habe (vgl. 5, 187f.). Als Benjamin ihm seinen Aufsatz
Prozesse, sein Kunstwerkaufsatz, den Scholem wegen PROBLEME DER SPRACHSOZIOLOGIE (1935) schickte,
seiner ausgesprochen kommunistischen Tendenz leb- antwortete Scholem, daß er ihn mit Fleiß gelesen, aber
haft kritisierte, seine Beziehungen zu Brecht, Benja- nicht verstanden habe (Scholem 1980, 217). Was die
mins ambivalentes Verhältnis zum New Yorker Institut französische Fassung des Kunstwerkaufsatzes betraf,
für Sozialforschung und zu dessen Leiter Max Hork- der für Benjamin außerordentlich wichtig war, so be-
heimer, aber auch die Frage des wachsenden Antise- gnügte sich Scholem mit einigen Höflichkeitsfloskeln:
mitismus in Frankreich und, nicht zuletzt, seine immer »Dein Aufsatz hat mich sehr interessiert und ich habe
noch bestehende Bereitschaft, nach Jerusalem zu kom- über Photographie und Film in solchen philosophi-
men, um dort eventuell an einem Buch über Kafka zu schen Zusammenhängen zum ersten Mal etwas Nach-
arbeiten. Beide trafen sich auch in einer sehr angeneh- denkliches erfahren. Zur Beurteilung Deiner Progno-
men Stimmung mit Bannah Arendt, die zu dieser Zeit sen fehlt mir allzu sehr die Sachkenntnis<< (226).
in Paris lebte, und mit ihrem künftigen Mann Heinrich Benjamin war über diese Reaktion sehr betrübt: »Ich
Blücher. Im Mittelpunkt der Gespräche zwischen will dir[ ... ] denn auch gestehen, daß die weitgehende
Scholem und Benjamin stand aber erneut das zentrale Impermeabilität, die meine letzte Arbeit deinem Ver-
Problem von Benjamins Vermittlungsstrategie zwi- ständnis [... ] entgegenzusetzen scheint, mir traurig
schen seinem alten metaphysisch-theologischen An- aufs Herz gefallen ist. Wenn dir in ihr scheinbar nichts
satz und seinem Materialismus. Benjamin, so berichtet mehr in Gedankenbereiche zurückgedeutet hat, in de-
Scholem, >>verteidigte seine Haltung nachdrücklich. nen wir früher gemeinsam zu Hause waren, so will ich
Sein Marxismus sei noch immer nicht dogmatischer, den Grund davon, vorläufig, [... ] darin suchen, daß ich
sondern heuristischer, experimentierender Natur, und eine sehr neue Landkarte einer ihrer Provinzen ge-
die Überführung metaphysischer, ja theologischer Ge- zeichnet habe<< (5, 401). Mit diesen »Gedankenberei-
dankengänge [... ] in die marxistischen Perspektiven chen, in denen wir früher gemeinsam zu Hause wa-
sei geradezu ein Verdienst, weil sie dort ein stärkeres ren<<, sind offenbar die Motive der Tradition und ihrer
Leben entfalten könnten, mindestens in unserer Zeit, Autorität, aber vor allem wohl der Begriff der Aura
als in den ihnen ursprünglich angemessenen<< (Scho- und der Einzigartigkeit des auratischen Kunstwerks
lem 1975,258ff.). gemeint. Aus Scholems Schilderungen seiner Pariser
Auseinandersetzung mit Benjamin über den Kunst-
werkaufsatz im Jahr 1938 geht hervor, daß er jene my-
Die letzten zwei Jahre (1938-1940) stischen Motive in ihrer Übertragung in die Kunstphi-
losophie allerdings nicht wahrgenommen hatte. In
Nach Scholems Rückkehr nach Jerusalem, im Novem- Gegensatz zu diesen negativen Reaktionen steht als
ber 1938, klagte Benjamin erneut über seine Isolierung Ausnahme allein Scholems Begeisterung für den Band
in Paris und über die »anormale Abhängigkeit von der DEUTSCHE MENSCHEN ( 1936), wohl weil er hier keine
Aufnahme<< dessen, was er mache (6, 217). Diese Be- Spur von Marxismus vorfand. Aber auch den Aufsatz
merkung bezieht sich offensichtlich auf Adornos Kri- DER ERZÄHLER scheint Scholem nicht richtig gewür-
tik des Aufsatzes DAs PARIS DES SEcOND EMPIRE BEI digt zu haben. Auf Scholems Angabe, DER ERZÄHLER
BAUDELAI RE, aber wohl auch auf Scholems kühle Re- sei angekommen und habe ihn sehr beeindruckt
aktion, ja auf sein andauerndes Schweigen in bezug (Scholem 1980, 245), konnte Benjamin nichts anderes
auf viele der Aufsätze, die Benjamin ihm zukommen erwidern, als: »Daß der >Lesskov< dir etwas sagte, habe
ließ. ich mit Freude gehört<< (5, 561). Daß Scholem hinge-
Dieser Vorwurf wirft die Frage nach Scholems Re- gen mit größter Teilnahme auf Benjamins oben er-
zeption der Texte Benjamins auf- zumindest bezüg- wähnten Kafka-Brief einging, war selbstverständlich.
lich der Jahre 1933-1940. Bekanntlich schickte Benja- Dies galt auch für den Aufsatz DAs PARIS DES SECOND
Gershorn Scholem 75

EMPIRE BEI BAUDELAIRE, den Schalem allerdings einer nach Palästina/Israel zu kommen. Nichts konnte mei-
ziemlich zähen Kritik unterzieht, von der er irrtümli- ner wirklichen Haltung ferner liegen. [... ] Niemals
cherweise glaubte, sie decke sich mit derjenigen Ador- habe ich versucht, ja konnte ich meiner ganzen Anlage
nos (Scholem 1980, 296f.). Insgesamt ergibt sich der nach überhaupt versuchen, eine solche Entscheidung
Eindruck, daß Scholem ab 1933 Benjamins Arbeiten einem anderen[ ... ] aufzureden« (Scholem 1980, 11).
von vornherein wegen ihrer materialistischen Orien- Offenbar fürchtete Scholem, daß ein Mensch wie Ben-
tierung mißtraute, und daß es ihm darauf ankam, jamin sich in der dortigen harten, oft rücksichtslosen
Benjamin diese Unzufriedenheit- sei es auch auf in- Pionier-Gesellschaft nicht einleben könne. Aber es ist
direkte Weise - mitzuteilen. erlaubt, sich über die scheinbare >>Impermeabilität«
Am 14.3.1939 schickte Benjamin Scholem einen Scholems in bezug auf Benjamins Hilferufe in den
verzweifelten Hilferuf, nachdem ihm Horkheimer an- Jahren nach 1937 zu wundern. Dazu heißt es bei Scho-
gekündigt hatte, daß das Institut die monatliche Zah- lem: >>Noch eine Frage wird sich für die Leser dieser
lung des Stipendiums in kurzer Zeit einstellen müsse. Briefe erheben: Warum habe ich selber aus Benjamins
Eine derartige Situation, schrieb Benjamin, würde er zum Teil katastrophalen und erschütternden Darle-
nicht ertragen: >> [d] azu sind die Reize, die die Mitwelt gungen seiner finanziellen Situation keine direkte
auf mich ausübt, zu schwach, und die Prämien der Konsequenz gezogen, wie aus diesem Buche ersichtlich
Nachwelt zu ungewiß<< (6, 236). Benjamin erwartete ist? Die Frage kann ich beantworten, aber ich will sie
von Scholem, daß dieser den Verleger Zalman Scho- nicht beantworten<< ( 12). Ein Teil der Antwort befindet
cken dazu bewegte, Benjamin einen Auftrag zu einem sich wohl in Scholems alten Erfahrungen mit Benja-
Kafka-Buch zu erteilen, oder daß er Benjamin für ei- mins Haltung in Geldangelegenheiten (301). Wohl
nige Zeit nach Palästina einlüde. Kurz nach dem Ein- noch tiefer lag aber Scholems eigene Verzweiflung an-
marsch deutscher Truppen in Prag kam Benjamins gesichts der damaligen welthistorischen Entwicklun-
Brief an. Scholem antwortete ihm bestürzt, aber ohne gen. Im Brief vom 30.6.1939 an Benjamin erwähnt er
ihm viel Hoffnung zu lassen. »Die politische Entwick- »die hemmungslose Verdüsterung und Lähmung, die
lung<<, hieß es, »läßt es jetzt als hoch problematisch [ihn] nun seit Monatenangesichts der Lage der Dinge
erscheinen, ob wir Dir hierher, selbst wenn wir es woll- hier befallen hat«. Damit meint er zunächst die unfaß-
ten, auch nur ein Touristenvisum zum Besuch ver- bare Katastrophe für das Judentum. Aber auch die Lage
schaffen könnten. [... ]. Ob es möglich ist, Dir bei in Palästina bringt ihn zur Verzweiflung: >>Auch bei uns
Schocken irgend einen Auftrag zu erwirken, der Dir kommt Greuliches herauf, und mich schaudert wenn
[die 2400 Francs, die er zum Unterhalt benötigte] ich daran zu denken versuche, was allein die Folge sein
(oder selbst deren Bruchteil) sichert, wage ich nicht kann. Wir leben im Terror; [... ] die Narren unter uns
optimistisch zu beurteilen[ ... ]. Ob es möglich ist, hier [meinen], daß dies also auch die einzige Waffe sei,[ ... ]
einen Aufenthalt von Dir für ein paar Monate zu fi- etwas erreichen [zu] können. [... ] Ich habe nie ge-
nanzieren, das muß ich erst [... ] erkunden [... ].Zu glaubt, daß die Engländer uns viel tun können, solange
essen wirst Du immer bei uns finden, so lange wir wir die Grundlagen nicht selber aufgeben, auf denen
selber etwas haben, wie es aber um alles andere steht, menschlich unsere Sache hier beruht. Aber wir sind
das ist in diesem Moment nicht zu beantworten<< im besten Zug, eben das zu tun<< (308).
(Scholem 1980,302, s. auch 301, Fußnote 2). Benjamin Im September 1939 mußte Benjamin mit anderen
konnte sich keine Illusionen über den Tenor dieses deutschen Emigranten sich im Pariser Stade de Co-
Briefes machen. Am 8.4.1939 schrieb er Scholem: >>das lombes einfinden, wo er etwa zehn Tage verbrachte.
Grün der Hoffnung durchwirkte Deinen Brief so spar- Am 15./16.9.1939 wurde er im >>Camp des travailleurs
sam wie das dieses kalten Frühlings die Straßen von volontaires<< in Nevers interniert und am 16.11. ent-
Paris. Desto präziser die winterlichen Ausblicke zwi- lassen. Am 23.8.1939 hatten Ribbentrop und Molotow
schen deinen Zeilen<< (6, 251). Trotz allem kommt er den deutsch-russischen Pakt unterzeichnet, der Ben-
auf die Perspektive einer Reise nach Palästina zurück: jamins Vertrauen in die Sowjetunion als letztes Boll-
»Sollte sich ein Aufenthalt in Palästina wirtschaftlich werk gegen den Nazismus endgültig ruinierte. Etwa
ermöglichen lassen, so darf ich damit rechnen, daß ich ein halbes Jahr später schrieb ihm Schotern aus Anlaß
die Reise von hier aus finanzieren könnte<< (253). Aber der Entlassung aus dem Internierungslager: »Ich be-
auch diese Hoffnung wurde enttäuscht. grüße Dich also herzlich in der wiedergewonnenen
In Scholems Vorwort zu dem von ihm herausgege- Ruhe und hoffe, es gelingt uns so wie vor bald 25 Jah-
benen Briefwechsel mit Benjamin 1933-1940 steht ren auch in diesem Krieg selbst aus der weiten Ferne
folgender Abschnitt: >>Immer wieder wurde (und wird) das uns Gemeinsame zu bewahren<< (313 f.). Benjamins
mir unterstellt, ich hätte Benjamin >überreden< wollen, Antwort vom 11.1.1940, die sich unzweideutig auch
76 Intellektuelle Freundschaft

auf seine Lossagung von der sowjetischen Politik be- Moses, Stephane/Sigrid Weigel (Hg.) (2000): Gershorn Scho-
lem. Literatur und Rhetorik, Weimar/Wien.
zieht, zeugt in ergreifender Weise von der weltanschau- Schäfer, Peter/Gary Smith (Hg.) (1995): Gershorn Scholem.
lichen Versöhnung der Freunde: >>Was die >Bewahrung Zwischen den Disziplinen, Frankfurt a.M.
des uns Gemeinsamen<, der du deine Wünsche zuwen- Scholem, Betty/Gershom Scholem (1989): Mutter und Sohn
dest, angeht, so ist, soweit ich sehen kann, für diese im Briefwechsell917-1946, hg. v. Itta Shedletzky in Ver-
bindung mit Thomas Sparr, München.
noch bessere Vorsorge getroffen als vor fünfundzwan- Scholem, Gershorn ( 1975): Walter Benjamin. Die Geschichte
zig Jahren. Ich denke dabei nicht an uns sondern an einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
die Veranstaltungen des Zeitgeistes, der die Wüsten- Scholem, Gershorn ( 1977): Von Berlin nach Jerusalem. Jugend-
landschaft dieser Tage mit Markierungen versehen hat, erinnerungen, Frankfurt a. M.
Scholem, Gershorn ( 1987): Briefe an Werner Kraft, hg. v. Wer-
die für alte Beduinen wie wir unverkennbar sind. So ner Kraft, Frankfurt a. M.
trist es ist, nicht miteinander konversieren zu können, Scholem, Gershorn (1992): Walter Benjamin und sein Engel.
so habe ich doch das Gefühl, daß die Umstände mich Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, hg. v. Rolf Tiede-
dabei keinesfalls so feuriger Disputationen berauben, mann, 2. Auflage, Frankfurt a. M.
Scholem, Gershorn (1994): Briefe in 3 Bänden, hg. v. Itta
wie sie hin und wieder zwischen uns statthatten. Heute Shedletzky, München.
ist dazu kein Anlaß mehr. Und vielleicht ist es sogleich Scholem, Gershorn (1995): Tagebücher, Halbband 1, 1913-
schicklich, ein kleines Weltmeer zwischen uns zu ha- 1917, hg. v. Karlfried Gründer/Herbert Kopp-Oberste-
ben, wenn der Moment eingetreten ist, einander spi- brink/Friedrich Niewöhner, unter Mitwirkung von Kar!
Erich Grözinger, Frankfurt a. M.
ritualiter in die Arme zu fallen<< (6, 379). Scholem, Gershorn (2000): Tagebücher, Halbband 2, 1917-
Der Rest ist bekannt. Ende September 1940 ver- 1923, hg. v. Karlfried Gründer/Herbert Kopp-Oberste-
suchte Benjamin mit einer kleinen Gruppe deutscher brink/Friedrich Niewöhner, unter Mitwirkung von Kar!
Refugies über die Pyrenäen nach Spanien zu flüchten, Erich Grözinger, Frankfurt a. M.
um sich von dort aus in die USA zu begeben. Nachdem
der Eintritt in Spanien ihm von der spanischen Grenz-
polizei in Port Bou untersagt wurde, nahm er sich dort
in der Nacht vom 26. zum 27. September das Leben.
Scholem erhielt die Nachricht seines Todes erst am 8.
November durch einen kurzen Brief von Hannah
Arendt. Seine Frau Fania erzählt, er sei daraufhin über-
stürzt aus dem Hause gelaufen und sei während meh-
rerer Tage dort nicht mehr erschienen. Nach dem Krieg
widmete er sich mit größter Hingabe der Aufgabe,
Benjamins Werke zu fördern, ja sie selber herauszuge-
ben, um das Gedächtnis seines Freundes zu verewi-
gen.

Werk
DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS (IV, 9-21)
FRANZ KAFKA (Il, 409---438)
ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN (Il, 210-213)
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
MENSCHEN (Il, 140-157)
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-430)
ZuR KRITIK DER GEWALT (Il, 179-203)

Literatur
Alter, Robert (1991): Necessary Angels. Tradition and Mod-
ernity in Kafka, Benjamin and Scholem, Cambridge,
Mass.
Arendt, Hannah (1971): Walter Benjamin. Bertolt Brecht.
Zwei Essays, München.
Benjamin, Walter/Gershom Scholem (1980): Briefwechsel
1933-1940, Frankfurt a.M.
Biale, David ( 1979): Gershorn Scholem. Kabbalahand Coun-
ter-History, Cambridge, Mass.
Moses, Stephane (1992): Der Engel der Geschichte. Ro-
senzweig, Benjamin, Scholem, Frankfurt a. M.
77

Bertolt Brecht reichen veröffentlichten und unveröffentlichten Texten


Von Nikolaus Müller-Schö/1 auf, etwa in den Kafka- und Baudelaire-Studien, in den
Varianten des Aufsatzes LEHRE voM ÄHNLICHEN (II,
206, 213), im Kunstwerk-Aufsatz (VII, 359 f., 366) oder
Es hat Jahrzehnte gebraucht, bis die Beziehung Walter in den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE
Benjamins zu Bertolt Brecht als das gesehen werden (I, 694, 696f.). ZwölfBriefe an Brecht sowie eine große
konnte, was sie war: eine große, für Benjamin wie Zahl brieflicher Äußerungen über ihn zeugen von der
Brecht prägende intellektuelle Freundschaft, im Leben Intensität der Beschäftigung mit Brechts Person, Thea-
Benjamins nur vergleichbar denjenigen mit Gershorn ter, Lyrik, Prosa und Theorie und lassen den Plan eines
Scholem und Theodor W. Adorno. Haunah Arendts Buches über Brecht wahrscheinlich erscheinen (vgl.
zunächst einsame und eher intuitive Einschätzung, Tiedemann 1971, 175).
daß in dieser Begegnung >>der größte lebende deutsche Neben der schriftstellerischen Beschäftigung mit
Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zu- Brecht entwarf Benjamin mit dem Freund eine große
sammentraf<< (Arendt 1971, 21), läßt sich aus dem Zahl unausgeführter Projekte: Sie reichen vom Plan
Zusammenhang der Forschung der letzten Jahre be- einer Lesegruppe, die unter Führung von Benjamin
stätigen: Kein anderer zeitgenössischer Leser Brechts und Brecht >>den Heidegger [... ] zertrümmern<< sollte
wußte dessen Arbeit mit solchem Scharfsinn auf den (3, 522), über die gemeinsam konzipierte Zeitschrift
Begriff zu bringen und in ihren untergründig theolo- KRISE UND KRITIK (Wizisla 2004, 289-327), die >>inter-
gischen, antitotalitären und aus Parteisicht >reaktio- nationale Gesellschaft materialistischer Freunde der
nären< Implikationen zu erfassen wie Benjamin. Kaum hegelschen Dialektik<<, den Plan eines Prozesses >>gegen
ein anderer der Freunde und keiner der Kritiker Friedrich Schiller<< (VI, 431) im Jahr 1931 und die Kon-
Brechts dürfte umgekehrt auf dessen Entwicklung so zeption eines Kriminalromans im Jahr 1933 (VII, 847 f.;
nachhaltigen Einfluß gehabt haben wie Benjamin. Jäger 1993; Wizisla 2004, 90) bis zu Plänen fürverschie-
dene gemeinsame Bücher im Jahr 1936 (II, 1371).
Benjamins Interesse an Brechts Theater ist wenig
Eine der drei großen Freundschaften überraschend. Durch eine ganze Reihe von Texten läßt
sich im Anschluß an die Fertigstellung des Trauerspiel-
Benjamin lernt Brecht persönlich im November 1924 buches sein Bestreben verfolgen, in der Betrachtung
kennen. Die gemeinsame Freundin Asja Lacis macht der zeitgenössischen Bühnenkunst den Beweis der
beide miteinander bekannt (Lacis 1976, 53). In den diagnostischen Aktualität dieses Buches zu liefern (vgl.
folgenden Jahren kommt es zu mehreren flüchtigen u.a. Lacis 1976, 48; Il, 763; III, 29, 37, 70, 101; IV, 796;
Begegnungen. 1929 erwähnt Benjamin im Brief an VI, 292--409, 561 ). Gleichwohl nehmen Brechts Versu-
Schalem die nähere Bekanntschaft mit Brecht (3, 466). che und dessen neue Theaterpraxis eine privilegierte
Danach reißt die persönliche wie schriftliche Ausein- Stellung in Benjamins Betrachtungen zur Bühne der
andersetzung beider miteinander bis zu Benjamins Gegenwart ein. Das läßt sich aus der Vielzahl der im-
Tod nicht mehr ab. Benjamin verbringt wiederholt pliziten Verweise speziell des ersten Brecht-Essays auf
längere Zeit mit Brecht, erstmals im Juni 1931 im fran- das Trauerspielbuch ableiten (vgl. u.a. I, 274; li, 523,
zösischen Le Lavandou (VI, 430ff.). Zwischen 1933 525). Vom besonderen Status der Arbeit Brechts für
und 1940 wohnen und arbeiten beide insgesamt mehr Benjamin zeugt darüber hinaus vor allem die Äuße-
als elf Monate in unmittelbarer Nähe zueinander. Das rung, daß Brechts Schriften die >>ersten- wohl verstan-
ist, wie Erdmut Wizisla bemerkte, >>mehr Zeit, als jeder den: dichterischen oder literarischen- sind, für die ich
jeweils im Exil mit anderen verbracht hat, läßt man als Kritiker ohne (öffentlichen) Vorbehalt eintrete, weil
einmal Benjamins Schwester, Brechts Familie und ein Teil meiner Entwicklung [... ] sich in der Auseinander-
seine Freundinnen Margarete Steffin und Ruth Berlau setzung mit ihnen abgespielt hat<< (4, 45). Wobei Ben-
außer acht<< (Wizisla 2004, 98). Zwischen 1930 und jamins Rede von >>Auseinandersetzung<< eine Begren-
1939 verfaßt Benjamin elf abgeschlossene Texte zu zung andeutet, die er explizit im Brief an Adorno
Brecht, von denen allerdings sechs erst posthum er- formuliert, wenn er davon spricht, daß, was aus der
scheinen. Im Jahr 1939 listet er daneben 20 Tage- >>einschneidende[n] Begegnung mit Brecht<< für seine
buchaufzeichnungen über Gespräche mit Brecht auf, Arbeit >>Bedeutung gewinnen konnte<<, erst >>Gestalt
von denen 16 überliefert sind (II, 1372 f.). Darüber gewinnen<< konnte, als >>die Grenzen dieser Bedeutung
hinaus finden sich diverse Notizen im Nachlaß ( 1370 f., unzweifelhaft bei mir fest standen und also >Direkti-
1455f.; VII 654-659, 808-810; Wizisla 2004, 210), au- ven< auch von dieser Seite ganz außer Betracht fielen<<
ßerdem tauchen direkte und indirekte Zitate in zahl- (5, 97).
78 Intellektuelle Freundschaft

Wie bei so unterschiedlichen Denkern und Intellek- Tod gesagt haben, dies sei der erste wirkliche Verlust,
tuellen kaum anders zu erwarten, gab es zwischen den Hitler der deutschen Literatur zugefügt habe<<
ihnen zum Teil gravierende Meinungsunterschiede: (Arendt 1971, 21), und setzte ihm in vier Gedichten
Deren Spuren tauchen zwischen den Zeilen von Ben- (Brecht 1988 ff., Bd. 15, 41, 43, 48, 339) auf seine Weise
jamins veröffentlichten Texten auf. Dokumentiert sind ein Denkmal (vgl. Wizisla 2004,55-114, 227-287). Vor
sie in den Gesprächsprotokollen des Zeitschriftenpro- allem aber dürfte er in der Zusammenarbeit mit Ben-
jekts KRISE UND KRITIK, in Benjamins Tagebuchnoti- jamin das Prinzip des >>Gestischen<< entwickelt haben,
zen und in Brechts Arbeitsjournal: Die spektakulärste ja es ihm verdanken- jene Entdeckung, die, wie Hanns
Auseinandersetzung betrifft Benjamins Kafka-Aufsatz, Eisler es ausdrückte, im Zusammenhang von Brechts
dem Brecht vorwirft, er leiste >>dem jüdischen Faszis- Theater der >>berühmte(n) Formel<< Einsteins (vgl.
mus Vorschub« (VI, 528; Arendt 1971, 43; Scholem Bunge 1970, 26) vergleichbar war.
1992, 184), doch fanden auch der Baudelaire-Aufsatz
und DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNI-
SCHEN REPRODUZIERBARKElT in Brecht einen überaus Texte bis 1931: nAus dem Brecht-
kritischen Leser, wovon die Notiz zeugt, die Brecht im Kommentar<<, nBert Brecht<<
Juli 1938 in sein Arbeitsjournal schreibt. Sie mündet
im polemischen Urteil: >>alles mystik, bei einer haltung Unter den Texten Benjamins über Brecht nehmen die-
gegen mystik. in solcher form wird die materialistische jenigen aus den Jahren 1930 und 1931 eine Sonder-
geschichtsauffassung adaptiert! es ist ziemlich grauen- stellung ein. Nie mehr wird Benjamin mit gleicher
haft« (Brecht 1974, 14). Die schärfste Kritik Benjamins Freiheit - von Rücksichtnahmen auf politische Ver-
trifft Brechts Lesebuch für Städtebewohner. Nach einem hältnisse, ökonomische Abhängigkeiten und freund-
Gespräch mit Heinrich Blücher hält er in einer Notiz schaftliche Bindung- über Brecht schreiben. Benjamin
fest, daß es eine Komplizität des dritten Gedichts des nähert sich in ihnen einem Brecht, der gerade im Be-
Lesebuchs >>mit der Haltung der dubiosen expressio- griff steht, sich grundlegend zu wandeln (Müller 1990,
nist(isch)en Clique um Arnolt Bronnen hat<<, und Girshausen 1987, 329-334). Indikator für diese Wand-
schließt die Vermutung an, >>ein Kontakt mit revolu- lung ist das Auftauchen einer neuen Figur, des Herrn
tionären Arbeitern<< hätte Brecht davor >>bewahren Keuner, im Fragment>> Untergang des Egoisten Johann
können, die gefährlichen und folgenschweren Irrun- Patzer<< um 1929 (Brecht 1988ff., Bd. 10, 387-529).
gen, die dieGPU- Praxis für die Arbeiterbewegung zur Schnell wird aus der handelnden Figur unter anderen
Folge hatte, dichterisch zu verklären<< (VI, 540). die eines Lehrers, Agitators und Kommentators, der
Von dergleichen intellektuellen Differenzen unbe- den Kameraden aus dem Kommunistischen Manifest
rührt blieb gleichwohl die wiederholte wechselseitige vorliest und dann auch abgelöst vom zu Lebzeiten un-
materielle und ideelle Unterstützung: Benjamin nahm veröffentlichten Ensemble der Patzer-Notate auftaucht
für Brecht in der Zeit seines Pariser Exils zeitweilig (vgl. Wizisla 2004a, 116). Der >asoziale< Patzer auf der
nachgerade die Funktion eines Literaturagenten wahr einen, der >>kalt und unbestechlich<< (II, 663) denkende
(vgl. 5, 255,293, 445), Brecht setzte sich für die Publi- Keuner auf der anderen Seite stehen in Benjamins frü-
kation von Benjamins Arbeiten ein, beriet ihn, wie er hesten Texten für eine von Spannungen gesättigte
sich mit List in der heiklen Frage eines Beitritts zur Konstellation, einen immanenten Konflikt in den Ar-
Reichsschrifttumskammer aus der Affäre ziehen könne beiten und der Haltung Brechts zu Beginn der 30er
(Brecht 1988 ff., 28; 404), beförderte einen Antrag Ben- Jahre- zwischen Anarchismus und Organisation, Frei-
jamins an das Dänische Komitee zur Unterstützung heitsstreben und Gemeinwesen, Bildverbot und Uto-
geflüchteter Geistesarbeiter und brachte Benjamins pie, um nur einige mögliche Schlagworte für die wi-
Bibliothek gut vier Jahre in seinem Haus unter, von derstreitenden Tendenzen zu nennen.
1934 bis 1938, als Benjamin sie mit Unterstützung des Aus DEM BRECHT-KoMMENTAR, die erste Brecht
Instituts für Sozialforschung nach Paris holen konnte gewidmete kurze Arbeit, die am 6. Juli 1930 im Lite-
(vgl. 4, 361 f.; 6, 177f.). Vor allem aber stand sein Haus raturblatt der Frankfurter Zeitung erscheint (vgl. II,
in den Jahren des Exils in Dänemark und Schweden 1375), charakterisiert Brechts Erscheinung und das
dem Freund immer offen. Brecht schätzte Benjamin erste Heft der Versuche. Daran anschließend begleiten
als Widersprecher und deshalb als seinen >>besten Kri- Zeilenkommentare Benjamins zwei Texte in Versen,
tiker<< (Adorno 1990, 99). Er bezog ihn in die eigene die Brecht unter der Überschrift >>Patzer, komm<<- ver-
literarische Produktion ein, beteiligte sich an der Re- mutlich verkürzt für >>Patzer, Kommentar<<- zusam-
daktion des Kunstwerkaufsatzes, erbat von ihm weitere men mit drei Szenen aus dem unveröffentlichten (und
kritische Texte, soll >>auf die Nachricht von Benjamins fragmentarisch gebliebenen) Patzer-Stück in den
Bertolt Brecht 79

Versuche(n) veröffentlicht hatte (Brecht 1977, 29-41). vgl. II, 510), so muß die Textpassage in den Druck,
Zentrale Motive der folgenden Brecht-Arbeiten Ben- selbst wenn der Text, zu dem sie gehört, unabgeschlos-
jamins stechen bereits in diesem ersten kurzen Artikel sen ist oder gar, wie im Fall des »Patzers<<, unabschließ-
ins Auge: Brecht interessiert Benjamin ebenso sehr als bar.
>>schwierige Erscheinung« (li, 506) wie von dem her, Der Zeitungsartikel, der Brecht und zugleich Brechts
was er schreibt. Patzer und Keuner, bzw. die mit ihnen Haltung zitiert, stellt in der Kunstfertigkeit seiner
assoziierten Tendenzen begegnen sich aus Benjamins Schreibweise wie in seinen Themen und Motiven eine
Perspektive nicht nur in Brechts Stücken, sondern Art von Index der kommenden größeren Arbeiten dar.
ebenso in seiner Person: Es »gibt vielleicht keinen Vor- Er entspricht insofern der in ihm verkündeten »Lo-
wurf gegen sein literarisches Auftreten - Plagiator, sung<<: »Knapp an die knappe Wirklichkeit heran<< (II,
Störenfried, Saboteur- den er nicht für sein unlitera- 510). In äußerster Verkürzung enthält er >>in beinahe
risches, anonymes aber spürbares Wirken als Erzieher, allzu dichter Folge alle wichtigen Motive in Brechts
Denker, Organisator, Politiker, Regisseur wie einen Arbeit<< (662). So kommentiert Benjamin selbst den
Ehrennamen beanspruchen würde« (li, 506). Benja- modifizierten Anfangsteil des Textes, als er ihn am 24.
min unterstreicht Brechts Abkehr von >Dichtung<, Juni 1930 in einen lapidar BERT BRECHT betitelten
>Werk<, >Gefühl< und >Erlebnis< und sieht als letzte Rundfunkvortrag übernimmt (vgl. 660-667).
Chance der Dichtung, daß sie »Nebenprodukt in ei- Man kann in den in kurzer Abfolge verfaßten Texten
nem sehr verzweigten Prozeß zur Änderung derWelt<< Benjamin geradezu beim Denken zusehen. Von Text
wird (ebd.). Dabei benennt er als »Hauptprodukt<< von zu Text entfaltet er seine >Theorie der Armut<, die drei
BrechtsArbeit »eine neue Haltung<< (ebd.). Dem »Ver- Jahre später in dem Essay ERFAHRUNG UND ARMUT
such<< entsprechend, mit den »Geschichten vom Herrn aufgehen wird. Zunächst hält er dazu auf einem No-
Keuner<<, wie Brecht schreibt, >>Gesten zitierbar zu ma- tizblatt in drei Zeilen fest: »Bindeglied zwischen Lite-
chen<< (Brecht 1977, 6), macht er die Probe aufs Exem- ratur- und Staatslehre/ Herr Keuner und die Armut/
pel, prüft die Haltungen und Worte von Brechts Texten der Staat soll reich sein, der einzelne soll arm sein<< (II,
auf ihre Zitierbarkeit. 1456). Im Zeitungsartikel nennt Benjamin als die Ge-
Man hat den Titel von Benjamins Text Aus DEM sten, die in den Kenner-Geschichten zitierbar gemacht
BRECHT-KOMMENTAR bisher vor allem als Anzeichen werden sollen, die »der Armut, der Unwissenheit, der
für die Absicht begriffen, der kurzen eine längere Ab- Ohnmacht<< (507) und endet mit einem Aphorismus:
handlung folgen zu lassen, zum Teil auch als wörtlich »Armut, lehren die Träger des Wissens, ist eine Mimi-
zu nehmenden Hinweis darauf, daß es sich nur um kry, die es erlaubt, näher an das Wirkliche heranzu-
den Auszug eines bereits geschriebenen längeren Tex- kommen, als irgendein Reicher es kann<< (510). Im
tes handelt. Tatsächlich aber dürfte Benjamins Text in Rundfunkvortrag führt er nun aus, daß die Brechtsehe
seiner dem ersten Anschein nach kargen, ja kunstlosen Armut »die physiologische und ökonomische Armut
Form nichts anderes als ein Zitat der Schreibhaltung des Menschen im Zeitalter der Maschine<< sei: »>Der
des darin zitierten Fatzer-<<Kommentar(s)« sein. Auf Staat soll reich sein, der Mensch soll arm sein, der Staat
jeden Fall imitiert er dessen textuelle Inszenierung: soll verpflichtet sein vieles zu können, dem Menschen
Ohne weitere Erläuterung wird eine eher unübliche soll es erlaubt sein weniges zu können<: das ist das
Darstellungsform als selbstverständlich präsentiert - allgemeine Menschenrecht auf Armut, wie es von
Brecht macht sich nicht einmal die Mühe, das Wort Brecht formuliert, in seinen Schriften auf seine Frucht-
»Kommentar<< auszuschreiben, Benjamin verweist le- barkeit untersucht und in seiner schmächtigen, abge-
diglich kurz darauf, daß der Zweck dieser Textgattung rissenen Erscheinung zur Schau getragen wird<< (667).
sei, die pädagogische Wirkung »So sehr zu befördern, Armut ist bei Brecht weit mehr als eine bloß ökono-
die poetische so sehr hintanzuhalten wie möglich<< (II, mische Tatsache. Sie betrifft nicht zuletzt die intellek-
507). Wie in Brechts Fall ist auch hier das im Titel tuelle Tätigkeit: »Das Denken soll verarmt werden, es
gegebene Versprechen eines größeren Werks im Mo- soll nur soweit zugelassen werden, als es gesellschaft-
ment der Veröffentlichung ungedeckt. Ebenso wichtig lieh realisierbar ist. Brecht sagt: Mindestens seit der
wie die gewählte Form scheint deshalb die zitierte Ge- Mensch nicht mehr allein zu denken braucht, kann er
ste des Nicht-länger-auf-den-Abschluß-warten-Kön- nicht mehr allein denken. Um aber zu einem wirksa-
nens zu sein. Wie dem Tischler in Brechts hier zitierten men gesellschaftlichen Denken zu gelangen, muß er
Patzer-Text der Tisch genommen wird und den Mon- seinen falschen komplizierenden Reichtum aufgeben<<
teuren im ebenfalls angeführten »Lindberghflug<< der (VII, 809). »Armut<<, das läßt sich aus dem Hinweis,
noch unfertige Apparat mit den Worten: »Was siege- der Mensch könne nicht mehr allein denken, ableiten,
macht haben, das muß mir reichen<< (Brecht 1977, 11; bezeichnet bei Benjamin wie Brecht einen Erkenntnis,
80 Intellektuelle Freundschaft

Recht, Kunst und Anthropologie gleichermaßen be- nWas ist das epische Theater?<<
treffenden konstitutiven Mangel. Aus ihm folgt ein
Recht des Einzelnen (zum Irrtum) und eine Verpflich- Dieser Aufsatz, Anfang 1931 von Benjamin als Artikel
tung des Staates. >>über >Mann ist Mann«< (4, 16) für die Frankfurter
Benjamin sieht das Verhältnis von Staat und Einzel- Zeitungverfaßt und im Untertitel bescheiden als STu-
nem in den Haltungen Keuners, Patzers und Galy Gays DIE zu BRECHT bezeichnet, stellt tatsächlich aus Ben-
personifiziert. Keuner, den er als >>Führer« vorstellt, jamins Sicht weit mehr dar: Eine >>Analyse [... ]für die
wird von Benjamin mit einer Serie von Setzungen vor- Bühne« (404), die versucht, mit der theatralischen Ar-
gestellt, auf die sogleich Einschränkungen folgen: Sie beit Brechts den Stand der gegenwärtigen Bühnen-
münden in der Bekundung, daß Keuner >>ein Ziel hat, kunst überhaupt und dabei das zum Zeitpunkt der
das er keinen Augenblick lang aus dem Auge verliert. Abfassung erst spärlich reflektierte Phänomen des
Dieses Ziel ist der neue Staat<< (II, 663). An dieser Stelle >>epische[n) Theater[s)« (ebd.) auf den Begriff zu brin-
fehlt die Entgegensetzung, die sich gleichwohl aus ei- gen. Ihm wird hier ein gleichsam geschichtsphiloso-
nem früheren Brief an Scholem erschließen läßt, in phischer Rang eingeräumt.
dem Benjamin über die >>kommunistischen >Ziele«< Der äußere Anlaß des Textes ist Brechts Mann ist
geschrieben hatte, daß er sie >>für Unsinn und für Mann- Inszenierung am 6. Februar 1931 im Staatlichen
nichtexistent halte. Was dem Wert der kommunisti- Schauspielhaus Berlin (vgl. II, 520) sowie die Debatte,
schen Aktion darum kein Jota benimmt, weil sie das die Brechts erste Skizze einer Theorie des >>epischen
Korrektiv seiner Ziele ist und weil es sinnvoll politische Theaters« in seinen Anmerkungen zur Oper Aufstieg
Ziele nicht gibt« (3, 160). und Fall der Stadt Mahagonny ausgelöst hat (Brecht
Herr Keuner ist der >>Denkende«, der aber vielem 1977, 101-107). Benjamins Textwird in der Redaktion
>>gar nicht folgen kann« (II, 662 f.). Was er vor allem der Frankfurter Zeitung als entschiedene Parteinahme
nicht zu denken vermag, ist die Endlichkeit des eige- für Brecht begriffen. Der Abdruck scheitert am Ein-
nen, ja überhaupt des bloßen Denkens. Wenn Benja- spruch des Theaterkritikers Bernhard Diehold (vgl. 4,
min sein kaltes und unbestechliches Denken als >>La- 32,53 f. u. 6, 309).
ster« bezeichnet (663) und von ihm ausgehend >>Ge- Dem Anlaß und dem Vorsatz, Brecht argumentativ
fahren im Schaffen von Brecht« (365) sieht, dann zur Seite zu springen, entsprechen Passagen des Textes,
deshalb, weil Keuner glaubt, im reinen Denken die die für das neue Theatermodell werben, indem sie es
Widersprüche der Praxis auflösen zu können. Die da- im Detail vorstellen, von bekannten Theaterformen
durch gegebene Gefahr der Ideologie und mit ihr ver- absetzen und auf den gesellschaftlichen Umbruch so-
bunden der Totalisierung erfährt Benjamins Text zu- wie die medientechnischen Neuerungen der Zeit be-
folge im Theater ihre Korrektur durch das reagierende ziehen. Beobachtungen und Überlegungen zu Text,
Publikum, im Vortrag aber zunächst durch Benjamin Bühne, Schauspielern, Publikum und Kritik verdeut-
selbst, der Keuners Vorstellung abrupt mit den Worten: lichen, daß es ein Theater ist, das sich den Herausfor-
>>Soweit Herr Keuner« (664) beendet, um dann den derungen einer Gesellschaft im Klassenkampf stellt,
Figuren Raum zu geben, die in Brechts Texten Keuner daß es dabei an der Veränderung des eigenen Betriebs
gegenübertreten, den >>Asozialen« Baal, Mackie Messer arbeitet, damit im noch lediglich >>projektierten« Thea-
und Patzer. Sie weisen seinen Anspruch auf Klarheit ter >>die Proletarier Stammgäste« werden, und daß es
und Transparenz durch ihre bloße Existenz in seine mit seinen Neuerungen >>auf der Höhe der Technik«
Grenzen. Darüber hinaus sei Brecht bestrebt, den Aso- (II, 524) steht. Zugleich wird dieses neue Theater von
zialen und Egoisten als >>virtuellen Revolutionär zu Benjamin in historische Zusammenhänge gestellt, in
zeichnen« (665). Neben Keuner und den Asozialen tritt die Traditionslinie der >>Suche nach dem untragischen
in Benjamins Vortrag als dritte Figur Galy Gay aus Helden« (523). Hier greift er auf das Trauerspielbuch
Mann ist Mann, der Mann, >>>der nicht nein sagen zurück, um dessen der hegelianischen Geschichtsphi-
kann«< (526). Er ist das Figur gewordene, rückhaltlose losophie gegenläufige Entwicklungsgeschichte der bei
Bekenntnis zum illusionslos betrachteten Zeitalter Hegel vergessenen Formen als Vorgeschichte des >>epi-
(vgl. II, 216). Seine Eigenheit, durch sein >> Einverständ- schen Theaters« zu präsentieren. Sie reicht vom mit-
nis« (vgl. Müller-Schöll2004) die >>Widersprüche des telalterlichen Mysteriendrama, über Gryphius, Lenz,
Daseins da« einzulassen, >>WO sie zuletzt allein zu über- Grabbe, den Goethe des zweiten Faust und Strindberg
winden sind« (II, 526), bringt Benjamin im Aufsatz bis zu den Stücken von Brecht.
WAS IST DAS EPISCHE THEATER? <1> auf den Begriff. Wie in vielen seiner Kritiken und vermeintlichen
>Gelegenheitsarbeiten< weiß Benjamin die äußerste
Anschaulichkeit in der Bezugnahme auf einen konkre-
Bertolt Brecht 81

ten Sachverhalt mit einer kaum einzugrenzenden Fülle behandelt hast<< (VI, 208). >>Episches Theater<< drückte
von Verweisen auf eigene und fremde Texte und zeit- weniger ein positives Programm als vielmehr eine
genössische Debatten zu verbinden. In der geschickten Wendung gegen jene Tradition aus, die in normativer
Montage von Zitaten Brechts mit deren Ausdeutung Umwandlung der deskriptiven Gattungspoetik des
im Sinne seiner eigenen Theorie von Sprache und Ge- Aristoteles Epos und Drama systematisch voneinander
schichte, Erkenntnis, Recht und Kunst vermag er das geschieden wissen wollte. Das >>epische Theater<<, wie
auf den ersten Blick entfernte Phänomen des >>epischen es hier entworfen wird, bricht mit jeder gegebenen
Theaters<< mit dem unterirdischen Maulwurfsbau zu Definition und Institution. Was es zu konzipieren galt
verknüpfen, der einer Bemerkung Adornos zufolge die -für Brecht in der Praxis seines Theaters, für Benjamin
Schriften Benjamins miteinander verbindet (Adorno in dessen Theorie- war ein Theater der Zukunft, das
1981, 570). Neben den zitierten Stücken Mann ist sich vom existierenden »bürgerlichen<< Modell ab-
Mann und Mahagonny, der Lyrik der Hauspostille und setzte, ohne dessen zukünftige Alternative bereits zu
den in den zwei ersten Heften der Versuche veröffent- kennen, ein Theater zur Zertrümmerung von Ideolo-
lichten Gedichten, Geschichten und theoretischen gie.
Texten dürften die zahlreichen Diskussionen mit Benjamins Schreibweise zeichnet sich dadurch aus,
Brecht, speziell über das gemeinsame Zeitschriften- daß sie, was als Programm des >>epischen Theaters<<
projekt, eingeflossen sein, außerdem die öffentlichen referiert wird, so relativiert, daß sich keine Praxis mehr
Debatten über die Aufführungen der Maßnahme und nahtlos aus der Theorie ableiten läßt und die Frage im
des Badener Lehrstücks. Im Kontext von Benjamins Titel letztlich unbeantwortet bleibt. So werden die
Tätigkeit als Kritiker ist WAs IST DAS EPISCHE THEA- Elemente des neuen Theaters- Bühne und Publikum,
TER? Teil der Auseinandersetzung mit der Rolle des Text und Aufführung, Regisseur und Schauspieler, Au-
Intellektuellen und der Auflösung traditioneller ästhe- tor und Theater - nur in ihrem Verhältnis zueinander
tischer Kategorien in Literatur und Medien der Ge- vorgestellt. Dieses ist eines wechselseitiger Abhängig-
genwart. Im Zusammenhang seiner philosophischen keit. Im Ergebnis bleibt beider spezifische Ausgestal-
Arbeit knüpft er an frühere und gleichzeitige Ausein- tung offen, ist verwiesen auf die immer andere Anord-
andersetzungen mit Platons Gesetzen, dessen >>Höh- nung, die sie aufeinander bezieht.
lengleichnis<< und seinem Timaios, mit Kierkegaards Diese beständig veränderliche Anordnung, das, was
Kritik des Publikums und mit Nietzsches Der Fall Wag- zwei miteinander in einer Beziehung wechselseitiger
ner an (vgl. Müller-Schöll2002, 19-71, 161-173). Suspension stehende Elemente aufeinander bezieht,
Als der Text 1966, 35 Jahre nach seiner Niederschrift, zusammen mit diesen hervortreten zu lassen, ist das
erstmals veröffentlicht wurde, stellten sein sehr spezi- Kernanliegen >>epischen Theaters<<, wie Benjamin es
fischer Anlaß und seine kaum eingrenzbare Fülle von darstellt. Er kommt darauf in verschiedenen Variatio-
Kontexten ein doppeltes Rezeptionshindernis dar. Wer nen in seinem Text zurück, so jedes Mal, wenn er auf-
mit Brechts Theaterarbeiten vertraut war, kannte we- greift, daß es im >>epischen Theater<< darum gehe, >>Zu-
nig von den Zusammenhängen, in die Benjamin sie stände<< darzustellen. Ein Zustand bezeichnet für ihn
stellte. Wer Benjamins Denken in seiner Spezifik durch dabei weder das >>>Milieu<<< (II, 521) der naturalisti-
die bis dahin veröffentlichten Schriften kennengelernt schen Bühne, die im Gegensatz zum >>epischen Thea-
hatte, der dürfte kaum erkannt haben, in welcher Weise ter« das >>Bewußtsein, Theater zu sein« (522), ver-
der Brecht-Aufsatz mit ihm verbunden war. Brechts drängt, noch, wie man annehmen könnte, den Aus-
Bild wiederum war maßgeblich durch seine späteren gangspunkt der Versuche dieses Theaters, sondern
Stücke und sein WirkenamBerliner Ensemble geprägt, vielmehr ihr Ende. Zustände werden hier, wie er weiter
weniger durch die >Lehrstücke<, schon gar nicht durch ausführt, >>entdeckt<< und dies >>mittels der Unterbre-
die Benjamin wichtigen Fragmente und theoretischen chung von Abläufen<< (ebd.). Später fugt Benjamin
Überlegungen der frühen 30er Jahre. über den zu entdeckenden >>Zustand<< hinzu: >>Der Zu-
Anders als in späteren Studien, in denen >>episches stand, den das epische Theater aufdeckt, ist die Dia-
Theater<< zum Synonym für Brecht-Theater wird, ist lektik im Stillstand<< (530). Die Formulierung >>Dialek-
in Benjamins Untersuchung noch spürbar, daß Brechts tik im Stillstand<< läßt bekanntlich zwei Lesarten zu,
Wortprägung >>episches Theater<< zunächst als eine Art die gleichzeitig möglich sind, doch nicht zugleich: Sie
von Oxymoron aufgefaßt werden mußte, als Provoka- kann gedeutet werden als Dialektik, die noch im Still-
tion. Sie dürfte Benjamin an Hölderlins Lob des Dich- stand waltet, wie auch als eine stillgestellte Dialektik.
terfreundes Böhlendorf erinnert haben, das er sich als >>Dialektik im Stillstand<< ist hier also eine selbst para-
Motto >>Zu Brecht<< notierte: >>Das hat Dein guter Ge- doxe, auf spezifische Weise zweifach lesbare und inso-
nius Dir eingegeben,[ ... ] daß Du das Drama epischer fern unauflösbare Formulierung für die im >>epischen
82 Intellektuelle Freundschaft

Theater« zu machende Erfahrung einer irreduzibel (Derrida 1997, 136; vgl. Gasehe 1988, 88ff.; Müller-
zwiegespaltenen Darstellung. Schöll2002, 73-184).
Durch den Text Benjamins ziehen sich Anschau- Hat man Benjamins Interesse damit benannt, so
ungsbeispiele dessen, was in Brechts Darstellungsweise schließen sich Fragen an: Wie konnte Benjamin zu
in seine widerstreitenden Elemente aufgelöst wird. dieser, zunächst sicherlich singulären Sicht aufBrechts
Aufschlußreich ist dabei die Beschreibung der Aufgabe Theater kommen? Inwiefern korrespondiert sie mit
epischer Regie: »Oberste Aufgabe einer epischen Regie Brechts Intentionen und wo setzen jene »Grenzen<< (5,
ist das Verhältnis der aufgeführten Handlung zu der- 97) der Bedeutung Brechts für Benjamin an, von denen
jenigen, die im Aufführen überhaupt gegeben ist, zum er 1935 im Brief an Adorno schreibt. Aufschlußreich
Ausdruck zu bringen<< (II, 529, Herv. d. Verf.). Dieser ist hier vor allem ein mehrfach zu findender Hinweis,
Satz, der auf den ersten Blick lediglich Brechts heute wonach Benjamin vor allem Brechts »Richtung auf
allzu bekannte Technik der >Verfremdung< beschreibt, eine von allen magischen Elementen gereinigte Spra-
spielt tatsächlich, wenngleich unscheinbar, auf die Un- che<< interessierte (li, 956; vgl. Scholem 1975,254, 258).
terscheidung zwischen der »Sprache überhaupt<< und »Magie<< stand für Benjamin, wie sich aus dem Zusam-
der »Sprache des Menschen<< in Benjamins Sprach- menhang seiner Schriften folgern läßt, für das Grund-
theorie an (140 ff.; vgl. Müller-Schöll 2002, 73-106). problem aller Sprache und ihrer Theorie, für deren
Diese Anspielung führt zur entscheidenden Verbin- »Unendlichkeit<< und »Unmittelbarkeit<<, für den über-
dung des Brecht-Essays mit Benjamins Denken. So schuß des »Geschwätzes<< (li, 142 f.) in der Sprache,
wenig Sprache für Benjamin ein bloß menschliches, eine notwendige Kontingenz, die das Sprechen allererst
dem Menschen unterworfenes, für ihn restlos verfüg- ermöglicht und gleichwohl als ständige Störung emp-
bares Vermögen ist, so wenig ist es das Theatralische. funden wird, gleichsam für ihr Material. Insofern kann
Die Spaltung zwischen »Bühnenverhalten<< und »Büh- man folgern, daß an Brechts Theater für Benjamin der
nenvorgang<< (li, 529) korrespondiert derjenigen zwi- Versuch von Interesse war, eine rein endliche und rein
schen dem bloßen Sprachvermögen und dem Sprechen mittelbare Sprache und ein ebensolches Theater zu
in Benjamins Sprachtheorie seit dem frühen Sprach- begründen - ein Versuch, der zwangsläufig scheitern
aufsatz von 1916. Diesem zufolge hatte die Sprache mußte, der aber in seinem Scheitern, wie Benjamin in
»nach dem Fall<< sich als eine in sich gespaltene ent- einem Paralipomenon ZU WAS IST DAS EPISCHE THEA-
wickelt: Jede sprachliche Mitteilung setzt ein Vermö- TER? notiert, einem Hegelianer »als eine Probe aufs
gen der Mitteilung voraus, ein Material der Sprache, Exempel scheinen<< konnte, »ZU der sich der Weltgeist
das selbst nicht oder anders spricht, und gleichsam der selbst herbeiließ<< (VII, 654). Im Zusammenbruch von
Träger der Mitteilung ist. Dieses Vermögen läßt sich Kalkulationen auf allen Ebenen - inhaltlich, formal,
entsprechend des Sprachaufsatzes als »Mitteilbarkeit<< im Raum des Theaters - zeugte Brechts Theater aus
( 145; 154) bezeichnen. Ihm entspricht in späteren Auf- Benjamins Sicht vom Rest, der in keiner Konzeption,
sätzen Benjamins die »Übersetzbarkeit<< (IV, 10) als sei sie künstlerischer, sei sie politischer Natur, aufgeht.
Vermögen der übersetzung, die »Reproduzierbarkeit<< Wo Brecht sich die »korrektur<< seines »denkens durch
(VII, 350ff.) als Vermögen der Reproduktion und im die realität<< erhoffte (vgl. Wizisla 2004, 293), sich das
Zusammenhang der Arbeiten zur Bühne das »mime- eigene Schaffen als eines im steten Kontakt mit einer
tische Vermögen<< (li, 210). Für dieses Vermögen kre- eingreifenden und die Voraussetzungen korrigieren-
iert Benjamin in einem späteren Text den Begriff der den und revidierenden politisierten Theaterpraxis
»Nachahmbarkeit<< (206). Wollte man seine Studie zu vorstellte, da dürfte Benjamin diesen Prozeß als einen
Brecht auf einen kurzen Begriff bringen, so müßte gleichsam theologischen begriffen haben: Als die durch
man deshalb vom Versuch sprechen, ein Theater der Setzung geschaffene Selbstbegrenzung der Autorität
Nachahmbarkeit zu beschreiben. Nachahmbarkeit des Setzenden durch das sprachliche oder theatrale
wäre in jedem Theater das Prinzip einer unaufhörli- Material, in und mit dem er seine Setzung vollziehen
chen Veränderung, dasjenige, was die Elemente zu- zu können glaubte. Als solchen Souverän ohne Souve-
gleich anordnet und verbindet, wie auch in dieser ränität charakterisiert er unter der Hand Brecht in
Anordnung bereits wieder gegeneinander setzt und seinem Essay, wenn er schreibt, daß er sich »ZU seiner
voneinander trennt. Wenn Jacques Derrida einmal auf Fabel wie der Ballettmeister zu seiner Elevin<< (II, 525)
die Affinität der von ihm als »differance<< bezeichneten verhalte. Er erscheint so als typologischer Nachfolger
zeiträumlichen Differenz der Darstellung zu Benja- des Intriganten, von dem es im Trauerspielbuch heißt,
mins »Mitteilbarkeit<< hingewiesen hat, so könnte man er sei der »Vorläufer des Ballettmeisters<< (I, 274). Der
entsprechend sagen, daß Benjamins Theatertheorie Intrigant ist eine der drei typologischen Figuren, die
eine Theorie der differance für das Theater entwickelt im immanenten Raum des Trauerspiels, in dem der
Bertolt Brecht 83

wirkliche Ausnahmezustand ausgeschlossen und der >>wovon seine Entwicklungsfähigkeit kommt<< (531).
Ausnahmezustand deshalb zur Regel geworden ist, in Möglichkeit wird hier nicht im Sinne von Aristoteles
Ermangelung eines Souveräns an dessen Stelle treten von ihrer Aktualisierung her begriffen und auf diese
(vgl. Weber 1991). begrenzt (Heidegger 1990, 160-224; Agamben 1992,
Ausgehend von der im Hervortreten des Rests ge- 106f.), vielmehr ausgehend von jenem Rest, der in
machten Grenzerfahrung korrigiert Benjamin in der keiner Aktualisierung aufgeht, jedes Kalkül durch-
fragmentarischen Theatertheorie seines Essays neben kreuzt und jede menschliche Tätigkeit entgrenzt. In-
dem traditionellen Begriff des Autors diejenigen des sofern kann man aber das beschriebene >>epische Thea-
Werks und der Geschichte. Erscheint am Autor hier ter<< als ein unmöglich zu realisierendes Theater der
wie im ungefähr gleichzeitigen Essay über Paul Valery Potentialität oder des Rests beschreiben, das jedes
als die letzte Tugend des methodischen Prozesses, daß mögliche Theater begründet wie be- und entgrenzt
er >>den Forschenden über sich selbst hinauszuführen<< (vgl. Müller-Schöll1999, 2002).
(II, 390) in der Lage ist, so wird damit gleichzeitig auch
der Werkbegriff entgrenzt: Das über-sich-selbst-Hin-
ausführen deutet im konstruktiven Prozeß auf dasje- Benjamins Theatertheorie nach 1931
nige, was sich, obwohl es unverzichtbare Vorausset-
zung der Darstellung ist, dieser fortwährend entzieht. Vergleicht man die späteren Texte über Brechts Thea-
Alle drei Korrekturen treten in Erscheinung, wo Ben- ter mit den zugleich spielerischen wie spekulativen, in
jamin Brechts >>Erwägung<< referiert, schon bekannte Anspruch wie Deutung nach keiner Seite begrenzbaren
Ereignisse darzustellen, um die Bühne ihrer stofflichen Texten der Jahre 1930 und '31, so ist der erste Eindruck
Sensationen zu berauben, etwa >>geschichtliche Vor- der einer größeren Nüchternheit, ja Ernüchterung.
gänge<<. Hier fällt er überraschend aus der Rolle des Waren die Ausführungen zu Brechts Theater vor 1933
Kritikers in die eines die Theorie korrigierenden und >>Studien<< (II, 519; 1380), so kann man die nach 1933
fortschreibenden Co-Autors, indem er anmerkt: >>Auch angemessen nur als Präsentationen Brechts bezeich-
hier aber wären gewisse Freiheiten im Verlauf unum- nen. Sie stellen, soweit sie nicht Zitate oder Paraphra-
gänglich, Akzente nicht auf die großen Entscheidun- sen des frühen Textes sind, kaum mehr als Ergänzun-
gen, die in den Fluchtlinien der Erwartung liegen, gen dar. EIN FAMILIENDRAMA AUF DEM EPISCHEN
sondern aufs Inkommensurable, Einzelne zu legen. >Es THEATER aus dem Jahr 1932, Benjamins Deutung von
kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kom- Brechts Lehrstück Die Mutter, führt weiter aus, inwie-
men< -das ist die Grundhaltung dessen, der für das fern das >>epische Theater<< der Tieckschen Dramatur-
epische Theater schreibt<< (II, 525). Geschichte wird so gie der Reflexion überlegen ist. Benjamin trägt nach,
ihrer konservativen Begründungsfunktion entledigt, weshalb >>episches Theater<< im Gegensatz zu ihr >>dem
erscheint als eine von mehreren möglichen Geschich- dialektischen Urverhältnis, dem Verhältnis von Theo-
ten bzw. Deutungen der Vergangenheit. Freigelegt rie und Praxis<< (529) gerecht zu werden vermag. Das
wird, was Voraussetzung des Kampfes >>für die unter- Stück, das er nicht ohne Witz als >>soziologisches Ex-
drückte Vergangenheit<< (I, 703) ist: Der Blick auf deren periment über die Revolutionierung der Mutter<< (511)
abgeschnittene Möglichkeiten (697). bezeichnet, wird von ihm einer barock anmutenden
Benjamins Versuch, das >>epische Theater<< als Thea- Allegorese unterworfen. >>Die Mutter<<, so hält er fest,
ter des in keiner Realisierung restlos aufgehenden Ver- >>ist die fleischgewordene Praxis<<, eine Praxis, die dem
mögens der Darstellung begreifbar werden zu lassen >>Kommunismus<< dient, der ihrer Hilfe bedarf (513).
und insofern als Theater der Mittelbarkeit, zielt darauf Ihr Sohn dagegen steht ihm für die Theorie, denn er
ab, einem Denken der Möglichkeit den Weg zu bahnen, >>ist es, der die Bücher liest und sich auf das Führerturn
das sich von demjenigen der abendländischen Meta- vorbereitet. Da sind vier: Mutter und Sohn, Theorie
physik unterscheidet. Diese Tendenz wird an vielen und Praxis, die nehmen eine Umgruppierung vor;
Stellen des Essays erkennbar: Das >>epische Theater<< spielen >Verwechselt, verwechselt das Bäumelein<<<
lockert, wie Benjamin schreibt, die Gelenke der Fabel (514). Benjamin greift hier seine Theorie von der kom-
>>bis an die Grenze des Möglichen<< (II, 525), seinen munistischen Aktion als Korrektiv unsinniger kom-
Schauspielstil zeichnet eine >>Mehrheit von Möglich- munistischer Ziele auf (3, 160) und begreift Brechts
keiten<< (529) aus, und was Lust an ihm macht, ist, wie Stück als deren Veranschaulichung, die Mutter darin
Benjamin in einem vermutlich nur von ihm überlie- als Korrektiv der vom Sohn gegebenen Theorie: >>Ist
ferten Brecht-Zitat festhält, daß der Mensch als >>ein der kritische Augenblick einmal eingetreten, daß der
nicht so leicht Erschöpfliches, viele Möglichkeiten in gesunde Menschenverstand sich der Führung bemäch-
sich Bergendes und Verbergendes<< zu erkennen ist, tigt, dann ist die Theorie gerade gut genug, um die
84 Intellektuelle Freundschaft

Hauswirtschaft zu besorgen« (II, 514). Prägnant bringt jedoch aus der Tatsache keinen Hehl, daß Stück und
Benjamin das hier spielerisch umkreiste Verhältnis von Inszenierung bei allem Lob, das er ihm und den hier
Theorie und Praxis allerdings erst 1935 auf den Punkt, erstmals namentlich aufgeführten Schauspielern zu
in der Formel: »Anweisung der Theorie auf die Praxis. zollen vermag, einen technischen Rückschritt gegen-
Auf die Praxis, nicht an sie<< (III, 446). Theorie gibt über dem >>epischen Theater<< darstellt: >>So gefestigt
nicht der Praxis Anweisungen, wird vielmehr durch war diese epische Bühne, so groß der Kreis der von ihr
diese begrenzt. Sie stellt selbst eine Praxis dar und kann Geschulten noch nicht, daß sie in der Emigration hätte
als solche keine Praxis an anderem Ort und zu anderer aufgebaut werden können. Diese Einsicht liegt der
Zeit determinieren. neuen Arbeit von Brecht zugrunde<< (II, 516), schreibt
In THEATER UND RUNDFUNK sowie in einem aus er in seiner Besprechung. Dieser Rückschritt erscheint
diesem Text beinahe wortgleich übernommenen Teil im Text als Rückfall in die >>traditionelle[] Dramatur-
seines Aufsatzes DER AUTOR ALS PRODUZENT entwik- gie<<, in ein Theater der >>Intrige<< und der >>dramati-
kelt Benjamin 1932 eine andere Frage weiter, die er im schen Spannung<< (ebd.), und Benjamin ist nach Kräf-
Essay von 1931 zwar aufgeworfen hat, dann jedoch ten bemüht, alles das hervorzuheben, was aus den
fallen ließ: Was es heißt, Theater auf der Höhe der früheren Versuchen gerettet wurde.
neuen Technik des Rundfunks und des Kinos zu ma- Kein Text zeugt so augenfällig vom Scheitern der
chen. Benjamin beantwortet sie durch die Gegenüber- Erwartungen, die Benjamin mit Brechts >>epischem
stellungdes »großbürgerliche[n] Theater[s]<< (II, 774) Theater<< verbunden und an seine weitere Entwicklung
bzw. des dramatischen Gesamtkunstwerkes auf der geknüpft hatte, wie der kürzere Text, den Benjamin
einen, des fortschrittlichen »epischen Theaters<< (699) unter dem Titel des ungedruckt gebliebenen Essays
bzw. des dramatischen Laboratoriums auf der anderen von 1931 im Jahr 1939 in Maß und Wert veröffentlicht.
Seite. Wo jenes, ganz gleich ob als Bildungs- oder Zer- Zitiert WAS IST DAS EPISCHE THEATER? <2> auch ein-
streuungstheater, sich als »>Symbol<<< oder>>> Totalität<<< zelne Passagen des frühen Aufsatzes- neben Passagen
(774) realisiere, setze dieses auf Auseinandersetzung aus der Besprechung von Furcht und Elend des dritten
mit Radio und Kino, indem es das Film-Prinzip der Reiches -, so lassen sich doch die Veränderungen ge-
Montage >>aus einem technischen Geschehen in ein genüber dem frühen Text weder, wie Benjamin vorgab,
menschliches<< (775) zurückverwandle, worunter Ben- als >>geringfügig[]<< (6, 309) bezeichnen, noch als Aus-
jamin begreift, daß die Unterbrechung hier >>nicht druck >>gewachsene[r] Einsicht in Brechts Theater-
Reizcharakter, sondern eine pädagogische Funktion« theorie<< (Wizisla 2004, 222). Vielmehr handelt es sich
(ebd.) habe: Sie zwinge den Hörer zur Stellungnahme um zwei Texte, die sich grundlegend unterscheiden
zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner (vgl. II, 1386).
Rolle, indem sie die Handlung >>im Verlauf zum Ste- Das epische Theater wird nun - gleichsam episch
hen« (ebd.) bringe. Anstelle von Bildung der Kennt- -in acht, mit römischen Ziffern abgesetzten und Ein-
nisse gehe es hier um Schulung des Urteils. zelüberschriftenversehenen Kapiteln von einigen sei-
Steht Brechts Theater auch nicht mehr im Zentrum ner zentralen Neuerungen her vorgestellt. Neu im
Benjaminscher Bemühungen, so versucht Benjamin Vergleich zu den früheren Arbeiten sind Bezugnahmen
gleichwohl weiterhin, Brecht nach Kräften zu unter- auf den Galilei, auf Furcht und Elend des Dritten Rei-
stützen. So durch ein Referat im Rahmen des 1934 ches und den Arbeitsprozeß am Lindberghflug in seinen
avisierten Zyklus >>>L'avantgarde allemande<<< (4, 362), verschiedenen Fassungen. Näher an Brechts eigener
in dessen Zusammenhang Brecht als maßgebende Fi- Herleitung bleibt die Begründung von dessen Drama-
gur für das Gegenwartstheater vorgestellt werden turgie als einer >>nicht-aristotelische[n]<< im Wegfall
sollte, mit einem kurzen Text über die Dreigroschen- der Katharsis, die Benjamin als >>Abfuhr der Affekte
oper, den man als Versuch lesen kann, dem Erfolgs- durch Einfühlung in das bewegende Geschick des Hel-
stück anläßtich einer Neuinszenierung im September den<< erklärt (II, 535).
1937 den Weg zum besseren Verständnis in der fran- War Benjamins früher Text die eigenständige Wei-
zösischen Hauptstadt zu bahnen, oder mit DAs LAND, terarbeit an einer Theorie von Brechts theatraler Pra-
IN DEM DAS PROLETARIAT NICHT GENANNT WERDEN xis, so kann im Vergleich damit der späte als die allzu
DARF. Der Text, den Benjamin anläßtich der Auffüh- wohlmeinende Vermittlung einer Theaterarbeit und
rung von Brechts Furcht und Elend des dritten Reiches -theorie für ein mit ihr wenig vertrautes Leserpubli-
verfaßt, enthält vor der Schilderung des Theaterabends kum erscheinen. Die Verknüpfung mit Benjamins ei-
eine Bilanz des früheren >>epischen Theaters<<, wobei genem Denken ist weniger ausgeprägt, die produktive
Benjamin seine früheren Darstellungen an einigen Auseinandersetzung ist einer distanzierten Präsenta-
Stellen erweitert. Daran anschließend macht Benjamin tion gewichen. Es fehlen der Brecht gegenüber kriti-
Bertolt Brecht 85

sehe Gestus wie die impliziten Verweise auf Benjamins Besprechung des 1934 erschienenen Buches im Auftrag
Sprachtheorie und Geschichtsphilosophie, die Theorie der Exilzeitschrift Die Sammlung, deren Schriftleiter
der Funktionszusammenhänge zwischen den Elemen- Klaus Mann ihm jedoch nach einer Meinungsverschie-
ten der Darstellung, die Bezugnahmen auf die Mann denheit über die Höhe des Honorars das Manuskript
ist Mann-Inszenierung, die Vorstellung von Herrn wieder zurückschickt (vgl. Wizisla 2004, 188-194). So
Keuner, die Textinszenierung der »Literarisierung« erscheint auch dieser Text erst Jahrzehnte nach seinem
(524), die Auseinandersetzung mit der veränderten Abschluß. Benjamin lernt den Roman bereits während
Rolle der Kritik und die Ausrichtung auf ein Theater, Brechts Arbeit am Manuskript in Auszügen kennen
dem es um ein anderes Denken der Möglichkeit und liest im Buch schon in Svendborg im Sommer
geht. 1934. Mehrfach teilt er danach Freunden seine unein-
So ist es auch kein Wunder, daß Brecht, der Benja- geschränkt positive Meinung brieflich mit, erbittet im
mins frühen Text so schätzte, daß er ihn noch 1935 Gegenzug ihre Urteile und läßt sich von Brecht wäh-
dem Internationalen Revolutionären Theaterbund rend der Arbeit an seinem Text die bereits erschiene-
MORT zur Publikation empfahl (BBA 1284/20, vgl. nen Rezensionen des Romans senden - wohl nicht
Wizisla 2004, 186), mit dem späten, wie Margarete zuletzt, um sein eigenes Urteilsvermögen zu überprü-
Steffm durchblicken ließ, Probleme hatte (vgl. ebd., fen, dem er in diesem Fall nicht ganz zu trauen schien
234-236). Als Benjamin 1931 seinen Text schreibt, (vgl. 5, 23).
existieren nur vereinzelte theoretische Auseinander- Aus der Distanz betrachtet, wirken die Zweifel am
setzungen mit der poetischen und theatralischen Pra- eigenen Urteil berechtigt. Unabhängig davon, was man
xis von Brechts >>epischem Theater<<, und sein Essay von Brechts Dreigroschenroman halten mag, erscheint
begründet zu diesem Zeitpunkt erstmals, inwiefern die zunächst in Briefen, dann in der Besprechung zum
Brechts Theater nicht nur in dessen Selbstwahrneh- Ausdruck kommende Einordnung des Romans neben
mung epochale Bedeutung zukommt. Im Jahr 1939 den großen Werken der satirischen Weltliteratur, seines
dagegen hat Brecht bereits eine große Zahl von theo- Autors neben Swift, Cervantes, Rabelais und E. T.A.
retischen Texten über die Praxis des >>epischen Thea- Hoffmann gewagt. Nimmt man hinzu, daß der Drei-
ters<< geschrieben, ja seine Arbeit für das Theater er- groschenroman zugleich als Höhepunkt der Entwick-
schöpft sich in Ermangelung praktischer Arbeitsmög- lung des Kriminalromans gewürdigt und gegen dessen
lichkeiten zu Zeiten in ihnen. So dürfte er nun »Frühzeit<< (III, 447) bei Dostojewskij abgesetzt wird,
Benjamins kritische Bemühungen mit den eigenen so drängt sich der Eindruck auf, daß Benjamin in die-
verglichen haben. Dabei mußten ihre Grundlagen als sem Fall die Perspektive verrutscht ist. Die Rezension
lückenhaft, ihre Anschauungsbeispiele als schlecht erscheint als ungeschickter, da etwas zu auffälliger Ver-
gewählt und zum Teil fehlerhaft zitiert erscheinen: So, such, Brecht gegen Angriffe der Moskau nähersteben-
wenn Benjamin im Zusammenhang des zitierbaren den Literaturkritik wirkungsvoll zu verteidigen, und
Gestus ausgerechnet Elisabeth Hauptmanns wenig zugleich als Ausdruck der- mit Brecht um 1934 ge-
erfolgreiches StückHappy End (II, 536) anführt, wenn teilten - Isolation des Emigranten.
er in der kursorischen Erwähnung der Maßnahme den Mag Benjamin mit seiner Einschätzung des Romans
>Kontrollchor< als >>Parteitribunal<< (ebd.) bezeichnet, auch aus heutiger Sicht falsch liegen, so stellt die in
wenn er als Argument für die neue Spielweise die zwar ihm dokumentierte Auseinandersetzung mit Brechts
anschauliche, gleichwohl zu kurz greifende Erklärung Buch doch in jedem Fall eine wichtige Station bei der
anführt, daß es für den deutschen Schauspieler im Exil Herausbildung seiner Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER
>>eine Einfühlung in den Mörder seiner Mitkämpfer GESCHICHTE, der im Kunstwerkaufsatz entfalteten
[... ] nichtwirdgeben können<< (538f.).Oderwenner Faschismustheorie sowie des im Zusammenhang der
statt von Furcht und Elend des dritten Reiches von des- Passagenarbeit berührten Phänomens der Komödie
sen >>Furcht und Zittern<< (1387) schreibt. dar. Wie schon die früheren Texte über Brecht ist auch
dieser von Beginn an vom Gestus eines Denkens ge-
tragen, das seinen Ausgang radikal von der >>Jetztzeit<<
,,Brechts Dreigroschenroman(( nimmt. Benjamin beschreibt im ersten Absatz, daß sich
Brecht die Lektion der >>politisch entscheidende[n]<<
Im seihen Maße, wie in Brechts Produktion die Bedeu- (III, 440) Jahre zwischen 1926 und 1934 zu eigen ge-
tung von Prosa und Lyrik gegenüber der Theaterarbeit macht hat. Er hebt an Brechts Roman vor jeder mög-
zunimmt, gewinnt sie auch in Benjamins kritischen lichen literarischen Qualität als erstes dessen Bezug-
Arbeiten über ihn an Gewicht. Unter dem schlichten nahme auf die Aktualität hervor, daß hier die >>Untaten
Titel BRECHTS DREIGROSCHENROMAN schreibt er eine [... ] beim Namen genannt, ihren Opfern[ ... ] ein Licht
86 Intellektuelle Freundschaft

aufgesteckt<< (ebd.) werde. Dadurch signalisiert er aber (444), >>Die Verbrecher-Gesellschaft<< (447) und >>Die
zugleich, daß auch er selbst als Kritiker seine Lektion Satire und Marx<< (448) seine Deutung des Romans.
aus diesen Jahren gelernt hat: Literatur wie Kritik sind Dabei greift er nicht zuletzt jene radikale Kritik der
angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten und bürgerlichen Rechtsordnung auf, die er in seinem Auf-
der historischen Niederlage ihrer Gegner nicht mehr satz ZuR KRITIK DER GEWALT entwickelt hatte: Brecht
trennbar von den Entwicklungen der Politik. >>entkleidet<<, so Benjamin, >>die Verhältnisse, unter
>>Die Tradition der Unterdrückten<<, so Benjamin denen wir leben, ihrer Drapierung durch Rechtsbe-
später in seiner VIII. geschichtsphilosophischen These, griffe<< (ebd.). Für diese Entlarvung stehen >Macheath<
>>belehrt uns darüber, daß der >Ausnahmezustand<, in und >Peachum<. Beide werden von Benjamin zunächst
dem wir leben, die Regel ist<< (I, 697). Daß er mit die- allgemein als der Gangster eingeführt, der in Deutsch-
ser These eine der Lehren aus der Begegnung mit land zu Zeiten der Dreigroschenoper >>noch ein fremdes
Brecht formulierte, ergibt sich nicht zuletzt aus einer Gesicht<< war, acht Jahre später aber dort die Barbarei
Notiz unter der überschrift >>Chroniken<<, in der er eingerichtet hat (vgl. 440). Benjamin greift hier die
konstatiert: >>Die Tradition der Unterdrückten ist These auf, daß Nationalsozialismus und Faschismus
Brecht angelegen<< (VII, 659). In seiner Besprechung eine Radikalisierung oder Entfesselung der dem Kapi-
des Dreigroschenromans wird deutlicher, welche Beleh- talismus von früh an inhärenten Gewaltherrschaft
rung aus dieser Tradition zu gewinnen ist. Hier liest darstellen.
man, daß die Barbarei auf Seiten der Ausbeuter erst über dieses in der Auseinandersetzung mit dem
spät >>jene Drastik<< aufweise, die >>das Elend der Aus- Faschismus zum Zeitpunkt des Textes vermutlich be-
gebeuteten schon zu Beginn des Kapitalismus<< (III, reits geläufige Deutungsmuster hinaus kommt in der
440) kennzeichne. Brechts Kunstgriff ist es, daß er Op- Figur des Macheath die faschistische Ästhetisierung
fer des Kapitalismus aus dessen Frühzeit zeigt, gleich- der Politik in den Blick (vgl. VII, 382-384). Der Fa-
zeitig aber Täter vorführt, die, wie Benjamin vermut- schismus, so Benjamin, verlange >>nicht nur einen Ret-
lich mit Blick auf Carl Schmitts Theorie schreibt, >>in ter des Kapitals sondern auch, daß dieser ein Edel-
ihren Maßnahmen immer modern sind<< (441 ). Brecht mensch ist<< (III, 444), einer, der es versteht, >>zur Schau
führt so als Lehre der Opfer vor, daß der gegenwärtige zu tragen, was der verkümmerte Kleinbürger sich un-
>>Ausnahmezustand<<, die fortwährende Herrschaft auf ter einer Persönlichkeit vorstellt. Regiert von hunder-
der Basis der in der Weimarer Verfassung angelegten ten von Instanzen, Spielball von Teuerungswellen,
Möglichkeit, das Recht zu suspendieren und durch Opfer von Krisen sucht dieser Habitue von Statistiken
>>Maßnahmen<< zu ersetzen, die mit außergewöhnli- einen Einzigen, an den er sich halten kann. Niemand
chen Mitteln auf außergewöhnliche Umstände reagie- will ihm Rede stehen, Einer soll es. Und der kann es<<
ren, seit den Frühzeiten des Kapitalismus >>die Regel (444f.). Was Benjamin hier noch suchend beschreibt,
ist<< (I, 697; vgl. Agamben 2004). Mit Bezug auf das wird er im Kunstwerkaufsatz auf den Begriff bringen,
Verhältnis von Gesetz und Verbrechen folgt daraus daß der Faschismus >>die Massen zu ihrem Ausdruck
aber, daß das Verbrechen, wie Benjamin im Lauf seines (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen<< lasse (VII,
Aufsatzes ausführen wird, als Sonderfall der Ausbeu- 382).
tung erscheint, die von der bürgerlichen Rechtsord- Ein weiterer Aspekt der dem Aufsatz inhärenten
nung sanktioniert wird. Folgerichtig fällt in Brechts Faschismustheorie, den Benjamin in den Mittelpunkt
Kriminalroman die >>Spielregel des Kriminalromans<< seiner Besprechung stellt, verknüpft den Text mit ei-
(III, 447), derzufolge diese Ordnung und das Verbre- nem im Konvolut N des Passagenwerks niedergelegten
chen Gegensätze sind, ebenso weg wie der Detektiv als Exzerpt zur Komödie bei Marx (vgl. V, 583). Erst in
>>Sachwalter der gesetzlichen Ordnung<< (448). Seine diesem Zusammenhang macht die anders für die Zeit-
Rolle übernimmt die Konkurrenz. genossen Stalins und seiner europäischen Anhänger
In den auf das erste, der Aktualität gewidmete Ka- vermutlich schwer verständliche These Sinn, Marx sei
pitel folgenden Teilen seines Textes skizziert Benjamin >>ein Lehrer der Satire geworden, der nicht weit davon
mit wenigen Worten zentrale Handlungsstränge, stellt entfernt war, ein Meister in ihr zu sein<< (III, 449). Ben-
die Protagonisten in ihrem Wandel gegenüber der jamin dürfte daran gedacht haben, daß Marx zum
Dreigroschenoper vor, beleuchtet die Figuren der Op- Beleg seiner These, wonach die >>letzte Phase einer
fer und unter ihnen speziell diejenige des Soldaten weltgeschichtlichen Gestalt [... ] ihre Komödie<< (V,
Fewkoombey, weist eher beiläufig auf die inhärente 583) sei, auf das nochmalige Sterben der tragisch zu
Kritik an der christlichen Tradition hin, stellt Brechts Tode gekommenen Götter Griechenlands in den Ge-
>>[p]lumpes Denken<< (445) vor und entwickelt dann sprächen Ludans verweist, eines römischen Meisters
unter den Überschriften >>Die Partei des Macheath<< der Satire. Seine Charakteristik des Romans als Satire
Bertolt Brecht 87

nach Marx trifft eine in Brechts Arbeiten wiederzufin- mütig eingestandenen Befremdung mehr als jede
dende Auffassung, daß man es bei Hitler und den Na- wohlwollende Würdigung. Es geht hier um das expe-
tionalsozialisten mit Gegnern zu tun hat, zu denen rimentelle Produkt des seinem Anspruch nach ersten
einem nichts einfallen kann, es sei denn das Lachen, Kritikers der Zeit, der sich, frei nach Benjamins frühe-
die Satire oder die Komödie. Dabei spielt zwar auch rer Charakteristik Brechts formuliert, >>von seinem
jene später von Adorno zurecht attackierte Denkge- >Werke< beurlaubt und, wie ein Ingenieur in der Wüste
wohnheit eine Rolle, die den Faschismus »Vorweg für mit Petroleumbohrungen anfängt<< (II, 506). Benjamin
geschlagen hält, weil die stärkeren Bataillone der Welt- unternimmt in diesen Texten das, was seiner Kritik
geschichte gegen ihn stünden<< (Adorno 1981, 604), im zufolge Ernst Bloch in seinem Exil-Werk versäumt hat:
Vordergrund steht aber, wie Benjamins Ausdeutung >>In solcher Lage- in einem Elendsgebiet-bleibt ei-
festhält, der Versuch, jenen zur Erkenntnis notwendi- nem großen Herrn nichts übrig als seine Perserteppi-
gen Abstand zu gewinnen, der es dem Satiriker erlaubt, che als Bettdecken wegzugeben und seine Brokatstoffe
das Verkehrte der verkehrten Welt des Faschismus dar- zu Mänteln zu verschneiden und seine Prachtgefäße
zustellen, dessen Maskeraden als falschen Pomp über einschmelzen zu lassen<< (5, 38).
jener >>Blöße<< eines entmenschten Menschlichen vor- >>Der Kommentar<<, so liest man in den einleitenden
zuführen, die der Satiriker dem Mitbürger >>im Spiegel Worten Benjamins, >>geht von der Klassizität seines
vor Augen führt<< (III, 448). Textes und damit gleichsam von einem Vorurteil aus<<
(II, 539). Benjamin bezeichnet die Form als zugleich
>>archaisch[]<< und autoritär und weist daraufhin, daß
,,Kommentare zu Gedichten von Brecht<< sie hier >>im Dienste einer Dichtung in Anspruch<< ge-
nommen werde, die >>nicht allein nichts Archaisches
Wie der Text über den Dreigroschenroman sind auch an sich hat sondern auch dem, dem heute Autorität
Benjamins KOMMENTARE ZU GEDICHTEN VON BRECHT zuerkannt wird, die Stirne bietet<< (ebd.). Benjamin
die Frucht eines Aufenthalts bei Brecht, und vermut- führt als Begründung des gewählten Formexperiments
lich sind beide Texte heute angemessen nur als kultur- an, daß >>schon der kommende Tag Vernichtungen von
politische Intervention in der >Realismus-<, bzw. >Ex- so riesigem Ausmaß bringen kann, daß wir von gestri-
pressionismusdebatte< zu begreifen. Aus Anlaß der gen Texten und Produktionen wie durch Jahrhunderte
geplanten Publikation einer Sammlung von Brechts uns geschieden sehen<< (540). Aus dem Zusammen-
Lyrik greift Benjamin den bis aufs Jahr 1927 zurück- hang seiner Arbeiten, die vom frühen Sprachaufsatz
gehenden Plan auf, über Brechts Gedichte zu schrei- an durchgängig als kommentierende begriffen werden
ben. Auftraggeber ist die in Moskau erscheinende können (vgl. Müller-Schöll 2002, 80; Scholem 1975,
Exilzeitschrift Das Wort, die ihr Erscheinen allerdings 144), kann man hinzufügen, daß gelesener Text wie
im März 1939, bei Benjamins Einsendung des Textes, Kommentar zugleich der Behauptung jeglicher Klas-
bereits eingestellt hat (vgl. Wizis1a 2004, 205-208). Als sizität sich widersetzen, allerdings auf dialektischem
Benjamin seine Arbeit beginnt, schreibt Brecht an sei- Weg: Die von Brecht immer wieder als verfremdendes
nen polemischen Auseinandersetzungen mit Luk;ics Stilmittel gewählte und ihm hier ungeprüft zugestan-
und kommentiert die im Wort abgedruckte Lyrik la- dene Klassizität erscheint als Setzung, die sich im Ver-
konisch: >>die Autoren drüben haben es eben schwer. lauf des Kommentars als voreilig, wenn nicht über-
>Es wird schon als Vorsatz ausgelegt, wenn in einem haupt als haltlos erweist. Insofern stellt der Kommen-
Gedicht der Name Stalin nicht vorkommt<<< (VI, 534). tar einen weiteren Fall einer Praxis dar, in der durch
Wenn sich Benjamin vor diesem Hintergrund wie eine nicht weiter begründbare Setzung >>die Probe<<
schon in der Roman-Rezension mit der Frage ausein- aufs Exempel gemacht wird, in der sich in diesem Fall
andersetzt, was klassische Literatur sei, und seinen Text das >>Vorurteil<< der Abgeschlossenheit als solches er-
mit dem Hinweis auf die dreifache Schwierigkeit be- weist. Benjamin beschreibt diese Operation in Anspie-
ginnt, >>Lyrik heut überhaupt zu lesen<<, >>Lyrik heut zu lung auf ein Motiv aus DrE AuFGABE DES ÜBERSETZERS
verfassen<< und >>eine heutige lyrische Sammlung [... ] mit den folgenden Worten: >>Der Kommentar, der
wie einen klassischen Text zu lesen<< (II, 540), dann heute noch zu prall ansitzt, kann morgen schon klas-
wird man das Resultat vermutlich angemessen nur als sische Falten werfen<< (II, 540). Das Klassische ist die-
seine Variante von Brechts >>getarnte[n], aber ser Beschreibung zufolge weder eine Qualität des Tex-
vehemente[n] Angriffe[n]<< (VI, 538) auf die Macht- tes, noch eine solche seines Gegenstandes, sondern die
haber in den Moskauer Literaturdebatten lesen kön- durch die Zeit an ihm sichtbar gewordene Spur der
nen. Der Hinweis Scholems auf ihre »beklemmende Veränderlichkeit- es ist, so könnte man im Rückgriff
Hiltlosigkeit<< (Scholem 1992, 33) erhellt in seiner frei- auf Benjamins Begrifflichkeit schreiben, die>> Dialektik
88 Intellektuelle Freundschaft

im Stillstand«, die noch im Stillgestellten zu beobach- Geste einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares
tende, zeitlose Bewegung. Ende hat: »Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit
Benjamin zitiert 14 GedichteBrechtsaus Hauspo- jedes Elements einer Haltung, die doch als ganze in
stille, Lesebuch für Städtebewohner, Studien und Svend- lebendigem Fluß sich befindet, ist sogar eines der dia-
borger Gedichten jeweils in Gänze, um sie dann auf lektischen Grundphänomene der Geste<< (521). Sie ist,
unterschiedlichste Weise zu kommentieren. Er trägt wie man an anderer Stelle liest, das »Material<< (1380)
dabei dem Bestreben Rechnung, das er eingangs be- von Brechts Theater. Aus heutiger Sicht kann sie viel-
tont, den Kommunismus vom Stigma der Einseitigkeit leicht am plastischsten ausgehend von der Betrachtung
zu befreien, die mannigfaltigen Haltungen der Ge- eines Filmbildes begriffen werden-Brechts Bezeich-
dichte Brechts vorzustellen und zu belegen, daß sich nung des Filmes als >>Gestentafel<< (Brecht 1988 ff. Bd.
darunter keine findet, die man als »unpolitische, nicht- 21, 211) legt dies nahe. Jedes einzelne Filmbild wird
soziale« (II, 540) bezeichnen könnte. Seine unter- als Teil des Filmes zugleich vollkommen entwertet wie
schiedlich langen Kommentare beleuchten die Texte auch unendlich aufgewertet: Aus dem Zusammenhang
zum Teil aus biographischer, zum Teil aus philologi- des Filmes gerissen, hat es >>als solches<< keinen Sinn
scher Perspektive, ordnen manche Texte in die Tradi- für sich, umgekehrt kann aber noch das kleinste Ele-
tion ein, verweisen auf Quellen und Vorbilder, darin ment auf dem Bild in der weiteren Abfolge der Bilder
niedergelegte Erfahrungen oder politische und gesell- mit unendlichem Sinn aufgeladen werden - insofern
schaftliche Kontexte und lassen sich nur in einer Hin- wird im einzelnen Photogramm das unerschöpfbare
sicht unter einen Oberbegriff subsumieren: Sie spüren Vermögen des Bildes ausgestellt, ein Verweisen-aufirn
durchgängig den »Widersprüchlichkeiten<< von Brechts Bild, das sich nicht im Verweisen-auf-Etwas er-
Gedichten nach, sie kommentieren in jedem Fall mit schöpft.
der Kommentierung von Brechts Lyrik indirekt auch >>Das epische Theater ist gestisch<< (II, 521), konsta-
die Produktion dieses Kommentars mit und stellen so tiert Benjamin im Essay von 1931 wie im ungefähr
in ihren Gegenständen wie in deren Betrachtung eine gleichzeitig verfaßten kurzen Text STUDIEN zuR THEO-
Apologie der Veränderlichkeit dar. Nicht von ungefähr RIE DES EPISCHEN THEATERS. Zu diesem Zeitpunkt hat
dürfte der Text mit einem Kommentar schließen, der Brecht seinen Begriff der Geste noch kaum geprägt.
in diesem Sinne gelesen werden kann, und endet mit Seine spätere, diskursiv entfaltete Theorie des Gestus
der Besprechung der Legende von der Entstehung des und der Geste greift andererseits Aspekte der Theorie
Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emi- Benjamins auf. Insofern kann die Theorie der Geste
gration (vgl. li, 568-572). Der Text stellt die einzige angemessen nur als eine Theorie beider begriffen wer-
Passage dar, die zu Benjamins Lebzeiten veröffentlicht den. Um so bedeutender erscheint es, auf den Unter-
wurde. Sie erschien in der von Benjamins Freund Fritz schied in beider Konzeption der Geste hinzuweisen:
Lieb herausgegebenen Schweizer Zeitung am Sonntag Wo Brecht dazu tendiert, im Gestus oder in den Gesten
imApril1939. eine stehende Invariante einzuführen, dasjenige, was
sich im ständigen Wandel gleichbleibend erhält, da
insistiert Benjamin in seiner Konzeption auf dem dia-
Theorie und Schreibpraxis der nGestecc - lektischen Bild oder der Dialektik im Stillstand als der
Gespräche mit Brecht einzig denkbaren Invariante. Wo Brechts Begriff der
Geste, wie an seinen theoretischen Versuchen über sie
Letztlich können alle Arbeiten Benjamins über Brecht gezeigt werden könnte, dasjenige zu fixieren sucht, was
als Varianten der »Exponierung des Anwesenden<< (II, berechenbar ist, insistiert Benjamins Begriff auf dem
775) gelesen werden, der Ausstellung des Rests, der in in ihr bloß zu berührenden unberechenbaren, unge-
keinem Kalkül aufgeht und in der immer anderen Pra- heuerlichen oder unheimlichen >>über<<.
xis den Oberschwang der Theorie begrenzt. Es bleibt Benjamin übersetzt in den Begriff der Geste frühere
darzulegen, wie diese Begrenzung von Benjamin be- Begriffe wie denjenigen der von Hölderlin hergeleite-
griffen wird. Der Rest tritt, wie er in Varianten darstellt, ten >>Cäsur<< (I, 181) aus dem Aufsatz über Goethes
in der Unterbrechung von Abläufen hervor, das heißt, Wahlverwandtschaften (vgl. Nägele 1991, 135-166;
in Benjamins Worten, als »Geste<<. »Gesten erhalten Müller-Schöll2002, 49; Lehmann 2003, 203) oder der
wir um so mehr<<, so schreibt er, »je häufiger wir einen >>Verweisung[en]<< (I, 403) aus dem Trauerspielbuch.
Handelnden unterbrechen<< (521). An anderer Stelle Er greift den Begriff später im Zusammenhang Kafkas
beschreibt er, daß das »Handeln<< auf dem »epischen wieder auf und gibt ihm dabei eine Wendung, die bei
Theater<< aus »kleinsten Elementen der Verhaltungs- aller Beibehaltung zentraler brechtischer Begriffe von
weisen<< konstruiert werde (775). Er führt aus, daß jede Brecht fortführt. In FRANZ KAFKA. ZuR ZEHNTEN WIE-
Bertolt Brecht 89

DERKEHR SEINES TODESTAGES bezeichnet er dessen eben allzu leicht der >Interpretation< dar. Er ist hundert
ganzes Werk als »Kodex von Gesten [... ],die keines- Jahre alt und es hat sich erwiesen<<. Benjamin versieht
wegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere seine Rede an dieser Stelle mit drei Punkten und der
symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer in Klammern gesetzten Ergänzung: »(An dieser Stelle
wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsan- werden wir unterbrochen.)« (VI, 534). Die Umwand-
ordnungen um eine solche angegangen werden. Das lung jener alle positiven Sätze infragestellenden Ein-
Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanord- spruchsinstanzdes »Proletariats<< in ein Subjekt der
nungen« (II, 418). Zum Essay von 1934 notiert er sich Arbeiterklasse oder der Unterdrückten, das dann re-
auf einem Blatt: »Das gestische Theater«, und zwei präsentiert werden kann, wird so - ganz im Sinne des
Zeilen darunter: »Entwicklung der Geste/ Verzicht auf früheren Brechts - aufgehalten und exponiert. In den
ihre Rationalisierung« (1210). Was Kafka gegenüber Notizen von 1938 wirkt dabei beinahe jede berichtete
Brecht in Benjamins Augen auszuzeichnen scheint, ist Szene emblematisch, erscheint als Gleichnis der eige-
dessen größere Offenheit für jene Grenze von Ratio- nen Situation, wenn etwa auf Marx und Engels im Exil
nalität, Kalkül und Ökonomie, die im gestischen Rest (vgl. VI, 536) oder auf Dantes Schilderung der Hölle
zutage tritt: >>der Gebärde des Menschen nimmt er die (vgl. 534) verwiesen wird. Die ausgeschnittenen Au-
überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen genblicke halten in einer kurzen Bemerkung die Situa-
Gegenstand zu überlegungen, die kein Ende nehmen<< tion Brechts, mit ihr zugleich die geschichtliche Situa-
(420), liest man in diesem Sinne zu Kafka, und weiter: tion der Emigration und letztlich die Epoche fest. Mit
»Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. der Leibnizschen Terminologie der Thesen über den
Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die Begriff der Geschichte lassen sie sich als »Monade [n] <<
wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dich- bezeichnen (I, 703).
tung hervor<< (427; vgl. Hamacher 1988, 147-176). Durch Benjamins Aufzeichnungen zu Brecht zieht
Nicht von ungefähr konnte diese Passage als versteckte sich beider Auseinandersetzung mit Kafka. Als Benja-
Kritik der zu sehr berechneten Gesten und Parabeln min Brecht näher kennenlernt, zeigt er sich überrascht
Brechts erscheinen (Müller 1990, 31). von dessen positiver Stellung zu Kafka, dem, so Brecht
Wieviel Benjamin gleichwohl gerade bei der Ent- 1931, »einzig echten bolschewistischen Schriftsteller<<
wicklung seiner Schreibweisen Brecht verdankt, läßt (VI, 433). Brecht rühmt an ihm »die unvergleichliche
sich seinen Notaten über die Gespräche mit Brecht Art, sich zu bewegen (im Nehmen einer Zigarette,
entnehmen. Brecht erscheint in ihnen so, wie dessen beim Sichsetzen auf einen Stuhl und so weiter)<<
Theorie zufolge die Figuren des epischen Theaters: In (Brecht 1967 Bd. 17, 955), anders gesagt: die fast oder
szenischen Konstellationen, als Bündel von Gesten und ganz unverständlichen Gesten, in denen sich, wie er
»Schauplatz von Widersprüchen<< (II, 526), als von 1931 ausführt, das Staunen eines Menschen ausdrückt,
»Tendenzen<<, »Gedankengängen<<, »Bemühungen<<, »der ungeheure Verschiebungen in allen Verhältnissen
»Beschäftigungen<< und »Skrupeln<< durchwaltetes »Di- sich anbahnen fühlt ohne den neuen Ordnungen sich
viduum<<, das niemals restlos erkennbar wird. In den selber einfügen zu können<< (VI, 433). Nirgends ma-
Notaten hat dabei die Unterbrechung, die das Berich- nifestiert sich 1934 die Wandlung Brechts, die Benja-
tete zur Geste zerschlägt, viele Formen: Es werden min akribisch festhält, deutlicher als in seiner Haltung
Ausschnitte aus Diskussionen notiert, Momentaufnah- zu Kafka. Sie erscheint nun als durch und durch am-
men aus Brechts Arbeitszimmer, Verhaltensweisen bivalent (vgl. VI, 525; 527; 528).
Brechts in Gesprächen. An einer Stelle kennzeichnen Was Benjamin in der Schreibweise seiner Svendbor-
Gedankenstriche, die eine Argumentation Brechts ger Notizen zu denken gibt, ist, was es heißt, die Ver-
fortwährend unterbrechen, gleichsam mimetisch die antwortung für einen be-und dabei immer auch über-
Pausen, durch die er sein Reden nolens volens »ge- schriebenen Anderen zu übernehmen. »Ein Autor, der
stisch<< gliedert. Die apodiktischen Urteile, die er an die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden<< (II, 696),
dieser Stelle inhaltlich äußert, werden durch diese schrieb Benjamin in DER AUTOR ALS PRODUZENT.
Skandierung des Redeverlaufs unterlaufen, ja konter- Seine Tagebuchaufzeichnungen können ausgehend
kariert (vgl. VI, 530f.). An anderer Stelle bricht ein von der Betrachtung ihrer Schreibweise als Lehrstück
Gespräch ab, weil die »Radionachrichten aus Wien<< für Biographen gelesen werden, als Musterbeispiel ei-
(VI, 528) kommen. In den späteren Notizen wird der ner Darstellung, die den Begriff des Anderen zugun-
Takt der aneinandergereihten Einzelausschnitte schnel- sten des Materials, das der Begriffbildung dienen
ler, die Unterbrechung zum wiederkehrenden Moment könnte, aufgibt.
in den Notaten, auch zum inhaltlich begründbaren,
etwa, wenn Brecht beginnt: »Der Marxismus bietet sich
90 Intellektuelle Freundschaft

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92 Intellektuelle Freundschaft

Das Institut für Sozialforschung/ das Institut oder Horkheimer. Den Schluß bilden die
Bemühungen Adornos, Benjamins Werke in Deutsch-
Gretel Adorno, Adorno und
land zu publizieren, die er unmittelbar nach seiner
Horkheimer Rückkehr nach Europa unternahm.
Von Christoph Gödde und Henri Lonitz

Institut für Sozialforschung


Einleitung
Die Gesellschaft für Sozialforschung e. V. war 1922 von
Benjamins Beziehung zum Institut für Sozialfor- Felix Weil, Kurt Albert Gerlach und Friedrich Pollock
schung, vor allem aber zu dessen Publikationsorgan, gegründet worden. In ihren Statuten stand, daß der
der Zeitschrift für Sozialforschung, war mehr als die Direktor des Instituts für Sozialforschung zugleich
Zugehörigkeit zu einer Institution oder die Mitarbeit Inhaber eines Lehrstuhls an der Frankfurter Universi-
an einer Zeitschrift. Sie war zugleich die Entwicklung tät sein mußte. Der Nationalökonom Gerlach sollte im
von persönlichen Konstellationen, die von der Peri- folgenden Jahr sein erster Leiter werden, starb aber
pherie, zu der Adorno und Gretel Adorno anfangs noch vor dem Abschluß der Bauarbeiten des Instituts-
gehörten, in das Zentrum, zu Max Horkheimer führte. gebäudes. Der Österreichische Marxist Carl Grünberg
Am Anfang stand das, was Adorno in einem Aufsatz wurde dann 1924 berufen. Er brachte aus Wien das
über Benjamin charakterisierte: »Wir waren so zusam- von ihm seit 1911 herausgegebene Archiv für die Ge-
men, wie vor 40 Jahren Intellektuelle zusammenzu- schichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung mit,
kommen pflegten, einfach, um sich zu unterhalten und das nun als Institutszeitschrift figurierte und kurz
so ein bißchen an jenen theoretischen Knochen zu Grünberg-Archiv genannt wurde. Benjamin bezeich-
zerren, an denen sie eben nagten<< (Adorno 1970ff., net darum 1932 die Zeitschrift für Sozialforschung (ZfS)
Bd. 20/1, 173 f.).- Daß dieses Moment geistiger Un- nach ihrem Herausgeber als das »Horkheimersche
mittelbarkeit nach 1933 nicht verfiel, war den Anstren- Archiv<< (4, 127). Drei Jahre nach seinem Amtsantritt
gungen Horkheimers zu verdanken, der mit der Ret- erkrankte Grünberg so schwer, daß bis zur Ernennung
tung des Instituts und der Fortführung der Zeitschrift von Horkheimer 1930 Friedrich Pollock, der lebens-
den dünnen Lebensfaden der gerade ins Dasein getre- lange Freund und Mitarbeiter Horkheimers, das Insti-
tenen kritischen Theorie erhielt. Es stellt keine geringe tut kommissarisch leitete. Horkheimer, der seit 1925
Leistung dar, unter den Bedingungen der Emigration Privatdozent war, wurde Direktor des Instituts, nach-
ein Publikationsorgan zu sichern, das dem unabhän- dem die Einrichtung eines Lehrstuhls für Sozialphilo-
gigen Denken und der nicht an unmittelbare materielle sophie seine Berufung in Frankfurt möglich gemacht
Zwecke gebundenen Forschung ein Schutzdach bot. hatte. In seiner Antrittsvorlesung am 24. Januar 1931
In den folgenden Abschnitten sollen skizzenhaft die sagte Horkheimer: >>Wenn ich es nun unternehme, die
Geschichte des Instituts für Sozialforschung, die Arbeiten des Instituts nach der jahrelangen Krankheit
Freundschaft zu Gretel Adorno, die finanzielle Seite des Direktors auf neue Aufgaben zu richten, so kommt
der Unterstützung Benjamins durch das Institut, die mir dabei nicht bloß die Erfahrung seiner Mitarbeiter
Diskussionen mit Adorno und Benjamins Verhältnis und die gesammelten literarischen Schätze, sondern
zu Max Horkheimer nachgezeichnet werden. Da die auch die wesentlich von ihm bestimmte Institutsver-
Gespräche, die sie miteinander führten, nicht doku- fassung entgegen, nach welcher der vom Minister er-
mentiert sind, bleiben allein die in der Korrespondenz nannte Leiter >nach allen Seiten hin ... ebenso der
fixierten Auseinandersetzungen über gemeinsame Unterrichtsverwaltung wie den Stiftern< gegenüber
theoretische und politische Motive als Lichtquelle auf völlig unabhängig ist und, wie Grünberg sich auszu-
jene Gespräche übrig. Einige der zentralen Diskussio- drücken pflegte, im Gegensatz zu einer Kollegialver-
nen werden darum als Modelle zitiert werden. Es sind fassung >die Diktatur des Direktors< besteht. Dadurch
solche, auf denen Benjamins Blick besonders ruhte, wird es mir möglich werden, das von ihm Geschaffene
und die für sein Fragment gebliebenes Spätwerk große zu benützen, um wenigstens im engsten Rahmen ge-
Bedeutung haben. Die Zitatmontagen aus Briefen und meinsam mit meinen Mitarbeitern eine Diktatur der
in geringerem Umfange aus Benjamins in Rede ste- planvollen Arbeit über das Nebeneinander von philo-
henden Schriften oder Aufzeichnungen erwiesen sich sophischer Konstruktion und Empirie in der Gesell-
insofern als notwendig, als die Intensität der Diskus- schaftslehre zu errichten<< (Horkheimer 1988 ff., Bd. 3,
sion nicht durch Referate zu ersetzen ist. Darauf folgt 31). Dieses Programm suchte die erste große Untersu-
eine kurze Darstellung der sekundären Arbeiten für chung des Instituts - die Studien über Autorität und
Das Institut für Sozialforschung 93

Familie - einzulösen, die erst im Exil abgeschlossen nach dem Krieg und der Wiedererrichtung des Insti-
wurde und 1936 im Pariser Verlag Felix Alcan erschien. tuts in Frankfurt nicht fortgesetzt.- In der Zeitspanne
Gleichzeitig förderte das Institut unter Horkheimers zwischen 1934 und 1939 veröffentlichte Benjamin in
Leitung zahlreiche Arbeiten einzelner Forscher, bis es der Zeitschrift dreizehn Rezensionen und Sammelbe-
in den 40er Jahren eine Reihe von Antisemitismus- sprechungen, vier Aufsätze - ZuM GEGENWÄRTIGEN
Untersuchungen unternahm, die in die fünfbändige GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES FRANZÖSISCHEN
Serie der Studies in Prejudice - darunter die Author- ScHRIFTSTELLERS ( 1934), L'CEuvRE D' ART A L'EPOQUE
itarian Personality- und eine Anzahl von Monogra- DE SA REPRODUCTION MECANISEE (1936), EDUARD
phien zur Untersuchung des Vorurteils mündeten. FuCHS DER SAMMLER UND DER HISTORIKER (1937)
Horkheimers Interesse aber galt von Beginn an auch und ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE (1939)
der Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnis des sowie die Einleitung zu CARL GusTAV JocHMANN: DIE
>>gesamtgesellschaftlichen Verlaufs<< (36) und der hi- RücKSCHRITTE DER PoESIE (1939).
storischen Dynamik sowie >>dem Zusammenhang zwi-
schen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der
psychischen Entwicklung der Individuen und den Ver- Gretel Adorno
änderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn,
zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte Gretel Karplus, die 1937 Adorno nach langer Verlo-
der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, son- bungszeit heiratete und ihm von Berlin aus in die
dern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Emigration folgte, hatte Benjamin in den späten 20er
Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil u.s.f.<< (32). Als Jahren kennengelernt und ein leidenschaftliches Inter-
im Spätsommer 1932 die erste Ausgabe der Zeitschrift esse für Autor und Person gefaßt. Sie nahm auch an
für Sozialforschung (ein Doppelheft) ausgeliefert Gesprächen teil, in denen Benjamin seine frühe Kon-
wurde, manifestierte sein Inhalt Horkheimers Pro- zeption der PARISER PASSAGEN vortrug, die sie im
gramm: >>Bemerkungen über Wissenschaft und Krise<< Frühjahr 1935 seine >>große philosophische Arbeit<<
(Horkheimer), >>Die gegenwärtige Lage des Kapitalis- nannte, >>die nur um ihrer selbst willen da ist<< (G.
mus und die Aussichten einer planwirtschaftliehen Adorno 2005, 214). Noch ohne Kenntnis des Exposes
Neuordnung<< (Friedrich Pollock), >>Über Methode PARIS, DIE HAUPTSTADT DES XIX. JAHRHUNDERTS, das
und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie<< Benjamin auf Anregung Pollecks für das Institut ge-
(Erich Fromm), >>Die Wert-Preis-Transformation bei schrieben hatte, teilte sie Benjamin ihre Befürchtungen
Marx und das Krisenproblem<< (Henryk Grossmann), mit: >>Mich erstaunt es, daß Fritz sich für die Notizen
>>Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur<< (Leo Lö- einsetzt, denkst Du denn an eine Arbeit für die Zeit-
wenthal), >>Zur gesellschaftlichen Lage der Musik<< schrift? Ich sähe darin eigentlich eine ungeheure Ge-
(Adorno) und >>Geschichte und Psychologie<< (Hork- fahr, der Rahmen ist doch verhältnismäßig nur schmal,
heimer) -ein wissenschaftliches Programm, dessen und Du könntest nie das schreiben, woraufDeine wah-
Aktualität lange Zeit erkannt wurde. Vielleicht hätte ren Freunde seit Jahren warten [... ]<< (ebd.). Sie wie
auch Benjamin schon in diesem Heft einen Platz ge- Adorno betrachteten mit Skepsis die Möglichkeit einer
funden, wenn sein für Januar 1931 geplanter Vortrag Assimilation der Passagenarbeit seitens des Instituts
im Institut >>Zur Philosophie der Literaturkritik<< zu- und Horkheimers und unterstellten mit Sorge eine
standegekommen wäre. Als dann der achte- der vor- mögliche Anpassung des Benjaminsehen Exposes an
letzte- Jahrgang wiederum mit einem Doppelheft das >marxistische< Institut. Die Antwort Benjamins, an
eröffnet wurde, das Benjamins Aufsatz ÜBER EINIGE Adorno gerichtet, ist deutlich: >>In diesem Stadium der
MoTivE BEI BAUDELAIRE, seine Redaktion von Joch- Sache [... ] kann ich mit Gelassenheit dem entgegense-
manns Rückschritten der Poesie, Adernos >>Fragmente hen, was etwa von Seiten des orthodoxen Marxismus
über Wagner<< und Horkheimers >>Die Juden und Eu- gegen die Methode der Arbeit mobil gemacht werden
ropa<< vereinigen sollte, schrieb Adorno ihm: >>Wenn mag. Ich glaube, im Gegenteil, in der marxistischen
das Heft in dieser Weise zustande kommt, so kommt Diskussion mit ihr a Ia longue einen soliden Stand zu
es in der Tat dem nahe, was ich mir unter der Zeit- haben, sei es auch nur weil die entscheidende Frage
schrift vorstelle, und ich glaube, ich darf sagen, auch des geschichtlichen Bildes hier zum ersten Male in
dem, was Max sich unter ihr vorstellt<< (Adorno 1994, aller Breite behandelt wird. Da nun die Philosophie
408). Nach dieser >>Erfüllung eines Wunschtraums<< einer Arbeit nicht sowohl an die Terminologie als an
(ebd.) erschienen noch vier Hefte der Zeitschrift in ihren Standort gebunden ist, so glaube ich schon, daß
englischer Sprache und unter dem Namen Studies in dieses Expose das der >großen philosophischen Arbeit<
Philosophy and Social Science. Die Zeitschrift wurde ist, von der Felizitas spricht, wenn mir diese Bezeich-
94 Intellektuelle Freundschaft

nungauchnicht die angelegentlichste ist<< (5, 98). Jene die Zahlungen des Instituts waren nicht länger allein
Skepsis aber verlor sich, als Gretel Adorno gemeinsam die Honorare für Rezensionen und Aufsätze. - Einer
mit Adorno in der Nähe Horkheimers arbeitete, und >>Aufstellung der Honorarvorschüsse<<, die Juliane Fa-
sie vermittelte mehrfach zwischen Benjamin und der vez - Sekretärin der Genfer Zweigstelle des Instituts
Redaktion der Zeitschrift, so wie sie 1933 die Mittlerin -im Mai 1935 erstellte, zufolge erhielt Benjamin für
zwischen dem verstummten Adorno und dem Schwei- den Aufsatz ZuM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLI-
gen Benjamins über Adornos Singspiel Der Schatz des CHEN STANDORT DES FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTEL-
Indianer-]oe war. Nur dreimal sahen sie und Benjamin LERS ein Honorar von 90 Schweizer Franken, für die
sich, nachdem dieser im März 1933 - auf ihren Rat Rezension des Buches Fourier et le socialisme von Au-
hörend- in die Emigration ging: 1934 im dänischen guste Pinloche 8 Schweizer Franken und für die der
Gedser, 1937 in Paris und zum Jahreswechsel1937/38 Monographie von Georges Laronze über Le Baron
in San Remo, so daß sie im Sommer 1939, als ein Auf- Haussmann 12 Schweizer Franken, insgesamt also ein
enthalt Benjamins in New York zur Sondierung der Honorar von 110 Schweizer Franken. Dem standen
Möglichkeiten einer dauernden Übersiedlung verab- Vorschüsse von insgesamt 569,50 Schweizer Franken
redet war, schrieb: >>Ich bin ganz närrisch vor Freude, gegenüber, die sich über die Zeit zwischen dem 14.
und überlege mir schon dauernd, in welcher Reihen- Oktober 1934 und dem 29. Januar 1935 erstreckten.
folge man Dir die Attraktionen von New York vorfüh- Das waren zu der Zeit knapp 2900 französische Francs.
ren sollte, damit es Dir in der Barbarei auch ja gefällt<< Mit diesen Honorarvorschüssen und seinem monat-
(G. Adorno 2005, 382). Die Reise wurde vom Kriegsaus- lichen Fixum von 500 französischen Francs war Ben-
bruch vereitelt. - Gretel Adorno nahm, wie ihr Brief- jamins Pariser Existenz noch nicht gesichert. In einem
wechsel mit Benjamin beweist, ebenso großen Anteil undatierten, im Frühjahr 1936 geschriebenen >>Wirt-
an der empirischen Person Benjamins, dessen materi- schaftsplan<<, den er an Juliane Favez richtete, schildert
elle Not sie durch zahlreiche Geldüberweisungen nach Benjamin seine Lage: >>Vom Frühjahr 1934 an habe ich
Ibiza und Paris zu lindern suchte. Sie bat auch Adorno, vom Institut eine monatliche Rente von Frs. fr. 500,--
dessen Tante Agathe Calvelli-Adorno und die saarlän- bekommen. Trotz mehrfacher ergänzender Zuwen-
disehe Freundin der Familie Adorno Else Herzberger, dungen des Instituts habe ich in den vergangenen zwei
Benjamin zu unterstützen; letztere konnte bis zum Jahren nicht nur die Hilfe einiger weniger in Deutsch-
Anschluß des Saarlandes an das Deutsche Reich 1935 land verbliebener Freunde bis an die Grenze des Mög-
Geldtransfers ohne Devisenbeschränkungen vorneh- lichen erschöpft, sondern auch einige unbeträchtliche
men. Benjamin dankte im Juni 1933 für Felizitas' Zah- Reserven, die ich in Gestalt einzelner Autographen
lungsanweisungen mit den Worten: >>Jede von ihnen besaß, zu Geld gemacht.
ist für mich ein kleines Modell von einem geborgnen Meine Versuche, mir einen Nebenverdienst durch
Dasein und vielleicht steht es mit ihnen wie mit den französische Publizistik zu verschaffen sind bisher von
kleinen Modellhäusern der Architekten, die oft viel sehr bescheidenem Erfolg gewesen. Allerdings ist kürz-
reizender aussehen als nachher das Leben in den wirk- lich >Europe< mit der Bitte um Mitarbeit an mich her-
lichen sich gestaltet.[ ... ] Ja, gern möchte ich an diesem angetreten. Von den >Cahiers du Sud<, in denen ich
Tage [Benjamins 41. Geburtstag] blauen Rauch zu gelegentlich geschrieben habe, ist kein Honorar zu
meinem Schornstein heraussteigen lassen. Aber seit erwirken. Einen einmaligen Zuschuß hat mir bisher
langem hat er sich nicht mehr über meinem Dache allein die Mitarbeit an der Schweizer Zeitschrift >Ori-
gekräuselt und die Bilder, die ich in meinem letzten ent und Occident< eingebracht.
Briefe Ihnen einschloß, waren die letzten, welche er Herr Horkheimer hat mir bei seinem letzten Pariser
geformt hat. Wenn Sie einige edle Scheiter auf meinen Aufenthalt die Gelegenheit gegeben, meine Situation
Herd legten, so wären Sie meinen schönsten Stunden zur Sprache zu bringen und der Beschluß des Instituts,
verbunden und meine Rauchfahne überm Haus würde mir zunächst eine Monatsrente von Frs. fr. 1.000,-- [ca.
am fünfzehnten bis zu Ihnen hinüberwehn<< (55 f.). 630 Euro] auszusetzen, hat einer katastrophalen Ent-
wicklung meiner Verhältnisse Einhalt geboten.
Sie sind nichtsdestoweniger äußerst schwierig ge-
Die finanzielle Unterstützung Benjamins blieben. Ich gab Herrn Horkheimer in unserer letzten
durch das Institut Besprechung die Höhe meines im Mindestbetrage und
unter Ausschluß etwaiger Anschaffungs- und Reise-
Seit Frühjahr 1934 erhielt Benjamin ein Forschungs- spesen errechneten Monatsbedarfs mit Frs. fr. 1.300,--
stipendium von 500 französischen Francs (ca. 315 an. Herr Horkheimer stellte mir in Aussicht, diese
Euro in heutiger Kaufkraft; Stand Anfang 2002), und Summe in New York in wohlwollende Erwägung zu
Das Institut für Sozialforschung 95

ziehen. Ich füge in der Anlage das in seinen einzelnen Franken unabhängiges Stipendium von 80 amerikani-
Posten errechnete Monatsbudget an und gesondert schen Dollars im Monat zur Verfügung zu stellen.
den Betrag von Frs. fr. 100,-- für außerordentliche Dieser Betrag wird Ihnen regelmäßig von hier aus der-
Ausgaben, in die nicht nur Reisespesen sondern auch art überwiesen werden, daß er bestimmt vor Ende
jede Art Anschaffungen einbegriffen sein würden. jeden Monats in Paris eintrifft. Die Anweisung wird
Wenn ich in der Anlage versucht habe, dem Institut auf amerikanische Dollars lauten und es wird ratsam
eine Grundlage für seine Entscheidung zu geben, so sein, daß Sie sich den Betrag in Dollarnoten auszahlen
hat mich dazu mehr als meine derzeitige Lage die Hoff- lassen, die Sie von Fall zu Fall in französische Francs
nung veranlaßt, fortan dem Institut meine Arbeit zur umwechseln.
Verfügung zu stellen, ohne auf die Frage ihrer materi- Nach Genf geht gleichzeitig mit diesem Brief die
ellen Sicherung zurückkommen zu müssen. Anweisung, Ihnen das bisherige Stipendium von fr.
Ich füge hinzu, daß der unmittelbare Anlaß dieser 1500 nur noch einmal auszubezahlen. Dieser Betrag
Zeilen nicht nur die Gelegenheit ist, sie Herrn Pollock gilt als einmalige Beihilfe zu Ihrem Umzug [ 10, rue
persönlich zu übergeben, sondern auch der Wunsch, Dombasle], so daß Sie Ihr November-Stipendium be-
dieses Jahr wenn möglich, einen Sommerurlaub zu reits via New York erhalten, während der bisher von
nehmen. Ich denke an Dänemark, wo dessen Kosten Genf eingehende Betrag als die eben erwähnte Beihilfe
sich, wie im Jahre 1934, in den bescheidensten Grenzen zu betrachten ist.
halten würden« (Walter Benjamin Archiv, Berlin). Das Diese Regelung stellt das Äußerste dessen dar, was
>>Monatsbudget« liest sich so: wir gegenwärtig für Sie tun können. Wir bitten Sie,
ihren Inhalt jedem gegenüber (also auch gegenüber
Ordentliche Ausgaben: Genf) streng vertraulich zu behandeln, denn wir wol-
Miete einschl. Heizung, Licht, Concierge Frs 300,--
Verpflegung 18 x 30
len in einem Zeitpunkt, wo wir überall Kürzungen
Frs 540,--
Fahrten 3 x 30 Frs 90,-- eintreten lassen müssen, nicht in Diskussionen dar-
Wäsche 4 x 15 Frs 60,-- über eintreten, warum wir in Ihrem Fall ganz anders
Diverse: 10 x 30 Frs 300,-- verfahren<< (II, 1351 f.).
Arbeitsmittel, Porto, Cafe, Hygiene
Frs 1290,--
Außerordentliche Ausgaben:
Kleidung, Reisen Frs 100,-- Theodor W. Adorno
nDas Kunstwerk im Zeitalter seiner
Diese Aufstellung bewirkte das Ende der Sonderzah- technischen Reproduzierbarkeit''
lungen und der zeitweise erfolgten Erhöhungen des
monatlichen Fixums von 500 auf 1000 französische Steht auch die Passagenarbeit -lange Zeit besonders
Francs in den Monaten April bis Juli des Jahres 1935, die frühen Entwürfe aus den 20er Jahren, zu deren
in der Zeit also, als Benjamin sich wieder dem Buch gesprächsweise vorgetragener Konzeption Adorno sich
über Paris zuwandte und das Expose PARIS, DIE >magnetisch hingezogen< fühlte- im Mittelpunkt des
HAUPTSTADT DES x1x. JAHRHUNDERTS schrieb. Ab Mai Interesses von Adorno, so offenbart sein Briefwechsel
1936 werden ihm monatlich 1300 Francs überwiesen; mit Benjamin doch auch, daß er an dessen großen
von Januar 1937 an erhielt Benjamin 1500 Francs (ca. Arbeiten für die Zeitschrift leidenschaftlichen kriti-
890 Euro). Mit dem November 1937 endeten die Ober- schen Anteil nahm. Dieser Anteil, der manches Mal
weisungen seines Stipendiums aus Genf, und er bekam bestimmt war von der Furcht, Benjamin könne seinen
monatlich 80 Dollar (ca. 830 Euro) direkt aus New Intentionen untreu werden, galt dem vor allem, was
York. Pollock schreibt Benjamin am 13. Oktober 1937: Adorno einmal ihre >Generallinie< nennt, die er als das
>>Eines der ersten Dinge, die mir Herr H[orkheimer] Ziel seiner Kritik bezeichnet (vgl. 5, 169). So schreibt
nach seiner Rückkehr erzählte, war eine Darstellung er am 18. März 1936 über die zweite Fassung des
Ihrer Lage und sein Wunsch, das alles geschehen solle, Kunstwerk-Aufsatzes, daß seine »volle Bejahung dem
was unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt an der Arbeit [gilt], was mir eine Durchsetzung Ihrer
nur vertreten werden könne, um Ihnen die materielle Ursprungsintentionen - der dialektischen Konstruk-
Basis für Ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu sichern. tion des Verhältnisses von Mythos und Geschichte- in
Ich brauche nicht weiter auf die Schwierigkeiten den Denkschichten der materialistischen Dialektik
einzugehen, die sich der Erfüllung dieses auch von mir scheint: der dialektischen Selbstauflösung des Mythos,
geteilten Wunsches entgegenstellen. Nach sorgfältiger die hier als Entzauberung der Kunst visiert wird<<
Überlegung haben wir uns entschlossen, Ihnen künf- (Adorno 1994, 168). Adornos Kritik an der Arbeit rich-
tighin ein von den Schwankungen des französischen tet sich gegen die nicht >durchdialektisierte< Kritik des
96 Intellektuelle Freundschaft

autonomen Kunstwerks, und er setzt hier seine Theo- Abschnitt eingeleitet, der die methodische Grundie-
rie der >>Liquidation der Kunst<< (ebd.) durch >>techni- rung des Ganzen darstellt. Ihm ging es darum, die
sche Stimmigkeit<< ein, auf seinen Schönberg-Aufsatz Dialektik von Überbau und Unterbau präzise zu be-
von 1934 verweisend: >>Im Licht der Erkenntnis, die stimmen und die Veränderungen auf >>allen Kulturge-
seine Musik realisiert, läßt über die wechselfähige Pro- bieten<< (VII, 350), die die Veränderung der gesell-
duktion von Subjekt und Objekt nach richtig und schaftlichen Produktionsbedingungen bewirkt hatten,
falsch sich urteilen. Keine Regung der Phantasie, kein zu erkennen. >>Es entsprechen diesen Anforderungen
Anspruch des Gegebenen, der nicht sein entscheidba- aber weniger Thesen über die Kunst des Proletariats
res technisches Korrelat gewonnen hätte. Indem aber nach der Machtergreifung, geschweige die der klassen-
im Umkreis technischer Stimmigkeit Subjekt und Ob- losen Gesellschaft, als Thesen über die Entwicklungs-
jekt derart konfrontiert, gerade in ihrer Verschränkung tendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produk-
der Kontrolle unterworfen sind, hat ihre Dialektik sel- tionsbedingungen<< (ebd.). Der Absatz schließt pro-
ber gleichsam aus ihrem blinden Naturstande sich grammatisch: >>Die im folgenden neu in die
gelöst und ist praktikabel geworden: die höchste Kunsttheorie eingeführten Begriffe unterscheiden sich
Strenge, nämlich die lückenlose der Technik, enthüllt von geläufigeren dadurch, daß sie für die Zwecke des
sich in letzter Instanz tatsächlich als höchste Freiheit, Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen
nämlich als die zur Verfügung des Menschen über seine sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen
Musik, die einmal mythisch begann, zur Versöhnung in der Kunstpolitik brauchbar<< (ebd.).- Dieser erste
sich sänftigte, als Gestalt ihm sich gegenübersetzte und Abschnitt wurde nicht in die französische Übersetzung
endlich ihm zugehört kraft einer Verhaltensweise, die des Erstdrucks aufgenommen. Verständlich, daß Ben-
sie in Besitz nimmt, indem sie völlig ihr zugehört<< jamin eine restituierte Fassung später in der Sowjet-
(Adorno 1970ff., Bd. 17, 202f.). Der immanenten, union zu publizieren suchte. Adorno nahm an den
technologischen Kritik des ästhetischen Scheins explizit politischen Stellen keinen Anstoß. Im Gegen-
glaubte er bei Benjamin eine Tendenz entgegengesetzt, teil; sein Brief geht gegen Ende auf die zwölfte Anmer-
die den Film als Massenkunst zu positiv sieht und den kung der zweiten Fassung ein und schreibt: >>Ich kann
technologischen Charakter der Gebrauchskunst und aber nicht schließen, ohne Ihnen zu sagen, daß die
ihre politisch progressive Wirkung auf die Massen wenigen Sätze über die Desintegration des Proletariats
überschätzt. Adorno schrieb im Frühjahr 1936 seinen als >Masse< durch die Revolution zu dem tiefsten und
Essay>> über Jazz<<- ein Gegenstück zu Benjamins Auf- mächtigsten an politischer Theorie zählen, das mir
satz-, in dem er die Motive seiner Kritik wieder auf- begegnet ist, seit ich Staat und Revolution las<< (Adorno
nahm. >>Denn wollte man, wie es oft genug geschah, 1994, 175).- Benjamin antwortete Adorno: >>Haben
die Gebrauchsfähigkeit des Jazz, seine Eignung zum Sie den herzlichsten Dank für Ihren langen und auf-
Massenartikel, als Korrektiv der bürgerlichen Verein- schlußreichen Brief vom 18ten. Er eröffnet eine Fülle
samung der autonomen Kunst, als dialektisch fortge- von Perspektiven, deren gemeinsame Erforschung zum
schritten betrachten und gar seine Gebrauchsfähigkeit Gespräch ebenso sehr einlädt, wie sie sich dem brief-
als Motiv zur Aufhebung des Dingcharakters der Mu- lichen Gedankenaustausch gegenüber spröde erweist<<
sik akzeptieren, man geriete in jene jüngste Romantik, (5, 261). Eine merkwürdige Form der Replik, aber ein
die aus ihrer Angst vorm tödlichen Charakter des Ka- Hinweis auf ein Charakteristikum Benjamins: Die
pitalismus den verzweifelten Ausweg sucht, das Ge- Scheu vor der argumentierenden Darstellung, die sei-
fürchtete selber zu bejahen als eine Art grausiger Alle- nem Denken ebenso fremd zu sein schien, wie ihm die
gorie kommender Freiheit und die Negativität zu produktive Entfaltung von Gedanken im Gespräch
heiligen- ein Heiltum, an das, beiläufig gesagt, der Jazz eigen war. Nachdem Benjamin Adornos Jazz-Aufsatz
selber glauben machen möchte. Wie immer es in einer in den Fahnen gelesen hatte, schrieb er Ende Juni an
kommenden Ordnung der Dinge mit Kunst sich ver- Adorno darüber: >>In Erwartung unserer bevorstehen-
halten mag; ob ihr Autonomie und Dinglichkeit erhal- den Begegnung will ich auf Einzelheiten Ihrer Arbeit
ten bleiben oder nicht- und die ökonomische Über- kaum eingehen. Immerhin will ich es nicht auf die
legung bringt manchen Grund dafür bei, daß auch die lange, ja nicht einmal auf die kurze Bank schieben,
richtige Gesellschaft nicht auf die Herstellung purer Ihnen zu sagen wie sehr mir der Komplex >Chockwir-
Unmittelbarkeit aus sein wird -, soviel jedenfalls ist kung< im Film durch Ihre Darstellung der Synkope im
gewiß, daß die Gebrauchsfähigkeit des Jazz die Ent- Jazz erhellt wurde. Ganz allgemein scheint mir, daß
fremdung nicht aufhebt, sondern verstärkt<< (Adorno unsere Untersuchungen wie zwei Scheinwerfer, die von
1970 ff., Bd. 17, 77). Nun war das auch nicht Benjamins entgegengesetzten Seiten auf ein Objekt gerichtet wer-
Ansicht der Dinge; er hatte seinen Aufsatz mit einem den, Umriß und Dimension der gegenwärtigen Kunst
Das Institut für Sozialforschung 97

in durchaus neuer und sehr viel folgenreicherer Weise erscheint am ehesten als Niederschlag einer alle Über-
erkennbar machen als das bisher erzielt wurde<< (5, legungen durchdringenden, unveräußerlichen Erfah-
323 f.). Die Pariser Gespräche im Oktober, die Adernos rung. Sie besagt, daß die methodische Strenge, in der
Jazz-Aufsatz galten und sehr intensiv gewesen sein die Wissenschaft ihre Ehre sucht, ihren Namen nur
müssen, hatten die Niederschrift der >>Oxforder Nach- dann verdient, wenn sie nicht nur das im abgeschie-
träge<< (Adorno 1970ff., Bd. 17, 100--108) zum Resul- denen Raume des Laboratoriums sondern auch das im
tat. freien der Geschichte bewerkstelligte Experiment in
ihren Horizont einbezieht<< (III, 518f.). Um dieses >Ex-
periment< ging es Benjamin in DAS PARIS DES SECOND
,,Das Paris des Second Empire EMPIRE BEI BAUDELAI RE.- Adornos Kritik des Manu-
bei Baudelairecc skripts, die mit der Bitte schließt, >>ein Baudelairema-
nuskript von völliger Durchschlagskraft herzustellen<<
Der mit Horkheimer verabredete Aufsatz über Baude- (Adorno 1994, 371), ist systematisch orientiert: >>Viel-
laire spielt in der Korrespondenz des Jahres 1938 eine mehr sehe ich die Momente, in denen der Text hinter
gewichtige Rolle. Benjamin sah sich veranlaßt, die Er- sein eigenes Apriori zurückfällt, in enger Beziehung
wartungen sehr hoch zu spannen. Für die Publikation mit seinem Verhältnis zum dialektischen Materialis-
in der Zeitschrift gedachte er, vorab den zweiten Teil mus- und gerade an dieser Stelle spreche ich nicht nur
eines dreiteilig geplanten Buches mit dem Titel CHAR- für mich sondern ebenso für Max [Horkheimer], mit
LES BAUDELAIRE. EIN LYRIKER IM ZEITALTER DES dem ich diese Frage aufs eingehendste durchgespro-
HOCHKAPITALISMUS ZU schreiben. Am 16. April1938 chen habe. Lassen Sie hier so simpel und hegelisch
nennt er Horkheimer gegenüber die Tendenz des mich ausdrücken wie nur möglich. Täusche ich mich
>>Baudelaire, sich zu einem Miniaturmodell [der Pas- nicht sehr, so gebricht es dieser Dialektik an einem:
sagen] zu entwickeln<< (6, 64). Wenig später spricht er der Vermittlung<< (366). Dazu gehört, daß Adorno die
abschließend in dem Brief über seine Intention: >>Wenn >>verpflichtende Aussage<< (367) vermißt. Für >>die Ab-
ich in einem Bilde sagen darf, was ich vorhabe, so ist neigung gegen jene besondere Art des Konkreten und
es, Baudetaire zu zeigen, wie er ins neunzehnte Jahr- dessen behavioristische Züge<< (ebd.) gibt Adorno als
hundert eingebettet liegt. Der Abdruck, den er darin >>theoretischen Grund<< an, >>daß [er] es für methodisch
hinterlassen hat, muß so klar und so unberührt her- unglücklich [halte], einzelne sinnfällige Züge aus dem
vortreten, wie der eines Steins, den man, nachdem er Bereich des überhaus >materialistisch< zu wenden,
jahrzehntelang an seinem Platz geruht hat, eines Tages indem man sie zu benachbarten Zügen des Unterbaus
von der Stelle wälzt<< (67). Der aufmerksame Leser unvermittelt und wohl gar kausal in Beziehung setzt.
hätte dieser Metapher entnehmen können, daß Bau- Die materialistische Determination kultureller Cha-
delaire und seine Dichtung nicht der alleinige und raktere ist möglich nur vermittelt durch den Gesamt-
vielleicht nicht einmal der primäre Gegenstand des prozeß<< (ebd.). - Diese Vermittlung aber setzt den
Aufsatzes sein werden; daß vielmehr eine Konstruktion kapitalistischen Gesamtprozeß als konstituiert voraus;
intendiert war, die der entscheidenden historischen Benjamins Darstellung jedoch ist auf die historische
Erfahrung des 19. Jh.s Rechnung zu tragen hätte. Ben- Epoche in Frankreich und besonders in Paris gerichtet,
jamin hat das in dem Aufsatz über EIN DEUTSCHES in der der Kapitalismus sich noch nicht vollständig
INSTITUT FREIER FORSCHUNG, den er auf Wunsch durchgesetzt hatte, die reelle Subsumtion der Arbeit
Horkheimers für die Zeitschrift Maß und Wert Anfang noch nicht abgeschlossen war, der Sieger noch nicht
1938 geschrieben hatte, ausgedrückt. Er schreibt über feststand. Die zyklische Form der Benjaminsehen Kon-
die Gruppe um das Institut und die Zeitschrift für So- struktion - sie beginnt mit dem Typ des Verschwörers
zialforschung: >>Der Gedanke, in dem sich diese Grup- und endet mit dem Verschwörerpar excellence Augu-
pierung vollwgen hatte, ist, >daß die Lehre von der ste Blanqui - versucht dasjenige in der Geschichte zu
Gesellschaft sich heute nur im engsten Zusammen- erfassen, das nicht abgeschlossen ist. Die Modelle, die
hange mit einer Reihe von Disziplinen, vor allem mit Benjamin um den Heros stellt, sind Figuren des Un-
Nationalökonomie, Psychologie, Geschichte und Phi- terliegens. >>Die Moderne erweist sich als sein Verhäng-
losophie entwickeln kann<. Auf der andern Seite ist den nis. Der Heros ist in ihr nicht vorgesehen. Sie hat keine
genannten Forschern das Bestreben gemeinsam, die Verwendung für diesen Typ<< (I, 599). Denn er ist der
Arbeit ihrer jeweiligen Disziplin an dem Stande der verkörperte produktive überschuß, die Objektivierung
gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer Theorie aus- menschlicher und geistiger Freiheit, den die Produk-
zurichten. Was hier in Frage steht, läßt sich schwerlich tionsverhältnisse nicht zu absorbieren vermögen. Die
als Lehrmeinung, gewiß nicht als System darlegen. Es Revolte ist deren letzter Ausdruck. - Adorno nennt
98 Intellektuelle Freundschaft

weiterhin in seinem kritischen Brief die >>staunende Adornos »Wagnercc


Darstellung der bloßen Faktizität<< (Adorno 1994, 368).
- Dieses Mallegt Benjamin seine Zurückhaltung ab Den Versuch über Wagner schrieb Adorno zwischen
und holt zu einer deutlichen Erwiderung aus. »Da ich Herbst 1937 und April1938. Aus dem Buch wurden
unserer Gespräche in San Remo gedenke, möchte ich einige Kapitel unter dem Titel »Fragmente über Wag-
auf die Stelle zu sprechen kommen, an welcher Sie ner<< in demselben Heft der Zeitschrift veröffentlicht,
Ihrerseits das tun. Wenn ich mich dort weigerte, im das Benjamins zweiten Baudelaire-Aufsatz enthielt.
Namen eigener produktiver Interessen mir eine esote- Beide Arbeiten waren Gegenstand der Gespräche in
rische Gedankenentwicklung zu eigen zu machen und San Remo, die Gretel Adorno, Adorno und Benjamin
insoweit über die Interessen des dialektischen Mate- Ende 1937I Anfang 1938 führten. Benjamins Brief vom
rialismus und des Instituts hinweg zur Tagesordnung 19. Juni 1938 an Adorno über den Wagner setzt diese
überzugehen, so war da zuletzt nicht allein Solidarität Gespräche fort: »Kurz, es gibt für mich keinen Zweifel,
mit dem Institut noch bloße Treue zum dialektischen daß die einzelnen Elemente der Wagnerkritik aus einer
Materialismus im Spiel, sondern Solidarität mit den Gesamtkonzeption stammen, die ihre überzeugende
Erfahrungen, die wir alle in den letzten fünfzehn Jah- Kraft der authentischen geschichtlichen Signatur Ihrer
ren gemacht haben. Es handelt sich also um eigenste Reflexion verdankt.
produktive Interessen von mir auch hier; ich will nicht Und dennoch ist die Frage, die gelegentlich eines
leugnen, daß sie den ursprünglichen gelegentlich Ge- Terrassengesprächs in Ospedaletti ihr Geisterdasein
walt anzutun versuchen können. Es liegt ein Antago- zwischen uns etablierte, von Ihnen nicht zu ewiger
nismus vor, dem enthoben zu sein ich nicht einmal im Ruhe bestattet worden. Erlauben Sie mir, fragend mei-
Traum wünschen könnte. Seine Bewältigung macht nerseits das Gedächtnis dieser Frage heraufzurufen. Ist
das Problem der Arbeit aus, und dieses ist eins ihrer es Ihren frühesten Erfahrungen mit Wagner gegeben,
Konstruktion. Ich meine, daß die Spekulation ihren sich ganz in Ihrer Einsicht in das Werk zuhause zu
notwendig kühnen Flug nur dann mit einiger Aussicht fühlen? Ich möchte von einem Rasenplatze sprechen
auf Gelingen antritt, wenn sie, statt die wächsernen und jemanden vorstellen, der, durch die Spiele der
Schwingen der Esoterik anzulegen ihre Kraftquelle frühen Kindheit mit ihm vertraut, unvermutet und in
allein in der Konstruktion sucht. Die Konstruktion dem Augenblick auf ihm sich wiederfände, wo er der
bedingte es, daß der zweite Teil des Buches wesentlich Schauplatz eines Pistolenduells geworden ist, zu dem
aus philologischer Materie gebildet ist<< (4, 184). Und er sich von einem Gegner gefordert sähe. Spannungen,
Benjamin fährt fort: »Wenn Sie von einer >staunenden wie sie solcher Sachlage eigen wären, scheinen mir im
Darstellung der Faktizität< sprechen, so charakterisie- >Wagner< zu überdauern. Sollten nicht eben sie es sein,
ren Sie die echt philologische Haltung. [... ] Die Philo- die das Gelingen der >Rettung<- um sie hat sich das
logie ist diejenige an den Einzelheiten vorrückende gedachte Gespräch bewegt- in Frage stellen? [... ] Ent-
Beaugenscheinigung eines Textes, die den Leser ma- schließe ich mich zu einer kurzen Formulierung, so
gisch an ihn fixiert. [... ] Der Schein der geschlossnen sage ich: die Grundkonzeption des Wagner, die weiß
Faktizität, der an der philologischen Untersuchung Gott nicht von schlechten Eltern ist, ist eine polemi-
haftet und den Forscher in den Bann schlägt, schwin- sche. Ich würde mich nicht darüber wundern, wenn
det in dem Grade, in dem der Gegenstand in der hi- das die einzige wäre, die uns ansteht und uns, wie Sie
storischen Perspektive konstruiert wird. Die Fluchtli- es tun, aus dem Vollen zu schöpfen erlaubt. In dieser
nien dieser Konstruktion laufen in unserer eignen Konzeption scheinen mir auch, und gerade, Ihre ener-
historischen Erfahrung zusammen<< ( 184 f.). An einer gischen musiktechnischen Analysen ihren Ort zu ha-
anderen Stelle heißt es: »Die materialistische Ge- ben. Eine polemische Befassung mit Wagner schließt
schichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die in keiner Weise die Durchleuchtung der progressiven
Gegenwart in Verlegenheit zu bringen<< (V, 588). Ben- Elemente seines Werkes, die Sie vornehmen, aus, zumal
jamin schrieb einen neuen Text- ÜBER EINIGE Mo- wenn diese sich von den regressiven sowenig wie die
TIVE BEI BAUDELAIRE -,der» (d) ie mangelnde theore- Schafe von den Böcken scheiden lassen.
tische Transparenz<< (4, 188) zu beseitigen unternahm. Wohl aber- und hier, lieber Teddie, dürften Sie mich
Er wurde von Adorno enthusiastisch begrüßt: »Ich mit Leib und Seele bei Ihrem Lieblings- und Indianer-
glaube, es ist kaum eine Übertreibung, diese Arbeit als spiel, dem Ausgraben des Kriegsbeils, überraschen -
das Vollkommenste zu bezeichnen, was Sie seit dem erweist sich die geschichtsphilosophische Perspektive
Barockbuch und dem Kraus publiziert haben<< (415). der Rettung, wie mir scheinen will, mit der kritischen
der Pro- und Regressionen als unvereinbar. Genauer
- als vereinbar nur in bestimmten philosophischen
Das Institut für Sozialforschung 99

Zusammenhängen, über die wir uns gelegentlich sub ter Benjamin zum Gedächtnis. -Benjamin nannte den
vocem >Fortschritt< unterhalten haben. [... ] Sie sind Aufsatz >>das Beste, was Sie jemals geschrieben haben«
gewiß nicht willens, mir zu widersprechen wenn ich (4, 447) und an späterer Stelle seines Briefes aus
sage, daß die Rettung als philosophische Tendenz eine Lourdes, geschrieben am Tag seines 48. Geburtstags,
schriftstellerische Form bedingt, die- um es unbehol- sagt er: >>Die beiden letzten Seiten Ihres Essays [... ]
fen zu sagen (weil ich es besser nicht formulieren waren mir ein Geburtstagstisch, auf dem die Stelle
kann)- mit der musikalischen besondere Verwandt- über das >nicht disziplinierte Glück< das Lebenslicht
schaft hat. Die Rettung ist eine zyklische Form, die darstellt. Übrigens hat die Arbeit auch sonst etwas vom
polemische eine progressive. [... ] Das Bestimmende in Gabentisch; die terminologische Marke haftet so wenig
der Rettung- nicht wahr?- ist niemals ein Progressi- mehr an den Gedanken wie die Preisauszeichnung an
ves; es kann dem Regressiven so ähnlich sehen wie das einem Geschenk« (451 f.). >>Im Folgenden eine Reihe
Ziel, das bei Kar! Kraus Ursprung heißt« (4, 121-123). von Einzelbemerkungen. Ihnen will ich vorherschik-
-Auch hier springt ein Zitat dem Verständnis der >>Ret- ken, daß mir das Entscheidende des Essays in dem
tung« bei: >>Wovor werden die Phänomene gerettet? ungemein sicheren, schlagenden und überraschenden
Nicht nur, und nicht sowohl vor dem Verruf und der Aufriß der historischen Perspektive liegt: wie der Fun-
Mißachtung in die sie geraten sind als vor der Kata- ken, der zwischen Mach und Jens Peter Jacobsen über-
strophe wie eine bestimmte Art ihrer Überlieferung, springt, der geschichtlichen Landschaft die Plastizität
ihre >Würdigung als Erbe< sie sehr oft darstellt.- Sie gibt, die der Landschaft im schlichten Sinne ein Blitz
werden durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen überm nächtlichen Himmel leiht« (447). Kritisch be-
gerettet« (V, 591).-Adorno reagierte mit Zustimmung leuchtet Benjamin die Darstellung Hofmannsthals, bei
auf Benjamins Kritik und schrieb am 2. August 1938: der >>manches im Hintergrund« bleibe (ebd.): >>Ich
>>Was Ihre Kritik anlangt, so habe ich mich über das glaube Hofmannsthai hat zu seinen Gaben zeitlebens
Anerkennende darin ungemein gefreut. Was das Ne- so gestanden wie Christus zu seiner Herrschaft gestan-
gative anlangt, so zwingt mich zu einigem Lakonismus den hätte, wenn er sie seiner Verhandlung mit Satan
die Tatsache, daß ich nicht anders kann, als Ihnen zu danken gehabt hätte. Die ungewöhnliche Versatili-
Recht zu geben. Der Grund muß freilich von dem von tät geht bei ihm, wie mir scheint, mit dem Bewußtsein
Ihnen bezeichneten um ein Leises verschieden sein. zusammen, Verrat an dem Besten in sich geübt zu ha-
Ich glaube, es liegt einfach daran, daß ich jene Art von ben. Darum konnte ihn keinerlei Vertrautheit mit dem
Erfahrungen, die Sie und übrigens ganz analog auch Gelichter schrecken.
Max an der Arbeit vermißt haben, nicht machte. Wag- Demungeachtet geht es meiner Überzeugung nach
ner hat nicht zu den Gestirnen meiner Kindheit gehört, nicht an, Carossa einer >Schule<, deren Haupt Hof-
und ich vermöchte es auch heute nicht, ihm die Aura mannsthai gewesen sei, zurechnend, von der Gleich-
vollkommener zu beschwören, als ich es an einigen schaltung der deutschen Schriftsteller im Zeichen die-
Stellen [... ] versucht habe. Als mildernden Umstand ser Schule, das heißt Hofmannsthals selbst zu reden.
möchte ich immerhin geltend machen, daß ich die Hofmannsthai ist 1929 gestorben. Er hat ein non liquet
Motive der Rettung Wagners keineswegs umstandslos in der Strafsache, die Sie gegen ihn vertreten, wenn es
auf seine progressiven Züge bezog, sondern überall das ihm sonst nicht gesichert wäre, mit seinem Tod er-
Ineins von Progressiv und Regressiv akzentuiert habe. kauft. Ich würde meinen, Sie sollten diese Stelle noch-
Ich glaube, daß, wenn Sie sich das letzte Kapitel genau mals überdenken; ich bin nahe daran, Sie darum zu
ansehen, Sie mir das konzedieren mögen. Es ist viel- bitten« (449). Adorno folgte dieser Bitte, und milderte
leicht auch in Ihrem Sinn ein Index dessen, daß die die Stelle ab.- Und noch einmal kommt Benjamin auf
Arbeit mehr von der zyklischen Form hat, als Sie ihr die >>Rettung« zurück. >>Über George dürfte kein Text
zubilligen. Die Motive des letzten Kapitels sind genau bestehen, der sich, selbst im Abstand, neben dem Ihren
auf die des ersten eingepaßt« (Adorno 1994, 344f.). darf sehen lassen. Ich habe da keinerlei Vorbehalt; ich
scheue mich nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich aufs
glücklichste überrascht wurde. Wenn es heute überaus
Adornos nGeorge und Hofmannsthal. schwer erscheinen muß, anders von George zu spre-
Zum Briefwechsel: 1891-1906« chen als von dem Dichter, der mit dem >Stern des Bun-
des< das choreographische Arrangement des Veitstan-
Dieser Aufsatz war der letzte Adornos, den Benjamin zes vorgezeichnet hat, der über den geschändeten
las. Er wurde 1942 mit Benjamins Thesen ÜBER DEN deutschen Boden dahingeht - so war das von Ihnen
BEGRIFF DER GESCHICHTE vom Institut in einem mi- gewiß nicht zu gewärtigen. Und diese, unzeitgemäße
meographierten Band herausgegeben, sein Titel: Wal- und undankbare Aufgabe: eine >Rettung< Georges, Sie
100 Intellektuelle Freundschaft

haben sie so schlüssig wie es nur sein kann, so unauf- Genf, dann in Paris, London und schließlich New York,
dringlich, wie es sein muß, bewältigt. [... ] Mit Ihrer die Möglichkeit, die Zeitschrift in deutscher Sprache
Arbeit ist vorstellbar geworden, was bisher unvorstell- in dem französischen Verlag Felix Alcan erscheinen zu
bar, und womit das Nachleben Georges beginnen lassen- dies alles waren Umstände, die die Vertreibung
würde: eine Anthologie seiner Verse. Gewisse stehen aus Deutschland milderten und die Fortsetzung der
in Ihrem Text besser als am Fundorte<< (450). Arbeit ermöglichten. Dennoch hatte eines sich grund-
legend verändert. Die Unabhängigkeit des Forschungs-
instituts an einer Universität war in die institutionelle
Max Horkheimer Unabhängigkeitsansphrase umgeschlagen. Horkhei-
mer suchte darum die Anhindung an eine honorable
Zwei Aufsätze scheint Horkheimer noch vor der na- und einflußreiche Institution, die Zeitschrift und In-
tionalsozialistischen Machtergreifung bei Benjamin in stitut ein Dach bieten konnte. In Paris war das die
Auftrag gegeben zu haben, den über Eduard Fuchs, mit Ecole Normale Superieure in der Rue d'Ulm und in
dem Horkheimer befreundet war, und den ZuM GE- New York die Columbia University. Die damit verbun-
GENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES dene Hoffnung, den alten Frankfurter Einfluß auf das
FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTELLERS. Benjamin schrieb wissenschaftliche Leben wiederzuerlangen, die Diskus-
letzteren zuerst- auf Ibiza. Er wurde mit einer in Paris sion mit französischen und amerikanischen Gelehrten
geschriebenen Ergänzung über Andre Malraux' Spa- dem Institut nutzbar zu machen, scheint aber nicht
nienroman I!Espoir im Frühjahr 1934 im ersten Heft nachhaltig erfüllt worden zu sein - jedenfalls haben
des dritten Jahrgangs der ZfS veröffentlicht. Benjamin die Arbeiten des Instituts und die Aufsätze der Zeit-
geht darin von Apollinaires Le Poete assassineaus und schrift bis in die 40er Jahre kein langanhaltendes Echo
schreibt an das Zitat >>Man wird die Dichter ausrotten<< hervorgerufen. Diese Erfahrung dürfte Horkheimer,
anschließend: >>Es ist diesen Worten nicht anzusehen, der vergeblich eine französische übersetzung seiner
daß sie vor zwanzig Jahren geschrieben sind. Nicht daß Essais materialistes durch Vermittlung Benjamins bei
diese beiden Jahrzehnte spurlos an ihnen vorüberge- Gallimard zu veröffentlichen suchte, dazu bewogen
gangen wären. Ihr Werk jedoch hat eben darin bestan- haben, die Redaktionspolitik dahingehend zu modifi-
den, aus einer Laune, aus einer übermütigen Impro- zieren, daß politisch Anstößiges - eine deutliche ge-
visation die Wahrheit zu entwickeln, die in ihr angelegt sellschaftskritische Sprache- vermieden werden sollte.
war. Die Landschaft, die mit diesen Worten blitzartig Diese taktischen Rücksichten, wie sie im Briefwechsel
erhellt wurde - damals noch eine Ferne - haben wir zwischen Adorno und Horkheimer immer wieder auf-
inzwischen kennengelernt. Es ist die gesellschaftliche tauchen, galten den politischen Implikationen der
Verfassung des Imperialismus, in der die Position der kritischen Theorie, die nicht direkt benannt werden
Intellektuellen immer schwieriger geworden ist. Die sollten. In dem Nachhinein, das immer klüger ist, stellt
Auslese, die unter ihnen von den Herrschenden vor- sich gleichwohl die Frage: Ist die Klugheit der Anpas-
genommen wird, hat Formen angenommen, die an sung immer klug? Stehen die gedachten Vorteile in
Unerbittlichkeit dem Vorgang, den Apollinaire be- einem rationalen Verhältnis zu den Nachteilen? Es will
schreibt, kaum etwas nachgeben. Was seitdem an Ver- so scheinen, als ob die Vorsicht, der Wunsch, wissen-
suchen unternommen wurde, die Funktion des Intel- schaftlich respektabel zu erscheinen - als ob die un-
lektuellen in der Gesellschaft zu bestimmen, legt Zeug- verhüllte Sprache der politischen Implikationen der
nis von der Krise ab, in der er lebt. Nicht allzuviele Theorie selber unvereinbar mit objektiver Erkenntnis
haben die Entschiedenheit, den Scharfblick besessen sei! -, zugleich die Verachtung der Vertreter der Nor-
zu erkennen, daß die Bereinigung, wenn schon nicht malwissenschaft auf sich zöge, die es nie an dem Rie-
seiner wirtschaftlichen, so gewiß seiner moralischen cher fehlen lassen für das, was einen Hintersinn hat.
Situation die eingreifendste Veränderung der Gesell- -Der französische Politologe und Soziologie Raymond
schaft zur Voraussetzung hat<< (II, 777f.). Man ginge Aron hatte im Frühjahr 1936 unter anderen die Auf-
in die Irre, wenn man in diesen Sätzen bloß eine höf- gabe übernommen, die Redaktion >>auf einzelne Stellen
liche Verbeugung vor dem Charakter der ZfS sehen in den Aufsätzen [hinzuweisen], die in Frankreich un-
wollte. Die Verbindung von Krisis der Kunst und ge- gewohnt erscheinen könnten<< (Horkheimer 1988 ff.,
sellschaftlicher Verfassung gehörte längst zum Bestand Bd. 15, 491), und er war derjenige, der Benjamins
Benjaminscher Erkenntnis. Die >Position der Intellek- L'CEUVRE D' ART A L'EPOQUE DE SA REPRODUCTION
tuellen< wurde in der Folge auch für diejenigen prekä- MEcANISEE las und bei Horkheimer gegen die redak-
rer, die nicht Einzelne waren. Die Rettung des Insti- tionellen Eingriffe in den Text protestierte (vgl. 479).
tutsvermögens, die Errichtung von Zweigstellen in Benjamins Arbeit, die Horkheimer >>eine grundsätzli-
Das Institut für Sozialforschung 101

ehe Äußerung<< (489) nannte, sollte sehr rasch erschei- nEduard Fuchs, der Sammler
nen, so daß keine Zeit für eine Umarbeitung der von und der Historiker<<
der Redaktion gestrichenen Passagen war. Der ent-
scheidende redaktionelle Eingriff bestand darin, das In der Diskussion des Aufsatzes, dessen lange Abfas-
-für das Verständnis des ganzen Textes wichtigste- er- sungszeit Horkheimer mit großer Geduld hinnahm,
ste Kapitel herauszunehmen. Horkheimers Motiv war: tritt der Herausgeber der Zeitschrift hinter den leiden-
>>Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, schaftlichen Gelehrten zurück. Zum Absatz II, 474 f.
um die Zeitschrift als wissenschaftliches Organ davor notierte Horkheimer in seinem Brief vom 16. März
zu bewahren, in politische Pressediskussionen hinein- 1937 an Benjamin: »Ich kann diese Seite nicht über-
gezogen zu werden. Dies bedeutete eine ernsthafte blättern, ohne Ihnen zu sagen, daß ich einige Sätze
Bedrohung unserer Arbeit in dieser und vielleicht noch darin zu den wertvollsten der ganzen Arbeit zähle. Die
in mancher anderen Richtung<< (488). Hinzu kam eine Formulierung, daß der Positivismus in der Entwick-
Gereiztheit, die hervorgerufen war von dem Einblick, lung der Technik nur die Fortschritte der Naturwis-
den Aron in die redaktionellen Gepflogenheiten erhal- senschaft, nicht die Rückschritte der Gesellschaft er-
ten hatte. Horkheimer schrieb Benjamin darüber: »Die kannt hat, erhellt weite Gebiete der Ideologie des
Beurteilung der allgemeinen Prinzipien unserer Re- neunzehnten Jahrhunderts. Sie ist mir umso wertvol-
daktionsführung möchte ich mir jedoch auch weiter- ler, als in meinem jetzt im Satz befindlichen Positivis-
hin vorbehalten. Jedenfalls tut es mir aufrichtig leid, mus-Aufsatz diese Seite unbehandelt blieb<< (Horkhei-
daß, wenn auch ohne Ihren Willen, eine Situation ent- mer 1988 ff., Bd. 16, 82).- Im dritten Kapitel des Auf-
standen ist, in der ich mich gegen Angriffe Herrn satzes über Fuchs hat Benjamin Sätze niedergelegt, die
Arons, die er in Ihrem Interesse führen zu sollen abermals die Konzentration bezeugen, mit der er auch
glaubt, verteidigen muß.[ ... ] Nun bin ich gezwungen, in wenig geliebten Auftragsarbeiten die Reflexionen
außer Ihnen auch noch Herrn Aron über diese Dinge weitertreibt, welche ihm die nächsten waren. Ihm wa-
Rechenschaft zu geben. Den Verlauf der Unannehm- ren alle Werke, wenn auch nicht in allen Schichten,
lichkeiten, die aus dieser jetzt hervorgerufenen Span- Hauptwerke. »Es ist niemals ein Dokument der Kultur,
nung entstehen, vermag ich noch nicht zu überschauen. ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Dem
Wenn Sie diese ganze Sache überdenken, werden Sie Grundsätzlichen dieses Tatbestandes ist noch keine
sich wahrscheinlich dem Reiz einer Konstellation, in Kulturgeschichte gerecht geworden, und sie kann das
welcher politisch exponierte Sätze aus Ihrer Feder auch schwerlich hoffen.
durch das mutige Auftreten von Herrn Aron gegen Dennoch liegt nicht hier das Entscheidende. Ist der
unsere Rückständigkeit Verteidigung erfahren, nicht Begriff der Kultur für den historischen Materialismus
entziehen können<< (491 f.). Benjamin antwortete: ein problematischer, so ist ihr Zerfall in Güter, die der
»Ihre Hinweise sind für mich natürlich maßgebend. Menschheit ein Objekt des Besitzes würden, ihm eine
Ich bin mir bewußt, daß die Sachlage, auf Grund deren unvollziehbare Vorstellung. Das Werk der Vergangen-
Sie sie geben, eine sehr komplexe ist. Und Sie wissen, heit ist ihm nicht abgeschlossen. Keiner Epoche sieht
daß es mir niemals an Einsicht in die besondere Be- er es dinghaft, handlich in den Schoß fallen, und an
dingtheit der Arbeit gefehlt hat, die der Zeitschrift keinem Teil. Als ein Inbegriff von Gebilden, die unab-
obliegt<< (5, 263).- Es war, wie man so sagt, ein Kom- hängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in
munikationsproblem. Benjamin durfte davon ausge- dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie
hen, daß das erste Kapitel, dessen Schluß er nach einer überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der
früheren Diskussion mit Horkheimer schon geändert Kultur ihm einen fetischistischen Zug. Sie erscheint
hatte, wenigstens diese Klippe passiert hätte. Daß Hans verdinglicht. Ihre Geschichte wäre nichts als der Bo-
Klaus Brill, der Sekretär der Pariser Zweigstelle des densatz, den die durch keinerlei echte, d. i. politische
Instituts, bei den Streichungen und Änderungen nicht Erfahrung im Bewußtsein der Menschen aufgestöber-
eigenmächtig verfuhr, sondern auf Weisung Horkhei- ten Denkwürdigkeiten gebildet haben<< (II, 477). Hork-
mers, konnte Benjamin nicht wissen. Das übliche Ver- heimer merkt dazu an: »Über die Frage, inwiefern das
fahren, dem alle Aufsätze, die in der ZfS erscheinen Werk der Vergangenheit abgeschlossen ist, habe ich seit
sollten, unterworfen waren, auch die Horkheimers, langem nachgedacht. Ihre Formulierung mag ruhig so
nämlich das der mündlichen und brieflichen Diskus- stehen bleiben, wie sie ist. Persönlich mache ich das
sion von politisch anstößigen Stellen und deren Erset- Bedenken geltend, daß es sich auch hier um ein nur
zung oder Fortfall, hat im Fall des Benjaminsehen dialektisch zu fassendes Verhältnis handelt. Die Fest-
Aufsatzes nicht stattgehabt. stellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn
die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist.
102 Intellektuelle Freundschaft

Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlos- machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Ge-
sen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. Letzten schichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so
Endes ist Ihre Aussage theologisch. Nimmt man die wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen
Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das zu schreiben versuchen dürfen<< (V, 589).- Benjamin
Jüngste Gericht glauben. Dafür ist mein Denken je- war der terminologischen Sprache der Philosophie
doch zu sehr materialistisch verseucht. Vielleicht be- nicht gewogen. In einer frühen Notiz sagt er: >>Begriffe
steht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein lassen sich überhaupt nicht denken, sondern nur Ur-
Unterschied zwischen dem Positiven und Negativen, teile. D.h. Urteile sind Denkgebilde<< (VI, 43). Gegen-
so daß das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der über der vorherrschenden Tendenz der Philosophie
Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtig- sich in Nominaldefinitionen zu ergehen, verweist er
keit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur auf ein realistisches Moment im Denken: die Realde-
Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Ver- finition. Nicht ohne Zustimmung zieht er in DER SuR-
gänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst im REALISMUS aus Andre Bretons Introduction au Discours
individuellen Dasein, in welchem nicht das Glück, sur le peu de Realite heran, daß der >>philosophische
sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird. Realismus des Mittelalters der poetischen Erfahrung
Das Gute und das Schlechte verhalten sich nicht in zugrunde liegt. Dieser Realismus aber - der Glaube
gleicher Weise zur Zeit. Auch für diese Kategorien ist also an eine wirkliche Sonderexistenz der Begriffe, sei
die diskursive, dem Inhalt der Begriffe gegenüber es außerhalb der Dinge, sei es innerhalb ihrer - hat
gleichgültige Logik daher unzulänglich. - Verzeihen immer sehr schnell den Übergang aus dem logischen
Sie diese Abschweifung. Ich wollte keine Änderung Begriffsreich ins magische Wortreich gefunden<< (II,
vorschlagen, sondern Ihnen nur meine Assoziation 302). Zu diesem Magischen der Sprache- ebenfalls
mitteilen<< (Horkheimer 1988 ff., Bd. 16, 82 f.). Benja- eine alte Konzeption Benjamins - ist die Kritik der
min nimmt in seiner Antwort vom 28. März den Faden Terminologie die Kehrseite. Vorsichtig fragend schreibt
auf und schreibt: »Für Ihre ausführlichen Bemerkun- er Horkheimer zu dessen Aufsatz über Theodor Haek-
gen zum Text danke ich Ihnen besonders. Sehr bedeut- kers Der Christ und die Geschichte: >>Auf andere Weise
sam ist für mich Ihr Exkurs über das abgeschlossene spielt Ihr Aufsatz in das Gespräch hinein, das sich ge-
oder aber offene Werk der Vergangenheit. Ich glaube stern, bei unserer ersten Bekanntschaft, zwischen
ihn durchaus zu verstehen, und irre ich mich nicht, so [Pranz] Neumann und mir entspann. Neumann sprach
kommuniziert Ihr Gedanke mit einer Überlegung, die von einer gegenwärtig unter der Generation amerika-
mich öfter beschäftigt hat. Mir ist immer die Frage nischer Juristen verbreiteten Parole, in der Rechtswis-
wichtig gewesen, wie die merkwürdige Sprachfigur zu senschaft so sehr wie möglich die Terminologie- nicht
verstehen sei: einen Krieg, einen Prozeß verlieren. Der die überkommene allein sondern jedwede wissen-
Krieg, der Prozeß sind ja doch nicht der Einsatz son- schaftliche - zu vermeiden, um sich ganz und gar an
dern der Akt der Entscheidung über denselben. Ich die Sprache des Alltags anzuschließen. Daß das Rechts-
habe mir das zuletzt so zurechtgelegt: wer den Krieg, wesen dergestalt für jede beliebige Demagogie mobi-
den Prozeß verliert, für den ist das in dieser Auseinan- lisiert zu werden droht, liegt auf der Hand. Trotzdem
dersetzung umfaßte Geschehen wirklich abgeschlossen scheint mir eine Tendenz vorzuliegen, die in andern
und somit seiner Praxis verloren; für den Partner, der Bereichen nicht unter allen Umständen so zweischnei-
gewonnen hat, ist das nicht der Fall. Der Sieg trägt dig sein muß wie im juristischen. Ich denke besonders
seine Früchte ganz anders als die Niederlage die Folgen an das philosophische und frage mich (das wurde auch
einheimst. Das führt auf das genaue Gegenteil des Ib- bei Wiesengrunds Hiersein verhandelt), wieweit der
senschen Wortes: >Glück wird aus Verlust geboren,/ >Abbau der philosophischen Terminologie< ein Neben-
Ewig ist nur, was verloren<<< (5, 486f.). In den Passa- effekt des dialektisch-materialistischen Denkens ist.
genpapieren kommentiert Benjamin den Auszug aus Die materialistische Dialektik scheint mir unter an-
Horkheimers Brief deutlicher: >>Das Korrektiv dieser derem dadurch von den Schullehren abzuweichen, daß
Gedankengänge liegt in der Überlegung, daß die Ge- sie von Fall zu Fall neue Begriffsbildungen verlangt;
schichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht weiterhin aber dadurch, daß sie solche verlangt, die
minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wis- tiefer in den Sprachschatz eingebettet sind als die Neo-
senschaft >festgestellt< hat, kann das Eingedenken mo- logismen der Fachsprache. Sie gibt dem Denken damit
difizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlos- eine gewisse Schlagfertigkeit und das Bewußtsein da-
sene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das von verleiht ihm eine Ruhe und Überlegenheit, aus der
Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlosse- es sich nicht leicht provozieren läßt. Die materialisti-
nen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken sche Dialektik, so will ich sagen, könnte auf eine ge-
Das Institut für Sozialforschung 103

wisse Frist sehr wohl den Gewinn eines Vorgehens zu sehen, die Sie kennzeichnen: daß auf lange maß-
haben, das seinerseits von der Taktik bedingt sein mag<< geblich für die Bergung und Oberlieferung der Wis-
(5, 450 f.). Dem hielt Horkheimer entgegen: >>Mit Ihren senschaft und der Kunst kleine Gruppen sein werden.
Bemerkungen über den Abbau der Terminologie tref- Es ist in der Tat nicht an der Zeit, das was wir, wohl
fen Sie gewiß ein wichtiges Problem. Es scheint mir nicht ganz mit Unrecht, in Händen zu halten glauben,
jedoch nicht so sehr darauf anzukommen, daß die in Kiosken zur Schau zu stellen; vielmehr scheint es an
philosophische Fachsprache an sich abgebaut wird, als der Zeit, an seine bombensichere Unterbringung zu
darauf, daß entscheidende Formulierungen nicht in denken. Vielleicht liegt die Dialektik der Sache darin:
positiven Hinweisen auf schulmäßige Begriffsbildun- Der nichts weniger als glatt gefügten Wahrheit ein Ge-
gen bestehen. Sie werden mit mir darin übereinstim- wahrsam zu geben, das glatt gefügt ist wie eine Stahl-
men, daß die Beziehung zu geschichtlichen Tendenzen, kassette<< (5, 457 f.). Für sich hielt Benjamin fest: >>Für
die in bestimmten Kategorien aufbewahrt sind, auch den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der
im Stil nicht verloren gehen darf. Diese Kategorien Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt
sollen als Elemente in die Darstellung mit eingehen, bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden das ist
wie wir uns auch vorstellen, daß in einem besseren wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden,
Zustand der Gesellschaft Elemente aus dem gegenwär- das macht sie zum Begriff<< (V, 591). Ein entscheiden-
tigen enthalten sind. Daß freilich heute die Kontinui- des Moment ist ihm, daß der Darstellung die >>echte
tät der philosophischen Tradition unterbrochen ist, politische Erfahrung<< (ebd.) innewohnt. Zu Horkhei-
daß wir weder idealistische Philosophie noch materia- mers Aufsatz>> Philosophie und kritische Theorie<< (vgl.
listische Weltanschauung treiben, muß sich in der jetzt Horkheimer 1988ff., Bd. 4, 217-225) schreibt
besonderen Art der Verwendung des Apparates zeigen, Benjamin dem Autor am 7. Februar 1938: >>Mit leiden-
nicht in seiner Abschaffung. Maschinenstürmerei er- schaftlicher Zustimmung lese ich, was Sie im letzten
schiene mir auch hier als kleinbürgerlicher Vandalis- Heft publiziert haben. Die Kritik an der Entwicklung
mus. Je mehr die Entwicklung aufs neue von kleinen in Rußland kann weitertragend und maßvoller schwer-
Gruppen, ja von Individuen abhängt, und wahrschein- lich formuliert werden.- Wären Sie zugegen, so wür-
lich werden Sie nicht verkennen, daß dies wohl für die den wir vielleicht über die dem >Frieden Gottes, wel-
absehbare Zukunft gelten wird, umsomehr erscheint cher uns hienieden mehr als Vernunft beseliget< von
auch Allgemeinverständlichkeit wieder als Qualität des Ihnen gewidmeten reservierten Schlußformulierungen
Unwahren. Soweit Sie die stilistische Forderung auf- miteinander sprechen. Es ist sehr wahr, daß der Wi-
stellen, in Beziehung auf die im Augenblick entschei- derruf nicht gegen die Lehre und die Furcht kaum
denden Probleme unzweideutig zu sein, stimme ich gegen den Beherzten zeugt, den sie überkommt. An-
Ihnen jedoch gerne ZU<< (Horkheimer 1988 ff., Bd. 16, drerseits wird die kritische Theorie nicht verkennen,
24). Benjamin repliziert: >>Eine Abschaffung der phi- wie tief gewisse Kräfte des Rausches der Vernunft und
losophischen Terminologie kann natürlich nicht zur ihrem Freiheitskampfe verschworen sind. Alle Auf-
Debatte stehen. Wenn Sie sagen, daß geschichtliche schlüsse, will ich sagen, die der Mensch im Gebrauch
Tendenzen, >die in bestimmten Kategorien aufbewahrt der Narkotika je sich erschlichen hat, können ihm auch
sind, auch im Stil nicht verloren gehen< dürfen, so ma- durch den Menschen werden; einige durch den einzel-
che ich mir das durchaus zu eigen. Nur möchte ich nen - durch den Mann oder durch die Frau; andere
damit eine weitere Überlegung verbinden; und viel- durch Gruppen; solche, von denen wir noch nicht
leicht korrigiert sie das Mißverständliche meiner For- träumen dürfen, vielleicht nur durch die Gemeinschaft
mulierungen.- Ich meine, es gibt einen Gebrauch der der Lebenden. Sind nicht diese Aufschlüsse, durch die
philosophischen Terminologie, der einen nicht beste- menschliche Verbundenheit, der sie entstammen, zu-
henden Reichtum vortäuscht. Er übernimmt die Ter- letzt wahrhaft politische? Jedenfalls haben sie den
mini ohne Kritik. Dagegen schließt die konkrete dia- Freiheitskämpfern Kräfte gegeben, die unversieglich
lektische Analyse des jeweiligen Gegenstandes der wie der >innere Friede<, zugleich aber ausgreifend wie
Untersuchung die Kritik der Kategorien ein, in denen das Feuer gewesen sind. Ich glaube, die kritische Theo-
er in einer früheren Schicht der Wirklichkeit und des rie wird diese Kräfte nicht als >neutral< betrachten. Es
Denkens bewältigt wurde. [... ] Im übrigen kann gewiß ist wahr, daß sie derzeit dem Faschismus zuhanden
Allgemeinverständlichkeit kein Kriterium sein. Nur scheinen. Diese Täuschung stammt doch nur daher,
wohnt der konkreten dialektischen Analyse wohl eine daß er wie die uns geläufigeren Produktivkräfte der
gewisse Transparenz im Einzelnen inne. Die Allge- Natur so auch jene für uns entlegeneren pervertiert
meinverständlichkeit des Ganzen steht freilich auf und geschändet hat<< (6, 23).- Diese Zeilen sind drei
einem andern Blatt. Hier gilt es der Tatsache ins Auge Wochen nach Einzug in eine kleine Wohnung 10, rue
104 Intellektuelle Freundschaft

Dombasle geschrieben worden, in der auch Benjamins wird endlich die wichtigsten Gegenstände der augen-
bei Brecht in Dänemark verwahrte Bibliothek bald blicklichen literarischen Diskussion, von den Debatten
aufgestellt werden sollte. Wohnung und Büchertrans- um Gide bis zu denen, die das Verschwinden des Sur-
fer waren der Unterstützung des Instituts zu danken. realismus begleiten, darstellen. Im Gesamtverlauf die-
über die eigenen vier Wände heißt es in einem Brief ses Berichts wird sich unter der Hand Gelegenheit zur
an Horkheimer: >>Erst jetzt habe ich gemerkt, wiesehr Charakteristik der Durchschnittsproduktion der der-
ein Bedürfnis nach ihnen in mir gesteckt hat. Ich ver- zeitigen Belletristik finden<< (Walter Benjamin Archiv,
lasse das Haus kaum, und das kommt meinem durch Berlin).
den letzten Monat angespannten Budget zugute<< (6,
38f.).
nEin deutsches Institut freier Forschungcc

Pariser Literaturbriefe Ebenfalls im September 1937 besprach Horkheimer


mit Benjamin einen ausführlicheren Artikel über »die
Benjamin und Horkheimer waren im Spätsommer Wirksamkeit des Instituts<< (5, 579), der in der Zeit-
1937 übereingekommen, daß Benjamin ihn regelmä- schrift Maß und Wert erscheinen sollte und als Teil
ßig über literarische Neuerscheinungen unterrichten einer >Propagandaaktion< für das Institut gedacht war.
sollte. Sechs solcher Berichte schickte Benjamin zwi- Benjamin schrieb daraufhin den elfseitigen Aufsatz
schen dem 3. November 1937 und dem 23. Januar EIN DEUTSCHES INSTITUT FREIER FORSCHUNG, der al-
1940, von denen einer eine Teilveröffentlichung in der lerdings nicht, wie mit dem Verleger Oprecht verabre-
ZfS erfuhr (vgl. III, 549-552). Die Bücher, die Benja- det, im Aufsatzteil der Zeitschrift erschien, sondern
min vorstellte, waren Rezensionsexemplare, die er als gekürzt im Besprechungsteil und sich auf die Zeit-
Pariser Research Associate des Instituts erhielt. Der schrift für Sozialforschung beschränkte. Zu Anfang des
Gedanke an diese Literaturberichte geht auf das Früh- Aufsatzes heißt es: »Als die Zerstreuung der deutschen
jahr 1936 zurück, als Benjamin in seinem »Arbeits- Gelehrten im Jahre 1933 einsetzte, gab es kein Gebiet,
plan<< schrieb: »Ich habe mir im laufenden Jahr drei auf dem heimisch zu sein, ihnen ein ausschließendes
Arbeiten für das Institut vorgenommen. Ansehen hätte verschaffen können. Dennoch waren
Die erste ist ein Sammelreferat über den gegenwär- Europas Blicke auf sie gerichtet, und es sprach aus
tigen Stand der schönen Literatur in Frankreich. Wie ihnen mehr als Teilnahme. In diesen Blicken hatte eine
in meinem früheren Bericht über den gleichen Gegen- Frage gelegen, wie sie denen gilt, die von einer unge-
stand wird der soziologische Gesichtspunkt maßge- wöhnlichen Gefahr angetreten, von einem neuen
bend für die Untersuchung sein. Im Interesse ihrer Schrecken heimgesucht worden sind. Es dauerte eine
engeren Anpassung an die Aktualität werde ich diesmal gewisse Zeit, bis die Betroffenen in ihrem eigenen In-
neben Büchern besonders das in Zeitschriften nieder- nern das Nachbild dessen fixiert hatten, was vor ihnen
gelegte Material berücksichtigen. Die literarischen aufgetaucht war. Fünf Jahre sind aber eine geraume
Zeitschriften Frankreichs haben in den letzten Jahren Frist. Der einen und selben Erfahrung zugewandt, von
immer offenkundiger nach politischer Orientierung jedem auf seine Art und auf seinem Felde genutzt,
gestrebt. Dabei ist der Wirkungskreis älterer Organe mußten sie einer Gruppe von Forschern genügen, sich
-wie z. B. der des >Mercure de France<- vielleicht zu- und andern von dem Rechenschaft zu geben, was ih-
rückgegangen; umso größer ist, zumal unter der Ju- nen, als Forschern, widerfahren war und was ihre Ar-
gend, der von neueren geworden. Unter diesen sind beit künftig bestimmen werde. Nicht zuletzt schulde-
die einen, wie >Ordre Nouveau< oder >Esprit< auf eine ten sie diese Rechenschaft vielleicht denen, die ihnen
ständische, andere wie >Europe< oder >Commune< auf im Exil ihr Vertrauen und ihre Freundschaft erwiesen
eine sozialistische Gesellschaftsordnung gerichtet. Ne- hatten<< (III, 518).
ben den eigentlichen Zeitschriften werden die Wo-
chenzeitungen berücksichtigt werden, deren Auflagen-
höhe- sie bewegt sich teilweise um 300.000 Exemplare Rettungsversuche der Person
-ihnen besondere Bedeutung gibt. Diese Publikati-
onsform war der rechtsgerichteten Literatur vorbehal- Benjamin, der 1939 zwei Monate in einem Lager bei
ten bis ihr vor einem halben Jahr der von Gide ins Nevers interniert war, konnte der zweiten Welle von
Leben gerufene >Vendredi< entgegentrat. Die Untersu- Internierungen im Juni 1940 entgehen. Nach dem Ein-
chung wird in diesem Zusammenhang kurz die Phy- marsch deutscher Truppen gelang es ihm, nach Lourdes
siognomie der großen Verlagsanstalten skizzieren. Sie zu flüchten. Da das bereits im Februar beantragte Ein-
Das Institut für Sozialforschung 105

reisevisum für die USA zu dem Zeitpunkt noch nicht daß ich sie an die zwanzig Jahre bei mir verwahrt, ja,
bewilligt war, bemühte sich Horkheimer um ein Visum verwahrt vor mir selber gehalten habe. Auch ist dies
für einen anderen Staat. Er schrieb am 5. Juni 1940 an der Grund, aus dem ich selbst Euch kaum flüchtigen
Benjamin: >>J'espere que vous aurez w;:u ma lettre du Einblick in sie gegeben habe. Das Gespräch unter den
8 mai avec Ia confirmation que vous etes membre de marronniers war eine Bresche in diesen zwanzig Jah-
notre Institut charge de conduire des recherches so- ren. Noch heute händige ich sie Dir mehr als einen auf
ciologiques. Votre derniere communication qui vient nachdenklichen Spaziergängen eingesammelten Strauß
de nous arriver date du 5 mai. flüsternder Gräser denn als eine Sammlung von The-
Connaissant votre mauvais etat de sante Ia possibi- sen aus. In mehr als einem Sinne ist der Text, den Du
lite de vous voir entrer de nouveau un camp de ras- erhalten sollst, reduziert. Ich weiß nicht, wieweit die
semblement m'a tellement effraye que je me suis Lektüre Dich überraschen oder, was ich nicht wünschte,
addresse a Ia Refugee Section of the American Friends beirren mag. In jedem Falle möchte ich Dich besonders
Service Committee, Philadelphia, avec Ia priere de auf die 17te Reflexion hinweisen; sie ist es, die den
communiquer avec leur branche fram;:aise par tele- verborgenen aber schlüssigen Zusammenhang dieser
gramme pour avoir de vos nouvelles. Betrachtungen mit meinen bisherigen Arbeiten müßte
Entre-temps nous avons !es nouvelles de Ma- erkennen lassen, indem sie sich bündig über die Me-
dame Favez datees du 18 mai que vous etiez en liberte thode der letzteren ausläßt. [... ] Daß mir nichts ferner
du moins jusqu'a ce jour Ia. Nous esperons chaleureu- liegt als der Gedanke an eine Publikation dieser Auf-
sement que cet etat de chose ne sera pas change. zeichnungen (nicht zu reden von einer in der Dir vor-
I! va sans dire que nous considerons toujours Ia pos- liegenden Form) brauche ich Dir nicht zu sagen. Sie
sibilite de votre immigration dans un pays transatlan- würde dem enthusiastischen Mißverständnis Tor und
tique, mais il est tres difficile pour nous de decider Tür öffnen<< (6, 435f.). Adornos erhielten das Manu-
la-dessus, sans pouvoir vous consulter. Apart !es re- skript erst 1941 aus der Hand von Hannah Arendt, die
strictions que Ia plupart des etats de l'Amerique du in den letzten Jahren mit Benjamin in Paris befreundet
Sud ont decretees sur l'immigration des juifs il y a war. Adorno vermeldet dieses Manuskript Horkheimer
votre etat de sante qui pourrait rendre dangereux un und rät zur Publikation. >>Es handelt sich um Benja-
tel voyage. Dites-moi comme vous pensez vous-meme mins letzte Konzeption. Sein Tod macht die Bedenken
sur cette question. Vous pouvez etre sur que je ferai wegen der Vorläufigkeit hinfällig. An dem großen Zug
!'impossible pour donner suite a vos propositions. des Ganzen kann kein Zweifel sein. Dazu kommt: daß
En vous assurant que pendant ces jours tragiques keine von Benjamins Arbeiten ilm näher bei unseren
nos pensees sont avec vous, eher ami, je vous serre Ia eigenen Intentionen zeigt. Das bezieht sich vor allem
main bien cordialement<< (Horkheimer 1988 ff., Bd. 16, auf die Vorstellung der Geschichte als permanenter
712). Adorno und Horkheimer versuchten auch, ein Katastrophe, die Kritik an Fortschritt und Naturbe-
kubanisches Visum zu erlangen; im Juli bemühte sich herrschung und die Stellung zur Kultur. Da gibt es eine
Adorno um ein amerikanisches Non-quota-visum. Koinzidenz, die mich sehr bewegt hat. Der Satz in
Benjamin erhielt tatsächlich im August das amerika- These VII über Kultur als Barbarei steht wörtlich im
nische Einreisevisum sowie das spanische und portu- letzten Absatz des Spengler (-im Deutschen; englisch
giesische Transitvisum; es gelang ihm aber nicht, das wird das, wie alles, verwaschen sein). Wirbeide wußten
Ausreisevisum aus Frankreich zu bekommen, so daß nichts von der Formulierung des anderen.
der spanische Zöllner in Port Bou ihm die Durchque- Vielleicht sollte man in einer Vorbemerkung sagen,
rung Spaniens verbot und ihn zurückzuschicken daß die Thesen nicht zur Publikation bestimmt waren,
drohte. Angesichts dieser Drohung setzte Benjamin und auf jene Zusammenhänge verweisen<< (Adorno/
seinem Leben ein Ende. Horkheimer 2004, 144 f.). Horkheimers Antwort dar-
auf war: >>Mit Ihnen bin ich glücklich darüber, daß wir
Benjamins Geschichtsthesen besitzen. Sie werden uns
Rettung des Werks noch viel beschäftigen und er wird bei uns sein. Die
Identität von Barbarei und Kultur, deren Feststellung
Benjamins letzte abgeschlossene Konzeption waren die Ihnen beiden bis auf den Wortlaut gemeinsam ist, hat
Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE, von de- übrigens das Thema eines meiner letzten Gespräche
nen er Gretel Adorno Ende April/Anfang Mai 1940 mit ihm in einem Cafe beim Bahnhof Montparnasse
Nachricht gab: >>Der Krieg und die Konstellation, die gebildet, wo ich (oder er) die These vertrat, daß der
ihn mit sich brachte, hat mich dazu geführt, einige Beginn von Kultur im modernen Sinn mit der Forde-
Gedanken niederzulegen, von denen ich sagen kann, rung sittlicher Liebe zusammenfällt. Die Vorstellung
106 Intellektuelle Freundschaft

des Klassenkampfes als der universalen Unterdrük- FÜR SOZIALFORSCHUNG<< (mit Theodor W. Adorno) (lll,
601 f.)
kung, die Demaskierung der Historie als Einfühlung
in die Herrschenden sind Einsichten, die wir als theo-
retische Axiome zu betrachten haben. - Ihren und Literatur
[Leo] Löwenthais Vorschlag, die Thesen an den Anfang Adorno, Gretel!Walter Benjamin (2005): Briefwechsel1930-
des mimeographierten Heftes zu stellen, möchte ich 1940, hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz, Frankfurt
a.M.
nicht widersprechen. Hinge das jedoch von mir allein
Adorno, Theodor W. ( 1970 ff. ): Gesammelte Schriften, hg. v.
ab - was ich nicht meine! - so stellte ich es aus rein Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.
taktischen Gründen, die er wahrhaftig gebilligt hätte, Adorno, Theodor W./Walter Benjamin (1994): Briefwechsel
mit einer kurzen Einleitung, die den vorläufigen Cha- 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W./Max Horkheimer (2004): Briefwechsel
rakter der Aufzeichnungen betont, in die Mitte oder 1927-1969. Bd. 2: 1938-1944, hg. v. Christoph Göddei
an den Schluß. Die Terminologie, die wir doch kaum Henri Lonitz, Frankfurt a. M.
abändern dürfen, ist zu unverhüllt. Da ja das ganze Adorno, TheodorW. (2003): Briefe an die Eltern 1939-1951,
Heft Benjamin gewidmet wird, so kann das nicht als hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz, Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max (1988 ff.): Gesammelte Schriften, hg. v.
Mangel an Zartheit erscheinen<< (155). Horkheimer Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M.
und Adorno veröffentlichten die Thesen in dem mi-
meographierten Heft der Zeitschrift Zum Gedächtnis
Walter Benjamins, undAdorno schrieb eine Vorbemer-
kung zu ihnen, deren Schluß im Entwurf lautet: >>Der
Text ist zum Vermächtnis geworden. Seine fragmenta-
rische Gestalt schließt in sich den Auftrag, der Wahr-
heit dieser Gedanken die Treue zu halten durch Den-
ken<< (171).- In den New Yorker Institutsräumen
wurde in den folgenden Jahren der gerettete Teil des
Benjaminsehen Nachlasses verwahrt, und 1948 begann
Adorno, der ihn sich hatte schicken lassen, mit dessen
Sichtung, wie er seiner Mutter berichtet: »Aber dann
kann ich es mir einteilen, vor allem dem Nachlaß Ben-
jamins mich zuwenden, der für mich eine geistig-mo-
ralische Verpflichtung obersten Ranges bedeutet<<
(Adorno 2003, 462). Dieser Verpflichtung folgend,
setzte sich Adorno bei Peter Suhrkamp für die Publi-
kation von Benjamins Schriften ein. 1955 erschien die
erste repräsentative Auswahl in zwei Bänden, von
Adorno, Gretel Adorno und Friedrich Podszus heraus-
gegeben.

Werk
EIN DEUTSCHES INSTITUT FREIER FoRSCHUNG (!Il, 518-
526)
EDUARD FucHs, DER SAMMLER UND DER HisToRIKER (II,
465-505)
ZUM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES
FRANZÖSISCHEN ScHRIFTSTELLERS (II, 776-803)
DAs KuNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
PRODUZIERBARKEIT (I, 431-508; 709-739; VII, 350-384)
DAs PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE (1, 511-
604)
PARIS, DIE HAUPTSTADT DES XIX. JAHRHUNDERTS [Expose
von 1935] (V, 45-59)
PARISER PASSAGEN (V, 1044-1059)
DIE RücKSCHRITTE DER PoESIE voN CARL GusTAV JocH-
MANN (II, 572-598)
ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE(!, 691-704)
ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE (I, 605-653)
VORSCHLÄGE FÜR DEN BESPRECHUNGSTEIL DER >>ZEITSCHRIFT
107

2. Messianismus, Ästhetik, Politik

Schriften zur Jugend Auf der Suche nach den »Quellen religiösen
Lebens<< (II, 80) - ,,Dialog über die
»Das Leben der Studenten<< I >>Dialog über die Religio- Religiosität der Gegenwart<< (1912)
sität der Gegenwart<< I >>Metaphysik der Jugend<<
Der frühe Benjamin spielte mit Formen, experimen-
Von Thomas Regehly tierte, probierte aus, verwarf. Dies gilt für die Brief-
form, das Tagebuch, Reden, Aufsätze, Besprechungen
und die Form des literarischen Dialogs.
Im DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGEN-
Walter Benjamins >>Anfänge<< sind zum großen Teil WART, verfaßt im September/Oktober 1912, wird der
Anfänge im besten Sinne. Die Arbeiten aus den Jahren Ausschnitt eines intensiven, langen Gesprächs geschil-
1910 bis 1915 sind literarische Versuche in verschiede- dert, das sich >>kurz vor Mitternacht<< vom klassischen
nen Genres, Tagebuchaufzeichnungen, Artikel, die >>Zweck der Kunst<< über den >>Kunstgenuß<< auf die
entschiedene Stellungnahmen für die Wickersdorfer Religion wendet (II, 16). Das Personal besteht aus ei-
Idee und die Ziele der Jugendkulturbewegung darstel- nem >>Ich<<, dem zunächst ein >>Er<< gegenübersteht, aus
len, Besprechungen, literaturkritische Arbeiten, Refle- dem aber nach wenigen Sätzen >>der Freund<< wird.
xionen zu aktuellen Themen und programmatische Freundschaftlich, aber kompromißlos ist der Ton des
Reden. Sie lassen sich in ein Gradnetz einordnen, des- Gesprächs. Der Freund zeigt sich als Skeptiker und
sen Öffentlichkeit von der privaten Notiz über Zirku- Pantheist, Lebensfreund, Monist und Scheindemokrat.
lare bis zu namentlich gekennzeichneten Artikeln Das Ich trägt Züge Benjamins und argumentiert me-
reicht und dessen Verständlichkeit sich von exoteri- taphysisch, humanistisch, dualistisch und- andeu-
schen Polemiken bis zu esoterischen Selbstverständi- tungsweise - elitär. Die Situation ist denkbar einfach
gungsversuchen abstuft. Wynekens Grundsatz, daß es und kunstlos: man unterhält sich, und der Freund ge-
das >>Ziel der Schule sei, in unserer Zeit den jungen leitet das Ich am Schluß zur Haustür. Alles Wichtige
Menschen zum Mitglied der künftigen Gesellschaft zu geschieht im Gespräch.
erziehen<< ( 1, 64), ist ebenso fundamental wie die Idee Dem >>l'art pour l'art<< setzt das Ich sein >>I'art pour
der Jugend, um deren Realität es dem jungen Benjamin nous<< (17) entgegen. Dem Kunstwerk müssen >>Le-
geht. Der Brief, mit dem er sich 1915 von seinem Leh- benswerte<< entnommen werden können. Die Diskus-
rer lossagt, evoziert diese >Idee der Jugend< als sein sion über den Selbstzweck der Kunst wird als >>Sym-
Eigenstes: >>Mit ihr zu leben ist das Vermächtnis, das ptom<< für die Irreligiosität der Gesellschaft genom-
ich Ihnen entwinde<< (264). Die im folgenden behan- men, wobei sich eine merkwürdige Kongruenz des
delten Texte heben sich, sowohl was Umfang wie Religionsverständnisses ergibt. Beide halten Religion
Durcharbeitung angeht, von den anderen ab. Der DIA- für >>Trägheit<< (ebd.), der Skeptiker versteht darunter
LOG vom Herbst 1912läßt erahnen, inwiefern Jugend eine zu kritisierende Autoritätsgläubigkeit, das Ich ein
Religion >>bedeute[n]<< (II, 73) kann, der programma- zu bewahrendes spezifisches Beharrungsvermögen.
tische Entwurf DAs LEBEN DER STUDENTEN erinnert Der Immanenz, dem Transzendenz-Verzicht, ent-
an die idealistische Tradition, um einen Begriff von spricht aber keine >>Freude an dieser neuen, modernen
wahrhaft studentischer Arbeit für eine >neue Hoch- Welt<< (18). Das Gerede von >>herrliche[r] Lebens-
schule< zurückzugewinnen, während das hermetische freude<< und >>seltsame[r] Abenteuerlust<< (ebd.) wird
Zirkular METAPHYSIK DER JuGEND im Grenzbereich durch einen kurzen Hinweis auf die >>historischen Re-
zu den letzten Dingen unterwegs ist. ligionen<< ( 31) an die Realität zurückverwiesen. >>Für
uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Reli-
gionen geborsten<< (18). Das Judentum wird hier nicht
ausgenommen. Die soziale Religion- >Sozialismus als
Religion< - stelle keinen Ersatz dar, da sie >>ihren me-
108 Messianismus, Ästhetik, Politik

taphysischen Ernst verloren<< habe (19; vgl. VI, 100- sich >>in Himmel und Hölle<< wohl sein lassen (II, 23).
103). Der Freund denkt nicht daran, der Metaphysik Hinzu trete ein>> leidloses Übermenschentum<<, da eine
nachzutrauern. Er plädiert für nachmetaphysische göttliche Schöpfung auch einen quasi-göttlichen
Nüchternheit. Die Sittlichkeit sei in der Lage, die alte >>Herr[n] der Schöpfung<< verlange (ebd.). Im >>Indivi-
Form Religion abzustreifen. Das Ich erinnert aber an dualismus<<, so das Ich, zeichneten sich immerhin An-
Kant, der Religion als >>Erkenntnis unserer Pflichten fänge der>> Heroenzeit einerneuen Religion<< ab (26).
als göttlicher Gebote<< bestimmt hatte.>> [D ]ie Religion Die Nachfrage des Freundes führt zu einer scharfen
garantiert uns ein Ewiges in unserer täglichen Arbeit<< Debatte über die >>Literaten<<, die >>Träger religiösen
(II, 20). Wurde eben noch die >>religiöse[] Krise<< zu- Geistes« und >>Vollstrecker des religiösen Willens<< (29).
gestanden, gibt der Freund nun seine Lösung des reli- Die Erwähnung des herrschenden >>sozialen Elend [s] <<
giösen Rätsels preis: den Pantheismus als >>gemeinsame (30) sowie des >>religiösen und kulturellen Chaos<< (31)
Seele aller Einzelheiten<< und den Monismus als >>Syn- veranlaßt das Ich, eine aufschlußreiche geistesgeschieht-
these aller unserer Form<< (ebd.). Das Ich will aber liehe Skizze der >>neuen Religion<< (26) zu entwerfen.
keinen anderen Pantheismus anerkennen als den Hu- Grundgelegt wurde sie durch Kants Primat der prak-
manismus Goethes, der das Erbe der Aufklärung an- tischen Vernunft. Kant selbst spricht in der Kritik der
getreten hatte, und fordert dazu auf, den >>Anspruch reinen Vernunftvom >>dogmatischen Schlummer<<, aus
auf maßgebliche Gefühle [... ] zu prüfen<<. Nur die dem die menschliche Vernunft erwachen müsse. Ben-
Dichter seien in der Lage, den Pantheismus >>maßgeb- jamin nimmt die Metaphorik des Erwachens auf. >>Die
lich und mitteilbar<< (21) zu machen, wobei >>Mitteil- Menschheit war aus ihrem Entwicklungsschlaf er-
barkeit<< hier als Grund der Möglichkeit des Gefühls wacht, zugleich hatte das Erwachen ihr ihre Einheit
selbst zu verstehen ist: >>ein Gefühl, das nur möglich genommen<< (32). Die Fortschrittsgeschichte erscheint
ist auf dem Gipfel seiner Gestaltung, zählt nicht mehr als Verlustgeschichte der Einheit, die immer nur für
als Religion« (ebd.). Aus diesem Grund kann der Pan- Momente wiederzugewinnen sei. Mystik, Decadence
theismus kein Gemeinschaftsleben religiös fundieren, und auch der Monismus, den der Freund vertritt, wer-
kommt also als Religion oder Religionsersatz nicht in den als >>hoffnungslose[] Spekulationen<< dargestellt,
Frage. da sie - mit einem späteren Ausdruck formuliert -
Das Gymnasium, das den Geist des Humanismus über keine >>Technik des Erwachens<< verfügten (V,
vermitteln soll, kann deshalb auch nicht für alle be- 490).
stimmt sein. >>[Jlunge Menschen, die nach Werten Der Blick auf den Notzusammenhang, aus dem die
dürsten« (ebd.), benötigen andere BildungsmitteL neue Religion sich entwickeln kann, hat auf >>Reichtum
Benjamin faßt nun Humanismus und Pantheismus und Schwergewicht der Individualität<< aufmerksam
unter dem Begriff >>ästhetische[] Lebensauffassung<< gemacht (II, 33). Paradox formuliert das Ich, daß die
(21) zusammen, dem das >>sittliche Leben<< (22) gegen- meisten Menschen >>das Körpergefühl ihrer geistigen
überstehen würde. Es folgt eine großangelegte Panthe- Persönlichkeit verloren<< haben (ebd.). Damit sind De-
ismus-Kritik. Zunächst notiert er dessen >>Gedanken- mut und das Gefühl der »schlechthinnigen Abhängig-
losigkeit« und erinnert an die Leistung der Romantik, keit« (Schleiermacher) wieder möglich geworden. Der
der wir >>die kräftige Einsicht in die Nachtseite des Alternative von >>Glauben und Wissen« (ebd.) setzt das
Natürlichen [verdanken]: es [das Leben, d. Verf.] ist Ich die Verwurzdung des Glaubens im Wissen der je-
nicht gut im Grunde, es ist sonderbar, furchtbar, weiligen Zeit entgegen. Deshalb müsse von Grund auf
scheußlich - gemein<< (ebd.). Die programmatische nach der >>Religion der Zeit<< gefragt werden, nicht
Vergöttlichung des Häßlichen sei nichts als >>Gefühls- nach der Anwendbarkeit der >>historischen Religionen«
vergoldung und Profanation<< (ebd.). Das Ich spricht (34). Abschließend faßt das Ich noch einmal das
sich für den >>Dualismus<< aus, worunter >>ein inniges Grundsätzliche zusammen: daß Religion niemals nur
Streben nach Vereinigung mit Gott<< (ebd.) verstanden dualistisch sein kann, vielmehr Ehrlichkeit und Demut
wird. Der >>Dualismus<< galt zum einen als Kampfbe- ihren >>sittliche [n] Einheitsbegriff« (ebd.) bilden, daß
griff, unter den Haeckel vor allem Kant und die Kriti- zwar noch nichts über den Gott, die Lehre und den
sche Philosophie subsumierte, die dem >>Reich der Kultus- den es auch geben wird - dieser neuen Reli-
Natur<< das >>Reich der Freiheit<< entgegenstellte (Deu- gion gesagt werden kann, aber bereits Propheten aus-
ber-Mankowsky 2000, 324), zum anderen aber als zumachen seien (Tolstoj, Nietzsche, Strindberg) und
Chiffre für eine gnostische Erlösungslehre, die erst die die Zeit schwanger gehe mit dem >>neuen Menschen«
auch von Benjamin gebrauchte Kampfmetaphorik ver- (ebd.). Das einzig Konkrete und Vorzeigbare sei >>das
ständlich macht. Die >>gefühlsselige Schwachheit<< und Gefühl einerneuen und unerhörten Gegebenheit[ ... ],
Gemütlichkeit der Pantheisten wird kritisiert, die es unter der wir leiden<< (ebd. ). Mit diesen Feststellungen
Schriften zur Jugend 109

läßt er es aber nicht bewenden. Der Sprecher »glaube<< Der veröffentlichte Text in der Fassung von 1916 (II,
an den >>religiösen Menschen<<, aber so ästhetisch und 75-87) ist klar gegliedert und durchkomponiert: An-
spielerisch, wie das Liebeslied aus Hugo Wolfs Italie- fang und Ende korrespondieren, der weit ausgreifen-
nischem Liederbuch es zum Ausdruck bringt, das der den Vorbemerkung entspricht ein Abspann, der durch
Dialog zum Schluß zitiert. die Verse Georges ein ganz anderes Register anklingen
läßt, zwei Thesen über die Gefährdungen des studen-
tischen Lebens werden exponiert und behandelt, und
Für eine "Gemeinschaft von Erkennenden" - es wird deutlich, was der Autor unter dem >Leben< der
"Das Leben der Studenten" (19141 Studenten - das es in der imaginierten Form noch
nicht gibt - verstanden wissen will.
Benjamins Aufsatz DAS LEBEN DER STUDENTEN wurde Benjamin konfrontiert zunächst zwei Geschichts-
zuerst 1915 im Neuen Merkur gedruckt. Die Druckfas- auffassungen. Die eine unterscheidet >>im Vertrauen
sung geht zum einen auf zwei Vorträge zurück, die auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der
Benjamin im Laufe des Jahres 1914 hielt, zum anderen Menschen und Epochen, die schnell oder langsam auf
fußt sie auf seinen Arbeiten aus den Jahren 1911-1913 der Bahn des Fortschrittes dahinrollen<< (75). Diese
zum Thema Freie Schulgemeinde, Schulreform, Un- Auffassung führe zu einem »Mangel an Präzision und
terricht und Erziehung. Der Text kann als eine Art Strenge<< in bezug auf die Forderungen, die an die Ge-
>Summe< dieser Jugendphase angesehen werden. genwart zu stellen wären. Seine Betrachtung hingegen
Benjamin war im Sommersemester 1914 zum Prä- >>geht[ ... ] auf einen bestimmten Zustand, in dem die
sidenten der Berliner Freien Studentenschaft gewählt Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie
worden. Am 4.5.1914 trat er den Vorsitz an und hielt von jeher in den utopischen Bildern der Denker.<< Der
eine Rede, von der ein Teil in den Text DAs LEBEN DER »bestimmte[] Zustand<< ist der jeweils gegenwärtige,
STUDENTEN übernommen wurde (vgl. II, 915). Sie und zwar als latent vollkommener verstanden. >>Die
sollte in einer veränderten Fassung auf dem 14. Frei- Elemente des Endzustandes [... ]sind als gefährdetste,
studententag in Weimar wiederholt werden, aber der verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken
Charakter der Veranstaltung machte Änderungen er- tief in jeder Gegenwart eingebettet<< (ebd.). Diese Ein-
forderlich: aus der >>Festrede<< mußte ein Tagungsbei- bettung und die >Tiefe< dieser Einbettung sind zu be-
trag werden, >>weil man sie diskutieren will<< (ebd.). Die rücksichtigen. >>Den immanenten Zustand der Voll-
Veranstaltung, vermutlich auch die Resonanz auf sei- kommenheit rein zum absoluten zu gestalten, ihn
nen Beitrag, empfand er als enttäuschend. sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen,
Beide Vorträge sind nicht in der vorgetragenen Fas- ist die geschichtliche Aufgabe<< (ebd.). Dieser weltge-
sung erhalten. Der Berliner Rede lag offenbar eine schichtlichen Aufgabe genüge eine pragmatische Ab-
handschriftliche Fassung zugrunde, deren >>lesbare schilderung von Einzelheiten nicht, sondern der ge-
Abschrift<< er am 15.5. seinem Freund Herbert Blu- genwärtige Zustand ist »in seiner metaphysischen
menthai in Aussicht stellte ( 1, 226). In Weimar scheint Struktur zu erfassen<<. In den Thesen ÜBER DEN BE-
er keine ausgearbeitete Fassung als Vorlage gehabt zu GRIFF DER GESCHICHTE nimmt Benjamin SOWOhl die
haben, obendrein im Ablauf gestört worden zu sein, Kritik an der Fortschrittsgeschichte wie auch den Hin-
da er den geplanten Schluß nicht vortragen konnte. weis auf den >>heimlichen Index« (I, 693) der Vergan-
>>An den Schluß meiner Rede wollte ich die Verse set- genheit auf Erlösung wieder auf, zwar anders instru-
zen, die Ihr Brief enthielt, hätte ich mich nicht uner- mentiert (vgl. 700f., 693f.), aber »an Ausgangspunkt
wartet im Schlußrhythmus meiner Rede gefunden. So und Richtung der Kritik wird sich nichts Entscheiden-
werde ich dennoch vielleicht die Niederschrift, die ich des geändert haben<< (Hartung 1992, 28).
in den großen Ferien anfertigen werde, damit schlie- Das >>Leben der Studenten<< ist nur >>als Gleichnis,
ßen« (236). Vermutlich sind die Verse aus dem >>H.H.<< als Abbild eines höchsten, metaphysischen, Standes der
(d.i. Hugo von Hofmannsthal) gewidmeten Gedicht Geschichte<< (II, 75) zu begreifen. Der Text ist nicht als
aus dem Jahr der Seele gemeint, das sich am Ende des >>Aufruf<< (ebd.) zu verstehen, sondern arbeitet >aufzei-
zweiten Abdrucks in dem von Kurt Hilier herausgege- gend<: Er >>zeigt die Krisis auf, die im Wesen der Dinge
benen Band Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist findet liegend zur Entscheidung führt, der die Feigen unter-
(vgl. 238). Die letzte Redaktion des Textes und seine liegen und die Mutigen sich unterordnen<<, wie es pla-
überarbeitung für den Druck hat vermutlich nach kativ heißt ( ebd.). Als einziger Weg zu dieser Erkennt-
dem Sommer 1914 stattgefunden, zu einer Zeit, in der nis als Ziel erscheint das >>System<<. Welches und in
Benjamins aktive Rolle in der> Jugendkulturbewegung< welcher Form, bleibt in diesem Zusammenhang offen
bereits ein Ende gefunden hatte. (vgl. 157, 168; I, 213 sowie Hartung 1992, 25ff.). Da
110 Messianismus, Ästhetik, Politik

>>mancherlei Bedingungen hierzu versagt<< sind, >>bleibt Humboldtsche Ideale den Zeitgenossen aber präsent
nur das Künftige aus seiner verbildeten Form im Ge- war (vgl. Duclek 2002, 17). Nietzsches >>Philosoph<<
genwärtigen erkennend zu befreien.« Diese Befreiung bringt diesen Gegensatz im vierten Vortrag über die
ist Sache der Kritik, wie Benjamin sie versteht: >>Dem >>Zukunft unserer Bildungsanstalten<< auf die prä-
allein dient die Kritik« (li, 75). gnante Formel: >>Ich für mein Teil kenne nur einen
Damit ist der Horizont exponiert, in den die Frage wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstal-
nach der >bewußten Einheit< des studentischen Lebens ten der Lebensnot: zu der zweiten Gattung gehören
gehört. Daß es diese >>Einheit<< nicht gibt, ist das Pro- alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich<< (Nietz-
blem, das sich, etwas weiter ausgreifend, als Mensch- sche 1966, Bd. III, 234).
heitsproblem darstellt (vgl. 32). Benjamin formuliert Benjamin erwähnt diesen Text ebenso wie Fichtes
im folgenden einen utopischen Lebensentwurf, der »mutige Denkschrift zur Gründung der Berliner Uni-
letztlich >Leben< neu bestimmt, unter Rekurs auf idea- versität<< (1, 226).
listische Vorgaben und getragen vom Pathos der Lehre >>IndifferenZ<< (li, 76) und >>Ergebung<< (77) kenn-
Wynekens. Das >>Auszeichnende im Studentenleben<< zeichnen das Studentenleben, nur die >>freistudenti-
sei gegenwärtig >>der Gegenwille, sich einem Prinzip schen Organisationen<< heben sich durch ihre Beto-
zu unterwerfen, mit der Idee sich zu durchdringen« nung des Werts der >>sozialen Arbeit<< (79) heraus,
(76). Indifferenz herrsche, für die allermeisten Studen- wodurch allerdings der >>Völlige[n] Verbürgerung<< (77)
ten sei die Hochschule nicht mehr als eine >>Berufs- der Universität nur weiter Vorschub geleistet werde
schule<< (ebd.). Benjamin geht mit dieser pragmati- (vgl. Fichtes Kritik an der >>allgemeinen Verbürge-
schen Ansicht der Hochschulausbildung scharf ins rung<<; Schelsky 1963, 102). Auch dies sei ein deutlicher
Gericht. Er kritisiert die Studenten, die Forschenden, Beleg dafür, >>daß die heutigen Studenten als Gemein-
die Institute, den »Berufsapparat[]<< der Wissenschaf- schaft nicht fähig sind, die Frage des wissenschaftlichen
ten, die akademische Behörde und den Staat. Dieser Lebens überhaupt zu stellen<< (II, 77). Den Gegensatz
Skizze der aktuellen >>Verderbnis<< (ebd.) wird die Auf- von eigentlich studentischer und >>sozialer Arbeit<< be-
gabe gegenübergestellt, eine >>Gemeinschaft der Erken- handelte er ausführlich in seiner Antrittsrede, die jetzt
nenden zu gründen<< und der Erinnerung an den >>ein- eingeflochten wird. Der Verfasser hielt sie, so heißt es,
heitlichen Ursprung<< der Wissenschaften in der >>Idee >>als er<<- noch- >>für die Erneuerung zu wirken ge-
des Wissens<< (ebd.). Erst diese positiven Setzungen dachte<< (ebd.). Zunächst wird die >>soziale Arbeit<< als
könnten es erlauben, von einem >Leben< überhaupt zu Scheinantwort auf die Frage nach dem Sinn des stu-
sprechen, um dessen >>innere Einheit<< (ebd.) Benjamin dentischen Lebens zurückgewiesen. Wenn der >>Wert<<
ringt. einer Leistung darin liegt, >>daß das ganze und unge-
Bereits Schiller hatte in seiner Jenaer Vorlesung Was teilte Wesen eines Menschen zum Ausdruck komme<<,
ist und zu welchem Ende studiert man Universalge- erscheint die >>sozial begründete Leistung<< als >>etwas
schichte ( 1797) die Diskrepanz zwischen dem Streben völlig Bruchstückhaftes und Abgeleitetes<< (78). Die
nach der reinen Wissenschaft und jeder Form von blo- >>soziale Arbeit<< ist Reaktionsbildung, Angstprodukt,
ßer Berufsausbildung betont. >>Wo der Brotgelehrte >>Ausdruck des Relativismus<<, Dokument des Unver-
trennt, vereinigt der philosophische Geist<< (Schelsky mögens, mechanische Pflicht, ja ein >>kindlicher Ver-
1963, 77). Auch für Humboldt war das Gegenbild der such der Einfühlung in Arbeiter- und Volkspsyche<<,
>>neuen<<, aus dem idealistischen Geist zu gründenden nicht mehr (79). Sie verfällt dem Nützlichkeitswahn
Universität >>die wissenschaftliche Fachschule, die Uni- der bürgerlichen Welt, und führt keineswegs zu einer
versität als Stätte der Berufsausbildung und die Erzie- >>Erneuerung des Begriffs und der Schätzung sozialer
hung durch Wissenschaft zu unmittelbarer praktischer Arbeit überhaupt<<. Der >>wahrlich ernste Geist einer
Nützlichkeit in der bürgerlichen und politischen Gesell- sozialen Arbeit<< (ebd.) bleibe diesen nützlich Tätigen
schaft<< (Schelsky 1963, 68). Die dieser Universitätsidee verschlossen. Benjamin entwindet den sozial engagier-
verpflichteten Lehrer und Studenten sollten von den ten Vertretern der freien Studentenschaft kurzerhand
>>Elendigkeiten des bürgerlichen Lebens<< befreit wer- den Begriff der >>sozialen Arbeit<< - durch überhö-
den, wozu ihre >>soziale Isolierung<< erforderlich war. hung.
Die Forderung der >>Einsamkeit<< (li, 86) der Erken- Er fordert eine >>Freistatt in der Universität<<, die sich
nenden findet sich in einer späteren Passage von Ben- >>dem radikalen Zweifel, der grundlegenden Kritik und
jamins Text, der zwar die für die idealistische Univer- dem Notwendigsten: dem Leben, das dem völligen
sitätsgründung zentralen Begriffe wie Bildung, Huma- Neuaufbau sich widmet<<, nicht versagt (80). War die
nität, das Griechentum und vor allem die Rolle der freie Studentenschaft mit dem erklärten Ziel aufgetre-
Philosophie - noch - ausspart, dessen Rückgriff auf ten, den >>bis dahin das hochschulpolitische Spektrum
Schriften zur Jugend 111

beherrschenden, konservativen Korporationen<< den und Unabhängigkeit ferngehalten, im Gegensatz zu


Anspruch >>auf alleinige Repräsentanz zu bestreiten den Intentionen der idealistischen Universitätsgründer,
und ihnen neue wissenschafts-, erziehungs- und orga- für die sich Lehre nicht in Wissensvermittlung er-
nisationspolitische Konzepte entgegenzusetzen<< (Götz schöpfte, sondern >>eine im Zusammenleben von Äl-
von Olenhusen 1981, 100), so konstatiert Benjamin teren und Jüngeren übermittelte Existenzform<< war
ihr Scheitern. Kein >>geistige[r] Wille<< sei auszuma- (Schelsky 1963, 97). Lernen und Lehren gehören im
chen, zu den wichtigen Fragen hat sie nichts beige- Grunde zusammen, da der Beruf zu lehren >>mit jeder
tragen, ihre Oppositionsarbeit sei >>auf dem Niveau der eigensten Erfassung der Wissenschaft geboten<< (li, 82)
liberalen Presse<< stehengeblieben (li, 80). Verglichen sei. Jetzt erst kommt der Hinweis auf diejenige disci-
mit den Freistudenten seien die Korps als die, wenn plina, welche die >Gemeinschaft der Schaffenden<, zu
auch >>unwürdige[n] Repräsentanten der studentischen der die Erkennenden im Verlaufe des Textes geworden
Tradition<< (ebd.) anzusehen. Nietzsche hatte an die sind, zu formen vermag: die Philosophie. >>Die Ge-
revolutionäre Rolle der Burschenschaften in den Be- meinschaft schöpferischer Menschen erhebt jedes
freiungskriegen erinnert und ihnen den Geist zuge- Studium zur Universalität: unter der Form der Philo-
schrieben, um den Benjamin hundert Jahre später sophie<< (ebd.). Diese imaginierte Gemeinschaft wird
ringt. >>Damals hat der Student geahnt, in welchen nun ganz im Geiste Humboldts darauf verpflichtet,
Tiefen eine wahre Bildungsinstitution wurzeln muß: >>vor aller Besonderung des Fachstudiums<< und >>über
nämlich in einer innerlichen Erneuerung und Erre- allem Betriebe der Fachschulen<< sich selbst als >>Ge-
gung der reinsten sittlichen Kräfte<< (Nietzsche 1966, meinschaft der Universität als solche<<, als >>Erzeugerin
Bd. III, 261). Die Kampfmetaphorik der Vorträge wird und Hüterinder philosophischen Gemeinschaftsform<<
so an historische Ereignisse zurückgebunden. >>Auf den zu etablieren, indem sie dafür Sorge trägt, daß die me-
Schlachtfeldern mag er gelernt haben, was er am we- taphysischen Fragen der großen philosophischen Tra-
nigsten in der Sphäre der >akademischen Freiheit< ler- dition aufgegriffen werden. Erst durch diese Formung
nen konnte: daß man große Führer braucht, und daß würde die >>tiefste Verbindung des Berufes mit dem
alle Bildung mit dem Gehorsam beginnt<< (ebd.). Ben- Leben<< gewährleistet, das dann allerdings ein >>tiefere [s]
jamin hatte bereits Ende 1913 >>eine noch strengere Leben<< bedeute (ebd.). An die Stelle einer >>Bildungs-
Auslese der wahrhaft Führenden<< gefordert (li, 71). maschine<< (Nietzsche) oder >> Wissenschaftskaserne<<
(Zur heute besonders problematisch wirkenden Füh- (Fichte) träte- Benjamins Bild- ein fürstlicher Palast
rerideologie vgl. Geissler 1963, 44 und 78 ff.) Diese des Wissens, der umgeben zu denken wäre von dem
>>wissen ihn einen Führer [sie], aber nicht Führer zu Gewoge der studentischen Volksmenge, verstanden als
einem Ziele, das er uns vermittelt, sondern dem Ziele, >>Stätte der beständigen geistigen Revolution<< (ebd.).
das uns unmittelbar gegeben ist<< (li, 64). Da das Stu- Die Studentenschaft hätte die Funktion eines >>große[n]
dententurn nicht dort zu finden ist, >>wo um den gei- Transformator[ s] <<,der >>die neuen Ideen, die früher in
stigen Aufstieg der Nation gerungen wird<<, kommt der Kunst, früher im sozialen Leben zu erwachen pfle-
Benjamin dazu, die Existenz des deutschen Studen- gen als in der Wissenschaft<<, überleiten könnte, dürfte
tenturns schlichtweg zu bestreiten (80). Wieder ver- und sollte >>in wissenschaftliche Fragen durch philo-
gleicht er den gegenwärtigen Zustand der >>Verderbnis<< sophische Einstellung<< (83). Mit diesem Traumbild
mit dem >>Adel<<, der das deutsche Studententurn vor eines Bildungsideals, dessen sozialgeschichtliche
hundert Jahren >>an sichtbare Stellen als Verteidiger des Stunde längst geschlagen hatte, schließt Benjamin die
besten Lebens treten ließ<< ( 81). Die Isolierung der Darstellung der ersten These, derzufolge in der Hoch-
Studentenschaft, für Humboldt Voraussetzung dafür, schule der Schöpfergeist in >>Berufsgeist<< (81) ver-
sich der >>reinen Idee der Wissenschaft<< (Schelsky 1963, fälscht werde. Mit der Orientierung an der reinen Idee
68) widmen zu können, hat sich zu einer Isolierung der Wissenschaft unter gleichzeitiger Verwerfung des
>>vom unbeamteten schöpferischen Geistesleben<< ver- tatsächlichen Wissenschaftsbetriebs hat Benjamin sich
kehrt (li, 81). Benjamin nennt Symptome. Die Stu- allerdings eine grundlegende Ambivalenz des WisseTI-
denten sind abgeschnitten vom freien Gelehrten- und schaftsbegriffs eingehandelt - >Wissenschaft< als das
Künstlertum, den >>Literaten<<, den Vertretern der >>mo- >aufgegeben-Aufzugebende<-, die ihn zwar für gene-
dernen Askese<<, die den >>Armen im Geiste, den Ge- relle Wissenschaftsverächter sowie den innerakademi-
knechteten und Demütigen<< im Neuen Testament schen Anti-Akademismus interessant erscheinen läßt,
vergleichbar seien (l, 63f.). Die Schule steht dem Le- aber der Umsetzung seiner Intention von Wissenschaft
ben, >>welches die Kunst verlangt<<, feindselig gegen- nicht förderlich sein konnte.
über. Die Studenten werden durch die Formen der
Lehre, Vorlesung und Seminar, von jeder Produktivität
112 Messianismus, Ästhetik, Politik

Vom nEros der Schaffendencc Einbeziehung der Frau<< (84)- auch dies ein Thema,
das in der Jugendkulturbewegung ausgiebig diskutiert
»Innerlicher« noch als durch die Berufsidee wird das wurde (Kupffer 1970, 63). Den >>eigenen schöneren
»Zentrum schöpferischen Lebens« aber durch die >>ero- Eros<< gelte es zu retten<< vor der allgemeinen >>Verstüm-
tische Konvention<< (83) verfälscht. Benjamin entwirft melung der Jugend<<. Diese existentielle Gefährdung
auch jetzt keine detaillierte Bildungskonzeption, son- sei >>dem Bewußtsein der Denkenden zu überliefern
dern skizziert eine >Verbildungslehre< zweiter Stufe, die und der Entschlossenheit der Mutigen<< (II, 85).
das Negativbild der idealistischen Vorstellung vom In einer pseudonym veröffentlichten Glosse für die
Studium in >Einsamkeit und Freiheit< komplettiert. Aktion vom 17.1.1914, EROTISCHE ERZIEHUNG betitelt
Der Darstellung der gesellschaftlich >bewußten< De- (71 f.), hatte Benjamin sein Verständnis des Sinns der
formation folgt als notwendige Ergänzung und Erwei- Prostitution noch provokanter formuliert. Nach der
terung der Aufweis der Verformung des Trieblebens. Erwähnung der herrschenden >>doppelten erotischen
>>Tiefer verbildet die erotische Konvention das unbe- Unkultur: der familialen und der Prostitution<< (71)
wußte Leben der Studenten<< (ebd.). Die Studienzeit und der Beschreibung der hilflosen Versuche, sich auf
erscheint als Zwischenstadium, eine Zeit, die sich >>leer dem schwierigen Terrain zu behaupten, heißt es: >>So-
und unbestimmt<< ausnimmt, eben weil der Eros in ihr lange[ ... ] die Studenten[ ... ] nicht wagen werden, die
keine Rolle spielt. Benjamin fragt nach der >>Einheit Erotik der Dirne, die ihnen zunächst ist, geistig zu
des Schaffenden und des Zeugenden<< und >>ob diese sehen, solange werden sie [... ] keine einzige geschaute
Einheit in der Form der Familie gegeben ist<< oder und geformte Zeile produzieren.<< Warum ist die Ero-
nicht. Der Student hat ein »ursprünglich[ es]<< Verhält- tik der Dirne den Studenten >>Zunächst<<- und inwie-
nis zum Eros, und es wäre die vornehmste Aufgabe der fern ist es möglich, sie >>geistig<< zu sehen? Die Diskus-
studentischen Gemeinschaft, um den >>Eros der Schaf- sion dieser Fragen ist Gegenstand der Korrespondenz
fenden<< zu >>ringen<< (ebd.).Auch angesichtsder mas- Benjamins mit Herbert Blumenthai vom Sommer
senhaften Prostitution wurde die Frage nach der Ein- 1913, deren Thematik vermutlich mit der ersten Pa-
heit des Eros nicht lebendig. (Keller 1990, 117, bietet risreise Benjamins zusammenhängt, die er Pfingsten
eine >typische< Szene, vgl. dazu Linse 1985, 250f.) Sie 1913 unternahm (Scholem 1975, 68). Ein Novellen-
muß aber gestellt werden, da >>diese beiden Pole fragment aus dieser Zeit atmet Pariser Flair (DER FLIE-
menschlichen Daseins<< in seinem Leben >>Zeitlich bei- GER, VII, 643 f.). >>Wenn sie [die geplante Novelle, d.
einander liegen<<, der Student Schaffender und Zeu- Verf.] gelingt,<< schrieb er am 3.7.1913 an den Freund,
gender zugleich sein könnte: als Erkennender und als >>so werdet ihr sie erhalten; und vielleicht in sehr ver-
Lehrender. Wie zentral diese Frage ist, zeigt sein kurzer schwiegner Sprache verstehen, was ausgesprochen
kulturgeschichtlicher überblick. Die Griechen ordne- unverständlich zu sein scheint.« Es gehe darum, >>schon
ten den zeugenden Eros dem schaffenden unter, die der jetzigen Prostitution einen absoluten Sinn zu ge-
Christen >>verwarfen die Einzelheit in beiden<<, und in ben<< (1, 130). In einem früheren, wichtigen Briefhatte
der Gegenwart gilt für die Exponenten des Zeitgeistes, er gefragt: >>Welchen sittlichen Sinn hat das Leben der
der Studentenschaft, daß man bei >>ästhetisierenden Dirne?<< (127) und die erstaunliche Antwort gefunden:
Betrachtungen<< stehenbleibt (II, 84). Die Prostitution »Indem es ein sittlicher ist, kann es kein andrer sein,
hat eine fest umrissene Funktion: die >> Neutralisierung als der unsres eigenen Lebens.<< Der Ton des Briefes
des Eros in der Hochschule<<. Erneut verweist Benjamin steigert sich ins Prophetische (>>Ich aber sage<<, >>Wahr-
darauf, daß eine angeblich reaktionäre Einrichtung wie lich<<). So wie die Dirne >>Ding und Sache<< sei, sollen
die katholische Kirche >>mehr furchtsamen Instinkt[ ... ] die Menschen >>Ding und Sache<< sein vor der Kultur
für die Macht und Notwendigkeit des Eros<< besitze als oder genauer: vor dem Geist.>>[ ... ] wenn wir selbst all
das Bürgertum (ebd.). Die »ungeheure Aufgabe<< be- unsere Menschlichkeit als ein Preisgeben vor dem Geist
stehe darin, >>aus dem geistigen Leben heraus zur Ein- empfinden und kein privates Gemüt, keinen privaten
heit zu bilden, was an geistiger Unabhängigkeit (im Willen und Geist dulden - so werden wir die Dirne
Korpsstudententum) und als ungemeisterte Natur- ehren. Sie wird sein was wir sind« (128). Die völlige
macht (in der Prostitution) verzerrt und zerstückelt Ausgeliefertheit und Verdinglichung stifte sowohl Ge-
als Torso des einen geistigen Eros uns traurig ansieht<< meinsamkeit wie Sittlichkeit. Benjamin setzt der kon-
(ebd.). Eine neue >>Beseelung des Studententums<< (85) ventionellen >>Vergeistigung des Geschlechtlichen<<
wäre das Ziel, aber weitaus umfassender als von den (ebd.) das Projekt einer »Vergeschlechtlichung des Gei-
humanistischen Universitätsgründern oder den Bil- stigen« (ebd.) entgegen. Darin bestünde die >>Sittlich-
dungsphilistern intendiert. Benjamin denkt an die keit der Dirne<<. Herbert Belmore wagte es dann, in der
Emanzipation der Schaffenden und die >>notwendige Oktobernummer des Anfangs einen Aufsatz mit dem
Schriften zur Jugend 113

Titel »Jugendliche Erotik<< zu veröffentlichen, der das Der Text schließt mit dem Hinweis auf die Gebote,
»große, reiche, gewaltige Triebleben<< der Jugend the- >>die das Leben Schaffender bestimmen« (87), und de-
matisierte und »der jugendbewegten Enthaltsamkeit nen sich keine Lebensform entziehen könne. Die Frage
eine vollkommene Absage erteilte<< (Linse 1985, 271 ), nach der Einheit des Lebens der Studenten ist beant-
was zu wütenden Protesten in der Presse führte (Bro- wortet, der zu Beginn genannte Dienst der Kritik am
dersen 1990, 68; vgl. Barbizon, in: Aktion 1986, Sp. Geist wird nun als Forderung an einzelne reformuliert.
202-205). >>Jeder wird seine eignen Gebote finden, der die ober-
Die Dimension einer >> Vergeschlechtlichung des ste Forderung an sein Leben heranträgt. Er wird das
Geistigen<< und die interne Diskussion darüber konnte Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärti-
im LEBEN DER STUDENTEN nur angedeutet werden. Zu gen erkennend befreien<< (ebd.). Mit diesem program-
einer >Metaphysik der Prostitution< schwang sich die- matischen Selbstzitat schließt sich der Kreis des >Le-
ser Text nicht auf. Erst im dialogischen Kernstück des bensentwurfs<, zu welchem der Zyklus METAPHYSIK
ersten Teils der METAPHYSIK DER JuGEND kommt es DER JuGEND ein eigenartiges, hermetisch wirkendes
dann zur Begegnung des Genies mit der Dirne. Komplement bildet.
Im Schlußpassus fragt Benjamin erneut nach dem
Selbstbild der studierenden Jugend, deren Bild im
Korpsgeist eher sichtbar werde als in den freistuden- An der Grenze - ,,Metaphysik der Jugend((
tischen Organisationen. Jugend erscheint als Interim, (1913/14)
gestundete Zeit, die zu genießen ist, bevor der tatsäch-
liche Ernst des Lebens sein Recht fordert. Das Studen- Die Intention des jungen Autors, >>etwas Bündiges[ ... ]
tenturn hat »dem Bürgertum die [seine, d. Verf.] Seele zur Artikulation einer Metaphysik der Jugend beizutra-
verkauft<< (II, 85). Ein faustischer Pakt, der das Phili- gen<< (II, 919),steht in deutlichem Kontrast zur äußer-
sterturn einbringt. Aus dem Leben wird zwar eine sten Zerrissenheit des Textes selbst, der als >>Zyklus<<
>>Lebensform<< (ebd.), aber siewird >>von allen geistigen (1, 241) von drei in sich abgeschlossenen Abschnitten
und natürlichen Mächten gestraft, von der Wissen- konzipiert war und sich dem Verständnis hartnäckig
schaft durch den Staat, vom Eros durch die Hure<< zu widersetzen scheint. Der dritte Teil, >>Der Ball<< über-
(ebd.). Die Selbstvergewisserung des Jünglings fordert schrieben, wurde von Scholem als >>Fragment<< be-
hingegen die Reflexion auf das Alter, die Schaffenden zeichnet, was sich entweder auf den Textstatus des
sehen, daß >>ein reicheres Geschlecht von Jünglingen gesamten Zyklus oder lediglich auf diesen Abschnitt
und Kindern<< (86) heranwächst, zu dem sie sich an- beziehen kann. Nur dieser letzte Teil ist datiert (Januar
gemessen nur als Lehrende verhalten können. >>Die 1914). Die beiden anderen Abschnitte wurden vermut-
Träger des geistigen Fortschritts sind zugleich die Leh- lieh im zweiten Halbjahr des Jahres 1913 verlaßt, da
rer<<, hatte Wyneken geschrieben, und das heißt: Sie im Briefwechsel mit dem Freund Herbert Blumenthai
sollten es sein (bei Geissler 1963, 76). An dieser Stelle viele der Themen angeschlagen wurden, um die es hier
wird die mögliche Einheit des Eros denkbar. >>Nur die geht. Auch als er die letzte Form noch nicht gefunden
eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit hatte, hielt Benjamin diesen Text für >mitteilbar<, denn
und würdigen Jugend ist die Bedingung des Schaffens<<, er ließ die Arbeit in einer Abschrift im engsten Freun-
ohne welches >>keine Erneuerung<< möglich sein wird deskreis zirkulieren. Mehr noch, der Text wird für
(II, 85). Im Horizont einer geistigen Lebensform wird >definitiv genug< erachtet, ihn allgemeiner zugänglich
aus der >>Gemeinschaft der Erkennenden<< eine zu machen, wie er am 23.5.1914 an Ernst Schoen
>>Freundschaft der Schaffenden<<, der aber derzeit jeder schreibt, der überAlfred Cohn die Initiative zur Pu-
Ort in der Hochschule verwehrt sei. Die Studenten blikation ergriffen haben soll, wenngleich Benjamin
verlierensichandieaußeruniversitärenLebensinstitutio- sich skeptisch zeigte. >>Das Drucken hat seine
nen, an Vorläufiges und Nichtiges, lenken auf jede Schwierigkeiten, ich weiß kaum einen geeigneten Ort,
Weise ab >>vom Ruf der Stimme, ihr Leben aus dem bin ungewiß ob Robert Musil es für die Wiener Rund-
einigen Geist von Schaffen, Eros und Jugend aufzu- schau annimmt<< (231).
bauen<< (ebd.). Dieser einige Geist ist das Prinzip, das Der >>Zyklus<< nimmt im Netz des Benjaminsehen
dem zerspellten Leben die Einheit verleihen kann, nach Frühwerks eine wichtige Stelle ein, die ihn- abgesehen
der Benjamin zu Beginn fragte. Die vermutlich bereits von den internen Verknüpfungen und Verweisen- mit
für Weimar vorgesehenen Verse Georges aus dem »Jahr zahlreichen anderen Texten, ob publiziert oder nicht,
der Seele<< geben den Blick frei auf >>eine keusche und sowie mit brieflichen Zeugnissen verbindet, besonders
verzichtende Jugend, die von der Ehrfurcht vor den aber als Komplement zum >offiziellen< Artikel über das
Nachfolgenden erfüllt ist<< (ebd.). LEBEN DER STUDENTEN erscheinen läßt. Nicht das Le-
114 Messianismus, Ästhetik, Politik

bensteht im Vordergrund, sondern der Tod, keine mo- (92). Das Hören, Lauschen, Vernehmen scheint ur-
nologische Form wurde gewählt, sondern eine bis zum sprünglicher zu sein als das Sprechen, setzt aber wie-
Äußersten getriebene literarische Facettierung, dem derum den Sprechenden in die Lage, das >>Schweigen
Programmatischen des Entwurfs stehen preziöse Sätze einerneuen Sprache<< (ebd.) erlauschen zu können.
gegenüber, die mit Neologismen prunken. >Innerli- -Die Erwähnung der >>wahre[n] Sprache<< (ebd.) ver-
cher<, und das heißt >wahrer<, wirkt dieser Text nicht knüpft diesen Text mit dem ebenfalls von Benjamin
zuletzt durch die Tatsache, daß der anonyme Verfasser nicht veröffentlichten, aber unter Freunden zirkulie-
>>Ardor<< sich hier in den Text zerlegt, das >>Strahlen<< in renden Sprachaufsatz von 1916.
verschiedenster Weise den Grundmodus angibt, in dem Der Gegensatz des >>Unproduktive[n]<< zum Genie
sich die einzelnen Abschnitte halten. Lorenz Jäger hat bestimmt den nächsten Abschnitt. Der Unproduktive
treffend charakterisiert, daß>>[ ... ] die Metaphysik der flüchtet in defiziente Formen der Öffentlichkeit, als die
Jugend insgesamt ein noch in hermetischer, kaum zu >>Tagebuch<< und >>Cafe<< genannt werden (ebd.). Er ist
durchdringender Verschlingung von Motiven begriffe- der Unvernehmende, in diesem Sinne Unvernünftige,
nes Mosaik schriftstellerischer Existenz entwirft, die der sich an Erotisches klammert und dessen Schicksal
den Anspruch auf Bedeutung nachdrücklich erheben es ist, unverständlich bleiben zu müssen. Verständ-
kann - darauf weist der hohe, feierliche Ton, mit dem lichkeit im eminenten Sinne kommt nur den Hören-
Benjamin hier auch über Größe und Unsterblichkeit den und Sprechenden zu, die der >>wahre[n] Sprache<<
handelt[ ... ]. Kaum mehr als der Wille ist hier erkenn- verpflichtet sind. Dem Genie ist die >>Vergangenheit<<
bar, einem ganz in die Moderne der Cafes verschlagnem (93) bereits Schicksal geworden, zitierbar, könnte man
Schreiben [vgl. II, 92], das die Großstadt so selbstver- sagen. Er ist Gefäß eines Größeren. >>Im Genie spricht
ständlich voraussetzt wie ihre literarischen Avantgar- Gott und lauscht dem Widerspruch der Sprache<<
den [vgl. 28 f.] und ihre Verkehrsformen, doch zugleich (ebd.). >>Widerspruch<< ist hier vermutlich zu verstehen
die Reichweite und wohl auch die Würde antikischer als ein Widerklingen, Antworten auf Gott. Dieses Ge-
Begriffe zu gewinnen<< (Jäger 2000, 729). spräch ist »Gebet<< (ebd.), seine Worte haben >>adami-
Der erste Teil ist >>Das Gespräch<< betitelt (II, 91-96). tischen<< (153) Charakter. Diese höchste Sphäre wird
Das Motto, Verse aus Hölderlins Ode >>Der blinde Sän- kontrapunktiert durch den >>Schwätzer<< (93), der
ger<<, ruft eine weltgeschichtliche Vision herauf, die den meint, sich an das Genie halten zu können.
individuellen Verlust des Augenlichts mit der Hoff- Das Text-Personal wird nun geschlechtlich differen-
nung auf die Wiedergewinnung des Lichts einer >>gei- ziert. Der Sprechende steht einer Schweigenden und
stigeren<< Jugend verbindet. Die zitierte >>Blindheit<< des Hörenden gegenüber, die >>den Sinn vor dem Verste-
Sehers steht- so könnte man meinen- für die >>gott- hen<< (ebd.) behütet, dessen Zudringlichkeit Züge eines
ferne, prophetenlose Zeit<< (Weber 1982, 610- dieses Freiers hat. Damit ist ihre >nächtliche< Seite angespro-
Schicksal sei als >>Grundtatsache<< der Jetzt-Zeit zu ak- chen, die Gespräch und Schweigen konturiert.
zeptieren). Dieser Ode ist ihrerseits ein Motto aus dem Die Prosa des ersten Teils öffnet sich im folgenden
Aias des Sophokles vorangestellt. Die beiden Motti zum Dialog zwischen Genie und Dirne, den beiden
stiften Zusammenhänge, die quer durch die Zeiten, Exponenten des Geistes, deren Gemeinsamkeit und
Epochen und Kulturen reichen. Ehe der Text beginnt, Sittlichkeit in der völligen Mediatisierung liegt (s.o.).
sieht der Leser sich einem literarisch höchst ambitio- Die Dirne steht für Nacht, Vergessen, Tod, Klagen und
nierten Selbstverständigungsversuch und Verwei- Asche. Sie sagt von sich: >> [... ] ich bin die Todesmutig-
sungszusammenhang gegenüber, der durch die Anti- ste<<, bevor sie »schlafen [gehen]<< (94).
kenrezeption Hölderlins und das Altertum selbst di- Der Gegensatz Mann-Frau wird in den nun folgen-
mensioniert wird. den Abschnitten potenziert zu dem Gegensatz Män-
Der Gegensatz von Schlaf-Erwachen bildet das Mu- nergespräche-Frauengespräche. Die Frau >>hütet die
ster für den ersten Abschnitt, der zwar vom »Kampf[] Gespräche. Sie empfängt das Schweigen und die Dirne
[... ] gegen die Väter<< spricht, aber mit der Erwähnung empfängt den Schöpfer des Gewesenen<< (ebd.). Diese
einer Klage um »versäumte Größe<< einen resignativen Empfänglichkeit gilt als wesentlich für jedes Sprechen.
Grundton vorgibt (II, 91). Männergespräche sind demgegenüber empfängnislos,
Als Telos des Gesprächs wird das Schweigen vorge- deshalb verzweifelt, taub, lästernd und gewalttätig.
stellt, da »der Sprechende die Sprache lästert<< (ebd.). »Die Zote siegt, die Welt war aus Worten gezimmert<<
Die literarische Sprachkritik der Jahrhundertwende (95). Frauengespräche sind anders. Zweimal hebt der
steht hier im Hintergrund. Text mit der Frage an: >>Wie sprachen Sappho und ihre
Höher als der Sprechende ist folglich der Hörende Freundinnen?<< Zunächst folgt die nur auf den ersten
zu sehen, der >>die wahre Sprache in Bereitschaft<< hält Blick merkwürdig berührende Frage >>Wie kam es, daß
Schriften zur Jugend 115

Frauen sprachen?<< (ebd.). Denn die Sprache >>entseelt<<, auf die erfüllte Kindheit scheint Rettung zu bieten und
da die Versprachlichung die Seele zum Verstummen das >>Begreifen<< (ebd.) zu erübrigen. Diese Reflexion
bringt. Deshalb kann es prägnant heißen: >>Worte sind gebiert das Tagebuch. >>Dies unergründliche Buch eines
stumm.<< Daß demzufolge >>sprechende Frauen<< von nie gelebten Lebens, Buch eines Lebens, in dessen Zeit
einer >>wahnwitzigen Sprache besessen<< (ebd.) schei- alles, was wir unzulänglich erlebten, sich zum Vollen-
nen, klingt absurd, entspricht aber dieser auf die Spitze deten verwandelt<< (ebd.). Die vom Tagebuch gestiftete
getriebenen Paradoxie. Zeit vollendet, so das Versprechen der Form, dem Ben-
Erst die weibliche Empflinglichkeit macht den Spre- jamin vertraute. Wie im ersten Teil zu Beginn die >>Un-
chenden empfänglich für sein >>Weiblich-Gewesenes<< produktiven<< abgewiesen wurden, wird jetzt der >>Un-
(ebd.). Das Schweigen der Frauen verweist zum einen freie[]<< (ebd.) als Unverständiger von dieser Sphäre
auf die erotische Sphäre, die mit der Nennung von ferngehalten. Das dreifach- von Sehnsucht, dem Wil-
Sapphos Kreis bereits anklang (vgl. 130), zum anderen len zur Jugend und Machtlust- verzehrte Ich, >>ent-
auf die Beruhigung und Vollendung des Gesprächs, zündet zu dunklem Feuer<<, beginnt zu >>erstrahlen<<
das sich nun erst selber >>erreicht[)<< (95), das heißt (ebd.). Wieder begegnet der Hinweis auf das dunkle
>>Gespräch<< (ebd.) im eigentlichen Sinne wird. Jetzt Licht, und bezeichnet die metaphorische Dimension,
kann es heißen: >>Die schweigenden Frauen sind die in dem das Ich kenntlich wird. >>Strahl, wußte es, bin
Sprecher des Gesprochenen<< (96). Schweigen und ich selber<< (ebd.). Das Pseudonym wird zum Wesens-
Wollust koinzidieren nicht nur, sie sind >>eins gewor- attribut. Aus dem Strahl wird der Strahl der Zeit, der
den<< (ebd.). Erst jetzt, von dieser Warte aus, wird so Zeitstrahl, die Zeit, schließlich die »unsterbliche Zeit<<
etwas wie >>Jugend<< (ebd.) sichtbar, auf die sich der (98), die in ilim selbst geschieht, ihn zum Reflex seines
>>Das Gespräch<< genannte Text zubewegte. Sie >>erleuch- eigenen Wesens macht: >>Erstrahlung ist er und nichts
t[et]<< (ebd.), spendet selbst Licht, weil sie die >>Jugend anderes<< (ebd.). Das Tagebuch ist ein Buch >>von der
der dunklen Gespräche<< (ebd.) ist. Der letzte Satz zeigt Zeit<<, die >>aufgehoben<< (ebd.) zu sein scheint (vgl. VI,
an, inwiefern das Ich des Schreibenden mit im Spiel 242) angesichtsder >>Strahlen [der] Erkenntnisse<< (li,
ist- Ardor, der Strahlende, der sich in diesen Text zer- 98), die es aussendet, der Zeit anheimgegeben. Die
spellte, dessen Telos lautet: >>Es erstrahlte das Wesen<< letzten Sätze dieses Abschnittes sprechen von der >>rei-
(ebd.). nen Zeit<<, die dem Ich widerfährt, das sich als abstän-
Der zweite Abschnitt des >>Zyklus<< ist >>Das Tage- diges entwirft, um >>Kraft<< zu schöpfen und die Dinge
buch<< betitelt (96-103). Seit frühester Jugend (1902) >>in sich zu reißen<< (ebd.). Literarische Begriffe wie
experimentierte Benjamin mit dieser Form. Mit dem >>Ableitungen und Quellen<< reichen zum Verständnis
Bericht MEINE REISE IN ITALIEN PFINGSTEN 1912lag dieser Reflexionsform des Ichs nicht aus. »Die Zeit, die
ein dezidierter Neuansatz vor (vgl. 1, 51 f.): Program- erstrahlte als Ich, das wir sind, widerfährt allen Dinge
matisch heißt es, daß die >>italienische Reise<< aus dem um uns als unser Schicksal<< (ebd.). Die eigene Un-
Tagebuch erst erstehen soll (VI, 252); eine >>Bildungs- sterblichkeit ist todbringend, und dieser Tod, Telos des
reise<<, so scheint es zum Formgesetz der Gattung zu ersten Teils, ermöglicht dem >>Wir<<, sich >>wesenhaft
gehören, synthetisiert sich von selbst im Nachhinein. [zu] fühlen<< (ebd.).
Keine bloßen >>Abenteuer der Seele<< werden berichtet Die >>Gedichte<< des Genies wurden im Dialog (vgl.
(VI, 252; vgl. VI, 239; VI, 456 zur >>Reisetechnik<<). 94) erwähnt. Der zweite Teil des >>Tagebuchs<< hebt an
Als kunstvoll gesetztes Motto (vgl. li, 96) dient ein mit Versen, welche zum einen an die Zeit-Darstellung
Laotse-Zitat, das die stabilitas loci preist und damit anknüpfen, andererseits die Landschaft, den Feind und
nicht nur den Zyklus fernöstlich dimensioniert, son- den Tod als Motive vorgeben.
dern auch gleich in scharfen Gegensatz tritt zu der Das Tagebuch, das Schreiben, hat sich emanzipiert
fanatischen Reiselust, zu der sich Benjamin bekannte. vom Geschrieben-Werden, es >>schreibt sich<<. Ihm
Ein >>Wir<< (ebd.) spricht. Das Thema Jugend, mit dem scheint die Benennungskraft Adams zuzukommen
der erste Teil schloß, wird aufgenommen. Die >>Melo- (vgl. 149 f. ), zumindest für die Dinge: >>Durstend nach
die [der] Jugend<< wird gesucht, aber nicht gefunden. Bestimmtheit treten die Dinge auf ihn zu, erwartend
Das Erwachen in Verzweiflung wird zum >>Ent- Schicksal aus seiner Hand zu empfangen<< (99). Diese
stehungstag des Tagebuchs<< (ebd.), das sogleich die Benennung ist keine Bezeichnung, sondern der >>Frage
Frage stellt, in welcher Zeit der Mensch lebe. In einer der Dinge<< wird fragend eine Antwort gegeben. Damit
leeren, lebenslosen Zeit, lautet die Antwort. Diese ist der Bezirk des Ichs umgrenzt. >>Im Wechsel solcher
>>Zeitlosigkeit<< wird vom »unbegreiflichen Tod<< be- Vibrationen lebt das Ich<< (ebd.). Nicht nur das, auch
herrscht (97), der in der Mitte lauert und sich hinter der >>Inhalt unserer Tagebücher<< (ebd.) ist damit be-
der Alltäglichkeit drohend erhebt. Allein der Rekurs stimmt. Traumwandlerisch schreitet der Text weiter.
116 Messianismus, Ästhetik, Politik

Die Zeit verräumlicht sich, wird zur Landschaft, als einandergespiegelt und auseinander herausgelesen.
deren Mittelpunkt das Ich sich erkennt. Die Frage Der Hinweis auf das träumerische Schreiben des Ta-
>>Sind wir Zeit?« (ebd.) läßt sich nicht beantworten. gebuchs legt den prophetischen Charakter dieser
Benjamin spielt mit den Hypostasen der Zeit, die als Niederschrift nahe, eine Prophezeiung, die >>unser ver-
Zeitraum von Naturdingen dargestellt werden. >>Feld gangenes Schicksal<< verkündet. Dessen Grenze mar-
und Berge[ ... ] sind unser vergangenes Sein[ ... ]. Wir kiert der Tod, >>der große Abstand<< (ebd.). In extrem-
sind zukünftig sie« (ebd. ). Auch hier findet ein >> Erwa- ster Verknappung, in einem nur aus einem einzigen
chen<< statt, dem das>> Morgenmahl der Jugend<< folgt. Wort bestehenden Satz, wird dieses Ende evoziert:
Die Landschaft wird angeeignet, zum Äußeren eines >>Tod<< (ebd.). Die Selbst-Widerfahrniswird an dieses
Innern, das sie belebt und verlebendigt. >>Durchdrun- Ende gebunden. Erst das >>Vorlaufen<< zum Tod, wie es
gen von Zeit atmet sie vor uns, bewegt<< (100). verwandt bei Heidegger heißt, läßt die >>Zeit des Todes<<
Aus der Landschaft löst sich die Geliebte. Der Text als >>die eigene<< erkennen. Die mannigfachen Gestalten
arbeitet hier mit Vorgaben des Genres>> Tagebuch<<, die des Todes werden noch einmal wie auf einer Bühne
übersteigert und als realisiert vorgestellt werden. >>Dies vorgeführt. Erneut wird damit der »Inhalt unserer Ta-
ist die Gestalt der Liebe im Tagebuche [... ]<< (ebd.). gebücher<< angegeben. Das Tagebuch ist unendlich viel
Damit scheint sich die Form erschöpft zu haben. Der mehr als ein bloßes Genre geworden, es ist >>Symbol
mögliche Leser des Tagebuchs fällt bei der Lektüre in der Sehnsucht, Ritus der Reinigung<<, das die >>Beru-
den Schlaf zurück, aus dem es ein kurzes Erwachen fung zur Unsterblichkeit<< (103) ausspricht. Es ist das
gab. Er wird auf den >>Tod des Schreibers<< gestoßen. Medium einer >>neuen >>Erstrahlung<<, eine tatsächliche
Aus ihm, dem Erleser, wird ein Erlöser, der erlöst, in- Unsterblichkeit, die nur >>im Sterben« erfahrbar wird,
dem er vom Tagebuch bezwungen wird. Die Figur des als eine neue Zeit, von der es heißt: >>Zeit erhebt sich
Feindes wird evoziert, der aber >>nichts anderes [ist] als am Ende der Zeiten<< (ebd.).
das vertriebene, geläuterte Ich<<, eine feindliche Ab- Der durchaus lebensphilosophisch konnotierten
spaltung, >>der gewaltigste Reflektor unsrer selbst<< tour de force (Jäger 2000, 725) folgt als musikalischer
(100). Er wird auch >>das unermüdliche, mutige Ge- Ausklang ein gesellschaftliches Ereignis, »Der Ball<< (Il,
wissen<< genannt. Das Tagebuch >>jubelt<< im weiteren 103f.) überschrieben. Ein Erwachen aus der Traum-
nicht nur oder >>schreibt sich selbst<<, sondern schreibt welt hat stattgefunden, ohne daß die Träume in dieser
auch das Tagebuch des Feindes, der jetzt die Gestalt Welt zurückgeblieben wären. Der Text beschreibt,
eines Lebensrichters mit Waage annimmt. nennt Gegebenheiten, >Nachtreste<, die mit Bällen zu
Der entfaltete Innenraum wird durch sprachliche tun haben: Musik, Vorhang, Orchester und Geigen,
Bilder aus dem Bereich der Monarchie weiter ausge- wird abrupt unmittelbar mit dem Einwurf »du kennst
führt. >>Königreich des Schicksals<< (101) heißt der ihn<< (103), das Verständnis des Lesers als gegeben vor-
Bezirk, den das Ich sich erschlossen hat und in wel- aussetzend. Auf der deskriptiven Ebene wird der Ein-
chem es sich immer wieder seiner Wahrhaftigkeit versi- druck eines Maskenballes erweckt, ein Ereignis, das
chern muß. Ein ermüdender Prozeß, der die >>gekrönte insulär wirkt angesichts des hieratischen Spruchs, der
Hoheit in uns<< sich abwenden läßt. Ein großartiges unmittelbar folgt. >>Es ist in allen ein Ungeheures zu
Bild deutet das Sich-Schreiben des Tagebuchs in die- verschweigen<< (ebd.). Normativ ist dies im Sinne des
sem Kontext neu: >>Mit großen Lettern schrieb der >>Nicht-Aussprechens<< zu verstehen, gemäß dem ersten
Griffel ihres schlafenden Geistes das Tagebuch<< (ebd.). Abschnitt des Zyklus< im Sinne eines Verwindens von
Dieser nicht aufhebbare Zwiespalt führt zu einer Re- Ungeheurem. Das >>Wir<< ist präsent wie nie sonst in
aktion, die wiederum nur in einem Paradox dargestellt diesem Zyklus. Die Landschaft des Saals entläßt, wie
werden kann: diese >>Bücher<< bezeugen die >> Thronbe- im>> Tagebuch<< vorgezeichnet, eine Frau aus sich, deren
steigung eines, der abdankt.<< Wahrhafte Begegnungen Gang durch den Saal die anderen Gäste wie Seiltänzer
scheinen nicht mehr möglich zu sein, lediglich Erleb- erscheinen läßt. Die prunkhaften Bilder sind eingefan-
nisse, Zufälle, Bedrängung und Unvollendetes. Der gen von der Situation. Wie Schemen tauchen die im
Text scheint jetzt eine Dimension erreichen zu wollen, >>Wir<< Vereinigten aus dem Dunkel auf.>> [U]nsere Au-
deren >>Sinn<< vollständig vor dem >>Verstehen [... ] be- gen spiegeln die Freunde rings umher, wie sich alle
hütet<< wird (93; vgl. 23). bewegen, umflossen von Nacht<< (104). Die Zeit ma-
Gleichwohl gelangt er zu geradezu terminologisch rodiert nicht mehr. >>Hier ist die Zeit eingefangen.<< In
anmutenden Bestimmungen vom Schicksal - >>diese diesem Haus konzentriert sich die neue Zeit. >>Um die-
Gegenbewegung der Dinge in der Zeit des Ich<< -und ses Haus wissen wir alle gnadenlosen, ausgestoßenen
Größe: >>jene Zeit des Ich, in der die Dinge uns wi- Wirklichkeiten flattern<< (ebd.). Dichter, Heilige, Poli-
derfahren<< (102). Wieder werden die Hypostasen in- zisten und Autos bleiben draußen. Innen herrscht die
Schriften zur Jugend 117

Musik, die alles Äußere und Äußerliche »Verschüttet« 1975, 19). Ein »zeithistorisch angemessenes und der
(ebd.). Komplexität der Vorgänge gerecht werdendes Verste-
hen<< (Deuber-Mankowsky 2000, 299f.) bleibt auch
und gerade für die frühen Arbeiten das Ziel. Erinnert
Schluß sei an die in der VI. These ÜBER DEN BEGRIFF DER
GESCHICHTE ausgegebene Losung: >>In jeder Epoche
In der seinem Sohn gewidmeten BERLINER CHRONIK muß versucht werden, die überlieferung von neuem
blickt Benjamin zurück auf die jugendbewegte Zeit, dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff
die mit dem Doppelselbstmord des Freundes Fritz steht, sie zu überwältigen<< (I, 695). Keine geringe Auf-
Heinle und seiner Freundin Rika Seligson am 8.8.1914 gabe, aber eine, die sich immer wieder aufs Neue stellt:
in den Räumen des Berliner »Heim[s]« (VI, 478) ab- als >>Lebensideal<< und Aufgabe der Jugend.
rupt endete. Kein Einzelner, Vereinzelter spricht, son-
dern ein Letzter einer »wirkliche[n] Elite«, die fälsch- Werk
lich glaubte, ihre Epoche »unberührt lassen zu können, DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGENWART (Il, 16-
um nur die Schulen in ihr zu verbessern, nur die Un- 35)
DAS LEBEN DER STUDENTEN (Il, 75-87)
menschlichkeit der Eltern ihrer Zöglinge zu brechen, METAPHYSIK DER JuGEND (Il, 91-104)
nur den Worten Hölderlins oder Georges in ihr ihren
Platz zu geben<< (ebd.). Sein Resümee lautet: »Es war
Literatur
ein äußerster, heroischer Versuch, die Haltung der
Die Aktion 1911-1918. Wochenschrift für Politik, Literatur
Menschen zu verändern ohne ihre Verhältnisse anzu- und Kunst, hg. v. Franz Pfemfert. Eine Auswahl von Tho-
greifen<< (ebd.). Nicht daß alles vergebens gewesen mas Rietzschel, Berlin/Weimar 1986.
wäre. 1930 hatte er bereits von den >>herrlichen Grund- Brodersen, Momme (1990): Spinne im eigenen Netz. Walter
lagen<< gesprochen, >>die [er] in [seinem] zweiund- Benjamin- Leben und Werk, Bühl-Moos.
Deuber-Mankowsky, Astrid (2000): Der frühe Walter Benja-
zwanzigsten Jahr gelegt hatte<<, ohne auf ihnen >>auf- min und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Phi-
bauen<< zu können (3,521). Daß Benjamin mitdiesem losophie, vergängliche Erfahrung, Berlin.
Ausdruck auf seine erste >>Summe<<, DAs LEBEN DER Dudek, Peter (2002): Jugend als Fetisch. Walter Benjamin und
Siegfried Bernfeld, Bad Heilbrunn.
STUDENTEN, die mit Versen Georges ausklang, und
Geissler, Erich H. ( 1963 ): Der Gedanke der Jugend bei Gustav
dessen >>hermetisches<< Äquivalent, die METAPHYSIK Wyneken, Frankfurt a. M./Berlin/Bonn.
DER JuGEND anspielte, der Verse Hölderlins vorange- Götz von Olenhusen, Irmtraud u. Albrecht (1981): »Walter
stellt waren, dürfte dem Adressaten klar gewesen sein. Benjamin, Gustav Wyneken und die Freistudenten vor dem
Ersten Weltkrieg. Bemerkungen zu zwei Briefen Benjamins
1917 hatte er bereits in einem Brief an Schoen ver-
an Wyneken«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Ju-
sucht, die Vorkriegsjahre zu verdichten. >>Ich hoffe, die gendbewegung, Burg Ludwigstein, 100-130.
beiden Jahre vor dem Kriege als Samen in mich auf- Hartung, Günter (1992): >>Das Ethos philosophischer For-
genommen zu haben und von da an bis heute geschah schung<<, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Aber ein
Sturm weht vom Paradiese her- Texte zu Walter Benjamin,
alles zu ihrer Läuterung in meinem Geist<< ( 1, 373 f.).
Leipzig, 14-51.
>>Radikale Brüche<< lassen sich kaum läutern, Samen Herrmann, Ulrich ( 1985): >>Die Jugendkulturbewegung- Der
können, sofern ihnen Pflege angediehen wird, wachsen Kampf um die höhere Schule<<, in: Thomas Koebner/Rolf-
und sich entwickeln. Sogar die Lichtmetaphorik des Peter Janz/Frank Trommler (Hg.): Mit uns zieht die neue
Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt a.M., 224-244.
einstigen >>Ardor<< klingt wieder an, wenn er von der Hillach, Ansgar (1999): »>Ein neu entdecktes Lebensgesetz
>>Flamme des Lebens<< spricht, die nicht verdüstern der Jugend<- Wynekens Führergeist im Denken des jungen
darf, und von dem >>Licht<<, das ihm die >>Besonnenheit Benjamin«, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global
im Geist der vergangeneu Jahre<< geben soll (ebd.). benjamin, Bd. 2, München, 872-890.
Jäger, Lorenz (2000): »Schicksal«, in: Michael Opitz/Erdmut
Vor dem >>Frühwerk<< steht die immer noch be- Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt a.M.,
fremdlich wirkende >> Frühphase<<, mit welcher >>die vor 725-739.
dem eigentlichen Werk liegende Zeit bis etwas 1915 Keller, Philipp (1990): Gemischte Gefühle. Mit einem Nach-
gemeint<< ist (Wizisla 1987, 616, Anm. 2). Dieses Be- wort von Werner Jung, Stuttgart.
Koebner, Thomas/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler
fremden, mit dem die Benjamin-Literatur seinen >>mis- (Hg.)(l985): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Ju-
sionarischen Eifer für die Idee der Jugend quittiert<<, gend, Frankfurt a. M.
ist seinerseits befremdlich (Deuber-Mankowsky 2000, Kupffer, Heinrich (1970): Gustav Wyneken, Stuttgart.
299f.). Von einer >>Pseudomorphose<< des jungen »Ge- Laermann, Klaus (1985 ): »Der Skandal um den Anfang- Ein
Versuch jugendlicher Gegenöffentlichkeit im Kaiserreich<<,
nies<< zu sprechen, das Texte produziert habe, die zum in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler
eigenen Werk >>exterritorial<< stehen (II, 824 f.), wurde (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Jugend,
bereits vor Jahren als >>unzulänglich<< bezeichnet (Witte Frankfurt a.M., 360-381.
118 Messianismus, Ästhetik, Politik

Linse, Ulrich {1985): >»Geschlechtsnot der Jugend<- Über


Jugendbewegung und Sexualität<<, in: Thomas Koebner/
"Das Glück des antiken
Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.): Mit uns zieht die Menschencc
neue Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt a.M., 245-309.
Nietzsche, Friedrich {1966): Werke in drei Bänden, hg. v. Kar! Von Ansgar Hiliach
Schlechta, München.
Pauen, Michael (1999): >>Eros der Ferne. Walter Benjamin und
Ludwig Klages<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.):
global benjamin, Bd. 2., München, 693-716. In dieser kleinen, zu Lebzeiten Benjamins unveröffent-
Schelsky, Helmut {1963): Einsamkeit und Freiheit. Idee und lichten Abhandlung wird in gleichsam verpuppter
Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Gestalt ein zentrales Thema des jungen Benjamin wie-
Reinbek.
Scholem, Gershorn (1975): Walter Benjamin- die Geschichte deraufgenommen und zu einem vorläufigen Abschluß
einer Freundschaft, Frankfurt a. M. geführt: das einer Intensität der Erfahrung des Leben-
Weber, Max (1982): »Wissenschaft als Beruf<<, in: Johannes digen bzw. des Lebens des Geistes, die Benjamin im
Winckelmann (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissen-
Raum von Jugendkultur und neuer Religiosität gesucht
schaftslehre, 5. Auflage, Tübingen.
Weigel, Sigrid (2000): >>Eros«, in: Michael Opitz/Erdmut Wi- hatte. Die Arbeit wurde nach Ausweis eines nur unge-
zisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a.M., 299-340. nau zu datierenden Briefes vor Ende 1916 abgeschlos-
Witte, Bernd (1976): Walter Benjamin- Der Intellektuelle als sen (vgl. 1, 350), in jenem Münchner Jahr, in dem
Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart.
Benjamins Interesse an vergleichender Mythologie
Wizisla, Erdmut {1987): >>>Die Hochschule ist eben der Ort
nicht, zu studieren.< Walter Benjamin in der freistudenti- und Geschichtsphilosophie in miniaturhaften Studien
schen Bewegung<<, in: Wissensch. Zs. der Humboldt-Uni- physiognomischer Art Gestalt annahm. Dieses Inter-
versität zu Berlin, Ges.wiss. Reihe, 36. Jahrgang, H. 7, esse war theoriegeleitet, d. h. eingebettet in Reflexionen
616-623.
über das »Verhältnis der Produktivität zum Leben<< ( 1,
298): nach Maßgabe von Theorie, also einer integra-
tiven Schau der in Gestalten des Lebens sich offenba-
renden Ideenwelt, »erfüllt sich das Leben des Schaf-
fenden rhythmisch mit Produktion<< (ebd.). Theorie,
geistige Schau, ist hier im platonischen Sinne als le-
bensleitende Erkenntnisaufgabe verstanden. Geistige
Produktivität war der >>Reinheit<< der Erkenntnis ver-
pflichtet; deren Erfahrung war glückhaft.

Fundierung des Glücks in der nSammlung''

Die Bindung der Theorie an das »Leben<<, die zunächst


durch Wyneken und die Arbeit für eine Jugendkultur-
bewegung grundgelegt worden ist, erhielt in dieser Zeit
eine neue Akzentuierung durch die Lektüre Friedrich
Schlegels (vgl. 1, 324). Noch 1913 hatte Benjamin im
Blick auf einen idealistischen Begriff von Jugend von
dem >>ständige[n] vibrierende[n] Gefühl für die Ab-
straktheit des reinen Geistes« (1, 175) gesprochen:
Jugend war das Sich-offen-Halten für die Verwirkli-
chung des Geistes, wo immer er sich zeigte. Darin
schwang, neben dem durch Wyneken vermittelten
Weltbildamalgam (vgl. Hiliach 1999, 876ff.), auch ein
vom neukantianischen Idealismus purgierter Wis-
senserhebung ( Speth1991, 30 ff.) genährter Radikalis-
mus mit, der sich bei Benjamin mit platonisch-eroti-
scher Emphase auflud.
Wenn Benjamin sich dann dem späten Schlegel,
seinen Vorlesungen über eine Philosophie des Lebens
und der Geschichte zuwandte, so werden die Gründe
in dessen Kritik an den Abstraktionen des philosophi-
»Das Glück des antiken Menschen« 119

sehen Idealismus und in der Wendung zu den Gestal- Eine quasi osmotische Beziehung zum Kosmos im
ten des Lebens, zur vergleichenden Mythologie und Gelingen der Sammlung ist also Voraussetzung für das
zur Geschichte im Geiste der Eschatologie zu suchen Glücksempfinden, das sich einstellt, wenn Freude ein-
sein. >>Leben<< war für den späten Friedrich Schlegel fließt. Der »nachantike Mensch« - so der Eingang
kein leeres Allgemeines, sondern Erfahrungsgrund der unseres Textes- empfindet aber vorweg Geschieden-
Person, »Geist« kein Abstraktum aus der Schatzkam- heit, und er kann die Sammlung in der Geschiedenheit
mer der Reflexion, sondern Essenz des spirituell Er- nur als Schmerz erleben - oder in der Verfassung des
fahrbaren. Schlegel selbst bestimmt seine »Philosophie Schmerzes, wie man vorsichtiger sagen muß. Denn auf
des Lebens« als »eine innere geistige Erfahrungs-Wis- diesem Grund scheint gleichwohl Glück möglich. Dem
senschaft, die nur von Tatsachen ausgeht und überall nachantiken Menschen ist beschieden, »ein annähernd
auf Tatsachen beruht, wenn gleich es in manchen Fäl- großes und reines [... ] annähernd naives Gefühl seiner
len allerdings Tatsachen einer höhern Ordnung sind« selbst nur um den hohen Preis« einer geschichtlich
(Schlegel1969, XLIII). Entsprechend besteht Benjamin verhängten schmerzlichen Grunderfahrung zu gewin-
im Juli 1916 auf den »sachlichen Quellen« der Produk- nen (II, 126). Warum die mentalitätsgeschichtliche
tivität (1, 299) und einer »sachlichen[ ... ] nüchternen Grenzlinie irgendwo zwischen Antike und Nachantike
Schreibart«, in der die »Elimination des Unsagbaren« gezogen wird, bleibt zunächst offen. Auf philosophi-
zu leisten sei (1, 326). scher Ebene sah Benjamin erst durch Karrt die eherne
Vor diesem knapp skizzierten Hintergrund ist DAs Kluft zwischen Natur und Geist, Sinnlichkeit und Ver-
GLÜCK DES ANTIKEN MENSCHEN ZU lesen. Benjamin stand aufgerissen (vgl. I, 31 f.). Er wollte darin aber
hebt das Glück des antiken Menschen vom Zerrbild auch die Eröffnung des Weges erkennen, eine neue
des Glücks in der bürgerlichen Moderne ab. Vorweg religiöse Erfahrung zu begründen (ebd., sowie ÜBER
läßt sich eruieren, was Benjamin unter Glück verstand. DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE). Sol-
Eine implizite Bestimmung findet sich am Beginn sei- che Erfahrung mußte, als erkenntnisträchtige im pla-
nes DIALOGS ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGENWART tonischen Sinne, dem Glück verschwistert sein.
aus dem Jahre 1912. Dort heißt es: »Naiv nenne ich Was Benjamin zu Beginn seines Aufsatzes über das
die, die von Natur aus fähig sind, in einer augenblick- Glück formuliert, steht somit in einem kontroversen
lichen Freude nicht einen Rausch zu empfinden [... ] Verhältnis zu Anschauungen, die er gleichzeitig ent-
sondern denen eine Freude eine Sammlung des ganzen wickelt. Benjamin versuchte ja, die mathematisch-me-
Menschen ist« (II, 16). thodische Komponente des Karrtsehen Kritizismus
Von Sammlung in einem gegenpoligen Sinne be- durch Rückgriff auf Platon zu überwinden. Im plato-
richtet ein BriefBenjamins vom 20. Juli 1916, der auch nischen Dualismus von Erscheinung und Idee vermit-
eine sicherlich grundlegende »Einsicht in das Wesen telt die Abbildlichkeit der Erscheinungen im Verhältnis
des Glücks« (1, 329) enthält. Die dort beschriebene zu den urbildliehen Ideen die Erkenntnis des Wahren.
Situation ist eine atmosphärische: eine Landschaft bei Was aber zu Platons Zeiten sich im Raum dialogischer
Seeshaupt, seit Wochen grau in grau und überwiegend Begegnung gewinnen ließ, scheint nach dem Zerfall
naß; Benjamin kleidet dies in ein starkes Bild: »das der antiken Kultur uneinholbar geworden. Der »Kos-
ganze Land ist wie ein ohnmächtiges Gewitter« (ebd.). mos« (II, 127) ist eine Idee, die für Kant transzendent,
Der Briefschreiber findet »tiefe[n] Trost [im] Gleich- der Erfahrung entzogen ist. Das Mittelalter hatte nach
maß allen Wachstums« (ebd.), also einem kosmisch Benjamins von Schlegel übernommener Auffassung
Erspürten, das sich über die Atmosphäre vermittelt. zwar die unmittelbare» Tendenz aufs Absolute« (ÜBER
Glück als Erfahrung ist in diesem trostlosen Kriegs- DAS MITTELALTER, Il, 132 f.), aber ohne Anschauung
sommer, in dem die Jugend »an allen Orten an denen der mythologisch durchdrungenen Natur, die in der
sie sichtbar ist zugleich verloren erscheint« (ebd.), Antike die Wahrnehmung aufs Ideelle verwies. Das
nicht möglich. Benjamin schreibt: »Im Traum er- christliche Mittelalter bezeugt damit, trotzder äußer-
scheint mir abwechselnd die Hölle und der Teufel« lichen Rezeption antiker Versatzstücke, den Abbruch
(ebd.). Und doch bringt jener Trost »die Einsicht in der antiken Welt.
das Wesen des Glücks als welches ist: alles im Leben so
zu tun und zu fühlen, daß es auf unser Geborensein
zurückgeht« (ebd.). Diese Briefnotiz ist wohl der ein- Glück unter dem Primat der Reflexion
zige Hinweis darauf, daß Benjamin sich in dieser Zeit
mit dem Problem des Glücks beschäftigt hat, daß die Nach der Depotenzierung auch des Christentums als
Problematisierung des Glücks wohl auch biogra- Religion und Weltanschauung wird so verständlich,
phisch-zeitbedingte Gründe hatte. warum Benjamin ein »annähernd naives« Verhältnis
120 Messianismus, Ästhetik, Politik

zum Kosmos >>vielleicht<< nur um den Preis des Schmer- rer Sammlung zu einer Gemütsverfassung, die den
zes für möglich hält- ja er traut schon dem Bewohner ganzen Menschen zu annähernd naiver Wahrnehmung
der christlichen Welt die Naivität der gewissermaßen befähigt, weist auf eine Bewußtseinslage, in der sich
kosmisch umfangenen Glückserfahrung nicht mehr der zwischen Sinnlichkeit und Verstand aufgespaltene
zu. Damit radikalisiert Benjamin ein Konzept Schillers, Abendländer nach der Antike befindet. Das Beispiel
der aus einem ganz anderen Interesse heraus zunächst des Kindes eröffnet jedoch einen Pfad, der schon beim
nur den Griechen der Klassik jene fraglose Verbunden- frühen Benjamin aus der Gespaltenheit herausführt
heit mit der Natur als Kosmos und Mythos zusprechen und zugleich die Dimension aufzeigt, in der das von
konnte, die kennzeichnend für die naive Einstellung ihm häufig gebrauchte Wort >>rein<< zu verorten ist.
ist (Schiller 1962, 429-432). Benjamin entlehnt von Kindsein ist vorindividuelles Sein, im Kind ist das Be-
Schiller den Begriff des >>Sentimentalischen<< für den wußtsein noch nicht zu einer herausgehobenen und
Menschen einer nachantiken Verstandeskultur, der die herrschaftlichen Instanz geworden. Das Kind emp-
verlorene Aufgehobenheit in der umgebenden Natur fängt Eindrücke unmittelbar mit den ihm gegebenen,
durch Kunst und ideelle Anstrengung wiederzugewin- ganzheitlich verbundenen Sinnen, es >>Verliert sich<< an
nen sucht. Schiller entwickelt aber aus dem Begriffs- diese Eindrücke.
paar naiv- sentimentalisch letzten Endes eine Typen- So wird es in demAnfang 1915 entstandenen Dialog
lehre des Dichterischen. DER REGENBOGEN charakterisiert: »Das Wahrnehmen
Während das Naive bei Schiller in allen Erschei- der Kinder ist selbst in die Farbe zerstreut. Sie leiten
nungsformen als unbewußt selbstsichere Kraft auch nicht ab. Ihre Phantasie ist unberührt<< (VII, 25). In
unter künstlichen Verhältnissen sich zeigt, gerät es in diesem GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE, wie es im
Benjamins Deutung unter den modernen Primat der Untertitel heißt, zwischen einer Frau, die von einem
Reflexion. Denn zum einen kann auch der sentimen- soeben gehabten Traum berichtet, und einem Künstler
talische Mensch es eben um den Preis des Schmerzes bewegen sich beide Partner in einer luziden Klarheit
sich näherungsweise wieder zueignen, zum andern, des Erkennens, in einer ihr selbst nachspürenden spi-
gesellschaftlich, verfällt der ursprünglich naive Typus, rituellen Erregung. Sie sprechen über Phantasie und
etwa in Gestalt des Kindes, dem stillschweigenden Ver- die nur ihr gegebenen reinen Farben und sind getragen
dikt des Gehaltlosen, Uninteressanten, ja Unechten. von Phantasie, der >>Gabe der reinen Empfängnis über-
Daher wird das Bild des Kindes in der bürgerlichen haupt<< (22). Benjamin faßt die Phantasie, wie auch
Welt verniedlicht, verkitscht: >>nicht das fühlende, reine zugehörige Notizen aus dem Nachlaß belegen, ähnlich
Wesen[ ... ], dem unmittelbarer als einem andern Ge- der »transzendentalen Einbildungskraft<< bei Kant als
fühl zum Ausdruck wird<< (II, 127), kann erkannt und ein zur Sinnesausstattung des Menschen gehörendes
anerkannt werden, sondern etwas Unaufrichtiges transzendentales Vermögen auf, das auch ohne Inter-
dringt in das Bild des Kindes ein, so als ob das Kind vention des Verstandes >>rein<< aktiviert werden kann.
aus Scham bestrebt wäre, die Unmittelbarkeit der emp- Dies ist vorzugsweise beim schauend spielenden Kind
fangenen Eindrücke, die im positiven Falle sein Glück der Fall, es bewegt sich >>innerhalb des Kanon« seiner
ausmachen, zu verleugnen und zu verbergen. Das ten- Sinnesvermögen und ist insoweit (menschliche) Natur
denziell Expansive und Ungeniert-Offene der kindli- (vgl. VII, 563). So auch hier: Künstler und Träumerin
chen Erfahrungsweise wird zur kleinen Heimlichkeit werden als Organe des Schauens gewissermaßen den
umgedeutet und umerzogen. Entsprechend ist dann Dingen gleichrangig, und in der Farbe erscheint ihnen
auch im Erwachsenendasein >>das kleine Glück der >>das eigentlich geistige Wesen der Sinne, das Aufneh-
Sentimentalen Seele<< (ebd.) so beschaffen, daß sich men<< (23). >>In der Farbe ist das Auge rein dem Gei-
das Innere nicht, wie es dem Naiven entspricht, zu stigen zugewandt, [... ].Die Farbe ist der reine Aus-
>>voller Reinheit und voller Größe<< (II, 126) in der druck des Weltanschauens, die Oberwindung des Se-
Ahnung des Kosmos erhebt, sondern sich in einem henden<< (ebd.).
stillen Winkel gleichsam zusammenzieht und ver- Benjamin zeigt sich hier beeinflußt vom Neukantia-
kriecht. nismus der Südwestdeutschen Schule, mit der er
Die Bestimmungen des Glücks, die Benjamin im 1912/13 in Freiburg nachhaltig in Berührung gekom-
ersten Teil der Abhandlung trifft, sind überwiegend ex men war. Von Heinrich Rickert dürfte Benjamin die
negativo real gegebener Verhältnisse gefaßt. Glück sei, Einsicht mitgenommen haben, daß das Subjekt der
so heißt es immerhin, auch dem modernen Menschen Erkenntnis zwar das im kantischen Sinne transzenden-
>>ein naiver Zustand der Seele<< kat'exochen, schlecht- tale ist, daß es aber intentional auf Werthaltungen,
hin (II, 127),- ungeachtet er kaum noch gefunden nicht auf Erscheinungen eines >>Dinges an sich<<, son-
wird. Der Preis des Schmerzes für das Erreichen inne- dern letztlich auf absolut Schönes und Gutes gerichtet
»Das Glück des antiken Menschen« 121

sei. Damit war Platon ins Spiel gebracht, denn auch vidualistische Rückstieg ins Befindliche, um es als
Rickert nahm ein transzendentes Reich der Werte an, solches festzuhalten und ins Heimliche zu retten, wäre,
demgegenüber die menschlichen Sinnbildungen, etwa so behauptet Benjamin, für den antiken Menschen
in der Kunst, symbolhafte Vermittlungen und Annä- Hybris gewesen, also Anmaßung gegen die Götter, die
herungen darstellen. Schicksal zuteilen. Die Vorstellung, daß der individu-
Noch näher an Platon als selbst Cohen und bedeut- elle Mensch eine Bevorzugungaufgrund von Verdien-
samer für Benjamin dürfte sein Philosophielehrer sten sich zueignen könne, ist irreligiös und läuft dem
Jonas Cohn gewesen sein, den er in seinen Briefen al- Wesen des Glücks zuwider. Jedoch überspannt Benja-
lerdings nur beiläufig erwähnt. Cohn hatte sowohl der min den Begriff der Hybris, wenn er eine doch bieder-
Wahrheitserkenntnis als auch den ästhetischen Werten meierliche Verhaltensweise der Verinnerlichung des
einen Forderungscharakter zugeschrieben. Bereits Glücks unter ihm begreift. Historische Differenzierung
1902 hatte er eine Allgemeine Ästhetik veröffentlicht, hat Benjamin hier nicht im Sinn. Die blockartige Ge-
die noch heute als das maßgebende Werk zur Ästhetik genüberstellung idealtypischer Befunde aus bürgerli-
der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus cher Moderne und klassischer Antike soll vielmehr
gilt. einen Spannungsbogen schaffen, aus dem das Wesen
In Platons Modell ist Glück nur im erotischen Bezug des Glücks hervortritt.
auf das Schöne und Gute zu finden (der sog. Kaloka-
gathie), und in einem »reinen<<, aufs Ästhetische be-
schränkten Sinne hat Benjamin eine solche Glückser- Der kultische Charakter des Glücks
fahrung im platonischen Dialog DER REGENBOGEN ZU
vergegenwärtigen gesucht, unter Voraussetzung der Denn keineswegs ist die mythisch verfaßte Antike als
Kantschen Erkenntniskritik und neukantianischer positives Gegenbild der Moderne zu verstehen. Sie ist
Ästhetik. Die Annäherung an des Unsagbare der Ka- als solche auch kaum dem seinerzeitigen Stand der
lokagathie ist deswegen erotischer Natur, weil sie die Antikeforschung angemessen dargestellt. Mit Bedacht
leibseelische Einheit des Menschen zu höchster Er- wählt Benjamin als Inbegriff des Glücks in der Antike
kenntnisfähigkeit bündelt, weil sie in strebender Be- den Sieg des Heros, der auch da, wo er als Wettkämp-
wegung ein>> Körpergefühl [der] geistigen Persönlich- fer auftritt, sich zu mythischer Gestalt erhebt. Mythos
keit<< (II, 33) erfordert und bestärkt, also über die ist Ungeschiedenheit aller Seinsbereiche, Ungeschie-
kritizistische Einschränkung hinaus >>Reichtum und denheit vor allem im Verhältnis des Menschen zur
Schwergewicht der Individualität<< (ebd.) zur Entfal- Natur, die damit dämonische Macht gewinnt (was als
tung bringt. Das im DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT Schicksal erscheint). Das gilt auch da, wo es, wie im
DER GEGENWART von 1912 in ethischer Perspektive so antiken Griechenland, eine aufgefächerte Götterwelt
schmerzlich vermißte >>neue Bewußtsein persönlicher gab. über Mythos und Schicksal hat Benjamin wenige
Unmittelbarkeit<< (ebd.) ist im REGENBOGEN in einer Jahre später ausführlich gehandelt (vgl. ScHICKSAL
traumhaft-idealen Konstellation Wirklichkeit gewor- UND CHARAKTER Il, 171 ff. sowie GoETHES WAHLVER-
den. Der Dualismus von Erscheinung und Idee bleibt WANDTSCHAFTEN I, 125ff., dort insb. 157f.).
freilich bestehen: >>es ist das Wesen der Schönheit, daß Die wesentlichen Züge des hier von Benjamin in
wir das Schöne nicht anders als empfangen können, Anspruch genommenen, rudimentären Antikemodells
und nur in der Phantasie kann der Künstler leben und verweisen auf Pindar, sie lassen sich als Extrapolatio-
sich im Urbild versenken. [... ]Alle Schöpfung ist un- nen von Auffassungen lesen, die aus dessen Siegeshym-
vollkommen; alle Schöpfung ist unschön. Laß uns nen hervortreten. Der Bezug zu Pindar ist nicht nur
schweigen<< (VII, 26). durch einen zentralen Satz dieses Abschnitts gegeben,
Glück ist auch darin naiv, daß es sich bekennt und sondern auch durch Benjamins anderthalb Jahre zuvor
nicht nach Bestimmungsgründen fragt, sich also von entstandene Arbeit ZWEI GEDICHTE VON FRIEDRICH
Reflexion freihält. Die kosmische Rückbindung des HöLDERLIN. Diese Arbeit war angeregt worden durch
Glücks (religio) würde der Reflexion nur seine Unsi- die Dissertation Norbert von Hellingraths, der die
cherheit, Unverdientheit und Zufälligkeit offenbaren. Findar-übersetzungen Hölderlins erstmals herausge-
Daher ist das Kind der reinste Ort des Glücks. Der geben und kommentiert hatte und durch sie wesent-
erwachsene Mensch tritt mit der Glückserfahrung vir- liche Impulse seiner bahnbrechenden Hölderlin-In-
tuell in den Bezirk des Religiösen und Kultischen ein. terpretation gewonnen hatte (vgl. Speth 1991, 9ff.).
Man kann das als den Grundgedanken dessen ansehen, Von Pindar sind nur seine Siegeslieder (Epinikien)
was Benjamin im zweiten Teil seiner Abhandlung über vollständig erhalten. Sie bezeugen einen Dichter, der
DAS GLÜCK DES ANTIKEN MENSCHEN sagt. Jeder indi- gegen die athenische Demokratie an heroisch-aristo-
122 Messianismus, Ästhetik, Politik

kratischen Idealen seiner thebanischen Herkunft fest- (ebd.). In Findars Epinikien sind Mythen in der Weise
hielt. >>Mit vollem Einsatz seiner Persönlichkeit und eingearbeitet, daß sie Bezüge zum Sieger, seiner Fa-
mit priesterlicher Weihe hat er noch einmal vor dem milie, seiner Stadt und Region aufnehmen bzw. her-
Zusammenbruch der alten Aristokratien die Ideale stellen. Zur >>Erfüllung der Weihen<< gehört das Preis-
ritterlicher Lebenshaltung in seinen Siegesliedern ver- lied, das die als Gottesgabe verstandene Tugend des
herrlicht<<, heißt es in Wilhelm von Christs Geschichte Helden heiligt und für die Ewigkeit bewahrt: >>Die
der griechischen Litteratur, einem Standardwerk, das Tugend aber durch rühmliche Gesänge/ Ewig wird<<
1908 in 5. Auflage erschienen war und das Benjamin (1093).
bekannt gewesen sein dürfte. Als thematischer Bezug für Benjamins Bild der An-
Pindar ist der immer wieder, namentlich für Goethe tike dürfte auch eine Dichtung Schillers in Frage kom-
zum Vorbild gewordene Meister des hymnischen Stils, men, der in seiner Ode Das Glück ( 1798) an Pindar
der religiöses Ethos über die Niederungen des Mensch- anknüpfte. Schiller hatte im Jahr zuvor sich Wilhelm
lichen- auch in der griechischen Götterwelt- stellte, von Humboldts Findar-Übertragungen erbeten, weil
ja sie aus seinem Werk verbannte. Wilhelm von Christs er die Absicht hatte, selbst >>eine Findarische Ode für
Geschichte der griechischen Litteratur stellt denn auch den [Musen-]Almanach zu verfertigen<<, deren Sujet
die Frage, wieso ein solcher Dichter zur >>Verherrli- er schon mit sich herumtrug und deren >>Hauptidee<<
chung von Athleten und Sportsleuten<< mit seiner sein sollte, >>daß das Glück über das Verdienst gehe<<
Dichtung beitragen konnte, und beantwortet sie fol- -so berichtet Caroline von Humboldt in einem Brief
gendermaßen: >>Der Mensch an sich ist ihm ein Nichts an ihren Mann (Schiller 1991, 644). Auch Schiller ex-
[skias onar, ein Traum von Schatten], aber die Götter emplifiziert die Schicksalhaftigkeit des Glücks an einer
können, indem sie ihm Kraft, Weisheit, Reichtum, Er- Antike, wie sie Pindar vertritt, er zielt jedoch zugleich
folg zuwenden, ein helles Licht auf ihn werfen [... ].Wer auf eine überzeitliche Gestalt des vom Schicksal Be-
diese Güter hat, ist Liebling der Götter, also auch den glückten, in die die Konzepte vom Naturgenie und der
Menschen verehrungswürdig ohne weiteres. In den Schönen Seele als Paradigmen des Naiven eingehen.
körperlichen Glanzleistungen aber sieht er Bestätigun- Nicht wie in Benjamins Text ist der geschenkte Sieg
gen seiner ritterlich-wehrhaften Lebenshaltung [... ]. >>die Gestalt, in der das Glück den antiken Menschen
Dem entspricht, daß ihm Aias und Achilleus sympa- heimsucht<< (II, 128), sondern Glück ist primär das
thisch, Odysseus antipathisch ist. Was diese ganze En- Ungewordene, von Anbeginn Vorherbestimmte, die
komiendichtung [Lobesdichtung] adelt und vor dem unableitbare Gunst eines Menschenlebens. >>Alles
Vorwurf niedriger Gelegenheits- und Schmeichelpoe- menschliche muß erst werden und wachsen und rei-
sie schützt, das ist die aufrichtige Freudigkeit des Dich- fen,/ Und von Gestalt zu Gestalt führt es die bildende
ters, zu verherrlichen, was irgend von Gottes Gnaden Zeit;/ Aber das glückliche siehest du nicht, das Schöne
ist<< (230f.). nicht werden,/ Fertig von Ewigkeit her steht es vollen-
Der Gegensatz von Aias und Achilleus zu Odysseus det vor dir<< (Schiller 1943, 410f.).
ist notorisch: jene die alle anderen überstrahlenden Schiller konturiert das Naive in der Glücksvorstel-
Heroen des Kampfes, dieser der >>listenreiche<< (Ho- lung im Sinne seiner Typologie des Menschlichen aus
mer), also reflektierende und taktisch agierende Be- der Sicht des sentimentalischen Dichters. Benjamin ist
steher seines Geschicks, der durchaus die Sympathie mit seiner Sicht der Antike näher an Pindar, am Kul-
des >Aufklärers< Homer besitzt. Zu diesem Typus weiß tischen als der genuinen Form des Ausschlusses von
Pindar zu sagen: >>Unmöglich aber, daß ein Wort aus- Reflexion und der Kommunikation mit dem Kosmos.
werfe,/ Das Kraft hat unter den Guten,/ Der listige Für ihn ist der Agon im hier gegebenen Zusammen-
Bürger. Doch gewiß/ Schmeichelnd gegen alle sehr/ hang gewissermaßen nur die Verschlüsselung der
Alles verwirrt er./ Nicht mit ihm teile ich eine Verwe- Glückszuwendung bzw. des Schicksals von Seiten der
genheit<< (Hölderlin 1965, 1087). Mit diesem Verdikt Götter, und das Moment der Leistung bliebe demnach
ist das Element der Reflexion auch aus dem Heroen- peripher, doch erhöht es den Stolz des Beglückten. Im
kult verbannt. Benjamins These, wonach Sieg oder kultischen Zusammenhang bleibt der Sieger von mo-
Niederlage des Helden von den Göttern verhängt wer- ralischen Kategorien unberührt, jedoch ist die Osten-
den, also nicht einem Verdienst zugerechnet werden tation des Glücks in der Weihe auch dem Neid ausge-
konnten, findet sich in folgenden Versen Findars vor- setzt, und im Hinblick darauf formuliert Benjamin:
gezeichnet, wiederum in der Übersetzung Hölderlins: >>Unschuld tut ihm bitter not<< (II, 129), dem Beglück-
>>Es gebührt sich aber, gegen/ Gott nicht zu rechten,/ ten, der sich in der Weihezeremonie darstellen darf.
Der aufhält [d.h. vorenthält] bald das jene[m, konj.],/ Ein verschütteter Tropfen aus dem Siegerpokal wäre
Bald auch den andern gegeben hat/ Großen Ruhm<< ein Zeichen, daß der Sieg einem Unwürdigen zufällt.
»Das Glück des antiken Menschen« 123

In ScHICKSAL UND CHARAKTER (1919) greift Ben- Werk


jamin implizit auf diese Darstellung zurück und faßt DAs GLÜCK DES ANTIKEN MENSCHEN (Il, 126-129)
das Moment der Versuchung, das in der antiken Idee DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGENWART (Il, 16-
35)
des Glücks als Möglichkeit zur Hybris gesetzt ist, noch DER REGENBOGEN (VII, 19-26)
radikaler; denn wenn dem so ist, dann tritt der Glück- SCHICKSAL UND CHARAKTER (Il, 171-179)
liche für die Dauer seines Glücks aus der Ordnung des ÜBER DAS MITTELALTER (Il, 132 f.)
Schicksals, des Verhängten heraus, dann ist er dem ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE (Il,
157-171)
Gängelband der Schicksale für den Moment entron- ZWEI GEDICHTE VON FRIEDRICH HöLDERLIN (Il, 105-126)
nen. Es ist dann seinem Genius aufgegeben, diese Frei-
heit zu nutzen. Der Begriff des Schicksals, der im ersten
Aufsatz implizit als Folie diente, insofern er als Inbe- Literatur
griff des Verhängten sowohl Sieg als auch Niederlage Cancik, Hubert (1999): >>>Wie die europäische Menschen
im Agon unterlegte, ist im späteren Aufsatz ganz aus Griechentum in ihr Werk versponnen<. Hellenisches bei
Waller Benjamin<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.):
der religiösen Sphäre herausgenommen und bezeich-
global benjamin, Bd. 2, München, 856-871.
net nur noch einen kreatürlichen Schuldzusammen- Wilhelm von Christs Geschichte der griechischen Litteratur.
hang des Lebendigen. Selber mythisch, unterliegt die- Fünfte Auflage, unter Mitwirkung von Otto Stählin, bear-
ser in der Komplikation menschlicher Vergesellschaf- beitet von Wilhelm Schmid. Erster Teil: Klassische Periode
der griechischen Litteratur. (=Handbuch der klassischen
tung mythischen Rechtsauffassungen.
Altertums-Wissenschaft in systematischer Darstellung,
Die Frage drängt sich auf, warum Benjamin, dem es Siebenter Band), München 1908.
doch offenbar um eine auf die Gegenwart kritisch be- Hillach, Ansgar (1999): >»Ein neu entdecktes Lebensgesetz
zogene Begriffsbestimmung des Glücks ging, über- der Jugend<. Wynekens Führergeist im Denken des jungen
Benjamin<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global
haupt die Antike als einen Fluchtpunkt thematisiert. benjamin, Bd. 2, München, 872-890.
Die Antwort liegt wohl darin, daß Benjamin das Glück Hölderlin, Friedrich (1965): Werke und Briefe, 2 Bde, hg. v.
als Idee menschlicher Kultur konstruiert und daß er Friedrich Beißner u. J. Schmidt, Frankfurt a.M.
an Phänomenen der Glückserfahrung die Extreme Lindner, Burkhardt (2002): >>Zeit und Glück. Phantasmago-
rien des Spielraums<<, in: Helga Geyer-Ryan/Paul Koop-
aufsucht, um aus ihnen jene Idee zu gewinnen, die in man/Klaas Yntema (Hg.): Perception and Experience in
den Phänomenen nicht gegeben ist. Es handelt sich Modernity, Amsterdam/New York, 129-144 (Benjamin
also um den frühen Versuch einer wissenschaftlichen Studies/Studien I).
Betrachtung in jener kritischen Verfahrensweise, die Maerker, Peter (1973): Die Ästhetik der südwestdeutschen
Schule, Bonn.
Benjamin in der ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE Ollig, Hans-Ludwig (1979): Der Neukantianismus, Stutt-
des Trauerspielbuches als Methode expliziert und be- gart.
gründet hat. Schiller, Friedrich (1943): Schillers Werke. Nationalausgabe.
Schon hier zehrt die Darstellung ihre Begriffe derart Bd. ], hg. v. Julius Petersen/Friedrich Beißner, Weimar.
Schiller, Friedrich ( 1962): Schillers Werke. Nationalausgabe.
auf, daß schließlich Bilder für ein Denken einstehen, Bd. 20, hg. v. Benno von Wiese, Weimar.
das in der Intensität der Gestalt den Abdruck des pla- Schiller, Friedrich (1991): Schillers Werke. Nationalausgabe.
tonisch verbürgten Geistes sucht. Dies ist im kultischen Bd. 2, hg. v. Georg Kurscheidt/Norbert Oellers, Weimar.
Akt der Siegesfeier bedeutet. In ihm steht die Zeit Schlegel, Friedrich (1969): Kritische Ausgabe der Werke Bd.
10, hg. v. Ernst Behler, München/Paderborn, Wien.
ebenso still wie das Denken, die Reflexion (vgl. Lindner Schlegel, Friedrich (1995): Fragmente zur Geschichte und
2002, 141 f.). Es ist dieser Augenblick, der die Antike Politik. Erster Teil (Vorlesungen über die Philosophie des
hier für Benjamin paradigmatisch macht, der Augen- Lebens), Paderborn.
blick, der das Verdienst und den Schmerz des Athleten Speth, Rudolf (1991): Wahrheit und Ästhetik. Untersuchun-
gen zum Frühwerk Walter Benjamins, Würzburg.
(wie analog des Denkers) gewissermaßen einkapselt Steiner, Uwe (1989): Die Geburt der Kritik aus dem Geiste
und in dieser Selbstentäußerung das transzendierende der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den
Glück ermöglicht. Was in der Antike, nach dem Maß- frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg.
stab Pindars, naiv vonstatten ging, kann bei Benjamin
nicht anders als sentimentalisch, auf dem Grunde einer
schmerzlichen Reflexion, wiedergewonnen werden.
124 Messianismus, Ästhetik, Politik

Fragmente zur Ästhetik I Reine Farbe und "entbegrifflichtes Sehen(( -


kunstgeschichtlicher Kontext
Phantasie und Farbe
Von Heinz Brüggemann
Benjamins frühe überlegungen zu Phantasie und
Farbe bewegen sich in ästhetischen, bildtheoretischen
Konstellationen, für die der Gegenstand in eben dem
In einem Briefvom Januar 1915 kündigt Walter Ben- Maße unerheblich wird, >>in welchem die Bildanschau-
jamin die Beendigung einer »Arbeit über die Phanta- ung ein selbst entbegrifflichtes, das heißt an den Ge-
sie und die Farben<< (1, 261) an. Damit ist, wie es genstand und seinen Begriff nicht mehr gebundenes
scheint, der Dialog DER REGENBOGEN. GESPRÄCH Sehen erweckt<< (Imdahl1987, 20). Solche Bildtheorien
ÜBER DIE PHANTASIE (VII, 562-564) gemeint- ein Text, eines unbegrifflichen Sehens haben ihren Ursprung in
dem Varianten und eine Reihe von fragmentarischen der Mitte des 19. Jh.s, in John Ruskins Rede von einer
Aufzeichnungen zugeordnet sind, darunter DIE FARBE »innonence of the eye<<, d.h. einer nur flache Farbflek-
VOM KINDE AUS BETRACHTET, PHANTASIE U.a., die die ken (>>flat stains of colour<<), nicht Körper oder Dinge
Herausgeber der Gesammelten Schriften im Band VI sehenden >>sort of childish perception<< (Ruskin 1856,
unter der Überschrift >>Zur Ästhetik<< abgedruckt ha- zit. n. Garnbrich 1986, 325). Solche Konzeptionen ei-
ben. Wirklich beendet worden ist diese Arbeit aber nes sog. natürlichen, unmittelbaren, sich von den Kon-
eher nicht, denn entscheidende Motive aus diesen frü- ventionen formatierten, erlernten Wahrnehmens be-
hen Reflexionen greift Benjamin immer wieder auf, freienden Sehens haben im 20. Jh. Bergson, Proust,
um sie um- und fortzuschreiben- so in den Rezensio- Valery und als künstlerische Bewegung der Surrealis-
nen von Karl Bohreckers Alte vergessene Kinderbücher mus vertreten.
(1924) und von MaxKommerells]ean Paul (1934),im Im Spannungsfeld der kulturellen Konstruktionen
großen illustrierten Essay AusSICHT INS KINDERBUCH des Blicks, des Sinnesdiskurses überhaupt, aus dem an
(1926) und vor allem (seit 1932) in der BERLINER der Epochenschwelle der ästhetischen Moderne um
KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT. Im Januar 1927 1910 die fundamentalen Umbrüche in den Bild- und
setzt Benjamin dem Leiter des Moskauer Gasverlags Formensprachen der Künste hervorgehen, eröffnet
seinen >>großen Plan über das Dokumentarwerk >Die sich ein weites Spektrum an Gegenbewegungen zu
Phantasie< auseinander<< (VI, 386), zu dem verschie- einem begrifflichen Sehen. Für sie alle ist charakteri-
dene, von Benjamin vorgeschlagene Autoren beitragen stisch der Rekurs auf das Sehen des Kindes, auf den
sollten, u. a. in Samme1schriften zur Ȁsthetik des Kit- kindlichen Animismus, zumeist in Konfigurationen
sches<<, über das Panoptikum, die Ästhetik der An- mit anderen partizipatorischen Formen des Sehens,
sichtskarte etc.; für eine Arbeit über die >>Illustration der Wahrnehmung in Traum und Rausch.
der alten Kinderbücher<< hat er als Autor Kandinsky Auch Benjamins Versuche über Phantasie und Farbe
(Benjamin-Archiv Ms 1374; vgl. VI, 694) genannt. greifen immer wieder zurück auf das Farbensehen und
Die frühen Texte, vor allem DIE FARBE VOM KINDE die Bildproduktion des Kindes. Damit befindet er sich
AUS BETRACHTET und DER REGENBOGEN. GESPRÄCH im Einklang mit der bildenden Kunst seiner Zeit, mit
ÜBER DIE PHANTASIE werden hier vorgestellt und kom- den Malern des Blauen Reiters, mit Kandinsky, Paul
mentiert, nach den folgenden Schwerpunkten: Klee u.a.; zugleich sucht er seine Referenzen in einem
Zum einen Benjamins Auffassung der reinen Farbe Denken des Ähnlichen aus Goethes >Farbenlehre<
und die Bildanschauung eines nicht begrifflichen, ebenso wie in der geschichtsphilosophisch-spekulati-
nicht vergegenständlichten Sehens, wie sie sich auch ven, anthropologisch orientierten Ästhetik und Päd-
in der Beziehung zur zeitgenössischen Malerei und agogik Jean Pauls. Der von Jean Paul entlehnte Begriff
ihrer Theorie entwickelt; zum anderen die Farbe als der >>sinnliche(n) Empfänglichkeit<< (Jean Paul1976,
Medium der Phantasie, das Benjamin in den Konstel- 72) wird eine der zentralen Kategorien für Benjamins
lationen von Gestaltung und >>Entstaltung<< (VI, 114) Verknüpfung von Phantasie und Farbe.
denkt, auch in der Um- und Fortschreibung von äs- über Fragen der Malerei hat sich Benjamin mit
thetischen Kontroversen zwischen Goethe und der Gershorn Schalem seit Beginn ihrer Bekanntschaft und
Romantik. dann, intensiv nach dessen Besuch der 54. >Sturm<-
Ausstellung 1917 (vgl. Schalem 2000, 30ff.) ausge-
tauscht. Ihre erste, nicht vollends ausgetragene Aus-
einandersetzung gilt dem Kubismus. Schalem macht
sich sogleich ein Problem, das die Entwicklung des
Kubismus überhaupt bestimmt hat, zu eigen: das Pro-
Fragmente zu Phantasie und Farbe 125

blem der Farbe. Chagalls kubistische Versuche werden CHE DES MENSCHEN betrachtet er es als denkbar, daß
prinzipiell verworfen, weil dieser »vollkommen un- die Sprache der Malerei in »gewissen Arten von Ding-
mathematische Mensch<< seinen >>reine[n] Weg<< (ebd., sprachen fundiert<< sei, daß es sich um eine »namen-
33 u. 31) nur in der symbolischen Erkenntnis der Welt lose, unakustische Sprache[], um [eine, d. Verf.] Spra-
in Farben und unter Verdammung der Linie gehen che[] aus dem Material<< handle (II, 156). Von dieser
könne. Mit seinem Versuch, »das Wesen des Raumes Sprache handeln die Fragmente über Phantasie und
durch Zerlegung auszudrücken<< und »durch die Linie Farbe.
mitzuteilen<<, steht der Kubismus in der »nächste[n] Etwa Ende 1919/Anfang 1920 hat Benjamin einen
Nähe zur Mathematik<<, was Scholem dazu führt, die der bedeutendsten Traktate zur modernen Malerei und
vollkommene Farblosigkeit (und Formlosigkeit) des ihrer Farbtheorie gelesen: Ober das Geistige in der
»genial<< kubistischen Bildes zu fordern: »Farbe darf in Kunst von Kandinsky, und er faßt seinen Eindruck in
dieser Welt, in der der Raum in metaphysische Zellen einem Brief an Scholem so zusammen: »Dies Buch
zerlegt wird, kein Element sein<<, sie gehört nicht hier- erfüllt mich vor seinem Autor mit höchster Achtung,
her, »weil siea-mathematisch ist<<- der Kubismus habe wie dessen Bilder meine Bewunderung wecken. Es ist
die Form überwunden, er werde »die Farbe überwin- wohl das einzige Buch über den Expressionismus son-
den<< und »eine wahre Erkenntnis sein<<, ja er ist »der der Geschwätz; freilich nicht vom Standpunkt einer
künstlerische Ausdruck der mathematischen Theorie Philosophie-, sondern einer Lehre-von-der-Malerei<<
der Wahrheit<< (Scholem 2000, 32 f.). Scholem, dem so (2, 68). Scholem erinnert sich, er habe Benjamin »noch
etwas wie der reine, farblos dargestellte Begriff vor- in Jena<<, d.h. 1917/18, »Kandinskys Ober das Geistige
schwebt, geht mit diesen rigorosen Bemerkungen hin- in der Kunst besorgt, an dem ihn offenkundig gerade
ter die Entwicklung des Kubismus selber zum analy- die mystischen Stücke der darin enthaltenen Theorie
tischen Kubismus der Anfänge zurück (vgl. Kahnwei- anzogen<< (Scholem 1975, 85; vgl. für eine differen-
ler 1968, 121 ff.). Benjamin widerspricht an dieser zierte Diskussion dieser Zusammenhänge Le Rider
Stelle entschieden. In der Bestimmung des Kubismus, 2000, 230ff. und Gage 1999, 250ff.). Benjamin hat die
»das Wesen des Raumes der die Welt ist durch Zerle- Ausstellung des >Blauen Reiters< von Mitte März bis
gung mitzuteilen<< scheint ihm »ein Irrtum bezüglich Mitte April 1912 in Berlin vermutlich gesehen, den
des Verhältnisses der Malerei zu ihrem sinnlichen Ge- gleichnamigen Almanach der Gruppe hat er gekannt
genstande vorzuliegen<< (1, 395). Zwar könne man »in (vgl. IV, 391).
der analytischen Geometrie die Gleichung eines zwei- Man kann die Wirkmächtigkeit dieses Almanachs,
oder dreidimensionalen Gebildes im Raume geben vor allem im Hinblick auf den Rezeptionshorizont,
ohne durch sie aus der Analyse des Raumes herauszu- den er für außereuropäische Kunst, Kunst sogenannter
treten; nicht aber in der Malerei Dame mit Fächer >primitiver Völker<, populäre Kunstformen, Schatten-
(z.B.) malen, um damit das Wesen des Raumes durch spiele, Bilderbögen und Kinder- wie Laienkunst eröff-
Zerlegung mitzuteilen. Vielmehr muß die Mitteilung net, kaum hoch genug schätzen. Und Benjamin hat
unter allen Umständen durchaus >Dame mit Fächer< diesen Horizont in mancher Hinsicht geteilt. Späte-
betreffen<< (ebd.). Hier stößt freilich das Gespräch an stens seit dem Sommer 1919 ist seine Anteilnahme an
seine Grenzen, da, wie Benjamin einräumt, Scholem Kinderzeichnungen bezeugt. Besonders die Bilder von
»Bilder vor sich<< gehabt habe, er nur dessen Worte Annemarie, der Tochter von Emmy Hennings, finden
(396). seine lebhafte Bewunderung, weil »durchaus und nach
Der Text ÜBER DIE MALEREI ODER ZEICHEN UND strengem Maßstab wertvoll<< (2, 35), und er erwägt eine
MAL, der sich auf diesen Briefwechsel bezieht, geht auf Ausstellung >Expressionistische Kinderbilder<: »Würde
das Problem der Farbe nur am Rande ein und dies im das nicht sehr ziehen?<< (ebd.). Als Dokumente rückt
Kontext der Konstruktion eines sogenannten er sie in den Zusammenhang eines Interesses, das glei-
»absolute[n] Mal[s]<< (im Sinnevon Wundmalen Chri- chermaßen Träumen oder seelischen Zuständen, im
sti, Erröten, Aussatz, Muttermal), dessen Vermittlung weitesten Sinne: psychophysisch hervorgebrachten
mit dem »Medium der Malerei<< als einem »Mal im Befindlichkeiten gelten kann, und stellt sie, nicht ohne
engem Sinne<< (II, 606) eher unklar bleibt (vgl. Fel- Ironie, den Hervorbringungen des Expressionismus
mann 1922, passim). Die briefliche Andeutung Benja- zur Seite: »Ihr Interesse ist noch im mindesten Falle
mins, daß er in seinen Notizen »das Problem der Ma- das, was wir an der exakten Nacherzählung von Träu-
lerei in das große Gebiet der Sprache einmünden lasse, men oder der genauesten Darstellung irgendeiner
dessen Umfang<< er »schon in der Spracharbeit an- augenblicklichen innern Disposition eines Menschen
deute<< (1, 395) führt hier eher weiter. In seinem Auf- nehmen. Das macht zwar nichts weniger als einen
satz ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRA- Kunstwert aus, berührt sich aber dafür recht genau mit
126 Messianismus, Ästhetik, Politik

der bessern Masse des Expressionismus, der auch duktiven künstlerischen Prozeß, den Kunstwerken
nichts anderes, wie ich meine, ist<<, um dann doch ei- selber vorgelagert sind: >>Das Anschauen der Phantasie
nige Ausnahmen zu machen: >>(- und von der ich al- ist ein Schauen innerhalb des Kanon, nicht ihm gemäß;
lerdings jedenfalls, drei große Maler, als Künstler, daher rein aufnehmend, unschöpferisch<< (ebd.). Die
ausnehme: Chagall, Klee, Kandinski- )<< (2, 34). Bestimmung des Kanon ist dem philosophischen Ge-
Für diese Zeit erwähnt Scholem auch die Anfänge spräch über die Phantasie zu entnehmen: die Kunst
von Benjamins Sammlung alter Kinderbücher. Auch schaffe nach einem unendlichen Kanon, der unendli-
dies ein Interesse, das mit der Rezeption von Volks- che Schönheitsformen begründe, sie aber ruhten alle
kunst und Kinderzeichnungen korrespondiert, vor in der Form, >>in der Beziehung auf Natur<< (VII, 20).
allem was die anonyme, handwerkliche und kollektive Von der Schönheit der Natur handelt das Fragment als
Produktion angeht. Seine Sammlung konzentriert sich einer >>Schönheit von eignem Geist<<, will sagen Natur
vorzüglich auf handkolorierte, in der farbliehen Inten- ist >>von der bloßen Anschauung her schön«, weshalb
sität seitdem kaum mehr erreichte, noch nicht indu- >>gute Menschen[ ... ] in der Natur wohnen[ ... ] und sie
striell gefertigte, sondern von Illustratoren, anonymen schön finden, vor allem die Kinder« (562) und so steht
ebenso wie bekannten, gestaltete Exemplare. Insbeson- auch, komplementär, >>die Farbe im Sinne der Kinder
dere die Arbeiten von Johann Peter Lyser und Friedrich [... ]ganz für sich« (564) und so auch der Modus ihres
Johann Justin Bertuchs Bilderbuch für Kinder wecken Empfangens, ihres Aufnehmens in der Phantasie.
sein Entzücken. In diese Zeit fällt auch die Rezeption Das GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE ist bestimmt
Jean Pauls, zumal der hochgeschätzten Vorschule der von Motiven aus den kunsttheoretischen Schriften
Ästhetik, der später die Levana zur Seite tritt (vgl. 2, Baudelaires, insbesondere solchen aus dem von Ernest
93)- ein Autor, der für Benjamins Verknüpfung von Chevreul beeinflußten Kapitel >>über die Farbe« im
Sinnesdiskurs und Phantasiekonzept wichtig gewor- >>Salon« von 1846. Schon der Beginn, der die glühen-
den ist. den Farben der Phantasie, wie sie Margarethe im
Diese vielfältigen Bezüge sollen den künstlerischen, Traum erblickt hat, mit jenen der Palette Georgs über-
ästhetisch-theoretischen und literarischen Horizont blendet, nimmt ein Motiv Baudelaires auf: >>Wie ein
umreißen, in dem die Fragmente, die das Sehen, die Traum von seiner eigenen farbigen Atmosphäre um-
Farbe und die Phantasie betreffen, stehen. Benjamin geben ist, ebenso bedarf eine Komposition gewordene
betrachtet das Farbensehen- >>Phantasie und Farbe<< Vorstellung, daß sie sich in einem farbliehen Milieu
- (methodisch ähnlich wie Aby Warburg) im Zusam- bewege, das ihrer Besonderheit entspricht« (Baudelaire
menhang mit anderen Kulturfunktionen. 1992, 275; zur Bedeutung Baudelaires im »Gespräch
über die Phantasie« vgl. mit anderer Akzentsetzung
Steiner 1989, 48 ff., bes. 64 ff. ). Solches Durchdrungen-
Reine Rezeption werden von der Farbe, ja das Selber-Farbe-Sein, wie es
dann im GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE heißt (Ge-
In den Umkreis des Dialogs DER REGENBOGEN. GE- org: >>Fast sagte ich: ich bin Farbe«, VII, 19; späterwird
SPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE gehört ein weiterer, VOll der Dichter Christoph Friedrich Heinle zitiert: >>Wäre
Agamben aufgefundener Text, ein Fragment mit dem ich aus Stoff, ich würde mich färben«, 24; vgl. auch die
Titel DER REGENBOGEN ODER DIE KuNST DES PARA- beinahe wörtliche Wiederaufnahme dieser Theoreme
DIESES. Aus EINER ALTEN HANDSCHRIFT, geschrieben im Stück DIE FARBEN und an anderen Stellen in der
in der zitierten, fingierten Rede eines ästhetisch-theo- BERLINER KINDHEIT UM 1900), demonstriert Baude-
logischen Traktats. laire auch an der Intensität der Farbwahrnehmung und
Im Anhang findet sich ein N otat, das eine Art tabel- -empfindung von Genesenden und Kindern: >>lassen
larischer Gegenüberstellung enthält - auf der einen wir unsere jugendlichsten, unsere morgendlichsten
Seite >>Die Schönheit der Natur und des Kindes<<, auf Eindrücke wieder erwachen, und wir werden erken-
der anderen: >>Die Schönheit der Kunst<<. Unter der nen, daß sie eine seltsame Verwandtschaft mit den
ersten Rubrik finden sich die Eintragungen: >>reine farbenkräftigen Eindrücken haben, die uns später nach
Rezeption- Farbe<< sowie >>unintellektuelle Natur der einer körperlichen Erkrankung zuteil wurden[ ... ] Das
Rezeption. Das reine Sehen<< (VII, 563 ). Das kann man Kind sieht alles als Neuheit, es ist immer trunken.
als ein Indiz für eine Bildtheorie des unbegrifflichen, Nichts gleicht dem, was man Inspiration nennt, mehr
vorgegenständlichen Sehens lesen- und ohne Zweifel als die Freude, mit der das Kind Form und Farbe ein-
steht Benjamin in dieser Tradition, doch er zielt zu- saugt« (Baudelaire 1989, 220 f.). Auch hier also die
gleich auf mehr. Es geht ihm darum, Modi >>reiner<< Verknüpfung einer psychophysischen Befindlichkeit
Anschauung herauszupräparieren, die noch dem pro- mit dem kulturellen Topos des Kindes.
Fragmente zu Phantasie und Farbe 127

Das traum-und rauschhafte Inne-sein in der Farbe Das Farbensehen der Kinder
nimmt das Gespräch zum Anlaß, einen nach dem Prin-
zip der Ähnlichkeit angelegten Begriff der Phantasie Der weitere Verlauf des GESPRÄCHS ÜBER DIE PHAN-
als reiner Anschauung zu entwickeln. Darin ist zum TASIE gibt darüber Aufschluß. Denn zum einen muß
einen die Tradition der Differenzierung zwischen es solche Kongruenz vom Innen und Außen der Farbe,
schaffender und rein anschauender Phantasie wirksam in der Gegenstand und Organ zusammenfallen, befe-
(Jean Paul, Friedrich Theodor Vischer u. a.), vor allem stigen in einer Unschuld genannten Sphäre, in der die
aber der alte Streit zwischen disegno und colore, Zeich- Empfindungen selber noch nicht auf Objekte, auf Ge-
nung und Farbe, mitsamt der negativen Codierungen, genstände gerichtet sind, sondern >>rein als Eigenschaft
die die Farbe von Vasari, vom französischen Klassizis- an sich selbst leben<< (VII, 23 f.), in der zugleich die
mus bis zu Descartes undKanterfahren hat (vgl. dazu Dinge ein >>Aussehen<< haben- ein Terminus, den der
Imdahl 1987, 31 ff.). Gegen diese Tradition nimmt Text derart in Beziehung zu den Farben bringt, daß sie
Benjamin ostentativ den Begriff des Geistigen für die ein Gesicht bekommen: >>Auch verstehe ich erst jetzt,
Farbe in Anspruch: >>In der Farbe ist das Auge rein dem was die Sprache sagt, wenn sie vom Aussehen der
Geistigen zugewandt<< (VII, 23). Er operiert zugleich Dinge spricht. Sie weist eben auf das Gesicht der Farbe
mit einem (versteckten) Parallelismus zur >Farben- hin. Die Farbe ist der reine Ausdruck des Weltanschau-
lehre< Goethes. An die Stelle der Sonne, des Lichts tritt ens, die Überwindung des Sehenden<< (VII, 23). Mit
bei ihm die Farbe, die als Medium eines rein Geistigen anderen Worten: unbegriffliches Sehen wird hier so
vorgestellt wird, weil sie >>nur Eigenschaft« (ebd.) sei. expliziert, daß die Farbe selber aus-sieht, eine Physio-
Im Medium der Farbe als in einem Geistigen begegnet gnomie erhält, daß ihr das Vermögen des Sehens, des
das reine Aufnehmen der Phantasie gewissermaßen Blicks, der An-Sprache und der Erwiderung zuge-
sich selber- daraus entwickelt das Gespräch zunächst schrieben wird. Wenn diese Sphäre aber als eine der
den Prozeß eines überwältigenden Geschehens, das >>Unschuld« (VII, 24) und auch des Paradieses benannt
sich zwischen Sehendem und Farbe abspielt: >>Ein Se- wird, die die Sphäre >>der Kinder und der Künstler<< sei
hender ist ganz in der Farbe, sie ansehen heißt den (ebd.), dann handelt es sich um ein romantisches Kon-
Blick in ein fremdes Auge versenken, wo er verschlun- zept, dann ist >>Unschuld<< auch eine ästhetische Kate-
gen wird, in das Auge der Phantasie<< (ebd.). Dieser gorie, die in der Tat mit der späteren Debatte über die
Prozeß wird mit Goethes Totalitätsverlangen in eine >Unschuld< des Auges, über das unbegriffliche, vorge-
Analogie gebracht, an die Stelle des Gottes, der in uns genständliche Sehen in Verbindung gebracht werden
lebt, und nur darum uns dazu vermag, daß Göttliches kann. So wie im GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE von
uns entzückt, tritt die Farbe: >>Die Farben sehen sich Kindern und Künstlern gesagt wird, daß sie beide in
selbst, in ihnen ist das reine Sehen und sie sind sein der Welt der Farbe lebten und >>Phantasie das Me-
Gegenstand und Organ zugleich. Unser Auge ist farbig. dium<< sei, >>in dem sie empfangen und schaffen«
Farbe ist aus dem Sehen erzeugt und färbt das reine (ebd.), wird deutlich, daß vom kindlichen Farbense-
Sehen<< (ebd.). Daß das menschliche Auge Farben her- hen, bei aller theologischen Grundierung, im Hinblick
vorbringen kann, physiologische, und damit nicht nur auf ein ästhetisches Konzept gesprochen wird, zugleich
leistet, >>was das Licht selbst leisten kann<< (zit. n. aber im Hinblick auf ein anderes Farbempfinden und
Schöne 1987, 101), sondern überhaupt zur Wahrneh- -wahrnehmen, auf andere Weisen der Perzeption, die
mung des Lichts und der von ihm bewirkten >physi- intensiver, sphärenreicher, vielschichtiger sind als das
schen< und >chemischen< Farben befähigt ist, war konventionelle, identifizierende Sehen. Die Inan-
schon Goethes überzeugung. Aber teilt Benjamin auch spruchnahme solchen Wahrnehmens für eine andere
noch dessen Perspektive auf ein >>von Analogien durch- künstlerische Bild- und Formensprache, wie sie grosso
waltetes, von Äquivalenzen zusammengehaltenes, modo gleichzeitig in den ästhetischen Manifesten von
durch die Kongruenz von >Innen< und >Außen< mit Kandinsky bis Breton vorgetragen wird, ist hier allen-
faßbarer Bedeutung und übergreifendem Sinn erfüll- falls angedeutet. In DER REGENBOGEN. GESPRÄCH
tes Universum<< (Schöne 1987, 104)? Oder fungiert ÜBER DIE PHANTASIE wie im Fragment DIE FARBE VOM
solches Denken des Ähnlichen, der unmittelbaren Si- KINDE AUS BETRACHTET sind beide Perspektiven an-
gnifikation, bei ihm als ein Dispositiv, ein Organon, wesend, doch konzentriert sich dieses stärker auf die
um in die Tiefen verlorener Perzeptionsweisen, Inten- anthropologische Bedeutung der mimetischen Ele-
sitäten, Wahrnehmungsmodalitäten, solcher der Kind- mente im kindlichen Verhältnis zur Welt.
heit, zu tauchen? Dient, m.a.W., die Goethe-Kontra- Denn das Vermögen, Ähnlichkeiten zu empfinden
faktur dazu, romantische Konzeptionen zu befördern und Korrespondenzen zur umgebenden Natur zu
und ins Werk zu setzen? schaffen, bezeugt sich auch im kindlichen Spiel mit der
128 Messianismus, Ästhetik, Politik

Farbe. Darum setzt der Text gleich zu beginn das kind- performativen Prozeß des kindlichen Spiels mit Farben
liche Verhältnis zur Farbe dem des Erwachsenen ent- und Erzeugen von Farben selber zurückgebunden
gegen. Das GESPRÄCH hatte die »schöne, seltsame wird. Das >>selbst in die Farbe zerstreut[e]<< Wahrneh-
Technik [der] ältesten Bilderbücher<< (VII, 25) des Kin- men der Kinder (VII, 25) bringt im Spiel Ähnlichkei-
des in ein Verhältnis unsinnlicher Ähnlichkeit zur ten zu jener fluiden, volatilen, durchdringenden >>Na-
Natur gebracht, indem es deren Verwischung der Kon- tur der Farbe<< (VI, llO) hervor. In solchem mimeti-
turen mit einemkühnen Adjektiv als ein »regenbogige[ s] schen Handeln, im kindlichen Spiel erscheint die Farbe
Spiel[]<< (ebd.) darstellte. Das Fragment löst diese An- >>als Beflügeltes, welches von einer Gestalt zur andern
nahmen nach zwei Seiten hin auf. Es behält das Erleben überfliegt<< (ebd.).
der Korrespondenz zwischen Mensch und Natur im Damit wendet sich Benjamin jenem Komplex zu,
mimetischen Vermögen bei, indem es den Regenbogen den die zeitgenössische experimentelle Psychologie mit
als »ein reines kindliches Bild<< (VI, llO) bezeichnet, der Frage nach der >>Lust- und Unlustwirkung der Far-
nimmt aber die Wirkung der möglichst verschwom- benreize<< angesprochen hat (Müller-Freienfels 1908,
menen, auflösenden Farbe auf das Kind zurück, indem 245). Benjamin, der die Lust/Unlust-Kategorie dieser
es die Klarheit der Farbe als geistig und ihre Vermi- Schule als >>bodenlos [er] undifferenziert[ er]<< (VI, 122)
schung als >Nüance< bezeichnet. Der Regenbogen ist verwirft, gibt zwei Antworten auf diese Frage: Zum
darum kindliches Bild, weil in ihm die Farbe selber einen haben Kinder Freude am Nicht-Festgestellten,
>>ganz Kontur<< (ebd.) sei. Indem er die Wendung zur am metamorphotischen Farbenspiel, das sich erneuert
Kontur in der Kindlichkeit als Natürlichkeit fundiert, in abwandelnder Wiederholung, nur Spiel ist und sich
führt Benjamin in die lange Geschichte der semanti- der Determination des Begrifflich-Gegenständlichen
schen Codierung des Regenbogens einen Aspekt ein, entzieht; zum andern nennt er die deutliche und aus-
der jedenfalls in dieser Verbindung neu ist. Daß die drückliche >>Qualitätssteigerung von Farben auf Öl-
Farben im Regenbogen selber Kontur seien, hat Boe- drucken, Malerauslagen, Abziehbildern und Laterna
thius in seiner Abhandlung Ober die Musik dargetan, magica<< (llO), also die auch medial bewirkte Steige-
in dem er die Skala der reinen Farben mit den Tonstu- rung von Intensität und Leuchtkraft der Farbe. Ben-
fen verglich (vgl. Gage 2001, 108). Benjamin transfor- jamin schreibt die taktilen Qualitäten der Farbe: ihr
miert diese Tradition in eine konstruierte kindliche leichtes Entstehen, ihre Beweglichkeit, ihre Schnellig-
Perspektive, um die Verschwommenheit und das Auf- keit im Eingehen von Verbindungen etc. (vgl. dazu
lösende, ja noch das Wollige zu distanzieren und da- Goethe 1991, 230f., § 710 u. 712), ihre Durchsichtig-
gegen dem kindlichen Farbsehen das Vermögen der keit und ihr Vermögen der Durchdringung, einer an-
>Nüancierung< zuzuschreiben. Den Gedanken einer deren, mimetischen Lust des Kindes zu, eben seiner
linearen Farbendarstellung kann Benjamin darum >>Freude an der Veränderung der Farbe im beweglichen
nicht zulassen, weil er >>die Farbe ganz Kontur<< (VI, übergangvon Nüancen<< (VI, llO). Das gilt auch für
llO) sich dem kindlichen Menschen darbieten läßt, ihre Feuchtigkeit, die die Farbe zum >>Medium aller
um sie gegen das begriffliche, vergegenständlichende Veränderungen<< (ebd.)- im Spiel- macht.
Sehen zu stellen, will sagen: gegen die Farbe als Me-
dium der gegenständlichen Identifikation von Kör-
pern und Dingen, einer Ordnung von Differenzen und Farbe I Gegenstand I Raum
Identitäten. Er führt eine ganze Reihe von Kategori-
sierungen auf für einen repräsentierenden Gebrauch Solchen Beobachtungen des kindlichen Spiels als ei-
der Farbe im Sehen des >>Erwachsenen<< (ebd.): Farbe nem mimetischen Weltverhalten folgt nun sogleich
bloß als schichthafter Überzug der Substanz, abstra- eine spekulative Zuspitzung des Konzepts vom unbe-
hierender Deckmantel individuell einzelner Dinge in fangenen Auge: die >>kindliche Auffassung der Farbe<<
Zeit und Raum etc. Sie läuft auf eine entscheidende bringe »den Gesichtssinn zur höchsten künstlerischen
Entgegensetzung hinaus: die Farbe wird als nicht-fi- Ausbildung, zur Reinheit, indem sie ihn isoliert<< (VI,
xierend gedacht, sie ist Einzelnes, Besonderes, aber llO).
>>nicht als tote Sache und eigensinnige Individualität<< Damit ist eine Unterscheidung getroffen, die jener
(ebd. ), sondern fluides, volatiles Medium, das alle Ver- zwischen rein visueller Sinnesempfindung und Wahr-
festigungen des Sehens, alle Bestimmtheit und Kon- nehmung ähnelt, die die Diskussion um das >unbefan-
stanz auflöst. Dieses Auflösende aber statuiert nicht gene Auge< bestimmt hat (vgl. zu dieser Unterschei-
Verschwommenheit, Unschärfe als Gegenwelt, sondern dung Gombrich 1986, 327.), in dieser Weise: Der rein
mit ihm soll das Farbensehen in eine andere Perspek- gemachte Gesichtssinn schaut als geistiger, künstle-
tive gestellt werden derart, daß es an den mimetisch- risch fungierender, die Gegenstände immer nur >>nach
Fragmente zu Phantasie und Farbe 129

ihrem farbigen Gehalt<< (VI, 110) an, und damit isoliert vor allem im Fragment DER REGENBOGEN ODER DIE
er, im Gegensatz zum versachlichenden, konventionel- KuNST DES PARADIESES dichte Ausführungen: Die Un-
len Wahrnehmen, die Gegenstände gerade nicht, son- endlichkeit des Raums werde in der Malerei durch die
dern erblickt sie in ganz anderen Konstellationen - in Fläche konstruiert, indem die Dinge >>ihr Dasein zum
jenen, die allein >>die zusammenhängende Anschauung Raume<< (VII, 563) entwickelten, >>die Tiefe ergibt den
der Phantasiewelt<< (ebd.) in und zwischen ihnen stif- unendlichen Raum<< (ebd.). Die Gegenstände aber
tet. Die rein gemachte, den Farben hingegebene visu- verlangten >>eine Erscheinungsform, welche rein auf
elle Sinnesempfindung aber bindet Benjamin an die ihre Beziehung zum Raum gegründet<< sei, nicht ihre
Phantasie und befindet, diese könne sich >>niemals auf >>Dimensionalität<<, sondern >>ihre konturale Span-
die Form beziehen, die Sache des Gesetzes<< sei, >>son- nung<< ausdrücke, >>ihr Dasein in der Tiefe<< (ebd.).
dern nur die lebendige Welt vom Menschen aus schöp- Ohne diese gewinne die Fläche nur »zeichnerische,
ferisch im Gefühl anschauen<< (VI, 111). Das ist ein perspektivische, illusionistische<<, nicht aber>> Tiefe als
Konzept der Phantasie, das Motive der Frühromantik undimensionale Beziehungsform von Raumunend-
aufgreift und eigenwillig fortschreibt, indem es schon lichkeit und Gegenstand<<, dies leiste nur die >>Farbe in
die Form selber und an sich zur Sache des Gesetzes ihrer künstlerischen Bedeutung<< (ebd.) die allein ei-
erklärt. So pointiert Friedrich Schlegel, die Phantasie nem Gegenstand >>aus sich Tiefe gebe<< (ebd.). Ein No-
treibe >>das Endliche ins Unendliche hinaus, wobey tat, das den Bruch mit der zentralperspektivischen
alles Gesetzliche aufhört<< (Schlegel1964, 84). Dieses Raumkonstruktion in der modernen Malerei seit
Anschauen der lebendigen Welt im Gefühl >>geschieht 1909/10, seit den kubistischen Bild- und Formerfin-
in der Farbe<< (VI, 111) und so besteht die Aufhebung dungen und deren Fortentwicklungen zur Vorausset-
des Gesetzes in der Emanzipation der Farbe vom Ge- zung hat, in jedem Fall in der Kenntnis von Bildern
genstand, von der Illustration des Gegenstandes. So Klees, Kandinskys, Chagalls, Mackes u. a. geschrieben
wird eine ganze Reihe von Qualitäten, die den frühro- ist, und eine entschiedene Gegenposition zu Scholems
mantischen Begriff der Phantasie ausmachen, der oben erörterter Kubismus-Auslegung darstellt.
Farbe zugeschrieben: >>nicht einzeln und rein [... ], son- Benjamins Notat hat einige Affinität zu Theoremen
dem nüanciert, bewegt, willkürlich und immer schön Carl Einsteins (vgl. Einstein 1985, 246) und, mehr
[... ],wo sie nicht die Gegenstände illustrieren will<< noch, zu Kandinskys Ausführungen über die Kinder-
(ebd.). Der Text konstruiert eine vollendete Korre- zeichnung in seinem Beitrag>> über die Formfrage<< im
spondenz zwischen den Bestimmungen der Phantasie Almanach des blauen Reiters (vgl. Lankheit 1979,
und den Erscheinungs- wie Anschauungsmodi der 155 ff.). Auch für ihn erscheint in der Kinderzeichnung
Farbe selber: der freie, seiner eigenen Willkür und Un- die Farbe >>gewiß im höchsten Grade gegenständlich
verfügbarkeit folgende Fluß der Farbe durchdringt die aber nicht raumgegenständlich<< (VI, 111). Solche Ge-
Gegenstände sowohl im Zerstreut-Sein des Kindes in genständlichkeit hebe >>die intellektuellen Verbindun-
die Farbe, als auch im Prozeß der Perzeption selber. gen der Seele auf« und schaffe »die reine Stimmung<<
Weitere Bestimmungen eines >reinen<, unbegriffli- (ebd.), entstiegen aus der Seele des Kindes und seiner
chen Sehens präpariert der Text nun heraus, in strikter ungebrochenen Phantasie-Tätigkeit. Die >>Farbe der
Abgrenzung zum verfügenden, klassifizierenden Welt- Phantasie<< selber ist weder räumlich noch gegenständ-
verhältnis des Erwachsenen. Ihm wird die >>Farbe im lich: >>Sie ist ohne Übergänge und spielt doch in un-
Leben des Kindes<< als >>der reine Ausdruck (seiner) zähligen Nüancen, sie ist feucht, verwischt die Dinge
reinen Empfänglichkeit, sofern sie sich auf die Welt in der Färbung ihrer Kontur, ein Medium, reine Eigen-
richtet<<, entgegengestellt und daraus schon die >>An- schaft von keiner Substanz, bunt und doch einfarbig,
weisung zu einem Leben des Geistes<< gelesen, das als eine farbige Ausfüllung des einen Unendlichen durch
>>schöpferisch[es] ebensowenig [... ][von] Umstände[n] Phantasie<< (VII, 25).
und Zufälle[n]<< abhängig ist wie die Farbe >>vom Da- Diese Darstellung der Farbe der Phantasie, die eine
sein toter kausaler Substanzen<< (ebd. ). >Unbefangenes undimensionale, unendliche Bild-Tiefe beschreibt,
Sehen< wird so Anweisung auf ein anderes >>Leben in korrespondiert mit der Schilderung, in der Kandinsky
der Kunst<< (ebd.)- eine Ineinanderbildung von Kind ein >>unendlich großes Arsenal der Ausdrucksmöglich-
und Künstler, die romantischen Traditionen folgt. keiten<< vorstellt, so wie es die vom Gegenstand eman-
Geradezu als ein Paradigma des >reinen Sehens< zipierte Farbe gerade zu erschließen beginnt (vgl.
konfrontiert Benjamin die >>Farbigkeit der Kinder- Kandinsky 1963b, 110). Das >unbefangene Sehen< kann
zeichnung<< selber, die von der >>Buntheit<< ausgehe bei Benjamin als kulturelle Konstruktion des Blicks
(ebd.), der intellektuellen Raumkonstruktion, dem und zugleich »als Postulat einer ästhetischen Theorie<<
rational erzeugten Raum der Malerei. Dazu finden sich (Imdahl1987, 25) gewürdigt werden.
130 Messianismus, Ästhetik, Politik

Farbe als Medium der Phantasie Iichen Sehen- diese Bilder »rufen [... ] im Kinde das
Wort wach. [... ] Das Kind dichtet in sie hinein. [... ] es
Benjamin erhebt, in Umkehrung einer seit der Renais- lernt an ihnen zugleich mit der Sprache die Schrift und
sance dominanten Tradition, nach der allein Zeich- zwar eine dichtende, schaffende Schrift: Hieroglyphik<<
nung grundsätzlich auf das Geistige, Essentielle gerich- (VI, 113).
tet sei, das vielfältige und dingüberflutende Wechsel- In der Rezension von Kar! Hobreckers Alte verges-
spiel der Farben selber und gerade auch als Buntheit sene Kinderbücher führt Benjamin beide Pole in Gestalt
in den Rang eines Geistigen, im Medium des >reinen der kolorierten Stiche und der schwarz-weißen Holz-
Sehens<. Mehr noch: die Farbigkeit der Kinderzeich- stiche zusammen, in ihrer Bedeutung für die kindliche
nung, die die dingbezogenen und dingisalierenden Anschauung ergänzen sie einander: >>Das farbige Bild
Distinktionen überspielt, erscheint als eine >>künstle- versenkt die kindliche Phantasie träumerisch in sich
rische Ordnung<<, die darum >>paradiesisch<< sei, weil selbst. Der schwarz-weiße Holzschnitt, die nüchterne
in ihr die Welt >>farbig im Zustande der Identität, Un- prosaische Abbildung führt es aus sich heraus<< (III,
schuld, Harmonie<< sich befinde (VI, 111 f.), also nicht 20). >>Im Reich der farblosen Bilder erwacht das Kind,
in dem der Entzweiung, des Wissens und der Zerris- wie es in dem der bunten seine Träume austräumt<<
senheit. (21). Mit den Bestimmungen, die er hier in den Blick
Wenn das geschichtsphilosophisch-theologische nimmt, bildet sich seit dem GESPRÄCH ÜBER DIE
Rede ist, so ist es doch zugleich und überwiegend äs- PHANTASIE, den Fragmenten von 1914/15 und den
thetische Rede. Das Fragment handelt eindeutig von Arbeiten von 1918 bis 1920/21 eine Polarität in Ben-
der >>Farbigkeit der Kinderzeichnung<<, also doch wohl jamins Anthropologie und Poetik der Wahrnehmung
von etwas Hervorgebrachtem. Wenn Benjamin in spä- heraus, die bis in die 30er Jahre weiter entwickelt
teren Varianten auf diese Konstellation eingeht, bezieht wird.
er sich in der Regel auf das Anschauen von Kinderbü- Denn es geht bei diesen Bestimmungen der Phan-
chern, handkolorierten zumal, die für ihn selber Ge- tasie um Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen
genstände der Sammlung und der Erinnerung sind. ( -modi), die >>jedem Kunstwerk zu Grunde<< liegen (VI,
Allerdings ist solches Anschauen alles andere als nur 116), so steht es schon im Fragment PHANTASIE, um
rezeptiv, es ereignet sich im Medium der Farbe und, 1920/21, etwa zur Zeit der Lektüre von Jean Pauls Le-
paradox gesagt, im Modus einer aktiven Rezeptivität, vana (Sommer 1920). Hier entwickelt Benjamin, aus-
lautet es in einer Variante: >>>Ich sehe<, heißt ich nehme gehend vom rein Passiven der Phantasie, eine Bestim-
wahr und auch >Es sieht aus< (meist von Farben) [... ] mung für die »Erscheinungen der Phantasie<<, in der
Das Aussehen der Farbe und ihr gesehen Werden ist ein immer vor sich gehender Gestaltwandel einem
gleich/ Das heißt: die Farben sehen sich<< (VI, 117 f. ). dafür empfänglichen Sehen entgegenkommt, er be-
So komplex hat schon Novalis über das Wahrneh- zeichnet sie als >>Entstaltung des Gestalteten<< und fügt
men gedacht: Die >>SelbstThätigkeit<<, heißt es in seinen hinzu: >>Es ist aller Phantasie eigen, daß sie um die
Fichte-Studien, >>ist eine Empfänglichkeit- die Wahr- Gestalten ein auflösendes Spiel treibt<< (114). Der Satz
nehmbarkeit eine Aufmerksamkeit<< (Novalis 1978, bezeichnet diese Kategorie als einen Grenzbegriff: es
147). Benjamin hat dieses Diktum, die Wahrnehmbar- ist die Phantasie, die entstaltet, indem sie ein auflösen-
keit sei eine Aufmerksamkeit, schon in der Dissertation des Spiel um die Gestalten treibt, aber wo sie entstaltet,
aufgegriffen, später in ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAU- >>Zerstört<< sie dennoch >>niemals<< (115). Darum ent-
DELAIRE die Erscheinung der Aura mit ihm erläutert. stehen die >>Erscheinungen der Phantasie<< in jenem
>>Bereich der Gestalt, da diese sich selbst auflöst<< (ebd.),
>>phantasievolle Entstaltung der Gebilde<< kommt >>aus
Gestaltung - Entstaltung dem lnnern, ist frei<< und führt niemals >>in den Tod,
sondern verewigt den Untergang den sie heraufführt
Um das Paradox der Empfänglichkeit als Seihsttätig- in einer unendlichen Folge von übergängen<< (ebd.).
keit (Novalis) ganz in den Blick zu nehmen, soll den Ist die Poetik der Metamorphose in der Tradition
farbigen Bildern in Kinderbüchern ihre komplemen- Ovids getragen von der Überzeugung, daß durch alle
täre Erscheinung, ihr Gegenpol in Benjamins Konzept Verwandlungen hindurch das Ganze sich erhält, so
der Phantasie gegenübergestellt werden: >>die Fläche zeigt für Benjamin Entstaltung >>die Welt in unendli-
des unfarbigen Bilderbuches<< (VI, 112 f.), m.a.W. das cher Auflösung begriffen, das heißt aber: in ewiger
in Schwarz-Weiß gehaltene >>lediglich und schlechthin Vergängnis<< (ebd.). Phantasie ist >>der Sinn für wer-
abbildende Bild<< (VI, 112). Hier ereignet sich das dende Entstaltung<< ( 116), das >>Genie des Vergessens<<,
ganze Gegenteil zu jenem >unbefangenen<, unbegriff- sie >>kennt nur stetig wechselnden Übergang<< ( 117).
Fragmente zu Phantasie und Farbe 131

In seinem illustrierten Aufsatz AussiCHT INS KIN- empfangend: im farbig schimmernden Auge<< (ebd.).
DERBUCH greift Benjamin die Differenzierung zwi- Doch dem tritt sogleich ein anthropologisch und
schen der Region der Sinne, denen ein »schöpferisches wahrnehmungspsychologisch fundierter Sinnesdis-
Vermögen<< entspricht, und jener Region aufnehmen- kurs zur Seite, der dem Sehen, das >>Form und Farbe
der Sinne wie >>Farbwahrnehmung, Geruch und Ge- zugleich<< auffasse, und dem Hören die Vermögen ak-
schmack<<, denen >>kein schöpferisches Vermögen ent- tiver Korrespondenzen zuordnet: >>Formsehen und
spricht<< (VII, 22), wieder auf und unterscheidet nun Bewegung, Gehör und Stimme<<, zugleich aber auch
zwischen Phantasieanschauung und schöpferischer die passiver: Farbsehen, das zu den >>Sinnesbereichen
Einbildung(skraft). Ausgangspunkt seiner Überlegun- von Riechen und Schmecken<< gehöre, was die Sprache
gen ist das Kolorit der Illustrationen von Johann Peter selber mit den intransitiven wie transitiven (aussehen,
Lyser zu Märchenbüchern von Albert Ludwig Grimm, riechen, schmecken) zum Ausdruck bringe (614). So
besonders zu Lina's Mährehenbuch (vgl. 2, 477f.). Er legt hier die Abwesenheit eines mimetischen Vermö-
bringt Lysers Arbeit als Variation in ein abgeleitetes gens im psychophysischen Sinne den Grund dafür,
Verhältnis zur Romantik: was >>die Romantik Über- reine Empfänglichkeit als konstitutives Moment der
schwänglichstes sich je erträumte<<, davon stellte >>sie Phantasieanschauung zu konstruieren. Diese Bestim-
die volkstümliche, ja die kindliche Variante dar<< (IV, mung der Phantasie läuft auf die eine Konstellation
613). Denn der >>selbstgenügsam prangende[n] Far- hinaus: Dem Farbensehen entspricht kein mimeti-
benwelt<< jener Bildehen sei >>keine Dichtung näher als sches, körperliches Vermögen aktiver, signifikativer,
die seine (Jean Pauls, d. Verf.] verwandt<< (ebd.). gestaltender Korrespondenzen, und deren Abwesen-
Worin aber besteht diese Verwandtschaft? Darin- so heit geht wie im Reversbild in die Modalitäten der
heißt es in gewagter Interpolation -, daß Jean Pauls Phantasieanschauung ein.
Ingenium >>so gut wie das der Farbe, in Phantasie, nicht Gleichwohl spielen hier Entsprechungen, wenn viel-
in der Schöpferkraft<< ruhe (ebd.). An dieser Stelle leicht auch nicht körperlich hervorgerufene eine Rolle.
nimmt Benjamin die Differenz zwischen Phantasiean- Obwohl >>die Erscheinungen der Phantasie<< in >>jenem
schauung und schöpferischer Einbildungskraft wieder Bereich der Gestalt<< entstehen, >>da diese sich selbst
auf: >>im Farbensehen<< lasse die» Phantasieanschauung auflöst<< (VI, 115), so bedarf es doch eines solchen
im Gegensatz zur schöpferischen Einbildung sich als Erscheinungen gewissermaßen entgegenkommenden
Urphänomen gewahren<< (ebd.). Urphänomen ist eine Sinns. Dieser Sinn aber ist nicht einem Vermögen ak-
Kategorie, die Goethe verwendet, um mit ihr das Ver- tiver, gestaltender Korrespondenzen zu Formsehen
hältnis der gesonderten, in der Natur vorfindbaren und Gehör gleichzusetzen, als >>echte Phantasie<< ist er
Phänomene zum Ganzen der Natur zu fassen und >>unkonstruktiv, rein entstaltend- oder (vom Subjekt
komplizierte Phänomene auf ihre >>ersten Elemente<< aus gesehen) rein negativ<< (ebd.). Als Entstaltendes
zurückzubringen (vgl. Goethe an Sulpiz Boisseree, 25. muß Phantasie sich immer >>auf ein Gestaltetes außer-
Februar 1832, in: Su1piz Boissen'e 1970, 589). Dabei halb ihrer selbst beziehen<< ( 116). Wo Entstaltendes
bleibt er den klassizistischen Abbildtheorien verhaftet, jedoch >>ins Werk nicht eintritt[ ... ], fassen solche Ge-
wie auch Benjamins Auseinandersetzung mit dem Be- bilde die Welt der Gestalten als einen Text, zu dem sie
griff des Urphänomens in seiner Dissertation über den den Kommentar oder die Arabeske hergeben<< (ebd.).
BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN Ro- Die Kategorie der Arabeske, zumal in ihrer Herkunft
MANTIK zeigt (vgl. I, 11lf.). aus einer romantischen Ästhetik und Poetik der Ent-
Um so bedeutsamer darum die einfachen und sinn- grenzung, taucht hier, gleichsam aus dem Geist der
lichen Bestimmungen des Farbensehens, die es für Farbe, nicht von ungefähr auf. Mit ihr wird die Abbil-
Benjamin zum Urphänomen der Phantasieanschau- dung der erscheinenden Natur distanziert und ein
ung machen. Er erörtert die Frage nach der Abbildung Begriff der Phantasieanschauung etabliert, in dessen
der Natur der Welt, nach der Mimesis, nicht von den Horizont der Begriff einer Kunst steht, die ludistisch,
Inhalten her. Überzeugt, >>daß die erste Materie, an der selbstbezüglich und bedeutungsentlastet ist. Im Kin-
sich das mimetische Vermögen versucht, der mensch- derbuch-Aufsatz werden diese Bestimmungen zusam-
liche Körper ist<< (VI, 127), bringt er das Vermögen, mengeführt: >>Kurz: reine Farbe ist das Medium der
Ähnlichkeiten hervorzubringen, ins Spiel, und dies hat Phantasie, die Wolkenheimat des verspielten Kindes,
seine Entsprechung nicht in Inhalten, sondern in der nicht der strenge Kanon des bauenden Künstlers<< (IV,
Form. Dieses Vermögen des Körpers aber, konstatiert 614). Damit ist eine Polarität eröffnet, die noch im
er, >>hat an der Welt der Farbe seine Grenzen; der Men- Passagen-Projekt mit der Konstellation von Breton
schenkörper kann die Farbe nicht erzeugen<< (IV, 613). und LeCorbusier, von Surrealismus und Konstrukti-
Darum entspreche >>er ihr nicht schöpferisch, sondern vismus, von Verschränkung und Transparenz (vgl. V,
132 Messianismus, Ästhetik, Politik

573; dazu auch Brüggemann 2002, 328ff.) wieder- Welt der Farbe zu Hause. [... ) Reine Farbe ist das Me-
kehrt. dium der Phantasie, nicht der strenge Kanon des ge-
Zugleich aber bewegt sich dieses Phantasie- und staltenden Künstlers. Ihre Wolkenheimat, in der For-
Farbendenken immer noch in den Konstellationen, in men sich weniger gestalten als entstalten, ist das Reich
denen Goethe zur Romantik steht. Goethe, so Benja- des Wandels<< (416f.). Und das bunte Feuer der Land-
min, habe die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben schaft Lysers, in dem der Blick der Kinder, ganz im
>>ganz im Sinne der Romantik<< (IV, 614) erfaßt. Das Sinne Goethes gesprochen, widerstrahlte, es wird nun
folgende Zitat, das dieses gänzliche Einvernehmen be- zur Sphäre, in der »die Gestalten Jean Pauls wandeln
legen soll, gibt jedoch keineswegs Goethes Erfassen der und sich verwandeln<< (417).
sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe wieder, sondern Zu diesem Zeitpunkt aber hat sich die aus dem ro-
das des romantischen Malers Philipp Otto Runge sel- mantischen Begriff der Phantasie und der romanti-
ber, dessen Brief die >Farbenlehre< als Zeugnis der schen Arabeske entwickelte ästhetische Wahrnehmung,
Übereinstimmung präsentiert (Goethe 1991, 285). Die inspiriert durch eine von den Fesseln der Repräsenta-
Grenzenlosigkeit der durchsichtigen Farben, ihr Ver- tion befreite surrealistische Bildersprache, schon die
hältnis zum Licht, ihre Übergänge und Verwandlungen Formenwelten der Verschränkung, der Durchdringung
ineinander aber sind Thema der von Benjamin zitier- der Bilder, der Entstaltung erschlossen und im transi-
ten Passage (vgl. IV, 614). So überspielt er ganz bewußt torischen Raum der Passagen das bunte Feuer einer
die Differenzen zu Goethe und extrapoliert eine nun anderen, urbanen Landschaft gefunden: »Wolkenat-
in der Sprache der romantischen Kunst selber vorge- mosphäre, Wolkenwandelbarkeit der Dinge im Visi-
tragene Bestimmung der Farbe als Medium der Phan- onsraum<< (V, 1024) lautet eins der frühen Notate zum
tasie, die, wie es heißt »dem Fühlen dieser braven Passagenprojekt Nur ein Jahr vor der Kommereli-Re-
Koloristen und damit auch dem Geist der Kinderspiele zension aber hat Benjamin dem anderen Pol der Phan-
selber gerecht<< werde (ebd.). tasieanschauung, der schöpferischen Einbildungskraft,
Der illustrierte Aufsatz AussiCHT INS KINDERBUCH die produktiv und konstruktiv aus Wenigem gestaltet,
endet mit einer Lektüre des allegorisierenden kolorier- sich auf Form, Gesetz und strengen Kanon bezieht,
ten Titelblatts von Johann Peter Lyser zu Lina's Mähr- seinen Essay ERFAHRUNG UND ARMUT gewidmet. So
ehenbuch von Albert Ludwig Grimm: »auf eine[m] läßt sich in den frühen Fragmenten zur Ästhetik der
biedermeierlich beblümten Felsen<<,» [g) elehnt an eine Entstehungsprozeß einer Polarität verfolgen, die als
himmelblaue Göttin, lagert dort der Dichter mit den eine Konstellation von Extremen das Spannungsfeld
melodischen Händen. Was ihm die Muse eingibt, der ästhetischen Moderne bestimmt.
zeichnet ein Flügelkind neben ihm auf. Verstreut um-
her liegen Harfe und Laute. Zwerge im Schoß des Ber- Werk
ges blasen und geigen. Am Himmel aber geht die ALTE VERGESSENE KINDERBÜCHER (III, 14-22)
Sonne unter<< (614f.). So erscheint die Landschaft, AUSSICHT INS KINDERBUCH (IV, 609-615)
DER EINGETUNKTE ZAUBERSTAB. Zu MAx KoMMERELLS >JEAN
wiederum eine Konstellation des Ähnlichen, in der PAUL< (III, 409-417)
»Blick und Wangen der Kinder<< im bunten Feuer der DIE FARBE VOM KINDE AUS BETRACHTET (VI, 110-112)
Farbe und der Phantasie »widerstrahlen<< (615). PHANTASIE (VI, 114-117)
Wenn Benjamin sich ein weiteres Mal auf dieses DER REGENBOGEN. GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE (VII,
19-26)
Titelblatt bezieht, in der Rezension von Kommerells Der Regenbogen oder die Kunst des Paradieses. Aus einer
]ean Paul (1934), erfährt die reine Farbe als Medium alten Handschrift (VII, 562-564)
der Phantasie eine weitere Bestimmung. Er handelt ÜBER DIE FLÄCHE DES UNFARBIGEN BILDERBUCHES (VI,

von den Motiven des Barock, die umgebildet als Fun- 112-113)
Zu EINER ARBEIT ÜBER DIE ScHÖNHEIT FARBIGER BILDER IN
dus der Prosa Jean Pauls zugefallen seien. Nicht die KINDERBÜCHERN. BEI GELEGENHEIT DES LYSER (VI, 123-
Gestalt, der »Wandel<< sei es, »dessen Geschöpfe uner- 125)
schöpflich sich der Dichtung aus diesem Fundus zur ZuR PHANTASIE (VI, 121-123)
Verfügung<<(III, 416) stellten: »Sein Wesen ist das der Steiner, Uwe (2001): Von Bern nach Muri. Vier unveröffent-
lichte Briefe Walter Benjamins an Paul Häberlin im Kon-
Phantasie, die die Gestalt der Umgestaltung zuführt. text, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen-
Dies nicht ohne sie dabei zu entstalten. Entstaltendes schaft und Geistesgeschichte 75, 463-490.
Geschehen ist der Stoff Jean Faulscher Dichtung<<
(ebd.). Und an dieser Stelle nimmt Benjamin eine Literatur
Transposition von der Sprache der Poesie in die der Baudelaire, Charles (1989): Sämtliche Werke/Briefe. Band 5.
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Fragmente zu Phantasie und Farbe 133

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134 Messianismus, Ästhetik, Politik

,,Über das Programm der nem Vorgänger, dem sowohl Feuerbach wie Nietzsche
explizit abschwören und implizit folgen, nämlich Kant.
kommenden Philosophie<<
Dessen Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphy-
Von Peter Fenves sik die als Wissenschaft wird auftreten können dienen
späteren Programmen zur Zukunft der Philosophie
zum Vorbild. Ebenso wie Feuerbach und Nietzsche
Prolegomena erklärt auch der Autor der Prolegomena, daß metaphy-
sische Untersuchungen das Wesen der Erfahrung bis-
Das Programm einer kommenden Philosophie ent- her verkannt hätten, und Benjamin folgt Kants Bei-
wickeln Denker unterschiedlichster Richtungen vor spiel: »Es handelt sich darum Prolegomena einer
allem dann, wenn sie Philosophie in ihren traditionel- künftigen Metaphysik auf Grund der Kantischen Typik
len Formen zwar ablehnen, die Idee der Philosophie zu gewinnen und dabei diese künftige Metaphysik,
aber dennoch nicht ganz aufgeben wollen. Im allge- diese höhere Erfahrung ins Auge zu fassen<< (II, 160).
meinen ist der Zweck solcher Programme nicht, den Sowohl für Kant wie für Benjamin besteht die Aufgabe
vorläufigen Entwurf eines Systems zu formulieren. der Philosophie im Grunde darin, einen Begriff der
Schriften dieser Art tendieren vielmehr dazu, etwas Erfahrung zu entwickeln, der eine unaufhebbare Un-
hervorzuheben, was ein in einem engen Problemzu- terscheidung zwischen zwei Arten von Metaphysik
sammenhang befangener philosophischer Diskurs trifft: die eine erhebt Anspruch auf eine Zukunft, wäh-
bisher übersehen hat. Dieses >Etwas< ist in den meisten rend die andere der Vergangenheit überantwortet wird.
Fällen ein Grundzug von Erfahrung, den Philosophen Für Kant ist die zweite Art von Metaphysik dogma-
noch nicht als solchen erkannt haben. Feuerbachs tisch, wohingegen die einzig gültige theoretische Di-
Grundsätze zur Philosophie der Zukunft sind in dieser mension von Metaphysik aus den >doctrinalen< Grund-
Hinsicht aufschlußreich; denn laut Feuerbach ist es sätzen der Naturlehre besteht. Für Benjamin leiten sich
nun, da das System der Metaphysik vollendet wurde, frühere Formen der Metaphysik von »Erkenntnismy-
an der Zeit, daß Philosophie sich von ihren Abstrak- thologie<< (161) her, wohingegen »künftige Metaphy-
tionen zurückziehe und in das unbekannte Territo- sik« (160) als Lehre Gestalt annimmt. Unangetastet
rium der Erfahrung hineinbegebe (vgl. Feuerbach bleibt aber das geschichtsphilosophische Schema, in
1975, Bd. 1, 270f.). Nietzsches Jenseits von Gut und dem Metaphysik ihren Untergang überlebt. Der Ver-
Böse, das als »Vorspiel einer Philosophie der Zukunft<< gangenheit werden das Dogma oder die Mythologie
angekündigt wird, ist beträchtlich komplexer als Feu- zugeteilt, der Zukunft die Wissenschaft oder Lehre und
erbachs Abhandlung und bewegt sich doch in dieselbe der Gegenwart die programmatische Darlegung der
Richtung, nämlich weg von begrifflichen Allgemein- Art und Weise, wie Metaphysik in neuer Gestalt wird
plätzen, die sich von gängigen grammatikalischen auftreten können.
Strukturen herleiten, hin auf eine Umwertung von Benjamins eigene >Prolegomena zu einer künftigen
Erfahrung. Gegen die »Vorurtheile der Philosophen<< Metaphysik< schließen aber noch in anderer Hinsicht
(Nietzsche 1967 ff., Bd. 5, 15-39), die im Grunde darin an das von Kant bereits Gesagte an. Nur in den Prole-
bestehen, daß sie die Form des Urteils für einen Reflex gomena spricht sich Kant für die Unterscheidung zwi-
der feststehenden Struktur der Wirklichkeit halten, schen Wahrnehmung und Erfahrung aus, der auch
sucht Nietzsche miteinander konkurrierende Perspek- viele von Benjamins frühen philosophischen Notizen
tiven zu mobilisieren, deren prekäres Spiel unterein- verpflichtet sind. Nicht umsonst trägt die umfang-
ander Erscheinungen von der grammatikalisch auf- reichste vorläufige Fassung von ÜBER DAS PROGRAMM
rechterhaltenen Forderung befreien soll, Erscheinun- den Titel ÜBER DIE WAHRNEHMUNG, und das, obwohl
gen von ihnen zugrundeliegenden Substanzen zu sein. diese Notiz nur einen einzigen Satz über den Status
Ohne Feuerbach oder Nietzsche als Vorgänger zu be- von Wahrnehmung enthält (VI, 33-38). Sowohl die
nennen, betritt Benjamins ÜBER DAS PROGRAMM DER Eröffnungssätze von ÜBER DIE WAHRNEHMUNG als
KOMMENDEN PHILOSOPHIE dasselbe Terrain: Auch auch die Einleitung ZU ÜBER DAS PROGRAMM beziehen
seine Schrift sucht einen Begriff von Erfahrung zu sich auf ein Argument im zweiten Teil von Kants Pro-
entwickeln, der keiner früheren Auffassung gleicht. legomena, demzufolge »Wahrnehmungsurtheile<< sich
Allerdings sind weder Feuerbach noch Nietzsche von empirischem Bewußtsein herleiten, »Erfahrungs-
ausdrücklich Bezugspunkte Benjamins. AnstaU sich urtheile<< dagegen in »Bewußtsein überhaupt<< grün-
an nachhegelianischen Philosophen auszurichten, die den: »Was die Erfahrung unter gewissen Umständen
mit großartiger Geste den Wert der Philosophie her- mich lehrt, muß sie mich jederzeit und auch jeder-
absetzen, verbindet Benjamin sein Programm mit ei- mann lehren, und die Gültigkeit derselben beschränkt
>>Über das Programm der kommenden Philosophie« 135

sich nicht auf das Subject oder seinen damaligen Zu- selbst, sondern allein um das Programm, wie ein sol-
stand ein<< (Kant l900ff., Bd. 4, 299). Benjamins phi- ches Programm zu entwerfen wäre. Das »Über<< im
losophisches Vorhaben besteht im Grunde in einer Titel von Benjamins Aufsatz erinnert außerdem an
hyperbolischen Extrapolation aus dieser Einsicht; ihm jene »kleine Abhandlung<< ( 1, 343 ), dem es als eine Art
zufolge entspricht eine andere >>Art der Erfahrung<< (II, von Prolegomenon dient: ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT
160) einer Lehre, die sich von der Sphäre der Subjek- UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN. Allerdings ist
tivität gänzlich löst und nicht nur empirisches Bewußt- die Beziehung zwischen den beiden über-Schriften
sein, sondern Bewußtsein überhaupt hinter sich zu- alles andere als klar; nur ausgewählte Passagen aus dem
rückläßt. Eine Passage aus dem zweiten Teil der Prole- späteren Aufsatz lassen sich als Erläuterungen der frü-
gomena bestimmt den Verlauf einer weiteren heren Arbeit verstehen, und ÜBER SPRACHE ÜBER-
Extrapolation Benjamins. >>Daher haben<<, schreibt HAUPT ist in jedem Falle weniger ein Hauptwerk als
Kant, >>auch die reinen Verstandesbegriffe ganz und der erste Versuch, das »Bewußtsein überhaupt<< der
gar keine Bedeutung, wenn sie von Gegenständen der Prolegomena in ihr sprachliches Gegenstück zu über-
Erfahrung abgehen und aufDinge an sich selbst (nou- führen. Das Anfangsrätsel von Benjamins ersten phi-
mena) bezogen werden wollen. Sie dienen gleichsam losophischen Gehversuchen läßt sich daher wie folgt
nur, Erscheinungen zu buchstabiren, um sie als Erfah- formulieren: Selbst wenn es sich bei Benjamins Schrift
rung lesen zu können<< (312). Kant zufolge ist die An- um ein Programm zweiten Grades handeln sollte, wie
wendung der Kategorien auf Erscheinungen insofern kann er es wagen, auch nur über das Programm der
dem Prozeß des Lesens vergleichbar, als beide Vor- kommenden Philosophie zu sprechen, hat er doch -
gänge die subjektive Sphäre des empirischen Bewußt- anders als Kant mit der ersten Kritik- noch kein »al-
seins transzendieren, ohne doch die Schranken mög- leszermalmendes<< (Mendelssohn) und grundlegendes
licher Erfahrung zu überschreiten. Für diejenigen, die Hauptwerk verfaßt, das allein jenen Auftritt legiti-
lesen können, ist es ohne Bedeutung, wie die Buchsta- mierte, den Benjamin in der Nachfolge Kants ankün-
ben auf der Oberfläche aussehen, auf der sie erschei- digt.
nen; von Bedeutung ist nur, was die Kombination der Keine von Benjamins frühen Notizen formuliert
sichtbaren Buchstaben den Leser überhaupt lehrt. Auf eine explizite Antwort auf diese Frage. ÜBER DAS PRo-
Kants Vergleich zwischen der Anwendung der Katego- GRAMM impliziert aber, daß andere Philosophen be-
rien und dem Prozeß des Lesens antwortet Benjamin reits im wesentlichen jene Arbeit geleistet haben, die
mit einer Reihe von Notizen, welche den Begriff der ein philosophisches Programm voraussetzen muß.
Erfahrung durch den der Wahrnehmung ersetzen und Fraglos erwähnt Benjamin lediglich Platon und Kant
Kants Vergleich entsprechend in eine Gleichung um- namentlich und verbindet seine Äußerungen zu diesen
formen: >>Wahrnehmung ist Lesen[.] Lesbar ist nur in Autoren mit abfälligen Bemerkungen zu Garve und
der Fläche <E>rscheinendes<< (VI, 32). Die Wahrneh- Mendelssohn sowie einem sehr verhaltenen Hinweis
mung der Fläche selbst jedoch wäre nicht länger eine auf Hamanns »Metakritik<<. Es wäre jedoch falsch,
Wahrnehmung unter anderen, vielmehr ähnelte sie hieraus zu folgern, daß in Benjamins Augen andere
jener »höheren Erfahrung<<, die Benjamins Prolego- Autoren nicht der Beachtung wert gewesen wären.
mena »ins Auge zu fassen<< suchen. Ganz im Gegenteil. ÜBER DAS PROGRAMM schließt sich
In einer Fußnote zu den Prolegomena spottet Kant drei philosophischen Bewegungen an: Cohens Neu-
über Christian Garve, der die erste Kritik als eine Form kantianismus, Busserls Phänomenologie sowie den
des »höheren Idealismus<< beschrieb. Kant entgegnet weitreichenden Versuchen Freges, Russells und ande-
hierauf: »Bei Leibe nicht der höhere. Hohe Thürme, rer, traditionelle Weisen des Philosophierens aufzuge-
und die ihnen ähnliche metaphysisch-große Männer, ben und Philosophie wie Mathematik auf rein logische
um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind nicht und mengentheoretische Grundlagen zurückzuführen.
für mich<< (Kant 1900 ff., Bd. 4, 374). Zu diesen »me- Nun mag keine dieser Strömungen eine der ersten
taphysisch-große[n] Männer[n]<< könnte Benjamin Kritik vergleichbare Abhandlung hervorgebracht ha-
vielleicht gezählt werden, widersprächen dem nicht ben; jede dieser Bewegungen hat jedoch entscheidend
zwei miteinander übereinstimmende Überlegungen. zu der ihnen gemeinsamen Aufgabe beigetragen, reine
Zum einen legt Kant selbst mit der Rede von »Bewußt- Philosophie und empirische Psychologie voneinander
sein überhaupt<< den Grund für so etwas wie eine hö- zu unterscheiden. Was das Ich in Benjamins frühem
here Lehre, und zum andern ist Benjamin vorsichtig DIALOG ÜBER DIERELIGIOSITÄT DER GEGENWART von
genug, seine Programmschrift mit der Präposition der Mystik sagt, ließe sich auch von jeder Lehre sagen,
>Über< einzuleiten. Es handelt sich bei diesem Text also die empirisches Bewußtsein zum Gegenstand philo-
nicht um das Programm der kommenden Philosophie sophischer Forschung macht: »Sie begeht die Tod-
136 Messianismus, Ästhetik, Politik

sünde, den Geist natürlich zu machen, ihn als selbst- gedehnten Kantlektüre. Im Frühjahr 1913 schreibt er
verständlich zu nehmen, nur kausal bedingt<< (II, 32). an Carla Seligson, daß er sich in die Grundlegung zur
Wider diese Todsünde verbündet sich Benjamin mit Metaphysik der Sitten vertiefe (1, 92), und die Früchte
dem Antipsychologismus von Cohen, Husserl, Frege von Benjamins Beschäftigung mit dieser Abhandlung
und Russell. Keineswegs sucht Benjamin also in einem zeigen sich bereits in DER MORALUNTERRICHT ( 1913 ),
Anfall von Hybris sich nur mit Platon, Kant und ih- dem ersten Aufsatz, den Benjamin unter seinem eige-
resgleichen in eine Reihe zu stellen; seine Programm- nen Namen veröffentlicht (II, 48-54). Noch im Som-
schrift ist vielmehr das Ergebnis eines Schulterschlus- mer desselben Jahres schreibt Benjamin an Herbert
ses mit bestimmten Avantgarden philosophischer Blumenthal: >>Meine Reiselektüre ist abenteuerlich
Forschung. Benjamin teilt deren Feindseligkeit gegen geplant. Weißt Du, daß ich mit nächstem anfange die
Theorien, die Philosophie mit Erfahrungswissenschaft Kritik der reinen Vernunft mit Kommentaren zu lesen<<
verwechseln, und fragt darüber hinaus: Wohin führen (1, 154). Bereits einige Monate früher wies Benjamin
diese fortschrittlichen Bewegungen im Denken? Und spielerisch auf sein >programmatisches< Interesse an
woher kommt folglich die kommende Philosophie? jenem Teil der Kritiken hin, der deren systematischen
Eines ist jedenfalls sicher: Ohne Veränderungen Anspruch am deutlichsten formuliert. Wiederum an
kann Kants Erkenntnistheorie um 1918 nicht mehr Blumenthal schreibt Benjamin, daß >>die Einleitung
übernommen werden, weil unbestreitbare und doch zur >Kritik der Urteilskraft< für diesen Morgen auf dem
rätselhafte Neuerungen in der Logik und Physik die Programm<< (97) steht. Während seines Aufenthaltes
Überlebensfähigkeit des kritischen Systems haben in München studiert Benjamin außerdem bei Moritz
fragwürdig werden lassen. Zum einen bestreiten Frege Geiger, dessen kurz zuvor veröffentlichte Beiträge zur
und Russell energisch, daß die Sätze der Arithmetik Phänomenologie des ästhetischen Genusses sich mit der
als synthetische Urteileapriori aufzufassen sind. Zum >>Kritik der ästhetischen Urteilskraft<< auseinanderset-
anderen machen die Entdeckungen Einsteins es un- zen. Mit der Teilnahme an Geigers Seminar zum zwei-
möglich, Raum und Zeit weiterhin als unveränderli- ten Teil der dritten Kritik - also >> Kants Teleologie<<
che Strukturen a priori zu beschreiben, die jede Er- (324)- fügt Benjamin seinem Studium des kantischen
kenntnis bedingen. Daß Benjamin Russells Werk Systems auch noch dessen Schlußstein ein.
studierte und von dem Freges wußte, steht außer Eine weniger konsequente Auseinandersetzung mit
Zweifel. Auch die (ebenfalls in Bern entworfene) Re- Kant wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Zu einer
lativitätstheorie ist in ÜBER DAS PROGRAMM nicht Zeit, in der alle möglichen philosophischen Schulen
ganz abwesend, wie jene Passage zeigt, in der Benja- sich in Beziehung auf Kant definierten, war für einen
min von einer >>Erfahrung<< spricht, >>deren Quintes- ambitionierten Studenten der Philosophie die inten-
senz deren Bestes gewisse Newton'sche Physik war<< sive Beschäftigung mit den Kritiken unumgänglich.
(159). Benjamins Bemerkung verrät in diesem Kon- Etwas an Benjamins Stellung zum kantischen System
text keineswegs eine vage Goethesche oder romanti- läßt sich jedoch nicht so einfach mit dem Hinweis auf
sche Abneigung gegen Newton; sie spricht nur die seinen Studentenstand erklären: die Tatsache nämlich,
Einsicht aus, daß jene natural philosophy, im Hinblick daß für Benjamin diese Stellung eine Frage von Leben
auf die Kant eine Metaphysik der Natur entwarf, kaum und Tod war. Deutlich genug weist hierauf ein Brief
mehr als verläßlicher Leitfaden eines legitimen Erfah- an Scholem hin, auch wenn der genaue Kontext dieser
rungsbegriffs dienen kann. Zusammenfassend läßt Äußerung undurchsichtig bleibt. Gegen Ende des Jah-
sich also sagen, daß Philosophie um 1918 droht, sich res 1917 schreibt Benjamin: >>[W]as die Frage angeht
in empirisch-psychologische Untersuchungen, for- welche die längste [Antwort] erheischt: wie ich bei
mallogische Übungen und wissenschaftstheoretische meiner so beschaffneu Stellung zum Kautischen Sy-
Erwägungen aufzulösen. stem leben könnte? so bin ich dauernd an der Arbeit
mir dies Leben durch die Einsicht in die Erkenntnis-
theorie zu ermöglichen und muß für die ungeheuere
Wozu Kant? Aufgabe die das für Menschen unserer Einstellung be-
deutet bei allem Eifer Geduld haben<< (402). Wer alles
Einige der frühesten Aufsätze und Briefe Benjamins sonst noch zu den Menschen dieser »Einstellung« zu
bezeugen sein Interesse an Kants Kritiken und belegen, zählen wäre, ist schwierig zu sagen; unter ihnen ist aber
in welchem Umfang er sich mit ihren theoretischen, zweifellos Felix Noeggerath, ein Student, den Benjamin
praktischen, ästhetischen und teleologischen Überle- zuerst in Geigers Seminaren in München traf. Benja-
gungen vertraut machte. Während seines Studiums in min behandelt Noeggeraths Eigennamen mit eigen-
Freiburg widmete sich Benjamin einer besonders aus- tümlicher Verschwiegenheit und bezieht sich statt
»Über das Programm der kommenden Philosophie« 137

dessen mit dem Terminus >>das Universalgenie<< (oder Daher läßt sich kaum sagen, was die Gespräche mit
kurz >>das Genie<<) auf ihn. Spricht Benjamin in einem Noeggerath so denkwürdig macht, daß Benjamin
anderen Brief an Schalem von seiner >>gänzlichen Iso- schreibt: >>Neben solchen Gesprächen, die mir seit lan-
liertheit von mitdenkenden Menschen, von Ihnen, gem, wenn auch was ich nie vergesse und vergessen
Gerhard, der Sie der einzige sind den ich überhaupt darf, in begrenztem Sinne, zu lernen geben, kommt
namhaft machen kann<< (418), so muß dieser Satz viel- natürlich nichts an der Universität in Betracht<< (I,
leicht wörtlich verstanden werden: Benjamin kennt 301). Eines läßt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Für
zwar neben Schalem noch andere>> mitdenkende Men- Benjamin handelt es sich um Gespräche mit einem
schen<<, er kann sie jedoch nicht beim Namen nennen. >>Genie<<. Damit meint Benjamin nicht einfach jeman-
Dieses Versagen, das dem im seihen Schreiben thema- den, der ungewöhnlich intelligent, spontan oder ori-
tisierten Unvermögen entspricht, Gedanken brieflich ginell ist. Nachdem er Noeggerath im Brief an Radtals
mitzuteilen, kann wohl kaum ohne jede Beziehung zu >>Genie<< eingeführt hat, betont Benjamin vielmehr, wie
jenen Überlegungen sein, die Benjamin >>gegenwärtig wenig bezeichnend doch dieser Begriff ist. Ganz anders
besonders intensiv beschäftigen<< (418). Das Verspre- verhält es sich mit dem Ausdruck >>Genius<<, den auf-
chen des kantischen Systems- und die Bedrohung, die grundseiner einzigartigen Stellung eigentlich niemand
von ihm ausgeht - lassen sich durchaus in Entspre- für sich in Anspruch nehmen kann: >>Nicht das Genie
chung zu Benjamins Versagen verstehen: Eine be- ist wichtig, sondern der Genius. In diesem
stimmte >>Stellung zum kantischen System<< vermag unvergleich[lich]en Worte Genius, dessen Bedeutung
diejenigen, die sie einnehmen, ihres Eigennamens zu etwa seit Hölderlin und Wilhelm von Humboldt und
berauben. Goethe vergessen ist, liegt aufs deutlichste jene Rein-
Trotz Scholems erhellender Studie >>Walter Benja- heit der Produktivität, die nur aus klarem Bewußtsein
min und Felix Noeggerath<< lassen sich über wichtige ihrer sachlichen Quellen fließt. Das Genie in Werk und
Aspekte dieser merkwürdigen Freundschaft nur Mut- Schaffen bleibt problematisch, >heilig-nüchtern< ist der
maßungen anstellen. Das wird auch zweifellos so blei- Genius. Lesen Sie Hölderlins >Gesang der Deutschen<<<
ben, weil das >>Universalgenie<< seine Anziehungskraft (l, 298f.).
auf Benjamin vor allem in Gesprächen ausübte. Scha- Eine weitere Passage aus demselben Brief an Radt
lem bezog den Antrieb zu seiner Publikation aus der deutet auf die letzte Synthesis, die das »Genie<< an-
Entdeckung von Briefen an Fritz Radt, in denen Ben- strebt. Benjamin erklärt: >>Es beruht alles auf einer sehr
jamin zweimal auf die Themen und Atmosphäre seiner bedeutenden Vereinigung und Durehrlenkung der Kri-
Gespräche mit Noeggerath eingeht. In einem Brief von tik der reinen Vernunft und der Gedanken Georges<<
November 1915 schließt Benjamin seine erste Be- ( 30 1). Auf der Grundlage seiner Bemerkung über den
schreibung des >>Genies<< mit der Bemerkung, daß er Unterschied zwischen Genie und Genius ließe sich
gute Gründe hätte, Noeggeraths Einladung zu >>Kaut- ganz ähnlich über Benjamins eigenes Vorhaben sagen:
besprechungen<< anzunehmen, »die er mit [Rainer Es beruht alles auf einer Vereinigung und Durehrlen-
Maria] Rilke und dem Göttinger Astronomen abhält<< kung der Kritiken und der Gedanken Hölderlins. Der
(291). In einem zweiten, wenig später verfaßten Brief Punkt, an dem diese Synthesis allein statthaben könnte,
geht Benjamin allerdings nicht weiter auf diese Dis- ist der von Hölderlins >>Heilignüchternheit<< oder,
kussionsrundell ein, und es bleibt ungewiß, ob er an übersetzt in Kants Sprache, der von >>Bewußtsein über-
ihnen überhaupt teilnahm. Anstatt direkt über Kant haupt<<. Diese Synthesis von Kant und Hölderlin ist
zu reden, wenden sich Benjamin und Noeggerath nun jedoch nur möglich, wird das kritische System grund-
einem anderen Gesprächsthema zu: >>Es handelt sich legend verändert: Ebenso wie der Genius muß auch
um vergleichende Mythologie<< (299). ÜBER DAS PRo- Bewußtsein überhaupt in den Genuß einer eigenen
GRAMM zeigt allerdings, daß die Themen >>Kant<< und autonomen Sphäre kommen. Von Genies kann erwar-
»Vergleichende Mythologie<< so verschieden doch nicht tet werden, daß sie dem kommenden Genius Platz
sind. machen, und etwas dieser Art scheint auch das Gedicht
Benjamin hatte Gelegenheit, einen, allerdings anzudeuten, auf das Benjamin Radts Aufmerksamkeit
>>klein[en] Teil<< von Noeggeraths unveröffentlichter lenkt. Nach den Zeilen: >>Doch, wie der Frühling, wan-
Dissertation Synthesis und Systembegriff in der Philo- delt der Genius/ Von Land zu Land<<, fragt Hölderlins
sophie. Ein Beitrag zur Kritik des Antirationalismus zu >>Gesang<< einer Ahnung nach, die mit Benjamins ei-
lesen. Obwohl Benjamin sie als >>höchst bedeutend<< gentümlichen Forschungsprogramm verwandt zu sein
(364) bewertet, läßt er sich nicht weiter über Noegge- scheint: >>Und wir? ist denn einer auch/ Von unseren
raths Arbeit aus und vermerkt nicht einmal, welche Jünglingen, der nicht ein/ Ahnden, ein Räthsel der
Passagen er überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Brust, verschwiege?<< (Hölderlin 1905, Bd. 2, 123).
138 Messianismus, Ästhetik, Politik

Phänomenologie und ndie Sphäre Verb >>ausmitteln<<, das Benjamin in diesem Zusam-
der Erkenntnis<< menhang gebraucht, schließt explizit aus, daß die
Sphäre der Erkenntnis entweder mit Hilfe empirischer
Natürlich ist nicht allein Benjamin der Ansicht, daß Experimente >ermittelt< oder das Ergebnis dialekti-
die Philosophie sich in einer kritischen Situation be- scher >Vermittlung< sein könnte.
finde, noch ist er der einzige, der glaubt, daß die Be- Zweifellos ist die Aufgabe, die Benjamin der Erkennt-
wältigung dieser Krisis eine große Zukunft eröffnen nistheorie zuweist, mit den Zielen der phänomenolo-
werde. Der erste Satz von ÜBER DAS PROGRAMM erin- gischen Schule eng verwandt, wie Benjamin in den
nert nicht nur an die Verse Hölderlins, auf die Benja- entsprechenden Passagen von ÜBER DAS PROGRAMM
min Radt aufmerksam machte; aus ihm spricht auch, selbst zugibt. Dieses Eingeständnis wird allerdings da-
mutatis mutandis, eine ähnlich merkwürdige Mischung durch kompliziert, daß Benjamin, wenn auch zögernd,
von Dringlichkeit und Hoffnung, die schon Busserls an dem Begriff >>Bewußtheit<< festhalten muß, um noch
>>Philosophie als strenge Wissenschaft<< (1911) zu ei- vor seiner sorgfältigen Ausarbeitung die Richtung des
nem philosophischen Manifest machte. Benjamin Programms zumindest andeuten zu können. Keine
beginnt seine Programmschrift mit den Worten: >>Es Passage in Benjamins CEuvre erinnert stärker an die
ist die zentrale Aufgabe der kommenden Philosophie Sprache der Ideen als jenes Axiom, auf das ÜBER DAS
die tiefsten Ahnungen die sie aus der Zeit und dem PRoGRAMM seinen Anspruch gründet: >>Alle echte Er-
Vorgefühle einer großen Zukunft schöpft durch die fahrung beruht auf dem reinen erkenntnis-theoreti-
Beziehung auf das Kantische System zu Erkenntnis schen (transzendentalen) Bewußtsein wenn dieser
werden zu lassen« (li, 157). Auch wenn die Bestim- Terminus unter der Bedingung daß er alles Subjekthaf-
mung dieser >>zentralen Aufgabe<< vor allem mit dem ten entkleidet sei noch verwendbar ist<< (II, 162f). Hält
Hinweis auf Kant sich von Busserls Forschungspro- PhilosophieamBegriff >>Bewußtsein<< fest, setzt sie sich
gramm unterscheidet, so kann im Hinblick auf die allermindestens einer beunruhigenden Zweideutigkeit
spezifisch erkenntnistheoretische Dimension dieser aus. In dem Maße, in dem sie die Sphäre der Erkennt-
Aufgabe von einer ähnlichen Distanzierung von Bus- nis sichert, scheint Philosophie das Feld der Psycholo-
serl keine Rede sein: >>Es ist die Aufgabe der kommen- gie zu betreten. An diesem Punkt sucht Benjamin aus-
den Erkenntnistheorie für die Erkenntnis die Sphäre drücklich Hilfe bei der Phänomenologie, die Fort-
totaler Neutralität in Bezug auf die Begriffe Objekt schritte in der philosophischen Forschung möglich
und Subjekt zu finden; mit anderen Worten die auto- macht, indem sie die verschiedenen Bereiche vonein-
nome ureigne Sphäre der Erkenntnis auszumitteln in ander abhebt, auf die der zweideutige Begriff »Bewußt-
der dieser Begriff aufkeine Weise mehr die Beziehung sein<< anwendbar ist: >>Das reine transzendentale Be-
zwischen zwei metaphysischen Entitäten bezeichnet<< wußtsein ist artverschieden von jedem empirischen
(163). Benjamin hatte Busserls Manifest im Sommer Bewußtsein und es ist daher die Frage ob die Anwen-
1913 gelesen (1, 144), und >>Um Zugang zu seiner dung des Terminus Bewußtsein hier statthaft ist. Wie
Schule zu gewinnen<< (301 f.), begann er im Winter sich der psychologische Bewußtseinsbegriff zum Begriff
1914-15, sich mit Busserls Ideen zu einer reinen Phä- der Sphäre der reinen Erkenntnis verhält bleibt ein
nomenologie und phänomenologischen Philosophie Hauptproblem der Philosophie, das vielleicht nur aus
(1913) eingehend zu beschäftigen. Nirgendwo mani- der Zeit der Scholastik her zu restituieren ist. Hier ist
festiert sich die Wirkung dieser Lektüre deutlicher als der logische Ort vieler Probleme, die diePhänomeno-
in der Art und Weise, wie Benjamin die Aufgabe kom- logie neuerdings wieder aufgeworfen hat<< (163). Die
mender Erkenntnistheorie bestimmt. Anders als die Beziehung zwischen den von Benjamin und Husserl
Erkenntnistheorie, die von kantischer Kritik ihren entworfenen Programmen ist daher denkbar eng- und
Ausgang nimmt, macht ÜBER DAS PROGRAMM es ge- prekär zugleich. Sie ist eng, insofern beide eine >>auto-
rade nicht zur Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen nome ureigne Sphäre der Erkenntnis<< (ebd.) auszuma-
der Subjektivität zu ermitteln, auf deren Grundlage chen suchen, in der jegliche Vorstellung von Subjekten,
objektive Erkenntnis möglich ist. Ganz im Gegenteil, Objekten und ihrer Wechselwirkung verschwunden ist.
in der >>Sphäre der Erkenntnis<<, welche Benjamins Sie ist jedoch prekär, insofern beide Programme sich in
Programmschrift anvisiert, bleibt von Subjektivität einem Begriff berühren, den Benjamin bestenfalls als
und Gegenständlichkeit nichts übrig. Die entschei- vorläufig einstuft, wohingegen für Husserl kein Zweifel
dende erkenntnistheoretische Frage kann daher nicht daran besteht, daß das Residuum der letzten Reduktion
sein, wie synthetische Urteileapriori möglich sind. Sie >>absolutes Bewußtsein<< (Husserl1913, 91) ist.
muß vielmehr lauten: Wie kann die >>Sphäre der Er- Jener Passus, in der ÜBER DAS PROGRAMM zur Re-
kenntnis<< ausgemittelt werden? Das eigentümliche stitution eines >>Hauptproblem[s] der Philosophie<< aus
»Über das Programm der kommenden Philosophie« 139

der >>Zeit der Scholastik« in Verbindung mit seiner Gegebenheit allgemein mit der empirischen Gegeben-
phänomenologischen Erneuerung aufruft, verschwin- heit des >>Zeitlich-Tatsächliche[n]<< (Linke 1916, 187)
det nicht ganz aus Benjamins weiterem theoretischen verwechselten, erkannte Husserl, daß ein >>Wesen<<, ein
Entwicklungsgang. Für eine kurze Zeit um das Jahr >>Eidos<< oder eine >>Idee<< ebenfalls zu dem gehört, was
1920 spielt der in diesem Passus angedeutete Problem- >>gegeben<< ist. Unabhängig davon, wie man diese neue
kreis eine herausragende Rolle in Benjamins Plänen Gegebenheit letztlich benennen mag, sie ist jedenfalls
für eine Habilitationsschrift, die er dann allerdings völlig verschieden von Begriffen, die spontan gebildet
auch deshalb fallenläßt, weil er sich widerstrebend werden. Außerdem ist schon die bloße Mannigfaltig-
eingestehen muß, daß Heideggers Habilitationsschrift keit von Termini für nichtempirische Gegebenheits-
zur scotischen spekulativen Grammatik trotz ihrer weisen ein Zeichen für die Neuigkeit des von Husserl
offenkundigen Schwächen >>doch vielleicht das We- initiierten Programms. Linke seinerseits empfiehlt
sentlichste scholastischen Denkens für mein Problem beiläufig eine terminologische Klarstellung: Was die
-übrigens in ganz undurchleuchteter Weise- wieder- Ideen >>Wesen<< nennen, sollte statt dessen als »>dee<<
gibt<< (2, 127). Die wenigen ausführlicheren Fragmente bezeichnet werden. In einer Anmerkung hält Linke
zu Benjamins Habilitationsplan lassen erkennen, wie- fest: >>Husserls Ausdruck >Wesen< hat das Missliche,
viel Benjamins Problemstellung- kaum anders als die daß er mit dem natürlichen Sprachgebrauch kollidiert,
Heideggers- der Phänomenologie verdankt. Husserls der gerade am empirisch Wesentlichen orientiert ist.
Programm rettet scholastische Überlegungen vor al- Das Wesen der Farbe Rot ist für den Vorurteilslosen
lem in dem Sinne, als es im Gegensatz zu moderner das für das empirische Rot Wesentliche<< (200, Anm.
Erkenntnistheorie anerkennt, daß jeder geistige Akt 2). Daß Benjamin selbst zwischen den Ausdrücken
ein Korrelat hat, das vom empirischen Gegenstand zu >>Wesen<< und >>Eidos<< für den Titel seiner Notiz
unterscheiden ist und von diesem auch nicht mittels schwankt, ist ein Hinweis darauf, daß er sich der von
irgendeiner Form von >>Abstraktion<< abgeleitet werden Linke beanstandeten terminologischen Schwierigkei-
kann. Benjamins Entwürfe kreisen um die Zirkularität ten zumindest bewußt ist. Diese Schwierigkeiten gehen
jener spezifischen Fundierung, welche die Korrelation jedoch weiter, als die Notiz selbst. Schalem, der zu
von Bedeutendem und Bedeutetem zum Gegenstand dieser Zeit mit Linke studierte, bat seinen Lehrer, EI-
hat und den Zirkel einer jeden phänomenologischen DOS UND BEGRIFF zu beurteilen, und wurde in seiner
Untersuchung nur in anderem Maßstab wiederholt: ungewöhnlich negativen Einschätzung von Benjamins
>>Und wie man von der völligen Correlation zwischen Text bestätigt: >>Benjamins Notiz geht nur aufldee und
Bedeutendem und Bedeutetem hinsichtlich dieser Wesen, nicht auf Begriff und Wesen. Was Benjamin
Fundierungsfrage zu abstrahieren vermöge, so daß also >Eidos< nennt, ist die Idee, was er >Begriff< nennt, das
der Zirkel vermieden wird: Das Bedeutende zielt hin Wesen<< (Schalem 1995-2000, Bd. 2, 141 f.). Mit ande-
auf das Bedeutete und beruht zugleich auf ihm.- Diese ren Worten, Benjamins Notiz verfehlt ihr Ziel. Dies
Aufgabe ist durch die Betrachtung des Sprachbereichs mag ein Grund dafür sein, daß Benjamin in der ER-
zu lösen<< (VI, 22). Selten formuliert Benjamin ein KENNTNISKRITISCHEN VORREDE ZU URSPRUNG DES
Vorhaben so eindeutig innerhalb des Rahmens phä- DEUTSCHEN TRAUERSPIELS den Unterschied zwischen
nomenologischer Forschung, und neben der Aussicht, Wesenheit und Begriff unter die Auspizien eben jenes
Heidegger als Vorgänger berücksichtigen zu müssen, Ausdrucks stellt, auf den Linke Schalem verweist: den
mag ein weiterer Grund für die Änderung der Habili- der >>Idee<<, die sowohl von einem Eidos als auch einem
tationsschrift in eben diesem Darstellungsproblem Begriff artverschieden ist.
gelegen haben: die Arbeit hätte einen >>Frontalangriff<< Sehr viel erfolgreicher als Emos UND BEGRIFF sind
(2, 410) auf phänomenologische Begriffe erfordert, Benjamins weitere Aneignungen phänomenologischer
den zu führen Benjamin sich nicht bereit gefühlt haben Begriffe. Zu diesen ist die Vorrede zur Trauerspielarbeit
mag. ZU zählen, aber auch ZWEI GEDICHTE VON FRIEDRICH
Genau solch einen >>Frontalangriff<< hatte Benjamin HöLDERLIN. Das >>Gedichtete<< als der entscheidende
einige Jahre früher, in seiner Reaktion auf Paul Linkes Neologismus dieses Aufsatzes leitet sich aus derselben
umfangreiche Verteidigung der Ideen gegen einen Par- Einsicht her, die Husserl zur Erfindung des Begriffs
teigänger empirischer Psychologie, gestartet. Linkes >>noema<< führte. Jede cogitatio ist, so Husserl, mit ei-
Aufsatz >>Das Recht der Phänomenologie<< sucht zu nem entsprechenden cogitatum korreliert, und jedes
zeigen, daß Husserl seine eigene Version einer koper- Gedicht, so Benjamin, mit einem für ihn konstitutiven
nikanischen Wende vollziehen konnte, indem er einen Gedichteten. Eine ebenfalls intensive Beschäftigung
Fehler vermied, der die moderne Philosophie bestimmt mit dem phänomenologischen Programm findet sich
hatte. Während sowohl die Empiristen als auch Kant in Benjamins zeitgenössischen Studien zur Farbe, ins-
140 Messianismus, Ästhetik, Politik

besondere in seinem fiktiven Dialog DER REGENBO- Traum und Typik gleichen einander, insofern sie beide
GEN: GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE. Dieser Dialog sozusagen Konstruktionen ex post facto sind, die aus
kommt in Gang, als die Protagonistin Margarethe ei- diesem Grund der >>Intuition<< nicht zugänglich sind.
nen Traum reinen Sehens beschreibt. Dieses Sehen ist Wie sich kritischen Lesern von Kants Träumen eines
so rein, daß nichts - kein Gegenstand- gesehen wird, Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphy-
und insofern sie selbst keine Sehende, sondern viel- siker, erschließt, fällt der Gedanke einer Typik keines-
mehr reines Sehen ist, färbt sich Margarethe selbst in wegs ganz außerhalb der Sphäre des Traums: Der
die bunte Landschaft hinein. Margarethe beschreibt in einzige >>Traum der Metaphysiker<<, der den ernüch-
der Folge die >>Seele des Künstlers<< als >>das reine Auf- ternden Augenblick kritischen Erwachens überdauert,
nehmen im Selbstvergessen<< (VII, 20). Der erste Teil ist der einer >>Natur der Sinnenwelt<<, die als >>Typus
dieser Formel entspricht dem methodelogischen Prin- einer intelligiblen Natur<< beurteilt werden darf (Kant
zip der Phänomenologie. Husserl mag zwar statt vom 1900ff., Bd. 5, 70). Sowohl im Lichte eines Traums des
>>Aufnehmen<< von einem >>Hinnehmen<< sprechen, das reinen (theoretischen) Sehens wie auch einer Typik
Ziel der epochebleibt aber unverändert: ein reines Auf- der reinen (praktischen) Urteilskraft ist das Ich nicht
nehmen alles dessen zu ermöglichen, das sich in seiner so sehr reduziert, als vielmehr desubjektiviert -,ohne
jeweils spezifischen Gegebenheitsweise gibt. Indem doch deshalb objektiviert zu werden. Ein indirekter
Margarethe jedoch die Bedingung dieses Aufnehmens Angriff auf phänomenologische Begriffe ist daher an-
als >>Selbstvergessenheit<< bestimmt, trennen sich ihre gebracht, und eine solche Attacke bestimmt die Rich-
und Husserls Wege. tung, die Benjamins PROGRAMM am Anfang einschlägt.
Zweifellos muß auch nach Husserl das empirische Husserls >>Philosophie als strenge Wissenschaft<< endet
Ich im Zuge der erforderlichen phänomenologischen mit zwei Vorgaben. Zum einen muß Philosophie sich
>>Reduktionen<< vergessen werden, und dasselbe gilt wieder als >>Wissenschaft von den wahren Anfängen,
sogar, wie Husserl mit einiger Beklommenheit an- von den Ursprüngen, von den n:avroov<<
merkt, für >>das reine Ich<< (Husserll913, 109f.). Au- (Husserll911, 340) begreifen. Zum anderen darf sich
ßerdem verlangt Husserl ausdrücklich die >>Selbst-Aus- der Sinn für Wurzeln, Ursprünge und Anfänge nicht
schaltung des Phänomenologen<< (121 f.). Dieser For- in der Form von >>Tiefsinn<< zur Schau stellen: >>Erst
derung läßt er jedoch unmittelbar eine weitere folgen, wenn die entschiedene Trennung der einen und ande-
welche die>> Rückbeziehung der Phänomenologie auf ren Philosophie sich im Zeitbewußtsein durchgesetzt
sich selbst<< ( 122 ff.) zum Gegenstand hat. In dieser hat, ist auch daran zu denken, daß die Philosophie
»Rückbeziehung<< erwacht nach Husserl das absolute Form und Sprache echter Wissenschaft annehme und
Bewußtsein zu sich selbst, und offenkundig könnte als Unvollkommenheit erkenne, was an ihr vielfach
nichts von >>Selbstvergessen<< weiter entfernt sein. Trotz gerühmt und imitiert wird- den Tiefsinn. [... ] Die
der Nähe zum Programm Husserls lehnt Benjamin Ahnungen des Tiefsinns in eindeutige rationale Ge-
also das >>Prinzip aller Prinzipien<< ab, auf der das phä- staltungen umzuprägen, das ist der wesentliche Prozeß
nomenologische Projekt insgesamt beruht. Dieser der Neukonstitution strenger Wissenschaften<< (339).
oberste Grundsatz hält fest, >>daß jede originär gebende Auf diese beiden Verfügungen antwortet ÜBER DAS
Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß PROGRAMM folgendermaßen: >>Es ist die zentrale Auf-
alles, was sich uns in der >Intuition< originär, (sozusa- gabe der kommenden Philosophie die tiefsten Ahnun-
gen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, ein- gen die sie aus der Zeit und dem Vorgefühle einer
fach hinzunehmen sei, als was es sich gibt<< (43). Nach großen Zukunft schöpft durch die Beziehung auf das
Margarethe können >>wir<< uns aber prinzipiell nicht Kantische System zu Erkenntnis werden zu lassen. Die
an jenen Ort versetzen, an dem die >> Rechtsquelle der historische Kontinuität die durch den Anschluß an das
Erkenntnis<< entspringt. Allein indem wir >>uns<< ver- Kantische System gewährleistet wird ist zugleich die
gessen, kann >>alles, was sich [... ] in der >Intuition< einzige von entscheidender systematischer Tragweite.
originär[ ... ] darbietet<<, einfach als das hin- oder auf- Denn Kant ist von denjenigen Philosophen denen es
genommen werden, >>als was es sich gibt<<. Mit anderen nicht unmittelbar um den Umfang und die Tiefe, son-
Worten, Benjamin radikalisiert die phänomenologi- dern vor Allem, und zu allererst, um die Rechtferti-
sche epoche bis zu dem Punkt, an dem die Rede von gung der Erkenntnis ging der jüngste und nächst Pla-
Bewußtsein äußerst fragwürdig wird. ton auch wohl der Einzige. Diesen beiden Philosophen
Während DER REGENBOGEN die Bedingung des ist die Zuversicht gemeinsam, daß die Erkenntnis von
>>Selbstvergessens<< im Hinblick aufMargarethes Traum der wir die reinste Rechenschaft haben zugleich die
darstellt, situiert ÜBER DAS PROGRAMM die >>Sphäre tiefste sein werde. Sie haben die Forderung der Tiefe
totaler Neutralität<< in bezug auf die kantische Typik. aus der Philosophie nicht verbannt, sondern sie sind
»Über das Programm der kommenden Philosophie« 141

ihr in einziger Weise gerecht geworden indem sie sie zugunsten der Erkenntnis und zuungunsten der Er-
mit der nach Rechtfertigung identifizierten<< (II, fahrung zu demontieren: »Natürliche Erkenntnis hebt
157 f.). an mit der Erfahrung und verbleibt in der Erfahrung<<
Diese Eröffnungssätze von ÜBER DAS PROGRAMM (Husserl1913, 7). Benjamin dagegen insistiert auf der
formen die Schlußsätze von >>Philosophie als strenge Bedeutung von Erfahrung, ein Vorgehen, das nicht
Wissenschaft<< um, indem sie deren Verbannung von ohne Beispiel ist: Hermann Cohen tat dasselbe in Kants
Tiefsinn durch die bezeichnende Forderung nach Tiefe Theorie der Erfahrung, einem Werk, das jenes philoso-
ersetzen und im seihen Atemzug die Gültigkeit be- phische Programm lancierte, das dann unter dem Na-
stimmter Ahnungen erneut in Anspruch nehmen. men »Marburger Schule« (II, 166) bekannt wurde. Als
Tiefe ohne Sinn - so lautet die prägnante Formel für Benjamin ÜBER DAS PROGRAMM schrieb, hatte er al-
die Sphäre der Erkenntnis, die noch immer lediglich lerdings Kants Theorie der Erfahrung allem Anschein
geahnt ist. Indem er »Sinn<< von »Tiefsinn<< abzieht- nach noch nicht gelesen. Wohl aus diesem Grund
und »Sinn<< entspricht hier dem Bewußtsein-, bewahrt schlug er Scholem vor, daß sie ihre philosophischen
Benjamin die Tiefe, die Husserl mit einem Bann belegt. Gespräche auf der Grundlage von Cohens Buch führen
Der Preis für das Festhalten an Tiefe ist jedoch hoch: sollten (vgl. Scholems »Vorbemerkung<< zur Erstver-
Erkenntnis sagt sich damit von Evidenzhaftigkeit los. öffentlichung der Programmschrift in Horkheimer
»Intuition<< ist also nicht mehr die einzige oder auch und Adorno 1963, die in li, 939 zitiert wird). Das Er-
nur die wichtigste Rechtsquelle der Erkenntnis; im gebnis dieser Gespräche war Cohen jedoch alles andere
Gegenteil, je reiner Rechenschaft abgelegt wird, desto als günstig; Benjamin und Scholem beendeten ihre
eher findet sie ihre Quelle in etwas anderem als der im Diskussion mit einem verheerenden Urteil, nach dem
»Erlebnisstrom<< auftauchenden Evidenz, und desto eine weitere Lektüre Cohens schlichtweg keinen Sinn
tiefer also die Erkenntnis. Husserls Verbannung des mehr gemacht hätte:» Hermann Cohen als Kantinter-
Tiefsinns ergibt sich unmittelbar aus seiner Forderung pret wird in der Dämonologie der Philosophie einst
nach epistemologischer Gewißheit, da nur das, was die Stelle einnehmen, die heißt: ontologischer Gottes-
sich selbst in der »Intuition<< gibt, absolut gewiß sein beweis für den Teufel. [... ) Es ist das Gojische in der
kann. Geht die Rechtfertigung der Erkenntnis jedoch letzten philosophischen Potenz, wie Walter mit Recht
tiefer, so muß Erkenntnis ein anderes Kriterium ihrer sagt, der Genius fehlt, in dem ganzen Sinn, den Walter
Gewißheit finden. Benjamin beendet den Abschnitt, damit verbindet<< (Scholem 1995-2000, Bd. 2, 274f.).
mit dem seine Programmschrift beginnt, indem er Die Schärfe dieses Angriffs- es sei daran erinnert, daß
eben solch ein Kriterium identifiziert: »Je unabsehba- Cohen nur wenige Monate zuvor verstorben war -,
rer und kühner die Entfaltung der kommenden Phi- entspricht der Enttäuschung, mit der Scholem und
losophie sich ankündigt, desto tiefer muß sie nach Benjamin auf sein Buch reagierten. Ein Grund für
Gewißheit ringen deren Kriterium die systematische diese Enttäuschung läßt sich ohne weiteres ausmachen:
Einheit oder die Wahrheit ist« (158). Evidenz ist so Kants Theorie der Erfahrung sollte wenigstens einen
wenig ein Kriterium der Gewißheit, daß das Gegenteil Erfahrungsbegriff erahnen lassen, der sich über »na-
der Wahrheit näher käme: Das Ringen nach Gewißheit türliche<< Erfahrung erhebt und der kommenden Phi-
entwickelt sich als ein Kampf gegen den »Erlebnis- losophie dadurch Richtung gibt. Cohen erfüllt diese
strom<<. Es überrascht daher kaum, daß ÜBER DAS Erwartung nicht und läßt sich statt dessen von »Tief-
PROGRAMM ein Element seiner »systematischen Ein- sinn<< in Versuchung führen: »Cohen verwendet die
heit« zur Entfaltung bringt, das sich sowohl von Evi- Kraft der kommenden Philosophie eines Dogmas hal-
denz als auch von Oberflächen entschieden loslöst: ber darauf, Kant tiefsinnig zu machen<< (257).
»höhere Erfahrung<<. Etwas anderes als Kants Theorie der Erfahrung muß
Benjamin daher an Cohen fasziniert haben, denn über
Cohens Anziehungskraft auf Benjamin besteht kein
Die Marburger Schule und die ,,Theorie Zweifel. Einige der wichtigsten Motive seines Denkens
der Erfahrungcc entwickelt Benjamin in direkter Reaktion auf Cohens
Werk. Benjamins »Frontalangriff<< auf den Begriff des
Wie sehr Benjamin von der im Entstehen begriffenen Schicksals in ZuR KRITIK DER GEWALT (vgl. li, 199)
phänomenologischen Bewegung Abstand hält, läßt wäre ein Beispiel, die Auseinandersetzung mit Cohen
sich aus dem Nachdruck ersehen, den er einem einzi- über die Kategorie des Ursprungs in der ERKENNTNIS-
gen Wort verleiht: »Erfahrung<<. Die Ideen setzen damit KRITISCHEN VORREDE ZU URSPRUNG DES DEUTSCHEN
ein, daß sie eine bestimmte Beziehung zwischen Er- TRAUERSPIELS (1, 226) wäre ein anderes. Der Begriff
fahrung und Erkenntnis konstruieren, um diese dann der Intensität, ohne den viele von Benjamins frühen
142 Messianismus, Ästhetik, Politik

Arbeiten kaum denkbar wären, mag sogar seinen Ur- Kompasses. Ein solcher bietet sich in dem Begriffe der
sprung in jenem Prinzip haben, das Cohens Werk von Kontinuität dar« (90). Weiter heißt es in der Logik der
Anfang an strukturiert (vgl. Hamacher 2001 ). Außer- reinen Erkenntnis: >>Unbesorgt daher und zuversicht-
dem situieren sich SOWohl ÜBER DIE WAHRNEHMUNG lich darf die Kontinuität ihre Fahrten in die Länder
als auch ÜBER DAS PROGRAMM eindeutig in Beziehung des Nichts unternehmen. [... ] Die Fahrt wird von ei-
auf Cohens Transformation kantischer Kritik in ein nem sicheren Stern geleitet, vom Denkgesetze der
>>System der Philosophie<<. Bestimmte Passagen der Kontinuität« ( 117 f.). Diese Fahrt ist von >>höherer Er-
Programmschrift könnten sogar als retrospektive Ana- fahrung« nicht weit entfernt; denn beide sind konsti-
lysen von Cohens Leistung und prospektive Vorschläge tutiv kontinuierlich dank einer >>Annihilierung« ( 107
für die hierauf möglicherweise folgende >>künftige Me- und Il, 161), die kein einziges diskretes Element beste-
taphysik« gelesen werden. hen läßt.
Sowohl Cohen als auch Benjamin versuchen, Er- Aus demselben Grund weichen allerdings sowohl
kenntnistheorie von der empirischen Hypothese zu Cohens >>reines Denken« als auch Benjamins >>höhere
reinigen, daß Erkenntnis sich der Begegnung mit sub- Erfahrung« von der Kritik der reinen Vernunft ab. Kant
stantiellen Gegenständen verdankt. Ein gereinigter zufolge ist das Gesetz der Kontinuität ein zwar unab-
Erkenntnisbegriffkönnte die Grundlage für einen ent- dingbares, aber nichtsdestotrotz nur regulatives Prin-
sprechenden Erfahrungsbegriffliefern, und anders als zip, um Naturerkenntnis in ein kommendes System
Busserls Ideen scheint schon der Titel von Kants Theo- einordnen zu können (Kant 1787, B 688). Cohens >>Lo-
rie der Erfahrung auf eine solche Möglichkeit hinzu- gik des Ursprungs« kehrt diese Formulierung der Leib-
weisen. Außerdem kann von Cohen gesagt werden, daß nizschen Iex continua um, indem Kontinuität nun zum
er Busserls entscheidenden erkenntnistheoretischen Gesetz eines Denkens wird, das alle metaphysischen
Durchbruch vorweggenommen hat, formuliert doch Elemente annihiliert. ÜBER DAS PROGRAMM mag sei-
die Logik der reinen Erkenntnis ihren >> Programmsatz« nen Ursprung vielleicht sogar dieser Logik verdanken,
unauffällig in >>epochalen« Begriffen: >>Abkehr von der denn in dem vorangegangenen Fragment ÜBER DIE
Empfindung ist die Losung. Immerfort schleicht sich WAHRNEHMUNG findet sich von dieserüberlegungfast
das Endliche ein, drängt sich vor, und sucht sich allein keine Spur. Die frühere Notiz versucht vielmehr, die
oder als ursprünglich geltend zu machen. Daher ist Kontinuität zwischen Erkenntnis und Erfahrung wie-
Abhaltung, Zurückdrängung des Endlichen für das derherzustellen, die Kants Begriff der Erfahrung un-
reine Denken erforderlich« (Cohen 1914, 139). Diese terbrochen haben soll. Im Gegensatz hierzu stellt ÜBER
>>Abhaltung« entspricht der phänomenologischen DAS PROGRAMM Erfahrung selbst als konstitutiv kon-
>>Enthaltung«, und in beiden Fällen zielt das Ab- oder tinuierlich dar, so daß sich das Programm insgesamt
Enthalten auf eine methodologische >>Annihilierung in eben jenen Begriffen zu definieren beginnt, die Co-
[... ] metaphysische[ r] Elemente in der Erkenntnistheo- hen zur Konstruktion seiner eigenen transzendentalen
rie« (II, 161). Für Husserl geht es um >>die Vernichtung Logik verwendet: >>ein reines systematisches Erfah-
der Dingwelt« (Husserl1913, 91), für Cohen um den rungskontinuum zu bilden; ja ihre [der Metaphysik]
>>Umweg des Nichts« (Cohen 1914, 84). Insbesondere eigentliche Bedeutung scheint hierin zu suchen zu
ein Aspekt von Cohens Infinitesimalmethode geht je- sein« (II, 164). Der mangelnden Kontinuität zwischen
doch nahtlos in Benjamins Programm über: das Denk- den beiden Versuchen Benjamins in dieser Hinsicht
gesetz der Kontinuität. Cohens >>reines Denken« ver- entspricht auch, daß beide die Kontinuität der philo-
wandelt sich in Benjamins >>höhere Erfahrung«, und sophischen Tradition jeweils unterschiedlich auffassen.
Cohen gibt von dieser Verwandlung sogar eine Ah- ÜBER DAS PROGRAMM fordert eine gewisse Kontinui-
nung; denn laut jenes Einfalls, welcher der Logik der tät mit der >>Kantischen Typik«, wohingegen ÜBER DIE
reinen Erkenntnis insgesamt Richtung gibt, ist das reine WAHRNEHMUNG kantische Kritik als einen entschei-
Denken im Grunde abenteuerlich. Von Anfang bis denden Bruch darstellt. Im Gegensatz zu seinen Vor-
Ende macht eine gefährliche >>Erfahrung« - Cohen gängern sichert Kant- so der frühere Entwurf Benja-
vermeidet dieses Wort allerdings- das Wesen des rei- mins- die Unbestechlichkeit reiner Erkenntnis, indem
nen Denkens aus: >>Das Urteil darf daher einen aben- er zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Er-
teuerlichen Umweg nicht scheuen, wenn anders es in kenntnis und Erfahrung unterbricht. Erfahrung läßt
seinem Ursprung das Etwas aufspüren will. Dieses sich nicht aus Erkenntnis ableiten, und die These die-
Abenteuer des Denkens stellt das Nichts dar. Auf dem ser Undeduzierbarkeit bildet die kritische Unterbre-
Umweg des Nichts stellt das Urteil den Ursprung des chung eines ansonsten stabilen philosophischen Kon-
Etwas dar« (ebd.). Cohen fährt fort: >>Der abenteuer- tinuums. Im Lichte dieser Krise läßt sich die Losung
liche Weg zur Entdeckung des Ursprungs bedarf eines >>Zurück zu Kant!« rechtfertigen: >>Es ist überaus merk-
»Über das Programm der kommenden Philosophie« 143

würdig daß Kant im Interesse der Apriorität und Lo- >>künstlerischen Zusammenhangs<< ihrer malerischen
gizität da eine scharfe Diskontinuität u<nd> Trennung Abbildung bezeichnet wird (36). Wie unbefriedigend
macht wo aus dem gleichen Interesse die vorkanti- diese Lösung jedoch ist, läßt sich auch an jener Defi-
schen Philosophen die innigste Kontinuität und Ein- nition ablesen, in die ÜBER DIE WAHRNEHMUNG mün-
heit zu schaffen suchten, nämlich durch spekulative det und in deren zahlreichen Überarbeitungen sich die
Deduktion der Welt die innigste Verbindung zwischen Notiz schließlich im doppelten Sinn des Wortes er-
Erkenntnis und Erfahrung zu schaffen<< (VI, 35). schöpft: >>Philosophie ist absolute Erfahrung deduziert
In seinem Versuch ÜBER DIE WAHRNEHMUNG kann im systematisch symbolischen Zusammenhang als
Benjamin zwar die Diskontinuität zwischen Erkennt- Sprache<< (37; für die Varianten vgl. 657).
nis und Erfahrung als eigentlichen Beweggrund dafür ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSO-
identifizieren, daß der Neukantianismus die Unter- PHIE dagegen unterläßt es, Philosophie zu definieren.
scheidung zwischen Anschauungs- und Denkformen Der Unterschied zwischen der Einleitung des späteren
aufhebt; Benjamin ist jedoch noch nicht an dem Punkt, Versuchs und der Schlußthese der früheren Notiz
an dem er eindeutig bestimmen kann, welche Rolle könnte daher kaum größer sein. In der Programm-
Kontinuität im Hinblick auf jenen neuen Erfahrungs- schrift ersetzt Benjamin das Attribut >>absolut<< mit der
begriff spielt, den er sichern will. Daher versucht Ben- hochgradig relativen Bestimmung »höher<<. ÜBER DAS
jamin sozusagen gewaltsam, eine Lösung zu erzwingen, PRoGRAMM bewahrt also Stillschweigen über das
indem er eine unaufhebbar zweideutige Unterschei- Hauptelement kommender Philosophie, nämlich die
dung zwischen »Erfahrung<< und der »Erkenntnis der Art der Erfahrung, die über höhere Erfahrung sozusa-
Erfahrung<< einführt (36). Was auch immer man von gen noch hinausfährt. Auch wenn Benjamin nicht sagt,
dieser Unterscheidung sonst noch sagen mag - und welche Attribute >>dem Höchsten<< (Hölderlin) zukom-
Benjamin selbst deutet an, daß sie zugleich entschei- men, so gibt es doch Grund genug, jede Erkenntnis-
dend und doch nur provisorisch ist -, soviel steht je- theorie, die Erkenntnis zu einer Kausal- oder Wech-
denfalls fest: Benjamins Unterscheidung sichert die selbeziehung erniedrigt, als >>mythologisch<< zu be-
Kontinuität zwischen Erfahrung und Erkenntnis, in- zeichnen. Die Zurückweisung des Psychologismus'
sofern Erfahrung nun eine Funktion von Erkenntnis verwandelt sich so in Mythologiekritik. Erkenntnis-
ist. Cohens Aufhebung der Unterscheidung zwischen theorien dieser Art zufolge sind Subjekte den Objekten
Anschauungs- und Denkformen verwandelt sich so in ausgeliefert, und am ausgeprägtesteil ist diese Auffas-
eine der Erfahrung interne Unterscheidung: Erfahrung sung in der Weltanschauung der Neuzeit, welche die
taut court übernimmt die Rolle der Anschauungsfor- dieser »Erkenntnismythologie<< (II, 161) zugrundelie-
men, während die Erkenntnis der Erfahrung in Ana- gende Vorstellung einfach umkehrt und Subjekte als
logie zu den Kategorien die objektive Realität der Er- Herren jener obiecta begreift, die sie doch rätselhafter-
scheinungen garantieren soll. Besonders fragwürdig weise affizieren und also kontrollieren. Die Hauptthe-
bleibt jedoch, in welchem Sinne Erfahrung taut court men von Benjamins Gesprächen mit dem >>Universal-
und die Erfahrung, die in der Rede von einer >>Erkennt- genie<<, also Kant und vergleichende Mythologie, kon-
nis der Erfahrung<< figuriert, sich beide legitimerweise vergieren daher in der folgenden Einsicht: Jede >>Art
unter ein- und denselben Begriff fassen lassen. Genau der Erfahrung<<, die sich im Lichte metaphysischer Er-
an dem Punkt, an dem ÜBER DIE WAHRNEHMUNG ab- kenntnistheorien versteht, ist überhaupt keine Erfah-
zubrechen beginnt, fragt Benjamin selbst: »Worin be- rung, sondern eine Manifestation von Mythologie.
ruht die Identität der Erfahrung in beiden Fällen<<
(37)? Nichts weniger als eine Deduktion von Erfah-
rung überhaupt wäre notwendig, um diese Frage zu »Erkenntnismythologie<e
beantworten. Anstatt sich aber auf eine schwierige
Rechtfertigung einzulassen, entwickelt Benjamin einen Jahre später faßt Benjamin im Kontext seiner Refle-
weiteren Begriff, in dem das Problem gleichsam auf- xionen zu Darwin und Einstein seine Synthese von
gehoben ist. Benjamin spricht nun von einer >>absolu- Cohen und Busserl zusammen: >>Busserl setzt an die
ten Erfahrung<<, die nichts anderes als Erfahrung taut Stelle der idealistischen Systeme die diskontinuierliche
court ist, insofern sie in die Erkenntnis der Erfahrung Phänomenologie<< (IV, 536). Das Attribut >>diskonti-
vollkommen eingegangen ist. Absolute Erfahrung läßt nuierlich<< übersetzt an dieser Stelle Busserls Termi-
sich mit nichts vergleichen; sie kann nur aus einem nologie in die Cohens, um anzudeuten, in welchem
Zusammenhang »deduziert<< werden, der »symbolisch<< Sinne sich Busserl von Cohen loslöst. Im Vergleich mit
zu nennen ist, insofern im Bild, das Benjamin an die- ÜBER DIE WAHRNEHMUNG gewinnt Diskontinuität in
ser Stelle skizziert, die Landschaft als >>das Symbol<< des ÜBER DAS PRoGRAMM an Beweglichkeit, da nun Er-
144 Messianismus, Ästhetik, Politik

fahrung allein konstitutiv kontinuierlich ist, und dieser terium der Erfahrung muß erlauben, Erfahrungen von
Sachverhalt läßt sich einem diakritischen Zeichen ab- der Welt voneinander zu unterscheiden, und es kann
lesen: Das Wort Erfahrung ist nun in Anführungszei- daher nicht, wie im Fall von Erkenntnis, auf Wahrheit
chen gesetzt, wie beispielsweise in der folgenden Pas- und Gewißheit rekurrieren, sondern muß Erfahrungen
sage: >>Diese Subjekt-Natur des erkennenden Bewußt- danach unterscheiden, mit welcher Intensität sie die
seins rührt aber daher daß es in Analogie zum >>natürliche Einstellung<< einklammern. Je intensiver
empirischen das dann freilich Objekte sich gegenüber die epoche, desto höher ist die auf ihr beruhende Er-
hat gebildet ist. Das Ganze ist ein durchaus metaphy- fahrung, und je höher diese Erfahrung, desto größer
sisches Rudiment in der Erkenntnistheorie; ein Stück ist ihre Dignität.
eben jener flachen >Erfahrung< dieser Jahrhunderte Benjamin hebt hervor, in welchem Maße die Ver-
[d.i. der Neuzeit] welches sich in die Erkenntnistheo- gänglichkeit einer Erfahrung sich dem Zugriff der
rie einschlich<< (li, 161). Ein nur unvollständiger Bruch Philosophen entzieht: >>Nur ist den Philosophen diese
mit >>Erkenntnismythologie<< beinhaltet, daß Erfah- Erfahrung in ihrer gesamten Struktur nicht als eine
rung unecht oder, mit anderen Worten, nur eine >>Er- singulär zeitliche bewußt gewesen und sie war es auch
fahrung<< unter anderen ist; in diesem Fall muß Erfah- Kant nicht<< (ebd.). Philosophen können sich dieser
rung eingeklammert werden, und zwar nicht aufgrund Erfahrung auch nicht bewußt sein, ganz einfach, weil
eines methodologischen Verfahrens, dem sich der Phi- sie ihr Bewußtsein mit der nächstliegenden Aufgabe
losoph in der Einsamkeit seiner Stube hingibt, sondern betrauen, nämlich >> Erkenntnismythologie<< durch die
aufgrundder >> Erkenntnismythologie<<, auf der eine in epochale Sphäre der Erkenntnis zu ersetzen. Allerdings
den Plural aufgebrochene und daher je erneut abbre- ist es nicht unmöglich, sich einer Erfahrung bewußt
chende Erfahrung beruht. zu werden, auch wenn dazu etwas anderes als traditio-
>>Erkenntnismythologie<< beruht im Grunde aber auf nelle philosophische Techniken erforderlich ist. Ben-
dem, was Busserl - ohne Rücksicht auf ihren ge- jamins eigene >>epochale<< übungen, die auf je unter-
schichtlichen Ursprung- als >>natürliche Einstellung<< schiedliche Weise sich der Ausrichtung an einem phi-
bezeichnet. In dieser Einstellung sind Subjekte von losophischen Programm enthalten, zielen genau auf
Objekten besessen, die sie nicht besitzen. Geschichtli- eine solche Bewußtmachung. Die Untersuchung von
che Epochen lassen sich dementsprechend anhand von Hölderlins >>Blödigkeit<< ist ein Beispiel für eine solche
zwei Merkmalen voneinander unterscheiden: Mit wel- Übung, die Unterhaltung über Margarethes Traum ein
cher Intensität enthalten sich ihre Erkenntnistheorien anderes. Indem sie eine >>Sphäre totaler Neutralität<<
der Setzung einer Dingwelt, die von Bewußtsein über- skizzieren, legen diese Untersuchungen nicht so sehr
haupt unabhängig ist? Und: Mit welcher Intensität eine jeweils besondere Erfahrung in ihrer gesamten
erhalten sie die letzten Hüllen von Subjekthaftigkeit Struktur frei, als daß sie vielmehr allesamt auf die Ru-
an diesem Bewußtsein? Die Einleitungsabschnitte von hestätte echter Erfahrung deuten. Im Vergleich zu
ÜBER DAS PROGRAMM legen auf diese Weise die Para- dieser, so kann nun deduziert werden, sind alle ande-
meter für eine kritische Synthese von Cohen und Bus- ren >>Erfahrungen<< auf je eigene Weise tiefer. Im Au-
serl fest. Indem Benjamin das Denkgesetz Cohens in genblick geben allein diese >>epochalen<< Übungen
eine konstitutive Eigenschaft von Erfahrung verwan- Grund zur Zuversicht, die >>autonome ureigne Sphäre
delt, kann er die Phänomenologie in eine Geschichts- der Erkenntnis auszumitteln<< (163), so daß echte Er-
philosophie umgestalten. Obwohl diese Philosophie fahrung anheben kann.
auf >>Erfahrungen oder Anschauungen von der Welt<<
(159) bezugnimmt, hat sie doch nichts mit jener Welt-
anschauungsphilosophie zu tun, die >>Philosophie als Zum sprachlichen Wesen von Erkenntnis
strenge Wissenschaft<< ablehnt. Eine einzigartige und
eigenartig nichtevidente, vielleicht sogar kontraintui- >>Echte Erfahrung<< beruht allein auf der >>Sphäre der
tive Einsicht ermöglicht diese Verwandlung: Es sind Erkenntnis<<. So lautet das Axiom, auf dem ÜBER DAS
nicht die Philosophen, die sich der natürlich-geschicht- PROGRAMM seinerseits beruht. Solange diese Sphäre
lichen Einstellung enthalten; vielmehr ist jede epoche aber nicht >>auszumitteln<< ist- und dies wäre ein epo-
>>epochal<<. Jeder geschichtlichen Epoche entspricht chemachendes Ereignis -, kann die kommende Philo-
>>eine Erfahrung<<, die aus eben diesem Grunde >>ver- sophie nur geahnt werden. Der vorletzte Abschnitt von
gänglich<< ist ( 158), und jeder derart abbrechenden ÜBER DAS PROGRAMM bewegt sich in diese Richtung,
>>Erfahrung<< dient eine >>Erkenntnismythologie<< zur freilich nicht auf direktem Wege, sondern indem er die
Grundlage. Folglich müssen Erfahrung und Erkennt- Gebiete artikuliert, in welche die Sphäre der Erkennt-
nis unterschiedlichen Kriterien unterliegen. Das Kri- nis unterteilt sein mag. >>Echte Erfahrung<< würde die-
»Über das Programm der kommenden Philosophie« 145

sen sich kontinuierlich entfaltenden Gebieten korre- Cantors transfiniter Mathematik zeigt sich deutlich in
spondieren. Der Kühnheit des Unternehmens ent- den THESEN ÜBER DAS IDENTIT ÄTSPROBLEM, die auch
spricht die Umsichtigkeit des Verfahrens, das sich auf die Frage einer Korrespondenz zwischen den Arten des
drei Forschungsprogramme stützt: dem der Marburger Identischen und den »Arten des mathematischen Un-
Schule, der Phänomenologie und der Logistik. Im Hin- endlichen« (VI, 27) berühren. Die Nähe zu Cantorist
blick auf den Neukantianismus beantwortet Benjamin sogar noch größer im Falle eines anderen Projekts, das
eine Frage, die er zuerst in ÜBER DIE WAHRNEHMUNG Benjamin im Zusammenhang von ÜBER DAS PRo-
stellte: Was geschieht, wenn die Unterscheidung zwi- GRAMM entwirft. Benjamin geht es darum, Kants Idee
schen Anschauungs- und Denkformen einmal aufge- der >>unendlichen Aufgabe« vor neukantianischen An-
hoben ist? Die Antwort: Ein >>Analogon« dieser Unter- eignungsversuchen zu retten. Seine Überlegungen
scheidung taucht auf einer Stufe über der empirischen drehen sich nun nicht mehr um den Urbegriff der
Bewußtseins wieder auf. Mit Bezug auf gewisse Ent- Identität, sondern um den der Einheit. Im Gegensatz
wicklungen in der Logistik, mit denen Benjamin sich zu Kant, aber im Verein mit Cohen, verortet Benjamin
vertraut machen mußte, um einen LösuNGSVERSUCH diesen Urbegriff nicht mehr in der transzendentalen
DES RUSSELLSCHEN PARADOXONS (VI, 11) wagen ZU Einheit der Apperzeption, sondern in der Einheit der
können, präzisiert Benjamin dann diese Antwort: Die Wissenschaft. Im Gegensatz zu Cohen glaubt Benja-
Kategorien müssen aufUrbegriffe zurückgeführt wer- min allerdings, daß die gesuchte Einheit von ganz an-
den, die so etwas wie einen »logischen Ort<< konstitu- derer Art ist als die von den Wissenschaften gestellten
ieren. Der Gedanke eines solchen Ortes ist abgestimmt Fragen. Denn die Frage nach dieser Einheit kann weder
auf die in der Transzendentalen Ästhetik erörterten vorausgesetzt, noch kann sie eigentlich als solche ge-
Begriffe von Raum und Zeit als »Anschauungsfor- stellt werden: >>Die Einheit der Wissenschaft beruht
men«. Die Aufhebung der Transzendentalen Ästhetik darin, daß ihr Inbegriff von höherer Mächtigkeit ist,
läßt sich daher mit Hilfe einer Erörterung logischer als der Inbegriff aller der an Zahl unendlichen endli-
Orte vollziehen. Vielleicht wäre es aber besser, statt von chen, d. h. gegebnen, stellbaren Fragen fordern kann.
»logischen« von »phänomenologischen« Orten zu Das heißt die Einheit der Wissenschaft beruht darin
sprechen; denn wie Linke betont, läßt sich bereits von daß sie unendliche Aufgabe ist« (VI, 51; vgl. I, 172).
der transzendentalen Phänomenologie sagen, daß sie Den Begriff der >>Mächtigkeit« entlehnt Benjamin ein-
die Transzendentale Ästhetik ungeheuer bereichert hat deutig Cantor, der die Unendlichkeit eines Inbegriffes
(vgl. Linke 1916, 177). wie der Menge der natürlichen Zahlen von der Unend-
Nimmt man die drei Forschungsprogramme zusam- lichkeit des linearen Kontinuums unterscheidet (vgl.
men, dann tragen sie also zu einem gemeinsamen insbesondere die Abhandlung von Benjamins Groß-
Projekt bei, das die Umwandlung der transzendentalen onkel Artur Schoenflies: Die Entwicklung der Mengen-
Analytik in eine »Lehre von den Ordnungen« zum Ziel lehre und ihrer Anwendungen, Erster Abschnitt, »Die
hat. Diese Lehre bereitet auf die Ausbildung des Erfah- Mächtigkeit oder Kardinalzahl«, 4-18; Cantor 1932,
rungskontinuums vor: »Es wird vor allem zu erwägen 151). Sowohl die Höhe der »höheren Erfahrung« als
sein ob die Kategorientafel in der Vereinzelung und auch die verbleibende Distanzzum Höchsten bemißt
Unvermitteltheit in der sie dasteht bleiben muß und sich daher folgendermaßen: Die >>Mächtigkeit« des
ob sie nicht überhaupt in einer Lehre von den Ord- Inbegriffs höherer Erfahrung ist größer als die >>natür-
nungen sei es eine Stelle unter anderen Gliedern ein- licher Erfahrung«, aber sie ist noch immer von gerin-
nehmen, sei es selbst zu einer solchen ausgebaut, auf gerer >>Mächtigkeit« als die Unendlichkeit des absolut
logisch frühere Urbegriffe gegründet oder mit ihnen Unendlichen.
verbunden werden könne. In eine solche allgemeine Die von Benjamin projektierte »Lehre von den Ord-
Lehre von den Ordnungen würde dann auch dasjenige nungen« ist jedoch in gewissem Sinne nur ein Platz-
gehören was Kant in der transzendentalen Ästhetik halter für das, was sich der Bestimmung entzieht. Die
erörtert« (II, 166). >>Sphäre der Erkenntnis« ist, im doppelten Sinn des
An dieser Stelle folgt eine ganze Serie von Vorschlä- Wortes, epochal: ihr Vorhandensein läßt sich nicht
gen für weitere Forschungen, die jeweils mit einem herbeizaubern. Nichtsdestotrotz gewinnt die andern-
»ferner« eingeleitet werden, bis Benjamin schließlich falls vollkommen leere Anschauung einer höheren
einfach einen Gedankenstrich einfügt- und noch fer- Erfahrung an Inhalt, wird sie im Namen einer >>Lehre
nere Vorschläge unterbreitet. Unter diesen ist einer von den Ordnungen« der Autorität von Forschungs-
ganz besonders wichtig: »Die Fixierung des bei Kant programmen unterstellt, die jeweils anerkennen, daß
unbekannten Begriffes der Identität« (167). Die enge >>natürliche Erfahrung« außerhalb der Sphäre der Er-
Verbindung zwischen diesem Forschungsprojekt und kenntnis liegt. Im letzten Abschnitt seiner Programm-
146 Messianismus, Ästhetik, Politik

schrift kehrt Benjamin aber zu einem eigenen For- erhalten zu können (vgl. Kant 1787). Allerdings muß
schungsvorhaben zurück, das er am vollständigsten betont werden, daß im Gebiet der Religion ebensowe-
bereits in jener anderen, ursprünglich an Scholem nig Raum für die Erkenntnis von Gott ist wie in den
adressierten Über-Schrift entwickelt hatte. Das heißt, Gebieten der Wissenschaften für die Erkenntnis von
erst im letzten Abschnitt von ÜBER DAS PROGRAMM Weltdingen. Außerdem ist zu unterstreichen, daß Ben-
gewinnt Benjamin wieder jene Einsicht zurück, auf der jamin gute Gründe hat, ÜBER DAS PROGRAMM auf
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE diese Weise zu beenden. Der letzte Abschnitt erhellt
DES MENSCHEN beruht: »Ein in der Reflexion auf das im Nachhinein die Kritik von »Erkenntnismytholo-
sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff gie<<, mit der die Programmschrift einsetzt, ganz ein-
von ihr wird einen korrespondierenden Erfahrungs- fach weil Religion bedeutet: keine Mythologie.
begriff schaffen der auch Gebiete deren wahrhafte
systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist
umfassen wird<< (II, 168). Diese Rückgewinnung einer "übergangcc
früheren These, nach der die Reflexion auf das sprach-
liche Wesen von Erkenntnis auf einen neuen Begriff Auf diese Weise scheint jedoch die Sphäre der Erkennt-
von Erfahrung führt, ist durch die Rückkehr zu Kant nis so weit in das Gebiet der Religion zu fallen, daß
motiviert. Wie Benjamin bemerkt, lehnt Kant den Ge- beide geradezu als verschiedene Bezeichnungen für
danken ab, daß Philosophie von mathematischen Be- ein- und denselben Bereich aufgefaßt werden könnten.
zeichnungen Gebrauch machen könnte, und statt Insofern sowohl die Sphäre als auch das Gebiet ihren
dessen besteht er auf der ausschließlich sprachlichen Ursprung in einem Bruch mit »Erkenntnismytholo-
Darstellungsweise der Philosophie (vgl. insbesondere gie<< haben, sind beide identisch. Während die Sphäre
Kant 1787, B 740-66). die Erkenntnisseite dieses Bruchs hervorhebt, erhebt
Ohne Frage ist dieses Vorhaben nicht weniger kühn das Gebiet Anspruch auf die Seite, die jenseits aller
als jenes, das Benjamin nur einen Abschnitt vorher Mythologie liegt. Diese Äquivalenz treibt Benjamin
formulierte, und in gewisser Hinsicht entsprechen die dazu, seiner Programmschrift einen >>Nachtrag<< hin-
beiden einander vollkommen. In beiden Fällen sind zuzufügen. Die Sphäre der Erkenntnis droht, sich auf
die Themen, welche eine revidierte transzendentale einenungegliederten Punkt von Subjekt-Objekt-Neu-
Ästhetik erörtern wird, »logisch<< im doppelten Sinn tralität zusammenzuballen, der von den ihn konstitu-
des Wortes. Was Benjamin von »jeder Sprache<< sagt, ierenden Gebieten nicht mehr unterschieden werden
ließe sich auch von den beiden Anschauungsformen kann. Hegels kritische Beschreibung von Schellings
sagen, die Kant identifiziert: Das, »was in der Sprache Identitätsphilosophie als der Nacht, worin >>alle Kühe
sich mitteilt, [kann] nicht von außen beschränkt oder schwarz sind<< (Hegel1971, Bd. 3, 22), ist von Benja-
gemessen werden, und darum wohnt jeder Sprache mins überlegungen an dieser Stelle vielleicht gar nicht
ihre inkommensurable einziggeartete Unendlichkeit so weit entfernt, ganz besonders deshalb nicht, weil
inne<< (II, 143; vgl. auch Fenves 2001, 200-205). Diese Benjamin selbst Identität als einen der Grundbegriffe
Affinität ist wenig überraschend, ist doch nach Kant der fraglichen Sphäre bestimmt. Etwas von der ange-
das Wesen der menschlichen Erkenntnis raum-zeitlich, deuteten Bedrohung ist bereits in jener Passage von
während nach Benjamin das Wesen von Erkenntnis ÜBER DIE WAHRNEHMUNG spürbar, in der Benjamin
schlechthin sprachlich ist. Der Unterschied zwischen darüber spekuliert, was Kant dazu geführt haben mag,
menschlicher Erkenntnis und Erkenntnis schlechthin, Erfahrung und Erkenntnis diskontinuierlich zu ma-
der Kants und Benjamins Versionen transzendentaler chen: >>So war von vornherein ein einheitliches er-
Ästhetiktrotz aller Ähnlichkeiten trennt, gibt zugleich kenntnistheoretisches Zentrum vermieden dessen
die Richtung weiterer Forschung vor. Kommende Un- allzu mächtige Gravitationskraft alle Erfahrung in sich
tersuchungen werden eine Lehre sprachlicher Ordnun- hätte hineinreißen können<< (VI, 34). Benjamins Notiz
gen, zu denen auch die göttliche Sprache zu zählen ist, geht diese Schwierigkeit an, indem sie Kants Entschei-
aufzustellen haben. Jeder sprachlichen Ordnung ent- dung verteidigt, auch wenn der eigentliche Beweg-
spricht ein systematisches Gebiet, als »deren Oberstes<<, grund dafür dem Autor der Kritik verborgen geblieben
wie Benjamin schreibt, »das Gebiet der Religion zu sein mag: >>flache<< und >>gottlose<< Erfahrung soll nicht
nennen<< ist (II, 168).Auf diese Weise gelingt Benjamin, deduziert werden. Hierauf steigt die Idee einer »höhe-
was andernfalls im Rahmen eines kantischen Pro- ren<< Art der Erfahrung einerseits und eines »obersten<<
gramms unmöglich wäre: in der Sphäre der Erkenntnis Gebiets der Erkenntnis anderseits auf. Der »Nachtrag<<
selbst für eine »Religion<< Raum zu schaffen, die Kant wiederholt jedoch keine dieser Überlegungen und
aus eben dieser Sphäre verbannt, um sie als Glauben führt statt dessen einen neuen Begriff ein: den des
>>Über das Programm der kommenden Philosophie« 147

>>Daseins<<, dessen >>Quelle<< in der >>konkreten Totalität trag<< das Schema sowohl verallgemeinert als auch
der Erfahrung<< liegt (II, 170). vereinfacht, mit dem ein nach-kritischer Kant den
Diese terminologische Änderung sucht einer Gefahr übergang zu etwas anderem als nachkritischer Philo-
zu begegnen, die auf ihre Weise ebenfalls total ist. sophie vollzieht. Benjamins >>Nachtrag<< verallgemei-
Nicht nur scheint die Sphäre der Erkenntnis ununter- nert Kants Schema, indem er die Physik nur noch als
scheidbar von ihrem höchsten Gebiet zu sein, das letz- eine Dimension der Lehre unter anderen begreift, und
tere droht, mit niedrigeren Gebieten zusammenzufal- er vereinfacht es, indem er sowohl die >>metaphysischen
len. Denn auch die Einzelwissenschaften lösen sich von Anfangsgründe<< als auch den ihnen entsprechenden
>>Erkenntnismythologie«, selbst wenn einzelne Wis- Übergang unter den Titel eines Übergangs überhaupt
senschaftler dies nicht tun. Einer Notiz zufolge, auf die faßt. >>Übergang<< kann nun zur übersetzung eines
sich der >>Nachtrag<< bezieht, ist dies sogar im Fall der anderen Begriffs dienen, den Benjamin in ÜBER SPRA-
mathematisierten Physik wahr. Benjamins VERSUCH CHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MEN-
EINES BEWEISES, DASS DIE WISSENSCHAFTLICHE BE- SCHEN auf ähnliche Weise umgeformt hatte, nämlich
SCHREIBUNG EINES VORGANGES DESSEN ERKLÄRUNG >>Übersetzung<<. So wie dieübersetzungist auch der
VORAUSSETZT (VI, 40-42), legt dar, daß selbst die Phy- übergang durch >>Kontinua der Verwandlung« (II,
sik keineswegs annimmt, daß Gegenstände unabhän- 151) definiert. Indem >>Kritik« in >>Lehre<< übersetzt
gig von ihrer Beobachtung existieren; vielmehr findet wird, erlangt das Gebiet des Philosophischen einen
auch diese paradigmatische Wissenschaft ihre Gegen- Grad der Artikulation, dessen es andernfalls erman-
stände allein im Lichte ihrer Erklärung. Hieraus folgt, gelte: >>Wo das Kritische aufhört und das Dogmatische
daß die >>Sphäre der Erkenntnis<< weder im Hinblick anfängt ist vielleicht nicht genau aufzuzeigen weil der
auf irgendwelche mutmaßlichen Gegenstände noch Begriff des Dogmatischen lediglich den Übergang von
im Hinblick auf unterschiedliche Schichten des Be- Kritik zu Lehre von allgemeinem zu besondern Grund-
wußtseins gegliedert werden kann. Die entscheidende begriffen kennzeichnen soll. Die ganze Philosophie ist
Schwierigkeit, mit der Benjamin zu kämpfen hat, läßt also Erkenntnistheorie, nur eben Theorie, kritische
sich daher wie folgt darstellen: Nichts läßt sich von der und dogmatische aller Erkenntnis<< (169).
>>Sphäre der Erkenntnis<< sagen, außer, daß sie sich von Damit gibt Benjamin zumindest teilweise das
>> Erkenntnismythologie« freimacht und infolgedessen Schema auf, mit dem ÜBER DAS PROGRAMM operiert.
von ihren Gebieten ununterscheidbar zu sein scheint: Sicherlich ist Erkenntniskritik weiterhin frei von allen
»>m Interesse der Klärung der Beziehung der Philoso- metaphysischen Elementen, aber Metaphysik findet
phie zur Religion ist der Gehalt des vorigen sofern es nun keinen Zufluchtsort mehr in >>echter Erfahrung<<.
das systematische Schema der Philosophie angeht zu Vielmehr ist Metaphysik nun nichts anderes als der
wiederholen<< (II, 168). Übergang von Kritik zu Lehre, und der >>Nachtrag«
So beginnt der >>Nachtrag«. Die Wiederholung hat bewegt sich damit in Richtung auf eine philosophische
auch eine topalogische Veränderung zur Folge: Das Kinematik. Insoweit Erfahrung noch immer im Meta-
Philosophische ist nun ebenfalls in einem >>Gebiet<< physischen wohnt, ist sie nicht so sehr >>vergänglich«
angesiedelt. Nun geht es ausschließlich darum, jenes ( 158) als vielmehr übergänglich. Allerdings sind Kants
Gebiet zu artikulieren, welches den Raum der Theorie Entwürfe zu seinem Übergangsprojekt Benjamin wohl
sozusagen in sich selbst aufgenommen hat. Das weitgehend unzugänglich gewesen, und vielleicht aus
>>Schema<<, auf das Benjamin verweist, stammt wie- diesem Grund bezieht er sich auf eine ältere philoso-
derum von Kant; Benjamin bezieht sich nun allerdings phische Tradition, um den Obergangscharakter der
nicht mehr auf den Kant der Kritiken, sondern er wen- Metaphysik zu erläutern: >>Die Bedeutung des terminus
det sich dem Kant der späten 1790er Jahre zu, den fast des Metaphysischen wie er im vorigen eingeführt ist
jeder Kantforscher dieser Ara für >>senil<< hielt. Nur besteht nun eben darin diese Grenze [zwischen Philo-
dem späten Kant aber enthüllt sich eine >>Lücke im sophie und Einzelwissenschaft] als nicht vorhanden
System der krit.[ischen] Philos.[ophie]«, die sich aus zu erklären und die Umprägung der >Erfahrung< zu
dem unentbehrlichen, aber noch fehlenden>> Übergang >Metaphysik< bedeutet daß im metaphysischen oder
von den metaphys.[ischen] Anf.[angs] Gr.[ünden] dogmatischen Teil der Philosophie, in den der oberste
d.[er] N.[atur] W.[issenschaft] zur Physik<< ergibt erkenntnis-theoretische, d.i. der kritische Teil über-
(Kant 1900ff., Bd. 12, 254). Für den späten Kant mag geht, virtuell die sogenannte Erfahrung eingeschlossen
dieser Übergang nur einen Nachtrag zum kritischen ist<< ( 169). Benjamin folgt an dieser Stelle Leibniz, der
System gebildet haben; die kommende Philosophie die scholastische Idee der Virtualität in seine eigene
beruht jedoch auf dieser prekären Grundlage. Etwas Programmschrift, den>> Discours de Ia metaphysique<<,
Ähnliches läßt sich von Benjamin sagen, dessen >>Nach- aufnimmt (vgl. insbesondere Leibniz 1923 ff., Reihe 6,
148 Messianismus, Ästhetik, Politik

Bd. 2, 1540). So wie nach Leibniz jedes Prädikat einer Grundzug ist seine >>totale Neutralität<<. Denken ist
substantiellen Form in ihrem Begriff, so ist nach Ben- nicht Denken von etwas, und im Grunde denkt nichts
jamin »die sogenannte Erfahrung« einer jeden Wis- und niemand. Nicht einmal jenes >>Es<<, das Lichten-
senschaft in ihren metaphysischen Anfangsgründen berg und Nietzsche in Kants >>Ich denke<< einsetzen,
virtuell enthalten. Und so wie jede substantielle Form, befleißigt sich eines vollkommen neutralen Denkens,
die Gott existieren läßt, sich ihre Prädikate geordnet da dieses denkende Etwas noch immer etwas denken
und in Einklang miteinander vorstellt, so stellt auch soll: >>Aber kann der Mensch als empirisches Wesen
jede Wissenschaft ihre »Erfahrung« im Hinblick auf überhaupt denken? Ist Denken überhaupt in dem
einen spezifischen Erkenntnisbegriff dar, der ihre Sinne eine Tätigkeit wie hämmern, nähen, oder ist es
»Lehre<< begründet. Eine Lehre kann nun jeweils »eine keine Tätigkeit auf etwas hin, sondern ein transzen-
Erkenntnis<< - nämlich die eines Gegenstandes - zur dentes lntransitivum, wie gehen ein empirisches?<< (VI,
Darstellung bringen, ohne deshalb der »Erkenntnis- 43) Auf der Grundlage eines Schemas systematischer
mythologie<< zum Opfer zu fallen; sie bleibt vollkom- Philosophie, das den letzten Schriften Kants entlehnt
men monadisch und wird von nichts affiziert als dem ist, macht der >>Nachtrag<< einen Vorschlag, wie diese
übergang, der virtuell die »Erfahrung<< enthält, die sich Frage zu beantworten wäre: Wo das transzendente
als ebenso irrealer Gegenstand ihrer Erkenntnis ent- Gehen, das >>Denken<< heißt, in einem unmittelbaren
faltet. Ein ähnliches Motiv kommt in den Aufzeich- Obergang begriffen ist, da reicht die Lehre von der
nungen des späten Kant zum Ausdruck, dessen theo- Religion in die der Philosophie.
retische Reflexionen sich vornehmlich mit der Frage Ein unmittelbarer Übergang ist aber in gewissem
beschäftigen, wie der leere Raum der Transzendental- Sinne eine contradictio in adjecto. Geht etwas unmit-
ästhetik in den erfüllten Äther der Naturlehre überge- telbar in etwas anderes über, dann handelt es sich we-
hen kann. Im Hinblick auf Benjamins systematisches niger um einen Obergang als vielmehr um eine Ver-
Schema bedeutet dies: Lehre überwindet die Leere der klärung. Aus empirischer Sicht läßt sich ein unmittel-
reinen Kritik. Ihre Gegenstände sind aber gerade nicht barer >>Ühergang<< jedoch leicht vorstellen: In einem
Objekte, die über ein passives Subjekt Macht ausüben, direkten Stoß kommt ein Gegenstand plötzlich zum
das ihnen umgekehrt Herr zu werden sucht. Lehre zielt Stillstand, und sein gesamter Impuls teilt sich unmit-
also auf alles andere als eine Rechtfertigung der Macht telbar dem anderen Gegenstand mit. Nun kann aller-
der Natur oder der Herrschaft der Menschen über sie. dings das >>Etwas<<, gegen das ein »transzendentes In-
Und doch kommt ihr aufgrund ihrer irrealen - oder transitivum<< stößt, nicht die Form eines Gegenstandes
ätherischen - Gegenstände Autorität zu. annehmen, weil reines Denken das Mythologem des
Wie Benjamin selbst bemerkt, beantwortet diese Gegenstandes nicht anerkennt. Im >>Nachtrag<< nennt
Schematisierung der Beziehungen zwischen Philoso- Benjaminjenes >>Etwas<<, welches das Gehen des Den-
phie, »Metaphysischem<< und Einzelwissenschaft je- kens zum Stillstand bringt, >>Dasein<<. Damit rückt
doch noch nicht die Frage, mit der der »Nachtrag<< Benjamin allerdings zugleich von Kant ab, da er >>Da-
einsetzt: Wie ist die Beziehung zwischen Philosophie sein<< nicht im Hinblick auf seine >>Position<< im Urteil
und Religion zu bestimmen? Insoweit letztere nur als bestimmt, wie es Kant sowohl in seiner frühen Vertei-
Lehre von der Religion in Betracht kommt, braucht digung als auch in seiner späteren Zurückweisung des
das Schema nicht verändert zu werden. Was sich in ontologischen Gottesbeweises getan hatte (Kant
diesem Fall ändert, ist allerdings die Art und Weise, in 1900ff., Bd. 2, 73, sowie Kant 1787, 626). Benjamin
der sich der Obergang vollzieht, sowie »die sogenannte erklärt >>Dasein<< vielmehr im Lichte einer unendlichen
Erfahrung<<, die in ihm virtuell enthalten ist. Kann der Funktion, nämlich der Integration. Mit dieser Erklä-
Obergang von Kritik zu Lehre sich jedoch auf verschie- rung von >>Dasein<< rückt Benjamin außerdem auch
dene Weise ereignen, dann muß das Schema einmal von Cohen ab, da die Integration die Inversion der
mehr in Bewegung versetzt werden. Genau das tut Differentialfunktion ist, die nach Cohen die Quelle der
Benjamin in einer Notiz, die auf die Zeit datiert wurde, Realität ist (Cohen 1914, 121-43). Benjamins Revision
als Benjamin und Scholem begannen, sich mit Kants von Kants grundlegender ontologischer Klärung und
Theorie der Erfahrung zu beschäftigen. Diese Notiz seine Inversion der grundlegenden These von Cohens
beantwortet eine Frage, die ÜBER DAS PROGRAMM SO Infinitesimalmethode leiten sich von einer >>Lehre<< ab,
nicht ganz stellt: Was bedeutet es, daß niemand die die weder Kant noch Cohen kannten: Benjamin be-
epochevollziehen kann, der »reines erkenntnis-theo- zieht sich auf die transfinite Mengenlehre, die zwi-
retisches (transzendentales) Bewußtsein<< entspringt? schen unendlichen Einheiten in Abhängigkeit von
Benjamins Notiz ersetzt Husserls Begriff »Bewußtsein<< ihrer >>Mächtigkeit<< unterscheidet. Die zentrale Frage
durch Cohens »Denken<<, und dessen entscheidender sowohl des >>Nachtrags<< als auch der entsprechenden
Ȇber das Programm der kommenden Philosophie<< 149

Passage in DIE UNENDLICHE AUFGABE ist nun die der Diese Formulierung Benjamins ist präzise, und prä-
Fragestellung selbst: »Ja, es muß gesagt werden: daß zise ist auch seine abschließende Kritik an der Mar-
die Philosophie überhaupt in ihren Fragestellungen burger Schule. Benjamin behauptet nicht, daß Philo-
niemals auf die Daseinseinheit sondern immer nur auf sophie auf dasAbsolutum-oder »das Höchste<<- stößt.
neue Einheiten von Gesetzlichkeiten stoßen kann de- Vielmehr spricht Benjamin von einem Absolutum un-
ren Integral >Dasein< ist<< (II, 170). Die Mengenlehre ter unbestimmbar vielen, die wie das absolut Unend-
ermöglicht es, nach diesem Gedankenstrich jene Frage liche selbst jeweils essentiell inkonsistente Vielheiten
zu beantworten, mit welcher der »Nachtrag<< beginnt: bilden. Jener Art des Absoluten, das den Gang des Den-
Welche Beziehung hat die Philosophie zur Religion? kens unterbricht, kann aber immerhin eine spezifische
Die Antwort lautet: In ihrer Lehre stößt Philosophie Eigenschaft zugeschrieben werden: die völlige Abwe-
unweigerlich auf die Lehre von der Religion, da das senheit von Stößen, Mängeln oder, positiv gewendet,
Integral des unendlichen Inbegriffes von »Einheiten seine Kontinuität. Die kontinuierliche Fahrt des Den-
von Gesetzlichkeiten<<, auf die Erkenntniskritik stoßen kens, die der Neukantianismus Cohens vollkommen
kann, von höherer Mächtigkeit ist als jede einzelne anerkennt, stößt auf eine Kontinuität höherer Ord-
Einheit selbst. Aufgrund ihrer Mächtigkeit macht diese nung, eine über- oder Ultra-Kontinuität (vgl. Schoen-
integrale Einheit einen Stoß aus, der den andernfalls flies 1913, 208-210), die sich als reine Unterbrechung
kontinuierlichen Gang des Denkens unterbricht. oder, anders ausgedrückt, als unmittelbarer übergang
Diese Verlegenheit sucht die letzte Abänderung des manifestiert. In Obereinstimmung mit Benjamins »sy-
Erfahrungsbegriffs zu bewältigen. Der Schlußteil des stematischem Schema der Philosophie<< läßt sich au-
»Nachtrags<< betraut Erfahrung mit der Aufgabe, Phi- ßerdem sagen, daß der unmittelbareübergangvon der
losophie auf Religion zu beziehen, ohne daß ein Rela- Philosophie zur Lehre die Totalität der Erfahrung vir-
tum dem anderen untergeordnet würde oder beide auf tuell enthält; denn es gibt schlichtweg keine weiteren
bloße Momente reduziert würden, die in der konkre- übergangsstufen, in Beziehung auf die eine »Erfah-
ten Totalität ihrer wechselseitigen Beziehung dialek- rung<< bestimmt werden könnte. Da die Lehre von der
tisch aufgehoben werden könnten. Nur eines der bei- Religion im Hinblick auf die »Totalität der Erfahrung<<
den Relata, nämlich Religion, bildet nach Benjamin definiert ist, folgt allerdings, daß Philosophie und Re-
eine »konkrete Totalität<< (171), und zwar die der Er- ligion virtuell eins sind, wie Benjamin selbst, wenn
fahrung - ohne Anführungszeichen. Die Konkretheit auch zögernd, gegen Ende des »Nachtrags<< zu verste-
dieser Totalität ist Ausdruck ihrer höheren Mächtig- hen gibt. Philosophie kann nicht ausdrücken, was
keit: »Es gibt aber eine Einheit der Erfahrung die kei- Religion beim Namen nennt, aber dieses Unvermögen
neswegs als Summe von Erfahrungen verstanden wer- der Philosophie ist alles andere als bedeutungslos: Es
den kann<< (170). Diese Einheit liegt außerhalb des markiert als Unterbrechung im Denken einen kriti-
Denkens. Sie läßt sich nicht denken, nichts läßt sich schen Punkt, von dem die kommende Philosophie
von ihr sagen -, und eben deshalb ist sie da. Anders ihren Ausgang nehmen kann.
ausgedrückt, die einzig mögliche Beziehung zu dieser ( Obersetzung aus dem Amerikanischen von Markus
»Daseinseinheit<< muß unmittelbar sein und kann da- Hardtmann)
her allein auf ihrem Namen beruhen. Cantors Men-
genlehre, die unter einer Menge »jedes Viele [versteht),
Werk
welches sich als Eines denken läßt<< (Cantor 1932, 204),
ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE (Il,
liefert ein prekäres Beispiel für Namen, die aus dem 157-171)
Gebiet des Philosophischen herausfallen: Jede Vielheit, Begriffe lassen sich überhaupt nicht denken ... (VI, 43)
jeder Inbegriff oder jede Konstellation von Einheiten, DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGENWART (Il, 16-
35)
die wie das absolut Unendliche selbst nicht als Menge
EIDOS UND BEGRIFF (VI, 29-31)
oder »Totalität<< aufgefaßt werden kann, läßt sich mit KRISIS DES DARWINISMUS? (IV, 534-536)
einem Namen belegen, ohne doch gedacht werden zu ZUR KRITIK DER GEWALT (Il, 179-203)
können. Entsprechend kulminiert der »Nachtrag« in LöSUNGSVERSUCH DES RUSSELLSCHEN PARADOXONS (VI,
11)
einer Erschütterung des Systems: »Die Quelle des Da-
DER MoRALUNTERRICHT (II, 48-54)
seins liegt nun aber in der Totalität der Erfahrung und DER REGENBOGEN: GESPRÄCH ÜBER DIE PHANTASIE (VII,
erst in der Lehre stößt die Philosophie auf ein Abso- 19-26)
lutes, als Dasein, und damit auf jene Kontinuität im THESEN ÜBER DAS IDENTITÄTSPROBLEM (VI, 27-29)
ÜBER DIE WAHRNEHMUNG (VI, 33-38)
Wesen der Erfahrung in deren Vernachlässigung der ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
Mangel des Neukantianismus zu vermuten ist<< (II, MENSCHEN (Il, 140-157)
170). DIE UNENDLICHE AUFGABE (VI, 51-52)
150 Messianismus, Ästhetik, Politik

URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-409)


VERSUCH EINES BEWEISES, DASS DIE WISSENSCHAFTLICHE
>>Der Begriff der Kunstkritik
BESCHREIBUNG EINES VORGANGES DESSEN ERKLÄRUNG in der deutschen Romantik((
VORAUSSETZT (VI, 40-42)
Wenn nach der Theorie des Duns Scotus... (VI, 22-23)
Von ]ustus Petscher
WAHRNEHMUNG IST LESEN (VI, 32)
ZWEI GEDICHTE VON FRIEDRICH HöLDERLIN (II, 105--126)

Benjamins Dissertation DER BEGRIFF DER KUNSTKRI-


Literatur TIK IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK, erarbeitet 1917-
Cohen, Hermann (1914): Logik der reinen Erkenntnis. Ber- 1919, geschrieben 1918/19, eingereicht 1919 an der
lin. Philosophischen Fakultät der Berner Universität und
Fenves, Peter (2001): Arresting Language: From Leibniz to
1920 gedruckt, schließt, was ihren Denkstil, ihr Refle-
Benjamin, Stanford.
Feuerbach, Ludwig (1975): Werke in sechs Bänden, hg. v. xionsniveau und ihre sprachliche Dichte betrifft, an
Erich Thies, Frankfurt a.M. die Arbeiten an, mit denen sich Benjamin 1915/16 als
Geiger, Moritz (1913): >>Beiträge zur Phänomenologie des ein Denker sui generis aus dem Umfeld seiner Gene-
ästhetischen Genusses<<, in: Jahrbuch für Philosophie und
rationsgefahrtell gelöst hatte. Obgleich wesentlich eine
phänomenologische Forschung 1, 567--684.
Hamacher, Werner (2001): »Intensive Sprachen«, in: Chri- Arbeit zur Dichtungstheorie Friedrich Schlegels, befe-
stiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): übersetzen: Walter Benjamin, stigt sie Benjamins emphatisches Interesse am Schrei-
Frankfurt a.M., 174--235. ben und Denken dreier Autoren, deren Schätzung bis
Hege!, Georg Wilhelm Friedrich (1971): Werke in zwanzig
Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel,
in die 30er Jahre hinein ein antiklassizistisches Wider-
Frankfurt a.M. lager seiner Goethe-Verehrung bilden werden: Höl-
Hölderlin, Friedrich (1905): Gesammelte Werke, hg. v. Wil- derlin, Novalis und Jean Paul. Die Arbeit hatte einen
helm Böhm, Bd. 2, hg. v. Paul Ernst, Jena/Leipzig. Achtungserfolg, der immerhin beweist, daß das Schei-
Horkheimer, Max (Hg.) (1963): Zeugnisse, Theodor W.
Adorno zum sechzigsten Geburtstag, Frankfurt a. M. tern von Benjamins universitärer Laufbahn nicht von
Husserl, Edmund (1911): »Philosophie als strenge Wissen- vornherein feststand. Allerdings steht er im eklatanten
schaft«, in: Logos 1, 289-341. Mißverhältnis zur Kanonizität, die Benjamins Schrift
Husserl, Edmund (1913): »Ideen zu einer reinen Phänome- in der Romantikforschung seit den 1980er Jahren zu-
nologie und phänomenologischen Philosophie«, in: Jahr-
buch für Philosophie und phänomenologische Forschung kommt. Auf kultur- und technikgeschichtlich noch
1, 1-323. unentfaltete Weise weist Benjamins Schlüsselbegriff
Kant, Immanuel ( 1787): Kritik der reinen Vernunft, Leipzig. des Reflexionsmediums (welches bei den Frühroman-
Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften, hg. v. Kö- tikern die Kunst geworden, dagegen bei Fichte das Ich
niglich-Preußische [später, Deutsche] Akademie der Wis-
senschaften zu Berlin, Berlin. gewesen sei) auf die Perspektive, aus der er später als
Leibniz, Gottfried Wilhelm ( 1923 ff. ): Sämtliche Schriften und Medientheoretiker auf seine Zeit und deren Urge-
Briefe, hg. v. Preußische [später, Deutsche] Akademie der schichte im 19. Jh. blicken sollte. Zurücktreten wird
Wissenschaften, Darmstadt/Leipzig. unterdessen sein Bezug auf das Gebot philosophischer
Linke, Paul F. (1916): »Das Recht der Phänomenologie: Eine
Auseinandersetzung mit Th. Elsenhans«, in: Kant-Studien Systematizität, dem Benjamin, Kantisch orientiert,
21, 163-221. gerade das romantische Kritisieren in Fragmentform
Nietzsche, Friedrich (1967ff.): Sämtliche Werke, hg. v. Gior- unterzogen sehen wollte. Aus der romantischen Kritik
gio Colli/Mazzino Montinari, Berlin. ableiten und behalten wird er jedoch einen hohen Be-
Schoenflies, Artur ( 1913 ): Entwicklung der Mengenlehre und
ilirer Anwendungen, erster Teil, Allgemeine Theorie der griff des Kritikers als eines Präzeptors seiner Zeit im
unendlichen Mengen und Theorie der Punktmenge, Leip- weitesten Sinne. Auch der markant-gnomische Stil
zig!Berlin. seiner Schriften ist als Verfahren eines postromantisch-
Scholem, Gershorn (1975): Walter Benjamin- die Geschichte fragmentaristischen Montierens von Textbausteinen
einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
Scholem, Gershorn (1983): »Walter Benjamin und Felix zu beschreiben (vgl. Schöttker 1999). Schließlich schei-
Noeggerath«, in: ders.: Walter Benjamin und sein Engel, nen sich Benjamins begriffliche Um- und Neuprägun-
Frankfurt a. M. gen insgesamt, bis zum Passagen-Werk, vom Muster
Scholem, Gershorn (1995-2000): Tagebücher, nebst Aufsätzen
jener mystischen Terminologie herzuschreiben, die er
und Entwürfen bis 1923, hg. v. Karlfried Gründer/Herbert
Kopp-Oberstebrink!Friedrich Niewöhner, u. Mitw. v. Kar! im BEGRIFF DER KuNSTKRITIK an dem philosophi-
E. Grözinger, Frankfurt a.M. schen Kritiker Friedrich Schlegel hervorgehoben hat.
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« 151

Entstehung und Textgestalt vor er sich zum Thema des frühromantischen Begriffs
der Kunstkritik entscheidet, statuierte er: >>die Roman-
Noch gegen Ende des Ersten Weltkriegs hielt sich Ben- tik (sucht) das an der Religion zu leisten was Kant an
jamin fest an seiner »Dissertation, welche gerade in den theoretischen Gegenständen tat: ihre Form auf-
diesen Zeitläuften abfassen zu müssen eine heilsame zeigen<< (363)- eine These, die er in der Doktorarbeit
und mögliche Fixierung meines Geistes ist<< (1, 488). weitreichend entfalten wird (I, 72 u. 83). Zudem im-
Die Arbeit entstand im neutralen Berner Exil. Von den plizierte Benjamins Auffassung der romantischen Spe-
schreienden Agonien des Deutschen Reichs hielt sie kulation auf Religion bereits deren Verschränkung mit
größtmögliche Distanz. Im Weltkrieg war vieles ent- dem Historischen, die solche Spekulation zu messia-
halten, was Benjamins Arbeit ex negativo motivierte: nistischer Geschichtsphilosophie macht: >>Das Zen-
die Selbstdemaskierung des Wilhelminismus und sei- trum der Frühromantik ist: Religion und Geschichte<<
ner Selbstfeier in den Organen der Publizistik und (1, 362; vgl. I, 12, 62,92 u. 92 Anm. 238). In der Kryp-
Bildung, die Diskreditierung eines ins Schlachtgeschrei tik und Esoterik, mit der die Frühromantiker auf die-
einstimmenden literarischen Expressionismus, das ses Zentrum deuteten, scheint zugleich die Deutungs-
Scheitern der Jugendbewegung und das dichterische würdigkeit und -bedürftigkeit ihrer Schriften mit-
Vermächtnis des Freundes Fritz Heinle. Trotz der gesetzt: >>die Romantik muß man (verständig)
von Scholem beobachteten >>nationalistische[n] und interpretieren<< (1, 363).
leichte[n], aber durchaus erkennbare[n] antisemiti- Aus den Quellen - Scholems Tagebüchern, Benja-
sche[n] Wendung eines Teils der Neukantianer<< (Scho- mins Briefen und seinem VERZEICHNIS DER GELESE-
lem 1997, 65) blieb er Kantisch orientiert und schrieb NEN ScHRIFTEN (VII, 437-487, bes. 437-443)- ergibt
in einem seiner ersten Briefe aus Bern, er wolle >>über sich für die Phase der Erarbeitung von DER BEGRIFF
Kant und die Geschichte<< arbeiten und dadurch er- DER KuNSTKRITIK etwa folgendes Zeitschema: Mai
proben, ob er >>aus dieser Arbeit [s] eine Doktordisser- 1918: Lektüre der Frühromantiker und Diskussion
tation werde entwickeln können<< ( 1, 390 f.). Enttäuscht ihrer Texte mit Scholem; Juli 1918: Lektüre von For-
von Kants geschichtsphilosophischen Schriften (400 schungsliteratur; September/Oktober 1918: intensive
u. 408), erwägt Benjamin als neues Thema das des Arbeit an der Dissertation; November 1918: >>Vom
>>Begriff[s] der >unendlichen Aufgabe< bei Kant<< (403; eigentlichen Text ist noch nichts niedergeschrieben
vgl. 408 f.). Die Arbeit, die DER BEGRIFF DER KuNsT- aber die Vorarbeit ist ziemlich weit vorgeschritten. [... ]
KRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK heißen wird, Die Beschaffung der Literatur stößt überall auf Hin-
projektiert Benjamin schließlich als ein Thema, in dem dernisse und was man bekommt ist qualvoll langwei-
die beiden fallengelassenen weiterreflektiert werden: lig<< (1, 487); Januar 1919: Seminar-Referat über ro-
>>Die Aufgabe wäre, Kants Ästhetik als wesentliche Vor- mantische Ironie; März 1919: >>meine Dissertation ist
aussetzung der romantischen Kunstkritik [... ] zu er- bald fertig<< (2, 21); April1919: >>Rohschrift<< der Dis-
weisen« (441). Diese Aufgabe versteht die schließlich sertation >>abgeschlossen<< (23); Mai 1919: >>ich habe
eingereichte Dissertation allerdings als von deren The- zu ihr [der Dissertation] ein esotherisches [!] Nach-
menstellung aus nicht mehr erfüllbare (64; vgl. aber wort [... ] geschrieben<< (26; vgl. hierzu Steiner 1989,
immerhin 88). 42-46; Ferris 1992, 455-480). Im selbenAbsatz berich-
Mit seinem Themenwechsel kehrte Benjamin zu tet Benjamin, er habe die Arbeit seinem Doktorvater
Thesen und Lektüren zurück, die ihn schon länger, übergeben. Das Doktorexamen besteht er am 27.
und intensiv seit seinen Münchner Semestern 1915- Juni.
1917, beschäftigten. Schon der 18jährige hatte Hölder- Diesen Prozeß (vgl. dazu auch I, 799-803; Tiede-
lin für sich entdeckt, dessen Bild bei Benjamin einer- mann u.a. 1991, 59-61) vermitteln die Quellen auf
seits durch die Forschungen Norbert v. Hellingraths, jeweils andere Weise. In seinen Briefen scheint Benja-
andererseits durch den Freitod Christoph Friedrich min Erkenntnisse und Thesen, die sich ihm aus der
Heinles, der Benjamin als ein neuer Hölderlin galt, Lektüre ergaben, auf dem Papier und an der Reaktion
bestimmt war. Um die thetische Setzung eines Begriffs seines Korrespondenten auszuprobieren. Wesentliche
von Kritik, einer Kritik, die >>wie ein chemischer Stoff Implikationen und Positionen der Dissertation begeg-
[... ] einen andern nur in dem Sinne angreift, daß er nen hier zum ersten Mal. Der Blick, den Scholems
ihn zerlegend dessen innre Natur enthüllt<< (349), ging Erinnerungen auf den Promovenden Benjamin wer-
es Benjamin bereits gegenEnde 1916. Und im Mai und fen, bleibt dagegen distanziert durch jahrzehntegroßen
Juni 1917 berichtete er von seiner Lektüre der Roman- Abstand und die Divergenz der Lebensentwürfe und
tiker, und zwar »Zunächst [... ] [der] Frühromantik[ er]<< Lebensläufe Benjamins einer-, Scholems andererseits.
(358 u. 361-363, Zit. 362). Schon damals, ein Jahr be- Das Buch vermittelt punktuelle und pauschale Ein-
152 Messianismus, Ästhetik, Politik

drücke von Benjamins Lektüre der Frühromantiker, DEUTSCHEN RoMANTIK. Inaugural-Dissertation der
der Romantischen Schule Heinrich Heines und der Jean Philosophischen Fakultät der Universität Bern zur Er-
Faulsehen Vorschule der Ästhetik (vgl. Scholem 1997, langung der Doktorwürde Vorgelegt von Walter Ben-
51, 83 u. 87). Etwa auf den September/Oktober 1918 jamin aus Berlin. Berlin 1920/ Buchdruckerei Arthur
bezieht sich Scholems Erinnerung, daß »Benjamin sehr Scholem, Berlin SW 19 Beuthstraße 6; Dr. Walter Ben-
intensiv an der Dissertation arbeitete und sich dabei jamin: DER BEGRIFF DER KUNSTKRITIK/ IN DER DEUT-
ziemlich überanstrengte<< (98). Manche Tagebuchauf- SCHEN RoMANTIK. Bern: Verlag von A. Francke, 1920.
zeichnungen aus dieser Zeit fassen sich ebenso allge- (Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ih-
mein: >>Wir sprachen [... ] dann von Dissertation<< rer Geschichte. Herausgegeben von Richard Herbertz.
(Scholem 2000, 400); >>Nachher sprachen wir noch von Fünftes Heft). Die Abweichungen dieser Drucke ge-
der Dissertation, Anfang und Schluß<< (401). Anders genüber dem in den Gesammelten Schriften gebotenen
aber als im Erinnerungsbuch zeigt sich der Diarist Text resultieren vor allem auf den Einfügungen Ben-
Scholem intensiv bezogen auf und angeregt durch die jamins in sein Handexemplar des Berner Drucks sowie
akademische Arbeit seines Freundes. Zwei Tage nach auf einer handschriftlichen Errata-Liste, die der Autor
seiner Ankunft in Bern hatte ihm Benjamin einen für eine (nicht erfolgte) zweite Auflage der Schrift an-
Band Tieckscher Märchen und Geschichten geschenkt gefertigt hatte (I, 803 f.). Hervorhebungen Benjamins
(vgl. 221; vgl. 214). Am 24. Juni notiert er: >>Ich beginne erscheinen in den Erstausgaben gesperrt, im Druck der
zu ahnen und aufzufassen, daß zur endgültigen Phi- Gesammelten Schriften kursiviert.
losophie eine sehr entschiedene Einsicht in die Dicht-
kunst gehört<< (253 ). Obgleich hierauf das Bekenntnis
folgt, die >>Summerei von Friedrich Schlegel<< müsse Kontexte (Kerr, Lukacs)
>>einem nachgerade auf die Nerven fallen<< (ebd.), hält
diese Reaktion in ihrer Heftigkeit Verbindung mit dem Wenige Monate bevor sich Benjamin zu dem Disser-
wenig zuvor protokollierten Interesse an Schlegels tationsthema der romantischen Kunstkritik entschloß,
Wortspielen und seiner mystischen Terminologie (vgl. erschien eine Sbändige Sammlung von Schriften des
247). Scholems Befassung mit den Romantikern wirkt seinerzeit bekanntesten deutschen Kritikers Alfred
wie eine monologisch-lesende Parallelaktion zur Pro- Kerr. Kerr behauptete in der Einleitung zu diesen Bän-
motionsarbeit seines Freundes, den er still belauert, den, der Kritiker sei ein >>Gegenschöpfer<< (Kerr
um herauszufinden, mit wem er ihn teilen muß. 1917/71, 5). Dies nicht weil er die Werke Gottes, son-
Schließlich spricht aus den Tagebüchern klarer und dern weil er die der Autoren kritisch umschaffe. Seiner
krasser die Geringschätzung, mit der die beiden Vorstellung nach gilt, >>daß der Kritiker ein Künstler<<
Freunde von Benjamins Doktorvater dachten. Scho- sei ( 13). Erst er, Kerr, habe eine solche Kritik geschaffen
lems spätere Charakteristik des >>recht farblosen, und (vgl. 13 f.). Mit einschneidenden Folgen: >>Fortan ist zu
gerade deswegen ihm [Benjamin] angenehmen<< sagen: Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und
Berner Philosophieprofessors Richard Herhertz (Scho- Kritik<< (4). Denn: >>Was Dichtung zu geben hat, gab
lem 1997, 62; vgl. 75) hat hier kaustische Schärfe. Her- meine Dichtung der kritischen Kunst<< (ebd.). Diese
hertz wird zum >>Banausus par excellence<< (Scholem Sätze, geschrieben im November 1917, sind die for-
2000, 220; vgl. 264). In Herhertz verkörperte sich für scherauftrumpfende Neufassung eines Anspruchs, den
Scholem und Benjamin eine Institution (die Univer- Kerr schon 1904 im Vorwort seiner ersten Kritiken-
sität), deren Autorität und Anforderungen sie sich nur sammlung angemeldet hatte. Sein kritisches Programm
pro forma beugen wollten. So mußten die Entste- trat deutlich früher und nicht, wie Gebhardt meinte
hungsumstände der Arbeit den Promovenden dazu (vgl. Gebhardt 1976,89 Anm. 14), später auf den Plan
bewegen, das ihm (der Zeitgeschichte wie seiner eige- als Benjamins Schlegel-Lektüre. Bernd Witte erkannte
nen intellektuellen Persönlichkeit nach) Nächste in in ihm- und verwandten Überlegungen zumal Georg
seiner Dissertation nur im Modus des Beschweigens Lukacs'- die Rechtfertigung und ein Vorbild von Ben-
oder des esoterischen Ausdrucks zu berücksichti- jamins literaturkritischem Arbeiten (vgl. Witte 1976,
gen. 93-97). >>Kritik ist eine Kunst<<, hieß es bei Kerr 1904
Zu den Textfassungen des BEGRIFFS und zu ihrer (Kerr 1954, 6). Und deutlicher: >>Der wahre Kritiker
Gestalt haben die Herausgeber der Gesammelten bleibt für mich ein Dichter: ein Gestalter. [... ] Der
Schriften das Wesentliche gesagt (I, 803-810). Manu- Dichter ist ein Konstruktor. Der Kritiker ein Konstruk-
oder Typoskripte der Arbeit haben sich nicht erhalten. tor von Konstruktaren << (7). Denn er >>betrachtet Dich-
Gedruckt wurde sie in zwei im Satzspiegel identischen ter: wie ein Dichter Menschen betrachtet. Man schreibt
Fassungen: DER BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER als Kritiker eine große Arbeit, deren Helden lauter
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« 153

Dichter sind. [... ] Auch das ist ein schöpferisches Werk<< Zum Analogon und Nachfolger des frühromanti-
( 8). Soll wenigstens eines sein: >>Wert hat, glaube ich, schen Fragments (als der paradigmatischen Form
nur die Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt[ ... ]. Die frühromantischer Kunstkritik) hatte Georg Lukacs
Kritik, die als eine Dichtungsart anzusehen ist<< (ebd.). 1910 den Essay erklärt. Lukacs' Essayband Die Seele
Kritik, die im Kunstwerk das Kunstwerk hervorbringt und die Formen (1911, zuerst ungarisch 1910) beginnt
und dadurch ihrerseits eines wird: >>Produktive Kritik mit einem Brief >>über Wesen und Form des Essays<<,
ist eine solche, die ein Kunstwerk in der Kritik schafft. der nicht nur Adornos Essay, sondern vielleicht auch
[... ] In der Kritik ein Kunstwerk in ihren Äußerungen schon Benjamins Kritikauffassung mitgeprägt hat. Die
zu gestalten, eine Schönheit zu zeugen, ein Gebilde zu beiden Begriffe konvergieren bei Lukacs. Er nennt sie
bilden; nur eine solche Kritik ist produktiv<< (ebd.). Im in einem Atemzug: >>die Kritik, der Essay<< (Lukacs
Wortfeld produktiv/Produktion wie in der Figur der 1971, 7; vgl. 20). Beide seien anzusehen >>als Kunstwerk,
genitivischen Potenzierung (Konstruktor von Kon- als Kunstgattung<< (7). Lukacs setzt an bei Kerrs Popu-
struktoren) hallt hier die Diktion des Athenäum nach. larisierung der frühromantischen Kunstkritik: >>Wilde
Tatsächlich berief sich Kerr auf die Schlegels. Sie sollen und Kerr machen eine Weisheit nur allen geläufig, die
Lessing als führenden Kritiker abgelöst haben. Aber schon in der deutschen Romantik bekannt war [... ]:
>>[h]eute reichen die Schlegels nicht mehr hin. [... ] daß Kritik eine Kunst und keine Wissenschaft sei<<
Heute wird als Kritiker siegen, wer der größte Künstler (7f.). Diese Einsicht kennt Lukacs als eine antike. An
ist<< (9). Unübersehbar bleibt Kerr damit hinter der den Sokratischen Dialogen entdeckt er Platon als >>den
romantischen Idee der Kritik zurück. Sein Werkbegriff größten Essayisten<< (24). Allerdings war dem Essay-
ist nicht fragmentaristisch gebrochen und paradoxiert; isten Platon das Leben des Sokrates als >>das typische
seine Vorstellung vom Ort der Kritik in der Kunst in- für die Form des Essays<< (25) vorgegeben gewesen,
sofern provinziell, als sie von abgegrenzten Gebieten weshalb er >>dem unmittelbar vor ihm sich abspielen-
der Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik ausgeht und den Leben alles abrang und keines so vermittelnden
Schlegels Einsicht, daß in jedem literarischen Text eine Mediums bedurfte<< (24). Aus dieser Lage findet sich
Kritik impliziert ist, die von der Kritik hervorzuheben der Autor des modernen Essays verstoßen. Indem sie
und zu befördern sei, übersieht. die Sokratische Ironie fortentwickelt und umlenkt,
Was Kerr von Schlegel trennt, trennt ihn auch von wird die nachplatonische, nachmystische Essaykunst
Benjamin. Bestimmt gezielt wirkt der Einspruch, den kritisch und entfaltet sich nunmehr am Vorwand eines
Benjamins Dissertation -wissentlich oder nicht- er- schon Geformten (vgl. 27 f.). Einem Vorwand, den der
hebt gegen die Simplifikation, die Schlegels Kritik in Essayist bald unter sich läßt, weil bei derBefassungmit
Kerrs (Selbst- )Darstellung erfahren hatte. Ex negativo, den einzelnen Werken >>die Idee dieses Bildes und die-
am Abstand dieser beiden Nachzeichnungen des früh- ses Buches übermächtig in ihm geworden ist[ ... ]. Die
romantischen Begriffs der Kritik, läßt sich hier schon Dichtung ist früher und größer, ist mehr und wichtiger
Benjamins später, 1930, erhobener Anspruch ablesen, als alle Dichtungen: das ist die alte Lebensstimmung
als Deutschlands erster Kritiker zu gelten. Die Thron- der Kritiker der Literatur, nur konnte sie bloß in un-
folge, die Schlegel durch seine Lessing-Charakteristik seren Zeiten zur bewußten werden<< (28). Benjamins
und seine übermeisternde Arbeit Ober Goethes Meister Dissertation wird dann den fragmentaristisch geöff-
ebenso implizit wie demonstrativ für sich bean- neten Werkbegriff der Frühromantiker mit dem von
spruchte, reklamiert nun- verborgen in einem durch- Lukacs beschriebenen wie bedienten Genre Kritik und
aus literarhistorisch-kunsttheoretischen akademischen Essay vergleichen. Schlegel verweise >>auf die Doppel-
Diskurs - der Promovend Benjamin, der es besser natur des Werkes: es ist nur eine relative Einheit, bleibt
macht als der herrschende Kritikerpapst Kerr, weil er, ein Essay, in welchem Ein und Alles sich angelegt fin-
Benjamin, Schlegel besser verstanden hat und besser det<< (I, 75). Was den Lukacs von Die Seele und die
kritisch weiterzuführen weiß. Die in Benjamins Arbeit Formen vom künftigen Autor des BEGRIFFS DER
verstreut, aber mit einer gewissen Insistenz begegnen- KuNSTKRITIK scheidet, ist sein, Lukacs', härterer und
den Verweise auf die >>heutige Auffassung<< (I, 78 u. 80; engerer Klassizismus. Ästhetisch: seine unbedingte,
vgl. 67) der Kritik, die sachlich eine >>deteriorierte Pra- nicht mit romantischen Positionen vermittelte Goe-
xis<< (71 ), ja der diametrale Gegensatz und interpreta- the-Verehrung, philosophisch: sein Hegelianismus.
torisch eine >>falsche Modernisierung der romantischen
Doktrinen<< (83, Anm. 209; vgl. 91) sei,ließe sich daher
auch als implizite Wendung gegen die literarhistori-
sche Herleitung, die Programmatik wie die Praxis der
Kerrschen Kritik lesen.
154 Messianismus, Ästhetik, Politik

Aufriß des ersten Teils in Modi und Sphären der Reflexion, die Benjamin als
unaufhörliche, unendliche und sich selbst zersetzende
»Einschränkung der Fragestellung<< und »Die Quellen<<. beschreibt. Denn>> [a] uf der dritten und jeder höheren
Benjamin stellt seine Schrift zunächst als eine pro- Reflexionsstufe geht[ ... ] in dieser Urform [der Refle-
blemgeschichtliche vor, präzisiert diese Bestimmung xion, des Denkens des Denkens] eine Zersetzung vor
in dem Sinne, daß es sich hier um die systematisierba- sich, die in einer eigentümlichen Doppeldeutigkeit sich
ren Momente des romantischen Denkens über Kunst bekundet. [... ] Wenn man von dem Ausdruck >Denken
handele, beschränkt seine Untersuchung dann auf die des Denkens< ausgeht, so ist dieser auf der dritten Stufe
Fragen nach der Idee der Kunst und des Kunstwerks entweder das gedachte Objekt: Denken (des Denkens
(im Kontext der Kunstkritik) und erklärt die Beschrän- des Denkens), oder aber das denkende Subjekt[:]
kung seiner Quellenbasis auf die Schriften Novalis' (Denkens des Denkens) des Denkens<< (30 f.). Erste
und vor allem Friedrich Schlegels, dessen - seiner >>axiomatische Voraussetzung<< des frühromantischen
Kunstkritik zugrundeliegenden- erkenntnistheoreti- Reflexionsbegriffs sei, >>daß die Reflexion nicht in eine
sche Positionen aus seinen 1804-1806 gehaltenen, leere Unendlichkeit verlaufe, sondern in sich selbst
nach ihrem späteren Editor benannten >>Windisch- substanziell und erfüllt sei<< (31 ). Fichtes Absolutum,
mannschen Vorlesungen<< zu erschließen seien. das absolute Ich, scheint hier aufzugehen in der >>Auf-
lösung der eigentlichen Reflexionsform gegen das Ab-
solutum<< (31). Schlegels Absolutes sei Reflexionsme-
Erster Teil: nDie Reflexion<< dium, denn >> [d] ie Reflexion konstituiert das Absolute,
und sie konstituiert es als ein Medium<< (37). Seine
I. >>Reflexion und Setzung bei Fichte<<. Zunächst rekon- spätere Bestimmung des Ursprungs als eines seine Vor-
struiert Benjamin den Bezug frühromantischer Ästhe- und Nachgeschichte verschlingenden Strudels vorweg-
tik zur Fichteschen Epistemologie. Benjamin be- nehmend, bestimmt Benjamin: >>jede einfache Refle-
schreibt die Reflexion als den bevorzugten Denktypus xion entspringe absolut aus einem Indifferenzpunkt<<
der Romantiker und erklärt ihre Hochschätzung bei (39). Die metaphysische Qualifizierung (Füllung, Be-
Schlegel und Novalis aus ihrer Eignung, mit der reflek- nennung) dieses Indifferenzpunktes, der zugleich der
tierenden Natur des Denkens zugleich dessen intuiti- (mediale) Mittelpunkt der Reflexion ist, stehe frei. Für
ven Charakter zur Geltung zu bringen (vgl. I, 19). Der Fichte und den Schlegel der Windischmannschen Vor-
Unterschied der Frühromantiker zu Fichte liegt für lesungen sei dieser Mittelpunkt das Ich. Dagegen >>[i]m
Benjamin darin, daß Fichte die Unendlichkeit der Re- frühromantischen Sinne ist der Mittelpunkt der Re-
flexion aus der theoretischen ganz in die praktische flexion die Kunst<< (ebd.).
Philosophie hinüberdrängen wollte, während die Ro- III. >>System und Begriffi<. Schlegels Entwurf einer
mantiker diese Unendlichkeit gerade in der theoreti- >>zyklische[n] Philosophie<< (43) bezeichnet mit einer
schen Philosophie und damit überall wirksam sahen. geometrischen Figur, was in Benjamins Begriffen des
II. >>Die Bedeutung der Reflexion bei den Frühroman- Mediums und des Indifferenz- als Mittelpunktes mit-
tikern<<. Vor allem anhand der Windischmannschen gedacht scheint. Horazens regelpoetische Forderung,
Vorlesungen rekonstruiert Benjamin das >>Schema der das epische Gedicht solle medias in res anfangen, sieht
romantischen Erkenntnistheorie<< (27). Indem diese Schlegel auch in der philosophischen (System- )Dar-
eine 1., 2. und 3.(ff.) Reflexionsstufe durchläuft, ent- stellung wirksam (vgl. 43 ). Benjamin zufolge bestimmt
fernt sie sich immer weiter von der Fichteschen. For- diese Struktur die der romantischen Reflexionsphilo-
melhaft: Fichtes >>intellektuelle Anschauung ist Den- sophie: >>Die Philosophie beginnt in der Mitte, bedeu-
ken, das seinen Gegenstand, die Reflexion im Sinne tet, daß sie keinen ihrer Gegenstände mit der Unefle-
der Romantiker aber Denken, das seine Form erzeugt<< xion identifiziert, sondern in ihnen ein Mittleres im
(30). Diese Divergenz tritt potenziert erst ab der drit- Medium sieht<< (43). Das Medium: die Kunst. >>Der
ten Reflexionsstufe hervor. Die zweite war das be- Begriff der Kunst ist in der Athenäumszeit eine - und
kannte, von Fichte vertretene Denken des Denkens: außer dem der Geschichte vielleicht die einzige -legi-
>>die Urform, die kanonische Form der Reflexion<< time Erfüllung der systematischen Intentionen Fried-
(ebd.). Sie aber habe bei Fichte einen einzigen Ort rich Schlegels<< (44). Für die von der Frühromantik
gehabt: in der Tathandlung des Subjekts, das sich mit verfehlte Systematik des Philosophierens findet Ben-
der Form des Satzes Ich-bin-Ich zugleich seinen Gehalt jamin ein (entstelltes) Äquivalent im Mystischen von
setzt. Benjamin zufolge ist in dieser ursprünglichen Schlegels Sprachdenken. Anders als die Philosophie
Tathandlung zugleich eine Tatsache, ein fait accompli seiner Zeit suchte Friedrich Schlegel, Benjamin zu-
gesetzt (vgl. 29). Dagegen strebten die Frühromantiker folge, >>dies Absolute<< - das Absolute, das auch für
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« 155

Schlegel ein System, freilich in der Gestalt der Kunst Indifferenzpunkt der Reflexion, an dem diese aus dem
gewesen sei- »nicht systematisch, sondern das System Nichts entspringt, ist das poetische Gefühl<< (I, 63).
absolut zu erfassen. Dies war das Wesen seiner Mystik<< Kritik steht demnach zum Kunstwerk im gleichen Ver-
( 45).Benjamin rekonstruiert das romantische Verfah- hältnis wie die Beobachtung zum Naturgegenstand.
ren, systematische Tragweite durch die Eigendynamik, Sie ist >>ein Experiment am Kunstwerk, durch welches
Kondensations- und Vernetzungskraft sprachlicher dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Be-
Termini, kurz durch die Friedrich Schlegel von seinem wußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht
Bruder August Wilhelm zugeschriebene mystische wird<< ( 65). Das Subjekt dieser Reflexion sei sein Ob-
Terminologie anzustreben. Den Schlegelsehen Haupt- jekt: das Kunstgebilde - oder vielmehr der darin lie-
begriff der Kunstkritik erklärt Benjamin aus der Re- gende Geist. Daher begreife sich Kritik als Entfaltung
volutionierung des Wortes Kritik durch die Kantischen der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis eines Kunst-
Hauptschriften: >>für die Romantiker und die speku- werks. Die Steigerung, die das Werk in dieser (roman-
lativen Philosophen bedeutete der Terminus kritisch: tischen) Kritik erfährt, sei eine dessen Grenzen über-
objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit<< schreitende: >>die Kritik ist [... ] das Medium, in dem
(51). sich die Begrenztheit des einzelnen Werkes methodisch
IV. »Die frühromantische Theorie der Naturerkennt- auf die Unendlichkeit der Kunst bezieht und endlich
nis<<. Benjamin präsentiert hier die vor allem Harden- in sie übergeführt wird<< (67). Schlegels Kunstkritik
bergsche (implizite) Theorie der Naturerkenntnis und behauptete sich daher gegen die Dogmatik der Klassi-
die vor allem Schlegelsehe (implizite) Theorie der zisten wie die Regellosigkeit des Geniekults. >>Freiheit
Kunsterkenntnis als aufeinander verweisende Aspekte von heteronomen ästhetischen Doktrinen<< eroberte
einer romantischen Theorie der Gegenstandserkennt- Schlegel >>erst dadurch, daß er ein anderes Kriterium
nis. Denn »[ a]lle Erkenntnis ist Selbsterkenntnis eines des Kunstwerks aufstellte, als die Regel, das Kriterium
denkenden Wesens, das kein Ich zu sein braucht<< (55). eines bestimmten immanenten Aufbaus des Werkes
Universalisierte Selbsterkenntnis erscheint so als der selbst<< (71 ). Die ideale Kritik Schlegelscher Observanz
Analogisierungsgrund, der Selbst- und Objekterkennt- hält zur Spezifik und Singularität des einzelnen Kunst-
nis ineinander übergehen läßt. Dementsprechend werks zunächst eine ebenso genaue Verbindung wie
denken die Romantiker den Vorgang der Beobachtung die ideale übersetzung, über die Novalis nachdachte.
nach Maßgabe der Fichteschen Selbstbeobachtung. II. »Das Kunstwerk<<. Hieraus folgt: >>Die romanti-
Wie bei diesem das Ich, so belebt sich bei Novalis alle sche Theorie des Kunstwerks ist die Theorie seiner
Natur in Wechselwirkung mit ihrem Beobachtetwer- Form<< (72). Form ist, Fichtisch gedacht, >>der gegen-
den. Benjamin unterscheidet die Subjekt und Objekt ständliche Ausdruck der dem Werke eigenen Reflexion,
voneinander absetzende szientifische Beobachtung welche sein Wesen bildet<< (73). Sie ist Ausdruck und
von einer magischen, in der Beobachter und Beobach- Produkt der dem Kunstwerk impliziten Selbstrefle-
tetes, Wahrnehmung und Prozeß des Experiments xion, weshalb das, was im Werk der Kritik offen steht,
miteinander kommunizieren, ja vereinigt sind. Dem- ihr vorarbeitet, schon Kritik ist. >>Weil aber jede ein-
nach ist »die Beobachtung [... ] das aufkeimende Ge- zelne Reflexion in diesem Medium<<- dem des einzel-
genstandsbewußtsein selbst<< (61). Diese Theorie der nen Kunstwerks- >>nur eine vereinzelte, eine zufällige
Naturerkenntnis parallelisiert Benjamin mit zwei an- sein kann, ist auch die Einheit des Werkes gegenüber
deren. Einerseits mit der Goetheschen Naturerkennt- der der Kunst nur eine relative<< (ebd.). Die Einheit des
nis und ihrem Anspruch, Empirie und Theorie zu Werks wird durch Kritik zur Einsicht in ihre Relativi-
identifizieren, und andererseits zur romantischen tät gedrängt, somit ins Absolute überführt. War zumal
(vornehmlich Schlegelschen) Theorie der »Beobach- für Schlegel >>[d]ie immanente Tendenz des Werkes
tung geistiger Gebilde<< (ebd.), derzufolge Kunstwerk, und demgemäß der Maßstab seiner immanenten Kri-
Kunstkritik und Kunstkritiker in einem und demsel- tik [... ] die ihm zugrunde liegende und in seiner Form
ben Prozeß der experimentellen Beobachtung des ausgeprägte Reflexion<< (77), so implizierte das, daß
Werks durch den Kritiker (und vice versa) entstehen. seine Kunstkritik »einerseits Vollendung, Ergänzung,
Systematisierung des Werkes, andererseits seine Auf-
lösung im Absoluten<< intendierte (78). Während Auf-
Zweiter Teil: nDie Kunstkritik<< lösung im Absoluten und Systematisierung in eins
fielen, unterliege, was an solcher Kritik Urteil bleibt,
I. »Die frühromantische Theorie der Kunsterkenntnis<<. dem dreifachen Prinzip der mittelbaren (immanenten)
Die romantische Kunstkritik identifiziere das schöp- Kriterien, der Positivität des Urteils und der Unkriti-
ferisch-produktive Denken als das der Dichtung: »Der sierbarkeit des Schlechten, das eben unter aller Kritik,
156 Messianismus, Ästhetik, Politik

aus sich selbst heraus nicht mehr kritisch zu potenzie- valis und Schlegel an den >>zerfetzten Romanen Jean
ren ist. Kritikwürdigkeit und Klassizität der Werke sind Pauls<< {87) erkannten. Was von sprachformaler Seite
einerlei. Für Schlegel und die Seinen urteilt nicht der her den Roman dazu qualifizierte, die »faßbare Er-
Kritiker über das Werk, »sondern die Kunst selbst, in- scheinung<< {100) jenes Kontinuums der Formen zu
dem sie entweder im Medium der Kritik das Werk in sein, das den Romantikern die Kunst war, ist sein pro-
sich aufnimmt oder es von sich abweist« {80). Darin saischer Charakter. Benjamin sieht in ihm das gemein-
liegt für Benjamin die Objektivität der romantischen same Fundament von Roman- und kritischer Rede,
Kunstkritik wie auch des von ihr benutzten Mittels der (reflektierender) Poesie und (Kunst- )Kritik. Denn
Ironie. >>[ d]ie Idee der Poesie ist die Prosa<< (lOOf.). Poesie, die
III. »Die Idee der Kunst«. Das mit Idee der Kunst Poesie kritisiert, dadurch potenziert, ist eine Literatur,
befaßte Unterkapitel besteht aus einer Stafette von die als prosaische Rede offen ist sowohl zur philoso-
Kommentaren zu den romantischen kunsttheoreti- phisch-rhetorischen Rede wie zur Skala aller Sprech-
schen Begriffen: Kunstwerk, Transzendentalpoesie, weisen. Sie ist als Gegenteil der gebundenen Rede
symbolische Form, Roman, Prosa, Besonnenheit. zugleich deren Inbegriff, nämlich die versatilste Form
Knapp rekapituliert es, die romantische Theorie habe der poetischen Rede, eine Rede, die in jeder Periode
die Idee der Kunst definiert als Reflexionsmedium der ihren Rhythmus wechselt (vgl. 102). Benjamin kennt
Formen. Der Tiefe ihrer theoretischen Selbsterfassung drei Ausprägungen dieser Einsicht, die erstens in No-
nach erscheint >>[d]ie romantische Poesie<< daher als valis' Aussagen deutlich erfaßt, zweitens in Schlegels
>>die Idee der Poesie selbst<< {88). Diese Idee der Poesie Lucinde mehr postuliert als dargestellt und drittens
war den Romantikern ein Individuum, aber damit unerkannt in die »philosophischen Grundlagen spä-
zugleich auch ein Unendlich-Universales, ein Konti- terer Kunstschulen<< {103), namentlich der französi-
nuum der denkbaren Ideen (und damit der Darstel- schen Romantik und der deutschen Neuromantik {vgl.
lungsformen). Da also das allumfassende Kunstwerk ebd., vgl. 107 u. 117), eingegangen sei. Emphatisch
(als zeitlich-kontinuierlich-absolutes Ganzes aller präsentiert er als Zentralgestalt dieses Kreises - es ist
Kunstwerke) und die Idee der Kunst aufeinander ver- im weitesten Sinne der der romantischen Kunstphilo-
weisen, habe Schlegel >>[d]ie Darstellung der Idee der sophie- Friedrich Hölderlin. Denn >>die These, welche
Kunst im Gesamtwerk[ ... ] zur Aufgabe der progressi- seine [Hölderlins] philosophische Beziehung zu den
ven Universalpoesie gemacht<< {91 ). Als das Wesentli- Romantikern stiftet, ist der Satz von der Nüchternheit
che an dieser Aufgabe erscheint, daß sie >>in einem der Kunst. >>Dieser Satz ist der im wesentlichen durch-
Medium der Formen als dessen fortschreitend ge- aus neue und noch unabsehbar fortwirkende Grund-
nauere Durchwaltung und Ordnung auf das bestimm- gedanke der romantischen Kunstphilosophie<< {103).
teste gegeben<< (92) sei. Benjamin definiert das Pro- Er bringt auf den Begriff, was die Romantik als Ge-
gressive dieser Universalpoesie, gegen die Fortschritts- setztheit des Romans, Besonnenheit der poetischen
ideologie der schlichten Modernen, als »stetig Muse, prosaische Idee der Poesie, als deren durchaus
umfassendere Entfaltung und Steigerung der poeti- Nicht-Schönes, Mechanisches, Gemachtes und Mach-
schen Formen<< (ebd.) in einem »unendlichen bares, also Reflektiertes zu fassen versuchten. Die letzte
Erfüllungs[ ... ]prozeß<< (ebd.). Schlegels Begriff der Konsequenz dieser transhistorischen romantischen
Transzendentalpoesie meint daher Transzendierung Kunstphilosophie scheint darin zu liegen, daß ihre
qua Reflexion. >>Die Reflexion transzendiert die jewei- Kunstkritik als »ein Gebilde, das zwar in seinem Ent-
lige geistige Stufe, um auf die höhere überzugehen<< stehen vom Werk veranlaßt, in seinem Bestehen jedoch
{93), womit zugleich >>[d]er Ursprung der höheren unabhängig von ihm ist[ ... ][,] vom Kunstwerk nicht
Dichtung aus der Reflexion<< (ebd.) erklärt wäre. Organ prinzipiell unterschieden werden [kann]<< {108).
der Transzendentalpoesie ist nach Schlegel die symbo-
lische Form. Als höchste symbolische Form betrach-
teten die Romantiker den Roman (daher ihre Selbst- uDie frühromantische Kunsttheorie
benennung). Sie hätten an ihm die >>Gesetztheit und und Goethecc
reine Sammlung<< (98) betont. Die dem Roman we-
sentliche Eignung und Neigung, sich auf sich selbst Dieses Kapitel hat Epilogs-, Ausblicks- und Spiege-
zurückzuwenden, korrespondiert dem retardierenden lungscharakter. Benjamin hat es der Berner Fakultät
Charakter des Epischen. Für die romantische Lesart nicht mit eingereicht. Seine Themenwahl begründet
des Romangemäßen entscheidend scheint aber, daß er mit dem Lehrwert, den der Gegensatz der frühro-
dieses Retardierende mikrostrukturell ein Immer-von- mantischen mit der Goetheschen Kunsttheorie haben
Neuem-Ansetzen der Romanrede impliziert, wie No- soll. Während die Frühromantiker die (wahren) Werke
>>Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik<< 157

durch deren Kritisierbarkeit definierten, hielt Goethe >>Paradoxie einer höheren Einschätzung der Kritik als
die Werke für unkritisierbar. Während die frühroman- des Werkes<< (ebd.) verschrieben. Den konventionellen
tische Idee der Kunst das a priori einer Methode Einspruch, die Romantiker hätten ihre dichtungstheo-
(Selbstbegrenzung und Selbsterhöhung durch formale retischen Entwürfe dichterisch nicht eingeholt, wendet
Reflexion) meinte, ging die Goethesche Kunstphiloso- Benjamin ins Gegenteil um, indem er zumal Friedrich
phie aus von einem im Gehalt faßbaren Ideal der Schlegel >>Einhelligkeit in Tat und Gedanken<< (ebd.)
Kunst. Solcher Gehalt war ihr aufzusuchen an der »be- bescheinigt. Seine Kritik- und Kritik überhaupt- be-
grenzten Vielheit reiner Inhalte, in die es [das Ideal) fördere die der Dichtung wesentlich-notwendige
sich zerlegt<< (I, 111). Der Zusammenhang des Goe- Selbstvollendung, indem sie den Schein der >>Vielheit
theschen Kunstideals sei >>durch eine Brechung be- der Werke verlöschen [macht)<< (ebd.).
zeichnet. Die reinen Inhalte als solche sind in keinem
Werk zu finden. Goethe nennt sie die Urbilder<< (ebd.).
Die Urbilder galten Goethe zugleich als unsichtbare Aufnahme
und als uneinholbar in den antiken Werken schon
vorgestellte. Jenes haben sie mit den platonischen Ar- Allen Befürchtungen des Kandidaten zum Trotz hat
chetypen gemein, dieses mit den Vorstellungen einer Benjamin seine Doktorprüfung am 27. Juni 1919 mit
Geschichtsphilosophie, die im Altertum den ein für der Bestnote bestanden (vgl. Scholem 1997, 107; Scho-
allemal zurückgelassenen Naturzustand sah. Benjamin lem 2000, 463; Steiner 2001, 468f.). Herhertz bewies
präsentiert die Aporien, die mit dieser Konzeption wohl auch hier seine »völlig neidlose Bewunderung
überwunden und generiert werden und verschiebt das für Benjamins Ingenium<< (Scholem 1997, 76). Für die
hier knapp vorgestellte Verhältnis zwischen wahrer Drucklegung der Arbeit in den Neueren Berner Ab-
Natur der Kunst und erscheinender Natur der Welt handlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte er-
sogleich auf das bei Goethe vermutete zwischen Kunst- wirkte er im Oktober/November 1919 bei der Berner
ideal und einzelnem Kunstwerk. Letzteres bleibe ein Kantonalsverwaltung (Direktion des Unterrichtswe-
zufälliges, partizipiere allemal nur (im Sinne der Me- sens) einen Druckkostenzuschuß für die >>ganz vor-
texis) an den Urbildern des Ideals, das >>nach seiner zügliche Studie<< seines Schülers (vgl. Steiner 2001,
erkenntnistheoretischen Bestimmung Idee im plato- 469 f.; Zitat aus Herbertz' Brief vom 31. Oktober 1919,
nischen Sinne<< (114) sei. Das (Nur-) Anteilhaben der 469). Die hierbei bewilligten 150 sFr konnten die Ko-
Werke an der Ideal-Idee verurteilt das Einzelwerk dazu, sten indes nicht decken, weshalb Benjamin überlegte,
>>gleichsam Torso<< (ebd.) zu sein. Dagegen die >>Auf- >>in Bern um höhern Zuschuß [... ] ein[zu]kommen<<
hebung der Zufälligkeit, des Torsohaften der Werke ist (2, 84). Die Buchfassung der Dissertation wurde dann
die Intention in dem Formbegriff Friedrich Schlegels. bald bei Scholems Vater in Berlin hergestellt und er-
Dem Ideal gegenüber ist der Torso eine legitime Ge- schien 1920 als Doppeldruck in Bern bzw. Berlin
stalt, im Medium der Formen hat er keine Stelle. [... ] (s.o.). Ausgeliefert wurde der Band nach dem 23. Juli,
Indem es [das Kunstwerk) sich in seiner Form be- als Benjamin an Scholem schrieb: >>Meine Dissertation
schränkt, macht es sich in zufälliger Gestalt vergäng- wird bei Ihrem Vater gedruckt<< (94), und vor dem 10.
lich, in vergehender Gestalt aber ewig durch Kritik<< Oktober, an dem Florens Christian Rang in einem
(115). Endlich opponiert Benjamin die romantische Brief an Benjamin als einer der >>ersten und wohl auch
Vorstellung, daß >>in der Allheit der Werke [... ) [sich] aufmerksamsten Leser[)<< (Jäger 1998, 71) des neu er-
die Unendlichkeit der Kunst [erfüllt)<<, mit der Goe- schienenen Buchs hervortrat. In den folgenden Jahren
theschen, daß sich >>in der Vielheit der Werke [... ] die erschienen (kaum mehr als) drei Anzeigen der Disser-
Einheit der Kunst immer wieder [findet)<< ( 117). Wenn tation. Benjamin selbst stellte sie in den Kantstudien
nun >>[j)ene Unendlichkeit [... ] die der reinen Form, vor (26. Jg., 1921, H. 1/2, 219; auch in I, 707f.). Em-
diese Einheit die des reinen Inhalts [ist)<< (ebd.), ent- phatisch, aber auch knapp war ihr Lob im Literarischen
hält der Unterschied dieser Kunstauffassungen die Handweiser (Flaskamp 1921, bes. Sp. 199 f.) und von
kardinale Frage nach dem Verhältnis von Form und folgenloser Güte das etwas obenhin ausgesprochene
Inhalt. Goethes und der Frühromantiker Theorien ausführlichere im Neophilologus (Sparnaay 1924, bes.
wirkten bis heute (1919) zusammen, um die Frage 101 f.; vgl. dazu Menninghaus 1987, 236f.). Beide Re-
nach der Form/Inhalt-Relation >>dem problemge- zensionen standen in Sammelbesprechungen. Einiger-
schichtlichen Denken vorzustellen. Nur das systema- maßen bedrückend wirkt das Nein des Francke Verlags
tische kann sie lösen<< (117 f.). Während Goethe Kritik zu Benjamins Vorschlag, für die Anfang 1924 bis auf
am Kunstwerk als >>weder möglich noch notwendig<< wenige Restexemplare verbrannte erste Auflage des
(119) angesehen habe, habe sich die Frühromantik der Buchs Ersatz durch einen Nachdruck zu schaffen (vgl.
158 Messianismus, Ästhetik, Politik

2, 442-444 u. Komm.; vgl. 2, 430 u. 453): »Die 37 Expl., ein Themenheft Walter Benjamin on Romanticism er-
die von Ihrem Buch noch vorrätig sind, werden vor- schienen (Ferris 1992). Zwei seiner Beiträge sind wie-
aussichtlich für die Nachfrage noch längere Zeit genü- derabgedruckt in dem Sammelband Walter Benjamin
gen<< (2, 444 u. Komm.). Demungeachtet hat >>Benja- and Romanticism (2002). Seine außerordentlich dich-
min [... ] eine zweite Auflage ernsthaft in Erwägung ten (teils übersetzten, teils Original-) Beiträge markie-
gezogen und, wie die sorgfältig formulierten Einschübe ren einen Einschnitt für die Diskussion und Schätzung
und der eingeklebte Zettel im Handexemplar beweisen der Benjaminsehen Dissertation und ihrer theore-
[... ], [... ] vorbereitet<< (I, 803). tischen Ansprüche und Implikationen. Avancierte
Intensive Aufnahme fand Benjamins Dissertation neuere Arbeiten zur frühromantischen Poetik bezie-
erst nach ihrem Wiederabdruck im zweiten Band der hen sich selbstverständlich auf Benjamins Dissertation
von Theodor W. und Gretel Adorno herausgegebenen und versuchen ebenso beiläufig wie respektvoll ein-
Benjaminsehen Schriften (1955). Winfried Menning- zelne Thesen und Einsichten dieser Schrift zu expli-
haus und Uwe Steiner haben diese Geschichte luzide zieren und weiterzuführen (vgl. Schumacher 2000, 169,
dargestellt (vgl. Steiner 1989, 31-37; Menninghaus 214, 220; Chaouli 2004, 63, Anm. 50; 84, 119).
1987, 238-253 u. 281-286). Ihre publizierten Arbeiten
übertrafen zugleich die bis dahin erschienene For-
schung, indem sie das Benjaminsehe Buch zum ersten Romantikkritik
Mal aus seiner eigenen Logik darstellten und verstan-
den. Die deutschsprachige Benjamin-Literatur der Sosehr Benjamins Dissertation das Verständnis der
1990er Jahre hat den biographisch-intellektualitätsge- frühromantischen Ästhetik und Philosophie gefördert
schichtlichen Kontext, in dem DER BEGRIFF DER hat, so deutlich bleibt der Abstand zwischen seinen
KuNSTKRITIK entstand, erhellt, insbesondere durch die und den Anschauungen und Verfahrensweisen Schle-
Edition der Benjaminsehen Briefe (1995 ff.) und der gels und Hardenbergs. Winfried Menninghaus demon-
Scholemschen Tagebücher 1917-1923 (2000) sowie striert an den >>wesentliche[n] Beschränkungen und
die von Lorenz Jäger vorangetriebenen Arbeiten über Verfälschungen<<, der >>Gewaltsamkeit<< von Benjamins
Florens Christian Rang. Seit den späten 80er Jahren Behandlung seiner Textzeugen die im BEGRIFF DER
intensivierte sich die Kenntnis und Wertschätzung der KuNSTKRITIK begegnende Strapazierung des roman-
Benjaminsehen Dissertation in der französischen Li- tischen Reflexionsbegriffs, Vernachlässigung der Rolle
teraturwissenschaft. Philippe Lacoue-Labarthe schrieb von poetischem Gefühl und Einbildungskraft in der
die (leicht, auf Englisch, in Walter Benjamin and Ro- Kunstphilosophie Schlegels und Novalis' und also den
manticism, 9-18, zugängliche) Einleitung zur franzö- um so größeren Anspruch, den Benjamin seiner theo-
sischen Ausgabe der Dissertation: Le concept critique retischen Konstruktion auflasten mußte (vgl. Men-
dans le romantisme allemand, übers. Philippe Lacoue- ninghaus 1987,31,42 u. 61). Zwei neuere Studien zu
Labarthe u. Anne-Marie Lang. Paris: Flammarion, Benjamins Dissertation haben deren Verhältnis zu ih-
1986 (Neuauflage 2002). Noch stärkere Beachtung rem Gegenstand noch kritischer verstanden. Sam We-
fand Benjamin auch mit seinem ersten Buch derweil ber las den Begriff der Kunstkritik als Verschiebung des
im englischsprachigen Raum. Schon 1974 las George Begriffs Romantik selbst, der dabei seine literarhistori-
Steiner die Dissertation als frühe Summa der Benja- sche Signifikanz abstreift und zum Synonym für das
minsehen Schriften: >>Walter Benjamin's exposition of Bewußtsein vom allegorischen Charakter der Kritik in
the philosophical bases of Romantic criticism contains, der gegenwärtigen (dekonstruktiven) Literaturwissen-
in almost every detail, the principals and programme schaft wird (vgl. Weber 1990, 317f.). Und Rodolphe
of his own life work<< (Steiner 1974). Doch konnte Gasehe hat an der Dissertation Benjamins >>direct hos-
Samuel Weber noch 1990 sagen, Benjamins BEGRIFF tility towards Romantic insights<< herausgestellt
DER KuNSTKRITIK sei >>a work that casts considerable (Gasehe 2002, 52; vgl. 56,66 u. ö.). Solche Feindselig-
light on the role of romanticism in the development keit richte sich gegen die frühromantische Identifika-
of contemporary critical theory and as such deserves tion des Absoluten mit der >>Individualität der Kunst-
a wider reception than it has received<< (Weber 1990, einheit<< (I, 89), jener Einheit, die für Schlegel im
307). Immerhin erschien 1996 eine englische Überset- Kontinuum der Formen bestanden haben soll. Diese
zung der Dissertation im ersten Band von Benjamins Hypostasierung und Grenzverwischung, die Kunst mit
Selected Writings (Bd. 1: 1913-1926, hg. Marcus Bul- Kritik, die einzelnen Werke mit ihrem Absolutum, das
lock u. Michael W. Jennings. Cambridge/Mass. u. Lon- Profane (der kritischen Kunst) mit dem Sakralen ver-
don: The Belknap Press ofHarvard UP, 1996, 116-200). mengt, kritisiert Gasehe heftig- oder sieht sie vielmehr
Unterdessen war 1992 in den Studies in Romanticism schon bei Benjamin kritisiert (vgl. Gasehe 2002, 62;
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik<< 159

vgl. Weber 1990, 315f.). Die frühromantische Kunst- Durch das Moment der Einstellung nähert sich sol-
kritik habe ihren eigenen Anspruch verfehlt, das gene- che Intention dem Begriff der Tendenz. Was nämlich
risch Unterschiedene ununterschieden gelassen und Schlegel wie Novalis »intentioniert<< haben (hier geht
damit Benjamins >>hypercriticism<< (Gasehe 2002, 67), die Intention in ein energisches Verb ein), sind oder
seine Kritik der unzulänglichen frühromantischen denotieren allemal »Tendenzen<< (102). Die implizite
Kritik provoziert. Zwar liest Gasehe die Unterschei- und explizite frühromantische Theorie der Kunstkritik
dung von wahrer Mystik und falschem Mystizismus durch Freilegung ihrer Tendenzen auf ihre philosophi-
(vgl. I, 96, Anm. 251) in dem Sinne, daß Schlegels Den- sche Basis zurückzuführen, war Benjamins erklärtes
ken in Benjamins Augen ganz dem Mystizismus ver- Programm: »das Thema meiner Dissertation [... ]: die
fallen sein soll (vgl. Gasehe 2002, 56 u. 62)- obwohl philosophischen Grundlagen der romantischen Kunst-
die Dissertation von »Wesen seiner [der Schlegelsehen] kritik. [... ] der Stoff erweist sich als ungeheuer spröde[,]
Mystik<< (I, 45), nicht: seines Mystizismus, spricht, und wenn ich ihm das tiefere [Thema] abgewinnen will[,]
die Emphase, mit der Benjamin die mystische Termi- und eine Dissertation verlangt Quellennachweise, die
nologie Schlegels epistemologisch restituiert und in doch bei der Romantik für gewisse ihrer tiefsten Ten-
seiner eigenen Begriffsarbeit fortschreibt, auf eine Re- denzen kaum zu finden sind<< (1, 455). Die Suchme-
habilitation zu zielen scheint. Festzuhalten sind aber thode der Arbeit bildet sich durch (und überbietet) die
die darstellungsformalen und weltanschaulich-philo- Suchmethode ihres Gegenstands. Nicht nur findet
sophischen Differenzen zwischen Benjamin und den Benjamin bei Schlegel »jene[] terminologische[] Ten-
Frühromantikern. Sie lassen sich bezeichnen mit vier denz<< (I, 50), die vielleicht allem mystischen Denken
operativen Begriffen, die Benjamin bei seiner Darstel- eigne. Schon die frühromantische Kunstkritik selbst
lung frühromantischer Gedanken verwendet: Inten- setzte an bei der Einsicht in die »immanente Tendenz
tion, Tendenz, Analyse und System. des Werkes<< (77), die von der Kritik zu sich befreit und
Von Benjamins Blick auf die Intention der Frühro- potenziert werde. Das scheinbare Dilemma in der Be-
mantiker spricht auch Gasehe (vgl. Gasehe 2002, 53, hauptung solcher Tendenzen legt Benjamin selbst dar:
54 u. 67f.). Offenbar erklärt sich mit ihr jene von Ben- »es ist nicht abzusehen, wie ein Werk an seinen eigenen
jamin bei den Romantikern vorgefundene »ungeheure Tendenzen kritisiert werden könnte, weil diese Ten-
Diskrepanz zwischen dem Anspruch und der Leistung denzen, soweit sie einwandfrei feststellbar, erfüllt, und
ihrer theoretischen Philosophie<< (I, 52). Dabei ist, was soweit sie unerfüllt, nicht einwandfrei feststellbar sind<<
die Romantiker als Theoretiker intendierten, nicht (ebd.). Doch habe die frühromantische Kritik diese
allein aus ihrer expliziten Programmatik abzulesen. Paradoxie aufgelöst, indem sie die immanente Tendenz
Zumal die »objektive Intention<< (80) ihrer Kunstkritik eines Werks in der »ihm zugrunde liegende[n] und in
findet ihre Bestätigung vielmehr in der »historische [n] seiner Form ausgeprägte[n] Reflexion<< (ebd.) er-
Geltungsdauer<< (ebd.) ihrer Einschätzungen. Objek- kannte. Was Benjamin als die paradoxe Aufgabe der
tivität scheint Benjamin als das engste Korrelat früh- frühromantischen Kunstkritik angesichts der Werke
romantischer (theoretisch-kunstkritischer) Intention hervorhebt, entspricht der Aufgabe, die er sich selbst
angesehen zu haben. Ihre Intention ist Intention auf angesichtsdieser Kunstkritik gestellt hat. Die von ihm
Objektivität. Jedenfalls bestimmt er» [d] ie Aufhebung »dargestellten Tendenzen<< (107, Anm. 294) Friedrich
der Zufälligkeit<< als »die Intention in dem Formbegriff Schlegels interpretieren philosophisch, was dieser
Friedrich Schlegels<< (115). Intentionaler Art ist indes selbst an den ihm zeitgenössischen poetischen Produk-
nicht nur, was Benjamin der Schlegelsehen Sprache ten erkannt hatte: »Die Tendenz der meisten [... ] mo-
abgewinnt, sondern auch schon deren eigenes Bestrebt- dernen Gedichte ist philosophisch<< (Schlegel zit. n. I,
sein. Zumal das prekärste und zentrale Agens der 107, Anm. 294). Wie Benjamin alles Politisch-Ge-
kunstkritischen Objektivität, den Schlegelsehen Begriff schichtsphilosophische im Denken der Romantiker
der Ironie, findet Benjamin weniger durch sein will- nur beiläufig-esoterisch behandelt, übergeht er hier
kürliches Zielen aufbestimmte Sachverhalte als »mehr den Tendenzen-Begriff der frühromantischen Zeitdia-
noch als eine lediglich intentionale Einstellung<< ( 81) gnostik, die wesentlich eine registrierend-korrektive
charakterisiert. Benjamins Ausdeutung der frühro- Lektüre und Zuschreibung von Tendenzen des gegen-
mantischen Intentionen erscheint von daher als Aus- wärtigen Zeitalters war. Nicht zufällig nimmt er ihn
formulierung eines Willens, explizite Fortschreibung im Programm für die Zeitschrift ANGELUS Novus wie-
einer Willensart Dieser Wille ist nicht in erster Linie der auf.
personal, sondern ein Einzelfall dessen, was im Sprach- Intentionen und Tendenzen sind Scheidungser-
aufsatz als Art des Meinens, Intention auf Sprache kenntnisse. Sie treten dadurch hervor, daß Wichtiges
konzipiert worden war. von Unwichtigem abgehoben, Implizites aus Explizi-
160 Messianismus, Ästhetik, Politik

tem hervorgeholt wird. Kantische und chemisch-al- seinen damaligen Schriften impliziert, wenn nicht an-
chemische Terminologie mischend, verwendet Benja- gestrebt zu sein. Hat Schlegel sich doch »niemals [... ]
min hierfür den Begriff der Analyse. Seine Arbeit sei schlechthin als Gegner der Systematiker bekannt« (42).
>>die Analysis<< des Begriffs der Kunstkritik »nach sei- Schlegels Wendung vom »Geist des Systems, der etwas
nen eigensten philosophischen Intentionen« (1, 80). ganz anderes ist als ein System« (Schlegel zit. n. I, 40),
Wo immer Benjamin von Scheidung, Lösung, Ablö- mache es sich zwar zu leicht, »aber diese Worte führen
sung, Auflösung und Zersetzung (von Kontexten, doch«- als Intentionsanzeige, als Tendenz, in der Ana-
Sinnschichten, Gedankenfiguren wie auch der einzel- lyse - »auf das Entscheidende« (40). So kennt die ro-
nen Kunstwerke und ihrer Gehalte) spricht (vgl. etwa mantische Erkenntniskritik eine Potenzierung des
30, 34, 68, 77, 84, 86,97, 98, 101, 115 Anm. 307, 116), Denkens durch sein intuitives Erkanntwerden, welches
scheint er ein chemisches Verständnis des Terminus Denken des Denkens »das System [bildet)« (28); die
Analyse vorauszusetzen. Ihm korreliert, wie auch bei Reflexion ist den Frühromantikern - anders als bei
Kant, der Terminus Synthese, der in der hier angeführ- Fichte- »ein absolut systematisches Denken« (32; vgl.
ten Rede der Romantiker vom organischen Ganzen der 21 u. 26). So »verweist der Begriff der Transzendental-
antiken Dichtung und von der künftigen organischen poesie zurück auf das systematische Zentrum, aus dem
(transzendentalen) Poesie (vgl. 90 u. 94) im Spiel sein die romantische Kunstphilosophie hervorgegangen
mag. Umgriffen werden Analyse und Synthese vom ist« (93). Mehr noch: Romantische Kunstkritik ist
Begriff der »begrifflichen Konzentration« (93), deren nicht nur systematisch abgeleitet, sondern ihrerseits
Paradigma in Schlegels Wort von der> Transzendental- systematisierend. Kritik im Sinne der Romantiker ist
poesie< vorzuliegen scheint, wie von dem der »>Dar- »einerseits [... ] Systematisierung des Werkes, andrer-
stellung< im Sinne der Chemie« (109), den Schlegel in seits seine Auflösung im Absoluten« (78). Absolutum
einem Sinn verwendet haben soll, der Benjamins De- und System scheinen zu koinzidieren (vgl. auch 21, 37
finition der Kritik als eines Experiments am Kunstwerk u. 46), aber sich ihrem Indifferenzpunkt von entge-
entspricht (vgl. 65). Somit scheinen Analyse und Syn- gengesetzten Seiten zu nähern.
these einander zu korrigieren wie zuzuarbeiten. Indem Die systematische Richtung, die Benjamins Befra-
die Frühromantik, etwa im 116. Athenäums- Fragment, gung und Darstellung der frühromantischen Kunst-
»die Synthese an allen Begriffen vornimmt« (108), kritik verfolgen würde, hatte der Promovend schon
benötigt eine philosophische Erläuterung ihrer Kunst- etwa anderthalb Jahre vor der Niederschrift der Arbeit
kritik die Mittel der Synthese wie der Analyse. Der vorgegeben. »Von einer Zusammenstellung Friedrich
Synthese, um das Analysierte zu restituieren. Der Ana- Schlegelscher Fragmente nach ihren systematischen
lyse, um das begrifflich-fragmentarisch Synthetisierte Grundgedanken gehe ich aus«, schrieb erim Juni 1917
auf seinen theoretischen Ort zurückzuführen und von (1, 362). Diese Arbeit sei >>natürlich rein interpretie-
dort aus ideelieh -systematisch zu konfigurieren. Dieses rend« (ebd.). Der erste Abschnitt der Einleitung zum
tut Benjamin insbesondere anhand der Windisch- Begriff der Kunstkritik betont dann unablässig diesen
mannschen Vorlesungen, deren »Analysis [... ] für das Zusammenhang zwischen System und Interpretation.
Verständnis von Schlegels Kunstphilosophie um 1800 Die Arbeit richte sich auf die »systematisch faßbaren
eine notwendige Bedingung [bleibt)« (34). Momente im romantischen Denken« (I, 12). Sie sei
Wenn der Benjamin der späteren 1910er Jahre von eine »als solche gewiß systematisch orientierte Unter-
Philosophie spricht, meint er systematische Philoso- suchung« (ebd.), aber keine »rein systematische«
phie nach Kantischem Muster. Tatsächlich verweisen (ebd.) und folgt damit wohl- sachlich wie methodisch
Benjamins Berufung auf die Intentionen und Tenden- -der »eigentümlichen Systematik von Friedrich Schle-
zen der frühromantischen Schriften, alle seine eigenen gels Denken« (ebd.). Ihr Gegenstand soll hier »nach
Analysen dieser Texte und ihrer synthetisierten Be- den romantischen Theoretikern der Kunst systema-
griffe auf das System, das in der frühromantischen tisch dargestellt werden« (14; vgl. etwa 57, Anm. 141)
Kunstkritik impliziert war und, wo sie es verfehlt, ihre -ein »nach«, das nicht nur die Quellen, sondern auch
Fehler aufweisbar macht. Jedenfalls hatte Schlegel eine die Vergehensweise der Arbeit anzugeben scheint.
»systematische[ ... ] Intention« (44), wurde sein und Halb konzediert Benjamin, daß er dieser Kunstphi-
Hardenbergs Denken »durch systematische Tendenzen losophie eine gedankliche und sprachliche Fassung
[... ]bestimmt« (41; vgl. 42), solldie »Analysis der Win- gibt, die sie bei den Frühromantikern nicht hatte, daß
dischmannschen Vorlesungen« das »System der Vor- »ihnen die [hier von Benjamin] geprägten Formulie-
lesungen« (34) herausstellen. Denn zwar hatte Schlegel rungen in ihrer systematischen Schärfe zum Teil gewiß
zur Zeit der Frühromantik »kein philosophisches Sy- fern lagen« (80). Die höchste Schärfe des romantischen
stem niedergelegt« (15), wohl aber scheint eines in Denkens über Kunst mag in der Unschärfe ihrer Be-
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« 161

griffssynthesen, im mal mystischen, mal mystizisti- eine >>inhaltlich positive, wenn man will sittlich ge-
schen Erkennen mittels der Versenkung in identifizie- färbte Bedeutung« (117, Anm. 315). Beide Bedeutun-
rende Termini gelegen haben. Auf die skeptische Frage gen sind konnotiert im Ideal eines reinen Inhalts von
der bisherigen Forschung, warum sich bei den Roman- Kunstwerken, der vom Chor der antiken Musen abge-
tikern die (ihnen hier zugeschriebenen) >>systemati- leitet scheint. Hingegen könne >>die absolute Form«,
schen Grundgedanken [... ] in so auffallend dunkler, ja auf die die frühromantische Kunsttheorie hinauszu-
mystifizierender Rede[ ... ] niedergelegt fänden<< (40), wollen scheint, >>allein im methodischen Sinne als rein
hat Benjamin eine Antwort, die Erklärung, Rechtfer- bezeichnet werden«: >>Denn deren sachliche Bestim-
tigung und Kritik zugleich scheint: >>Schlegel ver- mung- welche der Reinheit des Inhalts entspricht- ist
mochte nicht, den mystischen Impuls absoluter Erfas- vermutlich die Strenge. Dies haben die Romantiker
sung des Systems [... ] von sich fernzuhalten << (46). Die [... ]nicht ausgeprägt; auch dies ein Gedankenkreis, in
Ambivalenz dieses Urteils ist vielleicht größer, als welchem Hölderlin sie überragte« (ebd.).
Gasehe zugestehen mochte. Das Mystische an Schlegels
Kunsttheorie scheint mitten inne zu stehen zwischen
dem >>radikalen mystischen Formalismus« (21) von Formbildungen. Zur Sprache des nBegriffs
Fichtes Epistemologie und der katholisch-orthodoxen der Kunstkritik<<
Dogmatik, die das bestehende einzelne Werk (der
Kunst, tendenziell damit wohl auch Gottes) als Myste- Die rhetorischen Mittel, deren sich Benjamin im BE-
rium enthüllt (vgl. 86), die >>Mysterien der Kunst und GRIFF DER KUNSTKRITIK bedient, scheinen unschein-
Wissenschaft« (Schlegel zit. n. I, 96) zu verkünden an- bar verborgen in seiner Zitationstechnik, Syntax und
hebt. Sogar bei Kant, seinem Hauptzeugen für die Lexik. Auf vermittelte Weise liegen sie auf der Linie des
Denkprinzipien der Analyse, der Synthese und des von Benjamin an seinem Gegenstand Herausgearbei-
Systems, beobachtet Benjamin, daß in >>seiner Termi- teten. Auch wenn es forciert scheinen mag, im BEGRIFF
nologie gar nicht wenig mystischer Geist enthalten ist« DER KuNSTKRITIK schon jenes Verfahren der scheinbar
(52). nur geringfügig kontextualisierten Zitat-Collage sich
Eine systematische Lücke im frühromantischen abzeichnen zu sehen, das Benjamin im Passagen-Werk
Denken hat Benjamin allerdings nicht nur erschlossen praktizieren wird (vgl. Lacoue-Labarthe 2002, 18), so
oder bedauert, sondern streng benannt. Sie ist das ge- ist doch seine Zitationstechnik vergleichsweise brüsk.
naue Widerspiel jener Trübungen der Begriffe und des Die Zitate sind unvermittelter eingerückt, härter mit-
Denkens, die die Gefahr mystischer Identifikationen einander und mit dem diskursiven Text Benjamins
darstellen. Unerbittlich lapidar konstatierte Benjamin, verfugt und zumal auch, wie Winfried Menninghaus
daß Schlegel >>kein Verständnis für den Systemwert der nachgewiesen hat (Menninghaus 1987, 30-71), reso-
Ethik hatte« (44). Sie schien bei ihm durch die Ästhe- luter - mitunter bis zur Amputation und Entstellung
tik verdrängt. Obwohl die Opposition, die hier durch- - zugerichtet und ausgeschnitten als es akademisch
scheint, Kierkegaardisch ist, mißt Benjamin den Aus- üblich sein sollte. Was Benjamin meist durch knappe,
fall der Ethik in Schlegels systematisch-sein-sollendem kaum mehr als anmoderierende Überleitungen ver-
Denken explizit vielmehr an Positionen Kants, Fichtes, meidet, tritt im Ausnahmefall kraß zutage. Dann fol-
Goethes und Hölderlins. Seit Kant war das Gebiet der gen übergangslos vier Zitate von insgesamt fast einer
Ethik synonym mit dem der praktischen Philosophie, Druckseite Länge aufeinander (vgl. I, 90f.).
und der ihr gewidmete Teil galt Fichte in Ober den Solche Verfugung mag in der von Benjamin beton-
Begriff der Wissenschaftslehre (1794), einer der wich- ten engen symphilosophischen Korrespondenz früh-
tigsten Quellen von Benjamins Darstellung der Fich- romantischer, zumal Schlegelscher und Hardenberg-
teschen Lehre, als >>an sich bei weitem der Wichtigste« seher Reflexionen, ihr Vorbild wie ihren Grund haben.
(Fichte 1997, § 8, 74). Diesem emphatischen Superla- Deutlicher spiegelt sich die konstitutive Rolle der Re-
tiv aber begegnete bei Schlegel ein negativer. Denn >>die flexion für die romantische Kunsttheorie in Benjamins
praktische [... ] interessierte Friedrich Schlegel am we- umfassenden Gebrauch reflexiver Verbformen. Nicht
nigsten« (I, 22)- was heißt: die praktische Philosophie nur die späterhin für Adornos Stil charakteristische
(vielleicht nicht nur) Fichtes. Ebenso beiläufig und Nachstellung des Reflexivpronomens, sondern vor
doch zugleich deutlich hat Benjamin in einer späteren allem auch die Intensität seiner Verwendung stellt sich
Fußnote diese Blindheit frühromantischer Bestim- hier ein als Niederschlag, Produkt, Ausfluß und syn-
mungen an der Äquivokation des Terminus rein dar- taktisches Korrelat des Dissertationsthemas. Allerdings
gelegt. Der Terminus bezeichne einerseits die >>metho- ist diese Intensität eine beiläufig-versteckte. Das erste
dische Dignität« eines Begriffs, andererseits habe er Reflexivum des Textes erscheint ganz im Stil der selbst-
162 Messianismus, Ästhetik, Politik

verständlichen Erinnerung: »Eine Begriffsbestimmung net werden. Wenn nämlich Kunstwerke, Schlegels Wort
der Kunstkritik wird man sich ohne erkenntniskriti- über den Wilhelm Meister zufolge (einem Wort, das
sche Voraussetzungen ebenso wie ohne ästhetische sich Benjamin zueigen macht), sich selbst beurteilen,
denken können<< (I, 11) -immerhin in einem Satz, der dann ist Kunstkritik explizit-reflexiver Nachvollzug
Schlüsselworte der Benjaminsehen Methode und (damit Verstärkung) solcher Selbstkritik des Werks:
These zusammenführt. Selten jedoch macht diese >>Nicht der Kritiker fällt über dieses das Urteil, sondern
Verbform so massiv auf sich aufmerksam wie in jener die Kunst selbst, indem sie es entweder im Medium
Qualifizierung des Denkers Novalis, »auf dessen [... ] der Kritik in sich aufnimmt oder es von sich abweist<<
Grundbegriff der Reflexion die Schlegelsehe Erkennt- (I, 80; vgl. 69). Kunstkritik ist Sich-Selbst-Kritisieren
nistheorie [... ] zwanglos sich muß beziehen lassen<< der Kunst, einer Kunst, die hier im subjektiven wie
(16). Das volle Gewicht und die denkfigürliche Digni- objektiven Genitiv steht, weil ihr Tun-und-Leiden mo-
tät des Reflexivums deutet sich dort immerhin an, wo dal- reflexiv ist.
es sich zur Darlegung des Unterschieds zwischen der Daß Kritik ihrem etymologischen Auftrag nach un-
Fichteschen und der frühromantischen Reflexions- terscheidet, eine philologisch-philosophische Scheide-
theorie wie unvermeidlich einstellt: >>Auf der dritten kunst ist, war dem Kant- und Schlegelleser Benjamin
und jeder höheren Reflexionsstufe geht jedoch in die- wohl bewußt. Zum Mystischen an seiner Arbeit könnte
ser Urform eine Zersetzung vor sich, die in einer ei- gehören, daß sie diese Scheidungen nicht nur che-
gentümlichen Doppeldeutigkeit sich bekundet<< (30). misch, sondern auch alchemisch versteht. Aufgrund
Benjamins Darlegung der frühromantischen Posi- von Benjamins Orientierung am Kautischen Muster
tion von der Ich-Freiheit der Reflexion, deren privile- ist >>eine strikte Unterscheidung zwischen Begriffen,
giertes Medium vielmehr die sich reflektierende Kunst die üblicherweise als benachbart oder zusammenge-
selbst sei, zeitigte also Konsequenzen in seiner Verwen- hörig verwendet werden, für den erkenntnistheoreti-
dung des Zeitworts. Anders als in den späteren Schrif- schen Anspruch des Benjaminsehen Frühwerks kenn-
ten liegt das kraftvoll gemeisterte Schwergewicht seiner zeichnend<< (Lindner 1999, 1704f.). Daß für den jun-
Argumentation nicht in den >>zupackenden<< finiten gen Benjamin die Termini Begriff, Eidos, Bild, Idee,
Verben. Vielmehr sind diese hier eigentümlich blaß, Ideal im Zentrum dieses Differenzierungsprozesses
eingehegt in neutrale >>eS<<-Konstruktionen, Passiv- standen, erklärt sich aus deren Zentralität in der phi-
und Reflexiv- Formen. Die Selbstläufigkeit, Apersona- losophischen Tradition und zumal im deutschen Idea-
lität, alle Psychologie persönlichen Agierens abwei- lismus (zu Benjamins Verständnis dieser Termini in/
sende Abstraktheit und Anonymität der von Benjamin zur Zeit der Dissertation vgl. Schalem 2000, 142 f.).
vorgestellten Prozesse (im Kunstwerk, in der Kunst- Das gilt insbesondere auch für seine Doktorarbeit. Ihr
kritik, in der Kunstphilosophie und Erkenntnistheo- Gedankengang ließe sich, ausweislich ihres ersten (im
rie) findet Ausdruck in einer Sprache, die Nietzsches Titel gegebenen) und ihres letzten Nomens, beschrei-
Einsicht in die leere Prätention von Verbmetaphern ben als ein vom Begriff zur Idee führender. Ihre Text-
verinnerlicht zu haben scheint. Einer Sprache, der gei- gestalt und ihr Argumentationsstil erscheinen als
stiges Wesen, der sprachphilosophischen Überzeugung Spannung, Differenz, wechselseitige Verweisung, Er-
des jungen Benjamin nach, ein reflexiv-überpersonales gänzung, Beschränkung und Produktion des Begriff-
(göttliches) ist: >>die deutsche Sprache [... ) ist der un- lichen (vor allem seiner mystischen Synthesekraft)
mittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt. einerseits, des über allen Begriff gehenden (durch kein
Dieses >Sich< ist ein geistiges Wesen<< (II, 141, ÜBER Wort zu fixierenden, nur kontextuell-konstellativ um-
SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES schreibbaren) Ideelichen andererseits. Entscheidend
MENSCHEN). Mehr noch: Benjamin scheint seinen für Benjamins reflexiv-überbietenden Nachvollzug
Hauptbegriff Reflexionsmedium grammatisch zu den- dieser Denkfigur (scharfe Trennung des Nahbenach-
ken, bei den Abstrakta Reflexivum und Medium auch barten) ist die Einsicht in ihr produktives Potential.
die zwei damit benannten (und einander benachbar- Stärker noch als in den Begriffsdialektiken des deut-
ten) Typen von Verben im Sinn zu haben. Was Fichtes schen Idealismus sind Benjamins terminologische
Wissenschaftslehre im Begriff der Tathandlung in ihrer Scheidungen zugleich Auflösungen konventioneller
Theorie des Wechsel-Tuns und -Leidens zusammen- Definitionsgrenzen und (häufig neologistische) Kon-
brachte: eine Osmose von Aktivität und Passivität, taminationen der bis dato getrennt gehaltenen Terme
leisten auf der Ebene der Benjaminsehen Darstellung (vgl. Lindner 1999, 1705).
die medialen und vor allem die reflexiven Verben. Ihr Die quasi-selbstläufige, jedenfalls als Tendenz er-
Paradigma könnte mit einer Formel der Philosophie- kennbare, kreierbare, damit zu befördernde Bewegung
geschichte als das sese cogitare (der Reflexion) bezeich- der Kunstkritik in den Werken selbst hat Friedrich
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« 163

Schlegel in über die Unverständlichkeit (1800) zu einer Motto aus Goethes Farbenlehre, 10), Fusion von phi-
Sprachtheorie entfaltet. Danach gelte, wie Benjamin losophischer und philologisch-ästhetischer Erkennt-
Schlegel zitiert, >>daß die Worte sich selbst oft besser nis, Wahrheit und Sprachdenken.
verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht wer- An frühromantischen Begriffsbildungen entwickelt
den[ ... ] daß es unter den philosophischen Worten[ ... ] Benjamin den überragenden funktionalen Stellenwert
geheime Ordensverbindungen gibt<< (zit. n. I, 49). Hier der Komposita. Paradigmatisch bestätigen sie Schlegels
scheint das Zentrum der frühromantischen Sprach- Definition: >>der Gedanke, worin man die Welt in eins
philosophie wie ihrer Benjaminsehen Behandlung zusammenfassen und den man wieder zu einer Welt
angesprochen. Mit dem Wort von den geheimen Or- erweitern kann, [... ] ist, was man Begriff nennt« (zit.
densverbindungen mochte Schlegel die Anonymität n. I, 48). Entsprechend rühmt Benjamin am 116.Athe-
der Athenäums-Fragmente verteidigen, die Unpersön- näums- Fragment, daß es >>die Synthese an allen Begrif-
lichkeit der um sich selbst bekümmerten Sprache be- fen vornimmt<< (108), und bescheinigt Schlegels Neo-
tonen, die handlungslenkende Maschinerie der seit logismus von der Transzendentalpoesie die Qualität
Goethes Meister florierenden Geheimgesellschafts-Ro- einer >>begrifflichen Konzentration<< (93 ). Auf die For-
mane ins Innersprachliche verlegen und die genieäs- mel gebracht ist der Gewinn der Kompositabildungen
thetische Vorstellung vom kreativen Autor zum che- in dem von Schlegel zitierten Fichteschen Terminus,
mischen Modell eigendynamischer Scheidung und wonach solche Komposita >>Wechselbegriff[e]<< sind,
Bindung der Termini umstellen (siehe Chaouli: Das die einen >>Wechselbeweis<< zu führen erlauben (Schle-
Laboratorium der Poesie) -Benjamin entnimmt ihm gel zit. n. I, 43). Sichtbar wird hier die enge Verknüp-
vor allem eine Technik der Zusammensetzung von fung der Vokabeln Begriff und Kunstkritik, die Benja-
Begriffen, wie sie das Wort Ordensverbindungen so- mins Dissertation im Titel voranstehen. Kunstkritik
wohl beschreibt wie darstellt. Was Benjamin nach ist bei Benjamin oberster Begriff, weil sie Wechselbe-
Niederschrift der Arbeit an Ernst Schoen schreibt: >>Die griff ist: Kunst, die Kritik, und Kritik, die Kunst ist. Die
Komposition der Arbeit hat hohe Ansprüche, ebenso Intensität solcher Verbindungen betonend, scheint
z. T. die Prosa<< (2, 26), klingt zunächst so, als wolle er Benjamin bei seinen wichtigsten Komposita den viel-
den ihm befreundeten Komponisten auf die sprach- leicht zu blassen Bindestrich zu meiden zugunsten wie
musikalischen Faktur seiner Schrift hinweisen. (Zumal selbstverständlicher Zusammenschreibungen. So stellt
er ihm gegenüber seine Konkordanz von Schlegelsehen er Schlegels >>Meisterrezension<< dicht, aber privilegiert
und Hardenbergsehen Aussagen schon als >>Fragmen- neben und über dessen >>Woldemar-Rezension<< (69
tenharmonie<< [1, 456; vgl. 1, 362] bezeichnet hatte.) Anm.177).
Der Terminus >Komposition< jedoch meint hier ver- Alexander Honold hat den Kern von Benjamins Be-
mutlich eine Fortschreibung des frühromantischen griffskompositionstechnik benannt: >>Im Kompositum
Verfahrens der Kompositabildung. Mit großem Nach- der >Kunstkritik< [... ] ist zudem der Status der Kritik
druck restituiert Benjamins Arbeit die Gründe und die jenem der Kunst wesentlich gleichgestellt<< (Honold
Methode der >>zahlreichen terminologischen Neubil- 2000, 28). >>Kunstkritik<<, diese >>merkwürdige Verket-
dungen Friedrich Schlegels<< (I, 47) und findet sie in tung [... ], durch welche der Begriff der Kritik zum
August Wilhelm Schlegels Wort von der mystischen esoterischen Hauptbegriff der Romantischen Schule
Terminologie seines Bruders auf den Begriff gebracht [... ] wurde<< (I, 50 f.), ist als mystische Verschmelzung
(vgl. ebd.). Was Schlegel leistete, erscheint als eine - von Kunst und Kritik das Meisterstück von Schlegels
von Fichtes >>radikale[m] mystischen Formalismus<< Schreiben. Das Muster ist damit gesetzt. Benjamin fand
(21) vorbereitete und Novalis< >>eigentümliche[r] Er- es wieder auch in Schlegels >>mystische[r] These, daß
kenntnismystik << ( 15) begleitete - >>mystisch-termino- die Kunst selbst ein Werk sei<< (91). Also erklärt sich
logische Verschmelzung des ästhetischen mit dem das Wort Kunstwerk als Wechselbegriff: Kunst, die sich
philologischen Kritikbegriff<< (79, Anm. 203). Eine in Werken manifestiert; Werke, deren Vielheit kritisch
Verschmelzung, die diese beiläufig in einer Fußnote im Totum der Kunst aufgehen (verlöschen). Am Ende
begegnende Formulierung auf dreierlei Weise nach- verschmelzen ihm die beiden zentralen Komposita
vollzieht: durch Bindestrich-Verklammerung (>>my- seiner Darstellung. Wenn Kunstkritik >>vom Kunstwerk
tisch-terminologisch<<), durch Begriffskomposition nicht prinzipiell unterschieden werden (kann)<< ( 108),
(>>Kritikbegriff<<) und durch den Begriff des Mysti- dann wäre Kunst: Kritikwerk und Werkkritik Man
schen selbst, der allemal eine unio mystica impliziert: kann das Begriffsalchemie nennen oder eben termi-
Versenkung des Ichs ins Göttliche, Durchdringung von nologische Mystik. Offensichtlich ist sowohl das Spie-
Subjekt und Objekt der Erkenntnis (wie in der früh- lerische wie der Ernst, mit denen Benjamin diese Zu-
romantischen Naturerkenntnis vgl. I, 53-61; vgl. das sammenhänge erkundet. Denn die entscheidenden
164 Messianismus, Ästhetik, Politik

Begriffe von Benjamins Arbeit tendieren zu dieser einerseits ist die Reflexion selbst ein Medium[ ... ), an-
Wechselbegriff-Qualität. Wenn David Ferris beklagt, dererseits ist das fragliche Medium ein solches, in dem
der von Benjamin verwendete Terminus »problemge- die Reflexion sich bewegt<< (36, Anm. 60). Offensicht-
schichtlich<<, »this compound<< (Ferris 1992,463 Anm. lich ist es in analoger Weise gebildet worden wie das
15), sei schwer ins Englische zu übersetzen, so erinnert Kompositum >>Kunstkritik<<.
er daran, daß exzessiv-intensive Kompositabildung ein Vom BEGRIFF DER KuNSTKRITIK aus erscheint Ben-
morphologisches Spezifikum der deutschen Sprache jamins ganzes Werk als ein unentwegtes Verfahren der
ist. Tatsächlich liest sich Benjamins Schrift als Schau- Scheidung und Fügung, Analyse und Synthese von
platz der Bewegung, Überlagerung und Fortführung, Begriffen. Von Begriffen, die in der Entwicklung seiner
Förderung mehrerer Schichten und Etappen von Kom- Erfahrungen und Schriften Kondensate, Kraftzentren,
positabildungen im Deutschen. Unverkennbar bezieht ja beinahe magische Formeln geworden sind: Jugend-
sich Benjamin auf sie alle zurück: auf Kants Begriff der bewegung, Kunstkritik, Kunstwerk, Reflexionsme-
Synthese und seine Synthesenbildungen, auf Fichtes dium, Trauerspiel, Begriffsmystik (III, 97), Einbahn-
Zentralbegriffe Wissenschaftslehre und Tathandlung, straße, Passagenarbeit, Jetztzeit, Geistesgegenwart usw.
auf Goethes Farbenlehre, auf Schlegels und Novalis' In ihnen konvergieren Sprache und Denken, Philolo-
Neologismen, auf die Arbeitsbegriffe der Philosophie- gie und Philosophie, Kompositionskunst und Begriffs-
und Geistesgeschichte des 19. Jh.s (Erkenntniskritik, arbeit, Name und Wahrheit. Kunstkritik geht ihnen
problemgeschichtlich), vielleicht auch noch auf die dem Typus wie der Logik nach voran, denn sie bezeich-
Sprache der Busserlsehen Phänomenologie, die er um net das produktive, alle weiteren Kompositabildungen
1913 zur Kenntnis zu nehmen beginnt (vgl. 1, 144 u. ermöglichende Paradox einer Kritik (Scheidung), die
147; vgl. Witte 1976,221, Anm. 140). als Scheidekunst immer schon zugleich Medium der
Natürlich sind diese Schichten und Begriffe zu un- Zusammensetzung (Komposition) -mithin der Zu-
terscheiden. Daß sich Benjamin der Gefahr, der im sammensetzung durch Rekombination des Geschie-
vorschnell vereinheitlichenden verführerischen Schein denen - ist. Im Blick auf die hierbei miteinander ins
von Kompositabildungen liegt, bewußt war, zeigt etwa Spiel kommenden Darstellungs- und Erkenntnisfelder
sein Einwand gegen die >>sprachliche Bildung des Ti- ließe sich sagen: Der Begriff der Kunstkritik behauptet
tels<< von Hölderlins Gedicht Dichtermuth und Blödig- die Sprache als Vermittlungsgrund von Chemie und
keit, deren erstes Wort problematisch scheine, >>da eine Musik.
eigentümliche Unklarheit jene Tugend, der man den
Namen ihres Trägers beigibt, uns so auf eine Trübung
ihrer Reinheit durch allzugroße Lebensnähe dieser Der nBegriff der Kunstkritik<<
Tugend hinweis[ t ]. (Vergl. die Sprachbildung: Weiber- in Benjamins Werk
treue)<< (II, 111). Und auch den späten Schlegel bezich-
tigt er der >>Amalgamierungen und gegenseitige[n] Ab Mitte der 20er Jahre verschieben sich Benjamins
Trübungen mehrerer Begriffe des Absolutums<< (I, 45 ). Berufungen auf die deutsche Romantik vom Jenaer
Wo aber die Begriffe abstrakt, lebensfern und klar ge- Kreis hin zu jenem transzendentalen Triumvirat, das
nug sind, sind ihre Zusammensetzungen- hier und in seine Gegner in Baader, Schelling und Ritter sehen
Benjamins anderen Schriften - erkenntnisintensive wollten. David Baumgardts Habilitation über Pranz
uniones mysticae, die er teils aufnimmt (wie von den von Baader und die politische Romantik nimmt Benja-
Hölderlinschen die Verfahrungsart und das Epitheton min vier Jahre nach ihrem Erscheinen zum Gegen-
des Heilignüchternen (vgl. 104f.), von den Frühro- stand eines Artikels, der sich von der Rezension zum
mantikern etwa die Allfähigkeit, das Dichtungsvermö- Porträt, in romantischer Terminologie: von der Kritik
gen, die Divinationskunst, das Farbenspiel, die Ideen- zur Charakteristik (und das heißt wohl, für Benjamin,
kunst, die Kunstlehre, Kunstpoesie, Kunstsprache, das auch zur intellektuellen Physiognomik) hin bewegt.
Kunsturteil, den Kunstwert, die Lebensfülle, den Mut- Zum neben Baumgardt wichtigsten Wiederentdecker
willen, die Natureinsicht, die Selbstbeschränkung, Baaders war in der Zwischenzeit Max Pulver geworden,
-reflexion, -schöpfung, die Transzendentalpoesie, den den Benjamin in seiner Münchner Studienzeit ken-
Universalgeist, die Universalpoesie, Universalphiloso- nengelernt (vgl. Brodersen 1990, 74f.; 1, 361f. u.
phie, den Wechselbegriff, Wechselbeweis und die Zen- 364f.), und dessen Doktorarbeit über Romantische
tralantike. An seinem wichtigsten Neologismus, dem Ironie und romantische Komödie er im Begriff der
Terminus >>Reflexionsmedium<< schätzte Benjamin ge- Kunstkritik zustimmend zitiert hatte (vgl. I, 33, Anm.
rade, daß hier >> [d) er Doppelsinn der Bezeichnung [... ] 48; 84,Anm. 211 u. 85,Anm. 215). Wie LudwigKlages
in diesem Fall keine Unklarheit mit sich (bringt). Denn und wie Paul Häberlin, bei dem Benjamin in Bern
»Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« 165

studiert hatte, sollte sich auch Pulver der Graphologie kung in der Geschichte der Sprache. Ritters Gedanken
und mithin jener Schriftform der Physiognomik zu- führten zu »Aufgaben, die weit über das Bereich ro-
wenden, die Benjamin sehr ernst nahm und hier viel- mantischer Intuition wie auch untheologischen Phi-
leicht im Sinn hat, wenn er an Baumgardts Buch des- losophierens hinausliegen« (ebd.). Die Elative und
sen >>akademische Zurückhaltung[ ... ] dem Physiogno- Superlative, mit den Benjamin von Ritter spricht, in-
mischen gegenüber<< bemängelt (Baumgardt 1927, in: dizieren allemal eine Überbietung des Jenaer Paares
III, 304-308, Zit. 305; zur Entstehung vgl. 3, 488f.). Schlegel-Novalis. Zumal die Vorrede zu Ritters Frag-
Jm URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS mente eines Physikers sei »die extremste Romantik, die
(1928) hat Benjamin seine Dissertation mit einem mir- im Moralischen- je vorgekommen ist« (3, 17),
Halbsatz rekapituliert wie relativiert: nWo die Roman- die »bedeutendste Bekenntnisprosa der deutschen Ro-
tik in dem Namen der Unendlichkeit, der Form und mantik« (DEUTSCHE MENSCHEN, IV, l76f.),ja sie ma-
der Idee das vollendete Gebilde kritisch potenziert«, che erst einleuchtend, »was eigentlich romantische
eben da »verwandelt [... ] der allegorische Tiefblick Esoterik wirklich ist. Dagegen ist Novalis ein Volksred-
Dinge und Werke in erregende Schrift« (URSPRUNG ner« (2, 437). Die im Verfahren der Allegorie beschlos-
DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS, J, 352). Diese Gegen- sene Temporalisierung, Entindividualisierung und
überstellung kontrastiert den Allegoriebegriff der Tra- Historisierung des ethisch-ästhetischen Raums, der
dition und zumal des 17. Jh.s mit dem Symbolbegriff sich Benjamin im Trauerspiel-Buch verschrieb, äußert
einer Klassik, den die Romantik auf fatale Weise fort- sich in einem Theoretisieren, dessen Sympathie mit
geschrieben zu haben scheint. Romantische Einsicht dem Esoterischen noch die mystische Terminologie
in den Eigenwert der Allegorie scheint dennoch ange- der Frühromantiker verstummen läßt.
deutet bei Novalis, ausphantasiert bei Jean Paul und Benjamins letztes gewichtiges Wort zur deutschen
zeichentheoretisch ausformuliert bei Franz v. Baader Romantik ist seine Rezension von Albert Beguins
und Johann Wilhelm Ritter (vgl. 360-364 u. 387f.). L'dme romantique et le reve. Die Charakterisierungs-
Baader stellte heraus, was Benjamin den »Schriftcha- kunst, die er bei Baumgardts Darstellung der Baader-
rakter der Allegorie« nennt (359), Ritter aber die Un- schen Philosophie vermißt hatte, konzediert er dem
zertrennlichkeit von Laut- und Schriftsprache in deren französischen Autor gern. Beguin bewähre sich als
Vermittlung durch die Musik. Brieflich hatte Benjamin »Charakteristiker«, seine »Porträtstudien« seien »phy-
bereits erläutert, die Tendenz von Ritters Sprachrefle- siognomische Kabinettstücke« (III, 560). Den Kontex-
xionen sei, »das Schriftzeichen als ebenso natürliches ten, in denen Beguins Buch stand, konnte sich Benja-
und Offenbarungshaftes Element [... ] zu statuieren wie min intellektuell wie biographisch verbunden sehen.
von jeher für die Sprachmystiker das Wort es ist« (2, Daß die Kenntnis und Schätzung des Surrealismus »die
437). Allerdings so, daß Ritter dieses Zeichen weder als Ausrichtung des Verfassers« (557) Beguin bestimme,
konventionell noch als rein-graphisches ansieht, son- er sich daher bemühe, »aus dem Bereich der akademi-
dern »seine Deduktion<< vielmehr von dem Satz aus- schen Forschung herauszutreten<< (ebd.), mußte ihn
geht, »daß das Schriftbild Bild des Tones sei und nicht bei Benjamin empfehlen. Zeitgleich nämlich mit seiner
etwa der unmittelbar bezeichneten Dinge« (ebd.). Im Abwendung vom universitären Betrieb hatte Benjamin
Trauerspiel-Buch hat Benjamin diese Vorstellung als in der zweiten Hälfte der 20er Jahre begonnen, einen
hellsten Punkt in der »Virtuelle[n] romantische[n) Gutteil der geschichtsphilosophischen Potentiale, die
Theorie der Allegorie« (I, 388) dialektisch expliziert. er bis dato der deutschen Romantik abgelesen hatte,
Musik figuriert demnach bei Baader als zentrale Anti- als politische Befreiungsversprechen dem französi-
thesis zwischen der Thesis der Laut- und der Synthesis schen Surrealismus zuzuschreiben.
der Schriftsprache. Ritters Erörterungen bekunden Beguin allerdings habe »den historischen Standin-
damit die »unverkennbare Verwandtschaft von Barock dex der romantischen Intentionen« (558) verkannt
und Romantik«, während die der Allegorie gewidme- und somit deren umstandslose Aktualisierbarkeit
ten Reflexionen Friedrich Schlegels »die Tiefe der Rit- falsch eingeschätzt. In drei gedrängten Absätzen trägt
terschen Ausführung nicht erreichen« (ebd.). Ihre Benjamin vor, was er an historischer Erkenntnis bei
Esoterik des Klangschriftbildes scheint Schlegels Wort- Beguin einzuklagen und implicite wohl auch am Be-
mystik zu übertreffen. griff der Kunstkritik zu ergänzen hat. Die Bindung der
Hier wie in seinen Briefen hat Benjamin diese Über- romantischen Dichtung an die Sphäre der Finsternis
legenheit der Rittersehen Theorie über die der Früh- und die zu enge Verflechtung der Romantiker in den
romantiker emphatisch hervorgehoben. Was Ritter Literaturbetrieb scheint diese Autoren als Wegweiser
gedanklich umspielt, ist seit dem Sprach-Aufsatz der einer politisch-geschichtlichen Befreiung zu disquali-
Kern von Benjamins Philosophieren: die göttliche Wir- fizieren. Von den aus der Dissertation bekannten vier
166 Messianismus, Ästhetik, Politik

Schlüsselbegriffen zum Verfahren romantischer Phi- Ferris, David (1992): »>Truth is the Death oflntention<: Wal-
ter Benjamin's Esoteric History of Romanticism«, in: Stu-
losophie rekapituliert Benjamin drei: Analyse, Syn-
dies in Romanticism 31,455-480 [Beitrag zum Themen-
these und Mystik, um in zweideutigen, tendenziell heft Studies in Romanticism 31/4 (Winter 1992): Walter
abwertenden Worten das zweideutige, tendenziell Re- Benjamin on Romanticism, hg. v. David Ferris].
staurative dieser Bewegung zu kennzeichnen. Die Ro- Fichte, Johann Gottlieb ( 1997): Über den Begriff der Wissen-
schaftslehre oder der sogenannten Philosophie, hg. v. Ed-
mantik habe >>einen Prozess vollendet, den das 18.
mund Braun, Stuttgart.
Jahrhundert begonnen hatte: die Säkularisierung der Flaskamp, Christoph (1921): »Prophetische Romantik«, in:
mystischen Tradition« (559). Von dem Benjamin, der Literarischer Handweiser 57, Nr. 5, Sp. 193-200, bes. Sp.
sich zur Zeit der Arbeit an seiner Dissertation über- 199f.
zeugt gab, die Romantik hätte die Tradition >>hinüber- Gasche, Rodolphe (2002): »The Sober Absolute: On Benjamin
and the Early Romantics«, in: Hanssen/Benjamin 2002,
gerettet<< (1, 363), scheint der Rezensent von 1939 weit
51-68 u. 214f.
entfernt- es sei denn, man liest auch diese Hinüber- Gebhardt, Peter (1976): »Über einige Voraussetzungen der
rettung als eine in Form der Säkularisierung vollzo- Literaturkritik Benjamins«, in: Peter Gebhardt u. a. (Hg.):
gene. Jedenfalls deutet Benjamin nun als Konsequenz Walter Benjamin - Zeitgenosse der Moderne, Kronberg,
Ts, 71-93.
dieser Säkularisation, was ihm 1917 als Konsequenz
Hanssen, Beatrice/Andrew Benjamin (2002) (Hg.): Walter
jener Hinüberrettung erschienen war: die Rückkehr Benjamin and Romanticism, London/New York.
der Romantiker >>in den Schoß der [katholischen] Kir- Honold, Alexander (2000): Der Leser Walter Benjamin.
che<< (III, 559). Den Grat zwischen wahrer Mystik und Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin.
falschem Mystizismus, auf dem der Promovend Ben- Jäger, Lorenz (1998): Messianische Kritik. Studien zu Leben
und Werk von Florens Christian Rang, Köln/Weimar/Wien
jamin seine Hauptfigur Schlegel bedenklich balancie- [zuerst phil. Diss. Frankfurt/M. 1985].
ren, aber wohl doch mehr zur Seite der Mystik tendie- Kambas, Chryssoula (1979): »Walter Benjamins Verarbeitung
ren sah (vgl. I, 45-50, 95-97), daß die Romantik de- der deutschen Frühromantik«, in: Gisela Dischner/Richard
gradiert scheint zu einem der Symptome für Faber (Hg.): Romantische Utopie. Utopische Romantik,
Hildesheim, 187-221.
ihrerzeitige >>Korruption der mystischen Lehren und
Kerr, Alfred (1954): Vorwort (1904), in: ders.: Die Welt im
Bedürfnisse<< (III, 559). Lapidar: >>Die romantische Drama, hg. v. Gerhard F. Hering, Köln/Berlin, 5-9.
Esoterik[ ... ] war eine Restaurationsbewegung mit al- Kerr, Alfred (1971): »Einleitung zu den Gesammelten Schrif-
len Gewalttätigkeiten einer solchen<< (ebd.). Gegen die ten« [1917], in: ders.: Theaterkritiken, hg. v. Jürgen Beb-
Gewalttätigkeiten der neuesten Restaurationsbewe- rens, Stuttgart, 3-19.
Lacoue-Labarthe, Philippe (2002): »Introduction to Walter
gung- der >>Bewegung<< schlechthin- suchte der exi- Benjamin's The Concept of Art Criticism in German
lierte Benjamin Gegengewalten und konnte sie in der Romanticism<<, in: Hanssen/Benjamin 2002, 9-18 u.
deutschen Romantik nicht mehr finden. Sie verfiel der 208f.
Kritik. Lindner, Burkhardt (1999): »Derrida. Benjamin. Holocaust.
Zur Dekanstraktion der >Kritik der Gewalt«<, in: Klaus
Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 3, Mün-
Werk chen, 1691-1723.
DER BEGRIFF DER KuNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN RoMAN- Lukacs, Georg (1971): Die Seele und die Formen, Neuwied/
TIK (I, 7-122) Berlin.
Rez. zu Albert Beguin: L'äme romantique et Je reve (III, 557- Menninghaus, Winfried (1980): »Walter Benjamins roman-
560) tische Idee des Kunstwerks und seiner Idee«, in: Poetica 12,
Selbstanzeige der Dissertation (I, 707 f.) 421-442.
EIN ScHWARMGEIST AUF DEM KATHEDER: PRANZ voN BAADER Menninghaus, Winfried (1987): »Walter Benjamins Darstel-
(III, 304-308) lung der romantischen Reflexionstheorie«, in: ders.: Un-
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES endliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung
MENSCHEN (Il, 140-157) der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion,
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-430) Frankfurt a.M., 30-71 u. 256-259.
ZWEI GEDICHTE VON fRIEDRICH HöLDERLIN (Il, 105-126) Menninghaus, Winfried (2002): »Walter Benjamin's Exposi-
tion of the Romantic Theory of Reflexion«, in: Hanssenf
Literatur Benjamin 2002, 19-50 u. 209-214.
Adorno, Theodor W. (1955): Einleitung, in: ders./Gretel Schlegel, Friedrich (1958 ff.): Kritische Friedrich Schlegel
Adorno (Hg.): Walter Benjamin: Schriften, Frankfurt a.M., Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn/Darmstadt/
Bd. I, VIII-XXVII. Zürich.
Baumgardt, David (1927): Pranz von Baader und die philo- Schalem, Gershorn ( 1997): Walter Benjamin- die Geschichte
sophische Romantik, Halle/Saale. einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
Brodersen, Momme (1990): Spinne im eigenen Netz. Walter Scholem, Gershorn (2000): Tagebücher nebst Aufsätzen und
Benjamin. Leben und Werk, Bühl-Moss. Entwürfen bis 1923, hg. v. Karlfried Gründer/Herbert
Chaouli, Michel (2004): Das Laboratorium der Poesie. Che- Kopp-Oberstebrink/Friedrich Niewöhner, Frankfurt
mie und Poetik bei Friedrich Schlegel, übers. v. Ingrid a.M.
Proß-Gill, Paderborn. Schöttker, Detlev (1999): Konstruktiver Fragmentarismus.
167

Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins,


Frankfurt a. M.
»Kapitalismus als Religion«
Schumacher, Eckart (2000): Die Ironie der Unverständlich- Von Uwe Steiner
keit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques
Derrida, Paul de Man, Frankfurt a.M.
Sparnaay, H. (1924): >>Neuere Schriften zur Romantik«, in: Entstehung und Überlieferung
Neophilologus 9, 94-110.
Steiner, George (1974): >>The uncommon reader<< [Rez. von
Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I,1 u. I,2. Frankfurt Über Anlaß und Absicht der Niederschrift des im
a.M. 1972], in: Times Literary Supplement, Nr. 3790, Druck gut drei Seiten umfassenden Fragments ist so
25.10.1974, 1198. gut wie nichts bekannt. Mit Hilfe der im Text erwähn-
Steiner, Uwe (1989): Die Geburt der Kritik aus dem Geiste
der Kunst, Würzburg, 17--46 u. 188-192. ten Literaturangaben und der Einträge in Benjamins
Steiner, Uwe (2000): >>Kritik<<, in: Michael Opitz/Erdmut Wi- Leseliste läßt sich die Abfassung immerhin einigerma-
zisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a. M., 479-523. ßen zuverlässig auf Mitte 1921 datieren (VI, 690).
Steiner, Uwe (2001): »Von Bern nach Muri. Vier unveröffent- In der vorliegenden Druckfassung ist das Fragment
lichte Briefe Walter Benjamins an Paul Häberlin im Kon-
text<<, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen- von den Herausgebern nur fragmentarisch wiederge-
schaft und Geistesgeschichte 75, 463--490. geben. Ursprünglich bestand es aus drei Teilen. Der
Steiner, Uwe (2004): Walter Benjamin, Stuttgart/Weimar. Titel, unter dem es in den Gesammelten Schriften ab-
Tiedemann, Rolf/Christoph Gödde!Henri Lonitz (I 991) gedruckt ist, stand über dem abschließenden Teil. Im
(Hg.): Walter Benjamin 1892-1920. Eine Ausstellung des
Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Ver- Manuskript folgte auf den ersten, mit einer Reihe von
bindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Literaturangaben schließenden Teil eine kurze, stich-
Neckar, Marbach am Neckar (zuerst 1990) (= Marbacher wortartige Aufzeichnung mit dem Titel GELD UND
Magazin 55/1990).
WETTER (ZuR LESABENDIO-KRITIK). Auf deren Ab-
Weber, Samuel (1990): »Criticism Underway. Walter
Benjamin's Romantic Concept of Criticism<<, in: Marks H. druck haben die Herausgeber an dieser Stelle verzich-
Johnston, u.a. (Hg.): Romantic Revolutions. Criticism and tet und sich auf einen entsprechenden Hinweis in ihren
Theory, Bloomington/Ind., 302-319. Anmerkungen beschränkt. Das fehlende Bruchstück
Witte, Bernd ( 1976): Walter Benjamin- Der Intellektuelle als
findet sich im Anmerkungsapparat der EIN-
Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart.
BAHNSTRASSE (IV, 941). Einige Formulierungen aus
GELD UND WETTER haben nämlich in den Aphorismus
STEUERBERATUNG Eingang gefunden, in dem etwa in
der Redewendung vom »heiligen Ernst des Kapitalis-
mus<<, der in der mythologischen Ikonographie der
Banknoten naiv zum Ausdruck komme (139), auch
Motive aus KAPITALISMUS ALS RELIGION anklingen.
Der erste Teil des Fragments ist zunächst durchge-
hend formuliert. Darauf folgen einzelne Notizen und
mit Stichworten versehene Literaturangaben. Nach
dem Einschub stellen die Überschrift und eine Refle-
xion zur Sorge den Zusammenhang mit dem zuvor
dargelegten Gedankengang her. Dieser kürzere Teil
versammelt einzelne Notizen und Arbeitsanweisungen.
In der abschließenden Überlegung zur unmittelbar
praktischen Funktion, welche die Religion im ur-
sprünglichen Heidentum gehabt habe, kommt Benja-
min auf einen Gedanken zurück, der seiner Notiz als
Ausgangspunkt gedient hatte.

Werkkontext

Die Notiz über GELD UND WETTER steht, wie ihre er-
weiterte Überschrift besagt, im Zusammenhang mit
einer geplanten Arbeit über Paul Scheerbarts utopisch-
phantastischen Roman Lesabendio. Mit Scheerbarts
>>Asteroldenroman« hatte Benjamin sich bereits in den
168 Messianismus, Ästhetik, Politik

letzten Jahren des Ersten Weltkriegs beschäftigt. Aus des Textes (II, 203) für eine Einordnung auch dieses
dieser Zeit stammt eine Kritik des Romans (II, 618- Textes in den skizzierten Werkzusammenhang.
620). Die geplante zweite Kritik hätte das Werk in ei-
nem erweiterten Kontext behandeln sollen. Zwar ist
dieser Text nicht erhalten. Aus brieflichen Äußerungen Forschung
läßt sich jedoch einiges über seine Bestimmung erfah-
ren. In der Forschung hat das Fragment aufgrund seiner
Im Herbst 1919 hatte Benjamin nach dem erfolg- Publikation im Band VI der Gesammelten Schriften,
reichen Abschluß seiner Promotion noch in Bern der 1985 erschien, erst spät die ihm gebührende Auf-
Blochs ein Jahr zuvor erschienenen Geist der Utopie merksamkeit gefunden. In seiner Studie über den phi-
gelesen und den Autor auch persönlich kennengelernt. losophischen Extremismus in der Nachfolge Max
>>Mehr noch als sein Buch«, so schreibt er in einem Webers hat Norbert Bolz (Bolz 1989, 7) dem Fragment
Brief, habe ihn der Umgang mit Bloch selbst zum weit über den engeren Kontext des Benjaminsehen
Nachdenken über Politik veranlaßt, >>da seine Gesprä- Werkes hinaus paradigmatische Bedeutung zuerkannt.
che so oft gegen meine Ablehnungjeder heutigen po- Zudem hat er mit seiner philosophiehistorischen Ver-
litischen Tendenz sich richteten, daß sie mich endlich ortung des Textes der weiteren Diskussion den Weg
zur Vertiefung in diese Sache nötigten<< (2, 46). Eine gewiesen. In späteren Arbeiten hat Bolz die Auffassung
Rezension von Blochs Buch sollte ihm Gelegenheit vertreten, daß in Benjamins Beschreibung des Kapita-
geben, seine Gedanken zur Politik darzulegen. In ei- lismus als Religion theoretisch entfaltet werde, was
nem Brief, in dem Benjamin von seiner Absicht spricht, Werbung und modernes Marketing heute erfolgreich
eine Kritik des Geist der Utopie zu verfassen, berichtet in die Praxis umsetzen. Während der Vorzug des Tex-
er auch von der Niederschrift der >>Prolegomena zur tes in seinem diagnostisch-deskriptiven Potential liege,
zweiten Lesabendio-Kritik<< (54 bzw. 57). Ebenso wie seien die von Benjamin an seine Diagnose geknüpften
die zweite Kritik von Scheerbarts Roman muß auch politisch-theologischen Hoffnungen antiquiert. Mit
die Bloch-Rezension als verloren gelten. seiner Insistenz auf einer religiösen Garantie von To-
Das gemeinsame Anliegen der beiden Kritiken aber talität stehe Benjamins Text >>in extremer Gegenstel-
war es offenbar, die Grundlinien dessen zu skizzieren, lung zur Systemtheorie der Moderne<< (Bolz 2003,
was Benjamin gelegentlich seine >>Politik<< nannte. Da- 204).
mit ist ein Komplex von Arbeiten bezeichnet, auf die Philologisch ist der Text zunächst von Hermann
er sich in Briefen aus dieser Zeit wiederholt bezieht. Schweppenhäuser näher erschlossen worden, der dabei
Aus dem >>Arsenal<< seiner politischen Arbeiten, das er jedoch den werkinternen Kontext weitgehend unbe-
im Januar 1925 rückblickend mustert (3, 9), hat sich rücksichtigt ließ (Schweppenhäuser 1992). An diese
neben Bruchstücken letztlich nur die 1921 gedruckte Vorarbeiten anknüpfend hat Uwe Steiner einen um-
KRITIK DER GEWALT erhalten. Die vorhandenen Zeug- fassenden Kommentar vorgelegt, der den Bezügen und
nisse lassen auf eine umfangreiche, in drei mehr oder Einflüssen nachgeht, vor deren Hintergrund sich das
weniger selbständige Teile sich gliedernde Studie Fragment in den Gedankenkreis einer Philosophie der
schließen. Eröffnet werden sollte sie durch einen Auf- Politik einordnet, mit der sich Benjamin im Zeitraum
satz mit dem Titel DER WAHRE PoLITIKER. Dem hätte der Niederschrift von KAPITALISMUS ALS RELIGION
ein zweiter, DIE WAHRE PoLITIK überschriebener Teil intensiv beschäftigte (Stein er 1998; 2003 ). Für Werner
folgen sollen, mit den beiden Kapiteln >>Abbau der Hamacher gipfelt Benjamins Fragment in einer >Logik
Gewalt<< (möglicherweise identisch mit der KRITIK DER des Umsprungs< (Hamacher 2003, 111), nach deren
GEwALT) und >>Teleologie ohne Endzweck<<. Für den Maßgabe die dort beschriebene mythische Ökonomie
Abschluß war die philosophische Kritik von Paul der Verschuldung in deren Selbstvernichtung münde.
Scheerbarts Roman vorgesehen (vgl. Kambas 1992, Während die Schuld ebenso wie die ihr konstitutiv
265; Steiner 2000, 66). verbundene Ordnung des Rechts keine Zeit kenne, sei
Dem erweiterten Kontext dieser Arbeit muß auch für die ihr entgegengesetzte Ordnung der Gerechtig-
das THEOLOGISCH-POLITISCHE FRAGMENT zugerech- keit die zeitliche Kategorie des Aufschubs bestimmend.
net werden. Der Titel des Fragments stammt von In der ethischen Zeit der Geschichte, in der ein >>Mes-
Adorno, der jedoch von seiner Entstehung in unmit- sianismus der Vergebung<< (113) walte, sei die Schuld-
telbarer zeitlicher Nähe zu den Thesen ÜBER DEN BE- geschichte des Kapitalismus als Religion und der
GRIFF DER GESCHICHTE ausging. Demgegenüber (christlichen) Religion als Kapitalismus überwunden.
spricht neben der thematischen Nähe vor allem der Auch für Burkhardt Lindner verwirft Benjamin in sei-
explizite Bezug auf Blochs Geist der Utopie zu Beginn nem Fragment >>alle Vorstellungen, der Fortschritt der
»Kapitalismus als Religion« 169

Spezies Mensch sei im Namen der Ablösung von Re- seinen Überlegungen zugrunde. Aus ihm ergeben sich
ligion überhaupt zu erreichen<< (Lindner 2003, 220). die übrigen Merkmale des Religionssystems, unter
Zu diesem Schluß gelangt er in einer Studie, in der sich denen der Begriff der Schuld die behauptete religiös-
ihm Benjamins Fragment mit Blick auf den politischen kultische Struktur des Kapitalismus am nachdrück-
Diskurs im Anschluß an den Terroranschlag vom 11. lichsten herausstellt.
September 2001 als >>heuristisch fruchtbare und ak- Vor diesem Hintergrund formuliert Benjamin seine
tualisierungsfähige Hypothese<< (214) bewährt. Weni- These im Gestus einer Überbietung Max Webers. Wäh-
ger um den Stellenwert des Textes im Werk Benjamins rend es Weber um den Nachweis der religiösen Be-
als vielmehr um die Überprüfung seines Anspruchs, dingtheit des Kapitalismus gegangen sei, möchte Ben-
eine mit Max Weber konkurrierende Beschreibung der jamin zeigen, daß er als eine >>essentiell religiöse[]
gegenwärtigen Gesellschaft zu liefern, geht es der Erscheinung<< {100) zu begreifen ist. In seinen religi-
Mehrzahl der Autoren in dem 2003 erschienenen, von onssoziologischen Studien zur Ethik des Protestantis-
Dirk Baecker herausgegebenen Sammelband Kapita- mus war Weber der Frage nach der >>Bedingtheit der
lismus als Religion. Entstehung einer >Wirtschaftsgesinnung<, des >Ethos<,
einer Wirtschaftsform, durch bestimmte religiöse
Glaubensinhalte<< nachgegangen (Weber 1988a, 12).
Inhaltliche Hauptlinien und Einflüsse Im modernen Kapitalismus habe sich der ursprünglich
religiös motivierte Utilitarismus, der Gelderwerb als
Benjamins Versuch, den Kapitalismus als eine Religion Selbstzweck ad maiorem Dei gloriam, von seinen re-
zu begreifen, liegt ein bestimmtes Verständnis von Re- ligiösen Wurzeln emanzipiert. Auf diese Weise habe
ligion zugrunde. Der Kapitalismus verspricht die >>Be- die protestantische Ethik entscheidend zu dem von
friedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die Weber beobachteten religionshistorischen >> Prozeß der
ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben<< Entzauberung der Welt<< (Weber 1988b, 94) beigetra-
(VI, 100). Damit ist impliziert, wie Benjamin im gen. In Benjamins Text ist Webers an diese Diagnose
Schlußabsatz notiert, daß >>das ursprüngliche Heiden- anschließende Rede von der >>schicksalsvollsten Macht
tum sicherlich zu allernächst die Religion nicht als ein unsres modernen Lebens: dem Kapitalismus<< (Weber
>höheres< >moralisches< Interesse, sondern als das un- 1988a, 4), in den religiösen Klartext zurückübersetzt.
mittelbarste praktische gefaßt hat<< {103). Wenn das Mehr noch: Indem sich das Fragment jeder Polemik
Fragment seine Überlegungen durchgängig mit Blick enthält, wendet es das Verfahren der von Weber inau-
auf das Christentum entfaltet, unterstellt es offenbar gurierten beschreibenden Soziologie auf dessen eigene
eine historische Entwicklung, in deren Verlauf im Gegenwartsdiagnose an.
Christentum genuin theologisch-ethische Gehalte zu- In der Struktur der Religion also findet Benjamin
gunsten von pragmatisch-kultischen zurückgetreten das Paradigma, von dem aus sich ihm das Wesen des
sind. Erst unter dieser Voraussetzung, so Benjamins Kapitalismus deskriptiv erschließt. Eine vergleichbare
These, konnte die Geschichte des Christentums zuletzt Funktion hatte Georg Simmel in seiner 1900 erschie-
im wesentlichen die Geschichte >>seines Parasiten, des nenen Philosophie des Geldes dem Geld in bezug auf
Kapitalismus<< {102), werden. Während die konsta- das Leben zugesprochen. Ausgehend vom Wergeld, das
tierte Re- Paganisierung hinreichenden Anlaß zu einer sich im zweiten Teil des Fragments als Stichwort no-
religiös motivierten Denunziation geben könnte, ver- tiert findet, hatte Simmel dargelegt, wie die Vorstellung
zichtet Benjamin ausdrücklich auf den >>Abweg einer vom Wert eines Menschen sich im Wechselspiel mate-
maßlosen Universalpolemik<< {100). Statt dessen gilt rieller und ideeller Wertungen bildet ( Simmel 1994,
sein Interesse der Struktur der Religion, wie sie die 482 ff.). Sollte in Simmel, in dessen Kreis Benjamin als
historische Entwicklung herausgestellt hat. Von dieser Student in Berlin verkehrte, einer der Stichwortgeber
Struktur aus soll sich das Wesen des Kapitalismus er- des Fragments zu vermuten sein, so ist Benjamin ihm
schließen. jedoch nicht widerspruchslos gefolgt. Simmels Anlie-
Drei bzw. vier Strukturmerkmale meint Benjamin gen war es, den Weg zu verfolgen, der vom Archaisch-
gegenwärtig erkennen zu können: Der Kapitalismus Kultischen zu den funktionalen Differenzierungen der
ist (erstens) eine >>reine Kultreligion<<, der Kultus zeich- Moderne führt. Umgekehrt stößt Benjamin in der mo-
net sich (zweitens) durch seine >>permanente Dauer<< dernen Kultur allerorten auf Male, an denen die Mo-
aus, er ist (drittens) >>verschuldend<<, und damit zu- derne sich ihren archaischen Ursprüngen verhaftet
sammenhängend wird der Kult (viertens) vor einer zeigt. Im Geldwesen hatte Simmel den Reflex einer
verheimlichten Gottheit zelebriert. Wie die Aufzählung ambivalenten Freiheit in der Moderne dechiffriert, die
deutlich macht, legt Benjamin den Begriff des Kultus sich ihm als eine >>Freiheit von etwas, aber nicht Frei-
170 Messianismus, Ästhetik, Politik

heit zu etwas<< erwies (722). Umgekehrt enthüllt sich Redewendung lautet, ein Kult »sans treve et sans merci<<
Benjamin der genuin unfreie, kultische Charakter der -ein Kult ohne Ruhe und Gnade, also ein unbarmher-
kapitalistischen Geldwirtschaft dadurch, daß er sie ziger Kult. Seine unbarmherzige Unausweichlichkeit
durch den ursprünglichen Zusammenhang von Geld zeigt sich darin, daß der Kult den Unterschied zwi-
und Schuld geprägt sieht, in dessen Zeichen sich die schen Alltag und Festtag aufhebt. Im Kapitalismus, so
moderne Ökonomie dem archaischen Muster der Ver- Benjamin, gibt es »keinen >Wochentag<<,> keinen Tag
geltung unterwirft. der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Ent-
Den Kapitalismus als Religion zu beschreiben, heißt, faltung allen sakralen Pompes <,> der äußersten An-
den Blick auf jene praktisch-magische Rationalität spannung des Verehrenden wäre<< (ebd.).
zurückzulenken, in dem religiöses und ökonomisches Die bezwingende Macht des Kultes, die Benjamin
Handeln ursprünglich einander strukturell ähnlich im Auge hat, beruht also auf seiner Permanenz auch
sind, bevor das Stigma des Irrationalen, das der Reli- insofern, als er die gleichförmige, unterschiedslose
gion in der Moderne anhaftet, diesen Zusammenhang Dauer zur herrschenden Form der Zeiterfahrung
verdeckte. Deutlicher noch als der Webersehe Begriff macht. Diese >gleichgültige< Zeit findet im Geld ihren
der Rationalität und deutlicher auch als das Geld ver- adäquaten Ausdruck: »time is money<<. Bei Simmel
mag der doppelsinnige Begriff der Schuld, den Benja- konnte Benjamin nachlesen, daß der moderne Begriff
min ins Zentrum seines Fragment stellt, diese Struktur der Zeit »als eines durch Brauchbarkeit und Knappheit
zu erhellen. Der Schuldbegriff rückt Nietzsche als den bestimmten Wertes<< mit dem aufkommenden Kapi-
neben Weber entscheidenden zweiten Stichwortgeber talismus in Deutschland durchdrang (Simmel 1994,
des Fragments in den Blick. In der Genealogie der Mo- 707).
ral hatte Nietzsche nicht zuletzt unter Berufung auf Als Kultreligion ist der Kapitalismus in Benjamins
etymologische und historische Befunde den Nachweis Fragment zwar grundlegend, aber unspezifisch be-
geführt, daß der »moralische Hauptbegriff der >Schuld< stimmt. Während die Permanenz die Form der Aus-
seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff der übung des Kultes beschreibt, wird er als »verschul-
>Schulden< genommen hat<< (Nietzsche 1964, 313). Im dend<< nunmehr inhaltlich näher charakterisiert. Mit
»Bewußtsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben<<, dem Begriff der Schuld hat Benjamin einen Begriff
erkennt Nietzsche den genealogischen Ursprung des von, wie er selbst hervorhebt, »dämonische[r] Zwei-
im Laufe der Geschichte unaufhaltsam wachsenden deutigkeit<< (VI, 102) in das Zentrum seiner Betrach-
Gottesgebegriffs und Gottesgefühls. Deshalb habe »die tung gerückt. Der Ambiguität des Begriffs verdanken
Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal- seine Überlegungen ihre entscheidende Inspiration.
Gottes, der bisher erreicht worden ist, [... ] auch das >Verschuldend< ist der Kult- der Gelderwerb als Got-
Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erschei- tesdienst- nicht nur weil er >Schuld<, sondern ebenso,
nung gebracht<< (345f.). weil er >Schulden< anhäuft. Der Profit, der geheime
In Benjamins Sicht erwächst der Kapitalismus als Motor der kapitalistischen Ökonomie, hat sein unab-
reine Kultreligion unmittelbar aus dem Begriff der dingbares Pendant in der Verschuldung. Wie ein Deus
Schuld: »Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich absconditus, so stellt sich Benjamin dieser Zusammen-
nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm hang dar, treibt die Profitgier den Kapitalismus in die
diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu Krisis, in der sich die Macht des Profits ungebrochen
machen<< (VI, 100). Diesem Mechanismus der ver- offenbart. In der Hyperinflation der frühen 20er Jahre
schuldenden Schuld, verdankt der Kapitalismus seine dürfte Benjamin die apokalyptische Dynamik dieses
verhängnisvolle Dynamik. ökonomischen Mechanismus unmittelbar gegenwärtig
Der Gelderwerb als Gottesdienst - das ist der Kult, gewesen sein.
den der Kapitalismus den Gläubigen auferlegt. Die Der Kapitalismus, so das dritte Merkmal, sei ver-
Apotheose des Kultischen, der Kult um des Kultes wil- mutlich >>der erste Fall eines nicht entsühnenden, son-
len, findet in der permanenten Dauer eine konsequente dern verschuldenden Kultus<< (VI, 100). In diese apo-
Ergänzung. Gemeinsam mit dem ersten verleiht dieses kalyptische, die Universalisierung der Schuld betrei-
zweite Merkmal dem von Benjamin analysierten Reli- bende Bewegung ist der Gott selbst mit einbegriffen.
gionssystem den beherrschenden Zug von Ausweglo- Zugleich ergibt sich aus dieser Implikation der vierte
sigkeit, mit dem es seine Adepten in Bann schlägt. Der Charakterzug des Kapitalismus als Religion, die Ver-
Kapitalismus ist in Benjamins Worten jedoch wohl heimlichung Gottes. Das Geheimnis der Gottheit liegt
weniger, wie im gedruckten Text des Fragments zu jedoch nicht länger in ihrer Transzendenz beschlossen.
lesen, »die Zelebrierung eines Kultes sans reve et sans Sie bleibt vielmehr in dem der Gottheit geltenden Kult
merci << ( ebd.), sondern vielmehr, wie die französische verborgen, um in der universalen Verschuldung aller-
»Kapitalismus als Religion« 171

erst Gestalt zu gewinnen. Erst im >>Zenith seiner Ver- analyseden seelischen Apparat in metapsychologischer
schuldung<<, erst wenn die Schuld das Sein gänzlich Perspektive einem >ökonomischen< Gesichtspunkt un-
erfüllt habe, so Benjamin, enthülle sich der Gott ( 101). terwirft (vgl. Freud 1913b, 289 ff.), dürfte in Benjamin
Deshalb attestiert Benjamin dem Kapitalismus eine einen aufmerksamen Leser gefunden haben. Darüber
latent katastrophische Heilsökonomie, die die Ver- hinaus aber hat Freud in seinen kulturtheoretischen
zweiflung nicht aufzuhalten, sondern zu erhoffen Schriften bekanntlich die Urschuld des Vatermordes
scheint. an den Anfang der psychoanalytisch rekonstruierten
Geschichte der Menschheit gestellt. Ihm zufolge sind
die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und
Die Priester der kapitalistischen Religion Kunst in einem irreversiblen und zugleich
>>schöpferische[n] Schuldbewußtsein<< zu suchen, das
Als ganz im Bann dieser Dynamik stehend, begreift die unzerstörbare Erinnerung an jenes prähistorische
das Fragment die theoretischen Entwürfe von Nietz- Verbrechen begleitet (vgl. Freud 1913a, 191). Vor die-
sche, Freud und Marx. Der >>Priesterherrschaft<< des sem Hintergrund begreift Freud die Religion als eine
Kapitalismus sind diese Lehren deshalb zuzurechnen, mehr oder weniger rationale Form der Beschwichti-
weil sie ihn als Kultreligion >>erkennend erfüllen<< gung dieses brennenden Schuldgefühls, in dem die
(ebd.), wie Benjamins eigentümliche Formulierung Menschheit sich mit der Wiederkehr des Verdrängten
lautet. auseinandersetzt. Auf diese Weise affirmiert und radi-
Max Weber hatte den Priesternaufgrund ihrer Bin- kalisiert sein Verständnis der Moderne jenes irrever-
dung an den Kultusbetrieb einen maßgeblichen Anteil sible Moment der Schuld, in deren kultischen Bann
bei der Rationalisierung der metaphysischen Vorstel- Benjamin den Kapitalismus stehen sieht.
lungen und der Ausbildung einer spezifisch religiösen Zwischen der psychoanalytischen Kulturanthropo-
Ethik zugesprochen (Weber 1980, 259-261). Sie sind logie und Nietzsches Spätphilosophie, die Benjamins
es, die den Göttern im Prozeß der Entstehung der Re- Fragment in einem Atemzug nennt, hat Freud selbst
ligionen Gestalt geben. Erst durch den Kult, erst durch eine unmittelbare Verbindung hergestellt. Ausdrück-
das kontinuierliche Tun, das eine Dauergemeinschaft lich verleiht er der übermächtigen Vaterfigur, die seine
einer abstrakten Vorstellung göttlicher Mächte wid- Theorie an den Anfang der Menschheitsgeschichte
met, erhalten diese Mächte schließlich anthropo- stellt, die Züge des übermenschen, >>den Nietzsche erst
morph-göttliche Gestalt. >>Ist einmal die Kontinuier- von der Zukunft erwartete<< (Freud 1921, 138). Daß
lichkeit der Göttergestalten gesichert, so kann das Benjamin diese Textstelle bekannt war, ist wahrschein-
Denken der berufsmäßig mit ihnen Befaßten sich mit lich. Nietzsches Verkündigung vom Tod Gottes jeden-
der systematisierenden Ordnung dieser Vorstellungs- falls liest er als das Eingeständnis einer ungeheuren
gebiete beschäftigen<< (250). Daß Benjamin die drei Schuld, die die philosophische Konzeption des Über-
genannten Theoretiker nicht, wie es zumindest ebenso menschen im Innersten motiviert. Dem Menschen, der
nahegelegen hätte, als Propheten, sondern als Priester seine transzendente Ausrichtung in sich zu überwin-
bezeichnet, könnte also in seiner auch hier sich bestä- den sucht, zeichnet Nietzsches Spätphilosophie den
tigenden, inversen Lesart der Religionssoziologie We- Weg der Hybris vor. Nicht demütige Umkehr, nicht
bers einen naheliegenden Grund haben. >>Ganz kapi- Metanoia, ist die Parole des neuen Evangeliums, das
talistisch gedacht<< (VI, 101) erweisen sich ihm die Nietzsche durch seinen Propheten Zarathustra ver-
Theorien von Freud, Nietzsche und Marx darin, daß kündet, sondern Steigerung, Hybris: >>Der Über-
sie die religiöse Struktur des Kapitalismus mimetisch mensch<<, so Benjamins Resümee, >>ist der ohne Um-
in sich abbilden. Darin, daß sie in die immanente Lo- kehr angelangte, der durch den Himmel durchge-
gik ihres Gegenstandes eindringen und sie mit äußer- wachsne, historische Mensch<< (VI, 101). Der
ster Konsequenz zu Ende denken, liegt zugleich auch Übermensch hat die Schuld nicht gesühnt, sondern
ihr diagnostischer Wert. heroisch auf sich genommen. Auch Nietzsche begreife
Die strukturelle Affinität der Freudschen Theorie >>diese Sprengung des Himmels durch gesteigerte
zum Kapitalismus zeigt sich Benjamin darin, daß die Menschhaftigkeit<< als Verschuldung (ebd.). Auf diese
Psychoanalyse das >>Verdrängte, die sündige Vorstel- Weise dechiffriert Benjamin im tragischen Heroismus
lung<<, implizit dem Kapital gleichsetze, >>welches die des Zarathustra, dem Nietzsche selbst religiöse Weihen
Hölle des Unbewußten verzinst<< (ebd.). Freud hatte verleiht, die radikalste und großartigste Erfüllung der
die Lehre von der Verdrängung als den >>Grundpfeiler<< religiösen Essenz des Kapitalismus, die in der Schuld
bezeichnet, >>auf dem das Gebäude der Psychoanalyse und ihrer unabsehbaren Fortzeugung zum Ausdruck
ruht<< (Freud 1914, 54). Die Tatsache, daß die Psycho- kommt.
172 Messianismus, Ästhetik, Politik

Ebenso wie bei Nietzsche sieht Benjamin auch bei als >>eine<< Religion zu betrachten, hatte das Fragment
Marx den Gedanken der Steigerung und Entwicklung aus der Beobachtung abgeleitet, daß er sich derselben
über die religiösen Motive der »Umkehr, Sühne, Rei- Bedürfnisstruktur verdanke, wie die >>sogenannten
nigung, Buße« dominieren. Auf diese Weise verharrt Religionen<<. Demnach würde eine Religion, die sich
auch sein Denken im Bann des kapitalistischen Kultes als Religion vom Kapitalismus provoziert sieht, nur
der Schuld und der Schulden. Bei Marx werde »der diese fundamentale Gemeinsamkeit bekräftigen und
nicht umkehrende Kapitalismus [... ] mit Zins und damit letztlich im Bann dessen verbleiben, wogegen
Zinseszins, als welche Funktion der Schuld [... ] sind, sie sich polemisch abzugrenzen trachtet. Erst zu einem
Sozialismus<< (101 f.). In der Tat stellt das Kommuni- späteren Zeitpunkt werde es möglich sein, diesen Zu-
stische Manifest den Sozialismus gleichsam als Erben sammenhang zu übersehen, heißt es im Text. Es bleibt
des Kapitalismus dar. Nicht nur, daß Marx die mo- offen, ob dieser künftige Standpunkt der Standpunkt
derne bürgerliche Gesellschaft dem »Hexenmeister<< einer >wahren< Religion wäre. Gesagt wird über ihn
vergleicht, >>der die unterirdischen Gewalten nicht lediglich, daß er zwar anzunehmen, aber gegenwärtig
mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor« nicht einzunehmen ist. Er ist ausschließlich und hin-
(Marx/Engels 1999, 25). Als >>willenloser und wider- reichend durch seinen absoluten Gegensatz zum Be-
standsloser Träger<< des industriellen Forschritts pro- stehenden definiert.
duziert die Bourgeoisie nach seiner überzeugung mit Im Bestehenden und gleichsam auf seinem eigenen
ebenso schicksalhafter Dynamik >>ihren eigenen To- Terrain steht dem Kapitalismus nicht die Religion,
tengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sondern revolutionäre Politik entgegen. Daß Benja-
sind gleich unvermeidlich<< (33 ). Bereits für Weber war mins überlegungen in diese Richtung zielen, läßt sich
der Sozialismus ganz und gar vom Geist des Kapitalis- aus den Lektürehinweisen erschließen, die den über-
mus erfüllt. Im Zeichen des okzidentalen Rationalis- gang von dem ausformulierten ersten Teil des Frag-
mus betrachtete er Kapitalismus und Sozialismus als ments zu den bruchstückhaften Notizen bilden, die die
Zwillingsbrüder. Weil sie keine rationale Arbeitsorga- Aufzeichnung beschließen.
nisation kannte, habe die Welt >>außerhalb des moder- Die Möglichkeit einer >>Üherwindung des Kapitalis-
nen Okzidents auch keinen rationalen Sozialismus mus<< wird dort explizit unter Berufung auf Erich Un-
gekannt<< (Weber 1988a, 9). Wie vor ihm schon Tön- ger und seine Theorie einer metaphysischen Volks-
nies und Simmel sah Weber in einer den Kapitalismus gründung durch den Exodus aus dem Kapitalismus ins
womöglich ablösenden sozialistischen Gesellschaft Auge gefaßt, die den alttestamentarischen Gründungs-
eine gesteigerte Form der Rationalisierung. Ebenso wie mythos Israels aktualisiert. Während Unger in seiner
Weber den Sozialismus weniger als Alternative denn von Benjamin auch bei anderer Gelegenheit (II, 191)
als rationale Konsequenz des Kapitalismus begriff, so zitierten Schrift das Prinzip der Völkerwanderung zur
sieht ihn Benjamins Fragment >ohne Umkehr< aus dem Überwindung des Kapitalismus in der Oberzeugung
Kapitalismus hervorgehen und erkennt in ihm eine geltend macht, daß >>der Sturmlauf gegen das kapita-
Fortsetzung, wenn nicht des Kapitalismus, so doch der listische System[ ... ] am Orte seiner Geltung<< ewigver-
Religion, als die das Fragment den Kapitalismus zu geblich sein müsse (Unger 1989, 44), stehen die Namen
betrachten lehrt. Georges Sorel und Gustav Landauer für die Bereit-
schaft, den Kapitalismus an Ort und Stelle zu bekämp-
fen. Neben biographischen Zeugnissen belegt insbe-
Die Grenzen des Kapitalismus sondere der ungefähr gleichzeitig mit dem Fragment
entstandene Aufsatz ZuR KRITIK DER GEWALT, in dem
Benjamin gibt keine nähere Erklärung, warum es ihm Benjamin sich ebenfalls auf die Reflexions sur Ia vio-
aus heutiger Sicht abwegig erscheint, die für ihn offen- lence beruft, seine Sympathien für den Anarchismus.
kundig religiösen Züge des Kapitalismus polemisch zu Im Kontext des Fragments dürfte neben ihrer unver-
bestreiten. Jedoch könnte sich doch wohl nur eine re- söhnlichen Ablehnung der bestehenden bürgerlich-
ligiöse Überzeugung durch die Zentralthese des Frag- kapitalistischen Gesellschaftsordnung zusätzlich die
ments provoziert fühlen. Wenn Benjamin eine religiös anarchistische Kritik am Marxismus, namentlich am
motivierte Universalpolemik als einen Abweg zurück- Primat der Ökonomie und am Stellenwert des Staates
weist, dann vermutlich in der überzeugung, daß die bei Marx und seinen Epigonen, ins Gewicht fallen.
Beschreibung des Kapitalismus als Religion gar kein LandauersAufrufzum Sozialismus, auf den das Frag-
religiöses Problem aufwirft. Das wäre ein Mißver- ment verweist, ist ein vehementer Angriff auf den
ständnis- wenn nicht des Kapitalismus, so ganz sicher >>absonderliche[n] und komische[n] Wissenschafts-
der Religion. Die Rechtmäßigkeit, den Kapitalismus aberglauben<< des Marxismus, der eine Droge sei, die
"Kapitalismus als Religion« 173

der Professor Karl Marx »in seinem Labor ertüftelt« tungsbereich bestimmter >Ordnungen<: des Rechts, der
habe (Landauer 1919, 23). In Landauers Sicht enthüllt Politik und der Religion, voneinander abzugrenzen.
sich der marxistische »Kapitalsozialismus<< als eine Sie gewinnen Konturen durch einen Akt der Grenzzie-
»papierne Blüte am geliebten Dornstrauch des Kapi- hung, durch wechselseitigen Ausschluß. Innerhalb des
talismus<< (42). So sehr zu bezweifeln ist, daß Benjamin auf diese Weise sich schemenhaft abzeichnenden Ge-
Landauers Glauben an die Erneuerung der Menschheit dankengradnetzes hätte man den Stellenwert des
durch deren Wiederanschluß an die Natur teilte, so Schuldbegriffs zu bestimmen, den das Fragment über
unbestreitbar fand er im Aufrufzum Sozialismus jenes den KAPITALISMUS ALS RELIGION in sein Zentrum
Stichwort, dessen Gegenteil er in Nietzsches Philoso- rückt. Demnach läßt sich der Kapitalismus als eine
phie des Übermenschen ins Zentrum gerückt sah: Religion beschreiben - eine Religion allerdings, die
»Sozialismus<<, heißt es bei Landauer, >>ist Umkehr<< dem mythischen Gesetz des Schicksals und der Schuld
(144f.). untersteht und damit für Benjamin der dämonischen
Unter Berufung auf die Reflexions sur Ia violence Ordnung des Rechts zuzurechnen wäre. In Arbeiten,
notiert das Fragment die Stichwörter: >>Kapitalismus die im Umkreis des Fragments entstanden sind, stellt
und Recht. Heidnischer Charakter des Rechts<< (VI, Benjamin dieser Ordnung auf gleicher Ebene die Po-
102). In der Passage, auf die sich die Seitenangabe im litik entgegen. Das Verständnis dieser beiden durchweg
Fragment bezieht, referiert Sorel, wie in der klassischen diesseitigen Ordnungen erschließt sich maßgeblich
bürgerlichen Ökonomie die Auffassung entstand, die durch ihre Abgrenzung gegen ein ihnen scharf entge-
kapitalistische Produktionsweise gehorche Naturge- gengesetztes Ordnungsgefüge, das Benjamin als reli-
setzen. Wie die Nationalökonomie, so Sorel, habe auch giös und moralisch bezeichnet.
das Recht im Kapitalismus seine einfachste Form er- Wenn er sich in den Jahren, in denen das Fragment
reicht, da ja das >>Recht der Schuldverhältnisse jeden entstanden ist, mit dem Plan einer größeren Arbeit
fortgeschrittenen Kapitalismus<< beherrsche (Sorel über Politik trug, dürfte die Problematik dieses Vor-
1981, 207). Vor dem Hintergrund von Sorels Herlei- habens nicht zuletzt in der Einordnung des Begriffs
tung des Rechts aus einer mit schicksalhafter Macht des Politischen in das skizzierte Koordinatensystem
ausgestatteten Natur und seiner Verknüpfung mit dem bestanden haben. Davon legt das >>Theologisch-poli-
Schuldbegriff enthüllt es für Benjamin seinen >>heid- tische Fragment« Zeugnis ab. In ScHICKSAL UND CHA-
nischen Charakter<< (VI, 102). Aber für Sorel ergibt RAKTER hatte es geheißen, daß >>Glück und Seligkeit<<
sich aus der Einsicht in die Konstitutionsbedingungen ebenso aus der dämonischen Sphäre des Rechts und
des bürgerlichen Staates zugleich die Strategie seiner Schicksals herausführen >>wie die Unschuld<< (II, 174).
Zerstörung. Es sei ein Irrtum, zu glauben, das Prole- Im >>Theologisch-politischen Fragment<< wird die >>Idee
tariat könne die Macht ebenso erringen, wie das Bür- des Glücks<< zur zentralen Koordinate der >>Ordnung
gertum sie errungen habe. Ziel einer proletarischen des Profanen<< und damit einer Ordnung, deren Gel-
Revolution könne nicht ein sozialistischer Staat sein, tungsbereich sich aus ihrer Abgrenzung gegen >>das
der den bürgerlichen Staat ersetze. Sorel hält Marx Messianische<< erschließt. Das Profane an der Idee des
zwar zugute, die Verquickung von ökonomischer Pro- Glücks auszurichten aber heißt für Benjamin zugleich,
duktivkraft und politischer Macht in der Entwicklung den Gedanken des Gottesreiches aus dieser Ordnung
der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufgedeckt auszugrenzen. Deshalb hat die Theokratie für ilm >>kei-
zu haben. Er habe sich jedoch allzu zurückhaltend über nen politischen sondern allein einen religiösen Sinn<<
die Organisation des Proletariats und zu Fragen der (203). Als von der Theologie abgegrenzter Bereich aber
revolutionären Praxis geäußert. Diese Unzulänglich- bleibt die Politik gleichwohl auf die Theologie bezo-
keit habe zur Folge gehabt, >>daß der Marxismus von gen. Eben deshalb nennt Benjamin ihren Geltungsbe-
seinem wahren Wesen abirrte<< (Sorel1981, 208). An reich >profan<. Im Gedankengefüge der >>mystischen
das seiner Überzeugung nach genuin revolutionäre Geschichtsauffassung<< (ebd.), die das >>Theologisch-
Wesen des Marxismus möchte Sorel mit seiner Lehre politische Fragment<< darlegt, ist alles Irdische letztlich
vom Mythos des proletarischen Generalstreiks an- allein um den Preis seines Untergangs mit dem Got-
knüpfen. tesreich verbunden. Das Ziel der Politik ist Glück; ihre
Wenn es zutrifft, daß die Politik eine Alternative zur Methode aber, wie es abschließend heißt, ist: >>Nihilis-
religiösen Universalpolemik eröffnet, dann entspricht mus<< (204). Sofern sich Politik Ziele setzt, hat sie diese
dem in anderen Schriften Benjamins das Bemühen, auf die Ordnung des Profanen zu beschränken. Indem
den Bereich des Politischen in seiner spezifischen Dif- sich Politik auf das Profane beschränkt, sind ihre Ziel-
ferenz zu anderen Ordnungen zu erfassen. So versucht setzungen, jenseits des ihren Geltungsbereich begren-
er in der KRITIK DER GEWALT (II, 179-203), den Gel- zenden Horizonts, letztlich nichtig.
174 Messianismus, Ästhetik, Politik

Die Beziehung dieser Ordnungen aufeinander, die Hamacher, Werner (2003): »Schuldgeschichte. Benjamins
Skizze: >Kapitalismus als Religion<<< in: Dirk Baecker (Hg.):
das >>Theologisch-politische Fragment<< zu einem der Kapitalismus als Religion, Berlin, 77-119.
wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie Kambas, Chryssoula (1992): »Walter Benjamin liest Georges
erhebt, bleibt im konkreten Fall unbestimmt oder im Sore!: Reflexions sur Ia violence<<, in: Michael Opitz/Erd-
Zeichen eines politischen Nihilismus eben letztlich mut Wizisla (Hg.): Aber ein Sturm weht vom Paradiese
her. Texte zu Walter Benjamin, Leipzig, 250-269.
negativ bestimmt. Es spricht einiges dafür, daß diese Landauer, Gustav (1919): Aufruf zum Sozialismus, Berlin.
Unbestimmtheit durchaus Methode hat. Unter der Lindner, Burkhardt (2003): »Der 11.9.2001 oder Kapitalismus
Voraussetzung einer Begrenzung religiöser Ansprüche als Religion<<, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis.
nämlich wird das Glück zur zentralen Kategorie der Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch
und Aporien, Bielefeld, 196-221.
irdischen Bestimmung des Menschen. Damit ist kei- Marx, KarVFriedrich Engels (1999): Manifest der Kommuni-
neswegs gesagt, daß sich seine Bestimmung darin er- stischen Partei, Stuttgart.
schöpft. Vielmehr ermöglicht erst die Abtrennung der Nietzsche, Friedrich ( 1964): »Zur Genealogie der Moral<<, in:
ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli/
Ordnung des Theologischen, diese zur Ordnung des
Mazzino Montinari, VI. Abt., Bd. 2, Berlin, 259-430.
Profanen und damit nicht zuletzt eben zur Politik in Schöttker, Detlev (2003): »Fortschritt als ewige Wiederkehr
ein spannungsvolles Verhältnis zu setzen. Die Abgren- des Neuen. Benjamins Überlegungen zu Ursprung und
zung eines von moralischen und religiösen Ansprü- Folgen des Kapitalismus<<, in: Harald Hillgärtner/Thomas
Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik. Festschrift für Burk-
chen freien, im spezifischen Sinne politischen Raums,
hardt Lindner, Bielefeld, 103-118.
dessen Zentralkoordinate das Glück ist, ist keineswegs Schweppenhäuser, Hermann (1992): >>Kapitalismus als Reli-
geringzuschätzen. Sie liegt jedenfalls Benjamins Begriff gion. Eine Aufzeichnung Benjamins von 1921<<, in: ders.:
des Politischen zugrunde, der auf der Grundlage einer Ein Physiognom der Dingwelt: Aspekte des Benjaminsehen
Denkens, Lüneburg, 146-152.
spekulativen Metaphysik des Leibes der Technik einen
Simmel, Georg (1994): Philosophie des Geldes [1920], Frank-
zentralen Platz einräumt. Diese Überlegungen haben furt a.M.
noch in den spätesten Schriften aus dem Umkreis des Sore!, Georges (1981): Ober die Gewalt [1906], hg. v. George
Passagenwerks und in den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF Lichtiieim, Frankfurt a.M.
Steiner, Uwe (1998): >>Kapitalismus als Religion. Anmerkun-
DER GESCHICHTE nichts von ihrer grundlegenden Be- gen zu einem Fragment Walter Benjamins«, in: Deutsche
deutung verloren (vgl. hierzu Steiner 2000, 48-92). Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-
geschichte 72, 147-171.
Werk Steiner, Uwe (2000): »Der wahre Politiker. Walter Benjamins
Begriff des Politischen<<, in: Internationales Archiv für die
KAPITALISMUS ALS RELIGION (VI, 100-103)
Sozialgeschichte der Literatur 25, 48-92.
EINBAHNSTRASSE (IV, 83-148)
Steiner, Uwe (2003): »Die Grenzen des Kapitalismus. Kapita-
GELD UND WETTER (zur Lesabendio-Kritik) (IV, 941)
lismus, Religion und Politik in Benjamins Fragment >Ka-
PAUL SCHEERBART: LESABENDIO (Il, 618-620)
pitalismus als Religion<<< in: Baecker 2002, 35-59.
SCHICKSAL UND CHARAKTER (Il, 171-179)
Unger, Erich (1989): Politik und Metaphysik [1921], Würz-
Theologisch-politisches Fragment (II, 203-204)
burg.
ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (J, 691-704)
Weber, Max (l988a): »Vorbemerkung<< [1920], in: ders.: Ge-
ZuR KRITIK DER GEWALT (Il, 179-203)
sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen,
17-206.
Literatur
Weber, Max ( 1988b): »Die protestantische Ethik und der Geist
Baecker, Dirk (Hg.) (2003): Kapitalismus als Religion, Ber- des Kapitalismus<< [1920], in: Gesammelte Aufsätze zur
lin. Religionssoziologie I, 1-16.
Bolz, Norbert ( 1989): Auszug auf der entzauberten Welt. Phi- Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß
losophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, der verstehenden Soziologie, Tübingen.
München.
Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest, Mün-
chen.
Bolz, Norbert (2003): >>Der Kapitalismus- eine Erfindung
von Theologen?<<, in: Baecker 2003, 187-207.
Freud, Sigmund (1913a): »Totem und Tabu<<, in: ders.: Ge-
sammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., London/Frankfurt
a.M. 1940-1968, Bd. IX, 3-194.
Freud, Sigmund (l913b): >>Das Unbewußte<<, in: ders.: Ge-
sammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., London/Frankfurt
a. M., Bd. X, 264-303.
Freud, Sigmund (1914): »Zur Geschichte der psychoanalyti-
schen Bewegung<<, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Anna
Freud u. a., London/Frankfurt a. M. Bd. X, 43-113.
Freud, Sigmund (1921): >>Massenpsychologie und Ich-Ana-
lyse<<, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a.,
London/Frankfurt a.M., Bd. XIII, 71-161.
175

Das Theologisch-politische jamins öffnen ließen, sind kaum andere als kursorische
Versuche unternommen worden, ihn selber im einzel-
Fragment
nen zu erläutern.
Von Werner Hamacher

Dignität einer Erfahrung die vergänglich war


Um die Jahreswende 1937/38 machte Benjamin wäh-
rend eines gemeinsamen Aufenthalts in San Remo Benjamin hat seine frühen geschichtsphilosophischen
seine Freunde Gretel und Theodor Wiesengrund Ador- Entwürfe in den Zusammenhang einer Revision des
no mit einer geschichtsphilosophischen Aufzeichnung Kantischen Erfahrungsbegriffs gestellt. In der Studie
bekannt, die von derartiger Aktualität schien, daß ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSO-
Adorno - Benjamin hat sich dazu vermutlich nicht PHIE, einer ersten Selbstverständigung, die wohl der
geäußert- überzeugt war, sie müsse allerjüngsten Da- Vorbereitung der von ihm geplanten Dissertation über
tums sein, und an dieser überzeugung, trotzdes Wi- Kant und die Geschichte dienen sollte (vgl. Brief an
derspruchs von mehreren Seiten, bis zuletzt festhielt. Scholem 1, 389-391), schreibt er 1917: >>Das Problem
Adorno war es auch, der bei der Einrichtung von Ben- der Kantischen wie jeder großen Erkenntnistheorie
jamins Schriften (1955) diese im Manuskript titellose hat zwei Seiten und nur der einen Seite hat er eine
Aufzeichnung mit der für Benjamin untypischen und gültige Erklärung zu geben vermocht. Es war erstens
überdies nicht in jeder Hinsicht triftigen Oberschrift die Frage nach der Gewißheit der Erkenntnis die blei-
»Theologisch-politisches Fragment« versah. Gershorn bend ist; und es war zweitens die Frage nach der Di-
Scholem hat mit Nachdruck geltend gemacht, was seit- gnität einer Erfahrung die vergänglich war. Denn das
her als communis opinio angesehen werden kann: >>Al- universale philosophische Interesse ist stets zugleich
les an diesen zwei Seiten entspricht genau seinen Ge- auf die zeitlose Gültigkeit der Erkenntnis und auf die
dankengängen und seiner spezifischen Terminologie Gewißheit einer zeitlichen Erfahrung, die als deren
um 1920/21« (Scholem 1975, 117). Für eine frühe Da- nächster wenn nicht einziger Gegenstand betrachtet
tierung des Textes, zu der sich auch Rolf Tiedemann wird gerichtet. Nur ist den Philosophen diese Erfah-
und Hermann Schweppenhäuser, die Herausgeber der rung in ihrer gesamten Struktur nicht als eine singu-
Gesammelten Schriften, entschlossen haben (II, 946- lär zeitliche bewußt gewesen und sie war es auch Kant
949), spricht zum einen der ausdrückliche Hinweis auf nicht<< (II, 158). Aus der Diagnose dieses Defizits der
Ernst Blochs 1918 erschienenen Geist der Utopie, mit großen Erkenntnistheorien, insbesondere der Kanti-
dem sich Benjamin seit dem Herbst 1919 im Zusam- schen, ergibt sich für Benjamin die Aufgabe, eine
menhang seiner Arbeiten über Politik intensiv beschäf- Theorie der Erfahrung zu gewinnen, die beide Seiten
tigte, zum anderen die enge konzeptionelle und stili- des Problems umfaßt und deshalb sowohl der blei-
stische Verwandtschaft dieser Aufzeichnung mit den benden Gewißheit der Erkenntnis wie der Dignität
ScHEMATA ZUM PSYCHOPHYSISCHEN PROBLEM (VI, vergänglicher Erfahrung gerecht wird. Die Verbindung
78-87)- Tiedemann und Schweppenhäuser bemerken der zwei erfahrungstheoretischen Probleme ist offen-
zurecht, das Schema III lese sich >>wie eine bedeutende kundig allein dann möglich, wenn die >>singulär zeit-
Variante<< des >>Fragments<< (VI, 678). Allerdings kön- liche<< (ebd.) Struktur auch noch der bleibenden Ge-
nen die ScHEMATA nicht vor 1922 geschrieben worden wißheit zum Gegenstand der Philosophie wird und
sein, so daß die Vermutung naheliegt, das Theologisch- Erkenntnistheorie sich in Geschichtsphilosophie ver-
politische Fragment sei gleichfalls 1922 oder 1923 wandelt.
notiert worden, später also als Scholem und als zu- Da der Gegenstand der Geschichtsphilosophie nicht
nächst auch die Herausgeber der Gesammelten Schrif- nach den Prämissen der Erkenntnistheorie erlaßt wer-
ten angenommen haben. - Während die Datierungs- den kann, muß er in einer Zeit gelegen sein, die sich
frage nicht eindeutig beantwortet werden kann, da der bleibenden und auf Universalität setzenden Ge-
keinerlei Zeugnisse zur Entstehung überliefert sind, wißheit entzieht, er muß in seiner jeweils singulär
bestand seit der ersten emphatischen Reaktion Ador- zeitlichen Struktur als werdender und vergehender
nos nie ein Zweifel am philosophischen Rang dieses Gegenstand erkannt und noch seine Erkenntnis muß
Textes und an der zentralen Position, die er im Corpus als eine >>singuläre zeitlich beschränkte<< (ebd.) erkannt
von Benjamins Schriften beansprucht. Er ist immer als werden. Die historische Erkenntnis der Historizität der
eine Art >>Urzelle<< seines Werks- und zwar des frühen Erkenntnis mündet aber nur dann nicht in einen gren-
wie des späten - angesehen worden. Aber weil er als zenlosen Relativismus, wenn die einer eingeschränkten
ein Schlüssel galt, mit dem sich andere Schriften Ben- Erkenntnistheorie verpflichtete Subjekt -Objekt-Rela-
176 Messianismus, Ästhetik, Politik

tion preisgegeben wird und wenn für die Struktur volviert und an keiner Stelle dessen strengen Zusam-
einer erweiterten Erfahrung zwei Bedingungen erfüllt menhang verläßt: es gibt für diese Erfahrung nichts
sind: sie muß, wie Benjamin sich ausdrückt, auf ei- - auch keinen Gott - außerhalb der Geschichte und
nem >>reinen erkenntnis-theoretischen (transzenden- ihres Vergehens. Es ist eine Konsequenz dieses Gedan-
talen) Bewußtsein<< beruhen, das >>alles Subjekthaften kengangs, die Benjamin in der Programmschrift noch
entkleidet<< ist ( 162 f.), und sie muß ein >>reines syste- nicht, wohl aber wenige Jahre später zieht, daß auch
matisches Erfahrungskontinuum<< bilden (164), in die Theologie zu jener Totalität der Geschichte gehört
dem das transzendentale Bewußtsein die Kontinuität und angemessen nur so gedacht werden kann, daß sie
zwischen Subjekt und Objekt, aber auch zwischen ins Vergehen der Geschichte einbezogen ist. Auch noch
Sinnlichkeit und Verstand verbürgt. Da der Inbegriff die Dignität theologischer und theo-teleologischer
dieses Kontinuums von Übergängen und Verwand- Begriffe erschließt sich erst unter dem Aspekt ihres
lungen nach Benjamins Definition >>Gott<< ist (163), Vergehens und also im Abbruch der in ihnen verbürg-
muß jede Philosophie des Lebens in der >>singulär ten Kontinuität.
zeitlichen<< Struktur der Erfahrung Gottes, und muß In DAS LEBEN DER STUDENTEN UND TRAUERSPIEL
jede Geschichtsphilosophie, die der >>Dignität einer UND TRAGÖDIE denkt Benjamin das Messianische -
Erfahrung die vergänglich<< ist (158), gerecht werden zum einen das messianische Reich, zum anderen die
soll, eine Theologie der Geschichte als Vergängnis sein messianische Zeit - als die entscheidende Kategorie
- und zwar eine Theologie noch der Vergängnis der des geschichtlichen Daseins; er denkt es nach der Kan-
Totalität der Geschichte. Wenn der von Benjamin tischen Bestimmung der Freiheitsidee, eben deshalb
entworfene erweiterte Erfahrungsbegriff >>auch die aber gegen die Kantische Definition der Zeit als bloßer
Religion, nämlich als die wahre<<, umfassen soll (163), Anschauungsform mechanischer Veränderungen. Er
dann nicht allein, um die >>Gewißheit der Erkenntnis füllt damit ein auffälliges Defizit der Kantischen Kritik,
die bleibend ist<< (158), zu begründen, sondern eben- die höchst ambivalent von einer Naturbestimmung
sosehr um die Dignität einer vergänglichen Erfah- zur Freiheit, von Naturanlagen und Naturzwecken
rung, um also Religion selbst als Erfahrung schlecht- ausgeht, wo sie die Geschichtsfähigkeit des Menschen
hinniger Vergänglichkeit, und somit als Erfahrung zu charakterisieren versucht. Dieses Defizit läßt sich
wohl auch der Vergänglichkeit dieser Erfahrung selbst nun aber solange nicht erkennen, geschweige denn
zu erschließen. Die religiöse Erfahrung, um die es beheben, wie die geschichtliche Zeit ausschließlich als
Benjamin in seiner Programmschrift zu tun ist, muß eine Zeit, die vergeht, und nicht auch in Beziehung auf
demnach die >>singulär zeitliche<< Struktur aller Erfah- die - völlig anders strukturierte - Zeit der Zukunft
rung aufdecken: sie muß die Erfahrung der Zeitlich- verstanden wird. Das Korrelat zur Vergängnis und zu
keit, und zwar nicht der mechanischen, sondern der einer »Erfahrung die vergänglich<< ist, findet Benjamin
Zeitlichkeit der Geschichte aufweisen, und sie kann nach der Formulierung im Eröffnungssatz seines Ent-
religiöse Erfahrung nicht anders als in der Weise sein, wurfs ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILO-
daß sie immediat geschichtliche Erfahrung ist. Reli- SOPHIE zunächst nur in dem >>Vorgefühle einer großen
gion bezieht sich nicht auf das Bleibende, sondern auf Zukunft<< (II, 157). Mehr als ein solches Vorgefühl
dessen Vergängnis, und hat Dignität nur als eine Er- hatte allerdings bereits Kant in der Antwort auf die
fahrung, die der Bahn ihrer eigenen Vergänglichkeit von ihm erneuerte Frage: >>Üb das menschliche Ge-
folgt, ohne an einem Heilsplan Halt zu suchen, der schlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren
keiner empirischen Erkenntnis zugänglich sein sei<<, mehr hatte Kierkegaard in seiner Theorie des Au-
kann. genblicks in Der Begriff Angst, und mehr hatte auch
Die einzige ihrer Struktur nach religiöse und theo- Nietzsche in seinen Abhandlungen und Aphorismen
logisch thematisierbare Erfahrung ist also die histori- zur Philosophie der Zukunft zum Gedanken einer Ge-
sche, sofern sie jeden Moment der profanen Geschichte schichte beigetragen, die im Kommenden eine ge-
als unwiederholbar vergänglichen - singulären - und schichtsmächtigere Dimension hätte als im Vergehen.
sofern sie die Totalität der Geschichte als Vergängnis Sie alle, zusammen mit den Benjamin näherstehenden
nicht innerhalb einer allgemeinen, bloß formellen Jenaer Romantikern, mit SeheHing und mit Baader,
Zeitform, sondern als Vergehen der Zeitform über- gehören im 18. und 19. Jh. zu den Entdeckern der Zu-
haupt betrifft. Da diese Erfahrung nicht die eines tran- kunft, an die Benjamin seineüberlegungenzur Struk-
szendentalen Subjekts, sondern Erfahrung in einem tur der Geschichte aus der Doppelbewegung von Ver-
reinen systematischen Kontinuum von Subjekt- und gängnis und Ankunft modifizierend oder kritisch ra-
Objektgestalten ist, muß es den Charakter eines Ge- dikalisierend anknüpfen konnte.
schehens haben, das dieses Kontinuum insgesamt in- Aber für Benjamins Versuch, Geschichte und Politik
Das Theologisch-politische Fragment 177

aus der Struktur der von ihm messianisch genannten Tage des Messias< bringen; sondern vielmehr den An-
Zeit zu denken, dürften entscheidender als die Motive fang einer neuen Zeit, einer neuen Welt, einer neuen
dieser Autoren diejenigen von Hermann Cohen gewe- Menschheit; einerneuen Menschheit auf Erden<< (Co-
sen sein, der als erster der messianischen Struktur der hen 1981, 406).
Geschichte einen systematischen Ort in seinem philo- Wenn Cohen den ethischen Wert des prophetischen
sophischen Werk eingeräumt hat. Cohen legt in seiner Messianismus in seine politische und weiterhin ge-
Ethik des reinen Willens (1904 u. 1907) die Differenz schichtsphilosophische Bedeutung legt, dann läßt er
zwischen Mythos und Religion in den Begriff der Zu- keinen Zweifel daran, daß er jene Politik als eine des
kunft: denn der Mythos kennt nur die Vergangenheit Fortschritts - und zwar des Fortschritts in Ewigkeit-
und ihre immer wiederkehrende Gegenwart, erst die und daß er diese Geschichtsphilosophie als Teleologie
Religion, wie Cohen sie versteht, eröffnet die Bezie- einer Geschichte versteht, die ihrem >>Leitstern<< im
hung auf eine Zukunft des noch nie Gewesenen. Cohen Ideal einer >>neuen Weit<< und einer >>neuen Mensch-
schreibt in seiner Ethik: >>Der Begriff der Zukunft un- heit<< zustrebt. Das Telos ist der Anfang, das Ziel der
terscheidet die Religion vom Mythos. Diese Zukunft Ursprung der geschichtlichen Bewegung, und der Mes-
bezeichnen die Propheten, indem sie die Befreiung der sias, an dessen Idee sie sich orientiert, der Orient jeder
Menschen vom Kriege der Völker an die politische Geschichte, die dem Anspruch gerecht werden könnte,
Sehnsucht auf die Freiheit des eigenen Volkes anknüp- ethisch und derart fundamental politisch zu sein. Die
fen, mit demjenigen Ausdruck, unter welchem die Zukunft des Sittlichen, die der Messianismus für Cohen
eigene Sprache und die eigene Politik den höchsten eröffnet, ist freilich keine Zukunft, die in der Zeit läge
Vertreter des Staates dachte: als Messias<< (Cohen 1981, und ihrer leeren Form einen Inhalt verschaffte; sie ist
405 f. ). Über die >>eigene<< Politik, die >>eigene<< Sprache eine Zukunft der Ewigkeit und bezeichnet für Cohen
und Religion der alttestamentlichen Propheten hinaus >>die Ewigkeit des Fortgangs der sittlichen Arbeit<< (Co-
bezeichnet der Begriff der messianischen Zukunft aber hen 1981, 410). So nachdrücklich aber Cohen betont,
für Cohen einen >>Gewinn [... ] für die Ethik<< insge- Ewigkeit liege nicht im Denken, stehe dem Denken
samt, für die Ethik nicht eines einzelnen Volkes, son- nicht an (411 ), so weit er die Differenz zwischen theo-
dern die universalistische Ethik der unter ihrem Begriff retischer und praktischer Vernunft und damit die Dif-
-und zwar zumerstenmal-denkbar gewordenen ei- ferenz zwischen den Sphären des Erkennensund Han-
nigen Menschheit. Es ist >>der Begriff der Zukunft [... ], deins spannt, so wenig kann er den teleologischen
welcher den einzigen Gott den Schranken des Natio- Charakter seiner Zukunftsgeschichte und die gleich-
nalgottes entrissen, und zu dem einzigen Gott der zeitige Unnahbarkeit des messianischen Ideals verleug-
Völker, der einen Menschheit gemacht hat<< (Cohen nen, das er gleichwohl in positiven Begriffen zu bestim-
1981, 406). men versucht. Cohens Messias ist ein Messias des
Geschichte gibt es für Cohen erst, wo es Zukunft, Willens, des guten Willens zur universellen Selbstbe-
wo es universelle Freiheit, wo es eine Menschheit und stimmtheit des Willens in Recht und Politik, aber als
als Garanten ihrer Einheit einen Messias gibt. Ge- Messias des ethischen Willens kann er nur das proble-
schichte gibt es deshalb erst, wo es Religion, und zwar matische Prinzip der Approximation an ein weltpoli-
reine Religion, Monotheismus, und wo es die univer- tisches Ideal sein, dessen Erkenntnis gesichert, dessen
salpolitische Tendenz zur Realisierung seines Prinzips Verwirklichung in der Geschichte aber unmöglich sein
unbedingter Willensautonomie gibt. Da diese Verwirk- soll.
lichung nur in der Zukunft liegen kann, ist Geschichte Gegen die Vorstellung der >unendlichen Aufgabe<
allein als Geschichte des Fortschritts in die Zukunft und gegen die damit verbundene sozialdemokratische
der Freiheit denkbar. Wenn aber die Zukunft und da- Ideologie von einem Fortschritt in der Unendlichkeit
mit die entscheidende Kategorie sowohl der Ethik wie der Zeit hatte Benjamin bereits in DAs LEBEN DER
der Geschichte vom Messias bezeichnet wird, so be- STUDENTEN protestiert und ihr systematisches Defizit
zeichnet der Messias doch zugleich >>das Ende der durch die Bestimmung des messianischen Reichs als
Tage<<. Von diesem Ende bemerkt Cohen: >>es sei das metaphysische Struktur der Geschichte und als Krisis
Einst, zu dem alle Politik hinzustreben hat; auf das alle zu beheben versucht (II, 75). Gegen die Annahme eines
Wirklichkeit orientiert werden muß. Nicht die Gegen- messianischen Telos der Geschichte, das logisch fun-
wart; auch nicht die[ ... ] Vergangenheit soll die Richt- diert, erkennbar, begrifflich fixiert und dennoch un-
schnur bilden; >es soll ihrer nicht ferner gedacht wer- erreichbar- oder doch nur in der >>Ewigkeit des Fort-
den<, die Zukunft allein soll den Leitstern der Politik, gangs der sittlichen Arbeit<< (Cohen), also nur zwei-
und somit der Religion bilden. Nicht das Ende der Welt deutig >erreichbar< - sein soll, richtet sich der kurze
und der Menschheit soll der Friede bedeuten, den >die Text, dem Adorno den Titel >>Theologisch-politisches
178 Messianismus, Ästhetik, Politik

Fragment<< gegeben hat, der entschiedenste Versuch Vollendung erstrebt werden, die nicht ihrerseits bloß
des jungen Benjamin, die Begriffe der Geschichte und endlich wäre.
des Messianischen streng aufeinander zu beziehen, Wenn Benjamin im ersten Satz dieser Skizze schreibt:
ohne sie mit dem Zwangsmittel der theo-teleologi- >>Erst der Messias selbst vollendet alles historische Ge-
schen Orientierung des geschichtlichen Prozesses zu schehen [... ]<<,so wiederholt er damit die Cohensche
einer theoretisch unbegründbaren und praktisch de- Definition des Reichs Gottes als der Vollendung aller
saströsen Einheit zu bringen. geschichtlichen Ereignisse. Er unterzieht diese Defini-
In diesem Versuch nimmt Benjamin seinen Gedan- tion aber einer radikalen Revision, wenn er fortfährt:
ken aus dem PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSO- >>Und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf
PHIE wieder auf, die >>Dignität einer Erfahrung die das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft<<
vergänglich war<<, zur Geltung zu bringen, und stellt (II, 203 ). Vollendet erst der Messias alles historische
ihn ins Zentrum seiner Geschichtsphilosophie und Geschehen, dann kann auch erst der Messias die Be-
seiner Theorie der Politik. Der Würde einer vergäng- ziehung des historischen Geschehens auf seine Vollen-
lichen Erfahrung kann ein teleologischer Messianis- dung vollenden, dann gibt es vor seinem Erscheinen
mus, wie Cohen ihn postuliert, nicht gerecht werden, eine solche Richtung der Geschichte auf ihre Vollen-
weil in ihm alle Vergänglichkeit für die Ewigkeit der dung nur unvollkommen, dann gibt es sie nicht als die
sittlichen Arbeit und alle Erfahrung für die unerfahr- konkrete, individualisierte und prägnante Beziehung
bare Idee des Messias der Sittlichkeit preisgegeben auf den >>Messias<<, sondern allenfalls auf >>das Messia-
wird. Cohens Messianismus ist aber nicht nur die auf nische<<, und dann gibt es diese Beziehung nur als un-
Dauer gestellte und den Schein der Dauer erzeugende bestimmte, indefinite und ungerichtete, wohl als Be-
Verleugnung der Vergänglichkeit des geschichtlichen ziehungsmöglichkeit, aber nicht als reale Relation. Gilt
Lebens. Die Intention auf das messianische Reich der der Satz, erst der Messias selbst vollende alles histori-
einen befreiten Menschheit entwürdigt, mit bestem sche Geschehen, dann muß gleichzeitig gelten, daß es
Willen, dies Reich zum Objekt sowohl der Erkenntnis eine teleologische Beziehung des historischen Gesche-
wie des Willens, während sie es zweideutig zugleich als hens auf den Messias oder auch nur aufMessianisches
unnahbare Idee über alle theoretischen und prakti- nicht geben kann. Noch die >>Beziehung<< der Ge-
schen Vermögen erhebt. Solange es noch eine Inten- schichte auf Messianisches muß erlöst und vollendet,
tion auf den Messias gibt -solange er noch Gegen- das heißt aber, sie muß vom Messias geschaffen werden.
stand, Zweck und Telos des geschichtlichen Lebens ist Nicht also die Geschichte bezieht sich auf den Messias,
-,solange wird die künftige Geschichte unter die Kon- nur der Messias könnte sich auf die Geschichte bezie-
trolle der Intention gestellt und kann nur die Ge- hen und erst derart ihre Beziehung auf ihn erzeugen.
schichte eines kontrollierten Messias sein; solange die Ist die Disjunktion zwischen unvollendetem histori-
Zukunft - der Messias - beherrscht wird, kann eine schen Geschehen und Vollendung so tief wie sie unter
Zukunft, die befreit, nicht erfahren werden. Nur wenn Bedingungen der Unerlöstheit gedacht werden muß,
die Dignität des Vergehens auch noch der Intentionen so fällt die Möglichkeit weg, innerhalb der Geschichte
gewahrt ist, gibt es Raum für die Dignität dessen, was ihre Erlösung und Vollendung auch nur zu denken,
kommen könnte. Geschichtsphilosophie, der es mit geschweige sie zum Ziel zu wählen und zu erstreben.
der Geschichte ernst ist, kann erst mit dem Ende der Es entfällt damit aber auch die Möglichkeit, von einer
Geschichtstheologie beginnen. geschichtlichen Hoffnung auf das messianische Reich,
von einem paulinischen Warten auf sein Kommen,
vom Kant-Cohenschen unendlichen Fortschreiten auf
Politisch-atheologisches Fragment es hin zu reden.
>>Darum<<, so lautet Benjamins Konsequenz im an-
In ihren ersten Sätzen legt Benjamins Argumentation schließenden Satz, >>kann nichts Historisches von sich
-denn Argumentation bleibt sietrotzihres apodikti- aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist
schen Gestus- die Spannung frei, die für die endliche das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dy-
Vernunft im Begriff der Vollendung und eines als Voll- namis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden<< (II,
endung begriffenen messianischen Zustands liegt. Ist 203). Kant hatte in der Zweiten und der Dritten Kritik
nämlich das historische Geschehen die Geschichte die letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen
endlichen Daseins, so kann es in ihr wohl eine Bezie- Systems dem Menschen anvertraut, weil unter allen
hung auf Vollendung geben, aber weder kann ange- Naturwesen er als einziges fähig sei, seine eigenen
nommen werden, daß diese Vollendung der Geschichte Zwecke zu setzen und sie nach einem solchen Gesetz
eine Richtung gibt, noch kann von Endlichem eine zu setzen, das von Zwecken der Natur unabhängig, das
Das Theologisch-politische Fragment 179

unbedingt und allein in ihm selbst begründet sei. Die setzung<< oder als >>Entsetzung<< aller epistemischen
Unbedingtheit ihrer Zwecksetzung qualifiziert die und Willens-Setzungen hervor. Genuin politisch ist
menschliche Vernunft nach Kant nicht nur als teleo- erst diejenige Organisation des geschichtlichen Lebens,
logische, sondern als auto-teleologische: >>Von dem die realisiert, daß ihr alle theologischen Aspirationen
Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in versagt sind. Benjamins >>Fragment<<, das Adorno als
der Welt) als einem moralischen Wesen kann nicht >>theologisch-politisches<< bezeichnet hat, wäre deshalb
weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er exi- angemessener als >>politisch-atheologisches Fragment<<
stiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in charakterisiert.
sich, dem, soviel er vermag, er die ganze Natur unter- Was >>nicht zum Ziel gesetzt werden<< kann, muß
werfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich jede auf es bezogene Intention ent-setzen. Vom Reich
keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf« Gottes schreibt Benjamin deshalb: »Historisch gesehen
(Kant 1957, B 398). Da seine Selbstgesetzgebung aber ist es nicht Ziel, sondern Ende<< (II, 203). Der resoluten
unter Naturbedingungen nicht vollendet werden Disjunktion von Geschichte und Gottesreich, die Ben-
kann, sondern als imperatives Gebot nur ein unend- jamin fordert, korrespondiert die zwischen Telos und
liches Projekt definiert, bedarf sie zur Aussicht auf ihre Eschaton. Daß es keine Teleologie der Geschichte ge-
Vollendung der Idee vom Reich Gottes. In dieser Idee ben kann, die ihren Abschluß in Gott finden würde,
ist der mögliche Abschluß der autoteleologischen, der begreift Benjamin als ein Argument dafür, daß jede
Selbstgesetzgebung postuliert. Für die Kantische Ethik binnenhistorische teleologische Konstruktion nur ab-
und ebenso für die Cohens ist das Reich Gottes also gebrochen und durch ein eschatologisches Ereignis -
>>Telos der historischen Dynamis<< (II, 203), es ist Set- von Außen einfallend, ungewollt und ungesetzt - ar-
zung eines Ziels der Geschichte, in dem das Projekt retiert werden kann. Dieses Ereignis mag die Vollen-
der Selbstsetzung zur Vollendung gebracht würde, und dung alles historischen Geschehens sein, aber aus der
es ist das intentionale Objekt eines Willens, der sich Perspektive der geschichtlichen Intentionen- >>histo-
in ihm rein auf sich selbst beziehen soll. Wenn Benja- risch gesehen<< -kann diese Vollendung nur den Ab-
min die messianische Teleologie der Geschichte, wie bruch jeder messianistischen Teleologie und die Un-
er sie bei Kant und deutlicher bei Cohen formuliert brauchbarkeit theologischer Begriffe für die politische
finden konnte, rigoros bestreitet, dann offenkundig Praxis bezeichnen.
wiederum aufgrunddes Arguments, das der erste Satz
seines Textes fixiert: da endliche Vernunft, unter Na-
turbedingungen stehend, sich selbst nur als Naturwe- Keine Heilsgeschichte
sen Gesetze geben kann, müßte das Reich Gottes, als
Ziel eines endlichen Willens, selbst ein nur endliches In einer Notiz aus den späten 30er Jahren nimmt Ben-
und somit ein Reich der Natur sein. Wollte Histori- jamin diesen Gedanken wieder auf mit der Formulie-
sches von sich aus sich auf Messianisches beziehen, so rung »Der Messias bricht die Geschichte ab; der Mes-
wäre seine Beziehung eine bloß naturgeschichtliche. sias tritt nicht am Ende einer Entwicklung auf<< (I,
Der Wille würde sich dem Messias supponieren und 1243). Die veränderte Vorstellung von der Funktion
in der trüben Mischung aus Sinnlichkeit und Ver- politischer Revolutionen, die diesem messianischen
nunft, Naturkausalität und Sittengesetz nur ein my- Abbruch der Geschichte korrespondiert, faßt Benja-
thisches, nicht aber ein Reich der Freiheit begründen. min zur gleichen Zeit in die Korrektur einer Marx-
Solange es noch Setzung gibt, und a fortiori wenn sie schen Metapher: >>Marx sagt, die Revolutionen sind die
Setzung der Vollendung ist, bleibt sie der Naturkau- Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem
salität, also der Unfreiheit und Unvollendung unter- gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der
worfen. Griff des in diesem Zuge reisenden Menschenge-
Da der Messias nicht Gegenstand von thetischen, schlechts nach der Notbremse<< (I, 1232). Ob Abbruch
intentionalen, teleologischen Akten sein kann, muß oder Bremsung: das messianische Reich liegt nicht im
die Vollendung, die er dem historischen Geschehen Ziel des historischen Verlaufs, es liegt dort, wo dieser
bringen kann, ein selber athetisches, ein nicht-inten- Verlauf ein Ende findet. Die Folgerungen, die sich aus
tionales und ateleologisches Ereignis sein. Wie Benja- dem Ende des Telos im Eschaton ergeben, sind nach
min in seiner Abhandlung ZuR KRITIK DER GEWALT der Darstellung des »Fragments<< zunächst allesamt
von einer >>Entsetzung des Rechts samt der Gewalten, negativ- wie denn der gesamte Argumentationsgang
auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes<< spricht (II, in der ersten Hälfte der Benjaminsehen Skizze von
202), so kann vom Messianischen, sei es des Reichs, sei Negationen skandiert ist. Geschichte kann nicht als
es der Zeit, gesagt werden, es trete allein in der >>Ent- >Heilsgeschichte<, sie muß als Bereich einer Politik des
180 Messianismus, Ästhetik, Politik

Profanen verstanden werden, der aus epistemischen kann nicht die Natur und Creatur von mir wegneh-
Gründen jede konstitutive, aber auch jede regulative men, denn so das geschähe, so wäre ich ein Nichts,
Beziehung auf theologische Vorstellungen verwehrt ist. darumb so muß ich mir die Gottheit durch Bilde ein-
So sehr diese epistemischen Gründe ihrerseits in einem modeln. Höre mein Bruder, Gott sprach, du sollst dir
Begriff vom Gottesreich als einer Ordnung fundiert kein Bildnüß machen einigen Gottes. Und das ist der
sein mögen, die sich jeder Antizipation entzieht, aus nächste Weg zu Gott, daß das Bild Gottes in sich selber
der Unsetzbarkeit und Unintendierbarkeit des Messia- allen eingemodelten Bildern ersinke und alle Bilde,
nischen ergibt sich für alles Historische und darum Disputate und Streite in sich verlasse und sich bloß
auch für die Politik, daß in theoretischer wie in prak- alleine in das ewige Eine ersenke<< (Bloch 1971, 369).
tischer Hinsicht eine Orientierung am Modell der Der >>nächste Weg<< zu Gott ist das >>Wegnehmen<< alles
Theokratie unbrauchbar ist: >>Darum kann die Ord- dessen, was einen Weg überhaupt erforderlich macht.
nung des Profanen nicht am Gedanken des Gottesrei- Die via negationis viae ist für Böhme wie für Bloch die
ches aufgerichtet werden, darum hat die Theokratie Methode, die vor die Schöpfung zurück zu einem
keinen politischen sondern allein einen religiösen Schöpfer führen soll, der durch kein Nachbild verstellt
Sinn. Die politische Bedeutung der Theokratie mit und hinter keinem Vorstellungsbild verborgen wäre.
aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Ver- Wenn Bloch diese böhmesehe Methode der Dekreation
dienst von Blochs >Geist der Utopie<<< (II, 203). übernimmt und für seinen politischen Messianismus
Es mag dahingestellt bleiben, ob dies das größte nutzbar zu machen versucht, dann kann das messia-
Verdienst von Blochs Utopie-Buch ist; es mag auch nische Reich für ihn nur in dem Sinn ein Telos der
offen bleiben, ob er darin tatsächlich die politische Geschichte sein, daß darin alle Ziele und Zwecke, alle
Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleug- Bilder und Ideale untergehen, die aus der Perspektive
net hat- die Kritik der politischen Theokratie lag tat- von Natur und Kreatur noch wahrgenommen oder
sächlich in Benjamins eigenem Interesse (vgl. VI, errichtet werden könnten. Während aber Bloch dieser
99ff.), während von Bloch, der mit polemischen Be- Methode eine gnostische, marcionitische Wendung
merkungen gegen Gottesgnadentum und staatskirch- gibt, die den Gott der Schöpfung vom Gott der Erlö-
liche Repression nicht geizt, zwar mit Marx ein >>total sung scheidet und deshalb nur einen halbierten Athe-
organisierender Atheismus usque ad finem als sozia- ismus und eine ambivalente Leugnung der politischen
listische Arbeitshypothese<< gefordert, aber gleichzeitig Bedeutung der Theokratie erlaubt, richtet sich das In-
bestritten wird, daß es ein >>besonderes philosophi- teresse Benjamins, der zu gnostischen Tendenzen Ab-
sches Verdienst<< sei, >>wenn der Marxismus atheistisch stand gehalten hat, auf die radikalere Konsequenz, die
konsequent bleibt, um der Menschenseele nichts an- sich in Böhmes Text andeutet: daß der Weg zum >>ewi-
deres als einen mehr oder minder eudämonistisch gen Einen<< nicht nur der Weg der Natur vor die Natur
eingerichteten> Himmel< auf Erden ohne die Musik zu zurück, sondern zugleich ein Weg vor alle natürlichen
geben, die aus diesem mühelos funktionierenden Me- Erkenntnis- und Handlungsformen sein muß. Dieser
chanismus der Ökonomie und des Soziallebens zu Weg kann nur der Gang in >>ein Nichts<<, er kann nur
ertönen hätte<< (Bloch 1971, 407). Tiefer in die Kon- ein Untergang sein. Denn nur >>ein Nichts<< übt keine
vergenz zwischen Benjamin und Bloch, der ein »Sy- Herrschaft aus, stellt sich nicht als Idol vor Gott oder
stem des theoretischen Messianismus<< nur prokla- an seine Stelle und kann als Ziel weder gesetzt noch
miert, um es für den >>praktischen Messianismus<<, wie intendiert werden.
er betont, >>sturmreif<< zu machen (Bloch 1971, 337), Damit ist nicht nur die politische Bedeutung der
dürfte ein anderer Aspekt der messianischen Atheolo- Theokratie, die sich am endlichen Bild eines Unend-
gie führen, die Bloch im Geist der Utopie für die Politik lichen aufrichtet, dementiert, damit ist zugleich die
zu gewinnen versucht. Methode einer durch und durch profanen Politik de-
Dieser Aspekt wird, wie manches andere, deutlicher finiert, die Benjamin in den letzten Worten seines
als an Blochs eigenen Formulierungen an einer Passage >>Fragments<< als >>Nihilismus<< (II, 204) bezeichnet. Das
aus Jacob Böhme, die er zitiert. Für den wahren Weg nihil dieses Nihilismus läßt sich für eine theokratische
zur Gotteserkenntnis und Gottesrealisierung fordert Ordnung nicht gebrauchen, weil es deren Hierarchien
Böhme die Wegnahme nicht nur der Natur und der in der An-archie ihres Grundes auflöst; es läßt sich
Schöpfung, sondern mit der Wegnahme der Schöpfung andrerseits für die >>Ordnung des Profanen<<, und das
zugleich die Tilgung der Gottesbilder- und vielleicht ist die Ordnung der Geschichte und der Politik, nicht
der Gottesebenbildlichkeit- des Menschen.>> Willst du gebrauchen, weil deren natürliche, profane Bestim-
wissen, wo Gott wohnet, so nimm weg Natur und mung selber schon in diesem nihil beruht. Der Benja-
Creatur, als denn ist Gott alles. Sprichst du aber: Ich minsehe ist wie der Böhmesehe Nihilismus kein Mittel
Das Theologisch-politische Fragment 181

zu einem historischen Zweck, sondern die endogene sianischen würde sich in dem weißen Blatt bezeugen,
Tendenz alles Lebendigen, im Untergang - und noch von dem das Löschblatt die Schrift entfernt hat, die
im Untergang seiner möglichen Pläne, Ziele und von ihm handelt. Übrig bliebe von der Theologie
Zwecke - zu enden. Das rigoros profane Leben ist das nichts außer dem Profanen, ihre Inversion an einem
in der Erfahrung seiner Endlichkeit, im Prozeß seines anderen Ort.
Verschwindens, im Verlust sogar noch seiner Kreatür-
lichkeit sich profanierende Leben. Profanierung ist
kein veränderter Gebrauch geheiligter oder göttlicher Profanes, Glück
Instanzen, Profanierung ist die Oberführung in ihre
Unbrauchbarkeit. Die mystische Dekreation, die Profan ist, was sich ausspricht. Darin ist der gesamte
Böhme beschreibt und Bloch zitiert, ist Modell einer Bereich des Sprachlichen, der Sprache Fähigen und in
solchen Profanierung, wie Benjamin sie im Sinn hat, ihr Ausdrückbaren einbegriffen. Das Heilige, das in der
denn sie ist die einzige, die auf eine Orientierung an Idee des Gottesreichs und der messianischen Zeit ge-
theologischen Vorstellungen verzichten und sich von meint ist, gehört als sacrum, als Abgetrenntes nicht zu
einer theokratischen Organisation des geschichtlichen diesem Bereich; es ist das schlechthin Unprofane, Un-
Lebens verabschieden kann. Erst die Reduktion auf aussprechliche, keiner Sprache Zugängliche. Aber das
das Nichts der Natur ist ihre Reduktion auf sich selbst, Profane ist zugleich auch das, was sich als Ordnung
das Profane. des schlechthin Aussprechbaren selber definiert. In-
Wenn Benjamin von der >>Ordnung des Profanen«, dem es sich ausspricht, bringt es sich zu Ende. Glück
der >>Dynamis des Profanen« und, mit gesteigerter kann nur darin liegen, sich unbedroht in der Ordnung
Emphase, von der >>profanen Ordnung des Profanen« des Profanen zu bewegen. Es ist eine Kategorie der
redet, dann wohl kaum, um bloß ihren Gegensatz ge- Endlichkeit; und, genauer, eine Kategorie des Endens
gen die andere Ordnung des Gottesreichs, des Sakralen im Profanen. So wird Benjamin sie noch in dem Apho-
und Messianischen zu betonen, sondern um damit rismus der EINBAHNSTRASSE verstanden haben, in dem
zugleich den im Wortsinn sprachlichen Charakter des es heißt: >>Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner
Profanen hervorzuheben: daß es die rückhaltlos sich selbst inne werden können<< (IV, 113). Daß hier der
aussprechende Entäußerung alles dessen ist, was als sa- Schrecken, der den Glücklichen nicht trifft, dennoch
kral gilt und von theologischen Vorstellungen be- eigens erwähnt wird, deutet darauf hin, daß dieses
stimmt ist. So verstanden, ist die Ordnung des Profa- Selbst auch das noch vor sich offenlegen kann, was ihm
nen die einzige, die kompromißlos und in einem ein Ende setzt. Die überlegung setzt voraus, daß wer
gänzlich untheokratischen und untheologischen Sinn seiner selbst inne wird, erschrecken müßte- Glück ist,
messianisch sein kann, weil allein sie fahig ist, eine diesem Schreck, der eigenen Vernichtung, im Ionewer-
Scheidung von allen Vorstellungen des Messianischen deo zu entrinnen. In dem Gedankengang, den das
herbeizuführen, die noch der profanen Welt angehö- Theologisch-politische Fragment durchläuft, taucht
ren: Nur indem sich die Profanierung von dem vorge- der Gedanke des Glücks an genau der Stelle auf, an der
stellten, dem intendierten oder gesetzten Messiani- die Idee des Gottesreichs als bedeutungslos für die
schen - dem bloß halbherzig profanen - trennt; nur Ordnung des Profanen und als unbrauchbar für das
indem sie sich im Untergang noch von sich selber historische Geschehen und für die Politik abgewiesen
trennt und zu nichts als dieser Trennung, zur absolu- ist. Geschichte ist profan. Da sie sich aufkeine theolo-
ten Krisis des Profanen wird, macht sie Raum für ein gische Vorstellung beziehen kann, ohne sich unredlich
Messianisches, das vom Profanen frei sein und mit und unausdrücklich zu verleugnen, muß sie sich als
dessen Tendenz sich dennoch treffen kann. Struktur des Profanen so entfalten, daß sie sich ohne
Benjamin hat das Verhältnis zwischen seiner Atheo- Einschränkung als solche: als profan, als endlich und
logie und jeder Art von theologischer Vorstellung im als Vergängnis darstellen kann. Wenn Benjamin von
>>Passagenwerk« in ein Bild gefaßt, das auch die Bezie- der >>profanen Ordnung des Profanen<< spricht, dann
hung des Profanen zum Theologischen, von dem das ist das weder eine banale Tautologie noch soll damit
frühe >Fragment< spricht, verdeutlichen kann: >>Mein bloß gesagt sein, daß jede sakrale Orientierung des
Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt Profanen in politische Katastrophen führt; damit ist
zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber vor allem ausgesprochen, daß das Profane sich allein
nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben in seinem eigenen Umkreis und deshalb allein als das
ist, übrig bleiben<< (I, 1235; V, 588). Wie die Schrift ganz in seiner Endlichkeit und bis an seine äußerste Grenze
ans Löschblatt, so soll die Theologie ganz ans Denken Darstellbare realisiert. In seiner Selbstoffenbarkeit ist
übergehen. Die vollkommene Profanierung des Mes- das Profane Glück.
182 Messianismus, Ästhetik, Politik

In diesem Sinn dürfte auch eine Notiz zu verstehen greifen und verwandeln würde, sondern messianisch
sein, die aus derselben Zeit zu stammen scheint wie ist dies Enden, weil die >>ewige und totale Vergängnis<<
das »Fragment<<: >>Meine Definition der Politik: die die immer tiefere Immanentierung der Immanenz,
Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit<< (VI, weil sie die ewige und totale Profanierung des Profanen
99). Mit dieser Definition wird Nietzsches Konzept ist und diese Profanierung als Tilgung der Zeit- und
einer Politik des Übermenschen zurückgewiesen, die Raumwelt eine völlig andere Zeit und einen völlig an-
Benjamin in der bedeutenden Arbeitsskizze KAPITA- deren Raum freigibt. Messianisch ist die Welt nicht,
LISMus ALS RELIGION mit der Formel >>Sprengung des weil sich ein geheimer Messias in ihr regte, sondern
Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit<< charak- weil sie in ihrem Vergehen Platz für seine Ankunft
terisiert (1 01). Eine Politik, die sich als Erfüllung der schafft.
ungesteigerten, der endlichen und fragilen Mensch-
haftigkeit definiert, kann nur eine Politik sein, die sich
den Schrecken der Hinfälligkeit aussetzt und in der Unmittelbatkeit der Mitteilbarkeit
Hingabe an die Hinfälligkeit des Profanen ihr Glück
findet. Es ist also keine apodiktische Verfügung, es ist Messianisch ist die Profanierung, und nichts außer ihr.
die nüchterne Konsequenz aus der Zusammengehö- Das ist die Konklusio, die sich aus der Einsicht ergibt,
rigkeit von Profanem und Glück, wenn Benjamin er- daß es eine Beziehung der Geschichte auf eine außer-
klärt: >>Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurich- geschichtliche Instanz wie das Reich Gottes nicht ge-
ten an der Idee des Glücks<< (II, 203). Und wenn er in ben kann, solange nicht eben diese Instanz der Ge-
seiner überlegung fortfährt: >>Denn im Glück erstrebt schichte ein Ende bereitet hat. Wenn aber nur die
alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist Profanierung und nichts außer ihr messianisch ist,
ihm der Untergang zu finden bestimmt<< (204), dann dann ergibt sich daraus für die Politik, für die Ge-
wird die Wechselbeziehung zwischen dem Profanen schichte und zunächst für die Philosophie die Aufgabe,
und seinem Glück ein weiteres Mal bestätigt. Nicht jede Beziehung auf theologische Vorstellungen, jede
daß das Irdische glücklich wäre, ist damit gesagt, son- Aspiration auf ein göttlich verbürgtes Heil und jede
dern daß es sich auf sein Glück als auf sein Ende be- Orientierung an einer Erlösung, die nicht selber pro-
zieht, und in diesem Ende des Endlichen sich selbst in fan, irdisch und geschichtlich wäre, aufzugeben. Die
seiner strukturellen Bestimmung als Endliches erfährt. restlose Elimination des Messianischen im Profanen
Wem nur im Glück >>der Untergang zu finden be- kann aber zur Sache der Politik nur werden, wenn diese
stimmt<< ist, der geht nicht unter, es sei denn im Glück; Elimination bereits in der Struktur des Profanen am
wer dagegen seine Bestimmung im Glück nicht findet, Werk ist. Sie kann sich also nicht als Mittel in den
von dem kann nicht gesagt werden, daß er untergeht. Dienst von Zwecken stellen, die außerhalb ihrer selbst
>Bestimmung<, wie Benjamin diesen Begriff hier ver- liegen. Profan ist der Bereich der bloßen Mittel ohne
wendet, heißt also nicht nur Ende, eschaton, Extrem Zweck. Allen Anschein der Zweckmäßigkeit von Mit-
einer Bewegung, Ziel, Grenze und, im Sinn der Mathe- teln zu tilgen und ihre reine Mittelbarkeit offenzule-
matik des Infinitesimalen, Limes; >Bestimmung< heißt gen, ist deshalb die genuine Bewegung des Profanen
auch Telos. Wenn vom Reich Gottes zuvor betont und das Officium seiner Philosophie. Benjamin hat
wurde, daß es >>nicht das Telos und historisch gesehen genau diese überlegung in seinem Brief vom Juli 1916
nicht Ziel, sondern Ende<< des historischen- profanen an Martin Buher dargelegt, in dem er von der imma-
- Geschehens ist, so konvergiert im Glück das Ende nenten Politik der Sprache- und das heißt, ohne daß
mit dem Telos dieses Geschehens, weil es den Bereich es hier so genannt würde, des Profanen- handelt. Die
der Immanenz nicht wie das Gottesreich transzendiert, Struktur des darin vorgetragenen Arguments ist iden-
sondern ihn erfüllt. In der Konvergenz von Eschatolo- tisch mit derjenigen, die den Gedankengang des >>Frag-
gie und Teleologie alles Historischen im Glück des ments<< bestimmt. Er schreibt dort, nachdem er das
Endens treten die strikt geschiedenen Bereiche des Verständnis der Sprache als eines Instruments zur Ver-
Profanen und des Messianischen an ihrer Grenze zu- mittlung von Inhalten, die ihr fremd sind, zurückge-
sammen. Benjamin fährt deshalb in seinem Gedan- wiesen hat: >>Schrifttum überhaupt kann ich nur dich-
kengang mit der Erklärung fort: >>Denn messianisch terisch prophetisch sachlich- was die Wirkung angeht
ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis<< aber jedenfalls nur magisch das heißt un-mittel-bar
(ebd.). Wenn das Enden des Endlichen- der Natur, verstehen.[ ... ] Und wenn ich von andern Formen der
des Irdischen, der Welt - messianisch ist, dann nicht Wirksamkeit - als Dichtung und Prophetie - hier ab-
dank der Intervention einer transzendenten, göttlichen sehe so erscheint es mir immer wieder daß die kristal-
oder messianischen Macht, die von Außen in es ein- len reine Elimination des Unsagbaren in der Sprache
Das Theologisch-politische Fragment 183

die uns gegebene und nächstliegende Form ist inner- und tiefer sich die Sprache in sich als das Sagbare, das
halb der Sprache und insofern durch sie zu wirken. schlechthin Mitteilbare und Profane versenkt und von
Diese Elimination des Unsagbaren scheint mir gerade allem Unsagbaren, Theologischen trennt, desto näher
mit der eigentlich sachlichen der nüchternen Schreibart rückt sie gerade dort, wo sie in ihrer Unfähigkeit, ihre
zusammenzufallen und die Beziehung zwischen Er- Mittelbarkeit zu thematisieren, verstummt, dem
kenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen »Göttlichen<<. Und dieses >>Göttliche<<, das im >Frag-
Magie anzudeuten<< ( 1, 326). >>Elimination des Unsag- ment< >>Messianisches<< heißt, ist nichts anderes als die
baren in der Sprache<< ist ein doppelter Prozeß: Zum unendliche Annäherung des Mittelbaren an seine>> Un-
einen beschränkt sich darin die Sprache auf das ihr mittelbarkeit<<, des Profanen an seinen Limes, an die
allein Zugängliche, auf das Sagbare, und grenzt alles Elimination des Sagbaren in Stummheit. Profanierung
Unsagbare, wie sie redlicherweise nicht anders kann, in ihrem Extrem ist das Unprofanierbare. Sie ist das
von sich aus. Zum anderen stößt die Sprache in sich Nahen des Messianischen im Verstummen der Spra-
selbst auf eine für sie unüberschreitbare Grenze, wo che: >>Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen
sie über sich selbst zu sprechen versucht: sie kann ihr und totalen Vergängnis<< (204).
eigener Gegenstand nur werden, indem sie Sprache zu Benjamin hat mit seinen sprachphilosophischen
sein aufhört, sich selbst als das ihr Versagte begreift Bemerkungen zur>> Unmittelbarkeit<< des Medialen und
und ihr Verstummen herbeiführt. Zum einen muß zu dem »dem Wort Versagten« das monotheistische
deshalb die Grenze der Sprache gegen das Unsagbare, Bilderverbot durch den Aufweis eines strukturellen
zum anderen muß die Sprache selbst als das ihr Ver- Sprachversagens verschärft. Er hat gezeigt, daß nie-
sagte anerkannt werden. Läuft die eine Bewegung auf mand von der Sprache sprechen kann, ohne sie- und
die Elimination des Unsagbaren aus der Sprache, die damit unvermerkt sich selbst - zum Schweigen zu
andere auf seine Elimination in der Sprache hinaus, so bringen, und hat darin keine ephemere Unbequem-
konvergieren beide Bewegungen in der Elimination lichkeit, sondern die Grundstruktur der Sprachlichkeit
der Sprache als eines Mittels für Anderes, als eines In- schlechthin gesehen. Da diese Struktur zugleich die
struments zu außer ihr gelegenen, insbesondere poli- des geschichtlichen Lebens ist, kann er in seinen Be-
tischen Wirkungen. Sprache ist >>un-mittel-bar<<: sie ist merkungen zur Struktur der Geschichte und der Po-
nicht Mittel zu Zwecken der Erkenntnis oder der Po- litik einer Argumentationsbahn folgen, die von seinen
litik, sondern in sich selbst erkennend und politisch; sprachphilosophischen Studien vorbereitet ist. Wie
sie ist es aber nur, indem sie in sich die Deinstrumen- diese darlegen, daß die Sprache dort, wo sie am inten-
talisierung bis ins Verstummen und die Profanierung sivsten sie selbst, wo sie ganz sprachlichen und darin
bis ins Extrem der Deprofanierung treibt. göttlichen Wesens ist, der Mitteilbarkeit entrückt ist,
Wegen dieser Doppelbewegung der Elimination, die so legen seine Äußerungen zur Struktur der Geschichte
den beiden Seiten der Sprachgrenze, derjenigen gegen dar, daß diese erst in der Absolutierung der Immanenz
das Unsagbare des Sprachtranszendenten und der ge- diejenige Bewegung vollzieht, in der sie, unendlich
gen das Versagte der Sprachimmanenz, entspricht, profan, messianisch - aber eben deshalb durch keine
kann Benjamin in seinem Brief fortfahren: >>Mein Be- Intention regierbar ist.
griff sachlichen und zugleich hochpolitischen Stils und An diesen sehr frühen Einsichten aus den zehner
Schreibens ist: hinzuführen auf das dem Wort versagte. Jahren hält Benjamin in allen späteren Arbeiten fest.
[... ] Nur die intensive Richtung der Worte in den Kern Sie bilden insbesondere die Grundfigur der geschichts-
des innersten Verstummens hinein gelangt zur wahren philosophischen Formulierungen aus dem URSPRUNG
Wirkung. Ich glaube nicht daran daß das Wort dem DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS, in dem er dem Alle-
Göttlichenirgendwo ferner stünde als das >>Wirkliche<< gorischen genau diejenige Bewegung zuschreibt, mit
Handeln also ist es auch nicht anders fähig ins Göttli- der er im >>Fragment« die >>profane Ordnung des Pro-
che zu führen als durch sich selbst und seine eigene fanen« charakterisiert. Die >>Einsicht ins Vergängliche
Reinheit<< (1, 326f.). >>Elimination des Unsagbaren in der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten«, so
der Sprache<< heißt also Elimination der Sprache selbst schreibt er im Trauerspielbuch, >>ist im Allegorischen
als eines Mittels, Restitution jener >>Unmittelbarkeit« eins der stärksten Motive«; und: >>Die Allegorie ist am
des Medialen, die der frühe Sprachaufsatz von 1916 bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglichkeit und
als >>das Grundproblem der Sprachtheorie<< und die er Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen« (I, 397). Aber
wie der Buberbrief als >>magisch<< bezeichnet (II, 142), dieser Zusammenstoß von Vergänglichkeit und Ewig-
Reduktion des Profanen auf den >>Kern des innersten keit findet nicht an einer imaginären Grenze in der
Verstummens« und darin seine Zurückführung auf Zukunft statt, er ereignet sich fortgesetzt in der Hin-
das im Wortsinn Unprofanierbare. Je ausschließlicher fälligkeit des Weltgeschehens und der Vergänglichkeit
184 Messianismus, Ästhetik, Politik

der Kreatur. >>Kennt das deutsche Trauerspiel eine Er- ist. Nach dem Argumentationsgang des Briefes an Bu-
lösung<<, schreibt Benjamin, >>SO liegt sie mehr in der her ließe sich sagen: Noch das Verstummen der Rede
Tiefe dieser Verhängnisse selbst als im Vollzuge eines bezeugt die Sprache, und als Verstummen der Rede
göttlichen Heilsplans« (260). Erlösung liegt in der Hin- vom Verstummen erzeugt es sie und läßt sie entsprin-
fälligkeit und Vergänglichkeit, weil sie bedeuten- und gen. Nach dem ähnlich strukturierten Gedanken des
zwar die Hinfälligkeit noch ihrer eigenen Bedeutung Trauerspielbuchs wendet sich das Vergehen gegen sich
bedeuten, derart »umspringen« und den >>Umschwung selbst und wird zu einem möglichen Anfang: Da Ver-
in das Heil der Rettung<< vollziehen (405). In einer der gehen allegorisch sein eigenes Vergehen bedeutet,
emphatischsten Passagen am Ende des Trauerspiel- springt es von sich ab und springt um zum Zeugnis
buchs resümiert Benjamin den Ertrag seiner Analysen der Rettung. Dieser >>Umschwung<< oder >>Umsprung<<
mit dieser Erklärung des >>Umschwungs<< in der Alle- von der Vergänglichkeit in das Vergehen noch jeder
gorie: >>Vergänglichkeit ist in ihr nicht sowohl bedeutet, Vorstellung von Vergänglichkeit und so in den >>Ur-
allegorisch dargestellt, denn, selbst bedeutend, darge- sprung« der Erlösung von ihr, ist vorgezeichnet in der
boten als Allegorie. Als die Allegorie der Auferstehung. Inversion, die das >Politisch-theologische Fragment<
Zuletzt springt in den Todesmalen des Barock - nun beschreibt, wenn es die Vergängnis der Natur messia-
erst im rückgewandten größten Bogen und erlösend nisch nennt und sie als Glück bezeichnet. Benjamins
-die allegorische Betrachtung um<< (405 f.). Vergäng- >>Fragment<<, aus der Grundstruktur seiner frühen
lichkeit ist nicht nur das in den Allegorien des Barock sprachphilosophischen Überlegungen hervorgegan-
Bedeutete, auch sie selbst noch ist eine Allegorie und gen, ist die bündigste Fassung der Geschichtsphiloso-
bedeutungsvoll; da sie aber die Vergänglichkeit ihres phie seines Trauerspielbuchs und noch der spätesten
Bedeutens bedeuten muß, spricht in ihr- notwendig, Teile des Passagenwerks.
>>im rückgewandten größten Bogen«, in der Inversion
-etwas völlig anderes als Vergänglichkeit, nämlich die
Vergängnis des Vergänglichen, und damit die Erlösung. Vergängnis im Vergehen
Indem die Vernichtung, die in der Allegorie das herr-
schende Thema des Bedeutens ist, selber als Bedeuten- Der ketzerisch kategorische Imperativ, der sich aus der
des, auf Anderes Verweisendes spricht, vernichtet sich Unintendierbarkeit des Gottesreichs ergibt, kann nur
die Vernichtung in der Allegorie selbst - sie bedeutet der eudämonistische der Glückssuche sein: nicht der
das Nichtsein dessen, was sie vorstellt (vgl. 406). Indem Imperativ der Freiheit unterm Sittengesetz, den Kant
sie ihrem Nichts ein Nicht entgegenstellt, erzeugt sie und nach ihm mit verstärkter messianischer Emphase
in jeder ihrer Wendungen immer wieder aufs Neue ein Cohen, sondern der des Glücks, den Kant und Cohen
Etwas. Sowohl Vollzug wie Zurückweisung des Nichts, nur unter dem Gesetz dulden konnten, den Benjamin
ist das Nicht, mit dem die Allegorie der von ihr bedeu- dagegen, da das Gesetz für ihn außer aller positiven
teten Vernichtung begegnet, der >>Ursprung« des Da- Beziehung zur Freiheit steht, als einzig möglichen Im-
seins wie seiner spezifisch neuzeitlichen Artikulation, perativ der profanen Welt gelten läßt. Seine eudämo-
der Geschichte. >Ursprung<, die entscheidende Kate- nistische Maxime für das geschichtliche Leben lautet
gorie des Trauerspielbuchs, ist für Benjamin, anders also: >>Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten
als für Hermann Cohen (Cohen 1997, 35f.), von dem an der Idee des Glücks« (II, 203 ). Wenn auch hier, wie
er sie entlehnt hat, kein Begriff der reinen Erkenntnis, bei Kant, Glück nur als Idee in Betracht kommt, so
sondern der prägnante Begriff für die Struktur histo- kommt es, wie bei Kant die Glückseligkeit, doch in
rischen Geschehens: >>Die Kategorie des Ursprungs ist Betracht als Idee eines Zustands, dem der Mensch seine
also nicht, wie Cohen meint, eine rein logische, son- Triebe unter bloß empirischen Bedingungen adäquat
dern historisch<< (I, 226). machen will - aber, wie Kant vermerkt, unmöglich
Das Nicht-Nichts, dessen logische Form, das unend- kann, weil er damit >>an der Zerstörung seiner eigenen
liehe Urteil, Cohen ins Zentrum seines Denkens ge- Gattung arbeitet<< (Kant 1957 B 388, 390). Glück bleibt
stellt hat, steht als proto-ontologische Kategorie des für Benjamin letzter Naturzweck wie für Kant, aber
Historischen im Zentrum von Benjamins Arbeiten. Zweck einer Natur, der, sobald er erreicht ist, überbo-
Dieses Nicht-Nichts ist die Formel des methodischen ten werden und zurückfallen muß, um einem größeren
Nihilismus, der im letzten Satz des >>Fragments<< nicht Glück Platz zu machen, das wiederum derselben Me-
etwa das Vergehen zur Losung der Weltpolitik erklärt, chanik von Überbietung und Untergang folgt. Denn,
sondern die Vergängnis noch aller Formen des Verge- so schreibt Kant, des Menschen >>Natur ist nicht von
hens: eine Vergängnis, die Ursprung von Neuem, Er- der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören
öffnung der Geschichte und Ermöglichung von Politik und befriedigt zu werden<< (Kant 1957, B 389). Wenn
Das Theologisch-politische Fragment 185

Glückssuche in keinem Genuß aufhören kann und und innerräumlicher Vergängnisformen; der Rhyth-
gleichzeitig jeden Genuß vergehen und untergehen mus ist mehr als die Totalität der räumlichen und
lassen muß, dann erfüllt sie sich, paradox, in der Per- zeitlichen Welt, mehr als die Gesamtheit der Schöp-
manenz ihres Vergehens. Hypertelie: daß es über jedes fung in ihrer raum-zeitlichen Erstreckung, mehr als
erstrebte und erreichte Ziel hinausstreben und sich Alles, und als Transtotalität diejenige Unendlichkeit,
selbst vernichten muß, ist das Gesetz des Glücks. Des- in der die Welt der Geschichte ebenso ewig entspringen
halb ist Glück als letzter Zweck der Natur für diese müßte, wie sie ewig darin untergeht. Ein ewiger Un-
Natur selbst und mit ihren Mitteln nur im Untergang tergang ist aber keiner, es sei denn derjenige, in dem
erreichbar. die Zeit des Vergehens der Zeit sich in Ewigkeit ver-
Wenn die Hypertelie, die strukturelle Hybris des wandelt. Zeit, so ist damit gesagt, vergeht nicht nur;
Glücks, nur im Untergang ans Ziel kommt, dann doch mit ihr vergeht auch, gegen den Kantischen Satz von
in einem Untergang, der seinerseits aufUnaufhörlich- der Substantialität der Anschauungsform Zeit, das
keit dringt. Denn, noch einmal, des Menschen Natur Vergehen selbst- und dies Vergehen sowohl der Zeit-
>>ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Ge- wie der Raumwelt, das Vergehen noch der subjektiven
nusse aufzuhören<<. Die Kantische Beobachtung von Substanz der Endlichkeit, ist für Benjamin Geschichte
der Unaufhörlichkeit des Untergangs im Glück ver- in ihrer messianischen Bewegung. Und weiterhin ist
bindet sich mit Nietzsches Versen aus dem >>anderen damit, daß Zeit >ihre< Zeit hat und selber zeitlich ist,
Tanzlied<< des Zarathustra, alle Lust wolle Ewigkeit, gesagt, daß sie in einer anderen als der chronometri-
tiefe, tiefe Ewigkeit (Nietzsche 1966, 473), wenn Ben- sehen, daß sie in einer ana-chronischen oder para-
jamin schreibt, es gebe eine weltliche >>restitutio in chronischen Bewegung begriffen ist, die die universelle
integrum [... ],die in die Ewigkeit eines Unterganges Naturzeit unendlich singularisiert und einer Ultratem-
führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in poralität aussetzt, die in der Tradition der klassischen
seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, Metaphysik mit der Ewigkeit eines nunc stans in Gott
aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, gleichgesetzt wurde, die aber bei Benjamin eben nicht
der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück. als Ewigkeit des Beharrens, sondern, anders als es die
Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und Tradition je konnte, als ewige Vergängnis und, genauer,
totalen Vergängnis<< (II, 204). Ist Glück letzter und als Rhythmus dieser ewigen Vergängnis gedacht wird.
immer wieder überletzter und allerletzter Naturzweck Die Formel dieser Ultratemporalität kann nicht mehr
und hat an der Idee dieses Glücks sich die Ordnung wie die von Bettine von Arnim überlieferte des späten
des Profanen aufzurichten, dann ist dies Profane, dann Hölderlin, alles sei Rhythmus (v. Arnim 1959, 394), sie
ist die Ordnung der Geschichte wesentlich Vergängnis. kann nur noch lauten, Alles sei dem Rhythmus ausge-
Sie ist es aber nicht als Vergehen in der verrinnenden setzt und setze im Rhythmus aus. Dieser Rhythmus,
Zeit, denn diese Zeit könnte für die Erfahrung des das Mehr als Alles, in dem Alles sich bewegt, ist das
Glücks nur die leere Form sein, von der Kant behaup- messianische Medium der Geschichte.
tet, alles wechsle in ihr, sie selbst, als Substanz des Re- Geschichte, die der Ordnung des Profanen folgt,
alen, >>bleibt und wechselt nicht<< (Kant 1956, A 182). vollzieht sich als Untergang des Profanen. Sie ist Welt-
Die Ordnung des Profanen ist Vergehen- und zwar geschichte nicht so sehr als Weltuntergang denn als
unzeitliches, ewiges Vergehen - noch der Naturform Weltgeschichtsuntergang. In diesem Theorem einer
Zeit selbst. Ebenso vollzieht sich die Geschichte nicht permanenten Vernichtung der geschichtlichen Welt
als Vergehen innerhalb der transzendentalen Anschau- kommen Benjamins Überlegungen denen von Bloch
ungsform Raum, denn auch dieser Raum ist bloßer näher als dessen Kritik an der politischen Bedeutung
Raum der Natur und muß in deren letztem Zweck, der Theokratie. Denn im Geist der Utopie beschwört
dem Glück, unräumlich untergehen. Deshalb können er auf den letzten Seiten den >>Naturakt, Weltunter-
nicht die Formen von Raum und Zeit das Maß der gangsakt der Apokalypse<< (Bloch 1971, 438) und die
Geschichte sein, sondern, wie Benjamin in rhythmi- >>Wegnahme der physischen Welt, die dieses beständig
scher Wiederholung betont, allein der >>Rhythmus«, ins Physische sinkende Sechstagewerk so völlig ver-
der sich an keine rational flxierbaren Taktgrenzen hält, schwinden lassen möchte, daß man für die Bösen wie
sondern in der Konstanz der Kadenzen der Unter- für Satan nicht einmal einen Leichenstein, geschweige
gangs-Geschichte ihre Ewigkeit skandiert. Wenn näm- denn eine Hölle brauchte« (Bloch 1971, 442). Wie bei
lich der Rhythmus die Bewegung des >>in seiner räum- Benjamin geht dieser >>Weltuntergangsakt<< auch bei
lichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Bloch auf eine>> transkosmologische Unsterblichkeit<<
Weltlichen<< ist, dann ist dieser Rhythmus keine inner- und auf die >>Restitutio in integrum aus dem Labyrinth
weltliche Bewegung und keine Folge innerzeitlicher der Welt« (ebd.). Die Bewegung einer weltlichen >>re-
186 Messianismus, Ästhetik, Politik

stitutio in integrum«, von der Benjamin im »Frag- erlaubt, die Behauptung auszusprechen, »durch Un-
ment<< redet (II, 204), führt aber aus dem Labyrinth glück, im Sinne des Leidens<< könne in allen Fällen und
der Welt nicht hinaus - und darin liegt die Differenz also auch in universalhistorischen Bewegungen hin-
zu Bloch -, es ist vielmehr die Bewegung dieser Welt durchgegangen werden, Glück sei also das faktische
selbst, ihre Integrität, die nichts anderes als Desinte- Ende jeder geschichtlichen und jeder persönlichen
gration ist, in den Untergang hineinzuführen und Erfahrung. Nichts ist weniger sicher. Aber auch nichts
damit ihre Weltlichkeit zu restituieren. Benjamins ist überflüssiger als eine solche dogmatische Behaup-
Konzeption vom eschatologischen Weltverlauf unter- tung, wo es ausschließlich darum geht, die »Idee des
scheidet sich von der gnostisch inspirierten Katastro- Glücks<< zu postulieren, nicht aber darum, ihre Reali-
phenvision Blochs also darin, daß dieser das Ver- sierung zu konstatieren.
schwinden der Welt als einzigen Ausweg aus der miß- Kaum anders verhält es sich mit dem folgenden
lungenen Schöpfung ansieht, Benjamin dagegen das Satzbeginn: »Der geistlichen restitutio in integrum,
Verschwinden der Welt als Struktur dieser Welt und welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine
als einzig möglichen Zugang zu der ihr eigenen Inte- weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt
grität. >>Restitutio in integrum<< heißt für Benjamin [... ]<< (II, 204). Während die Formulierung von der
also nicht, daß durch die Vergängnis der Welt eine »Ewigkeit des Unterganges<< ein in jedem Wortsinn
außerweltliche reine Substanz wiedergewonnen würde, starkes geschichts- und zeitphilosophisches Theorem
es heißt vielmehr, daß diese Vergängnis selbst das In- enthält, ist die Behauptung, die »geistliche restitutio<<
tegrum der Welt ist. Wenn der Rhythmus »dieses ewig führe in die Unsterblichkeit ein, zunächst wohl als
[... ] vergehenden Weltlichen<< messianisch heißen Echo der Bloch-Lektüre und als Anknüpfung an die
kann, dann nur in dem Sinn, daß dies Messianische christliche Reue- und die Kautische Postulatenlehre
ein ausschließlich Weltliches, daß es die entscheidende erklärlich, kaum aber als Fortsetzung der Diskussion
Welttendenz, die Weltlichkeit der Welt ist. Es ist die profaner Zeitlichkeit-am wenigsten in dem wiederum
Messianität nicht eines göttlich gewählten Messias, dogmatisch-konstativen Gestus, mit dem sie vorgetra-
nicht eines historischen Messianismus, der sich unter gen wird. Und dennoch findet sich in der Idee der
Anrufung extramundaner Instanzen an der Welt be- Unsterblichkeit auch ein Hinweis auf eine andere, eben
tätigt, es ist die Messianität der natürlichen Welt und die messianische Zeit, zu der die »unmittelbare mes-
ihrer profanen Ordnungen ohne ein Gran von Theo- sianische Intensität des Herzens zwar<< nicht »hin-
logie und theokratischer Aspiration, die Messianität durchgeht<<, die aber im Unglück wie im Leiden ihm
des Profanen selbst, die weder auf die Idee noch das nahekommt. Da Benjamin von einer Entsprechung
Postulat einer Gottheit angewiesen ist, es ist also die zwischen der weltlichen Restitution im ewigen Unter-
Profanität des Profanen, die sich im Vergehen der Welt, gang der Naturzeit und der geistlichen Restitution in
und wiederum sie, die sich im Glück des integralen der Unsterblichkeit spricht, wäre Unsterblichkeit die-
Vergehens zu realisieren strebt. jenige Zeitlichkeit des Lebens, in der es als Überleben,
Mit dem »innern einzelnen Menschen<< und seinem aus tödlicher Bedrohung gerettetes Fortleben oder
Verhältnis zum Messianischen steht es nicht prinzipi- Nachleben erfahren wird: als eine Unsterblichkeit mit-
ell anders, auch wenn Benjamin einschränkend ver- hin, die fortgesetzte Sterblichkeit und nicht deren
merkt: »Während freilich die unmittelbare messiani- endgültige überwindung ist. Als perpetuierte Sterb-
sche Intensität des Herzens, des innern einzelnen lichkeit verstanden, wäre »Unsterblichkeit<< in der Tat
Menschen durch Unglück im Sinne des Leidens hin- das Analogon zur »Ewigkeit eines Untergangs<< der
durchgeht<< (II, 204). Der Satz trägt einen irreführen- Natur- und Geschichtswelt.
den Akzent. Er kann nämlich so verstanden werden, Von Überleben und Nachleben hat Benjamin in
daß die Geschichte der Menschheit im Unterschied zu diesem Sinn, auf die Sprache bezogen, in seiner Studie
der des Einzelnen nicht »durch Unglück im Sinne des DIE AuFGABE DES ÜBERSETZERS gehandelt (vgl. Ha-
Leidens<< hindurchgeht- und verfehlt, so gelesen, die macher 2001). Wenn er in seinem >Fragment< von
Pointe der zuvor aufgestellten Maxime, die Ordnung Unsterblichkeit spricht, dann von der des »innern ein-
des Profanen habe sich an der »Idee des Glücks<< zu zelnen Menschen<<, der nicht eine religiöse, wohl aber
orientieren. Eine solche Orientierung schließt aber das eine profane Erfahrung der Zeit macht, die mit deren
Unglück mitnichten aus, und die Einschränkung chronologischem Gang nichts zu schaffen hat. Für ihn,
»Während freilich[ ... ]<<, aber auch die Scheidung zwi- den Bedrohten, ist es die Zeit eines Leidens, das über-
schen dem Einzelnen und der Weltpolitik müßte des- lebt, aber nie vorbei ist, die Zeit also einer- wenn auch
halb hinfällig werden. Wenn Benjamin auf sie nicht begrenzten - Unsterblichkeit der Sterblichkeit, und
verzichtet hat, so vielleicht auch deshalb, weil sie ihm somit in jedem Moment dieser Erfahrung messiani-
Das Theologisch-politische Fragment 187

sehe Zeit. >Durch Unglück, im Sinne des Leidens hin- Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des
durchgehen< heißt, so verstanden, nie jemals durch Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung
dieses Unglück hindurchgegangen sein, sondern im- der messianischen Intensität, so strebt freilich das
mer wieder durch es hindurchgehen, und in diesem Glückssuchen der freien Menschheit von jener mes-
indefiniten Durchgang die »Ewigkeit eines Unter- sianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch
gangs<< der Naturwelt realisieren. Messianisch oder von ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem
»unmittelbarer messianischer Intensität<< kann diese Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ord-
Zeit deshalb heißen, weil sie nicht die Zeit der Vergäng- nung des Profanen das Kommen des messianischen
nis, sondern die Zeit der Vergängnis der Zeit ist: Ver- Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des
unendlichung, wie auch immer endliche, der Endlich- Reichs, aber eine Kategorie, und zwar der zutreffend-
keit; Versetzung der Endlichkeit in eine Überendlich- sten eine, seines leisesten Nahens<< (II, 203 f.). Die ge-
keit - und folglich eine Überunendlichkeit -, die, schichtliche Dynamis des Profanen strebt von der
anders als die Zeit der subjektiven Vorstellung, nicht Richtung des Messianischen- nicht aber von der Rich-
im Horizont der Teleologie gelegen ist, sondern nur tung auf es- fort. Indem ihre Tendenz auf Glück und
von der anderen Seite dieses Horizonts, aus einem Ex- darin auf ihren Untergang zielt, ist sie dem Messiani-
trasubjektiven, aus der Zukunft näherrücken kann. schen »entgegengesetzt<<. Darin entspricht sie dem
Wer durch Unglück hindurchgeht, geht durch dasje- Satz, daß »nichts Historisches von sich aus sich auf
nige hindurch, was nicht im Bezirk der profanen Te- Messianisches beziehen wollen<< kann, und ergänzt ihn
leologie des Glücks liegt; er hört nicht auf, durch eine so, daß alles Historische auf seinem Weg ins Glück der
Unsterblichkeit hindurchzugehen, an der er stirbt, wie Bewegung des Messianischen begegnet. In dieser Über-
es in TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE VOm tragischen legung liegt kein Rätsel. Sie beruht zum einen auf der
Helden heißt: »Er stirbt an Unsterblichkeit<< (II, 134f.). Prämisse, daß erst der Messias die Beziehung der Ge-
Denkbar, daß der Gedanke des Leidens und des Todes schichte auf das Messianische schafft; zum anderen auf
an Unsterblichkeit von Versen aus Hölderlins »In lieb- der Vorstellung eines - profanen - Zeitstrahls, der in
licher Bläue ... << angeregt wurde: »Die Unsterblichkeit die Zukunft geht, und eines zweiten - messianischen
im/ Neide dieses Lebens, diese zu theilen, ist ein Leiden -, der aus der Zukunft kommt. Die Dynamis des Pro-
auch<< (Hölderlin 2004, 24). Auf die profanste Weise fanen ist der des Messianischen in genau dem Sinn
messianisch kann diese Unsterblichkeit deshalb hei- entgegengesetzt zu denken, wie die Dynamis der Ver-
ßen, weil sie ein Leben, ohne ihm den Ausweg in die gängnis derjenigen der Zukunft, wie also das in futu-
selbstgemachte extramundane Unsterblichkeit der rum dem ex futoro, und das Gehen dem Kommen
Theologie zu lassen, dem Weg seiner eigenen Endlich- entgegengesetzt ist. Das Rätselliegt nicht in Benjamins
keit überantwortet, diese intensivierte Endlichkeit aber Bild von den gegenstrebigen Bewegungen, es liegt in
als absolut eigene nur erfahren läßt, indem sie es einer der damit verbundenen Versicherung, »die profane
inappropriierbar fremden, der immer nur kommen- Ordnung des Profanen<< vermöge »das Kommen des
den, unvergänglichen, messianischen Zeit aussetzt. messianischen Reiches<< so zu »befördern<< wie eine
Kraft eine entgegengesetzte andere. Das Mysterium der
hier dargelegten »mystischen Geschichtsauffassung<<
Widerstrebige Bewegungen, Realrepugnanz, liegt also in der Annahme, durch den methodischen
Idee Nihilismus der Politik lasse sich das Gottesreich zwar
nicht erreichen, wohl aber lasse sich sein Advent er-
So paradox das Verhältnis zwischen Profanem und möglichen oder erleichtern.
Messianischen scheinen mag, es hat nicht den Charak- Die klassischen Texte der Philosophie kennen eine
ter eines logischen Widerspruchs. Benjamin hat es in Reihe von Bildern gegenstrebiger Bewegungen, die
ein Bild gefaßt, das leicht mißdeutet werden kann, das zum genaueren Verständnis von Benjamins Rätsel bei-
aber, recht verstanden, sein Theorem vom messiani- tragen können. Eines der frühesten findet sich in Pla-
schen Nihilismus des Profanen verdeutlicht. Nachdem tons »Nomoi<<, wo von zwei einander entgegengesetz-
er als Maxime der Ordnung des Profanen formuliert ten und unverständigen Ratgebern der Menschen die
hat, daß sie sich an der Idee des Glücks aufzurichten Rede ist: der Lust und dem Schmerz. Gleich Marionet-
habe, fährt er fort: »Die Beziehung dieser Ordnung auf ten der Götter seien die Menschen von diesen Gefüh-
das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke len wie von Schnüren gezogen, die >einander entgegen
der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus wirkend uns zu entgegengesetzten Handlungen hin-
eine mystische Geschiehtsauffassung bedingt, deren reißen<, aber nur einem dieser Züge dürften wir folgen,
Problem in einem Bilde sich darlegen läßt. Wenn eine dem durch >die goldene und heilige Leitung der ver-
188 Messianismus, Ästhetik, Politik

nünftigen Überlegung, die man das gemeinsame Ge- der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen
setz des Staates nenne< (Platon 1977,644 e). Benjamin (1763) darstellt, dem Gesetz der Erhaltung der Kraft
mag dieses Bild vertraut gewesen sein, weil es einer verpflichtet. In seiner kleinen Abhandlung unterschei-
bedeutenden Metapher aus Hölderlins Gedicht >>Blö- det Kant die logische Entgegensetzung im Widerspruch
digkeit<< zugrunde liegt, über das er in seiner frühen und die reale Entgegensetzung, die keinen Wider-
Studie ZwEI GEDICHTE voN FRIEDRICH HöLDERLIN spruch erzeugt. Während die logische Entgegensetzung
ausführlich gehandelt hat: >>uns [... ] aufgerichtet an etwas zugleich bejaht und verneint und ihre Folge gar
goldnen/ Gängelbanden, wie Kinder, hält<< (II, 121). nichts ist - ein >>nihil negativum<< -, läuft die reale
Gefördert wird nach dem von Platon angeführten Bei- Entgegensetzung zwar ebenfalls auf ein Nichts hinaus,
spiel das Gefühl der Furchtlosigkeit durch die Befürch- aber nicht auf eine bloße Abwesenheit, sondern auf
tung, ängstlich zu erscheinen, jede Furcht wiederum eine reale Negation, eine Beraubung der gesetzten
erweckt Scham und ermäßigt dadurch die Furcht zu Größe durch die ihr entgegengesetzte- durch sie wird
einer lebenerhaltenden Warnung-: gefördert werden ein ,, nihil privativum << erzeugt. Das erste Beispiel, das
einander entgegengesetzte Gefühle also zum einen Kant in seiner Schrift anführt, um die Struktur der
dadurch, daß sie einander provozieren, zum anderen Realrepugnanz oder Realopposition zu verdeutlichen
aber mäßigen und zum Ausgleich bringen. Platons und das er in einer Unzahl von Varianten wiederholt,
Mythos der gegenstrebigen Bewegungen bietet somit lautet: >> Bewegkraft eines Körpers nach einer Gegend
das Bild einer Horneostase im Dienste der Erhaltung, und eine gleiche Bestrebung eben desselben in entge-
nicht im Dienste des Wandels und der Zukunft. Kaum gengesetzter Richtung widersprechen einander nicht,
anders verhält es sich mit den gegenläufigen Bewegun- und sind als Prädikate in einem Körper zugleich mög-
gen, von denen Aristoteles an einer berühmten Stelle lich. Die Folge davon ist die Ruhe, welche etwas (re-
in seinem Traktat Von der Seele spricht. Dort heißt es praesentabile) ist<< (Kant 1960, 783). So sehr nun die
im Zusammenhang einer Diskussion der Dynamis Ruhe eine Realität ist, so ist sie doch die Realität der
überhaupt und weiterhin im Hinblick auf die Zukunft Negation einer Bewegung durch eine andere, ihr ent-
von den Strebungen der Seele: >>Da nun diese Strebun- gegengesetzte und insofern negative Bewegung. Des-
gen (orexeis) einander entgegengesetzt sind, und zwar halb kann Kant sagen, >>das Untergehen sei ein nega-
dann, wenn Überlegungen (Iogos) und Begierden (epi- tives Aufgehen, Fallen ein negatives Steigen, Zurück-
thymiai) entgegengesetzt (enantiai) sind, und da dies gehen ein negatives Fortkommen<< (Kant 1960, 787),
bei den Wesen vorkommt, die den Zeitsinn (chr6nou >>die Unlust eine negative Lust<< (792).
aisthesis) haben- die Vernunft (nous) heißt wegen des Die Realopposition ist also diejenige Entgegenset-
Zukünftigen nach der einen Richtung ziehen, die Be- zung, in der >>zwei Dinge als positive Gründe eins die
gierde wegen des Jetzigen (ede) nach der anderen; das Folge des anderen aufhebt<< (788). Ihr regelmäßiges
jetzige Angenehme (ede hedy) scheint ihr nämlich Ergebnis ist >>Zero= Ü<<, ein durch Privation erzeugtes
schlechthin angenehm und gut zu sein, weil sie das Nichts, ein Gleichgewicht der Kräfte, in dem Kant den
zukünftige nicht sieht, - so gibt es der Art nach ein Satz von der Trägheit der Materie und der Erhaltung
Bewegendes, das Strebende als Strebendes,- als aller- der Kraft bestätigt findet. Kant zögert nicht, seine Be-
erstes aber das Erstrebte; dieses bewegt, ohne bewegt obachtungen aus dem Bereich der Physik in den der
zu sein, dadurch, daß es gedacht oder vorgestellt wird rationalen Psychologie und weiter in den der Moral
-,der Zahl nach (arithm6) aber gibt es mehrere bewe- und der Metaphysik zu übertragen. Nicht nur für me-
gende Kräfte<< (Aristoteles 1979, 433b; 3. Buch, Kap. chanische Veränderungen, sondern für alle >>natürli-
10). Die Richtungen der Vernunft und der Begierde chen Veränderungen der Welt<< gilt der Satz: >>daß kein
werden von Aristoteles als entgegengesetzt bezeichnet, natürlicher Grund einer realen Folge sein könne, ohne
weil die eine sich auf das Glück des Jetzt, die andere zugleich ein Grund einer andern Folge zu sein, die das
auf das der Zukunft richtet, aber beide folgen dabei Negative von ihr ist<< (808). Das Beispiel, das Kant da-
einer hedonistischen Teleologie, hemmen einander in für anführt, nimmt das erste seiner Schrift mit einer
ihren Bewegungen ähnlich wie die Platonischen Ge- kleinen Veränderung wieder auf: >>Niemand kann aus
fühlsregungen es tun, aber fördern einander nicht. Von einem Kahne einen andern schwimmenden Körper
der Richtung auf die Zukunft wird die Seele zurück- nach einer Gegend stoßen [... ],ohne selbst nach der
gehalten durch die inverse Richtung auf das Jetzt, aber entgegengesetzten Richtung getrieben zu werden<<
hervorgerufen, gefördert oder auch nur erleichtert (ebd.). Wie in jedem anderen von Kant zitierten Fall
wird keine durch die andere. ist die Gesamtveränderung >>nichts= Ü<<. Daraus folgt,
Wie diese beiden antiken Gegenbewegungsmodelle daß alle Realgründe der Welt in ihren einander entge-
ist dasjenige, das Kant in seinem Versuch den Begriff gengesetzten Richtungen ein Fazit ergeben, das gleich
Das Theologisch-politische Fragment 189

Null ist. Mit diesen Überlegungen zur Realopposition zufassen, muß die Naturwelt >>in ihrer ganzen Gren-
ist einmal mehr ausgesprochen, daß Gegenbewegun- zenlosigkeit« als, wie Kant schreibt, >>verschwindend«,
gen auf einander wohl einwirken, aber einander nicht sie muß, mit Benjamins Formulierung aus dem >Frag-
bewirken und nicht befördern, sondern nur ausglei- ment<, als >>in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen
chen und erhalten können. Die Realrepugnanz ver- Totalität vergehendes Weltliches« erfahren werden.
bürgt die Symmetrie der Kräfte innerhalb des gesam- So indessen kann sie nach Kants Darstellung allein
ten Naturbereichs einschließlich der Gefühle der Lust dann erfahren werden, wenn sich die Einbildungskraft
und der Unlust, und kann deshalb keine Erklärung durch die Idee ihrer Freiheit von der Natur erweitert
dafür bieten, wie die Naturzeit eine entgegengesetzt und in dieser Vernunftidee der Freiheit sich den Zu-
verlaufende Zeit der Rettung, wie die hedonistische gang zu den Ideen von Gott und Unsterblichkeit er-
Teleologie das messianische Eschaton und der Unter- öffnet. Glückseligkeit mag, wie Kant in anderem Zu-
gang der Naturwelt das Kommen des Messias beför- sammenhang, aber immer noch in der Analytik der
dern könnte. teleologischen Begriffe, einräumt, immerhin ein Na-
Kants Versuch über die negativen Größen bietet ei- turzweck sein, im Untergang der Natur erweist sie sich
nen einzigen, schwachen Hinweis auf eine solche Wir- als bloß bedingter Zweck, der der Freiheit als morali-
kung- und bleibt auch in diesem nur das elaborierte- schem Endzweck der Schöpfung weichen muß (Kant
ste Zeugnis aus der philosophischen Diskussion des 1957, B 399). Das Vermögen der Naturbegriffe unter-
Erhaltungsprinzips. Dieser Hinweis liegt in dem Satz: liegt ebenso wie die Sinnlichkeit dem Verschwinden,
>>Das Ganze der Welt ist an sich selbst nichts, außer in aber beider Unvermögen, diesem Verschwinden Ein-
so ferne es durch den Willen einesandernetwas ist« halt zu gebieten, >>entdeckt«, so schreibt Kant und
(Sll). In den Erläuterungen zu diesem Satz macht vollzieht damit die für seine Philosophie entschei-
Kant klar, daß erst der Wille eines göttlichen Wesens dende Wendung: dieses Unvermögen >>entdeckt« oder
die Welt zu einem Etwas macht und ihr eine Bewegung >>erweckt« das unbeschränkte Vermögen der Vernunft,
erteilt, welche derjenigen des göttlichen Willens ent- sich über den Naturlauf in Freiheit zu erheben (ebd.,
gegengesetzt ist, beide Bewegungen derart gegenein- B 100). Damit ist die Unzweckmäßigkeit der Einbil-
ander ausgleichend und in der Nullsumme der kon- dungskraft zur Darstellung des Unendlichen behoben,
trären Vektoren die Ruhe in ihrem Verhältnis garan- aber behoben dadurch, daß eben ihre Unzweckmäßig-
tierend. Von einer Zukunft oder gar von der Einwirkung keit zweckmäßig ist für die >>Erweckung« der Freiheits-
der Naturwelt auf den göttlichen Willen ist in diesem idee (Kant 1957, B 101). Die Teleologie der Natur ist
Zusammenhang selbstverständlich nicht die Rede. durch ihr Scheitern zweckmäßig; sie ist, mit Benjamins
Aber es ist just dieser Gedanke, der im Hintergrund Wort, förderlich für die gegenläufige Bewegung des
eines sehr viel radikaleren aus der Kritik der Urteilskraft messianischen Eschaton.
steht, nach dem die Untergangsdynamik nicht allein In dem von Kant beschriebenen Verhältnis zwischen
der Natur-, sondern der gesamten Vorstellungswelt Naturbegriff und Freiheitsbegriff ist in feineren und
eine Idee zu fassen nötigt, die dieser Welt völlig hete- komplexeren Zügen das von Benjamin gedachte Ver-
rogen ist, doch eben darum ermöglicht, sie als Welt in hältnis zwischen den entgegengesetzten Strebungen
Beziehung auf eine gänzlich andere zu denken. In der der >>profanen Ordnung des Profanen« und dem
Diskussion des Erhabenen, am Ende des Paragraphen >>Kommen des messianischen Reiches« vorgezeichnet.
über die >>Größenschätzung der Naturdinge<< be- Die Vergängnis der Totalität des Weltlichen strebt in
schreibt Kant die Maßeinheiten zur Messung der Na- eine Richtung, jenes Kommen in die entgegengesetzte;
turgröße- Baum, Berg, Erddurchmesser, Milchstra- aber die Vergängnis der Natur- und der an ihrem Gang
ßensysteme -, >>die uns alles Große der Natur immer teilnehmenden Geschichtswelt kann das Kommen des
wiederum als klein, eigentlich aber unsere Einbil- Reiches, wie Benjamin schreibt, >>befördern«, sie kann
dungskraft in ihrer ganzen Grenzenlosigkeit, und mit es, wie Kant schreiben müßte, >>entdecken« oder >>er-
ihr die Natur als gegen die Ideen der Vernunft [... ] wecken«, indem sie den Platz räumt, den das Reich
verschwindend vorstellt« (Kant 1957, B 96). Da das Gottes zwar nicht füllen kann - denn es ist ein Reich
Grundmaß der Natur für den Verstand und die ihn bloß des Koromens und der Annäherung ans Profane
tragende Einbildungskraft nur das absolute Ganze ih- -, den es aber für sein Nahen braucht. Damit ist das
rer Unendlichkeit sein kann, da aber die Einbildungs- Gesetz der Erhaltung, das für die griechischen Autoren
kraft- >>wegen der Unmöglichkeit der absoluten To- und den frühen Kant maßgeblich war, auf eine Zu-
talität eines Progressus ohne Ende« (ebd., 94)- unver- kunft geöffnet, die nicht gegebene Kräfte erhält, son-
mögend ist, die zeitliche und räumliche Unendlichkeit dern unbekannte heranbringt. Wenn die Vergängnis
der Natur in die Einheit einer Vorstellung zusammen- des Profanen für Benjamin >>keine Kategorie des
190 Messianismus, Ästhetik, Politik

Reichs<< ist, so ist sie doch >>eine Kategorie, und zwar glücklichen Zufalls, des hasard, der fortune ist. Die
der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens<<- ei- Welt, der Raum, die Zeit müssen so eingerichtet wer-
nes Nahens, das nicht leiser sein könnte, weil alle Ver- den, daß man in jeder ihrer Bewegungen nicht so sehr
standeskategorienals Naturkategorien vor ihm versa- glücklich sein, als vielmehr Glück haben kann: das
gen; eines subkategorialen Nahens, das sich an die Glück, daß in ihnen etwas unverhofft Lösendes und in
Gesetze von Raum und Zeit nicht halten kann, weil diesem Sinn Messianisches Platz für seine Ankunft
diese sich in ihrer >>ewigen und totalen Vergängnis<< finden kann. Und, wohlgemerkt, finden nur kann:
außer Kraft setzen; eines Nahens also, das, wie die Kau- denn wenn das Profane und sein Glück >>keine Kate-
tische Idee der Freiheit, die Bewegung eines Transin- gorie des Reichs<<, sondern >>seines leisesten Nahens<<
finiten und dennoch absolut Endlichen ist. ist, dann weil es eine Antizipation des Messianischen
Benjamins Bild einer >>mystischen Geschichtsauffas- nicht geben, keine Intention- nicht einmal als Inten-
sung<< ist um nichts mystischer als die Geschichtsauf- tion auf ihr Verlöschen- ihre Realisierung erzwingen
fassung des kritischen Idealismus. Das einzige Myste- kann, und die Ewigkeit der Vergängnis des Profanen
rium, auf dem sie in diesem Denkbild beharrt, liegt in zwar die Näherungsmöglichkeit für Messianisches of-
der Zukunft, deren Unvorstellbarkeit sie dadurch ver- fenhält, aber in dieser Ewigkeit des Profanen das Mes-
teidigt, daß sie jedes Bild von ihr als unstatthaft zu- sianische ebenso ewig auch fernhält. In seiner >>ewigen
rückweist, keine Vorstellung vom Kommenden duldet, und totalen Vergängnis<< wird das Profane nämlich
die sich am Verlauf der mechanischen oder der theo- nicht nur streng auf das Messianische bezogen und in
logisch verlängerten mechanischen Zeit orientiert, die dieser Beziehung aufgehoben, es bleibt, vermöge der
künftige Zeit scharf von der vergehenden scheidet, und Ewigkeit seiner Vergängnis, als Profanes auch erhalten.
ebenso rigoros die Möglichkeit und die politische Zu- Was sich naht, und nicht anders ist als in der Weise des
träglichkeit jeder Antizipation des Künftigen bestreitet, Nahens, hält sich im Nahen zurück oder wird zurück-
wie sie rigoros die Möglichkeit eines Treffens zwischen gehalten und bleibt in seiner Zurückhaltung ein immer
der Zeit des Vergehens und der Zeit des Kommens nur Kommendes. Messianisch ist nie, was sich zeigt,
aufweist. Dieses Treffen kann nun aber nicht in einer sondern was sich als Geheimnis, als Mysterium nur
einzigen Zeit, einer Zeitspanne oder einem Augenblick andeutet. Deshalb muß jede Geschichtsauffassung, die
gelegen sein, es muß das Treffen zweier Zeiten, zweier mit kritischer Luzidität die Zukunft als eine Dimen-
Augenblicke oder das Treffen einer Zeit und einer sion eigener Struktur anerkennt, eine >>mystische Ge-
Nicht-Zeit, eines Augenblicks und seiner Blendung schichtsauffassung<< sein.
sein, und es darf deshalb nicht als aus einer Zeitrich-
tung bestimmbar gedacht werden, die nach der Logik
der Intention vorwärts rückt, sondern muß so gedacht Durch Abbruch bauen. Überall Wege
werden, daß es sich ergibt als Treffen zwischen Inten-
tion und Intentionslosem, zwischen Teleologie und Benjamin hat seine Dissertation DER BEGRIFF DER
Nicht-Teleologischem, zwischen Vorrücken und En- KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK (1919)
den, Vergehen und Kommen. als einen verkappten Beitrag zur Darstellung des >>ro-
Diese Bewegung des Anderen im Einen und des An- mantischen Messianismus<< angesehen. In diesem Sinn
deren durch das Eine ist die Bewegung des Glücks im äußert er sich in einem Brief an Ernst Schoen (2, 23),
Vergehen. Im Glück können sich profane und messia- darauf deutet er in der Diskussion der Zeitstruktur der
nische Zeit, Weltpolitik und Gottesreich treffen, weil Kunst hin (I, 92), das geht aus der ersten substantiellen
das darin erfahrene Vergehen von Raum, Zeit und Welt Fußnote seiner Arbeit hervor, in der er als Gesichts-
diejenige Vakanz erzeugt, die einem anderen als Zeit, punkt für die >>Wesensbestimmung<< der frühroman-
Raum und Welt den Eintritt erlaubt. Da das Vergehen tischen Idee der Kunst und für ihre >>geschichtsphilo-
der zeitlichen und räumlichen Totalität ewig ist, muß sophische Fragestellung<< den von ihm zum erstenmal
ebenso ewig das Kommen des Messianischen sein: in so bezeichneten >>romantischen Messianismus<< nennt
jedem profanen Augenblick, weil jeder ein Ende ist, und als Beleg ein Fragment von Friedrich Schlegel zi-
muß sich ein Treffen mit einem anderen, messiani- tiert: >>Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu
schen Augenblick oder etwas anderem als einem Au- realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven
genblick, in jeder Zeitspanne eine Begegnung mit einer Bildung und der Anfang der modernen Geschichte.
anderen, zu jeder Zeit ein Zusammenstoß mit einer Was in gar keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht,
anderen Zeit oder keiner einstellen können. In diesem ist in ihr nur Nebensache<< (12). Der von Schlegel aus-
Treffen, das ein Schock sein kann, liegt das Glück - gesprochene Wunsch realisiert sich nach Benjamins
auch dann, wenn es das Glück der Kontingenz, des Darstellung in der Form einer Kritik, die den Kunst-
Das Theologisch-politische Fragment 191

werken als Ironie mitgegeben ist, und zwar nicht als Vergehen noch der Raum- und Zeitformen-in der
subjektive Ironie, die ein intentionales Verhalten des Welt: eine messianische Kraft. Schlegels Begriff der
Autors wäre, sondern als formale Ironie, die den Wer- Annihilierung, der das Verfahren sowohl der Ironie
ken als objektives Moment innewohnt. Diese formale wie der Kritik beschreibt, bestimmt die Tendenz alles
Ironie betrifft nicht einzelne Aspekte der Darstellung, Empirischen, durch seine Vernichtung eine - wie
sondern die Form der Darstellung überhaupt und be- Schlegel in dem ersten von Benjamin zitierten Satz des
zieht durch sie die Kunstwerke auf die Idee der Kunst. Romantikbuchs formuliert- >>Beziehung aufs Reich
Von dieser Ironie schreibt Benjamin: >>Sie zerstört Gottes<< zu eröffnen. Die >>Beziehung auf die Idee<<, die
nicht allein das Werk nicht, das sie angreift, sondern durch den Abbruch der Kunstformen gebaut wird (87),
sie nähert es selbst der Unzerstörbarkeit.<< Und von verwirklicht in der Kunst, was die Politik durch ihren
der bestimmten Form des einzelnen Werkes: >>über ihr >>Nihilismus<< als >>Beziehung aufs Reich Gottes<< zu
aber reißt die Ironie einen Himmel ewiger Form, die verwirklichen hat ( 12). Der letzte Satz von Benjamins
Idee der Formen, auf, die man die absolute Form nen- >Fragment< ist als Wiederaufnahme dieses kritizistisch-
nen mag, und sie erweist das überleben des Werkes, romantischen Projekts zu lesen: >>Diese«- die ewige
das aus dieser Sphäre sein unzerstörbares Bestehen und totale und darin messianische Vergängnis - zu
schöpft, nachdem die empirische Form, der Ausdruck >>erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen,
seiner isolierten Reflexion, von ihr verzehrt wurde. Die welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, de-
lronisierung der Darstellungsform ist gleichsam der ren Methode Nihilismus zu heißen hat<< (II, 204). Der
Sturm, der den Vorhang vor der transzendentalen Ord- methodische Nihilismus, den Benjamin hier deklariert,
nung der Kunst aufhebt und diese und in ihr das un- ist der endogene Nihilismus der Naturwelt, die vergeht.
mittelbare Bestehen des Werkes als eines Mysteriums Er muß zum politischen Nihilismus einer Welt werden,
enthüllt<< (86). Die Korrespondenzen zwischen diesem die sich an der Idee des Glücks orientiert, um darin
Gedankengang und dem im Theologisch-politischen ihrer durch und durch profanen Verfassung zu ent-
Fragment dargelegten sind offenkundig: Die Ironisie- sprechen und zugleich ihre Beziehung auf eine Zu-
rung bewirkt an der Darstellungsform im Kunstwerk, kunft von ganz anderer Art zu realisieren. Der Nihilis-
was die profanierende Vergängnis an den Erfahrungs- mus, von dem Benjamin hier spricht, meint wie die
formen einschließlich der Anschauungsformen Zeit Annihilierung bei Schlegel einen Nihilismus als welt-
und Raum bewirkt: sie >>enthüllt<< eine andere Ord- politisch gewordene Ironie. Einen Nihilismus der Iro-
nung als die der Natur und der ihr entsprechenden nie, einen ironischen Nihilismus zugunsten der Idee;
Kategorien, eine Ordnung, die Benjamin einmal mehr einen kritischen zugunsten des Glücks und seiner,
als die des >>Mysteriums<< charakterisiert, in der die wenn möglich ewigen, Zukunft.
Welt >>unmittelbar<< und also ohne empirische Form Benjamin hat an der Formel >>durch Abbruch bauen«
ihren Untergang überlebt und Bestand hat. Wie die noch festgehalten, als er zu Beginn der 30er Jahre eine
Ironisierung die Darstellungsform angreift und über Charakterstudie in der Art von Theophrast und La
ihr einen >>Himmel ewiger Form<< aufreißt, so zieht die Bruyiere unter dem Titel DER DESTRUKTIVE CHARAK-
Profanierung die Weltformen in den Untergang und TER verfaßte. Er hat seine Formel nur um das >bauen<
stellt die Welt in den gänzlich anderen Zeitraum der verkürzt und davon abgesehen, sie in den Kontext ei-
ewigen Ankunft des Messianischen. Den gegenstrebi- ner Ideenlehre zu stellen. Der destruktive Charakter,
gen Bewegungen der profanen und der messianischen von dem er dort eine Porträtskizze bietet- und dessen
Dynamis, von denen das >Fragment< handelt, korre- Vorbild (Benjamin war es wichtig genug, in seinem
spondiert die Paradoxie, die Benjamin im Romantik- Brief vom 28.10.1931 an Scholem darauf hinzuweisen)
buch als charakteristisch für die formale Ironie be- den Namen Gustav Glück trug-, >>kennt nur eine Pa-
zeichnet, wenn er schreibt: >>Sie stellt den paradoxen role: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein
Versuch dar, am Gebilde noch durch Abbruch zu Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stär-
bauen: im Werke selbst seine Beziehung auf die Idee ker als jeder Haß« (IV, 396). Er zeichnet sich dadurch
zu demonstrieren<< (87). aus, daß er nichts Dauerndes sieht. >>Aber eben darum
Durch Abbruch bauen: das ist Benjamins Formel sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder
für den Messianismus der Ironie. Durch Abbruch der Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er
empirischen Formen wird an ihrer Beziehung zur Idee aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus
der Formen und zur Idee als dem >>Mysterium<< der dem Weg zu räumen. [... ] Das Bestehende legt er in
absoluten Form gebaut; durch seinen Abbruch baut Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des
das Profane an seiner Beziehung zum Messianischen. Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht« (398).
Was die Ironie in den Werken, ist die Zeit - aber als Der destruktive Charakter versieht kurzum das Werk,
192 Messianismus, Ästhetik, Politik

das die Ironie an den Kunstformen, die Vergängnis an L. Hart Nibrig (Hg.): Was heißt »Darstellen<<?, Frankfurt
a.M., 340-371.
den Weltformen und der Politiker an den Gesell- Hamacher, Werner (2001): »Intensive Sprachen<<, in: Chri-
schaftsformen zu versehen hat. Er tut es so wenig wie stiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Übersetzen: Walter Benjamin,
die Natur, die Kunst, die Politik um eines vorgesetzten Frankfurt a.M., 174-235.
Zieles willen, sondern für den Weg, den leeren Platz, Hamacher, Werner (2003): >>Schuldgeschichte. Benjamins
Skizze >Kapitalismus als Religion<<<, in: Dirk Baecker (Hg.):
den freien Raum. Da ihm am Weg nur als einem Mit- Kapitalismus als Religion, Berlin, 77-119.
tel, und einem von Zwecken freien Mittel, gelegen ist, Hölderlin, Friedrich (2004): In lieblicher Bläue, Sämtliche
kommt er nicht in die Versuchung, einem Bild zu fol- Werke, Briefe und Dokumente, Bd. 12, hg. v. Dietrich E.
Sattler, München.
gen. »Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild
Kaut, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft, Werke
vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein ge- Bd. 2, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.
ringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Kant, Immanuel ( 1957): Kritik der Urteilskraft, Werke Bd. 5,
Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.
Kant, Immanuel (1960): Versuch den Begriff der negativen
Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer Größen in die Weltweisheit einzuführen, Werke Bd. 1, hg.
gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.
braucht, ohne ihn einzunehmen<< (397). Nietzsche, Friedrich (1966): Also sprach Zarathustra, Werke
An keiner Stelle spricht dieser Text, der zwar nicht Bd. 2, hg. v. Kar! Schlechta, München.
Platon (1977): Gesetze, übers. v. Klaus Schöpsdau, Werke in
dem Gestus, wohl aber der Denkfigur des Theologisch- 8 Bde., hg. v. Gunther Eigler, Bd. 8, Darmstadt.
politischen Fragments nah verwandt ist, von Messia- Scholem, Gershorn ( 1975): Walter Benjamin- die Geschichte
nismus oder vom Messias. Der läßt sich, anonymisiert, einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
in dem vermuten, von dem der einzig änigmatische Steiner, Uwe (2000): »Der wahre Politiker. Walter Benjamins
Begriff des Politischen<<, in: Internationales Archiv für So-
Satz dieses rabiat luziden Textes sagt: »Es wird sich zialgeschichte der deutschen Literatur 25, H. 2, 48-92.
schon einer finden, der ihn<< - den leeren Raum - Taubes, Jacob (1993): Die politische Theologie des Paulus,
»braucht, ohne ihn einzunehmen<<. Das heißt: es kann München.
von Arnim, Bettina (1959): Werke und Briefe, Bd. 1, Die Gün-
jeder Beliebige, es kann der nächste Beste sein. Und:
derrode (I. Teil, Brief vom 17ten), hg. v. Gustav Konrad,
wen kümmert schon, wer es sein könnte, und ob es Frechen.
überhaupt jemand ist. Und: wichtig ist nur, daß >>ZU- Wohlfarth, Irving (2002): »Nihilistischer Messianismus. Zu
nächst, für einen Augenblick zumindest<<, der leere Walter Benjamins Theologisch-politischem Fragment<<, in:
Ashraf Noor/Josef Wohlmuthm (Hg.): >Jüdische< und
Raum nicht eingenommen wird; nur auf diesen näch- >christliche< Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert, Pa-
sten, leeren Augenblick des leeren Raums kommt alles derborn.
an. Vom Messianischen, aber für es, bleibt eine Vakanz,
gegenstandslos, formfrei und uneinnehmbar: seine
bloße Ermöglichung an der äußersten Grenze des Pro-
fanen.

Werk
Theologisch-politisches Fragment (II, 203 f.)
Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (I,
7-122)
Brief an Buber (1, 325-327)
DER OBSTRUKTIVE CHARAKTER (IV, 396-398)
DAS LEBEN DER STUDENTEN (li, 75-87)
ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE (II,
157-171)
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-430)

Literatur
Aristoteles (1979): Ober die Seele, übers. v. Willy Theiler,
Akademie-Ausgabe Bd. 13, hg. v. Helmut Flashar, Darm-
stadt, 65-66.
Bloch, Ernst (1971): Der Geist der Utopie [1918], Reprint der
ersten Ausgabe, Frankfurt a. M.
Cohen, Hermann ( 1981): Ethik des reinen Willens, Werke Bd.
7, hg. v. Helmut Holzhey, Hildesheim.
Cohen, Hermann ( 1997): Logik der reinen Erkenntnis, Werke
Bd. 6, hg. v. Helmut Holzhey, Hildesheim.
Harnach er, Werner (1994): >>Afformativ, Streik«, in: Christian
193

nZur Kritik der Gewalt« Basis für den Entwurf von eigenen Theorien über das
Verhältnis von Recht, Gerechtigkeit und Politik ver-
Von Axel Honneth
wendet wurden (Derrida 1990; Agamben 2002).

Wie so viele Texte Walter Benjamins, so ist auch dieser


Aufsatz von höchst irritierender Subtilität, weil er im Intellektueller Kontext
Ausgang von einer nüchternen, geradezu akademi-
schen Leitfrage im Fortgang der Argumentation einen Die Abfassung des Aufsatzes fällt in den Zeitraum, in
kaum merklichen Übergang zu religiösen Erwägungen dem Benjamin nach Abschluß der Dissertation vor-
vollzieht. Geschrieben während der Jahreswende dringlich damit beschäftigt war, eine Rolle im geistigen
1920/21 (zur Entstehungsgeschichte vgl. II, 943-945), Leben Deutschlands zu finden. Die berufliche Unsi-
zu einem Zeitpunkt also, an dem den 28jährigen Autor cherheit bringt es mit sich, daß seine Arbeitsprojekte
die Lektüre von Blochs Geist der Utopie noch intensiv keine deutlich erkennbare Stoßrichtung zu erkennen
beschäftigte (2, 44; 46f.; 57; 62; 67; 72f; 74f.), nimmt geben. Allerdings scheint sich aus der Vielzahl von
die Studie sich einer Frage an, die im unmittelbaren Arbeitsvorhaben doch auch ein übergreifendes, kom-
Nachklang der Revolutionen in Rußland und Deutsch- pakteres Projekt herausgeschält zu haben, dessen
land viele Zeitgenossen umtrieb und beschäftigte: Grundthema die Politik darstellen sollte; auf jeden Fall
Welche Art von Legitimität durfte jene Gewalt bean- informiert Benjamin in Briefen seinen Freund
spruchen, so lautete die zentrale Herausforderung für Gershorn Scholem über derartige Arbeitspläne, ver-
Rechtstheorie und politische Philosophie am Beginn weist auch auf erste Textentwürfe und gibt durch ge-
der Weimarer Republik, die jenseits aller staatsrecht- legentliche Erwähnung zu lesender Bücher die geisti-
lichen Begründungszusammenhänge in den revolu- gen Umrisse des Ganzen zu erkennen (2, 109; 119;
tionären Erhebungen zum Ausbruch gekommen war. 127). Von den drei Manuskripten jedoch, über die
Aber Benjamin hält sich nicht an den engen Kreis der Benjamin Scholem im Zusammenhang dieses Projekts
damit berührten, mehr oder weniger rechtsphiloso- berichtet, ist nur ein einziges, nämlich der Aufsatz ZuR
phischen Fragen, sondern überschreitet ihn schon KRITIK DER GEWALT, durch Veröffentlichung erhalten
nach wenigen Seiten in Richtung einer ganz anderen, geblieben; die beiden anderen Texte, deren erster, kur-
von ihm >>geschichtsphilosophisch« (II, 182) genann- zer dem Zusammenhang von >>Leben und Gewalt<<,
ten Problematik. Sein eigentliches Thema ist ersicht- deren zweiter, umfangreicherer der >>Politik« gewidmet
lich nicht das der Stellung der Gewalt im modernen sein sollte, müssen als verschollen gelten (II, 943).
Recht; auch widmet er sich im weiteren nicht einfach Das Interesse an diesem neuen Projekt spiegelt sich
der Frage nach der Gewalt des Rechts, die er vielmehr in der wissenschaftlichen Literatur, der Benjamin sich
wie selbstverständlich für positiv beantwortet hält; ihn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verstärkt zu-
beschäftigt letztlich eine Quelle und Form von Gewalt, wandte. In den Briefen, die er zwischen 1918 und 1921
die von so umstürzlerischer Art ist, daß sie der gewalt- regelmäßig an seine Freunde Gershorn Scholem und
samen Institution des Rechts im Ganzen ein Ende Ernst Schoen gerichtet hat, finden neben belletristi-
bereiten kann. Als Grund und Ursprung einer solchen schen Werken und Blochs Geist der Utopie vor allem
transformierenden Gewalt kommt für Benjamin nur, drei weitere Autoren Erwähnung, deren Wirkungsfeld
wie der Text alsbald verrät, der Gott der monotheisti- näher oder ferner im Bereich der politischen Theorie
schen, ja jüdisch-christlichen Tradition in Frage; daher lag: Charles Peguy (2, 45; 94f.; 101), Georges Sore!
ist auch der Aufsatz ZuR KRITIK DER GEWALT, nicht (101; 104) und Ernst Unger (127). Ist der letztere heute
anders als viele Schriften vor und nach ihm, ein reli- so gut wie vergessen, so sind die Schriften der beiden
gionsphilosophischer Traktat. anderen bis in die Gegenwart hinein von mehr als nur
Nachdem der Aufsatz Benjamins in der Sekundär- historischer Bedeutung. Peguy, zunächst Sozialist, spä-
literatur zunächst nur als eine Studie zur Legitimität ter patriotisch gesonnener Katholik, kam in jüngster
von Gewalt angesehen wurde (Marcuse 1965), setzte Zeit sogar zu späten Ruhm, da seine einschlägigen
erst mit den späten 70er Jahren eine heftige Rezepti- Beiträge als wertvolle Bausteine einer Theorie der öf-
onswelle ein, in der der Radikalität seiner Argumen- fentlichen Bedeutung von Religion betrachtet werden
tation angemessen Rechnung getragen wurde. Es ent- (Pilkington 1976, 27-90); mit Sore!, dessen Schriften
standen eine Reihe von Monographien und gewichti- während des gesamten 20. Jh.s auf gleichbleibendes
gen Sammelbänden, in denen die Thesen von Benjamin Interesse stießen, verband Benjamin ein starkes Inter-
kontrovers diskutiert wurden (Figal/Folkers 1979; Ha- esse, das in der gemeinsamen Begeisterung für die
verkamp 1994), bis daß sie von einigen Autoren als heroische Tatkraft der Massen begründet war (Villiers
194 Messianismus, Ästhetik, Politik

1965, Kap. X). Was Benjamin von diesen drei Autoren GEWALT nun dadurch, daß er dem Phänomen der Po-
enthusiastisch zur Kenntnis nahm, ist durch die Ten- litik als solchem insgesamt nur geringe Beachtung zu
denz geeint, den Begriff der Politik so fern wie möglich schenken scheint. Den Vordergrund der Auseinander-
von jedem Gedanken der Interessenbefolgung zu hal- setzung bestimmen vielmehr die zwei Begriffe, die in
ten, um ihn mit dem Potential der radikalen Hervor- herkömmlicher Weise jeweils an den entgegengesetz-
bringung neuer Denk- und Moralordnungen ausstat- ten Enden einer jeden sinnvollen Analyse des Politi-
ten zu können. Im Hinblick auf die Frage allerdings, schen zu stehen kommen: An der »Gewalt<< findet, folgt
was als Quelle einer solchen Sprengkraft des Politi- man der neuzeitlichen Tradition, jede vernünftige Po-
schen gelten kann, zeichnen sich zwischen den ver- litik ihre Grenze, im »Recht<< hingegen ihren legitimen
schiedenen Autoren maßgebliche Differenzen ab: Bei Ausgangspunkt. In seinem Aufsatz versucht Benjamin
Sore! sind es die bildhaften Vorstellungen einer gerech- nichts weniger zu leisten, als diese beiden Begriffe in
ten Zukunft, die als revolutionäre Energien das poli- ihrem Bedeutungsgehalt exakt umzupolen, so daß die
tische Handeln beflügeln (Sorel1981, 4. Kap.), wäh- »Gewalt<< als Quelle und Fundament, das »Recht<<
rend Peguy derartige Ressourcen eher im mystisch- demgegenüber als Endpunkt der Politik in Erschei-
religiösen Erlebnis sichtet (Villiers 1965). Einer nung tritt. Die Funktion der damit beabsichtigten
glücklichen Formulierung von Isaiah Berlin (Berlin Umdeutung ist es, die Politik als ein in sich zweckfreies,
1982) folgend läßt sich aber behaupten, daß die drei von allen menschlichen Zielsetzungen losgelöstes, in-
Autorentrotz aller weiteren Differenzen in einem >>An- sofern >religiöses< Geschehen deuten zu können.
tiutilitarismus<< überein kamen, der das Politische
stärker als Ausdruck einer visionären Moral denn als
Mittel für einen Zweck zu begreifen versuchte; und es Methode und Anlage der Kritik
muß diese einheitliche Absicht gewesen sein, die Poli-
tik aus der Klammer des Zweck-Mittel-Schemas zu Eine der Möglichkeiten, die sich bieten, um die unge-
lösen, welche Benjamins lebhaftes Interesse wachrief. mein schwierige, vielschichtige Argumentation Ben-
Freilich dürfte sich seine Begeisterung für diese po- jamins in der vorliegenden Studie zu entschlüsseln,
litischen Schriften nicht auf deren gemeinsame Front- besteht im Ausgang von ihrem letzten Paragraphen.
stellung gegen den Utilitarismus beschränkt haben. »Die Kritik der Gewalt<<, so lautet der einleitende Satz
Auf der Linie der Überlegungen, die Benjamin Ende des letzten Paragraphen, »ist die Philosophie ihrer Ge-
1918 in ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHI- schichte<< (202). Jedes einzelne Wort ist hier, wie stets
LOSOPHIE (II, 157-171) angestrengt hatte, lag vielmehr bei Benjamin, von gleich großem Gewicht. Daß sich
auch der Versuch der drei Autoren, den nicht-zweck- in der Studie dem Phänomen der Gewalt in kritischer
haften Charakter des Politischen in einem Erfahrungs- Absicht genähert werden soll, besagt schon der Titel
bereich zu lokalisieren, der deutlich metaphysische des Ganzen; gern verwandte Benjamin den Begriff der
Züge trug. Ob bei Sore! im mythischen Bewußtsein, »Kritik<< zur Bezeichnung des Charakters seiner Arbei-
bei Peguy im magischen Erlebnis oder bei Unger in ten, nicht selten taucht er an prominentester Stelle in
der »metaphysischen Atmosphäre<< (Unger 1989, 38; den programmatischen Passagen auf, dabei unverhoh-
vgl. auch Kohlenbach 2005), stets sollte bei ihnen allen len auf das Erbe der kritischen Philosophie Kants be-
die eigentliche Form politischen Handeins in einer zogen. Der Unterschied zu Kant besteht allerdings
Erfahrung wurzeln, die die Kontinuität des sozialen darin, daß Benjamin von Anfang an das Spektrum von
Lebens abrupt unterbrach, indem sie etwas bislang Erfahrungen als zu schmal empfand, auf das jener
Ungekanntes zum Vorschein kommen ließ; und auch seine Kritik der Erkenntnis zugeschnitten hatte; eine
in der Überzeugung, daß dieses Neue die gedanklichen Öffnung des Blicks auch auf solche Erfahrungen, die
Konturen einer radikal veränderten Moral- und So- nicht im dürftigen Schema der Entgegensetzung eines
zialordnung besitzen müsse, stimmen die drei Autoren epistemischen Subjekts zu seinem Objekt unterzubrin-
noch weitgehend überein. Die Idee einer Durchbre- gen waren, sollte den Gegenstandsbereich der Erkennt-
chung jeder Zwecksetzung, die Rückbindung an eine niskritik derartig erweitern, daß auch kommunikative,
welterschließende Erfahrung, der Austritt aus dem ja religiöse Bewußtseinsgehalte rechtmäßig dazu ge-
geschichtlichen Kontinuum, all das kam in diesem zählt werden durften (II, 157-171; Steiner 2000, 480-
metaphysischen Konzept des Politischen dermaßen 489; Honneth 2000). Für das Projekt einer Kritik »der
nahtlos zusammen, daß es Benjamin als geeignete Ba- Gewalt<< heißt das zunächst nur, daß die kritische Ana-
sis einer sachlichen Expansion seines Anliegens er- lyse sich hier nicht dazu verleiten lassen darf, das Phä-
scheinen mußte. nomen nur unter den Aspekten zu beurteilen, welche
Allerdings überrascht der Aufsatz ZuR KRITIK DER der enge Erfahrungsbegriff Kants hervorzuheben er-
»Zur Kritik der Gewalt« 195

laubt; insofern muß auch an der »Gewalt<< jene Erfah- widmeten Geschichtsphilosophie durchzuführen sei;
rungsschicht Berücksichtigung finden, die nicht in das wenn zu dieser knappen Begründung noch die Stelle
klassische Subjekt-Objekt-Schema paßt, sondern des- hinzugezogen wird, an der Benjamin zuvor in seinem
sen Instrumentalismus in die eine oder andere Rich- Text auf die Notwendigkeit einer geschichtsphiloso-
tung sprengt. Unklar ist in diesem Zusammenhang phischen Betrachtung verwiesen hat (18lf.), dann
freilich, was Benjamin unter dem Begriff der >>Gewalt<< ergibt sich die folgende, nicht unplausible Argumen-
alles gefaßt haben möchte. Nur direkt am Anfang sei- tation. Jede >>Kritik<< muß es sich zur Aufgabe machen,
ner Studie, nämlich schon im zweiten Satz, hat er eine so scheint Benjamin in Anschluß an Kant zunächst
kurze, einschränkende Definition gegeben, die wohl sagen zu wollen, den >>Wert<< der >>Maßstäbe<< oder
für den ganzen Rest des Textes Geltung besitzen soll; >>Unterscheidungen<< zu beurteilen, die in dem von ihr
zu lesen ist dort, daß >>zur Gewalt im prägnanten Sinne untersuchten Gegenstandsbereich maßgeblich sind; zu
des Wortes<< eine >>wie immer wirksame Ursache erst einer solchen >>scheidende[n]<< oder, wie es auch heißt,
dann<< wird, >>wenn sie in sittliche Verhältnisse ein- >>entscheidende[n] Einstellung<< (202) kann sie aber
greift<< (II, 179). Benjamin bindet hier den Gebrauch nur gelangen, wenn sie nicht einfach den Gebrauch
des Begriffs auf engste an die Voraussetzung von Ver- (>>Anwendung<<, 181) nachvollzieht, dervon derartigen
änderungen in der menschlichen Lebenspraxis: nur Maßstäben oder Unterscheidungen in dem entspre-
das soll als >>Gewalt<< angesehen werden, was mit zwin- chenden Bereich historisch gemacht worden ist; würde
gender Macht auf die Interaktionsverhältnisse der die Kritik sich nämlich darauf beschränken, also nur
Menschen so einwirkt, daß diese moralisch in Mitlei- die >>Zeitlichen Data<< der Anwendungen eines bereichs-
denschaft gezogen werden. Nicht ganz klar ist auf den spezifischen Maßstabs erfassen, so könnte sie zwar zur
ersten Blick, wo Benjamin mit einer solchen Definition Analyse von deren internem >>Sinn<< (181) beitragen,
exakt die Grenzen zieht: zwar verbleibt die männliche nicht aber zur Beurteilung ihres Werts vordringen.
Gewalt, die er aus seinem Text auszuschließen scheint, Eine derartige Beurteilung eines gegebenen Maßstabs
zumeist innerhalb der Grenzen privater Familienbe- verlangt vielmehr, einen >>Standpunkt<< (ebd.) außer-
ziehungen, aber auch sie wirkt verändernd auf die halb der >>Sphäre seiner Anwendung<< zu gewinnen,
moralischen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern von dem aus ein >>Licht<< auf jene Sphäre im Ganzen
ein; ebenso problematisch ist der Fall natürlicher Ur- fällt (ebd.). Diesen Standpunkt bietet allein die Ge-
sachen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüchen, die bei schichtsphilosophie, die das >>Auf und Ab in den Ge-
entsprechender Größenordnung durchaus eine zwin- staltungen<< (202) der Sphäre so auf Distanz zu bringen
gende Wirkung auf die sittlichen Verhältnisse einer vermag, daß sie deren Variationen als Prinzip eines
Gemeinschaft ausüben können, ohne daß Benjamin einzigen >>geschichtlichen Zeitalters<< (ebd.) durch-
sie im folgenden als >>Gewalten<< in seinen Text einbe- schaubar macht; mit dem Gedanken, daß ein bestimm-
zieht. Angesichts derartiger Ausfransungen muß die ter Maßstab Ausdruck oder Produkt eines beschränk-
Begriffsbestimmung Benjamins offenbar in dem Sinn ten Zeitalters ist, entsteht nun nämlich die Aussicht
enger verstanden werden, daß unter >>Gewalt<< allein auf eine Transzendierbarkeit des Gegebenen, eines
solche zwingenden Mächte zu fassen sind, die nicht >>Neue[n]<< (ebd.), von wo aus der Wert der sphären-
nur >>in sittliche Verhältnisse<< eingreifen, sondern sel- spezifischen Unterteilungen und Kriterien angemessen
ber auch mit sittlicher Geltungskraft ausgestattet sind; zu beurteilen ist.
dementsprechend beschränkt er sich in seiner Studie So problematisch diese geschichtsphilosophische
auf die Auseinandersetzung mit Formen von Gewalt, Perspektive heute auch anmuten mag, für Benjamin
die hinreichend moralische Legitimität besitzen, um stellt sie in seinem Aufsatz zweifellos die theoretische
ihrerseits sittliche Veränderungen in einer Gesellschaft Basis dar, auf die er seine Kritik der Gewalt gründen
erzwingen zu können. läßt. Der Verweis auf den externen >>Standpunkt<<, der
Allerdings ist mit dieser Begriffserklärung natürlich einzunehmen sei, um den >>Wert<< der sphärenspezifi-
noch nichts darüber ausgesagt, wie die >>Kritik<< einer schen Maßstäbe beurteilen zu können, beinhaltet also
solchen moralisch gefaßten >>Gewalt<< methodisch die Aufforderung, sich in einen geschichtlichen Zeit-
durchgeführt werden soll; Benjamins knappe Antwort punkt hineinzuversetzen, der sich jenseits des Verblen-
auf die Frage nach der Methode einer Kritik der Gewalt dungszusammenhangs der Gegenwart befindet; denn
lautet lakonisch, daß sie eine >>Philosophie ihrer Ge- nur von einer solchen transzendenten Warte aus läßt
schichte<< sei ( 202). sich tatsächlich erkennen, worin jene heute praktizier-
Schon im zweiten Satz des letzten Paragraphen wird ten Maßstäbe und Unterscheidungen versagen oder
kurz erläutert, was es mit dem Gedanken auf sich hat, verfehlt sind. Da die Sphäre, die Benjamin untersuchen
daß eine Kritik der Gewalt nur in Form einer ihr ge- möchte, diejenige der >>Gewalt<< ist, muß er mithin
196 Messianismus, Ästhetik, Politik

versuchen, aus einer derartigen Außenperspektive die hier an, wäre die Gewalt nicht mehr in das Zweck-
Eigenart der Maßstäbe zu kennzeichnen, die im Rah- Mittel-Schema des Rechts eingespannt, sondern be-
men dieser Sphäre in der Gegenwart vorherrschen; säße die »reine<< Form einer »göttlichen<< Hervorbrin-
und schon in den Sätzen, die unmittelbar dem eher gung. Auch dieser dritte Begriff, derjenige der »reinen
methodisch gehaltenen Auftakt des letzten Paragra- Gewalt<<, fällt im Zusammenhang des letzten Paragra-
phen folgen, gibt Benjamin Auskunft über seine un- phen natürlich nur als Erinnerung an die zuvor ent-
tersuchungsleitende Hypothese: die Maßstäbe und wickelte Analyse und wird daher allein mit wenigen
Unterscheidungen, die heute bei der Behandlung von Worten noch einmal erläutert; daraus geht hervor, daß
Gewalt bestimmend sind, stammen allesamt aus der das Attribut der »Reinheit<< hier einen Gegensatz zu
Institution des Rechts, die ihrerseits in das Begriffs- allen Zweck-Mittel-Relationen bezeichnen soll, eine
schema von Mittel und Zweck eingespannt ist. »reine<< Gewalt also frei von allen Zwecksetzungen und
Was diese fundamentale Aussage im einzelnen be- instrumentellen Erwägungen zu sein hat. Bedeutsam
sagen soll, macht Benjamin im letzten Abschnitt seines ist darüber hinaus, daß Benjamin wenige Sätze vor
Textes allerdings nur an einigen zentralen Begriffen dem Ende seiner Studie neben der >>göttlichen<< noch
deutlich, die so maßgeblich für die gesamte Analyse eine zweite, menschliche Gestalt der reinen Gewalt ins
sind, daß sie gut als Leitfaden für die weitere Rekon- Spiel bringt, die er als »revolutionäre<< bezeichnet (II,
struktion verwendet werden können. Zunächst unter- 202); von ihr wird aufäußerst dunkle Weise behauptet,
streicht Benjamin seine Überzeugung, daß in der Ge- daß ihre »Möglichkeit<< insofern »erwiesen<< sei, als der
genwart die Gewalt nur in Form des Rechts themati- »Bestand<< einer reinen Gewalt jenseits des Rechts als
siert werden kann, indem er die beiden Gestalten von »gesichert<< gelten muß (ebd.).
Gewalt benennt, die in seiner Zeit als sittliche Größen Mit diesen drei oder vier Kategorien der Gewalt ist
überhaupt nur thematisiert werden können: >>Ein nur das begriffliche Netzwerk umrissen, das Benjamin sei-
aufs Nächste gerichteter Blick vermag höchstens ein ner Studie zugrundelegt, um eine geschichtsphiloso-
dialektisches Auf und Ab in den Gestaltungen der Ge- phische Kritik der Gewalt liefern zu können. Den
walt als rechtsetzender und rechtserhaltender zu ge- Ausgangspunkt bildet eine Analyse der Unterscheidun-
wahren<< (II, 202). Hier finden sich bereits zwei der gen, mit deren Hilfe im gegenwärtigen Zeitalter ver-
Begriffe, auf die wie auf tragenden Säulen die gesamte sucht wird, dem Phänomen der »Gewalt<< habhaft zu
Argumentation Benjamins aufruht: im gegenwärtigen werden; demnach zerfällt alles, was gewöhnlich »Ge-
»Zeitalter<< scheint es überhaupt nur zwei Formen von walt« genannt wird, in die zwei Formen der rechtset-
Gewalt zu geben, die beide aufs engste mit der Insti- zenden und der rechtserhaltenden Gewalt, die beide
tution des Rechts verknüpft sind, nämlich zum einen ihre Legitimation der unbefragten Herrschaft des
die» rechtsetzende Gewalt<<, zum anderen die »rechts- Rechts verdanken. In noch zu klärender Weise behaup-
erhaltende Gewalt<<. Wie wir sehen werden, beinhaltet tet Benjamin ferner, daß die Eigenart des Rechts darin
diese These für Benjamin eine Aussage sowohl über besteht, strikt nach dem Schema von Zweck und Mit-
die Struktureigentümlichkeit des Rechts als auch über tel zu verfahren. Insofern müssen für ihn auch die
die Limitationen der Gewalt in der Gegenwart: in be- beiden Gewaltformen, die es thematisch zuläßt, ent-
zug auf das Recht soll gesagt werden, daß es entgegen weder als Mittel oder als Zwecke innerhalb seines Be-
der offiziellen Selbstdarstellung strukturell auf die zugssystems begriffen werden. Zu einer wirklichen
Verwendung von zwingender Macht angewiesen ist, Beurteilung des »Werts<< dieser Unterscheidungen
weil seine Institutionalisierung (»Setzung<<) und Re- glaubt Benjamin nun aber allein dadurch gelangen zu
produktion (»Erhaltung<<) nur durch die Androhung können, daß er sich in die Perspektive eines anderen,
oder Ausübung von Gewalt gewährleistet werden kann; »neuen<< Zeitalters hineinversetzt, als dessen hervor-
und in bezugauf das Phänomen der Gewalt selbst soll stechendste Qualität hier nur die Außerkraftsetzung
die These eben besagen, daß gewaltförmige Akte im des Rechts genannt wird; zwar findet sich im letzten
gegenwärtigen Zeitalter nur im engen Sinn einer Funk- Paragraphen mehrmals auch der Ausdruck »göttlich<<
tion des Rechts gedacht werden können. für diese zukünftige Periode, aber entscheidend für die
Nur wenige Sätze nach diesen Bestimmungen findet normative Absicht scheint der Umstand, daß dann mit
sich schließlich der dritte Begriff, auf den sich die Ana- dem Recht zugleich auch die Vorherrschaft des Zweck-
lyse von Benjamin in basaler Weise stützt. Der Gedanke Mittel-Schemas erlischt. Deutlich wird das vor allem
beginnt mit einem Schritt der Transzendierung des daran, daß Benjamin die Formen von Gewalt, die das
gegenwärtigen Zeitalters, indem auf die Möglichkeit »neue<< Zeitalter prägen sollen, abwechselnd als »hei-
einer Brechung der Herrschaft des Rechts verwiesen lig<< und als »rein<< bezeichnet. Beide Ausdrücke werden
wird; in einem solchen Zustand, so deutet Benjamin von ihm zweifelsohne so verwendet, daß sie auf den
»Zur Kritik der Gewalt« 197

nicht-teleologischen, am ehesten wahrscheinlich ex- liebiger Sozialverhältnisse in das Schema von Zweck
pressiven Charakter von Akten mit zwingender Wir- und Mittel; was für Lukacs die Entleerung des Inhalts
kung abheben. In den letzten beiden Sätzen seines zugunsten der juristischen Form ausmacht, ist für Ben-
Textes wird dieser Gedanke einer Entgegensetzung von jamin der Einbruch rechtlichen Zweckdenkens in die
»unreinen<<, gegenwärtigen und >>reinen«, neuen For- zweckfreie Sphäre sittlichen Daseins. Mit dieser Zu-
men von Gewalt noch einmal aufgenommen, indem spitzung auf die Problematik des Utilitarismus erweist
Benjamin den an den jungen Heidegger erinnernden sich Benjamin als getreuer Schüler Georges Sorels;
Versuch unternimmt, dafür unverbrauchte Begriffe zu dessen polemische Attacken gegen das moderne Recht
prägen: die »rechtsetzende« Gewalt wird dort als greift er auf, um sie sich durch Einarbeitung derzeit-
»schaltend«, die »rechtserhaltende« Gewalt als »ver- genössischen Rechtstheorie für seine eigenen Absich-
waltend« bezeichnet, während die »reine« Gewalt des ten fruchtbar zu machen.
neuen Zeitalters »waltend« genannt wird (II, 203). Aus Sorels Buch Oberdie Gewalt (Sorel1981)- Ben-
Bevor alle drei Begriffe nacheinander weiter geklärt jamins VERZEICHNIS DER GELESENEN SCHRIFTEN führt
werden, ist es aber notwendig, sich zunächst der Be- außerdem Sorels Les illusions du progres (1908) auf
deutung des »Rechts« im vorliegenden Text zu versi- (VII, 447)- war ihm nicht nur dessen Idee einer mo-
chern; denn die ganze Kritik, die Benjamin am Wert ralisch begründeten, proletarischen Gewalt bekannt,
der gegenwärtig vorherrschenden Unterteilungen der die in der berühmt gewordenen Apotheose des Gene-
Gewalt üben möchte, ist ja in der Prämisse begründet, ralstreiks mündete, sondern auch schon die äußerst
daß diese in der Institution des »Rechts« verankert scharfe Polemik gegen die Institution des Rechts, die
sind. in der Schrift eine nicht unbedeutende Rolle spielte.
Auf jeden Fall dürfte Sorel der Autor gewesen sein, der
ihn auf den Gedanken einer Parallelisierung von
Der Begriff des ,,Rechtscc bei Benjamin Rechtssystem und gegenwärtigem Bewußtseinszustand
hat kommen lassen. In der Schrift Ober die Gewalt
In der Studie ZuR KRITIK DER GEWALT übernimmt das spielt das Recht nur insofern eine Rolle, als es als das
»Recht« die Funktion, für die geistige Struktur einzu- formale Legitimationsmedium hingestellt wird, dessen
stehen, durch die das gegenwärtige Zeitalter durchgän- sich die herrschenden Klassen jeweils bedienen, um
gig geprägt sein soll. Damit nimmt Benjamin eine die ihnen nutzende Sozialordnung legitimatorisch
Einschätzung vorweg, die sich drei Jahre später bei abzusichern und auszubauen: die Übersetzung von
Georg Lukacs finden wird, wenn er in dem berühm- Machtinteressen in die scheinbar neutrale Sprache von
testen Aufsatz aus seiner Sammlung Geschichte und Gesetzesformeln bedeutet, jene mit einer moralischen
Klassenbewußtsein das moderne Recht als Produkt der Anmutung von Allgemeingültigkeit auszustatten, die
kapitalistischen Verdinglichung darstellt (Lukacs ihnen gerade bei den unterdrückten Schichten Anse-
1968). Auch wenn Benjamin noch weit davon entfernt hen und Überzeugungskraft verleiht (vgl. etwa Sorel
ist, zur Bestimmung der Formgesetze des neuzeitlichen 1981, 316). Im Gegensatz zu jeder authentischen Mo-
Denkens den Marxschen Begriff der »Verdinglichung« ral, die Ausdruck der Werte und Ehrvorstellungen ist,
heranzuziehen, so stimmt seine Charakterisierung der welche in der frühkindlichen Sozialisation erworben
Eigentümlichkeit rechtlicher Regelungen zunächst wurden, ist das Recht daher für Sorel nur ein Instru-
doch weitgehend mit der von Lukacs überein: Beide ment, das den moralfreien Interessen der Machterhal-
Theoretiker sind letztlich der Überzeugung, daß die tung dient (vgl. Honneth 1994, 242ff.). Benjamin hat
rechtliche Sphäre ein rein »formales Kalkulationssy- die äußerst zwiespältigen Anregungen, die von diesen
stem« bildet, »mit dessen Hilfe die notwendigen juri- Ideen zu Beginn des 20. Jh.s ausgingen (vgl. Freund
stischen Folgen bestimmter Handlungen [... ] mög- 1972), natürlich nicht direkt und unverändert in seine
lichst exakt errechnet werden« (Lukacs 1968, 284). Studie über die Gewalt aufgenommen; aber der Ge-
Freilich verwendet Benjamin bei der genaueren Be- danke So reis, daß zwischen dem Recht und der Moral,
stimmung dieser Abstraktheit des Rechts ein anderes zwischen der Allgemeingültigkeit von Gesetzen und
Kategorienpaar als Lukacs. Während sich der Autor dem Anspruch der Gerechtigkeit eine unüberbrück-
von Geschichte und Klassenbewußtsein auf die Entge- bare Kluft besteht, hat ihn sicherlich in der Überzeu-
gensetzung von »Form« und »Inhalt« stützt, um dem gung bestätig, daß das Recht als soziales Organisati-
modernen Recht eine wachsende »Entfernung von onsmedium eine problematische, ja pathologische
dem materiellen Substrat« (Lukacs 1968, 285) sozialer Einrichtung darstellt. Den zentralen Grund für diese
Lebensbedingungen vorzuwerfen, schildert Benjamin Problematisierung bildet nicht, wie bei Lukacs, die
denselben Sachverhalt als Folge einer Einpassung be- leere Formalität oder Abstraktheit des Rechts; vielmehr
198 Messianismus, Ästhetik, Politik

ist der bloße Umstand, daß etwas von Nutzen sein soll, Rolle der Gewalt im Recht wiederzuentdecken, die
also letztlich einem Zweck dient, als solcher bereits Benjamin seiner Studie zugrundelegt, wenn er die bei-
Indiz seiner Minderwertigkeit, weil es dadurch nicht den Formen der rechtsschaffenden und rechtserhal-
Ausdruck wahrhaftiger Sittlichkeit oder Gerechtigkeit tenden Gewalt einführt (ebd., 257ff.). Vor allem
sein kann. Eine derartige Sittlichkeit ist nämlich, so nimmt Jhering in seinem Buch die für Benjamins Ab-
können wir weiter folgern, stets frei von allen Zweck- sichten wohl entscheidende Idee vorweg, daß sich in
setzungen, da sie nicht auf Interessen Rücksicht neh- den menschlichen Lebensverhältnissen eine herr-
men darf, ohne die Zwecke nicht definiert werden schaftslose Alternative zur Zwangsinstitution des
können; sittlich ist nur, nahezu wie bei Kant, was in Rechts auffinden läßt, die im freiwilligen Altruismus
sich selbst moralische Gültigkeit besitzt, so daß es und Intersubjektivismus der >>Sittlichkeit« angelegt ist
durch keinerlei Absehen auf Zwecke eingeschränkt (ebd., Bd. II); die moralischen Praktiken, die Jhering
werden darf. Für Benjamin, hier ein getreuer Schüler dabei ebenso wie Benjamin (II, 199) vor Augen hat,
von Sorel, ist daher ein >>Zeitalter<<, das seine sittlichen sind die maßhaltenden Umgangsformen des Anstands
Angelegenheiten in der Sprache des Rechts artikuliert, und der Höflichkeit.
von minderer Qualität, weil es das Zweck-Mittel- Wird diese Entgegensetzung von Sittlichkeit und
Schema am falschen Ort zur Vorherrschaft gelangen Recht weiterverfolgt, die für die Architektonik der Un-
läßt. tersuchung Jherings zentral ist, so stößt man auf eine
Bevor Benjamin allerdings zu den Formulierungen tieferliegende Unterscheidung, die auch den impliziten
gelangen konnte, mit denen er in seinem Text den Hintergrund der Argumentation von Benjamin be-
Grundcharakter des Rechts darstellt, mußte er sich stimmt haben dürfte. Für Jhering ergibt sich der über-
zusätzlich zu seiner Sorel-Lektüre noch mit einigen greifende Zweck des Rechts, also die Aufgabe der Er-
zeitgenössischen Positionen der Rechtswissenschaft haltung von sozialer Ordnung, aus der Tatsache des
auseinandersetzen. An der Art der gewählten Aus- menschlichen Egoismus, die für einen permanenten
drücke, der exemplarischen Beispiele und historischen Widerstreit individueller Interessen sorgt; die sittli-
Verbindungslinien zeigt sich auf jeden Fall ein gewis- chen Umgangsformen hingegen, also all das, was Ben-
ses Maß der Vertrautheit mit der damaligen Literatur. jamin Formen der >>gewaltlosen Einigung« (191)
Vor allem mit einer Schrift zur Rechtstheorie, die heute nennt, sieht er in der Tendenz des Menschen angelegt,
einen legendären Ruf genießt, muß Benjamin sich in- sich in Selbstlosigkeit die Belange und Absichten seines
tensiv beschäftigt haben, auch wenn sie sich weder in Gegenübers zu eigen zu machen. Insofern ist für Jhe-
seinen Briefen noch in seinen Werken namentlich er- ring die Sphäre des Rechts in Hinblick auf moralische
wähnt findet: es handelt sich dabei um die zweihän- Kraft und Authentizität dem Bereich des Sittlichen
dige, zuerst 1877 erschienene Untersuchung Rudolf weit unterlegen: Jene vermag mit Hilfe autoritären
von Jherings Der Zweck im Recht. Überall dort, wo Zwangs nur dem Zweck der Konfliktvermeidung zu
Benjamin in seiner Studie auf rechtstheoretische Zu- dienen, während diese selber organischer Ausdruck
sammenhänge im engeren Sinn eingeht, scheint er sich der moralischen Anlagen des Menschen ist. Es ist So-
auf dieses grundlegende Werk gestützt zu haben; zwar reis Rückbindung des Rechts an den Egoismus, durch
übernimmt er die Argumentationsreihen Jherings die Benjamin in seiner rundum negativen Auffassung
nicht in vollem Umfang, zwar teilt er mit ihm natürlich des Rechts mit großer Wahrscheinlichkeit bestärkt
nicht das im ganzen affirmative Rechtsverständnis, worden ist. Im Ganzen stellt daher das Recht für Ben-
aber in der Begriffswahl und den grundlegenden Be- jamin deswegen eine >>morsche«, eben pathologische
stimmungen sind die Konvergenzen doch so stark, daß Institution dar, weil es die sozialen Lebensverhältnisse
wohl jeder Zweifel auszuschließen ist. Bei Jhering fin- mit einem Zweck-Mittel-Schema überformt, das letzt-
det sich im Zweck im Recht die grundlegende These, lich den egoistischen Individualinteressen dient.
daß alles Recht dem einen Zweck der >>Sicherung der Aus diesem negativistischen Bild des Rechts ergibt
Lebensbedingungen der Gesellschaft« (Jhering 1884, sich natürlich auch, daß Benjamin in seiner Studie
439) dient, demgegenüber die Wahl der berechtigten nicht eigentlich mit den internen Paradoxien der Be-
Mittel eine abhängige Größe bildet (ebd., 451 f.); darin gründung des Rechts beschäftigt ist; sein vordringli-
ist in leicht abgewandelter Formulierung jene Unter- ches Problem ist nicht, wie von der Sekundärliteratur
scheidung von >> Naturzwecken « und >> Rechtszwecken « häufig behauptet, jene iterative Unbestimmtheit des
anzutreffen (ebd., 252ff.), die Benjamin an einer zen- Rechts, die heute im Zentrum dekonstruktiver Rechts-
tralen Stelle zur Begründung seiner Überlegungen betrachtungen steht (Derrida 1990); auch ist seine
heranzieht; und schließlich ist darin in beinah wört- Aufmerksamkeit nicht primär auf den Umstand ge-
licher Übereinstimmung dieselbe Bestimmung der richtet, daß alles Recht in einem Akt der nicht-legiti-
»Zur Kritik der Gewalt« 199

mierten Gewaltausübung gründet. Alles das sind zwar nicht. Mithin verfügt die naturrechtliche Tradition, so
Geschichtspunkte, die Benjamin im Zuge seiner Argu- wie Benjamin sie darstellt, über kein anderes Kriterium
mentation thematisiert, aber sie bilden für ihn nicht zur normativen Beurteilung von Gewalt als das der
den Kern der Begründung, aus der heraus er am Ende instrumentellen Angemessenheit; nach seiner über-
das Recht als eine Form von Sozialität geschichtsphi- zeugungkann nicht einmal die Frage, ob sie als Mittel
losophisch kritisieren wird; diese Grundlage ist viel- sittlichen Maßstäben genügt, in diesem Zusammen-
mehr, wie gesagt, in dem Umstand zu sehen, daß das hang zufriedenstellend beantwortet werden, weil dazu
Recht als solches Zwecken dient, derartige Zweckset- die nicht-instrumentellen, moralischen Gesichts-
zungen aber auf Interessen zurückgehen, die wiederum punkte fehlen. Es würde zu weit führen, hier nun zu
Ausdruck der egoistischen Natur des Menschen sind. prüfen, ob die Einwände Benjamins ihrerseits gerecht-
fertigt sind; schon ein kurzer Blick auf die Argumen-
tationsgeschichte des Naturrechts würde wohl zeigen
Die Gewalt im Recht können, daß die normative Auszeichnung bestimmter,
vernünftiger Rechtszwecke häufig auch auf die Bewer-
Schon im vierten Satz seiner Studie konstatiert Benja- tung der Mittel übertragen wurde, die zu ihrer Durch-
min apodiktisch über das Recht, was wir bislang als setzung legitim angewandt werden dürfen. Benjamin
theoretischen Niederschlag seiner Beschäftigung mit geht es einzig und allein um den Nachweis, daß in der
Sorel und Jhering kennengelernt haben: >>Was zunächst Behandlung der Gewalt als ein bloßes Mittel die Ten-
den ersten von ihnen (d.i. den Begriff des Rechts, d. denz angelegt ist, darin eine nur >>natürliche Gegeben-
Verf.) angeht, so ist klar, daß das elementare Grund- heit<< (II, 180) des Menschen zu erblicken. Das Argu-
verhältnis einer jeden Rechtsordnung dasjenige von ment, mit dessen Hilfe er zu dieser Schlußfolgerung
Zweck und Mittel ist<< (II, 179). Ohne daß an dieser gelangt, ergibt sich aus den Prämissen seiner Interpre-
Stelle schon durchscheint, wie Benjamin im Ganzen tation des Naturrechts: Gerade weil die damit bezeich-
eine derartige Beschränkung auf das Zweck-Mittel- nete Tradition, die dieAbhandlung später im Mythos
Schema beurteilen wird, versucht er im folgenden nun begründet sieht, alles daran setzt, den gewaltförmigen
zu analysieren, welche Kriterien sich in einer derartig Naturzustand des Menschen durch eine moralisch
verfaßten Sphäre für die Beurteilung der Gewalt erge- legitimierte Rechtsordnung zu ersetzen, muß ihr unter
ben; sein Vorgehen besteht also darin, zunächst einmal der Hand die Gewalt zu einem natürlichen >>Rohstoff<<
immanent zu prüfen, wie der rechtliche Maßstab des (ebd.) werden, der solange nicht sittlich verworfen
Begriffspaars von Zweck und Mittel in bezug auf eine werden darf, wie er nicht der Durchsetzung ungerecht-
solche Größe wie die Gewalt zur Anwendung gebracht fertiger (Rechts-) Zwecke dient. Zurückbezogen auf
werden kann. Allerdings geht Benjamin die damit um- die Frage, mit der Benjamin auf diesen ersten Seiten
rissene Aufgabe nicht direkt an, sondern bedient sich an die überprüfung der Rolle der Gewalt im Recht
des hermeneutischen Kunstgriffs, die herrschenden geht, heißt das, daß das Zweck-Mittel-Schema in der
Lehrmeinungen auf ihre Antwort hin zu befragen; in naturrechtliehen Tradition zu einer paradoxen Natu-
weitgehender Übereinstimmung mit dem, was auch ralisierung der Gewalt geführt hat.
heute noch dogmengeschichtlicher Befund ist, unter- Es wird noch deutlicher, was Benjamin mit einer
scheidet er zwischen den Traditionen des Naturrechts solchen Kritik bezweckt, wenn nun zu seiner Ausein-
und des Rechtspositivismus, um sie beide als histori- andersetzung mit der >>positiv-rechtlichen« Tradition
sche Varianten einer Anwendung des Zweck-Mittel- übergegangen wird; wie schon bei der Behandlung des
Schemas auf das Phänomen der Gewalt zu nutzen. Naturrechts, so wird auch in diesem zweiten Schritt
Leichtes Spiel glaubt Benjamin mit der naturrecht- nicht ein einziger Autor namentlich erwähnt, sondern
liehen Tradition zu haben. Ohne zwischen den höchst nur die gesamte Richtung einer sehr allgemeinen, ge-
verschiedenen Ansätzen des Naturrechts näher zu un- radezu schematischen Charakterisierung unterzogen.
terscheiden (Ilting 1978 ), liegt es für ihn auf der Hand, Danach bleibt natürlich auch die >>positive Rechtsphi-
daß eine Prüfung der Rechtmäßigkeit von Gewalt hier losophie<< in dem problematischen Zirkel befangen,
nur mit Blick auf ihre instrumentale Rolle erfolgen der sich in der wechselseitigen Verwiesenheit von
kann; da die Architektonik dieser Theorie nämlich Zweck und Mittel auftut. Aber ihr Vorzug gegenüber
dazu zwingt, als den legitimen Zweck einer Rechtsord- der naturrechtliehen Tradition besteht für Benjamin
nung die Herstellung von Gewaltfreiheit zu betrachten, doch darin, daß sie dazu in der Lage sein soll, ein nicht
kann die Ausübung von Gewalt bloß noch danach be- nur instrumentelles Kriterium zur Beurteilung des
urteilt werden, ob sie als angemessenes Mittel zur Einsatzes von Gewalt zu liefern. Im Unterschied zum
Durchsetzung jenes vorgegebenen Zweckes dient oder Naturrecht, so resümiert Benjamin wohlwollend, bin-
200 Messianismus, Ästhetik, Politik

det der Positivismus die Legitimität der Rechtszwecke der Unterscheidung, die der Rechtspositivismus zwi-
an die Berechtigung der Mittel, die zu deren Ausfüh- schen historisch sanktionierter und nicht-sanktionier-
rung erforderlich sind: Es soll die Rechtmäßigkeit einer ter Gewalt vornimmt. Er stellt die Frage, >>was denn für
staatlichen Ordnung eben nicht mehr an der Erfüllung das Wesen der Gewalt daraus folge, daß ein solcher
bestimmter, >>natürlich<< genannter Zwecke gemessen Maßstab oder Unterschied an ihr überhaupt möglich
werden, sondern umgekehrt die Rechtmäßigkeit der sei<< (ebd.). Daß diese Überprüfung nun allein am >>eu-
verwendeten Mittel die Legitimität der Rechtsordnung ropäischen<< Rechtssystem vorgenommen wird, be-
garantieren (180). Durch eine solche >>Prozeduralisie- gründet Benjamin lakonisch mit dem Hinweis auf die
rung<<, wie wir heute sagen würden, entsteht für den kaum zu bewältigenden Schwierigkeiten einer umfas-
Positivismus der Zwang, Maßstäbe für die Beurteilung senden, kulturübergreifenden Analyse; aber als der
rechtlicher Mittel angeben zu müssen, die unabhängig eigentliche Grund für die Einschränkung darf wohl
von allen erdenklichen Zwecken oder Zielen formuliert der historische Umstand betrachtet werden, daß ge-
sind; in der >>Historischen Schule<<, die Benjamin hier rade in Europa zur damaligen Zeit kaum eine andere
wohl vor allem im Blick hat, ist diese Aufgabe gelöst Frage mehr politischen Zündstoff enthielt als die nach
worden, indem das Maß der geschichtlichen Bestäti- der rechtlichen Legitimität von außerstaatlicher, revo-
gung eines Rechtsmittels als unabhängiges Kriterium lutionärer Gewalt.
verwendet wurde. Für das Phänomen der Gewalt be-
sagt eine derartige Lösung, daß deren rechtliche Aus-
übung solange gutzuheißen ist, wie sie sich in Form Die rechtsetzende oder nschaltende(( Gewalt
von faktischer Zustimmung und praktischer Anwend-
barkeit historisch bewährt. Benjamin ist nun weit da- Bei all den Überlegungen, die Benjamin in den an-
von entfernt, das damit umrissene Kriterium der hi- schließenden Teilen seiner Untersuchung nun anstel-
storischen Sanktionierbarkeit als solches zu befürwor- len wird, gilt es also zu berücksichtigen, daß sie unter
ten; ihm ist ja, wie wir gesehen haben, der gesamte der Prämisse einer hypothetischen Geltung der posi-
Versuch suspekt, der Gewalt durch Einhegung in das tiv-rechtlichen Unterscheidung von sanktionierter und
rechtliche Zweck-Mittel-Schema Herr zu werden. Aber nicht-sanktionierter Rechtsgewalt stehen. Was die
unter den Lösungen, die die Rechtstheorie bietet, um Ziele dieses mittleren Abschnitts anbelangt, so läßt sich
die Gewalt in einem solchen Schema unterzubringen, daher vermuten, daß es Benjamin um den Nachweis
bevorzugt er unzweideutig die des historischen Posi- eines notwendigen Kollapses eines solchen Legitimi-
tivismus, weil mit dieser die Angabe eines Maßstabs tätskriteriums geht, um so selbst am Positivismus die
verknüpft ist: >>Dagegen ist die positive Rechtstheorie Unvermeidbarkeit einer zirkulären Bestimmung des
als hypothetische Grundlage im Ausgangspunkt der Rechts zu demonstrieren. Es ist freilich nicht leicht zu
Untersuchung annehmbar, weil sie eine grundsätzliche durchschauen, wie der Autor im einzelnen verfährt,
Unterscheidung hinsichtlich der Arten der Gewalt vor- um das damit umrissene Beweisziel einzulösen; der
nimmt, unabhängig von den Fällen ihrer Anwendung<< Text schwankt zwischen dem Aufruf konkreter Rechts-
(181). probleme und systematischen Erwägungen, ohne daß
Aus dieser bedingten oder relativen Aufwertung des immer hinreichend klar wird, welches der beiden Ele-
Rechtspositivismus ergibt sich für den Fortgang der mente das tragende, welches das abhängige Argument
Untersuchung, daß Benjamin sich nun auf den folgen- liefern soll. Wahrscheinlich ist es um der Übersicht-
den Seiten beinah ausschließlich mit dem positiv- lichkeitwillen am besten, sich bei der Rekonstruktion
rechtlichen Maßstab der Sanktionsfähigkeit beschäf- an die Zweiteilung zu halten, die Benjamin erst im
tigen wird. Die Antwort, die das Naturrecht bezüglich Zuge seines Beweisganges allmählich etablieren wird:
der Stellung der Gewalt im Recht zu bieten hat, ist Danach erweist sich der Kollaps des positiv-rechtlichen
bereits verworfen, weil sich darin nach Benjamin über- Maßstabs zunächst an der Tatsache einer>> rechtsetzen-
haupt kein Kriterium der Beurteilung findet; also den Gewalt<<, im weiteren dann auch an der Tatsache
bleibt zur Beantwortung der Frage, wie die Gewalt einer »rechtserhaltenden Gewalt<<.
innerhalb des Rechtssystems beurteilt werden kann, Das Argument, das Benjamin im ersten Schritt sei-
nur die positivistische Lehre übrig, die mit der Idee ner Beweisführung zu verwenden scheint, läuft auf die
der historischen Sanktionierung immerhin einen Behauptung hinaus, daß der positiv-rechtliche Maß-
Maßstab zur Bewertung der Gewalt als eines Mittels stab der historischen Sanktionierung viel zu viele Fälle
bietet. Die 15 Seiten, die diesem Auftakt einer Plazie- einer ordnungsfeindlichen, umstürzlerischen Gewalt
rung der Gewalt in den zwei maßgeblichen Rechtstra- erlauben würde, um als normative Grundlage einer
ditionen folgen, bestehen daher in einer Überprüfung staatlichen Rechtsordnung gelten zu können; daher
»Zur Kritik der Gewalt« 201

muß der Staat immer dann, so ist zu ergänzen, wenn androhungnur durch rechtlose Verwendung von Ge-
die Gefahr einer solchen faktischen Legitimierung ent- walt entgegentreten kann.
steht, alle Gewalt monopolisieren und willkürliche, Allerdings bereitet gerade dieser Fall des Streikrechts
nicht -sanktionierte Grenzen ziehen. Es ist relativ leicht, Benjamin eine Reihe von Deutungsschwierigkeiten,
sich die Liste von konkreten Beispielsfällen vor Augen weswegen sich im Text immer wieder Erläuterungen
zu führen, die Benjamin aus der zeitgenössischen und Klarstellungen eingestreut finden. So liegt es zum
Rechtswirklichkeit aufliest, um mit ihrer Hilfe seine Beispiel gar nicht auf der Hand, die rechtliche Garan-
These zu belegen: obwohl der Zweck der Kindererzie- tie des Streiks in der Weise als ein >>Recht auf Gewalt«
hung faktisch, gemessen also an der Anerkennung von ( 184) zu interpretieren, wie Benjamin es unternimmt,
Seiten der Bevölkerung, als eine private, rechtsfreie wenn er hier von der >>inneren Widersprüchlichkeit«
Angelegenheit gilt, droht dieser >>Naturzweck« mit ei- des Rechts spricht; würde im Streik vielmehr der Fall
nem so >>übergroßen Maß von Gewalttätigkeit<< (182) einer bloßen Unterlassung bestimmter Handlungen,
durchgesetzt zu werden, daß der Staat sich ohne jede nämlich der Arbeitstätigkeiten, gesehen, so daß von
geschichtliche Legitimierung zur Erlassung von >>Ge- einer Gewaltanwendung gar nicht die Rede sein
setzen über die Grenzen der erzieherischen Stratbe- könnte, dann entfiele mit einem Schlag die Pointe, die
fugnis« (ebd.) veranlaßt sieht. In dieselbe Kategorie Benjamin in diesem Rechtsinstitut vermutet. Ohne
scheint für Benjamin auch der historische Umstand sich auf die umfangreiche Diskussion in der Rechts-
zu gehören, daß der >>>große< Verbrecher« nicht selten theorie seiner Zeit groß einzulassen, fertigt Benjamin
>>die heimliche Bewunderung des Volkes erregt hat« die damit umrissene Alternative kurzerhand ab, indem
( 183 ); die Sympathie galt nach seiner überzeugung in er sich auf die >>Anschauung der Arbeiterschaft« (ebd.)
diesen Fällen weniger der Tat selber, deren >>Zwecke beruft: Diese muß, so heißt es ohne Duldung von Wi-
abstoßend« bleiben, als vielmehr der sich darin bezeu- derspruch, im >>Streikrecht das Recht« erblicken, >>Ge-
genden Gewalt, deren rechtsprengender Charakter walt zur Durchsetzung gewisser Zwecke anzuwenden«
dem Staat so bedrohlich erscheint, daß er auch hier (ebd.). Ein ebenso großes Problem stellt für Benjamin
auf jeden Ausweis historischer Sanktionierung verzich- die für seine Absicht nicht minder wichtige These dar,
ten und gewalttätig seine Monopolisierung der Gewalt derzufolge es von der Arbeitsniederlegung nur ein
durchsetzen müßte. kurzer Schritt zu einer Form der Gewaltausübung ist,
Dasselbe Motiv, nämlich die rechtsbedrohende Ten- die die Rechtsordnung im Ganzen >>ZU stürzen« (185)
denz, die aller faktisch sanktionierten Gewalt stets droht; er benötigt ein solches Argument, um behaup-
innezuwohnen scheint, ist ausschlaggebend auch für ten zu können, daß sich der Rechtsstaat mit dem
das dritte Beispiel, das Benjamin ins Spiel bringt; aber Streikrecht gemäß seiner eigenen Grundlagen ein >>in-
allein schon der Umstand, daß er der Schilderung die- neres Gewaltpotential« hat erzeugen müssen, dessen
ses Falls dann mehr als zwei Seiten widmet (183-185), Dynamik ihn am Ende zur rechtlosen Ausübung von
macht auf dessen herausragende Bedeutung für den staatlicher Gewalt zwingt. Der Kunstgriff, mit dem
Gesamttext aufmerksam. Das Streikrecht, so behaup- Benjamin diese Herausforderung bewältigt, besteht in
tet Benjamin, stellt ein noch viel offenkundigeres Bei- der relativ gewagten Idee, den revolutionären Gene-
spiel für die Unmöglichkeit dar, den Maßstab der hi- ralstreik als praktische und legale Konsequenz der
storischen Sanktionierung rechtsstaatlich konsistent (erlaubten) Arbeitsniederlegung zu betrachten: In der
anzuwenden; denn darin wird unter Druck >>von un- >>gleichzeitige[n]« (184) Bestreikung aller (nationalen)
ten« der Arbeiterschaft ein Recht zur Gewaltanwen- Betriebe, so heißt es in impliziter Anlehnung an Sore!,
dung eingeräumt, das sich unter bestimmten Umstän- bringt das Proletariat eine umstürzlerische Gewalt zur
den in eine so starke Gefahr für die rechtsstaatliche Geltung, die es selbst noch als >>Ausübung« (ebd.) jenes
Ordnung zu verwandeln vermag, daß sich der Staat Rechts verstehen darf, das ihm der Rechtsstaat in der
allen prozeduralen Grundsätzen zum Trotz zur Aus- Erlaubnis des Streiks eingeräumt hatte. Insofern ist der
übung rechtsetzender Gewalt gezwungen sehen muß. Generalstreik ein legales Produkt derselben rechts-
Wahrscheinlich tritt an keinem anderen Beispielsfall staatlichen Ordnung, die er nun durch Inanspruch-
des Textes die Absicht deutlicher zu Tage, die Benjamin nahme des Streikrechts zu stürzen versucht; und der
mit seiner immanenten Widerlegung des Rechtsposi- Staat wiederum kann, so ist erneut zu ergänzen, auf
tivismus verfolgt. Er will zeigen, daß bei der (alterna- diese Gefahr nur reagieren, indem er in Verletzung
tivlosen) Zugrundelegung des positiv-rechtlichen seiner eigenen Prinzipien willkürlich die >>Gewalt« der
Maßstabs der Rechtsstaat stets wieder mit seinen eige- Rechtssetzung an sich zieht.
nen prozeduralen Prinzipien in Widerspruch geraten Es ist unschwer zu sehen, daß es sich bei diesem
muß, weil er der zwangsläufig selbst gewährten Gewalt- ganzen, das >>Streikrecht« betreffenden Argument um
202 Messianismus, Ästhetik, Politik

eine äußerst fragile, wenn nicht gar fadenscheinige Mächte akzeptieren, weil es ihm seine prozeduralen
Konstruktion handelt. Benjamin gesteht selbst zu, daß Prinzipien verbieten, der faktischen Sanktionierung
der Nachweis einer zwangsläufigen Selbstaufhebung von Gewalt zu widersprechen. Benjamin glaubt, mit
des Rechts hier nur gelingt, wenn bei der Interpreta- diesem vierten Beispielsfall die erste Runde seiner in-
tion die >>Anschauung der Arbeiterschaft<< gleichbe- ternen Widerlegung des modernen Rechts beenden zu
rechtigt miteinbezogen wird; erst bei der Einnahme können. Obwohl er selber kein ausdrückliches Resü-
dieser, bloß zugeschriebenen Perspektive kann näm- mee zieht, läßt sich das Ergebnis seiner Argumentation
lich das Streikrecht als Erlaubnis zur legalen Gewalt- wohl dahingehend zusammenfassen, daß der herr-
ausübung und der Generalstreik seinerseits als deren schende Rechtspositivismus mit seinem Legitimitäts-
radikalisierte Exekution verstanden werden. Was Ben- kriterium für Gewalt scheitert, weil er Mittel der Ge-
jamin mithin durch seine Beweisführung zustande- waltanwendung anerkennen muß, deren Ausübung
bringt, ist der Aufweis nicht eines >>logischen zur Setzung von systemsprengenden Rechtszwecken
Widerspruch[s] im Recht<< (185), sondern nur, wie er ermächtigt. Wenn dem aber so ist, so kann die These
selber vorsichtig einräumt, eines >>sachlichen zugespitzt formuliert werden, dann ermöglicht die
Widerspruch[s] in der Rechtslage<< (ebd.). Hinzu moderne Rechtsordnung stets wieder ihre eigene Au-
kommt, daß der Anspielung auf den >>Generalstreik<< ßerkraftsetzung: Entweder muß sie ihre Hoheit an
etwas Kontingentes anhaftet, weil es sich dabei nicht fremde Rechtsmächte abtreten oder aber gegen diese
um ein regelmäßiges oder sogar notwendiges Vor- eine Gewalt mobilisieren, die keine rechtsstaatliche
kommnis in der Geschichte des modernen Rechtsstaats Legitimität besitzt.
handelt; daher fehlt dem Beweisgang gewissermaßen
der Abschlußpunkt, der nur in der Behauptung eines
zwangsläufigen Umschlags sanktionierter in umstürz- Die rechtserhaltende oder nverwaltendeu
lerische Gewalt bestehen könnte. Benjamin hat, so Gewalt
scheint es, die Schwächen seiner Argumentation ver-
spürt; denn am Ende des betreffenden Abschnitts heißt Auch der sich anschließende Teil über die rechtserhal-
es, daß nun durch eine >>Betrachtung der kriegerischen tende Gewalt erfüllt für Benjamin nur die propädeu-
Gewalt<< die noch bestehenden Einwände zurückge- tische Funktion, an der gegebenen Rechtsordnung
wiesen werden sollen. immanent zu prüfen, ob dem Zweck-Mittel-Schema
Mit dem Begriff der >>kriegerischen Gewalt<< be- in seiner positivistischen Auslegung irgendein >>Wert<<
zeichnet Benjamin in diesem Zusammenhang die Fä- (181) zukommt. Der negative Bescheid, den diese
higkeit >>auswärtige[r] Mächte<< (186), nach einem Frage bislang erhalten hat, gibt auch die Richtung vor,
siegreich beendeten Krieg >>neues Recht<< (ebd.) in dem in die Benjamin nun seine Argumentation lenkt; mit
Land zu setzen, welches unterlegen war; auch den Fall demselben scharfen Ton, den er schon zuvor ange-
eines solchen >>Kriegsrechts<< möchte der Autor als Be- schlagen hat, listet er weiterhin rechtliche Fälle auf, die
leg für die Tendenz des modernen Rechtsstaats ver- den notwendigen Kollaps jenes positivistischen Maß-
standen wissen, unter den Bedingungen seiner eigenen stabs erkennbar machen sollen. Allerdings steht jetzt
prozeduralen Prämissen eine fremde Rechtssetzung nicht mehr die Gewalt >>ZU Naturzwecken<< (186) zur
dort anerkennen zu müssen, wo sie sich weder in sei- Debatte. Vielmehr geht es Benjamin in diesem neuen
nem Interesse noch unter seiner Kontrollhoheit befin- Abschnitt um Formen der Gewaltausübung, deren
det. Man mag gegen dieses weitere Beispiel sofort rechtliche Legitimität von vornherein außer Frage
einwenden, daß es der Absicht Benjamins nicht son- steht, da sie >>als Mittel zu Zwecken des Staates<< (ebd.),
derlich dienlich ist, weil es sich auf zwischenstaatliche also in> rechtstaatlicher Funktion< zum Einsatz gelan-
Beziehungen, nicht aber auf die einzelstaatliche gen. Die Kritik einer solchen >>rechtserhaltenden<< Ge-
Rechtsordnung bezieht. Über derartige Bedenken aber walt ist, so betont Benjamin sogleich, trotz aller >> De-
setzt sich Benjamin hinweg, indem er den Blick nur klamationen der Pazifisten und Aktivisten<< (187) kein
auf die Wirkung lenkt, den der rechtliche Eingriff von leichtes Unterfangen; denn ihr ist weder durch Verweis
außen auf die Rechtsverhältnisse im Inneren ausübt. auf eine ursprüngliche Freiheit aller Menschen noch
Es kann daher in seiner Darstellung so scheinen, als durch Berufung auf den >>kategorischen Imperativ<<
ob der Fall der infolge eines verlorenen Krieges aufok- (ebd.) beizukommen, weil in beiden Fällen geleugnet
troyierten Rechtsordnung mit demjenigen vergleich- wird, daß der Rechtsstaat beansprucht, »das Interesse
bar sei, den die Erzwingung des Streikrechts durch das der Menschheit in der Person jedes Einzelnen anzuer-
kämpfende Proletariat darstellt: Beidemal muß der kennen und zu fördern<< (ebd.). Wie also ist bei einem
Rechtsstaat das rechtsetzende Potential fremder solchen Anspruch zu begründen, daß sich der staatli-
»Zur Kritik der Gewalt« 203

ehe Einsatz von rechtserhaltender Gewalt in eine zir- rechterhaltung der rechtlichen Ordnung zu gewähr-
kuläre Bestimmung von Zweck und Mittel verfängt leisten hat. Benjamin ist sich in diesem Fall seiner
und daher die rechtsstaatliche Ordnung stets wieder Sache so sicher, daß er sein Argument erst gar nicht
untergräbt? lange vorzubereiten versucht, sondern es wie eine Prä-
Die erste Antwort, die Benjamin auf diese implizit misse an den Anfang seiner Betrachtung stellt: Im
gestellte Frage gibt, erfolgt mit Blick auf die Todes- Gebaren wie in den Befugnissen der Polizeibehörden
strafe, die damals in Deutschland allein noch für die vermische sich auf so »Widernatürliche<<, »schmach-
Straftat des Mordes vorgesehen war. Es bedarf erneut volle<<, ja »gespenstische<< ( 189) Weise die Aufgabe der
einer geringfügigen Ergänzung, um das Argument zu Rechtssicherung mit der Schaffung neuer Rechtsziele,
erkennen, das Benjamin in dem damit abgesteckten daß in ihnen »die Trennung von rechtsetzender und
Zusammenhang geltend macht: Wie alle Formen des rechtserhaltender Gewalt aufgehoben<< sei (ebd.). In
Bestrafens muß der Rechtsstaat auch die Todesstrafe den sich überstürzenden Sätzen, mit denen diese Aus-
als ein Mittel reklamieren, welches der Erhaltung der gangsthese dann im folgenden ausgeführt wird, ver-
rechtlichen Ordnung dient, indem es dem potentiellen steigt sich Benjamin sogar zu der Behauptung, daß jene
Straftäter zum Zecke der Abschreckung mit der Aus- Verschränkungvon Funktionen in den »Demokratien<<
übung von Gewalt droht; aber in der Exekution dieser zu noch größerer »Entartung der Gewalt<< (190) führe
besonderen Strafe offenbart sich schnell, daß jener als in den absoluten Monarchien; während sich hier
Zweck hier nur die Kulisse liefert, hinter der sich die nämlich die Polizei, so lautet das Argument, aufgrund
eigentliche Funktion einer Statuierung des Rechts ver- der »Machtvollkommenheit<< des Herrschers an dessen
birgt. Insofern schlägt in der Ausübung der Todesstrafe Autorität gebunden fühle, fehle dort jede Art einer
die rechtserhaltende Gewalt des Staates regelmäßig in »derartigen Beziehung<< (ebd.), so daß es viel schneller
das Gegenteil einer sich manifestierenden Gewalt um: zu Mißbrauch und Eigenwilligkeit kommen könne.
>> [ ... ] in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod Der Gedankengang verdankt sich ganz offensicht-
bekräftigt mehr als in irgendeinem anderen Rechts- lich lebhaftesten Eindrücken vom Machtmißbrauch
vollzug das Recht sich selbst<< (II, 188). Für Benjamin der Polizeibehörden in jener Zeit; der gereizte Ton, die
scheint dieser Befund wohl eine erste Bekräftigung der Wahl der Adjektive, die offen bekundete Abscheu, all
These zu sein, daß im modernen Recht auch mit Blick das verrät, daß Benjamin sehr genau konkrete Fälle
auf die rechtserhaltende Gewalt eine klare Fixierung solcher Grenzverletzungen vor Augen standen. Frag-
von Zweck und Mittel nicht gelingt: Die als Mittel der lich bleibt dennoch, ob sich die Faktizität der Beispiele
Rechtssicherung gedachte Todesstrafe entpuppt sich soweit verallgemeinern läßt, daß daraus eine prinzipi-
bei näherem Hinsehen als eine Form von rechtlicher elle These über die Entschränkung polizeilicher Gewalt
Gewalt, welche in den Bereich der Rechtssetzung fällt, im Rechtsstaat zu gewinnen ist. Mehr als die fragwür-
weil sie nichts anderes leistet als eine symbolische Be- dige Beobachtung, daß es demokratischen Regimen
kräftigung der gesetzten Ordnung. Es ist freilich nicht an vorbildhafter Autorität zur Bindung seines Perso-
ganz klar, ob dieses Argument tatsächlich die These nals mangelt, scheint Benjamin nicht in den Händen
stützt, die Benjamin vorzubringen versucht; wenn sich zu halten. Daß es vielleicht auch ganz anders sein
nämlich am Vollzug der Todesstrafe erweist, daß ihre könnte, daß nämlich gerade demokratische Gesell-
eigentliche Funktion die der Statuierung des Rechts schaften mit der Zeit zivile Ressourcen der Bindung
ist, dann kann nicht von einer Verlagerung von Zweck von Polizei und Militär entwickeln könnten, liegt au-
und Mittel, sondern nur von einer Verschleierung des ßerhalb seines Vorstellungshorizonts. Daher ruhen
wirklichen Zwecks gesprochen werden- das Argument Benjamins Ausführungen zur rechtserhaltenden Ge-
dient dann ideologiekritischen Absichten, nicht aber walt insgesamt auf problematischen Grundlagen: Die
dem Nachweis einer grundsätzlichen Unbestimmbar- Gedanken zur Todesstrafe thematisieren nicht eigent-
keil von Zweck und Mittel. Nun soll allerdings der lich eine Unbestimmtheit rechtlicher Mittel, sondern
Exkurs zur Todesstrafe nur die Brücke bilden zu den nur eine Verschleierung der faktischen Zwecke; die
allgemeineren Erörterungen, die Benjamin auf den Überlegungen zur Polizei verdanken sich einer Verall-
nächsten Seiten dem Thema der rechtserhaltenden gemeinerung von historischen Erfahrungen, deren
Gewalt widmet. Das Beispiel, anhand dessen er auf systematischer Stellenwert ungeprüft bleibt. Zur Be-
diesem Feld seine These über die Nichtfixierbarkeit gründung der These, die Benjamin mit seiner »imma-
von Zweck und Mittel weiterverfolgt, ist das der Poli- nenten<< Kritik des Rechtssystems verfolgt, taugt inso-
zei; sie stellt für ihn die markanteste Instanz einer fern wohl nur der Abschnitt über die rechtsetzende
rechtserhaltenden Gewalt dar, weil sie mit der Erlaub- Gewalt; dort konnte gezeigt werden, daß der Rechts-
nis zur Verwendung gewaltförmiger Mittel die Auf- staat nach europäischem Muster bei einem strikt po-
204 Messianismus, Ästhetik, Politik

sitivistischem Selbstverständnis nicht dazu in der Lage Auch wenn diese Kritik des Parlamentarismus von
ist, legitime Formen der Gewaltausübung eindeutig zu heute aus einigermaßen bedenklich erscheinen muß,
bestimmen, weil unter dem Gesichtspunkt faktischer da sich darin eine erstaunliche Nähe zu den antide-
Geltung stets wieder neue, systemsprengende Quellen mokratischen Gedankengängen von Carl Schmitt
der gewaltförmigen Rechtssetzung anerkannt werden (Schmitt 1979) offenbart, so stellt sie im Text doch
müssen. Der Abschnitt hingegen, der sich anschließend kaum mehr als eine hingeworfene Randbemerkung
mit der rechtserhaltenden Gewalt beschäftigt, trägt zur dar; denn was Benjamin hier eigentlich interessiert,
These über die Unbestimmtheit rechtsstaatlicher Nor- was ihn das Parlament nur noch einmal als eine Kon-
men nur denkbar wenig bei. trastfolie herbeizitieren läßt, sind jene bereits erwähn-
ten Formen sozialer übereinkunft, die ohne jede Ver-
wendung von Gewalt auskommen. Solche gewaltfreien
Gewaltlose Alternativen zum Recht Medien der Interessenvermittlung führt Benjamin nun
ein, indem er zunächst ganz konventionell auf die
Im Anschluß an die kritischen Erwägungen, die die emotionalen >>Tugenden<< (193) verweist, die es gestat-
>>letztliche[ 1Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme<< ten, sich einfühlend in die Perspektive des Anderen zu
(196) am Beispiel des europäischen Rechtssystems zu versetzen: überall dort, so heißt es, wo >>zwischen Pri-
Bewußtsein bringen sollten, folgen eine Reihe von Ge- vatpersonen<< wechselseitig Einstellungen der >>Her-
dankengängen, die zum ersten Mal die Idee der >>Rein- zenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe<< und des
heit<< ins Spiel bringen; ihre Funktion ist es offenbar, >>Vertrauen [s1<< ( 191) vorherrschen, ist es möglich, sich
jenen Teil terminologisch vorzubereiten helfen, in dem ohne Dazwischenschaltung des Rechts gewaltlos zu
Benjamin darangehen wird, das Zeitalter des Rechts einigen. Ebensogut nachvollziehbar ist auch noch der
aus der transzendierenden Perspektive einer zukünf- nächste Schritt, in dem Benjamin es unternimmt, der-
tigen Sittlichkeit zu bewerten. Den übergang stellen artige Formen der affektiv gestützten Verständigung
in diesem Zusammenhang Betrachtungen dar, die die als >>reine<< Mittel zu bezeichnen; denn >>rein<< hat hier
Frage nach der Möglichkeit gewaltloser Formen der vorläufig nur die Bedeutung, die Abwesenheit von Ge-
sozialen übereinkunft betreffen. Benjamin glaubt auf walt begrifflich festzuhalten, so daß unter Beibehal-
den vorausgehenden Seiten gezeigt zu haben, daß jede tung der Zweck-Mittel-Sprache solche Verständi-
Verwendung von Gewalt als eines Mittels zwangsläufig gungsformen als >>reine<< oder eben >>gewaltfreie<< Mit-
von der Problematik affiziert ist, die mit dem Rechts- tel zum Zweck der Konfliktlösung begriffen werden
verhältnis als solchem einhergeht. Daher wendet er können. Diese Betrachtung von friedlichen Instru-
sich nun zunächst der Frage zu, ob es unter den gege- menten der sozialen Einigung weitet Benjamin in ei-
benen Verhältnissen auch Wege der Schlichtung sozi- nem dritten Schritt dann noch aus, indem er funktio-
aler Interessengegensätze geben könne, die nicht auf nale Äquivalente zum Besitz einfühlsamer Tugenden
den Einsatz rechtlich legitimierter Gewalt angewiesen oder, wie es heißt, zur Existenz einer >>Kultur des Her-
sind. An dieser Begründung für den anschließenden zens<< (191) benennt: Überall dort, wo es an solchen
Perspektivenwechsel tritt noch einmal deutlich zutage, Fähigkeiten der Perspektivübernahme mangelt, kann
was Benjamin als das Resümee seiner Behandlung des nach seiner Überzeugung auch die Einsicht in gemein-
Rechts begreift: Das Rechtsverhältnis ist ein soziales same Interessengrundlagen dafür Sorgen tragen, daß
Medium, das an seiner Aufgabe einer Vermittlung so- Konflikte gewaltlos beigelegt werden- die >>Furcht vor
zialer Gegensätze deswegen scheitert, weil es ihm im gemeinsamen Nachteilen<< ( 193) ist der exemplarische
Rahmen des Zweck-Mittel-Schemas strukturell nicht Fall, auf den Benjamin hier in beinah Hobhesseher
gelingen kann, den Einsatz des ihm zur Verfügung ste- Manier verweist.
henden Gewaltmittels deutlich und klar zu fixieren. Bewegen sichalldiese Beispiele für rechtsunabhän-
Bis zu welchem Punkt Benjamin diese Kritik des Rechts gige, gewaltlose Mittel der Konfliktlösung noch inner-
ausgedehnt wissen möchte, zeigt sich im vorliegenden halb der Privatsphäre, so führt der wiederum nächste
Kontext (190f.) daran, daß er auch das Parlament nur Schritt zur Behandlung des Feldes überindividueller
als ein Symptom der rechtlichen Pathologie hinstellt; Streitigkeiten, wie sie die Kämpfe zwischen >>Klassen
im Stil der damals weitverbreiteten Parlamentarismus- und Nationen<< (ebd.) darstellen sollen. Es ist die damit
Kritik heißt es unter Berufung auf Erich Unger, daß markierte Wendung, die Zweifel daran weckt, ob Ben-
sich an der Tendenz zur parlamentarischen Kompro- jamin bei den >>reinen<< Mitteln tatsächlich nur gewalt-
mißbildung zeige, wie sehr insgesamt die Tatsache der freie Instrumente der Konfliktbeilegung vor Augen hat.
Verwurzdung aller Rechtsordnungen in Gewalt ge- Auch jetzt findet sich zwar an einer späteren Stelle
leugnet würde. (195) ein Verweis auf diplomatisches Verhandlungs-
»Zur Kritik der Gewalt<< 205

geschick, das problemlos in Analogie zur privaten nente Stelle, dessen >>Reinheit<< sich freilich weniger aus
Einigung als ein gewaltloses Mittel der Auflösung zwi- dem Umstand der Gewaltlosigkeit als aus dem des
schenstaatlicher Konflikte ausgefaßt werden kann, aber Vollzugscharakters, der Freiheit von aller lnstrumen-
primär gilt Benjamins Interesse doch einem ganz an- talität, ergab. In der darin erkennbaren Verschiebung
derem Instrument der öffentlichen Konfliktaustra- kommt zum Ausdruck, in welcher Richtung Benjamin
gung, welches sich kaum mehr als frei von aller Gewalt im letzten Teil seines Aufsatzes nach einer Form von
begreifen läßt: Der proletarische Generalstreik sei, so Gewalt suchen wird, die nicht mehr dem >>Bannkreis<<
heißt es mit wiederhohem Verweis auf Sorel, »als ein der bislang behandelten >> Daseinslage [n) « ( 196) ange-
reines Mittel gewaltlos<< (194), weil er den »Umsturz« hört und also frei vom Zweck-Mittel-Verhältnis des
nicht >>Veranlaßt als vielmehr vollzieht« (ebd.). Das Rechts ist: Eine solche Gewalt, für die unter den gege-
Mindeste, was sich zu dieser überraschenden Wendung benen Verhältnissen der proletarische Generalstreik
der Argumentation sagen läßt, ist, daß sie höchst am- exemplarisch einsteht, darf nicht länger als Mittel sitt-
bivalent scheint; denn >>rein« kann hier kaum noch Iichen Zwecken dienen, sondern muß selber Ausdruck
oder nicht mehr >>Gewaltfreiheit<< heißen, sondern und Vollzugsform von Sittlichkeit sein. Im letzten Teil
muß so etwas wie >>Zweckfreiheit<< meinen, also den seines Aufsatzes, der kaum mehr als sechs Seiten um-
Vollzug einer Handlung um ihrer selbst willen. Noch faßt, wird Benjamin darangehen, die Möglichkeit einer
deutlicher macht Benjamin den Umstand, daß er den derartigen, >>reinen<< Form von Gewalt zu erkunden.
Ausdruck »rein<< hier tendenziell im Sinn der Abwe-
senheit von jeder Bindung an Zwecksetzungen verwen-
det, wenn er im anschließenden Satz den »anarchisti- Die reine oder "waltende(( Gewalt
schen<< Charakter des proletarischen Generalstreiks
betont: Während die herkömmliche Arbeitsniederle- Der Schlüssel zum Verständnis des Gedankens, der
gung, von der ja in der Behandlung des >>Streikrechts<< Ziel- und Endpunkt der gesamten Abhandlung von
schon die Rede war, aufgrund ihrer programmatischen Benjamin ausmachen wird, findet sich exakt an der
Absichten eine bloß »rechtsetzende<< Unternehmung Stelle, an der die Analyse der rechtlichen Gewalt zum
darstelle, fehle dem authentischen Generalstreik jede Abschluß gebracht wird. Ein letztes Mal wiederholt
Ambition einer solchen sozialpolitischen Transforma- Benjamin hier die These, derzufolge sich die Gewalt
tion, weswegen er »rein<< aus dem Vollzug der >>Ver- im Rechtsverhältnis nicht rechtfertigen lasse, weil ihre
nichtung der Staatsgewalt<< (ebd.) all seinen Sinn Berechtigung als ein Mittelletztlich nicht zu fixieren
schöpfe. sei, um dann aber den Satz mit einer rhetorischen
Kurz nach dieser bedeutsamen Stelle beginnt Ben- Frage zu schließen, die nichts geringeres als den Hin-
jamin damit, seine Ausführungen zur Stellung der weis auf ein alternatives Denkmodell enthält: »Wie
Gewalt im Zweck-Mittel-System des Rechts zusam- also, wenn jene Art schicksalsmäßiger Gewalt, wie sie
menzufassen (195f.); daran wird ersichtlich, daß er berechtigte Mittel einsetzt, mit gerechten Zwecken an
nun gedenkt, die Betrachtungen über das Zeitalter sich in unversöhnlichem Widerstreit liegen würde, und
rechtlich verformter Sittlichkeit abzuschließen. Wenn wenn zugleich eine Gewalt anderer Art absehbar wer-
wir uns den bisherigen Aufbau noch einmal schema- den sollte, die dann freilich zu jenen Zwecken nicht
tisch vor Augen führen, so tritt deutlich zutage, daß das berechtigte noch das unberechtigte Mittel sein
die Erwähnung des revolutionären Generalstreiks auf könnte, sondern überhaupt nicht als Mittel zu ihnen,
den letzten Seiten eine Klammer zum bevorstehenden vielmehr irgendwie anders, sich verhalten würde?<<
Perspektivenwechsel bilden soll, der nun den Blick auf ( 196) In gewisser Weise kann diese letzte Formulierung
ein >rechtsjenseitiges< Zeitalter freizugeben hat. Nach- nicht mehr wirklich überraschen, weil bei der Behand-
dem Benjamin gezeigt hatte, daß unter Geltung des lung des >>proletarischen Generalstreiks<< ja bereits eine
Rechtspositivismus die Verwendung von Gewalt im Form von Gewalt zum Vorschein gekommen war, die
Rechtsverhältnis nicht eindeutig zu fixieren ist und sich nicht ohne weiteres als Mittel zu einem Zweck
daher ohne jede endgültige Legitimationsbasis statt- begreifen lassen konnte; vielmehr sollten doch gerade
findet, waren zunächst noch innerhalb des bestehen- die wiederholten Verweise auf Georges Sorel deutlich
den, rechtlich bestimmten Ordnungssystems Alterna- machen, daß es sich dabei um eine Art des sozialen
tiven aufgewiesen worden, die zur gewaltlosen Besei- Protests handelt, dessen Gewalt nicht Mittel zur Errei-
tigung von Interessenkonflikten in der Lage sind. Im chung eines antizipierten Ziels, sondern Ausdruck
Rahmen dieses Versuchs, solche >>reinen« Mittel der einer sittlichen Empörung ist. Benjamin scheint diesen
sozialen Verständigung zu thematisieren, erfüllt dann einen, bislang bloß angedeuteten Gedanken hier ver-
auch der >>proletarische Generalstreik<< eine promi- allgemeinern zu wollen, um einen Begriff von Gewalt
206 Messianismus, Ästhetik, Politik

ins Spiel bringen zu können, der frei von allen instru- nun die Möglichkeit verschafft, von einer transzenden-
mentellen Konnotationen ist. An der gleichen Stelle ten Warte aus die Beschränkungen der rechtlichen
spricht er auch davon, daß es bei einer solchen alter- Sphäre im Ganzen zu überblicken.
nativen Vorstellung nun um die >>nicht-mittelbare Erschwert wird das Verständnis des weiteren Vorge-
Funktion der Gewalt<< (ebd.) gehe. Beinah wie ein Vor- hens Benjamins nun freilich dadurch, daß er seinen
schlag zur Definition klingt es dann, wenn Benjamin abschließenden Teil sogleich mit einer Einschränkung
am Beispiel einer >>täglichen Lebenserfahrung<< (ebd.) eröffnet, die den Charakter der expressiven Gewalt
erläutert, wie wir uns eine derartige, unmittelbare betrifft: Auch diese, nicht mehr mittelbare Form von
Form von Gewalt vorzustellen haben:>> Was den Men- Gewalt >>kenne<<, so heißt es lapidar, >>objektive Mani-
schen angeht, so führt ihn zum Beispiel der Zorn zu festationen<< ( 197), die keinesfalls von der Kritik aus-
den sichtbarsten Ausbrüchen von Gewalt, die sich genommen werden können. Benjamin konkretisiert
nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht. seine Andeutung schon im nächsten Satz, in dem als
Sie ist nicht Mittel, sondern Manifestation<< (ebd.). Es eine >>höchst bedeutend[e]<< (ebd.) Quelle solcher fal-
ist dieser Begriff der >>Manifestation<<, der nun im Zen- schen, kritikwürdigen Gestalten einer sich manifestie-
trum der letzten Seiten der Abhandlung stehen wird; renden Gewalt der >>Mythos<< genannt wird; und die
mit ihm ist eine Art von Gewalt gemeint, die nicht Entgegensetzung einer derartigen >>mythischen Ge-
länger Mittel zu einem Zweck, sondern Ausdruck oder walt<< und einer tatsächlich >>reinen, unmittelbaren
Bekundung eines entsprechend getönten Willens ist. Gewalt<< (199) bildet das architektonische Rückgrat
Im Grunde genommen geschieht aber an dieser der Überlegungen, mit denen Benjamin seine Abhand-
Stelle des Textes mehr, als die nüchternen, bloß eine lung beschließt. Um zu verstehen, was es mit dieser
Seite umfassenden Erläuterungen zu erkennen geben. Oppositionsbildung auf sich hat, ist es wohl am besten,
Mit der Umstellung des Gewaltbegriffs von einem in- sich zunächst den beiden Typen einer expressiven Ge-
strumentellen auf ein expressivistisches Konzept wen- walt gesondert zuzuwenden, bevor dann die Gründe
det sich Benjamin nicht nur einem anderen Aspekt der für ihre Unter- bzw. Überordnung behandelt wer-
Gewalt zu, sondern transzendiert den gesamten ge- den.
schichtlichen Rahmen, in dem sich seine Argumenta- Die >>mythische Gewalt<< gehört nicht, soviel war
tion bislang bewegt hatte. Denn für eine derartige, schon zu sehen, jener Epoche an, die durch die Vor-
nicht instrumentelle Form von Gewalt muß nach allem herrschaft des Rechts geprägt ist; denn weil sie Mani-
Gesagten ja gelten, daß es für sie in der durchs Recht festationscharakter besitzt, kann sie nicht als Mittel für
bestimmten Epoche keinen angemessenen Ort hat gerechte Zwecke betrachtet und dementsprechend
geben können, weil darin alle sittlichen Verhältnisse auch nicht dem Rechtsverhältnis zugeordnet werden.
zwischen Menschen nach dem rechtlichen Zweck-Mit- Von der Gewalt, die in den mythischen Erzählungen
tel-Schema organisiert waren. Insofern vollzieht Ben- der Antike eine Rolle spielte, behauptet Benjamin viel-
jamin an genau dieser Stelle jenen Perspektivenwech- mehr zunächst, daß sie Manifestation oder Ausdruck
sel, den er zuvor schon mit dem Hinweis auf eine des »Daseins<< (197) der Götter gewesen sei: In der
>>geschichtsphilosophische Rechtsbetrachtung<< ( 192) Ausübung einer solchen Gewalt demonstrieren die
angekündigt hatte: Die Einführung des expressivisti- Götter, daß sie aufgrund ihrer überirdischen Befug-
sehen Modells der Gewalt erlaubt ihm die Einnahme nisse Macht oder Herrschaft über die Menschen besit-
eines Standpunkts, der sich soweit außerhalb der ge- zen. Diese demonstrative Gewalt ist für Benjamin
gebenen Rechtsordnung befindet, daß er eine Beurtei- bedeutsam, weil sie nach seiner Überzeugung das
lung der gesamten Sphäre rechtlicher Maßstäbe >>nach Recht in gewisser Weise überhaupt erst als ein Ord-
ihrem Wert<< (181) ermöglicht. Wollte man den damit nungssystem entstehen läßt: Die Götter, so heißt es
erfaßten Wechsel in der Perspektive auf eine griffige unter Verweis auf die Niobesage, ahnden denjenigen,
Formel bringen, so ließe sich vielleicht sagen, daß Ben- der den Frevel begeht, sie herauszufordern, indem sie
jamin hier den Übergang von einer >>immanenten<< zu Grundsätze schaffen, deren Übertretung zwangsläufig
einer >>transzendierenden<< Kritik vollzieht. Solange er eine Strafe nach sich zieht. Aus dieser äußerst waghal-
sich in seiner Argumentation nämlich auf den bloß sigen Genealogie, deren Beweismaterial nicht histori-
instrumentellen Begriff der Gewalt beschränkte, sehe Vorkommnisse, sondern mythische Erzählungen
konnte er das Rechtsverhältnis aufgrundseines kon- sind, zieht Benjamin den weitreichenden Schluß, daß
stitutiven Zweck-Mittel-Schemas nur immanent kri- das Recht seine Entstehung einem Akt der bloßen De-
tisieren, also interne Unstimmigkeiten in der Behand- monstration von Macht verdankt: Um dem frevelhaf-
lung von Gewalt offenlegen, während ihm die Berück- ten, aufbegehrenden Menschen zu beweisen, wem
sichtigung des Manifestationscharakters von Gewalt tatsächlich die Befugnis zur normativen Grenzziehung
»Zur Kritik der Gewalt« 207

zukommt, erzeugen die Götter rechtliche Grundsätze, erst jetzt ist zu sehen, welche eminente Bedeutung ihm
die nichts anderes sind als Ausdrucksgestalten ihrer für den Abschluß der Argumentation im Ganzen zu-
erregten Wut: >>Rechtsetzung ist Machtsetzung und fällt.
insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von
Gewalt<< (198). Unter methodischen Gesichtspunkten
ist mit diesem genealogischen Befund das Unterneh- Innerweltliche Zeugnisse der Gewalt Gottes
men einer Kritik des Rechts für Benjamin vervollstän-
digt; denn der zunächst bloß immanent ansetzenden Es ist inzwischen unschwer zu sehen, daß Benjamin
Analyse hat sich nun das Ergebnis einer transzendie- die wesentlichen Begriffe seiner Abhandlung in einer
renden Betrachtung hinzugesellt, die zu erkennen gibt, Reihenfolge eingeführt hat, die im umgekehrten Ver-
wie der >>Wert<< der rechtlichen Sphäre im Ganzen zu hältnis zu ihrer sachlichen oder geschichtlichen Be-
beurteilen ist. Benjamin faßt das Resultat seiner kriti- deutung steht. Die entscheidende Oppositionsbildung,
schen Rechtsbetrachtung zusammen, indem er sich diejenige, von der alle zuvor verwendeten Begriffe >>ge-
erneut auf Georges Sorel beruft: Diesem zufolge dient nealogisch<< abhängig sind, wird nämlich erst im letz-
das Recht von Anfangan-und genau das macht seinen ten Viertel des Textes ins Spiel gebracht. Dabei handelt
>>Wert<< aus- dem >>Vorrecht<< der >>Mächtigen<< (ebd.), es sich um jene Entgegensetzung von zwei Formen der
willkürlich normative Grenzen zu ziehen, die es ihnen unmittelbaren, sich manifestierenden Gewalt, deren
erlauben, unter dem Anschein von >>Gleichheit<< ihre Unterschied darin bestehen soll, daß sie das eine Mal
Privilegien zu sichern. Insofern geht, wie es abschluß- >>unrein<<, das andere Mal >>rein<< genannt werden kön-
haftbei Benjamin heißt, alle im Rechtsverhältnis zir- nen. Als >>unrein<< bezeichnet Benjamin eine solche
kulierende Gewalt letztlich auf >>die mythische Mani- expressive Gewalt dann, wenn ihre Ausübung mit
festation der unmittelbaren Gewalt<< zurück. Rücksicht auf externe Zwecke erfolgt, so daß sie nicht
Den Übergang zur Einführung einer anderen, po- mehr bloße Willens- oder Gefühlsbekundung ist; eine
sitiven Form von expressiver Gewalt schafft Benjamin derartige Gewalt, die zwar unmittelbar, aber zugleich
nun dadurch, daß er nach der sittlichen Kraft fragt, >>unrein<< ist, tritt für ihn mit den Wutausbrüchen jener
die das durch den Mythos erzeugte >>Schicksal<< (197) heidnischen Götter geschichtlich in Erscheinung, de-
des Rechtsverhältnisses in Zukunft noch einmal zu nen es den mythischen Erzählungen nach bei aller
brechen in der Lage sein soll. Es sind insgesamt nur affektiven Erregung stets auch um die nüchterne Ver-
zwei Sätze, in denen diese erneute Erweiterung der folgung ihrer Machtinteressen ging. In der begriffli-
Perspektive vorgenommen wird, aber sie stellen für chen Konstruktion, die Benjamin in seiner Abhand-
die Abhandlung eine so zentrale Weichenstellung dar, lung entwickelt, steht diese mythische Gewalt am ge-
daß ihre vollständige Wiedergabe unverzichtbar ist: nealogischen Anfang eines Prozesses, der über die
>>Weit entfernt, eine reinere Sphäre zu eröffnen, zeigt Verselbständigung des Zweck-Mittel-Verhältnisses zur
die mythische Manifestation der unmittelbaren Ge- allgemeinen Etablierung rechtlicher Gewalt führt. So-
walt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch bald einmal ein Rechtsverhältnis vollständig institu-
und macht die Ahnung von deren Problematik zur tionalisiert ist, kann die Legitimität von Gewalt über-
Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtli- haupt nur noch mit Hilfe von instrumentellen Krite-
chen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe rien bewertet werden, was zur Konsequenz hat, daß
wird. Gerade diese Aufgabe legt in letzter Instanz noch jene sich permanent wiederholende Verkehrung der
einmal die Frage nach einer reinen unmittelbaren Ge- Mittel in Zwecke nicht mehr durchschaut werden
walt vor, welche der mythischen Einhalt zu gebieten kann, die aus der Machtbindung des Rechts folgt. Es
vermöchte<< (199). Im anschließenden Satz beantwor- ist diese >>mythische<< Erblast der Rückbindung des
tet Benjamin dann die selbstgestellte Frage, indem er Rechts an Machtinteressen, die Benjamin letztlich da-
die sittliche Größe einführt, die aufgrundihrer >>Rein- für verantwortlich macht, daß mit der Durchsetzung
heit<< allen bislang behandelten Gewalten überlegen rechtlicher Verhältnisse allmählich alle sittlichen Le-
sein soll: >>Wie in allen Bereichen dem Mythos Gott, bensformen deformiert wurden, indem sie unter die
so tritt der mythischen Gewalt die göttliche entgegen<< Vorherrschaft des Zweck-Mittel-Schemas gerieten;
(ebd.). Zum ersten Mal haben wir hier nun die ge- selbst die wenigen Alternativen, die innerhalb derartig
samte Kategorientafel vor Augen, die Benjamin seiner zerstörter Lebensverhältnisse noch verblieben, um
Abhandlung von Anfang an verdeckt als ein normati- Interessenkonflikte ohne Dazwischenschaltung des
ves Schema zugrundegelegt hatte. Zwar war der Begriff Rechts zu lösen, tragen nach Benjamin noch den Ma-
einer >>göttlichen Gewalt<< dem Sinn nach schon ein- kel einer Verstellung des Sittlichen durch die Domi-
mal auf dervorhergehenden Seite (198) gefallen, aber nanz von Interessen.
208 Messianismus, Ästhetik, Politik

Wenn wir uns diese genealogische Achse nun wie in Die Überlegungen, die Sore! im Zusammenhang
einem Schema als eine Begriffspalte vorstellen, an de- seiner Erörterungen der Produzentenmoral darüber
ren Spitze die Kategorie der >>unreinen<< unmittelbaren hinaus noch den Werten der Familienmoral (ebd.,
Gewalt steht, so müssen wir uns dazu jetzt parallel eine 284ff.) gewidmet hat, stellen mit Wahrscheinlichkeit
zweite Begriffsspalte hinzudenken, die der Erfassung auch eine der Quellen dar, auf die Benjamin sich bei
einer ganz anderen Genealogie dient, weil an ihrer der Erwähnung weiterer Fälle reiner Gewalt unter in-
Spitze die Kategorie der >>reinen<< unmittelbaren Ge- nerweltlichen Bedingungen stützt. In Wiederaufnahme
walt plaziert ist. eines Gedankens, der schon im Anfang des Textes eine
Als >>rein<< scheint Benjamin eine unmittelbare, ex- Rolle spielte, als vom nicht-verrechtlichbaren Charak-
pressive Form der Gewalt dann zu bezeichnen, wenn ter der elterlichen Erziehung (182) die Rede war, heißt
ihre Manifestation nicht durch die Berücksichtigung es hier nun im Kontext der Ausführungen zur >>reinen
externer Zwecke getrübt ist; insofern besitzt die Aus- unmittelbaren Gewalt<<: >>Diese göttliche Gewalt be-
übung einer solchen Gewalt etwas Selbstreferentielles, zeugt sich nicht nur durch die religiöse Überlieferung
da in ihr nur das zum Ausdruck gelangt, was ihr in allein, vielmehr findet sie mindestens in einer gehei-
Form eines Willens oder einer Empfindung als Quelle ligten Manifestation sich auch im gegenwärtigen Le-
zugrunde liegt. Benjamin rechnet in seinem Text zu- ben vor. Was als erzieherische Gewalt in ihrer vollen-
nächst offenbar nur Gott die Fähigkeit zu, diese Art deten Form außerhalb des Rechts steht, ist eine ihrer
von reiner Gewalt ausüben zu können; und weil dessen Erscheinungsformen<< (200). Dieser zunächst überra-
Wille, wie nicht ausdrücklich hervorgehoben wird, gut schend klingende Vorschlag, in dem sich sicherlich
und gerecht ist, sind dessen expressive Bekundungen auch noch Elemente der reformpädagogischen Bemü-
von Gewalt purer Ausdruck von Gerechtigkeit (198). hungen des jungen Benjamin spiegeln (Kohlenbach
Es taucht hier nun natürlich die Frage auf, ob Benja- 2002), läßt sich wohl dann am besten nachvollziehen,
min auch in diese Spalte unter dem Titel der >>reinen wenn man strikt auf die Parallele zur göttlichen Ge-
Gewalt<< weitere Begriffe eintragen kann, so daß wie walt achtet: Nicht anders als der Wille Gottes, so
im Fall der ersten Spalte eine genealogische Achse er- scheint Benjamin sagen zu wollen, ist auch der Wille
kennbar wird; denn dem steht nicht nur entgegen, daß der Eltern oder der Erzieher ausschließlich auf das
unter der Vorherrschaft des Rechts alle Möglichkeiten Wohlergehen der eigenen Kinder oder Zöglinge ge-
einer Kontinuierung solcher Gewalt ausgeschlossen richtet; daher sind die gewalttätigen Äußerungen, mit
scheinen, sondern auch, daß es für die göttliche Gewalt der sie auf deren mögliches Fehlverhalten reagieren,
kaum weltliche Nachfolgeerscheinungen geben kann. reine Bekundungen wohlwollender Gerechtigkeit.
Schon die verstreuten Hinweise auf die besondere Wenn zu diesem Argument noch die Stelle herange-
Qualität der im Generalstreik verkörperten Gewalt zogen wird, an der Benjamin vom »Naturzweck<< er-
geben freilich zu erkennen, daß Benjamin beide Be- zieherischer Gewalt sprach ( 182), so läßt sich befürch-
denken nicht gelten lassen möchte; für ihn steht es ten, daß er hier die Rede vom »schlagenden<< >>Vollzug<<
offensichtlich außer Frage, daß auch im Zeitalter des (200) ganz wörtlich meint: Die Schläge, mit denen der
Rechts sporadische Bekundungen einer reinen Gewalt Vater die Missetaten des Kindes bestraft, sind Mani-
möglich sind und daher auch die Gerechtigkeit Gottes festationen eines gerechten Zorns und insofern in sich
eine genealogische Spur hinterlassen hat. Die erste gerechtfertigte Zeugnisse reiner, ja >>heiliger<< Gewalt.
Form einer solchen Wiederkehr göttlicher Gewalt auf Mithilfe einer solchen Veranschaulichung wird auch
Erden erblickt Benjamin, wie gesagt, im revolutionären klar, warum Benjamin zu Beginn so entschieden dar-
Generalstreik des Proletariats; auch dieser besitzt einen auf bestand, daß sich die erzieherische Gewalt ihrer
selbstreferentiellen Charakter, weil in der ihm eigenen ganzen Struktur nach gegen jede Form der Verrecht-
Gewalt nur jener moralische Wille ungetrübt zur Ma- lichung sperrt; denn aus seiner Sicht muß doch das
nifestation gelangt, den das Proletariataufgrund seiner Eindringen rechtlicher Kategorien in die Sphäre des
sozialen Lage besitzt. Zwar läßt Benjamin uns im Un- Erziehungsverhaltens zwangsläufig zu deren Perver-
klaren darüber, welche besonderen Erfahrungen die tierung führen, weil dadurch mit einem Mal das zu
Arbeiterklasse zur Ausbildung eines derartigen Willens einem bloßen Mittel wird, was zuvor das Gütesiegel
befähigt haben sollen; aber es ist zu vermuten, daß er einer moralischen Manifestationtrug.
auch an diesem Punkt den Anregungen Sorels gefolgt Mit der Erwähnung der erzieherischen Gewalt sind
ist, der in einer eigenwilligen Synthetisierung von alle sozialen Phänomene benannt, die Benjamin in
Nietzsche und Proudhon von einer authentischen, seinem Text als Zeugnisse für ein säkulares Fortwirken
>>erhabenen<< Produzentenmoral ausgegangen war (So- göttlicher Gewalt anführt. Im Unterschied zur macht-
rell981, 7. Kap.). vollen Geschichte, die er dem aus dem Mythos ent-
»Zur Kritik der Gewalt« 209

standenen Rechtsverhältnis bescheinigt, ist die genea- Schemas erfolgt, muß nach seiner überzeugung alle
logische Spur dieser Form von Gewalt in höchstem menschlichen Angelegenheiten auf den einen Ge-
Maß von Diskontinuität gezeichnet und daher von nur sichtspunkt des Ausgleichs individueller Interessen
geringer Sichtbarkeit; neben dem elterlichen Erzie- reduzieren. Und die einzige moralische Macht, von der
hungsverhalten tritt am Ende nur der proletarische der Autor glaubte, daß sie uns aufgrundihrer Reinheit,
Generalstreik als eine weitere Instanz in Erscheinung, ihrer absoluten Selbstzweckhaftigkeit vom Verhängnis
die der Hoffnung auf eine Wiederkehr göttlicher Sitt- des Rechts befreien könne, war die sakrale Gewalt Got-
lichkeit Nährstoff bieten kann. Gleichwohlläßt Ben- tes.
jamin seine Abhandlung nicht mit der These eines
endgültigen Verlustes des »Heiligen<< (202) schließen; Werk
in einer letzten Wendung, die wohl am deutlichsten ZuR KRITIK DER GEWALT (II, 179-203)
die politische Absicht seines ganzen Projektes verrät, Paralipomenon ZuR KRITIK DER GEWALT (VII, 790f.)
wertet er vielmehr die schwache, durchschossene Kon- COIFFEUR FÜR PENIBLE DAMEN (EINBAHNSTRASSE] (IV,
102)
tinuität einer zugleich reinen und unmittelbaren Ge-
walt als Beleg für die Unvermeidbarkeit der Revolu-
Literatur
tion. Nur wenige Zeilen vor dem Schluß des Textes
Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht
heißt es in diesem Sinne: >>Ist aber der Gewalt auch und das nackte Leben, Frankfurt a.M.
jenseits des Rechtes ihr Bestand als reine unmittelbare Berlin, Isaiah {1982): >>Georges Sore!«, in: ders.: Wider das
gesichert, so ist damit erwiesen, daß und wie auch die Geläufige, Frankfurt a.M., 421-466.
Bloch, Ernst (1964): Geist der Utopie [1918, 2 1923], Frankfurt
revolutionäre Gewalt möglich ist, mit welchem Namen
a.M.
die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Derrida, Jacques ( 1990): Gesetzeskraft. Der >mystische Grund
Menschen zu belegen ist<< (ebd.). der Autorität<, Frankfurt a.M.
Die Revolution, die Benjamin in diesem Satz vor Figal, Günter/Folkers, Horst {1979): Zur Theorie der Gewalt
und Gewaltlosigkeit bei Walter Benjamin, Heidelberg.
Augen hat, darf nicht als eine bloß politische Umwäl- Freund, Michael (1972): Georges Sore!. Der revolutionäre
zung vorgestellt werden; auch ist an ihr nicht der As- Konservatismus, Frankfurt a.M.
pekt eines Umsturzes der privatkapitalistischen Ver- Hamacher, Werner {1994): »Afformativ, Streik«, in: Christiaan
hältnisse von vordringlicher Bedeutung. Was Benjamin L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«? Frankfurt
a.M., 340-371.
hier im Sinn hat, und was den heimlichen Zielpunkt Haverkamp, Anselm (Hg.) {1994): Gewalt und Gerechtigkeit.
seines ganzen Artikels bildet, ist vielmehr die Idee einer Derrida - Benjamin, Frankfurt a. M.
gleichsam kulturellen Revolution, die das seit Jahrhun- Heil, Susanne (1996): >>Gefährliche Beziehungen<<. Walter
derten etablierte System der Rechtsverhältnisse insge- Benjamin und Carl Schmitt, Stuttgart.
Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung, Frankfurt
samt zum Einsturz bringen würde. a.M.
Die Kritik am rechtlichen Zweck-Mittel-Schema, die Honneth, Axel (2000): »Kommunikative Erschließung der
zunächst nur aus einer immanenten, dann auch aus Vergangenheit. Zum Zusammenhang von Anthropologie
einer transzendierenden, geschichtsphilosophischen und Geschichtsphilosophie bei Walter Benjamin«, in: ders.:
Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische
Perspektive erfolgte, hat zu der Einsicht geführt, daß Aufsätze, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M., 93-113.
die alles beherrschende, inzwischen bis in die letzten Ilting, Kar! Heinz (1978): Naturrecht und Sittlichkeit. Be-
Winkel des sittlichen Alltags vorgedrungene Rechts- griffsgeschichtliche Studien, Stuttgart.
gewalt letztlich nur dem Erhalt der etablierten Macht- Jhering, Rudolf von (1884): Der Zweck im Recht [1877], Leip-
zig.
ordnung dient. Von diesem Bann des Rechts kann, so Kambas, Chryssoula {1992): Walter Benjamin liest Georges
ist Benjamin überzeugt, am Ende nur eine Revolution Sore!: »Reflexions sur Ia violence«, in: Michael Opitz/Erd-
befreien, die in sakraler Weise durch den Vollzug von mut Wizisla (Hg.): Aber ein Sturm weht vom Paradiese
Gewalt unmittelbar Gerechtigkeit produziert. Es ist her. Texte zu Walter Benjamin, Leipzig, 250-269.
Kohlenbach, Margarete (2002): Walter Benjamin. Self-Ref-
kein Wunder, daß eine Schrift solchen Inhalts, deren erence and Religiosity, Basingstoke, Hampshire.
Begriff von Recht terroristisch, deren Ideal von Gewalt Kohlenbach, Margarete (2005): »Religion, Experience, Poli-
theokratisch und deren Vorstellung von Revolution tics: On Erich Unger and Walter Benjamin<<, in: Margarete
eschatologisch ist, bis heute im wesentlichen nur ver- Kohlenbach/Raymond Geuss (Hg.): The Early Frankfurt
School and Religion, Hampshire/UK, 64-84.
harmlosende (Marcuse 1965), vereinnahmende (Der- Lindner, Burkhardt (1997): »Derrida. Benjamin. Holocaust.
rida 1990) oder vereinseitigende (Agamben 2002) Zur politischen Problematik der >Kritik der Gewalt<<<, in:
Deutungen nach sich gezogen hat. Der Impuls, von Zeitschrift für Kritische Theorie 3, H. 5, 65-l 00.
Lukacs, Georg ( 1968): »Die Verdinglichung und das Bewußt-
dem Benjamins Abhandlung angetrieben wird, ist eine
sein des Proletariats<<, in: ders.: Geschichte und Klassenbe-
Kritik des Rechts im Ganzen; denn jede Einrichtung wußtsein, Frühschriften, Bd. II, Neuwied/Berlin.
der Gesellschaft, die nach Maßgabe des Zweck-Mittel- Marcuse, Herbert (1965): »Nachwort<<, in: Walter Benjamin:
210 Messianismus, Ästhetik, Politik

Zur Kritik der Gewalt u. a. Aufsätze. Frankfurt a. M., 99-


107.
nUrsprung des deutschen
Marcuse, Herbert (1965): >>Revolution und Kritik der Ge- Trauerspiels«
walt<<, in: Peter Bulthaup (Hg.): Materialien zu Benjamins
Von Bettine Menke
Thesen >>Über den Begriff der Geschichte<<, Frankfurt a. M.,
23-27.
Pilkington, A.E. (1976): Bergson and his Influence, Cam-
bridge/UK.
Schmitt, Carl (1979): Die geistesgeschichtliche Lage des heu- URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (entst.
tigen Parlamentarismus [1923, 2 1926], Berlin. 1916-1925) erschien nach einem Teilabdruck in Neue
Sore!, Georges (1981): Über die Gewalt [ 1908], Frankfurt Deutsche Beiträge (1927) zuerst 1928 (vgl. I, 955f.);
a.M.
Steiner, Uwe (2000): >>Kritik<<, in: Michael Opitz/Erdmut Wi- eine Manuskriptfassung liegt im Schalem-Archiv in
zisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a.M. Stuttgart, Jerusalem vor (I, 920-22; vgl. Garher 1992, 143-48).
479-523. Benjamin verfaßte URSPRUNG DES DEUTSCHEN
Unger, Erich (1989) [1921]: Politik und Metaphysik, Würz- TRAUERSPIELS als Habilitationsschrift, zur Erlangung
burg.
Villiers, Marjorie ( 1965): Charles Peguy. A Study in Integrity, der venia legendi für Germanistik an der Frankfurter
NewYork. Universität. Das Scheitern dieses Versuchs, in ein aka-
demisches Amt mit gesichertem Einkommen zu ge-
langen, nicht zuletzt am Antisemitismus der deutschen
Universität (Lindner 1984; I, 868 ff.; 895 ff.), hat teil-
gehabt an der Erzählung von Benjamin als >tragi-
schem< Heros. Läßt sich die Wirkungs- weitgehend als
Mißverstands- und Verfehlungsgeschichte erzählen,
so ist diese Erzählung, an deren Ausbildung Benjamin
selbst Anteil hatte, in Teilen auch revidiert worden und
die Einschätzung des Buches im einzelnen signifikant
(I, 908; Steiner 1989, 647ff.; Garher 1987, 61-66). Th.
Wiesengrund (Adorno), der in seiner Kierkegaard-
Monographie, mit der er sich seinerseits 1931 in
Frankfurt habilitieren konnte, Benjamins Allegorie-
begriff weitgehend übernahm, machte das Trauer-
spielbuch zum Gegenstand eines seiner ersten Semi-
nare in Frankfurt (Brodersen 1986; Lindner 1984,
153 f.).
Benjamins Abhandlung muß im Zusammenhang
einer regelrechten Konjunktur der Barockforschung
in der Germanistik der 20er Jahre gelesen (Haas 1928;
Müller 1930) und auf ein auch problematisches Stück
Germanistikgeschichte bezogen werden (vgl. Alewyn
1965, Vosskamp u. a. in Garher 1991; der Bezug auf die
zeitgenössische Barockforschung ist z. T. in Rezensio-
nen expliziert (Gundolf rez. 1928; Bankarner rez. 1927;
alle von Benjamin zitierte Literatur findet sich in al-
phabetischer Ordnung I, 964-81). Koordinaten des
Trauerspielbuchs stellen Auseinandersetzungen mit
Nietzsches Tragödien-, mit Carl Schmitts Souveräni-
tätskonzept, den Schriften der Warburg-Schule in
Hinsicht der Melancholie, wie auch Max Webers Theo-
rie der Modernisierung. Geläufig ist, daß an Benjamins
Unterscheidung des Trauerspiels von der Tragödie
Überlegungen Florens Christian Rangs entscheidend
Anteil hatten (Steiner 1989, 1992; Bolz 1989). Das
Trauerspielbuch ist als Benjamins frühes chef d' oeuvre
oder >>Summe<<, in die >>alle vorhergegangenen Texte
Benjamins<< als >>Verweis oder [auch] verborgenes
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« 211

Selbstzitat eingegangen<< sind, charakterisiert worden der »Vorrede<< soll zum anderen eine Umakzentuie-
(Lindner 2000, 54; I, 884 ff., 979 ff., 875 ff.). rung ermöglichen; sie entspricht der Einsicht in die
Wenn Garher das Trauerspielbuch als das >>bedeu- Notwendigkeit lesender Entscheidung, derzufolge ein
tendste Werk, das die internationale Barockforschung Text als die unlösbare Konstellation unvereinbarer
bis heute hervorgebracht hat<<, kennzeichnet (Garher Lektüren aufzufassen ist. Meine Lektüre ist im Folgen-
1987, 59), so enthält dies eine spezifische Provokation. den durch vier Themenstellungen, Trauerspiel und
In »Sachen der Rezeption des Trauerspielbuches<< war Tragödie, Souverän und Märtyrer, Melancholie sowie
ein »nur allzu offensichtlich zutage liegendes Di- Allegorie angeleitet und versucht zugleich dem kon-
lemma<< zu diagnostizieren, das »Zu überwinden<< stellativen Zusammenhang des Trauerspielbuchs zu
bleibt; denn war einerseits in »der Benjamin-For- entsprechen. So ist der Souverän, der die paradigma-
schung ein bisweilen eklatanter Mangel an Kenntnis tische politisch-theologische Figur des Zeitalters und
der Literatur des 17. Jahrhunderts und der Barockfor- seiner Zwiespältigkeit stellt, unablösbar vom Theatra-
schung zu beklagen, so steht dem andererseits ein nicht len. Er repräsentiert die (Repräsentation der) Ge-
weniger beklagenswertes Desinteresse an Benjamin schichte und erschließt sich in seinen Ausprägungen
und der seinem Werk geltenden Forschung dort ent- Märtyrer und Tyrann als den Gegenstücken zum tra-
gegen, wo sich die Barockforschung ihrerseits auf das gischen Helden. Die Melancholie ist Funktion der
Trauerspielbuch einläßt<< (Steiner 1989,652, 648-663; barocken Allegorie wie umgekehrt diese deren Schema.
Garher 1987, 67-81); Felder der Auseinandersetzung Melancholisch gibt sich jene >Welt<, die im Trauerspiel
boten vor allem die Themen Souveränität, Geschichts- weniger repräsentiert als organisiert und exponiert
philosophie, Säkularisation sowie die Allegorie. Zwar wird. Als »Üstentation<< gehört die Theatralität der
kann »diese Zustandsbeschreibung<< inzwischen >revi- Trauerspiele wie der Politik der Melancholie selbst an
diert< werden (Steiner 1989), die Stelle des »überfälli- und bestimmt als die »der Faktur<< die Allegorie. Das
gen Brückenschlags zwischen Barockphilologie und Trauerspiel stellt Benjamin nicht nur (im 2. Teil) als
Benjamin<< (Garber 1987, 1) hat aber Schings (1988, allegorisch verfaßt vor, sondern es ist allegorische Lek-
666 f., 676) noch einmal als die einer Kluft demarkiert, türe der Tragödie. Durch die» Theorie der Trauer<<, die
an »der auch die wohlmeinendsten Anstrengungen, in der Allegorie »Sprachform<< gewinnt, ist es zu be-
Benjamin in die Barockforschung zu integrieren, ihre gründen (I, 318 ff., 873; Ill, 87).
Grenze finden<< müsse. Das ist einerseits der Einge- So zu lesen, schließt Konzepte der »Vorrede<< in »er-
wöhntheit der Mißverständnisse geschuldet, anderseits kenntniskritischer<< Wirksamkeit bereits ein. Es sind
scheint an dieser Stelle ein begrenzter Philologie-Be- dies die »Konstellation<< zur Lesbarkeit der »Idee<< als
griff befestigt werden zu sollen. die der »Vor- und Nachgeschichte<< (I, 227), der »Ur-
Benjamins Abhandlung, die sich aus zwei, TRAUER- sprung<<, der nicht nur das Entspringen meint, sondern
SPIEL UND TRAGÖDIE und ALLEGORIE UND TRAUER- auch den Sprung, der als Riß bleibt und sich wieder-
SPIEL überschriebenen, Teilen zusammensetzt, steht holend einträgt (Menninghaus 1980; Weber 1991;
eine ERKENNTNISKRITISCHE VORREDE voran, die in Nägele 1991b). Nur so ist Benjamins Vorstellung des
ihrem »theoretischen Teil<< in der als Habilitations- Trauerspielbuchs als »Darstellung von der Idee von
schrift eingereichten Version fehlte (den Aufbau der einer Form<< (I, 237) zu entsprechen und darf die ex-
Habilitationsschrift skizziert Benjamins Expose, I, plizite Exposition der »Vorrede<< zurücktreten. Das
951 f.). Gegenüber den materialen Teilen spielte in der Trauerspielbuch in seiner Relevanz für die Philologie
Rezeptionsgeschichte des Trauerspielbuchs die ER- der barocken Dichtungen wahrzunehmen, heißt not-
KENNTNISKRITISCHE VORREDE lange eine hervorra- wendig auch, seine Herausforderung von Philologie
gende Rolle; in ihr schien man Benjamins Erkenntnis- wahrzunehmen (Witte 1992). Konsequenzen aus sei-
theorie >in direkter Rede< zu haben. Wenn diese hier nen Einsichten ins barocke Trauerspiel betreffen
zurückgestellt und nicht einerneuen Lektüre unterzo- ebenso jenen linearen Geschichtsbegriff, der literatur-
gen wird, so spricht daraus zum einen die Vermutung, geschichtliche Arbeiten zu bestimmen pflegt, wie sie
daß eine solche Lektüre nicht in einem auf das Einzel- aus Benjamins Begriff der Kritik als »Mortifikation der
werk konzentrierten Artikel erfolgen könnte; denn der Werke<<, von Darstellung und Zerlegung, noch zu zie-
Begriff der Darstellung wäre ebenso wie die Konzepte hen sind, den die Germanistik als Zumutung bemerkt,
der Konstellation und des Namens quer durch Benja- aber ihn nicht zu verstehen vorgezogen hat. Wird das
mins Schriften in Konstellationen zu lesen, denen die Trauerspielbuch als materiale Untersuchung des ba-
frühen sprachphilosophischen wie die späten rocken Trauerspiels gelesen, so wird es nicht nur als
erkenntnistheoretischen Überlegungen im Umkreis >Benjamins Barockforschung< (Garber), sondern das
des Passagenwerkes angehörten. Die Zurückstellung Konzept barocken Trauerspiels auch in Perspektive
212 Messianismus, Ästhetik, Politik

seiner Modernität aufgefaßt (Weber, Nägele). Die not- Hatte an der Ausprägung von Benjamins Tragödien-
wendig nachträgliche Perspektive auf die barocken konzept F.C. Rang entscheidend Anteil (I, 883, »Thea-
Werke als theatrale und allegorische macht diese als ter und Agon<< u.a. Rang 1983; I, 890-95; 956; 979;
vorgreifende Kritik an der deutschen Klassik lesbar, Jäger 1983, 59f.; 64-67), so ließen sich Perspektiven
stellt sie (diese überbietend) neben die Romantik und von dessen Historischer Psychologie des ]i(nrnevals aus-
macht im Vorrang ihrer Exteriorität ihre Modernität ziehen bis zur von Benjamin gedachten Auflösung der
aus. Derart kommt die Lektüre des Trauerspielbuchs geschlossenen Gestalt des Werks wie des Leibs mit
dem in der »Vorrede« sich abzeichnenden Koi).zept der Analogien etwa zu Bataille (und des College de Socio-
Geschichte nach, die nicht in linearer Entwicklung logie, vgl. Caillois< >>La fete<<, Hollier 1995,641 ff.). Das
vorgefunden, sondern in Konstellationen ihrer >>Vor- Trauerspiel ist ausgezeichnet durch theatrale »Äußer-
und Nachgeschichte<< in ihren >>Extremen<< auszumes- lichkeit<< (I, 315), Sichtbarkeit als Spektakel, des Auf-
sen ist (I, 215; 226f.). tritts als solchen und der Exposition seines Schauplat-
zes; es löst das theatrale >>acting<< von >>action<< als
Handlung (Weber 2005), von >>any kind of psycholo-
Trauerspiel und Tragödie gical interiority<< (Nägele 1991, 1-17). Dies trägt das
von Benjamin namhaft gemachte Personal vor: der
Benjamin profiliert das Trauerspiel begrifflich gegen- Souverän, sei er nun Tyrann oder Märtyrer, als Reprä-
über der Tragödie (Günther 1984, 546) und macht es sentant der Geschichte, der Intrigant als »plotter<<
mit einer so beiläufigen wie bemerkenswerten Wen- (Weber 1991). Dagegen untersteht das Drama mit sei-
dung aufs Wort relevant: Diese »neuere Tragödie<<, nem Konzept verkörpernder Darstellung als jene Ein-
>>deren Deduktion aus der antiken [... ] versucht<< heit, die die Ausdrucksbeziehung einschlösse, der
wurde, >>heißt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, Ästhetik des Symbols, der Benjamin in ihrer klassi-
mit dem nichts weniger als bedeutungslosen Namen schen Ausprägung als >>plastisches Symbol<< die Alle-
>Trauerspiel<<< (I, 292). Er liest den Namen und buch- gorie konfrontierte. >>No transfigured interiority ex-
stabiert ihn in seinen wörtlichen Bestandteilen aus: als presses itself<< - das verbindet das Theater überhaupt
>>wirklich traurige Spiele<< oder »Spiel vor Traurigen. mit Allegorie (Nägele 1991, 27), die das Bedeuten nicht
Ihnen eignet eine gewisse Ostentation. Ihre Bilder sind in darstellender Verkörperung interiorisiert.
gestellt, um gesehen zu werden, angeordnet, wie sie Die Theoriebildungen >>der dichtenden und philo-
gesehen werden wollen« (879, 939, 298f.). Derart ist sophierenden Epigonen der zweiten Hälfte des XIX.
es bestimmt durch Melancholie, die mit Ȇstentation<< Jahrhunderts<< wies Benjamin als >>ganz vergeblich [es]<<
sich verwandt zeigt, so daß Trauer sich aufs Spiel Bemühen ab, >>das Tragische als allgemeinmenschli-
stimmte ( 319, 260 ). Die Einsicht ins Trauerspiel sei an chen Gehalt zu vergegenwärtigen<< (I, 279ff.). Dieser
die >>Theorie der Trauer« >>als Pendant zu der von der Begriff des Tragischen, mit neuer deutscher Konjunk-
Tragödie« gebunden (318, 404). Umgekehrt ist im Mo- tur zu Beginn des 20. ]h.s, zeigt eine ebenso ungenü-
ment des Spiels, >>zufalliges<<, >>berechnendes und plan- gende Auffassung der Tragödie, wie ihm die >neueren
mäßiges<< (262), dem Trauerspiel >im Innern< die »Ko- Tragödien<, in der Trauer begründete und ihr genü-
mik<< eingelassen (303 f.). »Das Trauerspiel erreicht ja gende Spiele, entgegenstehen (ebd.). Der vermeintlich
seine Höhe nicht in den regelrechten Exemplaren son- bloß stofflichen Bestimmtheit der >barocken Tragödie<
dern dort, wo mit spielhaften übergängen es das Lust- gewinnt Benjamin unterscheidende Spezifität ab: Ist
spiel in sich anklingen macht<< (306). Calder6n und >>[d]as geschichtliche Leben wie es jene Epoche sich
Shakespeare sind es, die, dies realisierend, die Be- darstellt[]<< des Trauerspiels >>Gehalt<< (242), so war der
schränktheit des deutschen Trauerspiels anzeigen Mythos Gegenstand der Tragödie. Die einmalige Be-
(306f., 368). stimmtheit der Tragödie, auf die es Benjamin wie
Benjamin führt das Trauerspiel nicht nur in eine Nietzsche ankommt, ist gegeben durch ihren Bezug auf
Auseinandersetzung mit der Tragödie, deren Theorie den Mythos als dessen >>Umformung<< und >>Befra-
er in »durchgängige[r] Antithese zu seiner Bestim- gung<< (280, 284f.; Lehmann 1991, 9-24). Nietzsche
mung<< (Steiner 1989, 658) des Trauerspiels mit- fasse sie aber, so Benjamin, auf >>als rein ästhetisches
schreibe, und will nicht nur auf eine historische Ab- Gebilde und das Widerspiel von apollinischer und
folge mit typologisierender Funktion hinaus. Vielmehr dionysischer Kraft bleibt ebensowohl, als Schein und
stellt das Trauerspiel die Dimension der Theatralität Auflösung des Scheines, in die Bereiche des Ästheti-
überhaupt vor -vor und jenseits des Dramas, das um schen gebannt<< (I, 281). Zureichend werde die Tragö-
dramatische Personen und deren Dialoge organisiert die erst erfaßt, wenn sie als überwindungdämonischer
ist (Szondi 1978, 16-20; I, 254). >>Zweideutigkeit<<, ein Bruch mit dem- in jeder Strafe,
>>Ursprung des deutschen Trauerspiels« 213

die erneut verschuldet, sich perpetuierenden- Schuld- halt der Heroenwerke<< »der Gemeinschaft wie die
zusammenhang absehbar werde (288). Nietzsche Sprache. Da die Volksgemeinschaft ihn verleugnet, so
konnte- innerästhetisch-das Kernstück der »epigo- bleibt er sprachlos im Helden. Und der muß jedes Tun
nalen Tragödientheorie<<, die >>Lehre von tragischer und jedes Wissen je größer, je weiter hinaus wirkend
Schuld und tragischer Sühne<< nicht angreifen; ihm es wäre desto gewaltsamer in die Grenzen seines phy-
blieb »der Zugang zu den geschichts- oder religions- sischen Selbst förmlich einschließen. Nur seiner Physis,
philosophischen Begriffen, in denen zuletzt die Ent- nicht der Sprache dankt er, wenn er zu seiner Sache
scheidung über das Wesen der Tragödie sich ausprägt, halten kann und daher muß er es im Tode tun<< (287;
verschlossen<< (283). Wenn Benjamin die ästhetische mit Lukacs 1911). Schweigend ist der Held, isoliert, >in
Perspektive Nietzsches zurückweist, zielt er damit me- seine Physis eingeschlossen<; er kann, was ihm ge-
taethisch (nach Rosenzweig 1921 und über diesen schieht, zu »seiner Sache<< allein im Tode machen. Sein
hinaus, vgl. Fenves 2001; 1997) doch gegen die Tragö- Auftritt als einzelner manifestiert sich in dem seines
dientheorie des deutschen Idealismus, in der »mora- Körpers: »gesehen und verstanden als Dunkelstelle<<
lische Verweise<< (284) sich vordrängen: Der >>morali- (Lehmann 1991, 102-08).
sche[] Gehalt tragischer Poesie<< (283) ist keineswegs Als »Zeugnis sprachlosen Leidens<< wandelt sich »die
als der erdichteter Personen, die vom Gewebe des Tex- Tragödie, die da gewidmet schien dem Gerichte über
tes nicht ablösbar sind, und »nicht als ihr letztes Wort, den Helden, [... ] zur Verhandlung über die Olympi-
sondern als Moment ihres integralen Wahrheitsgehal- schen, bei der jener den Zeugen abgibt<<. Ihr »Zug nach
tes zu fassen: nämlich geschichtsphilosophisch<< (ebd.); Gerechtigkeit<<, d.i. die »widerolympische Prophetie
dieser Bezug ist ein »negativ[er]<<, wie der »jeder aller tragischen Dichtung<< (I, 288, 286), zeichnet die
Kunstgestaltung<< auf das »Leben<< (284). Tragödie (noch) aus gegenüber dem Recht, das gemäß
Die »geschichtsphilosophische Signatur<< (288) der einer klassische Auffassung ihr telos wäre (vgl. 294 f.,
tragischen Dichtung ist »Umformung der Tradition<< 298); denn das Recht perpetuiert, so Benjamin, stra-
(285), die sie als »die griechische, die entscheidende fend das »Schicksal<< als »Schuldzusammenhang des
Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltord- Lebendigen<< (im ausführlichen Selbst-Zitat von
nung<< (288) vollzieht. Dies geschieht im »tragischen ScHICKSAL UND CHARAKTER II, 174 f.; Hamacher 2003,
Tod<< (293) des Helden, der als der schweigende auf- 80-86, 101 f.). Wie im Tode die dämonische Ordnung
tritt. Wenn die Tragödie »auf der Opferidee [ruht]<<, der Schuld >gebrochen< werde, so gehört mit diesem
so ist aber das tragische Opfer, Benjamin zufolge, »in der Tragödie doch die »Erfahrung<< der »Zweideutig-
seinem Gegenstande - dem Helden - unterschieden keit<< an (Lehmann 1991, 124). »Je weiter das tragische
von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich. Wort hinter der Situation zurückbleibt [... ] - desto
Ein letztes im Sinne des Sühneopfers, das Göttern, die mehr ist der Held den alten Satzungen entronnen, de-
ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der nen er, wo sie am Ende ihn ereilen, nur den stummen
stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte Schatten seines Wesens, jenes Selbst als Opfer hinwirft,
des Volkslebens sich ankündigen<< (285). Das drama- während die Seele ins Wort einer fernen Gemeinschaft
tische Geschehen sei, mit F.C. Rang (vgl. Primavesi hinübergerettet ist<< (I, 287f.). Das Schweigen des tra-
1998, 259-68), »Herumlaufen um den Altar<< und dies gischen Heros ist verwiesen an (die Worte) eine(r)
»die Ablösung der Schlachtung des Menschen am Al- zukünftige(n) Gemeinschaft, deren paradoxe »Prophe-
tare durch Entlaufen vor dem Messer des Opferers<<. tie<< es sei (297). In der stumm >prophezeiten< -stets
»Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte ausstehenden: »fernen<<- Entronnenheit, die die»tra-
Recht der Olympischen zu entkräften<< und auf eine gische Darstellung der Sage<< ausmachte, gewinnt sie
neue Gründung nur, sprachlos, vorzugreifen (I, 285). ihre »Aktualität<<, die der »fernen<< Gemeinde, die
Der tragische Tod stellt im eminenten Sinne sich am »[i] m Angesicht des leidenden Helden<< den »Dank für
Helden dar (279ff.). Denn ihn macht seine »Unmün- das Wort, mit dem dessen Tod sie begabte<<, lerne
digkeit<< aus, mit Rosenzweig: »>Der tragische Held hat (288). Es ist die »ferne<< als zuschauende gedachte Ge-
nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: meinschaft »im Theater<< (C. Menke 1996, 106), in
eben das Schweigen.<<< (286). Die »Schroffheit des he- deren ausstehender Rede die Einsicht in den stummen
roischen Selbst<<, die im Schweigen sich darstellt, sei Tod erst, sprachlich, gegeben wäre. Gerade im Moment
aber- so akzentuiert Benjaminum-nicht »Charak- ihrer »Aktualität<< als dem vorgreifend rückwirkenden
terzug, sondern geschichtsphilosophische Signatur des »Echo<< einer »Leere<< (I, 293) ist die Tragödie >von sich
Helden<< (289). Identifiziert Rosenzweig die >Geburt selbst verschieden< (Fenves 2001,229, 237-48).
des Selbst< in dessen »eisiger Einsamkeit<<, so gehört Die Tragödie »unterscheidet<< als die »agonale Pro-
doch gerade mit des Helden Stumm-Bleiben der »Ge- phetie<<, die sie ist, »ihre Beschränkung auf den Um-
214 Messianismus, Ästhetik, Politik

kreis des Todes, ihre unbedingte Angewiesenheit auf erspiel sein gemordetes Personal entstellt, öffnet, hat
die Gemeinde und vor allem die nichts weniger als es in den Gespenstern, die es heimsuchen, Anteil an
garantierte Endgültigkeit ihrer Lösung und Erlösung der uneigentlichen Zeitlichkeit des Schicksals. In diese
von aller episch-didaktischen<< (I, 286). Damit scheint >>Luke<< einrückend, >>in deren Rahmen je und je das
auch das Endgültige zur Scheidung von Tragödie und gleiche Geisterbild erscheint<<, suchen als Gespenster
Trauerspiel gesagt: >>Es ist [... ] ein entscheidender Voll- die >>Manifestationen<< des >>Schicksals<<, der >>wahre[n]
zug im Kosmos, was in ihr sich abspielt. Um dieses Ordnung der ewigen Wiederkunft<<, >>nur uneigentlich,
Vollzugeswillen und als sein Richter ist die Gemeinde nämlich parasitär, zeitlich zu nennen ist<<, >>den Zeit-
geladen. Während der Zuschauer der Tragödie eben Raum<< des Trauerspiels auf und heim (313 f.), wie
durch diese erfordert und gerechtfertigt wird, ist das umgekehrt der trauernde Grübler, dem das Trauerspiel
Trauerspiel vom Beschauer aus zu verstehen. Er er- Genüge tut, sie anzieht zu gespenstischem Nachleben
fährt, wie auf der Bühne, einem zum Kosmos ganz (370).
beziehungslosen Innenraume des Gefühls, Situationen >>Vorbote des Todes<< im Leben ist die >>Gewalt, wel-
ihm eindringlich vorgestellt werden<< (298 f.). Ent- che die leblosen Dinge im Umkreis des schuldigen
scheidend ist der einmalige >Sinn des tragischen Todes< Menschen [... ] gewinnen<<, und diese Manifestation
(286), zu dessen >>individuelle[n] Sinn<< >>doch der hi- der >>Verfallenheit des verschuldeten Lebens an die
storische vom Ende des Mythos tritt<< (314). Eignet der Natur<<, die >>in der Hemmungslosigkeit seiner Leiden-
Tragödie, die eine >>einmalige<<, nicht-<<wiederholbare<< schaften sich kundgibt<< (II, 267; I, 310f.). >>Ist[ ... ] die
Neu-<<Auslegung<< der Sage vollziehe, ein >gültiges< Tragödie von der Dingwelt gänzlich abgelöst, so ragt
Ende, das dem Geschehen den Sinn einer >>fernen<< sie übern Horizont des Trauerspiels beklemmend<< (I,
ausstehenden Neubegründung verleiht, so bleibt das 312). Als Beklemmung durch die >> Dingwelt<< zeigt mit
Trauerspiel als- trauerndes- Spiel >>>[o]hne richtiges der Macht des >>Requisits<< über den Schauplatz sich
Ende<<<, ist mit dessen >>Abschluß [... ] keine Epoche die des >>Schicksals<<. Manifestieren die Gespenster die
gesetzt, wie diese, im historischen und individuellen >uneigentliche< Zeit der Wiederkehr im (und des)
Sinne, im Tode des tragischen Helden so nachdrück- Trauerspiel(s), so die Requisiten mit der zwielichtig
lich gegeben ist<<. >>Ihr Ende gefunden hat mit der Tra- >>über das Menschenleben, ist es einmal in den Verband
gödie[ ... ] auch die dialektische Verfassung des Endes, des bloßen kreatürlichen gesunken<< (311), regierenden
wie sie im Tod des tragischen Helden am Schluß von Macht der toten Dinge den Verzug des Geschehens in
Tragödien sinnfällig wird<< (Geulen 2001, 94). Daher den Schauplatz (310-13).
wird, insofern Benjamin ein Ende der Tragödie (als So tief die >>Kluft<< zwischen tragischem Tod und
endgültiges) denkt, dieses ein tragisches nicht gewesen naturgeschichtlicher Todverfallenheit, zwischen End-
sein können. Das Trauerspiel ist angelegt auf Wieder- gültigkeit und Wiederholung sei, so wird deren >>star-
holung; es legt an seinem Ende seinen >>Prozeß<<, die rer Antagonismus<< doch auch irritiert (Geulen 2001,
>>Klage<< der Kreatur >>gegen den Tod- oder gegen wen 95). Wo Benjamin die tragische Dichtung nicht anders
sonst sie ergehen mag<<, >>halb nur bearbeitet zu den denn als >>einmaligen<< Vollzug und >>nichts weniger als
Akten<<. >>Die Wiederaufnahme ist im Trauerspiel an- >endgültig<<< bestimmte, fügte er hinzu: >>Aber es klingt
gelegt und bisweilen aus ihrer Latenz getreten<< (I, im Schluß der Tragödie ein non liquet stets mit<< (I,
314-16; TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE II, 134-37). Dies, 296, 286), und diese Formelliegt im >Ursprung< seines
aus der >>Latenz<<-Treten der Wiederholung, auf die es Tragödienkonzepts (I, 892; Primavesi 1998,261,256-
angelegt ist, aber werde dem Trauerspiel >>freilich wie- 277). Die Tragödie bleibt im Auftritt des Heros durch
der nur in seiner reichem spanischen Entfaltung<< die >>grundlegende Ambiguität<< von mythischem Bann
möglich (I, 316). Das deutsche Trauerspiel ist Form, und dessen Durchbrechung bestimmt (Lehmann
die ihrer Vollendung widersteht, und zwar gerade der 1991). Die >>Lösung<< der Tragödie soll >>zwar jeweils
vermeintlich inneren ihrer selbst. Die »vollendete auch Erlösung« gewesen sein, >>doch nur jeweilige,
Kunstform<< wäre systematisch anderswo zu finden, problematische, eingeschränkte« (I, 296); in ihren
>>[n]irgends anders als bei Calderon<<- in der >>Genau- >>Paradoxien« (in Opfer, Tod und Ende) blieb >>die
igkeit, mit der [in der Wiederholung] >Trauer< und Zweideutigkeit« >>im Absterben« (I, 288) oder im
>Spiel< aufeinander sich stimmen<< (260). >>Obergang« (C. Menke 1996, 106). Heißt derart das
Die >>Kluft[ ... ] zwischen Tragödie und Trauerspiel<< >>einmalige, dialektische Ende in der Tragödie<< >>un-
sei >>bis in ihre Tiefe<< zu ermessen, bzw. werde gar durchsichtig«, so lockert dies >>die strenge Unterschei-
>>erhellt<< im Blick auf >die nächtliche Welt< des Trau- dung«, zersetzt sich die >>symmetrische[] Opposition
erspiels. In der nächtlichen >>Stunde<<, die sich als >>Luke von Trauerspiel und Tragödie<< wie >>der Gegensatz
der Zeit<< in die >>Geisterwelt<< (314), in die das Trau- zwischen Ende des tragischen Endes und endlosem
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« 215

Spiel, gebundener und noch offener Form<< (Geulen >verschlossen< sein in dem Requisit, mit dessen >ding-
2001, 95 ff.). licher Macht< die >Verfallenheit des verschuldeten Le-
Wenn die Trauer des deutschen Trauerspiels dem bens an die Natur<, der Schauplatz sich im Zwielicht
Tod der Tragödie gilt, genauer >>the significance of des Halblebendigen zeigt. Das macht das Trauerspiel
death for the tragedy, as weil as the demise of tragedy als >>Spiel vor Traurigen<< (298) aus: es >stellt die Bilder,
itself<< (Weber 1991, 493f.), so hat sie amTrauerspiel wie sie gesehen werden sollen<, als >>bloße[] Schaustel-
eine trauernde Wiederholung >ohne Ende<- d.i. end- lung<< (301) von Leben und Leibern stets >eigentlich<
los ihr trauriges, nicht tragisches Ende (Fenves 2001, allegorisch. Die Bühne, die >>uneigentlich<< den >>Schau-
233f.). platz der Geschichte<< (298) stellt, ist als gerahmter
Schau-Spiel-Platz in sich selbst ent-zweit (vgl. 370).
Da das Trauerspiel >>in sich ungeschlossen<< (II, 137)
Allegorische Betrachtung des Trauerspiels bleibt, ist es von seiner Grenze her, in Hinsicht seiner
>>Grenznatur<< (I, 263) aufzufassen; dies unternimmt
Die Relation von Tragödie und Trauerspiel denkt Ben- das Trauerspielbuch bis zu seinem Abschluß ( 390 f.).
jamin derart nicht (nur) als historische, sondern das
Trauerspiel ist als deren Wiederkehr die allegorische
Lektüre der Tragödie. Wie die barocke Poetik das Trau- Souverän, Repräsentant der Geschichte
erspiel als Tragödie (miß)verstand, so ist diese >>Selbst-
verkennung<< Fehllektüre oder Allegorie der Tragödie Das Trauerspiel sei als ein Formtypus zu behandeln,
(I, 278; Geulen 2001, 99; vgl. Schings 1971, 28-37). Die dessen >>sachliche Kristallisationszentren<< >>der König,
barocke >Durchdringung< der Antike war darauf ange- der Intrigant, das Martyrium, der Schauplatz, die Apo-
legt, >>[d]ie Macht der Gegenwart<< im >>Medium [der theose<< (III, 87) abgeben. >>Das geschichtliche Leben
Antike] zu erschauen<< (I, 278); dies ist Sache der Al- wie es jener Epoche sich darstellte<<, >>die Bewährung
legorie. Die Theorie des Trauerspiels >>nimmt die Ge- der fürstlichen Tugenden, die Darstellung der fürstli-
setze der antiken als leblose Bestandteile einzeln auf chen Laster, die Einsicht in den diplomatischen Betrieb
und häuft sie um eine allegorische Figur der tragischen und die Handhabung aller politischen Machinatio-
Muse<< (364), gemäß dem die >>allegorische[n] nen<<, ist nicht nur Stoff, sondern >>Gehalt des Trauer-
Person [en] << ( 361) im Barock bestimmenden >>Primat spiels<<. Dies bestimmte >>den Monarchen zur Haupt-
des Dinghaften vor dem Personalen<< (362; 396), und person des Trauerspiels<<: >>Der Souverän als erster
gibt ihnen allegorisch zerlegt, in >>allegorischer Zer- Exponent der Geschichte ist nahe daran für ihre Ver-
bröckelung<< mortifiziert ein gleichsam natur-ge- körperung zu gelten<< (I, 242 f.). Im Fürsten stellt sich
schichtliches >Nachleben<. Das allegorisch refigurierte das Verhältnis zur Geschichte als Naturgeschichte dar
>>Bild der griechischen Tragödie<< stellte dem Barock und diese in deren Requisiten, im emblematischen
das >>einzig mögliche[]<<, »natürliche[]<< »Wahrzeichen Detail. Der Souverän, den Benjamin im expliziten
>tragischer< Dichtung<< dar (364), das allegorische Rückbezug auf Carl Schmitts Politische Theologie
nämlich von Geschichte als Natur. (1922) einführt, ist bestimmt durch Repräsentation:
Die >allegorische Betrachtung des barocken Trauer- >>Der Souverän repräsentiert die Geschichte<< (245);
spiels< meint demnach ein Doppeltes: zum einen das d. h. weiter: >>Er hält das historische Geschehen in der
Trauerspiel als die Allegorie der wiederkehrend verlo- Hand wie ein Szepter<<, was Repräsentation als äußer-
renen Tragödie und zum zweiten die allegorische Be- liche und gestische bestimmt. >>Diese Auffassung ist
trachtung, in der Geschichte in Natur als Vergängnis alles andere als ein Privileg der Theatraliker. Staats-
sich verzog, die das Trauerspiel vorträgt und die seine rechtliche Gedanken liegen ihr zugrunde. In einer
Struktur gibt. letzten Auseinandersetzung mit den juristischen Leh-
Das Personal des Trauerspiels ist - dies gilt für den ren des Mittelalters bildete sich im XVII. Jahrhundert
Herrscher als Souverän, Tyrann und Märtyrer wie für ein neuer Souveränitätsbegriff<< (ebd.). Theatralität ist
den Intriganten- bestimmt durchs Verhältnis zur- in im Konzept der Souveränität Teil der staatsrechtlichen
Naturgeschichte >umgeformten<- Geschichte (242f., Begründung selbst. Die von Benjamin angezeigte Aus-
299). Deren Format ist die Allegorie. >>Die Geschichte einandersetzung mit den >>juristischen Lehren des
wandert in den Schauplatz hinein<<, und dessen >>Bild<<, Mittelalters« kann gestützt werden durch Kantorowicz'
das >>des Hofes, wird Schlüssel des historischen Ver- The King's Two Bodies: Ist der natürliche Körper des
stehns<< (271) als Schauplatz der Simultaneität des Königs, >>sichtbar, hinfallig und sterblich<<, so ist es sein
Geschehens. Geschichte, in Natur als ihren >>Schau- zweiter politischer Körper, der als symbolischer >>nicht
platz<< im Zeichen der Vergängnis eingezogen, soll sterben<< kann. Die >>Ewigkeit der königlichen Würde
216 Messianismus, Ästhetik, Politik

[wird] garantiert<< nur in dieser repräsentativen Ver- setzen<< (253); das ist so gewaltsam wie verfehlt. Der
dopplung und deren hybrider Einheit (Matala 2002, Souverän repräsentiert Geschichte als »verstörte Ord-
133; Koschorke 2002, 238; Marin 1989,299, 218-221), nung<<; die »diktatorische Entscheidung<< bezeichnet die
in deren >double bind< ist noch der barocke Souverän »Geschichte ohne Eschatologie<<, ihre »geschichtslose
im Zwiespalt zwischen absoluter Herrschaft und der Naturauffassung<< (250; Bolz 1983, 259; Campe 1995,
armen Menschennatur zu denken ist (I, 250). Souve- 56). Der Ausnahmezustand, der als die in >trostloser
ränität ist demnach nicht Sache bloß der sichtbaren Kontingenz< zerfallene, als Vergängnis naturgeschieht-
Repräsentation, die theatral gedoppelt würde, sondern liehe Geschichte permanent gesetzt ist, bestimmt noch
jener Akte, die Sichtbarkeit erst erzeugen, und die in- die Abwehr, die die Entscheidung des Souveräns zu
Szene-gesetzt werden müssen (Campe 1995, 61, 56; sein hat. Diese stellt das barocke Trauerspiel in der
vgl. Marin 203-08). Figur des Tyrannen vor, der im »Machtrausch<< wahn-
Der barocke Souveränitätsbegriff, so weist Benjamin sinnig der den Selbstherrscher bestimmenden »Anti-
dessen Spezifik aus, habe sich »entwickelt<< »aus einer these zwischen Herrschermacht und Herrschvermö-
Diskussion des Ausnahmezustandes und macht zur gen<< verfällt (I, 250; II, 253) und als »Opfer<< dieses
wichtigsten Funktion des Fürsten, den auszuschlie- »Mißverhältnisses<< - martyriologisch gezeichnet- fällt
ßen<< (I, 245). An Schmitts Politischer Theologie und (I, 250). Der Träger der Entscheidung ist »Herr der
der berühmten Definition: »Souverän ist, wer über den Kreaturen, aber er bleibt Kreatur<< (264). Gerade in
Ausnahmezustand entscheidet<< (Schmitt 1922, 9), seinen stets »wechselnden Entschließung[ en] <<, ausge-
nimmt Benjamin damit eine Umgewichtung vor. Wenn setzt dem »jederzeit umschlagenden<< (251) Sturm der
der Souverän, so Schmitt, »auch darüber [entscheidet], Affekte, stellt der vermeintliche Souverän der Entschei-
was geschehen soll, um ihn zu beseitigen<<, so ist doch dung sich dar: Die »Entschlußunfähigkeit des Tyran-
für dessen Konzept in rechtslogischer Hinsicht ent- nen<< hebt »einzig auf dem Grunde der Lehre von der
scheidend die Entscheidung »über die Ausnahme<<, die Souveränität sich ab<< (250), weil sie die Grundlosigkeit
»im eminenten Sinne Entscheidung<< ist. »Denn eine der Entscheidung zeigt. Benjamins Lesart des barocken
generelle Norm [... ] kann eine absolute Ausnahme Souveräns ist eine implizite Auseinandersetzung mit
niemals erfassen und daher auch die Entscheidung, Schmitt, mit der dezisionistischen Illusion reiner Ent-
daß ein echter Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos scheidung-über den und als Ausnahmezustand (ZuR
begründen<< (Schmitt 1922, 9-10, 3-5, 30ff.; vgl. C. KRITIK DER GEWALT, II, 185 ff.; vgl. Derrida 1991;
Menke 2004, 304-07). Dagegen fällt für Benjamins Agamben 1998). Die souveräne Entscheidung ist nicht
barocken Souverän, der »schon im vorhinein dafür >>aus einem Nichts geboren<< (Schmitt 1922, 42), son-
bestimmt [ist], Inhaber diktatorischer Gewalt im Aus- dern jede Entscheidung erfolgte aus Unentscheidbar-
nahmezustand<< (I, 245) zu sein, die eigentliche ausset- keit- und bliebe als die des Souveräns, in der rechts-
zende Entscheidung gar nicht an oder ist vielmehr vernichtender Akt und rechterhaltende Gewalt sich
bereits gefallen, der »Ausnahmezustand [... ],wenn überkreuzen, keine >reine<. »Die Theorie der Souverä-
Krieg, Revolte oder andere Katastrophen ihn herauf- nität, für die der Sonderfall mit der Entfaltung dikta-
führen<<, der abwehrend zu restaurieren war, bereits torischer Instanzen exemplarisch wird, drängt gera-
gegeben. Er personifiziert die Entscheidung über den dezu darauf, das Bild des Souveräns im Sinne des Ty-
Ausnahmezustand, der vorausgesetzt ist. »Denn anti- rannen zu vollenden<< - dies geschehe in der »Geste
thetisch zum Geschichtsideal der Restauration steht der Vollstreckung<< (I, 249) des Befehls, der sich in
vor ihm die Idee der Katastrophe<< (246). Als »Kata- selbst begründe. Daher wird die »Norm<< des absoluten
strophe<< tritt der Ausfall der heilsgeschichtlichen Ord- »Herrschertums [... ] - und das ist der barocke Zug im
nung der Geschichte auf, die ohne Halt im eschatolo- Bilde- sogar durch die erschreckendste Entartung der
gischen telosinsich und mit sich in räumliche Simul- fürstlichen Person nicht eigentlich entstellt<< ( ebd.),
taneität zerfallen ist (260, 246). »Die Christenheit oder der Tyrann führt die Paradoxien der Souveränität auf
Europa ist aufgeteilt in eine Reihe von europäischen (vgl. Campe 1995, 56-63).
Christentümern, deren geschichtliche Aktionen nicht In diesem Zusammenhang steht der Begriff der »Sä-
mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen kularisierung<< im Trauerspielbuch, der meist mißver-
beanspruchen<< (257). Der »Katastrophe<< korrespon- standen wurde. Schmitt zufolge ( 1922, 37) seien »[a]lle
diert die ihr entgegengesetzte >diktatorische Gewalt im prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre<<, ins-
Ausnahmezustand< als Kernstück der barocken Ord- besondere der der Souveränität, >>säkularisierte theo-
nungsutopien, »eine Diktatur, deren Utopie immer kratische Begriffe<<. Benjamin allerdings deutet das
bleiben wird, die eherne Verfassung der Naturgesetze Konzept eines >>als säkularisierte Heilsgewalt sich er-
an Stelle schwankenden historischen Geschehens zu weisenden Königtums<< (I, 260) so, daß >>die Säkulari-
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« 217

sierung der göttlichen Allmacht, am Souverän schei- armen Menschenwesens« (250 f. ). So sind in des zuletzt
tert<<, der >>als- obzwar höchste- Kreatur« in Kreatür- dem Wahnsinn verfallenden Selbstherrschers Ende
lichkeit verharrt (Bolz 1985, 260; I, 258 ff., 263 f.). Dem »die Züge der Märtyrertragödie verwoben<< (250 f.,
Trauerspiel figurierte der Fürst nicht »Christus in der 263 f., 277), denn es ist »im Sinn der Märtyrerdrama-
Geschichte« und damit diese als Heilsgeschichte, son- tik«, daß »nicht sittliche Vergebung, sondern der Stand
dern der Souverän >repräsentiert< durch die diktatori- des kreatürlichen Menschen selber der Grund des Un-
sche Entscheidung die Naturverfallenheit des Histori- terganges« wird (268).
schen, Natur, in die Geschichte sich verzieht (Campe Ist das »sonderbare Bild [... ] vom Märtyrer<<, das
2000, 269-71). Auch des Königs »Gleichformung« mit Benjamin im literarischen Barock ausmacht, durch die
Christus in figura (Schöne 1958) ist nur um den Preis neostoische »Fixierung<< (253) der Affekte bestimmt,
des Abstands und der Übertragung, die der figura an- so meint das nicht, daß »die barocke passio im Kern
gehört, zu haben; wo Figura und Erfüllung >im seihen nicht mehr religiös inspiriert sei<< (Garher 1987, 98-
Raume< aufgestellt einander gleichzeitig wurden (vgl. 104), sondern daß Tugend um ihren heils-geschicht-
61 f., 71-75), handelte es sich dagegen nicht um »Sta- lichen Zug beschnitten ist, da sie als »die ihrer Beharr-
dien der Heilsgeschichte«, sondern um Allegorien (I, lichkeit wesenhafte [... ] die naturgemäße Seite des
260). In diesem präzisen Sinne spricht Benjamin von Geschichtsverlaufs<< (1, 267) vorträgt (242 f., 270, 267;
Säkularisierung: »fürs Vergegenwärtigen der Zeit im dgg. Barner 1968, 357). Benjamin akzentuiert als
Raume - und was ist deren Säkularisierung anderes, »barocke[n] Zug« (1, 249): da »im Sinne des Zeitalters
als in die strikte Gegenwart sie wandeln? - ist Simul- alles historische Leben der Tugend abging<<, »so wurde
taneisierung des Geschehens das gründlichste Verfah- sie bedeutungslos auch für das Innere der dramati-
ren« (370). Gerade insofern diese Epoche es auf die schen Personen selbst<< (270; 329); ihre Bedeutung ist
»orthodoxe[] Wahrung der kirchlichen Formen« an- allegorisch, bzw. (meta)theatral (Wild 2001). Im Mär-
legt, gewinne, so Benjamin, eine der »im tiefsten zer- tyrerdrama werde »Tugend<< in bloße Physis zurück-
rissenen und zwiespältigen Zeiten« (258) Ausdruck. genommen, wo »nur der physische Schmerz des Mar-
tyriums dem Anruf der Geschichte erwidert« (I, 270).
Der derart auf seine Physis reduzierte Körper >ent-
Tyrann und Märtyrer spricht< der souveränen Macht, den Tod zu geben: Im
Martyrium, das ebenso Gelegenheit gibt, es stoisch
Benjamins These: »Monarch und Märtyrer entgehen auszuhalten, wie es erotisch passional gesucht wird
nicht im Trauerspiel der Immanenz« (I, 247), wurde (Meyer-Kalkus 1986, 205, 235-40), verkörpert sich
als die »entscheidende«, jedenfalls »bis heute heftig »geradezu die Umkehrfigur >Macht<, die die Physis[ ... ]
umstrittene<< des Trauerspielbuchs identifiziert (Gar- umwendet zum Mittel des Politischen als seiner eigent-
her 1987, 96f., 105). Sie meint beider und der Ge- liehen Sphäre, die sich gerade darin wieder als Körper-
schichte Einzug in Natur im Zeichen der Vergängnis lichkeit zeigt<< (Campe 2000, 258 f.). Agamben ( 1998)
(I, 268), in dem »Tyrann und Märtyrer« sich als »die kennzeichnet souveräne Gewalt als Zugriff auf die
Janushäupter des Gekrönten« (249) zeigen: Der Sou- durch den Ausschluß aus Gesetz und Sprache hervor-
verän wurde, wo der Herrscher im Fall als Erniedrigter gebrachte nuda vita, die Benjamins »bloßes Leben« (II,
auf seine individuelle Körperlichkeit reduziert wäre, 201) >übersetzt< (ZuR KRITIK DER GEWALT, II, 199ff.);
als Märtyrer figuriert. Der Märtyrer wiederum ist so- im Trauerspielbuch liest Benjamin der »abstrakte[n]
wohl als gemarterter gezeichneter Körper, als auch in Unverletzlichkeit<< (I, 265) der Ehre, sofern sie »nur<<
seiner als Beständigkeit naturalisierten Tugend be- »der Schild [war], der die verwundbare Physis des
stimmt durch Natur-Geschichte. Hatte die souveräne Menschen zu decken bestimmt« (265 f.) ist, ihren
Gewalt als »Diktatur«, »die eherne Verfassung der Na- strengen Bezug aufs »kreatürliche[] Leben[]<< (265) in
turgesetze an Stelle schwankenden historischen Ge- seiner »Blöße<< ab (266). Bare life ist »the immediate
schehens zu setzen«, so zeigt das Märtyrerdrama ty- referent of sovereign violence<< (Agamben 1998, 112,
rannische Züge, will »[z]u einer entsprechenden Fi- 29, 64).
xierung [... ] auch die stoische Technik für einen
Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte
ermächtigen<<; »[a] uch sie sucht eine widerhistorische Dramaturgie der Intrige
Neuschöpfung« (253 ). Umgekehrt fiel der Tyrann »als
Opfer<< des den Herrscher bestimmenden »Mißver- »Als dritter Typus<< der Akteure des Trauerspiels tritt
hältnisses der unbeschränkten hierarchischen Würde, der Intrigant »neben den Despoten und den Märty-
mit welcher Gott ihn investiert, zum Stande seines rer«, als »Veranstalter seiner Verwicklung<<, »Ballett-
218 Messianismus, Ästhetik, Politik

meister<< (I, 274) der Choreographien des Ränkespiels Trauer und Melancholie
(304). Kann die Intrige das kompositorische Element
heißen, das dem Drama die ästhetische Totalität ga- Als >>Theorie der Trauer<< sollte das >>Gesetz<< des Trau-
rantiere (255), so macht dies deren Beschränktheit erspiels entfaltet sein (I, 318). Ist dies Spiel, >>über dem
deutlich. Die »Ökonomie des Dramas<< (277) wird im die Trauer ihr Genügen findet: Spiel vor Traurigen<<
Sinne der Evidenz des Theatralischen >>SO aufdringlich (298), so ist der Melancholische bestimmt als Zu-
[... ] betont<< durch die >>wie ein Dekorationswechsel schauer und hat umgekehrt Theatralität an der Me-
auf offener Bühne<< vorgestellte >>barocke Intrige<< lancholie teil (318 f., 298 f.). Die Melancholie gibt sich,
(254 f. ), die es auf die Illusion dramatischer Immanenz ihrem >>versunkenen Grübeln<<, eine Bühne im Schau-
nicht anlegt, an der das 18. Jh. das Barockdrama platz der ausgestreuten Dinge, die ihrer Kontemplation
mißt. zu Chiffren (einer anderen Bedeutung) werden. Die
>>Der überlegene Intrigant ist ganz Verstand und Bühne stellt, wie Harnlet dem Trauerspielbuch vorstellt,
Wille<< (274), Gegenstand seines Kalküls sind die den >gerahmten Raum< der Selbstreflexion jenes
>>menschlichen Affekte<< (ebd. ), die sich ihm >>als bere- Schau-Spiels, das das seiner Melancholie ist (334f.).
chenbares Triebwerk der Kreatur<< darstellen (277f.), Der den ersten Teil des Trauerspielbuchs beschlie-
und zwar im König als Puppe, der wie dem Spiel seiner ßende >>Exkurs<< zur Melancholie bezieht detailliert
Affekte dem Spiel mit ihnen preisgegeben ist, das der Material und Argumente aus den von Dürers Kupfer-
Intrigant als >>plotter<< (Weber) treibt (304, 262, 351). stich Melencolia I ausgehenden Studien der Warburg-
>>Seine verworfnen Berechnungen erfüllen den Be- Schule und deren Vorläufer Giehlow (1903/4). Vorge-
trachter der Haupt- und Staatsaktionen mit um so ben ließ sich Benjamin vor allem die >>Doppelgestal-
größerem Interesse, als er in ihnen nicht allein die Be- tigkeit<< des Saturn, in dessen Zeichen die Melancholie
herrschung des politischen Getriebes, sondern ein mit ihrer >>Antithetik<< von Erdgebundenheit und Ge-
anthropologisches, selbst physiologisches Wissen er- nialität steht (I, 327 f.; auf Panofsky/Saxl1923, hier 38,
kennt, das ihn passionierte<< (274). Dieses Wissen ist stieß Benjamin nach der Rohschrift 1924, I, 881,891,
aber nicht so sehr ein positives, als vielmehr Einsicht, Verzeichnis der gelesenen Schriften Nr. 955). Im Un-
die als Kalkül über Simulationen und Dissimulationen terschied zu den im Detail beigezogenen ikonographi-
selbst an diesen teilhat (Schäfer 2001, 109-13). Er schen Studien belastet Benjamin den >>eigentlich theo-
müßte daher zum >>Räsoneur<< werden können wie die logischen Begriff des Melancholikers [... ], der in dem
komische Figur Shakespeares, die >>sich selbst in ihrer einer Todsünde vorliegt<< (I, 33 2), der acedia oder Ver-
Reflexion zur Marionette<< (306) wurde. Mit dem In- zweiflung als >Versagen in Theodizee< (403). Zur Ein-
triganten und dem Spiel der Ränke, als dem im Trau- satzstelle wird ihm Luthers sola fide Prinzip, das das
erspiel eingespielten, offengelegten Spiel (262, 409), individuelle Heil von den Werken löst, und diese und
zog einerseits >>die Komik ins Trauerspiel ein<< (304). die Welt entwerte: >>Etwas Neues entstand, eine leere
Anderseits weckt die >>errechnete Vollkommenheit Welt<< (317 f.; Warburg 1920,221, 224 ff.). So trifft Ben-
weltmännischen Verhaltens [... ] in der allen naiven jamin im Kern der protestantischen Theologie das
Regungen entkleideten Kreatur die Trauer<< (276), trägt >>taedium vitae<< an, das neben die katholische Vanitas-
die>> illusionslose Einsicht des Höflings<< (275), >>ganz Vorstellung tritt, und es zeichnet sich eine Umschrift
auf den düstern Ton der Intrige gestimmt<< (276), Züge von Max Webers Modernisierungsthese ab (I, 263;
des Satanischen und der Hof stellt als Ort der Traurig- Weber 2005; KAPITALISMUS ALS RELIGION VI,
keit wie (die) Hölle >>die unvergleichliche Szenerie des 100ff.).
Trauerspiels<< (275; 304f.). Die >>Gesinnungslosigkeit<< Benjamins Rede von Melancholie als Trauer, die von
des Intriganten, >>zum Teil bewußte Geste des Machia- der Tradition nicht vorgegeben ist, kann als Bezug-
vellismus<<, ist zu deren >>anderen aber trostloser und nahme auf Freuds Trauer und Melancholie (1917) und
schwermütiger Allheimfall an eine für undurchdring- als Gegen-Lektüre von deren Entgegensetzung gelesen
lich erachtete Ordnung unheilvoller Konstellationen werden. Die Melancholie ist darin Freuds Konzept der
[... ],welche einen geradezu dinglichen Charakter an- >>Trauerarbeit<< (1970, 198) genähert, daß sie ein Fehlen
nimmt<< (333, 401). Wie in der >>Lustigkeit seines Rat- bezeichnet, dessen Erwiderung sie ist: Sie erhebt >>Ein-
gebers<< und der >>Trauer des Fürsten<< als des Betrach- spruch<< gegen die >>leere Weit<<, gegen das >>Dasein als
ters >>die beiden Provinzen des Satansreiches<< (306) [... ] ein Trümmerfeld<<, in das der Melancholische sich
vorgestellt sind, so in Intrigant und Souverän die an- gestellt sah. Unversehens ist es >>das Leben selbst<<, das
tithetischen Züge der Melancholie (321 f.). in Trauer agiere: >>Tief empfindet es, [... ].Tief erfaßt
es Grauen bei dem Gedanken, so könne sich das ganze
Dasein abspielen. Tief entsetzt es sich vor dem Gedan-
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« 219

ken an Tod<< (I, 318). In der dreifachen Anapher» Tief<< als der Entzug, der die Re-Präsentation je ist. Die Me-
vertieft sich die Rede selbst, »locates life in the dimen- lancholie gilt diesem Moment der Verstellung durch
sion of depth<< und teilt so die Ambivalenz der Melan- das, was den melancholischen Blick fixiert, die lesend
cholie mit (Nägele 1991, 187f.). stets wieder vollzogen wird, das Totsein, das sie be-
Das »Gefühl<< der Trauer, aus dem Benjamin die zeichnet, allegorisch ratifizierend (359).
Gesetze des Trauerspiels zu entfalten sucht, ist vom Dieacedia sei barock aufgefaßt die >>pathologische[]
>>empirischen Subjekt<<, vom >>Gefühlszustand des Verfassung, in welcher'jedes unscheinbarste Ding, weil
Dichters<< wie >>des Publikums<< >>gelöst<<; als >>motori- die natürliche und schaffende Beziehung zu ihm fehlt,
sche Attitüde<< (I, 318), der das Moment der Auffüh- als Chiffer einer rätselhaften Weisheit auftritt<<. Dem
rung bereits angehört, widersteht es der Psychologi- war, so Benjamin, >>gemäß, daß in dem Umkreis der
sierung (von Literatur). Vielmehr vermöchten >>viel >Melencolia< Albrecht Dürers die Gerätschaften des
besser als der Zustand der Betrübnis [umgekehrt] diese tätigen Lebens am Boden ungenutzt, als Gegenstand
Spiele einer Beschreibung der Trauer zu dienen<< (1, des Grübeins liegen<< (I, 319; vgl. Panofsky/Saxl1923,
298; Herv. d. Verf.), wie der >>Name<< Trauerspiel >>be- 61-76; Klibansky/Panofsky/Saxl 1990, 449): Als
sagen<< >>dürfte<<. >>Denn sie sind nicht so sehr das Spiel, >>ungenutzt[ e] << sind sie Embleme der Melancholie. Der
das traurig macht, als jenes, über dem die Trauer ihr Melancholiker ist >>Grübler über Zeichen<< (I, 370;
Genügen findet [... ]. Ihnen eignet eine gewisse Osten- Giehlow 1904, 7f.); er verliert sich im Anblick der
tation. Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden<< Dinge, die (isoliert aus den Zusammenhängen des all-
(298). Ist >>Trauer[ ... ] die Gesinnung, in der das Gefühl täglichen Lebens, in denen ein Werkzeug in Tätigkeit
die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rät- versetzt würde, wie aus denen der Heilsgeschichte, die
selhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben<< (318 ), ihre Stationen mit Sinn begabte,) nicht sie selbst,son-
so ist diese >Neubelebung< ausgezeichnet als theatrale dern Zeichen sind und als solche, von sich selbst ge-
(Weber 1991, 495; Primavesi 1998, 282-85), nicht >Ver- schieden, für ein anderes stehen, dessen Absenz sie
lebendigung<, sondern Aufführung dessen, was den bezeichnen. Kennzeichnete Freud die Melancholie (die
Melancholischen >>ein rätselhaftes Genügen<< finden Trauerarbeit, die nicht bereit ist, die Besetzung vom
läßt. Dieses endet nicht in consolatio, auf die es im Toten abzuziehen, während die Trauer ihr Ende in
Trauerspiel hinauswolle (Schings 1971), vielmehr dessen Ersetzung finde,) durch eine >>problematische
spricht der theatrale Auftritt mit seiner Maskenhaftig- Objektbeziehung<< (Freud 1970, 203ff., 210), so Ben-
keit, der bloßen Verstellung, die die theatrale Reprä- jamin diese als problematisches Verhältnis: Relation
sentation für und anstelle des Verlorenen ist, vom und Fuge zwischen Zeichen und Dingen. >>Bei der
Totsein. Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der
Ist >>nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Melancholie ist es (auch) das Ich selbst<<, so unter-
Blick des Melancholischen sich auftut<< (I, 318), Ein- schied Freud und las dem die narzißtische Ich->> Kon-
sicht in die Melancholie zu gewinnen, so ist ihr >>Ge- stitution<< durch Identifizierung mit dem Objekt ab
genstand<<, der >>apriorische<<, an den die Trauer >>ge- (200-203). Dem entspricht das >>Grübeln<<, die Versen-
bunden<< ist, durch den melancholischen Blick als kung, an die der Melancholische sich verliert, als >>De-
solcher gegeben (ebd.). Mit Haverkamp (1988, 350): personalisation<< (I, 319). Diese wird ansichtig in den
>>Melancholie ist der Inbegriff einer Gegebenheitsweise jedem >inneren< Zusammenhang entfallenen, mortifi-
von Gegenständen, deren Gegenständlichkeit sich un- ziert- ausgestreuten Dingen, an die der Blick des Grüb-
ter dem Blick des Melancholischen herstellt<<. Dies ist lers fixiert ist, die außen als >>Hof<< einer chaotischen
die Stelle jener >>engen Korrelierung von Allegorie und >>Fülle der Embleme<< ums >>figurale Zentrum<< bei der
Melancholie<<, die den >>für die Melancholiegeschichte Melencolia wie allen Personifikationen bleiben (359-
fundamentalen, aber zuvor nicht explizierten 364). Dachte Freud Trauerarbeit als »allmählich fort-
Repräsentationszusammenhang<< entwickelt (Wagner- schreitende<< Prozessualität der Identifizierung mit
Egelhaaf 1999, 175). Als Lektüre ist der Zusammen- dem Objekt und der Ablösung von ihm (Freud 1970,
hang von melancholischem Blick und allegorischer 209), so ist sie als Melancholie, die Benjamin zu ihrem
Zeichenschrift gegeben (B. Menke 1991). Im melan- Paradigma macht, nicht auf >>gradlinige Erledigung<<
cholischen Blick wird der Gegenstand- entwertet- be- angelegt. Das >Ziel der Trauerarbeit< nimmt sich bei
deutend, >>Chiffer<< >>rätselhafte[r] Weisheit<< (1, 319) Freud und Benjamin >>komplementär<< aus (Haver-
oder allegorisch; die allegorische Lektüre ist Modus kamp 1988, 351, 349; 1991, 20-25): will es bei Freud
>maskenhafter Neubelebung<, das Schema der Erwide- auf die durch >>Vereinnahme<< >>projektiv neubelebte
rung, die die Melancholie ist, und ihres Aufführungs- Welt<< hinaus, so steht ihr die einverleibend entäußerte,
charakters. Eingeschrieben ist ihr der Tod, und zwar innen >>entleerte<<, mortifizierte der Melancholie ge-
220 Messianismus, Ästhetik, Politik

genüber. Die Melancholie als endlose Trauerarbeit, die Treue und Verrat der Melancholie
es nicht zur Lösung vom, zur Ersetzung des Verlorenen
bringt, wäre demnach nicht ihre pathologische Ver- Die >grundlose< Trauer der Melancholie, die keinem
sion, der die >normale< als gelingende entgegenzuhal- (durch einen Objektbezug) bestimmten Verlust gilt,
ten wäre (so aber Freud 1970, 204f.), sondern sie vertieft sich >ohne Grund<. Dem melancholischen Blick
macht die Unlösbarkeit des »Ambivalenzkonflikts« des ist jeder Gegenstand stets wieder nichts anderes als
Objektbezugs und die Paradoxie des >Gelingens< von Verstellung, die einen Mangel anzeigt, der jedem Ob-
Trauerarbeit, die projektiv auf ihr Ende in der endgül- jektbezug und Verlust vorausliegt. Die »melancholi-
tigen Ersetzung des Toten als Triumph des Lebenden sche Wunde<< (Freud) wird durch die Faktur der Alle-
angelegt wäre, lesbar (Horn 1998, 18-22). gorie >dargestellt<, insofern sie die Nichtrepräsentier-
Die >grundlose< Trauer der Melancholie, traditionell barkeit dieses Mangels >repräsentiert<, die Dissoziation,
»ursachlose Schwermut« (Panofsky/Saxl 1923, 71), die sie bezeichnet und vollzieht. Das ist die Treue der
betrauert einen Verlust, der nicht bestimmt, nicht der melancholischen Trauer, die sich vertieft in
eines bestimmten Objekts (Freud) ist, jedem konkre- »unabsehbare[r] Wiederholung<< (II, 136; I, 319). Ben-
ten Verlust und Gegenstandsbezug >vorher<geht. Die jamin spricht von der »Beharrlichkeit, die in der In-
»melancholische Wunde« (Freud 1970, 206) wäre, mit tention der Trauer sich ausprägt<<. Ist diese »aus ihrer
Benjamin, die >Leere der Welt< im melancholischen Treue zur Dingwelt geboren<< (I, 334), so aber umge-
Blick, die Signatur des Todes, die die Welt (immer kehrt auch diese deren Ausdruck. Die Melancholie gilt
schon) (be)zeichne (I, 343f.; Horn 1998, 36). »Soviel dem Zwiespalt zwischen »Physis<< und »Bedeutung<<,
Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der ihre >Gegenstände<, von sich selbst geschieden, so
der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Phy- »todverfallen« wie »allegorisch<< gegeben sein läßt
sis und Bedeutung eingräbt. Ist aber die Natur von (342 f.).
jeher todverfallen, so ist sie auch allegorisch von jeher« Zum einen verrät die Melancholie die »Welt« um
(I, 342 f.). Ist der Zeichencharakter der (von sich selbst eines »Wissens« willen, dem sie in den Tiefen nachgeht
geschiedenen) Natur Signatur des Todes, so entspricht (334, 398ff.). Zum anderen zeigt sie, >die Welt< verra-
dem »die emblematische Darstellung ihres Sinnes, die tend, »Treue«, wenn sie »die toten Dinge in ihre Kon-
als allegorische unheilbar verschieden von seiner ge- templation auf[ nimmt], um sie zu retten« (333 f.).
schichtlichen Verwirklichung bleibt« (347). Der >Ur- »Restlos angemessen ist Treue einzig dem Verhältnis
sprung der Bedeutung< ist der der Trauer (DIE BEDEU- des Menschen zur Dingwelt<< (333); sie gilt dem
TUNG DER SPRACHE IN TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE »Dingsein<< (398) selbst. Das macht die Melancholie
II, 138 f.). Über der heillosen Verschiedenheit von des Gedächtnisses kenntlich (Bezold 1922; Warburg
»Wirklichkeit und Bedeutung«, über der »Zweiheit« 1992; I, 400). Die melancholische Treue gilt dem, was
(I, 370) Zeichen grübelt der Melancholiker. Ihm be- im Eintrag des Zwiespalts von Zeichen und Dingen
zeichnen die Zeichen die unheilbare Verschiedenheit abfällt.
der Dinge von sich selbst. Dies ist die Melancholie der Der Melancholie gehört die Ambiguität an, daß sie,
Zeichen. die den Zwiespalt einerseits beharrlich offenhält, an-
Die den melancholischen Blick bestimmende Am- dererseits im Festhalten am Mangel Ganzheit beruft.
bivalenz von Neubelebung und Mortifikation: »Wird Dies führt das Trauerspielbuch in der theologischen
der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allego- Modeliierung der melancholischen Vertiefung im »Ab-
risch, läßt sie das Leben von ihm abfließen«; so kommt grund bodenlosen Tiefsinns<< aus: »alle Weisheit des
ihm als Bedeutung nur zu, »was der Allegoriker ihm Melancholikers ist der Tiefe hörig«, »gewonnen aus
verleiht« (I, 359, 351 f.), organisiert die Allegorie als der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und
ihre »Rhythmik« (361, 373): Der jeweiligen Entwer- von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr«
tung der Dinge durchs allegorische Bedeuten, das stets (I, 330). Das »Materialische<< (401), das die Melancho-
nur die Macht des Wissens bezeugt, folgt immer nur lie nicht zu transzendieren vermag, stellte sich in »Ge-
dasselbe, immer von neuem wird der melancholische stalt des Satan<< vor (400f.); Benjamin war dies das
Tiefsinn in die Anteilnahme am Zeichen, die in Ent- »entscheidende theologische Präjudiz« (Steiner 1989,
täuschung durchs Bedeuten umschlägt, verlockt. »Aber 688 ff.). »[I]m Satan<< ist die »absolute Geistigkeit<<
immer von neuemdrängen die amorphen Einzelhei- (404), die »unbedingt und zwangshaftmit unmittel-
ten, welche allein allegorisch sich geben, hinzu« (361). barem Tiefsinn aufs absolute Wissen« (403) gehe, »ge-
Die Allegorie ist Schema der unabsehbaren, der stets meint<<, der umgekehrt die »- hier allein entseelte -
vergeblichen »Wiederholung«, in die dieMelancholie Stofflichkeit« (404) zur »Heimat« werde. Das»schlecht-
gebannt ist (I, 356; II, 136f., 139). hin Materialische und jenes absolute Geistige<< sind die
>>Ursprung des deutschen Trauerspiels<< 221

>>Pole des satanischen Bereichs<< (404). Als satanische ten Umschlag, der die >>Grenze des Tiefsinns<< (I, 405 f.)
ist die Versenkung Teil einer »Ökonomie des Ganzen<< bezeichne, jenseits deren das Trauerspiel sich löse.
(403-08). Die melancholische Trostlosigkeit müsse Würde demnach die Melancholie sich auflösen, wenn
sich als bloß •scheinbar unendlich< erweisen vor einer die ihr vor Augen stehenden >>Bilder<< sich zuletzt in
Außenperspektive, die >im Ernst unterm Himmel< soll >>seliges Dasein verkehren<<, so endet sie, wenn das
heißen können. Dies geschieht, wo die >>melancholi- >>Wesen melancholischer Versenkung<< darin sich zeigt,
sche Intention<< (398) im Tiefsinn >>treulos<< umspringe >>daß ihre letzten Gegenstände [... ] in Allegorien um-
(405 ff.), indem ihre >Gegenstände<, die sie der Unend- schlagen, daß sie das Nichts, in dem sie sich darstellen,
lichkeit des >Bösen< versichern, allegorisch ein anderes erfüllen und verleugnen<< (404 ff.), ohne Abschluß: in
bedeuten, das nichts anderes als die bloß >subjektive< der heillosen Verschiedenheit alles dessen, was sie in
Gegebenheit dieser Unendlichkeit besage. Als Allego- ihren Blick nimmt, von sich selbst. Wird im Sinne der
rien aber bezeichnen >ihre Gegenstände< stets wieder >>Grenznatur<< des Trauerspiels >>das Melancholiekapi-
jene melancholische Geschiedenheit, durch die sie erst tel als ein Miniaturmodell der gesamten Abhandlung
gegeben sind; in der Schrift, >>in der die betrauerte lesbar<< (Steiner 1992, 33; 1989, 683-87), so der Zwie-
Leere [ ... ]verschwindet<<, wird sie >>auch als verschwin- spalt anfänglicher Differenz im Harnlet als das Ende
dende festgehalten<< (Müller-Schöll2002, 123). des Trauerspiels (Müller-Schöll2002, 124-29; Fenves
1997, 263-70). Melancholie löst, >>indem sie sich selbst
begegnet, sich ein. Der Rest ist Schweigen<< (1, 335) -
Reflexion der Melancholie mit einem verschwiegenen Hamlet-Zitat, das mit >>rest<<
(auch) vom Rest spricht, als der Harnlet aufgebahrt
Die Selbstreflexion der Melancholie stellt Benjamin in verbleibt.
Shakespeares Harnlet vor, mit dem der Blick sich auf
jenes Schauspiel wende, das seine Melancholie sei.
Hamlet, der auf der Bühne den Zuschauer gibt, >>ist für Allegorie
das Trauerspiel Zuschauer von Gottes Gnaden; aber
nicht was sie [!] ihm spielen, sondern einzig und allein Die Allegorie sei, so Benjamin 1924 in einem Brief an
sein eigenes Schicksal kann ihm genügen<<; dieses war Scholem, >>das Wesen, um dessen Rettung es mir ging<<
der >>spielerische[ ... ] Durchgang durch alle Stationen (I, 881). Sie ist >>das stilistische Schema des Barock-
dieses intentionalen Raums<< (1, 334). Spielerisch ist trauerspiels<< (951). Von der Allegorie muß aus einer
Harnlets Melancholie als Masken-Spiel (wie die puns Perspektive der Nachträglichkeit gehandelt werden
als dessen Medium) (Lacan 1982; Haverkamp 2001, (Nägele 1991, 80; B. Menke 2000, 70f.). Diese Nach-
75, 87). Im Blick auf dies Geschehen >>löst Melancho- träglichkeit hat Benjamin der barocken Allegorie selbst
lie, indem sie sich begegnet, sich ein<< (1, 335), stellt das abgelesen als deren vorgreifenden Einspruch gegen das
Trauerspiel sich selbst als Spiel und Ausstellung im Konzept der Ästhetik, demzufolge die >>schöne[) Phy-
melancholischen Blick dar, dem der Zuschauer impli- sis<< zur Gestalt der Wahrheit werde (I, 352). Benjamin
ziert ist (C. Menke 2005, 178-87; dgg. Schmitt 1985, setzt die Allegorie ins Recht als die ausgeführte
41--46). Gegenthese zum >>plastischen Symbol<< (341) und des-
Die Selbstreflexion der Melancholie in Shakespeares sen verfehlten Programm: >>Als symbolisches Gebilde
Harnlet bezeichnet wie die Reflexion des Spiels in den soll das Schöne bruchlos ins Göttliche übergehen<<,
Schauspielen Calder6ns einen >anderen Ausgang< des und zwar im >>Bild des schönen Individuum<<, das zur
deutschen Trauerspiels. Die >>kühne Wendung, mit der Gestalt der Wahrheit sollte werden können (336 f.).
die Renaissancespekulationen in den Zügen der wei- Für das allegorische Format des Lebens im Trauer-
nenden Betrachtung den Widerschein eines fernen spiel gibt ein Zwischentitel im zweiten Teil des Trau-
Lichtes gewahrten, das aus dem Grunde der Versen- erspielbuchs die Formel >>Leiche als Emblem<<. >>Die
kung ihr entgegenschimmerte<<, durch die die >>melan- Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche<< oder
cholische Versenkung zur Christlichkeit<< komme, jene die >>Reliquie<< als Vorläufer des »Andenken[s]<< (ZEN-
Verkehrung der >>traurigen Bilder [... ] in seliges Da- TRALPARK 1938/9, I, 690). >>[D]ie Allegorisierung der
sein<<, auf die Harnlets >>Leben<< >>vor dem Erlöschen<< Physis kann nur an der Leiche sich energisch durch-
weise (I, 334f.), ist aber nicht Reflexion eines Selbst, setzen<<, >>das Martyrium [rüstet] den Körper des Le-
sondern Trope, >>the trope of theology<< (Nägele 1991, bendigen[ ... ] emblematisch zu<< (I, 391). Das gibt über
167ff., 189ff.; zur >Christlichkeit des Hamlet<, F.C. die Allegorie so gut wie über barocke Martyrien Aus-
Rang zufolge, Steiner 1989, 691-98; 1992, 43--47). Das kunft. Die >>Greuel- und Marterszenen, in denen die
Trauerspielbuch beruft eine solche Wendung im letz- barocken Dramen schwelgen<<, >>jene[] sprödesten Mo-
222 Messianismus, Ästhetik, Politik

tive, denen andere als stoffliche Feststellungen nicht mains necessary, if there is to be allegory, that the al-
scheinen abgewonnen werden zu können<< (389f.), legorical sign refers to another sign, that preceeds it.<<
sind, darauf will es hier hinaus, struktureller Natur; es -so de Man im Anschluß an Benjamin (1983, 207;
handelt sich um Selbstabbildungen der Struktur. Witte 1992, 133 ff.). Die Vorgängigkeit, >>pure anterior-
>>[D]ie Personen des Trauerspiels sterben, weil sie nur ity<< (de Man), in der sie begründet ist, wird in der
so, als Leichen, in die allegorische Heimat eingehen. Bedeutung nicht integriert, sondern von der Allegorie
Nicht um der Unsterblichkeit willen, um der Leiche als ursprüngliche Entzweitheit ausgestellt. >>>Anders-
willen gehn sie zu Grunde. >Er lässt uns seine Ieichen/ woher< greift der Allegoriker sie [seine Zeichen] auf
Zum pfande letzter Gunst<, sagt Carl Stuarts Tochter und meidet darin keinesfalls die Willkür als drastische
vom Vater, welcher seinerseits es nicht vergaß, um de- Bekundung von der Macht des Wissens<< (I, 360). Der
ren Einbalsamierung zu bitten. Produktion der Leiche Bezug aufVorgängiges mag autoritativ abgesichert und
ist, vom Tode her betrachtet, das Leben<< (391 f.). Die Ausdruck von >>Autorität<< sein (351, 208), doch stellt
Leiche stellt auf der Bühne des Trauerspiels das Em- sich mit dem Zugriff die Relation selbst, die Distanz
blem der allegorischen Lektüre. Sie ist ein Argument, des allegorischen Zeichens zu sich selbst dar.
das Benjamin dem barocken Trauerspiel als vorgrei- Auf Merklichkeit wie Entferntheit der Bezüge sind
fende Gegenthese zum >>plastischen<< oder >Kunst-Sym- Allegorien angelegt (in verschiedenem Maße bei ae-
bol< abliest. Denn, während dem >>theologischen Sym- nigmatischen oder didaktischen Varianten). >>Die viel-
bol<< die >>Einheit von sinnlichem und übersinnlichem fachen Dunkelheiten des Zusammenhanges zwischen
Gegenstand<< >>Paradoxie<< blieb, stellt dieses in der Bedeutung und Zeichen [... ] reizten [... ] dazu, immer
>>schönen<< vollendeten Physis die Gestalt der ästheti- entfernter liegende Eigenschaften des darstellenden
schen Totalisierung- das kennzeichnet Benjamin als Gegenstandes zu Sinnbildern zu verwerthen, um durch
>>Mißbrauch<< (336 f.). Das klassizistische Ideal erfüllte neue Klügeleien sogar die Ägypter zu übertreffen<<, wie
sich im Phantasma der vergötterten Menschennatur, Benjamin Giehlows Hieroglyphenkunde zitiert ( 1915,
der beseelten Statue, die die vom Leben als Vergehen 127; I, 350). Der >>Fundus<< des Zitierten zeigt sich viel-
unablösbare Desintegration vergessen macht. Dem er- fach verzweigt, unabsehbar in Bibliotheken, Kollekta-
widert die Allegorie. >>Unfreiheit, Unvollendung und neen, Tesauri, Schatzhäusern der allegorisch funktio-
Gebrochenheit der sinnlichen, der schönen Physis zu nablen Details (I, 360, 269). Das Gesetz ihrer Findung
gewahren, war wesensmäßig dem Klassizismus versagt. und Fügung, das Re-Kombinieren von topoi, >>Realien,
Gerade diese trägt die Allegorie des Barock verborgen Redeblumen, Regeln<<, rhetorisch ars inveniendi, will
unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter nicht aufs >>bloße Ganze<< hinaus, sondern ist >>Üsten-
Betonung vor<< (352). Dies tut >>die Leiche als Em- tation der Faktur<< (354 f.). Derart ist die Allegorie des
blem<<. 17. Jh.s >>nicht Konvention des Ausdrucks<< (351), wie
Die allegorische Lektüre zerfällt den Körper in be- die Ästhetik des Symbols die Allegorie kennzeichnete,
deutende Details gemäß den >>Regionen der Bedeu- damit sie als ihr >>finstere[r] Fond<< tauge (337), son-
tung<< (391), denen sie zufallen; sie nimmt gleichsam dern, wie Benjamin wendet: >>Ausdruck der Konven-
beschriftend die >>bedeutende Aufteilung eines Leben- tion<<, >>geheim der Würde ihres Ursprungs nach und
digen in die disiecta membrader Allegorie<< vor (374). öffentlich nach dem Bereiche ihrer Geltung<< (351).
Bedeutung setzt sich an ihm durch >>wie Lettern im Benjamin prägt die Allegorie antinomisch als exzen-
Monogramm<< (371 f.). Das Bedeutete liegt allegorisch trischen Vollzug, als >>Umschlag[] von Extremen<< (337)
>>ohne Rückstand<< vor, nicht aber >>im Innern der Re- aus. Faßte die Ästhetik des Symbols die Allegorie als
präsentation<< (wie im klassischen Zeichen, Foucault bloßes >>konventionelles Verhältnis zwischen einem
1974, 99), sondern äußerlich zu lesen, als Schrift >>vors bezeichnenden Bilde und seiner Bedeutung<< auf- >>wie
Bild gezerrt<< (I, 360 f.). Das heißt: >>das Geheimnis geht Schrift<<, in einer Analogie, die beide, Allegorie wie
aus, das Eidos verlischt, übrig bleiben die dürren rebus, Schrift, reduzierte (339), so gewinnt allegorisch gerade
die bedeuten<< (352). Dies hat die doppelte Implikation das Bedeuten selbst >>Ausdruck<<, und zwar als und in
von >>Entwertung<< der dem allegorischen Bedeuten der Differenz (in der es sich aufhält, de Man 1993, 104).
unterworfenen profanen Welt und >Rangerhöhung< Die Diskrepanz >>zwischen bezeichnendem Bilde und
ihrer allegorisch verweisenden Details (351); das ge- seiner Bedeutung<< zeigt in Emblemen sich im uner-
hört zu den >>Antinomien<< der Allegorie, die Benjamin bittlichen Auseinandertreten von Sichtbarkeit und
präpariert (350-53). Lesbarkeit, wie damit die Unabsehbarkeit letzterer.
Allegorische Zeichengebung ist Zitation >>anderswo- Benjamins entschiedener Akzentuierung dieser Disso-
her<< (360). Allegorisch bedeutet werden kann nur im ziation zufolge wird keineswegs das Vorgestellte als
Bezug auf ein anderes, vorgängiges Zeichen. >>It re- Bedeutendes der Bedeutung so unterstellt, daß dieses
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« 223

in jener ein- und aufgelöst wäre. Vielmehr führt alle- stellt wird<<, liege >>die facies hippocratica der Ge-
gorische Lektüre die Dissoziation >>zwischen bildli- schichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor
chem Sein und Bedeuten« aus (I, 342). Allegorien Augen« (343). Sie ist nicht >>Antlitz<<, sondern dessen
bedeuten nicht bloß ein anderes, statt mimetisch dar- Disfiguration: >> Zeichenschrift der Vergängnis<< (353 f.,
zustellen, sondern bedeuten, indem sie das von ihr 370; Weber 1991, 496).
Präsentierte dementieren und damit Vorstellung und Was im >>Abgrund z":ischen bildlichem Sein und
Bedeutung auseinandersetzen. Das ist ihre metafigu- Bedeuten<< (sich) (ab )spiele, identifiziert Benjamin als
rative Auskunft; sie >>bedeuten genau das Nichtsein >>Urgeschichte des Bedeutens<<, derzufolge Bedeutung
dessen, was sie vorstellen<< (406). De Man reformuliert >>Ursprung« der >>Trauer« sei (I, 342, 384; li, 138f.).
das als die Inkompatibilität zwischen den von einem Von dieser >sprechen< die Allegorien, insofern sie wie
allegorischen >Bild< erzeugten wörtlichen und figürli- andere barocke Spiele: puns, Anagramme (I, 361,
chen Bedeutungen, die sich nicht ineinander zu einer 381 f.), das, was als >>gefestete[s] Massiv der Wortbe-
Einheit integrieren, sondern einander dementieren deutung« vorgestellt zu werden pflegt, aufreißen; sie
oder blockieren (1979, 205; 1988, 109f.). Schrift be- agieren in >>hochgespannte[r] Polarität<< zwischen Be-
zeichnet supplementär und buchstäblich zerlegbar die deutung und >>materialischem Aufwand<< (I, 376-89),
Diskrepanz zwischen Bedeutung und ihrem >Träger< im >>Widerspiel von Laut und Bedeutung<<, der >>dem
(I, 388, 381 ff.). Dies zeigt sich in der >>[G]reli«-heit Trauerspiel ein Geisterhaftes, Fürchterliches<< bleibt
(373), mit der die allegorische Sentenz die >>allegori- (II, 140; vgl. I, 383 f.). Was als barocker >>Schwulst<<
schen Verwicklungen<< (371) beschriftet; sie fungiert verworfen wird, macht Benjamin kenntlich >>als eine
als >>Rahmen, als obligater Ausschnitt [... ], in den die durch und durch planvolle, konstruktive Sprachge-
Handlung stets verändert, stoßweise einrückt, um sich bärde«, die in >>hochgespannte[r] Polarität<< von Ma-
als emblematisches darin zu zeigen<<, so daß das Trau- terialischem und Bedeutung >>den Blick in die Sprach-
erspiel der >>intermittierenden Rhythmik eines bestän- tiefe<< nötigt (I, 376, 384-87).
digen Einhaltens, stoßweisen Umschiagens und neuen Die Allegorie ist nicht nur Trope, die das eine sagt,
Erstarrens<< unterliege (373, 404f.). In keiner allegori- um ein anderes zu meinen, sondern sie besteht auf
schen Bedeutung ist das Bedeuten totalisierend ein- beider Disparatheit und gibt derart, metafigurativ,
und abgeschlossen, sondern jede wird wieder die Dis- Auskunft von der> Welt<, die nicht mit ihrem Sinn, wie
krepanz zwischen allegorisch bedeutender >Handlung< dieser nicht mit Darstellung zusammenfällt (de Man
und Sentenz aufreißen lassen; dies kann nur wieder- 1993, 103 f.). >>Allegorymakes visible ruins, fragments
holt werden. of matter unenlightened by any >spirit<<<, >>the eternal
Natur-Geschichtlichkeit (342 ff.) kennzeichnet den disjunction between the inscribed sign and its material
barocken >> Bilderschatz, der [... ] zur schlagenden Auf- embodiment<< (Miller 1981, 364f.). Die Ruine als Al-
lösung historisch-sittlicher Konflikte in die Demon- legorie der Natur-Geschichte >>als Vorgang unaufhalt-
strationen der Naturgeschichte zur Verfügung stand<<, samen Verfalls<< taugt als Allegorie der Allegorie selbst.
nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell als >>Damit<<, sagt Benjamin, in der allegorischen Ausprä-
>>>Prangen mit einer physicalischen Gelahrtheit<<< (mit gung der Naturgeschichte als Ruine und mit der Ruine,
Breitingers Verwerfung I, 269, 374 f. ). Das allegorische die sie selbst ist, >>bekennt die Allegorie sich jenseits
Detail, das als Zeichen für ein anderes aufgegriffen von Schönheit<< (I, 353 f.).
wird, ist >>nicht Zeichen des zu Wissenden allein, son-
dern wissenswürdiger Gegenstand selbst<< (360), der
zitierbar und zitiert tradiert wird; er >>dauert« als >>Ge- Einspruch gegen ästhetische Integration
genstand des Wissens<<, >>Bruchstück<< (352, 357; ZEN-
TRALPARK I, 666). Es handelt sich mit der >>Ruine«, die sie ist, dem >>Stück-
Die Allegorie besiegelt die Disjunktion, die sie als werk« (362), das sie bleibt, um den Einspruch der Al-
Signatur des Todes voraussetzt: >>Soviel Bedeutung, legorie gegen das Konzept des >>plastischen Symbols<<,
soviel Todverfallenheit« (342f.). Gemäß der dem Ba- demzufolge die individuelle Physis als schöne vollen-
rock »eigenen Betrachtungsart<< >>tragen« die Dinge dete sollte zur Gestalt der Wahrheit werden können.
>>auf der Vollmacht ihres allegorischen Bedeutens das Die Allegorie verweigert, so Benjamins Akzentuierung,
Siegelbild des Allzu-Irdischen« (356). >>[A]ls allegori- das in sich vollendete Bild als das der Ganzheit abzu-
sche [zeigt Natur sich] unheilbar verschieden<< von der geben, das der Ästhetik des Symbols (in Verstellung
>>geschichtlichen Verwirklichung« ihres Sinns (347). In seiner sprachlichen Produziertheit) die zur >>mensch-
der >>allegorische[n] Physiognomie der Natur-Ge- lichen<< Gestalt >geläuterte< Physis stellen sollte (I,
schichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel ge- 336 f.). Die allegorische Zerlegung, in zerstückten Kör-
224 Messianismus, Ästhetik, Politik

pern auf der Szene ausgestellt, stellt sich- vorgreifend die meist in wüster trauriger Zerstreuung sich den
- der Gestalt ästhetischer Integration entgegen. Im Blicken darbieten<< (I, 361 f.; mit Cysarz I, 363 ). Derart
>>amorphe[ n] Bruchstück« ( 351 ), das über-dauert, hat liest Benjamin der Personifikation das »Primat des
»symbolische Schönheit« sich »verflüchtigt«, »[d]er Dinghaften vor Personalem« ab, mit dem die Allegorie
falsche Schein der Totalität geht aus« (352). »Als sym- ästhetische Integration verweigernd »dem Symbol po-
bolisches Gebilde soll das Schöne bruchlos ins Göttli- lar, aber eben darum gleich machtvoll<< (362) gegen-
che übergehen« und zwar im »Bild des schönen Indi- übertrat.
viduum<< (337). Dies stellte das Paradigma der die Um den »Widerstreit zwischen dem Unendlichen
Ästhetik begründenden Norm, daß das einzelne Werk und dem Endlichen<< in ästhetischer Darstellung auf-
unter der Prämisse des Ausdrucks aus sich selbst zu zulösen (I, 341), wie das Bild als Symbol es sollte, gab
verstehen sei. Diese wurde dem Wissen von mytholo- die klassische Ästhetik zum einen das >Unendliche<, als
gischen, poetischen, kunsthistorischen Zusammen- ein >sich selbst begrenzendes<, als ein »Menschliches<<
hängen entgegengehalten, das das allegorische Lesen aus und mußte zum andern umgekehrt die Physis ei-
beruft (vgl. B. Menke 2000, 79). Der Sinnzusammen- ner »Läuterung<< zum »Bild des schönen Individuums<<
hang sollte als >Inneres< in dessen darstellender Ver- unterwerfen (ebd.). Dies »verschmäht«, so Benjamin,
körperung unmittelbar gegeben sein, mußte aber im die barocke Bildlichkeit, und zwar sowohl die
Medium der Sprache und gemäß ihrer Logik doch erst Selbstbeschränkung der Bilder von >innen< wie auch
konstituiert werden. Ein Bild symbolisch zu lesen, un- die Läuterung von Physis zur schönen >Gestalt< der
terstellt, »that it was what it looked like, that its Totalisierung. Das macht ihr (auch von Benjamin)
meaning was readable from its face<<; der der Allegorie vielfach benanntes Ungenügen, ihre Form zu vollen-
konstitutive Bezug auf andere Zeichen, die sie der Äs- den, zu einer Geste des Einspruchs gegen ästhetische
thetik um 1800 bloß willkürlich machte, drängt dage- Integration. Es handelt sich damit »nicht sowohl um
gen die metafigurative Erkenntnis auf von der Diffe- ein Korrektiv der Klassik als um eines der Kunst selbst<<
renz jeder Darstellung von sich selbst, »the difference (351 f.). Die barocke Allegorie trägt ihre Gegenthese
between signifier and signified, of the relation between vor als »amorphes Bruchstück<<. »Machtvoll« (362)
any use of language and its linguistic or cultural past« manifestiert sich diese Gegenthese im »verstockte[n]
(Johnson 1994, 67, 63; de Man 1983). Als Ausschluß Haften am Requisit<< (356) des allegorischen Bedeu-
dieser Einsicht konstituiert sich das Schöne und ist tens, das in der jeweiligen Bedeutung nicht aufgeht, im
insofern selbst negativ bestimmt durch die Allegorie: Ober-Dauern von »disiecta membra der Allegorie«
Diese stellte dem >wahren Schönen< als in der Darstel- (361 ff., 374). Derart handelt es sich aber nicht mehr
lung >in sich vollendetes Ganzes<, die Heteronomie um eine These, sondern um einen Vollzug und dessen
seiner Begründung dar, die dieses ausschließen oder Relikte.
marginalisieren mußte; der Ästhetik darstellender Ver- In den überresten, die nach aller Enttäuschung der
körperung begegnet dies als »Scene of allegorical an- Bedeutung bleiben, gedenkt die Allegorie dessen, was
ciety<< (Nägele 1991, 92), als die (phantasmatische die Gestalt ästhetischer Integration vergessen machen
Körper-) Ganzheit bedrohende Zerlegung. muß, »Hinfälligkeit<<, »Unvollendung der schönen
»Als Stückwerk [... ] starren aus dem allegorischen Physis<< (352, 391). Die »Einsicht ins Vergängliche der
Gebild die Dinge<< (I, 362). Derart >spröde< sich zeigend Dinge<< gehört der Allegorie an und die »Sorge, sie ins
gegen >steigernde Belebung< (357; V, 473), dementiert Ewige zu retten, [ist] im Allegorischen eins der stärk-
die Allegorie die Möglichkeit dessen, woran die Ästhe- sten Motive<< (395-400). Dinghaft stellt sich das alle-
tik des 18. Jh.s sie mißt, der beseelten Gestalt eines gorische Nachleben als Modus des Gedächtnis' vor,
gelingenden Austauschs von außen und innen, worin und ist als solches bewältigende Rettung (I, 397; Bezold
sich das Symbol seiner Macht totalisierender Integra- 1922, 62). Mit den Dingen, die als »Stückwerk<< aus
tion versichert. Das zeigen die Personifikationen, die den »durchdachten Trümmerbauten<< starren (I, 362),
Ende des 18. Jh.s zu dem Paradigma der Allegorie bzw. legen es die barocken Werke auf ihre Dauer an. Daher
ihrer Verwerfung avancierten: Scheinen sie der kennt die Allegorie, gerade wo sie von sich selbst
menschliche Körper für die Bedeutung eintreten zu >spricht<, keinen abschließenden Zusammenschluß mit
lassen, so tritt doch in ihnen das leere >daß< der Ver- sich selbst. Die »Bruchstücke<< (die bleiben, I, 351) sind
körperung in bloßen »Figurinen<< und deren Be- der Allegorie eigene >triumphale< Bekundung gegen
stimmtheit durch bloß >angehängte< Attribute oder die Anmutung ästhetischer Integration.
»emblematisches Zubehör<< auseinander (I, 367; B. Dem entspricht die »Kritik<<, der Benjamin einen
Menke 1998). »Zumal in dem Barock sieht man die der ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE symmetrischen
allegorische Person gegen die Embleme zurücktreten, Schluß hatte widmen wollen (1, 919f.). Definiert als
»Ursprung des deutschen Trauerspiels« 225

>>Kritik ist Mortifikation der Werke<< (889, 357), ist unternimmt (253, 359, 257f.). Die >Spannung einer
derart die theoretische Erkenntnis selbst (212) in das heilsgeschichdichen Frage< artikuliert die barocke Al-
eingezogen, was ihr >Gegenstand< ist. Sie hat >>Zum ein- legorie im Ungenügen, mit dem sie vorgreifend sich
zigen Medium das [... ] Fordeben der Werke<<, setzt den gegen die ästhetische Ideologie behauptet, indem sie
>>Verfall der Wirkung<< voraus, den >>der Verlauf der sich sperrt gegen die Auflösung des >>Widerstreits zwi-
Zeit an ihnen übte<<, in dem sich der als Werk gegebene sehen dem Unendlichen und dem Endlichen<<, die die
Zusammenhang von >>Sachgehalt<< und >>Wahrheitsge- darstellende Verkörperung deren Paradoxie verfehlend
halt<< zersetzt und >>die Kunstsphäre definitiv verlas- unternimmt ( 341). >>Nie verklären<< sich dem barocken
sen<< ist (I, 357f., 227; 1929/30 VI, 170; GoETHES Trauerspiel die Dinge >>von innen. Daher ihre Bestrah-
WAHLVERWANDTSCHAFTEN I, 125f., 179; analog DIE lung im Rampenlicht der Apotheose<< (356). >>Die Nei-
AuFGABE DES ÜBERSETZERS IV, 15). Kritik operiert als gung des Barock zur Apotheose<< als >>Widerspiel von
>>Mortifikation der Werke, nicht also - romantisch - der ihm eigenen Betrachtungsart der Dinge<< wird aus-
Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen, son- geprägt als bühnen-technischer Effekt, als Anordnung
dern Ansiedlung des Wissens in ihnen, den abgestor- theatraler wie piktoraler Bühnen: >>in den malerischen
benen<<, wie die Allegorie (I, 357; zur Romantik I, 218, Apotheosen [pflegte] der Vordergrund mit outrierter
DER BEGRIFF DER KuNSTKRITIK I, 111-15). Umge- Realistik[ ... ] behandelt zu werden, um desto verläßli-
kehrt sind die barocken Werke >>von Anbeginn auf jene cher die entfernten Visionsgegenstände erscheinen zu
kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit lassen. Der drastische Vordergrund sucht in sich alles
an ihnen übte<<, denn sie wollen >>nichts als dauern<<, Weltgeschehen zu sammeln, nicht nur um die Spann-
suchen >>irdisch, gegenwärtig ihren Platz zu füllen<< (I, weite von Immanenz und Transzendenz zu steigern,
356 f.), und das tun sie als >>Stückwerk<<. Insofern haben sondern auch um die größte Strenge, Ausschließlich-
die barocken Werke, fort-dauernd, >>ihren Lohn da- keit und Unerbittlichkeit für diese zu erwirken<<; dies
hin«, weil die Zersetzung, die das Fordeben der Werke ist der Sinn der Exaltationen des Diesseits (358f.,
an diesen verübt, ihnen von Beginn an eignet: Ihrem 246 f.). Für die Unerbittlichkeit der >>Spannweite<< und
>>Fortleben<< vorgreifend, stellen sie mit »solch deren Oberspannung nahm das Trauerspiel die >>Lei-
trümmerhafte[n] Formen<< >von Beginn an< die Ver- chen<< als >>Pfand<<- für das, was sie nicht darstellen:
fallenheit vor, die >>Grund der Neugeburt<< werde, in >>Beinahe undenkbar sind ohne sie [die Leichen] die
welcher >>alle ephemere Schönheit vollends dahinfällt<<, Apotheosen<< (392f.). Die >unregierte<, verschwen-
>>das Werk als Ruine sich behauptet<<,jenseits der Kunst dende Häufung, deren Inbegriff der Schauplatz star-
-in der Kritik (358). render Bruchstücke stellt, hat teil an der Ökonomie
der barocken Werke, die aufs >>Wunder<< angelegt sind
(354f., 408).
Überspannte Transzendenz In Termini von Theologie weist das Trauerspielbuch
zum einen die Allegorie als Rettung ins dinghafte
Die Heteronomie des Kunstwerks oder Distanz zum Nach-Leben, zum andern die Vergeblichkeit ihres Be-
eigenen Ursprung, die die Allegorie vorträgt und den deutens aus (404), wenn diese satanisch refiguriert
Anspruch der Ästhetik beschränkt, formuliert das wird als die Doppelbewegung von sich vertiefender
Trauerspielbuch als Verwiesenheit aufs nicht Einhol- Trauer, die an die Erdtiefe sich verliert, und dem >>höl-
bare, >>Theologische<< (I, 390). Die Bezogenheit auf lischen<< Hohn, mit dem die Materie der Versenkung
diesen sog. >>Bereich<< von >>Geschichtstheologie<< sei entgegnet: >>[I]m Teufel[ ... ] spottet [die Materie] ihrer
allerdings >>nicht statisch im Sinne der garantierten allegorischen Bedeutung und höhnt jedwedem, der da
Heilsökonomik<< anzulegen, sondern heißt »Auflö- glaubt, in ihren Tiefen ungestraft ihr nachgehen zu
sung<< und ist, wie das Trauerspielbuch auf seinen können<< (401, 404f.). Darin ist die Allegorie Schema
letzten Seiten entfaltet, ein diskontinuierlicher Vollzug, der umschlagenden Exzentrik von >>entseelte [r] Stoff-
der von der Allegorie, ihren Schaustellungen und der lichkeit<< und >>absolute[r] Geistigkeit<<, die die melan-
Theatralität nicht abgelöst werden kann. Wenn in ger- cholische Vertiefung bestimmt. Das melancholisch
manistischer Barockliteratur zu lesen ist, daß Benja- gesuchte Wissen verführte >>in den leeren Abgrund des
min >>- zufolge seiner jüdischen Herkunft - konstant Bösen hinab, um dort der Unendlichkeit sich zu ver-
die eschatologische und messianische Bindung der sichern<< (404). Wo dies als satanischer Fall modelliert
Geschichte in der Pictura leugnete<< (Penkert 1978, 20), wird, erfährt die Vertiefung im >>Abgrund des boden-
dann wird die >>Verzögernde Überspannung der Tran- losen Tiefsinns<< einen >letzten Umschwung<, in dem
szendenz<< (I, 246) verkannt, die Benjamin in den der bloße >>Schein<< ihrer »Unendlichkeit<< (d.i. des Bö-
Exaltationen der barocken Formgebung zu ermessen sen) sich >>enthüll[e]<<: >>Wie Stürzende im Fallen sich
226 Messianismus, Ästhetik, Politik

überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die (ebd.). Wenn >>Auferstehung<< nur als Allegorie zu ha-
allegorische Intention dem Schwindel ihrer grundlo- ben ist, geht die >>Allegorie der Auferstehung<< so >>leer<<
sen Tiefe anheim, müßte nicht gerade im äußersten aus, wie alle Allegorie (B. Menke 1991, 231 ff.; Weber
unter ihnen so sie umspringen, daßallihre Finsternis, 1991, 500; Nägele 1991, 201; Geulen 2001, 98). Die
Hoffart und Gottferne nichts als Selbsttäuschung melancholische Einsicht >erfüllt< sich nicht in >>Gegen-
scheint<< (405). Die Wendung der Bewegung in die ständen<<, die sie zu versichern scheinen (I, 406), und
scheinbare Unendlichkeit im Abgrund des Sturzes nicht in der >ernsthaften< Konfrontation ihrer haltlo-
>>von Sinnbild zu Sinnbild<< vollzieht sich, explizit ge- sen >Subjektivität< mit dem Himmel, sondern in der
nug, nach dem Schema der Allegorie: >>gerade in Visio- Einsicht, die ihre >Blindheit< bedeutet, die die allegori-
nen des Vernichtungsrausches, in welchen alles Irdi- sche Verfaßtheit ihrer Gegenstände ist. Allegorisch
sche zum Trümmerfeld zusammenstürzt, enthüllt sich verfaßt zu sein, spricht jeder Einsicht, und sei es die in
weniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn die >Subjektivität< der Gegebenheit ihrer Gegenstände,
ihre Grenze. Die trostlose Verworrenheit der Schädel- >nur von ihrer Blindheit<, denn das, worin sie sich ver-
stätte, wie sie als Schema allegorischer Figuren aus meintlich darstellt, hat sich je schon als ihr inkompa-
tausend Kupfern und Beschreibungen der Zeit heraus- tibles anderes behauptet. Derart suspendiert die Alle-
zulesen ist, ist nicht allein das Sinnbild von der Ode gorie noch die >negative Gewißheit<, worin das Diffe-
aller Menschenexistenz. Vergänglichkeit ist in ihr nicht rieren von sich selbst, dem die Trauer gilt, >>erfüllt<< und
sowohl bedeutet, allegorisch dargestellt, denn, selbst verstellt wäre (ebd.); sie ist je wieder ans Spiel des/im
bedeutend, dargeboten als Allegorie. Als die Allegorie aufgehaltenen Zwiespalt verwiesen, dasnicht auf seine
der Auferstehung<< (405 f.). Das spricht von der Will- Lesart als Mangel zu verpflichten ist; für die Dissozia-
kür, der Ungedecktheit allen (auch dieses) allegori- tion, die die Allegorie voraussetzt und vollzieht, und
schen Bedeutens. Es entspricht dem >>Wesen melan- statt ihrer Leere bleiben Über-Reste, >>was nach aller
cholischer Versenkung<<, daß ihr ihre >>letzten Gegen- Enttäuschung bleibt im Zeichen<<, daß es bleibt (Ha-
stände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich verkamp 1981, 382).
zu versichern glaubt, in Allegorien umschlagen<<; sie Das Ende des Trauerspielbuchs exploriert in seiner
bedeuten >>etwas anderes<<, und zwar >>genau das Nicht- Serie von Umschlägen ein Dreieck von Trauer- Spiel
sein<< dessen, was >>vor[ge]stellt<< wurde. >>Die absoluten - Ernst, in dem es sich auf keine der Seiten schlagen
Laster, wie Tyrannen und Intriganten sie vertreten, wird. Wenn (in einer Wiederholung) Subjektivität, die
sind Allegorien<<, d. h. >>nicht wirklich<<. So belegen sie nach dem typos des Lucifer >>in die Tiefe stürzt, [... ]
den >>subjektiven Blick der Melancholie; sind dieser von Allegorien eingeholt<<, >>am Himmel [... ] in Gott
Blick, den seine Ausgeburten vernichten, weil sie nur festgehalten << werde (I, 408), so ist der >Eingriff Gottes
seine Blindheit bedeuten. Sie weisen auf den schlecht- ins Werk< als >>Ponderacion misteriosa<<, als Effekt der
hin subjektiven Tiefsinn, als dem sie einzig ihr Beste- concettistischen Figur Teil jenes Spiels, das er ver-
hen verdanken. Durch seine allegorische Gestalt verrät meintlich von außen halte. Wenn Benjamin Calder6ns
das schlechthin Böse sich als subjektives Phänomen<< Schauspielen zutraute, daß >>in dem Bilde der Apo-
(406). theose ein von den Bildern des Verlaufes Artverschie-
Geht dem melancholischen Blick zuletzt alles ver- denes sich erhebt<< (408f.), so weil diese >>spielhaft<<
loren, so nicht nur die >>letzten Gegenstände<<, die die der Transzendenz sich >>Zu vergewissern<< suchen; sie
melancholische Betrachtungsart versicherten und lösen die >>Konflikte eines gnadenlosen Schöpfungs-
doch >>das Nichtsein dessen [bedeuten], was sie vor- standes<< in >spielerischer Verkleinerung<, schließen in
stellen<< (406), sondern auch die Treue zum Dingsein, der Reflexion des Spiels Unendlichkeit in den endlich
wodurch >>Errettung<<, >>Umschwung<< doch >>nicht un- beschränkten Raum des Schauspiels ein (I, 260 ff., 408;
denkbar<< schien (400 f.). >>Leer aus geht die Allegorie<< Il, 260-70; zu Schein und dessen Potenzierung Alewyn
(406)- heißt es. Dies aber tut sie genau nach jenem 1952, 29-36). Demgegenüber bestimmt das deutsche
Schema, als das sie ausgewiesen ist: >>Was immer sie Trauerspiel sein Ungenügen im Spiel, und dieses wäre
ergreift, verwandelt ihre Midashand in ein Bedeuten- der andere >>Einsatz und Ausgang zugleich<<, den Cal-
des<<; ihr Geschäft ist >>Verwandlung aller Art<< (403). der6ns Dramen der Trauerweisen (I, 409; Weber 1991,
Für die allegorische >>Verwandlung aller Art<<, die jede 449). Dies >>Ungenügen<< ließ es >>besinnungslos<< der
Erscheinung dementiert, gibt es keine Stoppregel und >>unbegnadete[n] Natur<< verfallen mit der >>Aufdring-
keine letzte Einsicht. Die >>Grenze<< allegorischer Be- lichkeit seiner allegorischen Prachtentfaltung<< >im
trachtung (405) wäre Setzung. Auch die verneintlieh Ernst<, der unversehens >der tödliche< ist. Gerade des
>>letzte<< Allegorie gehört als Allegorie noch jenem >>Ab- deutschen Trauerspiels Beschränktheit gegenüber der
grund<< an, der der Fall >>von Sinnbild zu Sinnbild<< sei spanischen >Vollendung< aber, die >>Beklemmung<<, >in
>>Ursprung des deutschen Trauerspiels<< 227

der es erwuchs<, >Verschrobenheit< wie >Intensität< der Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen,
2. Auf!., München/Paderborn, 249-262.
barocken Formen sollte auch des deutschen Trauer-
Bolz, Norbert (1989): Auszug aus der entzauberten Welt. Phi-
spiels >>moralischen« Vorrang ausmachen (263, 257- losophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen,
260, 368). Und sie ist Bedingung seiner >Erkennbar- München.
keil<. Brodersen, Momme (1986): >»Ein Idealist mit Einschrän-
Denn, wenn der »gewaltige Entwurf dieser Form kung<. Ein Seminar zu Walter Benjamins Ursprung des
deutschen Trauerspiels<<, in: die tageszeitung 4.3.1986,
[des Trauerspiels] [... ]zu Ende zu denken<<, >>von der 12-13.
Idee des deutschen Trauerspiels [... ] einzig unter dieser Campe, Rüdiger (1995): »Der Befehl und die Rolle des Sou-
Bedingung<< zu handeln sei (409), so kann es damit veräns im Schauspiel des 17. Jahrhunderts<<, in: Armin
nur auf Nicht-Vollendung hinaus; zuletzt sind vom Adam/Martin Stingelin (Hg.): Übertragung und Gesetz.
Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstech-
Trauerspiel allegorische >>Bruchstücke« geblieben.
niken der Institutionen, Berlin, 55-71.
In ihrem >Versagen< waren die Trauerspiele >>als Campe, Rüdiger (2000): »Theater der Institution. Gryphius'
Trümmer, als Bruchstück konzipiert von Anfang an<<, Trauerspiele Leo Arminius, Catharina von Georgien, Ca-
und als solche auf ihre kritische Lektüre angelegt. Ent- rolus Stuardus und Papinianus<<, in: Roland Galle/Rudolf
fiel jener Schluß, den Benjamin der Kritik hatte wid- Behrens (Hg.): Konfigurationen der Macht in der Frühen
Neuzeit, Heidelberg, 257-287.
men wollen, weil >>[d]ie Steigerung, die ich im Ab- Derrida, Jacques ( 1991 ): Gesetzeskraft: Der »mystische Grund
schluß des Hauptteils erreiche [mit Calder6n und dem der Autorität<<, Frankfurt a. M.
Abfall ihm gegenüber], [... ] nicht zu überholen<< ge- Fenves, Peter ( 1997): »Marx, Mourning, Messianity<<, in: Hent
wesen wäre (884), so gibt doch das Ende mit des deut- de Vries/Samuel Weber (Hg.): Violence, Identity and Self-
Determination, Stanford, 253-270.
schen Trauerspiels >>Trümmern<< das (ab), was der Fenves, Peter (2001): »Tragedy and Prophecy in Benjamin's
Kritik ist und deren Vorlage abgibt: Die >>Statur des >Ürigin oftheGerman Mourning Play<<<, in: Arresting Lan-
Barockdramas<< oder die >>Idee des deutschen Trauer- guage. From Leibniz to Benjamin, Stanford, 227-248.
spiels« werde >>in mancher Hinsicht<< klarer >>aus den Foucault, Michel (1974): Ordnung der Dinge, Frankfurt
a.M.
Trümmern großer Bauten<< absehbar (263, 409; 227,
Freud, Sigmund (1970): »Trauer und Melancholie<< [1917],
230). Wenn in Trümmern sich jenes >>Bild des Schönen in: ders.: Studienausgabe, Frankfurt a.M., Bd.3. 193-212.
an dem letzten<< >>Tag[e]<< (409) abzeichne, so fällt dies Garber, Klaus (1987): Rezeption und Rettung, Tübingen.
nicht mehr in den Bereich der Kunst, denn es handelt Garber, Klaus (Hg.) (1991): Europäische Barock-Rezeption,
sich um der Kunstwerke Nachleben in Darstellung Wiesbaden.
Garber, Klaus ( 1992): Zum Bilde Walter Benjamins: Studien,
oder Kritik. Porträts, Kritiken, München.
Geulen, Eva (2001): Das Ende der Kunst. Lesarten eines Ge-
Werk rüchts nach Hege!, Frankfurt a. M.
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-430) Giehlow, Kar! (1903/4): »Dürers Stich >Melencolia I< und der
DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE IN TRAUERSPIEL UND TRAGÖ- maximilianische Humanistenkreis<<, in: Mitteilungen der
DIE (Il, 137-140) Gesellschaft fürvervielfältigende Kunst, Wien: 1903, 29-41;
»EL MAYOR MONSTRUO, LOS CELOS« VON CALDERON UND 1904,6-18,57-79.
>>HERODES UND MARIAMNE<< VON HEB BEL. BEMERKUNGEN Giehlow, Kar! ( 1915): Die Hieroglyphenkunde des Humanis-
ZUM PROBLEM DES HISTORISCHEN DRAMAS (II, 246-276) mus in der Allegorie der Renaissance, besonders der Eh-
SCHICKSAL UND CHARAKTER (II, 171-179) renpforte Kaisers Maximilian I. Ein Versuch. Wien/Leipzig,
TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE (II, 133-137) 1-253.
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Deutschen Literaturgeschichte, Berlin/New York, Bd. 4,
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Kurios erscheint der Anstoß, dem sie entsprang: ein
vormittägliches Gespräch in der Bar mit Karl Stein-
schneider, über das nichts weiter bekannt ist (5, 185).
In einem Brief an Horkheimer bietet Benjamin seine
neue Arbeit zur Publikation in der Zeitschrift für Sozi-
alforschung an und charakterisiert sie u. a. mit folgen-
den Worten: >>Uns [... ] hat die Schicksalsstunde der
Kunst geschlagen, und deren Signatur habe ich in einer
Reihe vorläufiger überlegungen festgehalten, die den
Titel tragen >Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech-
nischen Reproduzierbarkeit<. [... ] Diesmal handelt es
sich darum den genauen Ort in der Gegenwart anzu-
geben, auf den sich meine historische Konstruktion
[d. h. die Passagenarbeit, d. Verf.] als auf ihren Flucht-
punkt bezieht<< (5, 179).
Diese Briefstelle steht für eine ganze Reihe ähnlicher
Briefe, in denen Benjamin mit großem Stolz über die
Abfassung des Kunstwerkaufsatzes berichtet. Er habe,
heißt es brieflich an Werner Kraft, sich sein »Teleskop<<
selber bauen müssen, um es »durch den Blutnebel
hindurch auf eine Luftspiegelung des neunzehnten
Jahrhunderts zu richten<< (5, 193), also auf die aus die-
sem überkommene Gestalt der Kunst.
In einem anderen Briefheißt es, er sei »Zu außeror-
dentlichen und von gänzlich neuen Einsichten und
Begriffen ausgehenden Formulierungen gekommen.
Und ich kann jetzt behaupten, daß es die materialisti-
sche Theorie der Kunst, von der man viel hat reden
hören, die aber doch niemand mit eignen Augen ge-
sehen hatte, nun gibt<< (5, 199). Die ironische Distanz
zu den KP-Debatten ist unüberhörbar.
230 Messianismus, Ästhetik, Politik

Textgeschichte - Aufgaben einer neuen Typoskript der zweiten Fassung und meldet in einem
Lektüre umfangreichen Brief große Bedenken an (s. u., Ab-
schnitt Adorno ).
Zu den großen Überraschungen, die der Band VII Bei dieser 1936 in Heft 5 der Zeitschrift für Sozial-
>>Nachträge<< der Gesammelten Schriften (1989) bot, forschung erschienenen Publikation (Französische Fas-
gehörte der Abdruck eines bis dahin unpublizierten sung I, 709-739) wurden auf Horkheimers Veranlas-
Typoskripts von DAs KuNSTWERK IM ZEITALTER SEI- sung wichtige politisch-terminologische Veränderun-
NER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKElT, das im Max gen (>totalitär< statt >faschistisch< usw.) und
Horkheimer-Archiv in Frankfurt a.M. aufgefunden Streichungen (z. B. die Einleitung) vorgenommen. Die
wurde und bislang unbekannte Text-Teile enthielt. In komplizierte Geschichte dieser Streichungen wird do-
Band I (1974) wurde es noch als verschollen angenom- kumentiert in I, 987-1020. Horkheimer war ängstlich
men. darauf bedacht, daß die Zeitschrift nicht in parteipo-
Bei diesem nunmehr als >>Zweite Fassung<< benann- litische Diskussionen gezogen wurde, und verlangte
ten Typoskript handelte es sich, genauer gesagt, um bei grundsätzlichen theoretischen Fragen Konkordanz
ein aus zwei verschiedenen Maschinenabschriften zu- mit den Positionen der Kritischen Theorie. Er sah in
sammengefügtes Konvolut mit handschriftlichen Kor- der zensurierenden Redaktion offenbar keinen Gegen-
rekturen und zusätzlichen Blättern. Hieraus wurde satz zur Hochschätzung des Benjaminsehen Aufsatzes,
editorisch der >>Urtext<< der zweiten Fassung minutiös von dem er ungewöhnlicherweise 200 Sonderdrucke
erschlossen, wie er Horkheimer zuerst vorgelegen hat herstellen ließ (I, 1017).
(vgl. dazu VII, 662 u. 683 f.). Daß dieser rekonstruierte Nur die Typoskripte der dritten Fassung, deren Sta-
>Urtext< und nicht das >Mischtyposkript< der Edition tus editionsphilologisch nach dem Auffinden der zwei-
zugrundegelegt wurde, wird vom Herausgeber damit ten Fassung um so schwieriger einzuschätzen ist, lagen
begründet, er stelle die Fassung dar, in der Benjamin der Publikation des Kunstwerkaufsatzes in der zwei-
den Kunstwerkaufsatz >>zuerst veröffentlicht sehen bändigen Ausgabe der Schriften zugrunde. Dieser Text,
wollte<< (VII, 661). von dem die enorme Wirkungsgeschichte seit den 60er
Der Kunstwerkaufsatz liegt damit also in drei deut- Jahren ausging, kann heute einer kritischen Auseinan-
schen Druckfassungen vor: als Abdruck des Rein- dersetzung nicht mehr genügen. Zweifellos kommt
schrift-Manuskripts, das anders als die weiteren Fas- also der zweiten Fassung ein besonderer Wert zu, weil
sungen noch keine Aufteilung zwischen Text und sie in den umfangreichen Fußnoten Überlegungen
Fußnoten kennt (Erste Fassung I, 431-469), als die sehr enthält, die sich in der ersten Fassung noch nicht fin-
viel später aufgefundene Zweite Fassung (VII, 350-384) den, und nur partiell in die dritte Fassung und in die
und als Dritte Fassung (1, 471-508; hier noch als >zweite französische Übersetzung eingingen. Andererseits ver-
Fassung< bezeichnet), die als Einzelpublikation in der hält es sich auch nicht so, daß die zweite Fassung nun
edition suhrkamp ( 1963) bis heute die gewissermaßen die vollständigste Version darstellte; denn auch die
kanonische Version des Kunstwerkaufsatzes darstellt. anderen Fassungen enthalten Passagen, die in der zwei-
Von diesem späten Fund läßt sich die Textgeschichte ten Fassung nicht vorliegen. Es gibt angesichts der
nun kurz skizzieren. Benjamin verfaßte zunächst das komplizierten Überlieferungslage keine Möglichkeit,
handschriftliche Manuskript des Kunstwerkaufsatzes. aber auch keine Notwendigkeit, eine letztlich definitive
Danach ließ er in Paris zwischen Ende 1935/Ende Ja- Fassung zu bestimmen. Und es gibt auch keinen
nuar 1936 ein wesentlich erweitertes Schreibmaschi- Grund, verschiedene Fassungen gegeneinander auszu-
nen-Typoskript (mit mehreren Durchschlägen und spielen. Alle Versionen weisen die gleiche kompositio-
handschriftlichen Korrekturen) herstellen. Ein Typo- nelle Anordnung auf. Das zuerst gefundene Argumen-
skript wurde Horkheimer übergeben und mit ihm bei tationsgerüst, das das Inhaltsverzeichnis der Hand-
einem Aufenthalt in Paris diskutiert, woraus sich ein schrift (I, 433) präzise dokumentiert, bleibt in allen
weiteres Typoskript ergab. Fassungen bestehen.
Auf dieser Grundlage erarbeitete Benjamin zusam- Heute stellt sich um so mehr die Aufgabe, den ge-
men mit Pierre Klossowski die französische Überset- samten Komplex des Kunstwerkaufsatzes zu berück-
zung für die Zeitschrift für Sozialforschung. (Die Zeit- sichtigen und ihn in einer integralen Lektüre zu analy-
schrift für Sozialforschung erschien zu diesem Zeitpunkt sieren. Das ist kein einfaches Unterfangen. Denn zu
noch in Paris.) An der Absprache mit Horkheimer ist den vier rekonstruierten Fassungen und dem zugehö-
Adorno, damals in England, ebensowenig beteiligt wie rigen editorischen Apparat bieten die Gesammelten
an dem für Benjamin leidvollen Vorgang der franzö- Schriften zusätzlich, und hier wiederum insbesondere
sischen Erstpublikation. Er erhält erst etwas später ein der Apparat von Band I (1036-1051) und Band VII
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 231

(665-680 sowie 687-689) in größerem Umfang (aber Es soll darum gehen den Begriff Kunstwerk im Titel
immer noch nicht vollständig) wichtiges Nachlaßma- ganz ernst zu nehmen und die Abhandlung als kriti-
terial, das unbedingt mit heranzuziehen ist. Hier ergibt sche Revision der philosophischen Ästhetik zu lesen.
sich freilich die besondere Schwierigkeit, daß diese Dies verlangt einen konstruktiven Zugriff, der darauf
Manuskripte nicht den verschiedenen Fassungen zu- verzichtet, der Abfolge der Abschnitte nacherzählend
zuordnen bzw. die Zuordnungen des Herausgebers zu folgen.
nicht leicht nachzuvollziehen sind. (Einzelne Konvo-
lute sind, wie mitgeteilt wird, übersät von Farbsignets
(I, 1037), deren Kenntnis vielleicht weiterhelfen Politischer Kontext
könnte.)
Zudem müßte eine integrale Lektüre noch andere Benjamins große Hoffnungen auf eine intensive De-
Bezüge aufgreifen. Sie hätte die nicht zahlreichen, aber batte seiner Thesen erfüllten sich zu Lebzeiten nicht.
doch gewichtigen anderen Arbeiten Benjamins zum Die französische Erstpublikation blieb ohne größeres
Film zu berücksichtigen, die in den Gesammelten Echo. Weitere Publikationsversuche in der Moskauer
Schriften nur verstreut zu finden sind; des weiteren die deutschsprachigen Exilzeitschrift Das Wort, als über-
KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE und die Re- setzung in Großbritannien oder über Shapiro in den
zensionen zur Photographie, aber auch die im Nach- USA kamen nicht zustande (vgl. I, 1024-1030).
laßmaterial zum Kafka-, zum Proust- und zum Kraus- Ob die Entstellungen der französischen Überset-
Essay enthaltenen Notizen zum Stummfilm sowie die zung zum mangelnden Echo beitrugen, wird sich nicht
Notatein den Konvoluten der Passagenarbeit zu Pho- mehr ausmachen lassen. Aber Benjamins vergeblicher
tographie und Film. Protest- »Die vollständige Streichung des ersten Ka-
Auch enthält das Nachlaßmaterial zum Kunstwerk- pitels hat die gesamte Arbeit um ihre Ausrichtung
aufsatz in erstaunlichem Umfang Literaturangaben gebracht<< (5, 260) -war völlig berechtigt. Das Vorwort
und annotierte Exzerpte zur filmtheoretischen Dis- stellt bereits im ersten Satz einen Bezug zur Marxens
kussion- u.a. Arnheim, Balasz, Kracauer, Pudowkins Kritik der politischen Ökonomie her und macht den
Regiebuch, Soupaults Chaplinbuch, Duhamel, Huxley politischen >>KampfWert der Thesen<< geltend. Dieser
und weitere weniger bekannte Literatur wie die Zeit- bestehe in den >>neu in die Kunsttheorie eingeführten
schriftenhände der L'Art cint!matographique -,die ent- Begriffen<<, die für die Zwecke des Faschismus un-
gegen dem verbreiteten Vorurteil deutlich machen, wie brauchbar, für die einer revolutionären Kunstpolitik
intensiv sich Benjamin eingearbeitet hat. Hier wäre hingegen brauchbar seien (I, 435). überkommene
vieles noch genauer zu rekonstruieren. Leitbcgriffe des Kunstdiskurses- Schöpfertum, Genia-
Andererseits wird man nicht erwarten können, daß lität, Ewigkeitswert und Geheimnis- werden suspen-
allein durch die Erweiterung des Materials die Inter- diert, weil sie >>Zur Verarbeitung des Tatsachenmateri-
pretationsprobleme, die der Kunstwerkaufsatz jedem als in faschistischem Sinne<< führten (I, 435). So war
Leser bietet, sich auflösen ließen. Der Text ist unge- Benjamin schon einmal vorgegangen, als er 1931 in
mein dicht geschrieben; er sperrt sich gegen paraphra- der Rezension LITERATURGESCHICHTE UND LITERA-
sierende Inhaltszusammenfassungen. Die Prägnanz TURWISSENSCHAFT die >>Hydra der Schulästhetik mit
der Darstellung beruht auf der Einteilung in 19 in sich ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeit-
geschlossene Einzelabschnitte. Benjamin hat nie erwo- entbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion
gen, diese Struktur zu verändern und aus dem Kunst- und Kunstgenuß<< brandmarkte (III, 286), um sie für
werkaufsatz ein Buch zu machen. die ideologische Schützenhilfe im kommenden Krieg
Der Neuansatz einer Lektüre, der hier vorgelegt unbrauchbar zu machen.
wird, verfolgt folgendes Ziel: Im Gegensatz zu bishe- Streicht man den ersten Abschnitt, so bekommt der
rigen Interpretationen, die sich weitgehend an die Kunstwerkaufsatz nicht nur einen seltsam biederen
dritte Fassung hielten, soll eine synoptische Lektüre Anfang, es hängt auch die Schlußperspektive in der
aller Fassungen und der zugehörigen Nachlaßtexte Luft, die sich gegen den kommenden Krieg Hitlers
zugrundegelegt werden. (Bei wichtigen Zitaten gibt richtet, den die faschistische Ästhetisierung der Politik
das Kürzel >>a.F.<< an, daß die Formulierung sich in vorbereitet. Benjamin hat den politischen Anspruch
allen vier Fassungen findet.) Vor allem aber soll eine noch einmal ausdrücklich bekräftigt, indem er eine
Perspektive verfolgt werden, die in der bisherigen Re- entsprechende Passage in seine Einleitung zu Joch-
zeption, die sich im Zeichen neomarxistischer, film- manns >>Rückschritten der Poesie<< aufnahm, die 1940
wissenschaftlicher und medientheoretischer Aktuali- in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien (II,
sierung vollzog, insgesamt unterbelichtet geblieben ist. 582f.).
232 Messianismus, Ästhetik, Politik

Von einer Rezeption des Kunstwerkaufsatzes kann wegsnur auf den Faschismus bezogen. Auch die >>Krise
man erst eigentlich sprechen, als 1963 die Einzelaus- der Demokratien<< gehorcht dieser Tendenz (vgl. I, 454;
gabe der dritten Fassung (zusammen mit dem Photo- I, 491; VII, 396).
graphie- und dem Fuchsaufsatz) als Taschenbuch in Zweifellos gibt es im Kunstwerkaufsatz politische
der edition suhrkamp erschien. Diese Publikation Erwartungen, die dem historischen Kontext, dem sie
wurde im intellektuellen Klima von 1968 wie eine end- entsprangen, zugehören und heute kein Interesse mehr
lich eingetroffene Botschaft der Politisierung der finden können. Ließe sich Benjamins Kritik des Star-
Kunst, sozusagen als kulturrevolutionäre Bombe im systems unverändert unterschreiben, so klingt seine
Überbau, gefeiert (oder befehdet). Ungewöhnlich und politische Forderung nach der >>Enteignung des Film-
unorthodox war der Marxismus, gänzlich unerwartet kapitals<< (1, 456/372) inzwischen nur noch wie ein
die Thematik von Aura und Reproduzierbarkeit; ge- historisches Zitat. Ebenso sind einzelne hoffnungsvolle
radezu unwiderlegbar der suggestive Chiasmus des Passagen, die sich auf eine befreiende Kollektivität be-
Schlußsatzes: >>So steht es mit der Asthetisierung der ziehen, schon in der damaligen exilpolitischen Situa-
Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommu- tion problematisch gewesen.
nismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst<< Nur: diese >prosowjetischen< Passagen finden sich
(1, 469 a.F. u. VII, 669). gerade in der mit Horkheimer diskutierten zweiten
In vieler Hinsicht hat diese Rezeption nur noch hi- Fassung und nicht in der dritten. Dies hätte Rolf Tie-
storische Bedeutung. Die Heftigkeit des Streits mit demann veranlassen müssen, bei dieser Gelegenheit
>den Frankfurter Gralshütern< hatte auch ihren Grund seine Adorno verpflichtete Behauptung zurückzuneh-
darin, daß der Verdacht, Benjamins Marxismus sollte men, die spätere dritte Fassung sei >>mit ihren gegen-
nachträglich auf Adorno-Linie gebracht werden, nicht über der ersten wie der französischen ins Auge sprin-
völlig aus der Luft gegriffen war. Aber gerade weil die genden Varianten, Ergänzungen und Modifikationen
revolutionär-marxistische Ausrichtung des Kunstwerk- im Blick auf ihre eigentliche Zuständigkeit in Rußland,
aufsatzes in der heutigen Rezeption als der überhol- wenn nicht vollends in dem auf Brecht selber herge-
teste Teil des Kunstwerkaufsatzes gilt und auch in stellt worden<< (I, 1032). Der ganze Hokuspokus um
politischer Hinsicht andere Aspekte wichtiger gewor- eine Moskauer Fassung, der auch im damaligen Streit
den sind, muß hierzu etwas gesagt werden. Benjamins zwischen Adorno und der alternative eine Rolle spielte,
marxistische und antifaschistische Positionierung erscheint im nachhinein um so fragwürdiger, als ja
hatte durchaus ein eigenes Profil (Hillach 1978). An- Adornos Antwortbrief sich auf die ihm damals vorlie-
ders als die damaligen Friedenspolitiker, die auf einen gende zweite Fassung bezog, und es Gretel Adorno war,
Ausgleich mit Hitler setzten, geht Benjamin von der der Benjamin im April 1939 eine weitere Version zur
Unvermeidlichkeit des imperialistischen Kriegs der Maschinenabschrift zuschickte (6, 246 ff.), andererseits
Nazis aus. Das unterscheidet ihn auch von Adorno, der die jeweils an Brecht, an Bernhard Reich und an Willi
noch 1938 brieflich bemerkt, >>daß es nach unserer Bredel geschickten Typoskripte sich gar nicht erhalten
Theorie keinen Krieg geben wird[ ... ]<< (Adorno 1994, haben.
328). Vor seinen Augen steht das Szenario einer Ver- Benjamins Hoffnung auf das planetarisch-polytech-
nichtung, die als politisches Gesamtkunstwerk insze- nische Experiment der Sowjetunion (am deutlichsten
niert wird. in VII, 666; vgl. auch VII, 359) operiert mit der unbe-
Auch wird man nicht behaupten können, daß sich gründeten Unterscheidung zwischen einer friedlich-
Benjamins Kommunismus- anders als der von Bloch kommunistischen Technik und einer kriegerisch-fa-
oder von Lukacs zu dieser Zeit - als stalinistisch miß- schistischen. Inzwischen haben sich solche Vorstellun-
verstehen ließe. Schon die Einleitung hebt hervor, daß gen vom Primat der staatlichen Planung gegenüber
nicht über die >>Kunst des Proletariats nach der Macht- der Technik (vgl. auch den Eintrag zu Carl Schmitt VII,
ergreifung, geschweige die der klassenlosen Gesell- 673) als völlig trügerisch herausgestellt. Umso wichti-
schaft<< gesprochen wird, sondern von >>Entwicklungs- ger ist es, darauf zu verweisen, daß im Fluchtpunkt
tendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produk- dieser Überlegungen der dialektische Gedanke steht,
tionsbedingungen<<, also den kapitalistisch bestimmten daß erst im Durchgang durch die Technisierung er-
(1, 435). Und die Aufforderung zu einer >>Politisierung fahrbar wird, daß »dem leiblichen Organismus des
der Kunst<< besagt erst einmal, daß ihr - marxistisch Einzelmenschen [... ] noch längst nicht das Ihre [sie!,
- bislang überhaupt noch nicht genüge getan wurde, d. Verf.] geworden<< ist (VII, 666) und die >>verschüt-
weil die >reproduktionstheoretische< >>Fundierung auf teten Lebensfragen des Individuums- Liebe und Tod
Politik<< (I, 442 a.F.) bislang ausgeblieben war. Die For- -von neuem nach Lösung drängen<< (VII, 360; vgl. VII,
mel von der >>Ästhetisierung der Politik<< wird keines- 371). Die Annahme Adornos, Benjamin habe hasardiös
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit<< 233

das Heil in einer intellektuellen Unterwerfung unters ten, das konnte immer von Menschen nachgemacht
Kollektiv gesucht, ist mittlerweile ebenso gegenstands- werden<< (I, 436 a.F.). Gegenüber den Möglichkeiten
los geworden, wie die Kontroversen, die einen guten der Nachahmung stellt die technische Reproduzier-
marxistischen Benjamin von einem theologisch-me- barkeit einen Einschnitt dar. Um diesen Einschnitt
taphysisch befangenen zu separieren suchten. herauszuarbeiten, skizziert Benjamin in einem Schnell-
Im übrigen muß, im Blick auf den marxistischen durchlauf das schubweise (>>intermittierende<<) Vor-
Kontext, besonders hervorgehoben werden, daß DAs dringen der Reproduktionstechniken seit der Antike,
KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE- was ihm auch erlaubte den Buchdruck, >>die technische
PRODUZIERBARKEIT anders als Adorno in der Kultur- Reproduzierbarkeit der Schrift<< (I, 436 a.F.), elegant
industrie-Theorie, aber auch anders als Brecht im zu über hüpfen, um mit der Photographie zum ersten
Dreigroschenprozeß (Lindner 2003) nicht vom fortge- Mal innezuhalten. Von ihr spricht er als dem >>ersten
schrittenen Warencharakter des Kunstwerks ausgeht. wirklich revolutionären Reproduktionsmittel<< (I, 441
Benjamin weist in einer Fußnote der dritten Fassung a.F.).
auf den Unterschied seiner Analyse der technischen Die Photographie stellt selbst einen Einschnitt in
Reproduzierbarkeit und des Films gegenüber der Ap- der Geschichte der reproduktionstechnischen Ein-
parate- und Waren-Theorie Brechts ausdrücklich hin schnitte dar. Dieser besteht in der apparativen Ablö-
(I, 484). sung des Auges von der zeichnenden Hand, wodurch
Die seit den 60er Jahren einsetzende, mittlerweile der Vorgang der bildliehen Reproduktion sich derart
über vierzigjährige, ebenso kontroverse wie thematisch beschleunigte, daß er >>mit dem Sprechen Schritt halten
äußerst verzweigte Rezeptions- und Interpretations- konnte<< (I, 436 a.F.).
geschichte des Kunstwerkaufsatzes kann hier nicht Mit dem optochemischen Verfahren der Lichtauf-
nachgezeichnet werden. Auf einzelne Arbeiten wird an zeichnung ist das Prinzip einer der sinnlichen Wahr-
entsprechenden Stellen und im Literaturverzeichnis nehmung direkt entsprechenden technischen Auf-
verwiesen. zeichnungsweise zum ersten Mal realisiert; solche
Aufzeichnungsweisen werden bald für den akustischen
Bereich entwickelt. Insofern läßt sich konstatieren, in
Der litel. - Der Begriff: der Photographie sei der Tonfilm bereits virtuell ver-
technische Reproduzierbarkeit borgen (I, 436 a.F.).
Benjamin setzt völlig zu Recht einen historischen
Der Titel der Abhandlung hat von Anfang an festge- Einschnitt bei der Erfindung der Photographie an. Aus
standen. Er ist sehr präzise gewählt. >>Das Kunstwerk<<, dem Argumentationszusammenhang seines Aufsatzes
nicht die Vielfalt der Künste oder eine bestimmte lassen sich dafür drei Gründe herausarbeiten.
Kunst, bildet den Hauptgegenstand der Abhandlung. Zum einen belehrt die frühe Rezeption der Photo-
Das Kunstwerk, obschon eine historisch übergreifende graphie, die der Aufsatz KLEINE GESCHICHTE DER
Kategorie, hat Geschichte. Diese ist ihm nicht äußer- PHOTOGRAPHIE (Il, 368-385) ausführlicher behandelt,
lich; vielmehr konstituiert die Geschichtlichkeit des über die Schwierigkeiten einer adäquaten Einschät-
Kunstwerks (mindestens zwei) >>Zeitalter<<. Der Zusatz zung des Neuen. Man fragte, ob die Photographie eine
>>seiner<< zu Kunstwerk darf nicht überlesen werden, Kunst sei, statt sich die >>Vorfrage, ob durch die Erfin-
weil mit ihm aufgezeigt wird, daß es nicht um das Zeit- dung der Photographie die Kunst selber sich verändert
alter allgemeiner technischer Reproduzierbarkeit ge- habe<< (I, 447 a.F.), zu stellen. Mit aller polemischer
hen soll, das irgendwie auch das Kunstwerk betrifft, Schärfe wendet sich deshalb Benjamin nun gegen die
sondern um das durch >>seine<< technische Reprodu- vorherrschenden Bestrebungen, den Film mit Mitteln
zierbarkeit bestimmte Zeitalter. Von grundsätzlicher einer >>überkommenen Ästhetik<< (ebd.) zu nobilitie-
Bedeutung ist ferner, daß Benjamin nicht von Repro- ren. Der Kunstwerkaufsatz nimmt den Film zum An-
duktion, sondern von Reproduzierbarkeif spricht: es laß, um eine Transformation des Ästhetischen zu kon-
geht um die Bedingungen der Möglichkeit von Repro- zipieren.
duktion. Mit dem Zusatz >>technisch<< wird schließlich Zum zweiten verfügen die neuen Techniken der Re-
aufgezeigt, daß es um eine von anderen Weisen der produzierbarkeit, die im Tonfilm konvergieren, über
Reproduzierbarkeit zu unterscheidende Reproduzier- eine unvergleichlich größere Reichweite als frühere
barkeit geht. Reproduktionsverfahren. Mit Photographie und
Der erste Satz des ersten Abschnitts nimmt das auch Grammophon, und mit dem Film in noch weiterge-
sogleich auf: >>Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer hender Weise, wird es möglich, den Bereich der bishe-
reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hat- rigen Kunstwerke- Benjamin sagt sogar: >>die Gesamt-
234 Messianismus, Ästhetik, Politik

heit der überkommenen Kunstwerke<< (I, 437 a.F.) - Das Zitat »Sinn für das Gleichartige in der Welt<<
zum >>Objekt<< der Reproduzierbarkeit zu machen. verlangt zunächst eine Kommentierung. Es paßt zu
Darüber hinaus verlangen die Reproduktionstechni- Benjamins Darstellungskunst, daß er seinen zentralen
ken die Ausbildung neuer »künstlerischer Verfah- Gedanken mit einem entwendeten Zitat belegt. Nur
rungsweisen<<, die der massenhaften Verbreitung Rech- die erste (handschriftliche) Fassung gibt einen Hinweis
nung tragen. Der Film ist ein auf Reproduzierbarkeit auf das eingefügte Zitat: »Joh V Jensen<< (I, 440). Die
angelegtes Kunstwerk. Die neuen Techniken der Re- Quelle läßt sich weiter zurückverfolgen. In einer Tage-
produzierbarkeit setzen einen neuen »Standard<< (I, buchnotizvom 19.9.1928 heißt es: »Ich ging früh
437 a.F.) der Kunstproduktion. schlafen und nahm mir die >Exotischen Novellen< von
Schließlich verändert sich auch, was Benjamin mit Jensen ins Bett [... ]<< (VI, 415). Eine dieser Novellen
dem Begriff Reproduzierbarkeif anzeigt, gegenüber heißt Arabella, über die Benjamin sagt, es sei eine »Ge-
früheren Verfahren technischer Reproduktion das schichte voller Falltüren<< und weiter, daß er sich dar-
>dingliche Substrat< der Reproduktion. Die spezifische aus als Fragment notiert habe: »Richard war ein junger
Leistung des photographischen (und phonographi- Mann, der Sinn für alles Gleichartige in der Welt
schen und photokinetischen) Reproduktionsmediums hatte ... << (VI, 416). Wer sich die Mühe macht, das Zitat
besteht gerade darin, daß es die Vorgegebenheit eines in seinem Kontext aufzusuchen, wird sich allerdings
reproduzierbaren Referenten voraussetzt, den es aller- verwundern. Diese Novelle hat überhaupt nichts mit
erst hervorbringt. Erst mit der Photographie tritt das Reproduzierbarkeit, mit Film oder mit technischen
Photographierbare hervor. Medien zu tun, sondern handelt vom abenteuerlichen
In dieser knappen Zusammenfassung bleibt noch Identitätsverlust eines Seemanns, dem die Hafenstädte
unbestimmt, welcher Status dem Kunstwerk - dem eigentlich bloß auswechselbar vorkommen. Und doch
eigentlichen Gegenstand der Abhandlung- zugespro- ist es dieser eine Satz, der Benjamin sozusagen ange-
chen wird. Dies genau zu bestimmen, ist von grund- sprungen hat. Die Formulierung vom »Sinn für alles
sätzlicher Bedeutung. Verlangt ist damit, das Verhältnis Gleichartige<< wandert unausgewiesen in den Phota-
von kunstkritischer Diagnose und von wahrneh- graphieaufsatz ein (II, 379) und von hier aus weiter in
mungstheoretischer Argumentation genauer zu be- den Kunstwerkaufsatz.
stimmen. Letztere wird mit der Prämisse angekündigt: In diesem neuen Kontext bekommt der »Sinn für
»Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verän- das Gleichartige<< eine wahrnehmungs- und medien-
dern sich mit der gesamten Daseinsweise der mensch- technische Perspektive. Ohne Zweifel war das 20. Jh.
lichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Wahr- das erste, das in einer früheren Jahrhunderten völlig
nehmung<< (I, 354 a.F.). Mit dem wahrnehmungstheo- unbekannten Weise den Gesamtbereich des Audiovi-
retischen Ansatz wird ein kritischer Bezug auf Marx suellen reproduzierbar, speicherbar und kammuni-
hergestellt. Die Kritik der politischen Ökonomie fasse zierbar gemacht hat. Der Bildhunger, der Hunger nach
die Umwälzungen des kulturellen Überbaus im Zuge dem authentisch und life Gesehenen, hat die Illu-
des Kapitalismus nicht ins Auge. Das Kapital kennt, strierte und das Fernsehen hervorgebracht und wird
außer als ideologische Verhexung, nicht das Thema durch Computer und Internet weiter verstärkt.
>sinnliche Wahrnehmung<. Das ist aber gerade Benja- Die Veränderungen der optischen und taktilen
mins Ausgangspunkt. Wahrnehmung sind in der massenhaften Verbreitung
Welche kollektiven Wahrnehmungsveränderungen des Reproduzierten, das durch die neuen elektroni-
hat nun der Kunstwerkaufsatz im Blick? »Die Entschä- schen Verbreitungsmedien des Hör- und Bildfunks
lung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrüm- gesteigert wird, verankert. Benjamin sieht durch die
merung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, fortgeschrittene Reproduzierbarkeit ein neuartiges
deren >Sinn für das Gleichartige in der Welt< so ge- Bedürfnis erzeugt: das »Bedürfnis[ ... ] des Gegenstands
wachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der
dem Einmaligen abgewinnt<< (I, 480 a.F.). Dieser höchst Reproduktion habhaft zu werden<< (I, 440 a.F.). Es ent-
komprimierte Satz enthält wie in einer Nußschale den steht ein massenhaftes Verlangen, das auf Verkleine-
gesamten Kunstwerkaufsatz. rung, auf Transportierbarkeit und auf nächste Nähe
Aus analytischen Gründen soll der Satz in seine zwei des Fernen ausgerichtet ist.
Bestandteile auseinandergezogen werden: Es wird zu- Benjamin notiert hier wie schon im Photographie-
nächst auf die Veränderung der Wahrnehmung einge- aufsatz dazu: »unverkennbar unterscheidet sich das
gangen, ehe aufgezeigt wird, warum diese Veränderun- Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau
gen am Kunstwerk als dem maximal Einmaligen defi- es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit
nitiv ab lesbar werden. und Dauer sind in diesem so eng verschränkt, wie
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 235

Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem« (I, 439 Das ist die entscheidende Argumentation, mit der
a.F.). sozusagen der Kunstwerkaufsatz steht und fällt. Er geht
So richtig diese Unterscheidung von Bild und Abbild von der Prämisse aus, daß die kollektive Wahrneh-
ist, so bemerkenswert ist um so mehr, daß wir bei pho- mungsveränderung selbst nur partiell bewußt erfahren
tographischen, filmischen und televisuellen Bildern wird. Technische Reproduzierbarkeit korrespondiert
immer noch von Bildern sprechen müssen, obschon insofern mit den >Massen<, als ihre Struktur im Ich als
es sich nicht um Bilder im klassischen Sinn, sondern Träger kollektiver Verhaltensweisen automatisiert
technische Aufzeichnungsvorgänge handelt. Wir ab- wurde und reflexhaftpräsent ist, so wie ich beim Spre-
strahieren also unvermeidlich von der technischen chen eine Grammatik benutze, ohne über sie zu reflek-
Struktur (Momentaufnahme, Bewegungsabbildung, tieren. Hingegen kann am Kunstwerk und nur an ihm,
Sendung) und behandeln sie wie bildlich-mentale Fi- indem es ins Schnittfeld von Geschichtlichkeit und
xierungen des Sichtbaren. Was sich dahinter verbirgt Reproduzierbarkeit gestellt wird, dieser Vorgang zum
und durch automatisierte Gewöhnung fast unmerklich Gegenstand der theoretischen Analyse gemacht wer-
bleibt, läßt sich als eine Verschiebung vom Rezeptions- den und damit allererst die analytische Aufmerksam-
modus der Erfahrung, die um Bilder im klassischen keit auf jene Umwälzungen der Wahrnehmung ermög-
Sinn gruppiert ist, zu dem der Wahrnehmung, die das licht werden, die sich weitgehend >unbewußt< vollzo-
Reproduzierbare integriert, analysieren. gen haben.
Wenn nun der oben zitierte zentrale Satz über den Diese Konstruktion ist ungemein lehrreich auch für
>>Sinn für das Gleichartige in der Weit<< das Wesen der die heutigen Mediendebatten. Benjamin zitiert in der
neuen Wahrnehmung darin bestimmt, daß sie das dritten Fassung Valerys erstaunliche Vorhersage aus
Gleichartige nunmehr >>mittels der Reproduktion auch >>La conquete de l'ubiquite<<, bald würden wir >>mit
dem Einmaligen abgewinnt<<, so ist mit dem Einmali- Bildern und Tonfolgen versehen werden, die sich auf
gen besonders das Kunstwerk als Gestalt des Singulä- einen kleinen Griff [... ] einstellen und uns ebenso wie-
ren angesprochen. der verlassen<< (I, 475). Benjamin setzt das Zitat nicht
Wieso betrifft die technische Reproduzierbarkeit des als Beleg für die Fortschritte der Nachrichten- und
Audiovisuellen die Kunst überhaupt in grundsätzlicher Informationsverbreitung ein. Es geht ihm, wie das
Weise? Dies läßt sich schon in der Wirkung auf die demselben Text Valerys entnommene, vorangestellte
überkommene Kunst bestimmen. Mit den Kunstbild- Motto ausweist, um eine Veränderung der Kunst. Das
bänden, Kunstpostkarten, mit den Schallplattenauf- Motto hebt Valerys Erwartung hervor, die Verände-
zeichnungen wird die bisherige Abgeschlossenheit und rungen der Reproduktionstechnologie könnten dazu
Einzigkeit der Museumsbestände geradezu in die Luft führen, >>den Begriff der Kunst selbst auf die zauber-
gesprengt. Seitdem beruht unser expandiertes Bilder- hafteste Art zu verändern<< (I, 472).
wissen - und nicht nur das der Kunstüberlieferung - Deshalb sind auch zahlreiche Texte, die Benjamins
zum größten Teil auf Reproduktionen. Im Ergebnis Aufsatz als allgemeine Theorie technischer Reproduzier-
vergleichbar ist die akustische Reproduzierbarkeit, die barkeit diskutieren, einigermaßen fruchtlos geblieben.
die Flüchtigkeit des Konzerts fixiert und transportabel Das Mißverständnis, Benjamin rede zwar noch vom
macht: >>das Chorwerk [... ]läßt sich in einem Zimmer Kunstwerk, habe aber eine Theorie der technischen
vernehmen<< (I, 438 a.F.). Massenkommunikation im Sinn, beginnt schon mit
Bei dem auf technische Reproduzierbarkeit ange- Enzensbergers >>Baukasten zu einer Theorie der Me-
legten Kunstwerk potenziert sich dieser Prozeß. Er dien<< (1970), in dem Benjamin und McLuhan zusam-
führt auf der räumlichen Ebene zu dem, was man eine mengebracht werden. Ebenso aporetisch bleiben heu-
beschleunigte Entartung des Kunstwerks durch Multi- tige Versuche, Benjamins Thesen auf der Folie gentech-
plizierung nennen kann. Dem korrespondiert Wieder- nischer Reproduzierbarkeit zu lesen (Mitchell2003).
holbarkeit auf der zeitlichen Ebene. Der Gewißheit, Benjamin verzichtet wohlüberlegt darauf, den Begriff
daß der Film bei jeder Wiederaufführung auf einer der Reproduzierbarkeit allzu weit zu fassen. Er fokus-
identischen Reproduktion beruht, steht die andere siert alles auf das Kunstwerk.
Gewißheit gegenüber, daß keine Theater- oder Musik- Dies läßt sich an einer anderen verborgenen Quelle
aufführung völlig identisch sein kann. Beide Vorgänge des Kunstwerkaufsatzes illustrieren. In der dritten Fas-
-die Entortung des Kunstwerks qua Reproduzierbar- sung findet sich eine lange Fußnote, die in allen übrigen
keit und seine Re-Lokalisierung als Reproduziertes- Fassungen nicht vorkommt (I, 493 f.). Sie zitiert (mit
vollziehen sich, wie Benjamin beobachtet, >>nicht so- eigener übersetzung) aus Aldous Huxleys Bericht über
wohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem eine Reise nach Zentralamerika im Winter 1933, der
der Gewohnheit<< (I, 466 a.F.). 1935 auf französisch erschien. Wodurch Benjamin auf
236 Messianismus, Ästhetik, Politik

das Buch aufmerksam wurde, wäre interessant zu wis- auch die Positionierung seiner Ästhetik gegenüber
sen. Jedenfalls sind ihm die dort versteckten, kunsttheo- Hege!, Adorno und Heidegger zu markieren, die in den
retischen Reflexionen über >>die technische Reprodu- anschließenden Abschnitten weiter verfolgt wird.
zierbarkeit« (ebd., >> reproduction par procedes mecha- Drei Bestimmungen des Kunstwerks, die, obschon
nique<<) nicht entgangen. Schon in den Vorarbeiten eng miteinander verzahnt, sind hier nacheinander zu
zum Kunstwerkaufsatz hatte Benjamin Huxley (mit erörtern: das Hier und fetzt, die Echtheit und die Aura.
positiver Bewertung) exzerpiert (I, 1049; 1051). Und Sie zusammen ermöglichen es Benjamin, das Kunst-
die von ihm nicht zitierte Stelle- >>reproduit aun mil- werk in einen geschichtlich sich wandelnden Traditi-
lion d'exemplaires, l'objet Je plus beau meme devient onszusammenhang zu stellen und es als Gegenstand
hideux<< (Huxley 1935, 278)- dürfte einen wichtigen der Überlieferung zu fassen.
Anstoß für den Kunstwerkaufsatz gegeben haben. Das >>Hier und Jetzt des Kunstwerks<< wird definiert
Daß Benjamin in der Analyse der technischen Re- als >>sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es
produzierbarkeit gerade kulturkonservative Autoren sich befindet<< (I, 437). Was ist das für ein Ort? Wesent-
wie Va!ery und Huxley (und beim Film: Arnheim) lich ist, daß dieser Ort sich vom Werk selbst aus her-
heranzieht, hat einen einfachen Grund: Anders als die stellt. Es ist die Gewalt jenes, räumlich-zeitlich >>da<< zu
naiven Verfechter einer massendemokratisch verviel- sein, das die Ästhetiken Benjamins, Heideggers und
fältigten Kunst für alle, wissen sie, was auf dem Spiel Adornos (hierin übereinstimmend) als das Erscheinen
steht. Sie sind zutiefst von Kunsterfahrung durchdrun- des Kunstwerks beschreiben. Heidegger nennt es das
gen. Damit wird noch einmal die Perspektive erkenn- >>reine Insichstehen des Werks<< (Heidegger 1960, 38):
bar, in der der Kunstwerkaufsatz geschrieben ist. Es >>Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der
werden nicht etwa Wahrnehmungsveränderungen be- durch es selbst eröffnet wird<< (Heidegger 1960, 40).
schrieben, die irgendwie auch den Bereich der Kunst Die Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt hat im üb-
berühren, sondern es werden im Fokus auf das Kunst- rigen nichts zu tun mit der Präsenzerfahrung des Ich-
werk Wahrnehmungsveränderungen rekonstruiert, die bewußtseins. Das >>Hic et Nunc<< ist keine Bewußtseins-
nicht allein die Kunst betreffen. Der Kunstwerkaufsatz kategorie, sondern Korrelat der Wahrnehmung des
ist sehr viel grundsätzlicher, als es eine medientheore- Werks. Das Kunstwerk zeigt sich, ereignet sich, ist >>da<<.
tisch verengte Rezeption gewahren wollte, im Feld der So hatte schon der frühe Benjamin mit einer Formu-
philosophischen Ästhetik verankert. Das ist am Zen- lierung von Novalis bestimmt, das Kunstwerk habe
tralbegriff der Abhandlung- der >>Aura<< des Kunst- eine apriorische Notwendigkeit >>da zu sein<< (I, 233;
werks - zu zeigen. Il, 238 u. 105 f.). Adorno spricht vom >>Plötzlichen<< als
der Erscheinungsweise des Werks, dem ein >>Gefühl des
Überfallen-Werdens<< entspricht (Adorno 1970, 123).
Die Aura des Kunstwerks Das korrespondiert mit Heideggers Betonung des Jä-
hen und des Stoßes (Heidegger 1960, 74).
Grundsätzlich ist zu beachten, daß Benjamin neue Für Benjamin ist nun ganz zentral, daß der >>Stand-
ästhetische Kategorien einführen und mit ihnen eine ort des Originals<<, das Insichstehen des Kunstwerks,
neue historische Konstruktion vornehmen will. Es geht vom Prozeß der Überlieferung nicht ablösbar ist. Seine
ihm also nicht etwa um eine Nacherzählung der Ge- durchgängige Thematisierung der Überlieferung- der
schichte des Kunstbegriffs oder des Ästhetik-Diskur- Prozesse des Vergessens, Idealisierens, Wiederent-
ses. Sowohl der Begriff der technischen Reproduzier- deckens- beruht auf dieser Prämisse. Das Werk bleibt
barkeit wie der der Aura sind von Benjamin neu kon- also nicht dasselbe, ebensowenig wie die Art der Über-
zipierte Begriffe. Der Begriff der technischen lieferung, also die Tradition selbst, nicht dieselbe
Reproduzierbarkeit hat in der damaligen Filmtheorie bleibt.
keine Rolle gespielt. Und der Aurabegriff hat in der Wozu bedarf es dann der Kategorie der Echtheit?
bisherigen Geschichte der Ästhetik nie eine nennens- Benjamins Begriff der Echtheit hat in der Rezeption
werte Rolle gespielt. des Kunstwerkaufsatzes immer wieder Zweifel ausge-
Benjamins Herausarbeitung des Aurabegriffs erfolgt löst. Teilweise ergaben sie sich aus einer definitiv fal-
in engem Bezug auf das Werkhafte des Kunstwerks, schen Lektüre, er setze Echtheit mit der physischen
nämlich durch Verknüpfung mit weiteren das Kunst- Originalgestalt des Kunstwerks identisch. Aber die
werk betreffenden Kategorien. Es ist notwendig, die Definition bleibt doch problematisch, die >>Echtheit
verdichtete Verknüpfung etwas genauer zu zerlegen, einer Sache sei der Inbegriff alles vom Ursprung her
um den oft verkannten systematischen Anspruch des an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis
Kunstwerkaufsatzes als Ästhetik zu profilieren und zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft<< (I, 438 a.F.).
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 237

Es ist unübersehbar, daß die konkreten Bestimmun- nicht über die Echtheit, kann das >>Hier und Jetzt<< des
gen von >>Echtheit<< selbst historischem Wandel unter- Kunstwerks mit dem rituellen Ursprung im Kult ver-
liegen. Benjamin hat selbst dafür instruktive Belege knüpft werden. Und erst von hier aus kann jener welt-
angeführt. So heißt es in einer Fußnote, ein mittelal- geschichtliche Umschlagspunkt konstruiert werden,
terliches Madonnenbild sei zur Zeit seiner Anfertigung in dem das amatisehe Kunstwerk auf dem Spiel
noch nicht >>echt<< gewesen, sondern es erst im späteren steht.
kunstgeschichtlichen Denken geworden (I, 476). Die Aura wird >definiert< als >>ein sonderbares Ge-
Ebenso entsprach die Vorstellung von geschichtlicher spinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung ei-
Zeugenschaft des Kunstwerks keineswegs immer dem ner Ferne, so nah sie sein mag<< (I, 440 a.F.). Im Pho-
modernen Begriff des Originals. So umfaßt >>die Ge- tographieaufsatz, dem die Definition als Selbstzitat
schichte der Mona Lisa z. B. Art und Zahl der Kopien, entnommen ist, findet sich noch der Zusatz: >>bis der
die im siebzehnten, achtzehnten, neunzehnten Jahr- Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung
hundert von ihr gemacht worden sind<< (ebd.). Und hat<< (II, 378). Die Erfahrung der Aura als ein atmo-
schließlich verändert sich auch die Vorstellung vom sphärisches Wahrnehmungsgeschehen reicht in die
Substrat des Echten. Die Vorstellung der Einmaligkeit Ferne des Raums und der Zeit; und sie ist gebunden
als >>der im Kultbild waltenden Erscheinung<< ver- an besondere Konstellationen, in denen sie sich ein-
schiebt sich - was sich sehr schön an der Geschichte stellt. Insofern ist das Beispiel, an dem Benjamin die
der Autorkategorie zeigen ließe- zu der von der >>em- Aura-Erfahrung illustriert, kein rein landschaftsästhe-
pirischen Einmaligkeit des Bildners<< (I, 481). tisches. Das unterstreicht die rituelle Fundierung der
Mit anderen Worten: Echtheit ist keine wahrneh- Aura-Erfahrung. In einer Notiz zum Kunstwerkaufsatz
mungstheoretische, sondern eine diskurstheoretische wird Aura direkt als >>das Heilige<< bestimmt (VII, 677
Kategorie, in der je historisch die Vorstellungen über u. 676). Nicht Sichtbarkeit, sondern >>Unnahbarkeit<<
Echtheit geregelt werden. Die Fortschritte physikali- (I, 480) ist die Hauptqualität des archaischen Kultbilds,
scher Meßmethoden haben zwar die Zahl echter Rem- das als paradoxe Einheit von Entzug und Präsenz, Un-
brandts erheblich reduziert, nicht aber die der katho- antastbarkeit und Berührtheit wirksam ist.
lischen Reliquien, weil jeweils andere Echtheitskriterien Wichtiger aber als das kultische Substrat als solches
angelegt werden. Für die Ikonenmalerei sind bestimmte sind Benjamin die historischen Ausprägungen, welche
Herstellungsverfahren und Darstellungstechniken Aus- die Aura-Erfahrung ermöglicht. Als Beispiel nennt er
weis der Echtheit, nicht hingegen die Zuordnung zu eine antike Venusstatue. Stand solche Skulptur bei den
einem namentlich bekannten Künstler. Griechen im Kontext kultischer Verehrung, so erschien
Gesteht man dies zu, so wird allerdings unversehens sie im Mittelalter als dämonisches Götzenbild. Trotz
Benjamins Argumentation aporetisch. Denn behaup- dieses Gegensatzes blieb sie ein Gebilde mit innewoh-
tet wird, der >>gesamte Bereich der Echtheit<< entziehe nender Kraft. Was dem antiken Kultteilnehmer wie
sich der Reproduzierbarkeit (I, 437 a.F.). Diese Argu- dem mittelalterlichen Mönch »in gleicher Weise ent-
mentation bezieht sich nicht auf den Wandel von Echt- gegentrat, war ihre Einzigkeit, mit einem andern Wort:
heitsvorstellungen, sondern auf den rein technischen ihre Aura<< (I, 441 a.F.). Es bedurfte erst einer Um-
Vorgang der Vervielfältigung. Bei der Photographie schichtung der Antikeüberlieferung, ehe die Marieu-
etwa mache >>die Frage nach dem echten Abzug [... ] darstellung ihren Platz übernahm.
keinen Sinn<<. Mit dem technisch reproduzierten Aura ist bei Benjamin also keineswegs bloß etwas
Kunstwerk werde generell >>der Maßstab der Echtheit Numinoses, das sich jeder näheren Explikation ent-
an der Kunstproduktion<< gegenstandslos (I, 442 a.F.). zieht, sondern durchaus ein Arbeitsbegriff, mit dem er
Heute, wo alte Photographien und Filme zum Objekt historische Prozesse untersucht und den er dadurch
von Sammlungen, Archiven und aufwendigen Restau- mit neuen Bezügen anreichert.
rierungen geworden sind, steht außer Frage, daß ge- Im März 1940 berichtet er hochbeglückt Horkhei-
rade unter den Bedingungen technischer Reproduzier- mer ausführlich über das Buch Le Regard von Georges
barkeit der Maßstab der historischen Echtheit von Salles, einem Konservator am Louvre, dessen Theorie
enormer Wichtigkeit ist. der Kunstwahrnehmung eine Bestätigung für seine
Benjamins Aporien bei der Handhabung des Be- Bestimmung der Aura biete. Es ist eine eigenartige
griffs der Echtheit lassen es um so schlüssiger erschei- Theorie, derzufolge das Leben der Kunstwerke sich aus
nen, daß er sich mit diesem Begriff nicht begnügen den Blicken speist, die auf ihm geruht haben (III, 704 f.
kann, sondern eine weitere Kategorie einführen muß: und 589 ff.).
die der >>Aura<<. Diese Kategorie ist wiederum eindeu- Die Arbeit am späteren Baudelairebuch wird ganz
tig wahrnehmungstheoretisch fundiert. Erst über sie, wesentlich von der Absicht geleitet, dessen lyrische
238 Messianismus, Ästhetik, Politik

Produktion in der Erfahrung der Aurakrise zu fundie- stände, keinen >eigenen< Schatten werfen. Ihnen ist,
ren. Und eben in diesem Kontext, in den bislang nur wie Chamissos Schlemihl (vgl. zu Chamisso auch VII,
auszugsweise publizierten Baudelairefragmenten, 677) die Fähigkeit, Schatten zu werfen, abhanden ge-
heißt es sogar: >>vielleicht ist es notwendig, es mit dem kommen. Was der Aura des Menschen, seinem >>Hier
Begriff einer von kultischen Fermenten gereinigten und Jetzt<< zugehört, ist gerade das technisch Nicht-
Aura zu versuchen? Vielleicht ist der Verfall der Aura Reproduzierbare.
nur ein Durchgangsstadium [... ].Die auf das Spiel Wie man deutlich sieht, liegt hier eine andere Be-
bezügliche Stelle der Reproduktionsarbeit heranzie- stimmung des Originals vor, die nicht das Kunstwerk
hen<< (VII, 753).- Diese Hinweise lassen erkennen, wie als Originalgestalt meint. Bei der Analyse der audiovi-
die Aurakategorie des Kunstwerkaufsatzes sich bei suellen Reproduzierbarkeit schiebt sich also eine an-
Benjamin weiter im Fluß befindet und keineswegs als dere Redeweise immer wieder dazwischen, die nicht
dogmatisch abgeschlossen gelten kann. sogleich mit der Hauptlinie - auratisches Kunstwerk
Deshalb führt es auch zu nichts, wie immer wieder vs. technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks -
geschehen, Benjamins Aura-Argumentation psycho- zur Deckung zu bringen ist. Wie diese Doppelung zu
logisch auf eine Ambivalenz oder Janusköpfigkeit bei beurteilen ist, wird noch zu überlegen sein. Zunächst
Benjamin selbst zurückzuführen, der der revolutionä- soll die Hauptlinie der Kunstwerkanalyse weiterver-
ren Massenpolitik opfere, woran er am meisten hänge. folgt werden.
Das kann nur einer Perspektive erscheinen, die unter-
stellt, Benjamins Intention sei darauf gerichtet, die
Aura ideologiekritisch zu entzaubern. Der Aurakrise Der schöne Schein (Hegel und Goethe)
korrespondiert nicht ein kritisches Bewußtsein ihrer
Ideologizität, sondern die Erfahrung der Aurakrise. In dem knappen Abriß, den Benjamin von der Ge-
Mehr noch: diese Krise ermöglicht, daß Aura als etwas schichte des Kunstwerks gibt (I, 441 a.F.), nimmt >>der
Erfahrbares thematisierbar wird, wie es schon jene profane Schönheitsdienst<< (ebd.), der sich mit der Re-
Erzählung von der Auraerfahrung an einem Sommer- naissance herausbildet und bis ins 19. Jh. reicht, eine
nachmittag (I, 440 a.F.) belegt. zentrale Stellung ein. Dazu heißt es erläuternd: >>Die
Aber die Lektüre des Kunstwerkaufsatzes bietet eine Bedeutung des schönen Scheins ist in dem Zeitalter
andere Schwierigkeit, die, im Vorgriff auf die Filmana- der auratischen Wahrnehmung, das seinem Ende zu-
lyse, hier schon behandelt werden muß. Denn bei der geht, begründet. Die hier zuständige ästhetische Theo-
Erörterung der Photographie und dann des Films rie hat ihre ausdrücklichste Fassung bei Hege! erhal-
schieben sich zwei Aura-Argumentationen ineinander, ten<< (VII, 368).
so daß streckenweise die Aura natürlicher Gegenstände Hege! ist Benjamin wichtig; es ist die einzige klassi-
und insbesondere die des Menschen an die Stelle der sche Kunstphilosophie, die er in längeren Fußnoten
Aura des Kunstwerks tritt. Damit verändert sich signi- der zweiten und dritten Fassung heranzieht (I, 482 f.;
fikant der Begriff des Originals. VII, 357 f.; VII, 368 f.).
Am schlagendsten läßt sich dies einer Passage aus überraschenderweise liest Benjamin, der im Kunst-
der zweiten Fassung entnehmen. Hier heißt es: >>Zum werkaufsatz die Totenglocke für die Kunst läuten hört,
ersten Mal- und das ist das Werk des Films- kommt Hege! nicht auf jenes Theorem hin, durch das seine
der Mensch in die Lage, zwar mit seiner gesamten le- Ästhetik rezeptionsgeschichtlich folgenreich wurde:
bendigen Person, aber unter Verzicht auf deren Aura die sogenannte >These vom Ende der Kunst<. Heine hat
wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und sie erstmals als >>Ende der Kunstperiode<< populär ge-
Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr<< (VII, 366). macht. Benjamin scheint aber bemerkt zu haben, daß
In einer Variante war statt des letzten Satzes die Passage Hege! keineswegs das Ende der Kunstproduktion ver-
vorgesehen: >>Sie teilt sich seinem durch die Apparatur kündet, wohl aber das Partikularwerden der Kunst als
reproduzierten Abbild so wenig mit wie seine Eigen- weltgeschichtliche Gestalt des absoluten Geistes. Ihn
schaft, einen Schatten zu werfen. (Der Schatten im interessiert die Konstruktion des Schönen bei Hege!.
Film ist das Abbild von dem Schatten des Originals, Hegels Ästhetik umspannt den ganzen weltge-
nicht aber der Schatten des Abbilds.) Ein Abbild der schichtlichen Kreis von den Ursprüngen in der sym-
Aura dagegen existiert nicht<< (VII, 688, zum Schatten bolischen Vorkunst bis zur Gegenwart, der Auflösung
vgl. die davor zitierte Pirandello-Stelle, aber auch den der romantischen Kunstform. Die Konstruktion be-
>>Schatten<< in der Auradefinition I, 440 a.F.). ruht auf einer Theorie des Scheins, die das Schöne als
Ohne Zweifel können photographisch-filmische das sinnliche Erscheinen der Idee in der individuierten
Abbildungen, anders als reale Menschen und Gegen- Werkgestalt bestimmt. Insofern fundiert Hege! am
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 239

konsequentesten die philosophische Ästhetik auf den den ersten Blick nicht nahe; zu verschieden erscheint
Begriff der Schönheit und kommt ohne weitere Be- die Stoßrichtung beider Texte, zu verschieden auch der
griffe (Geschmack, Erhabenes, Sinnengenuß) aus. politische Kontext. Und daß zwischen Heideggers
Wenn Benjamin aber nun bemerkt, Hegels Begriff >Volk< und Benjamins >Massen<, zwischen Benjamins
des Schönen trage schon »epigonale Züge<< (VII, 368), desperater Prognose des kommenden faschistischen
dann ist nicht mit Hege! gemeint, daß die Schönheit Kriegs und Heideggers unbefangener Rede vom Krieg
des Kunstwerks aufgehört habe, die höchste Gestalt als Feldzug sich Abgründe auftun, muß nicht eigens
der Wahrheit darzustellen. Vielmehr seiHegelsBegriff betont werden. Um so mehr müssen bei näherer Be-
des Schönen selbst epigonal, da ihm das Schöne nicht trachtung die Affinitäten und Divergenzpunkte dann
eigentlich mehr mächtig ist. Für Hege! ist das Interesse überraschen, die sich zwischen Benjamins und Heideg-
am Schönen Indiz nur dafür, wie die neuzeitliche gers Text ergeben.
Kunst aus dem christologisch-romantischen Kontext Eine Affinität besteht zunächst darin, daß beide
der Verinnerlichung heraustritt, allerdings um den Texte in Unkenntnis voneinander zum gleichen Zeit-
Preis, in der Breite und Vielfalt der empirischen Wirk- punkt einen Begriff des Kunstwerks als historisch
lichkeit aufzugehen. Benjamin dient diese Einsicht übergreifende Kategorie zugrundelegen, der nicht in
Hegels als Indiz für die Aurakrise: daß nämlich sein der Epoche der Autonomie-Ästhetik fundiert ist.
Schönheitsbegriff bereits begonnen habe, sich vom Überraschend ist weiter, wie eng sich beide Texte hin-
»Erfahrungsgrund<< der >>Aura<< abzulösen (VII, 368). sichtlich der Diagnose einer radikalen Bedrohtheit der
Zudem wird in einem zweiten Schritt Hegels Ästhe- Kunst berühren und dagegen eigenwillige, für die Tra-
tik mit der Goetheschen Dichtung konfrontiert. Denn dition der Ästhetik neue Begriffe konzipieren. Und
Goethe steht Hegels Abgesang auf die Kunst entgegen. schließlich stimmen beide darin überein, vom griechi-
>>Der schöne Schein als auratische Wirklichkeit erfüllt schen Begriff der Aisthesis als >>sinnliche [s] Vernehmen
noch ganz und gar das goethesche Schaffen. Mignon, im weiten Sinne<< (Heidegger 1960, 91; vgl. I, 466) aus-
Ottilie und Helena haben an dieser Wirklichkeit teil.<< zugehen und diesen wahrnehmungstheoretischen
Als Erläuterung folgt dann eine unausgewiesene Kurz- Zugang zum Kunstwerk strikt vom subjektiven >>Erle-
fassung der Schönheitsdefinition der Wahlverwandt- ben<< zu unterscheiden. Daß das >>Erlebnis<< die Sphäre
schaftsarbeit: >>Weder die Hülle noch der verhüllte ist, in der die Kunst stirbt, hatte Benjamin schon sehr
Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Ge- viel früher formuliert.
genstand in seiner Hülle<< (VII, 368 f.). Und fast klingt es so, als sei auch der Zugriff gar
Hegels und Goethes Ästhetik bezeichnen zwei Ex- nicht so verschieden, wenn Heidegger die zunehmende
trempositionen der modernen Erfahrung der Aura als >Entortung< der Kunstwerke beschreibt. >>Das Bild
des Schönen. Dies heißt zusammengefaßt: Die >>profa- hängt an der Wand wie ein Jagdgewehr oder ein Hut.
nen Formen des Schönheitsdienstes, die sich mit Re- [... ] Hölderlins Hymnen waren während des Feldzugs
naissance herausbilden, um für drei Jahrhunderte in im Tornister mitverpackt wie das Putzzeug. Beetho-
Geltung zu bleiben<< (I, 441 a.Fs.) sind von einander vens Quartette liegen in den Lagerräumen des Verlags-
widerstreitenden Positionen durchzogen, in denen sich hauses wie die Kartoffeln im Keller<< (Heidegger 1960,
aber durchgängig manifestiert, >>daß diese auratische 9 f.). Das Kunstwerk ist heute aus dem >>eigenen We-
Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von sensraum herausgerissen<<; die von ihm aufgerichtete
seiner Ritualfunktion sich löst<< (I, 441, a.F.; VII, 356). Welt ist irreversibel zerfallen, der Zugang zum Werksein
Alles Reden über das Kunstschöne bleibt für Benja- versperrt (ebd., 39f.).
min insofern an diesen kultischen Bannraum fixiert. Etwas fällt allerdings sofort auf: Was Heidegger als
Alle Versuche die Profanität des Kunstwerks zu resa- Dinglichkeit oder Verdinglichung des Kunstwerks the-
kralisieren erscheinen hingegen als erschlichene Theo- matisiert, bleibt ohne jeden Bezug auf die technische
logie wie Benjamin am L' art pour 1' artund am Ästhe- Reproduzierbarkeit. Daß schon zu seiner Zeit Beetho-
tizismus (I, 441 a.F.) ausmacht oder auch im Proust- vens Quartette als Schallplatten und nicht bloß als
Essay hervorhebt. Notendrucke reproduziert wurden, kommt ihm nicht
in den Sinn. Und wenn er konstatiert: >>Kunstwerke
sind jedermann bekannt<< (ebd., 9), so unterschlägt er
Heidegger - Sixtinische Madonna darin gerade den entscheidenden Umstand, daß erst
durch Vervielfältigungstechniken diese allgemeine Be-
Heideggers Schrift Der Ursprung des Kunstwerks, die kanntheit zustande gekommen ist.
auf einer Vortragsfolge von 1936 beruht, mit Benja- Wie wir sehen, denkt Benjamin eine andere Schick-
mins Kunstwerkaufsatz zusammenzubringen, liegt auf salsstunde, die sich über die Apparatur, die Photogra-
240 Messianismus, Ästhetik, Politik

phie, die Reproduzierbarkeit, den Film vollzieht. Diese suchung »Das Rätsel der Sixtirrischen Madonna<<
Zeitgenossenschaft tritt bei Heideggers Kunstwerkauf- ( 1922), auf die Benjamin in einer Fußnote der dritten
satz überhaupt nicht in den Blick. Daß er den Umwäl- Fassung ausführlich eingeht (I, 483) und die er früher
zungen durch die neuen Reproduktionsmedien sich bereits in der wichtigen Rezension STRENGE KuNsT-
nicht stellt, hängt mit seiner Bestimmung von Über- WISSENSCHAFT (IIJ, 363 ff.) hervorgehoben hat.
lieferung zusammen. Würde er den diskursiven und Grimmes sorgfältig geführter Indizienbeweis über
medientechnischen Veränderungen der Oberlieferung den ursprünglichen Verwendungszweck von Raffaels
größere Beachtung einräumen, so bräche sein Pathos Madonna als Totenvelum bei der öffentlichen Aufbah-
der Rückbesinnung auf das ursprüngliche Wesen des rung des Papstes in Rom, ehees als Hochaltarbild nach
Kunstwerks lautlos in sich zusammen. Piacenza gegeben wurde, dient Benjamin als schlagen-
Auch in der Konstruktion des Ursprungs tritt der der Beleg für das Vordringen des Ausstellungswerts
Gegensatz hervor, ohne daß eigens auf die Divergenz schon innerhalb der kultischen Verwendung. Die Ku-
zu Benjamins Ursprungsbegriff im Trauerspielbuch rie durfte das Bild nach der Totenfeier nicht mehr
eingegangen werden muß. Wenn Benjamin, um den öffentlich zeigen und verkaufte es kurzerhand als
Kultwert zu erläutern, von der >>Götterstatue« spricht, Kunstwerk in die Provinz. Daß Grimmes Analyse spä-
»die ihren festen Ort im Innern des Tempels hat« (I, ter von Marielene Putscher (1955) zurückgewiesen
443 a.F.), so unterscheidet sich das mindestens im Ak- wurde, ist zu erwähnen, weil sie am Schluß (aus einem
zentvon Heideggers verzückter Rede über die Errich- persönlichen Brief an sie) Heideggers damals noch
tung des Bildwerks des Gottes im Tempel (Heidegger unveröffentlichten Text >>Über die Sixtina<< vollständig
1960, 42 ff.). Die Differenz wird grundsätzlich, wenn abdruckt.
beide von >>Ausstellung<< sprechen. Benjamin spannt In diesem Text geht es wie bei Benjamin um die
den Bogen zwischen dem den Blicken entzogenen spezifische Aufstellung, also um den Ort, für den Raf-
Kultgebilde der Steinzeit bis zur technischen Repro- faels Bild gemalt wurde. Heidegger unterscheidet zwi-
duzierbarkeil des Kunstwerks, indem er das schub- schen dem >>Fenstergemälde<< in der Funktion als Al-
weise Vordringen der Ausstellbarkeil analysiert. Er tarbild der Klosterkirche von Piacenza, und dem »Ta-
notiert: >>In der Photographie beginnt der Ausstel- felbild<< der »musealen Ausstellung<<, zu dem Raffaels
lungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurück- Gemälde später in Dresden wurde. Dieser Entwertung
zudrängen<< (I, 445, a.F.). Während der Kultwert im als Museumsstück stellt er die ursprüngliche >> Aufstel-
engsten Sinne Unzugänglichkeit und Verborgenheit lung<< in der Kirche von Piacenza entgegen, wo die
meint, meint der Ausstellungswert des Kunstwerks >>Schönheit<< des Bildes hervortritt als »Entbergen« der
eine simultane Sichtbarkeit für viele. Wahrheit (Heidegger 1983, 120).
Demgegenüber ist für Heidegger zwischen >>Aufstel- Daß Heideggers Argument der ursprünglichen Auf-
lung<< im Tempel und der >>Ausstellung<< eines Kunst- stellung (wenn wir Grimme und Benjamin folgen und
werks keine dialektische Beziehung herstellbar, son- nicht Putscher) gar kein fundamenturn in re hat, weil
dern nur die Relation von Ursprünglichkeit und Vul- Piacenza nicht der ursprüngliche Standort war, sei
garisierung. Für Heidegger ist Überlieferung immer dahingestellt. Wichtiger ist Heideggers im Gegensatz
schon Beginn des Verstellens. Deshalb interessieren ihn zu Benjamin vorgenommene prinzipielle Abwertung
nicht die diskursiven, medialen und materiellen Be- des Museums und damit der Kategorie des Ausstel-
dingungen des Tradierens. Deshalb kann es für ihn lungswertes.
keine Erschütterung durch die technische Reprodu- Die völlig entgegengesetzte Auffassung über die Ge-
zierbarkeil geben. schichtlichkeit der Tradition selbst zeigt sich nicht
Daß das reine >>Innestehen<< des einsamen Werks zuletzt in der Behandlung der klassischen Ästhetik.
kein Ansich ist, das jenseits der Überlieferung steht Während Benjamin bei Hege! die Krisensymptome des
(Heidegger 1960, 7 4ff. ), sondern sich in der geschieht- schönen Scheins gewahrt und sie in die Dialektik von
Iichen Zeugenschaft erschließt: diesen Gedanken Ben- Kultwert und Ausstellungswert einträgt, positioniert
jamins muß Heidegger abweisen. der Ursprung des Kunstwerks in dem 1956 geschriebe-
An einem signifikanten >Detail< kann man den Ge- nen Nachwort Hege! völlig anders.
gensatz von Heidegger und Benjamin deutlich fassen: Heidegger stilisiert Hegels Reflexion, daß die Kunst
der Behandlung von Raffaels Sixtinischer Madonna. in ihrer höchsten Bestimmung als Erscheinungsweise
Hinzuzuziehen ist hier ein späterer Text von Heidegger, der Wahrheit etwas Vergaugenes geworden sei, zum
bei dem sich die Vermutung aufdrängt, daß er Benja- >>Spruch<<, zum Orakel über das Schicksal der Kunst.
mins Text inzwischen kannte. Dessen Wahrheit erschließt sich nicht den modernen
Den Ausgangspunkt bildet Hubert Grimmes Unter- Wahrheitsbegriffen. Denn >>hinter diesem Spruch steht
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 241

das abendländische Denken seit den Griechen<<. Hegels zen die Technizität der autonomen Kunst und über-
Ästhetik sei »die umfassendste, weil aus der Metaphy- schätzen die der abhängigen; das wäre vielleicht in
sik gedachte Besinnung auf das Wesen der Kunst, die runden Worten mein Haupteinwand<< (173).
das Abendland besitzt<< (Heidegger 1960, 92). So kehrt Adornos Position ist bestimmt von der Immanenz
Heidegger Hegels Theorie des Partikularwerdens der »des technologischen Gesetzes von autonomer Kunst<<
Kunst in der Moderne zur griechisch gedachten Un- (ebd.), das er der kapitalistischen Unterwerfung der
scheidbarkeit von Wahrheit und Schönheit im eidos Kunst unter die Warenform entgegenstellt. Er wird die
um (ebd., 94). Dialektik dieses Programms erstmals in der Philoso-
phie der neuen Musik stringent darlegen.
Indem Adorno den Kunstwerkaufsatz auf die Pro-
Adorno blematik der Autonomieästhetik zu verpflichten sucht,
ist es ihm möglich, Benjamins Thematisierung und
Ohne Adornos große Verdienste um Benjamin im ge- Analyse der technischen Reproduzierbarkeit (und al-
ringsten zu schmälern, muß man feststellen, daß seine les, was sich auf den Film bezieht) auszuklammern
Rezeption des Kunstwerkaufsatzes von wenig Bereit- und durch den Begriff der immanenten ästhetischen
schaft, sich auf den gedanklichen Spielraum des Textes Technizität des großen Kunstwerks zu ersetzen. Diese
wirklich einzulassen, getragen ist. Er hat diese Arbeit Verschiebung erlaubt ihm weiter, den wahrnehmungs-
bis zuletzt nie gemocht und ihr von Anfang an unter- theoretischen Ansatz der Schrift außer Betracht zu
stellt, sie sei aus einer ideologischen Hörigkeit gegen- lassen und durch den sozialpsychologischen der kol-
über Brecht (Opfer des Intellekts, Identifikation mit lektiven Regression zu ersetzen. Beide Argumentatio-
dem Kollektiv, Barbarisierung der großen Kunst) ver- nen bilden die Grundlage für Adornos Aufsatz »über
faßt. den Fetischcharakter der Musik und die Regression
Andererseits darf nicht unerwähnt bleiben, daß sein des Hörens<<, der 1938 in der Zeitschrift für Sozialfor-
großer Briefvom März 1936 (Adorno 1994, 168-177) schung erschien und sich als kritische Replik auf den
die einzige umfangreiche und intensive Auseinander- Kunstwerkaufsatz verstand. Diesem wird unterstellt,
setzung mit dem Kunstwerkaufsatz darstellt, die Ben- er versuche das regressive Konsumieren »zu retten, als
jamin zu Lebzeiten erfahren hat. Das sonst ausgeblie- ob es eines wäre, in welchem der >auratische< Charak-
bene Echo, nicht nur bei Scholem oder Brecht, ver- ter des Kunstwerks, die Elemente seines Scheins, zu-
schlägt einem schon die Sprache. gunsten des spielerischen zurücktreten<< (Adorno 1963,
Adornos Kritik wenigstens zu skizzieren, ist durch- 41).
aus von theoretischem Belang, da es die besondere Aber es bleibt ein Stachel. Noch in der Asthetischen
Position der Benjaminsehen Abhandlung zu verdeut- Theorie kommt Adorno immer wieder auf den Kunst-
lichen hilft. Es handelt sich vor allem um einen kriti- Werkaufsatz zurück, auch wenn er über dessen »pene-
schen Punkt, den Adorno immer wieder umkreist: daß trante Beliebtheit<< schimpft, und sucht die Theorie
der Kunstwerkaufsatz in letzter Konsequenz eine De- der Aurakrise seiner eigenen Kunsttheorie zu adaptie-
montage der Autonomieästhetik vollziehe. Damit wi- ren (Adorno 1970,73,89, 123, 158,318, 408f., 460f.).
derrufe Benjamin alles, was die Emanzipation der Sie wird rückübersetzt in die philosophische Selbstre-
Kunst und der philosophischen Ästhetik erreicht hat. flexion des Endes der Kunst. »Zur Selbstverständlich-
In der Position des dialektischen Ideologiekritikers keit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr
besteht Adorno darauf, daß es (im Sinne Benjamins) selbstverständlich ist, [... ] nicht einmal ihr Existenz-
der Zurückweisung >>des magischen Elements am bür- recht<< (9). Insofern wird auch hier, wie bei Heidegger,
gerlichen Kunstwerk<< bedürfe ( 169). Aber er hält ihm eine auf der äußersten Spitze sich vollziehende Rück-
nun entgegen, daß er den Begriff der magischen Aura besinnung auf das Wesen der Kunst versucht, deren
auf das autonome Kunstwerk umstandslos übertrage Ausgangspunkt der Hegel unterstellte Gedanke vom
»und dieses in blanker Weise der gegenrevolutionären möglichen Absterben der Kunst (9 u. 12) darstellt.
Funktion<< zuweise (ebd.). Dem habe der Kunstwerkaufsatz nichts Entscheiden-
Andererseits eignet er sich Benjamins Aurakategorie des hinzugefügt. »Neu ist die Qualität, daß Kunst ihren
als neue Bestimmung des autonomen Kunstwerks an Untergang sich einverleibt[ ... ]. Der politische Stellen-
und versucht, Benjamin hierauf zu verpflichten. Mit wert jedoch, den die These vom Ende der Kunst vor
Verweis auf die Wahlverwandtschaftsarbeit, das Trau- dreißig Jahren, indirekt etwa in Benjamins Reproduk-
erspielbuch und die EINBAHNSTRASSE klagt er den tionstheorie, besaß, ist dahin<< (474).
bisherigen Benjamin gegen den neuen ein, der die »Ge-
nerallinie<<, die beide vereine, verrät. »Sie unterschät-
242 Messianismus, Ästhetik, Politik

Benjamins Geschichtskonstruktion der Kunstwerkaufsatz gemeint ist. Weiter heißt es:


»jede geschichtliche Erkenntnis läßt sich im Bilde einer
Beide, Heidegger wie Adorno, verlegen, bei aller fun- Wa[a]ge vergegenwärtigen, die einsteht, und deren
damentalen Unterschiedlichkeit ihrer Ästhetik, die eine Schale mit dem Gewesnen, deren andere mit der
Krise der Kunst in der Moderne auf Hegels Ästhetik Erkenntnis der Gegenwart belastet ist. Während auf
zurück, deren Fluchtpunkt sie im Theorem vom Ende der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und nicht
der Kunst sehen. Das hat eine durchaus strategische zahlreich genug versammelt sein könnten, dürfen auf
Funktion. Es ermöglicht ihnen, zum einen die Refle- der zweiten nur einige wenige schwere massive Ge-
xion des Endes der Kunst als Begründungsproblema- wichte liegen. Diese sind es, die ich mir in den letzten
tik anzusetzen, die eine philosophische Ästhetik, die zwei Monaten durch überlegungen über die Lebens-
Kunst als Gestalt der Wahrheit denkt, möglich macht bedingungen der Kunst der Gegenwart verschafft
und einfordert. Das hindert sie zum andern absichts- habe<< (5, 199).
voll daran, die von Benjamin aufgewiesene, reproduk- Anstelle der Versammlung zahlloser Zitatmateri-
tionsmedientheoretisch hergeleitete, in der Gegen- alien in der Passagenarbeit tritt nun eine massive Ge-
wart fokussierte Krise der Kunst von vornherein in wichtung der Gegenwart, die im produktiven Sinne
den Blick zu nehmen. Hegel habe sozusagen abschlie- eine Kurzschließung des Gewesenen ermöglicht.
ßend die Krise der Kunst im Herzen der Kunst veran- Die KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE hat
kert; die medientechnischen Veränderungen im 19. dem vorgearbeitet. Es ist besonders lehrreich, wie Ben-
und 20. Jh. tragen hier nichts nennenswert Neues bei. jamin hier die weltgeschichtliche Konstellation von
Dementsprechend wird auch dem Film (und der Pho- Urzeit, Jüngstvergangenern und Gegenwart tatsächlich
tographie) für die Systematik der ästhetischen Pro- kurzschließt. Er zögert nicht zu betonen, wie in der
blemstellungen keine besondere Beachtung einge- frühen Photographie >>die exakteste Technik [... ] ihren
räumt. Hervorbringungen einen magischen Wert geben<<
Benjamins dialektische Fundierung der Kunst im konnte und also »die Differenz von Technik und Ma-
Ritual reicht weit über die Autonomieästhetik hinaus gie als durch und durch historische Variable<< anzuse-
und stellt sich zugleich in den weltgeschichtlichen Zu- hen ist (II, 371 f.). Und er beharrt darauf, daß in den
sammenhang seiner Gegenwart. In einem Nachtrag ersten photographisch reproduzierten Menschen die
zum Kunstwerkaufsatz notiert er: >>Kennzeichnung der Aura hervortritt. »Es war eine Aura um sie, ein Me-
besonderen Struktur der Arbeit: sie trägt die Methode dium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die
der materialistischen Dialektik nicht an irgendein ge- Fülle und Sicherheit gibt.« Sie präsentierten sich »mit
schichtlich gegebenes Objekt heran, sondern entfaltet einer Aura, die bis in die Falten des Bürgerrocks oder
sie an demjenigen Objekt, das - im Gebiet Künste der Lavaliiere sich eingenistet hatte<< (II, 376). Die
[sie!]- ihr gleichzeitig ist<< (I, 1049). Frage nach der »historischen Variablen<<, also der »Dif-
Die geistesgegenwärtige Konstruktion eines Brenn- ferenz Technik und Magie<<, führt mitten in den Kunst-
punkts aus Heute und Urgeschichte: nichts anderes ist werkaufsatz hinein.
das Programm des Kunstwerkaufsatzes. Den Aus-
gangspunkt bildet die »Kritik des aus dem neunzehn-
ten Jahrhundert uns überkommenen Begriffs der Film: Apparat, Darsteller, Test
Kunst<< (I, 1050), der ihr einen unhistorischen, abstrakt
magischen Charakter zuspreche. Dem solle auf dop- »Es ist eine andere Art der Reproduktion, die die Pho-
pelte Weise entgegengetreten werden: »erstens durch tographie einem Gemälde, und eine andere, die sie
ihre Konfrontation mit der gegenwärtigen Kunst, als einem im Filmatelier hergestellten Vorgang zu teil wer-
deren Repräsentant der Film erscheint, zweitens durch den läßt<< (I, 448; VII, 364). Benjamin unterscheidet
ihre Konfrontation mit der wirklich magisch ausge- zwischen der einfachen technischen Reproduktion
richteten Kunst der Urzeit<< (ebd.). eines vorgegebenen Kunstwerks - die Photographie
In einem Brief aus Ibiza vom November 1933, auf eines Gemäldes, die Grammophonaufzeichnung eines
den Tiedemann nachdrücklich aufmerksam macht Konzerts, die Abfilmung einer Theateraufführung -
(VII, 665), hat Benjamin das Verhältnis von Passagen- und dem Film als Kunstwerk, dem kein Kunstwerk
arbeit und Kunstwerkaufsatz am Bild einer Waage vorgegeben ist. Diese verblüffend schlichte Unterschei-
erläutert. Er berichtet, daß er die Passagenarbeit in der dung hat den Sinn, beim Film das Material, das qua
Nationalbibliothek unterbrochen habe und, durch den Kamera in den Film eingeht, von der weiteren Bear-
Komfort seines neuen Untermieterzimmers verführt, beitung (Anordnung, Auswahl, Montage) zu tren-
Kraft zu einem neuen Projekt gefunden habe, womit nen.
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit<< 243

Mit dieser Überlegung beginnt eine längere Analyse der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test
(über zwei Abschnitte), die das Verhältnis von Film, macht<< (I, 450). Nichts anderes meint die Kategorie
Apparatur und Testleistung näher bestimmt. Es ist »Ausstellungwert<<.
hervorzuheben, daß Benjamin damit bei der Produk- Was Benjamin als Testleistung vor der Apparatur
tionsweise des Films einsetzt und nicht nur (wie in beschreibt, betrifft im übrigen nicht allein den Film-
vielen Interpretationen angenommen) hauptsächlich schauspieler, sondern eine neue Auslese auch im Feld
die Rezeptionsseite behandelt. Wesentlich ist für Ben- der Politik und des Sports, »aus der der Champion,
jamin zunächst, daß der fertige Kunst-Film erst qua der Star und der Diktator als Sieger hervorgehen<< (I,
Montage verschiedener Aufnahmen, also im Nachhin- 455, auch 2. u. 3. Fsg.). Weitsichtig sind hier Bedin-
ein, entsteht und somit einen Vorgang darstellt, der als gungen antizipiert, wie sie unter heutigen Medienver-
solcher vorher überhaupt nicht stattgefunden hat. Er- hältnissen selbstverständlich geworden sind.
läutert wird diesameinschneidenden Funktionswech- Testen bezeichnet, wie Reproduzierbarkeit, eine fim-
sel, dem der Filmschauspieler im Vergleich zum Büh- damentale Wahrnehmungsveränderung, nämlich das
nenschauspieler unterliegt. Während der letztere mit Einwandern von Meßapparaturen in das Alltagsleben
seiner leibhaften Aura vor einem anwesenden Publi- auf dem Wege der Gewöhnung. So wie wir schon seit
kum spielt, ist dem Filmschauspieler das Publikum Jahrhunderten gewohnt sind, unser Zeitgefühl jeder-
entzogen. zeit durch die Uhr kontrollierbar zu wissen, so sind
Benjamin zitiert hier in eigener Übersetzung aus wir mittlerweile längst gewohnt, Signale zu empfan-
einer französischen Übersetzung von Pirandellos schö- gen, Schalter zu bedienen, ein-, aus- und umzuschal-
nem Roman über den Stummfilmkameramann (vgl. ten, ohne dies, außer bei einer Störung, mit voller
Pirandello 1997). In diesem Roman wird sehr ein- Konzentration tun zu müssen. Benjamins eigentüm-
drücklich das >>Exil<< des Schauspielers, der vor dem liche Formulierung von der »Rezeption in der Zer-
>leeren Auge< der Apparatur spielt, beschrieben (I, streuung<< (I, 466 a.F.), die doppelsinnig ist, weil sie
450 ff., a.F.). Wie wichtig Benjamin dieser Befund war, zugleich die Zerstreuungsrezeption wie die »zerstreute
zeigt zudem eine instruktive Anekdote zur Spielerfah- Masse<< (I, 465 a.F.) meint, spielt auf diesen Sachverhalt
rung von Asta Nielsen, die er in der ersten Fassung an. Dies geschieht auch im Kino in einer quasi unbe-
erzählt. Der professionelle Filmschauspieler produziert wußten Kontrolle »unter der Hand<< (I, 466 a.F.). Wo-
die für die Aufnahmeszene verlangten Tränen abgelöst mit auch gesagt ist, daß in dieser Analyse der Schwer-
vom Erlebniskontinuum der Handlung (I, 453). punkt nicht auf dem einzelnen Filmwerk liegt, sondern
Von der Seite des Regisseurs aus betrachtet, wird auf der medialen Apperzeption, die sich durch häufi-
damit der Schauspieler, in einer Formulierung, die ges >Ins-Kino-Gehen< (oder später: Fernsehen) voll-
Benjamin von Rudolf Arnheim ( 1979) übernimmt, zieht. Insofern kann allgemeiner formuliert werden:
zum »Requisit<< (I, 452, a.F.). Er gerät auf die gleiche »Unter den gesellschaftlichen Funktionen des Films ist
Ebene wie die der Dinge. Im Film erneuert (und per- die wichtigste, das Gleichgewicht zwischendem Men-
fektioniert) sich reproduktionstechnologisch, was das schen und der Apparatur herzustellen<< (I, 460).
barocke Trauerspiel auszeichnete: daß »die Leiden- Es gibt gute Gründe, die Interpretation der Testka-
schaften selber die Natur von Requisiten annehmen<< tegorie in dieser Richtung vorzunehmen und sie nicht
(I, 311 ). Von der Seite des Schauspielers aus betrachtet mit politisch-organisatorischen Konsequenzen zu ver-
erfährt sich dieser als seiner Menschlichkeit entfrem- knüpfen. Benjamins Erwägungen von der Masse als
det. Kontrollinstanz und einer »politischen Auswertung<<
Seine Leistung unterliegt einer Kontrolle durch den dieser Kontrolle, wie sie zwischendurch angestellt wer-
Aufnahmestab (»Produktionsleiter, Regisseur, Kame- den (I, 451; VII, 370 u. Fußnote 370f.), erscheinen in
ramann, Tonmeister, Beleuchter<<, sodann der »Cut- dieser Hinsicht zu vage.
ter<<, I, 448). »>m Lichte der Jupiterlampen spielen und Sehr viel bedeutsamer (und noch genauer zu ver-
gleichzeitig den Bedingungen des Mikrophons zu ge- folgen) ist hingegen Benjamins Rehabilitierung der
nügen, ist eine Testleistung ersten Ranges<< (I, 450). »taktilen<< bzw. »haptischen<< Dimension der Wahrneh-
Und dieses Spielenkönnen, d. h. unter den Bedingun- mung. Die »stoßweise<< auf den Beschauer eindringen-
gen der technischen Reproduzierbarkeit zu spielen, den Filmbilder verlangen der optischen Wahrnehmung
wird einem weiteren Test ausgesetzt, indem das Ge- eine »taktile Rezeption<< ab (I, 466 a.F. u. I, 464, 502).
filmte »unbegrenzt vielen sichtbar<< (I, 454) gemacht Benjamin hat hier Anregungen von Henri Focillon
werden kann. Das meint Benjamins wiederholte For- erfahren, den er in den Vorarbeiten mehrfach nennt.
mulierung von der »Ausstellung vor der Masse<<. »Der Darüber hinaus verarbeitet er, wie vermittelt auch im-
Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus mer, Anstöße, die der zeitgenössischen Wahrneh-
244 Messianismus, Ästhetik, Politik

mungsphysiologie entstammen. In dieser Forschung struktion gestattet, die sich auf den Begriff des Opera-
-etwas von David Katz zum >>Aufbau der Tastwelt<< - teurs stützt, welcher von der Chirurgie her geläufig ist<<
ging es nicht bloß um die experimentelle Meßbarkeit (dieses Zitat und die folgenden: I, 458 f. a.F.). So ergibt
des Feingefühls der Hand, sondern um ein neues Me- sich eine Gegenüberstellung von Chirurg und prakti-
dienparadigma der Psychophysik (vgl. hierzu Pethes schem Arzt, der noch die magische Autorität des
2000). Handauflegens kennt, während der Chirurg »im ent-
scheidenden Augenblick« darauf verzichtet, dem Kran-
ken sich von Mensch zu Mensch gegenüberzustellen;
Blaue Blume »er dringt vielmehr operativ in ihn ein.<< Damit führt
Benjamin beide Vergleiche zusammen: »Magier und
Mit dem Komplex Testleistung - Ausstellungswert ist Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann.
Benjamins Analyse der filmischen Produktion erst Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche
nach der einen Seite erfaßt. In dem Abschnitt, der in Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen
der ersten Fassung den Titel »Maler und Kamera- dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein.<< Die Ge-
mann<< trägt, wird die filmische Aufzeichnung noch genüberstellung betrifft aber nicht allein die grund-
auf andere, sehr überraschende Weise analysiert. sätzliche Funktion der Hand, sondern mehr noch das
Zunächst setzt Benjamin noch einmal mit dem Ver- Bild der Realität, das jeweils entsteht. »Die Bilder, die
gleich Film - Theater ein. Die Filmaufnahme, heißt es beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das
hier, »bietet einen Anblick, wie er vorher nie und nir- des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein
gends denkbar gewesen ist. Sie stellt einen Vorgang dar, vielfaltig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem
dem kein einziger Standpunkt mehr zuzuordnen ist, neuen Gesetz zusammenfinden.<<
von dem aus die zu dem Spielvorgang als solchen nicht Dieses neue Gesetz ist das Gesetz des filmischen
zugehörige Aufnahmeapparatur, die Beleuchtungsma- Bildraums, der nur auf den ersten Blick der Logik der
schinerie, der Assistentenstab usw. nicht in das Blickfeld Narration folgt, vielmehr dem Prinzip einer grund-
des Beschauers fiele<< (I, 458 a.F.). Dies ist beim Theater sätzlichen Assoziierbarkeit und Montierbarkeit seiner
anders. Denn die Theaterproduktion ist immer auf eine Elemente gehorcht. Daraus ergibt sich die zunächst
Stelle, den Ort des Zuschauers, ausgerichtet, wo der überraschende Feststellung: »Der apparatfreie Aspekt
Illusionscharakter der Darstellung für sich besteht und der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden
die Kulisse, die Türen für den Abgang des Schauspielers, und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zu der
der Schnürboden usw. einAußen bildet. »Der Aufnah- blauen Blume im Land der Technik.<<
meszene im Film gegenüber gibt es diese Stelle nicht. Träumt Benjamin sich hier nostalgisch in einen vor-
Dessen illusionäre Natur ist eine Natur zweiten Grades; technischen, vorreproduktionstechnischen Zustand
sie ist ein Ergebnis des Schnitts<< (ebd. a.F.). zurück? Worauf die überlegungen zielen, wird deut-
Die Argumentation nimmt noch einmal den Gedan- licher, wenn wir den noch nicht zitierten Schlußsatz
ken auf, daß bei der Filmproduktion vor der Kamera des Abschnitts hinzunehmen, der den Satz von der
kein Kunstwerk inszeniert wird, während jede Thea- Blauen Blume variiert. »So ist die filmische Darstellung
terprobe immer schon als Kunstleistung vor den vir- der Realität für den heutigen Menschen darum die
tuell anwesenden Zuschauern stattfindet. Der Film unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den appa-
kann deshalb Illusionswirkung nur dadurch erzielen, ratfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunst-
daß er jenen Anblick, der der Aufnahme des Films werk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer
entspricht, tilgt. (Sonst ergäbe sich ein Dokumentar- intensivsten Durchdringung mit der Apparatur ge-
film über die Filmaufnahme.) Daraus folgert Benjamin währt<< {I, 459 a.F.).
weiter, daß die »illusionäre Natur<< des Films als »eine Diese intensive Durchdringung mit der Apparatur,
Natur zweiten Grades<< hergestellt wird. Diese beruht die ja auch in anderen Abschnitten für den Filmschau-
wesentlich auf der Montage, wie dies schon in einem spieler wie für das Kinopublikum beschrieben wird,
vorangegangen Abschnitt erläutert wurde, der zum ist offenkundig nicht bloß im Sinne apparativ-techni-
ersten Mal vom Filmstudio handelt. Dort hieß es: »Das scher Naturbeherrschung zu verstehen. Dagegen
Kunstwerk entsteht hier erst auf Grund der Montage<< spricht auch schon der deutliche Akzent, den Benjamin
(VII, 364; I, 449 u. 721). auf die zerstreute, dekonzentrierte Wahrnehmung
Von hier aus ergibt sich ein weiterer Vergleich, in setzt, die einer objektivistischen Lesart von Reprodu-
dem noch ein weiterer eingeschachtelt ist. Benjamin zierbarkeit entgegensteht. Und gerade hier erweist sich
fragt: »wie verhält sich der Operateur [d. h. der Kame- die Rede von der Blauen Blume als bedeutsam. Denn
ramann, d. Verf.] zum Maler? Hier sei eine Hilfskon- es wird ein Zusammenhang zur frühromantischen
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 245

Naturspekulation eines Novalis und eines Ritter her- löst gebliebenen Probleme verdeckt. Dies läßt sich
gestellt, die ja keineswegs technikfern angelegt war, einer weiteren Nachlaßnotiz entnehmen: >>Je weiter die
sondern das Experiment (die Apparatur) und das Ex- Entwicklung der Menschheit ausgreift, desto offen-
perimentieren (das Hervorrufen von unbekannten kundiger werden die die erste Natur (und zumal den
Kräften) ins Zentrum rückte. Der entscheidende Ge- menschlichen Leib) betreffenden Utopien zugunsten
danke ist, daß erst aus der >>intensiven Durchdringung der die Gesellschaft und die Technik angehenden zu-
mit der Apparatur<< der >>apparatfreie Aspekt« hervor- rücktreten. Daß dieser Rücktritt ein provisorischer ist,
gebracht wird. Hier ist mehr gemeint, als das bloße versteht sich dabei von selber« (VII, 665; vgl. weiter
>Vergessen des Medialen< in der eingewöhnten Rezep- VII, 666 und I, 1045).
tion. Gemeint ist vielmehr ein aus der Technisierung Der Leser der zweiten und der französischen Fas-
selbst entspringendes Nicht-Technisches oder besser sung wird hingegen die Passagen zur zweiten Natur
Meta-Technisches. nicht vorfinden, sondern auf andere stoßen, in denen
Was hier vorläufig >Meta-Technisches< genannt wird, von einer >>zweiten Technik« die Rede ist. Ein synop-
ließe sich anschließen an weitere Überlegungen Ben- tischer Vergleich der vier Fassungen, wie sie in den
jamins, die aberangesichtseiner schwierigen Textlage Gesammelten Schriften ediert sind, ergibt folgendes
nur partiell zu rekonstruieren sind. Der Leser der er- Bild: Die erste, handschriftliche Fassung operiert mit
sten (handschriftlichen) Fassung trifft bei genauer dem Begriffspaar erster und zweiter Natur, dem die
Lektüre auf den Begriff der >>zweiten Natur«, den Ben- Technik zugeordnet wird. Dieses Begriffspaar wird mit
jamin bei Lukacs ( 1968, 235, bzw. Adorno 1973, 355) der Ausarbeitung der zweiten Fassung abgelöst und
und bei Nietzsche (1954, 230) gefunden hat, aber an- modifiziert durch die neue Unterscheidung zwischen
ders faßt. (Er sucht, was hier nicht dargelegt werden >>erster«, urzeitlicher und neuer, >>Zweiter Technik«
kann, diese Konzepte neu miteinander zu kombinie- (VII, 359 f. und 368 f. ), der die Natur zugeordnet wird.
ren). Während die erste Technik es auf magische Naturbe-
In einer Arbeitsnotiz aus dem Nachlaß wird die Dia- herrschung abgesehen hat, ist die zweite Technik auf
lektik von erster und zweiter Natur genauer skizziert. >>das Zusammenspiel zwischen der Natur und der
>>Begriff der zweiten Natur: Daß es diese zweite Natur Menschheit« ausgerichtet (VII, 359, vgl. I, 1048). Die
immer gegeben hat, daß sie aber früher von der ersten Terminologie von erster und zweiter Technik wird
nicht differenziert war und zur zweiten erst wurde, ebenso auch in der französischen Fassung, für die die
indem die erste sich in ihrem Schoß bildete. über die zweite Fassung die Grundlage darstellte, verwendet
Versuche, die zweite Natur, die einst die erste aus sich (>>seconde technique«: I, 716). In der dritten Fassung
hervorgehen ließ, in diese zurückzunehmen: Blut und schließlich kommt die Begrifflichkeit der zweiten
Boden. Demgegenüber notwendig, die Spielform der Technik gar nicht mehr vor.
zweiten Natur zur Geltung zu bringen [... ]« (I, Was hier vergleichsweise übersichtlich erscheint,
1045). kompliziert sich aber erheblich bei dem Versuch, die
Die zweite Natur hat sich im okzidentalen Prozeß in den Apparaten von Band I und von Band VII abge-
der ökonomischen Kapitalisierung und der naturwis- druckten zusätzlichen Texte und Textvarianten hinzu-
senschaftlichen Technisierung als gesellschaftliches zuziehen. Erst eine kritische Edition sämtlicher Texte
Gefüge verselbständigt und verfestigt. Entsprechend zum Komplex des Kunstwerkaufsatzes könnte die Ba-
heißt es: Die neuzeitliche >>Technik steht nun aber der sis für genauere Aufschlüsse abgeben.
heutigen Gesellschaft als eine zweite Natur gegenüber
und zwar, wie Wirtschaftskrisen und Kriege beweisen,
als eine nicht minder elementare wie die der Urgesell- Freud. Das Optisch-Unbewußte
schaft gegebene [Natur] es war« (I, 444f.).
Damit entsteht ein Verdeckungsverhältnis, in dem Im anschließenden Abschnitt wird in atemberauben-
die technische Beherrschung der natürlichen Kräfte der Verkürzung eine komplexe Freudrezeption expo-
und die organisatorische Beherrschung der gesell- niert, die in allen vier Fassungen vorhanden ist. (Die
schaftlichen Elementarkräfte nicht mehr auseinander- wichtige Passage über Mickey Mouse, Chaplin und den
gehalten werden können. Die Technik wird zur zweiten amerikanischen Groteskfilm fehlt allerdings in der
Natur und verdeckt die erste bzw. erscheint als >die dritten Fassung).
Natur<. Deshalb kann Benjamin sagen, daß der Mensch Benjamin führt hier als neuen Begriff den des >>Üp-
diese zweite Natur >>zwar erfand [... ] aber schon längst tisch-Unbewußten« ein. Vom >>Üptisch-Unbewußten«,
nicht mehr meistert« (I, 444). Mit dieser Verdeckung heißt es, erfahren wir erst durch die Filmkamera, >>wie
werden aber auch die im Feld der ersten Natur unge- von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoana-
246 Messianismus, Ästhetik, Politik

lyse<< (I, 461 a.F.). Wie ist das gemeint? Worauf zielt Die Trickfilmfigur der Mickey Mouse hatte Benja-
überhaupt die Parallelisierung? min schon früher beschäftigt (vgl. II, 218f. u. VI,
Eine Analogie zwischen der Filmrezeption im dunk- 144 f.). Nun heißt es präziser: >>die mannigfachen As-
len Kino mit dem nächtlichen Träumen ist hier nicht pekte, die die Aufnahmeapparatur der Wirklichkeit
intendiert. Diesem schon damals gängigen Vergleich abgewinnen kann, liegen zum großen Teil nur außer-
folgt Benjamin nicht. halb eines normalen Spektrums der Sinneswahrneh-
Statt beim Traum, setzt Benjamin bei Freuds Psy- mung. Viele der Deformationen und Stereotypen, der
chopathologie des Alltagslebens ein. >>Der Film hat un- Verwandlungen und Katastrophen, die die Welt der
sere Merkwelt in der Tat mit Methoden bereichert, die Optik in den Filmen betreffen können, betreffen sie
an denen der Freudschen Theorie illustriert werden in der Tat in Psychosen, in Halluzinationen, in Träu-
können. Eine Fehlleistung im Gespräch ging vor fünf- men<< (I, 462). Und Benjamin folgert weiter, daß die
zig Jahren mehr oder minder unbemerkt vorüber. [... ] »Verfahrungsweisen der Kamera<< Mechanismen nach-
Seit der >Psychopathologie des Alltagslebens< hat sich bilden, dank deren sich >>die Kollektivwahrnehmung
das geändert. Sie hat Dinge isoliert und zugleich ana- die individuellen Wahrnehmungsweisen des Psycho-
lysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im breiten tikers oder des Träumenden zu eigen zu machen ver-
Strom des Wahrgenommenen mitschwammen. Der mag«.
Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, In dieser Hinsicht erzeugt die Kamera tatsächlich
und nun auch der akustischen, eine ähnliche Vertie- eine Art kollektives Unbewußtes, das nur apparativ
fung der Apperzeption zur Folge gehabt<< (nur dritte erzeugt werden kann. Damit gelangt Benjamin zu einer
Fsg.: I, 498). erstaunlichen politischen Diagnose. Er schreibt: »Wenn
Anschließend wird (in allen Fassungen) näher aus- man sich davon Rechenschaft gibt, welche gefährlichen
geführt, wie die bewegliche Kamera »mit ihren Hilfs- Spannungen die Technisierung mit ihren Folgen in den
mitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbre- großen Massen erzeugt hat- Spannungen, die in kri-
chen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des tischen Stadien einen psychotischen Charakter anneh-
Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern<< men - so wird man zu der Einsicht kommen, daß die
operiert. Damit bringe sie Anblicke hervor, wie sie als selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen
Wiedergabe der Umwelt vorher nicht möglich waren. sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch ge-
Dann fällt die erstaunliche Formulierung: >>So wird wisse Filme geschaffen hat, in denen eine forcierte
handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Entwicklung sadistischer Phantasien oder sadomaso-
Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem chistischer Wahnvorstellungen deren natürliches und
dadurch, daß an die Stelle eines vom Menschen mit gefährliches Reifen in den Massen verhindern kann.
Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt Den vorzeitigen und heilsamen Ausbruch derartiger
durchwirkter tritt<< (I, 461 a.F.). Massenpsychosen stellt das kollektive Gelächter dar.
Zur Erläuterung spricht Benjamin vom bislang un- Die ungeheuren Massen grotesken Geschehens, die zur
gesehenen >>Griff nach dem Feuerzeug oder dem Löf- Zeit im Film konsumiert werden, sind ein drastisches
fel<<, den erst die Filmkamera in Großaufnahme oder Anzeichen der Gefahren, die der Menschheit aus den
verschobener Perspektive reproduktiv zugänglich Verdrängungen drohen, die die Zivilisation mit sich
macht. Der Anblick läßt, wie eine beobachtete Sym- bringt<< (I, 462). Dann folgt der Hinweis, daß die ame-
ptomhandlung, die >>verschiednen Verfassungen,[ ... ] rikanischen Groteskfilme, insbesondere Disneys Mik-
in denen wir uns befinden<< erahnen. Und er läßt er- key Mouse und Chaplin eine >>therapeutische Spren-
ahnen, >>was sich zwischen Hand und Metall [... ] ei- gung des Unbewußten<< (ebd.) bewirken könnten.
gentlich abspielt<<. Registrierbar werden »völlig neue Wir müssen aus Umfangsgründen auf eine differen-
Strukturbildungen der Materie<<, was an die obigen zierte Diskussion von Benjamins hochinteressanter
Ausführungen zur Blauen Blume erinnert (I, 461 a.F.), Freudrezeption verzichten. Gerade über die psycho-
über die Alltagswahrnehmung (>>Auge<<) hinausreicht analytische Fundierung des Grotesk-Komischen ge-
und in diese nicht integrierbar ist. winnt die abstrakte Rede von der filmischen Schock-
Es muß hier offen bleiben, ob Benjamin parallel rezeption präzisere Konturen, indem sie mit dem In-
zum Trieb Freuds, der sich jeder direkten Darstellung nervationsgedächtnis des Infantilen verknüpft wird.
entzieht, etwas Analoges für das Optisch-Unbewußte Ebenso müssen wir hier auch beiseitelassen, daß Ben-
annimmt. Jedenfalls folgt dann eine entschlossene jamin mit dem Trickfilm, wie die Arbeitsnotizen zum
Wendung zur Psychopathologie der Massen. In ihrem Kunstwerkaufsatz zeigen, seine alten überlegungen
Zentrum steht Chaplin, der frühe Mickey Mouse-Ton- über Zeichen und Mal neu aufgreift (vgl. zu beidem
film und das Kollektivgelächter. Lindner 2004 u. zu letzterem Leslie 2002).
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 247

Das Massenpublikum des Kinos wird an dieser ex- lierung heißt entsprechend der Film ein >>Übungsin-
ponierten Stelle des Kunstwerkaufsatzes als ein lachen- strument<< der Massen (VII, 381; I, 506).
des beschrieben, das ständig neue Schocks konsumiert. Von eminenter Bedeutung bleibt nun aber, daß die
Dem korrespondiert, daß politische >>Spannungen[ ... ] massen-spekulativen Überlegungen grundsätzlich in
in kritischen Stadien einen psychotischen Charakter einer Perspektive angestellt werden, die den Ort der
annehmen<< (I, 462 ohne 3. Fsg.). Benjamin konstatiert, Kunst neu zu bestimmen suchen. In der Bewältigung
daß die Groteskfilme nicht bloß albern sind und von der ihm entgegentretenden Bedrohungen sei der
Sorgen ablenken, sondern in ihrer Motorik und Bil- Mensch heute >>genauso auf einen Lehrgang angewie-
derwelt eine kollektive Psychotisierung hervorrufen. sen wie einst<< gegenüber der ersten Natur. >>Und wie-
Dem hatte Chaplins Film vorgearbeitet, indem er die der stellt sich in dessen Dienst die Kunst<< (I, 445; vgl.
Masse aus der Mechanik des Massenverhaltens löst: VII, 359). Was mit diesem >>Lehrgang<< gemeint ist, war
>>das Gelächter lockert die Masse auf<< (VI, 103). grundsätzlich ausgesprochen in dem Satz: >>Die unge-
Das Kino habe, so lautet die Konsequenz, die Ben- heure technische Apparatur unserer Zeit zum Gegen-
jamin zieht, die Möglichkeit einer >>psychischen Imp- stande der menschlichen Innervation zu machen- das
fung<< (I, 462 ohne 3. Fsg.) geschaffen: gegen das Auf- ist die geschichtliche Aufgabe, in deren Dienst der Film
kommen sadomasochistischer Wahnvorstellungen, wie seinen wahren Sinn hat<< (I, 445).
sie der Faschismus und- so müssen wir nachträglich Wenn Benjamin also in allen Fassungen des Kunst-
hinzufügen - der Stalinismus organisieren. werkaufsatzes den Film in diesem Sinne ein kollektives
Dem liegt eine präzise politische Analyse zugrunde. >>Übungsinstrument<< nennt, so ist damit gerade nicht
Illusionslos konstatiert Benjamin die ansteigende Pa- gesagt, der Film werde zu Zwecken technischen Trai-
thologie der Massen. Er zeigt sich überzeugt, daß sie nings instrumentalisiert. Wie schon am Beispiel der
durch politische Organisation allein nicht zu bewälti- Groteskfilme gezeigt, werden diesem Kunstmedium
gen ist, ja, daß eher umgekehrt die politische Massen- technischer Reproduzierbarkeit Aufgaben zugewiesen,
formierung in der Zeit nach dem Weltkrieg Psychosen die es nur als Kunstwerk erfüllen kann und an dessen
als kollektive Disposition etabliert hat. Impfung heißt Fortbestand gebunden bleiben. Es handelt sich freilich
ästhetisch erzeugter und künstlich beschleunigter Aus- -wie die Rede von der >>Zerstreuung<< zeigt- um Auf-
bruch von Massenpsychosen, der sich gegen ihre >na- gaben oder Funktionen, welche in der Tradition der
türliche< Reifung (etwa im Krieg) richtet. Sie findet im Ästhetik dem Kunstwerk als Gegenstand kontempla-
Kino statt, das damit als Infektionsanstalt begriffen tiver Versenkung gerade verwehrt werden sollten.
wird. Es ist eine Infektionsanstalt, in der die Massen Benjamin geht es um eine fundamentale Revision
ihren Führern entfremdet werden, indem sie Outsi- der Ästhetik. Sie erschöpft sich nicht in deren bloßer
dern von ganz anderer, totalitär unbrauchbarer Star- Verwerfung oder in einer Ratifizierung medientech-
qualität wie Chaplin oder Mickey Mouse folgen. Sie nologischer Trends. Er setzt deren bisherige Geschichte
erscheinen als Saboteure der beginnenden Kulturin- auf den Prüfstand.
dustrie, als lachende Selbsttherapeuten gegen faschi- Und das hat durchaus Methode. Im Kunstwerkauf-
stische und stalinistische Kollektivpsychosen und als satz hat Benjamin seine Dialektik als experimentelle
Hoffnungsfiguren eines befreienden Umbaus der kol- Methode erprobt und freigelegt wie sonst in keinem
lektiven Wahrnehmungsweise. Text. Die Methode besteht nicht allein in der Kühnheit,
mit der neue Begriffe erfunden oder gegebene neu
definiert werden, sondern vor allem in einem Denken
Denken in Polaritäten. in Polaritäten.
Neubestimmung der Mimesis Der argumentative Duktus, der DAs KuNSTWERK IM
ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBAR-
Benjamins psychoanalytische Überlegungen zur Mas- KElT bestimmt, wird immer wieder und auf verschie-
senimpfung durch die Groteskfilme sind hochinteres- denen Ebenen von Polarisierungen vorangetrieben:
sant, aber man wird daraus kein Rezeptionsmodell Urzeit- Gegenwart; Ausstellungswert- Kultwert; Sa-
ableiten können, das den Kunstwerkaufsatz insgesamt kralität- Profanität; Maler- Chirurg; Kino- Theater;
fundiert. Die Grundthese, die die Abhandlung in allen Kontemplation - Zerstreuung usw.
vier Versionen herausstellt, richtet sich auf die Vorstel- Aus dieser Beobachtung ergibt sich eine wichtige
lung, es sei Aufgabe des Kunstwerks im Zeitalter seiner Einsicht, die bei jeder Lektüre der Texte des Kunstwerk-
technischen Reproduzierbarkeit, ein Gleichgewicht aufsatzes zu beachten wäre. Benjamin denkt in polaren
zwischen Mensch und Natur bzw. zwischen Mensch Konstellationen, die sich anders als Hegels Dialektik
und Technisierung herzustellen. In knappster Formu- der Negation und der Aufhebung nicht als Gegensatz
248 Messianismus, Ästhetik, Politik

zugunsten des Subjekt-Pols auflösen. Die zentralen Mit der Neubestimmung der Mimesis hat Benjamin
Kategorien bilden sozusagen Ellipsen mit doppelten einen Fluchtpunkt bezeichnet, der für die heutige Dis-
Brennpunkten (Polen). Das Gewicht der Pole zuein- kussion von besonderer Wichtigkeit ist. Explizit wird
ander verschiebt sich je nach historischer Konstella- dies nur in der zweiten Fassung vorgenommen. Aber
tion, aber die Polbildung selbst bleibt dabei bestehen. in allen Fassungen benutzt Benjamin den Terminus
Das erklärt auch die eigentümliche Resistenz der Ab- des >>Spielraums<< I, 461; VII, 376; I, 500; I, 730 >>champ
handlung gegenüber allen Versuchen vorschneller d'action<<). Hier wird drastisch der neue Spielraum im
interpretatorischer Vereindeutigung. Man mag im Na- Bild einer Sprengung gefaßt, das in deutlicher Replik
men Benjamins die Aura verabschieden wie man will, zu Platos Höhlengleichnis steht. >>Unsere Kneipen und
sie kehrt hinterrücks wieder; man mag ihre Wieder- Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zim-
kehr gegen den Autor feiern, so stellt sich doch sofort mer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns
ein beklommener Zweifel an ihrem Bestand ein. Und hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und
wenn man, wie eingangs zitiert, den Kunstwerkaufsatz hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelse-
als Totenglocke für die Kunst lesen will, so wird man kunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren
feststellen müssen, daß niemals ein besseres Memento weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche
Mori für ihr Fortleben gehalten wurde. Reisen unternehmen.<< (Dies ist eine Formulierung,
Das Denken in Polaritäten ermöglicht Benjamin, die Benjamin bereits 1927 in der Besprechung des Pan-
auf eine ästhetische Kategorie zu rekurrieren, die doch zerkreuzers Poternkin verwendet: II, 752). Und was hier
spätestens seit der Entdeckung der technischen Repro- in bezug auf den filmischen Raum gesagt wurde, gilt
duzierbarkeit des Kunstwerks gänzlich obsolet erschei- in anderer Weise schon für die technische Reprodu-
nen müßte: die der Mimesis. Der überkommene Be- ziertheit des Filmmediums überhaupt. In ihm ist als
griff der Mimesis gibt ihm Anlaß zu einer Neubestim- technisches Apriori die Einmaligkeit des Ortes des
mung. In einer der Nachlaßnotizen, aus denen schon Originals gesprengt.
auszugsweise zitiert wurde, heißt es: >>Die Kunst ist ein Miriam Hansen hat die Idee des Spielraums mit
Verbesserungsvorschlag an die Natur, ein Nachma- Recht ins Zentrum einer Neulektüre des Kunstwerk-
chen, dessen verborgenstes Innere ein Vormachen ist. aufsatzes gestellt. Sie zeigt auf, wie bei Benjamin in
Kunst ist, mit andern Worten, vollendende Mimesis<< vielfältiger Weise auf das Spiel und das Spielen rekur-
(I, 1047). riert wird (Hansen 2004). Sie zieht u. a. auch Caillois'
Es heißt »vollendende<<, nicht: vollendete Mimesis. kulturgeschichtliche Analyse der Spiele heran (Caillois
Das Partizip Präsens bezeichnet einen Vorgang, der 1982), was in zweifacher Hinsicht erhellend ist. Zum
seinen Abschluß aufschiebt, indem er ihn anstrebt. Die einen ist Caillois' Schematisierung der Spielformen
Kunst möchte qua Mimesis immer aufs Neue die Na- ebenfalls an Polaritäten ausgerichtet und berührt sich
tur verbessern. Anders aber als die metaphysisch-mes- insofern mit Benjamins Interesse. Zum andern aber
sianische Perspektive der unerlösten, todverfallenen vermeidet er geradezu ängstlich jede nähere Bezug-
Natur, wie sie das Trauerspielbuch aufruft, anders auch nahme auf die Kunst und die Geschichte der Ästhetik,
als die Perspektive der Erlösung, wie sie die Wahlver- so daß sich auf dieser Folie die andersartige Perspek-
wandtschaftsarbeit aufruft, wird der Kunst im Kontext tive Benjamins um so deutlicher abhebt.
der reproduktionstechnischen Aurakrise sehr viel Etwas schematisch lassen sich Benjamins überle-
mehr zugetraut. Denn hier erweist sich, daß Mimesis gungen (mit Hauptbezug auf die Passagen VII, 360 u.
nicht bloß in einer archaischen Praxis der Nachah- 368 f.; VII, 667 f.) folgendermaßen darstellen. Das
mung besteht, sondern ein unabgeschlossenes histo- Kunstwerk hat seinen Ursprung im Kult, der das Äs-
risches Spannungsverhältnis in sich schließt. Mimesis thetische noch nicht als gesondertes kennt. >Kunst< ist
kann nicht vollenden, und sich nicht vollenden, weil hier reiner Kultwert, in dem die Pole Schein und Spiel
sie in zwei entgegengesetzte Bestrebungen verpuppt noch ungeschieden und unscheidbar bleiben. Die Aura
ist. So heißt es in der zweiten Fassung: >>In der Mime- stellt sich dar als >>das Heilige<< (VII, 677). In diesem
sis schlummern, eng ineinander gefaltet wie Keimblät- Kontext, und nicht etwa im Rekurs auf die griechische
ter, beide Seiten der Kunst: Schein und Spiel. Dieser Ästhetik, führt Benjamin den Mimesisbegriff ein. Er
Polarität kann freilich der Dialektiker nur Interesse bestimmt Mimesis >>als Urphänomen aller künstleri-
entgegenbringen, wenn sie eine geschichtliche Rolle schen Betätigung<< (VII, 666). Sie ist magischen Ur-
spielt<< (I, 368; vgl. VII, 668). Geschichtliche Wirksam- sprungs und findet ihre erste Stabilisierung im Ritual.
keit entspringt dem Kräfteverhältnis zwischen beiden In ihm bildet, wie es an der eben zitierten Stelle weiter
Polen, deren einer nie ohne einen mindestens rudi- heißt, der Leib des Nachahmenden das Medium des
mentären Bestandteil des anderen bestehen kann. ältesten Nachahmens, erste >>Manifestation der Mime-
»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 249

sis<<. Und in einer anderen Notiz heißt es lapidar: >>der der sich im Spielpol regeneriert. Wie weit Benjamin
Leib ist die zentrale Instanz des Magischen<< (VII, 676). diesen Horizont fassen möchte, belegt die Notiz:
In dieser leibzentrierten Mimesis sind die magische >>Spielelemente der neuern Kunst: Futurismus, atonale
Beschwörung einer Sache und das Nachspielen einer Musik, poesie pure, Kriminalroman, Film<< (I, 1048).
Sache noch nicht getrennt. Insofern kann es keineswegs überraschen, daß diese
Der kultische Grund besteht historisch weiter in der Perspektive des Kunstwerkaufsatzes erst jetzt unter den
klassischen Kunstauffassung der Griechen, die auf dem Bedingungen elektronisch-digitaler Reproduzierbar-
Mimesisbegriffberuht Diese Mimesisvorstellung wird keit beginnt, verstärkte Aufmerksamkeit zu finden. Die
wesentlich im Feld der Nachahmung artikuliert, näm- Neubestimmung der Mimesis in der Polarisierung von
lich als Abbild( ungs )relation. Ob auf die Idealität von Schein und Spiel eröffnet die Chance, das politisch-
Wahrheit (Plato) oder auf die von Wahrscheinlichkeit analytische Rüstzeug, das bei Benjamin geschichtlich
(Aristoteles) bezogen, wird das Schöne des sinnlichen hinterlegt ist, neu zu denken.
Scheins und der Rede nicht in einem Verhältnis zum In einer Situation, wo mehr Gegenwartskunst pro-
Spiel gedacht, sondern primär erkenntniskritisch be- duziert wird als je zuvor und sich der Spielraum der
stimmt. Künste fast unübersehbar erweitert hat, ist sein Ein-
Die Geschichte des SpieJens und der Spiele vollzieht spruch gegen einen Kunstdiskurs, der postavantgardi-
sich auch danach weithin außerhalb der Artes liberales. stisch die korrumpierten Auravorstellungen des 19.
Die Kunstlehren tradieren den kultischen Charakter Jh.s weiter mitschleppt und neu aufputzt, um so drin-
des Kunstwerks; die Formen der Spiele erhalten hin- gender nötig.
gegen eine subalterne, vom Bereich der Kunst ausge-
schlossene Position zugewiesen. Werk
In den Ästhetiken des deutschen Idealismus begin- DAs KuNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
PRODUZIERBARKEIT (Erste Fassung I, 431-469)
nen zwar Schein und Spiel in ihrer Polarität auseinan- (Zweite Fassung VII, 350-384)
derzutreten, aber verbleiben noch in der Dominanz (Dritte Fassung I, 471-508)
der Ästhetik als Lehre vom Schönen Schein. Zudem L'CEUVRE D'ART AL'EPOQUE DE SA REPRODUCTION MECANISEE
wird der Ursprung der Kunst in kultischer Mimesis (I, 709-739)
Paralipomena zum Kunstwerkaufsatz (I, 1037-1051; VII,
durch die Lehre vom Genie verdeckt. Die Erfahrung 665-680 und 687-689)
des SpieJens blieb in der Ästhetik bis ins 19. Jh. über- Titelloses Manuskript (VII, 815-823)
lagert vom ScheinpoL ERWIDERUNG AN ÜSCAR A.H. SCHMITZ (II, 751-755)
Der vom Scheinpol überlagerte Spielpol der Mime- GESPRÄCH MIT ANNE MAv WoNG. EINE CHINOISERIE AUS
DEM ALTEN WESTEN (IV, 523-527)
sis drängt nun, indem das Kunstwerk ins Zeitalter >>Hitlers herabgeminderte Männlichkeit [... ]<< (VI, 103 f.)
seiner technischen Reproduzierbarkeit tritt, hervor. DER KAMPF DER TERTIA. ZuR BERLINER URAUFFÜHRUNG (IV,
Nunmehr beginnt der Spielpol den Scheinpol zurück- 532-533)
zudrängen. Dies vollzieht sich im Massenmaßstab, KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE (II, 368-385)
Rez. zu Encyclopedie Bd. 16 u. 17: Artset Iittera-
doch zugleich als neuer >>Spielraum<< des >>Individu- tures dans Ia societe contemporaine, Paris 1935 f. (III,
ums<< (I, 360). 579-585)
Benjamins Interesse am Spiel durchzieht das ganze RüCKBLICK AUF CHAPLIN (III, 157-159 u. VI, l37f.)
Werk. Die Skala reicht vom Sammelinteresse an Kin- SPIELZEUG UND SPIELEN. RANDBEMERKUNGEN ZU EINEM Mo-
NUMENTALWERK (III, 127-132)
derspielzeug und Spielfibeln über die Reflexion kind- ZUR LAGE DER RUSSISCHEN FILMKUNST (II, 747-751)
lichen SpieJens in Rezensionen und autobiographi- Zu MICKY-MAus (VI, 144f.)
schen Texten, über das theatrale Spielen in allen Ver-
sionen bis zum Glücksspiel und zu den auf Literatur
Adorno, Theodor W. ( 1963 ): >>über den Fetischcharakter der
Spielbildungen beruhenden Phalansteres von Fourier.
Musik und die Regression des Hörens<<, in: ders.: Disso-
Einmal zusammengestellt, würden diese Texte eine nanzen, Göttingen, 9-45.
erstaunliche Sammlung bedeutender Einsichten und Adorno, Theodor W. (1967): >>Resume über Kulturindustrie<<,
Beobachtungen ergeben. in: ders.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a. M.,
60-70.
Man wird davon ausgehen können, daß Benjamin
Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, in: ders.:
das gesamte Spektrum des Spiels und des SpieJens im Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a.M.
Sinn hat, wenn er im Kunstwerkaufsatz das Spiel als Adorno, Theodor W. (1973): >>Die Idee der Naturgeschichte<<
Gegenpol zum Schein (und seinem Spektrum) in der [1932], in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt
a.M., 345-365.
Mimesis fundiert. Die Energien des Spiels, die sozusa-
Adorno, Theodor W./Walter Benjamin (1994): Briefwechsel
gen der Kunst geschichtlich entlaufen sind, sollen zu- 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a.M. (insbes.
rückgebunden werden auf den Ort des Kunstwerks, Briefvom 18.3.1936, 168-177).
250 Messianismus, Ästhetik, Politik

Adorno, Gretel!Walter Benjamin (2005): Briefwechsel, hg. v. Hillach, Ansgar (1978): »>Ästhetisierung des politischen Le-
Christoph Gödde/Henri Lonitz, Frankfurt a.M. bens.< Benjamins faschismustheoretischer Ansatz- eine
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Die Passagenarbeit
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in: ders.: Werke. Bd. 6 (Zur Ästhetik und Philosophie der
Künste), hg. v. Türgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M.,
Apparat zusammengestellt, ein Quellenverzeichnis
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Lynda Need (Hg.): The actualityofWalter Benjamin. Lon- komplizierten Werdegangs gelegt.- Zu empfehlen ist,
don, 156--171.
daß die Neuausgabe nicht mehr »Das Passagen-Werk<<,
sondern, wie Benjamin sie nannte, die Passagenarbeit
heißt. Sowohl das philosophische System als auch das
literarische Werk waren in seinen Augen brüchig ge-
worden, Prousts Lebenswerk ein letztes auf lange (II,
311), und sein eigenes, ein messianisch -alchimistisches
Grand (Euvre erst im Kommen.
Seitdem wurde viel und wenig zum Verständnis des
Projekts getan. Es folgten internationale Kongresse
(Frankfurt 1982; Paris 1983), Sammelbände (Bolz/
Witte 1984; Wismann 1986), Übersetzungen (Agam-
ben 1986; Lacoste 1989), eine Gesamtdarstellung des
Projekts (Buck-Morss 1989), ein kunst-und musikhi-
storisches Panorama einzelner Motive (Schalz/Raut-
mann 1997), eine dreibändige Untersuchung histo-
risch-politischer Aspekte (Blobel 1999-2000), eine
Rekonstruktion der Grundbegriffe ( Opitz/Wizisla
2000), ein Gruppenversuch, dessen »Aktualisierbar-
keit<< zu erproben (Schalz/Rautmann 2006). Mit der
amerikanischen Übersetzung kam die angelsächsische
Rezeption in Gang. Ein Internet-Link steht dem vir-
tuellen Flaneur zur Verfügung: http://www.g.peaker.
dsl.pipex.com/arcades/Passagenwerk.html.
Dennoch ähnelt die Passagenarbeit nach wie vor
jenen aus dem Verkehr gezogenen Dingen, an denen
sie sich ursprünglich entzündete- dem Sammelsu-
rium alter, vor sich hin träumender, in den Vitrinen
verfallender Passagen nach >>geheimen Affinitäten<< (V,
993) geordneter Sachen. Vom Trauerspielbuch schrieb
Benjamin, er habe die Probe darauf gemacht, wie weit
eine »strenge Beobachtung echter akademischer For-
schungsmethoden<< vom bürgerlichen Wissenschafts-
betrieb abführt (4, 18). Analoges gilt für das Passagen-
projekt. Das »Erwachen<< aus dem »Phantasmagorien<<
(1,408; V,59), um das es beiden geht, ist zugleich eines
aus dem akademischen Schlummer.
252 Messianismus, Ästhetik, Politik

Eine Sichtung der wachsenden Sekundärliteratur duellesleibgeistiges Ich (II, 161), sondern als das Or-
zur Passagenarbeit und der von ihr angeregten Arbei- gan des unterdrückten kollektiven Subjekts, das >>bei-
ten zur Medien-, Stadt- und Architekturgeschichte leibe kein Transzendentalsubjekt« (I, 1243) war, die
sowie zur Alltags- und Massenkultur tut dennoch not. unreduzierte Erfahrung der Moderne anhand von
Dies wäre indes ein eigenes Unterfangen gewesen. Hier strengen, aber beweglichen Schematisierungen und
geht es vielmehr um die Herausforderung, die in die- Kategorientafeln zu konstruieren. Und so wie das PRo-
sem oft totgesagten Projekt steckt. Es sei, so sein Autor, GRAMM die Erfahrung von Naturvölkern, Wahnsinni-
»von höchster praktischer Wichtigkeit<<, »das Meer gen und Kranken gegen den nüchternen, helleren
[... ],das wir befahren, und das Ufer, von dem wir ab- Wahnsinn der kantischen >>Erkenntnismythologie<< ins
stoßen<<, zu erkennen (V, 493). Wird im folgenden Feld führt (II, 161 f.), soll jeder Gedanke des Passagen-
besonderer Nachdruck auf Benjamins diesbezügliche projekts dem >>Wahnsinn<< (Adorno 1994, 147; 365)
Auseinandersetzung mit Adorno gelegt, dann auch um entrungen werden.
eines >>Abstoßens<< von beiden Denkern willen. Fast alle zwischen 1927 und 1940 entstandenen
>>Man wird mir nicht nachsagen können<<, schreibt Schriften Benjamins kreisen wie Satelliten um die halb
Benjamin von der Passagenarbeit, >>daß ichs mir leicht verdeckte Sonne der Passagenarbeit Mehr noch: auch
gemacht hätte<< (3, 368). Mit ihr hat man sich's bisher die frühesten und entferntesten Gedanken tragen >>ein
leicht gemacht. Samt der Fragen, die sie hinterläßt: War Telos auf diese Arbeit in sich<< (V, 570). So etwa der
sie exemplarisch und, wenn ja, wofür? Bleibt sie es? 1914 geschriebene Satz, daß die >>Elemente des End-
Oder ging sie fehl? Warum wird, innerhalb wie außer- zustandes<< als »gefährdetste, verrufenste und verlachte
halb der sogenannten Benjamin-Forschung, dieses Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart
experimentum crucis bei aller >>Würdigung<< (I, 1246) eingebettet<< (II, 75) sind. Rückblickend erweisen sich
letztlich ignoriert? Wie sind Antworten auf diese Fra- Benjamins gesammelte Schriften als die versprengten
gen vorzubereiten? Bruchstücke eines einzigen, werdenden, in ständigem
Die klügsten Köpfe geben sich heute lieber mit den Umbruch begriffenen Werks, das ein unendlich viel
>>geistvollen Formulierungen<< der theologischen Ju- dichteres und zugleich lockeres Gewebe darstellt als
gendschriften als mit den >>Lumpen<< (V, 574) ab, denen das >>Spinnennetz<< (I, 207) philosophischer Systeme.
sich der spätere, nüchternere, materialistische Benja- Das Ganze ist, so betrachtet, Passagenarbeit: Erkun-
min widmet. Indem er alles daransetzt, die >>Historie<< dung und Durchdringung des eigenen Gedankenmas-
zu schreiben, die wir >>brauchen<< (zit. I, 700), stellt er sivs. Es ist deshalb irreführend, hier vom romantischen
sein eigenes bisheriges Denken samt den Prioritäten Fragment (Adorno 1970, 37) oder garvon >>Fragmen-
der damaligen und heutigen Intelligenz auf die tarismus<< (Schöttker 1999) zu sprechen, es sei denn in
Probe. diesem Sinn. Als >>Fragment[] der wahren Welt<< (I,
181) harrt das Bruchstück einer Vollendung, die »erst
der Messias selbst<< (II, 203) verleihen wird. Benjamins
Ökonomie des Scheiterns Texte sind somit auf eine >>Abgeschlossenheit<< (I, 207)
hin angelegt, die sie nicht vorwegnehmen dürfen. Die
>>Habe nun, ach! Philosophie... Durchaus studiert«. Die (aller)letzte Hand hätte folglich auch die zu Ende ge-
Passagenarbeit ist das Laboratorium eines Alchimisten, baute >>Skelettkonstruktion<< (Schöttker 1999, 215) der
wo Erfahrung unter den Bedingungen ihrer Unmög- Passagenarbeit nicht anlegen können. Aber die Rede
lichkeit erzeugt werden soll. Laut ÜBER DAS PRo- von >>Fragmentarismus<<- die Benjamin ohnehin als
GRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE (1917) wurde >>Einführung neuer Terminologien<< (I, 217) geahndet
Kants erkenntniskritische Leistung mit einem auf den hätte - läßt die Trümmer des Werks auf Kosten der
>>Nullpunkt<< (II, 159) reduzierten Begriffvon Erfah- Idee, die dort am Werke ist, erstarren.
rung erkauft. Daraus ergab sich die Aufgabe, vergleich- Gefahr und Erfahrung teilen - wie experience und
bare methodische Strenge mit einem erfüllten Begriff experience- dieselbe Wurzel. Der Augenblick der >>Er-
von Erfahrung zu vereinen. Die Passagenarbeit war kennbarkeit<<, in dem das >>wahre Bild der Vergangen-
Benjamins durch den Surrealismus hindurchgegange- heit« (1, 695) aufblitzt und der historische Materialist,
ner Versuch, dieses Programm zu verwirklichen. Da der >>für seine Person Geschichte schreibt<<, eine >>Er-
aber Kants >>niedere[r]<< (ebd.), ungeschichtlicher, auf fahrung<< (702) mit ihr macht, ist der Augenblick der
die Naturwissenschaften zugeschnittener Begriff von >>Gefahr<< (695). Diese Sätze aus Benjamins letzten
Erfahrung deren realer, weltgeschichtlicher Reduktion Thesen enthalten eine ganze Geschichts- und Erkennt-
entsprach, geriet ihre Rettung paradox. Sie stellte ein nistheorie in nuce und verweisen auf die historische
ungesichertes Experiment dar, nicht mehr als indivi- Erfahrung, die sie diktierte. Benjamins gefahrliebstes
Die Passagenarbeit 253

und gefährdetstes Unternehmen war die Passagenar- eine »Luftspiegelung<< des 19. Jh.s richtet, soll sie im
beit. Sie zwang ihn, sich in Reichweite der Bibliotheque Lichte eines »zukünftigen, von Magie befreiten Zu-
Nationale aufzuhalten, wo seine Papiere nach seiner stands<< (5, 193) zeigen. Es handelt sich ebenfalls um
Flucht Zuflucht fanden, und sie dürfte ihn daran ge- ein erträumtes »Oneiroskop<< (IV, 697): »Traumdeu-
hindert haben, Paris rechtzeitig zu verlassen. tung<< (V, 580) der unbewältigten Vergangenheit in
>>War er des endlichen Mißlingens erst einmal si- weltbürgerlicher Absicht (V, 493). Der historische Ma-
cher<<, heißt es 1938 von Kafka, »SO gelang ihm unter- terialist tritt als ein rationaler Hellseher, ein »rückwärts
wegs alles wie im Traum<< (6, 114). Dieses abgründige gewandter Prophet<< (V, 1237) auf, der sich an die Zu-
Epitaph könnte auf dem Grabstein der Passagenarbeit kunft zu erinnern und »die Gegenwart vorherzusehen <<
stehen. Seine >>Siege im Kleinen<<, so Benjamin 1932, (ebd.; Wohlfarth 1996) hat.
entsprechen den »Niederlagen im Großen<<, die die Wie bei Marx und Nietzsche, den ersten Zerstörern
»eigentliche Trümmer- oder Katastrophenstätte<< sei- des hydraköpfigen bürgerlichen Historismus, gelten
ner Produktion bilden (4, 112 f.). Die Passagenarbeit hier Geschichte machen und Geschichte schreiben, wie
wurde zum Umschlagplatz dieser Konkursmasse. vermittelt auch immer, als zwei Seiten desselben
über- und Untergang (Nietzsche), »Nachlaß zu Le- Kampfs. Die wahre Politik geht mit der wahren Ge-
benszeiten<< (Musil), »Bau<< (Kafka), chef d'ceuvre in- schichtsschreibung einher (I, 1231); die Gegenwart
connu (Balzac): sie war das große, aufgeschobene, kann nur über die Vergangenheit - genauer: die Ar-
aufgehobene Scheitern, das viele, gar nicht so kleine chäologie des Jüngstvergangenen (Lindner 1986)- er-
Siege- etwa den Kunstwerk-Aufsatz- zeitigte. reicht werden. Und umgekehrt: die Rettung der einen
Aus den Trümmern großer Bauten, so 1925 der setzt die der anderen voraus. Diese Wechselwirkung
Schluß des Trauerspielbuchs, spricht die Idee ihres verläuft indes asymmetrisch. Die Gegenwart (die Po-
Bauplans eindrucksvoller als von geringeren noch so litik) hat den Primat über die Vergangenheit (die Ge-
wohl erhaltenen. Der »gewaltige Entwurf<< des Trauer- schichte), die, nunmehr um sie kreisend, »zum dialek-
spiels sei daher zu Ende zu denken (I, 409). Was Ben- tischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußt-
jamin dort unternahm, ist für die Passagenarbeit zu seins<< (V, 491) wird. Darin liegt die »kopernikanische
leisten: das »Abgeschlossene<<(V, 589) (die »Toten- Wendung<< (490) dem Historismus gegenüber, der von
maske<< (IV, 107)) zu einem »Unabgeschlossenen<< (V, der Gegenwart nichts wissen will.
589) (der »Konzeption<< (ebd.)) zu machen. »Zu Ende<< Geht jede Geschichtsschreibung nolens volens von
denken heißt, der veränderten »Konstellation<< gemäß, ihrer Zeit aus, so hat dies möglichst wachsam zu ge-
in die unsere Epoche zur seinen getreten ist (I, 704), schehen. Denn ein »neuer Traumschlaf<< (494), der in
sie um-, ab- und weiterbauen. einen Alptraum zu münden droht, ist über Europa
gekommen. Benjamins Gegenwart stellt sich ihm als
die Verschärfung einer langen Krise dar, deren Weichen
Der »gewaltige Entwurf<<: im 19. Jh. gestellt wurden. Letzteres »hat den neuen
reculer pour mieux sauter technischen Möglichkeiten nicht mit einer neuen ge-
sellschaftlichen Ordnung zu entsprechen vermocht<<
Marx nimmt Kants Definition von Aufklärung beim (1257). Der Fortschritt- die sprengende Dialektik
Wort und schreibt die Emanzipation der Menschheit zwischen entfesselten Produktivkräften und befreiten
von ihrer »Vorgeschichte<< als kommunistisches Pro- Produktionsverhältnissen, auf die Marx setzen konnte
gramm fort. Die wahre Geschichte beginnt erst mit der - hat sich in entfesselte Regression verwandelt; die
klassenlosen Gesellschaft. Anders gesagt: »Solange es erstarrte Urgeschichte des Trauerspielbuchs wird vom
noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos<< Bild einer ins Verderben rasenden Lokomotive (I,
(V, SOS)- nämlich die »ewige Wiederkehr<< (I, 1234) 1232) überblendet. Auf diese Blockierung der histori-
der Vorgeschichte. Im Jahrzehnt des heraufziehenden schen Dialektik antwortet eine andere, rettende »Dia-
Faschismus- des »Mythos des zwanzigsten Jahrhun- lektik im Stillstand<< (V, 55). Zwischen der Gegenwart
derts<< (Rosenberg)- und des sich in Mythos verstrik- und ihrer Vorgeschichte kann und soll, zumindest im
kenden Sowjetkommunismus steht die Passagenarbeit Medium der Geschichtsschreibung, eine »Stillstellung<<
für einen auf Theologie und Psychoanalyse rekurrie- der homogen fortschreitenden Zeit stattfinden, die den
renden historischen Materialismus ein, der, alle drei »rechten Abstand<< (II, 439) zu beiden ermöglicht. Ver-
verändernd, auf eine andere Aufklärung, eine zweite gangenes wird aktualisiert, Gegenwart historisiert
Entzauberung der Welt zielt. Die »dialektische[] Op- (Ivernel1986). Letztere ist durch die sparsame Akzen-
tik<< (II, 307) des selbstgebauten »Teleskop [s] <<, das tuierung dessen, was sie am schwersten belastet (I, 698;
Benjamin durch den »Blutnebel<< der Gegenwart auf V, 585), und die Verfremdung ihrer »teuersten<< Phan-
254 Messianismus, Ästhetik, Politik

tasmagorien - Fortschritt, Kultur, Geschichte, auch insgesamt: Sie sind >>in mehr als einem Sinne [... ) re-
>>Aktualität<< (II, 241) als das Trugbild des >>Neuen und duziert<< (I, 1226). Keine Begriffsdichtung, sondern
Neuesten<< (242)- >>festzustellen<<. Irreins damit rückt intensive Verdichtung liegt vor. Diese Theorie der Ge-
das >>wahre<< Bild einer >>sehr bestimmten<<, bislang schichte muß daher Satz für Satz auseinandergelegt,
unterdrückten Vergangenheit, das im Augen-Blick der überdacht und weitergetrieben werden. Sonst kann
Epochen aufblitzt, bis zum Greifen nah. Diese Kon- ihre synthetische Begrifflichkeit, die an die >>mystische
junktion der Epochen macht die gegenwärtige Kon- Terminologie<< (I, 48) der Frühromantiker erinnert,
junktur- >>wahre Aktualität<< (246)- aus. nur noch wiederholt oder abgetan werden. Ihre Re-
Historische Erkenntnis wird hier als eine >>Technik zeption ist entsprechend ausgefallen. Zunächst viel
des Erwachens<< (V, 1006) konzipiert. Uneirrgelöste zitiert, aber eher aus »Einfühlung in den Besiegten<< als
Vorgeschichte kehrt aus aktuellem Anlaß wieder und im Sinne ihrer eigenen Zitiertechnik, wurde sie dann
drängt aufs Erwachen, auf praktische Erlösung hin. fallengelassen. Eine produktive Auseinandersetzung
Den Traum vergessen, heißt, ihn fortsetzen. Er ist des- steht weitgehend aus. Dies liegt wohl auch an der zir-
halb so zu vertiefen, daß man sich mit seiner Kraft von kulären Bewegung der aufeinander verweisenden Be-
ihm abstoßen kann. Die Frontlinien verlaufen durch griffe, die selber einen quasi-mythischen Bannkreis
den Traum. Der geheimen Waffe des Kapitalismus - bilden.
der Massenproduktion des Vergessens - steht eine Die Passagenarbeit stellt sich die Aufgabe, diese
andere entgegen: ein Schachautomat (I, 693 ), der wie Theorie ins Werk zu setzen und sich nicht mehr mit
Freuds magischer >>Wunderblock<< konstruiert ist. programmatischen Forderungen oder Teilkonkretio-
Diese ganze Theorie ist im Begriff des Sprungs ent- nen zu begnügen. Soll die Philosophie laut Marx welt-
halten, der den Fort-Schritt unterbricht (Stern 1982). lich und die Welt philosophisch werden, dann muß
Reculer pour mieux sauter: der Sprung nach vorn ist sich die Theorie auf die Empirie nicht nur theoretisch,
ein Sprung zurück. Der Historiker macht, wie jeder sondern praktisch-empirisch einlassen. Gerade der
Traum, einen >> Tigersprung ins Vergangene<<, der zu- historische Materialist hat das historische Material
gleich der >>dialektische [Sprung)<< ist, »als den Marx ernst zu nehmen. Daran haben die Autoren vom Ka-
die Revolution begriffen hat<< (I, 701). Hic Rhodos, hic pital und von PARIS, DIE HAUPTSTADT DES XIX. JAHR-
salta: jeder Augenblick ist potentiell dieser >>kleine[) HUNDERTS in den Nationalbibliotheken zweier kapi-
Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe<< (I, 683) talistischer Metropolen jahrelang gearbeitet- der eine,
- ein diskontinuierliches Jetzt, in dem >>die Wahrheit vom anderen ausgehend, als ein Passagen kreuz und
mit Zeit bis zum Zerspringen geladen<< (V, 578) ist. Er quer bahnender Spürhund. Ihr Weg führt vom »Elend«
erlaubt, ein fälliges Stück Vergangenheit aus dem Zeit- und von der >>Zuhältersprache<< der Philosophie in
kontinuum-eine citation a /'ordre du jour- >>heraus- deren Verweltlichung hinein.
zusprengen<< (I, 703). >>Durch die Aufweisung des Die Intelligenz seiner Generation, schreibt Benjamin
Sprungs in ihnen<< (V, 591) werden Dinge als 1927 im Hinblick auf seine Moskau-Reise, sei wohl die
>>Ursprungsphänomen[e)<< gerettet (I, 226). Die ur- letzte auf lange hinaus gewesen, die eine unpolitische
sprüngliche >>Einheit<< der Wahrheit bleibt jedoch als Erziehung genossen habe. Mit ihrer Radikalisierung
>>sprunglose<< (I, 213) unerreichbar. - >>Gegensinn der sei ihr die fragwürdige Position des freien Schriftstel-
Urworte<< (Freud): das Wort >>Sprung<< weist selber ei- lers bewußt geworden (VI, 781). Daher sein Wunsch,
nen Sprung auf. Er ist sowohl der Bruch, der den Din- die Einbindung der Intellektuellen in der UdSSR zu
gen seit dem Sündenfall in die Geschichte eingezeich- beobachten. Daher auch das Passagenprojekt: ein gro-
net ist, als auch die Bruchstelle, der Ort der >>Schroffen ßer, disziplinierter Versuch, aus der literarischen
und Zacken<<, die >>Halt<< bieten (V, 592) und somit Sphäre heraus in den Geschichtsraum zu gelangen.
erlauben, >>Zur Auferstehung treulos über[zu) springen<< Diese Anstrengung ist ihm anzumerken. Benjamin will
(I, 406). Das Gift ist das Gegengift, der Sprung der hier >>einen, dem Pol [s) eines ursprünglichen Seins
Gegensprung. Diese Logik ist die des bucklicht Männ- entgegengesetzten<< (4, 440) behaupten, um sich von
leins (Wohlfarth 1988). Nur das zu Rettende kann uns jeder falschen Literarisierung abzugrenzen. Gleichzei-
retten. tig geht sein Programm, die Moderne am eigenen Leib
Lassen sich all diese Theorie-Bruchstücke zusam- zu erfahren, auf die Figur des literarischen, ja ästheti-
menfügen, so bleiben sie dennoch als Sprünge, Brüche sierenden Flaneurs zurück. Und dennoch war es gerade
und Würfe wie in einem unvollständigen >>Mosaik<<, dieser Ahne, der die entscheidende Schwierigkeit er-
einem gebrochenen »Gefäß<<, einem >>Torso<< oder kannte, >>das moderne Leben, oder besser ein moder-
»Entwurf<< bestehen. Was Benjamin von seinen letzten nes, abstrakteres Leben<< zu schildern (Baudelaire 1968,
Thesen schreibt, gilt für seine theoretischen Schriften 229). Wer soll das abstrakte Ganze noch erfahren kön-
Die Passagenarbeit 255

nen? Entgeht der flanierende Literat der allgemeinen er dessen Untertitel, wohl versehentlich, als >>Eine dich-
Berufsdeformation, so weist er dafür eigene Entstel- terische Feerie<< (5, 143) an. >>Dichterisch<< ist sie zu-
lungen auf. nächst als Verdichtung wesentlicher Motive. Erstaun-
Die Passagenarbeit steht vor analogen Aporien hin- lich viel- darunter die >>kopernikanische Wendung<<
sichtlich der wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Dies hat samt der Abwendung vom >>eigentlich<< Gewesenen-
Folgen für ihre Rezeption gehabt. Wer ist für ein Pro- wird hier in >>blitzhaft[en]<< (V, 570) Eingebungen
jekt zuständig, das zwischen alle Lehrstühle fallt? Der vorweggenommen, auf die der >>langnachrollende
übliche Zufluchtsort, die Literaturwissenschaft, ist aus Donner<< (ebd.) der endgültigen Redaktion folgen soll.
den gerade genannten Gründen ein problematischer. Der dichterische Anteil geht ebenfalls auf den >>Maler
Weitere Welten klaffen zwischen Benjamins Auffas- des modernen Lebens<< und >>Mann der Menge<< (Bau-
sung von Geschichte und Politik und denen der Fach- delaire 1968, 1156-62): den Baudelaireschen Flaneur
Philosophen, -Politologen, -Historiker und -Soziolo- zurück, der deshalb das erste Subjekt-Objekt des Ben-
gen. Hier ist, aus institutioneller Sicht, ein vogelfreier jaminsehen Projekts ist, weil er als virtuoser Spezialist
Einzelgänger mit überspannten Kategorien und manch für allgemeine Einfühlung in einer arbeitsteiligen Um-
genialer Intuition in ein unwegsames Niemandsland welt, wo alle gegeneinander abgedichtet sind, Erfah-
geraten. rung erstmals zu einem dichterischen Projekt macht.
Es ist symptomatisch, daß auch Jürgen Habermas, An Baudelaires Programm studiert Benjamin die Ur-
den immerhin wichtige intellektuelle Verwandtschafts- form seines eigenen. Hat das Anachronistische, das
beziehungen mit Benjamin verbinden, sich in seinen dem Flaneur von Anfang an anhaftet, mit seiner>> Wie-
verschiedenen Panoramen modernen Denkens nie derkehr<< (III, 194-99) zugenommen, die der >>Hohl-
genötigt fühlte, zur Passagenarbeit Stellung zu neh- form<< (V, 1045) der veraltenden Passagen entspricht,
men. Vermutlich ist ihm Benjamins >>anthropologi- so wird es von Benjamin, der schon als Kind immer
scher Materialismus<<, in dem schon Adorno mit Bezug >>um einen halben Schritt<< zurückblieb (IV, 287), gegen
aufs 19. Jh. ein >>tief romantisches Element<< (Adorno die fortschreitende Zeit gewendet.
1994, 368) sah, dem Verständnis komplexer moderner Die Bild- und Gedankenmasse der theologischen
Gesellschaften nicht gewachsen. Wer ist also dazu be- Jugendschriften sollte in der Passagenarbeit in histo-
fugt und daran interessiert, es mit diesem >>gewaltigen rischen Materialismus >>umgeschmolzen<< werden. Die
Entwurf<< aufzunehmen? von ihr thematisierte Ungleichzeitigkeit und >>>Unord-
nung<<< des >>Bildraums<< (I, 1243) gilt dabei für ihren
eigenen Werdegang. Die komplexe Spannung, die in
Die erste Arbeitsphase (1927-29) diesen Entwürfen herrscht, rührt von der Erregung, in
die Aragons Le Paysan de Paris Benjamin versetzt, so-
Der Herausgeber hat diese Phase in >>Erste Notizen<< wie vom Wunsch her, dazu Distanz zu gewinnen. Gibt
(V, 991-1038) und >>Frühe Entwürfe<< (1039-1063) sich Benjamin der >>Feerie« der kapitalistischen Höh-
aufgeteilt. Letztere enthalten eine erste Fassung des len- und Unterwelt am Beispiel des >>Aladin der West-
gemeinsam mit Franz Hesse! geplanten Artikels (PAs- lichen Welt<< (Aragon 1996, 57) hin, so findet er das
SAGEN) und den Komplex PARISER PASSAGEN li, das entzaubernde Gegengift nicht nur in der Aufklärung,
Material zum projektierten Essay >>Pariser Passagen. sondern auch in der Theologie. Dies geht besonders
Eine dialektische Feerie<< und die Texte, die Benjamin deutlich aus der >>grandios improvisierte[n] Theorie
1929 Adorno und Horkheimer vorlas, einschließt. des Spielers<< (Adorno 1970, 24; V, 1056f.) hervor. Hier
Diese teils nüchternen, teils rhapsodischen Prosafrag- wird der erotische Flaneur Aragonscher Prägung zu
mente- eine >>Dialektik des Rausches<< (II, 299) in actu einem lüsternen, aus dem deutschen Barock nach
- sind bisher kaum studiert worden. Dies nachzuholen Paris verschlagenen Allegoriker verfremdet, der von
gäbe einen genaueren Einblick in Benjamins Ausein- seinem deutsch-jüdischen Widerpart vor ein quasi-
andersetzung mit dem Surrealismus. Als Adorno sich göttliches Gericht gestellt wird. Der Text stellt eine
1935 auf einige dieser ersten Entwürfe berief, hatte sich Stichprobe jenes >>unbekümmert archaischen, natur-
Benjamin inzwischen von ihnen distanziert. Ohne sie befangnen Philosophierens<< (3, 97) dar, von dem sich
jedoch wäre es zum großen Wurf nie gekommen. An Benjamin bald trennen wird.
ihrer Umformulierung läßt sich verfolgen, wie die Wis- Zusammen mit EINBAHNSTRASSE (1928) stellt der
senschaft, die Benjamin vorschwebte, den ungedeck- SüRREALISMUs-Aufsatz (1929), den Benjamin einen
testen Einfällen entsprang. >>lichtundurchlässigen Paravant vor der Passagenar-
1935, als er die Form des inzwischen fallengelasse- beit<< (3, 438) nennt, den ersten größeren Versuch dar,
nen Essays eine »unerlaubt >dichterische<<< nennt, gibt vom Surrealismus Abstand zu nehmen (Cohen 1993).
256 Messianismus, Ästhetik, Politik

In jener Bewegung, so Benjamin, findet der Niveau- aneignend, sondern rettend-zerstörend- mit der ver-
unterschied zwischen Frankreich und Deutschland ein schollenen »Umwelt aus der zweiten Hälfte des neun-
Gefälle, das dem deutschen Betrachter erlaubt, eine zehnten Jahrhunderts« (II, 622) auseinander. Der »neue
»Kraftstation« im Tal zu errichten, wo ihre Energien Mensch« tritt hier - im Gegensatz zum bürgerlichen
abgeschätzt, ihre Erfahrungen gefiltert, die Traumwelle »Etui-Mensch[en]« (IV, 397; V, 53), aber auch zum
kanalisiert werden können (II, 295 f.). Daraus wird ein »reinen Tisch<< machenden Kommunisten (IV, 397; II,
Kraftfeld, in dem Theologie, Surrealismus, »politi- 215)- als der mit den »Rückstände[n] einer Traum-
scher<< und »anthropologischer<< Materialismus mit- welt« (V, 59) »>möblierte Mensch<<< (II, 622) auf.
und gegeneinander streiten. Die surrealistische Ent- »Alle neugebildeten Verhältnisse veralten<<, so Marx,
deckung einer mythologie moderne wird gegen die »ehe sieverknöchern können.[ ... ] Und wie in der ma-
traumlose Entzauberung der Welt, radikale Vernunft teriellen, so auch in der geistigen Produktion<< (Marx
wiederum gegen den wuchernden Mythos aufgeboten. 1953, 529). Die List der fortschreitenden Vernunft soll
Schlaf und Erwachen, Rausch und Nüchternheit, wer- in der ruhelosen Bewegung des Kapitals am Werke
den im Namen eines Dritten: »profaner Erleuchtung<< sein. Benjamins Surrealisten setzen hingegen auf die
in Spannung gehalten. Ladenhüter, die in den Passagen landen, und die List
Die Passagenarbeit soll diese »Kraftstation<< werden. ihres Erwachens. Nicht, daß das Marxsche Revoluti-
Ganz im Sinne surrealistischen »Mißverständnisses<<, onsmodell damit wegfiele. Das Kommunistische Ma-
und anders als Ernst Blochs expressionistisch befan- nifest wird vielmehr mit dem surrealistischen Manifest
gene Erbschaft dieser Zeit (1935), will sie die besten zusammengedacht: die Forderung des Tages ist die
Impulse jener Bewegung für geschichtsphilosophische nach dem Sich-Übertreffen des Realen (II, 310). Unter
Zwecke beerben. Der Surrealismus zuerst, hebt Benja- dem Druck der realgeschichtlichen Dialektik scheinen
min hervor, stieß auf die >>revolutionären Energien, die sich zugleich gewisse Verschiebungen anzubahnen:
im >Veralteten< erscheinen, in[ ... ] den Gegenständen, weg von den Menschen- und dem schlafenden Riesen:
die anfangen, auszusterben, [... ] wenn die vogue be- dem Proletariat- zu den brachliegenden Dingen, und
ginnt sich von ihnen zurückzuziehen<< (II, 299). »Der vom gradlinigen Fortschritt zum Umweg über eine
Trick, der diese Dingwelt bewältigt [... ] , besteht in der gewisse Regression. Es ist fast, als läge die »Hoffnung<<,
Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene die nach Kafkas Wort nicht »für uns<< ist, am ehesten
gegen den politischen<< (300). Dieser Trick soll in der bei den liegengelassenen Waren; aber auch in den »Un-
Passagenarbeit zur Methode entwickelt werden. Der menschen<<, die das Gesicht eines Weckers und das
materialistische Historiker hat die politischen Kräfte Sensorium eines Mediums haben. Insofern ist das po-
zu reaktivieren, die in den liegengelassenen Dingen litische Projekt, das dem Passagenprojekt zugrunde
schlummern. Wie die Surrealisten erfährt er die »ho- liegt, von Anfang an ein verzweifeltes.
mogene und leere Zeit<< (I, 701) der kapitalistischen Als Benjamin 1935 nach einer mehrjährigen Unter-
Moderne als das tickende Uhrwerk eines Spleen, der brechung das erste Expose zur Passagenarbeit schreibt,
wie eine Zeitbombe losgehen kann. So wie sie ihr tut er es weiterhin als quasi-Baudelairescher Lumpen-
»Mienenspiel<< gegen das »Zifferblatt eines Weckers<< sammler (V, 574; Wohlfarth 1984 ), aber nicht mehr als
eingetauscht (II, 310) haben, hat er in der Passagenar- Baudelairescher Flaneur. Genauer: nicht mehr als der-
beit einen Wecker zu konstruieren, der den »Spreng- selbe. Gibt der Flaneur das Subjekt-Objekt der ersten
stoff, der im Gewesnen liegt [... ] , zur Entzündung<< (V, Entwürfe ab, so wird er fortan zu einem bevorzugten
495) bringt. Objekt der Passagenarbeit (V, 524-69 ). Jener, eine theo-
Daß dieses Projekt eine autobiographische Dimen- logisch-surrealistische Variante des Baudelaireschen
sion hat, aber keine Proustsche recherche ist, geht aus Modells, läßt sich vom eher soziologischen Typus des
der 1925 geschriebenen Skizze TRAUMKITSCH (II, nach den Phantasmagorien des Marktes süchtigen
620 ff.) hervor, die als dessen Keimzelle gelten darf. Die Konsumenten, als der der Flaneur in den Exposes be-
Traumarbeit der Moderne wird hier als Trauerarbeit schrieben wird, deutlich genug unterscheiden. Es sei
begriffen. Sie wirkt dem beschleunigten Umsatz der denn, dieser gäbe, wie der Erzähler von Poes »Mann
Dingwelt entgegen, indem sie gestrigen Kitsch - und der Menge«, dessen Doppelgänger ab. Und dafür
die darin eingekapselten Kindheitserfahrungen- abta- spricht einiges. Berauscht sich doch das Subjekt der
stet, um sich mit deren eigener Kraft von ihnen abzu- ersten Passagen-Aufzeichnungen an der »dialektischen
stoßen. Der Surrealismus macht diese Arbeit spielerisch Feerie« der Hauptstadt; und von Feerie zu Phantasma-
vor. Im Gegensatz zur Psychoanalyse spürt er lieber den gorie ist es nur ein Schritt.
Vexierbildern der Dinge als denen der Seele nach und Das knappe, objektivierende Bild, das die zwei Ex-
setzt sich damit - nicht deutend, erinnernd, wieder- poses dann vom Flaneur zeichnen (V, 54; 70f.) mutet
Die Passagenarbeit 257

daher wie eine Ernüchterung an. Es ist, als würde ein theologisch-surrealistische und die zweite, materiali-
Riegel vorgeschoben: >>Der Flaneur steht noch auf der stische Phase der Arbeit »Thesis und Antithesis des
Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Werkes« (5, 143), die in deren Synthesis aufzuheben
Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner sind.
von beiden ist er zu Hause. [... ] Die Menge ist der
Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die ge-
wohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. [... ] Im Fla-
neur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie nParis, die Hauptstadt des
meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, XIX. Jahrhundertscc. Das Expose von 1935
um einen Käufer zu finden.[ ... ] Die Unentschieden-
heit ihrer ökonomischen Stellung entspricht der Un- Im Mai 1935 nimmt Benjamin Adornos Befürchtung,
entschiedenheit ihrer politischen Funktion<< (V, 54). Brecht könne auf die Arbeit »Einfluß« gewinnen
Benjamin läßt den Flaneur hier auf der historischen (Adorno 1994, 112) zum Anlaß, die bisherigen Etap-
Schwelle zögern. Wie die Hauptstadt - die »enorme pen des Projekts aufzuzählen (5, 96 f.). Der Brief- das
Hure« (Baudelaire 1968, 310), der er sich hingibt- wichtigste Zeugnis zur Entstehungsgeschichte - um-
steht er im Zeichen der Zweideutigkeit. An diesem reißt die Strategie eines »Wartenden« (II, 308). Alles,
Scheideweg hat sich Benjamin, bei aller Unsicherheit was gegen das Projekt arbeitet, soll zu dessen Gunsten
seiner ökonomischen Stellung, für die politisch ein- gewendet werden, in erster Linie die Zeit. Dem poten-
deutige Stellung des historischen Materialisten gegen tiell desaströsen Einfluß Saturns auf die eigene und
die zweideutige der freischwebenden Intelligenz ent- die Weltverfassung ist eine möglichst günstige Kon-
schieden. Diese Umfunktionierung des funktionslosen stellation abzugewinnen. Sämtliche Einflüsse auf das
Flaneurs geht mit dem Obergang zur zweiten Phase Projekt haben ihre Zeit und brauchen eine weitere Zeit,
des Passagenprojekts einher. Retten die frühen Ent- um sich einordnen zu lassen. Benjamin stellt sich hier
würfe den Flaneur ins 20. Jh. hinüber, so unterziehen wie sein verborgener Schachmeister als die graue Emi-
ihn die Exposes einer nüchternen ideologiekritischen nenz einer heimlichen Politik der »fremden Freunde«
Prüfung. Daraus ergibt sich ein komplexes, aber un- (1, 182) vor. Er läßt gewählte Mitstreiter (Aragon, Hes-
zweideutiges Verhältnis zu dieser historisch ambiva- se!, Adorno und Brecht), die potentiell oder realiter
lenten Schwellengestalt. Es ist daher irreführend, bei miteinander streiten, in ein Kraftfeld eintreten, wo sich
Benjamin selber von Ambivalenz zu sprechen und eine allzumenschliche Differenzen in produktive Spannun-
Alternative zwischen Rettung und Ideologiekritik auf- gen verwandeln und für die revolutionäre Sache zu-
zustellen (Habermas 1972). sammenwirken. So wie der Flaneur sich im Zentrum
Ist der Autor der Exposes noch ein Flaneur, dann der (Stadt-)Welt verbirgt (Baudelaire 1968, 1169),
einer, der dessen Willen, mit seiner Zeit nicht »Schritt macht Benjamin den »herrliche[n] Spielraum«, den
[zu] halten« (I, 1237), politisiert hat. Der zu sich ge- »die Katastrophe nicht kennen wird« (6, 112), zu ei-
kommene Flaneur geht als »distanzierte [r] Betrachter« nem messianischen Niemandsland, wo jüdische (und
(I, 696) in die Figur des »historischen Materialisten« christliche) Theologie, französischer Surrealismus,
ein. Dies hat freilich nicht verhindern können, daß deutsche und jüdische Philosophie und miteinander
Benjamin immer wieder auf die unverbindliche Posi- konkurrierende Versionen des historischen Materia-
tion zurückgestuft wurde, von der er sich abgesetzt hat. lismus (Marx, Brecht, Kritische Theorie u.a.) aufein-
Wer die (teleskopische) Optik der Passagenarbeit mit ander treffen. Damit erweist sich die Passagenarbeit,
der (kaleidoskopischen) Sichtweise des Flaneurs iden- in weit höherem Maße als der Kafka-Essay, als der
tifiziert, ignoriert den Abstand, den sie zu ihrer- selber »Kreuzweg der Wege« seines Denkens (4, 497).
schon »dialektischen« - Anfangsphase gewinnt. Im seihen Jahr wird Benjamin von Horkheimer,
Dieser Abstand ist ein Schritt zu jenem »geschicht- zwecks Aufnahme in die Forschungsprojekte des In-
lichen Aufwachen« hin, auf das das erste Expose ab- stituts für Sozialforschung, um ein Expose zur Passa-
schließend setzt: ein geistesgegenwärtiges Erwachen, genarbeit gebeten. Auch diesen Anlaß weiß er zu nut-
das mit einer »List« (V, 59) vorgeht, die die des Traum- zen. Gerade weil der Anstoß ein äußerlicher ist, erlaubt
schlafes übertrumpft; ein »stufenweiser Prozeß«, der er, »in die große, so viele Jahre lang vor jeder Einwir-
sich »im Leben des Einzelnen wie der Generationen kung von draußen sorgfältig behütete Masse jene Er-
durchsetzt« (V, 490). Analoges gilt für die Passagenar- schütterung zu bringen, die eine Kristallisation mög-
beit selber. So wie Erwachen die »Synthesis« aus der lich macht« (5, 96). »Wo das Denken in einer von
»Thesis des Traumbewußtseins und der Antithesis des Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich ein-
Wachbewußtseins« (V, 579) darstellt, sind die erste, hält«, so fünf Jahre später die Thesen, »da erteilt es
258 Messianismus, Ästhetik, Politik

derselben einen Chock, durch den es sich als Monade log« hier als »Dritte[r]« (II, 207) und dreifach Frem-
kristallisiert<< (I, 702 f.). Schock, Monade, dialektisches der: Deutscher, Jude, Emigrant, dazukam.
Bild, Erwachen: die zentralen Begriffe des Exposes und Was Paris als Hauptstadt auszeichnet, faßt das Ex-
der Thesen fassen eine ganze Theorie geschichtlicher pose im Begriff der »Zweideutigkeit« zusammen. Die
Erkenntnis samt ihren Entstehungsbedingungen zu- >ville lumiere< war >feerie< und Fanal zugleich. Wucher-
sammen. ten auf dem Boden seiner Mythologie die Phantasma-
Benjamin gibt dem Expose den Titel PARIS, DIE gorien des Kapitals in besonders üppiger, verführeri-
HAUPTSTADT DES XIX. JAHRHUNDERTS, bzw. PARIS, scher Form, so war dieser Boden zugleich ein vulkani-
CAPITALE DU XIXEME SIECLE, und deutet damit das scher, auf dem Revolten und Revolutionen
Verhältnis zu Marx' Kapital stillschweigend an. Hier ausgebrochen waren (V, 134). Die Dialektik beider
soll dessen Analyse des Fetischcharakters der Ware, wie trieb eigenartige Blüten hervor- »trügerische[] Ver-
im Barockbuch der Begriff des Trauerspiels, entfaltet mittelungen [sie]« des Alten und Neuen, in denen das
werden (5, 83 f.). Und so wie Lukacs' Geschichte und zweite Expose das letzte Wort des 19. Jh.s erblickt (V,
Klassenbewußtsein von Marx her auf die Kantische 76; V, 1258). Nichts sollte sich so zukunftsträchtig er-
Philosophie und die Rechtssphäre extrapoliert hatte, weisen wie dieses In- und Nebeneinander von Schlaf
will Benjamin nun bestimmte Komplexe der bürger- und Erwachen.
lichen Lebenswelt erhellen. Die sechs Kapitel des Exposes stellen eine Serie von
Im zweisprachigen Titel des Exposes, wie in den weiteren Verfremdungseffekten dar. Die Namen Fou-
darauffolgenden Untertiteln, ist ein gewisser Verfrem- rier, Daguerre, Grandville, Louis-Philippe, Baudelaire
dungseffekt am Werk. Eine Hauptstadt wird von ihrem und Haussmann werden je einem großstädtischen Ort
Land abgekoppelt und mit einem Jahrhundert mon- oder einer Erfindung oder einem Ereignis gleichge-
tiert. Die Laut- und Sinnverbindungen zwischen capi- setzt. Adornos Einwand, diesem Schema hafte ein »ge-
tale und Kapital, caput und Haupt, verweisen auf die wisser Zwang zur Außenarchitektur« (Adorno 1994,
grenzüberschreitende Bewegung des Kapitals, das- wie 144) an, räumt Benjamin sofort ein. Was ihm hier vor-
Marx zeigt und Baudelaire vom zirkulierenden Flaneur schwebt, geht aus seinen erkenntnistheoretischen Auf-
behauptet - überall und nirgends zu Hause ist. Fällt zeichnungen hervor: Solle das marxistische Verständ-
im Zeitalter des Hochkapitalismus die Konzentration nis der Geschichte nicht mit ihrer Anschaulichkeit
des Kapitals mit der der expandierenden Metropole erkauft werden, dann sei das Prinzip der Montage in
zusammen, so bleibt dennoch die Frage, warum gerade deren Darstellung einzufuhren (V, 575). Die Kapitel
Paris - und nicht etwa London, die Hauptstadt der des Exposes stellen Vorstöße in diese Richtung dar.
industriellen Revolution und des damaligen Weltim- Schon die Titel sind Montagen. Weder »schöpferische
periums- als die Hauptstadt des Jahrhunderts gelten Persönlichkeiten<< im Stile einer bürgerlichen Kultur-
soll. geschichte, die selber zu den Phantasmagorien des
Auch für Benjamin, der auf kontrastierende Groß- Jahrhunderts gehört (V, 55), noch abstrakte Marxsche
stadterfahrungen in London und Berlin verweist, ist >>Charaktermasken« werden vorgeführt. Das Genie ist
Paris in Wirklichkeit eine - nicht die - Metropole auch der genius loci: »Baudelaire oder die Straßen von
(Lindner 2006). Will er das 19. Jh. dennoch von Frank- Paris<< (V, 54 f.).
reich- wie einst das 17. von Deutschland- aus auf- Die »Probe auf das Exempel« soll damit gemacht
rollen, so tragen mehrere Gründe dazu bei. Paris, nicht werden, »wie weit man in geschichtsphilosophischen
Rom, erschuf den Typus, den Benjamin, nach Baude- Zusammenhängen konkret sein kann<< (3, 368). »Wie
laire und Aragon, zum Peripatetiker umschafft, der die weit« -denn das Fetischismus-Kapitel des Kapitals
Moderne zu Fuß erwandert: den Flaneur (V, 1053). In hatte gezeigt, daß die Urzelle der bürgerlichen Ökono-
diese >>Zweite Heimat« aller Heimatlosen (Arendt) ging mie, die Ware, auf einem »Geheimnis<< beruht, das nur
Benjamin 1933 in ein Exil, das ihm wie kein anderes durch die begriffliche Analyse der in ihr steckenden
die Möglichkeit bot, »dem eigenen Malheur die Chan- abstrakten Arbeitszeit und des sich daraus ergebenden
cen[ ... ] abzugewinnen« (4, 264). »Vom ersten bis zum Tauschwerts zu entziffern ist. Übrig bleibt die - von
letzten Wort« konnte er die Passagenarbeit »nur in Marx, Baudelaire, Aragon und Benjamin jeweils als
Paris« (5, 99) schreiben, wo er die alltägliche Erfahrung gespenstisch beschriebene - Erfahrung dieses kaum
seines Gegenstands mit dessen wissenschaftlicher Er- erfahrbaren Geheimnisses. Damit stellt sich- wie bei
forschung verbinden konnte. Kam die Reise von Berlin Baudelaire die Kunst (Baudelaire 1968, 652) -die
nach Paris, nach Arendts Formel, einer aus dem 20. ins Probe aufs Exempel als eine Wette dar. Benjamin geht
19. Jh. gleich, dann war hier der Ort, um die »Konstel- der irreversiblen, systembedingten Verarmung von
lation« der Epochen zu erproben. Zumal der »Astro- Erfahrung nach, nimmt sich jedoch ein Beispiel an den
Die Passagenarbeit 259

Ausnahmen, die diese Regel bestätigen - an Proust, analyse für eine gelebte Geschichtswissenschaft zu
Kafka (6, 111 f.), den Surrealisten (II, 297). Steht die gewinnen, heißt, die Alternative zwischen wissen-
Homologie zwischen der >>Realabstraktion<< (Marx) schaftlichem und utopischem Sozialismus zu entkräf-
der Warenform und der Allegorie im Zentrum des ten.
geplanten Baudelaire-Buchs, so stellt sich damit die Benjamin hatte seine Arbeit jahrelang vor äußerer
Aufgabe, der Prosa der kapitalistischen Lebenswelt die Einwirkung geschützt, damit ihre in einer >>künstlich
ihr eigene Konkretion abzugewinnen, ohne Unwieder- verdunkelten Kammer<< (6, 183) aufbewahrten Bilder
bringliches- Aureole oder Aura (I, 651 ff.)- restaurie- nicht zu früh entwickelt werden. Jetzt war das Material
ren zu wollen. Das nächstliegende Beispiel für diesen entwicklungsreif. Der ERKENNTNISKRITISCHEN VOR-
Versuch, gesteigerte Anschaulichkeit durch die Marx- REDE des Trauerspielbuchs zufolge ist der Wert von
sche Begrifflichkeit hindurch zu erreichen, bietet Ben- Denkbruchstücken >>um so entscheidender, je minder
jamins Umgang mit dem Begriff des Fetischismus sie unmittelbar an der Grundkonzeption sich zu mes-
selber, mit dem er die Mode, Grandvilles Graphik (V, sen vermögen<< (I, 208). Nun waren die >>scharf und
50 f.) und an anderen Stellen die >>Einfühlung<< des schneidend konfektionierten Bauglieder<< (V, 575) der
Flaneurs in die Ware (I, 561) entschlüsselt. Ähnliches Passagenarbeit so zusammenzufügen, daß die Grund-
gilt für den Begriff der Phantasmagorie, der dem Ka- konzeption wie von selbst hervortreten konnte, ohne
pital (Marx 1961, 78) entlehnt sein mag, aber eine herbeigeredet zu werden.
Revision des Marxschen Ideologiebegriffs darstellt (V, Dies macht die synthetische Leistung der Passagen-
50-57,60-61,75-77; Lindner in Schalz/Rautmann Exposes aus. Zeichnet sich Benjamins Denkstil insge-
2006). Zu Marx' Kritik der politischen Ökonomie im- samt durch eine Konzision aus, die einen Widerstand
provisiert Benjamin eine Reihe von Erfahrungswissen- gegen die seit dem Sprach-Sündenfall herrschende
schaften hinzu: anthropologischer Materialismus, >>Überbenennung<< (li, 155) bekundet, so gilt dies be-
materialistische Topographie, historische Physiogno- sonders für Texte wie die Thesen und die Passagen-
mie. Exposes. Jeder Satz ist ein Kapitel wert, jedes Kapitel
Mit jedem Satz desExposes verdichtet sich das dürre ein Buch für sich. Hier schreitet ein Landvermesser das
Marxsche Modell von Unter- und Überbau zu einem Terrain in Siebenmeilenstiefeln ab. Die Kunst besteht
assoziationsreichen Beziehungsnetz. Das Verb >>ent- darin, die Motive in Beziehung treten und den Kom-
sprechen<< und Satzkonstruktionen vom Typus >>Wie ... , mentar zurücktreten zu lassen. Nicht, daß letzterer
so ... << skandieren den Text. Zur Verteidigung dieser ganz ausgespart würde. Gedrängte, manchmal allzu
Verfahrensweise führt Arendt das metaphorische We- formelhafte Theoriefragmente werden ins Gefüge ein-
sen der Sprache, Benjamins seltene Gabe, >>dichterisch gepaßt. >>Schwung<< wird jedoch unterbunden, der
zu denken<<, und Baudelaires correspondances an unabgesetzte >>Lauf der Intention<< (I, 208) durch ihr
(Arendt 1986). Hierwäre in der Tat, auf die Gefahr des >>Eingehen und Verschwinden<< (I, 216) in die Struk-
Mißverständnisses hin, von einer materialistischen turierung des Materials ersetzt.
>>Lehre vom Ähnlichen<< zu sprechen. Die Sprache, Auch in einem weiteren Sinn ist die Form des Ex-
heißt es im so betitelten Entwurf, ist das Medium, >>in poses eine >>objektive<<, vom Inhalt her bestimmte. Drei
dem sich die Dinge nicht mehr direkt wie früher in technische Innovationen, die dort zu den Grundzügen
dem Geist des Sehers oder Priesters, sondern in ihren des 19. Jh.s gezählt werden- Montage, Konstruktion
Essenzen [... ] begegnen und zu einander in Beziehung und Panorama -, stellen Formelemente des Exposes
treten<< (li, 209). Von hier aus wäre Benjamin als ein selber dar. Und so wie man damals anfing, dem pho-
materialistisches Medium zu beschreiben, in dessen tographischen Objektiv Entdeckungen zuzumuten,
Geist - aber erst nach langjährigen Vorarbeiten - neben denen der >>subjektive Einschlag<< in der Malerei
scheinbar disparate Elemente der kapitalistischen Welt als fragwürdig empfunden wurde (V, 49), so übt das
zueinander in Beziehung treten. Das Mißverständnis, Expose einen analogen BlickwechseL Kurzum, der Au-
das mit Adornos ersten Reaktionen einsetzt, wäre, ei- tor sorgt als Produzent dafür, daß seine >>kleine[]
nen bloß metaphorischen Materialismus dort zu sehen, Schreibfabrik<< (4, 25) keinen Schritt hinter den Stand
wo es vielleicht keinen anderen gibt. Die >>geheime[n] der Produktivkräfte zurückbleibt. >>Die Konstruktion
Verabredung[en]<< (I, 694), die im Geiste des materia- des LebenS<<, SO fängt die EINBAHNSTRASSE an, >>liegt
listischen Hellsehers stattfinden, mögen freie Assozia- im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als
tionen sein, haben jedoch als Signale des kollektiven von Überzeugungen<<; letztere seien darum ebenso
Unbewußten einen durchaus objektiven Status. Sie sparsam in den Riesenapparat des sozialen Lebens
müssen nur verdient und, wo möglich, kontrolliert einzuspritzen wie Öl in eine Turbine; und die >>an-
werden. Elemente des Surrealismus und der Psycho- spruchsvolle universale Geste des Buches<< sei damit
260 Messianismus, Ästhetik, Politik

anachronistisch geworden (IV, 85). Zuweilen stellt sich Das Expose von 1939
Benjamin das Passagenbuch ebenfalls als eine >>Kon-
struktion aus Fakten<< unter »vollständiger Eliminie- Zweigt Benjamin 1938 das Baudelaire-Kapitel des Ex-
rung der Theorie<< (V, 1033) vor. poses samt dem umfangreichen Baudelaire-Konvolut
Ein weiterer Stoffkomplex des Exposes wirkt aufs zu einem eigenständigen Buchprojekt ab, so trägt er
Passagenprojekt zurück. Dort, wo die Kunst in den weiteres Material bis zuletzt in die Passagen-Konvolute
Dienst des Kaufmanns tritt, die Dichtkunst ins Schau- ein. 1939 verfaßt er ein modifiziertes Expose auf Fran-
fenster einzieht (V, 45) und Architektur wie Malerei zösisch, das die >>letzte Momentaufnahme<< (II, 295)
anfangen, der Kunst zu entwachsen (V, 48), dort des Passagenprojekts bleiben wird. Es kommen vor
kommt auch die bisherige Gestalt von Kritik ins Wan- allem eine Introduction und eine Conclusion hinzu.
ken (IV, 131). Benjamin nahm die heutige Rede von Erstere stellt den im 19. Jh. aufkommenden, immer
deren >>Ende<< (Bolz 1999) vorweg, gab sie jedoch nicht noch herrschenden Typus von Historiographie als den
damit schon auf. Sah er sich zunächst genötigt, sie als zentralen Gegenstand des geplanten Buches vor. Dieser
Gattung >>umzuschaffen<< (3, 502), so dachte er sie als >>Historismus<< ist somit weniger eine Darstellung von
>>Stratege im Literaturkampf<< (IV, 108) nochmals um. Geschichte als ihr symptomatisches Produkt. Das
Die surrealistische Explosion der Dichtung von innen Phantasma, das ihm zugrunde liegt, ist, wie schon
(II, 296), die sowjetrussische >>Umschmelzung<< und Nietzsche diagnostiziert hatte, eine traurige, nihilisti-
>>Literarisierung<< aller Lebensverhältnisse (II, 694) und sche Variante der >>ewigen Wiederkehr des Gleichen<<.
die Umfunktionierung der (Literatur- )Kritik in der Die Conclusion konstelliert drei Versionen dieser >>letz-
Passagenarbeit waren aus seinem Blickwinkel drei ten Phantasmagorie<< (V, 75) des Jahrhunderts mitein-
Fronten desselben Kampfs. ander: Nietzsche, Baudelaire und Blanqui träumen sie
Unmittelbar nach der Abfassung des Exposes plante so rücksichtslos zu Ende, daß wenig zum Erwachen
Benjamin eine >>eingehende Überarbeitung<< (5, 114), fehlt. Wenig, aber auch alles. Kann nämlich das erste
die jedoch nicht zustande kam. >>Dieser Disposition<<, Expose noch darauf vertrauen, daß jede Epoche träu-
urteilte er, >>fehlt das konstruktive Moment<<, was für mend auf das geschichtliche Erwachen hindrängt (V,
das geplante Buch dasselbe bedeute >>wie für die Alchi- 59), so endet das zweite mit dem >>letzten Wort<< des
mie der Stein der Weisen<< (5, 143). Da die revidierte großen eingekerkerten Revolutionärs Blanqui, dem am
Fassung von 1939 trotzwichtiger Änderungen keinen Ende nichts anderes übrigbleibt, als den Alptraum mit
entscheidenden Durchbruch brachte, wissen wir nicht, umgekehrter Radikalität als die ewige Revolution der
wie die Passagenarbeit nach ihrer alchemischen Ver- Sterne ins Endlose zu steigern (V, 76 f.).
wandlung ausgesehen hätte. Dennoch markiert dieser Daß Benjamin 1938 auf Blanquis Schrift L'Eternite
panoramatischeÜberblick einen entscheidenden Fort- par les astres stieß, mutet daher wie ein objektiver Zu-
schritt. Mit der Erstellung eines ersten Grundrisses tritt fall an. Das ist jedoch kein Grund, Blanquis Testament
das erträumte Buch erstmals in Sicht. Gleichzeitig ver- für das Benjamins zu nehmen. Daß dies so oft ge-
steht ihn Benjamin als eine im weiteren Verlauf auf- schieht, hat wiederum seinen Grund. Denn Blanquis
zuhebende Etappe. Was als Durchgangsstadium ge- gespenstische >>actualite eternisee<< erinnert ebensosehr
dacht war, bleibt, in Ermangelung der in Aussicht ge- an Benjamins Konzeption des immerneuen Immer-
stellten Synthese, die einzige Fixierung des Gesamtplans, gleichen wie das>> immergleiche Stück<<, das der Kos-
die wir haben. mos bei Blanqui spielt (V, 76; V, 1256), an die >>erstarrte
Die Notwendigkeit des zweiten, antithetischen Ent- Urlandschaft<< (I, 343) des deutschen Trauerspiels. Nur,
wurfs lag darin, daß >>die im ersten vorhandenen Ein- daß der barocke Allegoriker aus seiner letzten Phan-
sichten unmittelbar keinerlei Gestaltung zuließen- es tasmagorie >>erwacht<< (I, 406), während Blanqui der
sei denn eine unerlaubt >dichterische<<< (5, 143). Auch seinen verfällt. Daß sie verwechselt werden können,
in formaler Hinsicht nahm Benjamin damit Abschied liegt darin, daß Benjamin in der ewigen Wiederkehr
von ausgedienten Modellen. An die Stelle des ur- keinen bloßen Mythos, sondern den Zerrspiegel eines
sprünglich geplanten Essays und der>> rhapsodische[ n] <<, mythischen geschichtlichen Kontinuums erblickt, aus
>>romantische[n]<< (5, 97) Prosa der ersten Phase tritt dem es vielleicht wirklich keinen anderen Ausweg als
eine nüchterne, experimentelle Technik der Ex- und den >>kleinen Sprung<< geben kann, der im blanquisti-
Disposition. schen Putsch sein Gegenstück hat.
Es ist, als hätte sich etwas im Urgestein der Moderne
verschoben; als hätte die Revolution zwischen 1935
und 1939 ihre letzte Vertrauensbasis verloren. Der Ver-
gleich zwischen den Exposes gibt zu bedenken, wie
Die Passagenarbeit 261

sehr sich das Passagenprojekt mit jeder neuen Wende sich selber, weg zu dialektisieren sucht. Doppelsinn des
des Weltgeschehens noch hätte ändern können. >> Teilens<<: die gemeinsame Sache ist zugleich eine ge-
spaltene. Unter anderen Umständen hätte es vielleicht
zu einem Bruch kommen können. So aber kam es zu
Die Auseinandersetzung mit Adorno einem beispielhaften Agon, für den man nur dankbar
sein kann.
Benjamin hält es mit der Passagenarbeit wie mit sei- Der engere Passagen-Disput gipfelt in Adornos vier-
nem Katka-Aufsatz. Sie ist der behütete Schauplatz sei zehnseitiger Stellungnahme vom 2.-5.8.1935 zum er-
es realer, sei es virtueller Auseinandersetzungen mit sten Expose und Benjamins zwei Entgegnungen dar-
widerstreitenden Instanzen. Innerhalb dieses Geflechts auf. Die größere Auseinandersetzung, der ein
hat der Austausch mit Adorno, dem einzigen Schüler, >>unvergeßliche[s]<< Gruppengespräch (Adorno 1994,
den Stellenwert eines einmaligen Arbeitsverhältnisses. 365) in Königstein vorausgeht, hat vier Höhepunkte:
Gleichzeitig wird eine komplexe Partie gespielt. Jeder die Diskussionen um Benjamins Katka-Essay, um das
spannt den anderen in die eigene Strategie ein und erste Passagen-Expose, den Kunstwerk-Aufsatz und
kombiniert seine Züge nach mehreren Spielregeln zu- die Baudelaire-Arbeiten. Diese bilden eine einzige Ver-
gleich. Letzte intellektuelle Dinge und existentielle handlung, die aufs werdende Passagenprojekt ein-
Entscheidungen stehen auf dem Spiel. Grundverschie- wirkt.
dene Erfahrungen von Emigration, deren Gemeinsa-
mes das Band zugleich stärkt, kommen hinzu.
Zwei gegenläufige Asymmetrien spielen in den Die ,,Urgeschichtetc des 19. Jahrhunderts
Briefwechsel störend hinein; denn auch dieser Raum als originäre Konstellation von Archaik
ist kein gewalt- und herrschaftsfrei er. Der zwölf Jahre und Moderne
Jüngere und intellektuell Abhängigere, der sich als der
»Nehmende<< versteht, tritt zugleich als >>Anwalt<< Von Lessing und Kant über Hege! und Marx handeln
(Adorno 1994, 74) und Geburtshelfer des Passagenpro- die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe der
jekts auf. Er glaubt dessen >>eigene Intention<<, notfalls Aufklärung von der fortschreitenden Selbstverwirkli-
gegen den Autor selber, verfechten zu müssen und bangt chung des Menschengeschlechts. Daß sich dieses Pro-
um ihre >>Generallinie<< (Adorno 1994, 169; 324). Der jekt durch alle Fortschritte hindurch in ein Ineinander
Ältere gerät in zunehmende ökonomische Abhängigkeit von Mythos und Moderne verstrickt hat: dieses Grund-
dem Jünger( en) gegenüber, der zwischen ihm und dem motiv durchzieht Benjamins Schriften von den frühen
Institut für Sozialforschung in jedem Sinn vermittelt, Aufsätzen bis zu den letzten Thesen. Adorno macht es
und versucht, nach allen Regeln seiner gracianischen sich in seiner Antrittsvorlesung >>Die Aktualität der
Hof- und Lebenskunst seinen Kurs zu halten. Philosophie<< ( 1931) zueigen und legt es der Dialektik
Die Grenze dieser philosophischen Freundschaft der Aufklärung (1947) zugrunde.
zeigt sich dort, wo der eine sie nicht einzuhalten weiß. Benjamin geht dem Verhältnis von Archaik und
Adorno betrachtet das Passagenprojekt als >>das Zen- Moderne zunächst am deutschen Trauerspiel, dann
trum nicht bloß Ihrer Philosophie sondern als das vor allem bei den Surrealisten, Proust, Katka und Bau-
entscheidende Wort, das heute philosophisch gespro- delaire nach und macht es in der Passagenarbeit zur
chen werden kann<< (Adorno 1994, 112); aber er macht Grundlage einer materialen Geschichtsphilosophie.
dieses >>uns aufgegebene Stück prima philosophia<< Diese stellt einen Gegenentwurf zu den >>großen Er-
(73) so sehr zur eigenen Sache, daß er es teilweise ver- zählungen<< (Lyotard) der Moderne dar, die sie jedoch
fehlt. Indem er für Benjamins >>eigene, die rücksichts- nicht in späterer postmoderner Manier fallen läßt. Sie
lose, gut spekulative Theorie<< und eine >>Passagenor- will vielmehr ausloten, wie und warum die bürgerliche
thodoxie<< ( 368 f.) plädiert, schiebt er ihm seine eigene Gesellschaft, anstau sich zu >>übertreffen<< (II, 310),
Theorie rücksichtslos unter. Diese läßt sich als eine immer weiter hinter ihre eigene Idee zurückfällt. Ben-
linkshegelianische Dialektisierung von Benjamins jamin grenzt seine Version einer mythischen Moderne
theologischen Jugendschriften umschreiben, und deckt von einer Reihe ähnlich lautender Konzepte ab, deren
sich ab 1938 weitgehend mit Horkheimers >kritischer Erfahrungsgehalt er zugleich einbeziehen will: Aragons
Theorie<. Im Gegensatz zu Scholem und Brecht iden- Heraufbeschwörung einer >>mythologie moderne<<,
tifiziert sich Adorno ganz mit Benjamins Projekt. Aber Caillois' >>Paris, mythe moderne<<, Nietzsches >>ewige
diese Nähe bewirkt, daß der künftige Philosoph des Wiederkehr des Gleichen<<, Jungs Archetypenlehre,
>>Nichtidentischen<< ihre Unterschiede, einschließlich Klages' >>Urbilder<<. Keines ist in seinen Augen im-
der Nichtidentität der werdenden Passagenarbeit mit stande, die zwei Brennpunkte der >>Ellipse<< (6, llO)
262 Messianismus, Ästhetik, Politik

zwischen Archaik und Moderne, Traum und Erwa- ist daher zweifelhaft. In seinen frühesten Aufzeichnun-
chen, produktiv zusammenzudenken. gen liegt nämlich eine solche schon vor: »Nur wo das
Hier meldet Adorno einen ersten Vorbehalt an: eine neunzehnte Jahrhundert als originäre Form der Urge-
allzu elliptische »Bewältigung des Archaischen<< (5, schichte würde dargestellt werden,[ ... ] in welcher sich
12) finde sich bei Benjamin selber. Archaik sei nicht die ganze Urgeschichte so erneuert, daß gewisse ihrer
>prähistorisch<, sondern »der Ort alles durch Ge- älteren Züge nur als Vorläufer dieser jüngsten erkannt
schichte Verstummten: meßbar nur nach dem ge- würden, hat dieser Begriff[ ... ] seinen Sinn<< (V, 1034;
schichtlichen Rhythmus, der allein es als Urgeschichte vgl. V, 579).
>produziert«< (Adorno 1994, 54f.). Der Begriff der Bei den Surrealisten ist, so Benjamin, »von Erfah-
Urgeschichte entstammt, sinn-, wenn nicht wortge- rungen, nicht von Theorien<< (II, 297) die Rede. Seine
mäß, Benjamins Trauerspielbuch, wo die menschliche Antworten auf Adornos Forderung nach einer dialek-
Geschichte unter dem melancholischen Blick des ba- tischen Artikulation der Begriffe beruhen ebenfalls auf
rocken Allegorikers zur »Urlandschaft<< (I, 343) einer dialektischen Erfahrungen, die die rein begriffliche
»Natur-Geschichte<< (I, 353) erstarrt. Adorno zitiert Sphäre übersteigen. Hierhin gehört ein Motiv, das
diese Stelle, zusammen mit Hegels und Lukacs' Begriff Adornos Insistenz, »Archaik<< sei »eine Funktion des
der »zweiten Natur<<, in seiner programmatischen An- Neuen<<, nicht nur vorwegnimmt, sondern radikali-
trittsvorlesung: »Die Idee der Naturgeschichte<< ( 1932). siert: die »kopernikanische Wendung<<, durch die Po-
Sein Einwand lautet nun, daß diese Konstellation litik den Primat über Geschichte erhält (V, 1057).
gerade in Benjamins angeblich materialistischen Pas- Adornos dialektische Abwandlungen Benjaminscher
sagen-Entwürfen nicht voll »durchdialektisiert<< Formulierungen dienen der Zähmung solcher Erfah-
(Adorno 1994, 92 f.; 149) werde. Die aus der dialekti- rungen. Zweimal erinnert er Benjamin an dessen Satz,
schen Bewegung herausfallende Archaik werde zur jeder Gedanke der Passagenarbeit sei dem Bereich des
Urgeschichte im üblichen Sinn einer ontologisch ge- Wahnsinns entrissen. Von solchen Grenzerfahrungen
gebenen Vorgeschichte. ebenso beeindruckt wie bedroht, hält er ihnen »die<<
Zwei undialektische Deutungen des Benjaminsehen Dialektik wie einen apotropäischen Schild vor, um so
Programms einer >»Urgeschichte des 19ten Jahrhun- gewappnet in die »medusische<< (Adorno 1970, 17; 21;
derts<<< (5, 98) bieten sich an. Entweder wiederholt sich 44) Kraft des Freundes eingehen und etwas davon ha-
Urgeschichtliches immer wieder, wie etwa bei Freuds ben zu können.
»Wiederkehr des Verdrängten<<: das ergäbe »die Urge-
schichte im neunzehnten Jahrhundert<<, nicht aber »die
Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts<< (Adorno Dialektisches kontra archaisches Bild
1994, 366). Oder Urgeschichte erstreckt sich, wie unter
dem starren Blick des barocken Allegorikers, auf den »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten<<
gesamten bisherigen Geschichtsverlauf, dessen mythi- (V, 596). Es geht beiden Korrespondenten um eine
scher Aspekt nochmals mythisiert und entdialektisiert »materialistische Ideenlehre<< (Adorno 1994, 84), die
würde: Dann wäre der Medusenblick der Geschichte die platonische des Trauerspielbuchs aufheben soll,
von dem erstarrenden ihres entsetzten Betrachters und um »Konstellationen<< aus »Monaden<< und »Bil-
kaum mehr zu unterscheiden. Daher, so Adorno, Ben- dern<<, in denen sich eine ganze Epoche kristallisiert.
jamins Wunsch, einen nicht minder undialektischen, Adorno will auch hier einen Schlüsselbegriff der Pas-
projektiven, »deus ex machina-haften<< (47) Gegenpol sagenarbeit - das dialektische Bild - gegen dessen Ur-
(goldenes Zeitalter, klassenlose Gesellschaft, Proleta- heber verteidigen. Sein erster Vorbehalt wiederholt
riat) als Ausweg aus dem mythischen Kontinuum an seinen Einwand gegen eine undialektische Auffassung
den Anfang und/oder an das Ende der Geschichte zu von» Urgeschichte<<. Er warnt vor einem Rückfall »dia-
setzen. Aus Adornos Sicht birgt Benjamins »anthropo- lektischer<< in »archaische<<, prä- oder unhistorische
logischer Materialismus<< die ständige Gefahr solcher Bilder.
vergeblichen romantischen Ausbruchsversuche. Wie sind die archaischen Bilder in dialektische auf-
Damit wiederholt er jedoch die Kritik, die Benjamin zuheben, wo doch, wie jeder Traum lehrt, unsere ima-
selber 1929 an den Surrealisten übt, deren romanti- gines in höchst gemischter Form auftreten? Sie zu
schen Dualismen er eine »dialektische Optik<< entge- entmischen, ist für Benjamin keine rein theoretische
genhält, die »das Alltägliche als undurchdringlich, das oder gar hermeneutische, sondern eine praktische,
Undurchdringliche als alltäglich erkennt<< (II, 307). Ob letztlich kollektive Aufgabe: »Die Verwertung der
Benjamin Adornos Einwirkung brauchte, um zu einer Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des
dialektischen Fassung von Urgeschichte zu gelangen, dialektischen Denkens<< (V, 59). Archaische Bilder wer-
Die Passagenarbeit 263

den zu dialektischen, wenn man sie im kritischen Au- wendigkeit einer dialektischen Bogenspannung zwi-
genblick zu »nutzen<<, nicht bloß zu »deuten<< weiß; schen Bild und Erwachen.
und solche >>wahre Praxis<< kommt seinerseits nicht Jeder Satz ist hier, wie Adorno unterstreicht, >>mit
ohne ein archaisches Moment >>leibhafter Geistesge- politischem Dynamit geladen<< (Adorno 1994, 74).
genwart<< aus (IV, 142). Hinter den hier vertretenen Positionen steckt die
Man ist hier weit entfernt von einer Ästhetik des Frage, wie zwei Grundtendenzen, die sich in Georg
Bildes. Der Schauplatz ist ein >>Bildraum<<, der >>kon- Lukacs' Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) an-
templativ überhaupt nicht mehr auszumessen<< ist, weil einander abarbeiten- das erwachende Bewußtsein der
>>ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ausgebeuteten Klasse und das verdinglichte Bewußt-
ist<< (II, 309). Indem Adorno diesen kollektiven Bild-, sein der dem Warenfetischismus unterworfenen Sub-
Leib- und Handlungsraum weitgehend ausblendet, jekte- ein Jahrzehnt später zusammenzudenken sind.
argumentiert er an Benjamin vorbei, auch dort, wo er Geschichte und kollektives Unbewußtsein: so hätte das
ihn vermeintlich gegen ihn selber zitiert. Passagenprojekt heißen können, das unter dem Ein-
Benjamins Expose läßt die dialektischen Bilder ei- druck der konterrevolutionären Entwicklungen in der
nem Traumkollektiv entspringen. Damit, so Adornos UDSSR, der ausbleibenden Revolution im Westen und
zweiter Vorbehalt, geht ihre >>objektive Schlüsselge- des aufkommenden Faschismus entsteht. Ein kollek-
walt<< (Adorno 1994, 39), verloren. Benjamins Miche- tives Subjekt wird hier weder vorausgesetzt noch auf-
let-Motto- >>Chaque epoque reve Ia suivante<<- im- gegeben, sondern als träumendes vorgestellt (V, 570;
pliziert dreierlei: >>die Auffassung des dialektischen 1033).
Bildes als eines - ob auch kollektiven - Bewußtseins- Indem Adorno die Existenz eines klassenlosen
inhaltes; seine geradlinige, [... ] entwicklungsgeschieht- Traumkollektivs aus gut marxistischen Gründen ver-
liehe Bezogenheit auf Zukunft als Utopie; die Konzep- neint, stellt er den >>Unterbau<< des Passagenprojekts in
tion der> Epoche< als eben des zugehörigen und in sich Zweifel. Nicht, daß das bürgerliche Individuum als
einigen Subjekts zu jenem Bewußtseinsinhalt<< (Adorno >>eigentliches Substrat<< zu bestimmen sei, sondern als
1994, 139). Traumbild und dialektisches Bild dürfen das >>dialektische Durchgangsinstrument<<, das >>nicht
ohnehin nicht gleichgesetzt werden. Denn der Traum wegmythisiert werden darf sondern nur aufgehoben
sei noch weniger als das Bewußtsein ein Abbild, son- werden kann<< (Adorno 1994, 149). Woher solche Auf-
dern reagiere mit Wunsch- und Angstbildern, die ge- hebung kommen könnte, verrät Adorno freilich nicht.
deutet werden müssen. Diese seien keine subjektiven Wer soll die >>objektiven Konstellationen<< erkennen,
Bewußtseinsinhalte, sondern objektive Konstellatio- >>in denen der gesellschaftliche Zustand sich selber
nen, in denen der gesellschaftliche Zustand sich selber darstell[t]<< (145)? Benjamins Antwortlautet: der ma-
darstelle (145). terialistische Historiker, dessen geschärftes Bewußtsein
>>Nun verkenne ich am letzten<<, fährt Adorno fort, die Krise registriert, in die das >>Subjekt der Geschichte<<
>>die Relevanz der Bewußtseinsimmanenz fürs neun- - >>die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer expo-
zehnte Jahrhundert. Aber nicht kann aus ihr der Be- niertesteil Situation<<- jeweils getreten ist (I, 1243).
griff des dialektischen Bildes gewonnen werden son- Zwei Vorstellungen von Stellvertretung stehen sich
dern Bewußtseinsimmanenz selber ist, als >Interieur<, hier gegenüber. Wo Adorno den Künstler als bewußtlos
das dialektische Bild fürs neunzehnte Jahrhundert als geschichtsschreibenden >>Statthalter der Utopie<< iden-
Entfremdung[ ... ]. Nicht also wäre danach das dialek- tifizieren wird, bestimmt Benjamin den Historiker als
tische Bild als Traum ins Bewußtsein zu verlegen, son- die Avantgarde des radikalen, radikal gefährdeten hi-
dern durch die dialektische Konstruktion wäre der storischen Subjekts. Überschätzt er aus Adornos Sicht
Traum zu entäußern und die Bewußtseinsimmanenz das Erwachenspotential der beschädigten Träumer, so
selber als eine Konstellation des Wirklichen zu verste- gibt Adornos Gegenbehauptung, >>daß hier das >Ästhe-
hen<< (140). tische< unvergleichlich viel tiefer in die Wirklichkeit
Adorno legt hier, wie Benjamin, Marx' Analyse des revolutionär wird eingreifen als die Klassentheorie als
Warenfetischismus zugrunde. Dieser sei keine Tatsache deus ex machina<< (Adorno 1994, 74), eine noch un-
des Bewußtseins, produziere vielmehr dessen Entstel- glaubwürdigere Antwort auf die große Frage, die alle
lung und Vereinzelung, und wirke damit jeglichem Marxisten seit Marx bewegt: Wo liegt die Sprengkraft
Kollektivtraum entgegen. Benjamin läßt diese Kritik der Revolution begraben? Indem sie jeweils für eine
auf sich einwirken, ohne sich beirren zu lassen. Weit Seite der objektiven Aporie eintreten, teilen sich die
entfernt, den Traum abzubilden, so seine vorläufige Korrespondenten die zwei Hälften jenes rabbinischen
Antwort, markiere das dialektische Bild die >>Einbruch- Satzes auf: >>Es möge der Messias kommen, aber ich
stelle[] des Erwachens<< (5, 145) und damit die Not- will ihn nicht sehen<<.
264 Messianismus, Ästhetik, Politik

Ein Traumkollektiv bietet aus Adernos Sicht keine sehen Geschichts- und Sprachphilosophie (Wohlfarth
Alternative zum bürgerlichen Subjekt, lediglich dessen 1992) und auf seine dialektischen Denk- und Sprach-
Hypostasierung. Gegen solche pseudo-materialistische bilder, samt der- irritierenden, aber offenbar unum-
Subjektivierung objektiver Zusammenhänge sei der gänglichen - Bildqualität seiner philosophischen Ter-
»glorreiche« (Adorno 1994, 140) erste Passagenent- minologie: unumgänglich, weil auch die Begriffe einen
wurf gefeit gewesen. Dessen theologischer Ansatz sei materiellen, mythepoetischen Ursprung haben. Dar-
der archimedische Punkt, von dem aus die Immanenz aus folgt, daß ein historischer Materialismus, der den
der bürgerlichen Welt als die Hölle gesehen werden Namen verdient, sich von solchem Ursprung her-
kann, die sie ist. schreiben muß. Seine Sprache hat, mit Benjamin ge-
Sieht Adorno im Traumkollektiv nichts anderes als sprochen, >>bildhaft<< zu sein: dies jedoch in >>höherem
kollektive »Bewußtseinsimmanenz<<, so plädiert er sei- Sinn<< als die überkommene Geschichtsdarstellung (V,
nerseits für eine andere Immanenz, der er quasi-ma- 578).
gische Kräfte zuschreibt: die innere LÖgik des autono- Die Diskussion mit Adorno blieb unabgeschlossen;
men Kunstwerks. (Benjamin wiederum versteht unter Benjamin entwickelte seine Vorstellung vom dialekti-
dem Leibnizschen Begriff der fensterlosen Monade das schen Bild in den Thesen und den dazugehörigen No-
»Bild der Welt in seiner Verkürzung<< (I, 228) der »Kri- tizen weiter (I, 695, 703, 1233, 1238, 1242 f.; V, 577, wo
stall des Totalgeschehens« (V, 575).) Er hat, schreibt die Notiz N2a,3 Spuren der Auseinandersetzung mit
Adorno, an sich selber erfahren, »daß wir um so realer Adorno trägt). Sie waren sich einig, daß eine schriftli-
sind, je gründlicher und konsequenter wir den ästhe- che Abgrenzung von Jung und Klages not tat; aber der
tischen Ursprüngen treu bleiben und ästhetisch bloß geplante Aufsatz kam wegen der von Horkheimer ge-
dann wenn wir sie verleugnen<< (Adorno 1994, 113). setzten Prioritäten nicht zustande. So blieb ein viel-
Benjamin geht von der gegenteiligen Erfahrung aus, versprechender Beitrag zur Erkundung der terra inco-
daß man »immer radikal, niemals konsequent<< (3, gnita zwischen Psychoanalyse und historischem Ma-
159) vorzugehen habe. Adornos Formulierung mag terialismus - zum kollektiven Unbewußten des
zwar an das »paradoxe Umschlagen<< gegensätzlicher unbewußten Kollektivs - ungeschrieben. Benjamin
Pole ineinander erinnern, auf das sich Benjamin im wäre hier vermutlich auf den Anteil des Traumlebens
soeben zitierten Brief an Scholem bezieht. Gemeint an der Geschichte (II, 620) und auf die Frage einge-
waren jedoch Religion und Politik als die einzigen gangen, inwieweit die scheinbare Invarianz der Urbil-
Möglichkeiten, »die rein theoretische Sphäre zu ver- der diejenige der bisherigen Klassen- und >>Urge-
lassen« (3, 158). Adorno begnügt sich hingegen damit, schichte<< wiedergibt. Auch dieser Komplex gehört zu
zwischen der theoretischen und der ästhetischen den wenig erforschten Arbeitsfeldern der Passagenar-
Sphäre zu pendeln. beit.
Benjamins Aufzeichnungen halten eine weitere Un-
terscheidung zwischen archaischen und dialektischen
Bildern fest. Der Ort, an dem man letztere antreffe, sei Zweierlei Dialektik
die Sprache (V, 577). Daran knüpft der Gedanke an,
der eigentlich problematische Bestandteil seiner Arbeit Adorno wird nicht müde, von Benjamin »Vermitt-
sei >>auf nichts zu verzichten, die materialistische Ge- lung<< (Adorno 1994, 366) einzuklagen. Gibt es laut
schichtsschreibung als in höherem Sinne als die über- Hegel zwischen Himmel und Erde nichts Unvermit-
kommene bildhaft zu erweisen<< (V, 578). In den zwei teltes, so gelte dies mehr denn je dort, wo die Bour-
Skizzen ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN gilt die geoisie sich eine >>Welt nach ihrem eigenen Bilde<<
Sprache ebenfalls als der Ort, wo archaische Kräfte und (Marx 1953, 530) geschaffen hat. In die Kraft dieses
Bilder aufgehoben sind; und die Passagen-Notizen Systems eintreten könne man nur mit und gegen He-
zum Lesen der aufblitzenden Bilder nehmen einige gel. Die theologischen Kategorien des ersten Passagen-
dieser Formulierungen wieder auf (V, 577 f.; I, 695; II, entwurfs seien folglich bis in ihren >>Glutkern<< hinein
209f., 213). >>durchzudialektisieren<<. Das Gewaltsame dieses Neo-
Daraus ergibt sich dreierlei: das mimetische Vermö- logismus reimt sich schlecht mit Adornos Befürchtung,
gen ist nicht, wie beim späteren Adorno, auf die ästhe- Benjamin habe sich unter Brechts Einfluß >>Gewalt«
tische Sphäre beschränkt; die Sprache stellt eine höhere angetan (Adorno 1994, 369). Nimmt sich dieser als Teil
Stufe der Entzauberung als die Geschichte dar; sie seiner Passagenlektüren Hegel vor, so bleibt unklar, ob
kann folglich dem materialistischen Historiker als Vor- er seinen ersten Eindruck revidiert hat, dessen geistige
bild dienen. Von hier aus fallt Licht auf die Passagen- Physiognomie sei die eines >>intellektuellen Gewalt-
arbeit als den historischen Fluchtpunkt der Benjamin- menschen<< (1, 423).
Die Passagenarbeit 265

Der Briefwechsel spielt sich in Wirklichkeit zwischen Auf den »großen und denkwürdigen Brief<< (Adorno
zwei >abenteuerlichen Dialektiken< ab. Einerseits eine 1994, 154), den Adorno ihm zum ersten Expose
»negativ« gewendete Hegelsche: Bewegung des Gedan- schreibt, antwortet Benjamin am 16.8.1935 mit einer
kens, Arbeit des Begriffs, bestimmte Negation. Ande- kurzen, ebenso denkwürdigen Erklärung, warum er
rerseits eine profan-mystische, »erkenntniskritische<<, noch nicht auf dessen Argumente eingehen wird. Er
die den Akzent auf den sprengenden Moment legt (1, müsse die Kritik auf sich einwirken lassen. Vorab sei
1243; V, 577 f.). Erstere arbeitet die immanente Zusam- jedoch gesagt: Der erste, theologisch ausgerichtete Pas-
mengehörigkeit aller Momente heraus; letztere »rückt<< sagenentwurf sei nicht einem plump materialistischen
vom immanenten »Schuldzusammenhang des Leben- geopfert worden. Zwischen beiden - der »Thesis und
digen« (II, 175) und der »Kette der Begebenheiten<< (I, Antithesis<< (5, 143) des künftigen Werks- den Bogen
697) »ab<< (I, 696 f. ). Wo Adorno einen Glaubenssprung zu spannen, sei vielmehr die bevorstehende Kraft-
aus der geschichtlichen Dialektik heraus befürchtet, probe. Benjamins Antwort auf die Forderung nach
erhofft sich Benjamin die Rettung vom »kleinen einem »Mehr an Dialektik<< besteht somit im Verweis
Sprung<< in der kontinuierlichen Katastrophe. Diese auf die dialektische Gesamtanlage des Projekts. Dieses
Erfahrung des Sprungs - des ekstatischen Jetzt, des will ausgetragen werden; er muß in einem mehrfachen
Erwachens, der unwillkürlichen Erinnerung, des revo- Sinn disponieren.
lutionären Handeins - ist für ihn die dialektische par Wenn die Zeit die Mutter der Dialektik ist, dann
excellence, so wie ihm Erfahrung - besonders seine kann die Passagenarbeit in der Tat als eine eminent
Jugenderfahrungen und die politische Erfahrung sei- dialektische gelten. Die Kraft und die Geduld, die sie
ner Generation - überhaupt als der Prüfstein aller erfordert, sind nicht nur die des Begriffs. Trauerspiel,
Dialektik gilt. Trauerarbeit, Passagenarbeit: der passagere »Blitz« der
Es wäre jedoch eine falsche Zuspitzung, eine Dia- Bilder, der »langnachrollende Donner<< (V, 570) der
lektik des Begriffs hier gegen eine Dialektik der Erfah- Textarbeit. Und am Ende die ausgehende Zeit, der
rung auszuspielen. Abgesehen davon, das eine solche nicht aufgehende »Kalkül<< (5, 143), weil der »Sturm<<
Antithese seit Hege! nicht mehr gilt, kommt keine der den Dialektiker, der den »Wind der Weltgeschichte in
hier miteinander korrespondierenden Positionen ohne den Segeln<< (V, 591) haben und die Trümmerstücke
die andere aus. Sie setzen einander vielmehr als Kor- »Zusammenfügen<< (I, 697 f.) will, seinerseits ereilt.
rektiv ein. »Zum Denken gehört nicht nur die Bewe-
gung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung<<
(I, 702). Dieser programmatische Satz hält sowohl den Dispositio, Konstruktion, Montage
Kontrapunkt beider Momente als auch den Augenblick
der Unterbrechung fest, ohne welche Dialektik aus Adorno faßt seine Einwände gegen das erste Passagen-
Benjamins Sicht in mythische Verkettung zurückfällt. Expose mit einem Vergleich zwischen dem frühen
Hier kehrt sich Adornos Einwand gegen archaisches Entwurf »Der Saturnring oder etwas vom Eisenbau<<
Denken potentiell gegen ihn selber. Zum »statischen<< (V, 1060ff.) und ihrem jetzigen Relikt (V, 51) so zu-
Moment des Benjaminsehen Denkens (Adorno 1970, sammen: »Nicht müßte der Saturnring zum gußeiser-
17 f.; 45) unterhält er ein ambivalentes Verhältnis: Der nen Balkon werden sondern dieser zum leibhaften
orthodoxe Hegelianer in ihm stößt sich an Impulsen, Saturnring<< (Adorno 1994, 146). Wurde doch, fährt er
von denen der negative Hegelianer zehrt. fort, eine derartige Umkehrung im »Mond<<-Kapitel
Eine weitere Front tut sich an dieser Stelle auf: zwi- der BERLINER KINDHEIT vollzogen, wo in einem apo-
schen Benjamins freiem Umgang mit der Hegeischen kalyptischen Traum der Familienbalkon vor dem her-
Dialektik und dem »souveränen<< Impuls eines Nietz- anrasenden Mond zerspringt. Die Aufgabe der Passa-
scheaners wie Georges Bataille, von der Arbeit des Be- genarbeit, so Benjamins Antwort, sei durch keine
griffs, der Knechtschaft der Dialektik, frei zu kommen. einzelne Betrachtung oder »unerlaubt >dichterische<<<
Unterbricht der (anti- )dialektische Sprung bei Benja- Gestaltung zu erfüllen. Sie obliege vielmehr »dem Bu-
min das mythisch-dialektische Kontinuum, und sei's che als Ganzem<< (5, 143f.). Damit antwortet er eben-
nur einen Augenblick lang, als Stillstellung, Zäsur, Ge- falls auf Adornos späteren Einwand, seine Baudelaire-
genbewegung und Streik, so springt diese Intervention Arbeit stelle metaphorische Korrespondenzen zwi-
weder ganz aus dem Verlauf heraus, noch geht sie in schen einzelnen sinnfälligen Zügen des über- und
ihm restlos unter. Sie bleibt vielmehr in ihm (be )stehen. Unterbaus her. »Die materialistische Determination
Die »Intervalle<< und »Abstände<< zu »behüten<< (V, 570) kultureller Charaktere<<, so Adorno, »ist möglich nur
-eben nicht »durchzudialektisieren<< -,gehört zur Ab- vermittelt durch den Gesamtprozeß<< (Adorno 1994,
fassung des Passagen- wie des Trauerspielbuchs. 367).
266 Messianismus, Ästhetik, Politik

Hier das Buch als Ganzes, da der Gesamtprozeß: pirischen Bestande« (I, 213) einzusammeln wären:
zwei schwer miteinander zu vermittelnde Vorstellun- Hegels >>Desto schlimmer für die Tatsachen« wird in
gen vom >>Ganzen<< und vom »unerlaubt >Dichteri- der Einleitung zum Trauerspielbuch zustimmend zi-
schen«<. Hatte Adorno Benjamins mikrologisches tiert (I, 226). Schon dort geht es jedoch um eine nicht
Verfahren immer gerühmt, die konstruktive Dimen- dialektisch zu erzwingende (I, 218) >>Entdeckung« von
sion seines Denkens, insbesondere der Passagenarbeit, >>Ursprungsphänomen[en]«, die sich nie im >>nackten
hingegen kaum beachtet, dann deshalb, weil ihm eine offenkundigen Bestand des Faktischen«, sondern im
ganz andere Vorstellung vom Ganzen - und sei dies >>Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene«
das>> Unwahre«- vorschwebt; vielleicht auch, um Ben- zu erkennen geben (I, 226 f.). Der philosophische Lum-
jamin in einer »Vollkommene[n] Exterritorialität zur pensammler (V, 574) ist sich, im Gegensatz zum he-
manifesten Oberlieferung der Philosophie« (Adorno gelianischen Ästhetiker, nicht zu schade, sich auf sol-
1970, 27) anzusiedeln, von wo aus er ihm das Terrain che umständliche Materialsuche einzulassen und mit
der eigenen Philosophie nicht streitig machen kann. der >>Witterung« der Mode oder des Haushunds, fürs
Wie dem auch sei: Er verlangt nach >>Vermittlung Aktuelle im Vergangeneo (I, 701; III, 195) >>sich von
durch den gesellschaftlichen Gesamtprozeß« (Adorno Eicheln und Gras der Erkenntniss [zu] nähren und um
1994, 369): nach dem >>Durchdialektisieren« bloßer der Wahrheitwillen an der Seele Hunger [zu]leiden«
Korrespondenzen, Lücken und Sprünge durch die Ar- (Nietzsche 1968, 25), sprich: Bücher über den Pariser
beit des Begriffs. Neben dieser in jedem Sinne speku- Städtebau oder den Canal d'Ourcq zu durchstöbern.
lativen Forderung, der vermutlich erst der Weltgeist Adornos rückblickende Einschätzung der Passagen-
gewachsen wäre, nimmt sich das Programm des Pas- arbeit war ambivalent. Nur Benjamin selber hätte den
sagenprojekts vergleichsweise realistisch aus. >>chef d'ceuvre« schreiben können; ob so, wie es ihm
Wenn Benjamin in seinen Antwortbriefen immer vorschwebte - als kommentarlose Zitatmontage, die
wieder auf die Arbeitsphase hinweist, in der er gerade die Materialien für sich selber sprechen ließe -, sei
steckt, Zeit zu gewinnen versucht, Lücken vorerst be- jedoch nicht ausgemacht (Adorno 1970, 26). Geht
stehen läßt und das noch Fehlende eigens betont, so Adorno mit dem jungen Lukacs und Benjamin davon
stellt er damit die raumzeitlichen Dispositionen des aus, daß die Philosophie seit der Dekomposition des
Projekts in Aussicht. >>Seine Sammlungen sind die Ant- Systems nur noch über kleinere Formen wie den Essay
worten des Praktikers auf die Aporien der Theorie« (I, 207 f.) verfügt, so weiß er mit Benjamins radikalerer
(li, 469). Dieser Satz aus dem Fuchs-Aufsatz gilt eben- Hypothese, die Montage-Technik der Avantgarde weise
falls für die Passagen-Konvolute. Warnt Adorno, daß auf die heute fällige Darstellungsform einer materialen
das gesammelte Material sich durch die Vertagung der Geschichtsphilosophie, wenig anzufangen. Sein Ver-
Theorie gegen diese verschwört (Adorno 1994, 368), trauen ins revolutionäre Potential der Kunst macht
so geht Benjamin davon aus, daß es eher von der Ge- hier - bei der ihm sonst verhaßten Position einer ge-
fahr eines verfrühten Eingriffs der Theorie bedroht mäßigten Moderne- halt.
ist. Die Philosophie mag kein System mehr sein, so sein
Benjamin ist dem >>System« ebenso abhold wie impliziter Vorbehalt, bleibe jedoch als Metasprache
Adorno dem >>Positivismus«. Daher ihre Uneinigkeit unabdingbar. In der Passagenarbeit hingegen, so meint
darüber, was unter Empirie zu verstehen ist. Wenn er, sollte Philosophie >>nicht bloß den Surrealismus
Adorno schreibt, der >>Chok«, der von einer >>erfüllten einholen, sondern selber surrealistisch werden«
Passagenarbeit« käme, scheine ihm, >>gleich dem sur- (Adorno 1970, 26). Damit überhörtAdorno Benjamins
realistischen«, revolutionärer als >>die blanke Einsicht Satz, die Passagenarbeit solle >>mit allen Machtvoll-
ins unerhellte Wesen des Städtebaus« (Adorno 1994, kommenheiten eines philosophischen Fortinbras die
113 ), oder wenn er den unmittelbaren Rückschluß von Erbschaft des Surrealismus antreten« (3, 420). Benja-
der Weinsteuer auf Baudelaires Weingedichte bean- mins Passagen-Konzeption eine surrealistische Utopie
standet (368), unterstellt er Benjamin eine zugleich zu nennen, erlaubt Adorno zu bezweifeln, ob sie über-
romantische, magisch-positivistische und vulgärma- haupt realisierbar war. Aber die konstruktive Montage,
terialistische Vorstellung vom Material. Den Gegensatz die Benjamin anvisiert, weit davon entfernt, >>links vom
zwischen spekulativer Theorie und kruder Empirie Möglichen überhaupt« (III, 281) zu stehen, wäre ver-
abzubauen, ist hingegen das Stück für Stück zu erfül- mutlich eine Weiterentwicklung der verschiedenen
lende Programm der Passagenarbeit, wo- wie in >>Le Mosaik- und Zitat-Techniken gewesen, deren Theorie
Solei!<< (Baudelaire 1968, 79) - der surrealistische und Praxis er im Trauerspielbuch, in der EIN-
Schock nur vom Fund, vom objet trouve, kommen BAHNSTRASSE, in den Surrealismus- und Kafka-Essays
kann. Nicht, daß die Phänomene >>in ihrem rohen em- und im Passagen-Expose ausprobiert hatte: keine
Die Passagenarbeit 267

bloße Anhäufung von Materialien oder unkommen- Wie in der Politik geht es in dieser ihr gewidmeten
tierte Anordnung von Motiven, aber auch kein fort- Arbeit darum, die Massen- hier: die Materialien- da-
laufender philosophischer oder essayistischer Diskurs durch >>zu ihrem Recht [... ] kommen zu lassen<< (I,
herkömmlichen Stils. Diese Form hätte nicht die 506), daß sie zu einer sich selbst organisierenden >>kri-
>>rhapsodische<<, »romantische<< der ersten Passagen- tischen<< Masse werden (I, 505). Es gehört zu Benja-
Entwürfe oder die >>dichterische<< der BERLINER KIND- mins Grunderfahrungen, daß das Verschwinden des
HEIT sein können. Und dennoch sollte die Montage Subjekts eine anarchische >>Ordnung<< (II, 238f.) her-
eine >>literarische<< (V, 574) sein. Die Absage an eine vortreten läßt. Diese soll durch wechselnde Ver-
allzu dichterische Form wäre einer immer noch künst- suchsanordnungen - >>freie Assoziationen<< (Freud)
lerischen gewichen. Auch die Wissenschaft - so das zugunsten eines >>Vereins freier Menschen<< (Marx)-
Goethe-Motto zum Trauerspielbuch-müssen wir uns provoziert werden. Liegen konstruktive Schemata
»notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend sämtlichen größeren Arbeiten Benjamins zugrunde
eine Art von Ganzheit erwarten<< (I, 207). Die anschlie- (Missac 1986), so erreichen sie mit jeder neuen Phase
ßend empfohlene und geübte >>Kunst des Absetzens im der Passagenarbeit einen höheren Grad an Komplexi-
Gegensatz zur Kette der Deduktion<< (I, 212) wird in tät. Benjamin war mit diesem Experiment noch lange
der Passagenarbeit zu einer der >>Intervalle<< und der nicht fertig, als es abgebrochen wurde.
>>Abstände<<.
Jede Etappe im dialektischen Prozeß der Wissen-
schaft, wie in dem der Geschichte selbst, bringt, >>wie Theologie und historischer Materialismus
auch immer bedingt von jeder vorhergegangenen<<,
eine >>gründlich neue Wendung<< zur Geltung, die eine Im Gegensatz zu Scholems und Brechts gegnerischen
>>gründlich neue Behandlung<< fordert. Neue Gegen- Parteinahmen für eine dieser Instanzen, und ihrer je-
standsbildungenverlangen neue Methoden,>> [g] enau weiligen Allergie gegen >>Interferenzerscheinungen<<
wie Form in der Kunst sich dadurch auszeichnet, daß (Scholem 1975, 284: Brief vom 30.3.1931), steht
sie, zu neuen Inhalten führend, neue Formen entwik- Adorno für deren Dialektik- samt dem >>Eindringen
kelt<< (V, 593 ). Benjamin ist hier dabei, eine eigene des [materialistischen] Fremdkörpers<<- in Benjamins
Erkenntnistheorie, die seine vorangegangene aufhebt, Denken ein. Sie könne allerdings nur im Medium der
und eine ständig zur Disposition stehende Form zu philosophischen Theorie ausgetragen werden (Adorno
entwickeln. Die Ideenlehre der ERKENNTNISKRITI- 1994, 112). Als materialistischer >>Anwalt des theolo-
SCHEN VoRREDE des Trauerspielbuchs soll in histori- gischen Motivs [der Benjaminschen], und vielleicht
schen Materialismus umgeschmolzen werden: Ana- darf ich sagen auch meiner, Philosophie<< weiß sich
mnesis nicht der platonischen Ideen, und gewiß nicht Adorno, gegen Scholem, mit Benjamins Intention ei-
des Heideggerschen Seins, sondern einer jüngstver- nig, >>die Kraft der theologischen Erfahrung anonym
gangeneu Dingwelt und somit ein ganz anderes "zu- in der Profanität mobil zu machen<< (324). Diese For-
rück zu den Sachen selbst<< als das von Husserl gefor- mulierung klingt an Benjamins Satz an, sein Denken
derte. >>Verzicht auf den unabgesetzten Lauf<< -ja sei mit Theologie so vollgesogen wie ein Löschblatt
>>Tod<< - >>der Intention<<, >>Eingehen und Verschwin- mit Tinte. >>Ginge es aber nach dem Löschblatt<<, fügt
den<< in die Wahrheit (I, 208-216): das erkenntniskri- er hinzu, >>SO würde nichts was geschrieben ist, übrig
tische Programm des Trauerspielbuchs stellt sich jetzt bleiben<< (V, 588; I, 1235). Damit grenzt er sich nach
als ein gezieltes Verschwinden in ein Archiv dar, das zwei Seiten ab. Erstens gegen Scholem, denn das Lösch-
die Bibliothek, die Straße, die Sprache und die Ge- blatt träumt ja davon, die heilige Schrift auszulöschen.
schichte, die kollektive sowie die eigene, umfaßt. Dar- Zweitens gegen Brecht, denn es liegt nicht in der Ge-
aus trägt der Sammler ein Buch zusammen, das nicht walt auch der plumpesten Aufklärung, das theologi-
nur -wie Zarathustra- >>für Alle und Keinen«, sondern sche Erbe restlos zu liquidieren. Die daraus resultie-
von Allen und Keinem ist. Alles Namhafte, angefangen renden Aporien sind jedoch keine lähmenden. Sie
mit dem Autor selbst, tritt zurück, um das anonyme münden unter anderem in die praktische Aufgabe, die
kollektive Subjekt hervortreten zu lassen. Passagenarbeit zu schreiben.
>>Ich habe nichts zu sagen<<, notiert Benjamin: >>Nur Die Erfahrung des Eingedenkens, heißt es dort, ver-
zu zeigen. Ich will nichts Wertvolles entwenden und bietet zweierlei: die Geschichte atheologisch zu begrei-
mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber fen und sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu
die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventari- schreiben (I, 1235). Diese Position ist nun, drittens,
sieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu gegen Adornos Version derselben abzugrenzen. Das
ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden<< (V, 574). Theologisch-politische Fragment hatte das Zusammen-
268 Messianismus, Ästhetik, Politik

spiel von theologischen und profanen Kräften im Bild sehen Theologie und historischem Materialismus wäh-
zweier Pfeile festgehalten, deren einer den anderen len zu müssen. Ein nochmaliger Blick auf das Theolo-
nicht trotz, sondern dank ihrer entgegengesetzten Bah- gisch-politische Fragment genügt jedoch, um die Di-
nen auf seinem Wege befördert (II, 203 f.). Einen es- stanz zu ermessen, die ihn hier von Adorno trennt.
sentiellen Unterschied der religiösen und der politi- Wenn es dort heißt, das profane >> Glückssuchen einer
schen Observanz, schreibt Benjamin an Scholem, ge- freien Menschheit<< sei imstande, die gegenläufige mes-
stehe er nicht zu: >> Ebensowenig eine Vermittlung<<. sianische Kraft zu befördern, so wird nicht behauptet,
Wenn >>jede Betrachtung der Aktion rücksichtslos ge- daß eine solche übertragung auch in umgekehrter
nug und radikal in ihrem Sinn verfährt<<, dann schla- Richtung geschieht. Und sie gilt im ersten Fall nur
gen sie >>(in welcher Richtung immer)<< ineinander um unter der Bedingung, daß die profane Kraft >>rück-
(3, 158). sichtslos genug<< - was vermutlich auch heißt: ohne
Wenn Adorno, der Vermittler, Benjamin dazu ermu- Rücksicht aufs Messianische- verfährt. Die politische
tigt, sich dem theologischen Elan der ersten Passagen- Aufgabe der profanen Welt besteht darin, sich ihrem
entwürfe vorbehaltlos, ohne marxistische Vorzensur eigenen Elan restlos hinzugeben. Von dieser Politik der
anzuvertrauen, weil gerade diese Rücksichtslosigkeit Vergängnis (II, 204) ist es zur Passagen-Arbeit nur ein
dem historischen Materialismus nur zugute kommen Schritt. Insofern steht das Fragment Brechts Atheismus
könne, scheint er ihm dessen tiefsten theologisch-po- näher als der Theologie, die Adorno Benjamin unter-
litischen Impuls entgegenzuhalten. Aber der Schein schieben will.
trügt. In Wirklichkeit biegt er solchen Elan zu einer Kurzum, Benjamin zieht ganz andere Konsequenzen
>ökonomischen< Spekulation um, so als würde eine als Adorno aus seinen theologisch-politischen Denk-
unsichtbare Hand eine prästabilierte Harmonie zwi- modellen. Wo Adorno ein überflüssiges Denkverbot
schen Theologie und historischem Materialismus ga- und später gar eine autoritäre >>Identifikation mit dem
rantieren - ein Bild, das Benjamins erste geschichts- Angreifer<< diagnostiziert, beharrt Benjamin auf dem
philosophische These nur ironisch gebrochen ins Spiel notwendigen, vielleicht sogar guten Preis, der für einen
bringen wird. Da es, so Adorno, >>in Gottes Namen nur unausweichlichen >>Antagonismus<< zu zahlen ist. Zwar
die eine Wahrheit<< (Adorno 1994, 370) gibt, braucht rühmtAdorno die >>Ursprungsgewait<< des ersten theo-
es keinen Antagonismus zwischen scheinbar wider- logischen Passagenkonzepts (Adorno 1994,139). An
streitenden Instanzen zu geben. Aber eine solche Ko- der Gewaltfrage scheiden sich jedoch die Geister. Hat
inzidenz der Gegensätze findet Benjamin zufolge nur sich Adorno zufolge Benjamin mit seinem Brechtsehen
in radikaler Praxis, unter gewaltigen Spannungen, oder Marxismus >>Gewalt angetan<<, so entgegnet dieser, So-
in letzter Instanz statt. Hier und heute seien den ein- lidarität mit den Erfahrungen [s]einer Generation<<
zelnen Antagonismen keineswegs erspart. Mit anderen und >>eigenste produktive Interessen<< haben ihn in der
Worten: Das mystische Paradox des Theologisch-poli- Tat dazu gebracht, den >>ursprünglichen gelegentlich
tischen Fragments ist keine Zauberformel für das rich- Gewalt anzutun<< (Adorno 1994, 369; 6, 184). Dort wo
tige Leben. »Unter falschen Umständen richtig- d.i. Adorno Benjamins eigene Theologie gegen ihn zu ver-
mit >Richtigem< - zu entsprechen<<, so Benjamin an treten glaubt, nimmt dieservon der >>Esoterik<< (6, 184)
Scholem, >>das ist mir nicht gegeben<< (4, 24f.). Auch Abschied, auf die jener ihn festlegen will. Nirgends
dieses Argument wird die Seite wechseln. Daß es >>kein sind ihre diplomatischen Verhandlungen so heikel,
richtiges Leben im falschen<< gibt, wird Adornos spä- und deren politisch-biographische Implikationen so
terer Refrain sein. immens, wie an dieser Stelle.
Adornos dialektischer Schachzug besteht hier darin, Adornos Position ist indessen nicht weniger
Benjamin unter Berufung auf dessen theologische Ju- >>plump<< als Brechts. Denn sie beruht auf einer einzi-
gendschriften und in scheinbarer Vorwegnahme der gen Denkfigur- >>Wirf weg, damit du gewinnst<<-, die
ersten geschichtsphilosophischen These nachweisen wie eine quasi-christliche Parodie aufs Theologisch-
zu wollen, daß die ersten, theologisch gefärbten Pas- politische Fragment anmutet. Ganz gleich, ob es um
sagen-Entwürfe einen >>bessere[n] Marxismus<< Theologie oder autonome Kunst geht, das Credo ist
(Adorno 1994, 370) in sich bergen als den Brechtsehen dasselbe: Man trägt um so mehr zum historischen Ma-
Vulgärmaterialismus, dem er sich inzwischen unter- terialismus bei, je weniger man sich nach ihm richtet.
worfen habe. Mit dem >>Opfer der Theologie<< (139) Was theologisch und künstlerisch wahr sei, müsse sich
habe Benjamin der materialistischen Sache lediglich - aller historischen Ausdifferenzierung der Sphären
geschadet. Nun vertritt Benjamin scheinbar ähnliche zum Trotz- auch politisch bewahrheiten. Arbeitstei-
Positionen seinen anderen Mitstreitern, vor allem lung und Berufsdeformation dürften hier dennoch am
Scholem, gegenüber und lehnt es bis zuletzt ab, zwi- Werk sein. Von Benjamins Position aus gesehen pro-
Die Passagenarbeit 269

jiziert Adornos quasi-theologische Denkfigur künst- eigener Gegenstand war (Wohlfarth 2005). Daß es
lerische Erfahrungen auf nicht-künstlerische Bereiche weiterhin als ewig heißer Tip gehandelt wird, ist nur
und zieht Politisches ins Ästhetische zurück. Benjamin die Kehrseite der Medaille.
hingegen schwebt eine nicht-ästhetisierende Umwand- Wenn Schriften >>erst in einer bestimmten Zeit zur
lung literarischer in politische Energien vor, die dem Lesbarkeit<< (V, 577) gelangen, wie steht es heute um
»unerlaubt >Dichterischen<<< einen Riegel vorschiebt. die Passagenarbeit? Trotz der Kongresse und Sonder-
Wenn Adorno Benjamin nahelegt, die Passagenar- nummern ist sie bisher in keine >>kritische Lage« (V,
beit >>getreu ihrer eigenen Urgeschichte zu schreiben<< 588) gekommen. Falsifiziert sich die Rezeptionstheo-
(Adorno 1994, 113), gibt er scheinbar getreu dessen rie, mit der sie selber operiert, in dieser post-revolu-
Weigerung wieder, früheren Denkphasen >>>abzu- tionären, post-saturnischen Konstellation?
schwören«< (3, 159). Aber Benjamin war nicht davon Ihr Autor will >>Philologie<< und >>Aktualität« deshalb
abzubringen, seine >>Sache zu tun«, auch wenn sie nicht engführen, weil sie zutiefst zusammengehören. Philo-
unter allen Umständen >>die gleiche<< sein konnte (4, logie ohne Aktualität ist blind, Aktualität ohne Philo-
24). Die Geschichte der Passagenarbeit, »ihrer Ent- logie ist leer. Erst wenn letztere die Sachgehalte lang
wicklung nach<<, war ganz gewiß in sie selber aufzu- genug beaugenscheinigt hat, so Benjamin, ist ihre ma-
nehmen (V, 578). Bei ihrer >>Urgeschichte<< stehenzu- gische Fixierung an den Text durch die historische
bleiben, hätte jedoch bedeutet, das Projekt selber Konstruktion des Gegenstands aufzuheben, deren
aufzugeben. Solche Treue war durch eine andere auf- Fluchtlinien in der eigenen historischen Erfahrung
zuheben: die des Zeugen der >>aktuellen<< Urgeschichte zusammenlaufen (6, 184 f.). Reculer pour mieux sauter
(V, 576). heißt hier, den Gegenstand möglichst tief in seinen
Es geht nicht mehr darum, das wissen sowohl Zara- Zusammenhang >>einbetten<< (6, 67), um ihn mit ge-
thustra als auch die Surrealisten, zu >>gewinnen<<. ballter >>Behutsamkeit<< (5, 248) heraussprengen zu
Adorno und Benjamin konnten diese Partie nur je auf können. Damit sind die immensen Dispositionen an-
eigene Weise verlieren. Frei nach den Titeln der Passa- gedeutet, die erforderlich sind, um die Passagenarbeit
gen-Exposes: >>Adorno oder die immanente Selbstkri- ihrerseits aufzuheben. Hiermit eine vorläufige
tik des bürgerlichen Individuums<<, >>Benjamin oder Wunschliste der Aufgaben, vor der eine solche Lektüre
der einsame Traum vom erwachenden Kollektiv<<. Frei steht.
nach Brecht: Was waren es für Zeiten, wobeideRecht
behalten mußten? Adornos >>enthusiastische[s] Miß-
verständnis<< (I, 1227) war indes nicht immer produk- Philologie
tiv. Es fehlte dem Förderer paradoxerweise an Kredit:
an Bereitschaft, dem Projekt des Anderen seine Chance Lichtenberg stellte sich die endgültige Reinschrift sei-
zu lassen. Sind sämtliche Argumente gegen die abend- ner Sudelbücher nach dem kaufmännischen Modell
ländische Kultur in den Dienst der Aufklärung zu stel- der doppelten Buchhaltung vor (Lichtenberg 1969,
len (5, 541), so gilt dies auch für Adornos beste Ein- 46). Wie wollte Benjamin seine Materien ordnen?
wände gegen die Passagenarbeit. Sie blieb ein ebenso Das aus dem Passagen-Komplex herausgelöste,
unvollendetes Projekt wie die Aufklärung, weil sie die- ebenfalls unabgeschlossene Baudelaire-Buch geriet zu
ses Projekt selber war. einem >>Miniaturmodell<< (6, 64) des gesamten Pro-
jekts. Bleibt zu erkunden, inwieweit die Pariser Para-
lipomena Aufschlüsse zur Strukturierung von Teil-
Zwischen Philologie und Aktualität: künftige komplexen dieses Modellversuchs geben, »[ dI urch das
Aufgaben einer Passagen-Forschung Exempel beweisen, daß die große Philologie an den
Schriften des vorigen Jahrhunderts nur vom Marxis-
Als Entschädigung für die >>schaffende Zerstörung<< mus geübt werden kann<< (V, 596).
(Schumpeter) wird heute überall »restauriert<<. Benja- Rückschlüsse vom Miniaturmodell her für eine
mins CEuvre, das gegen Kulturgut und Erbe anging, mögliche Neuordnung des Passagenmanuskripts hat
wurde ebenfalls - philologisch wiederhergestellt und Tiedeman 1991 zurückgewiesen (VII, 871). Es gibt
politisch entkernt - ins Weltkulturerbe integriert: keinen Grund, dieses Urteil anzuzweifeln; aber auch
»neue Vergangenheit« (V, 1000) auch hier. Dies läßt keinen, es dabei bewenden zu lassen. >>Er hat nicht zu
sich besonders deutlich an der Rezeption der Passa- rekonstruieren versucht<<, hieß es 1982, >>Was noch nie-
genarbeit beobachten. Kaum daß das langerwartete mals konstruiert war<< (V, 1073). Der tastende, inten-
Manuskript gedruckt vorlag, wurde es zum alten Eisen sive Konstruktionsprozeß, in dem das Projekt begriffen
geworfen, vom schlagartigen Veralten befallen, das sein war, verlangt jedoch, wie unvollständig auch immer
270 Messianismus, Ästhetik, Politik

und bei gleichzeitiger Ausschaltung historistischer genenaphoristischen Theorie-Fragmenten entnahm,


»>Rekonstruktion<<< (V,587), (re)konstruiert zu wer- wich man der schwierigeren Frage aus, welche Arbeits-
den. Die Kraft, den Bogen zu spannen, schreibt Ben- praxis ihnen entsprach. Wie ist Benjamins >>Kurs<< auf
jamin, >>kann nur ein langes Training verschaffen, für den >>magnetischen Nordpol<<, von dem die anderen
das die Arbeit im Material ein Element, neben anderen, >>abgelenkt<< werden (V, 570), im einzelnen zu bestim-
sind<<; die anderen seien die >>konstruktiven<<(5,143). men? Worin besteht die Logik seiner Abweichungen?
Sind keine direkten Rückschlüsse vom Baudelaire her Wie ist die Wünschelrute beschaffen, mit der er sich
aufs Passagenprojekt möglich, dann vielleicht doch planvoll in der Bibliothek verirrt? Warum gerade diese
einige indirekte. Die bisher nur probeweise abgedruck- Bücher, Zitate, Gegenstände und nicht andere? Welche
ten >>Regestenverzeichnisse<< des Baudelaire, insbeson- Auswahlkriterien legt der Lumpensammler an? Wie
dere die >>Motivgruppierungen<<, >>Reflexionen zum >>verwertet<< er sein Material? Eine >>strenge Beobach-
Aufbau<< und >>Einzelblätter<< (VII, 736-768), deren tung der echten akademischen Forschungsmethoden<<,
Kommentierung allererst angefangen hat (Espagne/ die er am Wissenschaftsbetrieb vermißte, wird hier
Werner, in Wismann, 1986; Bolle, in Opitz/Wizisla vielleicht erste Antworten geben können. Auf die ge-
2000), lassen die konstruktiven Möglichkeiten des heimnisvolle Alchimie des Schaffensprozesses wird
>>wichtigen Spiels<< (Lichtenberg 1969, 707) erahnen, man sich jedenfalls nicht berufen dürfen: Benjamin
die sich aus dem beweglichen Zusammenspiel der Ma- hat, wie Poe und Baudelaire, die >>pädagogische Seite<<
terialien und der ihnen zugedachten Tabellen, Koor- (V, 571) seines Unternehmens betont.
dinaten und Farbsiglen ergeben. Wer weiß, wohin die Benjamin hat sich mit der Idee getragen, >>den Raum
Erforschung dieser ars combinatoria- >>Zweite Tech- des Lebens - Bios - graphisch in einer Karte zu glie-
nik« im Sinne einer >>unermüdliche[n] Variierung der dern<< (VI, 466). Eine um die Passagenarbeit zentrierte
Versuchsanordnung<< (VII, 359) - führen könnte? Bio-biblio-topo-graphie seiner letzten dreizehn Jahre
Brecht meinte, ein neues Schachspiel sei auszuarbeiten, (Berlin, Paris, Moskau, Ibiza, Neapel, Skovsbostrand,
in dem sich die Stellungen und Funktionen der Figu- Blicke nach Jerusalem und New York, Port Bou) wäre
ren nicht lange gleich bleiben (VI, 526). Der bucklige zu erstellen. Nicht, wie bisher, in Form von unzulässig
Zwerg sitzt heute im Internet. dichterischen, einfühlenden, touristischen Photobän-
Welcher Künstler, fragt Baudelaire, weiht das Publi- den, Romanen, Filmen usw., sondern im Geiste der
kum in die Geheimnisse, die Improvisationen und den Passagenarbeit. Dies hat Buck-Morss (1989) ansatz-
Schmutz seines Ateliers ein (Baudelaire 1968, 188)? weise getan. Ihre Beschreibung der Passagen-Konvo-
Heute herrscht eine inverse Tendenz vor: die Zur- lute als das >>Warenlager<<, aus dem die Arbeiten der
schaustellung unfertiger Rohentwürfe. Die Passagen- 30er Jahre konstruiert wurden, legt den Gedanken ei-
arbeit war eine Werkstatt ganz anderen Rangs. >>Schöp- ner weiteren Karte nahe, auf der diese Zusammen-
ferisch<<, so Benjamin 1929, >>ist nur, wer Auftrag und hänge systematisch einzutragen wären. Im Interesse
Kontrolle meidet<<. Die aufgetragene, kontrollierte Ar- einer archäologischen Übersicht wäre die werdende
beit hingegen, deren Vorbild die politische und tech- Passagenarbeit schließlich wie ein labyrinthischer, sich
nische sei, habe Schmutz und Abfall, greife zerstörend historisch verändernder Stadtplan darzustellen. Com-
in den Stoff ein, verhalte sich abnutzend zum Gelei- puter-Techniken werden hier auszuprobieren sein:
steten und kritisch zu ihren Bedingungen (II, 366). Benjamin-Forschung im Zeitalter neuer technischer
Dies galt besonders für die Passagenarbeit: nur daß Reproduzierbarkeiten. VEREIDIGTER BücHERREVISOR
Auftrag und Kontrolle fehlten. >>Eigene Gedanken in hat schon 1927 das Mißverhältnis zwischen dem tech-
ein vorgegebenes Kraftfeld einzutragen, ein wenn auch nischen Stand der wissenschaftlichen Produktion und
noch so virtuelles Mandat, organisierter, garantierter deren hinterherhinkender >>Vermittlung<< problemati-
Kontakt mit Genossen<< (IV, 327): dies, so Benjamin siert: >>Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle
1927, konnte es, wenn überhaupt, nur in der Sowjet- wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veral-
union geben. Sein Interesse für jenes weltgeschichtli- tete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Karto-
che >>Laboratorium<< (325) und sein eigenes Passagen- theksystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im
Experiment waren zwei Seiten derselben Recherche. Zettelkasten des Forschers, der's verfaßte, und der Ge-
Der Vergleich wirft Licht auf die Bedingungen seiner lehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen
Arbeit: Die >>Produktionsanstalt<< (4, 25), die er sich im Karthotek<< (IV, 103). Auch in dieser Hinsicht stellt die
westeuropäischen >>Kraftfeld<< erfand, mußte ebenso Passagenarbeit ein groß angelegtes Experiment dar.
>>virtuelle<< Züge aufweisen wie sein >>Mandat<<. Die im Expose beschriebene Emanzipation neuer Kon-
Diese Werkstatt ist bisher kaum studiert worden. struktionsprinzipien von veralteten Umhüllungen soll
Indem man die Methode der Passagenarbeit ihren ei- hier durch eine Umformung des Buchs erreicht wer-
Die Passagenarbeit 271

den, die dem wissenschaftlichen, technischen und die allgegenwärtige moderne Zeit-Zählung selbst: der
künstlerischen Stand der Produktivkräfte entspricht. herrschende >>Zeit-Traum<< (V, 491) des »Fortschritts<<;
Die bisher skizzierte werkinterne Philologie ist das Zeitmaß moderner Entmythologisierung, das sel-
durch die Einbettung ihres Gegenstands ins Diskurs- ber ein seine Kinder fressender Chronos ist. Wie die
und Spannungsfeld ihrer Zeit zu ergänzen. Dabei wer- chronologische Vorstellung eines >>eine homogene und
den sowohl die großen Kontinuitäten als auch deren leere Zeit durchlaufenden Fortgangs<< (I, 701) durch
kleine Unterbrechungen zu isolieren sein. Dies ist um eine >>dialektische, sprunghafte<< (I, 1243) ablösen? Die
so notwendiger, als sich die Passagenarbeit, wie sämt- Impulse der literarischen und kinematographischen
liche Schriften Benjamins, zwischen alle Fronten stellt. Avantgarde wissenschaftlich umsetzen? Einen histo-
Man wird, ohne sich durch die reale Gefahr eines ge- riographischen Positivismus, der der >>letzte[n] Phan-
wissen Historismus abschrecken zu lassen, jenes um- tasmagorie des Objektiven<< (I, 406) verfallen ist, durch
strittene - und heute >>wie durch Jahrhunderte<< (II, eine strengere >>Wissenschaft vom Ursprung<< (I, 227)
540) von uns entfernte- Terrain umständlich karto- ersetzen, die die >>Fakten<< als das erscheinen läßt, >>was
graphieren müssen, um zu erfahren, welche Wege uns soeben erst zustieß<< (V, 491)? Wie der >>Unord-
Benjamin dort gebahnt hat. nung<< des historischen >>Bildraums<< (1, 1243) und
Wer überall Motive und Zitate entwendet, um sie zugleich der >>Rücksicht auf Darstellbarkeit<< (Freud
auf seine Weise zu verwenden, muß sich allseits ab- 1976, 344-354) gerecht werden? Wie, mit einem Wort,
grenzen, wenn er Mißverständnissen vorbeugen will. eine konstruktive Destruktion herrschender Ge-
Bei Benjamin geschieht dies oft eher implizit; oder die schichtsschreibung ins Werk setzen?
Absicht wird, wie beim geplanten Artikel über Jung Daß man Geschichte immer >>konstruiere<<, hat sich
und Klages, nicht ausgeführt. Hinzu kommt, daß er mittlerweile herumgesprochen, aber nur als wissens-
sich über die >>Gefahr<< einer Nähe zu kompromittie- soziologische Binsenweisheit, ohne Bezug zu Benja-
renden Autoren meistens hinwegsetzt (4, 441). Den- mins tragendem Konzept: der praktisch-politischen
noch verwirfter-mit sehr unterschiedlichen Abstu- Konstruktion von Geschichte selbst. Daß jede Ge-
fungen von Vehemenz - drei Unternehmen, die man schichtsschreibung rhetorischen Zwängen und- mei-
mit dem seinen verwechseln könnte: Ernst Blochs Erb- stens naturalisierten- Konventionen unterliegt, wurde
schaft dieser Zeit (1935), Siegfried Kracauers facques ebenfalls inzwischen erforscht. Aber die Frage nach der
Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) und Dolf eigenen Darstellungsweise wurde dabei immer ausge-
Sternhergers Panorama oder Ansichten vom 19. Jahr- klammert: wie es vermeiden, auf verbrauchte Formen
hundert (1938). Bei Bloch stellt er, außer Diebstahl an zu rekurrieren, oder das Problem auf >>wissenschaftli-
ihm selber, eine Haltung fest, die den Autor verhindert, che<< oder gar >>performative<< Weise zu neutralisieren?
seine materialistischen Einsichten ins Werk zu setzen Benjamins unabgeschlossener Versuch, Geschichte
(5, 38; 27f.); bei Kracauer den resignativen Rückfall vom letzten Stand der wissenschaftlichen und künst-
eines einstigen Weggefährten in die Konventionen lerischen Technik her darzustellen, ohne ins >>uner-
bürgerlicher Biographie und eine >>Rettung<< Offen- laubt >Dichterische<<< zurückzufallen, steht nach wie
bachs, die sich als >>Apologie<< erweist (5, 526); bei vor weitgehend allein.
Sternherger ein derart ungeheuerliches Plagiat, daß er
es >>anzeigen- zu deutsch denunzieren -<<will (6, 60 f.;
111, 572-579; 700-702). Aber die ungleich wichtigere Aktualität
und schwierigere Grenze, die hier zu zeichnen ist,
durchläuft das - reale und virtuelle - Verhältnis zu Eine von ihrem Gegenstand herausgeforderte Benja-
Heidegger. min-Philologie hat, wie vermittelt auch immer, unter
Am Kreuzweg von Philologie und Aktualität stellt dem Druck aktueller Fragestellungen zu stehen. Denn
sich die Frage nach dem Potential der Passagenarbeit dort stehen wir ohnehin, die einen mehr, die anderen
als formales Experiment. >>Mit jeder Wendung<<, so die weniger geschützt. Keine historische Rekonstruktion,
ERKENNTNISKRITISCHE VORREDE, steht die Philoso- die nicht eine gegenwärtige Konstruktion wäre: es ist
phie von neuem vor der >>Frage der Darstellung<< (I, daher weder möglich noch wünschenswert zu wissen,
207). Dies gilt für jedes Stadium der Passagenarbeit. wie die Passagenarbeit >>eigentlich gewesen<< (I, 695)
Zuletzt fragt sich Benjamin, wie >>die Liquidierung des wäre. >>Dies erst vollendet das Werk<<, so Benjamin,
epischen Elements<< (I, 1241) eines >>gemächlich erzäh- >>welches es zum Stückwerk zerschlägt<< (181 ). Solches
lenden Historismus<< (1, 1248) zu bewerkstelligen ist. Zerstörungswerk >>auf die gute Art<< (II, 219) zu üben,
Nicht die >>großen Erzählungen<<, von denen man heute setzt voraus, daß man die Gegenwart >>fest bei den
so viel Aufhebens macht, sind zu entzaubern, sondern Hörnern<< (111, 259) hat.
272 Messianismus, Ästhetik, Politik

Wer über die Passagenarbeit arbeitet, ohne sich ge- 2003, vgl. Beitr. in Schalz/Rautmann 2006)? Ob der
gen ihren Grundimpuls zu sperren, steht vor der Wahl: Ausweg aus der Katastrophe nach wie vor über den
entweder versuchen, sie aus ihrem Geist heraus fort- Umweg einer >>geheime[n] Verabredung« (I, 694) mit
zuschreiben- auf die Gefahr hin, ihrer Immanenz zu einer >>ganz bestimmten<< (I, 704) Vergangenheit zu
verfallen; oder sie >>gegen den Strich« (I, 697) bürsten, finden ist- und, wenn ja, welche; welche Teile dieser
um Abstand, vielleicht gar Abschied, von ihnen zu Konstruktion in welchen Kombinationen mit welchen
nehmen - auf die Gefahr hin, einer phantasmagori- anderen in die heutige Werkstatt eines entsprechenden
schen, neu-alten Vorstellung von Aktualität zu verfal- Projekts gehören; wie die intellektuellen Produktiv-
len. Daß scheinbare Alternativen sich nicht ausschlie- kräfte und -Verhältnisse >>nach Maßgabe des Mögli-
ßen müssen, haben wir indes von Benjamin gelernt. chen<< (1, 696f.; II, 691) zu verändern sind, um zu
An einer klärenden Auseinandersetzung zwischen die- diesem Zwecke eine halbwegs gemeinsame Produkti-
sen Positionen hat es jedoch bisher gefehlt. Statt dessen onsanstalt einzurichten; wie Benjamins Denken heute
hat man sich, meistens stillschweigend, für die zweite >>wegzuheben<< ist, so wie es seinerzeit die Theologie
Alternative entschieden. Grob gesagt: Die Linke hat >>löschen<< wollte; ob und wie >>revolutionäre Energien<<
sowohl die Passagenarbeit als auch sich selber links im >>Veralteten<< noch stecken können, wenn sie selber
liegen lassen. Ein solcher Entschluß hängt, Benjami- dieses Veraltete sind - das sind einige der immensen
nisch gesprochen, mit den Erfahrungen zusammen, Fragen, die die Passagenarbeit hinterläßt. Nichts aktu-
die unsere Generationen in den letzten 25 Jahren ge- eller als ihre Grundeinsicht in ein Vergessen, das sich
macht (zu) haben (glauben). Eine weltweite >>Tendenz- mit Information (II, 444), Schockerfahrung (II, 613 ff.)
wende<< ist eingetreten (Wohlfarth in Schalz/Rautmann und neuerdings mit >>Erinnerungskultur<< reimt. Nichts
2006). schlüssiger, und verzweifelter, als ihr Versuch, die Ret-
Interesse entsteht laut Benjamin dort, wo man die tung im Vergessenen zu suchen.
eigene Lage im Gegenstand >>präformiert<< findet (V, Feststeht, daß dieses - seinerseits ebenso bekannte
494). Echtes Interesse für das Passagenprojekt kann wie vergessene, ebenso sichtbare wie übersehene- Pro-
nur eines am großen historisch-politischen Projekt jekt bisher wenig, und keine adäquate, Verwendung
sein, dem es sich verschrieb. Daher sein niedriger Kurs- gefunden hat. Nicht etwa, weil Kategorien wie Kata-
wert in der gegenwärtigen Konjunktur. >>Bemühe dich, strophe, Traumschlaf und Erwachen heillos veraltet
nicht unter deiner Zeit zu sein<< (Lichtenberg 1969, wären, eher weil wir, die Schlafenden, unseren eigenen
474), lautet eine ironische Version des kategorischen Umgang mit ihnen haben: »Die ersten Weckreize ver-
Imperativs. Trifft die von Benjamin postulierte Dia- tiefen den Schlaf<< {V, 494). Aber solche Kategorien sind
lektik zwischen revolutionärer Aktion und historischer zu hoch gegriffen, zu sehr Engelsperspektive, um im
Erkenntnis zu, dann bewegt sich unsere Zeit unterhalb Alltag greifen zu können. Deshalb wollte Benjamin
von beiden. Von denselben Prämissen her konnte Ben- seine theologischen Rückstände >>handlich machen
jamin Scholem sagen, die Antwort auf dessen Ein- und liquidieren<< (IV, 398). So ist ebenfalls mit der
wände gegen seinen Kunstwerk-Aufsatz werde >>von Passagenarbeit umzugehen. Auch diese Erb- und Kon-
der Revolution wirksamer geliefert werden als von kursmasse ist, wie laut Benjamin das >>Menschheits-
mir« (Scholem 1975, 258). Eine deutsche bolschewi- erbe<< insgesamt, stückweise im >>Leihhaus« zu hinter-
stische Revolution, schreibt er 1931, würde ihm >>an- legen, um die >>kleine Münze des >Aktuellen< dafür
ders zu schreiben möglich machen<< (4, 24). Das end- vorgestreckt<< (II, 219) zu bekommen. Solche Aktuali-
liche Gelingen des Passagenprojekts wäre, so gesehen, tät erlebte Benjamin als den kleinen theologisch-poli-
letztlich an die Möglichkeit einer kommenden Revo- tischen Sprung des Jetzt: >>diese unscheinbarste von
lution gebunden. Daß Benjamin mit ihrem beidseiti- allen Veränderungen<< (I, 695). Ist ein solcher Wechsel
gen Mißlingen rechnete, geht aus manchen Stellen, heute für- gegen- die Passagenarbeit zu bekommen?
insbesondere aus den letzten Sätzen seines Baudelaire Dann wäre der (un)gerechte >>Tausch<< (II, 310) des
(I, 604), hervor. >>guten Alten<< gegen das »schlechte Neue<< (VI, 539)
Wie steht es heute, bei Ebbe, um das Strandgut jener deren beidseitige Rettung, der überspringende Funke,
zwei Projekte? Schauen nicht auch wir - >>Wir<<: die die übertragene Energie. Dann stünde die Passagenar-
Menschheit, die als Spezies erst am Anfang ihrer Ent- beit vor und hinter uns zugleich.
wicklung steht (IV, 147)- durch den >>Blutnebel<< jenes
Sturms, der nicht mehr >>Fortschritt<<, sondern >>Glo-
balisierung<< heißt? Wie schleppt die unbewältigte Ur-
geschichte des 20. Jh.s die des 19.- und damit Benja-
mins Projekt- ins 21. hinein (Lindner in Müller-Scholl
Die Passagenarbeit 273

Werk Buck-Morss, Susan (1989): The Dialeelies of Seeing. Walter


Das Passagen-Werk (V, 45-1063) Benjamin and the Areades Project, Cambridge und Lon-
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274 Messianismus, Ästhetik, Politik

Opitz, MichaeUErdmut Wizisla (Hg.) (2000): Benjamins Be-


griffe, 2 Bde., Frankfurt a.M.
Unterwegs in den Passagen-
Schalz, Nicolas/Peter Rautmann (Hg.) {1997): Passagen. Konvoluten
Kreuz- und Quergänge durch die Moderne, Regensburg.
Schalz, Nicolas/Peter Rautmann (Hg.) (2006): Urgeschichte
Von Timo Skrandies
des zwanzigsten Jahrhunderts. An Walter Benjamins Pas-
sagen-Projekt weiterschreiben. Ein Bremer Symposion,
Bremen.
Scholem, Gershorn {1975): Walter Benjamin- die Geschichte >>Die Rede vom Buch der Natur weist daraufhin, daß
einer Freundschaft, Frankfurt a. M. man das Wirkliche wie einen Text lesen kann. So soll
Schöttker, Detlev (1999): Konstruktiver Fragmentarismus. es hier mit der Wirklichkeit des neunzehnten Jahrhun-
Formen und Rezeption der Schriften Walter Benjamins,
Frankfurt a. M. derts gehalten werden. Wir schlagen das Buch des Ge-
Sebald, W.G. {2003): Austerlitz, Frankfurt a.M. schehens auf<< (V, 580; N 4,2). Wer beim Aufschlagen
Stern, Howard {1982): Gegenbild, Reihenfolge, Sprung, Bern/ des >>Passagen-Werks<< zufällig auf diese Eintragung
Frankfurt a. M. stößt, wird sich verwundert die Augen reiben. Ist hier
Sternberger, Dolf {1974): Panorama oder Ansichten vom 19.
Jahrhundert, Frankfurt a.M. das Buch beschrieben, das er gerade in den Händen
Wismann, Heinz (Hg.) (1986): Walter Benjamin et Paris, Pa- hält? Das vom Herausgeber so genannte Passagen-
ris. Werk besteht zu seinem größten Teil aus Konvoluten
Wohlfarth, Irving {1984): »Et cetera? Der Historiker als Lum- von Exzerpten und Notizen, die ohne Verknüpfung
pensammler«, in: Bolz/Witte 1984, 70-95.
Wohlfarth, lrving {1988): >>Märchen für Dialektiker. Walter bleiben und sich nicht wie ein >>Buch des Geschehens<<
Benjamin und sein baddicht Männlein«, in: Klaus Dode- lesen lassen. Man kann sich kaum vorstellen, es >>Satz
rer (Hg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur, Wein- für Satz bis zum Ende [auszulesen]. SeineUnlesbarkeit
heim, 121-76. widersetzt sich jedem hermeneutischen Lektürevor-
Wohlfarth, lrving (1992): »>Was nie geschrieben wurde, le-
sen«<, in: Uwe Steiner (Hg.): Memoria. Walter Benjamin gang. Aber man braucht nur eine Stelle aufzuschlagen,
1892-1940, Bern u.a., 297-344. und schon ist man drin. Wo weiß man nicht. Und es
Wohlfarth, lrving {1996): >>Smashing the Kaleidoscope. Wal- gibt keinen Hinweis auf den Fortgang oder den Aus-
ter Benjamin and the Demands of History«, in: Michael gang - außer man klappt das Buch ZU<< (Lindner
Steinberg (Hg.): Walter Benjamin and the Question of
Modernity, Ithaca/London, 190-205. 2006).
Wohlfarth, Irving {1996): >>Walter Benjamin: Je >medium< de Die folgende Darstellung macht dem Leser die un-
l'histoire«, in: Etudes Germaniques 1-51. übersichtliche Textmenge möglichst genau und detail-
Wohlfarth, Irving {2006): >>Links liegen gelassen. Zur Aktua-
liert zugänglich und handhabbar. Damit wird die
lisierbarkeit der Passagenarbeit«, in: Schalz/Rautmann
2006, 19-54. Grundlage eine: zuverlässigen theorieorientierten
Auseinandersetzung gelegt (Einführungsliteratur in
Grundannahmen und Absicht des Passagenprojektes
bieten z.B.: Cohen 2004; van Reijen/van Doorn 2001,
191-218).

Zur Chronologie der Textteile

Das >>Passagen-Werk<< nimmt in den Gesammelten


Schriften den stattlichen Raum des 1982 erschienenen,
zweiteiligen Band V ein - das sind rund 1350 Seiten.
Dieser Band V ist vom Herausgeber mit zahlreichen
editorischen Ergänzungen und Materialien versehen
(Einleitung des Herausgebers, Anmerkungen, Zeug-
nissen zur Entstehungsgeschichte etc. ), doch haben die
von Benjamin verfaßten und zusammengestellten
Texte allein immer noch einen Umfang von über 1000
Seiten. Zu beachten ist indes, daß nur der geringste
Teil dieser Seiten als zusammenhängend ausformulier-
ter Text gelten kann: PARIS, DIE HAUPTSTADT DES 19.
JAHRHUNDERTS, PARIS, CAPITALE DU XIXEME SIECLE,
PASSAGEN und DER SATURNRING ODER ETWAS VOM
EISENBAU ergeben lediglich knapp 40 Seiten Text. Der
Unterwegs in den Passagen-Konvoluten 275

Löwenanteil fällt auf über 900 Seiten >>Aufzeichnungen Reflexionen und konzeptionelle Notizen für weitere
und Materialien<< und weiteren knapp 60 Seiten ähn- thematische Ausführungen beinhalten. In diesem Ma-
lich fragmentierten Materials. nuskript Benjamins sind auch zahlreiche Durchstrei-
Schon diese erste Bestandsaufnahme offenbart die chungen zu finden. Es sind die in die späteren Konvo-
Verschiedenartigkeit der in Band V versammelten lute der >>Materialien und Aufzeichnungen<< übertra-
Texte. Sie sind zwischen Sommer 1927 und Mai 1940 genen Textstellen (im Druck sind diese durch den
entstanden- also im Verlauf von 13 Jahren- und ver- kleineren Schriftgrad hervorgehoben).
danken ihre Existenz ganz unterschiedlichen Ideen, Auch >>Pariser Passagen II<< (V, 1044-1059; Anm.:
Anlässen, Aufträgen und Arbeitsweisen. Der Titel >>Pas- 1348-1350; ein vom Herausgeber vergebener Titel)
sagen-Werk<< stammt vom Herausgeber, Benjamin besteht aus zahlreichen kürzeren, in sich abgeschlos-
verwendet die Bezeichnung >>Passagenarbeit<< (z.B. in senen und durchformulierten Textstücken und wird
3, 436; V 577, N 2a, 4) und einer brieflichen Aussage ebenfalls in dieser Zeit (1928 und 1929) zusammen-
Adornos vom Juni 1935 zufolge, galt diese über viele gestellt. Benjamin hatte eigentlich einen Essay mit dem
Jahre (VII, 860). Im >>Editorischen Bericht<< zu Band V Titel >>Pariser Passagen. Eine dialektische Feerie<< vor-
verwendet der Herausgeber auch zumeist die Benja- gesehen, der so aber nie geschrieben wurde. Für diesen
minseheAusdrucksweise (V, 1067-1080). Text gilt ebenfalls, daß Benjamin ihn später, im De-
Am 20. Januar 1930 schreibt Benjamin von Paris aus zember 1934, nochmals durchgearbeitet hat, um be-
einen Brief an Gershorn Scholem nach Jerusalem. stimmte Stellen in die neue, alphabetische Ordnung
Darin deutet er das (vorläufige) Ende des Passagen- der Konvolute zu übertragen. Und auch wenn dieser
Projektes- dieses >>theatre de tous mes combats et de Text nun schon weiter entwickelte Aufzeichnungen in
toutes mes idees<< ( 1093 f.) -in der Form an, wie er es Form ausformulierter Gedankengänge enthält als der
bislang verfolgt habe. Welche Gründe konnte es dafür vorhergehende, kommt es doch nicht zu einer Zusam-
geben? Der Abbruch mag durch Benjamins Pläne einer menführung in ein Gesamtkonzept, und Benjamin
>>innerjüdischen Karriere<< in Jerusalem bedingt sein bricht- wie oben berichtet- die Arbeit an den Passa-
(Scholem 1975, 175). Doch Tiedemann weist auf eine gen vorerst ab.
>>theoretische Aporie<< (V, 1082) hin, die Benjamin In diese Zeit der Arbeit an >>Pariser Passagen II<< ragt
selbst hervorhebt, indem er in der Rückschau von 1935 ein weiterer, kurzer Text hinein, der laut den Erinne-
an die kontroversen, gleichwohl >»historische[n]<<< (5, rungen von Gretel Adorno zu jenen gehörte, die Ben-
97) Gespräche mit Adorno und Horkheimer 1929 in jamin bei dem Treffen in Königstein vorlas (1350). Es
Frankfurt und Königstein erinnert, im Bewußtsein, ist DER SATURNRING ODER ETWAS VOM EISENBAU
daß er eine umfangreiche und grundlegende, historio- (1060-1063; Anm. 1350). Er läßt bereits Benjamins
politische Analyse des 19. Jh.s nicht hätte fortsetzen mikrologische Methodik erkennen, die für die gesamte
können, ohne sich intensiv mit der Marxschen Theo- Passagenarbeit kennzeichnend wird. Benjamin geht
rie befaßt zu haben (Brief vom 31. Mai 1935 an von einer Graphik aus Grandvilles Eine andere Welt
Adorno; 5, 95-101). (1060; V.l Abb.l6) aus und nutzt dessen Bilderwelt als
Was lag bis zum Abbruch 1930 vor? Der erste Text Passage ins Jahrhundert des Eisenbaus und der Gasla-
(PASSAGEN, V, 1041-1 043; Anm. und weiteres Material: ternen.
1341-1348) ging auf einen Plan zurück, mit Pranz Der Essay wird später - wie die anderen - seine
Hesse! einen Aufsatz für die Zeitschrift Querschnitt zu Wandlung erfahren, indem Benjamin ihn an den An-
schreiben- der aber nie entstand (Adorno 1970, 23). fang des Konvoluts G >>Ausstellungswesen, Reklame,
Die PASSAGEN sind der einzig ausformulierte Text aus Grandville<< (232-268) einfügt (laut Hinweis des Her-
dieser Zeit (zum Verhältnis Benjamin/Hesse! siehe ausgebers, 1350; im Druck des Bd. V ist der Text im
Köhn 1999). Konvolut allerdings nicht wiedergegeben; s. aber Teile
Von Mitte 1927 bis Ende 1929 oder Anfang 1930 in: V, 51; V, 215, F 2,4; V, 223, F 4a,2).
entsteht dann ein Manuskript mit dem Titel PARISER Im Pariser Exil setzte mit Anfang 1934 die abgebro-
PASSAGEN (V, 993-1038; Anm.: 1337-1340). Es findet chene Arbeit an den Manuskripten neu ein. Warum
sich in einem gebundenen Heft, das auch zahlreiche Benjamin begonnen hatte, das erste Passagenmaterial,
Notizen und Ausführungen zu anderen Themen wie das noch keine Anordnung in Konvolute kannte, neu
etwa Reiseimpressionen, Konzepte für andere Texte aufzuteilen, konnte auch Tiedemann nicht rekonstru-
oder Personenportraits enthält. Zu den Passagen fin- ieren (vgl. 1097). Jedenfalls entsteht die Aufteilung in
den sich hier fragmentarische Aufzeichnungen, die Konvolute unabhängig (und früher) als die Exposes.
schon gesammeltes, historisches Material zitieren und Von nun an wird Benjamin bis zum Mai 1940 kon-
vor allem- im Gegensatz zu PASSAGEN- theoretische tinuierlich daran arbeiten, die Konvolute mit Gedan-
276 Messianismus, Ästhetik, Politik

kengängen, Thesen, Exzerpten, Zitaten, Literaturhin- schritts<<), (scheinbar) wissenschaftliche Disziplinen


weisen und Gedankenstützen fortzuschreiben. Durch (»Erkenntnistheoretisches<<, »Literaturgeschichte<<,
die wachsende Masse des Materials bedingt, entwickelt »Wirtschaftsgeschichte«, »Sektengeschichte<<), me-
Benjamin noch im selben Jahr ein neues Ordnungssy- dientechnisch orientierte Stichwörter (»Panorama<<,
stem. Es ist die vom Herausgeber als »übersieht« (81 f.) »die Photographie<<, »der Automat<<, »Reproduktions-
bezeichnete Gliederung der Konvolute. technik, Lithographie<<). (Ein anderer Ordnungsvor-
schlag bei Sauder 1996, 142.)
Die Edition der Konvolut-Notatein den Gesammel-
Die Gliederung der Konvolute ten Schriften kennzeichnet die von Benjamin stam-
menden »Reflexionen<< oder von ihm kommentierten
Benjamins Arbeit an und mit den Konvoluten ist kom- »Exzerpte<< durch den größeren Schriftgrad. »In klei-
plex. Daher ist es ratsam, sich zuerst einer genaueren nerem Schriftgrad[ ... ] wurdenunkommentierte Ex-
Charakterisierung der Konvolute und ihrer Entstehung zerpte [d.i. Zitate; d. Verf.] sowie Aufzeichnungen
zuzuwenden. gesetzt, die Mitteilungen über Sachverhalte ohne jede
Einen ersten Zugang zu den Konvoluten erhält man interpretierende Hinzufügung Benjamins darstellen<<
anhand der ȟbersieht<<. Dort findet sich die zweifache (V, 1078). Zwei beliebige Beispiele zur Illustration, die
alphabetische Reihenfolge von Majuskeln und Minus- im Konvolut a »soziale Bewegung<< kurz nacheinander
keln, denen Benjamin sachorientierte Begriffe oder auf einer Seite stehen (879): In kleinerem Schriftgrad
Namen zugeordnet hat - die Titel der Konvolute. So- ist gesetzt »Eine Prägungvon 1848: >Dieu est ouvrier<<<
wohl die Anordnung als auch die Konvoluttitel stam- (a 13a,1); im größeren: »Die Flugschriften des Jahres
men von Benjamin, wie ein Manuskriptblatt belegt (V, 1848 werden von dem Begriff der Organisation be-
1261 ). Das erste Alphabet der Großbuchstaben ist voll- herrscht<< (a 13a,3).
ständig, das zweite der Kleinbuchstaben läßt die Buch- Die Umfänge der Konvolute variieren stark. Im
staben j, x, y und z vermissen. Hinzu kommt, daß nicht Druckbild der Gesammelten Schriften liegen von den
allen vorhandenen Buchstaben inhaltliche Oberschrif- insgesamt 36 Konvoluten 8 unter 10 Seiten, 9 zwischen
ten zugewiesen sind, einige sind also >leer< - freier 10-20 Seiten, 15 zwischen 21-40 Seiten, 3 Konvolute
>Speicher<-Platz möglicherweise, den Benjamin zu- zwischen 41-50; ein einziges versammelt ungleich
künftig für weitere Oberschriften und Konvolute ge- mehr Material in sich: Das Konvolut J »Baudelaire<<
nutzt hätte. (Witte 1992, 130f., deutet das neutrale mit 189 Seiten (301-489). Selbstverständlich ist letz-
Ordnungsschema des Alphabets als Ausdruck für die teres durch das der Passagenarbeit von Aprill937 bis
Situation Benjamins als materialistischen Historiker, Juni 1939 parallellaufende-und ebenfalls unvollen-
der »auf die Rolle des Sammlers beschränkt [bleibt], dete - Projekt eines Buches zu Baudelaire begründet
der die Dinge aus ihrem Zusammenhang reißt, ohne (s.a. den Artikel, 567-584). Das Konvolut M »der Fla-
ihnen einen anderen als den der Kontingenz geben zu neur<< (524-569) wäre noch ein weiteres aus dem Um-
können.« Zum Sammler in dieser Hinsicht auch: Lind- feld des Baudelaire-Projektes. Zusammen mit N »Er-
ner 2006 und Köhn 2000, 712ff.) kenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts<<
Die Gegenstände der den Buchstaben zugeordneten (570-611) und a »soziale Bewegung<< (852-898) gehört
Oberschriften lassen sich nicht eindeutig klassifizieren. es zu den drei längeren Konvoluten von über 40 Seiten
Es finden sich architektonisch-urbane Gegebenheiten Material.
(bspw. »Katakomben<<, »Museum, Brunnenhalle<<, »Ei- Mit N liegt dasjenige Konvolut vor, das den Kern des
senbahnen<<), auch solche, die speziell Paris benennen Theorie-Komplexes im Benjaminsehen Spätwerk aus-
(»antikisches Paris, [... ] Untergang von Paris<<, »die macht: hier sind jene Gedanken, Thesen und philoso-
Straßen von Paris<<, »die Seine, ältestes Paris<<), sozio- phischen Modelle zu finden, die das Dialektische Bild
kulturelle Phänomene (bspw. »Mode<<, »Reklame<<, (N 1,11; N 2a,3; N 3,1; N 9,7; N 9a,4; N l0a,3), die
»Prostitution, Spiel<<, »Müßiggang<<), historiographi- Fortschrittskritik (bspw. N 2,5; N 9a,1; N 11a,1), das
sche Markierungen (bspw. »demolitions<<, »Hauss- geschichtsphilosophische Verhältnis von Gegenwart
mannisierung, Barrikadenkämpfe<<,»Jugendstil<<, »die und Gewesenem im »Jetzt einer bestimmten Erkenn-
Kommune<<), Figuren oder Typen (»der Sammler<<, barkeit<< (N 3,1; N 3a,3; N 7,7; N 11,5), die Reflexionen
»der Flaneur<<), historische Personen (»Grandville<<, zu Ursprung und Urgeschichte (N 2a,2; N 2a,4; N
»Baudelaire<<, »Jung«, »Saint-Simon<<, »Fourier<<, 3a,2), weitere Auseinandersetzungen mit Marx (und
»Marx<<, »Daumier<<, »Hugo<<), theoretische Perspek- Engels) (N 4a,1 ff.; N 11,6), Methodisches (bspw. N
tiven bzw. Weltbilder (bspw. »ewige Wiederkehr«, »an- 1,3; N 1a,8; N 1,9; N 2,6; N 3,3; N 4,2; N 7,6; N 9a,6),
thropologischer Nihilismus<<, »Theorie des Fort- Kritik am Kulturbegriff (bspw. N 5a,7; N 6,1), Kunst-
Unterwegs in den Passagen-Konvoluten 277

theoretisches (bspw. N 1a,4; N 18a,1 ff.) umfassen. lösbar der Kontext von Erwachen und Traum (s.a. das
Vieles aus diesem Konvolut weist auf ÜBER DEN BE- Ende des Exposes von 1935, V, 59; zu Erwachen/Traum
GRIFF DER GESCHICHTE (I, 691-704) (1940) VOraus. allgemein vgl. Weidmann 2000) -und so ist es, wie
Ein Beispiel für die thematische und theoretische oben in ausgewählten Beispielen angegeben, auch in
Verschränkung von Exposes und Konvoluten stellt N zu finden, taucht aber (insbesondere) in den ersten
Benjamins Rezeption von Louis-Auguste Blanqui dar. Eintragungen der Konvolute K >>Traumstadt und
Benjamin entdeckt das Spätwerk des französischen Traumhaus, Zukunftsträume, anthropologischer Ni-
Sozialrevolutionärs 1937 (s. Brief an Horkheimer, 06. hilismus, Jung<< und L >>Traumhaus, Museum, Brun-
Januar 1938; 6, 9f. Zu Blanqui: Bergmann 1986) und nenhalle<< ebenfalls wieder auf. Damit nicht genug:
nimmt dessen These des Immergleichen der Ge- Während die Eintragungen zu Traum/Erwachen in K
schichte in das Schlußwort des Exposes von 1939 mit ähnlich theoretisch-reflexiver, theorie-konzeptioneller
auf (s. den Artikel von Wohlfarth; und auch: Tiede- Art sind wie in N, sind sie in L in die Thematisierung
mann V, 27f.; Lindner 1984, 38f.; Löwy 1986; Witte architektonischer Phänomene (Passagen, Interieur,
1992; Bock 2000, bes. 219-244). Benjamin hat Ver- Museum) eingebunden.
merke zu oder Zitate von Blanqui in zahlreiche Kon- Wenn hier soeben von >ersten Eintragungen< die
volute eingetragen: häufiger kehrt Blanqui wieder in Rede war, wirft das die Frage nach der Entstehung der
D >>die Langeweile, ewige Wiederkehr<< (hier findet sich Konvolute auf- schließlich ist der in den >>Aufzeich-
unter D Sa,6 auch die Passage aus der >>Conclusion<<), nungen und Materialien<< vorliegende Textbestand
dann erwartungsgemäß sehr häufig in J >>Baudelaire<<, Ergebnis einer mehrere Jahre dauernden Sammler-
auch noch einige Male in V >>Konspirationen, compa- und Schreibtätigkeit. Wann hat Benjamin hieran ge-
gnonnage<< und a >>soziale Bewegung<<. arbeitet? Lassen sich in den Konvoluten Arbeitsphasen
Man sieht an den genannten Konvolut-überschrif- ablesen? Hat er spezifische Formen des Niederschrei-
ten bereits, daß Benjamin die Zitat-Funde und eigenen bens beachtet?
Ausführungen mit einer Strategie thematischer Kon-
textualisierung vorgenommen hat: Hinsichtlich der
Stellung Blanquis im 1939er Expose, verwundert es Die Arbeit an den Konvoluten
nicht mehr, Verweise auf ihn unter den Stichworten
Baudelaire, soziale Bewegung, Konspirationen, ewige Die Konvolute wurden von Benjamin nach einem
Wiederkehr u.ä. zu finden. Allerdings bildet eine solch wohlbedachten System erstellt: Stets gleiche Blätter,
einfache Assoziativität kaum das differenziertere In- mit gleicher Faltung, gleichem Rand, gleichen Schrift-
teresse Benjamins ab. Nur ein Gegenbeispiel: Im Kon- feldern, Positionen für die Konvolutbuchstaben und
volut S >>Malerei, Jugendstil, Neuheit<< findet sich ein durchlaufenden Numerierungen der insgesamt
Gedankengang Benjamins zur Figur der ewigen Wie- 426 Blätter (V, 1260; zum Manuskript-Papier s.a.
derkehr bei Blanqui und Nietzsches Zarathustra. Wa- die Korrespondenz zwischen Benjamin und Gretel
rum steht dies nicht in Konvolut D >>die Langeweile, Adorno von Anfang 1934: Gretel Adorno 2005, 107-
ewige Wiederkehr<<? Hier, in diesen Einträgen des Kon- 120).
volutS, geht es ihm um eine kritische Auseinanderset- Am rechten Rand dieser Aufzeichnungen finden sich
zung mit dem Stilbegriff des Zarathustra und dessen zahlreiche und verschiedenartige farbliehe Zeichen
Bezug zum Jugendstil (wie aus anderen Eintragungen (grüne Wellenlinie, schwarzes Quadrat mit senkrech-
ersichtlich wird)- am Motiv der ewigen Wiederkehr tem violetten Strich, blaues Viereck, gelbes stehendes
und dessen Vergleich mit Blanqui schien Benjamin dies Kreuz etc.), die Benjamin 1938 (V, 1263) dort einge-
plausibilisieren zu können bzw. zu wollen. tragen hat. Deren Bedeutung ließ sich mit den Funden
Benjamin erlegt sich also keine falschen Reglements von 1981 entschlüsseln: Erstens dienen sie als thema-
auf, was den Ort einer thematisch (scheinbar) an ein tisch konnotierte übertragungszeichen und stellen so
bestimmtes Konvolut gebundenen Eintragung angeht. eine eigenständige Ikonographie dar, die sich auf
Im Gegenteil: Man gewinnt den Eindruck, daß ihm die Struktur und Aufbau des Baudelaire-Projektes bezie-
Verteilung motivlieh ähnlich gelagerter Aufzeichnun- hen. Zweitens nutzt Benjamin die Farbzeichen, um
gen wichtig war, um nach und nach ein ausdifferen- Regestenverzeichnisse und Motivgruppierungen zu
ziertes Verweisungs- und Bezugsnetz verschiedenster erstellen, die es ermöglichen, das Textmaterial neu bzw.
Themen in den diversen Konvoluten zu erhalten. So anders anzuordnen, >>wodurch sich ein zweites thema-
gehört beispielsweise zu dem oben angesprochenen tisches Netz über das Manuskript der Konvolute legt<<
geschichts- und erkenntnistheoretischen Motiv des (Lindner 2006; vgl. V, 1262-1277; VII, 736-740 u. 872;
Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit un- Bolle 1999 u. 2000 beschäftigt sich mit den Farbzeichen
278 Messianismus, Ästhetik, Politik

eingehend; auch die unten in verwandtem Kontext sie als eigenständiges Buchprojekt in Kraft.<< Näher soll
genannten Publikationen von Espagne/Werner wären an dieser Stelle auf die Details jener vergangeneu Aus-
hierfür zu konsultieren.) einandersetzungen nicht eingegangen werden (vgl. den
Der Herausgeber des >>Passagen-Werks<< nennt vier Artikel von Schmider/Werner; s.a. VII, 870-872; Süd-
Kriterien, mittels deren eine ungefähre zeitliche Ein- deutsche Zeitung, 12.07.1983; FAZ, 17.08.1983; Mohal
grenzung- wenn nicht Datierung- der Eintragungen 1983; Hieber 1983; Espagne/Werner 1984; 1986; 1987;
in die Konvolute vorgenommen werden kann: 1. Auf- Buck-Morss 1989/2000, 250-255; Weidmann 1992, 9 f.;
zeichnungen, die schon in den PASSAGEN-Texten vom Schöttker 1999, 216).
Ende der 20er Jahre zu finden sind und die Benjamin Was die Frage der Datierung der Eintragungen be-
dann ab 1934 in die Konvolute zu übertragen beginnt, trifft, ist hier noch darauf hinzuweisen, daß das Kon-
2. Zeitpunkte, die sich aus brieflichen Aussagen und volut m >>Müßiggang<< laut Espagne/Werner erst 1939
Lektürelisten ergeben, 3. das Erscheinungsdatum angelegt wird (Espagne/Werner 1984, 628, Anm. 34;
neuerer, von Benjamin berücksichtigter Literatur, 4. s.a. Ko 2005, 29) und die Eintragungen des Baudelaire-
ein Bestand an photographierten Manuskripten aus Konvolutes J sich etwas weiter ausdifferenziert auf alle
zwei Arbeitsphasen (s. zur Datierung V, 1261 ). Arbeitsphasen Benjamins beziehen lassen (Espagne/
Dadurch können die Einträge quer durch sämtliche Werner 1984, 628). Ko ergänzt dies erstens noch um
Konvolute drei (bzw. vier) Phasen zugeordnet werden. den Hinweis auf ein Stevenson-Zitat, das nicht in den
Sowohl Tiedemann in den Gesammelten Schriften Konvoluten, aber im Baudelairebuch (V, 553) zu fin-
(1982) als auch Buck-Morss (1989/2000, 71 f.) gehen den ist und begründet diese Ergänzung mit einem
von drei Phasen aus. Diese sind mit den Hinweisen aus Hinweis auf einen Brief Benjamins an Gretel Adorno
Band V gut nachvollziehbar (V, 1262): Eintragungen vom 20. Juli 1938 (6, 138) (Ko 2005, 28); zweitens fällt
vor Juni 1935 (als Beispiel sei das Konvolut F >>Eisen- auch der letzte Part des Konvolutes X >>Marx<< (also:
konstruktion<< genannt: F 1,1-4a, 210-224), dann sol- X6-X13a) in diese späte Phase (Ko 2005, 28 u. 32,
che bis Dezember 1937 (F 5-7a, 224-230), schließlich Anm. 43; vgl. Espagne/Werner 1987, 106).
jene bis Mai 1940 (F 8-8a, 230-231). Mit der Problematik der Arbeitsphasen ist auch die
Ji-Hyun Ko (2005, 27ff.) erweitert diese Gliederung Frage nach dem Verhältnis der Konvolute zu anderen,
um eine spätere vierte, zwischen 1938 und 1940 lie- ausgearbeiteten Texten Benjamins verbunden. >>Die
gende Phase. Grundlage für diese Ergänzungen und Entwicklung, die das Baudelaire-Kapitel der >Passa-
Modifikationen sind die Analysen von Espagne/Wer- gen< durchzumachen im Begriff ist, würde ich in fer-
ner (1984) der 1981 in der Bibliotheque Nationale in nerer Zeit noch zwei andern Kapiteln der >Passagen<
Paris aufgefundenen Manuskripte, zu deren Bestand vorbehalten sehen: dem über Grandville und dem
insbesondere Unterlagen zum Baudelairebuch gehör- über Haussmann<< (6, 163). Wir wissen, daß Benjamin
ten. Diese sehr detaillierten Untersuchungen haben diese >>fernere Zeit<< nicht mehr vergönnt gewesen ist.
starke Kontroversen über die Edition der Passagenma- Daß er in diesem Brief vom 28. September 1938 an
terialien und deren Verhältnis zum Baudelaire-Projekt Max Horkheimer aber von der Möglichkeit neuer
ausgelöst. Man mußte sich nun fragen, ob erstens Ben- Ausarbeitungen weiterer >>Kapitel<< (d.i. Abschnitte
jamin das Passagenprojekt zugunsten der intensiv des Exposes) ausgeht, klingt für den heutigen Leser
einsetzenden Arbeiten am Baudelaire aufgegeben habe, zwar spannend, verschärft aber die Ambiguität des
oder zweitens die Ausführungen zu Baudelaire einen Verhältnisses von Expose(s) und Konvoluten noch
der Hauptteile eines zukünftigen Hauptwerkes zu den weiter.
Passagen darstellen sollten oder ob drittens Benjamin Denn die überwältigende Masse aller übrigen Ein-
zwei, thematisch einander zwar nahestehende, gleich- tragungen läßt sich nicht funktional auflösen, wenn
wohl getrennt gedachte Buchprojekte verfolgte. Für man anfinge, die Konvolute auf andere Texte Benja-
das letztgenannte Modell spricht insbesondere, daß mins ZU beziehen: also etwa EINBAHNSTRASSE (IV,
Benjamin bis zum ihm letztmöglichen Zeitpunkt (Mai 83-148) und DER SüRREALISMUS (II, 295-310) für die
1940) Eintragungen in die Konvolute vornahm (VII, frühen Texte; neben den Baudelaire-Texten (I, 509-
871). Nach dem Abflauen dieser Debatte der 1980er 690) und dem Kunstwerk-Aufsatz (471-508) noch
Jahre, kann z. B. Lindner (2006) zusammenfassen: >>Die DER ERZÄHLER (II, 438-465) und den Fuchs-Essay
Passagenarbeit erscheint [... ] in einer doppelten Per- (465-505) für die mittlere Phase der 30er Jahre; ÜBER
spektive. Zum einen bildet sie das Fundament, von DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I, 691-704) als eine
dem aus sich einzelne Arbeiten abzweigen [Lindner Art Ausblick oder Vermächtnis des Konvoluts N. Es
denkt hier etwa an den Kunstwerk-Aufsatz, d. Verf.]. handelt sich hier offensichtlich und ganz sicher um
Das gilt auch für den Baudelaire. Zum anderen bleibt interne Bezüge des Benjaminsehen CEuvres jener Pha-
Unterwegs in den Passagen-Konvoluten 279

sen, aber Status und Funktion der Konvolute vermag projektesverschiedenste Texträume, die in ihrer drän-
das nicht zu klären. genden Sinnlichkeit uns mit Dingen des alltäglich
Die Konvolute bilden also einen weitestgehend ei- Geheimnisvollen als des >>Wirklichen« des 19. Jh.s kon-
genständigen Textbestand, den Benjamin zwar immer frontieren und damit zugleich Formen und Möglich-
wieder nutzt, um weitere Texte zu entwickeln, in den keiten der historischen Erkenntnis von Vergangenern
er aber auch ebenso bis zum letztmöglichen Zeitpunkt eruieren (zum Punkt des >>Wirklichen« in dieser Hin-
neu es Material hineingegeben hat- wohl mit dem Ziel, sicht auch: Jauß 1989, 214).
dereinst ein von den im Passagenumfeld entstandenen Einträge des Konvolutes N etwa weisen auf ein sol-
verwandten Texten unabhängiges Passagenbuch zu ches- sowohl methodisch als auch erkenntnistheore-
verfassen. Wie das hätte aussehen können, muß ein tisch und geschichtsphilosophisch - gedachtes Inter-
Rätsel bleiben. esse Benjamins hin (etwa: N 1,11; N 1a,6; N 2a,4; N
Wie wäre nun mit dem uns überlassenen Passagen- 6a,3).
Material umzugehen? Es dürfte klar geworden sein, Eine strukturelle Möglichkeit der Orientierung in
daß der an diesem Archiv Interessierte eigene Wege für den Konvoluten wäre also, von der sinnlichen Dingwelt
die Lektüre der Konvolute konstruieren muß. Gewiß in den versammelten Passagentexten auszugehen und,
ist dabei, daß mit jeder Lektüreweise sich eine andere selber in diesem Archiv lesend (d.i. aktualisierend), zu
Passagenarbeit konstituieren wird. Dies gehört - als erfahren, wie diese in ihrer (zuerst >surrealen<, später
Chance für und als Anforderung an uns- mit zu Ben- dialektischen und phantasmagorialen) Bildhaftigkeit
jamins Hinterlassenschaft. Erinnerungs- bzw. Erfahrungsmöglichkeiten von Hi-
Im folgenden sollen exemplarisch drei Lektürepfade storischem, von >>Gewesene[m]« (N 2a,3) zulassen
durch das Material skizziert werden, die in themati- bzw. freisetzen.
scher Hinsicht unverbunden bleiben, denen aber das Mit Wiederaufnahme der Arbeit an den Konvoluten
Motiv gemeinsam ist, lesend unterwegs zu sein in den 1934 entfernt sich Benjamin von einer surrealistischen
Passagen-Konvoluten. Sie betreffen ein theoretisches Optik, und er verstärkt das sozialhistorische, auf die
Motiv (Phantasmagorie), eine historische Person und materialästhetischen und technischen Qualitäten des
ihr Werk (Fourier) und die Intermedialität von Ben- Wirklichen fokussierte Moment. Das Alltägliche zeigt
jamins Vorhaben (>>Topographie de Paris<<). sich ihm nun als Warenförmigkeit des Lebens, als ein
Leben, eingebettet in die Matrix einer Phantasmagorie,
die er nicht in strikter marxistischer Lehre als >ideolo-
Vom Ding zur Ware - Phantasmagorien gisch< (vgl. etwa V, 60 u. N 1a,7), sondern in Form
sinnlicher Phänomenalität denkt. Daher wird es für
Benjamin hat sich von der Sinnlichkeit alltäglicher Benjamin interessant und erkenntnistheoretisch wich-
Dinge treffen lassen. Insbesondere die frühen Texte zur tig zu analysieren, wie die Waren in ihrer >>immediatete
Passagenarbeit sind voller sinnlicher Beschreibungen de Ia presence sensible<< (60) den Menschen, Passanten
alltäglicher Dingwelten. In DER SüRREALISMUS ver- bzw. potentiellen Käufer phantasmagorisch bannen
weist Benjamin auch auf die >>revolutionären Energien, und welche kulturellen Auswirkungen das hat. Denn
die im >Veralteten< erscheinen« (II, 299). Doch welche in diesen Auswirkungen liegt die Möglichkeit von Er-
Funktion haben diese vielen in den Texten der Passa- fahrung als solcher- und diese >>Erfahrung«, so verrät
genarbeit genannten Dinge für Benjamins Auseinan- schon das erste Expose, wird von Benjamin als eine
dersetzung mit dem 19. Jh. und dessen >>Hauptstadt«? phantasmagorische gedacht. Das Expose von 1939 ist
Die Passagen zeigen sich -vermittelt über ihre Ding- dann der Ort, wo Benjamin die Reflexionen zum
welten- dem historisch später, fast zu spät Kommen- Phantasmagorischen mit der Theorie Louis-Auguste
den als >>raumgewordene Vergangenheit« (V, 1041) Blanquis zu verbinden weiß (zu Einträgen zu Blanqui
und werden damit zum Nadelöhr der Möglichkeit hi- in den Konvoluten s.o.; und insbes. 1255-1258).
storischer Erfahrung und Erkenntnis. Benjamin ver- Im Expose ist dieses Deutungsmuster des Phantas-
sucht hier, den Erfahrungsraum, in dem Vergangenes magorischen in die jeweiligen Themenschwerpunkte
und Gegenwärtiges zusammentreten, bildhaft zu den- der Abschnitte integriert (46f.; SOff.; 54; 59), in den
ken. In Benjamins Worten aus dem Surrealismus-Auf- Konvoluten taucht das Motiv- kaum ausgeführt, eher
satz: wir >>durchdringen [... ] das Geheimnis nur in dem nennend- wiederum in ganz unterschiedlichen Kon-
Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft texten auf (bspw. D 8a,2; D 9,2; J 71,7; M 6,6).
einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als un- Wird ein Ding mit einem Preis( -Schild) versehen,
durchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich wird es zur Ware. Der ihr über das Medium Geld zu-
erkennt« (II, 307). So entstehen im Zuge des Passagen- gewiesene Tauschwert verbirgt nun, daß es Produkt
280 Messianismus, Ästhetik, Politik

eines (entfremdeten und industriellen) Arbeitsprozes- rens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im
ses ist. Diese Verbergung geht in der industriellen Mo- Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte
derne des 19. Jh.s aufs Ganze, und diese Wirklichkeit Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben<< (I,
ist es, die Benjamin als einen phantasmagorischen 703). So werden diese Figuren und ihr Werk, formal
Vorschein denkt (s.a. G 5,1 -eine weitere Stelle zur gesprochen, zu Monaden und Namen, methodisch zu
Phantasmagorie im Kontext des Marxschen Ansatzes). historischen Allegorien, die die Möglichkeit histori-
Benjamin befaßt sich nicht systematisch mit dem Pa- scher Erkenntnis der >>Zeit<< in ihrem >>Innern<< bergen
radigma Arbeit. Doch spiegelt es sich im Motiv des (703). Der historische Materialist hat diese Möglich-
Müßiggangs (Konvolut m, 961-970), in der Auseinan- keit zu realisieren bzw. zu ermöglichen, indem er den
dersetzung mit Marx (insbesondere im Konvolut X, jeweiligen Gegenstand als Monade auffaßt und deren
800-823; zu Phantasmagorie und Arbeit: 822 f., X 13,a) Bedeutung Schicht für Schicht im Sinne des obigen
und Fourier (s. u.), wodurch es als zentrales Paradigma Zitates freilegt. Die Textverfahren der Konvolute und
der Moderne lesbar wird, in dem sich die kulturelle Exposes bilden hierfür medial gesehen die Vorarbeit
Produktion des Wirklichen (Phantasmagorie) und das (vgl. hierzu in Konvolut N die EinträgeN 9a,6 bis N
damit verbundene Spannungsfeld von Erfahrung und 11,5).
Erlebnis bündeln (>>Die Erfahrung ist der Ertrag der Figuren dieser Art, die teilweise auch als Titelgeber
Arbeit, das Erlebnis ist die Phantasmagorie des Mü- der Expose-Abschnitte fungieren, sind vor allem: Fou-
ßiggängers<<, m la,3. Und entsprechend: >>Die Phan- rier (Konvolut W), Daguerre, Grandville (Konvolut
tasmagorie ist das intentionale Kor<r>elat des Erleb- G), Louis-Philippe, Baudelaire (Konvolut J), Hauss-
nisses<<, m 3a,4). (Vgl. zu diesem Themenkomplex: mann (KonvolutE), Saint-Sirnon (Konvolut U), Dau-
Pfotenhauer 1975, 59-70; Buck-Morss 1984 u. mier (Konvolut b), Victor Hugo (Konvolut d).
1989/2000; Lindner 1984, bes. 42 ff.; Musik 1985, 156- Diese monadologische, an Namen orientierte Stra-
179; van Reijen 1988; Bolz 1989, bes. 95-144; Fähnders tegie läßt sich in bezugauf den Textbestand folgender-
1999; Cohen 2004). maßen darstellen: Die Baudelaire-Arbeiten liegen vor
und sprechen in diesem Sinne für sich; aus brieflichen
Äußerungen Benjamins geht hervor, daß er mit Grand-
Fourier und der Fourierismus ville und Haussmann ähnliches vorgehabt hätte (s.o.);
der Abschnitt zu Daguerre ist im Kunstwerk-Aufsatz
Zur Eigenart des multi perspektivischen, oder genauer aufgegangen, der für Benjamins CEuvre mindestens
gesagt: multifokalen Arbeitens Benjamins zählt, neben ebenso wichtig ist wie >der< Baudelaire. Louis-Philippe
der Alleignung (etwa in Form jener berühmten >Kunst ist der in dieser Gruppe unauffälligste- verfolgt man
des Zitierens<) verschiedenster Theoreme aus Ästhetik aber die im Expose (V, 52 f.) und in Konvolut I (281-
und Kunstwissenschaft, Sozialtheorie und Sozialge- 300) ausgelegten Spuren, so erstellt sich recht klar der
schichte, Philosophie und Theologie usw., ebenso die Kontext von Interieur, bürgerlicher Stil, Jugendstil,
Konzentration auf bestimmte Theoretiker, Künstler, Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Dies zu-
Schriftsteller. Benjamin dienen diese Personen als sammen bildet das Gegenstück zu den >>Straßen von
Stichwort- und Zitatgeber, um den eigenen themati- Paris<< und bewahrt daher nicht weniger kulturge-
schen Kosmos anzureichern und intellektuell zu per- schichtlichen Sprengstoff wie der Baudelaire-Flaneur-
spektivieren (das gilt einerseits für solche, die aufs 19. Kontext.
Jh. verwiesen bleiben, wie etwa Marx, Blanqui, Poe, Ebenso bedeutsam ist für Benjamin der französische
Balzac, Baudelaire, Michelet, Turgot, Lotze, Toussenel; Sozialphilosoph und Utopist Charles Fourier ( 1772-
andererseits finden sich Autoren, mit denen Benjamin 1837) gewesen. Dieser hatte mit seinen auf Glück und
durchaus die Zeitgenossenschaft teilt - z. B. Valery, Harmonie abzielenden Modellen kommunaler und
Proust, Freud, Korsch, Giedion, Adorno, Simmel). autarker Lebensformen (familisteres, phalansteres)
Insofern es sich für Benjamin um Personen handelt, auch Wirkung auf Marx und Engels (W lOa,l; W
die selbst zum >Gegenstand< Paris als >>Hauptstadt des 10a,2). Fourier belegt nicht nur in den Exposes jeweils
19. Jahrhunderts<< gehören, verfährt er mit ihnen im den erstenAbschnitt unter dem Titel >>Fourier oder die
Sinne des historischen Materialisten aus ÜBER DEN Passagen<< (45-47 u. 61-64), ihm ist ein sehr umfang-
BEGRIFF DER GESCHICHTE: >>Er nimmt sie wahr, um reiches Konvolut gewidmet (W >>Fourier<<, 764-799).
eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf Fourier wird in den Exposes ganz spezifisch einge-
der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein setzt: Die traumartige Verflechtungzweier aufeinan-
bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes derfolgender Epochen vollzieht sich im Kollektivbe-
Werk aus dem Lebenswerk. Der Ertrag seines Verfah- wußtsein anhand von Bildern, in denen >>das Neue sich
Unterwegs in den Passagen-Konvoluten 281

mit dem Alten durchdringt« (46), so wie es etwa im tionen des Fouriersehen Konzepts (zu beachten auch
ersten Abschnitt des Exposes anhand der Eisenkon- in Hinblick auf den Kunstwerk-Aufsatz) (W 4,4; W
struktion angedeutet ist. Hieran schließt Benjamin die 6,4; W 8a,5; W 9a,3; W lla,3; W 15,2; W 15,5; auch
ebenso spannende wie schwer nachvollziehbare Ge- Buck-Morss 1989/2000, 369ff.); die >>Strukturhomo-
dankenfigur an, daß in der zum >>Jüngstvergangenen<< logie zwischen dem Fouriersehen System und der An-
hin sich abgrenzenden Produktion des gesellschaftli- lage des Passagen-Werks<< (W 7,4; Asholt 1999, 1037);
chen Neuen in Form von >>dauernden Bauten bis hin die Veränderung der Position des Utopischen in der
zu flüchtigen Moden<< ein Rückverweis auf das >>Ur- Entwicklung des Passagenprojektes von der Rezeption
vergangene<< liegt - geschichtlich gedacht: auf eine des Surrealismus, über Marx, Fourier bis Blanqui; Kri-
klassenlose Gesellschaft. Als Erfahrung liegt dies wie- tik von >>Arbeit<< im Kontext von Ausbeutung, Müßig-
derum in den kollektiven Phantasmagorien des Alltags gang und Erfahrungsbegriff (W 14a,5; W 14a,6; W
(47). 15,5.; I, 698 f.; Asholt 1999, 1036 ff.). Eine Zusammen-
Dies ist für Benjamin der Einsatzpunkt Fouriers: führung mehrerer dieser Motive deutet sich im Kon-
Seine >>Utopie<< des phalanstere >>soll die Menschen zu volut J (J 75,2) an.
Verhältnissen zurückführen, in denen die Sittlichkeit
sich erübrigt« (47) (s. hierzu auch Lindner 1984,32-
36). Und: >>In den Passagen hat Fourier den architek- Topographie der Metropole Paris
tonischen Kanon des phalanstere gesehen« (47) (Asholt
1999, 1036 meldet hieran Zweifel an), die bei ihm zu Die jüngere kulturwissenschaftliche Forschung hat,
Orten sämtlicher Lebensäußerungen, und nicht nur von verschiedenen Theorietraditionen herkommend
der ökonomischen, werden. (Kulturgeschichtsschreibung, Cultural Studies, Dekon-
Auf den 36 Seiten des Konvoluts sind vor allem Zi- struktion, Kunst- und Bildwissenschaft, Psychoana-
tate zu finden, die aus Texten Fouriers und der Fou- lyse), an vielerlei kulturgeschichtlichen Phänomenen
rieristen stammen oder von zahlreichen Autoren, bei die Bedeutsamkeit kultureller Topographien für das
denen Benjamin Hinweise auf ihn fand. Dies gilt auch subjektive, gesellschaftliche, politische, historische und
für die zahlreichen anderen Konvolute, in denen Fou- ästhetische Selbstverständnis der Menschen aufgezeigt.
rier oder Bezüge auf den Fourierismus vorkommen. Benjamin ist hierbei oft ein bedeutender Referenz-
Wenngleich solche Einträge in fünfzehn Konvoluten punkt der Theoriebildung (bspw. Reisch 1992; Jacobs
vorkommen finden sich nur selten Einträge, die über 1996; Weigel 1997; Pethes 1999; Bolle 1999 u. 2000;
den Status des Zitates oder Exzerptes hinausgehen. So Baumann 2002; Weber 2003; Schlögel 2003; BorsOl
etwa in Konvolut a (a 19a, 6), wo etwas zur Konstella- Görling 2004; Zumbusch 2004).
tion Fourier, Proudhon, Cabet, Marx gesagt wird; in Und nicht nur, daß sich die Benjaminforschung in
Konvolut J wird Fourier im Kontext von Produktiv- bezug auf die EINBAHNSTRASSE, die BERLINER KIND-
kraft und Utopie (J 63a, 1) oder auch von Arbeit und HEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (IV, 235-304) und ins-
Spiel (J 75, 2) genannt. besondere die Passagenarbeit schon seit längerem auf
Die Einträge, bei denen Benjamin Fourier konzep- Fragen der Benjaminsehen Stadtlandschaften und de-
tionell weiterdenkt oder strategisch auf andere The- ren dort vom Autor ausgelegte und geschichtete Be-
men seines Passagenprojektes bezieht, sind also nicht deutungsnetze konzentriert (bspw. Günther 1974, bes.
zahlreich. Gleichwohl muß Benjamins Befassung mit 165-186; Bohrer 1999; Brüggemann 1999; Faber 1999;
Fourier als zentral für die Passagenarbeit gelten, da sich Hüppauf 1999; Gilloch 2002, bes. 88-139), zudem ha-
in der Monadenamens >>Fourier<< wesentliche Motive ben zwei Tagungen, im März 2005 in Mexiko-Stadt
des Projektes bündeln: Die phantasmagorische Ver- unter dem Titel >>Topographien der Moderne<< und in
faßtheit des Wirklichen und die Frage nach der Mög- Paris im Juni 2005 zu>> Topographien der Erinnerung<<
lichkeit, jenen Fetischismus durch die Beschäftigung (und eine Sektion des großen Benjamin-Festivals im
mit den Passagen des 19. Jh.s und deren utopischen Oktober 2006 in Berlin), diesen Blick gebündelt und
Implikationen aufzusprengen (W 7,8; W 11a,2; Lind- einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
ner 1984,32 ff.; Buck-Morss 1989/2000, 257); das Mo- Im Konvolut C >>antikisches Paris, Katakomben, de-
tiv des Phantastischen, die Traumartigkeit des Phan- molitions, Untergang von Paris<< hält er beispielsweise
tasmagorischen und dessen Rückbindung an die >>Ur- konzeptionell fest: >>Die Stadtzehnfach und hundert-
geschichte« (V, 46f.; V, 63f.; W 10a,4; W 11,2); Spiel fach topographisch zu erbauen aus ihren Passagen und
und Erfahrungswelten der Kindheit (W 8,1; W 8,3; ihren Toren, ihren Friedhöfen und Bordellen, ihren
Lindner 1984, 34; Wolin 1986, 212; Buck-Morss Bahnhöfen und ihren ... genau wie sich früher durch
1989/2000, 333 ff.); die technisch-medialen Implika- ihre Kirchen und ihre Märkte bestimmte. Und die ge-
282 Messianismus, Ästhetik, Politik

heimeren, tiefer gelagerten Stadtfiguren: Morde und Beschreibungen der Bilder. Doch die Sprachhaltung
Rebellionen, die blutigen Knoten im Straßennetze, verrät sogleich den Anspruch der Nutzbarmachung
Lagerstätten der Liebe und Feuersbrünste<< (C 1,8). Für für das eigene Archiv der Konvolute, etwa: >> 1899 wur-
Benjamin scheint also topographisches Denken und den bei Metro-Arbeiten in der rue Saint-Antoine Fun-
Arbeiten eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein damente eines Turms der Bastille entdeckt. C<abinet
-allein die labyrinthischen Texträume der >>Aufzeich- >d<es>E<stampes><< (C 4a,4). Manche Abbildungen
nungen und Materialien<< mit ihren Konvoluten, Siglen werden aber auch sogleich einer Deutung unterzogen
und Farbzeichen machen dies evident. Doch damit und mit einer weiterführenden Frage belegt (siehe
nicht genug, dem soeben zitierten schließt sich der hierzu bspw. den Eintrag zu Abb. 5: F 6,2).
folgende Eintrag an: >>Ließe nicht ein passionierender Sämtliche sich auf die Bildwerke jener Sammlung
Film sich aus dem Stadtplan von Paris gewinnen? aus beziehenden Einträge stammen aus der mittleren Ar-
der Entwicklung seiner verschiedenen Gestalten in beits-Phase an den Konvoluten, also zwischen späte-
zeitlicher Abfolge? aus der Verdichtung einer jahrhun- stens Juni 1935 und Dezember 1937. Der Herausgeber
dertelangen Bewegung von Straßen, Boulevards, Pas- grenzt Benjamins nachweisliche Recherchen im Bild-
sagen, Plätzen im Zeitraum einer halben Stunde? Und bestand der Bibliothek auf >>Mitte Mai bis September
was anderes tut der Flaneur?<< (C 1,9). 1935 und dann noch einmal im Januar 1936<< (1324)
Zwar ist ein Filmprojekt Benjamins nicht überlie- ein. Eine von Tiedemann in Auftrag gegebene Recher-
fert, doch ein bislang in der Forschung nicht verfolgter che klärt differenziert darüber auf, in welchen Bild-
Umstand jenes topographischen Moments der Passa- Serien und mit welcher Intensität Benjamin dort ge-
genarbeit besteht darin, daß Benjamin offensichtlich sichtet haben muß. Die rund 150.000 Bildwerke um-
vorhatte, >>[d]as Buch<< mit Bildern zu versehen: In fassende Serie >>Topographie de Paris<< scheint ihn
einem auf den 10. September 1935 datierten Brief an dabei besonders beansprucht zu haben. >>Bien que ses
Gretel Adorno berichtet er dieser angeregt von einem recherches fussent limitees au XIX' siede, il dut par-
mit einer >>allegorischen Bilderfolge zur französischen courir de nombreux albums in extenso puisque les
Politik<< versehenen Buch, das er sich aus Göttingen documents n'y sont pas classes par date<< (Michel Me-
nach Paris in die Bibliotheque Nationale habe schicken lot, 1324).
lassen, und daß er vorhabe, die Bilder >>photographie- So wird man sich das Passagenbuch als eines vor-
ren zu lassen<<. Und dann berichtet er: >>Dies nämlich stellen müssen, das den Benjaminsehen >>Schauplatz
ist novum: daß ich mir über wichtiges und entlegnes der Geschichte<< (M 21a,2) nicht nur textuell, sondern
Bildermaterial zu meinen Studien Aufzeichnungen zugleich in Form eines Bildatlas' ikono-topographisch
mache. Das Buch, soviel weiß ich jetzt seit einiger Zeit, dargestellt und erkundet haben würde.
läßt sich mit den bedeutsamsten illustrativen Doku-
menten ausstatten und diese Möglichkeit will ich ihm
Werk
nicht von vornherein abschneiden<< (5, 162).
Das Passagen-Werk (V, 45-1063)
Nachweislich hatte Benjamin ein Album mit Abbil- PASSAGEN (V, 1041-1043)
dungen zusammengestellt, das aber als verschollen PARISER PASSAGEN (V, 993-1038)
gelten muß (V, 1324). Zu seiner Sammlung zählten PARISER PASSAGEN (li] (V, 1044-1059)
DER SATURNRING ODER ETWAS VOM EISENBAU (V, 1060-
auch die bekannten Photographien der Passagen von
1063)
Benjamins Bekannter Germaine Krull, die Meryonsche übersieht (V, 81-82)
Radierung >>Le Pont-Neuf<< und der o.a. Grandvillesche Aufzeichnungen und Materialien (V, 83-989)
Holzschnitt (zu Benjamins mehrfachen Textbezügen PARIS, DIE HAUPTSTADT DES 19. JAHRHUNDERTS (V, 45-59)
PARIS, CAPITALE DU XJXEME SIEcLE (V, 60-77)
hierauf siehe 1325), die sich sämtlich im Nachlaß fan-
Deutsche Übersetzungen zum frz. Expose: Einleitung (V,
den. Wenngleich also Benjamins Bildarchiv zum Pas- 1255-1256); Schluß (V, 1256-1258)
sagenprojekt bedeutend größer gewesen sein muß als Nachträge zum Passagen-Werk (VII, 852-872)
der überlieferte Bestand: In den Konvoluten sind wei- CHARLES BAUDELAIRE. EIN LYRIKER IM ZEITALTER DES
HocHKAPITALISMus (I, 509-690)
tere Spuren seiner Studien im >>Cabinet des Estampes<< ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I, 691-704)
der Bibliotheque Nationale aufzufinden. (Der Heraus- EDUARD FucHs, DER SAMMLER UND DER HISTORIKER (II,
geber hat die sich direkt und per No tat- >>C.d.E. << -auf 465-505)
Abbildungen beziehenden Einträge versammelt: 1324.
Eine Auswahl der entsprechenden Abbildungen selbst Literatur
sind zu finden ab 657). Adorno, Gretel/Walter Benjamin (2005): Briefwechsel1930-
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Unterwegs in den Passagen-Konvoluten 283

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328-346.
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lin/Philip Rosen (Hg.): Benjamin Now: Critical Encounters nale) andererseits. Dieser Widerstreit, der sowohl als
with The Areades Project. boundary 2, Vol. 30, No. 1, Duke Komplementarität wie auch als Widersprüchlichkeit
UP, 17-30.
gedeutet wurde, hat zuweilen den Blick für eine ge-
Weber, Thomas (2000): »Erfahrung«, in: Michael Opitz/Erd-
mut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1, Frankfurt nauere Ausarbeitung der zentralen Frage versperrt, die
a.M., 230-259. sich Benjamin auf diesen Seiten stellt und ebenso an
Weidmann, Heiner (1992): Flanerie, Sammlung, Spiel. Die seine Leser richtet: Wie ist das »wahre Bild der Vergan-
Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin,
genheit<< (I, 695; V) zu konstruieren, ein Bild, das we-
München.
Weidmann, Heiner (2000): »Erwachen/Traum•, in: Micheal der dem Determinismus der Fortschrittsideologie
Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1, noch dem vorgeblich interesselosen Anspruch des Hi-
Frankfurt a. M., 341-362. storismus auf Beschreibung der Universalgeschichte
Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benja-
mins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M.
verpflichtet ist und das nicht nur ein anderes Verhält-
Witte, Bernd (1992): Walter Benjamin. Reinbek. nis zur Vergangenheit ermöglichen soll, sondern, un-
Wohlfarth, Irving (1978): •Der destruktive Charakter. Ben- trennbar damit verbunden, auch ein anderes Verhält-
jamin zwischen den Fronten«, in: Burkhardt Lindner nis der historischen Subjekte zu ihrer Gegenwart?
(Hg.): Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt a.M., 65-
Diese Frage scheint der, wenn auch verborgene, Kern
99.
Wohlfarth, Irving (1984): »Et cetera? Der Historiker als Lum- des Textes zu sein. Daher werden die Thesen im fol-
pensammler«, in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.): Passa- genden nicht Schritt für Schritt kommentiert; eine
gen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, solche Untersuchung- die im übrigen bereits vorgelegt
München, 70-95.
Wolin, Richard (1986): »Experience and Materialism in
wurde (Löwy 2001) -läuft nämlich Gefahr, dem Ein-
Benjamin's Passagenwerk«, in: The Philosophical Forum fluß der ersten These zu erliegen, der berühmten Al-
Vol. XVII, No. 3, 201-217. legorie des Schach-Automaten, die das Verhältnis
Zumbusch, Cornelia(2004): Wissenschaft in Bildern. Symbol zwischen Marxismus und Theologie illustrieren soll.
und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas
und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin. Der hier angebotene Interpretationsversuch geht von
der Grundfrage aus, wie ein anderes Verhältnis zur
Vergangenheit zu konstruieren sei, und liest die ver-
schiedenen Auseinandersetzungen Benjamins mit den
marxistischen und/oder theologischen Traditionen in
Hinblick auf diese Problematik. Das erklärt, warum
die Diskussion der >bürgerlichen< Historiographie, die
Benjamin im Rahmen seiner virulenten Kritik des Hi-
storismus unternimmt, sowie Benjamins Aneignung
der Gedächtnistheorien Prousts und Freuds die zen-
tralen Teile dieses Artikels bilden. Nach einer kurzen
Einleitung zum Entstehungskontext der Thesen und
ihrer Oberlieferung widmen sich die Abschnitte II, III,
IV und V der Kritik des Historismus, insbesondere der
Einfühlung, sowie Benjamins Rückgriff auf die Ge-
dächtnismodelle Prousts und Freuds. Ausgehend von
diesen überlegungen, wird die Präsenz von theologi-
»Über den Begriff der Geschichte« 285

sehen und messianischen Themen interpretiert als sac weiter (V, 1067-1072; VII, 526f.), der sie wiederum
Bezug auf eine doppelte Alterität: auf eine Zeit, die Adorno in New York zukommen ließ, wie es der Freund
anders geartet ist als jene der linearen chronologischen ausdrücklich gewünscht hatte. Ein drittes Konvolut
Entwicklung (VI), und auf eine transformierende Ge- schließlich erhielt Benjamins Schwester Dora, die es
dächtnisaktivität (Eingedenken) (VIII), die im Gegen- 1941, nach dem Tod des Bruders, über Martin Domke
satz zu der andächtig deskriptiven (Historismus) oder ebenfalls Adorno sandte (I, 759; V, 1071; VII, 776).
gar aussöhnenden (Hege!) Leistung des Gedächtnisses Der schwierige überlieferungsprozeß mitten im
steht (Erinnerung). Schließlich wird gezeigt, daß Ben- Krieg kompliziert die genaue Festlegung des Wortlau-
jamins theologische Figuren nicht etwa als religiöse tes der >>Thesen<< beträchtlich. Persönliche Konflikte
Symbole zu verstehen sind, sondern als Indizien einer erschweren die Situation zusätzlich, insbesondere jener
radikalen Explosion (Sprengung) der herrschenden zwischen Hannah Arendt, der Benjamin vor ihrer Ab-
historischen Kontinuität zugunsten einer profan erlö- reise in die USA ein Manuskript des Textes anvertraute,
sten Zeitlichkeit, die Benjamin bisweilen auch Glück und Adorno, dem sie wohl eine Kopie davon überließ
nennt (VII und IX). (VII, 773 und 781); oder zwischen Giorgio Agamben,
Walter Benjamins berühmte Thesen wurden erst- der im Juli 1983 in der Bibliotheque Nationale in Paris
mals 1942 in ganz kleiner Auflage in dem Benjamin mehrere Manuskripte Benjamins im Bestand Batailles
gewidmeten Gedenkband des Instituts für Sozialfor- wiederfand, und den Herausgebern der GS, die erwäh-
schung publiziert. Die Bezeichnung nGeschichtsphi- nen, Agamben besitze selbst ein Handexemplar ( Typo-
losophische Thesen<< setzte sich ab 1955 mit dem Ab- skript mit handschr. Korrekturen) der Thesen ÜBER
druck in den Schriften durch, obgleich der präzisere, DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (VII, 782), von dem er
von Benjamin selbst stammende Titel ÜBER DEN BE- ihnen eine Photokopie ohne genaue Herkunftsangabe
GRIFF DER GESCHICHTE lautet. (Aus Vereinfachungs- zukommen ließ. Schließlich zeigt die von Benjamin
gründen wird im folgenden die Bezeichnung>> Thesen<< besorgte französische Übersetzung, daß er an eine
verwendet). mögliche Veröffentlichung dachte - vielleicht durch
Benjamins Schrift wurde in den 60er Jahren von der die Vermittlung Batailles, den er am College de Socio-
Neuen Linken wiederentdeckt und als eine der ersten logie getroffen hatte - und daß er dafür die Änderung
Äußerungen einer radikal kritischen Position gelesen. einiger Passagen des deutschen Textes in Kauf nahm.
Die hermetisch funkelnden Thesen galten ihr als radi- >>Insgesamt liegen nach dem gegenwärtigen Stand
kales Manifest gegen die Klassengesellschaft wie zu- der Benjaminforschung die Thesen Ober den Begriff
gleich gegen den Dogmatismus der linken Parteien, der Geschichte in einer Manuskriptversion, vier Typo-
gegen die bürgerliche Geschichtsschreibung als auch skriptversionen, einer französischen Fassung sowie ein
gegen die absolute Fortschrittsgläubigkeit sozialisti- Konvolut von Notizen vor<<, resümiert Christine
scher bzw. kommunistischer Prägung. Dieser aktuali- Schönlau (1999, 98). Der im ersten Band der GS pu-
sierenden Lesart ist es zu verdanken, daß die politische blizierte Text entspricht grosso modo dem Typoskript
Dringlichkeit der Thesen in den Blickpunkt geriet: Tl, ergänzt durch herausgeberseitig als wichtig erach-
Zwischen Februar und März 1940, unter dem Eindruck tete Varianten (vor allem AnhangA und B). Während
des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 verfaßt die Herausgeber von mehreren Textstufen ausgehen,
(Scholem 1972, 129 und VII, 770-73), müssen sie als die zu einer vollständigeren und definitiveren Version
Ausdruck eines Denkens am Rande des Abgrunds ge- führen, könnte eine vorsichtigere philologische Unter-
lesen werden. suchung diese Annahme in Frage stellen und sich auf
die Koexistenz mehrerer gleichrangiger Versionen be-
schränken (Schönlau 1999, 201).
Überlieferung des Textes Die existentielle und politische Situation, in der die
Thesen verfaßt wurden, ist also eine krisenhafte, was
Benjamin ließ vermutlich einen Teil seiner Papiere in die 68er-Generation genau erfaßte. Wenn Benjamin
der Pariser Wohnung zurück, von denen einige als sagt, der materialistische Historiker dürfe nicht unbe-
Photokopien im Walter Benjamin Archiv Berlin lagern, teiligt beschreiben, >>wie es denn eigentlich gewesen
wohin sie über die ehemalige Sowjetunion und die ist<< (I, 695, These VI), sondern er solle >>sich einer Er-
ehemalige DDR gelangten (vgl. I, 758 ff.). Andere Ma- innerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer
nuskripte, aus dem Zusammenhang des Passagen- Gefahr aufblitzt<< (ebd.), kann diese Forderung auch
werks, vertraute er Georges Bataille an; dieser ver- als Lektüreanweisung für die >>Thesen<< selbst aufgefaßt
steckte sie in der Bibliotheque Nationale und gab, was werden, die ja in einem der bedrohlichsten Augen-
er 1945 davon zusammentragen konnte, an Pierre Mis- blicke des 20. Jh.s geschrieben wurden. Anders herum
286 Messianismus, Ästhetik, Politik

gesagt: Die radikale Gefahr war es, die Benjamin diese politische Unfähigkeit der antifaschistischen Linkspar-
zündenden, vieldeutigen Zeilen zu Papier bringen ließ, teien, die geschichtliche Zeit undeterministisch, damit
von denen er genau wußte, daß sie in dieser Form also die revolutionäre Intervention innovativ zu den-
praktisch unpublizierbar waren. In einem Brief an ken. In dieser ausweglosen Situation verweist der
Gretel Adorno erklärt Benjamin: >>Daß mir nichts fer- Rückgriff auf theologische Motive auf das notwendige
ner liegt als der Gedanke an eine Publikation dieser Alteritätsdenken, um die potentielle Dynamik des Pro-
Aufzeichnungen (nicht zu reden von einer in der Dir fanen besser zu fassen. Die Theologie erscheint somit
vorliegenden Form) brauche ich Dir nicht zu sagen. nicht als letzter Hort irrationaler Gewißheiten, son-
Sie würde dem enthusiastischen Mißverständnis Tor dern als Modell einer anderen Auffassung der mensch-
und Tür öffnen« (6, 436). Iichen Zeit.
Wer sie heutzutage erneut liest, darf weder die Kri-
sensituation, der sie entstammen, noch den konkreten
politischen Zeitpunkt der Lektüre und das damit ein- Kritik des Historismus I
hergehende Wagnis umgehen. Dieser Text verlangt
nach einer >>engagierten<< Lektüre, die ihre eigene Ge- Die Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE be-
genwart zu denken wagt. In diesem Sinne war die - fassen sich vor allem mit der Konstruktion einer kri-
wenngleich häufig einseitige- Lesart der 60er und 70er tischen Beziehung zur Vergangenheit. Benjamin ver-
Jahre richtig: Sie sah die Unmöglichkeit hermeneuti- weist auf zwei Klippen, die es für den Historiker auf
scher Indifferenz als Herausforderung, oder, mit den dem Weg von der Gegenwart in die Vergangenheit zu
Worten Benjamins, sie trug von vornherein >>den Stem- umschiffen gilt: die Vorstellung, daß Interesselosigkeit
pel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher wissenschaftliche Objektivität garantieren könne, und
allem Lesen zugrunde liegt<< (V, 578). Diese Heraus- die Transformierung der Ereignisse und Werke der
forderung bleibt aktuell, ebenso wie eine engagierte Vergangenheit in Geschichtserkenntnis, als einem Be-
oder militante Lektüre, auch wenn solche Attribute sitzerwerb, also einer Art intellektuellem Thesaurisie-
veraltet klingen mögen. ren. Benjamin besteht, stärker als die meisten Marxi-
Die besondere Dringlichkeit und Gefahr, die den sten seiner Zeit, auf der Bedeutung der Oberlieferung,
Text trotz seiner klassischen Thesenform prägen und insbesondere der kulturellen Werke. Einzig die Aus-
ihm einen atemlosen Rhythmus verleihen, könnten einandersetzung mit dem überlieferungsbegriff-ein
außerdem eines seiner meistdiskutierten Rätsel auf- alltäglicher, konkreter, weniger symbolisch aufgelade-
klären: den Rückgriff auf theologische Konzepte und ner Begriff als der in gewissem Sinne synonyme der
Metaphern. Wie auch andere vor ihm, bemerkt R. Tradition- erlaube dem Historiker eine kritische Re-
Rochlitz zu Recht, daß Benjamin in dem Essay über flexion nicht nur der Vergangenheit, sondern zugleich
Eduard Fuchs von 1937 (II, 465-505) drei von vier und untrennbar auch der eigenen Gegenwart. Wenn
Hauptthemen anspricht, die er 1940 in den >>Thesen<< ein bestimmtes Moment der Gegenwart mit einem
wiederaufnimmt: »le caractere fulgurant de l'image bestimmten Moment der Vergangenheit >passend< zu-
historique<<, >>Ia confusion entre progres technique et sammentrifft, ereignet sich eine Art Erschütterung, die
progres de l'humanite<< sowie >>Ia representation d'un beide gleichsam in neuem Licht erscheinen läßt und
temps lineaire, homogene et vide<<. >>Il ne manque en- dazu beiträgt, sie dem herrschenden Konformismus
core<<, fügt Rochlitz hinzu, >>que le quatrieme theme zu entreißen. Denn: >>Die Gefahr droht sowohl dem
des Theses, soigneusement dissimule par Benjamin Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für
dans ses publications jusqu'en 1939 sous l'emprise du beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der
>sur-moi brechtien<. I! s'agit du necessaire recours aIa herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß
<theologie>, avec des notions comme celles de mes- versucht werden, die überlieferung von neuem dem
sianisme et de redemption<< (Rochlitz 2000, 48 f. ). Das Konformismus abzugewinnen, der in Begriff steht, sie
>>Brechtsche über-Ich<<, dem Rochlitz (wie Adorno) zu überwältigen<< (I, 695, These VI).
soviel Bedeutung beimißt, wäre durchaus zu diskutie- Nicht zuletzt deshalb sollten auch wir Heutigen uns
ren. davor hüten, Benjamins Werk in ein >>Kulturgut<< zu
Interessanter ist jedoch die Frage, ob die Notwen- verwandeln, dem man sich in aller Ruhe und aus rein
digkeit des Rückgriffs auf die Theologie nicht vielmehr wissenschaftlichen Zwecken widmet.
der drangvollen Entstehungssituation der >>Thesen<< Die Kritik der >>Vergegenwärtigung<< und ebenso der
geschuldet ist (die 1937 noch nicht so virulent war). >>Würdigung oder Apologie<< durchzieht das gesamte
Der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin be- <Euvre Benjamins seit den 30er Jahren (vgl. III, 283-
siegelt in katastrophaler Weise die theoretische und 290 und V, 592). Die Vergegenwärtigung entspricht
»Über den Begriff der Geschichte« 287

einer Vorstellung von Kultur als >>Inventar<<, wie eine So wurde die von Benjamin angeprangerte Einfühlung
Variante der These VII verdeutlicht: ,, Das Inventar der der >bürgerlichen< Geschichtsschreibung von ihren
Beute, das sie [die Herrschenden] von den Geschlage- Befürwortern stets als- durchaus zweifelhafte- Geste
nen zur Schau stellen, wird vom historischen Materia- der Selbstverleugnung zugunsten ihres Gegenstandes
listen nicht anders als kritisch betrachtet werden. Die- gerechtfertigt: Wer die Vergangenheit besser verstehen
ses Inventar wird Kultur genannt<< (I, 1248). Ihr Ziel wolle, müsse die Gegenwart vergessen und sich in die
ist es, den zeitlosen Wert der Werke zu garantieren, fragliche Epoche versenken, wobei die Tätigkeit und
welche die bestimmende Tradition als kanonisch er- die Vor-Urteile des Forschers methodologisch gewis-
achtet. Die Aktualität hingegen ist zutiefst historisch, sermaßen ausgeklammert werden. Dieses gewiß naive
da sie einen besonderen Zusammenhangerfaßt zwi- Vorgehen hat freilich eine kritische Intention. Kann
schen der ratlosen und dringlichen Gegenwart und der von Benjamin zitierte berühmte Rat Pustel de Cou-
einem häufig vergessenen, manchmal als gleichgültig langes', der Historiker, »wolle er eine Epoche nacher-
erachteten Moment der Vergangenheit, der sie plötz- leben, so solle er alles, was er vom spätem Verlauf der
lich berührt. Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen<< (I, 696,
Folglich haben wir es hier mit einer zeitlichen und These VII), auch zu einer falschen methodologischen
historischen Doppelstruktur zu tun: jener des Jetzt und Unschuld verleiten, so zeugt er doch - wie Benjamin
jener des neuentdeckten Früher. Diese Konstellation sehr wohl wußte - vom berechtigten Widerstand des
bezieht ihre historische Kraft aus der anerkannten Di- Historismus gegen das Hegeische Modell, d. h. gegen
stanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die für die Überzeugung, die geschichtliche Entwicklung sei
beide einen erstaunlichen Resonanzkörper abgeben in ihrer vollen rationalen Bedeutung erst von ihrer
kann. Die Vergegenwärtigung hingegen möchte die Vollendung, von ihrem chronologischen wie absoluten
Distanz überwinden, da sie eher störend wirkt inner- Ende her zu verstehen. In den >>Thesen<< kritisiert Ben-
halb eines Geschichtsentwurfs, der die Präsenz über- jamin dieses teleologische Paradigma in seiner gängi-
zeitlicher Werte bestätigen soll, mit denen sich der gen Form: als Fortschrittsideologie und ökonomischen
Historiker mühelos identifizieren kann. Die Kritik der Determinismus.
Einfühlung- als >Technik< des Historismus- hat für Wenn Benjamin die Einfühlung als Projektion kri-
Benjamin also keinen bloß methodologischen Wert; tisiert, die um so schädlicher ist, als sie sich nicht als
sie ist in erster Linie politisch motiviert. Wenn sich der solche erkennt, so läßt sich daraus nicht folgern, daß
positivistische Historiker in die Vergangenheit ein- die Geschichtsschreibung des Historismus als Ganzes
fühlt, erspart er sich nicht nur, das vorherrschende Bild zu verurteilen sei. Im Gegensatz zu dem Hegeischen
der Vergangenheit zu hinterfragen, sondern er bestärkt Modell zeugt der Historismus von einem Detailbe-
sich vor allem selbst im Fortbestand der eigenen Ge- wußtsein, das nicht bloß einer faden Gelehrsamkeit
genwart, in der Sicherung des Status quo. Durch entspringen muß, sondern ebenso eine differenziertere
schiere Bequemlichkeit, Faulheit, Trägheit oder Kon- Auffassung der Vergangenheit anzeigen kann. Benja-
formismus- von »Trägheit des Herzens<< spricht Ben- min bekennt sich sogar zu der Detailtreue des »Chro-
jamin in These VII- erhält er auf diese Weise die fal- nisten<< als Geste der Entmachtung der arroganten
sche Tradition der Unterdrückung aufrecht: »Die je- Gegenwart, welche in ihrer Borniertheit meint, über
weils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je Wichtigkeit und Unwichtigkeit vergangener Ereignisse
gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt urteilen zu können: »Der Chronist, welcher die Ereig-
demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute<< nisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterschei-
(I, 696, These VII). den, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts
Diese berühmte These unterstreicht die Tragweite was sich jemals ereignet hat für die Geschichte verloren
der Benjaminsehen Einfühlungskritik Es geht ihm zu geben ist.<< (I, 694, These III) Die Historismuskritik
nämlich nicht nur darum, das offensichtlich ideologi- berechtigt also nicht dazu, eine rein gegenwartsbezo-
sche Konstrukt einer Geschichte der herrschenden gene Geschichte zu propagieren, als sei die Gegenwart
Klasse oder die Historiker als deren bewußte Hand- an sich das einzig gültige Kriterium einer Rekonstruk-
langer zu entlarven. Vielmehr sollen die oftmals im- tion der Vergangenheit.
pliziten bzw. unbewußten Voraussetzungen analysiert Die kritische Historiographie Benjamins verweist
werden, die einen Großteil der Historiographie, ein- auf die Bemerkungen in Nietzsches >>Vom Nutzen und
schließlich der linksgerichteten, prägen. Diese Voraus- Nachteil der Historie für das Leben<< aus seiner Schrift
setzungen sind Teil einer Art wissenschaftlicher Vul- Unzeitgemäße Betrachtungen, einer ersten philosophi-
gata, bei der sich die konventionellen Elemente nur schen Kritik der wissenschaftlichen Ideale des Histo-
schwer von den kritischen Beiträgen trennen lassen. rismus. AufNietzsches Kritik greift Benjamin wieder-
288 Messianismus, Ästhetik, Politik

holt zurück - so ist der These XII ein Zitat vorange- arbeit ist klar und entwirrend (trotz aller metaphorik
stellt (I, 700), ein weiteres findet sich in dem Essayüber und judaismen)«, lautete die erste Reaktion Brechts
E. Fuchs (II, 472; vgl. Chaves 2003, 51--64). Die kriti- auf die Lektüre (Brecht 1967,294)- und ebensowenig
sche Historie muß sich sowohl vor einem trügerischen an dem für die Abfassungszeit der »Thesen« unge-
Objektivitätsanspruch als auch vor nachsichtigem Re- schickten Versuch Benjamins, die deutsche Sozialde-
lativismus hüten. Benjamin nimmt Nietzsches Forde- mokratie zu kritisieren, ohne dabei das Verhalten der
rung einer kritischen Historiographie wieder auf: im kommunistischen Parteien der Zweiten Internationale
Dienste der Lebenden zwar, und insbesondere der oder auch nur einige Voraussetzungen der marxisti-
»Leidenden« und der »Befreiung Bedürftigen« (Nietz- schen Theorie mit einzubeziehen. Die größte Schwie-
sche 1988, 258), aber ohne die egozentrische Kurzsich- rigkeit bereitet die gedankliche Verknüpfung von hi-
tigkeit einer gegenwärtigen Epoche, die sich, obgleich storiographischer und politischer Reflexion, von dem
selbst historisch determiniert, anmaßt, adäquate Kri- >>wahre[n] Bild der Vergangenheit« (I, 695) und der
terien für ein endgültiges Urteil über die Vergangenheit »Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes«
zu besitzen. Im Gegensatz zu Nietzsche geht es Benja- (I, 697), um den Faschismus zu bekämpfen. Um diesen
min aber darum, eine materialistische Historiographie Kern herum gruppieren sich die anderen Probleme:
zu denken, die der Gegenwart das Rüstzeug für eine der Rekurs auf theologische Konzepte und Metaphern,
politische Veränderung hin zu einer besseren Zukunft die Allegorien, der Engel aus These IX und der Tiger
liefert. Eine der Hauptpolemiken Benjamins in den aus These XIV, die Bezüge auf Fourier, Blanqui, Rosa
>>Thesen« richtet sich gegen die marxistisch-sozialde- Luxemburg (Spartacus) und Marx, die Motti, die von
mokratische Ideologie, die >>der Arbeiterklasse die Brecht, Hegel, Nietzsche, Scholem, Dietzgen oder
Rolle einer Erlöserio künftiger Generationen« zuweist Kraus entnommen sind.
(I, 700, These XII), anstatt der >>Generationen Geschla- überschaut man die Anordnung der Thesen, so
gener« (ebd.) zu gedenken. Dennoch gilt, daß die Ge- stellt man fest, daß sie einer mosaikartigen Motivkon-
genwart nur dann wirklich historisch und politisch stellation entspricht, wie Benjamin sie bereits in der
aufgeladen werden kann, wenn sie nicht nur als äußer- »Vorrede« zum URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUER-
ste Grenze betrachtet wird, von der aus wir unseren SPIELS (I, 208) für philosophische Texte empfiehlt.
Blick in die Vergangenheit richten, sondern als die Eine Textanalyse sollte also nicht danach streben, einen
entscheidende Schwelle, auf der wir innehalten, um sie deduktiven Gedankengang zu rekonstruieren, der sich
besser überschreiten und ins Unbekannte treten zu vom Einfachen hin zum Komplexen bewegt. Vielmehr
können. muß man herausfinden, wie die Bezüge der Anspie-
lungen, Hypothesen, historischen Beispiele, Denkmo-
tive etc. zusammenspielen, sich entsprechen oder auch
Zur Anordnung der Thesen kontrastieren, welches das Leitmotiv ist und wie die
anderen Elemente es betonen oder abschwächen. Auf
Im folgenden soll kurz dargestellt werden, was das diese Weise zeigt sich, daß die theologischen Motive
Hauptthema Benjamins in den Thesen ÜBER DEN BE- einleitend (Verhältnis von Marxismus und Theologie
GRIFF DER GESCHICHTE ZU sein scheint. Es handelt sich in der These I) und abschließend (die Splitter der mes-
um ein theoretisches Anliegen - >>Vergangenes histo- sianischen Zeit und die >>kleine Pforte«, durch die der
risch [zu] artikulieren« (I, 695, These VI) -und zu- Messias tritt, in Anhang A und B) sowie auch an zen-
gleich um ein politisches - die notwendige Verände- traler Stelle (der Engel in These IX) auftauchen. Die
rung der Gegenwart des Historikers: >>Auf den Begriff Kritik an der herrschenden historistischen Geschichts-
einer Gegenwart, die nicht übergang ist sondern in schreibung hingegen durchzieht die gesamten Thesen,
der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, jene an den Linksparteien konzentriert sich auf die
kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn Thesen VII und XII. Aus dieser kurzen Analyse der
dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er Anordnung der» Thesen« geht hervor, daß die episte-
für seine Person Geschichte schreibt« (I, 702, These mologisch-politische Fragestellung im Zentrum steht.
XVI). Wenn Benjamin davon spricht, »Vergangenes Sie besteht aus zwei Teilen: Zum einen: Wie läßt sich
historisch [zu] artikulieren<<, geht es ihm darum, die das >>wahre Bild der Vergangenheit« (I, 695, These V)
Konstruktion des Vergangeneo und die Transforma- erfassen - eine Frage, die durch die Flüchtigkeit des
tion der Gegenwart in ein und derselben Bewegung zu Bildes noch erschwert wird: >>Das wahre Bild der Ver-
vereinen. gangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nim-
Die Schwierigkeit des Textes liegt also nicht primär merwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit
in den theologischen Metaphern - >>kurz, die kleine eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten«
»Über den Begriff der Geschichte« 289

(ebd.). Zum anderen: Wie läßt sich eine einzigartige werden. Selbst die schlimmsten Sünder würden nach
und authentische >>Erfahrung<< von der Gegenwart zur und nach vor Gott Gnade finden, zu ihrer ursprüng-
Vergangenheit konstruieren, d.h. eine Erfahrung in lichen Einheit mit ihm zurückkehren und gerettet
der Gegenwart, die zugleich das Bild der Vergangenheit werden. Da Gott seit der Erschaffung der Welt allen
und der Gegenwart verändert: >>Der Historismus stellt Dingen und auch uns innewohne, müsse das Ende der
das >ewige< Bild der Vergangenheit, der historische Welt, seiner Allmacht entsprechend, eine apokatastasis
Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht<< pantön oder restitutio omnium sein. Die häretische
(I, 702, These XVI). Der Rückgriff auf theologische christliche Vorstellung der apokatastasis ähnelt in die-
und messianische Motive, der den Text der >>Thesen<< sem Sinn dem Tikkun des Kabbalisten Isaak Luria,
rahmt und strukturiert, wie auch die Kritik an Port- dessen Lehre Benjamin durch die Studien Scholems
schrittsideologie und Historismus sind als solche si- bekannt war (Scholem 1967, 267-314).
cherlich wichtige Themen, primär sollen sie jedoch Grundlegend ist freilich für das Verständnis der
dazu beitragen, das Hauptproblem besser einzuord- >>Thesen<<, daß Benjamin im ERZÄHLER-Essay entschei-
nen: Sie sollen dem Denken einerseits helfen, weder in dende Motive seiner Geschichtsphilosophie und seiner
die Falle des Determinismus noch in jene der Univer- Erzähltheorie vereint (bes. II, 458 f.): die Vorstellung
salgeschichte zu gehen; andererseits sollen sie einer des Glücks, einer vom Mythos befreiten Menschheit,
anderen Auffassung der geschichtlichen Zeit Vorschub des Einklangs dieser befreiten Menschheit mit der Na-
leisten - um in der Gegenwart politisch wirken zu tur, die weder bedrohlich ist (wie im Mythos) noch
können. ausgebeutet (wie in der positivistischen Deutung des
Diese zugleich theoretische und politische Frage Fortschritts, vgl. These XI). Die befreite Menschheit
nach dem >>wahren Bild<<, sowohl der Vergangenheit und die befreite Natur entsprechen sich im Märchen
als auch der Gegenwart, erklärt, warum der Rückgriff und in den >>Phantastereien, die so viel Stoff zur Ver-
auf die Theologie wertvolle Dienste leisten kann, um spottung eines Fourier gegeben haben<< (I, 699, These
Benjamins Begriff der >>Jetztzeit<<, in der auch die po- XI), mithin in den utopischen Entwürfen einer vom
litische Intervention stattfindet, besser zu begreifen. Joch der kapitalistischen Arbeit befreiten Menschheit.
Dieses Motiv findet sich wieder in einer säkularisier-
ten, populären Version der apokatastasis, die eine Be-
»Das wahre Bild der Vergangenheit<< - freiung der Menschheit im Diesseits verspricht.
Kritik des Historismus II Und des Erzählers ebenso wie des Historikers Auf-
gabe ist es, die Vergangenheit in ihrer Gänze zu bergen:
>>Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei<< (I, >>Und so weiter in infinitum, bis die ganze Vergangen-
695, These V). Um besser zu verstehen, was sich hier heit in einer historischen Apokatastasis in die Gegen-
ereignet, muß zunächst der Unterschied geklärt wer- wart eingebracht ist<< (V, 573).
den zwischen der Universalgeschichte des Historismus Der Wunsch, nichts verloren zu geben, der sich in
und einer Historie, die laut Benjamins französischer der von Benjamin in den >>Thesen<< angedachten kri-
Version eine >>possession integrale du passe<< ist, und, tischen Historiographie offenbart, verweist somit nicht
wie er hinzufügt, >>reservee a une humanite restituee auf ein Ideal erschöpfender wissenschaftlicher Unter-
et sauve<< (I, 1261). Die französische Version der The- suchungen, sondern auf eine ethische und moralische
sen ist oft erhellend. An dieser Stelle in These III ver- Forderung, die auch in der theologischen Tradition
deutlicht Benjamin mit seiner Übersetzung >>restituee gestellt wird, nämlich nicht zu vergessen, was die herr-
et sauve<<, was er unter >>der erlösten Menschheit<< (I, schende Geschichtsschreibung gerne als zweitrangig
694, These III) versteht. Die Idee der Restitution ist in betrachtet: die alltäglichen, banalen, schmerzlichen
der Tat zentral, sowohl in den erzähltheoretischen als oder freudigen Begebenheiten und Gesten, die Müdig-
auch in den historiographiekritischen Schriften Ben- keit und das Fest, die Menge der Namenlosen, ohne
jamins, wenn auch das Konzept der apokatastasis/re- die es weder die genialen Werke (I, 696, These VII)
stitutio explizit und als solches nur an zwei Stellen noch die >großen Ereignisse< gäbe, wie Benjamin in
auftaucht: in dem Essay DER ERZÄHLER (II, 438-465) Anlehnung an Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters
und in einem Fragment aus dem >>Konvolut N<< des (Brecht 1967, Bd. 9, 656f.) bemerkt. Das Eintreten für
Passagenwerks. Der Begriff der apokatastasis ent- die Vergessenen der Geschichte ist andererseits ein
stammt der häretischen Lehre des Origenes, die besagt, kritischer Anspruch und, theologisch gesprochen, von
wenn Gott ursprünglich eine wahrhaft gute Welt er- messianischer Bedeutung; dasjenige zu vermitteln, was
schaffen habe und wirklich allmächtig sei, dann könne unsagbar, vergessen, anonym scheint, jene zu benen-
niemand unwiderruflich zur ewigen Hölle verdammt nen, deren Namen verloren gingen, bedeutet auch, daß
290 Messianismus, Ästhetik, Politik

die offizielle Geschichte aufgebrochen werden muß, diese klarsichtige Härte, die Benjamin und Brecht ge-
damit aus den Spalten die Hoffnung auf eine andere gen die Illusionen des Humanismus und des konfor-
Zeit der befreiten Menschheit entstehen kann (vgl. mistischen Optimismus vereint: >>Das Staunen dar-
Gagnebin 1994, 159-167). Diesehistoriographischen über, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten
und narratologischen Forderungen wurden übrigens Jahrhundert >noch< möglich sind, ist kein philosophi-
im Rahmen der Auseinandersetzungen mit der Ge- sches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es
schichte der Opfer und Verschwundenen in der soge- sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus
nannten Zeugnisliteratur wiederaufgenommen, zum der es stammt, nicht zu halten ist<< (I, 697, These
Beispiel bei Primo Levi. VIII).
Benjamin versucht somit, in den >>Thesen« eine Ge- Im Historismus, dessen Bandbreite für Benjamin
schichte mit zutiefst paradoxer Struktur zu denken: so von Ranke bis Dilthey reicht, verstärken sich die Po-
umfassend wie möglich, auch wenn sie erst am Tag des stulate von Positivismus und Lebensphilosophie wech-
Jüngsten Gerichts vollständig wird (1, 694, These III), selseitig. Die Überzeugung, daß >>die Wahrheit [ ... ]
und gleichzeitig fragmentiert, diskontinuierlich, lük- uns nicht davon laufen<< kann (I, 695, These V), und
kenhaft (vgl. Moses 1992, 158), denn jede Form nar- das >>Verfahren der Einfühlung<< (I, 696, These VII)
rativer Kontinuität neigt dazu, einen zwingenden wirken komplementär, da sie den immer vollständige-
Handlungsverlauf, eine Kausalität a posteriori vorzu- ren Aufbau einer Universalgeschichte rechtfertigen,
gaukeln, die alles vernachlässigt, was hätte anders sein der im übrigen Generationen engagierter Forscher und
können, was nicht realisiert wurde, jedoch als >>An- Professoren als >>verwöhnte Müßiggänger im Garten
spruch<< (I, 694, These II) weiterhin in die Gegenwart des Wissens<< beschäftigen kann, wie es in dem Zitat
hineinreicht- was diese blitzschnell erfassen und ak- von Nietzsche heißt, das der These XII vorausgeht (I,
tualisieren kann: >>Der Historismus begnügt sich da- 700). Die lieben Gelehrten erinnern mithin an die Fla-
mit, einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten neure, die durch die Pariser Passagen spazierten- und
der Geschichte zu etablieren. Aber kein Tatbestand ist durch die heutigen Einkaufszentren irren. Die einen
als Ursache eben darum bereits ein historischer.[ ... ] identifizieren sich mit der Vergangenheit (>>die Masse
Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich die der Fakten<<; I, 702, These XVII), die anderen, würde
Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu Benjamin wohl sagen, mit der Ware (>>eine ungeheure
lassen wie einen Rosenkranz. Er erfaßt die Konstella- Warensammlung<<, Marx 1973, Bd. 23, 49). Historiker
tion, in die seine eigene Epoche mit einer ganz be- und Flaneure können so ihr ganzes Leben lang wohl-
stimmten früheren getreten ist« (I, 704, Anhang A). gemut durch das Gewirr der Auslagen oder der ver-
Diese Kritik Benjamins an der Universalgeschichte gangenen Kulturen schlendern und dabei so manche
des Historismus gilt gleichermaßen für die Geschich- interessante Entdeckung oder einen guten Kauf ma-
ten von Tapferkeit und Heldenmut, die die sozialisti- chen. Diese >>kontemplative<< Haltung, wie Benjamin
sche und kommunistische Historiographie gerne ver- in DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNI-
breitet. In beiden Fällen wird die historische Zeit als SCHEN REPRODUZIERBARKElT formuliert, macht den
eine »homogene undleere Zeit<< (I, 701 f., Thesen XIV Historismus unausweichlich zum Komplizen der herr-
und XVII) verstanden, die einem unausweichlichen schenden Ungerechtigkeit und sichert ihren Fortbe-
Fortschritt entgegenstrebt (Determinismus sozialde- stand, und zwar unabhängig von den persönlichen
mokratischer und kommunistischer Prägung) oder in politischen Ansichten des Historikers. Denn das kon-
einer immer umfassenderen Beschreibung der >>Masse templative Verhältnis zur Vergangenheit, im Sinne
der Fakten<< (1, 702, These XVII) ihren Sinn findet. einer gewissen passiven Nachsicht, wiederholt sich in
Wenn der Historismus auch gerade kein Happy-End der grundsätzlichen Akzeptanz der Gegenwart. Hier
der Geschichte vorsieht, so verrät sein Streben nach zeigen sich die zutiefst politischen Implikationen des
Akkumulation dennoch ein tiefes Einverständnis mit historistischen Ideals, der Historiker solle durch Ein-
dem >>Ablauf<< der Geschichte, eine Art wissenschaftli- fühlung jegliche historische Distanz überwinden. Die
ches und ästhetisches Vergnügen an dem möglicher- überwindung der Distanz zwischen Gegenwart und
weise grausamen, aber abwechslungsreichen und Vergangenheit bringt die überwindung der Distanz
glanzvollen Schauspiel, das die Universalgeschichte der Gegenwart zu sich selbst mit sich, oder anders for-
bietet. muliert, den Verzicht des Historikers auf eine kritische
An der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg weiß Ben- Selbstreflexion.
jamin, daß keine Geschichtstheorie ein Gefühl von Es gehört leitmotivisch zu Benjamins Denken, in
Beständigkeit und Zusammengehörigkeit mehr postu- seine kritischen, literarischen oder philosophischen
lieren kann. Der Kampf gegen den Faschismus verlangt Reflexionen über Werke der Vergangenheit die Spuren
>>Über den Begriff der Geschichte« 291

ihrer Historizität einzubeziehen, mithin die Spuren »daß das Problem der Erinnerung (und des Verges-
der Fremdheit und Unverständlichkeit in Bezug auf sens), das in ihnen [in den »Thesen<<] auf anderer
eine Gegenwart, die sie aufgrund ihrer eigenen histo- Ebene erscheint mich noch für lange beschäftigen
rischen Determiniertheit nicht sofort deuten kann. Er wird« (6, 436).
denkt die historische Distanz nie als Hindernis auf Weshalb sind Freud und Proust so wichtig für eine
dem Weg zur wahren Kenntnis (was einem sentimen- Erneuerung der Historiographie, insbesondere für
talen Trugschluß gleichkäme), sondern stets als will- einen Neuentwurf des geschichtlichen Bildes? Aus Sicht
kommene und notwendige Gelegenheit, den Überlie- der klassischen Philosophie kann sich die Erinnerung
ferungsprozeß sowie die wissenschaftlichen und ideo- auf keinerlei epistemologische Garantie berufen und
logischen Interessen des gegenwärtigen Zeitpunktes somit auch keinerlei Sicherheit bieten. Vielleicht sind
zu überprüfen. In einer Antwort auf Adornos Ein- unsere Erinnerungen nichts als nachträgliche Erfin-
wände fordert Benjamin demgemäß, den Sachgehalt dungen, an die wir jedoch felsenfest glauben, wie
vom Wahrheitsgehalt (6, 186), den Kommentar von Freuds Patienten an die Realität ihrer Wahnvorstellun-
der Kritik zu unterscheiden (vgl. I, 123 f.). gen. Und wenn sie auch keine Illusionen sind, wie
Diese methodologischen und kritischen Überzeu- sollte man ihre Genauigkeit abwägen, wo doch die
gungen gewinnen ab den 30er Jahren eine deutlich Vergangenheit, von der sie zeugen, nicht mehr exi-
politische Konnotation. Der Historiker soll nicht nur stiert? Um die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses
die eigenen geschichtlichen Bedingungen in einer au- auszugleichen, war die philosophische Reflexion daher
toreflexiven hermeneutischen Geste analysieren, un- nicht nur bestrebt, das Erinnerungsbild (mneme) von
verzichtbar ist auch eine politische Stellungnahme: Die der bewußten Erinnerung (anamnesis) zu trennen,
Gegenwart dient als Ausgangspunkt nicht allein für sondern auch den Fluß der ersteren, der Erinnerungs-
die Konstruktion der Geschichte der Vergangenheit, bilder, soweit wie möglich der intellektuellen Kontrolle
sondern auch für eine mögliche Veränderung ihrer der zweiten, der Erinnerung, zu unterstellen. Auf diese
selbst. Es handelt sich hier, in den Worten Benjamins, Weise bemüht sich das seiner selbst bewußte Subjekt,
um eine >>kopernikanische Wendung<<, denn die »Po- die Gefahren des eigenen, unkontrollierbaren und no-
litik erhält den Primat über die Geschichte« (V, 1057). madischen Gedächtnisses zu bannen. Von der Dialek-
Nicht mehr die Vergangenheit wird als »fixer Punkt<< tik Platons bis hin zu jener Hegels strebt der Geist,
vorausgesetzt, den der Historiker zu erreichen sucht, nous, danach, die unbändig sprudelnden Bilder den
sondern die zu verändernde Gegenwart, von der aus Mneme einzudämmen, oder, wie Augustinus im zehn-
die Bilder auftauchen und sich zusammenfügen, aber ten Buch der Bekenntnisse schreibt, die Bilderflut mit
nicht in einer ruhigen linear-chronologischen Abfolge, der »Hand des Geistes<< vom »Angesicht des Gedächt-
sondern in einer Art diskontinuierlichem Bilderwirbel, nisses<< »ZU entfernen«. Anknüpfend an dieses schöne
der plötzlich stillsteht und eine neue Bedeutung erhält Bild von Augustinus kann man sagen, daß Freud und
(vgl. Moses 1992, 150 f.). Proust, nach Nietzsche und Bergson, die rauschenden
Bilder nicht mehr vom Antlitz des Gedächtnisses ver-
scheuchen wollen wie lästige Fliegen.
Erinnerung und Erfahrung Im Gegenteil: Den gemäß Freud unbewußten, ge-
mäß Proust unwillkürlichen Bildern widmen sie ihre
Die beiden großen Vorbilder dieses Verhältnisses zur paradoxerweise zugleich zerstreute und intensive, so-
Vergangenheit sind, wie Benjamin selbst erwähnt und zusagen» gleichschwebende Aufmerksamkeit« (Freud).
zahlreiche Studien belegen (Szondi 1976; Greffrath Proust und Freud verlagern also das Gewicht, das die
1981; Fürnkäs 1988; Hiliach 2000), Prousts Auf der traditionelle Philosophie dem bewußten Erinnerungs-
Suche nach der verlorenen Zeit sowie die Theorien prozeß beimißt, zugunsten der Erinnerungsbilder, die
Freuds. Man kann also durchaus annehmen, daß die das Subjekt nicht freiwillig wählt, sondern die ihm
Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE versu- zustoßen, die sich plötzlich und überraschend ereig-
chen, die Erkenntnisse Prousts und Freuds über die nen. Diese Verschiebung kündet nicht nur von einem
individuelle und unbewußte Geschichte des Subjektes Wandel der Gedächtnistheorie; grundlegender bedeu-
in kollektive und politische Begriffe zu übersetzen. In tet sie eine radikale Änderung der Subjektkonzeption.
dieser Übertragung (vom Individuellen zum Kollek- Das Subjekt wird nicht mehr primär durch seine be-
tiven und vom Unbewußten zur bewußten politischen wußten, absichtlichen und autonomen Handlungen
Handlung) besteht auch eines der Hauptprobleme des definiert, sondern ebenso durch eine Art passives Ver-
Textes. Ohne Zweifel wußte Benjamin das, und er mögen, durch Empfänglichkeit und Aufnahmefähig-
spielte wohl darauf an, als er Gretel Adorno schrieb, keit, durch Eigenschaften also, die die Philosophie
292 Messianismus, Ästhetik, Politik

früher der Materie (und den Frauen!) zuschrieb, die bar ist: >>II faut renoncer a revivre Ie passe, si Je temps
nun jedoch nicht negativ im Sinne von willenloser perdu doit, d'une fa<;on encore inconnue, etre retrouve<<
Trägheit, sondern positiv als aufmerksame Offenheit (Ricceur 1984, 210). Nur wer darauf verzichtet, die
interpretiert werden. Vergangenheit als eine objektive und stets mit sich
In A Ia recherche du temps perdu wird gleich zu Be- selbst identische Substanz darzustellen, kann im strik-
ginn die Unzulänglichkeit der traditionellen, auf Be- ten Sinne eine Erfahrung mit der Vergangenheit ma-
wußtheit und Souveränität basierenden Subjekt- und chen.
Gedächtniskonzeption thematisiert. Benjamin, ein Es kann aber heute nicht darum gehen, zu einem
leidenschaftlicher Leser und Obersetzer Prousts, be- vormaligen organischen Erfahrungsmodus zurückzu-
merkt: >>Unverzüglich konfrontiert Proust dieses un- kehren, es gilt, einen neuen und aktuellen zu konstru-
willkürliche Gedächtnis mit dem willkürlichen, das ieren. Mit aller Deutlichkeit besteht Benjamin dabei
sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet.[ ... ] auf einem konstruktiven Prinzip: >>Die Geschichte ist
Proust sei, ehe der Geschmack der madeleine (eines Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die
Gebäcks), auf den er dann oft zurückkommt, ihn eines homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit
Nachmittags in die alten Zeiten zurückbefördert habe, erfüllte bildet<< (I, 701, These XIV); >>Der materialisti-
auf das beschränkt gewesen, was ein Gedächtnis ihm schen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein kon-
in Bereitschaft gehalten habe, das dem Appell der Auf- struktives Prinzip zugrunde<< (I, 702, These XVII; vgl.
merksamkeit gefügig sei. Das sei die memoire volon- auch I, 1252). Diese Konstruktion setzt die Destruk-
taire, die willkürliche Erinnerung, und von ihr gilt, daß tion der etablierten Historiographie voraus (Anderson
die Informationen, welche sie über das Verflossene 2000 u. Wohlfarth 1978), besonders ihrer illusorischen
erteilt, nichts von ihm aufbehalten<< (1, 609f.). Versuche der Vergangenheitsrekonstruktion (V, 587).
Die Erinnerungen werden jedoch weder mühelos Der Begriff der historischen Erfahrung soll nun et-
noch spontan an die Oberfläche der Gegenwart ge- was genauer betrachtet werden. Auch hier erweist sich
spült; es erfordert im Gegenteil einige geistige Anstren- der Rückgriff auf Proust als aufschlußreich. Was ent-
gung. Der Erzähler muß hartnäckig gegen Erschöp- deckt nämlich der Erzähler der Wiedergefundenen Zeit?
fung und Entmutigung ankämpfen, damit das Bild Daß Vergangenheit und Gegenwart für >>Ia duree d'un
auftauchen kann. Interessanterweise rührt die Freude eclair<< eine andere Zeitlichkeit annehmen können,
über die wiedergefundene Zeit nicht daher, daß der eine wahre, intensive, glückliche, ja man könnte sogar
Erzähler einen Moment der Vergangenheit so wieder- sagen, eine >>erlöste<< Zeitlichkeit, befreit von der line-
erleben kann, wie er sich zugetragen hat. Wie häufig aren Chronologie, mit der die Geschichte so oft ver-
betont wurde (Ricceur 1984, 202; Deleuze 1979, 18- wechselt wird.
22), entspringt die Freude nicht der Erinnerung als Peter Szondi stellt in seinem wegweisenden Aufsatz
solcher, sondern dem neuen Verhältnis der Gegenwart >>Hoffnung im Vergangenen<< (Szondi 1976, 79-97)
zur Vergangenheit. Diese spezielle Zeitrelation ver- heraus, daß der Proustsche Erzähler versuche, anhand
deutlicht, inwiefern Prousts Auseinandersetzung mit der in der Gegenwart wiedergefundenen Vergangen-
der Zeit für die Historiographie, die Benjamin in den heit und der Transformation der Zeiterfahrung in eine
>>Thesen<< zu definieren sucht, bedeutsam ist. Was also Ewigkeitserfahrung, der Zeit und dem Tod zu entkom-
unterscheidet >>das <ewige> Bild der Vergangenheit<< men. Demgegenüber suche Benjamin nach einer In-
(I, 702, These XVI), auf das der Historismus hinarbei- tensivierung der Zeit, durch die ein wahres Bild der
tet, grundsätzlich von dem >>wahre[n] Bild der Vergan- Vergangenheit geborgen werden könne, im Sinne eines
genheit<< (I, 695, These V) oder >>eine[r] Erfahrung mit uneingelösten Versprechens, das die Gegenwart indes
ihr<<, die >>der historische Materialist<< (I, 702, These im >>Augenblick seiner Erkennbarkeit<<, d. h. auch >>im
XVI) anstrebt? Nun, erstere ist eine trügerische Be- Augenblick einer Gefahr<< (I, 695, These VI), erfassen
schreibung der Vergangenheit, >>>wie es denn eigentlich und wiederaufnehmen kann: >>Das wahre Bild der Ver-
gewesen ist<<< (I, 695, These VI), d.h. der Versuch des gangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nim-
historischen Diskurses, einen Zeitpunkt der Vergan- merwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit
genheit zu wiederholen, indem er dessen substantielle eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten<< (I,
Identität postuliert, als handele es sich um ein zeitent- 695, These V). Das Vibrieren, die schnelle Bewegung
hobenes Objekt. Das entspräche im Verlauf der Suche des wahren Bildes der Vergangenheit verdankt sich also
der Rückkehr an den Ort der Kindheit, als ob dieser in weniger einer fragilen epistemologischen Struktur des
seiner materiellen Substanz der Schlüssel zum Glück Objektes, das als wertvolle, in den Falten der Vergan-
wäre. Ricceur formuliert treffend, was auch auf die genheit versteckte Perle gedacht wird, sondern viel-
Theorie der Einfühlung und des Erlebnisses anwend- mehr der zeitlichen Struktur der Erkennbarkeit des
»Über den Begriff der Geschichte« 293

Bildes, der Wahrnehmbarkeit von Ähnlichkeiten, wie thodologisch betrachtet, muß die Gegenwart der Er-
Benjamin in der Lehre vom Ähnlichen schreibt (II, 206; kennbarkeit festgehalten, der kairos erfaßt und also
vgl. Bock 2000, 375): Die Gegenwart selbst, der Ort der der Augenblick stillgestellt werden; politisch betrach-
Erkennbarkeit, vibriert, dauert nur einen Wimpern- tet, muß der Geschiehtstauf unterbrochen, die be-
schlag, ist schon verschwunden. Daher ist die Fähigkeit queme Identifizierung verhindert und ein Chock im
einer jeden Gegenwart, das Versprechen, das die Ver- Erzählfluß hervorgerufen werden: >>Der materialisti-
gangenheit an sie richtet, zu erkennen, ebenso fragil schen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein kon-
wie ihre eigene flüchtige Erscheinung: >>Denn es ist ein struktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht
unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre
jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen
als in ihm gemeint erkannte<< (I, 695, These V). Und gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es
daher bezeichnet Benjamin diese Fähigkeit auch als derselben einen Chock, durch den es sich als Monade
>>eine schwache messianische Kraft<<, die jeder Genera- kristallisiert<< (I, 702 f., These XVII).
tion zuteil werde. In einem ähnlichen Kontext hat Diese Stillstellung ist hochgradig politisch und er-
Derrida auf die notwendige Unterscheidung zwischen lösend- oder messianisch, wie Benjamin sagen würde
dem >>Messianischen<< und dem >>Utopischen<< verwie- -,da der Historiker in ihr >>das Zeichen einer revolu-
sen, wobei das Messianische hier und jetzt >>inseparable tionären Chance im Kampf für die unterdrückte Ver-
d'une affirmation de I' alterite et de la justice<< sei (Der- gangenheit<< erkennt (I, 703, These XVII). Sie stellt die
rida 2002, 70). Natürlich verfügen die Menschen nur Zeitlichkeit der herrschenden Geschichtsschreibung
über eine schwache Kraft, in der sich die messianische in Frage und schafft den Wunsch und die Möglichkeit
Gerechtigkeit um so machtvoller manifestiert. Es sollte einer anderen Zeit - daher rührt ihr zugleich theolo-
nicht unberücksichtigt bleiben, daß sowohl das Adjek- gischer und politischer Charakter. Benjamin zitiert in
tiv >>schwach<< in These II als auch das Verb >>huscht<< These XV die Geste der Juli-Revolutionäre von 1830,
in These V im Manuskript unterstrichen sind, was ihre die am Revolutionsabend auf die Uhren mehrerer öf-
gegenseitige Zugehörigkeit markiert. fentlicher Gebäude in Paris schossen, um so ihrer Miß-
Die Gegenwart als Augenblick der Erkennbarkeit billigung der geltenden Chronologie Ausdruck zu
der Vergangenheit ist also unbeständig, sie flackert, wie verleihen. In seinem Kommentar dieser These bringt
bei Proust die Bilder beim Aufwachen zitternd ver- M. Löwy die Episode aus dem Jahre 1830 in Zusam-
schwimmen oder der unbekannte Glücksgeschmack menhang mit einer Aktion junger indigener Brasilia-
die macleieine durchzuckt. Die in der gesamten philo- ner aus dem Jahr 2000: Anläßtich der Feierlichkeiten
sophischen Tradition stets betonte Flüchtigkeit des zum 500. Jahrestag der >>Entdeckung« ihres Landes
gegenwärtigen Augenblicks muß nun für einen Mo- durch portugiesische Seefahrer (ein paradigmatisches
ment aufgehoben werden, damit eine andere Wahrheit Beispiel für die Geschichtsschreibung der Sieger),
nicht verloren geht, damit der kairos dieses anderen schossen sie mit Pfeil und Bogen auf die riesige Uhr,
Bildes der Vergangenheit blitzschnell erfaßt werden die ein großer Fernsehsender errichtet hatte, um die
kann. So muß der Proustsche Erzähler einhalten und offizielle Zeit bis zum Gedenktag anzuzeigen (Löwy
sich in sich selbst zurückziehen, denn der gegenwärtige 2001, 108).
Augenblick gibt sein Geheimnis nicht leichtfertig preis: Benjamin nimmt also Prousts Unterscheidung der
Wenn die Gegenwart nicht zum Stillstand gebracht willkürlichen und der unwillkürlichen Erinnerung wie-
wird, wie Benjamin sagen würde, dann taumelt sie in der auf, um eine intensive Beziehung der Gegenwart
eine andere Gegenwart und verliert sich im ununter- zur Vergangenheit zu entwerfen. Er tut dies jedoch im
brochenen Fluß der homogenen Zeit: >>Auf den Begriff Rahmen einer kritischen Menschheitsgeschichte und
einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in nicht im Rahmen einer individuellen und ästhetischen
der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, Konstruktion. Eine Variante der These VI unterstreicht
kann der historische Materialist nicht verzichten« (I, diesen Proustschen Ursprung: >>Vergangenes historisch
702, These XVI). zu artikulieren heißt: dasjenige in der Vergangenheit
Die Geste der kritischen Unterbrechung entspricht erkennen, was in der Konstellation eines und desselben
jener aus dem epischen Theater Brechts, die den Zu- Augenblickes zusammentritt. [... ] Indem die Vergan-
schauer daran hindert, sich mit den Personen auf der genheit sich zum Augenblick- zum dialektischen Bilde
Bühne zu identifizieren - sich einzufühlen -, und ihn - zusammenzieht, geht sie in die unwillkürliche Erin-
zu einer kritischen Stellungnahme verpflichtet. nerung der Menschheit ein« (I, 1233).
Die Unterbrechung des Zeitflusses, wie Benjamin Die Übertragung der Proustschen Ästhetik auf eine
sie in den >>Thesen« vertritt, beinhaltet zweierlei: Me- kritische Historiographie wirft indes Probleme auf.
294 Messianismus, Ästhetik, Politik

Benjamin selbst weist auf zwei Punkte hin: den priva- Suche Freuds nach einem neuen therapeutischen Pa-
ten, individualistischen Charakter der Erinnerung bei radigma. Auch hier gilt es, aufmerksam auf Bilder der
Proust und die Zufallsbedingtheit dieser glücklichen Geschichte des Subjekts einzugehen, die bis dahin we-
Funde zwischen Gegenwart und Vergangenheit (I, der ins Bewußtsein noch zu Wort kamen und die das
620). Wenn der Begriff des Zufalls bei Proust auch gegenwärtige Leiden erklären sowie einen Hinweis auf
nicht als triviale statistische Koinzidenz verstanden eine andere Lebensmöglichkeit geben können. Benja-
werden kann, sondern vielmehr als das, was nicht un- min und Freud nehmen beide die Metapher des Ar-
serem Willen, unserem Intellekt unterworfen ist, was chäologen auf, der im Boden der Gegenwart nach
auftaucht und uns berührt (vgl. Variante, Proust 1987, verschütteten Resten der Vergangenheit sucht (vgl.
1122), so ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Hiliach 2000, 215; Fürnkäs 1988, 142-174); meist fin-
Held von A Ia recherche du temps perdu nur wenig oder det er nur beschädigte Skulpturen (IV, 400 u. VI, 486),
gar nicht in den Lauf der erzählten Ereignisse eingreift eine Metapher, die Benjamin bereits in EIN-
(was der Tatsache keinen Abbruch tut, daß diese zu- BAHNSTRASSE, in dem wunderbaren Stück TORSO (IV,
fallsgeleitete Erzählung von dem Autor perfekt kon- 118), verwendet. Die archäologische Arbeit beschränkt
struiert wurde!). Benjamin überträgt den Begriff der sich nicht darauf, die in den Schichten des persönli-
unwillkürlichen Erinnerung auf den Bereich des Hi- chen oder historischen Unbewußten verborgenen
storischen, da sie eine Unterbrechung des dominanten Spuren festzustellen. Wie Schöttker (2000, 262-267)
narrativen Flusses bedeutet. Mit dieser Übertragung anmerkt, betonen sowohl Freud- in einem >>Konstruk-
geht die Forderung einher, das historische Subjekt, die tionen in der Analyse<< (Freud 1937) überschriebenen
dominierte Klasse, möge sich des Augenblicks der Ge- Text- als auch Benjamin das gewissenhafte Abschrei-
fahr und der Notwenigkeit eines destruktiven und ten der Gegenwart bei der Suche: >>Und der betrügt sich
konstruktiven Eingreifens deutlich bewußt werden. selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde
In den >>Thesen<< bleibt häufig unklar, wie die histo- macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle
riographische Konstruktion des materialistischen Hi- bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So
storikers (des Intellektuellen) und die Aktion des Pro- müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berich-
letariats ineinandergreifen (ein ungelöstes Problem tend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem
der marxistischen Theorie), doch beide müssen sowohl der Forscher ihrer habhaft wurde<< (IV, 401). Benjamin
unwillkürlichen Erinnerungen gegenüber aufgeschlos- nähert sich so den Erinnerungen an die Berliner Kind-
sen als auch zu bewußtem politischen Eingreifen fähig heit ausgehend von den Bildern des Pariser Exils.
sein. Die paradoxe Verbindung von Empfänglichkeit Es geht ihm darum, in einer Art transversalem
und Entschlossenheit verweist auf die zeitliche Struk- Schnitt zu erfassen, was in der Vergangenheit verges-
tur des kairos, auf den Augenblick, wo das Subjekt eine sen, vielleicht verdrängt wurde, in der Gegenwart je-
sich bietende Gelegenheit ergreift, die es zwar nicht doch hervortreten, wiederaufgenommen und gerettet
selbst geschaffen hat, die zu erkennen und zu nutzen werden kann. Dieses Zeitverhältnis hat nichts mit einer
ihm jedoch zufällt. Mehr noch als Proust, für den die- ruhigen, linearen Entwicklung gemein. Benjamin
ser Einsatz zwar wesentlich ist, aber im Bereich des nimmt in den >>Thesen<< und in diversen Einträgen im
Ästhetischen bleibt, insistiert Benjamin auf der poli- Passagenwerk das Konzept des Ursprungs wieder auf,
tischen >>Geistesgegenwart<< (I, 1244), um die dialekti- das ihm bereits in der ERKENNTNISKRITISCHEN VoR-
schen Bilder aufzunehmen und sie für die politisch- REDE zum URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS
historische Konstruktion zu nutzen: >>Historie im als Gegenentwurf zu einer linearen und kausalen Vor-
strengen Sinn ist also ein Bild aus dem unwillkürlichen stellung der historischen Zeit dient. In einem Fragment
Eingedenken [,] ein Bild, das im Augenblick der Gefahr vom 7. August 1931 berichtet er über eine Unterhal-
dem Subjekt der Geschichte sich plötzlich einstellt. Die tung mit Freunden über >>Methodenfragen der Ge-
Befugnis des Historikers hängt an seinem geschärften schichte<< und bemerkt: >>Mein Versuch eine Konzep-
Bewußtsein für die Krise, in die das Subjekt der Ge- tion von Geschichte zum Ausdruck zu bringen, in der
schichte jeweils getreten ist<< (I, 1243). der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des
Ursprungs verdrängt wurde<< (VI, 442 f.). In beiden
Texten stellt Benjamin eine äußerliche, lineare Zeit, in
»Ursprung<< statt ,,Entwicklung<< der die Ereignisse sich aneinander reihen, einer inten-
siven Beziehung des Objektes zur Zeit, der Zeit im
Der Aspekt der bewußten Intervention, sowohl in der Objekt gegenüber, um sein Verständnis des Ursprungs
kritischen Historiographie als auch in der politischen zu verdeutlichen. Ebenfalls in beiden Texten greift er
Aktion, verbindet Benjamins Überlegungen mit der den Leibnizschen Begriff der >>Monade<< auf, um die
Ȇber den Begriff der Geschichte<< 295

zeitliche Intensität näher zu bestimmen, dieses Zusam- 701, These XIV). Dieser dialektische Sprung, dieser
menwirken von Prä- und Posthistorie, das im >>Zeit- >> Tigersprung ins Vergangene«, führt über die Konti-
raffer<< die gewöhnliche chronologische Dispersion nuität der herrschenden Tradition hinweg zu verges-
verdichtet wie in einem Zeitkristall: >>Wo das Denken senen oder außer acht gelassenen Dingen. Auf diese
in einer von Spannungen gesättigten Konstellation Weise entdeckt der Historiker unter der homogenen
plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, Oberfläche der offiziellen Geschichte >>Schroffen u[nd]
durch den es sich als Monade kristallisiert« (I, 703, Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hin-
These XVII). Die französische Version expliziert dieses ausgehen will« (I, 1242).
>>Einhalten« als >>Secousse qui vaudra a l'image, a Ia Benjamin benutzt hier eine weitere Variante des
constellation qui Ia subira, des' organiser al'improviste, Wortfeldes von >>Ursprung« und >>Sprung«, im Sinne
de se constituer en monade en son interieur« (I, 1265). eines Spalts, eines Bruchs im glatten Verlauf der Ge-
Die monadische Struktur des dialektischen Bildes schichte. Wie bei Kafka oder auch Freud ruht die Mög-
greift nur innerhalb einer Geschichtskonzeption, die lichkeit einer erlösenden Alterität nicht in den erha-
die Priorität des kausalen oder akzidentellen chrono- benen Denkmalen und ehrwürdigen Institutionen der
logischen Ablaufs verabschiedet hat. Was Benjamin in Macht, sondern bevorzugt vielmehr unsichere Orte,
seinem Buch über das Barock die >>Rhythmik des Ur- Mischwesen aus Mensch und Tier, inkompetente Ge-
sprünglichen« nennt, prägt 1940 immer noch seine hilfen, unnütze Dinge, kurz die >>Risse und Schründe«
Auffassung einer heilbringenden und materialistischen der Welt, >>wie sie [die Welt] einmal als bedürftig und
Geschichte: >>Sie will als Restauration, als Wiederher- entstellt im Messianischen Licht« daliegen wird, mit
stellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Un- diesen Worten nach Benjamins Tod kommt Adorno
abgeschlossenes anderseits erkannt sein« (I, 226). ( 1998, 283) dessen Deutungskraft vielleicht näher als
Bei dem Begriff >>Ursprung« spricht auch der Signi- er es zu dessen Lebzeiten je tat.
fikant für sich: Nicht ein makelloser, chronologischer
Beginn ist gemeint, sondern ein erster Sprung, der eine
andere Zeit begründet. Die >>Thesen« ÜBER DEN BE- Das Theologische in den Thesen
GRIFF DER GESCHICHTE spielen wiederholt mit dem
Wortfeld >>Sprung«, >>Ursprung«, >>springen«, >>spren- Das Zitat aus Minima Moralia führt uns zu einem der
gen<<, >>heraussprengen«. So auch in der berühmten meistdiskutierten Probleme in der Rezeption der
These XIV, der Benjamin ein Zitat von Kar! Kraus vor- >>Thesen«: ihr Verhältnis zur Theologie, speziell zu der
anstellt (>>Ursprung ist das Ziel<<) und in der er sich Tradition des jüdischen Messianismus. Die heftige
implizit auf Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte be- Kontroverse und das Renommee der wichtigsten Be-
zieht, wo Marx >>!es illusions romaines des jacobins« teiligten (Scholem und Brecht) scheinen die Haupt-
(Löwy 2001, 103) kritisiert. Benjamin verfremdet die frage Benjamins eher verdunkelt zu haben. Es ist nicht
beiden Geschichtsauslegungen, auf die Kraus und von Belang, ob letztendlich die Theologie oder der
Marx ironisch anspielen: Geschichte ist keine Rückkehr Materialismus obsiegt (vgl. Panngritz 2000, 817-21;
zu den Ursprüngen, ob man darunter nun das verlo- Löwy 2001, 24), ob Benjamin nun ein echter Rabbi ist,
rene Paradies oder den Urkommunismus versteht; der sich in kommunistischer Solidarität übt, oder ein
anstatt den Satz von Kraus immerfort als Ausdruck wahrer materialistischer Denker, der nur theologische
dieses Wunsches zu verstehen, könnte man ihn para- >>Metaphern« verwendet. Entscheidend ist, warum
doxerweise ebenso als Versuch deuten, den Sprung Benjamin sich theologischer Figuren und Konzepte
allererst anzuvisieren oder sogar zu produzieren. bedient bei dem Versuch, eine kritische Historiogra-
Die wahre historische Zeit ist weder Rückkehr noch phie und revolutionäre Praktik zu denken, die weder
Wiederholung noch homogene Kontinuität, sondern auf den deterministischen Vorannahmen der soge-
Zerstörerische und heilbringende Intensität, die das nannten >>progressiven« Doktrin noch auf der Konti-
vergessene Versprechen der Vergangenheit in der Ge- nuität der dominanten Historie aufbauen.
genwart einlöst. Daher beinhaltet die dem Ursprung Eine kurze Analyse der Allegorie aus der ersten
eigene Zeitstruktur zugleich Destruktion und Kon- These - eine Puppe spielt mit Hilfe eines unter dem
struktion, Sprengung und Rettung: »Die Geschichte Tisch verborgenen Zwerges Schach -liefert einige An-
ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die haltspunkte. Benjamin hat sich hierbei von Maelzels
homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit Schach-Spieler inspirieren lassen, einem von Baude-
erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom laire übersetzten Essay Poes (>>Maelzel's Chess-Player«,
eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus 1836; frz. Übersetzung V. Baudelaire: »Le joueur d' echecs
dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte« (I, de Maelzel«; vgl. V 1281, Nr. 71, 79; 1314, Nr. 679), in
296 Messianismus, Ästhetik, Politik

dem ein realer Apparat beschrieben wird (vgl. Pann- Bemerkenswert ist, daß Benjamin nicht von »Reli-
gritz 2000, 795f.; Löwy 2001, 30f.). Die Allegorie un- gion<<, sondern von »Theologie<< spricht, oder auch
terstreicht drei Merkmale der Beziehung zwischen dem vom Messias und der messianischen Kraft, d. h. von
historischen Materialismus (Puppe) und der Theolo- Bereichen, die selbst innerhalb der Theologie oftmals
gie (Zwerg). Erstens ergeht sich Benjamin nicht in Anlaß zu Häresievorwürfen oder Spannungen gaben.
theoretischen Ausführungen über das Verhältnis von In dem »Theologisch-politischen Fragment<< aus
Materialismus und Theologie, sondern setzt die rhe- den 20er Jahren betont Benjamin die Notwendigkeit,
torische Figur der Allegorie ein: Der Zwerg und die die Ziele der historischen Kämpfe von den Hoffnungen
Puppe machen gemeinsame Sache, zusammen müssen auf die Ankunft des Gottesreichs zu unterscheiden:
sie die Partie gegen den Faschismus gewinnen. Die »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Ge-
Einzelheiten des Bündnisses gehorchen keinem ewigen schehen und zwar in dem Sinne, daß er dessen Bezie-
Gesetz, sie müssen >>Zug für Zug<< neu formuliert wer- hung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet,
den. Zweitens beruht der Erfolg des Automaten auf schafft. [ ... ] Darum ist das Reich Gottes nicht das Te-
seinem Geheimnis, und dieses wiederum auf optischer los der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel
Täuschung und einem Konstruktionstrick; der Tisch gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel,
ist manipuliert wie die Requisiten einer Zaubervor- sondern Ende<< (II, 203). Eine Notiz aus dem Kontext
führung. Der spielerische, illusorische Charakter des der »Thesen<< nimmt diesen Gedanken wesentlich spä-
Apparates verbietet daher eine Übersetzung in onto- ter wieder auf: »Der Messias bricht die Geschichte ab;
logische Begriffe, seien diese nun materialistisch oder der Messias tritt nicht am Ende einer Entwicklung auf<<
theologisch. Benjamin wählt keine organische Parabel, (I, 1243).
sondern das Bild eines Apparates, einer menschlichen, In einem lesenswerten Kommentar betont Wohl-
künstlichen, vergänglichen Schöpfung, was heißt, daß farth (1986), es gehe Benjamin nicht darum, ein säku-
wir von diesem Vergleich kein ewiggültiges Gesetz ab- lares Modell des Religiösen als politisches Paradigma
leiten sollten. Drittens wirkt der spielerische Charakter zu etablieren (vgl. auch Raulet 1997). Und es handelt
ironisierend auf die Hauptbestandteile des Automaten; sich auch nicht um »reenchanter Je monde<<, wie es die
viel wurde geschrieben über den Zwerg Theologie - deutsche Romantik ersehnte, obschon Benjamin eine
»klein und häßlich<<, so Benjamin-, aber der »histori- Affinität für diese Strömung zeigte (Löwy 2001, 6f.).
sche Materialismus<< erscheint auch nicht viel würde- Wenn er die Bedeutung der Theologie nicht negiert
voller, gleichwohl sichtbarer: »Eine Puppe in türkischer - wie man es von einem >richtigen< Materialisten er-
Tracht, eine Wasserpfeife im Mund<< (I, 693, These 1), warten könnte- und auch nicht den selten erwähnten
eine Marionette, deren exotische Züge die Spaßigkeit Begriff des Heiligen, so nicht um eine Art abge-
noch verstärkt (zu dieser Benjaminsehen Ironie, die schwächte Version des Himmelreiches auf Erden zu
auf die erstarrte Version des Marxismus, sprich auf die kreieren, sondern um herauszustellen, welche Spreng-
stalinistische Orthodoxie zielt, vgl. Lindner 1992, 256). kraft und reinigende Zerstörungsmacht das theologi-
Die beiden burlesken Gestalten müssen mit vereinten sche Denken für die eintönige historische Kontinuität
Kräften versuchen, dieses Jahrhundertspiel zu gewin- besitzt.
nen; aber es bleibt zu hoffen, daß sie nach Beendigung Andreas Panngritz (2000, 785-93) erläutert über-
des Spiels verschwinden und einer anderen Realität zeugend, wie variabel Benjamin den Begriff »Theolo-
weichen. Sich an ihre jetzige Erscheinungsform zu gie<< einsetzt: In den Schriften über Kafka lehnt er die
klammern, hieße, ihre Historizität zu vergessen und Theologie, verstanden als »religionsphilosophisches
sich auf eine dogmatische Position zu versteifen, sei es Schema<< wie in Brods Kafkalektüre, ab; willkommen
nun die materialistische oder die theologische. Wenn ist ihm dagegen eine »Theologie auf der Flucht<< (III,
der Hauptakteur zu diesem bestimmten historischen 277), eine zeitgenössische Figur der negativen Theo-
Zeitpunkt der Klassenkampf und die Politik der Links- logie, eine zwar aktive, aber verborgene Theologie, kein
parteien ist- wovon Benjamin Scholem in mehreren bißchen triumphal, vielmehr lächerlich und beschämt
Briefen aus den 30er Jahren zu überzeugen sucht-, so wie der Zwerg aus der ersten These - »eine Art theo-
macht ihn das keineswegs unbesiegbar oder unfehlbar. logischer Flüsterzeitung<<, schreibt Benjamin in einem
Bisweilen ist er steif wie eine Marionette oder auf tra- Brief an Scholem über Kafka (6, 113).
gische Weise konformistisch, wie die Weimarer Sozi- Wessen könnte sich die Theologie schämen, wenn
aldemokratie. Er braucht Hilfe, um wieder zu revolu- nicht der Tatsache, daß sie so oft zur Rechtfertigung
tionären Kräften zu kommen, um »das Kontinuum der der Unterdrückung gedient hat und immer noch dient?
Geschichte aufzusprengen<< (I, 702, These XVI). Und Diese ideologische Funktion verbietet ihr von nun an
dafür eignet sich die Theologie. jedes Triumphgebaren. Wie also kann sie bei der Er-
»Über den Begriff der Geschichte« 297

richtungeiner anderen Realität wirksam helfen? Nun, heit ein Objekt des Besitzes würden, ihm eine unvoll-
strenggenommen ist die Theologie primär nicht eine ziehbare Vorstellung. Das Werk der Vergangenheit ist
Ansammlung von Dogmen, sondern eine zutiefst pa- ihm nicht abgeschlossen<< (II, 477). Horkheimer wit-
radoxe Diskurs- oder Wissensform: ein Iogos über Gott tert hinter dieser >> Unabgeschlossenheit<< einen gewis-
(theos), ein Iogos also, der von vornherein weiß, daß sen >>Idealismus<<, der sich nur schwer mit einer mate-
sein >>Objekt<< sich ihm entzieht, da es sich jenseits rialistischen Geschiehtsauffassung vereinbaren läßt
aller Objektivität situiert. Die Theologie wäre in der (den gleichen Verdacht äußert Adorno nach der ersten
westlichen, und besonders in der jüdischen Tradition Lektüre der >>Thesen<<; vgl. VII, 774): >>Die Feststellung
somit das Paradigma eines Diskurses, der sich über der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Ab-
sein essentielles Ungenügen definiert und sich um geschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das
diese Schwachstelle herum konstituiert. In diesem vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen.
Sinne würde das theologische Paradigma bei Benjamin Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. Letzten
nicht dazu dienen, (religiöse) Antworten auf die Endes ist Ihre Aussage theologisch. Nimmt man die
Menschheitsfragen zu geben, sondern die Abschließ- Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das
barkeit des Diskurses in Frage zu stellen und die Jüngste Gericht glauben. Dafür ist mein Denken je-
doktrinären und besonders parteipolitischen Ideen- doch zu materialistisch verseucht<< (5, 495).
gebäude zu erschüttern. Es wirkt also gerade als Daß Benjamin diese Einwände in die Anmerkungen
heilsames Gegenmittel gegen den >>Glauben<< eines zu den >>Thesen<< übernimmt, die im >>Konvolut N<< des
Großteils der Weimarer Linken, gegen den >>sture[n] Passagenwerks zusammengefaßt sind, verrät die Be-
Fortschrittsglaube[n] dieser Politiker, ihr Vertrauen in deutung, die er ihnen beimißt. Auf verschiedene Arten
ihre <Massenbasis> und schließlich ihre servile Ein- versucht er, darauf zu antworten. Mit Horkheimer
ordnung in einen unkontrollierbaren Apparat<< (I, 698, besteht er zunächst auf dem Irreparablen und hält die
These X), wie Benjamin expliziert. Diese dogmatischen schmerzliche Unmöglichkeit in der berühmten The-
Überzeugungen werden vom Treiben des Zwerges se IX über den Engel der Geschichte fest: Obgleich der
Theologie untergraben, der, wie Odradek bei Kafka Engel es sich sehnlich wünscht, kann er nicht anhalten,
oder das bucklicht Männlein aus dem Volkslied im >>die Toten wecken und das Zerschlagene zusammen-
letzten Fragment der BERLINER KINDHEIT, die Ge- fügen<< (I, 697, These IX). Er kann nur versuchen, den
schichte als Überlieferung von Gütern und als wohl- Schaden zu benennen, die Erinnerung an die himmel-
strukturierte Erzählung destabilisiert (zu der Bezie- hohen Ruinen zu bewahren, die >>einzige Katastrophe<<
hung zwischen diesem buckligen Männchen und dem anzuprangern, d. h. sich nicht damit abzufinden, als
Zwerg Theologie aus den >>Thesen<<, vgl. Wohlfarth handele es sich um eine >>Kette von Begebenheiten<< (I,
1988 und Lindner 1992). 697, These IX), wie sie der bürgerliche Historiker
gleich einem Rosenkranz herunterbetet, wie Benjamin
weiter unten formuliert. Wie Horkheimer, spricht auch
Das Eingedenken Benjamin von den >>Generationen Erschlagener<< (I,
700, These XII) und den >>Toten<<, die noch immer
Die Auflösung des letztgültigen Sinns prägt laut Ben- nicht vor ihrem Feind sicher sind, denn >>dieser Feind
jamin seine eigene Forschungsmethode: >>Und wenn hat zu siegen nicht aufgehört<< (I, 695, These VI).
ich denn in einem Wort aussprechen soll: ich habe nie Wenngleich die Vergangenheit längst vorbei und
anders forschen und denken können als in einem, abgeschlossen ist, eingeschlossen in Leid und Tod der
wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn - nämlich Unterdrückten, so birgt sie doch eine von den Tatsa-
in Gemäßheit der talmudischen Lehre von den neun- chen verschiedene Dimension, die Benjamin stets mit
undvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle<< (4, 19f.). theologischen und messianischen Begriffen beschreibt,
Gegen eine definitive Interpretation der Texte setzt von der er jedoch zugleich sagt, sie charakterisiere die
Benjamin die infinite Interpretation der talmudischen materialistische Historiographie: >>Ist dem so, dann
Tradition. besteht eine geheime Verabredung zwischen den ge-
Läßt sich diese Offenheit auf die Auslegung der Ge- wesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir
schichte und darüber hinaus sogar auf ihren Verlauf auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem
übertragen? Diese berechtigte Frage stellt Horkheimer Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messiani-
in einem Brief, in dem er folgende Passage aus dem sche Kraft mitgegeben, an welcher die Vergangenheit
Essay über Eduard Fuchs kommentiert: >>Ist der Begriff Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzu-
der Kultur für den historischen Materialismus ein pro- fertigen. Der historische Materialist weiß darum<< (I,
blematischer, so ist ihr Zerfall in Güter, die der Mensch- 694, These II). Es ist also an dem Historiker, in der
298 Messianismus, Ästhetik, Politik

Vergangenheit Anruf und Anspruch zu erkennen, auf Schluß


die er antworten kann, indem er nicht die>> Tatsachen<<
der Vergangenheit, sondern ihr Bild, ihre Überliefe- Die intensive Bindung zwischen Theologischem und
rung und somit zugleich das Verständnis der Gegen- Profanen zeichnet Benjamins Denken besonders aus.
wart verändert. Er selbst beschreibt dies folgendermaßen: >>Mein Den-
Diese die Gegenwart transformierende Erinnerung ken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur
nennt Benjamin >>Eingedenken<< und stellt sie einer als Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber
unendlich gedachten Erinnerung entgegen, die mit nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben
dem Lauf der Geschichte versöhnt, wie das bei Hege! ist, übrig bleiben<< (V, 588). Das Denken hat die theo-
oder sogar bei Proust der Fall ist. Mehrfach wurde logischen Lehren derart in sich aufgesogen, daß der
bereits auf die Nähe von Benjamins >>Eingedenken<< zu heilige Urtext verzichtbar wird. Adorno kommentiert
der jüdischen Kategorie des Zekher hingewiesen, einer diesen Vergleich in der Korrespondenz mit dem Freund
aktiven Erinnerung, die nicht Nostalgie, sondern die als >>Ihre Intention, die Kraft der theologischen Erfah-
Veränderung der Gegenwart anstrebt (Moses 1992, rung anonym in der Profanität mobil zu machen<<
155; Gagnebin 1994, 157). Mit Verweis auf das Einge- (Adorno-Benjamin 1994, 324; vgl. auch Panngritz
denken kann Benjamin überzeugend auf die Einwände 2000, 813-15). Er stellt Benjamins Verständnis der
Horkheimers eingehen: >>Das Korrektiv dieser Gedan- theologischen und profanen Erfahrung den Versuchen
kengänge liegt in der Überlegung, daß die Geschichte gegenüber, die Theologie in eine von der profanen
nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder Realität getrennte Sphäre zu >>retten<<, wie es Scholem
eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft fordert, dessen Bekanntschaft er gerade in New York
>festgestellt< hat, kann das Eingedenken modifizieren. gemacht hat. Die Vorstellung der >>anonymen Mobil-
Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das machung<< beschreibt recht anschaulich die Radikalität
Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlos- von Benjamins Denkungsart: die Theologie innerhalb
sene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. des Profanen zu mobilisieren, aber auf eine solch im-
Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir manente Weise, daß sie dabei anonym, ja unsichtbar
eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte wird, ein wenig wie die sechsunddreißig verborgenen
grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir Gerechten (Scholem 1976), die die Welt aufrecht er-
sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schrei- halten. Gleich der Tinte, die unwiederbringlich vom
ben versuchen dürfen<< (V, 589). Löschpapier aufgesogen wird, entfalten die theologi-
Das Eingedenken soll ein Verhältnis zur Geschichte schen und messianischen Figuren ihre höchste Wir-
ermöglichen, das mithin über die wissenschaftliche kung, wenn sie sozusagen bis zur Unkenntlichkeit von
Analyse einer längst vergangeneu Zeit hinausreicht. der profanen Welt aufgesogen werden. Wie die >>be-
Selbst unter Ruinen kann es >>den Funken der Hoff- freite Prosa<<, die Sprache der befreiten Welt (I, 1235;
nung<< (I, 695, These VI) entdecken, die Spur dessen, 1238; 1239), in sich alle Stilebenen vereinen wird, so
was anders hätte sein können und immer noch von vollendet der Messias >>alles historische Geschehen,
dieser Alterität zeugt. Diese Zeichen, >>Schroffen und und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf
Zacken<< (I, 1242), Leerstellen und Randerscheinungen, das messianische selbst erst erlöst<< (II, 203). Mit an-
stellen die etablierte Ordnung in Frage. Sie wohnen im deren Worten, der Messias wird erst erscheinen, wenn
Herzen der historischen Realität, nicht außerhalb in er sich entbehrlich gemacht hat, wenn sein Kommen
einem utopischen Nirgendwo. Der theologische Blick so vollkommen umgesetzt ist, daß die Welt weder pro-
enthüllt kein utopisches Jenseits der Geschichte, son- fan noch heilig ist, sondern erlöst - insbesondere von
dern ein Flechtwerk, ein Gewebe - in diesem Sinne der Unterscheidung zwischen dem Profanen und dem
einen >>Text<< -, gefertigt aus anderen Möglichkeiten Heiligen.
innerhalb der historischen, materiellen, profanen Rea- Wenn die Erlösung befreiend wirkt, dann allerdings
litätsfülle. Der Ort der Theologie ist somit nicht ein weil sie auflöst und zerstört, und nicht weil sie pflegt
ebenso unzugängliches wie strahlendes Jenseits, son- und sichert. Der Messias befreit gerade von der Oppo-
dern die irdische Immanenz: Der Zwerg steckt im In- sition zwischen dem Historischen und dem Messiani-
neren des Apparates. Daher darf die Geschichte nicht schen, zwischen dem Profanen und dem Heiligen. In
>>in unmittelbar theologischen Begriffen<< geschrieben diesem bestimmten Sinne kann man sagen, daß die
werden, obgleich sie theologisch verstanden werden messianische Vollendung auch die Vollendung des ir-
muß. dischen Glücks bedeutet: Historische und messiani-
sche Zeit konvergieren nicht am Ende eines kontinu-
ierlichen, progressiven Geschichtsverlaufs; sie begeg-
>>Über den Begriff der Geschichte« 299

nen sich in einer intensiven Zeiterfahrung, die für die Literatur


Dauer eines Wimpernschlags das Bild der Vergangen- Adorno, Theodor W./Walter Benjamin ( 1994): Briefwechsel
heit durch die Wiederaufnahme in die ebenfalls ver- 1928-1940, Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W. (1988): Minima Moralia, Gesammelte
wandelte Gegenwart verändert. Dies bezeichnet Ben- Schriften, Bd.4, Darmstadt.
jamin als» Jetztzeit«, »einen Begriff der Gegenwart [ ... ] Agamben, Giorgio (2000): Le temps qui reste, Paris.
in welcher Splitter der messianischen [Zeit] einge- Anderson, Dag T. (2000): >>Destruktion/Konstruktion«, in:
sprengt sind<< (I, 704, Anhang A). Opitz/Wizisla 2000, I. Bd., 147-185.
Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und
In einem wunderbaren Buch zeigt Giorgio Agam- Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München.
ben, daß der paulinische Ausdruck ho nun kairos, >>die Augustinus (1987): Bekenntnisse, Frankfurt a.M.
Zeit des Jetzt<<, d. h. die gegenwärtige Zeit der messia- Baudelaire, Charles (1961): CEevres Completes, Paris.
nischen Intensität, mit dem Benjaminsehen Begriff der Blanchot, Maurice (1959): Le Iivre avenir, Paris.
Bock, Wolfgang (2000): Die gerettete Nacht, Bielfeld.
>>Jetztzeit<< perfekt übersetzt ist. Adorno hatte bereits, Bolle, Willi ( 1999): »Schrift der Städte. Berlin-Säo Paulo«, in:
wenn auch weniger wohlwollend, die Ähnlichkeit der Garber/Rehm 1999, Bd. 3, 1321-1334.
These XIV mit dem kairos bei Tillich bemerkt (VII, Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke, Frankfurt a.M.
744). Agamben knüpft zahlreiche Verbindungen zwi- Brecht, Bertolt (I 973 ): ArbeitsjournaL hg. v. W. Hecht, Frank-
furt a.M.
schen den Paulusbriefen und Benjamins >>Thesen<<- Bulthaup, P. (Hg.) (1975): Materialien zu Benjamins Thesen
die Scholem seiner Meinung nach sehr wohl erkannt >Über den Begriff der Geschichte<, Frankfurt a. M.
habe, aber nicht hervorheben wollte. Für beide gilt: >>le Chaves, Ernani (2003): No limiar do moderno. Estudos sobre
temps messianique - ho nun kairos - ne coi:ncide ni Friedrich Nietzsche e Walter Benjamin, Belem, Brasilien.
Deleuze, Gilles (1979): Proust et !es signes, Paris.
avec Ia fin du temps et l'eon futur, ni avec Je temps Derrida, Jacques (2002): Marx & Sons, Paris.
chronologique profane - sans pour cela etre exterieur Dilthey, Wilhelm (1970): Der Aufbau der geschichtlichen Welt
par rapport acelui-ci<< (Agamben 2000, 107). Die mes- in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M.
sianische Zeit bedeutet in der Kontinuität des chronos Freud, Sigmund (1937): »Konstruktionen in der Analyse«, in:
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse Nr. 23, 459-
eine Zäsur, die ihn zugleich unterbricht und befreit. 469.
Benjamin hat den Begriffkairas nicht aufgenommen, Freud, Sigmund (1975): Studienausgabe in zehn Bänden,
sondern das Wort >Jetztzeit< geprägt, vielleicht weil in Frankfurt a. M.
Fürnkäs, Joseph (1988): Surrealismus als Erkenntnis, Stutt-
dessen sprachlicher Struktur die Forderung des Zu-
gart.
sammenfallens von historischer Erkenntnis und poli- Gagnebin, Jeanne Marie (1994): Histoire et Narration chez
tischem Handeln in der Gegenwart stärker betont Walter Benjamin, Paris ( dt. Geschichte und Erzählung bei
wird. Walter Benjamin, Würzburg, 2001).
Garber, Klaus (1999): >>Vorwort«, in: ders./Rehm, Bd. 1, 15-
(Übersetzung aus den Französischen von Marion
28.
Schotsch) Garber, Klaus/Ludger Rehm (Hg.) (1999): global benjamin,
3 Bde, München.
Werk Greffrath, Krista (1975): »Der historische Materialist als dia-
lektischer Historiker«, in: Bulthaupt 1975, 193-230.
ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I, 691-704)
Greffrath, Krista (1981): Metaphorischer Materialismus. Un-
Anmerkungen zu ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I,
tersuchungen zum GeschichtsbegriffW. Benjamins, Mün-
1223-1266)
chen.
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (IV, 235-
Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse, Frank-
304)
furt a.M.
EDUARD FUCHS. DER SAMMLER UND DER HISTORIKER (I!,
Hillach, Ansgar (2000): »Dialektisches Bild«, in: Opitz/Wizisla
465-505)
2000, Bd.l, 186-229.
DER ERZÄHLER. BETRACHTUNGEN ZUM WERK NI KOLA! LESS-
Konersmann, Ralf (1992): Erstarrte Unruhe. Walter Benja-
KOWS (Il, 438--465)
mins Begriff der Geschichte, Frankfurt a. M.
GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN (I, 123-301)
Lindner, Burkhardt (1992): »Engel und Zwerg. Benjamins
LEHRE VOM ÄHNLICHEN (I!, 204- 209)
geschichtsphilosophische Rätselfiguren und die Heraus-
LITERATURGESCHICHTE UND LITERATURWISSENSCHAFT (l!I,
forderung des Mythos«, in: Lorenz Jäger/Thomas Regehly
283-290)
(Hg.): Was nie geschrieben wurde, lesen. Frankfurter Ben-
Nachträge ZU den Anmerkungen ZU ÜBER DEN BEGRIFF DER
jamin-Vorträge, Bielefeld, 236-266.
GESCHICHTE (VII, 770-784)
Löwy, Michael (2001): Walter Benjamin: Avertissement
TAGEBUCH VOM SIEBENTEN AUGUST NEUNZEHNHUNDERT-
d'incendie. Une lecture des theses >Sur Je concept d'histoire<,
DREISSIG BIS ZUM ToDESTAG (VI, 441--446)
Paris.
»Theologisch-politisches Fragment<< (II, 203-204)
Marx, Kar! (1973): Das Kapital, Bd. 23, Berlin.
ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE (I, 605-653)
Moses, Stephane (1992): L'ange de l'histoire. Rosenzweig,
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-430)
Benjamin, Scholem, Paris.
ZUM BILDE PROUSTS (Il, 310-324)
Nietzsche, Friedrich (1988): Zweite unzeitgemäße Betrach-
tung. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben,
hg. v. G. Colli/M. Montinari, I. Bd., München.
300 Messianismus, Ästhetik, Politik

Opitz, MichaeliErdmut Wizisla (Hg.) (2000): Benjamins Be- Begriff der Geschichte<<, in: Thomas Bleitner/Joachim Ger-
griffe, 2 Bde, Frankfurt a. M. des/Nicole Selmer (Hg.): Praxisorientierte Literaturtheo-
Panngritz, Andreas (2000): >>Theologie<<, in: Opitz/Wizisla rie. Annäherungen an Texte der Moderne. Bielefeld, 197-
2000, 2. Bd., 774-825. 216.
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Pressier, Günther (2000}: >>Profil der Fakten. Zur Benjamin- l. Bd., 260--298.
Rezeption in Brasilien<<, in: Garber/Rehm 2000, 3. Bd., Szondi, Peter ( 1976}: »Hoffnung im Vergangenen. über Wal-
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dans le recit de fiction, Paris. 99.
Ricoeur, Paul (2000): La memoire, l'histoire, l'oubli, Paris. Wohlfarth, Irving (1978}: >>Ün the Messianic Structure of
Rochlitz, Rainer (2000): >Presentation< zu den drei Bänden v. Walter Benjamin's Last Reflection<<, in: Glyph 3, 148-212.
Walter Benjamin, CEuvres, Bd. 1, Paris, 7-50. Wohlfarth, Irving (1984): >>Et cetera? Der Historiker als Lum-
Scholem, Gershorn (1967): Die jüdische Mystik in ihren pensammler<<, in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.): Passa-
Hauptströmungen, Frankfurt a. M. gen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts,
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Scholem, Gershorn (1975): Die Geschichte einer Freund- Walter Benjamins<<, in: Norbert Bolz (Hg.): Antike und
schaft, Frankfurt a. M. Moderne. Zu Walter Benjamins >Passagen<, Würzburg,
Scholem, Gershorn (1976): »Die 36 verborgenen Gerechten 116-137.
in der jüdischen Tradition<<, in: Judaica, Frankfurt a. M., Wohlfarth, Irving (1988}: >>Märchen für Dialektiker. Walter
216-225. Benjamin und sein >bucklicht Männlein<<<, in: Klaus Da-
Schönlau, Christine (1999}: >>Text und Varianten. Editions- derer (Hg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur,
kritische Anmerkungen zu Walter Benjamins über den Weinheim, 120--176.
301

3. Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

,,Ankündigung der Zeitschrift: auch in den späten Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER
Angelus Novus((. ,,zuschrift GESCHICHTE zu spüren, die in ihren Meditationen
über die Begriffe der Gegenwart, des Aktuellen und
an Florens Christian Rang<< der Jetztzeit explizit an die frühen Schriften anknüp-
Von Uwe Steiner fen.
Darüber hinaus sind die beiden hier zu behandeln-
den Texte durch die Person Florens Christian Rangs
Überlieferung miteinander verbunden. Benjamin hatte Rang nach
seiner Rückkehr aus der Schweiz im Frühjahr 1920 in
Die Überlieferung der beiden kurzen Texte ist gut ge- Berlin kennengelernt und stand mit ihm bis zu dessen
sichert. Von der ANKÜNDIGUNG (li, 241-46) existiert Tod am 7. Oktober 1924 in brieflichem und persönli-
ein Fahnenabzug mit Benjamins eigenhändigen Kor- chem Kontakt. Der 1864 geborene Rang war nach ei-
rekturen, den ein Stempel der Druckerei auf den 19. nem Jurastudium bereits in jungen Jahren in den
Dezember 1921 datiert. Der Text der ZuscHRIFT hat preußischen Staatsdienst eingetreten, den er 1895 ver-
sich als Manuskript des mit dem Datum 23. November ließ, um Theologie zu studieren und protestantischer
1923 versehenen Originalbriefes Benjamins an Florens Pfarrer zu werden. Nach einer existentiellen Krise gab
Christian Rang in dessen Nachlaß erhalten. Dem Ab- er das geistliche Amt 1904 wieder auf und nannte sich
druck in den Briefen (2, 373-375) liegt dieses Manu- zum Zeichen seiner geistigen Wiedergeburt seitdem
skript zugrunde. Der Druck in den Gesammelten >Florens<. Zu Beginn der 20er Jahre hatte der umfas-
Schriften (IV, 791 f.) folgt dem Erstdruck im Anhang send gebildete Rang sich aus dem öffentlichen Leben
von Rangs Deutscher Bauhütte, der gegenüber dem zurückgezogen, um sich als Privatgelehrter ganz seinen
Briefmanuskript keine Abweichungen aufweist. Studien zu widmen. Er war nicht nur ein wichtiger
Beiträger zu der von Benjamin geplanten Zeitschrift.
Rang stellte auch die Verbindung zu Hugo von Hof-
Zusammenhang und Werkkontext mannsthai her, in dessen Neuen Deutschen Beiträgen
1924/25 der Essay über GoETHES WAHLVERWANDT-
Beide Texte bezeugen Benjamins publizistisches Enga- SCHAFTEN schließlich erschien, den Benjamin ur-
gement, noch bevor er ab 1925 mit im engeren Sinne sprünglich für den ANGELUS Novus vorgesehen hatte.
journalistischen Arbeiten an die Öffentlichkeit trat. Nicht nur mit Blick auf seine inhaltlichen Beiträge (1,
Der Zusammenhang der beiden Texte untereinander 888-895) zu der als Habilitationsschrift an der Uni-
wird implizit durch den Begriff der Aktualität gestiftet, versität Frankfurt am Main vorgelegten Studie über
der sie zugleich mit späteren Arbeiten verbindet. Be- den URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS hat
reits in einer seiner ersten gedruckten Arbeiten, der Benjamin Rang als deren >>eigentlichen Leser<< bezeich-
Rede über DAs LEBEN DER STUDENTEN, hat Benjamin net, den sie noch vor ihrer Fertigstellung durch dessen
dem Begriff der Aktualität einen programmatischen frühen Tod verloren habe (3, 16). Wie mit der Zu-
Stellenwert in seiner geschichtsphilosophischen Dia- SCHRIFT würdigt Benjamin auf diese Weise Rang als
gnose der Gegenwart gegeben. Weniger aktuellen Ge- eine Person, der er sich in den frühen 20er Jahren so-
schehnissen, sondern eben jenem philosophischen wohl persönlich als auch intellektuell zwar nie ohne
Begriff der Aktualität sucht Benjamin in den nur frag- Spannungen, aber dennoch eng verbunden fühlte.
mentarisch überlieferten Schriften zu genügen, in de- Während das Trauerspielbuch bereits über den en-
nen er es in den frühen 20er Jahren unternimmt, die geren Werkkontext des letztlich gescheiterten Zeit-
Grundlinien seiner politischen Philosophie zu umrei- schriften-Projekts hinausweist, sind die Baudelaire-
ßen. Der Einfluß dieser Überlegungen ist sowohl in Übertragungen ihm unmittelbar zuzurechnen: Beide
der explizit politisch engagierten Publizistik aus der entstammen der Zusammenarbeit Benjamins mit dem
Zeit der intensiven Zusammenarbeit mit Brecht als Heidelberger Verleger Richard Weißbach, in dessen
302 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Verlag das Baudelaire-Buch 1923 erschien. Nach Ben- Zeitschrift stellt. Unter Berufung auf die bereits hier
jamins Plänen hätte die Vorrede über DIE AuFGABE angeführte, bisher nicht verifizierte talmudische Le-
DES ÜBERSETZERS im ersten Heft des ANGELUS N OVUS gende von den Engeln, die nach dem Singen ihres
vorabgedruckt werden sollen. Schließlich ist für eine Hymnus vor Gott ins Nichts vergehen, variiert Benja-
inhaltliche Würdigung der ANKÜNDIGUNG Benjamins min diesen Gedanken etliche Jahre später im Schluß-
Beschäftigung mit der deutschen Romantik in seiner absatz des KRAus-Essays. Dem >>neue[n] Engel<< und
Dissertation über den BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN seiner >>schnell verfliegenden Stimme<< sei >>das ephe-
DER DEUTSCHEN ROMANTIK ebenso ZU berücksichtigen mere Werk von Kraus nachgebildet<< (367). In seiner
wie seine Pläne zu einer größeren Arbeit über Politik eindringlichen Analyse der zu Lebzeiten unveröffent-
in diesen Jahren für die ZuscHRIFT AN FLORENS CHRI- lichten, im August 1933 auf Ibiza entstandenen und in
STIAN RANG. zwei Fassungen überlieferten Aufzeichnung AGESILAUS
SANTANDER hat Schotern die exegetischen und allego-
rischen Bezüge zu Klees Bild im einzelnen herausge-
Das Zeitschriftenprojekt arbeitet (Scholem 1972, 35-72). Als ein Meditations-
bild ganz anderer Art, nämlich als Sinnbild des
Durch die Vermittlung Jula Cohns, einer dem George- >>Engel[s] der Geschichte<< (I, 697), steht das Aquarell
Kreis nahestehenden Freundin aus der Zeit des Enga- schließlich im Zentrum der Thesen ÜBER DEN BEGRIFF
gements in der Jugendbewegung, hatte Benjamin 1920 DER GESCHICHTE.
den Lyriker Ernst Blass kennengelernt. Blass war Her- Die Zeitschrift ANGELUS Novus sollte pro Jahrgang
ausgeber der bei Richard Weißbach verlegten literari- mit vier Heften im Umfang von 120 Seiten in einer
schen Monatsschrift Die Argonauten, in der neben dem Auflage von voraussichtlich 300 Exemplaren erschei-
Aufsatz >>DER IDIOT<< voN DosTOJEWSKIJ auch die Stu- nen (2, 179). Über die Finanzierung hegte der Heraus-
die über SCHICKSAL UND CHARAKTER erschien. Wäh- geber keine Illusionen. Einzig indem man das Abon-
rend eines Aufenthaltes in Beideiberg von Juli bis nement >>als eine mäcenatische Institution<< fasse, so
August 1921, wo Benjamin Jula Cohn besuchte und Benjamin, sei die Zeitschrift materiell gesichert und
die Aussichten einer Habilitation an der dortigen Uni- ihre Unabhängigkeit vom Publikum gewährleistet
versität sondierte, trat er in näheren Kontakt mit Weiß- (183). In Zeiten der Inflation erwies sich jedoch jede
bach. Nachdem er mit dem Verleger den Druck seiner auch noch so bescheidene Kalkulation als illusionär.
Baudelaire-Übersetzungen vereinbaren konnte, trug Finanziell bewegte sich das ganze Unternehmen, des-
dieser ihm im Einvernehmen mit Blass die Übernahme sen Rahmenbedingungen Benjamin sich hatte vertrag-
der Redaktion der Argonauten an. Als Benjamin ab- lich zusichern lassen (185), schon bald am Rand des
lehnte, bot Weißbach ihm überraschend an, eine ei- Scheiterns. Als er Ende 1922 nach endlosen Verzöge-
gene Zeitschrift herauszugeben (2, 178), die an die rungen die Korrekturbögen seiner ANKÜNDIGUNG
Stelle der 1921 eingestellten Argonauten treten sollte. erhielt (297), stand die Zeitschrift bereits nicht mehr
Der Name der Zeitschrift, ANGELUS Novus, geht auf im Zentrum seiner Aufmerksamkeit.
ein Aquarell von Paul Klee zurück (183), das Benjamin Parallel zum Zeitschriftenprojekt war die Druckle-
im Mai/Juni 1921 bei einem Aufenthalt in München gung der Baudelaire-Übersetzung vorangeschritten,
erwarb (Scholem 1972, 44-49; Werckmeister 1976, deren Einleitung, der Aufsatz über DIE AuFGABE DES
16-40). Im Anschluß an seine zeitweise intensive Be- ÜBERSETZERS, im ersten Heft des ANGELUS Novus als
schäftigung mit Problemen der Malerei (MALEREI UND >>Vorabdruck<< (218) erscheinen sollte. Zu dem Vorab-
GRAPHIK, ÜBER DIE MALEREI ODER ZEICHEN UND druck kam es jedoch nicht. Am 23.2.1923 schreibt
MAL) hatte die expressionistische Malerei sein beson- Benjamin an Rang, daß er >>den Angelus (mindestens
deres Interesse gefunden. In Briefen erwähnt er Cha- für jetzt) zurückgezogen<< und die Manuskripte an sich
gall, Kandinsky, Macke und Klee (2, 34; 147). Ferner genommen habe (315). Während dervorläufige Rück-
besaß er neben dem erwähnten Aquarell Klees als Ge- zug das endgültige Scheitern des Zeitschriftenprojekts
schenk seiner Frau auch dessen Vorführung des Wun- de facto besiegelte, konnte Benjamin im Oktober des-
ders (92 f.). selben Jahres die Belegexemplare von CHARLES BAU-
Dennoch nimmt Klees Angelus Novus, den er Scho- DELAIRES TABLEAUX PARISIENS. DEUTSCHE ÜBERTRA-
lem 1932 testamentarisch vermachte und der sich GUNG MIT EINEM VORWORT ÜBER DIE AUFGABE DES
heute in Jerusalem befindet, in Benjamins Werk eine ÜBERSETZERS voN WALTER BENJAMIN in Empfang
Sonderstellung ein. Im Text der ANKÜNDIGUNG dient nehmen (358).
er ihm als Sinnbild für den Begriff der >>wahre[n] Ak-
tualität<< (II, 246), in dessen Dienst Benjamin seine
»Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus« 303

Konzeption, Beiträge und Beiträger Es ist zu vermuten, daß er sich damit nicht zuletzt auch
gegen einschlägige expressionistische Gruppierungen
Von Anfang an scheint Benjamin entschlossen gewesen abgrenzen wollte. Jedenfalls kommt dies in seiner Zu-
zu sein, den ANGELUS N ovus zu einem nicht geringen stimmung zu Rangs Kritik des Pazifismus in der Zu-
Teil als ein Forum für das lyrische Werk seines Freun- scHRIFT ebenso zum Ausdruck wie in seiner Jahre
des Christoph Friedrich Beinie zu nutzen, der 1914 später öffentlich geäußerten Kritik des Aktivismus (III,
aus Protest gegen den Krieg freiwillig aus dem Leben 350 ff.). Ebenfalls ausgenommen von seiner Ablehnung
geschieden war. In dem Brief, in dem er am 4.8.1921 des literarischen Expressionismus sind Autoren wie
mitteilt, daß er eine eigene Zeitschrift habe, kündigt Georg Heym und Alfred Lichtenstein. Noch 1931 wür-
er Scholem an, daß er sie »durchaus und bedingungs- digt er deren Vorkriegslyrik wegen ihrer visionären
los in dem Sinne<< gestalten werde, in dem sie ihm Darstellung der Massen, und nicht etwa wegen der in
>>Während vieler Jahre (genau seitdem ich im Juli 1914 den Gedichten ausgedrückten politischen Gesinnung,
mit Fritz Beinie zusammen den Plan einer Zeitschrift als >>wahrhaft politische Dichtung<< (282).
ernsthaft gefaßt hatte) vor Augen gestanden<< habe Die zugleich erläuternden und werbenden Zeilen,
( 178). Unabhängig von der Zeitschrift hatte Weißbach mit denen Benjamin das Programm seiner Zeitschrift
eingewilligt, den Nachlaß Beinies herauszugeben. Mit mit Blick auf das in seinen Grundzügen absehbare
der Arbeit an einer Einleitung zu diesem Unternehmen erste Heft paraphrasiert, sind an den Schriftsteller
ist Benjamin noch im Februar 1923 (311) beschäftigt, Herzmanovsky-Orlando gerichtet. Sie sind mit dem
ohne daß ein entsprechender Text geschrieben worden Wunsch verbunden, für die Zeitschrift >>radikale und
zu sein scheint, geschweige denn erhalten ist. Die Sorge sozusagen exzentrische Prosastücke<< (222) zu gewin-
um den Nachlaß von Fritz Beinie schloß die um die nen, die vom literarischen Expressionismus ebenso
Person und die Arbeiten seines Bruders Wolf Beinie weit entfernt sind, wie von einer >>epigonalen, klassi-
ein, der an Tuberkulose erkrankt Anfang 1923 starb zistischen Haltung<< (ebd.), von der Benjamin gerade
(313). Im ersten Heft des ANGELUS Novus sollten ne- im Interesse der Bekämpfung des ersteren >>nichts wis-
ben Oden und Gedichten C.F. Beinies dramatische sen<< will (ebd.). Darüber, daß er >>wirklich wesentliche
Gedichte von WolfBeinie stehen (218). Damit wären Prosa nicht die Fülle in Aussicht<< habe (183), hatte
die Brüder ebenso repräsentativ wie programmatisch Benjamin sich bereits im Vorfeld der Planung des er-
vertreten gewesen. Denn wie Benjamin in einem Brief sten Heftes besorgt gezeigt. Wenigstens für das erste
erläutert, gedachte er seine Zeitschrift in den Dienst Heft sollte er mit den beiden Erzählungen des jüdi-
einer Bekämpfung des literarischen Expressionismus schen Erzählers und späteren Nobelpreisträgers S.J.
zu stellen. Im Gegenzug wolle er >>versuchen, die im Agnon, zu dem Scholem die Verbindung geknüpft
literarischen Expressionismus durch Unwissenheit hatte, dieser Sorge enthoben sein (218). Zusätzlich zu
und Gewissenlosigkeit entstellten aktuellen Tendenzen den literarischen Arbeiten in Lyrik und Prosa waren
in einigen wenigen Dichtungen bisher völlig unbe- für das erste Heft neben Benjamins Übersetzer-Aufsatz
kannter Autoren meiner Bekanntschaft darzustellen<< Essays von Scholem und Rang vorgesehen. Überwie-
(222). Damit ist der Ort der lyrischen Arbeiten der gend um Essays oder Kritiken handelt es sich auch bei
beiden Beinies im Konzept des ANGELUS Novus be- den Arbeiten, die in späteren Heften Aufnahme finden
zeichnet. sollten. Dazu zählt an erster Stelle Benjamins eigene
Von seinem Verdikt gegen den literarischen Expres- Kritik der Wahlverwandtschaften und sein zu Lebzeiten
sionismus nahm Benjamin die expressionistische Ma- unveröffentlicht gebliebener Aufsatz über Andre Gides
lerei explizit aus. Neben Kandinsky und Klee gehörte Roman La porte etroite (II, 615-17). Ferner kündigt er
Macke zu den Malern, deren Arbeiten er kannte und brieflich eine neue Arbeit von Rang (2, 218) und einen
schätzte. So plante er für ein späteres Heft eine >>Bespre- Aufsatz des von ihm seit langem geschätzten Erich
chung der Gemälde von August Macke<< (233). Diese Unger an (233), der dem Kreis um den jüdischen Re-
Arbeit muß aber ebenso als verloren gelten wie die ligionsphilosophen Oskar Goldberg nahestand.
Rezension von Ernst Blochs Geist der Utopie, die ihn, Zu den Beiträgen, auf die Benjamin für das erste
wie er in einem Brief notiert, unausweichlich zu einer Heft fest rechnete, zählte ein Aufsatz von Scholem über
Auseinandersetzung mit dem Expressionismus führen das Klagelied. In seinem Erinnerungsbuch hat Scho-
würde (68). Zugleich veranlaßte die Bekanntschaft mit lem bekannt, daß Benjamins Erwartung hinsichtlich
Bloch ihn, seine Gedanken über Politik zu klären. Zu einer Mitarbeit an seiner deutschen literarischen Zeit-
den grundlegenden Einsichten von Benjamins damals schrift ihn »in nicht geringe Verlegenheit<< setzte
konzipierter politischer Philosophie gehört die Ableh- (Scholem 1975, 131). Als engagierter Zionist war er
nung der >Gesinnung< als einer politischen Kategorie. längst zur Auswanderung nach Palästina entschlossen
304 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

und setzte seine Pläne im Herbst 1923 auch in die Tat die sich zudem in einem forcierten und manierierten
um. Weder aus der Korrespondenz noch aus Scholems Sprachstil niederschlug, sah sich Benjamin durch das
Erinnerungen erhellt, ob er den zugesagten Artikel dritte Manuskript, einer abermals tief ins Religiöse
tatsächlich geschrieben hat. Allerdings hat sich in eintauchenden Deutung der Sonette Shakespeares,
Scholems Nachlaß ein auf Januar 1918 datiertes Ma- bestätigt (2, 212). Zwar rechnete er in seiner Korre-
nuskript mit dem Titel Ȇber Klage und Klagelied<< spondenz mit dem Verleger den als bedenklich einge-
erhalten, das mit dem fraglichen Aufsatz identisch sein stuften Aufsatz zu den ihm bereits vorliegenden Bei-
könnte oder möglicherweise einem neuen Text als trägen für spätere Hefte (218). Privat aber richtete er
Grundlage gedient hätte (Scholem 2000, 128-133). sich auf eine >>prinzipielle - und vielleicht geradezu
Letztlich muß aber offen bleiben, was sich in dem nicht zur Trennung führende - Auseinandersetzung<< um
erhaltenen Manuskriptkonvolut des ersten Heftes be- den Text mit Rang ein (224).
fand, das Benjamin am 21.1.1922 an Weißbach Weder damals noch später ist es jedoch zu einem
schickte. Bruch gekommen. Vielmehr entwickeln sich die
Immerhin konnte Benjamin in wichtigen Fragen freundschaftlichen Beziehungen zu Rang im Laufe des
und besonders in einer heiklen Angelegenheit auf den Jahres 1922 besonders intensiv. Dabei spielten Benja-
geschätzten Rat Scholems zählen. Sie betraf die Mit- mins verstärkte Bemühungen um eine Habilitation,
arbeiterschaft und die Beiträge Rangs, der offenbar von die sich seit der Jahreswende 1922/23 auf die Frank-
Beginn an entschlossen war, den ANGELUS Novus für furter Universität konzentrierten, eine nicht unerheb-
die Publikation seiner im weitesten Sinne literaturkri- liche Rolle. Je länger sich die Drucklegung der ANKÜN-
tischen Arbeiten zu nutzen. Von drei ihm angebotenen, DIGUNG verzögerte und je geringer die Erfolgsaussich-
zum Teil umfangreichen Texten hatte Benjamin für das ten des Zeitschriften-Projekts sich angesichts der
erste Heft die Historische Psychologie des Karnevals finanziellen Schwierigkeiten Weißbachs insgesamt
ausgewählt. Die spekulative Deutung der antiken Tra- darstellten, desto mehr verlor Benjamin das Interesse.
gödie aus dem Geist der Astrologie, die Rang in dieser Zudem hatten seine akademischen Pläne eine Verän-
eigenwilligen, an Nietzsche anschließenden religions- derung seiner Einstellung bewirkt. Es sei nun an der
geschichtlichen Studie unternimmt, hat die Tragödien- Zeit, schreibt er am 2. Oktober 1922 an Rang, >>den
theorie des Trauerspielbuches nicht unwesentlich alten Plan mit seinem (für mich) rigoristischen Cha-
beeinflußt. Nach dem Scheitern des ANGELUS Novus rakter fallen zu lassen und alles so einzurichten, daß
erschien der Text schließlich posthum 1927/28 in der die Zeitschrift, wenn sie zustande kommt, mir in jeder
von Martin Buher herausgegebenen Kreatur. Demge- Beziehung dienlich ist<< (272). Um so mehr zeigt er
genüber konnte Benjamin sich nicht entschließen, Interesse an dem von Rang gelegentlich erwähnten
Rangs tief in einer messianischen Sprachmetaphysik >>Plan eines Blattes der Freunde<< (ebd.), auf das er
verwurzelte, religionsphilosophische Auslegung von kurze Zeit später erneut zu sprechen kommt. Sollte der
Goethes Seliger Sehnsucht abzudrucken. In einem ANGELUS Novus allen Erwartungen zum Trotz den-
Brief, mit dem er die Übersendung der Arbeit an Scho- noch erscheinen, schreibt er Anfang November 1922
lem mit der Bitte um dessen Urteil begleitet, resümiert an Rang, >>So müßte es jedenfalls so geschehen, daß er
er seine Vorbehalte (2, 200 f.). Zwar werde der Aufsatz nicht meine akademischen Pläne durchkreuzt<< (283).
>>[s]ehr Wesentlichem, dem eigentlich Dichterischen<< Auf alle Fälle aber bliebe daneben >>für ein privateres
an Goethes Divan-Gedicht, >>nicht voll gerecht<<. Den- Organ noch Platz, in dem gefährlichere Dinge erschei-
noch halte er, >>[w]as darin über Goethes Religion steht nen könnten (unter Deiner Redaktion, wie ich dächte)«
[... ] für vollkommen wahr<< (201). Rangs Hinweis auf (ebd.).
die religiöse Bedeutung des Divan hat denn auch in Der von Rang gehegte Plan einer Zeitschrift ist
Benjamins Verständnis des Spätwerks Goethes in sei- durch seinen frühen Tod vereitelt worden. Ausdrück-
ner Kritik der Wahlverwandtschaften unübersehbare lich diesem Plan und dem Gedächtnis Rangs aber hat
Spuren hinterlassen (I, 165-167). Sie hat auch ihre nach dessen Tod Martin Buher die Zeitschrift Die Krea-
Wirkung auf Hugo von Hofmannsthai nicht verfehlt, tur gewidmet, die er zwischen 1926 und 1930 heraus-
der den durch Benjamins Ablehnung freigewordenen gab und in der er zahlreiche Arbeiten aus dem Nachlaß
Aufsatz im Juli 1922 im ersten Heft seinerNeuen Deut- Rangs publizierte. Zu Rangs Plänen einer quasi priva-
schen Beiträge abdruckte (Steiner 1989, 192-232; Jäger ten öffentlichen Wirksamkeit, ist noch zu seinen Leb-
1998, 108-118). zeiten aber auch die Publikation der Bauhütte zu rech-
In seiner kritischen Reserve sowohl gegen die in nen, für die er in Gestalt der in ihrem Anhang zu
seinen Augen gnostische Metaphysik als auch gegen druckenden Zuschriften auf die Unterstützung aus
Rangs aus dieser sich herleitende Sprachauffassung, seinem Freundeskreis zählte.
»Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus« 305

Der >>Angelus Novus« im historischen Ende des 18. Jh.s revolutionär neuen Druckgestalt
Kontext hatte Goethes Wilhelm Meister sich im Erstdruck sei-
nen Lesern präsentiert, und in ihr wollte Novalis sei-
Überblickt man die Konzeption des ANGELUS Novus, nen als Gegenentwurf zu Goethes Roman konzipierten
wie sie sich in den vorliegenden Dokumenten abzeich- Heinrich von Ofterdingen gedruckt sehen. In Unger-
net, dann reiht sich Benjamins Zeitschriften-Projekt Fraktur wurde schließlich auch Friedrich Schlegels
in die nicht eben geringe Zahlliterarischer Zeitschrif- Kritik des Wilhelm Meister im Athenäum gedruckt,
ten ein, die sich von der Jahrhundertwende bis in die dem Benjamin dann seine exemplarische Kritik der
Mitte der 20er Jahre mit geringer Auflagenhöhe und Wahlverwandtschaften im ANGELUS Novus in gleicher
unterschiedlicher Lebensdauer an einen meist einge- Druckgestalt entgegengestellt hätte.
schränkten Leserkreis richteten. Im Rückblick er- Noch vor dem endgültigen Scheitern seines Zeit-
scheint das Scheitern des Projekts allein aus wirt- schriften-Projekts erreichte Benjamin 1922 die Ankün-
schaftliehen Gründen nur allzu folgerichtig: >>Das Jahr digung von Hugo von Hofmannsthals Neuen Deut-
1919 und dann die Inflation machten so vielen Zeit- schen Beiträgen. Das Programm der Zeitschrift, mit der
schriften den Garaus, daßtrotzzahlreicher Neugrün- sich der Herausgeber ausdrücklich in die Nachfolge
dungen die Zeitschriften-Gesamtzahl1919 und 1923 Georges stellte, orientierte sich in ihrer Ablehnung der
(fast zahlengleiche) Tiefpunkte erreichte<< (Schlawe »Abstraktion und eine [r 1 begrifflich überzüchtete [n 1
1973, 4). Die »esoterische Gegenöffentlichkeit<< (Kau- Sprache<< zugunsten der »Gestalt<< an der Antike und
len 1999, 921-928), die sich in diesen Zeitschriften auf in der deutschen Literatur »Vor allem und immer wie-
programmatisch und inhaltlich höchst divergierende der<< an Goethe (Hofmannsthal1922, 198 f.). Benjamin
Weise konstituierte, war sich in ihrer Ablehnung des stand dem restaurativen Bemühen Hofmannsthals
Journalismus und Feuilletonismus einig. Dies gilt für ablehnend gegenüber. Die »geistige Armut<< sehe »die-
Georges Blätter für die Kunst ( 1892-1919), deren Wir- sem Unternehmen aus den Augen<< (2, 276), lautet sein
kung noch auf das erste Viertel des 20. Jh.s gar nicht vernichtendes Urteil über das erste Heft der Neuen
hoch genug eingeschätzt werden kann, ebenso wie für Deutschen Beiträge in einem Brief an Weißbach. Die
die wichtigsten Zeitschriften des Expressionismus, die geistige Armut wirke um so trauriger, wie er mit Blick
ihre Blüte von 1910 bis 1918 erlebten, bevor die ex- auf das aus finanziellen Gründen suspendierte Erschei-
pressionistische Bewegung unter dem Eindruck von nen des ANGELUS Novus hinzufügt, »als die physische
Krieg und Revolution in eine bis etwa 1923 andau- sich diesmal nicht dazu findet<< (ebd.). Das hat ihn
ernde zweite Phase eintrat, die im Zeichen »revolutio- jedoch nicht daran gehindert, nur wenige Tage später
när-reformatorischer<< Bestrebungen (Schlawe 1973, Rang wissen zu lassen, daß ihm »[g1elegentliche Mit-
2) stand. arbeit bei Hofmannsthai [... 1 übrigens durchaus ge-
Mit den Argonauten bot Weißbach Benjamin eine nehm<< sei (280).
Zeitschrift an, die sich mit ihrem Herausgeber Ernst
Blass von der expressionistischen Lyrik zu einem an
Stefan George orientierten, neoklassizistischen Dich- Das Vorbild der Romantik
tungsverständnis entwickelt hatte (Krischke 1997,
44--46). Grund genug für den Herausgeber des ANGE- In seinem Einladungsschreiben an Herzmanovsky-
LUS Novus, seine Zeitschrift auch in dieser Hinsicht Orlando hatte Benjamin über seine Zeitschrift gesagt,
zu profilieren. Wenigstens in einem nicht ganz unwich- daß ihr Programm, so positiv es sei, sich dennoch nicht
tigen Detail, das zugleich den elitären, sich vom Jour- positiv formulieren lasse. Eher lasse sich im Negativen
nalismus demonstrativ abgrenzenden Anspruch der andeuten, daß sie »mit keiner der im Schwange gehen-
Zeitung greifbar werden läßt, erweist sich Benjamin den Ideen um die Gunst des Publikums, von der sie
implizit George verpflichtet. Wie dieser legte Benjamin materiell so gut wie unabhängig ist, zu buhlen<< ge-
auf das typographische Erscheinungsbild seiner Pu- denke (221). Um so überraschender muß es erschei-
blikationen erheblichen Wert. Wiederholt werden nen, daß die ANKÜNDIGUNG ausdrücklich auf das
Druckproben zwischen Verleger und Herausgeber hin- Vorbild des romantischen Athenäums verweist. Die
und hergeschickt, wird die Wahl und Größe der für Forschung hat dies zumeist als Beleg dafür gelesen, daß
Prosa und Gedichte unterschiedlichen Drucktypen sich Benjamin jenen romantischen und durchaus eso-
erwogen. Wenn Benjamin dabei gelegentlich seine terischen Begriff der Kritik zu eigen gemacht habe,
Schwäche für die Unger-Fraktur (2, 233) eingesteht, in dessen Aktualität und geschichtsphilosophische Di-
der später auch das Trauerspielbuch gedruckt wurde, gnität er in seiner Dissertation herausgearbeitet hatte
so dürfte dies einen Hintersinn haben. In dieser gegen (Kambas 1979, 202-204; Witte 1976, 31-36).
306 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Allerdings ist Benjamins Haltung gegenüber der pag.). Um diese >>Strebungen<< oder eben >>Tendenzen<<
Romantik komplizierter, als es auf den ersten Blick geht es in dem berühmten 216. Athenäums-Fragment,
erscheinen mag. Der Text der ANKÜNDIGUNG verdeut- in dem Friedrich Schlegel die >>Französische Revolu-
licht dies. Gleich im ersten Absatz legt Benjamin dar, zion, Fichte's Wissenschaftslehre, und Goethe's Mei-
warum er meint, durch die >>Besinnung auf das Wesen ster<< als >>die größten Tendenzen des Zeitalters<< wür-
einer Zeitschrift«, auf ihre Form also, jeglicher Pro- digt (Schlegel 1960, 232). Nicht von ungefähr bildet
grammatik enthoben zu sein. Während Programme die Auslegung dieses Fragments in Friedrich Schlegels
auf Willensentscheidungen zurückgehen, sei eine Zeit- Aufsatz Ueber die Unverständlichkeit den Abschluß des
schrift die >>Lebensäußerung einer bestimmten Gei- romantischen Zeitschriften-Projekts. Die Pointe des
stesart«. Dementsprechend gelte die Besinnung auf das provokativen Aufsatzes, der im letzten Heft des
Wesen einer Zeitschrift weniger den in ihr geäußerten Athenäums im Jahre 1800 erschien, besteht nämlich
>>Gedanken oder Gesinnungen<< als vielmehr deren sich darin, daß Schlegel das Problem der Verständlichkeit
dem Bewußtsein entziehenden >>Grundlagen und Ge- und damit nicht zuletzt eben das Problem des Verste-
setzen<<. Während man erwarten könne, daß sich ein hens des eigenen Zeitalters an der Schwelle zum neuen
Mensch seiner Bestimmung bewußt sei, gelte dies kei- Jahrhundert ironisch im Begriff der Tendenz auf-
neswegs gleichermaßen von seinen >>innersten Tenden- hebt.
zen<< (II, 241). Wenn Benjamin den >>historischen Anspruch<< (II,
Vor diesem Hintergrund betrachtet es Benjamin als 241) des ANGELUS Novus von den Romantikern über-
die >>wahre Bestimmung einer Zeitschrift [... ] den Geist nimmt, so heißt dies jedoch keineswegs, daß er ihn auf
ihrer Epoche zu bekunden<<. Auch wenn der >>Geist dieselbe Weise einzulösen gedenkt wie sie. Der Ge-
ihrer Epoche<< sich nicht in seiner Einheit und Klarheit danke einer Bejahung und Rettung des Fragwürdigen
greifen lasse, so sei die Zeitschrift seiner >>Aktualität<< (ebd.), in dem sich der Geist der Epoche aktualiter
(ebd.) verpflichtet. Mit der Aktualität stellt Benjamin bekunde, begegnet bereits in der Rede über DAs LEBEN
einen Begriff in das Zentrum seiner Besinnung auf das DER STUDENTEN aus dem Jahre 1915. Auch dort galt
Wesen einer Zeitschrift, der nach landläufigem Ver- es Benjamin als ausgemacht, daß >>die Elemente des
ständnis diesem Wesen diametral entgegensteht. Denn Endzustandes [... ]nicht als gestaltlose Fortschrittsten-
gerade in der Verachtung des Aktualitätsprinzips, dem denz zutage [liegen], sondern [... ] als gefährdetste,
die Tagespresse im Feuilleton noch die Poesie unter- verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken
worfen hatte, waren sich die zeitgenössischen literari- tief in jeder Gegenwart eingebettet<< sind ( 75). Dabei
schen Zeitschriften und Periodika bei allen Divergen- geht es ihm nicht um eine inhaltliche Bestimmung des
zen im einzelnen doch grundsätzlich einig. Auch für Absoluten, das in den frühen Schriften als absoluter
Benjamin impliziert die Besinnung auf »wahre Aktua- >>Zustand der Vollkommenheit<< (ebd.) oder eben, wie
lität<< (ebd.) denn auch, daß seine Zeitschrift die Aus- in der ANKÜNDIGUNG, als >>Geist ihrer Epoche<< (244)
beutung >>der unfruchtbaren Oberfläche jenes Neuen bezeichnet wird. Erfaßt werden kann das Absolute
oder Neuesten<< den Zeitungen überläßt (242). nicht an sich, sondern allein in seiner >>metaphysischen
Die >>Vorbildlichkeit des romantischen >Athenä- Struktur<< (75). Was es zu erfassen gilt, ist die Gestalt,
ums<<< (241) beruht in Benjamins Verständnis nun in der das Absolute sich in der Gegenwart ausprägt.
darauf, daß die Romantiker dem von ihm skizzierten Diese Aufgabe ist für Benjamin im Einklang mit der
Zusammenhang in ihrer Zeitschrift Rechnung getra- später von ihm angestrengten metakritischen Revision
gen haben. Dafür ist jedoch keineswegs entscheidend der Kantischen Philosophie auf sprachphilosophischer
noch mit Blick auf die zeitgenössischen Zeitschriften, Grundlage der >>Kritik<< vorbehalten (ebd.). Die Struk-
die Benjamin vor Augen hatte, besonders originell, tur aber, in der das Absolute sich bekundet, ist keine
daß die Romantiker mit Benjamin die Überzeugung kontinuierliche, wie sie der Begriff des Fortschritts
teilten, daß >>für die wahre Aktualität der Maßstab ebenso wie der in Benjamins Sicht für die Romantiker
ganz und gar nicht beim Publikum ruht<< (ebd.). Viel- maßgebende Gedanke heilsgeschichtlicher Erfüllung
mehr weist Benjamins Rede von den >>innersten Ten- unterstellt. Vielmehr denkt Benjamin jede Gegenwart
denzen<< (ebd.) auf den Kern der von ihm gemeinten unmittelbar auf das Absolute bezogen, so daß in seiner
Vorbildlichkeit der Romantik. So hatten die Brüder Sicht die Geschichte eine diskontinuierliche Struktur
Schlegel in ihrer >>Vorerinnerung<< zum Athenäum an- aufweist.
gekündigt, >>Ansichten der vielseitigen Strebungen Benjamins Auffassung der Kunstkritik, der er in der
unsers Volkes und Zeitalters mit Blick auf das Ausland ANKÜNDIGUNG auferlegt, >>mehr als bisher, mehr auch
und die Vergangenheit, vorzüglich auf das klassische als es den Romantikern gelang, die Beschränkung auf
Alterthum<< darbieten zu wollen (Schlegel 1960, un- das einzelne Kunstwerk zu üben<< (242 ), folgt derselben
»Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus« 307

Logik. Im einzelnen Werk hat Kritik >>Von der Wahrheit druck der lyrischen Dichtungen der beiden Heinles
der Werke jene Rechenschaft zu geben, welche die getroffen zu haben; zum zweiten aber mit der theore-
Kunst nicht weniger fordert als die Philosophie<< (ebd.). tischen Besinnung auf die bedeutende Rolle der über-
Die Kritik der Wahlverwandtschaften, die für den AN- setzung für das Werden einer Sprache, der sich sein
GELUS Novus vorgesehen war, führt dies exemplarisch eigener Aufsatz über DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS
vor. Aber eben weil Kritik im Sinne des eingangs er- widmet.
läuterten historischen Anspruchs der Zeitschrift eine Mit dem ÜBERSETZER-Aufsatz bekräftigt Benjamin
nicht auf die Kunst beschränkte Aufgabe zu erfüllen unausgesprochen auch die Geltung der Theorie der
hat, wird sie im ANGELUS Novus nicht in einen >>kri- Sprachmagie für sein philosophisch-kritisches Selbst-
tischen Teil« verbannt, sondern fungiert als >>Hüter der verständnis, die er in seinem unveröffentlicht geblie-
Schwelle« (ebd.). Während auf diese Weise ihre pro- benen Aufsatz ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER
minente Stellung im Rahmen der Zeitschrift gesichert DIE SPRACHE DES MENSCHEN niedergelegt hatte. Im
ist, kündigt Benjamin an, sich der Gewalt des kriti- Konzept der Zeitschrift soll die in diesem Sinne phi-
schen Wortes in der Sache vor allem gegen den >>lite- losophische Behandlung jedem Gegenstand >>univer-
rarischen Expressionismus« bedienen zu wollen, den sale Bedeutung« (II, 244) verleihen. Universale Geltung
er als >>Nachäffung großen malerischen Schaffens« de- dürfe aber nur beanspruchen, was >>auf einen Ort in
nunziert ( ebd.). werdenden religiösen Ordnungen Anspruch [... ] erhe-
ben<< (ebd.) könne. Zwar seien solche Ordnungen kei-
neswegs absehbar; absehbar aber sei, >>daß nicht ohne
nWahre Aktualität<< sie zum Vorschein kommen wird, was in diesen Tagen
als den ersten eines Zeitalters nach Leben ringt«
Im Zeichen der prominenten Rolle der Kritik hat die (ebd.).
Kunst ebensowenig eine Sonderstellung wie die Spra- Weniger als Fluchtpunkt denn als Grenze verbürgen
che. Mit der Klage über den Zustand der deutschen die werdenden religiösen Ordnungen den Anspruch
Sprache greift die ANKÜNDIGUNG einen beliebten Ge- der Zeitschrift und den ihrer Beiträge auf >>wahre Ak-
genstand konservativer Kulturkritik auf. Nicht zufällig tualität«. In diesem Sinne ist von Religion bereits in
würdigt Benjamin in diesem Zusammenhang das Wir- dem DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGENWART
ken Stefan Georges, das jedoch der Vergangenheit an- aus dem Jahre 1912 die Rede. Die >>streng dualistische
gehöre. Die zwischen Anerkennung und Ablehnung Lebensauffassung« (1, 71), die Benjamin für sich in
schwankende Stellung Benjamins zu George kommt Anspruch nimmt, läßt ihn Religion >innerhalb der
in der Formulierung zum Ausdruck, die den Epigonen Grenzen der bloßen Vernunft< denken. Die ANKÜNDI-
prophezeit, daß ihre >>nachhaltigste Wirkung bald GUNG bewegt sich ausdrücklich innerhalb dieser Gren-
darin gesehen werden wird, aufdringlich eines großen zen, wenn sie >>die bequeme Dunkelheit der Esoterik«
Meisters Grenzen dargetan zu haben« (li, 243; vgl. Alt zurückweist und statt dessen >>Rationalität bis ans Ende
1999, 891-906). Zwar lenkt auch die ANKÜNDIGUNG erstrebt« (II, 244). Die Berufung auf >Religion< mar-
den Blick zurück in die deutsche Geschichte. Sie tut kiert in den frühen Schriften häufig den Ort eines
dies jedoch nicht mit dem restaurativen Gestus Hof- Ideals der Gemeinschaft, in der die Zerrissenheit der
mannsthals, um der Gegenwart in den Kunstwerken modernen Kultur überwunden wäre. Indem sie die
der Vergangenheit verbindliche Maßstäbe vor Augen Unbedingtheit ihrer Kunstliebe zu gesellschaftlichen
zu stellen. Klopstock, an den Benjamin erinnert, hatte Außenseitern werden läßt, führen die Literaten gerade
August Wilhelm Schlegel in seinem Aufsatz über Die im Widerspruch gegen die Gesellschaft deren religiöse
Sprachen. Ein Gespräch über Klopstock's grammatische Bedürftigkeit vor Augen und demonstrieren, wie fern
Gespräche im ersten Heft des Athenäums (Schlegel die Gegenwart von einer nicht-antagonistischen Ge-
1960, 3-69) das Verdienst zugute gehalten, sich durch meinschaft ist. Mit Blick auf dieses Ideal erkennt Ben-
seine Sprachuntersuchungen um die deutsche Sprache jamin in Tolstoj, Nietzsche und Strindberg die Prophe-
und Poesie verdient gemacht zu haben. In diesem ten einer neuen Religion und in ihren Schriften die
Sinne ist er auch für Benjamin aktuell. Auf Klopstock Vision eines neuen Menschen, mit dem die Zeit
sich berufend, betont die ANKÜNDIGUNG im Interesse schwanger gehe (34).
der Zukunft der deutschen Dichtersprache die Dring- Wenn die werdenden religiösen Ordnungen den
lichkeit und Notwendigkeit, für die eigene Gegenwart Anspruch des ANGELUS Novus auf Aktualität verbür-
eine entsprechend richtungsweisende Entscheidung gen, dann nicht weil die Zeitschrift sich in den Dienst
zu fällen. Diese meint der Herausgeber im ersten Heft einer Propagierung religiöser Ideen stellt. Umgekehrt
zum einen in Gestalt seiner Entscheidung für den Ab- läßt sich die Rechtmäßigkeit ihres historischen An-
308 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

spruchsjedoch erst aus der Perspektive dieser Ord- INFLATION in die EINBAHNSTRASSE Eingang gefunden
nungen entscheiden. Solange diese Ordnungen aber haben (Jäger 1998, 160).
werden und nicht schon sind, ist der Anspruch auf Im November desselben Jahres kündigt Rang die
Aktualität ein jederzeit widerlegbarer, ein ephemerer. Übersendung des Manuskripts an. Die von Benjamin
Daß sie ihr Ephemeres sich bewußt hält, ist, wie Ben- erbetene Zuschrift allerdings stößt bei diesem auf vor-
jamin im letzten Abschnitt der ANKÜNDIGUNG erläu- sichtige Zurückhaltung. Bisher sei es ihm nicht gelun-
tert, im Namen der Zeitschrift zum Ausdruck gebracht. gen, den ihm aus der Vorlesung bekannten Grundge-
Wie die neuen Engel der talmudischen Legende, die danken Rang positiv zu vermitteln. Er werde nach der
>>jeden Augenblick in unzähligen Scharen<< (246) ihren Lektüre entscheiden, ob und wie er seine Beischrift
Hymnus vor Gott singen, um in Nichts zu vergehen, abfasse: >>Es hängt wie mir scheint davon ab, ob ich die
weiß auch der ANGELUS Novus um eine Aktualität, überzeugung, die mich Dir zustimmen läßt, so einfach
die keinen Bestand hat, gerade weil sie einen absoluten bekunden kann<< (2, 355). Eine eingehende Auseinan-
Anspruch erhebt. dersetzung mit der Schrift setze >>eine wirklich Vertie-
fung in die Philosophie der Politik<< (ebd.) voraus, die
er zum jetzigen Zeitpunkt um so mehr zu vermeiden
Zur Entstehung der "zuschrift(( an Rang habe, als die Habilitationsschrift seine ganze Arbeits-
kraft beanspruche.
Vor diesem Hintergrund ist absehbar, daß die von Mit dieser Bemerkung spielt Benjamin auf seine
Rang gewünschte öffentliche Stellungnahme zu einem politische Philosophie an, mit deren Ausarbeitung er
politischen Anliegen Benjamin vor nicht geringe sich seit dem Abschluß seiner Dissertation befaßt
Schwierigkeiten stellte. Die Initiative zu Rangs Denk- hatte, ohne über einzelne Bruchstücke hinausgelangt
schrift erwuchs aus dem >>Frankfurter Kreis<<, einer mit zu sein (Steiner 2000, 48-92). Bereits daß er Rangs
dem religiösen Sozialismus sympathisierenden Ver- Denkschrift an diesem Maßstab mißt, bezeugt die Be-
bindung, an deren Zusammenkünften über Rang ver- deutung, die Benjamin ihr zubilligt. In seiner Sicht
mittelt auch Benjamin gelegentlich teilnahm (Jäger stellt bereits ihr in politicis erhobener philosophischer
1998, 146-163). Den unmittelbaren Anstoß zu ihrer Anspruch die brutale >>Gedankenlosigkeit öffentlicher
Abfassung gab die durch die Verzögerung der deut- Argumentationen bloß<< (2, 374). Über diese generelle
schen Reparationsleistungen provozierte Besetzung Anerkennung hinaus, versichert er Rang aber auch in
des Ruhrgebietes durch französische und belgisehe Einzelfragen seiner Zustimmung. Dies betrifft zum
Truppen im Januar 1923. In derVorrede der Deutschen einen die Ablehnung des Pazifismus, dessen Kritik
Bauhütte betont Rang, daß er >>im Auftrag einer Rang in der Bauhütte einigen Raum widmet (Rang
Gruppe<< rede, deren Mitglieder sich mit ihren Zu- 1924, 26 u.ö.). Während er auf diese Weise an seine
schriften >>am Schluß dieser Schrift zu ihr bekennen<<. eigene Kritik des literarischen Expressionismus in der
Bezeichnend für sein politisches Denken fügt er hinzu, ANKÜNDIGUNG anknüpft, hat diese Kritik zugleich
daß er auf diese Weise nicht eine quantitativ relevante auch einen aktuellen Bezugspunkt. Wie Benjamin in
Unterstützung für sein Anliegen reklamiere; entschei- einem Brief erläutert, verbirgt sich in der Passage von
dend sei die in den Zuschriften ausgedrückte Einstel- den >>Leisetretern<< und deren >>splendide[r] Widerle-
lung, >>daß der Einzelne soll die Verantwortung des gung der Clartebewegung<< in der ZuscHRIFT eine
Volks tragen an seinem Teil<< (Rang 1924, 6). Anspielung aufThomas Mann (2, 374; 384). Mit Rang
Im Sommer 1923 nahmen Benjamin und Scholem stimmt Benjamin also nicht nur in der Ablehnung des
an einer öffentlichen Lesung aus dem Manuskript der linksliberalen Pazifismus, sondern erst recht in der
Bauhütte in Frankfurt teil (2, 344). Von dem ungeklär- Zurückweisung der konservativen Kritik an dieser Po-
ten Schicksal des Manuskripts ist in einem Schreiben sition überein. In der Achtung der >>geistigen Grenzen
Benjamins an Rang vom 28.9.1923 die Rede, das zu- unter den Völkern<< (374), die Benjamin als ein weite-
gleich von seinen durch die galoppierende Inflation res Verdienst von Rangs Denkschrift hervorhebt, dürfte
wachsenden materiellen Sorgen und seinem Entschluß er selbst die Basis einer fruchtbaren Auseinanderset-
zur Abfassung einer Habilitationsschrift berichtet zung mit der intellektuellen Entwicklung in Frankreich
(352). Zu Recht ist vor diesem historischen Hinter- gesehen haben, von der sein späterer Aufsatz über den
grund auf die Nähe der ZuscHRIFT zu den in dieser Surrealismus nicht das einzige, aber sicher das bedeu-
Zeit entstandenen GEDANKEN ZU EINER ANALYSIS DES tendste Zeugnis darstellt. Nicht zufällig widmet Ben-
ZUSTANDES VON MITTELEUROPA aufmerksam gemacht jamin in seiner ZuscHRIFT den überlegungen Rangs
worden, die in leicht veränderter Fassung unter dem den meisten Raum, die sich direkt oder indirekt aus
Titel KAISERPANORAMA. REISE DURCH DIE DEUTSCHE dessen Kritik des deutschen Idealismus ergeben. Damit
»Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus« 309

berührt er in durchaus zustimmender Weise den phi- Dinge sich nicht trüben lassen und Ruhe bewahren
losophischen Kern der Deutschen Bauhütte. ohne Realpolitiker zu sein<< (ebd.).
Während die ZusCHRIFT den philosophischen An- In das Innere der politischen Dinge dringt Rang in
spruch von Rangs Bauhütte hervorhebt, schweigt sie dem Abschnitt Philosophie unserer Handlung vor, der
weitgehend über deren pragmatisches Anliegen. Schon in einer politischen Philosophie der Technik gipfelt. In
im Vorfeld hatte Benjamin sich im Briefwechsel mit Rangs Sicht eröffnet das technische Problem ein >>Reich
Rang vorsichtig von dessen Anspruch distanziert, sich der Geist-Leiblichkeit<<, in dem Hand- und Kopfarbeit
als >>ein Einzelner an sein Volk<< zu wenden (Rang 1924, zusammenfinden und die ideologischen und politi-
5). In BenjaminsAugen und zumal »unter dem großen schen Gegensätze von Idealismus und Materialismus,
Eindruck, den die leider nur fragmentarische Lektüre Kapitalismus und Sozialismus überwunden wären
der >Bauhütte<<< auf ihn gemacht hatte, stand Rang ihm (Rang 1924, 137f.). Im Einklang mit der zentralen
>>für das wahre Deutschtum<< ein (2, 368). Aber gerade Prämisse seiner Schrift reduziert sich das politische
deshalb scheint er selbst als Jude sich nur partiell mit Problem für Rang auf die Gewissensentscheidung des
Rangs öffentlichem Eintreten für sein Volk verbunden Technikers. Politische Praxis erschließt sich ihm einzig
gefühlt zu haben. Auch wenn die zionistische Option in der Perspektive der sittlichen Entscheidung des ein-
für Benjamin im Gegensatz zu Scholem >>weder eine zelnen. Die dem Geheiß des Gewissens folgende Tat
praktische Möglichkeit noch eine theoretische Not- ist gerechtfertigt, sofern sie als >>echter[r] Schritt im
wendigkeit<< darstellte (370), so läßt doch bereits die und zum Reiche Gottes<< auf Anerkennung und Nach-
Realität des Zionismus ihm seine Zugehörigkeit zur ahmung stößt (119).
deutschen Kultur nicht länger als selbstverständlich In seiner ZuscHRIFT bringt Benjamin gleich ein-
erscheinen. Darüber hinaus gibt er mit Blick auf den gangs in vorsichtig abwägenden Formulierungen zum
>>überall mitredenden Martin Buher<< zu bedenken, Ausdruck, daß er Rangs >>Hoffnung einer Wirkung<<
>>daß der Jude heute auch die beste deutsche Sache für seiner Schrift nicht teile (2, 373). Es scheint, als habe
die er sich öffentlich einsetzt, preisgibt<< (369). Diesen sein grundsätzlicher Einwand gegen jedes politische
Bedenken zum Trotz hat er wenige Tage später Rang Schrifttum, den er 1916 in seiner Antwort auf die Ein-
seine ZuscHRIFT zur Veröffentlichung überlassen. ladung zur Mitarbeit an Buhers Zeitschrift Der Jude
formuliert hatte, nichts von seiner Geltung verloren.
Entgegen der herrschenden Meinung, so hatte er in
Die ,,zuschrift<< im Kontext seinem Antwortschreiben an Buher ausgeführt, sei er
der Deutschen Bauhütte nicht der Meinung, daß das Schrifttum >>die sittliche
Welt und das Handeln der Menschen beeinflussen
Der Titel der Denkschrift, der dem aktuellen Anlaß der könne indem es Motive von Handlungen an die Hand
Schrift Rechnung trägt, lautet vollständig: Deutsche gibt<< (1, 325).Auf diese Weise werde Sprache zu einem
Bauhütte. Ein Wort an uns Deutsche über mögliche Ge- Mittel degradiert. Demgegenüber bekennt er sich zu
rechtigkeit gegen Belgien und Frankreich. Zugleich weist einer Auffassung von Sprache, in deren Rahmen die
der Untertitel sie als einen Beitrag zur Philosophie der Wirkung von Schrifttum >>nur magisch das heißt un-
Politik aus. Benjamin hat Rang nach dessen Tod als den mittel-bar zu verstehen<< sei (326.). Für eine in diesem
>>tiefste[n] Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche<< Sinne zugleich hochpolitische und >>sachliche
(III, 254) gewürdigt und die Deutsche Bauhütte als eine Schreibart<< dient ihm bereits in seinem Brief an Buher
Schrift charakterisiert, in der >>die Notwendigkeit einer das Athenäum als Vorbild (327). Wie noch in der AN-
vom Staatsapparat emanzipierten privaten Aktion in KÜNDIGUNG ist die Wirkung von Literatur im weitesten
ihrer sittlichen Fundierung bündig erwiesen und ihre Sinne an deren >>Form<< gebunden (II, 241 ), weshalb er
Möglichkeit in einer undonquichottesken Weise be- auch zunächst von der Form der Zeitschrift Rechen-
gründet<< werde (2, 384). schaft ablegt. Ganz entsprechend hebt er in der Zu-
Noch bevor Rang sich an die Ausarbeitung machte, SCHRIFT eingangs die >>eigentümliche Schönheit<< von
erinnert Benjamin ihn in einem Brief, den er unter Rangs Schrift hervor, die zwar nicht das Wesentliche
dem Eindruck der sich zuspitzenden politischen Lage sei, die aber keine Materie, deren sich der Philosoph
im Ruhrgebiet schrieb, an »unsere[ ] politischen Ge- annimmt, verleugnen könne (2, 373).
spräche über Technik<< (305). Zwar scheint es ihm Rang aber geht es in einer durchaus pragmatischen
problematisch, ob im Sinne dieser Gespräche etwas Weise um die Wirkung seiner Schrift. Deshalb trifft
geschehen könne. Dennoch zeigt er sich überzeugt, der von Benjamin in seiner ZuscHRIFT geäußerte Vor-
daß Deutschland zur Stunde mehr Männer wie Rang behalt den Nerv der Denkschrift und kommt einer
nötig habe, >>die ihren Blick ins Innere der politischen Distanzierung gleich. Denn in der unmittelbaren Wir-
310 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

kung, in der tätigen Erfüllung der >>Glaubenstat<<, fin- und definiert auf diese Weise den Bereich des Politi-
det Rangs Philosophie der Politik ihre eigentliche schen gerade durch seine Abgrenzung gegen die Theo-
Bewährungsprobe. Sie mündet, wie der Titel des Bu- logie.
ches besagt, in einem Aufruf zu >>philosophische[r]
Politik<< gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern. Als Werk
ein unmittelbar praktischer Schritt in diese Richtung ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT: ANGELUS Novus (II, 241-
ist der Aufruf zur Gründung von Bauhütten zu verste- 246)
ZUSCHRIFT AN FLORENS CHRISTIAN RANG (IV, 791-792)
hen, in denen philosophische Politik in Gestalt mate- ANDRE GmE LA PORTE ETROITE (Il, 615-617)
rieller Wiedergutmachung und praktischer Wieder- Die AuFGABE DES ÜBERSETZERS (IV, 9-21)
aufbauhilfe in die Tat umgesetzt werden soll. Der BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMAN-
In der Bauhütte hatte Rang seine politische Philo- TIK (I, 11-119)
DIALOG ÜBER DIE RELIGIOSITÄT DER GEGENWART (II, 16-
sophie über weite Strecken als eine vehemente Kritik 35)
des deutschen Protestantismus und Idealismus vorge- GEDANKEN zu EINER ANALYSIS DES ZusTANDES voN MITTEL-
tragen. Dem tatenlosen sola fide des paulinisch-luthe- EUROPA (IV, 916-935)
rischen Christentums macht der ehemalige Pfarrer die GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN (I, 123-201)
>>DER IDIOT<< VON DoSTO)EWSKI) (Il, 237-241)
Verflüchtigung des Geistes in ein jenseitiges Reich des DER IRRTUM DES AKTIVISMUS (III, 350-352)
bloßen Glaubens zum Vorwurf, dem jeder Bezug zum KARL KRAUS (Il, 334-367; Il, 624-625)
Diesseits fehle. Diese Überspannung des Idealen führe DAS LEBEN DER STUDENTEN (Il, 75-87)
in der Philosophie des Idealismus, bei Hege!, zur Idee MALEREI UND GRAPHIK (Il, 602-603)
ScHICKSAL UND CHARAKTER (Il, 171-179)
des Staates als einer Rechtfertigung des Bestehenden. ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I, 691-704)
In Rangs Sicht steht der deutsche Idealismus, und mit ÜBER DIE MALEREI ODER ZEICHEN UND MAL (Il, 603-607)
ihm noch die gegenwärtige deutsche Politik, im Bann ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
der acedia: Die >>Todsünde der Trägheit des Herzen<< MENSCHEN (Il, 140-157)
(Rang 1924, 49) bestimmt die Idee des Staates ebenso
wie sie den Ideen der Allgemeinheit, Unbedingtheit Literatur
und Ganzheit zugrunde liegt, denen der Idealismus die Alt, Peter Andre ( 1999): >>Gegenspieler des Propheten. Walter
reale Welt aufopfert. Benjamin und Stefan George<<, in: Klaus Garber/Ludger
Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 2, München, 891-906.
Auf Rangs Einfluß ist es zurückzuführen, daß Ben- Borchardt, Rudolf (1927): >>Schöpferische Restauration<<, in:
jamin in seiner Analyse des deutschen Trauerspiels die ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Reden, Stutt-
acediains Zentrum (I, 316-335) rückt. Ebenfalls auf gart 1955, 230-253.
das Trauerspielbuch, nämlich auf die Ideenlehre der Hofmannsthal, Hugo von (1922): >>Neue Deutsche Beiträge.
Ankündigung<<, in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Ein-
ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE, weist eS VOr, wenn zelbänden. Reden und Aufsätze II, hg. v. Herbert Steiner,
Benjamin in seiner, wie er eingangs einräumt, auf ge- Frankfurt a.M. 1979, 197-9.
ringer Textkenntnis basierenden Zuschrift zustim- Hofmannsthal, Hugo von (1927): >>Das Schrifttum als geisti-
ger Raum der Nation<<, in: ders.: Gesammelte Werke in
mend hervorhebt, daß in Rangs Überlegungen >>aus
zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III. Aufzeichnun-
Prinzipien nichts<< sich herschreibe. Gerade deshalb gen, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1980, 24-41.
möchte er diese Überlegungen philosophisch nennen, Jäger, Lorenz (1998): Messianische Kritik. Studien zu Leben
>>weil sie nicht aus Grundsätzen und Begriffen dedu- und Werk von Florens Christian Rang, Köln.
Kambas, Chryssoula (1979): »Walter Benjamins Verarbeitung
ziert, sondern aus dem Ineinanderwirken von Ideen
der deutschen Frühromantik<<, in: Gisela Dischner/Richard
geboren sind<< (2, 374). Die Beobachtung, in der Ben- Faber (Hg.): Romantische Utopie- utopische Romantik,
jamin der Idealismuskritik Rangs Reverenz erweist, Hildesheim, 187-221.
nutzt diese zugleich als Folie einer indirekten Distan- Kaulen, Heinrich ( 1999 ): >>Der Kritiker und die Öffentlichkeit.
Wirkungsstrategien im Frühwerk und im Spätwerk Walter
zierung. Denn während es Rang in seiner Ideenlehre Benjamins<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global
um die irreduzible Einzigkeit der sittlichen Tat geht, benjamin, Bd. 2, München, 919-942.
die er vor der abstrakten Allgemeinheit des Prinzips Krischke, Roland ( 1997): Gesellschaft vom Dachboden. >Der
retten möchte, spricht Benjamin von >>Ideen der Ge- vortreffliche Richard Weißbach<. Ein Heidelberger Verleger,
in: Hirschstrasse. Zeitschrift für Literatur 9, 30-51.
rechtigkeit, vom Recht, von der Politik, von der Feind- Luhr, Geret (Hg.) (2000): >>was noch begraben lag<<. Zu Wal-
schaft, von der Lüge<< (ebd.). Einen solchen >Polythe- ter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente, Berlin.
ismus der Werte< hat seine eigene politische Philoso- Mann, Thomas (1960): >>Das Problem der deutsch-französi-
phie zur Voraussetzung. Im Gegensatz zu Rang betont schen Kulturbeziehungen<<, in: ders.: Werke: Das essayisti-
sche Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Politische
Benjamin im THEOLOGISCH-POLITISCHEN FRAGMENT, Schriften und Reden. Bd. II, hg. v. Hans Bürgin, Frankfurt
daß >>die Ordnung des Profanen nicht am Gedanken a.M., 77-93.
des Gottesreiches aufgebaut werden<< könne (II, 203) Rang, Florens Christian ( 1924): Deutsche Bauhütte. Ein Wort
311

an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen Bel-


gien und Frankreich und zur Philosophie der Politik, Leip-
Literaturkritik
zig. Von Michael Opitz
Schlawe, Fritz (1973): Literarische Zeitschriften 1910-1930,
Stuttgart.
Schlegel, August Wilhelm/Friedrich Schlegel (Hg.) (1960): »Wo ist Benjamin, der Kritiker?<< fragt Bertolt Brecht
Athenäum. Eine Zeitschrift. 1798-1800, 3 Bde, Berlin
im ersten Entwurf des 1941 entstandenen Gedichts
1960.
Scholem, Gershorn (1972): >>Walter Benjamin und seinEn- »Die Verlustliste<<, in dem er nach Worten sucht, um
gel«, in: ders.: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn seiner Erschütterung über den Selbstmord des Freun-
Aufsätze und kleine Beiträge, Frankfurt a.M., 35-72. des Ausdruck zu verleihen. Brecht vermißt den »Wi-
Scholem, Gershorn (1975): Walter Benjamin. Die Geschichte
einer Freundschaft, Frankfurt a. M. dersprecher/ Vieles Wissende[n], neues Suchende[n]/
Scholem, Gershorn (2000): Tagebücher nebst Aufsätzen und WALTER BENJAMIN<< (Brecht 1993, 43). Hannah
Entwürfen bis 1923.2. Halbbd. 1917-1923, hg. v. Karlfried Arendt erschien die Freundschaft zwischen Brecht und
Gründer u.a., Frankfurt a.M. Benjamin als so »einzigartig, weil in ihr der größte
Steiner, Uwe (1989): »Die Geburt der Kritik aus dem Geiste
der Kunst<<. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kri-
frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg. tiker der Zeit zusammentraf<< (Arendt 1971, 21). Für
Steiner, Uwe (2000): »>Der wahre Politiker<. Walter Benjamins sie hatte Benjamin sein Ziel, >>d' etre considere comme
Begriff des Politischen<<, in: Internationales Archiv für So- Je premier critique de Ia Iitterature allemande<< (3, 502)
zialgeschichte der deutschen Literatur 25, 48-92.
Werckmeister, Otto Kar! ( 1976): »Walter Benjamin, Paul Klee zu werden, erreicht.
und der >Engel der Geschichte<<<, in: Neue Rundschau 87, Dagegen wurden Zweifel an der literaturkritischen
16-40. Kompetenz Benjamins nach Erscheinen des dritten
Witte, Bernd ( 1976): Walter Benjamin- Der Intellektuelle als Bandes der Gesammelten Schriften (1972) laut. Zu-
Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart.
Wizisla, Erdmut ( 1992): »>Fritz Heinlewarein Dichter<. Wal- nächst war es Marcel Reich-Ranicki, der Benjamins
ter Benjamin und sein Jugendfreund<<, in: Lorenz Jäger/ Literaturkritiken einer »fälligen Überprüfung<< unter-
Thomas Regehly (Hg.): >Was nie geschrieben wurde lesen<. zog und dabei einen auffälligen »Eskapismus<< be-
Frankfurter Benjamin-Vorträge, Bielefeld, 132-156. merkte. Er attestiert Benjamin, dieser habe sich in
erster Linie mit »belanglosen Novitäten<< befaßt und
sei »nicht sonderlich interessiert<< gewesen an der deut-
schen Gegenwartsliteratur- Benjamin, so sein Kritiker,
war nicht mehr als eine »originelle Randfigur des lite-
rarischen Lebens<<. In ihrem »aristokratisch-hochmü-
tigen Verhältnis zu einem großen Teil der zeitgenössi-
schen Literatur<< würden seine Texte »keine kritische
Konzeption<< erkennen lassen. Schließlich gipfeln die
Anschuldigungen gegenüber dem jüdischen Intellek-
tuellen, der 1933 Deutschland verlassen mußte, in dem
Vorwurf, Benjamin sei nicht ins Exil gegangen »wegen
der politischen Verhältnisse und des Terrors der Nazis
[... ],sondern weil man ihn nicht mehr drucken wollte<<
(Reich-Ranicki 1972). Zwar macht sich Fritz J. Raddatz
nicht in allen Punkten Reich-Ranickis Haltung zu ei-
gen, stimmt aber in wesentlichen Punkten mit ihm
überein, wenn er befindet: Benjamin »war durchaus
nicht Deutschlands >hervorragendster Literatur-Kriti-
ker<, als den ihn sein Freund Scholem lobte. Der Band
III von Benjamins Gesammelten Schriften, Versamm-
lung aller Kritiken und Rezensionen, führt einen in der
Auswahl seiner Objekte eher wahllosen, in deren Be-
urteilung eher von Literatur-Intrigen bestimmten als
an der Zeitgenossenschaft interessierten, Inhalte refe-
rierenden statt Strukturen analysierenden Rezensenten
vor<< (Raddatz 1973, 1065). In einer Erwiderung auf
Raddatz< Artikel spricht Jörg Drews vom Literaturkri-
tiker Benjamin als einer »Fiktion<<, »die nur darauf
312 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

basiert, daß es aus Einteilungsgründen nahelag, die Form, die Kaulen als »vollendete Kritik<< beschreibt, ist
Buchbesprechungen, die er vor allem zwischen 1926 es seiner Meinung nach Benjamins Absicht, Polemik
und 1932 in der Literarischen Welt und der Frankfurter und Kommentar auf einer höheren Ebene zusammen-
Zeitung veröffentlichte, in einem Band zu vereinigen. zuführen.
Die Fiktion setzt obendrein voraus, daß man unter Obwohl der Kritik-Begriff zu Benjamins zentralen
Literaturkritik nur Buchbesprechungen versteht: die Begriffen gehört (vgl. Steiner 2000, 479-523), fehlt es
aktuelle journalistische Reaktion auf eben erschienene bisher an Untersuchungen, in denen die literaturkri-
Publikationen<< (Drews 1973, 1157). Obwohl es den tischen Arbeiten Benjamins einer ausführlichen Ana-
Anschein hat, Drews würde mit seiner eigenwilligen lyse unterzogen wurden. Sie spielen auch in dem Auf-
Behauptung, Benjamin sei gar kein Kritiker gewesen, satz >>Der Kritiker und die Öffentlichkeit<< von Hein-
noch entschiedener Zweifel an dessen kritischer Kom- rich Kaulen eher eine sekundäre Rolle, denn stärker
petenz anmelden, geht sein Argumentationsansatz, interessiert ihn das Verhältnis des Kritikers Benjamin
den Benjaminsehen Kritik-Begriff entschieden weiter zur Öffentlichkeit. Kaulen weist nach, daß für Benja-
zu fassen, in die richtige Richtung. In einer ersten um- min, bei dem in der Frühphase eine esoterische Abkehr
fassenden Studie hat sich dann Bernd Witte in seiner von der Öffentlichkeit auszumachen ist, die Öffent-
Untersuchung Walter Benjamin- Der Intellektuelle als lichkeit nach 1925 >>zum essentiellen Bezugspunkt des
Kritiker mit dem Theoretiker und Literaturpraktiker Kritikers<< wird (Kaulen 1999, 920).
beschäftigt. Für ihn läßt sich die Bedeutung Benjamins
als Kritiker nur ermessen, wenn man dabei die von
Benjamin formulierten theoretischen Überlegungen Entwicklung des methodischen
zum Kritik-Begriff berücksichtigt: >>Um zu einer hi- Instrumentariums
storisch richtigen Einschätzung von Benjamins Tätig-
keit als Rezensent zu kommen, ist es vielmehr notwen- Was den Kritiker Benjamin auszeichnet, der insbeson-
dig, die neuartige Intention seiner Rezensionen anzu- dere zwischen 1926 und 1933 auch als Rezensent tätig
erkennen und sie zunächst einmal an ihrem eigenen war, kann ohne die Berücksichtigung seiner frühen
Maßstab zu messen<< (vgl. Witte 1976, 146f.). Auch in philologischen Arbeiten nicht ermessen werden, da die
Uwe Steiners Arbeit Die Geburt der Kritik aus dem kritische Arbeit des Literaturpraktikers in den theore-
Geiste der Kunst ( 1989) stehen Benjamins Überlegun- tischen Überlegungen zur Sprache und zur Funktion
gen zur Kritik im Zentrum, wobei Steiner besonders von Kritik ihre Voraussetzungen findet. Bereits in sei-
die Entwicklung des Begriffs in den frühen Arbeiten nen Arbeiten aus der Studentenzeit hat Benjamin Kri-
interessiert. Das im Nachlaß gefundene Fragment DIE tik nicht nur als methodisch-analytisches Instrumen-
AUFGABE DES KRITIKERS hat ZU Beginn der 90er Jahre tarium begriffen, sondern immer auch als Haltung
Heinrich Kaulen in seinem Aufsatz >>>Die Aufgabe des verstanden. In der Arbeit DAS LEBEN DER STUDENTEN
Kritikers<. Walter Benjamins Reflexionen zur Theorie (1914/15) unternimmt er einen kritischen Gang durch
der Literaturkritik 1929-1931 << einer eingehenden Un- den institutionalisierten Bereich der Wissenschaft, den
tersuchung unterzogen. Er bestimmt drei Hauptfor- er als >>rechtskräftige Kritik<< (II, 76) am Gegebenen
men Benjaminscher Kritik. Dabei unterliegt die Form versteht. Ihren Ausgangspunkt nimmt die Arbeit in
der >>polemisch-strategischen<< Kritik, die sich >>vorran- der Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes,
gig auf >Richtungen< und >Schulen< statt auf das ein- der als Krise gedeutet wird, weshalb es sich als erfor-
zelne Werk konzentriert, nach KauJens Ansicht starken derlich erweist, >>Künftige [s] aus seiner verbildeten
Veränderungen, da sie >>an politischen Ideen orientiert Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien<< (75),
ist<<. Eine zweite Form macht Kaulen in der >>imma- was allein mit den Mitteln der Kritik geschehen kann,
nenten<< oder >>exegetisch-kommentierenden Kritik<< aus, denn: >>Dem allein dient die Kritik<< (ebd.). Bereits in
in der Kritik auf Interpretation aus ist. >>Die Unter- dieser Arbeit kommt der Kritik eine scheidende Funk-
scheidung von immanenter Exegese und strategischer tion zu, geht Benjamin doch davon aus, daß in den
Schulkritik meint zunächst das Nebeneinander von gegenwärtigen Zuständen Zukünftiges durchaus vor-
zwei auf ihrem Gebiet jeweils notwendigen und legi- geprägt, allerdings in falschen Zusammenhängen vor-
timen Verfahrensarten der Kritik. Ihre Antinomie kann handen ist. In den frühen Jahren begreift Benjamin
freilich nur dann geschlichtet werden, wenn eine Hier- seine wissenschaftlichen Arbeiten als kritische Bei-
archie kritischer Gattungen entworfen wird, die beide träge, so daß Kritik zur entscheidenden Haltung des
Momente integriert, auf ihrer dritten und obersten Intellektuellen wird, der sich in Debatten einmischt
Stufe aber eine Vereinigung der entgegengesetzten Mo- und Stellung bezieht.
tive anstrebt<< (Kaulen 1990, 323). In einer dritten
Literaturkritik 313

Sprachtheorie als Sprachkritik zutiefst kritisches Verfahren, das zur Voraussetzung


hat, daß die reine Sprache von dem freigelegt wird, was
Noch bevor Benjamin in seiner Dissertation DER BE- sie als Mitteilung umgibt, um zu ihrem wesenhaften
GRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMAN- Kern vordringen zu können.
TIK (1918/19) den romantischen Kritik-Begriff einer Die beiden frühen Spracharbeiten sind für Benja-
eingehenden Analyse unterzieht, darf bereits das Ver- mins Denken substantiell. Auf die Zusammenhänge
fahren, das er im frühen Sprachaufsatz ÜBER SPRACHE zwischen seinen überlegungen zu einer Theorie der
ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN übersetzung und dem Kritik-Begriff hat Alfred Hirsch
(1916) anwendet, auch wenn der Terminus >Kritik< hingewiesen: »1. Weder Kritik noch übersetzung sind
keine Erwähnung findet, als sprachkritisch bezeichnet einfach Wiederholungen des Ausgangstextes; sie setzen
werden. Die überzeugung, daß Sprache zum Mittel immer schon ein gewisses Text- und Werkverständnis
geworden ist und sich im Geschwätz verliert, ist Resul- voraus. Ihnen geht immer schon die >hermeneutische<
tat einer vom Gegenwärtigen ausgehenden Analyse. In Erschließung des Ausgangstextes voraus. 2. Als Repro-
einer auf Mitteilung reduzierten und darin zum Mittel duktionen ganz bestimmter Aspekte des Ausgangstex-
gewordenen Sprache sieht Benjamin das Dilemma des tes weisen Kritik und übersetzung zwar einerseits eine
gegenwärtigen Sprachzustandes. In ihm ist es den gewisse Sekundarität auf, andererseits aber entwerfen
Menschen nicht mehr gegeben, im Namengeben zu sie in irreduzibler Einzigartigkeit und >Erstmaligkeit<
erkennen, weil sie nach dem Sündenfall die Ordnung ein neuartiges Bild[ ... ] 3. Kritik und übersetzung er-
verletzt haben, in der ihnen diese Fähigkeit gegeben weisen sich gleichermaßen als textpraktische Verfah-
war. Benjamins adamitische Sprachauffassung erweist ren, die an die Rezeptionsweise der jeweiligen Sprache
sich gerade in den Möglichkeiten sprachanalytischer und Epoche gebunden sind<< (Hirsch 1995, 113).
Verwendung als bedeutend. Indem er davon ausgeht,
daß Sprache neben dem, was sich in ihr mitteilt, zu-
gleich auch als Symbol des Nichtmitteilbaren zu ver- Textimmanente Kritik und der Begriff
stehen ist, erscheint gerade die Sprache der Dichtung, der Reflexion
die neben der Mitteilung des Mitteilbaren etwas ent-
hält, was nicht mitteilbar ist, angewiesen aufüberset- In seiner Dissertation DER BEGRIFF DER KuNSTKRITIK
zung, auf die, wie Benjamin es nennt, »überführung IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK, die zwischen beiden
der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum Sprachaufsätzen entsteht, untersucht Benjamin nicht
von Verwandlungen<< (II, 151). Dabei handelt es sich allein den romantischen Kritik-Begriff, sondern er
um einen Vorgang der Vervollkommnung, denn die entwickelt in der Auseinandersetzung mit dem Begriff
übersetzung hat Anteil am Vollkommenwerden von eine Methode der Werkerschließung. Trotz gewisser
Sprache, wenn sie aus dem, was sich durch Sprache Umdeutungen, die der Kritik-Begriff in Benjamins
mitteilt, auf jene sprachlichen Momente stößt, die sich späteren Schriften erfährt, hat er die entscheidenden
in ihr mitteilen. theoretischen Prägungen in den frühen Arbeiten er-
Diesen sprachkritischen Ansatz entwickelt Benja- halten.
min in der Abhandlung DIE AUFGABE DES ÜBERSET- Neben dem Begriff der Kritik interessiert Benjamin
ZERS (1921) weiter und greift zugleich in entscheiden- jener der Reflexion, der für ihn mit dem Kritik-Begriff
den überlegungen auf Einsichten zurück, die er im in engstem Zusammenhang steht. Dabei gilt es für sein
frühen Sprachaufsatz von 1916 formuliert hat. Das Verständnis der romantischen Kunstkritik als ausge-
Unübersetzbare, jenes Sagenwollen der Sprachen, ver- macht, daß Kritik »ein Experiment am Kunstwerk [ist],
weist auf die reine Sprache in ihrem paradiesischen durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch
Zustand. Zwar sind die Sprachen im Sagenwollen ein- das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner
ander verwandt, doch ist durch den Sündenfall und selbst gebracht wird<< (I, 65). Ob das Experiment ge-
die danach einsetzende Sprachverwirrung diese Ver- lingt, hängt davon »ab, wie weit der Experimentator
wandtschaft nur noch im Verborgenen auszumachen. imstande ist, durch Steigerung seines eigenen Bewußt-
Aufgabe derübersetzungdarf es nicht sein, dem Ori- seins, durch magische Beobachtung, wie man sagen
ginal gleichen zu wollen, sich ihm ähnlich zu machen darf, sich dem Gegenstand zu nähern und ihn endlich
und so in der Mitteilung zu erschöpfen, sondern sie in sich einzubeziehen<< (60). So wird intensive Beob-
hat im Wissen um das Nicht-Mitteilbare, das sich in achtung zur Bedingung des kritischen Verfahrens, das
jeder Sprache als ihr magischer Kern findet, die sprach- auch der Reflexion bedarf, weil das reflektierende Ver-
liche Arbeit auf das Verborgene auszurichten. In Ben- fahren nach Benjamins Oberzeugung in engster Bezie-
jamins Verständnis ist diese Arbeit bestimmt als ein hung zum kritischen steht. Während Kritik häufig als
314 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Beurteilung verstanden wird, macht Benjamin geltend, läßt sich nicht enthüllen, weshalb das gemäße Verfah-
daß Kritik» Vollendung, Ergänzung, Systematisierung ren der Kunstkritik das der Anschauung ist. >>Die
des Werkes<< (78) zu sein hat. Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr
In der Dissertation gelingt es Benjamin, einen Be- durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur
griff von Kritik zu entwickeln, der es ihm ermöglicht, wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben<<
Kunstwerke in einem experimentellen Verfahren auf- ( 195 ). In diesem Vorgehen der Kunstkritik zeigen sich
und dabei zu erschließen. In dieser frühen Phase leistet Parallelen zu dem, was Kommentar und Sachgehalt
das die immanente Kritik, wobei durch Reflexion die miteinander verbindet. Wie die Anschauung des Schö-
im Kunstwerk selbst angelegten Tendenzen entdeckt nen erst durch die genaueste Erkenntnis der Hülle
werden. Dabei experimentiert die Kritik in einem re- möglich wird, ist die Kritik bei ihrer Suche nach dem
flektierenden Verfahren mit dem Werk und untersucht Wahrheitsgehalt aufgefordert, präzise und ausdauernd
es auf seinen sprachlichen Gehalt wie auf jene Sinn- die Sachgehalte zu kommentieren.
und Bedeutungsstrukturen hin, die zur Reflexion ein-
laden. Durch dieses Verfahren werden jene Gedanken
weitergeführt, die im Werk selber unvollendet geblie- Rolle der Kritik im Zeitschriftenprojekt
ben sind. Da der Kritiker aber um den fragmentari- ,,Angelus Novus((
schen Charakter des Kunstwerkes weiß, ist er aufge-
fordert, das unvollendet Gebliebene der Vollendung Eine Chance, seine überlegungen zur Kritik stärker
zuzuführen und sich jener sprachlichen Dinge anzu- praktisch zu erproben, eröffnete sich Benjamin durch
nehmen, die auf die reine Sprache verweisen. Sie muß das Angebot, eine Zeitschrift herauszugeben, die er
von dem freigelegt werden, was als Geschwätz über ihr ANGELUS Novus nennen wollte. Erwähnt wird das
lagert. Projekt zuerst in einem Brief an Scholem vom 4.8.1921.
Als erklärtes Ziel soll die Zeitschrift >>den Geist ihrer
Epoche<< (II, 241) bekunden. Als Benjamin im Dezem-
Verhältnis von Kommentar und Kritik ber 1922 die ersten Korrekturbögen vorliegen, ist das
Erscheinen der Zeitschrift weiterhin ungewiß. Bereits
Benjamins Aufsatz über GoETHES WAHLVERWANDT- im Oktober selben Jahres hatte Benjamin schon ge-
SCHAFTEN (1922) kann als ein kritisches Experiment ahnt, daß das Projekt scheitern könnte. In einem Brief
verstanden werden, bei dem der Autor auf Einsichten an Rang schrieb er: >>Dem Angelus aber bitte ich Dich
zurückgreift, die er in den Sprachaufsätzen und der um seiner Ankündigung willen ein freundliches Ge-
Dissertation formuliert hat. Für die Untersuchung des dächtnis zu bewahren. Ich jedenfalls werde es so hal-
Wahlverwandtschaften-Romans zentral ist die Unter- ten: diese nicht geschriebne Zeitschrift könnte mir
scheidung von Kommentar und Kritik. Während sich nicht wirklicher und nicht lieber sein, wenn sie vor-
der Kommentar dem Sachgehalt eines Werkes zuwen- läge<< (2, 279f.).
det, ist es nach Benjamins Auffassung Aufgabe der Was Benjamin an inhaltlicher Ausrichtung vor-
Kritik, nach dem Wahrheitsgehalt zu suchen. Er geht schwebte, hat er in der ANKÜNDIGUNG DER ZEIT-
davon aus, daß Sach- und Wahrheitsgehalt, die zur SCHRIFT: ANGELUS Novus (1921/22) formuliert. Die
Entstehungszeit des Werkes noch >>geeint<< (I, 125) Zeitschrift sollte eine mit dem Athenäum der Roman-
sind, im Verlaufe der überlieferungsgeschichte ausein- tiker begonnene Tradition fortführen, in einem we-
ander treten und die Sachgehalte erst dann bewußt sentlichen Punkt aber über sie hinausgehen: Kritik
registriert werden, wenn sie sich in der Wirklichkeit sollte nicht periphere Zugabe, sondern eine der tra-
nicht mehr finden lassen. Deshalb müsse der Kritiker genden Säulen innerhalb des Projektes sein. Die >>po-
mit der Kommentierung des >>Auffallenden und Be- sitive[] Kritik<<, von der Benjamin spricht, müsse
fremdenden, des Sachgehaltes<< (ebd.) beginnen, weil >>mehr als bisher, mehr auch als es den Romantikern
allein aus dieser Arbeit, bei der reflektierend der Text gelang, die Beschränkung auf das einzelne Kunstwerk
einer immanenten Betrachtung unterzogen wird, dem [... ] üben<< (II, 242). Des weiteren erteilt Benjamin in
Kritiker >>mit einem Schlag[ ... ] ein unschätzbares Kri- seiner programmatischen Erklärung den nie wirklich
terium seines Urteils<< >>entspringt<< (ebd.). Somit wird kalkulierbaren Ansprüchen des Publikums eine ent-
Reflexion, wie er sie in der Dissertation definiert hat, schiedene Absage- an deren vermeintlichen Wün-
zur Voraussetzung der Arbeit des Kritikers, wobei er, schen wollte sich das Blatt gerade nicht orientieren.
auf der Suche nach dem Wahrheitsgehalt, >>Wahrheit Hingegen sollte die Kritik, für die sich in Deutschland
im Wesen der Sprache<< (197) zu entdecken vermag. seit hundert Jahren jedes >>ungewaschene Feuilleton<<
Wahrheit ist allerdings an das Schöne gebunden und (ebd.) ausgeben durfte, wieder zur Gewalt des kriti-
Literaturkritik 315

sehen Wortes finden. Denn nur eine Kritik, die dem Buch plane. Darin wollte er Vertretern des geistigen
»wahrhaft Aktuelle [n] << (241) verpflichtet wäre, wie es Deutschland, wie es Fritz von Unruh vertrat, die Be-
bei Benjamin heißt, würde sich von der in den Tages- glaubigung absprechen: >>Brutaler konnte man das
zeitungen praktizierten unterscheiden können und zur Glück, Paris zu einer Zeit zu sehen, wo das den mei-
ursprünglichen Bedeutung des Wortes >Kritik< zurück- sten deutschen Freunden des französischen Geistes
finden. >>Eine so verstandene Aktualität ist zeitgemäß noch versagt war, nicht verraten. Ich glaube, es wäre
und unzeitgemäß zugleich. Deshalb sollte die Zeit- an der Zeit, solchen >Botschaftern< des geistigen
schrift, die sich Benjamin vorstellte, sowohl in ihrer Deutschland die Beglaubigung abzusprechen« (3, 56).
Zeit als auch gegen sie stehen. Anstatt um die Gunst Doch die Arbeit zog sich hin. Erst im Oktober selben
des Publikums zu >buhlen<, hat sie um Aktualität zu Jahres teilte er Scholem mit: >>Soeben habe ich eine
werben« (Wohlfarth 1999, 35 ). Einer solchen Aufgabe Rezension von Fritz von Unruh: >Flügel der Nike< ab-
vermag Kritik nur durch Versenkung ins Werk gerecht geschlossen. >Buch einer Reise<. [... ] Gewiß wird der
zu werden. Deshalb hat sie nicht durch >>Darstellung Mann wieder hochkommen, weil das europäische Li-
zu unterrichten oder Vergleiche zu bilden« (II, 242), teraturleben noch hinterm Sumpfe dadurch zurück-
sondern sie muß ins Innere des Werkes eindringen, steht, daß keiner in ihm umkommen kann: aber es
um unter der Oberfläche auf jenes >>wahrhaft Aktuelle« wird doch schon ein Schauspiel sein, wie und wo er
(245) zu stoßen, das zu entdecken ihre Aufgabe sei. nach dieser einläßlichen Charakteristik seines Pazifis-
Das Eindringen ins Textinnere erweist sich für den mus den Mund wieder auftut« (90). Die Rezension
Kritiker als zentraler Grundsatz seiner kritischen Ar- erschien unter dem Titel FRIEDENSWARE am 21.5.1926
beit. Wenngleich die Zeitschrift nie erschienen ist, hat in der Literarischen Welt. Nur auf den ersten Blick
Benjamin in der ANKÜNDIGUNG wesentliche theoreti- verwundert, weshalb sich Benjamins Zorn gerade an
sche Grundsätze seines Kritik-Begriffs formuliert. einem Fritz von Unruh entzündete, der dem Kritiker
in seinen politischen Ansichten nicht so fern zu stehen
scheint.
Fritz von Unruh - Etikettenschwindler In seinem Buch berichtet der erklärte Pazifist Unruh
von einer Reise durch Frankreich, die er nach dem
Nach dem Scheitern seiner Habilitation gelang es Ben- Ersten Weltkrieg unternahm. Allerdings vergaß der
jamin in relativ kurzer Zeit, sich Publikationsmöglich- selbst ernannte Friedensstifter zu erwähnen, daß er
keiten in den beiden bedeutendsten Zeitungen der bereits 1914 dazu einlud, den Franzosen einen Besuch
Weimarer Republik zu eröffnen. Neben der Frankfur- abzustatten. Damals rief der Autor des >>Reiterliedes«
ter Zeitung, zu der ihm 1925 Siegfried Kracauer den dazu auf, Paris im Sturmangriff zu nehmen. In Unruh
Weg ebnete, gelang es Benjamin auch, seine Arbeiten bekämpft Benjamin einen typischen Vertreter jener
in der Literarischen Welt zu veröffentlichen. Dabei ver- Gewendeten, die im Nachkriegsdeutschland immer
folgte er nach der Capri-Reise das Ziel, die >>aktualen mehr an Einfluß gewinnen. >>Benjamin wollte der öf-
und politischen Momente[ ... ] zu entwickeln, und das, fentlichen Einkehr dieses ehemaligen preußischen
versuchsweise, extrem« (2, 511). Mit dieser neuen Aus- Offiziers, der kaum ein Jahrzehnt zuvor als überzeug-
richtung seiner Arbeiten war verbunden, daß die >>li- ter Kriegslyriker die deutsche Bühne betreten hatte,
terarische Exegese« (ebd.) zurücktrat. keinen Glauben schenken. Dabei ging es ihm nicht
Als erster bekommt Fritz von Unruh (1885-1979) darum, einen Privatmann zu attackieren, sondern eine
zu spüren, was Benjamin vorschwebt, wenn er seine in seinen Augen typische Literatur zu denunzieren«
Haltung nicht mehr >>altfränkisch« maskieren, sondern (Brodersen 1990, 177).
sich in seinen Schriften politisch positionieren will. Er kritisiert Unruh, weil dessen Ansichten als Bot-
Mit der Besprechung von Unruhs Buch Die Flügel der schafter der Völkerverständigung gegenüber den Fran-
Nike (1925) verfolgt Benjamin zwei Ziele: Zum einen zosen anmaßend und besserwisserisch sind. Zwar will
gedenkt er den Platz abzustecken, den er insbesondere der ehemalige Offizier in der Rolle des Vermittlers auf-
>>in der Literarischen Welt behaupten will« und zum treten, aber er erweist der Sache keinen wirklichen
anderen ist es seine Absicht, mit einer als >>Galavorstel- Dienst- zu deutlich scheinen unter dem Friedensko-
lung angelegten Rezension nicht nur seine Präsenz als stüm die alten Waffen hervor. Während Unruh für sich
Kritiker auf dem Markt anzuzeigen, sondern zugleich die Rolle des Aufklärers reklamiert, deutet Benjamin
das Niveau einerneuen Kritik« zu bestimmen (Köhn den pathetischen Ton als reinstes Epigonentum, ent-
1989, 199). larvt er in Unruh den Händler von >>Friedenswaren«,
Bereits im Juli 1925 erwähnte Benjamin in einem der verschweigt, woher die Produkte stammen, die er
Brief an Rilke, daß er eine Besprechung von Unruhs anbietet.
316 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Der Vorwurf des vorsätzlichen Etikettenschwindels des Autors. >>Denn weiter als die Dummheit dieses
durchzieht den gesamten Text. Hinter dem vermeint- Buches<<, heißt es in Benjamins Kritik, >>reicht die spie-
lichen Freund der Franzosen, als der sich Unruh ver- gelgeile Eitelkeit des Verfassers, höher als die Eitelkeit
steht, zeigt Benjamin den Frontkämpfer, der seine des Autors türmt der Unrat einer Produktion sich auf,
erste Berührung mit Frankreich vor Verdun hatte. an der ganz neu die theologische Erkenntnis sich be-
Doch an diese »Fühlung mit dem Kundenkreise« (111, währt, daß die Werke der Eitelkeit Schmutz sind. Er ist
24), als er sich mit »schwerer Munition<< (ebd.) nä- hier über beide Länderbreiten ausgegossen, daß kein
herte, will sich der Händler von Friedenswaren nicht großer und ehrlicher Name mehr bleibt, der von sei-
erinnern. Benjamin wirft ihm vor, daß >>er gerade jene nem Gestank nicht durchtränkt wäre<< (27).
Salons aufgesucht hat und nun verherrlicht, die Nutz- Durch den Schlag, zu dem Benjamin in seiner Be-
nießer des vergangenen Krieges und mutmaßlich auch sprechung gegen Unruh ausgeholt hat, soll Falsches
der Vorbereitung eines kommenden sind und denen vom Wahren geschieden werden. >>Das Widerstreben
man ansehen kann, daß sie gegen alle Diskussionen gegen den Pazifismus lag tief in Benjamins Philoso-
über Anstifter, Ursachen und Mittel des Krieges >voll- phie, ja in seiner ganzen geistigen Physiognomie be-
kommen lautdicht abgeschlossen sind<<< (Hartung gründet. [... ]Den >Deklamationen der Pazifisten und
1986, 408). An Unruhs Pazifismusposition macht Ben- Aktivisten< [II, 187] wird aber nicht eine andere Mei-
jamin deutlich, wie weit ihn diese Haltung vom Kant- nung zur Gewalt, sondern deren >Kritik< entgegenge-
schen Friedensgedanken entfernt. >>Die Ware Frieden stellt<< (Hartung 1986, 408f.).
steht, bis auf weiteres, in größtmöglichem Gegensatz In der Haltung, die in der Rezension zum Ausdruck
zum wahren Frieden<< (vgl. Honold 2000, 211). Denn kommt, finden sich wichtige Grundsätze kritischen
die Friedensidee, der Unruh folgt, ist das Thema von Arbeitens wieder, die Benjamin in DIE TECHNIK DES
Abendunterhaltungen, wie sie auf den Banketten der KRITIKERS IN DREIZEHN THESEN aus der EIN-
Rüstungsgewinner gepflegt werden. Während Unruh BAHNSTRASSE festgehalten hat. Wenn es in der ersten
dieser Salonphilosophie die Treue hält, plädiert Ben- These heißt: >>Der Kritiker ist Stratege im Literatur-
jamin nicht allein für eine nüchterne Sicht aufVergan- kampf<< (IV, 108), dann weist Benjamin ihm in diesem
genheit und Gegenwart, sondern ihm scheint auch die Kampf die Aufgabe zu, sich als Taktiker auf dem Feld
Zukunft in Gefahr zu sein, wenn er schreibt: >>Die der literarischen Auseinandersetzung mit einem stra-
große Prosa aller Friedenskünder sprach vom Kriege. tegischen Plan zu behaupten. Daß er in seiner Bespre-
Die eigne Friedensliebe zu betonen, liegt denen nahe, chung Partei ergreift, stimmt mit der Forderung über-
die den Krieg gestiftet haben. Wer aber den Frieden ein, die er in der zweiten These aufgestellt hat: >>Wer
will, der rede vom Krieg. Er rede vom vergangenen nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen<<
(heißt er nicht Fritz von Unruh, welcher gerade davon (ebd.). Allerdings würde man ihn einseitig interpre-
einzig und allein zu schweigen hätte), er rede von dem tieren, wenn man diese Formulierung allein parteipo-
kommenden vor allem<< (111, 25). litisch verstehen wollte. In FRIEDENSWARE bezieht er
Benjamins Aufforderung, daß, wer den Frieden will, in allererster Linie Partei aus überzeugung und Em-
vom Krieg reden müsse, ist ein Plädoyer für die Auf- pörung. Es ging ihm nicht allein um die >>Vernichtung
arbeitung der Vergangenheit. Das Geschehene darf [... ] eines Buches sondern einer Buchschreiberei« (3,
nicht als Betriebsunfall der Geschichte betrachtet wer- 169), wie er sich im Juli 1926 gegenüber Kracauer äu-
den, sondern es ist erforderlich, das historische Ereig- ßert. Diese Form von >Schreiberei< verdient nach Ben-
nis in seinen kausalen Zusammenhängen zu erfassen jamins Ansicht nur die gründlichste öffentliche Abur-
und zu analysieren. Weil es Unruh daran fehlen läßt, teilung und Vernichtung. Insofern würde der Vorwurf,
weil er nicht nach den Ursachen fragt, sondern mit die Polemik sei unsachlich, zu kurz greifen, denn in
dem dürftigen Mäntelchen eines falschen Pazifismus der fünften These heißt es: >>Immer muß >Sachlichkeit<
verdecken will, was sich ereignet hat, richtet ihn Ben- dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache es
jamin öffentlich. Er demaskiert den Autor, der sich in wert ist, um welche der Kampf geht<< (IV, 108). Daraus
der Pose als Friedenstifter gefällt (vgl. 23f.). Um auf allein ein parteipolitisches Bekenntnis zur kulturpoli-
das >>kassandrische[] Kauderwelsch<< (25) des Unruh- tischen Praxis des orthodoxen Marxismus abzuleiten,
sehen Stils aufmerksam zu machen, bedient sich Ben- verliert den historischen und literaturpraktischen Hin-
jamin einer geschliffenen Sprache und führt in Unruh tergrund aus den Augen, vor dem die Thesen entstan-
einen Autor vor, der schlichtweg die Zeit verschlafen den sind. Benjamin entwickelt kein Konzept literari-
hat - das Unzeitgemäße an der Position erweist sich scher Kritik in Anlehnung an ein marxistisches Partei-
als >>schlichte[r] Blödsinn[]<< (26). Neben der Dumm- programm. Er benutzt vielmehr die Kunst des
heit stört Benjamin an dem Text vor allem die Eitelkeit Kritisierens als >>blanke Waffe in dem Kampfe der Gei-
Literaturkritik 317

ster<< ( 109). Wie treffsicher er diese Waffe zu führen mit dem Einsatz von Giftgas auf den Schlachtfeldern
verstand, davon zeugt der Text FRIEDENSWARE, selbst des Ersten Weltkrieges außer Kraft gesetzt wurde. >>Der
wenn der kritische Impuls in erster Linie ein sittlicher Gaskampf, für den die Mitarbeiter dieses Buches auf-
war, wie es Benjamin in der sechsten These formuliert fallend wenig Interesse haben, verspricht dem Zu-
hat: >>Kritik ist eine moralische Sache<< (108). kunftskrieg ein Gesicht zu geben, das die soldatischen
Kategorien endgültig zugunsten der sportlichen ver-
abschiedet, den Aktionen alles Militärische nimmt und
Ernst Jüngers ))Krieg und Krieger« sie sämtlich unter das Gesicht des Rekords stellt. Denn
seine schärfste strategische Eigenart besteht darin, blo-
Fünf Jahre nach der Fertigstellung von FRIEDENSWARE ßer und radikalster Angriffskrieg zu sein<< (239 f.).
beschäftigt sich Benjamin in THEORIEN DES DEUT- Doch Jüngers Mitstreiter sind in >>knabenhafte [r] Ver-
SCHEN FASCHISMUS erneut in einer literaturkritischen schwärmtheit<< (240) unfähig, aus dem Krieg, an dem
Arbeit mit dem Pazifismus. Dem Herausgeber des sie als Offiziere teilgenommen haben, jene Schlüsse zu
Sammelbands Krieg und Krieger, Ernst Jünger, wirft er ziehen, die einen nächsten erschweren würde. >>Frei-
vor, dieser würde sich mit der Formulierung, daß es in beuter von Fach haben das Wort. Ihr Horizont ist
der Geschichte >>>eine nebensächliche Rolle spielt, in flammend, aber sehr eng<< (246), gibt Benjamin zu
welchem Jahrhundert, für welche Ideen und mit wel- bedenken. Ein Hauptvorwurf, den er geltend macht,
chen Waffen gefochten wird<<< einen >>Grundsatz des lautet, daß in den Texten vom Krieg geredet wird, als
Pazifismus<< zu eigen machen (III, 239). In dieser >>an- wäre er der >>höchste Ausdruck der deutschen Nation.
fechtbarsten und [... ] abstraktesten<< Formulierung, Daß sich hinter dem ewigen Kriege der Gedanke des
die Jünger gewählt hat, vermag Benjamin >>einige Be- kultischen, hinter dem letzten der des technischen
griffe vom nächsten Krieg<< auszumachen (ebd.). Für verbirgt, und wie wenig es den Verfassern gelungen ist,
Günter Hartung stellt Benjamins Jünger-Polemik ei- deren Verhältnis zueinander ins reine zu bringen<<
nen Höhepunkt innerhalb der Benjaminsehen Allti- (241 f.), müsse deutlich gemacht werden.
kriegsschriften dar. >>Unter Aufnahme und Weiterfüh- Benjamin ist weit davon entfernt, das, was sich in
rung seiner bisherigen politischen Publizistik war hier dieser Schrift an Bekennerturn zum Krieg äußert, al-
eine Schrift entstanden, die in einzigartiger Weise der lein als Ausdruck einer Schar von Unverbesserlichen
Forderung entsprach, Anstifter, Ursachen und Mittel anzusehen. Ihm sind die Töne, die in dem Band ange-
kommender Kriege kenntlich zu machen. Auch die schlagen werden, Symptom einer verfehlten und gänz-
Form, welche Entwicklung von Theorie mit politischer lich falsch verlaufeneu Aufarbeitung des letzten Krie-
und philosophischer Polemik verband, hatte und hat ges. Dagegen macht er in seiner Kritik deutlich, wie
vorbildlichen literarischen Wert<< (Hartung 1986, 413). durch das Trauma vom verlorenen Krieg verhindert
Benjamin macht in den Texten des Sammelbandes eine wurde, nach den Ursachen zu fragen, die ihn ermög-
Diskrepanz aus- nur ungenügend wird die entfesselte lichten. Dabei geht Benjamin selber wie ein militäri-
Technik moralisch erhellt, so daß die wirtschaftlichen scher Aufklärer vor- er dringt in das von Jünger und
Kriegsursachen nicht zur Sprache kommen. Jünger den Seinen besetzte Gebiet ein und enttarnt sie, indem
und seinen Mitstreitern wirft er vor, daß sie blind für er die geheimen Absichten seiner Gegner öffentlich
die Zusammenhänge zwischen Technik und Krieg macht. Während sich die in Materialschlachten ge-
sind: >>Jeder kommende Krieg ist zugleich ein Sklaven- stählten Krieger einer vernunftwidrigen Sprache be-
aufstand der Technik<< (III, 238), führt Benjamin aus dienen, greift Benjamin auf die Sprache der Vernunft
und polemisiert entschieden gegen diese Schrift, weil zurück und überläßt den>> Kriegsingenieuren der Herr-
der Rückblick auf den vergangeneu Krieg zu keinerlei scherklasse<< (249) das Feld nicht kampflos. >>Wohl aber
brauchbaren Einsichten führt, um einen möglichen hat man alles Licht, das Sprache und Vernunft noch
künftigen zu verhindern. Den Gedanken, daß der immer geben, auf jenes >Urerlebnis< zu richten, aus
Krieg so schwer zu fassen sei, wie es in Jüngers Band dessen tauber Finsternis diese Mystik des Weltentods
behauptet wird, entkleidet Benjamin auf seinen sub- mit ihren tausend unansehnlichen Begriffsfüßchen
stantiellen Kern. Er findet in dem Reden über den hervorkrabbelt<< (249 f.). Auch für diese Kritik gilt, was
Krieg, und insbesondere über den Ersten Weltkrieg, Hartung als ein >>Formgesetz<< Benjaminscher Rezen-
Hinweise darauf, daß den Mitarbeitern an diesem sionen ansieht: >>Fast jede hat an gewichtiger Stelle,
Buch der Krieg als >>der höchste Ausdruck der deut- meist am Ende, nach der blitzlichthaften Erhellung
schen Nation<< (241) gilt. Den Vertretern dieser Gei- ökonomischer, politischer literarischer Zusammen-
steshaltung wirft er vor, daß sie noch immer einem hänge, ein Resümee über die Aktualität der besproche-
soldatischen Heroismus nachhängen, der spätestens nen Schrift. Es versteht sich, daß das Verfahren im
318 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Bereiche echter Philologie bleibt, welche >die Sachver- des Verfassers, über das Benjamin schreibt: >>Sein Ge-
halte nie außerhalb des Wortes zu fassen< sucht<< (Har- schichtsbild taucht aus dem Hintergrunde des Mögli-
tung 1978, 20). Mit der Kritik THEORIEN DES DEUT- chen auf, gegen den das Relief des Wirklichen seine
SCHEN FASCHISMUS zeigt sich Benjamin auf der Höhe Schatten wirft<< (253 ).
der Zeit, weil er das Gefährliche an dem Geist aufdeckt, Erneut macht Benjamin 1934 in DER EINGETUNKTE
der sich erneut formiert. >>Zu Beginn der dreißiger ZAUBERSTAB, einer Rezension von Kommerells Jean
Jahre, im Schatten der Weltwirtschaftskrise und des Paul-Buch, Bedenken gegenüber dem Autor geltend.
vorrückenden Faschismus verfaßt Benjamin einige Mit Bezug auf das frühere Buch ruft er in Erinnerung,
rücksichtslos vernichtende Rezensionen, die hinter daß gegen KommereHs Versuch, >>die Klassiker zu Stif-
dem Ideenaufschwung die Einstimmung der Intellek- tern eines heroischen Zeitalters der Deutschen zu ma-
tuellen auf den kommenden Krieg freilegen<< (Lindner chen<< (410) Einspruch zu erheben ist. Das >Banausi-
1980, 132). sche< dieser Position wird offensichtlich an dem Schul-
terschluß, den die Männer des Geistes mit den in
Stahlgewittern gestählten Kriegshelden suchen. Kom-
Max Kommerells Bekenntnis zum Dichter merells Buch ist erfüllt vom >>Scheppern stählerner
als Führer Runen<<, so daß Benjamin das Buch in einer bestimm-
ten Tradition sieht: >>als den ersten kanonischen Fall
Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt Benjamin zu eines deutschen Aufstands wider die Zeit, eines heili-
dieser Zeit auch die Entwicklungen in den Geisteswis- gen Kriegs der Deutschen gegen's Jahrhundert<< (255).
senschaften. In dem Bemühen der Nationalkonserva- In diesem geistigen Bekenntnis, das die Erneuerung
tiven, die sich auf die ewigen Werte der Dichtung zu- der deutschen Nation intendiert, erkennt Benjamin
rückziehen, erkennt er eine verhängnisvolle Tendenz, jene verheerende >>germanische [] Götterdämmerung<<
sich in Geschichtslosigkeit zu verlieren. Diese Vertreter (254), die Kommerells Ansatz eingeschrieben ist. Der
stehen für Benjamin in Beziehung zu den bekehrten vermeintliche Erneuerer eines >gereinigten Deutsch-
Friedenspredigern, wie sie von Unruh und Jünger ver- land< wird mit den untauglichen Versuchen, die er
körpert werden. Auf diese Nähe weist er in einem Brief propagiert, einer eingehenden Kritik unterzogen. Zwar
an Scholem hin, den er über seinen Plan informiert, nimmt Kommerell bezug auf die Geschichte, aber es
in einem Rundfunkvortrag Ernst Jüngers Sammelband hat für Benjamin den Anschein, als sei diese Geschichte
Krieg und Krieger Max Kommerells Buch Dichter als mit Napoleon zu Ende gegangen. An Kommerens Buch
Führer in der deutschen Klassik an die Seite zu stellen stört ihn, daß darin Vergangenheit um ihrer selbst wil-
(vgl. 3, 531). Leider ist es bei dem Plan geblieben, denn len zum Gegenstand der Darstellung gemacht wird,
ein solcher Text findet sich unter Benjamins Rund- und ausgespart bleibt, welche Bedeutung das Vergan-
funkarbeiten nicht. Stützen wollte er sich dabei auf gene für die Gegenwart hat. >>Gibt es zeitlose Bilder<<,
seine Rezension WIDER EIN MEISTERWERK (1930). heißt es in WIDER EIN MEISTERWERK, >>SO gibt es zeit-
Diese Besprechung erschien am 15.8.1930 in der Lite- lose Theorien gewiß nicht. Nicht Überlieferung kann
rarischen Welt, aber die Beschäftigung mit Kommerells über sie entscheiden, nur die Ursprünglichkeit. Das
Buch reicht weiter zurück. Gegenüber Scholem äußert echte Bild mag alt sein, aber der echte Gedanke ist neu.
sich Benjamin 1929: >>In San Gimignano habe ich mir Er ist von heute. Dies Heute mag dürftig sein, zugege-
die Hände an den Dornen eines allerdings stellenweise ben. Aber es mag sein wie es will, man muß es fest bei
überraschend schön blühenden Rosenbuschs aus den Hörnern haben, um die Vergangenheit befragen
Georges Garten zerschunden. Es ist das Buch >Der zu können. Es ist der Stier, dessen Blut die Grube er-
Dichter als Führer in der deutschen Klassik<. Sein Ver- füllen muß, wenn an ihrem Rande die Geister der Ab-
fasser heißt KommereH und meine Rezension: Wider geschiedenen erscheinen sollen. Diese tödliche Stoß-
ein Meisterwerk<< (3, 478 f.). Diese >>erstaunlichste Pu- kraft des Gedankens ist es, welche den Werken des
blikation, die in den letzten Jahren aus dem George- Kreises fehlt. Statt es zu opfern, meiden sie das Heute.
kreise hervorging<< (486) ist nach Benjamins Überzeu- In jeder Kritik muß ein Martialisches wohnen, auch
gung auch deshalb beispielhaft, weil der Autor ein sie kennt den Dämon. Eine, die nichts als Schau ist,
Vertreter des >>deutschen Konservatismus<< (III, 252) verliert sich, bringt die Dichtung um die Deutung, die
ist. Benjamin gilt das Buch als >>eine esoterische Ge- sie ihr schuldet, und um ihr Wachstum<< (258 f.). Das
schichte der deutschen Dichtung<<, die in >>Wahrheit Gemeinsame zwischen Jünger und Kommerell resul-
eine Heilsgeschichte der Deutschen<< ist und sich als tiert für Benjamin aus einem geistigen Arsenal, in dem
>>Lehre vom wahren Deutschtum<< (254) versteht. Zu >>die Tarnkappe neben dem Stahlhelm hängt<< (259).
kritisieren ist an dieser Darstellung das Geschichtsbild Mit einem weiteren Vertreter des deutschen Konser-
Literaturkritik 319

vatismus, mit Emil Ermatinger, beschäftigt sich Ben- ansieht. Geschrieben hat er den Brief am 11.6.1925. Er
jamin in der am 17.4.1931 in der Literarischen Welt ist diplomatisch und in jener chinesischen Höflichkeit
erschienenen Besprechung LITERATURGESCHICHTE gehalten, die Benjamin gelegentlich nachgesagt wird.
UND LITERATURWISSENSCHAFT. Auffällig ist wiederum Die sich darin findende Einschätzung über das Stück
die militärische Terminologie, deren er sich bedient, Der Turm ist eine einzige Eloge. Benjamin sieht in dem
um seinen Gegner auf dem Feld des Geistes zu stellen. Drama >>ein Trauerspiel in seiner reinsten, kanonischen
Benjamin kritisiert die Vertreter des konservativen Fo;m<< (47). Der Verfasser des Trauerspielbuches deu-
Lagers, allen voran die des George- Kreises, weil sie tet Hofmannsthals Stück als einen Versuch, die barocke
Jünger und den Seinen, die ihre Truppen bereits wieder Dramenform, die Benjamin in seiner Habilitations-
in Stellung bringen, keinen ernsthaften Widerstand schrift untersucht und neu zu bestimmen versucht hat,
entgegenbringen. Angesichts einer sich ankündigen- zu erneuern und wieder zu beleben. Dabei zeigt sich
den Gefahr >>bereitet die Germanistik ihren Rückzug Benjamin besonders von der Gestalt des Julian beein-
vorm Faschismus vor; mehr noch sie stellt Hilfstrup- druckt. >>Am nächsten berührt in dieser Gestalt mich
pen bereit<< (Lindner 1980, 132). Diesen Rückzug ist das großartige Widerspiel tiefer Schwäche und tiefer
Benjamin nicht bereit zu decken. Wenn sich die Lite- Treue. Einer Treue, die, unfreiwillig, nur aus Schwäche
raturwissenschaft als Literaturgeschichte verstehen kommt und dennoch wunderbar mit ihr versöhnt.
will, dann genügt es nach seiner Auffassung nicht, >>die Denn dieser Mann nähert der befreienden Entschei-
Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit dung sich aufs Haar und bleibt doch, wo er steht, als
darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, ewiger Diener des Entschiednen, gebannt<< (48).
die Zeit, die sie erkennt- das ist die unsere- zur Dar- In Benjamins Rezension des Stücks, die erst sehr viel
stellung zu bringen<< (III, 290). später, am 9.4.1926, in der Literarischen Welt erscheint,
setzt er das Trauerspiel in Beziehung zum Calder6n-
schen Text. An den Anfang seiner Kritik hat er eine
Die Turm-Besprechung - Hugo von grundsätzliche Bemerkung über das Verhältnis von
Hofmannsthai in freundschaftlicher dramatischer Urform und den daraus hervorgehenden
Verbundenheit Varianten gestellt, die solche Urformen im Laufe der
Geschichte erfahren. Nach BenjaminsAnsicht erweisen
Während Benjamin in dem zum Pazifismus konver- sich die >>fruchtbaren dramatischen Stoffe [... ] [als]
tierten Unruh und dem konservativ >>blühenden Ro- begrenzt; unendlich sind nur die Motive, die sie Form
senbusch[]<< Kommerell (3, 478) jene Gegner aus- gewinnen lassen. Erfindung schlechtweg ist gerade im
macht, zu deren Wirken er kritisch Stellung bezieht, Dramatischen die Passion des Dilettanten<< (III, 30).
ist sein Verhältnis zu Hugo von Hofmannsthal, dem er Ausgehend von dieser Feststellung, erstmals hat er
sich freundschaftlich verbunden fühlt, von ganz ande- ähnliche Überlegungen in >>EL MAYOR MONSTRUO, LOS
rer Art. Hofmannsthai hat sich nicht nur für die Ver- CELOS<< VON CALDERON UND >>HERODES UND MA-
öffentlichung der Wahlverwandtschaften-Arbeit in den RIANNE<< VON HEB BEL. BEMERKUNGEN ZUM PROBLEM
von ihm herausgegeben Neuen Deutschen Beiträgen DES HISTORISCHEN DRAMAS (1923) formuliert, wird
eingesetzt, sondern den Aufsatz, den er für >>schlecht- der Stellenwert beschrieben, den das Stück für Benja-
hin unvergleichlich<< hielt und in dem er >>ein völlig min hat: Er sieht in Hofmannsthals Umdichtung eine
sicheres und reines Denken<< (Brodersen 1990, 144) Variante zur Calder6nschen Urform, aus der sie ihre
erkannte, in höchsten Tönen gelobt. Doch Benjamins eigene >>Spannung<< bezieht.
Verhältnis zu Hofmannsthai war durchaus ambivalent, Im Mittelpunkt beider Dramen steht der Traum,
wie aus einem Brief an Scholem ersichtlich wird. Im und Benjamin nimmt die Traumszenen in beiden
Zusammenhang einer Besprechung von Hofmanns- Stücken zum Anlaß, um Urform und Variante in ihrer
thals Stück Der Turm (eine Umdichtung von Calder6ns Bezogenheit, aber auch in ihrer Eigenständigkeit dar-
Das Leben ein Traum) weist er daraufhin: >>Mein pri- zustellen. In Calder6ns Stück ist es der väterliche Arg-
vates Urteil steht mir von vornherein fest; mein dem wohn des Fürsten, den der Sohn zu fürchten hat. Weil
entgegengesetztes publizistisches ebenfalls<< (3, 27). die Astrologen befürchten, daß von seiner Person nur
Und einen Monat später spricht er, wiederum gegen- Unheil ausgehen wird, hält man ihn in einem Turm
über Scholem, davon, daß er beabsichtigt, Hofmanns- gefangen. Bei einer Probe, bei der der Fürst den Prin-
thai für sich zu gewinnen, wozu es erforderlich ist, ihm zen als Prinz und nicht als Gefangenen begrüßt, meint
in einem längeren Schreiben von der Turm-Lektüre der Fürst, alle unheilvollen Anzeichen des sich rasend
Mitteilung zu machen, was Benjamin als keine will- gebärenden Prinzen zu erkennen und läßt ihn wieder
kommene, sondern als >>eine dornige Aufgabe<< (38) einkerkern. Eingeschärft wird ihm, daß alles, was sich
320 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

in dieser Nacht zugetragen hat, nur ein Traum war. weigert sich auch, die ihm von Olivier, dem Rebellen,
Hingegen versucht in Hofmannsthals Gestaltung der angetragene Rolle als Erlöser zu übernehmen. Er läßt
Traumszene der fürstliche Vater seinem Sohn einzu- sich nicht >übernehmen<. Es gehört zum fatalistischen
reden, daß sein Leben im Kerker bis zu diesem Augen- Schluß des Stückes, daß er von einer Kugel zur Strecke
blick ein Traum war. >>Damit hat<<, nach Benjamins gebracht werden muß, damit ein Gefügigerer seine
Ansicht, >>die Funktion jenes Traums sich im tiefsten Stelle einnehmen kann. Brauchbar ist er weder als Er-
gewandelt. Wo er bei Calder6n, wie ein Hohlspiegel, löser noch als Führer, sondern er träumt von einem
in einem unermeßlichen Grunde die Innerlichkeit als archaisch paradiesischen Platz, wo es >>nach Erde und
transzendenten siebenten Himmel aufreißt, da ist bei Salz<< riecht. >>Nicht im Kriegslager und als Herr über
Hofmannsthai er eine wahrere Welt, in welche ganz Truppen und Fürsten stirbt Sigismund<<, wie Benjamin
und gar die Wachwelt hin einwandert<< (31). Anders als bemerkt, >>sondern als Wanderer an der Landstraße, die
bei Calder6n, wo die gepeinigte Kreatur in einem wü- da in >ein weites offenes Land< führt<< (100).
tenden Ausbruch gegen das erfahrene Unrecht rebel- Trotz des nicht unproblematischen Verhältnisses zu
liert, hält bei Hofmannsthai der Gepeinigte Gericht Hofmannsthai respektiert Benjamin den Autor nicht
über seinen Peiniger. allein wegen seiner loyalen Haltung als >Sachwalter<
Neben der Traumszene gilt Benjamins Aufmerksam- seiner Schriften, sondern er akzeptiert auch die poli-
keit auch der Klassifizierung des Stückes durch den tische Haltung, für die Hofmannsthai steht. Daß er,
Autor. >>Ein >Trauerspiel< heißt nicht umsonst der wie es im Turm zum Ausdruck kommt, für politische
>Turm<<< (32). Benjamin warwie kein anderer berufen, Aktionen nicht mehr zur Verfügung steht, nachdem er
die Herkunft des Textes aus der Tradition des deut- erfahren mußte, wie falsch er mit seiner Fürsprache
schen Trauerspiels zu bezeugen. Ebenfalls zentral ist für den Ersten Weltkrieg lag, unterscheidet ihn bei-
in der ersten Turm-Rezension der Hinweis auf die spielsweise von einem Fritz von Unruh.
Sprachverweigerung der Sigismund-Figur, weil darin
jene Überlegung formuliert wird, die Benjamin in ei-
nem Brief an Adorno auf Hofmannsthai selber bezo- Franz Hessel - Rezensionen im Umfeld
gen hat (6, 448f.): >>Was er im Prinzen Sigismund des Passagen-Projektes
beschwört, das ist vor allem der geschundene Leib des
Märtyrers, dem gerade Sprache- nicht umsonst- sich Das Buch Teigwaren leicht gefärbt (1926) von Franz
weigert<< (III, 32 f.). Hesse!, das von Benjamin in der BERLINER CHRONIK
Benjamin hat auch die umgearbeitete, endgültige erwähnt wird, rezensierte er für die Literarische Welt
Fassung des Stückes- sie wurde 1927 von Hofmanns- unter dem Titel FRANZ HESSEL. Hesse! erinnert ihn an
thai fertiggestellt- besprochen. >>Anläßlich der Urauf- die Figur eines Chinesen, die er als Kind im Schaufen-
führung in München und Hamburg<< (III, 98) erschien ster eines Kolonialwarenladens gesehen hat. Die Lek-
die Kritik am 2.3.1928 in der Literarischen Welt. Erneut türe des Buches bringt Benjamin zu der Einsicht, daß
ist es der Traum, der im Zentrum der Besprechung dieser nickende Chinese den Passanten nicht zunickte,
steht. Doch tritt im Unterschied zur ersten Fassung das wie er früher meinte, sondern dieses Nicken war Aus-
Traummotiv in der zweiten zurück, so daß >>die Aura druck einer Ergriffenheit, die für den Chinesen von
um Sigismund lichter wurde<< (99). Sigismund vermag der >>Qualität seiner Ware<< (111, 45) ausging. Doch
in der letzten Fassung auch deshalb deutlicher hervor- dieser Wissende kannte nicht nur seine Waren, son-
zutreten, weil Hofmannsthai insbesondere durch die dern auch den Asphalt, auf den sein Blick ständig fiel.
Neubearbeitung des vierten und fünften Aktes das Ge- Ausdauernd beobachtete er, was sich vor seinen Augen
schehen stärker >>um die politische Aktion<< gruppiert. abspielte. Für Benjamin sind diese Figur im Schaufen-
Die Stärke der Figur hat Benjamin in ZuR WIEDERKEHR ster und die Berliner Pflastersteine Bewahrer von Er-
VON HoFMANNSTHALS ToDESTAG (1930)- dort ist sie innerungen. Denn der vermag Fühlung mit den Pfla-
auf den Dichter selber gemünzt- präzise erfaßt: >>Sich stersteinen aufzunehmen, folgert Benjamin, der nicht
nicht nachbilden, nicht übernehmen zu lassen<< (250), eilig geht, sondern flaniert- und sie so zum Sprechen
ist die charakteristische Eigenschaft, die er Hofmanns- bringen kann. Benjamin selber hatte einst in Paris, als
thai nachsagt. Sie trifft auch auf die Figur des Sigis- er zusammen mit Hesse! Proust übersetzte, erste Un-
mund in der überarbeiteten Fassung zu. Sigismund terweisungen von dem schreibenden Kollegen in dieser
entsagt am Schluß allen Versuchen, ihn für eine politi- >>Geisterkunde<< ( ebd.) erhalten. Hesse! unterrichtete
sche Bewegung zu vereinnahmen. Er kündigt Julian die Benjamin, wie er das Echo deuten müsse, das seine
weitere Gefolgschaft auf, verzichtet auf den ihm ange- Schritte bei seinen Exkursionen auf den Bürgersteigen
tragenen Platz an der Spitze der Volksbewegung und der Metropolen hervorrufen.
Literaturkritik 321

Nach Benjamins Meinung sind die von Hesse! offe- so rätselhaft mit allen Perspektiven der Ferne und der
rierten leicht gefärbten Teigwaren, bei denen es sich Vergangenheit auszuweiten?« (III, 83) Eine Erklärung
um Nudeln »> [o ]hne jeden Sauerteig«< handelt, >>in dafür ist, daß Hesse! seine Exkursionen durch Zeiten
allen Wassern gewaschen[]« (46) und bedürfen, um und Länder immer von einem bestimmten Punkt aus
genossen werden zu können, einer zwanzigminütigen unternimmt: dem Tiergarten. Der Autor des Romans,
Garzeit >>über leichtem inneren Feuer des Lesers« bemerkt Benjamin, hält einen schmalen Streifen zwi-
(ebd.). So zubereitet, sind sie als Märchen zu genießen. schen Landwehrkanal und Tiergartenstraße besetzt,
Über diesen, an metaphorischen Anspielungen reichen wo er auf einer Schwelle haust. Vom Buch Heimliches
Umweg, gelangt Benjamin zu jenem Vergleich, den er Berlin selber erfahren die Leser dabei eigentlich nur,
seiner Einschätzung der Hesseischen Prosa zugrunde- wo es spielt, denn Benjamin läßt sich nicht einmal
legt- sie ähneln Märchen. >>Und schließlich sind im andeutungsweise auf die erzählte Geschichte ein- auch
Grunde Märchen wohl die Region, in welcher dieser nicht auf Clemens Kestner, die Figur, die keinen Tabak
Chinese zuständig ist« ( ebd.). Allerdings erkennt er in braucht, weil sie Illusionen raucht, nur den Namen
diesem Märchenerzähler auch einen Zauberer, dessen dieses wunderlichen Menschen teilt er mit.
Geschichten etwas Besonderes auszeichnet: >>Jede mit Drei Tage nach Erscheinen dieser Besprechung
einem doppelten Boden: wenn man das obere Fach schreibt Benjamin in einem Brief, daß ihn gerade die
aufmacht- eine Moral, dreht er dann unversehns die Arbeit an Rezensionen wertvolle Zeit kostet: >>Von
Dose um - eine Wahrheit. Dazu nickt er<< (ebd.). Diese rechts wegen müßten die >Pariser Passagen< längst ge-
Doppelbödigkeit der Hesseischen Erzählungen, die schrieben sein, anstatt dessen habe ich Wochen an
Leichtigkeit, mit der sie daherkommen, gehört zum Rezensionen gewandt, die aus tausend guten und
Charakteristischen seiner Erzählweise. Besonders be- schlechten Gründen geschrieben sein müssen und an
eindruckt Benjamin, wie es Hesse! gelingt, Typisches denen denn doch das Beste ist, daß sie einem verdeut-
für die Großstadt in seine Texte aufzunehmen. Stets lichen: so kanns nicht weiter gehen« (3, 311 f.).
spielt in seinen Geschichten die Stadt mit, ist sie an-
wesend durch die Figuren und verkörpert sich in ih-
nen. Zu Hessels Spazieren in Berlin:
Die Besprechung des Buches ist eine Freundschafts- die Wiederkehr des Flaneurs
geste, auch weil sie gemeinsamen Erinnerungen ge-
schuldet ist, wie aus einem Brief an Thankmar von Trotz aller Ungeduld: Manchmal ermöglicht gerade
Münchhausen vom September 1926 zu erfahren ist: die Arbeit an einer Rezension, Überlegungen aus dem
>>Ich hoffe, in einer der nächsten Nummern der >lite- Bereich, dem seine wissenschaftlichen Interessen ge-
rarischen Welt< begegnet Ihnen eine kleine Sache von hören, in die Kritik einfließen zu lassen. Die im Okto-
mir >Pranz Hesse!< überschrieben, die unsernbesten ber 1929 in der Literarischen Welt unter dem Titel DIE
pariser Stunden ein gut berlinisches Denkmal setzt« WIEDERKEHR DES FLANEURS erschienene Besprechung
(3, 188 f.). Doch Benjamin will auch einen Autor ins von Hessels Spazieren in Berlin (1929) ist eine solche
Gespräch bringen, der beeindruckend vom Geheim- Gelegenheit. Sie bietet Benjamin die Möglichkeit, eine
nisvollen zu erzählen weiß. Was der Rezensent bei Prosa anzuzeigen, an der ihn fasziniert, wie sich der
seiner reflektierenden Suche in Hessels Texten findet, Autor einer Stadt nähert und sie zum Sprechen
wird nicht gedeutet, vielmehr eröffnet Benjamin, in- bringt.
dem er sie mit Märchen vergleicht, jenes für das Ver- Angesichts von Hessels Buch ist es Benjamin mög-
stehen entscheidende Bezugsfeld, in dem er Hessels lich, auf jene Denkwege aufmerksam zu machen, die
Erzählen verortet wissen will. Die von Benjamin dabei ihm sein Mentor einst eröffnet hat. >>Hessels Text leistet
praktizierte Form sich auf einen literarischen Text ein- für ihn, wozu ihm kein anderes deutschsprachiges
zulassen, wahrt sein Geheimnis und erfüllt dennoch Werk dieser Jahre Gelegenheit geboten hätte, nämlich
die frühe Forderung nach Positivität, durch die sich die Figur des Flaneurs theoretisch zu konstruieren und
eine Kritik auszeichnen soll - ohne den Schleier zu dessen Bedeutung als Kultfigur der Moderne zu wür-
lüften, wird das Verhüllte sichtbar gemacht. digen [... ] und es gibt gute Gründe zu vermuten, daß
In Benjamins Besprechung von Hessels Roman Benjamin in der Gestalt Hessels selbst eine Anschau-
Heimliches Berlin, die am 9.12.1927 in der Literarischen ung von der Besonderheit dieser Figur bekommen hat«
Welt erschien, wird der Autor als Schwellenkundiger (Köhn 1989, 192). Obwohl Hesse! bereits in der Pari-
eingeführt. Seine Bewunderung für den Erzähler klei- ser Romanze und in der Vorschule des Journalismus aus
det Benjamin in die Frage: >>Woher stammt dem Er- der Nachfeier einige seiner literarischen Figuren fla-
zähler die Gabe, das winzige Revier seiner Geschichte nierend durch Paris geschickt hat, wird Benjamin of-
322 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

fensichtlich erst durch das Berlin-Buch bewußt, welche geliefert, in dem er sitzt - wo er gern halten würde,
produktiven Möglichkeiten die Figur des Flaneurs in fährt es vorbei. In dieser hoffnungslosen Position ist
sich vereint, da er die Kunst beherrscht, während des das Urbild der Moderne eingefangen. Der Beschleuni-
Flanierens eine Stadt entstehen zu lassen, die er in die gung des Lebens kann sich der Flaneur nur widerset-
bestehende projizieren kann. zen, indem er sich dem rasanten Tempo der Metropo-
Erneut beeindruckt Benjamin, wie es Hesse! ver- len entzieht. Das macht ihn aber in den Augen der
steht, in seinem Buch den Asphalt zum Klingen zu Passanten zum Verdächtigen. Auf welche Listen Hessels
bringen: >>Im Asphalt, über den er hingeht, wecken Flaneur verfällt, um das Flanieren in einer Stadt wie-
seine Schritte eine erstaunliche Resonanz. Das Gas- derzuerwecken, in der es noch nie in hoher Blüte stand,
licht, das auf das Pflaster herunterscheint, wirft ein interessiert Benjamin. Ausführlich befaßt er sich des-
zweideutiges Licht über diesen doppelten Boden« (III, halb in der Rezension mit dem Abschnitt Der Verdäch-
194). Die Straße erweist sich als Resonanzboden, die tige. Verdächtig macht sich der Flaneur, weil er langsam
in dieser Bedeutung mehr als nur ein Verkehrsweg ist, durch belebte Straßen wandelt. Dabei hat er >>atmo-
den man benutzt. Durch den doppelten Boden, den sphärische Widerstände<< zu überwinden, wie Benja-
Benjamin ihr zuschreibt, und das zweideutige Licht, min die Schwierigkeiten umschreibt. Denn einfach
das die Gaslaternen auf den Asphalt werfen, entsteht verweilen kann er nicht. Wer sich dem Rhythmus der
ein diffuser Raum, in dem sich Erinnerungen an das Stadt nicht anpaßt, wer aus der wogenden Menge aus-
Einst mit dem Gegenwärtigen durchmischen. Der Fla- schert, ist verdächtigt. Deshalb hat der Flaneur für
neur beschreitet einen Weg, der in die Vergangenheit Benjamin auch mehr mit Poes Mann der Menge zu tun,
führt, wobei die Gegenwart von Straße und Häusern von dem es heißt: >>Hier und nicht in Paris versteht
darüber entscheidet, welche vergessenen Räume sich man, wie der Flaneur vom philosophischen Spazier-
ihm öffnen. gänger sich entfernen und die Züge des unstet in der
Erinnerungen, wie sie Hesse! in seinem Buch auf- sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs bekommen
scheinen läßt, werden ihm durchs Flanieren zum Be- konnte, den Poe in seinem >Mann der Menge< für im-
sitz. Benjamin nennt diese Technik des Erzählens ein mer fixiert hat<< (198). Aber die Menge, die den Flaneur
>>Memorieren im Schlendern<<, wobei dem Autor>> [d]ie umgibt und skeptisch beobachtet, schützt ihn auch.
Stadt als mnemotechnischer Behelf<< (ebd.) dient. Er Hessels Aufforderung an die Berliner, ihre Stadt
erschließt sich die Stadt nicht nur im Gegenwärtigen, noch mehr zu bewohnen, deutet Benjamin dahinge-
sondern das Flanieren, dieses rauschhafte Gehen, hend, daß es dazu notwendig wäre, die Straße, das
bringt gerade längst Vergessenes hervor. Benjamin eigentliche Terrain des Flaneurs, noch entschiedener
wird durch Hessels Buch deutlich, wie man im Erzäh- zu beleben. >>Denn sie sind ja die Wohnung des ewig
len von Stadtgeschichte dem Erzählten durch die ge- unruhigen, des ewig bewegten Wesens, das zwischen
wählte Perspektive eine bestimmte Richtung geben Hausmauern so viel erlebt, erfährt, erkennt, und er-
kann. Der Flaneur, geübt im Hinsehen, sucht >>die Bil- sinnt, wie das Individuum im Schutze seiner vier
der wo immer sie hausen<< (196). Interessiert ist er am Wände<< (196). Im Zusammenhang mit dem Bewoh-
Entlegenen und am Alltäglichen. Sein unbeirrbarer nen der Stadt wird das Wohnen zu einem Schlüsselbe-
Blick, der unbeeindruckt ist von wechselnden Moden, griff in Benjamins Text. Der Flaneur, der über ein
fasziniert Hesse! ebenso wie Benjamin. Hesse! macht >>Wissen vom Wohnen<< (ebd.) verfügt, sieht das Woh-
sich die Perspektive des Flaneurs zu eigen und überläßt nen, das eine Nähe zur Geborgenheit aufweist, im
die vermeintlichen Sehenswürdigkeiten den Touristen. Schwinden begriffen. Als letzte Domizile, in denen sich
Für ihn dient der Touristenführer, dem er sich ange- Rudimente solcher Formen noch finden, erweisen sich
schlossen hat, nur als Stichwortgeber. Was dieser nicht die Passagen. In den geheimen Winkeln der Passagen
erwähnt, darüber weiß der Flaneur zu erzählen - er sucht der Flaneur nach dem, was aus der Mode gekom-
kennt nicht nur die offiziellen, sondern auch die heim- men ist und wird zum Zeugen der Stadt und ihres
lichen Geschichten, die zu Gegenden und Orten gehö- ständigen Wandels.
ren. Daß sich Hesse! allerdings über weite Strecken In dieser Hinsicht erweist sich Hesse! für Benjamin
nicht flanierend, sondern fahrend durch die Metropole als der große Schwellenkundige, der besonders an je-
bewegt, er fährt in dem Kapitel Rundfahrt die touristi- nen Plätzen sein Domizil aufschlägt, an dem Über-
schen Attraktionen ab, erwähnt Benjamin in seiner gänge kaum kenntlich sind. >>Die Schwellen aber, die
Besprechung nicht. Hingegen bemerkt er sehr wohl, Situationen, Stunden, Minuten und Worte voneinan-
daß Hessels Flaneur Schwierigkeiten hat zu verweilen. der trennen und abheben, fühlt er eindringlicher unter
Obwohl er gern mehr Zeit an bestimmten Orten ver- den Sohlen als irgendeiner<< ( 82).
bringen würde, ist er dem Tempo des Fahrzeuges aus-
Literaturkritik 323

Programm literarischer Kritik wickeln, denn nur so ist es möglich, die besprochene
Literatur im Zusammenhang der Zeit zu analysieren.
Zwischen 1929 und 1930, als Benjamin eine Reihe sei- Dies kann nach Benjamins Überzeugung, allein die
ner wichtigsten Rezensionen schrieb, hat er auch ein materialistische Kritik. Nur sie vermag den Nachweis
vierzig Punkte umfassendes PROGRAMM DER LITERA- zu erbringen, daß es einen neutralen Platz für die
RISCHEN KRITIK entworfen, das im Nachlaß gefunden Kunst nicht gibt. Deshalb muß sie sich ihre >>Durch-
wurde. Anders als DIE TECHNIK DES KRITIKERS IN schlagskraft durch eine richtige Einstellung auf die
DREIZEHN THESEN aus der EINBAHNSTRASSE, die sich Produktionsverhältnisse auf dem Büchermarkt [... ]
durch einen schlagwortartigen Charakter auszeichnen, sichern<< (162).
entwickelt Benjamin das neue PROGRAMM auf der Benjamin entwirft in diesem Text ein stärker auf die
Grundlage einer am Materialismus ausgerichteten Ge- gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse ausge-
sellschafts- und Kunsttheorie. Dabei gilt es ihm wei- richtetes und die herrschenden ästhetischen Strömun-
terhin als ausgemacht, daß vom >>Verfall der literari- gen berücksichtigendes Programm literarischer Kritik.
schen Kritik seit der Romantik<< auszugehen ist (VI, Damit werden die frühen Überlegungen, die er Mitte
163). In TIP FÜR MÄZENE, einem 1929 entstandenen der 20er Jahre formuliert hat, nicht verworfen, sondern
Entwurf zu einem Artikel über den Tiefstand der Li- sie erfahren eine materialistische Erweiterung. Standen
teraturkritik, sieht Benjamin den entscheidenden in den frühen Überlegungen Kriterien wie Überset-
Grund für den beklagenswerten Zustand der Kritik zung, Reflexion, Vollendung und Suche nach dem
darin, daß »mangelnde Kameradschaft, mangelnde Wahrheitsgehalt im Zentrum, so nimmt Benjamin in
Gegnerschaft, mangelnde Deutlichkeit im Verkehr der dem neuen PROGRAMM solche methodischen, auf die
Schreibenden miteinander<< (169) besteht. Texterschließung zielenden Begriffe ebensowenig zu-
Im neuen PROGRAMM unternimmt es Benjamin, den rück, wie er auch eine daraus resultierende Strategie
Platz der Literaturkritik sowohl unter veränderten praktischer Kritik nicht völlig in Frage stellt. Allerdings
gesellschaftlichen Bedingungen als auch unter Berück- reagieren die Überlegungen zur materialistischen Kri-
sichtigung gewandelter ästhetischer Kriterien zu be- tik deutlicher auf das gesellschaftliche Bedingungsge-
stimmen. Dabei soll die Neuplazierung der Kritik die füge, das kritischer Tätigkeit im Kunstbetrieb zugrunde
Verhältnisse auf dem Buchmarkt in ihrer ganzen Breite liegen müsse. Auch im neuen PROGRAMM erweist sich
berücksichtigen, wobei Überlegungen zur Methodik die intensive Zwiesprache mit dem Text als unverzicht-
der Literaturkritik eingeschlossen werden. Gleich im bar. Die Kritik hat es sichangesichtseiner >>Atomisie-
ersten Punkt führt Benjamin aus, daß die Kritik in der rung der heutigen Kritik<<, die >>[d]as Buch außerhalb
Öffentlichkeit eine verstärkte Aufmerksamkeit erfährt, der Zusammenhänge der Zeit, des Autors, der Strö-
wenn sie sich als >>vernichtende Kritik<< (161) zu Wort mungen<< (166) verhandelt, zur Aufgabe zu machen,
meldet. Es gehe darum, einer erschlafften und korrup- radikal im Urteil zu sein. Der Kritiker, der den neuen
ten Kritik wieder »ein Gesicht, eine deutliche Physio- Aufgaben der Kritik gerecht werden will, hat nach Ben-
gnomie<< (ebd.) zu verleihen. Hingegen verwirft Ben- jamins Ansicht >>politische Strategie mit der kritischen<<
jamin eine >>[e]hrliche Kritik vom unbefangenen Ge- (161) zu verbinden.
schmacksurteil<< (ebd.). Entscheidend an einer Kritik Dabei müssen auch die Bedingungen des Marktes
ist seiner Meinung nach >>ein sachlicher Aufriß (stra- berücksichtigt werden. Neu ist dabei, daß Benjamin es
tegischer Plan) [... ], der dann seine eigene Logik und für wichtig erachtet, nicht mehr nur den Autor in einer
seine eigene Ehrlichkeit in sich hat<< (ebd.). Weiterhin Kritik anzusprechen, sondern daß er weiterhin darauf
macht er im Kritiker den Strategen im Literaturkampf aus ist, neben den Produktionsverhältnissen des Buch-
aus. Wenn er auch unzufrieden ist mit der gegenwär- marktes auch die Rolle des Verlegers zu hinterfragen.
tigen Kritik, >>weil die politische Strategie mit der kri- >>Die Kritik hat bisher, um ein Buch zurückzuweisen,
tischen nur in den größten Fällen sich deckt, dennoch sich im wesentlichen an dessen Autor gehalten. Daß
ist letzten Endes das als Ziel anzusehen<< (ebd.), kon- sie damit nicht viel erreicht, liegt auf der Hand. [... ]
statiert Benjamin im vierten Punkt des Programms. Anders wenn die Kritik in gewissen Grenzen den
Als ausgemacht gilt ihm, daß eine Kritik den an sie Grundsatz der (wirtschaftlichen) Verantwortung des
gestellten Forderungen nur dann gerecht werden kann, Verlegers festhält und den Verleger schlechter Bücher
wenn sie es vermeidet, den Inhalt eines Buches zu re- als Verschwender des ohnehin geringen Kapitals de-
ferieren. Dagegen erwartet er von der Kritik, daß sie nunziert, das der Bücherproduktion zur Verfügung
rigoros im Urteil ist und dieses Urteil mit einer poli- steht<< (162). Nach Benjamins Überzeugung ist allein
tischen Strategie verbindet. Diese Strategie kann Kritik die materialistische Kritik in der Lage, die >>Maske der
nur auf der Basis des historischen Materialismus ent- >reinen Kunst< zu lüften<< ( 164). Dagegen erscheint ihm
324 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

die in früheren Jahren verwendete Form der >imma- rulanten die Stadt Berlin vor dem Weltgericht verklagt.
nenten Kritik< nur noch eingeschränkt brauchbar, weil Es gibt an Hegemann zwar viel zu loben, vor allem
diese Form der Kritik Literatur nicht im zeithistori- seinen aufklärerischen Gestus und die kritische Sicht,
schen Kontext verhandelt. mit der derAutor seinen Gegenstand behandelt, doch
Benjamins Kritiken aus dieser Zeit folgen in den vermißt Benjamin das Entlarvende in der Darstellung.
entscheidenden Grundsätzen diesem Programm. Zu- >>Was immer Hegemann entdeckt,- und sein Werk ist
gleich benennt er im PROGRAMM eine Form der lite- voller Entdeckungen- es sind Zufälligkeiten. Ärgerli-
rarischen Kritik, der mehr und mehr sein Interesse gilt che, anstößige, empörende Abweichungen von der
-gemeint ist die >>kritische[] Porträtkunst<< (167), de- Norm des Graden, Vernünftigen, niemals jedoch Aus-
ren Aussterben er angesichts der Atomisierung der wirkungen der besonderen, konkreten, verborgenen
Kritik beklagt. Vielleicht würde angesichts dieses In- Konstellationen des geschichtlichen Augenblicks. Seine
teresses die Bezeichnung >kritisches Porträt< gegenüber Darstellung ist eine einzige imposante, in ihren Grund-
seinen bisher als Essay angesehenen Arbeiten zu Hebel, zügen gewiß unwiderlegliche Korrektur an der prag-
Keller, Kraus, Brecht, Kafka und Proust eher gerecht matischen Geschichtsschreibung, niemals aber deren
werden. Umwälzung wie der historische Materialismus sie er-
strebt, wenn er in den Produktionsverhältnissen der
Epoche die konkreten, wechselnden Kräfte aufspürt,
Gesteigertes Interesse für die Großstadt die das Verhalten der Machthaber so gut wie der Mas-
sen ohne deren Wissen bestimmen<< (263).
Die Aufmerksamkeit, die Benjamin für Werner Hege- Diese Auflistung von Versäumnissen markiert den
manns Buch Das steinerne Berlin (1930) entwickelt, entscheidenden Wendepunkt der Rezension. Betrach-
dürfte sich aus seinem gewachsenen Interesse für die tet man nämlich das Buch aus der Perspektive des
Großstadt erklären. Der Stadtgeschichte von Berlin ist historischen Materialismus, wie es Benjamin vor-
Benjamin auch in einer Reihe von Rundfunkarbeiten schlägt, dann sind seine Grenzen unübersehbar. He-
nachgegangen, die zwischen 1929 und 1932 entstanden gemann beläßt es bei Feststellungen, aber ihm fehlt der
sind. Zum ersten Mal erwähnt er Hegemanns Buch in dialektische Blick, um das >>Innere der Geschichte<<
der Rundfunkgeschichte DIE MIETSKASERNE. Darin (ebd.) zu erfassen. Vollkommenheit würde man dem
unterscheidet Benjamin die Mietskaserne, jene für Buch bescheinigen können, wäre sein Autor in der Lage
Berlin typische monumentale Steinbauarchitektonik, gewesen, nicht allein über das Gewesene, sondern
von einer Architektur, in der Stahl und Glas die be- ebenso intensiv über das Gegebene nachzudenken.
stimmenden Bauelemente darstellen. Auch Pranz Hes- >>Aber hier ist ja nicht die Rede von dem, was ist, son-
se! hat sich für Hegemanns Buch interessiert, das er im dern dem, was war. Und da dürfte schon hin und wie-
November 1930 für die Literarische Welt besprach. der der kühle Wind des Gewesenen lindernd durch die
Hesse! sieht in Hegemann einen Fachmann, für den überhitzte Aktualität der Verhandlung streichen. Selbst
die intensive Betrachtung der Stadt zum Ausgangs- beim Weltgericht müßte es einen mildernden Umstand
punkt seines Buches wird. Hessel schätzt an Hege- abgeben, daß alles schon so lange zurückliegt. Denn
manns Darstellung der Berliner Stadtwirklichkeit, daß der Zeitlauf selber ist ein moralischer Vollzug, nicht
sie sich nicht im gewohnten Tadel ergeht, sondern daß im Vorrücken des Heute zum Morgen aber dem Um-
es sich um eine Polemik handelt, die Substanz hat. schlag des Heute ins Gestern. Chronos hält in der Hand
>>Was er tadelt<<, heißt es bei Hesse!, >>wird nicht einfach ein Leporello-Bilderbuch, in dem die Tage einer aus
bedauerlich, sondern aufregend, er macht den Leser dem andern ins Gewesene zurückfallen und dabei ihre
zum Zeitgenossenall derer, die an der Stadt gesündigt verborgene Rückseite, das unbewußt Gelebte enthül-
haben<< (Hessel1999, 208). len. Mit ihr hat der Historiker es zu tun<< (264). Wei-
Zwei Monate vor Hessels Besprechung erschien Ben- terhin bemängelt Benjamin an Hegemanns Buch, daß
jamins Rezension zu Hegemanns Buch unter dem darin nicht ausgewiesen wird, wie sich die jeweils
Titel EIN JAKOBINER VON HEUTEam 14.9.1930 in der Herrschenden ins Stadtbild eingeschrieben haben. So
Frankfurter Zeitung. Hegemanns Darstellung genießt bleibt die >>verborgene Rückseite<< des Gewesenen, die
Benjamins Wertschätzung, weil der Autor >>die kultu- anhand der sichtbaren Geschichte, nämlich der der
rellen und politischen Funktionen in engster Wechsel- Mietskaserne, hätte aufgezeigt werden müssen, ein
wirkung erlebt<< (III, 260) und seine Arbeit sich durch Desiderat.>> Das ist ihm fremd,<< urteilt Benjamin, >>daß
eine >rebellische Phantasie< auszeichnet. Und Benja- die Mietskaserne, so fürchterlich sie als Behausung ist,
min imponiert, daß der Verfasser grundsätzlich miß- Straßen geschaffen hat, in deren Fenstern nicht nur
vergnügt ist und in der Rolle des Anklägers und Que- Leid und Verbrechen, sondern auch Morgen- und
Literaturkritik 325

Abendsonne sich in einer traurigen Größe gespiegelt tätigen Liebe zur Hauptstadt sich zeigen«, sondern
haben, wie nirgend sonst, und daß aus dem Treppen- man auch >>ihren Gebrechen nach[geht]<< (III, 228).
haus und Asphalt die Kindheit des Städters seit jeher Nach Hegemanns >>politische[r] Baugeschichte<< >>folgt
so unverlierbare Substanzen gezogen hat wie der Bau- Kracauer mit der Darstellung der Berliner Büro- und
ernjunge aus Stall und Acker. Eine historische Darstel- Vergnügungspaläste als Abdruck der Angestelltenmen-
lung aber hatalldies zu umfassen<< (265). Eine histo- talität, die bis hoch in die Unternehmerkreise hinauf-
rische Darstellung auf der Grundlage des historischen reicht<< (ebd.). Die Beziehung, die Kracauer zwischen
Materialismus hätte aufbeide Seiten eingehen müssen. den Angestellten und der Großstadt Berlin herstellt,
Sie hätte nicht nur darzustellen, was sich offensichtlich ist nach Benjamins Ansicht Ergebnis einer schriftstel-
zeigt, sondern auch zu benennen, was durch intensive lerischen Expedition, bei der der Autor, der sich auf
Auseinandersetzung mit dem Gegenstand erst zum die Suche nach den Angestellten gemacht hat, ins >>In-
Vorschein kommt. Das Eingreifende, das Benjamin in nere der modernen Großstadt<< (vgl. Kracauer 1978,
Hegemanns Buch vermißt, unterscheidet seine Bespre- 15) eingedrungen ist. Benjamin bescheinigt Kracauer
chung von der Hessels, der sich zumindest politisiert in der Besprechung, er würde im Sinne der Äußerung
fühlt, weil er in dem Autor einen erkennt, der Partei von Joseph Roth, Aufgabe des Schriftstellers sei es, zu
ergreift. >>Man kann Hegemanns Buch nicht belehrt entlarven und nicht zu verklären, >>höchst schriftstel-
und verdrossen zumachen. Finster und >bleichen Ei- lerisch an Berlin herangetreten<< sein (III, 228).
fers< bricht man auf von dieser Lektüre, um die Welt Bemerkenswert erscheint ihm an Kracauers Studie
und zunächst einmal Berlin zu bessern<< (Hessell999, über die Angestellten, daß der Autor nicht >>davor zu-
209). rückschreckte, politische Gegenstände politisch klar-
Benjamins Hessel-Kritiken und die Rezension zu zustellen<< (226). In eben dieser Haltung unterscheidet
Hegemanns Mietskasernen-Buch machen deutlich, er sich von modischen Trends soziologischer Analysen,
daß er in der Großstadt ein Thema gefunden hat, dem wie sie zu jener Zeit üblich waren. In Kracauers Buch
er sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu wird Klartext über eine soziale Gruppe gesprochen,
nähern versucht. Auch wenn die publizistische Arbeit die, unwissend über ihre eigene Lage, von der politi-
häufig wissenschaftliches Forschen verhindert, die Ar- schen Linken den Proletariern und von den Konser-
beit an den Rezensionen erweist sich als Möglichkeit, vativen dem bürgerlichen Mittelstand zugerechnet
erste Ergebnisse zu formulieren, die aus wissenschaft- wird. In Wahrheit jedoch ist >>sie geistig obdachlos [... ].
liehen Arbeiten hervorgegangen sind. Insofern ist Ben- Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht finden, und
jamin bei der Auswahl der Literatur für seine kritische das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das
Arbeit alles andere als willkürlich gewesen und hat sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die
vielmehr versucht, Bücher zu besprechen, die im Zu- wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen
sammenhang mit eigenen Forschungsinteressen stan- worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu
den. Auch weil wichtige Rezensionen vor dem Hinter- der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen
grund einer eingehenden theoretischen Auseinander- könnte. Also lebt sie in Furcht davor, aufzublicken und
setzung mit dem Gegenstand entstanden sind, gelten sich bis zum Ende durchzufragen<< (vgl. Kracauer 1978,
eine Reihe seiner Besprechungen zu Recht als publizi- 88).
stische Glanzstücke- sie sind mehr als bloße Abfall- Benjamin lobt an der Analyse Kracauers neben der
produkte aus dem Arbeitsalltag eines freien Publizi- >>Originalität<< auch die >>Durchschlagskraft<< (III, 226)
sten. und schätzt den Facettenreichtum der Arbeit. Die da-
bei verwendete Mosaiktechnik, die Angestellten nicht
nur bei der Arbeit, sondern auch beim Vergnügen und
Der Kritiker als Entlarver sozialer Mißstände im Freizeitverhalten zu zeigen, würdigt Benjamin, weil
Kracauer auch an den Fluchtversuchen aufzuzeigen
Mit Hegemanns Buch Das steinerne Berlin hat sich versteht, welche Sehnsucht es nach Zerstreuung gibt.
Benjamin nicht nur in einer Rezension auseinander- Seiner Untersuchung, die der >>genaue[n] Betrachtung
gesetzt, sondern er erwähnt es auch in der Besprechung verlohnt<< (ebd.), liegt die zur Erfahrung geronnene
von Siegfried Kracauers Buch Die Angestellten, die am Haltung des Intellektuellen zugrunde.
16.5.1930 in der Literarischen Welt erschienen ist. Die Benjamin hat Kracauers Buch Die Angestellten nicht
Bücher von Hegemann und Kracauer gelten Benjamin nur für die Literarische Welt, sondern auch für die Zeit-
als symptomatisch für eine neue Beziehung, die im schrift Die Gesellschaft besprochen, wobei die Redak-
Umgang mit der Stadt Berlin zu beobachten ist. Dabei tion Benjamins Titel EIN AussENSEITER MACHT SICH
bleibt festzustellen, daß nicht >>die ersten Spuren einer BEMERKBAR durch Politisierung der Intelligenz ersetzte.
326 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Die Intellektuellen betrachtet Benjamin als Außensei- sondern die Politisierung seiner eigenen voranzutrei-
ter, wie es in dieser Kracauer-Kritik heißt. Der Intel- ben.
lektuelle will nicht Führer sein (vgl. auch die Bespre- Wenn sich Kracauer bei diesem Vorhaben der Re-
chungen zu KommereH und die Turm-Besprechung), portage bedient, so ist sein >>kulturkritischer Essay<<
sondern bestenfalls vermag er als einzelner, >>Mißver- dennoch nicht in der Tradition linksradikaler Schulen
gnügter« und >>Spielverderber<< etwas zur >>Politisie- zu sehen, wie sie nach Benjamins Auffassung gerade
rung der Intelligenz<< (225) beizutragen. in Mode sind. Er teilt die von Kracauer ausgewiesene
Entschieden deutlicher als in der Besprechung für Position, sein Darstellungsverfahren würde sich von
die Literarische Welt macht Benjamin in der Kritik für der Reportage durch die von ihm verwendete Mosaik-
Die Gesellschaft auf den gesellschaftspolitischen An- technik unterscheiden. >>Die Wirklichkeit<<, heißt es bei
satz aufmerksam, der Kracauers Buch zugrunde liegt, Kracauer, >>ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Le-
und sieht in dem Autor einen >>Störenfried, der die ben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs
Maske lüftet<< (220). Seine Vorgehensweise, Bedingun- jedoch ist sie in der mehr oder weniger zufälligen Be-
gen der aktuellen Wirklichkeit so darzustellen, daß sie obachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr
sichtbar werden, rechnet Benjamin zu den Vorzügen steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den
von Kracauers Buch, weil es so gelingt, gesellschaftli- einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis
che Mechanismen auf der Grundlage der Marxschen ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage
Methode zu entlarven. Doch ergibt sich für Benjamin photographiert das Leben, ein solches Mosaik wäre ein
die Frage, wie es möglich sein kann, daß die zuge- Bild<< (vgl. Kracauer 1978, 16).
spitzte ökonomische Situation der Angestellten, die In der Verwendung des auf der Mosaiktechnik ba-
sich in einer wachsenden ökonomischen Unsicherheit sierenden Verfahrens, das sowohl mit der Technik des
zeigt, gerade nicht dazu führt, daß sich die Angestell- Surrealismus korrespondiert, aber auch Techniken des
ten ihrer Lage im gesamtgesellschaftlichen Gefüge Films verwendet, gleicht Kracauer der Figur des Lum-
bewußt werden, sondern ein falsches Bewußtsein aus- pensammlers aus Baudelaires Gedicht Le vin des chif-
prägen. >>Solange wenigstens die marxistische Lehre fonniers, ein Vergleich, den Benjamin am Schluß der
vom Überbau nicht durch die dringend erforderliche Kracauer-Besprechung herstellt: >>Einen Lumpen-
von der Entstehung des falschen Bewußtseins ergänzt sammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem
ist<< (223), folgert Benjamin, der sich in seiner politi- Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um
schen Überzeugung mit Kracauer in übereinstim- sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen in sei-
mung weiß, >>wird es kaum anders möglich sein, als nen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder
die Frage: Wie entsteht aus den Widersprüchen einer den anderen dieser ausgeblichenen Kattune >Men-
ökonomischen Situation ein ihr unangemessenes Be- schentum<, >Innerlichkeit<, >Vertiefung< spöttisch im
wußtsein? nach dem Schema der Verdrängung zu Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler,
beantworten. Die Erzeugnisse des falschen Bewußt- frühe - im Morgengrauen des Revolutionstages<< (III,
seins gleichen Vexierbildern [... ]. [D]er Verfasser ist 225).
bis in die Inserate der Angestelltenzeitungen herabge- Kracauer hat sich, so Benjamin, >>grobianisch durch
stiegen, um jene Hauptsachen ausfindig zu machen, die Massen hindurch[ge] rempelt um hie und da einem
die in den Phantasmagorien von Glanz und Jugend, besonders Kessen die Maske zu lüften<< (220). Zum
Bildung und Persönlichkeit vexierhaft eingebettet er- Vorschein gekommen sind dabei besonders Sprach-
scheinen<< (223 f.). masken und Wortmeldungen, die für sich sprechen,
Die Außenseiterposition des Intellektuellen, der die wenn man es versteht, was Kracauer denn auch von
gesellschaftlichen Prozesse durchschaut und kritisch Benjamin bescheinigt wird, sie in einem richtigen Kon-
sichtet, der sich als einzelner keinen Illusionen mögli- text hochzuhalten. In entscheidenden Momenten sei-
cher Zugehörigkeit zu irgendeiner Klasse hingibt, son- nes Buches kann Kracauer auf solche> Redelumpen
dern als Störenfried etwas zur Politisierung seiner und Sprachfetzen <bauen, wenn er auch seine Aufgabe
Klasse beiträgt, versteht Benjamin als einzig mögliche auf das Einsammeln beschränkt hat. Die Rolle, die er
Haltung. Sie wird von Kracauer in nuce verkörpert, dabei übernimmt, ist die eines Autors, der nicht mehr
der sich darüber im klaren ist, >>daß selbst die Proleta- mitspielt. Er verkörpert den Typus eines >>Mißvergnüg-
risierung des Intellektuellen fast nie einen Proletarier ten<< (219) und steht auch in dieser Hinsicht Werner
schafft<< (224). Will ein Autor aber dennoch politisch Hegemann nahe, der nach Benjamins Auffassung >>die
wirken, und dies erwartet Benjamin, so hat er seine Dinge mit den Augen des jeweiligen Zeitgenossen und
Aufgabe nicht darin zu sehen, agitatorische Aufklä- zwar eines grundsätzlich mißvergnügten<< (261)
rungsarbeit für die Klasse der Proletarier zu leisten, sieht.
Literaturkritik 327

Auf verlorenem Posten Kritiken im Umfeld literarischer Projekte

Während Benjamin dem >mißvergnügten< Kracauer Ebenfalls im ersten Band der 1930 erschienenen Zeit-
Unzufriedenheit mit dem Gegebenen zubilligt und in schrift Die Gesellschaft, in der auch Benjamins Kra-
der Besprechung des Buches Die Angestellten aufgezeigt cauer-Kritik erschien, findet sich seine >>große Anzeige
hat, wie sich ein Autor zu Wort zu melden versteht, der von Döblins >Berlin Alexanderplatz<< (3, 490), auf die
>>nicht mehr mitspiele<< (III, 219), wirft er in seiner er Schotern in einem Brief vom 1.11.1929 hinweist. Die
1931 ebenfalls in der Gesellschaft erschienenen Kritik Besprechung von Döblins Großstadt-Roman zeigt, daß
LINKE MELANCHOLIE Erich Kästner vor, daß der Dich- sich Benjamin seit längerer Zeit mit den Unterschieden
ter nur »unzufrieden<< (280) ist, aber mit dieser Unzu- zwischen dem mündlichen und dem schriftlichen Er-
friedenheit zur Schwermut neigen würde. In dieser zählen beschäftigt hat. In der Beziehung, die er zu
äußerst polemisch gehaltenen Kritik wirft Benjamin Beginn der Döblin-Besprechung zwischen der Epik
Kästner vor, daß dies für einen sich links verstehenden und dem Meer herstellt, kommt er auch auf die Diffe-
Autor zu wenig ist. Benjamin hatte im Trauerspielbuch renzen zwischen dem Roman und dem Epos zu spre-
die >>Trägheit und den Stumpfsinn<< als die eine Seite chen. >>Das mündlich Tradierbare, das Gut der Epik,
der Melancholie betont, der er auf der anderen >>die ist von anderer Beschaffenheit als das, was den Bestand
Kraft der Intelligenz und Kontemplation<< (I, 327) ge- des Romans ausmacht. Es hebt den Roman gegen alle
genüberstellt, durch die sich Melancholie auch defi- übrigen Formen der Prosa - Märchen, Sage Sprich-
niert. Doch an Kraft, aber auch an der Fähigkeit zur wort, Schwank- ab, daß er aus mündlichen Traditio-
Kontemplation fehlt es einem Autor wie Kästner, der nen weder kommt noch in sie eingeht<< (KRISIS DES
im Gestus des >>gesunden Menschenverstandes<< argu- RoMANS, III, 231). Dabei orientiert sich Benjamin an
mentiert, ohne daß er zu einer Analyse der realen ge- Döblins Überlegungen zur Poesie. Seine These, daß
sellschaftlichen Verhältnisse findet. Die linksradikale das Romanlesen dafür verantwortlich ist, daß der
Intelligenz, zu der für Benjamin neben Kästner auch >>Geist des Erzählens<< (ebd.) abgetötet wird, korre-
Tucholsky und Mehring gehören, befindet sich seiner spondiert mit der Auffassung, die Döblin in seinem
Meinung nach auf verlorenem Posten, ja in einem Nie- Aufsatz Der Bau des epischen Werks formuliert hat.
mandsland der politischen Position, weil sie >>links Dort heißt es: >>Das Buch ist der Tod der wirklichen
vom Möglichen überhaupt<< (III, 281) stehen würden. Sprachen. Dem Epiker, der nur schreibt, entgehen die
>>An prominenter Stelle, in der SPD-nahen, von Rudolf wichtigsten formbildenden Kräfte der Sprache<< (vgl.
Hilferding herausgegebenen Gesellschaft wirft er ihnen Döblin 1963, 131 f.). Diese theoretische Position hat
1931 vor, Agenten aller geistigen Konjunkturen, vom Döblin nach Benjamins Auffassung in seinem Roman
Aktivismus über den Expressionismus bis zur Neuen Berlin Alexanderplatz erzählerisch umgesetzt, weil der
Sachlichkeit gewesen zu sein« (Steiner 1989, 96). An Romancier erhebliche Schwierigkeiten hat, in seinem
Kästners Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft ( 1930) eigenen Buch zu Wort zu kommen. Das führt zu einer
- eigentlicher Anlaß der Kritik - fällt Benjamin auf, gewissen Ratlosigkeit beim Leser, die sich Benjamin
daß der Adressatenkreis dieser Dichtung das Kleinbür- dadurch erklärt, daß so, wie bei Döblin erzählt wird,
gertum ist, auf das mit Texten bezuggenommen wird, selten >>erzählt wurde, [denn] so hohe Wellen von Er-
die >>selbst einen kleinbürgerlichen, allzu intimen Ein- eignis und Reflex haben selten die Gemütlichkeit des
schlag<< (III, 280) haben. Lesers in Frage gestellt, so hat die Gischt der wirklichen
Während Benjamin Kästners Texte im Umfeld der gesprochenen Sprache ihn noch nie bis auf die Kno-
Unterhaltungsliteratur etabliert- aus ihnen spricht die chen durchnäßt<< (III, 232). Benjamin spricht sich für
>>Verwandlung des politischen Kampfes aus einem den Erzähler Döblin aus, weil dieser auf vielfältigen
Zwang zur Entscheidung in einen Gegenstand des Ver- Wegen gesprochene Sprache in seinen Text integriert
gnügens, aus einem Produktionsmittel in einen Kon- hat- er läßt reden und begreift die gesprochene Spra-
sumartikel- das ist der letzte Schlager dieser Literatur<< che als Material, das er mittels der Montagetechnik
(281)- beruft er sich in seiner Argumentation gegen zusammenfügt. >>Stilprinzip dieses Buches ist die Mon-
Kästner auf die politische Lyrik Brechts, weil in ihr das tage. Kleinbürgerliche Drucksachen, Skandalgeschich-
Unversöhnliche der politischen und sozialen Differen- ten, Unglücksfälle, Sensationen von 28, Volkslieder,
zen zur Sprache kommt. Dagegen sind >>Kästners Ge- Inserate schneien in diesen Text<< (ebd.). Doch wird
dichte[ ... ] Sachen für Großverdiener<< (283). Benjamin durch die Anwendung der Montage, was herkömmlich
wirft den von ihm kritisierten Autoren vor, sie hätten als Roman anzusehen ist, >gesprengt<. Döblins Roman
>>die historische Einsicht, die ihnen hätte zuteil werden tendiert stärker zum Epischen, weil die Texte, die er
können, verraten und verkauft<< (Witte 1976, 166). integriert, sich an den großen Epikern orientieren, die
328 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

sich »das tägliche Leben zum Bundesgenossen ge- >ALEXANDERPLATZ< hält Benjamin fest: »Der Roman-
macht<< (232 f.) haben. In dieser Hinsicht unterscheidet cier wird zum Erzähler. Ende der Romanform. Ver-
Benjamin Döblins Roman von Andre Gides Tagebuch wandtschaft des Erzählers mit dem LesebuchstiL Der
des Falschmünzers, der ihm als ein Beispiel für einen Romancier wendet sich an den Leser, den er gefangen
>roman pur< gilt. »Kurz, dieser >roman pur< ist eigent- nimmt. Der Erzähler hängt den Stoff in das Gedächt-
lich reines Innen, kennt kein Außen, und somit äußer- nis des Epikers ein<< (VI, 184).
ster Gegenpol zur reinen epischen Haltung, die das Ein Jahr nach KRISIS DES RoMANS greift Benjamin
Erzählen ist. Gides Ideal des Romans ist - so läßt er den dort formulierten Schlußgedanken in einer ÜSKAR
sich im strengen Gegensatz zu Döblin darstellen- der MARIA GRAF ALS ERZÄHLER gewidmeten Besprechung
reine Schreibroman<< (ebd.). Während Döblins Erzäh- erneut auf, in der es heißt: »Jede Befangenheit raubt
len auf das gesprochene Wort zurückgreift und das dem Erzähler ein Stück seiner Sprachfertigkeit und
Äußerliche erzählerisch zu einem Innen werden läßt, nicht nur, wie man meinen möchte, ein Thema.[ ... ]
verharrt Gides Darstellung im Innern, wodurch ihm Geht also der Bildungsroman auf den Aufbau einer
die »wichtigsten formbildenden Kräfte der Sprache<< Persönlichkeit aus, wird der Epiker es lieber mit ihrem
(231) entgehen. Döblin hingegen ist mittendrin und Abbau halten. Im Bildungsroman hat der Held seine
saugt, was in Berlin gesprochen wird, förmlich auf. Erlebnisse; die formen seine Persönlichkeit. Hier, im
Dabei braucht er nichts anderes zu tun, als Franz Bi- epischen Raum, macht die Versuchsperson Erfahrun-
berkopf auf seinen Stadtgängen zu folgen, wobei es die gen, und die vermindern sie<< (III, 309 f.).
Figur ist, die den Autor mitnimmt und führt. Zwischen 1928 und 1936 ist das Erzählen in seinen
Außerordentliches Lob wird Döblins Roman durch verschieden Varianten eines der zentralen Themen,
Benjamin zuteil, weil der Kritiker immer wieder in denen Benjamins Aufmerksamkeit gehört, weshalb
diesem Buch auf Momente stößt, die eigentlich Be- sich in seinem Werk an verschiedenen Stellen Überle-
standteile des Epos sind. Während sich Romancier und gungen zu diesem Komplex finden. Dabei ist das In-
Epiker im Prinzip voneinander unterscheiden müßten teresse an den oralen Formen des Erzählens nicht nur
- gleich zu Beginn seiner Besprechung hat Benjamin auf den Erzähler gerichtet, sondern auch auf den Re-
darauf verwiesen, daß der Epiker in der Rolle des zipienten, wie es das Denkbild ROMANE LESEN zeigt.
Sammlers am Strand danach sucht, was das Meer an- Benjamin hat in den Vorstufen zu diesem, in die Ru-
gespült hat, während der Romancier die Meere befahrt brik Kleine Kunst-Stücke gehörenden Text seine >neue
-,entdeckt er bei der Analyse des Döblinschen Romans Theorie des Romans< auf der Grundlage einer Theorie
eine Reihe von Merkmalen, die letztlich nicht zum der Einverleibung entwickelt und das Lesen eines Ro-
Roman, sondern zum Epos gehören. Benjamin schätzt mans mit dem Essen verglichen. »Dieses ist die neue
Döblins Roman auch deshalb, weil er die Form sprengt, >Theorie des Romans<. Sie reißt die Symbolintentionen
zu der er gehört. Als Variante des bürgerlichen Bil- des Einverleibens und damit ein Stück der anthropo-
dungsromans repräsentiert er dessen letzte Stufe: logischen Symbolintention aus dem Magischen, Hie-
»Denn das ist ja das Gesetz der Romanform: kaum hat ratischen heraus und weist ihm Wirklichkeit im Pro-
der Held sich selber geholfen, so hilft uns sein Dasein fanen nach. Lesen ist Kommunion durch Essen im
nicht länger. Und wenn diese Wahrheit am großartig- profanen Sinne. [... ] Der fundamentale Affekt des Le-
sten und am unerbittlichsten in der >Education senti- sers ist nicht die Spannung sondern der Hunger, Stoff-
mentale< an den Tag tritt, so ist die Geschichte dieses hunger. Wie sehr die Grundeinstellung des Lesers die
Franz Biberkopf die >Education sentimentale< des Ga- des Essenden ist: er kann nicht sogleich aufs Genossene
noven. Die äußerste, schwindelnde, letzte, vorgescho- zurückkommen.[ ... ] Romane jedenfalls sind dazu da,
benste Stufe des alten bürgerlichen Bildungsromans<< verschlungen zu werden. Sie lesen, ist eine Wollust der
(236). Für Benjamin rüttelt der Roman an den Fesseln Einverleibung. Und damit etwas von Grund auf ande-
der Tradition, so daß die Ratlosigkeit, die den Leser res als man gewöhnlich darin erblickt: nämlich keiner-
befällt, auch der Tatsache geschuldet ist, daß sich in lei Einfühlung<< (IV, 1014). Allerdings stehen diese im
ihm etwas Neues durchsetzt. Allerdings beharrt Ben- Nachlaß gefundenen Entwürfe einer Theorie des Le-
jamin auf der ratgebenden Funktion des Erzählers, als sens sehr viel näher als einer Theorie des Romans, wie
wäre diese Position noch zu halten. In KRISIS DES Ro- sie Georg Lukacs vorgelegt hat.
MANS versucht er die Rettung des Döblinschen Ro-
mans, von dessen Bedeutung er überzeugt ist, indem
er den Text als Variante eines >modernen Epos< ver-
steht, das sich moderner Erzähltechniken wie der der
Montage bedient. In einer ergänzenden Notiz ZuM
Literaturkritik 329

Ein unvollendetes Projekt wickelt werden müßte. Gerade deshalb spart er nicht
mit Kritik gegenüber den Ergebnissen, die die mate-
Die Besprechung von Döblins Berlin Alexanderplatz rialistische Literaturgeschichtsschreibung bislang vor-
bot Benjamin eine Gelegenheit, eigene theoretische gelegt hat: >>Es kommt doch bei fast allem, was wir
Positionen an dem avanciertesten deutschsprachigen bisher von materialistischer Literaturgeschichte haben,
Roman der 20er Jahre zu erproben. Für Alexander auf ein dickfelliges Nachziehen der Linien in den Wer-
Honold stellt die Döblin-Rezension eine gewisse Zäsur ken heraus, deren sozialer Gehalt- wenn nicht soziale
innerhalb der Benjaminsehenüberlegungen zum Ver- Tendenz- stellenweise zu Tage liegt. Dagegen geht die
hältnis von Roman und Erzählung dar. >>Aus Döblins detektivische Erwartung der Soziologen, die zu befrie-
Plädoyer für eine Erneuerung des Epischen unter der digen gerade dieser Methode gelingen möchte, fast
Devise >Los vom Buch< übernimmt Benjamin nicht immer leer aus<< (172). Bei der Analyse der materiali-
nur die normative Privilegierung eines ursprünglich stischen Literaturgeschichtsschreibung wird auch Ben-
Epischen gegenüber dem neuzeitlichen Roman (die er jamin selber deutlich, daß sein eigener methodischer
so auch schon in Lukacs' Theorie des Romans finden Ansatz darin keinen Platz beanspruchen kann. Mit
konnte), sondern vor allem die Vorstellung, die >Zeit- seiner Vorliebe für Verborgenes, für Geheimnisvolles
genössische Krisis des Romans< sei zu lösen, indem das und Abseitiges, mit seiner Herangehensweise, aus
literarische Erzählen auf neue Weise die Energien der kleinsten Details Wesentliches zu entwickeln, unter-
mündlichen Erzählkultur zurückgewinnt<< (Honold schied er sich wesentlich von den Vertretern eines or-
2000, 364 f.). Noch bevor diese Überlegungen mit dem thodoxen Marxismus. Angesichts dieser Tatsache er-
Erzähler-Aufsatz zum Abschluß kamen, beabsichtigte halten die frühen überlegungen, die er bereits in den
Benjamin, einen Aufsatz mit dem Titel >>Romancier Aufzeichnungen zur ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT:
und Erzähler<< zu schreiben, der Bestandteil eines ge- ANGELUS Novus formuliert hat, wieder stärkeres Ge-
planten Buches sein sollte, wie aus einem 1930 mit dem wicht, wenn er in DIE AUFGABE DES KRITIKERS Franz
Rowohlt Verlag vereinbarten Vertrag hervorgeht. Ne- Mehring vorwirft, daß in seinen Darstellungen >>die
ben diesem Text waren für den Essayband Aufsätze zu Dichtungen nur als Dokumente auftauchen<< (173)
folgenden Autoren vorgesehen: G. Keller, J.P. Hebel, F. würden. Für Benjamin zeigen Mehrings Texte, daß ein
Hesse!, R. Walser, K. Kraus, J. Green, M. Proust und A. solcher Umgang- Dichtung nur als Beleg zu verwen-
Gide und Essays zum Surrealismus und zum Jugendstil den - sie um ihren poetischen Gehalt bringt. Ange-
für das Buch vorgesehen. An den Anfang des Buches sichts dieses Ungenügens wird der Begriff der
wollte Benjamin seinen Aufsatz über die AuFGABE DES >>magische[n] Kritik [... ] eine Erscheinungsform der
KRITIKERS stellen, der nach seiner Ansicht mit dem Kritik auf ihrer obersten Stufe<<, bedeutend. >>Ihr ge-
über die AUFGABE DES Ü HERSETZERS korrespondieren genüber<<, sozusagen auf der gleichen Stufe, >>steht [... ]
würde, der als Schluß der Publikation vorgesehen war die wissenschaftliche (literarhistorische) Abhandlung<<
(vgl. den Verlagsvertrag in Brodersen 1990, 198). Wenn (ebd.). Doch gerade die magische, >>nichturteilende
auch das geplante Buch nie erschienen ist, erhalten Seite<< vermißt Benjamin an den materialistischen Kri-
geblieben sind Aufzeichnungen zu dem als Einlei- tiken, die noch >>immer (oder fast immer) hinter das
tungsessay gedachten Text DIE AuFGABE DES KRITI- Geheimnis<< (174) kommen. Kritik müsse aber auch
KERS. Benjamin beabsichtigte, diesen Aufsatz in zwei auf das Urteilen verzichten können: >>Beim wahren
Teile zu gliedern, wobei er im ersten Abschnitt die Kritiker ist das eigentliche Urteil ein letztes, das er sich
»Technik<<, im zweiten die >>Aufgabe<< des Kritikers be- abringt, niemals die Basis seines Unternehmens. Im
schreiben wollte. >>Kritik<< versteht Benjamin in diesem Idealfalle vergißt er zu urteilen<< (172).
Entwurf als >>Grundwissenschaft der Literaturge- Trotz aller Neuerungen, gänzlich revidiert Benjamin
schichte<< (VI, 173). Diese Setzung des Kritik-Begriffs in diesem fragmentarischen Entwurf seine früheren
ist folgenreich, denn daraus resultieren bestimmte Positionen nicht. Das verdeutlicht auch ein Begriff wie
Kriterien, denen sich der Kritiker verpflichtet fühlen der der >>Schrumpfung<< (174), den er von Adorno
muß. Während Benjamin im PROGRAMM DER LITERA- übernimmt und der zu seiner Theorie der >>Yerpak-
RISCHEN KRITIK noch davon sprach, daß die Maske kung<< (ebd.) gehört. >>Die Lehre von den Trümmern,
der reinen Kunst nur von der materialistischen Lite- die die Zeit anrichtet ist zu ergänzen durch die Lehre
raturkritik gelüftet werden kann, werden jetzt einige vom Verfahren des Abmontierens, das Sache des Kri-
Vertreter der materialistischen Literaturgeschichte tikers ist<< (ebd.). Dabei ist imAnschluß an den Wahl-
entschieden kritischer gesehen, wobei auch deutlich verwandtschaften-Essay Schrumpfung >>Zu definieren
wird, daß die materialistische Kritik, die Benjamin als das Eingehen der Wahrheitsgehalte in die Sachge-
vorschwebt, als methodisches Verfahren erst noch ent- halte<< (ebd.). Es hat den Anschein, als würden frühere
330 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Positionen wieder an Bedeutung gewinnen, wie auch schrift, aber auch, wie einer programmatischen Notiz
aus den Notizen über FALSCHE KRITIK hervorgeht, die [Benjamins] zu entnehmen ist, deren Gegenstand: Das
im Nachlaß gefunden wurden, darin bemerkt Benja- Arbeitsfeld der Zeitschrift ist die heutige Krise auf al-
min: >>Erst im Innern des Werkes selbst, da wo Wahr- len Gebieten der Ideologie und die Aufgabe der Zeit-
heitsgehalt und Sachgehalt sich durchdringen, ist die schrift ist es, diese Krise festzustellen oder herbeizu-
Kunst -Sphäre definitiv verlassen und an seiner Schwelle führen, und zwar mit den Mitteln der Kritik<< (130).
verschwinden auch alle aesthetischen Aporien, der Insofern lag dem Zeitschriftenprojekt ein strategi-
Streit um Form und Inhalt u.s.w.<< (179). Doch Kritik scher Plan zugrunde. Die veröffentlichten Texte sollten
ist nicht Privatsache, denn was der Kritiker an eigener zeigen, von welchen Krisenmomenten die Gesellschaft
Meinung vorzubringen hat, ist unwichtig. »Ein großer erfaßt ist und was die Krise bewirkt. Weiterhin sollte
Kritiker ermöglicht vielmehr andern[,] eine Meinung ausgewiesen werden, daß Grundlage der analytischen
über das Werk auf Grund seiner Kritik zu fassen[,] als Arbeit der dialektische Materialismus ist, wie es Ben-
daß er selbst eine gäbe<< ( 171). jamin in einem Brief an Brecht formuliert hat: >>Die
Zeitschrift war geplant, als ein Organ, in dem Fach-
männer aus dem bürgerlichen Lager die Darstellung
Die Zeitschrift nKrise und Kritik<< der Krise in Wissenschaft und Kunst unternehmen
sollten. Das hatte zu geschehen in der Absicht, der
Im Verlauf des Jahres 1930 entwickeln sich zunächst bürgerlichen Intelligenz zu zeigen, daß die Methoden
eine Reihe von Projekten günstig, zu denen Benjamin des dialektischen Materialismus ihnen durch ihre ei-
auch die Zeitschrift KRISE UND KRITIK rechnete, deren gensten Notwendigkeiten- Notwendigkeiten der gei-
erste Ausgabe am 15.1.1931 im Rowohlt-Verlag er- stigen Produktion und der Forschung, im weiteren
scheinen sollte. Benjamin setzte große Hoffnungen in auch Notwendigkeiten der Existenz - diktiert seien.
die Zeitschrift, auf deren Titel er neben seinem und Die Zeitschrift sollte der Propaganda des dialektischen
den Namen von >>zwei, drei andern als Mitherausge- Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen
ber<< (3, 548) auch Brechts Namen lesen wollte. Es war dienen, die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten
beabsichtigt, eine heterogene Gruppe von Intellektu- anzuerkennen genötigt ist<< (4, 15). In dem Brief faßt
ellen zu finden, zu denen u.a. Bernard von Brentano, Benjamin die Absichten des Projektes zusammen und
Ernst Bloch, Herbert Ihering, Siegfried Kracauer, Alf- zieht sich zugleich als Herausgeber zurück, denn kein
red Kurella, Kar! Korsch, Theodor W. Adorno und Aufsatz, der ihm zu diesem Zeitpunkt vorlag, ent-
Georg Lukacs zählen sollten, um nur die wichtigsten sprach dem, was die Zeitschrift seiner Meinung nach
zu nennen. Linken Intellektuellen sollte die Zeitschrift dokumentieren sollte. Benjamin wollte mit der Zeit-
eine Möglichkeit bieten, sich kritisch zu gegenwärtigen schrift Maßstäbe für die Literatur- und Kunstkritik
gesellschaftlichen Krisenmomenten zu äußern. Eine entwickeln, weshalb es ihm notwendig erschien, kri-
entscheidende Voraussetzung dafür, daß das Projekt tisch zu analysieren, was bisher auf dem Gebiet der
Formen annahm, war die Intensivierung der Freund- materialistischen Kritik geleistet wurde.
schaft zwischen Brecht und Benjamin seit dem Mai Das ursprüngliche Programm der Zeitschrift hatte
1929. In seinem Buch über Benjamin und Brecht, in Benjamin in einem Memorandum zu der Zeitschrift
dem ausführlich das Zeitschriftenprojekt analysiert KRISIS UND KRITIK umrissen. Darin heißt es: >>Sie hat
und dokumentiert wird, macht Erdmut Wizisla darauf politischen Charakter. Das will heißen, ihre kritische
aufmerksam: »Benjamins und Brechts Auffassungen Tätigkeit ist in einem klaren Bewußtsein von der kri-
über die Funktionsbestimmung der Kritik konvergier- tischen Grundsituation der heutigen Gesellschaft ver-
ten, ohne daß sich Differenzen verwischten. Sie kon- ankert. Sie steht auf dem Boden des Klassenkampfes.
statierten einen Verfall der Kritik, der ihrer Ansicht Dabei hat die Zeitschrift jedoch keinen parteipoliti-
nach auf dem Mangel an transparenter Konzeption schen Charakter. Insbesondere stellt sie kein proleta-
und kritischen Maßstäben beruhte<< (Wizisla 2004, risches Blatt, kein Organ des Proletariats dar. Vielmehr
133). Das im Titel der Zeitschrift verwendete Wort wird sie die bisher leere Stelle eines Organs einnehmen,
>>Krise<< wird also sowohl auf den Gesellschaftszustand in dem die bürgerliche Intelligenz sich Rechenschaft
bezogen als auch auf jene Krisenmomente, die sich in von den Forderungen und den Einsichten gibt, die
der Kunst und der Literaturkritik zeigen. Der Titel der einzig und allein ihr unter den heutigen Umständen
Zeitschrift erweist sich deshalb als programmatisch im eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion
Hinblick auf die damit erfaßte Breite. >>Die Krise des im Gegensatz zu der üblichen willkürlichen und fol-
gesellschaftlichen Lebens mitallseinen Erscheinungs- genlosen gestatten<< (VI, 619). Eben dieser Anspruch
formen war eines der Motive zur Gründung der Zeit- der Zeitschrift, gerade jenen Dichtern, Philosophen,
Literaturkritik 331

Publizisten aus dem bürgerlichen Lager die Möglich- Werk


keit einzuräumen, sich der Methode des dialektischen ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT: ANGELUS NOVUS (II, 241-
Materialismus bei der kritischen Analyse zu bedienen, 246)
DIE AUFGABE DES KRITIKERS (VI, 171- 172)
war ein wesentlicher Anspruch des Vorhabens. Nach
DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS (IV, 9-21)
Benjamins Ansicht hätte die bürgerliche Intelligenz EIN AUSSENSEITER MACHT SICH BEMERKBAR (III, 219- 225)
Auskunft über den gegenwärtigen Stand der Krise er- DER BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMAN-
halten, um sie so in die Lage zu versetzen, sich Klarheit TIK (I, 11-119)
BERLINER CHRONIK (VI, 465-519)
über die gefährdeten Grundlagen der eigenen Existenz
EINE CHRONIK DER DEUTSCHEN ARBEITSLOSEN (III, 530-
zu verschaffen. Solche Einsichten sollten auf dem Wege 538)
eines wissenschaftlichen Diskurses und nicht propa- DER EINGETUNKTE ZAUBERSTAB (III, 409-417)
gandistisch vermittelt werden. Benjamin stimmte in FALSCHE KRITIK (VI, 175-179)
FRANZ HESSEL (III, 45 f.)
diesem Punkt mit Brechts Ansicht überein, der im
Rez. zu Franz Hesse!, Heimliches Berlin {III, 82-84)
Hinblick auf die Lukacsschen »Propagandamethoden << FRIEDENSWARE (III, 23-28)
meinte: >>Es ist zweifellos ein Irrtum, zu glauben, die GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN (I, 123-201)
Intellektuellen fielen, von der Krise erschüttert, gleich- HuGo voN HoFMANNSTHAL, DER TuRM (III, 29-33)
EIN JAKOBINER VON HEUTE (III, 260-265)
sam wie reife Birnen beim leisesten Anstoß in den KRISIS DES ROMANS (III, 230-236)
Schoß des Kommunismus<< (Brecht 1983, 156). DAS LEBEN DER STUDENTEN (II, 16-35)
Das Scheitern des Zeitschriftenprojektes erklärt sich LINKE MELANCHOLIE (III, 279-283)
aus den sehr verschiedenen Vorstellungen, die dieHer- LITERATURGESCHICHTE UND LITERATURWISSENSCHAFT (III,
283-290)
ausgeber und Mitarbeiter mit dem Projekt verfolgten. >>EL MAYOR MONSTRUO, LOS CELOS<< VON CALDERON UND
Während Benjamin und Brecht den historischen Ma- >>HERODES UND MARIANNE<< VON HEBBBL. BEMERKUNGEN
terialismus als kritische Methode anwenden wollten, ZUM PROBLEM DES HISTORISCHEN DRAMAS {II, 246--276)
so daß eingreifendes Denken möglichen gewesen wäre, Memorandum zu der Zeitschrift Krisis und Kritik (VI, 619-
621)
war das Vorgehen von Kurella und Lukacs deutlich DIE MIETSKASERNE (VII, 117-124)
darauf ausgerichtet, mit der Zeitschrift politische ÜSKAR MARIA GRAF ALS ERZÄHLER (lii,309-311)
Oberzeugungsarbeit zu leisten. PROGRAMM DER LITERARISCHEN KRITIK (VI, 161-167)
DIE TECHNIK DES KRITIKERS IN DREIZEHN THESEN (IV, 108 f. ),
in: EINBAHNSTRASSE (IV, 83-148)
THEORIEN DES DEUTSCHEN FASCHISMUS (III, 238-250)
Erzwungenes Exil TIP FÜR MÄZENE (VI, 168- 169)
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
Nur wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung MENSCHEN (II, 140-157)
WIDER EIN MEISTERWERK (III, 252-259)
verließ Benjamin am 17. März 1933 Deutschland-ei- ZuM >ALEXANDERPLATZ< (VI, 184)
nen Tag später traf er in Paris ein. Unter den Pseud- ZuR WIEDERKEHR voN HoFMANNSTHALS ToDESTAG (III,
onymen Detlef Holz und K.A. Stempflinger war es ihm 250-252)
bis zum Juni 1935 noch möglich, einige Artikel in der
Frankfurter Zeitung zu veröffentlichen. Aber insgesamt Literatur
brachen nach dem Sieg der Nationalsozialisten seine Arendt, Hannah (1971): »Walter Benjamin<<, in: dies.: Walter
publizistischen Wirkungsmöglichkeiten weg. Benja- Benjamin, Bertolt Brecht. Zwei Essays, München, 7-62.
min wurde nach 1933 zunehmend seiner publizisti- Braese, Stephan ( 1998): >>Auf der Spitze des Mastbaums. Wal-
ter Benjamin als Kritiker im Exil«, in: Exilforschung. Ein
schen und wissenschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten internationales Jahrbuch, Bd. 16., München, 56--86.
beraubt und dadurch in seiner Existenz massiv be- Brecht, Bertolt {1983): Briefe 1913-1956, hg. u. komment. v.
droht. Doch er hat auf eingreifendes literaturkritisches Günter Glaeser. 2 Bde, Berlin/Weirnar.
Handeln weder in den letzten Jahren der Weimarer Brecht, Bertolt {1993): >>Die Verlustliste«, in: ders.: Gedichte.
5. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe,
Republik noch als Exilant verzichtet. Von einem >>Ab- Werke XV, hg. v. Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mitten-
stand zur publizistischen Praxis der letzten Weimarer zwei/Klaus-DetlefMüller. Berlin/Weimar, 43 u. 339.
Jahre<< ist sicher nur bedingt auszugehen (vgl. Kaulen Brodersen, Momme {1990): Spinne im eigenen Netz. Walter
1999, 920). Dagegen wäre als ein Beispielliterarischer Benjamin: Leben und Werk, Bühl-Moos.
Döblin, Alfred (1963): »Der Bau des epischen Werks<<, in:
Praxis aus der Exilzeit auf Benjamins Besprechung von ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden, Bd. 8: Aufsätze
Anna Seghers Roman Die Rettung (vgl. EINE CHRONIK zur Literatur, hg. v. Walter Muschg, Freiburg i.Br., 103-
DER DEUTSCHEN ARBEITSLOSEN, III, 530-538) ZU ver- 132.
weisen. Drews, Jörg (1973): »Der Literaturkritiker Walter Benjamin
-Eine Fiktion<<, in: Merkur 27, 1156--1163.
Garber, Klaus (2005): Walter Benjamin als Briefschreiber und
Kritiker, München.
332 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Hartung, Günter (1978): ••Der Stratege im Literaturkampf«,


in: Burkhardt Lindner (Hg.): Walter Benjamin im Kontext,
Zur französischen Literatur
Frankfurt a.M., 15-29. und Kultur
Hartung, Günter {1986): >>Walter Benjamins Antikriegsschrif-
ten«, in: Weimarer Beiträge 32, 3, 404-419. Von Laure Bernardi
Hesse!, Franz (1999): >>Die größte Mietskasernenstadt der
Welt«, in: ders.: Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v.
Hartmut Vollmer/Bernd Witte, Werke 5: Verstreute Prosa,
Kritiken, Oldenburg, 207-209. Die Rolle der französischen Literatur im Leben und
Hirsch, Alfred ( 1995 ): Der Dialog der Sprachen. Studien zum Werk Benjamins wird in der Regel vor allem mit den
Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Namen Proust und Baudelaire und mit den Jahren des
Jacques Derridas, München.
Honold, Alexander (2000): »Erzählen«, in: Michael Opitz/ französischen Exils verbunden. Die Beschäftigung
Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a. M., Benjamins mit Frankreich reicht jedoch viel weiter,
363-398. sowohl was die Gegenstände wie auch die Zeitspanne
Kaulen, Heinrich ( 1990): »>Die Aufgabe des Kritikers<. Walter angeht. Französische Autoren und Bücher haben Ben-
Benjamins Reflexionen zur Theorie der Literaturkritik
1929-1931 <<, in: Literaturkritik- Anspruch und Wirklich- jamins geistiges Leben immer geprägt, und das Ver-
keit. DFG-Symposion 1989. Stuttgart, 319-336. hältnis zu Frankreich bildet intellektuell wie auch af-
Kaulen, Heinrich ( 1999): »Der Kritiker und die Öffentlichkeit. fektiv einen roten Faden, der das gesamte Werk durch-
Wirkungsstrategien im Frühwerk und im Spätwerk Walter zieht. Dieser weitreichenden Beziehung ist bisher keine
Benjamins<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global
benjamin, München, 918-942. größere Untersuchung gewidmet worden. Die meisten
Köhn, Eckhardt (1989): Straßentausch: Flanerie und kleine Arbeiten beschränken sich entweder auf Benjamins
Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis Verhältnis zu einzelnen französischen Schriftstellern
1933, Berlin.
oder auf seine Exilzeit, also die letzte Schaffensperiode.
Kracauer, Siegfried ( 1978 ): Die Angestellten. Kulturkritischer
Essay, Leipzig/Weimar. Außer den Proust- und Baudelaire-Schriften, dem
Lindner, Burkhardt ( 1980): »Positives Barbarenturn- aktua- Surrealismus-Aufsatz und dem Monumentalwerk der
lisierte Vergangenheit. über einige Widersprüche Benja- Passagen-Arbeit hat Benjamin aber auch zahlreiche
mins<<, in: alternative, hg. v. Hildegard Brenner 23, 132/133,
kleinere Arbeiten über Frankreich und die französische
130-139.
Matz, Wolfgang (1989): »Hofmannsthal und Benjamin<<, in: Literatur verfaßt. Neben übersetzungenvon Romanen
Akzente 36 {1989) 1, 43-65. oder Novellen aus dem 19. und 20. Jh. zeugen Briefe
Raddatz, Fritz J. ( 1973): »Sackgasse, nicht Einbahnstraße<<, in: und auch eine große Anzahl von Aufsätzen, Rezensio-
Merkur 27, 1065-1075.
nen, Theaterkritiken und Berichten von seinem anhal-
Reich-Ranick.i, Marcel (1972): >>Auf der Suche nach dem ver-
lorenen Echo<<, in: Die Zeit (Nr. 47), 24.11.1972. tenden Interesse auf diesem Gebiet. Die literaturkriti-
Steiner, Uwe (1989): »Die Geburt der Kritik aus dem Geiste sche Tätigkeit Benjamins wird vor allem durch die
der Kunst<<. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den Textauswahl des dritten, den Kritiken und Rezensio-
frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg.
Steiner, Uwe (2000): »Kritik<<, in: Michael Opitz/Erdmut Wi- nen gewidmeten Bandes der Gesammelten Schriften
zisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a.M., 479-523. dokumentiert, der auch den Großteil seiner Arbeiten
Steiner, Uwe (2004): Walter Benjamin, Stuttgart/Weimar. über französische Literatur und Kultur enthält. Dieser
Witte, Bernd ( 1976): Waller Benjamin- Der Intellektuelle als Beitrag wird aber auch Texte behandeln, die- z. B. aus
Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart.
Wizisla, Erdmut (2004): Benjamin und Brecht. Die Geschichte formalen Gründen, denen das Gliederungsprinzip der
einer Freundschaft. Mit einer Chronik und den Gesprächs- Gesammelten Schriften folgt - in anderen Bänden der
protokollen des Zeitschriftenprojekts •Krise und Kritik<, Ausgabe abgedruckt sind.
Frankfurt a. M. Bei Benjamin erfolgt die Annäherung an die fran-
Wohlfarth, Irving {1999): »>Einige schwere Gewichte<? Zur
•Aktualität< Walter Benjamins<<, in: Klaus Garber/Ludger zösische Literatur zuerst in Form der Übersetzung
Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 1, 31-55. (seine Arbeit an Baudelaires Tableaux Parisiens (IV,
23-63) setzt schon 1914-1915 an, andere Überset-
zungsarbeiten aus der ersten Hälfte der 20er Jahre
wurden meist in deutschen Zeitschriften veröffentlicht
(Suppl. I)). Seine Schriften über französische Literatur
sind erst ab 1926 entstanden.
Zur französischen Literatur und Kultur 333

Doppelte Außenperspektive: schäftigt<< (3, 259). Im literarischen Leben Frankreichs


die französische Literatur als Pendant als ihm fremder Welt erkennt Benjamin bestimmte
zur deutschen >Wahlverwandschaften< zur eigenen Arbeit.

Bereits die ersten ausführlichen brieflichen Zeugnisse,


die Benjamins frühes Interesse an französischen Au- Editorialer Kontext der Publikationen
toren belegen, sind von einem Motiv geprägt, das auf-
schlußreich für die besondere Stellung der französi- Der Beginn einer regelmäßigen und umfangreichen
schen Literatur im Leben und Werk Benjamins ist: die Beschäftigung Benjamins mit französischer Literatur
französische Literatur erscheint von vornherein als und Kultur ist auf die Mitte der 20er Jahre zu datieren.
Pendant zur deutschen. Besonders wichtig ist in die- Sie setzt zeitgleich mit seiner regelmäßigen Mitarbeit
sem Zusammenhang ein Brief an Ernst Schoen vom an zwei der führenden deutschen literarischen Blätter
24.7.1919, wo Benjamin von seinen damaligen Lektü- ein: die erstmals 1925 erschienene Literarische Welt
ren berichtet: »Ich halte die Nouvelle Revue Franfaise. und das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung.
Hier hat für mich Vieles, dessen Analogon im Deut- Diese Umorientierung zur Publizistik fällt mit der
schen mir vielleicht bis zur Fadheit durchschaubar >>Wendung<< zusammen (vgl. 2, 511 und 3, 60; dazu
wäre, noch eine Dichtigkeit, ein gefärbtes Dunkel, in auch Hartung 1985 u.a.), die in der Mitte der 20er
dessen Klärung ich weiter komme. Ich glaube, Zeit- Jahre in Benjamins Leben und Werk erfolgte, und sich
schriften haben überhaupt fast nur für den Ausländer bestätigt fand, als 1925 sein Habilitationsversuch schei-
wert. [... ] Endlich lese ich mit größtem Interesse aus terte. Auch in seiner literaturkritischen Tätigkeit kann
klarem Unbeteiligtsein, was Männer wie Gide über man eine Wende verzeichnen. Benjamins frühere lite-
Deutschland sagen [... ]. Hier ist für mich noch Contact rarische Abhandlungen waren vor allem deutschen
mit irgend einer Fiber >Gegenwart< den ich Deutschem Schriftstellern gewidmet, und sowohl stilistisch als
gegenüber kaum mehr erlange« (2, 33-34; auch Kam- auch wirkungsgemäß waren diese Texte relativ esote-
bas 1992 kommentiert diese Stelle, ordnet sie jedoch risch. Ab 1926, als seine publizistische Tätigkeit ein-
in einen etwas anderen Kontext ein). Benjamin be- setzt, sind die behandelten Bücher oft Texte zeitgenös-
schreibt mit außergewöhnlicher Deutlichkeit den kon- sischer Autoren, darunter viele französische.
trastiven Wert der fremden literarischen Welt: die Ausschlaggebend für die von nun an zentrale Rolle
Außenperspektive ermöglicht eine neue, >erfrischende< französischer Literatur innerhalb von Benjamins lite-
Beziehung zur Literatur. Sprachlich ist der ganze Pas- raturkritischer Produktion sind neben der beginnen-
sus von einer geographisch-zeitlichen Polarisierung den Mitarbeit an Zeitschriften der lange Aufenthalt in
geprägt, und besonders interessant ist die explizit er- Paris im Jahr 1926 und die ihm durch die Vermittlung
wähnte Bedeutung des >>Unbeteiligtseins<<. Von einer Hofmannsthals und Rilkes in Auftrag gegebene Über-
Außenperspektive kann man hier in doppeltem Sinn setzung der Anabase von Saint-John Perse. Ab 1926
sprechen: Die Fremdperspektive des Deutschen Ben- sind beinahe ein Viertel der von Benjamin in verschie-
jamin Frankreich gegenüber entspricht dem durch die denen Formen besprochenen Bücher französische
Annäherung an Frankreich ermöglichten Außenblick Bücher oder Bücher über französische Literatur und
des >Fremden< auf die eigene Kultur. Kultur.
Bezeichnenderweise wird dies aber in dem Moment Bis 1933 verringert sich die Anzahl seiner Frankreich
hervorgehoben, in dem auch von geistiger Verwandt- gewidmeten publizistischen Arbeiten beträchtlich. Für
schaft die Rede ist. Die Wahl einer Beschäftigung mit seine partielle Abwendung von der Publizistik gibt es
neuerer Literatur wird ausdrücklich mit dem Bewußt- mehrere Gründe: Zuerst erlaubte ihm paradoxerweise
sein des kontrastiven Hintergrunds, der unterschied- seine verhältnismäßig stabile finanzielle Situation- als
lichen Lage der geistigen Produktion in Deutschland seine Rundfunkbeiträge von 1929 bis 1932 ihm ein
und Frankreich verbunden. Dieselbe Perspektiv-Ver- regelmäßiges Einkommen sicherten-, teilweise auf die
dopplung zeichnet sich auch in einem späteren Brief literaturkritische Tätigkeit zu verzichten. Dazu kam
ab, den Benjamin Mitte 1927 an Hofmannsthai schrieb: dann die mit der politischen Entwicklung zusammen-
»Während ich mit meinen Bemühungen und Interes- hängende Verschlechterung der Publikationssituation,
sen in Deutschland unter den Menschen meiner Ge- unter der Benjamin besonders im Exil zu leiden hatte;
neration mich ganz isoliert fühle, gibt es in Frankreich nach dem Verkauf der Literarischen Welt durch Willy
einzelne Erscheinungen- als Schriftsteller Giraudoux Haas und dem Kurswechsel der Frankfurter Zeitung
und besonders Aragon - als Bewegung den Surrealis- löste er sich allmählich von diesen Zeitschriften. Die
mus, in denen ich am Werk sehe, was auch mich be- Überlegungen zur französischen Literatur wurden
334 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

dann Gegenstand längerer Schriften, wie z. B. der wich- sierung< auf dem Gebiet der neuen französischen Li-
tige Beitrag ZuM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLI- teratur jedenfalls ist u. a. auf eine entschiedene Ver-
CHEN STANDORT DES FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTEL- mittlungsabsieht zurückzuführen.
LERS, die späteren Baudelaire-Arbeiten und das Passa- Vor allem Briefe zeugen von einer bereits 1924 ein-
gen-Werk. Diese deutliche Periodisierung zeugt von setzenden Beschäftigung mit der Vermittlung franzö-
der Schlüsselstellung, die der Produktion der zweiten sischer Texte in Deutschland. In einem an Scholem
Hälfte der 20er Jahre für das Benjaminsehe Verhältnis gerichteten Brief vom 5.3.1924 erwähnt Benjamin eine
zur französischen Literatur zukommt. »eindrucksvolle Liste französischer Desiderata aus den
Jahren 1917-1923, etwa 100 Stück« (2, 434), die er für
den Fachreferenten für zeitgenössische französische
Benjamin als Vermittler? Literatur der Berliner Staatsbibliothek (wahrscheinlich
Erich Auerbach) erstellt habe. Einige Monate später
In der Sekundärliteratur zu Benjamins Literaturkriti- (497) schlägt er dem Verleger und späteren Herausge-
ken wurde oft die These vertreten, Benjamin habe sich ber seiner Baudelaire-Übersetzungen Weissbach vor,
in den publizistischen Arbeiten nie an ein breites Pu- »neue französische Romane übersetzt heraus[zu]
blikum gewandt, und seine in den Zeitschriften er- bringen«, gibt einige Titel und Namen an, darunter
schienenen Texte seien immer nur an Kollegen, Intel- Radiguet und Giraudoux, auf den er später oft zurück-
lektuelle, d. h. literarische Fachleute gerichtet (zuerst kommen wird (1926 BELLA, III, 34; 1928 PARIS ALs
Witte, in seiner Folge eine Menge von Arbeiten, nicht GöTTIN, PHANTASIE ÜBER DEN NEUEN ROMAN DER
aber Kambas, die die Vermittlerrolle Benjamins be- FüRSTIN BIBEsco, 139-142). Er betont dabei, wieviel
tont). Als Beleg für diese Behauptung diente meist die Wert er auf die baldigeübersetzungder jüngst erschie-
siebte These des Aufsatzes DIE TECHNIK DES KRITI- nenen Schriften lege. Später erteilt Thankmar von
KERS IN DREIZEHN THESEN: »Für den Kritiker sind Münchhausen ihm den Auftrag, und im Herbst 1926
seine Kollegen die höhere Instanz. Nicht das Publikum. sendet ihm Benjamin eine Liste von französischen
Erst recht nicht die Nachwelt« (IV, 108). Abgesehen Büchern, die er als Publikationsvorschläge für den In-
von den Schwierigkeiten, die sich bei der Interpreta- sel Verlag erstellt hat, und in der er auf Autoren hin-
tion dieses Grundsatzes ergeben (es wäre z. B. zwischen weist, deren Schriften er später besprechen, oder sogar
Instanz und Adressaten zu unterscheiden, und die den übersetzen wird: Cocteau, wiederum Giraudoux,
komplexeren Umgang mit dem Publikum als Adres- Valery und Jouhandeau (vgl. 3, 189). Eine solche >prä-
saten bestimmende dreizehnte These wäre somit auch skriptive< Rolle auf dem Gebiet der Vermittlung fran-
zu berücksichtigen) und von der Fragwürdigkeit einer zösischer Literatur übernimmt Benjamin wieder in
Interpretation, die in der Benjaminsehen Kritikertä- einer Sammetrezension mit dem Titel BücHER, DIE
tigkeit die bloße Anwendung seiner theoretischen Be- ÜBERSETZT WERDEN SOLLTEN (III, 174-182), die im
trachtungen sieht, ist die scharfe Alternative zwischen Juni 1929 in der Literarischen Welt erscheint. Das letzte
Vermittlungsintention und rein reflexivem Anspruch der in dieser Reihe besprochenen Bücher ist ein Werk
zumindest für die Schriften zur französischen Literatur des fast unbekannten, früh verstorbenen Dichters Leon
nicht haltbar. Die in der Sekundärliteratur oft prakti- Deubel. Im Schlußsatz des Beitrages kommt die Ver-
zierte Anwendung der Theorie Benjamins auf seine mittlungsabsieht zum Ausdruck: »Mit zwanzig oder
eigene Kritikertätigkeit schüttet genau dann das Kind dreißig seiner schönsten Verse sollte Deubel in der
mit dem Bade aus, wenn Benjamins Ablehnung von besten aller deutschen Republiken, dem alten Freistaat
>Vermittlung< als instrumenteller und popularisieren- ihrer Übersetzungen, das Heimatsrecht verliehen wer-
der Verwendung der Sprache (vgl. u. a. den Plan zum den<< (182).
Angelus Novus, li, 241) auf die gesamte Funktion des Die Vermittlerrolle wird auch von Benjamin als mo-
Kritikers hin verallgemeinert wird. Die Generalisie- ralische, politische Aufgabe in den Kontext der
rung über Gebühr macht blind für die Vermittlerrolle, deutsch-französischen Beziehungen gestellt. Das zeigt
um die es hier geht, nämlich die nicht widerspruchs- eine der ersten in der Literarischen Welt veröffentlich-
freie Positionierung zwischen den Kulturen. Benjamins ten Rezensionen, FRIEDENSWARE, eine lange witzige
Bemühen um eine Neubestimmung der Stellung des Besprechung von Fritz von Unruhs Paris-Buch Flügel
Intellektuellen geht mit dieser Vermittlerrolle einher, der Nike- Buch einer Reise (23-28). Benjamin kritisiert
und die Rückschlüsse auf das Fehlen einer jeden ver- hier pointiert einen Reisebericht, in dem »die Völker-
mittelnden Dimension seines Werkes sind übereilt und verständigung im Dreck aus[geht]<< (27). In einem
nur schwer mit der an ein breiteres Publikum gerich- etwa ein Jahr vorher verfaßten Brief an Rilke hatte
teten Kritikertätigkeit vereinbar. Benjamins >Speziali- Benjamin diese Kritik in den Rahmen einer Reflexion
Zur französischen Literatur und Kultur 335

über Vermittlungsaufgaben gestellt und sich glücklich Zur Rolle Benjamins innerhalb der deutsch-
geschätzt, >>an der Verbindung deutschen und franzö- französischen Literaten-Beziehungen
sischen Schrifttums wirken zu dürfen« (3, 55 f.).
Während diese vermittelnde Dimension des Werkes in
der Forschung zu Benjamin oft bestritten wurde, wird
Vermittlungsabsicht und Rezensionen Benjamin paradoxerweise in umfassenderen Arbeiten
zu deutsch-französischen Beziehungen zwischen den
Trotz der manchmal provokativen Ablehnung der Ver- beiden Weltkriegen häufig eine zentrale Rolle im Paris
mittlungsintention (vgl. Z. B. DIE AUFGABE DES ÜBER- der 20er und 30er Jahre zugewiesen. Das ist besonders
SETZERS, IV, 9) treten die vermittelnden, ja pädagogi- der Fall in französischen Arbeiten zu dieser Problema-
schen Absichten in einigen Rezensionen sehr deutlich tik, freilich erst im Zuge der späten Rehabilitierung
hervor. Benjamin greift z. B. in vielen dieser Texte auf von Benjamins Werk. Die rekonstruktive Betonung der
Stilmittel zurück, die einem traditionellen Verständnis Vermittlerrolle hat allerdings einen - uneingestande-
der Literaturkritik entlehnt scheinen, wie >einbür- nen- Legendencharakter. Festzuhalten bleibt jeden-
gernde< Vergleiche oder kontrastierende Betrachtun- falls, daß Benjamin zu Lebzeiten weder in Frankreich
gen, die es dem Publikum ermöglichen sollen, sich noch in Deutschland als legitimer Vermittler im
einer ihm fremden Literatur anzunähern. So wird z. B. deutsch-französischen Dialog identifiziert wurde.
die Komik des französisch schreibenden Schweizers Diese spezifische Randposition gilt es hier herauszu-
Pierre Girard mit dem Werk des deutschsprachigen stellen, da sie auch für das Verständnis des Werks von
Schweizers Robert Walserverglichen (III, 76-77), Ge- Belang ist.
org Heym erscheint als deutsches >Pendant< zu Leon Darüber hinaus war Frankreich für Benjamin der
Deubel (182), Paul Leautaud wird mit Kar! Kraus Ort, an dem es ihm, zumindest zeitweise, möglich
(68 f.) oder Henry Poulaille mit Heinrich Mann ver- schien, eine gesellschaftliche Position zu erlangen. Auf
glichen, dem er sein Buch gewidmet hatte (74f.). Die den zeitlichen Zusammenfall der beginnenden Be-
Tatsache, daß Benjamin die erwähnten Bücher frei - schäftigung mit französischer Literatur und des Schei-
und nicht im Auftrag einer Zeitschrift - rezensiert terns seiner Karriere in Deutschland ist bereits hinge-
hatte, unterstreicht die Bedeutung der hier von ihm wiesen worden. Frankreich erscheint hier nochmals als
eingenommenen Vermittler-Perspektive für das Ver- Gegenpol zu Deutschland. Während Benjamin in
ständnis dieser Schriften. Deutschland für seine Pläne keine wirkliche Unterstüt-
Kambas' Behauptung, der zufolge Benjamin jede zung gefunden hatte, begann er seine französische
völkerpsychologische, Stereotypische und komparati- Karriere unter der dreifachen Obhut von Rilke, Hof-
stische Orientierung fremd sei, die sonst die Vermitt- mannsthai und Thankmar von Münchhausen; die
lungsbemühungen eines Gide oder eines Curtius aus- erste produktive französische Arbeit nach der Baude-
zeichne (vgl. Kambas 1992, 141 f.), ist also so nicht laire-übersetzung war die >>in Stellvertretung von
haltbar. Die Benjaminsehen Rezensionen weisen viel- Rilke<< unternommene Übersetzung der Anabase von
mehr eine Tendenz zur Hervorhebung angeblich na- Perse (Suppl. I; vgl. 3, 38). Seine Beziehungen zu diesen
tionaler Charaktere auf, die auch typisch für das Genre drei angesehenen deutschen Intellektuellen und Ver-
ist. In dem Bericht über das Gespräch mit Gide (AN- mittlern zwischen Deutschland und Frankreich ver-
DRE GmE UND DEUTSCHLAND), den Benjamin Anfang sucht Benjamin übrigens bewußt zu nutzen (vgl. z. B.
1928 in der Literarischen Welt veröffentlichte, wird 3, 38). Er hat keinen Zeitaufwand und keine Mühe
dieses Interesse besonders deutlich: »Für den eigen- gescheut (Alfred Cohn gegenüber spricht er 1927 vom
brätelnden, eingezogenen, verkauzten Deutschen wird >>Bestreichen<< der »pariser Relationen<<, 293), um ge-
immer das Vorbild, die erzieherische Figur schlechthin, zielt an der >>Festigung [s]einer pariser Position<< (259)
der sein, der in Gestalt oder Lehre den deutschen Ty- zu arbeiten. An den wichtigen, etablierten Orten der
pus, wie heute Hofmannsthai und Borchardt es versu- deutsch-französischen Kultur-Beziehungen hat Ben-
chen, herausstellt. Den Franzosen aber, die, im Volks- jamin aber nur selten verkehrt. An den ab 1910 von
charakter reich und vielfältig nach Stämmen geschie- Paul Desjardins im burgundischen Kloster Pontigny
den, in ihren nationalen und literarischen Tugenden veranstalteten >>Decades de Pontigny<< hat er nur ein-
stärker, prekärer als sonst ein Volk standardisiert sind, mal, und sehr spät (1938) teilgenommen.
ist der große Ausnahmefall, der moralisch durchleuch- Benjamin stieß bald auf die Schwierigkeit, >>in frem-
tete, höchste erzieherische Instanz. Der ist Gide« (IV, der Umgebung<< Verbindungen herzustellen (160),
497-502). zumal er vor dem Exil des Französischen nicht mäch-
tig genug war, um in Frankreich Beiträge in Zeitschrif-
336 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

ten zu publizieren. Erst nach 1939 konnte er durch die Avantgarde betont Kambas die Repräsentanz sowohl
Vermittlung Adrienne Monniers einen auf französisch älterer wie auch neuerer französischer Schriftsteller:
geschriebenen Artikel über Georges Salles in La Ga- der etablierte Claudel verkehrt genauso in diesem Kreis
zette veröffentlichen (III, 592-595). Zur ersehnten wie der junge Eluard, der junge Sartre trafhier auf den
gesellschaftlichen Position haben ihm die französi- Leiter der NRF Gide. Was die so verschiedenen Mit-
schen Bekannten kaum verholfen. Die Begegnung glieder dieses Kreises verbindet, ist das Engagement
zwischen Benjamin und den französischen Intellektu- für eine bestimmte Vermittlung zwischen französi-
ellen fällt durch ihre einseitige Ausrichtung auf. In der scher und deutscher Literatur und Kultur.
Korrespondenz finden sich außer Zeugnissen seiner Aber auch ungeachtet dessen bleibt zu sagen, daß
späten Beziehung zu Adrienne Monnier fast keine Be- Benjamin Bücher behandelt hat, die Berührungs-
lege von Relationen zu französischen Schriftstellern. punkte zu eigenen produktiven Interessen aufwiesen.
Weder Gide noch Valery, Green oder Bataille, den Ben- Die Hinwendung zu bestimmten Dichtern resultiert
jamin erst später kennengelernt hatte, erwähnen sei- bei ihm auch aus der Wahrnehmung von Affinitäten.
nen Namen. In der Tat war das literarische Frankreich Hier soll versucht werden, über die offensichtlichen
der 30er Jahre nur wenig aufnahmefreundlich (vgl. Divergenzen in den rezensierten Schriften und in den
Rochlitz 1991, 657; Einfalt 1997, 1999; Richard 1984, Rezensionen selbst hinaus einheitsstiftende Perspek-
94, der das Verharren der NRF in einer immobilisti- tiven herauszuarbeiten, ohne dabei in den Fehler zu
schen Haltung gegenüber dem neuen Deutschland verfallen, von eineraposteriorikonstruierten Kohä-
betont. Auch den Zutritt zur Avantgarde verschaffte renz ausgehend Rückschlüsse auf begriffliche, litera-
sich Benjamin nur in anderen Ländern, vgl. z.B. Leh- rische und politische Optionen zu ziehen.
ning 1992). Symptomatisch für Benjamins Beziehun-
gen zur französischen Literaten-Welt ist vielleicht, daß
seine einzige >produktive Freundschaft< in der Zusam- Die Rezensionen als Material
menarbeit mit Ballard und dessen Marseiller Cahiers
du Sud ab Ende 1926 bestand, daß Benjamin also in In einem wichtigen Brief an Schalem vom 29.5.1926
der Pariser Literaten-Welt eine Außenseiterposition (in der Entstehungszeit der EINBAHNSTRASSEl beant-
einnimmt. wortet Benjamin eine Frage des Freundes, der sich
Aus heutiger Sicht könnte unverständlich erschei- nach seiner politischen und theologischen Entwick-
nen, daß Benjamin gleichzeitig Werke repräsentativer lung erkundigt hatte. Benjamin sieht die sich immer
lebender Dichter und Texte sonst fast unbeachteter deutlicher ausprägende politische Ausrichtung seines
Autoren bespricht; auch mit dem von Benjamin selbst Werkes auch seinen von ihm selbst herabgesetzten
betonten zeitlichen Zusammenfallen seiner Beschäfti- publizistischen Arbeiten eingeschrieben, wenn auch
gung mit Valery, Gide und Breton kann der heutige nur andeutungsweise oder gar kryptisch. So überläßt
Leser auf Anhieb möglicherweise wenig anfangen: der er diese Dimension seiner Rezensionen dem Scharf-
gemeinsame Nenner der Werke dieser drei französi- sinn seines Freundes Scholem in einer litotenhaften
schen Schriftsteller leuchtet nicht ein, zumal sie nicht Einladung: >>Dergleichen wiederholte überlegungen
nur politisch unvereinbare Orientierungen vertreten, aus einigen Buchbesprechungen oder Reisenotizen zu
sondern auch radikal unterschiedliche Positionen in- entnehmen, kann Dir und keinem freilich zugemutet
nerhalb des literarischen Feldes verkörpern. Eine erste werden (eine falsche Konstruktion! aber gut). Wolle
Erklärung für diese Diskrepanz wäre im sozialge- auch was hier beiliegt oder mit gleicher Post folgt,
schichtlichen Kontext zu finden. Benjamins Beziehung nicht änigmatisch lesen sondern nur als Information,
zu Adrienne Monnier ist hierfür aufschlußreich. Ihr wie ich ein Taschengeld mir verdiene auffassen« (3,
Beginn ist wohl erst auf 1930 zu datieren, und enger 160). Wenn die Vermittlungsabsicht der Rezensions-
wurde sie erst in der Zeit des Exils. Der Kreis um diese arbeiten unleugbar ist, erscheinen sie hier auch als
Schriftstellerin und Besitzerin einer privaten Leihbü- privilegierte Gegenstände einer >doppelten< Lektüre.
cherei zeugt von genau jener- für uns möglicherweise Mit dieser Vielschichtigkeit seiner publizistischen Ar-
seltsamen- Mischung aus einer literarischen Avant- beiten geht einher, daß Benjamin dort, insbesondere
garde und Schriftstellern, die zwar den Geist der Mo- in den Schriften über französische Literatur, Begriffe
derne repräsentierten, aber in den 20er und noch mehr entwickelt, die er später in andere Schriften über-
in den 30er Jahren bereits >arriviert< und international nimmt, wo sie manchmal in ganz anderen Zusammen-
anerkannt waren (vgl. Kambas 1993). Neben der Dis- hängen wiederauftauchen. Von derlei >Wiederverwen-
krepanz zwischen dem >>literarischem Establishment dung< und sogar Selbstzitaten ist 1928 auch in einem
Frankreichs« und deutscher bzw. internationaler an Scholem gerichteten Brief sehr ausdrücklich die
Zur französischen Literatur und Kultur 337

Rede, wo Benjamin»[ ... ] eine Arbeit über >Französi- nene Rezension der Encyclopedie Franfaise: Arts et
sche Revuen 1878-1928<<< erwähnt, die er »listig den Litteratures dans la Societe Contemporaine (579-585,
Studien zur Passagen-Arbeit dienstbar<< mache (425). Zit. 585). Mit dem Beginn der Mitarbeit an der Zeit-
Diese Vorgehensweise der »listigen<< Aneignung, schrift für Sozialforschung traten Benjamins Rezensio-
Umarbeitung und Einarbeitung der auch als Material nen also in eine weitere Phase: die rezensierten Bücher
konzipierten kleinen Literatur-Schriften sei hier un- wurden danach überprüft, ob sie sich in einer den ge-
tersucht, weil dies Zugang zu Benjamins Rezensionen schichtlichen Verhältnissen Rechnung tragenden Per-
und Literaturberichten über Frankreich ermöglicht: spektive befanden oder nicht. Dies schlägt sich auch
das >Disparate< der von ihm getroffenen Auswahl fran- in der formalen Gliederung seiner Aufsätze und in der
zösischer Literatur kann nur vor diesem Hintergrund Wortwahl nieder.
verstanden und neu bewertet werden. Dabei spielt die Erst eine differenzierte Analyse der bereits in den
in dem zuvor zitierten Brief von Benjamin selbst her- verschiedenen publizistischen Arbeiten vorhandenen
gestellte Verbindung zwischen seiner publizistischen Reflexionsmomente zu dieser Problematik ermöglicht
Arbeit und seinen politischenüberlegungeneine zen- es, die Entstehung der dann von Benjamin aufgestell-
trale Rolle. ten Thesen nachzuvollziehen. Auffallig ist besonders
die Komplexität, ja sogar die Widersprüchlichkeit der
Texte, die in der zweiten Hälfte der 20er Jahre entstan-
Erste Schritte in Richtung einer Theorie den, also zu einer Zeit, als Benjamin seine Kritikertä-
der modernen Intelligenz tigkeit gleichzeitig als >Forschungsstätte< für die expe-
rimentelle Ausarbeitung von Ideen ansah, die erst
Wie oft bemerkt wurde (vgl. Witte 1976 oder auch später ihre endgültige und nicht immer einheitliche
Kaulen 1990, Habermas 1972, Hartung 1985), zeigt Form finden sollten.
sich in den Benjaminsehen Rezensionen der zweiten Benjamins überlegungen zum Ende des autonomen
Hälfte der 20er Jahre eine deutliche reflexive Dimen- Kunstwerkes stützen sich weitgehend auf die Analyse
sion: der Kritiker entwickelt eine Reflexion zur Stand- der literarischen Praxis der französischen Moderne; in
ortbestimmung der Intelligenz. Eine Untersuchung diesem Zusammenhang ist der kontrastive Wert der
seiner der französischen Literatur gewidmeten Schrif- überlegungen über Frankreich nochmals hervorzuhe-
ten bestätigt die Annahme, Benjamin habe durch seine ben, den Benjamin ja selbst in einem 1927 in der Lite-
publizistischen Beiträge zur Diskussion über Rolle und rarischen Welt publizierten Artikel über den VEREIN
Aufgabe des Literaten in der Gesellschaft beitragen DER FREUNDE DES NEUEN RUSSLAND- IN FRANKREICH
wollen. In diesen Schriften finden sich bereits überle- betont: »Es ist nicht zu vergessen, daß in Frankreich
gungen zur Standortbestimmung des Intellektuellen, die kulturelle Krise bei weitem nicht so fortgeschritten
die von der Forschung meist ausschließlich im Hori- ist wie bei uns. Die Problematik in der Situation des
zont des- allerdings erst viel später entstandenen- Es- Intellektuellen, aus der heraus er selbst sein Existenz-
says ZUM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN recht in Frage stellt, während zu gleicher Zeit die Ge-
STANDORT DES FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTELLERS (Il, sellschaft ihm die Existenz verweigert, ist in Frankreich
776) wahrgenommen wurden, wo sie sich in einem so gut wie unbekannt. Es geht den Künstlern und Li-
strukturierten Diskurs artikulieren. Diese überlegun- teraten vielleicht nicht besser als ihren deutschen Kol-
genlassen aber in dem erwähnten Disparaten der pu- legen, aber ihr Prestige ist unangetastet. Mit einem
blizistischen Arbeiten zu Frankreich eine bestimmte Wort: sie kennen den Schwebezustand. In Deutschland
Einheit erkennen. Benjamins Positionen haben sich in aber wird bald keiner mehr bestehen können, es sei
diesen Texten erst allmählich ausgebildet. Auch die in denn, seine Stellungnahme sei weithin sichtbar<< (IV,
der Zeitschrift für Sozialforschung Anfang der 30er 486f.). Die unterschiedliche geschichtliche Entwick-
Jahre erschienenen Rezensionsarbeiten und Essays, wie lung beider Länder, d. h. Frankreichs- im Vergleich zu
auch die im Auftrag der Moskauer Monatsschrift Das Deutschland - verspäteter gesellschaftlicher Wandel,
Wortverfaßten PARISER BRIEFE (III, 482-507) verwei- ist einer der Gründe für Benjamins besonderes Inter-
sen beständig auf die Notwendigkeit einerneuen Auf- esse an diesem Land im Hinblick auf die sich verän-
fassung der Kunst und der Literaturkritik: Im Kontext dernde Lage der Intellektuellen.
der Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus
soll die Literatur auf ihre »historische<< und »gesell-
schaftliche Bedingtheit<< untersucht und »materiali-
stisch instruiert<< werden (vgl. u.a., als Höhepunkt
dieser Entwicklung zu betrachten, die 1939 erschie-
338 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

,Schwebezustande Auch die beiden folgenden Buchbesprechungen sind


von einem solchen Zögern geprägt, das hier sogar ei-
Aufschlußreich für diese Perspektive ist vor allem eine nen schwankenden Charakter hat, sich jedoch zwi-
Reihe von Rezensionen, die im Juni 1929 unter dem Ge- schen zwei anderen Polen bewegt: einerseits wird der
samttitel BüCHER, DIE ÜBERSETZT WERDEN SOLLTEN in revolutionäre Wert der modernen Dichtung behaup-
der Literarischen Welterschienen (III, 174--182), und de- tet, andererseits die Sehnsucht nach der in Frankreich
ren gemeinsamer Nenner diese reflexive Dimension ist. verschwindenden, doch noch nicht ganz verlorenen
Der erste, besonders bekannte Text bespricht einen Tradition ausgedrückt. Die Besprechung von Apolli-
Erzählungsband von Mac Orlan (dessen subversive naires Le flimeur des deux rives nimmt offensichtlich
Neubestimmung der Kunst Benjamin 1926 in der Re- Partei für den ersten Pol. Dort wird eine scharfe Ge-
zension DER KAUFMANN IM DICHTER, 46, bereits er- genüberstellung zweier entgegengesetzter Modelle
kannt hatte). Die hier besprochenen Erzählungen vorgenommen. In diesem Text, der bereits viele Motive
werden auffälligerweise in den Zusammenhang einer enthält, die er ab 1935 in den Überlegungen zum
überlegungzum gesellschaftlichen Standort des Intel- KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
lektuellen gestellt: eigentlicher Gegenstand dieser Re- PRODUZIERBARKEIT entwickeln wird, stellt Benjamin
zension ist somit der allmähliche »Verfall der Intelli- dem modernen Apollinaire und seiner >>Unfeierlich-
genz<< und das daraus folgende >>unterirdische Kom- keit<< die typisierte Figur des in der >>tour d'ivoire<<
munizieren der Intelligenz mit der Hefe des isolierten Mallarme gegenüber, den >>Schallplatten<<
Proletariats<<, nachdem sich das Modell einer autono- des einen die abgehobenen Bücher des anderen, wobei
men, >>klassenlose[n] Intelligenz<< als Vertreterin der der Rezensent bei Apollinaire die >>Reinheit und
bürgerlichen Werte als nicht mehr haltbar erwiesen Schärfe<< Mallarmes wiederfindet. Der Aufbruch der
hat und von einer >>Freiheit zwischen den Klassen, will Moderne in die Kunst wird hier entschieden positiv
sein, der des Lumpenproletariats<< ersetzt wurde ( 175). bewertet.
Die Rezension von Mac Orlans Buch enthält überdies Die darauf folgende kurze Rezension des Romans
keinerlei Kommentar zum ästhetischen Wert der Er- Agnes von Gabriel d' Aubarede ist jedoch von einer
zählungen; Benjamins Reflexion bewegt sich von An- unverkennbaren Nostalgie nach einer in Deutschland
fang an auf einem soziahistorischen Niveau und be- abgeschlossenen Epoche der Kunst durchdrungen,
tont nochmals die Bedeutung der verspäteten Entwick- deren letzte Spuren Benjamin in Frankreich noch
lung Frankreichs gegenüber Deutschland. Die hier wahrnimmt: >>Darum gehört diese schöne Erzählung
ausgeführte These erscheint später im Essay ZuM GE- in die Gattung der >Liebesgeschichten<, von denen wir
GENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES Abschied nehmen müssen und in Deutschland längst
FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTELLERS wieder, in Form Abschied genommen haben. Wir wissen, aus wie trif-
eines kurzen, aber kaum modifizierten Selbstzitates tigen Gründen und werden dennoch ein so zartes und
(II, 789; zu den zahlreichen, oft modifizierten Selbst- klangvolles Buch um so lieber haben, als unsere guten
zitaten in diesem Text, solange sie nicht im folgenden Autoren so etwas nicht mehr schreiben und die
besprochen werden, vgl. die- freilich unvollständigen schlechten es noch immer versuchen<< (180). Das Ne-
-Hinweise der Herausgeber in II, 1516-1519). Was beneinander von so verschiedenen Werken und so
sich zwischen 1929 und 1933 verändert hat, ist jedoch verschiedenen Positionen in ein und demselben Zeit-
die Einstellung Benjamins zur beschriebenen Attitüde, schriftenheft spiegelt die Vielschichtigkeit einer Refle-
die er in Mac Orlans Schriften erkannte. Wenn er die- xion wider, die vor allem darum bemüht ist, einen
ses >>Dasein zwischen den Fronten<< (175) in der Re- Wandel aufzuzeigen, und nie versucht ist, ihre eigenen
zension von 1929 schon als >>chimärisch<< und >>illuso- Widersprüche auszugleichen.
risch<< beschreibt, erwähnt er jedoch auch noch >>das Die anhaltende Beschäftigung mit Valery gehört
Anarchische und Refraktäre<< daran, und dies nicht auch in diesen Kontext. Allein die Beschreibung seiner
ohne Sympathie. In dieser >>kompromißlosen<<, als Schriften mit dem Adjektiv >>herrlich<< (auf das Benja-
>>Übergangsposition<< bezeichneten Strategie erkennt min sonst eher selten zurückgreift; 3, 61) deutet auf
der damalige Kritiker Benjamin sich selbst (176). Seine die Mischung von Bewunderung und Nostalgie, die
Faszination für eine solche Position verschwindet 1933 charakteristisch ist für sein Interesse an diesem letzten
jedoch völlig; in seinem marxistisch geprägten Essay großen Vertreter der freien französischen Intelligenz,
wird sie als >>Versteck des Konformismus<< (789) inter- der ja auch als Erster das Verschwinden der Tradition
pretiert. Sie ist charakteristisch für die differenzierte und der Autonomie in der Kunst erkannte (das zeigt
und komplexe Stellungnahme, die die Benjaminsehen sich vor allem in Benjamins Interesse an Valerys nega-
Rezensionen dieser Jahre auszeichnet. tiver Einstellung zu den Surrealisten, wie auch an sei-
Zur französischen Literatur und Kultur 339

ner Analyse der technischen Bedingungen von Kunst- schem Gestus geprägt, wobei eine Art Theorie der
rezeption und -Verbreitung). dialektischen Begegnung der Extreme entsteht: »Und
Schon sein erster veröffentlichter Text über Valery das will nur besagen, daß der revolutionäre Wille heute
- PAuL VALERY IN DER EcoLE NoRMALE, ein 1926 ver- den konservativen dialektisch in sich enthält: daß er
faßtes Protokoll über einen an der Ecole Normale su- heute der einzige Weg zu den Dingen ist, als deren
perieure gehaltenen Vortrag, das Anlaß für ein physio- Hüter die Bourgeoisie schon längst zu Unrecht sich
gnomisches Porträt des Dichters ist - enthält dieses ansieht<< (68).
Moment: »Valery, dem, was Kanonisches vom >Dich- Die Polarisierung des Literaturbetriebs in Parteien
ter< heute noch in Kraft bleibt, eines sehr späten Tages und Gruppen erfolgt bei Benjamin nicht in den übli-
wie von selber zufiel, hat niemals durch die >Stellung- chen Kategorien. Während heutige Arbeiten über das
nahme< zu den Angelegenheiten seines Volkes, durch literarische Leben Frankreichs (vgl. z.B. Einfalt 1997;
eine Führergeste darum geworben<< (IV, 479f.). Eine 1999) die neue entscheidende Rolle der politischen
Notiz aus dem Nachlaß - eine Vorarbeit zum Aufsatz Situierung und den Verlust der früheren Autonomie
PAUL VALERY, den Benjamin 1931 anläßlich des 60. der »freien Intelligenz<< im Frankreich der 20er und
Geburtstags Valerys in der Literarischen Welt publi- 30er Jahre mit der Strukturierung des literarischen
zierte -lautet: >>Die Idee der Untätigkeit- im Teste- ist Feldes in einer scharf kontrastierten Gegenüberstel-
die entschiedenste immanente Kritik von Valerys Welt lung bzw. einer Dreiteilung des literarischen Feldes zu
an sich selbst<< (II, 1145). Diese nuancierte Bemerkung erfassen suchen, sprengt Benjamin diese Kategorien
wird später, im Essay ZuM GEGENWÄRTIGEN GESELL- mit erstaunlicher Souveränität. Die in der Literatur-
SCHAFTLICHEN STANDORT DES FRANZÖSISCHEN geschichte oft vorgenommene Unterscheidung zwi-
SCHRIFTSTELLERS, zu einer nachdrücklicheren, auch schen drei großen politischen Orientierungen (der des
weniger feinfühligen Kritik an der Unzulänglichkeit katholischen, manchmal auch nationalistischen Kon-
der politischen Position des Verfassers umgeformt servatismus, der der humanistischen Intellektuellen,
werden. die sich für den Wert der Literatur als solchen enga-
Die von Benjamin betonte Widersprüchlichkeit gieren, und der der Linksintellektuellen und Avant-
Valerys erhellt den Wert, den Benjamin in diesen Jah- garde) spielt in Benjamins Textauswahl kaum eine
ren einer solchen Schlüsselstellung zumißt, die die Rolle. Anstau sich auf eine für eine bestimmte politi-
Schwelle zwischen einer souveränen Unabhängigkeit sche Ausrichtung repräsentative Gruppe von Autoren
der Literaten und dem Beginn der modernen Dichtung zu beschränken, reinterpretiert und subvertiert Ben-
markiert. jamin solche Zuordnungs- oder Polarisierungsversu-
che. Dies wird auch im Zusammenhang einer für
Frankreich wichtigen Kontroverse deutlich, der De-
Jenseits der üblichen politischen Kategorien batte um die zwei Manifeste von 1919 (die »Declara-
tion d'independance de l'esprit<<, in der Rolland für
Die Untersuchung der Kritikerarbeiten Benjamins in eine Vermittlung zwischen Frankreich und Deutsch-
ihrer Gesamtheit, und unter besonderer Berücksichti- land auftritt, und »Pour un parti de l'intelligence«,
gung der Schriften über französische Literatur, erlaubt dem Appell Henri Massis' an die Intellektuellen, die
neue Einblicke in die äußerst komplexen Zusammen- bereit waren, sich in den Dienst des nationalen Inter-
hänge von Benjamins eigener politischer Stellung. Die esses zu stellen). Benjamin bezieht zehn Jahre später
Komplexität dieser Position, die die üblichen politi- eine bemerkenswerte Position. Der in der TECHNIK
schen Kategorien sprengt, tritt schon sehr deutlich in DES KRITIKERS IN DREIZEHN THESEN geforderte »Par-
einer 1926 verfaßten und 1927 in einer Amsterdamer teigeist« vermischt sich hier in der Tat mit dem analy-
Revue publizierten Rezension über das neue französi- tischen Blick des Beobachters. Auffällig ist der beinahe
sche Theater hervor (GASTON BATY, LE MASQUE ET bewundernde Ton, der seinen Kommentar über ein
L'ENCENSOIR. INTRODUCTION A UNE ESTHETIQUE DU Buch von Massis auszeichnet: »Und während sich in
THEATRE; III, 66--68). In diesem Text sieht Benjamin der jungen deutschen Generation die Scheidung zwi-
Gemeinsamkeiten zwischen französischem katholi- schen Kultur und Konservatismus aller Orten eine sehr
schem Schauspiel und neuer russischer (d. h. bolsche- reinliche ist, hat kürzlich die aufsehenerregende »De-
wistischer) Theaterkunst im »auf den Trümmern des fense de l'Occident« von Henri Massis gezeigt, daß es
bürgerlichen Literaturtheaters<< entstehenden Theater. in Frankreich immer noch einen Kulturkonservatis-
Das Fazit am Schluß ist von dem für den Benjamin mus mit Niveau gibt«, urteilte Benjamin im VEREIN
dieser Jahre typischen Miteinander von beobachten- DER FREUNDE DES NEUEN RUSSLAND- IN FRANKREICH
der, analysierender Perspektive und programmati- (IV, 486f.). Mit diesem Diskurs bezeugt Benjamin
340 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

nochmals die Ambivalenz seiner eigenen Stellung und chistischen Emmanuel Berl Mort de la pensee bourgeoise,
sein Interesse an Frankreich als Ort der Offenbarung bzw. eine Logik, die auch Berührungspunkte zu seinem
dieser ihn faszinierenden Widersprüche. eigenen Werk aufweist (vgl. 3, 503 f.).

Ambivalenz der antibürgerlichen Haltung Aufwertung eines Konzepts: Entscheidung


"um jeden Preis((?
Bezeichnend für Benjamins Haltung zum literarischen
Leben Frankreichs ist eine besondere Wahrnehmungs- In seiner Kritik der als reaktionär entlarvten Position
fähigkeit für die radikalsten Erscheinungen des Wan- Bendas (III, 112), der den von Benjamin beobachteten
dels der französischen Intelligenz. Entwicklungen zum Trotz auf einem bereits erlosche-
Wichtig ist dabei die kathartische Funktion, die er nen utopischen Idealismus der Intelligenz verharrte,
der Notwendigkeit einer »Emanzipation des Kunst- erweist sich Benjamins Haltung als besonders auf-
werkes von seinem parasitären Dasein am Ritual<< zu- schlußreich in ihrer Zweideutigkeit. Wenn er andeutet,
spricht (vgl. Habermas 1972, 175). So untersucht er daß er für Bendas >>Gegner<< allmählich mehr Sympa-
die Werke, die er im Rahmen seiner Kritikertätigkeit thie hege als für den Verfasser, oder wenn er die -von
liest, auf ihren Beitrag zur >>Zerstörung der falschen Benda denunzierte- Absicht erwähnt, >>aus dem Sta-
Bilder<< hin (vgl. ebd.) und führt die Opposition der dium der Diskussion heraus und um jeden Preis zur
Intellektuellen gegen die bürgerliche Gesellschaft dar- Entscheidung zu kommen<<, wird hier, wenn nicht
auf zurück, daß sie ihre Privilegien verlieren. Rechtfertigungsdrang, doch zweifelsohne Faszination
Solche Anzeichen einer Aufsprengung der bürgerli- sichtbar für diese dezisionistische Haltung meist na-
chen Welt erkennt Benjamin in den Schriften der Sur- tionalistischer, rechtsgerichteter Autoren. Die Ambi-
realisten, zuerst bei Aragon, dessen Roman Le Paysan valenz der Position Benjamins wird besonders deut-
de Paris er Mitte der 20er Jahre gelesen hatte und von lich, als er mit betonter Distanz die Kritik Bendas an
dem er bereits 1928 in der Literarischen Welt Auszüge dem Verrat wiedergibt, die z. B. Maurras an den
einer übersetzungveröffentlichte (vgl. den Artikel Menschheitswerten begangen habe, deren Wächter er
>>Der Sürrealismus<<, 386--399). Er findet sie aber auch hätte bleiben sollen (zu dieser Problematik vgl. Heil
bei französischen Autoren, die völlig gegensätzliche 1996).
politische Positionen vertreten. Benjamins Interesse an In der Aufwertung betont entschlossener Stellung-
dieser antibürgerlichen Haltung kommt u. a. in seiner nahmen liegt einer der Berührungspunkte, die Benja-
positiven Bewertung des Witzes zum Ausdruck, den er min zwischen seiner eigenen Position und der gewisser
der >>routinierten Ironie<< jener vorzieht, die in der Nationalisten, aber auch paradoxerweise Vertretern der
>>proletarischen Mimikry des zerfallenen Bürgertums<< Avantgarde wahrnimmt, und dies erklärt wohl auch
verharren (vgl. seine scharfe Kritik an einem Buch teilweise seine zunächst überraschend anmutende Fas-
Erich Kästners, III, 280). Im seihen Zusammenhang ist zination für die >>Action franr;:aise<<: 1924 abonniert er
auch seine Aufwertung des satirischen, polemischen sogar die Zeitung. Er war sich dessen bewußt, daß auch
Charakters der von ihm rezensierten Schriften zu ver- seine Zeitgenossen hierüber nur erstaunt sein konnten,
stehen (z. B. 68 f.), der wie die magische Kraft des Bildes was ein Brief an Scholem bezeugt (2, 468). So ist es
bei den Surrealisten oder die immer wieder heraufbe- auch kein Zufall, daß er in den Brouillons zum Sur-
schworene subversive Macht des >>Satanismus<< (den er realismus-Aufsatz zu einem Selbstzitat aus der gerade
den unterschiedlichsten Figuren - u. a. Gide oder erwähnten, einige Monate früher verfaßten Rezension
Jouhandeau- zuteilt) als formale Entsprechung einer greift und damit die Affinitäten zwischen radikal ent-
politischen Wahrnehmungsweise gilt. Besonders gegengesetzten Gruppen behauptet: >>Allenthalben hat
schätzte er die überspitzte Satire gegen die Bourgeoisie, sich der europäischen Intelligenz, soweit sie diesen
wie sie in der Exegese des lieux communs des reaktionär- Namen noch verdient, ein fanatischer Wille bemäch-
anarchistischen Leon Bloy zu finden ist, die Benjamin tigt, aus dem Stadium der ewigen Diskussionen heraus
1924 in Neapel kaufte (2, 487) und aus der er 1932 und um jeden Preis zur Entscheidung zu kommen. Er
Auszüge unter dem Titel >>Auslegung der Gemein- hat in Frankreich, lange ehe [er] die Clarte Bewegung
plätze<< in der Literarischen Welt veröffentlichte. Das und den Surrealismus auf der Linken entfesselte, den
Ziel Bloys wird in Benjamins Einleitung mit dem Aus- Cadres der Action Franr;:aise ihren besten Elan gege-
druck >>den Bourgeois schlucken [... ]lassen<< umschrie- ben<< (SuRREALISMUS UND PoLITIK, II, 1035).
ben, und für ihn besteht hier eine Geistesverwandt- Diese zweideutige Aufwertung des politischen De-
schaft mit dem 1930 verfaßten Text des libertär-anar- zisionismus findet sich bezeichnenderweise auch in
Zur französischen Literatur und Kultur 341

einer bereits zitierten, 1931 verfaßten Kritik des >>lin- sern und Möbeln jener Welt sieht Benjamin die unter-
ken Radikalismus<< eines Kästner, Meyring oder Tu- gegangenen Helden einer verschwindenden Welt, einer
cholsky wieder (vgl. LINKE MELANCHOLIE, III, 279- >>Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts<<. Die
283), die diesmal paradoxerweise auch eine Art Parallele zu Benjamins Lektüre der Surrealisten ist hier
Bekenntnis zur Brechtsehen Literatur ist. Die dezisio- besonders deutlich, in deren Werken er, wenige Jahre
nistische Richtung wird hier als positiver Gegenpol zuvor, die Suche nach der >>ausgestorbenen Dingwelt<<
zum kritisierten Konformismus einer zur politischen >>im Dickicht der Urgeschichte<< gesehen hatte (TRAUM-
Aktion unfähig gewordenen linken Intelligenz darge- KITSCH, Il, 62()....{)22).
stellt, die >>die Verwandlung des politischen Kampfes Spätere Stellungnahmen wie die geübte Kritik an
aus einem Zwang zur Entscheidung in einen Gegen- Greens >>reaktionäre [r] Tendenz<< (z. B. 1074; vgl. einige
stand des Vergnügens, aus einem Produktionsmittel in Jahre danach auch seine scharfe Reaktion auf die Ver-
einen Konsumartikel<< vollzogen habe (281). öffentlichung der Epaves) sollten nicht darüber hin-
In einem merkwürdigen, wenngleich auch für diese wegtäuschen, daß Benjamin in ihren Werken in jenen
Zeit charakteristisch konstruierten Gewebe heteroge- Jahren noch Abbilder einer Problematik erkennt, die
ner Elemente protokolliert Benjamin mit der Aufwer- ihn selbst beschäftigt, auch wenn sie von diesen Auto-
tung jeder Form der >>Entscheidung<< nochmals ein ren nicht unbedingt reflexiv behandelt wird. Die Au-
zentrales Phänomen der im Wandel begriffenen mo- ßenperspektive, die er als Deutscher in Frankreich
dernen Gesellschaft. einnimmt, ermöglicht Distanz und schärft seinen Blick
für diese Phänomene. Frankreich ist auch für Benja-
min aufgrund seiner deutlich verspäteten historischen
Ruinen und Übergänge Entwicklung der privilegierte Standort für die von ihm
angestellten Beobachtungen.
Die sich in den Anfang der 20er bis Anfang der 30er So sind Benjamin die >>Monumente<< der Urge-
Jahre verfaßten Rezensionen über französische Litera- schichte noch 1935 gegenwärtig, die er 1928 bei Green
tur abzeichnende Aufwertung betont entschiedener und den Surrealisten sieht (III, 145), als er den Schluß-
Stellungnahmen darf jedoch nicht von Benjamins satz des ersten französischen Exposes zum Passagen-
Festhalten an der Tradition abgekoppelt werden, von werk niederschreibt: >>Avec 1' ebranlement de 1'economie
seiner Sehnsucht nach einer Welt, deren Verschwinden marchande nous commen«;:ons a percevoir les monu-
er deutlich wahrnimmt. Wenn er den Wandel der In- ments de la bourgeoisie comme des ruines bien avant
telligenz in ihrem Aufbruch zur Moderne aufzeigt, qu'ils ne s'ecroulent<< (V,78).
verfolgt Benjamin in der französischen Literatur In einem Brief an Scholem vom 14.1.26 (3, 110)
gleichzeitig immer auch Spuren des Vergangenen, legt hatte Benjamin sein Bemühen um Kohärenz in der
Ruinen frei, sucht nach den Ietzen überresten einer Behandlung der französischen Literatur erwähnt: >>Ich
abgeschlossenen Epoche. Sein Interesse an Autoren wie habe in letzter Zeit sündhaft viel gelesen und nicht
Green oder Jouhandeau wurde fast immer verschwie- einmal am Proust übersetzt. Dafür kann ich nun sagen,
gen. In der Tat scheinen seine anhaltende Bewunde- daß ich in den neuen französischen Angelegenheiten
rung für Green und seine wiederholten Versuche, das au fait bin: bleibt nur, diese fadenscheinige Tatsache
Werk Jouhandeaus in Deutschland bekannt zu machen in einen soliden Zusammenhang zu verweben.<< Eines
(vgl. 3, 189; 438; vgl. auch Scholem 1975, 203; über- der einheitsstiftenden Momente von Benjamins Be-
setzungen vgl. Suppl. I), auf den ersten Blick kaum zu schäftigung mit der französischen Literatur während
den anderen Gegenständen zu passen, die Benjamin dieser Phase, die bis Anfang der 30er Jahre dauerte, ist
zu dieser Zeit beschäftigen. in seinem Interesse für Texte zu sehen, in denen sich
Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß es in die von ihm beobachtete Entwicklung artikuliert oder
erster Linie der übergangscharakter dieser Werke ist, die die von ihm wahrgenommene, sich in Ruinen of-
der Benjamin interessiert: Die Romane Greens und fenbarende Epochenschwelle nachzeichnen. In dieser
Jouhandeaus zeichnen den Verfall einer Welt nach bzw. Eigenschaft liegt wohl auch paradoxerweise der von
zeugen von der Persistenz der nach ihrem Untergang Benjamin erwähnte >>solide Zusammenhang<<.
übriggebliebenen Spuren. Die frühe Beschäftigung mit
Green ist in dieser Hinsicht besonders aufschlußreich:
in den >Hieroglyphen< und >Runen<, die Benjamin Werk
Ende 1928 in Greens Mont-Cimere erkennt (FEUER- Rez. zu Julien Green,Adrienne Mesurat (III, 153-156)
ANDRE GmE: LA PORTE ETROITE (II, 615-617)
GEIZ-SAGA, III, 144-148), dauert latent eine dem ma- ANDRE GIDE UND DEUTSCHLAND (IV, 497-502)
gischen Zeitalter angehörende Welt fort. In den Häu- ßALZAC (Il, 602)
342 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

DIE BASTILLE, DAS ALTE FRANZÖSISCHE STAATSGEFÄNGNIS Rez. zu Henry Poulaille: r: enfantement de Ia paix (III, 74-
(VII, 165-173) 75)
BAUDELAIRE UNTERM STAHLHELM (III, 303-304) Rez. zu Rolland de Reneville: r: experience poetique (III,
EIN BEDEUTENDER FRANZÖSISCHER KRITIKER IN BERLIN {IV, 553-555)
496f.) Rez. zu Uon Robin: La morale antique (III, 555-556)
»BELLA« (III, 34-37) Rez. zu Jean Rostand: Heredite et racisme (III, 586--587)
BüCHER, DIE ÜBERSETZT WERDEN SOLLTEN [SamrneJrez. ZU Rez. zu Georges Salles: Le regard (III, 589-595)
Pierre Mac Orlan, Sous Ia lumiere froide; Guillaume Apol- Rez. zu Philippe Soupault: Le cceur d'or (III, 72-74)
linaire, Le fUneur des deux rives; Gabriel d'Aubarede, Samrnelrez. ZU Roger Caillois: r: aridite; Julien Benda: Un re-
Agnes; Marcel Brion, Bartholomee de Las Casas; Leon gulier dans le siede; Georges Bernanos: Les grands cime-
Deubel, CEuvres] (III, 174-182) tieres sous Ia lune; G. Fessard: La main tendue? (III, 549-
LES CAHIERS DU SuD (IV, 483-485) 552)
DE L'ORIENTATION SOCIALE DES ECRIVAINS FRAN«;:AIS GON- STUDIO »I: ASSAUT« (IV, 476-477)
TEMPORAINS (RESUME) (Il, 1516) SKANDAL IM THEATRE FRAN«;:AIS (IV, 450-452)
DREI BücHER [Sammelrez. zu Viktor Schklowski, Sentimen- SoLL DIE FRAU AM POLITISCHEN LEBEN TEILNEHMEN? DAGE-
tale Reise durch Rußland; Alfred Polgar, Ich bin Zeuge; GEN: DIE DICHTEKIN CoLETTE (IV, 492-495)
Julien Benda, La trahison des clercs] (III, 107-113) DER SüRREALISMUS (II, 295-310)
DREI FRANZOSEN [Sammelrez. zu Paul Souday, Marcel Proust; TAGEBUCH MEINER LOIRE-REISE (VI, 409-413)
ders., Andre Gide; ders., Paul Valery] (III, 79-81) TRAUMKITSCH (II, 620--622)
FRAN«;:OIS BERNOUARD (IY, 545-548) ÜBERSETZUNGEN (III, 40f.)
FEUERGEIZ-SAGA (III, 144-148) PAUL VALERY {II, 386--390)
FRIEDENSWARE (III, 23-28) PAuL VALERY IN DER EcoLE NoRMALE {IV, 479-480)
FRIEDRICH SIEBURGS VERSUCH >>GOTT IN FRANKREICH?<< (VII, VEREIN DER FREUNDE DES NEUEN RussLAND- IN FRANK-
286--294) REICH (IV, 486-487)
FüR DIE DIKTATUR (IY, 487-492) ZUM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES
GESPRÄCH MIT ANDRE GIDE (IV, 502-509) FRANzösiscHEN ScHRIFTSTELLERs (II, 776--803)
GIDES BERUFUNG (VII, 257-269)
JULIEN GREEN (II, 328-334)
DER KAUFMANN IM DICHTER {III, 46-48) Literatur
UNE LETTRE AU SUJET DE »LE REGARD<< DE GEORGES SALLES
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erblicken wir uns selbst<. Andre Gide, Walter Benjamin und
der deutsch-französische Dialog<<, in: Lorenz Jäger/Thomas
Regehly (Hg.): »Was nie geschrieben wurde, lesen<<, Biele-
feld, 132-156. Das MosKAUER TAGEBUCH bleibt bis heute eine Son-
Kambas, Chryssoula (1993): »Rue de !'Odeon- Kreuzpunkt dererscheinung in Benjamins Werk. Erst 1980 (nach
zwischen literarischem Establishment Frankreichs und dem Tod von Anna Lacis) veröffentlicht, fehlte der Text
deutscher Avantgarde im Exil<<, in: Hans Manfred Bock!
in den frühen Gesamtdarstellungen, aber auch nach
Reinhard Meyer-Kalkus/Michel Trebitsch (Hg.): Entre
Locarno et Vichy, vol.II, Paris, 769-788. der Publikation wurden er und die ihm zugrundelie-
Kaulen, Heinrich (1990): »Die Aufgabe des Kritikers. Walter gende Moskauer Reise von Walter Benjamin nur all-
Benjamins Reflexionen zur Theorie der Literaturkritik mählich und zögernd in den Interpretationskreis ein-
1929-1931<<, in: Wilfried Barner (Hg.): Literaturkritik-
bezogen (vgl. etwa Momme Brodersens Biographie
Anspruch und Wirklichkeit, Stuttgart 318-336.
Kaulen, Heinrich (1992): »Der Kritiker und die Öffentlich- von 1990 oder die Chronik von Willern van Reijen und
keit<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benja- Herman van Doorn 2001). Aber das späte Erscheinen
min. Bd. 2, München, 918-942. des Tagebuchs allein kann diese Zurückhaltung, dieses
Lehning, Arthur (1992): >>Walter Benjamin und i10<<, in: In-
Zögern nicht erklären. Das MosKAUER TAGEBUCH ist
grid Scheurmann/Konrad Scheurmann (Hg.): Für Walter
Benjamin: Dokumente, Essays und ein Entwurf, Frankfurt schwer zu lesen: Dieser Umstand wurde gerade von
a.M., 56-67. Gary Smith bezeugt, der die Veröffentlichung vorbe-
Monnoyer, Jean-Marie (1991): »Preface<<, in: Walter Benja- reitet hatte und dennoch das Gefühl einer eigenartigen
min: Ecrits Paris, 9-53. Undurchdringlichkeit der Aufzeichnungen nicht los-
Nagasawa, Asako ( 1998): "Benjamin und Valery. Die Methode
von >Monsieur Teste<<<, in: Doitsu Bungaku, 158-167. werden konnte: »we read the Moscow Diary as if
Ponzi, Mauro (1999): »Mythos der Moderne: Benjamin und through a palimpsest<< (Smith 1986, 137). Diese Un-
Aragon<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global durchdringlichkeit ist selbstverständlich in erster Linie
benjamin, Bd. 2, München, 1118-1134. dadurch verursacht, daß man Benjamins Wege und
Proust, (1998): »La täche du critique<<, in: Gerard
Raulet/Uwe Steiner (Hg.): Ästhetik und Geschichtsphilo- Erlebnisse im winterlichen Moskau buchstäblich ent-
sophie, Bern, 37-54. ziffern muß: Die Personen, die Ereignisse, die Orte sind
Raulet, Gerard (1997): Le caractere destructeur. Esthetique, manchmal schwer erkennbar, und auf jeden Fall bleibt
theologie et politique chez Walter Benjamin, Paris. die Deutung großenteils bis heute Gegenstand heftiger
Richard, Lionel ( 1984): »Ein gewisser Liberalismus und seine
Mäander. Die Nouvelle Revue und ihr Verhältnis Debatten in Rußland selbst. Benjamins Spuren in Mos-
zu Deutschland 1925-1940<<, in: Jürgen Sieß (Hg.): Wider- kau sind fast ausnahmslos verwischt, Häuser nieder-
stand, Flucht, Kollaboration, Frankfurt a.M., 90-121. gerissen oder umgebaut, Straßen mehrmals umbe-
Rochlitz, Rain er (1991): Le Berlin de Benjamin, in: Critique nannt, Institutionen abgeschafft. Selbst die Sowjetu-
47, 655-680.
Scholem, Gershorn (1975): Geschichte einer Freundschaft, nion, das Riesenland, das Benjamin im Winter 1926/27
Frankfurt a. M. besuchte und dessen Aufbau er miterleben wollte, exi-
Schweppenhäuser, Hermann (1972): »Physiognomie eines stiert nicht mehr. Diese offenkundige Widerspenstig-
Physiognomikers<<, in: Siegfried Unseid (Hg.): Zur Aktua- keit des >Faktischen< ist aber wiederum lediglich ein
lität Walter Benjamins, Frankfurt a. M., 139-171.
Selz, Jean ( 1968): »Erinnerung an Walter Benjamin<<, in: über Teil der Schwierigkeiten, die das MosKAUER TAGEBUCH
Walter Benjamin [ohne Hg.], Frankfurt a.M., 37-51. dem Leser bereitet, denn letztendlich war diese verwe-
Tiedemann, Rolf/Christoph Gödde/Henri Lonitz (1990) gene und sonderbare Reise eine Reise zu sich selbst. In
(Hg.): Walter Benjamin. 1892-1940. Eine Ausstellung des den Text des Tagebuchs eindringen heißt deswegen: in
Theodor W. Adorno-Archiv Frankfurt am Main in Verbin-
dung mit dem Dt. Literaturarchiv Marbach am Neckar Benjamins Leben eindringen, und da ist der Wider-
(Marbacher Magazin, 55), Marbach 1990, erw. Aufl. stand des >Faktischen< offensichtlich nicht die schwie-
1991. rigste Seite der Verständnisproblematik
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flexion eines Intellektuellen auf die zeitgeschichtliche Si-
tuation, Franfurt a. M./Bern.
Wismann, Heinz (1986) (Hg.): Walter Benjamin et Paris, Pa- Der Auftakt: )))Der Idiot< von Dostojewskij«
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Witte, Bernd ( 1976): Walter Benjamin- Der Intellektuelle als Das MosKAUER TAGEBUCH bildet ohne Zweifel den
Kritiker, Tübingen, bes. 139-185.
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Höhepunkt von Benjamins Auseinandersetzung mit
rie und Praxis der literarischen Kritik<<, in: Colloquia Ger- der (sowjet)russischen Realität. Dennoch ist das >rus-
manica 12, 193-200. sische Thema< bei Benjamin keineswegs nur auf seine
344 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Moskauer Reise im Winter 1926/27, auf das Tagebuch wiekJung des Aura-Begriffs bei Benjamin verweist
und andere Texte, die mit dieser Reise verbunden sind, schon Gershorn Scholem, wenn er im Hinblick auf den
begrenzt. Benjamins Interesse für Rußland erwachte Kunstwerkaufsatz daran erinnert, daß dieser Begriff
früh und dauerte bis in die letzten Jahre seines Lebens von Benjamin >>viele Jahre lang in einem gänzlich an-
hinein. Sein VERZEICHNIS DER GELESENEN SCHRIFTEN deren Sinn<< benutzt wurde (Scholem 1975, 257; zum
(VII, 437-476) zeugt davon, daß er die Werke der rus- Aura-Begriffbei Benjamins. u. a. Lindner 1992; Smith
sischen Literatur von der Zeit des Ersten Weltkrieges 1994; Stoessel1983).
bis zu seiner Exilzeit gelesen hat. Dabei findet man Geschrieben im Sommer 1917, kann der kurze Auf-
unter den Autoren nicht nur die wohlbekannten Do- satz zu Dostojewskij als eine Ahnung der bevorstehen-
stojewskij oder Tolstoj, sondern auch weniger bekannte den russischen Nationalkatastrophe, der Oktoberre-
Personen wie Aleksandr Kuprin oder Fedor Sologub. volution, betrachtet werden. Nicht zufällig spricht
Benjamins langjährige Beschäftigung mit Nikolaj Less- Benjamin von der >>Bewegung des Buches<< als von
kow, den er sehr schätzte, führte 1936 zu einem seiner einem »ungeheuren Kratereinsturz<<, von der »kata-
bedeutendsten Texte, DER ERZÄHLER. Russische Lite- strophalen Selbstvernichtung<<, in der das >>Menschen-
ratur gab Benjamin Anlaß zu zahlreichen kleineren tum<< zu erreichen wäre (li, 240). Dabei ist >>der uner-
Publikationen. Die erste von diesen Veröffentlichun- meßliche Abgrund des Kraters, aus dem gewaltige
gen - und eine der wenigen frühen Publikationen Kräfte sich einmal menschlich groß entladen könnten,
Benjamins- war der kurze Text mit dem Titel »DER [... ] die Hoffnung des russischen Volkes<< (240f.). In
IDIOT<< voN DosTOJEWSKIJ (geschrieben 1917 [siehe dieser Bewunderung für das Gewaltige im tragischen
Scholem 1975, 66], veröffentlicht 1921). Schicksal des russischen Volkes sind auch die späteren
Der kleine und scheinbar bescheidene Text wird oft gespannten Erwartungen bezüglich der Moskauer
übersehen oder unterschätzt, als ob es sich um einen Reise und des MosKAUER TAGEBUCHS vorweggenom-
Fall von >literarischer Kritik< handle. Diese Position ist men. Elementare und eschatologische Motive im Zu-
aber kaum annehmbar. Nicht zufällig charakterisierte sammenhang mit Dostojewskij und der russischen
Benjamin 1917 in seinen Briefen an Ernst Schoen den Revolution beschäftigten Benjamin auch nach seiner
Roman als ein >>ungeheure[s] Buch<<, das >>jedem von Moskauer Reise. In seinen Notizen von 1929/30 findet
uns unendlich viel bedeuten<< muß (1, 354; 414). We- man z. B. die Bemerkung, daß >>die Revolution ein Ab-
nigstens zwei Momente des Aufsatzes haben eine all- grund war, über den kein russischer Mensch in das
gemeine Bedeutung im Gesamtkontext des Schaffens Gewesene zurückzublicken vermag<< (VI, 723). In dem
von Benjamin. Essay DER SüRREALISMUS ( 1929) zählt Benjamin Do-
Benjamin betrachtet Dostojewskijs Roman als einen stojewskij zusammen mit Rimbaud und Lautreamont
Versuch, den russischen Geist so darzustellen, daß zu jenen >>großen Anarchisten<<, deren Schriften zu
diese Schilderung gleichzeitig auch eine Erforschung Beginn des 20. Jh.s in Westeuropa wie Explosionen
der menschlichen Natur überhaupt sein muß, denn wirkten und den Weg für die Surrealisten freimachten,
Dostojewskij, als ein >>große[r] Nationalist[]<<, konnte >> [d] enn Stavrogin ist ein Sürrealist avant Ia lettre<< (li,
>>[d]as Schicksal der Welt<< nur >>im Medium des 305). In den 30er Jahren plante Benjamin eine Fort-
Schicksals seines Volkes<< sehen: >>Die Größe des Ro- setzung der Analyse des Romans von Dostojewskij
mans offenbart sich in der absoluten gegenseitigen (vgl. 979f.).
Abhängigkeit, in der die metaphysischen Gesetze der Auch die historischen Ereignisse der Revolution
Entfaltung der Menschheit und der Nation dargestellt selbst wurden für Benjamin zum Gegenstand der Re-
werden. Es findet sich daher keine Regung des mensch- flexion. Scholem erinnert sich an die Diskussionen des
lichen Lebens, die nicht in der Aura des russischen Jahres 1918, als er und Benjamin in der Schweiz lebten:
Geistes ihren entscheidenden Ort fände. Diese mensch- >>Die bolschewistische Revolution und der Zusammen-
liche Regung inmitten ihrer Aura[ ... ] darzustellen ist bruch Deutschlands und Österreichs und die dort
vielleicht die Quintessenz der Freiheit in der großen darauf folgende Pseudorevolution brachten zum er-
Kunst dieses Dichters<< (li, 237). sten Mal, seit wir uns über unsere Stellung zum Kriege
Interessant ist, daß schon in diesem frühen Text der geeinigt hatten, wieder politisch aktuelle Vorgänge
Aura-Begriff, der im Spätwerk von Benjamin so be- zum Gespräch zwischen uns.[ ... ] Jedenfalls hatten wir
deutend wird (DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER Auseinandersetzungen über die Diktatur, bei denen
TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKElT und CHARLES ich der radikalere war und den Gedanken der Diktatur,
BAUDELAIRE. EIN LYRIKER IM ZEITALTER DES HocH- den Benjamin damals noch vollkommen verwarf, ver-
KAPITALISMUS), als ein Instrument der philosophi- teidigte. Ich würde sagen, daß unsere Sympathien
schen Analyse Anwendung findet. Auf die lange Ent- weitgehend auf der Seite der >Sozial-revolutionären
Zur russischen Literatur und Kultur 345

Partei< in Rußland standen, die von Bolschewisten zum Bild des Laboratoriums in Benjamins Schriften
dann später so blutig liquidiert wurde<< (Scholem 1975, zu Rußland s. unten).
100f.). Benjamin distanzierte sich im Laufe der 30er Jahre
Dennoch war eine direkte Auseinandersetzung mit immer mehr von Rußland in seinem aktuellen Erschei-
dem politischen Geschehen nicht Benjamins üblicher nen. Das war keineswegs nur durch die äußeren Um-
Weg, und er äußerte sich weiterhin zum >russischen stände bestimmt, durch sein Emigrantenleben in
Thema< hauptsächlich in Buchbesprechungen und Frankreich und durch die entsprechenden Kommuni-
Berichten über kulturelle Ereignisse, indem er sich in kationsschwierigkeiten sowie Verschiebungen von
dieser Zeit mehr den aktuellen Tendenzen der russi- praktischen Interessen. Die politische Entwicklung in
schen Kunst und Literatur zuwandte. Von 1926 an, der Sowjetunion trug keineswegs dazu bei, irgendwel-
noch vor seiner Reise nach Moskau, veröffentlichte er che Erwartungen mit Rußland zu verbinden (ironi-
Rezensionen von aufDeutsch erschienenen russischen scherweise wurde Benjamins Ausbürgerung, die im
Büchern. Diese Publikationen wurden bis in die 30er Februar 1939 erfolgte, durch seine alles andere als er-
Jahre hinein fortgesetzt. folgreichen Kontakte mit der in Moskau erscheinenden
Benjamin behandelt die russischen Bücher haupt- Zeitschrift Das Wort begründet, vgl. Thiekötter 1990 ).
sächlich als Dokumente, aus denen eine soziale Sym- In seinen Gesprächen mit Bertolt Brecht fixierte Ben-
ptomatik hervorgeht, und er stellt entsprechende Gat- jamin immer wieder Aporien, die sich für einen linken
tungen in den Blickpunkt, von den >reinen< Dokumen- Autor der Zeit aus der Auseinandersetzung mit der
ten (wie Der Russe redet, die stenographischen sowjetischen Realität ergaben (vgl. Benjamins Notizen
Aufzeichnungen von Sofja Fedortschenko, oder Lenins zu seinen Besuchen bei Brecht in Svendborg 1934 und
Briefe an Maxim Gorki) bis hin zu den Werken der 1938: VI, 523-525; 526; 529; 534-539). Der letzte
Dokumentarliteratur (Sentimentale Reise von Viktor Schlag war der Ribbentrop-Molotow Pakt im August
Sklovskij). Aber auch die aktuellen russischen Romane 1939, auf den Benjamin mit Bestürzung in seinen The-
werden eher als Zeugnisse des Geschehens in Sowjet- sen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE reagierte
rußland aufgefaßt. So wird Fjodor Gladkows Zement, (zur unmittelbaren Reaktion Benjamins vgl. Puttniest
ein Roman über die industriellen und sozialen Verän- Smith 1991, 196f.). Seine bitteren geschichtsphiloso-
derungen in der Sowjetunion, in zweifacher Hinsicht phischen überlegungen, die einen verstärkten escha-
wichtig. Einerseits reflektiert der Roman die neue tologischen Grundton seines Denkens markieren, er-
Sprache, er >>brachte den Argot der Bolschewiken in folgen im >>Augenblick, da die Politiker, auf die die
die Literatur ein<< (III, 61). Andererseits werden in dem Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden lie-
Buch >>die Typen<< dargestellt, >>die der Befreiungs- gen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen
kampf der Proletarier hat entstehen lassen<< (ebd.). Sache bekräftigen [... ]. Die Betrachtung geht davon
Literatur dieser Art ist für Benjamin keine selbständige aus, daß der sture Fortschrittglaube dieser Politiker,
ästhetische Erscheinung, weil sie sich noch im Werden ihr Vertrauen in ihre >Massenbasis< und schließlich
befindet: >>Ehe hier neue Formen ihre neue Sicherheit ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren
bringen, sind noch viele Versuche fällig<< (63). Apparat drei Seiten derselben Sache gewesen sind<< (I,
Ein anderer Schwerpunkt von Benjamins Rezensio- 698).
nen liegt in der >Klassik< der russischen Literatur, in Somit hat Benjamins Auseinandersetzung mit Ruß-
den großen Autoren des 19. Jh.s. Ihre Präsenz in Ben- land im Laufe von mehr als 20 Jahren einen eigenar-
jamins überlegungen zu Rußland war so intensiv, daß tigen Bogen beschrieben, von frühen Vorahnungen
auch ein geringer Anlaß genügte, um das Thema an- über spannungsvolle Erwartungen zu verzweifelten
zusprechen. So wird Iwan Schmeljows Roman Der Enttäuschungen, die den Abschluß dieser Entwicklung
Kellner für Benjamin zur Gelegenheit, Gedanken über markierten. Und die Moskauer Reise bildet den Kno-
die russische Literatur mitzuteilen. Die russischen Au- tenpunkt, den Höhepunkt dieser Entwicklung.
toren verstehen zwar nicht, >>dem Dasein Kontur zu
geben<<, und sie >>können - ausgenommen Tolstoj -
kein Schicksal zeichnen<<. Dafür haben sie aber >>die Auf dem Weg nach Moskau
Dynamik des Geschehens für den Roman entdeckt,
den allseitig geschlossenen Spannungsraum« (ebd.). Walter Benjamins Reise nach Moskau beginnt im Som-
Am prägnantesten wird diese Kunst von Dostojewskij mer 1924 auf Capri, wo er Anna (Asja) Lacis (1891-
vertreten, der den Leser einer harten Prüfung unter- 1979), »eine bolschewistische Lettin aus Riga, die am
zieht: >>Dostojewski liefert mein Bewußtsein gefesselt Theater spielt und Regie führt<< (2, 466), kennenlernte
in das furchtbare Laboratorium seiner Phantasie<< (64; (Lacis selbst beschreibt eindrucksvoll und geistreich
346 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

ihre erste Begegnung [Lacis 1976,45 f.]; diese Beschrei- GEBUCH, in dem z. B. steht: >>Asja erinnerte an meine
bung scheint den Tatsachen zu entsprechen, ansonsten Absicht, gegen die Psychologie zu schreiben und ich
ist Lacis' Darstellung leider offensichtlich nicht ganz hatte von neuem festzustellen, wie sehr bei mir die
zuverlässig, vgl. dazu Kaulen 1995, 99) und sie gleich Möglichkeit, solche Themen in Angriff zu nehmen von
als eine >>der hervorragendsten Frauen<<, die ihm be- dem Kontakt mit ihr abhängt<< (VI, 299).
kannt waren, bezeichnete (2, 473). Es ist äußerst Ebenso aussagekräftig ist folgende Aufzeichnung
schwierig, sich ein objektives Bild dieser Frau und ih- Benjamins aus dem Jahre 1931: >>Im ganzen aber be-
rer Rolle in Benjamins Leben zu machen. Die Zeug- stimmen die drei großen Liebeserlebnisse meines Le-
nisse, die wir besitzen, sind fast ausnahmslos vorein- bens dieses nicht nur nach der Seite seines Ablaufs,
genommen, und die Erinnerungen von Lacis selbst seiner Periodisierung sondern auch nach der Seite des
(die deutsche Version Lacis 1976 und die russische Erlebenden. Ich habe drei verschiedene Frauen im Le-
Version Lacis 1984 weisen große Unterschiede auf, was ben kennen gelernt und drei verschiedene Männer in
nicht nur an der sowjetischen Zensur liegt, vgl. dazu mir<< (427). Dabei hebt Benjamin hervor: >>am Gewal-
Ingram 2002) berühren viele wichtige Fragen nicht tigsten war diese Erfahrung in meiner Verbindung mit
oder geben darauf keine genügende Antwort. Jede Asja <Lacis>, so daß ich vieles in mir erstmals ent-
Darstellung bleibt eine Rekonstruktion, die von der deckte<< (ebd.). Susan Buck-Morss hat diese Beziehung
Position des Autors abhängig ist (vgl. die vorsichtige auf eine kurze Formel gebracht: >> The influence of Asja
Ansicht von Kaulen 1995 mit dem fast apologetischen Lacis on Benjamin was as decisive as it was irrevers-
Standpunkt von Ingram 2002; vgl. auch Viaion ible<< (Buck-Morss 1989, 21).
1993). Lacis eröffnete Benjamin eine andere Welt, nicht nur
Anna Lacis studierte nach dem Abschluß des Gym- im geographischen Sinne, denn ihre Zusammenarbeit
nasiums in Riga am Psychoneurologischen Institut in mit Brecht fand ja in Deutschland statt. Es war die Welt
St. Petersburg und dann 1915/16 im Theaterstudio von der Aktualität, mit der Benjamin bis dahin kaum in
F. Komissarzhevsky. Während des Bürgerkrieges leitete Berührung gekommen war, es war die Welt der Aktion,
sie 1918/19 ein avantgardistisches Jugendtheater in Orel und nicht der Kontemplation. Emanzipation (in jedem
südlich von Moskau. 1920-1922 leitete sie ein Arbei- Sinne) und Bruch mit allen Konventionen faszinierten
tertheater in Riga. 1922 ging Lacis nach Berlin, wo sie den aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Benja-
bei Max Reinhardt arbeitete. Dort lernte sie Bernhard min, wie auch später Brechts Fähigkeit zum >plumpen
Reich kennen. Zusammen gingen sie nach München, Denken<. Auch Benjamins Begegnung mit Brecht
wo Lacis als Assistentin bei Brecht tätig war. 1925 kam wurde 1929 von Lacis vermittelt. Dieselbe Faszination
Lacis nach Riga zurück, wo sie wieder ein Arbeiterthea- findet sich - in einer literaturhistorisch geläuterten
ter leitete. Wegen ihrer Tätigkeit von lettischen Behör- Form- Ende der 30er Jahre bei der Beschreibung der
den verfolgt, floh sie im Frühling 1926 nach Moskau, Pariser Boheme in den Baudelaire-Interpretationen
wo sie als Pädagogin arbeitete und später das erste Kin- wieder (I, 513-536). Die Verbindung mit der ästheti-
derfilmtheater in Moskau leitete. 1928-1930 war sie schen (Avantgarde-Theater in Rußland und Deutsch-
Kulturreferentin in der sowjetischen Botschaft in Ber- land) und der politischen Revolution, deren Hauch in
lin. Später führte sie Regie bei lettischen Theatergrup- Rußland noch zu spüren war, die unmittelbare politi-
pen in der Sowjetunion. 1938 wurde sie mit anderen sche Auseinandersetzung in Lettland (wo Lacis zum
lettischen Kommunisten als >>bürgerliche Nationali- Teil im Untergrund agierte und schließlich fliehen
stin<< verurteilt und hat 10 Jahre in Haft und Verban- mußte) bedingte die Besonderheit ihrer Beziehungen.
nung in Mittelasien verbracht. 1948 kehrte sie nach Benjamin sah das klar genug bereits bei ihrer Begeg-
Lettland (damals schon ein Teil der Sowjetunion) zu- nung auf Capri: Im (schon zitierten) Brief an Scholem
rück und wurde zu einer der führenden Persönlichkei- spricht er von >>einer vitalen Befreiung und einer in-
ten des lettischen Theaters der Nachkriegszeit. tensiven Einsicht in die Aktualität eines radikalen
Anna Lacis war ohne Zweifel eine starke Persönlich- Kommunismus<< als Folge seiner Beziehung zu Lacis
keit, und Susan In gram (In gram 2002) hat recht, wenn (2, 473; Herv. d. Verf.).
sie behauptet, daß man ihre Figur entmystifizieren Benjamins >linke Wende< war aber nicht nur durch
muß. Man muß einfach akzeptieren, daß im Fall von seine leidenschaftliche Beziehung zu Lacis bedingt.
Lacis und Benjamin >>erotische Bindung<< sich >>mit >>Zionismus und Kommunismus waren für diese Ge-
einem starken intellektuellen Einfluß<< verband, was neration [... ] die bereitstehenden Formen der Rebel-
Scholem verblüffte (Scholem 1980, 14). Einer solchen lion<<, schrieb Hannah Arendt, die Benjamin persön-
Frau hat Benjamin seine EINBAHNSTRASSE gewidmet. lich kannte (Arendt 1971, 43). Benjamins >anarchisti-
Davon zeugt unmißverständlich das MosKAUER TA- sche< Seele fand keine Befriedigung nur in der ersten
Zur russischen Literatur und Kultur 347

Alternative, und er versuchte bis zum Ende, wie in den Observanzen in ihrer Quintessenz gestehe ich
vielen anderen Fällen, die Alternativen zugleich zu nicht zu. Ebensowenig jedoch eine Vermittlung. Ich
realisieren, die Politik mit der Theologie zu synthesie- spreche hier von einer Identität, die sich allein im pa-
ren. Nachdem Benjamins Habilitationsversuch 1925 radoxen Umschlagen des einen in das andere [... ) er-
endgültig gescheitert war, mußte er seinen weiteren weist« (158; zu Benjamins paradoxalen »theologisch-
Lebensweg neu überdenken. Die akademische Lauf- politischen« Lösungen vgl. Wohlfarth 1986). Die Mög-
bahn war für ihn in dieser Situation so gut wie ausge- lichkeit seines Eintritts in die kommunistische Partei
schlossen, das Literatenschicksal- als eine praktische sei »wiederum von einem letzten Anstoß des Zufalls
Lösung- ziemlich ungewiß, besonders in den unsta- abhängig«, und die Möglichkeit seines Verbleibens in
bilen Verhältnissen der Weimarer Republik. Die Zu- der Partei »einfach experimentell festzustellen« (3,
spitzung seiner Lebenslage hat Benjamins Interesse für 159). Der entscheidende Test mußte die Moskauer
die >linke< Alternative intensiviert. Reise sein.
Benjamins Moskauer Reise war eine Mischung aus Das also waren Benjamins Orientierungen auf dem
Spontaneität und Berechnung. Für das Spontane Weg nach Moskau: das Praktische, Spontane, Extreme.
sorgte vorerst seine Leidenschaft. Er war schon im Lacis und Moskau stellten für ihn neue Erfahrungen,
Spätherbst 1925 ganz unerwartet in Riga eingetroffen, neue Wege dar. Beide wollte er erobern, ergreifen, um
»um eine Bekannte vor deren Abreise nach Rußland zu begreifen und durch diese Erfahrung zu einer prak-
noch zu sehen« (3, 102). In seinen Briefen aus Riga tischen Entscheidung für sein weiteres Schicksal zu
mußte Benjamin gestehen, daß er sich »ziemlich in- gelangen. Für diese Entscheidung fehlte ihm jede exi-
kalkulabel herumbewege« (100). Das entspricht ganz stentielle Substanz, es handelte sich zunächst um bloße
genauseiner Selbstanalyse: »[M]ir wurde es zum ersten Gedanken oder bestenfalls um eine Ahnung. In Ruß-
Male im Laufe dieses Gespräches deutlich, daß ich land und mit Asja konnte man diese Substanz sogar
mich jedesmal, wenn eine große Liebe Gewalt über im Alltag berühren, und das brauchte er dringend.
mich bekam, von Grund auf und so sehr verändert Somit wurde für Benjamin der Besuch in Moskau vom
habe, daß ich sehr erstaunt war mir sagen zu müssen: 6.12.1926 bis zum 1.2.1927 zu einer Selbstprobe, einer
der Mann, der so ganz unvermutbare Dinge sagte und Initiation, die seine Reife, seine Potenz bestätigen
ein so unvorhergesehenes Verhalten annahm, der sei mußte.
ich« (Aufzeichnung 1931, VI, 427).
Da aber dieser Besuch scheiterte (Lacis war mit ih-
rer Theatertruppe und den politischen Problemen Das nMoskauer Tagebuchcc und die Folgen
mehr als beschäftigt), reiste Benjamin diesmal doch
einigermaßen vorbereitet. Er hatte Kontakte in Mos- Der Text, der als MosKAUER TAGEBUCH bekannt ist,
kau, hatte Führer, hatte- wenngleich minimale- Auf- wurde 1980 von Gary Smith mit seinen Anmerkungen
träge von beiden Seiten, der deutschen wie der russi- und einem Vorwort von Scholem veröffentlicht. Später
schen. Besonders beflügelte ihn der Auftrag, einen wurde der Text in den sechsten Band der Gesammelten
Beitrag über Goethe für die Große Sowjetenzyklopädie Schriften (mit einigen abweichenden Lesungen) auf-
zu schreiben: Seine Zusage betrachtete er als eine genommen (VI, 292-409; vgl. auch IV, 987-990; VI,
»göttliche Frechheit« (3, 133) und als »ein[en) Anlaß 782-789). Erweiterte und korrigierte Anmerkungen
zur Improvisation« (161 f.).Aber um diese Aufgabe zu finden sich in der englischsprachigen Ausgabe (Ben-
lösen, war eine Reise nach Moskau nicht unbedingt jamin 1986), wichtige Korrekturen und Zusätze enthält
nötig. Ebensowenig waren Benjamins Vereinbarungen die russische Ausgabe (Benjamin 1997). Der Titel
mit der deutschen Presse ein wirklich triftiger Grund MosKAUER TAGEBUCH ist eine Konjektur, der ur-
für eine so weite und lange Reise. sprüngliche Titel wurde von Benjamin unkenntlich
Die tieferen Gründe für die Reise waren doch mit gemacht und durch SPANISCHE REisE ersetzt (zu mög-
dem Spontanen des Augenblicks verbunden: Diese lichen Motiven vgl. Smith 1986, 139).
Triebkräfte thematisierte Benjamin in einem Brief an Benjamin führte üblicherweise kein Tagebuch, von
Gershorn Scholem aus Paris vom 29.5.1926 und gab den wenigen Versuchen chronikaler Art ist das Mos-
dabei als sein Motto an, »[i]mmer radikal, niemals kauer Manuskript das umfangreichste (vgl. Art. »Auf-
konsequent in den wichtigsten Dingen zu verfahren« zeichnungen« in diesem Handbuch). Das Tagebuch
(159). Benjamin beschrieb seinen Versuch, »die rein wurde offensichtlich von Anfang an geplant und war
theoretische Sphäre zu verlassen. Dies ist auf mensch- weitgehend pragmatisch bedingt. So schrieb Benjamin
liche Weise nur zwiefach möglich: in religiöser oder aus Moskau an Jula Radt-Cohn (26.12.1926): »Was ich
politischer Observanz. Einen Unterschied dieser bei- andererseits über meinen Aufenthalt hier etwa schrei-
348 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

ben werde, weiß ich noch nicht. Ich werde Dir wahr- sachliche Berichte, geschrieben (eine Ausnahme bildet
scheinlich noch mitgeteilt haben, daß ich zunächst eine der Text RussiSCHE SPIELSACHEN, der eher eine dich-
große Materialsammlung in Form eines Tagebuches terische Betrachtung ist). Ebenso wie in seinen frühe-
angelegt habe<< (3, 222). Später nannte er sein Tage- ren Rezensionen russischer Bücher interessieren Ben-
buch auch >>Dossier >Moskau<<< (233). Benjamin konnte jamin Ereignisse der russischen Literatur und Kunst
aber keine >sachliche< Materialiensammlung führen, in erster Linie als sozial-politische Vorgänge (DIE PO-
denn, wie schon erwähnt, bedeutete seine Reise für ihn LITISCHE GRUPPIERUNG DER RUSSISCHEN SCHRIFT-
wesentlich mehr als lediglich ein Anlaß zur >Bericht- STELLER; DISPUTATION BEI MEYERHOLD). Die russi-
erstattung<. Dennoch enthält das Tagebuch zahlreiche sche Literatur nach der Revolution ist für ihn noch
Stellen, die Benjamin nachträglich für seine Publika- keine >richtige< Literatur, sie wird als ein instinktiver
tionen verwendet hat, vorwiegend für seinen Text therapeutischer Prozeß aufgefaßt: >>Die gegenwärtige
MosKAU. Im Tagebuch hat Benjamin nachträglich 39 russische Literatur erfüllt, man darf sagen die physio-
Passagen gekennzeichnet, von denen die meisten in logische Aufgabe, den Volkskörper von dieser Überlast
MosKAU (zum Teil überarbeitet) eingegangen sind von Stoffen, von Erlebnissen, von Fügungen zu erlö-
(vgl. VI, 788 f.). Auch manche nicht gekennzeichnete sen. Rußlands Schriftstellerei im jetzigen Augenblick
Stellen wurden von Benjamin später anderweitig ver- ist, von hier aus gesehen, ein ungeheurer Ausschei-
wendet - etwa die Beschreibung der Diskussion im dungsprozeß<< (NEUE DICHTUNG IN RussLAND, II,
Meyerhold-Theater aus dem Tagebuch (VI, 348 f.) im 761). Deswegen ist >>das jetzige Schrifttum Rußlands
entsprechenden Aufsatz, der noch in Moskau geschrie- [... ] Vorläufer einer neuen Geschichtsschreibung weit
ben wurde (DISPUTATION BEI MEYERHOLD, IV, 481- eher als einer neuen Belletristik. Vor allem aber ist es
483). Mitunter enthält das Tagebuch dort Lücken, wo ein moralisches Faktum und einer der Zugänge zum
man eine Aufzeichnung erwarten würde. So schreibt moralischen Phänomen der russischen Revolution
Benjamin im Tagebuch über eines seiner Gespräche überhaupt<< (762).
mit dem ungarischen Schriftsteller Bela Illes nur: >>Es Allerdings findet man in den Aufsätzen auch eine
brachte den erwarteten Ertrag; ich erhielt von ihm ein wichtige ästhetische Konzeption, die sich in Benjamins
sehr interessantes Schema der gegenwärtigen literari- Auseinandersetzung mit dem russischen Film abzeich-
schen Gruppierung in Rußland auf Grund der politi- net. In dem Beitrag ERWIDERUNG AN OscAR A. H.
schen Orientierung der verschiedenen Autoren<< (VI, SCHMITZ, in dem er Eisensteins Poternkin als Beispiel
390). Es war offensichtlich das Schema, das in Benja- für >>Tendenzkunst<< verteidigt, bespricht Benjamin
mins Aufsatz DIE POLITISCHE GRUPPIERUNG DER RUS- zum ersten Mal auch die Technik als ein wesentliches
SISCHEN SCHRIFTSTELLER reproduziert wurde. Es ist Moment der Kunstgeschichte: >>Die technischen Revo-
aber kaum anzunehmen, daß Benjamin diese Anord- lutionen- das sind die Bruchstellen der Kunstentwick-
nung mit vielen Namen in seinem Gedächtnis bewah- lung [... ].In jeder neuen technischen Revolution wird
ren konnte. Hatte er sich neben dem Tagebuch andere die Tendenz aus einem sehr verborgenen Element der
Notizen gemacht? Kunst wie von selber zum manifesten<< (752). So ent-
Es gibt auch Anzeichen dafür, daß Benjamin manche steht mit dem Film auch >>eine neue Region des Bewußt-
Impressionen- durchaus starke- einfach nicht in das seins. Er ist - um es mit einem Wort zu sagen - das
Tagebuch eingetragen hat. Die Frage nach den Aus- einzige Prisma, in welchem dem heutigen Menschen
wahlprinzipiell bleibt offen. Zwei Jahre nach der Mos- die unmittelbare Welt, die Räume, in denen er lebt,
kauer Reise schrieb er in dem Essay DER SüRREALIS- seinen Geschäften nachgeht und sich vergnügt, sich
Mus: >>In Moskau wohnte ich in einem Hotel, in dem faßlich, sinnvoll, passionierend auseinanderlegen<<
fast alle Zimmer von tibetanischen Lamas belegt waren (ebd.). Die neuen Medien gleichen die Kunstwerke
[... ]. Es fiel mir auf, wie viele Türen in den Gängen des technischen Lösungen an, daher auch das Bild von
Hauses stets angelehnt standen. Was erst als Zufall er- Poternkin als eines modernen Bauwerks: >>ideologisch
schien, wurde mir unheimlich. Ich erfuhr: in solchen ausbetoniert, richtig in allen Einzelheiten kalkuliert
Zimmern wohnten Angehörige einer Sekte, die gelobt wie ein Brückenbogen<< (755 ). Damit vollzog Benjamin
hatten, nie in geschlossenen Räumen sich aufzuhalten. einen wichtigen Schritt zu seiner Ästhetik der 30er
Den Chock, den ich damals erfuhr, muß der Leser von Jahre.
>Nadja< verspüren<< (II, 298). Im Tagebuch findet man
nur eine flüchtige Bemerkung über die buddhistischen
Priester vor dem Hotel (VI, 389).
Im Zusammenhang mit seiner Moskauer Reise hat
Benjamin eine Reihe von Aufsätzen, überwiegend
Zur russischen Literatur und Kultur 349

Das ,,Moskauer Tagebuchcc: Die Spannung der Beziehungen zu Reich bestand


Personen, Ereignisse, Orte darin, daß er einerseits Benjamins ständiger Begleiter
und Helfer (denn Lacis war die meiste Zeit noch im
Die Hauptperson des Tagebuchs ist offensichtlich Asja Sanatorium und konnte nur ausnahmsweise mit Ben-
Lacis. Benjamins verzweifeltes Werben um sie ist die jamin ausgehen), andererseits aber auch sein Rivale
eigentliche Hauptlinie des Geschehens. Gleichzeitig war. Die ständige Präsenz Reichs während des Mos-
aber versuchte er, in Moskau Fuß zu fassen (er spielte kauer Aufenthalts führte zu paradoxen Konstellatio-
sogar mit dem Gedanken, in die Sowjetunion überzu- nen: »Ich schreibe [... ] einiges über Asja und unser
siedeln), und dabei nahm er eventuell Bernhard Reich Verhältnis[ ... ], trotzdem Reich neben mir sitzt<< (316).
zum Vorbild, der auch im Tagebuch eine nicht unbe- Diese sonderbare Koexistenz konnte nicht lange dau-
deutende Rolle spielt. Er war Benjamins Führer, Dol- ern, so daß es bald zum Bruch kam: >>I 0 Januar. Es gab
metscher und Deuter der russischen Realität, aber am Morgen eine höchst unangenehme Auseinander-
zugleich auch sein Rivale als Lacis' Lebensgefährte setzung mit Reich. [... ] Soviel aber stand infolge des
(und späterer Ehemann). Zwischenfalls am Morgen mir fest, daß ich auf Reich
Reich (1894-1972), als Theaterregisseur in Wien, nichts mehr von meiner Anwesenheit bauen woll<te>
Berlin (bei Max Reinhardt) und München (bei Brecht) und wenn sie sich ohne ihn nicht nutzbringend orga-
tätig, übersiedelte 1925 nach Sowjetrußland. In seinem nisieren ließe, Abfahrt das einzig vernünftige sei<<
autobiographischen Buch (Rajh 1972; Reich 1970) be- (360). Der Aufenthalt war nicht länger möglich: weder
richtet er zwar ziemlich ausführlich über seine ersten mit Reich noch ohne ihn.
Jahre in Rußland, ist aber leider von äußerer und in- Benjamins Reise nach Moskau war privat, was schon
nerer Zensur offensichtlich nicht frei. Auch persönliche damals eher eine Seltenheit war. Er schreibt an Scho-
Motive kommen dabei zum Tragen: Benjamins Name lem am 10.12.1926 aus Moskau: »Ich beruhige Dich
wird im Buch kein einziges mal erwähnt. In Moskau gleich mit der Mitteilung, daß ich in keiner offiziellen
war er vorwiegend als Journalist, später auch als Kunst- Mission hier bin<< (3, 217). Er wurde zwar formell von
wissenschafder tätig (er hat u. a. eine umfangreiche VOKS (Vsesojuznoe obscestvo kul'turnoj svjazi s za-
Monographie über Brecht veröffentlicht: Rajh 1960), granicej - Allrussische Gesellschaft für Kulturbezie-
die 40er Jahre hat er in Haft als einer der zahlreichen hungen mit dem Ausland) betreut und hat die Redak-
>Volksfeinde< der Repressionszeit verbracht. Reichs tion der Sowjetenzyklopädie besucht, bewegte sich
Erfahrung demonstrierte Benjamin, daß ein derartiges aber in Wirklichkeit völlig >unorganisiert< durch die
Unternehmen keineswegs leicht war: Reich konnte Stadt. Somit wurde Benjamin nicht mit den Institu-
zwar >>die offenkundigen Erfolge[ ... ] einen nach dem tionen (in deren Dickicht er sich ohnehin kaum zu-
andern verzeichnen<<, aber das erst >>nach einem über- rechtgefunden hätte), sondern mit den Personen kon-
aus schweren halben Jahre, in dem er, sprachunkundig, frontiert. Dutzende von ihnen tauchen im MosKAUER
hier gefroren und vielleicht auch gehungert hat<< (VI, TAGEBUCH auf, oft als verschwommene Gestalten, mit
316). Nach einer Adaptationsphase schien er sich leich- entstellten Namen oder einfach namenlos. Es ist nicht
ter in die Moskauer Arbeitsverhältnisse zu finden als leicht, sie zu identifizieren, einige bleiben vermutlich
Lacis, vielleicht weil er sich >>weniger leidenschaftlich<< für immer anonym. Sie bilden ein eigenartiges Mosaik-
mit jenen auseinandersetzte (ebd.). Denn Lacis wollte bild, besonders wenn man nicht nur ihren augenblick-
>>[i]n der ersten Zeit nach ihrer Ankunft aus Riga [... ] liehen Zustand im Winter 1926/27 berücksichtigt,
sogar gleich [wieder] nach Europa zurück, so aus- sondern das ganze Schicksal dieser Menschen über-
sichtslos schien der Versuch, hier eine Stelle zu finden<< blickt.
(316f.). Aber Reichs Erfolge und Verankerung in den Die Revolution hatte bemerkenswerte Persönlich-
Moskauer Verhältnissen hatte auch eine Kehrseite, die keiten aller Art und Herkunft nach Moskau gezogen.
Benjamin in seinen Reflexionen über den Eintritt in Benjamin trifft sie manchmal in unerwarteten Rollen.
die Partei genau registrierte: >>die völlige Preisgabe der So erscheint in der Wohnung des ungarischen Schrift-
privaten Unabhängigkeit<< (359). Deswegen mußte stellers Bela Illes, der damals in Moskau wohnte, der
Reich Benjamin vor Begegnungen mit bestimmten »Direktor des Revolutionstheaters [... ] ein ehemaliger
Personen (höheren Funktionären) besonders darauf roter General<< (VI, 302). Wegen eines politischen Feh-
aufmerksam machen, »behutsam im Reden<< zu sein lers mußte er seine Karriere einstellen, und da er >>frü-
(302). Auch mit einem Interview, das Benjamin gab, her einmal Literat war, gab man ihm diesen leitenden
war Reich >>aufs höchste unzufrieden<<, weil Benjamin Theaterposten, auf dem er aber nicht vielleisten soll<<
sich durch eine zu freie Gesprächsweise >>gefährliche (ebd.). Dieser General war kein anderer als der unga-
Blößen gegeben<< habe (313). rische Schriftsteller und Revolutionär Mate Zalka (ei-
350 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

gentlieh Bela Frankl, 1896-193 7), einer der legendären lernte, war schon aus diesem Rennen ausgeschieden:
Helden des Bürgerkriegs in Rußland. Er war wirklich Grigorij Lelevic (eigentlich Labori Gilelevic Kaiman-
kein großer Schriftsteller, und Benjamin trifft ihn in sou, 1901-1945), Wortführer der >linken< Schriftsteller,
der Zeit einer erzwungenen Ruhe, aber er war immer sollte in die Verbannung gehen und Moskau verlassen.
wieder im militärischen Bereich tätig (so half er als Benjamin besuchte ihn an seinem Abschiedsabend und
Militärberater Kemal Atatürk, die türkische Armee war von dem »Optimismus des Fanatikers<< beein-
aufzubauen) und beendete sein Leben, bekannt unter druckt (VI, 296 f.). Noch war die Strafe für die Abtrün-
dem Namen General Lukacs, in den Kämpfen des spa- nigen eher mild, noch klang das Wort >Opposition<
nischen Bürgerkrieges. nicht als Todesurteil, und dennoch konnte ein scharfes
Lange blieb der polnische Schriftsteller Wadaw Jan Ohr schon damals ein entferntes unterirdisches Dröh-
Panski (1897-1990) unidentifiziert, der seine literari- nen vernehmen, das Anzeichen der kommenden Ter-
schen Werke als Wadaw Solski unterzeichnete. 1917 rorwelle. Benjamin hat sich geirrt, als er meinte, in
war er als Revolutionär in Polen und Weißrußland Rußland sei alles noch unentschieden (vgl. seine Worte
tätig, schrieb für die polnische kommunistische Presse aus dem Brief an Jula Radt-Cohn vom 26.12.1926:
und arbeitete seit 1918 in Weißrußland und Rußland >>[E]s ist völlig unabsehbar, was dabei in Rußland zu-
als Journalist und Funktionär. 1928 kehrte er von einer nächst herauskommen wird<<- 3, 222), denn in Wirk-
Reise nach Deutschland nicht zurück und brach alle lichkeit war Rußlands Weg für die nächsten Jahre
Beziehungen zur kommunistischen Bewegung ab. schon vorgezeichnet, aber das merkten die meisten
Panski lebte in Paris und London, seit 1945 in New auch in Rußland noch nicht.
York (vgl. Klimaszewski 1992, 298f.). Benjamin be- Auf seinen Irrwegen durch Moskauer Straßen war
suchte Panski mehrmals in Goskino und war von sei- Benjamin meist ein Außenseiter: Moskau blieb für ihn
nem Alter überrascht: >>Es ist unglaubhaft- aber den- eine >>Festung<< (VI, 317; Benjamin hat Kafkas Roman
noch möglich - daß er, wie Reich mir später sagte, Das Schloß erst nach der Moskauer Reise gelesen, sonst
siebenundzwanzig Jahre alt ist. Die Generation, die in hätte er seine Position möglicherweise mit der von K.
der Revolutionszeit aktiv war, wird alt<< (VI, 382; Reich verglichen), die Realität kaum durchdringlich. Man
hat sich etwas verrechnet, tatsächlich war Panski da- könnte sogar sagen, daß Benjamin viele bedeutende
mals 29 Jahre alt). Benjamin konnte zu diesem Zeit- Personen und Ereignisse, die für ihn wichtig hätten
punkt nicht ahnen, daß der >alt gewordene< Panski alle sein können, nicht bemerkte (das lag hauptsächlich an
im MOSKAUER TAGEBUCH erwähnten Personen über- seinen Führern, die selbst noch Neulinge in Moskau
leben wird - aber weit weg, in übersee. waren). Er bewegte sich- mit wenigen Ausnahmen-
Evgenij Aleksandrovic Gnedin (1898-1983), »klug im Stadtkern, und seine Routen unterscheiden sich
und sympathisch<< (VI, 348), war in Berlin als sowje- meist kaum von denen eines Touristen. Er besuchte
tischer Diplomat tätig und lernte dort Benjamin ken- Museen, historische Stätten, suchte nach Souvenirs
nen. Als Benjamin nach Moskau kam, war Gnedin im (auch seine Sammlerleidenschaft bewegte sich im Kreis
Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten in des üblichen Angebots). Er war weitgehend auf die
Moskau für Deutschland zuständig. Später war er Er- öffentlichen Veranstaltungen (Theateraufführungen,
ster Sekretär der sowjetischen Botschaft in Berlin und öffentliche Diskussionen, Filmvorführungen u. a.) an-
dann Leiter der Presseabteilung im Volkskommissariat gewiesen, aber auch sie waren für ihn ohne Zusatzin-
für auswärtige Angelegenheiten. 1939 wurde Gnedin formationen in ihrer eigentlichen Bedeutung oft un-
im Zuge der >>Säuberung<< des Volkskommissariats begreiflich: So erklärte Reich Benjamin z. B. die Vor-
verhaftet und verbrachte die Zeit bis zur Rehabilitie- geschichte des >>weißgardistischen Stück[s] bei
rung 1955 in Gefängnissen, Lagern und Verbannung. Stanislawski<< (VI, 293, Die Tage der Turbins von
Seit 1956 als Publizist tätig, wurde Gnedin in der Mitte Michail Bulgakov), das dennoch (mit Stalins Zustim-
der 60er Jahre einer der Begründer der sowjetischen mung) aufgeführt wurde. Seine Versuche einer direk-
Dissidentenbewegung (vgl. sein Erinnerungsbuch: ten Begegnung mit den Bewohnern Moskaus (ohne
Gnedin 1994). begleitende Interpretationshilfe) sind oft unergiebig;
Die meisten Personen, denen Benjamin in Moskau auch sein einziges >Interview< für die Moskauer Presse
begegnete, waren von einer rastlosen, fieberhaften Tä- (es war eher ein Bericht, in dem auch Benjamins Aus-
tigkeit gänzlich in Anspruch genommen: »Es wird von sagen in einer indirekten Form wiedergegeben wurden,
früh bis spät nach Macht gegraben<< wie in Klondyke vgl. VII, 879-881) zeugt davon, daß Benjamins kom-
nach Gold (358); diese anstrengende Existenz schien munikative Strategien scheiterten, denn sie wurden
für jene noch durchaus aussichtsreich zu sein. Aber von der anderen Seite eher mißverstanden. Dennoch
zumindest einer, den Benjamin in Moskau kennen- war diese Sprachlosigkeitfür Benjamin nicht fatal: >>Na-
Zur russischen Literatur und Kultur 351

türlieh ließ die Unkenntnis der Sprache mich über eine schneiden sich. Bei Kisch findet sich ein Bericht über
gewisse schmale Schicht nicht hinausdringen. Ich habe das Spielzeugmuseum, von dem Benjamin begeistert
aber, mehr noch als an das Optische mich an die rhyth- war (Kisch 1927, 247-256). Roth beschreibt dieselben
mische Erfahrung fixiert, an die Zeit, in der die Men- Moskauer Theater und Aufführungen, die Benjamin
schen dort leben<< (3, 257). besuchte (u.a. das Meyerhold-Theater). Wenn man in
Er lernte, Ereignisse und Menschen zu beobachten, Benjamins Tagebuch liest: >>er [Roth] begann damit,
und konnte vieles wenn nicht gänzlich verstehen, so mir einen großen Artikel über russisches Bildungswe-
wenigstens erraten. Benjamins Beobachtungen im Ta- sen vorzulesen« (VI, 311), so kann man diesen Artikel
gebuch und in den Publikationen, die der Moskauer auch unter Roths veröffentlichten Berichten nachlesen,
Reise folgten, enthalten Einsichten, die den Durch- unter dem Titel Die Schule und die Jugend (Roth 1990,
schnitt der reisenden Schriftsteller der Zeit offensicht- 659-672). Benjamin selbst war sich seiner Lage als der
lich übertreffen. Dieser Umstand wird heute, seit wir >eines Reisenden< durchaus bewußt und versuchte, die
die Ereignisse des 20. Jh.s in vollem Umfang übersehen typischen Sünden dieser Spezies zu vermeiden. Dafür
können, noch klarer: >>in spite of Benjamin's illuminat- sorgte auch sein persönliches - erotisches und intel-
ing Iove relationship, his myopia, his Iack of knowledge lektuelles- Engagement.
of the language, and the >rigors of Moscow daily life<, Derrida hat Benjamins philosophische Position als
Benjamin's account of the situation in Moscow in >>marxisme phenomenologique pousse a sa limite«
1926, bothin the diary andin the essay >Moscow<, has gekennzeichnet (Derrida 1995, 76). Die Besonderheit
proven to be more insightful, prophetic, and coura- von Benjamins Marxismus wurde schon verschiedent-
geaus-courageaus for its resistance to easy ideologi- lich hervorgehoben (vgl. u.a. Arendt 1971). In diesem
zing on the right and on the left- than any other fo- Fall war mit der Charakterisierung als >extrem-phäno-
reign account of Soviet life written at that time« (Boym menologisch< gemeint: >>Ia desision de ne jamais rever
1991, 119). d' ecrire, encore moins de s' engager a ecrire une phy-
siognomy de Moscou<< (Derrida 1995, 76). Derrida
bezieht sich auf Benjamins Brief an Martin Bub er vom
Interpretationsansätze 23.2.1927, in dem es heißt: >>alle Theorie wird meiner
Darstellung fernbleiben. Das Kreatürliche gerade da-
Die Interpretationsarbeit am Text des MosKAUER TA- durch sprechen zu lassen, wird mir, wie ich hoffe, ge-
GEBUCHS begann damit, daß das Dokument lesbar lingen [... ].Ich will eine Darstellung der Stadt Moskau
gemacht wurde- durch den Apparat der Erstausgabe in diesem Augenblick geben, in der >alles Faktische
von Gary Smith und durch die nachfolgenden Ausga- schon Theorie< ist« (3, 232). Benjamins >>vigilance
ben. Eine gewisse Zeit war aber nötig, um im Tagebuch reflexive« ist in allem, was Moskau betrifft, unverkenn-
nicht nur ein biographisches Zeugnis oder >>Reiseno- bar, indessen wären drei Momente dieses Wachseins
tizen<< (Gilloch 1996, 4), sondern auch ein Textgebilde nicht zu vergessen.
zu erblicken, das einer vertieften Auseinandersetzung Erstens betrifft die >Faktizität<, von der Benjamin
wert ist. Diese nähere Befassung mit dem Text begann schreibt, nicht das Tagebuch, sondern seinen Essay
schon in den 90er Jahren. MosKAU. Die fast sterile Darstellung im Essay unter-
Einer der ersten war Jacques Derrida, der in seinem scheidet sich stark von dem mehrdimensionalen Dis-
VortragBackfromMoscow, in the USSR (Derrida 1995) kurs des Tagebuchs (s. dazu unten). Das Tagebuch ist
einige Interpretationswege andeutet. Derrida, der die nicht frei von theoretischen Passagen, und Derrida
Sowjetunion 1990, also unmittelbar vor ihrem Zerfall, selbst bezieht sich z. B. auf theoretische Ausführungen
noch besucht hat, geht einigermaßen selbstreflexiv vor, in dem Tagebuch, die Benjamins sprachphilosophische
wenn er versucht, Walter Benjamin in die Reihe der Positionen betreffen (vgl. VI, 330 f.). Zweitens ist Ben-
westlichen Intellektuellen einzuordnen, die eine Reise jamins Text keinesfalls als reiner> Tatsachenbericht< zu
in die Sowjetunion unternommen haben. Als Reisen- verstehen, denn auch in MosKAU behauptet Benjamin,
der war Benjamin in Moskau tatsächlich keine einma- daß der Aufenthalt in Rußland >>ein so sehr genauer
lige Erscheinung: Die deutschsprachigen Intellektuel- Prüfstein« ist: >>Jeden nötigt er, seinen Standpunkt zu
len besuchten damals oft die Sowjetunion, und einige wählen. [... ] Sehen kann gerade in Rußland nur der
von ihnen, die kurz zuvor oder gleichzeitig mit Benja- Entschiedene« (Herv. d. Verf., IV, 317; diese Stelle ist
min in Rußland waren, werden im MosKAUER TAGE- eine überarbeitete Version einer entsprechenden Pas-
BUCH genannt. Zu ihnen gehören Ernst Toller (VI, 295; sage vom Ende des Tagebuchs: VI, 399). Auch im Ta-
298), Egon Erwin Kisch (305) und Joseph Roth gebuch schreibt Benjamin, als er über seine Begegnung
(310ff.). Die Besuchsziele, die Beschreibungen über- mit Roth berichtet: >>In dem Gespräche, daß auf seine
352 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Vorlesung folgte, nötigte ich ihn schnell, Farbe zu be- NER CHRONIK und die BERLINER KINDHEIT Gedächt-
kennen. Was dabei sich ergab, das ist mit einem Wort: niswerke, Arbeiten an der Vergangenheit darstellen.
er ist als (beinah) überzeugter Bolschewik nach Ruß- Deswegen ist in seinen Erinnerungen das Ohr so be-
land gekommen und verläßt es als Royalist. Wie üblich, deutend, während im Tagebuch (und in MosKAU) das
muß das Land die Kosten für die Umf<irbung der Ge- Auge Vorrang hat (s. dazu unten).
sinnung bei denen tragen, die als rötlich-rosa schil- Richters Konzentration auf das Körperliche in Ben-
lernde Politiker (in Zeichen einer >linken< Opposition jamins Moskau-Erfahrung ergibt verschiedene As-
und eines dummen Optimismus) hier einreisen<< (Vl, pekte. Der Körper wird bei Richter auch als (Text-)
311). Das ist eben Benjamins >>dialectics of seeing<< Korpus verstanden, deswegen ist die Stadt als Korpus/
(Buck-Morss 1989). Drittens, die >physiognomische Körper zugleich ein monströser Leib und ein Text, den
Ansicht< war Benjamin während seiner Reise nicht man (>>physiognomisch<<) lesen muß. Zudem betrifft
fremd, was er auch selbst bestätigte. In den Vorbemer- die Körperlichkeit die Ebene der interpersonellen Be-
kungen, die er für eine (nicht zustande gekommene) ziehungen, und auf ihr liegt die intensivste Spannung
französische Publikation von Auszügen aus dem Ta- in den Kontakten zwischen Benjamin und Lacis, die
gebuch geschrieben hat, ist zu lesen: >>Aus einem Ta- immer wieder erschwert oder unmöglich sind. Das
gebuche, das ich ohne Unterbrechung acht Wochen Lesen wird auch hier relevant, aber in einer anderen
hindurch geführt habe, sind die folgenden Stücke Aus- Funktion: als Vertretung der erotischen Beziehungen.
züge. Ich habe mich in ihnen bemüht, das Bild des >>Benjamin's erotic attraction to Lacis is frequently ex-
proletarischen Moskau, [... ] vor allem aber die Physio- pressed through the act of reading<< (Richter 2000,
gnomie seines Werktags und den neuen Rhythmus 138). Die Unmöglichkeit einer physischen Beziehung
wiederzugeben<< (VI, 782, Herv. d. Verf.- zur >>physio- wird im Akt des Vorlesens der eigenen Texte überwun-
gnomischen Ansicht<< ( >> physiognomical reading<<) bei den: >>ldentifying writing and the body through the
Benjamin und ihrer Beziehung zu seiner Monadologie erotics of reading, Benjamins comes to her [Lacis] in
vgl. Gilloch 1996, 6; Richter 2000, 133; s. dazu auch the body of writing<< (140). Im Gesamtkontext von
unten). Richters Analyse der Körperlichkeit ist die Moskauer
Mit Recht weist Derrida auf die körperliche Dimen- Reise ein Schritt zu Benjamins späterer Position, die
sion des Tagebuchs hin, darunter auf das Motiv des darauf setzt, daß sich der Körper politischem Miß-
Kindes, das Benjamin sich von Asja wünschte (VI, brauch entzieht. Die politische Strategie des leiblichen
317); ein Motiv, das die sexuelle und schöpferische Entfliehens wird nach Richter besonders in Benjamins
Potenz verbindet- ein Wunsch, der unerfüllt blieb. Die antifaschistischen Stellungnahmen deutlich, man muß
Potenz, als das Männliche und Schöpferische, sowie aber hinzufügen, daß auch Benjamins Umgang mit
das Körperliche insgesamt werden auch in anderen dem sich etablierenden Sowjetsystem eskapistisch er-
Tagebuchinterpretationen herausgestellt, besonders scheint. Die Berücksichtigung des Körperlichen-be-
bei Gerhard Richter. sonders in Moskau- ist nach Richter ein wesentliches
Svetlana Boym (1991) versucht, Benjamins Tage- Bindeglied zwischen dem Benjamin des Trauerspiel-
buch mit Roland Barthes' Tagebuchaufzeichnungen buchs und dem >>Benjamin of the 30s struggling overtly
Soirees de Paris zu vergleichen, was aber nicht ganz agairrst the politics of fascism<< (233).
überzeugt: die Unterschiede sind zu groß. Barthes' Eine andere Linie der Interpretation von Benjamins
Notizen werden zu Hause, in der wohlbekannten Um- MosKAUER TAGEBUCH und Moskauer Reise ist mit der
gebung gemacht, was fern von Benjamins harter Problematik des Stadtlebens und seiner Darstellung
Selbstprüfung in einem fremden Land ist. verbunden. Susan Buck-Morss hat in ihrem Buch The
Gerhard Richter reiht das MosKAUER TAGEBUCH in dialectics of seeing auf die Bedeutung der vier Städte
die Gruppe der autobiographischen Schriften Benja- Berlin, Paris, Neapel und Moskau in Benjamins Werk
mins ein, ähnlich der BERLINER CHRONIK und der hingewiesen (Buck-Morss 1989, 25). Die räumlichen
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT. Trotz (>>spatial<<) Koordinaten sind aber in Wirklichkeit nicht
einiger gemeinsamer Züge (für Richter ist eine beson- geographischer, sondern soziokultureller Art. Die Be-
dere Beziehung zum Körperlichen vorrangig: >>Benja- deutung der Moskauer Reise hat auch Graeme Gilloch
min is obsessed with the subject's body or corpus<<, in Myth and metropolis. Walter Benjamin and the city
Richter 2000, 52) scheint es sich eher um eine Kon- (1996) hervorgehoben. Die Attraktion der Großstadt
trastreihe denn um eine Einheit zu handeln: Moskau war für Benjamin mit dem Verständnis von Moderni-
ist eine fremde Stadt und Berlin die Heimatstadt, das tät aufs engste verbunden: >> The metropolis is the prin-
MosKAUER TAGEBUCH ist eine laufende Chronik, die cipal site of the phantasmagoria of modernity<< (Gil-
die Erlebnisse unmittelbar fixiert, während die BERLI- loch 1996, 11). Die Texte zu Moskau waren für Benja-
Zur russischen Literatur und Kultur 353

min eine wichtige Station auf dem Weg zum halts fixiert, die manchmal mit dem Ort, an dem sie
Passagenwerk als Phänomenologie des modernen aufgeschrieben wurden, kaum in Zusammenhang ste-
Stadtlebens. Howard Caygill hat in seinem Buch Wal- hen. Man vergleiche z. B. die Beschreibung der Mos-
ter Benjamin. The colour of experience der Stadterfah- kauer Straßenbahn mit ganz anderen, allgemeinen und
rung bei Benjamin ein eigenes Kapitel gewidmet (>>The kontemplativen Ausführungen: >>Hasard, den eine
experience of the city<<, Caygill 1998, 118-148). Die Fahrt mit der E<l>ektrischen hier bietet. Durch die
Stadtdarstellung wird hier als Teil der Gesamtmetho- vereisten Scheiben kann man nie erkennen, wo man
dik von Benjamin betrachtet: >>Benjamin's citywritings sich befindet. Erfährt man es, so ist der Weg zum Aus-
exemplify his speculative method: the city in question, gang durch eine Masse dichtgekeilter Menschen ver-
whether Naples, Moscow, Berlin or Paris can only be- sperrt. Denn da man hinten einzusteigen hat aber vorn
come an object of knowledge indirectly, obliquely den Wagen verläßt, so hat man sich durch die Masse
reflected through the experience of other cities, each hindurchzuarbeiten und wann man damit zu stande
of which is its own infinite surface.<< (119- über Ben- kommt, das hängt vom Glück und von der rückhalts-
jamins Beitrag zur Problematik der Stadtdarstellung losen Ausnützung der Körperkräfte ab<< (313). Und,
insgesamt vgl. Shields 1996). ganz anders: >>So scheint im Grunde das Gefühl von
Einsamsein ein reflexives Phänomen zu sein, das uns
nur trifft wenn es von uns bekannten Menschen, am
"Moskauer Tagebuchcc: Text und lntertext. meisten von dem Menschen den wir lieben, wenn sie
Dreimal Moskau sich ohne uns gesellig vergnügen, auf uns zurück-
strahlt<< (326f.).
Der Text, der auf den ersten Blick als ein unmittelbares, Manchmal überschneiden sich diese Ebenen, wenn
spontanes Zeugnis von Benjamins Moskauer Erlebnis- eine persönliche Erfahrung zum Ausgangspunkt einer
sen erscheinen mag, erweist sich in den Interpretati- allgemeinen Betrachtung wird: >>Daß nichts so eintrifft,
onsversuchen als ein komplexes Gebilde. wie es angesetzt war und man es erwartet, dieser banale
Einerseits wollte Benjamin in seinen Aufzeichnun- Ausdruck für die Verwicklung des Lebens, kommt hier
gen tatsächlich unmittelbare Reaktionen auf die Mos- in jedem Einzelfall so unverbrüchlich und so intensiv
kauer Realität festhalten, und man kann seinen Text zu seinem Recht, daß der russische Fatalismus sehr
als ein persönliches Dokument lesen. Dennoch konnte schnell begreiflich wird. Wenn langsam sich im Kol-
Schreiben für ihn, damals schon ein erfahrener Literat, lektivum zivilisatorische Berechnung durchsetzt, so
kaum ein rein spontanes, reaktives Verhalten sein. wird dies vorderhand die Einzelexistenz nur verwik-
Hinzu kam, daß die Tagebuchaufzeichnungen von kelter machen<< (312 f.).
dem Auftrag mitbestimmt wurden, den er von Martin Die Motive, die im MosKAUER TAGEBUCH auftau-
Buher bei der Zeitschrift Die Kreatur vor der Reise chen, finden sich häufig auch in anderen Texten Ben-
erhalten hatte: Es war also von Anfang an- zumindest jamins (Gefahr und Geborgenheit, Wahrnehmung der
teilweise - ein Schreiben zum Zweck. Deswegen wird Kunst, Sprache als Ausdruck und Mitteilung etc.). Ei-
das >Tagebuch< im Text des Tagebuchs mehrmals au- nige der Motive werden viel später, Ende der 30er
toreflexiv erwähnt; Benjamin berichtet von seiner Ar- Jahre, in Benjamins Schriften ausführlich behandelt.
beit am Tagebuch sowie darüber, wie er Abschnitte aus So wird in den Baudelaire-Studien neben dem schon
dem Tagebuch Asja vorliest: >>Ein Referat über die Dis- erwähnten Motiv des Hasards auch das Problem der
kussion bei Meyerhold ist vielleicht einigermaßen postumen Wirkung besprochen (>>Im Grunde [... ]
geglückt, dagegen kam ich mit einem Moskauer Be- kann man materialistisch nicht ein Dichterleben schil-
richt fürs >Tagebuch< nicht weiter<< (VI, 357). >>Da griff dern sondern nur seine historische Nachwirkung<<,
ich auf das >Moskauer Tagebuch< zurück und las ihr 321; vgl. I, 639).
[Asja] auf gut Glück vor, worauf mein Blick gerade Um den Grad der Spontaneität und das Einbezo-
fiel<< (367). gensein der Realitätswahrnehmung in Benjamins Ta-
Der Text des Tagebuchs ist offensichtlich mehr- gebuch einzuschätzen, wäre seine diskursive Struktur
schichtig. Erstens besteht er aus Einträgen privater und mit der von zwei andersartigen Texten zu vergleichen,
nicht-privater Art. Zu ersteren gehört vor allem die die ebenfalls Benjamins Moskauer Erfahrung darstel-
Darstellung seiner Beziehung zu Lacis (die Szenen ih- len. Auf den ersten Blick sind diese Texte ihrem Um-
rer Begegnungen sind oft bis in die kleinsten Details fang und Genre nach völlig unvergleichbar. Gemeint
ausformuliert). Zweitens werden im Tagebuch unmit- sind der Essay MosKAU (1927, IV, 316-348) und die
telbare Eindrücke und Erlebnisse, aber auch allgemeine Besprechung des Bildbandes Moskau von Alexys A.
Betrachtungen und Reflexionen des Moskauer Aufent- Sidorow ( 1928, III, 142 f.).
354 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Der Essay MosKAu ist unmittelbar aus dem Tage- seite, andererseits gehört sie formell zu den Rezensio-
buch hervorgegangen; etwas übertrieben könnte man nen, einem angeblich minderwertigen Genre (obw•.Jhl
den Text als eine Montage aus den TagebucheintTa- alle Genreeinteilungen bei Benjamin ohnehin relativ
gungen bezeichnen. Zwar wurde er gleich nach der sind). Tatsächlich aber handelt es sich um gar keine
Reise geschrieben, aber die Ansicht der Stadt ist in Rezension, denn der Bildband hat Benjamin nur eine
diesem Text schon wesentlich distanziert und entfrem- Anregung - oder einen Vorwand? - geboten, diese
det. Während im Tagebuch - der Spontaneität und Zeilen zu schreiben. Der Text ist eine Zusammenfas-
Einbewgenheit wegen - und in Berichten - der Fak- sung von Benjamins Moskauer Erlebnissen, konzen-
tizität wegen - einzelne Stimmen hörbar sind, ist dies triert und destilliert. Diese Quintessenz wird in nur
im Essay nicht der Fall; Benjamin gibt ein stummes zwei Atemzügen ausgesprochen, denn sie besteht le-
Bild der Stadt, was durch ihre winterliche Stille wenig- diglich aus zwei Sätzen: der erste, der drei Viertel des
stens äußerlich gerechtfertigt wird: »Das winterliche Textes ausmacht, ist eine Aufzählung Moskauer Orte,
Moskau ist eine stille Stadt. Leise spielt das ungeheuere der zweite aber ist den Moskauer Menschen gewidmet.
Getriebe der Straßen ab. Das macht der Schnee<< (IV, Damit wird genau das erreicht, was Benjamin auch
319). früher angestrebt hat: das Physiognomische in Ruß-
Aber es liegt natürlich nicht am Schnee oder an der land-Erfahrung darzustellen. Mehrmals werden im
geringen Anzahl der Autos auf den Moskauer Straßen, Text metaphorisch Gesichtszüge Rußlands erwähnt:
es liegt vielmehr am Standpunkt des Betrachters. Mos- »die Erlöserkirche, nichtssagend wie ein Zarengesicht<<
kau erscheint bei Benjamin wie eine Folge von Foto- (Herv. d. Verf., III, 142); »die Kremlmauer [... ] mit den
aufnahmen, und der ganze Text wirkt wie das Durch- anbetungswürdigen Zinnen, die in sich wie ein russi-
blättern eines Fotoalbums nach der Reise. Es fehlen sches Frauenantlitz Süßigkeit und Roheit vermählen<<;
aber die Gesichter der Bekannten in diesem Album, »die Profile des Kreml<<; »die Moskwa, vor deren Ufern
fast alle Bilder sind unpersönlich, die Namen sind fast die Stadt freundlicher blicktwie ein Bauernmädchen,
völlig verwischt, und Martin Buher, der die Distan- das an den Spiegel herantritt<< (Herv. d. Verf., 143- eine
ziertheit des Essays vermutlich als zu kraß für einen wahre Anhäufung für einen so kurzen Text).
»Reisebericht<< empfand, hat Benjamin aufgefordert, Diese Tendenz kulminiert in der Schlußformel, die
die Entfremdung durch das Einfügen von Figuren und die Stadt und die Menschen darstellt: »Und in all die-
Erlebnissen zu mildern. Benjamin aber hat diese Auf- sen Bildern, klein und verschwimmend, oder plastisch
forderung entschieden abgelehnt: »Ihren Wunsch nach und groß die Menschen, die diese Stadt schufen und
einem Bericht über >persönliche Relationen<, die das schändeten, verrieten und förderten, liebten und lä-
Geschriebene abrunden, kann ich gut verstehen; aber sterten, die dichte oder lichte Masse, die sie bezwang
in diesem Falle sind das Dinge, die ich, zumindest jetzt oder von ihr bezwungen wurde, die in Parks und auf
noch, nicht aus den Bindungen, die sie in meinem Plätzen singt und friert, hungert und heult, jubelt und
>Tagebuche< haben, loslösen, denen ich noch keine turnt, und aus welcher sich diese Männer zusammen-
Form, in der sie kommunizierbar wären, geben kann<< gefunden haben, die ihrer Heimat den scharfen, tiefen
(3, 242). Blick in ihr Antlitz taten, aus dem dies durch und
Manche von diesen >>Dinge[n]<< wurden auch spä- durch erfreuliche Buch entstand<< (143).
terhin aus den Bindungen des Tagebuchs nicht Somit stehen uns drei Hauptdokumente zu Benja-
»losgelös [t] <<, die meisten - wenn überhaupt - auf je- mins Moskauer Erfahrung zur Verfügung, drei Dar-
den Fall nur in einer indirekten Weise »kommunizier- stellungen: das Tagebuch selbst, der Essay MosKAu und
bar<<. Und so blieb die Darstellung in Benjamins Mos- die Rezension des Fotoalbums Moskau, die nicht nur
KAU ein geräuschloser Segelflug über dem Abgrund - chronologisch klar geordnet sind (unmittelbare Fixie-
über dem »ungeheueren Kratereinsturz<< (II, 240) der rung der Erlebnisse- erste distanzierte Zusammenfas-
russischen sozialen Kataklysmen, deren Zukunft für sung- abschließendes Resümee), sondern auch gleich-
Benjamin immer noch offen, in ständigem Werden sam drei Stufen der Distanzierung repräsentieren. Mit
begriffen war. jeder Stufe wird die Einbezogenheit Benjamins schwä-
Ein Jahr später gab Sidorows wirkliches Fotoalbum cher, das Verständnis der Realität zugleich tiefer und
Moskau Benjamin noch einmal Anlaß, die Stadt und allgemeiner, die Nähe der Darstellung verschwindet
ihre Einwohner zu betrachten - aus einem größeren zuletzt fast völlig. Konsequenterweise schrumpft der
Zeitabstand. Dieser Text wurde bis heute kaum beach- Textumfang fortschreitend, bis auf eine rhythmisierte
tet, obwohl er schon seit dreißig Jahren im dritten formelhafte Miniatur. Die Stimmen und Gesichter, die
Band der Gesammelten Schriften zu lesen ist. Einerseits unmittelbare Körperlichkeit (s. oben zu Gerhard Rich-
ist die Notiz ganz kurz- kaum mehr als eine Druck- ter), auch des Schreibenden selbst, verschwinden und
Zur russischen Literatur und Kultur 355

werden durch die Massenerscheinung ersetzt, wie in vernehmbare Tenor des MosKAUER TAGEBUCHS. In
den Massenszenen des Stummfilms. Moskau wird aus beiden Städten gibt es keine starre Ordnung, keine
der unmittelbaren Umgebung, aus der empfundenen festen Strukturen, alles ist fließend, alles im Werden
Realität entrückt und bezieht seinen Platz unter den und Wandel begriffen: »Man meidet das Definitive,
Erscheinungen, die man betrachten und deuten kann, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für
irgendwo dort, wo auch Baudelaires Leidenschaften immer gemacht<< (IV, 309).- »Daß nichts so eintrifft,
und das Paris seiner Zeit (die Hauptstadt des 19. Jahr- wie es angesetzt war und man es erwartet, dieser banale
hunderts), das deutsche barocke Trauerspiel oder Kaf- Ausdruck für die Verwicklung des Lebens, kommt hier
kas Amerika liegen. [... ] so intensiv zu seinem Recht, daß der russische
Fatalismus sehr schnell begreiflich wird<< (VI, 312).-
»[... ] sonst steht alles hier im Zeichen der Remonte. In
Eine Stadt lesen und schreiben: den kahlen Zimmern werden allwöchentlich die Möbel
Neapel, Moskau und weiter umgestellt[ ... ]. Die Ämter, Museen und Institute än-
dern fortwährend ihren Ort und auch die Straßen-
Benjamins Moskauer Erfahrung beginnt nicht nur auf händler, die anderswo ihre bestimmten Plätze haben,
Capri, sondern auch in Neapel. In dieser Stadt (die er tauchen alltäglich anderswo auf<< (VI, 319). Beide
mehrmals zuvor besucht hat) versuchte Benjamin - Städte sind >>Schauplatz neuer unvorhergesehener
mit Lacis- zum ersten Mal die wirkliche Existenz einer Konstellationen<< (IV, 309), und >>[d]ie ganze Kombi-
Stadt zu erleben und dieses Erlebnis zum Ausdruck zu natorik der westeuropäischen Existenz einer Intelli-
bringen. Unabhängig von der Frage, ob Lacis den Text genz ist überaus ärmlich im Vergleich mit den zahllo-
NEAPEL wirklich mitgeschrieben hat, ist signifikant, sen Konstellationen, die hier im Laufe eines Monats
daß Benjamin sie als Mitautorin des Essays mit ange- an den Einzelnen herantreten<< (VI, 358). Sowohl in
geben hat. Die Anwesenheit von Lacis in Moskau und Neapel als auch in Moskau ist das Leben von »Hasard<<
Benjamins leidenschaftliche Beziehung zu ihr waren und »Rausch<< durchdrungen (IV, 312 f.; VI, 313; 358).
Zeichen für die Kontinuität der neuen Erfahrung. Nea- Mehr noch: Beide Städte sind in Wirklichkeit über-
pel taucht in Benjamins Moskauer Aufzeichnungen haupt keine Städte. Die Architektur in Neapel ist
immer wieder auf (vgl. VI, 313; 354; 398), und das »[z]ivilisiert, privat und rangiert nur in den großen
obwohl der Moskauer Winter kaum an die südliche Hotel- und Speicherbauten des Kais- anarchisch, ver-
Hitze und die strahlende Sonne erinnern konnte: »Al- schlungen, dörflerisch im Zentrum<< (IV, 309). >>Mos-
les<:> Schuhcreme, Bilderbücher, Schreibzeug, Ku- kau sieht freilich überall nicht recht wie die Stadt selbst
chen und Brote, selbst Handtücher werden auf offener aus sondern [... ] wie ihr Weichbild<< (VI, 352). »Mit
Straße verkauft, als herrsche nicht Moskauer Winter diesen Straßen ist eins sonderbar: das russische Dorf
mit 25° Grad Frost sondern ein neapolitanischer Som- spielt in ihnen Versteck<< (ebd.). »Die Trottoirs geben
mer<< (VI, 319). Moskau etwas Landstädtisches oder vielmehr den Cha-
Diese Präsenz von Neapel im MosKAUER TAGEBUCH rakter einer improvisierten Großstadt<< (313).
ist weder zufällig noch durch manche äußerliche An- Die »dörflerisch[ e] <<Natur von Neapel und Moskau
zeichen (ein reger Straßenhandel etc.) erklärbar. Beide hat wichtige soziale Konsequenzen: Die Existenz in
Städte bedeuteten für Benjamin eine andere Welt, die beiden Städten ist von den Verhältnissen einer tradi-
man begreifen (richtig begreifen, unabhängig von tionellen Gesellschaft weitgehend bestimmt, in der das
fremden Darstellungen, die falsch sein können: >>Phan- Individuelle, das Private keine festen Grenzen hat:
tastische Reiseberichte haben die Stadt betuscht<<, IV, >>jede private Haltung und Verrichtung wird durchflu-
309) oder- falls man eine Stadt als einen Text auffaßt tet von Strömen des Gemeinschaftslebens. Existieren,
-lesen, aber dann auch schreiben mußte: »to write the für den Nordeuropäer die privateste Angelegenheit, ist
city, to give it form - this is the key to understanding hier [in Neapel] wie im Hottentottenkral Kollektivsa-
Benjamin's textual practices and innovations<< (Gilloch che<< (IV, 314). Die Dominanz des Kollektiven in Mos-
1996, 181). kau ist in erster Linie von der Parteipolitik bestimmt,
Beide Städte, Neapel wie Moskau, fallen durch ihre deswegen hat man hier keinen privaten Wohnraum:
>Barbarei<, durch ihr unzivilisiertes Leben auf: Die Be- »In diesen Räumen, welche aussehen wie ein Lazarett
schreibung von Neapel beginnt mit der Erwähnung nach der letzten Musterung, halten die Menschen das
der »aus dem Herzen der Großstadt selbst erwachse- Leben aus, weil sie durch ihre Lebensweise ihnen ent-
nen Barbarei<< (IV, 307); der noch unzivilisierte Zu- fremdet sind. Ihr Aufenthalt ist das Büro, der Klub, die
stand von Moskau (»Prärie der Architektur<<), der Straße<< (VI, 308). Daher auch der Verlust der »privaten
wilde Charakter seiner Straßen (VI, 332) ist der leicht Unabhängigkeit<< bei Reich und anderen Parteigebun-
356 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

denen (358 f.). Allerdings ist dabei auch das traditio- Moskauer Erträge
nelle Element des russischen Lebens mit im Spiel: die
allgemeine »Rechtsunsicherheit<< (355), die herkömm- Im MosKAUER TAGEBUCH findet man wesentliche Re-
lichen Verhaltensmuster, die Benjamin im Alltag stän- flexionen (in Gesprächen mit den anderen oder in
dig erleben konnte (halb illegaler Straßenhandel, Bett- stummen Selbstgesprächen), die Benjamins Situation
ler, provinzielle Ladenschilder), deuten auch auf eine in der Krisenzeit der zweiten Hälfte der 20er Jahre
kollektive Existenz, und die persönliche Meinungsäu- treffend kennzeichnen. Ein »langes Gespräch« (VI,
ßerung erfolgt in einer kollektiven Form: >» [h] ier wird 330) mit Reich über die literarische Tätigkeit Benja-
gesagt, das sei so und so<<<, »>man hat sich meistens in mins führte zu einem wichtigen Ergebnis: »Die kriti-
dem und dem Sinne ausgesprochen<<< (316). Das Leben sche Situation meiner eigenen Autorschaft aber gab
in Moskau ist von konservativen und restaurativen ich zu« (331). In der Mitte seines Aufenthalts in Mos-
Zügen durchsetzt. Benjamin ist nach Moskau gekom- kau, am 8.-9. Januar, fixiert er im Tagebuch einen Ver-
men, um die revolutionäre Erneuerung zu sehen, hat such, die Frage nach dem eventuellen Eintritt in die
aber unter der offiziellen Oberfläche das undurch- kommunistische Partei zu beantworten (358f.): Ben-
dringliche Elementare einer Selbstorganisation (wie jamin wird »immer mehr klar«, daß er »ein festes Ge-
bei der >Korporation der Bettler<), das »Kreatürliche<< rüst« für seine Arbeit braucht. Er meint, er habe dabei
(3, 232), für einen Fremden Verschlossene entdeckt, »ausschließlich äußerliche Bedenken«, was aber kaum
wie auch im »anarchistisch[ en] <<Neapel (IV, 309). Die ernst zu nehmen wäre: Man gewinne zwar eine »feste
Abgründigkeit dieser undurchdringlichen elementaren Position«, müsse aber dafür die private Unabhängig-
Existenz faszinierte Benjamin, sie war ihm jedoch völ- keit preisgeben, oder an die Seite der »unterdrückten
lig fremd: »Der Schnee lag hoch und entstand plötzlich Klasse sich schlagen mit allen Konsequenzen, die das
eine Stille, so konnte man glauben, tief drinnen in früher oder später haben kann«. Benjamin läßt das
Rußland in einem überwinternden Dorfe zu sein<< (VI, schwierige Dilemma unentschieden, indem er es als
332). eine Zeitfrage ausgibt: »Solange ich reise, ist der Ein-
Die Gegenwart dieser elementaren Kraft bedeutete, tritt in die Partei freilich kaum zu erwägen.«
daß die Revolution in Rußland in Wirklichkeit noch Auch die Beziehung zu Lacis blieb unentschieden,
nicht gesiegt hatte, sie konnte auch scheitern, und vie- und auch in diesem Fall täuschte Benjamin seine Rei-
les hing davon ab, ob die Modernisierung der Gesell- sen als Grund vor: »Mein Wille zu reisen war aber doch
schaft Erfolg hatte, ob sich die »Zivilisatorische Berech- eben stärker als der Trieb zu ihr gewesen[ ... ]. Das Le-
nung durchsetzt<< (313). Die Auseinandersetzung mit ben in Rußland ist mir zu schwer innerhalb der Partei
der Realität von Neapel und Moskau war für Benjamin und außerhalb ihrer viel chancenloser aber kaum we-
ein bedeutendes Experiment im Laufe seiner literari- niger schwer. [... ] Und in Europa mit ihr zu leben, das
schen und methodologischen Entwicklung: »both the könnte, wenn sie dafür zu gewinnen wäre, eines Tages
traditional city ofNaples and the fusion of modernity mir das Wichtigste, Nächstliegende werden« (394).
and primitivism detected in Moscow differ signif- Aber als Lacis wirklich »eines Tages« (Ende 1928) nach
icantly from the experiences of the modern cities of Europa kam, konnte Benjamin seine Beziehungen zu
Berlin and Paris [... ]. It was only through the analysis Lacis wieder nicht klären (zu Lacis Aufenthalt in
of these other urban experiences that Benjamin was Deutschland 1928-1930 und Benjamins Ehescheidung
able to understand his own« (Caygilll998, 128). Die 1930 vgl. Puttnies/Smith 1991, 144-166). Tatsächlich
äußeren Umstände: Benjamins Sprachlosigkeit in blieb Benjamins Stellung immer unentschieden, und
Moskau, in diesem »stumm in sich verbissene[n], vor seiner Abreise aus Moskau sagte er Lacis: »Als ich
streitende[n] Leben« (306), schärften seinen Blick für herkam, habe ich Dir in den ersten Tagen gesagt, jetzt
die Stadtexistenz, seine Fähigkeit, an kleinen Einzel- würde ich Dich sofort heiraten. Ich weiß aber doch
heiten des Alltags den abgründigen Sinn zu erkennen. nicht, ob ich es tun würde. Ich glaube, ich würde es
Ihm wurde auch die Bedeutung klar, die »der sichernde nicht aushalten« (VI, 393 f.).
Blick« (I, 650), das »Übergewicht der Aktivität des Auch im praktischen Bereich war der Moskauer
Auges über die des Gehörs«, für den Großstadtmen- Aufenthalt eher eine Niederlage für Benjamin: Er
schen hat (649f.). Beides wurde für ihn bei seiner spä- konnte keine literarischen Kontakte knüpfen, und sein
teren Arbeit an den Berliner Erinnerungen und am Artikel GoETHE wurde von der Enzyklopädieredaktion
Pariser Leben des 19. Jh.s wesentlich. abgelehnt. Schließlich erschien 1929 in Band 16 der
Großen Sowjetenzyklopädie ein kompilativer Aufsatz,
gezeichnet von sechs(!) Autoren; der Name Benjamin
war zwar in der Liste der erste, aber nur wenige Passa-
Zur russischen Literatur und Kultur 357

gen des umfangreichen Textes (der 30 Spalten um- tische Sublimierung der russischen Erträge nicht
faßte) sind aus seiner Fassung übernommen (zum Moskau, sondern Paris zur >>Hauptstadt der sowjeti-
Verhältnis der Benjaminsehen und der veröffentlichten schen Avantgarde<< (Gough 2002). Aber nicht nur das:
Fassung des Enzyklopädieaufsatzes vgl. li, 1472-1475). Moskau gab Benjamin eine neue Optik für Berlin und
Beide Festungen, sowohl Moskau als auch Lacis, blie- Paris (nachdem er in Moskau ein verstecktes Dorf ent-
ben für Benjamin uneingenommen, was aber nicht deckt hatte, war Benjamin auch Aragons >>Pariser
verwunderlich ist: Eskapisten sind äußerst selten er- Bauer<< nicht fremd), Europa aber gab ihm im Gegen-
folgreiche Eroberer. zug eine neue Optik für Rußland. Erst in Paris ent-
Mehr noch: Lange vor der Reise nach Moskau, schon deckte Benjamin (vgl. seinen Vortrag DER AuTOR ALS
auf Capri, sah Benjamin klar genug, warum seine >rus- PRODUZENT, 1934) -nach seiner Bekanntschaft mit
sische Geschichte< keine endgültige Wahl sein konnte. Brecht und mit den Surrealisten - die Bedeutung der
In dem schon erwähnten Brief an Scholem schrieb er >>Ästhetik der Operativität<< von Sergej Tretjakow (vgl.
am 7.7.1924: >> Hierselbst ist allerlei vorgegangen, [... ] Gough 2002; Mierau 1976), den er in Moskau noch
nicht zum besten meiner bedrohlich unterbrochnen kaum beachtet hatte. Die Tragweite des Moskauer Ex-
Arbeit, nicht zum besten vielleicht auch einer für jede periments in Benjamins Leben und Werk ist kaum zu
Arbeit so unerläßlichen bürgerlichen Lebensrhythmik, überschätzen.
unbedingt zum Besten einer vitalen Befreiung und
einer intensiven Einsicht in die Aktualität eines radi- Werk
kalen Kommunismus<< (Herv. d. Verf., 2, 473). MosKAUER TAGEBUCH (VI, 292-409)
Sowohl die Reise nach Moskau als auch die Partei- MosKAUER TAGEBUCH, aus der Handschrift hg. u. mit Anm.
v. Gary Smith, mit einem Vorwort v. Gershorn Scholem,
pläne hat er von Anfang an als Experiment betrachtet,
Frankfurt a. M. 1980.
also als nicht irreversibel (keine >Einbahnstraße<). Moskovskij dnevnik, Moskau 1997.
Dennoch war der Feldzug nach Moskau keine simple MOSKAU (IV, 316-348)
Niederlage. Benjamin wäre nicht Benjamin, wenn er DER AuTOR ALS PRODUZENT (I!, 683-701)
DISPUTATION BEI MEYERHOLD (IV, 481-483)
aus seiner offensichtlichen Niederlage keinen Gewinn
DREI BüCHER (III, 107-113)
geschlagen hätte: Er kam zurück mit einer >>neue[n] ERWIDERUNG AN ÜSCAR A.H. ScHMITZ (I!, 751-755)
Optik<<, mit der er westeuropäische Städte neu entdek- FRANKREICH UND RuSSLAND (VI, 723f.)
ken konnte. >>Mag man auch Rußland noch so wenig GOETHE (I!, 705-739)
GRANOWSKI ERZÄHLT (IV, 518-522)
kennen lernen - was man lernt, ist Europa mit dem
IwAN BuNIN (III, 426-427)
bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland ab- NEAPEL (IV, 307-316)
spielt, zu beobachten und zu beurteilen<< (VI, 399). NEUE DICHTUNG IN RuSSLAND (I!, 755-762)
Benjamin mußte auf Hasard und Rausch im prakti- PISCATOR UND RusSLAND (IV, 543-545)
DIE POLITISCHE GRUPPIERUNG DER RUSSISCHEN SCHRIFT-
schen, politischen Bereich verzichten, um die ihm so STELLER (I!, 743-747)
teure >>bürgerliche Lebensrhythmik<< zu erhalten- hat Rez. zu Alexys A. Sidorow, Moskau (III, 142 f.)
aber dieselben Möglichkeiten im ästhetischen Bereich Rez. zu Fjodor Gladkow, Zement (III, 61-63)
entdeckt. In seinem Essay DER SüRREALISMUS (zu Rez. zu Iwan Schmeljow, Der Kellner (III, 63-64)
Rez. zu Mare Aldanov, Eine unsentimentale Reise (III, 386-
Benjamin und Surrealismus vgl. Cohen 1993) wird 388)
man vieles von den Moskauer Erfahrungen wiederer- Rez. zu Michael Sostschenko, So lacht Rußland! (III, 105)
kennen. Da spricht Benjamin davon, daß >>eine rausch- Rez. zu Ssofja Fedortschenko, Der Russe redet (III, 49)
hafte Komponente in jedem revolutionären Akt leben- Rez. zu W.I. Lenin, Briefe an Maxim Gorki 1908-1913 (III,
51-53)
dig ist<< (li, 307), daß eine >>Lockerung des Ich durch RusSISCHE DEBATTE AUF DEUTSCH (IV, 591-595)
den Rausch<< erfolgt, was zugleich eine >>fruchtbare, RussiSCHE RoMANE (III, 159-162)
lebendige Erfahrung<< ist (297). >>Auch das Kollektivum RuSSISCHE SPIELSACHEN (IV, 623-625)
ist leibhaft<< (310)- diese Moskauer Lehre hat er nicht VEREIN DER FREUNDE DES NEUEN RussLAND - IN FRANK-
REICH (IV, 486-487)
vergessen, ebenso wie auch die in Moskau aktuelle WIE EIN RUSSISCHER THEATERERFOLG AUSSIEHT (IV, 561-
Frage: >>Aber gelingt es ihnen, diese Erfahrung von 563)
Freiheit mit der anderen revolutionären Erfahrung zu ZUR LAGE DER RUSSISCHEN FILMKUNST (Il, 747-751)
verschweißen, die wir doch anerkennen müssen, weil
wir sie hatten: mit dem Konstruktiven, Diktatorischen Literatur
der Revolution?<< (307) Endlich ist auch die >>dialekti- Arendt, Hannah (1971): Walter Benjamin. Bertolt Brecht,
München.
sche[] Optik<< da, >>die das Alltägliche als undurch-
Boym, Svetlana ( 1991): >> The obscenity of theory: Roland
dringlich, das Undurchdringliche als alltäglich er- Bartbes< de Paris< and Waller Benjamin's >Moscow
kennt<< (ebd.). So wird für Benjamin durch die ästhe- Diary<<<, in: The Yale Journal ofCriticism 4.2., 105-128.
358 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

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359

,,Einbahnstraße« der den ursprünglichen Privatdruck zum integrieren-


Von Gerard Raulet den Bestandteil eines Gesamtkonzepts machte. Rowohlt
versprach nicht nur die Publikation der noch so beti-
telten >>Plaquette für Freunde<< (wobei >>noch nicht
Entstehungsgeschichte feststeht, ob [sie] seinen geplanten Titel wird wahrma-
chen können<<, 3, 85), sondern auch die von URSPRUNG
Benjamins dünnes Bändchen (83 Seiten in der 1928 DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS und VOn GOETHES
im Ernst-Rowohlt-Verlag erschienenen Erstausgabe) WAHLVERWANDTSCHAFTEN. Benjamins Barock-Buch
erhielt zwischen 1924 und 1926 allmählich seine Form. wartete ja auf seine Publikation, seitdem es 1925 von
Es wurde zum ersten Mal in einem Brief vom Hans Cornelius als Habilitationsschrift zurückgewiesen
22.12.1924 erwähnt, in dem Benjamin Gerhard Scho- worden war. URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS
lem seine Absicht mitteilte, >>Aphorismen, Scherze, und ErNBAHNSTRASSE erschienen nicht nur gleichzeitig
Träume<< in einer >>Plakette für Freunde<< zu versam- im Januar 1928, sondern Benjamin betonte in verschie-
meln (2, 510). Eine >>Plaquette<< ist, wie Benjamin prä- denen brieflichen Äußerungen den engen Zusammen-
zisiert, >>in Frankreich ein schmales broschiertes Son- hang, den er zwischen diesen kaum vergleichbaren
derheftehen mit Gedichten oder ähnlichem - ein Produktionen, und darüber hinaus auch mit seinem
terminus technicus des Buchhandels<<. Gleichsam von Projekt der PARISER PASSAGEN sah. Letzteres bezeich-
Geburt an haftet somit diesem Publikationsvorhaben nete er als einen Abschluß des >>Produktionskreises
ein ungewöhnlicher Charakter an. Das Genre der Einbahnstraße<<, bei dem >>die profanen Motive der
Plaquette eigensinnig ausnutzend, steht es quer zu al- >Einbahnstraße< [... ] in einer höllischen Steigerung
len etablierten Gattungen. Benjamin hatte ursprüng- vorbeidefilieren [werden]<< (3, 322 f.). Im Hinblick auf
lich erwogen, sein Heftehen als Privatdruck zu veröf- ErNBAHNSTRASSE heißt es in einem weiteren Brief an
fentlichen, aber Kracauer erinnert in seiner Rezension Scholem, daß sich darin >>meine ältere und eine jüngere
am 15.7.1928 daran, daß mehrere Texte aus ErN- Physiognomie von mir<< findet ( 133).
BAHNSTRASSE im Feuilleton der Frankfurter Zeitung Daß das Schreibexperiment der ErNBAHNSTRASSE
abgedruckt wurden (Kracauer 1971, 122). Indem Ben- ein entscheidendes Moment in Benjamins Entwick-
jamin die Teile, aus welchen ErNBAHNSTRASSE sich lung gewesen ist, wird dadurch bestätigt, daß Benjamin
allmählich zusammensetzte, in Zeitungen publizierte, der in ErNBAHNSTRASSE inaugurierten >>kleinen Form<<
inaugurierte er eine Schreibpraxis, die bewußt die nachhaltig anhängen wird. Ein Brief vom Oktober
Scheidelinie zwischen Privatem und öffentlichem 1928 erwähnt >>Nachträge zur Einbahnstraße<< (421).
überschritt, als wollte er davon Zeugnis ablegen, daß Und nicht von ungefahr hat er, als er nach seiner Emi-
das Schreiben sich neuen Schaffensbedingungen stel- gration am 15.11.1933 in der Frankfurter Zeitung sie-
len muß. Schon im Juli 1925 veröffentlichte das Berli- ben kleinere Prosastücke unter dem Pseudonym Det-
ner Tageblatt die DREIZEHN THESEN WIDER SNOBISTEN lev Holz veröffentlichen konnte, sie »Denkbilder<<
-eine wichtige Stellungnahme eben zu den neuen Be- genannt. In seinem Nachlaß findet sich eine Nach-
dingungen dichterischen oder schriftstellerischen tragsliste zur ErNBAHNSTRASSE, in der sämtliche Texte
Schaffens. >>Gedichte oder ähnliches<<, >>Aphorismen, aufgelistet sind, die der Gattung der Denkbilder zuzu-
Scherze, Träume<<, schließlich Feuilleton - ErN- rechnen sind. Darauf fußt die Ausgabe der Kleinen
BAHNSTRASSE gehört allen diesen Gattungen an und Prosa (Bd. IV der Gesammelten Schriften). Vor allem
subvertiert sie alle. Das Geheimnis der >>kleinen Form<<, aber: die>> Nachtragsliste zur Einbahnstraße<< im Nach-
die Benjamin begründete, oder begründen half, muß laß enthält DER DESTRUKTIVE CHARAKTER.
deshalb im Mittelpunkt der Analyse stehen.
Darüber darf freilich die politische Brisanz des Un-
ternehmens nicht vergessen werden. Zu den Keimzel- Rezeptionsgeschichte
len von ErNBAHNSTRASSE gehört die >>Reise durch die
deutsche Inflation<<, die unter dem Titel KAISERPAN- Schon die frühen Rezensionen haben für die spätere
ORAMA in das Buch aufging. Schon im September Rezeptionsgeschichte die Weichen gestellt. Siegfried
1924, zu Scholems Abreise nach Palästina, hatte ihm Kracauer ist wohl der erste gewesen, der, zu einem
Benjamin ein unbetiteltes Skriptum geschenkt, das Zeitpunkt, da er in seiner Untersuchung Die Angestell-
eine >>beschreibende Analysis des deutschen Verfalls<< ten sich sehr ähnliche Fragen stellte, an der Wirksam-
enthielt (2, 483). keit solcher Schreibexperimente gezweifelt hat. Der
Im August oder September 1925 gelang es Benjamin, Sprengstoff der ErNBAHNSTRASSE habe, so kann man
mit dem Rowohlt-Verlag einen Vertrag zu schließen, sein Urteil zusammenfassen, eine schon unübersicht-
360 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

liehe Welt in Partikel gesprengt, die noch unübersicht- von EINBAHNSTRASSE mit der Allegorie überzustra-
licher seien. Ernst Bloch schloß sich dieser Kritik an pazieren. Diese Neigung kann sich auf die Rezensionen
(Bloch 1962). Trotz der phänomenologischen Inspira- der Zeitgenossen berufen, insbesondere aufKracauer,
tion seiner Kritik antizipiert Kracauer die Vorwürfe, der URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS und
die Adorno in einem Brief über das Passagen-Projekt EINBAHNSTRASSE zusammen rezensierte. Auch für
äußern wird. Bloch habe Benjamin die Wirklichkeit so wahrgenom-
>>Die im Barockbuch verwandte Methode der Dis- men und wiedergegeben, »als wäre die Welt Schrift,
soziierung unmittelbar erfahrener Einheiten muß, auf als beschriebe der Gang der Dinge, indem er einen
das Heute angewandt, einen wenn nicht revolutionä- Kreis etwa beschreibt oder was sonst, als schriebe er
ren, so doch sprengenden Sinn erlangen. In der Tat ist zugleich ein Buch aus lauter Emblemen<< (Bloch 1968,
die Sammlung reich an Detonationen. Hinter dem 17).
Schutthaufen kommen weniger reine Wesenheiten als Wenn also Benjamins EINBAHNSTRASSE in seiner
vielmehr kleine materielle Partikel zum Vorschein, die Entwicklung wirklich einen Kreuzweg darstellt, dann
aufWesenheiten weisen<< (Kracauer 1971, 123). müssen im folgenden diese verschiedenen Ansätze
Das 1988 erschienene Buch von JosefFürnkäs Sur- näher betrachtet und entworren werden.
realismus als Erkenntnis ist die erste Untersuchung
gewesen, die der seit ihrem Erscheinen vernachlässig-
ten EINBAHNSTRASSE Recht widerfahren ließ, indem Umschlagbild
es sie mit Benjamins kritischer Rezeption des Surrea-
lismus und der Entstehung des Passagen-Projekts in Der Titel EINBAHNSTRASSE beschwört die für Benja-
Verbindung brachte. Das Verdienst von Fürnkäs' Stu- mins ganzes Werk geradezu konstitutive Großstadt-
die besteht vor allem darin, auf die in diesem Zusam- problematik herauf. Ebenso dessen Umschlagbild: eine
menhang entwickelte Problematik des Erwachens, die Straßenansicht mit Schaufenstern, wandelnden oder
für die Konzeption des Passagenwerks konstitutiv ist, betrachtenden Menschen, verschiedenen Ladenschil-
den Blick zu richten, so daß sich das Denkbild als dern- »Zigarren<<, »Teppiche<< ... -, einem vor der La-
Keimzelle des im Spätwerk zentralen »dialektischen dentür auf seinen Herrn wartenden Hund rechts und
Bildes<< erweist. Damit hängt die politische Brisanz von vier aufgedruckten großen Verkehrsschildern »Ein-
Benjamins Unternehmen aufs engste zusammen, wie bahnstraße<<, deren Reihung sich im unteren linken
sehr auch Fürnkäs, nach Heinz Schlaffer, das Experi- Rand des Bildes verliert und der Perspektive der Stra-
ment EINBAHNSTRASSE als »historisch verunglückte ßenflucht gebieterisch widerspricht, indem sie merk-
Form<< (Schlaffer 1973, 153), als »>Weimarer Einbahn- würdigerweise in eine andere Richtung, die der Ein-
straße<<<, bewertet hat (Fürnkäs 1988, 9). bahnstraße, weisen. Kehrt man den Band um, so stei-
Zahlreiche Interpretationen haben darauf hingewie- gert sich noch der Chock, den das Bild bewirkt: Ein
sen, daß die »Berührungspunkte [von EINBAHN- massiver Doppeldecker der ABOG fährt mit voller
STRASSE] mit der zeitgenössischen deutschen Kunst mechanischer Kraft in die Einbahnstraße. Benjamin
weit eher in den Techniken des Films und der Photo- hat in »Diese Flächen sind zu vermieten<< einen Kom-
graphie zu suchen sind als in der Literatur selbst<< mentar zu diesem Chock-Effekt geliefert:
(Köhn 1989, 195). Wie die Texte zum Surrealismus hat »Der heute wesenhafteste, der merkantile Blick ins
EINBAHNSTRASSE die Abhandlung über DAs KuNST- Herz der Dinge heißt Reklame. Sie reißt den freien
WERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODU- Spielraum der Betrachtung nieder und rückt die Dinge
ZIERBARKElT vorbereitet. Mit ihren senkrechten Stri- so gefährlich nah uns vor die Stirn, wie aus dem Ki-
chen weist die Aufmachung der kleinen Broschüre norahmen ein Auto, riesig anwachsend, auf uns zu
offensichtliche Verwandtschaften mit den typographi- zittert<< (IV, 131 f.).
schen Neuerungen der 20er Jahre auf, etwa mit avant- Das Titelbild - von Sasha Stone konzipiert - hat
gardistischen Entwürfen wie Lizl6 Moholy-Nagys selber einen omnibushaften massiven allegorischen
Bauhausbuch Malerei Fotografie Film ( 1927). In dieser Charakter. Es will als Allegorie gelesen werden. Aber
Hinsicht muß daran erinnert werden, daß Benjamins wofür?
Bruch mit dem Surrealismus einem vorbehaltlosen Es liegt natürlich nahe, die Großstadtproblematik
Bekenntnis zur Photographie und zum Film entsprach: auf den Plan zu rufen. Vieles spricht dafür, in EIN-
Was der Surrealismus versprochen hatte, sah er in der BAHNSTRASSE ein »Werkstattbuch<<, die »Baustelle von
Photographie und im Film eingelöst. Benjamins Großstadt-Physiognomik<< zu sehen (Bolle
Es ist nun seit ihrer Wiederentdeckung eine Nei- 1994, 264). Eckhardt Köhn hat nachzuweisen versucht,
gung festzustellen, die Verwandtschaft der Kurztexte daß die kleine Prosaform mit der »Besonderheit einer
»Einbahnstraße« 361

urbanen Denkweise« einhergeht, und er läßt genealo- Haben wir es also nur mit Feuilletonismus, mit Es-
gisch die Form des kurzen Prosastücks auf Louis-Se- sayismus, oder gar mit billigem Journalismus zu tun?
bastien Merciers Feuilletons im Journal des Dames, d. h. Es dürfte kein Zufall sein, daß die meisten literarisch-
auf die 1781 als Buch erschienenen Tableaux de Paris philosophischen Produktionen, die mit Benjamins
zurückgehen (Köhn 1989, 7). Er erinnert aber auch an EINBAHNSTRASSE verwandt sind und insofern einen
den 1931 erschienenen Roman Käsebier erobert den Komplex und Kontext bilden - unter anderem Blochs
Kurfürstendamm von Gabriete Tergit, in dem der Ver- Spuren-, zuerst in Feuilletons erschienen. Wie kritisch
leger einer großen Berliner Zeitung den Schriftsteller auch immer pflichtet Bloch der Konsequenz bei, die
Lambeck fragt, ob er für sein Blatt regelmäßig schrei- Benjamin aus den neuen Medienverhältnissen zieht.
ben wolle. Obwohl er in diesem Angebot die Chance Er sieht sogar darin einen Spielraum für Subjektivi-
seiner bisher recht bescheidenen Karriere erblickt, tät.
antwortet Lambeck: >>Gestatten Sie, daß ich mir diesen »So etwas mochte nur heute wachsen, ohne selber
Vorschlag noch einmal gründlich überlege, ich weiß ein Nebenbei zu sein. Nur heute läßt sich innere, vor
gar nicht, ob die kleine Prosaform mir liegen wird.<< allem gegenständliche Schrulle wichtig nehmen, ohne
Benjamins Antwort ist hingegen gleich im ersten Text daß sie einsam, unmitteilbar, unfaßbar bleibt. Denn
der EINBAHNSTRASSE ZU lesen: Nur die »prompte Spra- weithin ist die große Form abgestanden; altbürgerliche
che« von »Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenar- Kultur mit Hoftheater und geschlossener Bildung
tikeln und Plakaten<< ist »dem Augenblick wirkend blüht nicht einmal epigonal<< (Bloch 1962, 368).
gewachsen<< (IV, 85). Fragte sich Lambeck, ob die Kürze und Bündigkeit
Daß im Umschlagbild die einander widersprechen- des Zeitungsstils ihm liegen würde, so hat offensicht-
den Perspektiven sich gegenseitig neutralisieren und lich eine ganze Generation von Intellektuellen sofort
die Figur eines Stillstands, der die Flucht nach vorne eingesehen, daß der Zeitungsstil das Medium war, in
erstarren läßt, sinnfällig suggerieren, ist nun ebenso- und mit welchem sie die etablierten Kommunikations-
wenig zu leugnen und regt den einigermaßen versier- formen und die kulturellen Kanons unterlaufen konn-
ten Benjamin-Leser an, dieses Bild als eine geschichts- ten. In einem kurzen Text über DIE ZEITUNG, der aus
philosophische Allegorie zu interpretieren. Man kennt der Zeit des Kraus-Aufsatzes stammt und später teil-
ja die berühmte Formel aus dem Konvolut N des Pas- weise in DER AUTOR ALS PRODUZENT und DAS KUNST-
sagenwerks: »Bild ist die Dialektik im Stillstand<< (V, WERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODU-
577). ZIERBARKElT aufging, hat Benjamin die Zeitung gera-
dezu als das Paradigma modernen Schreibens
bezeichnet (DIE ZEITUNG, II, 628). Durchaus im Sinn
Möglichkeiten der kleinen Form des »positiven Barbarentums<< (ERFAHRUNG UND AR-
MUT, 1933, II, 215) bekennt er sich vorbehaltlos zur
Die »kleine Form<< hat vornehmlich im Feuilleton ih- Entwicklung der Medien. Der Schluß der PRINZIPIEN
ren Ort. Das Handbuch des Feuilletons verweist dies- DER WÄLZER ODER DIE KUNST, DICKE BüCHER ZU MA-
bezüglich auf ein Zitat von Ernst Penzoldt: »Die kleine CHEN spekuliert über die Veränderungen, die schon
Form. Gemeint ist damit die bisher nicht leicht einzu- der Gebrauch der Schreibmaschine bewirkt:
ordnende, in der Presse meist unter dem Strich behei- »Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die
matete, höchst mannigfaltige Literaturgattung der Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die
kürzeren Prosastücke, als da sind: poetische Betrach- Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar
tungen der kleinen und großen Welt, liebenswerte in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich
Alltagserlebnisse, verliebte Spaziergänge, wunderliche wird man dann neue Systeme mit variablerer Schrift-
Begegnungen, Stimmungen, gemütvolle Plaudereien, gestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der
Glossen und dergleichen<< (Penzoldt 1951, 205). befehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand
Durchaus in diesem Sinn charakterisierte Siegfried setzen<< (IV, 105).
Kracauer die EINBAHNSTRASSE: Der Verfasser von EINBAHNSTRASSE gibt sich dem
»Die Betrachtungen sind im übrigen ungleichwertig. »Letternregen<< der Straße hin (PASSAGEN, V, 1048). Er
Neben Notizen, die vielleicht noch der Ausarbeitung verwirft, ja verabscheut die »halbe Ruhe, von schalen
harren, finden sich Äußerungen des bloßen Esprit und Geräuschen begleitet<< (IV, 106), jenes Mittelmaß, aus
hier undda-so in dem Abschnitt >Kaiserpanorama<, welchem der klassisch beherrschte Stil emporstieg, und
der die deutsche Inflation zu charakterisieren sucht vertritt das Paradoxon, daß das »Stimmengewirr der
- sind nicht ohne Willkür private Impressionen mo- Arbeit ebenso bedeutsam [werden kann], wie die ver-
numentalisiert<< (Kracauer 1971, 122). nehmliche Stille der Nacht<< (ebd.). Er verläßt die »ar-
362 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

chaische Stille<< (VEREIDIGTER BücHERREVISOR, 103 ), Eingriffs in Verbindung gebracht werden, mit welcher
in der das Trauerspielbuch noch angesiedelt war, um Benjamin im Denkbild PoLIKLINIK die einzige noch
>>seine Ansichten auf die Straße zu zerren<< (Sdun 1994, mögliche Verfahrensweise des Schriftstellers charakte-
169). risiert. Sie setzt sowohl eine Fähigkeit zur schnellen
Die typographische Gestaltung des Büchleins macht Reaktion (also die Fähigkeit, seine inneren »Alarmsi-
sich gleichsam die Aufmachung der Zeitung oder der gnale<< zu mobilisieren, wie es im Denkbild TECHNI-
Reklame zu eigen, indem breite senkrechte Striche am SCHE NoTHILFE heißt), als auch das operative Vermö-
Innenrand der Seiten die Vertikale betonen. Die Zei- gen zu »konstruieren<< voraus. Benjamin wird diese
tung, schreibt Benjamin hierzu in VEREIDIGTER Bü- Metapher seinem Kunstwerk-Aufsatz zugrundelegen,
CHERREVISOR, »wird mehr in der Senkrechten als in um den Unterschied zwischen der ehemaligen betrach-
der Horizontale gelesen, Film und Reklame drängen tenden Kultur und der neuen technischen Kultur zu
die Schrift vollends in die diktatorische Vertikale<< (IV, versinnbildlichen (I, 495 f.).
103). Er drückt sogar die Hoffnung aus, daß auf dem Zwischen der Großstadt und der »kurzen Prosa<<
»Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des (Arntzen 1983) bzw. der »kleinen Form<< (Köhn 1989)
Wortes<<, in der Zeitung, »seine Rettung sich vorberei- besteht ein Zusammenhang, der von der Kritik aus-
tet<< (DIE ZEITUNG, II, 629). In der Dissertation über führlich dokumentiert worden ist. Sein Büchlein hat
die romantische Kunstkritik hatte Benjamin sich vor- Benjamin der russischen Marxistin Asja Lacis gewid-
genommen, der Kritik zum Rang einer Gattung zu met, die er 1924 auf Capri kennenlernte - zumal mit
verhelfen - derart, daß der Kritiker als der moderne dem inscriptionsartigen Hinweis: »Diese Straße heißt
Schriftsteller erschien. EINBAHNSTRASSE treibt diese ASTA-LACIS-STRASSE nach der die sie als Ingenieur
Auffassung zum Äußersten, wie aus den dreizehn The- im Autor durchgebrochen hat<<. Die in der Erstausgabe
sen über DIE TECHNIK DES KRITIKERS hervorgeht. Der verwendete Kapitale ist dabei alles andere denn bedeu-
Kritiker »hat mit dem Deuter von vergangenen Kunst- tungslos: »Die Majuskel, eine Erfindung des Barock
epochen nichts zu tun<<, er nimmt sich ihrer vielmehr und laut Benjamin Ausdruck des >zerstückelnde[n],
so an, »wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet<< dissoziierende[n] Prinzip[s]< der allegorischen An-
(IV, 108). Die Tugend der Kritik besteht im Zerstören, schauung [I, 382], zeigt den Umschlag des Allegori-
im Ruinieren: »Nur wer vernichten kann, kann kriti- schen in der Moderne an<< (Spinnen 1991, 267). Schon
sieren<< (ebd.). Aus dieser Radikalisierung folgt, daß in EINBAHNSTRASSE, und nicht erst im Kunstwerk-
Benjamin die traditionelle Kunstkritik für überholt Aufsatz, stellt sich Benjamin dem Durchbruch der
und den neuen Erfahrungsbedingungen unangemes- Technik. Daß die »Einbahnstraße<< im Autor »durch-
sen hält. In dem Denkbild DIESE FLÄCHEN SIND zu gebrochen wurde<<, deutet zweifelsohne auch auf die
VERMIETEN bringt er deren Verfall mit dem Phänomen großstädtischen Prospekte von Haussmann hin, die
in Verbindung, das vom Umschlagbild veranschaulicht im Expose PARIS, DIE HAUPTSTADT DES XIX. JAHR-
wird - dem Verschwinden der Perspektive: HUNDERTs den Durchbruch der Moderne versinn-
»Narren, die den Verfall der Kritik beklagen. Denn bildlichen. Daß dieser Durchbruch selber Durchgang
deren Stunde ist längst abgelaufen. Kritik ist eine Sache ist, drückt freilich das Konzept des Exposes unmißver-
des rechten Abstands. Sie ist in einer Welt zu Hause, ständlich aus. Ob aber die »Einbahnstraße<< eine ver-
wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und gleichbar unabwendbare teleologische Entwicklung
einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war. zum revolutionären Umschwung (der immerhin ge-
Die Dinge sind indessen viel zu brennend der mensch- scheiterten Kommune) symbolisiert, muß als Frage
lichen Gesellschaft auf den Leib gerückt. [... ] Der heute dahingestellt gelassen werden, aber diese Frage liegt
wesenhafteste, der merkantile Blick ins Herz der Dinge ohne jeglichen Zweifel dem Schreibexperiment der
heißt Reklame<< (131). EINBAHNSTRASSE zugrunde.
Was damit beschrieben wird, sind jene Erlebnis- Nachdrücklich hat Benjamin in einem Brief an
und Apperzeptionsformen, die das letzte Kapitel des Scholem betont, daß EINBAHNSTRASSE »einen Pro-
Kunstwerkaufsatzes als taktil, ja als »haptisch<< charak- spekt von so jäher Tiefe - das Wort nicht metaphorisch
terisieren wird. Der Kritiker muß »Stratege im Litera- zu verstehen- erschließen soll wie etwa in Vicenza das
turkampf<< werden, und als ein solcher muß er »Schlag- berühmte Bühnenbild Palladios: Die Straße<< (3, 197).
worte prägen<<- freilich »ohne die Ideen zu verraten<< Die EINBAHNSTRASSE sei also, wenn auch nicht selbst
(108f.). als architektonischer Entwurf zu deuten, so doch vor
Mit der Aussage, nach der in der modernen Erfah- dem Hintergrund konkreter urbanistischer Prospekte
rungs- bzw. Erlebniswelt die Dinge uns zu nahe, ja »auf zu verstehen. Wie die Widmung an Asja Lascis verweist
den Leib<< rücken, muß die Metapher des chirurgischen diese Äußerung auf die Kontakte Benjamins mit dem
>>Ein ba h nstra ße « 363

Kreis der Konstruktivisten. Diese Kontakte entstanden malsverändert hat. Sie bezieht einen eigenen Standort
über die Freundschaft mit Florens Christian Rang, an zwischen Kracauers »Mosaik<<, das u.a. im Angestell-
dessen Publikation Deutsche Bauhütte Benjamin sich ten-Buch bestrebt ist, eine Diagnose der sozialen Ver-
1924 mit einer Zuschrift beteiligt hatte (Rang 1924). hältnisse zu konstruieren, und Blochs »Spurenlesen
In gänzlicherübereinstimmungmit Rangs Verkündi- kreuz und quer<<- wobei Bloch wohl derjenige ist, bei
gung der >>Weltstunde der Technik<< forderte Benja- dem das Spurenlesen und die Forderung einer Dialek-
mins ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT: ANGELUS tisierung der Montage am meisten auseinanderklaffen.
Novus 1922 >>Rationalität bis ans Ende<< (II, 244)- in Zwischen den Spuren und dem großangelegten systema-
anderen Worten >>positives Barbarentum<< (vgl. Raulet tischen Anspruch liegt eine Kluft, die sowohl Kracau-
2004). Ab 1923 gab in Berlin eine um Hans Richter, ers Mosaik als auch das Denk- und Schreibexperiment
Werner Graeff, Raoul Hausmann und Mies van der der EINBAHNSTRASSE zu überbrücken versucht haben.
Rohe gruppierte Künstlerinitiative die Zeitschrift G EINBAHNSTRASSE ist in dieser Hinsicht sicher mehr als
- Material zur elementaren Gestaltung heraus. In »Revueform in der Philosophie<<, mehr als »Strandgut-
Graeffs Nachlaß findet sich eine Namenliste, die Ben- Orgie<< (Bloch 1962, 371). Ihr eine systematische Vor-
jamin erwähnt (vgl. Winkler 1981). Hier, und das heißt eingenommenheit vorzuwerfen, wie Werner Milch es
schon Anfang der 20er Jahre- was für die Entstehung tat, ist aber umgekehrt sicher verfehlt (Milch 1928).
des Schreibexperiments der EINBAHNSTRASSE ent-
scheidend ist-, ist der Ursprung von Benjamins über-
legungen zum KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER Aphorismus, Allegorie, Denkbild
TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKElT ZU finden. Diese
Gruppe sprach sich eindeutig für die neuen künstleri- Das Geheimnis dieser Kornposition hat sich in der
schen Produktions- und Reproduktionsmittel aus: >>kleinen Form<< niedergeschlagen, und d.h. in einem
»Wir kennen und schätzen die photomechanische Re- literarischen Objekt, dessen Status nicht festgelegt ist.
produktion<<, erklärt W. Graeff in der Zeitschrift De Denn diese Kurztexte sind keine Maximen, sie sind
Stijl (Graeff 1922, 75), und Moholy-Nagy nimmt sich keine Erzählungen, auch keine Aphorismen - und
vor, die »bisher nur zu Reproduktionszwecken auge- Heinz Schlaffer, der als erster der »Gattung<< des Denk-
wandten Apparate<< produktiv zu verwenden (Moholy- bildes eine Studie gewidmet hat, in der er außer Ben-
Nagy 1922, 98). Zweifelsohne nährt sich Benjamins jamin Blochs Spuren, Adornos Minima moralia und
Ansatz in EINBAHNSTRAS SE, wie kritisch auch immer, Kracauers Angestellte heranzieht, kehrt mit Recht die
vom »Interesse von Architekten und Theoretikern wie Fragestellung um, wenn er fragt, »ob man den Minima
Mies van der Rohe, Hilberseimer, Kiesler oder Behne moralia den Titel >Denkbilder< zugestehen soll<<, ob-
an städtebaulichen Konzepten, die darauf zielten, die wohl »Adornos Minima Moralia dem Benjaminsehen
Konstruktion der Großstadt als Totalität im Sinne ei- Verfahren [folgen] (>Umtausch nicht gestattet<, >Eng-
nes Fortschritts der rationalen Lebensgestaltung vor- lish spoken<, >Nicht anklopfen<)« (Schlaffer 1973, 146,
anzutreiben<< (Köhn 1988, 54). Das Leben wird Kon- 142).
struktion: so lautet das erste Wort von EINBAHNSTRASSE Mehrmals hat Benjamin selbst EINBAHNSTRASSE als
-eine Formel, die Kracauer in seinem Angestellten- eine Sammlung von Aphorismen bezeichnet - so in
Buch sich zu eigen machen wird. seinem Brief an Schalem Ende 1926: »Es ist eine merk-
Hat Bloch von »surrealistischem Philosophieren<< würdige Organisation oder Konstruktion aus meinen
gesprochen, so ist ihm die Verwandtschaft der Benja- Aphorismen geworden« (3, 197). Dieser Katego-
minsehen Bildertechnik mit der Photomontage auch risierung widersprach er aber schon in einem Brief
nicht entgangen (Bloch 1962, 369). Die Montage, aus vom 29.5.1926 an denselben: »Ich arbeite[ ... ] nur noch
der Bloch in seinem Essayband Erbschaft dieser Zeit an dem Notizbuch, das ich nicht gern Aphorismen-
einen zugleich ästhetischen und soziologischen Begriff buch nenne. [... ] Der jüngste Titel- es hat schon viele
macht, hat Benjamin später zum Konstruktionsprinzip hinter sich- heißt: >Straße gesperrt!<<< (161). In seiner
des Passagen-Werks erklärt. Dort sollte versucht wer- Bewertung erklärt Adorno entschieden: »Walter Ben-
den, »ohne Anführungszeichen zu zitieren<< (V, 572). jamins >Einbahnstraße< [... ] ist nicht, wie man bei
Wie ernst man das Stichwort »Konstruktion<< auch flüchtiger übersieht meinen könnte, ein Aphorismen-
nehmen kann, bleibt freilich das Konstruktionsgesetz buch, sondern eine Sammlung von Denkbildern«
der EINBAHNSTRASSE nach wie vor ein Rätsel, obwohl (Adorno 1968, 55).
belegt ist, daß es sich nicht um eine bloße Buchbin- Nur in bestimmten Fällen hat man es tatsächlich mit
dersammlung handelt und daß Benjamin die Kompo- Aphorismen zu tun, etwa im Text KuRZWAREN, dessen
sition seines kleinen Bandes durchdacht und mehr- Titel ziemlich durchsichtig auf die Kurzprosa anspielt.
364 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Nur insofern haben die Denkbilder von ErN- eminenten Sinne des Wortes, das Buch der Bücher
BAHNSTRASSE Gemeinsamkeiten mit dem Aphorismus durch Luthers Bibelübersetzung Volksgut wurde. Nun
als philosophischer Form, als sie sich als geschlossene deutet alles darauf hin, daß das Buch in dieser über-
diskursive Monaden ausnehmen, die über sich selbst kommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht<< (IV,
hinausweisen (Krüger 1957). Das Büchlein verzeichnet 102).
Momentaufnahmen und Überlegungen - aber schon Gegen eine einseitig allegorische Deutung von Ben-
das >>und<< ist hier zu viel, denn dieüberlegungensind jamins ErNBAHNSTRASSE hat man allerdings von früh
selber nicht die inscriptio zu einer pictura, sie sind sel- an Vorbehalte angemeldet. Schon Heinz Schlaffer wies
ber Allegorien so wie die Momentaufnahmen. Sie deu- in seiner bahnbrechenden Studie zur Form des Denk-
ten diese nicht, sondern müßten selber gedeutet wer- bildes daraufhin, daß >>trotz der etymologischen und
den. H. Schlaffer hat dies beispielhaft am Denkbild strukturellen Verwandtschaft von Emblem und Denk-
FLORENZ BAPTISTERIUM dokumentiert: >>Florenz Bap- bild [... ] die Differenz bewußt bleiben [muß]: die neu-
tisterium.- Auf dem Portal die >Spes< Andrea Pisanos. ere Form sieht nicht Entsprechung, sondern Opposi-
Sie sitzt und hilflos erhebt sie die Arme nach einer tion zwischen Gedanke und Konkretum; und dieses
Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie Konkrete ist ihr nicht die Natur, sondern die Gesell-
geflügelt. Nichts ist wahrer<< (IV, 125 f.). Schlaffer kom- schaft<< (Schlaffer 1973, 143). Zwar lasse sich >>die em-
mentiert: >>Benjamins Kommentar zu seiner Beschrei- blematische >inscriptio< in den Überschriften der
bung wiederholt sie nur- >Nichts ist wahrer<<< (Schlaf- Denkbilder wiedererkennen<<, aber »notwendig muß
fer 1973, 143). sich im Denkbild die Erkenntnis von Gesellschaft ein-
Adorno hat auf den etymologischen Zusammen- stellen<< (142 f.). Im Hinblick auf das längste von allen
hang des Worts >>Denkbild<< mit >>Idee<< hingewiesen Texten, das KAISERPANORAMA bzw. die REISE DURCH
und somit die Bilder der EINBAHNSTRASSE mit der DIE DEUTSCHE INFLATION, läßt sich das nicht bezwei-
ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE des Trauerspiel- feln. Nicht nur wird in ihm die wirtschaftliche und
Buchs in Verbindung gebracht. Wie in dieser fasse soziale Lage geschildert, sondern Benjamin gewinnt
Benjamin die Idee als >>ein Ansichseiendes<< auf, das der kulturkritischen Darstellung der allgemein durch-
sich, wenn auch nur geistig, anschauen lasse (Adorno greifenden >>Zivilisation<< das quasi-ethnologische Bild
1968, 55). Folgt man diesem Hinweis, dann entspricht einer deutschen >>Normalität<< ab, die sich in diesen
die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der Denkbil- katastrophalen Verhältnissen bewährt und zugleich als
der dem monadischen Charakter der Ideen, ihrer >>dis- die Sackgasse des deutschen Sonderwegs erweist:
kontinuierlichen Vielheit<< (Kracauer 1928, 119). Das >>Die groteske Isolierung Deutschlands [... ], das ist
macht ihre Rätselhaftigkeit aus. Sie lassen sich nicht die Außenstehenden ganz unbegreifliche und den Ge-
unter Begriffe bringen, haben aber am >>Innersten der fangenen völlig unbewußte Gewalt, mit welcher die
Wirklichkeit<< teil (URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAU- Lebensumstände, das Elend und die Dummheit auf
ERSPIELS, I, 217). Kracauer hat dies in seiner Rezension diesem Schauplatz die Menschen den Gemeinschafts-
folgendermaßen erfaßt: >>Der Unterschied zwischen kräften untertan machen<< (IV, 97).
dem üblichen abstrakten Denken und dem Benjamins Doch es ist sicher zu kurz gegriffen, wenn man die
wäre also der: laugt jenes die konkrete Fülle der Ge- Diskrepanz zwischen pictura und inscriptio als Zeichen
genstände aus, so wühlt sich dieses ins Stoffdickicht einer Bekehrung zum historischen Materialismus ver-
ein, um die Dialektik der Wesenheiten zu entfalten<< standen wissen will, wie sehr Denkbilder wie FEUER-
(Kracauer 1971, 120). MELDER oder TANKSTELLE eine solche Interpretation
Eine entscheidende Stelle rechtfertigt die Interpre- auch zu bekräftigen scheinen. Einige Texte der ErN-
tationen, die einen Zusammenhang der Konzeption BAHNSTRASSE belegen zweifelsohne die Entscheidung
von ErNBAHNSTRASSE mit dem Barock behaupten - Benjamins, die politischen Motive seiner bisherigen
und nicht von ungefähr handelt es sich um die ersten Produktion nicht mehr, wie er sagt, >>altfränkisch zu
Sätze von VEREIDIGTER BücHERREVISOR, die eine Par- maskieren<<, sondern die >>kommunistischen Signale<<
allele ziehen zwischen dem Antihumanismus des Ba- in ihnen laut werden zu lassen (an G. Scholem,
rock und dem zeitgenössischen Untergang der Buch- 22.12.1924, 2, 51lf.). Allerdings beschränkt sich die
kultur: unmittelbare politische Botschaft von ErNBAHNSTRASSE
>>Die Zeit steht, wie in Kontrapost zur Renaissance auf wenige griffige Passagen und auf den abschließen-
schlechthin, so insbesondere im Gegensatz zur Situa- den und eher vagen Aufruf zur Revolution in ZuM
tion, in der die Buchdruckerkunst erfunden wurde. PLANETARIUM. Benjamins Entscheidung setzt sich
Mag es nämlich ein Zufall sein oder nicht, ihr Erschei- durch das Experimentieren mit einer neuen Schreib-
nen in Deutschland fällt in die Zeit, da das Buch im weise durch- >>Politik in allegorischen Bildern<< hat sie
»Einbahnstraße« 365

Bernd Witte genannt (Witte 1985, 65). Das >>Tun<< wird der Benjaminsehen Auffassung der Allegorie. Die
in TANKSTELLE nicht als politische Tat heraufbeschwo- Denkbilder widerstehen jedem Versuch einer verbind-
ren, sondern als literarische Wirksamkeit bestimmt. Iichen >>symbolischen« Auslegung. Sie treiben die Pa-
Mit vollem Recht behauptet immerhin Heinz Schlaf- radoxie des biblischen Gleichnisses zum Äußersten,
fer, daß hinter der Maske der Einzelbilder in Wahrheit insofern als ihnen die für das biblische Gleichnis kon-
die allgemeinen abstrakten Gesetze der Gesellschaft stitutive Botschaft des Reichs abhanden kommt und
agieren (Schlaffer 1973, 144) und der>> Riesenapparat sie deshalb mehr denn je der allegorischen Welt des
des gesellschaftlichen Lebens<< vorhanden ist (vgl. empirischen Daseins ausgeliefert sind. Ihre Anschau-
TANKSTELLE, IV, 85). So verhält es sich tatsächlich im lichkeit ist der Preis, den sie für die Säkularisierung zu
Passagen-Projekt, und man darf annehmen, daß dies zahlen haben. Der Zauber des Bilds ist um so unum-
um SO mehr für die EINBAHNSTRASSE gilt, die im Zei- gänglicher, als sich in ihm die Undurchschaubarkeit
chen der Aufforderung steht, aus dem Traum zu erwa- der entzauberten Welt kondensiert. Hat Siegfried Kra-
chen und >>im Raum des politischen Handeins den cauer recht, wenn er Benjamins Absicht in EIN-
hundertprozentigen Bildraum [zu] entdecken« (DER BAHNSTRASSE mit dem URSPRUNG DES DEUTSCHEN
SüRREALISMUS. DIE LETZTE MoMENTAUFNAHME DER TRAUERSPIELS in Zusammenhang bringt und als eine
EUROPÄISCHEN INTELLIGENZ, Il, 309). Die besondere theologische bezeichnet (Kracauer 1971, 119), dann
Wendung, die Benjamin der >>kritischen Theorie der müssen zweifelsohne umgekehrt die Folgen der Ent-
Gesellschaft« gegeben hat und die sich in der Dialektik zauberung auf das Verhältnis zwischen Denkbild und
der Aufklärung (die ja gleichsam als eine Gedenkschrift Allegorie angewendet werden. In der Emblematikfor-
Benjamin zu ehren konzipiert wurde) niederschlagen schung herrscht ein Konsens darüber, daß die Em-
wird, besteht darin, die höchsten Formen der Verge- bleme einen letzten Versuch darstellen, >>auf exegeti-
sellschaftung als Rückfall in die Gewalt der Natur zu sche Weise die Welt in ihrer Totalität spirituell zu be-
entlarven. Die vollendete Herrschaft über die Natur greifen« (Jöns 1966, 18).
erscheint als die Sackgasse der Herrschaft, als das Ende Der Bruch zwischen pictura und scriptura kenn-
ihrer teleologischen Einbahnstraße. Schlaffers und zeichnet insofern für Benjamin die >>höllische Steige-
Fürnkäs' Argument, nach dem die >>Dissonanz und rung« der konstitutiven Spannung, die der Allegorie
bestimmte Opposition zwischen Gedanke und kon- innewohnt. Mit EINBAHNSTRASSE verhält es sich wie
kretem Wirklichkeitsbruchstück« im Gegensatz zur mit allen Allegorien: die Prägnanz des bildliehen Aus-
barocken Allegorie >>nicht als Natur, sondern als Ge- drucks, der pictura, läßt sich nicht restlos in Interpre-
sellschaft, als zweite, verdinglichte Natur« (Fürnkäs tationen fassen. Benjamin hat dies nachdrücklich
1984, 257) wirkt, läßt sich geradezu umstülpen. Fürn- seinem eigenen Umgang mit Allegorien zugrundege-
käs unterläßt es übrigens nicht, auf die Aphorismen legt: >>Eine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen ist er
von ZENTRALPARK zu verweisen, in welchen Benjamin [der Gegenstand] von nun an ganz unfähig; an Bedeu-
selbst eine Parallele zieht zwischen Allegorie und tung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm ver-
Ware: leiht« (URSPRUNG, I, 359). Das ist die >>unvergleichliche
>>Die Entwertung der Dingwelt in der Allegorie wird Sprache des Totenkopfes« (GALANTERIEWAREN, IV,
innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überbo- 112). Der inscriptio haftet immer Einfalt an - von der
ten. [... ] Die gegenständliche Umwelt des Menschen subscriptio, die die >>Lehre« zieht, nicht zu sprechen.
nimmt immer rücksichtsloser den Ausdruck der Ware Dafür sind aber gerade die Allegorien da: damit keine
an. Gleichzeitig geht die Reklame daran, den Waren- inscriptio sie ganz erschöpfe. Albrecht Schöne ist zu-
charakter der Dinge zu überblenden. Der trügerischen zustimmen, wenn er die >>Priorität des Bildes« vor dem
Verklärung der Warenwelt widersetzt sich ihre Entstel- Text als Wesensmerkmal des Emblems ansieht. So muß
lung ins Allegorische. [... ] Die Embleme kommen als auch Benjamins Büchlein gelesen werden. Der allerer-
Waren wieder« (ZENTRALPARK, I, 660; 671; 681). ste Satz der Sammlung erklärt sogleich, daß >>die Ge-
Der Begriff>> Ware« skandiert in der Tat die Reihen- walt von Fakten« mehr wiegt als Überzeugungen. Die
folge der Prosastücke von EINBAHNST RASSE: die Chi- >>Doppeltheit von Gedanke und Anschauung«, die
nawaren, Papier- und Schreibwaren, Galanteriewaren, nach H. Schlaffer die Form des >>Denkbildes« charak-
Spielwaren etc. stellen gleichsam die Stationen eines terisiert, läßt sich nicht in die Eindeutigkeit eines per-
an die Glücksversprechungen der Warenwelt gebun- formativen Satzes auflösen. Das Bild der Einbahnstraße
denen Heilsweges dar. Was aber zweifelsohne die stellt jegliche Zweckmäßigkeit in Frage: Nicht nur ge-
Denkbilder von EINBAHNSTRASSE von der barocken rät die Straßenflucht in Konflikt mit den Straßenschil-
Allegorie unterscheidet, ist das Verschwinden jeder dern, sondern es ist das Bild, an dem sich der Leser der
theologischen Garantie. Gerade dies ist der Grundzug Rowohlt-Originalausgabe sofort stößt. Das Umschlag-
366 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

bild behauptet von vornherein seine Priorität. Beim Aber man wohnt auch keiner >>neuen Geschäftser-
>>Denkbild« liegt der Akzent eindeutig auf Bild. Es ist öffnung von Philosophie« bei (Bloch 1962, 371). Das
deshalb entscheidend, das Umschlagbild nicht zu über- Verhältnis der >>Theorie<< zum Konkreten der Darstel-
springen, sondern die Frage nach dem Verhältnis auf- lung ist nicht reflexiver Art. Man kann es allenfalls mit
zuwerfen, in dem es zu der Prosa des Büchleins steht. dem Gegensatz von >>Enthüllung<< und >>Entblößung<<
Das Umschlagbild kommuniziert freilich mit den umreißen, durch welchen Benjamin in URSPRUNG DES
Textbildern des Inhalts. Aber es verhält sich dabei nicht DEUTSCHEN TRAUERSPIELS die spezifische Erkenntnis-
einfach so, als lieferten letztere die inscriptio zu erste- art der barocken Bilderschrift charakterisiert hat:
rem. Im besten Fall vervielfältigt sich die inscriptio zu >>Nicht sowohl Enthüllung als geradezu Entblößung
inscriptiones, die selber die Form von (Text-) Bildern der sinnlichen Dinge ist die Funktion der barocken
annehmen. Die Dokumente zur Entstehungsge- Bilderschrift. DerEmblematikergibt nicht das Wesen
schichte, die die Herausgeber der Gesammelten Schrif- >hinter dem Bilde<. Als Schrift, als Unterschrift, wie
ten im kritischen Apparat zusammengestellt haben, diese in Emblemenbüchern innig mit dem Dargestell-
belegen dieses problematische Verhältnis. Erst in der ten zusammenhängt, zerrt er dessen Wesen vors Bild<<
Endphase der Redaktion wurden die Titel der einzel- (URSPRUNG, I, 360f.).
nen Texte festgelegt. Dies gerade entspricht dem Wesen Benjamin hat den besonderen Zugang des Denk-
der Allegorie, das Bloch in Experimentum mundi in die bilds zur >>Wahrheit<< in dem Text TECHNISCHE NoT-
Formel gefaßt hat: >>eadem sed aliter, aliter sed eadem<<. HILFE, dessen Bedeutung von Franz Hesse! in seiner
Deshalb ist ja auch der Charakterzug des Melancholi- Rezension im Tagebuch (1928) betont wurde, zu um-
kers, in dem Benjamin den modernen Erben des Alle- reißen versucht: >>Dieser Absatz[ ... ] ist ein Muster für
gorikers sieht, die Neigung zum >>ewigen Reisen<< (IV, die Geschliffenheit und Dichte des Werkes und macht
117). Die Allegorie setzt im Gegensatz zu jeglicher mit dem Verfahren bekannt, das den Aufriß der Ein-
Einbahnstraße Umwegigkeit voraus. In seiner Rezen- bahnstraße bestimmt<< (Hessel1928, 861). Es geht in
sion in Das Tagebuch zögert Hesse! nicht, den Straßen- TECHNISCHE NOTHILFE um das Verfahren, das dem
und Reklameschildern die Bedeutung von Zeugnissen Schriftsteller zur Verfügung steht, um die Wahrheit
bzw. Emblemata eines noch ausstehenden Sinns zu >>aufzufangen<<. Nicht nur ist die bloße Wiedergabe
verleihen: >>All die starren Schilder, die Oberzeugungen ärmer und schlechter, als die schlechteste Photogra-
müssen herhalten zu neuer zerschlagender Deutung<< phie je sein kann, sondern die >>nackte Wahrheit<< ent-
(Hessel1928, 362). Aber wie sehr sie sich auch nach zieht sich dem Objektiv der Schrift. Nur die Moment-
dem einen Sinn sehnt, vermag die Allegorie nicht mehr aufnahme kann sie auffangen, die die >>nackte Wahr-
dem Suchen ein Ende zu setzen und es, wie das Symbol heit<< überrascht, wenn diese plötzlich >>auffährt<<.
es zumindest verspricht, auf die Einheit eines Ur- Damit sind aber zwei Bedingungen verbunden: Einmal
sprungs zurückzuführen. Darin bestand bereits die muß die >>Wahrheit« aufgescheucht, ja aufgeschreckt
Paradoxie des Titels URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAU- werden. Dazu dienen die >>Alarmsignale, mit denen das
ERSPIELS. Auf alltägliche Kulturphänomene angewen- Innere des wahren Schriftstellers ausgestattet ist<< (IV,
det, muß sich der allegorische Blick auf eine Betrach- 138). Zum andern zeigt sich die aufgeschreckte Dame
tungsweise einlassen, die lediglich Relationen herstellt eben nicht nackt, sondern >>reißt das Erste Beste an
- aber bekanntlich hat ihm Adorno die Fähigkeit ab- sich, was im Tohuwabohu ihres Boudoirs [... ] ihr in
gesprochen, daraus >>Vermittlungen<< zu gewinnen. Die die Hände fällt<< (ebd.). Die Wahrheit kann das Subjekt
>>Einbahnstraße« verwandelt sich in einen Kreuzweg nur dann erfassen, wenn seine >>Alarmsignale« wach
vieler möglicher (Um-) Wege. Indem sie der perspek- sind, wenn es seine>> leibhafte Geistesgegenwart« mo-
tivischen Flucht in die Tiefe Einhalt gebietet, öffnet sie bilisiert (vgJ. MADAME ARIANE, ZWEITER HoF LINKS,
dem umherschweifenden Blick einen Experimentier- 142), und umgekehrt erscheint ihm die Wahrheit nie
raum. Ihr melancholisches Subjekt ist der destruktive in ihrer nackten Schlichtheit, sondern in Worte, Kate-
Charakter, von dem Benjamin in dem ihm gewidmeten gorien und sonstige Gewänder gekleidet, die sie vom
Denkbild sagt: >>Der destruktive Charakter sieht nichts Subjekt borgt. Es gibt keinen unmittelbaren Zugang
Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. zur Wahrheit, sondern immer nur Kommentar und
[... ]Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer Übersetzung; den Unterschied macht die Art und
am Kreuzweg<< (DER DESTRUKTIVE CHARAKTER, IV, Weise aus, wie das Subjekt damit umgeht: >>Kommen-
398). Freilich sind die Denkbilder, ebensowenig wie tar und übersetzungverhalten sich zum Text wie Stil
die Allegorie, bloße >>spielerische Bildertechnik<< (UR- und Mimesis zur Natur<< (92). In freier, aber durch-
SPRUNG, I, 339). Auf sie kann man eigentlich nicht sichtiger Anlehnung an Goethes Aufsatz über >>Einfa-
Blochs Formel >>Spielformen, leider« beziehen. che Nachahmung der Natur, Manier, Stil<< leitet Ben-
>>Einbahnstraße« 367

jamin mit diesem Aphorismus eine Reflexion ein, die man dem wirklich schreibenden Schriftsteller und dem
er in AcHTUNG STUFEN! fortsetzt. Dort präzisiert er, wirklich denkenden Denker nicht >>ankleben<< darf.
was es mit der Bekleidung eigentlich auf sich hat: >>Ar- Etwa, daß >>Sachlichkeit dem Parteigeist<< geopfert wer-
beit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musi- den müsse (DIE TECHNIK DES KRITIKERS IN DREIZEHN
kalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, THESEN, 108). Ganz zu Recht interpretiertAdorno die
auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der siege- Äußerungen, in welchen Benjamin >>den Begriff der
woben wird<< (102). Schematisch: die erste Stufe ist die Kritik verleugnet und ihm im Namen kollektiver Pra-
subjektive, die zweite die objektiv konstruktive, die xis, auf allzu vertrautem Fuß mit dem Zeitgeist sich
dritte Stufe stellt die Synthese dar - und diese ist die gebärdend, das kontrastiert, wovor es ihm selber am
Textur, durch welche die Straßentexte zu einer >>Text- meisten grauste<<, als »Identifikation mit dem Gegner<<
straße durch den immer wieder sich verdichtenden (Adorno 1968, 60), in anderen Worten als den Gestus
inneren Urwald<< (CHINAWAREN, 90) werden. des positiven Barbarentums.
Es liegt nahe, zwischen TECHNISCHENOTHILFE und
FEUERMELDER eine Verbindung herzustellen. Diese
scheint darin zu bestehen, daß der revolutionäre Akt, Surrealismus: Traum, Erwachen,
der auf dem Gebiet des Sozialen und der Politik den dialektisches Bild
Umschwung bewirken kann, demjenigen ähnelt, der
auf dem Gebiet des Schreibens die Wahrheit derart Die Denkbilder sind nach Adorno in einer Schicht
aufscheucht, daß sie sich, wie bekleidet auch immer, angesiedelt, wo »Geist, Bild und Sprache sich verbin-
>>jäh, wie mit einem Schlage<< zeigt. Im Klartext: wie den<< (56). Nicht von ungefähr enthält EIN-
das Verhältnis zur Wahrheit ist dasjenige zum revolu- BAHNSTRASSE, wie Adorno es betont, zahlreiche
tionären Umschwung nicht mehr das Ergebnis irgend- Traumprotokolle und Reflexionen über Träume.
einer Teleologie, sondern eine Überraschung: >>Der FRüHSTÜCKSSTUBE entwirft eine Art Methodik der
Augenblick ist das kaudinische Joch, unter dem sich Traumdeutung. Zwischen dem >>Bericht<< und der »Er-
das Schicksal ihm beugt<< (142). Wenn diese Interpre- innerung<<, zwischen mißlingender diskursiver Über-
tation einigermaßen zutrifft, dann wohnt der EIN- tragung und Versenkung, gibt es eine dritte Form des
BAHNSTRASSE bereits das messianische (und nicht es- Verhältnisses zum Traum, seine »Verbrennung<< in
chatologische) Modell (Raulet 1997,244 f.) der Thesen »konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet<<
ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE inne. So wie der (IV, 85). Setzt man sie mit der Theorie der Erinnerung
Schriftsteller bei der Wiedergabe der Wirklichkeit in Verbindung, die Benjamin in ÜBER EINIGE MoTIVE
Alarmsignale setzt, die zu signalisieren versuchen, daß BEI BAUDELAIRE entwickelt hat, dann erscheint diese
es sich mit ihr nicht so einfach verhält, wie die platte Form als mit dem »Eingedenken<< verwandt. Wichtig
realistische Aufnahme es glaubt, drückt die Theorie ist der Umstand, daß Benjamin sich hier über die wit-
auf den Knopf des sozialen und politischen Feuermel- zigen und geradezu surrealistischen Wortschöpfungen
ders. Aber zum einen kann sie nicht mehr tun, und und Etymologien (wie »Anaquivitzli<< in TIEFBAU-AR-
zum andern bleibt die Kongruenz zwischen dem BEITEN, 101) lustig macht und sich somit vom Ernst
Alarmsignal der Schreibweise und demjenigen der einer diskursiven und reflexiven Traumdeutung di-
Theorie eine bloße Analogie- ein Verhältnis, das selber stanziert. Damit weist er darauf hin, daß es sich mit
allegorischer Natur ist. Man kann und darf nicht dar- dem Verhältnis zwischen dem Traum und seiner Deu-
über hinausgehen, wenn man die Problematik der tung genauso verhält wie mit dem Abgrund zwischen
experimentellen neuen Schreibweise, und das heißt ihr den Überschriften und den Texten der Denkbilder,
Spannungsverhältnis zu den herrschenden Formen der zwischen dem Denkbild und seiner inscriptio - ein
philosophischen Interpretation einerseits, des poli- Verhältnis, das eine »surrealistische<< Miene an-
tisch-parteilich engagierten Schrifttums andererseits, nimmt.
nicht verfälschen will. Zwar bildet der Traum als solcher ein »Medium un-
EINBAHNSTRASSE enthält, wie verschlüsselt auch reglementierter Erfahrung<< und eine »Quelle von Er-
immer, den Schlüssel zu Benjamins Theorie des enga- kenntnis gegenüber der verkrusteten Oberfläche des
gierten Schreibens, wie sie sich Ende der 20er I Anfang Denkens<<, aber es gilt auch, aus dem Traum zu erwa-
der 30er Jahre ausgestaltet. Vor allem die viermal l3 chen, »den Bann des Mythos zu brechen<< und »man
Thesen des Textes ANKLEBEN VERBOTEN (IV, 106-109) verstünde [... ] >Einbahnstraße< ganz falsch, wenn man
fassen sie in Form von Paradoxa und Provokationen sie [... ] um ihrer Affinität zum Traumwillen als my-
zusammen. Der Titel drückt in diesem Fall sehr ein- thologisierend ansähe<< (Adorno 1968, 56; 58). Im
deutig aus, daß es hier um alle Positionen geht, die Zusammenhang der Entstehung der PASSAGEN aus der
368 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Auseinandersetzung mit dem Surrealismus drängt sich stellung in Miniatur: Wie die Passagen ist sie dem
zusammen mit dem >>dialektischen Bild<< der Begriff Schicksal der Weltausstellungen des ausgehenden 19.
der Illumination auf, die, so wie Benjamin sie versteht, Jh.s geweiht, sie ist ein Dokument einer bereits unter-
nämlich als >>profane Erleuchtung<< erst recht die Ver- gegangenen Epoche- eine Mythologie des 19. Jh.s
bindung herstellt zwischen (will man sich der gängigen unter anderen. Das drückt Benjamins ikonoklastischer
Schematisierung von Benjamins Entwicklung an- Umgang mit den Briefmarken aus, wenn er etwa sug-
schließen) der Theologie der ersten Phase und dem geriert, daß man sie auch zerschneiden und für Mon-
dialektischen Bild der letzten. Inwiefern aber die Denk- tagen sehr gut verwenden kann: >>Darum macht man
bilder von EINBAHNSTRASSE >>ein im Jetzt der Erkenn- aus Briefmarkenteilchen, die man zusammenklebt, so
barkeit aufblitzendes Bild<< (V, 591 f.) sind und einen wirksame Bilder<< (BRIEFMARKEN-HANDLUNG, IV,
>>Augenblick des Erwachens<< (608) darstellen, wie Ben- 135).
jamin ihn sich von den dialektischen Bildern erhofft, Auch muß eindeutig bestimmt werden, wer der ei-
ist alles andere denn ausgemacht, wiewohl Benjamin gentliche Betreuer und Sachwalter der Briefmarken ist.
im programmatischen ersten Denkbild TANKSTELLE Während das Kind der onirischen Seite angehört und
von der Kurzprosa sagt: >>Nur diese prompte Sprache die magische Aura der Briefmarken noch wahrnimmt,
zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen<< (IV, steht der erwachsene Sammler auf der Seite des Erwa-
85). Vielmehr muß ihnen in dieser Hinsicht ihr Ver- chens. Im Gegensatz zum Kind liest der Sammler nur
suchscharakterzugestanden werden. Die >>Denkbilder<< noch die Fetzen und den Abfall einer unwiederbring-
entsprechen bestenfalls der Transformation der Ap- lichen Welt auf. Das Pendant zur Briefmarkensamm-
perzeption, die im Mittelpunkt von Benjamins me- lung ist in STEUERBERATUNG die Sammlung von Geld-
dientheoretischer Ästhetik steht. scheinen, von jenen Dokumenten, in welchen >>der
Der BRIEFMARKEN-HANDLUNG von ErN- Kapitalismus sich naiv in seinem heiligen Ernst<< ge-
BAHNSTRASSE kommt in dieser Hinsicht eine beson- bärdet, die aber, einmal gesammelt, die >>Fassadenar-
dere Bedeutung zu, die Benjamin selbst in einem Brief chitektur der Hölle<< ( 139) darstellen. Benjamin be-
an Scholem vom 11.3.1928 hervorgehoben hat. Er ließ schließt die Briefmarken-Handlung mit der gleichsam
sie getrennt in der Frankfurter Zeitung vom 9.8.192 7 prophetischen Äußerung, daß >>die großen künstleri-
erscheinen und stellte sie gleichsam als Miniatur des schen Marken der Nachkriegszeit mit ihren vollen
geplanten Passagen-Werks vor. Sie knüpft an Aragons Farben[ ... ] das zwanzigste (Jahrhundert] nicht über-
Paysan de Paris an: Im Mittelpunkt der übersetzung leben« (137) werden. Es ist geschehen: immer mehr
aus dem Paysan de Paris, die Benjamin im Juni 1928 werden Briefmarken durch vorgedruckte Umschläge,
in der Literarischen Welt (8. und 15.6.1928) veröffent- durch Etiketten, die mit Briefmarken nur noch den
lichte, stehen Aragons Impressionen von einer Brief- Namen gemein haben, oder gar durch aufgedruckte
markenhandlung. Wie Aragon erscheinen Benjamin Stempel ersetzt. Am Beispiel der Briefmarken läßt sich
die Briefmarken als die >>surrealistische Miene der der Zerfall der Aura exemplarisch dokumentieren.
Dinge im Jetzt<< (PASSAGEN, V, 1034). Der Unterschied >>Materialistisch<< aufgefaßt, entspricht dieser Zerfall
zwischen Aragons und Benjamins Ansatz ist allerdings der Entwicklung der Kommunikationsmittel. Die
dieser: Aragon faßt die Briefmarken als >>Gefährten der Briefmarken sind ja Produkte der Entwicklung des
Kindheit<< - >>nos compagnons d'enfance<< (Aragon Handels und des Verkehrs. So wie sie der Verkürzung
1972, 90)- auf, während hingegen Benjamin sie zu- der Kommunikation entsprachen, müssen sie nun
gleich und vor allem als >>geschändete Markenkörper<< auch ihrer Beschleunigung zum Opfer fallen. Das hat
und als Leichen auffaßt. Auf der einen Seite erweisen Benjamin begriffen.
sich die Briefmarken sowohl für das Kind als auch Deshalb bildet der Traum in ErNBAHNSTRASSE einen
unter der vergrößernden Lupe des Sammlers als die problematischen Knoten. Neben den eigentlichen
ganze Welt im Kleinformat, als Miniatur. Auf der an- Träumen, von denen Benjamin berichtet und über
deren Seite ist den Briefmarken die Fluchtlinie des deren Verhältnis zum Wachzustand er nachdenkt, er-
Fortschritts, der sie zum Abfall der Geschichte be- scheint ja auch die Welt der Straße als der Ort der
stimmt, eingeschrieben. Sie sind weder von der Zeit >>Träume des Kollektivs<<. Dieser Dimension kollektiver
ihrer Erscheinung noch von dem Ort ihrer Ausstellung Phantasmagorien gilt Benjamins >>besonderer Mate-
zu trennen. Dieser Ort ist die Passage de /'Opera, die rialismus<<, der, wie Kracauer schreibt, >>bewußt das
Benjamin nicht mehr gekannt hat. Er kam zwei Jahre Ende der individualistischen, naiv-bürgerlichen Epo-
zu spät- die 1822/23 erbaute Passage de /'Opera wurde che<< anzeigt (Kracauer 1928, 122 f.). Sieht man in ErN-
Anfang 1925 abgerissen. Nicht von ungefähr bezeich- BAHNSTRASSE den destruktiven Charakter am Werk,
net er die BRIEFMARKEN-HANDLUNG als eine Weitaus- dann muß einleuchten, daß ein Text wie HocHHERR-
»Einbahnstraße« 369

SCHAFTUCH MÖBLIERTE ZEHNZIMMERWOHNUNg, in Die Selbstauslöschuno des Flaneurs


dem das bürgerliche Interieur als >>idealer<< Tatort eines
Mords dargestellt wird, tatsächlich >>die Liquidation Das Subjekt, das an den Schildern, Plakaten, Reklame-
der herkömmlichen bürgerlichen Charaktere, ihrer wänden, Hausfassaden und Schaufenstern der EIN-
Etuis, ihrer Interieurs« versinnbildlicht (Fürnkäs 1984, BAHNSTRASSE vorbeiwandert bzw. sich auf der aus
259). diesem urbanen Textmaterial gebauten Textstraße mit
Die textlichen Experimente des Surrealismus und ihren fetten Seitenzahlen und überschriften, die an
insbesondere Aragons Paysan de Paris haben in EIN- Hausnummern und Ladenschilder erinnern, bewegt,
BAHNSTRASSE Eingang gefunden. Benjamin hat sich kann nicht mehr eigentlich mit der Figur des Flaneurs
offensichtlich dessen Technik des Zitierens und Ein- identifiziert werden, wie sie zuvor in der urbanen Li-
montierens von Schriftstücken und Momentaufnah- teratur sich ausnahm. Im Vergleich etwa mit Hessels
men aus dem großstädtischen Alltag zu eigen gemacht. Spazieren in Berlin fehlt in EINBAHNSTRASSE ein ähn-
Doch das Schreibexperiment der EINBAHNSTRASSE liches flanierendes Subjekt (Sdun 1994, 150). Auch
läßt sich auf die Experimente des Surrealismus, von Bloch hatte das schon vermerkt: >>Ja, gegenständlich
denen Benjamin sich in jenen Jahren gerade distan- geht überhaupt niemand recht auf der Straße, ihre
zierte, nicht reduzieren. In dem Denkbild VEREIDIG- Dinge scheinen mit sich allein« (Bloch 1928, 369).
TER BücHERREVISOR ist es nicht mehr der Surrealis- Wenn es nicht ganz aufgehoben wird - der Adorno-
mus, der Benjamin als Vorbild dient, sondern schen Formel von der totalen Auslöschung des Ichs
Mallarme, der >>Zum ersten Male im >Coup de des< die gemäß -, dann entspricht das Subjekt der EIN-
graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild BAHNSTRASSE bestenfalls dem dialektischen Typ des
verarbeitet. [... ] Die Schrift, die im gedruckten Buche modernen Flaneurs, den Benjamin in den Aufzeich-
ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein nungen des Passagen-Komplexes entwirft. Der Flaneur
führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße ist der Außenseiter, der zugleich von der Großstadt
hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des hervorgebracht wird und ihr fremd gegenübersteht:
wirtschaftlichen Chaos unterstellt. Das ist der strenge eine dialektische Figur, die durchaus Simmels Dia-
Schulgang ihrerneuen Form« (IV, 102f.). Ganz ein- gnose des gleichzeitigen Durchbruchs der objektiv-
deutig heißt es an dieser Stelle weiter: materialen Kultur und des Psychologismus verkörpert
>>Was danach [nach Mallarme] von Dadaisten an und sie auch transzendieren kann, wenn es ihm gelingt,
Schriftversuchen unternommen wurde, ging zwar seine Nostalgie in Soziologie zu verwandeln. Bezeich-
nicht vom Konstruktiven, sondern den exakt reagie- net Hessel sein Spazieren in Berlin (1929) als >>Heimat-
renden Nerven der Literaten aus und war darum weit kunde«, so versteht der Benjaminsehe Flaneur diese
weniger bestandhaft als Mallarmes Versuch, der aus Heimatkunde gewiß nicht nostalgisch. Wo nach Sirn-
dem Innern seines Stils erwuchs« (ebd.). meis und Kracauers Diagnose die Einheit von Zeichen
Angestrebt ist eine »Bilderschrift«, von der sich Ben- und Bezeichnetem im Prozeß der >>Entweltlichung«
jamin in dieser Reflexion sogar erhofft, daß sie die zerfallen ist, verübt der Flaneur einen soziologischen
Autorität der Poeten »im Leben der Völker erneuern« Gewaltstreich, und selbst wenn es dem Interpreten
( 104) wird. Allerdings wird die neue Form >>männlich« schwerfallt, müssen die scheinbar subjektivsten Stadt-
sein müssen, und vielleicht kann man das Denkbild bilder des Flaneurs als soziologische Expeditionen
FüR MXNNER auch als eine metapoetische Äußerung gewertet werden. Das meint auch Kracauers Bestim-
interpretieren: >>überzeugen ist unfruchtbar«. Sie wird mung des neuen soziologischen Stils als >>soziologische
mit allen Formen brechen müssen, die auf Oberzeu- Literatur«. Sie will ausdrücklich der Zerstreuung ent-
gung angelegt sind (vgl. TANKSTELLE, 85), und das gegenarbeiten.
heißt sowohl mit der Belletristik, die einen >>narrativen Ob man aber den Flaneur in der EINBAHNSTRASSE
Pakt« zwischen Autor und Leser voraussetzt, als auch mit Kracauers Konzeption, die auf Aufklärung aus ist,
mit den ideologiebeladenen Demonstrationen. Die in Verbindung bringen kann, ist äußerst fraglich. Sehr
Warnung vor dem>> über-zeugen« kann nämlich auch zu Unrecht hat Kracauer ihm vorgeworfen, nur am
als Absage an eine überschwengliche Produktion, also Vergangeneo interessiert zu sein, weil er - und das
als programmatisches Plädoyer für die Kurzprosa ge- bleibt sein Verdienst- als erster auf den Zusammen-
deutet werden. hang zwischen EINBAHNSTRASSE und dem URSPRUNG
DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS eingegangen ist. Viel-
mehr gleicht für Benjamin der Flaneur dem Groß-
stadtmenschen, der auf den Gehsteigen der Metropole
der Kollision mit der auf ihn zuströmenden Masse
370 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

ausweichen muß. Um so wacher sind seine inneren >>zerstreuten Kritiker<< charakterisieren wird, so kon-
Warnsignale. Die Geistesgegenwart des Benjaminsehen trastiert damit eine ganze Reihe von Texten, die der
Flaneurs entspringt aus einer gelungenen Chockab- Erinnerung und der Erfahrung gewidmet sind, insbe-
wehr. Wie alle Phantasmagorien und phantasmagori- sondere diejenigen, die die Erfahrungswelt der Kind-
schen Typen ist der Flaneur ein übergangsphänomen: heit heraufbeschwören (BAuSTELLE, VERGRÖSSERUN-
er steht auf der Schwelle zwischen zwei Welten, die der GEN: LESENDES KIND, Zu SPÄT GEKOMMENES KIND,
Kunstwerk-Aufsatz als die Welt der optischen Erfah- NASCHENDES KIND, KARUSSELLFAHRENDES KIND, UN-
rung einerseits und die Welt des haptischen Erlebnis- ORDENTLICHES KIND, VERSTECKTES KIND). Im Kind,
ses andererseits bezeichnen wird. Er zögert zwischen dem Helden der VERGRÖSSERUNGEN, wird aber sicher
ihnen, schafft es aber zum Teil noch, sie auf phantas- nicht die Rückkehr des Flaneurs gefeiert. Vielmehr
magorische Weise zu vereinen (>>Dialektik im Still- verhält sich die Figur des Kindes zu der des modernen
stand<<). Die Spannung, die er phantasmagorisch Flaneurs wie das Naive zum Sentimentalischen, und
»löst<<, zeigt den Punkt an, wo entschieden werden zwar zu den Formen, die das Sentimentalische über-
müßte, was Erlebnis bleiben muß und was wieder Er- haupt noch annehmen kann. In EINBAHNSTRASSE
fahrung werden könnte. Wiewohl er vortäuscht, sich spiegelt das Nebeneinander von privaten, literarischen,
in einer Kneipe oder in einem Cafe niederzulassen und physischen und gesellschaftlichen Erfahrungen die
den Augenblick zu nutzen, um der Wahrheit nachzu- Spannung zwischen Erfahrung und Erlebnis, zwischen
jagen, ist eben Jagd angesagt: Es gilt (und das ist im der Erinnerung und der >>Verfallenheit ans Objekt bis
Inneren des modernen Schriftstellers selbst ein Zei- zur buchstäblichen Auslöschung des Selbst<< (Adorno
chen des Rückfalls in Naturverhältnisse), der wilden 1968, 61) wider, aus der sich die neue Subjektivität
Wahrheit Fallen zu legen und alle Alarmsignale ins konstituiert.
Werk zu setzen. Geistesgegenwart, >>genau zu merken, Vielleicht deshalb sind die Texte der EINBAHNSTRASSE
was in der Sekunde sich vollzieht<< (MADAME ARIANE auf ihre wie immer paradoxe Weise ausgesprochen
ZWEITER HoF LINKS, IV, 141), dies ist das Verhalten auratisch. Trotz oder gerade wegen der >>Anstößigkeit<<
und das Vermögen, das er aufzubringen hat. Ob er ihrer Gestaltung sind sie von Benjamin als Kollision
gegen die Stöße der Außenwelt die eigene Innenwelt zwischen dem >>Chok<< der Straße und der Aura der
noch behaupten kann, hängt schließlich davon ab, ob Bilder konzipiert worden: >>Was macht zuletzt Reklame
er überhaupt noch über eine derartige >>Innenwelt<< der Kritik so überlegen? Nicht was die rote elektrische
verfügt bzw. inwiefern und in welcher Form er sie noch Laufschrift sagt- die Feuerlache, die auf dem Asphalt
retten kann. Geistesgegenwart heißt ja >>im Augenblick sie spiegelt<< (IV, 132). Benjamin weigert sich, die Span-
der Gefahr sich gehen lassen<< (VI, 207), das heißt sich nung zwischen der >>tragischen Konzision<< der Nähe
>>positiv-barbarisch<< einer nicht mehr abwendbaren (ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE, I, 650) und
Entwicklung stellen. Der Benjaminsehe Flaneur ist der der »nützlichen Illusion<< der Ferne (vgl. insb. FuND-
Wegbereiter des >>zerstreuten Kritikers<<: er ist >>auf- BÜRo, IV, 120) aufzulösen. Diese Haltung charakteri-
merksam abgelenkt<<. siert die besondere Auffassung der Liebe beim Melan-
Diese wie auch immer zerstreute, aber stets wache choliker, der keinen Augenblick an ihre Erfüllung in
Geistesgegenwart scheint Adornos Spruch von der einer >>ewigen Heimat<< denkt. Nähe und Ferne können
>>Verfallenheit ans Objekt, bis zur buchstäblichen sich nicht decken (vgl. ALTE LANDKARTE, IV, 117). Dies
Selbstauslöschung des Selbst<< zu widersprechen. Bloch macht seine besondere Art des >>Tiefsinns<< aus. Die
äußerte sich zum Ich der Denkbilder nuancierter: >>Ihr Denkbilder der EINBAHNSTRASSE sind sicher auf der
Ich ist sehr nahe, aber wechselnd, ja, es sind recht viele Suche nach einem >>frühesten Bild<<, aber sie sind sich
Iche. [... ] Immer neue Ichs, sagten wir, sind hier zu auch bewußt, daß kein direkter Weg, keine geradlinige
sehen und löschen sich aus<<. Zugleich hat aber Bloch Straßenflucht zu ihm führt. Ist für Benjamin die Straße
am entschiedensten darauf hingewiesen, daß diese eine Schrift, so widerspricht diese der Utopie der Auf-
Vervielfältigung der Iche die Verflüchtigung des groß- sätze über die Sprache: sie dokumentiert die zum >>blo-
geschriebenen philosophischen Subjekts signalisiert: ßen Zeichen<< degenerierte Sprachwirklichkeit. Die
>>Nun zieht, mit dem bürgerlichen Vernunftprinzip a Denkbilder versuchen deshalb das Auratische, die Idee,
priori, auch das System ab, das seinen idealistischen das Urbild, den entstellten allegorischen Ausdrucks-
Zusammenhang einzig aus diesem Vernunftprinzip formen der modernen Gegenwart, unter anderem den
bestritten und entwickelt hatte<< (Bloch 1928, 368 f.). Reklameschildern, abzuringen- die Aura des Nicht-
Sind also die Denkbilder von EINBAHNSTRASSE das Auratischen aufscheinen zu lassen. Dieses Programm
schriftstellerische Laboratorium jener (post-) moder- hat Benjamin gleich im ersten Denkbild, TANKSTELLE,
nen Figur, die Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz als als seine Strategie im Literaturkampf erklärt.
371

Schluß beschreibt: die Warenwelt sieht >>wie die Fassade eines


Phantasiebordells<< aus, die Stadt ist >>wie aus Schub-
Die Denkbilder experimentieren mit dem etablierten laden<< gestellt (IV, 129). Nun ist ein Stereoskop gerade
Verhältnis von Raum und Zeit. Der kurze Text über das Gegenteil von einem Kaleidoskop: es ist im eigent-
DIE ZEITUNG, dessen Obereinstimmung mit der Be- lichen Sinn ein optisches Dispositiv, das den Augen
stimmung des schriftstellerischen Engagements in zwei Bilder desselben Gegenstandes so darbietet, daß
TANKSTELLE oben hervorgehoben wurde, stand ganz der Beschauer den Eindruck eines dreidimensionalen
im Zeichen der These: »Das Schrifttum [gewinnt] an Bildes erhält. Das Stereoskop fügt also der flachen
Breite, was es an Tiefe verliert<< (DIE ZEITUNG, II, 629). Räumlichkeit die Dimension der Tiefe hinzu. Insofern
Die stillgestellte Bewegung, die der Widerspruch des bringt es die beiden Dimensionen der Ausdehnung
Umschlagbilds zum Ausdruck bringt, charakterisiert und der Tiefe zusammen, wie man es vom Syrnbolon
den ganzen Band. Momentaufnahmen werden ver- erwartet, das zwei Dimensionen eines Objektes wieder
zeichnet, die sich jeglichem narrativen Zwang verwei- in Verbindung bringt und dadurch dessen tieferen Sinn
gern. So wie das Umschlagbild von Sasha Stone auf der enthüllt. Zu Unrecht entscheidet Bloch eindeutig zwi-
Vorderseite Schaufenster zeigt, kann man tatsächlich schen Kaleidoskop und Stereoskop: für ihn ist in EIN-
die einzelnen Abschnitte mit Schaufenstern verglei- BAHNSTRASSE die Tiefe gleichsam ausgehöhlt, die
chen: PAPIER- UND SCHREIBWAREN, HANDSCHUHE, Revueform ist eine >>Reise durch die hohlgehende
BüROBEDARF, GALANTERIEWAREN, ANTIQUITÄTEN, Zeit<<, das >>Kaleidoskop<< exploriert >>die Hohlräume
UHREN UND GOLDWAREN, SPIELWAREN, BRIEFMAR- unserer Zeit<< (Bloch 1928, 369; 371). Bloch will ja par-
KENHANDLUNG, KURZWAREN und dergleichen mehr. tout sein Schema der Dialektisierung des Zerfalls und
Doch es wäre falsch zu behaupten, daß die >>Botschaft<< der Zerstreuung (>>Montage unmittelbar<< versus
der Sammlung sich darauf beschränkt, ausgestellte >>Montage höherer Ordnung<< und >>Montage mittel-
Waren vorbeidefilieren zu lassen (wie sehr auch schon bar<< -Bloch 1962) auch auf Benjamins »surrealistische
darin eine kritische Geste bestehen mag). Ebensowenig Revue<< anwenden: Während das >>surrealistische Phi-
kann unterstellt werden, daß sie dagegen eine (etwa losophieren[ ... ] musterhaft [ist] als Schliff und Mon-
geschichtsphilosophische) These geltend machen tage von Bruchstücken, die aber recht pluralistisch und
würde. Beides trifft zu, aber die Spannung zwischen unbezogen solche bleiben<<, erscheinen dem dialekti-
räumlicher Darlegung und historischer Deutung, zwi- schen Blick die Bruchstücke >>als dialektische Experi-
sehen Flächen, die zu besetzen sind, und Prospekt, wie ment-Figuren des Prozesses<<. So gesehen haben die
sie das Denkbild DIESE FLÄCHEN SIND ZU VERMIETEN Hohlräume selber noch eine Tiefe, und sogar eine, die
im Hinblick auf das Schreibexperiment selbst aus- >>nicht im selber Leeren<< liegt, >>sondern im Reich kon-
drückt, ist nicht aufzulösen. Wie man weiß, bildet kreter Intention, materialer Tendenz, als einer keines-
gerade die Ausstellung (bis hin zu ihrer gesteigerten wegs unbestimmten<< (Bloch 1928, 371). Das Manko
Form der »Weltausstellung<<) eines der Phänomene, an von Bloch suggestiver Deutung besteht darin, daß sie
denen Benjamin im Passagen-Werk und den dazuge- durchgehend ein »surrealistisches Philosophieren<<
hörenden Entwürfen und Exposes jene Spannung unterstellt, ohne sich auf Benjamins eigene Dialekti-
versinnbildlicht, die die Moderne charakterisiert und sierung des Surrealismus einzulassen. Verwertet man
das >>dialektische Bild<< ausmacht. sie mit der gebührenden kritischen Distanz, dann be-
In der Umgangssprache spricht man gern, um sol- stätigt sie zumindest die Hypothese, daß Benjamin
che Bilderreihen zu bezeichnen, von einem Kaleido- seine Sammlung als Exemplifizierung der Spannung
skop. Eine Äußerung zum Kaleidoskop konnte unter zwischen Räumlichkeit und >>Tiefe<< bewußt konzipiert
Benjamins Feder auch nicht ausbleiben: er beschreibt hat (man verstehe die Tiefe als Straßenflucht-mit
es als ein Dispositiv, >>dem bei jeder Drehung alles Ge- allen Implikationen, die dieses urbanistische Motiv in
ordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt<< (ZEN- Benjamins Auffassung der modernen Großstadt nach
TRALPARK, I, 660). Es liegt ja nahe, Benjamins Reihe sich zieht -, als die Tiefe einer ldeenwelt, wie dies in
von Denkbildern mit Walter Ruttmanns Filmkonzep- der ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE des Trauer-
tion in Zusammenhang zu setzen, zumal da Sasha spielbuchs der Fall ist, oder noch als historische Flucht-
Stone, der für Benjamins >>Plakette<< das Umschlagbild perspektive - wie sie das Motiv der Straßenflucht ja
konzipierte, für Ruttmanns Berlin-Film Fotomontagen impliziert: man denke an Haussmanns Perspektiven
entwarf. Benjamin hat eines seiner Denkbilder aus- als Umsetzung einer Teleologie der Herrschaft). In
drücklich STEREOSKOP überschrieben. Es ist dasjenige, einem Brief an Scholem vom 18.9.1926 sprach Benja-
das im rätselhaft betitelten Denkbild SPIELWAREN den min ja von der EINBAHNSTRASSE als von einer Straße,
täglichen Markt in Riga und die benachbarten Läden >>die einen Prospekt von so jäher Tiefe- das Wort nicht
372 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

metaphorisch zu verstehen!- erschließen soll, wie etwa die Selbstauflösung seines Ich das äußerste Ende der
in Vicenza das berühmte Bühnenbild Palladios: Die Verdinglichung aktivierte. Umsonst entäußerte er sich
Straße<< (3, 197). aller Menschlichkeit. Und umsonst haben Adorno und
Die Möglichkeit, daß die Konstruktion sich in Illu- Horkheimer Benjamin vor dieser aussichtslosen poli-
sion auflöst, hat Benjamin zugleich in das konstrukti- tique du pire gewarnt. Entgegenzusetzen hatten sie
vistische Konzept seiner EINBAHNSTRASSE eingeschrie- allerdings, wenn auch erst nachträglich, eine nicht
ben. >>Wie in Palladios Meisterwerk der illusionisti- minder radikale Diagnose des Zerfalls des Subjekts der
schen Malerei die Straße erst durch die dargestellte Geschichte und des Subjekts überhaupt, die sie 1944
Tiefe einer in der unendlichen Perspektive mit dem zur Dialektik der Aufklärung zuspitzten.
Horizont verschmelzenden Straße dem Betrachter den Nur eines ließ Benjamins Bilanz noch zu: positives
Eindruck vermittelt, eine reale Straße vor Augen zu Barbarentum, die »Identifikation mit dem Angreifer<<,
haben, soll auch bei Benjamin im Zusammenhang mit wie Adorno sagt (Adorno 1968, 60). Der Gegenbeweis,
der Konstruktion der Texte der Begriff der Straße Adornos zwischen 1944 und 1947 abgefaßte Minima
wörtlich genommen werden<< (Köhn 1989, 200). Der moralia, zeigt eben »neben deutlichen Reminiszenzen
Begriff oder die Metapher der Straße ist zwar wörtlich klarer noch den historischen Abstand zu den früheren
zu nehmen. Aber wohin führt er (oder sie)? Hat nicht Denkbildern Benjamins an: Resignative, gleichwohl
Benjamin mit diesem Hinweis sein eigenes Unterneh- gesprächige >Üherzeugungen< sind an die Stelle der
men als Phantasmagorie problematisiert? stumpf gewordenen >Fakten< und Erfahrungen getre-
Durchbruch oder Einbahnstraße? Diese Alternative ten<< (Fürnkäs 1984, 266f.). Deshalb sind Adornos
erforderte jedenfalls eine Schreibweise, die sich vom Minima moralia gerade Aphorismen und nicht »Denk-
Fluß der Erzählung sowie vom Denkfluß der Argu- bilder<<.
mentation loszusprechen hatte. An ihrer praktischen
Wirksamkeit mag man mit Heinz Schlaffer und Josef Werk
Fürnkäs zweifeln: »Denkbilder analysieren den >Rie- EINBAHNSTRASSE (IV, 83-148)
senapparat des gesellschaftlichen Lebens< en detail, ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT >ANGELUS Novus< (II,
241-246)
>wirkend gewachsen< zeigen sie sich ihm nicht<< (Schlaf- BERLINER CHRONIK (VI, 465-519)
fer 1973, 151). DER DESTRUKTIVE CHARAKTER (IV, 396--398)
1931 trieb Benjamins Text DER DESTRUKTIVE CHA- ERFAHRUNG UND ARMUT (I!, 213-219)
DAs PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE (I, 511-
RAKTER die Bilanz eines Jahrzehnts, das alles andere
604)
als Selbstbegegnung ermöglichte, zum Äußersten. Die PASSAGEN (mit Franz Hesse!) (V, 1041-1043)
Sammlung EINBAHNSTRASSE stellte in Benjamins Ent- DER SüRREALisMus. DIE LETZTE MoMENTAUFNAHME DER
wicklung den letzten Versuch dar, dem Bankrott des EUROPÄISCHEN INTELLIGENZ (I!, 295-310)
ÜBER EINIGE MoTIVE BEI BAUDELAIRE (!, 605-653)
Subjekt-Objekts, d.h. dem Sieg einer totalen Verding-
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-409)
lichung, mittels der Denkbilder dialektisch zu wider- DIE ZEITUNG (I!, 628-629)
stehen und die Armut der verdinglichten Erfahrung ZENTRALPARK (I, 655-690)
zu sprengen, indem verdinglichte Erfahrungsfrag-
mente aus ihrem verdinglichenden Kontext herausge- Literatur
löst wurden und eine »surrealistische Miene<< anneh- Adorno, Theodor W. ( 1955): »Charakteristik Walter Benja-
men sollten (Passagenarbeit, V, 579). Ihre Strategie ist mins<<, in: ders.: Prismen, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf
Tiedemann, Bd. 10/1, Frankfurt a.M. 1977.
die des »positiven Barbarentums<<. Wenn sie überhaupt Adorno, Theodor W. ( 1968): »Benjamins Einbahnstraße<<, in:
noch marxistisch ist, dann im Sinn von Marx' dialek- ders.: OberWalter Benjamin, Frankfurt a.M., 55-61.
tischer Forderung in der »Einleitung zur Kritik der Aragon, Louis (1972): Le Paysan de Paris, Paris.
Arntzen, Helmut (1983): >>Philosophie als Literatur: Kurze
Hegeischen Rechtsphilosophie<<, nach welcher man
Prosa von Lichtenberg bis Bloch<<, in: Benjamin Bennett
»den wirklichen Druck noch drückender machen (Hg.): Probleme der Moderne. Studien zur deutschen Li-
[soll], indem man ihm das Bewußtsein des Drucks teratur von Nietzsche bis Brecht. Festschrift für Walter
hinzufügt<<. Nur vermochte der dialektische Charakter Sokel, Tübingen, 51-66.
Baßler, Moritz/Christoph Brecht/Dirk Niefanger/Gotthart
die Spuren und Fragmente, die er verzeichnet, nicht
Wunberg (1996): Historismus und literarische Moderne,
mehr dialektisch zusammenzubündeln: sie verlaufen Tübingen.
kreuz und quer, weisen in alle Richtungen und bestä- Bienert, Michael (1992): Die eingebildete Metropole. Berlin
tigen wahrscheinlich nur die »Verfallenheit ans Objekt, im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart.
Bloch, Ernst (1962 ): »Revueform in der Philosophie<< [1928],
bis zur buchstäblichen Selbstauslöschung des Selbst<<. in: ders.: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M., 368-371.
Der destruktive Charakter sehnte ein Jüngstes Gericht Bloch, Ernst (1968): »Erinnerungen<<, in: Ober Walter Benja-
herbei, zu dem er beizutragen meinte, indem er durch min [ohne Hg.], Frankfurt a.M., 16-23.
373

Bloch, Ernst (1975): Experimentum mundi, Frankfurt a.M.


Bolle, Willi (1994): Physiognomik der modernen Metropole.
Zum Kinde
Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin, Köln/Weimar/
Wien. >>Programm eines proletarischen Kindertheaters<< I
Fürnkäs, Josef (1984): >>La •voie a sens< unique weimarienne >>Eine kommunistische Pädagogik« I >>Kinderbücher«
de Walter Benjamin«, in: Gerard Raulet (Hg.): Weimar ou
l'explosion de Ia modernite, Paris, 255-271.
Fürnkäs, Josef (1988): Surrealismus als Erkenntnis, Stutt- Von Giulio Schiavoni
gart.
Fürnkäs, Josef (1988a): >>Image de pensee et miniature selon
W. Benjamin«, in: Gerard Raulet/JosefFürnkäs (Hg.): Wei-
mar. Le tournant esthetique, Paris, 287-299.
Graeff, Werner (1922): >>Für das Neue«, in: De Stijl, 5. Nach der Abwendung von seinem Lehrer Gustav Wy-
Haacke, Wilmont (1951/1952): Handbuch des Feuilletons, 2 neken und von der Jugendbewegung findet Walter
Bde, Emsdetten. Benjamin neue Zugänge zu pädagogischen Fragen.
Hesse!, Pranz (1928): >>Walter Benjamin: Einbahnstraße«, in: Sein Interesse verlagert sich von der Jugend zur Kind-
Das Tagebuch, H. 9.
Jöns, Dietrich Walter (1966): Das »Sinnen-Bild«. Studien zur heit, genauer gesagt: von der Potentialität der Jugend
allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius, Stutt- zu der der Kindheit. Seit etwa 1924 setzt er sich in
gart. neuen Formen mit der Welt der Kindheit und der Kin-
Köhn, Eckhardt (1988): »Konstruktion des Lebens. Zum Ur-
derliteratur auseinander. Seine Beiträge zu diesem
banismus der Berliner Avantgarde«, in: AvantGarde, Nr.
1, 33-72. Themenkomplex verstehen sich nicht als die eines
Köhn, Eckhardt (1989): Straßenrausch. Flanerie und kleine Spezialisten, denn, wie Benjamin in einem Rundfunk-
Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis vortrag erklärt, begann das Unglück der Kinderlitera-
1933, Berlin.
tur in dem Augenblick, >>da sie in die Hände der Spe-
Kracauer, Siegfried (1971): »Zu den Schriften Walter Benja-
mins«, in: ders.: Schriften Bd. 5-2, Frankfurt a. M., 119- zialisten fiel« (KINDERLITERATUR, VII, 252).
124. Die Bemühung, gedanklich in die Welt des Kindes
Krüger, Heinz (1957): Über den Aphorismus als philosophi- und seiner schöpferischen Phantasie einzudringen, ist
sche Form. Mit einer Einführung von Theodor W. Adorno,
- abgesehen von dieser Radiosendung aus dem Jahre
München.
Lindner, Burkhardt ( 1980): >>Positives Barbarenturn- aktua- 1929- vor allem durch ein Korpus kleiner Abhand-
lisierte Vergangenheit«, in: alternative 132/33, 130-139. lungen belegt, die in der Frankfurter Zeitung und in
Milch, Werner (1928 ), Berliner Tageblatt, 11.11.1928. anderen Zeitschriften der Weimarer Zeit erschienen.
Moholy-Nagy, Liszl6 (I 922): >>Produktion- Reproduktion«,
in: De Stijl, 7.
Dieses Korpus kurzer Abhandlungen Benjamins, die
Penzoldt, Ernst (1951/1952): Lob der kleinen Form, zit. n. aus den Jahren 1924 bis 1932 stammen, ist unter der
Haacke: Handbuch des Feuilletons, 2 Bde, Emsdetten. Rubrik >>Pädagogische Rezensionen« eingeordnet wor-
Rang, Florens Christian (1924): Deutsche Bauhütte. Ein Wort den (vgl. Bokma 2000, 83f.); zu ihm gehören die Re-
an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen Bel-
gien und Frankreich und zur Philosophie der Politik. Mit zensionen KARL HOBRECKER: ALTE VERGESSENE KIN-
Zuschriften von Alfons Paquet, Ernst Michel, Martin Bu- DERBÜCHER und ALTE VERGESSENE KINDERBÜCHER
her, Kar! Hilde-Brandt, Walter Benjamin, Theodor Spira, ( 1924), der Aufsatz AUSSICHT INS KINDERBUCH (1926),
Otto Erdmann, Leipzig. sechs kleine Texte zum Thema Spielzeug aus den Jah-
Raulet, Gerard ( 1997): Le Caractere destructeur. Esthetique,
theologie et politique chez Walter Benjamin, Paris. ren 1928-1930 (ALTES SPIELZEUG; KULTURGESCHICHTE
Raulet, Gerard (2004): Positive Barbarei, Münster. DES SPIELZEUGS; SPIELZEUG UND SPIELEN; RuSSISCHE
Schlaffer, Heinz (1973): >>Denkbilder. Eine kleine Prosaform SPIELSACHEN; PUPPEN UND PUPPENSPIELE; LOB DER
zwischen Dichtung und Gesellschaftstheorie«, in: W. Kut- PuPPE), drei Texte zum Thema Fibel aus den Jahren
tenkeuler (Hg.): Poesie und Politik, Stuttgart/Berlin/Köln/
Mainz, 137-154. 1928-1931 (ABC-BÜCHER VOR HUNDERT JAHREN;
Schulz, Eberhard Wilhelm (1968): »Zum Wort >Denkbild«<, CHICHLEUCHLAUCHRA; GRÜNENDE ANFANGSGRÜNDE),
in: ders.: Wort und Zeit, Neumünster, 218-252. das für Asja Lacis Ende 1928, eher Anfang 1929 ver-
Sdun, Dieter (1994): Benjamins Käfer. Untersuchungen zur faßte PROGRAMM EINES PROLETARISCHEN KINDER-
bildliehen Sprache Walter Benjamins im Umkreis der »Ein-
bahnstraße«, Frankfurt a.M. (Diss. Düsseldorf 1993). THEATERS und die Rezensionen EINE KOMMUNISTI-
Spinnen, Burkhard (1991): Schriftbilder. Schriften zu einer SCHE PÄDAGOGIK (1929) sowie PESTALOZZI IN YVER-
Geschichte emblematischer Kurzprosa, Münster. DON (1932).
Winkler, Richard G. ( 1981 ): Werner Graeff und der Konstruk-
Hinzu kommen die zahlreichen Arbeiten für den
tivismus in Deutschland 1918-1934,Aachen.
Witte, Bernd (1985): Walter Benjamin mit Selbstzeugnissen Rundfunk, die regelmäßig in den Jahren zwischen 1929
und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek. und 1932 gesendet wurden und die heute als die
>> Rundfunkgeschichten für Kinder« bezeichnet werden.
In diesem Zusammenhang müssen auch die Notizen
zu einer Theorie des Spiels genannt werden, die auf
374 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

die Jahre 1929-30 zurückgehen. Und nicht zu verges- er vielleicht nie im Leben einen Gedanken, geschweige
sen wären die vielen Stellen der EINBAHNSTRASSE und einen Wunsch gewendet hat, beisprang, weil es so
der BERLINER KINDHEIT, die dieser Problematik ge- preisgegeben und verlassen auf dem offenen Markt
widmet sind, sowie die Vorliebe für die Werke von stand und es, wie in den Märchen aus Tausendundei-
Proust, an denen Benjamin in einzigartiger Weise die ner Nacht der Prinz eine schöne Sklavin, kaufte, um
Verflechtung von Kinder- und Erwachsenenwelt be- ihm die Freiheit zu geben. Für den Büchersammler ist
obachten konnte. nämlich die wahre Freiheit aller Bücher irgendwo auf
Es handelt sich zwar um sehr verstreute Texte, aber seinen Regalen<< (IV, 392 f.).
sie entstammen für Benjamin nichtsdestoweniger ei- Es ist also hauptsächlich der Wunsch, das
nem zusammenhängenden großen Interesse, wie auch >>preisgegeben[e] und verlassen[e]<< Buch-Objekt, so-
aus dem Brief vom 23.6.1932 hervorgeht, in dem Ben- wohl den Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfen
jamin sich mit dem Heidelberger Verleger Richard als auch Gegenstand des ökonomischen Fetischismus,
Weißbach über ein (nicht realisiertes) Projekt zum dem Leben zurückzugeben. Dieser Wunsch brachte
Thema Kinderbücher verständigt (4, 104). Obwohl Benjamin dazu, alte Bücher für Kinder aufzubewahren.
man es mit eher gelegenheitsbedingten Abhandlungen Seine kostbare Kinderbuchsammlung, von der etwa
zu tun hat, die nicht als Ausarbeitung einer systema- 200 Bände erhalten sind, ist nicht nur dem Enthusias-
tischen pädagogischen Theorie verstanden werden mus seiner Ehefrau Dora, sondern auch einem »gro-
dürfen, erweisen sie sich ohne Zweifel selbst für die ßen Raubzug<<, wie es in einem Brief an Ernst Schoen
heutige Pädagogik immer noch als anregend. aus dem Jahre 1918 heißt, durch die Bibliothek der
Diese kontinuierliche Arbeit des Literaturkritikers Mutter (1, 467) zu verdanken. Die Sammlung wurde
Benjamin im Feuilleton und im Radio zum Thema ursprünglich von Dora selbst aufbewahrt; nach der
Kinderliteratur läßt insbesondere vier eng zusammen- Scheidung im Jahre 1930 fiel sie ihr zu, so daß sie sie
hängende Schwerpunkte erkennen: erstens das Sam- zu Anfang der 40er Jahre mit nach London nahm.
meln alter Kinderbücher, einschließlich der Reflexio- Nach dem Tode Doras 1964 erbte der Sohn Stefan
nen über diese Bücher und über das Sammeln; zwei- (auch er leidenschaftlicher Sammler von Antiquitäten)
tens die theoretische Betrachtung der Kinderphantasie, die Sammlung, und nach seinem Tod im Jahre 1972
des Spiels und des Spielzeugs; drittens die politische wurde sie von seiner Witwe Janet Benjamin in London
Positionierung gegen die sogenannte Reformpädago- verwahrt, bis sie schließlich an das Institut für Jugend-
gik, mit der Benjamin eine eigene Bestimmung des buchforschung der Universität Frankfurt am Main
»proletarischen Kindes« leistet; und viertens die Rund- überging, wo sie sich auch heute befindet (vgl. Katalog
funkarbeiten, die sich nicht dezidiert an proletarische der Kinderbuchsammlung Walter Benjamin 1987). Es
Kinder, sondern an ein gemischtes zeitgenössisches verwundert nicht, daß Benjamin gerade der sogenann-
Kinderpublikum wenden. ten Kinderliteratur eine ganze Reihe von Rezensionen
In diesen kurzen Schriften und Rundfunkübertra- und Artikeln gewidmet hat, die im Laufe eines Jahr-
gungen zeigt sich Benjamins Interesse an kindlicher zehnts in verschiedenen deutschen Zeitungen erschie-
Phantasie als eine Facette seines vielschichtigen Werks; nen sind.
die Überlegungen führen in jene Grenzgebiete, zu de- In der Rumpelkammer, dem Labyrinth der »Stadt
nen er so leichten Zugang hat und die er auf ertragrei- der Bücher<< (IV, 619) verweilt Benjamins Blick vor
che Weise zueinander in Beziehung setzen kann. allem auf den alten, verkommenen und abgenutzten
Kinderbüchern. Es steht die Rehabilitierung einer mar-
ginalen, um genauer zu sein: einer ausgegrenzten Li-
Der Traum des Sammlers alter Kinderbücher teratur auf dem Spiel, die üblicherweise als wertloser
Papierkram betrachtet wurde. Für den Berliner Kriti-
Wertvolle Informationen über die Absicht Benjamins, ker, gleichsam aus seiner Sicht des Retters, geht es
die hinter seiner Sammlerleidenschaft steht und die darum, sich Schätzen zu nähern, die über nahezu hun-
schon auf das Jahr 1918 zurückgeht, als er in den Besitz dert Jahre in Vergessenheit geraten sind, in den Fä-
der Sammlung von Kinderbüchern aus dem Familien- chern des nüchternen Mobiliars der Biedermeierzeit
erbe gelangt, die er durch neue Bände bis in die frühen der ersten Hälfte des 19. Jh.s unter Verschluß gehalten,
30er Jahre ergänzt, liefert ein Aufsatz aus dem Jahre jene Art Literatur, die sich in den höheren Gesell-
1931 mit dem Titel ICH PACKE MEINE BIBLIOTHEK AUS. schaftsschichten des 18. und 19. Jh.s verbreitet hatte
In diesem Essay über die Bibliophilie bekennt er: »Da- und die der Zeitgenosse Karl Hobrecker in seinem
für zählt [... ] zu den schönsten Erinnerungen des Buch Alte vergessene Kinderbücher (Berlin 1924) ans
Sammlers der Augenblick, wo er einem Buch, an das Licht zu bringen begonnen hatte, wobei er allerdings
Zum Kinde 375

in erster Linie die Rolle eines Archivars einnimmt (vgl. grierte oder nicht integrierbare Bruchstücke zusam-
III, 15). Ganz anders dagegen Benjamin, dem immer menzutragen, sie dem bloßen Geschäftssinn entwin-
darangelegen ist, gleichsam den Schatz aus den Trüm- dend, wird deshalb auch zur Möglichkeit, im Bruch-
mern zu bergen und der sich jener vergessenen Lite- stück das Moment eines sozialen Universums
ratur als wahrer Sammler nähert, beseelt von »einer an wahrzunehmen.
das Maniakalische grenzenden Leidenschaft<< (II, 505), Dieser Auftrag setzt voraus, daß der Sammler beim
wie er im bedeutenden programmatischen Essay Anlegen einer Bibliothek oder privaten Büchersamm-
EDUARD FUCHS, DER SAMMLER UND DER HISTORIKER lung geschickt und sachkundig vorgeht, dem Zufall
(1937) dargestellt wird. In seinem Falle scheint es, als nur ein Mindestmaß zubilligend, und das Universum
habe seine Haltung Büchern gegenüber sogar eine der eigenen Ideen und der geretteten Ramsch-Über-
erotische Färbung erhalten. Übrigens ist es kein Zufall, reste zusammenbringt. Dies ist zumindest die Haltung,
daß in der EINBAHNSTRASSE U. a. dreizehn Thesen ZU die Benjamin im Wirken des Historikers und Samm-
den überraschenden Übereinstimmungen zwischen lers Eduard Fuchs schätzt. Jeder einzelne Teil einer
Büchern und Prostituierten zu lesen sind (IV, 109f.). Sammlung stellt im Kleinformat einen Abriß des Ge-
Durch das Sammeln von Überresten (Briefmarken, samten, des Ganzen dar, so Benjamin in einem Ab-
Ansichtskarten, alten Fotos, >>alten und vergessenen<< schnitt der Passagenarbeit (V, 271).
Kinderbüchern und Büchern) beabsichtigt Benjamin Wenn der Gang der Dinge und die Sozialgeschichte
keineswegs dem vanity fair des Antiquariats Recht zu in ihrem Verlauf Reste oder Abfall zurücklassen, die
geben, das gleichsam das Museum der Menschheit für andere nichtssagend sind, kann der Sammler zu
erweitert und die Gegenwart archaisiert. Die Rettung, ihren Gunsten eingreifen, indem er das Schweigen der
die er sich als Sammler zum Vorsatz macht, setzt vor- Geschichte sprechen läßt; der Sammler ist sozusagen
aus, daß der scheinbare Ramsch noch immer wertvoll der Vorkämpfer in jenem >>Kampf gegen die Zerstreut-
ist und ihm Impulse geben kann. heit<<, der für Benjamin das >>verborgenste Motiv<< je-
In diesem Sinne erneuerte sich für Benjamin, ähn- den Sammlerturns ist (279). Aufkluge Art und Weise
lich wie für viele Surrealisten, eine Erfahrung, die in sammelnd, kann er somit das Andere (das Versäumte
Charles Baudelaires Morale du joujou durch die Be- oder Vernachlässigte) wahrnehmen und das >>Ver-
trachtung von Spielzeug hervorgerufen wurde: Spiel- kehrte<< in der Sozialgeschichte erkennen. Das Ver-
zeug als Konzentrat des Lebens an sich, >>im Kleinfor- mächtnis des echten Sammlers (ebenso wie seiner
mat<<, ohne die Grautöne der wirklichen Existenz (vgl. etwas dürftigeren Abwandlung, des Lumpensamm-
Baudelaire 1951, 674). Es handelt sich um die Leiden- lers), wie Baudelaire zeigt (vgl. Wohlfarth 1984), un-
schaft für Relikte aus einer Vergangenheit, die nun- terscheidet sich in diesem Sinne nicht von dem des
mehr jeglichen Kontextes beraubt sind, für das, was historischen Materialisten, der nicht nur ein >>rück-
sich als Reste einer Traumwelt abzeichnet: Trümmer, wärtsgewandter Prophet<<, sondern auch ein Herold
für die kein Platz mehr ist in der Welt der Moderne ist, >>welcher die Abgeschiedenen zu Tisch lädt<< (V,
und denen sich- von Rimbaud und Baudelaire bis hin 603). Es ist wichtig, daß für die Geschichte nichts ver-
zu den Dadaisten und Surrealisten - die europäische loren ist. Im Kleinen dient jede durchgeführte histo-
Avantgarde zuwendet; Unerwartetes, von der kapita- rische Wiedereingliederung (Apokatastasis) durch den
listischen Wirtschaft verworfen, das, sobald aus der Sammler beim Zusammenführen des Zerstreuten
Umlaufbahn geraten, damit beginnt, Signale seiner dazu, die Erinnerung, und somit die Identität, vor dem
subversivsten Potentialität zu senden. Es ist kein Zufall, Verfall zu bewahren, und kurbelt jene Aktivität von
daß Benjamins Aufmerksamkeit für die >>revolutionä- unermeßlicher Bedeutung an, die zum Ziel hat, alles
ren Energien<<, die den außer Mode geratenen Dingen Ausgesonderte und Übriggebliebene bis zu dem (uto-
innewohnen, gerade durch die Erfahrung der Surrea- pischen) Punkt zu sammeln, an dem es überhaupt
listen (angefangen bei Breton) wieder geweckt wird: nichts Ausgesondertes, nichts Übriggebliebenes mehr
ihnen gebührt das Verdienst, als erste solche Potentia- gibt (zum Begriff >>Rettung<< vgl. u.a. Kaulen 2000,
lität >>zur Explosion<< gebracht zu haben (II, 299f.). 529 f.). Ohne diesen Impuls des Erlösens zur Kenntnis
Jenen Trümmern gegenüber öffnet sich Benjaminkraft zu nehmen, läßt sich die Eindringlichkeit, mit der Ben-
seines subversiven Protestes gegen das Typische und jamin die Figur des Sammlers beschreibt, nur schwer
Klassifizierbare, er erlöst sie, um sie in eine Strategie nachvollziehen.
der Zerstörung geschichtlich-kultureller Kontinuität Damit wird der Sammler zu einem Revolutionär, da
mit hineinzuziehen. Das Anachronistische wird ihm er das Negative organisiert, dem die Gesellschaft nicht
auch gleichsam zum Schlupfwinkel des Ausgestoßenen gewahr werden konnte. Jeder von ihm gerettete Fetzen,
aus der Geschichte der großen Ereignisse. Nicht inte- jede Aussonderung führt am Ende dazu, sich gegen die
376 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

bestehende Ordnung zu verschwören, um das kom- Seltenheitswert betrachtet werden: >>Der Sammler
pakte Gefüge der jeweiligen Epoche in Frage zu stellen. träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene
Jede Sammlerische Rückgewinnung, die gleichzeitig Welt sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die
auch eine Rettung ist, entspricht paradoxerweise einem Menschen ebensowenig mit dem versehen sind, was
Sabotageakt der Ausgesonderten gegenüber dem so- sie brauchen, wie in der alltäglichen, aber die Dinge
zio-kulturellen Netz der Vergangenheit, aus dem sie von der Fron frei sind, nützlich zu sein« (53). Vor die-
als ausgeschlossen hervorgehen, wie es in LoB DER sem Hintergrund erscheint die Kinderwelt wie das
PuPPE (1930) zu lesen ist: »Die wahre, sehrverkannte Reich, in dem die >>Fron nützlich zu sein<< bis auf den
Leidenschaft des Sammlers ist immer anarchistisch, Grund in Frage gestellt wird, in Anbetracht der Tatsa-
destruktiv« (III, 216). Nicht zufällig wird sich im che, daß die Kinder in der an Funktionen orientierten
neuen, zutreffenderen Kontext jedes einzelne Objekt, Gesellschaft der Erwachsenen eine Randposition ein-
dem sich der Sammler mit seinem Wohlwollen zuwen- nehmen (wenn nicht sogar als völlig belanglos gel-
det, wie losgelöst- so etwa das Konvolut H der Passa- ten).
genarbeit - von jeglicher vorangegangenen Funktion Auch die AUSSICHT INS KINDERBUCH aus dem Jahre
darstellen, insbesondere der ökonomischen Betrach- 1926 (IV, 609-15), ein Blinzeln in Richtungjener Un-
tungsweise entzogen, obgleich jede Epoche versucht terhaltungsliteratur für die Kleinsten, wird zur Gele-
hat, es ihr zu unterwerfen. Die unmodern gewordenen genheit, seine Zeitgenossen zu erreichen, die weit ent-
Gegenstände werden tatsächlich von Benjamin in fernt sind von einem unschuldigen Verhältnis zu jenem
»diametrale[m] Gegensatz zum Nutzen<< (V, 271) ge- ungeschriebenen, nicht greifbaren Buch, das man als
stellt; einen Gegenstand zu retten oder zu erlösen- so Kind vielleicht eher - wenn auch nur am Rande -
schreibt er an anderer Stelle - kommt dem Loslösen wahrnehmen oder erahnen kann. Ein Buch, dem man
von »allen ursprünglichen Funktionen seines Nutzens<< auch als Erwachsener >>zu Treue verpflichtet ist«, auch
(1016) gleich. Mit Zuversicht in das >>Schicksal<<, dem wenn >>die freie entbundene Hand überall über die
sich, im Laufe der Geschichte, anscheinend nicht ein- ernste schwerfällige sich zu siegen angeschickt<< hat,
mal die Bücher entziehen können, versteht es der wie Benjamin in der Rezension CHICHLEUCHLAUCHRA.
wahre Sammler (nach dem Motto habent sua fata li- Zu EINER FIBEL (1930) ausführt (III, 272).
belli von Terenzianus Maurus), sich ihnen zu verpflich-
ten - wie im Aufsatz !eH PACKE MEINE BIBLIOTHEK
AUS dargelegt: in unserem Verhältnis zu den Dingen, Phantasie, Farbenglanz, Illustration
>>das in ihnen nicht den Funktionswert, also ihren Nut- als Potential alter Kinderbücher
zen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt,
sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Den Erwachsenen gegenüber demonstrieren diese
Schicksals studiert und liebt<< (IV, 389). Während der durch alte und vergessene Kinderbücher veranlaßten
Bürger in der Regel Dinge zum Genießen anhäuft, zielt Veröffentlichungen Benjamins eine unvermeidbare
das Kind - in der noblen Absicht, die Benjamin ihm Ambivalenz. Indem er sich mit den Kindern verbün-
unterstellt - darauf ab, sie als wahrer Seigneur zu ge- det, in deren Ausdrucksweise, deren Spiel und deren
nießen und auszukosten, wozu der Spießbürger unfä- Beziehung zu Worten, Bildern und Farben er die Spur
hig ist. Kinder können es akzeptieren von den Bildern einer geheimen, beinahe paradiesischen Glückseligkeit
sozusagen betrachtet zu werden, anstatt sie dem eige- entdeckt, deren Unmittelbarkeit den Erwachsenen zu
nen Nutzen zu unterwerfen. entgehen scheint, beabsichtigt er insbesondere, jene
Echte Sammler, jene extra-vagantes, die auch in an- Texte dem Universum der Gewißheiten der Spießer zu
deren Gefilden als nur im verfluchten Nützlich-sein entziehen. In diesem Sinne bleiben Kinderbücher eine
zu verkehren imstande sind, richten deshalb ihren Art heiliger Text, ein Ort, der jene promesse de bonheur
Blick auf den sogenannten Abfall und seine Reliquien, beherbergt, den viele Erwachsene verloren oder betro-
einen Blick, in dem die Erinnerung an gleichsam ur- gen haben, während Kinder fähig sind zu einem un-
sprüngliche Schichten zu schlafen scheint, die von den mittelbaren und spontanen Einschwingen auf eine
Menschen der Moderne ausgelöscht oder verdrängt Erzählung oder auf Bilder, dank einer Phantasie, die
wurde; nicht von ungefähr definiert Benjamin einmal keiner Grammatik bedarf. Die Phantasie ermöglicht,
das Sammeln als eine >>Form des praktischen Erin- daß >>sich mit einem Schlag die Worte ins Kostüm<<
nerns<< (V, 271). Es ist am Sammler, seine Fähigkeit werfen und >>im Handumdrehen in Gefechte, in Lie-
unter Beweis zu stellen, den Marktgesetzen gegenüber besszenen oder Balgereien verwickelt<< sind (IV, 609).
unempfindlich zu bleiben, die nicht einmal die Bü- Dies erklärt, warum im Mittelpunkt von Benjamins
cherliebhaber verschonen, da die Bücher als Ware mit Interesse - auch seines Sammelns - das illustrierte
Zum Kinde 377

Kinderbuch steht, vor allem das farbig illustrierte, und Bedürfnis zurück, in der Geschichte der Kinderlitera-
warum erZ. B. in AUSSICHT INS KINDERBUCH die enge tur auch jene Punkte nicht aus dem Auge zu verlieren,
und besondere Verbindung hervorhebt, die für ihn an denen es zu einem Stillstand oder einer Auflösung
zwischen Phantasie und Wahrnehmung von Farbe im kam, so daß am Horizont ein möglicher Bruch oder
Bilderbuch besteht (vgl. Art. »Phantasie und Farbe<< in ein aufkommendes Problem hinsichtlich des Vertrau-
diesem Handbuch). (Übrigens ist es kein Zufall, daß ens in ein einfaches lineares pädagogisches Kontinuum
Benjamin mit dem Gedanken gespielt hat, ein »Doku- aufblitzte. In diesem Sinne könnte man sowohl das alte
mentarwerk<< mit dem Titel DIE PHANTASIE zu schrei- Kinderbuch wie auch das Spielzeug in folgende Frage-
ben, ein >>großer Plan<<, den er -laut seinem MosKAUER stellung mit einbeziehen, mit der Benjamin seinen
TAGEBUCH [VI, 386)- einem Moskauer Sammler von Aufsatz SPIELZEUG UND SPIELEN abschließt: >>Wenn
Kinderbüchern >>auseinandergesetzt<< hat, der aber nie [... ] ein moderner Dichter sagt, es gebe für jeden ein
verwirklicht wurde.) Bild, über dem die ganze Welt ihm versinkt, wie vielen
Reine Farbe gilt für Benjamin als >>das Medium der steigt es nicht aus einer alten Spielzeugschachtel auf?<<
Phantasie, die Wolkenheimat des verspielten Kindes<< (III, 132).
(IV, 614). Das Anschauen der Bilder- so schreibt er Liest Benjamin die Geschichte der Kinderliteratur
-führt letztlich dazu, in sie einzudringen >>als Gewölk, rückwärts (vom Orbis pictus von Amos Comenius und
das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt<< dem Elementarwerk von Johann Bernhard Basedow
(609), währendunfarbige Bilderbücher das Kind eher bis zur Biedermeierzeit und der Kinderliteratur der
zum >>Beschreiben<< und die Bilder selbst zum >>Bekrit- 20er und 30er Jahre seiner Epoche), so unterläßt er es
zeln<< anregen: >>Es dichtet in diese Bilder hinein, es in der Tat nicht, dabei auf jene Momente aufmerksam
lernt an ihnen zugleich mit der Sprache die Schrift und zu machen, in denen sie ihren Charakter des privaten
zwar eine dichtende, schaffende Schrift: Hieroglyphik<< und öffentlichen Katechismus' der Aristokratie bezie-
(VI, 113). Außerdem sollte nicht vergessen werden, hungsweise des Bürgertums am ehesten offenbart. Das
daß Benjamin in seiner AUSSICHT INS KINDERBUCH heißt, sie erweist sich als bezeichnend für den sozio-
- in Anlehnung an Goethes Farbenlehre - der Farbe ökonomischen Kontext, in dem sie aufgetaucht ist,
die Eigenschaft zuschreibt, über das Auge auf das Ge- bezeichnend also für das Bewußtsein jener sozialen
müt zu wirken (vgl. dazu u. a. Brüggemann 1988, 82 f.; Schichten, die sie hervorgebracht haben, und für die
Karrenbrock 1999, 1516f.). geschichtlich-kulturelle Entwicklung, die mit ihr ein-
Im Kind wird demnach eine Art freudige und spie- hergegangen ist. Aber auch das Interesse für eine Lite-
lerische mimetische Identifikation ausgelöst, insbe- ratur rührt hierher, die alles andere als nebensächlich
sondere beim bebilderten Buch, bei den Buchstaben ist und die darüber hinaus auch als Träger einer auf-
der Abc-Fibeln und bei den farbigen Bildern, die sei- blühenden Buchindustrie angesehen werden kann.
nen ersten Zutritt in die Welt der Erzählung darstellen, Wenn er sie also einerseits als überladen mit autoritä-
sowie ein Moment der Selbstbefreiung und des Siegs ren und repressiven Elementen sieht, so erscheint sie
über die Angst. Schon 1918/19 heißt es bei Benjamin, ihm doch andererseits als nicht unfrei von revolutio-
>>in der Welt der farblosen Bilder<< erwache das Kind, närem Potential, ausreichend, um sie dem Zwecke
>>wie es in der Welt der farbigen seine Träume aus- jener zu entziehen, die sie ersonnen haben.
träumt, die voller Erinnerungen sind<< (VI, 113 ), wobei
die Kinderaneignung von Bilderbüchern als Erinne-
rung ans Paradies erscheint: >>Wenn es [... ] irgend Figuren des bürgerlichen Kindes
überhaupt etwas wie die platonische Anamnesis gibt,
so hat sie bei den Kindern statt, deren Anschauungs- Während Benjamin sich von alten Kinderbüchern fas-
bilderbuch das Paradies ist. Am Erinnern lernen sie<< ziniert zeigt, versäumt er in seinen Besprechungen
(124). nicht, auch ihre geschichtliche Funktion zu hinterfra-
Gleichzeitig weiß Benjamin jedoch, daß die Großen gen. Die Begegnung mit der vernachlässigten Literatur,
es nicht unterlassen, die Welt des Kindes zu überwa- d. h. mit einem Sammelgebiet, das nur entdeckt werden
chen, eine Welt, die überall die Spuren der älteren konnte von jemandem, der >>der kindlichen Freude
Generation trägt. Er weiß auch, daß Kinderbücher daran die Treue gehalten hat<< (III, 14), gibt Benjamin
unkenntlich gemacht werden können, von dem, der so die Gelegenheit nachzuprüfen, in welcher Form die
zum Zweck der Selbstbestätigung in sie eingreift. Da- Ideale jenes Bürgertums zum Ausdruck kommen, das
her, so Benjamin, rührt die Unvermeidlichkeit, daß ein die Kinderbücher hervorgebracht hat: ein Bürgertum,
Kind spontan eine dialektische Beziehung zu diesen das im 18. und 19. Jh. zunächst >>seine großen Positio-
Spuren an den Tag legt. Hierauf ginge ebenfalls das nen bezog<< und später >>nicht mehr den Geist bewahrte,
378 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

in welchem es diese Positionen erobert hatte<<, wie es der Berühmtheit, Menschen, die gesellschaftlich un-
Benjamin 1936 in seiner Briefsammlung DEUTSCHE gebunden geblieben sind und noch weit davon ent-
MENSCHEN formuliert (IV, 151). Gleichzeitig besteht fernt, in die industrielle Serienproduktion einzubre-
Benjamin jedoch darauf, im Paradies von Papier und chen. Mit jenen gleichsam subversiven Künstlern
Zauberern mit erlösender Absicht zu stöbern, weil er schienen die Kinder Arm in Arm zu gehen, ungeachtet
dort mögliche Hinweise auf das Andere begraben weiß, der Skrupel und der Kontrolle philanthropischer Päd-
dessen scheinbar verlorene Schlüssel vielleicht unter agogen. Indem der Sammler Benjamin sich vorbehalt-
der Kruste jener >>[u]nkenntlich gewordene[n] los der Gesellschaft jener Künstler und Kinder an-
versteinerte[n] Formen unseres ersten Glücks, unseres schließt, manifestiert sich sein Bestreben, die Gedan-
ersten Grauens<< (III, 131) ruhen, mit denen die Ge- kenordnung und Erfahrungswerte seiner erwachsenen
wohnheiten der Erwachsenen gemeint sind. Mitmenschen aufzulösen.
Die Großen, unfähig, der Heimat der Märchen, die Abermals erweist sich für Benjamin die Funktion
ihre Kinderherzen durchdrungen hat, >>Treue zu hal- der Phantasie als zentral, mit deren Hilfe die Kinder
ten<< und in ihrem Erwachsenenleben ihre Kinderwün- intensiv in den Text und in die Bilderwelt eines Buches
sche zur Vollendung zu bringen, scheinen in Benja- eindringen. Durch die Phantasie ist es ihnen möglich,
mins Augen nunmehr ein verkrüppeltes Dasein zu der Passivität zu entfliehen, die die Erwachsenen für
führen, während die Kinder, Hoffnungsträger der Ge- sie vorgesehen haben. Extra-vagante Geschöpfe, der
nerationen, der Drohung ausgesetzt zu sein scheinen, Zensur durch den Sinn, der strengen Norm und der
ausschließlich infantilleben zu müssen. Der Zauber ihnen vorgesehenen Rolle entgehend, befinden sich
der Bilder in den einstigen Abc-Fibeln und Lesebü- die Kinder aus Benjamins Sicht in einem Wechselspiel
chern (insbesondere aus der Biedermeierzeit und der zwischen Annehmen und Verändern: die Regeln des
deutschen Romantik) erweckt bei ihm nie den Ein- Andersartigen, des Unentgeltlichen, des Vergnügens,
druck des Selbstzwecks. Zwar hat der chromatische die durch die Figuren der Bücher hindurchschimmern,
Glanz unweigerlich auch auf ihn seinen Reiz ausgeübt annehmen; unwillkürlich die Mittel verändern und
(besonders in den Lithographien Johann Peter Lysers, umkehren, mit denen sie sich als ihrer ersten geschieht-
aber auch beispielsweise in den Illustrationen Theodor Iichen Erfahrung konfrontiert sehen- Farben, Buch-
Hosemanns und in Friedrich Bertuchs Bilderbuch von staben, Figuren, für die ihre Phantasie anscheinend
1790), doch versucht Benjamin sich auf ein Bürgertum unermüdlich immer neue Varianten bereithält (dies
rückzubesinnen, das Kinder gebraucht hat und das in kann jedoch ebenso auf Erzählungen und Geschichten
ihnen eine notwendige und biologische Grundlage der sowie auf Spielzeug bezogen werden). Diese unmittel-
eigenen Existenz gesucht hat. Eben daraufberuht Ben- bare, instinktive kindliche Neigung zur Umgestaltung
jamins Wiedererlangung der destruktiven Komponen- und dialektischen Umkehrung des >>gesunden Men-
ten sammlerischer Tätigkeit. schenverstandes<<, nicht nur beim Beobachten, sondern
Die einstigen Kinderbücher konnten sich nicht nur auch beim Bilden von Wörtern und Sätzen, wird in
vor dem sicheren Verschwinden retten, sondern auch, AUSSICHT INS KINDERBUCH VOll 1926 hervorgehoben:
nach Meinung Benjamins, die eigene Besonderheit als >>Kinder, wenn sie Geschichten sich ausdenken, sind
Werkzeuge eines Wissens bewahren, das er in diame- Regisseure, die sich vom >Sinn< nicht zensieren lassen<<
tralem Gegensatz zum Profit begreift. Entscheidend (IV, 609).
ist der grundsätzliche Unterschied, der zwischen der Entsprechend weist Benjamin die übliche Meinung,
Geschichtserfahrung, so wie sie der Erwachsene erlebt die angebliche Subalternität des Kindes gegenüber dem
(annehmen, um dem eigenen Nutzen zu unterwerfen) Erwachsenen, zurück und führt statt dessen die Über-
und kindlicher Geschichtserfahrung (annehmen, um legenheit des Kindes vor Augen, wenn es um das Er-
sich dem Andersartigen zu öffnen) besteht; in ihm liegt finden besonderer Techniken beim Modellieren oder
nach Benjamin eine Gefahrenkomponente für das Basteln geht oder auch vor allem beim Lesen, dessen
Bürgertum, das die Kinderbücher hervorgebracht hat, besondere Art Benjamin mit der Metapher >>Bücher
die, alt und vergessen, als Qualitätsramsch bezeichnet verschlingen<< beschreibt: >>Ganz besonders aber und
werden. In diesen Zusammenhang gehört beispiels- immer lesen die Kinder so: einverleibend, nicht sich
weise die >>stumme Verständigung<<, deren Zustande- einfühlend<< (VII, 257).
kommen Benjamin >>über die Köpfe der Pädagogen Die Unempfindlichkeit der Kinder gegenüber den
hinweg<< (III, 17) zwischen den Kindern und den pädagogischen Vorgaben des Bürgertums scheint laut
Buchillustratoren beobachtet, Illustratoren, die dem Benjamin mit zwei Konstanten der Kinderliteratur zu
Profitdenken gegenüber unempfänglich geblieben sind korrespondieren: der übertreibung und der Wieder-
und zur Anonymität tendieren, verschont vom Fluch holung. Dank der übertreibung-erklärt er in GRü-
Zum Kinde 379

NENDE ANFANGSGRÜNDE ( 1931) - scheint es ihnen pädagogische Aspekte beschränken läßt. Das ist der
tatsächlich möglich zu sein, in gewisser Weise der Ge- entscheidende Punkt, den er auch in der Sammlertä-
walt Erwachsener zu entfliehen, die ihnen so grausame tigkeit der Kinder aufdeckt, die bekanntlich unwider-
Geschichten verabreichen, wie sie im berühmten stehlich angezogen sind von allem, was bei Maurer-,
Struwwelpeter ( 1845) von Heinrich Hoffmann erzählt Schneider- und Schreinerarbeiten übrig bleibt, und
werden (vgl. III, 314). Auch der geheimnisvolle Impuls diese Dinge in Spielzeug verwandeln: »Dort, bei den
zur Wiederholung, der z. B. dem Erzählen von Märchen Kindern, ist das Sammeln<<, bemerkt Benjamin 1931,
anhaftet, die Aufforderung, die üblicherweise an den »nur ein Verfahren der Erneuerung<< (IV, 390).
Erwachsenen gerichtet wird, Geschichten noch einmal
zu erzählen, versetzten sowohl das Kind als auch den
erzählenden Erwachsenen selbst in die Lage, über den Eine neue Kinderanthropologie: Von der
Schrecken hinauszugehen oder sich ihm zu entziehen: nKolonialpädagogik(( zum nProgramm eines
>>Nur gilt ihm [dem Kind]: nicht zweimal, sondern proletarischen Kindertheatersec
immer wieder, hundert- und tausendmal. Das ist nicht
nur der Weg, durch Abstumpfung, mutwillige Be- Benjamin unterstreicht, daß Erzieher die Kinderlite-
schwörung, Parodie, furchtbarer Urerfahrungen Herr ratur nicht uneingeschränkt zum Zweck einer Koloni-
zu werden, sondern auch Triumphe und Siege aufs sation des kindlichen Geistes und der kindlichen Psy-
intensivste immer wieder durchzukosten. Der Erwach- che nutzen können. Indem er das Recht der Kindheit
sene entlastet sein Herz von Schrecken, genießt ein verteidigt, greift er die sogenannte Reformpädagogik
Glück verdoppelt, indem er's erzählt. Das Kind schafft scharf an und verwirft sie, da es sich seines Erachtens
sich die ganze Sache von neuem, fängt noch einmal um ein Erziehungssystem handelt, das- obwohl es eine
von vorn an<< (SPIELZEUG UND SPIELEN: III, 131). freie Entwicklung der Individualität vorsieht - in
Es überrascht insofern nicht, daß Benjamin in den Wirklichkeit die kindliche Innerlichkeit den Beutezü-
Schreckgespenstern, die im Laufe der Jahrhunderte gen derselben Erzieher aussetzt, die die »zarte und
von den Erziehern ersonnen worden sind, um die verschlossene<< Phantasie des Kindes zutiefst verwirren.
kindliche Phantasie im Zaume zu halten (die Benjamin gibt Hinweise, welche Richtung statt dessen
>>Chichleuchlauchra<<, wie der Titel einer seiner Rezen- einzuschlagen wäre, die auch heutzutage überaus wert-
sionen heißt), ein Schwinden wahrhaftiger Autorität voll sein können, und erklärt in seiner Rezension Ko-
ahnt, die imstande wäre, dem Kind den Horizont der LONIALPÄDAGOGIK (1930): »Nicht leicht wird man ein
Glückseligkeit offenzuhalten, den Ausblick in eine Di- Buch finden, in dem die Preisgabe des Echtesten und
mension - »bei der Fee<< -zu bewahren, in der jeder Ursprünglichsten mit gleicher Selbstverständlichkeit
die Fähigkeit hätte, »den Wunsch zu tun<< (IV, 247). gefordert, in der die zarte und verschlossene Phantasie
Gegenüber den unterschiedlichen Formen des päd- des Kindes gleich rückhaltlos als seelische Nachfrage
agogischen Terrors, dem unwiderstehlichen Drang, die im Sinne einer warenproduzierenden Gesellschaft ver-
Kinder auf Ziele hinzuweisen, ihnen ein vorgegebenes standen und die Erziehung mit so trister Unbefangen-
Wissen aufzutischen, versäumt es Benjamin nicht, sich heit als koloniale Absatzchance für Kulturgüter ange-
für jene Abc-Bücher, Fibeln oder Lesebücher zu begei- sehen würde<< (III, 273).
stern, die versuchen, »dem Spielenden die Souveräni- Dieser Text, der die Veröffentlichung des Buches
tät zu wahren, ihn keine Kraft an den Lehrgegenstand Märchen und Gegenwart von Alois Jalkotzy in Wien im
verlieren zu lassen und das Grauen zu bannen, mit selben Jahr zum Anlaß hat, ist in erster Linie eine Stel-
dem die ersten Ziffern oder Lettern so gern als Götzen lungnahme gegen die Tendenz, scheinbare Reformen
vor dem Kinde sich aufbauen<< (III, 312). als Gelegenheit zu verstehen, die Kinder der gegenwär-
Die Kinderbücher, selbst die Figuren und Illustra- tigen Realität anzupassen, und kann als Akt der Ver-
tionen (denen laut Benjamin das nicht unerhebliche dammung der modernen Konsumgesellschaft verstan-
Verdienst zukommt, »im Kinde das Wort wach[zu- den werden, die dazu neigt, die Phantasie des Kindes
rufen]<<, 20), werden auf die Kinder, die mit ihnen be- zu rein kommerziellen Zwecken auszunutzen. In Wirk-
schäftigt sind, um so mehr Wirkung ausüben und sich lichkeit haben die Kinder davon - so führt Benjamin
um so mehr Ansehen bei ihnen verschaffen, je geringer aus- »in ihrem Herzen genau so viel, [... ] wie ihre
ihr verbietender oder einschüchternder Wille ist, den Lungen von der Zementwüste<<, in welche Jalkotzys
sie vorweisen. Angesichts dieser Überlegungen über- Buch sie versetze (272).
rascht es nicht, daß Benjamin die Kinder mit einer Benjamin sähe die »Kolonialpädagogik<< lieber durch
zentralen Rolle bei der vorgesehenen soziokulturellen eine Erziehung ersetzt, die über die vorherrschenden
Erneuerung betraut, die sich sicherlich nicht auf rein individualistischen Werte hinausginge, die sich auf
380 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

mehr Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Kin- In Richtung dieser Politisierung erzieherischer Fak-
dern und Erwachsenen stützte und die Autorität im toren geht auch das PROGRAMM EINES PROLETARI-
Kollektiv besäße. Darin besteht ein diametraler Ge- SCHEN KINDERTHEATERS, von Benjamin für das Ber-
gensatz zum Großteil der Pädagogik der 20er Jahre, liner Liebknecht-Baus in Verbindung mit Asja Lacis
die darauf abzielt, die Kinder von der Welt des Kon- in zwei verschiedenen Fassungen erstellt (vgl. Lacis
fliktes der Großen fern und damit unter einer Glas- 1971, 25 f.), im Auftrag von Johannes R. Becher, Ger-
glocke zu halten. In der Tat, wie er in KuLTURGE- hard Eisler und des Roten Sprachrohrs, Aushänge-
SCHICHTE DES SPIELZEUGS schreibt, »ist doch das Kind schild der Gruppe Agitprop (vielleicht das ausgepräg-
kein Robinson, sind doch auch Kinder keine abgeson- testerevolutionäre deutsche Arbeitertheater), die auch
derte Gemeinschaft, sondern ein Teil des Volkes und eine junge Schauspielergruppe hatte (vgl. Casini-Ropa
der Klasse, aus der sie kommen« (117). Ebenso wird 1976, 51 f.). In diesem als maschinenschriftliches Ex-
auch in der Benjaminsehen Betrachtung des Spielzeugs emplar erhaltenen Text geht es nicht um ein Programm
gerade dessen verbindende Rolle zwischen dem Indi- wie das der Kommunistischen Partei, sondern um ein
viduum und der ihn umgebenden Realität betont. Das Modell, das von den Kindern selbst zu gestalten ist,
Spiel der Kinder selbst erscheint Benjamin als eine und das allerdings (auf Grund des Vormarsches des
Bedingung, eine ihnen angemessene Welt zu schaffen, Nazismus) nie zur Aufführung kam und auch inner-
so daß die Entwicklung selbständiger Persönlichkeiten halb der KPD keine große Verbreitung fand. In ihm
begünstigt wird. zeigt sich Benjamins Nähe zur kommunistischen
In diese Richtung geht vor allem die Schrift EINE Theaterpraxis der 20er Jahre und der Eindruck, den
KOMMUNISTISCHE p ÄDAGOGIK, in der der Band Grund- die Theatergruppe Agitprop der Weimarer Republik
fragen der proletarischen Erziehung (Berlin 1929) von wie auch das von Asja Lacis in Orel gegründete Kin-
Edwin Hoernle, einem kommunistisch orientierten dertheater auf ihn machte (vgl. Lacis 1971).
Pädagogen, besprochen wird. Es handelt sich um eine Dieser Text fand- ebenso wie EINE KOMMUNISTI-
Rezension, die ohne Zweifel etwas von der politischen SCHE PÄDAGOGIK- eine rege Aufnahme in den späten
Ausrichtung, die Benjamin in diesen Jahren vollzogen 60er und den 70er Jahren nicht nur in Deutschland
hat, in sich trägt und in der er die erzieherischen Richt- seitens der >>linken Kinderbuchkritik<< (um einen Aus-
linien der Linken der 20er Jahre rezipiert und das Feh- druck von Winfried Kaminski aufzugreifen), der an-
len unterstützender Elemente einer »dialektischen tiautoritären Kinderladen- und Studentenbewegung,
Anthropologie des proletarischen Kindes<< (209) be- und er wurde zum Anstoß, >>die verdrängten Traditio-
klagt. Indem er sich zugunsten einer >>proletarischen nen und Diskussionen der zwanziger Jahre wieder ins
Schulung der Proletarier<< ausspricht, die für eine po- Bewußtsein und ins Gespräch zu führen<< (Kaminski
lytechnische Erziehung bürgt, entwirft er gegen die 1988, 179), wodurch politische Theorien und linke
>>arrivierte Pädagogik<< eine >>Antipädagogik und Ge- Programme der Weimarer Republik, nach ihrer Aus-
genöffentlichkeit<< (Zipes 1988, 192), die von dem schließung durch die Nationalsozialisten im Jahre
Wunsch getragen ist, daß die Kinder selbst sich der 1933, erneut in Umlauf gerieten.
sozialen Bedingungen bewußt werden sollen, in denen Im Mittelpunkt des von Benjamin vorgeschlagenen
sie sich zu entwickeln haben, - nicht zuletzt der Aus- Theaters steht die klassenbewußte Erziehung proleta-
beutung und Unterdrückung, von der sie betroffen rischer Kinder, die interessanterweise nicht auf dem
sein könnten. Hierbei zeichnet sich eine kommunisti- Parteiprogramm basieren kann, dessen >>an sich höchst
sche Pädagogik ab -wie für die Pädagogen kommu- wichtige Ideologie das Kind nur als Phrase erreicht<<
nistischer Herkunft des Weimarischen Deutschland (II, 763). Das Theater wird als szenischer Rahmen auf-
(Kanitz, Siegfried Bernfeld, Otto Rühle und vor allem gefaßt, der sich stark von dem unterscheidet, der den
Erwin Hoernle), als eine >>Funktion des Klassenkamp- jungen Menschen aus der bürgerlichen Schicht zuge-
fes<<, was eine >>Auswertung der gegebenen Umwelt im dacht ist: denn er wird weder >>durch den Profit be-
Dienst der revolutionären Ziele<< verlangt. Es wäre un- stimmt<<, noch ist er >>Instrument der Sensation<<, und
haltbar, wenn die Kindheit von den Widersprüchen, er gilt als ein >>sachliches Gebiet, in dem erzogen wird<<,
von denen die Erwachsenen betroffen sind, gänzlich statt als eine Idee, >>zu der<< - wie bei der bourgeoisen
verschont bleiben würde. Benjamin nimmt- im An- Pädagogik- >>erzogen wird<< (764). In der Kollektivar-
schluß an Hoernle- insbesondere jene sozialen Insti- beit der Kinderclubs kommt es nicht auf die theatra-
tutionen ins Visier, die, >>ihrer verborgenen, doch ex- lischen Aufführungen als solche an, sondern auf die
akten Funktion nach<<, nichts anderes sind als >>Werk- >>Spannungen, welche in solchen Aufführungen sich
zeuge einer antiproletarischen Schulung der lösen<< und welche selbst >>die Erzieher sind<< (765).An
Proletarier<< (III, 208). der Stelle des passiven Publikums, das von der szeni-
Zum Kinde 381

sehen Sensation gefesselt ist, steht hier die Erfahrung Phantasie<< bewirkt (768). Es hütet das Potential der
des proletarischen Kollektivs, durch die die Kinder künftigen Befreiung: >>Neue Kräfte, neue Innervatio-
vom vierten bis zum vierzehnten Lebensjahre sich in nen treten auf, von denen oft dem Leiter unter der
ein Verhältnis zur eigenen Klasse setzen und ihnen die Arbeit nichts ahnte<< (ebd.).
>>Erfüllung ihrer Kindheit<< garantiert wird (768), so Es handelt sich also um ein Theater, das sich als ein
daß das spielende Kinderkollektiv mit all der Span- geschichtlich bestimmter Ort der Erziehung darstellt,
nung seiner Gesten, seiner robusten Improvisation an dem konkrete Aufführungen des Lebens in seinem
und der Entbindung des Spiels zum Potential für die Fließen und in seinen unzähligen Veränderungen statt-
gesamte Arbeiterklasse werden kann. Dieses Theater finden, als Alternative zum Individualismus und zum
erzieht dank seiner gefährlichen Komponenten: Idealismus. Es ist daher ein Theater, das ein neues Ver-
>>Nichts gilt der Bourgeoisie für Kinder so gefährlich hältnis zwischen den Generationen erprobt.
wie Theater. Das ist nicht nur ein restlicher Effekt des
alten Bürgerschrecks, der kinderraubenden fahrenden
Komödianten. Hier sträubt vielmehr sich das veräng- Der Erzähler der Rundfunkgeschichten
stigte Bewußtsein, die stärkste Kraft der Zukunft in für Kinder
den Kindern durch das Theater aufgerufen zu sehen<<
(764f.). Neben dem Engagement Benjamins als Freund der
Außerdem unterscheidet sich das proletarische Kin- Kinderbücher, ernüchterter Wieder-Leser der eigenen
dertheater, bei dem nicht die Aufführung, sondern der Berliner Kindheit und Forscher in pädagogischen Fra-
Aufbau, die Arbeit davor, entscheidend ist, von der gen sollte seine exponierte Rolle als Radio-Vortragen-
bürgerlichen Erziehung besonders dadurch, daß der der und -Erzähler in diesem Zusammenhang erwähnt
Einfluß des Erziehers als einer autoritär auftretenden werden. Die nicht geringe Anzahl der Rundfunkge-
>>sittlichen Persönlichkeit<< zurücktritt. Im proletari- schichten, mit denen Benjamin sich an Kinder und
schen Kindertheater ist die Rolle des Leiters bzw. Re- Jugendliche im Alter von >>10 Jahren und aufwärts<<
gisseurs nicht belehrend, sondern vermittelnd: >>Was (genauer »zwischen zehn und fünfzehn Jahren<<) in der
zählt, ist einzig und allein die mittelbare Einwirkung sogenannten »Jugendstunde<< oder >>Stunde der Ju-
des Leiters auf Kinder durch Stoffe, Aufgaben, Veran- gend<< wendet, die insgesamt 20 bis 30 Minuten dauert,
staltungen. Die unvermeidlichen moralischen Ausglei- sind das Ergebnis seiner Mitarbeit bei der FunkStunde
chungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der AG in Berlin und dem Südwestdeutschen Rundfunk
Kinder selbst an sich vor<< (765). Durch Beobachtung in Frankfurt, insbesondere in den Jahren von 1929 bis
allein wird ihm jede kindliche Aktion und Geste 1932 (VII, 68-249; vgl. dazu vor allem Schiller-Lerg
>>[zum] Signal aus einer Welt, in welcher das Kind lebt 1984,40 f.; 1988, 102f.; Buck-Morss 1988,93 f.; Müller
und befiehlt<< (766). Aufgabe des Leiters ist nun, der 1988, 113 f.; Mehlmann 1993; vgl. den Artikel >>Die
Notwendigkeit Platz zu machen, die >>kindlichen Si- Rundfunkarbeiten<<, 406-420).
gnale aus dem gefährlichen Zauberreich der bloßen Diesen Texten sollte man darüber hinaus- als Bei-
Phantasie zu erlösen und sie zur Exekutive an den Stof- spiel für die Hinwendung Benjamins zu Kindern- zu-
fen zu bringen<< (ebd.). Offensichtlich wird in diesem mindest auch das Hörspiel RADAU UM KASPERL hin-
Fall die Gefährdung durch Phantasie anders als im zugesellen (IV, 674ff.), ein Stück, das reich ist an
alten Kinderbuch gelöst: Erinnerung ans Paradies Scharfsinn, Einfällen und vor allem an Hintergrund-
schlägt hier um in >>das geheime Signal des Kommen- geräuschen und im Frankfurter Rundfunk im März
den, das aus der kindlichen Geste spricht<< (769). Wie 1932 unter seiner Regie übertragen wurde, sowie das
bei den Benjaminsehen Rundfunkarbeiten kommt im Hörspiel DAs KALTE HERZ (VII, 316 ff.)- eine Neube-
proletarischen Kindertheater den Stoffen große Be- arbeitung des gleichnamigen Märchens von Wilhelm
deutung zu. Dabei erweist sich als wichtig, den spon- Hauff -,das im Mai 1932 zusammen mit dem Freund
tanen Ausdruck von Kindergesten und -fertigkeiten zu Ernst Schoen verfaßt wurde. Sowohl die Rundfunk-
begünstigen. Das so verstandene Theater wird dadurch vorträge als auch die pädagogischen Rezensionen, die
zum Reich der Improvisation (das Kind wird als >>Ge- in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschie-
nie der Variante<< definiert, (767), zum Feld des kind- nen sind, gelten in den Augen Benjamins als Werke
lichen Lebens, wo die >>Spannungen<< des Kollektivs eines Intellektuellen, der von der inhärenten Potentia-
selbst sich lockern und lösen. lität des neuen Mediums neugierig gemacht worden
Bei dem Kindertheater stehen >>Kinder auf der ist, gleich Brecht und vielen anderen.
Bühne und belehren und erziehen die aufmerksamen Die spezifischen Themen, die der Pionier Benjamin
Erzieher<<, indem es die >>Entbindung der kindlichen als geeignet erachtete, den Kindern über den Äther
382 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

geschickt zu werden, gehören einer erstaunlichen Viel- ter der Bedingung, einzig, pure Stimme zu werden.
zahl von Bereichen an: von der Soziologie der Kunst Nur so können sie sich Tausenden von Kindern auf
und der modernen Städte bis hin zum Problem der einmal darbieten.
Geschichte ihres Untergangs; vom Bereich der Esoterik Daher aber auch jener quälende Gedanke an die
und der Theologie bis hin zum philosophischen Ge- Uhr, die der Berliner Schriftsteller in seinem Vortrag
danken usw. So bestätigen auch insbesondere die ERDBEBEN VON LISSABON einführend erwähnt, wobei
Rundfunksendungen Benjamins Interesse an pädago- er eine Analogie zum Apotheker bildet, der sich mit
gischen Fragen, an der noch unverzerrten Welt des seinem Rezept Mühe gibt: Benjamin betrachtet als
Kindes und der schöpferischen Phantasie, das er nach seine Gewichte die Minuten, die die Zeit der Kurzer-
der Enttäuschung durch die Jugendbewegung und zählung skandieren, bzw. den Rhythmus und den Stil
Gustav Wyneken zurückgewonnen hat, die sich in der des Versuches, im Kontext der Moderne weiterhin zu
Zeit um den Ersten Weltkrieg gezeigt hatte (vgl. Schia- erzählen (VII, 220).
voni 1985, 96 ff.; Zipes 1988, 188 f.). Der rote Faden, der diese Kurzerzählungen verbin-
Die einzigartige Arbeitsmethode, der er sich bedient, det, ist ein kritisch-didaktischer Ton. Benjamin bleibt
wird von Benjamin zu Beginn seines Rundfunkvortra- beim Verfahren des Mischens oder Montierens unter-
ges ERDBEBEN VON LISSABON (1931/32) im Bild des schiedlicher Elemente und zielt damit auf eine einzig-
Drogisten oder Apothekers zusammengefaßt, der seine artige und anregende >>Aufklärung für Kinder<< (um
Rezepte mit vorsichtigen und sorgfältigen Dosierun- eine Formulierung von Rolf Tiedemann aus dem Jahre
gen zusammenstellt (VII, 220). Dieses Bild verweist 1985 aufzugreifen, die die allgemeine Tendenz kenn-
ohne große Umschweife auf den Vorgang des Mischens zeichnet, obwohl allgemein >>Aufklärung<< kein pro-
(oder des Montierens) unterschiedlicher Elemente, der grammatischer Begriff in Benjamins Arbeiten war).
klugen Zusammenstellung direkter Erfahrungen, Be- Die Absicht scheint zu sein, das Lehren mit Vergnügen
schreibungen, Zitate, Kommentare und Überlegungen zu verbinden (delectando docere), nach einem Modell,
- nach einer Formel, die z. B. seinem Zeitgenossen Al- das auch für die Dramaturgie Bertolt Brechts grund-
fred Döblin wichtig war und an die sich Benjamin in legend ist und an dem sich Benjamin in eben jenen
fast allen seinen Kurzerzählungen gehalten hat. Der Jahren interessiert zeigte. Selbst das Publikum wird in
liebenswürdige und geistreiche Sammler von Ge- die didaktische Konzeption aktiv mit einbezogen, die
schichten und Anekdoten, die auf das Zuhören zuge- auf Spontaneität setzt und die ihre Kraft aus der Ab-
schnitten sind, erweist sich während der halben Stunde lehnung von Abstraktheit schöpft, ebenso wie aus der
glänzender Unterhaltung als Kurzerzähler, der sich mit Freude, die Realität aufmerksam zu beobachten und
den neuen technischen Möglichkeiten, die das Radio ihr immer irgendeinen unbekannten Aspekt zu ent-
eröffnet, genauestens auskennt. Er weiß Wißbegier nehmen. Dadurch werden die lebhaften und klugen
und Gelehrsamkeit mit dem Tonfall eines Onkels zu Plaudereien Benjamins im Radio zum Gegengift gegen
verbinden, der viel gereist ist, würzt hier und da mit eine Erziehung, die gleichsam nur koloniale Absatz-
Elementen in der Art Brechts und hat den wachsamen, chancen für den Verkauf von Kulturgütern sucht, bei
ernüchterten Blick des Kundschafters der Moderne in dem die unabhängige Betrachtungsweise und die Ur-
all ihrer Ambivalenz. Wenn einerseits die ziemlich of- teilsfähigkeit derer nicht erweckt wird, die zuhören
fensichtliche Absicht der Beiträge zur >> Jugendstunde<< oder lesen.
dahin geht, strukturierte Texte in Form von Erzählun- Benjamins Ziel ist es nicht, das Bewußtsein seiner
gen auszuarbeiten, so scheint jene Absicht andererseits jungen Hörer zu bearbeiten, um Kenntnisse zu ver-
stets von dem Bewußtsein getragen, in einer Krisenzeit mitteln, sondern Neugierde, eigene Beobachtungsgabe
zu leben, von der auch die Erzählung selbst betroffen bei den Jugendlichen wachzurufen. Im Grunde ge-
ist. nommen geht es darum, kritisch zu handeln, fast mit
Daher der Reiz, den das Radio sogar auf die Figuren der maieutischen Diskretion der jüdischen Haskalah,
des berühmten Hauffschen Märchens DAs KALTE HERZ des Lehrers, der die Probleme, Schwierigkeiten und
in der Bearbeitung durch Benjamin und Schoen aus- Suggestionen verdichtet, dabei größtenteils im Hinter-
übt: Die Gestalten sind der Tatsache müde, daß immer grund bleibt, damit dem Schüler der Glanz zuteil wird,
nur ein Kind nach dem anderen sie lesen und genießen den eigenen, persönlichen Weg zum Wahren gefunden
kann, treten aus dem Buch heraus und erhalten vom zu haben. Benjamin scheint nahezulegen, daß viel-
Ansager die Erlaubnis, sich ins unwegsame >>Stimmen- leicht genau auf diese Art es möglich wäre, die >>ver-
land<< zu begeben (ein utopischer Raum, in dem die ehrten Unsichtbaren<< (250) höchstpersönlich zum
Wesen sich selbst zurückgegeben zu sein scheinen, Kennenlernen und Begreifen zu bringen, sie wachsam
ohne jeglichen Schmuck oder äußere Schönheit), un- werden lassen gegenüber der Offenheit des Lebens, an
Zum Kinde 383

der Schwelle zum Mannesalter, um sich dort zurecht- (im Vortrag NEAPEL, einer packenden Erkundung der
finden zu können. Stadt). Weiter präsentiert er ihnen, mit Licht- und
So fordern viele seiner Rundfunktexte dazu auf, sich Schattenseiten, die einstigen Banditen und Räuber-
vor Betrug in acht zu nehmen, wobei es unwichtig ist, banden in Deutschland, als sagenhafte Helden, die
ob er sich in Form von Sammlerschwindel zeigt (wie Unrecht wiedergutmachen. Er geht für die Jugendli-
im Vortrag BRIEFMARKENSCHWINDEL, 195 ff.) oder in chen den Erlebnissen der amerikanischen Bootleggers
den überspannten Darbietungen eines Cagliostro, die nach, der Alkoholschmuggler, die in den 20er und be-
selbst Goethes Interesse gefunden haben (192f.). Ben- ginnenden 30er Jahren die Prohibition und den Puri-
jamin zögert nicht, sich in ironischer und unbeküm- tanismus herausgefordert haben, ein Zusammenhang,
merter Art mit der Welt der Magie und des Dämoni- in dem die Ursachen der kriminellen Handlung in der
schen auseinanderzusetzen, und stellt dies mit dem Härte der bestehenden Gesetze gesehen werden. Ben-
Faust aus dem Volksbuch sowie mit der gleichnamigen jamin weiß sehr genau, daß er durch seine Themen-
Tragödie Goethes unter Beweis, ebenso wie mit dem auswahl auch Einwände seitens der Erwachsenen pro-
Werk des Cagliostro selbst und schließlich den Erzäh- voziert. Zu Anfang derübertragungüber die Schmugg-
lungen Hoffmanns, romantischer Schilderer der Nacht ler z. B. nimmt er die unvermeidbare Frage vorweg, die
und der Gefahrzonen, ein Autor, dessen Lektüre für er schon von den Lippen mancher Eltern ablesen zu
Benjamin als Kind verboten war. Bevorzugte Zielschei- können meint: >>Soll man Kindern überhaupt solche
ben antiautoritärer Aufklärung sind der Bereich des Geschichten erzählen?<< (201).
traditionellen Schulunterrichts und die Figur des Wie im Vortrag über Cagliostro ausgeführt wird,
Schulmeisters mit seinen vorgefertigten Sicherheiten zielen die im Rundfunk übertragenen Lehrstunden
(vgJ. EIN BERLINER STRASSENJUNGE, 92 ff.; BERLINER unter anderem darauf ab, Neugier zu wecken: Die Ju-
DIALEKT, 68ff.). Außerdem versäumt es Benjamin gendlichen sollen dazu ermutigt werden, die Realität
nicht, den gegen Tyrannei gerichteten Wert selbst der aufmerksam zu beobachten, gute Beobachtungsfähig-
Marionetten hervorzuheben, als er den Jugendlichen keiten zu entwickeln. Dazu erweist sich die Konfron-
im Vortrag PUPPENTHEATER IN BERLIN (1929) die SO- tation mit der Welt der Großstadt als unverzichtbar,
zialgeschichtJichen Ursprünge und Entwicklungen der die für Benjamins Betrachtung der Moderne zentral
von ihm hochgeschätzten Puppentheater erläutert ist. Benjamin berichtet den Jugendlichen von seiner
(80 ff.). Heimatstadt Berlin, zugleich gehaßt und geliebt, von
Benjamin läßt es sich auch nicht nehmen, Aspekte dem Humor und der Freiheit, die in der sogenannten
der Entwicklung industrieller Technik zu vermitteln, >>Berliner Schnauze<< zum Ausdruck kommen, von ei-
wie Z. B. in der Sendung BESUCH IM MESSINGWERK nigen berühmten Berlinern (von Kar! Hobrecker über
(1930), in der er beschreibt, wie in der Industrie Kup- Adolf Glasbrenner bis hin zum Maler Heinrich Zille),
ferlaminat gewonnen wird, wobei er vom Daltonschen von den Vertraulichkeiten der Marktplätze, die von
Gesetz ausgeht, das er in der Schule gelernt hatte den Frauen aus dem Volk und den unnachahmlichen
(131 ff.), oder wie in BoRSIG (1930), als er die jungen >>Marktweibern<< beherrscht sind; er geht ein auf die
Hörer in das berühmte Lokomotivenbauwerk in Ber- beinahe unübersetzbaren Schattierungen ihres Dia-
lin einführt (111 ff.). Es erübrigt sich zu erwähnen, daß lekts, das Labyrinth des Zoologischen Gartens und das
er sich in solchen Augenblicken beeilt, die Schwierig- architektonische Elend der berüchtigten und düsteren
keiten einzugrenzen, die beim Zusammentreffen der >>Mietskasernen<<.
Jugendlichen mit der für sie noch weit entfernten Ar-
beitswelt einschließlich ihrer Fachsprachen auftreten
können. Erzählen gegen die Zeit
Die »verehrten Unsichtbaren<< werden auch nicht
von Geschichten verschont, in denen es um Unter- Am Mikrofon kehren auch Leidenschaften zurück, die
drückte, Verfolgte und Gefangene geht (wie z.B. die der Sammler und Historiker Benjamin immer gepflegt
Gefangenen in der französischen Bastille oder das Fin- hat - mit seinem Drang, in subversiver Art all das zu
delkind Caspar Hauser). Den jungen Hörern stellt retten, was im Begriff ist zu entschwinden, weil vom
Benjamin Kulturen und Traditionen vor, die an den Markt verworfen oder ausrangiert: alte Kinderbücher,
Rand gedrängt und mit Vorurteilen belegt wurden, wie Abc-Bücher und Fibeln, außer Kurs geratene Brief-
z. B. Angehörige der Roma und Sinti, die sich der marken, altes Spielzeug usw. Für Benjamin handelt es
Zwangseingliederung unterwerfen mußten und damit sich um Materialien, die sich wie Reliquien von etwas
von Identitätsverlust bedroht waren. Auch heikle The- Untergegangenem ausnehmen und die ebenfalls zu
men scheut er nicht, wie z.B. die Camorra in Neapel Barrikaden aufgetürmte Trümmer sind gegen die höl-
384 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

lische Beschleunigung der Moderne. Ebenso wie der Schrecken vor den Minuten gestanden hat (und der
Sammler scheint auch der Erzähler von Anekdoten 1940 in den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GE-
und Rundfunkgeschichten nichts anderes zu tun, als SCHICHTE den Juli 1830 heraufbeschwört, als die Pa-
den »verehrten Unsichtbaren« viele winzige Unterbre- riser Revolutionäre auf die Uhren der Stadt schossen,
chungen der Moderne, ihres unerbittlichen Tempos, um den Lauf der Geschichte zu unterbrechen und ei-
anzubieten und vorzuschlagen. Hinter der Maske der nen neuen Kalender einzuführen), beleuchtet die pro-
Kurzerzählung, in der wiedergefundenen Zeit der Ra- blematischen Seiten der Kurzerzählungen. Auch in
dioerzählung, sucht er auf neue Art Wissen zu verbrei- diesem Falle sieht man (genauer gesagt: hört man)
ten, wobei er die aktive Aufnahme begünstigt, ohne nicht ohne Verwunderung das unerbittliche Drängen
derjenigen >>Volkstümlichkeit<< nachzutrauern, wie sie der geschichtlichen Zeit. So trägt der Text schließlich
während der vergangenen Aufklärung häufig gepflegt auch das Zeichen des zunehmenden Zeit-Drucks und
worden ist: populäre Darstellung als eine abgeleitete, -Zerfalls in sich (Börsenstürze, Krisen, faschistische
gegenüber der wissenschaftlichen sekundäre (IV, 671). Tendenzen im Vormarsch) und wird zur Mahnung,
Im Rundfunkvortrag, der nicht nur eine Zuhörerschaft erscheint als Palimpsest von Fügungen, die sich in eine
von Spezialisten, sondern auch von Laien auf ein Wis- unruhige Zukunft hinein ankündigen. >> [U] nd wir
sen hin >>in Bewegung setzt<<, lebendige >>Bildungsar- sehen wie spät es ist<< (VII, 255): so spricht 1929 die
beit<< leistet, fähig, ein >>wirklich lebendiges Wissen« zu Stimme des Kurzerzählers. Im Grunde führt auch Ben-
entwickeln - wie in ZWEIERLEI VOLKSTÜMLICHKEIT jamin seinen Hörern seit einigen Jahren die verschie-
(671 f.) erklärt wird-, läßt Benjamin die Ansicht nicht denen Federn und Rädchen der Uhr von Weimar vor,
gelten, nach der der Geschichtsverlauf nur als >>homo- um ihnen zu zeigen, wie spät es geworden, wie sehr
gene und leere Zeit<< (I, 701) zu verstehen ist. Er gibt Eile geboten ist (vgl. Buck-Morss 1988, 101).
den von Mal zu Mal ausgewählten Objekten >>die Frei- Es ist kein Zufall, daß er in seinen letzten Rundfunk-
heit zurück<<, er projiziert sich selbst und die Hörer in sendungen Themen in Angriff nimmt, die für das Ende
einen vorgestellten Raum aus Bildern, in dem ein mes- der Weimarer Republik und für die Lage Europas zu
sianischer Zustand vorweggenommen wird. Dabei Anfang der 30er Jahre bezeichnend sind: Man denke
nimmt er jedoch auch wiederum keine vertröstende nur an die Schwindelei eines Cagliostro (sicherlich als
Perspektive ein, weil er die Ernüchterung gegenüber ein Hinweis aufHitler zu verstehen), an die Hexenver-
der geschichtlichen Gegenwart nicht verschweigen folgungen und -prozesse, an die Vorurteile und Ste-
kann, die er später als »völliges Fehlen von Illusionen reotypen in bezug auf Rorna und Sinti, an die Aktivi-
gegenüber der Epoche<< bezeichnet, eine Dimension, täten des Ku Klux Klan, an die Naturkatastrophen (den
die in den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE Untergang von Herculanurn und Pompeji, das Erdbe-
( 1940) an Paul Klees Bild Angelus Novus manifest wird: ben von Lissabon, die Eisenbahnkatastrophe vorn Firth
Vor den Augen des Engels häufen sich Trümmer über of Tay, die Mississippi-Überschwernrnung 1927). Es
Trümmer im Namen des Fortschritts (697). handelt sich um Themen, die Schlaglichter auf die
Im Rundfunkvortrag KINDERLITERATUR (1929) er- Epochenkrise werfen. In den Jahren, in denen der Fa-
fährt das Bild der Uhr, die drängt und dazu zwingt, die schismus Mythisch-Vorzeitiges für sich beansprucht
Zeitspanne der Kurzerzählung klug zu nutzen, eine und vergangene Greuel auf die Spitze treibt, betont
ungewöhnliche, sinnbildliche Wendung: Die Uhr Benjamin die Notwendigkeit, Haltungen zu überwin-
skandiert die Bewegungen der praktischen Aufklärung, den, die aufVorurteilen basieren, aufWillkür beruhen,
die das Meisterwerk eines Dichters des 19. Jh.s durch- auf dem Drang, neue Hexen und Ungeheuer zu schaf-
dringt: das Schatzkästlein Johann Peter Hebels. Dies- fen und kurzen Prozeß zu machen. Nicht zufällig wird
bezüglich bemerkt Benjamin: >>Es ist, wenn er seine auch das Experiment der Kurzerzählungen in einem
Geschichten erzählt, als ob der Uhrmacher uns ein Deutschland, das Benjamin wenige Jahre später- im
Uhrwerk weist und die Federn und die Rädchen ein- Januar 1940- mit einer >>Wüstenlandschaft<< (6, 379)
zeln erklärt und erläutert. Plötzlich (seine Moral ist vergleichen wird, brüsk unterbrochen. Mit dem dra-
immer plötzlich) dreht er sie um und wir sehen wie stischen Einschnitt 1933 bleibt für viele demokratische
spät es ist. Und auch darin gleichen diese Geschichten Intellektuelle in Deutschland die Uhr stehen. Benjamin
der Uhr, daß sie unser frühestes kindliches Staunen hat das Thema Kindheit indes auch danach weiter be-
wecken und nicht aufhören uns das Leben lang zu handelt, etwa in den Aufzeichnungen zu Fourier im
begleiten<< (VII, 255). Zusammenhang der Passagenarbeit (V, 764ff.) und
Auch wenn es vordergründig um Hebel geht, spricht insbesondere in dem Werk BERLINER KINDHEIT UM
Benjamin hier zugleich von sich selbst. Der Apotheker NEUNZEHNHUNDERT (siehe den Artikel dazu).
und Uhrmacher, der uns an anderer Stelle seinen
Zum Kinde 385

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386 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

})Der Sürrealismus. des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon


ein impressionistisches Element bleibt- die >Mytho-
Die letzte Momentaufnahme logie<-[ ... ] geht es hier um Auflösung der >Mytholo-
der europäischen Intelligenz« gie< in den Geschichtsraum. Das freilich kann nur
Von Karlheinz Barck geschehen durch die Erweckung eines noch nicht be-
wußten Wissens vom Gewesenen<< (V, 1014). In Ben-
jamins Selbstverständnis ist die Arbeit am Surrealis-
Ein »Essay zur Literatur<< ist Benjamins Surrealismus- mus-Essay mithin in erster Linie eine wichtige Etappe
Essay nicht! Eher einer über das Politische in Kultur auf dem Weg zur Passagenarbeit und auch zum Kunst-
und Theorie der Moderne, über deren geschichtlichen werk-Essay von 1936 gewesen, von dem er sagt, daß
Index die >>Paralipomena zum Sürrealismus<< unter der >>ich nun als Erster einige Fundamentalsätze der ma-
Rubrik >>Surrealismus und Politik<< eine Eintragung terialistischen Kunsttheorie gefunden [habe]<< (5, 193).
Benjamins enthalten, die ein Motiv seines Interesses RolfTiedemann hat in seiner Einleitung zur Passagen-
für den französischen Surrealismus festhält. >>Ein na- arbeit den Surrealismus-Essay als Benjamins Erarbei-
heliegender Irrtum: den Surrealismus für eine litera- tung einer >>Versuchsanordnung<< (V, 19f.) für die
rische Bewegung zu halten. Als solche ist sie freilich anfänglichen Passagenentwürfe beschrieben. >>Bildete
klein, einflußlos, eine Sache von Konventikeln. Aber die Konzeption des Konkreten den einen Pol von Ben-
die Schriften dieser Autoren formieren sozusagen nur jamins theoretischer Armatur, so die surrealistische
die scharfe Spitze eines Eisbergs, der unterm Meeres- Traumtheorie den anderen; in dem Kraftfeld zwischen
spiegel sein Massiv in die Breite streckt. Es ist gerade Konkretion und Traum finden die Divagationen des
eine Aufgabe der Kritik zu erkennen, an welche aktu- ersten Passagenentwurfs statt<< (16).
ellen außerliterarischen Tendenzen diese Schriften Vor der Publikation in den Gesammelten Schriften
anschließen<< (li, 1035). Wie der Untertitel des Essays (1977) und der Passagenarbeit darin (1982), die den
sagt, ist der Gestus kein hermeneutischer, sondern ein Kontext des Surrealismus-Essays im CEuvre Benjamins
zeitdiagnostischer. Der Surrealismus interessiert Ben- überhaupt erst erkennbar machte, kann von einer Re-
jamin als die von einer Gruppe junger Intellektueller zeption dieses Essays im eigentlichen Sinne überhaupt
getragene Bewegung, in deren Praxis Benjamin Ge- keine Rede sein. Diegenaue Situierung im Universum
genbilder zu einer allgemeinen europäischen Befind- des Benjaminsehen CEuvre ist erst mit der Veröffent-
lichkeit erkennt. >>Das Charakteristische dieser ganzen lichung der sechsbändigen Briefausgabe (1995-2000)
linksbürgerlichen Position ist ihre unheilbare Ver- möglich geworden.
kupplung von idealistischer Moral mit politischer
Praxis. Nur im Kontrast gegen die hilflosen Kompro-
misse der >Gesinnung< sind gewisse Kernstücke des Entstehungsgeschichte und Kontexte
Sürrealismus, ja der sürrealistischen Tradition, zu ver-
stehen<< (304). Insofern ist der Essay ein Text des Er- Benjamins Surrealismus-Essay erschien in drei Folgen
wachens, mit dem Benjamin sich ein Teleskop baute, im Februar 1929 (am 1.2.; 8.2.; 15.2.) in der von Willy
um von der Urgeschichte des 19. Jahrhunderts ein Bild Haas in Berlin herausgegebenen Wochenzeitung Die
nach Zügen zu zeichnen, >>die es in einem zukünftigen, literarische Welt. Der erste Teil am 1. Februar 1929 in
von Magie befreiten Weltzustand zeigen wird<<, wie einer Sondernummer: Das moderne Frankreich, zu der
Benjamin am 28.10.1935 an Werner Kraft schrieb (5, Willy Haas in einer redaktionellen Anmerkung schrieb:
193). Der Essay steht in Zusammenhang mit der Lek- >>In dieser Nummer wird nicht versucht, einen voll-
türe surrealistischer Texte und mit der expliziten Dis- ständigen überblick über das sehr weit verzweigte und
kussion mit Louis Aragon, insbesondere von dreien komplizierte Gebiet der neueren französischen Lite-
seiner für die Bewegung des Surrealismus in Frank- ratur zu bieten. Wir wollten vorläufig einige Anhalts-
reich programmatischen Texte: dem Paysan de Paris punkte und Zusammenhänge der französischen Lite-
(1926) und den beiden Traktaten Une vague de reves ratur (wie zwischen deutscher und französischer) kurz
(1924) und Traite du style ( 1928). Benjamins Lektüre notieren. Eine zweite französische Nummer wird etwas
dieser Texte ist weder exegetisch noch apologetisch, ausführlicher auf die allgemeine heutige Konstellation
sondern motiviert durch die Suche nach einer theore- innerhalb Frankreichs eingehen und eine Anzahllite-
tischen Armatur, nach einem Grundriß für die Passa- rarischer Proben beifügen<< (Willy Haas 1929, 2). Ben-
genarbeit. >>Abgrenzung der Tendenz dieser Arbeit jamin hat den Essay als eine Bilanz umfangreicher
gegen Aragon: << schreibt er darin, >> [w] ährend Aragon Lektüren zum Surrealismus, die er seit 1927 im Zu-
im Traumbereiche beharrt, soll hier die Konstellation sammenhang der Arbeit am Passagenwerk absolvierte,
»Der Sürrealismus« 387

im Januar 1929 geschrieben, wie einem Brief aus Ber- Der Surrealismus-Essay - ein Paravent
lin an Alfred Cohn vom 16.1.1929 zu entnehmen ist. vor den Pariser Passagen
»Ich arbeite neuerdings viel. Gerade eben liegen um
mich einige von den alten und neuen Schriften herum, Die Lokalisierung des Surrealismus-Essays als erstes
aus denen ich mich über Surrealismus zu informieren zusammenfassendes Ergebnis eines breit angelegten
habe. Ich, und dann auch Du als Leser, wir müssen nun Laborversuchs, der Passagenarbeit, ist Benjamin im
nächstens dran glauben. Die Literarische Welt bereitet Verlaufe seiner sondierenden archäologischen Recher-
ein Frankreichheft vor, in dem ich nun endlich erzäh- chen (vgl. Sagnol 2003) zur >>Urgeschichte des 19.
len soll, wie es in Paris war. Und anstau dessen könnte Jahrhunderts<< (V, 579) immer deutlicher bewußt ge-
ich jetzt in Paris bei Aragon sitzen, mit dem eine gute worden. Er beschreibt den Ort des Essays nach der
Bekannte von mir sich eben befreundet hat<< (3, 434). Veröffentlichung im Hinblick auf die als work in pro-
Benjamin bezieht sich auf seinen Aufenthalt in Paris, gressangelegte >>Urgeschichte des 19. Jahrhunderts<<
wo er 1925 drei Monate von Ende Märzbis Mitte Juni als >>Paravent<< und als >>Prolegomena<<. So an Gershorn
und dann von April bis Oktober 1927 zu Studien auf Schalem am 15.3.1929. >>Optime, amice fragst Du, was
der Bibliotheque Nationale in der Rue de Richelieu sich wohl hinter der Surrealismus-Arbeit verbergen
weilte. mag. [... ] In der Tat ist diese Arbeit ein Paravent vor
Der in Fraktur gesetzte Titel des Essays markierte den >Pariser Passagen< -und ich habe manchen Grund,
mit dem Umlaut die französische Phonetik des Termi- was dahinter vorgeht, geheim zu halten. Gerade Dir
nus Surrealismus und setzte mit dem Untertitel für die aber immerhin soviel: daß es sich hier eben um das
Leser ein Fragezeichen. Sollte der Schnappschuß ein handelt, was Du einmal nach Lektüre der >Einbahn-
letztes Bild von einem verschwindenden Zustand eu- straße< berührtest: die äußerste Konkretheit, wie sie
ropäischer Intelligenz fixieren oder nicht vielmehr dort hin und wieder für Kinderspiele, für ein Gebäude,
seine erste, jüngste Aufnahme andeuten, Anzeichen von eine Lebenslage in Erscheinung trat, für ein Zeitalter
etwas Neuern und Unerhörten? Als ein weiteres Lek- zu gewinnen<< (3, 453 f.).An Hofmannsthal, dem Ben-
türesignal hatte Benjamin den Abdruck einer Apolli- jamin einige seiner Arbeiten schickte, darunter den
naire- Karikatur von Picasso empfohlen, die den Erfin- Proust-Aufsatz von 1929, schrieb er drei Monate spä-
der des Terminus Surrealismus in der Pose eines Bi- ter am 26.6.1929: >>Der >Sürrealismus< ist ein Gegen-
schofs mit Hirtenstab und Mitra und der für stück zu ihm [dem Proust-Aufsatz, d. Verf.], das einige
Apollinaire emblematischen Pfeife im Mund zeigt. Prolegomena der Passagen-Arbeit enthält, von der wir
Benjamin hat in Picassos Darstellung ein Bild gesehen, einmal bei mir gesprochen haben<< (472). Man kann
das >>das äußerste Schicksal des Katholizismus darstellt, sagen, daß Benjamin 1929 den Surrealismus als ein
wenn das Bild hier nicht gar den Papst (sie) vorstellen dialektisches Bild der Epoche im Zentrum seiner Arbeit
soll, der im Heresiarque et Cie kraft seiner Unfehlbar- plaziert hat.
keit die katholische Religion für irrig erklärt<< (Il, Aus der Korrespondenz lassen sich heute die Linien
1030 ). Über die redaktionelle Aufteilung seines Essays von Benjamins Begegnung mit dem Surrealismus und
für die Veröffentlichung in drei Folgen hat sich Benja- seine Durcharbeitung surrealistischer Texte (vgl. Barck
min, der 1929 in Berlin war, geärgert. Er schrieb dar- 1982, 277-288), die in dem Essay eine erste kohärente
über im Februar an Alfred Cohn: >>Wenn Du Dich für Form gefunden hat, nachzeichnen. Der 1925 nach Lek-
den Aufsatz über Surrealismus interessierst, wirst Du türe der >>fragwürdigen Bücher der Surrealisten<< (an
gut tun, das vollständige Erscheinen abzuwarten und Scholem am 21.7.1925, 3, 61) entstandene kleine Text
ihn dann in Einem zu lesen. Sinnwidriger als es ge- TRAUMKITSCH, Zeugnis der >>frühesten Beschäftigung
schehen ist, ließ sich nämlich die Abteilung der Fort- Benjamins mit dem Surrealismus<< (II, 1425), der zwei
setzungen garnicht vornehmen<< (3, 447). Am Ende des Jahre später, im Januar 1927, unter einem von der Re-
Essays hatte Die literarische Weltein Literaturverzeich- daktion erfundenen Titel als >>Glosse zum Sürrealis-
nis unter dem Titel Einige Quellenschriften gedruckt, mus<< in Die Neue Rundschau erschien, hat so genau
das die Herausgeber der GS ohne weitere Aufklärung wie kaum ein anderer zu der Zeit eine die Intentionen
als >>ein in mancher Hinsicht merkwürdiges Literatur- treffende Vorstellung vom Surrealismus beschrieben.
verzeichnis<< nennen. >>Obwohl unsicher ist, ob es von Er nennt sie die Traumwelt des »möblierten Men-
Benjamin [was doch wohl anzunehmen ist, d. Verf.] schen<<, in der die blauen Blumen der Romantik grau
oder von der Redaktion der >Literarischen Welt< geworden sind. >>Die Träume sind nun Richtweg ins
stammt, wird es im folgenden abgedruckt<< (II, Banale<<, und >>[d]ie Seite, die das Ding dem Traume
1041). zukehrt, ist der Kitsch<< (620). Benjamins nahezu mit
der Inkubation des Surrealismus in Paris synchrone
388 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

frühe Lektüre surrealistischer Texte- Paul Eluards von Benjamins anhaltende, über zehn Jahre, von 1925
Max Ernst illustrierter Gedichtband Repetitions ( 1922), bis zur Arbeit an dem Passagenprojekt, sich erstrek-
Andre Bretons Manifeste du surrealisme (1924) und kende Beschäftigung mit dem Surrealismus galt nicht
Louis Aragons dazu komplementäre Programmschrift lediglich >>der Festigung meiner pariser Position<<, wie
Une vague de reves ( 1924) - beschreibt mit dem Trend er am 5.6.1927 an Hofmannsthai schreibt. Sie ist mo-
zur Banalität des Alltäglichen und deren Spiegelbildern tiviert vor allem durch eine Kongruenz im Denken,
im Traum- >>Das Träumen hat an der Geschichte teil<< wie es die Texte der EINBAHNSTRASSE (1928) bezeugen,
(ebd.) -,was bis zum Surrealismus-Essay von 1929 zu die den Surrealismus als experimentelle Denkbewe-
einem methodischen Prinzip von Benjamins Arbeit gung, als Gedankenexperiment zum wichtigsten An-
am Passagenwerk wird: dieübertragungvon Traum- reger der Passagenarbeit werden ließen. Im Surrealis-
zuständen vom Individuum auf kollektive Erfahrun- mus nähert Benjamin sich >>dem französischen Geist
gen und Experimente. Darüber heißt es Anfang 1927 auch in seiner aktuellen Gestalt [... ].Während ich mit
in den ersten Notizen zur Passagenarbeit: >>Es ist eine meinen Bemühungen und Interessen in Deutschland
der stillschweigenden Voraussetzungen der Psychoana- unter den Menschen meiner Generation mich ganz
lyse, daß die konträre Gegensatzstellung von Schlaf isoliert fühle, gibt es in Frankreich einzelne Erschei-
und Wachen für den Menschen oder überhaupt die nungen - als Schriftsteller Giraudoux und besonders
empirischen Bewußtseinseindrücke keine Geltung hat, Aragon - als Bewegung den Surrealismus, in denen ich
sondern einer unendlichen Varietät von Bewußtseins- am Werk sehe, was auch mich beschäftigt. Für jenes
zuständen weicht, die jede durch den Grad von Wach- Notizenbuch [EINBAHNST RASSE, d. Verf.], von dem ich
heit aller geistigen und leiblichen Zentren bestimmt Ihnen vor langer Zeit, sehr verfrüht, einige Proben
werden. Diesen durchaus fluktuierenden Zustand ei- sandte, habe ich in Paris die Form gefunden<< (3,
nes zwischen Wachen und Schlaf jederzeit vielspältig 259).
zerteilten Bewußtseins hat (man) vom Individuellen
aus aufs Kollektiv zu übertragen. Tut man das, so ist
für das 19" Jahrhundert offenbar, daß die Häuser die Benjamins Aragon-Lektüre und Übersetzung
Traumgebilde seiner am tiefsten schlummernden
Schicht sind<< (V, 1012). Im Komplex K des Passagen- über Benjamins Lektüre von Aragons surrealistischem
werks ( Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, Roman Le paysan de Paris (1926) als einem auslösen-
anthropologischer Nihilismus, jung), dessen Einträge den Moment für die Passagenarbeit hat er später
nach dem Surrealismus-Essay entstanden sind, hat Adorno in einem Brief am 31.5.1935 berichtet, in dem
Benjamin die surrealistische Methode - >>Casting his- er dessen kritischen Kommentar zum ersten Expose
torical process in psychoanalytic terms<< (Cohen 1993, für die Passagenarbeit aufgreift und Adornos Warnung
196)- als eine zur Dechiffrierung der verschlüsselten vor dem Einfluß Brechts auf die Passagenarbeit mit
>>Erscheinungsformen des Traumkollektivs vom 19ten dem Hinweis auf die zehn Jahre frühere, surrealistisch
Jahrhundert<< festgehalten. Es ist darum eine geschicht- inspirierte Konfiguration relativiert. >>Da steht an ih-
liche Besonderheit, daß der Kapitalismus eine Natur- rem Beginn Aragon- der Paysan de Paris, von dem ich
erscheinung war, >>mit der ein neuer Traumschlaf über abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen
Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der my- konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde,
thischen Kräfte<<, wie Benjamin notiert (V, 494). Die daß ich das Buch aus der Hand legen mußte. Welche
Surrealisten haben ihm zufolge als erste diese Impli- Warnung! Welcher Hinweis auf die Jahre und Jahre,
kationen registriert. >>Die >Kritik< des 19"n Jahrhun- die zwischen mich und solche Lektüre gebracht wer-
derts also[ ... ] hat hier einzusetzen. Nicht die an seinem den mußten. Und doch stammen die ersten Aufzeich-
Mechanismus und Maschinismus sondern an seinem nungen zu den Passagen aus jener Zeit.- Es kamen die
narkotischen Historismus, seiner Maskensucht, in der berliner Jahre, in denen der beste Teil meiner Freund-
doch ein Signal von wahrer historischer Existenz schaft mit Hesse! sich in vielen Gesprächen aus dem
steckt, das die Surrealisten als die ersten aufgefangen Passagenprojekt nährte. Damals entstand der- heute
haben. Dieses Signal zu dechiffrieren, damit hat der nicht mehr in Kraft stehende- Untertitel >Eine dialek-
vorliegende Versuch es zu tun. Und die revolutionäre, tische Feerie<<< (5, 96f.).
materialistische Basis des Surrealismus ist eine genü- Die Einschreibung der Passagen als emblematischer
gende Bürgschaft dafür, daß in dem Signal der wahren Schauplatz, als Bild- und Erfahrungsraum einer mo-
historischen Existenz, von dem hier die Rede ist, das dernen Mythologie in die Passagenarbeit ist ohne
19" Jahrhundert seine ökonomische Basis zum höch- Zweifel von Benjamins Aragon-Lektüre inspiriert. Im
sten Ausdruck gelangen läßt<< (493 f.). ersten Entwurf zu den Pariser Passagen, der Mitte 1927
»Der Sürrealismus« 389

geschrieben wurde, hat Benjamin in einem schönen Benjamins Passagenarbeit (vgl. Lindner 1986, 13-32),
Bild die Passagen als den mythischen Wirkungsraum so sind damit nicht irgendwelche Einflüsse oder das
der surrealistischen Musen beschrieben. >>Der Vater Einwandern von Motiven in den Denkhaushalt der
des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine Pas- Passagenarbeit gemeint. Wo Aragon in seinem Roman
sage. Dada war, als er ihre Bekanntschaft machte, schon die Vision einer mythologie moderne als >>mythologie
alt. Ende 1919 verlegten Aragon und Breton aus Ab- en marche<< und als Grundlegung >>d'un sentiment
neigung gegen Montparnasse und Montmartre ihre esthetique nouveau<< konzipierte, das die Antithese von
Zusammenkünfte mit Freunden in ein Cafe der Pas- Kunst und Technik nicht mehr als eine Norm aner-
sage de l'Opera. Der Durchbruch des Boulevard kennt- >>L'homme a delegue son activite aux machi-
Haussmann hat ihr ein Ende gemacht. Louis Aragon nes. [... ] Ainsi la nature entiere est ma machine:
hat über sie 135 Seiten geschrieben, in deren Quer- l'ignorance que j'en ai, que je puisse etre ignorant, est
summe die Neunzahl der Musen (sich) versteckt hält, un simple fait d'inconscience<< (Aragon 1974, 215; 225)
die an dem kleinen Surrealismus Wehmutterdienste -,vermerkte Benjamin Signale des historischen Mate-
geleistet haben. Diese handfesten Musen heißen: Ball- rialismus. MitAlfred Cohn hat er darüber im Dezem-
horn, Lenin, Luna, Freud, Mars, Marlitt und Citroen. ber 192 7 korrespondiert. >>Mich frappiert sehr, daß Du
Ein vorsichtiger Leser wird ihnen allen, wo er im Laufe Aragon mit dem historischen Materialismus zusam-
dieser Zeilen auf sie stößt, so unauffallig wie möglich menstellst. Voila exactement mon point-de-vue a moi.
ausweichen. Auf diese Passage hält im >Paysan de Paris< Alte Hasen liegen in diesem Pfeffer. Von rechts wegen
Aragon den bewegtesten Nachruf, der je von einem müßten die >Pariser Passagen< längst geschrieben sein
Mann der Mutter seines Sohnes ist gehalten worden. [... ]<< (3, 311).
Dort soll man ihn nachlesen, hier aber nicht mehr als >>Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg<< hatte
eine Physiologie, und, um es rund heraus zu sagen, Benjamin in der ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE
einen Sektionsbefund dieser geheimnisvollsten abge- des Trauerspielbuches geschrieben (I, 208). Seine
storbensten Partien der Hauptstadt Europas erwarten<< Durcharbeitung des Surrealismus ist ein solcher Um-
(V, 1057, vgl. eine Variante auch in li, 1033). weg zur Passagenarbeit. Deren Verhältnis zum Surrea-
Von Aragons Paysan de Paris waren 1924 die beiden lismus definierte Benjamin in einem bemerkenswerten
ersten Kapitel des Romans - Preface aune mythologie Brief an G. Scholem vom 30.10.1928 geradezu als ein
moderne und Le passage de /'Opera- in der Revue Eu- Erbeverhältnis, was den programmatischen Status des
ropeenne erschienen, die Benjamin 1925 während sei- Surrealismus-Essay im CEuvre Benjamins unterstreicht.
nes Parisaufenthaltes gelesen hat. Im Vorfeld der Ar- >>Der eigentliche Sprung, den das Hebräische ja not-
beiten für den Surrealismus-Essay übersetzte Benjamin wendig durch meine engeren Projekte machen muß,
dann im Sommer 1927- >>Ich schreibe jetzt über Ara- wird nun die Passagenarbeit betreffen. Damit konver-
gon<<, schreibt er am 21.7.1927 an Fritz Radt (3, 275) giert aber sehr eigentümlich ein anderer Umstand. Um
-vier Abschnitte aus dem Kapitel Passage de /'Opera, die Arbeit aus einer allzu ostentativen Nachbarschaft
die am 8. und 15. Juni 1928 in der Literarischen Welt zum mouvement surrealiste, die mir fatal werden
erschienen: Don ]uan Der Schuhputzer, Briefmarken, könnte, so verständlich und so gegründet sie ist, her-
Damentoilette, Cafe Certtl (Suppl. I, 16-33). Benjamin auszuheben, habe ich sie in Gedanken immer mehr
stellte seiner Übersetzung eine Bemerkung voran, die erweitern und sie, in ihrem eigensten winzigen Rah-
Aragons Roman als ein Ereignis präsentiert und den men so universal machen müssen, daß sie, schon rein
Lesern der Literarischen Welt den Surrealismus-Essay zeitlich, und zwar mit allen Machtvollkommenheiten
ankündigt. Diese Vorbemerkung ist überhaupt die eines philosophischen Fortinbras die Erbschaft des
erste in Deutschland veröffentlichte Notiz über den Surrealismus antreten wird. Mit andern Worten: ich
Surrealismus. »Vor drei, vier Jahren begründeten Louis schiebe die Abfassungszeit der Sache ganz gewaltig
Aragon und Andre Breton die surrealistische Bewe- hinaus, auf die Gefahr hin, eine ähnlich pathetische
gung. Dichter wie Benjamin Peret, Paul Eluard, Datierung des Manuscripts wie bei der Trauerspielar-
Antonin Artaud haben sich um sie gesammelt, Maler beit zu bekommen<< (3, 420).
wie Max Ernst, Giorgio de Chirico stehen ihr nahe. Sieben Jahre später, am 9.8.1935, im Blick auf die in
Wir werden auf diese Bewegung, die das Beunruhi- Paris seit 1934 wieder aufgenommene Arbeit, erwähnt
gende der Wirklichkeit und der Sprache, eines im an- Benjamin Scholem gegenüber noch einmal sein dia-
dem, zum Ausdruck bringt, noch ausführlich zurück- lektisches Erbschaftsverhältnis zum Surrealismus. >>Ich
kommen<< (Suppl. I, 17). will den Gegenstand nicht verlassen, ohne Dir zu sa-
Wenn gesagt wurde, der Surrealismus sei die viel- gen, daß die alternativen Vermutungen, welche Du an
leicht wichtigste Anregung oder Antriebskraft von ihn schließt, beide zutreffen. Die Arbeit stellt sowohl
390 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

die philosophische Verwertung des Surrealismus- und Heidegger und der Surrealismus.
damit seine Aufhebung - dar wie auch den Versuch, Zwei Antworten auf die Krise
das Bild der Geschichte in den unscheinbarsten Fixie- geschichtlichen Denkens
rungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam, fest-
zuhalten<< (5, 138). An zwei Stellen hat Benjamin die Differenz zwischen
Rolf Tiedemann hat in seiner Kommentierung der Heidegger und dem Surrealismus als die epochenty-
»Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte<< des Passagen- pische Konstellation eines Scheideweges und zugleich
werks vermutet, daß Benjamin nach der Niederschrift als interne Konfiguration der Passagenarbeit betont.
des Surrealismus-Essays an der Weiterarbeit nicht Im Konvolut S (Malerei, Jugendstil, Neuheit) schrieb
durch die ihm von Scholem nahegelegte »innerjüdi- er durchaus im Tenor eines programmatischen Credos:
sche Karriere und Zukunft<< (Scholem 1976, 175) be- >>Lebenswichtiges Interesse, eine bestimmte Stelle der
hindert worden sei, sondern >>tatsächlich war der vor- Entwicklung als Scheideweg zu erkennen. An einem
läufige Abbruch der Passagenarbeit durch eine theo- solchen steht zur Zeit das neue geschichtliche Denken,
retische Aporie bedingt, die in den Briefen dieser Zeit, das durch höhere Konkretheit, Rettung der Verfalls-
jedenfalls im Zusammenhang mit den Passagen, kaum zeiten, Revision der Periodisierung überhaupt und im
anklingt: der von Benjamin empfundenen Nötigung, Einzelnen charakterisiert ist und dessen Auswertung
die Arbeit gegenüber den Anforderungen des histori- in reaktionärem oder revolutionäre[m] Sinne sich jetzt
schen Materialismus zu behaupten<< (V, 1082). In dem entscheidet. In diesem Sinne bekundet in den Schriften
nach Wiederaufnahme der Passagenarbeit in Paris im der Surrealisten und dem neuen Buche von Heidegger
Mai 1935 entstandenen Expose PARIS, DIE HAUPT- sich ein und dieselbe Krise in ihren beiden Lösungs-
STADT DES XIX. JAHRHUNDERTS sieht Tiedemann die möglichkeiten<< (V, 676). In den wenig später formu-
Einlösung dieser >>Anforderungen<<. »Mit ihm gelang lierten >>Ersten Notizen<< zu den >>Pariser Passagen<< hat
Benjamin, die in den späten zwanziger Jahren unter- Benjamin die Forderung verstärkt, zwischen beiden
nommenen Studien, in denen er gleichsam die Erb- Optionen eine Entscheidung zu treffen, die sich dem
schaft des Surrealismus hatte einbringen wollen, mit >>neuen Blick« auf die Geschichte als zwingend emp-
seinen neuen Intentionen.., der stärkeren Orientierung fehle. >>Lebenswichtiges Interesse, an einem bestimm-
an der Sozialgeschichte und einem Verfahren, das vor ten Ort der Entwicklung die Gedanken am Scheideweg
dem Marxismus sich legitimieren konnte - zu ver- zu erkennen: heißt der neue Blick auf die geschichtli-
schmelzen; das Buch, das er schreiben wollte, war da- che Welt am Punkte, wo über seine reaktionäre oder
mit endlich und zum erstenmal absehbar geworden<< revolutionäre Auswertung die Entscheidung fallen
(1097). muß. In diesem Sinne ist in den Surrealisten und in
Man kann diese Vermutungen konkretisieren, wenn Heidegger ein und dasselbe am Werk<< (1026). Diese
man bedenkt, daß der Surrealismus-Essay nach Ben- in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Sein und Zeit for-
jamins Moskau-Aufenthalt (9.12.1926 bis 1.2.1927) mulierte Diagnose Benjamins, ebenso singulär wie
und vor der eigentlichen Begegnung mit Brecht, vor überraschend im Kontext der Arbeiten zum Surrealis-
dessen Einfluß auf die Passagenarbeit dann Adorno mus, setzt zwei von der Schulphilosophie und einem
immer wieder warnte (Adorno 1994, 168-175), ge- intellektuellen Spartendenken als inkommensurabel
schrieben wurde. Er steht am Beginn der eigentlichen gegeneinander abgegrenzte Bereiche des Wissens und
Passagenarbeit als die Vision eines anthropologischen Denkens in ein Spiegelverhältnis auf gleichem Niveau.
Materialismus, der die marxistische Kunsttheorie, Benjamins implizite Auffassung des Surrealismus als
>>bald bramarbasierend und bald scholastisch<< (V, 581) einer Alternative (oder als eines Gegenentwurfs) zu
hinter sich läßt. Implizit, so kann man sagen, markiert Heidegger, wovon ja explizit im Surrealismus-Essay
Benjamin den Surrealismus in der frühen >>klassi- keine Rede ist, hat ihren thematischen Horizont im
schen<< Phase der Bewegung und damit seine eigene Begriff der Geschichte und der geschichtlichen Zeit.
Position als eine erkenntniskritische und politische in Der Briefwechsel zeigt, daß Benjamin seit seiner Lek-
Opposition zu Heidegger und dessen 1927 erschiene- türe von Heideggers Probevorlesung aus dem Jahr
nem Buch Sein und Zeit, eine Beziehung, die mit zu 1915 über den Zeitbegriff der Geschichtswissenschaft
den impliziten zeitgenössischen Kontexten des Surrea- vor allem Scholem gegenüber die eigene Arbeit gegen
lismus-Essays gehört. Heidegger abgrenzt. So zuerst im November 1916, wo
Benjamin über Heideggers Probevorlesung schreibt,
daß sie >>in exakter Weise dokumentiert, wie man die
Sache nicht machen soll. Eine furchtbare Arbeit, in die
Sie aber vielleicht einmal hineinsehen, wenn auch nur
»Der Sürrealismus« 391

um meine Vermutung zu bestätigen, daß nämlich nicht qu'une etude aussi bien de certain aspects de Hege!
nur das was der Verfasser über die historische Zeit sagt que de certaines parties du >Kapital<. Ce qui pour moi
(und was ich beurteilen kann) Unsinn ist, sondern aujourdhui semble une chose acquise, c'est que pour
auch seine Ausführungen über die mechanische Zeit ce Iivre aussi bien que pour le >Trauerspiel< jene pour-
schief sind, wie ich vermute<< (l, 344). Im April1933 rai pas me passer d'une introduction qui porte sur Ia
berichtet Benjamin Scholem dann von einem Plan, »in theorie de Ia connaissance - et, cette fois, surtout sur
einer ganz engen kritischen Lesegemeinschaft unter Ia theorie de Ia connaissance de l'histoire. C' est Ia que
Führung von Brecht und mir im Sommer den Heideg- je trouverai sur mon chemin Heidegger et j'attends
ger zu zertrümmern<< (3, 522). Im Passagenwerk quelque scintillement de l' entre-choc de nos deux ma-
schließlich benennt Benjamin als seine theoretische nieres, tres differentes, d' envisager l'histoire<< (3,
Differenz zu Heideggers Begriff der geschichtlichen 503).
Zeit den Begriff des geschichtlichen Index dialektischer In zwei neueren Arbeiten, die sich dem von der For-
Bilder. Der entsprechende Eintrag steht dort im Kon- schung lange Zeit kaum beachteten Thema eines im-
volut N im Kontext von Einträgen zum dialektischen pliziten und dauernden Dialogs Benjamins mit den
Bild und zum Begriff des Ursprungs und der Urge- Schriften Heideggers widmen, Howard Caygills Ben-
schichte. >>Was die Bilder von den >Wesenheiten< der jamin, Heidegger and the Destruction of Tradition
Phänomenologie unterscheidet, das ist ihr historischer ( 1994) und die erste monographische Darstellung des
Index. (Heidegger sucht vergeblich die Geschichte für Themas durch Willern van Reijen Der Schwarzwald
die Phänomenologie abstrakt, durch die >Geschicht- und Paris. Heidegger und Benjamin (1998), wird der
lichkeit< zu retten.) Diese Bilder sind durchaus abzu- Surrealismus als impliziter Schauplatz, als Scheideweg
grenzen von den >geisteswissenschaftlichen< Katego- in dieser Beziehung nicht berücksichtigt. Als erster hat
rien, dem sogenannten Habitus, dem Stil etc. Der hi- jüngst der argentinische Philosoph Ricardo Ibarlucia
storische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß in einem Aufsatz diese Beziehungen analysiert: Benja-
sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, min critico de Heidegger: Hermeneutim mesianica e
daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit historicidad (2000).
kommen. Und zwar ist dieses >Zur Lesbarkeit< gelangen
ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ih-
rem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder Profane Erleuchtung und anthropologischer
bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt Materialismus
ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit<< (V,
577 f.). Am gleichen Ort beschreibt Benjamin selbst Die Übertragung individueller in kollektive geschieht-
diesen Grundbegriff seiner Geschichtstheorie, dessen liehe Erfahrung ist das Gedankenzentrum von Benja-
Konturen am Surrealismus gewonnen wurden, als die mins Surrealismus-Essay, der keine Geschichte des
surrealistische Erfahrung, deren Theorie das eigentliche Surrealismus, sondern Bausteine einer Theorie der
Zentrum des Surrealismus-Essays ist. >>Sollte Erwachen Erfahrung liefert. >> It is here that Benjamin's distinctive
die Synthesis sein aus der Thesis des Traumbewußt- contribution lies not as a historian of Surrealism, but
seins und der Antithesis des Wachbewußtseins? Dann as the theorist of surrealist experience as historical
wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem experience<< (Osborne 1994). In den Arbeitsnotizen
>Jetzt der Erkennbarkeit<, in dem die Dinge ihre wahre zum Surrealismus-Essay hat Benjamin das Neue und
-surrealistische- Miene aufsetzen« (579). die europäische Intelligenz der Nachkriegszeit Heraus-
Die Funken, die sich Benjamin aus der Konfronta- fordernde die >>Zerschlagung des Ästhetischen« ge-
tion mit Heidegger versprach, hat er aus den Friktio- nannt. >>Es ist zu bemerken, daß bei der äußerst pro-
nen des Vergleichs zwischen Sein und Zeit und den blematischen Lage der Kunst Theorien heute ebenso
Texten der Surrealisten gewonnen, ein Vergleich, der beachtenswert, vielleicht bedeutend beachtlicher sind
zwischen erster und zweiter Arbeitsphase dem Passa- als Einzelwerke, seien sie auch noch so gelungen. Ge-
genwerk eine neue Richtung gab. So schrieb er im Ja- wiß ist der Sürrealismus als solcher kaum imstande,
nuar 1930 an Scholem: >>Je me borne donc a noter que sehr bedeutende Werke aufzuweisen. Dafür stellt er
je compte poursuivre ce travail sur un autre plan que evidenter als jede konkurrierende Bewegung die Zer-
jusqu'a present je l'avais entrepris. Tandis [que] schlagung des Aesthetischen, die Bindung ans Physio-
jusqu'ici c'etait surtout Ia documentation d'une [part), logisch- und Animalisch-Menschliche einerseits und
Ia metaphysique d'autre part, qui m'avait retenu, je die Bindung an Politisches andererseits dar« (II, 1023).
vois que pour aboutir, pour donner un echafaudage Surrealistische Erfahrung als Keimzelle einer neuen
ferme a tout ce travail, il ne me faudra pas moins Theorie der Erfahrung auf der Höhe der Zeit, um die
392 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Benjamin seit dem frühen Aufsatz »ERFAHRUNG<< (297). Im Unterschied zu religiöser Erfahrung, die im
(54-56), dem Kautaufsatz von 1917 ÜBER DAS PRo- Augenblick die Wiederkehr des Ewigen wahrnimmt,
GRAMM EINER KOMMENDEN PHILOSOPHIE (157-171) liegt Benjamin zufolge die Perspektive ihrer Überwin-
und dem Essay ERFAHRUNG UND ARMUT von 1933 dung >>in einer profanen Erleuchtung, einer materiali-
(213-219) bemüht war, ist das eigentliche Thema des stischen, anthropologischen Inspiration, zu der Ha-
Essays, das Benjamin im Begriff der profanen Erleuch- schisch, Opium und was immer sonst die Vorschule
tung konzentriert, jenem Begriff, der dann von hier abgeben können. (Aber eine gefährliche. Und die der
aus seine konstruktive Karriere durch die Passagenar- Religionen ist strenger.)« (ebd.)
beit antritt (vgl. Cohen 1993). »Es ist hier nicht der Diese materialistische und anthropologische Inspi-
Ort<<, schreibt Benjamin im Surrealismus-Essay, >>die ration, die sich im Begriff >>profane Erleuchtung« aus-
sürrealistische Erfahrung in ihrer ganzen Bestimmtheit drückt, ist in dem Essay zum ersten Mal als Entwurf
zu umreißen. Wer aber erkannt hat, daß es in den (und Programm) einer Theorie des anthropologischen
Schriften dieses Kreises sich nicht um Literatur, son- Materialismus formuliert worden. In der Passagenar-
dern um anderes: Manifestation, Parole, Dokument, beit hat Benjamin dann dem Thema im Konvolut p
Bluff, Fälschung wenn man will, nur eben nicht um (anthropologischer Materialismus, Sektengeschichte)
Literatur handelt, weiß damit auch, daß hier buchstäb- Belege und Gedanken dazu gesammelt. Es ist sein Bei-
lich von Erfahrungen, nicht von Theorien, noch we- trag zur Aufhebung der Antithese von Natur und Ge-
niger von Phantasmen die Rede ist<< (II, 297). Die schichte, worüber Adorno 1932 in seinem Frankfurter
Konstellation des Erwachens aus dem Traumbereich Vortrag >>Die Idee der Naturgeschichte« Benjamins
zu finden und zu beschreiben hatte Benjamin als An- Beitrag im Trauerspielbuch als exemplarisch würdigte,
liegen der Passagenarbeit bezeichnet (V, 571). In der ohne allerdings die Erweiterungen im Surrealismus-
Spannung zwischen individuellem und kollektivem Essay zu bedenken und zu erwähnen (vgl. Adorno 1973
Unbewußten, in derenübertragungvom Individuum Bd. I, 357f.).
aufs Kollektiv (1012), im Auseinanderfallen von bio- >>Grundzüge dieser >profanen Erleuchtung«< erläu-
graphischer und geschichtlicher Zeit im Leben der tert Benjamin an Bretons surrealistischem Anti-Ro-
Menschen sah er den Raum für das Entstehen von man Nadja (1928), dem er als >>eine erstaunliche Ent-
Bildern und Figuren, von Vorstellungen, Einbildungen, deckung« die den Menschen unbewußte und blinde
Phantasmagorien, die sich mit utopischen Visionen Prägung ihrer Erfahrungen durch eine Dingwelt und
vermählen (können). >>In dem Traum, in dem jeder ein Ambiente des Alltags und des Alltäglichen atte-
Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, stiert. Der Surrealismus >>zuerst stieß auf die revolu-
erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Ur- tionären Energien, die im >Veralteten< erscheinen, in
geschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikge-
Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kol- bäuden, den frühesten Photos, den Gegenständen, die
lektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung anfangen auszusterben, den Salonflügeln, den Kleidern
mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigura- von vor fünf Jahren, den mondänen Versammlungs-
tionen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu lokalen, wenn die vogue beginnt sich von ihnen zu-
den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat<< rückzuziehen. Wie diese Dinge zur Revolution stehen
(47). Die im Kant-Essay von 1917 formulierte >>Dop- - niemand kann einen genaueren Begriff davon haben,
pelaufgabe<< der Schaffung eines neuen Erkenntnisbe- als diese Autoren. [... ] Um von Aragons >Passage de
griffs, um >>der Dignität einer Erfahrung die vergäng- !'Opera< zu schweigen: Breton und Nadja sind das Lie-
lich war<<, Geltung zu verschaffen und den >>Krank- bespaar, das alles, was wir auf traurigen Eisenbahn-
heitskeim der sich in der Abschließung der Erkenntnis fahrten (die Eisenbahnen beginnen zu altern), an
von dem Gebiet der Erfahrung in seiner ganzen Frei- gottverlassenen Sonntagnachmittagen in den Proleta-
heit und Tiefe äußert<< (II, 158; 160) zu neutralisieren, riervierteln der großen Städte, im ersten Blick durchs
wird zehn Jahre später mit dem Surrealismus-Essay regennasse Fenster einerneuen Wohnung erfuhren, in
eingelöst. Profane Erleuchtung ist der von Benjamin revolutionärer Erfahrung, wenn nicht Handlung, ein-
hier zum ersten Mal geprägte Begriff, der die Dimen- lösen. Sie bringen die gewaltigen Kräfte der >Stim-
sionen surrealistischer Erfahrung in sich konzentriert. mung< zur Explosion, die in diesen Dingen verborgen
Kritisch zunächst als >>Unterschied von der religiösen sind« (II, 299f.). Benjamin nennt es einen Trick, wie
Erfahrung<< (1037) und als Gegensatz zu den >>Ekstasen diese Einlösung blinder alltäglicher Erfahrung durch
der Drogen<<. >>Opium fürs Volk hat Lenin die Religion revolutionäre Handlungen bei den Surrealisten erfolgt.
genannt und damit diese beiden Dinge näher zusam- Er sieht ihn unter dem Primat der Politik >>in der Aus-
mengerückt, als es den Sürrealisten lieb sein dürfte« wechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen
»Der Sürrealismus« 393

den politischen<< (300). Diesen Trick, der dann Benja- Text zu umgehen (oder zu unterlaufen), indem er den
mins Konzept dialektischer Bilder (V, 577) orientieren Optimismus, von dem alle Revolutionserwartung an
wird, nennt er in den unmittelbar nach der Nieder- ihrem Ursprung getragen wird, mit der konstruktive-
schrift des Surrealismus-Essay 1929 entstandenen renHaltungeines Pessimismus konfrontiert. Benjamin
Textfragmenten zum >>Ersten Passagenentwurf<< in ei- zitiert an dieser Stelle seines Essays Pierre Navilles Pro-
nem auf die Charakterisierung der surrealistischen grammschriftvon 1927 La revolution et les intellectuels,
Musen folgenden Eintrag eine >>kopernikanische Wen- worin der mit den Surrealisten eine Zeitlang verbun-
dung in der geschichtlichen Anschauung<<. >>[M]an dene Naville den Surrealismus als ein Lehrstück in
hielt für den fixen Punkt das >Gewesene< und sah die organisiertem Pessimismus aus sozialer Verzweiflung
Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis ta- beschrieben hatte. >>Je crois que regne sur ce point une
stend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis confusion et une mollesse de pensee considerables. Je
umkehren und das Gewesene seine dialektische Fixie- pense en outre que ce pessimisme rend compte assez
rung von der Synthesis erhalten, die das Erwachen mit generalerneut de la vertu du surrealisme, de sa realite
den gegensätzlichen Traumbildern vollzieht. Politik actuelle, et probabierneut plus encore de ses develop-
erhält den Primat über die Geschichte. Und zwar wer- pements futurs. [... ] Le desespoir est une passion vi-
den die historischen >Fakten< zu einem uns soeben rulente. Il se nourrit de desirs prolonges et profonds.
Zugestoßenen: sie festzustellen ist die Sache der Erin- Il met la patience al'epreuve. Il use d'armes etincelan-
nerung. Und Erwachen ist der exemplarische Fall des tes<< (Naville 1975, 110; 113). Benjamins Essay hat
Erinnerns<< ( 1057 f.). Navilles in desir und desespoir, in Begehren und Ver-
Mit dem Primat des Politischen setzt Benjamin noch zweiflung gründenden Begriff des Pessimismus zu
einen weiteren Akzent auf die surrealistische Erfah- einer Frage weitergetrieben, in der er das zentrale Mo-
rung, der sich kritisch auf die verschiedenen Positio- tiv surrealistischer Erfahrung erkannte. >>Die Kräfte
nen utopischer Revolutionserwartung bezieht, auf die des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum
>>hilflosen Kompromisse der >Gesinnung<<<, die er in kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unter-
den verschiedenen Parteiungen >>der sogenannten nehmen. Das darf er seine eigenste Aufgabe nennen.
wohlgesinnten linksbürgerlichen Intelligenz<< reprä- Für die ist's nicht damit getan, daß, wie wir wissen,
sentiert sieht und die hinter die vom Surrealismus eine rauschhafte Komponente in jedem revolutionären
erreichte strategische Linie zurückfällt. >>Das Charak- Akt lebendig ist. Sie ist identisch mit der anarchischen.
teristische dieser ganzen linksbürgerlichen Position ist Den Akzent aber ausschließlich auf diese setzen, das
ihre unheilbare Verkupplung von idealistischer Moral hieße die methodische und disziplinäre Vorbereitung
mit politischer Praxis<< (II, 304). Diese Kritik Benja- der Revolution völlig zugunsten einer zwischen Übung
mins ist noch einmal geprägt von seiner Moskauer und Vorfeier schwankenden Praxis hintansetzen<< (II,
Erfahrung, von der er über die Entleerung revolutio- 307).
närer Erziehung der Jugend im MosKAUER TAGEBUCH
notiert hat: >>Das bedeutet, das Revolutionäre kommt
ihr nicht als Erfahrung, sondern als Parole zu. Man Der Sürrealismus-Essay als Vision
macht den Versuch, die Dynamik des revolutionären einer Theorie geschichtlicher Erfahrung
Vorgangs im Staatsleben abzustellen- man ist, ob man
will oder nicht, in die Restauration eingetreten, will Das Pathos, das Benjamins Essay an seinem Ende dem
aber dem ungeachtet revolutionäre Energie in der Ju- Surrealismus doch zugesteht, ist distanziert und zu-
gend wie elektrische Kraft in einer Batterie aufspei- stimmend gleichermaßen. Aragons während der Ar-
ehern. Das geht nicht<< (VI, 338). Benjamins Antwort beit am Surrealismus-Essay erschienenes anti-literari-
auf dieses Problem divergenter Ansichten revolutio- sches Pamphlet Traite du style ( 1928) zur Verteidigung
närer Erfahrung istangesichtsseiner Moskauer Erfah- des Surrealismus und seiner Ästhetik des alltäglich
rungen - >>Mag man auch Rußland noch so wenig Wunderbaren, des (wie Aragon es genannt hat) mer-
kennen lernen - was man lernt, ist Europa mit dem veilleux quotidien- >>je parle un Iangage de decombres
bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland ab- ou voisinent les soleils et les plätra<< (Aragon 1980, 177)
spielt, zu beobachten und zu beurteilen<< (399)- der -, liefert Benjamin die Stichworte für den Entwurf
Versuch, für die Umschaltung von Moral auf Politik (s)einer Theorie des anthropologischen Materialismus
eine Lösung zu finden. Den schmalen Grad zwischen in nuce. Benjamin interveniert in Aragons Text an der
Anarchie und Diktatur, den er als die gefährliche Ver- Stelle, wo dieser die surrealistische Bildtheorie als hu-
suchung durch den radikalen Freiheitsbegriff des An- morvolle Ineinssetzung des Heterogenen darstellt -
archismus und des Surrealismus erkennt, sucht der >>Que l'humour est Ia condition negative de la poesie<<
394 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

(138) - und die surrealistische Unterscheidung von Eintrag und einen Kommentar aus dem Konvolut N
Bild und Vergleich- >>ne pas confondre image et com- der Passagenarbeit lesen. Sie beschreiben den Gedan-
paraison« (ebd.) -erläutert. (>>Ah qui diralemal que ken, daß ein nicht-teleologisch geschichtlicher Begriff
font !es metaphores, !es torts du mot Analogie, le poids von Gegenwart (ein Begriff allseitiger und integraler
ecrasant des correspondances baudelairiennes«, 51). Aktualität) ebenso wie eine Geschichte der Kunst nicht
Benjamins überraschende Erweiterung der stilisti- ohne Traumdeutung und Analyse des kollektiven Un-
schen Unterscheidung von Bild und metaphorischem bewußten zu haben sind. >>Im dialektischen Bild ist das
Vergleich, eines Kapitels aus der Geschichte der Rhe- Gewesne einer bestimmte[n] Epoche doch immer zu-
torik und Poetik, zu einer Frage politischen Handeins gleich das >Von-jeher-Gewesene.< Als solches aber tritt
ist gegenüber den zeitgenössischen Konzepten über es jewei[l]s nur einer ganz bestimmten Epoche vor
ästhetische Politisierung und politischem Engagement Augen: der nämlich, in der d[ie] Menschheit, die Au-
eine singuläre Position, die sich in der Sache als trag- gen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches
fähiger erwiesen hat als Benjamins eigene spätere am erkennt. In diesem Augenblick ist es, daß der Histori-
Ende des Kunstwerkaufsatzes 1936 artikulierte Hoff- ker an ihm die Aufgabe der Traumdeutung über-
nung. DIE LETZTE MOMENTAUFNAHME DER EUROPÄ- nimmt<< (V, 580). Mit dem Surrealismus-Essay zuerst
ISCHEN INTELLIGENZ gibt Benjamins Essay auf den hat Benjamin Erkenntnisse der Psychoanalyse daran
letzten zwei Seiten als eine gleichsam geologische erprobt und für eine Theorie geschichtlicher Erfah-
Landschaft frei, in der Geschichte und Gegenwart - rung als profaner Erleuchtung fruchtbar gemacht (vgl.
>>die Welt allseitiger und integraler Aktualität« (II, 309) auch Cohen 1998, 260).
-, die Physis der Kreatur und die Psyche des inneren Die mit dem Surrealismus-Essay eingeschlagene
Menschen als ineinander verschränkt und gegenein- Denkrichtung auf eine>> Psychoanalyse des Erwachens<<
ander verschoben von der sich als revolutionär verste- ( 5, 110) bleibt die Unruhe Benjamins bei der weiteren
henden Intelligenz in Funktion zu setzen wären. Ben- Arbeit am Passagen-Werk. Dafür gibt es ein aufschluß-
jamin beschreibt diese geologische Landschaft als reiches Zeugnis aus der zweiten Arbeitsphase, das den
Bild- und Leibraum, auf den jeweils politisches Han- Einträgen zum Konvolut K (>>Traumstadt und Traum-
deln zu beziehen wäre. >>Den Pessimismus organisieren haus, Zukunftsträume, anthropologischer Nihilismus,
heißt nämlich nichts anderes als die moralische Meta- Jung<<) zu entnehmen ist, unter dessen drei vorange-
pher aus der Politik herausbefördern und im Raum stellten Motti sich eines von Pierre Mabille befindet,
des politischen Handeins den hundertprozentigen das Benjamin dessen Aufsatz Prt!face a/'Eloge des Pn?-
Bildraum entdecken. Dieser Bildraum aber ist kon- juges Populaires entnommen hat, der 1935 in der von
templativ überhaupt nicht mehr auszumessen<< ( 309). Andre Breton, Michel Leiris und Pierre Mabille her-
Benjamin beschreibt ihn in einer Vision als >>Weltall- ausgegebenen surrealistischen Zeitschrift Minotaure
seitiger und integraler Aktualität, in der die >gute in der sechsten Nummer erschien. Benjamins Lektüre
Stube< ausfällt, der Raum mit einem Wort, in welchem dieses Aufsatzes zu einem Zeitpunkt, als er an dem
der politische Materialismus und die physische Kreatur Kunstwerkaufsatz arbeitete und nach einer vertretba-
den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum ren theoretischen Alternative zur faschistischen Ästhe-
oder was sonst wir ihnen vorwerfen wollen, nach dia- tisierung der Politik suchte, registriert Mabilles Unter-
lektischer Gerechtigkeit, so daß kein Glied ihm unzer- scheidung zwischen einem inconscient visceral und
rissen bleibt, miteinander teilen<< (ebd.). Das können einem inconscient d' oubli als eine zwischen individu-
wir als eine Anspielung auf Hegels Bemerkung in der ellen und kollektiven Formen rauschhafter, ritueller
Vorrede der Phänomenologie des Geistes lesen, derzu- und magischer Phänomene. >>Konfrontation des in-
folge >>das Wahre der bacchantische Taumel (ist), an conscient visceral und des inconscient de 1' oubli, das
dem kein Glied nicht trunken ist<< (Hegel 1970, 46). erste vorwiegend individual, das zweite vorwiegend
Was am Ende die etwas kryptische Vision profaner kollektiv<< (V, 501). Die Verbindung von Rausch und
Erleuchtung und surrealistischer Erfahrung als Denk- Revolution als ein Grundmotiv des Surrealismus wird
figuren in diesem Bildraum bewirken könnten, um der jetzt nach 1933 und angesichts der Naziparole
sich selbst übertreffenden Wirklichkeit als Unmöglich- >Deutschland erwache< lesbar als zu allgemein und zu
keit des Wirklichen habhaft zu werden, wie Benjamin unscharf. Mabille, der als Arzt und Theoretiker seit den
das Kommunistische Manifest zitierend schreibt, bleibt 20er Jahren zum inneren Kreis der Surrealisten gehörte
unbestimmt. >>Für den Augenblick sind die Sürreali- (Mabille 1940), hatte mit der These seines Aufsatzes,
sten die einzigen, die seine [des Kommunistischen daß Vorurteile und Aberglauben nicht einfach auf Un-
Manifests, d. Verf.] heutige Order begriffen haben<< (II, wissen und Irrglauben beruhen, sondern Zeichen ver-
310). Als Klartext zu dieser Vision kann man einen gessener und verdrängter Erfahrungen und Erinne-
»Der Sürrealismus« 395

rungen sind, die sich in verschiedenen Richtungen auch das hier in zweiter Auflage vorgelegte Buch ent-
Ausdruck verschaffen können, das angesichts des eu- stand<< (Bürger 1996, 9)- nimmt Benjamins Essay als
ropäischen Faschismus brisante Thema einer >>Ratio eine methodisch grundlegende Orientierung, die da-
des Irrationalen<< (Ernst Bloch) berührt. Seine Defini- durch legitimiert sei, daß Benjamin >>sich als der viel-
tion des Aberglaubens wies in solche Richtung: >>Su- leicht einzige deutsche Autor von Rang [erweist], der
perstition, de super-stare, ce qui reste apres l'oubli, ce den Surrealismus wahrgenommen und sich dessen
qui surnage<< (Mabille 1935, 2). Benjamins Überlegun- Verfahren zu eigen gemacht hat<< (ebd.). BürgersAna-
gen zum anthropologischen Materialismus lassen sich lyse des Surrealismus als literarischer Bewegung konnte
als komplementär zu der von Mabille in seinem Auf- bei der damaligen Quellenlage die Vernetzung des Ben-
satz vertretenen These verstehen, daß eine Analyse von jaminsehen Essays mit der Passagenarbeit noch nicht
Phänomenen des Alltagsbewußtseins (oder alltägli- kennen. Das gilt auch für die zweite deutsche Arbeit,
chen Unbewußten) einer anderen als auf das Indivi- die etwa zur selben Zeit auf Benjamins Essay hinweist,
duum fixierter Psychologie und Psychoanalyse bedarf, Karl-Heinz Bohrers Aufsatz Surrealismus und Terror,
ein Gedanke, den Benjamin im Zitat festhält >>La psy- oder die Aporien des Juste-milieu (1970). Bohrer liest
chologie individuelle etant depassee, faisons appel it Benjamins Essay unter der exklusiven Perspektive der
une sorte d'histoire naturelle des rythmes volcaniques kulturrevolutionären Debatten der 60er Jahre, die den
et des cours d'eau souterrains. Rien it Ia surface de Surrealismus als politisierte Ästhetik aktualisierten,
globe qui n'ait ete SOUterrain (eau, terre, feu). Rien woran sich ermessen lasse, >>daß eben diese gerade er-
dans l'intelligence qui n' ait eu it faire digestion et cir- fahrene überhoJung der Terror-Vorstellung durch die
cuit dans !es profondeurs<< (ebd.; V, 501). Terror-Wirklichkeit massenhaft zu erfahren wäre, was
Ein Paravent vor der Passagenarbeit hatte Benjamin die Beziehung von Kunst und Wirklichkeit überall dort
seinen Surrealismus-Essay genannt. Für die historische verändert [hat], wo Wirklichkeit nicht bloß für ein
Konstruktion der Urgeschichte der Moderne hat er im Zitat genommen oder theoretisch antizipiert wird. [... ]
Surrealismus als einer intellektuellen Bewegung den Benjamin hat in der Politisierung des Surrealismus [... ]
(unumgänglichen) zeitgenössischen Bewußtseinsstand dessen Erfüllung gesehen<< (Bohrer 1970, 33; 44).
ermittelt, von dem auszugehen wäre (III, 559). Unter Die Rezeptionsgeschichte von Benjamins Essay, so
den Zeitgenossen wußten die engeren Freunde, stellt es sich im Rückblick dar, belegt geradezu dessen
Theodor und Gretel Adorno, Alfred Cohn, Hugo v. geschichtskritische These, daß bestimmte Vorstellun-
Hofmannsthai und Fritz Radt um die Bedeutung, die gen und Bilder ihre je eigene Zeit der Lesbarkeit haben.
der Essay für Benjamin gewonnen hatte. Auf die Ver- So bezeugen die wenigen zeitgenössischen Reaktionen
öffentlichung in Die literarische Welt hat es keine nen- auf den Essay aus dem Umkreis der mit Benjamin und
nenswerten Reaktionen gegeben. Der Text blieb ver- seiner Arbeit auf unterschiedliche Weise verbundenen
gessen und wurde erst mit der Werkausgabe und der Freunde und Bekannten ein Pathos der Nähe, das vier-
Veröffentlichung der Korrespondenz nach und nach zig Jahre später nicht mehr einzuholen ist. Drei solcher
wieder entdeckt und neu gelesen. Ob die nachfolgende Reaktionen wären als direkte oder indirekte Stellung-
internationale Benjamindiskussion und die akademi- nahmen zu nennen. Zunächst Adornos briefliche Aus-
sche Forschung Benjamins Surrealismus-Essay als eine einandersetzung mit Benjamin über das Konzept der
kritische Kraftstation bestätigt hat, die in der Lage Passagenarbeit und dann Ernst Blochs und Siegfried
wäre, Turbinen zu treiben (II, 295), bleibt zu prüfen. Kracauers Rezensionen der ErNBAHNSTRASSE.
Hier können dazu nur erste Aspekte mitgeteilt wer- Adornos engagierte Interventionen aus den 30er
den. Jahren berühren die Zeit der zweiten Arbeitsphase
Benjaminsam Passagen-Werk, in der sich die Freund-
schaft mit Adorno (wie die mit Brecht auch) konsoli-
Frühe Rezeption dierte und in der implizit der Surrealismus-Essay als
theoretische Armatur der Passagenarbeit mit zur De-
Zuerst hat in Deutschland der Bremer Romanist Peter batte steht (vgl. hierzu ausführlich bei Richard Wolin
Bürger in seinem Buch über den französischen Sur- 1982, 163-212). Die kontroversen Punkte lassen sich
realismus (1971) Benjamins Essay als unumgänglich in drei von Adorno aufgeworfenen Fragen zusammen-
in die Diskussion eingeführt. Das unter dem Eindruck fassen. Die erste betrifft Benjamins Theorie des dia-
der Pariser Mai-Ereignisse von 1968 entstandene Buch lektischen Bildes, deren Verankerung im Traum
-»Der einzige Augenblick, in dem der surrealistische Adorno mit dem Argument in Frage stellt, daß damit
Funke auf Deutschland überzuspringen schien, war die >>objektive Schlüsselgewalt<< des Begriffs vom dia-
die Zeit nach den Mai-Ereignissen von 1968, in der lektischen Bild verlorenzugehen drohe. >>Der Fetisch-
396 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

charakterder Ware ist keine Tatsache des Bewußtseins von Geschichte in Natur, die Allegorischem zugrunde
sondern dialektisch in dem Sinne, daß er Bewußtsein liegt<< (I, 358), der tragende Gedanke. >>Mit einer son-
produziert<< (Adorno 1994, 139). Die zweite Frage be- derbaren Verschränkung von Natur und Geschichte
trifft Benjamins Theorie der Erfahrung und die Me- tritt der allegorische Ausdruck selbst in die Welt<<
thode derübertragungindividueller Wahrnehmungen (344). Adorno konnte Benjamins Präzisierung dieser
in kollektive Erfahrungen, woran Benjamin als Per- Gedanken im Durchgang durch die surrealistische Er-
spektive für den Handelnden, den Künstler wie den fahrung nicht nach- und mitvollziehen. Das zeigen die
Kritiker als Historiker und Traumdeuter gleicherma- beiden zwanzig Jahre später geschriebenen Texte über
ßen, die an Elementen der Urgeschichte lesbare Ver- Benjamins EINBAHNSTRASSE ( 1955) und der Versuch
mählung mit einer klassenlosen Gesellschaft postuliert einer Bilanzierung des Surrealismus Rückblickend auf
(V, 47). Diese Benjaminsehe Vision hat Adorno in die den Surrealismus ( 1956). Adorno stellt darin die Denk-
Nähe der Jungsehen Lehre von den Archetypen ge- bilder der EINBAHNSTRASSE in den Horizont der Pas-
rückt. >>Im Sinne der Immanenzfassung des dialekti- sagenarbeit, deren mißlungene Rettung aus dem Bann
schen Bildes (der ich, um das positive Wort zu nennen, der Mythen der Moderne die Denkbilder der EIN-
Ihren frühen Modellbegriff kontrastieren möchte) BAHNSTRASSE in Adornos Lektüre mit melancholischer
konstruieren Sie das Verhältnis des Ältesten und Neue- Trauer überzieht. >>Kraft dieser Absicht [den Bann des
sten [... ] als eines der utopischen Bezugnahme auf Mythos in der Gesellschaft der Moderne zu brechen]
>klassenlose Gesellschaft<. Damit wird das Archaische gehört die >Einbahnstraße<, als erste von Benjamins
zu einem komplementär Hinzugefügten anstau das Schriften, in den Zusammenhang der von ihm geplan-
>Neueste< selber zu sein; ist also entdialektisiert. [... ] ten Urgeschichte der Moderne. [... ]Von allen Sätzen
Wenn die Entzauberung des dialektischen Bildes als der >Einbahnstraße< ist der schwermütigste: >Wieder
>Traum< es psychologisiert, so verfällt sie aber eben und wieder hat es sich gezeigt, daß ihr Hangen am
dadurch dem Zauber der bürgerlichen Psychologie. Gewohnten, nun längst schon verlorenen Leben so
Denn wer ist das Subjekt zum Traum? Im neunzehnten starr ist, daß es die eigentlich menschliche Anwendung
Jahrhundert gewiß nur das Individuum, aus dessen des Intellekts, Voraussicht, selbst in der drastischen
Träumen aber weder der Fetischcharakter noch dessen Gefahr vereitelt< -der schwermütigste darum, weil
Monumente unmittelbar abbildlieh gelesen werden Benjamin selbst, der nichts anderes wollte, als aus dem
können. Daher wird denn das Kollektivbewußtsein Traum die Stimme vernehmen, die das heilsame Er-
hergeholt, von dem ich freilich bei der gegenwärtigen wachen bringt, eben jene Rettung mißlang<< (Adorno
Fassung fürchte, daß es vom Jungsehen sich nicht ab- 1997, 683; 685). Ein Jahr später schreibt Adorno den
heben läßt<< (Adorno 1994, 141). Drittens schließlich einzigen Text, der sich rückblickend direkt auf den Sur-
bemerktAdorno 1938 über das zur Publikation in der realismus bezieht, ohne Benjamin und seinen Essay im
Zeitschrift für Sozialforschungvorgesehene Baudelaire- Klartext zu erwähnen. Gleichwohl ist er die unsicht-
Kapitel und Benjamins Analyse der Warenform in bare Folie, das Negativ von Adornos Bilanz, die unver-
Baudelaires poetischen Phantasmagorien die dem an- kennbar die von Benjamin analysierten Grundmotive
thropologischen Materialismus geschuldeten fehlen- des Surrealismus- das Rauschhafte, die profane Illu-
den Vermittlungen. >>In dieser Art des unmittelbaren, mination, die Energien im Veralteten - in Deja-vu-
fast möchte ich wiederum sagen, des anthropologi- Effekte der Erstarrung umschreibt und den Surrealis-
schen Materialismus steckt ein tiefes romantisches mus insgesamt als >>das Komplement der Sachlichkeit,
Element<< (368). mit der gleichzeitig er erstand<< (105), auf eine rein
Adornos Kontroverse mit Benjamin hat ihr gehei- deutsche Konstellation bezieht. Adorno hat sich zwan-
mes Motiv auch in unterschiedlichen Schlußfolgerun- zig Jahre nach der Kontroverse mit Benjamin nicht auf
gen aus beider Bemühungen, um die Antithese von dessen vom Surrealismus inspirierte Visionen einge-
Natur und Geschichte aufzuheben. Adorno wie Ben- lassen. Für ihn sind >>nach der europäischen Katastro-
jamin waren einer Meinung in ihrer Kritik an der phe die surrealistischen Schocks kraftlos geworden<<
>>undialektische[n] Denkweise der neukantischen (102).
Schule<< (I, 353; vgl. Adorno, Die Idee der Naturge- Siegfried Kracauers und Ernst Blochs Stellung-
schichte 1932, in: Adorno, 1973, 345-368). In Benja- nahme zur EINBAHNSTRASSE unmittelbar nach Er-
mins Trauerspielbuch ist die Idee einer geschichtsphi- scheinen sind darin einander komplementär, daß sie
losophischen Interpretation der Naturgeschichte zen- in der philosophischen Promotion des Alltäglichen zu
tral. Sie ist, könnte man sagen, die Keimzelle der zeitkritischer Diagnose einen von Benjamin eingeführ-
Theorie des anthropologischen Materialismus. Im Ka- ten neuen, surrealistisch inspirierten Denkstil sehen.
pitel ALLEGORIE UND TRAUERSPIEL ist die >>Wendung Kracauer, der als Feuilletonredakteur der Frankfurter
»Der Sürrealismus« 397

Zeitung schon im April 1926 einige Stücke der EIN- Späte Rezeption
BAHNSTRASSE unter dem von ihm erfundenen Titel
Kleine Illumination veröffentlicht hatte, nennt Benja- Mit der nach der Bereitstellung der Quellen in den
mins Denken ein monadologisches, >>das fremd zu der 1980er Jahren einsetzenden Benjamin-Rezeption
Zeit steht.[ ... ] Es ist die Gegenposition zur abstrakten wurde der Surrealismus-Essay in seiner theoretischen
Verallgemeinerung überhaupt« (Kracauer 1990, 119). Bedeutung für das Passagen-Werk nach und nach
Benjamin hat sich in Kracauers Rezension wiederer- überhaupt erst entdeckt. Auffällig ist, daß es bis heute
kannt, die >>unter den vorliegenden die einzige [ist], in Deutschland mit einer einzigen Ausnahme keine
die nicht nur dies oder jenes hat beleuchten oder dar- Arbeit gegeben hat, die Benjamins eigene Hinweise auf
stellen sondern mir einen Rang in einer Ordnung hat diese Zusammenhänge aufgreift und analysiert. Die
anweisen können<< (3, 399). Ausnahme ist die Habilitationsschrift von Josef Fürn-
Ernst Blochsam 1.8.1928 in der Vossischen Zeitung käs Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin -
erschienene Rezension Revueform der Philosophie. Zu Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen ( 1988).
Walter Benjamins >Einbahnstraße<, die er später in Erb- Fürnkäs analysiert Benjamins Prosa >>im Zusammen-
schaft dieser Zeit (1935) unter die Rubrik Denkende hang der Prosa der Einbahnstraße mit der der Pariser
Surrealismen aufgenommen hat, stellt den Text in den Passagen« hinsichtlich einer >>Affinität zwischen dem
Zusammenhang des Surrealismus als >>Typ für surrea- Passagen-Plan und der Einbahnstraße sowie dem Sur-
listische Denkart« (Bloch 1962, 368). Bloch kommen- realismus<< (Fürnkäs 1988, 2). Als erster hat Fürnkäs
tiert Benjamins Titel als die Form einer Straße, >>eines auch BenjaminsAragon-Übersetzungen aus dem Pay-
Nebeneinanders von Häusern und Geschäften, worin san de Paris mit den dazu analogen Denkbildern der
Einfälle ausliegen« (368), als ein >>Straße- und Passa- EINBAHNSTRASSE wie dem Fragment über Briefmar-
gen-Denken« (370). >>Hier ist deshalb nicht bloß eine ken unter dem Aspekt »Philatelie als Vorschule der
neue Geschäftseröffnung von Philosophie (die vordem >profanen Erleuchtung<« (88-116) verglichen.
ja keine Läden hatte), sondern eine Strandgut-Orgie In den 80er Jahren haben dann zwei amerikanische
dazu, ein Stück Sur-Realistik der verlorenen Blicke, der Arbeiten und ein Pariser Kolloquium der Neulektüre
vertrautesten Dinge« (371). Bloch hat die surrealisti- und Neuentdeckung des Surrealismus-Essay wichtige
schen Affinitäten in Benjamins Denkstil genau getrof- Impulse verliehen. Richard Wolin, der mit seinem
fen, wenn er den assoziativen, experimentierenden Buch Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption
Modus der Texte ein >>surrealistisches Philosophieren« (1982) zuerst den Surrealismus-Essay in seiner Bedeu-
(ebd.) nennt. Das weist hin auf die Idee eines neuen tung als Paravent des Passagen-Werks erkannt hat
Denkens, das Benjamin als ein Denken diesseits der (Wolin 1982, 129). Das von Heinz Wismann 1983 in
>>Lehre vom Gebietscharakter der Künste« (VI, 218 f.) Paris organisierte internationale Kolloquium Walter
stets für sich reklamiert hat und das Kracauer als die Benjamin et Paris stand ganz im Zeichen des gerade
Position des Philosophen >>in der erhobenen Mitte erschienenen Passagen-Werks. Mehrere Beiträge
zwischen dem Forscher und dem Künstler« (Kracauer (Burkhardt Lindner, Jacques Leenhardt, Barbara Klei-
1990, 124) beschrieben hat. ner vor allem) behandelten den Surrealismus-Essay in
Die Rezeptionsgeschichte von Benjamins Surrealis- dieser Perspektive. In die 1980er Jahre gehört schließ-
mus-Essay hätte in solcher Grenzüberschreitung ihr lich auch die als Dissertation an der Yale-University
eigentliches Thema und ihren in unsere Gegenwart entstandene Arbeit von Margaret Cohen Profane Illu-
weisenden Fluchtpunkt. Das neue geschichtliche Den- mination. Walter Benjamin and the Paris of Surrealist
ken, um das sich Benjamins Arbeit drehte, dialektische Revolution (1993), bis heute die beste Darstellung des
Bilder als Momentaufnahmen an den archäologischen Themas. Die Autorin beschreibt Benjamin als Promo-
Korrespondenzen und mythischen Repräsentationen tor eines >>Surrealist marxism«, als dessen Programm
zu gewinnen, in den Kulturepochen des Barock, der sie den Surrealismus-Essay entziffert.
deutschen Romantik und der französischen Moderne Nimmt man die konjunkturellen internationalen
zwischen Baudelaire und dem Surrealismus, war ein Kongresse als Indiz für bestimmte Trends, dann läßt
am >>Integrationsprozeß der Wissenschaft« orientiertes sich von dem Osnabrücker Benjamin-Kongreß 1992
Denken, das >>die starren Scheidewände zwischen den sagen, daß die in Benjamins Universum entscheidende
Disziplinen[,] wie sie den Wissenschaftsbegriff des Bedeutung der Durcharbeitung surrealistischer Erfah-
vorigen Jahrhunderts kennzeichnen, niederlegt<< (VI, rung nahezu gänzlich aus dem Blick geraten war. Ein-
219). zig die Adorno-Schülerin Elisabeth Lenk ging in ihrem
Beitrag >>Spuren surrealistischer Erfahrung bei Walter
Benjamin« nach (Lenk 1999, 347-355). Die Debatte
398 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

um Walter Benjamin scheint sich in die Parzeliierung Literatur


von Einzelaspekten zu verlieren und in hochartifiziel- Adorno, TheodorW. (1973): >>Die Idee der Naturgeschichte«,
ler Exegese Benjamins CEuvre zur Wirkungslosigkeit in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Philosophische
Frühschriften, Frankfurt a. M., 345-368.
eines Klassikers der Theoriegeschichte der Moderne
Adorno, Theodor W. (1997): >>Benjamins >Einbahnstraße«<,
zu verurteilen. in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. RolfTiedemann, Bd.
Mindestens zwei neuere Arbeiten aus den 1990er 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M., 680-685.
Jahren widerstehen diesem Trend und sollen abschlie- Adorno, Theodor W. (1997): »Rückblickend auf den Surrea-
ßend als gegen diesen Strom gerichtet genannt werden. lismus<<, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M.,
101-105.
Der englische Politologe PeterOsborne mit seiner Ar- Adorno, Theodor W./Walter Benjamin ( 1994): Briefwechsel,
beit The Politics of Time. Modernity and Avantgarde hg. von Henri Lonitz. Frankfurt a. M.
(1995), hat als einer der ersten Benjaminsam Surrea- Aragon, Louis {1974): »Une vague de reves<<, in: ders.: L'CEuvre
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Traumwoge>>, übers. v. Eva Schewe, in: Karlheinz Barck
den Zusammenhang mit der Freudschen Psychoana- (Hg.): Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch,
lyse und Benjamins Marxismus-Rezeption gestellt und Leipzig 1986, 60-80).
analysiert. In Deutschland hat in den 1990er Jahren Aragon, Louis (1974): »Le paysan de Paris«, in: L'CEuvre poe-
die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel den Sur- tique, Bd. 3, Paris.
Aragon, Louis (1980): Traite du style, Paris.
realismus- Essay in ihrem Buch Entstellte Ähnlichkeit.
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Walter Benjamins theoretische Schreibweise ( 1997) als Walter Benjamin<<, in: Melusine Nr. 4: Le Iivre surrealiste,
theoretischen Entwurf für den Umbau surrealistischer Lausanne,277-288.
Bildräume in einen politischen Handlungsraum als Bloch, Ernst (1962): »Revueform in der Philosophie. Zu Wal-
ter Benjamins >Einbahnstraße<<<, in: ders.: Gesamtausgabe,
allegorische Theorie und Armatur des Surrealismus-
Bd. 4: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M., 367-371.
Essays analysiert. Ohne im einzelnen auf das Passagen- Bohrer, Kar!-Heinz {1970): Die gefährdete Phantasie, oder
Werk einzugehen, versteht die Autorin Benjamins im Surrealismus und Terror, München.
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vorfaschistischen Situation, noch einmal als Konzept a.M.
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Steinwachs, Ginka (1985 ): Mythologie des Surrealismus oder
vermutlich das am meisten verkaufte Buch Benjamins
die Rückverwandlung von Natur in Kultur, Basel/Frankfurt
a.M. ist. Damit gehört Benjamins Arbeit über die Photo-
Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benja- graphie zwar zu seinen verbreitetsten Texten, eine
mins theoretische Schreibweise (Kap. 5: Passagen und Disposition, die seine Rezeption in der Benjamin-For-
Spuren des >Leib- und Bildraums<), Frankfurt a. M., 113-
129.
schung jedoch insgesamt wenig begünstigt hat. Für die
Wismann, Heinz (Hg.) (1986): Walter Benjamin et Paris. >>photographische Gemeinschaft<< (Krauss 1998a, 85)
Colloque internationale 27-29 juin 1983, Paris. hingegen besaß Benjamins Text >>den Charakter einer
Wolin, Richard (1982): An Aesthetic of Redemption, New Bombe<< (85; zur Rezeption vgl. 81-117), deren Wir-
York.
kung die deutsche und internationale Phototheorie
und Photogeschichte seit den 60er Jahren eine Vielzahl
von Impulsen verdankt und in diesem Sinne einen
ihrer maßgeblichen Vertreter, Herbert Molderings,
nicht hat zögern lassen, von Walter Benjamin als dem
>>bedeutendsten Fototheoretiker der Weimarer Repu-
blik<< (Molderings 1988, 23) zu sprechen. Erst durch
die Lektüre von Benjamins KLEINE[R] GESCHICHTE
DER PHOTOGRAPHIE wurden in den 70er Jahren be-
deutende Sammler wieder aufWerke bis dahin weit-
gehend vergessener Avantgardephotographen auf-
merksam (zur Wiederentdeckung von Germaine Krull
vgl. Wilde 1999, 17). Bei den jüngeren durch die Stu-
dentenbewegung geprägten Kunsthistorikern fand
Benjamins Beitrag begeisterte Zustimmung, da hier
Ansätze einer materialistischen Kunsttheorie zu ent-
decken waren, die als richtungsweisend für Konzepte
400 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

der politischen Photographie und kritischer Medien- Sie propagiert eine bewußte Reauratisierung der
praxis gelten konnten. Werke, indem in der aktuellen photographischen Pra-
Besteht für Benjamin >>der Genius des Mediums in xis nur eine geringe Zahl von Abzügen auf dem Markt
der Darstellung des menschlichen Subjekts, das im erscheint, so daß die Aura, die einer historischen Pho-
Netz seiner sozialen Beziehungen verwoben ist<< tographie durch Seltenheit und Alter des vintage prints
(Krauss 1998b, 35), so folgt ihm in dieser Oberzeugung zukommt, gewissermaßen durch den Preis künstlich
vor allem das bedeutende Buch von Roland Barthes hergestellt wird.
La chambre claire. Note sur Ia photographie, 1980 (dt. Auch gegenläufige Entwicklungen der Kunst, deren
Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, 1985 ), Werke die Bedingungen der Reproduzierbarkeit in die
ohne sich allerdings explizit auf Benjamins Aufsatz zu Struktur der Darstellung integrieren, hat Benjamin
beziehen. Der für Barthes zentrale Begriff des Punk- theoretisch antizipiert, indem er >>das Terrain der
turns, der jenes Element einer Photographie bezeich- Kunst-nach-der-Fotografie umreißt: nämlich der illu-
net, das >>wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang strierten Zeitschrift, die sozusagen Fotografie plus Text
hervorschießt<< (Barthes 1985, 35) um den Betrachter ist<< (Krauss 2000, 143 ). Benjamins Einfluß ist noch in
zu durchbohren, jenes >>Zufällige [... ], das mich be- jenen theoretischen Ansätzen erkennbar, die versu-
sticht<< (36), wirkt wie der Versuch, einen Begriff für chen, das Spezifische jener Werke zu erklären, die die
jene Erfahrung zu finden, die Benjamin am Beispiel Bedingungen ihrer medialen Präsenz selbstkritisch
der frühen Porträts von Hili als unwiderstehlichen reflektieren und seit kurzem ihre Zukunft >>in the age
Zwang des Betrachters beschrieben hatte, >>in solchem of the Post-medium condition<< (vgl. Krauss 1999)
Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu erkunden.
suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter
gleichsam durchgesengt hat<< (II, 371).
Insofern beide Autoren den methodischen Blick für Text
das Detail, das Bewußtsein für den >>winzigen Signifi-
kanten<< (Derrida 1988, 36) in den Mittelpunkt ihrer Benjamins Aufsatz beginnt mit der Feststellung, daß
Bildsemantik rücken, hat Derrida in seinem Essay Die viele Debatten über den Status der Photographie im
Tode des Roland Barthes in Benjamins Aufsatz und 19. Jh. dem >>skurrilen Schema<< (II, 369) gefolgt seien,
Barthes' Buch zurecht die >>wohl herausragenden Texte die von Gott geschaffene Wirklichkeit könne nicht auf
über das sogenannte Problem des Referenten in der mechanischem Wege abgebildet werden, sondern ver-
technischen Moderne« (ebd.) gesehen. lange die Eingebung des allein seinen gestalterischen
Der Sache nach schließt auch Viiern Flusser in Für Fähigkeiten vertrauenden Künstlers. >>Hier tritt mit
eine Philosophie der Fotografie (1983) an Benjamins dem Schwergewicht seiner Plumpheit der Banausen-
Überlegungen an, so wenn er davon ausgeht, daß der begriff von der >Kunst< auf, dem jede technische Er-
moderne Betrachter zunehmend mit einem Univer- wägung fremd ist und welcher mit dem provozieren-
sum technischer Bilder konfrontiert ist, die nichts den Erscheinen der neuen Technik sein Ende gekom-
mehr über die Realität aussagen, da, anders jedoch als men fühlt. Dem ungeachtet ist es dieser fetischistische,
von Benjamin befürchtet, noch die ihnen beigefügten von Grund auf antitechnische Begriff von Kunst, mit
Texte durch die Semantik der Bilder gesteuert werden: dem die Theoretiker fast hundert Jahre lang die Aus-
>>Im Verlauf der Geschichte dominierten Texte, gegen- einandersetzung suchten, natürlich ohne zum gering-
wärtig dominieren Bilder. Und wo die technischen sten Ergebnis zu kommen. Denn sie unternahmen
Bilder dominieren, nimmt der Analphabetismus eine nichts anderes, als den Photographen vor eben jenem
neue Stellung ein. Der Analphabet ist nicht mehr, wie Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf<< (ebd.).
früher, von der in Texten verschlüsselten Kultur aus- Damit ist Benjamins eigener Begriff von Kunstge-
geschlossen, sondern er ist fast gänzlich an der in Bil- schichte, von Photogeschichte im besonderen bezeich-
dern verschlüsselten Kultur beteiligt<< (Flusser 1983, net. Er interpretiert das ihm vorliegende fotografische
55). Quellenmaterial, um am Leitfaden des Begriffs der
Als Theoretiker der technischen Reproduktion von Technik die Entwicklung des neuen Mediums nachzu-
Kunst avanciert Benjamin seit den 80er Jahren, vor zeichnen.
allem in der amerikanischen Diskussion, zu einem der Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die frü-
einflußreichsten Autoren, nicht zuletzt im Hinblick hesten Photographien von Daguerre und Hili, von
auf die Erklärung von Tendenzen, die Benjamins Pro- denen einige, »namenlose Menschenbilder, nicht Por-
gnosen zu widersprechen scheinen, wie etwa der >>Tri- träts<< (II, 370), in die Besonderheit der neuen Technik
umph der Fotografie-als-Kunst<< (Crimp 1980, 130). einführen. Während bei gemalten Porträts die darge-
»Kleine Geschichte der Photographie« 401

stellten Personen nach wenigen Generationen meistens Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen
vergessen sind und die Bilder nur noch als Zeugnis für Technik, Medizin zu rechnen pflegen - all dieses ist der
die Kunst des Malers gelten, kann man in der Photo- Kamera ursprünglich verwandter als die stimmungs-
graphie, so Benjamin, etwas Neuern und Sonderbarem, volle Landschaft oder das seelenvolle Porträt<< (ebd.).
begegnen: >>In jenem Fischweib aus New Haven, das Im Hinblick auf dieses gegenständliche Material, das
mit so lässiger, verführerischer Scham zu Boden blickt, sich durch Vergrößerung erschließt, besteht die Lei-
bleibt etwas, was im Zeugnis für die Kunst des Photo- stung der Photographie in der Sichtbarmachung einer
graphen Hili nicht aufgeht, etwas, was nicht zum vom menschlichen Bewußtsein nicht wahrnehmbaren
Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Na- Formenwelt der Oberfläche. Es sind >>Bildweiten, wel-
men derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier che im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen
noch wirklich ist und niemals gänzlich in die >Kunst< genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden
wird eingehen wollen« (ebd.). Von Hills Bild eines zu haben<< (ebd.). Mit dieser Beobachtung gelangt Ben-
Fischweibs geht für Benjamin etwas aus, das die Pho- jamin zu der für seine Kunsttheorie fundamentalen
tographie als bloßes Abbild transzendiert, indem die Bestimmung, daß >>die Differenz von Technik und Ma-
aus dem 19. Jh. stammende Frau im Blick des Betrach- gie als durch und durch historische Variable<< (II,
ters >>noch wirklich<< ist. Hills Photographie bedient 371 f.) gedachtwerden muß. Die Photographie, die mit
sich der Technik des Apparates, erscheint aber selbst Hilfe spezieller Linsen Objekte so vergrößert, daß neue
als Medium einer anderen, theoretisch nur schwer zu Strukturen an ihnen sichtbar werden, ist reine Technik,
bestimmenden Kraft der Vergegenwärtigung: >>Hat aber insofern ihre Bilder eine theoretisch nur sehr
man sich lange genug in so ein Bild vertieft, erkennt schwer zu bestimmende Kraft besitzen, im erlebenden
man, wie sehr auch hier die Gegensätze sich berühren: Bewußtsein (Wachtraum) erscheinende Gestalten
die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen sichtbar zu machen, besitzt die Technik für Benjamin
einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein ge- eine magische Seite. Er erläutert diesen Aspekt an den
maltes Bild nie mehr besitzen kann<< (371). >>erstaunlichen Pflanzenphotos<< (372) von Karl Bloß-
Mit dem Begriff der Magie ist die zweite zentrale feld, die >>in Schachtelhalmen älteste Säulenformen, im
Kategorie eingeführt, mit der Benjamin das Wesen der Straußfarn den Bischofsstab, im zehnfach vergrößer-
Photographie zu bestimmen versucht. Das Bild bringt ten Kastanien- und Ahornsproß Totem bäume, in der
zwar immer die Intentionen des Fotografen zum Aus- Weberkarde gotisches Maßwerk zum Vorschein<< (ebd.)
druck, aber, so Benjamin, trotz aller Planmäßigkeit bringen.
fühle der Beschauer >>unwiderstehlich den Zwang, in Die Intensität dieser »magischen<< Wirkung sieht
solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Benjamin technisch begründet: Die Notwendigkeit des
Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bild- Außenlichtes und der langen Belichtungszeit lassen für
charakter gleichsam durchgesengt hat, die unschein- Hili den Friedhof zum idealen Aufnahmeort werden,
bare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längst wo die Menschen im Zustand äußerer Abgeschieden-
vergangeneu Minute das Künftige noch heut und so heit und innerer Sammlung während der langen Dauer
beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken kön- dieser Aufnahmen >>gleichsam in das Bild hinein<< (I,
nen<< (ebd.). Der Absicht des Photographen entzogen, 373) wachsen. Die Qualität der Bilder der ersten Pho-
schleichen sich diese Partikel der Realität gewisserma- tographengeneration verdankt sich ihrem Vermögen,
ßen ins Bild, um später als deiktische Elemente der das technisch-physikalische Prinzip des photographi-
Diskrepanz zwischen Bewußtsein und dem von ihm schen Verfahrens in gleichem Maße zu beherrschen
erfaßten Raum zu fungieren, denn, so Benjamin: >>Es wie das kompositorische der Bildgestaltung.
ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche
zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle
eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Aura
Raums ein unbewußt durchwirkter tritt<< (ebd.). Das
vom Fotografen >>übersehene<< ist ein Teil dieser Natur, Im zweiten Teil seines Textes erläutert Benjamin den
deren anderer in jenen Oberflächenerscheinungen in den folgenden Jahrzehnten des 19. Jh.s einsetzenden
hervortritt, die zu erfassen das menschliche Auge Verfall des photographischen Geschmacks. Nach der
organisch unzureichend ausgestattet ist: >>Die Pho- ersten Generation von Technikern, die als ehemalige
tographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Ver- Maler auf solide handwerkliche Erfahrungen zurück-
größerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch- greifen konnte, drängt in den folgenden Jahrzehnten
Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem eine neue Generation von Geschäftsleuten in den
Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse. Stand der Berufsfotografen, die sich als Künstler ver-
402 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

stehen, den spezifisch technischen Aspekt ihrer Arbeit grafischen Bild erfahrbar macht. Die Konstellation
jedoch zu verschleiern und ihre Bilder, vor allem das ändert sich nach 1880 grundlegend. >>Die Aura, die von
Porträt, stilistisch denen der Malerei anzugleichen Hause aus mit der Verdrängung des Dunkels durch
versuchen. Als Kunden dieser neuen, kommerziell aus- lichtstärkere Objektive aus dem Bilde genau so ver-
gerichteten Atelierfotografie trat das aufsteigende Bür- drängt wurde wie durch die zunehmende Entartung
gertum hervor, das es dem Stilwillen des Fotografen des imperialistischen Bürgertums aus der Wirklich-
überließ, markante Anlässe der Familiengeschichte in keit<< (II, 377), wird bestenfalls durch eine nachträglich
einer Kulisse zu inszenieren, deren überladene Sym- vorgenommene Bildbearbeitung vorgetäuscht. Benja-
bolik, >>zweideutig zwischen Exekution und Repräsen- min sieht darin nichts anderes als den Ausdruck einer
tation, Folterkammer und Thronsaal<< (II, 375) chan- >>Ohnmacht jener Generation im Angesicht des tech-
gierend, deren Akteure lächerlich drapiert. nischen Fortschritts<< (ebd.).
Im Vergleich zur Verlorenheit dieser Figuren treten Mit diesem Urteil geht Benjamin zu einem Vorläu-
die Gestalten eines Hili ruhig und voller Weltvertrauen fer der modernen Photographie über, Eugene Atget,
hervor: >>Es war eine Aura um sie, ein Medium, das dessen von Berenice Abbot gesammelte Arbeiten ihm
ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fülle und in einem 1930 von Camille Recht herausgegebenen
Sicherheit gibt<< (376). >>hervorragend schönen Bande<< (ebd.) vorlagen. At-
Benjamin führt in diesem Zusammenhang den Be- gets zeitseines Lebens unbeachtete Photographien des
griff der Aura ein, ohne ihn hier bereits näher zu er- alltäglichen Paris, seiner Straßen, Häuser, Fassaden
läutern. Entscheidend ist, daß der von ihm bezeichnete und Schaufenster sind für Benjamin Vorläufer der
Sachverhalt mit der Sphäre der Technik vermittelt surrealistischen Photographie. >>Als erster desinfiziert
wird: >>Und wieder liegt das technische Äquivalent da- er die stickige Atmosphäre, die die konventionelle
von auf der Hand; es besteht in dem absoluten Konti- Porträtphotographie der Verfallsepoche verbreitet hat
nuum von hellstem Licht zu dunkelstem Schatten<< [... ]ja er bereinigt sie: er leitet die Befreiung des Ob-
(ebd.). Benjamin erklärt diese auratische Wirkung mit jekts von der Aura ein<< (378).Atget sei an den großen
der Farbwirkung von Hills Bildern, der Ausdifferen- Wahrzeichen der Stadt immer vorbeigegangen, nicht
zierung aller Farbtöne zwischen tiefstem Schwarz und aber >>an einer langen Reihe von Stiefelleisten; nicht
hellstem Weiß, und interpretiert dieses Gestaltungs- an den Pariser Höfen, wo von abends bis morgens die
prinzip als Übernahme der Technik des Schabkunst- Handwagen in Reih und Glied stehen<< (379). Die
verfahrens, das die Porträtmalerei kurz vor ihrem Avantgardephotographie der 20er Jahre, so Benjamin,
Niedergang zu einer einzigartigen Höhe getrieben folge Atget darin, die Besonderheit einer Stadt nicht
habe. Das >>technische Bedingtsein der auratischen in ihren einzigartigen Ansichten und Bauwerken, de-
Erscheinung<< (ebd.), jener >> Hauchkreis, der schön und ren Aura gewissermaßen für die Individualität der
sinnvoll bisweilen durch die nunmehr altmodische Stadt einsteht, sondern in ihren charakteristischen
ovale Form des Bildausschnitts umschrieben wird<< Details zu sehen. »Wenn >Bifur< oder >Variete<, Zeit-
(ebd.), mache es zwingend, den Inkunabeln der Foto- schriften der Avantgarde, unter der Beschriftung
grafie nicht künstlerische Vollendung oder höchsten >Westminster<, >Lilie<, >Antwerpen< oder >BreslaU< nur
Geschmack, sondern vor allem technisches Niveau Details bringen, einmal ein Stück von einer Balu-
zuzusprechen: >>Diese Bilder sind in Räumen entstan- strade, dann einen kahlen Wipfel, dessen Äste vielfäl-
den, in denen jedem Kunden im Photographen vorab tig eine Gaslaterne überschneiden, ein andermal eine
ein Techniker nach der neuesten Schule entgegentrat, Brandmauer oder einen Kandelaber mit einem Ret-
dem Photographen aber in jedem Kunden der Ange- tungsring auf dem der Name der Stadt steht, so sind
hörige einer im Aufstieg befindlichen Klasse mit einer das nichts als literarische Pointierungen von Motiven
Aura, die bis in die Falten des Bürgerrocks oder der die Atget entdeckte<< (378). An dieser Stelle des Textes
Lavaliiere sich eingenistet hatte<< (ebd.). wirft Benjamin scheinbar unvermittelt die Frage auf:
Entscheidend sei, so Benjamin, daß die Aura nicht »Was ist eigentlich Aura?<<, folgt aber damit nur kon-
das bloße Erzeugnis einer primitiven Kamera sei, >>viel- sequent der Dramaturgie des Textes, in der die mehr-
mehr entsprechen sich in jener Frühzeit Objekt und fache Verwendung des Begriffs >Aura< nun nach einer
Technik genau so scharf, wie sie in der anschließenden Erläuterung verlangt. Benjamin erläutert »Aura<< so:
Verfallsperiode auseinandertreten<< (ebd.). Lichtfüh- »Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: ein-
rung und selbstbewußte bürgerliche Individualität, die malige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.
im Augenblick des Innehaltens vor der Kamera ihren An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug
intensivsten Ausdruck annimmt, wirken auf eine Weise oder einem Zweig folgen, der seine Schatten auf den
zusammen, die die Aura des Porträtierten im photo- Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde
»Kleine Geschichte der Photographie« 403

Teil an ihrer Erscheinung hat - das heißt die Aura russischen Filmen von Pudowkin und Eisenstein die
dieser Berge, dieses Zweiges atmen<< (ebd.). Besonderheit ihrer Herkunft zum Ausdruck bringen,
Die metaphorische Beschreibung und das Beispiel sieht Benjamin die zeitgemäße Lösung des Problems:
zeigen, daß Aura letztlich keinen scharf umrissenen >>Und augenblicklich trat das menschliche Gesicht mit
Begriff, sondern eine an die Einmaligkeit von Raum neuer, unermeßlicher Bedeutung auf die Platte. Aber
und Zeit gebundene Erfahrung des erlebenden Be- es war kein Porträt mehr. Was war es?<< (380).
wußtseins auszudrücken versucht. Diesen Zweig an Mit dieser Frage leitet Benjamin zum Werk von Au-
diesem Ort zu diesem Zeitpunkt wahrgenommen zu gust Sander über, der in seinem Buch Antlitz der Zeit
haben und das Bewußtsein davon zu besitzen, macht sein auf mehrere Bände angelegtes Werk vorgestellt
seine Einmaligkeit für das Erleben des Subjekts aus, hatte, in dem er mit scharfem Blick für die Physiogno-
insofern atmet es seine Aura, aber das Objekt muß, mie ihrer exemplarischen Repräsentanten eine Art
dies ist die räumliche Bedingung, fern erscheinen, um photographischer Typologie der Berufsstände, Schich-
wahrgenommen zu werden. Vor diesem Hintergrund ten, Klassen der deutschen Gesellschaft erstellen wollte.
erschließt sich die Aura der frühen Bilder von Hili Benjamin sieht in Sanders Projekt >>mehr als ein Bild-
noch auf andere Weise: Sie sind auratisch, weil sie das buch: ein Übungsatlas« (381), der für die Ausbildung
Hier und Jetzt der Begegnung zwischen den Porträ- der Fähigkeit, den Menschen anzusehen, woher sie
tierten und dem Photographen, die Intensität des ge- kommen, qualifiziere (zu Sander und Benjamin vgl.
meinsam erlebten langen Moments der Aufnahme Becker 1989).
zum Ausdruck bringen. Die Gegenwart widersetzt sich
dieser an Einmaligkeit und Ferne gebundenen Struk-
tur der auratischen Erfahrung, indem es eine leiden- Funktion
schaftliche Neigung der heutigen Menschen sei, >>die
Dinge sich, vielmehr den Massen >näherzubringen<, Mit der Interpretation von Atgets auralosen Stadtpho-
[... ] wie die Überwindung des Einmaligen in jeder Lage tographien und der Erörterung von Sanders Bildern
durch deren Reproduzierung« (ebd.). Diesem gesell- namenloser Menschen bereitet Benjamin den entschei-
schaftlichen Bedürfnis >>des Gegenstands aus nächster denden Perspektivwechsel seiner Argumentation vor.
Nähe im Bild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden<< Sein Interesse gilt nun weniger dem historischen und
(379) entsprächen Illustrierte und Wochenschau, zu- ästhetischen Diskurs über Photographie als vielmehr
dem habe sich eine Wahrnehmungsform entwickelt, der Beschreibung ihrer gegenwärtigen sozialen und
deren Sinn für alles Gleichartige so gewachsen sei, daß politischen Funktionen im Zeichen der gesellschaftli-
sie es mittels Reproduktion auch dem Einmaligen ab- chen Krise um 1930. Während die historischen Debat-
gewinne und deshalb die Zertrümmerung der Aura zu ten über Photographie als Kunst für Benjamin letztlich
ihrer Signatur erkläre. unergiebig geblieben waren, weist er >>dem soviel frag-
Atgets Photographien entsprechen dieser Haltung loseren sozialen Tatbestand der >Kunst als Photogra-
des modernen Menschen, indem sie die Wirklichkeit phie<<< (II, 381) eine weitaus höhere Bedeutung zu:
auf ihre Weise entauratisieren. Sie vermögen jenen >>[ ... ] die Wirkung der photographischen Reproduk-
Bann zu lösen, der auratischen Erfahrungen zugrunde tion von Kunstwerken [ist] für die Funktion der Kunst
liegt: >>Merkwürdigerweise sind aber fast alle diese Bil- von sehr viel größerer Wichtigkeit als die mehr oder
der leer<< (ebd.). Es sind kaum Menschen auf ihnen minder künstlerische Gestaltung einer Photographie,
abgebildet. Im Blick auf die Bilder gewinnt der Betrach- der das Erlebnis zur >Kamerabeute< wird<< (ebd.).
ter jenes Maß an Distanz zu seinem Lebensraum, den Gemälde, Bauwerke, Plastiken lassen sich, so Ben-
ihm die alltäglichen Vollzüge nicht gestatten. >>Diese jamins These, vielleichter durch ein Photo erfassen als
Leistungen sind es, in denen die surrealistische Photo- in Wirklichkeit, und dieser Weg der photographischen
graphie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt Aneignung sei um so mehr gefordert, als die Auffas-
und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch ge- sung von großen Werken sich gewandelt habe. Sie seien
schulten Blick das Feld frei, dem alle Intimitäten zu- nicht mehr Werke von Einzelnen, sondern als Kollek-
gunsten der Erhellung des Details fallen<< (ebd.). tivgebilde anzusehen: >>Im Endeffekt sind die mecha-
Gleichwohl ist Benjamin bewußt, daß >>der Verzicht nischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungs-
auf den Menschen für die Photographie der unvollzieh- technik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad
barste<< ist (ebd. ), aber unter welchen Umständen kann von Herrschaft über die Werke, ohne welchen sie gar
der Mensch nach dem Elend der Porträtphotografie des nicht mehr zur Verwendung kommen« (382).
späten 19. Jh.s ins Bild zurückkehren? In der Darstel- Benjamins Beitrag endet mit einer kritischen Ge-
lung namenloser Menschen, deren Gesichter wie in den genüberstellung der beiden wichtigsten Fraktionen der
404 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

zeitgenössischen Photographie. Während die Bilder vgl. Köhn 1990). Seit 1926 hatte er eine Reihe von Pho-
von August Sander, Germaine Krull und Karl Bloßfeld tobüchern besprochen, in deren Mittelpunkt Städte-,
für physiognomische, politische und wissenschaftliche Landschafts- und Tieraufnahmen standen. 1927
Interessen stehen, entwickeln andere einen schöpferi- schreibt er in einem Brief aus Paris, >>daß Photographie
schen Ehrgeiz, aber: >>Das Schöpferische am Photogra- über Nacht ein aktuelles Thema geworden ist. Die
phieren ist dessen Überantwortung an die Mode<< Frankfurter Zeitung war neulich voll davon und ein
(383). Exemplarisch trete die Haltung dieser Photo- großer Aufsatz über das Thema von Dr. Kracauer, der
graphie, >>die jede Konservenbüchse ins All montieren, jetzt hier war, ist gleichfalls noch zu erwarten<< (3, 291).
aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge Benjamins erste spezifisch phototheoretisch argumen-
fassen kann<< (ebd.), im Titel des Photobandes von tierende Rezension NEuEs voN BLUMEN, die Ende 1928
Albert Renger-Patzsch hervor: Die Welt ist schön. Die in der Literarischen Welt erschien und Karl Bloßfelds
schöpferische Photographie, deren wahres Betäti- Buch Urformen der Pflanzen gewidmet war, argumen-
gungsfeld die Reklame sei, findet für Benjamin ihren tiert ganz im Sinne von Moholy-Nagys Photodidaktik,
>>rechtmäßigen Gegenpart in der Entlarvung oder indem er die Pflanzenphotos von Bloßfeld als wichti-
Konstruktion<< (ebd.). Brecht habe bereits bemerkt, gen Beitrag zu >>jener großen Überprüfung des Wahr-
daß eine Photographie der A.E.G. Werke beinahe nehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabseh-
nichts über deren Realität aussage. bar verändern wird<< (III, 151). Bloßfeld, so Benjamin
Weniger unter photographischen als vielmehr unter unter Berufung auf Moholy-Nagy, habe mit seinen
Gesichtspunkten der politischen Funktion, die für Pflanzenphotos bewiesen, >>Wie recht der Pionier des
Benjamin um 1930 angesichts der Krise der Gesell- neuen Lichtbildes, Moholy-Nagy, hat, wenn er sagt:
schaftsordnung Priorität besitzt, wird die Beschriftung >Die Grenzen der Photographie sind nicht abzusehen.
der Photographie zur neuen unverzichtbaren Aufgabe, Hier ist alles noch so neu, daß selbst das Suchen schon
>>ohne die alle photographische Konstruktion im Un- zu schöpferischen Resultaten führt. Die Technik ist
gefähren stecken bleiben muß<< (385). Der Photograph hier der selbstverständliche Wegbereiter dazu. Nicht
>>hat die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird
den Schuldigen zu bezeichnen<< (ebd.). Am Ende seines der Analphabet der Zukunft sein<<< (ebd.).
Textes zitiert Benjamin, ohne allerdings den Namen Moholy-Nagy hatte auf einer erläuternden Texttafel
zu nennen, Moholy-Nagy: >>Nicht der Schrift-, sondern in der epochalen Stuttgarter Ausstellung >>Film und
der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, Foto<< von 1929 erklärt, daß es nicht darauf ankomme,
der Analphabet der Zukunft sein<< (ebd.). »Aber<<, so >>aus der Photographie wieder Kunst zu machen, son-
Benjamins abschließende, unverhohlen kritische Frage, dern auf die tiefe soziale Verantwortung des Photogra-
>>muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph phen. Seine Arbeit muß das unverfälschte Dokument
gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird der zeitlichen Realität sein<< (Kallai 1986, 144). In glei-
die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil chem Sinne fordert Sasha Stone unter dem program-
der Aufnahme werden?<< (ebd.). matischen Titel >>Zurück zur Fotografie<< eine Rückbe-
sinnung des Mediums auf seine spezifische Qualität
der authentischen Wiedergabe von Objekten. >>Der
Konstruktive Photographie Fotograf und der Kinooperatem sind die Chronisten
unserer Zeit, sie bauen das kulturelle Archiv unserer
Benjamins Thesen stehen ganz im Zeichen seiner Ab- Epoche auf.[ ... ] Dieses Dokument muß präzise, wahr
sicht, sich in zwei bedeutende phototheoretische De- und eindeutig sein<< (Stone 1929a, 168). Dem Wunsch
batten der späten Weimarer Republik einzumischen. nach einem präzisen visuellen >>Dokumentverfahren<<
Er sah sich dazu vermutlich hinreichend qualifiziert, steht jedoch ein Problem entgegen: >>Diese Eindeutig-
da er nicht nur seit den Tagen des Berliner Konstruk- keit zu erreichen, ist bis jetzt der schwache Punkt der
tivismus um Hans Richters >>G-Gruppe<< mit photo- Fotografie, denn der Mangel an Eindeutigkeit eines
theoretischen Fragen konfrontiert war und für dessen Fotos ist uns längst bekannt. [... ] Oft ist das Objekt
Zeitschrift »G<< 1924 Tristarr Tzaras Aufsatz >>La Pho- nicht eindeutig. [... ] Die Unterschrift ist daher fast in
tographie A L'Envers<< (dt. >>Die Photographie von der den meisten Fällen notwendig<< (ebd.). Stone sieht in
Kehrseite<<) über Man Rays Fotogramme übersetzt der Beschriftung eines Photos eine Notlösung für das
hatte, sondern seit dieser Zeit mit dem Photographen Problem, die Mehrdeutigkeit der Bildaussage einzu-
Sasha Stone befreundet war und seit 1928 auch zu dem schränken, tendenziell sollte die Photographie jedoch
bedeutendsten Theoretiker des Neuen Sehens Moholy- in der Lage sein, auf Kompromisse dieser Art zu ver-
Nagy engen Kontakt hatte (zu Stone und Benjamin zichten, nicht zuletzt deshalb, weil sie letztlich kraft
»Kleine Geschichte der Photographie« 405

der Universalität ihrer bildsprachlichen Mittel zu einer tige oder falsche- gleichviel. In ihnen ist die Beschrif-
neuen Weltsprache werden könne: >>Wir sehen es in tung zum ersten Mal obligat geworden<< (I, 485, vgl.
den illustrierten Zeitschriften, daß eine Photographie Köhn 2004).
mitunter so ausdrucksvoll sein kann, daß irgendeine Benjamins Position ist in der neueren Phototheorie
Erläuterung vollkommen überflüssig ist. Wir sehen nicht ohne Widerspruch geblieben: >>Keine Bildunter-
also, daß die Photographie immer mehr das Lesen er- schrift kann auf längere Sicht die Aussage eines Bildes
setzt, vor allem bei den Berichterstattungen. Auf diese einschränken oder absichern. Selbst eine völlig kor-
Weise entwickelt sie sich mit der Zeit zu einer Welt- rekte Bildunterschrift ist nicht mehr als eine unter
sprache, die für alle Völker verständlich ist<< (Stone vielen möglichen Interpretationen der Fotografie<<
1929b, 3). (Sontag 1978, 103).
Die Position von Maholy-Nagy und Stone unter-
wirft der ungarische Kunsttheoretiker Ernst Kailai Werk
1929 einer radikalen Kritik. Er bezweifelt, daß Photo- KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE (Il, 368-385)
graphien, selbst Photoreportagen allein durch das Bild DER AUTOR ALS PRODUZENT (!I, 683-701)
eindeutige Aussagen zu formulieren vermögen: >>Wo DAS KuNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
PRODUZIERBARKEIT (3. Fassung) (I, 431--469)
bleibt der dokumentarische Wert einer Reportage, die NEUES VON BLUMEN (III, 151-153)
nur als rein optisches Moment auftritt, als nackt-sach- PARISER BRIEF Il (!II, 495-507)
lich mechanische Momentaufnahme ohne jede Spur PARIS, DIE STADT IM SPIEGEL. LIEBESERKLÄRUNGEN DER
von sozialer Deutung? [... ] Photoreportage ohne das DICHTER UND KüNSTLER AN DIE »HAUPTSTADT DER WELT<<
(IV, 356-359)
politisch-soziale Drum und Dran der Zeitung, in der Das Passagen-Werk (V, 824-846)
sie ursprünglich erschien, ist im Grunde doch wieder Rez. zu Alexys Sidorow, Moskau (III, 142-143)
nur Augensensation<< (Kallai 1986, 143). Rez. zu Giseie Freund: La photographie en France au dix-
Benjamins Position entspricht der Kallais, indem er neuvieme siede. Essai de sociologie et d' esthetique (III,
542-544)
unter Berufung auf Brechts Dreigroschenprozeß eine Tristan Tzara, Die Photographie von der Kehrseite ( Überset-
radikale Photopolitik fordert, die »die Entlarvung oder zung) (Suppl.I, 9-11)
die Konstruktion<< (li, 383) zu ihrem Bildprinzip er-
klärt. >>Die eigentliche Realität ist in die Funktionale Literatur
gerutscht. [... ] Es ist also tatsächlich >etwas aufzu- Barthes, Roland (1985): Die helle Kammer. Bemerkung zur
bauen<, etwas >Künstliches<, >Gestelltes<<< (384). Die Photographie, Frankfurt a. M.
Photographie wird konstruktiv. Während Stone und Becker, Jochen (1989): >>Passagen und Passanten. Zu Walter
Moholy-Nagy darauf gesetzt hatten, das Problem der Benjamin und August Sander<<, in: Fotogeschichte 9. Jg.,
H. 32, 37--48.
Mehrdeutigkeit mit immanent photographischen Mit- Bossert, Helmuth Theodor/Heinrich Guttmann (1930): Aus
teln zu lösen, die jeden begleitenden Text überflüssig der Frühzeit der Photographie 1840-1870. Ein Bildbuch
machen, betont Benjamin unter dem Einfluß von nach 200 Originalen, Frankfurt a. M.
Brecht und Kailai die Notwendigkeit einer Montage Brecht, Bertolt (1967): »Der Dreigroschenprozeß. Ein sozio-
logisches Experiment<<, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd.
von Bild und Text. Im Zeichen einer Haltung, die der 18, Frankfurt a. M., 139-209.
Politik absolute Priorität einräumt und das Massen- Crimp, Douglas ( 1996 ): »Die fotografische Aktivität des Post-
medium der Photographie in den Dienst revolutionä- modernismus<<, in: ders.: Über die Ruinen des Museums,
rer Aufklärung zu stellen gedenkt, wird das Problem Dresden/Basel, 123 ff.
Derrida, Jacques (1988): »Die Tode des Roland Barthes<<, in:
des Photographischen und der reinen Visualität in die ders./Hans-Horst Henschen (Hg.): Roland Barthes, Mün-
Sphäre einer nachgeordneten Ästhetik abgeschoben. chen, 31-73.
Unter den Bedingungen des Exils greift Benjamin Flusser, Viiern (1983): Für eine Philosophie der Fotografie,
Göttingen.
diesen Aspekt in seinem Aufsatz DER AuTOR ALS PRo-
Kallai, Ernst ( 1986): »Schöne Photos, billige Photos<<, in: ders.:
DUZENT noch einmal auf, indem er nun vom Photo- Vision und Formgesetz. Aufsätze über Kunst und Künstler
graphen die Fähigkeit verlangt, seinen Aufnahmen 1921 bis 1933, Leipzig/Weimar, 141-148.
diejenige Beschriftung zu geben, die ihnen einen >>re- Köhn, Eckhardt (Hg.) ( 1990 ): Sasha Stone. Fotografien 1925-
1939, Berlin.
volutionären Gebrauchswert<< verleiht: >>Diese Forde-
Köhn, Eckhardt (2004): »>Nichts gegen die Illustrierte!<. Ben-
rung werden wir aber am nachdrücklichsten stellen, jamin, der Berliner Konstruktivismus und die Avantgarde<<,
wenn wir - die Schriftsteller - ans Photographieren in: Detlev Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter
gehen<< (693). In den Illustrierten sieht Benjamin rück- Benjamin und die Künste, Frankfurt a.M., 47-69.
Krauss, RolfH. (1998a): Walter Benjamin und der neue Blick
blickend eine erste, wenn auch vorläufige Form der
auf die Photographie, Ostfildern.
konstruktiven Verschränkung von Bild und Text, in- Krauss, Rosalind E. ( 1998b ): »Die Neuerfindung der Fotogra-
dem sie dem Betrachter >>Wegweiser<< aufstellen: >>Rich- fie<<, in: Luminata Sabau (Hg.): Das Versprechen der Foto-
406 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

grafie. Die Sammlung der DG BANK, München/London/


New York, 34-42.
Die Rundfunkarbeiten
Krauss, Rosalind E. (1999): A Voyage on the North Sea. Art Von Sabine Schiller-Lerg
in the Age of the Post-Medium condition, New York.
Krauss, Rosalind E. (2000): >>Die fotografischen Bedingungen
des Surrealismus<<, in: dies./Herta Wolf (Hg.): Die Origi- >>Also vergessen Sie nicht: Zwanglose Vortragsart!<<
nalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne,
Amsterdam/Dresden, 129-162. Walter Benjamins Erinnerung an seine Rundfunkar-
Lindner, Burkhardt (2002): >>Der Dreigroschenprozeß<<, in: beit, in AuF DIE MINUTE 1934 skizziert (IV, 761), kann
Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch, Bd. 4, Stuttgart/Wei- wie eine Zusammenfassung, wie ein Schlußpunkt ge-
mar, 134-173. lesen werden. Vom Anfang her gedacht, wird noch
Moholy-Nagy, Laszl6 (1927): >>Die beispiellose Fotografie<<,
in: i10, Jg. 1, H. 3, 130ff. einmal die eigene Idee vom Medium Rundfunk als
Moholy-Nagy, Laszl6 ( 1978 ): Malerei, Fotografie, Film, hg. v. Zeit- und Kommunikationsmedium verschlüsselt, die
Hans M. Wingler, Mainz/Berlin. theoretische Reflexion der eigenen Erfahrung anemp-
Molderings, Herbert ( 1988): Fotografie in der Weimarer Re- fohlen. >>Anfänger [... ] glauben, sie hätten einen Vor-
publik, Berlin.
Sontag, Susan (1978): >>Der Heroismus des Sehens<<, in: dies.: trag vor einem mehr oder weniger großen Publikum
Über Fotografie, München, 81-106. zu halten, das nur eben zufällig, unsichtbar sei. Nichts
Stiegler, Bernd (2004): >>Benjamin und die Photographie«, in: ist verkehrter. Der Radiohörer ist fast immer ein ein-
Detlev Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Ben- zelner[ ... ]. Sie müssen sich also verhalten, als wenn Sie
jamin und die Künste, Frankfurt a.M., 127-143.
Stone, Sasha (1928): >>Photo-Kunstgewerbereien<<, in: Das zu einem einzelnen sprächen [... ].Halten sie sich genau
Kunstblatt H.3, 85-87. an die Zeit<< (IV, 761). Hierin ist eine Kommunikati-
Stone, Sasha (1929a): >>Zurück zur Fotografie<<, in: Die Form onstheorie verborgen, die mit Mediennutzung und
H.7, 168-170.
Nutzen die aktive Rolle des Hörers und seine Wahr-
Stone, Sasha ( 1929b ): >> Photographie- die neue Weltsprache<<,
in: Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung, Nr. 25, 3. nehmung in den Mittelpunkt des Interesses rückt.
Werneburg, Brigitte (1995): >>Ernst Jünger, Walter Benjamin Abgeleitet aus der Aufgabe des Kommunikators und
und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medienäs- der Funktion des Mediums behält sie den Menschen
thetik in der Weimarer Republik«, in: Hans-Haraid Mül-
>>als fünftes Rad am Wagen seiner Technik<< (II, 775)
ler/Harro Segeberg (Hg.): Ernst Jünger im 20. Jahrhundert,
München, 39-57. im Auge. Walter Benjamin befaßte sich während seiner
Wilde,Ann u. Jürgen (1999): >>Erinnerungen«, in: Mechanis- Rundfunktätigkeit intensiv mit Fragen der Hörerbe-
mus und Ausdruck. Die Sammlung Ann und Jürgen Wilde. teiligung und mit der soziologischen Struktur von
Fotografien aus dem 20. Jahrhundert, hg. v. Sprengel Mu-
seum Hannover, bearb. v. Inka Graeve, München/Paris/
>>Hörergruppen<<. Sein rezeptionstheoretischer Denk-
London. ansatz verlangt dem Begriffsfeld >>Massenmedium<<
außer einer medienästhetischen auch eine mediensy-
stematische und v.a. eine historisch-publizistische
Perspektive ab. Ein Medium, das sich von Anfang an
>>an alle<< richtete, das eine bis dahin ungeahnte Öffent-
lichkeit schuf, mußte in seiner Konsequenz politisch
gedacht werden, und Benjamin sah darin Chance und
Gefahr gleichermaßen. Gesellschaftliches und politi-
sches Handeln als Ziel eines pädagogischen Konzeptes
stand gegen Indolenz und vergnügungsbestimmte
Konsumentenmentalität. Diese Polarität war für Ben-
jamin der Fluchtpunkt jeder Reflexion über das Me-
dium. Seine theoretischen Implikationen beziehen den
gesamten Kommunikationsprozeß ein und weisen al-
lemal über eine >>Radiotheorie<< hinaus. Benjamin er-
kannte die kommunikative Chance der technischen
Innovation und nahm sie in ihre gesellschaftliche
Pflicht. >>Es ist der entscheidende Irrtum dieser Insti-
tution<<, hielt er in seinen REFLEXIONEN ZUM RUND-
FUNK (II, 1506) der Rundfunkentwicklung entgegen,
>>die grundsätzliche Trennung zwischen Ausführendem
und Publikum, die durch ihre technischen Grundlagen
Lügen gestraft wird, in ihrem Betrieb zu verewigen.<<
Für Benjamin war der Rundfunk ein publizistisches
Die Rundfunkarbeiten 407

Kommunikationsmittel, mit politischer Programmatik Benjamins eigene Geringschätzung seiner Rund-


und didaktisch unterhaltender Konzeption. Unterhal- funkarbeiten (4, 165) verliert jedoch mit Blick auf den
tung und Bildung stand auf dem Programm des Rund- Adressaten des Briefes, Scholem, und auf seine publi-
funks und mußte- nach Benjamin- den >>Anforde- zistische Strategie an Gewicht. Späteren abschätzigen
rungen eines Publikums entsprechen, das Zeitgenosse Vorbehalten stand die erkennbare Überlieferungs-
seiner Technik ist« (776). dichte entgegen. Der Umfang der für den Rundfunk
Fast achtzig Rundfunksendungen hat Benjamin in geschriebenen Texte, mehr noch ihre stoffliche und
nur knapp vier Jahren von 1929 bis 1932 produziert. formale Vielfalt und deren nachvollziehbare Traditi-
Der folgende Überblick über dieses Arbeitsfeld, das onslinien im Benjaminsehen Denken haben eine Re-
offen oder verdeckt von Spuren zu anderen Werkein- zeption befördert und ihre Bewertung revidiert. Print-
heiteil durchzogen ist, kann diese Zusammenhänge medien dienten durch ihre Trägerfunktion für Texte
nur andeuten, will aber auch auf jene Impulse verwei- einer Überlieferung nachhaltiger als der Rundfunk,
sen, die der Zusammenarbeit mit dem Jugendfreund der bei seiner Aufkunft und auch noch zehn Jahre spä-
Ernst Schoen, dem indirekten Einfluß Bert Brechts ter nur bedingt ein Trägermedium war. Der Text als
und der Programmentwicklung des Weimarer Rund- Vorlage der Originalproduktion bleibt eine rudimen-
funks geschuldet sind. täre Quelle. Die akustische Körperlichkeit der Stimme,
die mit der- oft wöchentlichen- Ankündigung »Spre-
cher: Dr. Walter Benjamin<< verbunden war, ist nicht
Überlieferung, Rezeption und Bewertung dokumentiert. Der Original-Ton hätte Beleg dafür sein
können, wie Text zum Material einer eigenwilligen
In der neueren Benjaminforschung tritt die Runcl- Gestaltung wird, die erst in der Gesamtheit ihre Wir-
funkarbeit Benjamins aus dem Schatten eines werk- kung entfaltet. Benjamins ekstatische Art des Vortrags
geschichtlichen und biographischen Paralipomenons. (Kraft 1972 ), seine schöne volle Stimme (Zucker 1972)
Die Bewertung dieser Arbeiten war lange Zeit durch und seine Art, wie ein »Pokerspieler<< (Adorno 1970,
Benjamin selbst bestimmt. »Ich habe in Frankfurt zwei 70) zu reden, sind Erinnerungsverweise, die das Fehlen
Radiovorträge gehalten und kann mich nun [... ] mit einer akustischen Quelle besonders schmerzlich er-
etwas zweckdienlicheren Dingen befassen [... ]<< (3, scheinen lassen. Wie dem Sprecher Benjamin am Mi-
507). Der ökonomische Aspekt der Brotarbeit wurde krophon die überwindung der technischen Barriere
stets betont und den Rundfunktexten mit wenigen des Mediums gelang, ob er mit der Entfaltung stimm-
Ausnahmen kein erheblicher Wert beigemessen. 1933, licher Ausdrucksmittel eine Zuwendung zum Hörer
als der zehn Jahre alte Rundfunk gleichgeschaltet war, nicht einfach rhetorisch kompensierte, sondern mit
fiel für Benjamin der endgültige Verlust eines sicheren seiner Persönlichkeit hörbar realisierte, kann nur noch
finanziellen Rückhalts mehr ins Gewicht als die viel- anhand der aufKlanglichkeit und Gesprächsrhythmus
fältigen Aufgaben in einem um Differenzierung be- angelegten Sprache abgelesen werden. Deshalb ent-
mühten Programm. Rückblickend wog ihm, in seiner steht aus der Stimme der Textzeugen im Zusammen-
existentiell bedrohten Situation, dieser Teil seiner klang medientheoretischer Reflexion, praktischer
journalistischen Arbeit, das »laufende Zeug für Rund- Einordnung sowie der weitgefaßten stofflichen und
funk und Zeitung<< (4, 77), nicht schwer genug, um es intellektuellen Verknüpfung mit anderen Arbeiten eine
möglichst vollständig im Archiv des Freundes Scholem besondere Signifikanz. Anders als überprüfbare Druck-
für eine Überlieferung zu sichern (164). Daß dennoch fassungen sind die überlieferten Rundfunktexte, die
ein großer Teil gerettet wurde, gehört zu der wunder- zum größten Teil von Benjamin in die Schreibma-
samen Geschichte dieses Nachlasses (VII, 525). Er- schine diktiert und handschriftlich verbessert wurden,
schwerend für eine adäquate Bewertung war die über keine zweifelsfreien Zeugen der tatsächlichen Sendung.
lange Zeit eingeschränkte Zugänglichkeit zu den ver- Aber sie müssen in der überlieferten Form als gültige
schiedenen Nachlaß teilen. Den Rundfunktexten wuchs Quelle gesehen werden. Die Sendesituation forderte
aus der komplexen und komplizierten Aufbewah- zum Improvisieren und spontanen Umformulieren
rungsgeschichte der größte Nachteil (Schiller-Lerg heraus, weil die Sendezeit ablief, »ganze Abschnitte
1984), und die sukzessive Edition brachte ihnen erneut mußten geopfert werden<< (IV, 762), oder weil die vie-
das Schicksal der Verstreutheit. Aus vielerlei Gründen len handschriftlichen Korrekturen sich im Moment
sind Texte und Verweise, die der Rundfunktätigkeit des Lesens einem flüssigen Sprechen verweigerten.
direkt zugeschlagen werden müssen, in fast allen Bän-
den der Gesammelten Schriften verteilt (s. Werkver-
zeichnis).
408 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Ein neues Medium für Publizität dende Neuerung, ebenso wie für den von seinem Pu-
blikum isolierten Vortragenden. Die Möglichkeit, eine
Der Rundfunk war Walter Benjamin frühzeitig in den immens große Hörerschaft zu erreichen, setzte der
Blick gekommen. Noch bevor er ahnen konnte, daß er Vorstellung, was alles als Programm gesendet werden
ein kontinuierlicher Mitarbeiter von zwei großen könnte, anfangs keine Grenzen. Ab Oktober 1923, als
Rundfunkgesellschaften werden würde, hatte er sich die Sendegesellschaft Funk-Stunde AG in Berlin ihren
1925 um die Redaktion einer Programmzeitschrift Programmdienst aufnahm, die Südwestdeutsche
beworben, die das neue Medium in Frankfurt öffent- Rundfunkdienst AG in Frankfurt ein halbes Jahr spä-
lich begleiten sollte (Lerg 1980, 210). >>Vorläufig bin ter folgte und im Verlauf des Jahres 1924 insgesamt
ich bestrebt, den hiesigen Wind von allen Seiten in neun regionale Sendegesellschaften und die Deutsche
meinen Segeln zu fangen und habe mich zuguterletzt Welle mit ihren Programmen im Äther waren, nahm
auch noch um die Redaktion einer Radiozeitschrift, der Unterhaltungsrundfunk seinen Weg in die Haus-
genauereines Beiblattes, beworben<< (3, 15). Er mußte halte. Die organisatorische Ausgestaltung und Ent-
den journalistischen Arbeiten zeitweise mehr Raum wicklung dieses Mediums war von unterschiedlichen
zugestehen, als ihm lieb war. Aber seine Veröffentli- politischen und wirtschaftlichen Interessen bestimmt
chungen und seine Korrespondenz belegen, wie er sich (Lerg 1980). Vor allem bei der Entscheidung von Pro-
in der kultur-publizistischen Szene der Weimarer Re- gramminhaltennahmen Kontrollorgane ihre überwa-
publik zu behaupten gedachte, nachdem seine akade- chungsehr genau und achteten auf politische Absti-
mischen Berufspläne gescheitert waren. Der Rundfunk nenz. Bildung und Unterhaltung sollten in einem
als neues Publikationsmedium weckte gleichermaßen großen Kulturprogramm zusammengeführt werden.
Interesse und Skepsis bei den Schriftstellern (Schnei- Aber eine Kultur, auf die sich Politiker, Verwaltungs-
der 1984). Benjamin vertraute ihm eher, weil sein beamte und Kulturschaffende, wie auch die vielen im
Freund Ernst Schoen dort seit 1924 seine berufliche Programm vertretenen gesellschaftlichen Gruppen
Zukunft gefunden hatte. >>Die Sache ist die, daß Ernst hätten verständigen können, gab es nicht, ebensowe-
Schoen hier seit Monaten eine bedeutende Stelle als nig eine gemeinsame Vorstellung, welche (Darstel-
Manager des Frankfurter >Rundfunk<-Programms hat lungs-)Formen für das akustische Medium taugten.
und sich für mich verwendet<< (3, 15). Benjamins Ein selbsterteilter Volksbildungsauftrag, der in missio-
Rundfunkdebüt 1927 war der Auftakt zu einer Mitar- narischer Übertreibung Kunst, Wissen und Wissen-
beit, für die er bereits Ausschau nach weiteren Themen schaft einem breiten Hörerpublikum näherbringen
hielt (293 ), doch andere Arbeiten hatten zunächst Vor- wollte, war durch eben dieses Sendungsbewußtsein-
rang. Sein kontinuierliches Auftreten vor dem Mikro- im Wortsinn - charakterisiert und schnell auch dis-
phon ab 1929 muß als ein weiterer Aspekt seiner pu- qualifiziert. >>Hier quatschen alle Universitätslehrer
blizistischen Strategie gesehen werden. Für die ange- durch den Rundfunk<< (3, 15), beschrieb Benjamin im
strebte Publizität (4, 60) wirkte der Rundfunk über ein Februar 1925 treffend vier Monate nach Sendebeginn
intellektuelles Publikum hinaus in die Breite und half, das Programm. Die Idee vom öffentlichen Rundfunk
eine prononcierte Position im literarischen Diskurs zu wurde mit Vortragszyklen und Lesestunden überbor-
besetzen. det. >>Man glaubte im Rundfunk das Instrument eines
riesenhaften Volksbildungsbetriebs in der Hand zu
halten<< (IV, 548), faßte Ernst Schoen später die ersten
Ein Maßstab für Programmstandard Programmjahre zusammen. Schoen war Programm-
referent des Intendanten Hans Flesch in Frankfurt und
Der >>Live-Charakter<<, die Gleichzeitigkeit von Senden wurde, als Flesch 1929 zur Berliner Funk-Stunde wech-
und Empfangen, von Sprechen und Hören, seine >>sub- selte, sein Nachfolger für den Programmbereich.
limste Eigenart<< (Flesch 2000, 55), verhalf dem Rund- >>Schoen ist künstlerischer Leiter des frankfurter Rund-
funk in der Anfangszeit zu einer enormen Wirkung. funks und ein wichtiger Mann geworden<< (3, 466).
Für Benjamin lag in der technischen und formalen Flesch und Schoen arbeiteten von Anfang an in der
Seite des Mediums das Umwälzende. >>Man braucht Südwestdeutschen Rundfunk AG (SWR) an einem
sich nur einmal zu überlegen, was es ausmacht, daß Programm, das die Möglichkeiten des Mediums ent-
die Rundfunkhörer, im Gegensatz zu jedem anderen schiedener zu nutzen bemüht war (Leonhard 1997;
Publikum, das Dargebotene bei sich zu Hause, die Soppe 1993). Große Sorgfalt sollte auf die Auswahl der
Stimme gewissermaßen als Gast empfangen<< (II, Stimmen gelegt werden. Die freie Rede am Mikrophon
1507). Die akustische Teilnahme an einer Darstellung wurde gefordert, Gespräche sollten nicht konstruiert
im privaten Ambiente war für den Hörer die entschei- sein, den statisch-monologischen Vorträgen entgegen-
Die Rundfunkarbeiten 409

gewirkt werden. Es gab ebenso viele Forderungen wie Begriff Unterhaltung<< präzisiert werden mußte
Versuche, einen medienadäquaten Standard zu ent- (Schoen 1930). Die Arbeit am Mikrophon verlangte
wickeln. Benjamin sah die Lösung in einerneuen Po- eine Gratwanderung zwischen politischer Weitsicht
pularität und der Erforschung der Hörergruppen und und brauchbarer Methode. Das Studio wurde ein La-
ihrer Interessen. »Was die letztere betrifft, so ist es je- boratorium, um das Machbare zwischen Hörererwar-
dem [... ] geläufig, wie sehr man neuerdings darum tung, experimenteller Weiterentwicklung und politi-
bemüht ist, Hörergruppen, die nach sozialer Schich- scher Einschränkung zu realisieren. 1929 wurde das
tung, nach Interessenkreis und Umwelt einander nahe Rundfunkprogramm vielerorts einer stärkeren Struk-
stehen, zu engeren Verbänden zusammenzufassen<< (II, turierung unterzogen. Im literarischen Programm des
775 f.). Alltagsfragen der (Ziel-)Gruppen wurden ver- Berliner und Frankfurter Rundfunks boten sich in
stärkt beachtet. Zeitnahe Berichterstattung jedoch verschiedenen Sparten für Walter Benjamin Sende-
stand weiterhin unter dem Aktualitätsvorbehalt der plätze. Die Bücherstunde für seine Rezensionen, Le-
Presse (Heitger 2003). Erfolgversprechend und zu- sungen aus eigenen Werken, Berichte, literarische
kunftsweisend wurde immerhin das Mikrophon zu Porträts, Hörspiele und Hörmodelle und die Jugend-
den Ereignissen gebracht und nicht, wie zuvor, umge- stunde, die ebenfalls in den Aufgabenbereich der Iite-
kehrt. Eine zunehmend professionelle Programmkritik rarischenAbteilung fiel. Gegen innere Widerstände im
tat ihr Übriges, den Anspruch an ein modernes Rund- Frankfurter Rundfunk protegierte Schoen den Freund,
funkprogramm voranzutreiben (Leonhard 1997). Die der sich als Autor, Regisseur und Diskussionsleiter, als
Hörerzahlen waren schon in den ersten Jahren sprung- Erzähler und Vortragsredner engagierte. Seine Rund-
haft gestiegen. >>Der Hörer will Unterhaltung«, kon- funkarbeiten waren keine spielerisch mündlichen Va-
statierte Ernst Schoen und wollte sie aus der »muffigen rianten gedruckter Textfassungen, keine publizistische
Atmosphäre des Amüsements in die gut durchlüftete, Extravaganz, sie waren -weit über ihre Zeit hinaus -
lockere und witzige Aktualität<< (IV, 548 f.) gehoben Beispiele funkgemäßer Formen.
sehen. Wie Unterhaltung gestaltet sein müsse, über
ihre Berechtigung überhaupt, wurde anhaltend disku-
tiert. Reflexion und Theorie
Für Brecht und Benjamin sollte Unterhaltung nicht
am privaten Geschmack, sondern an ihrer öffentlichen Brecht, Schoen und Benjamin- der Theater- und der
und belehrenden Funktion gemessen werden. >>Erst die Rundfunkmann und der freie Schriftsteller nutzten die
neueste Zeit hat mit der schrankenlosen Ausbildung Synergie ihrer Reflexionen über den Rundfunk. Aus
einer Konsumentenmentalität im Operettenbesucher, ihrer jeweils unterschiedlichen Perspektive hatten sie
im Romanleser, im Vergnügungsreisenden und ähnli- sich dem Medium zugewandt, es theoretisch eingeord-
chen Typen die stumpfen, unartikulierten Massen - net und praktisch erprobt. Die stimulierenden Kräfte,
das Publikum im engeren Sinn geschaffen, das keine die in dieser Konstellation für ihre Medienproduktio-
Maßstäbe für sein Urteil, keine Sprache für seine Emp- nen zwischen 1929 bis 1933 freigesetzt wurden, kön-
findungen hat. In der Haltung der Massen dem Rund- nen nur angedeutet werden.
funkprogramm gegenüber hat diese Barbarei ihren Daß >>Ernst Schoen [... ]als einer der ersten den Ar-
Gipfel erreicht und scheint nunmehr bereit zu sein, beiten, die Bert Brecht mit seinen literarischen und
umzuschlagen<< (II, 1506). Benjamins Analyse unter- musikalischen Mitarbeitern in den letzten Jahren zur
stützte entschieden die Veränderung des Programm- Diskussion stellte, seine Aufmerksamkeit zugewendet<<
auftrags von >>Unterhaltung und Belehrung« zu >>Un- hat, betonte Benjamin in seinem Aufsatz über THEA-
terhaltung und Gestaltung<< (Schoen 1930). Hans TER UND RUNDFUNK besonders (II, 773). Die Bedeu-
Flesch hatte es im Rundfunk-Jahrbuch 1930 so formu- tung dieser Zusammenarbeit mußte publizistisch noch
liert: >>Nicht nur das übermittelnde Instrument, auch einmal gewürdigt werden. Während für Brecht und
das zu Übermittelnde ist neu zu formen<< (Flesch Benjamin der Rundfunk eine technische Innovation
1930). Solange allerdings die Struktur des Rundfunks innerhalb des eigenen Arbeitsbereichs darstellte, fand
unverändert blieb, die politische Überwachung und Schoen in ihm ein Wirkungsfeld, das insgesamt in
Kontrolle sogar verstärkt wurde, waren allenfalls Ex- höchstem Maße seinen Neigungen entsprach. Er kam
perimente die Vorhut eines verbesserten Programm- von der Musik, war Komponist und Publizist und ent-
standards. Das Programm befand sich in einer derart deckte für sich in diesem Medium alle Möglichkeiten
dynamischen Phase der Entwicklung, daß die Gestal- einer kulturpolitischen Tätigkeit. Er bestand auf einer
tung von Wissen und Bildung grundsätzlich zur Dis- Programmgestaltung, die neue Entwicklungen in der
position stand und der >>fließende und schimmernde Literatur, in der Musik und auf dem Theater einbezog
410 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

und den Rundfunk in seiner eigenen kulturpolitischen kommunikativen Prozeß befördert werden. >>Denn
Leistung stärken sollte. Dafür war die Mitarbeit von hier handelt es sich um eine Popularität, die nicht al-
Brecht und Benjamin ein Garant. Im August 1929 lein das Wissen mit der Richtung auf die Öffentlich-
nahm Benjamin erstmals einen Doppeltermin in keit, sondern zugleich die Öffentlichkeit mit der Rich-
Frankfurt für seine Vorträge wahr und veröffentlichte tung auf das Wissen in Bewegung setzt<< (ZwEIERLEI
in der Rundfunk-Sondernummer der Literarischen VoLKSTÜMLICHKEIT IV, 672). Eine erklärte Hörerzu-
Weltsein GESPRÄCH MIT ERNST ScHOEN (IV, 548). Hier wendung war an ein grundlegendes Umdenken auf der
erhielt Schoens Programmphilosophie breiten Raum Kommunikatorseite gekoppelt. An diesem Punkt griff
und die Rundfunkarbeit Brechts bot weitere Anhalts- die gemeinsame politische Haltung der drei, allerdings
punkte für zukunftsweisende Aussagen. Schon im unterschiedlich stark marxistisch artikuliert. Das
Frühjahr 1929 hatte Benjamin die Bekanntschaft strikte Verbot einer politischen Ausdrucksform auf
Brechts gemacht, dessen jüngste Auftragsproduktion dem Sender hinderte sie nicht, in einer gemeinsamen
für den Rundfunk gerade Opfer der Zensur geworden Argumentationslinie die Funktion des Mediums poli-
war (Lerg 1980, 400). Benjamin beobachtete die Ar- tisch auszulegen. In Heft 16 der Blätter des Hessischen
beiten Brechts und Schoens und wurde zugleich mit Landestheaters 1931/32 waren die drei als Autoren je-
Aufträgen in das Programm involviert. Die Erfahrun- weils mit einem Artikel vereint, Bert Brecht mit einem
gen, die Schoen und Brecht mit dem Medium gemacht Auszug aus seiner Rede >>Der Rundfunk als Kommu-
hatten, fanden früh ihren programmatischen Ausdruck nikationsapparat<<, Ernst Schoen in einem Gespräch
und summieren sich am Ende, das gilt bisher explizit mit Kurt Hirschfeld über >>Rundfunk und Theater<<
nur für Brecht, zu einer sogenannten Radiotheorie und Walter Benjamin mit dem titelgebenden Aufsatz
(Lindner 2003). Ernst Schoens theoretisches Konzept THEATER UND RUNDFUNK. ZUR GEGENSEITIGEN KoN-
ließe sich aus seinen Aufsätzen, seiner programmpla- TROLLE IHRER ERZIEHUNGSARBEIT (Il, 773). In jedem
nerischen und praktischen Arbeit herausschälen. Wal- dieser medientheoretischen Ansätze werden die unter-
ter Benjamins >>Radiotheorie<< aus dieser Zeit kann sich schiedlich gewichteten Positionen erkennbar. Während
nur auf wenige Texte zum Rundfunk berufen, auf die Brecht stärker eine allgemeine Zugänglichkeit des Me-
allerdings der Widerschein seiner späteren großen me- diums als politisches Ziel propagierte, verwiesen Ben-
dienästhetischen und medienkritischen Studien fällt jamin und Schoen auf den pädagogischen Effekt durch
(vgl. Kausch 1988, 174-197; Behrens 2001). Auch an- die Veränderung der Wahrnehmung, weshalb die Ge-
dere wahrnehmungstheoretisch relevante Arbeiten staltung des Programms, die Auswahl der Stoffe und
Benjamins erlauben einen Bezug zu seinem spezifi- ihre Aufbereitung als politische Aufgabe zu verstehen
schen Rundfunk- (Medien )verständnis (Wagner 1992; war. In REFLEXIONEN ZUM RUNDFUNK (II, 1506), wahr-
Honold 2000). In seinen theoretischen Reflexionen scheinlich zwischen 1930 und 1931 entstanden, aber
wurde der historische Medienbezug zum Brennglas, nicht veröffentlicht, diagnostiziert Benjamin die Be-
in dem menschliche Kommunikation um so komple- dingungen eines technischen Kommunikationsprozes-
xer sich gestaltet, je mehr sie, technisch vermittelt, ses. Apparat und Institution werden kritisch der Wir-
auseinanderdriftet. kung von Stoff und Gestaltung entgegengehalten, die
Was die Freundschaft zwischen Benjamin und auf einen agierenden und nicht auf einen passiv rea-
Schoen an intellektuellem Gleichklang schuf, leisteten gierenden Hörer treffen sollte. Benjamins Medienkri-
zu dieser Zeit häufige Treffen Benjamins mit Brecht tik muß als politisches Statement gelesen werden, sie
im Zusammenhang des gemeinsamen Zeitschriften- bleibt die theoretische Folie für seine Arbeit am Mi-
projekts KRISIS UND KRITIK (3, 540). Im epischen krophon.
Theater Brechts fand Benjamin geeignete Elemente für Schoen richtete seine Programmgestaltung nach der
seine Rundfunkarbeit und mehrere Anknüpfungs- >>Losung aus: Jedem Hörer was er haben will und noch
punkte an eine eigene medienspezifische Methode. ein bißchen mehr (nämlich von dem, was wir wollen)<<
Hier begegnete er etwa dem Zitat in der Funktion des (IV, 549). Benjamin sah darin mit Recht eine >>Politi-
Unterbrechens, ein Verfahren, das, der eigenen Zitier- sierung<<, zu der Schoen sich offen bekannte und die
praxis nicht unähnlich, Stilmittel seiner Radioarbeit ihm massive Kritik bei den Überwachungsgremien
wurde (vgl. Voigts 2000, 826). BrechtsThese, >>daß das einbrachte. In diesen Zusammenhang gehört ein rund-
Publikum nicht nur belehrt werden, sondern auch funkpolitischer Briefwechsel zwischen Schoen und
belehren muß<<, führte Benjamin journalistisch kon- Benjamin von April 1930 (3, 515ff.; II, 1499). Diese
kreter auf das Hörerinteresse zurück. Fragen des Hö- Briefe lassen ahnen, wie Schoen seine Position immer
rers haben die eigentliche Relevanz; die Fähigkeit zu wieder gegen >>interne Sabotage<< verteidigen mußte
fragen und die Neugier auf den Stoff mußte in einem und wie er Benjamin in Vorgänge einweihte. 1930 be-
Die Rundfunkarbeiten 411

stand noch die Hoffnung, durch eine öffentliche The- 1984, 194). Drei Tage zuvor, am 5.2.1931, hatte Benja-
matisierung den Einfluß der überwachungsgremien min von >>windige[n] Rundfunkangelegenheiten<< ge-
zurückdrängen zu können, die die Programmautono- schrieben (4, 12), die ihn nach Frankfurt führten. Die
mie der Sendegesellschaften immer mehr auszuhöhlen erneute Sendung des Berliner Hörmodells unter
drohten. Es schien geboten, einen kritischen Artikel, Schoen mußte vorbereitet werden. GEHALTSERHÖ-
der als Rundumschlag viele Bereiche der Rundfunk- HUNG?! Wo DENKEN SIE HIN?! (IV, 629) hieß das Stück
politik und Programmorganisation betreffen sollte, an jetzt und wurde am 26.3.31 gesendet, erweitert um eine
prominenter Stelle in der Frankfurter Zeitung, der Diskussion mit Hörervertretern im Studio. Diese
Weltbühne oder der Literarischen Welt zu plazieren. Bei Neuerung - nur in Kindersendungen hatte man bis
aller Bereitschaft, sich der von Schoen vorgeschlagenen dahin Erfahrungen mit einer Hörerbeteiligung ge-
Kritikpunkte anzunehmen, ist es erstaunlich, daß Ben- macht- dürfte nicht weniger >>windig<< zu verhandeln
jamin ausgerechnet den Punkt Zensur >>kassieren<< gewesen sein, als Absprachen über eine gegenseitige
wollte (3, 515 ff.), weil aktuelle Beispiele öffentlich nur übernahme der nächsten angekündigten Hörmodelle
schwer anzuprangern gewesen wären. Die Zensur im von Berlin und Frankfurt (Schiller-Lerg 1984; Il, 773).
Rundfunk war unter Schriftstellern jedoch ein viel- Die Hörmodelle hielten sich eng an das überlieferte
diskutiertes Thema (Schneider 1984,201 ff.; Dichtung Konzept (IV, 628). >>Die Grundabsicht dieser Modelle
und Rundfunk 1929). Schoen regte ironisch an, eine ist eine didaktische. Gegenstand der Unterweisung
Liste der Dinge aufzustellen, denen der >>Rundfunk sind typische dem Alltagsleben entnommene Situatio-
versagt werde<< (II, 1502). In dieser Liste hätte auch nen<< (IV, 628). Die Mitwirkung der Autoren Zucker
Brecht neben anderen literarischen Favoriten Benja- und Benjamin, nicht nur als Spielleiter, sondern in den
mins seinen Platz haben müssen. Der Artikel kam Rollen des Zweiflers oder Sprechers, gab diesem Hör-
nicht zustande. Die Brisanz jedes einzelnen Punktes modell das Gewicht der persönlichen >>Unterweisung<<.
hätte eine polemische Zuspitzung erfordert, die für Eine strenge Minimalisierung konzentrierte sich auf
den Autor nicht weniger riskant gewesen wäre als für die eindimensionale Beispielstruktur. Das Muster er-
den Initiator. Eine wichtige Notiz, vermutlich von füllte sich im Dabeisein, im Mithören, im Wiederer-
1930, stellt in diesem Kontext die SITUATION IM RuND- kennen. Die Anordnung, die signifikanten Namen,
FUNK (II, 1505) dar. Sie behandelt, abgesehen von einer Herr >>Frisch<< und Herr >>Zauderer<<, die Vorgabe, zu-
harschen Programmkritik, die brisante rundfunkpo- rückgenommen plakativ zu sprechen, die Kommen-
litische Thematik des Großsenderbaus. Benjamin geht tierung von Verhalten und Haltung, das alles hat Me-
hier mit Informationen um, die noch nicht öffentlich thode, die transparent bleibt und vermittelt wird. Der
verfügbar waren und kommt zu dem Schluß: >>Der Dialog der beiden Sprecher hat zwar eine textliche
wahre Grund für den Bau dieser Sender liegt aber ganz Vorlage, wäre aber ebensogut als freier Disput denkbar.
woanders: er ist politisch. Man wünscht weitreichende Sie führen durch die Sendung und greifen in die Szene
Propagandainstrumente für den Kriegsfall zu haben<<. ein. >>Sprecher: Guten Tag Herr Frisch; Frisch: Guten
Auch diese kritische Analyse des Rundfunkbetriebs Tag; Sprecher: Wollen Sie uns jetzt zeigen, Herr Frisch,
blieb unveröffentlicht, allenfalls verdeckte Andeutun- wie Sie es durchsetzen, Gehaltserhöhung zu bekom-
gen erlaubte sich Benjamin noch, denn 1930 begann men; Frisch: Ich will es versuchen. Man weiß ja nicht,
seine Rundfunkarbeit gerade Tritt zu fassen, und damit ob es gelingt, aber man kann es versuchen<< (IV, 633).
entstand auch eine größere Nähe zur Institution. Herr Frisch hat mit seiner >>innerlichen Haltung<<, sei-
nem selbstbewußten Auftreten und rhetorisch ge-
schickt plazierten Argumenten Erfolg, er weiß seinen
Die neue Form - Hörmodelle Chef zu nehmen, während der Mißerfolg von Herrn
Zauderer vorhersehbar ist. Das Schema zielt auf einen
Eine Zusammenarbeit Brecht-Benjamin, wie sie von Hörer, der in die Lage versetzt wird, sein modellhaft
Schoen 1929 für die avisierten Hörmodelle gedacht gespiegeltes Verhalten beurteilen zu können, der seine
war, kam nicht zustande. Benjamin nahm das Konzept Situation wiedererkennt und damit weiß, was verän-
der Hörmodelle mit nach Berlin und arbeitete es mit dert werden muß. Die Zuspitzung auf die zur Diskus-
Wolf Zucker, ebenfalls freier Rundfunkautor, für die sion gestellten Thesen spart bewußt einen sozialen
Funk-Stunde AG und den SWR in Frankfurt aus. Das Bezug aus, was offenbar den exemplarischen Wert, die
erste Hörmodell WIE NEHME ICH MEINEN CHEF? Lehre in diesem Modell zu erkennen, beeinträchtigte.
wurde am 8.2.1931 in einer Experimenten vorbehal- Von der Kritik wurde Realität vermißt, und eine bloße
tenen Studio-Reihe der Berliner Funk-Stunde AG ge- Verhaltensstrategie als Lösung für eine bedrohte Exi-
sendet. Regie führte Edlef Koeppen (Schiller-Lerg stenz schien nicht überzeugend. Das Thema ließ sich
412 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

in diesem Fall nicht in ein lehrhaftes Beispiel zwingen, gisehe Experiment<< am 3.1.1932 werden. Ausgewählte
wohl aber wurde es durch die Schematisierung anders Hörertypen, ein Kind, eine Frau, ein Dichter, ein Jour-
wahrgenommen und damit für eine öffentliche Dis- nalist, ein Kaufmann erhielten unzusammenhängende
kussion tauglich. Stichworte und sollten daraus eine Geschichte formen.
Im zweiten Hörmodell der beiden Autoren FRECH Die Hörer an den Lautsprechern waren aufgefordert,
WIRD DER JUNGE AUCH NOCH?! oder wie es im Konzept ihr Urteil über die besten Geschichten abzugeben. Da-
angekündigt war, DER JUNGE SAGT EINEM KEIN WAH- mit war um 20.15 Uhr (!) eine Abendunterhaltung
RES WoRT ging es um Erziehungsfragen. Eine Textvor- geboten, die durch konsequente Einbindung der Hörer
lage ist verschollen, aber, glaubt man der Kritik, gelang auffiel. Hörerbeteiligung und Höreraktivität waren der
den Autoren ein >>nachfühlendes Verständnis<< für die Weg, die pädagogische Funktion des Mediums und
Probleme der Eltern. Zwei weitere Modelle, die geplant seine Bereitschaft zur Öffnung auf die Probe zu stellen.
waren (IV, 628; Schiller-Lerg 1984, 217), wurden nicht Das von Benjamin kultivierte Gespräch mit dem Hö-
gesendet oder gar nicht mehr fertiggestellt. rer, dem >>Unsichtbaren<<, den er ins Studio holte, um
Alle Modelle hatten nicht die Abbildung einer Rea- die >>Schattenseite vom Rundfunk<< (VII, 77) exempla-
lität zum Ziel, sondern Veranschaulichung durch Re- risch auszuleuchten und ihn gleichsam wieder sichtbar
duzierung. Die Anordnung ist das Spezifische, was die zu machen, war erfolgreich. In der theoretischen Kon-
Hörmodelle von den Hörspielen und Lehrstücken zeption blieb die kommunikative Wechselwirkung des
unterscheidet. Es wird quasi am Modell diskutiert, die Gesprächs auch künftig konstitutiv für jede mediale
beispielhaften Szenen sind verfügbares Material für Vermittlung.
eine Diskussion mit den Hörern. Das Gespräch als Dialoge, >>Zwiegespräche<< vor allem zwischen pro-
ureigene kommunikative Vermittlung ist der Nukleus minenten Persönlichkeiten - auch aus der Politik -
dieserneuen Form und scheint zwingend für das aku- fanden im Programm immer häufiger statt, allerdings
stische Medium. Mit dieser Form schufen Benjamin haftete ihnen der Ruch der >>aufgezäumte[n] [... ] Ge-
und Zucker eine Variante, die dem Hörer nicht nur spräche<< (IV, 672) an, sie waren eher Gesprächsinsze-
das Ergebnis, sondern auch die Methode aufzeigte, ihn nierungen, in denen sich die kontroversen Parteien
auf ihrem Weg mitnahm. Der Unterschied der Hör- >>Höflichkeiten<< sagten (II, 1501). Der freie Meinungs-
modelle zu schlichten Ratgebersendungen grenzte sie austausch im Gespräch, im Interview war jedoch das
zugleich gegen dialogisch durchkonstruierte literari- Ziel dieses unterhaltenden Genres. >>Jedes Kind er-
sche Hörspiele ab, mit denen sie nicht konkurrieren kennt,<< notierte Benjamin in REFLEXIONEN zuM
wollten. RuNDFUNK (I 1506), >>daß es im Sinne des Radios liegt,
Um noch einen Schritt weiter zu gehen, weg von beliebige Leute und zu beliebiger Gelegenheit vors
verfaßten Textvorlagen hin zu einer noch größeren Mikrophon zu führen; die Öffentlichkeit zu Zeugen
Nähe zum Zuhörer, seiner Phantasie und Sprache, von Interviews und Gesprächen zu machen, in denen
wagte sich Benjamin mit seinem Funkspiel DICHTER bald der bald jener das Wort hat.<< Ernst Rowohlt war
NACH STICHWORTEN an die Improvisation. Idee und am 22.3.1931 Benjamins Gesprächspartner in VoM
Gesamtleitung zeigen, daß er sich auf das Experiment MANUSKRIPT ZUM 100. TAUSEND, ein Interview oder
einließ, obwohl viele Schriftsteller die Improvisation Gespräch, zu dem keine Vorlage überliefert ist, das
am Mikrophon ablehnten, weil sie einem Dilettantis- wahrscheinlich nur nach Notizen oder Stichworten
mus Vorschub leisten könnte (Dichtung und Rund- ablief. Ein anderes Gespräch am 5.5.1930 im SWR
funk 1929). Benjamin hatte ihr aber bereits in der zwischen Autor und Kritiker REZEPTE FÜR KoMÖDIEN-
EINBAHNSTRASSE einiges abgewinnen können. >>In SCHREIBER (VII, 610) war zusammen mit Wilhelm
diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was Speyer verfaßt und trägt alle Züge einer spontanen
er >kann<. In der Improvisation liegt die Stärke<< (IV, Entwicklung. Diese noch ausformulierte Form ist ein
89). Der Spontaneität, der Momentaufnahme haftet Vorläufer des freien Gesprächs am Mikrophon. Das
die geheimnisvolle Magie an, in Unzusammenhängen- Gespräch als fester Bestandteil der journalistischen
dem einen Sinn auszumachen zu können. Wie würden und erzählerischen Arbeit Benjamins erlaubt mit sei-
Hörer diese Aufgabe vor dem Mikrophon lösen? Die nen kommunikativen Strukturen einen stringenten
praktische Anwendung des Assoziationsverfahrens aus Aufbau, wie auch ein Sich-Treibenlassen zwischen
der neueren Psychologie bot eine Verknüpfung zum Frage und Antwort und ein unmittelbares Eingehen
Sendekonzept, zu dem es, außer der Programmvor- auf den Partner. Als >>Gesprächsferment<< (841) fun-
schau, keine Anhaltspunkte gibt. Eine Art von >> Iitera- giert stets das Zitat in seiner eigenwilligen Benjamin-
rischem Gesellschaftsspiel vergangeuer und musische- sehen Erscheinungsform. Seine Treibkraft gibt allen
rer Zeiten<< sollte dieses >>psychologische und pädago- Sendeformen die Dynamik und ein retardierendes
Die Rundfunkarbeiten 413

Moment der Veranschaulichung und reflexiven Wen- und dokumentieren, was >>SO tausendfältig und belie-
dung. big da war, daß es die Typisierung erlaubt: nicht die
Literatur, sondern das Literaturgespräch jener Tage<<
(673 ). Der intellektuelle oder beiläufige Meinungsaus-
Die neue Volkstümlichkeit- Hörspiele tausch wird zum methodischen Zugriff auf die histo-
rische Situation. Ein Zeitschnitt verkürzt sie am Ende
Mit dem Hörspiel hat der Hörfunk seine eigene lite- (670) zum aktuellen Augenblick. >>Zugleich aber hat
rarische Form kreiert. Wegweisend waren jene frühen mein Jahrhundert<<, sagt die Stimme des 19. Jh.s, >>dem
Hörspiele, die die Eigenart des Mediums künstlerisch Geist die Mittel gegeben, schneller sich zu verbreiten
zu integrieren vermochten. Die technischen Möglich- als durch Lektüre.<< Die >>Tyrannei der Minute<< habe
keiten wurden für akustische Stilelemente konstitutiv. es damit begründet, kontert der Sprecher, und das
Schriftsteller und Dramatiker waren nicht weniger Ticken eines Sekundenzeigers begleitet die ablaufende
gefordert denn Komponisten und Musiker, über bis- Zeit der Hörspielübertragung.
herige Aufführungsformen hinauszudenken. Benja- Benjamin erprobte hier eine totale Verschränkung
mins These von einer kommunikativen Funktion des von Stoff und Form. Mit der thematischen Ausrich-
Mediums erfuhr mit Methoden des epischen Theaters, tung auf eine eher >>wissenschaftliche Fragestellung<<
der bevorzugten Montage- und Zitattechnik, des Ge- verschiebt sich die Form vom Modell zum Spiel. Die
sprächs als Disput oder Konversation und der erzäh- Lehrhaftigkeit erhält in den Hörspielen eine subtile
lenden Berichterstattung ihre praktische Umsetzung. Differenzierung. >>Um in die Tiefe zu gelangen, ist man
Gegenüber der Modellhaftigkeit des »Lehrstücks<< [... ] absichtlich von der Oberfläche ausgegangen<<
nutzten seine Hörspiele die exemplarische Vielfältig- (673). Denn die Kommentierung historischer Litera-
keit historischer Stoffe. Im Vordergrund stand die Idee turgespräche diente ebensowenig wie die historischer
von Aufklärung und Wissensvermittlung, nicht der Briefdokumente >>philologischem Ehrgeiz noch zwei-
Anspruch, einer neuen Hörspielkunst zu dienen. Das felhaftem BildungsbedürfniS<< (AUF DER SPUR ALTER
Hörspiel WAS DIE DEUTSCHEN LASEN, WÄHREND IHRE BRIEFE, IV, 944), sondern der >>Kommunikation, die
KLASSIKER SCHRIEBEN (IV, 641) befaßt sich mit einem Aussprache noch mit dem kleineren seiner Zeitgenos-
>>Literaturgespräch jener Tage<<. Dieses Gespräch ist sen ermöglichte<< (IV, 944). Um dem Anspruch einer
mit Meinungen, Positionen, Ereignissen an reale oder Öffentlichkeit an Wissenschaft gerecht zu werden,
fiktive Personen gebunden. Die Diskursqualität ent- mußte eine neue Volkstümlichkeit >>lebendiges Wis-
steht aus dem Detail, aus dessen historischem Kontext. sen<< (672) vermitteln, wie es die Literaturwissenschaft
Benjamins Kommentar zu diesem Hörspiel ZwEIERLEI erst nur zögerlich in ihren Fragestellungen zuließ. Ben-
VOLKSTÜMLICHKEIT. GRUNDSÄTZLICHES ZU EINEM jamins Forderung, den Stoff in einem >>Querschnitt
HöRSPIEL (671) markiert den Wendepunkt hin zu ei- durch den jeweiligen Stand einer Disziplin<< zu entfal-
ner populären Gestaltung wissenschaftlicher Themen ten, ihn >>als ein Element der gesamten Kulturlage im
ebenso wie für ein Hörspiel, >>soweit es lehrhaften Cha- betreffenden Zeitpunkte aufzuzeigen<<, kam bereits
rakter hat<<. Es muß >>Bildungsarbeit<< leisten, den Fach- 1931 in seiner Rezension LITERATURGESCHICHTE UND
mann ebenso wie den Laien fesseln, >>damit scheint LITERATURWISSENSCHAFT (!II, 284) zum Ausdruck
auch der Begriff einer neuen Volkstümlichkeit seine und damit zugleich sein Anspruch an literarische
einfachste Bestimmung erfahren zu haben<<( 673 ). Das >>Querschnitt<<-Sendungen im Rundfunk (IV, 671).
Hörspiel, am 16.2.1932 in der Berliner Funk-Stunde Die neue Volkstümlichkeit ist eine grundsätzliche
gesendet, brachte Benjamin in der >>merkantile[n] Haltung zur medialen Vermittlung. Popularisierung,
Konjunktur des Goethejahres<< (4, 83) nicht nur ein zu lange ein >>bedenkliches Grenzland der Wissen-
gutes Honorar, sondern auch >>großen Erfolg<< (ebd.). schaft<< (527), legitimiert sich nicht durch bloße Ver-
Das Spiel mit den Stimmen von Aufklärung, Roman- einfachung, sondern durch ihre pragmatische Wir-
tik und 19. Jh. im Disput mit einem Sprecher und die kung. >>Wissen aus den Schranken des Fachs zu lösen
exemplarischen Gespräche über Literatur und Bücher- und praktisch zu machen<< ( 559), ist die Aufgabe einer
markt jener Zeit zeichnet den geistigen Aufbruch aus publikumsnahen Aufbereitung.
der >>Enge des Gesichtskreises, seelischer Abgeschlos- Mit dem Erfolg dieses Hörspiels kam schnell ein
senheit, geistiger Schwerbeweglichkeit<< (IV, 657), aus weiterer Auftrag. >>Jetzt bin ich vom berliner Rundfunk
einer Privatheit in eine Öffentlichkeit. Das Spiel ist in mit einem >Lichtenberg< beauftragt worden, den ich
ein Berliner Kaffeehaus und eine Leipziger Buchhand- auf jenem Mondkrater, der nach Lichtenberg benannt
lung verlegt. Die agierenden Personen haben ihre cha- ist, beginnen lassen Will<< (4, 85). LICHTENBERG. EIN
rakteristischen Eigenheiten in Sprache und Verhalten QuERSCHNITT (IV, 696) trägt seine Zuordnung im
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Titel. Benjamin gibt damit der Querschnittform als Die beiden Hörspiele Benjamins haben in der Ge-
Abendunterhaltung seinen Standard vor. Dieses Hör- samtheit seiner Rundfunkarbeit deshalb einen hohen
spiel hatte seinen Stimulus in einer anderen Auftrags- Stellenwert, weil sie einerseits die eigene These der
arbeit, einer Lichtenberg-Bibliographie, an der Benja- kommunikativen Lehrhaftigkeit originell realisieren,
min seit Oktober 1931 arbeitete (4, 55). Warum sich andererseits der Tendenz zur Verinnerlichung und
die Fertigstellung dieses Hörspiels fast ein Jahr hinzog, Mystifizierung des Akustischen bewußt entgegenwir-
mag an anderen Projekten, aber auch an der ange- ken. Eine solche Auslegung, die den Klang aus dem
spannten Situation des Jahres 1932 gelegen haben. Äther psychologisierend und metaphysisch stilisierte,
Darüber hinaus ist die Machart dieses Hörspiels noch stand ebenfalls für die zeitgenössische Hörspielarbeit
konsequenter auf akustische, klangliche und musika- Wolfgang Hagen hat in seiner Analyse der Sammlung
lische Elemente angelegt. Sie sind den unterschiedli- >>Horoskop des Hörspiels<< von 1932 des nationalso-
chen Handlungsebenen beigegeben oder fungieren als zialistischen Autors Richard Kolb nachgewiesen, daß
Übergänge. Benjamin arbeitete in dieses Hörspiel alle diese hörspieltheoretische Deutung lange nachwirkte
Erfahrungen seiner bisherigen Rundfunktätigkeit ein (Hagen 2002 ). Ein Vergleich der Tätigkeit von Schrift-
und konzipierte ein Stück, das den Ansprüchen dieses stellern für den Weimarer Rundfunk, der Benjamin
Mediums bis zum heutigen Tag gerecht wird. In beiden einbezieht (Mendes 1996), muß deshalb die politische
literarischen Hörspielen ist es die >>quellenmäßige Er- Positionierung als historisch kritisches Maß auch für
forschung der Tatsachen<< (IV, 673), die Benjamin zum medienästhetische Analysen anlegen.
Ausgangspunkt wählt. Ein Entwurf zu >>Lichtenberg<<
(VII, 838) zeigt die für Benjamin typische Vorarbeit.
Mit der Prägnanz von Stichworten werden Szenenauf- Hörspiele für Kinder
bau und -ablauf, akustischeübergängeund erste >>Sen-
tenzen zu einzelnen Szenen<< als Rohbau (841) kon- >>Bemerkenswert ist vom technischen Gesichtspunkt
struiert. Dieses Hörspiel ist eine Hommage an Lich- vielleicht ein Stück für Kinder, das in Frankfurt und
tenberg, an Seheerbart und letztlich auch an Brecht Köln [... ] gegeben wurde [... ).Es heißt >Radau um
(vgl. Scholem 1975, 258). Mit Namen aus Scheerbarts Kasperl<<< (4, 165).
Asteroiden-Romanen und szenischen Anleihen schafft Warum bemerkenswert und warum kommt gerade
Benjamin eine technisch utopische Szene, auf der- im RADAU UM KASPERL (IV, 674) eine solche Bedeutung
Unterschied zu seinen anderen Hörspielen- der Rund- zu? Dieses Hörspiel wurde am 10. März 1932 in Frank-
funk in einer Metaphorik der Technik verschwindet. furt im Abendprogramm unter Benjamins Regie ge-
Anspielungen und der (selbst)ironische Blick kenn- sendet. Am 9.9.1932 inszenierte Carl Heil in derWest-
zeichnen viele Rundfunkarbeiten Benjamins. Hier ist deutsche Rundfunk AG (Werag) Köln dieses Stück in
in der >>Zersplitterung<< der Interessen Lichtenbergs die veränderter Form erneut für das nachmittägliche Ju-
Parallele zum Autor nicht zu übersehen, denn Photo- gendprogramm. Von der Kölner Produktion, die kon-
graphie, Graphologie, >>Sinn und [U)nsinn der Phy- ventionell mit einer Hörkulisse arbeitete, ist ein Ton-
siognomik<<, Träume, Weissagungen, Volksglaube wer- fragment überliefert (Schiller-Lerg 1984, 252), das als
den allesamt verhandelt. Die Frage jedoch >>Warum akustische Quelle die zeitgenössische Spieltechnik do-
kommt der Mensch zu nichts. Lichtenberg als Exem- kumentiert. Eine ausgearbeitete Textvorlage (IV, 674)
pel<< (VII, 838 f.) wird am Ende als falsch gestellt ver- mit eingefügten handschriftlichen Sigeln aus dem ver-
worfen, denn nicht Glück, sondern Unglück wird als fügbaren Geräuschfundus ist dazu überliefert und galt
Schubkraft für Lebensleistung erkannt. Wie lange es lange Zeit irrtümlich als Vorlage für Benjamins eigene
brauchen mag, bis das Licht nachgelassener Schriften Sendung. Seine Frankfurter Erstsendung war jedoch
in einer kommenden Zeit zu strahlen beginnt, das galt konsequenter >>mit Radau verbunden<< und dem Ver-
nicht nur für Lichtenberg, das galt 1933 zu Beginn such, die Hörer ratend zu beteiligen. Ein erhaltenes
eines Exils in aller Ungewißheit für den Autor selbst. Expose KAsPERL UND DER RuNDFUNK: EINE GE-
Zwar arbeitete Benjamin noch im Februar an seinem scHICHTE MIT LÄRM (VII, 831) und Reaktionen auf
Hörspiel, aber er ahnte, daß es nicht mehr gesendet diese Sendung (Schiller-Lerg 1984, 264) lassen darauf
werden würde (4, 162). schließen, daß Benjamin in seiner Aufführung den
Dennoch recherchierte er für ein drittes Hörspiel Radau als eigenständige Szenen, >>hin und wieder von
über die >>Anfänge des Spiritismus<< ( 158), >>nicht ohne Andeutungen, Worten unterbrochen<< (VII, 832), ein-
mir ganz im Hinterhalte und zum Privatvergnügen zu gesetzt hat. >>In einer kurzen Einführung weist der
diesen Dingen eine Theorie gezimmert zu haben<< Sprecher seine Hörer auf diese Eigentümlichkeit des
(ebd.). folgenden Hörspiels hin und stellt ihnen zur Aufgabe,
Die Rundfunkarbeiten 415

die dergestalt im Ungewissen gelassenen Episoden dem Lehrspiel treibt, die das Boshafte im Witz aufblit-
nach ihrer Fantasie und ihrem Gefallen sich auszuma- zen läßt und Unterhaltung in den Hintersinn ver-
len, die jeweiligen Geräusche dabei zugrunde zu legen kehrt.
und die Lösungen zur Preisverteilung an den Sender Die einzige explizite Zusammenarbeit der beiden
einzuschicken<< (832 f.). In beiden Inszenierungen war Freunde Benjamin und Schoen war eine Hörspielbe-
die technische Aufbereitung für ein Kinderhörspiel arbeitung nach Wilhelm Hauff DAs KALTE HERZ (VII,
ungewöhnlich aufwendig, so daß die Aufzeichnung 316), am 16.5.1932 im SWRgesendet. Dieses Hörspiel
selbst ein Indiz dafür ist, wie herausragend diese Form gehört zu einem Kanon innovativer Kinderhörspiele
für die Entstehung einer Gattung angesehen wurde. des Weimarer Rundfunks, die von ihrer »technischen
Außerdem war es neu, den Rundfunk selber zum oder formalen Problemstellung<< derart bemerkens-
Thema und Spielort zu machen. Der Rundfunk wird wert waren, daß ihr >>Wirkungsradius<< ins Abendpro-
hörend nachvollziehbar. Das Spielerische wird mit der gramm ausgedehnt wurde (vgl. Schiller-Lerg 1984,
Figur des Kasperls, des »erfahrenen, berühmten 270). Schoens unverrückbarer Anspruch an die Qua-
Freund[ es] der Kinder<< (IV, 677) auf die Spitze getrie- lität von Hörspielen gerade für Kinder und Jugendli-
ben. Herr Maulschmidt, Sprecher am Rundfunk, trägt, che, machte ihn unnachgiebig gegen jede Form belie-
wie die Rollen in den Hörmodellen seinen Namen als biger Massenproduktionen, wie sie die Regel waren.
Programm, die anderen Rollen bleiben namenlos mit Kriterien für eine einzig gültige Form der >>Dramati-
ihren jeweiligen Funktionen verbunden, ausgenom- sierung von Dichtung<< hatte er bereits 1931 in einem
men Kasperls Frau Puschi und bezeichnenderweise Artikel veröffentlicht, in dem ihm die Bearbeitung des
zwei Herren vom Rundfunk. Kern des Hörspiels ist das Hauffschen Märchens als Beispiel diente. Eine seiner
von Kasperl für eine direkte Beschimpfung genutzte wesentlichen Forderungen war, >>daß die authenti-
Mikrophon, seine Flucht und Verfolgung. Das Mikro- schen Worte der Dichtung in der Bearbeitung nicht
phon ist also nicht, so die Lehre aus diesem Spiel, ein um ein einziges verändert werden dürfen<< (Schoen/
privates, sondern öffentliches Instrument. Seine Hüter Schüller 1931; vgl. VII, 651). Der Sprecher als >>vermit-
im »Überwachungsausschuß<< (VII, 833), nicht die telnde[] Person, [die] aus der Anschauungswelt in die
Hörer, kontrollieren den rechtmäßigen Gebrauch. Die Hörwelt hinüberführt<< (VII, 651 ), ist zugleich wieder
moderne Technik des Mediums wird kommunikativ Repräsentant des Rundfunks und Autorität im Studio.
mißverstanden, sie ist eben nicht für jeden verfügbar, Wie überhaupt dem Sprecher in der gesamten Hör-
wie etwa das Telefon, sondern dient als Medium der spielarbeit Benjamins und auch Schoens eine beson-
indirekten Vermittlung öffentlich relevanter Informa- dere, bisher zu wenig beachtete Rolle zukommt. Im
tionen oder unterhaltender Szenen. So entsteht ein Studio treten Hauffs Märchenfiguren, musikalisch
Vexierbild, in dem Funktion und Anwendung des Ap- charakterisiert von Schoens Komposition, aus dem
parates mit Komik gegeneinander verschoben werden. Buchrahmen heraus und argumentieren in ihrer ver-
Die Technik bot brauchbare Stilelemente, ebenso wie änderten medialen Vermittlungsrolle. >>Seht Ihr, Herr
traditionelle Vorgaben alter Kasperle-Komödien (Mül- Sprecher, wir stehen nun schon hundert Jahre in
ler 1988, 113 ). In diesem Hörspiel, das sich der volks- Hauffs Märchenbuch. Da können wir immer nur zu
tümlichen Provenienz der Kasperlefigur in ihrer ver- einem Kind auf einmal sprechen. Nun soll doch aber
trauten Typologie versichert und den Rundfunk mit die Mode sein, daß die Märchenfiguren jetzt aus den
Radau und Lärm verknüpft, klingen aber auch die lei- Büchern herauskommen und ins Stimmland hinüber-
sen Töne durch. Motive einer Sprachphilosophie sind gehen, wo sie sich dann vielen tausend Kindern auf
in dem Spiel um Name, Klang und Bedeutung verar- einmal präsentieren können<< (VII, 318). Der führende
beitet und jene VOn ERFAHRUNG UND ARMUT machen Sprecher ist Grenzposten und Ratgeber im >>Stimm-
Kasperl zum Verwandten von Micky-Maus. »Dieses land<<. >>Wer ins Stimmland eintreten will, muß ganz
Dasein ist voller Wunder, die nicht nur die technischen bescheiden werden, allen Putz und alle äußere Schön-
überbieten, sondern sich über sie lustig machen<< (II, heit muß er ablegen, so daß von ihm nur die Stimme
218). So erschließen sich auch persiflierende Anspie- übrigbleibt<< (320). Reduziert auf die Stimme, hat sich
lungen auf den Frankfurter Rundfunk nur Eingeweih- Sprache den akustischen Gesetzen zu beugen. Diese
ten als medienkritische Andeutung. Reinhard Döhl Märchenbearbeitung sprengt, wie bereits RADAU uM
wies darüber hinaus auf die parallele Ausgangssitua- KAsPERL, jedes Klischee einer kindgerechten Aufbe-
tion dieses Hörspiels mit Brechts Mann ist Mann hin reitung.
sowie auf den möglichen Einfluß von Chaplins Film Als im Juni 1932 in der Deutschen Zeitung die
Circus (Döhl 1988). Alles in allem ist dieses Kinder- >>Pflege deutschen Geistes und die Ausmerzung aller
stück von einer Art, die mit Komik die Belehrung aus undeutschen, fremden Einflüsse<< ausgerufen und
416 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Rundfunkmitarbeiter >>von der linken Seite<< denun- Erkenntnis zu und macht sie am Ende auch der Erfah-
ziert wurden, gehörten Ernst Schoen und Walter Ben- rung zugänglich. Susan Buck-Morss hat darauf hinge-
jamin mit diesem Hörspiel ebenfalls in diese Reihe wiesen, daß Benjamin die Themen für seine Jugend-
(Freiherr v. Gay! in: Deutsche Zeitung 16.6.1932 aufklärung vorzugsweise aus der historischen Aufklä-
Nr. 139,37. Jg., 2). rung wählte, einer Zeit, in der der Übergang vom
Zauber zur Vernunft sich am besten darstellt (Buck-
Morss 1988, 99) und eng mit Benjamins Philosophie
Fachvorträge für Kinder zu verknüpfen ist. Aufklärung ohne moralische Bevor-
mundung zielt auf Erkenntnis. Deshalb sprach Benja-
>>Ich habe mir gesagt, die Erwachsenen haben im min mit seinen Geschichten nicht nur Kinder und
Rundfunk allerhand Fachvorträge [... ].Warum soll Jugendliche an, sondern auch >>Erwachsene [n], die [... ]
man solche Fachvorträge nicht auch für Kinder ma- sich [... ] versteckt haben und denken, ich sehe sie
chen<< (VII, 101). Ganz nebenbei kreiert Benjamin eine nicht<< (VII, 83) oder die sich in die Jugendstunde >>ver-
eigene Gattung und greift damit einer Formatentwick- irrt haben<< (VII, 201).
lung für diese Sparte weit voraus. Diese Rundfunkar- Im Gespräch mit diesen Erwachsenen wird die Frage
beiten sind aus jenem >>Abfall<< konstruiert, der von relevant, >>soll man Kindern überhaupt solche Ge-
Studien zu anderen Arbeiten blieb und >>den Unglück- schichten erzählen? Von Schwindlern, von Verbre-
liehen zugute [kommt], die meine Radioberichte hö- chern, die die Gesetze übertreten<< (ebd.). Sie ist nicht
ren<< (3, 293). Bereits in der EINBAHNSTRASSE fesselt pädagogisch gedacht, sondern methodisch. Sie führt
die Arbeit der Kinder an ihrer >>Baustelle<<, wie sie in ein in den Zusammenhang von Wissen und Urteil. Die
Abfallprodukten ihre Welt erkennen, und >>jedwede Teilhabe an der Methode, die Transparenz von Absicht
Arbeitsstätte [aufsuchen], wo sichtbar die Betätigung und Ziel verlangen vom Erzähler Benjamin, mit seiner
an Dingen vor sich geht<< (IV, 93). Benjamins Themen Regel zu brechen, >>das Wort >ich< nie zu gebrauchen<<
und Stoffe erscheinen als Fundstücke, als Rest, als Ab- (VI, 475) und dafür einzustehen, daß jedes Wort
fall, wiederverwertet oder tauglich für andere gedank- >>wahr<< ist (VII, 174). Die Serien, für die Benjamin
liche Gebäude. Diese charakteristische Arbeitstechnik produzierte, >>Berlin<<, >>Sagen und Abenteuer<<, >>Selt-
erschließt sich auch aus den Rundfunkarbeiten, be- same gesellschaftliche Erscheinungen<< und Werkre-
sonders jedoch aus den Jugendsendungen. Seine Auf- portagen kamen ihm entgegen. Die >>traditionelle
zeichnungen zum gesamten Komplex um Roman, Sympathie [... ],die der Erzähler den Spitzbuben und
Erzähler und Erzählung vermitteln weitreichende Ein- Gaunern entgegenbringt<< (II, 461), wird in allen
sichten für die Erzählform am Mikrophon. >>Jeder Schwindlergeschichten (VII, 145 f.) Benjamins hoch-
Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des gehalten. Seine merkwürdigen Gestalten holt er aus
Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Ge- dem Abseits der Geschichte, und wie bei Hebel hat
schichten arm<< (IV, 436). Ereignisse und Information >>der Gerechte die Hauptrolle auf dem theatrum
befördern die kurzlebige journalistische Berichterstat- mundi<< (II, 461). Ein >>geborener Erzähler<< hat dabei
tung, nicht aber die Erzählung. Mit dem Verfall des ein >>praktisches Interesse<< (441), so führen auch Ben-
Erzählens kommt der >>Aufstand gegen den Erzähler<< jamins Geschichten den Erkenntniswert zur Anwen-
(II, 1284), und die >>neuen Erzähler<< nehmen es nicht dung, legitimieren ihre Tauglichkeit im Alltag. Mit
mehr genau, >>die Schilderung durch den Fernseher, diesem Schema gelang Benjamin eine Aufklärungsar-
die Worte[?] durchs Grammophon, die Moral durch beit, die seine sozial-politische Anhindung grundsätz-
die nächste Statistik, der Erzähler durch das was man lich offenlegte, sich aber jeder Ideologie streng ver-
sich über ihn erzählt<< (1285), sind Symptome eines sagte. >>Verstand<<, >>Beobachtungsgabe<<, >>Menschen-
Verlustes von Authentizität. Die Fachvorträge sind ein kenntnis<<, >>Wissensdrang und Geistesgröße<< werden
Beispiel dafür, wie Benjamin dem Medium die Mög- gegen >>Fanatismus<<, >>Gewalt<<, >>Irrtum und Unsinn<<,
lichkeit des Erzählens mit einer Methode abtrotzt, die >>Machthaber<< und >>Werkzeuge der Macht<< argumen-
er allen voran bei Hebel fand. Die Erzähltradition wird tativ aufgeboten und veranschaulicht, um in einer
nicht in ihrer Konvention belassen, sondern mehr und Lösung zu münden, die keinen Abschluß darstellt,
mehr mit den Gesetzen des neuen Mediums vertraut. sondern elliptisch in die Zukunft weist. >>Spiel<<, >>Ma-
Die schriftliche und mündliche Überlieferung wird gie<<, >>Zauber<<, >>Traum<<, >>Wunder<<, >>Staunen<< blitzen
medienspezifisch gewendet. Benjamin desavouiert den indessen immer wieder als Phantasmagorien einer
neuen Erzähler nicht, er öffnet ihm die Form für Be- vergangenen Welt auf. Auch Geschichten von großen
richt, Reportage, Information und Zeitungslektüre, Katastrophen (VII, 214f.) haben ihren gesellschaftli-
führt den Rat und die Lehre einer Aufklärung und chen, sozialen und kulturellen Hintergrund und zeigen
Die Rundfunkarbeiten 417

als Exempel Verhalten von Menschen in Extremsitua- liefern die inhaltlichen Vorgaben dieser Serie (Schiller-
tionen. >>Wollte ich euch nur von irgendeiner Katastro- Lerg 1984, 111). In einer Innensicht der Stadt, der
phe erzählen, deren Schauplatz China gewesen ist, so Nahwelt der Großstadtkinder, die >>sich noch immer
könnte ich, wie ihr nur allzu gut wißt, andere und trotz Technik, Auto, Dynamomaschine, Radio etc. für
neuereherausgreifen als jenen Theaterbrand in Kan- Zaubern« interessieren (VII, 96), erschloß sich ihm
ton. [... ] Aber mir kommt es darauf an, von einer Sache sein ureigenes >>Subjekt, das jahrelang im Hintergrund
zu sprechen, bei der ihr wirklich die Chinesen ein we- zu bleiben war gewohnt gewesen«, sich aber jetzt
nig kennenlernt, und das kann man vielleicht nirgends >>nicht so einfach an die Rampe bitten ließ« (VI, 476).
besser als in einem Theater<< (226). Winkel und Ecken der Stadt werden in seinen Ge-
Es ist der Augenzeugenbericht, die überlieferung, schichten ebenso erkundet wie die dunklen Kapitel der
die tradierte >>Kunde, die von fernher kommt« (li, Kultur-, Wirtschafts- oder Baugeschichte. Beobach-
444), die einst als Brief, als Aufzeichnung ihren Weg in tung und Wahrnehmung sind auch in diesen Beiträgen
die Geschichte gefunden hat. Mit der modernen Tech- Schlüssel für ein aufklärendes, pädagogisches Konzept.
nik durch Zeitung, Telegraphie und Telefon wird die >>Richtig kann man von außen nur begreifen, was man
Erfahrungsmöglichkeit und der Erkenntniswert an das von innen kennt, das gilt für Maschinen so gut wie für
Aktuelle, das Sensationelle des Ereignisses veräußert. lebende Wesen« (VII, 131). Dem Physiognomiker E.
Aber die Berichte sind nicht nur >>Schrecken und T.A. Hoffmann erweist Benjamin in diesen Beiträgen
Graus« (VII, 232), sondern Ereignisse haben ihre ei- seine Referenz, wie er Johann Peter Hebel, dem >>nie
gene Geschichte. Deshalb geht es nicht darum, >>belie- genug geschätzten Meister«, dem »Vergegenwärtiger«
bige Sensationsgeschichten« ihrer Wirkung zu über- (II, 635) verbunden bleibt.
lassen, vielmehr müssen >>aufschlußreiche und gewich- Hören lernen, sehen lernen, fragen lernen, nachfra-
tige Vorfälle mit dieser Evidenz des Hier und Jetzt« (li, gen, das ist die Botschaft Benjamins. >>Wenn ihr nun
635) ausgestattet werden. Diese Methode, die Benja- wißt, wie unendlich viel zu alledem zu sagen, wo zu
min seiner Reflexion um die Rolle des Erzählers für fragen wäre, und wenn ihr euch erinnert, daß wir doch
die eigene Erzählpraxis abgewinnen konnte, ist eine nur 20 Minuten für unsere Unterhaltung haben, dann
Synthese alter und neuer mündlicher Vermittlungsfor- werdet ihr finden, daß es keinen Zweck hat, mit Sie-
men. Sie blieb der praktische Erfahrungshintergrund. benmeilenstiefeln vorwärts zu rennen, und daß wir
Thematische und motivische Parallelen zu Konvoluten uns lieber für ein paar einzelne Stationen Zeit nehmen
des Passagen-Werks sind ebenso offenkundig wie zu wollen« (VII, 133). Welch ein Widerspruch, sich Muße
anderen Arbeiten, die im Exil entstanden oder weiter- und Zeit zu nehmen in einem Medium, das von der
geführt wurden. Zeit lebt. Ihr Wert ist dem Flaneur wie dem Erzähler
unbekannt, erst als Aspekt einer medialen Bedingtheit
wird sie zum Faktor der Kommunikationssituation
Eine Serie über die Stadt Berlin und bleibt in ihrer Nutzung nicht sich selbst überlas-
sen. Der zeitliche Rahmen wird Methode, denn Ge-
In der neugestalteten Jugendstunde gab es ab Oktober schichten, die >>nicht im deutschen Unterricht und
1929 eine Serie, die sich mit der Stadt Berlin und ihren nicht in der Erdkunde und nicht in der Staatsbürger-
>>wichtigsten Eigenheiten« befaßte (Schiller-Lerg 1984, kunde zu hören« (VII, 118) sind, verlangen einen pak-
111). >>Wer von Euch die Augen und Ohren aufmacht, kenden Zugriff und - wie DER WEG zuM ERFOLG IN
wenn er durch Berlin geht, kann viel mehr schöne Ge- DREIZEHN THESEN (JV, 350) empfiehlt- darüber hin-
schichten zusammenbringen, als er heute im Radio aus >>Liebenswürdigkeit. Nicht die weichende, plane,
gehört hat« (BERLINER DIALEKT, VII, 74). Diese Ar- bequeme, sondern die überraschende, dialektische,
beiten (VII, 68 f.) sind mit persönlichen Erinnerungs- schwungvolle, die, ein Lasso, mit einem Ruck sich den
sequenzen und Beobachtungen ein erster Nukleus Partner gefügig macht.«
späterer Aufzeichnungen über Berlin. Die erfolgrei- Auch der Stil aller Jugendvorträge ist eng mit dem
chen Rundfunkbeiträge, Benjamin bestritt von 1929 Gespräch verbunden. Heinrich Kaulen erkennt darin
bis 1931 die Hälfte der gesamten Serie, dürften einen eine >>Form der Konversation« (Kaulen 1992), die ihr
Vertrag mit der Literarischen Weltvom Oktober 1931 Muster in den Moralischen Wochenschriften der Früh-
nach sich gezogen haben, der ihn zu einer >>Berliner aufklärung hat. Zu berücksichtigen bleibt jedoch, daß
Chronik« verpflichtete (VI, 799). Die zahlreichen Ent- hier vor dem Hintergrund einer politisch ausgerich-
sprechungen in den Rundfunkbeiträgen mit der Nie- teten Pädagogik >>der Redner das Lasso seiner Argu-
derschrift der BERLINER CHRONIK (VI, 465) sind text- mentation zum entscheidenden Fang« (IV, 594) aus-
genetisch noch zu entdecken. Weitere Anhaltspunkte wirft und mit dem persönlich dialogischen Redestil
418 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

ein Ziel verfolgt, was nur bedingt der Konversation Situation am Rundfunk bereits prekär wurde, die Ver-
eignet. Während Kaulen bei diesen Jugendsendungen bindung zwischen der Frankfurter Zeitung und dem
eher eine >>Tendenz zur Stilsenkung« (Kaulen 1992, Rundfunk nutzen, um die Hörer auf die kommentierte
23) ausmacht, diagnostiziert Jeffrey Mehlmann in Briefserie DEUTSCHE MENSCHEN (IV, 149), die ohne
seiner psychoanalytischen Annäherung einen >> Proust- Autorennennung erschien, aufmerksam zu machen.
sehen Zugriff<< und keineswegs einen kindgemäßen Aus den Vorträgen fallen, abgesehen von dem ver-
Stil (Mehlmann 1993), Gerhard Wagner ordnet diese schollenen Titel DAS ÖFFENTLICHE LOKAL, EIN UNER-
Sendungen als >>Hörfunkessay[s]<< mit ersten Anzei- FORSCHTES MILIEU zwei heraus, die sich nicht einer
chen einer >>integrale[n] Prosa<< ein, die die Fesseln literarischen Thematik zuwenden, sondern soziolo-
der Schrift gesprengt habe (Wagner 1992, 123). Me- gisch-psychologischen Forschungsentwicklungen. In
dientypisch sind sie Vorläufer des modernen Features. ALTE UND NEUE GRAPHOLOGIE widmete sich Benjamin
Eine Verknüpfung der Jugendarbeiten mit dem ge- einem Gebiet, auf dem er selber einige Kompetenz
samten Komplex zu Kindheit und Erziehung muß erworben hatte. Eine Sendevorlage zum 23.11.1930 ist
noch geleistet werden. Obwohl Heinz- Elmar Tenorth jedoch nicht überliefert, nur eine ausführlichere vom
(1988) auf den Anspruch einer pädagogischen Posi- Autor verfaßte Ankündigung (IV, 596; VII, 747). KA-
tion Benjamins ausdrücklich hingewiesen hat, wäre RUSSELL DER BERUFE (II, 667), gesendet am 29.12.1930,
eine Ergänzung unter dem Medienaspekt nachzutra- gehört mit Benjamins Interesse für Verhaltenspsycho-
gen. logie in die Linie der Hörmodelle, die im gleichen
Zeitraum entstanden. Die soziologische Differenzie-
rung von Hörer- und Berufsgruppen konnte in diesem
Lesungen - Kritiken - Fachvorträge Fall zur Deckung gebracht und Hörerbeteiligung als
kommunikative Möglichkeit des Mediums auf die
Mit Lesungen eigener Novellen oder kleineren Erzäh- Probe gestellt werden. Der Vortrag ist darüber hinaus
lungen ist Walter Benjamin verhältnismäßig selten ans ein Beispiel, wie Benjamin aktuelle Programmplanun-
Mikrophon getreten. DEM STAUB, DEM BEWEGLICHEN, gen als Gelegenheit zu nutzen verstand. Ende 1930 war
EINGEZEICHNET (IV, 780; VII, 851) oder auch MYSLO- >>Jugend in Not<< ein tilematisches Leitmotiv im Frank-
WITZ - BRAUNSCHWEIG - MARSEILLE (IV, 729) sind furter Rundfunk, das mit Hörspielen, Vorträgen, In-
fast schon die einzigen Beispiele. Letzteres mag einer terviews und Diskussionen realisiert wurde. Das Ka-
neuen Serie im Frankfurter Rundfunk >>Eine erlebte russell als Metapher für schemenhaft flüchtige Vorstel-
Geschichte<< seine Anregung und Verarbeitung frühe- lungen von Berufen hatte Benjamin schon im Januar
rer Aufzeichnungen verdanken. EINE LESUNG AUS EI- 1930 in einem Ausstellungsbericht verwandt (IV, 559),
NER UNVERÖFFENTLICHTEN SKIZZENSAMMLUNG: BER- nun paßte das Thema Berufswahl mit allen soziologi-
LINER KINDHEIT UM 1900 war am 29.1.1933 im Zu- schen und psychologischen Implikationen in den Pro-
sammenhang mit der geplanten Veröffentlichung in grammkontext. >>Vor allem aber: wie formt und wie
der Frankfurter Zeitung Benjamins letzter Auftritt am verwandelt der Beruf- nicht nur die Arbeitsleistung
Mikrophon. Immerhin bot sich ihm so die Möglich- selber, sondern das Milieu, in dem sie sich abspielt, die
keit, die Serie, die ab März unter einem Pseudonym Obertragung der Berufsgewohnheiten auf das häusli-
erschien, an seinen Namen zu binden. Ganz mochte che Leben und die Eigenart der Berufskollegen -, wie
er offenbar die Vorstellung, daß nicht doch die eine verwandelt und formt das alles den Menschen?<< Die
oder andere Geschichte noch ihren Weg in den Rund- neue Milieutheorie machte den Autor zum Beobachter,
funk finden könnte, aufgeben. Am 15.1.1933, als Ben- zum Mittler neuer Methoden der Berufswahl. In die-
jamin Scholem von seiner Arbeit an einem Hörspiel sem Sinn warb Benjamin für >>Mitarbeit<< der Hörer.
über Spiritismus berichtete, fügte er an: >>Einzelne mei- Die >>Bitte, die durch mich der Rundfunk hiermit an
ner neueren Produkte- wie das >Taschentuch< oder Sie richtet,[ ... ] Mitteilungen jeder Art ihm zukommen
die, gekürzte, >Kaktushecke< bitte ich Dich aus genau zu lassen<< (II, 669). Eine eigene kleine Versuchsanord-
so handgreiflichen Motiven entstanden zu denken wie nung soziologisch-psychologischen Materials zur em-
dergleichen Geisterrevue<< (4, 158; IV, 741 u. 748). So pirischen Deutung der Arbeits- und Berufswelt war
hätte die eine oder andere Geschichte noch ihre Runcl- der Reiz des Pragmatischen an der Methode des Beha-
funktauglichkeit erbringen können. viorismus, wobei allerdings die Interessen von Arbeit-
Bei den literarischen Vorträgen (VII, 250) handelt suchenden und Arbeitgebern nicht deutlich auseinan-
es sich um Berichte und Rezensionen, die in ähnlicher derdividiert, geschweige politisch interpretiert wurden.
Form auch gedruckt erschienen. Mit AuF DER SPuR Eine Auswertung sollte später gesendet werden. Men-
ALTER BRIEFE (IV, 942) konnte Benjamin 1932, als die schenkenntnis und Beobachtungsgabe jedoch als Aus-
Die Rundfunkarbeiten 419

druck eines aufgeklärten Urteils war in diesem wie in Hagen, Wolfgang (2002): »Die Stimme als körperlose Wesen-
heit. Medienepistemologische Skizzen zur europäischen
allen Vorträgen ein offen propagiertes Ziel. Radioentwicklung<<, in: Irmela Schneider/Peter M. Span-
genberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursge-
schichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Opladen/Wiesba-
Arbeitskomplex Rundfunk den.
Heitger, Ulrich (2003): Vom Zeitzeichen zum politischen
FührungsmitteL Entwicklungstendenzen und Strukturen
Ab Herbst 1932 häufen sich die Anmerkungen in Ben- der Nachrichtenprogramme des Rundfunks in der Weima-
jamins Briefen, daß er für seine Rundfunkarbeit keine rer Republik 1923-1932, Münster.
Zukunft sah. Im Januar 1933 stand Benjamin noch Honold, Alexander (2000): »Erzählen<<, in: Michael Opitz/
Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1, Frankfurt
einmal in Frankfurt vor dem Mikrophon, damit war
a.M., 363-398.
der Arbeitskomplex Rundfunk endgültig abgeschlos- Kaulen, Heinrich (1992): »Konversation als Aufklärung.
sen. Seine Spuren sind allerdings unverkennbar in den Überlegungen zu Walter Benjamins Rundfunkarbeiten<<,
medienkritischen Texten der Exilzeit auszumachen. in: Lorenz Jäger/Tbomas Regehly (Hg.): »Was nie geschrie-
ben wurde, lesen<<, Bielefeld, 11-42.
Die praktische Erfahrung wird am Ende in der Ironie
Kausch, Michael (1988): Kulturindustrie und Populärkultur.
der Studiosituation gebündelt: >>Ich lieh mir selbst Kritische Theorie der Massenmedien, Frankfurt a. M.
mein Ohr, dem nun auf einmal nichts als das eigene Kraft, Werner (1972): Ȇber Walter Benjamin<<, in: Siegfried
Schweigen entgegentönte. Das aber erkannte ich als Unseid (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins: aus Anlaß
des 80. Geburtstags von Walter Benjamin, Frankfurt a. M.,
das des Todes, der mich eben jetzt in tausend Ohren
59.
und in tausend Stuben zugleich hinraffte« (IV, 763). Leonhard, Joachim-Felix (Hg.) ( 1997): Programmgeschichte
des Hörfunks in der Weimarer Republik, 2 Bde, Mün-
Werk chen.
Hörspiele (IV, 641-670; 696-720; VII, 837) Lerg, Winfried B. (1980): Rundfunkpolitik in der Weimarer
Hörspiele für Kinder (IV, 674-695; VII, 316-346; 831-836) Republik, München.
Hörmodelle (IV, 629-640) Lindner, Burkhardt (2003): "zu Film und Radio. Medien-
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Gespräche (IV, 548-551; VII, 610-616) Essay on His Radio Years, Chicago.
Texte über den Rundfunk (II, 773-776; 1496-1507; IV, 628; Mendes, Anabela (1996): »>Gesprochenes stammt vom Le-
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420 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

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Kritik und Handeln, Exilpublizistik,


Benjamins Kommunismus

Der Schriftsteller der Moderne, das hatten bereits die


Frühromantiker erkannt, ist eine öffentliche Instanz.
Reflektiert er sie, und beansprucht er damit eine ethi-
sche Haltung in der politischen Öffentlichkeit, macht
ihn das zum Intellektuellen. Sein Sprechen und Schrei-
ben berührt die in Staat, Recht und Politik Agierenden,
sofern der Diskurs erkannt wird. Wie Benjamin unter
den Bedingungen seines Exils seit März 1933 die In-
tellektuellendebatte in Frankreich beurteilt und an ihr
teilnimmt, demonstrieren seine vier hier zusammen-
gefaßten Artikel: ZUM GEGENWÄRTIGEN GESELL-
SCHAFTLICHEN STANDORT DES FRANZÖSISCHEN
ScHRIFTSTELLERS (1933134); DERAUTOR ALS PRoDu-
ZENT (1934); ANDRE GIDE UND SEIN NEUER GEGNER
(1936); MALEREI UND PHOTOGRAPHIE (1936137). Die
beiden letztgenannten tragen als übergreifenden Titel
PARISER BRIEF 1 und 2. Alle sind in den Jahren 1933
bis 1936 geschrieben worden. Sie zeigen Benjamins
Hoffnungen auf eine produktive literaturpolitische
Entwicklung im Exil und wie er zu ihr beitrug. Vom
frühesten Artikel abgesehen, erhielt Benjamin jeweils
einen Anstoß aus den Debatten heraus. Der Vollstän-
digkeit halber soll auch DAs KuNSTWERK IM ZEITAL-
TER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKElT (s.
Artikel229-251) erwähnt werden. Denn gerade diesen
Text, der dezidiert thesenartig formuliert, hat er in die
Folge der internationalen Intellektuellen-Debatte des
Jahres 1935136, speziell des >>Congres international des
ecrivains pourla defense de la culture<< (Juni 1935) im
Juni 1936 zur Diskussion gestellt (Kambas 1983, 175;
5, 325 f.). Wiewohl die Artikel ad hocgeschrieben sind
und als >>Gelegenheitsarbeiten<< im Sinne von Neben-
arbeiten abgetan werden könnten, nehmen sie ihre
jeweilige Gelegenheit mit Emphase wahr. Sie nutzen
den geeigneten Zeitpunkt für das öffentliche Wort des
Intellektuellen und erfüllen so Aktualität. Der Zeit-
punkt selbst wirkt weiter in der quasi beiläufigen
Form, wie sie Vortrag, Brief und modifiziert auch Be-
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 421

richt darstellen. Thematisch aber ist eine jede der Ge- paganda. Die vor allem auf Paris zentrierte Debatte
legenheitsarbeiten mit einer größeren Arbeitseinheit der Intellektuellen- sie war hier symbolisch wie poli-
Benjamins verbunden. Dies sind vor allem der Essay tisch-kontextuell zusammengeführt- stand, z. T. in
über den Surrealismus (1929), die Studien und Kom- personeller Identität, nach Formationen in der Konti-
mentare ZU Brecht, sowie die KLEINE GESCHICHTE DER nuität der Lager der europäischen Nachkriegszeit: des
PHOTOGRAPHIE (1931) und die schon erwähnten Pazifismus, der Kommunistischen Internationale, ver-
KuNSTWERK-Thesen. Sein gleichermaßen zurückhal- schiedener Syndikalismen, libertärer oder idealisti-
tender wie z. T. abrupter Ton des Sprechens gehört zum scher Anarchismen; der monarchistischen Rechten, des
avisierten literaturpolitischen Standort: Zwischen extremen Nationalismus, einzelner Bewunderer des
pointierten Positionsbeschreibungen der Gegenstände italienischen Faschismus, wiederum einzelner zwi-
und intellektueller Selbstreflexion auf der einen, prä- schen Republikanimus und Kulturkonservatismus
gnanter Polemik der Abgrenzung auf der anderen Stehender. Diese vielfältige Morphologie verschob sich
Seite, bildet solche Kritik in Gestus, Stil und Form die in den Jahren 1932 bis 1936 zu einer- jeweils wieder
Alternative zu Aufruf oder Manifest. punktuell neu zusammengesetzten - Konfrontation
Die Erscheinungsorte - faktische wie intendierte von Antifaschismus und Faschismus (Leroy/Roche
- der Aufsätze müssen als Teil der Positionstindung 1986, 43-88).
des Autors gewichtet werden. Sie stehen für bestimmte Das Erkenntnisinteresse Benjamins in den vier Ar-
intellektuelle und politisch-gesinnungsgebundene tikeln ist vor dem Hintergrundzweier Voraussetzun-
Ausrichtungen des deutschen Exils nach 1933. Letz- gen seiner Publizistik der 20er Jahre zu sehen. Als einer
tere sind, zumal sie sich sofort als vielfältiges Spek- der Übersetzer von Marcel Prousts Roman A Ia recher-
trum zu erkennen geben, für Benjamins Positionstin- che du temps perdu war er in der Weimarer Republik
dung nicht bestimmend. Das gilt für den Antitotali- ein anerkannter Mittler zur modernen französischen
tarismus der Zeitschrift für Sozialforschung, den Literatur. Er hatte die Berichterstattung über die zeit-
prosowjetischen Antifaschismus eines >>Instituts für genössischen literarischen Entwicklungen in Frank-
das Studium des Faschismus<< (INFA) oder die einem reich vor allem für Die literarische Welt und den Rund-
literarischen Liberalismus verpflichtete Sammlung, funk übernommen. Als Publizist war Benjamin per-
die Klaus Mann im Amsterdamer Querido-Verlag sönlich mit einigen führenden französischen
herausgab, und deren im Titel programmatisch ge- Intellektuellen in Verbindung getreten. Seine Verdien-
faßte >>Breite<< die Hitlergegner ohne Ansehen ihrer ste um das Frankreichbild in der Publizistik der Wei-
ideologischen Bindungen zu vereinen versprach. marer Republik wiesen ihn umgekehrt nun in Frank-
Schließlich auch für die literarische Volksfrontzeit- reich aus. Doch um die Verhältnisse auch realitätsge-
schrift Das Wort. Sie sollte repräsentativ für die neue recht zu akzentuieren, muß einschränkend hinzugefügt
Volksfrontpolitik der Kommunistischen Parteien sein werden: es war eine kleine Gruppe von Interessierten
und für eine Koalition der Hitlergegner bis in Kreise (A. Monnier, F. und P. Bertaux), deren nachhaltige
eines >>rechten Bürgertums<< hinein werben. Dies ist persönliche Bekanntschaft er gemacht hatte und die
allerdings weitgehend Deklaration geblieben. Allein den Graben zwischen den Literaturen und Intellektu-
Brechts Aufnahme in die Redaktion zeigt eine Öff- ellenkreisen auch nach 1933 aktiv überbrücken wollte.
nung. Ansonstenwar die ausführende Redaktion, mit - Die genannten Exilzeitschriften hatten allen Anlaß,
der Besetzung Willi Bredel und Fritz Erpenbeck als Beiträge Benjamins für ihre >Berichterstattung aus
Redakteuren, in die KPD des Moskauer Exils fest ein- Paris< aufzunehmen. Aus dieser Rolle heraus agierte er
gebunden und beachtete streng die sich unter Stalin argumentativ in seinem ersten Artikel für die Zeit-
schnell ändernden Freund-Feindschemata (Walter schrift für Sozialforschung wie dann auch in den beiden
1978,461 ff.; Seidel1975). PARISER BRIEFEN für Das Wort. Auch für die von Klaus
Mit keiner der verschiedenen redaktionellen Rah- Mann zeitweise intendierte Aufnahme von DER AuTOR
men-Vorgaben war Benjamins Position identisch. Er ALS PRODUZENT für die Sammlung gaben Benjamins
selbst wahrte eine unmittelbare Kontinuität, kenntlich Verdienste als Mittler in Verbindung mit der in diesem
allein an den zahlreichen Übernahmen aus früheren Vortag entwickelten, Mann sehr fremden Autor-Kon-
Artikeln, zur eigenen Position der späten 1920er Jahre. zeption, den Ausschlag: >>Ich glaube, es gehört zu un-
Doch einer der Gegenstände, den er nun über wieder- seren Verpflichtungen in dieser Stunde, daß wir auch
holte kritische Annäherung und Distinktion zu unsere Namen - gerade ihn als die Summe der Ver-
bestimmen unternahm, spitzte sich auf die nationali- dienste, die wir uns in einer friedlicheren Zeit erwor-
stische Rechte zu, ihre Denkmuster über Kunst, die ben haben- der Sache zur Verfügung stellen<< (Mann,
Verbindung zum Faschismus, schließlich dessen Pro- Brief an Benjamin vom 2.5.1934).
422 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Die weitere Voraussetzung ist >der Kommunismus<. nZum gegenwärtigen gesellschaftlichen


Gerade für Benjamins sich auf Frankreich beziehende Standort des französischen Schriftstellers<<
Artikel kann treffender von der vermittelnden Bericht-
erstattung eines >Communisant< gesprochen werden. Entstehung und Überlieferung: Der Aufsatz erschien
Während seiner Rußlandreise 1926/27 gab er sich aus- in der Zeitschrift für Sozialforschung (3, 1934 [ersch.
führlich Rechenschaft darüber, warum er trotz Ableh- 1935], H. 1, 54-78). Er ist das erste Zeugnis einer Mit-
nung kapitalistischer Ökonomie und Politik wie bür- arbeit Benjamins an der Zeitschrift für Sozialforschung.
gerlicher Kultur nicht zu den Kadern der kommuni- Ab Mitte Mai 1933 arbeitete Benjamin den Beitrag
stischen Intelligenz zählen wollte. Die im MosKAUER innerhalb von etwa 4 Wochen aus. Ähnlich wie beim
TAGEBUCH festgehaltene Selbstsicht auf die Aufgabe Druck der Kunstwerk-Thesen, der dritten Publikation
des Intellektuellen der Nachkriegsära - und dies ist Benjamins in der Zeitschrift für Sozialforschung, gab es
wesentlich für diese zweite Voraussetzung - kann als wohl Eingriffe der Redaktion (II, 1515). Elisabeth
eine Art Erfahrungskonsequenz aus dem früheren En- Hauptmann hat, resultatlos, den Vorschlag gemacht,
gagement in der Jugendkulturbewegung gesehen wer- den Aufsatz auf Französisch in Litterature Internatio-
den und der zeitlich danach erfolgten Kritik >>wahrer nale erscheinen zu lassen, der Komintern-Zeitschrift
Politik<<, als deren Weiterdenken (Steiner 2000, 49). analog zur Internationalen Literatur, doch für den fran-
Seit der Lektüre der >>Reflexions sur la violence<< von kophonen Markt.
Georges Sorel verfolgte Benjamin die Intellektuellen- Das Referat fällt in zwei Schwerpunkte auseinander.
debatte in Frankreich (2, 34 ff.; Kambas 1992a/b, Der Anfangsteil führt zentral auf das Problem des
1996). »Verrats<< der Intellektuellen, zentriert um Julien Ben-
Die drei >Berichte aus Paris< gehören von ihren Ge- das Streitschrift La trahison des clercs (1927) und ihre
genständen her zusammen. Mit der besonderen Auf- Kritiker. Er beleuchtet vorab schlaglichtartig das vor-
merksamkeit des nun im Exil weilenden Mittlers wol- angehende Panorama der Dreyfus-Parteiungen. Der
len sie die Selbstverständnisse und Handlungskonzepte zweite Teil stellt Autorenkonzepte der Literatur Frank-
sowie die Konfrontationen innerhalb der Intellektuel- reichs seit den 1890er Jahren vor, zentriert auf Huma-
lendebatte Frankreichs einer deutschen Leserschaft - nismus und Individualismus eines jeden Autors,
des Exils- verständlich machen. DER AuTOR ALS PRo- Selbstreflexion, Bewußtsein von literarischer Technik
DUZENT berührt hingegen das französische Debatten- und Gesellschaftskritik. In der Präsentation seiner Bei-
spektrum eher formal rhetorisch, rahmend, als Einstieg spiele überprüft Benjamin den Maßstab, nach dem von
und conclusio. Dennoch vertieft der Vortrag, was der >>Verrat<< eines Schriftstellers gesprochen werden kann.
erste Bericht anlegt. Er denkt eine literaturtheoretisch Genau betrachtet, handelt es sich um zwei sehr unter-
begründete moderne Autorschaft und die Verantwor- schiedliche Formen von >>Verrat<<. Letztere meint die
tung des Intellektuellen zusammen. Er fordert zur eines modernen ästhetischen Bewußtseins, die erste
Debatte über sie auf und intendiert dabei, zu einer in fragt nach der Politisierung. Beide Arten von >>Verrat<<
diesem ästhetischen Sinne avancierten, bewußten an- führt Benjamin auf einen Ursprung zurück. Darin
tifaschistischen Literaturpraxis überzugehen. Weniger fallen idealtypisch Ende und Beginn zusammen, Ende
berichtend als diesmal agierend gibt er ein Beispiel des bürgerlichen Zeitalters in Kunst, Bildung, Natur-
deutscher Sprache- das >>Modell<< des epischen Thea- beherrschung; Beginn eines geschichtlichen Katastro-
ters- und will damit den Exilautoren einen Hand- phenzeitalters Moderne und eine kulturelle Praxis der
lungsraum eröffnen. Wegen des Nachdrucks, mit dem Avantgarde.
Benjamin dabei in eigener Sache für eine moderne Zunächst zu diesem letzten, in Benjamins Bericht
deutsche Literatur spricht, bildet er hier den Ab- zweiten Schwerpunkt. Vom Sürrealismus-Essay her ist
schluß. jener Ursprung des >>Endes<< bekannt, wo Apollinaires
Die außerordentliche inhaltliche Diversität der drei Beispiel in den Surrealismus einführt. Stillschweigend
anderen Artikel reicht von der Krise des Humanismus ist der Passus über Apollinaires Erzählsammlung Der
seit dem Ersten Weltkrieg über das Gesellschaftsbild gemordete Dichter (1916) übernommen. Eine Allegorie
im Roman, die intellektuelle Rechte, den Faschismus im Sinne des geschichtstheoretischen Gleichnisses,
bis hin zu Fragen des Realismus. Bemerkenswert in dient er auch in diesem Bericht als Exposition bzw.
allen vier Beiträgen ist die deklarative, dann wieder sogar Rahmen. Als topographischer wie chronologi-
schützend verdeckte Dialogführung mit Louis Ara- scher Anfang der französischen Avantgarde steht es für
gon. die Gefährdung von literarischer Autonomie. Es signa-
lisiert ihr objektives Ende und wird zugleich selbstbe-
wußtes Programm des >Endes der Literatur<. Futuris-
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 423

mus, Dada und Surrealismus sind darin gleicherweise Weitere Bedeutungsebenen von Konformismus
aufgerufen. scheinen in Benjamins Panorama des modernen Ro-
Auch ist damit die geschichtliche Stunde Frank- mans auf. Hätte Julien Greens in Paris spielender jüng-
reichs von 1914 gesichtet. Analog zu dem, was die ster Roman Epaves Einsamkeit und Verzweiflung die-
Dreyfus-Affäre für die Älteren bedeute, ist »1914<< die ses Schauplatzes reflektieren, seine Figuren über die
Stunde der folgenden Generation: >>Der Kampf um >> Preisgegebenheit und Einsamkeit der eigenen (bür-
Dreyfus war für Peguys Altersgenossen das, was für gerlichen) Klasse zu der [ihrer] privaten Existenz«
Jüngere der Weltkrieg geworden ist<< (II, 786). Das gilt (790) vordringen können, so wäre passio im antiken
auch für Deutschland, Benjamin hat sich durchgehend Sinne, das Zeichen seiner früheren Romane über die
zugehörig begriffen. Andre Gide, den er anführt (778; Provinz, in eine moderne Erfahrung >>unsere[r] Um-
795f.), weist auf das Jahr 1933 voraus, denn sein Laf- welt« (789) übersetzt worden. >>Hier setzt nun jenes
cadio (797), der Mörder aus Laune, ruft die surreali- Schweigen ein, das der Ausdruck von Konformismus
stische Einstellung zu >bürgerlichen< Tabus auf. Der ist« (ebd.).
Moralist Gide, der 1932 dem Individualismus öffent- Davon heben sich Blaise Cendrars mit Moravagine
lich >abschwört<, läßt sich konsensuell zur >>Funktion (1926) undAndre Malraux mit La condition humaine
des Intellektuellen in der Gesellschaft<< und zur nötigen ( 1933) als mutiger ab. Doch die Helden beider Romane
>>Bereinigung<< >>seiner moralischen Situation<< anfüh- lebten von Romantik-Konventionen, von glorifizierter
ren (778). Die Integrität des jungen Gide liegt für Ben- Qual der Einsamkeit (800), überholtem Anarchismus.
jamin in dessen moralistischer Weigerung gegen an- Nonkonformismus der Figuren bei nihilistischer Welt-
erkannte Moralnormen. Seine vehemente Kritik am sicht der Autoren: dem Schreibkonzept Aufstandsro-
Nationalismus im Roman von Maurice Barres (1897) mantik mißtraut Benjamin.
bleibt aktuell. Die protestantische Apologie der Be- An Celines Voyage au baut de la nuit spricht er das
dürftigkeit des älteren, weltberühmten Gide führe ihn Rebellische ebenfalls mit Unbehagen an. Den offen-
in eben dem Sinne einer Weigerung zur Stellungnahme kundigen Nihilismus führt er auf das gewählte ver-
für das kommunistische Lager. kommene Milieu im Romans, das Lumpenproletariat,
Über Barres als >>romantische[n] Nihilist[en]<< zurück. Celines Konformismus zeige sich in der Auf-
schreibt Benjamin: >>Je näher man in die Gedankenwelt fassung von den Massen, da »das Eigenste der revolu-
des Mannes eintritt, desto enger erscheint ihre Ver- tionären Schulung und Erfahrung [... ],die Klassen-
wandtschaft mit den Lehren, die die Gegenwart über- schichtungen in Massen zu erkennen« (788) nicht
all hervorbringt. Es ist der gleiche Nihilismus der gelungen sei.
Grundgesinnung, der gleiche Idealismus der Geste und Und der kritische Romancier? Ihn zeichnet Weige-
der gleiche Konformismus, der die Resultante aus Ni- rung aus, darstellende, in der Mimesis spürbare:
hilismus und Idealismus bildet<< (778). Diese Formu- »Wenn Zola das Frankreich der sechziger Jahre hat
lierung - sie gilt Barres rassistischem Nationalismus darstellen können, so darum, weil er das Frankreich
-gibt in nuce Benjamins Auffassung von faschistischer dieser Sechziger Jahre ablehnte. Er lehnte die Planun-
Intellektualität wieder: Konformismus in der Kreu- gen Haussmanns und das Palais der Paiva und die
zung von Nihilismus und Idealismus. Beredsamkeit von Rouher ab. Und wenn es den heu-
Der Konformismus-Begriff Benjamins ist zentral. tigen französischen Romanciers nicht glückt, das
Er ist Kriterium für die Haltung des Romanciers wie Frankreich unserer Tage darzustellen, so darum, weil
für die intellektuellen Positionen der Schriftsteller sie schließlich alles in Kauf zu nehmen gesonnen sind«
(ebd.). Weigerung und Konformität sind die im (ebd.). Dieser Formulierung nach zu urteilen, setzt
Schrifttum manifestierten Einstellungen. So schreibt Benjamin eine genaue Beobachtung der räumlichen
Benjamin über den >>roman populiste<<, >>dem heute Lebenswelt, von Herrschaft und freier Subjektivität,
nicht wenige linksgerichtete Autoren ihre Sympathien als wesentlich für eine Zeitdiagnose im Roman voraus.
gewidmet haben« (786), er gehöre schlicht zum Trivi- Zuletzt stellt er es einem mimetischen Vermögen an-
algenre. >>Es ist die alte und fatale Konfusion- zuerst heim, Weigerung als Haltung und damit Kritik und
taucht sie vielleicht bei Rousseau auf -, wonach das Erkenntnis weitergeben zu können.
Innenleben der Enterbten und Geknechteten durch Die Weigerung gegen normative Mimesis erfaßt der
eine ganz besondere Simplizität sich auszeichnet, der Begriff» Technik«. Das Paradigma ist an Marcel Prousts
man gern einen Einschlag ins Erbauliche verleiht« Form erläutert, auch an Gide und Paul Valery. Diese
(787). Berührt ist hier der ästhetische Konformismus Autoren hätten eine Prosa zwischen Selbstdokument,
von Schwarz-Weiß-Zeichnungen in Fragen von Psy- Wissenschaft, Kritik und auch Roman entwickelt, die
chologie und Moral. zugleich intellektuelle Rechenschaft über das eigene
424 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Schreiben abzulegen fähig sei. >>[V]om Aufbau ange- die universalen Werte, Gerechtigkeit, Wahrheit und
fangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommen- Vernunft, entgegen. Wie erlangt, so fragt er, die
tar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze Selbstaufwertung der eigenen Nation überhaupt
(dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Glaubwürdigkeit und breiten Konsens? Nicht durch
Breiten der Wahrheit hinübertritt) ist überall der hetzerische Rhetorik, sondern durch pseudologische
Schriftsteller präsent, der Stellung nehmend, Rechen- >Systeme<, in denen >>Maßlosigkeit, Haß und fixe
schaft erteilend sich dauernd zur Verfügung des Lesers Ideen<< (Benda 1978, 113) >>als Resultat rein philoso-
hält<< (792). phischer Betrachtung hingestellt wird<< (115). Das
Die Beispiele belegen die These vom >>Ende<< des Drängen der >Philosophen< an die Öffentlichkeit, Par-
Romans. Revision des Genieglaubens und Mißtrauen tizipation an mächtigen Eliten mittels stereotyp bana-
in die Kraft der Fiktionalität bestimmen die Schrift- lisierender Dogmen, Eindringen in das Bewußtsein der
steiler zur Kritik einfacher Narration oder zur Suche politischen Klasse, das macht die Gefährlichkeit dieser
nach kleinen Formen. Der großen Romanform ver- Schriften aus. Freilich muß Benda zugeben, daß die
traue sich nur an, wer sich der >>wahren Verantwortung von ihm Avisierten wie Barres, Maurras, d'Annunzio
als Schriftsteller<< entzieht. (791) Angelegt ist damit oder H. S. Chaimberlain, sogar Peguy zählt er wegen
Benjamins Auffassung vom >>Umschmelzungsprozeß des Nationalismus hinzu, >>in der Tat keine clercs sind<<,
literarischer Formen<< (694). >>Den mit diesem Gedan- sondern nur »vorgebliche clercs<< (115 f.).Aber sie >>ge-
ken verbundenen Begriff der literarischen Technik ben sich doch als solche aus, werden auch dafür gehal-
wird Benjamin ins Zentrum seines Vortrags DER Au- ten [... ] und auf dieser Grundlage genießen sie unter
TOR ALS PRODUZENT stellen<< (Steiner 2004, 113). Er den Aktivisten ihr außerordentliches Ansehen<< (116).
spricht bereits 1933 in eigener Sache, für die Formen- Dies sieht er als >>Verrat der Intellektuellen<<, Verrat an
vielfalt auch seiner Schreibweise. - Im historischen einer naturgegebenen Wahrheitsbindung an.
Blickwinkel von 1933 ist u.a. eine Reflexion auf das In den 1960er Jahren prägte W.F. Haug die Formel
Fiktionalitäts-Authentizitäts-Problem angelegt. In der vom >>hilflosen Antifaschismus<<. In Anlehnung daran
Literatur am Ende des 20. Jh.s weckt es in den an Au- kann Bendas Verratstheorie >>hilfloser Antinationalis-
thentizität orientierten Schreibweisen ein hohes zeit- mus<< heißen. Er setzt das reine Denken als ontologi-
kritisches und ästhetisches Potential. Trotz der BERLI- sche Größe voraus, abstrahiert von dessen genuiner
NER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT bezieht Ben- Teilhabe an gesellschaftlicher Machtbildung, ein-
jamin eine Umgewichtung des Fiktionalitätsproblems schließlich seiner Verankerung im Bildungsprivileg.
noch nicht in seinen Fragenkreis mit ein. In seinen Darin gründet die Fehlkonstruktion und Hilflosigkeit,
Intentionen konzentriert er sich auf die >>Politik<< der schließlich macht es die Zweideutigkeit des Ansatzes
Schriftsteller. von Bendas Schrift aus. Benjamin notiert in seiner
Besprechung ZU Un regulier dans le siede ( 1937): >>Ein-
treten für die unbefleckten Prinzipien [... ] als der um-
Theorie des Intellektuellen ständlichste Konformismus der Welt<< (III, 551). An-
stelle von Kritikverfahren und Weigerung, erhebt
Konformismus wie Weigerung werden in der Intellek- Benda die illusionistische Forderung an einen macht-
tuellendebatte seit 1925 nach sozialer Funktion, Macht, geschützten Raum für den Intellektuellen: »Man muß
Privilegienteilhabe differenziert diskutiert. Einsichten den modernen Staat dafür verantwortlich machen,
verdankt Benjamin La trahison des clercs (1927) von nichts getan zu haben [... ] für die Erhaltung einer
Julien Benda. Die bis heute große Bekanntheit dieser Klasse von Menschen frei von Bürgerpflichten, deren
Schrift geht auf die paradox und verkürzt erfolgte einzige Aufgabe darin bestünde, den Herd der nicht-
breite zeitgenössische Rezeption zurück, Benda habe praktischen Werte zu hüten<< (Benda 1978, 192). Diese
mit >>trahison<< überhaupt jedes politische Engagement nimmt er für >>ewige<< Werte, welche die >>wahren In-
der Intellektuellen als Verrat gegeißelt. Diese Simpli- tellektuellen<< hüten. Er konstruiert von der Antike bis
fikation unterstützt Benjamin in keinem seiner Bei- ins 20. Jh. den Idealtypus >clerc<: >>Patrizier des Geistes
träge über Benda seit 1928, er erkennt vielmehr sofort wie Erasmus, Malebranche, Spinoza, Goethe<< (136),
die Bedeutung des Pamphlets für ein genaueres Bild angeblich der Macht Abgewandte, verkörpern ein zeit-
des Nationalismus. loses Universum mit Namen >europäischer Humanis-
Diesem >>Verrat<< der Denkenden an einen blinden mus<.
Konformismus von psychotischer Struktur, dem kol- Benjamin sieht darin eine >>Klausur des utopischen
lektive ethnische Selbstaufwertung zugrundeliegt, hält Idealismus<<, (II, 783) die der clerc wählen solle, wobei
Benda, nach eigenem Lernprozeß, die Besinnung auf die mächtige, für die Dauer des >Abendlandes< reprä-
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 425

sentative Institution, >>der Katholizismus [... ] Benda Zur Verratstheorie und Kritik Bendas greift Benja-
seine Haltung<< (782) vorschreibe. Er ignoriere den min in Form der Adaption vor allem auf Emmanuel
>>Untergang der freien Intelligenz<<, (783) angesichts Berls Mort de Ia penseebourgeoise (1929) zurück (vgl.
dessen >>beherrschtere, gemäßere Formen zu suchen<< Kommentar II, 1517-19). Auch kann >>Konformis-
seien (III, 112). Einen weiteren Kritikpunkt teilt Ben- mus<<, als Maßstab intellektuellenkritischer Kritik, von
jamin mit zahlreichen, auch späteren Kritikern an Berl angeregt sein (Berl 1929, 51-75). Die öffentlich
Bendas Forderung nach zweierlei Maß für die Praxis bekundete Gesinnung stets nach Macht und Mehrheit
der Demokratie und das Denken. Die Demokratie, dies auszurichten wie >>ces bourgeois qui dans un etat
unterstreicht auch Benjamin, ist für Benda die ratio- proletarien chanteraient le proletariat, de ces devots
nalste und moralisch höchststehende Staatsform, doch qui, sous un roi athee, seraient athees. La trahison du
sieht er sie in ihrer konkreten Realisierung dem Ideal eiere se definit par la servilite de 1' esprit abandonnant
eben dieser Staatsform entgegengesetzt. So kommt er sa propre cause et laissant l'univers prevaloir contre
zu dem Paradox einer >>legitimen Ungerechtigkeit<< lui<< (SO). Intellektuellenkritisch die Belange der Intel-
(Gipper 1992, 159), die er, da sie bloß akzidentiell sei, lektuellen zu vertreten - dies ist bekanntlich auch
leicht aufzulösen gedenkt. Sie bestünde seit jeher, man Benjamins Position bei der Planung der Zeitschrift
dürfe sie nur nicht verleugnen. KRISE UND KRITIK (Wizisla 2004, 140-44).
Bei dieser Konstruktion kann der Intellektuelle, im Alain hat in Elements d'une doctrine radicale ( 1925)
Einzel- und Konfliktfall, den Widerspruch zwischen den Konformismus als Teil der Funktionsweise der
legitimer Macht und ungerechter Praxis, seine Hände Technokratie analysiert, und Benjamin führt ihn, den
in Unschuld waschen. Und eben dies hat auch Benja- >>klügsten lnterpret[en]<< (II, 781) aus dem Umfeld der
min eine >>doppelte Moral in aller Form<< genannt, >>die Radicaux des gauches an. >>Er ist mehr Interpret als
der Gewalt für die Staaten und Völker, die des christ- Kämpfer<< (782). Benjamins ebenfalls nur eingefloch-
lichen Humanismus für die Intelligenz<< (III, 112). ten scheinende Verweise auf dessen Parlamentarismus-
Trotz >>Berufung auf die Ideale der Demokratie<<, so kritik (297; 801) verdecken den bedeutenden Stellen-
Benjamin weiter, verrate Benda darin >>eine streng re- wert.
aktionäre Geistesverfassung<< (ebd.)- >>eine durchaus Alain (Emile Chartier) vertritt, alternativ zur Poli-
romantische Geistesverfassung<< (II, 783) lautet die tisierung, ein Konzept der Weigerung: Der Intellektu-
Stelle im Bericht. elle ist nicht zur Aktion, er ist zum Denken berufen.
Die Kritikpunkte Benjamins an Bendas Verratstheo- Eben dies betrifft seine geistige Verantwortung für die
rie - Substantialismus der Vernunftauffassung, zwei- Polis. Als ein citoyen habe der Einzelne aus der Position
erlei Maß in der Legitimation des Rechtssubjekts Staat der Einsamkeit Einspruchsmöglichkeiten. Grundvor-
-haben eine nachzutragende Voraussetzung. Seit sei- aussetzung aber seiner geistigen Urteilskraft seien in-
ner Lektüre von Georges Sorels Reflexions sur Ia vio- stitutionelle Unabhängigkeit und refus.
lence läßt sie sich in dieser Form nachweisen und be- Bei den Intellektuellen erzeugt die Technokratie das
gegnet dann wiederholt: die intellektuellenkritische Syndrom des Konformismus, und Zugehörigkeit zu
Auffassung von der Aufgabe des Intellektuellen. Ange- den Bildungsschichten selbst berge für den einzelnen
sichts nicht-rechtsetzender, >>reiner<< Gewalt in den ein korrumpierendes Element, so daß jede Elite das
revolutionären Bewegungen, so zitiert Benjamin Sore! Volk verrate und tendenziell antidemokratisch ist. Kri-
um 1920, >>ist ein Platz weder den Soziologen vorbe- tik und Weigerung seien in der Wirkung politisches
halten noch den eleganten Amateuren von Sozialre- Eingreifen eines Intellektuellen: die Dekomposition
formern, noch den Intellektuellen, die es sich zum der Technokratie.
Beruf gemacht haben, für das Proletariat zu denken<< Benjamin aktualisiert die Dreyfus-Positionen mit
(194; vgl. Kambas 1992a, 262). Zurückgewiesen ist Hilfe von Alain: >>Die revolutionäre Aufgabe, die er
protektionistisches Sprechen, Repräsentation. [Peguy, d. Verf.] ihnen stellte, lag nicht in der Defen-
Im Bericht begegnet dies, positiv vermerkt, anläß- sive, deren Geist Alain vorzüglich festlegt, wenn er sagt:
lich von Charles Peguy. Ihn nennt Benjamin den >>re- >Die Haltung der Linken ist die einer kontrollierenden
volutionären Typ des Geistigen<< (II, 785). Sein >>Ver- Instanz<; vielmehr verwies er die Seinigen auf den An-
rat<<, sichtbar an der Weigerung gegen stilistische griff, dessen Stoß sich nicht allein auf die Regierenden,
Eleganz, ist einer am korporativen Zusammenhalt der sondern jenen Stab von Akademikern und Intellektu-
Normaliens. Oder im Verweis auf Alain. Zustimmend ellen richtet, die das Volk, aus dem sie stammen, ver-
führt Benjamin dessen Maxime an: >>Die Haltung der raten haben<< (785 f.). Diese Grundzweifel, die aus der
Linken ist die einer kontrollierenden Instanz<< Technokratiekritik stammen, bleiben zuletzt bei Ben-
(ebd.). jamin asyndetisch neben der Einsicht stehen, der Korn-
426 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

munismus habe die Politisierung der Intelligenz auf stab<< (786). Zu ergänzen ist: auch für den >>Standort<<
weniger zweifelhafte Art vollzogen. Sie bestimmen des Berichtenden.
seine Bewertung der Klassenverrat-Forderung, so ge-
genüber Malraux: >>Daß diese Intelligenz ihre Klasse
verlassen hat, um die Sache der proletarischen zu ihrer Surrealismus und Politik
eigenen zu machen, das will nicht heißen, diese letztere
habe sie bei sich aufgenommen<< (800). Und scheinbar Benjamins Skizze der Intellektuellenfrage läßt bemer-
entgegengesetzt heißt es über Aragon und die gesamte kenswerterweise das kulturpolitische Erfolgsszenario
surrealistische Gruppe, die als >gewandelte Kleinbür- des PCF und die dafür repräsentativen Namen außer
ger< dargestellt werden: >>Sie werden zu militanten acht. Wäre ein naives >>kommunistisches Bekenntnis<<
Politikern<< (802). mit diesem Artikel beabsichtigt gewesen, wie es Scho-
Welches Ziel hat die Positionstindung Benjamins? lem und Adorno unterschiedlich beanstandeten, hätte
Oder darf gar gefragt werden: welche Position ist das sich Benjamin die Einheitsfrontpolitik in der Amster-
Ziel? Die Voraussetzung, unter der er den Republika- dam-Pleyel-Bewegung und die Beachtung der neuen
nismus wie auch die auf eine anarchistisch libertäre herausragenden compagnions de route wie Romain
Haltung hinauslaufende der Radicaux stellt, lautet in Rolland und Henri Barbusse (vgl. Caute 1964; Morti-
der Benda-Rezensionvon 1928, als entscheidender mer 1984, 178) angelegen sein lassen müssen. Dieser
Einwand gegen dessen >>utopischen Idealismus<< (III, Vorgang, die weltweit beachteten Pazifisten zu gewin-
112): >>Der Untergang der freien Intelligenz ist eben nen, ist von Benjamin nicht erwähnt, es sei denn ganz
wenn nicht allein so doch entscheidend wirtschaftlich nebenbei und abwertend. So erwähnt er Barbusses
bedingt<< (113). Benda gehe am Kommunismus wort- Denken >>im Zeichen der Gesinnung<< (li, 802). Und
los vorbei. Statt die Politisierung, die in Frankreich seit doch dürfte gerade diese werbende Umgarnung, die
Barres rechtsextrem, in Deutschland nationalsoziali- eine Rhetorik hehrer Werte bei gemeinsamen Bekun-
stisch erfolgte, abzulehnen, ist sie als Konsequenz aus dungen freisetzte, Benjamin als das Fatale und Un-
der Selbsterkenntnis des eigenen >>Standortes<< anzu- glaubwürdige in der Werbung von KP-Organen um
nehmen. Eine Politisierung also gegen den Nationalis- >>Bürgerliche<< gegolten haben. Zugleich läßt er sich im
mus und zur Revolution. Falle Gides weitgehend unreflektiert darauf ein.
Keine genaue Positionstindung für den kritischen Die Abschnitte über den Surrealismus operieren
Intellektuellen ist vorgegeben. Doch die Namen Zola, entsprechend. Aragons Option gegen Breton und für
Gide,Aragon umschreiben eine Konstellation. »Er hat den PCF, seine neue Agitationslyrik seit dem Kongreß
sich dem Kommunismus angeschlossen<<, stellt Benja- in Charkow im Jahre 1931 (Nadeau 1986, 159-167) ist
min von Gide fest, der stets >>in der vorgeschrittensten im Bericht als die den Surrealismus repräsentierende,
Intelligenz Frankreichs<< agiert habe (II, 794). >Ange- einheitliche Entwicklung ausgegeben. Die Selbstkritik
schlossen< heißt aber in seinem Fall nicht, daß er eine Aragons an der Avantgarde macht er ebensowenig zum
parteipolitische Bindung eingegangen ist. Dies jedoch Thema wie dessen Bruch mit Breton. Den >>anthropo-
tat Aragon, der geradezu leitbildgebend in der Pe- logischen<< (li, 798) Materialismus des früheren Sur-
Publizistik und in den >Maisons de Ia Culture< wirkte. realismus zitiert er 1933/34 erneut unter der von ihm
Benjamin zitiert die Formel vom >Klassenverrat< aus geprägten Parole >>>Die Kräfte des Rausches für die Re-
Aragons in Commune veranstalteter Umfrage >>Für wen volution zu gewinnen<- das war das eigentliche Un-
schreiben Sie?<< ( Commune 7/8, 1934; Kambas 1983, ternehmen<< (ebd.). Weiter aber suggeriert er einen
72 ff.), die auch abschließend in DER AUTOR ALS PRO- kollektiven Lernprozeß in Richtung >>sich einfacher
DUZENT angeführt ist. Selbst wenn im Bericht die wei- [und) konkreter zu formulieren<< (ebd.). Er überspielt
testgehende Position des Intellektuellen >>als Techni- das Auseinanderbrechen der Gruppe so: >>Die dialek-
ker<<, >>auf Grund der ständigen Kontrolle [des) eigenen tische Entwicklung der Bewegung aber vollzog sich nun
Standorts<< und >>militante[r) Politiker[]<<an den kli- darin, daß jener Bildraum, welchen sie sich auf so ge-
maxartigen Schluß gesetzt ist und Aragon für den wagte Weise erschlossen hatte, sich mehr und mehr mit
>>Surrealismus<< stehen muß, beschreibt Benjamin dem der politischen Praxis identisch erwies<< (ebd.).
darin kein eigenes Ziel (li, 802). Es ist eine Art strategischer Option zugunsten einer
Der Name Zola steht an bemerkenswerter Schar- >modellartigen< Position, deren er sich als eigenes
nierstelle zwischen Intellektuellenreflexion und sozi- Standbein in einem Kräftefeld versichern möchte, weil
alen Romanciers. >>Vorm Forum der Geschichte hat er in solchem Referenzrahmen kritisch wirken zu kön-
[... ) Zola das Zeugnis der Intellektuellen im Dreyfus- nen glaubt. Weitere und deutlichere Gesichtspunkte
prozeß abgegeben<<, es bilde >>noch heute[ ... ] den Maß- zeigen sich im 2. PARISER BRIEF.
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 427

Rolf Wiggershaus (Wiggershaus 1997, 218) hebt Gide hatte seit 1931 über eine sukzessive Publikation
Adornos Enttäuschung über Benjamins Aufsatz her- von Tagebuchblättern, die in den Nouvelles pages de
vor. Sehr viel genauer umreißt Detlev Schöttker Ben- journal (1936) dann vereinigt erschienen, seinen >Weg
jamins Einstellung zur surrealistischen Bewegung seit zum Kommunismus< begleitet. Wie vorherige Journal-
1924. Dieoptionale Strategie 1933/34 erscheint auf der Publikationen wollte er auch diese als >Politik der Auf-
Folie der bereits frühen Ambivalenz zwischen Surrea- richtigkeit< verstehen, einAkt öffentlicher Rechtferti-
lismus und Konstruktivismus sehr viel weniger gung zwischen Versuchung zum und Widerstand gegen
sprunghaft. Von gleichbleibend hoher Bedeutung für den Individualismus. 1935 publizierte er Les nouvelles
den Schriftsteller Benjamin ist schließlich nur Aragons nourritures. Dieses Buch nimmt das Frühwerk Nour-
Schrift Le paysan de Paris (1926), die in der öffentli- ritures terrestres ( 1897) auf, welches seinerzeit einen
chen Positionssuche Benjamins außen vor bleibt. Durchbruch zum Ästheten und Moralisten dokumen-
(Schöttker 1999, 166-172). Uwe Steiner (Steiner 2004) tiert hatte. Als Revision rechtfertigen die Nouvelles
unterstreicht das Paradigma des Modernismus, kon- nourritures das neue soziale Engagement, motiviert
figuriert um den Begriff der Technik (Steiner 2004, von bereits früherer Aversion gegen Besitz, von Mitleid
113). Roland Jerzewski vergleicht die Intellektuellen mit Bedürftigen. Suche nach der wahren Menschen-
Benjamin und Nizan als gewichtige, übereinstim- natur und ihren Bedürfnissen führt Gide zu einem
mende Kritiker der orthodoxen Publizistik. Nizan gab kulturkritischen Naturbegriff. In der kommunisti-
gemeinsam mit Louis Aragon die Zeitschrift der AEAR, schen Presse, insbesondere den Literaturzeitschriften,
Commune, seit 1933 heraus und schrieb einen Artikel wurde diese >Wendung< Gides enthusiastisch aufge-
»Richtungen der französischen Literatur<< (dt. Version, nommen. Die Statur des außerordentlich erfolgrei-
IL,Anfang 1934; Jerzewski 1991, 172). chen, in viele Sprachen übersetzten Schriftstellers galt
als >leuchtendes Beispiel<, wie ein >großbürgerlicher<
Schriftsteller sich selbst zugunsten des Proletariats in
"Pariser Brief I« Frage stellen und zum Weggefährten der Sowjetunion
werden kann (Caute 1964; Leggewie 1992). Diese Kon-
Der Artikel mit dem Untertitel ANDRE GmE UND SEIN stellation bietet Benjamin den Anknüpfungspunkt, auf
NEUER GEGNER erschien in der von Bertolt Brecht, beide Titel Gides einzugehen. Einwände und Vorhal-
Willi Bredel und Lion Feuchtwanger herausgegebenen tungen von Thierry Maulnier, Mitarbeiter der >Action
deutschsprachigen Moskauer Literaturzeitschrift Das franc;:aise<, gegen gerade diese Schriften Gides bilden
Wort (Jg. 1936, Heft 5, 86-95). Benjamin hat den PA- den aktuellen Anlaß des Briefes.
RISER BRIEF 1 im Juli/August 1936 während seines Benjamin leitet Gides »Apologie der Bedürftigkeit<<
Besuches bei Brecht in Skovsbostrand geschrieben. - (111, 484) von der Eigentumskritik des jungen Marx
Den PARISER BRIEF 2 mit dem Untertitel MALEREI UND her. >Intellektuellen Faschismus< sichtet er dazu kon-
PHOTOGRAPHIE verfaßte er im November/Dezember trastiv aus den Mythes Socialistes (1936) von Maulnier:
1936 in San Remo (5, 422). Er hat am 4.11.36 Marga- »Was Maulnier zum Faschisten macht, ist die Einsicht,
rete Steffin die Vorbereitung mitgeteilt (413) und am daß die Position der Privilegierten sich nur noch ge-
20.12.36 das Manuskript an Brecht gesandt, mit der waltsam behaupten läßt. Die Summe ihrer Privilegien
Bemerkung, die >>interessante[n] Sachen darin<< »kol- als >die Kultur< vorzustellen, darin erblickt er seine
lidieren nirgends mit den derzeitigen Parolen<< (444). besondere Aufgabe. Es versteht sich daher von selbst,
Daß der Artikel von der Redaktion angenommen wor- daß er eine Kultur, die nicht auf Privilegien begründet
den sei, teilte Benjamin am 29.3.1937 Margarete Stef- ist, als undenkbar hinstellt<< (486). Im Ansatz ist auch
fin mit. Das Erscheinen unterblieb, möglicherweise hier wieder Benjamins intellektuellenkritische Sicht
wegen der redaktionellen Umbesetzungen infolge der von der Aufgabe des Intellektuellen Maßstab, um den
Auflösung des Volksfrontbündnisses und der Mos- Begriff der Kultur nach faschistischer und nicht faschi-
kauer Prozesse. Willi Bredel schied aus der Redaktion stischer- im revolutionären Sinne politischer- Funk-
aus. tion zu unterscheiden.
PARISER BRIEF 1, ein »Essay über faschistische Maulnier (d.i. Jacques Talagrand, 1909-1988) galt
Kunsttheorie<< ( 507) führt über gängige Aussagen über in den 30er Jahren noch für einen Vertreter der» ]eune
das >Wesen des Faschismus< hinaus. Er nimmt eine Droite<<. Zwei Essays, über Nietzsche und über Racine,
Kritik von Thierry Maulnier an Andre Gide zum ge- brachten ihm 1935 den »Grandprix de Ia critique<< ein.
eigneten Anknüpfungspunkt. Einsichten aus den Er war ab 1936 fester Mitarbeiter der Zeitschrift >Ac-
KuNSTWERK-Thesen zu Technik und Ȁsthetisierung tion franc;:aise< und hielt diesen Posten bis 1944. Da-
der Politik<< (I, 467) werden weitergedacht. nach zog er sich ganz auf literarische und Theater-
428 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Kritiken zurück und wurde ein erfolgreicher Publizist führte sanktionierende Terminologie der KPD-Litera-
des Figaro, den die Academie 1964 in ihre turpolitik nach, welche die modernistischen Strömun-
Reihen aufnahm. Trotz dieses stromlinienförmigen gen und Avantgarden meinte. Benjamin schränkt
Lebenslaufes soll er in den 30er Jahren dem Nazismus >Dekadenz< auf den intellektuellen Kulturdiskurs wie
kritisch gegenüber gestanden haben (Juillard/Winock die Massenpolitik faschistischer Staaten ein, die den
1996, 769). Sein Artikel gegen Gide, von äußerst ge- >> Funktionscharakter der Technik so unkenntlich wie
wandter Stilistik, bedient sich weder einer als faschi- möglich<< (490) machten. Alternativ dazu sieht er
stisch wiederzuerkennenden Haßrhetorik noch natio- >Nüchternheit< dem Funktionscharakter der Technik
nalistischer Denkmuster. Es sind vor allem die von gegenüber als Merkmal der >Politisierung der Kunst<.
Benjamin unterstrichenen Selbstgefalligkeiten des Äs- Wladimir Majakowski steht für sie. Der russische
thetizismus, denen nicht mehr zu huldigen er Gide Futurist- er hatte 1928 Selbstmord verübt, u. a. wegen
enttäuscht vorwirft und zu deren Statthalter er sich der Hintertreibungen seines Theaterstückes Das
nun aufwirft: Gide separiere sich somit von der huma- Schwitzbad- ist im Kontext von Volksfront und Rea-
nistisch-intellektuell aristokratischen Tradition (Maul- lismus Anathema. >Nüchterne Technik< kann als
nier 1936, 210). Schmuggelware genommen werden.
Vom privilegienbasierten Kulturverständnis her Umgekehrt vermag er mit Maulnier die Mentalität
sieht Benjamin eine Verbindung zwischen Kunsttheo- der französischen Rechten auf >Ästhetiken< des offizi-
rie und faschistischer Politik in Europa. Deren intel- ellen Italien und Deutschland abzubilden. Glaubens-
lektuelle Repräsentanten sind nicht die von den faschi- bekenntnisse zur Funktionslosigkeit der Technik -
stischen Machthabern Erkorenen. Es sind die von schon Marinettis Preisgesang >>An meinen Pegasus<< ist
diesen nur halbherzig geduldeten Wegbereiter, in dafür einschlägig - treffen sich mit monumentaler
Deutschland Arnolt Bronnen und Gottfried Benn (III, Massenkunst und Ästhetizismus, sie münden in die
485), in Frankreich, neben Thierry Maulnier, Leon >> Kriegskunst<< (492). >>Sie verkörpert die faschistische
Daudet, Louis Bertrand und Pierre Drieu La Rochelle Kunstidee ebenso durch den monumentalen Einsatz
(486), in Italien Marinetti (490 f.). Ihre >intellektuelle< an Menschenmaterial wie durch den von banalen
Publizistik sei akkreditierendes Vorspiel. Der Faschis- Zwecken gänzlich entbundenen Einsatz der ganzen
mus als Staatsmacht könne nicht sie und sonst >>qua- Technik. Die poetische Seite der Technik, die der Fa-
lifizierte Intelligenzen brauchen. Die meiste Aussicht schist gegen die prosaische ausspielt, von der die Rus-
eröffnet er subalternen Naturen. Er sucht Handlanger sen ihm zu viel Wesens machen, ist ihre mörderische<<
des Propagandaministers. Darum wurden Benn und (ebd.).
Bronnen verabschiedet<< (485). Der intellektuelle Fa- Benjamin gewichtet dichotomisch: monumentale
schist predigt keine >nackte Gewalt<, er akkreditiert Kunst und totale Technik auf der einen, >>nüchterne<<,
>nur< die entsprechende Geistesverfassung unter dem einfache Kunst und funktionale Technik auf der ande-
Etikett von Bildung und Kultur (486) mittels ekstati- ren Seite. Letztere entmystifiziert jene erste. Es ist zu-
schen Irrationalismus (>Schöpfung<). Ietzt der nichtelitäre, antitechnokratische Bildungsge-
Die >Kultur< des NS-Staates ist von anderer Kontur: danke, von dem aus Benjamin seine Kritik des Monu-
>>Die faschistische Kunst ist eine der Propaganda. Ihre mentalismus anlegt. >Nüchternheit< macht die Subjekte
Konsumenten sind nicht die Wissenden, sondern ganz zu solchen ihrer Lebens- und Arbeitsweise. Die Fun-
im Gegenteil die Düpierten. [... ] Es ist danach selbst- damente des Benjaminsehen Bildungsverständnisses
verständlich, daß die Charakteristika dieser Kunst sich sind in früheren Aufsätzen gelegt, vor allem in ERFAH-
durchaus nicht mit denen decken, die ein dekadenter RUNG UND ARMUT sowie einzelnen Reflexionen der
Ästhetizismus aufweist. Niemals hat die Dekadenz ihr EINBAHNSTRASSE. In der Besprechung ZU Ernst Jün-
Interesse der monumentalen Kunst zugewendet. Die gers >>Krieg und Krieger<< (1930) findet sich die Dicho-
dekadente Theorie der Kunst mit deren monumenta- tomie zwischen faschistischer Technokratie und nüch-
ler Praxis zu verbinden, ist dem Faschismus vorbehal- terner Technik präfiguriert: >>selbst die Habitues chto-
ten geblieben. Nichts ist lehrreicher als diese in sich nischer Schreckensmächte, die ihren Klages im
widerspruchsvolle Kreuzung<< (488). Tornister führen, werden nicht ein Zehntel von dem
Den Begriff Ästhetizismus erläutert Benjamin epo- erfahren, was die Natur ihren weniger neugierigen,
chal adäquat aus dem europäischen fin de siede heraus nüchterneren Kindern verspricht, die an der Technik
an den Beispielen Oscar Wildes und des frühen Gide nicht einen Fetisch des Untergangs, sondern einen
(487). Bei seiner Option für den Terminus >Dekadenz< Schlüssel zum Glück besitzen<< (249 f.).- >Nüchtern-
klingt darüber hinausgehend die bereits in einem Ex- heit<, >heilige Nüchternheit<, ist ein Schlüsselwort, das
pressionismus-Aufsatz 1934 von Georg Lukacs einge- seinerseits kategorial zum Bildungsgedanken zurück-
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 429

geführt werden kann, wie er Benjamin in Hölderlins gegengebrachten Privilegien. Es erschien im Dezember
und Novalis- von >Nüchternheit der Prosa< handelt 1936, am Beginn einer breit angelegten internationalen
DER BEGRIFF DER KuNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN Kampagne als >Renegaten< gegen den berühmten Au-
RoMANTIK (I, 103-107) -Sprach- und Subjektkon- tor (Kambas 1983, 172; Wizisla 2004, 241).- Zum
zeption bedeutsam gewesen ist; ein >>besonnenes Ver- Zeitpunkt des Erscheinens von PARISER BRIEF 1 ist die
halten ist die Reflexion das Gegenteil der Ekstase<< Intellektuellendebatte der Volksfront an ein Ende ge-
(104). Verwandt ist sie mit dem >>positiven Barbaren- langt. Die Mitarbeit Benjamins am Wort bot für die
turn<< (Lindner 1978, 184; 219) des Konstruktivismus, Geheime Staatspolizei 1939 den Vorwand, ihm die
auch der >wahren< Volkstümlichkeit Johann Peter He- deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen (Fuld 1979,
bels. 160f.,Abb.).
Die Schlußabschnitte erfüllen terminologisch >den
Kommunismus<. Entsprechend der Gegenüberstellung
von Monumentalkunst und >Nüchternheit< bemüht nPariser Brief II((
Benjamin >derzeitige Parolen<: neben >Dekadenz< ist
die Sowjetunion als Vorbildstaat in Polytechnik wie AufVorschlag von Brecht, sich mit einem Sammelband
der >lesenden Massen< herausgestellt- ein Zitat aus A Ia Zurniere du marxisme für das Wort zu befassen,
Jean-Richard Blochs Rede auf dem Schriftstellerkon- begann Benjamin bereits im September 1936 noch in
greß in Paris 1935 in einer >Grußadresse< an die So- Skovsbostrand mit erstenüberlegungenzum PARISER
wjetunion (III, 492). Umgekehrt hält er dem linken BRIEF 2. Er mußte aber die Ausarbeitung bis auf seine
Lager, speziell der kommunistischen Literatur, mit der Rückkehr nach Paris verschieben, denn zur Abfassung
>>Ästhetik des Schöpferischen<< (III, 493) einen Spiegel waren die beiden Sammelbände ebenfalls dort noch
vor: >>Die angestrengte Betonung des Schöpferischen, zu beschaffen und durchzuarbeiten. Abgeschlossen hat
die uns aus der Kulturdebatte geläufig ist, hat vor allem er den 2. PARISER BRIEF im Dezember 1936, kurz nach
die Aufgabe, davon abzulenken, wie wenig das derart Erscheinen des ersten (November 1936). Willi Bredel
>schöpferisch< erzeugte Produkt seinerseits dem Pro- sicherte den Druck des Briefes im März 1937 zu.
duktionsprozessezugute kommt, wie ausschließlich es Der Artikel erschien erst posthum in den GS. Er
dem Konsum verfällt<< (ebd.). Es komme aber auf eine schließt mit einer Ahnung, als beschwöre der Verfasser
Auffassung vom Schriftsteller an, >>der Rechenschaft<< von der Münchener Ausstellung >>Entartete Kunst<<
als »Verfertiger von seiner Prozedur geben kann<< (1936) her die Arbeitsbedingungen der Künstler in
(493 f.), dem >>das Wort> Text<- vom Gewebten: texturn Deutschland: Maler, denen im faschistischen Staat das
-[ ... ]ein[ ... ] Ehrenname<< (494) ist. Malen untersagt ist, malten heimlich >>die fahlen Land-
Der Artikel dürfte kaum eine größere Wirkung er- striche ihrer Bilder, die von Schemen und Monstren
zielt haben. Die Redaktion hat ihn über die Typogra- bevölkert werden, nicht der Natur abgelauscht, son-
phie zu einer Art Anhang des Heftes degradiert. Die dern dem Klassenstaat<< (III, 507). Die Metaphorik, in
politische Entwicklung des Stalinismus in der Sowjet- der Benjamin über ungegenständliche Malerei und
union zog genau zum Zeitpunkt der Abfassung wie des ihre aktuellen Themen spricht, läßt die politische Bild-
Erscheinens die unabhängigen und kritischen Befür- qualität nichtnaturalistischer Gegenstände aufschei-
worter der Volksfront in den Strudel der Ereignisse. nen. In Richtung auf das Realismus-Gebot in der
Im August 1936 ist der erste Moskauer Prozeß gegen Volksfrontdebatte gesprochen besagt das, wie notwen-
Sinowjew, Kamenew und andere Revolutionäre der dig zweideutig jede Norm in der bildenden Kunst aus-
Jahre 1917 bis 1922 geführt worden, mit dessen Insze- schlägt. Wie komplex sich die Probleme überlagern,
nierung als Schauprozeß Stalin die unumschränkte expliziert Benjamin bereits einleitend. Er stellt die bei-
Alleinherrschaft an sich riß (Schrader 1995). Damit den Sammelbände vor, die seinem Aufsatz zugrunde-
erfolgte bei den Linksintellektuellen Europas eine kri- liegen. Der eine war vom Institut für Internationale
senreiche, verzweifelte Entwicklung. Benjamin selbst intellektuelle Zusammenarbeit des Völkerbundes, Vor-
spricht während der Ausarbeitung des Briefes von den läufer der UNESCO, in Paris herausgegeben und ent-
>>gerade jetzt so beklemmenden Prozesse[n] in Mos- hielt eine Reihe von Vorträgen, die in Venedig 1935
kau<< (5, 367). Andre Gide weilte den Sommer über als gehalten waren: >>Entretiens, L'art et Ia realite<< (Paris
Gast des Schriftstellerverbandes in der Sowjetunion. 1935). Der Band >>La quereile du realisme<< (Paris 1936)
Er, der berühmteste >fellow traveller<, verfaßte an- war im Parteiverlag des PCF, ESI, erschienen und faßt
schließend Retour de l'URRS (1936). Das Buch drückt drei öffentliche Vortrags- und Diskussionsabende zu-
große Skepsis gegen das autoritär-autokratische Ge- sammen, die in Paris im Mai und Juni 1936 von der
sellschaftssystem aus, Distanz zu den gerade ihm ent- Maisande Ia Culture, vermutlich von ihrem General-
430 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

sekretär, Louis Aragon, organisiert waren. Auf dem dersetzung um den Kunstcharakter der Photographie.
Kongreß in Venedig, so Benjamin, habe der Faschismus Hierzu ergänzt Benjamin seine eigene These von der
eine offene Sprache geführt, und dennoch seien hier Abschaffung des Kunstcharakters in toto durch die
auch ausgesprochen überlegte Betrachtungen ange- Erfindung der Reproduktion des Kunstwerks (501 f.).
stellt worden. Umgekehrt wiesen die in Paris gehalte- Die Auseinandersetzung Benjamins mit Louis Ara-
nen Reden immer wieder schablonenartige Züge auf. gon erfährt in diesem Brief ihren Höhepunkt. Sie spitzt
Das angekündigte Bemühen, am >>Venezianer Kon- sich auf zwei Dinge zu, auf die Priorität der >Entdek-
greß<< eine offene Sprache des Faschismus (496) her- kung< von Giseie Freunds Erkenntnissen und auf Kon-
auszuhören, kann Benjamin insgesamt nicht einlösen. tinuität versus Preisgabe surrealistischer Einsichten.
Blaß bleibt der Versuch, »snobistisches Kauderwelsch<< Letzteres wird aber von Benjamin wenig grundsätzlich
des Kunsthandels, dessen modischen >>Slang<< (498) erörtert. Wenn der Artikel jedoch auf den ersten Blick
und damit tendenziell Theorielosigkeit mit einer fa- als nahezu huldigende Referenz an Aragon erscheint,
schistischen Gesinnung in Zusammenhang zu bringen. erweisen sich bei genauer Lektüre die kritischen >Spit-
Umgekehrt soll die Zusammenführung von Malerei zen<.
und Literatur auf den Pariser Veranstaltungen schon Mit Le peinture au defi (1930) erinnert Benjamin
eine konstruktive Anlage zur Theorie eröffnen. Eine Aragon daran, wie er einst die Collage als Surrealist
zum PARISER BRIEF 1 analoge begriffskonturierende bewertet hatte, >>eine Gewähr für die revolutionäre
Sicht auf den Faschismus und die Kritik an ihm leistet Energie der neuen Kunst[ ... ]. Das war 1930. Aragon
Benjamin in diesem Fortsetzungsbericht nicht. Der würde diese Sätze heute nicht mehr schreiben. Der
Beitrag hat dennoch seinen Stellenwert. Erstens macht Versuch der Surrealisten, die Photographie >künstle-
er gegen ein naiv gegenstandsbezogenes Abbildver- risch< zu bewältigen, ist fehlgeschlagen« (504). Damit
ständnis (>Realismus<) die Aisthesis im Wahrneh- tritt der Berichterstatter dem ehemaligen Surrealisten
mungsvorgang geltend. Damit wiederholt er in Kurz- in der Rolle eines Kritikers des Surrealismus gegen-
form den Ausgangspunkt der Kunstwerk-Thesen. (Ihr über. Das nun konterkariert Aragon, denn dieser bezog
Erscheinen auf Französisch fiel in die Zeit der Abfas- sich bereits in seinem Vortrag auf die frühere eigene
sung des 2. PARISER BRIEFES.) Benjamins Rekurs, jetzt Schrift, um die Kontinuität seines Denkens zu betonen:
für ein breiteres Publikum, nutzt den Brief zu Themen daß >>mir nicht mehr alles gleichermaßen gültig er-
wie Erziehung des optischen Sinnesvermögens, als scheint, [... ] aber insgesamt mit meinem heutigen
Referenz auf den Wiener Kunsthistoriker Hans Tietze, Denken weitgehend übereinstimmt<< (Klein 2001, 66).
der die Theorien der Gesichtswahrnehmung von Alois Die Übereinstimmung setzt er mit dem alten Urteil an,
Riegl weitergedacht hat, schließlich zu einer Kurzfas- im 19. Jh. habe es einen Wettbewerb zwischen der Ma-
sung seiner Theorie der Reproduktion und des Verfalls lerei und der Photographie um die Detailgenauigkeit
der Aura. gegeben, was demnach mit einem Sieg des Realismus
In einem zweiten Schritt empfiehlt er die jüngst auf in beiden Formen endete. Doch dann im 20. Jh. for-
Französisch erschienene Schrift La photographie en malisiere sich die Photographie. Aragon urteilt über
France au dix-neuvieme siecle (1936, dt. 1968) von Man Ray und »den wesentlich statischen Charakter
Gisele Freund, der später berühmt gewordenen Pho- der Fotografie<<. Er habe »die maniera der modernen
tographin, einer Emigrantin in Paris. Die Grundge- Maler zu reproduzieren<< (70) getrachtet. Mit anderen
danken Freunds, etwa über die Konkurrenz zwischen Worten, Man Ray verfolge rein formale Intentionen,
Malerei und Photographie um die Abbildqualität des er konkurriere mit der ungegenständlichen Malerei.
Porträts, Motor einer Erfindungsreihe bildkünstleri- Dies läßt Aragon wohl eben noch als Kunst einer über-
scher Techniken, sind in zuverlässiger, gelegentlich holten Epoche gelten, nicht aber für die revolutionäre
kritischer Manier gewichtet. Eine hohe Wertschätzung Dynamik der Volksfrontzeit Für sie, meint er, sei die
der Studie ist herauszuhören (vgl. auch 500 ff. und bewegliche Kamera wegweisend, da >>sie sich einge-
542-544). mischt hat in das Leben<< (72).- Die damals neuen
Freund untersuchte eine Geschichte des Porträts in Leica-Apparate ermöglichten in der Tat das Bild, das
Frankreich seit 1780 und zeigte, wie der Aufstieg der Menschen und Dinge in freier Bewegung festhalten
Photographie zusammen mit dem des Bürgertums konnte, die Momentaufnahme.- Man Ray, so Aragon,
erfolgte. Das Porträt wurde über die neue Technik nun möge man als einen Photographen von künstlerischer
breiteren Schichten erschwinglich (501). Die Photo- Qualität schätzen, doch nicht >>über das Datum des 6.
graphie trat von der Gebrauchsform her als Kunst auf, Februar (1934) hinaus<< (73; eine Anspielung auf die
dabei sei sie als solche aber eine Ware gewesen. Eben >>Front commun«, vgl. w.u.).Aragons gesamter Denk-
dieser Widerspruch führte zu der breiten Auseinan- duktus ist rhetorisch bestimmt, und so ordnet er, ohne
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 431

explizit normativ aufzutreten, das die Moderne Kenn- deren ich die in meinem letzten größern Aufsatz
zeichnende dem Realismus unter. Dogmatismus setzt [Kunstwerk-Thesen, d. Verf.] enthaltene Prognose
sich mittels rhetorischer Pointen und Ausgrenzungen über den Funktionsschwund der Tafelmalerei auszu-
durch. gestalten gedenke<< (5, 411).
Benjamin unternimmt, im genauen Umkehrverfah-
ren nicht Man Ray als vielmehr den Wert der surrea-
listischen Photographie in Frage zu stellen: »Der Irr- nDer Autor als Produzent<<
tum der kunstgewerblichen Photographen mit ihrem
spießbürgerlichen Credo[ ... ] >Die Welt ist schön<[ ... ] Der Text erschien posthum (1966}. überliefert ist er
war auch der ihre<< (III, 504 f.). Solcher Schlagabtausch als Typoskript. Benjamin beabsichtigte, den Text in
über Inhaltsaussagen von Photographien mutet, ge- seiner rhetorischen Vortragsform erscheinen zu lassen,
messen an elaborierten Semiotiken des Bildes, naiv zunächst in der von Klaus Mann herausgegebenen
an. Der Vergleich aber ist so wenig abwegig wie das Zeitschrift Die Sammlung (Amsterdam, Querido-Ver-
Thema >>Surrealismus und Vermarktung<<. Das Ter- lag). Bei den Unterhandlungen war strittig, ob er unter
tium comparationis der Photographie beider Stilrich- eigenem Namen oder unter Pseudonym erscheinen
tungen kann im magischen Realismus gesucht wer- sollte. Letzteres bevorzugte Benjamin (vgl. 4, 401, 421;
den. Braese 1998, 65f.). Der archivalisch überlieferten Re-
Mit Man Ray schützt Benjamin überhaupt experi- daktionspost heute nach zu urteilen, gab schließlich
mentelle Fototechniken ( 504) gegen Aragon ab. Dieser die Empfehlung von Heinrich Mann den Ausschlag,
habe Dada und die Collage seinerzeit favorisiert: >>Das von einer Publikation abzusehen. Er schrieb am 22.
war 1930. Aragon würde diese Sätze heute nicht mehr Mai 1934 an seinen Neffen: >>Lesenswert fände ich die
schreiben<< (ebd.). Die umständlich angelegte Kritik Seiten über Brecht. Diese, erweitert und der Angriffe
an Aragon läßt Benjamin schließlich fallen, um ihn zu gegen Andersgerichtete entkleidet, ergäben einen Ar-
vereinnahmen: Er sichte >>das kritische Element in der tikel. Bringst Du dagegen den ganzen, wie er vorliegt,
Photographie [... ] selbst im scheinbar formalen Werk dann empfehle ich dringend für die nächste Nummer
eines Kameravirtuosen wie Man Ray<< (505). Wer das einen anderen mit anderen Gesichtspunkten. Die
dialogische Spiel des PARISER BRIEF 2 verfolgt, gewinnt emigri [e] rte Literatur darf nicht auch noch vermittels
den Eindruck, der Berichterstatter belehre den Surrea- der Sammlung so aussehen, als bestände sie ganz aus
listen über die Stilentwicklung der Moderne und über den Resten- oder Vorläufern- einer Partei<< (zit. n.
das Potential des Surrealismus. Wizisla 2004, 191}. Obgleich sich Heinrich Mann prin-
Berichterstatter und kommunistischer Dichter-Or- zipiell den >Fehdehandschuh< aufzunehmen bereit
ganisator entwenden sich offenbar wechselseitig die zeigte, unterstellte er Benjamin, einem >>kommunisti-
Informationstexte. So führt Benjamin Aragons Aufsatz schen Literaten<< (ebd.), und generalisierend >Seines-
>> John Heartfield et la beaute revolutionnaire<< an gleichen<, Führer- und Staatsgläubigkeit sowie >>eine
(ebd.), verweist aber nicht auf Aragon und augen- Geistesart wie die Nazi«. >>Die Autorität der schöpfe-
scheinlich dessen Überlegungen zu Courbets Leistung rischen Leistung giebt [sie] es für sie nicht ... « (ebd.).
für die >Gesichtsfelderziehung<. Und umgekehrt tut es Der Brief Heinrich Manns darf als eines der frühesten
bereits schon Aragon mit der Studie von Giseie Freund, Rezeptionszeugnisse dieses immer wieder umstritte-
die er kräftig ausschlachtet. Schließlich gibt er deren nen bzw. polarisierenden Vortrags gelten. Letzteres gilt
Ergebnisse gar als eigene ältere Erkenntnisse aus. Ben- insbesondere auch für den Beginn der posthumen
jamin wiederum erwähnt dies alles als Berichterstatter breiten Rezeption Benjamins seit der zweiten Hälfte
nicht. Er referiert Freund unabhängig von Aragon, der 60er Jahre. In ihr gab der Text den Auftakt (alter-
auch unabhängig von dessen Vereinnahmung. Was wie native 56/57, 229} zu zahlreichen Bemühungen einer
ein Spiel mit verdeckten Karten erscheint, könnte auf >systematischen Rekonstruktion< einer historisch-ma-
ein vorangegangenes Gespräch Benjamin-Aragon über terialistischen Literaturtheorie Benjamins. In Antikri-
die Photographie zurückgehen, den Gegenstand ge- tik daran wurde er der Bezugstext zur Warnung vor
meinsamen Interesses. Insofern rückt Benjamin mit seinem historischen Materialismus (Scholem, Ador-
den taktischen Akzenten, die er in Aragons Beitrag no). Im Zuge der überragenden weltweiten Wirkung
setzt, die Verhältnisse wieder zurecht. von Brechts Dramatik ist gerade dieser Text Benjamins
Sachlich löst der Artikel nicht überzeugend ein, was bereits früh in zahlreiche Sprachen übersetzt wor-
sich Benjamin vor der Niederschrift davon verspro- den.
chen hat, >>eine Betrachtung über den gegenwärtigen Brecht und Adorno gegenüber hat Benjamin seinen
Grundlagenstreit in der Malerei<< zu erstellen, >> kraft Vortrag als >>Pendant zu meiner alten Arbeit über das
432 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

epische Theater<< vorgestellt. (4, 427 f.; 429) In den deutschen Bürgertumsangesichts des Nationalsozia-
Briefen an Klaus Mann betonte er die Dignität seiner lismus bewertet.
Auseinandersetzung mit Heinrich Mann. Sie sei »eine Die Bedeutung des Textes liegt in den beiden Ge-
Frage, die infolge der Niederlage der deutschen Intel- sichtspunkten, die Heinrich Mann bereits sah, wenn
ligenz akuter als sie es je war geworden ist<< (421). 1936 auch von seinem Standpunkt her nicht verstehen
hatte Benjamin eine weitere Aussicht auf Publikation konnte. Der eine ist eine Theorie der Autorschaft, die
dieses Vortrags, die sich aber gleichfalls zerschlug. Vox sich exemplarisch an Sergej Tretjakow und Bertolt
critica, die in den Niederlanden von Harald Landry Brecht zu einer Theorie der Gattungen und der Lite-
geplante dreisprachige Revue, blieb ein Projekt im rarizität weitet, der andere ist der Versuch der Selbstor-
Planstadium. Landry gegenüber akzentuierte Benja- tung des Sprechenden in der Kritik des Politikver-
min den Gegenstand seines Vortrags noch pointierter: ständnisses linker Schriftsteller nach 1918 bis in die
»Er beschäftigt sich mit der politischen Analyse gewis- späten Jahre der Weimarer Republik. In letzterem sucht
ser literarischer Gruppierungen, wie sie sich in Benjamin eine Selbstbefragung seiner Zuhörerschaft
Deutschland zwischen 1920 und 1930 haben studieren zu erreichen, die er im Unterstellten (>richtige Ten-
lassen. Er sucht insbesondere das Maß an Verantwor- denz<, >Klassenverrat<) kommunistischer Literaturpo-
tung zu bestimmen, die diese Schulen an der Nieder- litik aufnimmt.
lage der deutschen Intelligenz tragen<< (5, 321). Benja- Die Abschnitte über Sergej Tretjakow und die lite-
min sprach hier von einem >>Essay<<. ratura fakta (Brüggemann 1973, 167; Kambas 1983,
Auf die Veröffentlichung in Vortragsform ist die 39-45) führen in eine besondere Konstellation von
Angabe zum Titel »Ansprache im Institut zum Stu- Literatur und Gesellschaft ein. Lebendigkeit und Ein-
dium des Faseismus in Parisam 27.4.1934<< (II, 683) dringlichkeit der Darstellung gleichen dabei manchen
zu beziehen. Als gängige deutsche wie französische Beobachtungen Benjamins im MosKAUER TAGEBUCH.
Abkürzung für Institut pour I' etude du fascisme setzte Tretjakows Beispiel macht anschaulich, auf welche
sich INFA durch. Obgleich das Datum unstimmig sein Weise die Arbeiten eines einzelnen Schriftstellers zu
kann (aber nicht sein muß; vgl. 4, 403f.), kann von einem rudimentär literarischen Arbeiten innerhalb
einem tatsächlich gehaltenen Vortrag, wahrscheinlich überschaubarer Kollektiva anleiten. Jene Aktivitäten
vor dem Publikum der Mitarbeiter, ausgegangen wer- werden dann Teil der allgemeinen Arbeit, insbesondere
den. Der Vortragsort sollte in der Sammlung hervor- ihrer Organisation, und schließlich strukturieren sie
gehoben werden, damit an den im Heft zuvor von das Geschichtsbewußtsein des Arbeitskollektivs. Vor-
Philippe Soupault erfolgten Aufruf zugunsten des ausgesetzt ist ein staatlicher Kommunismus, der solche
INFA angeknüpft würde (401; Kambas 1983, 78). Initiativen von Autoren zur, im weitesten Sinne, Volks-
Das Datum ist von weiterer Bedeutung: Nach den bildung auch fördert. >>Einberufung von Massenmee-
großen Einheitsfrontdemonstrationen infolge des 6. tings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung auf
Februars 1934 ist Benjamins Thema aktuell, da es im Traktoren [... ] Inspektion von Lesesälen; Schaffung
neuen politischen Kräftefeld der späten Dritten Repu- von Wandzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung;
blik verstanden wird. Sirinelli und Ory sprechen vom Berichterstattung an Moskauer Zeitungen; Einführung
>>choc du 6 fevrier sur l'intelligentsia<< (1986, 94 ff.). An von Radio und Wauderkinos usw. [... ] Die Aufgaben,
diesem Tag erfolgte eine paramilitärische Provokation denen er sich da unterzogen hat, werden Sie vielleicht
der extremen Rechten. Sie hatte zum Ergebnis, daß ein einwenden, sind die eines Journalisten oder Propagan-
breites Linksbündnis und in dessen Folge die Regie- disten; mit Dichtung hat das alles nicht viel zu tun.
rung Leon Blum zustande kamen. Diese mußte dann Nun habe ich aber das Beispiel Tretjakows absichtlich
im Herbst 1936 bereits abdanken. Die Debatte inner- herausgegriffen, um Sie darauf hinzuweisen, von ei-
halb der Linken in Frankreich stand nach dem 6. Fe- nem wie umfassenden Horizont aus man die Vorstel-
bruar unter dem Vorzeichen unmittelbar praktischer lungen von Formen oder Gattungen der Dichtung an
Handlungskonsequenzen einer breiten, gegen die Hand von technischen Gegebenheiten unserer heuti-
Rechte und einen möglichen Krieg artikulierten poli- gen Lage umdenken muß, um zu jenen Ausdrucksfor-
tischen Willensbildung. INFA, eine deutsch-französi- men zu kommen, die für die literarischen Energien der
sche Initiative von Exilanten und schon zuvor gegrün- Gegenwart den Ansatzpunkt darstellen<< (II, 686 f.).
det, wobei zu seinen Initiatoren auch Brecht gehörte An Tretjakow macht Benjamin auch anschaulich,
(Kambas 1983, 26-32), darf sich als Teil der zahlrei- wie sehr der Schriftsteller von seiner bürgerlichen Son-
chen Warnzusammenschlüsse französischer Intellek- derrolle und ihren Verheißungen, >Ruhm und Größe<,
tueller verstehen. Diese Gegenöffentlichkeit ist in der Abstand nimmt. Und schließlich ist mit diesem Kon-
Geschichtswissenschaft alternativ zum Scheitern des nex von Literarizität, Arbeit und Sozietät von den
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 433

technischen Medien der ersten Hälfte des 20. Jh.s aus Diskussion um 1931, insbesondere dem Dreigroschen-
die Umschichtung im Gattungsgefüge gesehen: >>daß prozeß. An der Zusammenarbeit Brecht-Eisler werden
wir in einem gewaltigen Umschmelzungsprozeß lite- schließlich multimediale Möglichkeiten innerhalb des
rarischer Formen mitten innestehen, einem Um- Theaters sowie die Öffnung der Konzertform für wei-
schmelzungsprozeß, in dem viele Gegensätze, in wel- tere Künste berührt, was als Öffnung zum Alltag hin
chen wir zu denken gewohnt waren, ihre Schlagkraft verstanden ist.
verlieren könnten<< (II, 687). Benjamins Sicht, 1934 >unzeitgemäß<, denkt Ent-
Die Relativität des Gattungskanons verlangt nach grenzungen der Formen wie Öffnung der Institutio-
neuer Ausrichtung der literarischen Arbeit wie auch nen, die seit den 1960er Jahren für die Performances
der Wertung. >>Nicht immer hat es in der Vergangen- kommerzialisierbar werden. Er denkt zugleich an frü-
heit Romane gegeben, nicht immer wird es welche here analoge Vereinnahmungen durch Markt und
geben müssen; nicht immer Tragödien; nicht immer Mode. Die Konsumkultur bildet somit jene andere
das große Epos. Nicht immer sind die Formen des Seite der Grenze einer sterilen Kunstnorm, gegen die
Kommentars, der Übersetzung, ja selbst der sogenann- er Brecht abheben muß, eine Gefahr, der sich Brecht
ten Fälschung Spielformen am Rande der Literatur selbst zeitlebens bewußt war. Im Vortrag kommt Ben-
gewesen<< (ebd.). Die Worte zugunsten der kleinen, jamin unter dem Stichwort >Neue Sachlichkeit< adver-
auch >niedrigen< Formen sind zu einem Zeitpunkt ge- sativ darauf zu sprechen. Gemeint ist der Kunst- und
sagt, zu dem die kommunistische Literaturpolitik Ab- Kulturkonsum, für den vielfältige Reize ersonnen wer-
schied von der Agitationsliteratur und Reportage ge- den, sei es gefällige Banalität (695 ), sei es Massenar-
nommen hat und die Erwartung an das große Werk rangement (697). Der im Medienbetrieb blinde Autor
lanciert ist. Insofern widerspricht Benjamins Rede li- wird zum Lieferanten.
teraturpolitischen >Devisen< so gut wie der allgemei- Widerstand wird vor allem von der modernen Sub-
nen Mode der 30er Jahre, zum Roman zurückzukeh- jektkonzeption her gedacht sowie von der Rechen-
ren. schaft des Autors seiner Arbeit gegenüber. Brecht habe
Brechts Beispiel steht für den Handlungsraum des von der Montage in Film und Funk gelernt und sie auf
Schriftstellers in der Kultur Westeuropas (689) und des der Bühne- dramaturgisch und textuell- umgesetzt,
Kapitalismus, die sich als gewachsen und überliefert was eine Applikation der >>entscheidenden Methoden
versteht. Auch sein Beispiel ist, was den Abschied von der Montage aus einem oft nur modischen Verfahren
der Avantgarde angeht, antizyklisch gewählt. Es steht in ein menschliches Geschehen bedeutet<< (698). Das
zugleich für den Antifaschismus, und hierbei kommen heißt: >>Er stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk
Gesichtspunkte zur Geltung, nun nicht im Namen des das dramatische Laboratorium gegenüber<< (ebd.).
Überlieferten, etwa der abendländischen Kultur, eine Mit der Subjektkonzeption formuliert Benjamin
Organisierung gegen den Faschismus zu denken, son- einen wichtigen Grundsatz einer Theorie des Theaters:
dern so, daß dabei dieses Überlieferte, die >>Institute<< >>Die Exponierung des Anwesenden<< (ebd.). Die leib-
und >>Apparate<< wirksam genutzt werden. >>>Die Pu- liche Präsenz des Menschen, seine Sprache und sein
blikation der >Versuche<, so leitet der Autor [Brecht, d. Handeln auf einer Bühne- die kultische wie intellek-
Verf.] die gleichnamige Schriftenfolge ein, erfolgt zu tuelle Form - lassen sich medial nicht ersetzen. Mit
einem Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten nicht mehr so dieser Sicht auf die Anthropologie der Form verbindet
sehr individuelle Erlebnisse sein (Werkcharakter ha- Benjamin die Frage nach dem Subjekt, dem Bild des
ben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umge- Menschen der Gegenwart: >>Im Mittelpunkt seiner Ver-
staltung) bestimmter Institute und Institutionen ge- suche steht der Mensch. Der heutige Mensch; ein re-
richtet sind.< Nicht geistige Erneuerung, wie die Fasci- duzierter also, in einer kalten Umwelt kaltgestellter.
sten sie proklamieren, ist wünschenswert, sondern [... ] Aus kleinsten Elementen der Verhaltungsweisen
technische Neuerungen werden vorgeschlagen<< zu konstruieren, was in der aristotelischen Dramatur-
(691 ). gie >handeln< genannt wird, das ist der Sinn des epi-
Wie immer im einzelnen Benjamin mit Blick auf schen Theaters<< (698f.). Exponierung und Armut
Brecht gerade in diesem Vortrag seine Position zu kon- thematisieren mit der condition humaine der Gegen-
turieren sucht, er teilt mit ihm die Kritik des Bildungs- wart den modernen Autor. In beiden ist die Grenze
privilegs. >>Umschmelzungsprozeß literarischer For- von ästhetischer Relevanz gegen kommerzielle Kunst-
men<< (694), >> Modellcharakter der Produktion<< (696), routine gezogen.
>Mittel der Produktion<, >organisierende Funktion<, Die polemische Sprache, die Benjamin gegen Erich
>Haltung vormachen<,> Umfunktionierung<- dies alles Kästner, Walter Mehring und Kurt Tucholsky führt,
stammt aus der mit Brecht gemeinsamen Arbeit und entstammt diesen Motiven. Ursprünglich in den De-
434 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

batten mit Brecht über die Zeitschrift Krise und Kritik Rücksicht auf die Stellung der Intelligenz im Produk-
begonnen, steht die Polemik in der Rezension LINKE tionsprozeß geprägt ist<< ( 689 f. ). Nichtsdestotrotz las-
MELANCHOLIE und ist von hier in den Vortrag über- sen sich zum Eliteverständnis von H. Mann analoge
nommen (VI, 171-183): >>daß sie [die Neue Sachlich- Belegstellen finden (H. Mann 1981, 16). Hiller aber
keit, d. Verf.] den Kampf gegen das Elend zum Gegen- wollte »die Geistigen denn auch nicht >als Angehörige
stand des Konsums gemacht hat<< (II, 695), eine >>Um- gewisser Berufszweige< sondern als >Repräsentanten
setzung revolutionärer Reflexe[ ... ] in Gegenstände der eines gewissen charakterologischen Typus< verstanden
Zerstreuung<< will, >>Gegenstück zu der feudalistischen wissen<< (II, 690). »Seine Geistigen repräsentieren be-
Mimikry, die das Kaiserreich im Reserveleutnant be- stenfalls einen Stand<< (ebd.). Die von Benjamin mo-
wundert hat<< (ebd.), sei. Das alles läßt sich auf einen nierten Vorstellungen ständischer Art weisen eine
Punkt bringen. Die ernstzunehmende Frage nach dem gewisse Gemeinsamkeit mit denen von Benda auf.
modernen Ich wird nicht gestellt, seinem So-Sein wird »Mit anderen Worten: das Prinzip dieser Kollektivbil-
der Anstrich des Allgemeinmenschlichen gegeben. dung ist ein reaktionäres; kein Wunder, daß die Wir-
Gerrau gelesen, erhebt Benjamin damit den Vorwurf kung dieses Kollektivs nie eine revolutionäre sein
ethischen Nihilismus. konnte<< (ebd.). Unter diesem Gesichtspunkt allerdings
überzeugt kaum, wenn Benjamin Alfred Döblin zur
>Logokratie< rechnet. Wenn sich Döblin auch als >Gei-
Benjamins Positionssuche stiger< verstand, so verband er damit keinen Repräsen-
tationsanspruch.
Was besagt diese Positionssuche Benjamins in einer Ist Benjamins Rhetorik der Dichotomie Anpassung
Ansprachean-wie rhetorisch erkennbar- die partei- an seine Zuhörerschaft? Vielleicht gibt es in diesem
gebundene Linke? Als Vortragender manifestiert er Punkt eine Nachahmung Brechts, der zeitweise auf
eine tendenziell marginale Position. Tretjakow ist in Lernprozesse über Fraktionierung setzte. Der Stil selbst
den 30er Jahren für Brecht die wichtigste Person in gehört auch in die französische Pamphletistik. Gegen-
Moskau, sein Übersetzer. Im Zusammenhang der kom- läufig wirkt in eben diesem Punkt - und das betrifft
munistischen Literaturpolitik und Zeitschriften aber nicht nur die Form des Sprechens- Benjamins intel-
sind auch sie beide Marginalisierte. Benjamin ist sich lektuellenkritischer Einsatz für den Intellektuellen.
der Unzeitgemäßheit sehr bewußt, der Vortrag hätte Darin richtet er sich gegen das Selbstverständnis als
sonst nicht so angelegt sein müssen. >Geistige< in toto. Dieses nämlich reflektiert nicht das
Mit dem >>Aktivismus<< (689) berührt Benjamin die Bildungsprivileg, das an jeder Machtpartizipation mit-
Frage >Intellektuelle und Politik< direkter als in den wirkt. Darüber gibt die Rezension zum Vergil-Buch
Passagen zur ästhetischen Praxis. Drei Schriftsteller, Theodor Haeckers Aufschluß, der keine» Worte für die
die unterschiedlicher kaum sein können, werden für barbarischen Bedingungen findet, an welche jeder
den >>Aktivismus<< beispielhaft angeführt: Heinrich heutige Humanismus gebunden ist. Es ist die Unauf-
Mann, Kurt Hiller und Alfred Döblin. Wiewohl H. richtigkeit und der Hochmut der Geistigen [... ],die-
Mann nur en passantErwähnungfindet (>>ihre poli- selben Züge, die es ihnen erlauben, die Bezeichnung
tischen Manifeste von Heinrich Mann bis Döblin<<, als >Geistige< ohne Schamröte und aus keinem anderen
690), ist im Zeithorizont die vor allem mit dem Na- Grund hinzunehmen, als weil sie nicht imstande sind,
men Heinrich Mann verbundene Rhetorik des Hu- sich Rechenschaft von ihrer Stellung im Produktions-
manismus bzw. der >tentation des Lumieres< gegen prozeß zu geben<< (III, 321). Hier ist ausgegangen von
den >Ungeist< gemeint. Insofern ist Benjamins Pole- einer Kritik des eurozentrischen Weltbildes, das der
mik aus Anlaß des >>Aktivismus<< auch eine Positions- »>Idee des Menschen<<< zugrundeliegt (320). »Nichts
suche, welche die spätere von Adorno und Horkhei- kennzeichnet ja ihre Hilflosigkeit, ihren Mangel an
mer gesichtete >Dialektik der Aufklärung< mit einbe- Wirklichkeitssinn so kraß wie die klägliche Unmittel-
zieht. barkeit, mit der der >reine Geist< in ihnen ohne viel
Anstoß aber nimmt er vor allem am Diskurstypus, Federlesens an >den Menschen< sich wendet. >Der
dem expressionistischen Pathos, wie es >den Menschen< Mensch< und >der Geist< haben in diesen Köpfen eine
anrief. In den Gesellschaftsvorstellungen meint er Kurt Gespensterfreundschaft geschlossen<< (319). An die, die
Hiller: »Das Schlagwort, in welchem die Forderungen sich auf den Humanismus berufen - und das dürfte
des Aktivismus sich zusammenfassen, heißt> Logokra- auch Benjamins Zuhörerschaft einbeziehen - ist ge-
tie<, zu deutsch Herrschaft des Geistes. Man übersetzt sagt: Die »Betrachtung der Privilegien, kraftderen es
das gern Herrschaft der Geistigen. [... ] Man kann es einer noch ist, würde ihn von deren härtester Ablage-
diesem Begriff mühelos anmerken, daß er ohne jede rung befreien: jenem privilegierten Wissen um den
Positionierung des Linksintellektuellen im Exil 435

rechten Weg, das die verhängnisvollste Metamorphose gene Diskussion. So weist das Autorkonzept gerade
des Bildungsprivilegs darstellt<< (321 f.). dieses Vortags auf spätere Autorverständnisse des 20.
Die Gesamtaussage des Vortrags geht im Schriftstel- Jh.s voraus. Es teilt Emphase wie Bildungskritik mit
ler- wie Intellektuellenverständnis auf eine Kritik der dem von Roland Barthes in >>Der Tod des Autors<<, der
Vorstellungen seiner Zuhörerschaft hinaus. Eingangs seinerseits den Schriftsteller Brecht hoch schätzte; die
fragt Benjamin danach, indem er >Technik und Ten- Vorstellung eines anonymen Lese- und Schreibvor-
denz< zusammenführt und mit der These arbeitet: gangs jedoch, wie sie sich bei Barthes findet, gibt Ben-
»Darum also schließt die richtige politische Tendenz jamins Vortrag ebensowenig wie eine Preisgabe des
eines Werkes seine literarische Qualität ein, weil sie Subjekts im literarischen Prozeß vor.
seine literarische Tendenz einschließt<< (II, 685). Und
kurz bevor er das entscheidende Beispiel Brechts ein- Werk
führt, heißt es noch einmal: »Die beste Tendenz ist DER AUTOR ALS PRODUZENT (JI, 683-701)
falsch, wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der ZUM GEGENWÄRTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES
man ihr nachzukommen hat. Und diese Haltung kann FRANZÖSISCHEN SCHRIFTSTELLERS (JI, 776-803)
PARISER BRIEF I. ANDRE GmE UND SEIN NEUER GEGNER (Ill,
der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt
482-495)
etwas macht: nämlich schreibend<< (696). Dies nehmen PARISER BRIEF Il. MALEREI UND PHOTOGRAPHIE (IIJ, 495-
die Schlußsequenzen auf: » daß diese Gedankengänge 507; VII, 815-823)
[... ] dem Schriftsteller nur eine Forderung präsentie- Ein Literaturbrief (24.1.1939), in: Frankfurter Adorno Blätter
IV (1995), 26-40.
ren, die Forderung nachzudenken, seine Stellung im
ANDRE GIDE UND DEUTSCHLAND (IV, 497-502)
Produktionsprozesse sich zu überlegen<< (699). EIN DEUTSCHES INSTITUT FREIER FORSCHUNG (IJI, 518-
Der Titel arbeitet mit der Desillusionierung, der 526)
Autor sei Glied in der unmittelbaren ökonomischen FüR DIE DIKTATUR (IV, 487-492)
GESPRÄCH MIT ANDRE GmE (IV, 502-509)
Produktion. In der stringent durchgehaltenen Termi- JuLIEN GREEN (li, 328-334)
nologie Benjamins ist stets die literarische Produktion KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE (li, 368-385)
bezeichnet, die >Institute und Apparate< wie Theater- LINKE MELANCHOLIE (IIJ, 279-283)
bühnen und der Film oder »geistige[] Produktions- ÜED!PUS ODER DER VERNÜNFTIGE MYTHOS (li, 391-395)
PARISER TAGEBUCH (IV, 567-587)
mittel<< (701) wie die Bildung, also stets das engere PAUL VALERY (JI, 386-390)
literarische Feld. PAUL VALERY IN DER EcOLE NoRMALE (IV, 479f.)
Die französische Debatte über die >Politisierung< der Rez. zu Giseie Freund: La photographie en France au dix-
Intellektuellen, verstanden als Preisgabe des Individua- neuvieme siede (III, 542-544)
Rez. zu Jacques Maritain: Du regime temporel et de Ia liberte
lismus, zitiert der Vortrag mit der Umfrage Aragons (III, 480 f.)
>Pour qui ecrivez vous?< insbesondere in den Schluß- Rez. zu Julien Benda: Discours a Ia nation europeenne (III,
sequenzen. Benjamin nimmt Aragon als Autorität in 436-439)
Anspruch, um ihr sein Autorkonzept organisierter li- Sammelbesprechung Caillois, Benda, Bernanos, Fessard (III,
549-552)
terarischer Aktivitäten einzuschreiben. Hier bewegt er DER SURREALISMUS - DIE LETZTE MOMENTAUFNAHME DER
sich dann in der Tat auf doppeltem Boden, wenn es EUROPÄISCHEN INTELLIGENZ (JI, 295-310)
um die Losung >Klassenverrat< geht. Sie hätte hier nicht SURREALISTISCHE ZEITSCHRIFTEN (IV, 595 f.)
nur als Label benutzt werden dürfen, sondern durch- THEORIEN DES DEUTSCHEN FASCHISMUS (!Il, 238-250)
VEREIN DER FREUNDE DES NEUEN RusSLAND - IN FRANK-
aus polemische Schärfe verdient. REICH (IV, 486 f.)
Denn die Losung >Klassenverrat< unterzieht der ge- WAS IST DAS EPISCHE THEATER? (li, 514-531)
samte Vortrag einer Prüfung. Und mit der Sicht einer
>vermittelnden Wirksamkeit< des Schriftstellers wird
Literatur
genau sie, selbst die Terminologie, abschließend in
Alain (1925): Elements d'une doctrine radicale, Paris.
Frage gestellt. >Klassenverrat< als Parole oder bloßes alternative Nr. 56/57, 1967.
Bekenntnis ist so gut wie wertlos, es sei denn das Pri- Barthes, Roland (2000): »Der Tod des Autors« [La mort de
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positorisch genutzt. Dann bewirken Arbeit, Werk und
Benda, Julien (1978): Der Verrat der Intellektuellen. Mit ei-
>Produktionsapparat< etwas im >intellektuellen Feld<, nem Vorwort von Jean Amery, übers. v. Arthur Merin,
den >Produktionsverhältnissen<. München.
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436 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

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437

Anthologien des Bürgertums NEM ELFJÄHRIGEN MÄDCHEN NACH GEGEBENEN WOR-


TEN GEBILDET hinterherschickte. 1927 gab er dann
>>Vom Weltbürger zum Großbürger<< I >>Deutsche Men- ZwEI GEDICHTE. VoN GERTRUD KoLMAR heraus, de-
schen<< I >>Allemands de quatre-vingt-neuf<< I >>Carl nen im Abstand von zwei weiteren Jahren eine Publi-
Gustav Jochmann<< kation mit dem Titel ANTOINE WIERTZ: GEDANKEN
UND GESICHTE EINES GEKÖPFTEN folgte. 1931132 war
Von Momme Brodersen die Zeit intensivster anthologischer Arbeit. Für die
Frankfurter Zeitung edierte und kommentierte Ben-
jamin BRIEFE illustrer Persönlichkeiten der deutschen
Geistesgeschichte des 18. und 19. Jh.s, und in der Li-
über Benjamins >anthologische Arbeiten< (vgl. III, terarischen Welt ließ er nicht nur eine Sammlung UN-
405) sind Wissenschaft und Publizistik bislang ziem- BEKANNTER ANEKDOTEN VON KANT erscheinen, son-
lich achtlos hinweggegangen. Ernstzunehmende Bei- dern auch eine gemeinsam mit dem Herausgeber
träge dazu lassen sich an zwei, drei Händen abzählen dieses Wochenblattes, Willy Haas, verantwortete, um-
(vgl. u.a. Adorno 1962, Seiffert 1972, Noack 1979, fangreiche Lese >Aus deutschen Schriften der Vergan-
Breysach 1989, Schöne 1986, Courtois 1988, Diers genheit< (so der Untertitel dieser VoM WELTBÜRGER
1988, Polczyk 1988, Brodersen 1999). Und sie sind ZUM GROSSBÜRGER überschriebenen Anthologie).
ausnahmslos einem einzigen Werk gewidmet: den Was diesen Publikationen dann noch folgte - eine
kommentierten BRIEFEN >großer Deutscher< von Hein- Sammlung DEUTSCHER BRIEFE I (die als Ganzes un-
rich Pestalozzi bis zu Franz Overbeck, die, unter dem veröffentlicht blieb), eine in der Pariser Zeitschrift
Titel DEUTSCHE MENSCHEN, 1936 schließlich auch als Europe erschienene Text-Montage zur 150-Jahr-Feier
Buch erschienen. der französischen Revolution, betitelt ALLEMANDS DE
Dabei hat man es mit einem durchaus reichen Fun- QUATRE-VINGT-NEUF, sowie eine ausführlich eingelei-
dus von Schriften zu tun, der, folgt man Gert Matten- tete und kommentierte Auswahl von Schriften von
klott, zudem den Vorteil hat, einen Blick auf den >gan- und zu Carl Gustav Jochmann (DIE RücKSCHRITTE
zen Benjamin< zu gestatten. Denn >>zu den Eigenarten<< DER PoESIE voN CARL GusTAV JocHMANN) -,steht in
seines Werkes gehört, >>daß man von jeder Stelle aus mehr oder minder engem Entstehungs- und Sachzu-
die Probe aufs Ganze machen<< könne. Und das gelte sammenhang mit den BRIEFEN bzw. DEUTSCHEN
sowohl in Hinsicht >>auf die zeitliche Abfolge der MENSCHEN.
Werke<< als auch die >>unterschiedlichen Textformen<<. Zweifellos überanstrengt die eine oder andere der
Es gibt >>gewisse idees frxes<< in seinem ffiuvre, >>die in hier genannten Arbeiten jeden differenzierteren Be-
immer neuen Verkleidungen<< wiederkehren (Matten- griff von >Anthologie<. Auch handelt es sich um Ver-
klott 1999, 575). Was hier über den >>Epistolographen<< öffentlichungen von sehr unterschiedlichem sachli-
(ebd.) gesagt wird, stößt ein Tor auf, das in die Welt chen Gewicht. Was sie jedoch in einen Zusammenhang
des Sammlers und Historikers, Kommentators und rückt, ist die Tatsache, daß jede einzelne, selbst die
Editors Benjamin führt, dessen Auswahlsammlungen kürzeste und unbedeutendste unter ihnen, etwas von
alles andere als ein bloßer Zitatenschatz sind, ein >>Ar- den Schwerpunkten und Absichten, den methodi-
senal für Belegmaterial<< (ebd. ), das man nach Belieben schen, kompositorischen und sprachlichen Eigenhei-
plündern kann. ten verrät, die für Benjamins Publikationen dieser Art
charakteristisch sind.
So begriff er die 1925 in der Frankfurter Zeitung
Der Fundus anthologischer Arbeiten erschienene SAMMLUNG VON FRANKFURTER KINDER-
REIMEN als Beitrag zur Aufarbeitung eines weitgehend
Bei großzügiger Auslegung des Begriffs, d.h. bei Zu- >>Unerforschte[ n] <<,jedoch überaus aktuellen Kapitels
grundelegung seines bündigsten gemeinsamen Nen- der Kulturgeschichte. Ihr Akzent lag dabei weniger auf
ners in Handbüchern, Enzyklopädien und sonstigen dem >>>Originalen<<<. Bemerkenswert schienen Benja-
Nachschlagewerken als >Sammlung, Auswahl von Ge- min diese Zeugnisse vielmehr deshalb, weil man an
dichten oder Prosatexten<, lassen sich mindestens ihnen verfolgen könne, >>wie das Kind >modelt<, wie es
zehn solcher, meist kommentierter >Blütenlesen< im >bastelt<, wiees-im Geistigen so gut wie im Sinnlichen
Gesamtwerk Benjamins ausmachen. Den Auftakt bil- - nie die geprägte Form als solche annimmt, und wie
det eine SAMMLUNG VON FRANKFURTER KINDERREI- der ganze Reichtum seiner geistigen Welt in der schma-
MEN aus dem Jahre 1925, der er im darauffolgenden len Bahn der Variante<< sich ausschwinge. >>So variiert«,
Jahr als Fortsetzung einige PHANTASIESÄTZE, VON EI- kämen dann >>die ältesten Versstückehen und -sätzchen
438 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

von Kindern dem Erwachsenen zurück und nicht so- Frühe Zeugnisse, d. h. solche, die z. B. Aufschluß
wohl ihr Kern als das unabsehbare reizvolle Spiel des über Benjamins Lektüre geben, sind rar gesät. Seine
Verwandelns« sei »deren Werk« (IV, 792 f.). Auch wenn Briefe aus der Zeit vor 1914 kommen zwar verschie-
uns keine Selbstzeugnisse zu den nachfolgenden (und dentlich auf Bücher zu sprechen, aber die diesbezüg-
unkommentierten) PHANTASIESÄTZEN überliefert lichen Mitteilungen sind doch äußerst selektiv. Von
sind, darf man doch vermuten, daß Benjamin sie in Anthologien ist nur in Ausnahmefällen die Rede: so in
einem ähnlichen Sinnzusammenhang gesehen hat. Die einem >>Literaturbrief<< vom 22.7.1910 (1, 14). Mit un-
1928 in der Osterbeilage der Literarischen Welt erschie- verkennbarer Ironie äußert sich Benjamin darin über
nenen ZwEI GEDICHTE seiner Cousine Gertrud Kol- die vom späteren Nazi-Ideologen Will Vesper heraus-
mar hingegen gab er in der Absicht heraus, das >>Ohr gegebenen, seinerzeit weitverbreiteten Bücher der
des Lesers<< zu sensibilisieren, ihn für Töne >>Zu gewin- Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik (vgl. Ves-
nen, wie sie in der deutschen Frauendichtung seit An- per 1906 und 1910): >>Pompös! Unvergleichlich! [ ... ]
nette von Droste nicht mehr vernommen worden<< manches Merkwürdige dabei: [... ] Eichendorff u. Höl-
seien (803f.). Und die Kuriosa aus dem >Kabinett des derlin [... ].Was von Goethe noch nicht im ersten Band
Antoine Wiertz<- 1929 in Das Tagebuch publiziert- stand, steht im zweiten. Woraus man zweierlei sieht.
dokumentierten seiner Ansicht nach eine bemerkens- Erstens, daß Goethe ein genialer Dichter ist, zweitens,
werte >>Tendenz<<, eine »großartige Einkleidung und daß er nicht in eine Anthologie gehört<< (ebd.). Bemer-
[... ] kompositorische Kraft<<, die es gelte, aus ihrer Ver- kenswert an diesen Äußerungen ist die Feststellung,
borgenheit ans Licht zu zerren (806). Die aus >>ver- daß kanonische Texte nicht in eine Anthologie gehör-
schollenen Almanachen, Zeitschriften usw.<< stammen- ten.
den UNBEKANNTEN ANEKDOTEN VON KANT schließ- Den sozialhistorischen Kontext eines weiteren Zeug-
lich, 1931 in Die literarische Welt erschienen, enthielten nisses- ein Brief vom 25.10.1914- bildet der erste
wertvolle Hinweise auf eine >>Haltung, kraftderen die Weltkrieg. Es handelt sich um eine Philippika auf die
Lehre Kants, noch ehe sie philosophisch völlig durch- deutsche Hochschule, auf den >>Sumpf<<, zu dem sie
drungen und angeeignet war, sofort als neue Lebens- >>heute<< geworden sei. Wie aus dem Fortgang des hier
macht empfunden wurde, der man sich nicht zu ent- zitierten Schreibens hervorgeht, empörte sich Benja-
ziehen vermochte<< (808). min vor allem über die Themen der nach Kriegsbeginn
Aufarbeitung unerforschter Kapitel der Vergangen- von den Berliner Professoren angebotenen Veranstal-
heit, Aktualität, Modeliierung und Verwandlung, Sen- tungen. Ein bloßer Blick auf die Vorlesungs-Ankündi-
sibilisierung, Tendenz, großartige Einkleidung (lies gungen führte ihm die >>grelle Brutalität[ ... ], mit der
>Sprache<), Komposition, Haltung: Selbst zu einem die Forschenden sich vor Hunderten<< ausstellten, vor
logischen Ganzen kombiniert, ergäben diese Stich- Augen, ihren politischen Opportunismus, ihre Umfäl-
worte noch keine allgemeine Theorie der Anthologie. schungen deutscher Geistesgeschichte. Welche >>An-
Auf eine abstrakte, gar zeitlose Bestimmung hat es schläge<< (alle Zitate 257f.) er zu Gesicht bekam, ist
Benjamin auch nicht abgesehen. Vielmehr sucht er die dem Dokument nicht zu entnehmen. Doch darüber
Begriffe, Vorgehensweisen, formale wie inhaltliche geben Chroniken der Zeit hinreichenden Aufschluß.
Charakteristika aus dem Gegenstand heraus zu ent- Es könnten die Veranstaltungen des Historischen Se-
wickeln. >>Die Vorherrschaft von Allgemeinbegriffen<<, minars der Berliner Universität gewesen sein. Denn
davon war er überzeugt, verwüste und veröde eine dort fanden nur Seminare und Vorlesungen statt, die
betrachtete Sache nur, das Hineintragen >>von entwick- ganz auf der Höhe ihrer Zeit waren: solche über >>den
lungsfähigenAnschauungen (Ideen)<< hingegen belebe Feldzug Friedrichs des Großen im Jahre 1762 im Zu-
sie (III, 93; LANDSCHAFT UND REISEN). Insofern be- sammenhang mit den Prinzipien seiner Strategie<< oder
nennen diese Stichworte nicht mehr (aber auch nicht »übungen über den Feldzug des Jahres 1814<< (Chronik
weniger) als einige Voraussetzungen anthologischer 1915, 64f.). Daß Benjamin vermutlich auf diese und
Arbeit, kreisen vorsichtig politische, soziale und kul- nicht etwa die Veranstaltungen der Philologen an-
turelle oder auch literarische und ästhetische Kontexte spielte, dafür spricht ein nicht ungewichtiges Indiz: Es
ein und bieten methodische Anleitungen an. Wirklich gebe nur einen einzigen >>Forscher<<, der sich aus >>die-
beredt in dieser Hinsicht werden erst die umfangrei- ser Gemeinheit<< heraushebe. Und damit war, auch
chen und bedeutenderen Anthologien der 30er Jahre ohne daß sein Name fiele, der Historiker Kurt Breysig
- vor allem dann, wenn man zu ihrer Analyse all das gemeint. Breysig hielt mit Beginn des Weltkriegs Se-
heranzieht, was in ihren Kontext gehört: Benjamins minare ab, in deren Verlauf >>ausgelesene<< bzw. >>aus-
Lektüren, Notizen, Briefe, Exposes, Rundfunk-Vor- gewählte Urkunden, Briefe, Denkwürdigkeiten zur
träge und Rezensionen. Lebensgeschichte bedeutender Deutscher des 17., 18.,
Anthologien des Bürgertums 439

19. Jahrhunderts<< sowie >>bedeutend[e] Stellen aus rein informatorische Ziele«. Ihr sei >>gemäß, daß der
wissenschaftsgeschichtlich wichtigen Schriften zur Herausgeber anonym« bleibe. >>Die häufigste aber
Geschichtslehre und zur Philosophie der Geschichte« unerfreulich[st]e Gattung« sei >>die dritte; ein undeut-
interpretiert wurden (Chronik 1915, 65; Chronik 1916, liches Ineinander eklektischer und informatorischer
53). Auch ohne Näheres über deren Inhalte und Dis- Gesichtspunkte« suche >>das nutzlose Spiel eines Un-
kussionen zu wissen, vermag man sich vorzustellen, berufenen dem Publikum gegenüber interessant zu
daß die Studenten bei ihm mit Schriften in Berührung machen« (alle Zitate III, 78). Benjamin war diese
kamen, die quer zur Zeit und ihrem Geist standen. grundsätzliche Unterscheidung so wichtig, daß er sie
Denkbar also, daß Benjamin in diesen Veranstaltungen kaum zwei Jahre später - bei Gelegenheit eines Refe-
erste entscheidende Anregungen zu seinen späteren rates über eine neue >Ernte schweizerischer Lyrik<
Anthologien erfuhr. (ROBERT FAESI, DIE ERNTE SCHWEIZERISCHER LYRIK)
Daß deren Ursprünge derart weit zurückreichen, -noch einmal fast wortwörtlich aufgriff (vgl. 167).
belegt eine letzte Episode. Im Mai 1918las Benjamin Wirklich ernstzunehmende und nachahmenswerte
seinem Freund Gershorn Schalem >>einen Brief von Beispiele ihrer Gattung stellen demnach für ihn nur
Kosegarten und zwei von Samuel Collenbusch an Kant die Anthologien der ersten Art dar. Um jedoch seiner
vor; grenzenlose, ungeheure Briefe die letzteren. Dann apodiktischen Bestimmung Leben einzuhauchen, ist
aus Goethe-Zelter drei Briefe« (Schalem 2000,221 f.). man darauf verwiesen, jener Spur nachzugehen, die
Mindestens zwei davon fanden dann Aufnahme in der hier der Name Borchardts legt. Der führt zunächst in
BRIEFE-Serie von 1931/32: Collenbuschs Schreiben die Welt der weitverzweigten intellektuellen Beziehun-
vom 23.1.1795 (vgl. IV, 163f.) und Zelters an Goethe gen Benjamins, unter denen die zu Hugo von Hof-
vom 16.10.1827 (202f.). mannsthals Kreis gar nicht überschätzt werden kann.
Darüber hinaus führt dieser Name auf die Publikatio-
nen des einst in München residierenden Verlags der
Programmatisches Bremer Presse (zu den nachfolgenden Details vgl. Zel-
ler/Volke 1966).
Aus den 20er Jahren sind uns (neben ersten Sammlun- Als Privatpresse bereits vor dem ersten Weltkrieg
gen) einige Dokumente Benjamins überliefert, die in gegründet, wurde ihr 1920 ein Verlag angegliedert,
Hinsicht auf die anthologische Arbeit fast schon pro- dessen Veröffentlichungen, allen voran die zahlreichen
grammatischen Charakter haben. Es handelt sich vor- Anthologien, in den 20er Jahren einiges Aufsehen er-
nehmlich um Rezensionen: u. a. die zu einer ANTHO- regten. Die Ankündigung des neuen Verlages schrieb
LOGIE DE LA NOUVELLE PROSE FRAN<(AISE aus dem Hofmannsthal, und in seinen Ausführungen über Ziele
Jahre 1927 sowie eine weitere zu der von Rudolf Bor- und Inhalte des Programms unterstrich er die Not-
chardt besorgten Auswahl Der Deutsche in der Land- wendigkeit, sich des großartigen Vermächtnisses be-
schaft (LANDSCHAFT UND REISEN, 1928). Zu diesen wußt zu werden, das die Klassiker der deutschen Gei-
zwei Arbeiten gesellte sich 1933, gewissermaßen als stesgeschichte hinterlassen hätten. Was aus ihren
Abschluß, noch eine dritte wichtige: die Besprechung Schriften an>> Lebenskunst und Lebensideal zu gewin-
(samt zahlreicher Verbesserungsvorschlägel eines nen« sei, dürfe nicht >>als ein Gewesenes« betrachtet
Lehrwerkes norwegischer Schulen, die Benjamin, be- werden, >>sondern als ein noch fortwirkendes Leben,
reits im Pariser Exil, in der Frankfurter Zeitung unter aus dessen Elementen wir uns selber zu gestalten« hät-
dem Titel DEUTSCH IN NoRWEGEN veröffentlichte. ten. In diesem Sinne begriffen sich die Veröffentlichun-
Der Schwerpunkt des kleinen Referates aus dem gen eben nicht als Hommage an den Zeitgeist. Viel-
Jahre 1927liegt auf der Unterscheidung von drei Arten mehr beabsichtige man, statt >>von der Zeit« das >>Die-
der Anthologie. Bei der ersten handele es sich für ge- tat zu empfangen«, ihr >>Weisungen« zu erteilen. Und
wöhnlich um eine Zusammenstellung von >>Doku- Hofmannsthai fährt fort: >>Verfall in Rohheit und Arm-
mente[n] der hohen Literatur«. Solche Auswahlbände seligkeit« habe es schon häufiger gegeben, doch >>der
seien >>nach Grundsätzen gemacht[ ... ], die, eingestan- jetzige« sei >>am gefährlichsten«. Politiker und Journa-
denermaßen oder nicht, einen normativen Charakter« listen gingen mit dem >>Wort Cultur« beinahe hausie-
hätten. Bisweilen könne sich an ihnen ein besonderes ren, doch benutzten sie es nicht in seiner wahren Be-
Interesse entzünden, wenn sie sich nämlich als wohl- deutung als >>Sittigung, gestaltete Einheit«. Das >>Feine
komponiertes, geschlossenes Ganzes darböten. Statt und Hohe, das Tiefe und Gewaltige« im Schrifttum sei
näherer Erläuterungen dieses Aspekts verweist Benja- gegenwärtig isoliert und ohnmächtig. Allein Stefan
min hier lediglich auf den Namen Borchardts. Eine George widersetze sich mit >>Macht« und >>strenge[r]
>>zweite und seltenere Gattung« hingegen setze >>sich Haltung« der >>allgemeinen Erniedrigung und Verwor-
440 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

renheit<<. Einem »seichten Individualismus« halte er vereinzelt besprach und der außerdem die von Hof-
>>den Begriff geistigen Dienens« entgegen und damit mannsthai betreuten Neuen Deutschen Beiträge ver-
flöße er >>dem höchsten geistigen Streben [... ] reines legte (in denen bekanntlich Benjamins Essay über
Leben« ein. Dieser >>Wille zu geistigem Dienst« sei auch GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN sowie ein um-
>>das Zusammenhaltende des Kreises, [... ] der in der fangreicher Vorabdruck aus seinem URSPRUNG DES
Tätigkeit des neuen Verlages wirkend hervortreten« DEUTSCHEN TRAUERSPIELS erschienen, zwei Arbeiten,
wolle. Was die unter seinem Dach versammelten Dich- die Epoche vor allem im geistigen Haushalt des Her-
ter und Gelehrten verbinde, sei die »Ahnung des Gan- ausgebers machten). Im übrigen war es dieser Verlag,
zen in all und jedem geistigen Tun.« (alle Zit. Hof- der bereits 1925 an Benjamin mit der Einladung her-
mannsthai 1966, 48 f.) Diesem Programm suchten antrat, einen Auswahlband mit Schriften Wilhelm von
Dichter (Hofmannsthal, Borchardt, Rudolf Alexander Humboldts zusammenzustellen (vgl. 3, 28), zu dem
Sehröder u. a.), Philologen (die Hölderlin- bzw. Kleist- uns umfangreiche Notizen überliefert sind (vgl. VI,
Rerausgeber Friedrich Seebass und Georg Minde- 26 f. und 650 f.). Was schließlich noch die Geistes- und
Pouet) sowie Literaturhistoriker (Kar! Vossler und politischen Bewegungen betrifft, so gerät man bei dem
Josef Nadler) mit Auswahlsammlungen gerecht zu Versuch, etwaige Nähen oder Fernen, Gemeinsamkei-
werden, die über die inhaltlichen Zielsetzungen hinaus ten oder Trennendes bei Benjamin und Hofmannsthai
höchsten editorischen Ansprüchen verpflichtet wa- herauszuarbeiten, rasch in eine unübersichtliche Ge-
ren. mengelage: Die kulturpolitische Situation ihrer Zeit
Eine wirklich ins Detail gehende, umfassende und war derart ausdifferenziert, daß selbst ein Begriff wie
systematische Untersuchung der Beziehungen Benja- der der >Konservativen Revolution<, auf den man beide
mins zu Hofmannsthals Kreis gehört bis heute zu den - cum grano salis - verpflichten könnte, eine leere
Desiderata der Forschungsliteratur. Nicht daß es an Worthülse bleibt.
Dokumenten (Selbstzeugnissen und Schriften der Be- Was in diesem Panorama eines kursorischen Exkur-
troffenen sowie solche Dritter) fehlte, die Licht in diese ses weitgehend fehlt, sind die Anthologien, denen so-
für beide Seiten weitreichende und tiefe Beziehung wohl Benjamin als auch Hofmannsthai im Laufe ihres
bringen. Doch alle bisherigen Darstellungen bilden, intellektuellen Wirkens nicht geringe Energien opfer-
zusammengenommen, eher das bloße Stückwerk einer ten. Bislang gibt es keine eingehenderen Untersuchun-
überaus komplexen Beziehung, die, folgt man ihr in gen zu Rolle und Bedeutung der Anthologien in beider
allen erdenklichen Richtungen, tief ins Innere deut- Gesamtwerk. Dabei ließen sich gerade durch einen
scher Geistesgeschichte des 20. Jh.s mit ihren teils un- Vergleich ihrer diesbezüglichen Publikationen deutlich
erwarteten Verflechtungen führt. Bildlich gesprochen Gemeinsamkeiten, aber auch Trennendes herausarbei-
hat man es hier mit einem Mosaik zu tun, dessen ein- ten.
zelne Steine Personen und Schulen, Schriften und Benjamin kannte schon eine der frühen bedeuten-
Verlage, Geistes- und politische Bewegungen konsti- den Anthologien Hofmannsthals: die 1912 erschiene-
tuieren. Personen wie Florens Christian Rang, der nen vier Bände Deutsche Erzähler (vgl. Hofmannsthai
Benjamin mit Hofmannsthai in Kontakt brachte, spie- 1912). Ebensowenig entging ihm die Publikation des
len darin eine Rolle; ebenso Thankmar von Münch- zweihändigen, mehrfach aufgelegten und erweiterten
hausen, ein Freund sowohl Benjamins wie auch der Deutschen Lesebuchs (vgl. Hofmannsthal1922/23 und
Tochter Hofmannsthals, Christiane; schließlich Bor- Hofmannsthal1926). Sowohl das eine wie das andere
chardt, den Benjamin zwar >moralisch< verabscheute Werk haben deutliche Spuren in seinen eigenen An-
(vgl. u.a. 1, 457), dessen Schriften ihm aber bisweilen thologien hinterlassen: in Form mehrfacher und
»Anerkennung ja Entzückung« entlockten (419). Und durchweg zustimmender Bezüge (vgl. III, 405 sowie
dies sind nur einige, wahllos herausgegriffene Namen. IV, 819; 821) sowie als Quelle. Denn wenigstens einmal
Hinsichtlich der >Schulen< nannte Hofmannsthai be- scheint er sich ihrer >bedient< zu haben. Der Auszug
reits die wichtigste: die Stefan Georges und seiner be- aus Lassalles Verfassungs- Rede in der Sammlung VoM
gabtesten Jünger, Friedrich Gundolf und Max Kom- WELTBÜRGER ZUM GROSSBÜRGER (vgl. IV, 854ff.)
merell. Ihr Geist und ihre Haltung haben auch auf dürfte nach dem Deutschen Lesebuch wiedergegeben
Benjamin einen tiefen Einfluß ausgeübt. Und welch' sein (vgl. auch 1094). Darüber hinaus gibt es gewisse
enge Verbindungslinien zwischen seinen und Hof- konzeptionelle und legitimatorische übereinstim-
mannsthals Schriften hin- und herlaufen, hat man mungen in beider anthologischer Arbeit. Der Weg zu
bereits an Einzelbeispielen erwiesen (vgl. Jäger 1985). ihnen führt über einen nur scheinbaren Umweg- über
Das Stichwort >Verlage< betrifft in erster Linie den der Borchardt. Der hat in den Vor- und Nachbemerkungen
Bremer Presse, dessen Veröffentlichungen Benjamin zu seinen eigenen Auswahlsammlungen weit virtuoser
Anthologien des Bürgertums 441

als Hofmannsthai Absicht, Geist und Haltung dieser Auswahl<< stets >>das Odium der Plünderung[ ... ] eines
Publikationen der Bremer Presse umschrieben. Und jungfräulichen Bestandes<< anhafte, ruhe >>auf diesen<<
zu einer dieser Anthologien Borchardts- Der Deutsche dergestalt >>ein sichtlicher Segen<<, als >>diese Bände, was
in der Landschaft- hat Benjamin eingehend und in so sie bringen, zu einerneuen Gestalt, einer Größe<< füg-
grundsätzlicher Weise Stellung bezogen, daß sich das ten, >>die nun nicht im abstrakten Sinne >historisch<,
Ganze liest, als sei es antizipierend pro domo vorge- sondern unmittelbares, wenn auch bedachteres, wehr-
tragen. hafteres Fortblühn des Alten<< sei. In ihnen dokumen-
Wie wichtig ihm diese Auseinandersetzung war, be- tiere sich »Wirkung des ursprünglichen Schrifttums
legt bereits jener Brief, mit dem er Kracauer umgehend selber<<, und nichts diene >>an ihnen dem abstrakten
nach Erscheinen des Bandes um dessen Besprechung Ungefähr der Bildung<<. Vielmehr atmeten sie >>Geist<<
für die Frankfurter Zeitung bat: >>Mir liegt<<, so heißt es -oder mit den hier von Benjamin zustimmend zitier-
in diesem vom 25.7.1927 datierten Dokument Benja- ten Worten Borchardts: Die Zeugnisse seien >>nicht
mins, >>besonders viel daran, die neue Anthologie der objektiv<<, keine >>Aufreihungen von Objekten, ohne
>Bremer Presse< [... ] anzuzeigen. Wenn es hierfür nicht Zeit, ohne Stil, ohne Willen, und im Grunde ohne An-
einen unbedingten Fachmann und Amateur gibt, so laß; Anlaß und Zeit, Willen und Stil« seien >>an ihnen
weisen Sie die Besprechung bitte mir zu, der beides ein unablässig im Stillen am Werke<<, seien >>ein Teil von
wenig ist<< (3, 276). Daß seiner Bitte nicht entsprochen ihnen<<. Da Kind >>des neunzehnten Jahrhunderts<<, das
wurde, so daß die Rezension schließlich an einer we- >>an die Mächte der Persönlichkeit<< glaube, übergebe
niger exponierten Stelle (in der Literarischen Welt) er (Borchardt) >>niemals Gegenstände gegenständlich,
erschien, tut nichts weiter zur Sache und sei hier nur sondern immer und immer nur Bilder der Gegen-
der Vollständigkeit halber erwähnt. Warum ihm aber stände bildlich, nur Formen, die der Gegenstand beim
dieses Referat so wichtig war, das erschließt sich aus Durchgange durch den organischen Geist sich umwan-
dessen wohlkomponierten und sprachlich sorgfältigen delnd empfangen<< habe. Damit aber tradiere man >>in
Ganzen. immer neuen Abwandlungen und Anwendungen, im-
Benjamin rechnete Borchardts Werk zu den Antho- mer neue Bilder dieses organischen Geistes selber<<. Es
logien mit normativem Charakter. Den Ansprüchen ist dies, was in Benjamins Augen die vorliegende und
ihres Herausgebers nach sollte diese Sammlung unter- andere Auswahlsammlungen des Verlages zu >>Antho-
schiedliche Erwartungen erfüllen. Der Leser, so heißt logien im höchsten Sinne<< mache (alle Zitate III, 91 f.)
es in Borchardts Nachwort, könne sich ungebunden in -mithin zu nachahmenswerten Mustern ihrer Gat-
dem Buch bewegen, >>nach eigener Art und Neigung tung.
[... ] reisen und wählen: wählen nach Subjekten, reisen Die >>höhere Einheit außerhalb des Buches<< an-
je nach den zusagenden Objekten.<< Auch böten die schaulich zu machen, die >>geistigen Landschaften<<
Texte eine derartige Vielfalt sprachlicher Ausdrucks- hervortreten zu lassen, immer neue Konstellationen
formen - mal nüchtern und streng, mal blumig und anzudeuten, sei freilich keine >>Sache eines gefalligen
reich, mal genau und fein-, daß jeder auf seine Kosten Improvisierens<< (92). Vielmehr beginne hier die ei-
komme. Und selbst Kenner und Gelehrte fänden noch gentliche Arbeit des Editors. Neben intimer Kenntnis
genug in einem Werk, das, >>Was sonst verstreut, unzu- der Quellen erfordere sie ein Höchstmaß an Intuition
gänglich, vergessen liegt<<, zu einem Ganzen versam- und >>entwicklungsfähigen Anschauungen (Ideen)«
mele. Denn ein >>Ganzes<< sei diese Auswahl, >>nicht ein (93), an Sprachgefühl und kompositorischer Kraft-
loser Haufen trockener Staub,- ein Ganzes, als geisti- um am Ende das in Händen zu halten, was Borchardt
ger Körper in Relation zu [... ] dem Ganzen der deut- als >>Einheit im Sinne der Geschichte des deutschen
schen Nation und dem Ganzen der Erde<< (alle Zitate Geistes<< faßt (Borchardt 1927, 500), während Benja-
Borchardt 1927, 485). Es ist dieses derart Geschlossene, min den Akzent ein klein wenig anders setzt. Zwar
das dann, Benjamin zufolge, die Sammlung selbst zu schätzt er den Spiegelcharakter des Werkes, seine wirk-
einem >>eigentliche[n]literarische[n] Dokumen[t]<< liche Repräsentativität, keineswegs gering - für seine
macht, das >>als solche[s] der Kritik ausgesetzt<< sei (III, Zusammenstellung wurden >>etwa zweitausend Bände
167). Und wie wichtig ihm gerade dieser Aspekt war, [... ] gelesen, durchblättert, angeprobt<< (ebd.). Doch
entnimmt man bereits den Auftaktzeilen seines Bor- verdichten sich ihm die Texte nicht allein zu einer or-
chardt-Referats: >>Die Anthologienfolge der Bremer ganischen Geschichte, sondern ebenso - um es hier
Presse nimmt immer deutlicher einen großen, einheit- mit einem kaum noch geläufigen, jedoch im Titel von
liehen Charakter an, der zu fast allem, was es bisher in Benjamins Wiertz-Anthologie geführten Begriff zu
dieser Form gegeben hat, in den erfreulichsten Gegen- sagen- zu einer Gesichte, zu einer Vision, deren durch-
satz tritt.<< Während >>der üblichen Blütenlese und aus auch beunruhigende Züge er in einer Frage andeu-
442 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

tet: >>Muß es[ ... ] nicht zu denken geben, wie durchaus Auf den ersten Blick scheint es, als könne man diese
heil die deutsche Reflexion über Landschaft und Spra- Frage verneinen. Denn der Redaktionellen Einführung
che, wie hitzig die über Staat und Volk von jeher aus- zu seiner Sammlung VoM WELTBÜRGER zuM GRass-
fiel?<< (III, 93) Darin liegt der Unterschied: Borchardt BÜRGER nach zu schließen sollten »[d]iese Lesestücke
verstand diese Anthologie als »Restitution verlorener [... ] nicht zur Unterhaltung genossen werden<<, son-
deutscher Geistesgröße<< (Borchardt 192 7, 500), wobei dern instruieren und belehren, sie sollten gewisserma-
er diese Wiederherstellung keineswegs als eine mit ßen beim Wort genommen werden, in ihrer Kritik wie
seinem Werk vollbrachte, abgeschlossene, sondern in ihren Verheißungen, und nichts wäre willkomme-
damit allenfalls begonnene begriff. Doch man kann ner, würde der Leser seine eben auch politischen Kon-
sich des Eindrucks nicht erwehren, daß seine letztend- sequenzen daraus ziehen. Denn es gehe nicht mehr an,
liche Perspektive, in einer geometrischen Figur be- »in einer von Tag zu Tag älter werdenden Welt das
schrieben, eine lediglich aufsteigende Linie oder Kurve ewige Kind zu spielen, das an jedem Morgen, den der
wäre. Mit anderen Worten: Borchardts Sammlung und Herrgott werden läßt, eine neue Welt anfangen will<<
Nachwort reflektieren diesen Prozeß nicht als dialek- (alle Zitate IV, 819).
tischen. In Benjamins Rezension dagegen schwingt Sollten Benjamin und Haas selbst nicht ohnehin für
diese Zweischneidigkeit bzw. >Kehrseite jeder Medaille< die einführenden Worte verantwortlich zeichnen, hät-
nicht nur zwischen den Zeilen mit. Sie läßt sich dort ten sie gewiß wenig gegen eine solche Lesart eingewen-
mit Händen greifen, wo er auf den engen Zusammen- det. Denn im Grunde genommen provozieren sie sie
hang reicher, gesättigter Erfahrung, wie sie in den bereits durch die fast martialische Diktion ihrer eige-
Landschaftsbeschreibungen zum Ausdruck komme, nen Einleitung: »Da Anthologie zu deutsch heißt: Blü-
mit der »offenkundige[n] Verlassenheit<< ihrer Verfas- tenlese, so ist diese Nummer keine Anthologie. Sie führt
ser, »der besten Deutschen<<, verweist, wo er unter- nicht auf eine Blumenwiese, sondern in einen Rüstsaal
streicht, daß dieses Buch »kein deutsches<< wäre, »käme -in den geistigen Rüstsaal der kämpfenden bürgerli-
seine Fülle nicht aus der Not<< (III, 93). Das sind bereits chen Klasse. Mit der alten Art, [... ] Bücher zu lesen-
Anklänge an die berühmte Widmung der DEUTSCHEN nämlich um Bildungsstoff zu sammeln-<< sei »es un-
MENSCHEN. widerruflich vorbei<<. Es gebe, was diese Auswahl zu
demonstrieren beabsichtige, »eine neue Art [... ] sie
aufzuschlagen<<. Die »Erfahrung, von der<< die Editoren
nVom Weltbürger zum Großbürger(( »hier Zeugnis<< ablegten, hätten zahllose Leser vermut-
lich selber schon gemacht, mit ihren »Lieblingsbü-
Daß in den Anthologien der Bremer Presse das Politi- chern [... ]: ohne daß das Ganze zerfiele<<, höben »sich
sche fehlt, wird man nicht ernsthaft behaupten kön- aus solchen Büchern Stellen heraus, deren unmittel-
nen. Zugegeben: nebulös, zumindest aber (damals barer, persönlicher, politischer, sozialer Lebenswert
schon wie erst recht heute) antiquiert wirkt bisweilen sich von selbst<< einpräge. »Wenn man näher<< hinsehe,
die Sprache, in der dieser Aspekt adaptiert wird, wenn seien »das weniger die schönen und erbaulichen als
etwa der Politiker als »Staatsredner<< angesprochen, der die verwendbaren Stellen,- die Stellen, die uns unsere
Journalist aber als »Tagschreiber<< bezeichnet (Hof- Meinungen und Erfahrungen<< bestätigten, klärten
mannsthal1966, 49) und der Gebrauch eines Begriffs oder in Frage zögen. Deshalb werde man bereits in der
wie >Kapitalismus< durch die Rede von einem »Fabrik-<< bloß »skizzenhaften Andeutung eines Kulturbildes des
und »überwuchernden Geldwese[n]<< (Hofmannsthal Bürgertums, zu der sich die folgenden Stellen<< - »wie
1912, Bd. l, X) elegant vermieden wird. Dennoch ver- in einem Vexierbild<<- verdichteten, »hinreichend dra-
fahren sie bei der Auswahl nicht tendenziös. In einer matische und lebenswahre Züge der ihn umgebenden
Anthologie wie beispielsweise dem Deutschen Lesebuch Gegenwart verborgen finden<< (alle Zitate IV, 815f.).
haben auch Briefe Georg Forsters aus dem revolutio- Deutlich spürt man in diesen Sätzen auch eine ge-
när erschütterten Paris, Fichtes Deutsche Politik, Poli- wisse Unentschiedenheit. Auf der einen Seite hat es
tische Leitsätze des Freiherrn vom und zum Stein sowie den Anschein, die Zeugnisse stellten (ohne nähere Klä-
Lassalles Verfassungs-Rede Aufnahme gefunden. Ob rung des >Wie?<) eine Art Anleitung zum Handeln dar,
der Herausgeber freilich eine Lesart goutiert hätte, die auf der anderen aber wird diese Perspektive zurückge-
seine Anthologie als eine Art politisches Manifest, als nommen oder eingeschränkt. Was Benjamin betrifft,
Kampfschrift gegen die herrschenden Zustände nimmt, wirken hier offenbar früheste, nie aufgegebene sprach-
darf geflissentlich bezweifelt werden. Läßt sich das- theoretische Anschauungen nach. Sein dialektisch-
selbe aber mit gleicher Entschiedenheit von den Aus- theologischer Begriff von Sprache, wie er ihn in ÜBER
wahlsammlungen Benjamins behaupten? SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
Anthologien des Bürgertums 443

MENSCHEN oder auch seinem Briefvom 17.7.1916 an ,,Deutsche Menschen((


Martin Buher (vgl. 1, 325 ff.) entwickelt, hinderte ihn,
naiv an eine unvermittelte Wirkung von Rede oder So dürftig die ganze Entstehungsgeschichte der mei-
Schrift zu glauben - so als entzündete der Funke des sten Anthologien Benjamins dokumentiert ist, so reich
Wortes mehr oder minder zwangsläufig irgendein sprudeln die Quellen im Falle der kommentierten
Handeln. Andererseits aber haben seine sprachtheo- Briefe großer Deutscher- was bereits für mehr als ein
retischen Überlegungen stets auch einen konkreten bloßes Indiz der herausragenden Bedeutung dieser
historischen bzw. sozialpolitischen Hintergrund. Den Sammlung genommen werden darf. Von der Veröf-
der hier erwähnten frühen Aufzeichnungen bildet der fentlichung des ersten Schreibens in der Frankfurter
Erste Weltkrieg. Und damit sei wenigstens angedeutet, Zeitungarn 31.3.1931 bis zum Erscheinen dieser Zeug-
daß seine Notizen auch als Versuch gelesen werden nisse in zusammenhängender Form als Buch im Lu-
dürfen, im Nachhinein jene Konsequenzen philoso- zerner Vita Nova Verlag vergingen fünfbewegte Jahre,
phisch zu durchdringen, die er für sich selbst aus den die sich diesem Werk eingeschrieben haben.
Ereignissen vom August 1914 gezogen hatte: sein Ver- Als Benjamin 1932 Gelegenheit erhielt, in einem
stummen bzw. die Sprachlosigkeit, in die ihn die welt- Rundfunk-Vortrag zur seinerzeit noch laufenden
politische Katastrophe gestürzt hatten. Denn eines BRIEFE-Serie Auskunft darüber zu geben, warum und
führte dieser Krieg ja handgreiflich vor Augen: daß all mit welchen Intentionen er sich >auf die Spur alter
die beschämenden Aufrufe, Solidaritätsadressen und Briefe< begeben habe, betonte er, daß »amAnfang [... ]
sonstigen propagandistischen Zeugnisse deutscher kaum sehr viel mehr als ein Einfall, eine Laune« ge-
Intellektueller- also der Gralshüter von Moral, Sitt- standen habe. Die »Bekanntschaft mit« seinen »eige-
lichkeit und Humanität- in keinen Einklang mehr mit nen Absichten« seiaposteriorierfolgt (IV, 942). Das
ihren eigenen Lehren und Bekenntnissen, Vorträgen war keine Koketterie. Denn gerade die umfassende, in
und Schriften zu bringen waren, daß also, mit anderen Teilen gut dokumentierte Geschichte der BRIEFE -von
Worten, all das am wenigstens auf sie selbst gewirkt ihrem Ersterscheinen 1931/32 bis zur Buchausgabe-
hatte. 1932 befand man sich in einer anderen politi- belegt eindrucksvoll, welche Klärung und Wandlung
schen Situation. Der Nationalsozialismus stand vor der die ursprünglich beiläufige Idee im Laufe der Korrek-
Tür. Und die damit verbundene, ungleich größere Ge- turen und Umarbeitungen, Erweiterungen und Um-
fahr mag Benjamin dazu bewogen haben, nichts un- gruppierungen des Materials erfahren hat. Ja, geht man
versucht zu lassen, um der faschistischen Barbarei beim Versuch, ihre einzelnen Etappen nachzuzeichnen,
doch noch Einhalt zu gebieten- und sei es auf Kosten allen möglichen Aspekten nach, eröffnen sich tiefe
eigener überzeugungen, die die Wirkung von Wort Einblicke nicht nur in die Werkstatt des Editors und
und Schrift geringschätzten. Kommentators, sondern vor allem auch solche in seine
Selbstverständlich bleiben dies bloße Vermutungen. ganze Denkwelt.
Denn nichts - weder die Anthologie selbst, noch ir- Das umfangreiche Material zu seiner Geschichte
gendein anderes Dokument aus Benjamins Hinterlas- (von den frühesten Anstößen, über Abfassung und
senschaft - eignet sich dazu, sie wirklich zu belegen. Druck bis zum Plan einer erweiterten Fassung) bilden
Selbstzeugnisse, die diese Veröffentlichung kommen- unterschiedlichste Schriftstücke: neben den Briefen
tierend begleiten, gibt es ohnehin nur ein einziges, das selbst und ihrer Buchausgabe Aufzeichnungen, die
in dieser Hinsicht jedoch unergiebig ist. Aus ihm geht schon die Publikation dieser Zeugnisse in der Frank-
nur soviel hervor, daß er VoM WELTBÜRGER zuM furter Zeitung begleiteten (BRIEFE ZwEITE SERIE); des
GROSSBÜRGER unmittelbar vor einer Spanien-Reise im weiteren eine Reihe nicht immer eindeutig zuzuord-
Frühjahr 1932 fertigstellte (vgl. 4, 86). Auch die Erin- nender Typoskripte im Nachlaß, der hier zitierte
nerungen seines Mitherausgebers Haas helfen nicht Rundfunk-Vortrag AuF DER SPUR ALTER BRIEFE und
weiter. Aus dem Wenigen, das er 1972 den Herausge- ein MEMORANDUM ZU DEN >SECHZIG BRIEFEN<;
bern der Gesammelten Schriften mitteilte, geht hervor, schließlich noch Arbeiten, die diese Anthologie gewis-
daß eine inhaltliche Debatte über das >Warum?< dieser sermaßen fortschreiben (DEUTSCHE BRIEFE I und
Sammlung und die damit verknüpften Absichten, ALLEMANDS DE QUATRE-VINGT-NEUF U.a.) SOWie hier
Hoffnungen und Erwartungen gar nicht stattgefunden und da fast lückenlose, jedoch noch weitgehend un-
hat (vgl. IV, 1091). veröffentlichte Briefwechsel Benjamins (mit Karl
Thieme und Rudolf Roeßler, dem Verantwortlichen
des Vita Nova Verlags).
Aus diesem umfangreichen Material ergibt sich, in
aller gebotenen Kürze (und zugleich in partieller Kor-
444 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

rektur, Ergänzung und Präzisierung des Herausgeber- eines bis dahin virtuellen Buches ans Licht der Öffent-
Kommentars der Gesammelten Schriften), zunächst lichkeit zu helfen. Daraus ging ein kleines Konvolut
folgende Chronologie: Die ersten sechs Briefe erschie- mit dem Titel DEUTSCHE BRIEFE I hervor, das neben
nen zwischen März und Mai 1931 und stellen gewis- einer allgemeinen kurzen Einleitung und bündigen
sermaßen den Probelauf dieses Projekts dar. In den Kommentaren drei Schreiben (von Hölderlin an Böh-
folgenden zwei Monaten arbeitete Benjamin dann lendorf, Seume an Kar! Böttiger und Forster an The-
Vorschläge zur Fortsetzung aus, die er in der Aufzeich- rese Huber) enthält. Diese Arbeit bot er der Redaktion
nung BRIEFE ZwEITE SERIE festhielt. Von den darin eines neuen Exilorgans an: der in Moskau erscheinen-
aufgelisteten 31 [sie!] Stücken wählte er dreizehn aus, den Zeitschrift Das Wort. Dort war man von dieser
die, mit weiteren acht, in ziemlich rascher und regel- kleinen Anthologie durchaus angetan - und gewillt,
mäßiger Folge bis zum Mai 1932 veröffentlicht wur- sie als Ganzes in der Rubrik Unser Kulturerbe zu ver-
den. Die übrigen 18 Schreiben (u. a. von Bürger, Pranz öffentlichen. Daß am Ende nur ein kommentarloses
Joseph Gall, >Turnvater< Jahn, Kleist, Savigny und Stif- Fragment daraus erschien (der Brief von Seume an
ter) fanden, von einer Ausnahme abgesehen, nicht Kar! Böttiger), ging auf eine Bitte Benjamins zurück,
einmal in den >Fortschreibungen< der Anthologie Ver- der damit lediglich den weiteren, sich nun fast über-
wendung. Lediglich der BriefForsters vom 26.7.1793 schlagenden Ereignissen um die Buchveröffentlichung
an seine Ehefrau war Benjamin offenbar so lieb und der BRIEFE Rechnung trug.
teuer, daß er ihn sowohl seiner Anthologie DEUTSCHE Bereits im Mai/Juni 1936 war er in Paris mit dem
BRIEFE I wie den ALLEMANDS DE QUATRE-VINGT-NEUF Theologen Kar! Thieme zusammengetroffen, den er
einverleibte. seit einigen Jahren kannte. Gegenstand ihrer Gesprä-
Bereits gegen Ende 1931 meinte er, in der Redaktion che müssen u. a. die kommentierten Briefe gewesen
der Frankfurter Zeitung gewisse >>Zeichen journalisti- sein. Denn nach seiner Rückkehr in die Schweiz be-
scher Ermüdung erkennen« zu können. Ungereimt mühte sich Thieme umgehend und nachdrücklich um
erschien ihm deshalb der prätentiöse Vorschlag, die deren Buchveröffentlichung. Einen Verleger dafür fand
bereits »vorliegenden zwanzig« Briefe >>in Form eines er schließlich in Rudolf Roeßler, dem Verantwortlichen
Büchleins herauszugeben« (4, 68 f.). Aus dieser Veröf- eines erst wenige Jahre zuvor gegründeten Verlages mit
fentlichung in der Frankfurter Societätsdruckerei (dem dem hoffnungsvollen Namen Vita Nova. Roeßler er-
Verlag der Zeitung) sollte jedoch nichts werden, wes- klärte sich sofort zur Publikation bereit, und damit
halb Benjamin dieses Werk zunächst zu den >>Trüm- nahm fortan alles so rasch seinen Lauf, daß von der
mer- oder Katastrophenstätte[n] « seiner Produktion ersten direkten Kontaktaufnahme zwischen Autor und
zählte (113). Im Verlauf weiterer, jedoch stets erfolg- Verlag bis zum Erscheinen des Buches gerade einmal
loser Bemühungen, einen Verleger dafür zu finden, zweieinhalb Monate vergingen. Ende Oktober 1936
landete >>eine komplette Folge« der Briefe, zusammen wurden die in einer Startauflage von 2000 Exemplaren
mit dem Vorschlag, aus den knapp 30 Stücken eine gedruckten DEUTSCHEN MENSCHEN ausgeliefert; die-
Ausgabe doppelten Umfangs (mit eben >sechzig Brie- ser ersten folgte dann schon im Jahr darauf eine zweite
fen<) zu machen, auf dem Schreibtisch Gustav Kiepen- (Titel-) Auflage in gleicher Höhe.
heuers. Der exponiert linksliberale Verleger ließ es Der Protestant und überzeugte Antinazi Roeßler (er
unbearbeitet liegen- jedoch nicht, weil er, wie Benja- hatte Deutschland >aus freien Stücken< den Rücken
min mutmaßte, >>in der Behandlung dieser Sachen« gekehrt) nahm vor allem die politischen Aspekte die-
gewissenlos gewesen wäre (276), sondern weil er zu ser Anthologie wahr, die mit den veränderten Verhält-
dieser Zeit ( 1933) bereits in existenzbedrohenden Aus- nissen seit 1931 stärker hervortraten. Aus seiner Sicht
einandersetzungen mit den neuen nationalsozialisti- fügte sie sich nur zu gut in das Programm eines Verla-
schen Machthabern stand. ges, dessen Publikationen eine philosophisch-christli-
>>Was ich wollte, liegt zerschlagen«: Möglicherweise che, humanistische, vor allem aber konsequent antifa-
hatte Benjamin diesen Vers Eichendorffs vor Augen, schistische Haltung dokumentierten. Dafür standen
als er seinem Freund Scholem die trübselige Mitteilung Autoren wie Paul Claudel und F. W. Forster, Jacques
machte, er träume >>manchmal« seinen >>zerschlagnen Maritain und Waldemar Gurian ein, und das zeigen
Büchern«, eben auch der >>Briefsammlung«, nach (5, bereits die bloßen Titel des Hauses- darunter ein Sam-
189). Zerschlagen wurde sie aber auch in einem sehr melband über Die Gefährdung des Christentums durch
wörtlichen Sinn. Einzelnes aus den bereits veröffent- Rassenwahn und Judenverfolgung, der zu den frühesten
lichten Stücken sowie dem ganzen Fundus der >erwei- Veröffentlichungen des Verlags ( 1935) gehört.
terten Fassung< stellte er zu neuen kleinen Einheiten Die in diesem Programm zum Ausdruck kommende,
zusammen, um wenigstens diesen Miniaturmodellen unzweideutige Gesinnung Roeßlers mehrte Ruf und
Anthologien des Bürgertums 445

Ruhm des Hauses in Exilkreisen, trug ihm aber auch stilistisch. Dafür nahm er, ohne ausdrücklich darum
erhebliche Unbill im Land seines politischen Gegners gebeten worden zu sein, das Schreiben Schlegels an
ein. Einzelne Veröffentlichungen des Vita Nova Verla- Schleiermacher aus der Sammlung heraus: »Seines
ges konnten zu keiner Zeit in Hitlers Deutschland negativen Gehalts wie seinem minderen Gewicht
gelesen werden, andere ereilten wenigstens vorüber- nach<< mache es »keine ganz glückliche Figur<< und
gehende Verbote - wie (zunächst) auch die DEuT- störe im übrigen eine gewisse Zahlensymmetrik. Durch
SCHEN MENSCHEN. Aufgrund eines temporären Ver- seinen Wegfall würde »die eigentliche Reihe 25 Briefe
breitungsverbotes sämtlicher Verlagspublikationen umfassen und geschlossener wirken<< (5, 377). In ei-
waren sie überhaupt erst ab Januar 1937 im national- nem einzigen Fall kam es zu einer gewissen Verstim-
sozialistischen Deutschland >frei< erhältlich - um im mung. Roeßler regte wiederholt die Aufnahme eines
darauffolgenden Jahr bereits das Ende ihrer dortigen Schreibens des Freiherrn vom Stein an, ein Vorschlag,
Verbreitung zu erleben, als sie auf die Liste des schäd- mit dem sich Benjamin überhaupt nicht anfreunden
lichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt wur- konnte. Er sah sich im Pariser Exil, ohne die dazu er-
den. forderlichen »umfänglichen Unterlagen<< (379), außer-
Zu einem Zeitpunkt, da er das Manuskript über- stande, einen würdigen Kommentar dazu zu schreiben.
haupt erst in Ausschnitten kannte, zeigte sich Roeßler Das teilte er Thieme vertraulich mit. Die weniger voll-
bereits äußerst angetan von einer Sammlung, die ihm ständige, gleichwohl sachlich begründete >offizielle<
ein »Portrait des echten und wahren, >unterschlage- Version Roeßler gegenüber lautete hingegen, der allzu
nen< Deutschland<< zu bieten schien (Roeßler, »Zeremoniell[e] Ton<< des Schreibens steche zu sehr
29.7.1936). Und im Jahre 1936 war eine solche Ein- »von dem sehr persönlichen der übrigen Briefe ab<<
schätzung politisch extrem aufgeladen. Um das Werk (ebd.). Dahinter verbargen sich vermutlich auch Vor-
jedoch auch ins Hitler-Reich einschmuggeln zu kön- behalte gegen jene Wendung, in der von den »Anma-
nen, bedurfte es seiner Meinung nach einiger Eingriffe, ßungen der Sophisten des 18. Jahrhunderts<<, ihrer
um »die nationalsozialistische Zensur nicht sogleich<< »Afterweisheit<< (382), die Rede ist. Das erinnerte zu
auf den Plan zu rufen und damit den ansonsten siche- sehr an die Invektiven der Nazis gegen die Aufklä-
ren- »zumindest geistige[n] und moralische[n]- Er- rung.
folg<< des Buches zu gefährden (Roeßler, 30.7.1936). Den Einband der DEUTSCHEN MENSCHEN gestaltete
Zu den von ihm vorgeschlagenen Änderungen gehörte Max von Moos. Wie aufschlußreich bereits seine >Lek-
zunächst eine grundlegende Überarbeitung des Gan- türe< sein kann, hat Michael Diers eindrucksvoll vor-
zen. Durch Kürzungen und konzisere Kommentare geführt (vgl. Diers 1988). In seinem Beitrag zeigt er,
sollte die Sammlung noch geschlossener werden. Des wie sehr sich der Inhalt des Buches bereits in seinem
weiteren plädierte er für ein neues Vorwort, das die äußeren Kleid spiegelt. Einband und Schrifttype kehr-
Einleitung zum ersten Brief der Serie ersetze. Die Rede ten ostentativ den Protest gegen das faschistische Re-
von der Restitution eines deutschen Humanismus, die gime heraus. Die von den Nationalsozialisten lange als
angezeigt sei, weil er von den Bestimmenden im Lande typisch deutsche Schrift propagierte Fraktur ist auf
»mit Ernst und im vollen Bewußtsein ihrer Verant- dem Umschlag förmlich >geschliffen<: gerundet statt
wortlichkeit [... ] in Frage<< gestellt würde (IV, 955), scharf abgesetzt. Und seine Lettern sind nicht, wie üb-
gewannen unter den aktuellen politischen Bedingun- lich, schwarz, sondern in freundlichem Blau aufhellem
gen einen zu augenfälligen Bezug auf die herrschenden Untergrund gehalten. Durchaus feines, statt derbes
Zustände in Deutschland. Schließlich schlug Roeßler Einbandtuch verleihen der Edition schließlich noch
noch den (dann definitiven) Titel DEUTSCHE MEN- einen fast eleganten Zug.
SCHEN und eine Widmung vor, deren Wortlaut Benja- Neben der Sekretierung eines Schreibens, den
min nur noch leicht abänderte: Aus dem »Von Ehre sprachlich-stilistischen Überarbeitungen und dem
ohne Ruhm/ Von echter Menschengröße/ Von Würde neuen Vorwort gruppierte Benjamin auch das Material
in der Not<< (Roeßler, 30.7.1936) machte er ein bündi- neu. Anläßlich der Buchausgabe entschied er sich für
geres »Von Ehre ohne Ruhm/ Von Größe ohne Glanz/ eine chronologische Darbietung der Briefe, wobei ihm
Von Würde ohne Sold<< (IV, ISO). bzw. dem Verlagjedoch einige Flüchtigkeitsfehler un-
Alles in allem war die Zusammenarbeit von Autor terliefen. (Das früheste Dokument stellen die Zeilen
und Verleger eine symbiotische - was nicht heißt, es Pestalozzis an seine damalige Verlobte Anna Schultheß
habe keine Divergenzen gegeben. Im Rahmen des aus dem Jahre 1767 dar; und Jacob Grimms Schreiben
Möglichen kam Benjamin den meisten Vorschlägen vom 14.4.1858 hätte dem Brief Metternichs vom
bereitwillig nach. Lediglich die geforderten Kürzungen 21.12.1854 folgen müssen, statt ihm vorauszugehen.)
ignorierte er, die Einleitungen überarbeitete er nur Aus dem »Zeitraum eines Jahrhunderts<< stammend,
446 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

gäben die »fünfundzwanzig Briefe<< des Bandes, wie es Schlusse gefragt, wonach es gemundet habe, nur ganz
im neuen Vorwort heißt, >>den Blick<< sowohl >>auf die kindlich immer wieder sagen möchte: nach mehr, nach
Anfänge der Epoche [... ] frei, in welcher das Bürger- viel mehr<< (Günther 1937). Dieses emphatische Lob
tum seine großen Positionen bezog<<, als auch auf de- mag Benjamin in seinem Optimismus bestärkt haben,
ren Ende, als >>das Bürgertum nur noch die Positionen, die Leute >>drüben<< wüßten sein Werk schon >richtig<
nicht mehr den Geist bewahrte, in welchem es diese zu lesen (5, 442). Vor allem aber gewinnt man durch
Positionen erobert hatte. Es war die Epoche, in der das das kleine Referat wieder den Blick für die ganze Korn-
Bürgertum sein geprägtes und gewichtiges Wort in die plexität einer Sammlung, deren Charakteristika bzw.
Wagschale der Geschichte zu legen hatte. Freilich >>Kennmarken<< (ebd.) sich eben nicht in den expliziten
schwerlich mehr als eben dieses Wort<< (IV, 151). oder bloß angedeuteten politischen Momenten er-
Vor allem diese politischen Aspekte nahm die zeit- schöpfen. Wie bereits ein Blick auf die in dieser Brief-
genössische Kritik wahr. Schon die erste der bislang folge versammelten Namen zeigt, sind Politiker eher
nachweisbaren Besprechungen der DEuTsCHEN MEN- unterrepräsentiert.
SCHEN streicht heraus, wie wenig man es bei dieser Wie wirklich reich und im übrigen wohlkomponiert
Veröffentlichung mit einem Dokument >>des neudeut- die ganze Sammlung ist, wird man erst beim Versuch
sehen Wesens<< zu tun habe (Marti 1936). Noch deut- gewahr, einmal mehr oder minder alle Stichworte Re-
licher wird der Rezensent des Luzerner Tagblatts: >> Un- vue passieren zu lassen, die hier mit dem Begriff des
ter dem Einfluß der nationalsozialistischen Propa- >wahren deutschen Humanismus<- in seiner dreifa-
ganda hat das Wort >deutsch< für die Weltöffentlichkeit chen Bedeutung! - in Verbindung gebracht werden.
einen drohenden und finsteren Klang bekommen. Die Das Spektrum erstreckt sich dabei von Vernunft,
liebenswerten Erinnerungen an Kunst und Philosophie Nüchternheit und Transparenz, Unbestechlichkeit,
sind aus ihm gewichen und an ihre Stelle ist die Vision Untadeligkeit und Unbeugsamkeit über Forschungs-
eines >Volkes in Waffen<, einer alles erschreckenden geist und Teilnahme, Freimut und geistige Unabhän-
gepanzerten Militärmacht getreten. Wir freuen uns gigkeit bis hin zu Treue und Fürsorge, Solidarität,
daher einer Publikation, die dem Mißbrauch des Wor- Freundschaft und vor allem Liebe- Liebe, wie sie Ra-
tes >deutsch< [... ] entgegentritt<< (Kesser 1937). hel Varnhagen in einem >>unvergleichlichen Briefe<< an
Benjamins Erwartungen hinsichtlich der Aufnahme Ranke beim Tod Friedrich von Gentz' (506) zum Aus-
seines Werkes waren nicht gering. Ja, er war sogar über- druck brachte (vgl. Varnhagen 1834).
zeugt, die Briefanthologie könnte im faschistischen Der Brief steht nicht in den DEUTSCHEN MENSCHEN,
Deutschland, sollte sie ihren Weg dahin finden, >>eine jedoch war er für die erweiterte Fassung vorgesehen.
tiefe Wirkung tun<< (5, 329). Näheres über die Rezep- In den Kommentaren der Herausgeber zu den Gesam-
tion der DEUTSCHEN MENSCHEN in Hitlers Reich wis- melten Schriften ist keine Rede davon. Überhaupt hat
sen wir leider nicht. Nur soviel steht fest: Sie fanden man Benjamins anthologische Arbeiten etwas stief-
auch dort ihre Leser. Das belegt u. a. eine Besprechung mütterlich behandelt. Mehrheitlich eingereiht in eine
aus dem Jahre 1937, die sogar an exponierter Stelle Abteilung >Miszellen< (als eignete ihnen nichts Spezi-
erschien: in der >Monatsschrift für Literaturfreunde<, fisches, das die Eröffnung einer gesonderten Sektion
Die Literatur. Der Rezensent konnte sich selbstver- erlaubt hätte), hat man zwar kaum Wichtiges zu er-
ständlich nicht zum politischen Gehalt des Buches wähnen vergessen: den Plan einer Ausgabe mit sechzig
äußern. Deshalb legt seine Besprechung den Finger auf Briefen, die Preziosen der Sammlung (der hier erstmals
andere Aspekte der Sammlung: >>Unter den zahlrei- veröffentlichte Brief Brentanos, den Benjamin in der
chen<< Briefanthologien >>der letzten Zeit<< zeichne sich Preußischen Staatsbibliothek ausgrub), die Ausge-
diese zunächst >>durch die Auswahl seltener Stücke wähltheit der Quellen u. a.m.; auch werden Materialien
aus.<< Darüber hinaus habe der Herausgeber jedes ein- aus dem engeren Umkreis beigebracht. Doch anson-
zelne Schreiben mit seinen Kommentaren >>SO geschickt sten ist man einem übertriebenen Purismus verpflich-
und würdig umrahmt<<, daß man von literarischer Fi- tet, der sich darin äußert, nur das zum Druck zu be-
ligranarbeit sprechen dürfe. Es seien >>kluge, erschüt- fördern, was aus Benjamins Feder stammt. Das ist im
ternde, schneidige, gefühlvolle, schwärmerische, sach- Falle dieser Anthologien nicht nur völlig fehl am
liche Briefe darunter<<, und >>glücklicherweise<< mache Platze, sondern nimmt bisweilen auch seltsam skurrile
sich >>nirgends ein stilisierender Instinkt<< in der Aus- Züge an. So werden die DEUTSCHEN BRIEFE I zwar
wahl bemerkbar, >>wenn nicht allenfalls darin, daß die wiedergegeben, doch nur zum Teil: lediglich die Ein-
meisten Briefe<< selbst >>Spezialsammlern [... ] unbe- leitung und die Charakteristiken der Briefschreiber.
kannt<< seien. >>Kurzum: die Sammlung hat nur einen Solche Praxis verkennt, in welch' engem Verhältnis
Fehler, daß sie viel zu klein ist und daß man am Kommentar und Zeugnis zueinander stehen, weshalb
Anthologien des Bürgertums 447

denn auch Art und Umfang der Bearbeitungen der Deutlich wird dies etwa in dem zu Schubart, der kräf-
Schriftstücke von Bedeutung sind. Daß dieser Puris- tig aus einer Veröffentlichung des Worts schöpft (vgl.
mus fast zwangsläufig Irrtümer in der Zuordnung und Sand 1938).
Datierung gewisser Texte nach sich zieht, ist dabei Zunächst ging es Benjamin nur darum, aus gegebe-
noch das geringste übel. Schwerer wiegt der Umstand, nem Anlaß das Echo zu dokumentieren, das die fran-
daß wichtige Dinge einfach unter den Tisch fallen. zösische Revolution in den Jahrzehnten nach 1789 bei
Würde man beispielsweise den Vorlagen und Referenz- deutschen Dichtern und Denkern gefunden hatte (vgl.
texten Benjamins größere Bedeutung beigemessen 6, 320). Was dabei herauskam, konstituiert eine der
haben (statt in den Nachweisen häufiger auf Editionen Kennmarken dieser Anthologie. Die auch für ihn über-
aus jüngerer Zeit zurückzugreifen), hätte man das Tor raschende Entdeckung, »daß von den beiden Bänden
zu einer Reihe nützlicher und weitreichender Frage- Oden, die es von Klopstock gibt, der zweite [... ] sich
stellungen aufgestoßen: etwa solchen nach den Ein- in einem Fünftel sämtlicher Stücke mit der französi-
flüssen und Inspirationen sowie nach der besonderen schen Revolution<< beschäftige, bestätigte Benjamin in
Wichtigkeit dieses oder jenes Briefschreibers für Ben- der Überzeugung, daß gewisse »Tatbestände [... ] der
jamin. Im übrigen bieten derlei rekonstruierte Anga- deutschen Literaturgeschichte<< von jeher systematisch
ben tiefe Einblicke in die Bibliothek, die Lektüre und verschleiert worden seien (294). Gegen Verschleierung
damit in etwas, das seinen >geistigen Haushalt< betrifft. und Vergessen, gegen Verfälschung und Instrumenta-
Und nicht zuletzt hätte man dadurch genauere Auf- lisierung: Das ist der eine Aspekt einer Anthologie, in
schlüsse über jene Arbeiten gewonnen, die hier gele- der zugleich jedoch die dialektischen Momente von
gentlich als Fortschreibungen der DEUTSCHEN MEN- Geschichte und Geschichtsschreibung stärker ins
SCHEN erwähnt wurden, namentlich über die 1939 Blickfeld geraten. Damit werden die Gegenwartsbe-
erschienenen ALLEMANDS DE QUATRE-VINGT-NEUF. züge dieser Dokumente nicht länger nur angedeutet,
sondern explizit gemacht. Am deutlichsten tritt dies
in dem Herder gewidmeten Teil zutage.
nAllemands de quatre-vingt-neuf« Herders Zeugnis (bereits in dem Artikel VoM WELT-
BÜRGER ZUM CROSSBÜRGER enthalten) fand hier näm-
Benjamin wollte dieser, »ganz in der Art<< seines »Brief- lich nicht als Beispiel emphatischer Revolutionsbegei-
buches<< gehaltenen »kleine[n] Montage<< keine über- sterung Aufnahme, sondern als warnender Fingerzeig.
mäßige Bedeutung beimessen. Er rechnete sie zu den Denn, wie es noch in der ursprünglichen deutschen
Gelegenheitsarbeiten bzw. »Allotria<< seiner Produk- Fassung des Kommentars dazu heißt: »Es wäre irrig
tion (alle Zitate 6, 294). Und in der Tat ist das Impro- anzunehmen, die französische Revolution habe nur als
visierte dieser Sammlung nicht zu übersehen. Alles Vorbild und Beispiel in die freiheitliche deutsche Ent-
wirkt ein wenig zusammengestoppelt, eilig und ohne wiekJung hineingespielt Sie ist vielmehr dieser Ent-
übermäßige Sorgfalt komponiert. Schon die Geschlos- wiekJung belangvoll auch als ein Gegenstand der Kri-
senheit der Anthologie wird durch unterschiedliche tik gewesen. Diese Kritik ist ja keineswegs in allen
Textsorten beeinträchtigt: Neben persönlichen Schrei- Fällen reaktionär gewesen<< (IV, 1096). Diese Sätze
ben von Forster, Seume, Caroline Michaelis sowie sucht man im übersetzten und veröffentlichten Text
Hölderlin stehen Auszüge aus den Werken Schubarts vergebens. Offenbar erschienen sie Autor und Redak-
(aus der Teutschen Chronik), Herders (Briefe zur Be- tion der Zeitschrift überflüssig, weil das, worauf sie
förderung der Humanität), Hegels (Vorlesungen zur abzielen, im weiteren Verlauf der Darlegungen deutlich
Philosophie der Geschichte) und Jochmanns (Über die genug wird. Denn Herders Anmerkungen zum> Natio-
Sprache). Darüber hinaus handelt es sich nur bedingt nalwahn <illustrieren vor allem, wie sehr die bürgerli-
um eine schöpferisch neue Arbeit. Denn bei der Aus- ehe Revolution die >Entartung< ihrer Ziele und Absich-
wahl und Formulierung seiner Kommentare griff Ben- ten, Verheißungen und Versprechungen bereits keim-
jamin in nicht unwesentlichem Umfang auf ältere, haft in ihrer praktischen Politik enthält. »Der
bereits erschienene Arbeiten zurück sowie auf solche, Nationalismus der französischen Revolutionsarmeen<<
die, bereits abgeschlossen und eingereicht, erst noch habe zwar noch das »historisch[e] Recht für sich gel-
publiziert werden sollten: auf den Artikel VoM WELT- tend machen<< können, als >»protecteur de Ia liberte du
BÜRGER ZUM CROSSBÜRGER, auf die DEUTSCHEN monde<<< aufzutreten. Doch sei er nur allzu bereitwil-
BRIEFE I, die DEUTSCHEN MENSCHEN sowie auf die lig »den Bund mit dem Terror<< eingegangen. Und diese
Einleitung zu den RücKSCHRITTEN DER POESIE voN >>Praxis der Schreckensherrschaft<< erlaube es, den Bo-
CARL GusTAV JocH MANN. Und schließlich weisen ein- gen zur »heutigen Situation<< zu schlagen: »Das was in
zelne Teile unverkennbare Anleihen bei Dritten auf. der großen Revolution nur als Wetterleuchten am Ho-
448 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

rizont der Geschichte des Bürgertums aufleuchtet, ausgeberder Zeitschrift für Sozialforschung, Horkhei-
entlädt sich überm Deutschland der Gegenwart in Ge- mer, ein Protestschreiben von Werner Kraft. Der be-
stalt des furchtbarsten Unwetters. Im Dritten Reiche anspruchte darin die (Wieder-) Entdeckung Joch-
wurde das wichtigste Instrument des Terrors der Na- manns für sich und behauptete, Benjamins Kenntnisse
tionalismus selbst<< (alle Zitate 1096). In dieser Sicht in dieser Sache verdankten sich in erster Linie seinen
der Dinge gerinnen die Unterschiede zwischen dem Hinweisen und Literaturleihgaben. Dafür, daß er ihm
Einst und dem Jetzt fast zu bloßen Nuancen: Robes- Einsicht in die >>Bücher Jochmanns<< gewährt habe-
pierrescher >>Kultus der Tugend<< und >>terroristische namentlich in >>das über die Sprache<< mit dem >>Essay
Praxis<< sind Benjamin zufolge nicht voneinander zu über die Rückschritte der Poesie<< (Puttnies/Smith
trennen. Lediglich, daß >>an die Stelle der Konjunktion 1991, 130) sowie in die von Heinrich Zschokke be-
des nationalen Ideals mit der Tugend [... ] bei Hitler sorgte, dreibändige Auswahl mit Schriften des balti-
die des nationalen Inhalts mit der Rasse getreten<< sei, schen Autors (vgl. Jochmann 1836) -,habe er Benja-
zeige >>den Unterschied an, der zwischen dem bürger- min das Versprechen abgenommen, nichts über Joch-
lichen Führer der Heroenzeit und der Dekadence<< mann zu veröffentlichen. Demnach stünde also - die
bestehe. Insofern seien >> Herders Worte, die 1794 pro- weiteren Details der Auseinandersetzung tun hier
phetisch waren,[ ... ] heute nur sachgemäß<< (alle Zitate nichts zur Sache- Benjamins JocHMANN in einem
1097). gänzlich anderen Entstehungszusammenhang. Aber
auch einem anderen Sachkontext?
Es war Horkheimer, der Benjamin drängte, die
"Die Rückschritte der Poesie« Schriften Jochmanns nicht in der Art seiner kommen-
tierten Briefe darzubieten. Zwar zeigte er sich >>tief
Im Rückblick betrachtet wird deutlich, daß sich spä- beeindruckt<< von den RücKSCHRITTEN DER PoESIE
testens mit den ALLEMANDS DE QUATRE-VINGT-NEUF und fand >>einzelne Formulierungen<< darin geradezu
die Akzente in Benjamins anthologischer Arbeit noch- >>genial<<. Doch war er ebenso der Meinung, daß man
mals leicht verschoben haben. Es ist ein weniger reiches um des wissenschaftlichen Charakters der Zeitschrift
Spektrum von Denkanstößen und Assoziationen, das willen die Auszüge nur mit einer >>theoretische [n] Ein-
sie anbieten. Dafür erfahren sie eine immer stärkere Ieitung<< bringen könne. Und er schlug vor, in
zeitpolitische Akzentuierung. All das, was die vage >>prinzipielle[n]<< Ausführungen an den Aufsatz über
Hoffnung vermittelt, wenigstens im Propagandisti- DAS KuNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN
schen der Nazi-Barbarei Paroli zu bieten, gewinnt an REPRODUZIERBARKElT anzuknüpfen. Es müsse >>ein-
Bedeutung. Das führt noch einmal nachdrücklich die leuchten, daß der Artikel Jochmanns aus theoretischen
- nicht der Chronologie ihrer Entstehung, wohl aber und nicht aus historischen Gründen gebracht<< werde
ihrer Publikation nach -letzte Anthologie Benjamins (Horkheimer 1995, 112 f.; Brief an Benjamin,
vor Augen: DIE RücKSCHRITTE DER PoESIE voN CARL 13.4.1937).
GusTAV JocHMANN. Zwar empfand Benjamin es als nicht unproblema-
Die Arbeit selbst in die Phalanx Benjaminscher An- tisch, sich, losgelöst >>von seinen Entstehungsbedin-
thologien einzureihen, bereitet kein größeres Kopfzer- gungen<<, theoretisch über die bedeutende Schrift
brechen. Aber handelt es sich wirklich um eine Fort- Jochmanns zu äußern. >>In ihm<<, so heißt es in seiner
schreibung der DEUTSCHEN MENSCHEN? Hat man es Erwiderung an Horkheimer, >>findet das bürgerliche
im Falle der Einleitung zu den Auszügen aus Joch- Freiheitsbewußtsein der Deutschen den Weg, in seiner
manns Schriften nicht vielmehr mit einem theoreti- Schattenexistenz einem Traume nachzuhängen, der
schen bzw. philosophischen Text zu tun, der sich darin unterm Mittagshimmel der französischen Revolution
deutlich von den historischen Kommentaren der Briefe nicht hätte geträumt werden können. Die Authentizi-
absetzt? tät dieses Textes dürfte von seiner proleptischen Natur
Es war zunächst einmal Benjamin selbst, der diesen nicht zu trennen sein. Die Überlegung über die ge-
Kontext herstellte. AufJochmann will er >>bei Gelegen- schichtlichen Grenzen, die die Humanität der Kunst
heit der Vorarbeit zu den >Deutschen Menschen<<< ge- setzen könnte, taucht hier wohl zum ersten Male auf.
stoßen sein (II, 1405). Nun ist dieses Zeugnis aus dem Die Form, in der das geschieht, ist die eines Monologs,
Jahre 1940 jedoch mit Vorsicht zu genießen. Denn es der keine Unterbrechung zu gewärtigen und kein Echo
steht als Rechtfertigungsversuch im Kontext einer li- zu hoffen hat<< (5, 623).Aber letztlich fügte er sich den
terarischen Affäre, bei der Benjamin auf der Anklage- Wünschen seines Herausgebers. Dies geschah freilich
bank saß. Als die Jochmann-Arbeit zwei Jahre nach in einer Weise, die nicht verbirgt, daß die philosophi-
ihrer Fertigstellung endlich erschien, erhielt der Her- schen Erwägungen einem längst abgeschlossenen Ma-
Anthologien des Bürgertums 449

nuskript nachträglich eingearbeitet bzw. übergestülpt thologische Arbeit Benjamins, auf die mit ihr verfolg-
wurden. ten Absichten, aber auch auf ihre jeweils sich verän-
Vor allem in einer Passage der Einleitung wird dies dernde Konstellation. Und Benjamin bietet gerade an
deutlich, und zwar dort, wo Benjamin den Bogen sei- dieser Stelle, auf Jochmann zurückkommend, eine
ner Ausführungen von Jochmann und den Romanti- Formel an, die sich wie ein Motto seiner sammelnd-
kern zur Gegenwart, zu Adolf Loos, der Neuen Sach- kommentierenden Schriften ausnimmt: »>Nicht alles
lichkeit und seinem eigenen Kunstwerk-Aufsatz Vergangeneist verloren.< (Wir brauchen's nicht neu zu
schlägt. >>Mit der Romantik setzte die Jagd nach dem machen.) >Nicht alles Verlorene ist unersetzt.< (Vieles
falschen Reichtum ein<<, heißt es dort. »Nach der Ein- ist in höhere Formen eingegangen.) >Nicht alles Uner-
verleihung jeder Vergangenheit, nicht durch die fort- setzte ist unersetzlich.< (Vieles einst Nützliche ist nun
schreitende Emanzipation des Menschengeschlechts, unnütz.)<< (582). In dieser Formel erweist sich zuletzt
kraftderen es seiner eigenen Geschichte immer gei- der engste Sachzusammenhang mit einer kommen-
stesgegenwärtiger in das Auge sieht und immer neue tierten Briefsammlung, von der man sich nur wünscht,
Winke ihr abgewinnt, sondern durch die Nachah- sie möge einmal in all ihren Schattierungen, manife-
mung, das Ergattern aller Werke aus abgelebten Völ- sten Formen wie auch geplanten Erweiterungen- mit
kerkreisen und Weltepochen.<< Benjamin wollte nicht einem Wort: in ihrem gesamten Iiteratur- und kultur-
leugnen, daß solche »Unternehmungen, in andere ge- historischen Kontext- dokumentiert werden.
schichtliche Zusammenhänge eintretend, glückhafter
und gewichtiger sich darstellen<< könnten. Jochmann Werk
jedoch habe sie »als mißglückte und als bedeutungs- VoM WELTBÜRGER ZUM GROSSBÜRGER (JV, 815-862)
lose<< erachtet, wodurch er »seinem Blick eine histori- DEUTSCHE MENSCHEN (JV, 149-233)
ALLEMANDS DE QUATRE-VINGT-NEUF (IV, 863-880)
sche Perspektive [erschloß], die seinen Zeitgenossen DIE RücKscHRITTE DER PoESIE voN CARL GusTAV JocH-
verstellt<< blieb. Erst um 1900 habe »der Jugendstil ge- MANN (II, 572-598)
gen diesen immer großspuriger sich gebärdenden, Rez. zu Anthologie de Ia nouvelle prose (III, 78 f.)
ANTOINE WIERTZ: GEDANKEN UND GESICHTE EINES GEKÖPF-
immer billigeren Reichtum sich zu empören<< begon-
TEN (IV, 805-808)
nen. Und dieser Aufstand der Moderne in Kunst und AUF DER SPUR ALTER BRIEFE (IV, 942-944)
Literatur, Architektur und Kunsthandwerk gegen den Brief von Seume an Kar! Böttiger. In: Das Wort, Jg. [ 1] (1936),
Ȋsthetischen Imperialismus<< des 19. Jh.s und dessen H. 4, 86f.
Briefe [I] - XXVII (Frankfurter Zeitung, 31.3.1931 -
Berauschung an >»ewigen< Werten<< sei mit dem Ver-
31.5.1932)
such verbunden gewesen, den erneuten »Anschluß an Briefe Zweite Serie (VII, 829f.)
den Rationalismus der bürgerlichen Blütezeit<< zu ge- Deutsche Briefe (IV, 945-94 7)
winnen. Nach Ende des ersten Weltkriegs sei dann DEUTSCH IN NORWEGEN (111, 404-407)
GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN (I, 123-201)
diese »Debatte in ihr entscheidendes Stadium<< getre- DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
ten: »Die Fragestellung mußte theoretisch durchdrun- PRODUZIERBARKEIT (I, 431-469, 471-508, 709-739 und
gen oder modisch beschönigt werden. Beide Lösun- VII, 350-384)
gen<< hätten »ihr politisches Äquivalent. Die erste<< falle LANDSCHAFT UND REISEN (JII, 88-94)
Memorandum zu den >Sechzig Briefen< (IV, 949-950)
»mit neuerenVersuchen einer materialistischen Theo- PHANTASIESÄTZE, VON EINEM ELFJÄHRIGEN MÄDCHEN NACH
rie der Kunst zusammen<<- und an dieser Stelle ver- GEGEBENEN WORTEN GEBILDET (IV, 802-803)
weist Benjamin auf seinen Kunstwerk-Aufsatz-, die Rez. zu Robert Faesi: Die Ernte schweizerischer Lyrik (III,
»zweite<< hingegen sei »von den totalitären Staaten be- 167)
SAMMLUNG VON FRANKFURTER KINDERREIMEN (IV, 792-
günstigt<< worden und habe »die reaktionären Mo- 796)
mente<< im Futurismus, Expressionismus und Surrea- ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
lismus aufgegriffen. Sie bestreite »die Problematik der MENSCHEN (II, 140-157)
Kunst, um das Prädikat des Ästhetischen noch für ihre UNBEKANNTE ANEKDOTEN VON KANT (IV, 808-815)
ZwEI GEDICHTE. VoN GERTRUD KoLMAR (IV, 803-805)
blutigsten Vollstreckungen in Anspruch zu nehmen.
Zugleich<< lasse sie »erkennen, wie die Begehrlichkeit
Literatur
nach dem Gut der Vergangenheit jedes Maß über-
Adorno, Theodor W. ( 1962): »Nachwort<<, in: Deutsche Men-
schritten<< habe: »Nichts Geringeres« schwebe »den sehen. Eine Folge von Briefen ausgewählt u. eingel. v. Wal-
Faschisten vor, als des Mythos sich zu bemächtigen<< ter Benjamin, Frankfurt a.M., 119-129.
(alle Zitate li, 581 f.). Borchardt, Rudolf (1927): Der Deutsche in der Landschaft,
besorgt v. Rudolf Borchardt, München.
Man mag die Logik dieser Rekonstruktion als ein Breysach, Barbara (1989): »Die Persönlichkeit ist uns nur
wenig sprunghaft, vielleicht auch gewagt empfinden. geliehen<<. Zu Briefwechseln Rahe! Levin Varnhagens,
Sie wirft freilich ein bezeichnendes Licht auf die an- Würzburg.
450 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

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Chronik der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität für Schöne, Albrecht (1986): »>Diese nach jüdischem Vorbild
das Rechnungsjahr 1914, Halle a.d.S. 1915. erbaute Arche<: Walter Benjamins >Deutsche Menschen<<<,
Chronik der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität für in: Stephane Moses/Albrecht Schöne (Hg.): Juden in der
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451

Zu Traditionskrise, Technik, destruktive Charakter in der Front der Traditionalisten


stehe und daß der Sammler ohne die in ihm wirksame
Medien
Destruktivität nicht begriffen werden kann.
>>Ich packe meine Bibliothek aus<< I >>Der destruktive Von hier aus lassen sich im weiteren Schneisen zu
Charakter<< I >>Erfahrungsarmut<< I >>Eduard Fuchs. Der anderen Texten ziehen: zum einen zu wichtigen Texten
Sammler und der Historiker<< I >>Lichtenberg. Ein des Exils, zum andern zu Benjamins Zeitschriften- und
Querschnitt<< I Sur Seheerbart I >>Vereidigter Bücher- Rundfunkpublizistik in der Weimarer Republik. Der
revisor<< Schlußabschnitt unternimmt in aller Vorläufigkeit eine
Einschätzung der medientheoretischen Bedeutung
Von Burkhardt Lindner Benjamins für die gegenwärtige Diskussion.
Da hier ganz verschiedene Texte >in einem Zuge< ge-
lesen werden, ist ein methodologischer Hinweis voran-
zuschicken: In der Sekundär-Literatur findet sich im-
Hannah Arendt hat hervorgehoben, daß Benjamins mer wieder die Tendenz, Benjamin als eine Figur zu
Intellektualität von seiner Leidenschaft für das Sam- charakterisieren, die zwischen nostalgischem Versun-
meln geprägt war (Arendt 1986, 49-62). Diese charak- kensein ins Vergangene und einer rückhaltlosen Preis-
terologische Bestimmung ist außerordentlich auf- gabe des Alten im Namen des Neuen hin- und herge-
schlußreich. Noch als Student begann Benjamin das rissen sei. Zumeist fällt dann das Stichwort Ambivalenz.
Sammeln von Büchern aus Antiquariaten und Auktio- Einer produktiven Lektüre seiner Texte steht dies im
nen, hinzu kam die Sammlung alter Kinderbücher aus Wege. Denn die hermeneutische Vorannahme tiefsit-
dem Besitz seiner Mutter; er sammelte Ansichtspost- zender, unausgetragener Ambivalenzen verschleift im
karten und Kinderspielzeug; bei bestimmten Gelegen- Vorhinein die radikalen Positionssetzungen in den ein-
heiten hat er kleine Sammlungen von Tätowiervorla- zelnen Texten zugunsten einer trügerischen Autorpsy-
gen oder von Plakaten angelegt. Eine Sammlung ba- chologie. Die Vorstöße, die Benjamin in ein noch un-
rocker Emblembücher mußte er abbrechen, weil ihm erschlossenes Terrain unternommen hat, lassen sich nur
das Geld fehlte. Arendt betont weiter, daß für die Ent- in genauer Analyse der einzelnen Texte erschließen.
stehung und die Physiognomie des Werks selbst nichts
bedeutungsvoller geworden sei als das Aufspüren und
Herausbrechen von ZitatmateriaL Für seine schlagen- ))Ich packe meine Bibliothek aus.
den Zitate ist Benjamin berühmt geworden. Wie er zu Eine Rede über das Sammeln«
seinen Zitaten kam und wie er sie sich parat hielt, wird
wohl kaum ganz zu klären sein. In der Literarischen Welt vom Juli 1931 publizierte
Benjamin hat die Figur des Sammlers aber auch zum Benjamin eine erstaunlich persönlich gehaltene REDE
Gegenstand einer historischen Bestandsaufnahme ge- ÜBER DAS SAMMELN, die vermutlich ursprünglich für
macht, die auf grundsätzliche Reflexionen über Tradi- den Rundfunk gedacht war. Der Haupttitel IcH PACKE
tionsbildung und Traditionserschütterung führt. Sie MEINE BIBLIOTHEK AUS ist durchaus biographisch ZU
thematisieren das Verhältnis von einer Überlieferung, verstehen. Erstmals nach dem Auszug aus der elterli-
die über lange Jahrhunderte an die Gestalt des ge- chen Villa und der Scheidung konnte Benjamin in der
druckten Buchs sich heftete, zu den Umwälzungen, die neuen Berliner Wohnung die schätzungsweise zwei-
durch neue audiovisuelle Reproduktionstechniken tausend Bücher seiner Bibliothek wieder aufstellen (2,
entstanden sind, und stoßen damit auf die prekäre 544).
Rezeption der Technik im 20. Jh. Benjamin versetzt den »Hörer<< in den Augenblick
Den Ausgangspunkt bilden die Lesestücke IcH des Auspackens. »Ich muß Sie bitten, mit mir in die
PACKE MEINE BIBLIOTHEK AUS, DER DESTRUKTIVE Unordnung aufgebrochener Kisten, in die von Holz-
CHARAKTER UND ERFAHRUNGSARMUT, die im Schnitt- staub erfüllte Luft, auf den von zerrissenen Papieren
feld von Weimarer Krise und Exil entstanden. In ihnen bedeckten Boden, unter die Stapel eben nach zweijäh-
ist vorgezeichnet, wie Benjamin Traditionsbildung und riger Dunkelheit wieder ans Tageslicht beförderter
Destruktion zusammenzudenken versucht. Eckhardt Bände sich zu versetzen, um von vornherein ein wenig
Köhn hat in einem äußerst sorgfältig recherchierten, die Stimmung [... ] zu teilen, die sie in einem echten
erhellenden Aufsatz den historischen und autobiogra- Sammler erwecken. Denn ein solcher spricht zu Ihnen
phischen Kontext dieser Texte rekonstruiert (Köhn [... ]<< (IV, 388).
2000). In aller Kürze läßt sich die historische Konstel- Statt die Bücher, wie es naheläge, Stück für Stück in
lation mit zwei paradoxalen Sätzen umreißen: daß der die Regale zu stellen, kommt er ins Grübeln und ins
452 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Erinnern, während er gleichzeitig seine Bibliothek staatlichen Bibliotheken, Museen und Archive. >>Wenn
weiter auspackt und einzelne Bände in die Hände öffentliche Sammlungen nach der sozialen Seite hin
nimmt. Es wird eine lange Rede, die Benjamin hier unanstößiger, nach der wissenschaftlichen nützlicher
hält. Mit der letzten halbgeleerten Kiste ist es schon sein mögen als die privaten - die Gegenstände kom-
längst nach Mitternacht geworden. Und nun, mit dem men nur in diesen zu ihrem Recht« (IV, 395; nochmals
Ende des Textes, >>verschwindet<< der Sammler im >>Ge- im Fuchsaufsatz Il, 502 u. IV, 510). Persönliche Lei-
häuse, dessen Bausteine Bücher sind« (396). denschaft und individueller Spürsinn bilden im Pri-
Wenn man sich vor Augen hält, daß die Jahre zwi- vatmann den Antrieb. Für den Sammler schießt die
schen 1930 und 1933 für Benjamin mit äußerster po- Sammlung >>ZU einer magischen Enzyklopädie« zusam-
litischer und intellektueller Spannung angefüllt sind, men, die nicht allgemeinen systematischen Klassifika-
die sich auch biographisch in seiner gleichzeitigen Be- tionssystemen gehorchen muß. Ihm ist der Umstand
ziehung zu Brecht, Adorno und Scholem spiegelte, so des persönlichen Erwerbs eines einzelnen Exemplars
muß diese tiefe Reflexion auf das Sammeln fast abwe- wichtiger als jede sachliche Vollständigkeit, weshalb
gig erscheinen. Dies um so mehr, als am Schluß das ihm bibliophile Neudrucke fragwürdig erscheinen. Er
>>Unzeitgemäße[) dieser Passion« hervorgehoben und hat noch den >>Sinn für die Aura um ein Buch« (VI,
mit Verweis auf Hege! gesagt wird: >>Erst im Aussterben 171).
wird der Sammler begriffen«. Wozu wäre also über Diese Aura entsteht allererst, wenn die Bücher aus
einen Typus zu reden, über den >>die Nacht herein- dem Verkehr geraten sind und also >>der Gegenstand
bricht« (395)? aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird [... ].
Aber, und deshalb zögert Benjamin nicht, sich als Es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das Ein-
>>Ich« auf die Rampe zu bitten, in der Figur des Samm- zelne in einen Bannkreis einzuschließen, indem es,
lers entsteht ein Selbstporträt, das in seinen intellek- während ein letzter Schauer (der Schauer des Erwor-
tuellen Beziehungen nicht aufgeht und somit etwas benseins) darüber hinläuft, erstarrt. [... ] Sammeln ist
Eigenstes bezeichnet. Benjamin will sich als Sammler eine Form praktischen Erinnerns und unter den pro-
verstehen. Dazu gehört auch, daß unter den vielen fanen Manifestationen der >Nähe< die bündigste« (V,
Aspekten, die er thematisiert, der eine völlig fehlt, die 271). Dieses Zitat entstammt der Passagenarbeit (Kon-
eigene Bibliothek als ein Arbeitsinstrument zur Pro- volut H), wo Benjamin wichtige Formulierungen aus
duktion von Texten vorzustellen. Immer wenn Benja- der Rede über das Sammeln wieder aufgezeichnet
min auf seine Bibliothek rekurriert, spricht er über hat.
>seine Sammlung<. Am Schluß des Textes verschwindet der Sammler
Das beginnt bereits mit seiner ersten Zeitschriften- auf doppelte Weise. Er verschwindet >>im Gehäuse,
publikation über >>Alte vergessene Kinderbücher« (III, dessen Bausteine Bücher sind« (IV, 396). Und es wird
12-22) von 1924 und setzt sich u.a. fort in den Artikeln sein historisches Verschwinden festgestellt. >>Erst im
AuSSICHT INS KINDERBUCH (IV, 609-615) und Bü- Aussterben wird der Sammler begriffen« (395). Man
CHER VON GEISTESKRANKEN. Aus MEINER SAMMLUNG kann in dieser Geste des Verschwindens eine Vorah-
(IV, 615-619) von 1928. Bald nachjener Rede über das nung des Exils sehen. Aufschlußreicher ist aber ein
Bibliotheksauspacken erscheint der Artikel FüR ARME anderer Bezug. Denn die Rede über das Sammeln ist
SAMMLER, in dem Benjamin auf ein besonderes, noch mit einem anderen im November 1931 in der Frank-
nicht erschlossenes Sammelgebiet für Bücher verweist, furter Zeitung publizierten Text eng verknüpft, der auf
das bislang nicht in den teueren Antiquariatsmarkt den ersten Blick in völligem Gegensatz zu ihm zu ste-
gelangt ist: >>das sind die veralteten« (IV, 599): Bücher hen scheint.
von Wedekinds Bruder Donald etwa oder Philipp Kel-
lers Gemischte Gefühle.
Für alle diese Texte Benjamins ist charakteristisch,
daß sie ein erstaunliches Plädoyer für den Privatbesitz nDer destruktive Charakter«
als >>Glück des Privatmanns« (IV, 396) darstellen. Denn
nichts anderes stellt eine Sammlung dar als einen Schatz Auch dieser Text läßt einen biographischen Kontext
im privaten Gehäuse. Ist eigentlich >>Erbschaft die trif- zumindest erahnen, wenn es vom destruktiven Cha-
tigste Art und Weise zu einer Sammlung zu kommen«, rakter heißt, daß er nicht aus dem Gefühl, das Leben
so wird den »vornehmsten Titel einer Sammlung [... ] sei lebenswert, heraus lebt, sondern dem, >>daß der
immer ihre Vererbbarkeit bilden« (395). Selbstmord die Mühe nicht lohnt« (IV, 398). Tatsäch-
Benjamins Lobrede auf den Sammler lenkt Miß- lich hatte Benjamin im August des Jahres den Ent-
trauen auf die öffentlichen Sammlungen - also die schluß gefaßt, seinem Leben ein Ende zu setzen. >>Ich
Zu Traditionskrise, Technik, Medien 453

verleihe mir vor Toresschluß einen Titel, den Lichten- Welt anders herum auf, aber nicht minder destruktiv
berg erdacht hat >Professor philosophiae extraordina- gegen das Bestehende gerichtet. »Die alte Welt erneu-
riae<<<, heißt es im TAGEBUCH VOM SIEBENTEN AUGUST ern -das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers
NEUNZEHNHUNDERTEINUNDDREISSIG BIS ZUM TODES- [... ]«(IV, 390). Beide operieren am Ursprung des Da-
TAG (VI, 443). Was Benjamin von dem Entschluß ab- seins.
gebracht hat, wird sich nicht mehr ermitteln lassen,
aber daß aus dieser Situation jener Text entstanden ist,
zeigt die Formulierung, »beim Rückblick auf sein Le- "Erfahrungsarmutcc
ben« könne jemand unversehens zu der schockhaften
Einsicht gelangen, wie stark er von als >destruktiv< gel- Der in DER DESTRUKTIVE CHARAKTER formulierten
tenden Personen geprägt worden ist. Der Schock er- Position korrespondiert ein anderer Text, den Benja-
fährt seine Auflösung in der sodann folgenden »Dar- min im Sommer 1933 auf Ibiza geschrieben hat (vgl.
stellung des destruktiven Charakters« (IV, 396). Il, 960): ERFAHRUNGSARMUT. Er erschien im Dezem-
Benjamin beschreibt sich nicht selbst als destruktiven ber 1933 in der von Willy Haas in Prag herausgegebe-
Charakter, benennt aber auch nicht genauer die »tiefe- nen Exilzeitschrift Die Welt im Wort. Dort erhielt er
ren Bindungen« an bestimmte destruktive Personen. den Titel »Erfahrung und Armut«, den alle Benjamin-
Der destruktive Charakter bleibt ein anonymes Phan- editionen weiter verwenden, obschon er nicht von
tom, hinter dem man vergeblich ein reales Vorbild - Benjamin stammt. Im Nachlaß ist das »Handexem-
etwa Brecht?, etwa Asja Lacis? -zu erkennen versucht. plar« erhalten, das den korrekten Titel und wichtige
Es gibt aber gute Gründe, diese Figur und den Samm- Zusätze enthält (II, 961-963).
ler in einem Zusammenhang zu betrachten. Der Text hat in mehrfacher Hinsicht Schlüsselcha-
Zunächst stellt sich der Zusammenhang als Gegen- rakter. Man könnte sagen, daß Benjamin hier, aber
satz dar. Während der Sammler sich im dinglichen auch nur hier, sich selbst als destruktiven Charakter
Gehäuse seiner Bibliothek sozusagen einmauert, kennt positioniert. Allerdings spricht er, anders als in den
der destruktive Charakter »nur eine Parole: Platz schaf- beiden eben behandelten Texten, nicht von sich als
fen; nur eine Tätigkeit: räumen« und nur ein »Bedürf- Einzelperson, sondern spricht im Namen eines» Wir«,
nis: das »nach frischer Lust und freiem Raum [... ] « (IV, nämlich im Namen »einer Generation, die 1914-1918
396). Während der Sammler in der Einsamkeit »sein eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltge-
Schicksal« stillt (IV, 998), »muß der Zerstörende fort- schichte gemacht hat« (II, 214). Durch das »Wir« wirkt
dauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksam- der Text wie ein Manifest.
keit umgeben« (IV, 397). Zu Beginn erinnert Benjamin an das Generations-
Angesichts des offenkundigen Gegensatzes beider schema der Weitergabe von >Lebenserfahrung< der
Figuren muß nun die weitere Feststellung äußerst Älteren an die Jungen, das in mündlichen Erzählfor-
überraschen: »Der destruktive Charakter steht in der men autorisiert war. Die ungeheure Erfahrung des
Front der Traditionalisten« (IV, 398). Er zertrümmert Weltkriegs sperrt sich dagegen. »Konnte man damals
nicht einfach das Überlieferte, sondern erzeugt »Trüm- nicht die Feststellung machen: die Leute kamen ver-
mer [... ] um des Weges willen, der sich durch sie hin- stummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mit-
durchzieht« (ebd.). In einer Variante des Textes heißt teilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre danach
es dazu: »Einige machen die Dinge tradierbar (das sind in der Flut der Kriegsbücher ergossen hat, war alles
vor allem die Sammler, konservative, konservierende andere als Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt.
Naturen), andere machen Situationen handlich, zitier- Nein, merkwürdig war das nicht. Denn nie sind Erfah-
bar sozusagen: das sind die destruktiven Charaktere« rungen gründlicher Lügen gestraft worden als die stra-
(IV, 1000). tegischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftli-
Hier beginnt sich also der einfache Gegensatz auf- chen durch die Inflation, die körperlichen durch den
zulösen. Wir stoßen auf eine tiefe Komplementarität Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Ge-
beider Figuren. Sie beruht darauf, daß beide eine Ar- neration, die noch mit der Pferdebahn zur Schule ge-
beit des Überlieferns verrichten. Denn für Benjamin fahren war, stand unter freiem Himmel in einer Land-
ist Überlieferung nicht das unantastbar und unverän- schaft, in der nichts unverändert geblieben war als die
derlich Tradierte, sondern das in jeder Generation neu Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstö-
Hergestellte. Der destruktive Charakter weiß sich im render Ströme und Explosionen, der winzige gebrech-
historischen Auftrag, die Welt zu verjüngen, indem sie liche Menschenkörper« (II, 214).
jederzeit auf »ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft Eine »ganz neue Armseligkeit« sei mit dieser »un-
wird« (IV, 999). Der Sammler faßt die Verjüngung der geheuren Entfaltung der Technik« über die Menschen
454 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

gekommen (ebd.). In ihr prägt sich auf der kulturellen >>schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen
Ebene aus, was Krieg, Inflation und Weltwirtschafts- Windeln dieser Epoche liegt<< (II, 216, vgl. hier und
krise als ökonomische Verelendung erzeugten. Aber zum Folgenden analoge Passagen aus dem Kraus-
diese Verelendung erzeugte nicht allein nacktes Elend, Komplex I, 1112 u. ll04ff.). Und erführt als die >>be-
sondern auch Gier nach kultureller überblendung. sten Köpfe<<, die sich solche Maximen zueigen gemacht
»Wie in der Inflation alles gegessen wurde, so wurde haben, auf: Descartes, Einstein, die Kubisten, Klee,
auch alles als Roman verschlungen. Selbst Philoso- Brecht, Loos, Scheerbart, Le Corbusier. Sie haben be-
pheme<< (IV, 1014). Dieser Beobachtung aus einem gonnen, reinen Tisch zu machen, um >>aus Wenigem
Nachlaßtext über den Niedergang des Romans ent- heraus zu konstruieren<< (II, 215).
spricht in ERFAHRUNGSARMUT die Feststellung, daß Erstaunlicherweise fällt hier das Stichwort des >>de-
mit der neuen Armseligkeit ein beklemmender Reich- struktiven Charakters<< nicht, obschon die angeführten
tum alter und neuer Heilsideologien >>über die Men- Namen dazu passen würden. Statt dessen fällt ein an-
schen gekommen<< sei (II, 214). Verhindert wird damit deres Stichwort: Barbarentum. >>Barbarentum? In der
die Einsicht, daß etwas Elementares zerbrochen ist. Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff
Dies ist, was Benjamin mit einer ganz konservativ er- des Barbarenturns einzuführen. Denn wohin bringt
scheinenden Geste die >>Erfahrung<< nennt, die von die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn
Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlecht, im dahin, von vorn zu beginnen; von Neuern anzufangen;
Sprichwort, im Erzählen wie im Wort des Sterbenden mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu
weitergegeben wird. Die >>Flut der Kriegsbücher<< (Il, konstruieren und dabei weder rechts noch links zu
214; vgl. näher dazu die Notizen in VI, 165 f.!) hat diese blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die
Erfahrung der Erfahrungsarmut nur übertüncht. Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch
Rolf Tiedemann hat darauf verwiesen (II, 1281), daß machten<< (II, 215).
Benjamin seit ca. 1928 in größerem Umfang Aufzeich- Daß Benjamin mit dem Stichwort Barbarentum,
nungen zum Komplex Roman und Erzählen nieder- allerdings unausgesprochen, auf Nietzsche rekurriert,
geschrieben hat. Ein Teil findet sich im dortigen An- soll im Kontext des Fuchsaufsatzes noch näher analy-
merkungsapparat (II, 1281-1288) abgedruckt, ein siert werden. Hier genügt es zunächst, kurz auf die
weiterer im Apparat des Bandes IV, 1010-1015. Hin- eigenartige Wirkungsgeschichte von Benjamins Ma-
zuzuziehen wären weitere Notizen aus dem Nachlaß, nifest einzugehen. Zeitgenössisches Echo scheint Ben-
u.a. zum Proust- und zum Kafka-Aufsatz. In der Tat jamins Text nicht gefunden zu haben. Als Ausnahme
eröffnen diese bislang kaum erschlossenen Texte Ein- erscheint der ausführliche, sehr zustimmende Brief
blick in höchst intensive und weitreichende Reflexio- von Carl Linfert (in Luhr 2000, 121 f.). Das Stichwort
nen über das Verhältnis von mündlichem Erzählen des Positiven Barbarenturns hat in der Benjaminrezep-
und dem Niedergang der Romanform unter den Be- tion erst später gezündet (Lindner 1978; Reschke 1992;
dingungen der neuen Medien. Benjamins Frage ist, wie Schneider 1996; Raulet 2004). Benjamins Manifest
das Erzählen unter diesen Bedingungen überleben wirft eher Fragen auf, als daß es sich auf bestimmte
kann. Er tritt der Befürchtung entgegen, daß es »des- Parolen reduziere ließe. Dies betrifft vor allem die
avouiert wird: die Schilderung durch den Fernseher, Schlußpassage. >>Arm sind wir geworden. Ein Stück des
die Worte des Helden durchs Grammophon, die Moral Menschheitserbes nach dem anderen haben wir da-
von der Geschichte durch die nächste Statistik, die hingegeben, oft um ein Hundertstel des Wertes im
Person des Erzählers, durch alles, was man von ihr Leihhaus hinterlegen müssen, um die kleine Münze
erfahrt. [... ] Das Erzählen wird schon bleiben<< (II, des >Aktuellen< dafür vorgestreckt zu bekommen. In
1282). Diesen Kontext muß man mitbedenken, wenn der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schat-
man die Bestandsaufnahme liest, die Benjamin in ER- ten, der kommende Krieg. Festhalten ist heut Sache
FAHRUNGSARMUT vornimmt. Bestätigt wird dies auch der wenigen Mächtigen geworden, die weiß Gott nicht
dadurch, daß Benjamin die folgende Passage später menschlicher sind als die vielen; meist barbarischer,
wörtlich in den Anfang des Aufsatzes DER ERZÄHLER aber nicht auf die gute Art. Die anderen aber haben
(vgl. Il, 439) übernimmt. sich einzurichten, neu und mit Wenigem. [... ] Mag
Aber anders als der Kulturkonservatismus propa- doch der Einzelne bisweilen ein wenig Menschlichkeit
giert Benjamin keine Restauration. >>Gänzliche Illusi- an jene Masse abgeben, die sie eines Tages ihm mit Zins
onslosigkeit über das Zeitalter und dennoch rückhalt- und Zinseszinsen wiedergibt<< (II, 219).
loses Bekenntnis zu ihm<< (II, 216), lautet seine Parole. Zählen wir erst einmal die Fragen auf. Was meint
Man muß, wie die drastische Formulierung lautet, Ende 1933 >>die Wirtschaftkrise<< und was der >>kom-
>>den nackten Zeitgenossen<< im Blick haben, der mende Krieg<<? Rechnet Benjamin wie Brecht und
Zu Traditionskrise, Technik, Medien 455

manche andere Intellektuelle mit einem raschen Bank- Und noch in einem seiner letzten Texte, UNE LETTRE
rott der Nazis, der in einem Bürgerkrieg kulminiert? DE WALTER BENJAMIN AU SUJET DE >LE REGARD< DE
Und was heißt >>festhalten<<, das heute die Sache von GEORGES SALLES vom März 1940, als Brief an die mit
»wenigen Mächtigen<< geworden ist? Wie sollte man ihm befreundete Buchhändlerirr Adrienne Monnier
diese Passage auf Hitlers Sieg beziehen? Was heißt, die gerichtet, kommt er auf seine Sammlungen zurück.
Menschheit bereite sich darauf vor, »die Kultur, wenn »J'ai connu une suite d'annees ou !es transports !es
es sein muß, zu überleben<< (II, 219), wenn gleichzeitig plus doux m'ont ete inspires par !es pieces d'une col-
in Nazideutschland die Bücher brennen? (Vgl. auch lection que j' avais rassemblees avec une patience ar-
die ähnlich lautende Formulierung in der Mickey dente. Depuis septans que j'ai du m'en separer je n'ai
Mouse-Notiz VI, 144). plus cette brume [... ].Mais Ia nostalgie de cette ivresse
Der Bezug zur eigenen unsicheren Situation wird m'est reste. N'ayant eu ni Ia forcenie Je courage de me
deutlicher in einer handschriftlichen Variante des Tex- refaire une collection, un transfert s' est opere en moi.
tes. Hier notiert Benjamin: »Aber wer kann denn ernst- Gräce a lui des passion qui, autrefois, allaient vers !es
lich annehmen, die Menschheit werde den Engpaß, der pieces qui m'obsedaient se sont tournees vers une re-
vor ihr liegt, mit dem Gepäck eines Sammlers oder cherche abstraite, vers I' essence de Ia Collection elle-
Antiquitätenhändlers beladen, je überschreiten?<< (II, meme. Ou bien vers ce mysterieux genre d'homme qui,
961). Doch ein solches Gepäck trug Benjamin mit sich avec Leon Deubel, peut dire: >Je crois ... amon äme: Ia
ins Exil. Und er wollte sich davon nicht trennen, viel- Chose<<< (III, 594).
mehr hat er alles dazu getan, daß seine Bücher und Ganz trifft Benjamins Selbstbeschreibung nicht zu.
seine Manuskripte aus Berlin herausgeholt wurden. Denn im Exil hat er eine andere Sammlung begonnen,
Wir können ERFAHRUNGSARMUT durchaus als einen die er bis zum Tode fortführen wird: die Konvolute
Schlüsseltext verstehen, der auch biographisch den von Exzerpten aus den Beständen der Pariser Natio-
Zwischenzustand zwischen dem Ende der Weimarer nalbibliothek, die er für die neu konzipierte Passagen-
Republik und dem beginnenden Exil zu ftxieren sucht. arbeit herstellt. Ohne jenen Sammlertrieb könnte eine
In ihm will Benjamin, wie er selbst sagt, »Abstand hal- derartig immense Schreibarbeit gar nicht zustande
ten, zurücktreten<< (II, 219) und weder »rechts noch kommen.
links [... ] blicken<< (215), sondern einen >Nullpunkt< Wenn die Passagenarbeit ein eigenes Konvolut »Der
festhalten, ohne schon einen praktischen Neuanfang Sammler<< einrichtet, so geht es nicht allein um einen
aufzuzeigen. Die Perspektiven, die der Text eröffnet, historischen Typus, den das 19. Jh. ausgeprägt hat,
bleiben unbestimmt. Aber von ihm aus läßt sich weiter sondern eben auch um die Selbstreflexion des eigenen
verfolgen, welches Gepäck Benjamin auf den Engpaß Tuns. Und hier hat die obige Formulierung von der
mitnimmt und wieso er neu auf die destruktive Figur theoretischen Erkundung des Wesens der Sammlung
des Sammlers stößt. und des Sammlers ihren genauen Sinn. Benjamin ver-
schärft in den Notizen dieses Konvoluts die dialekti-
sche Spannung zwischen Destruktion und Bewahrung
nEduard fuchs. in der Figur des Sammlers, indem er sie auf die Auf-
Der Sammler und der Historiker<< gabe des Geschichtsschreibers projiziert.
Die Theorie des Sammlers wird weiterentwickelt
In den dürftigen Verhältnissen des Pariser Exils verlor und präzisiert in der Abhandlung EDUARD FucHs. DER
Benjamin keineswegs das Interesse am Sammler. An SAMMLER UND DER HISTORIKER, die 1937 in der Zeit-
Gretel Adorno schreibt er im Januar 1934 nach Berlin: schrift für Sozialforschung erschien und im Auftrag
»Neulich sah ich eine wundervolle Sammlung [... ]. Sie Horkheimers verfaßt wurde. Dieser war vom Ergebnis
gehört einem Deutschen, der seit acht Jahren in Paris außerordentlich befriedigt. Auch bei diesem Text er-
lebt, und umfaßt primitive Malerei der Gegenwart, vor gaben sich vor dem Abdruck Änderungen im Manu-
allem aber des neunzehnten Jahrhunderts<< (4, 330). skript, die man den beiden umfangreichen Briefen
Und etwas später schreibt er ihr von seiner »Sehnsucht entnehmen kann, die zwischen Horkheimer und Ben-
nach der kleinen Sammlung von bunt illustrierten jamin gewechselt wurden (II, 1329-1345). Sie sind aber
Kolportagebüchern [... ],die ich bei Dir stehen habe bei weitem nicht derart gravierend wie die Umarbei-
[... ]<< (352). Im Zusammenhang mit der Ȇbersiedlung tungen bei der Publikation von DAS KUNSTWERK IM
nach Amerika<< erwähnt er Sigmund Morgenroth und ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBAR-
fügt hinzu: »mit niemandem stellt sich mir ein Kontakt KEIT. Der Fuchsaufsatz ist übrigens der einzige Text,
leichter her als mit einem Sammler<< (6, 248). der Benjamin einen bewundernden Brief Brechts ein-
getragen hat (vgl. II, 1354).
456 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Benjamin hatte überhaupt keine Lust zu dieser Auf- tion im Begriff der Tradition selbst und der Geschichts-
tragsarbeit. Er entledigte sich dieser Hemmnisse und schreibung als Traditionsherstellung betreffen. Es er-
Widerstände am Ende dadurch, daß er einen Spagat geben sich zentrale theoretische Formulierungen, die
unternahm. Auf der einen Seite entsteht ein eindrucks- fast wörtlich in die Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER
volles Lebensbild aus der Pionierzeit des Sozialismus; GESCHICHTE übernommen werden!
auf der anderen Seite stülpt Benjamin, kunstvoll ver- Der historische Materialist, fordert Benjamin, müsse
deckt, Fuchs seine eigene Programmatik über. die kontemplative Haltung seinem Gegenstande ge-
In dieser Hinsicht ist der Einsatzpunkt der Kon- genüber aufgeben, >>um der kritischen Konstellation
struktion wirklich genial gewählt. Benjamin wirft sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment
gleich zu Anfang das Problem auf, daß es keine Ge- der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich
schichte der >>marxistischen Kunsttheorie<< gibt. Es sei befindet. [... ] Die Erfahrung mit der Geschichte ins
»rücksichtslos einzuräumen, daß es nur in vereinzelten Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüng-
Fällen<< - und hier redet Benjamin pro domo - >>ge- liehe ist - das ist die Aufgabe des historischen Mate-
lungen ist, den geschichtlichen Gehalt eines Kunst- rialismus. Er wendet sich an ein Bewußtsein der Ge-
werks so zu erfassen, daß [... ] sein nüchterner genwart, welches das Kontinuum der Geschichte auf-
geschichtlicher Gehalt vom dialektischen Erkennen sprengt<< (li, 467 f.).
betroffen wird<< (Il, 469). GOETHES WAHLVERWANDT- In diesen auszugsweise zitierten Formulierungen ist
SCHAFTEN und URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUER- der Gedanke der Sprengung des ideologischen Konti-
SPIELS, auf das eine Fußnote ausdrücklich verweist, nuums, das die Geschichte als einen nacherzählbaren
werden hier neu in Anschlag gebracht als Untersu- Geschehensverlauf vermeint, der entscheidende. Es
chungen, an denen sich der >>Standard des historischen bedarf des destruktiven Moments, um den histori-
Materialismus<< allererst zu erweisen habe. schen Gegenstand selbst überhaupt erst konstituieren
Benjamin macht deshalb auch gar keinen Versuch, zu können. Erst durch diese Destruktion-Konstruktion
den sozialistischen Autodidakten Fuchs zu einem tritt die Geschichte als Geschichtlichkeit in den Blick.
wichtigen Kunsttheoretiker zu erklären. Vielmehr setzt Nicht ein rückblickendes, allumfassendes >>Verstehen<<
er ein beim Sammler Fuchs. In dessen riesigen Samm- alles Gewesenen ist intendiert; vielmehr soll das
lungen, die er als Material seinen Publikationen zu- >>Nachleben des Verstandenen<< (und Mißverstande-
grundelegte, prägte sich nicht bloß eine obsessive pri- nen), in dem der Gegenstand fortwirkte (oder verges-
vate Leidenschaft des Besitzwillens aus. >>Seine Samm- sen wurde), in der Gegenwart des materialistischen
lungen sind die Antwort des Praktikers auf die Aporien Historikers >>spürbar<< werden (II, 468).
der Theorie<< (II, 469). In seiner Praxis als Sammler hat Fortgesetzt werden diese Überlegungen dann im
Fuchs auf die Defizite der marxistischen Theorie ge- dritten Abschnitt des Fuchsaufsatzes, der wiederum
antwortet, freilich ohne das zu reflektieren. zentrale Formulierungen enthält, die in die Thesen
In dieser Konstruktion spiegelt sich übrigens auch ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE eingegangen
der Briefwechsel über die Passagenarbeit wieder, der sind. Benjamin wendet sich massiv gegen eine fetischi-
zeitgleich zwischen Adorno und Benjamin stattfand stische Konzeption von Kulturgeschichte, von der auch
(vgl. den Artikel >>Die Passagenarbeit<<, 251-274).Auch Fuchs nicht frei ist. Er verwirft eine besitzhafte Vor-
Benjamin zog sich gegen Adornos Drängen, das theo- stellung, die den historischen Gegenstand sich >>ding-
retische Fundament müsse vorab fertiggestellt werden, haft, handlich in den Schoß fallen<< sieht und über
gewissermaßen auf die Sammler-Position zurück: erst keine >>echte, d.i. politische Erfahrung<< (II, 477) ver-
im Fortschreiten der Zitat-Konvolute könne die Theo- fügt. Der materialistische Historiker könne die Lei-
rie ihre präzise Ausformulierung gewinnen. Allerdings stungen von Kunst und Wissenschaft >>nicht ohne
ist die Sammlung, die die Passagenkonvolute darstel- Grauen<< betrachten. >>Es ist niemals ein Dokument der
len, selbst theoretisch angelegt. In ihr wird in Form Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein<<
von Zitaten und Einzelnotizen ein eigenes Konvolut (476f.). Das wäre kein schlechter Prüfstein, vor dem
zur Erkenntnistheorie ausgearbeitet wie ebenso ein sich die neuerliche Popularität der Kulturwissenschaft
Konvolut, das der Figur des Sammlers gewidmet ist. zu verantworten hätte.
Die Fertigstellung des Fuchsaufsatzes nötigte und Ob Benjamins Konzeption des geschichtlichen Er-
ermöglichte Benjamin nun, einen Teil dieser Notizen kennens, die von der prinzipiellen Unabgeschlossen-
zum Sammler und zur Geschichtstheorie auszuwerten heit des historischen Gegenstands ausgeht, ohne theo-
und in ausgearbeiteter Textform niederzulegen. Hier logische Implikationen gedacht werden kann- was der
werden wichtige eigene Einsichten formuliert, die die Fuchsaufsatz offenkundig vermeidet- , soll hier un-
dialektische Verbindung von Tradition und Destruk- erörtert bleiben. Horkheimer jedenfalls hat diese ver-
Zu Traditionskrise, Technik, Medien 457

borgene Implikation sehr genau gespürt und im Brief Besonders wichtig sind die Zwischentöne, mit denen
an Benjamin thematisiert (II, 1332 f.), was wiederum Benjamin im Gestus des loyalen Referierens andere
Benjamin zu einer wichtigen Erläuterung veranlaßt Akzente setzt, als sie in den Leitartikeln von Horkhei-
hat (1338). mer und Marcuse vorgegeben sind. >>Erlittenes Unrecht
Wodurch sieht aber nun Benjamin den Sammler legt Selbstgerechtigkeit nahe. Das hat noch für jede
Fuchs in die Nähe seiner eigenen Überlegungen ge- Emigration gegolten. Das heilsamste Mittel dagegen
rückt? Nicht unmittelbar durch den Gegenstandsbe- wird sein, im erlittenen Unrecht das Recht zu suchen<<
reich des Sammlers (Karikatur, erotische Kunst, Sit- (522). Die von den Nazis vertriebenen Intellektuellen
tengeschichte), sondern dadurch, daß Fuchs bei der können aus diesem Unrecht kein Privileg ableiten. Wie
Sammlung und Auswertung dieses Materials zu einer schon im Fuchsaufsatz nimmt Benjamin Anstoß am
neuen Betrachtungsweise genötigt wird, nämlich zur Begriff des Erbes und warnt vor der fatalen >>Süffisanz
>>ikonographischen Auslegung<<, zum Augenmerk auf der Erbberechtigten<<, sich im Namen der deutschen
>>Massenkunst<< und zum >>Studium der Reprodukti- Kultur zu positionieren. Die Vorstellung vom Erbe sei
onstechnik<<. Weiter heißt es: >>Diese Teile des Fuchs- ganz irreführend. >>Denn die geistigen Besitztümer sind
sehen Werks sind bahnbrechend. Sie sind Bestandteile derzeit um nichts besser gewährleistet als die materi-
einer jeden künftigen materialistischen Betrachtung ellen. Und es ist Sache der Denker und Forscher, wel-
von Kunstwerken<< (II, 479f.). In der Tat kann Benja- che noch eine Freiheit der Forschung kennen, von der
min einige erstaunliche Zitate aus den Büchern von Vorstellung eines ein für alle Mal verfügbaren, ein für
Fuchs als Belege anführen (vgl. II, 502-504). Das än- alle Mal inventarisierten Bestandes an Kulturgütern
dert jedoch nichts daran, daß das Programm, das er sich zu distanzieren<< (III, 525).
Fuchs unterstellt, ganz und gar das seine ist. Ohne Genau diese Distanzierung scheint ihm nicht grund-
seine Theorie der technischen Reproduzierbarkeit, die sätzlich genug vollzogen. Das Defizit des Marxismus
die ein Jahr vorher publizierte Arbeit DAs KuNSTWERK in >ÜberbaU<-Fragen, mit dem schon der Fuchsaufsatz
IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIER- einsetzt, bleibt noch bestehen, wenn der krude Blick
BARKElT entfaltet, wäre er auf die Überlegungen von auf die richtige soziale Tendenz gegen eine dialektische
Fuchs zur bildliehen Vervielfältigungstechnik kaum Würdigung des überlieferten ausgewechselt wird. Ge-
gestoßen. Und es betrifft überhaupt nicht mehr Fuchs, fordert ist statt dessen eine neue dialektische Bestim-
sondern eben Benjamin selbst, wenn es weiter heißt: mung dessen, was überlieferung heißt. Benjamin steht
>>Den drei genannten Motiven ist eines gemeinsam: sie seine Entdeckung der technischen Reproduzierbarkeit
enthalten eine Anweisung auf Erkenntnisse, die sich vor Augen, wenn er fordert: >>den technischen Bedin-
an der hergebrachten Kunstauffassung nicht anders gungen kulturellen Schaffens, seiner Aufnahme und
erweisen können als destruktiv<< (II, 480). seines überdauerns nachzugehen, schafft, auf Kosten
Wie wichtig Benjamin die eigene Programmatik bequemer übereinkommen, einer echten Überliefe-
nahm, die durch die Veröffentlichung des Fuchs- und rung Platz<< (ebd.).
des Kunstwerkaufsatzes in Horkheimers Zeitschrift für In diesem Sinne verwirft Benjamin das Theorem
Sozialforschung ausgewiesen war, findet sich durch eine vom >>affirmativen Charakter der Kultur<< und seiner
andere kleine Arbeit bestätigt, nämlich den Aufsatz >>falschen Aufhebung<<, mit dem Marcuse die ästheti-
über Horkheimers Institut in der Exilzeitschrift Maß sche Ideologie der Schönen Seele einer dialektischen
und Wert (1938) (EIN DEUTSCHES INSTITUT FREIER Prüfung unterziehen will. Daß Marcuse zum Beleg
FoRSCHUNG, 111, 518-526; vgl. dazu Lindner 2005; für Goethes affirmative Konzeption des Schönen aus-
Müller/Wizisla 2005). Zwar konnte er hier, wo es um gerechnet >>Der Sammler und die Seinigen<< zitiert,
ein quasi offizielles Porträt der Kritischen Theorie ohne den ironischen Kontext dieser Schrift zu gewah-
ging, sich nicht als eigenständige Figur herausstrei- ren, dürfte Benjamins Kopfschütteln hervorgerufen
chen. Aber er verzichtet nicht auf die Strategie, im haben. Er hatte im Kunstwerkaufsatz (s. den Artikel
Gestus des loyalen Referierens die eigene Position kri- zum Kunstwerkaufsatz, insbes. 238 ff.) eine völlig an-
tisch einzuschmuggeln. So gibt ein Klammerzusatz zu dere Konstruktion dessen, was hier nun affirmative
verstehen: >>Analog haben andere Forscher des Kreises Kultur heißt, vorgenommen und dabei Goethe ganz
die Frage nach den geschichtlichen Variablen der andere Einsichten über den >schönen Schein< zuge-
menschlichen Wahrnehmung aufgeworfen<< (III, 523 ). sprochen.
Damit ist indirekt ein Verweis auf den Kunstwerkauf- Der >>affirmative Kulturbegriff<<, heißt es korrigie-
satz gegeben, der genau mit dieser Frage, die sonst im rend, >>entstammt, wie manch anderer falscher Reich-
Horkheimer-Kreis von niemandem verfolgt wird, ein- tum, der Zeit des imitierten Renaissancestiles<<, also
setzt. der zweiten Hälfte des 19. Jh.s (III, 525). Das bezieht
458 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

sich auf Nietzsche- allerdings einen anderen als den, materialistischen Ansatzes, sondern vor allem wegen
den Marcuse zitiert. der praktischen Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse.
Dergestalt wurde der technische Fortschritt zum In-
begriff von Praxis. Hier setzt die Kritik ein. »Die Tech-
Nietzsches Alptraum -Technik nik aber ist offenbar kein rein naturwissenschaftlicher
Tatbestand. Sie ist zugleich ein geschichtlicher. Als sol-
Es ist von großer Wichtigkeit, Nietzsche als geheimen cher zwingt sie, die positivistische, undialektische
Stichwortgeber in Benjamins Neubestimmung des Trennung zu überprüfen, die man zwischen Natur-
Traditionsbegriffs mitzuhören. Wie bereits erwähnt, und Geisteswissenschaften zu etablieren suchte<< (II,
geht die Rede von einem neuen, positiven Barbaren- 474).
turn in ERFAHRUNGSARMUT auf analoge Formulierun- Dies nennt Benjamin >>die verunglückte Rezeption
gen bei Nietzsche zurück. Auch die negative Verwen- der Technik<< (475). Und dieses Verunglücken manife-
dung des Barbareibegriffs als Kennzeichnung der stierte sich drastisch im Weltkrieg, mit dem das neue
Kulturfetischisierung in der Moderne findet sich bei Jahrhundert begann. >>Diese Erfahrung blieb denn
Nietzsche vorgeprägt. Im letzteren Sinne heißt es im auch wirklich dem Jahrhundert, das folgte, vorbehal-
Fuchsaufsatz im Blick auf das Naziregime: >>In diesem ten. Es erlebt, wie die Schnelligkeit der Verkehrswerk-
Kulturbegriff schlummerten die Keime der Barbarei, zeuge, wie die Kapazität der Apparaturen, mit denen
die sich inzwischen entfaltet haben<< (II, 476). man Wort und Schrift vervielfältigt, die Bedürfnisse
Darüber hinaus fand Benjamin in der von ihm überflügelt. Die Energien, die die Technik jenseits die-
hochgeschätzten Schrift >>Vom Nutzen und Nachteil ser Schwelle entwickelt, sind zerstörende. Sie fördern
der Historie für das Leben<< einen diagnostischen Be- in erster Linie die Technik des Kriegs und die seiner
fund vor, den er im Fuchsaufsatz nur noch medienhi- publizistischen Vorbereitung« (475).
storisch übersetzen mußte. Die Argumentation erscheint wenig modern, ja ge-
Ähnlich wie Benjamin in ERFAHRUNGSARMUT radezu restaurativ. Aber was Benjamin technische
spricht Nietzsche von den Modernen, die vom Bil- ÜberflügeJung der Bedürfnisse nennt, enthält ja gerade
dungsgut aller Zeiten angefüllt sind, aber aus sich gar nicht etwa die Aufforderung, wieder zu den einfachen
nichts haben, und die in ihrer Kraftlosigkeit nicht ein- Bedürfnissen zurückzufinden, sondern ihr mit einem
mal merken, welchem Alptraum sie ausgesetzt sind. Bewußtsein der Destruktivität zu begegnen. Insofern
Das wissenschaftliche Wissen erstickt das >>Bedürfnis ist auch die irritierende Formulierung >>Rezeption der
zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilen- Technik« sehr genau gemeint.
den Historie<<. Kein vitaler Impuls bändigt mehr »das Wir sind gewohnt, heute mehr denn je, Technik auf
Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenz- die Seite des Machens zu setzen und sie somit als Stei-
pfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, gerung der Macht >des Menschen< zu denken. Damit
stürzt auf den Menschen zu. [... ] Ein solches unüber- wird vergessen, daß der neuzeitliche Prozeß der Tech-
schaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht [... ] « nisierung der Lebenswelt keineswegs primär einen
(Nietzsche 1954, 230; 231; 233). allgemeinen Zuwachs sachverständig-technischen Be-
Nietzsches Kritik am Positivismus der historischen wußtseins zur Folge hat. Ganz im Gegenteil.
Wissenschaften ist radikal, aber sie läßt die >>techni- Die Technisierung beendete aufs Ganze gesehen
schen Bedingungen des kulturellen Schaffens, seiner vielmehr den alten Begriff der Technik, der erlernbare
Aufnahme und seines Überdauerns<< (II, 525) weitge- Kunstfertigkeit, Übung und Geschick bedeutete. Mehr
hend außer Betracht. Diese Bedingungen haben sich noch: sie erzeugt, wie Blumenberg eindringlich gezeigt
zudem unterm Einfluß der technischen Reproduzier- hat, eine eigene reflexionsfeindliche Selbstverständ-
barkeit fundamental umgewälzt. Sie lassen sich nicht lichkeit des Umgangs mit ihr ( Blumenberg 1981). Das
unabhängig vom allgemeinen Prozeß der Technisie- Auto, das Fernsehen, der Computer wären drei her-
rung betrachten. Nietzsches Kritik des leblosen Kul- ausragende Beispiele dafür, wie in einer Generation
turprunks seiner Zeit ist also grundsätzlich zu erwei- technische Apparaturen assimiliert werden, ohne daß
tern. die Technisierung selbst noch in Frage gestellt werden
In dieser Hinsicht verdient der zweite Abschnitt des könnte. Der technische Fortschritt erscheint als hu-
Fuchsaufsatzes besondere Aufmerksamkeit. Benjamin man-konform. Die Unfälle, Katastrophen, Kriege dem-
attackiert die Hochschätzung der Naturwissenschaften gemäß allenfalls als >Entgleisungen< der positiven
bei allen sozialistischen Theoretikern jener Zeit. Die Möglichkeiten. Sie lehren überhaupt nichts - womit
Naturwissenschaften erschienen als Inbegriff der Wis- wir wieder beim Anfang von ERFAHRUNGSARMUT an-
senschaft nicht allein wegen ihres antimetaphysisch- gekommen wären.
Zu Traditionskrise, Technik, Medien 459

Eine glückende Rezeption der Technik bestünde also stes<< (III, 320) geführt haben, und sogar Ludwig Kla-
darin, den Prozeß der Technisierung als zerstörerisch, ges hierzu rechnet (III, 44), so wird deutlich, in wel-
als destruktiv zu gewahren und die Rückschritte der chen weitreichenden Horizont Benjamin seine
Gesellschaft (II, 474) im Fortschritt der Naturwissen- Überlegungen hineinstellt.) Die Abkehr von der Posi-
schaften als Erfahrung des Technischen zuzulassen. Das tion des privilegierten Denkens verlangt das alte Kon-
wäre die Erfahrung der Erfahrungsarmut. >>Eine ganz zept einer massenpädagogischen Popularisierung der
neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung Bildung aufzugeben. Es müsseangesichtsder Ausbrei-
der Technik über die Menschen gekommen« (II, 214). tung der illustrierten Presse und vor allem der neuen
Daß von dieser Einsicht, und nicht von den unabseh- Medien von Rundfunk und Film völlig neu gedacht
baren technischen Möglichkeiten, auszugehen sei, will werden. Und dies durchaus in nüchterner Einsicht in
der gesunde Menschenverstand nicht wahrhaben. die Marktabhängigkeit der freien Intelligenz (vgl.
KÄUFLICH, DOCH UNVERWERTBAR, Il, 630).
Benjamin will den unfruchtbaren Gegensatzbildun-
Neue Popularisierung - ))Lichtenberg. gen zwischen Konsument und Masse, Belehrung und
Ein Querschnitt<< Unterhaltung entkommen. So heißt es etwa zum
Rundfunk: »Der Hörer will Unterhaltung<< (IV, 548).
Von ERFAHRUNGSARMUT aus, auf Ibiza im Niemands- Er hört als Konsument. Er braucht Reize. »Die Masse
land zwischen Ende der Weimarer Republik und Exil will nicht belehrt werden. Sie kann Wissen nur mit
entstanden, läßt sich noch ein weiterer Zugang zu Ben- dem kleinen Chock in sich aufnehmen, der das Erlebte
jamins Schriften gewinnen. Denn in dem Text ist auch im Innern festnagelt<< (528). Diese Masse ist keine
die Geste der Verabschiedung von Benjamins eigener kompakte, uniformierte Masse, sondern eine An-
politischen und publizistischen Praxis erkennbar, von sammlung von »tausende[n] Einzelner<< (761 ), an de-
der er nach 1933 völlig abgeschnitten war. Die Stich- ren Neugier und an deren Stoffhunger angesetzt wer-
worte, der Intellektuelle müsse lernen, mit wenigem den muß.
auszukommen und aus der Erfahrung der Erfahrungs- In dieser Perspektive erscheinen Projekte, die Ben-
armut heraus zu produzieren, sind auch aus einem jamin beschäftigten, nicht länger mehr als skurril. Für
Rückblick gesprochen und beziehen sich durchaus auf das bekannte literarische Magazin Uhu plante er einen
die Programmatik des DESTRUKTIVEN CHARAKTERS. Text über das »Aufgehen der allgemeinen Bildung in
Die Rede ist hier ausdrücklich von kleineren Beiträ- der Reklame<<; ebenso eine »Zusammenstellung aller
gen, die in Band IV und II der Gesammelten Schriften Prophezeiungen für die nächsten 50 bis 100 Jahre aus
eher versteckt geblieben sind, aber, zusammen mit den Wirtschaft, Bevölkerungsstatistik, Technik, Meteoro-
Rundfunkarbeiten (vor allem Bd. VII) einen eigenen, logie, Kriegswissenschaft, Heilkunde, Erziehung<< (VI,
bis heute zu wenig gewürdigten Bereich der journali- 157). Und es ließen sich eine Reihe bis heute unbeach-
stischen Produktion Benjamins bilden. Sie stehen der tet gebliebener Glossen anführen- u. a. NICHTS GEGEN
Konzeption der EINBAHNSTRASSE näher als die großen DIE »ILLUSTRIERTE<<, IV, 448 f.; JouRNALISMUS IV, 454;
Rezensionen und die politisch-literarischen Essays. GLOZEL UND ATLANTIS, IV, 456; STAATSMONOPOL FÜR
IcH PACKE MEINE BIBLIOTHEK AUS, DER DESTRUKTIVE PoRNOGRAPHIE, IV, 459; EIN INTERNATIONALES GE-
CHARAKTER und ERFAHRUNGSARMUT gehören selbst SELLSCHAFTSSPIEL, IV, 459 -, in denen Tiefsinn und
hierzu. journalistische Leichtigkeit sich auf verblüffende Weise
Statt sie als Brotarbeiten oder Tagesschriftstellerei verbinden.
abzuqualifizieren, verdienen sie gerade von heute aus Aber diese neuen, medialen Bedingungen ermögli-
besondere Aufmerksamkeit. Sie ziehen Konsequenzen chen gerade eine Umschichtung der sozialen Organi-
aus der vehementen Zurückweisung der Position des sation des Wissens. Sie geht vom »Stoff<< aus. Alle me-
»privilegierten Denkens<<, das beansprucht,» Tradition dienästhetischen Überlegungen Benjamins und alle
[... ] seßhaft zu verwalten<< (III, 320). Wenn Benjamin Überlegungen zu verschiedenen Medien in dieser Zeit
feststellt, »daß ein Wissen, das keinerlei Anweisung auf vor dem Exil richten sich auf die Rehabilitierung des
seine Verbreitungsmöglichkeiten enthält,[ ... ] in Wahr- Stofflichen. So heißt es im PROGRAMM EINES PROLE-
heit überhaupt kein Wissen ist<< (III, 319; vgl. II, 473), TARISCHEN KINDERTHEATERS, man müsse die Kinder
so ist das keine Aufforderung zur Niveausenkung. aus dem Zauber bloßer Phantasie erlösen und sie »Zur
(Wenn Benjamin in diesem Zusammenhang auf die Exekutive an den Stoffen<< bringen (II, 766). »Stoff<< ist
beiden >>theologischen Denker<< Franz Rosenzweig und auch das Stichwort für die Veränderungen, die der
Florens Christian Rang verweist, die »in unserer Ge- Pressejournalismus hervorbringt (DIE ZEITUNG, II,
neration [... ] den Kampf gegen die Idolatrie des Gei- 629). Eine neue Aufmerksamkeit auf die Stoffe ist die
460 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Voraussetzung dafür, daß neue Formen gefunden und auf. So endet der in der Frankfurter Zeitung (Juli 1931)
erprobt werden können. Aus welch breitem Fundus gedruckte KLEINE BRIEFWECHSEL MIT DER STEUERBE-
Benjamin dabei zu schöpfen gedenkt, ersieht man, HÖRDE mit einem wunderbar apokryphen Lichten-
wenn man die Themen der Rundfunksendungen Ben- berg-Zitat (IV, 470).
jamins durchgeht (vgl. den Artikel >>Die Rundfunkar- Das Stück hat eine eigenwillige radiophone Form.
beiten<<, 406-420). Denn es ist nicht nur in einem allgemeinen Sinne ein
Diese Arbeiten sind zugleich begleitet von grund- akustisches Rundfunkexperiment, das mit einem Spre-
sätzlichen Reflexionen über die veränderten Bedin- cher, mit Gong, mit bestimmten Geräuschen (Flüstern,
gungen medialer Öffentlichkeit. Benjamin entwickelt Kellerstimmen), mit Musik etc. gestaltet wird. Viel-
seine überlegungen in Texten wie ZwEIERLEI VoLKS- mehr wird dieser Experimentcharakter noch einmal
TÜMLICHKEIT (IV, 671--673) und in dem GESPRÄCH in die Form des Stücks hineingenommen und zurück-
MIT ERNST ScHOEN, wo auch das >>Fernsehen<< bereits gespiegelt, indem es eine Untersuchung darstellt, die
gesichtet wird (IV, 548-551), sowie THEATER UND ein wissenschaftliches >>Mondkomitee für Erdfor-
RUNDFUNK. ZUR GEGENSEITIGEN KONTROLLE IHRER schung<< an der Figur des Physikers und Philosophen
ERZIEHUNGSARBEIT (II, 773-776 und II, 1496-1507). Lichtenberg vornimmt.
Zu den neuen Öffentlichkeitsformen rechnet Benja- Das Lichtenberghörspiel ist ein Experiment mit
min nicht nur die Illustrierte und den Rundfunk, son- doppeltem Boden. Die ästhetische Form reflektiert,
dern auch die Ausstellung. Als Paradebeispiel hierfür ohne daß dies dem Hörer sofort bewußt ist, in ver-
kann die literarisch glänzende Glosse JAHRMARKT DES fremdender Weise die technische Form des Radios. Die
EssENS über die >>Berliner Ernährungsausstellung<< Mondwissenschaftler - seltsam phantastische und
vom September 1928 gelten, in der Benjamin nicht nur doch ganz zeitgenössische Wesen- befinden sich ganz
einen äußerst unterhaltsamen Tiefblick auf die Aus- auf der technischen Höhe der Zeit. Sie verfügen über
stellung richtet, sondern zugleich auch präzise Einsich- einen >>Maschinenpark<< mit drei >>Apparaten<<. Zum
ten über das neue Medium >>Ausstellung<< formuliert. einen über ein >>Spectrophon<<, mittels dessen >>alles
>>Seit kurzem hat sie mit Hilfe der großen Ausstellun- gehört und gesehen wird, was auf der Erde vorgeht<<.
gen, das heißt aber mit Hilfe der Industrie, sich eman- Sodann über ein >>Parlamonium<<, das >>lästige Men-
zipiert. In der Tat: die außerordentlichen Verbesserun- schenrede<< in >>Sphärenmusik[ ... ] übersetzt<<. Schließ-
gen, die in die Technik der Veranschaulichung einge- lich über ein >>Üneiroskop<<, mit dessen Hilfe die
führt wurden, sind nur die Kehrseite derer in der Träume der Irdischen >>beobachtet<< werden können
Reklame. Ausstellungen wie diese sind die vorgescho- (wegen des Interesses für die Psychoanalyse auf dem
benstell Posten auf dem Terrain der Veranschauli- Mond) (IV, 697). Die Photographie gibt es außerdem.
chungsmethoden<< (IV, 527; vgl. dazu die Tagebuchno- Dank ihrer >>Photographiemethoden<< verfügen die
tiz VI, 416; vgl. auch die wichtige Eintragung im Tage- Mondwesen nicht nur über ein >>Photo<< von Lichten-
buch zu dem Text, die das Verhältnis von Anschauung berg, sie haben sich damit auch dessen ungedruckte
und Beschriftung thematisiert, IV, 1043). >>Sudelbücher<< reproduziert (720).
Benjamin stellt, allgemeiner formuliert, einen dia- Die drei Apparate >>Spectrophon<<, >>Parlamonium<<
lektischen Bezug her zwischen der Vorstellung, daß und >>Üneiroskop<< werden im Verlauf der Sendung
jede neue Kommunikationstechnologie sich dadurch abwechselnd immer wieder ein- und ausgeschaltet, so
erfolgreich durchsetzt, daß sie die bisherige Vergan- daß ein ständiger Wechsel zwischen den Unterredun-
genheit revidiert, und der anderen Vorstellung, daß in gen der Mondwissenschaftler und dem >Originalton
den kulturellen Gebilden der vergangeneu Epochen Lichtenberg< stattfindet und damit ein verdeckter Re-
wirkungsgeschichtliche Potentiale stecken, die sich nur portageeffekt entsteht.
in bestimmten späteren Konstellationen erschließen. Das Stück (seiner Story nach) stellt den Abschluß
Im Horizont dieser Dialektik entwickelt Benjamin wissenschaftlicher Untersuchungen dar, mit denen die
seine überlegungen. Das Radiostück LICHTENBERG. Mondwesen herausfinden wollten, was für Wesen die
EIN QuERSCHNITT (IV, 696-720) bietet dafür ein ein- Bewohner des Nachbarplaneten Erde seien. Insgesamt
drucksvolles Zeugnis. Es ist inhaltlich bewußt am Stoff, waren die Untersuchungen der Mondgelehrten uner-
d. h. an Details, an Anekdoten und an den historischen giebig verlaufen. Nun wird ein letzter Versuch mit
Sonderbarkeiten, orientiert (Lindner 2005). Es will mit Lichtenberg gemacht. Man kommt wieder zu dem Er-
einem szenisch-biographischen Querschnitt ein po- gebnis, die Menschen seien eine unglückliche und
puläres Interesse an der Figur des Außenseiters Georg uninteressante Spezies. >>Dabei ist sich die Kommission
Christoph Lichtenberg wecken. Lichtenberg taucht von vornherein darüber klar gewesen, daß die Materie
übrigens bei Benjamin an den unvermutetstell Stellen verhältnismäßig unergiebig ist. Die Stichproben der
Zu Traditionskrise, Technik, Medien 461

letzten Jahrtausende haben hierorts noch keinen Fall Allianz von Menschheit und Technik, statt ihr Ziel in
ergeben, in dem aus einem Menschen etwas geworden der Ausbeutung der Natur zu sehen, den Kosmos ins-
wäre<< (IV, 697). Und doch zeigt man sich angerührt gesamt brüderlich befreien könnte. Aus dem Versagen
von einzelnen besonderen Menschen (>>Erdgeister<<) vor dieser Aufgabe ergibt sich seine humoristische
und benennt sogar die Mondkrater nach ihnen: Thales, weltvernichtende Idee. >>La grande trouvaille de Seheer-
Helvetius, Humboldt, Condorcet, Fourier und nun hart aura ete de faire plaider par !es astres aupres des
Lichtenberg. humains Ia cause de Ia creation<< (VI, 631 f.). Die Sterne
Der humoristische Ton des Hörstücks zeigt An- treten auf, um vor der Menschheit die Sache - oder
klänge an die von Benjamin geliebten Phantasten den >Fall< -der Schöpfung einzuklagen. Das ist eine
Scheerbart, Grandville, Fourier und Jean Paul. Aber so Klage, die heute im Zeichen von Weltraumraketen und
wie das Humoristische fälschlich als sentimental und satellitengesteuerter Datenverarbeitung noch bizarrer
oberflächlich abgetan wird, so sollte man sich über das an unser Ohr dringt.
intellektuelle Gewicht des Stücks nicht täuschen. In
das Hörspiel, das 1933 nicht mehr gesendet wurde,
ging die Ahnung dieser Vergeblichkeit ebenso ein wie Medientheoretischer Prospekt
zugleich die Vorstellung, dieser Text könne sich erhal-
ten (wie es ja auch geschehen ist) und wirksam werden Im Diskurs der Medienwissenschaften ist Benjamin
wie >>Licht[ ... ] aus den Schriften dieses irdischen Lich- längst zu einem ihrer Gründerfiguren avanciert. Dies
tenbergs zu strahlen anfängt<< (IV, 720). verdankt sich nicht zuletzt der außerordentlichen Wir-
In solchem Kontext erscheinen die Erdforscher der kungsgeschichte seiner Untersuchung über DAs
Mondakademie nicht mehr harmlos. Und es steigert KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
ihre Unheimlichkeit, wenn wir erfahren: >>die Redezeit PRODUZIERBARKEIT, die in den einschlägigen Textzu-
auf dem Mond ist die beschränkteste. Die Mondbe- sammenstellungen zur Medientheorie immer wieder
wohner ernähren sich nämlich von keinem anderen abgedruckt wurde. Dabei bildet diese Schrift, deren
Stoffe als dem Schweigen ihrer Mitbürger, das sie in- intensive medientheoretische Rezeption bereits in die
folgedessen nur sehr ungern unterbrochen sehen<< 60er Jahre fällt, aber nur die >Spitze des Eisbergs<. Ben-
(697). Zudem erfahren wir aus den Unterredungen der jamins Denken und Schreiben eröffnet eindrucksvoll
Mondwesen weiter, daß >>die an und für sich interes- vielfältige Zugänge, die sich in den heutigen Kontext
sante Erscheinung des Todes<< bei ihnen >>unbekannt<< der mediengeschichtlichen Diskussion eingeschrieben
sei ( 711), was sie noch unheimlicher erscheinen läßt. haben und weiter einschreiben lassen. Das Anregungs-
Zwischen dem Schweigen und dem Gegenstand der potential seines Werks für die medientheoretische
Untersuchung- den Erdmenschen- besteht ein enges Diskussion und die mediengeschichtliche Forschung,
Verhältnis: Die Toten beschließen, die >>lästige Men- so darf man prognostizieren, ist längst noch nicht aus-
schenrede<< in Sphärenmusik zu verwandeln, und legen geschöpft.
das unergiebige Kapitel Menschheit ad acta. In der Aber es genügt nicht, seine Texte als einen Stein-
Fiktion des Hörspiels wird gesagt: Die Mondwesen bruch zu benutzen. Die oben behandelten Texte, so
haben neue Techniken erfunden, in deren Sicht die konnte gezeigt werden, bieten auch in methodologi-
Menschheit, die doch als einzige Tiergattung sich tech- scher und wissenschaftskritischer Hinsicht >Gegenmo-
nisch neu organisierte, belanglos erscheint. Was wie- delle< gegen die technokratischen und technizistischen
derum im Umkehrschluß von der Fiktion zur Realität Tendenzen, die die Medienwissenschaften offen oder
der Radioproduktion nichts anderes heißt, als daß die insgeheim beflügeln. Benjamin als Pionier (also nicht
neue Technik noch unbegriffen ist. Daraus ergibt sich bloß als Vorläufer) in der heutigen Diskussion über
die Konsequenz, wie es in ERFAHRUNGSARMUT formu- >die Medien< zu benutzen, heißt also die Frage aufzu-
liert wird, der >>Grundsatz des Humanismus<< sei zu werfen, was in dieser Hinsicht von Benjamin zu lernen
verwerfen, im Zeitalter der >>Teleskope,[ ... ] Flugzeuge ist.
und Luftraketen<< bleibe >>Menschenähnlichkeit<< weiter Vor allem ist von der phänomenalen Dichte und
das Maß der Technik (li, 216). Vielfalt der Einzelbeobachtungen zu lernen. Das Spek-
Hierbei wird ausdrücklich auf Seheerbart verwiesen, trum ist ungemein weit gefächert, wie dies Schöttkers
für dessen Werk Benjamin sich immer wieder einge- verdienstvolle Edition von Benjamins medientheore-
setzt hat. Noch 1940 versuchte er, mit dem Text >>Sur tischen Schriften aufzeigt, die sich in die Abschnitte
Scheerbart<<, ihn einem französischen Publikum be- >>Gedächtnis und Erinnerung<<, >>Sprache, Stimme,
kanntzumachen (vgl. II, 1424). Scheerbart, heißt es Schrift<<, >>Buch und Lektüre<<, >>Zeitung und Reklame<<,
dort, war durchdrungen von dem Gedanken, daß die >>Malerei, Graphik, Photographie<<, >>Film<< und >>Tele-
462 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

phonund Rundfunk<< gliedert (Benjamin 2002). Ge- produktionerstreckt sich auf die ganze Weltgeschichte.
rade die Aufmerksamkeit aufs Konkrete erlaubt Ben- Im Internet erscheint >alles Wissen der Welt< archiviert,
jamin historische Tiefenperspektiven, somit Konstel- zur Verfügung gestellt und jederzeit (durch)suchbar.
lationen zu historisch zurückliegenden und archaischen >Die Medien< unterrichten uns mit fortlaufenden, sich
Praktiken herzustellen. So veranlaßt ihn z. B. der Be- selbst speichernden Bildern, denen keine Katastrophe
such einer in Paris ausgestellten Sammlung von wachs- etwas anhaben kann.
beschichteten Transparentbildern aus dem 19. Jh. zu Wenn Benjamin in ERFAHRUNGSARMUT und im
der überlegung, daß diese seltsamen Kunstprodukte Kunstwerkaufsatz für seine Gegenwart eine weltge-
Erben älterer Visionspraktiken seien. >>Ob hier die schichtliche >>Erschütterung der Tradition<< konstru-
größten Künstler beteiligt sind oder nicht, ist nur für iert, >>die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und
jenen Amerikaner belangreich, der früher oder später Erneuerung der Menschheit ist<< (I, 478), so wird man
die anderthalb Millionen Franken, um die die Kollek- sagen müssen, daß diese Katharsis nicht eingetreten
tion zu haben ist, bezahlt. Denn diese Technik hat mit ist. Aber dies festzustellen, widerlegt nicht die Dia-
>Kunst< im strengen Sinne nichts zu tun -sie gehört gnose. Der >Fortschritt< der Medien läßt sie weit
zu den Künsten. Sie hat irgendwo ihre Stelle in jener schärfer erscheinen als es Benjamin selbst ahnen
vielleicht nur provisorisch ungeordneten Reihe, die konnte.
von den Praktiken der Vision bis zu denen des elektri- Statt gebannt auf die explodierende Expansion von
sehen Fernsehens reicht<< (IV, 510). Bilder- und Wissensreproduktionen zu starren, muß
Hinzu kommt, daß Benjamins ausgeprägte Refle- man, dies ist Benjamins besonderer Einsatz, von einer
xion aufMedialität seit dem frühen Sprachaufsatz sehr destruktiven Strategie ausgehen, die aus der Erfahrung
viel grundlegender bei >>Sprache überhaupt<<, nämlich der Erfahrungsarmut entspringt. In diesem Sinne bil-
der magisch wirksamen Unmittelbarkeit von Media- den sowohl der Gestus des destruktiven Charakters,
lität ansetzt. Damit entkommt er der instrumentellen der leeren Tisch macht, um von vorn zu beginnen, wie
Verkürzung menschensprachlicher Kommunikation die eigensinnige Destruktivität des Sammlers, der sich
auf den Austausch von Inhalten ebenso wie dem re- von der Übermacht des bereits Archivierten nicht ein-
duktiven Geschichtsmodell einer technologischen schüchtern läßt, komplementäre Gegenstrategien, die
Medienfinalisierung in intelligenten Apparaten. An- überhaupt nicht überholt sind. Ihnen liegt die Einsicht
ders gesagt: Benjamin thematisiert den Zusammen- zugrunde, daß echte Überlieferung nicht qua Technik
hang von Technik und Überlieferung, ohne ihn selbst herstellbar ist und Technik aus sich heraus keine über-
technizistisch zu verkürzen. Wohl haben die neuen lieferung erzeugt. Technologische Innovation >an sich<
Medien der technischen Reproduzierbarkeit, die mit ist geschichtsblind. Sie ist völlig ungeeignet, das Kon-
der Reproduzierbarkeit des Phono-Photographischen tinuum der Katastrophe aufzusprengen. Sie vermehrt
einsetzten, mit Digitalisierung und elektronischer Da- die Last des Vergangenen und die Last des Gegenwär-
tenverarbeitung nochmals einen qualitativen Sprung tigen. Sie stöbert keine Denkwürdigkeiten im Vergau-
gemacht. Aber die bereits zitierte Warnung aus dem genen auf und sie überliefert nichts Unabgeschlossenes
Fuchs-Aufsatz, daß die >>Technik [... ] offenbar kein der kommenden Generation. Wenn Benjamin die Er-
rein naturwissenschaftlicher Tatbestand<< (II, 474) sei kenntnis der Gegenwart, auf die unser Dasein nun
und so nicht begriffen werden kann, gilt um so einmal verwiesen ist, davon abhängig macht, den
mehr. »Konformismus<<, der die überlieferung zu überwäl-
Mediengeschichte läßt sich nicht zureichend nach tigen droht, zu durchbrechen (I, 659), so ist dieser
dem Modell Sender - Code - Empfänger schreiben. Konformismus heute ganz und gar technisch präfor-
Das dementsprechende informationstheoretische, an miert. Aber deshalb zieht Benjamins Denken der Un-
der Effektivierung von Datenübertragung und -Spei- abgeschlossenheit und Unabschließbarkeit des Vergan-
cherung ausgerichtete Paradigma greift zu kurz. Aus genen, ohne die das Heute unbegriffen bliebe, gerade
dem Blick gerät, was für Benjamins Analyse im Zen- eine medienkritische Aufmerksamkeit auf sich.
trum steht: die Veränderung der Wahrnehmung und Benjamin hat immer vom Medium des Schreibens
die Erschütterung der Überlieferung. Überlieferung aus gedacht. Das hat ihn nicht gehindert, vielmehr ihm
ist aber ein historisch-gesellschaftlicher Vorgang, der erst ermöglicht, grundlegende Einsichten in die histo-
sich informationstheoretisch gar nicht fassen läßt. risch- medialen Wahrnehmungsveränderungen zu
Hatte Benjamin schon in ERFAHRUNGARMUT den gewinnen.
beklemmenden Reichtum an Werken, Wissen und In der EINBAHNSTRASSE findet sich unter dem Titel
Weltanschauungen konstatiert, so hat sich dieser Zu- VEREIDIGTER BücHERREVISOR eine erstaunliche Vi-
stand heute um ein Vielfaches gesteigert. Die Fernseh- sion, in der die Arbeit des Rechnungsbuchprüfers auf
Zu Traditionskrise, Technik, Medien 463

die Bilanzierung der Geschichte übertragen wird. Ben- LrCHTENBERG. EIN QuERSCHNITT (IV, 696-720 u. VII, 837-
845)
jamins Vision, die hier auszugsweise zitiert wird, lau- NICHTS GEGEN DIE »ILLUSTRIERTE<< (IV, 448 f.)
tet: >>Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl JouRNALISMUS (IV, 454)
gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein führte, GLOZEL UND ATLANTIS (IV, 456f.)
wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hin- STAATSMONOPOL FÜR PORNOGRAPHIE (IV, 456--458)
ErN INTERNATIONALES GESELLSCHAFTSSPIEL (IV, 459--461)
ausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirt- PROGRAMM EINES PROLETARISCHEN KINDERTHEATERS (IJ,
schaftlichen Chaos unterstellt.[ ... ] Wenn vor Jahrhun- 766)
derten sie allmählich sich niederzulegen begann, von DIE ZEITUNG (Il, 629)
der aufrechten Inschrift zur schräg auf Pulten ruhen- Sur Seheerbart Lesabendio (II, 613-620)
VEREIDIGTER BüCHERREVISOR (IV, 102-104)
den Handschrift ward, um endlich sich im Buchdruck
zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam sich wieder
vom Boden zu heben. Bereits die Zeitung wird mehr Literatur
in der Senkrechten als in der Horizontale gelesen, Film Arendt, Hannah (1986): Walter Benjamin, Bertolt Brecht.
und Reklame drängen die Schrift vollends in die dik- Zwei Essays, München/Zürich.
Benjamin, Walter (2002): Medienästhetische Schriften, Nach-
tatorische Vertikale. [... ] Heuschreckenschwärme von
wort v. Detlev Schöttker, Frankfurt a.M.
Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Gei- Blumenberg, Hans (1981): »Lebenswelt und Technisierung
stes den Großstädtern verfinstern [... ] << (IV, 103). unter Aspekten der Phänomenologie<<, in: Wirklichkeiten,
Und Benjamin sieht voraus, >>daß die Schrift, die in denen wir leben, Stuttgart, 7-54.
Bock, Wolfgang (2002): Bild- Schrift- Cyberspace. Grund-
immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen
kurs Medienwissen, Bielefeld.
exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male Köhn, Eckhardt (2000): >>Sammler«, in: Michael Opitz/Erd-
ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft wird. An dieser mut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, 695-724.
Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten Lindner, Burkhardt (1978): »Technische Reproduzierbarkeit
und Kulturindustrie. Benjamins »Positives Barbarentum<<
vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur
im Kontext<<, in: ders. (Hg.): »Links hatte noch alles sich
mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschlie- zu enträtseln ... «. Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt
ßen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu ma- a.M., 180-223.
chen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des stati- Lindner, Burkhardt (2004): »Mickey Mouse und Charlie Chap-
lin. Benjamins Utopie der Massenkunst<<, in: Detlev Schött-
stischen und technischen Diagramms<< (104).
ker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die
Verfehlt bliebe es, so nahe es zu liegen scheint, das Künste, Frankfurt a.M., 144--155.
Apercu als Vorahnung des Computers zu lesen. Nicht Lindner, Burkhardt (2005): »Von Menschen, Mondwesen und
etwa weil Benjamin hier vermutlich konkreter an die Wahrnehmungen«, in: Christian Schulte (Hg.): Walter
Benjamins Medientheorie, Konstanz, 9-38.
konstruktivistischen Schrift-Bild-Experimente eines
Luhr, Geret (2000) (Hg.): »Was noch begraben lag«: Zu Wal-
Moholy-Nagy dachte, sondern weil damit dem kurzen ter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente, Berlin.
Text all sein Zündendes genommen wäre. Dieses be- Marcuse, Herbert (1965): »Über den affirmativen Charakter
steht nicht in etwa in prognostischer Richtigkeit, son- der Kultur<<, in: ders.: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt
a.M., 56-101.
dern der diagnostischen Qualität. Denn schockhaft
Müller, Reinhard/Erdmut Wizisla (2005): »>Kritik der freien
drängt sich der Eindruck auf, daß hier etwas Ausge- Intelligenz<. Walter-Benjamin-Funde im Moskauer >Son-
bliebenes benannt wird, vor dem noch sich die Globa- derarchiv<«, in: Mittelweg 36, ]g. 14, H. 5, 61-76.
lisierung der Computertechnologie als >>altfränkische Nietzsche, Friedrich (1954): »Vom Nutzen und Nachteil der
Historie für das Leben«, in: ders.: Werke, hg. v. Kar!
Träumerei<< (ebd.) erweisen könnte.
Schlechta, Bd. I, München, 209-285.
Pias, Claus u.a. (2002) (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die
maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 4.
Werk Auf!., Stuttgart.
IcH PACKE MEINE BIBLIOTHEK AUS. EINE REDE ÜBER DAS Raulet, Gerard (2004): Positive Barbarei: Kulturphilosophie
SAMMELN (IV, 388-396) und Politik bei Walter Benjamin, Münster.
Alte vergessene Kinderbücher (III, 12-22) Reisch, Heiko (1992): Das Archiv und die Erfahrung. Walter
AUSSICHT INS KINDERBUCH (IV, 609-615) Benjamins Essays im medientheoretischen Kontext, Würz-
BücHER voN GEISTESKRANKEN. Aus MEINER SAMMLUNG (IV, burg.
615-619) Reschke, Renate (1992): »Barbaren, Kult und Katastrophen.
DER DESTRUKTIVE CHARAKTER (IV, 396-398) Nietzsche bei Benjamin. Unzusammenhängendes im Zu-
ERFAHRUNGSARMUT (IJ, 213-219) sammenhang gelesen<<, in: Michael Opitz (Hg.): Aber ein
UNE LETIRE DE WALTER BENJAMIN AU SUJET DE >LE REGARD< Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin,
DE GEORGES SALLES (Ill, 589-595) Leipzig, 303-339.
EDUARD FucHs. DER SAMMLER UND DER HISTORIKER (II, Schneider, Manfred (1996): »Der Barbar der Bedeutungen:
465-505) Walter Benjamins Ruinen«, in: Norbert Bolz/Willern van
EIN DEUTSCHES INsnrur FREIER FoRSCHUNG (III, 518- Reijen (Hg.): Ruinen des Denkens. Denken in Ruinen,
526) Frankfurt a. M., 215-236.
464 Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik

Wagner, Gerhard (1992): Walter Benjamin. Die Medien der


Moderne, Berlin.
Weber, Samuel ( 1996): Mass mediauras: form, technics, me-
dia, Stanford.
Wohlfarth, lrving (1978): >>Der destruktive Charakter. Ben-
jamin zwischen den Fronten«, in: Burkhardt Lindner
(Hg.): >>Links hatte noch alles sich zu enträtseln ... << Walter
Benjamin im Kontext, Frankfurt a.M., 65-99.
Zumbusch, Cornelia (2005): >>Benjamins Strumpf. Die Un-
mittelbarkeit des Mediums und die kritische Wendung der
Werke«, in: Amalia Kerekes/Nicolas Pethes/Peter Pleber
(Hg.): Archiv- Zitat- Nachleben. Die Medien bei Walter
Benjamin und das Medium Benjamin, Frankfurt a.M.,
11-36.
465

4. Dichtungsanalyse und Autorbild

nZwei Gedichte von Friedrich Details des poetischen Textes weist der Kommentar
Hölderlin« voraus auf Benjamins Dissertation DER BEGRIFF DER
KuNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN ROMANTIK, auf sei-
Von Patrick Primavesi nen Essay GoETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN und
auf das Barockbuch URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAU-
Der von Benjamin als >>ästhetischer Kommentar<< be- ERSPIELS. Diese für Benjamins Literaturtheorie grund-
zeichnete Text entstand im Winter 1914/15, wurde aber legenden Arbeiten gehen nicht von ungefähr an zen-
erst postum veröffentlicht in Theodor W. Adornos tralen Stellen auf Hölderlin ein, im Hinblick auf eine
Ausgabe der Schriften (1955). Durch seine subtile, am Ästhetik des Ausdruckslosen und der Zäsur ebenso wie
Gegenstand der Untersuchung entfaltete Argumenta- in der Begründung des Trauerspiels als einer eigenen,
tion ist dieser Kommentar grundlegend für Benjamins modernen Form der Tragödie. Die Bedeutung Hölder-
literaturkritische Arbeiten wie auch für seine weitere lins auch für Benjamins Reflexionen zu Sprache und
Auseinandersetzung mit Hölderlins Dichtungen, Übersetzung zeigt sich im Essay DIE AuFGABE DES
Übersetzungen und poetologischen Schriften. Von der ÜBERSETZERS (1921/23), der die Sophokles-Überset-
traditionellen Form philologischer Kommentare un- zungen als Urbild aller Übersetzung beschreibt. Als
terscheidet sich der Text schon darin, daß er nach der »monströse Beispiele<< für eine Wörtlichkeit hinsicht-
in den Gedichten angelegten >>Aufgabe<< fragt und zu- lich der Syntax des Originals manifestieren sie ein Ideal
gleich die überkommenen Maßstäbe literaturkritischer und eine Gefahr: den Verlust oder die Preisgabe jedes
Wertung in Frage stellt. So entfaltet er einen komple- kommunikativen Sinns im Verstummen des Subjekts.
xen philosophischen Diskurs über das Verhältnis von Damit erscheint Hölderlin als Extrem für Benjamins
Dichtung und Leben sowie über die Grenzen philolo- Denken, das die Problematik moderner Subjektivität
gischer Erkenntnis. ebenso wie die Selbstreflexion erkenntniskritischer
Nach einer einleitenden methodologischen Refle- Diskurse auf ein im poetischen Text angelegtes Bedeu-
xion interpretiert Benjamin zunächst das als >>erste tungspotential zurück bezieht, welches immer wieder
Fassung<< bezeichnete Gedicht Dichtermut, um dann nach kommentierender Lektüre, Kritik und überset-
an der letzten, um 1803 entstandenen Fassung Blödig- zung verlangt.
keit die immanente Gesetzmäßigkeit des >>Gedichte-
ten<< zu erörtern. Mit dieser für den Kommentar zen-
tralen Kategorie geht es um die Selbst-Darstellung von Entstehungskontext
Dichten und Denken bei Hölderlin, um eine >>nüch-
terne<<, sachliche Reflexion von mythischen Gestalten Zur vergleichenden Lektüre von Hölderlins Oden
und Denkformen sowie um das Verhältnis von Stoff Dichtermut und Blödigkeit, die als Stadien eines länge-
und Form, Aufgabe und Lösung, geistiger und an- ren Prozesses der Umarbeitung gelten können, wurde
schaulicher Ordnung. Als >> Funktionszusammenhang<< Benjamin, wie er 1917 Ernst Schoen mitteilte, angeregt
bezieht Benjamin das Gedichtete aber zugleich auf den durch den im Jahr davor bei Verdun >gefallenen< Höl-
Kontext der Fassungen als einen Möglichkeitsraum der derlin-Forscher und -Herausgeber Norbert von Hel-
Lektüre: >>Die Einsicht in die Funktion setzt aber die lingrath (1, 354ff.). Dieser hatte 1910 in Hölderlins
Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten vor- späten, nach 1800 entstandenen Dichtungen eine>> Ver-
aus<< (II, 106). Damit ist das Gedichtete >>Erzeugnis und einigung und Erfüllung<< noch unvollendeter Entwick-
Gegenstand<< des Kommentars, dessen Darstellungs- lungsreihen gesehen: >>Man vergleiche nur Blödigkeit
und Reflexionsform, die das einzelne Gedicht weniger mit der ersten Fassung von Dichtermut, wie da jede
als abgeschlossenes Werk denn als Prozeß erweist, der Änderung der Stelle erst volles Dasein gibt[ ... ]<< (Hel-
sich in der Lektüre fortsetzt. lingrath 1944, 70). Die Anregung zum Vergleich von
Mit seinen methodologischen Prämissen und mit Blödigkeit mit der >>ersten Fassung von Dichtermut<<
seiner Aufmerksamkeit für scheinbar nebensächliche realisierte Benjamin dann anhand einer noch unzu-
466 Dichtungsanalyse und Autorbild

länglichen Ausgabe von Paul Ernst und Wilhelm Böhm nigen Empfänger einer Abschrift des Textes, hat später
(Hölderlin 1905). Was darin als >erster Entwurf< vor- auf die (schon an den Namen auffallende) Verknüp-
gestellt wird, ist eine relativ späte Zwischenstufe im fung der beiden Dichtergestalten für Benjamin hinge-
Gedichtzusammenhang, dessen ursprünglicher Titel wiesen (Scholem 1990, 26f.; vgl. auch Il, 921 f.). Ent-
Muth des Dichters mehrfach wechselte. Benjamins scheidend ist, daß der Kommentar die damals vorherr-
Kommentar ist von diesem Irrtum jedoch kaum be- schende- zur Legitimation der Kriegsführung benutzte
einträchtigt, da er sich weniger auf eine Rekonstruk- - Ästhetisierung eines >Opfertodes< in Frage stellt.
tion der Textgenese richtet als auf die Gegenüberstel- Benjamins Text kreist zwar um das Verhältnis von
lungzweier Stufen. Dies entspricht auch dem weiteren Tod und Dichtung, setzt aber gegen jede heroisierende
Kontext des Vergleiches: Hellingraths Kritik an der Verklärung »Nüchternheit<< als Prinzip poetischer
damals mit Bezug auf den >Wahnsinn< des Dichters Sprache. So artikuliert sich gerade in der Auseinander-
noch gängigen Abwertung von Hölderlins Spätwerk setzung mit Hölderlins Gedichten bereits Benjamins
Gerade der Vergleich von Dichtermut und Blödigkeit Distanzierung von den Ideen der George-Schule. Auch
berührt die Diskussion um Hölderlins Geistesverwir- sein spätererTextÜBER STEFAN GEORGE beschreibt die
rung, entstand die spätere Fassung doch nach seiner mit dem Kommentar einhergehende Ablösung von
Rückkehr aus Bordeaux 1802 (die in Verbindung mit George, dessen >Herrschaft< durch die Erinnerung an
dem Tod von Susette Gontard als Anlaß für den Aus- den toten Dichter Heinle verdrängt worden sei.
bruch des >Wahnsinns< interpretiert wurde). Wohl Schließlich habe die Lehre Georges nur noch »Miß-
schon das dem Titel anhaftende pejorative Moment trauen und Widerspruch<< bei ihm geweckt (II, 623).
ließ Blödigkeit zum Objekt einer schematischen Patho- In welche Richtung dieses Mißtrauen ging, zeigt die
graphie werden, wie in Wilhelm Langes Hölderlin- Rezension WIDER EIN MEISTERWERK (1929/30) ZU
Deutung. Auf dieses Verfahren, womit Lange dem Max KommereHs Schrift Der Dichter als Führer in der
Gedicht Blödigkeit »alle Anzeichen der Dementia prae- deutschen Klassik. Benjamin wendet sich vor allem ge-
cox<< zuweist und »jede einzelne Abänderung« der gen die Vereinnahmung Hölderlins für eine »Heilsge-
späten Gedichtfassungen als Verschlechterung wertet schichte des Deutschen<<: »Das Bild des Mannes, das
(Lange 1909, 119), konnte Hellingrath anspielen, in- darin entrollt wird, ist Bruchstück einer neuen vita
dem er die Tendenz umkehrte und »jede Änderung<< sanetarum und von keiner Geschichte mehr assimi-
als Vervollkommnung beschrieb. lierbar. Seinem ohnehin fast unerträglich blendenden
Auch Benjamins Kommentar entzieht die Beurtei- Umriß fehlt die Beschattung, die gerade hier die Theo-
lung von Hölderlins später Dichtung der Debatte um rie gewährt hätte. Darauf aber ist es nicht abgesehen.
eine krankhafte Sprachverwirrung: In vielschichtiger, Ein Mahnmal deutscher Zukunft sollte aufgerichtet
durchaus spekulativer Reflexion entwirft er einen Deu- werden. über Nacht werden Geisterhände ein großes
tungszusammenhang, in dem die spätere Fassung ge- >Zu spät< draufmalen. Hölderlin war nicht vom Schlage
rade insofern als Ergebnis einer klärenden Durchar- derer, die auferstehen, und das Land, dessen Sehern
beitung erscheint, als sie auf den Ausdruck individu- ihre Visionen über Leichen erscheinen, ist nicht das
eller Stimmungen verzichtet. Damit unterscheidet sich seine<< (III, 259). Mit dem Fehlen der Theorie bei Korn-
der Kommentar zumal von Wilhelm Diltheys Hölder- mereH markiert Benjamin zugleich den Abstand zwi-
lin-Interpretation in Das Erlebnis und die Dichtung schen dessen Hölderlinbild und seiner eigenen, im
(1905). Während Dilthey den »inneren Gefühlsver- Kommentar formulierten Reflexion über die Methodik
lauf<< von Gedichten als Rhythmus und musikalische der vergleichenden Lektüre. Und das- auch im Hin-
Gliederung auf das »Gefüge eines Erlebnisses<< zurück blick auf die von Deutschland begonnenen Weltkriege
bezieht (Dilthey 1991, 365 ff.), situiert Benjamin das zu denkende- Eingreifen der »Geisterhände« verweist
Verhältnis von Dichtung und Leben allein im »Kosmos emblematisch auf eine grundsätzliche Spaltung in der
des Gedichts<<. Die Ablösung der Schreibarbeit von Hölderlin-Rezeption, zwischen einem mythisierenden,
Erlebnissen und Stimmungen des Dichters entspricht nicht selten nationalistisch geprägten Dichterkult und
nicht zuletzt dem Entwicklungs- und Klärungsprozeß, der Bemühung um eine gegenwärtige Deutung des
den Benjamin mit dem Kommentar durchlaufen hat. Werkes »ohne Mythos<< (vgl. Riedel1973). Benjamins
Rückblickend erwähnt er in der BERLINER CHRONIK Kritik an der von George ausgehenden» Priesterwis-
seine Situation bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als senschaftder Dichtung<<, ihrer Verehrung dichterischer
der ihm befreundete Dichter Friedrich Heinle Selbst- Heldengestalten und ihrer Ȁsthetisierung des Dich-
mord beging, um sich der Einberufung zum Militär zu tertodes<< (vgl. Deuber-Mankowsky 2000, 208 ff.)
entziehen (VI, 478ff.; vgl. auch Fuld 1990, SOff.; Bro- konnte an seinen Hölderlin-Kommentar insofern an-
dersen 1990, 82 ff.). Gershorn Schalem, einer der we- knüpfen, als darin die Frage nach dem Schicksal des
>>Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin« 467

Dichters bereits zurücktritt hinter die Auseinanderset- In der exemplarischen Darstellung der Gedicht-Lek-
zung mit der Gegenständlichkeit der Texte. Diese Ar- türe als einer ästhetischen Erfahrung entfaltet Benja-
beit der Lektüre reflektiert aber, so esoterisch ihre mins Text seine eigene Terminologie. Die im ersten
Darstellung scheinen mag, den Kontext einer Zeit, die Vers von Blödigkeit erwähnten >>Lebendigen<< werden
Benjamin als Krise aller Wertvorstellungen des deut- dabei als >>Erstreckung des Raumes<< gedeutet und als
schen Idealismus erfuhr. Daher auch die Forderung, »gebreiteter Plan<< des Schicksals ( 113 ): >>Sind denn
die er gegen Kommerells um zeitlose Größe bemühte nicht dir bekannt viele Lebendigen?/ Geht aufWahrem
Hölderlin-Deutung formuliert hat, die Reflexion von dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?/ Drum, mein Ge-
einem jeweiligen Heute aus: >>man muß es fest bei den nius, tritt nur/ Bar ins Leben und sorge nicht!<< (Höl-
Hörnern haben, um die Vergangenheit befragen zu derlin 1905, Bd. 2, 287). Diesen Anruf liest Benjamin
können<< (III, 259). zunächst als Ausdruck von Hoheit und »an Orientali-
sches gemahnender Weitläufigkeit<<, wobei sich gegen-
über dem Anfang von Dichtermut (>>Nährt zum Dien-
Darstellung des Mythos in »Dichtermut(( ste denn nicht selber die Parze dich?<<) die Bedeutung
und »Blödigkeit<< des Mutes verschoben hat: Die Einladung zum Gang
auf Teppichen läßt das Gehen als symbolische Aktivi-
Der Kommentar enthält weitreichende Reflexionen tät erscheinen, die »gemäß dem Schicksal verläuft, ja
zum Verhältnis von Dichtung und Mythos. Seine für seinen Vollzug schon in sich begreift<< (II, 114). Das
literaturwissenschaftliche Methodik grundlegende Gehen hat demnach keinen anderen Halt als das »for-
Argumentation erschließt sich jedoch gerade im Rück- male Grundgesetz des Gedichteten<<, die »Gesetztheit
bezug auf den Gegenstand der Lektüre. Gemeinsam des Gesanges<<. Mit der Leugnung der Gefahr für den
ist Hölderlins Odenfassungen die Selbstverständigung Dichter ist diese zugleich evoziert und der Schilderung
des Dichters über seine Haltung zum Leben, zur Ge- entzogen. So führt der Anruf auf einen unsicheren
meinschaft mit Menschen und Göttern in einem Kos- >Grund< der Deutung, den Abgrund des Wahren als
mos voll unwägbarer Gefahren. Benjamins Vergleich eines Unbewußten, Verdrängten (vgl. Nägele 1986, 22).
der beiden Gedichte bezieht sich zunächst auf die Dar- Benjamins Text vermeidet denn auch eine vorschnelle
stellung des Mythos darin, die »innere Einheit von Entscheidung darüber, ob jener dichterische Tod als
Gott und Schicksal<<, im jederzeit drohenden Unter- heroische Aufopferung des Lebens zu lesen wäre oder
gang und Tod des Dichters. Die Behandlung dieses als dessen stoische Verachtung.
Motivs in Dichtermut ist dem Kommentar zufolge Daß im Gedicht Blödigkeit die Wahrnehmung der
noch weitgehend konventionell. Erst die Auffassung Gefahr dem Leser überantwortet ist, erhellt Benjamins
des Todes als der Mitte, >>aus der die Welt des dichte- Lektüre der in allen Fassungen beinahe unverändert
rischen Sterbens entspringen sollte<<, könne der Auf- gebliebenen zweiten Strophe, welche die Haltung des
gabe des Gedichts eine genauere Bestimmung geben. Dichters in Frage stellt: >>Was geschiehet, es sei alles
In Dichtermut bleibt die poetische Gestaltung des gelegen dir!/ Sei zur Freude gereimt, oder was könnte
Schicksals beschränkt auf das Bild des Sonnenunter- denn/ Dich beleidigen, Herz, was/ Da begegnen, wohin
gangs, als gängige Metapher für das Sterben des Dich- du sollst?<< (Hölderlin 1905, Bd. 2, 288) Der Kommen-
ters. Demgegenüber sieht Benjamin die Ode Blödigkeit tar führt das rhetorische und suggestive Moment die-
geprägt durch eine >>Undurchdringlichkeit<< aller Be- ser Frage auf eine Erfüllung im Gedicht selbst zurück,
ziehungen, mit der aber gerade die verklärende Abbil- auf die Ordnung des Reims als >>Gelegenheit<<. Die
dung dieses Todes vorenthalten wird: >>Wo Vereinze- Aufforderung, das Geschehende als Gelegnes (II, 115)
lung der Gestalt, Beziehungslosigkeit des Geschehens anzunehmen, macht demnach die Rückbindung aller
war, tritt nun die anschaulich-geistige Ordnung, der schicksalhaften Ordnungen an den Vorgang der Lek-
neue Kosmos des Dichters. Schwer ist es, einen mög- türe in Blödigkeit deutlicher als in den früheren Fas-
lichen Zugang zu dieser völlig einheitlichen und ein- sungen, wo es statt »gelegen<< immer >>gesegnet<< hieß
zigen Welt zu gewinnen. Die Undurchdringlichkeit der und statt »zur Freude gereimt<< noch >>zur Freude ge-
Beziehungen stellt jedem andern als fühlenden Erfas- wandt<<. Die Bedeutung dieser Änderungen sieht Ben-
sen sich entgegen. Die Methode verlangt, von Ver- jamin darin, daß sie die Haltung des Gehens in eine
bundnem von Anfang an auszugehen, um Einsicht in >>Lage<< überführen, die auf das Gedicht selbst zurück-
die Fügung zu gewinnen. Vom Gestaltzusammenhange verweist. So beschreibt er eine »Schicksalverbunden-
her vergleiche man den dichterischen Aufbau beider heit der Lebendigen mit dem Dichter<< (116), die mit
Fassungen, so der Mitte der Verbundenheiten langsam dem Genius als dem Zentrum des Gedichts und als
zustrebend<< (II, 111). >>Einheit einer toten dichterischen Welt<< ( 124) eine
468 Dichtungsanalyse und Autorbild

Ordnung der Schrift ist. In diesem Sinne deutet der Die in der Mitte des Gedichts Blödigkeit erreichte
Kommentar das Gedichtete als >>Sphäre<<, die im Un- Verbindung von Himmlischen und Menschen ist, wie
terschied zu einer bloßen Schilderung des Lebens es in späten Texten Hölderlins immer wieder begegnet,
funktionale Entsprechungen im Raum des Gedichts geprägt von Relikten griechischer und christlicher Re-
ermöglicht. ligiosität, deren mythologische Substanz allegorisch
Während die frühen Fassungen von Dichtermut eher gebrochen erscheint: >>Denn, seit Himmlischen gleich
abbildhaftden Untergang des Dichters in einer gefähr- Menschen, ein einsam Wild,/ Und die Himmlischen
lichen Natur schildern, überführen die Änderungen zu selbst führet, der Einkehr zu/ Der Gesang und der Für-
Blödigkeit den >>eigenen Gott<< und den >>eigenen Tod<< sten/ Chor nach Arten, so waren auch/ Wir, die Zungen
in den allgemeinen Gesang, artikulieren ein Begehren des Volks, gerne bei Lebenden<< (Hölderlin 1905, Bd.
des Dichters nach Auflösung seines individuellen Spre- 2, 287). Nur noch die Verbundenheiterscheint in Ben-
chens. Darin ist mit Benjamin das >>Heilig-Nüchterne<< jamins Lesart als >>mythisch<<, da die mythologische
als Gesetz der >>hölderlinschen Welt<< zu erkennen, die Ordnung aufgebrochen ist und die Gestalten in einen
mit den Verbundenheiten von Menschen und Himm- >>ganz andre[n] Kanon<< eingehen: >>So daß hier, um
lischen das Gedicht erfüllt. Daß der Kommentar hier die Mitte des Gedichts, Menschen, Himmlische und
von >>mythischen Verbundenheiten<< spricht, liegt im Fürsten, gleichsam abstürzend aus ihren alten Ord-
Kontext seiner Argumentation nahe, da er auch dem nungen, zu einander gereiht sind. [... ] Alle Gestalten
Begriff des Mythos eine >>nüchterne<< Bedeutung gibt gewinnen, im Zusammenhang des dichterischen
(die an Hölderlins Anmerkungen zu seinen Sophokles- Schicksals Identität, daß sie darin mit einander aufge-
übertragungen erinnert, wonach man >>die Mythe hoben in einer Anschauung sind, und so selbstherrlich
nemlich überall beweisbarer darstellen<< müsse). So sie erscheinen, schließlich zurückfallen in die Gesetzt-
betont Benjamin, daß die Umarbeitung zu Blödigkeit heit des Gesanges<< (II, 112 f.). Die im Gedicht darge-
jede Anlehnung an Mythologie in einen >>Zusammen- stellten Beziehungen sind nicht von der Gesetztheit
hang des eigenen Mythos<< überführt. des Gesanges abzulösen, und in dessen >Dichte< liegt
Für den Kommentar ist das Gedichtete ein beweg- eine besondere Qualität der letzten Fassung Blödigkeit.
liches Geflecht von Beziehungen. Dafür steht das von Mit den Göttern geht auch der Dichter, der in den
Benjamin formulierte >>ldentitätsgesetz<< als Einheit ersten Strophen noch als ein ins Leben tretendes Indi-
entgegengesetzter mythischer Elemente und als >>In- viduum erscheinen konnte, in der Pluralität der >>Zun-
tensität der Verbundenheit<< von Anschaulichem und gen des Volks<< auf. Benjamins Text verdeutlicht, daß
Geistigem (II, 108). Dem Identitätsgesetz entsprechend diese Mehrstimmigkeit nicht mehr die auf dem Opfer
wäre die Trennung von Dichter und Gott aufgehoben des einzelnen basierende Gemeinschaft bezeichnet,
in einem dichterischen, nach eigenen Gesetzen struk- vielmehr einen Raum der Schrift, der die symbolische
turierten Kosmos. Die Zurücknahme des Mythologi- Logik des Opfers in Frage stellt.
schen ist jedoch an die Räumlichkeit der Schrift ge-
bunden, eine Allgemeinheit des Gesangs als eines
immer wieder neu zu lesenden Textes. Benjamin ver- nlnnere Form<< und nVersachlichung
weist darauf, daß das Volk dem Dichter als >>Zeichen der Gestalt«
und Schrift der unendlichen Erstreckung seines
Schicksals besteht<< (116). So dient der Mythos-Begriff Die analytische Vergehensweise von Benjamins Kom-
des Kommentars nicht einfach einem Rückbezug auf mentar zeigt sich vor allem an seiner Verknüpfung der
substantielle religiöse Erfahrungen, wie er gelegentlich Begriffe >>innere Form<< und >>Gestaltzusammenhang<<.
interpretiert wurde (Jennings 1983, 548). Die Ablei- Als >>innere Form<< reflektiert er zugleich die Struktur
tung des Mythos aus dem Gedichteten bindet den einer Verräumlichung und einer zeitlichen Dynamik
>Effekt< der Dichtung nicht an eine religiöse Mission, im einzelnen Gedicht, wofür er zunächst auf dasjenige
nur an die >>mythischen Verbundenheiten, die im verweist, >>was Goethe als Gehalt bezeichnete<< (II, 105).
Kunstwerk zu einzigerunmythologischer und unmy- In den Maximen und Reflexionen hat Goethe den Ge-
thischer, uns näher nicht begreiflicher Gestalt geformt halt gegen die Dichotomie von Form und Inhalt gesetzt:
sind<< (II, 126). Das dem Begreifen Entzogene ist auch >>Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet
nicht als theologischer Gehalt zu fixieren. Dagegen nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist
macht Benjamin eine Kritik mythologischer Gehalte ein Geheimnis den meisten<< (Goethe 1981, Bd. 12,
gerade am Übergang zwischen den Fassungen geltend, 471). Eine technische Bestimmung von >>innerer Form<<
an der besonderen Prozeßhaftigkeit von Hölderlins konnte Benjamin von Hellingrath übernehmen, aus
Dichtung. dessen Untersuchung von Hölderlins Auseinanderset-
»Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin« 469

zung mit den Prinzipien griechischer Dichtung. Bei der ierlichen Prozeß der Lektüre gebunden, im >>Fortgang
Konzeption seiner eigenen Gedichte habe Hölderlin und im Zurückgehen von der Mittelstrophe<< (113)
zunächst nur >>einige Punkte der Peripherie durch ab- aus. Den Gestaltzusammenhang entwickelt er als eine
gerissene Verse und einzelne Worte<< bezeichnet. Dieses Art epischer Szene, macht deren Darstellung als Ge-
Gerüst sei dann in einer den Rhythmus andeutenden setztheit bewußt. Ähnlich bezieht er die Frage >>Geht
Prosa ausgestaltet und schließlich durch Umstellungen aufWahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?<< auf
und Abänderungen >>in die Sprache untergetaucht<< einen Erkenntnisprozeß, als ein Beschreiten des Wah-
worden (Hellingrath 1944, 56ff.). Die innere Form ist ren, das die innere Form der dichterischen Bewegung
demnach eine Art Skelett, um das herum die »periphe- ausmacht: » [... ] so wohnt der beschreitbaren Ordnung
rischen<< Formen der Dichtung variieren können. Auf- der Wahrheit selbst die intensive Aktivität des Ganges
schlußreich dafür sind auch Hölderlins poetologische als innere plastisch zeitliche Form ein. Beschreitbar ist
Entwürfe, etwa zum »Wechsel der Töne<<, womit er dieser geistige Bezirk, welcher gleichsam den Schrei-
inhaltliche, formale und ökonomische Momente der tenden mit jedem Willkürschritte im Bereich des Wah-
Dichtung systematisch zu kalkulieren suchte (vgl. Pri- ren notwendig beläßt<< (115). So läßt der Kommentar
mavesi 1998, 66ff.). Ähnlich wie Hölderlin spricht das >>Wahre<< des Gedichts dem >Gang< der Lektüre
Benjamin von geistig-sinnlichen Ordnungen, >>in denen zugleich aufgegeben und immer schon vorgängig er-
alle Elemente dichterischen Schicksals in einer innern scheinen, indem er die Ordnung, mit der das Volk den
und besondern Form gelagert sind<< (II, 115). Als sinn- Dichter umgibt, als Schrift auffaßt.
liche Momente der letzten Fassung hebt der Kommen- Als Zeitform dichterischer Gestaltung sieht Benja-
tar den >>fast fremden Klang<< der Metaphern hervor, min die Darstellung des Mythischen und des Schicksals
lautliche und bildliehe >>Dissonanzen<<. Dafür findet er in einem geistigen Prinzip begründet, welches das Le-
ein poetisches Bild, das die formale Struktur von Blö- ben und die Dinge einem Dasein als Idee annähert.
digkeit veranschaulicht: >>Es gehen in gewichtig sehr Diese spekulative Konzeption des Gedichteten erhellt
abgehebnen Ordnungen Götter und Sterbliche in ent- auch die in Hölderlins Gedicht angedeutete Verwand-
gegengesetztem Rhythmus durch das Gedicht<< (113). lung aller Gestalten. Das Verhältnis von Plastik und
An Hölderlins Anmerkungen zu seinen Sophokles- geistigem Prinzip entwickelt der Kommentar aus dem
übersetzungen und seine Darstellung der Zäsur als ersten Vers der fünften Strophe von Blödigkeit, an der
>>gegenrhythmische[r] Unterbrechung<< anknüpfend, Offenheit des himmlischen Gottes: >>Der den denken-
schildert Benjamin die Einkehr von Menschen und den Tag Armen und Reichen gönnt<<. Im Denken sei
Himmlischen als Entgegensetzung im Rhythmus. Mit die Gabe dargestellt, mit der >Von den Göttern her< der
dieser parataktischen Figur beschreibt er auch die in- Tag erscheinen kann >>als gestalteter Inbegriff der Zeit<<
nere Form der Ode: »Es geht aber durch die neue Fas- (119). Der Tag selbst ist nur zeitweise gegönnt, da selbst
sung eine Bewegung in plastisch-intensiver Richtung, die Götter nicht über ihn verfügen können. Darin liegt
und diese lebt in den Göttern am stärksten. (Neben der der für Benjamins Deutung des Mythischen in Blödig-
Richtung, die, im Volke dargestellt, die räumliche Rich- keit entscheidende Schritt, daß die Götter als Gestalten
tung auf das unendliche Geschehen hat.)<< ( 118). ihrerseits einer Zeitlichkeit des Denkens unterstehen,
Zur Bestimmung des Gedichteten als Einheit der die auf den Kosmos des Gedichts zurückführt. Das
geistigen und anschaulichen Ordnung richtet sich der Moment der inneren, »gleichsam eingesargten Plastik,
Kommentar auf eine >>besondere Gestalt als innere in der die Gestalt mit dem Gestaltlosen identisch wird<<
Form der besonderen Schöpfung<< (106). Dabei steht ( 120 ), entspricht bereits der Versachlichung in der letz-
der Begriff Gestalt für die einzelne menschliche oder ten Strophe von Blödigkeit, dem Bringen des Gottes
göttliche Figur wie für das Gedicht als poetische Ge- durch die Hände des Dichters. Diese Einbindung des
stalt. Wenn sich für Blödigkeit das Gesetz der Identität Absoluten in die Form der Ode erweist sich als spiel-
erfüllt hat, >>die raumzeitliche Durchdringung aller hafte Entstellung der symbolischen Ordnung: >>Auch
Gestalten in einem geistigen Inbegriff, dem Gedichte- der Gott muß am Ende dem Gesange zum Besten die-
ten, das identisch dem Leben ist<< ( 112 ), bleiben diesem nen und sein Gesetz vollstrecken, wie das Volk Zeichen
Leben doch Dissonanzen und Brüche eingeschrieben. seiner Erstreckung sein mußte<< (121). So deutet Ben-
Die Beziehungen von Himmlischen und Menschen jamin die innere Form der Umarbeitung zu Blödigkeit
werden als Gestaltetes, als Funktionen des Gedichts als Identität von Dichter und Gesang in einer >>neuen
kenntlich, indem sich das zwischen ihnen vermittelnde Welt<<. Nach dem Entschlafen und Aufgerichtetsein >>an
poetische Sprechen als >>Gesetztheit des Gesanges<< goldenen Gängelbanden<< in der vorletzten Strophe
ausstellt. Dementsprechend ist die Bewegung der Ge- verselbständigt sich der Gesang im Bringen des Gottes
stalten in Benjamins Kommentar an den diskontinu- als einer toten, dinghaften Gestalt und Gabe: >>Gut auch
470 Dichtungsanalyse und Autorbild

sind und geschickt einem zu etwas wir,/ Wenn wir Passivität, die das Wesen des Mutigen< sei<< (Adorno
kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen/ Einen 1981, 475). So erscheint Benjamins Versuch als weg-
bringen. Doch selber/ Bringen schickliche Hände wir« weisend für die Wahrnehmung des >>eminent Moder-
(Hölderlin 1905, Bd. 2, 288). nen<< von Hölderlins Spätwerk, in seiner Distanz zur
An Benjamins Auslegung dieser Schlußstrophe wird Theologie wie im Extrem einer Befreiung der Sprache
nochmals die Tendenz des Kommentars deutlich, Höl- vom kommunikativen Sinn: >>Der idealische Hölderlin
derlins Selbstdarstellung der poetischen Rede als Re- inauguriert jenen Prozeß, der in die sinnleeren Proto-
flexion der Aufgabe von Dichtung überhaupt weiter- kollsätze Becketts mündet<< (478f.). Die Einsicht, daß
zudenken. Daß die schicklichen Hände sich selbst die Wahrheit von Gedichten weder auf ihren Werkcha-
bringen, ist Benjamin zufolge nicht nur als Vermittlung rakter noch auf Begriffe zu reduzieren ist, wendet
der Ordnungen in einer Anpassung von Dichtung an Adorno gegen Martin Heideggers Erläuterungen zu
Konvention zu verstehen. Als Prinzip der Umarbeitung Hölderlins Dichtung, die >>im einzelnen<< gleichgültig
erscheint die Überwindung des Opfers in einer Wen- gegen das spezifisch Dichterische geblieben seien:
dung, die den mythologischen Zusammenhang der >>Jede Interpretation von Dichtungen, welche sie auf
früheren Fassungen (Zerreißung oder Untergang des die Aussage bringt, vergeht sich an ihrer Weise von
Dichters) durch die Gabe der Kunst ersetzt hat, im Wahrheit, indem sie an ihrem Scheincharakter sich
Übergang von der Gestalt zur Geste, wie Benjamin vergeht<< (4). Ein Vergleich der Positionen von Adorno
kommentiert: >>So ist der Dichter nicht mehr als Ge- und Heidegger, wie ihn Kar! Heinz Bohrer- ohne auf
stalt gesehen, sondern allein noch als Prinzip der Ge- Benjamins Kommentar einzugehen - unternommen
stalt, Begrenzendes, auch seinen eignen Körper noch hat, zeigt zwar durchaus Parallelen bei ihrer Interpre-
Tragendes. Er bringt seine Hände- und die Himmli- tation des Erhabenen und des Ereignisses in Hölderlins
schen. Die eindringliche Zäsur dieser Stelle ergibt den Dichtung (Bohrer 1994, 92 ff. ). Von Heidegger unter-
Abstand, den der Dichter vor aller Gestalt und der Welt scheidet sich Adernos Lektüre aber auch durch ihre an
haben soll, als ihre Einheit<< (II, 125). Die Gestalt des Benjamin orientierte Bevorzugung des Späten: >>Die
Göttlichen geht über in ein Geflecht von Beziehungen. Parole, nicht nach rückwärts zu sehen, richtet sich ge-
Was als Zäsur des Gedichts gelten kann, zeigt Benja- gen die Schimäre des Ursprungs, den Rekurs auf Ele-
mins Modifikation des letzten Verses: >>Wenn wir kom- mente. Benjamin hat in seiner Jugend, obgleich ihm
men, mit Kunst, und von den Himmlischen/ Einen damals noch Philosophie als System möglich dünkte
bringen. Doch selber/ Bringen schickliche Hände wir<< [... ],das gestreift<< (Adorno 1981, 484).
wird im Kommentar zu >>Er bringt seine Hände- und Den Begriff des >>Gedichteten<< beschreibt Adorno
die Himmlischen.<< Daß der Prozeß der Gabe das Ge- als eine von Benjamin anders und lange vor Heidegger
brachte verändert, hat Benjamin durch Umkehrung gebrauchte Kategorie für das >>Dunkle<< an den Dich-
von Singular und Plural markiert: Anstelle des >Wir< tungen, das der >Intention< des Dichters wie auch einer
bei Hölderlin heißt es >der Dichter<, und wo im Ge- objektivistischen Literaturwissenschaft inkommensu-
dicht von >einem< der Himmlischen die Rede ist, sind rabel bleibe, vielmehr der Rückführung auf den Text
nun >die Himmlischen< gebracht. Damit verlagert sich bedarf: >>Dies der Philologie sich entziehende Moment
auch die Perspektive des Kommentars auf die Darstel- verlangt von sich aus Interpretation<< (450). In diesem
lung selbst, die den Akt der Gabe vom Gebrachten wie Sinne erhellt auch Peter Szondis Traktat über philolo-
vom Bringenden abgelöst hat. >>Unmythisch<< ( 126) ist gische Erkenntnis ( 1962) die Voraussetzungen literari-
diese Darstellung gerade insofern, als sie ihr eigenes scher Hermeneutik in der Beobachtung, daß philolo-
Tun reflektiert und ausstellt. gisches Wissen»[ ... ] nur in der fortwährenden Kon-
frontation mit dem Text bestehen kann, nur in der
ununterbrochenen Zurückführung des Wissens auf
Zur Rezeption Erkenntnis, auf das Verstehen des dichterischen Wor-
tes<< (Szondi 1970, 11). Daß sich seine Hölderlin-Stu-
Von großer Bedeutung war der Kommentar ZwEI GE- dien an Benjamins Kommentar orientieren, zeigt be-
DICHTE VON FRIEDRICH HöLDERLIN zunächst für sonders der Text Gattungspoetik und Geschichtsphilo-
Adorno, der daran mit seinem 1963 veröffentlichten sophie (1966), wo es um Hölderlins poetologische
Aufsatz Parataxis über Hölderlins späte Lyrik an- Schriften und den Stilwandel in seinen späten Dich-
knüpfte: >>Der Schlüsselcharakter des Parataktischen tungen geht. Im Hinblick auf einen an den Oden-Fas-
liegt in Benjamins Bestimmung der >Blödigkeit< als der sungen abtesbaren >>Wandel von Hölderlins Intentio-
Haltung des Dichters: >In die Mitte des Lebens versetzt, nen<< seien Benjamins Einsichten um so erstaunlicher,
bleibt ihm nichts als das reglose Dasein, die völlige >>als ihr Verfasser nur den geringsten Teil der Texte
>>Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin« 471

gekannt haben mag, auf die heute die Erkenntnis von Kommentars einer fortschreitenden Befragung aus-
Hölderlins Werk sich stützt<< ( 152; zu Benjamins Höl- setzt.
derlin-Kenntnissen vgl. aber Speth 1991,8 ff. und Stei-
ner 1991, 161 ff.). Dieneuere Rezeption von Benjamins Werk
Kommentar tendiert mitunter dazu, dessen komplexe, ZWEI GEDICHTE VON FRIEDRICH HöLDERLIN (II, 105-126)
DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS (JV, 9-21)
auch an Hölderlins poetologischen Entwürfen orien- ÜBER STEFAN GEORGE (II, 622-624)
tierte Schreibweise auf Belegstellen für literaturkriti- WIDER EIN MEISTERWERK (III, 252-259)
sche Konzeptionen zu reduzieren (vgl. Jennings 1983,
544 ff.; Alt 1987,531 ff.; Wellbery 1990,453 ff.). Weiter Literatur
führen die Anmerkungen Wolfram Groddecks zu Ben- Adorno, Theodor W. {1981): Noten zur Literatur, Frankfurt
jamins Darstellungsform. Sie gebe Erfahrungen wie- a.M.
der, >>die der Leser, wenn er sich der einordnend-eli- Alt, Peter-Andre (1987): »Das Problem der inneren Form. Zur
Hölderlin-Rezeption Benjamins und Adornos«, in: Deut-
minierenden Interpretation enthält, an Texten Hölder- sche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Gei-
lins machen kann« (Groddeck 1976, 17). Nicht von stesgeschichte 6113,531-561.
ungefähr war es die Arbeit an der Frankfurter Hölder- Bohrer, Kar! Heinz (1994): Das absolute Präsens, Frankfurt
a.M.
lin-Ausgabe, in deren Kontext der Kommentar neu
Brodersen, Momme (1990): Spinne im eigenen Netz. Walter
entdeckt wurde als wegweisender Versuch einer detail- Benjamin. Leben und Werk, Bühl-Moos.
lierten textkritischen Auslegungspraxis. Deuber-Mankowsky, Astrid {2000): Der frühe Walter Benja-
Die Bedeutung Hellingraths für Benjamins Kom- min und Hermann Cohen, Berlin.
Dilthey, Wilhelm {1991): Das Erlebnis und die Dichtung
mentar und für seine Auffassung von Sprache, Dich-
[1905], Leipzig.
tung und Mythos ist inzwischen hervorgehoben wor- Fuld, Werner {1990): Walter Benjamin. Eine Biographie, Rein-
den (vgl. Steiner 1989,91 ff. und Speth 1991, 9ff.). So bek.
besteht Konsens darüber, daß sein Versuch, die» Wahr- Goethe, Johann Wolfgang von {1981): Werke, hg. v. Erich
Trunz, 9. Auf!., München.
heit« poetischer Texte von ihrer »Gegenständlichkeit« Groddeck, Wolfram (1976): »Ästhetischer Kommentar. An-
her zu beschreiben, von Hellingraths Hölderlin-Deu- merkungen zu Walter Benjamins Hölderlinlektüre<<, in: Le
tung inspiriert war. Im Hinblick auf Benjamins Ablö- pauvre Holterling l, 17-21.
sung von der George-Schule, zu der ja auch Hellin- Hanssen, Beatrice (2002): >»Dichtermut< and >Blödigkeit< -
Two Poems by Friedrich Hölderlin, Interpreted by Walter
grath zählte, bleibt jedoch die im Kommentar philo- Benjamin<<, in: dies./Andrew Benjamin (Hg.): Walter Ben-
sophisch begründete Kritik einer Ästhetik des jamin and Romanticism, New York, 139-162.
Opfertodes zu berücksichtigen (vgl. Deuber-Man- Hellingrath, Norbert von {1944): Hölderlin-Vermächtnis.
kowsky 2000, 206 ff.). Nochmals diskutiert wurde neu- Forschungen und Vorträge, hg. v. Ludwig von Pigenot, 2.
Auf!., München.
erdings der Mythos-Begriff des Kommentars, als ein Hölderlin, Friedrich (1905): Gesammelte Werke, hg. v. Paul
den Tod des Dichters harmonisierender Formalismus, Ernst/Wilhelm Böhm, Jena [2. Aufl. 1911].
den erst Benjamins Wahlverwandtschaften- Essay über- Jennings, Michael W. {1983): »Benjamin as a Reader ofHöl-
wunden hätte (Hanssen, 2002, 151 f. und 161 f.), oder derlin: >The Origins of Benjamin's Theory of Literary Crit-
icism<<<, in: The German Quarterly LVI/4, 544-562.
im Gegenteil als Kritik von Mythologie und Theologie Lacoue-Labarthe, Philippe (2002): »Poetry's Courage<<, in:
durch die für Hölderlins Spätwerk wie insgesamt für Beatrice Hanssen/Andrew Benjamin (Hg.): Walter Benja-
die moderne Dichtung prägende Tendenz zu einer min and Romanticism, NewYork, 163-179.
nüchternen Prosa (Lacoue-Labarthe 2002, 177ff.). Lange, Wilhelm (1909): Hölderlin. Eine Pathographie, Stutt-
gart.
Weiterhin stellt sich für die Auslegung des Kommen- Nägele, Rainer {1986): »Benjamin's Ground<<, in: Studies in
tars aber auch die Frage nach dem darin eröffneten Twenthieth Century Literature 11/1, 5-24.
Wechselverhältnis von Dichtung und theoretischem Primavesi, Patrick ( 1998 ): Kommentar, Übersetzung, Theater
Diskurs ( vgl. Nägele 1986, 7 f. und Primavesi 1998, in Walter Benjamins frühen Schriften, Frankfurt a. M.
Riede!, Inge {1973) (Hg.): Hölderlin ohne Mythos, Göttin-
13 ff.). Mit dem »Gedichteten« geht es um eine Schreib- gen.
weise, die nicht einfach die poetische Sprache in eine Scholem, Gershorn ( 1990): Walter Benjamin- die Geschichte
literaturkritische und philosophische Terminologie einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
überführt, sondern in ihrer Darstellung einander kon- Speth, Rudolf (1991): Wahrheit und Ästhetik. Untersuchun-
gen zum Frühwerk Walter Benjamins, Würzburg.
frontiert. Damit weist Benjamins Analyse der Zurück- Steiner, Uwe (1989): Die Geburt der Kritik aus dem Geiste
nahme des individuellen Sprechens bei Hölderlin der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den
bereits auf dekonstruktive Verfahren der Textlektüre frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg.
Szondi, Peter (1970): Hölderlin-Studien, Frankfurt a.M.
voraus, indem sie die Eigengesetzlichkeit des Geschrie-
Wellbery, David E. {1990): »Benjamin's Theory of the Lyric<<,
benen als eine Verräumlichung der Schrift lesbar macht in: Studies in Twentieth Century Literature 1111, 453-
und im Vorgang der Lektüre zugleich die Methode des 471.
472 Dichtungsanalyse und Autorbild

»Goethes Wahlverwandt- Einsicht, so Benjamins Ansatz, läßt sich Einsicht in die


Herausforderung des Werks gewinnen.
schaftencc.
Goethe im Gesamtwerk
Von Burkhardt Lindner Zur Textgeschichte

Da Benjamin die Wahlverwandtschaftenarbeit, die im


GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN bildet neben der Sommer 1922 abgeschlossen wurde, ohne bestimmten
Dissertation und der Habilitationsschrift die dritte Auftrag oder vorherige Verabredung verfaßt hat, ist
große philosophisch-ästhetische Abhandlung des der Anlaß, sie zu schreiben, immer wieder mit dem
Frühwerks. In der Kritik des Symbolbegriffs und des Zerfall seiner Ehe in Verbindung gebracht worden. Im
Schönen Scheins legt sie Basistheoreme für das Trau- Frühjahr 1921 entstand tatsächlich eine dem Roman
erspielbuch bereit. An die Untersuchung über den nicht ganz unähnliche Konstellation, insofern Dora
BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN Ro- wie Walter Benjamin sich heftig neu verliebten, und
MANTIK knüpft sie unmittelbar an, indem hier, wie in zwar in Personen, die sie von früher her kannten (Put-
Friedrich Schlegels Wilhelm Meister-Kritik, ein einzel- nies/Smith 1991, 135-166; Scholem 1975, 120ff.).Am
nes Kunstwerk, Goethes Roman Die Wahlverwandt- Ende wurde die Ehe geschieden, ohne daß eine neue
schaften, zum Gegenstand der philosophischen Kritik Verbindung entstand.
gemacht wird. Wenn Benjamin seine Abhandlung Jula Cohn wid-
Mit der Wahl gerade dieses Werks ist ein program- mete, um die er damals vergeblich warb, so wollte er
matischer Anspruch verbunden. Benjamin charakte- diesen persönlichen Kontext durchaus kenntlich ma-
risiert Goethes Roman folgendermaßen: >>Ein trüber chen. Aber ein interpretatorischer Schlüssel ist damit
Einfluß, der sich verwandten Gemütern bis zu schwär- nicht gegeben. Die Widmung erscheint eher als ein
merischem Anteil und in fremderen zu widerstreben- auktorialer Grabstein für eine unglücklich gebliebene
der Verstörtheit steigern mag, war ihm von jeher eigen, Liebe, so wie auch die spätere an Asja Lacis in der EIN-
und nur die unbestechliche Vernunft, in deren Schutz BAHNSTRASSE. Zum Verständnis der Abhandlung bie-
das Herz der ungeheueren, beschworneo Schönheit ten die biographischen Hintergründe keine Hilfe.
dieses Werks sich überlassen darf, ist ihm gewachsen<< Benjamins Versuch, die Abhandlung zu publizieren,
(I, 180). erwies sich als schwierig. Es gab eine Reihe von Absa-
Von Goethes Roman, so wird hier gesagt, gehe ein gen, darunter die von Rothacker für die eben gegrün-
ungeheurer, dem Poeschen Maelstrom vergleichbarer dete Deutsche Vierteljahrsschrift (vgl. Tiedemanns
(I, 168) Sog aus, dem nur eine nüchterne Kunstkritik Dokumentation I, 812-821; Putnies/Smith 1991, 96f.).
standhalten kann, die wiederum erst erlaubt, sich sei- GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN erschien schließ-
ner Schönheit auszusetzen, statt ihr als Blendwerk zu lich durch Vermittlung von Florens Christian Rang in
verfallen. Hugo von Hofmannsthals Neuen Deutschen Beiträgen,
Die Abhandlung des dreißigjährigen Benjamin steht in zwei Teilen 1924 und 1925. Zugleich war damit eine
bis heute, soviel über Die Wahlverwandtschaften ge- engere Beziehung zu Hofmannsthai eröffnet, der die
schrieben wurde, einzig neben Goethes Roman. In Abhandlung außerordentlich bewunderte.
ihrer gedanklichen Komplexität und sprachlichen Der Textstand der Abhandlung ist ziemlich über-
Schönheit ist sie von gleichem Rang; eine intellektuelle schaubar. Im Nachlaß sind zwei Manuskriptfassungen
Sogwirkung entfaltet sie auf ihre Weise. Und es wird überliefert: eine frühe Niederschrift und die soge-
kaum einen Leser geben, dem der letzte Satz >>Nur um nannte Jula-Cohn-Reinschrift, die Benjamin Scholem
der Hoffnungslosenwillen ist uns die Hoffnung gege- geschenkt hatte. Die Herausgeber der Gesammelten
ben<< so leicht wieder aus dem Sinn kommt. Schriften legen für ihre kritisch revidierte Edition der
Der eigenartige Titel zeigt an, daß es nicht nur um Abhandlung die letzte Fassung zugrunde: nämlich
einen einzelnen Roman von Goethe geht, sondern Benjamins Handexemplar des Sonderdrucks mitsamt
auch um >Goethe<. Und tatsächlich stellt die Abhand- den dort vorgenommenen Ergänzungen und Korrek-
lung das Goethe-Bild vom göttergleichen Olympier, turen für die spätere, mit Rowohlts Verlag verabredete
das sich am Ende des 19. Jh.s in der Literaturge- Buchpublikation (I, 821 f.). Aus den Manuskripten
schichtsschreibung durchzusetzen begann und das werden wichtige Abweichungen im Lesarten-Apparat
dieser selbst für die Nachwelt hinterlassen wollte, ra- verzeichnet. Die Herausgeber vermerken dazu: >>Es
dikal in Frage. Goethe erscheint in einer Gestalt, die wäre von großem Reiz gewesen[ ... ] durch synchrone
erschreckt und beunruhigt. Aber nur erst aus dieser Präsentation der drei erhaltenen Fassungen<< Benja-
»Goethes Wahlverwandtschaften« 473

mins Arbeit am Manuskript zu dokumentieren; >>leider samste Wirkungsgeschichte erfahren. Während die
ließen die Grenzen, die dieser Ausgabe gesteckt sind, allgemeine Benjaminrezeption in Wellen zunehmend
es nicht zu<< (824). expandierte und zeitgleich dazu in der akademischen
Zusätzlich werden aus dem Nachlaß GoETHES Konjunktur Die Wahlverwandtschaften zu einem der
WAHLVERWANDTSCHAFTEN zugehörige Manuskripte am meisten erforschten Texte Goethes aufstieg, geriet
abgedruckt, darunter ausformulierte Aufzeichnungen sehr bald Benjamins Abhandlung ganz aus dem
zu Fran<;ois-Poncet, zu Gundolf, zu Kategorien der Blick.
Ästhetik, zum Schein, zur Kunstkritik, zu Satanismus Um diesen paradoxen Befund zu erklären, muß man
und Nietzsche (I, 828-840). Hinzu kommen drei wei- die verschiedenen Benjamin- und Goethe-Rezeptions-
tere Aufzeichnungen, die der Nachtragsband abdruckt stränge genauer auseinanderhalten.
(VII, 730-734). Diese Paralipomena sind für das Ver- In der bald einsetzenden Benjaminphilologie, soweit
ständnis der Abhandlung von beträchtlichem Wert. sie das Frühwerk betraf, stand und steht der Rang von
Hierzu gehört auch die detaillierte Inhaltsgliede- GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN außer Frage.
rung (I, 835-837 mit Zuordnung zum Textdruck im Drei größere Untersuchungen sind hier zu nennen.
Apparat), die erkennen läßt, mit welch sorgfaltiger Bernd Wittes Arbeit (Witte 1976), dezidiert als litera-
Systematik Benjamin den Text ausgearbeitet hat. Für turwissenschaftliche Untersuchung konzipiert, rückt
den Druck hatte er allerdings die Streichung dieser die Wahlverwandtschaftenarbeit in den Kontext von
Gliederungsüberschriften verlangt (2, 409-412 an Hof- Benjamins Entwicklung von einer allegorischen zu
mannsthal13.1.1924). Jeder, der die Abhandlung für einer funktionalen Kritik. Uwe Steiners Untersuchung
einen esoterischen Text hält, in den man kaum ein- verfolgt sehr genau Benjamins Aktualisierung des
dringen könne, sollte sich diese geradezu proseminar- frühromantischen Konzepts der Kritik von den ersten
hafte Gliederung ansehen, nach der Benjamin gearbei- Arbeiten bis ZU GoETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN.
tet hat. Es ist hilfreich, die Gliederung bei der Lektüre Zugleich als Monographie über die intellektuelle
heranzuziehen. Freundschaft zwischen Benjamin und Rang angelegt,
In der Tat erhält erst durch die Streichung der Zwi- hebt sie auch dessen Bedeutung als Leser der Benja-
schenüberschriften (und den Verzicht auf zunächst minsehen Abhandlung hervor. Hinzu kommen weitere
geplante Fußnoten) die Abhandlung jene in sich ge- Ausführungen, die insbesondere das Verhältnis von
fügte Geschlossenheit, die ihren esoterischen Charak- Benjamins Abhandlung zur Ästhetik und Dichtungs-
ter begründet. Sie stellt sich damit bewußt quer zum theorie der Frühromantik herausarbeiten (Steiner
germanistisch-akademischen Kontext, obwohl sie des- 1989). Bei Deuber-Mankowski, die die Rolle Hermann
sen Ansprüchen hinsichtlich der Referenz auf Quellen Cohens für Benjamins Frühwerk analysiert, nimmt die
mehr als genügt. Benjamin operiert hier erstmals mit Wahlverwandtschaftenarbeit ebenfalls einen größeren
einer ingeniösen Zitat-Technik; eigener Text und Raum ein (Deuber-Mankowski 2000). Der Wert dieser
Fremdzitat greifen so fugenlos ineinander, daß der Untersuchungen besteht insbesondere auch darin, daß
Duktus wie aus einem Guß wirkt. Die Zitate scheinen sie nicht allein Benjamin interpretieren, sondern
sich wie von selbst einzufinden, und auch die großen Theoriekontexte rekonstruieren, die für ihn wichtig
metaphorischen Bilder haben nichts Angestrengtes waren, aber in dem Text nur andeutungsweise ausge-
und Gesuchtes. Man kann sagen, daß Benjamin mit wiesen sind.
GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN ein Maximum Zeitgleich mit Benjamins >Kanonisierung< als Theo-
seiner schriftstellerischen Darstellungskunst erreicht rieklassiker avancierte in den letzten Jahrzehnten Goe-
hat, das nun über allem weiteren Schreiben steht, wel- thes Roman selbst in kaum noch überschaubarem
che Abwandlungen es auch immer weiter erfahrt. Umfang zum Gegenstand von Aufsätzen, Monogra-
phien, Sammelbänden und Editionskommentaren. Es
wäre eine eigene Analyse wert, warum Goethes Roman
Eine mißglückte Rezeption seit 30 Jahren Konjunktur hat und in alle Iiteratur- und
kulturwissenschaftlichen Diskurse hineingeraten ist.
Mit dem Erscheinen der zweibändigen Edition der Es gibt, überspitzt gesagt, kein Thema und keine wis-
Schriften 1955, vor allem dann mit dem preiswerten senschaftliche Mode, die die Wahlverwandtschaften
Auswahlband Illuminationen. Ausgewählte Schriften nicht als Probestück erkoren hätte. Dies reicht von
von 1961, als deren Herausgeber Siegfried Unseid fi- Feminismus und Gender Sturlies über Poststruktura-
gurierte, trat auch die Wahlverwandtschaftenarbeit aus lismus und Psychoanalyse bis hin zur Rekonstruktion
ihrer Vergessenheit heraus. Von allen großen Texten akustischer und optischer Medien im Roman oder
Benjamins hat sie in den weiteren Jahrzehnten die seit- seiner Funktion als Schnittstelle von moderner und
474 Dichtungsanalyse und Autorbild

vormoderner Wissensdispositive. Benjamins Abhand- schaft, die sich ihrer hermeneutischen Sinnproduktion
Jung blieb dabei seltsam wirkungslos. Soweit sich die und der Identitätsgewißheit des lesenden Subjekts si-
Arbeiten noch in der akademischen Tradition germa- cher wähnt; neben Lacan, Derrida, de Man oder Kri-
nistischer Goetheforschung verstehen, wird sie pflicht- steva wird Benjamin ins Spiel gebracht. Dabei rückt
schuldig genannt und zumeist mit einem kurzen nun aber viel eher Benjamins Allegoriebegriff aus dem
Schlenker als >berühmt<, als >historisch bedeutsam< Trauerspielbuch oder sein Übersetzeraufsatz in den
oder als problematisch abgetan. Blick, als der sozusagen viel zuständigere Text von
Man kann also nicht behaupten, daß GoETHES GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN. Exemplarisch
WAHLVERWANDTSCHAFTEN die jüngere Goethefor- dafür und als ein erster Versuch in dieser Richtung ist
schung nennenswert geprägt hätte. Sie bildete ein Är- Jochen Hörischs pointierter Essay »Das Sein der Zei-
gernis, dem allergische Abwehr galt. (Die Parallele zum chen und die Zeichen des Seins<< zu nennen, der zu-
Trauerspielbuch ist hier durchaus zutreffend). Sowohl gleich als Vorwort zu seiner übersetzungvon Derridas
Benjamins philosophisch-theologische Prämissen wie Die Stimme und das Phänomen fungiert (Hörisch
der dogmatische Ton seiner Kritik als auch seine Kon- 1979) sowie, zumindest in einem Teil der Beiträge, der
zeption des Mythos und seine Analyse von Goethes von Norbert Bolz edierte Sammelband zu Goethes
Angst vorm Tode erschienen als eine Zumutung ge- Wahlverwandtschaften (Bolz 1981).
genüber den Gepflogenheiten des Wissenschaftsbe- Die zahlreichen Arbeiten, die, in aller Vergröberung
triebs. Andererseits ließ sich der wachsende Rang, den gesagt, als dekonstruktivistische Lektüren der Wahl-
Benjamin auch in den Literaturwissenschaften ge- verwandtschaften inzwischen erschienen sind, können
wann, nicht übersehen. Das rief deutlichere Wertungen hier nicht eigens vermerkt werden (vgl. Tantillo 2001).
auf den Plan. Selbst eine ausgewiesene und keineswegs Aber die Tendenz ist unübersehbar, daß Benjamins
bloß angepaßte Vertreterin des Fachs wie Käte Ham- Abhandlung GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN au-
burger fühlte sich berufen, Benjamins Abhandlung als ßer näherem Betracht bleibt und eine Auseinanderset-
exemplarischen Fall einer dichtungsvergewaltigenden zung mit ihr vermieden wird. Benjamins Frage nach
Interpretation zu brandmarken (Hamburger 1979). dem kunstphilosophischen Wahrheitsgehalt erscheint
Insgesamt setzte sich in der Germanistik die (Ben- uninteressant; zu sehr ist inzwischen der Begriff des
jamin sehr entgegenstehende) Tendenz durch, Goethe literarischen Kunstwerks exorziert und die philosophi-
positiv als Mythologen, der mit der Gesamtheit des sehe Rede von der Schönheit als geradezu obszön dis-
abendländischen Mythenreservoirs spielt, und die kreditiert.
Wahlverwandtschaften als sein modernstes, die Post- Vivian Liska hat in einem kleinen, klugen Aufsatz
moderne antizipierendes Werk anzusehen. Bernhard über das Nachleben von Benjamins Wahlverwandt-
Buschendorfs Untersuchung zu Goethes mythischer schaftsarbeit diese seltsame rezeptionsgeschichtliche
Denkform in den Wahlverwandtschaften bildet inso- Verwerfung genauer dargelegt. Sie zeigt auf, wie im
fern eine Ausnahme, als er sich auf eine nähere Aus- Zuge der neuerenwissenschaftlichen Rezeption Goe-
einandersetzung mit Benjamins Abhandlung einläßt, thes Roman sich fast chamäleonartig immer wieder
allerdings in der Absicht, deren Prämissen zu desavou- auf den neuestenStand bringen ließ und im Zuge die-
ieren. Goethe wird in die Perspektive eines mit Edgar ser Renovierungen der radikal antikonformistische
Wind, Aby Warburg und Hans Blumenberg skizzierten Anspruch der Benjaminsehen Kritik liquidiert wurde
positiven Mythoskonzepts gerückt, demgegenüber der (Liska 2000). Was den gegenwärtigen Stand angeht, so
negative Mythosbegriff Benjamins Goethes Denken ist Liskas Befund nicht etwa abzumildern, sondern
und Dichten verfehle, da er aus »einem vornehmlich eher noch zu verschärfen.
ideologiekritischen Interesse, nämlich aus der Absicht, Für eine Neulektüre der Abhandlung Benjamins,
dem ästhetischen Polytheismus Goethes den Mono- wie sie hier vorgenommen wird, kommt es darauf an,
theismus der jüdischen Offenbarungsreligion entge- die von Benjamin hergestellte Konstellation von Ab-
genzusetzen[ ... ]<< (Buschendorf 1986, 45), formuliert handlung und Roman wieder ins Zentrum zu rücken.
sei. Und alles, was die Rezeption blockiert hat, ist selbst
Aufschlußreicher für die komplexe Wirkungsge- zum Gegenstand zu machen, um weiter zu sehen.
schichte Benjamins müssen hingegen jene Arbeiten Der eigenwillige Mythosbegriff Benjamins erscheint
erscheinen, die mit Benjamin eine Theorie-Innovation dann nicht bloß als hausgemachtes Philosophem, seine
intendieren und dies direkt mit dem Goetheschen Ro- intensive Auslegung von Goethes Leben nicht bloß als
man verknüpfen. Solche an Dekonstruktion und Dis- Biographismus, seine vernichtende Gundolfkritik
kurstheorie orientierten Analysen der Wahlverwandt- nicht bloß als Kraftmeierei und seine kritische Theorie
schaften argumentieren gegen eine Literaturwissen- der Schönheit nicht bloß als verstiegenes Theologu-
»Goethes Wahlverwandtschaften« 475

menon. Vielmehr ergibt sich damit eine ganz andere losephisehe Kritik das Werk aus sich selbst noch ein-
Perspektive: daß nämlich Benjamins Abhandlung, neu mal, auf einer höheren Ebene, darzustellen. Sie kulmi-
gelesen, sowohl jenen wundersamen Aktualisierungs- niert in der Fragestellung, wieweit der Schein des
betrieb, der in Goethes Roman ein bevorzugtes Objekt Schönen, den der Roman erzeugt, die Hoffnung auf
fand, entzaubert wie auch bestimmte Konjunkturen Erlösung als Hoffnung rechtfertigen könne.
der Benjaminrezeption selbst bloßlegt. Benjamin stellt die hier vorerst nur knapp skizzierte
Aufgabe nicht an den Anfang seines Textes. Die philo-
sophische Programmatik und metaphysische Dimen-
Das Dispositionsschema. sion der Kunstkritik wird, wenn wir den Aufbau der
Kommentar und Kritik Abhandlung betrachten, erst zu Beginn des dritten
Teils explizit gemacht.
GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN nimmt den An- Nur an einer Stelle des Anfangs wird dies, in einem
spruch der philosophischen Kunstkritik, den die Dis- großen Bild, vorweggenommen. >>Will man, um eines
sertation rekonstruiert und erneuert hat, wieder auf, Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flam-
ohne daß damit eine direkte Applikation frühroman- menden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der
tischer Theoreme intendiert wird. Das Ziel ist, >>ein Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich
Werk durchaus aus sich selbst heraus zu erleuchten<< dem Alchimisten. Wo jenem Holz und Asche allein die
(VI, 218), wie Benjamin rückblickend die Aufgaben- Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für die-
stellung der Abhandlung benennt. Beansprucht wird sen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Leben-
damit, die Begriffe, die es zum Gegenstand der Kritik digen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren
machen, im Werk am Werk zu finden, nämlich als lebendige Flamme fortbrennt über den schweren
>>verborgene Beziehungen im Werk selbst<< (178). Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des
Den triadischen, dialektischen Aufbau der Abhand- Erlebten<< (I, 126).
lung, der von Anfang an feststand, hat Benjamin in Die vorausweisende Funktion dieses Vergleichs ist
einem eigenen Dispositionsschema deutlich hervor- offenkundig. Die Unterscheidung zwischen dem Che-
gehoben. Demnach trägt der erste Teil die überschrift miker und dem Alchimisten verweist direkt auf die
>>Das Mythische als Thesis<< und beschreibt in der Tat spätere Romananalyse, nämlich auf das Gespräch der
die Welt des Romans als >>ein mythisches Schattenspiel vier Hauptfiguren über die neue chemische Theorie
in Kostümen des Goetheschen Zeitalters<< (I, 140 f.). der Wahlverwandtschaften. Sie verhalten sich als Auf-
>>Thesis<< ist hierbei nicht so zu verstehen, als stelle geklärte, die die alte Alchemie nicht mehr ernst neh-
Benjamin hier eine These auf, die er später widerlegen men und an den naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
wird, sondern daß der Roman selbst eine solche Set- sen der analytischen Chemie Gefallen finden.
zung darstellt, die später auf die inhärenten Gegenmo- Und es verweist auf Benjamins eigene Position als
mente hin zu analysieren ist. Der zweite Teil heißt »Die Kritiker, die, erst einmal überraschend, mit der des
Erlösung als Antithesis<<. Dieser Teil ist kompositionell Alchimisten verglichen wird. Während der Chemiker
eigenwillig angelegt. Denn zum einen enthält er die nur Holz und Asche zerlegen kann, um den Stoffwech-
Kritik von Gundolfs Goethe, zum andern eine Inter- selvorgang der Verbrennung zu analysieren, bleibt das
pretation der in den Roman eingeschalteten Novelle, Rätsel der Flamme dem Alchimisten vorbehalten.
von der Benjamin sagt, er sei der erste, der ihre Funk- Das Leuchten und Fortbrennen der Flamme wird
tion erkannt habe. Der dritte Teil hat den Titel >>Die mit dem Lebendigen verglichen. Was heißt dann: das
Hoffnung als Synthesis<< (I, 835 ff.). In seinem Zentrum Rätsel des Lebendigen? Erst einmal ist interessant, daß
steht die Figur der Ottilie in der Zweideutigkeit ihrer das Kunstwerk an diesem Rätsel teilhat. Auch Kunst-
Erscheinung. werke wie andere Dinge haben also Leben. Sie wachsen
Sovielläßt die Aufteilung schon erkennen: Die dia- im historischen Prozeß, in dem sie zugleich aufgezehrt
lektische Bewegung richtet sich nicht etwa auf eine werden. Leben ist eine metaphysische Kategorie, die
theologische Affirmation der Erlösung, wie manche mit dem natürlichen bios nicht zusammenfällt. Die
Fehllektüren vermeinen, sondern auf die Idee der Rede von der>> Unsterblichkeit<< des Werks ist demnach
Hoffnung. Benjamins Abhandlung stellt sich die Auf- keine bloß metaphorische. Vielmehr entscheidet die
gabe, auf dem Wege der philosophischen Kunstkritik, Kritik über ihren Sinn. >>In diesem Sinne<<, lautet der
wie sie die Dissertation zunächst für die Frühromantik Satz, der das Gleichnis einleitet, >>bereitet die Ge-
erschloß und hier nunmehr neu gefaßt wird, Goethes schichte der Werke ihre Kritik vor und daher vermehrt
Roman als Kunstwerk >>aus sich selbst heraus zu er- die historische Distanz deren Gewalt<< (I, 125 f.). Es ist
leuchten<< (VI, 216). Als immanente beansprucht phi- gerade die Aufgabe der Kritik, was das Gleichnis nur
476 Dichtungsanalyse und Autorbild

andeutet, einen Verbrennungsprozeß, eine Mortifika- tes Gewaltverhältnis des jederzeitigen Gebrauchs »von
tion des Schönen Scheins durchzuführen. Kritik ist ein eines andern Geschlechtsorganen<< (I, 127 f.). Man
Prozeß des Scheidens im Kunstwerk selbst, der den kann, ohne daß Benjamin dies tut, auch jenen >skan-
Wahrheitsgehalt allererst hervortreten läßt. dalösen< Beischlaf, den Eduard mit Charlotte vollzieht,
Dieser Prozeß kann aber nicht unmittelbar einset- als eine derartige Inanspruchnahme ansehen. Und
zen, sondern muß zunächst in einer vorgängigen, phi- umgekehrt entspricht der Lobpreis der Ehe, der von
lologischen Kommentierung die sachlichen Gehalte der Figur Mittlers im Roman gehalten wird, allem an-
des Werks erschließen. Damit bildet die Unterschei- dem als einer tieferen Einsicht. Der naive Leser klam-
dung von Kommentar und Kritik den Ausgangspunkt, mert sich freilich an diese Botschaft, um Halt zu finden
in der zugleich begründet wird, warum die Analyse gegenüber einer Romanwelt, »die wie in Strudeln krei-
von der Bestimmung des Sachgehalts auszugehen send versinkt<< (129). Der ehemalige Pfarrer mit dem
habe. Denn, so lautet die Prämisse, der Wahrheitsge- sprechenden Namen arbeitet in unermüdlicher Me-
halt eines Werks bleibe, gerade je bedeutender es ist, diation, um im Landkreis Ehe- und Familienkonflikte
innig an seinen Sachgehalt gebunden. Und wenn im zu schlichten. Von der Kultur-Mission der Ehe ist er,
Prozeß der Oberlieferung Wahrheitsgehalt und Sach- der Unverheiratete, zutiefst durchdrungen. Doch im-
gehalt auseinandertreten, bleibt doch der Wahrheits- mer wenn dieser Schlichter im Roman auftaucht, ge-
gehalt >>immer gleich verborgen<< (I, 125), kann also schieht ein Unglück. Goethe trug kein Bedenken- um
nur im >Umweg< über den Sachgehalt erkannt werden. einen Vorfall zu erwähnen-, höchst drastisch zu schil-
Auch später beruft sich Benjamin auf diese grundle- dern, wie Mittler bei der Kindstaufe, indem er unent-
gende Konstellation von Wahrheits- und Sachgehalt wegt fortpredigte, den alten Geistlichen, der den Täuf-
(vgl. VI, 178; III, 367). ling hielt, dem Schlagfluß ausliefert und zu Tode
Was heißt nun aber Sachgehalt? Auf den ersten Blick bringt.
könnte Benjamins Unterscheidung zwischen Kom- Man darf also, wie Benjamin nachdrücklich gegen
mentar und Kritik als eine Art Arbeitsteilung zwischen die damalige Goethephilologie betont, Mittlers ver-
historischer Erläuterung und ästhetischer Bewertung nünftige Ehepropaganda nicht als Botschaft des Autors
erscheinen. Dieser einfachen Auffassung der Realien, annehmen. Seine Reden seien, »um mit Kant zu spre-
die in der älteren Philologie als Wort- und Sachkunde chen, ein >ekelhafter Mischmasch< [... ], >zusammenge-
üblich war, gibt Benjamin allerdings einen anderen stoppelt< aus haltlosen humanitären Maximen und
Sinn. Sachgehalt meint hier nicht nur die verstreute trüben, trügerischen Rechtsinstinkten<< (130).
Fülle historischer Realien, die der Erläuterung bedür- Wenn Mittlers Redeschwall von trüben Rechtsin-
fen, sondern gerade auch das gegenständliche Sujet des stinkten angetrieben wird, so deutet sich damit schon
Werks. Einen solchen Sachgehalt stellt etwa die Ehe an, daß der Sachgehalt des Romans ein anderer als der
dar. der rechtlichen Beständigkeit der Ehe ist. Benjamin
kommentiert diesen Befund weiter: »Doch hat in
Wahrheit die Ehe niemals im Recht die Rechtfertigung,
Mythos als Sachgehalt - Dialektik das wäre als Institution, sondern einzig als ein Aus-
der Aufklärung druck für das Bestehen der Liebe, die ihn von Natur
im Tode eher suchte als im Leben. Dem Dichter jedoch
Man kann die Argumentationsbasis von Benjamins blieb in diesem Werk die Ausprägung der Rechtsnorm
Abhandlung überhaupt nur verstehen, wenn man unerläßlich. Wollte er doch nicht, wie Mittler, die Ehe
nachvollzieht, warum er gerade die naheliegende Fest- begründen, vielmehr jene Kräfte zeigen, welche im
stellung, die Ehe bilde den Sachgehalt von Goethes Verfall aus ihr hervorgehn. Dieses aber sind freilich die
Roman, zurückweist. Diese Zurückweisung begründet mythischen Gewalten des Rechts und die Ehe ist in
sich ihm zunächst aus einer Erkenntnisschranke der ihnen nur Vollstreckung eines Unterganges, den sie
Epoche. Benjamin spricht der Aufklärung, in der aus nicht verhängt<< (ebd.).
der empfindsamen Codierung der Liebe und der pri- Das Experiment, das Goethe in den Wahlverwandt-
vatrechtliehen Säkularisierung der Ehe die bürgerliche schaften unternimmt, richtet sich also nicht darauf, an
Familie entspringt, geradezu jede tiefere Einsicht in einem katastrophalen Fall die unbedingte Notwendig-
den Sachgehalt der Ehe ab. keit der Unauflöslichkeit der Ehe zu demonstrieren.
Kants juristische Definition der Ehe (in der Meta- Es richtet sich vielmehr darauf, das Wirken verborge-
physik der Sitten) als eines institutionalisierten lebens- ner Kräfte freizulegen, die den Subjekten selbst in der
langen »commercium sexuale<<, die Benjamin ausführ- Vorstellung eines freien Obereinkommens zwei er Part-
lich zitiert, beschreibe in aller Nüchternheit ein priva- ner unzugänglich sind. In einem eingefügten Manu-
»Goethes Wahlverwandtschaften« 477

skriptblau spricht Benjamin davon, daß >>die alten Daraus ergibt sich eine wichtige Präzisierung über
sakramentalen Kräfte der Ehe, die verfällt, als mythi- das Mythische in den Wahlverwandtschaften. Goethe
sche, natürliche sich zwischen ihnen einzunisten trach- greift hier nicht auf die Vorlage eines antiken Mythos
ten<< (I, 838). zurück, um ihn modern umzuerzählen, wie dies in der
Das Mythische als Sachgehalt des Romans besteht klassizistischen Iphigenie geschieht. Das Mythische in
also nicht in der Ehe, sondern in den Kräften, die aus den Wahlverwandtschaften erweist sich gerade darin,
ihrem Zerfall freiwerden. Diese Konzeption ist keines- daß der Roman ganz und gar in der Gegenwart spielt.
wegs nur für das Frühwerk kennzeichnend. Benjamin Als Gegenwartsroman, und nicht als Auseinanderset-
hat sie auch später verfolgt, z. B. in der Rezension von zung mit dem Nachleben der Antike (wie Faust II) sind
Oskar Maria Grafs Bolwieser-Roman (III, 309-311). Die Wahlverwandtschaften angelegt. Zunächst mißver-
Und in der Passagenarbeit, im Zusammenhang mit ständlich erscheint insofern Benjamins Formulierung
Notizen zu Baudelaires Sexualität, heißt es zur lebens- >>ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goe-
langen Dauer, die mit dem Sakrament der Ehe inten- theschen Zeitalters<< (I, 140 f.). Die Figuren des Romans
diert ist: >>Diese auf lange Sicht gestifteten Wirklich- stehen nicht auf Kothurnen. Sie bewegen sich frei, von
keiten- das Kind, die Ehe- hätten nicht die geringste geschichtlichen Ansprüchen unbelastet, in der gege-
Gewähr für ihre Dauer, wenn nicht die destruktivsten benen Welt, auch wenn dies nur die kleine abgeschlos-
Energien des Menschen in ihre Stiftung eingingen, zu sene Welt eines adligen Landgutes ist.
deren Solidität sie nicht weniger sondern mehr beitra- Aber gerade jene Ungezwungenheit und Freiheit
gen als viele andere<< (V, 438). Es sind gerade die de- verleiht dem Roman die Schwüle und Dumpfheit, die
struktivsten Kräfte, die dem dauernden Zusammen- den aufmerksamen Leser verstört. Auf acht konzen-
bleiben ihren Bestand geben und in diesem Bestand trierten Seiten (1, 131-139) skizziert Benjamin, wie
produktiv werden. dieses scheinbar ganz am kulturell Behaglichen ausge-
Zeigt sich das Mythische als >>jene Kräfte [... ],welche richtete Leben in der Darstellung des Romans als
im Verfall aus ihr hervorgehen<< (I, 130), so ist damit Schattenspiel einer Hades-Welt erscheint.
gesagt, daß ihnen eine vernichtende Gewalt eignet. Die Protagonisten der Handlung wissen davon
Diese Auffassung des Mythos ist in der Tat ganz ent- nichts. >>Ihre Träger sind, als gebildete Menschen, fast
gegengesetzt zu Vorstellungen vom Mythos als einem frei von Aberglauben. [... ] Ohne Bedenken, ja ohne
phantastischen, bunten Polytheismus der Einbildungs- Rücksicht werden die Grabsteine an der Kirchenmauer
kraft, eines anthropomorphistisch-poetischen Reser- aufgereiht<< (131 f.).Als Landedelleute haben sie keine
voirs zumal der griechischen Mythologie. In Anleh- materiellen Sorgen und können sich, als Gebildete,
nung an Blumenbergs Terminologie kann man sagen, ganz dem kultivierten Leben widmen (Gespräche, Lek-
der Akzent liegt auf dem Terror und nicht auf dem türe, Musik, gesellige Veranstaltungen, Gäste, Umge-
Spiel (Blumenberg 1990; 1971). staltung der Landschaft, Bau der Mooshütte, Propfen
Drei Momente kennzeichnen den Mythos näher: der Bäume, Vermessung des Besitzes, Umgestaltung
Zweideutigkeit als Unerkennbarkeit; Schicksal als der Kapelle usw.). Dieses behagliche Tun ist indes im-
Verhängnis; eine, wenn man so will, selbstverschuldete mer schon von einem Riß deformiert: der Fleck, den
Reduktion auf das bloße Leben, dem das Geistige gei- Charlotte macht; der Deich, der einreißt; die Dishar-
sterhaft wird und das Kreatürlich-Todverfallene do- monie im Musikspiel von Eduard und Ottilie usw. Von
miniert. Er stellt, wie noch zu erläutern sein wird, derartigen Störungen lassen sich die Figuren des Ro-
einen Schuld- und Verblendungszusammenhang mans kaum irritieren; sie scheinen sich jeder Psycho-
her. pathologie enthoben zu wissen.
In diesem Sinne bestimmt Benjamin den Mythos als Aber im Fortgang der Handlung zeichnet sich im-
den >>Sachgehalt<< des Romans, d. h. in ihm liegt eine mer deutlicher ab, daß diese freien Lebensformen wie
genaue Erfahrung des Mythischen vor. In welch ver- unter dem unheimlichen Zwange >>einer verborgenen
schiedenen konkreten Erscheinungsweisen sich dieses Macht<< (1, 133) stehen. >>Die Menschen selber müssen
Mythische im Roman manifestiert, wird in den weite- die Naturgewalt bekunden. Denn sie sind ihr nirgends
ren Abschnitten noch zu verfolgen sein. entwachsen. [... ] Weit entfernt, neue Einsichten zu
Hier ist zunächst festzuhalten, daß das, was Benja- erschließen, macht sie [die Freiheit, d. Verf.] sie blind
min das Mythische nennt, nicht gleichzusetzen ist mit gegen dasjenige, was Wirkliches dem Gefürchteten
einer weltgeschichtlichen Epoche, etwa der Antike. Es innewohnt<< (ebd.). Mit eindringlichen Verweisen wird
hat allerdings, wie ZuR KRITIK DER GEWALT zeigt, die Welt des Romans als eine Unterwelt der Toten be-
strukturelle Affinität zu jener Epoche, in der erstmals schrieben. Die Landschaft erscheint an keiner Stelle im
die mythische Gewalt im Recht kodifiziert wurde. Sonnenlicht (132; 135). Das Wasser, das zu einem Lust-
478 Dichtungsanalyse und Autorbild

see umgebettet wird, zeigt nicht allein beim Tod des Goethe-Bild widerspricht. Denn sie richtet sich nicht
Kindes seine »vorweltliche<< Gewalt (133). Nicht nur auf einzelne mythologische Versatzstücke im Roman,
Eduard heftet sein Schicksal an glückliche Zeichen, die sondern besteht in der illusionslosen Einsicht in >>das
sich bald als böse Omina erweisen, wie beim Bauopfer unentrinnbar Grauenvolle des Vollzugs<< (130), das
(136; 134). Derart stößt die Analyse durchgängig auf durch die sachlich distanzierte Haltung des Erzählers
»Todessymbole<< (137; 139). Kurzum: diese Gebildeten verstärkt wird. Was heutige kulturwissenschaftliche
sind auf die Stufe >>bloßen Lebens<< gesunken, auf der Interpreten der Wahlverwandtschaften, die sich die
ihr natürliches sich verschuldet und das >>Leben schein- Mühe der Benjaminlektüre ersparen, als neue Einsicht
bar toter Dinge Macht<< über sie gewinnt (ebd.). in die Modernität des Romans sich anrechnen (u. a.
Zu dieser trügerischen Aufgeklärtheit gehört auch, Greve 1999), ist hier bereits in aller Schärfe erkannt.
daß Goethe den Romanfiguren sozusagen ihr eigenes Wie eng theoretische Konstruktion und Zeitpunkt
Schicksal in die Hand gibt, indem er sie das paradoxe der Erkenntnis in seiner Abhandlung miteinander ver-
chemische Gleichnis, das ihn zum Roman inspirierte, knüpft sind, hebt Benjamin nachdrücklich hervor. Er
selbst in geselliger Unterhaltung durchspielen läßt. konstatiert, >>daß der mythische Gehalt des Werkes den
Taktvoll und schicklich umgehen sie dabei die einzige Zeitgenossen Goethes nicht der Einsicht, aber dem
Version, die dann wirklich wird. Und in abgründiger Gefühl nach gegenwärtig war. Dem ist heute anders,
Ironie konfrontiert Goethe sie jenem Wechselbalg mit da die hundertjährige Tradition ihr Werk vollzogen
Ottiliens Augen und des Hauptmanns Gesicht als der und die Möglichkeit ursprünglicher Erkenntnis fast
monströsen Verkörperung der dämonischen, aus der verschüttet hat<< (I, 143).
Zerrüttung der Ehe hervorgehenden Gewalten. Benjamin positioniert sich, und das macht in der
>>Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Leben- Tat den autoritären theoretischen Anspruch seiner
digem<< (138). Mit diesem Satz ist nicht gemeint, daß Abhandlung aus, als jemand, der zum erstenmal die
alles Lebendige unter einem unauflöslichen Bann >>Möglichkeit der ursprünglichen Erkenntnis<< reali-
steht, sondern daß es unter jedem Fortschritt, als den siert. Solch ein Anspruch mag in einem Wissenschafts-
das Aufklärungsdenken die geschichtliche Emanzipa- betrieb, der die Vieldeutigkeit des Werks und den
tion der Menschengattung zu bestimmen sucht, vom Pluralismus der Interpretationen favorisiert, dogma-
Rückfall in >>bloßes Leben<< bedroht ist. So jedenfalls tisch erscheinen. Aber, genauer betrachtet, geht Ben-
haben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der jamin hier vielmehr methodisch korrekt vor, indem er
Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1988) die aufklä- die eigenen Voraussetzungen aufdeckt und damit dem
rungskritischen Impulse von GoETHES WAHLVER- Leser anheimstellt, ob er ihnen zu folgen bereit ist.
WANDTSCHAFTEN aufgenommen und Benjamins theo- Wirkungsgeschichtlich gilt es gerade, an die Spuren
logische Konstruktion des Schuldzusammenhangs, anzuknüpfen, die zeitgenössischen Zeugnissen, die
dem das bloße Leben verfällt, als Wiederkehr mythi- ganz direkt den Roman als Gegenwartsroman wahr-
scher Gewalt in der naturbeherrschenden Vernunft der genommen haben, zu entnehmen sind.
Neuzeit übersetzt (Lindner 1981). Auf wenigen Seiten umreißt Benjamin mit kunstvoll
Vom historischen Schematismus der Dialektik der einmontierten Zitaten ein Bild der zeitgenössischen
Aufklärung - schon der Mythos ist Aufklärung und Rezeption. Zu seiner Methode sagt er: >>Wichtig sind
Aufklärung schlägt in Mythologie zurück - muß man die ausgeprägten Sätze, wie sie unterm Namen einzel-
Benjamins Vorgehensweise allerdings deutlich abhe- ner hervorragender Berichterstatter erhalten sind<< (I,
ben. In der Wahlverwandtschaftenarbeit geht es, wie 141). Derartige ausgeprägte Sätze- so, wenn Wieland
später im Surrealismusaufsatz oder in der Passagenar- von einem >>Wirklich schauerlichen Werk<< spricht oder
beit, nicht nur um den Rückfall der aufgeklärten Zivi- Mme. deStaelbeklommen notiert, daß das Leben hier
lisation in Barbarei, sondern auch um die neuen >ar- als eine ganz indifferente Sache behandelt werde, wenn
chaischen Bilder<, die in der Gegenwart der bürgerli- Jacobi sich über die >>Himmelfahrt der bösen Lust<<
chen Gesellschaft hervorgebracht werden. entsetzt oder Zacharias Werner ein exzentrisches So-
nett über den Roman an Goethe schickt- ergeben ein
eindrucksvolles Mosaik, das auch vor der späteren Re-
Die ,,ursprüngliche Erkenntnis<< zeptionsforschung (Härtl1983) Bestand hat. Der Re-
kurs auf die zeitgenössische Rezeption ist gegen das
Benjamin nennt seine Auffassung von den mythischen Unheilvolle späterer Würdigung gerichtet (I, 1242).
Gewalten als dem Sachgehalt des Romans selbst >>eine
[... ]befremdende Auffassung<< (I, 141). Sie mußte be-
fremden, weil sie dem zu seiner Zeit überlieferten
»Goethes Wahlverwandtschaften« 479

Kritik Gundolfs. Goethes mythische Angst bei ihm nicht vorgesehen. Insofern kann Benjamin
Gundolfs Buch nicht als Bestätigung seiner Ausgangs-
Aus der durchaus beträchtlichen Goethe-Literatur these vom Mythischen als Sachgehalt der Wahlver-
seiner Zeit sucht sich Benjamin einen >Gegner< heraus, wandtschaften gebrauchen. Und schon gar nicht für
der ebenfalls mit dem Anspruch auf >ursprüngliche die Fluchtlinie seiner Kritik, die Alterswerke Goethes
Erkenntnis< angetreten war: Gundolfs monumentales seien einem Aufbegehren gegen die Unterwerfung un-
Buch Goethe (1916), eine dessen Leben und seine ter mythische Zwangsverhältnisse entsprungen.
Werke deutende Gesamtdarstellung, die ihn als größte Der heutige Leser der Benjaminsehen Abhandlung,
mythische Gestalt des deutschen Geistes feiert. zumal in Unkenntnis des Gundolfschen Buchs, kann
Warum nimmt die Kritik von Gundolfs damals viel- aus der Gundoltkritik leicht den falschen Eindruck
gelesenen und als geistesgeschichtliche Oberwindung gewinnen, kritisiert werde vor allem dessen Vermen-
der alten philologischen Germanistik gepriesenen gung von Werk und Leben. Das wäre ein grobes Miß-
Goethe-Buch einen beträchtlichen Raum in der Ab- verständnis. Dies liegt zwar ganz auf der Linie heutiger
handlung ein (I, 158-164)? Schon früher und noch Literaturwissenschaft, die meint, nur noch mit Texten
ohne Bezug zu den »Wahlverwandtschaften<< hatte zu tun zu haben. Aber Benjamins Sache ist das nicht.
Benjamin das Buch einer vernichtenden Kritik unter- Im Gegenteil: Ein sehr beträchtlicher Teil seiner Argu-
zogen (BEMERKUNG ÜBER GuNDOLF: GoETHE, I, 826- mentation vollzieht sich über Daten und Zeugnisse
828. Vgl. zu Gundolf auch die Rezension des Gryphi- aus Goethes Leben. Ohne diesen Bezug würde sie an
usbuchs von 1928, III, 86-88). Oberzeugungskraft erheblich einbüßen.
Keineswegs ist die Gundolf-Kritik als verdeckte Ab- Was Benjamin an Gundolf kritisiert, ist nicht die
rechnung mit George zu verstehen. Dagegen spricht Heranziehung biographischer Zeugnisse, sondern die
allein schon der Umstand, daß zweimal, an äußerst übergangslose Vermischungvon Leben und Werk, die
prominenter Stelle (I, 172; 201) Stefan George zitiert bereits sich in den Kapitelüberschriften spiegelt. Für
wird, sondern auch, daß Benjamin über die Beziehung sich selbst nimmt er indes eine wechselseitige Erhel-
zwischen dem Dichter und Gundolf kein Wort ver- lung von Leben und Werk in Anspruch, sofern die
liert. Prämisse von der »Unergründlichkeit des Ursprungs
Was Benjamin in erster Linie abstößt, ist Gundolfs jedes Werks« gewahrt bleibt ( 156). Insofern ist es kein
verquaste Sprache, die den Gestus des hohen Ernsts Widerspruch, wenn Benjamin parallel zum Verfahren
und tiefsinnigen Eindringens usurpiert (vgl. auch I, von Kommentar und Kritik und unabhängig von die-
828). Ohne sich der Lektüre von Gundolfs monströ- sem, aufbiographische Zeugnisse zurückgreift.
sem Wälzer auszusetzen, wenigstens die ersten dreißig Das Bild, das Benjamin damit von Goethe entwirft,
Seiten der Einleitung einmal Wort für Wort zu lesen, widerspricht nicht nur vollständig dem etablierten
wird man heute freilich Benjamins erbitterte Polemik, Goethe-Kult; es konterkariert auch das Bild, das Goe-
die nichts Geringeres als die Exekution des Autors im the von sich überliefert wissen wollte. Entsprechend
Sinn hat, kaum verstehen. Formulierungen wie »Denk- bemerkt Benjamin über die Romanfiguren, ihre »Le-
art einer Knallbonboneinlage<< oder »wo sich die Worte benskunst Goethescher Schule macht die Schwüle nur
als plappernde Affen von Bombast zu Bombast schwin- dumpfer<< ( 185). Im Aufbau der Abhandlung bildet die
gen<< (I, 163) müßten sonst als gehässige Entgleisungen ausführlich instrumentierte Darlegung über den Zu-
erscheinen. sammenhang von Naturidolatrie, symbolischer Be-
Das zweite, was Benjamin zurückweist, ist Gundolfs deutsamkeit und mythischer Angst, die Goethes >Le-
Auffassung vom Dichter als einem Heros, in dem die benskunst< ins Dunkle und Abgründige rückten, den
Erlebnisse, die Kämpfe und das Werkschaffen zu einer Schluß des ersten Teils (14 7-154). Benjamin hat diesen
Gestalt zusammenfallen. Gundolf monumentalisiert Teil seiner Abhandlung übrigens im Exil in französi-
so das »gedankenloseste Dogma des Goethekults, das scher Übersetzung nochmals publiziert unter dem
blasseste Bekenntnis der Adepten: daß unter allen Goe- Titel L'ANGOISSE MYTHIQUE CHEZ GOETHE (Cahiers
theschen Werken das größte sein Leben sei [... ].<< du Sud 1937, 342-348).
(160). Es kann hier nur knapp auf die Quellen verwiesen
Damit ist bereits der dritte Aspekt berührt, der al- werden, die Benjamin sehr präzise aus dem Alterswerk
lerdings Benjamins Abhandlung ganz direkt betrifft. Goethes heranzieht: die von Goethe für die Ausgabe
Für Gundolf hat ganz fraglos Goethes Leben und letzter Hand unter dem Titel Gott und Welt zusammen-
Schaffen mythische Größe und Geltung. Daß das »Ver- gestellten Gedichte, weiter das Vorwort zur Farbenlehre
hältnis von Mythos und Wahrheit<< eines der »gegen- und schließlich jenes von Goethe spät publizierte Sturm
seitigen Ausschließung<< (162) darstellen könnte, ist und Drang-Fragment Die Natur, eine wichtige Passage
480 Dichtungsanalyse und Autorbild

über das Dämonische aus Dichtung und Wahrheit, die Exkurs: Goethe im Gesamtwerk
Tag- und ]ahrshefte, die Herausgabe des Briefwechsels
mit Schiller. Und es ist kein Zufall, daß es hier gerade Aus zwei Gründen soll hier in die Erörterung der
die ältere Germanistik ist, nämlich Gervinus' Schrift Wahlverwandtschaftenarbeit ein Exkurs zu Goethe in
Ober den Göthischen Briefwechsel von 1836, die als kri- Benjamins Gesamtwerk eingeschaltet werden. Zum
tisches Zeugnis für Goethes Kult der symbolischen einen muß dem möglichen Mißverständnis bei der
Aufladung noch des Marginalsten dient. Rezeption von Benjamins Abhandlung vorgebeugt
Das ungehemmte >>Chaos der Symbole<< (I, 154) ist werden, mit der Darstellung der mythischen Angst sei
der vergebliche Versuch, den Begriff der All-Natur, der Benjamins Goethe-Bild vollständig umrissen. Zum
ins Monströse wächst, zu bannen. Als halbes Einge- andern eröffnen die weiteren Goethe-Bezüge im Ge-
ständnis liest Benjamin Goethes Beschreibung der der samtwerk weitere Einsichten in die Wahlverwandt-
Natur innewohnenden dämonischen Zweideutigkeit, schaftenabhandlung, die ihrem Verständnis sehr för-
die mit Satz endet: >>Ich suchte mich vor dem furcht- derlich sind.
baren Wesen zu retten<< (150). Und er zeigt auf, wie Die Beschäftigung mit Goethes Werk durchzieht,
hinter dem, was Goethe als erfolgreiche Bewältigung wie mit sonst keinem anderen Autor, Benjamins ge-
und Rettung behauptete, sich ein ungeheueres Angst- samtes Schaffen. Allerdings erschließt sich dies aus den
potential verbirgt, das in der Erfahrung des Mythi- Gesammelten Schriften nicht sofort, da es sich um ver-
schen liegt. Am unverstelltesten liegt es in den vielen streute Einzeltexte zu Goethe, um Goethe- Referenzen
Zeugnissen über Goethes zwangsneurotische Abwehr in anderen Texten oder auch um Arbeitsprojekte, die
gegen alles mit Tod und Begräbnis Zusammenhän- nicht realisiert wurden, handelt.
gende zutage. >>Die Angst vorm Tod, die jede andere Die Goethe-Zitate und -Verweise sind so zahlreich,
einschließt, ist die lauteste. Denn er bedroht die ge- daß sie unmöglich in referierender Form hier ange-
staltlose Panarchie des natürlichen Lebens am meisten, führt werden können. Sie reichen von wiederholten
die den Bannkreis des Mythos bildet<< (151). Bezugnahmen auf die >>Selige Sehnsucht<< oder auf den
Diese Charakteristik ist eine vollkommen andere als Helena-Akt aus Faust II oder die Lehre vom Urphäno-
jene blendende Aura, die Gundolf um Goethes Gestalt men bis zu exponierten Goethe-Mottos wie z. B. zu
zieht. Und es ist keine übertreibung, wenn Benjamin Beginn des Trauerspielbuchs (I, 207). In den verschie-
über seine eigene Abhandlung sagt, daß sie >>schreck- densten Zusammenhängen kommt Benjamin auf Goe-
haft deutlich die Gewalt uralter Mächte im Leben die- thes Satz zurück, daß ein Werk, das eine große Wir-
ses Mannes zeigt, der doch nicht ohne sie zum größten kung gehabt habe, eigentlich gar nicht mehr beurteilt
Dichter seines Volks geworden ist<< (ebd.). werden könne (z. B. II, 1326). Auch an ganz unerwar-
Die Formel vom >>größten Dichter<< soll das schreck- teten Stellen finden sich überraschende Verweise auf
hafte Bild nicht relativieren. Im Gegenteil. Erst von Goethe. So vermerkt Benjamin z. B. in den ersten Auf-
ihm aus ist die Leistung zu ermessen, die Benjamin zeichnungen zum Passagenwerk im Zuge einer Notiz
dem Alterswerk zuspricht. Darauf kommt er im zwei- über Wetter und Langeweile, es sei heranzuziehen,
ten Teil der Abhandlung, als Abschluß der Gundolf- >>wie Goethe das Wetter [... ] zu durchleuchten wußte<<
Kritik, grundsätzlich zurück (164-167). Die Wahlver- (V, 1017).
wandtschaften bilden in Goethes Werk >>eine Wende<<. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von kleineren
Mit diesem Roman setzt das Alterswerk ein, in dem Texten, die explizit Goethe und der Goetheliteratur
Goethe >>den ständig mächtiger in seinem spätem gewidmet sind. Dies muß hier nicht in aller Ausführ-
Werk entfalteten Protest gegen jene Welt einlegte, mit lichkeit dargelegt werden, weil es inzwischen mehrere
der sein Mannesalter den Pakt geschlossen hatte<< Aufsätze gibt (Lacoste 1996; Simonis 2000; Steiner
(165). Diese Aufwertung des Spätwerks vertritt Ben- 2002), die diesem Komplex mit unterschiedlichen Ak-
jamin auch später immer wieder. Dabei unterstellt sie zenten genauer nachgegangen sind.
quasi psychoanalytisch, daß der alte Goethe die de- Derartige Rekonstruktionen können natürlich nicht
struktiven Dimensionen dieses Protests vor sich selbst den großen Verlust ersetzen, als den man das Scheitern
verborgen halten mußte. des geplanten großen Goethe-Buchs ansehen muß.
Damit ist ein Doppeltes gesagt: mit dem Regiment, Benjamin hatte dieses Projekt, von dem er sich eine
unter das Goethe das letzte Vierteljahrhundert seines finanzielle Sicherstellung erhoffte, 1931 (auch im Blick
Lebens stellte, legt er sich Strategien der Selbstverhül- auf das Goethe-Jahrhundertjubiläum 1932) Anton
lung auf und eröffnet sich zugleich einen eigenen Zu- Kippenberg vom Insel-Verlag angeboten. Daß der Auf-
gang zur Kunstkrise der Moderne (166), der ihn der trag nicht zustande kam, erfüllte ihn mit großer Bit-
Romantik als überlegen zeigt. ternis, um so mehr als vorher schon eine Buchpubli-
»Goethes Wahlverwandtschaften« 481

kation der Wahlverwandtschaftenarbeit bei Rowohlt Gedecke, für seine Verwandtschaft und seine Ahnen
nicht zustande gekommen war. Ein Expose zu dem aufgetragen, sieht. Aber die Personen sind nicht vor-
Goethebuch gibt es nicht. Zu den ungeschrieben ge- handen. Von ihnen ist weiter nicht die Rede. Dem
bliebenen Teilen des Buchs gehörte auch eine Arbeit Wortlaut nach nehmen nur Goethe und Benjamin das
über Goethes Die Neue Melusine, die Benjamin zu- Mahl ein. Das Ganze erinnert an ein Ritual, an die
nächst gleich im Anschluß an die Wahlverwandtschaf- Wiederkehr eines Gespenstes, das danach wieder ins
tenarbeit plante und auf die er auch später brieflich Jenseits zurück muß. Alles vollzieht sich stumm, bis
zurückkommt, zuletzt 1940 gegenüber Gretel Adorno der Träumende vor Ergriffenheit zu weinen beginnt
(6, 385 f.). (IV, 87).
Anstelle des ungeschriebenen Buchs muß man sich
mit einer Reihe von Rezensionen zufrieden geben, in
denen Benjamin Goethe-Literatur und Goethe-Edi- nGoethe. Goethes Politik
tionen bespricht. Die erste erscheint 1928 in der Lite- und Naturanschauungcc
rarischen Welt zu Wohlbolds Edition der Farbenlehre
(III, 148-151 ff.; 1928). In der Goethe-Sondernummer In der Benjaminrezeption ist Benjamins Handbuch-
der Frankfurter Zeitungvon 1932 erscheint die instruk- artikel über Goethe, den er für die Große Sowjet-En-
tive, kommentierte Bibliographie HuNDERT JAHRE zyklopädie verfaßte, durchaus beachtet, aber in der
ScHRIFTTUM UM GoETHE (III, 326-340), in der Ben- Radikalität seines Zugriffs denn doch nicht wahrge-
jamin auch vergessene, von ihm sehr geschätzte Bücher nommen worden. Zu sehr blieb der Eindruck bestehen,
erwähnt, wie die Arbeiten von Klages, von Lewy und Benjamin habe sich hier gewaltsame Kompromisse
von Gervinus, und im Anschluß daran die wichtige gegenüber dem marxistischen Auftrag auferlegt. Da-
Sammelrezension FAusT IM MusTERKOFFER (340- von kann nicht die Rede sein. Und wenn er an einer
346). Im gleichen Jahr in der Literarischen Welt und Stelle Christiaue Vulpius ein »Proletariermädchen,
noch 1934 in der Frankfurter Zeitung (unter dem Arbeiterin in einer Blumenfabrik<< nennt, so soll das
Pseudonym Detlef Holz) werden weitere Goethebü- eher den Abstand zur Weimarer Hofgesellschaft un-
cher besprochen (352-354; 418-425). Von ganz eige- terstreichen »und nicht als Zeugnis besonders freier
nem Gewicht sind schließlich die beiden Kommerell- sozialer Anschauungen des Dichters<< gelten (II, 722).
Rezensionen (WIDER EIN MEISTERWERK III, 252-259; Schalem gegenüber nennt Benjamin es eine »gött-
DER EINGETUNKTE ZAUBERSTAB III, 409-417), ohne liche Frechheit<<, den Auftrag, den Artikel über Goethe
daß auf die Goethebezüge hier näher eingegangen zu verfassen, angenommen zu haben. Weder könne er
werden kann. die Erwartung, dies »vom Standpunkt der marxisti-
Wie nahe Benjamin die Gestalt zumal des greisen schen Doktrin<< aus zu tun, erfüllen, noch gäbe es über-
Goethe steht und wie tief ihn der genius loci des Goe- haupt eine marxistische Literaturgeschichtsschreibung
thehauses in Weimar berührte, zeigen zwei andere (3, 133; 161 f.). Später heißt es, wiederum an Schalem,
Texte, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Es er habe sich die für die Wahlverwandtschaftenarbeit
handelt sich zum einen um den Text >>Nr. 113<< aus der herangezogene Goetheliteratur wieder vorgenommen,
EINBAHN STRASSE, in dem zwei Goethe-Träume erzählt um daraus »eine flache Schalevon prima mittelgutem
werden (auch bei Jezower 1985, 271) und zum anderen Opferwein, vor Lenins Mausoleum zu verschütten, zu
das dreiteilige Denkbild »Weimar<< (IV, 353-355). (vgl. destillieren<< (3, 393).
Weissberg 2003; Garher 2005, 160ff.). Wie sich am Ende herausstellt, befand sich Benjamin
Beide Texte, so verschieden sie sind, greifen an einer über die Erwartungen der Redaktion in ziemlicher
Stelle auf eigenartige Weise ineinander, indem sie beide Unkenntnis. Von seinem Manuskript erschien 1929 in
von Goethes Arbeitszimmer handeln. Die reale Karg- der Sowjet-Enzyklopädie nur eine völlig entstellte,
heit des Goethehauses läßt in der Beschreibung das konventionell sozialgeschichtliche Version (vgl. II,
Bild entstehen, wie im Kerzenlicht »der alte Mann 14 72 ff.), die hier außer Betracht bleiben kann. Die
abends im Schlafrock, die Arme auf ein mißfarbenes Gesammelten Schriften edieren das vollständige deut-
Kissen gebreitet<<, saß und studierte. »Dies Arbeitszim- sche Typoskript (II, 705-739).
mer war die cella des kleines Baus, den Goethe zwei Gewiß kann vom Enzyklopädieartikel aus das Kon-
Dingen ganz ausschließlich bestimmt hatte: dem Schlaf zept des ungeschrieben gebliebenen Goethebuchs
und der Arbeit.[ ... ] Und schlief er, so wartete daneben nicht erschlossen werden. Doch enthält er grundsätz-
sein Werk, um ihn allnächtlich von den Toten loszu- liche, geradezu provozierende Einsichten, die dort
bitten<< (IV, 354f.). Über diese Schilderung legt sich Eingang gefunden hätten. Der Text war Benjamin so
dann der Traum am gleichen Ort, wo der Träumende wichtig, daß er ihn vorher in Auszügen in der Litera-
482 Dichtungsanalyse und Autorbild

rischen Welt (Dezember 1928) unter dem Titel GoE- ganzen Stab von Helfern und Sekretären<<, ja einem
THES POLITIK UND NATURANSCHAUUNG publizierte, »Literatur- und Pressbüro mit seinen Assistenten von
mit den Zwischentiteln >>Goethes naturwissenschaft- Eckermann, Riemer, Soret, Müller bis hinab zu den
liche Studien<< und »Goethe und Napoleon<<. Im Vor- Schreibern Kräuter und John<< organisiert (729). Goe-
spann heißt es auf Benjamins Wunsch hin ausdrück- the betreibt gewissermaßen die »Ausbildung seines
lich, daß der Mitarbeiter Walter Benjamin »vom rus- Hauswesens zu einem europäischen Kulturinstitut<<
sischen Staate den Auftrag bekommen<< habe den (722).
Goethe-Artikel für die neue Sowjetrussische Enzyklo- Es ist aufschlußreich, wenn Benjamin hier Goethe
pädie zu verfassen (II, 1475). als einen unmittelbaren Nachfolger Voltaires sieht, in
Daß die Redakteure der Sowjetenzyklopädie mit dem zum erstenmal ein bürgerlicher »Literat<< sich
dem Manuskript wenig anfangen konnten, muß nicht »europäische Autorität<< vor den Fürstenhöfen errun-
gleich ihrer Stupidität zugerechnet werden. So elegant gen hatte (723). Schwerer nachvollziehbar ist die an-
sich Benjamins Text liest und so erstaunlich viel Sach- dere Parallele, die er zieht: die zu Napoleon. Ermög-
gehalt er auf engem Raum zusammenbringt, so besteht licht wird sie durch die Analogie, die man zwischen
er in seiner Substanz doch in einer Folge von Abbre- Goethes Wandlung vom Haupt der Sturm und Drang-
viaturen, die mehr zu denken geben als das Gedachte Bewegung zum geadelten Weimarer Minister und der
entfalten. (Der Teilabdruck in der Literarischen Welt Napoleonischen vom Revolutionsgeneral zum Kaiser
verschärft dieses Abbreviative noch mehr). In einer finden kann.
politischen Perspektive -und nicht in irgendwelchen Daß Benjamins Vergleich noch tiefer reicht, kann
Basis-Überbau-Theoremen - schlägt sich der >marxi- man Blumenbergs Die Arbeit am Mythos entnehmen,
stische< Anspruch Benjamins nieder. in dessen viertem Teil dargelegt wird, wie sehr die pro-
Ausgangspunkt ist, daß das zeitgenössische deutsche metheische Figur Napoleons für Goethe zum Gegen-
Bürgertum von Goethe nichts begriffen hat. Indem er stand einer Selbstvergleichung geworden ist. Die be-
seit dem Kaiserreich als Kultfigur gefeiert wird, bleibt rühmte Formulierung über das Dämonische der Natur
ganz unbegriffen, warum Goethe sein »ganzes Schaffen -»Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu
[... ] voller Vorbehalte gegen diese Klasse<< geblieben retten.<<-, die Benjamin in seiner Wahlverwandtschaf-
sei. »Und wenn er eine hohe Dichtung in sie stiftete, tenabhandlung zweimal zitiert, wird von ihm zum
so tat er es mit abgewendetem Antlitz<< (II, 739). Aber Ausgangspunkt des Goethekapitels gemacht (Blumen-
mit solcher Feststellung wird gar nicht erst der Versuch berg 1990, 43 7).
gemacht, >das Proletariat< als Erben Goethes zu rekla- Für GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN VOn direk-
mieren. Goethes Werk bleibt ein politisches Strandgut ter Bedeutung sind Benjamins Ausführungen über das
(Lindner 1998). Verhältnis von Naturforschung und Dichtung. Er stellt
Deutlicher als im Wahlverwandtschaftenaufsatz nicht nur heraus, daß das Naturstudium Goethe le-
rückt Benjamin die pathologischen Züge von Goethes benslang ein Asyl bot, um den politischen Erschütte-
Existenz, die er mehrfach herausstellt, in einen über- rungen seiner Zeit wie bei der Kampagne in Frankreich
greifenden Kontext. zu entkommen. Er macht darüber hinaus deutlich, daß
Im bewußten Gegensatz zum Goethekult vom Deut- es die Naturforschung Goethe ermöglichte, dem äs-
schen Goethe wird Goethe als europäische Gestalt thetischen Versöhnungsparadigma des deutschen Idea-
herausgearbeitet. Es heißt: »Der Lebensraum dieser lismus kritisch sich gegenüberzustellen.
Universalität ward ihm mehr und mehr Europa und »Goethes naturwissenschaftliche Studien stehen im
zwar im Gegensatz zu Deutschland<< (II, 731; auch Zusammenhang seines Schrifttums an der Stelle, die
vorher schon mit Verweis auf die 2. Italienische Reise). bei geringeren Künstlern oft die Ästhetik einnimmt.
Und direkt auf die Wahlverwandtschaften bezogen Man kann gerade diese Seite des Goetheschen Schaf-
wird gesagt: »Während Goethe an diesem Roman fens nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt,
schrieb, gewann er zum ersten Male sichere Fühlung daß er zum Unterschiede von fast allen Intellektuellen
mit dem europäischen Adel [... ].Diesem Publikum, dieser Epochen nie seinen Frieden mit dem >schönen
der schlesisch-polnischen Aristokratie, Lords, Emi- Schein< gemacht hat<< (li, 719).
granten, preußischen Generälen, die sich in den böh- Was ist damit gemeint? Nicht nur, daß Goethe an-
mischen Bädern zumal um die Kaiserin von Österreich ders zum Ästhetischen steht als Schiller, weshalb Ben-
fanden sind die >Wahlverwandtschaften< zugedacht<< jamin sehr genau das Bündnis der beiden Klassiker als
(731 f.).Anders als im Weimar-Traum entsteht hier das diplomatischen» Waffenstillstand<< analysiert. Es heißt
Bild eines europäischen Autors, der die Produktion der vor allem auch, daß der Schöne Schein- »jenes spezi-
letzten 30 Jahre seines Weimarer Lebens mit »einem fisch deutsche[n] Gedankenreich[s] des >Schönen
»Goethes Wahlverwandtschaften« 483

Scheins<<< (728) - ihn zutiefst beunruhigte. Deshalb ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE heißt es: >>Die
rückt, wie noch zu zeigen sein wird, Goethes Erfahrung Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur
des Scheins ins Zentrum von Benjamins Kritik der Meditation anwies, hatten die Aufgabe, sie der Welt
Wahlverwandtschaften. und ihrem Treiben abtrünnig zu machen. Der Gedan-
Mit diesem Roman beginnt das Spätwerk, das Ben- kengang, den wir hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen
jamin in einer Rezension als Dichtungen charakteri- Bestimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt in einem
siert, >>in denen Goethe dem Lauf seiner Phantasie Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des
willentlich Dämme und Stauwerke härtester Realien Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre
in den Weg setzte« (III, 341). Ausführlich stellt der Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache be-
Enzyklopädieartikel dar, wie auseinandergebreitet die- kräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu
ses Spätwerk ist, in dem der transeuropäische Orient lösen, mit denen sie es umgarnt hatten« (I, 698).
des West-östlichen Divans neben den frühsozialisti- Man muß es für ausgeschlossen erachten, daß der
schen Blicken auf Amerika in den Wanderjahren steht. Goetheleser Benjamin den Ausdruck >>Weltkind« nicht
Den Höhepunkt bildet indes die Vollendung des Faust, mit Anspielung auf die berühmte Stelle aus Dichtung
von dem aus erkennbar wird, wie eng der Ertrag von und Wahrheit verwendet, in der sich Goethe als jungen
Goethes politischem Denken wie dichterischen Schaf- Dichter in einer Kohlenzer Kneipe zwischen Lavater
fen mit dem >>europäischen Barock« (II, 737) verknüpft und Basedow sitzend - >>Prophete rechts, Prophete
ist. links,/ das Weltkind in der Mitten«- porträtiert (Goe-
Erst hier wird einsichtig, warum Benjamin anfangs the 1986, 676). Während der erste einen Geistlichen
behauptet hatte: >>Goethe und Napoleon schwebte ein über die Geheimnisse der Offenbarung Johannis be-
Gleiches vor Augen: die soziale Emanzipierung der lehrt, bemüht sich der andere, einem verstockten Tanz-
Bourgeoisie unter der politischen Form der Despotie« meister zu beweisen, daß die Taufe ein überholtes
(726). Ob Goethe auf Napoleon setzte, wird man Ritual sei.
schwerlich ermitteln können, jedenfalls waren ihm die So wie sich Goethe aus derartigen theologischen
>nationalen Befreiungskriege< zutiefst zuwider. Eben- Verstrickungen befreit weiß, ist auch das politische
sowenig aber setzte er- und das ist das Entscheidende Weltkind aus den ideologischen Fronten der antifa-
- in den späten Jahren noch ein Vertrauen auf das schistischen Politiker herauszulösen. Wahre Politik
Bündnis von Bildungsbürgertum und aufgeklärtem heißt Annihilierung der etablierten Politik. Ihr gegen-
Adel. So sehr er den Neo-Katholizismus der Roman- über bezeichnet das politische Weltkind jene leere
tiker verachtete, so sehr wurde ihm der Katholizismus Stelle des profanen Glückssuchens der Menschheit
der absolutistischen Gegenreformation zur politischen (vgl. I, 203 f.), das die ideologischen Prediger abschüt-
Vision. >>Goethe blickte zu tief, um bei seinem utopi- telt (vgl. III, 255).
schen Regreß auf den Absolutismus beim protestanti-
schen Fürstentum des achtzehnten Jahrhunderts sich
beruhigen zu können« (737). Der engstirnige Prote- Die ,,Technik des Romans<<
stantismus des in Versailles gegründeten preußisch-
deutschen Kaiserreichs hat diese Befürchtungen bestä- Bereits Goethes ungewöhnliches Vorgehen, dem Ro-
tigt. man vor seinem Erscheinen eine anonyme, aber er-
Vom Fortschritt des nationalstaatlich-marktlibera- kennbar von ihm stammende Voranzeige in Cottas
len Bürgertums ist nichts zu erwarten, außer Beschleu- Morgenblatt vorauszuschicken, deutet auf eine publi-
nigung und Herrschaft des Durchschnittlichen. Ben- zistische Strategie, die >>apologetisch und mystifizie-
jamin zitiert hierzu den Brief des alten Goethe an rend« (I, 143) verfährt. Sie soll durch schwer durch-
Zelter (1825; II, 737 f.), der auch in der Anthologie sehaubare Andeutungen das Interesse an der Neuer-
VoM WELTBÜRGER zuM GRaSSBÜRGER (1932; IV, 859) scheinung wecken und der befürchteten moralischen
abgedruckt ist. Verurteilung des Romans durch Abschwächung seiner
Doch behält bei ihm Goethes Resignation nicht das skandalösen Züge entgegenwirken. Nicht anders ist
letzte Wort. Er nimmt vielmehr an, daß Goethes >>po- Goethe nach dem Erscheinen verfahren. Hierüber ist
litischer Nihilismus zu weit ging als daß er mehr als im Abschnitt >Ursprüngliche Erkenntnis< Näheres ge-
andeutungsweise von ihm zu reden gewagt hätte« (II, sagt.
716; 712). Dieser politische Nihilismus Goethes ist Unabhängig aber von dieser publizistischen Strate-
Benjamin wichtig. Noch im letzten Text, den er ge- gie bildet die >>Technik des Romans« (145) für Benja-
schrieben hat, findet sich ein verborgener Bezug dar- min eine Kategorie, die das interne Verhältnis des
auf, der bislang nicht bemerkt wurde. In den Thesen Autors zum Werk betrifft. Dieses Verhältnis stellt sich
484 Dichtungsanalyse und Autorbild

in dem Paradox dar, daß Goethe sich selbst gegenüber Es liegt durchaus auf der Linie Benjamins anzuneh-
nicht eingestehen wollte, daß der Roman durchaus men, daß Goethe versucht habe, den mythischen Sach-
kalkuliert produziert wurde. Deshalb >>hat der Dichter gehalt durch Analogiebildungen, Zahlensymbolik und
offenbar ganz vorsätzlich alles dasjenige zerstört, was Buchstabenspiele selbst zu mystifizieren und zu ver-
die durchaus konstruktive Technik des Werks gezeigt rätseln. Benjamin nennt dies, wie gesagt, Züge, die nur
hätte<< (146). Er beanspruchte, >>sein Kunstgeheimnis >>philologisch forschender Betrachtung sich erschlie-
zu hüten<<, und empfahl eine mehrfache Lektüre, um ßen<<, in den >>Bereich beschwörender Formeln<< über-
dem Hineingelegten und dem Hineinversteckten auf gehen und damit der eigentlichen künstlerischen
die Spur zu kommen (ebd.). >>Form<< entgegenstehen (I, 180). Goethes >Hineinge-
In solcher Haltung bestätigt sich, daß das technische heimnissen< erscheint ihm deshalb keineswegs bloß als
Produktionsbewußtsein im Banne des Mythos ver- artistische Spielerei, sondern bestätigt die These vom
bleibt. Wenn Goethe in der Darstellung des Sachge- Mythos als Sachgehalt des Romans und unterstreicht
halts ein >>Rätsel<< verfolgte, »dessen Lösung er in der dessen immanente Gefährdung, im Bannraum des
Technik<< zu finden suchte, so 'lief diese Technik auf Mythos zu verbleiben.
eine »Betonung der mythischen Mächte<< hinaus Die Aufgabe der Kunstkritik müßte aber müßig blei-
(ebd.). ben, wenn es nicht gelänge, eine »Schicht, in der der
Darunter faßt Benjamin alles Elliptische und Prezi- Sinn jenes Romans selbständig waltet<<, von der my-
öse, das die Schreibart des Romans kennzeichnet. Und thischen abzuheben. Nur unter solcher Voraussetzung
er notiert weiter: >>Problematischer noch sind die Züge, ließe sich aus dem Roman selbst heraus >>die Einsicht
welche überhaupt [... ] einzig einer vom Ästhetischen in einen Lichtkern des erlösenden Gehalts<< gewinnen
ganz abgekehrten, philologisch forschenden Betrach- ( 158).
tung sich erschließen. Ganz gewiß greift in solchen die Dies geschieht zum einen durch die Analyse der
Darstellung ins Bereich beschwörender Formeln hin- eingeschobenen Novelle, deren Funktion Benjamin als
über<< ( 180). anti-mythischer Gegentext zum Roman bestimmt, und
Dieser Beobachtung kommt besonderes Gewicht zu. zum andern durch die Analyse der Darstellung der
Denn mit ihr wird antizipiert, was die Wahlverwandt- Ottilie, in der sich der mythische Gehalt aufs äußerste
schaften-Forschung inzwischen als hineinversteckte ausprägt und überwunden wird.
Bezüge herausgebracht hat. In immer weiteren Veräste-
Jungen wurden die verborgenen ikonographischen,
mythepoetischen und kryptagraphischen Geheimnisse Opferlose Entscheidung. Die Novelle
des Romans aufgedeckt oder zumindest aufzudecken
vermeint. Heinz SchlaffersAufsatz über >>Namen und Daß der Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder die
Buchstaben in Goethes >Wahlverwandtschaften<<<, zu- Funktion eines Gegenbildes zum Romangeschehen
erst 1972 erschienen, muß hier besonders genannt zukommt, ist Benjamins Entdeckung. Wenn der Ro-
werden. Nicht nur weil er mit bewundernswerter Prä- man einem verdunkelten Innenraum gleicht, so bildet
zision die Alchemie der Buchstaben, Zahlen und Na- die Novelle ein Fenster, durch das der helle nüchterne
men im Roman, insbesondere das Palindrom OTTO, Tag hereinbricht (I, 196) oder- an anderer Stelle- den
entschlüsselt und damit die Erforschung der hermeti- >>Tag der Entscheidung<<, der in den >>dämmerhaften
schen Strukturen erst eigentlich initiiert hat, sondern Hades des Romans hereinscheint<< (169).
weil sich seine überlegungenmit Benjamins Abhand- Narrativ eingebunden ist die Novelle als Erzählung
lung, die er auch nennt, gut verknüpfen lassen. des englischen Lords, der mit ihr die beiden Frauen
Schlaffer versteht sich freilich strikt als Philologe. unterhalten möchte. Was als freundliche Geste des
Benjamins Position kunstphilosophischer Kritik Gastes gedacht ist, löst tiefe Verstimmung aus. Die fa-
nimmt er nicht auf, noch setzt er sich explizit mit ihr tale Wirkung bestätigt den Eindruck vom Verhängnis,
auseinander. Anders aber als die vielen unkritischen der über Schloß und Park waltet. Zugleich ist die Er-
Ausleger nach ihm problematisiert er den »Preis<<, mit zählung von Goethe durch die auch typographische
dem Goethe den extremen Kunstcharakter des Romans Hervorhebung als >>Novelle<< aus dem Kontext der
erkauft. Er fragt: »Was ist der Sinn dieser seltsamen Wahlverwandtschaften herausgesetzt und ihnen, die im
Konstruktionen? Was tragen Buchstabenspiele, alchi- Untertitel ausdrücklich >>Ein Roman<< genannt werden,
mistische Parabeln, mythische Analoga zur Erkenntnis gegenübergestellt. Das spricht dafür, ihr eine beson-
bei? Sind sie in einem Roman von 1809 nicht ein Ana- dere Funktion zuzuweisen.
chronismus, wenn nicht gar ein bewußter Rückschritt Die Behandlung der Novelle bildet den Schluß des
in neue Verdunkelungen?<< (Schlaffer 1978, 220). zweiten Teils der Abhandlung (I, 168-171), sie wird
»Goethes Wahlverwandtschaften« 485

aber im dritten Teil nochmals aufgenommen (184f.; den eingelöst durch die Erkennungsszene als Braut-
196f.). Benjamin betrachtet die Novelle als »Wahrzei- paar danach. Diese Interpretation beruht darauf, daß
chen« ( 188) im Roman. Die Novelle läßt sich Zug um der Physis des lebendigen Körpers eine Sekundenge-
Zug (196) der Romanhandlung entgegenstellen: den naue Wahrnehmungsfähigkeit zugetraut wird, die das
mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der bewußte Handeln übersteigt. Nichts anderes versteht
Novelle als Motive der Rettung. Benjamin unter Geistesgegenwärtigkeit. In ihr, und
Benjamins Auslegung läßt sich, in Anlehnung an nicht in der Verallgemeinerbarkeit moralischer Nor-
seine Formulierungen, folgendermaßen schematisie- men, vollzieht sich die Moralität des Handelns. >>Alles
ren. Während im Roman die Affekte schweigen, ma- Moralische<<, heißt es später im Trauerspielbuch >>ist
chen sich in der Novelle Feindschaft, Rachsucht, Neid gebunden aus Leben in seinem drastischen Sinn, dort
deutlich geltend. Während hier die Schönheit nicht nämlich, wo es im Tode als Stätte der Gefahr schlecht-
das Entscheidende ausmacht, ist im Roman die Schön- weg sich innehat<< (I, 284).
heit Ottiliens bestimmend. Ziehen Eduard und der Von hier aus wird das ganze Konzept des Romans
Hauptmann in den Krieg, um das Schicksal über das fraglich, wie es in Goethes Selbstanzeige formuliert
Weitere entscheiden zu lassen, setzen die beiden Figu- war, die Benjamin ausführlich zitiert und die in der
ren der Novelle in direkter Konfrontation ihr Leben Tat im ganzen Gewicht des Wortlauts bedacht werden
aufs Spiel. Während in der Novelle die Macht wahrer muß. Goethes Ankündigung liest sich zweideutig, in-
Liebe sich darstellt, zeigt der Roman, daß nicht wahre dem vom Autor gesagt wird, er wolle >>eine chemische
Liebe es ist, die in Ottilie und Eduard herrscht. Und Gleichnisrede zur ihrem geistigen Ursprunge zurück-
während die letzteren ihren Frieden erst im Tod finden, führen<<. Für Benjamin zeigt die Wahl des Titels bereits
gewinnen die ehemaligen Nachbarskinder im Durch- das Nichtige der Liebe zwischen Eduard und Charlotte
gang durch Tod und Rettung die Erkenntnis und den an, wobei er hinzufügt: >>Goethen halb unbewußt, wie
Segen ihrer Verbindung. es scheint. Denn in der Selbstanzeige sucht er den Be-
Diese Gegenüberstellung erfolgt, man kann es nicht griff der Wahl für das sittliche Denken zu retten<< (1,
anders sagen, ganz strategisch. Bis auf einen Satz (I, 188). Diesem Versuch widerspricht Benjamin ener-
196) verzichtet Benjamin erstaunlicherweise auf jede gisch.
Zitierung aus dem Wortlaut der Erzählung, der seiner Er nimmt bereits Anstoß an der Wortbildung selbst,
Deutung, z.B. in der durchgehenden Hervorhebung die zwei getrennte Sphären gewaltsam verbindet. Das
des »Schönen<<, erhebliche Widerstände entgegenset- >>bloße Wort<< Verwandtschaft sei das >>denkbar rein-
zen müßte. Und doch gewinnt er, indem er den Wort- ste<<, um >>nächste menschliche Verbundenheit<< zu
laut auf die Motivik einschmilzt, eine beeindruckende bezeichnen, und zwar im >>Geistigen<< der Verbunden-
Deutungskraft, wie sie sonst für die Novelle nirgendwo heit ( 188 f.). Mit dem medizinisch-juristischen Diskurs
gefunden wurde. einer >Blutsverwandtschaft< hat es nichts zu tun. Es
»Ihren Frieden erkaufen die Liebenden in der No- gehört eher in den lateinischen Kontext von Affinität
velle nicht durch das Opfer. [... ] Weil diese Menschen oder- im Blick auf Benjamins Sprachphilosophie- in
nicht um einer falscherfaßten Freiheitwillen alles wa- die Sphäre der (unsinnlichen) Ähnlichkeit. Umgekehrt
gen, fällt unter ihnen kein Opfer, sondern in ihnen die wird der Wahl jene Geistigkeit völlig abgesprochen.
Entscheidung. [... ] Das chimärische Freiheitsstreben >>Die Wahl ist natürlich und mag sogar den Elementen
ist es, das über die Gestalten des Romans das Schicksal eignen; die Entscheidung ist transzendent<< (189). Die
heraufbeschwört. Die Liebenden in der Novelle stehen Entscheidung gehört zur Ordnung der Freiheit, wäh-
jenseits von beiden und ihre mutige Entschließung rend die Wahl im trügerischen Spiel der Möglichkeiten
genügt, ein Schicksal zu zerreißen, das sich über ihnen verbleibt und deshalb als Akt keine dauerhafte Bin-
ballen, und eine Freiheit zu durchschauen, die sie ins dung erzeugt. Die Entscheidung, heißt es weiter, >>an-
Nichts der Wahl herabziehn wollte. Dies ist in den Se- nihiliert die Wahl, um Treue zu stiften<< (ebd.).
kunden der Entscheidung der Sinn ihres Handelns<< (I, Die längere Passage zur Treue als Inbegriff der Ehe
170f.). gehört zu den wichtigsten, zumeist aber überlesenen
Benjamin sieht in dem Ereignis, das die Novelle be- Abschnitten von Benjamins Abhandlung. Denn sie
richtet, seine Vorstellung von der Transzendenz der macht deutlich, daß die Kategorie der Entscheidung
Entscheidung exemplarisch veranschaulicht. Das De- nicht dem Carl Schmittschen Dezisionismus und sei-
zisionistische, das beiden Todessprüngen innewohnt, nem Phantasma des Souveräns entspricht, sondern
wird dadurch aufgehoben, daß sich das spontane Han- den im Handeln ergriffenen Augenblick meint, der die
deln nachträglich als antizipierter Kairos glücklichen Kraft des Eingedenkens stiftet, auf das sich künftiges
Handeins erfährt. Die blinden Sprünge in Wasser wer- Handeln rückbezieht. Nicht anders lautete der Sinn
486 Dichtungsanalyse und Autorbild

von Benjamins Interpretation der Novelle. Daß das Spätestens an dieser Stelle ist an Benjamins 1919
Paar dort am Ende den elterlichen Segen erhält, be- verfaßten und 1921 erschienenen Aufsatz ScHICKSAL
zeugt nur die Gültigkeit dieser Stiftung. UND CHARAKTER zu erinnern, der für die Konzeption
der Wahlverwandtschaftenabhandlung eine kaum zu
überschätzende Bedeutung hat. Nicht zufällig stellt
Ottilie 1: Das Opfer. nSchicksal Benjamin selbst einen solchen Zusammenhang her.
und Charaktere< 1924 in dem Brief an Hofmannsthal, in dem er für
dessen Bereitschaft, die Abhandlung zu drucken,
In Gestalt der Ottilie spitzt sich der mythische Sach- dankt, schreibt er: >>So versuchte ich vor Jahren, die
gehalt zu. Von hier aus findet er auch seine kritische alten Worte Schicksal und Charakter aus der termino-
Auflösung in den Wahrheitsgehalt. Um diese Kon- logischen Fron zu befreien und ihres ursprünglichen
struktion durchzuführen, muß Benjamin der Figur der Lebens im deutschen Sprachgeiste aktual habhaft zu
Ottilie zunächst alles absprechen, was ihr in der dama- werden<< (2, 409 f.).
ligen Goetheliteratur als transzendierende Reinheit An zwei Stellen von GoETHES WAHLVERWANDT-
zugesprochen wird. Deshalb sind Benjamin die von SCHAFTEN nimmt Benjamin direkt Bezug auf jenen
ihm zitierten Zeugnisse von Zacharias Werner und Aufsatz. Zum einen bei der grundlegenden Bestim-
Bettine von Arnim so wichtig, weil sie einen anderen, mung des Mythos. Hier wird die zentrale Formel als
despektierlichen Blick auf die Figur eröffnen, den wir unausgewiesenes Selbstzitat eingesetzt: >>Schicksal<< ist
heute um so besser verstehen. der >>Schuldzusammenhang des Lebendigen<< (I, 138,
Die Zurückweisung betrifft zum einen eine Vorstel- vgl.II, 175). Zum andern bei der Kennzeichnung Ot-
lung, wie sie sich bei Gundolf und Cohen findet, ihr tiliens, daß sie keinen Charakter habe.
Geschick sei als ein tragisches zu verstehen. Das Tra- In dem Aufsatz hatte Benjamin Charakter folgender-
gisehe hat in Goethes Roman keine Stelle. Und direkt maßen definiert: >>Die Einheit individualen geistigen
auf Ottilie bezogen heißt es: >> Untragischer kann nichts Lebens ist der Charakter<< (I, 174). Benjamin gelangt zu
ersonnen werden als dieses trauervolle Ende<< (1, 177). dieser Definition, indem er gegen die übliche Vorstel-
Zur Heroine taugt Ottilie nicht. lung von der Schicksalhaftigkeit des Charakters eine
Zum andern betrifft sie die Vorstellung von der Un- prinzipielle Trennung zwischen der Sphäre des Schick-
schuld und Keuschheit Ottiliens, die ihr den Charakter sals und der des Charakters durchführt. Diese für sein
einer Heiligen verleiht. Ganz entschieden, geradezu Denken zentrale Auffassung des Charakters als einer
drastisch, legt Benjamin dar, wie eng die christlich- Sphäre der Freiheit, der Eindeutigkeit (II, 174) und der
katholische Mythologie von der Jungfräulichkeit Ma- Einfachheit läßt tatsächlich eine >>natürliche Unschuld
riens und überhaupt das Sakrament der Keuschheit des Lebens<<, eine komplikationslose Moralität zu.
mit der >>unreinen Verworrenheit der Sexualität<< ( 174) Dem steht die nicht zuletzt sprachliche Verschlos-
verschwistert ist. senheit ( 175 f.) Ottiliens entgegen. >>Ihr Entschluß zum
Daraus folgt, daß der Eindruck der Unschuld, den Sterben bleibt nicht nur vor den Freunden bis zuletzt
die Figur der Ottilie verbreitet, nicht >>echt<<, sondern geheim, er scheint in seiner völligen Verborgenheit
>>Zweideutig<< genannt werden muß ( 175 ). Zweideutig auch für sie selbst unfaßbar zu sein<< (I, 176). Nicht die
erscheint ihre Keuschheit, die keiner Geistigkeit ent- Moralität des Todeswillens oder der Todesbereitschaft
springt (173), vielmehr, wie im christlichen Kult der bestimmt sie, eben kein >>sittlicher Entschluß<<, sondern
Jungfräulichkeit Mariens, die als sündhaft bestimmte ein >>Todestrieb<<. (Man kann nicht ausschließen, daß
Begierde gerade nicht ausschließt (175), sondern her- hier eine erste Rezeption von Freuds Jenseits des Lust-
vorlockt. So wie sich im Symbol der Lilie betäubend prinzips (1920) anzunehmen ist, die Benjamin später
süße Düfte verbergen, ist auch Ottilie als Objekt der im Baudelaire-Kontext ausführlich heranzieht (I,
Begierde wirksam. >>Diese gefährliche Magie der Un- 612 ff.).)
schuld hat der Dichter der Ottilie mitgegeben und sie Benjamins Deutung der Ottilienfigur konkretisiert
ist aufs engste dem Opfer verwandt, das ihr Tod zele- sich, wenn man - worauf er selbst nicht eingeht - ihr
briert. Denn eben indem sie dergestalt unschuldig Verhalten in der Katastrophe betrachtet. Nirgendwo
erscheint, verläßt sie nicht den Bannkreis des Vollzugs. ist von Selbstvorwürfen die Rede, nicht einmal will sie
Nicht Reinheit sondern deren Schein verbreitet sich den übrigen erzählen, wie es zu dem schrecklichen Tod
mit solcher Unschuld über ihre Gestalt<< (ebd.). des Kindes gekommen ist. Und so wie sie zunächst in
Würde Ottiliens Unschuld >>echt<< sein, so würde dies einen traumatischen todesähnlichen Wachzustand
ihren >>Charakter<< ausmachen. Dieses spricht Benja- verfällt, so bleibt sie auch danach unansprechbar und
min ihr ab. unerreichbar.
»Goethes Wahlverwandtschaften« 487

Auch kann, was Benjamin nur streift, Ottiliens Ta- die Ausgangsfrage, >>ob der Schein des Wahrheitsge-
gebuch nicht als Zeugnis sprachlicher Klarheit gelten, halts dem Sachgehalt oder das Leben des Sachgehaltes
da die Texte derart fremd und wie beim Erzähler ab- dem Wahrheitsgehalt zu verdanken sei<< (I, 125). Vom
geschrieben erscheinen, daß auch hier Ottiliens Assi- Kunstwerk wird dabei angenommen, daß es in engster
milation an ein ihr unzugängliches Geschick hervor- Affinität zu den höchsten Problemen der Philosophie
tritt. steht, aber nicht darin, daß in ihm derartige Probleme
Von Anfang an ist Ottilie dem >>Bloßen Leben<< ver- erörtert würden, sondern daß seine schiere Existenz
fallen. Ihr Tod vollzieht >>Sühne im Sinne des Schick- die Frage nach dem Verhältnis des Schönen zur Wahr-
sals, nicht jedoch die heilige Entsühnung<< (I, 176), heit aufwirft.
welche den Menschen vom Mythischen entsühnte. Das Konkreter gesprochen: Wenn das Mythische den
heißt aber nichts anderes, als daß sie zu >>einem furcht- Sachgehalt des Romans bildet und in der Opferung
baren Geschick bestimmt<< ist (173): nämlich zum Ottiliens seine äußerste Bestätigung findet, stellt sich
Opfer. die Frage, ob die Schönheit Ottiliens dem mythischen
Schon vorher, im ersten Teil, hatte Benjamin Ottili- Sachgehalt zugehört. >>Daher sieht jede Anschauung,
ens Verhungern als mythisches Opfer, >>als Opfer zur die die Gestalt der Ottilie erfaßt, vor sich die alte Frage
Entsühnung der Schuldigen<<, bezeichnet. Die mythi- erstehen, ob Schönheit Schein sei« (193).
schen Gewalten, die beim Zerfall der Ehe an den Tag Wie schon im Vergleich mit der Lilie angedeutet,
treten (139), fordern zur Sühne der >>verletzten Sat- verdankt sich Ottiliens Aura ihrer Schönheit. Diese ist
zung« das Opfer. >>Dazu ist Ottilie bestimmt« (140). das >>Erste und Wesentlichste<< ihrer Erscheinung. Ben-
In dieser Hinsicht ist Benjamins Interpretation der jamin nennt überhaupt >>Ottiliens Schönheit« die
Wahlverwandtschaften finsterer als die der meisten >>Grundbedingung für den Anteil (des Lesers) am Ro-
anderen Ausleger und kommt doch darin der erzähle- man<< (179). Ottilie ist, im Gegensatz zum Mädchen
rischen Schonungslosigkeit Goethes am nächsten. Das der Novelle >>wesentlich schön.[ ... ] Goethe selbst aber
Grauen, das sich in Ottiliens friedlichem Verhungern wandte nicht nur- über die Grenzen der Kunst hinaus
und in der seltsamen Ahnungslosigkeit der übrigen -die erdenkliche Macht seiner Gaben auf, diese Schön-
manifestiert, erscheint als ein Opferritual, in das alle heit zu bannen, sondern mit leichtester Hand legt er's
Figuren verwickelt sind. Durch Zeichen kündigt es sich nahe [... ]<<,diese Schönheit >>als die Mitte der Dichtung
an: >>Es ist das Bauopfer, das bei der Einweihung des zu ahnen. [... ] Er nennt sie einen >Augentrost< der
Hauses zurückgewiesen wird, das Ottiliens Sterbehaus Männer die sie sehen [... ]<< (186).
ist. [... ] Gerade dieses Zeichen des verschmähten Op- Benjamin konstatiert weiter: >>In der Tat sind in Ot-
fers sucht mit allen Mitteln Eduard sich zu sichern<< tiliens Gestalt die Grenzen der Epik gegen Malerei
(136). Auch Eduards Tod, der den Ottiliens nachahmt, überschritten<< (178). Was hier zunächst wie eine selt-
trägt derartige Züge. Und ebenso ließe sich die Ein- same Anwendung der Lessingschen >>Laookon«-Schrift
richtung der Kapelle, als Wallfahrtsstätte und Mauso- erscheint, wird übrigens verständlicher, wenn man eine
leum beider Liebenden, als Opferritual verstehen, das Notiz über die >>Hierarchie der Kunstarten<< hinzu-
Charlotte und der Hauptmann vollziehen, um endgül- nimmt, die in den Kontext der Wahlverwandtschaf-
tig aufeinander zu verzichten. tenarbeit gehört (zit. VI, 734).
In der Tat betont Goethe die magische Schönheit
dieser Figur immer wieder. >>Schönheit ist überall ein
Ottilie II: Schönheit und Schein. Nietzsche gar willkommener Gast<<, sagt der Erzähler gleich bei
Ottiliens Ankunft (Goethe 1994, 312). Später heißt es,
Benjamin kann sich kaum damit begnügen, die Sühne >>obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war
Ottiliens als ein mythisches Opfer aufzuweisen, weil sie doch, oder so schien sie wenigstens immer den
er damit sagen müßte, daß der Roman, von der Novelle Männern die schönste. Ein sanftes Anziehen versam-
abgesehen, aus dem Zirkel der Reproduktion des My- melte alleMännerum sie her« (423). Das Lebende
thos nicht hinausgelangte. Er käme als Kunstwerk Bild mit Ottilie als Maria und dem Jesusknaben bildet
nicht in Betracht. Um dem Roman im Sinne philoso- den Höhepunkt und rückt ihre Schönheit besonders
phischer Kunstkritik Wahrheitsgehalt zusprechen zu deutlich in den Blick. >>Ottiliens Gestalt, Gebärde,
können, muß er als Kunstwerk erwiesen werden. Miene, Blick übertraf aber alles was je ein Maler dar-
Damit reformuliert der dritte Teil der Abhandlung gestellt hat« ( 439). Und noch als Leiche behält sie
gleich zu Beginn die eingangs getroffene Unterschei- diese magische Schönheit. Nanny sieht die Leiche von
dung zwischen Kommentar und Kritik, zwischen oben »schöner als alle die dem Zuge folgten<<, und
Wahrheits- und Sachgehalt. Beantwortet werden soll stürzt herab (524). >>Der fortdauernd schöne, mehr
488 Dichtungsanalyse und Autorbild

schlaf- als todähnliche Zustand Ottiliens<< lockt Wall- sehe tief verfallen war - verrät ihn wie der Geist der
fahrer herbei (527). Schwere ihn verrät<< (838).
Heute, wo der Begriff des Schönen fast restlos aus Aber auf eine explizite Auseinandersetzung mit
dem Diskurs der Ästhetischen Theorie getilgt ist, ist es Nietzsches verborgenem Satanismus hat Benjamin in
notwendig, daran zu erinnern, daß Benjamin- wie aus der gedruckten Fassung verzichtet. Man muß hier hin-
dem Eingangszitat des vorliegenden Textes hervorgeht zudenken, daß für Benjamin, wie in der Sprachabhand-
- Goethes Roman beunruhigend schön findet und lung gesagt, die Schöpfung das Böse nicht kennt. Und
diese Schönheit in der Erscheinung der Ottilie aufs daß es erst entsteht, indem der Mensch mit ihr kon-
äußerste realisiert sieht. Er spricht von der ungeheue- kurrieren, d. h. sie abschaffen will. Schöpfung ist des-
ren beschworenen Schönheit. >>In zweideutiger Un- halb ein Begriff, der vor jeder Säkularisierung zu be-
schuld und scheinhafter Schönheit<<, wie Helena in wahren ist und jeder Säkularisierung entgegentritt.
Goethes Faust II, >>steht sie in Erwartung des sühnen- Die strikte Trennung der Kunstproduktion von der
den Todes. Und Beschwörung ist auch bei ihrer Er- Beschwörung einerseits und der göttlichen Schöpfung
scheinung im Spiel<< (I, 179). andererseits beschäftigt Benjamin um diese Zeit im-
Benjamin geht es um Goethes >>dämonische Prinzi- mer wieder. In dem wichtigen >Fragment< KATEGORIEN
pien der Beschwörung<<, die >>in das Dichten selbst DER ÄsTHETIK, das Tiedemann den Vorarbeiten zur
mitten hinein<< ragen. (Er zieht einen Vergleich zu Wahlverwandtschaftenarbeit zuordnet (I, 828-830),
Odysseus' Anrufung der Totenwelt im zehnten Gesang wird dies in knappster Form ausgesprochen: >>Nun ist
der Odyssee). In diesem Sinne wird die Darstellungs- das Kunstwerk nicht ein >Geschaffenes<<<, sondern ein
weise >>beschwörender Formeln<< hervorgehoben, also dem Chaos >>Entsprungenes<<. Kunst als Entsprungenes
nicht bloß das Orakelverhalten der Figuren, sondern wäre vielleicht die kürzeste Definition von Benjamins
die Darstellungsweise des Romans, mithin alles das, Ästhetik. Dieses Entspringen kommt nicht durch die
was als das Hermetische des Romans gilt. Schönheit (als formale Harmonie), sondern durch das
Wichtig ist dazu die Feststellung: >>Denn der Schein >>Ausdruckslose<< zustande.
ist in dieser Dichtung nicht sowohl dargestellt, als in
ihrer Darstellung selber<< ( 187). Das vorher (s.o.) über
die verborgene >>Technik des Romans<< Gesagte steht Benjamins Ästhetik: Schein und
im Dienste des Scheins. nAusdruckslosescc, Schein als nHüllecc
Es mag befremden, daß Benjamin von dichterischer
Beschwörung spricht, als seien älteste rituelle Prakti- In zwei grundlegenden Abschnitten, die zu den dich-
ken und animistische Beschwörungen zu Goethes Zeit testen der Abhandlung gehören, hat Benjamin seine
möglich. Aber unsinnig ist das nicht. Das Schöne ist Theorie des Kunstwerks und des Schönen dargelegt (I,
so gefährlich, daß es gerettet werden muß gegen die 180-182; I, 194-196). Sie sind eng aufeinander bezo-
Versuchung, >>dämonische Schönheit<< (829) zu wer- gen und erschließen sich nur, wenn sie in diesem Bezug
den. Seine philosophisch-theologische Einsicht in die erörtert werden. In ihnen entwickelt- oder wenn man
Problematik des Schönen erlaubt ihm, kritische Kate- so will: dekretiert- Benjamin neue Begriffe, mit denen
gorien und Einsichten zu gewinnen, die dort, wo das er sich von der Tradition philosophischer Ästhetik
Schöne als Ideologie abgetan wurde, gar nicht mehr in absetzt. Es handelt sich zum einen um den Begriff des
den Blick treten. >>Ausdruckslosen<<, der in Hölderlins Kategorie der
In diesen äußerst gedrängten Passagen über Chaos, >>Zäsur<< angelegt ist und einen Gegenbegriff zum
Schein und Ausdrucksloses spielt sich eine Auseinan- Schein bildet. Zum andern handelt es sich um das Be-
dersetzung mit Nietzsches Geburt der Tragödie, die griffspaar >>Hülle<< und >>Verhülltes<<, in dem sich der
man im gedruckten Text allenfalls erahnen kann (vgl. Scheincharakter des Schönen näher bestimmen läßt.
den Hinweis in VII, 732). Wie später im Trauerspiel- Durch diese Begriffe wird das Verhältnis von Kunst-
Buch wendet sich Benjamin gegen Nietzsches werk und Wahrheit, nach dem zu Beginn des dritten
>>Abgrund des Ästhetizismus<< (I, 281), seiner ästheti- Teils der Abhandlung gefragt wurde, erst eigentlich
schen Rechtfertigung des Lebens als der einzig mög- geklärt. (Vorarbeiten zu diesen Abschnitten finden sich
lichen. auch in den im Nachtragsband publizierten Aufzeich-
Drastischer noch heißt es in einem eingelegten Ma- nungen VII, 731 ff.).
nuskriptblatt des Handexemplars: >>Der Geist satani- Philosophische Kunstkritik kann in Benjamins Ver-
schen Gelingens waltet und zeigt die Ehe gespiegelt. ständnis nicht darin bestehen, aus der höheren Er-
Denn Satan ist dialektisch, und eine Art von trügeri- kenntnisposition der Philosophie dem Schönen eine
schem glückhaftem Gelingen- der Schein, dem Nietz- Art Versinnlichung der Wahrheit zuzuerkennen. Sie
»Goethes Wahlverwandtschaften« 489

muß vielmehr immanent auf etwas dem Kunstwerk Das Ausdruckslose ist die in der Kunst wirksame
Innewohnendes stoßen, das der Dämonie des Schönen (194) Weise der Unterbrechung der Totalität des
entgegentritt. Benjamin nennt dies in einer eigenen Scheins. Dem Schein verhaftet zu sein, ist Grundbe-
Begriffsprägung >>das Ausdruckslose<<. dingung des Kunstwerks. Um so wichtiger ist es dann,
In einer aufschlußreichen Darlegung, die nicht al- den Scheincharakter des Kunstwerks von dem des trü-
lein die Wahlverwandtschaftenarbeit, sondern auch gerischen Blendwerks zu trennen. Die Momente der
andere Texte des Frühwerks heranzieht, hat Winfried Beschwörung und des Bannens, die ihm aus seiner
Menninghaus Benjamins >>rätselhafte<< Denkfigur des magischen und mythischen Herkunft zugehören, dür-
>>Ausdruckslosen<< auf den historischen Diskurs >>einer fen nicht sein Wesen ausmachen. Darauf richtete sich
Kritik des Schönen durch das Erhabene<< bezogen. auch die Nietzsche-Kritik (s.o.). Und ebensowenig
(Menninghaus 1992) Das Erhabene war seit der Lon- dürfen sie in der Folge der Säkularisierung des creatio-
ginus-Rezeption bei Boileau, Burke, Kant u.a. immer Gedankens auf das Genie als Schöpfer bezogen wer-
wieder als Alternative oder Widerpart zu Schönheit in den.
der Tradition der philosophischen Ästhetik ins Spiel Die Ideologie des Ästhetischen in der Moderne be-
gebracht worden. Es ergibt sich daraus ein problem- steht darin, die Produktion des Kunstwerks als Be-
geschichtlicher Komplex, der aufschlußreich ist, gerade schwörung und als Schöpfung zu begreifen. Beidemal
weil Benjamin selbst ihn nicht thematisiert. wird damit behauptet, >>aus dem Nichts die Welt her-
Aber: Auf diese Weise entsteht eine Akzentverschie- vorzubringen<< (180). Der Ursprung der Kunst, den
bung, die nicht nur Benjamins theologische Fundie- jedes singuläre Kunstwerk neu vollzieht, besteht im
rung, sein philosophisches Denken des Göttlichen, Entspringen aus dem mythischen >>Chaos<<.
wegschiebt, sondern auch >>das Ausdruckslose<< letzt- Die Leistung der Form- als das Gliedernde, Gestal-
lich als bloße Umformulierung der Ästhetik des Erha- tende, Rhythmisierende, Unterscheidende - besteht
benen erscheinen läßt. Beides aber verfehlt die Radi- darin, das Chaos zur >>Welt<< ästhetisch zu >>verzau-
kalität Benjamins. Benjamin löst sich gerade vom bern<< und dem Kunstwerk >>wogendes Leben<< zu ge-
Kontext einer Ästhetik des Erhabenen, indem er das ben (ebd.). Insofern aber ist Form allein noch keine
Erhabene >theologisch< fixiert und das >>Ausdrucks- Gegenkategorie zu Schein. In den Vorarbeiten blieb
lose<< als Zeichen für die nicht abbildbare Moralität des dieses Problem noch ungelöst. Hier hieß es: >>Das
Handeins bestimmt (vgl. hierzu die wichtigsten Aus- Schöne in der Kunst ist in der Tat an den Schein ge-
führungen in der Mendelssohn- Rezension von 1928, bunden. [... ] Form ist geheimnisvoll und rätselhaft,
III, 137. Es ist dies der einzige Text, wo Benjamin spä- weil sie aus der Unergründlichkeit der Schönheit auf-
ter noch einmal explizit auf die Kategorie des >>Aus- steigt, wo sie dem Schein verhaftet ist<< ( 829 f.).
druckslosen<< zurückkommt.) Durch den Begriff des Ausdruckslosen kommt nun
Geht man vom Wortlaut aus, bezeichnet das Aus- eine Gegenkraft ins Spiel. Sie schlägt den Mythos mit
druckslose einen gestalttheoretischen Sachverhalt, seinen eigenen Mitteln, indem sie ihn wie im Mythos
derzufolge die Ausdrucksgestalt sich von etwas abhe- vom Schild der Medusa bannt und entzaubert. Dies ist
ben muß. Ohne flächigen Grund kann kein graphi- ein wesentlich zeitlicher Eingriff, der bewirkt, daß das
scher Strich etwas ausdrücken; ohne das Schema eines im Kunstwerkscheinhaft wogende Leben >>erstarrt und
>Normalgesichts< kann kein Lächeln oder Entsetzen wie in einem Augenblick gebannt erscheint. [... ] Was
wahrgenommen werden. Ohne Verbindung mit einem diesem Schein Einhalt gebietet, die Bewegung bannt
ausdrucksfreien Medium kann es Ausdruck nicht ge- und der Harmonie ins Wort fällt ist das Ausdruckslose<<
ben. (181).
Benjamin überträgt dieses Wahrnehmungsverhält- Damit wird das Ausdruckslose über eine bloß wahr-
nis auf eine metaphysische Problematik: Das Aus- nehmungstheoretisch-mediale Voraussetzung weit
druckslose ist das Moment, in dem >>die erhabne Ge- hinausreichend zu einer >>kritischen Gewalt<<. Es zwingt
walt des Wahren<< (I, 181) im Kunstwerk wirksam wird. >>die zitternde Harmonie einzuhalten und verewigt
Wirksam werden heißt, daß es nicht etwa Gestalt ge- durch seinen Einspruch ihr Beben.<< Damit verhindert
winnt. Das Kunstwerk selbst kann das Erhabene der es, daß >>Schein und Wesen in der Kunst« sich unun-
göttlich verbürgten Wahrheit nicht explizit darstellen; terscheidbar >>mischen<<, und >>zerschlägt, was in allem
dann wäre es Offenbarung. In seiner höchsten Form schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch über-
steht das Erhabene über aller Schönheit und außerhalb dauert: die falsche, irrende Totalität - die absolute<<
der Kunst. Sein Paradigma ist der nackte Körper als (181).
Gebilde des Schöpfers (I, 196 mit wichtigem Verweis Die kritische Gewalt des Ausdruckslosen wirkt viel
auf dieses Motiv in der Novelle). weniger mysteriös, wenn man sie, was Benjamin eher
490 Dichtungsanalyse und Autorbild

dekretiert als erläutert, als moralische Gewalt versteht. zusetzt, deshalb liege >>im Geheimnis der göttliche
>>Das Ausdrucklose<< hat diese Gewalt >>als moralisches Seinsgrund der Schönheit<< (ebd.), so bedarf dies noch
Wort<< (ebd.). Das >>moralische Wort<< ist weder Wort einer weiteren Explikation, die den >theologischen<
noch Gesinnung. Es bezeichnet eine Unterbrechung, Charakter der Abhandlung unmittelbar betrifft.
welche die von Plato bis zur Philosophie des deutschen
Idealismus unterstellte Einheit des Schönen, Wahren
und Guten zurückweist, zugleich aber diesen Zusam- Das Mysterium der Hoffnung:
menhang nicht einfach beziehungslos zerfallen läßt. Rettung des "Scheins der Versöhnungcc
Die Momente des Erstarrens, der Mortifikation und
der Zertrümmerung des Werks, die ideologiekritisch >>Alle Schönheit hält wie die Offenbarung geschichts-
den Anspruch des Ausdruckslosen bezeichnen, sind philosophische Ordnungen in sich<< (I, 196). Damit ist,
aber auch jene, die diesen Anspruch zugleich innehal- allerdings viel zu knapp und kryptisch, gesagt, worum
ten lassen. >>In dieser Verewigung muß sich das Schöne es in den Schlußabschnitten der Abhandlung geht.
verantworten, aber nun scheint es in eben dieser Ver- Konkreter fmdet sich der Gedanke in einer Notiz aus
antwortung unterbrochen und so hat es denn die den Fragmenten zur Ästhetik, in der es heißt: >>Nicht
Ewigkeit seines Gehalts von Gnaden jenes Einspruchs<< jede Form ist schön. Die Form ist (wahrscheinlich)
(ebd.). früher, gewiß später noch als die Schönheit. Die eigent-
Benjamins Ästhetik läuft also keineswegs auf eine liehe Zeit der Schönheit ist bestimmt vom Verfall des
Theorie hinaus, derzufolge jedes Kunstwerk als Ruine Mythos bis zu seiner Sprengung<< (VI, 128). Geschichts-
und allegorisches Bruchstück aufzufassen sei. Die Ka- philosophische Erkenntnis heißt, die Zeit des Schönen
tegorie des Ausdruckslosen bezeichnet ja gerade eine als an bestimmte historische Epochen gebundene zu
Kraft, die den auratischen Geheimnischarakter des bestimmen und es damit zugleich in den >eschatolo-
Schönen im Kunstwerk befestigen soll. Damit dieses gischen< Horizont eines Endes der Geschichte- oder
Geheimnis wesentlich ist und Wahrheitsgehalt hat, eines Endes aller bisherigen Geschichte - zu stellen.
bedarf es des >>Ausdruckslosen<<. Das Ausdruckslose Dies stellt in aller Klarheit der erste Abschnitt aus DAs
tritt zwar dem Schein entgegen und unterbricht seine LEBEN DER STUDENTEN heraus, der als Gegenstand
Totalität. Aber als Gegensatz zum Schein steht das Aus- geschichtsphilosophischen Denkens die >>Elemente des
druckslose zugleich in >>einem notwendigen Verhält- Endzustandes<< (II, 75) bestimmt. Erst mit solchen
nis<< zum Schein, indem es verhindert, daß das Schöne Bezügen erschließt sich in GoETHEs WAHLVERWANDT-
scheinlos wird (194). scHAFTEN die >theologische< Dynamik des Schlusses,
Benjamin verwirft damit den philosophischen Im- die nicht eigentlich theologisch als vielmehr >>messia-
puls, daß die Wahrheit des Schönen sich enthüllen nisch<< genannt werden müßte, was die erstgenannte
ließe. >>Nicht Schein, nicht Hülle für ein anderes ist die Schrift auch ausdrücklich tut.
Schönheit. Sie selbst ist nicht Erscheinung, sondern Man muß sich fragen, warum Benjamin im Wahl-
durchaus Wesen, ein solches freilich, welches wesen- verwandtschaftenaufsatz die Kategorie des Messiani-
haft sich selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt.<< schen ausspart, obschon ihn, wie die Nachlaßmanu-
Das Schöne ist weder die Hülle noch das Verhüllte, skripte zeigen, gerade >>die aktuell messianischen Mo-
sondern >>der Gegenstand in seiner Hülle<< (195). mente im Kunstwerk<< besonders beschäftigen (VI,
Im Kunstwerkaufsatz zitiert Benjamin wörtlich 126). Eine Antwort kann hier nicht gegeben werden.
diese Bestimmung des Schönen, um sie ausdrücklich Aber die Kategorie des Messianischen muß mitgedacht
als die Quintessenz der goetheschen Kunstanschauung werden, will man die die ganze Abhandlung grundie-
zu kennzeichnen (VII, 368). In einer Textvariante heißt rende Rede von Gott und vom Göttlichen nicht als
es weiter: >>Durch seine Hülle, die nichts anderes ist als theologisch-dogmatische Lehre auffassen und damit
die Aura, scheint das Schöne. Wo es aufhört zu schei- völlig verkennen (Weigel1998, 141).
nen, da hört es auf, schön zu sein<< (VII, 667). Deshalb Alle Theologumena Benjamins operieren messia-
erfüllt sich in der Wahlverwandtschaftenarbeit die nisch. Sie markieren den Ort eines Ausstehenden, das
>>Idee der Kunstkritik<< in der der >>Unenthüllbarkeit als solches nicht darstellbar ist, aber in seiner Notwen-
des Schönen<< (I, 195). In GoETHES WAHLVERWANDT- digkeit aufgewiesen werden kann.
SCHAFTEN wird erstmals die Erfahrung der Aura zum Dieser negative Zug kommt auch in der Rettung der
Thema philosophischer Kunstkritik, ehe diese Katego- Scheinhaftigkeit der Ottilienfigur zum Ausdruck. Und
rie ab Ende der 20er Jahre auch terminologisch als wenn Benjamin sagt: >>Ihr Wesenhaftes zu erretten ist
solche benannt wird. das Ringen Goethes<< (I, 192), so spricht er doch zu-
Wenn Benjamin an der zuletzt zitierten Stelle hin- gleich sein eigenes Programm aus.
»Goethes Wahlverwandtschaften« 491

Rettung geschieht, um das Resultat vorwegzuneh- >>Aber Rührung ist nur der Schein der Versöhnung<<
men, dadurch, daß die Schönheit Ottiliens als »Schein (ebd.). Hier legt >>Schein der Versöhnung<< deutlich den
der Versöhnung<< gerettet wird. Auch dies leuchtet Akzent auf das Trügerische. Denn eine Versöhnung
dem Leser der Abhandlung auf den ersten Blick nicht durch Musik, wie sie eingangs schon im Blick auf Mo-
ein. Denn Benjamin wendet sich ja heftig gegen die zarts Zauberflöte angesprochen war ( 128), kommt im
nazarenisch-christlichen Züge, die am Schluß von Roman nicht zustande, kann vielleicht in einem Ro-
Goethes Roman unübersehbar hervordrängen. Ihm man auch nicht zustande kommen. Trügerisch war
ist der Kult um die Schöne Leiche deutlich zuwider. bereits das gemeinsame Flötenspiel von Eduard und
Aber gerade deshalb sucht er im Roman eine andere Ottilie, erinnert Benjamin den Leser. Und allgemeiner
Versöhnung am Werk zu finden als jene, die die zu- heißt es über die Welt der Romanfiguren: >>Von Musik
rückbleibenden Romanfiguren in der Ausgestaltung ist ihre Welt ganz verlassen<< (192).
des Begräbnisrituals inszenieren. Darüber heißt es Deshalb verschiebt sich der >>Schein der Versöh-
lapidar und apodiktisch: >>Der Schluß beläßt den nung<< ins Optische, nämlich in die Darstellung ihrer
Hauptmann und Charlotten wie die Schatten in der Schönheit als eines Scheins, der schon vom ersten Mo-
Vorhölle<< ( 188). ment seines Erscheinens für den Tod bestimmt und
In einem eingelegten Notizblatt formuliert Benja- dem Untergang verhaftet ist. Nichts anderes meint die
min die wichtige Ergänzung: >>Naturwissenschaftliche Feststellung, daß der Schein, der in Ottilie erscheint,
Orientierung der Goetheschen Mirakelbetrachtung. >>nicht der Schein der Schönheit schlechthin<< ist, son-
Ihre religiösen Momente sind sekundär. Das unter- dern >>jener eine ihr eigene, vergehende<< (193). Im
scheidet diese Anschauungsweise merklich von der Unterschied zu Luciane im Roman, zu Helena im Faust
romantischen, indem er sie zugleich als illegitim er- II, zu Mignon aus Wilhelm Meister (vgl. 197), gleicht
scheinen läßt<< (839). Er hatte offenbar vor, für die Ottiliens Schönheit einem kurzen Aufleuchten vor
geplante Buchausgabe der Abhandlung die >>Kritik der dem Verlöschen. Und wenn der Roman diese Schön-
nazarenischen Momente<< in Abhebung von Goethes heit immer wieder in bezug auf Bilder herstellt, so
Naturforschung noch zu verschärfen. Und schon in handelt es sich doch eben um >>künstliche<<, sogenannte
den Vorarbeiten hatte er apodiktisch festgestellt: >>Nie- >Lebende Bilder< (174), die sozusagen den stillgestell-
mals kann das Schöne der Kunst heilig scheinen<< ten Abglanz des Verlöschens bilden.
(829). >>Jener Schein, der in Ottiliens Schönheit sich dar-
Nicht in Ottiliens büßendem Verhungern und ihrer stellt, ist der untergehende.<< Es liegt in seiner zweideu-
Kanonisierung als Heilige, die dem Geschehen die tigen Art begründet, >>daß er verlöschen muß, daß er
Weihe einer höheren Welt zukommen läßt, vollzieht es bald muß<< (193). Flüchtig erscheint dieser Schein.
sich die Versöhnung. Es ist eine äußerst komplexe Ope- Und wenn der Roman, wie immer wieder bemerkt, in
ration, die Benjamin als Untergang des Scheins und einem ungemeinen Tempo die Verwicklung, die Kata-
Rettung des Scheins der Versöhnung vornimmt. Die strophe und das Ende herbeiführt, so liegt das nicht in
Abfolge verläuft über eine Trias aus >>Leidenschaft<<, der Logik der Handlung, sondern diese entspringt die-
>>Neigung<< und >>Rührung<< und sodann über die >>Er- sem Drängen des Scheins auf sein baldiges Vergehen.
schütterung<< (die der Erfahrung des Erhabenen kor- Darauf bezieht sich in Adornos Ästhetischer Theorie,
respondiert) zur Gewalt des Ausdruckslosen im Un- ohne daß dies angegeben wird, der Gedanke der >>ap-
tergang des Schönen. parition<< als eines aufblitzenden Himmelszeichens
Dabei bildet Goethes Gedicht Aussöhnung (aus der (Adorno 1970, 125-131).
späten Trilogie der Leidenschaft) und Cohens Ausle- In seinem Aufleuchten und Verlöschen vermag der
gung dieses Gedichts in der >>Ästhetik des reinen Ge- Schein als der >>Schein der Versöhnung<< zu bestehen;
fühls<< ein wichtiges Teilargument. Die Tränen, die im in ihm wird der Wunsch nach Versöhnung gerettet.
Roman selbst nicht geweint werden, werden als >>Trä- Der >>Schein der Versöhnung darf, ja er soll gewollt
nen in der Musik<< (I, 191) auf den Untergang Ottiliens werden; er allein ist das äußerste Haus der Hoffnung<<
übertragen, der damit als versöhnend erscheint. Die (I, 200).
>>Tränen der Rührung, in welcher der Blick sich ver- Nicht aber im Schluß des Romans ist dies darge-
schleiert<< ( 192 ), bilden den Schleier, der über Ottiliens stellt. Es ist eine einzige Stelle, ein einziger Satz, direkt
Schönheit liegt. In der Rührung darüber, daß der vor der Katastrophe des Romans, >>WO die Umschlun-
>>Schein der Schönheit als der Schein der Versöhnung genen ihr Ende besiegeln<< und >>alles innehält<< (199).
[... ]noch einmal am süßesten dämmert vor dem Ver- Benjamin nennt dies mit Hölderlin die >>Cäsur<< des
gehen<< (ebd.). Werks (182; 199).
Doch sogleich folgt die ernüchternde Feststellung: >>Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel
492 Dichtungsanalyse und Autorbild

fällt, über ihre Häupter hinweg<< (200; Goethe 1994, ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE im Begriff der
493). »schwachen messianischen Kraft<< (694) wieder auf-
Die schockhafte Unterbrechung, die dieser Satz im nehmen wird.
Roman hervorruft, besteht nicht allein darin, daß zwei
Sätze später die prestissimo erzählte Katastrophe - Werk
Ruder, Kind und Buch fallen ins Wasser - einsetzt, GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN (I, 123-201)
sondern auch darin, daß er die einzige innige Kuß- Paralipomena I, 828-840 u. VII, 730--734
FAUST IM MUSTERKOFFER (III, 340--346)
szene zwischen Eduard und Ottilie in zwei Hälften GOETHE (Il, 705-739)
spaltet. HUNDERT JAHRE SCHRIFTTUM UM GOETHE (III, 326-340)
Denn nicht aus der Perspektive ihrer Empfindungen l:ANGOISSE MYTHIQUE CHEZ GoETHE (Cahiers du Sud Mar-
ist der Satz gesprochen, so als schöpften sie in ihrer seille 1937 Le Romantisme Allemand, 342-348)
EINBAHNSTRASSE, NR. 113 (IV, 86-87)
Umarmung gemeinsam Hoffnung (was sie zweifellos WEIMAR (IV, 335-355)
tun). Der Erzähler konstatiert etwas, das sich den Lie- Rez. Zu Anja und Georg Mendelssohn, Der Mensch in der
benden entzieht und das er ihnen als erzählten Figuren Handschrift (III, 135-139)
entzieht. Benjamin hebt hier die >>Haltung des Erzäh- WIDER EIN MEISTERWERK (III, 252-259)
lers<< hervor, die eine Trennung zwischen Darstellung
und Dargestelltem bewirkt. Die Haltung des Erzählers Literatur
- die schon mit dem ersten Satz einsetzt (Doppelte Adorno, Theodor W. ( 1970 ): Ästhetische Theorie, Frankfurt
Nennung Eduards: >>SO nennen wir<<)- besteht darin, a.M.
Blumenberg, Hans (1971): >> Wirklichkeitsbegriff und Wir-
wie Benjamin feststellt, daß der Erzähler allein >>den kungspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (Hg.):
Sinn des Geschehens erfüllen kann<< (I, 200). Was nicht Terror und Spiel, Probleme der Mythenrezeption, Poetik
heißt: er allein wisse den Sinn, sondern daß er den Sinn und Hermeneutik IV, München, 11-66 u. 527-547
des Geschehens darin erfüllt, daß er eine Sinngebung Blumenberg, Hans ( 1990 ): Die Arbeit am Mythos, Frankfurt
a.M.
unterläßt. Es ist kein Schicksalsaugenblick wie in Bolz, Norbert W. (Hg.) ( 1981 ): Goethes Wahlverwandtschaf-
schlechten Romanen. ten. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos
Der Darstellung nach ist es vielmehr eine letzte Be- Literatur, Hildesheim.
siegelung ihres Untergangs als Hoffnungslose, in der Buschendorf, Bernhard (1986): Goethes mythische Denk-
form. Zur Ikonographie der >Wahlverwandtschaften<,
der >>Schein der Versöhnung<< durch das >>Ausdrucks- Frankfurt a. M.
lose<< gerettet wird. In ihr zeigt sich, daß es aber auch Deuber-Mankowski, Astrid (2000): Der frühe Walter Benja-
nicht in der Macht des Dichters steht, über den Sinn min und Hermann Cohen: jüdische Werte, kiitische Phi-
des Geschehens zu entscheiden. Der Satz besagt als losophie, vergängliche Erfahrung, Berlin.
Garber, Klaus (2005): Walter Benjamin als Briefschreiber und
transzendenter Einbruch - wie die ponderacion my- Kritiker, München.
steriosa im Trauerspiel -, daß hier gewaltsam >>etwas Goethe, Johann Wolfgang (1986): Sämtliche Werke. Briefe,
jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt<< Tagebücher und Gespräche, Bd. 14: Aus meinem Leben.
(182). Benjamin spricht hier von einer Analogie zum Dichtung und Wahrheit, hg. v. Klaus-DetlefMüller, Frank-
furt a.M.
Dramatischen, indem etwas >>allein in der Darstellung Goethe, Johann Wolfgang (1994): Sämtliche Werke. Briefe,
zum Ausdruck<< kommt, also sich als Ausdrucksloses Tagebücher und Gespräche, Bd. 8: Die Leiden des jungen
und Unausgesprochenes ereignet. Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa, hg. v.
Im >>Mysterium der Hoffnung<< wird der ästhetische Waltraud Wiethölter, Frankfurt a. M.
Greve, Gisela (Hg.) ( 1999 ): Goethe. Die Wahlverwandtschaf-
Schein der Versöhnung gerettet. Benjamins Denken ten, Tübingen.
der Hoffnung verfährt anders als das Blochsche, das Hamburger, Käte ( 1979 ): Wahrheit und ästhetische Wahrheit,
die großen Kunstwerke als Wunschenergie und utopi- Stuttgart.
Härt!, Heinz (1983): >>>Die Wahlverwandtschaften< und ihre
schen Vorschein der freien Menschheit beschwört. Es
zeitgenössischen Leser«, in: Weimarer Beiträge 29. Jg., Heft
knüpft an die Toten an als >>die Hoffnung auf Erlösung, 9, 1575-1603.
die wir für alle Toten hegen. Sie ist das einzige Recht Hörisch, Jochen (1979): »Das Sein der Zeichen und die Zei-
des Unsterblichkeitsglaubens, der sich nie am eigenen chen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie«,
in: Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen,
Dasein entzünden darf<< (200). Das Messianische ist
Frankfurt a.M., 7-50.
das Unverfügbare. Deshalb lautet der Schlußsatz: >>Nur Horkheimer, Maxi Adorno, Theodor W. ( 1988 ): Dialektik der
um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.
gegeben<<. In diesem aphoristischen Satz ist ein politi- Jezower, Ignaz (1985): Das Buch der Träume [1928], Frank-
furt a.M.
scher wie moralischer Imperativ formuliert, der sein
Lacoste, Jean (1996): »Paris-Weimar: Walter Benjamin et
Mandat von den Opfern gewinnt. Damit ist ein Zu- Goethe«, in: Europe. Revue littt'raire mensuelle. Walter
sammenhang bezeichnet, den Benjamins letzte Schrift Benjamin, Nr. 74, 19-42.
493

Lindner, Burkhardt (1981 ): >>Goethes >Wahlverwandtschaften<


und die Kritik der mythischen Verfassung der bürgerlichen
Zu Johann Peter Hebel
Gesellschaft«, in: Bolz 1981,23-44 Von Erdmut Wizisla
Lindner; Burkhardt (1998): »Faust. Magie. Schein«, in: Ger-
hard Plumpe/Bettina Gruber (Hg.): Romantik und Ästhe-
tizismus. Festschrift für Paul G. Klussmann, Würzburg, Über Hebel hat Benjamin insgesamt weniger als fünf-
29-52.
Liska, Vivian (2000): »Mortifikation der Kritik: Zum Nach- undzwanzig Druckseiten verfaßt. Dennoch ist der
leben von Walter Benjamins >Wahlverwandtschaften<-Es- Verfasser des Schatzkästleins des rheinischen Haus-
say«, in: Bernhard Beutler (Hg.): Spuren, Signaturen, freundes für ihn ein zentraler Autor gewesen. Die in
Spiegelungen: zur Goethe-Rezeption in Europa, Köln u. a., der Auseinandersetzung mit Hebel entwickelten The-
581-599.
Menninghaus, Winfried ( 1992 ): »Das Ausdruckslose: Walter sen sind komplex mit anderen Arbeiten verschränkt,
Benjamins Kritik des Schönen durch das Erhabene«, in: und umgekehrt: Benjamin probiert Wahrnehmungen
Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin, 1892-1940, zum 100. anderer Abkunft an Hebel aus. Neben der theoreti-
Geburtstag, Bern u. a., 33-76. schen Rezeption gibt es eine fruchtbare schriftstelleri-
Miller, Hillis J. (1979): »A >buchstäbliches< Reading of The
Elective Affinities«, in: Glyph 6, 1-23. sche: Benjamin griff in Vorträgen und eigenen litera-
Puttnies, Hans/Gary Smith (1991): Benjaminiana, Gießen. rischen Texten auf Formen und Erzählhaltungen die-
Schlaffer, Heinz (1978): »Exoterik und Esoterik in Goethes ses Autors zurück.
Romanen«, in: Kari-Heinz Hahn (Hg.): Goethe Jahrbuch
95. Bd., 212-226.
Schalem, Gershorn (1975): Walter Benjamin. Die Geschichte
einer Freundschaft, Frankfurt a. M. "Hebel hat mich gerufencc
Simonis, Annette (2000): »>Eine Miniatur dieser ganzen ...
vielfach bedrohten Goetheschen Existenz<. Goethe-Rezep-
Hebel gehöre >>Zu den mir vertrautesten Figuren«, er-
tion und -Kritik in den Schriften Walter Benjamins«, in:
Germanistisch-Romanische Monatsschrift, Nr. 50, 443- klärte Benjamin Mitte Mai 1937 Franz Glück (5, 534)
459. - ein Umstand, den er auf seine Berner Studienjahre
Steiner, Uwe (1989): Die Geburt der Kritik aus dem Geiste zurückführte: er verdanke seinen Schweizer Jahren so
der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den
viel für das Verständnis dieses alemannischen Wesens,
frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg.
Steiner, Uwe (2002): »>Das höchste wäre: zu begreifen, daß hatte er MaxRychner in einem Briefvom 21. Novem-
alles Factische schon Theorie ist<. Walter Benjamin liest ber 1929 erklärt (vgl. 3, 493). Eine Arbeitsnotiz aus
Goethe«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121, H. 2, dem Jahr 1929, als Benjamin an seinem Rundfunkvor-
265-283.
trag über Hebel arbeitete, beschrieb die persönliche
Tantillo, Astride Orle (2001 ): Goethes Elective Affinities and
the Critics. New York. Nähe emphatisch und mit nachgerade mystischem
Weigel, Sigrid (1998): >>Das Kunstwerk als Einbruchstelle eines Beiklang: >>Dies darf ich ohne Koketterie sagen: Hebel
Jenseits. Zur Dialektik von göttlicher und menschlicher hat mich gerufen. Ich habe ihn nicht gesucht. Niemals
Ordnung in Walter Benjamins Essay >Goethes Wahlver-
habe ich mir träumen lassen (und am wenigsten wenn
wandtschaften«<, in: Paragrana 7, H. 2, 140-151.
Weißberg, Liliane (2003): »Benjamins Goethe-Traum«, in: ich ihn las) daß ich über ihn >arbeiten< würde. Noch
Bettina von Jagow/Fiorian Steger (Hg.): Differenzerfah- jetzt kommt mir die Beschäftigung mit ihm immer von
rung und Selbst, Heidelberg, 269-290. Fall zu Fall, stückweis und provoziert und ich werde
Witte, Bernd (1976): Walter Benjamin, der Intellektuelle als
Kritiker: Untersuchungen zu seinen Frühwerk, Stuttgart. diesem possierlichen Dienst- und Bereitschaftsverhält-
nis treu bleiben, indem ich ein Buch über ihn schreiben
werde« (II, 1445).
Der Buchplan wurde nicht realisiert. Das >>Dienst-
und Bereitschaftsverhältnis« ( ebd.) - zumindest sein
durch Texte nachweisbarer Anteil- erstreckte sich auf
etwa acht Jahre, von 1926, als Benjamin aus Anlaß des
einhundertsten Todestages mehrere Artikel publizierte,
bis 1933, dem Jahr, in dem die letzte veröffentlichte
Stellungnahme erschien. Benjamins erste nachweis-
bare Hebel-Lektüre fällt in die Zeit um 1918 (vgl. VII,
442: Nr. 581), und nach 1933 finden sich Erwähnungen
in Briefen, die belegen, daß die Auseinandersetzung
mit Hebel für ihn nicht abgeschlossen war.
Benjamin verfaßte insgesamt vier Zeitungsartikel
-zwei Würdigungen, eine Rezension und die Antwort
auf eine Umfrage- sowie einen Rundfunkvortrag und
494 Dichtungsanalyse und Autorbild

Aufzeichnungen, die im Zusammenhang mit dem HEBELS SCHATZKÄSTLEIN DES RHEINISCHEN HAUS-
Rundfunkvortrag und der Rezension stehen. Daß er FREUNDES, II, 628). Wie nachhaltig die Auseinander-
den an zentraler Stelle, nämlich in der Literarischen setzung mit Hebel war, verdeutlicht ein Brief vom 22.
Welt am 24. September 1926 publizierten Artikel J.P. Dezember 1936, in dem Benjamin auf einen Hebel-
HEBEL. ErN BILDERRÄTSEL zuM 100. ToDESTAGE DES Artikel von Franz Glück in der Wiener Zeitung rea-
DICHTERS (li, 280-283) für wichtig hielt, zeigt die Er- gierte; zugleich ist zu erkennen, in welche Richtung
wähnung in einem Briefvom 18. September 1926 an Benjamin noch hätte gehen wollen: >>Der Hebel-Auf-
Gershorn Schalem (vgl. 3, 197). Dort ist auch die Rede satz ist von besonderer Schönheit. Sie umreißen die-
davon, daß er eine andere Notiz gleichzeitig für Zei- jenigen Teile in Hebels Bild, die für mich von jeher die
tungen schrieb; sie wurde unter verschiedenen Titeln anziehendsten gewesen sind- vor einem Hintergrund
und in voneinander abweichender Textgestalt unmit- jedoch, der sich mir niemals erschlossen hatte. Darum
telbar vor und am Todestag, dem 22. September 1926, ist diese Darstellung, in der der Mann sich so einsich-
in sechs Blättern- darunter der Magdeburgischen Zei- tig vorm Fond seiner Lebensumstände präsentiert für
tung und dem Berliner Börsencourier- gedruckt (vgl. mich außerordentlich anziehend gewesen<< (5, 448).
JoHANN PETER HEBEL. Zu SEINEM 100. TODESTAGE, li, Die Aufzeichnungen aus dem Nachlaß enthalten
277-280). Drei Jahre später, am 6. Oktober 1929, er- Exzerpte und Thesen, die Benjamin in den publizierten
schien Benjamins literaturstrategische Rezension des Texten nicht verwendet hat (vgl. li, 1444-1449). Mit
Buches fohann Peter Hebel als Erzähler von Hanns Bür- Ausnahme dieser Aufzeichnungen und des Rundfunk-
gisser unter dem Titel HEBEL GEGEN EINEN NEUEN vortrages sind sämtliche Texte lediglich im Druck
BEWUNDERER VERTEIDIGT im Literaturblatt der Frank- überliefert. Im Walter Benjamin Archiv fmden sich
furter Zeitung - also ebenfalls an prominenter Stelle keine weiteren Notizen oder Dokumente.
(vgl. Ill, 203-206). Selbstzitate wie die Übernahme von In den Gesammelten Schriften wurde der Vortrag als
Thesen und ganzen Abschnitten zeigen, daß Benjamin <}OHANN PETER HEBEL. 3> beziffert (vgl. 635). Das ist
die Arbeit an seinen Hebel-Texten pragmatisch gestal- irreführend, da Benjamin die etwa gleichzeitig entstan-
tete. Der Vortrag, den Benjamin am 29. Oktober 1929 dene Rezension als >>neuen, meinen dritten >Hebel<<<
in der Bücherstunde im Südwestdeutschen Rundfunk, bezeichnete (vgl. Brief an Gershorn Schalem, 18. Sep-
Frankfurt, sprach, zitiert über weite Teile die Zeitungs- tember 1929, 3, 485, s.a. Zu EINEM DRITTEN HEBEL-
texte von 1926 ( <JoHANN PETER HEBEL. 3>; zur Da- AUFSATZ, li, 1446).
tierung vgl. Schiller-Lerg 1984, 379 u. VII, 608). Wel- Im folgenden werden die Grundlinien von Benja-
chen Hebel-Beitrag die 1930 im Rowohlt Verlag ge- mins Hebel-Deutung entfaltet und im Kontext der
plante Sammlung seiner Essays zur Literatur enthalten Hebel-Rezeption kommentiert, wobei der Akzent auf
sollte, ist nicht bekannt; vermutlich dachte Benjamin Benjamins Neubewertung liegt.
an einen der Zeitungstexte von 1926 (vgl. Faksimile
des Verlagsvertrags bei Brodersen 1990, 198).
Die letzte publizistische Stellungnahme, die Antwort Der Erzähler Hebel
auf eine von der in Prag und Wien erschienenen Zei-
tung Die Welt im Wort veranstaltete Rundfrage, ist Hebels Texte, in denen sich Mundart und tuther-
deutlich von der Exilerfahrung geprägt. Gegenstand deutsch durchdringen, gehören zu den bedeutendsten
der Rundfrage, an der sich außer ihm Thomas Mann, Werken der neuerendeutschen Literatur. >>Für die He-
Rudolf Kassner, Hermann Broch, Felix Weltsch, Max belrezeption war das Jahr 1926 ein Wendepunkt<< (Giu-
Brod u.a. beteiligten, war die Frage: >>Was soll man zu seppe Bevilacqua in Arnold 2001, 16). Hundert Jahre
Weihnachten schenken?« Die Redaktion hatte ange- nach seinem Tod, als Benjamins Würdigungen erschie-
sichts der neuen Buchproduktion, die »Zu einem be- nen, galt Hebel weithin als mundartlicher, dem Regio-
trächtlichen Teil sehr scharf weltanschaulich einge- nalen verpflichteter, lehrhafter Dichter, dessen Texte
stellt<< sei, angeregt, alte Bücher zu lesen und zu ver- v.a. an Kinder und Jugendliche gerichtet und auf ein
schenken. Benjamin, dessen Antwort am 14. Dezember Lesebuchpublikum beschränkt waren. Im Widerspruch
1933 gedruckt wurde, schlug das Schatzkästlein vor zu dieser Lesart betonte Benjamin - gemeinsam mit
und begründete das u.a. mit folgendem Satz: »In Ta- Ernst Bloch- die Modernität Hebels und seine Bedeu-
gen, in denen mehr zu einer kurzen Kameradschaft tung für die gesamte deutschsprachige Literatur. Schon
gehört als früher zu lebenslangen Freundschaften, in die Empfehlung, die Benjamin 1933 anläßtich der Re-
denen das Mißtrauen eine notwendige und Verläßlich- zension eines deutschen Lesebuches für norwegische
keit die höchste Tugend geworden ist, zeigt Hebel bes- Gymnasien gab, Hebels Texte gehörten >>mit Recht zum
ser als sonst einer, wonach man messen soll<< (J. P. eisernen Bestand der deutschen Lesebücher<<, ist von
Zu Johann Peter Hebel 495

anderem Kaliber (DEUTSCH IN NoRWEGEN, III, 406). tums, in seinen vorgeschrittenen Teilen wie Goethe,
Das Werk des Alemannen sei ein >>Monument deut- restaurativ, als Vertreter (Gesandter) des Großbürger-
scher Prosa<< (II, 280), das Schatzkästlein »eines der tums« (1445).
lautersten Werke der deutschen Prosa-Goldschmiede- Für Benjamin gehörten Hebels Figuren - wie Ge-
rei<< (277). Benjamin widersprach Goethe und Jean stalten Eichendorffs, Knut Harnsuns und Robert Wal-
Paul, für die Hebels Texte Zeugnis von Naivität waren, sers- zu den »große[n] Prägungen des windbeutligen,
wenn er Hebels künstlerische Potenz würdigte. Als nichtsnutzigen, tagediebischen und verkommenen
»Schlüssel seiner artistischen Meisterschaft<< sah er, Helden« (RoBERT WALSER, 326). Der Zundelfrieder
ebenfalls wie Bloch, daß sich bei Hebel Mundart und komme »aus dem rebellischen, aufgeklärten Kleinbür-
Deutsch der Lutherbibel durchdringen, zwei Pole, de- gertum rheinischer Städte um die Jahrhundertwende«
ren Auseinandersetzung die neuere deutsche Prosa (ebd.).
präge (279; vgl. 280; vgl. Bloch 1965, 173 u. 367). Da-
her sei diese Prosa »SO ursprünglich wie durchgebildet<<
(II, 628). Benjamin verwies auf den Formenschatz des Aufgeklärter Humanismus
Dichters und benannte als dessen Traditionen Voltaire,
Sterne und Jean Paul (vgl. 281, 280, 278). Wie dieser Hebels Haltung sei als »aufgeklärter Humanismus« (II,
sei Hebel ein, nach Goethes Wort, »>zarte[r]< Empiri- 277) oder »>reine< Humanität der Aufklärung« (628)
ker<< (278), seine Sprache erinnere an die des Faust II zu kennzeichnen. Zugleich hatte er ein Gauner- und
(280). »Nicht umsonst«, führte er aus, sei das Schatz- Vagantentemperament, Dämonisches und Konspira-
kästlein ein Lieblingsbuch von Franz Kafka gewesen tives waren ihm nicht fremd. Die dialektischen Span-
(vgl. 628). nungen, die Benjamin im Weltanschaulichen walten
Benjamin bezeichnete Hebel, den »großen und nie sah, faßte er im Bild von der unscheinbaren Brosche,
genug geschätzten Meister«, als »Vergegenwärtiger«, »auf der sich Bischofsstab und Jakobinermütze kreu-
dem es gelang, aufschlußreiche und gewichtige Vorfälle zen« (J.P. HEBEL <2>, 283). Hebel erbaue sich an der
mit der Evidenz des »Hier und Jetzt« auszustatten »Aufklärung und der großen Revolution« (636). Aus
(635). »Das Jetzt und Hier der Tugend ist für ihn kein seinen Geschichten sprächen »der unverbrüchliche
abgezognes Handeln nach Maximen sondern Geistes- Respekt vor Machtverhältnissen« (282), auf der ande-
gegenwart« (640). ren Seite gehe Dämonisches in Hebels Schwankwesen
um; »das Gauner- und Vagantentemperament des
Zundelfrieders und des Heiners und des roten Dieters«
Der Revolutionär aus dem Kleinbürgertum sei »sein eigenes« (278), das Konspirative ihm nicht
fremd gewesen. Hebels »Geheimbund« - Benjamin
Hebels Figuren stammen dem rebellischen, aufgeklär- erwähnt die »>Proteuserei«< und den »>Belchismus«<
ten Kleinbürgertum rheinischer Städte ab. Hebels der Freunde - und seine Naturmystik seien nicht po-
Herkunft und seine soziale Position zeitigten Benjamin litisch gewesen; sie erinnerten eher »an Spielereien
zufolge ihre Wirkung aufTexte und Figuren des Dich- vorrevolutionärer Rosenkreuzer« (282).
ters: »Zeitgenosse der großen französischen Revolu- Mit dem Hinweis auf das Konspirative und Dämo-
tion, von allen Geisteskräften der Epoche auf das Ent- nische polemisiert Benjamin gegen eine Lesart, die
schiedenste und Radikalste ergriffen, ist er doch immer Hebel als Autor der Behaglichkeit zu verharmlosen
der süddeutsche Kleinstädter geblieben, der als einge- trachtet. Hanns Bürgisser, dessen Hebel-Buch er kri-
zogener Junggeselle und als Hofprediger des Großher- tisch rezensierte, modele noch einmal »das Nippesfi-
zogs von Baden in den eingeschränktesten Verhältnis- gürchen >Hebel< in Thorwaldsenscher Süße aus dem
sen nicht nur zu leben sondern sie zu vertreten hatte« Biskuitguß allgemeiner Bildung« (III, 203).
(636). Die Spannung zwischen der Loyalität mit der
»herrschenden Klasse in ihren besten Vertretern, kauf-
männisch solidestem Kleinbürgertum« (281) und dem Hebel als Moralist
Revolutionsimpuls prägte die Texte ebenso wie die
Spannung zwischen patriarchalischer, dörflicher Her- Hebels Moral unterscheidet sich vom Erwarteten. Sie
kunft und der regional weitgreifenden Tätigkeit in zielt auf augewandte Gerechtigkeit. Das Urteil, Hebel
kirchlichen Leitungsfunktionen (vgl. 1445). Benjamin sei »einer der größten Moralisten aller Zeiten gewesen«
kommentierte Berthold Auerbachs Vergleich zwischen (II, 628 ), korrespondierte durchaus mit der Rezeption
Hebel und Goethe (aus Schriftund Volk) zustimmend: bis Mitte der zwanziger Jahre, wäre da nicht Benjamins
»Hebel stand restaurativ als Vertreter des Kleinbürger- Konkretion des Funktionierens dieser Moral: Hebels
496 Dichtungsanalyse und Autorbild

Geschichten hätten alle >>einen doppelten Boden<< sonders zu achten, notierte sich Benjamin 1929 (vgl.
(640), Großes und Wichtiges habe er nicht anders sa- li, 1447). Im Geburtstagsartikel des Berliner Börsen-
gen und denken können als >>uneigentlich<< (282; 636). couriers ist die Formulierung >>Hebels Art, die Moral
Um die Moral bei Hebel walte ein Geheimnis, das sich zu machen<< (278) ergänzt durch eine bedeutsame, in
der Deutung entziehe (vgl. 1446). Moralisch sei >>ein anderen Drucken entfallene Erklärung: >>- weiß Gott,
Handeln, dessen Maxime verborgen ist<< (640). Hebels eine talmudische, und er hätte gut Lichtenbergs Wort
Moral entspringe >>nie an der Stelle, wo man nach Kon- sich zu eigen machen können, ihm sei an keiner Über-
ventionen sie erwartet<< (278, vgl. 639f.). Und, noch setzung seiner Sachen mehr gelegen, als an der ins
deutlicher: >>Seine Moral ist die Fortführung der Er- Hebräische<< (1005). Mit Lichtenberg hat Benjamin
zählung mit anderen Mitteln<< (628; vgl. 640; vgl. III, allerdings einen Gewährsmann gewählt, dessen Hal-
205). Die Anspielung auf Clausewitz aufnehmend, tung zum Judentum höchst ambivalent ist. Benjamin
erklärte Benjamin, in Hebels Moral sei >>militärische zitierte das Wort aus den Sudelbüchern gewiß nach der
Bereitschaft<< mit verblüffenden Losungen (III, 205). von den Söhnen veranstalteten Original-Ausgabe der
Man könne den Dichter als >>Rückzugsgeneral<< be- Vermischten Schriften (1844--1853), die er 1920 erwor-
zeichnen; er lenke immer ein und lasse der Wirklich- ben hatte (vgl. 2, 104). Neuere Editionen drucken, der
keit das letzte Wort, >>und trotzdem kann man das kritischen Ausgabe der Aphorismen von Albert Leitz-
nicht martialischer tun als er<< (li, 144 7). Bloch zitierte mann ( 1902-1908) folgend, eine entgegengesetzte
Benjamins Begriff >Rückzugsgeneral<, den er vermut- Lesart: >>Unter allen Übersetzungen meiner Werke, die
lich gesprächsweise gehört hatte, publiziert war er 1965 man übernehmen wollte, verbitte ich mir ausdrücklich
noch nicht; allerdings bezog sich Bloch nicht auf das die ins Hebräische<< (Lichtenberg 1994, 934). Anders
Funktionieren von Moral, sondern auf Hebels Schreib- als Werner Kraft und Gershorn Scholem scheint Ben-
weise (vgl. Bloch 1965, 177). jamin die fatale Differenz nicht wahrgenommen zu
Hebel sei >>Kasuist wie alle wirklichen Moralisten<< haben (vgl. Joost 1980). Aber war ihm, dem Bibliogra-
(III, 205). Er zeige >>besser als sonst einer, wonach man phen des Sammlers Domke, Lichtenbergs Haltung, die
messen soll<<, schrieb Benjamin 1933 in der Buchemp- als >>aufgeklärte Judenfeindschaft<< charakterisiert wor-
fehlung für Die Welt im Wort: >>Nämlich nach dem Maß den ist (vgl. Schäfer 1998), unbekannt geblieben? (In
des Humors, d.i. nach der angewandten Gerechtigkeit<< den Gesammelten Schriften fehlt der Nachweis des
(II, 628). Die ganze Erde sei bei Hebel >>Zum Rhodos Lichtenberg-Satzes und seiner unterschiedlichen Le-
der göttlichen Gerechtigkeit geworden<< (III, 205). sung, vgl. li, 1005.)
In der Rezension präzisierte Benjamin 1929 die Be-
ziehung mit Blick auf die Gattungstradition: >>Diese
Hebel als Theologe Verwandtschaft zum Jüdischen gipfelt eben im hagga-
dischen Einschlag seiner Erzählungen<< (III, 206).
Benjamin betonte Hebels theologische Schulung und
protestantische Disziplin (vgl. li, 279). Sein Theologie-
Begriff unterschied sich von dem der zurückliegenden Hebel als Chronist
Hebel-Rezeption- wie ihn etwa Bürgisser zugrunde-
gelegt hatte - durch das Fehlen von Frömmigkeit und Zur Kennzeichnung der Erzählerhaltung führte Ben-
Religion und durch die Öffnung zur Welt. Zuständig jamin die Unterscheidung von Chronist und Histori-
für die Deutung dieses Werks seien theologische, nicht ker ein. Hebels Verfahren entspricht dem des Chroni-
religionsgeschichtliche Begriffe (vgl. III, 204). Theo- sten, nicht dem des Historikers. Die Beschreibung des
logische und weltbürgerliche Haltung - die hier im Zeitraums von gut fünfzig Jahren, die in Unverhofftes
Gegensatz zum Status als Kleinbürger steht - durch- Wiedersehen zwischen Tod und Wiederauffinden des
dringen sich in ihm (vgl. li, 636). Die Verbindung von Bergmanns vergangen waren, gemahnte Benjamin an
Theologie und Aufklärung illustrierte Benjamin in eine Klage, >>Wie manchmal mittelalterliche Chronisten
einem Vergleich: Hebels Geschichten >>sind die Votiv- sie ihren Büchern voranstellten. Denn das ist in der
gemälde, welche die Aufklärung in den Tempel der Tat nicht die Gesinnung des Historikers, die uns aus
Göttin der Vernunft gestiftet hat<< (640). diesen Sätzen entgegentritt sondern die des Chroni-
Völlig neu ist der Hinweis auf das Verhältnis des sten. Der Historiker hält sich an >Weltgeschichte<, der
Nichtjuden Hebel zur jüdischen Tradition. Es lasse sich Chronist an den Weltlauf<< (li, 637). Während jener es
>>an Lebendigkeit und Tiefe nur mit dem Lichtenberg- zu tun habe mit dem >>Netz des Geschehens<<, in dem
schen vergleichen<< (III, 205), heißt es in der Bürgisser- ihm alles zu einem winzigen Knotenpunkt werde, gehe
Rezension; man habe auf dieses Verhältnis ganz be- dieser aus vom >>eng begrenzten Geschehen seiner
Zu Johann Peter Hebel 497

Stadt oder Landschaft<< (ebd.), die ihm zum Mikrokos- Kafkas, der die Geschichte, wie Dora Diamant berich-
mos werde. Es sei >>das Wesentliche der Chronik, daß tet hat, liebte >>wegen ihrer >Ganzheit<, weil sie so na-
für sie auch das kleinste Dasein, sei es eines Lebendi- türlich war wie große Dinge immer sind<< (Koch 1995,
gen, eines Ortes oder einer Sache geschichtliche Ein- 182f.). Für Benjamin liefen in dieser Geschichte Er-
heit ist, eine Geschichte für sich hat<< (1448). fahrung, Haltung und formale Meisterschaft zusam-
men. Er rühmte besonders die Schilderung des Verlaufs
von fünfzig Trauerjahren, es spreche da >>eine Meta-
Hebel als Volksschriftsteller physik, die erfahren ist und mehr zählt als jede >er-
lebte<<< (II, 279). >>Das Leben und Sterben ganzer Ge-
Ebenfalls ungewöhnlich für die Hebel-Deutung in der schlechter schlägt im Rhythmus der Sätze, welche im
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Verweis auf >Unverhofften Wiedersehen< den Zeitraum der fünfzig
den >>Volksschriftsteller<< (277), die mit einer Zurück- Jahre erfüllen, in denen die Braut um ihren verun-
weisung der Geringschätzung des Begriffs eingeführt glückten Liebsten, den Bergmann, trauert<< (637). In
wurde. Volksschriftsteller rangierten im allgemeinen Unverhofftes Wiedersehen sah er einen Rückverweis auf
>>nun einmal hinter jedem noch so gottverlassenen die Naturgeschichte; tiefer habe nie ein Erzähler seinen
>Dichter<<< (ebd.). Philologen verstünden unter Volks- Bericht in die Naturgeschichte gebettet als Hebel in
kunst >>in Wahrheit Armeleuteschriftstellerei<< (636). dieser Chronologie (vgl. DER ERZÄHLER, 450 f.). Ben-
Benjamins Definition des Volksschriftstellers richtete jamin hat am deutlichsten erfaßt, >>welches die sym-
sich gegen jede Form der Beschränkung - regional, bolische Form war, die der Raffinesse dieser Sätze
sozial, intellektuell und perspektivisch. Nichts liege der zugrunde lag: der mittelalterliche Totentanz« (Honold
>>provinziell beschränkten Heimatkunst ferner als der 2000, 197). In den Zusammenhang von Tod und Na-
erklärte Kosmopolitismus seiner Schauplätze<< (277; turgeschichte gehört eine Notiz aus dem Passagen-
vgl. Bloch 1965, 368). >>[E]chte, unreflektierte Volks- Konvolut D (>>die Langeweile, ewige Wiederkehr<<):
kunst<< spreche >>Exotisches, Monströses mit der glei- >>Das Warten ist gewissermaßen die ausgefütterte In-
chen Liebe, in gleicher Zunge aus wie die Angelegen- nenseite der Langenweile. (Hebel: Die Langeweile war-
heiten des eigenen Hauswesens<< (II, 277; vgl. 638). tet auf den Tod.)<< (V, 176). Die letzte dokumentierte
Hebel beziehe >>sogar das Weltgebäude selber der dörf- Äußerung über Hebel hat einen autobiographischen
lichen Ökonomik noch ein<< (vgl. 277). Sein Werk sei Bezug: Er habe eine Frau wie die Gestalt der Gräfin
gekennzeichnet von einer >>Welt- und Geistesweite wie Orloff aus Bernard von Brentanos Roman Die ewigen
wohl kein zweites der Gattung seit dem Ende des Mit- Gefohle, >>in deren Liebe die Jahre nicht mehr Gewicht
telalters<< (III, 204). In der Antwort auf die Rundfrage haben als die Tage in den kurzlebigen Neigungen un-
fand Benjamin die Formel, der Inhalt des Schatzkäst- serer Zeitgenossen<< (6, 389), gut gekannt, schrieb er
/eins sei >>So weltweit wie handgreiflich<< (II, 628). He- dem Romancier Anfang Januar 1940: >>Die glücklichste
bel mache nicht einfach >>das Fernste Konstantinopel, Formel dieser archaischen Liebe, der die Zeit des War-
Petersburg oder Amsterdam zum Nächsten<<, sondern tens auch die des Wachstums ist, habe ich immer im
er bleibe- >>durch Dialekt, Diktion, argumentatio ad >Unverhofften Wiedersehen< von Johann Peter Hebel
hominem und was für Mittel noch sonst<< (1448f.)- gefunden<< (390).
immer beim Nächsten und verbinde es mit dem fern-
sten Ort.
Hebel im Gesamtwerk

"unverhofftes Wiedersehen" Schärfe und Grundsätzlichkeit des Tons stellen die


Hebel-Texte aus dem Jahr 1929- der Rundfunkvortrag
Der wichtigste Text, an dem Benjamin seine Hebel- <JoHANN PETER HEBEL. 3> und die Rezension HEBEL
Deutung entwickelte, ist die Erzählung Unverhofftes GEGEN EINEN NEUEN BEWUNDERER VERTEIDIGT - in
Wiedersehen. Wie ein roter Faden zieht sich durch den Kontext von Benjamins Bestreben, als der erste
sämtliche Hebel betreffenden Texte und Äußerungen Kritiker der deutschen Literatur angesehen zu werden
Benjamins die hohe Wertschätzung der Erzählung. (vgl. Brief an Gershorn Scholem, 20. Januar 1930, 4,
Unverhofftes Wiedersehen war für Benjamin der ganze 502). Der Gestus der Hebel-Arbeiten ist kultur- und
Hebel in nuce (vgl. 283) und >>eine der schönsten<< wissenschaftskritisch, er richtet sich gegen den Dünkel
(450) Geschichten. Das Urteil berührte sich mit dem des Bildungsbürgertums und gegen literaturgeschicht-
von Ernst Bloch, der sie >>die schönste Geschichte der liche und ästhetische Fehlurteile von Germanisten. Die
Welt<< nannte (Bloch 1965, 175; s.a. 373), und mit dem Bürgisser-Rezension bot Benjamin willkommenen
498 Dichtungsanalyse und Autorbild

Anlaß, sich >>annihilierend« (vgl. Regehly 1992, 71) mit beitsnotizen aufgeworfenen Frage: >>Gibt es nicht bei
einer Ausrichtung der Literaturwissenschaft zu befas- Hebel einen Hang zu Zitat und Kommentar?<< (li,
sen, wie sie etwa Emil Ermatinger für ihn verkörperte, 1444). Fraglos wäre die Antwort aufschlußreich gewe-
Anlaß, >>so trockene Nebelwesen wie diesen Ermatinger sen, da er gründlich über Zitat und Kommentar nach-
samt den Seinen auszuschwefeln. Das hat mich beson- gedacht hat. Eine weitere Notiz- >>>Kannitverstan<
ders gefreut, daß Sie den Ermatinger so deutlich visiert lesen und hier ironisch auf die moderne Theorie des
fanden<<, schrieb er Max Rychner am 21. November >Verstehens< eingehen. Verstehen, Beschreiben, Erklä-
1929 (3, 493 ). Ermatinger repräsentierte für Benjamin ren. Dilthey<< ( 1448) -erlaubt Schlußfolgerungen über
den >>falsche[n] Universalismus der kulturhistorischen eine Hermeneutik Benjamins (vgl. Regehly 1992).
Methode<< (III, 285; vgl. 283-290). Der Vorwurf, Bür- Von Hebels spezifischer Existenz als Moralist führt
gisser hätte anstelle einer Analyse der Hebelsehen eine direkte Spur in den großen Kraus-Aufsatz von
Frömmigkeit besser vom >>Formenschatz<< (204) des 1931. Für Hebel und Kraus sei der >>Takt moralische
Dichters handeln sollen, richtete sich allerdings teil- Geistesgegenwart<<, heißt es in KARL KRAUS. Signifi-
weise gegen Benjamin selbst: Was er über Hebels kant ist die Differenzierung: >>Wenn man bei Johann
Schreibweise sagte, ist inhaltlich, geistesgeschichtlich Peter Hebel die konstruktive, schöpferische Seite des
und philosophisch bestimmt. Der Formenschatz wird Takts in ihrer höchsten Entfaltung findet, so bei Kraus
von Benjamin auch nur behauptet, nicht analysiert. die destruktive und kritische<< (II, 339; weitere Nach-
Sein Interesse galt Hebels Erzählhaltung, den Wir- weise von Hebel-Bezügen in Regehly 1992, 72).
kungsmechanismen seiner Texte, aber nur am Rande Die verblüffende Lesart von Hebel als Haggadist
Handwerklichem, also etwa typologischen, erzähltech- findet ihre Vertiefung in der Gegenüberstellung von
nischen oder sprachlichen Fragen. Halacha und Haggadah, die konstitutiv für den KAFKA-
Die Bezüge zwischen den Hebel-Beiträgen und an- Aufsatz von 1934 ist. Benjamins Formulierung, das
deren Arbeiten Benjamins erschöpfen sich nicht in der Haggadische sei wohl bei keinem außerjüdischen Au-
literaturpolitischen oder wissenschaftsstrategischen tor so stark wie bei Hebel (vgl. II, 1447), ist jedoch
Dimension. Sie stellen sich als äußerst komplex dar. mehr als ein Gattungshinweis, der der Halacha, dem
Hebel und die mit seinem Werk verbundenen Frage- Gesetz, die Haggadah, die nichtlehrhaften Legenden,
stellungen sind in Benjamins Denken fest verankert. Geschichten und Anekdoten des Talmud, gegenüber-
Anhand von vier Stichworten - Moralist, Haggadist, stellt (vgl. Horch 1991, 262). Er wußte, daß Hebels
Chronist und Erzähler- werden hier die Beziehungen Überlegungen zum Judentum auf die Forderung von
nachgezeichnet. Zuvor sind Bezüge zu nennen, die Toleranz hinausliefen und damit seiner Zeit weit vor-
nicht im einzelnen verfolgt werden können: Eine Ak- aus waren (vgl. 255). Formgeschichtlich und intentio-
tualisierung der Haltung Hebels, wie Benjamin sie nal sind Halacha und Haggadah unauflöslich verbun-
1933 für die Rundfrage vorgenommen hat, kann an- den. Den Hinweis auf den haggadischen Einschlag von
gesehen werden als Beispiel für eine Erinnerung, >>wie Hebels Geschichten deutetHansOtto Horch als Ben-
sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt<< (ÜBER DEN jamins Erkenntnis, daß Hebel die verlorengegangene
BEGRIFF DER GESCHICHTE, These VI, I, 695). Dem epische Einheit >>zwischen abstrakter Moral und kon-
entspricht die von Benjamin beschriebene Funktion kretem erzählten Exemplum<< wieder hergestellt habe
des >Merke<: >>Ist es vielleicht so mit dem >Merke<, daß (265). Hebel verschmelze, erklärte Benjamin die hand-
es eine höchste Erscheinung der Geistesgegenwart werkliche Dimension der Verbindung von Halacha
wäre, garnicht die beschauliche Paraphe am Schluß und Haggadah, >>die Weitschweifigkeit des Epikers mit
der Geschichte sondern ihr Funke, der irgendwo in der der Kürze des Gesetzgebers zu einer nahezu uner-
Mitte, wo die Erfahrung Hebels gerade anschlägt, her- gründlichen Einheit<< (KINDERLITERATUR, VII, 255).
ausspringt?<< (II, 1448). Und von ähnlichemSchlage ist Das unterscheidet Hebel von Kafka, bei dem die Lehre
der Hinweis auf das >>Hier und Jetzt<< von Hebels Ge- als solche nirgends ausgesprochen sei (vgl. VI, 433).
schichten und die Darstellung des Dichters als >>Ver- Eine Notiz zum KAFKA verweist auf die Ähnlichkeit
gegenwärtiger<< (635 ). Das korrespondiert mit der 1931 der Parabel Vor dem Gesetz mit Hebels Geschichten
formulierten, programmatischen Aufgabenstellung für (vgl. II, 1190).
die Literaturwissenschaft, >>in der Zeit, da sie [gemeint Die Kennzeichnung Hebels als Chronist verfolgte
sind die>> Werke des Schrifttums<<, d. Verf.] entstanden, Benjamin weiter - zunächst in seinem Aufsatz DER
die Zeit, die sie erkennt- das ist die unsere- zur Dar- ERzÄHLER, der von seiner Hebel-Lesart strukturiert
stellung ZU bringen<< (LITERATURGESCHICHTE UND wird: >>Der Chronist ist der Geschichts-Erzähler<< (451 ),
LITERATURWISSENSCHAFT, III, 290). heißt es hier. Benjamin erinnerte erneut an die Be-
Nicht nachgegangen ist Benjamin einer in den Ar- schreibung des Zeitverlaufs in Unverhofftes Wiederse-
Zu Johann Peter Hebel 499

hen, und er präzisierte seine Unterscheidung: Der kow-Essay DER ERZÄHLER. >>Hebel war der Herold, der
Historiker sei gehalten, die Vorfälle, mit denen er es zu Benjamins Auffassung mustergültigen Erzählens
tun hat, zu erklären; es genüge nicht, >>sie als Muster- prägte<< (Honold 2000, 165). Für einen Text über Hebel
stücke des Weltlaufs herzuzeigen« (ebd.), während der bedankte sich Benjamin am 17. Juni 1936 bei Kar!
Chronist die Last der Erklärung von sich abgewälzt Thieme mit dem Hinweis, daß er gerade für seine der-
habe und es nicht >>mit einer genauen Verkettung von zeitigen Überlegungen Gewinn daraus ziehen könne
bestimmten Ereignissen, sondern mit der Art ihrer (vgl. 5, 310). Thiemes Arbeit ist bislang nicht ermittelt;
Einbettung in den großen unerforschlichen Weltlauf ein später erschienener Beitrag weist Parallelen zu Ben-
zu tun hat<< (452). Signifikant beschrieben ist die Frei- jamin auf: Hebel sei nicht Eigentum einer umgrenzten
heit des Chronisten in dem Traktat ÜBER DEN BEGRIFF Schicht; das Schatzkästlein gemahne an ein Volkslied;
DER GESCHICHTE: >>Der Chronist, welcher die Ereig- Unverhofftes Wiedersehen streife den Vorhang vor den
nisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterschei- letzten Dingen (vgl. Thieme 1948,42 f.)- erzähltheo-
den, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts retisch verwertbar war das allerdings kaum. Die Fort-
was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verlo- schreibung der Hebel-Arbeiten im ERZÄHLER be-
ren zu geben ist<< (I, 694). schränkte sich nicht auf die bereits erwähnte Figur des
Die Verknüpfungen zwischen den Hebel-Aufsätzen Chronisten. Die Motive, die Benjamin seinen Hebel-
und ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE gehen weit Studien entnahm, sind vielfältig. In einem Moment,
darüber hinaus: Bereits das erste Wort des Traktats ist in dem es >>mit der Kunst des Erzählens zu Ende<< (II,
eine unverkennbare Referenz an Hebel: >>Bekanntlich 439) gehe, erscheint Hebel- mit und ohne Namens-
soll es einen Automaten gegeben haben<<, hebt die nennung - als einer, >>der, redlich sich nährend, im
These vom Schachautomaten an (693). Mit diesem Lande geblieben ist und dessen Geschichten und Über-
einzigen Wort >>>Bekanntlich<<< sei bei Hebel >>die öde lieferungen kennt<< (440), als archaischer Typus eines
Kluft verschüttet, die für jeden Spießer Geschichte und Erzählers, der im >>seßhaften Ackerbauer(n]<< (ebd.)
Privatleben trennt<< (II, 283; vgl. die interessante Vari- verkörpert war, sich fähig zeigte, Erfahrungen weiter-
ante: >>SO schwingen in diesem einen >bekanntlich< alle zugeben, im Volk wurzelte und auf dessen mündliche
Korrespondenzen von Weltlauf und Stadtklatsch iro- Traditionen zurückgriff (vgl. 439-457). Hebel gehöre
nisch mit<< II, 638). Die in dieser ersten These bildlich in die Reihe jener, die, >>offen oder versteckt, ihren
gewordene Begegnung von Theologie und histori- Nutzen mit sich<< führten, der Rat könne in einer Mo-
schem Materialismus mag an die Brosche erinnern, ral bestehen, in einer praktischen Anweisung, einem
>>auf der sich Bischofsstab und Jakobinermütze kreu- Sprichwort oder einer Lebensregel (442). Der Erzähler
zen<< (283), und von der Brosche führt ein Weg zurück leihe seine Autorität vom Tod, erklärte Benjamin, und
zur Formulierung aus DAs LEBEN DER STUDENTEN, die er verwies darauf, wie tief die Geschichte Unverhofftes
>>Elemente des Endzustands<< seien nur in ihrer >>me- Wiedersehen in der Naturgeschichte verwurzelt sei (vgl.
taphysischen Struktur zu erfassen, wie das messiani- 450f.). Der Schluß des Essays- >>Der Erzähler ist die
sche Reich oder die französische Revolutionsidee<< Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet<<
(75). Von der frühen Studentenrede bis zu den Thesen (465) -läßt sich lesen als Präzedenzfall der von Hebel
ist die Geschichtsschreibung als Herrschaftsinstrument >>angewandten Gerechtigkeit<< (628).
thematisch. Im Hebel-Zusammenhang ist die Rede von Im SüRREALISMus-Aufsatz nannte Benjamin Hebel
>>>Bildung< als Instrument der Unterdrücker<< (III, 203). -wie Büchner, Nietzsche und Rimbaud- als Vertreter
Es ist das Prinzip der durch den Kalender gerafften eines >>anthropologischen Materialismus<< (309). Es
Geschichten, Geschehenes nicht aus der Perspektive geht ihm um eine Tendenz, die Politisches und Krea-
des Triumphzuges zu erzählen, in dem die >>Kulturgü- türliches verbindet.
ter<< mitgeführt werden. Es geht darum, Monumente
der traditionellen Geschichtsschreibung zum Einsturz
zu bringen, mithin >>die Geschichte gegen den Strich Rezeption und Zusammenfassung
ZU bürsten<< (ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE,
These VII, I, 697). Wer will, kann schließlich im >Engel Benjamin hat den Ruf Hebels vernommen- als Theo-
der Geschichte< einen Gruß an Hebel versteckt finden: retiker und als Erzähler. Was Hebel not täte, wünschte
>>Seine Augen sind aufgerissen<< (ebd.), heißt es über er in der Bürgisser-Rezension, wäre >>nicht die Gefolg-
den Angelus Novus, und bei dem Chronisten Hebel sah schaft der Nullen, sondern der Eine, der ein für allemal
Benjamin ebenfalls das >>schauend aufgerissene Auge<< die erste Stelle mit markanten Zügen fixierte<< (III,
(II, 277). 203). Die kritische Auseinandersetzung mit dem Dich-
Der Erzähler Hebel stand Pate für Benjamins Less- ter blieb unabgeschlossen; markante Züge hat Benja-
500 Dichtungsanalyse und Autorbild

min wie kaum jemand vor und nach ihm auf engstem kann, finden sich in EINBAHNSTRASSE oder in den
Raum formuliert. Die Hebel-Studien erbrachten Be- Skizzen und Aphorismen wie KuRZE SCHATTEN <1>
obachtungen und Positionen, die für große späte Texte und <2>, EssEN, DENKBILD ER, KLEINE KuNsT-STüCKE
-PRANZ KAFKA, DER ERZÄHLER, ÜBER DEN BEGRIFF (vgl. IV, 83-148, 235-304 u. 368--438). Sie sind zumeist
DER GESCHICHTE- konstitutiv sind. Benjamins Lek- Ende der zwanziger Jahre, also parallel zu den Hebel-
türen haben einen entscheidenden Anteil an der Neu- Beiträgen, geschrieben worden.
bewertung Hebels. Sie trugen dazu bei, daß der Dich- Benjamins Rundfunkvorträge für Kinder sind eben-
ter aus der Ecke von Heimatkunst und Lehrhaftigkeit falls als literarische Hebel-Rezeption bezeichnet wor-
geholt werden konnte. Diese Richtung verfolgte auch den (vgl. Faber 2002, 153-176; Kaulen 1992; Schiller-
Pranz Glück in seinem Hebel-Artikel für die Wiener terg 1984): Der Rundfunkstratege fand- nach Auffas-
Zeitung; seine Deutung ist der Benjamins, dessen sung von Heinrich Kaulen- in Hebel »nicht nur seinen
Name nicht genannt wird, verblüffend nah (vgl. Glück Lehrmeister in Hinblick auf die Wahrnehmungskraft
1936). und Geistesgegenwart, die er bei seinen Hörern schu-
Benjamin führt die Unterscheidung von Chronist len möchte«, sondern er übernahm von Hebel Eigen-
und Historiker in die Hebel-Rezeption ein. Neu bei heiten der Erzählhaltung wie Bindung an mündliche
ihm und ungewöhnlich war zudem der Hinweis auf Gesprächskultur, Aufmerksamkeit für das periphere
eine jüdische Traditionslinie bei Hebel. Namentlich Phänomen, Verschränkung von Wissensvermittlung
damit hat sich die Forschung befaßt (vgl. Buono 2005; mit fabulierenden Exkursen (Kaulen 1992, 25). Indem
Faber 1992; Faber 2002; Horch 1991). Im Bereich der er sich Themen des 20. Jh.s öffnete, erneuerte Benja-
Erzähltheorie sind Benjamins Hinweise auf Hebels min den auf die vorindustrielle Welt gerichteten alt-
Formenvielfalt, Modernität und Raffinesse der Mittel väterlichen Erzählgestus des alemannischen Autors
aufgenommen und weiterentwickelt worden (vgl. Ho- (vgl. 22-30). Damit wies er selbst den Ausweg aus der
nold 2000; Kaulen 1992; Knopf 1973; Regehly 1992, Krise des Erzählens, die er in ERFAHRUNG UND ARMUT
Rohner 1978; Schlaffer 1973 u.a.). und in DER ERZÄHLER noch diagnostizieren sollte:
Bei einem Autor wie Walter Benjamin, der sich an »Das Erzählen- das wird schon bleiben«, heißt es in
der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst bewegt, einer Aufzeichnung zum ERZÄHLER-Aufsatz. »Aber
ist es symptomatisch, daß sich die Wirkung seiner He- nicht in seiner >ewigen< Form, der heimlichen, herrli-
bel-Studien nicht auf die wissenschaftliche Rezeption chen Wärme, sondern in frechen, verwegnen, von
beschränkte. Wirkungsvoller ist die unmittelbare lite- denen wir noch nichts wissen« (II, 1282f.). Auf eine
rarische Rezeption, die Benjamin - gemeinsam mit Zukunft des Erzählens verweisen auch die Hebel-Texte
Autoren wie Bloch (Spuren), Kracauer, Brecht (>>Ge- Benjamins, indem sie, wie Alexander Honold vorge-
schichten vom Herrn Keuner«),Adorno (Minima mo- schlagen hat, die Mittel des Erzählens als »Helfershel-
ralia ), Canetti, Anders u. a.- eingeleitet hat. In Texten, fer der Gerechtigkeit« und der »mobilen, ihre Plätze
die als >Denkbilder< oder >jüdisch-deutsche Merkprosa< wechselnden Geistesgegenwart« würdigen. »Erzählen
bezeichnet worden sind, erstand der Autor des Schatz- schafft Situationen, in denen noch nichts entschieden
kästZeins gleichsam wie neu. Ähnlichkeiten zwischen ist, aber alles in Ruhe verhandelt und besprochen wer-
dieser gattungstheoretisch nicht streng abgrenzbaren den kann« (Honold 2000, 176). Der alemannische
Prosaform und Texten Hebels liegen in Kürze und Dichter besteht die Probe aufs Exempel, die Benjamin
formaler Strenge, im mündlich anmutenden Erzähl- durch die Aneignung seiner Erzählformen gemacht
gestus, in der dialogischen Struktur, in der Thematik, hat.
die Beiläufiges und Alltägliches in Philosophisches und
Weltbedeutendes wenden kann, im Humor, in der
Werk
Kombination von Merksatz und Erzählung, Bericht
JoHANN PETER HEBEL <I>. Zu SEINEM IOo. ToDESTAGE (II,
und Reflexion, Erfahrung und Erkenntnis, bei der die 277-280)
- häufig paradoxe und hintersinnig vorgetragene - J.P. HEBEL <2>. EIN BILDERRÄTSEL zuM 100. ToDESTAGE DES
Moral (das »Merke«) gleichnis-oder parabelartig aus DICHTERS (Il, 280-283)
<JoHANN PETER HEBEL 3> (Il, 635-640)
der Geschichte heraus entwickelt wird (vgl. Faber
HEBEL GEGEN EINEN NEUEN BEWUNDERER VERTEIDIGT (Ill,
1992; Faber 2000; Kaulen 1992; Schlaffer 1973). Hebel 203-206)
kann- Richard Faber zufolge- als »Klassiker dieser J.P. HEBELS SCHATZKÄSTLEIN DES RHEINISCHEN HAUSFREUN-
Tradition« angesehen werden, er sei »dem rabbini- DES {!I, 628)
[Aufzeichnungen und Exzerpte zu Hebel] (II, 1444-1449)
schen Prototyp des Erzählens in besonderer Weise
ERFAHRUNG UND ARMUT (Il, 213-219)
verpflichtet« gewesen (Faber 1992, 124). Texte Benja- DER ERZÄHLER. BETRACHTUNGEN ZUM WERK NIKOLAI LESS-
mins, die man als Beitrag zur »Merkprosa« rechnen KOWS {Il, 438-465)
Zu Johann Peter Hebel 501

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502 Dichtungsanalyse und Autorbild

Zu Gottfried Keller Sämtlichen Werke wiederlas, sollte er es als einen


Von Erdmut Wizisla »sprachlichen Zaubergarten<< schätzen lernen (vgl.
Leseliste Nr. 1194 <2>, VII, 469, u. Brief an Werner
Kraft, 27. September 1934,4, 506). Zu Kellers bekann-
Er schreibe »an einer kleinen akzentreichen Arbeit testem Werk, Der grüne Heinrich, fand Benjamin nie
über Gottfried Keller, einem ganz alten Lieblingsge- Zugang. Während der Lektüre, die die Abfassung der
genstand<<, teilte Benjamin Siegfried Kracauer am 29. Dissertation begleitete, schrieb er Ernst Schoen in ei-
Juni 1927 mit (3, 270). Gemeint war der umfangreiche nem Brief vom 9. November 1918: »Alle Bücher dieses
Essay GoTTFRIED KELLER, der am 5. August 1927 in Mannes gehören zu den zweideutigsten und gefähr-
der Literarischen Welt veröffentlicht wurde (II, 283- lichsten Produkten der Literatur. Warum - hoffe ich
295). Für einen Lieblingsgegenstand ist der schriftstel- Ihnen später einmal sagen zu können« (1, 488). In
lerische Ertrag vom Umfang her gering: Er besteht einem Brief an Hugo von Hofmannsthai vom 16. Au-
neben dem Artikel, der ursprünglich als Rezension gust 1927 erscheint die Leseerfahrung- wohl weil
geplant war, aus zwei kurzen Buchanzeigen, ebenfalls Hofmannsthai reserviert auf Benjamins Zuwendung
für die Literarische Welt, einem Briefkommentar für zu Keller reagiert hatte- etwas geglättet: »Ich weiß
die Frankfurter Zeitung, der später in die Sammlung heute nicht mehr genau, worauf meine erste Bindung
DEUTSCHE MENSCHEN aufgenommen wurde, und we- an Keller zurückgeht; als ich im Jahre 1917 in die
nigen Exzerpten und Notizen aus dem Nachlaß. Ins- Schweiz kam, stand mir meine Liebe für ihn schon
gesamt umfassen die auf Keller bezogenen Texte und deutlich fest« (3, 285).
Aufzeichnungen nur sechzehn Druckseiten. Der Ein dauerhafter Impuls war jedoch erst 1920 ergan-
Schweizer Dichter bedeutete Benjamin jedoch mehr, gen, als Benjamin den Roman Martin Salander las, der
als sich in dem bescheidenen Textmaterial zu erkennen ihm »recht trefflich<< gefiel (Brief an Gershorn Scho-
gibt. Ausschlaggebend war eine intensive Leseerfah- lem, 26. März 1920, 2, 80). Die Wertschätzung teilte er
rung des jungen Benjamin. Mit dem Aufsatz GoTT- mit Ernst Bloch, mit dem er sich in den Berner Jahren
FRIBO KELLER wollte der Kritiker Ende der zwanziger »in der Rekapitulation der Kellersehen Schriften<< zu-
Jahre die Vorzüge materialistischer Literaturanalyse sammenfand (3, 285). Mit dem Verweis auf Martin
demonstrieren. Mit Bezug auf den Keller-Essay verwies Salander suchte er Hofmannsthai für Keller zu gewin-
er auf die Erfahrung, daß »die historische Größe einen nen: »Alles was der Name Kellers in Ihnen Widerstre-
Standindex hat, kraft deren jede echte Erkenntnis von bendes aufruft, habe ich an der Lektüre des >Grünen
ihr zur geschichtsphilosophischen- nicht psychologi- Heinrich< erfahren und im >Martin Salander< einen
schen- Selbsterkenntnis des Erkennenden wird<<, eine anderen Pol dieser Welt mit ganz anderem geistigen
Erfahrung, die ihn immer noch eher mit >>den hane- Wetter sehen wollen<< (16. August 1927, 285). Außer
büchenen und rauhbeinigen Analysen eines Franz Martin Salander hatten es ihm die Gedichte angetan:
Mehring<< verbinde als mit »den tiefsinnigsten Um- »Kellers Gedichte liebe ich sehr, und seit jeher!«,
schreibungen des Ideenreiches wie sie heute aus Hei- schrieb Benjamin am 16. Juni 1939 an Bernard von
deggers Schule hervorgehen« (Brief an Max Rychner, Brentano, als dieser Die schönsten Gedichte zusammen-
7. März 1931,4, 19). Keller stand im Hintergrund des gestellt hatte (6, 301). Das VERZEICHNIS DER GELESE-
Erzähler-Aufsatzes und der autobiographischen Texte NEN SCHRIFTEN weist, obwohl die rezensierten Bücher
Benjamins, und er gehörte zu den für Kommentare nicht erfaßt sind, Kellers Werke nahezu vollständig auf
und theoretische Überlegungen zur Gattung Briefzen- (vgl. VII, 437-476: Nr. 498, 577, 579, 685, 686, 810,
tralen Autoren. Außerdem benutzte Benjamin ihn als 1194 <2>, vgl. auch Nr. 1049).
Folie für die Kritik am Historismus. Den Aufsatz GoTTFRIED KELLER betrachtete Benja-
min als »Aufriß eines Geländes<<, das ihn »Jahre hin-
durch immer wieder in sich hineinwg« (Brief an Hugo
Zugänge zu Keller von Hofmannsthal, 24. November 1927,3, 308). Anlaß
war die Rezension der ersten Bände der Ausgabe Sämt-
Benjamin hat erst allmählich zu Keller gefunden, be- liche Werke, die 1926 bis 1939 von Jonas Fränkel- und,
legt ist zunächst Distanz: Als er mit zwanzig Das Sinn- nachdem dieser 1942 zum Verzicht gezwungen worden
gedicht las, fand er es »nicht leicht, auf Kellers schweren war, von Carl Helbling- besorgt wurde. Benjamin kam
Stil sich zu spannen, der jeden Satz langsam zu lesen der Besprechungsverpflichtung erst mit einem Jahr
verlangt<< (Brief an Carla Seligson, 30. April 1913, l, Verspätung nach. Was ihm zunächst als Nebenarbeit
92). Erst zwei Jahrzehnte später, als er in Skovsbostrand erschienen war (vgl. 161), hatte sich zu einem eigen-
das Sinngedicht im eben erschienenen elften Band der ständigen Aufsatz entwickelt. Begonnen hatte er die
Zu Gottfried Keller 503

Arbeit in Berlin vor März 1927, abgeschlossen in Paris gisch betrachtet, kühne Verfahren« (294), die Lesarten
im Juli 1927 (vgl. 493). Kurz vor dem Abschluß kün- nach stilistischen Gesichtspunkten zu rubrizieren, sich
digte er Bedeutungsvolles an. Die Anzeige bringe im wissenschaftlichen Gebrauch durchsetzen werde
Überraschungen (5. Juni 1927, vgl. 263), schrieb er (vgl. ebd.). Die knappe Anzeige des 1931 erschienenen
Kracauer, sie werde »hoffentlich allerlei verraten und ersten Bandes der Fränkel-Edition veranlaßte Benja-
bestätigen<< (27. Juni 1927, 270). Im Juli 1927 teilte er min zu dem Satz: >>Wenn es einen neueren deutschen
Scholem mit, er habe seine gestärkten Kräfte auf die Schriftsteller gibt, an welchem ernsthafte Textkritik
seit Jahresfrist fällige Anzeige von Kellers Werken ge- und echte Philologentreue Entdeckerarbeit leisten
worfen, und er schmeichle sich, darin >>einiges unter- können, dann ist es Keller« (III, 322). Im Exil bemühte
gebracht zu haben, was sich schon lange auf meinen sich Benjamin, weitere Bände dieser Ausgabe und
Gehirngassen herumtrieb<< (281). Benjamin rechnete Fränkels Buch Gottfried Kellers politische Sendung in
GoTTFRIED KELLER- auch wenn er behauptete, damit Fritz Liebs Schweizer Zeitung am Sonntag zu bespre-
nur >>Prolegomena« (285) gegeben zu haben- zu sei- chen (vgl. 6, 260; 266; 275). Fränkel selbst hatte sich
nen besten Aufsätzen (vgl. Schalem 1975, 179). 1930 bei seinem Verleger für die Vergabe des Rezensions-
wollte er den Text in die bei Rowohlt geplante Samm- auftrages an Benjamin eingesetzt (vgl. Kambas 1987,
lung seiner Essays zur Literatur aufnehmen (vgl. Fak- 268).
simile des Verlagsvertrags bei Brodersen 1990, 198). Mit Ausnahme der Notizen, die in einem Umschlag
Ende September 1934 schrieb Benjamin, er befasse sich mit der Aufschrift >>Nachträge zu abgeschlossenen Ar-
>>mit einer Studie über Keller, im Anschluß an einen beiten [:) Keller« zusammengefaßt waren (li, 1013),
neuen Band der Gesamtausgabe« (4, 504). Die wohl sind sämtliche Arbeiten nur im Druck überliefert. Im
ZU dieser Zeit fixierten NACHTRÄGE ZUM AUFSATZ Walter Benjamin Archiv finden sich keine weiteren
ÜBER KELLER (vgl. li, 1014) verzeichnen in den Arti- Aufzeichnungen.
keln unberücksichtigt gebliebene Stichworte zur In- Im folgenden wird Benjamins Keller-Deutung unter
terpretation und deuten somit eine prospektive Fort- vier Gesichtspunkten dargestellt.
setzung an. Die Exzerpte aus der Neuen Zeit (vgl.
1013 f.) dürften in den Wochen zuvor bei Brecht in
Skovsbostrand angefertigt worden sein, wo ein voll- Materialismus
ständiges Exemplar der Zeitschrift zur Verfügung
stand. Im ersten Halbband des Jahres 1886 hat sich Benjamin begriff Kellers Werk als ein politisches. Die
Brecht- sehr wahrscheinlich nach einem Hinweis von gewichtig angekündigten >>Überraschungen« und der
Benjamin- die Schlußpassage des Aufsatzes von Julie Hinweis auf einiges, das sich >>schon lange auf meinen
Zadek angestrichen; dort erscheinen >>Romeo und Ju- Gehirngassen herumtrieb« (3, 263), sind Anspielungen
lia auf dem Dorfe«, >>Das Fähnlein der sieben Aufrech- auf die materialistische Tendenz des Aufsatzes GoTT-
ten<< und >>Die drei gerechten Kammacher« als Höhe- FRIED KELLER. In dem programmatischen Brief an
punkt von Kellers Schaffen, Erzählungen, die >>ZU dem Max Rychner vom 7. März 1931, in dem er für sich als
Schönsten und Ergreifendsten gehören, was die Lite- Forscher die>> Haltungdes Materialisten wissenschaft-
ratur aller Zeiten und Völker hervorgebracht hat« lich und menschlich in allen uns bewegenden Dingen
(Zadek 1886, 183 f.). fruchtbarer [ ... ) als die idealistische« nannte, verwies
Benjamins Keller-Bild ist aus der Rezensententätig- Benjamin auf sein >>exaktes Bemühen, die Einsicht in
keit entfaltet. Anlaß der drei Artikel für die Literarische Keller an der in den wahren Stand unseres gegenwär-
Welt sind Editionen - Einzelbände der Fränkel-Aus- tigen Daseins zu legitimieren« (4, 19 ). Die idealistische
gabe und der Briefwechsel mit Marie und Adolf Exner. Lesart sah Benjamin im Falle von Keller namentlich
Das gibt sich unterschiedlich stark in den Artikeln zu durch Emil Ermatinger vertreten, dessen Methode er
erkennen: Im Essay GoTTFRIED KELLER, der den Anlaß im April1931 in der Rezension LITERATURGESCHICHTE
ansonsten vergessen läßt, begrüßt Benjamin, daß der UND LITERATURWISSENSCHAFT (Ill, 283-290) attak-
Apparat das Gestrichene zugänglich mache und damit kierte. Ob Benjamin Fränkels Polemik gegen Ermatin-
die Intention von Kellers bewußtem >>Feilen an der ger u. a. Keller-Herausgeber kannte (vgl. Linsmayer in
Sprachform« (li, 289) erkennen lasse. Dem Essay Kersten 2000, 92-101), ist nicht zu klären. Seine Ab-
nachgestellt war eine Annotation der bis dato erschie- lehnung von Ermatingers Neufassung der Baechthold-
nenen Bände der Ausgabe (sie enthielten die Fassungen schen Keller-Biographie fiel scharf aus (vgl. 3, 493; 6,
von Der grüne Heinrich und Die Leute von Seldwyla), 109, wo ostentativ Baechtholds Biographie zu den
in der Einrichtung, Ausstattung und Lesart kommen- >>großen gründenden Dichterbiographien« gezählt
tiert wurden. Benjamin bezweifelte, daß das >>philolo- wird). Die bürgerliche Literarhistorie scheitere an Kel-
504 Dichtungsanalyse und Autorbild

lers Materialismus und Atheismus; sie könne den >>hi- zahnt durch den Verweis auf den handwerklichen Ur-
storischen Grund<< (II, 284), auf dem das Werk erbaut sprung der Texte, die Verwendung von Dialekt und die
sei, nicht für ihr Erbe erklären (vgl. ebd.). Die an Kel- im Erzählen realisierte Verbindung von Mikrokosmos
ler gewonnene Einsicht >>in den wahren Stand unseres und Makrokosmos sowie durch ihre wahrnehmungs-
gegenwärtigen Daseins<< kommt mit einem Minimum psychologische Qualität: >>Was Kellers Bücher ganz
an marxistischer Terminologie aus: Keller repräsentiere und gar erfüllt, das ist die Sinnenlust nicht so des
das>> vorimperialistische Bürgertum<<, deren Atheismus Schauens als des Beschreibens<< (II, 290). Auf die ar-
und Materialismus nach der Reichsgründung in chaische Tradition verweisen der bereits zitierte Hin-
Deutschland verschwunden sei. In der Schweiz habe es weis auf den Anschluß an den handwerklichen Pro-
sich länger als in Deutschland gehalten. Er repräsen- duktionsprozeß wie auf den mündlichen oder gar
tiere >>eine Klasse, die, was sie mit dem handwerklichen vormündlichen Ursprung des Erzählens: Es >>lag wohl
Produktionsprozeß verband, noch nicht völlig durch- in seiner schreibenden Hand ein Mitteilungsbedürfnis,
schnitten hatte<< (285). Benjamin bot Hinweise auf eine das der Mund nicht kannte<< (ebd.). Seit Grimmels-
juristisch-ökonomische Lektüre von Kellers Texten an hausen habe kein deutscher Schriftsteller so gut >>Um
-etwa für >>>Romeo und Julia auf dem Dorfe<<< (287), die Ränder der Sprache Bescheid<< gewußt und daher
wo aus dem gebrochenen Eigentumsrecht an einem >>das ursprünglichste Dialekt- und das späteste Fremd-
Acker ein vernichtendes Schicksal hervorgehe (vgl. wort<< frei gehandhabt (ebd.). Für Kellers Prosa gilt wie
ebd. ). Auch im Hinblick auf Kellers Mentalität verwies für Hebel, daß sie Vertrautes und Fremdes verbindet;
Benjamin auf materialistische Züge: >>Dessen großar- im >>Weh nach seiner Schweizer Heimat tönt Sehnsucht
tige Traurigkeit war wirklich die von bunten Fäden der in die Zeitenferne mit<< (289). Wie eine Monade ist im
Lust durchzogene materialistische<<, schrieb er Max Mikrokosmos Allgemeinstes enthalten: In ihr wiege
Horkheimer am 24. Dezember 1936 (5, 450). >>jede kleinste angeschaute Zelle Welt soviel wie der
Rest aller Wirklichkeit<< (288; zur Monade vgl. ÜBER
DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE, I, 702 f.). An der
Der Erzähler Keller kunstliterarischen Prosa von Hebel, Keller und Robert
Walser spürte Benjamin >>den Formen und Vorausset-
In der Beschreibung der Erzählhaltung und Schreib- zungen der alltäglichen, elementarliterarischen Erzähl-
weise hielt Benjamin den zur Verniedlichung neigen- kultur<< nach (Honold 2000, 364).
den Lesarten entgegen, Keller sei Materialist und lei- Neben den bereits zitierten Selbstdeutungen sind
denschaftlicher Hedoniker gewesen, und er betonte die die Hinweise auf das Schweizerische des Gegenstands
unsentimentalische, epische Einrichtung seiner Schau- bemerkenswert. Zwischen den Zeilen finde sich eini-
plätze (II, 286; 288). Das Schönste und Wesentlichste ges, was es ihm am schweizerischen Wesen angetan
sei ihm >>mehr noch als andern unter dem Schreiben<< habe, schrieb Benjamin am 18. Oktober 1927 an Max
(290) gekommen. Keller sei >>unter die drei oder vier Rychner, dessen Echo ihn erfreut und bestätigt hatte.
größten Prosaiker der deutschen Sprache<< (284) auf- >>Was ich versuchte ist, wenn ich so sagen darf, eine
zunehmen. Seine Prosa verwirkliche am vollsten einen kleine intelligible Grenzberichtigung zu Gunsten
Zuwachs, den die nachromantische Epoche dem Deut- schweizerdeutschen Bodens gegen das Reichsdeutsche<<
schen gebracht habe: >>Durchdringung des Erzähleri- (3, 296). Dabei hatte er seine Beschreibung des schwei-
schen und des Dichterischen<< (290f.). Diese Charak- zerischen Charakters im Sinne: dieser habe >>vielleicht
teristik erinnert an eine Beschreibung, die Benjamin mehr Heimatliebe und weniger nationalistischen Geist
wenig später unter Verweis auf Brecht, Kafka, Seheer- in sich genährt als irgendein anderer<< (li, 285). Etwas
hart und Döblin als den wichtigsten Zug der gegen- >>sehr Schweizerisches<< (325) sei die >>bäurische Sprach-
wärtigen Literatur bezeichnete: die innige >>Durchdrin- scham<< (326); Benjamin entwickelte das für Robert
gung jeder großen dichterischen Leistung mit der Walser anhand einer Anekdote, in der Keller eine wort-
schriftstellerischen<< (III, 302). Mit dem Bild eines an karge Stammtischrunde, in der nach langen Abständen
die Surrealisten gemahnenden modernen Erzählers zwei Äußerungen gefallen waren, mit dem Satz verließ:
polemisierte Benjamin gegen die Provinzialisierung »>Unter Schwätzern will ich nicht trinken.<<< (ebd.).
und das Philistertum, das sich namentlich um den Hofmannsthals Skepsis gegenüber Keller begegnete
Roman Der grüne Heinrich sammle (vgl. Brief an Mar- Benjamin mit Understatement (>>Dieser Aufsatz [... ]
cel Brion, 13. Juli 1927,3, 271; Brief an Hugo von Hof- mag Ihnen früher oder später vor Augen kommen<<; 3,
mannsthal, 16. August 1927, 284 f.). 285). Aber er verband das mit einer Lesart, die den
Die Reflexionen zum Erzähler Keller sind mit den Kern seiner Intentionen- sofern sie das Wesen Kellers
im Aufsatz DER ERZÄHLER entwickelten Thesen ver- betrafen- berührte: >>Immerhin schwebt mir die Not-
Zu Gottfried Keller 505

wendigkeit vor, die Einheit in der das Beschränkte und ner< ohne die ihrer Korrespondenten herauszugeben,
Lieblose mit dem Umfassenden und Liebevollen echt ist eine Barbarei<< (III, 84).
schweizerisch sich in dem Mann verschränkt, noch
ganz anders einsichtig zu machen<< (ebd.). Benjamin
ging es nicht um die »Konstruktion dieses Autors aus Kritik am Historismus
seinen beiden scheinbar so disparaten Hälften<< (ebd.),
sondern sein Aufsatz zielte >>auf einen anderen über- In der fünften These von ÜBER DEN BEGRIFF DER GE-
sehenen Keller<< (ebd.). SCHICHTE zitierte Benjamin einen Keller zugeschrie-
benen Satz: »>Die Wahrheit wird uns nicht davonlau-
fen<<<. Benjamin kommentierte: »dieses Wort, das von
Der Briefautor Keller Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild
des Historismus genau die Stelle, an der es vom histo-
Die Vorzüge des Dichters seien namentlich am Brief- rischen Materialismus durchschlagen wird<< (1, 695).
autor zu entdecken. Die zitierte Wendung, das Schön- Die Formulierung, die Benjamin zuerst im FucHs-
ste und Wesentlichste sei Keller »unter dem Schreiben<< Aufsatz verwendet hat (vgl. Il, 468), ist bei Keller in
gekommen, bezog Benjamin auf Briefe (II, 290). Sie diesem Wortlaut nicht belegt. Eine analoge Notiz aus
zeigt, daß er den Brief als Prototyp literarischer Äuße- dem Passagen-Konvolut nennt zudem ein Werk Kellers
rung wertet. »Kellers Briefe sind fast ausnahmslos als Quelle: »>Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen<
wichtig<<, heißt es in der Anzeige des Bandes Aus Gott- heißt es an einer Stelle des Kellersehen Sinngedichts.
fried Kellers glücklicher Zeit: »Nicht als Dokumente des Damit ist der Wahrheitsbegriff formuliert, mit dem in
Lebenslaufes,[ ... ] sondern in ernsthaftem Sinn: näm- diesen Darstellungen gebrochen wird<< (V, 579). Im
lich stilistisch und charakterologisch. In ihnen konnte Sinngedicht gibt es allenfalls einen Satz, an den Benja-
er sich weit eher als im Werk in die tausendspiraligen min gedacht haben kann: »Allein obgleich keine na-
Gehäuse seiner Wortform zurückziehen, schnöde aus türliche Erklärung, kein Durchdringen des Geheim-
ihnen schnuppernd oder grämlich darin verschwin- nisses für einmal möglich ist, so bleibt doch nichts
dend<< (III, 84). Anders übrig, als an dem Vernunftgebote festzuhalten
Tugenden wie politisches Gespür, Heimatliebe und und sich darauf zu verlassen, daß über kurz oder lang
Verzicht auf Nationalismus haben den Herausgeber die einfache Wahrheit ans Tageslicht treten und jeder-
der Anthologie DEUTSCHE MENSCHEN bewogen, auch mann zufrieden stellen wird<< (Keller 1996ff., Bd. 7,
den Schweizer Gottfried Keller in die Phalanx der Per- 106). Benjamins Lesart des vermeintlichen Zitats kri-
sonen zu reihen, deren »geprägtes und gewichtiges tisiert die Selbstgewißheit des Historismus, der jeden
Wort in die Waagschale der Geschichte zu legen<< war Moment der Vergangenheit für zitierbar und unver-
(Vorwort, IV, 151). Der Kommentar zum Brief an änderlich ansieht; das Konzept des historischen Mate-
Theodor Storm vom 26. Februar 1879, zuerst 1931 in rialisten bewahrt nur das Bild der Vergangenheit, in
der Frankfurter Zeitung, begann mit der Feststellung der sich die Gegenwart erkennt. Um Kellers Position,
»Gottfried Keller war ein großer Briefschreiber<< (II, die bei einem fühlbaren Trend zum Historismus die
290), um dann mit Selbstzitat aus mehreren, anders Kritik am Historismus nicht ausschloß (vgl. Jezior-
montierten Sätzen des Aufsatzes von 1927 fortzuset- kowski 1979, 15-19), geht es Benjamin jedoch nicht.
zen (vgl. IV, 224; Il, 290). Neu ist die gattungsbezogene
Überlegung, derzufolge Kellers Briefe »nicht nur
räumlich in einer Grenzmark des sprachlichen Be- Rezeption und Zusammenfassung
reichs gelegen<< (IV, 224) seien. Benjamin hatte gewiß
die eigene Formulierung von der »Durchdringung des Unmittelbare zeitgenössische Reaktionen auf Benja-
Erzählerischen und des Dichterischen<< (II, 290f.) im mins Keller-Texte sind - sieht man ab vom Interesse
Kopf, als er Kellers Briefe bestimmte als »ein Mittleres Jonas Fränkels, ihn als Rezensenten zu gewinnen -
zwischen Brief und Erzählung [... ],Gegenstücke der kaum überliefert. Adorno sah, als er die Buchausgabe
Mischform zwischen Brief und Feuilleton<< (IV, von DEUTSCHE MENSCHEN erhalten hatte, in ihr einen
224). »Ausdruck von Trauer<<, der ihm »merkwürdig ver-
Am Beispiel Keller formulierte Benjamin eine Auf- wandt dem der Berliner Kindheit<< schien. Der Verfall
fassung, die in der Theorie wissenschaftlicher Brief- des Bürgertums sei am Verfall des Briefschreibens dar-
editionen mittlerweile allgemein akzeptiert, für den gestellt: »in den Briefen von Keller und Overbeck ist
Briefschreiber Benjamin selbst jedoch bislang nur an- die Klasse in der Tat schon verhüllt, und die Gebärde,
satzweise umgesetzt worden ist: »Briefe >großer Män- mit der sie sich wegwendet - weg vom Brief als der
506 Dichtungsanalyse und Autorbild

Form der Kommunikation- ist die ihrer eigenen Ent- jamin sich kaum auf - von knappen Hinweisen auf
sagung zugleich<< (Brief an Walter Benjamin, 7. No- den >>unfehlbare[n], nicht ganz unverschworene[n]
vember 1936, Adorno 1994, 208 f.). Benjamins Aufsatz Blick, den Keller für das Angefaulte, Lumpige besaß<<
stand, ohne im einzelnen nachgewiesen worden zu (IV, 224), abgesehen. Statt dessen befaßte er sich mit
sein, am Anfang einer sozialgeschichtlich und politisch dem, wie er es nannte, Charakterologischen (vgl. III,
orientierten Keller-Forschung (vgl. Ruppel 1998, 84), wobei er in der Begegnung von Melancholie und
104). Humor durchaus eine mentale Verwandtschaft emp-
Neue Aspekte der Keller-Deutung entwickelt Men- funden haben mochte. Er betonte Kellers an Homer
ninghaus unter Verwendung von Benjamins Thesen. gemahnenden Humor, das melancholisch-cholerische
Er nimmt den Vergleich mit Homer auf. Das (pseudo-) Wesen, die >>>stille Grundtrauer<<< als>> Brunnen tiefe, in
antike Bild >>bärtige Aphrodite<< (II, 293), eine >>kaum welcher immer wieder der humor sich sammelt<< (II,
zu übertreffende Formel für die Verschränkung von 292). Sexualität und Sinnlichkeit kommen bei Benja-
Männlichem und Weiblichem in Kellers physiogno- min ebenfalls nur am Rande vor: Impotenz sei >>Grund-
mischer Erscheinung sowohl als seinem Werk<<, habe lage des Passionsweges der männlichen Sexualität<< (I,
>>fast zwei Generationen der Keller-Forschung, bis hin 663), heißt es in den ZENTRALPARK-Fragmenten, wo
zu Adolf Muschgs und Gerhard Kaisers Büchern, vor- er - wie auch an anderer Stelle - Kellers Gedicht
weggenommen<< (Menninghaus 1982, 91). Menning- >>Dichtersünde<< zitiert: >>Doch die lieblichste der Dich-
haus liefert eine Deutung der >>Romeo und Julia<<-No- tersünden/ Laßt nicht büßen mich, der sie gepflegt:/
velle - v.a. der darin erkennbaren Signatur des Todes Süße Frauenbilder zu erfinden,/ Wie die bittre Erde sie
-unter Sichtung von Benjamins Theoremen zu Recht, nicht hegt!<< (II, 292). Benjamin kommentierte: >>Kel-
Mythos, Schicksal, Schuld und Tragik und mit Bezug lers Frauenbilder haben die Süßigkeit der Chimären,
auf die Wahlverwandtschaften-Studie (95-158). weil er ihnen die eigene Impotenz eingebildet hat<< (I,
Berndt wertet BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHN- 663). In Aufzeichnungen zur Interpretation von Bau-
HUNDERT als >>Kronzeugen für die Kontinuität des delaires Gedicht La Destruction notierte Benjamin, der
Erinnerungsdiskurses<<; Benjamins Text sei eine Wie- Schluß stelle >>das Bild der erstarrten Unruhe<<, eine
derholung der im 19. Jh.- von Moritz, Keller, Raabe Wendung aus Kellers Gedicht >>Verlorenes Recht, ver-
- eingeübten Topik: Identitätsbegehren, Initiation, lorenes Glück: >War wie ein Medusenschild/ der er-
Inzest, Wunsch nach Ähnlich-Sein. Die Parallelen sind starrten Unruh Bild<<< (1147).
offenkundig: So wird etwa die Markthalle wie im Grü- Der andere, übersehene Keller, von dem Benjamin
nen Heinrich >>zum Mutterreich der chthonischen sprach, ist ein Schriftsteller im Gleichgewicht, dessen
Göttin Demeter<<. Zur Entstellung der Bilder werden Prosa eine >>Vision des Glücks<< (II, 288) realisiert hat
Techniken der Sinncodierung- Allegorisierung, Em- (vgl. 285; 291; 293 u. 288).
blematik- zitiert, wie sie zwischen 1800 und 1900
entwickelt wurden (vgl. Berndt 1999, 413-426). Werk
Der Keller-Aufsatz stand am Beginn der großen Li- GoTTFRIED KELLER. Zu EHREN EINER KRITISCHEN GEsAMT-
teraturporträts, mit denen ihr Verfasser nach längerer AUSGABE SEINER WERKE (!I, 283-295)
GoTTFRIED KELLER AN THEODOR STüRM [Kommentar zum
Pause den analytischen Ansatz des Wahlverwandt-
Briefvom 26. Februar 1879]. DEUTSCHE MENSCHEN. EINE
schaften-Aufsatzes aufgriff. Es folgten die Essays über FOLGE VON BRIEFEN (IV, 224-227)
den Surrealismus, Proust, Julien Green, Hebel, Walser, DER ERZÄHLER. BETRACHTUNGEN ZUM WERK NIKOLAI LESS-
Brecht, Kraus, Kafka (vgl. Scholem 1975, 181 f.). Den KOWS (JI, 438---465)
Rez. zu Aus Gottfried Kellers glücklicher Zeit. Der Dichter im
Arbeiten gemein ist die Tatsache, daß Benjamin aus Briefwechsel mit Marie und Adolf Exner. Wien 1927 (III,
der Lektüre Thesen entwickelte, die über den Gegen- 84f.)
stand der Untersuchung hinaus Gültigkeit bekamen. Rez. zu Gottfried Keller: Sämtliche Werke, hg. v. Jonas Fränkel.
Keller genoß als Autor um 1927 allgemeine Wert- Bd. I: Gesammelte Gedichte, I. Bern/Leipzig 1931 (III,
322)
schätzung. Dennoch wurde das Vorurteil vom be- ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (Il, 693-704)
schaulichen, altertümlichen Zürcher Poeten tradiert Zu Keller I Nachträge zum Aufsatz über Keller I >>Wenn Gott-
(vgl. die exemplarische Lesart bei Zadek 1886, 74). Das fried Keller von Wildenbruchs Dramen [... ] << (II, 1013 f.).
Erscheinen der Gesamtausgabe machte Benjamin zu-
folge den Weg frei für die >>allgemach fällige Umwer-
Literatur
tung<<, nicht nur von Kellers Werk, sondern des gesam-
Adorno, Theodor W./Walter Benjamin ( 1994): Briefwechsel
ten 19. Jh.s (II, 284). 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M.
Mit den in der psychoanalytischen Literatur beton- Baechthold, Jakob (1894): Gottfried Kellers Leben, seine
ten skurrilen Zügen und sog. Abnormitäten hielt Ben- Briefe und Tagebücher, 3 Bde, Berlin.
507

Berndt, Frauke (1999): Anamnesis. Studien zur Topik der


Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800
nZum Bilde Prousts«
und 1900 (Moritz- Keller- Raabe), Tübingen. Von Ursula Link-Heer
Bloch, Ernst (1965): >>Über ein Gleichnis Kellers<<, in: ders.:
Gesamtausgabe, Bd. 9: Literarische Aufsätze, Frankfurt
a.M. 579-581. In seinem letzten Lebenslauf, den Walter Benjamin
Brodersen, Momme (1990): Spinne im eigenen Netz. Walter
Benjamin- Leben und Werk, Bühl-Moos. Ende Juli 1940 in Lourdes zum Zweck der Emigration
Ermatinger, Emil (1915/16): Gottfried Kellers Leben, Briefe in die USA verfaßt hat (VI, 225-228), bricht die Zäsur
und Tagebücher, auf Grund der Biographie Jakob Baech- auf, die den seine Wahlheimaten suchenden und je-
tholds dargestellt u. hg. v. E.E., 3 Bde, Stuttgart/Berlin. denfalls partiell auch findenden Intellektuellen von
Fränkel, Jonas (1939): Gottfried Kellers politische Sendung,
Zürich. dem Exilanten Benjamin trennt: >>Die Epoche zwischen
Honold, Alexander (2000): >>Erzählen<<, in: Michael Opitz/ zwei Kriegen zerfällt für mich naturgemäß in die bei-
Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1, Frankfurt den Perioden vor und nach 1933.<< Schon lange vor
a.M., 363-398.
seiner Flucht aus Deutschland im März 1933 hatte
Jeziorkowski, Klaus (1979): Literarität und Historismus. Be-
obachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhun- Benjamin resignieren müssen, der deutsche Übersetzer
dert am Beispiel Gottfried Kellers, Heidelberg. von Prousts A Ia recherche du temps perdu ( 1913-1927)
Kambas, Chryssoula (1987): >>>Und aus welchem Fenster wir als Ganzem, und nicht bloß einzelner Bände, zu wer-
immer blicken, es geht ins Trübe<. Briefwechsel aus der
den. (Tatsächlich erschien der Gesamtroman Auf der
Emigration. Walter Benjamin- Fritz Lieb- Dora Benjamin
(1936-1944)<<, in: Cahiers d'Etudes germaniques Nr. 13, Suche nach der verlorenen Zeit erst 1953-1957 in der
245-282. Übersetzung von Eva Rechel-Mertens).
Keller, Gottfried (1985-2000): Sämtliche Werke in sieben In jenem letzten CURRICULUM VITAE DR. WALTER
Bänden, hg. v. Thomas Böning u.a., Frankfurt a.M.
Keller, Gottfried (1996ff): Sämtliche Werke, hg. unter der
BENJAMIN allerdings gewinnt die Lektüre Prousts und
Leitung v. Walter Morgenthaler im Auftr. der Stiftung Hi- die Übersetzungsarbeit an Proust eine überragende
storisch-Kritische Gottfried-Keller-Ausgabe, Basel/Zü- Präsenz als >>incitation<< oder >>Anstoß<< (um ein Wort
rich. aus Prousts Essay >>Sur Ia lecture« zu verwenden, den
Keller, Gottfried (1938): Die schönsten Gedichte, ausgew. v.
Manuel Gasser/Bernard von Brentano, Zürich.
Benjamin ebenfalls übersetzt hat, s. u.):
Kersten, Joachim (Hg.) (2000): Der Rabe. Magazin für jede >>Im Jahre 1927 trat ein deutscher Verlag mit dem
Art von Literatur, Nr. 61: Der Gottfried-Keller-Rabe, Zü- Antrag an mich heran, das große Romanwerk von
rich. Marcel Proust zu übersetzen. Ich hatte die ersten Bände
Menninghaus, Winfried (1982): >>Romeo und Julia auf dem
Dorfe. Eine Interpretation im Anschluß an Walter Benja- dieses Werkes im Jahre 1919 in der Schweiz mit leiden-
min<<, in: ders.: Artistische Schrift. Studien zur Komposi- schaftlichem Interesse gelesen und ich nahm diesen
tionskunst Gottfried Kellers, Frankfurt a.M., 91-158. An trag an. Die Arbeit gab den Anstoß zu mehrfachem
Muschg, Adolf ( 1980): Gottfried Keller. Ein literarisches Por- ausgedehnten Aufenthalt in Frankreich. Mein erster
trait mit zahlreichen Bildern und Faksimiles, Berlin.
Ruppel, Richard R. (1998): Gottfried Kellerand His Critics. Aufenthalt in Paris fällt in das Jahr 1913; ich war 1923
A Case Study in Scholarly Criticism, Columbia. dorthin zurückgekehrt; von 1927 bis 1933 verging kein
Schalem, Gershorn ( 1975): Walter Benjamin- die Geschichte Jahr, während dessen ich nicht mehrere Monate in
einer Freundschaft, Frankfurt a. M. Paris verbracht hätte. Im Laufe der Zeit trat ich zu
Zadek, J(ulie] (1886): >>Gottfried Keller<<, in: Die Neue Zeit
IV. Jg., Stuttgart, 73-83, 136-142/175-184. einer Anzahl der führenden französischen Schriftstel-
ler in Beziehung: so zu Andre Gide, Jules Romains,
Pierre Jean Jouve, Julien Green, Jean Cassou, Marcel
Jouhandeau, Louis Aragon. In Paris stieß ich auf die
Spuren Rilkes und gewann Fühlung mit dem Kreis um
Maurice Betz, seinen übersetzer. Gleichzeitig unter-
nahm ich es, das deutsche Publikum durch regelmä-
ßige Berichte, die in der >Frankfurter Zeitung< und in
der >Literarischen Welt< erschienen sind, über das fran-
zösische Geistesleben zu unterrichten. Von meiner
Übersetzung Prousts konnten vor dem Machtantritt
Hitlers drei Bände erscheinen (Berlin 1927 und Mün-
chen 1930).«
Lektüre (bereits im Jahr 1919!) und Übersetzung
Prousts, Aufenthalte in Frankreich und >>Fühlung« mit
dem >>Geistesleben« erscheinen eng verflochten. Dabei
wird Benjamins Essay ZuM BILDE PRousTs, der vom
508 Dichtungsanalyse und Autorbild

21. Juni bis zum 5. Juli 1929 in drei Fortsetzungen der Totenbetts entstanden<< einführt (II, 321). Es ist dieser
Wochenschrift Die literarische Welt erschienen war, im von Proust kurz vor seinem Tod geschriebene Baude-
zitierten Passus implizit den >regelmäßigen Berichten laire-Essay, der auch in Benjamins Schaffensperiode
über das französische Geistesleben< subsumiert, um nach 1933 stets wiederkehren wird und die Passagen-
sodann im nächsten Passus als »Arbeitsertrag dieser arbeit wie die Baudelaire-Abhandlungen für das Insti-
Periode<< unter dem Rubrum »Charakteristiken der tute for Social Research mit der Proust-Lektüre eng
Werke bedeutender Dichter und Schriftsteller unserer verschränkt.
Zeit<< in die folgende Nachbarschaft versetzt zu werden:
>>Hierher gehören umfangreiche Studien über Kar!
Kraus, Pranz Kafka, Bertolt Brecht sowie über Marcel Zeitliche Nähe zu Prousts
Proust, Julien Green und die Surrealisten.<< Veröffentlichungen
Wie umfangreich diese Studien waren, läßt sich erst
heute ermessen. Erst die aus dem Nachlaß publizierten, Der Lebenslauf, den Benjamin am Vorabend seines
im Umkreis des Essays entstandenen »Proust-Papiere<< Todes geschrieben hat, blendet seine Liebe zu Proust
(s. U. zur KLEINEN REDE ÜBER PROUST als einen der und seine Liebe zu Frankreich ineinander. 1913, das
wichtigsten Texte dieses Nachlasses), erst die Verbin- Jahr seiner ersten Paris-Reise, die er als elektrisierend
dung der BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUN- erlebte, ist zugleich das Jahr, in dem Prousts Du c6te
DERT mit der Lektüre von Prousts Combray ebenso wie de chez Swann erschien, der erste Band von A Ia recher-
mit der Loslösung von dieser Lektüre, erst die halluzi- che du temps perdu, die der Autor damals noch als ei-
natorische Präsenz Prousts im Passagen-Werk, die zur nen dreibändigen Roman plante. Der Erste Weltkrieg
Erinnerung, »wie sie im Augenblick einer Gefahr auf- mit seinen Folgen auch für die Einstellung der Verlags-
blitzt<<, das heißt zu den Aphorismen ÜBER DEN BE- produktion führte Prousts unaufhörliches Schreiben
GRIFF DER GESCHICHTE, einen Bogen schlägt, erst SO in ein immenses Wachstum der Mitte des Romans, wie
viele Fragmente und Dokumente, wie die Edition der auch zur Einarbeitung des Ersten Weltkriegs in den
Briefe, zeigen den Umfang wie die Intensität von Ben- Schlußband, Le temps retrouve. Im November 1918
jamins intermittierend anhaltendem »leidenschaftli- erschien A l' ombre des jeunes filles en fleurs, wofür
chen Interesse<< für Proust. Proust war der einzige Proust ein Jahr später mit dem Prix Goncourt ausge-
Autor, schreibt Robert Kahn in der Einleitung seines zeichnet wurde. Im Jahr 1919, zugleich dem Jahr seiner
Buches Images, Passages: Marcel Proust et Walter Ben- Berner Dissertation, hat Benjamin diese beiden Bände
jamin (Kahn 1998, 10), dem Benjamin alle Seiten sei- also noch als Zeitgenosse von Proust gelesen, von dem
nes Talents gewidmet habe: Übersetzung, kritischer er nur durch eine Generation getrennt war. Zu Lebzei-
Essay, journalistische Enquete, Neu- und Umschrei- ten Prousts (1871-1922) erschienen noch die Bände
bung. Kahns Buch ist zugleich die erste grundlegende Du c6te de Guermantes (I: 1920; II: 1921) und Sodome
Gesamtschau, die der »Wahlverwandtschaft<< zwischen et Gomorrhe (I: 1921; II: 1922). Es sind dies zugleich
Benjamin und Proust in ihren verschiedenen Facetten die Bände, an deren übersetzung Benjamin gemein-
nachgeht, wodurch die Weite eines noch längst nicht sam mit Pranz Hessel gearbeitet hat. La Prisonniere
abschließbaren Sujets allererst ersichtlich wird. ( 1923) und Albertine disparue ( 1925), also die Bände,
Kein zweiter Autor hat für Benjamin, für seine Phi- in denen sich der >roman d'Albertine< zuspitzt, erschie-
losophie der Zeit und der Geschichte, wie seine Theo- nen postum unter der Ägide von Mareeis jüngerem
rie der Kunst und Literatur, wie schließlich auch sein Bruder Robert Proust und dem Verlagslektor Jacques
eigenes literarisches Schreiben und vermutlich auch Riviere. Der Druck von Le temps retrouve war erst am
sein intimes Leben eine solche Bedeutung gewonnen 22. September 1927 abgeschlossen. Die Keimzellen
wie Proust. Wie im Falle von Benjamins Interesse für dieses Bandes gehen ebenso wie der 1913 erschienene
Baudelaire liegt der Beginn nicht zufällig in einer in- Anfangsband aufProusts Contre Sainte-Beuve-Projekt
tensiven Übersetzungstätigkeit. Auch aus der Proust- und dessen Umformungen zurück, so daß Anfang und
übersetzung hatte Benjamin übersetzungstheoretische Schluß der Recherche über die lange Dauer des die
Schlußfolgerungen ziehen wollen. An die Stelle eines Gesamtkonzeption wie den Umfangskalkül transfor-
Artikels »En traduisant Marcel Proust<<, von dem in mierenden Produktionsprozesses von Proust stets in
den Briefen die Rede ist (3, 122 u.ö.), tritt jedoch der Verbindung gedacht worden waren. Im gleichen Jahr
Essay ZuM BILDE PROUSTS, der seinerseits (und wohl (Oktober 1927) erschien schließlich auch der ebenfalls
erstmals im deutschen Sprachraum) von Prousts Essay von Robert Proust herausgegebene Band Chroniques,
»A Propos de Baudelaire<< spricht, den Benjamin als der verschiedene Artikel bietet, die Proust in der Schü-
»auf der großen Höhe des Ruhms und der niedem des lerzeitschrift Le Banquet, in Le Figaro, und anderen
»Zum Bilde Prousts« 509

Zeitschriften publiziert hatte. Unter der Rubrik »Cri- schulmeisterlichen Verriß durch den Romanisten Ernst
tique litteraire<< konnte Benjamin hier Prousts Baude- Robert Curtius erfahren (vgl. Benjamins Brief an Scha-
laire-Essay lesen ebenso wie seinen Flaubert-Essay, die lem vom 18.9.1926:3, 194ff.). Der dritte Band erschien
zugleich Polemiken gegen Sainte-Beuve sind. schließlich 1930, übersetzt von Walter Benjamin und
Man muß sich diese Daten vor Augen halten, um zu Franz Hesse!, im Münchner Piper-Verlag unter dem
ermessen, in welch außergewöhnlich nahem Abstand von den Übersetzern nicht autorisierten Titel Die Her-
zu den französischen Publikationsdaten Benjamins zogin von Guermantes (statt: Guermantes) in zwei Teil-
Proust-Rezeption erfolgte. bänden. Wenn Benjamin also in seinem letzten Le-
Kein zweiter deutscher Leser war im Jahr 1929 so benslauf schreibt, daß von seinerübersetzungvor dem
tief in Proust eingedrungen, daß er einen Satz hätte Machtantritt Hitlers drei Bände erscheinen konnten,
schreiben können wie jenen, welcher ZuM BILDE so sind damit Im Schatten der jungen Mädchen und die
PROUSTS einleitet: »Die dreizehn Bände von Marcel zwei Bände von Guermantes gemeint, die heute wieder
Prousts >A Ia Recherche du Temps perdu< sind das Er- zugänglich sind (Suppl. li und III). Der vierte umfang-
gebnis einer unkonstruierbaren Synthesis, in der die reiche Band, für den Benjamin allein zeichnete und
Versenkung des Mystikers, die Kunst des Prosaisten, den er in seinem Brief an Schalem vom 18. September
die Verve des Satirikers, das Wissen des Gelehrten und 1926 als >>seit langem von mir übersetzt im Manuscript
die Befangenheit des Monomanen zu einem autobio- beim Verlage<< (3, 195) liegend apostrophiert, Sodom
graphischen Werke zusammentreten<< (li, 310). Aller- und Gomorrha, ist nie erschienen, und das Manuskript
dings war jedoch zu diesem Zeitpunkt Benjamins ist verschollen.
Hoffnung, sich als der deutsche Recherche-Übersetzer Bei Sodome et Gomorrhe handelt es sich um denje-
zu etablieren, schon der Ernüchterung und der Ent- nigen Band, in dem der Protagonist zum Voyeur der
täuschung gewichen (vgl. den Brief an Max Rychner Verführungsszene zwischen dem Baron de Charlus
vom 15.1.1929: 3,431). und dem Schneider Jupien wird. Dank der >>conjonc-
Das Scheitern des >>deutschen Proust<< hat Benjamin tion<< dieser beiden plötzlich sehend geworden, tritt er
als eine individuelle wie kollektive Niederlage erfahren. in ein neues kühnes Zeichensystem der >>Inversion<<
Gleichwohl muß die >>Riesenübersetzung<< (3, 102), in (Homosexualität) ein, das durch ein zweites Zeichen-
der wir Benjamin in der Korrespondenz der zwanziger system von Redegenres, nämlich die Dreyfus-Affäre
Jahre und anderen Texten wie dem MosKAUER TAGE- und das Aufflammen des Antisemitismus, zum Teil
BUCH absorbiert sehen, von unschätzbarer Bedeutung doppelkodiert wird. über diese Übersetzung Benja-
für die Singularität seiner Perspektiven auf Proust ge- mins wissen wir lediglich einiges aus Pipers Korre-
wesen sein. Auch hier sind zunächst einige Daten zu spondenz mit Franz Hesse!, aus der auch indirekt
vergegenwärtigen. hervorgeht, wie der unermüdlich reisende Benjamin
als Übersetzer gearbeitet hat: >>Wir erhielten vom Ver-
lag Die Schmiede noch die Übersetzung von >Sodom
Übersicht über Benjamins Proust- et Gomorrhe< [sie]. Diese Übersetzung ist nicht in
Übersetzungen Maschinenschrift, sondern in außerordentlich enger
Handschrift hergestellt. Auch ist noch eine ganze Reihe
Die Anfänge von Benjamins übersetzungsarbeit an von Worten ausgelassen, die erst noch eingefügt wer-
Proust liegen im Dunkeln. Man kann aber vermuten, den müssen. Ebenso sind viele französische Worte an
daß es Rainer Maria Rilke war, der Benjamins Auf- den Rand notiert, was den Anschein erweckt, als solle
merksamkeit auf Proust gelenkt haben könnte (vgl. die Übersetzung dieser Worte noch nachgeprüft wer-
Roloff 1994, 55 f.). Mit dem deutschen Verlag, der den. Jedenfalls scheint diese Übersetzung noch nicht
1927, wie es im Lebenslauf heißt, mit dem >>Antrag<< druckfertig, und wir dürfen wohl annehmen, daß die
an Benjamin herantrat, >>das große Romanwerk von Übersetzung noch in die Maschine diktiert werden
Marcel Proust zu übersetzen<<, ist der Piper-Verlag ge- soll, um bei dieser Gelegenheit überprüft zu werden.
meint, an den die Rechte auf Proust übergegangen Jedenfalls möchten wir auch diese übersetzung erst
waren. Zuvor hatten Benjamin und Franz Hesse! im dann in Satz geben, wenn sie endgültig überprüft und
Berliner Verlag Die Schmiede Im Schatten der jungen durchgefeilt ist<< (Brief vom 9.7.28; vgl. Piper 1979,
Mädchen zum Druck befördern können, das als >>zwei- 212).
ter Roman<< von Auf den Spuren der verlorenen Zeit Zu diesem endgültigen >Durchfeilen< aber blieb den
figuriert und Anfang 1927 erschien. Der erste Band Übersetzern im persönlichen wie politischen Lebens-
Der Weg zu Swann (1926), war von Rudolf Schott- und Überlebenskampf kein Freiraum mehr. Die Hö-
laender übersetzt worden und hatte einen heftigen hen und Tiefen der Proust-Übersetzung waren nicht
510 Dichtungsanalyse und Autorbild

mehr zu ertragen. Benjamin gab den Band Sodom und zung<< schwanger geht: >>Ich gehe auch schon wer weiß
Gomorrha auf. Gleichwohl publizierte er in der Litera- wie lange mit einer Aufzeichnung >En traduisant Mar-
rischen Welt die Teilübersetzung eines anderen bedeu- cel Proust< in Gedanken um und habe eben jetzt in
tenden Textes von Proust, Sur Ia lecture!Über das Lesen, Marseille von den dortigen >Cahiers du Sud< die Zu-
der am 28. Februar 1930 mit dem Untertitel »Zu John sage erhalten, sie zu bringen. Nur mit der Abfassung
Ruskins 30. Todestag<< erschien. In der vorangeschick- wird es noch gute Weile haben. Im Grunde wird sie
ten kleinen Einleitung weist Benjamin darauf hin, daß über das Übersetzen eigentlich wenig enthalten; sie
dieser »große Essay« aus Prousts Übersetzungen von wird von Proust handeln<< (195 f.).
Ruskin hervorgegangen ist. Es handelt sich also um Die Übersetzungsarbeit führt Benjamin in außeror-
eine zweifache Engführung der Produktionskreise von dentliche Spannungen und Ambivalenzen, deren
Übersetzung und Essay - bei Benjamin wie bei Theorie man adäquat wohl am besten mit Hilfe von
Proust. Prousts >>Sur Ia lecture<< zu entwickeln hätte. Denn hier
widerlegt Proust die Meinung Ruskins, daß uns die
Lektüre eine nahezu uneingeschränkte Erweiterung
Euphorie und Dysphorie der Proust- unseres Gesprächskreises gestatte, indem sie >>eine
Übersetzung Zwiesprache mit sehr viel weiseren und interessanteren
Männern ist, als wir in unserer Umgebung sie könnten
Zunächst ist jedoch von dem verlegerischen Dilemma kennenlernen<<, wie Benjamin übersetzt (Suppl. I, 37).
und Fiasko, in das der »deutsche Proust<< zwischen den Ruskin verkenne dabei, so Proust, >>daß der wahre Un-
beiden Weltkriegen eingemündet war, auf die Anfänge terschied zwischen einem Buch und einem Freunde
von Benjamins Übersetzungsarbeit zurückzukommen. nicht größere oder mindere Weisheit, sondern die Art
Von deren euphorischen Seiten bekommt man einen und Weise des Umgangs mit ihnen ist. Im Gegensatz
ersten Eindruck durch den Bericht von Asja Lacis über zum Gespräch ist das Eigene der Lektüre in jedem
den Aufenthalt auf Capri vom Mai bis Oktober 1924. Falle, uns an eines anderen Gedanken unbeschadet
Benjamin, so erinnert sich Lacis, »erzählte mir von der unserer Einsamkeit teilnehmen zu lassen; daß heißt,
modernen französischen Literatur, [... ] von Marcel wir bleiben im Besitz der Geisteskraft, die man in der
Proust, den er ganz unglaublich fand, und übersetzte Einsamkeit hat, und die im Gespräche sich umgehend
mir vom Blatt einige seitenlange Beschreibungen<< (La- verflüchtigt<< (ebd.).
cis 1976, 46). Auch im MosKAUER TAGEBUCH ver- Was Proust über das Lesen schreibt, gilt a fortiori
schränkt sich die Proust- Übersetzung mit der Liebe zu für die Übersetzung. Benjamin hat neben diesem Frag-
Asja. Aus dem für Benjamins Übersetzungsarbeit auf- ment für seine Übersetzung auch noch jene Passage
schlußreichen Brief an Scholem vom 18.9.1926 geht ausgewählt, in der Proust negiert, daß die schönen,
hervor, daß Benjamin zu diesem Zeitpunkt (also nicht d. h. großen Bücher uns Antworten geben. Nur für den
lange vor der Moskaureise) glaubt, >>daß der gesamte Autor ließe sich von >>conclusions<< sprechen, für den
deutsche Proust von Hesse! [... ] und mir gemacht Leser handle es sich um >>incitations«, was Benjamin
wird<<. Und dann fährt er fort: mit >>Endergebnissen« und >>Anregungen« wiedergibt.
>>Über diese Arbeit selbst, wäre viel zu sagen. Ad 1, >>Wir fühlen sehr deutlich, daß unsere Weisheit be-
daß sie mich in gewissem Sinn krank macht. Die un- ginnt, wo die des Verfassers aufhört, und wir möchten
produktive Beschäftigung mit einem Autor, der Inten- von ihm, daß er uns Antwort auf Fragen gibt, während
tionen, die, ehemaligen zumindest, von mir selber, alles, was er tun kann, ist: uns Wünsche eingeben«
verwandt sind, so großartig verfolgt, führt bei mir von (Suppl. I, 39).
Zeit zu Zeit so etwas wie innere Vergiftungserschei- Die Bedeutung Prousts für Benjamin wird hier greif-
nungen herauf<< (3, 195). Zweitens führt er dann die bar. Proust fungierte für Benjamin als eine Wunsch-
Lockung durch Paris und Frankreich an: >>Ad 2 sind maschine. Er war der Autor, der Benjamin die Wün-
aber die äußeren Vorteile der Sache nennenswert. Das sche (ein)gab- >>nous donner des desirs« heißt es im
Honorar ist diskutabel und die Arbeit an keinen be- französischen Text. Deshalb spricht Benjamin auch
stimmten Aufenthaltsort (a Ia rigueur freilich immer immer wieder von Prousts >>Glücksverlangen« (II,
wieder einmal an Paris) gebunden, in Frankreich aber 312). Von 1919 bis zu seinem Tod kommt Benjamin
als Praust-Übersetzer sich einzuführen sehr ange- stets wieder auf Proust zurück, wobei er sich in einer
nehm.<< Und schließlich mündet die >>unproduktive Pendelbewegung des Abschüttelns von Proust und der
Beschäftigung<< mit dem bewunderten Autor auch Hinwendung zu ihm befindet. Am 30. April 1926
schon in ein neues Produktionsvorhaben ein, mit dem schreibt er aus Paris an eine andere geliebte Frau, an
Benjamin in Gleichzeitigkeit mit der >>Riesenüberset- Jula Radt: >>Und dann habe ich, als es mir am schiech-
»Zum Bilde Prousts« 511

testen ging, den ganzen Proust in die Ecke geworfen (327). Das Glücksverlangen ist groß: »Nachmittags bin
und ganz für mich allein gearbeitet und einige Notizen ich bei Asja nur kurz. Sie hat Streit wegen der Woh-
geschrieben, an denen ich sehr hänge: vor allem eine nungsangelegenheiten mit Reich und schickt mich
wunderschöne über Matrosen (wie sie die Welt anse- fort. Ich lese auf meinem Zimmer Proust, fresse dazu
hen), eine über Reklame, andere über Zeitungsfrauen, Marzipan<< (298).- >>Wir [Benjamin und Reich] un-
die Todesstrafe, Jahrmärkte, Schießbuden, Kar! Kraus terhielten uns ein anderes Mal über Proust (ich las ihm
-lauter bittere, bittere Kräuter, wie ich sie jetzt in ei- aus derübersetzungetwas vor), dann über russische
nem Küchengarten mit Leidenschaft ziehe<< (3, 151). Kulturpolitik, das >Bildungsprogramm< für die Arbei-
Es handelt sich um Benjamins EINBAHNSTRASSE, die ter<< (321).- >>Im Zimmer legte ich mich aufs Bett, las
aus der Notwendigkeit einer Distanznahme gegenüber Proust und aß von den gezuckerten Nüssen<< (326).-
Proust zugunsten einer Hinwendung zum Surrealis- >>Sonntag. Vormittags übersetzt.[ ... ) Abends allein im
mus entstanden zu sein scheint. Doch das Denken in Zimmer, übersetzt<< (359f.).
solchen Konkurrenzen, die von herkömmlichen Ar- Schließlich, am 18. Januar, der ein Abend der Küsse
beitsteilungen ausgeht, kann Benjamins Querdenken ist und der Erregung durch die Berührung der Hände:
nicht fassen. Der SüRREALISMus-Essay Benjamins er- >>Dann las ich die lesbische Szene aus Proust vor. Asja
schien im gleichen Jahr wie der Proust-Essay, in dem begriff den wilden Nihilismus darin: wie Proust gewis-
man das seltsame Bild von dem Strumpf findet, der sermaßen in das wohlgeordnete Kabinett im Inneren
im Wäschekasten eingerollt, >>Tasche<< und >>Mitge- des Spießers dringt, das die Aufschrift >Sadismus< trägt
brachtes<< ist, das in der BERLINER KINDHEIT wieder- und erbarmungslos alles zu Stücken haut, so daß von
kehrt, und auf das der nicht minder rätselhafte Satz der blitzblanken, arrangierten Konzeption der Laster-
folgt von Prousts >>Heimweh nach der im Stand der haftigkeit nichts bleibt, vielmehr an allen Bruchstellen
Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre sürrea- das Böse überdeutlich >Menschlichkeit<,ja >Güte<, seine
listische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt<< wahre Substanz zeigt. Und während ich das Asja aus-
(II, 314). einandersetzte, wurde mir klar, wie sehr das mit der
Tendenz meines Barockbuches überein geht. Ganz wie
am Abend vorher, als ich einsam im Zimmer las und
Proust-Übersetzung in der Sowjetunion auf die außerordentliche Darlegung über die Caritas
des Giotto geriet, mir klar wurde, daß Proust an ihr
Zwischen all dem, was Benjamin in dieser immens eine Auffassung entwickelt, die sich mit allem dem
produktiven zweiten Hälfte der zwanziger Jahre deckt, was unter dem Begriff der Allegorie ich selbst
schreibt, >>dräut freilich die Proust-Übersetzung<<, zu erfassen suchte<< (380f.).
>>eine sehr strenge Tageseinteilung<<. Die Briefe der Man hat es hier mit einem >>avant-texte<< zu tun (der
Jahre 1925-1930 ergeben eine Chronik, die in eine Begriff wird häufig auf die Entwürfe in Prousts Cahiers
Phantasmagorie führt. Im folgenden muß jedoch dar- angewandt), der bereits intensiv auf zuM BILDE
auf verzichtet werden, die zahlreichen Briefaussagen PRousTs hingeneigt ist, in dem jedoch auch schon die
zusammenzustellen. Statt dessen soll Benjamin als Integration intim-erotischer Töne in die Radikalität
Praust-übersetzer bei seiner Reise in die Sowjetunion des Denkens stattfindet, die in ÜBER DEN BEGRIFF DER
im Dezember und Januar der Jahre 1926 und 27 prä- GESCHICHTE kulminiert (vgl. besonders die zweite der
sentiert werden, da man sein MosKAUER TAGEBUCH sogenannten Thesen). Schon die Moskauer Eintragung
bislang kaum in Verbindung mit Proust gesehen hat. vom 18. Januar 1927 verbindet den vehementen
Und tatsächlich verfolgte ja das intellektuelle Reise- Wunsch, alles Spießerturn in Stücke zu hauen, mit der
genre des Voyage en URSS (Gide) andere Interessen als Elektrisierung durch die erotische Berührung und mit
jene, die man herkömmlicherweise mit Proust assozi- der Erkenntnis - im Sinne des Erlangens von Klarheit
ierte. Benjamin hingegen teilt seine Moskauer Tage in über die eigenen Konzepte-, die in statu nascendi mit
Einführungen in die proletarische Kultur (Meyerhold, dem Lesen und Vorlesen von Proust, dem Reden über
Tretjakow), Gespräche mit Kulturfunktionären, Sana- Proust und der Fronarbeit einer Riesenübersetzung zu
toriumsbesuche bei Asja Lacis, die Sammelleidenschaft tun haben, bei der Benjamin zum Leser seiner selbst
und die übersetzung ein. wird. Auch das steht ganz im Einklang mit Proust, der
Das MOSKAUER TAGEBUCH (VI, 292-409) zeigt ihn den in Sur Ia lecture entwickelten Gedanken am Ende
»vorsichtig an den Ladenschildern buchstabierend und seines Romans eine prononcierte Synthesis verleiht:
auf dem Glatteise schreitend<< (292 f.). Keine Aussicht, Nur aus Konvention sage der Autor >>mon lecteur<<, in
Russisch zu lernen, >>Weil ich hier meine Zeit zu nötig Wirklichkeit sei jeder Leser der Leser seiner selbst: >> En
zu anderem brauche: zum übersetzen und für Artikel<< realite, chaque lecteur est, quand illit, Je propre lecteur
512 Dichtungsanalyse und Autorbild

de soi-meme« (Proust 1954, III, 9ll).Auch das ist eine nZum Bilde Prousts((
Dimension der >wiedergefundenen Zeit<.
Die Proust-Übersetzungen von Benjamin und Hes- ZuM BILDE PRousTs lautet der Titel des Essays von
se! haben in der bisherigen Forschung überwiegend 1929, der an die Stelle der geplanten Arbeit »En tradui-
hinsichtlich übersetzungstheoretischer und -verglei- sant Marcel Proust<< getreten ist, und der jedes Band
chender Perspektiven Beachtung gefunden. Demge- zur Übersetzungstätigkeit abgeschnitten zu haben
genüber ist der Status der Proust-Übersetzung für scheint. Von übersetzungen ins Deutsche ist über-
Benjamins eigenes Denken bei der >>recherche<< seiner haupt nicht die Rede, noch gibt sich der Verfasser als
eigenen Diskurse eher unbeachtet geblieben. Eine sol- der Übersetzer Prousts zu erkennen. Benjamin war sich
che Untersuchung erscheint als ein Desiderat. Denn offenbar der Einsamkeit seiner Position bewußt. In
sie müßte die technische Dimension der Routine Frankreich war man nicht auf deutschsprachige Arti-
ebenso erfassen wie die kreative »incitation<< oder »An- kel angewiesen, hier entstand eine eigene umfangrei-
regung<<. Sie hätte auch Fragen der Lebensführung und che Literatur über Proust, die Benjamin nahezu voll-
Selbstsorge Rechnung zu tragen. Wie der »Mono- ständig rezipiert hat. In Deutschland aber näherte man
mane[]<< (Il, 310) Proust, den Benjamin (als einziger) sich schon der Barbarei, die den >Halbjuden< Proust
als eins der Antlitze von Proust positiviert, entwickelt zusammen mit seinen Übersetzern und den meisten
auch er selbst Monomanien, um die Übersetzungsar- Schriftstellern und Gelehrten vertrieb, die Proust ge-
beit bewältigen zu können, an die er sich im Schlafan- lesen und Bedeutendes über ihn publiziert hatten:
zug, ungewaschen und ohne Frühstück begibt, wie um Erich Auerbach, Leo Spitzer, den Auerbach-Schüler
das Band der Schwellensituation zwischen Schlaf und Hermann Blackert, dessen Buch Ober den Aufbau der
Erwachen bloß nicht zu kappen. Häufig heißt es in Kunstwirklichkeit bei Marcel Proust Benjamin rezen-
Benjamins Korrespondenz, die Übersetzung absor- siert hat. Nur Ernst Robert Curtius konnte in Deutsch-
biere ihn derartig, »daß meinem Bewußtsein diese land bleiben.
Befassung erst später fruchtbar werden kann<< (3, 93 ). Öffentliche Aufmerksamkeit konnte der Proust-Es-
Der somnambule Zustand, in den sich der Kenner des say erst finden, als Theodor W. Adorno und Gretel
Surrealismus begibt, um »automatisch<< voranzukom- Adorno 1955 Benjamins Schriften herausgaben. »Diese
men, weil ihm sonst zu viele >eigene< Gedanken in die längst vergriffene Ausgabe hat die Wiederentdeckung
Quere schießen würden, wurde von ihm aber hellsich- Benjamins geprägt<< (Lindner 1971, 85), und dieser
tig als ein Zustand in Kauf genommen, der nicht ein- Beginn von Benjamins Nachruhm koinzidierte damit,
fach >im Dienste Prousts< stand, sondern in dem seiner daß Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nun erst-
eigenen Sache. mals als ein Ganzes vor die Augen des deutschen Lesers
Die überlieferten Übersetzungen Benjamins und gestellt wurde. Der Proust-Essay wurde auch in die
Hessels (über deren Art und Technik der Zusammen- Sammelbände Illuminationen (1961) und Ober Litera-
arbeit wir kaum etwas wissen), nehmen in den von tur ( 1969) aufgenommen. Die Leser dieser Jahre waren
Hella Tiedemann-Bartels besorgten Supplement-Bän- gebannt von seiner Strahlkraft und der Intensität sei-
den 535 Seiten (Im Schatten der jungen Mädchen) und ner Bilder. Doch sollte es noch dauern, bis die Gene-
584 Seiten (Guermantes) ein. Sodome et Gomorrhe, ration von 68 nicht bloß Proust selbst mit seinen Mi-
worüber Benjamin seinen ersten (allein verantwortli- lieus der Adels- statt Arbeiterklasse, sondern auch
chen) Vertragsabschluß mit der Schmiede abgeschlos- Benjamins Proust-Faszination ohne Mißtrauen sehen
sen hatte, ist noch entschieden umfangreicher. Alles in konnte. Diese enterbte, rebellierende Generation
allem dürfte Benjamin, wenn man das Format der suchte in Benjamin den authentischen materialistisch-
Supplement-Bände zugrundelegt, circa 1700 bis 1800 dialektischen Denker, der in das Vakuum der deut-
Druckseiten als Übersetzer von Proust geschrieben schen Geistesgeschichte eintreten sollte.
haben. Proust war, wie die heute zugängliche Korre- Aber stand nicht der »unfaßliche<< (II, 310) Sonder-
spondenz zeigt, sein ständiges Begleitgepäck der zwan- fall der Dichtung, wie Benjamin ihn bei Proust dia-
ziger Jahre; er machte alle Ortswechsel Benjamins mit; gnostiziert und zum großen Schöpfungsschlußbild des
er begleitete ihn bei der Ablehnung seines Habilitati- Michelangelo-Vergleichs steigerte, in völligem Gegen-
onsgesuchs wie bei seinem Scheidungsprozeß. Er satz zu seinem Interesse für die proletarische Kultur,
wurde ihm zur ungeheuren Last. seiner Freundschaft mit Bertolt Brecht, seiner Beto-
nung der Produktion und Montage im Kunstwerk-
Aufsatz und in DER AUTOR ALS PRODUZENT, WO Proust
nicht erwähnt ist? Auch Adorno, der seine Auffassun-
gen zu Proust von Anbeginn im Streitgespräch mit
»Zum Bilde Prousts« 513

Benjamin entwickelt hatte, das nach und nach aus den Ruhm in Deutschland (vgl. Speck 1982; Pistorins 2002)
Ausgaben der Briefe hervortrat, gab auf diese Fragen und mit der Wiederentdeckung Benjamins als Fronst-
keine Antwort. Peter Szondi, der als einer der ersten übersetzer (vgl. Kleiner 1980) und der Edition der
Benjamins Verwandtschaft mit Proust nachging, ver- Gesammelten Schriften mit ihrem umfangreichen kri-
kannte deren Dimension, wenn er meinte, Proust su- tischen Apparat konnte der Essay im Gesamtkontext
che >>dem Bannkreis der Zeit selbst zu entrinnen<< von Benjamins Denken gelesen werden. ZuM BILDE
(Szondi 1963, 246). Im Gegenteil führte der Erste Welt- PRousTs (II, 310-324) ist hier mit einem bis dahin
krieg dazu, daß Proust den in seinem Projekt nicht unbekannten Dossier von in einem Kuvert bewahrten
vorgesehenen Krieg dem Roman integrierte, so wie er >>Proust-Papieren« (1044-1069) ediert, unter denen
auch die vorausgegangene Dreyfus-Affäre als Klima die Aufzeichnung Aus EINER KLEINEN REDE ÜBER
seines eminent zeitgenössischen Schreibens benötigte. PROUST, AN MEINEM VIERZIGSTEN GEBURTSTAG GE-
Entsprechend inadäquat war Szondis Schlußfolgerung: HALTEN (1064f.) von herausragender Bedeutung für
>> Proust horcht auf den Nachklang der Vergangenheit, das Proustbild ist, da sie die Proustsche Erinnerung
Benjamin auf den Vorklang einer Zukunft« (249). mit dem Moment des Sterbenden verbindet. Es ist in-
Doch ist dieses Bild typisch für die tastende Rezeption zwischen bekannt, daß Benjamin sich damals das Le-
jener sechziger und siebziger Jahre, die nicht auf einen ben nehmen wollte. Weitere bis dahin nicht geahnte
Schlag alles wiedergewinnen konnte, was vertrieben Dimensionen des Fronstbilds eröffnete schließlich die
und vernichtet worden war. 1975 erschien Gershorn Edition des Passagen-Werks (1982). So begann mit
Scholems Buch Walter Benjamin -die Geschichte einer Beginn der achtziger Jahre eine neue Phase der Benja-
Freundschaft, das in dasUnwissender nach dem zwei- min-und-Proust-Rezeption.
ten Weltkrieg und der Shoah geborenen Deutschen Krista R. Greffraths Studie über den Geschichtsbe-
einbrach. Es machte zugleich die Koexistenz der als griff Benjamins mit dem Titel Metaphorischer Mate-
inkompatibel erscheinenden Pläne und Produktions- rialismus ( 1981) ist die erste Arbeit, die ausgehend von
kreise Benjamins allererst sichtbar. Doch anders als den Bänden I-IV der Gesammelten Schriften und unter
Adorno scheint Scholem sich für Proust selbst, über Einsichtnahme in dieKonvoluteKund N der Passa-
den ihm der Freund über Jahre berichtet hatte, nicht genarbeit, die Verbindung von Benjamins Proust-Essay
eigentlich interessiert zu haben. Daß Benjamin zwei- zum dialektischen Bild und der sich mit der memoire
mal in Briefen an Scholem, der ihn zur Emigration involontaire verknüpfenden Theorie des Erwachens
nach Jerusalem bewegen wollte, einen Fingerzeig gibt, herstellt. >>Für das spätere Werk Benjamins hat Proust
Proust sei ein >>Halbjude«, hat Scholem nicht aufge- eine mindestens ebenso große Bedeutung wie Goethe
griffen. Benjamin applizierte dabei einen Begriff der für das frühe«, schreibt Greffrath (Greffrath 1981, 66)
Nazis auf Proust (dessen Mutter, Jeanne Weil, aus jü- und zitiert auch bereits die Hauptbelege wie: >>Das
dischem Hause stammte, während der Vater, Adrien dialektische Bild ist zu definieren als die unwillkürliche
Proust, aus katholischem Hause kam), um ihn zugleich Erinnerung der erlösten Menschheit« (I, 1233).- >>Das
im Sinne einer ganz anderen Filiation und Verwandt- im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzende Bild der
schaft, und damit auch eines diskret-intimen Selbst- Vergangenheit ist seiner weiteren Bestimmung nach
porträts umzudeuten. ein Erinnerungsbild. Es ähnelt den Bildern der eignen
Aber dies alles war in der Benjamin-Renaissance der Vergangenheit, die den Menschen im Augenblick der
sechziger und siebziger Jahre noch verborgen. In all Gefahr antreten. Diese Bilder kommen, wie man weiß,
diesen Jahren las man ZuM BILDE PROUSTS eher als unwillkürlich. Historie im strengen Sinn ist also ein
einen von der übrigen Arbeit Benjamins fast isolierten Bild aus dem unwillkürlichen Eingedenken« (1243).
Essay von äußerstem ästhetischen Reiz, dessen makel- Greffrath wendet sich dagegen, daß die Passagen der
loser Schönheit Bewunderung oder auch Skepsis ge- Baudelaire-Arbeit, in denen Benjamin vom zufälligen
zollt wurde. Zwar wurden seine eindringlichen Bilder und >>ausweglos privaten« (610) Charakter der me-
wie die >>Penelopearbeit des Eingedenkens« oder pro- moire involontaire spricht, verabsolutiert werden. Dies
noncierte Formulierungen zu Prousts Asthma zitiert sei eine Reduktion. Man habe vielmehr nach der Über-
und weit verbreitet. Aber ganz anders als der Kunst- tragung zu fragen, die Benjamin bei der Integration
werk-Aufsatz hat der Essay in diesen Jahren keine ver- der Erinnerungsästhetik Prousts in den Bereich der
tiefte Auseinandersetzung provoziert. Auch diesmal kollektiven Geschichte vornehme. >>Daß die Einheit
war es nicht die Schuld des Publikums, wie Benjamin der Biographie bei Proust als in Fragmente zerfallen
sich nach dem Scheitern des >>deutschen Proust« ge- sich darstellt, macht diesen Versuch Benjamins über-
äußert hatte. haupt erst möglich« (Greffrath 1981, 66). Das ist eine
Erst mit Prousts Entdeckung und wachsendem wichtige These, die an die Essay-Einsicht anknüpft,
514 Dichtungsanalyse und Autorbild

daß Proust »im actus purus<< des Erinnerns die Einheit struierbaren Synthesis<< (II, 310) bezieht, und die der
der Person aufgibt und die zugleich ein Sesam öffne letzte Satz in ein fulminantes Schlußbild der zweiten
dich zur scheinbaren Disparität des Essays ist, der Schöpfung faßt (vgl. 324). Wie zu zeigen sein wird, ist
Anekdotisches und Kapriziöses, >>Schaffnergeschich- dieser im Essay entwickelte doppelte Sinn des prousti-
ten<< und mots d'esprits mit analytischer Stilkunde und sehen Bildes nahezu synonym mit der später zentralen
Epistemologischem eigentümlich mischt. Des weiteren Kategorie eines >>dialektischen Bildes<<, so daß beides
erkennt Greffrath, daß Proust >>für die forschende Tä- gilt: das proustische Bild ist das dialektische Bild, und
tigkeit seiner Suche<< (dies der Doppelsinn von recher- das exemplarische dialektische Bild das proustische.
che) eine Reihe von Metaphern gefunden hat, >>von Die drei Abschnitte, in die der Essay gegliedert ist,
denen viele an zentraler Stelle im Werk Benjamins setzen die folgenden Schwerpunkte:
begegnen<< (67).
Seit der Arbeit Greffraths ist Proust immer mehr in
die Benjamin-Forschung eingedrungen. Ob es sich um Das Sprengen der Genres
Untersuchungen zu Benjamins Begriffen (vgl. Opitz/
Wizisla 2000) handelt, oder die Auseinandersetzung In (I) geht es zunächst um Prousts Recherche als eine
mit dem Surrealismus (vgl. Fürnkäs 1988), der Pho- narrative Großstruktur von absoluter Singularität und
tographie und dem Film, trifft man auf Prousts Spuren Novität. Akzentuiert sind dabei die genresprengende
(an einem Forschungsbericht mangelt es). Als holisti- Eigenart dieser Narration wie die spezifische Form der
scher, isoliert gelesener Text ist ZuM BILDE PRousTs Erinnerung als generative und strukturprägende In-
heute also aufgesprengt. Als Hologramm, dessen kon- stanz. Wenn bei dieser Narration >>alles außerhalb der
stitutiver Zusammenhang lange Zeit esoterisch anmu- Norm<< (II, 310) liegt, so gilt das zunächst für die
tete, scheint der Essay allerdings auch niemals eine Sprengung der Grenzen zwischen den traditionellen
umfassende Gesamtdeutung erfahren zu haben. Heute narrativen Großgenres: Wir haben es indifferenziert
empfiehlt sich deshalb im folgenden ein Vorgehen in mit einer Dichtung, einem Roman, einem autobiogra-
zwei Schritten. Es soll zunächst ZuM BILDE PROUSTS phischen Werk, einem Memoirenwerk und einem
als Einzeltext beschrieben und damit der Akzent dar- Kommentar zu tun. Jedes große Werk ist ein Einzelfall
auf gelegt werden, daß dieser eine erste Synthese von und Sonderfall, doch dieses ist >>einer von den unfaß-
Benjamins Auseinandersetzung mit Proust repräsen- lichsten<< (ebd.). Die Sprache (>>der Nil der Sprache<<)
tiert. In einem zweiten Schritt wird dann an einigen ufertunmittelbar >>in die Breiten der Wahrheit<< (ebd.)
exemplarischen Beispielen gezeigt werden, wie tragfä- aus. Damit sind über die mehr formalen generischen
hig sich dieses Fundament für die Entwicklung von Dimensionen hinaus scheinbar unvereinbare Aspekte
Benjamins Denken in den dreißiger Jahren erweisen des Gehalts angesprochen: Schreibkunst, >Mystik<, Sa-
sollte. tire, Gelehrsamkeit und >Monomanie<. Es geht dem
An Schalem schrieb Benjamin am 15.3.1929 aus gesamten Essay darum, zu erfassen, was hier einleitend
Berlin, er >>spinne zur Zeit an einigen Arabesken zu als unfaßlich und als ein >>Ort im Herzen der Unmög-
Proust<< (3, 454). Spinnen und Weben, Ornament und lichkeit<< (311) benannt ist. Denkt man in herkömm-
Arabeske sind denn auch zentrale Momente von ZuM lichen Iiteraturwissenschaftlichen Kategorien, so setzt
BILDE PRousTs, dessen Titel als genitivus obiectivus man zunächst Prosa und Lyrik entgegen. Doch die
wie genitivus subiectivus zu lesen ist. Die französische Recherche sprengt diesen Gegensatz, weshalb Benjamin
Übersetzung von Maurice de Gandillac >>Pour le por- sie als Dichtung bezeichnet. Das Hauptbindeglied ist
trait de Proust<< vereindeutigt diese Doppelsinnstruk- dabei Baudelaire. Dementsprechend zitiert Benjamin
tur ebenso wie der Vorschlag von Rainer Rochlitz >>A später (Abschnitt III), wo er auf den Chock der Ent-
propos de I' image chez Proust<< (vgl. Kahn 1998, 73): deckung eingeht, daß die als entgegengesetzt gedach-
In Wirklichkeit geht es um beides- >>Pour l'image de ten Wege oder Richtungen von Swann und Guerman-
Proust<<- das Bild, das Porträt, die Physiognomie von tes sich verschlingen, zwei Alexandriner aus Baude-
Proust, wie sie Benjamin in seinem Essay entwirft, und laires >>Le Voyage<<: >>Ah! que le monde est grand a Ia
das Bild, wie Proust selbst es schafft, wobei wiederum clarte des lampes!/ Aux yeux du souvenir que le monde
zweierlei impliziert ist: das proustische Bild als Teil- est petit<< (320). Aber er tut dies ohne jede Namens-
struktur seiner Texte, in Gestalt der Kaskaden seiner nennung, weder Baudelaires noch des Gedichttitels,
Metaphern und Vergleiche, darüber hinaus aber auch womit er einem Verfahren Prousts folgt, der seinem
Prousts gesamte fiktionale Welt als Produkt einer spe- Roman ebenfalls zahlreiche Vers-Zitate inkorporiert
zifischen Arbeit der Erinnerung, auf die sich der Ein- hat. Der heutige Leser ist auf philologische Kommen-
gangssatzdes Essays mit dem Ausdruck der >>unkon- tare angewiesen, um die Referenzen zu erkennen.
>>Zum Bilde Prousts« 515

Proust und Benjamin einverleiben jedoch, statt das (nach üblicher Semantik), und zwar unter dem Druck
Verfahren aufzudecken, dessen Gegensatz und Ver- >>zweckverhafteten Erinnerns<<. Es wird noch zu zeigen
wandtschaft zur Montage interessant zu untersuchen sein, daß dieser Begriff Bergsons Erinnerungstheorie
wäre. Wenn Benjamin Prousts Roman als eine >>un- zitiert und nur vor deren Hintergrund adäquat begrif-
konstruierbare Synthesis<< bezeichnet, so ist unter an- fen werden kann. Proust ist in Benjamins Sicht jener
derem eine Einverleibung und Verschlingung gemeint, Künstler, dem es gelingt, die nächtliche Produktion
die Entgegensetzungen separierter cötes sowohl zitiert des >>Vergessens« nicht bei Tage im üblichen Sinn zu
als auch aufhebt bis zur Unkenntlichkeit, jener vexier- vergessen, sondern daraus den>> Text« seiner Narration
bildhaften >entstellten Ähnlichkeit<, die im Proust-Es- zu >>weben<< (ebd.). Deshalb schreibt dieser Narrator
say erstmals auftaucht und die Benjamin hier wie in in einer künstlichen ständigen Nacht, und deshalb
der BERLINER KINDHEIT im Bild des eingestülpten trägt die Wachtraum-Struktur seiner Narration die
Strumpfs verdichtet (vgl. Weigel1997). Kennzeichen des zwischen Erinnerungsarbeit und Er-
Nicht minder entgegengesetzt als Vers und Prosa innertem ständig >verhaspelten< Hin und Her. Für
erscheinen herkömmlicherweise auch >>die Versenkung diese narrative Struktur verwendet Benjamin die >>ori-
des Mystikers<< und >>die Verve des Satirikers<< (II, 310). entalischen<< Metaphern der >>Arabeske<<, des >>Tep-
In Abschnitt I dominiert der >>Mystiker<<, der sicherlich pichs<< und des >>Ornaments<< (ebd.). Dem entspricht,
genereller eine besondere, gegenüber der Theologie daß er im zweiten Abschnitt, der von der Energie des
indifferenzierte Spielart philosophischer Reflexion Satirikers handelt, Barres zitierend, >>eins der profilier-
meint. Im Zentrum dieser proustischen Philosophie testen Worte, die je auf Proust geprägt worden sind<<,
steht die Tatsache, >>daß Proust nicht ein Leben wie es lanciert: >>Un poete persan dans une Ioge concierge«
gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat, sondern (318).
ein Leben, so wie der, der's erlebt hat, dieses Leben
erinnert<< (311) - anders gesagt daß es um eine Vision,
d.h. >>das Bild<< (ebd.), geht, welches an Erinnern und Proust als subversiver Autor
Vergessen gebunden ist. Benjamin faßt diesen gesam-
ten Komplex in einem prägnanten säkularisiert-my- Abschnitt II ließe sich grob als Darstellung der >>sozio-
thischen Bild zusammen, dem Bild von der >>Penelo- logischen<< (II, 316) Aspekte des proustischen <Euvre
pearbeit des Eingedenkens<< (ebd.). Benjamin entwik- charakterisieren. Hier verteidigt sich Benjamin sozu-
kelt hier erstmals seine für ihn wichtige Kategorie des sagen gegen seine marxistischen Freunde wie Brecht
>>Eingedenkens« (s. u.). Bei der Applikation des Pene- und im voraus gegen seine linken Bewunderer aus der
lope-Mythos ist entscheidend, daß es sich um dessen Zeit um 1968: >>Nun liegt es auf der Hand: die Pro-
Umkehr handelt: >>Denn hier löst der Tag auf, was die bleme der proustischen Menschen entstammen einer
Nacht wirkte. An jedem Morgen halten wir, erwacht, saturierten Gesellschaft. Aber da ist nicht eins, das mit
meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den denen des Verfassers sich deckt. Diese sind subversiv<<
Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns (315). Das letzte Adjektiv meint keineswegs jenes rein
gewoben hat, in Händen. Aber jeder Tag löst mit dem ästhetische oder allenfalls sexuell reizende Spiel, das
zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit in der Postmoderne damit bezeichnet zu werden pflegt
zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Orna- - es meint zweifellos noch politischen und sozialen
mente des Vergessens auf« (311). Es dürfte angesichts Umsturz. So erscheint Proust bei Benjamin als eine Art
der großen Verdichtung Benjaminscher Formulierun- literarischer Partisan, der sich als Snob getarnt mit
gen nicht überflüssig sein, einige vielleicht triviale >>Bedientenschmeichelei<< (318) in die HighSociety
Feststellungen in kommentierender Absicht zu geben: einschleicht, um sie zu >zerschlagen<: >>Es war in Prousts
>>Vergessen« wird hier offensichtlich mit eigenwilliger, Neugier ein detektivischer Einschlag. Die oberen
einer dem Standardsprecher vertrauten geradezu ent- Zehntausend waren ihm ein Verbrecherclan, eine Ver-
gegengesetzten Semantik verwendet. >>Vergessen<< schwörerbande, mit der sich keine andere vergleichen
meint keineswegs aus dem Gedächtnis tilgen - unter kann: die Kamorra der Konsumenten. Sie schließt aus
>>Vergessen<< ist die hoch produktive, hoch kreative, im ihrer Welt alles aus, was Anteil an der Produktion hat
Unbewußten - oder bei Benjamin und Proust wohl [... ]. Prousts Analyse des Snobismus, die weit wichtiger
besser im Halbbewußten des Wachträumers- zu situ- ist als seine Apotheose der Kunst, stellt in seiner Ge-
ierende, der Traumarbeit analoge Arbeit der poeti- sellschaftskritik den Höhepunkt dar« (318f.). Wie an
schen Imagination zu verstehen. Was bei uns allen vielen anderen Stellen zeigt sich hier mit aller Deut-
dieses produktive >>Vergessen<< nächtens produziert, lichkeit der Anteil der Proustlektüre Benjamins am
das vergessen wir Nichtkünstler allerdings arn Morgen späteren Passagenwerk Die Formulierung über die
516 Dichtungsanalyse und Autorbild

>>Yerschwörerbande« konnotiert selbstverständlich die in dem >>alles außerhalb der Norm ist<<, bietet die Re-
Marxsche Analyse der Clique Napoleons III.- ebenso cherche jedoch zugleich auch ihren eigenen Kommen-
wie die von der »Kamorra der Konsumenten<< zum tar. Syntax wie das Ensemble sind uferlos, sie integrie-
Komplex des Warenfetisches gehört. In diesem Zusam- ren die verschiedenen Genres und Haltungen, statt sie
menhang ist auf die Konnotationen von >>consumere<< zu begrenzen, und erschließen >>die Breiten der Wahr-
(verzehren, verbrauchen, verbrennen - also liquidie- heit<< (ebd.).
ren) hinzuweisen, um Benjamins negative Sicht nach-
empfinden zu können. Dagegen steht Proust als der
große Produzent, dessen >>Probleme<< (315) sich nicht Asthma
im mindesten mit denen der Konsumenten decken.
Die Waffen Prousts sind die des Satirikers, eines, der Das Thema des III. Teils ist das Altern und der Tod,
die Welt in Stücke zerschlägt und sie im Gelächter zer- Zeit und Ewigkeit. In seiner Mitte steht Prousts Asthma.
schmettert. Benjamin sieht dabei erstmals die Satire In der Lektüre Benjamins führt Proust uns »mit der
nicht bloß in Verbindung mit der Parodie, sondern in verjüngenden Kraft, die dem unerbittlichen Altern ge-
Verbindung mit dem Pastiche. Er kannte Prousts Pa- wachsen ist<< (II, 320), in diese Schwellensituation hin-
stiches et melanges, die 1919 (und vorher in Le Figaro ein. Die verjüngende Kraft wird auch als die memoire
und andernorts) erschienen waren, und er erkannte, involontaire identifiziert. Ihr gelingt eine Verschrän-
daß Prousts Pastiche-Talent auch in die Recherche ein- kung von Zeit und Ewigkeit, aber nicht im platonischen
gegangen war. Dabei hat ihm die Comtesse de Cler- Sinne, sondern, wie Benjamin betont, >>rauschhaft<<
mont-Ferrand, die auch im Essay erwähnt wird, wich- (ebd.). Tatsächlich liest man in der berühmten made-
tige Fingerzeige gegeben. Anders als die Parodie zer- leine-Erinnerung Sätze wie diesen über ihr Aufsteigen:
schmettert das Pastiche seine Folie nicht direkt durch >>Je sens tressaillir en moi quelque chose qui se deplace,
einen Gegentext, sondern dringt in sie ein, indem es voudrait s' elever, quelque chose qu' on aurait desancre,
sie -ludisch- imitiert. Wo immer sich Benjamin auf a une grande profondem [... ] cela monte lentement<<
Prousts Mimikry (auch der Partisan übt Mimikry) (Proust 1954, Bd. I, 46). Es handelt sich um einen vi-
bezieht, ist dieses Genie des Pasticheurs gemeint, der talen und erotischen Schub, der die Intensität des
ein Teil jener Welt ist, an deren ZersehrneUerung durch Glücksgefühls bewirkt. Andererseits aber ist der Autor,
eine neue Schöpfung er - unkonstruierbar - arbeitet. der diese erotische Vitalität hervorbringt, ein Asthma-
Der Pasticheur ist zugleich ein Snob und ein Deserteur tiker, ein Autor in der Krise. Er steht als Produzent in
seiner Klasse oder welch anderer Zugehörigkeit im- der Situation des unerbittlichen Alterns und an der
mer. Schwelle des Todes. Seine Produktionssituation ist zu-
Auch der Gegensatz von Autobiographie und Me- gleich die Schwellensituation schlechthin.
moiren wird von Benjamin >dekonstruiert<. (Es han- Benjamin geht es nun aber nicht um die banale Fest-
delt sich bei ihm in der Tat um einen Dekonstrukti- stellung, daß der gealterte und kranke Proust sein Werk
vismus avant Ia lettre, was die große Faszination er- im Wettlauf mit dem Tode zu vollenden suchte, son-
klärt, die Benjamin in der Nachfolge von Derrida und dern er dehnt die Schwellensituation des späten Proust
de Man entfaltet hat.) Prousts Prototyp der Memoiren auf dessen gesamtes Autorenleben aus. Im drohenden
sind die Memoires von Saint-Simon, die die aristokra- Erstickungsanfall hat Proust den Tod ständig »gegen-
tische Gesellschaft des Ancien regime porträtieren. wärtig<< (II, 323). Seine verjüngende Kraft, Zeit und
Benjamin nennt ihn im Zusammenhang des Pastiches Ewigkeit rauschhaft zu verschränken, erklärt Benjamin
und der Mimikry >>Prousts Liebling<< (317). >>Erst nachgerade aus der Permanenz dieser Schwellensitua-
Proust hat das neunzehnte Jahrhundert memoirenfä- tion: »Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen,
hig gemacht<< (314f.). Er ist der neugierige Saint-Si- wenn nicht seine Kunst es geschaffen hat. Seine Syntax
mon seiner Zeit, doch zugleich handelt es sich- anders bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Er-
als bei Saint-Simon, der im pronominalen System der stickungsangst nach. Und seine ironische, philosophi-
>>non-personne<< schreibt, bei dem also das >Ich< zu- sche, didaktische Reflexion ist allemal das Aufatmen,
rücktritt - um eine Autobiographie, die aus dem Er- mit welchem der Alpdruck der Erinnerungen ihm vom
innerungsakt hervorgeht. Schließlich betont Benjamin, Herzen fällt. In größerem Maßstab ist aber der Tod,
daß Prousts Werk »Dichtung, Memoirenwerk, Kom- den er unablässig, und am meisten wenn er schrieb,
mentar in einem darstellt<< (310). Der Kommentar ist gegenwärtig hatte, die drohende, erstickende Krise<<
die Gattung der Gelehrsamkeit, sein Vorbild ist die (ebd.).
Übersetzung und Glossierung der normativen Texte, Noch 1991 hieß es in einem Aufsatz über die me-
der Bibel und der Thora, des Gesetzes. Als ein Werk, moire involontaire: >>Nur Walter Benjamin konnte auf
»Zum Bilde Prousts« 517

den unübertrefflich blödsinnigen Einfall kommen, der memoire involontaire und Prousts Hedonismus
Prousts Asthma mit der Syntax, ja dem ganzen Werk gelten. Die Bilder der memoire involontaire werden
in konstitutive Beziehung zu bringen<< (Wolfgang hier mit >>kleine[n] Bildchen<< ( 1064) gleichgesetzt, wie
Marx, zit. nach Pistorius 2002, Nr. 1085, 233). Es ist sie etwa den Päckchenzigaretten beigegeben waren,
jedoch der Verfasser selbst, der den konstitutiven Be- >>auf denen wir als Kinder einen Boxer, einen Schwim-
ziehungszusammenhang verkennt, der im Bild des mer oder Tennisspieler bei seinen Künsten bewundern
Asthmas verdichtet ist. Was Benjamin auch als die konnten<< (ebd.). Zwar hatten >>wir als Kinder<< diese
>>Geistesgegenwart<< (II, 320) des schaffenden Proust Bilder niemals so gesehen, wie dies in der Erinnerung
bezeichnet, ist eine geschärfte Gegenwart, in der die der Fall ist. Doch indem diese Bilder durch das Inzi-
Vergangenheit, die Kindheit, das gelebte Leben nicht tament der memoire involontaire >>in der Dunkelkam-
bloß erinnert, sondern auf eine spezifische Weise er- mer des gelebten Augenblicks entwickelt<< werden
innert wird, die ganz Aufmerksamkeit und Vergegen- (Benjamin entlehnt hier eine der zentralen Metaphern
wärtigung ist und jenem hypermnestischen Zustand Prousts), werden sie zu Selbstbildern: >>Wir stehen vor
entspricht, den Bergsan und andere bei Menschen in uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo,
Todesangst beschrieben haben, die in diesem Moment doch nie vor unserm Blick, gestanden haben<< (ebd.).
ihr gesamtes Leben an sich vorbeiziehen sehen (vgl. Dieses Sich-selbst-Sehen über die Grenzen der biolo-
Poulet 1963). Bei Bergson, den Benjamin schon in gischen Existenz hinaus (>>in Urvergangenheit<<) kann
Bern studiert hatte und auf dessen Matiere et memoire als Erinnerung an den Schluß von A Ia recherche du
er sich mehrfach bezieht, hatte Benjamin über die >>Ex- temps perdu aufgefaßt werden, wo die Todesbedrohung
altation des Gedächtnisses<< gelesen: >>Aber nichts Lehr- mit einem surrealistischen Bild gekoppelt wird, dem
reicheres gibt es in dieser Hinsicht, als was sich in Bild derjenigen, denen man in seinem Leben begegnet
manchen Fällen plötzlicher Erstickung, bei Ertrinken- ist, die ins Monströse wachsen, weil sie in die Tiefe der
den und Erhängten zuträgt. Die wieder zum Leben Jahre getaucht sind, aus denen sie zugleich herausfal-
gebrachte Person erklärt, daß sie in der kurzen Zeit alle len, >>comme si !es hommes etaient juches sur de vi-
vergessenen Begebenheiten ihres Daseins mit ihren vantes echasses grandissant sans cesse, parfois plus
kleinsten Umständen und in derselben Ordnung, in hautes que des clochers, finissant par leur rendre Ia
der sie sich zugetragen haben, an sich hat vorbeiziehen marche difficile et perilleuse, et d'ou tout d'un coup
sehen. Ein menschliches Wesen, das seine Existenz ils tombaient<< (Proust 1954, Bd. III, 1048).
träumen statt leben würde, würde so wohl in jedem Das Stelzenbild, in dem Proust die Tiefe der Jahre
Augenblick die Mannigfaltigkeit der Einzelheiten sei- verdichtet, die aus der Vergegenwärtigung des >>unwill-
nes vergangenen Lebens im Auge behalten<< (Bergson kürlichen Eingedenkens<< (II, 323) resultieren, wird im
1991, ISO). Schußsatz des Essays als Gerüstbild wiederaufgenom-
Benjamin dehnt dieses Bergsansehe Modell vom men, und zwar als das Gerüst des alten Michelangelo
Erstickungstod auf das ganze Autorenleben Prousts und als das Krankenbett, auf dem Proust in unbeque-
und die besondere Modalität seines Erinnerns aus. Die mer Lage seinen Roman schreibt. Auch dieses große
Hauptkorrektur an Bergsan betrifft die Passage, daß Bild würde man verkennen, wollte man in ihm die
die Begebenheiten >>in derselben Ordnung, in der sie pathetische Feier eines Schöpfungsmythos sehen. Wie-
sich zugetragen haben<<, erinnert würden, denn >>im derum handelt es sich um ein dialektisches Bild: >>Zum
Nu springt die Landschaft um wie ein Wind<< (II, 320) zweitenmal erhob sich ein Gerüst wie Michelangelos,
und >>im Nu<< läßt Proust eine ganze Gesellschaft altern. auf dem der Künstler, das Haupt im Nacken, an die
Anders als Bergson, der die fließende im Auge Decke der Sixtina die Schöpfung malte: das Kranken-
hat, betont Benjamin den Umschlag, das Blitzhafte, bett, auf welchem Marcel Proust die ungezählten Blät-
den Chock, die auch für seine Theorie des Erwachens ter, die er in der Luft mit seiner Handschrift bedeckte,
konstitutiv sind, in der die Traumdimension mit dem der Schöpfung seines Mikrokosmos gewidmet hat<<
>>Augenblick der Gefahr<< integriert ist. (324).
Die Todesbedrohung durch Erstickungsangst, die Dieses Bild Benjamins ist zugleich auch ein Bild
ZuM BILDE PRousTs im Bild des Asthmas kondensiert Prousts, ja eine diskrete übersetzung Prousts. Greift
hat, ist in dem aus dem Nachlaß überlieferten aphori- man zum Text von Proust, der in den von Benjamin
stischen Text Aus EINER KLEINEN REDE ÜBER PROUST, nachgeahmten Michelangelo-Vergleich mündet, so
AN MEINEM VIERZIGSTEN GEBURTSTAG GEHALTEN wird die Verschränkung des hedonistischen Schöpfer-
(1046f.) präzisiert. Zu diesem Datum ist Benjamin turns mit der keuchenden Hast des tödlich bedrohten
sein eigener Tod akut gegenwärtig. Und es ist dieser Produzenten am >>Gewebe<< der narrativen Syntax sinn-
Moment, in dem er zwei Aphorismen notiert hat, die fällig. Der Künstler, der sich hier auf dem Gerüst be-
518 Dichtungsanalyse und Autorbild

findet, ist der Komponist Vinteuil. Auf dem Musik- Proust und der spätere Benjamin
abend im Salon Verdurin in La Prisonniere entdeckt
der Protagonist ein >>univers nouveau<<, indem er in Abschließend folgt, wie angekündigt, der Versuch einer
einer unbekannten Musik, der Erstaufführung eines über ZuM BILDE PROUSTS hinausgehenden, eher sy-
Septetts, plötzlich die Sonate für Geige und Klavier stematisch orientierten Skizze dreier fundamentaler
von Vinteuil, des verstorbenen, etwas verschrobenen Begriffe Benjamins, die seiner Proustrezeption ent-
Klavierlehrers von Combray, wiedererkennt. Und tat- scheidende Anregungen verdanken (zum beim späte-
sächlich ist dieses unbekannte einzigartige Meister- ren Benjamin ebenfalls eng mit Proust verbundenen
werk von der Freundin von Mlle Vinteuil aus dem Begriff der >>Aura« vgl. den Artikel zum Kunstwerkauf-
Nachlaß transkribiert worden (die lesbische Szene, satz, 229-251).
eine voyeur-Szene, die Benjamin Asja Lacis in Moskau
vorgelesen hat, zeigt Mlle Vinteuil und deren Freundin
bei der Bespuckung und Profanierung eines Bildes des Memoire involontaire und Eingedenken
verstorbenen Vaters). Es ist nun dieses, aus dem uner-
ahnten Genie eines unscheinbaren Klavierlehrers und Für jede Rezeption Prousts stellt die Formel der me-
aus der Profanierung und dem >>Sadismus« der lesbi- moire involontaire ein dominantes Element dar, weil
schen Mädchen hervorgegangene Meisterwerk des diese Formel nicht bloß den motivischen Angelpunkt
Septetts, das als >>großes musikalisches Fresko« auf die der gesamten narrativen Struktur der Recherche dar-
Vehemenz eines Schaffensprozesses zurückgeführt stellt, sondern darüber hinaus bereits bei Proust den
wird, der seine Energie aus der Freude und den Chocks Status einer theoretischen, sowohl psychologisch-an-
bezogen haben muß, die auch dem Rezipierenden zu- thropologischen wie darüber hinaus umfassend phi-
teil werden: >>La joie que lui avaient causee telles sono- losophischen und zumindest individuell-historischen
rites, !es forces accrues qu' eil es lui avaient donnees Kategorie besitzt. Es ist demnach in höchstem Maße
pour en decouvrir d'autres, menaient encore l'auditeur erwartbar, daß diese Formel in Benjamins Proust-Re-
de trouvaille en trouvaille, ou plutöt c' etait Je createur zeption nicht bloß ebenfalls ein dominantes Element,
qui Je conduisait lui-meme, puisant dans !es couleurs sondern geradezu die vielleicht wichtigste Kategorie
qu'il venait de trouver une joie eperdue qui lui donnait überhaupt darstellen mußte. Dies scheint sich durch
Ia puissance de decouvrir, de se jeter sur celles qu' eil es die kategorielle Übersetzung mit dem vielfach kom-
semblaient appeler, ravi, tressaillant comme au choc mentierten Benjaminsehen Zentralbegriff des >>Einge-
d'une etincelle quand Je sublime naissait de lui-meme denkens<< zu bestätigen: »Steht nicht das ungewollte
de Ia rencontre des cuivres, haletant, grise, affole, ver- Eingedenken, Prousts memoire involontaire dem Ver-
tigineux, tandis qu'il peignait sa grande fresque musi- gessen viel näher als dem, was meist Erinnerung ge-
cale, comme Michel-Ange attache a son echelle et nannt wird?« (II, 311). >>Die Ausführungen, in denen
lanyant, Ia tete en bas, de tumultueux coups de brosse Reik seine Theorie des Gedächtnisses entwickelt, be-
au plafond de Ia chapelle Sixtine« (Proust 1954, III, wegen sich zum Teil ganz auf der Linie von Prousts
254). Unterscheidung zwischen dem unwillkürlichen und
Setzt man sich der sinnlichen Erfahrung aus, den dem willkürlichen Eingedenken« (I, 612). Unter allen
Satz von Proust zu übersetzen, so versteht man, was es Konnotaten des >Eingedenkens< bei Benjamin, die im
heißt, in das >>Gewebe« des proustischen Textes, den folgenden zu betrachten sind, läßt sich einzig für den
>>Teppich«, die >>Penelopearbeit des Eingedenkens« proustischen Kontext eine solche explizite Identifi-
einzudringen. So kommen die überraschenden Bilder zierung nachweisen. Dieser proustische Kontext ist
Benjamins, die dieser für Proust gefunden hat, nicht generell der narrative, wobei von der >>Geschichts-
von ungefähr. Sie sind das Ergebnis einer langen und schreibung«, jener >>schöpferische[n] Indifferenz der
tiefen Versenkung in die Schreibweise Prousts. Indem verschiedenen epischen Formen«, wie es im Erzähler-
Benjamin Prousts Bild des Schöpfers auf der Leiter, Essay heißt (II, 453), zweifellos zunächst die individu-
>>haletant, grise, affole, vertigineux«, auf diesen selbst elle am stärksten betont ist. Dementsprechend betont
appliziert, der >>frenetisch« und >>zerfetzt« auf dem die Bestimmung im Erzähler-Essay sowohl beim dar-
Gerüst des Krankenbetts schreibt, blendet er zuletzt gestellten Protagonisten und Ereignis wie beim Leser
Prousts Recherche und seinen eigenen Text über Proust die Singularität: »Das erste [das »verewigende Ge-
bewußt ineinander. dächtnis des Romanciers«, d. Verf.] ist dem einen Hel-
den geweiht, der einen Irrfahrt oder dem einen Kampf;
[... ].Es ist, mit anderen Worten, das Eingedenken [... ]«
(454). Es kann hier gar kein Zweifel bestehen, daß Ben-
»Zum Bilde Prousts« 519

jamin einen semantischen strategischen Coup prakti- zwischen dieser Formel und den iterativ organisierten
ziert: >Ein-gedenken< ist (u. a.) >Gedenken an Ein-hei- religiösen Festen und Gesetzen, so daß hier durch eine
ten, Singularitäten<. Die Narration der Singularitäten rituell wiederholte Kombination von Applikation und
par excellence ist aber die Historie, so daß die Origi- Gedenken (wörtliches Rememorieren einer Schrift)
nalität der Benjaminsehen Kategorie des >Eingeden- ein »kollektives Gedächtnis<< generiert wird (Assmann
kens< und gleichzeitig damit der Benjaminsehen 1991).
Proust-Rezeption in der Expansion individueller (bio- Die Relevanz der religiösen Konnotation von >Ein-
graphischer bzw. fiktional-biographischer) Narration gedenken< bei Benjamin erweist sich demnach im
zu kollektiver, besser gesagt: der Indifferenzierung die- Kontext der Expansion der proustischen memoire in-
ser beiden Narrationstypen besteht, wie es definitiv die volontaire von der individuellen zur kollektiven Ge-
üblicherweise als >Thesen< bezeichneten Aphorismen schichte: »Wo Erfahrung im strikten Sinne obwaltet,
ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE formulieren wer- treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen
den. Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunk-
Zunächst sollen jedoch, um die Rolle der Proust- tion. Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen,
Rezeption genauer gewichten zu können, andere Kon- deren bei Proust wohl nirgends gedacht sein dürfte,
notate des >Eingedenkens< berücksichtigt werden. Dabei führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden
ist in erster Linie der theologische und genauer bibli- Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch.
sche bzw. jüdische Kontext zu nennen. Sinnvoll er- Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zei-
scheint die Unterscheidung zwischen einer semasiolo- ten und bleiben Handhaben desselben auf Lebenszeit.
gischen und einer onomasiologischen Betrachtung (die Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken ver-
in den meisten bisherigen Kommentaren versäumt lieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit<< (I,
wurde). Semasiologisch wäre nach Vorgängern des Si- 611 ).
gnifikanten >Eingedenken< zu fragen, onomasiologisch In der zweiten Baudelaire-Abhandlung ÜBER EINIGE
auch nach Feldern verwandter Signifikate. Semasiolo- MoTIVE BEI BAUDELAI RE, aus der dieses Zitat stammt,
gisch ist die umstandslose Gleichsetzung mit >Geden- hat Benjamin versucht, den Gegensatz von
ken< und >Andenken< unzulässig. Die These der jü- »[w]illkürliche[m] und unwillkürliche[m] Eingeden-
disch-theologischen Herkunft beruht auf der quasi ken<< bei Proust (ebd.) mit der Psychoanalyse kompa-
rituellen hebräischen Formulierung >sacharta< (zur tibel zu machen, wobei seine Freudlektüre sich als
Wurzel s-eh-r) im Buch Deuteronomium, die Luther hochgradig eigenwillig erweist. Auffällig ist vor allem
mit »du soltgedencken<< (5. Mose V, 15 u.v.a.) übersetzt. die Vermeidung des bei Freud absolut fundamentalen
Da auch Buber-Rosenzweig, deren deutsche Thora Begriffs des Unbewußten und seine Ersetzung durch
Benjamin für seine allerdings vernichtende Bespre- ein proustisches »Gedächtnis, das unwillkürlich ist<<
chung genau gelesen hatte, >sacharta< wie Luther mit (609). Bei dieser ausschließlich auf das Trauma-Theo-
>gedenke< übersetzen, scheint zumindest eine semasio- rem aus Jenseits des Lustprinzips gestützten Umdeu-
logische Filiation von >Eingedenken< zur deutschen tung scheint eine ironische Applikation der bei Bau-
Mystik zu führen: So belegt Trübner die Formel >inge- delaire beschriebenen Kategorie des »Coup<< im Spiele
denken an got<, als substantiviertes Verb zu dem übli- zu sein: An die Stelle der strikten Freudschen Dicho-
chen >eingedenk sein< gebildet, bei Eckhart. (»Einge- tomie von Bewußtem und Unbewußtem tritt die Ge-
denk seyn<< wird schon bei Adelung 1793 als »im An- genüberstellung von »Bewußtsein<<, »Chockabwehr<<,
denken, im Gedächtnisse behaltend,[ ... ] im Gegensatze »Erlebnis<< und »Reflexion<< einerseits und (unwillkür-
des Vergessens<< definiert, mit hauptsächlich säkularen lichem) »Gedächtnis<<, »Ausfall der Chockabwehr<<,
Belegen.) Wenn Benjamin bei Proust (im Kontext der »Erfahrung<< und »Schreck<< anderseits (615). Dabei
mit >Eingedenken< übersetzten memoire involontaire wird die zweite Reihe, die das Freudsche Unbewußte
in ZuM BILDE PRousTS) »die Versenkung des Mysti- ersetzt, plural und graduell aufgefächert: Es ist von
kers<< zu finden meint (II, 310), so scheint das zu einer mehreren »Systemen<< die Rede, von denen exempla-
mystischen semasiologischen Filiation (die sicherlich risch das proustische >Körpergedächtnis< erwähnt wird
nur eine von mehreren sein dürfte) zu passen. (613; vgl. auch die oben erwähnte Rolle des Rituals
Der jüdische Kontext ist dementsprechend lediglich unter diesen »Systemen<<). Auf diese Pluralisierung
onomasiologisch zu begründen (auch Scholem zählt stützt sich dann das Konzept eines graduellen »Erwa-
das Eingedenken »[z] u den jüdischen Kategorien, die chens<< (nach dem Modell des Eingangs der Recherche)
er [Benjamin] als solche einführte<< (Herv. d. Verf.; als» Bemächtigung einer Erfahrung<<, das in den späten
Scholem 1968, 162). Wie Jan Assmann erläutert hat, Geschichts-Aphorismen zur Basis des historisch-ma-
besteht im Deuteronomium ein enger Zusammenhang terialistischen Verfahrens erklärt wird.
520 Dichtungsanalyse und Autorbild

Wie das Beispiel der strategischen semantischen (Prousts >>CÖtes<<), die man als gänzlich divergierend
>Prägung< von >>Eingedenken<< als >>Eines gedenken<< ansah, zu verbinden.
im Erzähler-Essay zeigt, liebt Benjamin solche seman-
tischen Akzentuierungen, die dem tropischen Mecha-
nismus der Emphase folgen. Insofern liegt es nahe, Erwachen
unter den Konnotationen des >>Ein-gedenkens<< auch
diesen schrittweisen, graduellen Prozeß der Erfah- Schon im Zusammenhang mit dem Modell der pan-
rungs-Bemächtigung beim schrittweisen >>Erwachen<< oramatischen Erinnerung der Sterbenden (vgl. Poulet
mitzudenken. Dafür scheint auch das Desjardins-Zi- 1963, 136ff.) war auf Benjamins intensive Beschäfti-
tat über Baudetaire zu sprechen, dem es darum zu gung mit der Erinnerungstheorie Henri Bergsons hin-
tun gewesen sei, >>>das Bild dem Gedächtnis einzu- zuweisen. Diese Theorie ist als eine wichtige Kontrast-
senken<<< (621), wobei es sich nach Benjamin ja um folie sowohl für Proust wie für Benjamin zu berück-
ein der Chockabwehr entgangenes Bild gehandelt sichtigen (vgl. Link/Link-Heer 2003). Bergsons
habe. Die entsprechende emphatische Konnotation explizit >>dualistische<< Auffassung stellte den unräum-
wäre also als der Prozeß eines schrittweisen >Hinein- lichen >>geistigen<< elan vital schroff seinem Anderen,
denkens< aus dem »unwillkürlichen Gedächtnis<< ins der räumlichen Materie, entgegen, woraus sich zwei
>>willkürliche<<, also ins wache >>Denken<< zu kenn- verschiedene Zeitqualitäten und zwei verschiedene
zeichnen. Formen der Erinnerung ergaben: Während die geistige
>>duree<< der Innerlichkeit rein qualitativ-intensiv, un-
räumlich und fließend-kontinuierlich gedacht war,
Dialektisches Bild entstand aus der Notwendigkeit des körperlichen
überlebens die kantisch-apriorische Zeit mit ihrer
Wenn Benjamin beim >>Bilde Prousts<< (genitivus sub- Quantität und Zählbarkeit, Diskontinuität und Ku-
iectivus) vor allem die Originalität betont, so ist das pierbarkeit. Das Wesen der diskontinuierlichen Zeit
vor der Folie der zeitgenössischen Bild-Stile zu präzi- erblickte Bergson also in ihrer Verräumlichung. Dem
sieren. Es bedeutet dann nichts anderes als: Das Bild entsprachen zwei Typen der Erinnerung: Zum einen
Prousts ist weder impressionistisch noch expressioni- die auf die praktische Manipulation der Materie (ein-
stisch noch auch mainstream-surrealistisch oder kon- schließlich der menschlichen Körper) gerichtete Erin-
struktivistisch. Wenn bei Proust dennoch >>das wahre nerung des >>homme d'action<<- zum anderen die
sürrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch<< mehr oder weniger pathologische Erinnerung des
komme (11, 314), so ist damit eine deutliche Differenz Träumers, des Sterbenden und etwa des Poeten, die bei
zum Gruppenstil der Surrealisten markiert. Ebenso Strafe des materiellen Untergangs sozusagen in den
läßt die Betonung von Adjektiven wie >>unkonstruier- intensiven Vergangenheits-Schacht der duree zurück-
bar<< (Synthese: 310) und >>nichts weniger als konstru- horcht. Der >>homme d'action<< als Subjekt der duree
iert<< (Grundfigur dieses Werkes: 322) beim >Konstruk- blickt voraus und ist insofern Subjekt kreativen >>Fort-
tivisten< Benjamin aufhorchen. Was das proustische schritts<< (evolution creatrice). Nur die erste Form der
Bild kennzeichnet, ist seine interne zeitliche Spannung, Erinnerung (die rein funktionale des >>homme
seine historische Polarisierung im Chock der memoire d'action<<) kennt bei Bergson räumliche Synchronien
involontaire (des >> Eingedenkens<<). Während die zeit- und quantitative Schnitte (Zäsuren) im Zeitkonti-
typische Montage auf der Juxtaposition, also auf der nuum - sein Modell dafür ist der Film als mechani-
Synchronie beruht, liegt die Polarisierung bei Proust sches Abspulen diskontinuierlicher Einzelbilder.
im Ineinander zweier Zeiten, in der Diachronie. Eben Unschwer ist hier Benjamins >>zweckverhaftetes Er-
diese Struktur nennt Benjamin in den dreißiger Jahren innern<< (II, 311) als Gegensatz des proustischen >>Ein-
dann >>dialektisches Bild<<, wobei er mehr und mehr gedenkens<< wiederzuerkennen - unschwer nun auch
die bei Proust dominierende individuelle Dimension die entsprechende Semantik des >>Vergessens<<, die ge-
ins Kollektiv-Historische überträgt. nau der bergsansehen negativen Selektion unterm
Und dies führt in eine weitere Dimension des dia- Imperativ der überlebens-Aktion entspricht. Daraus
lektischen Bildes, die die Komplexität des Doppelsinns folgt nun allerdings weiter, daß Benjamins Theorie des
von objektivem und subjektivem Genitiv überschreitet, individuellen und kollektiven >> Erwachens<< als bewuß-
und die eine der Keimzellen von Benjamins Konzept tes, auf Proust gestütztes Gegenmodell zu Bergson
der >>entstellten Ähnlichkeit<< zu sein scheint, das ihn begriffen werden muß: Wie bei Proust gilt es auch für
nicht zuletzt dazu befähigte, historischen Materialis- das historische Kollektiv ein Erwachen zu gewinnen,
mus und Proust, das heißt >>Seiten<< oder >>Wege<< das sich gerade der intensiven, qualitativen Erinnerun-
»Zum Bilde Prousts« 521

gen >bemächtigt<- jenseits der strikten Selektivität der Benjamin- Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen,
Stuttgart.
Überlebens-Funktionalität. Dabei unterläuft Benjamin Greffrath, Krista R. (1981): Metaphorischer Materialismus.
als >historischer Materialist< den bergsansehen Dua- Untersuchungen zum GeschichtsbegriffWalter Benjamins,
lismus: Für ihn ist die Intensität der gelebten München.
keineswegs inkompatibel mit Räumlichkeit und Dis- Kahn, Robert ( 1998): Images, Passages: Marcel Proust et Wal-
ter Benjamin, Paris.
kontinuiät - im Gegenteilliegt die höchste Intensität Kasper, Judith (2003 ): Sprachen des Vergessens. Proust, Perec
des »Lebens<< gerade im historischen >>Chock<< und der und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken, Mün-
historischen (»messianischen<< bzw. >>revolutionären<<) chen.
Zäsur. So wird in den Aphorismen ÜBER DEN BEGRIFF Kleiner, Barbara (1980): Sprache und Entfremdung. Die
Proust-Übersetzungen Walter Benjamins innerhalb seiner
DER GESCHICHTE das »im Augenblick der Gefahr<< Sprach- und Übersetzungstheorie, Bonn.
(695) dialektische Bild zum Inbegriff des rettenden Lacis, Asja (1976): Revolutionär im Beruf, München.
Erwachens. Damit ist eine partielle Korrektur des Be- Lindner, Burkhardt ( 1971 ): »Kommentierende Übersicht zur
griffs der Konstruktion gegenüber ZuM BILDE PRousTs Lebens- und Wirkungsgeschichte Benjamins<<, in: Text +
Kritik, H. 31132: Walter Benjamin, hg. v. Burkhardt Lind-
verbunden: >>Die Geschichte ist Gegenstand einer Kon- ner.
struktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit Link, Jürgen/Ursula Link-Heer (2003): »Synchronische Dia-
[die quantitative Zeit Bergsons, d. Verf.] sondern die chronie. Von Benjamins >kleiner Rede über Proust< zu den
von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das Aphorismen >über den Begriff der Geschichte«<, in: Harald
Hillgärtner/Thomas Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik.
antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld, 16-33.
die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraus- Link-Heer, Ursula (1997): Benjamin liest Proust (Privatdruck
sprengte<< (1, 701). Offensichtlich wird nun mit dem der Marcel Proust Gesellschaft Sur Ia lecture III), Köln.
Opitz, Michael/Erdmut Wizisla (2000): Benjamins Begriffe,
Bergsousehen Dualismus auch der von Arabeske und
2 Bde, Frankfurt a. M.
Montage, von unendlicher Melodie des proustischen Piper, Reinhard ( 1979 ): Briefwechsel mit Autoren und Künst-
Satzes und Chock der Zäsur im »Bilde Prousts<< unter- lern !903-1953, hg. v. Ulrike Buergel-Goodwin/Wolfram
laufen: im dialektischen Bild des Erwachens wird qua- Göbel, München/Zürich.
Pethes, Nicolas ( 1999): Mnemographie. Poetiken der Erinne-
litative Erinnerung mit ihrer >Bemächtigung< eins.
rung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen.
Pistorius, George (2002): Marcel Proust und Deutschland.
Werk Eine internationale Bibliographie, 2. Auf!., Heidelberg.
ZuM BILDE PROUSTS (Il, 310-324) Poulet, Georges (1963): L'espace proustien, Paris.
Aus EINER KLEINEN REDE ÜBER PROUST, AN MEINEM VIER- Proust, Marcel ( 1954): A Ia recherche du temps perdu, hg. v.
ZIGSTEN GEBURTSTAG GEHALTEN (JI, 1064 f.) Pierre Clarac/Yves Sandre, 3 Bde, Paris.
Curriculum vitae Dr. Walter Benjamin (VI, 225-228) Roloff, Volker (1994): »Anmerkungen zu deutschen Überset-
DER ERZÄHLER (II, 438-465) zungen von Prousts Recherche<<, in: ders. (Hg.): Überset-
MOSKAUER TAGEBUCH (VI, 292-409) zungen und ihre Geschichte. Beiträge der romanistischen
PARISER BRIEF (I/li] (Ill, 482-507) Forschung, Tübingen, 55-77.
Das Passagen-Werk (V, 7-1063) Schalem, Gershorn (1986): »Walter Benjamin<<, in: über Wal-
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ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I, 691-704) Spangenberg, Peter (2000): »Aura«, in: Ästhetische Grundbe-
ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE (I, 605-653) griffe, Bd. I, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Stuttgart/Weimar,
Übers. (mit Pranz Hesse!) Marcel Proust: Im Schatten der 400-416.
jungen Mädchen (Suppl. II) Speck, Reiner (Hg.) (1982): Marcel Proust. Werk und Wir-
Übers. (mit Pranz Hesse!) Marcel Proust: Guermantes (Suppl. kung. Erste Publikation der Marcel Proust Gesellschaft,
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Übers. (mit Pranz Hesse!) Marcel Proust: »Über das Lesen. Stoessel, Marleen ( 1993 ): Aura. Das vergessene Menschliche.
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Fürnkäs, Josef (1988): Surrealismus als Erkenntnis. Walter
522 Dichtungsanalyse und Autorbild

))Karl Kraus<< bis zur Faszination für die frivole Urbanität des Pariser
Second Empire und seiner rauschhaften Überdrehung
Von Alexander Honold
in den Operetten eines Jacques Offenbach.
Der große Essay KARL KRAUS von 1931 bündelt >>wie
über mehr als drei Jahrzehnte, vom Fin de siede bis in einer Engführung<< (Witte 1985, 94) zentrale The-
in die 1930er Jahre, war er für das kulturelle Leben im men Benjamins und gibt zugleich eine Summe seiner
deutschsprachigen Raum eine Erscheinung sonder- langen und intensiven Beschäftigung mit Kraus, deren
gleichen: der Dichter, Dramatiker, Publizist, Sprach- produktivste Phase in die Jahre von 1928 bis 1930 fiel.
und Pressekritiker Kar! Kraus, Herausgeber und seit Für Benjamin verdichtet sich in den Stellungnahmen
1912 Alleinautor der in Wien erscheinenden, flam- zu Kraus die Auseinandersetzung um das Nachbild des
mendroten Zeitschrift Die Fackel, Handlungsreisender, Ersten Weltkrieges und die Rolle der expressionisti-
Rezitator und Prozeßbevollmächtigter in eigener Sa- schen Literatur; berührt werden aber auch sehr spezi-
che, ein Gesamtkunstwerk in einer Person. Als>> Instanz elle lebensgeschichtliche Probleme wie die Loslösung
K.K.<< (Reemtsma 1991, 104) geriet Kraus nicht ohne von Stefan George. Wenn Benjamin nach einer Berli-
Grund in den Nimbus einer quasi-juristischen Insti- ner Offenbach-Lesung von Kar! Kraus im März 1928
tution, deren Invektiven und Urteile die intellektuelle an Alfred Cohn schreibt, das Gehörte habe >>eine ganze
Öffentlichkeit in leidenschaftliche Befürworter und Ideenmasse- Du weißt aus welchem Bereich- in Be-
erbitterte Feinde spalteten, in trostlose Adepten und wegung<< gesetzt (3, 358), so ist hier an das mit dem
gottverlassene Gegner (IV, 121 ), so Benjamin in seinem kurzen Aufsatz PAsSAGEN (V, 1041-1043) von 1927 erst-
kurzen, unter dem Titel KRIEGERDENKMAL in die EIN- mals umrissene Projekt des Passagen-Werks zu den-
BAHNSTRASSE aufgenommenen Kraus-Porträt, der ken. Vor allem aber waren es Haltung und Metl10de
ersten seiner insgesamt fünf Arbeiten über den Wiener des Porträtierten, deren sich Benjamin in seinem gro-
Monomanen. ßen Kraus- Essay zu vergewissern suchte; zum >>größten
Für Benjamin waren Die Fackel und ihr Autor schon Techniker des Zitats« (II, 1125) griff Benjamin als einer
zur Berner Studienzeit eine wichtige geistige Bezugs- >>Autorität, die ihm half, die eigene Position als Kritiker
größe. Pazifistisch und polemisch zugleich, ragte das zu bestimmen<< (Schulte 2003, 10). Mit dem ersten
Blatt einsam heraus aus der opportunistischen Pres- expliziten Marx-Zitat (II, 364; vgl. Folkers 1999, 1738)
selandschaft der Mittelmächte, in der fast alle öffent- leitet der Kraus-Essay unübersehbar Benjamins Hin-
lichen Stimmen ihren Frieden mit dem Krieg gemacht wendung zu einer dezidiert materialistischen Denk-
hatten. >>Fast regelmäßig<< lasen Schalem und Benja- haltung und Arbeitsweise ein.
min, angeregt auch durch den Kraus-Verehrer Werner
Kraft, die Fackel, nahmen die Zeugnisse der politischen
Haltung und das poetische Werk ihres Autors mit gro- Der Ort des Kritikers
ßem Interesse auf. >>Vor allem 1919 hatten wir manche
Gespräche über ihn, seine Prosa und seine Worte in Das Jahr 1930 verlief für Benjamin ohne die Dramatik
Versen, deren erste Bände damals erschienen<< (Scha- sichtbarer Einschnitte, sieht man von der vollzogenen
lem 1975, 105). Die Lektüre der Fackel gab ein kultu- Scheidung ab, die ihn zu Jahresbeginn in hohe Schul-
relles Leuchtfeuer, sie war eine Schule der kritischen den stürzte (4, 12). Und doch unternahm Benjamin in
Urteilskraft und des polemischen Sprachwitzes. Mit dieser Zeit die entscheidenden Schritte einer Neuori-
dem Fortbestehen dieses Organs verband sich aus spä- entierung in beruflicher wie methodisch-theoretischer
terer Sicht für Benjamin die Erinnerung an die enge, Hinsicht. Parallel zur Etablierung als Kritiker wurden
fast konspirative philosophisch-metaphysische Denk- für Benjamin politische und gesellschaftstheoretische
gemeinschaft mit Gershorn Schalem und an die Auf- Fragen immer drängender, er neigte zu revolutionären
bruchstimmung am Ende des Ersten Weltkrieges. Ansichten und machte sich zunehmend mit marxisti-
Kraus und die Fackel verkörperten eine geistige und schen Theoremen und Konzepten vertraut. In der 1930
stilistische Spannweite vergleichbar mit der heteroge- propagierten Formel einer >>Politisierung der Intelli-
nen Vielfalt von Benjamins eigenen Interessen- und genz« spiegelt sich Benjamins eigene Entwicklung der
Arbeitsgebieten. Sie reichte von esoterischen, sprach- späten Weimarer Jahre.
magischen Spekulationen, wie sie auch Benjamins Zielt Benjamins politische Perspektive letztlich auf
Arbeit ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE die- seine metaphysischen Energien beerbende- Vor-
SPRACHE DES MENSCHEN von 1916 anstellt, über ein stellung einer >>Befreiung in jeder Hinsicht<< (II, 307),
emphatisches, geradezu militantes Bekenntnis zur so fallen seine Bestandsaufnahmen sozialer Konflikt-
klassisch-humanistischen Bildungstradition (Goethe) Iinien und Verwerfungen zunehmend konkreter und
nKarl Kraus« 523

illusionsloser aus. Das unsichtbare Gerüst institutio- geber >>außergewöhnlich reiche« (1086) Material ver-
nalisierter Arbeitsteilung, das die Ideenproduktion der anschaulicht durch die Vielfältigkeit der gewählten
Künstler und Gelehrten von ihrem gesellschaftlichen stilistischen Mittel (Schaubild, Matrix, Stichwort-
Kontext trennt, hatte für Benjamin eine rapide schwin- Reihe) bei gleichzeitiger Beharrlichkeit der tragenden
dende Verläßlichkeit. An Georg Lukacs' Geschichte und Konzepte sowohl die Intensität des Arbeitsprozesses
Klassenbewußtsein rühmte er im Rückblick die pro- wie auch eine für Benjamin bemerkenswert >experi-
gnostische Sicherheit, mit der das 1923 erschienene mentelle< Herangehensweise und Darstellungsform.
Werk »in der kritischen Situation der Philosophie die Aus beidem ist ablesbar, daß der in diesen Essay kul-
kritische Situation des Klassenkampfes und in der fäl- minierenden Auseinandersetzung mit Kar! Kraus für
ligen konkreten Revolution die absolute Voraussetzung Benjamin eine ganz fundamentale Bedeutung zu-
[... ] der theoretischen Erkenntnis erfaßt« habe (III, kam.
171). Den entscheidenden Impuls für eine Verände- In Kraus hatte er einen exemplarischen Fall vorzu-
rung der eigenen intellektuellen Produktionsweise gab weisen, der stellvertretend, aber unnachahmlich die
1929 die persönliche Bekanntschaft mit Bertolt Brecht, geforderte Politisierung der bürgerlichen Intelligenz,
dessen sportlich-technische Herangehensweise in gei- ja nachgerade ihre Übersteigerung ins Militante be-
stigen Fragen Benjamin mindestens so sehr imponierte trieben hatte. Der Schlußabschnitt des Essays läßt
wie seine politische Haltung. Die mit Brecht geplante keinen Zweifel an Benjamins Überzeugung, an der
Zeitschrift Krisis und Kritik setzte der intellektuellen Persönlichkeit und Arbeitsweise des Wiener Kritikers
Entfremdung das Programm eines eingreifenden Den- eine mit Notwendigkeit sich vollziehende Entwicklung
kens entgegen, welches in der manifesten Krise die nachgezeichnet zu haben. >>So bestätigt sich: Bürger-
Chance einer kritischen Intervention erkennen und tugenden sind alle Einsatzkräfte dieses Mannes von
nutzen sollte, so die gemeinsam entwickelte Konzep- Haus aus; nur im Handgemenge haben sie ihr streit-
tion (vgl. VI, 619). Die Vorarbeiten und Absprachen bares Aussehen erhalten. Aber schon ist niemand mehr
mit dem Rowohlt-Verlag waren weit gediehen, als Ben- imstande, sie zu erkennen; niemand imstande, die
jamin sich Anfang Februar 1931 gegenüber Brecht vom Notwendigkeit zu fassen, aus welcher dieser große
Heftkonzept der ersten, für April vorgesehenen Num- bürgerliche Charakter zum Komödianten, dieser Wah-
mer distanzierte und dagegen noch einmal die ur- rer goethischen Sprachgutes zum Polemiker, dieser
sprüngliche Zielsetzung ins Feld führte, »der bürger- unbescholtene Ehrenmann zum Berserker geworden
lichen Intelligenz zu zeigen, daß die Methoden des ist« (II, 365). Soll heißen: Es hatte, auch im Falle Ben-
dialektischen Materialismus ihnen durch ihre eigen- jamins selbst, seine Gründe, wenn >>Von Haus aus«
sten Notwendigkeiten- Notwendigkeiten der geistigen bürgerlich-solide Geister sich gezwungen sahen, >>Stel-
Produktion und der Forschung, im weiteren auch Not- lung« (4, 24) zu beziehen oder in sonstwie militanter
wendigkeiten der Existenz - diktiert seien« (4, 15). Weise zu agieren, und sei es >nur< sprachlich.
Diese thesenhaft vorgetragene Wirkungsabsicht Textgeschichtlich gehört KARL KRAUS in eine Reihe
suchte Benjamin, während das endgültige Scheitern kürzerer literarischer Porträts wie etwa des im Sommer
des Zeitschriftenprojekts noch nicht abzusehen war, 1929 entstandenen Radiovortrages über Julien Green,
mit seinem ebenfalls im Februar (vgl. 4, 11) fertigge- die Benjamin bei Ernst Rowohlt als gesammelte Essays
stellten Beitrag über Kar! Kraus in die Tat umzusetzen. herausbringen wollte, zunächst im Frühjahr 1931,
Die nach Benjamins eigenem Zeugnis >>außerordent- dann ein halbes Jahr später, ehe sich aufgrund einer
lich lange, nahezu ein Jahr<< (von März 1930 bis Fe- schweren Finanzkrise des Verlages das Projekt ganz
bruar 1931; II, 1081) währende intensive Arbeit an zerschlug (vgl. 13; 45; 48f). Doch anders als die por-
dem Essay ist durch ein Konvolut der von Benjamin trätierenden Studien über Proust, Keller, Walser oder
selbst so genannten >>Paralipomena zum Kraus« (II, Green legt die Kraus-Arbeit das Genre der literarischen
1087 ff.) in ihrem spannungsvollen Verlauf ausführlich Physiognomik auf eine höchst eigenwillige Weise aus.
dokumentiert. Das in den Gesammelten Schriften Die Person des Porträtierenden spart sich selbst hier
(1088-1115) abgedruckte Konvolut enthält auf 30 keineswegs aus, sie sucht vielmehr ihren Gegenstand
Blättern in ungeordneter Folge u. a. disponierende und ihr Vorbild an stilistischem Eifer noch zu über-
Skizzen und Schemata zum kompositorischen Aufbau treffen. Haltung und >>Absicht« seines Textes benennt
des Essays, Exzerpte und Stichwortlisten mit zu be- der Autor in den vorbereitenden Notizen so lapidar
rücksichtigenden Motiven, Zitaten und Motti, Teile wie entschieden: >>[D]en Ort zu zeigen, wo ich stehe
einer ersten Niederschrift sowie ausgearbeitete Auf- und nicht mitmache« (II, 1093).Ais Signal einer» ma-
zeichnungen, die sich nahezu wortgleich im Essay terialistischen Wende« Benjamins erntete der Essay
wiederfinden. Dieses nach Einschätzung der Heraus- nicht nur Anerkennung, er trafbei manchen wohlge-
524 Dichtungsanalyse und Autorbild

sonnenen Kollegen und selbst dem engsten seiner zumal Dein bewunderungswürdiges Essay über Karl
Freunde auf Irritation, Unverständnis und heftige Ab- Kraus [... ] mir aufs bedeutsamste dokumentiert.« Ge-
wehr. radezu »krampfhaft« habe sich Benjamin hier bemüht,
Unter Benjamins Arbeiten zu Weimarer Zeit stellt seine »sehr weitreichenden Einsichten in einer der
der Kraus-Essay den wohl »radikalsten Versuch einer kommunistischen denkbar angenäherten Phraseologie
Synthese von theologischem und materialistischem vorzutragen«. Dagegen gibt Sehelern dem Freunde
Denken<< dar (Witte 1985, 92). Gerade deshalb bedeu- seine Beobachtung zu bedenken, daß in Benjamins
tete er eine Gratwanderung, sowohl in stilistisch-me- derart bekenntnishaft pointierten Arbeiten »eine ver-
thodischer Hinsicht, aber auch in der schwierigen blüffende Fremdheit und Beziehungslosigkeit besteht
Balance der für Benjamin gleichermaßen verpflichten- zwischen Deinem wirklichen und Deinem vorgegebe-
den Loyalität gegenüber Brecht und dem Marxismus nen Denkverfahren, d. h.: Du gewinnst Deine Einsich-
einerseits, Sehelern und den mit ihm geteilten theolo- ten nicht etwa durch strenge Anwendung einer mate-
gisch-philosophischen Denktraditionen andererseits. rialistischen Methode, sondern vollständig unabhängig
In einem Brief an MaxRychnervom 7. März 1931legte davon, im besten Falle, oder - im schlimmsten Falle
Benjamin ausführlich die Motive und Argumente dar, -durch ein mir in mehreren Artikeln der letzten zwei
die ihn dazu gebracht hatten, in seinen literarischen Jahre aufgefallenes Spielen mit den Zweideutigkeiten
und wissenschaftlichen Arbeiten (und eben nicht nur und Interferenzerscheinungen dieser Methode« (27).
ex cathedra) zugunsten einer materialistischen Posi- Nicht das Faktum von Benjamins marxistischer prise
tion Partei zu ergreifen. Dieses Schreiben kann mit de position also wird von Sehelern attackiert, vielmehr
seinem ins Grundsätzliche führenden Duktus, der wird die innere Konsistenz, ja die persönliche Glaub-
auch philologische Methodenfragen berührt, durchaus würdigkeit der behaupteten materialistischen Arbeits-
als eine Art »erkenntnistheoretischer Epilog« (Schulte weise in Zweifel gezogen. Benjamins diesbezügliche
2003, 32) zum Kraus-Essay angesehen werden, vor Ausführungen und vor allem die betroffenen Arbeiten
allem, wenn man die einschlägige Korrespondenz mit selbst tragen für Sehelern »den Stempel des Abenteu-
Sehelern hinzuzieht. An seine Arbeit über den UR- erlichen, Zweideutigen«, vor allem im Kraus-Essay
SPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS erinnernd, herrsche zwischen deklarierter und tatsächlicher Vor-
argumentiert Benjamin, >>daß von meinem sehr be- geheusweise eine »geradezu phantastische Diskre-
sonderen sprachphilosophischen Standort aus es zur panz«. Und, um dieser frontalen Kritik die Spitze auf-
Betrachtungsweise des dialektischen Materialismus zusetzen, läßt Sehelern noch eine Warnung folgen:
eine- wenn auch noch so gespannte und problemati- Benjamins >>Selbsttäuschung<< sei nicht nur kontrapro-
sche- Vermittlung gibt, zur Saturiertheit der bürger- duktiv, sondern sogar gefährlich, da er damit rechnen
lichen Wissenschaft aber garkeine« (4, 18). Er appel- müsse, von seinen »Mitdialektikern<< über kurz oder
liert an Rychner, in ihm nicht den »Vertreter« eines lang »als typischer Konterrevolutionär und Bourgeois
materialistischen »Dogmas« zu sehen, sondern einen entlarvt« zu werden- weil und solange er »für Bürger
»Forscher«, »dem die Haltung des Materialisten wis- über Bürger« schreibe (28).
senschaftlich und menschlich in allen uns bewegenden Aus Benjamins Antwort wird nur indirekt erkenn-
Dingen fruchtbarer scheint als die idealistische.« Für bar, wie sehr ihn die ad personam argumentierende
»fundiertere Antworten«, als er sie in diesem impro- Seite dieser Kritik getroffen haben muß. Auf Scholems
visierten Brief zu geben vermochte, verweist er Rych- implizite Rivalität zu Brecht und dessen Umkreis geht
ner abschließend darauf, »Zwischen den Zeilen« des Benjamin mit der wenig diplomatischen Anregung ein,
Kraus-Essays zu suchen ( 19 f.). Eine Abschrift des Brie- ihm eine genaue Lektüre von Brechts Versuchen an-
fes sandte Benjamin an Gershorn Scholem nach Palä- zuempfehlen, und er stellt wenig taktvoll den ebenfalls
stina, denn auch diesem gegenüber stand die Frage zu jenem Kreis zählenden Gustav Glück als einen ihm
»Die, cur hic?« (>Du hier?<) im Raume und somit ein besonders »Nahestehenden« vor, mit dem er Scholems
außerordentlicher Rechtfertigungsbedarf (21). Brief durchgesprochen habe (23): derlei Gegenge-
Scholems Brief aus Jericho vom 30. März 1931 rea- wichte sollten die Last der aus Jericho auf ihn gekom-
giert auf die Zusendung des Essays selbst und der Ant- menen Kritik austarieren. Unkommentiert bleibt der
wort an Rychner mit einer grundsätzlichen Kritik der Vorwurf der Zweideutigkeit, dessen methodelogische
neuen, dezidiert materialistischen Position seines Aspekte bereits in der Antwort an Rychner eine Rolle
Freundes. Benjamin habe in seinen jüngst abgelegten spielten. Dort hatte Benjamin die eigene Vergehens-
»Proben« einer Betrachtungsweise »im Geist des dia- weise mit einem Hinweis auf das philologische Kon-
lektischen Materialismus [... ] auf selten intensive Art zept des mehrfachen Schriftsinnes folgendermaßen
Selbstbetrug« begangen, so lautet der Vorwurf, »was verteidigt: »ich habe nie anders forschen und denken
»Karl Kraus<< 525

können als in einem, wenn ich so sagen darf, theolo- an die von Benjamin ausgeflaggte materialistische Po-
gischen Sinn- nämlich in Gemäßheit der talmudi- sition eines >>realen Humanismus<< bot Kraus reichlich.
schen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Und es kann, gegen den Vorwurf des aufgesetzten Be-
Thorastelle. Nun: Hierarchien des Sinns hat meiner kenntnisses orthodoxer Lehrformeln, als Pointe von
Erfahrung nach die abgegriffenste kommunistische Benjamins marxistischer Argumentation jene Form
Platitüde mehr als der heutige bürgerliche Tiefsinn, der Negativität festgehalten werden, wie sie der kriti-
der immer nur den einen der Apologetik besitzt<< schen Tätigkeit zu eigen ist. Mit dem vor allem im
(19f.). Für die Kompositionsweise und sprachliche Schlußdrittel des Essays entworfenen Leitbild des >>de-
Faktur des Kraus-Essays läßt sich ein solcher Deu- struktiven Charakters<< betritt Benjamin als materia-
tungsrahmen allegorisch abgestufter Sinnschichten listischer Denker Neuland und knüpft unerhörte
schwerlich ausmachen, während die von Scholem ge- Bündnisse, etwa zur Wiener Moderne und den zeitge-
rügte Ambiguität darin funktional eingesetzt ist, stili- nössischen Debatten in Architektur, Stadtplanung und
stisch und methodisch zur Darstellung spezifisch Industriedesign.
>bürgerlicher< Diskrepanzerfahrungen dient.
Der zentrale Einwand Scholems- der Benjamin eine
dezisionistische, aufgesetzte Parteinahme attestiert "Kriegerdenkmal«, "friedenswarecc
hatte- war nicht leicht zu entkräften, und die Antwort
Benjamins unternahm nicht einmal den Versuch dazu. Als Benjamin 1928 mit dem Abschnitt KRIEGERDENK-
Vielmehr bekennt er sich hier zu einer zwiespältigen MAL der EINBAHNSTRASSE seine erste Arbeit über Kar!
Existenz aus linker Gesinnung bei bürgerlicher Klas- Kraus vorlegte, hatte seine zwischen distanzierter Be-
senlage, die in der sozialen Topographie Berliner Him- wunderung und vorsichtigen Annäherungsversuchen
melsrichtungen ihren milieuspezifischen Ausdruck oszillierende Auseinandersetzung mit dem Phänomen
findet und deren Aporie nur durch einen acte gratuit, K.K. bereits eine Vorgeschichte, die mit den ersten
eine Geste revolutionärer Willkür, aufgesprengt wer- Schritten des Rezensenten Benjamin Mitte der zwan-
den könne. >>Wo liegt meine Produktionsanstalt? Sie ziger Jahre verbunden war. Nicht erst die spätere >ma-
liegt-[ ... ] darüber hege ich nicht die mindesten Illu- terialistische Wende< Benjamins war es, die für ihn den
sionen- in Berlin W. WW, wenn Du willst. Die ausge- politischen Autor Kar! Kraus ins Zentrum der Auf-
bildetste Zivilisation und die >modernste< Kultur ge- merksamkeit rückte, ohne darüber die respekthei-
hören nicht nur zu meinem privaten Komfort sondern schenden publizistischen Leistungen des Fackel-Her-
sie sind z. T. geradezu Mittel meiner Produktion. Das ausgebers oder die an Goethe geschulte Sprachkunst
heißt: es liegt nicht in meiner Macht, meine Produk- des Dichters zu verkennen. Von einem Wienbesuch im
tionsanstalt nach Berlin 0 oder N zu verlegen. [... ] April1920 berichtet Benjamin: >>Kar! Kraus haben wir
Aber willst Du mir wirklich verwehren, auf meiner gehört, über dessen Veränderung gegen früher man-
kleinen Schreibfabrik, die da mitten im Westen liegt, ches zu sagen wäre- nichts aber dagegen!« (2, 85) Und
ganz einfach aus dem gebieterischen Bedürfnis von im Dezember desselben Jahres urteilt er, Kraus sei nun
einer Nachbarschaft, die ich, aus Gründen, hinzuneh- >>ganz auf dem Wege zumgroßen Politiker<< (120). Ob
men habe, mich zu unterscheiden- willst Du mir mit die späte Erinnerung Werner Krafts zutrifft, im Früh-
dem Hinweis, das sei ja nichts als ein Fetzchen Tuch, jahr 1916 habe Benjamin ihn, den begeisterten Fackel-
verwehren, die rote Fahne zum Fenster herauszuhän- Leser, noch >>von Kar! Kraus abzubringen<< versucht
gen?<< (25). Daß sich Benjamins Klassenlage durch das (Kraft 1996, 60), sei dahingestellt. Doch unverkennbar
Exil bald jener eines subalternen Lohnarbeiters nä- war es die engagierte Kriegsgegnerschaft des Wiener
herte, verleiht dieser Selbstbeschreibung nachträglich Einzelgängers, die Benjamin und Scholem spätestens
einen bitteren Beigeschmack; doch ändert dies wenig um 1918/19 für ihn einnahm. Seine singuläre Stellung
am hier skizzierten Grundsatzkonflikt, den zahlreiche in der deutschsprachigen Publizistik erlangte Kraus
Linksintellektuelle in ähnlicher Form durchlebten. durch die Haltung eines unerbittlichen Kämpfers ge-
In dem Essay über Kraus hatte Benjamin mehr von gen die Phraseologie der Kriegspropaganda und ideo-
diesem Konflikt zum Ausdruck gebracht als in anderen logischen Mobilmachung. Erst jenseits des Krieges
Arbeiten jener Zeit, und daran war die Art des Gegen- wurde diese Mission der Fackel erkennbar als das, was
standes nicht unbeteiligt. Daß Benjamin seine Über- sie unter den Händen eines Kar! Kraus einzig sein
legungen zur Politisierung des Intellektuellen gerade konnte: eine höchstpersönliche Kriegserklärung gegen
anläßlich des Werkes und der Person von Kar! Kraus die Mächte der VergeBlichkeit, Gewohnheit und Träg-
vortrug, erweist sich im Blick auf dessen eigene Ent- heit, die nichts lieber taten, als mit allen einstigen
wicklung als keineswegs arbiträr; Anknüpfungspunkte Kriegstreibern ihren Frieden zu machen.
526 Dichtungsanalyse und Autorbild

Es war eine präzise benennbare historische Erfah- Kraus also war der insgeheime Pate beim Hervor-
rung, die Kraus zu einem politischen Autor hatte rei- treten des Kritikers Walter Benjamin. Wie kein anderer
fen lassen: das sowohl moralische wie ästhetische hatte Kraus das kurze Gedächtnis und das taube Ge-
Versagen vieler Künstler und Intellektueller, die im wissen der Kriegdichter von 1914 zu seinem Thema
August 1914 der Kriegsbegeisterung durch patrioti- gemacht. In der Fackel hatte er schärfste Geschütze
sehe Schlachtengesänge Vorschub geleistet und dann aufgefahren gegen die Pariser Auftritte von Opportu-
in den Jahren der Kriegsführung wider besseres Wissen nisten wie Anton Wildgans (Die Fackel588-594) und
und ungeachtet der in die Millionen gehenden Opfer Alfred Kerr. Das dabei notorisch praktizierte Verfah-
am Phantasma eines Krieges um der >Ideen von 1914< ren, die Friedensgewinnler der Gegenwart an ihre frü-
willen weitergedichtet hatten. Vor allem Hugo von heren Kriegsbeiträge zu erinnern, wurde zum Marken-
Hofmannsthal, Hermann Bahr und Alfred Kerr pran- zeichen der Kraussehen Polemik jener Jahre. Polemik
gert Kraus immer wieder an, desgleichen galt aber aber kommt etymologisch wie sachlich vom Krieger-
ebenso für Thomas Mann oder Gerhart Hauptmann. turn selbst (gr. polemos: >Krieg<): >>Wer aber den Frie-
Nicht etwa seine pazifistische Grundhaltung be- den will, der rede vom Krieg<< (III, 25). Dieser Apho-
stimmte die mutige Sonderstellung des Fackel-Her- rismus aus der Unruh-Rezension birgt, wie dann in
ausgebers, vielmehr war es sein mit allen literarischen Benjamins Huldigung an Kraus in der EINBAHNSTRASSE
Mitteln geführter Kampf gegen jene Formen der deutlicher wird, eine ungewöhnliche Auffassung des
Kriegsdichtung und Kriegsberichterstattung, die alles, Wiener Kritikers, die ihn als eine Art Exorzisten des
was an der Front tatsächlich geschah, vom mörderi- Ersten Weltkrieges versteht. Um die bösen Geister aus-
schen Stellungskrieg bis zum Gaseinsatz, in ein euphe- zutreiben, bedarf es des im sprachlichen Medium
mistisches und anachronistisches Licht rückten. Der kämpfenden Kriegers, der sie beharrlich beim Namen
Kriegseinsatz der Dichter und Denker erfolgte dort, nennt und mit Wortgewalt auf sich zieht. Der >>Kriegs-
wo sie den realen Fronterfahrungen am fernsten wa- tanz<<, den Benjamins KRIEGERDENKMAL seinen Prot-
ren: >in der Phrase<. Wie zu Horazens Zeiten sollte das agonisten Kar! Kraus >>vor dem Grabgewölbe der deut-
Töten und Sterben, Töten- und Sterbenlassen als dulce schen Sprache<< (IV, 121) aufführen läßt, ist nichts
et decorum gelten, während der wirkliche Tod ver- anderes als der grelle Widerschein jener Phrasen, wel-
schwiegen oder verbrämt wurde. che die Pariser >>Friedensmission<< Fritz von Unruhs
Kraus aber ließ nicht davon ab, den in seinem im Koffer führte.
Grauen verharmlosten Krieg weiterhin und immer Benjamins Einstand als Kritiker lag ganz auf der
wieder Krieg zu nennen, erst recht in der allgemeinen Linie des von Kraus eröffneten und in stilisierter Ein-
Friedensrhetorik der Nachkriegsjahre. Wenn alle im samkeit ausgefochtenen Kampfes. Zeitweilig mag Ben-
Frieden schwelgten, blieb es dem Polemiker überlassen, jamin den Impuls verspürt haben, sich diesem Mono-
im Dienste eines höheren Pazifismus die Geister des manen zum Mitstreiter anzudienen -wie so mancher,
Krieges wachzuhalten: >>Die große Prosa aller Friedens- der von der Autorität K.K. dann schnöde zurückge-
künder sprach vom Kriege. Die eigne Friedensliebe zu wiesen wurde. Ein Versuch der persönlichen Kontakt-
betonen, liegt denen nah, die den Krieg gestiftet ha- aufnahme um die Mitte der zwanziger Jahre ist zwar
ben<< (III, 25). Diese mit Kraus gewonnene Einsicht nicht dokumentiert, vorstellbar allerdings ist ein sol-
bestimmt in Duktus und Ziel Benjamins scharfe Kritik cher Schritt Benjamins durchaus. Etwa folgenderma-
an den im Frühjahr 1925 unter dem Titel Flügel der ßen: >>Ein gewissenhafter Forscher hat sich der Aufgabe
Nike erschienenen Reiseberichten des ehemaligen unterzogen, in der Berliner Staatsbibliothek den Spu-
Frontoffiziers und Kriegsautors Fritz von Unruh. Die- ren der Kerr'schen Kriegslyrik zu folgen, und teilt mir
ser hatte sich 1914 als schäumender Kriegsdichter der als Resultat seiner Untersuchungen mit, daß >Tyrtäus
ersten Stunde betätigt und trat nun als internationaler einer der stärksten Defaitisten im Vergleich mit unse-
Friedensengel auf, lieferte mit konjunktursicherem rem Autor< gewesen ist. Er gewahrte auch die mörde-
Instinkt FRIEDENSWARE, wie Benjamin seine Rezension rischen Kriegsekstasen jenes Herrn v. Unruh, der nach
überschrieb (ein Prädikat, das im zeitüblichen Sprach- der großen Wendung der erste war, der den Anschluß
gebrauch die gehobene Qualitätsklasse bezeichnete). an den Feind gefunden hat und dem freilich die aktive
Die bissige Pointe folgt einer gleichnamigen Glosse aus Teilnahme an dem Unaussprechlichen zugerechnet
der Fackel vom Juni 1923, in der Kraus aufspießte, wie werden muß<< (Die Fackel 717-723, 50). Die Namen
sich unter den Bekanntschaftsanzeigen des Neuen Wie- seiner Gegner pflegte Kraus öffentlich zu machen, die
ner Tagblatts ein >>eleganter Sportsmann, Arier, akad. seiner Anhänger und Informanten hingegen nicht. Wer
gebildet<< als >>beste Friedensware<< anpries (Die Fackel immer ihm das Material über Kerr zuspielte, wußte
622-631, 152). genau, daß er damit des Kannibalen Leibspeise ser-
»Karl Kraus<< 527

vierte. Und er muß interessiert gewesen sein an der Benjamin allerdings, der den Autor 1920 in Wien aus
scheinbar ähnlich gelagerten pazifistischen Wandlung dem Kriegsdrama vortragen gehört hatte, scheint von
Fritz von Unruhs. dieser Veranstaltung kaum Notiz genommen zu haben,
Ausgerechnet Alfred Kerr, dem Berliner Großfeuil- wie seine betont gleichmütige Erwähnung des Gast-
letonisten, war im Januar 1926 die Ehre zuteil gewor- spiels suggeriert.
den, an der Sorbonne über >>die Kunst als Mittel zur Sicher nicht zufällig findet sich im selben Brief eine
Annäherung der Völker<< zu sprechen. Die Kraussehe weitere Kraus betreffende Mitteilung, der Hinweis auf
Glosse Kerr in Paris erschien wenige Monate vor Ben- das später so genannte KRIEGERDENKMAL. In dieser
jamins Rezension FRIEDENSWARE, deren Entwurf be- knapp eine Seite (die natürliche Umfangsgrenze für
reits im Herbst 1925 niedergeschrieben worden war. Inschriften und Epitaphe) umfassenden Hommage ist
Für die Druckfassung tilgte Benjamin im darauffol- Kraus der Krieger und das Denkmal zugleich. >>In Tag-
genden Frühjahr eine Passage, die explizit auf Kraus und Nachtwachen<< hält er die Untaten und Unworte
bezugnahm (vgl. III, 612). Enttäuschte Abkehr eines des Weltkriegs lebendig, von der Sprache selbst >>zur
Bewunderers? Zu dieser Zeit wohl noch nicht. Eher ein Rache<< aufgerufen. Pathos und mimetische Nähe zu
allmählich einsetzendes Gespür dafür, daß blankes elementarer Blutgewalt bietet Benjamin auf, dieselben
Nacheifern nicht anders denn als Kombination von Mittel dem Porträtierten zuschreibend. >>Auf einem
Abhängigkeit und Aufdringlichkeit interpretiert wer- archaischen Felde der Ehre, einer riesigen Walstatt
den konnte. Denn nicht genug, daß ihm der Fackel- blutiger Arbeit rast er vor einem verlassenen Grabmo-
Herausgeber mit der Friedensware-Glosse und den nument<< (IV, 121). Kraus ist der Krieger, dessen Krieg
Polemiken gegen die Frankreichauftritte ehemaliger nicht endet. Und wirklich: Zieht er nicht einen gera-
Kriegstreiber das Thema vorgegeben hatte, Kraus war dezu sadistischen Lustgewinn daraus, den Wiener und
Benjamin auch in der Kritik an Fritz von Unruh noch Berliner Kriegsdichtern ihre einstigen Torheiten stets
zuvorgekommen. Bereits im März 1925, also unmit- aufs Neue vorzuhalten? Bis zum Überdruß begegnet
telbar nach ihrem Erscheinen, wurden die Flügel der der Fackel-Leser dem unsäglichen Kriegssegen Her-
Nike des in Wiener Salons hoch gehandelten Autors mann Bahrs und dessen renommiersüchtiger >>Feld-
(>>über allen Gipfeln ist Unruh<<, Die Fackel 679-685, korrespondenZ<< mit Hugo von Hofmannsthal, vor
11) in der Fackel kunstgerecht auseinandergenommen. allem anderen aber jenem infantilen antirumänischen
Wenn Benjamin einen Treffer landete, so hatte Kraus Schmähgedicht, das mit dem Pseudonym Gottlieb ge-
bereits zugeschlagen; wo Benjamin hinwollte, dort zeichnet war, hinter dem sich >>mit Recht Alfred Kerr
hatte sich Kraus immer schon eingerichtet. verbirgt<<. Kerr, >>der seit dem Krieg den Völkern die
Hand reicht und ihnen verzeiht, was er ihnen lyrisch
angetan hat<< (Die Fackel 717-723, 47), durfte bei
Stationen mißglückter Nähe Kraus auf vergeßliche Milde nicht hoffen. Denn was
dieser sah und attackierte, war keine Versöhnungsbot-
>>Kar! Kraus war hier, um den ich mich nicht geküm- schaft, sondern >>die unreflektierte, abermalige Rück-
mert habe<< (3, 152). Dies schreibt Benjamin aus dem verwandlungen nicht prinzipiell ausschließende Ver-
Pariser Frühling des Jahres 1926. Ihre Wege kreuzten wandlung von enragierten Kriegbarden in engagierte
einander, ohne sich zu berühren. Wie meist bei seinen Friedensboten<< (Krolop 1994, 86).
auswärtigen Gastspielen, absolvierte Kraus ein dicht- In der langjährigen Gegnerschaft zu Kerr erreichte
gedrängtes Auftrittsprogramm, das zwischen dem 16. der Kraussehe Exorzismus seinen Höhepunkt. Ein
und 24. April drei Vorlesungen an der Sorbonne und Berliner Gastspiel stilisierte Kraus zum veritablen
zwei im Theatre du Vieux-Colombies umfaßte. Die dämonischen Austreibungsakt, wie wir aus einem
symbolische Bedeutung dieser Visite für den Vortra- Bericht Walter Benjamins wissen, der am 26. März
genden selbst ist kaum zu überschätzen. Dort, wo 1928 die Lesung aus Werken von Jacques Offenbach
Wildgans, von Unruh und Kerr ihr Podium gefunden besucht hatte. Die enorme Wirkung des Abends ist in
hatten, konnte nun Kraus seinerseits das Wort ergrei- Benjamins Brief an Alfred Cohn noch spürbar. >>Un-
fen und zu abendfüllenden Gegendarstellungen aus- ter den Zusatzstrophen gab es ein Couplet mit dem
holen. Auf dem Programm stand u. a. jene Szene aus Schlußvers >Ich bring aus jeder Stadt den Schuft- her-
dem 3. Akt der Letzten Tage der Menschheit, die sich aus<. Es war deutlich, daß das auf Kerr ging. Kurz vor
mit der Kriegslyrik Alfred Kerrs beschäftigt. >>Schon der ersten Pause verlas Kraus, stehend, einen kurzen
diese Ankündigung<<, heißt es rückblickend in der Fak- Text, der darauf hinauslief, zu sagen: >Ich nenne hier
kel, >>hatte den Effekt, die Stätte, wo Herr Kerr aufge- Kerr öffentlich einen Schuft, um zu sehen, ob ich ihn
treten war, zu entsühnen<< (Die Fackel 726-729, 74). auf diese Weise zu einer Klage werde zwingen können.
528 Dichtungsanalyse und Autorbild

In meiner Hand sind die Beweise, daß Kerr mich im gegen Kerr, auf den der Vortragende wie der Bericht-
Jahre 1916 den obersten Militärbehörden als hoch- erstatter den allergrößten Wert gelegt hatten.
verräterischen, defaitistischen Autor denunziert hat.<<< Zwei kleinere Texte über Kraus ließ Benjamin die-
( 3, 358 f.) Was Kraus so erbittert hinter seinem Ber- sem herben Rückschlag zunächst folgen: eine dem
liner Erzfeind herjagen ließ, waren höchst solide, KRIEGERDENKMAL vergleichbare physiognomische
nämlich idiosynkratische Motive (vgl. II, 346); hier Miniatur, in der die jüdischen Züge des Porträtierten
stand die Sache des unerschrockenen Kriegsgegners stärker zur Geltung kommen (II, 624 f., publiziert am
auf dem Spiele, die auch nach mehr als einem Jahr- 20. Dezember 1928), und die eher konventionell ge-
zehnt nicht verjährt war. Und nun sprang der Funke haltene Theaterkritik über WEDEKIND UND KRAUS IN
auf Benjamin über, der nicht anstand, ihn weiterzu- DER VoLKSBÜHNE (IV, 551-554) vom 1. November
tragen und sich dem explosiven Gemisch der 1929. Im Frühjahr 1930 schließlich nahm er, im Zuge
Kerrschändung in Berlin als Lunte anzudienen. >>Mir des mit Rowohlt vereinbarten Essay-Bandes, die Arbeit
ist zu dieser Vorlesung [... ] einiges eingefallen und ich an einem breiter angelegten Versuch über Kraus auf,
wollte unbedingt über sie schreiben, natürlich ohne in den dann die zentralen Motive und auch etliche
diesen Zwischenfall zu eskamotieren, sondern viel- Textelemente der früheren Beiträge Eingang fanden.
mehr kurz ihn als dynamisches Zentrum des Abends Der von Benjamin selbst als »Essay<< bezeichnete Auf-
hinstellen<< (3, 359). satz KARL KRAUS erschien am 10., 14., 17. und 18. März
Benjamin hatte nach der Vorstellung »von Kraus 1931 in der Frankfurter Zeitung als Artikel in vier Tei-
einen größeren Eindruck als je bisher<<. Bei solchen len, wobei die vom Autor intendierte Dreiteilung (All-
Gelegenheiten erwies sich Kraus, so hat es auch Elias mensch, Dämon, Unmensch) durch eine Trennung des
Canetti bezeugt, als Rezitator von Graden und wir- Schlußdrittels um einen vierten Abschnitt erweitert
kungssicherer Mime, der ohne die üblichen Bühnen- wurde, den die Redaktion mit der Ziffer IV versah. (Da
effekte auskam. An jenem Abend bot er einen Offen- die Frankfurter Zeitung damals mehrere Ausgaben pro
bach ohne Orchestermusik und bunt kostümierte Tag herausbrachte, deren Feuilleton unterschiedlich
Akteure, und auch von sich selbst »nur Kopf undArme umbrachen war, existieren möglicherweise auch Ex-
und Rumpf<<, notiert Benjamin. So »entblößt von allen emplare der Zeitung, die den Benjaminsehen Text in
Mitteln<<, ganz Stimme und Mimik, entrollte Kraus vor anderer Stückelung oder gar nicht enthalten (II,
seinem Publikum »mit den wilden Gebärden des 1115f.).
Marktschreiers<< das »Pandämonium<< der Fackel, sein Einen Auszug aus dem dritten Teil des Essays brach-
höchstpersönliches »Schreckenskabinett<<, an dessen ten noch im selben Monat die Blätter der Staatsoper
prominentester Stelle er, »dieser Stadt zu ehren<<, Al- und der Städtischen Oper in Berlin heraus, da zu dieser
fred Kerr plazierte (IV, 516f.). Die Darbietung des Zeit Offenbachs Perichoie in der Kraussehen Textbe-
Offenbach-Interpreten war die Kostprobe eines cir- arbeitung gegeben wurde. Und abermals mißriet die
censischen Provokateurs, dessen höchste Kunstfertig- vermeintlich glückliche Koinzidenz ohne Benjamins
keit darin bestand, die inkorporierten Stimmen unter Verschulden zu einem Debakel. Schon wieder wurde
Zurücknahme der eigenen Person wundersam »aus der exponierte Name Kerr aus Benjamins Text rück-
sich heraus<< sprechen zu lassen. Im Grunde war das sichtsvoll entfernt, was dank der Vergleichsmöglichkeit
»dynamische Zentrum<< des Auftritts, die namentliche mit der Frankfurter Zeitung dem in Berlin weilenden
Beschwörung und Verfluchung des »Schuftes<< Kerr, Gegenstand der Studie sofort auffallen mußte. Kraus
nichts anderes als das Spektakel einer Teufelsaustrei- ließ es sich nicht entgehen, diesen Zensurakt des Dra-
bung. Wer jenen auf die Bühne brachte, mußte schon maturgen der Krolloper, Hans Curjel, in einem Berli-
der Leibhaftige selbst sein. Um den Teufel hervorzu- ner Vortrag am 2. April prompt aufzuspießen, und
rufen, nahm Kraus das »schreckliche Vorrecht des bald darauf auch in der Fackel anzuzeigen, daß »im
Dämons<< in Anspruch, die »Zweideutigkeit<< (IV, 516). Inventar meines Schreckenskabinetts [... ] eine der
In diesem Befund kulminierend, hatte Benjamin den Nummern und zwar gerade die zugkräftigste abhan-
Auftritt und seinen dynamischen Kern erfaßt. Doch den gekommen<< war (Die Fackel852-856, 27). Indem
blieb diese neuerliche Annäherung an die Instanz K.K. Kraus dabei seiner Erwartung Ausdruck gab, Benjamin
insofern glücklos, als ihr von der erwartbaren Presse- werde »aufVollzähligkeit Wert legen<< und seine Auto-
zensur genau jener Nerv gezogen wurde, den Kraus bei renrechte geltend machen, nötigte er diesen förmlich
seiner Lesung freigelegt und traktiert hatte. Nach Ab- dazu, eine Richtigstellung von der Krolloper zu ver-
sagen anderer Blätter erschien Benjamins Bericht KARL langen, wie sie Benjamin denn auch unter Androhung
KRAUS LIEST OFFENBACH (515-517) am 20.April1928 juristischer Mittel von Südfrankreich aus im Sommer
in der Literarischen Welt- aber gekürzt um den Angriff 1931 durchsetzte. Eine neuerliche Notiz in der Fackel
»Karl Kraus« 529

vermeldete die erfolgte Richtigstellung mit Genugtu- giseben Echo des adamitischen Beim-Namen-Rufens
ung und übermütigem Wortwitz: >>Ja, aufheimlichen wird, findet Kraus für dessen Verfasser nur dürre Um-
Strichproben ruht kein Segen. Curjeleison! (auf schreibungen, der Name Walter Benjamins kommt
deutsch: Herr, erbarme dich!) mochte der Generalmu- ihm nicht in die Zeilen. >>Sehr enttäuscht<< zeigte sich
sikdirektor Klemperer ausrufen, der viel zu katholisch über die von Kraus zur Schau gestellte Indifferenz
orientiert ist, als daß ihm solche Dinge nicht wider den Theodor W. Adorno: >>Nichtverstehen gilt nicht als
Strich gingen<< (Die Fackel857-863, 119f.). So verlief Entschuldigung, das Verstehen exponierter Dinge ist
die Episode, in einer nicht untypischen Weise, als allemal eine moralische Sache [... ].Aber bei Kraus liegt
kleinteiliges Scharmützel mit letzdieher Satisfaktion, der Fall natürlich ganz anders und beweist eigentlich
die Kraus über Benjamins Kopf und Text hinweg er- die Richtigkeit von Benjamins These- er verhält sich
langte. wie ein Geist, der beim Namen gerufen wird<< (Adorno
Der Vorgang hatte Kraus immerhin Anlaß gegeben, 1997, 265).
sich als Gegenstand des Benjaminsehen Essays selbst
zu Wort zu melden. Er tat es indes so unwirsch und
abweisend, daß der Eindruck naheliegt, Kraus habe Allmensch. Dämon. Unmensch (1):
seinen Ärger über die Manipulation des Operndrama- gesellschaftliche und natürliche Person
turgen auch auf den Autor des Essays übertragen. Ben-
jamins Arbeit sei >>sicherlich gut gemeint<< gewesen, so Den Eindruck einer psychologisierenden Charakter-
das herablassende Urteil, und >>wohl auch gut gedacht<<, studie mochte der Essay durch die Eigentümlichkeiten
doch habe er, Kraus, ihr >>im wesentlichen nur entneh- einer Vorgehensweise genährt haben, die weder eine
men können, daß sie von mir handelt, daß der Autor Werkanalyse noch einen Lebensabriß, sondern eine
manches von mir zu wissen scheint, was mir bisher intellektuelle Physiognomik des Porträtierten zu geben
unbekannt geblieben war, obschon ich es auch jetzt versuchte. Diese Darstellungsform hatte Benjamin in
noch nicht klar erkenne<<. Schnöder läßt sich eine Sym- seinen Arbeiten über Gottfried Keller, über Johann
pathiebekundung kaum zurückweisen. Die um kon- Peter Hebel und später über Franz Kafka zur Meister-
geniale Nähe bemühten Bemerkungen zum Charakter, schaft entwickelt, in der Studie ZuM BILDE PRousTs
zum Typus, zur Persönlichkeit des Kar! Kraus laufen wird das Verfahren im Titel selbst angesprochen. Das
bei dem umworbenen Adressaten ins Leere. Die Abfuhr ausdrückliche Ziel jener Studien war es in der Tat, mit
vollendet ein letzter, vernichtender Stoß, wie zum bildhaften, anschaulichen Mitteln das literarische >Ge-
Hohn in zarte Klammern verpackt, der Benjamins sicht< eines Autors in seinen Grundzügen zu entwerfen,
physiognomische Verfahrensweise gänzlich zu des- ihn anhand seiner biographischen Entwicklung wie
avouieren versucht: »Vielleicht ist es Psychoanalyse<< seinen stilistischen Besonderheiten als Persönlichkeit
(Die Fackel852-856, 27f.). vor das geistige Auge des Lesers zu stellen. In gewisser
Trotz des Nachgeplänkels um Kerr, das Urteil über Weise schreiben die Arbeiten Benjamins damit eine
Benjamin war damit gesprochen. Als wollte der große von Friedrich Schlegel getroffene Unterscheidung fort,
Sezierer ein Exempel statuieren gegenüber jenen, die der seine literarischen Studien in >>Charakteristiken<<
nun ihn vivisezierten und dabei der Person K.K. zu und >>Kritiken<< eingeteilt hatte.
nahe traten. An Scholem schrieb Benjamin im Juni, Erkenntnistheoretisch gesehen stellt Benjamin
»die Reaktion von Kraus konnte vernunftgemäß gar durch diese >>physiognomische Technik<< eine Form des
nicht anders erwartet werden als sie ausgefallen ist<<, Zusammenhanges >>zwischen intellektueller Produk-
nun werde hoffentlich auch die seine zur entsprechen- tion und Gesellschaftsgeschichte<< her, die >>zu den
den Konsequenz in der Lage sein: >>daß ich nämlich Verfahren der wissenschaftlichen Abstraktion quer
nie wieder über ihn schreiben werde<< (4, 34). Und so steht<< (Lindner 1978, 194), da sie typologische Verall-
hielt er es denn auch. In Anbetracht der weitgehenden gemeinerung verbindet mit chiffrenhaft verdichteten,
politischen Obereinstimmung beider, ja des zumindest prägnanten Erfahrungsressourcen. Physiognomien
aus Benjamins Sicht gemeinsamen publizistischen sind für Benjamin keine psychologischen Data, son-
Kampfes: für eine kompromißlose Aufarbeitung der dern Werkzeuge der Konstruktion, Denkformen und
Kriegserfahrungen und gegen die kapitalistische Ver- Darstellungsmuster. Vom Trauerspielbuch bis ins Pas-
wahrlosung der Presse, überrascht die Schärfe der sagenwerk bleibt diese Form der analytisch-figurativen
Kraussehen Replik und die Vollständigkeit seiner Pointierung erstaunlich konstant. In Figuren wie dem
Nichtbeachtung Benjamins denn doch. Auf einen Es- Melancholiker, Sammler oder Flaneur, dem Erzähler
say, der die Autorität Kar! Kraus derart prominent oder dem Gerechten rekonstruiert Benjamin histori-
setzt, in dem die Kraussehe Zitatkunst zum sprachma- sche Problemlagen als typische Haltungen, Sozialcha-
530 Dichtungsanalyse und Autorbild

raktere oder Rollenpositionen. Auf einer anderen samen >>Logik<<, indem sie als >>Gesamtthema<< die >>De-
Ebene verkörpern sich allegorische und metaphysische formation des Menschen<< entfalten. So gesehen, wären
Elemente in figurativen Ausdrucksformen, etwa in den die Präfixe des >>All<<- respektive >>Un<<-Menschen keine
virtuellen Gestalten des Dämons oder des Engels der Auszeichnungen, die das Unikum Karl Kraus außer-
Geschichte. Wenn Benjamin von Kraus als einem cir- halb der Normalskala positionierten, sondern Indika-
censischen Marktschreier spricht, einem Schamanen toren seiner Tauglichkeit als Symptom und Exempel
oder Menschenfresser, so schlagen die Funken der küh- für gesellschaftlich bedingte Varianten der Entmensch-
nen Abbreviatur aus dem suggestiven Kurzschluß zwi- lichung einerseits idealisierender, andererseits regre-
schen empirischer Person und allegorisch-typisieren- dierender Art. Zweideutig fällt der Steckbrief des Wie-
der Überzeichnung. ner Bildungsbürgers und Pamphletisten aus, zweiwer-
Da war sie nun, die von Scholem monierte Zwei- tig ist auch der Aggregatzustand des bürgerlichen
deutigkeit: nicht aber als taktische Finte zur Verteidi- Individuums: als Citoyen und Bourgeois, als rechtlich-
gung (und gleichzeitigen Vermeidung) eines doktri- gesellschaftliches Abstraktum und als empirisch han-
nären Standpunktes, sondern als Darstellungs- und delnder, auf Wahrung seiner Privatinteressen bedach-
Erkenntnismethode, die in der Schreibhaltung auf eine ter Einzelner. Im dritten Teil des Essays schaltet Ben-
schwebende Verbindung objektiver und subjektiver jamin zur analytischen Klärung eine Passage aus
Motive abzielte, mit gewichtigen Vorbehalten aufbei- Marxens früher Abhandlung Zur Judenfrage ( 1844)
den Seiten. Geflissentlich und zugleich spielerisch ein, um die strukturelle Doppeldeutigkeit von politi-
ergeht sich der Dreischritt aus >>Allmensch<<, >>Dämon<< schem und natürlichem Gattungswesen als Erschei-
und >>Unmensch<<, nach dem Benjamin die drei Ab- nung einer spezifischen Wirtschafts- und Gesell-
schnitte seines Essays untergliedert, in philosophischen schaftsform, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen,
Anklängen an die idealistische Dialektik; indes doku- zu kennzeichnen. >>Der wirkliche Mensch ist erst in der
mentieren die zahlreichen in den Paralipomena wie- Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre
dergegebenen Aufbau-Skizzen, daß Benjamin solche Mensch erst in Gestalt des abstrakten Citoyens aner-
triadischen Schemata in immer neuen Anläufen auf- kannt<<, bringt Marx die konstitutionelle Schizophre-
gestellt hatte, nur um ihre pseudo-objektivierende nie der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher >>der
Systematik alsbald wieder zu verwerfen. Ebenso prekär unpolitische Mensch [... ] notwendig als der natürliche
bleibt in der Ausformung auch die subjektive Seite, Mensch<< erscheint, auf ihre naturgemäß widersprüch-
Benjamins vermeintliche Annäherung an die Psycho- liche Formel (zit. li, 364; Marx 1956, 370).
logie bürgerlicher Charakterstudien. Haß, Autorität, Im Status quo einer warenproduzierenden (>ent-
Schmeichelei und Grausamkeit, grenzenlose Eitelkeit, fremdeten<) Gesellschaft existiert der Mensch als Ak-
höchste Strenge und tiefste Verzweiflung werden als teur und Adressat des humanistischen Ideals freier,
menschliche Triebkräfte jener Wortmaschine namhaft gemeinschaftlicher Selbstbestimmung nur abstrakt,
gemacht, deren Energie die Fackel speist. Mit Beschwö- losgelöst vom wirklichen, d. h. wirksamen, arbeitenden
rungsgesten, die kleinere Münze nicht zu geben bereit Menschen des tagtäglichen Lebens. In der Überwin-
sind, wird Karl Kraus als Allmensch, Dämon und Un- dung des zwischen beiden Bereichen klaffenden Hiats
mensch aufgerufen, letzterer gar in der Zwiegestalt von sah Marx das Kriterium einer umfassenden >mensch-
Menschenfresser und Engel. All das durfte nicht und lichen Emanzipation<; und auf diese Perspektive wie-
wollte zugleich eben doch - persönlich genommen derum stützt sich Benjamins These, daß der >>reale
werden. Eine Betriebsbesichtigung beim Egomanen Humanismus [... ] bei Marx dem klassischen die Stirne
kann nicht anders, als erstens zur Charakterstudie zu bietet<< (li, 364). Der >>Allmensch<< des ersten Abschnitts
geraten und sich zweitens auf diesem Felde in Wider- fungiert als die eine Seite des Hiats, der >>Unmensch<<
sprüche zu verstricken. Die Zweideutigkeit im Vorge- des dritten als die andere, entgegengesetzte. Beides sind
hen korrespondiert jener im Befund selbst: Wird sie Schräglagen, in welchen ein Mensch nicht aus freien
am betrachteten Gegenstande alljenen Phänomenen Stücken stehen kann. Dem Goetheschen Bildungsge-
zugeschrieben, welche den Kräften des Dämonischen danken der allseitig entwickelten Persönlichkeit wider-
unterliegen (li, 350, 353 u.ö.), so führen auch die Sphä- spricht >>der verarmte, reduzierte Mensch dieser Tage<<
ren von Allmensch und Unmensch einen dämonischen (341). Verkörpert der Allmensch die Ideenwelt eines
Index mit sich, indem sie die wirkliche Person K.K. in abstrakten, klassisch-idealistischen Humanismus, so
ein Parallelogramm elementarer Triebkräfte zerle- der Unmensch die Wirtschaftswelt eines entfesselten
gen. Kapitalismus, in der Hobbes' Faustregel des homo ho-
Nach der Beobachtung Horst Folkers' (Folkers 1999, mini Iupus das Sagen hat und in der das Menschenle-
1729) gehorchen die drei Komponenten einer gemein- ben buchstäblich aufgefressen wird vom Zynismus des
»Karl Kraus« 531

ökonomischen Kalküls, das dort mit der unum- freier Natur einen Wald voller Zeitungen zum Vor-
schränkten Macht eines Naturgesetzes gilt. Wer aber schein, während in den Presseerzeugnissen die Gesetze
in jener Sphäre als Unmensch und Menschenfresser des Dschungels herrschen.
erscheint, das sind nicht die Exekutoren des Unmensch- Deformationen sind das Metier des Mimen und des
lichen, sondern Satiriker vom Schlage Swifts, der in Polemikers. Der junge Peter Suhrkamp, Pädagoge und
seinem Modest Proposal die kannibalistische Logik der Publizist, den Benjamin als typisch bürgerliche Kon-
Armut beim Wort genommen hatte (355). Das jedoch trastfigur anführt, definiert in einem Leitfaden den
heißt: Anders als der nur in emphatischer Version Journalisten - ganz im Sinne eines >meritokratischen
denkbare Allmensch ist der Unmensch zweifach lesbar, Leistungsethos< - als einen Menschen, der »für die
moralisierend oder technisch. In der Kategorie des bloße Existenz<< von Dingen und Menschen wenig In-
Unmenschen greift Kraus das quid pro qua der Ideo- teresse habe und seine Aufmerksamkeit vielmehr »ih-
logie auf, um es gegen diese zu wenden. ren Beziehungen<< widme (335). Für Kraus gilt im
Die Denk- und Redefigur des quid pro quo ist ein Gegenteil, daß er sich bevorzugt »an Personen<< hält;
Schlüssel der Marxschen Analyse: Ein verkehrter An- ihm ist, »was sie sind«, wichtiger als das, »was sie tun<<,
schein ersetzt die wirklichen Verhältnisse so lange und und noch dieses interessiert ihn mehr als das, »was sie
vollständig, bis er sie wirklich ersetzt. Die gesellschaft- sagen«; am wenigsten gibt er auf das, was sie schreiben
liche Ordnung setzt sich stillschweigend als naturge- und zum Druck befördern (343). Den Abstand ver-
geben, während sie Natur wiederum als das ihr Entge- meintlicher Sachlichkeit überspringt er. Die Figur der
genstehende hypostasiert: als gottgegeben. Diese zwei- Umkehrung ist selbst dort am Werk, wo es scheinbar
fache Verschiebung vom Sozialen aufs Natürliche und am menschlichsten zugeht, in Fragen des guten Beneh-
von diesem aufs Göttliche wetterleuchtet als Problem- mens, der Höflichkeit und des Taktgefühls. Entgegen
lage am Horizont, wenn Benjamin etwas überraschend üblicher Auffassung kommt hier für Benjamin gerade
Kraus zum Heimatdichter deklariert (»Die Satire ist nicht das Schickliche, das »gesellschaftlich Gebüh-
die einzig rechtmäßige Form der Heimatkunst<<; II, rende<< zum Ausdruck. Indem taktvolle, höfliche Ver-
354) und ihn >>zwanglos« dem »allmenschlichen Kredo haltensweisen >natürliche< zwischenmenschliche Ver-
österreichischer Weltlichkeit<< zuordnet, »das die hältnisse unterstellen, unternehmen sie die unwahr-
Schöpfung zur Kirche machte<< (339 f.). Als prägenden scheinlichste Probe auf die Lebbarkeit einer verkehrten
Ausdruck dieses landschaftlichen Bekenntnisses führt Weltordnung. »Takt ist die Fähigkeit, gesellschaftliche
Benjamin Adalbert Stifters poetologische Vorrede zu Verhältnisse, ohne doch von ihnen abzugehen, als Na-
der Prosasammlung Bunte Steine an. Ästhetische Ge- turverhältnisse, ja selbst als paradiesische zu behan-
stalt gewinnt in ihr die von Marx ungefähr zeitgleich dein« (339). Mit dieser Bestimmung gibt Benjamin das
beschriebene Kluft zwischen Empirie und Sittlichkeit. Gegenstück zur früher besprochenen Apotheose der
Wenn nämlich Stifter im >Wehen der Luft<, im >Rieseln Landschaft. Er löst das Vermögen des Takts gänzlich
des Wassers< und >Grünen der Erde< das Walten höhe- aus der Sphäre außengeleiteter Konventionen und
rer Mächte verehrt, bekräftigt er damit die Eskamotie- preist es als eine Haltung der Pietät, die sich, ähnlich
rung des Menschenwerks aus der Natur, indem er diese wie die Empathie Stifters, innige Nähe zur Schöpfung
zur schöpfungstheologischen Allegorie überhöht. bewahrt. Sie macht am kreatürlichen Menschen, dem
Kraus hingegen gebraucht diese Natur als technisches sie Hochachtung entbietet, wieder gut, was am zoon
Mittel, indem er sie zur Darstellung biographischer politikon und seinen entfremdeten Sozialverhältnissen
und sozialer Sachverhalte heranzieht: »[ ... ] wie die nicht mehr zu retten ist. »[D] och ohne von ihnen ab-
Landschaft Österreichs schwellenlos die beglückende zugehen<<: In solchen Widerhaken steckt, mit Adorno
Breite der stifterschen Prosa erfüllt, so sind ihm, Kraus, zu sprechen, der grundlegende Selbstwiderspruch ei-
die Schreckensjahre seines Lebens nicht Geschichte, nes moralisch geforderten richtigen Lebens im fal-
sondern Natur<<. Zur Stiftersehen Waldesandacht prä- schen.
sentiert er die spiegelgenaue Umkehrung, indem er am Faszinierend an Kraus erschien nicht zuletzt die
nächstbestell Holzfäller den Ursprung des Wiener Vehemenz, mit der er sich in derartige Widersprüche
Pressebetriebs ins Auge faßt. »Es ist die Landschaft, in notwendig verwickelte oder vielmehr hineinstürzte.
der täglich 50.000 Baumstämme für 60 Zeitungen fal- Besonders drastisch ausgeformt sieht Benjamin »das
len<< (340f.). Der Satiriker weiß, »daß die Technik, seltsame Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie
einmal gegen die Schöpfung ins Feld geführt, auch vor und revolutionärer Praxis<< (342) in Kraus' Begriff ei-
ihrem Herrn nicht haltmachen wird<< (341). Durch nes sakrosankten Privatlebens. Denn wie nirgendwo
seine kalkulierte überdrehung der ohnehin Kopf ste- sonst hatten sich in jenem Leitwert die Bornierungen
henden bürgerlichen Weltordnung bringt er in Gottes eines dem Sozialen entfremdeten Besitzbürgertums zu
532 Dichtungsanalyse und Autorbild

übergreifender Geltung erweitert und als Schützens- erster Band im Entstehungsjahr des Kraus-Essays vor-
wertes Gemeingut darzustellen vermocht - bis die lag. Musil stellt einem Zeitalter postheroischer Sach-
machtgeschützte und möblierte Innerlichkeit von der lichkeit die Diagnose, es sei hier eine Welt von >Eigen-
ästhetischen Moderne mit rigoroseren Methoden un- schaften ohne Mann< entstanden. In der Annäherung
terlaufen wurde, als sie sämtliche Kollektivierungs- Benjamins erscheint Kraus gespiegelt und überlagert
phantasmen der Zeit an Zwangsmitteln zu ersinnen in von Typisierungen und Charakteristiken, die allesamt
der Lage waren. Es erscheint Benjamin als die denkbar zwar ad personam zu zielen vorgeben, aber nicht tref-
>>reaktionärste<< Parole, das bürgerliche Recht auf Pri- fen, sondern um den Menschen herumführen als in-
vatheit zu verteidigen >>in einer Gesellschaft, die die direkte Formen des Porträts, lauter Halbfertiges, Halb-
politische Durchleuchtung von Sexualität und Familie, richtiges und halb schon Ausgemustertes vorstellend.
von wirtschaftlicher und physischer Existenz unter- Bezeichnend ist auf Seiten Benjamins immer wieder
nommen hat<<. Adorno wird diesen Gedanken in seiner der Wille zum magischen Dreischritt: Die breit ange-
Besprechung von >>Sittlichkeit und Kriminalität<< wei- legten Arbeitsnotizen von 1930 nehmen sich etliche
terführen: Wenn Kraus im Kampf gegen die Presse die >>Motive<< vor, >>die auf drei Stufen durchgeführt wer-
legitime >>Forderung nach Diskretion<< erhebe, so be- den<<. Dabei folgen diese triadischen Begriffsreihen, die
wege er sich in einem bezeichnenden >>Antagonismus<<: eine Systematik mehr postulieren als begründen, denk-
>>Der Begriff des Privaten, den Kraus ohne Kritik ehrt, bar unterschiedlichen Kategorien und Kriterien. Man-
wird vom Bürgertum fetischisiert zum My home is my che Sequenzen sind Versuche der Typus-Bildung, so
castle<< (Adorno 1965, 61). Doch was, so wiederum etwa >>Das Tier/die Hure/das Kind<<, >>Vorleser/Drama-
wandte Benjamin gegen die eigene Kritik ein, wenn tiker/Beschwörer<< oder >>Polemiker/Prediger/Politi-
sich dieses Privatleben, etwa der proletarischen Bohe- ker<<; andere beschreiben eher eine Entwicklungslinie,
miens vom Schlage eines Peter Altenberg, längst >>im indem sie stufenweise radikalisierte Kritiker-Strategien
Gegensatze zum bürgerlichen<< befände? Das >>sich sel- benennen: >>Abdruck! Auseinandersetzung/Zitat<<, oder
ber abmontierende [... ] Privatleben der Armen<< (II, auch >>Reform der Presse/Vernichtung der Presse/Be-
342) hat eine andere Qualität als die Sekuritätsbedürf- nutzung der Presse<<; in wiederum verschobener Optik
nisse der Besitzenden, es tangiert auch jenen Reichtum rücken mit einer weiteren triadischen Reihe sodann
an biographisch akkumulierter Persönlichkeit, den die diversen Wirkungsstätten des Porträtierten in den
man >Erfahrung< nennt. Gegen Erfahrung, den letzten Blick: >>das Cafe/das Arbeitszimmer (Nacht)/der Vor-
bildungshumanistischen Restposten, steht Armut als tragssaal<< (II, 1088).
Losung der künstlerischen Avantgarde (vgl. ERFAH- Der Arbeitsprozeß ist aus den als >Paralipomena
RUNG UND ARMUT). zum Kraus< vom Autor selbst gesammelten Notaten
Das Stichwort >>Armut<<, ebenfalls nicht frei von als ein tentatives und dialogisches Verfahren erkenn-
Äquivokationen, dient Benjamin dazu, den Solitär bar. Das Phänomen Kar! Kraus wird nicht frontal an-
K.K. in eine künstlerisch-theoretische Gruppierung gesteuert, sondern durch triangulierende Konstellatio-
einzuordnen, wie sie der frühere Essay jenen Titels nen umrissen. Auch Benjamins eigene Position liegt
skizziert hatte (vgl. Il, 358), ein Grüppchen von hypo- hier nicht fest, sondern ergibt sich in einer ruhelosen
thetischer Zusammengehörigkeit, dem neben der >>Ar- trilateralen Auseinandersetzung: mit den zu überprü-
mut des Herrn Keuner<< auch die >>Krallenfüße<< von fenden Leitmarken der eigenen Denkwelt, mit dem als
Klees Angelus Novus zugehören, ferner die sternenglä- intellektuelle Instanz so lange mitgeführten Bezugs-
sernen phantastischen Räume Paul Scheerbarts und autor und schließlich mit dessen elementaren Motiven
der asketische Rigorismus eines Adolf Loos, seines und Gegenständen. Sind es für einmal nicht Drei-
Zeichens >>Drachentöter des Ornaments<< ( 1112). schritt-Sequenzen, so arbeitet Benjamin mit einer
Kombination von einander überlagernden Antithesen
bzw. Paar-Bildungen wie >>Sprache und Eros<< oder
Allmensch. Dämon. Unmensch (II): >>Geist und Sexualität<< (alle II, 1088), die dann wie-
der triadische Aufbau derum in eine algebraisch zu lesende Interrelation
gebracht werden: >>Sprache: Geist = Eros: Sexus<<
Durch die Auffächerung seiner Existenz in die Stufen (1096). In massierter Form stellen die arbeitsbeglei-
des Allmenschen, Dämons und Unmenschen wird das tenden Schemata Sentenzen und definitorische Sätze
komplexe Gebilde K.K. zu einer multiplen, in mehrere auf, entwerfen Formeln und Gleichungen; ein erstaun-
Charaktere zerfallenden Persönlichkeit entfaltet, ent- lich knappes Set von einem halben Dutzend Begriffen
wickelt, entzerrt. Nicht weit entfernt ist dies von Robert läßt Benjamin in immer wieder neuen Anordnungen
Musils Roman vom Mann ohne Eigenschaften, dessen auftreten. Zur stilistischen Maxime wird somit das auf
»Karl Kraus« 533

Kraus gemünzte: >>Stetigkeit der Motive - Armut an Vordergrund, als entschiedener Kämpfer wider die
Begriffen - Reichtum der Wortbedeutungen << ( 1098). journalistische Phrase. >Allmenschlich< im Sinne des
Der begrifflichen Strenge kontrastiert eigentümlich bildungshumanistischen Erbes ist sein Beharren auf
die an Kraus geschulte Technik des indirekten Zu-Ver- der Reinheit und Schönheit der Sprache, im Dienst an
stehen-Gebens durch Anspielungen und Zitate; nir- ihr greift der Kritiker zur Waffe des Schweigens. In der
gends hat Benjamin der Auswahl von Textstellen und Binnenstruktur dieser ersten Person schlägt Benjamin
der Anordnung von Motti größere Aufmerksamkeit wiederum eine triadische Ordnung vor. »Die Dreiheit:
gewidmet (vgl. 1088, 1096 u.ö.). Schweigen, Wissen, Geistesgegenwart konstituiert die
Aufkonzeptioneller Ebene hat Benjamin die dispa- Figur des Polemikers<< (II, 339). Wahre Sprachkunst
rate Stoffmasse und seinen vorgesehenen Argumenta- zeigt sich an der Fähigkeit, sie zurückzuhalten, an den
tionsgang ebenfalls mit Hilfe einer dreiteiligen Struk- Grenzen des Schweigens und des Zitats. Kraus führt
tur zu ordnen versucht, deren einzelne Positionen als Polemiker weniger das eigene Wort als jedes miß-
freilich mit immer wieder wechselnden Besetzungen brauchte, das er den Zeitungsphrasen entwindet und
ausgefüllt sind. Die prominenteste Funktion in dem gegen sie kehrt; eine »historische Leistung<< seiner
Spiel übergeordneter Begriffe hat zweifellos das Presse-Satiren liegt darin, daß er »die Zeitung zitierbar
»Recht<<, das in der Benjamin-Forschung als der zen- gemacht hat<< (Fürnkäs 1987, 212). Kraus erfand Tech-
trale Topos des Essays gewürdigt wurde (vgl. Folkers niken des Zitierens, die das inkriminierte Zitat nicht
1999), aber auch »Sprachlehre<<, »Polemik<< und »Dia- allein vor die Schranken des Gerichts zwangen, son-
lektik« werden häufig als Stichworte notiert (II, dern es zu Staub zerfallen ließen. Nicht in der Rede
1089ff.). Der Sphäre des Rechts wollte Benjamin jene selbst entscheidet sich ihre Bedeutung, sondern im
des Eros gegenüberstellen; die Betrachtungen über das Gestus dessen, der sie führt oder abweist. Durch das
»Verhältnis von Sexualität und Hure<< (1089) sollten Gegenstück des Zitats, nämlich »ein gewendetes
einerseits an den Rechts-Komplex über den Begriff der Schweigen<< (II, 338), parierte Kraus jene Art von Er-
>Schuld< angeschlossen, andererseits aber mit dem Be- fahrungen, die das Sprechen über sie nur hätte ver-
rufsfeld des >Journalismus< in Beziehung gebracht harmlosen können: die Kriegseuphorie vom August
werden. Ohne daß wirklich sichtbar wird, wie sich all 1914, die Ermordung Rosa Luxemburgs und Kar! Lieb-
dies einer konzisen Systematisierung unterwerfen knechts im Januar 1919, das Massaker an den Wiener
ließe, treten aus Benjamins Assoziationsfeld zwei der Demonstranten beim Brand des Justizpalastes 1927
großen Themen bzw. Angriffsziele von Karl Kraus - und später die Machteinsetzung Hitlers, die Kraus
deutlich hervor. Dies ist zum einen die unter dem Ti- nach Monaten mit dem von Brecht gewürdigten
tel Sittlichkeit und Kriminalität formulierte Kritik an Schweige-Gedicht der 888. Fackel beantwortete. Kann
der strafbewehrten bürgerlichen Doppelmoral, zum der Allmensch in der unablässigen Katastrophe »eine
anderen die süffisant diagnostizierte Affinität zwischen Nachblüte<< der Ausdrucksschönheit eines Claudius
Prostitution und Journalismus. Recht, Sprache und oder Goethe weder erhoffen noch wünschen, so un-
Eros, diese drei: als Koordinaten des Kraussehen Den- terscheidet er sich von der »herrschenden<< Sprache,
kens prangen sie makellos am Himmel überzeitlicher, indem er die von jener entwürdigten Ideale »außer
unbedingter Ideale, und zugleich schält sie der tagtäg- Kurs setzt<< (344).
liche Wortkampf immer wieder aus dem Morast tief- Die zweite Figur, unter deren Maske sodann der
ster Korrumpierbarkeit. In den Vorstudien Benjamins »Dämon<< seine Wortkunst betreibt, ist eine »persona<<
aber wollte sich weder durch Stichwortlisten (II, 1097, im Wortsinne: »das, wohindurch es hallt<< (347). Der
1104f.) noch durch Schemata (1088f., 1100) oder Vorleser spricht nicht in eigener Sache, er läßt andere
kleine graphische Skizzen (1090, 1093) eine überzeu- aus sich heraus sprechen. Kraus agiert hier weniger
gende Hierarchie aus dem wechselnden Arrangement polemisch denn mimetisch, er macht sich zum trans-
der Begriffe ergeben; jede gewählte Ordnung eröffnete mittierenden Medium fremder Stimmen und Bühnen-
wieder überraschende Querverbindungen und zog gestalten. Er liest, so sieht es Benjamin, vorzugsweise
neue Schematisierungs-Ideen nach sich. aus Dramen, »deren Urheber [... ] eine eigentümliche
Demgegenüber suggeriert die dann im Essay gefun- Mittelstellung einnehmen<< (ebd.) -gemeint sind so
dene Gliederung eine klare Anordnung der Themen- unterschiedliche, aber gleichermaßen zwischen Text-
gebiete und ihrer sukzessiven Entfaltung. Fast scheint gestalt und Bühnenwirkung hin- und hergerissene
es, als habe Benjamin dabei ein einheitliches, synthe- Autoren wie Shakespeare und Nestroy, doch letztlich
sefähiges Bild des behandelten Autors nicht mehr an- geht es um die mittlere Stellung des Dämons in diesem
gestrebt; gegeben wird vielmehr ein Drei-Personen- Porträt selbst. Ist doch der kritische Furor im Mimen
Stück. Im ersten Akt steht Kraus als Polemiker im nicht verstummt, er geht hier eher noch maliziöser zu
534 Dichtungsanalyse und Autorbild

Werke. Benjamin betont, >>wie eng verbunden mit der gestioneines bestimmten Entwicklungsganges verbun-
Grausamkeit des Satirikers die zweideutige Demut des den. Einen solchen hat man verschiedentlich auch in
Interpreten ist, die sich im Vorleser bis zum Unfaßli- den Abteilungen des Kraus-Essays nachzuzeichnen
chen steigert. In einen hineinkriechen - so bezeichnet versucht und hierbei dem Mittelstück eine entschei-
man nicht umsonst die niederste Stufe der Schmeiche- dende Bedeutung zuerkannt. Christian Schulte, der die
lei, und eben das tut Kraus: nämlich um zu vernichten<< umfassendste Studie zu Benjamins Kraus-Arbeiten
(ebd.). Sagt Benjamin der Satire eine sachliche Nähe vorlegte, betont die Verbindung des Dämonischen zu
zur kannibalistischen Logik des Kapitalismus nach, so den geschichtlich weit zurückreichenden Erfahrungen
entwirft er hiermit die komplementäre Technik einer eines perpetuierten Gewalt- und Unterdrückungsge-
aushöhlenden, gleichsam parasitären Kritik. schehens, das von Benjamin andernorts als ein Bereich
Beständig im Übergang zwischen eigenem und des Mythischen bestimmt wurde. Hier ist zunächst an
fremdem Lebenselement, führt die Person des Dämons den ebenfalls einer Dreiteilung folgenden frühen Auf-
eine amphibische Existenz. Widerlager ihrer schau- satz zu Goethes Wahlverwandtschaften zu denken. In
spielerischen >Demut< ist eine maßlose Eitelkeit. War der Disposition zu jenem Aufsatz hatte Benjamin für
der sachliche Gegenstand des ersten Abschnittes, die den ersten Teil das »Mythische als Thesis<< konzipiert,
Presse und ihre Korrumpierbarkeit, vergleichsweise um unter dieser Rubrik die Ehe als mythische Rechts-
eindeutig bestimmbar, so steht im zweiten Abschnitt ordnung sowie die mythische Naturordnung des Ele-
mit dem Verhältnis von »Geist und Sexus<< (350) etwas mentaren und das Schicksal zu behandeln, der zweite
ungleich Verwickelteres auf der Tagesordnung. Gegen- Teil sollte mit der in die Romanhandlung eingeschal-
stand und Personenrolle korrespondieren einander in teten Novelle das Thema der »Erlösung als Antithesis<<
ihrer untilgbaren Zweideutigkeit, wogegen die im er- entfalten, der dritte schließlich die »Hoffnung als Syn-
sten Abschnitt attackierte Presse als Metier deutlich thesis<< (I, 835-837). Der Abfolge dreier Stadien liegt
abfällt: »Journalismus ist Verrat [... ] am Dämon<< hier deutlich eine teleologische Perspektive zugrunde;
(352). zielt sie im ersten Schritt auf eine Emanzipation vom
Im dritten Akt übernimmt die Unperson das Regi- Banne mythischer Verhältnisse, so mit dem zweiten
ment. Der >Unmensch< leistet eine magische Sprach- auf die Utopie eines fragilen Augenblicks, in dem Frei-
arbeit, die sich der Mittel des Reims und des Zitats heit und Schönheit sich verbinden.
bedient. Als Dichter gewürdigt, rückt Kraus hier neben Im Passagen-Werk wird die Figur der »>ewigen Wie-
die Großen, sein Werk wird in einem Atemzug mit derkehr«< als »Grundform des urgeschichtlichen, my-
demjenigen Goethes genannt und der Bedeutung Ste- thischen Bewußtseins<< bestimmt (V, 177). In ähnlicher
fan Georges, »dem großen Partner<< (359), gegenüber- Weise ist die Welt der »Tagespresse<<, welcher Kar!
gestellt. Und doch hat der Unmensch in diesem Finale Kraus den Kampf angesagt hat, zu »[d]en immer glei-
die Humaniora längst hinter sich gelassen. Er ist es, chen Sensationen<< verdammt; ihr antwortet der Kri-
der im personalen Trio des Kar! Kraus die schlagend- tiker durch seine »ewig neue, [... ] unausgesetzte Klage<<
ste Wirkung erzielt; weder die Lichtseite der Aufklä- (II,345).IndemsichdasMythischeals»gewaltförmige[r]
rung noch die Nachtseite des Dämonischen bestim- Wiederholungszusammenhang<< (Schulte 2003, 37)
men sein Wesen, sondern die sachliche Effizienz einer verstehen läßt, gewinnt die im Kraus-Essay dieser Kri-
technisch armierten Destruktivkraft. »Er solidarisiert tik korrespondierende Rede von der >überwindung
sich nicht mit der schlanken Tanne, sondern mit dem des Dämonischen< (vgl. Il, 358) jenen programmati-
Hobel, der sie verzehrt, nicht mit dem edlen Erz, son- schen Richtungssinn, der auf die Emanzipation aus
dern mit dem Schmelzofen, der es läutert<< (367). der Gewalt des Immergleichen zielt (Schulte 2003, 31,
Anders als im dialektischen Schema des Hegeischen 50 f. u.ö.). Wie die meisten kategoriellen Bestimmun-
Systems, wo die nagenden Kräfte des Negativen in der gen des Essays hat auch diese eine doppelten Boden.
Mitte ihr Unwesen treiben, als Kluft zwischen dem Mit Kraus geht es darum, dem ewigen Gleichlauf einer
thetischen Ausgangspunkt und der höheren Synthesis, korrumpierten Sprach- und Gefühlswelt durch mime-
fungieren in Benjamins Kraus-Triptychon die beiden tisch -satirische List die Perspektive eines von ihr be-
Rahmenteile als Schauplätze der Negation, weil sie die freiten Lebens abzutrotzen. über Kraus hinaus und
Arbeit des Polemikers und Satirikers zeigen, den Krie- gegen ihn entwickelt Benjamin die These von einer
ger wider die Phrase und den >destruktiven Charakter<. Komplizenschaft des Dämons mit der mythischen
Zwischen ihnen aber befindet sich mit der Sphäre des »Vorwelt<< (II, 345), da die kontingenten Erscheinungs-
Dämons ein Ort, dessen Akteur sich seinerseits hinter formen von Presse oder Prostitution vom Dämon
Ambivalenzen und Widersprüchen verbirgt. Jeder (dessen Existenz sie ermöglichen) je schon als »Natur-
Dreischritt, zumal jener der Dialektik, ist mit der Sug- phänomen<< (353) hypostasiert werden. Dämonisch ist
»Karl Kraus« 535

Kraus, weil und sofern er die zeitgenössische Welt al- ten worden und keiner war je verlorener<< (IV, 121):
ternativlos erlebt. >>Daß ihm der soziologische Bereich daran mag sich die Haltung des Bewunderers ein Bei-
nie transparent wird - im Angriff auf die Presse so spiel genommen haben. Pathos-Formeln und Super-
wenig wie in der Verteidigung der Prostitution- hängt lative, noch dazu in hölzerne Wiederholungs-Schablo-
mit dieser seiner Naturverhaftung zusammen<< (ebd.). nen gepreßt, machen den Text schwerfällig, seine
Während die Marxsche Kritik die Unterscheidung na- kraftmeierische Behauptungs-Prosa angreifbar. Mit
türlicher und historisch-sozialer Determinanten for- schroffer Geste stellt sich der Autor abseits des von
muliert hatte, fällt Kraus, so der Vorwurf, hinter dieses Kraus entfachten Meinungsstreites, um für seine ei-
analytische Niveau zurück in den mythischen Bann gene Annäherung an den kontroversen Gegenstand
eines >>archaischen und geschichtslosen<< Menschen- rhetorisch eine höhere Dignitäts-Klasse zu beanspru-
bildes, dessen Natur sich vermeintlich >>in ihrem un- chen. >>Kein Name, der geziemender durch Schweigen
gebrochenen Ursein<< darstelle (ebd.). Im Horizont geehrt würde<< (ebd.). Das Zweitbeste nach der Option
einer sich in diesen Jahren geistig formierenden Kriti- des pietätvollen Schweigens ist eine Sprache, die sich
schen Theorie bedeutet der Vorwurf der Geschichts- bevollmächtigt weiß. Die wie in Stein gemeißelte
losigkeit eine Todsünde. Die bei Kraus geforderte Schlußsentenz dieses Epitaphs scheint einerseits die
Überwindung des Dämonischen wäre indes eine Über- Autorisierung durch den Betroffenen selbst anzustre-
windung auch jener Zweideutigkeit, die Benjamins ben, den sie andererseits aber bereits einer postumen
Porträt eines seiner wichtigsten Denk- und Darstel- Würdigung zu Lebzeiten unterzieht. >>Die Ehren seines
lungsmittel in die Hand gab. Todes werden unermeßlich, die letzten sein, die verge-
ben werden<< (ebd.). Daß der solcherart unter die Erde
gebrachte sich die angemaßte Legitimität seines Grab-
Verschlungene Widersprüche redners verbat, läßt sich denken. Im späteren Essay
und zweideutige Pointen: waren es hingegen stilistische Freiheiten wie die Cha-
Zur Darstellungsweise des Kraus-Essays rakterisierung des Vortragskünstlers als eines >>Markt-
schreiers<< (IV, 516), die zu dem für Benjamin enttäu-
Deutlich wurde an Benjamins Essay und mehr noch schenden, unterkühlten Echo des Porträtierten führ-
in den angestellten Vorstudien das Bestreben um eine ten.
systematische Entfaltung des Phänomens K.K. gemäß Wenn es um Kraus geht, zeigt sich Benjamin auch
dem Schema des dialektischen Dreischritts. Doch er- 1930 noch merkwürdig befangen in der Wahl seiner
gibt sich im Text selbst eher der Effekt einer Aufsplit- sprachlich-stilistischen Register. Attestierte er dem
terung des Porträtierten nach der Art einer von Ben- >dämonischen< Kraus eine mimetische Nähe zu den
jamin als Wahrnehmungsmodell hochgeschätzten befehdeten Zeitgenossen und Gegenständen, so ist in
optischen Kinderbelustigung, des Kaleidoskops. Man Benjamins Diktion wiederum eine mimetische Allver-
schaut in ein buntes Gewimmel zersplitterter Farben wandlung an Kraus spürbar, in der sich Bewunderung
und Formen, die sich beim Drehen des Tubus zu selt- und Rivalität, aber auch eine Art von Abwehrzauber
samen Lichteffekten zusammensetzen. Auch bei der verbinden. Dabei geht, wie bei anderen von der Fackel
Lektüre wandelt sich unter den von Abschnitt zu Ab- Beeindruckten, zunächst auch Benjamins >>Betrach-
schnitt wechselnden Beleuchtungen immer wieder das tung von der Quantität aus (die in Qualität um-
Bild, es treten neue Züge hervor, die aber bruchstück- schlägt)<< (II, 1091). Imponierend an der zu dieser Zeit
haft bleiben und in den Reigen der früheren Farbsplit- erkennbaren schriftstellerischen Lebensleistung des
ter zurücksinken, vielleicht, um in anderem Kontext Kar! Kraus war allein schon ihr schierer Umfang, auf
unerwartet wieder aufzutauchen. Es ist, nach dem den zweiten Blick ihre sprachliche Akkuratesse und
Gang durch die analytische und argumentative Ord- Detailversessenheit. Wie in der Fackel, herrscht auch
nung des Textes, nun von seinen ästhetischen Quali- in Benjamins Text ein beständiger Kampf um das tref-
täten zu reden, von der Darstellungsweise, die Benja- fendere Wort, es entschlüpft kein Motiv in die Zeile,
mins Auseinandersetzung mit Kraus in diesem Essay ohne zuvor auf seinen Streitwert befragt worden zu
gefunden hat. sein, und mehr als gelegentlich will der Autor durch-
Im Rückblick auf die Textur des KRIEGERDENKMALS blicken lassen, dem Sprachmagier auf die Schliche
läßt sich feststellen, daß Benjamins in anderen Stücken gekommen zu sein.
der ErNBAHNSTRASSE ungewöhnlich lockere, urbane Eine enge Grenze wird dem Herausgeber der Fackel
Diktion bei der Beschäftigung mit dem Wiener Sprach- gezogen, was seine Kompetenz zur theoretischen
künstler eine etwas angestrengt wirkende Militanz Durchdringung gesellschaftlicher Phänomene betrifft.
aufzubieten versucht. >>Kein Posten ist je treuer gehal- Fast parallel zu Benjamin hatte Kraus Ende der zwan-
536 Dichtungsanalyse und Autorbild

ziger Jahre näheren Kontakt zu Bertolt Brecht gefun- sich den Phänomenen zu nähern<< (ebd.). Ließe sich
den und dabei auch mit marxistischen Positionen zu nun von Benjamins Vergehensweise im Umkehrschluß
sympathisieren begonnen. Wenn Benjamin an Kraus sagen, daß in seinem Kraus-Porträt theoretische Vor-
theoretische »lnsuffizienzen« (II, 1092 f.) moniert und gaben auf Kosten ästhetischer Sensibilität gehen? Liegt
ihm gegenüber die soziologisch höherstehenden Ein- bei ihm gar eine gegenteilige >>Üherschneidung<<
sichten reklamiert, so verfällt er auf ein Argumentati- (1092), nämlich diejenige von >revolutionärer Theorie
onsmuster, mit dem er sich selbst in den folgenden und reaktionärer Praxis< vor? Eher scheint es, als trage
Jahren seitens der Vertreter des Frankfurter Instituts er den an Kraus monierten Widerspruch hier implizit
für Sozialforschung immer wieder konfrontiert sah. auch in eigener Sache aus.
Kraus habe weder »die sozialen Fundamente der Pres- Dies zeigt sich in der Kompositionsweise des Essays
sekorruption<< erkannt (die Benjamin im »Parteiwe- durch eine doppelte makrostrukturelle Ordnung, in
sen<< gegeben sieht), »noch ihre metaphysischen<< der unterhalb der skizzierten dreiteiligen Anlage eine
(nämlich den >>Nachrichtendienst<<) (1092 f.); tatsäch- zweiwertige Grammatik der Ambivalenzen, Wider-
lich hat Kraus die politischen, wirtschaftlichen und sprüche und Paradoxa sich bemerkbar macht. Es ist
medientechnischen Veränderungen in der Österreichi- der Bereich des Dämons und seiner nächtlichen Stun-
schen Zeitungslandschaft in vielen Glossen kenntnis- den, in dem beide Ordnungen einander überlagern.
reich und kritisch kommentiert. Die gravierendsten Die Nacht, bevorzugte Arbeitszeit des Autors und In-
Mängel sieht Benjamin in der Kraussehen >>Polemik stanz seiner dämonischen Eingebungen, fungiert als
gegen die Sexualjustiz<< ( 1092) gegeben, da Kraus >>die insgeheime Schaltstelle, sie ist das Umspannwerk des
Funktion der Prostitution im heutigen Klassenstaat<< triadischen und des antithetischen Feldes. In der
ebenso verkenne wie den Umstand, »daß sie ihrem >>Nacht-Wache<< des Karl Kraus erkennt Benjamin >>das
ursprünglichen Naturwesen durch die Aufgabe ent- Mittelstück seiner dreifach gestaffelten Einsamkeit: der
fremdet wird, im Abgrund zwischen den Klassen deren des Cafehauses, wo er mit seinem Feind, der des nächt-
Beziehungen herzustellen<< (1093). Aufschlußreich ist liehen Zimmers, wo er mit seinem Dämon, der des
diese Arbeitsnotiz, weil sie mit der Formulierung vom Vortragssaales, wo er mit seinem Werk allein ist<< (II,
>>ursprünglichen Naturwesen<< der Prostitution (vgl. 354). Aus der Dreiheit von funktionalen Charakterele-
auch die um 1921/22 entstandene Notiz über DIE menten des Schriftstellers bei seinen Auftritten blei-
DIRNE, VI, 75) im manifesten Widerspruch zur späte- ben, wenn die Worte verklungen sind, deren geräumte
ren Druckfassung liegt, in der genau jenes Denken in Schauplätze zurück, als sei ihnen das Geheimnis der
vorgeschichtlichen >>Naturphänomenen<< an Kraus Produktion anvertraut: eines geduldigen Ausharrens,
kritisiert wird. das mit oder ohne Zeugen allzeit zur Stelle ist. Das
Die These vom gesellschaftstheoretischen Defizit des Herzstück aber bildet die der Öffentlichkeit entzogene
Karl Kraus ist ein neuralgischer Punkt der Arbeit, da nächtliche Stube des Dämons, in der jene Gegensätze
Benjamin seinerseits mit soziologisch ungedeckten zueinanderfinden, aus denen das Schreibwerk des Karl
Konzeptionen wie Vorwelt und Urgeschichte zu ope- Kraus seine Grundspannung bezieht. >>Die Nacht ist
rieren pflegte, um zur entfremdeten bürgerlichen Ge- das Schaltwerk, wo bloßer Geist in bloße Sexualität,
sellschaft ein ihr enthobenes Gegenbild denken und bloße Sexualität in bloßen Geist umschlägt<< (ebd.).
formulieren zu können. Indem er Kraus durch seine >>Geist und Sexus<< fungieren in der Welt des Dä-
fundamentale Kritik gleichsam aus dem eigenen Di- mons als dessen bipolare Triebkräfte; sie >>bewegen sich
lemma der theoretischen Vermittlung zwischen über- in dieser Sphäre in einer Solidarität, deren Gesetz
zeitlichen Naturbegriffen und sozialgeschichtlicher Zweideutigkeit ist<< (350). Als Fermente einer alles
Konkretion entläßt, wertet Benjamin im Gegenzug den durchdringenden Ambivalenz gliedern sich Geist und
empirischen Gehalt der Kraussehen Schilderungen auf Sexus dem Ensemble der die Gesamtkonzeption tra-
und attestiert ihrem Autor eine um so innigere Bezie- genden Begriffe Recht, Sprache und Eros nun derge-
hung zu den beschriebenen Phänomenen selbst. So- stalt ein, daß sie mit diesen gleichsam bilaterale Bezie-
fern sich in Kraus richterliche Strenge verbindet mit hungen unterhalten, aus denen Mischformen, Derivate
einer für Benjamins Studienzwecke höchst ergiebigen und Konflikte verschiedenster Art hervorgehen. Vom
Milieu-Loyalität, kann die Fackel gar als Quelle sitten- Geist ergriffene Sexualität wird zum Eros, der im au-
geschichtlicher Erkenntnisse herangezogen werden; sie ratischen Wechselspiel von Nähe und Ferne sein vita-
gebe >>Modelle, wenn schon nicht die Theorie<< (II, les Element findet (>>Das Leben des Eros entzündet sich
337), urteilt Benjamin. >>Die Verschränkung eines bi- an der Ferne<<, hatte Benjamin in einem Fragment des
blischen Pathos mit der halsstarrigen Fixierung an die Jahres 1921 notiert; VI, 83 f.). Zwischen Eros und Spra-
Anstößigkeiten des Wiener Lebens - das ist ihr Weg, che wiederum gelingen übereinkünfte, wo letztere aus
»Karl Kraus« 537

der Funktion eines Instrumentes distanzierender >Mit- sten zufälliger Namens- oder Klangähnlichkeiten geht.
Teilung< heraustritt und, wie im Namen oder im Reim Zur Erschleichung billiger Pointen ist Benjamin ein
(vgl. II, 362), ihrerseits ästhetische Ereignisse generiert, viel zu skrupulöser Autor, der mit einer fast andächti-
von sinnlichem, aber kaum zu greifendem Reiz. Am gen Ernsthaftigkeit zu Werke geht. Dennoch gibt er
Schnittpunkt von Sexualität und Recht ist jener Begriff gelegentlich der Versuchung nach, mit der Denotation
der Schuld lokalisiert, der sich für Benjamin mit dem eines Namens seine Späße zu treiben, wie im Aufsatz
Bilde gekrümmter Leiber verbindet, das motivge- über GoTTFRIED KELLER, in dem der Leser von den
schichtlich von der im Kraus-Essay evozierten Leidens- Gängen eines >>Grotten- und Höhlensystems« immer
pyramide der Wiener Genesis zu den später kommen- >>tiefer in [den] Keller selbst hineingeleitet« wird (287).
tierten Strafphantasien Kafkas führt. Wenn die adamitische Namenssprache für die unver-
Sowohl Eros und Sprache als auch Sexus und Geist fügbare Gottesnähe der Kreatur und die >>Teilhabe am
sind von der Partie, wenn die Zweideutigkeit sich göttlichen Wort« (Schulte 2003, 40) bürgt, wie Benja-
schließlich im >>Witzwort« und in der >>Pointe« Bahn mins früher sprachtheoretischer Aufsatz von 1916
bricht, auf allerdings verschobene Weise: >>im Witzwort angenommen hatte (li, 140-157), dann entblößt das
kommt die Lust und in der Onanie die Pointe zu ihrem spielerische Semantisieren des Namens, wie in der in-
Recht« (350). Der Witz dieser seltsam verquer formu- strumentell domestizierten Sprache seine Würde be-
lierten Bemerkungbesteht darin, daß Lust und Pointe ständig angetastet und verletzt wird. Darum fallen, was
darin ihre Plätze getauscht haben. Geist und Sexus zunächst verwunderlich scheinen muß, die poetischen
unterliegen in ihrem je eigenen Metier, obsiegen aber Sprachmittel des Namens und des Reimes in das Me-
auf dem Schauplatz des Gegenübers. Doch bestünde tier des Unmenschen, der sich der Einsicht in die Ra-
in einem gelungenen Platzwechsel nicht gerade das tionalität instrumenteller Zurichtungen verweigert.
Ziel erotischer Spannung? An leerer Selbstbezüglich- In jedem echten Reimklang wird das Menschenge-
keit, so ist die überkreuz gesetzte Formulierung viel- machte übertönt durch ein Rauschen des Ursprungs;
leicht aufzulösen, kranken Onanie und Pointe, weil im nur scheinbar kontingenten Reich der Namen gibt
ersterer die wahre Lust fehlt und letzterer der geistvolle es keine Zufälle. Darin geht Benjamin d'accord mit
Witz. Dieser Passus inszeniert auf engstem syntakti- Kraus, dem Chronisten des Untergangs der k.u.k.-
schen Raum, wovon er der Sache nach handelt; das Monarchie, der dem berühmten Kürzel des moribun-
macht ihn fürwahr >zweideutig< und bringt ihn der den Staatsgebildes sein eigenes Markenzeichen ent-
stilistischen Entgleisung nahe. Auf eine unterschwel- wandt: >>das andere K.K., der nom de guerre, der Schat-
lige Weise gibt Benjamin zwei gegenstrebigen Affekten ten meines wahren Namens wich« (Kraus 1986ff.,
nach, er zeigt sich schamlos und selbstreflexiv zu- Bd. 10, 59f.). An Kraus geschult ist die für Benjamins
gleich. Schreibstil ungewöhnliche Entschlossenheit, den längst
Mit sprachlich-stilistischen Wagnissen sucht Benja- abgestumpften metaphorischen Wortsinn der Begriffe
min Anschluß an das >>hedonische Moment« (360) im wieder mit doppelter Klinge zu führen. Präsentierte
Werk von Kraus zu gewinnen. Als natürliche Verbün- Benjamin den Träger der Fackel zu Beginn in jener
dete solcher Experimente erscheinen ihm Sprachsub- barocken Emblematik, wie sie >>alte Stiche« zeigen, als
jekte, die es per definitionem nicht ernst meinen kön- >>mit gesträubten Haaren« herbeieilenden Boten, der
nen: Tiere, Huren und Kinder. Da ihre Rede jeden >>von Krieg und Pestilenz [... ] allerorten die >Neueste
justitiableu Wahrheitsanspruch unterläuft, sind ihre Zeitung< verbreitet« (II, 334), so nimmt der letzte Satz
Ausdrucksmittel von kompromißloser Authentizität. das Bild allegorisch modifiziert auf, indem nun der aus
>>Am Reim erkennt das Kind, daß es auf den Kamm den Figurationen von Kind und Menschenfresser her-
der Sprache gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quel- vorgegangene Engel in diese Rolle einrückt, er ist, bzw.
len im Ursprung vernimmt« (361). Wo die Sprache Kar! Kraus ist in seiner Gestalt, >>der Bote der alten
doppelzüngig >>auf dem Kamm« tönt, regrediert sie am Stiche« (367). Durch den unaufdringlich nahegelegten
Gegenpol des richterlichen Pathos zum Klangereignis Doppelsinn wird dem bedruckten, bebilderten Blatt
des Rauschens und >>Summens« (359), das >>nach so der immer neuen Zeitung die Kraft zugesprochen, alte
viel Stummheit im Tier und so viel Lüge in der Hure Stiche zu versetzen.
im Kinde zu Wort kommt« (361). So gewissenlos sich Die Geschöpfe bei ihrem Namen zu rufen, war das
der Wortwitz in der Pointe verlustiert, so arglos darf Privileg Gottes. In einer korrupten, von Geld und
sich die Unschuld des Reimes zeigen - auch er ein Macht bestimmten Zeitungslandschaft die Dinge beim
>>Zwitter aus Geist und Sexus« (360). Die Amoralität Namen zu nennen, ist heikel und nicht ungefährlich.
sprachlicher Zweideutigkeit nutzt aus, was immer die Kar! Kraus hat, in einem Akt höchster nationalpoliti-
Sprache bietet- und sei es ein Wortspiel, das auf Ko- scher Blasphemie, den Benjamin an prominente Stelle
538 Dichtungsanalyse und Autorbild

rückt, das berühmte »Gott erhalte<< aus Österreichs DIE WAFFEN VON MORGEN (IV, 1033)
WEDEKIND UND KRAUS IN DER VOLKSBÜHNE (IV, 551-554)
Nationalhymne auf den >>Kommunismus<< übertragen
(366). Unter dem seiner Namensmagie nur im Tabu
Literatur
gewissen >>Rumpelstilzchen<< des Kinderrätsels verbirgt
Adorno, Theodor W. ( 1965): >>Sittlichkeit und Kriminalität.
sich kein Elementargeist, sondern die Geheimwaffe des Zum elften Band der Werke von Karl Kraus<<, in: ders.:
Materialismus. >>Gott sei Dank daß niemand weiß/ daß Noten zur Literatur, Bd. 3, Frankfurt a. M., 57-82.
ich Marx und Engels heiß<< ( 1092). Diesen esoterischen Adorno, Theodor W./Alban Berg ( 1997): Briefwechsel1925-
1935, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a.M.
Schriftsinn seines Rumpelstilzchens hielt Benjamin,
Brodersen, Momme (1990): Spinne im eigenen Netz. Walter
um ihn der magischen Kräfte nicht zu berauben, im Benjamin. Leben und Werk, Bühl-Moos.
Depot seiner Vorstudien versteckt. Die Botschaft seines Cohen, Robert (1987): >>Schöne Geschichte diese Weltge-
Kraus-Essays aber besagt deutlich genug: In jenen >>al- schichte. Zum Nachruf von Karl Kraus«, in: The Germanie
Review 62/1, 37-43.
ten Stichen<<, die der geschliffene Polemiker in seinen
Cohen, Robert ( 1996): >>Ein Brief Rosa Luxemburgs und die
Angriffen auf Presse, Justiz und bürgerliche Moral Folgen oder Die Linie Luxemburg - Kraus - Benjamin<<,
versetzte, waren stets schon die Taten eines Revolutio- in: Das Argument )g. 38, H. 213,94-108.
närs zu sehen -wenn man sie denn beim Wort nahm. Djassemy, Irina (2002): Der >>Productivgehalt kritischer Zer-
störerarbeit<<. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W.
Man hätte die Fackel >>schon von der ersten Nummer Adorno, Würzburg.
an Wort für Wort buchstäblich verstehen müssen, um Fischer, Jens Malte (1980): >>Das technoromantische Aben-
abzusehen, daß diese ästhetizistisch ausgerichtete Pu- teuer. Der Erste Weltkrieg im Widerschein der >Fackel<<<,
blizistik, ohne ein einziges ihrer Motive zu opfern, ein in: Klaus Vondung (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Welt-
krieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen
einziges zu gewinnen, die politische Prosa von 1930 zu Deutung der Nationen, Göttingen, 275-285.
werden bestimmt war<< (II, 355). Folkers, Horst (1999): >>Recht und Politik im Werke Benja-
Der schneidende Nebensinn, der im Wort und im mins<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global ben-
Namen steckt, ist in argumentierender Rede nicht be- jamin, Bd. 3, München, 1724-1748.
Fürnkäs, )osef ( 1987): >>Zitat und Zerstörung. Kar! Kraus und
haftbar, darum läßt es Benjamin meist mit Andeutun- Walter Benjamin<<, in: )acques Le Rider/Gerard Raulet
gen bewenden. Einmal aber tritt die Namensmagie fast (Hg.): Verabschiedung der (Post-) Moderne? Eine inter-
feierlich hervor, in jenem antihumanistischen Credo disziplinäre Debatte, Tübingen.
des Unmenschen, das am Ausgangspunkt des bei Kraus Honold, Alexander (2000): Der Leser Walter Benjamin.
Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin.
klandestinen >>realen Humanismus<< alias Marxismus Kraft, Werner (1996): Spiegelung der Jugend. Mit einem
steht. Dem Orte Thierfehd im schweizerischen Kanton Nachwort von )örg Drews, Frankfurt a. M.
Glarus, wo Kraus im Juli 1917 >>Die letzte Nacht<<, den Kraus, Karl (1977): Die Fackel. Photomechanischer Nach-
Epilog zur Tragödie Die letzten Tage der Menschheit druck, 12 Bde, Frankfurt a.M.
Kraus, Kar! (1986ff.): Schriften. Bde. 1-20, hg. v. Christian
niedergeschrieben hatte, ist ein Gedicht gewidmet, das Wagenknecht, Frankfurt a. M.
mit folgenden Zeilen beginnt: >> Thierfehd ist hier: das Krolop, Kurt (1994): »>La trahison des clercs<. Kriterien der
sagt dem Menschsein ab,/ daß er es werde -/ wie an Kritik an den >Worthelfern der Gewalt<<<, in: ders.: Refle-
der Wand empor zum Himmel reicht/ die Erde<< (Kraus xionen der Fackel. Neue Studien über Kar! Kraus, Wien,
73-90.
1986ff., Bd.9, 124). Thierfehd am Tödi: der Name ist, Lindner, Burkhardt (1978): »Technische Reproduzierbarkeit
da ihm durch Benjamins Ausführungen zum Pro- und Kulturindustrie. Benjamins >Positives Barbarentum<
gramm des Unmenschen das Feld bereitet wurde, als im Kontext<<, in: ders.: »Links hatte noch alles sich zu ent-
rätseln ... <<. Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt a.M.,
Real-Chiffre sondergleichen lesbar geworden. In jener
180-223.
einen Gedichtzeile hat Benjamin den Unmenschen Marx, Kar! ( 1956): »Zur )udenfrage<<, in: Marx Engels Werke
ganz erkannt: >» Thierfehd ist hier: das sagt dem (MEW), Bd. 1, Berlin, 347-377.
Menschsein ab<: aus einem abgelegenen Glarner Dorfe Pfabigan,Alfred (1976): Kar! Kraus und der Sozialismus. Eine
politische Biographie, Wien.
wirft Kraus diesen Fehdehandschuh der Menschheit
Reemtsma, )an Philipp (1991): »Der Bote. Walter Benjamin
hin<< (II, 357). über Kar! Kraus<<, in: Sinn und Form 43/1, 104-115.
Rothe, Friedrich (2003 ): Kar! Kraus. Die Biographie, Mün-
chen.
Werk Scholem, Gershorn ( 1975): Walter Benjamin- die Geschichte
KARL KRAUS (li, 334-367) einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
KARL KRAUS (II, 624 f.) Schulte, Christian (2003): Ursprung ist das Ziel. Walter Ben-
Paralipomena zum Kraus (II, 1087-1115 und VII, 796-800) jamin über Kar! Kraus, Würzburg.
DER OBSTRUKTIVE CHARAKTER (lV, 396-398) Voigts, Manfred (2000): »Zitat<<, in: Michael Opitz/Erdmut
ERFAHRUNG UND ARMUT (Il, 213-219) Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt a.M.,
KARL KRAUS LIEST ÜFFENBACH (IV, 515-517) 826-850.
KRIEGERDENKMAL (IV, 121) Wagner, Nike (1987): Geist und Geschlecht. Kar! Kraus und
Das Passagen-Werk (V) die Erotik der Wien er Moderne. Frankfurt a. M.
539

Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benja-


mins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M.
nJohann Jakob Bachofen«
Witte, Bernd {1985): Walter Benjamin in Selbstzeugnissen Von Sigrid Weigel
und Bilddokumenten, Reinbek.
Wizisla, Erdmut (2000): >>Revolution<<, in: Michael Opitz/Erd-
mut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt Das früheste Zeugnis von Benjamins Bachofen-Lek-
a.M., 665-694.
Wohlfarth, lrving {1985): »Der >Destruktive Charakter<: Ben- türe ist ein Brief an Florens Christian Rang: >>Ich glaube
jamin zwischen den Fronten<<, in: Burkhardt Lindner an Bachofens >Mutterrecht<, in dem ich in letzter Zeit
(Hg.): »Links hatte noch alles sich zu enträtseln ... <<. Walter viel gelesen habe solltest Du[ ... ] nicht vorübergehen<<
Benjamin im Kontext, 2., erw. Auf!., Königstein, Ts, 65- (2.10.1922; 2, 275). Er stammt aus dem Erscheinungs-
99.
jahr von Ludwig Klages' Vom Kosmogonischen Eros
1922, in dessen Nachwort Bachofen als >>Bahnbrecher<<
der Entdeckung eines >>urzeitlichen Bewußtseinszu-
standes<< gefeiert wird (Klages 1974, 495). Daß sich
Bachofen und Klages für Benjamin von Anfang an
verbinden, belegt auch ein Brief vom Januar 1926, als
er mit der Rezension von Bernoullis Bachofen-Buch
befaßt war, an Scholem: >>Die Auseinandersetzung mit
Bachofen und Klages ist unumgänglich<< (3, 110).

Die Bachofen-Texte zwischen 1926 und 1935

Benjamins Bachofen-Kenntnis bleibt zunächst vermit-


telt durch das für die Literarische Welt (10.9.1926)
rezensierte voluminöse Buch von Carl Albrecht Ber-
noulli Bachofen und das Natursymbol. Ein Würdigungs-
versuch ( 1924), das Klag es gewidmet ist und diesen als
>Entdecker< Bachofens würdigt. Benjamins anhalten-
des Interesse an Bachofen belegt auch eine für dieselbe
Zeitschrift verfaßte kurze Besprechung (3.2.1928) von
dessen Griechische[r] Reise, >>[a]cht Jahre vor dem Er-
scheinen seines ersten Hauptwerks, der >Gräbersym-
bolik der Alten<, im Jahre 1851<< (III, 88) unternom-
men. Noch in seinem Artikel ]OHANN JAKOB BACHOFEN
( 1934/35) folgt Benjamin der von Bernoulli erzählten
Entdeckerlegende, nach welcher der beträchtlich jün-
gere Klages Schuler >>das >Mutterrecht< von Bachofen
überbrachte, nachdem er selbst durch diesen Fund in
einen wahren Entdeckungstaumel versetzt worden
war<< (Bernoulli 1924, 373); allerdings gibt er sie ver-
kehrt wieder: >>Eine wesentliche Rolle bei der >Wieder-
entdeckung< Bachofens spielt die äußerst sonderbare
Gestalt Alfred Schulers, dessen Name vielleicht einigen
VerehrernStefan Georges aufgefallen ist [... ].Jedenfalls
ist Schuler, der nahezu nichts geschrieben hat, im
George Kreis als eine nachgerade prophetische Auto-
rität angesehen worden. Er war es auch, der Ludwig
Klages, welcher in diesem Kreis verkehrte, in die Lehre
Bachofens einweihte<< (Benjamin 1970, 35).
Wenn Benjamin die Bachofen-Rezeption hier in den
Kontext des George-Kreises stellt, geht es ihm in sei-
nem ersten französischsprachigen Artikel offenbar
darum, dem französischen Publikum nicht nur den
540 Dichtungsanalyse und Autorbild

Autor eines neuen Bildes der Urgeschichte, sondern licht, erschien er erstmals 1952 im Mercure de France.
zugleich auch ein Stück deutschsprachiger intellectual Und in die Benjamin-Rezeption ist er erst nach einer
history vorzustellen, vor allem die >>jüngste Wirkungs- übersetzungins Deutsche 1970 (Benjamin 1970) wirk-
geschichte<<, in der die >>mystische Konsequenz der lich eingegangen.
Bachofensehen Theorien [... ] ihren Höhepunkt er-
reicht.<< Demselben wissenschafts- und kulturge-
schichtlichen Kontext gelten Passagen über Bachofen Unterseite und Unterbau der Geschichte
als Grand Seigneur der Wissenschaft, der sich- ähnlich
wie Leibniz und Aby Warburg - >>in den Grenzberei- Bekannt war Benjamins Bachofen-Lektüre zuvor eher
chen mehrerer Wissenschaften zu bewegen liebt<< (32), aus dem dritten Kapitel des Kafka-Essays: >>Das buck-
ebenso wie der Vergleiche mit den Wiener Gelehrten licht Männlein<<. Die These, Kafkas Romane spielten
Alois Riegl und Pranz Wickhoff, die als Kunsthistoriker >>in einer Sumpfwelt<< (II, 428), bezieht sich auf die
jene >>plastischen Kunsttheorien<< vorweggenommen Amphibiennatur des Organischen in einem hetäri-
hätten, die erst später von den kühnsten expressioni- schen, dem Mutterrecht vorausgehenden Zustand, wie
stischen Künstlern aufgegriffen worden seien (28). Er Bachofen ihn im Versuch über die Gräbersymbolik der
zählt Bachofen zu einem Kreis von Autoren, die aus Alten entworfen hat. Mit Hinweis auf Lenis Häutchen
ihrer Forschung >>den Isolierschemel<< der Disziplinen zwischen den Fingern heißt es: >>Es ist der Moorboden
entfernt haben (33) und deren Arbeiten in >>Grenzge- solcher Erfahrungen, aus denen die Kafkaschen Frau-
bieten<< für ihn als richtungsweisend gelten: neben den engestalten aufsteigen<< (429). Ihre Vergangenheit
genannten Namen zählen dazu z. B. Nietzsche, Giehlow >>führt eben in den finsteren Schoß der Tiefe zurück,
und Burdach. wo sich jene Paarung vollzieht, >deren regellose Üp-
Weil der Schweizer Gelehrte in Frankreich weitge- pigkeit<, um mit Bachofen zu reden, >den reinen Mäch-
hend unbekannt war, sollte in dem für die französische ten des himmlischen Lichts verhaßt ist<<< (ebd.). Die
Zeitschrift Nouvelle Revue Francaise geschriebenen Bachofen-Zitate dienen hier zur Charakterisierung
Bachofen-Porträt >>Informatorisches<< (5, 14) im Vor- eines Blicks auf die Unterseite des geschichtlichen Ge-
dergrund stehen (7.1.1935 an Adorno). Daß durch schehens im Zeitalter von Kafkas Welt, das über die
dessen Einbindung in ein ganzes Geflecht von dort Uranfänge nicht hinauskomme (428). Mündet eine
vermutlich ebenfalls unbekannten Namen der Text für Spur von Benjamins Bachofen-Lektüre hier in Refle-
das französische Publikum gänzlich unverständlich xionen zum Vergessenen und zum entstellten Leben,
wurde, mag zur Ablehnung des Artikels durch den so nimmt er damit ein Motiv aus dem oben zitierten
Herausgeber Paulhan beigetragen haben. Dieser Miß- Brief an Scholem von 1926 auf: >>Die Auseinanderset-
erfolg bedeutete für Benjamin mehr als die Ablehnung zung mit Bachofen und Klages ist unumgänglich- frei-
irgendeines Beitrags. Seine Äußerung gegenüber lieh spricht vieles dafür, daß sie gänzlich stringent nur
Adorno, der aus Erfahrung wisse, >>daß ein Höchstmaß aus der jüdischen Theologie zu führen ist, in welcher
von Initiative für die ersten Texte in fremder Sprache Gegend denn also diese bedeutenden Forscher nicht
aufgebracht werden muß<< (ebd., Herv. d. Verf.), macht umsonst den Erbfeind wittern<< (3, llO). Allerdings
deutlich, daß er mit dem Artikel die Hoffnung auf führt diese Perspektive ihn jetzt buchstäblich vor das
einen Einstieg ins französische Feuilleton verband, auf Gesetz, zur Betrachtung einer dem Gesetz auch der
das er als freier Schriftsteller im Exil angewiesen war. jüdischen Tradition vorausgegangenen Stufe- wovon
Dieses Motiv erklärt den Aufwand, den er dafür trieb. die Kontroverse mit Scholem ausgelöst wird.
Schon im Sommer 1934 in Svendborg begann er mit Erst während derüberarbeitungdes Kafka-Essays
dem >>Studium von Bachofen<<: >>[I]ch wäre recht froh, und der Vorbereitung des Bachofen-Porträts findet
Gelegenheit zu haben, ihn in der Nouvelle Revue Fran- eine ausführlichere Primärlektüre statt- >>So komme
caise zu porträtieren<< (4, 467). Die Unterredung mit ich zum ersten Male dazu, ihn selbst zu lesen; bisher
Jean Paulhan nach der Rückkehr nach Paris hätte ihn war ich vorwiegend auf Bernoulli und Klages ange-
allerdings skeptisch stimmen müssen, denn >>sie haben wiesen gewesen<< (4, 461) -,obwohl auch jetzt sein
eben zwei Aufsätze über Bachofen, die ihnen einge- Bachofen-Bild sich noch an Klages/Bernoulli anlehnt.
reicht wurden, abgelehnt und machen mir Aussicht, Z.B. das Resümee, daß das >>Gefühlsinteresse Bach-
meinen anzunehmen<< (Okt. an Gretel Karplus, 4, 517). ofens sich dem Matriarchat zuneigte<<, während >>sich
Dennoch hat er den Winter über- in San Remo un- sein historisches Interesse ganz auf die Heraufkunft
tergekommen und am Tiefpunkt seiner Lebens- und des Patriarchats, als dessen höchste Form er die ehrist-
Arbeitsbedingungen - vor allem an diesem Artikel liehe Spiritualität auffaßte<<, richtete (Benjamin 1970,
gearbeitet. Zu Benjamins Lebzeiten nicht veröffent- 38), geht auf Klages', von Bernoulli übernommene
»Johann Jakob Bachofen« 541

Rede von den Herz- und Kopfgedanken Bachofens schichte: Klages' Philosophie der kenne keine
zurück. schöpferische Entwicklung, >>sondern einzig das Ab-
Sein eigenes Interesse gilt besonders der Methode rollen eines Traumes, dessen Phasen lediglich heim-
Bachofens, »das Symbol zur Grundlage des Denkens wehkranke Spiegelbilder längst vollendeter Seelen und
und Lebens der Antike zu machen<< (29f.), aus den Formen sind.<< Ein solches >Nachleben< von Bildern
symbolischen, mythischen und bildliehen überliefe- korrespondiert mit theoretischen überlegungen zum
rungen auf die Kulturen der Vorgeschichte zu schlie- Passagen-Projekt, die dennoch- in der Terminologie
ßen und die Genealogie institutioneller Ordnungen der Psychoanalyse- so ganz anders klingen: >>In dem
aus dem, was ihnen vorausgegangen war, zu rekon- Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern
struieren: »Für Bachofen trat hinfort neben die Ent- vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit
schlüsseJung des Bildes als einer Botschaft aus dem Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassen-
Totenreich, die Enthüllung des Rechts als eines Bau- losen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im
werks, dessen unsichtbares Fundament die Sitten und Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen
Gebräuche der alten Welt bilden<<, einen >>Unterbau<<, in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in
den erstmals Bachofen mit >>seinem großen Werk über tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauern-
das Mutterrecht<< erforscht habe (33). den Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur
hinterlassen hat<< (V, 47).
Die in den Bachofen-Artikel implantierten Passagen
Zur Ambivalenz der Bachofen- und Klages- über Klages weisen auf die Klages-Lektüre im Denk-
Rezeption bild ZUM PLANETARIUM in der EINBAHNSTRASSE
(1928) zurück (IV, 146-148). Dorthatte Benjamin den
Benjamins eigene Analysen gehen von der ambivalen- Ersten Weltkrieg, mit seiner Synthese von Luftkrieg
ten Wirkung Bachofens aus. Dessen Bild der Urge- und Schützengraben, als »fürchterlichste<< Bekundung
schichte, das mit allen geläufigen Vorstellungen auf- einer »nie erhörte[n] Vermählung mit den kosmischen
räumt und >>in dem die irrationalen Kräfte in ihrer Gewalten<< beschrieben und als Folge einer Mißach-
metaphysischen und rechtspolitischen Bedeutung her- tung der >>Lehre der Antike<<, des Lebens der Menschen
vorgehoben waren, sollte bald ein hervorragendes mit den Kräften des Kosmos, gedeutet. Wo der Fort-
Interesse bei den Theoretikern des Faschismus finden; schritt dieses Moment >>für belanglos<< erachte, tue es
aber es sollte gleichermaßen die Aufmerksamkeit mar- sich um so fürchterlicher in Zerstörerischen Formen
xistischer Denker erregen, weil es die Ahnung einer kund, wie in denen des >>letzten Krieg[ es]<<. Dabei geht
kommunistischen Gesellschaft im Morgengrauen der Benjamin gerade nicht vom Gegensatz kosmische Er-
Geschichte vermittelte<< (28 f.). Dem >>zweifelhafte[n] fahrung versus Technik aus. Vielmehr bewertet er die
Rang<< des unkonventionellen Gelehrten zu Lebzeiten Technik als eine neue, unerhörte Möglichkeit des
folgte, so Benjamin, eine ambivalente Wirkungsge- >>Werben [s] um den Kosmos [... ] in planetarischem
schichte der Forschungen über die chthonischen Ur- Maßstab, nämlich im Geiste der Technik<< (alle Zitate
sprünge, die urzeitliehe Promiskuität und die Rolle der IV, 146f.). Erst deren Mißachtung- durch ein Ver-
Religion bei der Ablösung matriarchalischer durch ständnis von Technik allein als Mittel der Naturbeherr-
patriarchalische Ordnungen. schung im Krieg- habe zum Verrat der Technik an der
Kritisch bewertet Benjamin vor allem >>die mystische Menschheit geführt.
Konsequenz der Bachofensehen Theorien<<. Es sei Schon hier ging es also um die Gegenwärtigkeit my-
»nicht übertrieben zu behaupten, daß ihre jüngste thisch-kosmischer Haltungen in der Moderne als Ge-
Wirkungsgeschichte die zentralen Partien jener Eso- genentwurf zur Entwicklungsgeschichte. Die Tatsache,
terik umfaßt, die heute zur Theorie des deutschen daß Benjamin mit solchen Lektüren sich in eine be-
Faschismus gehört<< (35). Mit Klages' Entwurf eines denkliche Nähe zum rechten Lager begeben hat, be-
>>natürliche [n] und anthropologische [n] System [s] des schreibt jenen >>Augenblick einer Gefahr<< (I, 695), den
Chthonismus<< verbindet Benjamin dagegen den über- er in ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE diskutiert,
gangder Bachofen-Rezeption von der Esoterik in die eine Gefahr, deren Konkretisierung gern überlesen
Philosophie. >>Indem er die mythischen Substanzen des wird: >>Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tra-
Lebens wieder einbezieht, [... ] erteilt der Philosoph dition wie ihren Empfängern. Fürbeideist sie ein und
den >Urbildern< das Bürgerrecht.<< Und Urbilder seien dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse
für ihn >>Erscheinungen vergangener Seelen<< (36). herzugeben<< (ebd.). Seine Sicherheit im Umgang mit
Diese Aspekte interessieren Benjamin für seine Kritik solcher Gefahr motivierte Adorno zu der Bemerkung:
an einem teleologischen Fortschrittsbegriff der Ge- >>Aber es hat mir immer ein besonderes Maß an Be-
542 Dichtungsanalyse und Autorbild

wunderung abgezwungen, daß Sie am härtesten und Werk


unnachsichtigsten von dem sich distanzieren was JOHANN JAKOB BACHOFEN (IJ, 219-233; 963-976, dt. Über-
scheinbar Ihnen zunächst lag<< (Adorno 1994, 84). Setzungvon B. Lindner, in: Textund Kritik H. 31/32 (1970),
28-40)
Bei der Rückkehr zum Kosmogonische[n] Eros im DAS RUCKLICHT MÄNNLEIN (in: FRANZ KAFKA) (Il, 425-
Bachofen-Artikel interessiert vor allem dessen Ab- 432)
grenzung des Bildes von den (platonischen) Ideen: das LANDSCHAFT UND REISEN (III, 88-94)
ZUM PLANETARIUM (in: EINBAHNSTRASSE) (IV, 146-148)
Bild, das sich >>an die Seele wendet, welche sich, indem
Rez. zu Carl Albrecht Bernoulli: Johann Jacob Bachofen und
sie es rein passiv aufnimmt, mit seinem Symbolgehalt das Natursymbol (III, 43-45)
erfüllt<< (Benjamin 1970, 36). Diese Abgrenzung trifft
auf seine eigene Arbeit an einem Begriff des Bildes, Literatur
der hinter die visuelle Repräsentation: hinter das Adorno, Theodor W./Walter Benjamin (1994): Briefwechsel
reproduzierbare Bild der optischen Medien, das ma- 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a.M.
terielle Bild der Kunstgeschichte, die Metapher der Bachofen, Johann Jakob (1926): Urreligion und antike Sym-
bole, systematisch geordnete Auswahl aus seinen Werken
Rhetorik und die Vorstellung der Philosophie glei-
in drei Bänden, hg. v. C.A. Bernoulli, Leipzig.
chermaßen zurückgeht - bzw. all diesen Registern als Bachofen, Johann Jakob (1975): Das Mutterrecht. Eine Un-
psychische Voraussetzung zugrundeliegt. Denn auch tersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach
für Benjamin sind Bilder nicht Artefakte, sondern ihrer religiösen und rechtlichen Natur, hg. v. Hans-Jürgen
Heinrichs, Frankfurt a. M.
psychische bzw. aisthetische Realitäten. Wichtig ist
Bernoulli, Carl Albrecht (1924): Johann Jakob Bachofen und
auch ihm der perzeptive Charakter des Bildes, wenn das NatursymboL Ein Würdigungsversuch, Basel.
er davon ausgeht, daß Bilder erst im >>Augenblick der Klages, Ludwig (1974): »Vom kosmogonischen Eros«, in:
Erkennbarkeit<< sieht- oder lesbar werden. Dieses ist ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3, Philosophische Schriften,
Bonn, 353-497.
das Thema der Korrespondenz mit Adorno im Umfeld Plumpe, Gerhard (1970): »Die Entdeckung der Vorwelt. Er-
des Bachofen-Essays. So versichert er Adorno seine läuterungen zu Benjamins Bachofenlektüre<<, in: Text +
»vollste Zustimmung<< (Adorno 1994, 101) zu dessen Kritik H. 31/32, 19-27.
Ausführungen über die >>Grenzscheide zwischen ar- Schiavoni, Giulio (1992): »Benjamin- Bachofen: Cur Hic?«,
in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd.
chaischen und dialektischen Bildern<< (84). Die daraus 2, München, 1045-1056.
entstandene Anregung Adornos, Benjamin solle eine
Arbeit über Jung und Klages schreiben, wurde zwar
von diesem aufgenommen, von Horkheimer aber zu-
rückgewiesen, da >>man am Baude1aire so viel mehr
interessiert<< ist (257). Doch verbindet diese Bildfrage
den Bachofen-Essay deutlich mit dem Passagen-Pro-
jekt.
543

Zu Franz Kafka Paralipomena in den Gesammelten Schriften erkenn-


Von Sigrid Weigel bar.

Benjamins Kafka-Texte sind symptomatisch für sein Stellung des Kafka-Komplexes


Werk, da die seinerzeit unpublizierten Texte, Korre- in Benjamins Werk
spondenzen und Paralipomena (II, 1153-1264) die zu
Lebzeiten veröffentlichten um ein vielfaches übertref- Die Arbeit an einer angemessenen Kafka-Lektüre war
fen. Der Vortrag PRANZ KAFKA: BEIM BAu DER CHINE- für ihn der Versuch, den überwiegend theologischen
SISCHEN MAUER zu dem von Brod und H.J. Schoeps Interpretationen eine Deutung entgegenzusetzen, die
edierten Nachlaß-Band wurde nur einmal ausgestrahlt sich, ohne >>das Gesamtwerk im Sinne einer theologi-
(Frankfurter Rundfunk, 3.7.1931). Ein zuvor »projek- schen Schablone auszudeuten<< (II, 425), dennoch auf
tiertes Buch über Kafka, Proustetc.« (3, 379), 1928 mit die vielfältigen Bezüge zu Theologie und jüdischer
dem Rowohlt Verlag vertraglich vereinbart (522; 525), Tradition einläßt. Anders als in Auslegungen des Ge-
ist nicht zustandegekommen. Statt dessen wuchsen die heimnis- und Rätselvollen mit Hilfe theologischer
Aufzeichnungen: Motivsammlungen, Gliederungen, Motive gilt seine Faszination solchen Werken, die
Zitate und ein DOSSIER VON FREMDEN EINREDEN UND >>theologischen Gehalten in ihrer äußersten Gefähr-
EIGENEN REFLEXIONEN. dung, ihrer zerrissensten Verkleidung Asyl geben<<, so
Nur zwei seiner Beiträge hat er gedruckt gesehen: Benjamin in der Rezension zu Willy Haas. Dieser habe
den kurzen Artikel KAVALIERSMORAL in der Literari- bei Kafka >>eine Theologie auf der Flucht« entdeckt
schen Welt (25.10.1929), in dem er Brods Entschei- (III, 277). Im Gegensatz zu >>den gräßlichen Schritt-
dung, sich über Kafkas Aufforderung zur Vernichtung machern protestantischer Theologumena<< (28.2.1933
seiner nachgelassenen Schriften hinwegzusetzen, ver- an Schalem, 4, 163) und zu den >>jüdischen Theologu-
teidigt (IV, 466f.); und zwei der vier Kapitel seines mena, die man allein in seinem Werk hat finden wol-
Essays PRANZ KAFKA. ZuR ZEHNTEN WIEDERKEHR len<< (>>Versuch eines Schemas zu Kafka<<, II, 1192), zielt
SEINES ToDESTAGES, die Ende 1934 in der Jüdischen er auf eine >>Deutung des Dichters aus der Mitte seiner
Rundschau erschienen, »Potemkin« und »Das buck- Bildwelt<< (II, 678).
licht Männlein<<. Der Plan, diesen >>unterbrochen [en], Darin untersucht er das Fortwirken von Haltungen
nicht abgeschlossen[en]<< Text (September 1934 an und Begriffen, die religiösen und kultischen Traditio-
Sternberger, 4, 487) für eine >>erweiterte Fassung in nen entstammen,- wie z. B. Schuld, Strafe, Schöpfung,
Buchform<< (7.1.1935 anAdorno, 5, 13) zu überarbei- Erlösung, jüngstes Gericht, Hoffnung, Erwartung, Erb-
ten, wurde ebenfalls nicht realisiert. Bemühungen, sünde, Scham - in einer Welt, in der das Wissen um
über Schalem den Verleger Schocken dafür zu inter- deren Herkunft, um Lehre und Gesetze, vergessen und
essieren - eine Hoffnung, die seit den schwindenden die Hoffung auf Erlösung verschwunden sind. Er
Publikationsmöglichkeiten in Nazi-Deutschland seine spricht von >>Erkrankung der Tradition<< (6, 112) und
Briefe durchzieht -, waren nicht von Erfolg gekrönt. deutet die Welt von Kafkas Figuren insofern weniger
Und selbst seine im Juni 1938 an Schalem geschickte als >>>inverse< Theologie<<, wie Adorno vorschlug
Kritik von Brods Kafka-Biographie (6, 105-114), die (Adorno 1994, 90), sondern mehr als eine Art negati-
der Freund gelegentlich Schocken übergeben solle, ven oder inversen Messianismus. Da Kafkas Wartende
fand nicht den Weg ins Feuilleton. Dabei enthält die wegen unbekannter Schuld angeklagt sind und sich in
um >>einen neuen, von meinen früheren Reflektionen unübersichtlichen Topographien befinden, kommt
mehr oder minder unabhängigen Aspekt<< (110) er- dem Warten hier eine gänzlich andere Bedeutung zu
weiterte Brod-Kritik die Quintessenz seiner Kafka- als die einer profanen Erleuchtung wie im SüRREALIS-
Lektüre, nach den Debatten mit Schalem, Kraft, Brecht Mus-Essay (II, 308). Die Verstockt- und Verkommen-
und Adorno - auf deren >>Gelände eine Anzahl der heit von Kafkas Personal korrespondiert mit der Ver-
strategischen Punkte heutigen Denkens liegen<<, so daß zögerung in dessen Handlungen, jenen end- und
die »Mühe, es weiter zu befestigen, keine unnütze ist<< ziellosen Wegen und Überlegungen von Akteuren, die
(Benjamin 1981, 99). Erst zwei Jahrzehnte nach der die Gesetze ihres Daseins weder durchschauen noch
Teilpublikation und fünfzehn Jahre nach Benjamins beherrschen: >>Solche Verkrochenheit scheint dem
Tod wurde der Kafka-Essay durch Adornos zweibän- Schriftsteller für die isolierten gesetzunkundigen An-
dige Edition der Schriften 1955 in vollem Umfang gehörigen seiner Generation und Umwelt allein ange-
bekannt. Der Stellenwert des Kafka-Komplexes für messen. Diese Gesetzlosigkeit aber ist eine gewordene<<
sein Denken aber wurde erst durch die umfangreichen (681).
544 Dichtungsanalyse und Autorbild

Signum ihrer Zeitgenossenschaft ist für Benjamin das von der reinen Sprache der Offenbarung (1921) -,so
überholte von Kafkas Figuren, Produkte des begin- bezog diese Arbeit im folgenden anthropologische und
nenden 20. Jh.s, zu dem es in einer Rezension 1928 geschichtstheoretische Dimensionen mit ein. Eine Reihe
hieß: >>Die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts ste- von Schriften aus den frühen 1920er Jahren - das
hen im Zeichen der Technik. Gut! Aber das sagt nur Theologisch-politische Fragment, ZuR KRITIK DER
denen etwas, die wissen, daß sie auch im Zeichen der GEWALT (1921), ScHICKSAL UND CHARAKTER (1919),
wiedererwachenden ritualen und kultischen Traditio- GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN (1921/22) und
nen verlaufen<< (III, 101). In seiner Kritik von Brods das Trauerspielbuch ( 1923/25)- belegt seine kritische
Biographie resümiert er ähnlich die Zeitmarke von Auseinandersetzung mit politischer Theologie und
Kafkas Literatur: >>Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren einer als Krypto-Religion betriebenen Dichtung. Es
weit auseinanderliegende Brennpunkte von der mysti- ging um Begriffe wie Glück und Hoffnung, Recht und
schen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Gerechtigkeit, >>verschuldete[s] Leben<< bzw. >>Schuld-
Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des mo- zusammenhang von Lebendigem<< (I, 138; II, 175 u.
dernen Großstadtmenschen andererseits, bestimmt 200) im Spannungsfeld zwischen >>natürliche[m] Le-
sind<<, des Staatsbürgers gegenüber >>einer unüberseh- ben<< (bzw. Sexualität) und >>übernatürliche[m] Le-
baren Beamtenapparatur<< (6, llO) und durch Zeitge- ben[]<< (I, 139), Begriffe, die nun wieder auftauchen,
nossenschaft des Großstadtmenschen zum heutigen ergänzt um solche wie Gesetz und Gericht, Zeugen-
Physiker. Im Zusammenspiel von Technik und Ritual schaft und Zeugung, Schöpfung und Kreatur. Das
-man denke an Die Strafkolonie- oder der Gleichzei- Verhältnis von Schuld, Sexualität und Wissen verbin-
tigkeit von Mystik (bzw. Tradition) und Moderne (in det- wie die >>Paralipomena<< belegen- den Kafka-
Form undurchschaubarer politischer Instanzen und Komplex mit dem in zeitlicher Nähe entstandenen
physikalischer Aporien des Raums) - man denke an Essay KARL KRAUS (1931), in dem Kraus >>an der
Das Schloß - sieht Benjamin Kafkas Zeitgenossen- Schwelle des Weltgerichts<< (II, 348) positioniert wird.
schaft. Ebenfalls ohne heilsgeschichtliche Perspektive, tritt
dieser als >>Überläufer in das Lager der Kreatur<< (341)
auf, während Benjamin in Kafkas Literatur eine Welt
Zum Verhältnis von Kreatur und nhöherer entdeckt, die ganz von Kreaturen bevölkert ist. Deren
Ordnungcc Hoffnungslosigkeit bringe allerdings eine eigene
Schönheit hervor (413). Inmitten der Arbeiten zur
Durch uralte, vergessene Traditionen eingeübt - in >Urgeschichte der Moderne< und zur Theorie optischer
Form von Physiognomien und Gebärden -, sind die Medien- in beiden spielt das Nachleben der Religion
Gepflogenheiten von Kafkas Figuren ohne Wissen um eine marginale Rolle -bilden die Essays zu Kafka und
deren Herkunft, am wenigstens um deren Abkunft aus Kraus sichtlich einen eigenen Zusammenhang. Durch
Theologie oder Religion. Für Kafka sei der >>heutige Leitbegriffe verbunden, die mit theologischen Kon-
Mensch [... ] ein Fremder, Ausgestoßener, der nichts zepten korrespondieren, steht in ihnen jeweils ein li-
von den Gesetzen weiß, die diesen Leib mit weit hö- terarischer Autor im Zentrum.
heren Ordnungen verbinden<< (II, 680). Dadurch ist er
auf das Dasein einer Kreatur verwiesen - in der Ter-
minologie der KRITIK DER GEWALT: auf das >>bloße Entstehungsgeschichte 1: Vor der Bibliothek
Leben<< (II, 200; I, 139; dazu Agamben 2002). Bewegen
sich Kafkas Figuren im Schatten abgesunkener Religi- Als >>>erste[s] Zeugnis der Beschäftigung mit Kafka<<<
onskultur und vergessener Gesetze, so betreibt Benja- (li, 1153) gilt die im Juli 1925 Scholem mitgeteilte Ab-
mins Lektüre, die theologische Aspekte betont, ohne sicht zur Rezension >> [e] inige[ r] nachgelaßne[ r] Sachen
selbst Theologumena zu produzieren, rettende Kritik: von Kafka<<: >>Seine kurze Geschichte> Vor dem Gesetz<
Beleuchtung von Phänomenen im Moment ihres Ver- gilt mir heute wie vor zehn Jahren für eine der besten,
schwindens. die es im Deutschen gibt<< (3, 64). Da diese erst 1919
Im Kafka-Komplex verdichten sich Motive einer erschienen war (in Der Landarzt), hat das Gedächtnis
Dialektik der Säkularisierung. War diese zunächst auf die Vertrautheit mit Kafkas Text offensichtlich zeitlich
die Sprache konzentriert - als Fortwirken magischer ausgedehnt. Wieviel Benjamin derzeit, ein Jahr nach
Momente wie Name und Urteil nach dem >>Sündenfall Kafkas Tod, wirklich bekannt war, ist nicht klar; doch
des Sprachgeistes<< (II, 153), der Etablierung einer Zei- setzte seine intensive Kafka-Lektüre erst jetzt ein. Deren
chensprache (1916), und als Begründung einer Über- Zeugnisse verdichten sich ab 1927; im Januar antwor-
setzungstheorie aus dem Bewußtsein der Entfernung tet er z. B. auf die Zusendung einer Rezension von Kra-
Zu Franz Kafka 545

cauer, daß er sie bewahren wolle, >>Um sie nach Kennt- Seit 1928 finden sich Bemühungen, Kafkas Titel,
nis des Romans >Das Schloß< zu lesen<< (3, 229). insbesondere die jüngeren, zusammenzubringen. Im
Noch im November desselben Jahres folgt die erste Mai fehlen Das Schloß und Amerika, >>ganz zu schwei-
bekannte Aufzeichnung zu Kafka, jene Scholem ge- gen von der seltnen, vergriffneu >Betrachtung<. Sie ist
schickte IDEE EINES MYSTERIUMS. Der Satz >>ES gibt von Kafkas ältern Sachen die einzige, die mir fehlt<< (3,
die Folter und das Martyrium<< (II, 1153) scheint sich 379). Im April1934 berichtet er Scholem, daß zu sei-
nicht allein auf den Roman Der Prozeß zu beziehen, nen in Dänemark geborgenen Büchern auch die Reihe
den er während einer Gelbsucht- >>Als Krankenengel der Kafkabände gehört, beklagt aber den >>Verlust des
habe ich an meinem Lager Kafka<< (3, 303)- gelesen >Prozesses<, den ich vor einigen Jahren durch Diebstahl
hatte, und zwar >>fast unter Qualen, (so überwältigend einbüßte<< (4, 389). Als er im Mai desselben Jahres mit
ist die unscheinbare Fülle dieses Buches)<<, wie er im dem Artikel zum 10. Todestag Kafkas (3.6.1934) beauf-
Brief an die Cohns bekennt (312). Von Lesequalen ist tragt wird, bedeutet er dem Chefredakteur der Jüdi-
auch später die Rede, so im Oktober 1931 an Scholem schen Rundschau Robert Weltsch die >>bibliographi-
über den Nachlaßband Beim Bau der chinesischen sche[n) Schwierigkeiten<< und bittet, ihm gewisse >>hier
Mauer: Brecht >>schien den Nachlaßband sogar zu ver- kaum aufzutreibende Werke- Prozeß, Landarzt, Ver-
schlingen, während Einzelnes aus ihm mir bis heute wandlung, Amerika<< auszuleihen (423). Und wenig
Widerstand geleistet hat, so groß war mir die physische später schreibt Benjamin an Scholem in Jerusalem:
Qual beim Lesen<< (4, 56). Dies deutet auf eine mime- >>Sollten alle Stränge reißen, so würde ich Dir unter
tische Lesehaltung, bei der sich die >>Yerkrochenheit<< Umständen die wichtigsten mir fehlenden dem Titel
von Kafkas >>Geschöpfe[n) aller Ordnungen<< (II, 681) nach telegrafieren- d.h. Dich bitten, sie mir wenn
überträgt und physische Qualen auslöst. möglich zu borgen<< (425). Im Juni dann hat er durch
Das hat Benjamins Bemühung um eine eigene Zufall den Prozeß >>in einer französischen Buchhand-
Kafka-Deutung keinen Abbruch getan. Dafür waren lung zum alten Originalpreis gefunden<<, sucht aber
andere Hürden zu überwinden, wie der Bibliotheks- immer noch jemanden, der ihm >>ein Exemplar der
traum zeigt, den er im April1935 Werner Kraft mitteilt: >Betrachtung< verschaffen würde<<, und äußert die
>>Neulich hatte ich einen Traum, in dem ich einen Un- Hoffnung, daß Schocken ihm von der geplanten Kafka-
bekannten, vom Schreibtisch aufstehenden, sich ein Gesamtausgabe »ein Ehrenexemplar<< (436) zukom-
Buch aus seiner Bibliothek nehmen sah. Der Anblick men lassen werde. Anfang Juni- der Termin des zehn-
war erschütternd für mich und meine Erschütterung ten Todestages ist verstrichen, die Vorarbeiten zum
steckte mir über meine Lage ein sehr starkes Licht auf. Artikel sind »gestern abgeschlossen<<, die Abreise nach
Nehmen Sie dies als ein kleines, der Überredungskraft Dänemark steht kurz bevor- kann Benjamin vermel-
schwerlich entbehrendes Begleitmotiv zu meinen den: »Es ist mir gelungen, alle Schriften Kafkas hier
Buchwünschen und senden Sie mir, wenn möglich, die zusammen zu bekommen, aber es war eine unglaub-
Kafkabriefe aus der Festschrift für Brod<< (5, 70). Ge- liche Mühe<< (an Gretel Adorno, 441). >>Hier<<, das ist
schrieben im Hotel in Monaco-Condamine, ist der Paris; wenig später aber befindet er sich bei Brecht am
Brief ein beredtes Zeugnis der schwindenden >>Arbeits- Skovsbostrand. Dort beginnt dann die briefliche
mittel<< für den »premier critique de la Iitterature alle- Kafka-Debatte mit Scholem, in deren Verlauf er mehr-
mande<< (3, 502), den >freien Schriftsteller< im Exil im fach um die Rücksendung seines Manuskripts bittet.
Dauerkampf um Publikationen und Honorare. Aus Und im Februar 1935 wird der Erhalt des ersten Ban-
den 60 Mark für den Kafka-Artikel folgerte er: >>so des der Kafka-Gesamtausgabe in San Remo zum An-
wirst Du verstehen, daß die eingehende Beschäftigung laß, sich wieder seinem »Manuscript zuzuwenden<<
mit Gegenständen der reinen Literatur für mich in durch »Erweiterung und Umgruppierung<< (5, 48) des
Gestalt der Kafka-Arbeit zunächst ihren Abschluß ge- zweiten Teils.
funden haben dürfte<< (September 1934 an Scholem, Der Bibliothekstraum, der ihn zwei Monate später,
4, 496). unterwegs von San Remo nach Paris, ereilt, signalisiert,
Verhältnisse wie zur Entstehungszeit des Rundfunk- daß die Qual einer fehlenden Bibliothek die Lesequal
beitrags, als er noch einen Text wie IcH PACKE MEINE abgelöst hat: »Ich stelle fest, daß viele Jahre auf Biblio-
BIBLIOTHEK AUS ( 1931) schreiben konnte, waren längst thekengearbeitet zu haben, allwöchentlich mindestens
vorbei. Seit der Emigration aus Deutschland im März soundsoviel tausend Buchstaben sich durch die Finger
1933lebte er an ständig wechselnden Wohnorten, sei haben gehen lassen, gewisse fast physische Bedürfnisse
es in Paris im Hotel, sei es bei Brecht in Dänemark, wo schafft, die mir nun schon lange unbefriedigt geblieben
er einen Teil seiner Bibliothek untergestellt hatte, oder sind. Neulich hatte ich einen Traum[ ... ]<< (70, Herv. d.
bei seiner geschiedenen Frau in San Remo. Verf.). Der Bibliothekstraum ist ein Traum >jenseits
546 Dichtungsanalyse und Autorbild

des Lustprinzips<, da er die Darstellung eines Wunsches Hatte Benjamin im Goethe-Essay das Mysterium als
in erfüllter Form einem anderen als dem Träumenden Hereinragen der Sprache (der Dichtung) in einen in
vorbehält. Der befindet sich dagegen gleichsam vor der ihr selbst nicht zugänglichen >>höheren<< (I, 200) Be-
Bibliothek. reich beschrieben, so wird diese Konstellation hier auf
Einen vergleichbaren Zeitraum wie die Kafkalektüre den Geschichtsbegriff übertragen. Darstellung der
(1925-35) umfaßt auch die Geschichte seines Schrei- Geschichte als Prozeß bedeutet, daß sich die Klage des
bens über Kafka. Von der ersten Aufzeichnung 1927 bis Menschen, der- wie Josef K. im Prozeß- inmitten der
zur Kritik von Brods Biographie 1938 zieht sich durch Historie steht und weltlichen Instanzen unterworfen
die Manuskripte, Notizen und Briefwechsel eine Kafka- ist, an ein Recht adressiert, das sich am Bild göttlicher
Spur. Gerechtigkeit orientiert- weshalb der angesprochene
Gerichtshof auch zu keinem Urteil kommen kann.
Benjamin stellt Kafkas Begriffe Prozeß, Gericht und
Entstehungsgeschichte II: erste Station Gesetz also in sprach- und geschichtstheoretischen
des Kafka-Komplexes - ein geschichts- Zusammenhänge, in denen es um deren doppelte Be-
theoretisches Denkbild, 1927 leuchtung innerhalb einer weltlichen und einer gött-
lichen Ordnung geht. Diese Doppelstellung mensch-
Mit der kurzen Aufzeichnung IDEE EINES MYSTERIUMS licher Teilhabe an der >Natur< und einer höheren Ord-
(1927) zum 1925 posthum veröffentlichten Roman nung beschreibt den Ausgangspunkt seiner
Der Prozeß steht am Anfang eine Art Monade, verdich- Kafka-Lektüre, auf den er mehrfach zurückkommen
tetes Leitmotiv von Benjamins Kafka-Lektüre: >>Die wird.
Geschichte darzustellen als einen Prozeß in welchem
der Mensch zugleich als Sachwalter der stummen Na-
tur Klage führt über die Schöpfung und das Ausbleiben Zweite Station: Dichtung als Asyl für
des verheißneu Messias<< (3, 303). Da dem Gerichtshof, theologische Geheimnisse, Nichtmitteilbares
vor dem diese Klage geführt wird, die Geschworenen und Umkehr, 1929/31
abhanden kommen, verbleiben als einzige Instanzen:
die Zeugen für das Kommen des Messias - als solche Der Artikel KAVALIERSMORAL zwei Jahre später setzt
treten Dichter, Bildner, Musiker und Philosoph auf- der von Benjamin kritisierten >>>ethischen Maxime [] <<<
und der >Mensch-Ankläger<. Somit stehen sich mensch- (IV, 466) zur Geheimhaltung von Kafkas Hinterlassen-
liche Stimme der (An-) Klage und philosophisch- schaften einen ganz anderen Begriff von Geheimnis
künstlerische Zeugen des Messianischen unmittelbar entgegen. Wenn er die esoterisch-exoterische Struktur
gegenüber, ohne eine Instanz dazwischen. Die Endlo- von Kafkas Werk hervorhebt, stellt er es implizit in die
sigkeit der >neuen Klagen< und >neuen Zeugen< wird Tradition jüdischer Säkularisierung, in der die Dich-
auf die Unschlüssigkeit des Gerichtshofs hinsichtlich tung zum Ort für >>Anliegen<< wird, die der Theologie
der Messias-Frage zurückgeführt. entraten sind: >>Kafkas Werk, in dem es um die dun-
Der kurze Text bietet nicht eigentlich eine Deutung kelsten Anliegen des menschlichen Lebens geht (An-
des Romans, der vielmehr Anlaß ist für ein geschichts- liegen, deren je und je sich Theologen und selten so
theoretisches Denkbild über die Vorstellung von Ge- wie Kafka es getan hat, Dichter angenommen haben),
schichte als Prozeß/als Weltgericht. So zitiert er die hat seine dichterische Größe eben daher, daß es dieses
>>durch Hege! von Schiller übernommene lakonische theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt, nach
Feststellung: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht<< außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern
(van Reijen 2001, 147), allerdings mit einer bemer- auftritt<< (467, Herv. d. Verf.).
kenswerten Umkehr. Während es bei Hege! der Welt- An diese Auffassung schließt eine Bemerkung in der
geist ist, der sein Recht an den existierenden Geistern Rezension von Haas' Gestalten der Zeit ( 1930) an: Die
>>in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt<<, Aufmerksamkeit des Verfassers erwache über den Wer-
womit die Geschichte als Gerichtsschauplatz erscheint ken derer, >>die theologischen Gehalten in ihrer äußer-
(Hegel1970, Bd. 7, 503 ), tritt bei Benjamin der Mensch sten Gefährdung, ihrer zerrissensten Verkleidung Asyl
als Ankläger auf, als derjenige, der >>Klage führt<<. Er geben<< (III, 277). Diese Haltung ist für Benjamin rich-
>>steht an der Schwelle des Weltgerichts<<, wie es im tungsweisend: >>Der künftigen Exegese dieses Dichters
Kraus-Essay heißt, dessen Vorarbeiten in dieselbe Zeit sind hier in einer Deutung, die mit der höchsten Ener-
fallen: >>Kehrt er der Schöpfung je den Rücken, bricht gie überall zu den theologischen Sachverhalten hin-
er ab mit Klagen, so ist es nur, um vor dem Weltgericht durchstößt, die Wege gewiesen<< (ebd.). Schon der
anzuklagen<< (II, 349). Titel THEOLOGISCHE KRITIK dieser im Februar 1931
Zu Franz Kafka 547

in der Neuen Rundschau publizierten Besprechung Und das Studium ein Ritt, der dagegen angeht<< (II,
signalisiert, daß sie Benjamins Auseinandersetzung mit 436).
den Möglichkeiten und Grenzen theologischer Deu-
tung enthält. Das Esoterische bei Kafka, jenes in dich-
tedscher Sprache artikulierte, aber nicht ausgespro- Dritte Station: Aus der Mitte der Bilderweit -
chene >>theologische Geheimnis<< (IV, 467) taucht hier Legenden, Entstellungen und Vergessen,
wieder auf: in Gestalt von Erfahrungen, >>für die er 1931
immer zeugen und die er nie verraten, niemals aus-
plaudern wird<< (III, 275). Unter den Gestalten der Zeit In dem im Juli desselben Jahres ausgestrahlten Rund-
sind zwei, >>denen der Verfasser des Buches solch un- funkvortrag FRANZ KAFKA: BEIM BAu DER CHINESI-
mitteilbare, zur Zeugenschaft verpflichtende Erfahrun- SCHEN MAUER verdichtet Benjamin seine Umgangs-
gen dankt, denen er die Treue gehalten hat, und die weise mit Kafkas Literatur als >>Deutung des Dichters
nun sein Buch als Schutzpatrone auf dem Weg durch aus der Mitte seiner Bildwelt<< (II, 678, Herv. d. Verf.)
die Zeitgenossenschaft leiten: Franz Kafka und Hugo und stellt diese nun der theologischen Auslegung ent-
von Hofmannsthal<< (ebd., Herv. d. Verf.). Die Rede gegen, genauer: einer Interpretation, die den Büchern
vom Unmitteilbaren bezieht sich auf die in Benjamins Kafkas ein religionsphilosophisches Schema unter-
Sprachtheorie erörterte Möglichkeit einer Darstellung schiebt und damit eine >>eigentümliche Umgehung,
des Nichtmitteilbaren- bzw. der magischen oder mi- beinahe möchte ich sagen Abfertigung der Welt von
metischen Seite der Sprache- an ihrem semiotischen Kafka<< praktiziert (677). Gleichzeitig wechselt die
Fundus. Während diese Auffassung in den wenig spä- Schreibweise; an Stelle der Deutung treten, wie schon
ter folgenden Texten LEHRE voM ÄHNLICHEN und in IDEE EINES MYSTERIUMS, streckenweise Legenden,
ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN (1933) aber aus die mit Kafkas Legenden korrespondieren- Beda Al-
einem theologischen Begründungszusammenhang lemann spricht von Kajka-Analogien (Allemann 1987,
herausgelöst und in einen kulturanthropologischen 48). So gibt Benjamin die kleine Erzählung >>Eine kai-
eingetragen wird, geht es im Kafka-Komplex um theo- serliche Botschaft<< vollständig wieder und wirft -
logische Momente des Nichtmitteilbaren. Die an Willy >>Diese Geschichte werde ich Ihnen nicht deuten<<- die
Haas' Buch beobachtete Nähe von Theologie und Frage nach dem Autor auf: >>Denn um zu erfahren, daß
Schein (276) erinnert dabei an den im Goethe-Essay der Angeredete vor allem einmal Kafka selber ist, dazu
erörterten Begriff des Ausdruckslosen und die Rede brauchen Sie meinen Hinweis nicht. Wer aber war nun
vom >>göttliche[n] Seinsgrund<< der Schönheit, der im Kafka? Er hat alles getan, um der Antwort auf diese
Geheimnis liege (I, 195). Frage den Weg zu verlegen<< (II, 677, Herv. d. Verf.).
In der Baas-Rezension wird das Unmitteilbare da- Damit wird keine biographische Lesart eingleitet, son-
gegen mit einer Zeugenschaft verknüpft: mit den Dich- dern eine Identifizierung des Autornamens mit der
tern als Zeugen für das Kommen des Messias und für Chiffre K. als verfehlt bewertet. Diese sage gerade soviel
das >>theologische Geheimnis<<, das in Kafkas Prozeß-, wie die Initialen auf Taschentuch oder Hutrand, >>ohne
Gerichts- und Gesetzes-Geschichten verborgen ist. daß man darum den Verschwundenen zu rekogniszie-
Benjamin beschreibt Kafka dabei in einer Stellung, die ren wüßte<< (ebd.). Stellt das Stichwort Rekognition die
schon hier das Bild leiblicher oder buchstäblicher Um- biographische Deutung in die Nähe von behördlicher
kehr innerhalb der jüdischen Säkularisierungs-Ge- Fahndung und Prozeß, so tritt hier eine Legende an
schichte entwirft: >>der in Prag, dem Heerlager der deren Stelle- gefolgt von zwei weiteren: einer talmu-
entarteten jüdischen Geistigkeit, im Namen des Juden- dischen Legende und der Legende von Sancho Pansa,
tums von ihr sich abwandte, um den drohenden un- die er im großen Essay zu eigenen Kapiteln ausbauen
durchdringlichen Rücken ihr zuzukehren<< (III, 275). wird. Die erste den Autor betreffende Legende ist al-
Dieser Konstellation- Abkehr von der jüdischen Ent- lerdings keine Legende über Kafka, sondern eine, die
wiekJung >>im Namen des Judentums<<, dargestellt als >>man von diesem Kafka<< bilden könnte: >>Er habe sein
leibhaftige Umkehr - entspringt jene Figur, die im Leben darüber nachgegrübelt, wie er aussähe, ohne je
großen Essay dann eine so prominente Rolle spielen davon zu erfahren, daß es Spiegel gibt<< (ebd.).
wird, die Umkehr. Nur daß die Abwendung von der Die Deutung des Dichters >>aus der Mitte seiner
herrschenden Entwicklung dort als Umkehr in Rich- Bildwelt<< (678) folgt damit dem Verfahren bildliehen
tung Vergangenheit und Vorwelt konkretisiert und in Erzählens; sie bewertet Kafkas Geschichten als Bilder
Bildern beschrieben wird, die Präfigurationen für das jenseits von Abbildung, Nachahmung oder Widerspie-
Denkbild vom Engel der Geschichte darstellen: >>Denn gelung, vielmehr als >>Spiegelung im Gegensinne<<.
es ist ja ein Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Dieser >>Gegensinn<< bezieht sich auf eine spezifische
548 Dichtungsanalyse und Autorbild

Zeitstruktur von Kafkas Erzählungen, auf eine Gleich- wieder: >>Daß das Gesetz als solches bei Kafka sich nir-
zeitigkeit der Weltalter (Hiebel1983, 138; Müller 1996, gends ausspricht, das und nichts anderes ist die gnä-
11 ff.). Die Angst von Kafkas Geschöpfen sei >>gleich- dige Fügung des Fragments<< (679).
zeitig und zu gleichen Teilen Angst vorm Uralten, Un- Das von Brod kolportierte, angeblich geplante Ende
vordenklichen und Angst vorm Nächsten, dringend des Schloß-Romans (K. stirbt, als ihm endlich durch
Bevorstehenden<< (II, 681). einen Boten aus dem Schloß die Erlaubnis zum Leben
Der >>Gegensinn<< verweist auch auf den besonderen im Dorf überbracht wird) bewertet Benjamin insofern
Status der Symptome, Zeichen, denen Entstellungen auch nicht als Auflösung des Rätsels oder Vollendung
bzw. Verschiebungen eigen sind. Im direkten Bezug zur des Romans. Er sieht darin vielmehr >>eine[] talmudi-
Tagebucheintragung über das Kafka-Gespräch mit sche[] Legende<< (680), die von einem Gleichnis han-
Brecht am 6. Juni 1931 (1203 f.) heißt es, die Seltsam- delt: Eine Prinzessin (bzw. die Seele), die sich in einem
keiten, von denen Kafkas Werk voll ist, seien für die Dorf (das ist der Körper) in der Verbannung unter
Leser >>nur als kleine Zeichen, Anzeichen und Sym- einem Volke befindet, dessen Sprache sie nicht ver-
ptome von Verschiebungen zu verstehen, die der Dich- steht, und die schmachtet, erfährt durch einen Brief,
ter in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt, ohne daß ihr Verlobter (bzw. der Messias) auf dem Weg zu
den neuen Ordnungen sich selber einfügen zu kön- ihr sei. Mit dem Mahl, das die Seele dem Körper rich-
nen<< (678). Ihm bliebe nur, mit Staunen und pani- tet, >>weil sie denen, die ihre Sprache nicht kennen,
schem Entsetzen auf die >>Entstellungen des Daseins<< anders keine Botschaft von ihrer Freude geben kann<<
(ebd.) zu antworten. Im Unterschied zu Brechts Rede (ebd.), gibt diese Legende Antwort auf die Frage, >>Wa-
von »unverständlichen Entstellungen des Daseins<< rum am Freitagabend der Jude ein Festmahl rüstet<<
(1204) rückt Benjamin Kafkas Bilder als >>Symptome (ebd.). Allerdings ist noch eine Verschiebung vonnö-
von Verschiebungen<< (678) in die Nähe zu Freuds ten, damit aus dieser Legende eine Kafka-Analogie
Sprache des Unbewußten. Es sei kein Vorgang denkbar, werden kann: >>Eine kleine Akzentverschiebung in dieser
der unter Kafkas Beschreibung >>sich nicht entstellt. Talmudgeschichte, und wir sind mitten in Kafkas Welt.
Mit anderen Worten, alles, was er beschreibt, macht So wie der K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige
Aussagen über etwas anderes als sich selbst<< (ebd.). Mensch in seinem Körper: ein Fremder, Ausgestoße-
Anders als konventionalisierte Formen einer übertra- ner, der nichts von den Gesetzen weiß, die diesen Leib
genen, >anderen< Redeweise- wie Allegorie, Parabel mit den höheren weiteren Ordnungen verbinden<<
oder Gleichnis- ist das Symptom bei Freud als >>Erin- (ebd., Herv. d. Verf.).
nerungssymbol<< gefaßt, dessen verschobener Darstel- Während die talmudische Legende eine Erklärung
lung stets ein Vergessen eingeschrieben ist; und Ent- anbietet für die sakrale Bedeutung der profanen Hand-
stellung und Verschiebung sind - zusammen mit der lungen jüdischer Kultgesetze, zu diesem Zweck auf das
Verdichtung- die wichtigsten Mittel der Traumarbeit. Leib-Seele-Paradigma zurückgreift und den Kult mit
Auch Benjamin verknüpft die Entstellung bei Kafka der Erfahrung sprachlicher Fremdheit in der Diaspora
mit dem Vergessen: >>Denn die präziseste Entstellung, vergleicht, bringt die >>kleine Akzentverschiebung<< eine
die so bezeichnend für Kafkas Welt ist,<< rühre daher, ganz andere Dimension ins Spiel- nicht das Verstehen,
daß wegen des undurchschauten Gewesenen das Neue sondern die völlige Unkenntnis der Religionsgesetze.
sich in der Figur der Sühne darstelle, so daß die unbe- Der >>nichts von den Gesetzen weiß<<, ist nicht nur in
kannte Schuld als >>Vergessen<< verstanden werden Unkenntnis ihres Inhalts, sondern ihres kultischen
muß. Kafkas Dichtung sei von >>Konfigurationen des Sinns überhaupt. Ihm ist die Verbindung des Leibes
Vergessens<< (682) erfüllt. -des Kreatürlichen bzw. des >>bloßen Lebens<< -zu
Symptom und Entstellung, die in Benjamins Kafka- höheren Ordnungen abhanden gekommen. Die Ent-
Arbeiten hier erstmals auftauchen, sind Leitmotive stellung der talmudischen Legende, die uns >>mitten in
seiner weiteren Auseinandersetzung mit dessen Werk. Kafkas Welt<< versetzt, betrifft damit das Vergessen der
Die Entstellung wird, als >>Axenverschiebung in der religiösen Bedeutung des Wartens- so wie K. im Schloß
Erlösung<< (1201), eine zentrale Rolle im Dissens mit wartet, ohne zu ahnen, daß sein Warten ihn mit >>hö-
Scholem über Kafka spielen, als Signum von Kafkas heren weiteren Ordnungen<< verbindet.
Welt, das diese für Benjamin von der Welt der Kabbala Dieses Nicht-Wissen stellt die menschlichen Ge-
und der jüdischen Überlieferung unterscheidet. Be- schöpfe in Kafkas Welt auf eine Stufe mit der Kreatur.
wertet als Differenz zur Offenbarung, berührt die Ent- Man könne seinen >>Tiergeschichten<< eine gute Weile
stellung auch das Unabgeschlossene von Kafkas Werk. folgen, >>ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich
In Gestalt eines unaussprechlichen Gesetzes kehrt hier hier gar nicht um Menschen handelt<< (ebd.). Denn
das Unmitteilbare des >>theologischen Geheimnisses<< >>ohne Scheidewände wimmeln die Geschöpfe aller
Zu Franz Kafka 549

Ordnungen durcheinander<< (681), verbunden nur u.a. die Sumpfwelt aus JoHANN JAKOB BACHOFEN
durch das Organ der Angst. Jene >>unbekannte Schuld<<, (1935), das Kinderbild Kafkas aus der KLEINE[N] GE-
mit der Kafkas Figuren erst durch die Sühne bekannt SCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE (1931), das gestische
werden, ist für Benjamin Symptom von Vergessen, Theater aus WAS IST DAS EPISCHE THEATER? (1931),
Unkenntnis der Gesetze, undurchschautem Gewese- das Motiv des Erzählens aus ERFAHRUNG UND ARMUT
nen und verlorener Verbindung der Kreaturen zu hö- (1933). Die Schreibweise aber folgt der im Rundfunk-
heren Ordnungen. >>Es ist das Verhältnisdreier Dinge: vortrag gewonnenen Methode, denn die vier Kapitel
Gesetz - Erinnerung - Tradition zu klären<<, heißt es des großen Essays präsentieren sich in Form von Le-
in einer der Aufzeichnungen aus dieser Zeit: >>Wahr- genden, die Kafkas >>Märchen für Dialektiker<< (II, 415)
scheinlich baut sich Kafkas Werk auf diesen dreien auf<< als geschichtstheoretische Bilder lesen.
( 1200). Insofern er Kafkas Literatur als Ausdruck einer Den besonderen Charakter von Kafkas Literatur
entstellten Traditiondeutet, in die unverstandene Ge- verortet Benjamin hier jenseits der Ausdifferenzierung
setze hineinragen, kann Benjamin Scholem entgegnen, von Gleichnis und Dichtung: zwischen Parabel und
das Gesetz bezeichne bei Kafka den >>toten Punkt seines Prosa, der Dichtung nur ähnlich. Kafkas Parabeln ent-
Werks<< (4, 4 79), von dem dieses interpretativ nicht zu falten sich >>nämlich wie die Knospe zur Blüte wird<<;
bewegen ist (vgl. Gasehe 2002). sie stünden >>Zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur
Halacha<< (420), d.h. wie die Erzählungen zu den Ge-
setzen der mündlichen jüdischen Überlieferung. Mit
Vierte Station: Einschreibung in die Begriffe diesem Vergleich hat er seine vorausgegangene kunst-
der jüdischen Tradition und der Vorwelt, philosophische Deutung - dichterische Hülle eines
1934 theologischen Geheimnisses, Zeugnis unmitteilbarer
Erfahrungen, entstellte Legenden über unbekannte
Waren damit die methodischen Weichen gestellt, so Gesetze- im Essay in Begriffe der jüdischen Tradition
begann die intensive Arbeit am zentralen Kafka-Auf- übertragen. Da Kafkas Parabeln aber keine Lehre ken-
satz erst im Anschluß an den Rundfunkvortrag. Zur nen, sondern auf diese allenfalls anspielen, geht Ben-
Auseinandersetzung mit vorliegenden Interpretatio- jamin davon aus, daß sie allenfalls Relikte der Lehre
nen trat nun die Debatte mit den Freunden, in deren überliefern oder auch als deren Vorläufer zu verstehen
Verlauf Benjamin seinem Kafka-Verständnis schärfere sind. Kafkas Literatur wäre damit Überlieferung dies-
Konturen verlieh. Da das erste Manuskript, das er noch seits (d. h. vorgängig) und jenseits der Lehre (nach deren
vor der Abreise nach Svendborg im Juni 1934 aus Paris Zerreißen). Da genau dieser doppelte Ort den biogra-
nach Jerusalem geschickt hat, nicht überliefert ist (Auf- phisch-psychologischen wie den theologischen Inter-
zeichnungen dazu in II, 1222-1245), läßt sich nicht pretationen gleichermaßen entgehen muß, faßt Ben-
rekonstruieren, in welchem Maße die Debatte mit jamin seine Kritik der Rezeption nun in dem Statement
Scholem die Überarbeitung des Textes geprägt hat. zusammen, daß es >>[z]wei Wege gibt [... ], Kafkas
Jedenfalls hat sie >>die Frage nach der >theologischen Schriften grundsätzlich zu verfehlen. Die natürliche
Interpretation<<< (4, 459) auf die jüdische Tradition Auslegung ist der eine, die übernatürliche ist der an-
zugespitzt. Daß Benjamin am 11. August 1934, als er dere<< (425).
Scholem mitteilt, nun >>endgültig letzte [... ] Hand an Ganz anderer Art ist die Verfehlung Kafkas selbst,
den >Kafka<<< zu legen, und zugleich auf dessen Ein- die, wie Benjamin annimmt, den Wunsch zur Vernich-
wände eingeht, >>die Vorwelt<< als >>geschichtsphiloso- tung seiner Manuskripte motiviert haben mag. >>Ge-
phische[n] Index<< (478) für seine Deutung nennt, läßt scheitert ist sein großartiger Versuch, die Dichtung in
sich dagegen eindeutig auf die gleichzeitige Bachofen- die Lehre zu überführen<< (427)- was er mit dem Bil-
Lektüre zurückführen. Diese spielt in der in Dänemark derverbot in Verbindung bringt: >>Kein Dichter hat das
geschriebenen >>Umarbeitung<< (458) eine wichtige >Du sollst Dir kein Bildnis machen< so genau befolgt<<
Rolle. Am 27. September ging von dort das neue Ma- (ebd.). Damit steht der Begriff der Lehre, anders als
nuskript an Werner Kraft mit der Bitte um >>Bemer- bei Brecht, auch im Kontext theologischer Bedeutun-
kungen zu meinem Kafka<< (506). gen, während er in diesem, anders als bei Scholem,
In die Ausarbeitung des Essays ebenso wie in dessen doch nicht aufgeht.
Überarbeitung sind neben Aspekten aus den Debatten
mit Scholem und Brecht - der Austausch mit Kraft
und mit Adorno über Kafka begann erst nach der Fer-
tigstellung- auch Motive anderer Arbeiten eingegan-
gen, mit denen Benjamin zwischenzeitlich befaßt war:
550 Dichtungsanalyse und Autorbild

Die Kontroversen mit Schalem und Brecht, Das Leben mag »so kurz sein wie es will. Das macht
1934 nichts, weil ein anderer als der, der ausritt, im Dorfe
ankommt<< (ebd.). Während Brecht eine Botschaft
Die doppelte Belichtung der Begriffe Lehre, Entstellung wünscht, folgt Benjamin der Bildlogik der Erzählung
und Umkehr hat Benjamin als Schnittmenge einer in (vgl. dazu Moses 1986, 248). Das wahre Maß des Le-
zwei Richtungen geführten Kontroverse- hier Brecht, bens sei die Erinnerung, sie durchlaufe es rückschau-
dort Scholem- gewonnen (zur Konstellation der De- end und blitzartig, wie »man ein paar Seiten zurück-
batte vgl. Mayer 1979; vgl. den Artikel zu >>Gershom blättert<<. Aus dieser Auslegung gewinnt er das für den
Scholem<<, 59-76). Zur Präzisierung seiner Lektüre Essay so zentrale Bild vom Leben, das sich, rückwärts
benötigte er offensichtlich die Kontroverse, wie die gelesen, in Schrift wandelt (Benjamin 1981, 154):
Bitten um die Kafka-Deutung anderer und um Kom- »Umkehr ist die Richtung des Studiums, die das Dasein
mentare zu seinen Manuskripten belegen. Oft verwen- in Schrift verwandelt<< (li, 437).
det er Formulierungen aus den Debatten und nutzt sie Auch der Briefwechsel mit Schalem über Kafka
durch kleine Verschiebungen für seine Deutung. (Moses 1994; Weidner 2002) ist nicht frei von Unstim-
In Benjamins Tagebuchnotizen sind drei Kafka-Ge- migkeiten, zumal die Debatte zweifach belastet war:
spräche mit Brecht aus dem Sommer 1934 überliefert: durch die postalischen Wege zwischen Jerusalem und
vom 6. Juli, vom 5. und 31. August. Im ersten geht es Dänemark, teils verzögert durch Umwege über Paris,
um die Parabel. Vertritt Brecht, der Kafka hier noch und dadurch, daß Benjamin sich gegenüber der Auf-
für einen großen Schriftsteller hält, die Position, daß forderung des Freundes verwahren muß, sich über
dessen Ausgangspunkt die Parabel sei, so heißt das für seine Beziehung zum Kommunismus zu erklären:
ihn »das Gleichnis, das sich vor der Vernunft verant- »Solche Fragen ziehen- so scheint mir- auf dem Wege
wortet und dem es deshalb, was seinen Wortlaut an- über dem Ozean Salz an und schmecken dann dem
geht, nicht ganz ernst sein kann<<, weshalb »bei Kafka Gefragten leicht bitter<< (4, 407). Zwar herrscht hier
das Parabolische mit dem Visionären im Streit<< liege eine weniger grobe Tonart, doch werden sichtlich
(Benjamin 1981, 150). Benjamin nimmt das Gespräch Empfindlichkeiten auf beiden Seiten berührt. Zudem
zum Anlaß, um im Gegensatz dazu zu formulieren: war der Kontext prekär, denn Scholem hatte den Auf-
»Sie sind nicht Gleichnisse und wollen doch auch nicht trag des Artikels für die jüdische Rundschau vermittelt
für sich genommen sein<< (Herv. d. Verf.), womit er die -»Ich möchte glauben, daß Dir ein wirklich schönes
Parabeln Kafkas als Erzählungen ohne Lehre bewertet. Essay über Kafka dort sehr nützen könnte<<- und for-
Das zweite Gespräch wird, nachdem Brecht Benjamins derte dafür: »Du wirst dabei aber einer auch expliziten
Aufsatz über drei Wochen ohne zu antworten in Hän- und formulierten Beziehung aufs Judentum Dich nicht
den hielt, ausgelöst durch seinen abrupt vorgebrachten gut entziehen können<< (Scholem 1980, 134). Benja-
Vorwurf einer »tagebuchartigen Schriftstellerei im min, dem implizite Bezüge zum Judentum näherlagen,
Stile Nietzsches<<, die das Werk aus seinen Zusammen- zog sich auf» Unwissenheit<< in dieser Sache zurück. Er
hängen reiße. Auch Kafka selbst wird von ihm nun nutzte die Feststellung, daß ihm »dafür Fingerzeige
negativ bewertet, als »Blase auf dem Sumpf der Kultur von anderer Seite freilich unentbehrlich<< wären (4,
von Prag<<, bis hin zu dem Diktum: »Ich lehne ja Kafka 410), um den Freund zur Mitteilung seiner »aus den
ab. [... ] Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist eben Ge- jüdischen Einsichten hervorgehenden Anschauungen
heimniskrämerei. Der ist Unfug<< ( 151). Auf Benjamins über Kafka<< zu bewegen (425). Dieser verweigerte sich
Vorschlag, die Kontroverse an der Erzählung »Das zunächst mit Hinweis auf eine Diskussion mit »ver-
nächste Dorf<< zu überprüfen - die kurze Erzählung stellten Fronten<< (Scholem 1980, 148) und in einer
vom Räsonnement eines Großvaters über das erstaun- Rhetorik der Abgrenzung- »Du wirst Deine Linie ja
lich kurze Leben, das sich in der Erinnerung so zusam- zweifellos am besten ohne die mystischen Vorurteile,
mendränge, daß der Entschluß eines jungen Mannes welche allein ich auszustreuen im Stande bin, verfol-
zum Ritt ins nächste Dorf unbegreiflich sei-, reagiert gen<< (146) -,die er durch den Wink verstärkte, daß
Brecht hinhaltend. Im dritten Gespräch verschärft er Benjamin kaum etwas von ihm lesen könne- »meine
seine Vorwürfe und hält Benjamin vor, sein Aufsatz Literatur ist im Allgemeinen jetzt hebräisch<< (149) -,
leiste »dem jüdischen Faszismus Vorschub. [... ] Er ver- den dieser nur als Vorwurf gegenüber seinem versäum-
mehre und breite das Dunkel um diese Figur aus statt ten Hebräisch-Studium verstehen konnte. Als Scholem
es zu zerteilen<<. Er vermißt praktische Vorschläge, »die einen Monat später sein Kafka-Gedicht »Mit einem
sich seinen Geschichten entnehmen ließen<< (152), Exemplar von Kafkas >Prozeß<<< (154-156) schickte,
wobei sich zeigt, wie er die Bilder umgeht, die Erzäh- war Benjamin schon in Dänemark und sein Manu-
lung als Gleichnis deutet und dessen >Lehre< korrigiert: skript auf dem Weg nach Jerusalem. In einer Serie sich
Zu Franz Kafka 551

überkreuzender Sendungen fand zwischen Juli und fünften Punkt als »entstellt« erklärt (4, 478 f.), bezeich-
September 1934 eine doppelt umwegige Debatte statt, net die klarste Differenz zu Scholem. Dessen >>Nichts
in der zunächst die direkte Kontroverse umgangen der Offenbarung« erklärt sich aus der zentralen Stel-
wurde, empfindliche Aspekte ausgespart blieben- z. B. lung des Nichts in seiner kabbalistischen Sprachtheo-
wenn Benjamin seine Reserve gegen die Hälfte der 14 rie - der Name Gottes, unaussprechbar und selbst
Gedichtstrophen in die Mitteilung kleidet, daß er sich ohne Sinn bzw. konkrete Bedeutung, ist der Ursprung
die 7. bis 13. Strophe >>ohne Vorbehalt zu eigen mache« aller Bedeutung (Scholem 1970, 69). In ihr tritt die
(4, 459) -,in der schließlich die Unterschiede aber Dichtung als Erbe der Theologie auf, als Nachhall des
doch noch benannt wurden. >>verschwundenen Schöpfungswortes« (70). Im Unter-
Dabei geht es Scholem um eine Interpretation auf schied dazu faßt Benjamin die Differenz des »Weltzu-
der Basis einer >>richtig verstandene [n] Theologie<<, in stands« bzw. der Geschichte zur Offenbarung in der
deren Zentrum seine These von der »Unvollziehbar- Figur der Entstellung- analog zu seiner Übersetzungs-
keit<< bzw. dem >>Nichts der Offenbarung<< steht: »Die theorie, in der die Fremdheit der Sprachen deren Dif-
Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, freilich in ferenz zur »reinen Sprache« anzeigt- und deutet die
jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückge- Figur der Erlösung insofern als Zurechtrücken der
führt wird<< (Scholem 1980, 157). Er kritisiert die zu Entstellung. Ohne daß der Horizont ihrer unterschied-
starke Betonung der Vorwelt und vermißt, daß Benja- lichen Sprachtheorien (Weigel2000) im Briefwechsel
min auf das >>Jüdische<< eingehe, >>wo es doch in dem berührt würde, kommt dieser im Mißverständnis um
Hauptpunkt so sichtbar und ohne Umschweife sich die Legende vom großen Rabbi indirekt zur Sprache.
erhebt, daß man Dein Schweigen darüber als rätselhaft In Benjamins Essay heißt es: »[D]er Insasse des ent-
empfindet: in der Terminologie des Gesetzes, die Du stellten Lebens[ ... ] wird verschwinden, wenn der Mes-
so hartnäckig nur von ihrer profansten Seite aus zu sias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß
betrachten Dich versteifst<< (158). Zudem kritisiert er er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern
unverständliche Passagen des Manuskripts, besonders nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde« (II,
die über das Gestische ( 169). 432). Für diese Legende beansprucht Scholem die Ur-
Benjamin setzt dagegen, daß auch seine Deutung heberschaft: »Der auch bei Bloch erscheinende große
>>ihre breite- freilich beschattete- theologische Seite« Rabbi mit dem tiefen Diktum über das messianische
habe. Das Bild des Schattens bedeutet, daß ihn die Reich bin ich selber; so kommt man noch zu Ehren!!«
theologischen Begriffe im Hinblick auf deren Wirkun- (Schalem 1980, 154) und beruft sich dafür auf eine
gen in der profanen Welt interessieren, >>wie man im frühere, von ihm stammende Fassung: »Alles wird sein
Sinne Kafkas die Projektion des jüngsten Gerichts in wie hier- nur ein ganz klein wenig anders« ( 156). Der
den Weltlauf sich zu denken habe« (4, 459, Herv. d. Unterschied zwischen >>ein ganz klein wenig anders«
Verf.). Besonders wichtig ist ihm die Figur einer »die und »entstellt«, den Scholem übergeht, kann als Sym-
Frage weghebenden Antwort«, der Hinweis auf einen ptom der sprachtheoretisch begründeten Kontroverse
Weltzustand, >>in dem diese Fragen keine Stelle mehr über den Begriff der Offenbarung gelesen werden.
haben, weil ihre Antworten, weit entfernt, Bescheid auf Wenn Benjamin die Entstellung zugleich als Form
sie zu geben, sie wegheben« (ebd.). Die unbefriedigen- deutet, die die>> Dinge in der Vergessenheit annehmen«
den Antworten in der profanen Welt von Kafkas Figu- (II, 431), wird für ihn die Differenz der Geschichte zur
ren beleuchten also den Mangel von Fragen, die der Offenbarung erst in der Erinnerung, also rückwärts
Religion entstammen und in der Säkularisierung weg-, gewandt, erkennbar.
aber nicht aufgehoben sind. Im Unterschied zu den Dies genau ist der Schnittpunkt seiner Kontroversen
für Scholem zentralen Begriffen >Offenbarung< und mit Brecht und Schalem. Liegt das Datum seiner Scho-
>Gesetz< steht für Benjamin die >Erlösung< im Mittel- lem-Entgegnung am 11. August zwischen dem zweiten
punkt: >>[I]ch habe versucht zu zeigen, wie Kafka auf und dritten Brecht-Gespräch, so kommt Benjamins
der Kehrseite dieses >Nichts<, in seinem Futter, wenn Figur der Umkehr, durch die sich das Leben in Schrift
ich so sagen darf, die Erlösung zu ertasten gesucht hat« wandelt, schon in diesem Brief zum Tragen: >> Kafkas
(460). Wird er im überarbeiteten Essay die Erlösung messianische Kategorie ist die >Umkehr< oder das >Stu-
als >>das Beste« bezeichnen (II, 434), so steht diese- in dium«< (4, 479). Daraus erklärt sich auch Benjamins
der profanen Variante der >Hoffnung<- auch in den These zur >>Frage der Schrift«, die an einen besonders
sieben Entgegnungspunkten auf Scholems »Einwen- empfindlichen Punkt rührt, wie Scholems Bemerkung
dungen« an erster Stelle (4, 478f., Notizen zum Brief signalisiert: >>Hierüber werden wir uns zu verständigen
an Schalem, II, 1245ff.). haben« (Scholem 1980, 158). Auf dessen Feststellung,
Der messianische Aspekt der Offenbarung, die er im daß die Schrift nicht abhanden gekommen, sondern
552 Dichtungsanalyse und Autorbild

nicht zu enträtseln sei (ebd.), entgegnet Benjamin: »Üb dem Naturtheater von Oklahoma, kommt dabei eine
sie den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie besondere Rolle zu (zur Exterritorialität vgl. Weber
sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das 2002).
gleiche hinaus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehö- Während er sich mit vorliegenden Interpretationen
rigen Schlüssel eben nicht Schrift ist sondern Leben. argumentativ auseinandersetzt - z. B. weist er Soma
[... ] In dem Versuch der Verwandlung des Lebens in Morgensterns Bewertung Kafkas als Religionsstifters
Schrift sehe ich den Sinn der >Umkehr<<< (4, 478f.). Für zurück (II, 425; dazu Palmer 1999) -,kommt den an-
Benjamin ist der Status von Gelesenem als Schrift nicht deren Zitaten eher der Status von Kommentaren zu,
gegeben, sondern verdankt sich immer schon, auch in vergleichbar den Legenden, die er Kafkas Parabeln an
der Tradition, einer besonderen Auslegung, deren die Seite stellt und derart in eine talmudische Form
Schlüssel in der Moderne abhanden gekommen ist, überführt. Die Lektüre in Legenden erhält im Essay
während für Scholem die immer schon rätselvolle eine kompositorische Funktion, insofern jedes der vier
Schrift der >Tradition< sich in der Moderne in der Kapitel um solche Geschichten gruppiert ist. Die Nach-
Dichtung fortsetzt. Deshalb kann er in Kafkas Schrif- laß-Aufzeichnungen bestätigen diese Rolle: Die >>Po-
ten >>die säkularisierte Darstellung des (ihm selber temkingeschichte<< (II, 1209) leitet das erste Kapitel
unbekannten) kabbalistischen Weltgefühls<< entdecken ein, die talmudische Legende vom Körper als Fremde
(Scholem 1970, 271). Die Unstimmigkeiten zwischen des Menschen (aus dem Rundfunkvortrag) steht am
beiden gründen insofern in einer unterschiedlichen Ende von >>Ein Kinderbild<<, während das dritte Kapi-
Haltung zur Säkularisierung. Während Scholem die tel >>Das bucklicht Männlein<< mit der >>Hamsunge-
Dichtung als Säkularisat der Tradition betrachtet, das schichte<< (1210) einsetzt und >>Sancho Pansa<< mit dem
die Kabbala beerbt, kommen für Benjamin theologi- >>Chassidischen Bettlermärchen<< (1208) beginnt.
sche Begriffe nur aus der Perspektive des Vergessen- Eine andere Rolle spielen die mythischen Namen,
seins, in der Umkehr, in den Blick. Der Versuch einer wie Odysseus und Sisyphos, mit denen Benjamin den
Üherführung von Dichtung in Lehre führt zu einem Autor Kafka vergleicht, um seine geschichtliche Per-
-notwendigen- Scheitern (vgl. Steiner 1992). spektive ins Bild zu setzen: als Blick auf die Vorwelt
und die Unterseite der Geschichte. Unter dem Titel
eines >anderen Odysseus< kommentiert er Kafkas Welt
Lektüre in Legenden und als Welt des Ungeschiedenen ohne Ordnungen und
geschichtstheoretische Perspektive - Hierarchien, die älter sei als der Mythos, während der
der Essay von 1934 Autor dem Versprechen des Mythos, sie zu erlösen,
nicht gefolgt sei. Insofern sieht er Kafka, ähnlich wie
Im Unterschied zur strengen Komposition des KRAus- Odysseus, >>an der Schwelle, die Mythos und Märchen
Essays (Allmensch-Dämon-Unmensch) entfaltet der trennt<<, dort wo durch List und Vernunft die mythi-
vierteilige Essay FRANZ KAFKA ein komplexes Netz von schen Gewalten aufhören und die Märchen als >>Üher-
Motiven, Legenden, Figuren, Begriffen und Zitaten: lieferung vom Siege über sie<< entstehen (415). Die
aus Kafkas Texten, vorliegenden Interpretationen (z. B. Rede von Kafkas >>Märchen für Dialektiker<< betont die
von Brod, H.J. Schoeps, Hellmuth Kaiser, Haas, Kraft, Differenz zu seinen antiken >>Ahnen<<, so daß das
Denis de Rougemont, vgl. BIBLIOGRAPHIE zu KAFKA Schweigen der Sirenen dem >>anderen Odysseus<< ent-
II, 1247), dem Werk anderer Schriftsteller (Goethe, spricht (vgl. Witte 1973). Wird dieüberlieferungvom
Robert Walser, Dostojewskij, Puschkin, Hamsun), kul- Sieg über die mythischen Gewalten als Märchen be-
turhistorischen und philosophischen Schriften (Laotse, wertet, so nimmt das >>Märchen für Dialektiker<< eine
Rosenzweig, Cohen, Lukacs, Bloch, Bachofen, Leon Umkehr der Perspektive vor, durch welche die ge-
Metchnikoff u.a.) und Volksliedern. Er interpretiert schichtstheoretische Bedeutung der Üherlieferung
nicht einzelne Titel, sondern bezieht sich auf Passagen fragwürdig wird, - in exakter Gegenstellung zur Dia-
aus den Romanen (Das Schloß, Der Prozeß, Amerika), lektik der Aufklärung, in der Odysseus als Allegorie auf
aus etlichen Erzählungen (Das Urteil, Der jüngste Tag, die Selbsterhaltung und den Ursprung der Kunst aus
Vor dem Gesetz, Die Sorge des Hausvaters, Beim Bau der der Abspaltung von körperlicher Arbeit auftritt.
Chinesischen Mauer, Betrachtung, Der Landarzt, Die Eine dem >>andere[n] Odysseus« (11,415) verwandte
Verwandlung, Das Schweigen der Sirenen, Ein Hunger- Perspektive zurück auf die Vorwelt, vor das Gesetz bzw.
künstler, Wunsch, Indianer zu werden, In der Strafkolo- auf die Unterseite der Geschichte entwirft auch der
nie, Auf der Galerie) und den Tagebüchern, zwischen Sisyphos-Vergleich. Die Scham, Kafkas >>stärkste Ge-
denen ein enges Geflecht von Motiven hergestellt wird. bärde<< (428), sei keine persönliche, sondern eine >>ge-
Einigen Orten, so den Gerichts- und Amtsstuben und sellschaftlich anspruchsvolle<< (ebd.) Reaktion, die in
Zu Franz Kafka 553

seinen Texten aus der Nötigung einer- unbekannten und Steigenden ( 410 f.), eine Mischung aus
-Familie motiviert werde: >>Dem Geheiß dieser Fami- >>Ungewordene[m] und überreife[m]<< (424).
lie folgend, wälzt er den Block des geschichtlichen
Geschehens wie Sisyphos den Stein. Dabei geschieht
es, daß dessen untere Seite ans Licht gerät. Sie ist nicht Thematischer Aufbau des Essays
angenehm zu sehen. [... ] Das Zeitalter, in dem Kafka
lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uran- Das erste Kapitel stellt eine Archäologie der Gestalten-
fänge<< (ebd.). Die Vorwelt in der Gegenwart sichtbar kreise von >>Kafkas Welt<< dar. Es führt zunächst Pusch-
zu machen, erscheint so als Schwerstarbeit. Das erklärt kins dahindämmernden Poternkin ein als >>Ahn jener
die Langsamkeit und Schwere der Bewegungen von Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachbö-
Kafkas Personal. Während also die Legenden Kafka- den, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch
Analogien darstellen, die mit dessen Welt korrespon- sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr
dieren, sind die Kafka- Vergleiche Denkbilder, die die Versinkende sind, dafür aber noch in den Untersten
geschichtstheoretische Perspektive von Kafkas Welt und in den Verkommensten- den Türhütern und den
beschreiben. altersschwachen Beamten - auf einmal unvermittelt
Um die spezifische Konstellation zu erörtern, in der in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können<< (II,
>Vorwelt< und weltliche Gewalten heutiger Tage in Be- 410). Für Kafka sei diese Beamtenwelt die gleiche wie
ziehung treten (427; vgl. Sagnol2001 ), greift Benjamin die Welt der Väter: >>Die Ähnlichkeit ist nicht zu ihrer
noch einmal sein >>Spiegelgleichnis<< auf- nicht ohne Ehre. Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht sie
es ein wenig zurechtzurücken. Anstelle der >>Spiegelung aus<< (411). Korrumpierbarkeit und >>Unzucht im Fa-
im Gegensinn<< steht jetzt eine Spiegelszene, in der milienschoß<< ergänzen die vergleichbaren >>Zustände
Korrespondenzen zwischen Vergangenern und Künf- in Amt und Familie<< (413).
tigem kenntlich werden: >>Er hat nur in dem Spiegel, Um dagegen das >Schicksal< der ahnungslos der
den die Vorwelt ihm in Gestalt der Schuld entgegenhielt, Schuld verfallenen Angeklagten zu diskutieren, greift
die Zukunft in Gestalt des Gerichtes erscheinen sehen<< Benjamin auf SCHICKSAL UND CHARAKTER (1919)
(ebd., Herv. d. Verf.). Ein Denkbildpar excellence über zurück, wo er Schicksal- jenseits einer religiösen Ord-
die historische Ungleichzeitigkeit zwischen den Begrif- nung bzw. einem >>Reiche der Gerechtigkeit<<- in einer
fen von Schuld und Recht: >>Wie man sich dieses [Ge- dem Mythos entsprungenen >>Ordnung des Rechts<<
richt, d. Verf.] aber zu denken hat- ist es nicht das situiert hatte, als >>Schuldzusammenhang des Leben-
Jüngste? macht es nicht aus dem Richter den Ange- digen<< ( 174 f.). Der einzige >>Gestaltenkreis<<, der noch
klagten? ist nicht das Verfahren die Strafe?- daraufhat nicht voll >>aus dem Mutterschoße der Natur entlassen<<
Kafka keine Antwort gegeben<< (ebd.). sei, besteht für ihn dagegen aus den Gehilfen, Boten,
Wenn Kafkas Welt durch Prozesse, Gerichtsbeamte, Studenten und Narren, Bewohnern einer Art >>Mittel-
Anklagen, Strafen, unbekannte Schuld und durch welt<<, einer >>Welt von Kreaturen<<, die unter einem
Scham beherrscht wird, dann zeigt Benjamin, daß sich düsteren Gesetz lebt: >>Für sie und ihresgleichen, die
darin theologische Begriffe (wie Erbsünde, jüngstes Unfertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da<<
Gericht) und das Register menschlicher Gerichtsbarkeit (415f.).
überlagern. Ohne Wissen um ihre christliche Herkunft Das zweite Kapitel ist den verschiedenen Inkarna-
erscheint die >>Erbsünde<< als Schuldzusammenhang tionen des K. in Kafkas Romanen und dem Schauplatz
des Lebens und setzt einen >>immerwährende[n] Pro- des Naturtheaters von Oklahoma gewidmet. Eingelei-
zeß<< (412) in Gang. Wo Geschichte derart als Natur- tet wird es mit einem>> Kinderbild von Kafka<<, dessen
geschichte erscheint, vertreten die Väter die anklagende Beschreibung die >>Ateliers des neunzehnten Jahrhun-
und strafende Instanz zugleich. Die Familie, als Ur- derts<< aus KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE
sprung >>dieser Erbsünde - der Sünde einen Erben (1929) zitiert. Die >>[u]nermeßlich traurige[n] Augen<<
gemacht zu haben<< (ebd.), erscheint als Quelle der des sechsjährigen Knaben motivieren hier, den inbrün-
Sünde und als Instanz, die über sie Gericht hält,- als stigen >>>Wunsch, Indianer zu werden<<< (416), aus Kaf-
Ort, an dem sich Vorwelt und Gegenwart begegnen. kas gleichnamigen Text mit dem Amerika-Roman in
So wird >>Kafkas Welt<< als »Mittelwelt<< (415f.) oder Verbindung zu bringen, in dem Kar! Rossmann im
>> Zwischenwelt (430) begriffen, an der Schwelle von Naturtheater von Oklahoma bzw. auf der Rennbahn
Natur und Kultur, von Anorganischem und Organi- von Clayton >>ans Ziel seiner Wünsche gelangt<<: >>Der
schem, gleichzeitig im Zustand des Werdens und des rätselhafte Ort und die ganz rätsellose durchsichtige
Zerfalls. Sie ist sowohl von >>Unfertigen und Unge- und lautere Figur<< (417 f.) gehören für Benjamin zu-
schickten<< (415) bevölkert als auch von Versinkenden sammen. Kar! Rossmann wird als Mensch ohne Cha-
554 Dichtungsanalyse und Autorbild

rakter, als >>geradezu charakterlos« (418) beschrieben, Entstellung als>> Form, die die Dinge in der Vergessen-
denn ihm fehlt genau das, was Benjamin in dem fünf- heit annehmen<<, das >>bucklicht Männlein<< als Urbild
zehn Jahre zurückliegenden Aufsatz als >Charakter< der Entstellung und der Körper als »Vergessenste
definiert hatte: die >>Antwort des Genius<< auf >>jene Fremde<< (431 f.). Vor dem Hintergrund der jüdischen
mythische Verknechtung der Person im Schuldzusam- Gedächtnistradition- >>der heiligste ... Akt des ... Ritus
menhang<< ( 178). Während der Begriff des Charakters ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Ge-
dort dem Kontext der Tragödie entstammt, ist der dächtnisses<< (Haas-Zitat, 429)- bezieht Benjamin das
Mensch ohne Charakter hier in einem gestischen Thea- Vergessene einerseits auf die Erlösung- >>Aber das
ter zu Hause: >>Eine der bedeutsamsten Funktionen Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die
dieses Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehens Möglichkeit der Erlösung<< (434). Andererseits wird es
in das Gestische.<< Kafkas ganzes Werk sei ein >>Kodex mit dem >>Vergessenen der Vorwelt<< (430) und der
von Gesten<<, jedoch ohne sichere symbolische Bedeu- Bachofen entlehnten >>Sumpfwelt<< (428) in Verbin-
tung, denn sie würden >>in immer wieder anderen Zu- dung gebracht. Hatte der Rundfunkessay die Entstel-
sammenhängen und Versuchsanordnungen um eine lung als Symptom eingeführt, so wird ihre Bedeutung
solche angegangen[ ... ]. Das Theater ist der gegebene hier vervielfältigt. Neben dem körperlichen Symptom,
Ort solcher Versuchsanordnungen<< (418). In diesen der Physiognomie der Bebückten, Beladenen,Gebeug-
Kontext von >>Durchschnittsmenschen<<, denen- selbst ten- dem Rücken liegt es auf- kommt nun die >>Axen-
rätsellos - die Welt rätselvoll ist, gehören die Bezüge verschiebung in der Erlösung<< (1201) ins Spiel, womit
zum chinesischen Kulturkreis, die Benjamin mehrfach die messianische und die psychoanalytische Bedeutung
herstellt: mit Zitaten aus Rosenzweigs Stern der Erlö- von Erlösung sich überlagern (vgl. Weigel1996). Die
sung ( 1921) und aus Leon Metchnikoffs La Civilisation im Kontext der Scholem-Kontroverse erwähnte Le-
et les grands jleuves historiques ( 1889). gende vom großen Rabbi erhält hier eine wichtige
Das Naturtheater als gestisches Theater und als Ver- Ergänzung: >>Niemand sagt ja, die Entstellungen, die
suchsanordnung von Bedeutungen: mit dieser Lesart der Messias zurechtzurücken einst erscheinen werde,
von Kafkas Welt als Welttheater - >>Ihm steht der seien nur solche unseres Raums. Sie sind gewiß auch
Mensch von Haus aus auf der Bühne<< (422) -stellt er solche unserer Zeit<< (II, 433).
die Gebärde und die Geste in >>die Mitte des Gesche- Die Schlußpassagen des Essays widmen sich einer
hens<< (419),- ähnlich wie im epischen Theater Brechts, Sippe bzw. einem Geschlecht unter den Geschöpfen
das er ebenfalls als gestisches Theater und Versuchsan- Kafkas, das >>auf eigentümliche Weise mit der Kürze
ordnung bewertet hat (521 f.). Während es dort aber des Lebens rechnet<< (434), den Gehilfen, deren Wort-
um die Zitierbarkeit der Geste (529), d.h. um eine führer die Studenten sind. Deren Gesten deuten auf
Reflexion konventioneller Symbolik geht, ist bei Kafka ein >>Zeitalter der aufs Höchste gesteigerten Entfrem-
der Gestus >>die wolkige Stelle der Parabeln<< (427), dung<< (436), was Benjamin - im Rückgriff auf sein
denn >>der Gebärde des Menschen nimmt er die über- Konzept des >optisch Unbewußten< im Photographie-
kommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegen- Aufsatz-am Beispiel von Experimenten mit Film und
stand zu überlegungen, die kein Ende nehmen<< (420, Grammophon erörtert, in denen die Menschen ihren
zur Geste vgl. Hamacher 1998). Die Gebärden als eine eigenen Gang und ihre eigene Stimme nicht erkennen.
Art Nachahmung, die Ausweg oder Ausflucht bedeutet, >>Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten
und die Bühne als Ort einer letzten Zuflucht, das ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das Studium an-
schließt die Erlösung nicht aus: >>Die Erlösung ist keine weist<< (ebd.). Das Studium aber wird als eine unge-
Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht heure Anstrengung bewertet: >>Denn es ist ja ein Sturm,
eines Menschen<<, dem >>>sein eigener Stirnknochen ... der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium ein
den Weg< verlegt<< (423). Das Kapitel schließt mit der Ritt, der dagegen angeht<< (ebd.). Es kann auch ein
aus dem Radiovortrag übernommenen talmudischen Wind sein, der aus der Vorwelt weht. Durch dieses Bild
Legende, die >>mitten in Kafkas Welt<< führe. Als Unge- gerät die Position der Studierenden in die Nähe my-
ziefer erwacht, sei seine Fremde über den Menschen thischer Helden. Für sie wird, Plutarch nach Bachofen
Herr geworden (424). Benjamin sieht in Kafkas Lite- zitierend, das Phänomen von >>zwei besondere[n]
ratur also Geschichten von Menschen ohne Charakter, Grundwesen und einander entgegengesetzten
die- dem Schicksal einer unbekannten Schuld unter- Kräfte[n]<< angenommen, >>von denen das eine rechter
worfen- in immer neue Versuchsanordnungen gestellt Hand und geradeaus führt, das andere aber umlenkt
werden, in deren Zentrum ihre Gebärden stehen. und wieder zurücktreibt<< (43 7). Damit korrespondiert
An dieüberlegungenzur Gebärde schließt die Figur die Umkehr als >>Richtung des Studiums, die das Da-
der Entstellung im dritten und vierten Kapitel an: die sein in Schrift verwandelt<< (ebd. ), mit einer Figur der
Zu Franz Kafka 555

antiken Mythologie. Eine von Kafkas Gestalten, die zepte der jüdischen Tradition, Agada und Halacha, in
buchstäblich den Ritt zurück nimmt, ist der Bucepha- das philosophische Begriffspaar Weisheit und Wahr-
lus aus der Erzählung Der neue Advokat, der, zum heit überträgt: >>Kafkas Werk stellt eine Erkrankung
Menschen geworden, der Last seines Meisters, Alexan- der Tradition dar. Man hat die Weisheit gelegentlich
der des Großen, ledig wird, ähnlich wie Kafkas >>San- als die epische Seite der Wahrheit definieren wollen.
cho Panza<< seinen Teufel Don Quixote los wird. Gilt Damit ist die Weisheit als ein Traditionsgut gekenn-
auch Bucephalus als Lesender, der >>die Blätter unserer zeichnet; sie ist die Wahrheit in ihrer hagadischen
alten Bücher<< umwendet, so wird mit dieser Erzählung Konsistenz<< (6, 112). Während andere auf die Einsicht,
noch einmal das Recht ins Spiel gebracht: >>Das Recht, daß die erzählerische Konsistenz der Wahrheit verloren-
das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird, das gegangen ist, mit einem Verzicht auf Tradierbarkeit
ist die Pforte der Gerechtigkeit<< (ebd., Herv. d. Verf.). reagieren, sei das eigentlich Geniale und Neue an
Die folgende Passage nimmt die These aus der Scho- Kafka, daß er die Wahrheit preisgab, >>um an der Tra-
lem-Kontroverse auf, daß Umkehr und Studium Kaf- dierbarkeit, an dem hagadischen Element festzuhal-
kas messianische Kategorie seien, und expliziert die ten<< ( 113). Mit dieser Bewertung der Literatur als
Differenz, die Kafkas Welt zur Welt der Offenbarung Medium der Tradierung unter Preisgabe der Wahrheit
beschreibt: >>Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Stu- bzw. Lehre wird aber der Status von Kafkas Erzählun-
dium. Und doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium gen als Gleichnisse (wie die talmudische Legende)
die Verheißungen zu knüpfen, welche die überliefe- problematisch. >>Von Hause aus Gleichnisse<< (ebd.),
rung an das der Thora geschlossen hat. Seine Gehilfen seien Kafkas Dichtungen doch zugleich mehr als das,
sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Stu- da sie sich nicht der Lehre unterwerfen, sondern gegen
denten Schüler, denen die Schrift abhanden kam<< diese zugleich auch die >>Pranke<< (ebd.) heben. So blie-
(ebd.). ben bei Kafka nur Zerfallsprodukte der Weisheit (wie
Gerücht, eine >>Art von theologischer Flüsterzeitung<<
(ebd.), und Torheit). Als Zerfallsprodukt der Weisheit
Epilog 1938: Komplementarität: liefere Kafkas Literatur aber- im Scheitern- unend-
))physikalische Aporiecc und nErkrankung lich viel mehr als alle Versuche einer ins Profane hin-
der Traditioncc übergeretteten Lehre.
>>Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und in ihrer
Die Debatten mit Kraft und Adorno über Kafka sind eigentümlichen Schönheit gerecht zu werden, darf
nicht mehr in den Essay, wohl aber in das DossiER voN man das Eine nie aus dem Auge lassen: es ist die von
FREMDEN EINREDEN UND EIGENEN REFLEXIONEN ein- einem Gescheiterten. Die Umstände dieses Scheiterns
gegangen. Während es Kraft um eine Kritik der esote- sind mannigfache. Man möchte sagen: war er des end-
rischen Darstellungsform ging (li, 1167), betonte lichen Mißlingens erst einmal sicher, so gelang ihm
Adorno, der seine eigenen Aufzeichnungen zu Kafka alles unterwegs wie im Traum. Nichts denkwürdiger
( 1953) erst nach Benjamins Tod schrieb, eher die über- als die Inbrunst, mit der Kafka sein Scheitern unter-
einstimmungen. Benjamins DossiER macht deutlich, strichen hat<< ( 114). Im Unterschied zum Goethe-Auf-
daß ihn aus Adornos Überlegungen vor allem die me- satz, in dem noch die Hoffnung und das Ausdruckslose
dialen Bilder interessierten, besonders die zum Film mit einem >>göttliche[n] Seinsgrund der Schönheit<<
und zu den Gesten, und nicht nur die Formulierung, (I, 195) assoziiert wurden, entdeckt Benjamin in Kaf-
Kafka >>sei eine Photographie des irdischen Lebens aus kas Literatur eine andere, eine un-menschliche Schön-
der Perspektive des erlösten<< (Adorno 1994, 90), son- heit, Heiterkeit und Hoffnung. >>So ist denn, wie Kafka
dern auch die These, Kafkas Texte seien >>die letzten, sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht
verschwindenden Verbindungstexte zum stummen für uns. Dieser Satz enthält wirklich Kafkas Hoffnung.
Film<< (95). Die Arbeit an seinem letzten Kafka-Text Es ist die Quelle seiner strahlenden Heiterkeit<< ( 6,
1938 war ihm insofern eine willkommene Gelegenheit, 113).
>>wieder mit großem Interesse Teddies Kafkabrief vom Diese Heiterkeit verdankt sich nach Benjamin einem
17. Dezember 1934<< zu studieren (6, 125). Spielraum, der der Differenz der Literatur zur Wirk-
Benjamin rückt nun, 1938, seine Kafka-Lektüre stär- lichkeit entspringt, indem erstere die Erfahrungen der
ker in die Nähe zu Motiven aus der >>Urgeschichte der Epoche erst als Erfahrung zum Ausdruck bringt. Es ist
Moderne<< (Jennings 1991), verstärkt das Motiv des also die Erfahrbarkeit, die Möglichkeit zur Erfahrung,
Scheiternsund grenzt sich von einem >>apologetischen die Kafkas Welt von der der >>großen Massen<< unter-
Grundzug<< seines vier Jahre zurückliegenden Textes scheidet. Das Bild vom Spielraum steht in der Reihe
ab. Zur neuen Perspektive gehört auch, daß er die Kon- jener Topoi, mit denen Benjamin Kafkas Welt als Si-
556 Dichtungsanalyse und Autorbild

gnatur, nicht aber Abbild der Moderne kennzeichnet, wandfreien Eintritt verbunden sind« (Eddington 1931,
-Topoi, die durch ihre Differenz zum Spiegelbild be- 334; 6, 111).
stimmt sind: >>Spiegelung im Gegensinn<<, Entstellung Benjamin fährt fort: »Ich kenne in der Literatur
und Symptom im Rundfunkessay, Entstellung und keine Stelle, die im gleichen Grade den Kafkaschen
Umkehr im Essay 1934 und nun, 1938, Spielraum und Gestus aufweist«, und betont, daß »diese allerjüngste
Komplement. Erfahrungswelt ihm gerade durch die mystische Tra-
Kafka lebe, so Benjamin, >>in einer komplementären dition zugetragen wurde« (6, 111). Das sei allerdings
Welt«, Möglichkeitsbedingung von Erfahrung in der nicht ohne verheerende Vorgänge innerhalb dieser
Moderne: »Ich will sagen, daß diese Wirklichkeit für Tradition möglich gewesen, einer Tradition, an deren
den Einzelnen kaum mehr erfahrbar, und daß Kafkas Kraft doch zugleich »appelliert werden mußte, sollte
vielfach so heitere und von Engeln durchwirkte Welt ein Einzelner (der Franz Kafka hieß) mit der Wirklich-
das genaue Komplement seiner Epoche ist, die sich keit konfrontiert werden, die sich als die unsrige theo-
anschickt, die Bewohner dieses Planeten in erheblichen retisch z. B. in der modernen Physik, praktisch in der
Maßen abzuschaffen. Die Erfahrung, die der des Pri- Kriegstechnik projiziert« ( 111 f.). Benjamins Blick auf
vatmanns Kafka entspricht, dürfte von großen Massen die Korrespondenzen zwischen Moderne und Mythos
wohl erst gelegentlich dieser ihrer Abschaffung zu er- wird hier also durch seine Aufmerksamkeit auf dieje-
werben sein. [... ] Seinen Geberden des Schreckens nigen zwischen Mystik und Naturwissenschaft ergänzt.
kommt der herrliche Spielraum zu gute, den die Kata- Er beschreibt die Analogie zwischen der Relativität der
strophe nicht kennen wird. Seiner Erfahrung lag aber physikalischen Gesetze und der abgerissenen religi-
die Überlieferung, an die sich Kafka hingab, allein zu- ösen Tradition als Signatur der Moderne, von der
grunde« (112). Der Spielraum öffnet sich damit nicht Kafkas Welt handelt. »Kafkas Werk ist eine Ellipse«
aus einem Abstand der Fiktion zur Wirklichkeit, son- (110).
dern aus der Hingabe an die überlieferung, Bedingung
von Erfahrung, und dem Festhalten an der Tradierbar- Werk
keit auch ohne Lehre, Wissen oder Wahrheit. FRANZ KAFKA. ZuR ZEHNTEN WIEDERKEHR SEINES ToDESTA-
Benjamins Rede von der komplementären Welt ist GES (I!, 409--438)
Entstehungsgeschichte und Paralipomena (II, 1153-1276)
eine Übertragung aus der modernen Physik. Denn der FRANZ KAFKA: BEIM BAU DER CHINESISCHEN MAUER (II,
Begriff der Komplementarität fällt, kurz nachdem Kaf- 676-683)
kas Gestus mit einer »physikalischen Aporie« vergli- Brief an Gershorn Scholem, 12.6.1938 (6, 105-115)
chen wird. Als Kafka-Analogie zitiert Benjamin hier Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen (II,
1248-1256)
eine Raumbeschreibung aus A.S. Eddingtons Das Welt- IDEE EINES MYSTERIUMS (Il, 1153 f.)
bild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen KAVALIERSMORAL (IV, 466--468)
Deutung (1931), dem Buch des englischen Physikers, Rez. zu Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie (III, 526-
der die »fremdartigen neuen Vorstellungen über das 529)
THEOLOGISCHE KRITIK. Zu Willy Haas: Gestalten der Zeit (III,
Wesen der physikalischen Welt« zum Ausgangspunkt 275-278)
für eine Erörterung philosophischer Auswirkungen Benjamin, Walter (1981): Benjamin über Katka. Texte, Brief-
von Relativitäts- und Quantentheorie nimmt und zeugnisse, Aufzeichnungen, hg. v. Hermann Schweppen-
diese bis in die allgemeine »Weltanschauung, ein- häuser, Frankfurt a.M.
schließlich der Religion«, verfolgt (Eddington 1931,
V). Sein Zitat hat Benjamin dem letzten Kapitel »Wis- Literatur
senschaft und Mystizismus« entnommen. Es handelt Adorno, Theodor W. (1977): »Aufzeichnungen zu Kafka«
vom komplizierten Unternehmen, ein Zimmer im [ 1953 J, in: Gesammelte Schriften Bd. I 0.1, hg. v. Rolf Tie-
demann, Frankfurt a.M., 254--287.
vollen Bewußtsein physikalischer Gegebenheiten (wie
Adorno, Theodor W./Walter Benjamin (1994): Briefwechsel
Schwerkraft der Atmosphäre, Geschwindigkeit der 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M.
Erdrotation, Kugelform des Planeten) zu betreten, und Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht
mündet in folgendem Bild: »Wahrscheinlich ist es und das nackte Leben, Frankfurt a. M.
Allemann, Beda (1987): »Fragen an die judaistische Katka-
leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn Deutung am Beispiel Benjamins«, in: Grözinger/Moses/
daß ein Physiker eine Türschwelle überschreite. Handle Zimmermann 1987,35-70.
es sich um ein Scheunentor oder eine Kirchentür, viel- Eddington, A.S. ( 1931): Das Weltbild der Physik und ein Ver-
leicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, nur ein such seiner philosophischen Deutung (The nature of the
physical world), Braunschweig.
gewöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hin- Gasche, Rodolphe (2002): »Katka's Law: In the Field ofForces
durch, anstatt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich between Judaism and Hellenism«, in: Modern Language
gelöst haben, die mit einem wissenschaftlichen ein- Notes 117, Nr.5, 971-1002.
557

Grözinger, Kar! Erich/Stephane Moses/Hans Dieter Zimmer-


mann (Hg.) (1987): Franz Kafka und das Judentum, Frank-
))Der Erzähler. Betrachtungen
furta.M. zum Werk Nikolai Lesskows((
Hamacher, Werner (1998): »Die Geste im Namen: Benjamin
und Kafka«, in: ders.: Entferntes Verstehen, Frankfurt a. M., Von Detlev Schöttker
280-323.
Hege!, Georg Wilhelm Friedrich (1970): »Grundlinien der
Philosophie des Rechts«, in: ders.: Werke in 20 Bde, Bd. 7,
Frankfurt a. M. Entstehung
Hiebe!, Hans Helmut ( 1983 ): Die Zeichen des Gesetzes. Recht
und Macht bei Franz Kafka, München. Wie in vielen Arbeiten, die seit den 30er Jahren im Exil
Jennings, Michael (1991): >»Eine gewaltige Erschütterung des
Tradierten<: Walter Benjamin's political recuperation of entstanden sind, hat Benjamin auch in seinem Aufsatz
Franz Kafka<< [1988], in: Steven Taubeneck (Hg.): Fictions DER ERZÄHLER. BETRACHTUNGEN ZUM WERK NIKOLAI
of culture, NewYork, 199-214. LESSKows literatur-, kultur- und medientheoretische
Mayer, Hans (1979): »Walter Benjamin und Franz Kafka. Be- überlegungen miteinander verbunden, die ihn lange
richt über eine Konstellation<<, in: Literatur und Kritik 140,
79-97. beschäftigt haben. Die Entstehungsgeschichte ist im
Moses, Stephane (1986): »Brecht und Benjamin als Kafka- Gegensatz zu anderen Arbeiten aber nicht durch lang-
Interpreten<<, in: Stephane Moses/Albrecht Schöne (Hg.): wierige Umarbeitungen oder Eingriffe von Redaktio-
Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches nen geprägt, sondern gut überschaubar. Ende März
Symposium, Frankfurt a.M., 237-256.
Moses, Stephane (1994): Der Engel der Geschichte. Franz 1936 teilte Benjamin Gershorn Scholem mit, daß er
Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershorn Scholem, Frank- >>eine kurze Studie über Nikolai Lesskow schreiben<<
furt a.M. müsse, zu der er sich >>verpflichtet<< habe (5, 266).
Müller, Bernd (1996): Denn es ist noch nichts geschehen.
Schon im Herbst 1936 sollte der Beitrag in der Zeit-
Walter Benjamins Kafka-Deutung, Köln/Weimar/Wien.
Palmer, Gesine (1999): »Geheimnisse eines bereitwilligen schrift Orient und Occident erscheinen, die ein Heft
Kellners. Abraham bei Derrida, Benjamin und Kafka<<, in: mit dem Schwerpunkt >>Russische Literatur<< plante,
Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51, H. I, doch wurde das Heft erst im Sommer 1937 ausgeliefert
48-63.
und die Zeitschrift danach eingestellt (vgl. 550). Ben-
Pangritz, Andreas (2000): »Theologie<<, in: Michael Opitz/
Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Bd. 2, Frankfurt jamin hatte den Beitrag mit dem Herausgeber, dem
a.M., 774-825. Schweizer Theologen Fritz Lieb, vereinbart, mit dem
Reijen, Willern van/Herman van Doorn (2001): Aufenthalt er erstmals 1935 in Paris zusammengetroffen war
und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine
Chronik, Frankfurt a. M.
(275). Ohne die Bekanntschaft mit Lieb, die bald zur
Sagnol, Mare (2001): »Archaisme et Modernite: Benjamin, Freundschaft wurde, wäre Benjamins Beitrag sicher
Kafka et Ia loi<<, in: Les Temps Modernes, Paris, 90-104. nicht entstanden, da ihm im Exil kaum Publikations-
Scholem, Gershorn (1970): Judaica 3, Frankfurt a.M. möglichkeiten zur Verfügung standen (Kambas 1987,
Scholem, Gershom/Walter Benjamin (1980): Briefwechsel
1933-1940, Frankfurt a.M.
244f.; 6, 246f.).
Steiner, Uwe (1992): »Säkularisierung: Überlegungen zum Mit dem Problemkreis des Erzähler-Aufsatzes hatte
Ursprung und zu einigen Implikationen des Begriffs bei sich Benjamin bereits seit Ende der 20er Jahre beschäf-
Benjamin<<, in: ders. (Hg.): Walter Benjamin, 1892-1940, tigt, wie verschiedene Beiträge zeigen, in denen ein-
zum 100. Geburtstag, Bern, 139-187.
Weber, Samuel (2002): »Exterritorialite et theätralite chez schlägige Ideen auftauchen. Dazu gehören mehrere
Benjamin et Kafka<<, in: Nicole Fernandez-Bravo (Hg.): Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften, aus de-
I:Exterritorialite de Ia Iitterature allemande, Paris, 91- nen er einzelne Formulierungen oder auch ganze Pas-
106. sagen wörtlich bzw. mit leichten Variationen in den
Weidner, Daniel (2002): »Jüdisches Gedächtnis, mystische
Tradition und moderne Literatur. Walter Benjamin und Erzähler-Aufsatz übernommen hat. In einigen dieser
Gershorn Schotern deuten Kafka<<, in: Weimarer Beiträge Beiträge hat Benjamin auch die These seines Aufsatzes
46, H. 2, 234-249. vorweggenommen, daß die Erzählkunst ihrem Ende
Weigel, Sigrid (1997): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benja- entgegengehe. Diese Idee sollte zu einer neuen Theorie
mins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M.
Weigel, Sigrid (2000): »Gershom Scholems Gedichte und des Erzählens führen und sich von Georg Lukacs'
seine Dichtungstheorie - Klage, Adressierung, Gabe und Theorie des Romans unterscheiden, die in den 20er
das Problem einer Sprache in unserer Zeit<<, in: Stephane Jahren größere Aufmerksamkeit gefunden hatte, nach-
Moses/Sigrid Weigel (Hg.): Gershorn Schotern-Literatur
dem sie 1920 als Buch erschienen war (Erstpublikation
und Rhetorik, Köln, 16-47.
Witte, Bernd ( 1973 ): »Feststellungen zu Walter Benjamin und 1916 in der Zeitschrift für Asthetik und allgemeine
Franz Kafka<<, in: Neue Rundschau 84, 480-494. Kunstwissenschaft). Am 30. Oktober 1928 schreibt Ben-
jamin in diesem Sinne an Scholem, daß er an einer
>>neuen >Theorie des Romans<<< arbeite, die sich >>ilires
Platzes neben Lukacs versichert<< wisse (3, 420). Auch
558 Dichtungsanalyse und Autorbild

fünf Jahre später heißt es in einem Brief an Scholem Benjamin und die moderne Erzähltheorie
vom 7. Mai 1933 über die gerade erschienene Rezen-
sion zu Arnold Bennetts Roman Konstanze und Sophie, Benjamin war allerdings nicht der einzige, der Less-
daß der Text »eine Romantheorie<< enthalte, >>die der kows Werk zum Gegenstand erzähltheoretischer über-
von Lukacs nicht<< ähnele (4, 202). legungen gemacht hat. Boris Eichenbaum, der zu den
Ein Zusammenhang zwischen den erzähltheoreti- bekanntesten Vertretern des sog. Russischen Forma-
schen Überlegungen Benjamins und den Äußerungen lismus gehört, verfaßte 1925 einen Aufsatz mit dem
über seine Lektüre von Werken des russischen Erzäh- Titel Leskov und die moderne Prosa, der 1927 in seinem
lers Nikolai Lesskow (1831-1895) ist den Äußerungen Buch Literatura. Teorija, Kritika, Polemika in Moskau
der späten 20er Jahre nicht zu entnehmen. In einem veröffentlicht wurde (1969 auf deutsch erschienen).
Brief an Hofmannsthai vom 8. Februar 1928, der den Aufüberschneidungen zwischen den Lesskow-Aufsät-
ersten Hinweis enthält, spricht Benjamin zwar vom zen Benjamins und Eichenbaums hat Jurij Striedter
»beherrschenden Einfluß der Lektüre<< Lesskows (3, hingewiesen, konnte aber »keinerlei direkte Verbin-
332) nach Erscheinen einer neunbändigen Ausgabe dungen<< feststellen, so daß er davon ausging, daß hier
seiner Gesammelten Werke im Münchner Beck Verlag »zwei verwandte Geister unabhängig voneinander<<
(1924-1927), äußert aber keine weitergehenden Ab- gearbeitet hätten (Striedter 1969, LVII). Doch ist Ben-
sichten. Auch im Erzähler-Aufsatz ist das Werk des jamin mit Vertretern des Russischen Formalismus, der
russischen Autors eher Anlaß als Gegenstand der Dar- in Deutschland seit den 1960er Jahren bekannt wurde
stellung. In diesem Sinne schreibt Benjamin am 15. (vgl. Erlich 1973), schon in Berührung gekommen, als
April1936 an Kitty Marx-Steinschneider: »Da ich im er von Dezember 1926 bis Februar 1927 beiAsja Lacis
übrigen garkeine [sie!] Lust habe, mich in Betrachtun- in Moskau zu Besuch war.
gen der russischen Literaturgeschichte einzulassen, so Bei einer Diskussionsveranstaltung über die Insze-
werde ich bei Gelegenheit Ljesskows ein altes Stecken- nierung von Gogols Revisor im Moskauer Meyerhold-
pferd aus dem Stall holen und versuchen, meine wie- Theater, die Benjamin am 3. Januar 1927 besuchte, war
derholten Betrachtungen über den Gegensatz von auch Viktor Sklowski, einer der Freunde Eichenbaums
Romancier und Erzähler und meine alte Vorliebe für und Begründer der formalen Schule, anwesend. In dem
den letzteren an den Mann zu bringen<< (5, 275). Bericht, den Benjamin über diese Veranstaltung schrieb
Diesen generellen, über Lesskow weit hinausgehen- -er erschien im Februar 1927 in der Literarischen Welt
den Anspruch seines Aufsatzes hat Benjamin auch in unter der Üherschrift DISPUTATION BEI MEYERHOLD
weiteren Äußerungen betont. Am 4. Juni 1936 heißt es (IV, 481 ff.) -,wird Sklovskij zwar nicht erwähnt, doch
in einem Brief an Adorno mit Blick auf den zuvor geht aus einem Stenogramm des Redebeitrags von
fertiggestellten Kunstwerk-Aufsatz: »Ich habe in der Majakowski hervor, daß er sogar zu den Diskussions-
letzten Zeit eine Arbeit über Nikolai Lesskow geschrie- rednern gehörte. Majakowski bezieht sich hier auf
ben, die, ohne im entferntesten die Tragweite der Sklowskis Äußerung zu einigen »Saalflüchtern<< (Ma-
kunsttheoretischen zu beanspruchen, einige Parallelen jakowski 1980, 235), die auch Benjamin in seinem
zu dem >Verfall der Aura< und dem Umstande aufweist, Bericht erwähnt (IV, 483). Da Benjamin kein Russisch
daß es mit der Kunst des Erzählens zuende geht<< (307). sprach und auf die Hilfe von Asja Lacis angewiesen
In einem Brief an Alfred Cohn vom 4. Juli 1936 wird war, ist anzunehmen, daß sie weitere Informationen
Benjamin kurz vor Abschluß des Essays deutlicher, über die Teilnehmer und Vertreter der formalen Schule
wenn er schreibt: »Damit ist das jahrelang mir vor- geliefert hat.
schwebende Projekt den Romancier und den Erzähler Benjamins Kenntnis des Russischen Formalismus
zu konfrontieren, wenigstens im Umriß verwirklicht<< ergibt sich darüber hinaus aus seiner Rezension zur
(327). Benjamin deutet hier die weitreichende Per- französischen Übersetzung von Viktor Sklowskis Au-
spektive seines Aufsatzes an, die er auch in der Form tobiographie Sentimentale Reise, die er 1928 in den
zum Ausdruck bringt. Die neunzehn Kapitel mit rö- Humboldt-Blätter im Rahmen einer Sammelbespre-
mischen Ziffern weisen die Arbeit nach seiner Charak- chung publiziert hat. Sklowski hatte 1925 in Moskau
terisierung (vgl. IV, 111) als »Traktat<<, also als syste- sein Buch Theorie der Prosa veröffentlicht (dt. 1966)
matische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und darin ebenso wie Eichenbaum in seinem Buch von
aus. Dabei verknüpft er in Form von Fragmenten und 1927 Studien zur literaturwissenschaftliehen Erzähl-
Aphorismen eine Vielzahl von »Denkbruchstücken<< forschung und zur Bauweise epischer Werke aufge-
(1, 208), was im Sinne der ERKENNTNISKRITISCHEN nommen. In seiner Sentimentalen Reise hat Sklowski
VoRREDE des Trauerspiel-Buches ebenfalls auf das über diese Arbeiten und ihre Anfänge in den Jahren
Darstellungsprinzip des »Traktats<< verweist. von 1917 bis 1923 berichtet. Neben Lesskow, der hier
>>Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« 559

als >>genialer Künstler<< bezeichnet wird (Sklovskij die nicht schon mit Erklärungen durchsetzt ist<< (IV,
1966, 331 ), wird auch Eichenbaum mehrfach erwähnt 436). Auf diesen Text bezieht sich Benjamin in einem
(vgl. 245). In seiner Rezension schreibt Benjamin dazu Brief an Hofmannsthai vom 26. Juni 1929, in dem er
zwar nur den Satz >>Schklowski bekennt hier und sonst über seine Arbeit schreibt: >>Danach beschäftigt mich
sich zum Formalismus<< (III, 108), doch deutet die >Warum es mit der Kunst Geschichten zu erzählen zu
Formel >>und sonst<< darauf hin, daß er über weitere Ende geht<- d.h. der Kunst der mündlichen Erzäh-
Arbeiten zumindest informiert war. lung<< (3, 474). Auch hier betont Benjamin die Münd-
Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied zwi- lichkeit. Wieder aufgenommen wird die Idee am An-
schen Benjamins und Eichenbaums Auseinanderset- fang der Erzählung DAs TASCHENTUCH, die 1932 in
zung mit Lesskow, so daß man nicht von einer Anleh- der Frankfurter Zeitungerschienen ist: >>Warum es mit
nung sprechen kann. Denn Benjamin interessierte sich der Kunst, Geschichten zu erzählen, zu Ende geht -
für das mündliche Erzählen im Alltag, Eichenbaum diese Frage war mir schon oft gekommen, wenn ich
dagegen für die Fingierung von Mündlichkeit im fik- mit anderen Eingeladenen einen Abend lang um einen
tionalen Text, den sogenannten >>skaz<<, der in der rus- Tisch gesessen und mich gelangweilt hatte<< (IV, 741).
sischen Literatur - nicht zuletzt bei Lesskow - sehr Benjamin nennt als Ursache für den Verlust von
beliebt ist. >>Unter >skaz<<<, so Eichenbaum, >>verstehe Erfahrung im Erzähler-Aufsatz allerdings nicht die
ich jene Form der Erzählprosa, die in ihrer Lexik, ihrer Informationsüberflutung durch die Massenmedien,
Syntax und ihrer Wahl der Intonation deutlich auf die sondern die Kriegsfolgen: >>Mit dem Weltkrieg begann
mündliche Rede eines Erzählers intendiert<< (Eichen- ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht
baum 1927/1969, 219). Dazu sagt Benjamin nichts. zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei
Denn anders als Eichenbaum und der Russische For- Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem
malismus faßt er den Erzähler nicht als eine vom Au- Felde kamen? nicht reicher- ärmer an mitteilbarer
tor erfundene Kunstfigur auf, sondern bezieht sich auf Erfahrung. [... ] Eine Generation, die noch mit der
die reale Person, die über die Vergangenheit oder die Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter
eigenen Erfahrungen berichtet. Im Mittelpunkt steht freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts un-
also nicht das fiktionale, sondern das faktuale Erzäh- verändert geblieben war als die Wolken und unter
len, um hier eine Unterscheidung Gerard Genettes ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und
(1992) aufzugreifen. Um die Besonderheiten des Er- Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkör-
zähler-Aufsatzes zu charakterisierten, ist deshalb der per<< (II, 439). Diese Passage ist fast wörtlich dem Ar-
oft bemühte Vergleich zwischen Benjamins Auffassung tikel ERFAHRUNG UND ARMUT entnommen, der 1933
und der modernen Romantheorie (von Lukacs' Theo- in der Frager Exilzeitschrift Welt im Wort erschienen
rie des Romans über Aifred Döblins Überlegungen zum war (vgl. 214). Doch hatte Benjamin hier nicht die
modernen Epos bis hin zu Thomas Manns Roman- Defizite, sondern die positive Seite der >>Erfahrungs-
poetik) weniger ergiebig als der Bezug auf Ergebnisse armut<< für eine neue Generation von Künstlern und
der medien- und kulturwissenschaftlich orientierten Schriftstellern betont, wofür Nietzsches Idee des
Narrativik bzw. Oralitätsforschung (vgl. Wyss 1996; >>neuen Barbarentums« Pate stand (vgl. Nietzsche
Vogt 1996; Müller-Funk 2002). 1988, Bd. 13, 18). Benjamin schreibt: >>Denn wohin
bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie
bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuern
Kultur- und Mediengeschichte des Erzählens anzufangen; mit wenigen auszukommen; aus Wenigem
heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch
Gleich zu Beginn nennt Benjamin die zentrale These links zu blicken« (II, 215). Noch deutlicher heißt es am
seines Aufsatzes, die er auf eine allgemeine >>Erfah- Schluß des Aufsatzes: >>Erfahrungsarmut: das muß
rung<< zurückführt: >>Sie sagt uns, daß es mit der Kunst man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach
des Erzählens zu Ende geht<< (II, 439). Die Idee findet neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von
sich bereits in dem Text KuNST zu ERZÄHLEN von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer
1928/29 und bezieht sich hier aber auf die Ausbreitung Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließ-
von Zeitungs- oder Rundfunknachrichten, die seit lich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung
Mitte der 1920er Jahre die Erfahrungsformen verän- bringen können, daß etwas Anständiges dabei heraus-
dert haben: >>Jeder Morgen unterrichtet uns über die kommt« (218).
Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an In den ersten Aufzeichnungen zum Wandel des Er-
merkwürdigen Geschichten arm. Woher kommt das? zählens aus den späten 20er Jahren finden sich eben-
Das kommt, weil keine Begebenheit uns mehr erreicht, falls noch Hinweise, daß Benjamin die positive Funk-
560 Dichtungsanalyse und Autorbild

tion der Erfahrungsarmut für das Erzählen darlegen GRossE BucHERFOLGE, der 1931 in der Frankfurter
wollte. Hier heißt es unter anderem: >>Man kann all Zeitung erschien, hatte Benjamin den dauerhaften Er-
diese Dinge als ewig ansehen (Erzählen z. B.) man kann folg eines Buches, in diesem Falle eines Schweizer
sie aber auch als durchaus zeitbedingt und problema- Kräuterbuches, auf seine Qualität als Ratgeber zurück-
tisch, bedenklich ansehen. [... ] Fernsehen, Grammo- geführt. Die »Anwendbarkeit<< des Erzählten, so heißt
phon etc. machenalldiese Dinge bedenklich. Quint- es hier, liege »tief verborgen<< jeder »großen Dichtung<<
essenz: So genau wolln wirs ja garnicht wissen. Warum zugrunde (III, 300).
nicht? Weil wir Furcht haben, begründete: daß das Dennoch sind Benjamin offenbar Bedenken gegen
alles desavouiert wird: die Schilderung durch den die nostalgische Färbung seiner Darstellung gekom-
Fernseher, die Worte des Helden durchs Grammo- men. Denn hier heißt es über das Aussterben der Weis-
phon, die Moral von der Geschichte durch die nächste heit: »[N] ichts wäre törichter, als in ihm lediglich eine
Statistik, die Person des Erzählers durch alles, was man >Verfallserscheinung<, geschweige denn eine >moderne<,
von ihr erfährt<< (1282). erblicken zu wollen. Vielmehr ist es nur eine Begleit-
Auch weitere Aufzeichnungen wie die Formulie- erscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte,
rung, daß das Grammophon »dem leiblichen Sprecher die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der
die Autorität genommen<< habe (1283), zeigen, daß lebendigen Rede entrückt hat und zugleich eine neue
Benjamin bereits Ende der 20er Jahre Überlegungen Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht<<
zum Medienwandel des Erzählens im Blick hatte, die (II, 442). Folgerungen hat Benjamin daraus allerdings
er im Gegensatz zu seinen Überlegungen im Kunst- nicht gezogen. Nur im letzten Kapitel seines Aufsatzes
werk-Aufsatz zum Wandel der Bildlichkeit nicht mehr betont er, daß sich die Fähigkeit des Ratgebens im
weitergeführt hat (vgl. Schöttker 2002). So beschränkt Sprichwort erhalten habe: »Sprichwörter, so könnte
er sich im Erzähler-Aufsatz weitgehend auf die Ver- man sagen, sind Trümmer, die am Platz von alten Ge-
gangenheit. Obwohl man berücksichtigen muß, daß schichten stehen und in denen, wie Efeu um ein Ge-
Benjamin den bäuerlich-handwerklichen Horizont des mäuer, eine Moral sich um einen Gestus rangt. So
Erzählens für das Werk Lesskows vergegenwärtigen betrachtet geht der Erzähler unter die Lehrer und Wei-
wollte (Kap. II), suchte er anders als Eichenbaum in sen ein. Er weiß Rat - nicht wie das Sprichwort: für
seinem Aufsatz Leskov und die moderne Prosa kaum manche Fälle, sondern wie der Weise: für viele<<
Anschluß an das moderne Erzählen. Statt dessen un- (464).
terscheidet er zwei archaische Erzählertypen, den »See-
mann<< und den »Ackerbauern<<: der erste bringe die
»Kunde von der Ferne<<, der zweite die »Kunde aus der Das Erzählen und seine Formen
Vergangenheit<< (II, 440). Im »Handwerkerstand<< sieht
Benjamin beide miteinander verbunden: die »Wan- Das V. Kapitel markiert eine Zäsur. Benjamin geht nun
derburschen<< repräsentieren den ersten, die seßhaften von den kulturellen und medialen Voraussetzungen
»Meister<< den zweiten Typus. Da Lesskow, wie Benja- zu den Formen des Erzählens über. Zunächst behan-
min schreibt, sein Land »als russischer Vertreter einer delt er den Unterschied zwischen Erzählung und Ro-
großen englischen Firma<< häufig »bereist<< habe (441 ), man. Zwar betont er hier, daß der Roman »erst mit der
ordnet er ihn der Mischform zu. Erfindung der Buchdruckerkunst möglich<< geworden
Aus den unterschiedlichen Erfahrungsformen von und auf »das Buch<< angewiesen sei (442), doch bleibt
Seßhaften und Reisenden leitet Benjamin ein diese mediengeschichtliche Einordnung innerhalb des
»praktische [s] Interesse<< als »charakteristischen Zug Aufsatzes isoliert. Statt dessen bezieht sich Benjamin
bei vielen geborenen Erzählern<< ab (ebd.). Der Erzäh- auf Lukacs' geschichtsphilosophische These, daß der
ler sei »ein Mann, der dem Hörer Rat weiß<< (442.). Roman »Ausdruck der transzendentalen Obdachlosig-
Eine identische Formulierung findet sich bereits in der keit<< des Individuums sei (Lukacs 1920/1977, 32).
Erzählung DAS TASCHENTUCH von 1932 (IV, 741), Lukacs hat diese Auffassung wie folgt erläutert: »Das
doch geht Benjamin im Erzähler-Aufsatz noch einen epische Individuum, der Held des Romans entsteht
Schritt weiter, indem er seine These vom Ende des aus dieser Fremdheit zur Außenwelt<< (56 f. ). Benjamin
Erzählens nicht nur auf den Verfall der Erfahrung, greift diese Formulierung direkt auf, verbindet sie aber
sondern auch auf das Aussterben der »Weisheit<< zu- mit seiner These vom Verlust der Erfahrung und der
rückführt: »Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende Weisheit, so daß die mündliche Tradition wieder ins
zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, Spiel kommt: »Der Romancier hat sich abgeschieden.
ausstirbt<< (II, 442). Auch diese Einsicht ist nicht iso- Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum
liert. Denn in seinem Beitrag WrE ERKLÄREN SICH in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten
»Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« 561

Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen ver- und Dauer deutet: >>Die Information hat ihren Lohn
mag, selbst unberaten ist und keinen Rat mehr geben mit dem Augenblick dahin, in dem sie neu war. Sie lebt
kann<< (li, 443). nur in diesem Augenblick, sie muß sich gänzlich an
Auch diese Passage ist nicht neu. Sie findet sich so- ihn ausliefern und ohne Zeit zu verlieren sich ihm
wohl in der Besprechung zu Döblins Berlin Alexander- erklären. Anders die Erzählung; sie verausgabt sich
platz, die 1930 unter dem Titel KRISIS DES ROMANS in nicht. Sie bewahrt ihre Kraft gesammelt und ist noch
der Zeitschrift Die Gesellschaft erschienen ist (vgl. 111, nach langer Zeit der Entfaltung fähig<< (445f.).
230f.), als auch in dem Artikel ÜSKAR MARIA GRAF Benjamin nimmt an dieser Stelle seine Kritik der
ALS ERZÄHLER, der 1931 im Literaturblatt der Frank- Zeitungssprache auf, die bereits in seinem Essay über
furter Zeitung gedruckt wurde (vgl. 309). In der Be- KARL KRAUS ( 1931) zu einer Kritik am Journalismus,
sprechung von Döblins Roman ist Benjamin außerdem vor allem am Feuilleton, geführt hatte: >>Der Journa-
auf dessen Vortrag Der Bau des epischen Werks einge- lismus<<, so heißt es hier, >>ist Verrat am Literatentum,
gangen, der 1929 in der Neuen Rundschau erschienen am Geist, am Dämon. Das Geschwätz ist seine wahre
war. Er bezeichnet Döblins Überlegungen hier als Substanz und jedes Feuilleton stellt von neuem die
>>meisterhafte[n] und dokumentarische[n] Beitrag zu unlösbare Frage nach dem Kräfteverhältnis von
jener Krise des Romans, die mit der Restitution des Dummheit und von Bosheit, deren Ausdruck es ist<<
Epischen<< einsetze (231). Im Erzähler-Aufsatz wird (352). In seinem Vortrag DER AUTOR ALS PRODUZENT
Döblins Vortrag dagegen nicht mehr erwähnt. Doch heißt es über die >>Ungeduld<< als >>die Verfassung des
sind dahinter kaum politische Motive zu vermuten, Zeitungslesers<< (629): >>Daß nichts den Leser so an
nachdem Döblin sich im Exil von der Linken abge- seine Zeitung bindet wie diese zehrende, tagtäglich
wandt hatte, wie Kiesel vermutet ( 1996, 463 und neue Nahrung verlangende Ungeduld, haben die Re-
465f.). Denn abgesehen davon, daß Benjamin in der daktionen sich längst zunutze gemacht, indem sie im-
Wahl seiner Freunde, Briefpartner oder Gewährsmän- mer wieder neue Sparten seinen Fragen, Meinungen,
ner alles andere als dogmatisch war, wenn man an Protesten eröffneten. Mit der wahllosen Assimilation
Scholem oder Hofmannsthai denkt, hat er auch eine von Fakten geht also Hand in Hand die wahllose As-
ganz andere Theorie des Erzählens als Döblin entwik- similation von Lesern, die sich im Nu zu Mitarbeitern
kelt. Döblin ging es in erster Linie um den Realismus erhoben sehen<< (688). In den Vorarbeiten zum Erzäh-
im Werk, den er durch Bezug auf Mündlichkeit ver- ler-Aufsatz wird der Bezug zur Zeitungskritik noch
stärken wollte, Benjamin dagegen um die kulturellen deutlicher als im späteren Text: >>Der andere Todfeind
Voraussetzungen des mündlichen Erzählens. So for- des Erzählens ist das Zeitunglesen<< (1287).
dert Döblin vom modernen Erzähler die Herausarbei- Im VIII. Kapitel wird ein Zusammenhang angespro-
tung >>starker Grundsituationen<< oder >>Elementarsi- chen, den Benjamin erst später weiterführt, nämlich
tuationen des menschlichen Daseins<< und schreibt das Verhältnis von Erzählen und Gedächtnis: >>Ge-
dazu: >>Ich brauche nicht noch besonders zu sagen, daß schichten erzählen ist ja immer die Kunst, sie weiter
die Erreichung dieser exemplarischen und einfachen zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschich-
Sphäre den epischen Künstler von dem Romanschrift- ten nicht mehr behalten werden<< (446f.). Zunächst
steller trennt<<. Der Roman imitiere, >>ohne in die Rea- geht es ihm in den nachfolgenden Kapiteln allerdings
lität einzudringen oder gar zu durchstoßen, einige um das Erzählen als Sinne einer >>handwerkliche[n]
Oberflächen der Realität<<. Der >>Wirklich Produktive<< Kunst<< (447). Benjamin greift hier auf Ideen zum
müsse dagegen >>zwei Schritte tun: er muß ganz nahe Schreiben als Handwerk zurück, die er in seinen Ar-
an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr Blut, beiten über Hölderlin, die Frühromantik und das ba-
ihren Geruch, und dann hat er die Sache zu durchsto- rocke Trauerspiel angesprochen hatte und später bei
ßen, das ist seine spezifische Arbeit<< (Döblin 1929/1989, Valerybeschrieben fand (vgl. Schöttker 1999, 173ff.).
218 f.). Auch im Erzähler-Aufsatz wird Valery federführend
Im VI. und VII. Kapitel wendet sich Benjamin kurz zitiert. Doch ist die Darstellung hier ohne argumenta-
den Medienbedingungen der Gegenwart zu und macht tive Stringenz. Statt dessen dominieren aphoristische
für den Verlust des Erzählens die Informationsfülle Formulierungen, wie die über den Tod als Vorausset-
verantwortlich: >>Und es zeigt sich<<, so heißt es über zung des Erzählens: >>Der Tod ist die Sanktion von
das Phänomen der Information, >>daß sie der Erzäh- allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat
lung nicht weniger fremd aber viel bedrohlicher als der er seine Autorität geliehen<< (II, 450).
Roman<< gegenübertrete (li, 444). Benjamin erläutert Im XII. Kapitel behandelt Benjamin das Verhältnis
diese Auffassung, indem er den Unterschied zwischen von Erzählen und Geschichtsschreibung. >> Jedwede
Erzählung und Information als Gegensatz von Effekt Untersuchung einer bestimmten epischen Form<<, so
562 Dichtungsanalyse und Autorbild

schreibt er, »hat es mit dem Verhältnis zu tun, in dem vor allen anderen. Nur dank eines umfassenden Ge-
diese Form zur Geschichtsschreibung steht. Ja, man dächtnisses kann die Epik einerseits den Lauf der
darf weitergehen und sich die Frage vorlegen, ob die Dinge sich zu eigen, andererseits mit deren Hinschwin-
Geschichtsschreibung nicht den Punkt schöpferischer den, mit der Gewalt des Todes ihren Frieden machen<<
Indifferenz zwischen allen Formen der Epik darstellt<< (II, 453). Das Thema hat Benjamin seit seinem Essay
(451). Die Äußerung wird deutlicher, wenn Benjamin über Proust (1929) immer wieder beschäftigt (Schött-
seine Überlegungen am Beispiel der Chronik als der ker 2000). Während er hier das individuelle Erinnern
ursprünglichen Form mündlicher Geschichtsdarstel- in den Mittelpunkt stellt, geht es im Erzähler-Aufsatz
lung konkretisiert: >>Der Chronist ist der Geschichts- um die kollektive Erinnerung und das kulturelle Ge-
Erzähler<< (ebd.). In diesem Sinne unterscheidet Ben- dächtnis als Voraussetzung und Funktion des Erzäh-
jamin »zwischen dem, der Geschichte schreibt, dem lens: »Die Erinnerung stiftet die Kette der Traditionen,
Historiker, und dem, der sie erzählt, dem Chronisten<< welche das Geschehene von Geschlecht zu Geschlecht
(ebd.). Dieser Unterschied wird bereits in einem He- weiterleitet<< (II, 453). Die Weiterführung des Erin-
bel-Aufsatz von 1929 erörtert, der unveröffentlicht nerns in immer neuen Erzählungen hält Benjamin für
geblieben ist: >>Der Historiker<<, so schreibt Benjamin einen wichtigen Unterschied zum Roman: >>In der Tat
hier, >>hält sich an >Weltgeschichte<, der Chronist an gibt es keine Erzählung, an der die Frage: Wie ging es
den Weltlauf. Der eine hat es mit dem nach Ursache weiter? ihr Recht verlöre. Der Roman dagegen kann
und Wirkung unabsehbar verknoteten Netz des Ge- nicht erhoffen, den kleinsten Schritt über jene Grenze
schehens zu tun [... ]; der andere mit dem kleinen, eng hinaus zu tun<< (455).
begrenzten Geschehn seiner Stadt oder Landschaft - Die Forderung nach kritischer Distanz gegenüber
aber das ist ihm nicht Bruchteil oder Element des Uni- der Überlieferung, die Benjamin in den 1940 verfaßten
versalen sondern anderes und mehr. Denn der echte Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE erhebt,
Chronist schreibt mit seiner Chronik zugleich dem findet sich hier allerdings noch nicht. Den Traditions-
Weltlauf sein Gleichnis nieder. Es ist das alte Verhältnis begriff hat Benjamin erst in einem Aufsatz in Frage
von Mikro- und Makrokosmos, das sich in Stadtge- gestellt, der nach dem Erzähler-Aufsatz folgte und 1937
schichte und Weltlauf spiegelt<< (63 7 f. ). in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien: EDUARD
Benjamin selbst allerdings wollte >>keineswegs chro- FucHS, DER SAMMLER UND DER HISTORIKER. Hier fin-
nistisch erzählen<<, wie er Scholem in einem Brief vom det sich bereits eine der Formulierungen zur Kritik der
26. September 1932 mitteilte, nachdem er 1932 die Überlieferung, die später in die Geschichts-Thesen
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT begon- übernommen wurde: »Es ist niemals ein Dokument
nen hatte (4, 135). Statt dessen hat er nach einer an- der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu
gemessenen Darstellungsform der Vergegenwärtigung sein (477; vgl. I, 696f.).
von Erinnerungen gesucht, die sich vom epischen Ver- Wie Benjamin das Erzählen ebenso wie das Hören
fahren in Prousts A Ia Recherche du temps perdu un- einer Geschichte als gemeinschaftsstiftende Handlung
terscheidet. Benjamin hatte von Prousts Werk seit zu deuten versucht, so faßt er über Lukacs hinaus nicht
Mitte der 20er Jahre einige Bände mit Franz Hesse! nur das Schreiben, sondern auch das Lesen von Ro-
übersetzt und die Darstellungsweise in dem Essay ZuM manen als Ausdruck von Vereinsamung auf: >>Der Le-
BILDE PRoosTs (1929) erläutert (II, 310 ff.). In der ser eines Romans ist aber einsam. [... ] In dieser seiner
BERLINER CHRONIK, einer Vorstufe der BERLINER Einsamkeit bemächtigt der Leser des Romans sich sei-
KINDHEIT, charakterisiert er sein antiepisches Verfah- nes Stoffes eifersüchtiger als jeder andere. Er ist bereit,
ren 1932 wie folgt: >>Hier aber ist von einem Raum, ihn restlos sich zu eigen zu machen, ihn gewisserma-
von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede. Denn ßen zu verschlingen. Ja, er vernichtet, er verschlingt
wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist den Stoff wie Feuer Scheiter im Kamin<< (II, 456). Ben-
es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingeden- jamin hat hier Formulierungen aus der Rezension
kens haben<< (VI, 488). Arnold Bennetts Roman Konstanze und Sophie ver-
wendet, die 1933 in der Frankfurter Zeitungunter der
Überschrift AM KAMIN erschienen ist (III, 388 ff. ). Die
Erinnerung, Mythos und Erzählen prägnanteste Stelle, auf die der ursprüngliche Titel
metaphorisch anspielte, lautet: »Das, was den Leser
Das XIII. Kapitel markiert eine weitere Zäsur. Benja- immer wieder zu ihm [dem Roman] zwingt, ist seine
min beschäftigt sich nun mit den mentalen Vorausset- höchst geheimnisvolle Gabe, ein fröstelndes Leben am
zungen des Erzählens, deren Fundament das Gedächt- Tod zu wärmen<< (392).
nis bildet: »Das Gedächtnis ist das epische Vermögen Im XVI. Kapitel behandelt Benjamin das Märchen
»Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« 563

als Urform des Erzählens und leitet damit zu einer gegeben hat: »Der Erzähler ist die Gestalt, in welcher
Deutung von Lesskows Erzählungen über. Dabei be- der Gerechte sich selbst begegnet« (465).
zieht er das Märchen auf den Mythos als Urform der Benjamin hat den Erzähler-Aufsatz auch nach Ab-
Erfahrung, von dem sich der Mensch durch das Erzäh- schluß nicht aus den Augen verloren. Anfang Juli 1936
len befreie: >>Das Märchen gibt uns Kunde von den teilte er Gretel Karplus, der späteren Frau Adornos,
frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getrof- mit, daß »die Originalfassung des Lesskow« übersetzt
fen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust werden solle, da sich die Zeitschrift Europe dafür in-
gelegt hat, abzuschütteln« (II, 458). Die Darstellung teressierte (5, 335.). Doch wurde der Plan nicht ver-
entspricht in Stil und Konzeption den vorausgehenden wirklicht, so daß Benjamin den Aufsatz im Sommer
großen Arbeiten zur Prosa: den Essays GoETHES 1937 ohne Änderungen selbst übersetzt hat (vgl.
WAHLVERWANDTSCHAFTEN (1924/25), KARL KRAUS 562 f.); die Übersetzung (abgedruckt in II, 1290-1309)
(1931) und FRANZ KAFKA (1934). Hier hatte Benjamin ist zu Lebzeiten Benjamins allerdings nicht erschienen.
den Versuch unternommen, die Rolle des Mythos in Im März 1938 schreibt er an Karl Thieme, der ihn im
der Moderne an poetischen Bildern zu vergegenwär- Dezember des vorausgehenden Jahres auf Andre Jolles'
tigen. In dem auf französisch verfaßten, zu Lebzeiten Buch Einfache Formen (1935) hingewiesen hatte (vgl.
aber nicht publizierten Essay JoHANN JAKOB BAcH- 5, 632 f.), daß sein »Interesse an der Figur des Erzäh-
OFEN (1934/35) liefert er einen Schlüssel für dieses lers« weiterhin »nicht nachgelassen« habe. Ergänzend
Verfahren, wenn er hier über Klages schreibt: >>Indem heißt es: »Das Buch von Jolles, auf das sie mich hinge-
er die mythischen Substanzen des Lebens wieder ein- wiesen haben, lasse ich derzeit suchen« (6, 45). Thieme
bezieht, indem er sie dem Vergessen entreißt, dem sie hatte die Konzeption des Buches präzise als »kühnen
anheimgefallen waren, erteilt der Philosoph den >Ur- Versuch einer soziologischen Morphologie der Ele-
bildern< das Bürgerrecht« (franz. 229f.; dt. Benjamin mentarformen des Sprachgebrauchs« charakterisiert
1979, 36). (5, 633) und damit Benjamins kulturtheoretisches In-
Zu diesen Urbildern gehört die Figur des Gerechten, teresse getroffen, doch ist über seine Lektüre nichts
die Benjamin bei Lesskow interessiert. Er schreibt: bekannt geworden.
»Der Gerechte ist der Fürsprech der Kreatur und zu- Wie wichtig ihm der Erzähler-Aufsatz weiterhin war,
gleich ihre höchste Verkörperung. Er hat bei Lesskow zeigt ein Brief, den er am 26. Juni 1939 an Gretel
einen mütterlichen Einschlag, der sich zuweilen ins Adorno richtete, nachdem Adorno die Abhandlung
Mythische steigert« (II, 459). Als Vorläufer und Paral- DAS PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE ab-
lelphänomen faßt Benjamin das Werk Hebels auf, mit gelehnt hatte und er nun an die Überarbeitung des
dem er sich seit 1926 mehrfach beschäftigt hat: mittleren Abschnitts mit der Überschrift nDer Fla-
»[E]inen Hebel haben der Zundelfrieder, der Zundel- neur« gehen wollte, der 1939 unter dem Titel ÜBER
heiner und der rote Dieter unter allen seinen Gestalten EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE in der Zeitschrift für
am treuesten begleitet. Und doch ist auch für Hebel Sozialforschung erschienen ist. Benjamin reiht den ge-
der Gerechte die Hauptrolle auf dem theatrum mundi. planten Aufsatz dabei in eine Reihe von Arbeiten zum
Weil ihr aber eigentlich keiner gewachsen ist, so wan- Erfahrungswandel in der Moderne ein, die er seit Mitte
dert sie von einem zum anderen« (461). Diese Stelle der 30er Jahre verfaßt hat, so daß auch der Erzähler-
und ihre Weiterführung findet sich wörtlich in einer Aufsatz einen neuen Status bekommt. >>Das Flaneur-
Rezension mit dem Titel HEBEL GEGEN EINEN NEUEN kapitel«, so schreibt er, »wird in der neuen Fassung
BEWUNDERER VERTEIDIGT, die 1929 in der Frankfurter entscheidende Motive der Reproduktionsarbeit und
Zeitung erschienen ist (III, 204 f.). des Erzählers, vereint mit solchen der Passagen zu in-
Benjamin versucht diesen Weg des Erzählers, der- tegrieren suchen« (6, 308).
wie er schreibt- »bis ins Erdinnere reicht und sich in
den Wolken verliert« (II, 457), auch für Lesskow bis in
die unbelebte Natur hinein zu verfolgen: »Die Hierar- Rezeption
chie der kreatürlichen Welt, die in dem Gerechten ihre
höchste Erhebung hat, reicht in vielfachen Stufungen Offenbar hat die in Basel erscheinende Zeitschrift Ori-
in den Abgrund des Unbelebten herab« (460). Die ent und Occidentauch während des Krieges in Deutsch-
Deutung der mythischen Elemente in Lesskows Werk land Leser finden können. Denn im Juni 1941, acht
zielt auf eine Idee, die Benjamin in den ersten Sätzen Monate nach Benjamins Tod, veröffentlichte Hans
seines Aufsatzes bereits angedeutet hatte, ohne daß Paeschke in der Neuen Rundschau unter der Über-
man diesen das Gewicht angemerkt hätte, das er der schrift Magie des Erzählens einen Beitrag, der Benja-
Idee im aphoristischen Schlußsatz seines Aufsatzes mins Aufsatz referiert, ohne Autor und Quelle zu nen-
564 Dichtungsanalyse und Autorbild

nen. Paeschke, der von 1939 bis 1944 verantwortlicher eine Paradoxie; es läßt sich nicht mehr erzählen,
Redakteur der Neuen Rundschau war, schreibt zu Be- während die Form des Romans Erzählung verlangt«
ginn seines Beitrags: >>Fragt man nach dem allgemei- (Adorno 1954/1975, 61). Auch den Niedergang des
nen Grund für die Erzählerarmut dieser Zeit, so kann Erzählens durch Erfahrungsverlust erläutert Adorno
man vielleicht sagen, der Mensch habe seit Jahrzehnten in Anlehnung an Benjamin: >>Zerfallen ist die Identität
immer mehr die Gabe eingebüßt, Erfahrungen auszu- der Erfahrung, das in sich kontinuierliche und artiku-
tauschen. Dies enthüllte sich zum erstenmal nach dem lierte Leben, das die Haltung des Erzählers einzig ge-
Weltkrieg, aus dem die Menschen in der Regel ver- stattet. Man braucht nur die Unmöglichkeit sich zu
stummt nach Hause kamen<< (Paeschke 1941, 353). vergegenwärtigen, daß irgendeiner, der am Krieg teil-
Auch seine Ausführungen über die Erzählertypen hat nahm, von ihm so erzählte, wie früher einer von seinen
Paeschke fast wörtlich von Benjamin übernommen: Abenteuern erzählen mochte<< (62).
>>Die Handwerksstuben sind gleichsam die Geburts- Adorno kannte Benjamins Aufsatz schon vor der
kammern des echten Erzählens; denn hier verband sich Publikation durch ein Typoskript, das ihm der Autor
die Kunde aus fernem Raum, die der wandernde Ge- geschickt hatte. In einem Brief vom 6. September 1936
selle mitbrachte, mit der überlieferten Kunde aus der ist er ausführlich auf einige der Argumente eingegan-
Zeit, von der der seßhafte Meister weiß« (ebd.). Und gen. >>Da ist zunächst«, so schreibt er an Benjamin, >>die
schließlich geht Paeschke im zweiten Teil seines Auf- vollste Zustimmung zu der geschichtsphilosophischen
satzes ausführlich auf Lesskow und die Figur des >>Ge- Intention anzumelden: daß Erzählen nicht mehr mög-
rechten« ein: >>Wollte man ein menschliches Urbild lich sei. Es ist mir das, und weit über die Andeutungen
finden, das dem entspricht, so käme man ganz von >der Theorie des Romans< hinaus, ein vertrauter Ge-
selbst auf die sogenannten >Gerechten<, die unter eu- danke.« Nicht akzeptieren wollte Adorno dagegen eine
ropäischen Erzählern wohl am großartigsten Nikolai Tendenz in Benjamins Arbeit, die er als >>anthropolo-
Ljesskow zu gestalten versucht hat« (356). gischen Materialismus« bezeichnet und wie folgt er-
Ob Paeschke sich hier tatsächlich fremde Gedanken läutert: >>Es ist, als sei für Sie das Maß der Konkretion
zu eigen machen oder Benjamin seine Referenz erwei- der Leib des Menschen« (Adorno/Benjamin 1994,
sen wollte, muß unentschieden bleiben, solange über 192 f.). Diese anthropologische Dimension dürfte einer
Verbindungen nichts bekannt ist. Paeschke, der 1911 der Gründe dafür gewesen sein, warum Adorno auf
in Berlin geboren wurde und damit eine Generation den Erzähler-Aufsatz in seinem eigenen Beitrag nicht
jünger war als Benjamin, könnte von diesem durchaus eingegangen ist. Schon in den 30er Jahren hatte er
gehört oder Arbeiten von ihm gelesen haben: als Stu- Benjamins Tendenz zur Konkretheit immer wieder
dent in Berlin ab 1930, als Sekretär der Deutsch-Fran- kritisiert und statt dessen eine theologische Deutung
zösischen Gesellschaft (1932-1935) und als Mitarbei- sozialer Sachverhalte von ihm gefordert, die er postum
ter und Redakteur verschiedener Zeitschriften (vgl. zur Interpretationsfolie der Werke Benjamins machte,
Schöttker 1991 ). Als späterer Herausgeber des Merkur ohne auf deren Eigenheiten Rücksicht zu nehmen.
(194 7-1979) hat Paeschke jedenfalls mehrere Beiträge Zugleich hat Adorno eine eigene Auffassung über
zu Benjamin gedruckt, die maßgeblich zur Wiederent- den Verfall des Erzählens vertreten und dabei auf
deckung seines Werkes und zur Kenntnis seiner Bio- Marx' Theorie der Verdinglichung der menschlichen
graphie beigetragen haben (vgl. Schöttker/Wizisla Beziehungen im Kapitalismus zurückgegriffen. >>Etwas
2005). erzählen«, so schreibt er, >>heißt ja: etwas >Besonderes<
Anders gelagert ist die verschwiegene Aneignung bei zu sagen haben, und gerade das wird von der verwal-
Theodor W. Adorno. Zwar hat er den Erzähler-Aufsatz teten Welt, von Standardisierung und Immergleichheit
in die zweibändige Ausgabe der Schriften Benjamins verhindert« (Adorno 1954/1975, 63). Aufgabe des Er-
(1955) aufgenommen und den Text damit einem grö- zählers im Roman sei es, diese Entwicklung zu verdeut-
ßeren Publikum bekannt gemacht; in seinem Rund- Iichen und ihr entgegenzuwirken: >>Die Verdinglichung
funkvortrag Standort des Erzählers im zeitgenössischen aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre
Roman, der 1954 in den Akzenten gedruckt und 1958 menschlichen Eigenschaften in Schmieröl verwandelt,
in den ersten Band der Noten zur Literatur übernom- die universale Entfremdung und Selbstentfremdung,
men wurde, aber hat er Benjamin nicht erwähnt, ob- fordert beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der
wohl er sich die These des Erzähler-Aufsatzes zu eigen Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen«
macht, um ihr eine eigene entgegenzusetzen. Diese (64). Zwar zeigt sich hier, daß Adornos Erörterung der
lautet, daß auch im Roman erzählt werden muß. Beziehungen zwischen Roman und Erzählung stärker
Adorno schreibt zur >>Stellung des Erzählers« mit Be- auf die Moderne bezogen sind als die überlegungen
zug auf Benjamin: >>Sie wird heute bezeichnet durch Benjamins. Doch beschränkt er sich auf die Literatur,
»Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« 565

während Benjamin das Erzählen als Bestandteil des es wohl nicht für möglich hielt. In einem Beitrag zu
Lebens analysiert. Mit Ausnahme eines Beitrags von seinem Bild bezieht sich Wall direkt auf Benjamins
Karlheinz Stierle zum Problem des Erzählens in der Aufsatz. »Der Geschichtenerzähler (Storyteller)<<, so
Geschichtsschreibung ( 1979) sind Benjamins überle- heißt es hier unter anderem, »ist eine archaische Figur,
gungenerst seit Anfang der 90er Jahre in der literatur- ein gesellschaftlicher Typus, der infolge der technolo-
wissenschaftlichen Erzählforschung diskutiert worden gischen Veränderungen, die neue Formen der Aneig-
(vgl. Vogt 1990, 208 ff.) Dennoch wird die kulturtheo- nung und Weitergabe von Wissen geschaffen haben,
retische Dimension, selbst dort, wo medienhistorische seine Funktion verloren hat. An den Rand der Moder-
Überlegungen hinzutreten, kaum berücksichtigt (vgl. nität verbannt, überlebt er dort als Relikt der Imagi-
Ewers 1988; Reisch 1992, 128 ff.; Honold 2000; Gagne- nation - ein nostalgischer Archetyp, ein anthropolo-
bin 2001; Lindner 2002). gisches Spezimen, scheinbar tot. Wie Walter Benjamin
Auffälliger ist dagegen die Rezeption im Film. In aufgezeigt hat, verkörpern zerstörte Figuren wie er
einem dokumentarischen Filmessay, den Harun Fa- wesentliche Elemente historischer Erinnerung, die
rocki und Ingemo Engström unter dem Titel Erzählen Erinnerung an Werte, die vom kapitalistischen Fort-
( 1975) gedreht haben, wird Benjamins Name zwar schritt ausgegrenzt und scheinbar von allen vergessen
nicht erwähnt, doch liest eine der Figuren in der wurden. In Krisenzeiten jedoch gewinnt diese Erinne-
Sammlung Ober Literatur (1969) einen Text, der an rung ihr Potential zurück. Unsere Gegenwart ist eine
den Erzähler-Aufsatz erinnert. Die Tatsache, daß die solche Krisenzeit. Die Kraft der Erinnerung wächst in
Szene nur eine Episode unter vielen bleibt, läßt sich dem Maße, in dem an den Rand gedrängte und unter-
damit erklären, daß der Film eine Vielzahl von über- drückte Gruppen sich ihre eigene Geschichte wieder
legungen präsentiert, die eher von der strukturalisti- aneignen und sie neu lernen<< (Wall1992, 5). Benja-
schen Erzählforschung als von Benjamins Überlegun- mins Überlegungen werden damit aus ihrem europä-
gen inspiriert wurden (vgl. dazu Dotzler/Müller- ischen Kontext herausgelöst und ethnographisch fun-
Thamm 2004). Explizit hat sich dagegen Wim Wenders diert, bekommen also ebenso wie bei Wenders eine
im Himmel über Berlin auf Benjamins Erzähler-Aufsatz kulturanthropologische Dimension, die im Erzähler-
bezogen. Er läßt hier eine» Gedankenstimme Homer<<, Aufsatz wohl angelegt ist, von Benjamin aber nicht
die durch den Schauspieler Curt Bois verkörpert wird, entfaltet wurde.
sagen: >>Die Welt scheint zu dämmern, doch ich er-
zähle, wie am Anfang, in meinem Singsang, der mich Werk
aufrechterhält, durch die Erzählung verschont von den DER ERZÄHLER. BETRACHTUNGEN ZUM WERK NI KOLA! LESS-
Wirren der Jetztzeit und geschont für die Zukunft. [... ] KOWS (Il, 438-465)
Aufzeichnungen zum Komplex Roman und Erzählung (II,
Wenn ich aufgebe, dann wird die Menschheit ihren
1281-1288; IV, !Oll f.; 1013-1015; VII, 800-804)
Erzähler verlieren. Und hat die Menschheit einmal )OHANN )AKOB BACH OFEN, in: Text+ Kritik, H. 31/32: Walter
ihren Erzähler verloren, so hat sie auch ihre Kindschaft Benjamin. 2. Auf!., München 1979, 28-40 ( dt. Übers. von
verloren<< (nach dem Drehbuch von Wenders/Handke B. Lindner, M. Noll und R. Schuber!).
1990, 56f.). Benjamins kulturhistorische Fundierung
des Erzählens wird hier also in eine menschheitsge- Literatur
schichtliche Perspektive gestellt. Das Pathos, mit dem Adorno, Theodor W. ( 1975): >>Standort des Erzählers im zeit-
genössischen Roman<<, in: ders.: Noten zur Literatur I,
die Idee vorgetragen wird, kann sich zwar nicht auf
Frankfurt a.M., 61-72.
den Erzähler-Aufsatz berufen, legitimiert sich aber Adorno, Theodor W./Walter Benjamin (1994): Briefwechsel
durch Rückgriff auf den »Engel der Geschichte<< in der 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a. M.
neunten These ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE. Döblin, Alfred (1989): »Der Bau des epischen Werkes<<, in:
ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. v.
Denn die »Gedankenstimme Homer<< bezeichnet sich
Erich Kleinschmidt, Olten, 215-245.
als »Engel der Erzählung<< (60). Dotzler, Bernhard/)utta Müller-Thamm (2004): »Film nach
Eine kulturhistorische Deutung des Erzähler-Auf- Benjamin. Bild und Erzählung im Denken der Kinemato-
satzes findet sich auch auf einem der großformatigen graphie<<, in: Schöttker 2004, 208-219.
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Diapositive von JeffWall mit dem Titel The Storyteller
thode«, in: ders.: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der
( 1987). Es zeigt indianische Ureinwohner Kanadas, die Literatur, ausgew. u. übers. v. Alexander Kaempfe, Frank-
in drei unterschiedlichen Konstellationen an einer furta.M.
Autobahnbrücke sitzen. Zwei von ihnen hören einer Eichenbaum, Boris ( 1969): »Leskov und die moderne Prosa<<,
in: )urij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten,
erzählenden Frau zu. Angedeutet wird damit, daß das Bd. l, 5. Aufl., München, 208-243.
Erzählen auch in der Moderne an Orten weiterleben Erlich, Viktor (1973): Russischer Formalismus. Frankfurt
kann, wo man es nicht vermuten würde und Benjamin a.M.
566 Dichtungsanalyse und Autorbild

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567

Das Baudelaire-Buch wird jedoch klar, daß der Text über Baudelaire sich in
die Gesamtkonzeption des Paris-Buchs nur schwer
>>Das Paris des Second Empire bei Baudelaire<< I >>Über noch integrieren läßt, so daß Benjamin dazu übergeht,
einige Motive bei Baudelaire<< I >>Zentralpark<< I >>Notes das Baudelaire-Projekt als selbständige Arbeit und
sur !es Tableaux parisiens de Baudelaire<< sogar als »Miniaturmodell<< (I, 1073) bzw. als »Extrakt<<
(I, 1078) des Passagen-Werks zu verstehen. Wie Ben-
Von Christine Schmider und Michael Werner jamin ineinem Brief an Scholem betont, setzt die Ar-
beit am Baudelaire »notwendig die ganze Masse der
Gedanken und der Studien in Bewegung<< (1079), mit
denen er sich in den letzten Jahren beschäftigt hat.
Konkret heißt dies, daß er die gesamten für die Passa-
Entstehungsgeschichte gen zusammengestellten Materialien nochmals sichtet,
um zu einerneuen Strukturierung der Notizen für den
Benjamins Interesse für Baudelaire, dem wir die Texte Baudelaire-Text zu gelangen. Diese Schematisierung
DAS PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAI RE, ÜBER ergibt eine Liste mit 30 Kategorien, die jeweils mit
EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE, NOTES SUR LES TA- einem Farbsignet versehen werden. Es handelt sich
BLEAUX PARISIENS DE BAUDELAI RE verdanken, geht bis dabei um Zeichen, die jeweils eine geometrische Form
auf 1915 zurück, wo er den Lyriker die ersten Male in und eine Farbe kombinieren. So wird zum Beispiel der
seinen Briefen nennt. Ab 1917 erwähnt er seine Über- Kategorie >Melancholie< ein schwarzes von einer vio-
setzungsversuche Baudelairescher Gedichte, die in der letten Senkrechten geteiltes Viereck zugewiesen (vgl.
1923 erschienenen Übertragung der Tableaux de Paris VII, 739 und Bolle 1999, 107). Die vom Passagen-Fun-
münden (1, 341). Erst 1935, als er sich dem ersten dus zu übertragenden Notizen werden nun ebenfalls
Expose für das Passagen-Werk zuwendet, kommt der mit Hilfe dieser Signets gekennzeichnet und den Ka-
Gedanke an eine ausführlichere Beschäftigung mit tegorien zugeordnet.
Baudelaire wieder auf (vgl. I, 1121 ). Diese ist eindeutig Der sich solchermaßen abzeichnende vollständige
im Zusammenhang mit den Arbeiten am Passagen- Bauplan für die Baudelaire-Arbeit ist erst 1981 unter
Werk zu sehen, wie auch überhaupt die Baudelaire- den von Giorgio Agamben in der Bibliotheque Natio-
Studien inhaltlich und textgenetisch aufs engste mit nale gefundenen Handschriften entdeckt worden und
dieser Arbeit zur Pariser Moderne verbunden sind, an hat die klassifikatorische Funktion der Piktogramme
der Benjamin mit Unterbrechungen von 1927 bis zu eindeutig bewiesen. In seiner Untersuchung der Farb-
seinem Tod, vor allem aber zwischen 1934 und 1940 symbole hat Willi Bolle versucht zu zeigen, daß die
arbeitete (vgl. ebd.). Ende 1937 und mit einer finan- Signets nicht nur als Übertragungszeichen fungieren,
ziellen Unterstützung durch das Institut für Sozialfor- sondern auch eine symbolische Bedeutung besitzen,
schung von 80 Dollar monatlich, macht er sich an die die der interpretierenden Auflösung zugänglich ist
dokumentarischen Vorarbeiten zum PARIS DES SE- (Bolle 1999,98-111 und 2000, 413-440). Bolle ordnet
COND EMPIRE BEI BAUDELAIRE. Bis zum Frühjahr 1938 die konstruktiven Kategorien des Bauplans nach Far-
stellt er im Rahmen seiner Recherchen in der Biblio- ben und Formen an, um chromatische und semanti-
theque Nationale fast 200 Seiten Materialien in Form sche Korrespondenzen zwischen den Piktogrammen
von Notizen, Exzerpten bzw. Zitaten und Kommenta- sichtbar zu machen. Die Piktogramme des Bauplans
ren zu Baudelaire zusammen. Diese Aufzeichnungen entwerfen eine Topographie der Moderne, die, so
sind im Konvolut J, der umfangreichsten unter den Bolle, das »Paradigma einer konstellativen Ästhetik
thematischen Materialsammlungen des Passagen- und Geschichtsschreibung<< veranschaulichen (Bolle
Werks, zusammengefaßt. Etwa zu diesem Zeitpunkt 2000, 427). Ob Benjamin tatsächlich die Farbsignets
stößt Benjamin bei seinen Arbeiten in der Bibliothek als Form einer materialen Geschichtsschreibung, als
auf L'Eternite par les astres, die »kosmische Spekula- eigene Schriftform mit ästhetischer Qualität inten-
tion<< (I, 1071) des Revolutionärs Blanqui, unter deren dierte, läßt sich nicht mit letzter Endgültigkeit feststel-
Einfluß das geschichtsphilosophische Motiv der ewi- len. Bolles Deutungsversuch definiert sich denn auch
gen Wiederkehr immer mehr an Bedeutung gewinnt. nicht so sehr als einfache Darstellung der Kategorien
Gleichzeitig mit der Entdeckung Blanquis beginnt ein und ihrer Piktogramme, sondern als konstruktive Wei-
Transfer-Prozeß, der Materialien und Überlegungen terentwicklung von Benjamins »Konzeption der Ge-
aus dem Umfeld des Passagen-Werks für die ursprüng- schichtsschreibung als Bauplan bzw. als Entwurf<<
lich als vorletztes Kapitel dieser Arbeit geplante Bau- (439), die sich Benjamins Verständnis von Historio-
delaire-Studie nutzbar zu machen sucht. Allmählich graphie als Konstellation verpflichtet weiß.
568 Dichtungsanalyse und Autorbild

Die Umstrukturierung der Notizen, die aus der matisch. Der Vorwurf, Benjamin habe der »materiellen
Durcharbeitung der Passagen-Dokumentation resul- Enumeration abergläubisch fast eine Macht der Erhel-
tiert, ergibt eine erste Gliederung des geplanten Bau- lung zugeschrieben<< ( 1097) impliziert auch, daß Ben-
delaire-Buchs, die Benjamin im April1938 Horkhei- jamin in Gefahr gerate, gerade den phantasmagori-
mer in einem ausführlichen Brief mitteilt. Er geht für schen Phänomenen zu verfallen, deren Scheinhaftig-
das PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE von keit seine Untersuchung zu denunzieren intendiert.
drei Teilen mit den Titeln >>Idee und Bild; Antike und Adorno führt diese staunende >>Darstellung der bloßen
Moderne; Das Neue und Immergleiche<< (I, 1073) aus. Faktizität<< (1096) auch, und damit ist ein zweiter
Diese erste Gliederung wird im Laufe des Sommers, grundlegender Vorwurf genannt, auf Benjamins falsch
den Benjamin teilweise bei Bertolt Brecht in Dänemark verstandene >>Solidarität<< (1097) mit dem Institut zu-
verbringt, abgeändert. Die neue Strukturierung sieht rück. Diese habe Benjamin dazu bewogen, >>dem Mar-
vor, im ersten Teil die These der gesamten Arbeit - xismus Tribute zu zollen<< und in einer Art >>Vorzensur
>>Baudelaire alsAilegoriker<<- (I, 1091) zu formulieren. nach materialistischen Kategorien<< (ebd.) seiner spe-
Im zweiten Teil, der >>Antithesis<< (ebd.) mit dem Titel kulativen Theorie zu entsagen.
>>Das second empire in der Dichtung von Baudelaire<< Benjamin entgegnet der Kritik an seiner Arbeit in
(I, 1086), die der >>kunsttheoretischen Fragestellung einer ausführlichen brieflichen Antwort, die metho-
des ersten Teils entschlossen den Rücken<< kehrt und dische und philologische Argumente bemüht (vgl. I,
>>die gesellschaftskritische Interpretation des Dichters<< 1101-1107). Neben dem Verweis auf die Konstruktion
projektiert, sollen die >>erforderlichen Daten<< für >>die der Baudelaire-Studie, welche bedingt, >>daß der zweite
Auflösung<< (I, 1091) beigebracht werden. Diese Syn- Teil des Buches wesentlich aus philologischer Materie
these soll der dritte Teil - >>die Ware als poetischer gebildet<< und >>die philosophische Rekognoszierung
Gegenstand<<- (ebd.) leisten, dem darüber hinaus zu- der Moderne<< ( 1103) erst dem dritten Teil zugewiesen
kommt, die >>Konvergenz der Grundgedanken mit dem sei, die vollständige Intention und theoretische Be-
Passagenplan zu erweisen<< ( 1093 ). Diese neue Gliede- gründung der Arbeit somit also erst aus dem abge-
rung ist jedoch, angesichtsdes zunehmenden Termin- schlossenen Text zu ersehen sei, rechtfertigt Benjamin
drucks seitens des Instituts für Sozialforschung, das auch die philologische Dichte seiner Arbeit mit dem
den Baudelaire-Beitrag dringend für die Herbstnum- Hinweis auf die notwendige >>Herausstellung der
mer der Zeitschrift einfordert, und bedingt durch die Sachgehalte, in denen der Wahrheitsgehalt historisch
schwierigen Pariser Arbeitsbedingungen, nicht einzu- entblättert wird<< ( 11 04) Benjamin erklärt sich jedoch
halten. Benjamin stellt also zunächst den mittleren Teil bereit, das zentrale Flaneurkapitel entsprechend der
der Arbeit fertig (vgl. 1086) und verzichtet vorerst auf Kritik Adornos, der in seinem Brief vom 1.2.1939
die >>Armatur<< (1087) des Baudelaire, bestehend aus noch weitere detailliertere Kommentare und Verbes-
dem ersten und dem dritten Teil, über welche die ZEN- serungsvorschläge formuliert, umzuarbeiten (vgl.
TRALPARK-Fragmente und das Baudelaire gewidmete Brief Adornos an Benjamin vom 1.2.1939, I, 1107-
Konvolut J des Passagen-Werks Aufschluß erteilen. 1113; vgl. BenjaminsAntwort vom 23.2.1939, I, 1114-
Ende September und nach intensivster Arbeit gelingt 1117).
es Benjamin tatsächlich, das versprochene Manuskript Anfang 1939 und nach einer Periode »nachhaltiger
fast druckfertig auf den Weg zu bringen. Wiederum Depression<< (1113) macht Benjamin sich an die Revi-
dreiteilig umfaßt es die »untereinander relativ unab- sion des Baudelaire. Wie aus dem Briefwechsel mit
hängigen Bestandstücke des durchaus selbständigen Adorno hervorgeht, plant Benjamin ursprünglich die
zweiten Teils des Baudelaire-Buchs<< (I, 1090) mit den Überarbeitung aller drei Kapitel aus dem PARIS DES
Titeln >>Die Boheme<<, >>Der Flaneur<< und >>Die Mo- SECOND EMPIRE. So sind für den vormals der >>Boheme<<
derne<<. Zu Benjamins großem Entsetzen wird der gewidmeten ersten Abschnitt in der neuen Fassung die
Aufsatz jedoch abgelehnt. In seiner ausführlichen Kri- >>Motive der Passage, des noctambulisme, des Feuille-
tik vom 10.11.1938 führt Adorno die Gründe aus, die tons, sowie die theoretische Einführung des Begriffs
das Institut dazu bewogen haben, den Artikel zurück- der Phantasmagorie<< vorgesehen (1124), während
zuweisen. An erster Stelle steht der Vorwurf mangeln- dem dritten, zuvor mit >>die Moderne<< betitelten Ab-
der Vermittlung zwischen pragmatischem Sachgehalt schnitt >>das Motiv der Spur, des Typs, der Einfühlung
und marxistischer Theorie, die in eine >>materiali- in die Warenseele<< zugedacht sind (ebd.). Zur Redak-
stisch-historiographische Beschwörung<< (I, 1096) tion dieser Kapitel ist es jedoch nicht mehr gekommen.
sozialhistorischer Motive münde. Benjamins gewollt Einzig die Überarbeitung des Abschnitts zum >>Fla-
>>asketische Disziplin<< ( 1094), die zu einer Aussparung neur<< wird von Benjamin fertiggestellt, wobei er den
der Deutung führte, erscheint Adorno höchst proble- Kommentaren und Vorschlägen Adornos in sehr un-
Das Baudelaire-Buch 569

terschiedlichem Maße stattgibt (vgl. Espagne/Werner gen Kapitelgliederungen, die auf den Listen aufbauend
1984, 640-646). Im August 1939 schließlich wird die und nach Motiven geordnet den Bauplan für das Bau-
neue Fassung des Flaneur-Kapitels unter dem Titel delairebuch erkennen lassen sowie metatextuelle Ar-
ÜBER EINIGE MoTIVE BEI BAUDELAI RE nach New York beits- und Werkregienotizen und bruchstückhafte
geschickt, nachdem Benjamin im Mai gleichen Jahres Vorstufen zum Baudelairebuch (zur Beschreibung und
zum ersten Mal die Ergebnisse seiner Überarbeitung Analyse des Handschriftenmaterials vgl. Espagne/Wer-
anläßlich eines Vortrags in Pontigny unter dem Titel ner 1984, 1986 und 1987; Bolle 1999 und 2000). Die
NOTES SUR LES TABLEAUX PARISIENS DE BAUDELAIRE Bemühungen Tiedemanns, den zweiten Pariser Nach-
vorstellt. Der Aufsatz stößt in New York aufbegeisterte laß ins Adorno-Benjamin-Archiv zu überführen,
Aufnahme und erscheint im Januar 1940 in der Zeit- scheiterten zunächst, da die Witwe Batailles im Mai
schrift für Sozialforschung. 1982 die aufgefundenen Handschriften in einer Schen-
kungsurkunde der Bibliotheque Nationale überant-
wortete. Der darauffolgende Rechtsstreit wurde jedoch
Überlieferungsgeschichte zugunsten des Adorno-Benjamin-Archivs entschieden
und ermöglichte die Zusammenführung aller die Bau-
Als Benjamin 1940 vor den deutschen Truppen aus delaire-Arbeiten betreffenden Manuskripte in Frank-
Paris fliehen muß, teilt er seine Handschriften auf. Die furt. Da die Edition des ersten Bandes der Gesammel-
zum Baudelaire gehörenden Manuskripte vertraut er, ten Schriften Benjamins, der sämtliche bis dahin be-
genau wie die Aufzeichnungen und Materialien aus kannten Texte aus dem Umfeld der Baudelaire-Studien
dem Umfeld des Passagen-Werks, George Bataille an, enthielt, schon 1974 abgeschlossen war, haben die Her-
der sie in der Bibliotheque Nationale versteckt. Nach ausgeber im Band VII.2 die Pariser Handschriften
Kriegsende gelangen diese Dokumente über Pierre auszugsweise abgedruckt (vgl. VII, 735-770). Der Band
Missac, mit dem Benjamin eine enge Freundschaft zu den >>Nachträgen<< ist den erst im Laufe der lang-
pflegte, zu Adorno, der zum Nachlaßverwalter einge- wierigen Editionsarbeit aufgefundenen Handschriften
setzt worden war. Nach Adornos Rückkehr aus dem und Materialien gewidmet. Entsprechend der von den
Exil finden die Handschriften ihren Platz im Benja- Herausgebern intendierten Gewichtung »auf dem Ab-
min-Archiv in Frankfurt. Der den Baudelaire betref- druck neuer Paralipomena: auf der Mitteilungen von
fende Nachlaß war jedoch nicht vollständig, denn Schemata, Entwürfen und Vorstufen von Texten<< (VII,
Benjamin hatte, als er nach Marseille floh, einen Teil 729), werden beispielhaft Dokumente aus dem Entste-
seiner Handschriften in seiner Pariser Wohnung in der hungsprozeß des Baudelaire-Projekts abgedruckt. In
Rue Dombasle gelassen. Von der Gestapo konfisziert, ihren Anmerkungen weisen die Herausgeber darauf
wurden diese Handschriften nach Berlin gebracht und hin, daß der vollständige Abdruck der Pariser Hand-
zu Kriegsende in Schlesien versteckt, wo sie teilweise schriften mit dem Ziel einer lückenlosen Dokumenta-
zerstört, bzw. von der Roten Armee beschlagnahmt tion des Entstehungsprozesses zwangsläufig zu Mehr-
wurden. 1957 übergab die Sowjetunion diese Hand- fachabdrucken und Unübersichtlichkeiten geführt
schriften dem Deutschen Zentralarchiv in Potsdam, hätte. Dies ist genauso richtig wie die Tatsache, daß die
von wo aus sie später in die Akademie der Künste in Publikation sämtlicher neuaufgefundener Handschrif-
Ost-Berlin verlagert wurden. Es befand sich unter die- ten den Rahmen der Gesammelten Schriften, die nie als
sen Unterlagen vor allem das handschriftliche Manu- historisch-kritische Ausgabe intendiert war, sprengen
skript des PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAI RE. würde. Dennoch ist es zu bedauern, daß ein so spek-
1981 schließlich stieß Giorgio Agamben in der Pariser takulärer Fund wie die Pariser Handschriften, der
Bibliotheque Nationale auf weitere bis dahin unbe- entscheidende Aufschlüsse über die Genese des Bau-
kannte Handschriften aus dem Passagen-Baudelaire- delaire-Projekts und Benjamins Strukturierungsver-
Komplex, die offensichtlich zu den von Bataille ver- suche erlaubt, »mit ein paar Beispielen<< (Tiedemann,
steckten Manuskripten gehörten, nach Kriegsende VII, 736), die nur etwa ein Fünftel der aufgefundenen
aber verschollen blieben und nie an Adorno weiterge- Seiten ausmachen, dokumentiert ist. Zwar ist es nicht
leitet wurden. so, daß einzelne, als besonders wichtig anzusehende
Die Umschläge, die Agamben entdeckt hatte, ent- Materialien aus den Pariser Handschriften in den
hielten, neben bibliographischen Notizen zur Passa- Nachträgen fehlen, doch angesichts der hochkomple-
gen-Arbeit und zum Baudelaire, die schon beschrie- xen Entstehungsgeschichte der Baudelaire-Passagen-
benen Listen mit den zentralen Kategorien des Bau- Arbeit und der kontroversen Einschätzung des Fundes
delairebuchs und dem dazugehörigen farbigen und seiner Bedeutung für Benjamins Projekt einer
Siglesystem. Des weiteren fanden sich in den Umschlä- materialen Geschichtsschreibung (vgl. Tiedemann
570 Dichtungsanalyse und Autorbild

1983, 191 f.) wäre es wünschenswert gewesen, dem weniger in seinen Kommentaren zu Benjamins Werk
interessierten Leser und Forscher die Dokumente in schon 1950 den »fragmentarischen Charakter<< des
ihrer Gesamtheit zugänglich zu machen. Spätwerks (Adorno 1990, 9) und die außergewöhnli-
che »Konkretion<<, die das Rebus »zum Modell seiner
Philosophie macht<< (10), hervorgehoben. Diese durch-
Bisherige Rezeption aus gegensätzliche Einschätzung der Baudelaire-Stu-
dien, in der das, was zunächst als Schwäche des Ben-
In den folgenden überlegungen geht es darum, die jaminsehen Verfahrens verstanden wird - sein Glaube
rezeptionsgeschichtlichen Besonderheiten von Benja- an die Evidenz der Dinge in ihrer konkreten Materia-
mins Baudelaire-Studien zu berücksichtigen und ihre lität - in den 60er Jahren zur spezifisch philosophi-
spezifischen Problemfelder abzustecken. Zu letzteren schen Leistung Benjamins, durch die »das Unauf-
gehört ihr besonderer Status als >Miniatur-Modell< des schließbare wie mit einem magischen Schlüssel« sich
Passagenwerks, aber auch der unabgeschlossene Cha- öffnen läßt (83 ), aufgewertet wird, nimmt die konträ-
rakter des PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAUDELAIRE ren Positionen, die in der Rezeptionsgeschichte ver-
und die fragmentarische Natur der ZENTRALPARK- treten werden, vorweg. Zugleich läßt sich hier eine
Notizen sowie die nicht zu überschätzende Rolle, die Entwicklung der Rezeptionsgeschichte der Baudelaire-
Adorno in bezug auf die Rezeptionsgeschichte der Studien ablesen, die in den 60er Jahren, mehr oder
Baudelaire-Studien spielte. Die Person und das Den- weniger unter Absehung textgenetischer Zusammen-
ken Adornos haben, wie die Edition der Briefe Benja- hänge, den unvollendeten Status der ZENTRALPARK-
mins in den 1960er Jahren und die Gesammelten Fragmente und Benjamins >blitzartiges< Verfahren
Schriften deutlich machten, nicht nur die Entstehungs- ästhetisch motiviert und das Bild eines fragmentari-
geschichte der Baudelaire-Studien entscheidend be- schen Denkens und einer Philosophie der Unabge-
einflußt, sondern auch die spätere Aufnahme dieser schlossenheit kultiviert. Diese Sichtweise war lange
Texte maßgeblich geprägt. In bezug auf das Spätwerk durchaus repräsentativ für die Wahrnehmung des Ben-
und vor allem die Baudelaire-Studien ist festzustellen, jaminsehen Spätwerks und der Baudelaire-Studien in
daß die schon den Entstehungsprozeß begleitende der deutschen Benjamin-Forschung. Sie erfahrt jedoch
Kritik Adornos an der mangelnden Vermittlung des in den 80er Jahren eine Wandlung, und an Stelle der
>>pragmatische[n] Gehalt[es]<< (I, 1094) zu einer der Hypostasierung des Fragmentarischen als Grundkate-
wichtigsten rezeptionsgeschichtlichen Diskussionen gorie von Benjamins Denken tritt der Versuch, die
Anlaß gab, in der derStatus des sozialhistorischen Ma- konstruktive Idee des unvollendet gebliebenen Werkes
terials im Mittelpunkt steht. Die diesbezügliche Fest- sichtbar zu machen und den ZENTRALPARK-Fragmen-
stellung Heiner Weidmanns, daß »die Sekundärlitera- ten ihren Platz in der Gesamtkonzeption des Baude-
tur Benjamin vor Adornos schonungsloser Kritik in laire-Buches zuzuweisen.
Schutz nimmt<< (Weidmann 1992, 146), muß jedoch Der Fund der Pariser Handschriften durch Giorgio
nuanciert werden. Die Forschungslage ist nicht ganz Agamben im Jahr 1981 markiert in diesem Zusam-
so eindeutig, wie Weidmanns Aussage es vermuten menhang eine eindeutige Zäsur. Zwar hat es auch
läßt, und es gibt durchaus Stimmen, die Adornos Kri- schon vor Entdeckung der in der Bibliotheque Natio-
tik ihre Berechtigung zusprechen (vgl. Menninghaus nale aufgefundenen Materialien einzelne Versuche
1980, 158 und 259; Tiedemann 1983; Arabatzis 1998, gegeben, die »philosophische Bogenspannung<< (I,
124-128). Weidmanns Verweis auf eine übereinstim- 1119), die der Gesamtkonzeption des Baudelaire zu-
mende Verteidigung Benjamins verdient jedoch noch grundeliegt, nachzuvollziehen (vgl. Menninghaus
eine weitere Präzisierung, insofern auch die Anwälte 1980; Witte 1988, 32-41). Diese waren jedoch notge-
Benjamins alles andere als geschlossen argumentieren drungen auf die Deutung der Konspekte, Notizen und
und teilweise durchaus widersprüchliche Argumente brieflichen Äußerungen beschränkt. Mit der Auswer-
anführen, um auf Adornos Kritik zu antworten (vgl. tung der Pariser Funde beginnt nun eine zweite Phase
Michael W. Jennings 1987, 30-43; Witte 1988, 32-33; der Rekonstruktion. Philologisch und textgenetisch
Witte 1994, 124; Garher 1992,55-58,74, 124; Arendt gestützt durch die Untersuchung des handschriftlichen
1971, 18-24; Nägele 1992, 80). Materials (vgl. Espagne/Werner 1984,1986 und 1987),
Adornos eigene Position in bezug auf Benjamins versuchen zahlreiche Arbeiten, das konstruktive Prin-
Verfahren war jedoch selbst von Anfang an wider- zip der unvollendet gebliebenen Teile zu Baudelaire
sprüchlich. So hat er einerseits die unzureichende herauszuarbeiten bzw. den Benjaminsehen Arbeitspro-
Dialektisierung und theoretische Einbindung der ma- zeß nachzuvollziehen (Buck-Morss 1991; Weidmann
teriellen Einzeldaten beanstandet, jedoch nichtsdesto- 1992) oder »das disparate Material des Baudelaire-
Das Baudelaire-Buch 571

Fragments gedanklich zu synthetisieren<< (Garloff Entwicklung zeugt, wie die Baudelairesche)<< (V, 399).
2003, 154-254, hier: 156). Diese Zweideutigkeit Baudelaires ist es jedoch gerade,
die eine Möglichkeit der Rettung in sich birgt. Zwar
verfügt Baudetaire nicht über das luzide Verständnis
Inhaltliche Hauptlinien, Thesen - "Das Paris der politischen Lage, wie es ein Konspirateur vom
des Second Empirecc bei Baudelaire Schlage Blanquis besitzt, doch gibt er ihr durch sein
ambivalentes Verhalten als Zeuge Ausdruck. Durch
Ausgehend von Marx' überlegungen zur Pariser diese, vor allem gegen Brecht gewandte >>epistemolo-
Boheme im nachrevolutionären Frankreich unter Na- gische List<< (Fietkau 1978, 225), mittels deren der
poleon III. wird das erste Kapitel des Aufsatzes mit mangelnden politischen Einsicht Baudelaires ein auf
einem Vergleich zwischen den konspirativen Gepflo- Rettung zielender Zeugnischarakter zuerkannt wird,
genheiten der proletarischen Verschwörer und Baude- führt Benjamin die Duplizität des Lyrikers mit den
laires ästhetischer und politischer Haltung eröffnet. Strategien des politischen Verschwörers Blanqui eng
Nicht nur der doppelgesichtige Satanismus der Bau- (zur Bedeutung Blanquis für Benjamin vgl. I, 1071;
deiaireschen Lyrik, sondern auch die abgründige Zwei- Abensour 1986, 219-247). Er eröffnet so eine Konstel-
deutigkeit seiner politischen oder theoretischen Äu- lation zwischen Dichtung und Revolution, die als
ßerungen rechtfertigen für Benjamin die Einordnung Klammer den gesamten Aufsatz urnfaßt. Blanqui und
Baudelaires ins soziale Milieu der konspirativen Baudelaire erscheinen als die >>ineinander verschlun-
Boheme. Mit Bezug auf verschiedene kunst-und lite- genen Hände auf einem Stein, unter dem Napoleon
raturkritische Schriften wie den Salon von 1846 und III. die Hoffnungen der Junikämpfer begraben hat[]<<
die Aufsätze zu Pierre Dupont, in denen unvermittelt (I, 604). Gerechtfertigt wird die geschwisterliche Dar-
radikal gegensätzliche Positionen zur Frage der mora- stellung von politischer Tat und lyrischem Traum
lischen Nützlichkeit der Kunst und der Ideologie des durch die beiden gemeinsamen konspirativen Gepflo-
1'art pour 1'arteingenommen werden, versucht Benja- genheiten. >>überraschende Proklamationen und Ge-
min, die ästhetische Widersprüchlichkeit Baudelaires heimniskrämerei, sprunghafte Ausfälle und undurch-
zu belegen. Auch Baudelaires politisch hochgradig dringliche Ironie<< charakterisieren Baudelaires theo-
ambivalente Haltung, die sich in einer Revolte äußert, retische Aussagen, in denen der Dichter >>seine
deren »verbissene Wut-la rogne<< (I, 516) in ihrer Ansichten meist apodiktisch<< (I, 514) vorträgt. Die
provozierenden Destruktivität nicht nur revolutionäre, >>Geheimniskrämerei<< der Konspirateure von Schlage
sondern auch reaktionäre Züge besitzt, wird durch eines Blanqui und Baudelaires putschistische >>Rätsel-
Selbstaussagen und Briefe verdeutlicht. Benjamins kram<<-Taktik (519), die vor allem in seiner Handha-
Urteil zu Baudelaires politisch doppeldeutiger Position bung der Allegorie durchschlägt, gründen in der glei-
ist denn auch ohne Appell: >>Die politischen Einsichten chen, von Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis
Baudelaires gehen grundsätzlich nicht über die dieser Bonaparte beschriebenen Verlumpung der politischen
Berufsverschwörer hinaus. Ob er seine Sympathien Sitten und Werte, die das Second Empire charakteri-
dem klerikalen Rückschritt zuwendet oder sie dem siert. Verkörperung dieser Gesellschaft, deren politi-
Aufstand von 48 schenkt- ihr Ausdruck bleibt unver- sehe Regressivität mit einer rasanten wirtschaftlichen
mittelt und ihr Fundament brüchig<< (515). Entschei- Entwicklung einhergeht, ist der Lumpensammler, der
dend ist in diesem Zusammenhang, daß Benjamin zusammen mit dem Flaneur und dem Spieler zu jenen
gerade nicht versucht, die ästhetische und politische schillernden Erscheinungen gehört, die das Resultat
Widersprüchlichkeit Baudelaires als durch das Schei- einer ökonomischen Realität sind, gleichzeitig jedoch
tern der republikanischen Hoffnungen bedingte Ent- als literarische Figur ins Imaginäre der Epoche Eingang
wicklung zu deuten, wie dies in der engagierten und gefunden haben. Benjamin führt das Verhalten des
sich Benjamin verpflichtet fühlenden Baudelairefor- Chiffonnier, der >>die Abfälle des vergangenen Tages in
schung der 70er Jahre, die bestrebt ist, den Dichter für der Hauptstadt<< (582) aufsammelt, um sie zu registrie-
eine progressive politische Position zu retten, gemein- ren und zu verwerten, als >>ausgedehnte Metapher für
hin der Fall ist (Sahlberg 1974; Stenzel1977; Oehler das Verfahren des Dichters nach dem Herzen von Bau-
1979. Zur kritischen Aufarbeitung vgl. Mettier 1988, delaire<< (583) an. Identifikationsfigur für den der
305-309). >>Es wäre ein großer Irrtum, in den kunst- Boheme zugehörigen Dichter und beliebtes Motiv der
theoretischen Positionen Baudelaires nach 1852, die sozialen Dichtung, erlaubt er Benjamin im Zuge seiner
sich von denen um 1848 so sehr unterscheiden, den Argumentation, den grundlegenden Unterschied zwi-
Niederschlag einer Entwicklung zu sehen. (Es gibt we- schen der erbaulichen Soziallyrik eines Sainte-Beuve
nige Künstler, deren Produktion so wenig von einer und Baudelaires Zweideutigkeit und blasphemischem
572 Dichtungsanalyse und Autorbild

Satanismus geprägten Gedichten zu unterstreichen. trollierbaren Realität der modernen Metropole stärker
Diese Duplizität erweist sich als strategische Notwen- Rechnung trägt, als die verharmlosenden Physiologien.
digkeit für Baudelaire, der sich inmitten eines literari- Es handelt sich um die Detektivgeschichte, die, an
schen Betriebs behaupten muß, dessen Entwicklung Cooper anknüpfend, die Großstadt als bedrohliche
immer mehr von den Gesetzen der »merkantile[n] Abenteuerwelt darstellt, in der sich der Bewohner un-
Verwertbarkeit<< (529) bestimmt wird. Das Kapitel zur zähligen Gefahren ausgesetzt sieht. Während die Phy-
Boheme mündet in eine sozialgeschichtliche Analyse siologien das bedrohliche Moment der anonymer
des literarischen Marktes im Second Empire, der durch werdenden Großstadt entschärfen, machen die Detek-
die Einführung des Feuilletons einschneidende Verän- tivgeschichten gerade die >>Verwischung der Spuren
derungen erfährt (vgl. Köhn 1989, 17-73). Die Schaf- des Einzelnen in der Großstadtmenge« (546) zu ihrem
fung eines neuen Absatzmarktes und die Notwendig- Thema. Die Unterscheidung zwischen beiden Gattun-
keit, diesen durch kurzgehaltene Informationen, deren gen ermöglicht es Benjamin, einen Zusammenhang
einziges Kriterium der Reiz des Neuen ist, zu befriedi- zwischen der Detektivgeschichte, die >>einen Teil der
gen, drängt den Dichter immer mehr in die Rolle des Analyse von Baudelaires eigenem Werk« ausmacht
Feuilletonisten. Für Baudelaire, der Mühe hatte, sich (545), und den Pieurs du Mal herzustellen. Beide tra-
und seine Manuskripte im literarischen Betrieb zu gen der Erfahrung der großstädtischen Wirklichkeit,
plazieren, bleibt, wie Benjamin am einleitenden Ge- die ihre Bewohner einer Vielzahl visueller und hapti-
ständnis >>Au lecteur<< und verschiedenen anderen scher Schocks aussetzt und sie zur Herausbildung
Gedichten der Fleurs du Mal abliest, nur die Möglich- neuer >>Formen des Reagierens« (543) zwingt, Rech-
keit, sich wie der Flaneur auf den Markt zu begeben, nung. Die Erfahrung der Moderne, die auf der Isoliert-
um dort einen Käufer für seine Ware zu suchen. Die heit des Subjekts und der Akkumulation flüchtiger,
Überblendung von Literat und Flaneur, die beide ge- gleichförmiger und bewegter Eindrücke beruht, wird
zwungen sind, sich an den Markt zu verkaufen, bildet von Benjamin im PARIS DES SECOND EMPIRE BEI BAU-
die Überleitung zum zweiten Kapitel. DELAIRE weitgehend sozialgeschichtlich durch Verän-
derungen der städtischen Lebenswelt beschrieben. Die
zahlreichen Chocks, denen der Großstadtbewohner
Der Flaneur - Genealogie einer urbanen durch die Entwicklung eines reflektorischen Charak-
Figur ters begegnet, werden hier noch ganz konkret als Er-
fahrung der Menge, die dem Passanten Stöße versetzt,
Dem Flaneur, jener privilegierten Figur urbaner Per- beschrieben, bevor Benjamin in der überarbeiteten
zeption und Narration gewidmet, beginnen Benjamins Fassung des Aufsatzes seine lebensweltliche Analyse
Ausführungen mit gattungsgeschichtlichen überle- durch Freuds Theorie des Bewußtseins als Reizschutz
gungen zu den verschiedenen Genres der Großstadt- theoretisch fundiert. Von Benjamin als Kristallisation
literatur, die in je unterschiedlicher Weise auf die ur- der Moderne gedeutet, wird die Herausbildung der
bane Entwicklung und die damit einhergehenden urbanen Kontingenzerfahrung an den drei Stationen
Veränderungen der Wahrnehmung reagieren. Benja- London, Paris und Berlin exemplifiziert. Die histori-
min analysiert zunächst das Genre der literarischen sche Ungleichzeitigkeit der drei Städte, die mit der
Stadtanthologien, der physiologies, die es sich in der unterschiedlich weit vorangeschrittenen Industriali-
Tradition der Tableaux de Paris eines Louis-Sebastien sierung und Technisierung zusammenhängt, belegt
Mercier zur Aufgabe gemacht haben, die Großstadt Benjamin durch den Rekurs auf die beiden Extreme
und ihre Bewohner durch typologische Portraits und E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe, zwischen denen der
Anekdoten darzustellen. Die kleinbürgerliche »Bon- Pariser Flaneur, der sich noch >>gegen die Arbeitstei-
homie<< (I, 539) dieser Gattung verharmlost und kom- lung« und die »Betriebsamkeit« (556) der Großstadt
pensiert, so Benjamin, die immer undurchschaubarer zur Wehr setzt, eine mittlere Position einnimmt (vgl.
und bedrohlicher werdende Realität der Großstadter- 550-557 und 627f.). Ausgehend von Poes >>Mann der
fahrung, die mit ihrer visuellen Reizüberflutung für Menge« analysiert Benjamin die für die großstädtische
eine dauernde sinnliche Überforderung sorgt. Indem Wahrnehmung konstitutive Erfahrung der Masse und
sie alle beunruhigenden Aspekte des städtischen Le- ihre narrative und ästhetische Darstellung. Die hoff-
bens ausblenden, weben sie >>auf ihre Art an der Phan- nungslose Gleichförmigkeit der Londoner Menge,
tasmagorie<< (541) der Pariser Moderne, an der auch deren entmenschtes Treiben durch eine >>Mimesis der
der Flaneur partizipiert. >fieberhaften ... Bewegung der materiellen Produk-
Benjamin wendet sich nun einer zweiten urbanen tion«< (556) verstärkt wird, stellt den Kulminations-
Gattung zu, die der immer weniger faßbaren und kon- punkt einer industriellen und urbanistischen Entwick-
Das Baudelaire-Buch 573

lung dar, an dem gemessen Baudelaires Paris noch Leitbild des modernen Heros, der im Gefecht die Stöße
>>einige Züge aus guter alter Zeit<< (627) wahrt. Doch der Menge pariert und dessen Finten Baudelaire in
die Versuche des Pariser Flaneurs, sich sein Tempo von seiner Lyrik prosodisch nachbildet. Die Widmung an
Schildkröten, die er in den Passagen spazieren führt, Arsene Houssaye, die dem Spleen de Paris vorangestellt
vorschreiben zu lassen, sind auf Dauer zum Scheitern ist, formuliert das Ideal einer lyrischen Sprache, die
verurteilt. >>Nicht er behielt das letzte Wort, sondern eine der großstädtischen Dynamik gemäße Faktur be-
Taylor, der das >Nieder mit der Flanerie< zur Parole sitzt. >>Sie müßte musikalisch ohne Rhythmus und
machte<< (557). Noch ist jedoch Paris ein Schwellen- ohne Reim sein; sie müßte geschmeidig und spröd
raum, in dem sich moderne und vormoderne Züge genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele,
kreuzen; schon längst nicht mehr mit dem >>provinzi- den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks
ellen Deutschland<< (620) zu vergleichen, und doch des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal, das zu fixen
auch noch nicht völlig dem barbarischen London an- Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz er-
geglichen, das ganz nach dem frenetischen Rhythmus greifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht
industrieller Produktion lebt. Die Zwitterstellung der ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehun-
französischen Hauptstadt erklärt auch, warum die Fi- gen zuhause ist<< (571 f.; Baudelaire 1975, 275f.). Die
gur des Flaneurs bei Benjamin immer wieder zu chan- Engführung zwischen dem Bild der >fantasque
gieren scheint. Ihre Ambivalenz ist in der Forschung escrime<, das die Chocks der modernen Großstadt in
mehrfach kommentiert worden (zur Skizzierung der die Textur der lyrischen Sprache einträgt, und Baude-
von kulturkonservativen Zügen nicht immer ganz laires prosodischem Ideal in der Houssaye-Widmung
freien Verfallsgeschichte des Flaneurs vgl. Weidmann gibt einen Hinweis darauf, wie Benjamin sich die Ant-
1992, 85-87; Lindner 1986, 13-25; Bohrer 1996, 101- wort auf die zentrale poetologische Problematik der
105; WeHmann 1991, 161-165). Benjamins uneinheit- Baudelaire-Studien vorstellt: >>Die Frage meldet sich
liche Bewertung des Flaneurs verstärkt dabei eine an, wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert
Mehrdeutigkeit der Figur, die ihr gattungsgeschichtlich sein könnte, der das Chockerlebnis zur Norm gewor-
ohnehin schon eignet (zur Etymologie des Begriffs vgl. den ist<< (614). Während Benjamin in ÜBER EINIGE
Parkhurst Ferguson 1994, 240; zur literaturgeschieht- MoTivE BEI BAUDELAIRE diese Fragestellung mit Be-
liehen Entwicklung vgl. Neumeyer 2001; WeHmann zug auf Freuds Überlegungen zum Reizschutz und
1991, 152-197; Parkhurst Ferguson 1994; Köhn 1989, Prousts Theorie des Gedächtnisses theoretisch begrün-
17-67). Ganz offensichtlich gilt jedoch Benjamins In- det und seine Theorie der Moderne über den Zusam-
teresse >>weniger der geschichtlichen Erscheinung des menhang zwischen Chock, Strukturwandel der Erfah-
großstädtischen Spaziergängers, als vielmehr der hi- rung und Auraverlust entfaltet, privilegiert der erste
storisch-aporetischen Verlaufsform der literarischen Aufsatz eine stärker motivisch ausgerichtete Antwort,
Figur: ihrem Verschwinden am Ende des 19. Jahrhun- die aus der vielfältigen Figur des modernen Heros die
derts<< (Wellmann 1991, 153). Seine Analyse zielt vor Quintessenz der Moderne herauskristallisiert. Benja-
allem auf das notwendige Ende einer künstlerischen min untersucht also die Personifikationen des Helden
Praxis, die unter den Vorzeichen von Vermarktung, in ihren changierenden Ausprägungen, die alle >>eine
industrieller Produktion und feuilletonistischer Kurz- ganz bestimmte geschichtliche Signatur tragen<< (600 ),
lebigkeit den flanierenden Literaten zum sich und die der Moderne. Er entziffert sie im Selbstmörder,
seine Arbeitskraft anpreisenden Journalisten macht. welcher der Moderne die Stirn bietet, im Verbrecher,
In dem Moment, in dem die Passage, die den natürli- der den Contract social mit der Gesellschaft aufkündigt
chen Lebens- und Spazierraum des Flaneurs bildet, und im Lumpensammler, der dem Kehricht der großen
verschwindet und durch ihre >Verfallsform<, das Wa- Stadt zu ihrem Recht verhilft. Er findet sie in der Les-
renhaus, ersetzt wird, zeigt sich die Analogie zwischen bierin, die sich der ihr zugewiesenen Mutterrolle in
Ware und Flaneur in aller Deutlichkeit. Das Warenhaus der Produktivgesellschaft verweigert und so den >>Pro-
erweist sich als >>der letzte Strich des Flaneurs<< (I, test der >Moderne< gegen die technische Entwicklung<<
557). (667) darstellt, im Dandy, dessen Physiognomie den
ennui zur Schau stellt und vor allem paradigmatisch
verkörpert in der Person des Dichters Baudelaire. >>Die
Die Moderne - Ein heroisches Ideal Quellen, aus denen die heroische Haltung von Baude-
laire sich speist, brechen aus den tiefsten Fundamenten
Die Luzidität im Angesicht des Unausweichlichen- der der gesellschaftlichen Ordnung hervor [... ].Diese Ver-
Mut, aus >>der Not eine Tugend<< zu machen (I, 573) änderungen bestanden darin, daß am Kunstwerk die
- charakterisiert das im dritten Kapitel entwickelte Warenform, an seinem Publikum die Massenform un-
574 Dichtungsanalyse und Autorbild

mittelbarer und vehementer als jemals vordem zum und Nouveautes, die von vornherein schon dem Veral-
Ausdruck kam<< (676). Der heroische Zug des moder- ten preisgegeben sind. Benjamin untersucht anschlie-
nen Dichters besteht also darin, daß er sich den Um- ßend die für den Allegorikerkennzeichnende >>Sprach-
brüchen und Veränderungen in Wahrnehmung und geberde« (603) Baudelaires. Als erste Gedichtsamm-
Produktion stellt, ja sie sogar forciert, statt ihnen z. B. lung verwerten die Pieurs du Mal >>Worte nicht allein
durch den Rückzug auf eine Ideologie des l'art pour prosaischer Provenienz sondern städtischer<< (ebd.)
l'art auszuweichen. und bestimmen diese >handstreichartig< zum allegori-
In seinem Brief an Horkheimer, der eine erste Glie- schen Gebrauch. Hier nun schließt sich die Parenthese,
derung und ein kurzes expose liefert, skizziert Benja- mit der Benjamin den Aufsatz eröffnete. Wie zu Beginn
min Baudelaires paradigmatische Rolle in diesem spiegelt sich in der Person Baudelaires, dessen Technik
Zusammenhang: >>Die einzigartige Bedeutung Baude- als >> putschistische<< (ebd.) bezeichnet wird, und der
laires besteht darin, als erster und am unbeirrbarsten daher dem konspirativen Milieu zugerechnet wird, das
die Produktivkraft des sich selbst entfremdeten Bild Blanquis. Die Tat des Konspirateurs erscheint als
Menschen im doppelten Sinne des Wortes dingfest >>Schwester von Baudelaires Traum<< (604).
gemacht- agnostiziert und durch die Verdinglichung
gesteigert- zu haben<< (1074). Wie kein anderer hat
Baudelaire es sich zur Aufgabe gemacht, >>der Moderne nÜber einige Motive bei Baudelaire«
Gestalt zu geben<< (584) und sie dadurch dereinst An-
tike werden zu lassen. In der>> Korrespondenz zwischen Nach der Ablehnung des ersten Baudelaire-Aufsatzes
Antike und Moderne<< besteht für Benjamin >>die ein- durch das Institut für Sozialforschung überarbeitet
zige konstruktive Geschichtskonzeption bei Baude- Benjamin den Text grundlegend. Er streicht in der
laire<< (678). Es ist die Stadt Paris, genauer gesagt, ihre zweiten Fassung eine ganze Reihe von Motiven, die
Hinfälligkeit, in der sich die wechselseitige Durchdrin- inhaltlich oder symbolisch für DAS PARIS DES SECOND
gung von Antike und Moderne am deutlichsten aus- EMPIRE BEI BAUDELAIRE, aber auch für das Passagen-
drückt. >>Worin zuletzt und am innigsten die Moderne Werk zentral waren. Die verbleibenden Themen
der Antike sich anverlobt, das ist die Hinfälligkeit. Pa- werden im Kontext einer Theorie der modernen Sub-
ris<< (586). Verstärkt wird das nagende Bewußtsein von jektivität gelesen, so daß die ursprünglich sozialhisto-
der Vergänglichkeit der Metropolen, das >>jeder dich- rische Dimension des Aufsatzes wahrnehmungspsy-
terischen Evokation von Paris bei Baudelaire zugrunde chologisch perspektiviert und an eine Reflexion über
liegt<< (1139), durch die Ende der 50er Jahre unter dem den Strukturwandel der Erfahrung gebunden wird. In
Baron Haussmann einsetzenden Bauvorhaben. Die der überarbeiteten Baudelaire-Studie knüpft Benjamin
städtebaulichen Maßnahmen des kaiserlichen Präfek- an seine epistemologischen Überlegungen aus den
ten, die ebenso sehr eine Bereinigung und Sanierung 30er Jahren an und rekurriert auf Begriffe, die er im
des mittelalterlichen Paris, wie auch die Verhinderung Kontext seiner Arbeiten zu den Bedingungen künstle-
zukünftiger Barrikadenkämpfe zum Ziel hatten, präg- rischer Produktion (DAS KuNSTWERK IM ZEITALTER
ten das Imaginäre der Epoche aufs nachdrücklichste. SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT, 1936)
Für Benjamins Interpretation ist das Motiv der städ- und zur Verkümmerung der Erfahrung (ERFAHRUNG
tischen Hinfälligkeit jedoch vor allem bedeutsam, weil UND ARMUT, 1933; DER ERZÄHLER, 1936) entwickelt
>>die Form dieser Überblendung<< von Antike und Mo- hat. Diese um den Erfahrungswandel kreisende Be-
derne unverkennbar allegorisch ist (591). Benjamin grifflichkeit wird eingebunden in einen theoretischen
zielt darauf, Baudelaires seismographisches Bewußt- Zusammenhang, dessen drei Stränge die lebensphilo-
sein von der dem Untergang gewidmeten modernen sophischen überlegungen Henri Bergsans zur moder-
Stadt zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Re- nen Zeitlichkeit, Prousts Gedächtnistheorie und die
flexion über das Absterben der Dinge und Bedeutun- Freudschen Untersuchungen zur Funktion des Be-
gen in der industriellen Gesellschaft zu machen. wußtseins als Reizschutz sind. Der Aufsatz setzt ein mit
Anhand der Notizen aus dem ZENTRALPARK, ver- einem ersten Beleg für die irreversiblen Veränderun-
schiedener brieflicher Exposes und Konspekte läßt sich gen, die der Erfahrungsbegriff in der Mitte des 19. Jh.s
rekonstruieren, daß dieser allegorische Zusammen- durchläuft. Ausgehend von dem Befund, daß >>die Be-
hang über die >>Entwertung der menschlichen Umwelt dingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtung un-
durch die Warenwirtschaft<< ( 1151) herzustellen ist. günstiger geworden sind<< (I, 607), beschreibt Benja-
Deren Funktionieren beruht auf der >>Antinomie zwi- min den für die Moderne prototypischen zerstreuten
schen dem Neuen und Immergleichen<< (1083), der Leser, dessen begrenzte Willenskraft und Aufmerksam-
frenetischen Hervorbringung immer neuer Moden keit ihn zu einem undankbaren Publikum für den
Das Baudelaire-Buch 575

Dichter machen. Zwei Feststellungen ergeben sich für Gedächtnis und Erfahrung, den sich Benjamin für
Benjamin aus dieser historischen Situation. Zunächst seine Reflexion produktiv zu eigen macht. >>Sein Titel
konstatiert er, daß Baudelaire sich keineswegs von die- zeigt an, daß es die Struktur des Gedächtnisses als ent-
sen neuen, >> ungeneigtesten Lesern<< (608) distanziert, scheidend für die philosophische der Erfahrung an-
sondern gerade sie im Einleitungsgedicht zum Adres- sieht<< (608; zu Benjamins Bergsonlektüre vgl. Weber
saten der Pieurs du Mal macht. In einem zweiten 2000, 237-240; Münster 1992, 1135-1139; Makropou-
Schritt formuliert Benjamin eine mögliche Erklärung los 1989, 63-73). Benjamin stimmt dieser grundlegen-
für die auf größere Widerstände stoßende Rezeption den Rückbindung der Erfahrung an die Erinnerung,
lyrischer Dichtung. Es liege nahe, >>sich vorzustellen, die seine Thesen aus dem ERZÄHLER-Aufsatz bestätigt,
daß die lyrische Poesie nur noch ausnahmsweise den zu. >>In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradi-
Kontakt mit der Erfahrung der Leser wahrt. Das könnte tion, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet
sein, weil sich deren Erfahrung in ihrer Struktur ver- sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng
ändert hat<< (608). Diese Arbeitshypothese versucht fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht
Benjamin nun in verschiedenen Bereichen zu bele- bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenflie-
gen. ßen<< (608). Seine Kritik an Bergsons lebensphiloso-
phischer Gedächtnistheorie setzt jedoch an der man-
gelnden historischen Verortung derselben an. >>Das
Die Lebensphilosophie - zwischen Rettung Gedächtnis geschichtlich zu spezifizieren, ist freilich
und Reaktion Bergsons Absicht in keiner Weise. Jedwede geschicht-
liche Determinierung der Erfahrung weist er vielmehr
Als Indiz für ihre Richtigkeit fuhrt er das Aufkommen zurück<< (608f.). Bergsons Weigerung, seinen Erfah-
der Lebensphilosophie und ihrer kulturkonservativen rungsbegriff anders als a-historisch zu entfalten, wird
Bemühungen um die Rehabilitierung einer authenti- von Benjamin als Negation genau der geschichtlichen
schen, von den Einflüssen der industriellen Gesell- Matrix gesehen, die ihn zuallererst hervorgebracht hat.
schaft unberührten Erfahrung an. >>Seit dem Ausgang >>Er meidet damit vor allem und wesentlich, derjenigen
des vorigen Jahrhunderts stellte sie eine Reihe von Erfahrung näherzutreten, aus der seine eigene Philo-
Versuchen an, der >wahren< Erfahrung im Gegensatze sophie entstanden ist oder vielmehr gegen die sie ent-
zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, welche sich boten wurde. Es ist die unwirtliche, blendende der
im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Epoche der großen Industrie. Dem Auge, das sich vor
Massen niederschlägt<< (I, 608). Benjamin bewertet die dieser Erfahrung schließt, stellt sich eine Erfahrung
Lebensphilosophie und ihr auf Bewahrung einer tra- komplementärer Art als deren gleichsam spontanes
ditionellen Zeitlichkeit zielendes Projekt, dessen Ent- Nachbild ein. Bergsons Philosophie ist ein Versuch,
wicklung er bei Dilthey einsetzen und über Klages und dieses Nachbild zu detaillieren und festzuhalten<<
Jung im Faschismus enden sieht, kritisch. Seine Posi- (609).
tion läßt sich vor allem daran ablesen, daß er im fol-
genden den zentralen Begriff der Lebensphilosophie,
das Erlebnis, umdeutet und als defiziente Erfahrungs- Proust - Die Partikularisierung
modalität definiert. (Zur Begriffsgeschichte von >Er- der Erinnerung
lebnis< und >Erfahrung< vgl. Weidmann 1992, 67f.).
Während das Erlebnis in der Tradition Diltheys eine Benjamin setzt seine zugleich produktive wie kritische
ganzheitliche und unmittelbare Form der Erfahrung Lektüre der Bergsonschen Lebensphilosophie mit der
beschreibt, die eine kompensatorische Rückzugsmög- Einführung eines weiteren gedanklichen Bezugspunk-
lichkeit angesichts der zerfallenden Zeiterfahrung der tes in Form der Proustschen Gedächtnistheorie fort.
Moderne bietet, wertet Benjamin diesen Begriff als Ausgehend von der relativ apodiktisch formulierten
mechanischen Vorfall ab und stellt ihn der >>Erfahrung These, daß >>einzig der Dichter[ ... ] das adäquate Sub-
im strikten Sinn<< (I, 611) gegenüber. jekt<< einer über den Begriff der Dauer konstituierten
Benjamins Rekurs auf die Lebensphilosophie ist Erfahrung sein kann, fuhrt er Prousts A la Recherche
doppelt motiviert. Zum einen sieht er im Versuch der du temps perdu als Versuch ein, >>die Erfahrung, wie
Lebensphilosophie, die leere Zeit der Moderne durch Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaft-
den Rückzug auf traditionelle Ideen wie Dauer und liehen Bedingungen auf synthetischem Wege herzu-
Tradition zu negieren, ein Modernitätssymptom. Dar- stellen<< (I, 609).
über hinaus exponiert Bergson in seinem Frühwerk Benjamins kompliziertes argumentatives Verfahren,
Matiere et memoire einen Zusammenhang zwischen das über Prousts lebensphilosophische Anleihen zu
576 Dichtungsanalyse und Autorbild

einer weiteren kritischen Distanzierung von Bergsen Subjekts und die >>Verminderung<< (ebd.) der Erfah-
führt, ohne dessen wichtigstes Anliegen, die Rettung rung führt Benjamin u. a. Veränderungen im Bereich
einer >wahren< Erfahrung, vollständig für sich aufzu- der Presse und Informationsvermittlung an, die zur
geben, ist der Versuch, der Unmöglichkeit intentiona- Folge haben, daß die Ereignisse systematisch als zu-
ler und natürlicher Herstellung wahrer Erfahrung zu sammenhanglose und gegen die Lebenswirklichkeit
begegnen. Zu diesem Zweck macht er sich Prousts des Lesers abgedichtete vermittelt werden. Schon im
>>immanente Kritik<< ( ebd.) an Matiere et memoire, die ersten Baudelaire-Aufsatz hatte Benjamin die Entwick-
in einer Zurückweisung des willentlichen Zugriffs auf lung des literarisch-journalistischen Marktes und ihre
Erinnerung und der begrifflichen Umformulierung Auswirkungen untersucht. Die überarbeitete Fassung
der Bergsansehen memoirepure zur memoire involon- deutet nun die sozialhistorischen Phänomene vor dem
taire mündet, zu eigen. Mit Proust stellt Benjamin die Hintergrund der im Erzähler-Aufsatz entwickelten
der memoire involontaire entspringende >>Erfahrung Überlegungen zur Verkümmerung narrativ mitteilba-
im strikten Sinn<< (611) der memoire volontaire und ren Wissens (vgl. Makropoulos 1989; Honold 2000,
ihrem rein informativen, doch notwendig verarmten 363-398). Wie Benjamin dort ausführt, vermindern
Gehalt gegenüber. Eine Notiz aus dem Passagen-Werk die >>säkulare[n] geschichtliche[n] Produktivkräfte<<
präzisiert diesen Gegensatz. >>Die memoire volontaire (II, 442) das >>Vermögen, Erfahrungen auszutauschen<<
ist dagegen eine Registratur, die den Gegenstand mit (439), auf dem die Erzählung als traditionelle Form
einer Ordnungsnummer versieht, hinter der er ver- der Mitteilung beruht, und lassen die Sensation an die
schwindet. >Da wären wir nun gewesen.< (>Es war mir Stelle der Tradition treten. Prousts Recherche erscheint
ein Erlebnis.<)<< (V, 280). Die Notiz verweist auf eine somit als ein letzter Versuch, mit Hilfe der memoire
Jugendanekdote, die Benjamin in einem Brief an involontaire die Praxis des Erzählens für eine Epoche
Adorno erwähnt, um die Grundlagen seiner Theorie zu retten, in der letztere eigentlich längst zum Ana-
der Erfahrung, die zugleich eine des Vergessens ist, chronismus geworden ist. Das restaurative Moment
deutlich zu machen: >>Wenn wir [... ] irgendeines der der Proustschen Gedächtnistheorie, dessen zentraler
obligaten Ausflugsziele besucht hatten, so pflegte mein Begriff zum >>Inventar der vielfältig isolierten Privat-
Bruder zu sagen: >Da wären wir nun gewesen.< Das person<< gehört und >>die Spuren der Situation, aus der
Wort hat sich mir unvergeßlich eingeprägt<< (I, 1133). heraus er gebildet wurde<< (I, 611), trägt, wird von Ben-
Die Reaktion des Bruders macht deutlich, daß das ab- jamin nicht weniger als Symptom gewertet, als das
gehakte Erlebnis eine mechanische Erinnerung hin- Bergsousehe Nachbild: »Proust konnte als ein beispiel-
terläßt, die mehr dem >gehabt haben< gilt, als dem ei- loses Phänomen nur in einer Generation auftreten, die
gentlichen Erinnerungsobjekt. Demgegenüber steht alle leiblich-natürlichen Behelfe des Eingedenkens
das >ungewollte< Denken, so Benjamins Übersetzung verloren hatte<< (V, 490). Demgegenüber treten bei
des Proustschen Begriffs der memoire involontaire, Benjamin für die >>Erfahrung im strikten Sinn<< im
nicht unter der Herrschaft des Gedächtnisses, sondern >>Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergan-
im Zeichen einer spontanen, nicht bewußt gesteuerten genheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion<<
Vergegenwärtigung. (Zu Adornos Vorschlag, diese (I, 611). Als Beispiel führt Benjamin die Sphäre der
Theorie um ein dialektisches Glied- das Vergessen- Feste und Kulte an, deren Rituale die Ausschließlich-
zu erweitern und Benjamins Entgegnung vgl. I, 1131 keit von willkürlichem und unwillkürlichem Einge-
und 1134; zu Benjamins Rekurs aufProust vgl. Müller denken aufheben. Neu eingeführt wird an dieser Stelle
Farguell 2001, 325-339; zum Begriff der Erinnerung der Begriff des Eingedenkens, der eine Möglichkeit der
bei Benjamin vgl. Schöttker 2000, 260-297). In bezug Aktualisierung von Vergangenheit anzeigt und die Ret-
auf die von Proust postulierte Zufälligkeit der memoire tung der Erfahrung erhoffen läßt. Benjamin analysiert
volontaire, von der abhängt, >>ob der einzelne von sich die Überwindung der Disjunktion von bewußter und
selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung unbewußter Erinnerung jedoch erst im 10. Kapitel
bemächtigen kann<< (I, 610), betont Benjamin, es habe des Aufsatzes weiter, wo er den Baudelaireschen Cor-
>>keineswegs etwas Selbstverständliches<< (ebd.), in die- respondance-Begriff in das Koordinatensystem Berg-
ser Sache dem Zufall anheimgegeben zu sein, und son-Proust einträgt.
insistiert auf dem historischen Index dieser Erfahrung:
>>Diesen ausweglos privaten Charakter haben die in-
neren Anliegen des Menschen nicht von Natur. Sie Freud - das Bewußtsein als Reizschutz
erhalten ihn erst, nachdem sich für die äußeren die
Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert Zunächst sucht Benjamin eine >>gehaltvollere[] Be-
zu werden<< (ebd.). Als Grund für die Vereinzelung des stimmung<< (I, 612) der von Proust in seiner Aneig-
Das Baudelaire-Buch 577

nung von Bergsans Gedächtnistheorie unternomme- genwiderspruchsfrei zu halten. Er schließt die Existenz
nen Unterscheidung zwischen bewußter und unbe- von Dauerspuren im System Wahrnehmung-Bewußt-
wußter Erinnerung. Zu diesem Zweck beruft er sich sein aus, denn >>sie würden die Eignung des Systems
in einer- wie er betont- heuristischen Lektüre Freuds zur Aufnahme neuer Erregungen sehr bald einschrän-
auf den im Dezember 1920 erschienenen Aufsatz Jen- ken, wenn sie immer bewußt blieben<< (Freud 1975,
seits des Lustprinzips, dessen spekulativen Charakter 235). Hinterließe der Erregungsvorgang eine Dauer-
Freud selbst schon hervorgehoben hatte (Freud 1975, spur im Bewußtsein, so wäre dieses innerhalb kürze-
234). Freuds Überlegungen zur Unvereinbarkeit von ster Zeit saturiert und nicht mehr in der Lage neue
Erinnerung und Bewußtsein führen die schon im frü- Erregungen aufzunehmen. Benjamin kondensiert nun
hen Entwurf einer Psychoanalyse (1885) skizzierten dieses Argument sowie die folgende physiologische
Hypothesen zur Einschreibung der Erregung im psy- Bezugnahme Freuds auf J. Breuers Überlegungen zur
chischen System fort und entwerfen >>vielleicht die Besetzungsenergie und spitzt sie auf den Begriff des
größte Annäherung an eine Freudsche Theorie des Reizschutzes zu, der ihm den Anschluß an seine eigene
Bewußtseins<< (Nägele 1998, 67; zu Benjamins Freud- Chocktheorie erlaubt. Das Bewußtsein habe >>als Reiz-
lektüre vgl. Raulet 1998, 115-129). Die zur zweiten schutz aufzutreten<< (I, 613), führt Benjamin aus und
Freudschen Topik gehörenden und vom Autor selbst zitiert den entsprechenden Freudschen Passus, unge-
als metapsychologisch bezeichneten Ausführungen, achtet der Tatsache, daß Freud den hypothetischen
die, wie Benjamin präzisiert, im Zusammenhang mit Gestus seiner Argumentation unterstrichen und seine
Freuds klinischer Arbeit an den Traumata der Kriegs- Bewußtseinstheorie spekulativ an einem >>undifferen-
und Unfallneurotiker entstanden sind, postulieren das zierten Bläschen reizbarer Substanz<< (Freud 1975, 236)
Entstehen des Bewußtseins >>>an der Stelle der Erinne- entwickelt hatte. >>Für den lebenden Organismus ist
rungsspur<<< (I, 612; Freud 1975, 235). Diese Mutma- der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufnahme als
ßung und ihre Weiterentwicklung durch Freuds Schü- die Reizaufnahme<< (613; Freud 1975, 237). Benjamin
ler Theodor Reik, der als Gedächtnisfunktion den setzt nun seine Überlegungen mit dem Satz fort, der,
>>Schutz der Eindrücke<< bestimmt und der destrukti- um mit Freud zu sprechen, den >Nabel< der Argumen-
ven Erinnerung gegenüberstellt (I, 612), macht Ben- tation ausmacht: >>Die Bedrohung durch diese Ener-
jamin zum Ausgangspunkt seiner Argumentation. gien ist die durch Chocks. Je geläufiger ihre Registrie-
Dabei macht er sich die psychoanalytische Grundan- rung dem Bewußtsein wird, desto weniger muß mit
nahme zu eigen,>>> Bewußtwerden und Hinterlassung einer traumatischen Wirkung dieser Chocks gerechnet
einer Gedächtnisspur<<< seien >>>für dasselbe System werden<< (ebd.). Auf den ersten Blick scheint sich diese
miteinander unverträglich<<< (ebd.; Freud 1975, 235). Annahme perfekt in Freuds von Benjamin auch zitierte
Freuds Annahme, Erinnerungsreste seien >>>oft am Überlegungen zur Entstehung der Traumata einzufü-
stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende gen, die >>das Wesen des traumatischen Chocks >aus
Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist<<< der Durchbrechung des Reizschutzes ... zu verstehen<<<
(612f.; Freud 1975, 235), wird von Benjamin in die sucht (ebd.). Wie Benjamin ganz richtig referiert, re-
Begrifflichkeit Prousts übertragen, derzufolge Be- sultiert die traumatische Erfahrung aus dem >>Fehlen
standteil der memoire involontaire nur werden kann, der Angstbereitschaft<< (ebd.; Freud 1975, 241). Fällt
>>was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist >er- das vorbereitende Moment der Angstbereitschaft weg,
lebt< worden, was dem Subjekt nicht als >Erlebnis< ist, laut Freud, das System Wahrnehmung-Bewußtsein
wiederfahren ist<< (613). Er gewinnt dadurch eine dop- nicht imstande, durch eine Überbesetzung >>die letzte
pelte Bestätigung seiner Beobachtung, daß das abge- Linie des Reizschutzes<< (Freud 1975, 241) zu verstär-
hakte Erlebnis, welches der Bruder in seinem Ausruf ken und die eindringende Erregungsmenge zu binden.
>Da wären wir nun gewesen< symptomatisch benannt Die Folge ist u. a. die zwanghafte Wiederholung des
hatte, keinerlei dauerhafte Spuren im Gedächtnis hin- traumatischen Ereignisses in Träumen, die >>die Reiz-
terläßt Kaum ausgesprochen und der Registratur des bewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen<<
Bewußtseins überantwortet, verliert das Erlebnis jeg- versuchen (ebd.; Freud 1975, 241). Bei genauerem
liche Bedeutung, da es- wie Freudesausdrückt- >>im Hinsehen erweist sich jedoch, daß Benjamin eine Reihe
>Phänomen des Bewußtwerdens verpufft<<< (612; Freud unorthodoxer Bedeutungsverschiebungen durchfüh-
1975, 235). ren muß, um die Freudschen Konzepte mit seiner ei-
Wie ist diese neutralisierende Funktion des Bewußt- genen Terminologie in Übereinstimmung zu bringen.
seins zu erklären? Freud argumentiert zunächst rein So behält z. B. Benjamin aus naheliegenden Gründen
ökonomisch, wobei er, getreu seiner spekulativen Aus- den Chockbegriff bei, obwohl Freud selbst zwischen
gangsposition, vor allem bestrebt ist, seine Überlegun- einer molekularen oder histologischen Schädigung
578 Dichtungsanalyse und Autorbild

durch mechanische Gewalteinwirkung, wie sie die tung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das
>>alte, naive Lehre vom Schock« (Freud 1975, 241) po- Chockerlebnis zur Norm geworden ist<< (ebd.).
stuliert, und einer psychoanalytischen Auffassung der Benjamins Antwort, daß eine solche Dichtung >>ein
Reizdurchbrechung, die mit der >>rohsten Form der hohes Maß von Bewußtheit erwarten lassen<< müßte
Schocktheorie nicht identisch<< (ebd.) ist, unterschei- (ebd.), eröffnet eine Perspektive, die in den folgenden
det. Als noch problematischer jedoch erweist sich die Kapiteln ausgeführt wird.
Frage, wie genau der Bezug zu klären ist zwischen ei- Vor allem aber analysiert er die schon im ersten Auf-
nerseits dem Normalfall der Reizaufuahme eines nicht satz interpretierte Anfangsstrophe aus Le soleil mit
geschädigten Bewußtseins, zum anderen der Krisensi- ihrer Beschreibung der fantasque escrimevor dem Hin-
tuation einer traumatischen Reizschutzdurchbre- tergrund von Baudelaires Aussagen zu Constantin
chung, die einen pathogenen Sonderfall darstellt, und Guys ekstatischer Chockparade (vgl. I, 616; vgl. I,
schließlich der von Benjamin postulierten moderne- 570 f.). Wie im PARIS DES SECOND EMPIRE leitet er
spezifischen Chockerfahrung als historisch indiziertem dann über zum >>innigen Zusammenhang, der bei Bau-
Dauerzustand. Benjamin versucht seinen Chockbegriff delaire zwischen der Figur des Chocks und der Berüh-
zunächst der normalen Reizbewältigung anzunähern, rung mit den großstädtischen Massen besteht<< (618)
die- wie er im Rekurs auf Freud referiert- durch ein und der sich seiner Prosodie einschreibt, ohne daß das
>>Training<< (I, 614) erleichtert wird und der>> Reizauf- Bild der Menge in den Gedichten der Pieurs du Mal
nahme die günstigsten Verhältnisse<< entgegenbringe auftaucht. Die Beobachtungen und körperlich-hapti-
(ebd.; Freud 1975, 236). Hieran knüpft er nun sein schen Erfahrungen, die Poes Mann der Menge und
eigenes Verständnis der Reizabwehr: >>Daß der Chock Baudelaires Flaneur Guys im großstädtischen >>Reser-
derart abgefangen, derart vom Bewußtsein pariert voir elektrischer Energie<< (630) machen, unterwerfen
werde, gäbe dem Vorfall, der ihn auslöst, den Charak- >>das menschliche Sensorium einem Training komple-
ter des Erlebnisses im prägnanten Sinne<< (ebd.). Zu xer Art<< (ebd.) und bilden die Voraussetzungen für
bemerken ist jedoch, daß aus Freudscher Sicht das den reflektorischen Charakter. Solchermaßen vorbe-
Parieren des Chocks gar nicht denkbar ist, da der reitet auf technische und apparative Entwicklungen
Chockbegriff notwendig das Durchbrechen der Reiz- wie den Film, in dem die >>chockförmige Wahrneh-
abwehr impliziert. Die gelungene Abwehr des Erre- mung als formales Prinzip zu Geltung<< kommt (631),
gungsvorganges durch das Bewußtsein fällt bei Freud ist das moderne Subjekt für die Nutzung im industri-
ganz einfach unter die alltägliche Reizaufnahme und ellen Produktionsprozeß prädestiniert. Als Arbeitskraft
-abfuhr. Indem Benjamin die gängige Reizabwehr zur am Fließband wird es zu einem integralen Bestandteil
Checkabwehr aufwertet, dramatisiert er das normale der Maschine und verinnerlicht ihren monotonen
Funktionieren des Bewußtseins in der Moderne und Rhythmus. Die entwürdigende >>Dressur des Arbeiters<<
verleiht ihm eine fast pathologische Dimension (zur (ebd.), dessen Tun völlig >>gegen Erfahrung abgedich-
Diskussion über die zu negative Darstellung der tet<< (632) ist und an dem die Übung, die im vorindu-
Moderne in ihrer lebensweltlichen und urbanen Aus- striellen Handwerk noch entscheidend die Arbeit de-
prägung vgl. Jauß 1970, 57-66; Menninghaus 1980, finierte, >>ihr Recht verloren<< hat (ebd.), macht ihn zu
261 f.). einem menschlichen Fortsatz der maschinellen Appa-
Nicht die Moderne als Krankheit ist jedoch der ratur. Die Monotonie seiner repetitiven Gesten ver-
Fluchtpunkt von Benjamins Argumentation, sondern deutlicht, daß, wie Marx formuliert, >>nicht der Arbei-
die Bedeutung der permanenten Reizeinwirkung, die ter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die
sie für das Bewußtsein des lyrischen Dichters hat. So Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet<< (631). In
mündet der Kommentar, in dem der abgefangene der Marxschen Analyse des kapitalistischen Arbeits-
Chock als Erlebnis definiert wurde, direkt in den poe- prozesses sieht Benjamin die Bestätigung seiner
tologischen Zusatz: >>Es würde diesen Vorfall (unmit- Gleichsetzung zwischen dem Chockerlebnis des Pas-
telbar der Registratur der bewußten Erinnerung ihn santen in der Menge, das diese zu Automaten dressiert,
einverleibend) für die dichterische Erfahrung sterili- und dem reflektorischen >>Mechanismus, den die Ma-
sieren<< (I, 614). Dem Erlebnis, das als genormter und schine am Arbeiter<< (632) in Bewegung setzt. Beide
abrufbarer Vorfall im Bewußtsein abgelegt wird, ist wiederum weisen eine Gemeinsamkeit mit einem drit-
seine bedeutungsstiftende Qualität für die dichterische ten, die entleerte Zeitlichkeit der Moderne exemplifi-
Erfahrung abhanden gekommen. Und folgerichtig ist zierenden Phänomen auf, dem Hasardspiel. Auch hier
denn auch die zentrale, den Fluchtpunkt aller sozial- handelt es sich um eine Tätigkeit, die in ihrer unend-
historischer und epistemologischer Überlegungen lich wiederholbaren Struktur keinerlei Entwicklungs-
darstellende Frage für Benjamin: >>wie lyrische Dich- möglichkeit durch die Ablagerung von Erfahrung
Das Baudelaire-Buch 579

bietet. Statt die Vergangenheit mit einzubeziehen, ist Gerade weil Baudelaire voll ermessen konnte, >>Was der
im Glücksspiel jeder Zug immer wieder neu der erste Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als
- und zugleich unaufhörliche Repetition. Diese In- ein Moderner, Zeuge war<< (ebd.), und ihm das Wissen
haltsleere, die dem Takt des Sekundenzeigers folgend darum, daß der symbolische Rückzug in die Sphäre
sich in unendlichen Wiederholungen von Einzelmo- des Kultischen nicht dauerhaft gelingen kann, nicht
menten verdinglicht, lastet schwer auf der >>höllischen<< weniger Anlaß zu lyrischem Schaffen war, als sein re-
Zeit, >>in der sich die Existenz derer abspielt, die nichts, staurativer Wille, kommt den Fleurs du Mal ihre her-
was sie in Angriff genommen haben, vollenden dür- ausragende geschichtliche Bedeutung zu. >>Unverwech-
fen<< (635). selbar sind sie [... ] darin, daß sie der Unwirksamkeit
des gleichen Trostes, daß sie dem Versagen der gleichen
Inbrunst, daß sie dem Mißlingen des gleichen Werks
Correspondance und Eingedenken Gedichte abgewonnen haben, die hinter denen in
nichts zurückstehen, in denen die correspondances
Das 10. Kapitel entwickelt im Rekurs auf den Baude- ihre Feste feiern<< (641).
lairesehen Correspondance-Begriff eine Vorstellung
erfüllter Zeitlichkeit, die der höllischen Zeit der Mo-
derne entgegengesetzt wird. Dabei zeigt Benjamins Spleen und Aura
Argumentation deutlich, daß er sich die rettende In-
tention der Correspondances genauso zu eigen macht, Dem a-historischen Gelingen von bedeutsamem Ein-
wie das melancholische Wissen um ihr Scheitern, mit gedenken in den Korrespondenzen entspricht das ge-
dem der Aufsatz schließt. Die Interpretation der Cor- schichtlich indizierte Mißlingen der Erfahrung, das
respondances, die erst relativ spät erfolgt, ist, wie Beryl seinen Ausdruck im spleen findet. >>Das ideal spendet
Schloßmann zu Recht bemerkt, die >>strategische Kli- die Kraft des Eingedenkens; der spleen bietet den
max<< (Schloßmann 1992, 550) des Textes. Entschei- Schwarm der Sekunden dagegen auf<< (I, 641). Die
dend ist für Benjamin die besondere Zeitlichkeit der temporale Wahrnehmung im spleenist eine doppelte.
Correspondances, die er außerhalb der geschichtlichen Indem sie das moderne Subjekt einer unendlichen
Zeit verortet. >>Die correspondances sind die Data des Folge isolierter zeitlicher Momente aussetzt, fuhrt sie
Eingedenkens. Sie sind keine historischen, sondern zu einer Intensivierung des Zeitgefühls. >>Im spleen ist
Data der Vorgeschichte<< (I, 639 ). Diese Residuen einer die Zeitwahrnehmung übernatürlich geschärft; jede
idealen Zeit schlagen sich in jenen seltenen Tagen des Sekunde findet das Bewußtsein auf dem Plan, um ih-
Eingedenkens nieder, in denen die >>Begegnung mit ren Chock abzufangen<< (642). Diese ständige >Alarm-
einem früheren Leben<< (ebd.) spürbar wird, und die bereitschaft< des Bewußtseins macht auch verständlich,
Baudelairein >>La vie anterieure<< beschwört. Sie ragen warum der spieen das Gefühl ist, >>das der Katastrophe
aus der leeren, geschichtslosen Zeit der Moderne, die in Permanenz entspricht<< (660). Zugleich jedoch führt
in einer Aneinanderreihung isolierter Erlebnisse da- die unendliche Sektionierung der Zeit zu ihrer völligen
hinfließt, heraus und beinhalten einen Begriff der Nivellierung. >>Im spieen ist die Zeit verdinglicht; die
Erfahrung, >>der kultische Elemente in sich schließt<< Minuten decken den Menschen wie Flocken zu. Diese
(638). Zwar versucht Baudelairein der Rückbindung Zeit ist geschichtslos, wie die der memoire involon-
der Correspondances an den Bereich des Kultischen, taire<< (642). Als »mentaler Regulator<<, wie es in einer
die Erfahrung entgegen der zersetzenden Wirkung der von Benjamin zitierten Poe-Erzählung heißt, generiert
Moderne als>> krisensicher zu etablieren<< (ebd.), doch das Bewußtsein den >>leeren Zeitverlauf, dem das Sub-
kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich jekt im spleen ausgeliefert ist<< (ebd.). Die leere Zeit
dabei nur noch um den Nachklang eines vergangenen, fließt nicht einfach dahin, sie gerinnt und verdinglicht
brüchig gewordenen Erfahrungsmodus handelt. In sich, um so, zugleich schwerelos und bedrückend, auf
Benjamins Interpretation sind also auch die Korre- dem Menschen zu lasten. Diese doppelte Verfassung
spondenzen ein weiteres >Nachbild< einer verlorenen der Zeit ist es auch, die den Spleen zu einem integralen
Zeit und ihrer absoluten Präsenz, nicht anders als Bestandteil von Benjamins Theorie der Melancholie
Bergsons Philosophie oder Prousts memoire involon- macht. Dem Subjekt der Moderne rinnt die Zeit un-
taire. Noch einmal beschwören sie das erfüllte Bild aufhaltsam aus den Händen. Sie läßt sich nicht still-
einer Erfahrung, in der individuelle und kollektive stellen im Moment bewußten Eingedenkens oder ab-
Erinnerung zusammenfallen, doch ihre resignative lagern, in der Hoffnung aufkumulative Erfahrung, die
Schönheit verdankt sich dem Bewußtsein, >>einem un- als Bedingung von Tradition fungiert. Kaum gelebt, ist
wiederbringlich Verlorenen gewidmet<< (ebd.) zu sein. der Augenblick auch schon wieder Vergangenheit,
580 Dichtungsanalyse und Autorbild

ohne je Gegenwart gewesen zu sein. >>Der spieen legt des auratischen Bildes. Genau diese für Ritual und Kult
Jahrhunderte zwischen den gegenwärtigen und den konstitutive Ferne sieht Benjamin nun durch die Tech-
eben gelebten Augenblick« ( 661; zu Benjamins Theo- nisierung und Medialisierung der Reproduktionstech-
rie der Melancholie vgl. Bock 2000, 161). niken vom Verschwinden bedroht. Die beliebige Ver-
Um sich nicht vom Monster des ennui verschlingen vielfältigung des Kunstwerks läßt den Begriff der Ein-
zu lassen, werden verschiedene Praktiken gegen den maligkeit oder Originalität genauso obsolet erscheinen
spieen aufgeboten: >>Hasardspiel, Flanieren, Sammeln<< wie seine noch aus der religiösen oder kultischen
(I, 668). Es handelt sich um einen Versuch, die leere Sphäre stammende Unnahbarkeit, die unter dem ope-
Zeit zu füllen und den Wegfall symbolischer Erfahrung rativen Zugriff moderner Apparaturen zertrümmert
zu kompensieren bzw. phantasmagorisch zu verschlei- wird. Benjamins Argumentation wendet sich dann
ern. Mit Hilfe der Phantasmagorien versucht das Sub- jedoch einem Spezifikum der früheren optischen Ap-
jekt, sich über die modernespezifischen Verluste- Ver- parate zu, vor deren Hintergrund ein charakteristisches
kümmerung der Erfahrung, Verlust der Tradition und Motiv der Baudelaireschen Dichtung eine ganz eigene
kultischer Momente, Zertrümmerung der Aura etc. - Bedeutung entfaltet: Es handelt sich um die Tatsache,
mit genuin modernen Verfahren, die jedoch auf die daß der durch die ausgiebige Belichtungszeit noch ver-
Restitution vormoderner Zustände zielen, hinwegzu- längerte Blick des Portraitierten in den Apparat vom
trösten. Benjamins Kommentar hierzu ist jedoch un- Objektiv nicht zurückgegeben wird. Wie Benjamin
widerruflich: >>Für den, der keine Erfahrungen mehr hervorhebt, wohnt dem Blick >>aber die Erwartung
machen kann, gibt es keinen Trost<< (642). Diese Trost- inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt.
losigkeit der Moderne ist den Pieurs du Mal mit gna- Wo diese Erwartung erwidert wird [... ] da fällt ihm die
denloser Klarheit eingeschrieben. Baudelaire verdankt Erfahrung der Aura in ihrer Fülle ZU<< (I, 646).
sie seinem Bewußtsein von der unwiderruflichen Zer- Die Betonung Benjamins liegt also auf dem Vermö-
trümmerung der Aura. >>Baudelaires spieen ist das gen der Blickerwiderung als konstitutives Merkmal
Leiden am Verfall der Aura<< (V, 433) formuliert Ben- amatischer Erfahrung. Bezeichnenderweise wird nun
jamin im Passagen-Werk und in ÜBER EINIGE MoTIVE dieses Vermögen in den Gedichten Baudelaires, dessen
BEI BAUDELAI RE leitet dieser Gedanke zum 11. Kapitel Lyrik >>im Verfall der Aura eins ihrer Hauptmotive<< hat
über den Verlust der Aura über: >>Mit Schrecken sieht ( 118 7), als Verlorenes beschrieben. Baudelaire evoziert
der Schwermütige die Erde in einen bloßen Naturzu- metallene, stumpfe, kristalline oder spiegelnde Augen,
stand zurückfallen. Kein Hauch von Vorgeschichte denen die Fähigkeit, den Blick aufzuschlagen und zu
umwittert sie. Keine Aura<< (I, 643 f.). erwidern, abhandengekommen ist und die so vom
Benjamin nimmt hier seine Überlegungen aus dem Verlust der Aura zeugen. Zwar betont Benjamin, daß
Kunstwerk-Aufsatz zur Entauratisierung in der Mo- Baudelaire die >>Chiffre<< der blicklosen Augen >>nicht
derne wieder auf, um sie aus einer deutlich skeptische- planmäßig eingesetzt hat<< (648), doch läßt er keinen
ren Perspektive zu beleuchten. Er führt den Begriff der Zweifel daran, daß an den Pieurs du Mal der Preis, >>um
Aura zunächst in Zusammenhang mit den bislang ent- welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die
wickelten Konzepten ein und definiert sie als die in der Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis<< (653),
memoire involontaire beheimateten Vorstellungen, die abzulesen ist. An dieser Stelle wird denn nun auch
sich, um den Gegenstand einer Anschauung gruppie- vollends klar, warum Baudelaire, >>der Verfasser dieser
ren (vgl. 644). Die Verortung in der memoire involon- Niederschriften<<, kein Flaneur sein kann, ist ihm doch
taire macht deutlich, daß die Aura nicht intentional >>der Schein einer in sich bewegten, in sich beseelten
abrufbar ist und sich auch nicht in einer bewußten Menge, in den der Flaneur vergafft war, ausgegangen<<
Bedeutungszuweisung erschöpft. Dieses Verständnis (652). Anders als der echte Flaneur, dem sich die Men-
der Aura wird im folgenden am Beispiel des Kunst- schenmenge wie ein Schleier verklärend über die un-
werks überprüft, dessen amatisehe Qualität gerade menschliche Realität der modernen Großstadt legt,
darin besteht, daß seine Betrachtung sich nicht auf entsagt Baudelaire jeglicher phantasmagorischer Ver-
seine Wahrnehmung oder Verfügbarmachung reduzie- söhnung. Der »christliche Baudelaire<<, der zu Beginn
ren läßt. Benjamin faßt diese Dimension der Aura in des Textes von >>lauter jüdischen Engeln<< in den Him-
einem Selbstzitat aus dem Kunstwerk-Aufsatz zusam- mel gehoben wird, so als sei eine Form messianischer
men, das sie als >>einmalige Erscheinung einer Ferne<< Erlösung durch das Eingedenken möglich, wird >>im
(647) begreift (zum Begriff der Aura vgl. Fürnkäs 2000, letzten Drittel der Himmelfahrt, kurz vor dem Eingang
95-146; Stoessel1983). Diese Bestimmung, die >>den in die Glorie, wie von ungefähr fallen<< gelassen (6, 317;
kultischen Charakter des Phänomens transparent<< (I, zur spezifisch jüdischen Dimension des Eingedenkens
647) macht, beruht wesentlich auf der Unnahbarkeit vgl. Münster 1992, 1140-1141).
Das Baudelaire-Buch 581

>>Zentralparkcc sen, findet Benjamin in der Baudelaireschen Lyrik


wieder, wenn auch in einer für die 2. Hälfte des 19. Jh.s
Die fragmentarischen Notizen aus ZENTRALPARK sind spezifischen Form. »Die allegorische Anschauungs-
in Zusammenhang mit der Arbeit an seinem ursprüng- weise ist immer auf einer entwerteten Erscheinungs-
lich geplanten Buch über Baudelaire entstanden. Teil- welt aufgebaut. Die spezifische Entwertung der Ding-
weise identisch mit dem Konvolut J des Passagen- welt, die in der Ware darliegt, ist das Fundament der
Werks und als Materialsammlung für den ersten und allegorischen Intention bei Baudelaire<< (1151). Und
dritten Teil des Baudelaire-Buches vorgesehen, enthal- nicht zuletzt ist es Baudelaires Bewußtsein von der
ten die ZENTRALPARK-Notate auch eine Reihe von aktuellen Krisensituation, deren ästhetische und poli-
Fragmenten, die in das PARIS DES SECOND EMPIRE BEI tische Umwälzungen eine der Frühen Neuzeit ver-
BAUDELAIRE Eingang gefunden haben. Bei den Frag- gleichbare Umbruchssituation schaffen, in der Benja-
menten handelt es sich teilweise um entscheidende, min den idealen Nährboden für eine moderne Aus-
auf Notizform konzentrierte Reflexionen Benjamins, prägung des destruktiven Charakters und seiner
oder auch um metatextuelle Überlegungen, an denen allegorischen Intention sieht.
die Strukturierungsarbeit sichtbar wird, die Benjamin Hervorzuheben ist jedoch, daß dieser Epochenbruch
dem Materialfundus aus dem Passagen-Baudelaire- und die damit einhergehende gesellschaftliche und
Komplex angedeihen läßt (vgl. Espagne 1996, 43-58). geistesgeschichtliche Instabilität von Benjamin aufs
Der Titel der Notizsammlung geht, laut Adorno, auf nachdrücklichste historisch präzisiert werden. Für das
Benjamin selbst zurück und verweist auf die zentrale Verständnis der allegorischen Form bei Benjamin ist
Bedeutung der Fragmente. Es handelt sich weiter um dies ein zentraler Aspekt: Trotz, bzw. gerade wegen
eine Anspielung auf Benjamins New Yorker Projekte, Benjamins Beschäftigung mit dem barocken Trauer-
zu denen die Anmietung einer Wohnung am Central- spiel, dessen privilegierte Ausdrucksform die Allegorie
Park gehörte. darstellt, handelt es sich bei seinem Interesse für die
Die ZENTRALPARK-Fragmente sind vor allem drei allegorische Betrachtungsweise bei Baudelaire nicht
Themen gewidmet: der Allegorie des 19. Jh.s in ihrem um eine simple Applikation eines feststehenden Kon-
Verhältnis zur Ware, der »charakterologischen<< Be- zeptes auf die Moderne des 19. Jh.s. Wie vielfach betont
stimmung des Allegorikers im spieen (vgl. Lindner wurde (Lindner 2000, 50-52; Menninghaus 1980,
2000,70-81, hier: 72) und der Frage der Sexualität mit 141-143; Steinhagen 1979, 666-685), entwickelt Ben-
ihren modernespezifischen Formen der Impotenz, der jamin seine Begriffe am historischen Gegenstand und
lesbischen Liebe und der Prostitution. in strenger Bezugnahme auf die werk- und entste-
Benjamin rekurriert in den Baudelaire-Studien auf hungsgeschichtlichen Hintergründe. Dazu gehört die
den Allegorie-Begriff, da er in den Pieurs du Mal eine Betonung darauf, daß die allegorische Anschauung im
Reihe von poetologischen und sozialgeschichtlichen 19. Jh. nicht mehr, wie im Barock, >>stilbildend<< (I,
Phänomenen sieht, deren Verbindung auf die >>allego- 690), und Baudelaire daher kunstgeschichtlich isoliert
rische Intention<< Baudelaires schließen lassen. Dazu war. Auch Benjamins Insistieren auf der Tatsache, daß
gehören die Fundierung seiner Lyrik in der Melancho- der Autor der Pieurs du Mal »keine Schule gehabt<<
lie, zu deren Beschreibung Benjamin auf ihr barockes habe (659) und seine allegorische Praxis als >»unzeit-
Verständnis zurückgreift. Die Einordnung Baudelaires gemäße< Verhaltungsweise<< (677) zu betrachten sei,
als Melancholiker hängt eng mit seiner Charakterisie- lassen klar erkennen, daß Benjamins Interpretation
rung als Grübler zusammen. Benjamin bestätigt dem der allegorischen Form in den Pieurs du Mal keinesfalls
Lyriker, ein »schlechter Philosoph, ein guter Theore- als Versuch zu werten ist, eine allgemeingültige Theo-
tiker, unvergleichlich aber [... ] allein als Grübler<< (I, rie der Allegorie für das 19. Jh. zu entwickeln. Vielmehr
669) gewesen, und so zum Allegoriker prädestiniert zu handelt es sich um die Analyse eines lyrischen Werks,
sein: »Der Grübler als geschichtlich bestimmter Typus das seismographisch künstlerische und sozialge-
des Denkers ist derjenige, der unter den Allegorien zu schichtliche Tendenzen der Epoche aufzeichnet und
Hause ist<< (ebd.). Auch das strukturelle Prinzip der auf singuläre Weise verarbeitet. Mehrere Notizen be-
barocken Allegorese, die in einer Doppelbewegung die nennen den konkreten ästhetischen und epistemolo-
Dinge aus ihrer natürlichen, kreatürlichen Bedeutung gischen Kontext, aus dem heraus die Baudelairesche
herausschält- »[d]as von der allegorischen Intention Allegorie entsteht. »Die Einführung der Allegorie ant-
Betroffene wird aus den Zusammenhängen des Lebens wortet auf ungleich bedeutungsvollere Art der gleichen
ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert Krise der Kunst, der um 1852 die Theorie des l'art pour
zugleich<< (666)- um ihnen als entwerteten, abgestor- l'art entgegenzutreten bestimmt war. Diese Krisis der
benen Gegenständen eine neue Bedeutung zuzuwei- Kunst hatte sowohl in der technischen wie in der po-
582 Dichtungsanalyse und Autorbild

litischen Situation ihre Gründe<< (I, 659, vgl. auch der Ware<< annimmt, zielt nun die Reklame darauf,
685). >>den Warencharakter der Dinge zu überblenden<< (I,
Die ZENTRALPARK-Fragmentezur Allegorie kreisen 671). Diese phantasmagorische Verklärung der Ware,
denn auch um die konkreten geschichtlichen Gründe die ihr den Anschein eines individuellen Wesens und
dieser Krise, in denen naturgemäß der entscheidende eines authentischen Wertes verleihen möchte, wird
Unterschied zur barocken Allegorie, zugleich aber auch zum Gegenstand von Baudelaires allegorischer Inten-
der eigentliche Grund für die Verwendung des Allego- tion. >>Der trügerischen Verklärung der Warenwelt
riebegriffs liegt. Sie beruht darauf, daß >> [d] ie Entwer- widersetzt sich ihre Entstellung ins Allegorische<<
tung der Dingwelt in der Allegorie [... ] innerhalb der (ebd.). Mehrfach hebt Benjamin die Versuche des Ly-
Dingwelt selbst durch die Ware überboten<< (660) wird. rikers hervor, den so harmonischen wie trügerischen
Die der Allegorese zugrundeliegende Dequalifizierung Schein der Dinge in Trümmer zu legen (vgl. I, 1138
der Gegenstände, durch die diese für den Allegoriker und 1144). Diese Notizen lassen erkennen, wie die
verwertbar werden, wird also in der hochkapitalisti- >>Auslöschung des Scheins<< (670) vonstattenzugehen
schen Industrie- und Konsumgesellschaft noch über- hat: >>Majestät der allegorischen Intention: Zerstörung
schritten. Dabei haben wir es nicht nur mit einem des Organischen und Lebendigen<< (669f.). Das Her-
quantitativen Schub, sondern auch mit einem quali- ausreißen der Dinge aus ihren organischen Zusam-
tativen Sprung zu tun, der den Allegoriebegriff völlig menhängen, das Benjamin als charakteristisch für die
neu >konfiguriert< und seine kunstwissenschaftliche Ausstellung der Waren deutet, >>ist ein für Baudelaire
Fundierung durch eine materialistische ersetzt. >>Die sehr kennzeichnendes Verfahren<< (670). Es erklärt
Embleme kommen als Waren wieder<< (681), formu- auch Baudelaires Vorliebe für >>das Motiv der Andro-
liert Benjamin und meint damit, daß sich die dem gyne, der Lesbischen, der unfruchtbaren Frau<< und die
barocken Allegoriebegriff inhärente Entwertung der >>Absage an das >Natürliche<<< (661), die Benjamin
Dinge im 19. Jh. nicht mehr dem selbstverständlich durch die Wahl der Großstadt als privilegiertes Sujet
gegebenen religiösen Bezugsrahmen von kreatürlicher des Dichters illustriert sieht. In ihnen manifestiert sich
Vergänglichkeit und Todverfallenheit verdankt, son- die Verweigerung eines im Hochkapitalismus besten-
dern als gesellschaftlich produzierte das Ergebnis mo- falls anachronistischen Produktionszusammenhanges,
derner ökonomischer Arbeits- und Erzeugungspro- der auf seine Naturgegebenheit pocht. Die Natur kann
zesse darstellt. >>Die Umfunktionierung der Allegorie nicht länger ein Refugium des versöhnenden Scheins
in der Warenwirtschaft ist darzustellen<< (671), fordert sein, nicht zuletzt, weil der »sichernde<<, unzähligen
nun Benjamin und führt im Rekurs auf Marx' polit- optischen Stimuli ausgesetzte Blick im Angesicht der
ökonomische Überlegungen aus, wie die unter dem Moderne »der träumerischen Verlorenheit an die
Vorzeichen von Entfremdung und Verdinglichung ste- Ferne<< enträt (650). Dieser >>Verzicht auf den Zauber
hende Entwertung der Ware und ihre anschließende der Ferne<< (670) ist nichts anderes als das Einverständ-
willkürliche Neubewertung zu einer modernen Form nis mit dem Verfall der Aura. Wie Benjamin lapidar
allegorischer Praxis wird. >>Der Allegoriker greift bald bemerkt, sind >>die Scheinlosigkeit und der Verfall der
da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen Aura [... ] identische Phänomene<< (ebd.), in deren
ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es ne- Dienst Baudelaire das Kunstmittel der Allegorie stellt.
ben ein anderes und versucht, ob sie zu einander pas- Hier deutet sich nun die zentrale Signifikanz des
sen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild Chockprinzips an, das in diesem Zusammenhang, als
zu jener Bedeutung. Vorhersehen läßt das Ergebnis entauratisierende und zugleich allegorische Praxis
sich nie; denn es gibt keine natürliche VermitteJung seine Bedeutung voll entfaltet hätte.
zwischen den beiden. Ebenso aber steht es mit Ware Bedeutet dies nun, daß Baudelaire, durchaus in der
und Preis. [... ] Ganz ebenso ergeht es dem Gegenstand Tradition der barocken Allegorese, mit der Auslö-
in seiner allegorischen Existenz. [... ] In der Tat heißt schung des Scheins auf ein rettendes Moment zielt?
die Bedeutung der Ware: Preis; eine andere hat sie, als (Zur Rettung im Zeichen der frühneuzeitlichen Alle-
Ware, nicht<< (V, 466; vgl. Zschachlitz 1991). Im Zuge gorie vgl. Lindner 2000, 61-69; Kaulen 2000, 639-642 ).
der von Marx konstatierten willkürlichen Preisgestal- Benjamin verneint dies, zumindest, was Baudelaires
tung der Ware, die nach nicht mehr nachvollziehbaren bewußte Intention angeht. >>Dem destruktiven Impuls
und vom realen Gebrauchswert unabhängigen Krite- Baudelaires ist nirgends an der Abschaffung dessen
rien erfolgt, erhebt sich der Tauschwert zu ihrer einzi- interessiert, was ihm verfällt<< (I, 666). Der >>Ingrimm[]<<
gen, und nach Benjamin allegorischen Bedeutung. (671), mit dem Baudelaire sich an die Zertrümmerung
In dem Maße, wie die >>gegenständliche Umwelt des des Natürlichen und Auratischen macht, ist nicht ge-
Menschen [... ] immer rücksichtsloser den Ausdruck tragen von der Hoffnung auf Transzendenz. Anders als
Das Baudelaire-Buch 583

in der barocken Allegorie, die den Substanzverlust und ERFAHRUNG UND ARMUT (II, 213-219)
DER ERZÄHLER (II, 438-465)
die Vergänglichkeit alles Seienden auf die Spitze treibt, DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN RE-
um ein Umschlagen und eine Restitution von Sinn zu PRODUZIERBARKEIT (I ,431-470)
provozieren, wird der seines Scheins entkleidete und Das Passagenwerk (V)
entwertete Gegenstand in den Baudelaire-Studien URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (J, 203-409)
nicht zu einem Hoffnungsträger, der eine >neue<, wo-
Literatur
möglich politische Bedeutung verspricht. Daran läßt
Abensour, Miguel (1986): >>W. Benjamin entre melancolie et
sich einerseits die Distanz zum Trauerspielbuch, aber revolution. Passages Blanqui«, in: Heinz Wismann (Hg.):
auch zum Kunstwerk-Aufsatz und seiner sehr viel opti- Walter Benjamin et Paris. Colloque international 27-29
mistischeren Einschätzung des Auraverlustes ermes- juin 1983, Paris, 219-247.
sen. Adorno, Theodor W. (I 990): über Walter Benjamin, Frank-
furt a.M.
Arabatzis, Stavros (1998): Allegorie und Symbol. Untersu-
chung zu Walter Benjamins Auffassung des Allegorischen
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Bildenden Kunst und Literatur, Regensburg.
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Die herausragende Bedeutung, die den Baudelaire- chen.
Arbeiten im Kontext der Benjamin-Forschung zu- Baudelaire, Charles (1975/1976): CEuvres Completes, 2 Bde,
kommt, verdankt sich vor allem zwei Aspekten. Zum hg. v. Claude Pichois, Paris.
einen handelt es sich bei diesen Texten um die einzigen Bock, Wolfgang (2000): Walter Benjamin- Rettung der Nacht.
Sterne, Melancholie und Messianismus, Bielefeld.
ausgearbeiteten Schriften aus dem Umfeld der Passa- Bohrer, Karl-Heinz ( 1996): Der Abschied. Theorie der Trauer,
gen-Arbeit. Anhand der Baudelaire-Studien läßt sich Frankfurt a. M.
somit die Differenz zwischen den Aufzeichnungen und Bolle, Willi (1999): >>Geschichtsschreibung als ästhetische
Materialien und den durchgearbeiteten Texten ermes- Passion<<, in: Literaturforschung heute, hg. v. Eckart Goe-
bel/Wolfgang Klein, Berlin, 98-111.
sen. Indem die Baudelaire-Texte also exemplarisch Bolle, Willi (2000): »Geschichte«, in: Opitz/Wizisla 2000, Bd.
veranschaulichen, wie die Ausarbeitung der Passa- 2, 399-442.
gen-Konvolute aussehen kann, erlauben sie wertvoll- Buck-Morss, Susan (1991): The Dialectics of Seeing. Walter
ste Aufschlüsse über Benjamins Projekt einer philoso- Benjamin and the Areades Project, Cambridge/London.
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phisch-ästhetischen Erschließung des 19. Jh.s. Gerade Projekt zum >Baudelaire<. Neue Handschriften zum Spät-
hierin liegt nun der zweite, heute oft nur unzulänglich werk Walter Benjamins«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift
wahrgenommene Punkt, der die Bedeutung der Bau- für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58. Jg., H.
delaire-Texte ausmacht. Dem hochgesteckten episte- 4, 593-657.
Espagne, Michel/Michael Werner (1986): »Les manuscrits
mologischen und ästhetischen Anspruch des Trauer- parisiens de Walter Benjamin et Je Passagen-Werk«, in:
spielbuchs in nichts nachstehend, handelt es sich bei Heinz Wismann (Hg.): Walter Benjamin et Paris. Colloque
den Baudelaire-Studien um den Versuch, ein lyrisches international 27-29 juin 1983, Paris, 849-882.
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Werk, so wie es ins 19. Jh. >>eingebettet ist« (I, 1072),
wegliche Struktur im >Baudelaire<. Zu einigen Kategorien
zu deuten und mittels einer kühnen Marxrezeption von Benjamins >Passagen-Modell<«, in: Recherehes germa-
auf die Überbauphänomene seiner Zeit zu beziehen. niques Nr. 17,93-120.
Die Vielfalt der sozialökonomischen, gattungs- bzw. Espagne, Michel (1996): »Philologie et hermeneutique:
I' exemple de Zentralpark«, in: Etudes Germaniques SI. Jg.,
kulturgeschichtlichen und historischen Reflexionen,
Nr.1,43-58.
die einen >>perspektivisch gegliederten Durchblick in Ferguson, Priscilla Parkhurst (1994): Paris as a Revolution.
die Tiefe des neunzehnten Jahrhunderts« (1078) er- Writing the l9th-Century City, Berkely/Los Angeles/Lon-
lauben, schaffen eine >>philosophische Bogenspan- don.
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604) Portraits, Kritiken, München.
ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIBE (J, 605-653) Garloff, Peter (2003 ): Philologie der Geschichte. Literaturkri-
NOTES SUR LES TABLEAUX PARISJENS DE BAUDELAIRE (I, tik und Historiographie nach Walter Benjamin, Würz-
740-748) burg.
ZENTRALPARK (I, 655-690) Honold, Alexander (2000): »Erzählen«, in: Opitz/Wizisla
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584 Dichtungsanalyse und Autorbild

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585

5. Sprachphilosophie;
literarisches und autobiographisches Schreiben

Die Sonette an Heinle in Voraussicht der kommenden Greuel gemeinsam das


Von Reinhold Görling Leben<< (ebd.; vgl. den Artikel >>Gershom Scholem<<,
59-76). Werner Kraft, der zum Wintersemester 1914
nach Berlin gegangen war und im Juli 1915 erstmals
Benjamins Weg zur einzigartigen poetischen Prosa, die Walter Benjamin begegnete, schrieb in einem 1967 in
die BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT ZU der Zeitschrift Neue Rundschau erschienenem Porträt,
einem der bedeutendsten literarischen Werke der es sei >>aus Protest gegen den Krieg<< (Kraft 1967, 614)
deutschsprachigen Literatur im 20. Jh. hat werden las- geschehen. In seinem 1975 erschienenen Buch über
sen, hat nicht zuletzt über die selbstreflexive Ausein- seine Freundschaft mit Benjamin erinnert sich
andersetzung mit den eigenen Versuchen, Lyrik zu Gershorn Scholem, daß Benjamin ihm 1918/19, als er
schreiben, geführt. Das wohl früheste Dokument für längere Zeit bei Benjamin in Bern zu Gast war, >>an
Benjamins literarische Produktion in Versen dürfte ein manchen Abenden aus dem Sonettenkranz auf den
im Tagebuch von Pfingsten 1911 festgehaltenes Ge- Tod Heinles<< vorlas und daß er >>sagte, er wolle fünfzig
dicht sein. Das Gesamtinhaltsverzeichnis der Gesam- solcher Sonette schreiben<< (Scholem 1975, 25). Folgt
melten Schriften führt unter der Abteilung Gedichte man Scholems Einschätzung, dann hat Benjamin bis
(VII, 1013-1019) neben den Baudelaire-Übertragun- 1925 an den Sonetten gearbeitet.
gen, an denen Benjamin von 1915 bis etwa 1920 arbei- Bis zur Entdeckung der Papiere, die Giorgio Agam-
tete, zirka ein Dutzend vor allem im Anmerkungsap- ben 1981 in der Pariser Nationalbibliothek auffand
parat verstreute Gedichte aus verschiedenen Lebens- und die wohl zu denen gehörten, die Benjamin George
phasen an. Dazu kommen Vorarbeiten zur BERLINER Bataille zur Aufbewahrung übergeben hatte, galt diese
KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT, die Benjamin of- umfangreichste lyrische Produktion Benjamins aller-
fensichtlich nach dem Abbruch seiner Arbeit an der dings als verschollen. Die Pariser Handschrift umfaßt
BERLINER CHRONIK begonnen hatte (VII, 705-714). neben diesem Zyklus von 50 Sonetten, die von Benja-
Sie stehen gewissermaßen im Übergang vom biogra- min mit arabischen Zahlen durchnumeriert wurden,
phischen Schreiben zur poetischen Prosa. noch weitere zwei Zyklen von Gedichten. Der erste
enthält neun, der zweite 14 Sonette. Thematisch gelten
letztere zumindest zum größeren Teil ebenfalls dem
Heinle Andenken Heinles, das zweite Konvolut wird von den
Herausgebern zutreffend >>als eine Art ars poetica<<
In einer >>biographischen NotiZ<<, die Friedrich Podszus charakterisiert (VII, 573 ). Die Herausgeber der Gesam-
zur 1955 von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno melten Schriften haben im Nachtragsband der Publi-
edierten zweibändigen Ausgabe von Benjamins Schrif- kation dieser Sonette noch sechs weitere, sich ebenfalls
ten beisteuerte, erwähnt der damalige Lektor des Suhr- dieser poetischen Form bedienende Gedichte Benja-
kamp Verlages, der seit Beginn der 1920er Jahre zu mins beigefügt und als Konvolut IV gekennzeichnet.
Benjamins Freundeskreis gehört hatte, daß Benjamin Das erste trägt den Titel >>Zum 6''" Januar 1922<<, dürfte
Sonette geschrieben habe, die dem Gedächtnis des sich an seine Ehefrau Dora richten und stellt eine Re-
Dichters Christoph Friedrich Heinle und seiner Freun- flexion über die >>Zweitracht<< dar, wie es im Gedicht
din Rika Seligson gewidmet waren (Podszus 1955, heißt (64). Die übrigen sind Jula Cohn gewidmet, der
531). Schwester von Benjamins Jugendfreund Alfred Cohn,
Am 9. August 1914, wenige Tage, nachdem durch die er schon früh in Berlin kennenlernte und in die er
die Kriegserklärungen des Deutschen Reiches an Ruß- sich im Frühjahr 1921 verliebte. Jula Radt-Cohn, die
land am 1. August, die an Frankreich am 3. August und in ihnen teilweise direkt angesprochen wird, bewahrte
den am 4. August folgenden Einmarsch der deutschen sie auf. Nach ihrem Tod kamen sie in den Nachlaß von
Truppen in das neutrale Belgien der Erste Weltkrieg Scholem. Sie seien >>von allen Benjaminsehen Gedich-
begonnen hatte, nahmen die beiden Liebenden >>sich ten wohl die des höchsten Ranges<<, schreiben die Her-
586 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

ausgeberder Gesammelten Schriften (581). Zwei wei- tur prägt (Kemp 2002, 12 ff.). In einem vielleicht gar
tere Gedichte aus dem Nachlaß von Jula Radt-Cohn nicht so erstaunlichen Gegensatz zu dieser formalen
werden von den Herausgebern, die diese Entscheidung Strenge steht die Betroffenheit Benjamins vom Tod des
nicht kommentieren, nur im Anmerkungsteil abge- Freundes, wahrscheinlich sogar die Intensität der
druckt (ebd.). Freundschaft, die etwas Benjamin tief Bewegendes
Es sind noch zwei Gedichte, darunter wieder ein gehabt haben muß. Es ist ganz sicher angebracht, von
Sonett, an eine weitere Liebe Benjamins überliefert. einer psychischen Krise zu sprechen, in die Benjamin
Die Herausgeber der Gesammelten Schriften haben sie 1914 nach Heinles Tod und dem Ausbruch des ersten
in den Anmerkungen zum stark autobiographischen Weltkrieges geriet.
Text AG ES! LAUS SANTANDER abgedruckt (VI, 81 0; 811 ). Soshana Felman, die in einer sehr sensiblen Lektüre
Ihre Adressatin ist die Holländerin Annemarie (Toet) der BERLINER CHRONIK die traumatische Dimension
Blaupot ten Cate (vgl. van Gerwen 1999), die Benjamin dieser Erfahrungen und ihre Reflexion bis in die The-
im Sommer 1933 auf Ibiza kennenlernte. Es scheinen sen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE nachzeich-
also Momente tiefer Sehnsucht, Verzweiflung und wohl net, spricht sogar von einem »Schweigen<<, in das Ben-
auch Erfahrung des Verlustes gewesen zu sein, in denen jamin für mehrere Jahre gefallen sei (Felman 1999).
Benjamin einen Ausdruck in Gedichten suchte. Frei- Dabei ist allerdings daran zu erinnern, daß das Schwei-
lich schrieb Benjamin auch in Reimen, wenn es in eher gen für Benjamin schon vor Ausbruch des Weltkrieges
humorvollen Zusammenhängen um den spielerischen eine zentrale Dimension der Sprache darstellt, wie
Beweis sprachlicher Kompetenz ging, wie zum Beispiel seine frühe Schrift METAPHYSIK DER JuGEND belegt.
bei den Versen, die Benjamin für den Wandkalender 1986, also fünf Jahre nach ihrer Entdeckung, wurden
der Literarischen Welt von 1927 verfaßt hat (VI, 545- Benjamins Sonette als Band der BibliothekSuhrkamp
557). erstmals separat publiziert. Rolf Tiedemann schrieb
ein Nachwort und sorgte für die Anfügung eines An-
hangs, der weitgehend das aufnahm, was die Heraus-
Sonette geber im Apparat zum Band II der Gesammelten Schrif-
ten (II, 845-884) schon über die Beziehung zwischen
Man mag dem zitierten Urteil der Herausgeber über Heinle und Benjamin zusammengetragen hatten, er-
den poetischen Rang der in Band VII der Gesammelten gänzt durch einige in der Zwischenzeit bekannt oder
Schriften abgedruckten Gedichte folgen oder nicht, es zugänglich gewordene Dokumente.
gibt eine Reihe von Gründen, welche die Beschäftigung Die Zeitschrift Akzente hatte schon 1984 eines der
mit den dem Andenken Heinles gewidmeten Gedich- Sonette, und zwar das in den Gesammelten Schriften
ten zu einer vielschichtigen Herausforderung werden mit der Nummer 52 versehene, abgedruckt. Im selben
lassen. Schon eine erste Lektüre macht deutlich, daß Heft wurden mehrere Gedichte von Friedrich Heinle
Benjamin wie in seiner poetischen Prosa auch in den und ein weiteres von Werner Kraft geschriebenes Por-
Sonetten persönliche Erfahrungen, philosophische trät Heinles publiziert. Unter dem Titel >>Dichtung als
Reflexion und Poetologie ineinander zu fließen lassen Ritual der Erlösung. Zu den Sonetten von Walter Ben-
versucht. Doch, auch wenn man Benjamins Biographie jamin« umfaßte das Heft der Akzente außerdem einen
und Benjamins philosophische Themen wiederer- Aufsatz der französischen Literaturwissenschaftlerirr
kennt, die Sprache und sogar der Gestus scheinen un- Bernhild Boie. Er stellt die bislang umfangreichste ver-
gewohnt, vielleicht gar fremd. Was ihnen, jedenfalls öffentlichte Auseinandersetzung mit Benjamins So-
auf den ersten Blick, im Gegensatz zu der Prosa der netten dar. Darüber hinaus finden sich kaum Hinweise
BERLINER KINDHEIT und großenteils auch schon der auf eine eingehendere Rezeption der Gedichte. Man
BERLINER CHRONIK zu fehlen scheint, ist jene Sätti- wird das als ein Zeichen für die Schwierigkeit einer
gung mit historischer Erfahrung, auf die diese Rekon- Annäherung an diese Texte verstehen dürfen.
struktionen der Kindheit und Jugend hinsteuern und
von der sie zugleich ausgehen. Die Sonette dagegen
schreiben sich in eine Tradition lyrischer Trauerarbeit Trauerarbeit: Rettung des Einzigartigen
ein und scheuen sich auch nicht, dabei bekannte lyri-
sche, mythische und religiöse Tropen aufzugreifen. Als was also können diese Texte gelesen werden? Wie
Auch hält sich Benjamin streng an die Form: alle So- soll man sich ihnen nähern? Es gibt keinen eindeutigen
nette sind in der italienischen Form mit zwei Quartet- Hinweis, daß Benjamin jemals daran dachte, diese So-
ten in umarmenden Reimen und zwei Terzetten ge- nette zu publizieren, ausgeschlossen ist es jedoch nicht.
schrieben, die seit dem 13. Jh. die europäische Litera- Die beiden Dokumente, die vielleicht darauf hinwei-
Die Sonette an Heinle 587

sen, daß Benjamin eine Publikation erwogen hat, ste- du deinen heiligen Namen/ Bildlos errichtest wie un-
hen im Zusammenhang von Bemühungen, die Ge- endlich Amen<< (VII, 27 f.). Der Weg, den solche Trau-
dichte von Fritz Heinle und seinem Bruder zu publi- erarbeit zu gehen sich vornimmt, läßt sich vielleicht
zieren, bzw. Gedichte, die Benjamin »mit einem Freund als eine Defetischisierung der Erinnerung bezeichnen.
verfaßt<< hat, wie er 1928 an Pranz Blei schrieb (VII, Weder Bewunderung noch Vorwurf sucht das lyrische
576), zu veröffentlichen. Ob es sich bei letzteren um Ich, es sucht kein Abbild zu erhalten oder gar zu fixie-
die vermutlich noch 1913 zusammen mit Heinle ver- ren, nicht >>von Zorn und Loben<<, die der Angespro-
faßten Nonsensverse URWALDGEISTER (II, 861 f.) han- chene dem Sprechenden gegenüber äußerte, nicht vom
delt, ist ungewiß. Jedenfalls behielt Benjamin seine Gang, so herzoglich er gewesen sein mag, nicht von
Arbeit an den Sonetten nicht für sich. Wir wissen, wie den Parolen und Programmen, denen der Angespro-
gesagt, von Scholem, daß er seine Freunde davon un- chene gefolgt ist. Aufall das verzichtet das lyrische Ich
terrichtete und daß er ihnen auch aus der Sammlung gern, >>Wenn nur in mir du deinen heiligen Namen/
vorlas. Immerhin nahm Benjamin diese Arbeit so Bildlos errichtest wie unendlich Amen<<. Sicher enthebt
ernst, daß er sie zu einem traditionellen Sonettenkranz sich diese Rhetorik nicht des Widerspruchs, das, wor-
zusammenstellte und eine Reihenfolge bestimmte, auf das lyrische Ich verzichten zu können glaubt, zu-
ihnen also die Form eines geschlossenen Werkes gab. gleich zu beschwören, das Bild also zu erwecken, das
Und schließlich dürfte der Umstand, daß Benjamin eigentlich abgelehnt wird. Insoweit gehen diese Zeilen
diese Gedichte in die Emigration mitnahm, aufhob ein Stück in die Richtung einer Vergöttlichung des
und schließlich vor seiner Flucht 1941 zu den Papieren Angesprochenen oder spielen zumindest darauf an,
legte, die er George Bataille zur Aufbewahrung über- doch proklamieren sie zugleich eine Bilderlosigkeit,
gab, für die persönliche Bedeutung sprechen, die sie einen Entzug jeder Illusion einer Fixierung des ande-
für ihn hatten. ren, die Aufgabe des Versuchs einer Überführung des
>>Enthebe mich der Zeit der du entschwunden// Und Verlustes in ein überdauerndes Bild, in Kunst. Der hei-
löse mir von innen deine Nähe/ Wie rote Rosen in den lige Name dürfte mithin auch zu verstehen sein als Idee
Dämmerstunden/ Sich lösen aus der Dinge lauer Ehe<< einer Sprache, die frei von Repräsentation, von Stell-
(VII, 27). So beginnt das erste der Sonette. In einer vertretung und Verallgemeinerung wäre, eine Sprache,
fragmentarischen thematischen Gliederung, die sich in der die Einzigartigkeit des anderen zugleich ausge-
auf einem Bataille übergebenen Umschlag beigefügten drückt und in einer unendlichen, sich also nie erfül-
Zettel findet, werden die Sonette 1 bis 5 als >>Anrufung lenden Bewegung des Amen, des >>So war es<< sich
und Tod Anrufung und Gestalt<< charakterisiert (575 ). entzieht. Es gibt keine Repräsentation der Einzigartig-
Was in dieser Gegenüberstellung von Tod und Gestalt keit, sie kann nur in einer unbegrenzten Prozessualität
thematisch wird, mag als Paradox der Trauerarbeit, ja des erinnerten Augenblicks wahr, oder, wie man viel-
vielleicht jedweder Erinnerung verstanden werden: Sie leicht im Hinblick auf die Sprache von Benjamins
möchte das Andenken wahren und doch zugleich den späten Schriften sagen sollte, gerettet werden.
Erinnernden aus der Nähe zum anderen entbinden.
Diese Entbindung wird hier zeitlich und räumlich ge-
dacht, als Lösung von einer Verpflichtung, einer Fixie- Ästhetisierung
rung an die Zeit, welche mit dem Verlust verbunden
ist, und als Lösung oder Verflüssigung einer Nähe, die Astrid Deuber-Mankowsky hat sehr eindringlich und
nicht als Distanzierung verstanden werden darf. Das umfassend nachgezeichnet, wie Benjamin- unter an-
machen die folgenden zwei Zeilen deutlich: So kon- derem in einer Auseinandersetzung mit Herman Co-
ventionell die Verwendung der roten Rosen als Trope hen und dem Neukantianismus - seine Kritik der
und Symbol der Liebe ist, die Vorstellung, daß die Ent- Repräsentation als sprachphilosophisch begründete
bindung aus der Tätigkeit, ja man könnte sagen, aus Erkenntniskritik entwickelt hat. Schon vor dem Ersten
dem Amt des Andenkens eine Erfüllung der Liebe ist, Weltkrieg hatte Benjamin Grundzüge dieser Kritik in
die sich aus >>der Dinge lauer Ehe<< löst, ist es nicht. seiner Auseinandersetzung mit den Programmen der
>>Wahrhaftige Huldigkeit und bittre Stimme/ Ent- Jugendkulturbewegung und insbesondere mit den auf
behr ich heiter und der Lippen Röte/ Die überbrannt Benjamins Generation so einflußreichen Ideen Stefan
war von der schwarzen Glimme/ Des Haares purpurn Georges entworfen (Deuber-Mankowsky 2000, 167).
schattend Stirn der Nöte// Und auch das Abbild mag Wie sehr diese Auseinandersetzung in die Beziehung
sich mir versagen/ Von Zorn und Loben wie du sie mir zwischen Heinle und Benjamin hineinreichte, macht
botest/ Des Ganges in dem du herzoglich getragen// die Erinnerung sehr schnell deutlich, die Benjamin
Die Fahne deren Sinnbild du erlotest/ Wenn nur in mir 1928 als Reaktion und Antwort auf eine Rundfrage
588 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

verfaßte, welche die Literarische Welt zum Anlaß des andere ist, muß er aus Notwendigkeit bei seinem eige-
60. Geburtstages von Stefan George veranstaltete (li, nen Geist bleiben<< (182).
1429): >>Im Frühjahr 1914 ging unheilverkündend Wenige Tage zuvor, am 1. November, hatte Benjamin
überm Horizont der >Stern des Bundes< auf, und we- auf einem Autorenabend der Zeitschrift Die Aktion
nige Monate später war Krieg. Ehe noch der Hundert- einen >>Die Jugend<< betitelten Vortrag gehalten, den er,
ste gefallen war, schlug er in unserer Mitte ein. Mein wie er in der BERLINER CHRONIK berichtet, seinen
Freund starb. Nicht in der Schlacht. Er blühte auf ei- Freunden zuvor bekannt gemacht hatte. >>Kaum war
nem Feld der Ehre, wo man nicht fällt<< (Il, 623). das aber geschehen, so erhob Heinle Einspruch<< (VI,
Georges Gedichtband Stern des Bundes postuliert 479). Der heftige Streit ließ sich nicht schlichten, so
eine Ästhetisierung des Lebens und des Todes, deren kam es dazu, daß an jenem Abend >>zwei Reden glei-
Ungebrochenheit Leser heute erschrecken wird. Im chen Titels und von fast gleichem Wortlaut verlesen
Zentrum steht die Verkündigung der Geburt des Got- wurden<< (ebd.). Heinles Rede hat sich erhalten (II,
tes Maximin, dessen Opferung und Verwandlung im 863-865). Auch wenn man Benjamins Bemerkung
zweiten Gedicht der Sammlung beschrieben wird. über den >>fast gleichen Wortlaut<< in einem eher über-
>>Der du uns von derqualder zweiheit löstest<< (George tragenen Sinne verstehen möchte, zusammen mit den
1993, 9), beginnen diese Zeilen, die im neuen Gott die Angaben im Brief an Carla Seligson läßt sich vermuten,
Vereinigung von Geist und Fleisch beschwören. Die in welchen Passagen dieses Manifests der Dissenz zwi-
Feier des Männerbundes, den die Gedichte unterneh- schen den Freunden aufbrach. >>Wie ein Schauder über
men, ist die Kehrseite einer Verleugnung der Differenz, den Leib kriecht, bis der Selbstherr aufsteht, so geht
auch und gerade der geschlechtlichen Differenz, die die Erlösung auf; der Wille segelt frei<< (864). Dieser
George akklamiert: >>Ich bin der Eine und bin Beidei Idee Heinles einer Selbstschöpfung der Jugend wird
Ich bin der zeuger und der schooss/ Ich bin der degen Benjamin kaum zugestimmt haben. >>Der Schöpfer ist
und die scheide/ Ich bin das opfer und der stoss ... << in die Seele verlegt, der Leib leuchtet<< (ebd.). Diese
(George 1993, 27). Selbstschöpfung ist kaum anderes denn als eine ju-
Georges Mythologie zog ihre Autorität aus dem Be- gendliche Abwehr der Erfahrung von Differenz zu
zug auf reale Vorkommnisse. Maximilian Kronberger, lesen, was sich auch darin zeigt, daß sie mit der Ableh-
ein zum George-Kreis gehörender Münchner Gymna- nung von Erotik gepaart ist: >>Also liegt uns Erotik fern.
siast, war 1904 im Alter von 16 Jahren an Genickstarre Sie produziert das Ding, aber die Jugend ist fruchtbar<<
gestorben. Daß Benjamin eine Verbindung zwischen (ebd.). Was Benjamin meint, wenn er sagt, Heinle habe
der Opfermythologie Georges und dem Freitod von sich ihm >>im Namen der Liebe<< gegenübergestellt und
Fritz Heinle und Rika Seligson sah, macht der zitierte er selbst habe ihm >>das Symbol<< entgegengesetzt,
Passus aus Benjamins Aufsatz von 1928 deutlich. Es dürfte sich mithin als ein Gegensatz zwischen einer
scheint auch sicher zu sein, daß die Differenzen, die Verschmelzungsvorstellung und dem Insistieren auf
zwischen Heinle und Benjamin entstanden waren, im der Sprachlichkeit und damit auch der Vermittlung
Streit um die Frage einer Ästhetisierung des Lebens oder Medialität von Wissen sein. Verbunden ist dieser
einen Ausdruck fanden. Gegensatz mit einer anderen Zeitlichkeit der Idee der
Benjamin hatte Heinle >>in den ersten seltsamen Erlösung. >>Ich will die Erfüllung, die man nur erwar-
Wochen des Semesters<< (li, 854), des dritten von Ben- ten kann und er erfüllen<< (1, 182). Deuber-Mankowsky
jamins Studienzeit, die er im Herbst 1912 in Freiburg weist daraufhin, daß diese im Brief an Carla Seligson
begonnen hatte, kennengelernt. Sie wurden sehr formulierte Gegenüberstellung einer Differenz zwi-
schnell Freunde, und das in einer Intensität, die sich schen jüdischer und christlicher Erfahrung von Zeit
wohl am ehesten als Spannung von größter Nähe und und von Sprache entspricht. Weder Heinle noch Ben-
gefühlter Notwendigkeit zur Distanz beschreiben läßt, jamin bekennen sich zur religiösen Tradition, und
letzteres jedenfalls auf der Seite von Benjamin. Im >>doch scheinen sich aus der Zugehörigkeit zu unter-
Winter 1913 waren beide zusammen nach Berlin ge- schiedlichen Traditionsräumen differente Perspektiven
gangen, wo es aber bald zu einer Krise der Freund- auf gemeinsame Fragen<< (Deuber-Mankowsky 2000,
schaft kam. In einem Brief an Carla Seligson, einer der 178), wie die nach Leben und Kunst, Liebe und Tod,
zwei Schwestern Rikas, vom 17. November 1913 Gemeinschaftlichkeit und Geschlechtlichkeit, zu erge-
schrieb Benjamin über den Konflikt der Freunde: >>Er ben.
stellte sich mir gegenüber im Namen der Liebe und ich
setzte ihm das Symbol entgegen<< (1, 181). Und etwas
später im Brief: >>Aber es ist dieses: Trotzdem jeder der
Die Sonette an Heinle 589

Eros darauf verwiesen (Weigell994), im Gegensatz zu der


überlieferten Rede Heinles die Selbstschöpfung des
Doch wird man diese Spannung zwischen Heinles und Geistes als eine männliche Illusion zu kritisieren ver-
Benjamins Denken über die Erfahrung von Differenz steht und Erkenntnis an die Anerkennung der ge-
ganz sicher auch als eine innere Spannung der eroti- schlechtlichen Differenz bindet: >>Die Worte gleicher
schen Zuneigung lesen können und müssen. Wenn das Geschlechter vereinigen sich und peitschen sich auf
lyrische Ich den Freund zum Beispiel in Sonett 36 als durch ihre heimliche Zuneigung<< (li, 95), heißt es
>>Geliebten« anspricht (VII, 45) und wenn immer wie- dort, mit deutlicher Kritik an der ambivalenten, letzt-
der seine Schönheit gepriesen wird, läßt sich das nicht lich verleugnenden Haltung zur Homosexualität, wel-
als Konvention eines Genres abtun, wie es ja zum Bei- che die Jugendbewegung charakterisierte. Im Dialog
spiel eine Zeit langangesichtsder erotischen Passagen zwischen dem Genie und der Dirne, der dem >>Das
in Shakespeares Sonetten versucht worden ist. Heinle, Gespräch<< betitelten Teil dieses Fragment gebliebenen
von dem, wie Scholem berichtet, Benjamin in späteren Zyklus angehört, wird dieser Zusammenhang von Ge-
Jahren >>immer nur als >mein Freund< schlechthin zu nieidee und Verleugnung der geschlechtlichen Diffe-
sprechen pflegte<< (Scholem 1975, 19), hatte in dessen renz auf eine kurze Formel gebracht: >>Niemand hat
Leben eine einzigartige Stellung inne. >>Üb ich den sie gezeugt und zu mir kommen sie, um nicht zu zeu-
Freund so fragtest du mich liebe?<< sind die Worte, mit gen<<, sagt die Dirne über das Genie und die Männer
denen das Sonett 35 beginnt. Die beiden Terzette lau- (94).
ten: >>Doch meiner Lippen im Bekennen träge/ Harrte Für das Verständnis der Sonette kann es aber auch
ein Meister der sie besser präge/ Die Hand die zagt ob hilfreich sein, sich zu verdeutlichen, daß Benjamin
sie dem Freund sich schenkt// Hat er ergriffen der sie diese Anerkennung der Differenz nicht nur mit der
härter lenkt/ Daß sie das Herz das liebte im Geheimen/ Hybris männlicher, zum Monolog werdender Rede
Nun aller Welt verschütten muß in Reimen<< (VII, verbindet, sondern dem schon hier die Idee des Ge-
44f.). sprächs gegenüberstellt. Wohl geht, wer spricht, >>in
Eine Gewalt, die nicht die eigene ist, bestimmt die den Lauschenden ein<< (92). Aber es sind nicht die
gegebene Antwort, ja das Handeln. Das lyrische Ich Worte schöpferisch, sondern das Schweigen: >>Das
übernimmt eine Verantwortung für die Trägheit, sich Schweigen gebiert sich also selber aus dem Gespräche.
zu bekennen, und damit auch dafür, den Tod, diesem [... ] der Hörende führte das Gespräch zum Rande der
Meister, der das Sprechen und Handeln prägt, nichts Sprache und der Sprechende erschuf das Schweigen
entgegenstellt zu haben. Eine Transzendenz gibt es einerneuen Sprache, er, ihr erster Lauschender<< (92).
nicht, die Trauer ist ein Verschütten, kein Gestalten: Wenn, so darf man wohl interpretieren, der Streit der
>>Die Stunden welche die Gestalt enthalten/ Sind in Freunde auch als etwas verstanden werden kann, in
dem Haus des Traumes abgelaufen<< (48). Hiermit dem die Worte gleicher Geschlechter sich aufpeitsch-
dürfte das Spannungsfeld umrissen sein, in dem die ten, dann wäre es nur konsequent, wenn Benjamin
Sonette an Heinle stehen: Sie suchen ein Andenken, seine dem Verstorbenen gewidmeten Gedichte als ein
daß der Versuchung widersteht, den Tod des geliebten Gespräch verstanden hat, wenn sicher nicht mit dem
Freundes zu verleugnen, der von George vorgeführten Toten, so doch mit seinen Worten, denen seiner Ge-
Versuchung, ihn gewissermaßen in einem Selbstschöp- dichte, denen der Gespräche, wohl auch mit den Wor-
fungsmythos als Opfer zu stilisieren, das in die Un- ten derer, die, wie George, Heinle beeinflußt haben.
sterblichkeit des Kunstwerkes transformiert wird. Sie Die Poetik der Sonette wäre mithin so zu verstehen,
bilden zugleich den Versuch, ein Schuldgefühl, welches daß Benjamin ein hohes Maß an Aufnahme der frem-
vielleicht immer mit dem Tod einer geliebten Person den Sprache sucht, nicht, um seine eigenen Worte
verbunden ist und mit einem Suizid in weit unnach- dagegen zu setzen, sondern um sie zu ihrem Rand zu
giebigerer Weise, zu artikulieren. Beides geht aber nur, führen, zum >>Schweigen einerneuen Sprache<< (ebd. ).
wenn die Differenz oder die Alterität im Kunstwerk Das würde auch erklären, warum Benjamin die Publi-
selbst als seine eigene Grenze problematisch wird: als kation der Gedichte Heinles so wichtig war und daß
Bewußtsein der Sprachlichkeit der Erfahrung, als Be- sie ihm als Voraussetzung gegolten haben muß, seine
wußtsein der Alterität des anderen, als Bewußtsein der eigenen zu veröffentlichen.
Nicht-Repräsentierbarkeit des Todes und schließlich Da der größere Teil der Gedichte Heinles als ver-
auch als Bewußtsein der Alterität des eigenen. schollen gelten muß, behalten diese Überlegungen
Benjamin hatte im zweiten Halbjahr 1913 unter dem sicher etwas Spekulatives. Sie könnten aber deutlich
Titel METAPHYSIK DER JuGEND an einem Zyklus von machen, daß Benjamins Gedichte >>umgekehrte Kon-
Essays zu schreiben begonnen, der, Sigrid Weigel hat trafakturen der Georgeschen<<, wie Tiedemann sagt
590 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

(Tiedemann 1986, 94), nur insoweit sind, als sie eine Dimension der Sprache: >>Kein Trost kann außer die-
Sprache aufgreifen, die über Person und Werk Georges sem Liede leben/ Und keine Traurigkeit fern von die-
hinausgeht und eine historisch folgenreiche gerade sem Lied<< (VII, 33).
darin war, daß sie sich abdichtete gegen geschichtliche Was Benjamin hier also zu denken versucht, ist die
Erfahrung. Doch selbst hierin, in dieser Abdichtung, Möglichkeit einer Sprache, die dem anderen keine Ge-
ist Sprache und Kommunikation und muß als solche walt antut, die ihn nicht zu repräsentieren vorgibt, die
anerkannt bleiben. sich nicht an die Stelle des anderen setzt, und die doch
Kommunikation ist. Nach der Möglichkeit einer Spra-
che zu suchen, die keine Verleugnung von Differenz
Medialität der Sprache ist, letztlich der Differenz zwischen der Medialität aller
Kommunikation und der fetischisierenden Repräsen-
Im programmatischen Sinne dürfte es wohl das Sonett tation, verstand Benjamin wohl als seine Aufgabe als
Nummer 12 sein, das diese Sprachbewegung am kon- Teil einer Generation, die, wie es in dem 1933 geschrie-
sequentesten durchdenkt: >>Einst wird von dem Ge- benen Essay ERFAHRUNG UND ARMUT heißt, >>1914-
denken und Vergessen/ Nichts bleiben als ein Lied an 1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltge-
seiner Wiege/ Das nichts verriete und das nichts ver- schichte gemacht hat<< (II, 214), eines Geschlechts, von
schwiege/ Wortloses Lied das Worte nicht ermessen<< dem Benjamin in dem im Juli desselben Jahres in der
(VII, 33). Frankfurter Zeitung unter dem Pseudonym K.A.
Diese vielleicht schönsten Zeilen des gesamten So- Stempflinger erschienen Aufsatz RücKBLICK AUF STE-
nettenkranzes entziehen dem eigenen Gedenken jeden FAN GEORGE sagt, es >>War zum Tode vorbestimmt<< (III,
Anspruch aufVerwandJung des Toten. Gedenken und 399).
Vergessen werden nicht als Gegensatz verstanden, das Direkte Verweise auf den Ersten Weltkrieg wird man
eine bedingt das andere. Deshalb wird das Lied, das jedoch in den Zeilen der Sonette kaum finden. Die
bleibt, auch nicht mit der Verwandlung, sondern mit einzige Ausnahme ist das Sonett 40, in dem Benjamin
dem Ursprung verbunden, mit dem Leben, nicht mit Stunde und Ort erinnert, an dem ihn die Nachricht
der Unsterblichkeit. Ein Lied, das >>nichts verriete und vom Tode des Freundes traf. >>Der Horizont von Röte
das nichts verschwiege<< wäre an der Grenze der überronnen/ Im Fenster stand die Dämmerung wie
Sprachlichkeit, es wäre, folgt man späteren Formulie- Blei<< (VII, 47): der faktische Widerspruch zwischen
rungen Benjamins, nicht Mitteilung, sondern Mitteil- dem Rot und der bleiernen Dämmerung der erinner-
barkeit, reine Sprache oder reines Mittel. So heißt es ten Morgenstunde des 9. August 1914 lösen die Worte
in BenjaminsAufsatz ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND aus dem engeren Kontext und öffnen sie dafür, die
ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN, >>jede Sprache teilt Schlachtfelder des gerade begonnenen Krieges zu an-
sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das tizipieren. Wie dieses Sonett, das sein Gegenstück in
>Medium< der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Un- der Beschreibung dieses Morgens und der darauf fol-
mittelbarkeit aller geistigen Mitteilung<< (II, 142). Ein genden Tage in der BERLINER CHRONIK (VI, 477-481)
>>Wortloses Lied das Worte nicht ermessen<< wäre eine hat, scheinen die Sonette immer wieder Situationen in
Ebene der Kommunikation, in der die Fetischisierung Erinnerung zu rufen, die für den Verfasser mit Heinle
der Sprache, der Mythos der Repräsentation aufhört verbunden sind. So beziehen sich die Sonette 36 und
zu wirken, und die doch die Möglichkeit der Sprache 37 mit ihrer zweifachen Erwähnung des Münsters auf
bedeutete, die Möglichkeit, daß sich Erkenntnis und die Freiburger Zeit der beiden Freunde, und das Sonett
Erkanntes >>berühren, affizieren und mitteilen kön- 38 mit seiner Anführung der Namen >>märkische Stadt<<
nen<<, wie Werner Hamacher die sprachphilosophi- und >>Havelsee<< erinnert Spaziergänge in der Umge-
schen überlegungenBenjaminskommentiert (Hama- bung Berlins. Die Trauerarbeit, die diese Sonette lei-
cher 2001, 174). Diese Medialität der Sprache läßt sich sten, weicht dem Schmerz nicht in Sinnstiftungen aus.
selbst nicht sprachlich repräsentieren, ihre Unmittel- Und sie bindet sich zurück an konkrete Orte, nicht an
barkeit bedingt, daß >>jeder Sprache ihre inkommen- Worte, oder nur insoweit, als sie Namen sind. Orte und
surable einziggeartete Unendlichkeit<< innewohnt (II, Namen sind Medien und keine Repräsentationen. Die-
143). sen Versuch, Trauerarbeit als Topographie der Erinne-
Das folgende Quartett des Sonetts Nummer 12 ver- rung zu leisten, wird Benjamin in seinen Prosaarbeiten
bindet dieses Lied mit dem Geistigen: Es stiege >>aus wieder aufnehmen. Die Idee der reinen Sprache, die
dem Grund der Seele<<, und es schmiege sich die Hoff- Frage nach der Medialität der Sprache bedeuten für
nung in dieses Lied >>[w]ie Stimmen in den Orgelton ihn keine Loslösung von persönlicher oder historischer
der Messen<<. Darin ist es eine, wenn nicht die ethische Erfahrung, im Gegenteil: nur durch die unbegrenzte
Die Sonette an Heinle 591

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Frankfurter Benjamin-Vorträge, Bielefeld, 115-131.
BERLINER CHRONIK (VI, 465-519)
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (VII, 385-
433)
ERFAHRUNG UND ARMUT (Il, 213-218)
METAPHYSIK DER )UGEND (Il, 91-104)
RücKBLICK AUF STEFAN GEORGE (Ill, 392-398)
Sonette (VII, 27-67)
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
MENSCHEN (Il, 140-156)
ÜBER STEFAN GEORGE (Il, 622-623)
URWALDGEISTER (Il, 861 f.)
ZWEI GEDICHTE VON FRIEDRICH HöLDERLIN (Il, 105-124)

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592 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

»Über Sprache überhaupt Rekurse auf die frühe Arbeit in späteren jedoch nur
ein äußerliches Indiz.
und über die Sprache
Ihrer Bedeutung zum Trotz hat Benjamin sich nie
des Menschen« mit Plänen getragen, die Spracharbeit zu publizieren.
Von Uwe Steiner Ähnlich wie das PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILO-
SOPHIE, zu dem sachlich enge Verbindungen bestehen,
wurde die Spracharbeit zur Selbstverständigung ge-
Entstehung und Überlieferung schrieben. Das hat Benjamin aber nicht daran gehin-
dert, sie einem ausgewählten Kreis von Freunden zu-
Dem Druck des zu Lebzeiten unveröffentlichten Textes gänglich zu machen. So zirkulierte der Aufsatz in den
liegt ein mit handschriftlichen Korrekturen versehenes Jahren 1916/17 in wenigen Abschriften im kleinen
Typoskript zugrunde. Eine Handschrift existiert nicht. Kreis. Im Exil von seinen eigenen Papieren abgeschnit-
Die Datierung ist durch briefliche Erwähnungen und ten, konnte Benjamin so auf ein im Besitz Scholems
die Erinnerung Scholems gesichert. Von einer noch befindliches Exemplar zurückgreifen.
>>nicht ganz beendeten« Arbeit mit dem Titel ÜBER
SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
MENSCHEN ist in einem Brief Benjamins an Scholem Werkkontext
vom 11.11.1916 die Rede. Scholem erinnert sich, daß
Benjamin ihm im Dezember desselben Jahres eine Ab- Zu den Aufsätzen, die Benjamin Ende 1916 Herbert
schrift des Aufsatzes überreichte (Scholem 1975, 48). Blumenthai zur Lektüre anbietet, gehören neben der
Dazu paßt, daß Benjamin die Arbeit Ende des Jahres Arbeit ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
gemeinsam mit anderen in einer Liste aufzählt (1, SPRACHE DES MENSCHEN die beiden ZU Lebzeiten
350). ebenfalls ungedruckten Aufsätze über TRAUERSPIEL
Dem erwähnten Brief zufolge ist die Niederschrift UND TRAGÖDIE und über DIE BEDEUTUNG DER SPRA-
durch eine Diskussion mit Scholem über >>Mathematik CHE IN TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE (350). Während
und Sprache, d. h. Mathematik und Denken, Mathe- die erste der beiden Arbeiten mit ihrer Reflexion über
matik und Zion<< angeregt worden. Scholem hatte das unterschiedliche Modi der Zeit und über das Verhält-
Studium der Mathematik begonnen und war schon als nis von Idee und empirischer Welt indirekte Bezüge
Abiturient in der zionistischen Jugendbewegung aktiv. zum Sprachaufsatz aufweist, ist der thematische Zu-
In seinem Brief bedauert Benjamin, dem skizzierten sammenhang im Falle der zweiten Arbeit unmittelbar
Thema nicht gewachsen zu sein. Dennoch habe es ihn evident. Die Nähe bestätigt sich im Detail. Beide Auf-
dazu angeregt, sich >>mit dem Wesen der Sprache aus- sätze legen in teilweise wörtlicher Übereinstimmung
einander zu setzen und zwar - soweit ich es verstehe: ein sprachmetaphysisches Verständnis der Trauer dar,
in immanenter Beziehung auf das Judentum und mit in dessen Zentrum hier die >>alte Weisheit<<, dort die
Beziehung auf die ersten Kapitel der Genesis<< (343). >>metaphysische Wahrheit<< steht, >>daß alle Natur zu
Benjamin hat seinen Aufsatz von Anfang an als nicht klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde<<
abgeschlossen betrachtet. So spricht er in dem Brief (II, 138; 155).
von dem >>Fragmentarischen<< seiner Gedanken, die er Darüber hinaus besteht ein ebenfalls sachlich un-
gleichwohl in systematischer Absicht formuliert habe mittelbar evidenter Zusammenhang der drei frühen
(ebd.). In einem späteren Brief ist von Plänen einer Arbeiten mit der Abhandlung über den URSPRUNG DES
Fortsetzung die Rede (355), und noch im Sommer DEUTSCHEN TRAUERSPIELS. So liegt Benjamins Ver-
1917 gibt Benjamin seiner Hoffnung Ausdruck, daß ständnis des deutschen Trauerspiels des Barock, wie er
seine Arbeit über die Sprache bald >>über den ersten es in seiner Habilitationsschrift darlegt, die grundsätz-
Teil hinaus gediehen sein möge<< (374). Während ihn liche Unterscheidung von Trauerspiel und Tragödie
sprachtheoretische Fragen auch in der Folgezeit wei- zugrunde, von denen bereits die beiden frühen Auf-
terhin beschäftigen, ist es zu einer Fortsetzung der sätze ausgehen. Mit dieser Unterscheidung erhält auch
vorhandenen Aufzeichnungen jedoch nicht gekom- die sprachmetaphysische Theorie der Trauer, die die
men. Auch unabhängig davon steht die grundlegende beiden Aufsätze mit dem Sprachaufsatz verbindet,
Bedeutung der Spracharbeit für Benjamins CEuvre Eingang in das Trauerspielbuch. Wörtliche Anlehnun-
außer Frage. Wiederholt konsultiert er seine frühen gen an die frühere Darlegung dieses zentralen Theo-
Aufzeichnungen, um aus aktuellem Anlaß an sie an- rems finden sich in dem Abschnitt über die barocke
zuknüpfen. Für die fundamentale Bedeutung der >>Sprachzerstückelung<< (I, 383 f.). Im Abschnitt über
Sprachphilosophie sind die expliziten oder impliziten >>Trauer im Ursprung der Allegorie<< rekapituliert Ben-
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« 593

jamin mit der >>Lehre von dem Fall der Kreatur, die die Im einzelnen klingen in der terminologischen Entge-
Natur mit sich herabzog<<, zum Teil wörtlich seine gensetzung von Erkenntnis und Wahrheit (209 f.) so-
Deutung des Sündenfalls im Sprachaufsatz (398; li, wie in demAbschnitt über das Wort als Idee (215-218)
155). Auf diese Überlegungen kommt er am Schluß unmittelbar Überlegungen aus dem frühen Aufsatz
des Trauerspielbuches bei Gelegenheit der Darlegung an.
der >>theologischen Essenz des Subjektiven<< in dem Darüber hinaus besteht ein weiterer Zusammen-
Abschnitt >>Ponderaci6n misteriosa<<, wiederum mit hang zwischen Benjamins früher Beschäftigung mit
wörtlichen Anklängen an die frühere Abhandlung, sprachtheoretischen Fragen und seinen Habilitations-
noch einmal zurück (I, 407). plänen. Bevor er sich nämlich für eine Habilitation im
Bedeutender noch als diese inhaltlichen übernah- Fach deutsche Literaturgeschichte bzw. Ästhetik ent-
men einzelner Theoreme ist die Nähe zu bewerten, in schloß, ist von einer philosophischen Habilitation über
die Benjamin selbst seinen frühen Sprachaufsatz zur ein sprachphilosophisches Thema die Rede. Der Plan
ERKENNTNISKRITISCHEN VoRREDE des Trauerspielbu- einer Habilitationsschrift zum >>großen Problemkreis
ches gerückt hat. Eine >>systematische« Intention hatte Wort und Begriff (Sprache und Logos)«, den er Anfang
er seinem Aufsatz bereits in dem Brief zuerkannt, in 1920 in einem Brief erwähnt (2, 68 ), ist aber über Vor-
dem er seine unmittelbar bevorstehende Fertigstellung studien nicht hinausgelangt (VI, 19-26).
meldete (1, 343). Während der Arbeit an der Einlei- Im engeren Sinne sprachtheoretische Probleme ste-
tung zu seiner Habilitationsschrift, der später so ge- hen in diesen Jahren sodann in dem als Einleitung zu
nannten ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE, läßt ihn den Baudelaire-Übersetzungen verfaßten Aufsatz über
die Schwierigkeit, seine eigenen philosophischen Hin- DIE AuFGABE DES ÜBERSETZERS im Mittelpunkt. Die
tergedanken bei dieser Gelegenheit anzudeuten, an die enge Nachbarschaft dieser Arbeit zum Sprachaufsatz
frühere Arbeit denken. Scholem werde,. wie Benjamin von 1916 erschöpft sich aber nicht in einer eher vor-
ihm brieflich ankündigt, in der Einleitung >>seit der dergründigen thematischen Gemeinsamkeit. Vielmehr
Arbeit über >Sprache überhaupt und über die Sprache zeigt sich, daß der Begriff der Übersetzung in dem
des Menschen<, zum ersten Male wieder so etwas wie früheren Aufsatz in einem erweiterten, nämlich er-
einen erkenntnistheoretischen Versuch finden, den kenntnistheoretischen Sinne gebraucht wird, der auch
nur leider die Hast, in der er fixiert werden muß, in für Benjamins Auffassung der Übersetzung im engeren
manchem als verfrüht kennzeichnet« (2, 464). Dieses Sinne, nämlich der Übertragung aus einer fremden
zugleich erkenntnistheoretische und systematische Sprache, von entscheidender Bedeutung ist.
Interesse dürfte auch Benjamins wiederholt an Scha- Ein weiteres Mal kommt Benjamin im Jahre 1933
lem gerichteten Wunsch nach einer Übersendung des auf seine frühe Spracharbeit zurück. Am 28.2.1933
dritten Abschnitts seines Essays über GoETHES WAHL- berichtet er Scholem noch aus Berlin, daß er >>eine
VERWANDTSCHAFTEN bestimmt haben (464; 469; 473), neue- vier kleine handschriftliche Seiten umfassende
in dem er eingangs die Stellung der Kunstwerke zur - Sprachtheorie<< verfaßt habe, die er nicht zu publi-
Philosophie und zum philosophischen System behan- zieren gedenke. Sie sei >>bei Studien zum ersten Stücke
delt hatte (I, 172f.). Allerdings wird dieser Teil der der >Berliner Kindheit< fixiert<< worden (4, 163). Mit
Habilitationsschrift schließlich nicht eingereicht, son- der neuen Sprachtheorie ist die LEHRE voM ÄHNLI-
dern gemeinsam mit dem Schluß, der ebenfalls >>me- CHEN (II, 204-210) gemeint. Bei dem Stück derBER-
thodischen Fragen« galt, vorerst zurückgestellt (2, LINER KINDHEIT handelt es sich um die >>Mummereh-
508). Über diesen in Frankfurt nicht eingereichten Teil len<<. Die dort zu lesende überlegung, derzufolge die
der Arbeit heißt es am 19.2.1925 in einem Brief an >>Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen,<< nichts anderes sei,
Scholem, daß er eine >>maßlose Chuzpe« sei, >>nämlich >>als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwanges,
nicht mehr und nicht weniger als Prolegomena zur ähnlich zu werden und sich zu verhalten<< (VII, 417),
Erkenntnistheorie, so eine Art zweites, ich weiß nicht, findet sich mit minimalen Abweichungen wörtlich im
ob besseres, Stadium der frühen Spracharbeit, die Du >>Zusatz<< der kleinen theoretischen Abhandlung wie-
kennst, als Ideenlehre frisiert«. Er werde sich die der (li, 210).
Spracharbeit, so Benjamin weiter, >>dafür noch einmal Inzwischen ins Exil getrieben, bittet Benjamin im
durchlesen<< (3, 14). Im Text der 1928 im Rowohlt- Mai desselben Jahres in einem Brief aus Capri nach
Verlag erschienenen Buchfassung des Trauerspielbu- Jerusalem um die Übersendung seiner Arbeit ÜBER
ches, die dann auch die komplette ERKENNTNISKRITI- SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
SCHE VoRREDE enthielt, dürften Benjamins Bemer- MENSCHEN. Bevor er Scholem seine >>neuen Notizen
kungen auf den ersten Teil der Vorrede (I, 207-218), über die Sprache<< schicke, möchte er sie mit den frü-
nämlich die sogenannte Ideenlehre, zu beziehen sein. hen vergleichen. Da ihm seine Berliner Papiere nicht
594 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

erreichbar sind, bittet er um die in Scholems Besitz leiten. Er sei überzeugt, »daß jede Wahrheit ihr Haus,
befindliche Abschrift (4, 214). Einen knappen Monat ihren angestammten Palast, in der Sprache hat, daß er
später ist die Arbeit eingetroffen, und Benjamin kann aus den ältesten A.oym errichtet ist und daß der so
sich an die »vergleichende[] Redaktion<< von zwei Ar- gegründeten Wahrheit gegenüber die Einsichten der
beiten machen, »die zwanzig Jahre auseinanderliegen« Einzelwissenschaften subaltern bleiben, solange sie
(248). Als Resultat dieser Redaktion ist die zweite Fas- gleichsam nomadisierend, bald hier bald da im Sprach-
sung der LEHRE VOM ÄHNLICHEN ZU betrachten, die bereiche sich behelfen, befangen in jener Anschauung
er mit dem Titel ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN vom Zeichencharakter der Sprache, der ihrer Termi-
im Herbst 1933 aus Paris nach Jerusalem schickt. Noch nologie die verantwortungslose Willkür aufprägt<<.
von Capri aus hatte Benjamin die ihn mit Beklem- Demgegenüber begreife die Philosophie die Sprache
mung erfüllenden hohen Erwartungen Scholems zu nicht als ein durch Konvention gestiftetes Zeichensy-
dämpfen versucht. Bei der >>sprachphilosophischen stem, sondern als eine »Ordnung, kraft welcher ihre
Notiz<< handele es sich >>um eine Glosse von zwei bis Einsichten jeweils ganz bestimmten Worten zustreben,
drei Schreibmaschinenseiten«. Inhaltlich sei sie >>nur deren im Begriff verkrustete Oberfläche unter ihrer
als ein Annex zu der größeren Arbeit aufzufassen, und magnetischen Berührung sich löst und die Formen des
- um auch das noch nebenbei zu sagen - keineswegs in ihr verschlossenen sprachlichen Lebens verrät« (2,
zu ihrem kommentatarischen Teil.<< Vielmehr handele 409). Wie Benjamin andeutet, entspricht seiner Ableh-
es sich >>um eine neue Wendung in unserer alten Ten- nung der Sprache als Zeichensystem eine erkenntnis-
denz, die Wege aufzuweisen, auf welchen es zu einer kritische Zurückweisung des begrifflichen Denkens, in
Überwindung der Magie gekommen ist«. Bisher habe deren Rahmen terminologisch an die Stelle des »Be-
er nicht viel mehr getan, >>als den Ort festzulegen, wo griffs« das »Wort« tritt.
dergleichen Gedanken etwa im Zusammenhange der Auf welche Weise diese Auffassung der Sprache mit
ersten, frühem Arbeit ihre Stelle hätten« (253 ). seinem Selbstverständnis als Autor verbunden ist, hat
Benjamin im Jahr der Niederschrift des Aufsatzes
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE
Der Grundgedanke der Sprachtheorie DES MENSCHEN in einem Brief an Martin Buher vom
17.7.1916 dargelegt. In dem Schreiben erläutert er aus-
Auch wenn man die herausragende Bedeutung der führlich die Gründe, die ihn dazu geführt haben, die
frühen Sprachtheorie im Werk Benjamins einräumt, Mitarbeit an der Monatsschrift Der Jude abzulehnen,
ist deren Tragweite für seine Arbeiten im einzelnen zu der Buber als deren Herausgeber ihn eingeladen
nicht ohne weiteres einsichtig. Zwar finden sich über hatte. Zwar ist seine Absage auch durch die affirmative
seine Schriften verstreut immer wieder sprachphilo- Stellung Buhers und vieler Beiträge der Zeitschrift zum
sophische Reflexionen. Sofern sie einen systematischen Krieg begründet. Dennoch geht es Benjamin nicht um
Zusammenhang ahnen lassen, hat Benjamin ihn seinen einen Protest gegen eine politische Haltung. Vielmehr
Lesern in der frühen Aufzeichnung verborgen und habe ihm der Ausbruch des Krieges »endlich und ent-
keine Anstalten gemacht, ihn etwa im Rahmen einer scheidend<< seine grundsätzliche Stellung »ZU allem
ausgearbeiteten Philosophie der Sprache eigens zu politisch wirksamen Schrifttum<< eröffnet (1, 325).
explizieren. Insofern dieser Art Schrifttum eine bestimmte Auffas-
Ihre eigentliche Bedeutung erhält die Sprachphilo- sung vom Wesen der Sprache zur unausgesprochenen
sophie in Benjamins Schriften nicht so sehr als deren Voraussetzung hat, bildet sie die Folie, von der er seine
Thema, sondern als deren Grundlage. In diesem Sinne eigene Sicht abhebt.
kann man noch die Bemerkung verstehen, mit der Das Charakteristische der verbreiteten und für das
Benjamin gegenüber einem Kritiker seines politischen politische Schrifttum maßgeblichen Überzeugung
Engagements Mitte der 20er Jahre darauf bestand, daß komme darin zum Ausdruck, daß sie die Sprache in
es von seinem sehr besonderen sprachphilosophischen ihrer Beziehung zur Tat einzig als Mittel in Betracht
Standpunkt aus zur Betrachtungsweise des dialekti- ziehe. Für sie sei »die Sprache nur ein Mittel der mehr
schen Materialismus »eine - wenn auch noch so ge- oder weniger suggestiven Verbreitung der Motive die
spannte und problematische - Vermittlung« gebe im Innern der Seele den Handelnden bestimmen«
(18). (ebd.). Dieser »expansiven Tendenz des Wort-an-
Eine nähere Erläuterung dieses Standpunkts findet Wort-Reihens«, in der sich die Tat wie das Resultat
sich in einem Brief an Hugo von Hofmannsthai aus eines Rechenprozessesam Ende ergibt, setzt Benjamin
dem Jahr 1924, in dem Benjamin die philosophischen seinen »Begriff zugleich sachlichen und hochpoliti-
Prämissen näher expliziert, die ihn in seinen Arbeiten schen Stils und Schreibens<< entgegen: nämlich »hin-
>>Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« 595

zuführen auf das dem Wort versagte [sie!]<<. Das ist Bruch mit der Jugendbewegung unterwirft. So bezieht
nicht als ein Plädoyer für Tatenlosigkeit zu verstehen. er sich in seinem Brief an Buher explizit auf seinen
Vielmehr wird die Tat nicht länger als mittelbares Re- Aufsatz über DAS LEBEN DER STUDENTEN, der ganz im
sultat des Wortes verstanden, sondern sie entspringt Sinne des Gesagten gehalten, nur im Ziel- Jahrbuch am
unmittelbar dort, wo das Wort gerade nicht als ein falschen Ort erschienen sei (1, 327). Zugleich dehnt er
Mittel in praktischer Absicht gebraucht wird. Nur wo die Geltung seiner Sprachauffassung auf andere
die >>Sphäre des Wortlosen<< sich rein erschließe, könne Sprachgebiete aus. Für eine Zeitschrift komme >>die
der >>magische Funke zwischen Wort und bewegender Sprache der Dichter der Propheten oder auch der
Tat überspringen<< (326f.). Begründet ist diese Über- Machthaber, kommen Lied Psalm und Imperativ[ ... ]
zeugung in einer dezidiert nicht-instrumentellen Auf- nicht in Frage, sondern nur die sachliche Schreibart<<
fassung der Sprache. Wirksam erweise sich Sprache (ebd.). Was diese Formen sprachlicher Äußerung von
niemals dadurch, daß sie als Mittel zu einem außer ihr der sachlichen Schreibart unterscheidet, ist indes nicht
liegenden Zweck diene, sondern einzig, indem sie >>un- eine von der zuvor in dem Brief dargelegten abwei-
mittel-bar<< wirke. Dieses von Benjamin >>magisch<< chende Auffassung der Sprache. Vielmehr hatte Ben-
genannte Sprachverständnis scheint ihm mit der >>ei- jamin ausdrücklich betont, daß er Schrifttum nur
gentlich sachlichen der nüchternen Schreibart<< zusam- >>dichterisch prophetisch sachlich« und >>was die Wir-
menzufallen und zugleich >>die Beziehung zwischen kung angeht aber jedenfalls nur magisch das heißt un-
Erkenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen mittel-bar verstehen« könne (326). Was die einzelnen
Magie anzudeuten<< (326). Formen des Schrifttums voneinander unterscheidet,
Genau besehen, versucht Benjamins Brief an Buher, ist die jeweils besondere Art und Weise ihrer >> Bezie-
ein Dilemma sprachphilosophisch zu überwinden, auf hungen zum Unsagbaren«, ist, mit anderen Worten,
das ihn die Darlegung der Kantischen Ethik in seinem die besondere Art der Magie, die in ihnen wirksam ist
Aufsatz über den MoRALUNTERRICHT aus dem Jahre (327).
1913 geführt hatte. Dort hatte er den sittlichen Willen Noch ein Jahr später reagiert Benjamin äußerst
im Sinne Kants als >>>motivfrei<, einzig bestimmt durch empfindlich, als er in einem Verlagskatalog die Schrift
das SittengesetZ<<, definiert (li, 48). Entsprechend lehnt Buhers über Die Lehre, die Rede und das Lied angekün-
er in dem Brief an Buher die Auffassung ab, daß die digt findet. In deren Titel nämlich stößt er auf die
Sprache dazu diene, mehr oder weniger suggestiv Mo- >>Einteilung sprachlicher Äußerungen«, die er in sei-
tive zu verbreiten. Damit ist die Einsicht umschrieben, nem unbeantwortet gebliebenen früheren Brief an den
daß wir, wie es in dem frühen Aufsatz heißt, in >>keiner Herausgeber des Juden vorgenommen hatte (371).
einzelnen empirischen Beeinflussung[ ... ] die Gewähr Diesen Briefhatte er mit dem Hinweis auf das roman-
[haben], wirklich den sittlichen Willen als solchen zu tische Athenäum abgeschlossen, das seinem Ideal einer
treffen<< (49). Einer Freundin, Carla Seligson, erläutert sachlichen Schreibart nahegekommen sei. Dieses Be-
er diesen Gedanken dahingehend, daß kein Mensch kenntnis wird er in der ANKÜNDIGUNG seiner eigenen
da, wo er frei sei, von unserem Willen beeinflußt wer- Zeitschrift ANGELus Novus einige Jahre später erneu-
den könne noch dürfe. Jede gute Tat sei nur das Sym- ern (li, 241 ). Nicht nur mit Blick auf den Aufsatz DIE
bol der Freiheit dessen, der sie wirkte: >>Taten, Reden, AUFGABE DES ÜBERSETZERS, sondern auch den Essay
Zeitschriften ändern keines Menschen Willen, nur sein über GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN, Benjamins
Verhalten, seine Einsicht u.s.f. (Das ist aber im Sittli- >>exemplarische Kritik« (2, 208) des Goethe-Romans,
chen ganz gleichgiltig)<< (1, 164). Scheint demnach die er in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen plante,
moralische Erziehung prinzipiell zum Scheitern ver- zeichnet sich die grundlegende Bedeutung der frühen
urteilt, so bietet dem Schüler Wynekens das Erlebnis sprachtheoretischen Überlegungen für sein Selbstver-
der Gemeinschaft die Gewähr einer >>Gestaltwerdung ständnis als Schriftsteller und Kritiker sowie für seine
des Sittlichen<<, die als ein religiöser Prozeß jeder nä- Theorie der Kunstkritik ab.
heren Analyse widerstrebe (li, 50). In einem Brief an Ernst Schoen (435 f.) zieht Ben-
Es spricht einiges für die Annahme, daß die Theorie jamin am 28.2.1918 eine Zwischenbilanz seiner ge-
der Sprachmagie nunmehr jene Systemstelle im Den- danklichen Entwicklung, in der die weit über sprach-
ken Benjamins ausfüllt, die die Gemeinschaft in seinen philosophische Fragen im engeren Sinne hinausge-
früheren Überlegungen besetzt hielt. Auf diese Weise hende Relevanz des frühen Sprachaufsatzes noch
bezeugt der Sprachaufsatz nicht zuletzt auch jenen einmal zum Ausdruck kommt. Er sei an einen Punkt
Transformationsprozeß, dem Benjamin sein Denken gelangt, der ihn jetzt zum ersten Mal zur Einheit des-
auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und ver- sen, was er denke, vordringen lasse. Lange zurücklie-
bindlicheren Formulierungen in den Jahren nach dem gende intensive Diskussionen mit Schoen sind ihm
596 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

dabei ebenso präsent wie sein »eigenes verzweifeltes bedeutendsten Anwalt hatte diese Richtung zweifels-
Nachdenken über die Grundlagen des kategorischen ohne in Gershorn Scholem, für den »Benjamins >theo-
Imperativs<< (436). Ohne zu einer Lösung gelangt zu logisches Denken<, das in seinen früheren Jahren sehr
sein, sei die Denkweise, die ihn damals beschäftigte, prononciert war [... ],an jüdischen Begriffen orien-
für ihn in einen größeren Zusammenhang getreten, tiert<< ist (Scholem 1983, 29). Scholem hat zwar den
und er habe sie weiter auszubilden gesucht. Diese Sprachaufsatz keiner kohärenten Interpretation un-
Denkweise charakterisiert er in einer Paraphrase des terzogen, aber in einschlägigen Zusammenhängen
zentralen Gedankens des Aufsatzes ÜBER SPRACHE implizit auf ihn verwiesen. So gilt ihm in seiner Un-
ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN tersuchung über den Namen Gottes und die Sprach-
mit den Worten, daß für ihn alle >>Fragen nach dem theorie der Kabbala die Auffassung, daß die Sprache
Wesen von Erkenntnis, Recht, Kunst<< mit der »Frage mehr sei als Mitteilung und Ausdruck, als gemeinsame
nach dem Ursprung aller menschlichen Geistesäuße- überzeugungaller Sprachmystiker. Der Mystiker ent-
rung aus dem Wesen der Sprache<< zusammenhängen decke an der Sprache eine geheime Dimension »oder,
(1, 437). wie man heute sagen würde: etwas an ihrer Struktur,
was nicht auf Mitteilung eines Mitteilbaren gerichtet
ist, sondern vielmehr[ ... ) auf Mitteilung eines Nicht-
Wege der Forschung Mitteilbaren, das ausdruckslos in ihr lebt<<. Mit seiner
Theorie vom symbolischen Charakter der Sprache sei
Benjamins Sprachtheorie und sein Sprachaufsatz von Benjamin, wie Scholem in diesem Zusammenhang
1916 sind von der Forschung in ihrer fundamentalen betont, »lange ein reiner Sprachmystiker<< gewesen
Bedeutung für sein Werk schon früh erkannt worden. (Scholem 1977, 8f.).
Gleichzeitig haben die hohen Anforderungen, mit de- In der Folge hat sich der von Menninghaus gewie-
nen der Text seine Interpreten konfrontiert, zu kon- sene Ansatz einer immanenten und funktionalen In-
troversen Deutungen geführt. Für die neuere For- terpretation der Sprachtheorie als insgesamt einfluß-
schung darf es als das richtungweisende Verdienst von reicher erwiesen. So hat Michael Bröcker überzeugend
Winfried Menninghaus angesehen werden, Benjamins den engen Zusammenhang herausgearbeitet, in dem
sprachtheoretische überlegungen in den Kontext der der Sprachaufsatz zu dem kurze Zeit später entstan-
Theorien Hamanns, Wilhelm von Humboldts und der denen Aufsatz ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN
deutschen Romantik gerückt zu haben (Menninghaus PHILOSOPHIE steht (Bröcker 1993; 2000). Zielte der
1980, 9-50). Seiner eingehenden Lektüre des Aufsatzes Ansatz von Menninghaus darauf, die vermeintliche
liegt ein funktionales Verständnis der Begriffe zu- Mystik Benjamins im Rückgriff auf die idealistisch-
grunde, in denen Benjamin seine Sprachauffassung romantische Tradition für die literarische Moderne
darlegt. Damit grenzt er sich zum einen gegen Liselotte und die literaturtheoretische Postmoderne zu retten,
Wiesenthai ab, für die Benjamin nach Maßgabe seiner so öffnet die Betonung der erkenntniskritischen Prä-
im zweiten Teil des Sprachaufsatzes dargelegten Deu- missen von Benjamins Sprachbegriff einen neuen Zu-
tung des Schöpfungsmythos eine strukturelle Identität gang zu den internen Zusammenhängen seines Wer-
von Sprache und empirischer Realität annimmt. Mit kes.
dieser »ontologischen Fassung der Abbildtheorie<< Nicht zuletzt hat die bis heute einflußreiche dekon-
habe Benjamin seine Sprachtheorie soweit überladen, struktivistische Benjamin-Interpretation in Benjamins
»daß letztlich nur die Metaphysik ein Fluchtfeld bot<< Sprachtheorie eine Legitimation ihres Ansatzes und
(Wiesenthal1973, 92). Zum anderen hatte Bernd Witte demgemäß in seinem Sprachaufsatz einen ihrer wich-
unter Berufung auf Scholem und im Rekurs auf dessen tigsten Grundtexte gefunden. Die unhintergehbare
1957 erschienene Studie über Die jüdische Mystik in Sprachlichkeit der Philosophie, die Benjamin aufge-
ihren Hauptströmungen in Benjamins Bezugnahme auf wiesen habe, begründe die Indirektheit ihrer figürli-
die Genesis seine Auffassung bestätigt gesehen, daß chen Rede. Benjamins Schriften führten sowohl theo-
Benjamins Sprachtheorie sich »aus dem theologischen retisch als auch exemplarisch vor Augen, daß Philoso-
Denken der jüdischen Offenbarungsreligion<< inspi- phie sich »selbst in sprachlichen Figuren darstellen<<
riere und aufgrund ihres biographisch-subjektiven müsse und »durch diese strukturiert<< sei (Menke 1991,
Ursprungs letztlich »wissenschaftlich nicht weiter<< 10). So findet Bettine Menke im Sprachaufsatz und
analysierbar sei (Witte 1976, 9 f.). dessen medialen Begriff der Sprache sowie in Benja-
Auch ohne diese anfechtbare Schlußfolgerung ist mins Insistenz auf der Darstellung als einem zentralen
ein theologisches Verständnis des Sprachaufsatzes in Problem des philosophischen Schrifttums das ent-
der Forschung auch weiterhin vertreten worden. Ihren scheidende Stichwort für ihre dekonstruktivistische,
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« 597

von Benjamins Nähe zu Derrida ausgehender Lektüre Sprache überhaupt oder das Medium
seines Werks. der Erfahrung
Dieser Ansatz ist insbesondere in der amerikani-
schen Forschung prominent vertreten. Für die Be- Benjamins Sprachaufsatz von 1916 setzt einen umfas-
handlung der Sprachtheorie Benjamins im allgemei- senden Sprachbegriff voraus, auf den bereits der Titel
nen erwies sich hier zudem Paul de Mans Studie zu der Abhandlung hinweist, wenn dort die Sprache des
Benjamins Aufsatz über DIE AuFGABE DES ÜBERSET- Menschen als ein Teilgebiet der Sprache überhaupt
ZERS als äußerst einflußreich (de Man 1992, 128-141). eingeführt wird. Wie in dem Brief an Buher wird Spra-
Stellvertretend sei auf die Arbeiten von Rainer Nägele che als Medium definiert und dementsprechend ihre
(Nägele 2001, 17-37) und Carol Jacobs verwiesen. Für »Unmittelbarkeit<< oder »Magie<< zum Grundproblem
Jacobs ist der Sprachaufsatz der Ausgangspunkt einer der Sprachtheorie erklärt (II, 142 f.). Als Medium, in
Reflexion, der es ausdrücklich nicht um ein Lesen des dem sich das geistige Wesen aller Dinge der belebten
>>Benjaminschen Denkens<< geht, wie es, in Anlehnung und der unbelebten Natur mitteilt, erfüllt Sprache die
an das bekannte Diktum Rankes, >eigentlich gewesen Forderung nach einem auch metaphysische Erfahrung
ist<, sondern um ein Lesen »dessen, was nie geschrie- ermöglichenden Erfahrungsbegriff, die Benjamin in
ben wurde<<. In letzter Konsequenz mag »diese Me- seiner knapp ein Jahr später entstandenen Schrift
thode des Lesens [... ] daher nicht so sehr die Quellen ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE
der Gedanken Benjamins an den Tag legen als vielleicht erheben wird.
eine neue Version derselben darstellen<< (Jacobs 2001, Gegen Ende der Programmschrift deutet er die ent-
416). scheidende Voraussetzung an, unter der die kommende
Unter gänzlich anderen theoretischen Prämissen Philosophie in Abkehr von den vorliegenden Ansätzen
gerät die metaphorische Dimension der Sprachtheorie die an sie gerichteten höchsten metaphysischen Erwar-
Benjamins bei Peter Fenves in den Blick. Für ihn stellt tungen würde erfüllen können: »Die große Umbildung
der Gedankengang des Sprachaufsatz eine konsequente und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-
Durchführung eines an Husserl geschulten Programms mechanisch orientierten Erkenntnisbegriff vorzuneh-
der transzendentalen Phänomenologie dar. In seiner men ist, kann nur durch eine Beziehung der Erkennt-
Theorie der Sprachmagie verleihe Benjamin der Spra- nis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten
che letztlich einen transzendentalen Charakter. In Hamann versucht hat gewonnen werden<< ( 168). In der
gewisser Weise übersetze Benjamin die Sprache der Sprache ist also jene Sphäre der reinen Erkenntnis zu
Phänomenologie in die einer Sprachphilosophie. Als suchen. Erst ein in der Reflexion auf das sprachliche
ein Medium, in dem sich die geistlichen Inhalte vor- Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff der Philo-
prädikativ und nicht-intentional, also unmittelbar sophie werde einen korrespondierenden Erfahrungs-
oder magisch, mitteilen, scheint dieser Ansatz auf seine begriff ermöglichen, der auch das Gebiet der Religion
Weise der phänomenologischen Forderung nach einer umfasse. Somit geht es in der kommenden Philosophie
Zuwendung >ZU den Sachen selbst< einen gangbaren, darum, »auf Grund des Kautischen Systems einen Er-
wenn auch nicht unproblematischen Weg zu weisen kenntnisbegriff zu schaffen dem der Begriff einer Er-
(Fenves 1996, 83). Für seine Lektüre des Sprachaufsat- fahrung korrespondiert von der die Erkenntnis Lehre
zes kann Fenves auf eine Reihe von der Forschung ist<< (ebd.). In einer Aufzeichnung aus der Zeit der Aus-
bisher weitgehend vernachlässigter direkter oder indi- arbeitung der Programmschrift heißt es prägnanter
rekter Bezugnahmen auf Husserl und die zeitgenössi- noch: »Philosophie ist absolute Erfahrung deduziert
sche phänomenologische Diskussion in Texten Benja- im systematisch symbolischen Zusammenhang als
mins verweisen. Auf diese Weise situiert er Benjamins Sprache<< (VI, 37).
Sprachphilosophie in einen philosophischen Kontext, Im Sprachaufsatz ergibt sich die nähere Struktur
vom dem auch die Philosophie des jungen Martin dieser Erfahrung aus der Prämisse, daß zwar jedes gei-
Heidegger ihren Ausgangspunkt nimmt. stige Wesen sich sprachlich mitteile, nicht aber jedes
Teils im Anschluß an poststrukturalistische und geistige Wesen restlos sprachlich sei. Demnach zerfällt
dekonstruktivistische Lektüren, aber auch durchaus das Medium Sprache in eine Vielzahl von Sprachen,
unabhängig von diesen Ansätzen ist die Sprachtheorie die sich lediglich graduell, nach Maßgabe der Inten-
Benjamins in eher philosophiegeschichtlicher (van sität der Durchdringung von geistigem und sprach-
Reijen 1998; Knoche 2000) oder in hermeneutischer lichem Wesen voneinander unterscheiden. Diese
Perspektive (Schwarz Wentzer 1998) neuerdings in die überlegung führt Benjamin auf den Begriff der Of-
Nähe des Sprachdenkens des späten Heidegger gerückt fenbarung, den die Sprachphilosophie mit der Religi-
worden. onsphilosophie teile, ohne ihn jedoch von ihr sich
598 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

vorgeben zu lassen. Unter sprachphilosophischem Ge- Die Sprache des Menschen


sichtspunkt bezeichnet >Offenbarung< den denkbar
intensivsten Grad der Durchdringung von Geist und Benjamin hat seine Sprachauffassung zu Beginn der
Sprache, die intensivste Medialität von Sprache über- Abhandlung als eine »Methode<< bezeichnet, die über-
haupt. Während die menschliche Sprache auf diesem all neue Fragestellungen erschließe (II, 140). Der Ex-
höchsten Inbegriff des Sprachgeistes beruhe, beruht plikation der Grundlagen dieser Auffassung läßt er
die Kunst auf einer vergleichsweise unvollkommenen einen zweiten Teil folgen, in dem er sich auf die im
Sprache. Der von ihr »in seiner vollendeten Schönheit<< Buch Genesis der Bibel erzählte Schöpfungsgeschichte
bezeugte »dingliche Sprachgeist<< (II, 147) wäre am als auf einen Text bezieht, der mit seinen eigenen über-
entgegengesetzten Ende der von Benjamin entworfe- legungen prinzipiell darin übereinstimme, daß in ihr
nen Skala anzusiedeln. Auf diese Überlegungen kommt »die Sprache als eine letzte, nur in ihrer Entfaltung zu
Benjamin gegen Ende seiner Abhandlung zurück. Al- betrachtende, unerklärliche und mystische Wirklich-
lerdings gilt von seinen Ausführungen über die »Er- keit vorausgesetzt<< werde. Weder verfolge er in diesem
kenntnis der Kunstformen<<, die »alle als Sprachen später gelegentlich so genannten »kommentatorischen
aufzufassen<< und deren »Zusammenhang mit Natur- Teil<< (4, 253) des Sprachaufsatzes Bibelinterpretation
sprachen zu suchen<< sei ( 156), mehr noch als von den als Zweck, noch auch werde »die Bibel an dieser Stelle
systematischen und kommentatarischen Teilen des objektiv als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken
Aufsatzes, daß ihnen das Fragmentarische anzumerken zugrunde gelegt<<. Allein das, »was aus dem Bibeltext
ist, das Benjamin seinem Versuch insgesamt attestiert in Ansehung der Natur der Sprache selbst sich ergibt,
hat. soll aufgefunden werden<< (II, 147).
Aber auch für die gegen Ende des Aufsatzes skiz- Hatte ihn die Darlegung der medialen Struktur der
zierte Theorie der Kunst gilt, daß Benjamin die Spra- Sprache auf den Begriff der Offenbarung geführt, so
che wie die Sprachphilosophie im engeren Sinne seit geht es nunmehr darum, von diesem idealen Inbegriff
Mitte des 18. Jh.s grundsätzlich nicht als ein Mittel der der Sprache ausgehend, ihre faktische Komplexität zu
Kommunikation, sondern als eine konstitutive Bedin- verstehen. Der Unterscheidung einer schöpferischen
gung sowohl des Denkens als auch des künstlerischen göttlichen Sprache von einer ihr gegenüber defizitären,
Gestaltens betrachtet. Damit knüpft er an eine Tradi- auf die Funktion der Erkenntnis reduzierten Sprache
tion an, für die er sich im Sprachaufsatz ebenso wie in des Menschen, die Benjamin im biblischen Schöp-
der philosophischen Programmschrift explizit auf Ha- fungsbericht vorfindet, liegt seine Beschreibung der
mann, implizit und ohne daß sich das Ausmaß seiner Sprache als eines Mediums unterschiedlicher Dichte
Kenntnisse im einzelnen belegen ließe, auf die deut- im ersten Teil des Aufsatzes zugrunde.
sche Romantik und Wilhelm von Humboldt bezieht Benjamin exponiert seine Überlegungen im Rekurs
(Menninghaus 1980, 12-33). Der Begriff der Offenba- auf den in der Genesis dargelegten göttlichen Schöp-
rung, den Benjamin in seine Üherlegungen einführt, fungsakt am Leitfaden der Begriffe >Wort< und >Name<.
ist dem Primat der so verstandenen Sprache unterwor- Dem Wortlaut des Genesistextes entsprechend, er-
fen. In einem Brief an Jacobi, in dem er sich gegen den scheine in dem »>Es werde< und in dem >Er nannte< am
Aberglauben an die mathematische Form in der Phi- Anfang und Ende der Akte [... ] jedesmal die tiefe deut-
losophie bei Spinoza und bei Kant wendet, hatte Ha- liehe Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache<<
mann betont, daß bei ihm weder von Physik noch von (148). Von diesem Rhythmus der Schöpfung ist einzig
Theologie die Rede sei, »sondern Sprache, die Mutter die Schöpfung des Menschen ausgenommen: »Gott
der Vernunft und Offenbarung, ihr A und Q. Sie ist hat den Menschen nicht aus dem Wort geschaffen, und
das zweyschneidige Schwert für alle Wahrheiten und er hat ihn nicht benannt<<. Benjamin zufolge wollte
Lügen. Lachen Sie also nicht, wenn ich das Ding von Gott demnach den Menschen »nicht der Sprache un-
dieser Seite angreifen muß. Es ist meine alte Leyer - terstellen<<. Vielmehr entließ er im Menschen die Spra-
aber durch sie sind alle Dinge gemacht<< (Hamann che, »die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte,
1955 ff., VI, 108). Auch für Benjamin, der dieses Zitat frei aus sich<< (149). Auf diese Weise, so Benjamins für
auszugsweise anführt, gilt Hamanns weniger theolo- den weiteren Gedankengang des Aufsatzes entschei-
gische als vielmehr erkenntniskritische Einsicht, daß dendes Zwischenresümee, wurde das Schöpferische im
schließlich durch die Sprache >alle Dinge gemacht< Menschen Erkenntnis: »Der Mensch ist der Erken-
sind. nende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist<<
(ebd.). Anders gesagt, ist demnach alle menschliche
Sprache »nur Reflex des Wortes im Namen<< (ebd.).
Von dieser Grundannahme stellt allein der Eigenname
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« 599

eine Ausnahme dar: Während die Sprache des Men- auch die ganze Natur ist von einer namenlosen stum-
schen wesentlich auf Erkenntnis basiert, ist der Eigen- men Sprache durchzogen, dem Residuum des schaf-
name selbst schaffend; er ist >>die Gemeinschaft des fenden Gotteswortes, welches im Menschen als erken-
Menschen mit dem schöpferischen Wort Gottes<< nender Name und über dem Menschen als richtendes
(150). Urteil schwebend sich erhalten hat« (157).
Mit Blick auf seine sprachtheoretische Rekonstruk- Grundlegend für Benjamins Überlegungen ist die
tion des Schöpfungsaktes geht Benjamin davon aus, Annahme, daß die Sprache des Menschen schöpferisch
daß die adamitische Namensprache, oder wie der Text allein in der Erkenntnis des von Gott Geschaffenen ist.
gelegentlich auch sagt: die paradiesische Sprache des Benjamin rekonstruiert die Prozedur der adamitischen
Menschen, wollkommen erkennend gewesen sei[n]« Namensgebung als eine "Übersetzung der Sprache der
muß (152). Dies ändert sich mit dem Sündenfall, der Dinge in die des Menschen<< (150). Demnach begreift
das >Wort< auf einer anderen Ebene in die menschliche er diesen Vorgang als einen Erkenntnisakt In ihm voll-
Namensprache einführt - nämlich als >richtendes zieht sich Erkenntnis im Medium einer Erfahrung, die
Wort<. Für Benjamins sprachtheoretische Deutung des genuin sprachlich ist. Auf diese Weise, nämlich nach
Sündenfalls ist die Einsicht leitend, daß das Wissen, Maßgabe der Koinzidenz von Sprachphilosophie und
das der Baum der Erkenntnis verleiht, genau besehen Erkenntniskritik, rückt der Begriff der Übersetzung,
eigentlich keinen Gegenstand hat: ''Das Wissen um gut den Benjamin in der »tiefsten Schicht der Sprachtheo-
und böse verläßt den Namen, es ist eine Erkenntnis rie« begründet wissen möchte (151), ins Zentrum
von außen, die unschöpferische Nachahmung des seiner Überlegungen.
schaffenden Wortes« (152 f.). >>Der Sündenfall ist die Für sein Verständnis der adamitischen Namensge-
Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der bung als Erkenntnisakt beruft sich Benjamin ein wei-
Name nicht mehr unverletzt lebte« ( 153). In Benja- teres Mal auf Hamann (ebd.). Dessen kleine Schrift
mins Deutung offenbart der Sündenfall eine eigen- Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über
tümliche Dialektik: >>Der Baum der Erkenntnis stand den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprachen
nicht wegen der Aufschlüsse über Gut und Böse, die beschreibt das Verhältnis von göttlicher und mensch-
er zu geben vermocht hätte, im Garten Gottes, sondern licher Sprache in einer für den Sprachaufsatz auf-
als Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden« schlußreichen Weise. Hamann nämlich geht von einer
( 154). »communicatio göttlicher und menschlicher idoma-
Die nachparadiesische Sprache des Menschen steht tum« aus, die »ein Grundgesetz und der Hauptschlüs-
im doppelten Sinn des Wortes im Bann des >Urteils< sel aller unserer Erkenntnis und der sichtbaren Haus-
oder des >richtenden Wortes<. So entspringt im Sün- haltung« sei. So sei Gott der Ursprung aller Wirkungen
denfall zum einen >>die Abstraktion« als ein Vermögen im Großen und Kleinen. Folglich sei alles göttlich, und
des Sprachgeistes (ebd.). Während der Name in den die Frage vom Ursprung des Übels laufe am Ende auf
konkreten Elementen der Sprache wurzele, sei zu ver- ein Wortspiel und Schulgeschwätz hinaus. Dem stellt
muten, daß die abstrakten Sprachelemente dem Urteil Hamann seine entscheidende Einsicht an die Seite:
entstammen. Im logischen Urteil, in der Prädikation »Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der
also, wird die Sprache in Benjamins Verständnis zu Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der
einem Mittel der Bezeichnung, >>damit auch an einem Analogie seiner Natur«. Weil die Werkzeuge der Spra-
Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen<<; und das habe che ein Geschenk der Natur seien, sei »allerdings der
>>später die Mehrheit der Sprachen zur Folge« (153). Ursprung der menschlichen Sprache göttlich<<. Wenn
Zum anderen aber hat das Urteil nicht nur eine logi- aber ein höheres Wesen »durch unsre Zunge wirken
sche, sondern eine ethisch-juristische Bedeutung. In will; so müssen solche Wirkungen [... ] sich der
diesem zuletzt genannten Sinne begreift Benjamin die menschlichen Natur analogisch äußern, und in dieser
ungeheure Ironie der Dialektik des Sündenfalls als >>das Beziehung kann der Ursprung der Sprache und noch
Kennzeichen des mythischen Ursprunges des Rechtes« weniger ihr Fortgang anders als menschlich seyn und
(154). scheinen« (Hamann 1949 ff.; III, 27).
Im letzten Abschnitt seines Aufsatzes resümiert Ben- Wie Hamann geht auch Benjamin von einer Analo-
jamin dessen um die Zentralbegriffe >Wort<, >Name< gie zwischen göttlicher und menschlicher Sprache aus,
und >Urteil< kreisenden Gedankengang in einem ellip- die aber zugleich eine konstitutive Differenz impliziert.
tischen Satz: >>Der Mensch teilt sich Gott durch den Während Spekulationen über den Ursprung der Spra-
Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im che nicht weiterführen, erschließt sich die Funktion
Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen der menschlichen Sprache nach Maßgabe der Einsicht
nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt, denn in ihre Differenz zur göttlichen. So kann Benjamin in
600 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

der Programmschrift mit der von ihm in der Nachfolge das auf Konvention beruhende >>bloße Zeichen<< getre-
Hamanns angestrebten »Beziehung der Erkenntnis auf ten. Auch diese Relation bezeichnet Benjamin als eine
die Sprache<< (II, 168) zwar einerseits ihre kritische magische; das richtende Wort oder das Urteil besitze
Restriktion auf die Grenzen möglicher Erfahrung bei- ebenfalls eine Magie, aber >>seine Magie ist eine andere
behalten. Zugleich jedoch gewährleistet das im Sprach- als die des Namens<< (ebd.).
aufsatz dargelegte Verständnis von Sprache ein durch Während Benjamin die juristisch-ethische Dimen-
die Sprache konstituiertes Kontinuum von Erfahrung, sion des Terminus >Urteil< mit dem Hinweis auf den
das die empirische Welt der Erfahrung mit der intelli- >>mythischen Ursprung[] des Rechtes<< (154) an dieser
giblen verbindet. Auf diese Weise aber wird Erkenntnis Stelle nur streift, folgen seine weiteren Überlegungen
nicht mehr als ein Denkakt im Sinne der Konstitution der epistemologisch-logischen Bedeutung des Begriffs.
des Gegenstandes der Erkenntnis durch das Zusam- Demnach wäre die Bezeichnung oder die Prädikation
menspiel der Erkenntnisvermögen begriffen. Zu Recht im Sinne der urteilslogischen Verbindung von Subjekt
ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß Benja- und Prädikat als eine Form der Erkenntnis und also als
mins Auslegung des Sündenfallmythos eine Kritik der eine übersetzung zu verstehen, der ein instrumenteller
neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie einschließe, der Sprachgebrauch zugrunde liegt. So hat sich die nach-
in der Programmschrift die Zurückweisung der Kan- paradiesische Sprache nicht nur noch weiter als die
tischen Trennung von Anschauung und Verstand ent- Namensprache von der göttlichen entfernt, sondern in
spreche. Vor dem Hintergrund seiner sprachtheoreti- der >>Mittelbarmachung der Sprache<< zugleich auch
schen Reflexionen sei es nur konsequent, daß er dort den >>Grund zu ihrer Vielheit gelegt« (ebd.). Denn die
die Forderung nach einer Aufgabe der »Unterteilung vielen Sprachen sind im Unterschied zur einen Namen-
der Erkenntnisvermögen in einen sinnlich rezeptiven sprache mannigfache Formen der Bezeichnung.
und einen denkend aktiven Teil<< erhebe, >>die den Sub- Aus dieser Diskrepanz zwischen göttlicher und
jekt-Objekt-Dualismus ins Subjekt hinein verlängert<< menschlicher Sprache leitet Benjamin nicht nur den
(Bröcker 2000, 746). Nicht nur in dieser Hinsicht ließe übersetzungsbegriff her, sondern auch die Vielheit
sich überdies auf Berührungspunkte zwischen dem menschlicher Sprachen. Die Sprache der Dinge könne
von Husserl verfolgten phänomenologischen Ansatz in die Sprache der Erkenntnis nur in der übersetzung
und Benjamins Sprachphilosophie verweisen (Fenves eingehen - >>soviel Übersetzungen, soviel Sprachen,
1996, 79-83). sobald nämlich der Mensch einmal aus dem paradie-
Der Begriff der >>Namensprache<< hatte Benjamin sischen Zustand, der nur eine Sprache kannte, gefallen
dazu gedient, die grundlegenden Funktionen der ist<< (152). Unter sprachtheoretischem Gesichtspunkt
menschlichen Sprache in ihrer Differenz zur göttlichen ist der biblische Bericht vom Sündenfall in Benjamins
zu explizieren. Von diesem paradiesisch-idealen Stand Sprachaufsatz kein Gegenstand moraltheologischer
der Sprache ist das >>menschliche Wort<< (II, 153) zu Erwägungen. Vielmehr illustriert er, wie Sprache sich
unterscheiden, die historisch vorfindliehe Realität der in ihrer Entwicklung weiterhin differenziert, in ihrer
Vielheit der menschlichen Sprachen. In seiner Deu- Mannigfaltigkeit >>sich differenzieren muß<< (ebd.).
tung des Sündenfallmythos beschreibt Benjamin das Auch wenn Benjamin die menschlichen Sprachen nach
menschliche Wort in seiner spezifischen funktionalen dem Sündenfall als ein parodistisches Zerrbild der
Differenz zur Namensprache. göttlichen beschreibt, ist für ihr Verständnis nicht der
In der Folge des Sündenfalls, von dem die Bibel be- theologische Skandal des Sündenfalls entscheidend.
richtet, läßt sich die menschliche Sprache als ein par- Statt dessen gilt es, in der vorfindliehen Vielfalt der
odistisches Zerrbild der in der göttlichen Sprache Sprachen ebenso wie in den vielfältigen Formen
hypostasierten Identität von Wort und Name beschrei- sprachlicher Äußerungen die mediale Struktur von
ben. Diese fand ihren höchsten Ausdruck in der Affir- Sprache überhaupt zu erfassen, die ihrer zunehmen-
mation des Geschaffenen im Wort Gottes: >>Und sihe den Differenziertheit und Komplexität zum Trotz im
da/ es war seer gut<< (Gen. 1,31). Demnach hat das Grunde unverändert geblieben ist.
prätendierte menschliche Wissen um Gut und Böse Zwar ist die Instrumentalisierung seit dem >>Sün-
gar keinen Gegenstand. Im Kontext der Genesis erweist denfall des Sprachgeistes<< zum vorherrschenden
es sich als eine >>unschöpferische Nachahmung des Merkmal der menschlichen Sprachen geworden. Den-
schaffenden Wortes<< (li, 153). Während im Namen noch erschöpft sie nicht deren Wesen. Während die
das Geschaffene unmittelbar erkannt und >>magisch<< Sprachen >>an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zei-
in Sprache übersetzt wurde, fungiert die Sprache im chen<< wurden, lebt andererseits die Unmittelbarkeit
Urteil nunmehr als ein Mittel, ein willkürlich Geschaf- in ihnen fort- wenn auch, wie Benjamin betont, >>nicht
fenes beliebig zu bezeichnen. Neben den Namen ist mehr unverletzt<< (153).
»Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« 601

Fortwirkung des Grundgedankens halts<< (I, 128). Nicht zufällig wiederholt er sie in nur
leicht abgewandelter Form im Trauerspielbuch in einer
In direkter Fortführung der frühen Sprachtheorie ver- Passage, in der er sein Verständnis von Kunstkritik
deutlicht die LEHRE voM ÄHNLICHEN den Grundge- gegen die romantische Auffassung der Kritik abgrenzt
danken, wenn dort das Semiotische oder Mitteilende (358).
der Sprache als der >>Fundus<< begriffen wird, an dem In der 1921 entstandenen Vorrede zu Benjamins
die mimetische oder magische Seite der Sprache >>in Übertragung der Tableaux parisiens haben Benjamins
Erscheinung treten kann<< (II, 208). Der Sündenfall des im engeren Sinne sprachtheoretische Reflexionen ih-
Sprachgeistes bedeutet weniger einen Verlust der wah- ren ersten öffentlichen Niederschlag gefunden. In der
ren Sprache als vielmehr einen Wandel ihres Darstel- AuFGABE DES ÜBERSETZERS geht es allerdings nicht so
lungsmodus: Statt von einer >>offenbarten Wesensein- sehr um Sprache überhaupt, sondern um konkrete
heit<<, ist von einer>> Vielheit von Wesenheiten<< auszu- Sprachformen im historischen Kontext. Dennoch setzt
gehen, in denen das Wesen in der Empirie zur der Essay die mediale oder: magische Auffassung der
Darstellung und Entfaltung kommt. In einem Frag- Sprache ebenso voraus wie den in dieser Auffassung
ment aus dem Umkreis der Notizen zu der geplanten fundierten universalen übersetzungsbegriff. >>Nirgends
Habilitationsschrift über >>Sprache und Logik<< be- erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform
zeichnet Benjamin die Vielheit der Sprachen als eine gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für
derartige >>Wesensvielheit<< und erläutert sie folgender- deren Erkenntnis fruchtbar<< (IV, 9). Entsprechend
maßen: >>Die Lehre der Mystiker vom Verfall der wah- dient die übersetzung eines Kunstwerks weder der
ren Sprache kann also wahrheitsgemäß nicht auf deren Wiedergabe seines Sinns noch dem Leser, der die Spra-
Auflösung in eine Vielheit, welche der ursprünglichen che des Originals nicht versteht. Vielmehr erprobt sie
und gottgewollten Einheit widerspräche hinauslaufen, dessen >>Ühersetzbarkeit<<.
sondern - da die Vielheit der Sprachen sowenig wie Mit Benjamin ist die übersetzung als eine Gestalt
die der Völker ein Verfallsprodukt, ja soweit davon des völlig unmetaphorisch gemeinten >>Fortlebens<<
entfernt ist es zu sein, daß gerade eben diese Vielheit ( 11) des Originals zu verstehen. Ebenso wie die leben-
allein deren Wesenscharakter ausspricht, - sie kann dige Sprache einem historischen Wandel unterliegt,
nicht auf deren Auflösung in eine Vielheit gehen<<. der in späteren Zeiten etwa im archaischen Klang be-
Vielmehr spreche die Lehre der Mystiker >>von einer stimmter Wendungen zutage tritt, so haben auch die
zunehmenden Ohnmacht der integralen Herrschge- Kunstwerke ein natürliches Leben, von dem ihr Ruhm
walt<<. Diese Herrschgewalt sei im Sinne dieser Lehre zeugt, dem die Kritik zugehört und das in der Über-
als >>die ursprünglich aus den gesprochenen [Spra- setzung zur spätesten Entfaltung gelangt. Wie die Be-
chen) allen sich vernehmbar machende Harmonie von deutung großer Dichtungen sich zunächst im histori-
ungleich größerer sprachlicher Gewalt als jede Einzel- schen Wandel der Sprache des Originals bewährt, so
sprache sie besessen, erschienen<< (VI, 24 f.). überschreiten sie in der Übersetzung den Kreis der
In dieser Überlegung zeichnet sich eine Denkfigur eigenen Sprache, um zum >>Ausdruck des innersten
ab, die in ihrer zentralen Bedeutung für Benjamins Verhältnisses der Sprachen zueinander<< (12) zu wer-
Denken schwerlich überschätzt werden kann. Sie prägt den. In der Hypothese einer Konvergenz aller Spra-
den medialen Begriff der Sprache ebenso wie seinen chen, durch die ihr Verhältnis zueinander a priori
Begriff der Erfahrung. Gegen die Einschränkung der bestimmt ist, findet Benjamins Theorie der überset-
Erfahrung, die Kant vorgenommen hatte, insistiert zung ihren Fluchtpunkt. Des näheren beruht die
Benjamin darauf, daß >>die wesentlichsten Inhalte des >> überhistorische Verwandtschaft der Sprachen darin,
Daseins in der Dingwelt sich auszuprägen, ja ohne daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar
solche Ausprägung sich nicht zu erfüllen vermögen<< dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von
(I, 126). Benjamins von Scholem kolportierte Bemer- ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergän-
kung, derzufolge eine Philosophie, die nicht die Mög- zenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache<<
lichkeit der Weissagung aus dem Kaffeesatz einbeziehe, (13).
keine wahre sein könne (Scholem 1975, 77), drückt In der Ausrichtung auf die eine wahre Sprache als
zugespitzt denselben Grundgedanken aus. Dasselbe Integral der vielen berührt sich die Aufgabe des Über-
gilt für die programmatische Formel, mit der Benja- setzers mit der des Philosophen. Wenn Benjamin in
min im Essay über GOETHES WAHLVERWANDTSCHAF- der >>Ahnung und Beschreibung<< (16) der wahren
TEN die kunstphilosophische Probe auf seine erkennt- Sprache die einzige Vollkommenheit sieht, die sich der
niskritisch-sprachphilosophische Einsicht macht: >>Der Philosoph erhoffen darf, so wird seine Aufgabe damit
Wahrheitsgehalt erweist sich als solcher des Sachge- als eine propädeutisch-kritische umschrieben. Mit den
602 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

erkenntniskritischen Implikationen des universalen Welt >>allseitiger und integraler Aktualität<< mit der Idee
Übersetzungsbegriffs übernimmt der Essay auch die einer integralen Prosa vergleicht, die alle Fesseln der
grundlegende Denkfigur, die die mitteilende Dimen- Schrift gesprengt habe ( 1238), so gilt für diese ebenso
sion der Sprache als den Fundus begreift, an dem ihre wie für die frühe sprachphilosophische Spekulation
mimetische oder magische Seite mehr oder weniger eine andere, nicht minder zentrale Einsicht. Der Hi-
verborgen zur Darstellung gelangt. Auf diese Weise storiker, der der Struktur der Geschichte nachgehe,
erweist sich der stete Wandel der Sprachen als der ei- betreibe auf seine Weise eine Art Spektralanalyse. Wie
gentümliche Darstellungsmodus der reinen Sprache. der Physiker ultraviolett im Sonnenspektrum feststelle,
Während die Sprachen >>bis ans messianische Ende so stelle der Historiker eine messianische Kraft in der
ihrer Geschichte wachsen<<, falle es der Übersetzung Geschichte fest. Wer jedoch wissen wollte, so Benjamin
zu, >>am ewigen Fortleben der Werke und am unend- weiter, >>in welcher Verfassung sich die >erlöste Mensch-
lichen Aufleben der Sprachen [... ] immer von neuem heit< befindet, welchen Bedingungen das Eintreten
die Probe auf jenes heilige Wachstum der Sprachen zu dieser Verfassung unterworfen ist und wann man mit
machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenba- ihm rechnen kann, der stellt Fragen, auf die es keine
rung entfernt sei, wie gegenwärtig es im Wissen um Antwort gibt. Ebensogut könnte er sich danach erkun-
diese Entfernung werden mag<< (14). digen, welche Farbe die ultravioletten Strahlen haben<<
Die Nähe dieser Sätze zu den späten Thesen ÜBER (1232).
DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE ist ebenso unüberseh-
bar wie die Gefahr, daß sie »dem enthusiastischen Werk
Mißverständnis Tor und Tür öffnen<< (6, 436), das Ben- ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
jamin jedenfalls für die Thesen voraussah. Aber eben- MENSCHEN (II, 140-157 u. VII, 785-791)
ANKÜNDIGUNG DER ZEITSCHRIFT: ANGELUS Novus (II, 241-
sowenig wie sich aus seiner sprachtheoretischen Inter- 246)
pretation der Genesis eine theologisch inspirierte Sicht DIE AuFGABE DES ÜBERSETZERS (IV, 9-21)
der Geschichte als Verfallsprozeß ableiten läßt, begrün- DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE IN TRAUERSPIEL UND TRAGÖ-
det die Rede vom Wachstum der Sprachen eine Spe- DIE (II, 137-140)
GOETHES WAHLVERWANDTSCHAFTEN(!, 123-201)
kulation über ein heilsgeschichtliches Ende der Ge- LEHRE VOM ÄHNLICHEN (II, 204-210)
schichte. Nicht anders als der Begriff der Offenbarung DER MoRALUNTERRICHT (II, 48-54)
dient auch der des messianischen Wachstums dem TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE (II, 133-137)
Verständnis einer Struktur: der Struktur der Sprache ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN (II, 210-213)
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (I, 203-430)
wie der der Geschichte. Die metaphysische Struktur
der Geschichte zu erfassen aber hatte Benjamin sich
bereits im LEBEN DER STUDENTEN im Interesse einer Literatur
Erkenntnis der Gegenwart zur Aufgabe gesetzt. Nicht Bröcker, Michael (1993): Die Grundlosigkeit der Wahrheit.
zufällig kommt er deshalb in einem Paralipomenon zu Zum Verhältnis von Sprache, Geschichte und Theologie
den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE im- bei Walter Benjamin, Würzburg.
Bröcker, Michael (2000): »Sprache<<, in: Michael Opitz/Erd-
plizit auf seine frühe Sprachtheorie zu sprechen. Ge- mut Wizisla: Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt a. M.,
legenheit dazu gibt ihm das Problem der Universalge- 740-773.
schichte, auf das die Geschichtsschreibung des Histo- De Man, Paul (1986): >>Walter Benjamin's >The Task of the
Translator<<<, in: ders.: The Resistance to Theory, Minnea-
rismus notwendig stoße (I, 702) und auf das der
polis, 73-105.
Historismus, wenigstens in Benjamins Sicht, mangels Fenves, Peter (1996): >>The Genesis of Judgement: Spatiality,
theoretischer Besinnung auf seine Methode keine zu- Analogy, and Metaphor in Benjamin's >On Language as
friedenstellende Lösung bereithalte. In einer Notiz il- Such and on Human Language<<<, in: David S. Ferris (Hg.):
Walter Benjamin. Theoretical Questions, Stanford, 75-
lustriert er das Problem, indem er der Idee der Uni-
93.
versalgeschichte die Idee einer messianischen Welt an Hamann, Johann Georg (1949ff.): Sämtliche Werke. Histo-
die Seite stellt. Die Vielheit der >Historien< sei »eng risch-kritische Ausgabe, 6 Bde, hg. v. JosefNadler, Wien.
verwandt wenn nicht identisch mit der Vielheit der Hamann, Johann Georg (1955ff.): Briefwechsel, 7 Bde, hg. v.
Walther Ziesemer/Arthur Henkel, Wiesbaden.
Sprachen. Universalgeschichte im heutigen Sinn ist Jacobs, Carol (2001): >>Not, Bremse: Nichts wird wieder je
immer nur eine Sorte von Esperanto. (Sie gibt der (wieder) so sein, wie es war<<, in: Hart Nibbrig, Christiaan
Hoffnung des Menschengeschlechts eben so gut Aus- L. (Hg.): Übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt a.M.,
druck, wie der Name jener Universalsprache es tut.)<< 394-422.
Knoche, Stefan (2000): Benjamin- Heidegger. Über Gewalt.
(1235) Wenn es in Fortsetzung dieser Analogie an an- Die Politisierung der Kunst, Wien.
derer Stelle heißt, die Idee der Universalgeschichte sei Menke, Bettine (1991): Sprachfiguren: Name, Allegorie, Bild
eine >>messianische<< und Benjamin diese messianische nach Benjamin, München.
603

Menninghaus, Winfried (1980): Walter Benjamins Theorie


der Sprachmagie, Frankfurt a.M.
Der Brief an Buber
Nägele, Reiner (2001 ): >>Echolalie<<, in: Christian L. Hart Nibb- vom 17.7.1916
rig (Hg.): übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt a.M.
Regehly, Thomas (Hg.) (1993): Namen, Texte, Stimmen. Wal- Von Samuel Weber
ler Benjamins Sprachphilosophie, Stuttgart.
Reijen, Willern van (1998): Der Schwarzwald und Paris. Hei-
degger und Benjamin, München, 142-165. Walter Benjamin ist einer der wichtigsten Denker der
Scholem, Gershorn (1975): Waller Benjamin. Die Geschichte neuen Medien geworden, nicht allein aus Genialität
einer Freundschaft, Frankfurt a. M. - die er zweifelsohne zu einem erstaunlichen Grade
Scholem, Gershorn (1977): >>Der Name Gottes und die besaß - sondern vor allem weil er, wie kein anderer vor
Sprachtheorie der Kabbala<<, in: ders: Judaica 3. Studien
zur jüdischen Mystik, Frankfurt a. M., 7-70. und nach ihm, die Medialität seines Denkens bedachte.
Scholem, Gershorn (1983): >>Waller Benjamin<< [1964], in: Das Medium seines Denkens war nicht neu, sondern
ders.: Waller Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze sehr alt, nämlich die Sprache, oder vielleicht genauer,
und kleine Beiträge, Frankfurt a. M., 9-34. das Schreiben.
Schwarz Wentzer, Thomas ( 1998 ): Bewahrung der Geschichte.
Die hermeneutische Philosophie Waller Benjamins, Bo- Eines der frühesten Zeugnisse seines Bedenkens
denheim. dieses Mediums findet sich in einem Brief an Martin
Wiesenthal, Liselotte ( 1973): Zur Wissenschaftstheorie Waller Buher, den Benjamin im Juli 1916 geschrieben hat-
Benjamins, Frankfurt a.M. also mitten im ersten Weltkrieg. Buher hatte Benjamin
Witte, Bernd (1976): Waller Benjamin, der Interlektuelle als
Kritiker: Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart. aufgefordert, an der von ihm neu gegründeten Zeit-
schrift Der Jude mitzuarbeiten (vgl. den Artikel
>>Gershom Scholem<<, 59-76). Nach dem Erscheinen
des ersten Hefts sah Benjamin keine Möglichkeit, auf
diese Einladung positiv zu reagieren. Zuerst plante er,
seine Ablehnung der Zeitschrift in einem offenen Brief
an Buher darzulegen. Schließlich entschloß er sich,
Buher privat zu schreiben. In diesem Brief begründete
er seine negative Entscheidung durch eine Reflexion
über das Schreiben allgemein und über das politische
Schreiben insbesondere. Gleich zu Anfang also macht
Benjamin unvermißverständlich deutlich, daß seine
Ablehnung der Zeitschrift eine prinzipielle ist, die die
Frage betrifft, wie Schriften überhaupt >>politisch wirk-
sam« werden können, insbesondere in dem bestimm-
ten historischen Kontext dessen, was Benjamin den
>>europäischen Krieg<< (1, 325) nennt. Schon in seinem
Absagebrief an seinen Lehrer Gustav Wynecken wegen
dessen öffentlich bekundeten Kriegspatriotismus hatte
er geschrieben: >>Wir verschmähen den leichten unver-
antwortlichen schriftlichen Ausdruck<< (1, 263).

Eine Politik des Versagens


und des Verstummans

Benjamin stellt zunächst dar, wie solche >>politische


Wirksamkeit<< von Schriften gemeinhin aufgefaßt wird,
nämlich durch Worte zum Handeln zu motivieren:
>>Es ist eine weit verbreitete, ja die fast allerorten als
Selbstverständlichkeit herrschende Meinung daß das
Schrifttum die sittliche Welt und das Handeln der
Menschen beeinflussen können indem es Motive von
Handlungen an die Hand gibt. Menschen durch Mo-
tive aller Art zu bestimmten Handlungen zu bewegen
ist die Absicht des politischen Schrifttums. In diesem
604 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Sinne ist also die Sprache nur ein Mittel der mehr oder der elementare Bedeutungsträger betrachtet, als der
weniger suggestiven Verbreitung der Motive, die im Baustein einer Reihe, die sich aus der Akkumulation
Innern der Seele den Handelnden bestimmen. Es ist von in sich sinnvollen Bestandteilen >>expansiv<< aus-
das Charakteristische dieser Ansicht daß sie eine Be- breitet. Die Sagbarkeit und Aussprechbarkeit der Mo-
ziehung der Sprache zur Tat in der nicht die erste Mit- tive sollten durch solches Wort-an-Wort-Reihen ge-
tel der zweiten wäre überhaupt garnicht in Betracht währleistet und aktualisiert werden.
zieht. Dieses Verhältnis betrifft gleichermaßen eine Gerade diese Auffassung des >>politischen<< Sprech-
ohnmächtige zum bloßen Mittel herabgewürdigte aktes nennt Benjamin >>fürchterlich<< und >>verhee-
Sprache und Schrift als eine ärmliche schwache Tat rend<<, da er als >>Mechanismus zur Verwirklichung des
deren Quelle nicht in ihr selbst sondern in irgend wel- richtigen Absoluten um sich greift<<. Man hat es also
chen sagbaren und aussprechbaren Motiven liegt. hier mit einer Kritik zu tun, welche eine gewisse Ver-
Diese Motive wiederum kann man bereden ihnen an- wendung von Sprache und Schrift für die Verwüstun-
dere entgegenhalten, und auf diesem Wege wird (prin- gen des Kriegs durchaus mitverantwortlich macht.
zipiell) die Tat wie das Resultat eines allseitig geprüften Diese Verantwortung hängt mit dem Anspruch zusam-
Rechenprozesses an das Ende gesetzt<< (1, 325f.). men, vermöge einer linearen und unbeschränkten
Die vorherrschende Meinung über die politische Anreihung von Wörtern, einen >>Mechanismus<< ge-
Wirksamkeit von Sprache und Schrift beruht also, schaffen zu haben, welcher überall und nach Belieben
Benjamin zufolge, auf einer Auffassung, welche nicht imstande ist, das >>richtige Absolute<< verwirklichen zu
nur die Sprache instrumentalisiert, sondern ebenfalls können. Doch die besondere Wirklichkeit, die damit
das, was sie hervorrufen soll: die Tat. Diese wird als die geschaffen wird, ist die Verwüstung des Kriegs, der um
Folge von >>Motiven<< vorgestellt, >>die im Innern der so >>verheerender<< wirkt, als er seiner >Heiligkeit< gewiß
Seele den Handelnden bestimmen<<. Solche Motive ist.
lassen sich durch Sprache und Schrift suggestiv vor- Damit begegnen wir Benjamins politisch-theologi-
bereiten ebenso wie die Tat, die sich ihrerseits von den scher Kritik dessen, was heute politische Korrektheit
beeinflußten Motiven erzeugen läßt. Demnach muß heißt. Was seiner Kritik aber von den heute gängigen
man, um politisch wirksam zu werden, nur das psy- unterscheidet, ist ihre sprachliche Dimension. Denn
chologische Kalkül >>eines allseitig geprüften Rechen- erst eine gewisse sprachliche, oder genauer: schriftliche
prozesses<< beherrschen, um die innerseelischen Motive Praxis ist, Benjamin zufolge, imstande, den >>Mechanis-
durch Sprache und Schrift in die gewünschte Richtung mus<< der politischen Korrektheit herzustellen. Die
lenken zu können. >Richtigkeit< des >>Absoluten<< entspricht der Fähigkeit
Diese psychologistische Auffassung der Beziehung der Sprache, einzelne Wörter ohne vorgegebene Grenze
von Sprache und Handlung beruht ihrerseits, wie Ben- aneinanderreihen zu können. Damit wird das Wort-
jamin zunächst bemerkt, darauf, daß Taten ihre an-Wort-Reihen zum sprachlichen Vorbild eines Ab-
>>Quelle nicht in [ihnen] selbst<< haben, »sondern [in] soluten, das sich durch eine beurteilende Sprache, in
irgend welchen sagbaren und aussprechbaren Motiven<< der man >>Motive [... ] bereden<< kann, >>richtig<< ver-
[Herv. d. Verf.]. Eine gewisse Sagbarkeit und Aus- wirklichen läßt.
sprechbarkeit dieser Motive bilden demnach die Vor- Gegen diese >>expansive Tendenz<<, die >>bei uns in
aussetzung dieser Auffassung politisch wirksamer immer steigendem Maße [... ] um sich greift<<, stellt
Sprache, wie sie Benjamin hier beschreibt- allerdings Benjamin seine Alternativfassung dar, die bezeichnen-
nur, um sie dann abzulehnen: >>Jedes Handeln das in derweise nicht einfach die Sprache selbst betrifft, son-
der expansiven Tendenz des Wort-an-Wort-Reihens dern die Schrift:
liegt scheint mir fürchterlich und um so verheerender >>Schrifttum überhaupt kann ich nur dichterisch
wo dieses ganze Verhältnis von Wort und Tat wie bei prophetisch sachlich - was die Wirkung angeht aber
uns in immer steigendem Maße als ein Mechanismus jedenfalls nur magisch das heißt un-mittel-bar verste-
zur Verwirklichung des richtigen Absoluten um sich hen. Jedes heilsame ja jedes nicht im ionersten verhee-
greift<< (1, 326). rende Wirken der Schrift beruht in ihrem (des Wortes,
Die Sprach- oder Schreibpraxis, welche der herr- der Sprache) Geheimnis. In wievielerlei Gestalten auch
schenden Auffassung von politischer Wirksamkeit die Sprache sich wirksam erweisen mag, sie wird es
entspricht, manifestiert sich vor allem syntaktisch >>in nicht durch die Vermittelung von Inhalten sondern
der expansiven Tendenz<< eines >>Wort-an-Wort-Rei- durch das reinste Erschließen ihrer Würde und ihres
hens<<. Ein derartiger Umgang mit der Sprache setzt Wesens tun. Und wenn ich von anderen Formen der
voraus, daß das entscheidende Element der Sprache Wirksamkeit- als Dichtung und Prophetie- hier ab-
das einzelne Wort sei: das vereinzeltes Wort wird als sehe so erscheint es mir immer wieder daß die kristal-
Der Brief an Buber vom 17.7.1916 605

Jen reine Elimination des Unsagbaren in der Sprache Unsagbaren« zurück: diese »Elimination« bildet »die
die uns gegebene und nächstliegende Form ist inner- uns gegebene und nächstliegende Form [... ],innerhalb
halb der Sprache und insofern durch sie zu wirken. der Sprache und insofern durch sie zu wirken«.
Diese Elimination des Unsagbaren scheint mir gerade Einerseits also soll die Wirkung von Sprache und
mit der eigentlich sachlichen der nüchternen Schreibart Schrift unmittelbar in der »kristallen reine [n] Elimi-
zusammenzufallen und die Beziehung zwischen Er- nation des Unsagbaren« bestehen. Andererseits soll
kenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen diese »Elimination des Unsagbaren«, trotzoder gerade
Magie anzudeuten. Mein Begriff sachlichen und zu- wegen ihrer »kristallen[en]« Reinheit, das Geheimnis
gleich hochpolitischen Stils und Schreibens ist: hinzu- der Sprache erschließen und bewahren. Wie läßt sich
führen auf das dem Wort versagte. Nur wo diese Sphäre dieses Paradoxon verstehen? Die folgenden Sätze zei-
des Wortlosen in unsagbar reiner Nacht sich erschließt gen, daß die Antwort auf diese Frage in der bestimm-
kann der magische Funke zwischen Wort und bewe- ten Art von Bewegung liegt, die Benjamin zufolge den
gender Tat überspringen, wo die Einheit dieser beiden »sachlichen und zugleich hochpolitischen Stil« aus-
gleich Wirklichen ist. Nur die intensive Richtung der zeichnet: »Mein Begriff sachlichen und zugleich hoch-
Worte in den Kern des innersten Versturomens hinein politischen Stils und Schreibens ist: hinzuführen auf
gelangt zur wahren Wirkung. [... ] Als Mittel genom- das dem Wort versagte.« Die Sachlichkeit des Schrei-
men wuchert es<< (1, 325f.). bens, die es zugleich »hochpolitisch« wirksam macht,
In diesen Ausführungen begegnet man Gedanken, besteht also in einer Bewegung, die das jeweils verket-
die in dem einige Monate später geschriebenen Aufsatz tete Wort beim Wort nimmt, bzw. von dessen Verket-
ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE tung wegfuhrt, hin zu dem, was dem Wort in seiner
DES MENSCHEN (1916) systematisiertwerden (vgl. den Einzelheit zwar versagt ist, doch als Versagtes zugleich
Artikel >>über Sprache überhaupt und über die Spra- aufbewahrt wird. Es handelt sich um eine Bewegung,
che des Menschen«, 592-603). Vor allem die Alterna- die also nicht einfach von Wörtern schlechthin weg-
tive einer Sprache, die als>> VermitteJung von Inhalten« führt, und noch weniger vom Sprachlichen; denn da-
operieren soll, und einer, die unmittelbar wirkt- und bei gilt es gerade, »das Unsagbare« zu »eliminieren«,
deshalb als >>magisch« bezeichnet wird- wird dort und zwar mit »kristallen[ er] Reinheit«. Es kann sich
ausgearbeitet. In diesem Brief dagegen begegnet man daher nur darum handeln, von den jeweilig vorgege-
diesem Sprachgedanken gleichsam in statu nascendi, benen, verwirklichten, d.h. aktualisierten, Wort-Rei-
was aber für seine mediale Bedeutung besonders auf- hen wegzuführen, und zwar in Richtung auf das jeweils
schlußreich wird. Denn die Medialität des Mediums, Versagte hin. Das Wort »Elimination« selbst kann als
die er in dem Sprachaufsatz als unmittelbare Mitteil- eine nächstliegende Markierung dieses Vorgangs selbst
barkeitbestimmen wird, impliziert eine ungewöhnli- gelesen werden. Betrachtete man Benjamins eigene
che Dynamik, die in diesem Brief tastend, aber zu- Ausführungen nur als eine Anreihung von Wörtern an
gleich besonders ausgeprägt zu Tage tritt. Wörter, so würde das bedeuten, die jeweiligen Wörter
>Ausgeprägt< aber heißt hier nicht einfach >deutlich<. bloß in ihrem vertrautesten, selbstverständlichsten
Gerade dieser Unterschied bildet den Ausgangspunkt Sinne zu lesen. »Eliminieren« würde demnach soviel
des Benjaminsehen Gedankenganges. Denn aus Grün- wie »abschaffen« bedeuten. Damit wäre aber gerade
den, die gerade beschrieben werden, wird dieser Un- jene Bewegung verfehlt, die in das Wort hineindringt
terschied versteckt und erscheint zunächst nur als ein bis an den Kern des ihm Versagten.
Paradox. Die Wirkung des Schrifttums, die entweder Um diese Bewegung zu erreichen braucht man das
>>dichterisch prophetisch [oder] sachlich« zu sein hat, Wort nur wörtlich zu lesen: Elimination bezeichnet
besteht nicht in der >>Vermittelung von Inhalten«, son- dann nicht eine einfache Abschaffung, sondern eben
dern in einer Unmittelbarkeit, d. h. im >>reinste[n] eine Bewegung, die »über die Schwelle« hinausführt,
Erschließen ihrer Würde und ihres Wesens«. Dieses oder, nach einem Beispiel, das im Herkunftswörter-
Erschließen aber erzeugt keine Durchsichtigkeit, son- buch von Duden aufgeführt wird: »aus dem Haus
dern vielmehr ein >>Geheimnis«. Was es bedeuten kann, treib[t]« (Duden 1963, 134). Die »kristallen reine Eli-
das Geheimnis des Schreibens unmittelbar zu erschlie- mination des Unsagbaren« bestünde demnach in einer
ßen, wird im folgenden von Benjamin nicht nur erläu- Bewegung, die das Wort aus dem Hause treibt, bis hin
tert, sondern auch praktiziert. Sich auf die »sachliche« zu jenem Versagten hinführt, welches als Limes und
Wirkung von Schrift beschränkend, indem er von ih- Rahmen die Grenzen des Gesagten - d. h. der Wort-
rer »dichterischen und prophetischen« Wirkung ab- reihe- jeweils fixiert und bestimmt. Als ermöglichende
sieht, führt er die unmittelbare und magische Wirkung und dennoch ausgeschlossene Schwelle ist dieses Ver-
der Sprache auf die »kristallen reine Elimination des sagte jeweils das, was gesagt werden müßte, aber nie
606 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

gesagt werden kann. Seine Elimination vollzieht sich, können. Dieser Kern besteht aus dem >>innersten Ver-
indem seine Grenze jeweils überschritten, zugleich stummen[]<<- d.h. aus dem Übergangvom Sprechen
aber nur verschoben - nie aufgehoben - wird. Darin zum Schweigen. Die Vorsilbe ver- kehrt hier wieder
liegt auch das Geheimnis der Schrift und der Sprache: und markiert die Bewegung der Schrift nochmals als
Das Ungesagte wird schreib bar, ohne daß das Unsag- eine des Über-sich-hinaus-Schreitens: die Schwelle des
bare damit einfach verschwände. Bei solchem Schrei- Gesagten wird in Richtung dessen, was nicht gesagt
ben handelt es sich also nicht um eine Verwirklichung werden kann, überschritten, weil erst dieses Versagte
dessen, was potentiell immer schon vorhanden gewe- das jeweils Gesagte ermöglicht. Der Kern des Gesagten
sen ist, sondern um eine Aufforderung, das, >> [w] as nie besteht demnach aus einem >>innersten Verstum-
geschrieben wurde<<, (II, 213) lesbar zu machen. men[]<<, das- wie das Wort >Kern< schon wörtlich
Das Paradox, das Geheimnis und die Magie ballen besagt - nicht allein im Innern besteht, sondern vir-
sich alle in einer kleinen Vorsilbe zusammen: im ver-. tuell zugleich auf Auswendiges hinweist. Der Kern ist
Es handelt sich dabei um einen Bestandteil der Spra- nicht nur das, was im Innersten sich befindet, sondern
che, der unterhalb der Schwelle des Wortes steht. Noch zugleich das, was nach außen sich entwickeln kann.
kein selbständiges Wort, ist ver- dennoch nicht einfach Wie das Versagen gehört auch das Verstummen als
bedeutungslos, ganz im Gegenteil. Aber seine Bedeu- Kern zur inneren und erzeugenden Dynamik des Wor-
tung läßt sich weder vereinheitlichen noch verselbstän- tes. Denn etwas kann nur ausgesagt werden, indem das
digen. Als Präfix kommt ver- nur in Wortverbindungen Ausgesagte durch Ausgrenzung des Anderen - nicht
vor, nie allein. In solchen Zusammenbildungen kann nur Nichtgesagten, sondern Versagten - eingegrenzt
ver- sehr verschiedene Bedeutungen haben, die aber und zugleich entgrenzt wird. Die >>intensive Richtung
häufig seinen etymologisch frühen Sinn fortführen, der Worte in den Kern des innersten Verstummens
nämlich >das Hinausführen über... <. Diese Bedeutung gelangt<< deswegen >>Zur wahren Wirkung<<- und damit
der Vorsilbe wird dann eine entscheidende Rolle in zur politischen Wirksamkeit- erst, wenn diese Bewe-
Benjamins weiteren Ausführungen spielen. gung den innerstenKerndes Gesagten als ursprüngli-
che Heterogenität enthüllt, und damit sowohl die
Möglichkeit wie die Notwendigkeit ihrer Veränderung
Der nhochpolitische Stile< andeutet.
Daraus zieht Benjamin folgenden Schluß: >>Ich
Es geht Benjamin darum, jene Bewegung genauer zu glaube nicht daran daß das Wort dem Göttlichen ir-
bestimmen, die den sachlichen und zugleich hoch- gendwo ferner stünde als das >wirkliche< Handeln also
politischen Stil auszeichnet. Hochpolitisch kann seine ist es auch nicht anders fähig ins Göttliche zu führen
Wirkung nur dann sein, wenn sie eine andere, dyna- als durch sich selbst und seine eigene Reinheit. Als
mischere Beziehung zwischen Sprache und Handlung Mittel genommen wuchert es<< (l, 327).
herstellt als die, welche das Ansprechen von Motiven Bezeichnend in dieser Argumentation ist die Art,
durch Wort- Reihen charakterisiert. Anstelle dieses wie Benjamin das Wort gegen die Tat verteidigt. Er
kausal-mechanischen Verhältnisses geht es bei dem behauptet nicht, daß das Wort dem Göttlichen beson-
sachlich-nüchternen Stil um einen Vorstoß in die ders nahestehen würde, sondern vielmehr, daß es ihm
>>Sphäre des Wortlosen<<, um jenen >>magischen Fun- nicht >>irgendwo ferner stünde als das >wirkliche< Han-
ken<< zünden zu können, welcher die Kluft zwischen deln<<, wobei er >>wirklich<< in Anführungszeichen setzt.
>>Wort und bewegender Tat überspringen<< kann. Ein Denn der nicht zu überwindende Abstand der Sprache
derartiges überspringen ist immer nur punktuell und zum Göttlichen hat Konsequenzen auch für die Art
momentan, nie dauerhaft und kontinuierlich. Indem ihrer Wirklichkeit wie für die ihrer Wirksamkeit, ob
er überspringt, stellt der Funke >>die Einheit dieser bei- politisch oder nicht. Diese werden deutlich, wenn wir
den gleich Wirklichen<< her. Diese wirkliche und wirk- wieder an den Anspruch der gängigen politischen
same Einheit besteht darin, daß sowohl Wort wie Tat Sprache denken, nämlich, durch das Wort-an-Wort-
außer sich geraten. Aber nur, indem sie zugleich und Reihen einen >>Mechanismus zur Verwirklichung des
zuvor in sich hineingeführt werden. Beim Wort sieht richtigen Absoluten<< zu bilden. Damit wird zugleich
das so aus: >>Nur die intensive Richtung der Worte in vorausgesetzt, daß die Sprache als Anreihung von
den Kern des innersten Verstummens hinein gelangt Wörtern dem Absoluten nah genug stehen kann, um
zur wahren Wirkung<<. Im Unterschied zur >>expansi- dieses >>richtig<< zu beurteilen und auch zu verwirkli-
ven<< Ausrichtung des Wort-an-Wort-Reihens, richtet chen. Diese Sprachpraxis, die sich gerade heute beson-
sich die Bewegung hier nach innen, in das interne Ge- ders ausbreitet, beruht Benjamin zufolge auf einer
füge der Worte, um bis an deren >>Kern<< dringen zu Auffassung der Sprache - und vor allem des Wortes
Der Brief an Buber vom 17.7.1916 607

-als selbstreproduzierendes Mittel. >>Als Mittel genom- Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich
men<< - so Benjamin - >>wuchert es<<: gegen solches niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht
>>expansive<< Wuchern hat sich ein Schreiben zu rich- steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration,
ten, das von Benjamin nicht nur theoretisch bejaht, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvoll-
sondern auch praktiziert wird; dieses Schreiben muß endetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein<<
jeweils ins Innere des Wortes führen, um jener >>wort- (I, 226).
losen Sphäre<< möglichst nahe zu kommen, wo das Auf die Zeitform der Zeitwörter ist hier besonders
jeweils Gesagte zugleich entspringt und verstummt. So zu achten: >>Im Ursprung wird kein Werden des Ent-
abstrakt dies auch klingen mag, kann diese Bewegung sprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen
>>in den Kern des innersten Verstummens<< ziemlich Entspringendes gemeint.<< Benjamin verwendet nicht
genau an jenem Einzelwort nachvollzogen werden, auf das Perfektum, um den Ursprung zu bezeichnen, und
das Benjamin seine gesamte Argumentation polemisch auch nicht den Infinitiv, sondern eine Substantivie-
aufbaut: das Wort >>Mittel<<. rung und Nominalisierung einer eigenartigen Zeit-
Wie später in seinem Sprachaufsatz des gleichen form des Verbums, des Partizips Präsens. Diese Zeit-
Jahres steht schon in diesem Brief der Begriff des >>Mit- form darf als eigenartig bezeichnet werden, weil sie
tels<< für eine Sprachauffassung ein, welche Sprache eine Präsenz in Szene setzt, die sich nie aus sich selber
und Schrift als >>die VermitteJung von Inhalten<< kon- abschließen oder vollenden kann. Denn die Präsenz
zipiert. Dagegen führt die intensive Bewegung der dieses Partizips, etwa im Unterschied zum Indikativ,
Schrift, wie sie von Benjamin beschrieben (und be- wird weitgehend durch die Gleichzeitigkeit seiner Äu-
schritten) wird, uns auf jenen Wort-Kern zu, der zu- ßerung bestimmt, aber damit zugleich entgrenzt. Ein-
gleich von diesem Wort aktuell verschwiegen und deutige Bestimmung setzt Geschlossenheit voraus, und
ausgeschlossen wird: nämlich auf das Wort Mitte. gerade diese kann das Partizip Präsens aus sich heraus
Denn mitten im Wort >>Mittel<< steckt- oder versteckt nicht erreichen. Ihre Ausführung nimmt an ihrem Sein
sich - als Kern: Mitte, nicht als Zentrum, sondern als teil, indem sie es aufteilt und exponiert. Sie besteht in
Zwischenraum, der sich nur durch den Bezug auf an- einer Wiederholung, die nur unterbrochen, aber nie
dere Räume bestimmt. Mitte nämlich bedeutet auch abgeschlossen werden kann.
Medium. Die >>eigene Reinheit<< des Wortes stellt sich Die Wiederholung, wie schon Kierkegaards Con-
hier, und auch sonst, als seine mediale Beschaffenheit stantin Constantius erfahren muß, dessen Namen
heraus, derzufolge jedes Wort, trotz seiner Vereinze- bereits eine Allegorie seiner Einstellung zur Wieder-
lung, von woanders herkommt, und deshalb auch holung darstellt - die Wiederholung >>holt<< immer
woanders hin strebt. Der >>magische Funke zwischen wieder, gibt aber nie zurück:
Wort und bewegender Tat<< kann nur deswegen die >>[E]s schien mir,[ ... ] als wären meine großen Worte,
>>Einheit dieser beider gleich Wirklichen<< herstellen die ich nun um keinen Preis hätte wiederholen wollen,
-momentan und flüchtig-, weil das Wort »selbst<< in nur ein Traum gewesen, aus dem ich nun erwachte,
seiner >>Reinheit<< und Ursprünglichkeit immer schon um das Leben unaufhaltsam und treulos alles wieder
auf dem Sprung ist und lauert. Und es lauert, weil es nehmen zu lassen, was es gab, ohne daß es eine Wie-
in sich sprengend ist. dergabe, eine Wiederholung gäbe<< (Kierkegaard 1991,
Erst diese Sprengkraft des Wortes darf als >ursprüng- 43).
lich< betrachtet werden, und zwar in dem Sinne, den Die Spaltung im und als Ursprung spaltet ebenfalls
Benjamin in der ERKENNTNISKRITISCHEN VORREDE ZU die daraus sich ergebende Einsicht in eine >>Doppelt-
seiner Studie über den URSPRUNG DES DEUTSCHEN einsicht<<, der >>einzig [... ] seine Rhythmik offen[ steht]<<
TRAUERSPIELS formuliert, einem Text, den er im seihen (I, 226). Bedeutsam, daß Benjamin in diesem Kontext
Jahr zu konzipieren begann, in dem er den Brief an von >>Rhythmik<< spricht. Denn die Rhythmik stellt die
Buher schrieb. In jener Vorrede bestimmt Benjamin Wiederholung in und als Bewegung dar. Die >>intensive
seinen Begriff vom Ursprung, indem er zunächst das Richtung der Worte in den Kern des innersten Ver-
Wort von der Bedeutung befreit, die ihm meist zuge- stummens hinein<< enthüllt sich im späteren Text als
schrieben wird: >>Ursprung, wiewohl durchaus histo- Rhythmus des immer wieder Ansetzens und Ausho-
rische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts lens, >>die Wiederholung der Motive im Gegensatz zum
gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprun- flachen Universalismus<< (I, 212). Der versagte, ver-
genen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entsprin- stummte Kern des Wortes Ursprung enthüllt sich als
gendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Wer- der Sprung: nicht allein im Sinne des Springens, son-
dens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Ent- dern auch in dem des Gesprengtwerdens. Denn nur
stehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen weil der Ursprung in sich schon gesprungen ist, kann
608 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

aus ihm Geschichte entspringen, und zwar als die Be- Wiederkehr des Vergangenen auch das Kommende zu
strebung, das Gesprungene wieder ganz zu machen, erblicken vermag. Nichts weniger heißt bei Benjamin
als >>Restauration, als Wiederherstellung einerseits<<, lesen, und nichts anderes wird verlangt, um seine Texte
und >>eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes lesen zu können.
andererseits<<. Benjamins Neulektüre des Worts oder
Begriffs Ursprung aktiviert beide Elemente, nämlich Werk
>>Ur<< im Sinne von Archi und >>Sprung<<, um die Ga- Brief an Martin Buher vom 17.7.1916 (1, 325-327)
rantie des Ersten aufzusprengen. Das ist eine eigen- ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
MENSCHEN (II, 140-157)
tümliche platonistisch-antiplatonistische Dialektik.
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS(!, 203--430)
Dadurch entsteht jene >>Doppeleinsicht<<, in der die ERKENNTNISKRITISCHE VORREDE (I, 207-237)
historische Reihe der Fakten und die Wesens-Sphäre
der Ideen quasi parallel bestehen bleiben; das erstere Literatur
wird nicht durch das zweite getilgt. Der >>Strudel<< im Duden (1963): Etymologie. Das Herkunftswörterbuch der
Fluß des Werdens spuckt das in ihn Hineingerissene deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich.
wieder aus, nämlich als das empirisch Einmalige, Sin- Kierkegaard, Sören (1991): Die Wiederholung. Die Krise und
eine Krise im Leben einer Schauspielerin, hg. v. Liselotte
guläre, >>Verschrobenste<<. Insofern bleibt die >>Wieder- Richter, Hamburg.
holung<<, >>Restauration<<, >>Wiederherstellung<< unvoll-
endet. Die konstitutive Spaltung im Ursprung ent-
spricht dem Versagen und dem Verstummen im Wort.
Daher >erschließt sich<, wie Benjamin an Buher
schreibt, >>die Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner
Nacht<<. Nur in solcher Nacht >>kann der magische
Funke zwischen Wort und bewegender Tat übersprin-
gen<< und >>die Einheit dieser beiden gleich Wirklichen<<
flüchtig herstellen. Die Sichtbarkeit des Funkens setzt
die Dunkelheit der Nacht voraus und hebt sie zugleich
hervor.
Der gegenläufige Rhythmus des Ursprünglichen, als
immer unabgeschlossener, nie zu vollendender Ver-
such der Wiederherstellung, dieser Rhythmus spricht
sich in der Zeitform des Gerundiv. Denn dieses, in
seinem lateinischen Ursprung zumindest- der weit-
gehend heute verloren gegangen ist - ist nicht so sehr
auf die Gegenwart gerichtet, als auf die Zukunft, und
zwar als Aufforderung: Carthago delenda est, ist zwei-
fellos das bekannteste Exemplum dieser auffordernden
Sprachform. Aber auf Lateinisch bedeutet schon das
Wort gerundum: >>das, was ausgeführt werden muß<<.
Wenn also das, was Benjamin erneut zum Schluß
seines Briefs an Buher die >>sachliche Schreibart<< nennt,
sein >>hochpolitisches<< Potential aus der >>kristallen
reine[n] Elimination des Unsagbaren<< nehmen soll,
so bedeutet das keinesfalls, daß das Unsagbare als sol-
ches sagbar zu machen ist, sondern vielmehr daß das
jeweils Unsagbare in seiner bestimmten Beziehung
zum jeweils Gesagten lesbar werden soll. Solches Les-
barmachen geschieht durch eine Bewegung, die bis an
>>die Sphäre des Wortlosen<< als den Ort hinführt, wo
das Sprechen ver-stummt und ver-sagt- aber zugleich
auch entspringt. Lesbar gemacht wird damit eine
Rhythmik des immer wieder, immer neu Entspringen-
den, das vom Leser eine doppelte, auch gespaltene,
aber vor allem bewegte Einsicht verlangt, die in der
609

nDie Aufgabe des Übersetzers« Obertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des
Obersetzers von Walter Benjamin. Von welch besonde-
Von Alfred Hirsch
rem theoretischen Rang dieses Vorwort für Benjamin
selbst war, wird noch deutlich in einem 1940 geschrie-
benen Lebenslauf, in dem er darauf hinweist, daß in
dem Aufsatz DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS seine
Entstehungsgeschichte sprachtheoretischen Reflexionen den ersten Nieder-
schlag gefunden haben.
Der sprach- und übersetzungstheoretische Text Walter Diese Selbsteinschätzung verwundert um so mehr,
Benjamins DIE AuFGABE DES ÜBERSETZERS ist in den als Benjamin schon 1916 in seinem sprachphilosophi-
Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1921 ent- schen Essay ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
standen und im Jahr 1923 erschienen. Als Vorwort zu SPRACHE DES MENSCHEN ein intensives und differen-
Benjamins Übersetzung der Tableaux Parisiens Charles ziertes sprachphilosophisches Fundament entwirft, das
Baudelaires verfaßt, erhält der Aufsatz den Charakter in deutlichem Bezug zu späteren sprach- und texttheo-
einer programmatischen Reflexion zu Sinn und Praxis retischen Arbeiten zu stehen scheint. Mit Blick auf den
von übersetzung. Dabei war bei Beginn der Baude- Übersetzeraufsatz ist sogar zu behaupten, daß der
laire-Übertragungen noch gar nicht absehbar, daß es Sprachaufsatz von 1916 neben der Dissertation Ben-
überhaupt zu einem theoretischen Vorwort kommen jamins, DER BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUT-
sollte. Bereits 1914/15 hatte Benjamin erste Überset- SCHEN RoMANTIK, aus dem Jahr 1919 der wesentliche
zungsversuche unternommen und dann über einen Bezugspunkt für das im Aufsatz DIE AuFGABE DES
Zeitraum von neun Jahren hinweg Neuübersetzungen, ÜBERSETZERS entwickelte Denken der Sprache und der
überarbeitungen und Verbesserungen vorgenommen Übersetzung ist. Neben diesen beiden im zeitlichen
(vgl. 3, 410 f.). Erst relativ spät schien er sich dann für Vorfeld des übersetzeraufsatzesentstandenen Arbeiten
eine theoretische Vorrede zu seinen übersetzungsprak- ist außerdem auf URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAU-
tischen Arbeiten entschieden zu haben. In einem Brief ERSPIELS (1923-1925) als in dessen chronologischer
an seinen Berliner Verleger Weißbach vom 4. Dezem- Nachfolge entstandenes Werk zu verweisen. Die drei
ber 1920 teilt er erstmals seine Absicht mit, >>ein Vor- genannten Arbeiten Benjamins bilden zweifelsfrei das
wort, und zwar theoretisch und ganz allgemein >Über Kraftfeld, in dessen Zentrum sich DIE AuFGABE DES
die Aufgabe des Übersetzers< überhaupt [... ] zu verfas- ÜBERSETZERS hält und seine Wirkung entfaltet. Von
sen<< (4.12.1920; 2, 113). Noch im Februar 1921 spricht besonderem, den Inhalt des Übersetzeraufsatzes be-
Benjamin in einem weiteren Brief an Weißbach von treffenden Gewicht, sind dabei sicherlich die vor die-
der >>eventuellen Vorrede<<, von der er sich nicht sicher sem entstandenen Arbeiten, aber auch Überlegungen
sei, ob er sie denn überhaupt schreiben werde (3.2.1921; und Denkfiguren, die dort noch unscharf oder inex-
135). Doch schon wenig später erklärt er in einem Brief plizit entfaltet werden, in späteren Texten aber deutlich
an seinen Freund und intellektuellen Wegbegleiter und schärfer konturiert wieder auftauchen. Diese gilt
Gerschom Scholem, daß er den größten Teil des Auf- es mittels des gedanklichen Kontextes jener späteren
satzes bereits verfaßt habe, sich aber seiner Kompetenz Arbeiten herauszupräparieren und darzustellen. Doch
in der Sache noch nicht ganz sicher sei. Zur theoreti- sehen wir zunächst auf jene gedanklichen Formierun-
schen Herausforderung und Philosophiegeschichte der gen und Vorahnungen, die sich im frühen Sprachauf-
Übersetzung stellt er im seihen Brief fest: >>Nur handelt satz für den theoretischen Gehalt von DIE AuFGABE
es sich um einen Gegenstand, der so zentral für mich DES ÜBERSETZERS zeigen und beispielgebend bestim-
ist, daß ich noch nicht weiß, ob ich ihn, im jetzigen men lassen.
Stadium meines Denkens, mit der ausreichenden Frei-
heit entwickeln kann, vorausgesetzt, daß mir seine
Aufklärung überhaupt gelingt. Was die Darstellung Frühe sprachphilosophische Reflexionen
angeht, so vermisse ich eine sehr wesentliche Hilfe in zu Übersetzung und Namenssprache
allen philosophischen Vor-Arbeiten früherer Autoren
über diesen Gegenstand<< (145). Im November dessel- Für das Sprachdenken Benjamins im Allgemeinen
ben Jahres verweist Benjamin in Briefen an Weißen- spielt das Paradigma der >Ühersetzung< eine heraus-
bach und Scholem auf den Übersetzeraufsatz als in ragende Rolle, und dies wird bereits in dem frühen
totovorliegendes Manuskript (vgl. 212). Aber erst Aufsatz ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
knapp zwei Jahre später, im Oktober 1923, erscheint SPRACHE DES MENSCHEN deutlich. Dort unterstreicht
der Aufsatz in dem Band Charles Baudelaire. Deutsche Benjamin mit Nachdruck, daß der Begriff der über-
610 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

setzung >>viel zu weittragend und gewaltig [ist], um in sehen darin besteht, daß er die Dinge benennt. Unter
irgendeiner Hinsicht nachträglich, wie bisweilen ge- der Vielzahl der im frühen Sprachaufsatz angeführten
meint wird, abgehandelt werden zu können« (II, 151 ). Sprachen, die auch den Dingen, der Kunst, Gott u. a.
Wenngleich auch Benjamin hier den Begriff der Über- ein jeweils spezifisch sprachliches Wesen zuweisen, ist
setzung in einem weit umfassenderen Sinne verwendet das in Worten sprechende >>sprachliche Wesen<< des
als in dem allein auf eine zwischensprachliche Über- Menschen, daß er die Worte benennt. Für Benjamin
setzung bezogenen Kontext, so wird doch deutlich, daß ist die Sprache des Menschen die einzig benennende
er innerhalb seiner sprachphilosophischen überlegun- unter den Sprachen. Die Sprache des Menschen enthält
gen den Schein des Abgeleiteten und Nachrangigen im Kern, was Grund der Sprache im allgemeinen ist.
vom Paradigma der Übersetzung ziehen möchte. Die Denn das geistige Wesen des Menschen teilt sich in den
Übersetzung soll, so ließe sich im Benjaminsehen Namen mit (vgl. Menninghaus 1980, 20). Der Name
Sinne ergänzen, paradeigma im ursprünglichen Sinne wird mithin zum >>innersten Wesen<< der Sprache des
des griechischen Wortes, nämlich Leitbild oder Anlei- Menschen erklärt.
tung für das Denken der Sprache im allgemeinen sein. Wie kommt nun aber der Name zu seinem Ding,
Entsprechend fordert Benjamin, daß der >>Begriff der wenn doch eine Namentheorie der instrumentieren-
Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie den Zuweisung durch ein Subjekt nach Benjamin un-
zu begründen<< (151) sei. Schon die Beziehung zwi- denkbar ist? Dieses Problem wird gelöst durch die
schen Sprache und Denken vollzieht sich bei Benjamin Überwindung der Opposition von Spontaneität und
als Übersetzungsvorgang, der sich in einem >Medium< Rezeptivität. Die >>Sprache der Dinge<< und die >>Spra-
besonderer Art ereignet. >>Das Mediale, das ist die Un- che des Menschen<< fließen im benennenden Sagen des
mittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grund- Menschen zusammen. Im Medium der Namensgabe
problem der Sprachtheorie, und wenn man diese Un- als sein >>sprachliches Wesen<< erkennt einerseits der
mittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urpro- Mensch die Dingwelt, andererseits beruht der Name,
blem der Sprache ihre Magie<< (142 f.). Im Medium der >>den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie ihm
Sprachlichkeit vollzieht sich alles Sprechen >unmittel- sich mitteilt<< (II, 150). Im Sich-Mitteilen der >>Sprache
bar< (magisch), und auf dieses ist jedes Sprachdenken der Dinge<< gewahrt Benjamin, daß der Mensch diese
gewissermaßen avant coup bereits bezogen. Sprache nicht wirklich in seine Sprache übersetzen kann. Denn
ist folglich nicht als Mittel zu betrachten, durch das da der Name nicht nur spontane Stiftung ist, sondern
ein sprachlich operierendes Subjekt Sinn bezeichnet zugleich auch Anspruch aus jenem unerkennbaren
und äußert. Vielmehr teilt sich nach Benjamin Sprache >>geistigen Wesen<< der Dingwelt, kommt auch die Welt
>>in sich selbst<< mit und ist daher >>im reinsten Sinne der Dinge als Sprache Gottes erneut zu Wort. Kristal-
das >Medium< der Mitteilung<< (142). Diese Einsicht lisationspunkt im Zwischenraum der Sprachwelten
fordert, Sprache nicht mehr als Instrument zu denken, bleibt der Name, in ihm ereignet sich ein anfangs- und
und zugleich die AushebeJung der Subjekt-Objekt- endloser Dialog, der zwischen der Dingwelt und Men-
Dualität, in der sich ein autonomes Denken gegenüber schenwelt Beziehungen schöpft und neue Sprachord-
einem Ensemble sprachlicher Zeichen sieht, die es je nungen kreiert.
nach Bedarfherausgreift und in bedeutungsstiftender Diese sprachphilosophische Überwindung der Dua-
Weise bedient. Nur allzu konsequent geht aus der strikt lismen von Subjekt und Objekt, Ausdruck und Inhalt,
gedachten Bevorzugung von Sprache als >Medium< Spontaneität und Rezeptivität durch den Tropus des
gegenüber ihrer Mittelbarkeit auch hervor, daß Spra- Namens ist unvereinbar mit Namenstheorien, die bei-
che solchermaßen nicht von außen bestimmt und spielsweise wie diejenige Freges im Namen die >abge-
beschränkt werden kann und ihr daher eine >>inkom- kürzte< Beschreibung eines Gegenstandes fixieren (vgl.
mensurable einziggeartete Unendlichkeit<< ( 143) inne- Frege 1985, 64f.). Eine solche Namenstheorie würde
wohnt. Benjamin zufolge der >bürgerlichen< Sprachauffassung
Gemäß den frühen Einsichten Benjamins, die die entsprechen, in der die Mitteilung des >>geistigen We-
bekannten, die von einer Dreiteilung des Kommuni- sens<< der Sprache in Vergessenheit geraten ist. In der
kationsgebildes in Sender, Empfänger und sprachliches >bürgerlichen< Sprache ist das Mittel der Mitteilung
Mittel ausgehen, zu überwinden suchen, nähert sich >>das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein
Benjamin aber auch einer positiven Bestimmung der Mensch. Dagegen kennt die andere [die Mitteilung des
Sprache des Menschen. Das >sprachliche Wesen<, auf >>geistigen Wesens<< der Sprache, d. Verf.] kein Mittel,
das sich die Sprache des Menschen und sein Denken keinen Gegenstand und keinen Adressaten der Mittei-
bezieht, ist >>seine Sprache<<. Dies heißt, daß das in lung<< (II, 144). Den Intentionen des frühen Sprach-
Worten sprechende >>sprachliche Wesen<< des Men- aufsatzes gewissermaßen vorauseilend, rückt diese
»Die Aufgabe des Übersetzers« 611

andere Sprache in die Nähe der »reinen Sprache<< (IV, theoretische Nähe von Kritik und Übersetzung stellt
14) des Übersetzeraufsatzes. In der >>reinen Sprache<< eine der immer wiederkehrenden Grundlinien dieser
wird das >>Namenlose im Namen<< empfangen. Da- Studie dar. Dabei kann Benjamin nahezu nahtlos an
durch aber, daß die Sprache des Menschen Mittel ge- die texttheoretischen Auffassungen der Frühromanti-
worden ist, ist der Name dem >>stummen Wort<< im ker anknüpfen, denn schon diesen galt eine struktu-
Bestehen der Dinge gewichen. Hierin sieht Benjamin relle Ähnlichkeit und textuale Gleichrangigkeit zwi-
auch den Grund für die Entstehung der Vielheit und schen Kritik und Übersetzung als besonders evident.
Verwirrung der profanen Sprachen. Eine exemplari- Kritik und Übersetzung werden von den Frühroman-
sche Darstellung dieses Geschehens findet sich nach tikern sogar auf eine Ebene mit der Dichtung gehoben,
Benjamin in der biblischen Geschichte des Sündenfalls denn dadurch, daß >>Dichter und Künstler [... ] die
( 1 Moses 3 ). In dieser entfalten sich intensive Bezüge Darstellung von Neuern darstellen, das schon Gebil-
vom >ersten< biblischen Sündenfall im Paradies zum detenocheinmal bilden wollen<< (Schlegel1978, 157f.)
>zweiten< babylonischen Sündenfall, der für den Be- und so >>das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten<<,
ginn aller sprach- und heilsgeschichtlichen Krisis steht. wird mit Nachdruck auf die Nachrangigkeit von Kritik
>>Da die Menschen die Reinheit des Namens verletzt und übersetzung verzichtet. Benjamin schließt sich
hatten, brauchte nur noch die Abkehr von jenem An- dieser Einsicht unmittelbar an und differenziert sie
schauen der Dinge, in dem deren Sprache dem Men- noch weiter aus, indem er Kritik- und übersetzungs-
schen eingeht, sich zu vollziehen, um die gemeinsame begriff enger miteinander verknüpft, ohne jedoch die
Grundlage des schon erschütterten Sprachgeistes den Unterschiede zwischen ihnen aufzuheben.
Menschen zu rauben<< (II, 154). Hierin liegt die Genese Nach Schlegellassen sich Philologie und historische
einer Sprachlosigkeit begründet, die zwangsläufig in Erkenntnis nicht voneinander trennen. Mit Blick auf
eine >> Überbenennung<< der Dingwelt einmündet und die Praxis des Übersetzens bedeutet dies, daß eine Öff-
das Verschwinden jener anderen >>reinen<< Sprache be- nung und Streuung des Operationsfeldes entworfen
fördert, in der das >>Namenlose im Namen« empfangen wird, denn, so Schlegel, jede>> Übersetzung ist eine un-
wird. bestimmte, unendliche Aufgabe<< (Schlegel1958, Bd.
Benjamin zielt auf einen Bereich, in dem die Erfahr- II, 15). Die Übersetzung wird nicht als einfache >Nach-
barkeit und Darstellbarkeit die passivisch-aktivische ahmung< des Originals betrachtet, obschon sie über
Dualität profanen Hörensund Sprechens transzendie- ein unendliches mimetisches Vermögen, wie die Kunst
ren. Dieser Bezirk ist ein Zwischenreich, in dem Spra- im allgemeinen, verfügt. Im Rahmen der Schlegelsehen
che vor ihrem Erscheinen in der Welt entsteht und Theorie der >progressiven Universalpoesie< verweist
vergeht oder - in einem traditionelleren philosophi- die mimetische Dimension der übersetzung auf die
schen Diskurs- transzendentale Bedingung ihres fak- Aufgabe, >>das Klassische praktisch zuzueignen in Saft
tischen Erscheinens ist. Benjamin beschreibt diesen und Blut, und die größere Verbreitung desselben zu
Bezirk mit den Worten: >>Die Sprache der Dinge kann befördern<< (Schlegel 1928, SO). Das Übersetzen als
in die Sprache der Erkenntnis und des Namens nur in Vollzug der >progressiven Universalpoesie< vermag den
der Übersetzung eingehen<< ( 15 2). In der Übersetzung >schönen Geist< der antiken Dichter und den >vollkom-
geschieht die ursprüngliche Verschlingung von Spon- menen Stil< des >Goldenen Zeitalters< in die deutsche
taneität und Rezeptivität, von Aktivität und Passivität Sprache einzuführen und dort heimisch werden zu
und von Sprechen und Hören; in ihr vollzieht sich - lassen. Schon hier wird deutlich, daß Benjamins über-
gleich um welche Sprache es sich auch immer handeln setzungsdenken Spuren des frühromantischen trägt.
mag- eine Beziehungsstiftung, die jedem sprachlichen Hierzu gehört auch die Einsicht, daß ebenso wie für
Bedeuten vorausgeht und dieses stets auch überholt. die Frühromantik für Benjamin Übersetzung und Kri-
tik >>viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die
Methode seiner Vollendung<< (I, 69) sind.
Übersetzungstheorie der Frühromantik In Kritik und Übersetzung wird gleichermaßen die
irreduzible Pluralität der Rezipierbarkeit erkannt.
Der zweite wichtige Bezugspunkt im Benjaminsehen Schon in ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE
CEuvre für DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS ist die in SPRACHE DES MENSCHEN hatte Benjamin insistiert:
den Jahren 1918 und 1919 entstandene Dissertation >>soviel übersetzungen, soviel Sprachen<< (II, 152).
DER BEGRIFF DER KUNSTKRITIK IN DER DEUTSCHEN Diese Erkenntnis fügt sich trefflich zu derjenigen
RoMANTIK. Zwar setzt sich Benjamin in dieser Schrift Schlegels, der von >>personifizierten Reflexionsstufen<<
im wesentlichen mit dem Kunst- und dem Kritikbe- (vgl. I, 68) spricht und damit die unendliche Lesbarkeit
griff der Frühromantiker auseinander, aber die text- des Textes postuliert. Auch die stete >Vervollkomm-
612 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

nung< und >übersteigung< des Originals in der Repro- ein wenn auch geringeres Moment im Fortleben der
duktion ist Kritik und Übersetzung gemeinsam, in Werke darstellt<< (IV, 15).
Anknüpfung an die Frühromantiker sind sie auch für
Benjamin >Methoden der Vollendung<- wenngleich
einer unendlichen. Die Gaben und Aufgaben des Übersetzers
>Übersetzbarkeit<- und nicht schon die Überset-
zung- weist als Bedingung der Möglichkeit des Kunst- Vor dem Hintergrund der text-und sprachphilosophi-
werkes darauf hin, daß es ein Ins-Werk-Setzen des schen Darstellung, die sich im übersetzungsprozeß
Originals nur geben kann, wenn dieses bereits in der vollzieht, ist auch die Zurückweisung eines Verständ-
ursprünglicheren Form eines über-Setzensoder Port- nisses zu sehen, das dieübersetzungals >>Wiedergabe
Setzens geworden ist und selbst wiederum in diesen des Sinns<< des Originals entwirft. Nach Benjamin ist
Prozeß eingeht und in ihm >fortlebt<. übersetzbarkeit die Präfederung des >Sinns< in der übersetzungstheo-
ist also noch nicht >gegenständlicher Ausdruck< einer rie eng verknüpft mit den Paradigmen >Treue< und
Form, sondern deren transzendentale Bedingung als >Freiheit<, die von zentraler Bedeutung für die Über-
das Werden des Werkes selbst. >Übersetzbarkeit< ist in setzungstheorie des 19. Jh.s waren: >>Treue und Freiheit
der >Form< des Werkes, d.h. seines Werdens begründet. [... ] sind die althergebrachten Begriffe in jeder Diskus-
Dies unterstreicht Benjamin in dem folgenden Dik- sion von übersetzungen. Einer Theorie, die anderes in
tum des übersetzeraufsatzes: >>Wenn übersetzungeine der Übersetzung sucht als Sinnwiedergabe, scheinen
Form ist, so muß übersetzbarkeit gewissen Werken sie nicht mehr dienen zu können<< (17). Es liegt auf der
wesentlich sein<< (IV, 10). Die übersetzbarkeit geht als Hand, daß, wenn die Treue gegenüber dem Wort- und
sprachliches Werden dem Werk qua Setzung konsti- Satzsinn des Originals geübt und die Freiheit als freies
tutionslogisch voraus, damit dieses wiederum in eine Vermögen der Wiedergabe dieses Sinns in der über-
Übersetzung einmünden kann. Denn >>SO wenig es setzung verstanden wird, eine übersetzungstheoreti-
Leben ohne Überleben, so wenig gibt es Setzung ohne sche Loslösung von der Sinnpräferenz kaum möglich
Übersetzung<< (Hamacher 2001, 184). Im Medium der ist. Zwar sind auch andere Semantiken von >Treue< und
übersetzbarkeit entsteht das Werk und >zerfällt< zu- >Freiheit< denkbar und schwingen wohl auch im Para-
gleich, es entstehen aus einer Reflexion zahlreiche digma der >Aufgabe<, wie sie im Titel des Benjamin-
neue Zentren. Im >über< von >übersetzung< und von sehen Aufsatzes formuliert wird, mit (vgl. Hirsch 1997,
>überleben< schwingt daher zugleich auch die Ahnung 396 ff.). Benjamin entscheidet sich an dieser Stelle sei-
einer decadence, einer Überkommenheit und eines nes Essays zweifelsfrei bewußt gegen ihre Wiederauf-
Zu-Spät, aber auch und zugleich derpluraleund de- nahme - und dies vor allem vor dem Hintergrund
zentrale Aufbruch eines Neuenundeines Neubeginns ihrer historischen Verstrickung in die Theorie der
mit. übersetzungstellt daher nach Benjamin den >>pa- >Sinn für Sinn<-übersetzung. Aber Benjamin will auch
radoxen Versuch dar, am Gebilde noch durch Abbruch noch einen Schritt weiter gehen, als dies in der über-
zu bauen: im Werke selbst seine Beziehung auf die setzungstheorie Wilhelm von Humboldts der Fall ist,
Idee zu demonstrieren<< (I, 87). Ein solches Bauen der sich dafür ausspricht, den >>Sinn der Sprache zu
noch im Abbruch ist Grundzug des sprachlichen Wer- erweitern<< (Humboldt 1906, Bd. 5, 133). Nicht nur
dens der Form der übersetzung. Und vielleicht ist eine Erweiterung des Sinns muß das Ziel übersetzungs-
diese text-und sprachphilosophische Erkenntnis die praktischen Wirkens sein, sondern ein striktes Absehen
theoretisch bedeutsamste Spur, die vom >Kunstkritik- von jeder Art von Sinn und >mitteilendem< Text in der
buch< bis hin zum Übersetzeraufsatz von Benjamin übertragungüberhaupt ist zu befolgen. Der überset-
gelegt wurde. zer ist von >>der Mühe und Ordnung des Mitzuteilen-
Mittels der Übersetzung legt Benjamin eine sprach- den<< zu entheben, und diese Orientierung geht aus
liche Prozessualität frei, die allererst das Fortleben der dem Original selbst hervor. Denn das Original ist, be-
Werke in actu zu erhellen vermag. Er unterschätzte sonders wenn es sich um Dichtung handelt, nicht wert,
allerdings noch im übersetzeraufsatz die Rolle, die die übersetzt zu werden, wenn im Vordergrund des über-
Frühromantik für diese von ihm- zweifelsfrei originell setzerinteresses >Mitteilung< und >Sinn< stehen. Diese
- fortgesetzte Erkenntnis spielt. Denn, so Benjamin, werden von Benjamin als endlicher Informationsge-
die Frühromantiker >>haben vor andern Einsicht in das halt der Sprache gedacht, und ein solcher kann un-
Leben der Werke besessen, von welchem die überset- möglich das Wesentliche des Sprachwerkes und mithin
zung eine höchste Bezeugung ist. Freilich haben sie auch nicht seiner übersetzung sein. Zu fragen wäre
diese als solche kaum erkannt, vielmehr ihre ganze also, was Dichtung denn überhaupt mitteilen kann,
Aufmerksamkeit der Kritik zugewendet, die ebenfalls und Benjamin antwortet selbst darauf: >>Sehr wenig
»Die Aufgabe des Übersetzers« 613

dem, der sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mit- >>Art des Meinens<< und das >>Gemeinte<< einer Sprache
teilung, nicht Aussage. Dennoch könnte diejenige lassen sich nun allerdings nicht wie Ausdruck und In-
Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln halt oder Stil und Bedeutung einander gegenüberstel-
als die Mitteilung- also Unwesentliches<< (IV, 9). Das len. Das >>Gemeinte<< ist nämlich in einer noch näher
>Unwesentliche< ist folglich der endliche Sinn und mit- zu bestimmenden Weise von der >>Art des Meinens<<
teilbare Informationsgehalt des dichterischen Origi- der anderen Sprachen abhängig. Denn das >>Gemeinte<<
nals. Worum aber geht es, nach Benjamin, wenn nicht ist keineswegs dort als >>relative Selbständigkeit<< aus-
um den von einer Sprache in die andere Sprache zu weisbar, wo es nicht bereits mit der >>Art des Meinens<<
übertragenden Sinn und Informationsgehalt eines einer anderen Sprache in Berührung gekommen ist.
Textes? Es geht zunächst um ein sich in der traditio- Weil jede Sprache sich in einem ständigen Wandel be-
nellen >Sinn-für-Sinn< vorgehenden Übersetzungspra- findet und das >>Gemeinte<< in ihr ebenfalls, vermag es
xis im Verborgenen Haltendes, um einen Nicht-Sinn, eine >>relative Selbständigkeit<< nicht zu erreichen. Erst
der sich durch Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen wenn mittels der Übersetzung Sprachen intensiv mit-
kaum fassen läßt. Wenn es aber ein dem Sinn >Verbor- einander in Berührung kommen und die >>Art des
genes< und >Unsagbares< zu übersetzen gilt, kann es Meinens<< der einen Sprache in die andere hinüber-
auch nicht darum gehen, daß der übersetzer selbst setzt, >ergänzt< sich die >>Art des Meinens<< der Aus-
zum Dichter oder Nach-Dichter des Originals wird. gangssprache zum >>Gemeinten<< der betreffenden
Denn daher >>rührt in der Tat ein zweites Merkmal der Zielsprache. Auf dem Wege einer solchen Ergänzung
schlechten Übersetzung, welche man demnach als eine - dies die Hypothese Benjamins -konturiert sich die
ungenaue Übermittlung eines unwesentlichen Inhalts Differenz zwischen dem >>Gemeinten<< und der >>Art
definieren darf<< (ebd.). Die Aufgabe des Übersetzers des Meinens<< in der jeweiligen Sprache in besonderem
beinhaltet weder die Wiedergabe des Sinns des Origi- Maße.
nals noch den dichterischen Nachvollzug der Sprache Durch die Ergänzung der >>Arten des Meinens<< un-
des Ausgangstextes. Überhaupt ist von einer vorder- terschiedlicher und einander fremder Sprachen zieht
gründigen Ähnlichkeitsproduktion oder eindimensio- zugleich eine auffällige Differenz zwischen die >>Art des
nalen Abbildungsästhetik abzusehen (vgl. zur Bildlich- Meinens<< und das >>Gemeinte<< in der ergänzten Spra-
keit des Unabbildbaren: Walter 1999,221 f.). Benjamin che ein. In die Sprache soll durch eine derartige Er-
pointiert diesen Zusammenhang sogar mit dem Ver- gänzung eine Aufsperrung und Erstarrung einziehen,
weis darauf, daß eine Übersetzung nicht nur vor ober- die das >>Gemeinte<< einer Sprache der >>Art des Mei-
flächlichen Ähnlichkeiten zu bewahren ist, und betont, nens<< derselben Sprache entfernt und fremd werden
daß übersetzung überhaupt unmöglich wird, >>wenn läßt.
sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen Erst auf diesem Wege ließe sich, so Benjamins über-
nach anstreben würde<< (IV, 12). Auszurichten ist die legungen, sicherstellen, daß die Fremdheit des Origi-
Übersetzung folglich an den Unähnlichkeiten und Ent- nals und seiner Sprache auch in der Zielsprache Gehör
stellungen, die sich mit jeder Textübertragung und finden. Das besondere Vermögen, auf das Fremde in
Textreproduktion ergeben,- und diese gilt es aufzu- der anderen Sprache zu achten, ist die Fähigkeit >>des
spüren in der unüberbrückbaren Differenz von Origi- Übersetzers, der zwischen den Sprachen und damit
nal und Übersetzung, Ausgangstext und Zieltext. Eine außerhalb der eigenen steht. Dem Übersetzer wird die
Theorie der Übersetzung hat diese Unähnlichkeiten eigene Sprache fremd. Nur in dem Maße, als sie ihre
und Ent-stellungen qua Differentialität, denen man Vertrautheit verliert, kann das Fremde in ihr erschei-
sich nur beschreibend annähern kann, die sich aber nen. Es in ihr zu finden ist aber andererseits nur mög-
nicht benennen oder bedeuten lassen, dennoch mittels lich, weil es in ihr schon angelegt ist und die eigene
einer behutsamen List freizulegen. Sprache die fremde schon in sich hat<< (Frey 2001, 149).
Benjamin wählt hier die Strategie einer begrifflichen Dem Eigenen in der fremden Sprache entspricht ein
Neuschöpfung, und zwar nennt er jenen nicht mitteil- Fremdes in der eigenen Sprache. Nur deswegen ist
baren Bezirk der Differenz zwischen zwei Sprachen Übersetzung überhaupt möglich, denn einen Text aus
>>Art des Meinens<<: >>In der Art des Meinens nämlich einer fremden Sprache in die eigene zu übertragen und
liegt es, daß beide Worte [gemeint ist der Vergleich von ihn auf diesem Wege seiner Fremdheit, seiner fremden
>Brot< und >pain<] dem Deutschen und Franzosen je >>Art des Meinens<< zu entkleiden, heißt, die Bewegung
etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht der Sprache in der übersetzung selbst darzustellen.
vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen Eine gelungeneübersetzunghat diese Bewegung nach-
streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genom- zuvollziehen und theoretisch darzustellen, sie vermag
men, dasSelbe und Identische bedeuten<< (IV, 14). Die auf diesem Weg zu zeigen, was sich in der anderen
614 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Sprache keinem Sinn und keiner Mitteilung erschließt. das >>Gemeinte<< und die >>Art des Meinens<< in der
Die Benjaminsehe Theorie der Übersetzung will die Übersetzung entschieden auseinandertreten, wird eine
Übersetzung selbst als eine stets theoretische und ihre Differenz markiert, die unsinnlich ist, weil sie nur ge-
eigene Praxis reflektierende Textart In einer solchen dacht, aber nicht wahrgenommen werden kann. In
stört Sinnübertragung die Reflexion auf das Wesent- Form einer unsinnlichen Darstellung berührt sie ein
liche an der abstrakten Sprachbewegung. Diese läßt Nicht-Darstellbares. Keineswegs ist es so, daß >>die
sich allein darstellen, indem man die die Sprachent- Übersetzung die reine Sprache selbst darstellt: deren
wicklung verstellende Mitteilungsdimension zur Seite Darstellbarkeit ist Konstituens des Funktionsprinzips,
schiebt und indem man durch die Ergänzung der durch das die übersetzung mehr sagen kann als das
fremden >>Art des Meinens<< eine Fremdheit in die Ziel- Original<< (Dörr 1988, 120). Die in der Bewegung der
sprache einschießen läßt, die zu einer Erstarrung und Übersetzung sich erzeugenden Differenzen sind Be-
Fragmentierung dieser selbst führt. standteil einer >>reinen Sprache<<, ohne sich in dieser
Eine Sprache, in der eine solche Erstarrung und vollständig aufzulösen. Die >>reine Sprache<< ist auf das
Stillstellung durch die >>Harmonie alljener Arten des >>Werden der Sprache<< selbst verwiesen und dieses
Meinens<< sich vollzogen hätte, nennt Benjamin >>reine Werden geschieht in der Übersetzung. Das Werden der
Sprache<<. Eine solche >>reine Sprache<< ist nicht etwa Sprache besitzt eine eigene Realität, die unterstreicht,
als >Universalsprache< zu verstehen (vgl. Markis 1979, daß Sprache weniger >Repräsentation< als vielmehr
130). Schon im frühen Sprachaufsatz stützt sich Ben- >Produktion<, d.h. weniger Darstellung als vielmehr
jamin auf das Paradigma der >>reinen Sprache<< und Herstellung einer Welt und ihrer Bedeutungen ist (vgl.
meint dort einen Zustand der Sprache, in der diese von van Reijen u. van Doorn 2001, 68). Die >>reine Sprache<<
jeglicher Abstraktions- und Mitteilungsfunktion be- im Sinne Benjamins beschreibt dieses Werden als Her-
freit ist. Die >>reine Sprache<< in jenen frühen sprach- stellen, denn sie ist >>in den Sprachen nur an Sprachli-
theoretischenüberlegungenentspricht dem, was dort ches und dessen Wandlungen gebunden<< (IV, 19). Die
als Namenssprache bezeichnet wird: >>Der Inbegriff Reflexion des Werdens der Sprachen wird aber einer-
dieser intensiven Totalität der Sprache als des geistigen seits durch den beharrlichen und >schweren< Sinn ver-
Wesens des Menschen ist der Name. Der Mensch ist stellt und andererseits durch ein vorausgesetztes Sub-
der Nennende, daran erkennen wir, daß aus ihm die jekt, das Wörter wie Instrumente benutzt, desavouiert.
reine Sprache spricht<< (II, 144). Im Obersetzeraufsatz Übersetzungen machen ein Werden anschaulich, das
verliert die Namenssprache allerdings ihren mythi- verdeutlicht, daß die >>reine Sprache<< nur als >>in der
schen Gehalt. Indem sie dort ganz und gar auf das Feld Geschichte erst sich Herstellendes<< ( Greffrath 1978,
der >>reinen Sprache<< hinüberwechselt, wird sie mit 119) denkbar ist. In der Übersetzung selbst werden
dieser zur theoretischen Durchdringung der Sprache Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit in besonderem
und ihrer Geschichte, ihres Werdens und Vergehens in Maße greifbar. Besonders deutlich wird dies an den
übersetzungsprozessen. Zugleich aber steht der Name Übersetzungen einer vergangenen Sprachepoche, de-
und die Namenssprache für die auch im Obersetzer- ren Formen, Stil, Ausdruck und mit diesen auch der
aufsatz nachdrückliche Kritik Benjamins an einem Gehalt in weite Ferne gerückt sind. Daher bedürften
instrumentellen Sprachdenken im besonderen und die bedeutenden Schriften fortwährend einer Neu-
einer instrumentellen Vernunft im allgemeinen. Das übertragung, um sie in der jeweiligen Zeit >ankommen
Denken der Sprache, welches auf die Namenssprache zu lassen<. Umgekehrt zeigt aber gerade dieses Abflie-
als >>reine Sprache<< zielt, reflektiert dabei nicht immer ßen des Lebens und der sprachlichen Nähe, daß Über-
schon seine eigenen Voraussetzungen, sondern ver- setzungen Kristallisationspunkt des Werdens und
sucht, sich diesen in einer reproduktiven Praxis zu Vergehens der Sprachen sind. Durch den Übersetzeri-
nähern. Aber die >>reine Sprache<< läßt sich nicht wie schen Transfer ereignet sich eine besondere Kontami-
ein Werk oder ein herstellbarer Zusammenhang ent- nation, die im Text der übersetzung den zuvor be-
falten, denn sie ist selbst nicht von ihren Zwecken kannten Sinn der Sprache fremd werden läßt. Eben
trennbar. Benjamin stellt auch mit Blick auf das Wesen dies ist das zentrale Anliegen der Benjaminsehen Über-
der >>reinen Sprache<< dem sinnorientierten Überset- setzungstheorie: Die Sprache vom Sinn zu befreien,
zungskonzept eine intentionslose Praxis entgegen, in >>das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu
der >>die Sprachen selbst miteinander, ergänzt und ver- machen, die reine Sprache gestaltet der Sprachbewe-
söhnt in der Art ihres Meinens, übereinkommen<< (IV, gung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige
16). Erst in der Übersetzung, deren Bewegung Ver- Vermögen der Übersetzung. In dieser reinen Sprache,
schiebungen und Verrückungen performiert, vermag die nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt,
sich die >>reine Sprache<< herzustellen. Dadurch, daß sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort
»Die Aufgabe des Übersetzers« 615

das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Ganz ähnlich dem Namen steht das Wort für sich,
Mitteilung, aller Sinn und alle Intention auf eine ohne auf ein Mitteilungsmodell zu rekurrieren, in dem
Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind<< (IV, bedeutungstragende Zeichen zwischen Sender und
19). Übersetzung vermag gerade dieses und erhält auf Empfänger übermittelt werden. Schon aber der Ver-
dem Wege ein viel größeres Wirkungs- und Einflußfeld weis auf die Bibelstelle »am Anfang war das Wort«
zugewiesen. Benjamins übersetzungstheoretische Be- betont die Nähe der >Wort für Wort<- übersetzungzur
mühungen sind aber- und dies gilt es erneut mit Blick heiligen Sprache. Doch die Benjaminsehen Überlegun-
auf die >>reine Sprache« zu betonen- nicht Konstruk- gen des Übersetzeraufsatzes entsprechen nicht mehr
tionsanleitungen zu einer neuen Universalsprache, die der mythisch-theologischen Erhebung der Namens-
die Menschen von Natur aus miteinander verbinden sprachen des frühen Sprachaufsatzes. Es gibt eine auf-
könnte. Benjamin geht es vielmehr in seinem Über- fällige Zurückhaltung Benjamins gegenüber kabbali-
setzungsdenken um die Beschreibung sprachlicher stischen und biblischen Paradigmen im Übersetzer-
Prozesse, die erst im Vollzuge einer >experimentellen< aufsatz. Es scheint, als habe Benjamin den theologischen
Praxis auch die theoretische Erschließbarkeit gewähr- Gehalt des frühen Sprachaufsatzes einer Profanation
leisten. Übersetzung ist selbst kein für die Erlangung unterzogen, ohne jedoch auf deren theoretische und
der Wahrheit sprachlicher Prozesse als Zweck benutz- sprachkritische Implikationen verzichten zu wollen.
bares Mittel, vielmehr ist Übersetzung eine sprachliche Und auch die Exemplarizität sprachmystischer Topoi
Bewegung, in der sich Wahrheit als Sprach-Wahrheit spielt noch immer eine herausragende Rolle. So ver-
allererst vollzieht. Auf diese Weise wird in der über- weist Benjamin auf die übersetzungstheoretische Bei-
setzungein eigentlich Nicht-Darstellbares zur Darstel- spielhaftigkeit der biblischen Interlinearversion:
lung gebracht. Es entzieht sich der Benennung und »Denn in irgendeinem Grade enthalten alle großen
bedeutenden Zuweisung, allein der Prozeß und das Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den
Werden der Übersetzung geben einen Hinweis auf das Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearver-
sich stets Entziehende. sion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller
übersetzung« (21). Die Interlinearversion als Urbild
der >Wort für Wort<-Übersetzung erhält ihren Ort im
Wörtlichkeit und Allegorie Raum zwischen den Zeilen und durch diese Vermitt-
lung auch zwischen den Texten der unterschiedlichen
Durch welche Methode des Obersetzens denkt Benja- Sprachen. Der interlineare Text wird zum Text zwi-
min nun, sich der »reinen Sprache« am besten nähern schen und jenseits der eigentlichen Texte, er stellt ein
zu können? Apodiktisch formuliert Benjamin: »Auch Band und zugleich eine Trennung dar, die die Sprache
im Bereiche der übersetzung gilt: [... ] im Anfang war des Originals zwar >durchscheinen< läßt, ihr aber den-
das Wort« (18). Durch die wörtliche übersetzung ver- noch Verschiebungen, laterale Verstrickungen und
mag das Original in der übersetzung durchzuscheinen Unterbrechungen hinzufügt. Die Interlinearversion
und erst dies eröffnet die Möglichkeit einer Ergänzung reproduziert den Ausgangstext, indem sie ihn in einen
der »Arten des Meinens«. Da die >Wort für Wort<-Über- stetigen und perpetuierenden Zustand des Übergangs,
setzung stark an der Syntax des Originals orientiert ist, der Passage, versetzt. Als solch interlinearer Text kün-
durchkreuzt sie die Aufrechterhaltung des Sinns in der digt er eine schlechthinnige übersetzbarkeit an, die
Übertragung. Zugleich bleiben Beziehungen struktu- jedoch nie wirklich und erreicht werden kann. »Wo
raler und textualer Art in der übersetzung durch die der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in sei-
Wörtlichkeit erhalten. Einzig die wörtliche Übertra- ner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit
gung verdeckt nicht das Original. Und Benjamin un- oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlecht-
terstreicht: »Die wahre Übersetzung ist durchschei- hin« (ebd.). Mit der interlinearen >Wort für Wort<-
nend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht Übersetzung wächst zugleich aber auch die aus den
im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt »Arten des Meinens« der Vielzahl der Sprachen sich
durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Ori- ankündigende »wahre Sprache«, welche mit der »rei-
ginal fallen« (ebd.). In der >Wort für Wort<-Überset- nen Sprache« koinzidiert. So ergibt sich zwar durch
zung tritt der Sinn in der Übertragung wie von selbst die Sprachergänzung eine Intensivierung und Ausdeh-
zurück und öffnet die Sprache derübersetzungfür die nung der Verweise auf die »reine Sprache«, aber den-
Ergänzung der »Art des Meinens« des Ausgangstextes. noch bleibt die Beziehung der einzelnen Sprachen und
Die Herauslösung des Wortes aus seinem ausgangs- ihrer jeweiligen »Art des Meinens« zur »reinen« oder
sprachlichen Kontext nimmt ihm jenen Sinn, der den »wahren Sprache« eine lateral verweisende und über-
>Ausdruck< und die Gesten der Sprache beherrscht. tragende, d. h. metonymische. Denn stets wird die
616 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

»reine Sprache<< in und durch die endlichen Sprachen ihrer jeweilig anschaulichen Darstellung konstitutiver
immer nur in unvollkommener Weise gegeben sein. Bedingungen sprachlichen Bedeutens. Benjamins Al-
Die >>reine Sprache<< läßt sich nicht in einer konkreten legoriebegriff entwickelt sich an dem Vorbild der ba-
endlichen Sprache zur Darstellung bringen. Auch hier rocken allegorischen Ausdrucksform. Diese taucht im
scheitert die Äquivalenztheorie der Wiedergabe und 16. Jh. auf und stellt zwar eineüberwindungder mit-
es bleibt als letzter Ausweg die Theorie der Spracher- telalterlichen Allegorie dar, bleibt mit dieser aber doch
gänzung, so wie sie mittels der Interlinearversion me- eng verbunden. Der barocke Hang zur allegorischen
thodisch umrissen ist (vgl. Frey 2001, 156). Darstellung fandAusdruck >>in sinnbildlichen Darstel-
Die übersetzungallgemein und die Interlinearver- lungen moralischer und politischer Art. Mußte die
sion im besonderen ermöglichen erst das >Fortleben< Allegorie doch oft jetzt selbst die neuerkannte Wahr-
des Originals, in diesem >Fortleben<, >>das so nicht hei- heit versinnlichen<< (I, 345). Anregungen erhielt die
ßen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung barocke Allegorie durch die Arbeiten humanistischer
des Lebendigen wäre, ändert sich das Original<< (IV, Gelehrter über die Entzifferung von Hieroglyphen.
12). Die Übersetzung fungiert solchermaßen als ein Durch die allegorische Auslegung ägyptischer Hiero-
double bind zwischen Zerfall und Erneuerung des glyphen entstand eine ikonologische Schriftart, die
Originals. Das Sich-Fortentwickeln des Originals in vollständige Sätze >Wort für Wort< durch besondere
der übersetzung nennt Benjamin an anderer Stelle Bildzeichen übertrug. In dieser neu entstandenen
auch >Nachreife< des Wortes, die sich in der Sprache Schriftart treten Dingbilder an die Stelle von Buchsta-
ereignet. Die >Nachreife< des Wortes des Originals ben, die in die ästhetischen Gebilde des Barock einzie-
scheint allerdings in einer deutlichen zeitlichen Di- hen.
stanz von Original und Übersetzung überhaupt erst Der Allegorie spricht Benjamin daher die Aus-
möglich zu sein. So finden, nach Benjamin, die bedeu- druckskraft der >Schrift< zu und hebt damit hervor,
tenden Werke ihre >erwählten Übersetzer< keineswegs daß die Allegorie von einer Reflexion auf Schriftlich-
im Zeitalter ihres Entstehens; später, in entfernter Zu- keit in besonderem Maße durchdrungen ist. Der be-
kunft, kann durch eine übersetzung solch eines be- wußte Rekurs auf die Schrift in der barocken Allegorie
deutsamen Werkes dessen Fortleben gesichert werden. geht einher mit Unterordnung der phonetischen Ma-
Diese Einschätzung erinnert an eine Denkfigur aus terialität des Wortes. Und doch setzt Benjamin Wort
Benjamins Aufsatz GOETHES WAHLVERWANDTSCHAF- und Schrift im Trauerspielbuch in ein besonderes
TEN, der zum Teil zeitgleich mit dem übersetzeraufsatz Spannungsverhältnis zueinander. Gerade die Schrift
im Jahr 1921 entstanden ist. Im Wahlverwandtschaf- steht für eine gewisse Unverfügbarkeit und ein Schwei-
tenaufsatz, dessen Kritikbegriff deutliche Parallelen gen, das sich dem Zugriff des Subjektes entzieht (vgl.
zum Übersetzungsbegriff Benjamins aufweist, wird Kleiner 1980, 44f.). Schriftlichkeit und Wörtlichkeit
Kritik erst dann als denkbar angenommen, wenn durchdringen daher nach Ansicht Benjamins einander.
>Wahrheitsgehalt< und >Sachgehalt< (Realien) ausein- Dies zeigt sich besonders an der Sprache des barocken
andertreten. Dies erinnert an die Vorgabe des über- Trauerspiels: >>In den Anagrammen, den onomatopo-
setzeraufsatzes, daß die Übersetzung der >>Art des etischen Wendungen und vielen Sprachkunststücken
Meinens<< des Originals erst sichergestellt ist, wenn das anderer Art stolziert das Wort, die Silbe und der Laut,
>>Gemeinte<< und die >>Art des Meinens<< in der Zeit emanzipiert von jeder hergebrachten Sinnverbindung,
deutlich auseinandertreten. Erst in der zeitlichen Di- als Ding, das allegorisch ausgebeutet werden darf. Die
stanz hebt sich die >>Art des Meinens<< der Sprache des Sprache des Barock ist allezeit erschüttert von Rebel-
Originals von ihrem Hintergrund ab und wird so der lionen ihrer Elemente<< (I, 381). Das lautlos stolzie-
übersetzung zugänglich. rende Wort offenbart sich in diesem Sinne als ein
Vor diesem Hintergrund wird besonders offensicht- strukturales Regulativ der barocken Allegorie. Schrift
lich, warum der rhetorische Tropus der Allegorie zur und Wörtlichkeit erweisen sich in der Exegetik der
zentralen Denkfigur der Benjaminsehen Sprachtheorie barocken Allegorie sowohl als Darstellung der Analyse
geworden ist. Die allegorische Ausdrucksform stellt wie auch als deren Voraussetzung.
jenes Auseinandertreten der Zeit in graphischer Form Von besonderem Gewicht für die theoretische Rück-
dar. So läßt sich der im Übersetzeraufsatz entfaltete besinnung Benjamins auf die barocke Allegorie ist
Gedanke der Interlinearversion außerordentlich ein- deren Abwertung und Geringschätzung in den auf das
drucksvoll durch den Allegoriebegriff aus der Schrift Barock folgenden Jahrhunderten. Das hierbei gewählte
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (1923- Verfahren macht sich gerade die als negativ beurteilten
1925) erhellen. Die Nähe von Allegorie und Interline- Eigenschaften der Allegorie zunutze. So betont Benja-
arversion im Denken Benjamins beruht vor allem in min das von Goethe kritisierte >Kalte< und >Verstau-
»Die Aufgabe des Übersetzers<< 617

desmäßige< der Allegorie. Erkenntnis strahle nur aus ihnen ist die Harmonie der Sprachen so tief, daß der
der allegorischen Darstellungsweise, weil die toten, Sinn nur noch wie eine Äolsharfe vom Winde von der
isolierten und entwerteten Bruchstücke, die membra Sprache berührt wird<< (IV, 21). Nicht von einer Har-
disiecta eines längst verschollenen Ganzen die Voraus- monie des Sinns ist hier die Rede, sondern von einer
setzungen für einen solch dechiffrierenden Zugang Harmonie, die erst dann zustande kommt, wenn der
schaffen. Als ob jegliches Leben und tradierter Sinn Sinn nahezu vollständig entwichen ist.
von ihr abgesogen wären, präsentiert sich die Allegorie In der allegorischen Übertragung, der >Wort für
als Übertragung geschichtlich verstrickter >Dingbil- Wort<-Übersetzung, tut sich eine Durchlässigkeit auf,
der<. In ihnen fließen vergangenes und endliches Wis- die nur der >>Art des Meinens<< des Ausgangstextes und
sen zusammen, ohne daß sich hieraus eine syntheti- nicht auch seinem Sinn gilt. Dieser zerschellt an dem
sierende Erkenntnis ergäbe, vielmehr tun sich Hin- Raster der Wörtlichkeit und haftet, wenn überhaupt,
weise auf eine Sprache auf, die Benjamin >>reine bestenfalls nur in sehr >flüchtiger< Weise an den Wort-
Sprache<< nennt. In der Allegorie zeigt sich die frag- fragmenten der Übersetzung. Jacques Derrida, der
mentarische Stillstellung eines Geschehens, das längst 1980 zweifelsfrei eine der rezeptionsbildenden Lektü-
vergangen ist und dessen- mit den Begriffen des Über- ren des Benjaminsehen übersetzeraufsatzes vorgelegt
setzeraufsatzes gesprochen - >>Art des Meinens<< nun hat (vgl. zur text- und übersetzungstheoretischen
um so deutlicher hervortreten kann, wobei es zugleich Nähe Benjamins und Derridas: Kleiner 1980, 41 f.),
seiner Semantik im seihen Maße verlustig gegangen bemerkt die jeweils besonderen Kontexte, in denen das
ist. Wort >flüchtig< im Text Benjamins auftaucht: >>Jedes
Die Übertragung durch eine Allegorie ist eine frag- Mal, wenn er von der Berührung [im Orig. dt.] der
mentarische Übertragung, die derübertragungdurch zwei Texte redet, zu der es im Zuge der Übersetzung
Wörtlichkeit, d.h. der Interlinearversion, sehr nahe kommt, bezeichnet Benjamin sie als >flüchtig< [im
steht. Benjamin macht sich dabei vor allem das Ver- Orig. Dt.]. Mindestens an drei verschiedenen Stellen
mögen der modernen Allegorie zu eigen, >>dem Tran- wird der flüchtige Charakter der Berührung hervor-
sitorischen Dauer zu verleihen<< (Bürger 1988, 119), gehoben - und zwar stets, um die Berührung mit dem
und erhellt damit zugleich die Funktionsweise der In- Sinn anzuzeigen, den unendlich kleinen Punkt des
terlinearversion. Die interlineare Übersetzung vermag Sinns, an den die Sprachen kaum rühren<< (Derrida
gerade dann einen entsprechenden Bezug zum Origi- 1997, 147). Die Berührungvon Original und Überset-
nal herzustellen, wenn sie selbst diesen Übergang auf zung, die sich in der Gestalt des Sinns vollzieht, ist
Dauer stellt und die in ihr vorgehenden Prozesse in flüchtig und muß mit der Zunahme der Wörtlichkeit
einen kristallinen Zustand zu überführen vermag. In der Übertragung noch >flüchtiger< werden, um jene
der Interlinearversion erscheint sowohl diese Dauer Sprachbewegung freizulegen, die eine laterale Ergän-
des Übergangs als auch der Bruch mit der vergangeneu zung der >>Arten des Meinens<< ermöglicht. Der einzige
Sprache des Originals. In der solchermaßen allegorisch Text allerdings, der ganz und gar >>ohne vermittelnden
zu nennenden Interlinearversion treten Original und Sinn<< auszukommen vermag, ist der >>heilige Text<<.
Übersetzung miteinander in Kontakt, ohne allerdings Jeder profane Text bleibt dem Sinn und seinen Berüh-
eine Synthese einzugehen. rungen in gewisser Weise ausgeliefert. Dies gilt selbst
Jedoch ist die spezifische Funktion der Allegorie noch für die bereits in ihrer Vorbildlichkeit von Ben-
nicht allein in der interlinearen Allegorese anzutreffen, jamin gelobten Hölderlinschen Sophokles-Überset-
sie findet sich nach Benjamin auch in bestimmten zungen. Die heilige Sprache ist hingegen apriori sinn-
Schreibstilen und in Textformen. Charakteristisch los, sie hat sich in keiner Hinsicht mehr durch Formen
sieht er eine solche Allegorese etwa in den Texten Bau- der übertragung und Reproduktion vom Sinn zu lö-
delaires gegeben, in denen das >>Herausreißen der sen.
Dinge aus ihrem Zusammenhang<< (I, 670) besonders Doch wo, wie im profanen Text, der Sinn den Weg
auffällig ist. Auch in den viel älteren Texten Hölderlins zur Ergänzung der >>Arten des Meinens<< verstellt, gilt
läßt sich eine solch allegoretische Form der Darstel- es die Bruchstücke jener größeren >>reinen Sprache<<
lung ausmachen, und mit besonderer Deutlichkeit tritt zusammenzufügen. Die Nähe und Strukturkohärenz,
diese auf in der Fragmentarisierung und Dispersion die Benjamin zwischen der Allegorie als bruchstück-
der griechischen Tragödie in der Hölderlinschen So- artiger Stillstellung der Transition und der >>Art des
phokles-übersetzung. Diese, der nach Benjamin >ba- Meinens<< herstellt, wird an einer zentralen Stelle des
rock< zu nennenden Spätzeit Hölderlins entstammen- Übersetzeraufsatzes selbst in Form einer Metonymie
den Texte hält ersterer für das >>Urbild ihrer Form<<. beschrieben: >>Wie nämlich Scherben eines Gefäßes,
Und er präzisiert dieses Urteil mit den Worten: >>In um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten
618 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu glei- zusammengefügten Bruchstücke, während Jacobs, in
chen haben, so muß anstatt dem Sinn des Originals der Bemühung um eine >wörtliche< Übertragung des
sich ähnlich zu machen, dieübersetzungliebend viel- Benjamin-Textes ins Englische, meint, daß die Dinge
mehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Mei- auf diesem Wege >unvollständig< bleiben und die Spra-
nens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide che insgesamt in der Zusammenfügung von Original
wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruch- und Übersetzung ein >Bruchstück< bleibt. Die Bruch-
stück einer größeren Sprache erkennbar zu machen<< stücke einer größeren Sprache, die in der übersetzung
(IV, 18). Die >>Arten des Meinens<< der einzelnen Spra- zusammenkommen und durch jede weitere überset-
che gilt es als >>Bruchstücke<< einer größeren Sprache zung >angebildet< werden, sind nicht in Form einer
zu betrachten und einander >>anzubilden<<. Wenn Ben- einheitlichen Entsprechung einander darstellend auf-
jamin von >>anbilden<< spricht, bedeutet dies nicht, daß einander bezogen, sondern verweisen vielmehr lateral,
die Konturen und Ränder der Bruchstücke verschwin- einander >folgend<, aufeinander.
den sollen oder müssen. Vielmehr ist die Fortexistenz Doch noch eine weitere Stelle der Zahnsehen Über-
der Bruchstücke in ihrer Zusammenfügung gleichbe- setzung des Benjamin-Aufsatzes vermag durch ihre
deutend mit der Herstellung jener >>größeren Sprache<<, sinnbezogene Mißdeutung ein zentrales Anliegen des
in der die immer noch zu erkennende Fremdheit der Originals freizulegen. Es heißt in der Übersetzung: >>In
jeweiligen >>Art des Meinens<< aufrechterhalten werden the same way a translation, instead of resembling the
kann. In der englischen Übersetzung dieser Stelle des meaning of the original, must lovingly and in detail
übersetzeraufsatzes findet sich eine dieses verdeutli- incorporate the original's mode of signification, thus
chende Fehlübersetzung. Bei Harry Zahn, dem Verfas- making both the original and the translation recogniz-
ser der englischen übersetzung, ist die Rede dort, wo able as fragments of a greater language, just as frag-
es um die Berührung und den Kontakt der Bruch- ments are part of a vessel<< (Zohn 1969, 78). Bei }acobs
stücke der >>Arten des Meinens<< geht, von >tobe glued wird der letzte Teil des Satzes mit den Worten über-
together< und >match< (vgl. Zahn 1969, 78). Diese tragen: >> [... ] just as fragments are the broken parts of
Übersetzung verfehlt die Intention Benjamins zwar a vessel<< (Jacobs 1975, 762). Die Überlegungen Ben-
nur knapp, aber dann doch ums Ganze. Denn die >Er- jamins zielen nämlich darauf, in Form einer Synekdo-
kennbarkeit< der Bruchstücke geht sicherlich durch ein che hervorzuheben, daß die Scherben auch als Teile
>Zusammenkleben< im Sinne von >tobe glued together< eines Gefäßes oder einer >>größeren Sprache<< Bruch-
verloren und auch durch >match<, was soviel wie >an- stücke bleiben. Die Bruchstücke bilden nicht das ein-
passen< heißt, geht die Essenz der Überlegung verloren, heitlich abgeschlossene Ganze einer endlichen Spra-
die sich in dem Teilsatz >>in den kleinsten Einzelheiten ehe, sondern zielen als allegorische Teilstücke auf eine
einander zu folgen<<, ausspricht. Neben Paul de Man >>größere Sprache<<. Derrida spricht daher von einem
hat auch Carol Jacobs diese, die Problemkonstellation >ensemble< der einander ergänzenden Fragmente in
der Theorie des Übersetzens verdeutlichenden, Fehl- der >>größeren Sprache<<. Erklärend fügt er hinzu: >>Wie
übersetzungen in der ersten englischen Übersetzung der Krug, von Hölderlin bis zu Rilke und Heidegger
des Benjaminsehen Aufsatzes bemerkt. In ihrem Auf- dichterischer Topos des Nachdenkens über Ding und
satz >>The Monstrosity of Translation<< von 1975, der Sprache, ist das Gefäß mit sich eins und zugleich nach
lange vor der intensiven Rezeption des Übersetzerauf- außen offen: diese Öffnung (er)öffnet die Einheit, sie
satzes in Deutschland sowie gut zehn Jahre vor dem ist ihre Möglichkeit und verbietet, daß sie zur Ganzheit
Aufsatz de Mans erschien, macht }acobs andere, dem wird. Sie erlaubt ihr zu empfangen und zu geben<<
Gehalt des Benjamin-Textes eher entsprechende Über- (Derrida 1997, 147). Der von Benjamin gewählte Ver-
setzungsvorschläge. Sie überträgt die zitierte Stelle mit: gleich mit dem Gefäß erweist sich also bei genauerem
>> }ust as fragments of a vessel, in ordertobe articulated Hinsehen als paradoxe Konstruktion. Denn der Ver-
tagether must follow one another in the smallest detail gleich zielt auf eine Einheit, die nie eine solche sein
[... ]<< (Jacobs 1975, 762; 1997, 172). Wo Zohn mit >>to kann und die die aneinandergefügten Bruchstücke
be glued together<< übersetzt, überträgt }acobs mit >>to nicht ganz und gar umfaßt. Die Metapher des Gefäßes
be articulated together<<, und wo Zohn von >>match<< wird so schnell zur Allegorie oder- wie Derrida vor-
spricht, schreibt }acobs >>follow<<. In beiden Fällen be- schlägt- zur >Ammetapher<. >Ammetapher< und Alle-
steht die Differenz in den übersetzungen gerade in der gorie stellen nicht die Bedeutung eines >früheren<
Aufrechterhaltung des Bruches und der Trennung im Textes dar, sind also keine Zeichen, deren Funktion es
übergangbei Jacobs, die bei Zahn in einem Verschmel- ist, als Symbolisierendes für einen symbolisierten Sinn
zungs- und Anpassungsprozeß verschwinden. Bei zu stehen. Vielmehr legen Allegorie und >Ammetapher<
Zahn geht es um die nahtlose und dichte Einheit der die Genese und die konstitutiven Phasen des sprach-
»Die Aufgabe des Übersetzers<< 619

Iichen Bedeutens überhaupt frei. Allegorie und >Am- bildungeiner >>Art des Meinens« an eine andere voll-
metapher< sind eine Art Metapher der Metapher und zieht sich zugleich auch die Herstellung einer neuen
durchkreuzen zugleich deren lineares Verständnis, Teilsprache und damit die Genese eines neuen Frag-
denn die Annahme einer> Übertragung< (metaphorein) ments, das es wiederum zu den schon vorhandenen
des Sinns durch ein einheitliches Zeichen oder ein ge- - sowie je vorhanden gewesenen - hinzuzufügen gilt.
schlossenes Bild entspricht einer sprachphilosophi- Dieübersetzerische Praxis, die auf die >>reine Sprache«
schen Metaphysik. Eine Metapher mag zwar in relati- zielt, vermag zwar nie an ein Ende zu gelangen, aber
ver Geschlossenheit auf einen Sinn verweisen, aber in im Prozeß des interlinearen Übersetzens selbst strahlt
dieser Darstellung bleibt sie Effekt eines Konstituti- eine Sprachtheorie auf, die Auskunft gibt über die Ge-
onsprozesses, in dem eine Vielzahl von Metaphern schichte der Sprache(n), ihr Werden und Vergehen,
aufeinander verweisen - und dies in einem nicht nur und den offenen Horizont ihres zukünftigen Wirkens
räumlich, sondern auch zeitlich zu denkenden Sinne. (vgl. Wohlfahrt 2001, 120).
Wird eine bestimmte Metapher als Fragment einer
langen Kette von Bedeutungen gedacht, die ihr in ver-
gangenen Epochen innewohnten und ihr in der Nach- Die geschuldete Übersetzung
barschaft anderer Metaphern noch innewohnen, sedi-
mentiert sich in ihr eine Geschichte. Dabei geht es Im Titel des Benjaminsehen Aufsatzes DIE AuFGABE
sicherlich nicht um die Aufdeckung eines Ursprungs DES ÜBERSETZERS schwingt ein Diskurs mit, der sich
oder eines ersten Ehemals. So soll das allegorische der Moral, den Normen und Pflichten zuwendet. Denn
Fragment, das in der Benjaminsehen Sprache der die Bedeutungen des Wortes >>Aufgabe« dürfen nicht
übersetzung >>Art des Meinens« heißt, das Werden und auf die technisch-praktische Bewältigung einer erfor-
Vergehen von Sprache und den Prozeß ihres Bedeutens derlichen Arbeit beschränkt werden. Die >>Aufgabe«
denkbar machen. Paul de Man hat in seinem Aufsatz im sprachphilosophischen Sinne des Benjaminsehen
von 1989, der erstmals 1997 in deutscher Sprache er- Werkes verweist auch auf eine Pflicht und eine Verant-
schien, >>Schlußfolgerungen: Walter Benjamins >Die wortung, die der Übersetzer hat. Woher aber stammt
Aufgabe des Übersetzers«< eine diesen überlegungen und kommt diese Pflicht, die stets mit einer Schuld,
nahe These vertreten: >>Die Übersetzung ist das Frag- der sich der Übersetzer zu entledigen hat, einhergeht?
ment eines Fragments, sie zerbricht das Bruchstück Die >>Aufgabe« des Übersetzens wird erst dort zur
- das Gefäß zerbricht also immer wieder aufs neue -, Pflicht, wo die profanen Sprachen an die Stelle der
und nie fügt sie es wieder zusammen; es gab von vorn- paradiesischen Sprachen treten. Mit dem göttlichen
herein kein Gefäß, oder wir besitzen keine Kenntnis Wort, das der Hybris der menschlichen Turmbauer zu
von diesem Gefäß, oder kein Bewußtsein, keinen Zu- Babel ein Ende setzt, hält eine Ambiguität in die Spra-
gang zu ihm, so daß es für alle Absichten und Zwecke che des Menschen Einzug (vgl. Hirsch 1995, 22 ff.).
nie eines gegeben hat<< (De Man 1997, 207). Das Gefäß, Nach der Zerstreuung und Verwirrung der Turmbauer
das Benjamin als Allegorie wählt, sperrt sich gegen die und deren Sprachen wird eine Übersetzung gefordert,
Symbolisierung des Ursprungs und entspricht damit die nicht geleistet werden kann. Sie geht auf ein Wort
dem Wirken der >>reinen Sprache«, die aus den Frag- zurück, ein göttliches, das unaussprechlich und unsag-
menten der >>Arten des Meinens« gebildet wird. Mit bar am Anfang der profanen Sprachen steht. Die Über-
jeder neuen Übersetzung jedoch findet ein doppelter setzung selbst nimmt Gesetzescharakter an: >>Die
und paradoxer Prozeß statt. Einerseits wird durch die Übersetzung wird zum Gesetz, sie wird zur Pflicht,
Übersetzung ein neues Fragment einer Sprache er- zum Soll und zur Schuld, zu einer Schuld freilich, von
zeugt, die selbst ebenfalls als Fragment aus einer Über- der man nicht mehr loskommen, die man nicht mehr
setzung hervorgegangen ist, und andererseits wird mit begleichen kann« (Derrida 1997, 129). Mit der De-
jeder Übersetzung eine >Anbildung< einer >>Art des struktion des Babelsehen Turmes wird zugleich ein
Meinens« auf dem Weg zu der - zweifelsfrei nie er- imperialer Anspruch niedergeworfen und ein Gesetz
reichbaren- >>reinen Sprache« vorgenommen. Gleich- erlassen. Es wird eine Vielzahl von Sprachen gegeben,
wohlläßt sich diese >>reine Sprache« nicht wirklich die mit einem Mangel anheben, einem Mangel, der
denken, thematisieren oder entwerfen. Sie erscheint jeder Sprache, die nunmehr als unvollständige und als
gewissermaßen en passant in einer übersetzerischen bruchstückartige die Menschen in Beziehung setzt,
Praxis, die als Fragmentarisierung eines Fragments innewohnt. Noch aber bleibt die Sprache eine Gabe,
Sprache um Sprache einander >anbildet<, ohne sie je die zurückzugeben und zu erwidern Aufgabe jedes
zu einer abgeschlossenen Totalität zu bringen (vgl. Sprechers bleibt. In den nachbabelscheu Sprachen
Walter 1999, 217). Ganz im Gegenteil, mit jeder An- wird jeder Sprecher zum Obersetzer in seiner Sprache,
620 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

weil er von den Anderen durch eine unüberbrückbare Anschein, als könnten weder Geschichte noch kollek-
Differenz und ein untilgbares Begehren getrennt ist. tives Gedächtnis dieses Verlangen gewisser Werke ganz
Mit jeder Rückgabe, die sich im Verlaufe der überset- vergessen lassen und der Nicht-Erinnerbarkeit an-
zenden Erfüllung der Aufgabe einstellt, werden Rechte heimgehen (vgl. Bahti 2001, 353 f.). Nach Benjamin
und Pflichten der Sprache und ihrer Bezüge prolife- liegt sogar der Vergleich mit einem unvergeßbaren
riert. In der unendlichen Weitergabe der Rechte und Leben oder einem unvergeßbaren Augenblick nahe.
Pflichten und mithin der sprachlichen Verschuldung Die Nichtvergeßbarkeit des Verlangens nach Überset-
klafft ein Abgrund zwischen der Notwendigkeit des zung als Wesenskern des Originals strahlt mithin aus
Übersetzens einerseits und der Unmöglichkeit, dem einem Bestreben eines Werkes nach >Leben< und
Gesetz, das sie hervorbringt, gerecht zu werden, ande- >Überleben< hervor. Aus dem Wesenskern des >Über-
rerseits. Es gibt hier einen steten Überschuß der Auf- lebens< des Originals erst eröffnet sich das Verlangen
gabe über das, was zurückgegeben werden kann, hin- der Übersetzung. »Ist doch die Übersetzung später als
aus. das Original und bezeichnet sie doch bei den bedeu-
Insofern verbindet sich mit der AuFGABE DES ÜBER- tenden Werken, die da ihre erwählten Übersetzer nie-
SETZERS auch eine Art Mission, eine Fügung in ein mals im Zeitalter ihrer Entstehung finden, das Stadium
Schicksal und die nicht bewußte Übernahme einer ihres Fortlebens. In völlig unmetaphorischer Sachlich-
Verantwortung. Da es sich aber hier um die Aufgabe keit ist der Gedanke vom Leben und Fortleben der
eines Obersetzers handelt, ist nicht ein neutrales Sein Kunstwerke zu erfassen. Daß man nicht der organi-
oder eine übermächtige Ordnung mit der Aufgabe schen Leiblichkeit allein Leben zusprechen dürfe, ist
betraut und als Regulierungsinstanz zuständig. Die selbst in Zeiten des befangensten Denkens vermutet
Aufgabe ist an ein Übersetzersubjekt herangetragen, worden<< (IV, lOf.). Weil es im >Leben< und >Fortleben<
noch bevor dieses sich mit vernünftigen Gründen oder der Werke um relationale Verflechtungen geht, die
selbstbewußtem Willen gegen eine Übersetzung ent- nichts mit dem magischen Fortbestehen gefeierter
scheiden kann. Die Verpflichtung zur Übersetzung in Werke gemeinsam haben, fordert Benjamin eine >Un-
den profanen Sprachen geht dem Auftauchen und der metaphorische Sachlichkeit< ein. Er sieht eine Relation
Existenz des einzelnen voraus, sie geht auch über seine zwischen Original und Übersetzung gegeben, die eher
Zeit als endlich Sprechender und Denkender hinaus, einer vertraglichen Bindung gleicht, die den potenti-
sie besteht noch, wenn er nicht mehr lebt und die Spra- ellen Obersetzer lange vor dem Beginn seiner Über-
che und ihre Werke weiter zur Übersetzung auffordern. setzungstätigkeit verpflichtet hat - und dieses ganz
Benjamin hebt diesen Aspekt schon zu Beginn seines und gar ohne sein Wissen. Nicht ohne weiteres ist al-
Aufsatzes hervor, wenn er von der Frage nach der lerdings zu ergründen, auf wen oder auf was sich die
>übersetzbarkeit< eines Werkes sagt, daß sie doppel- Forderung und das Verlangen des Originals nach
sinnig sei. Denn sie »kann bedeuten: ob es unter der Übersetzung richtet. Denn das Gesetz, das zur Norm
Gesamtheit seiner Leser je seinen zulänglichen Über- der verschuldeten Sprache geworden ist, ist nicht, wie
setzer finden werde? oder, und eigentlicher: ob es sei- Benjamin sagt, »ausschließlich auf den Menschen<<
nem Wesen nach Übersetzung zulasse und demnach (10) bezogen. Und doch bleibt es >Aufgabe des Ober-
-der Bedeutung dieser Form gemäß- auch verlange<< setzers<, die im fremden Werk gefangene »Art des Mei-
(IV, 9 f.). Zwar insistiert Benjamin in der darauffolgen- nens<< zu befreien (vgl. Menke 1991, 106). Aufgabe des
den Passage, daß >gewisse Relationsbegriffe<, zu denen Übersetzers wird es,> Treue< und> Freiheit< im Rahmen
sicherlich auch derjenige der> Übersetzbarkeit< gehört, seiner vertraglichen Verbindung zu erfüllen. >Treue<
nicht ausschließlich »auf den Menschen<< bezogen sind. gilt es gegenüber der »Art des Meinens<< des fremden
Aber wenn die >Übersetzbarkeit< eines Werkes Über- Werkes zu halten, und >Freiheit< ist zu erproben an der
setzung verlangt, wendet es sich an den mit Sprache Literalisierung und Fragmentarisierung der eigenen
begabten Menschen. Dieser mag zwar als konkretes Sprache. In Verpflichtung und Vollzug von Treue und
Individuum das sich an ihn richtende Verlangen nach Freiheit geht der Übersetzer eine tiefe Symbiose mit
Übersetzung aus dem Werke nicht vernehmen, aber der Sprache des Originals und der Sprache der Über-
das manchen Werken wesentliche Verlangen wird fort- setzung zugleich ein. Weder ist er ein autonomes Au-
bestehen und vielleicht in einer zukünftigen Epoche torsubjekt, das sich über das Original beugt und dessen
>seinen< Übersetzer finden. Denn das Erstaunliche ist Elemente von hier nach dort trägt, noch ist er bloßer
-und die Geschichte der Obersetzungen legt hiervon Erfüllungsgehilfe eines anonymen Textgeschehens, für
eindrucksvolle Nachweise vor-, daß selbst Werke, de- das er seinerseits zum Mittel eines Transferprogramms
ren Verlangen nach Übersetzung vergessen schien, sich ausersehen wurde.
als unvergeßbar erwiesen haben. Es hat folglich den Der Übersetzer zwischen den Texten ist ein go be-
»Die Aufgabe des Übersetzers« 621

tween im zweifachen Sinne: Einerseits wechselt er hin der >>wahren Sprache<< zu, denn sie ist, nach Benjamin,
und her zwischen fremder und eigener Sprache, Aus- >>intensiv in den übersetzungen verborgen<< (IV, 16).
gangstext und Zieltext, ohne noch wirklich in der ei- Niemals wird sie jedoch in toto herstellbar sein, denn
nen oder anderen >Zuhause< zu sein, und andererseits Übersetzungen sind ephemere Gebilde und können
steht er paradigmatisch für ein in Sprache verstricktes >>auf Dauer ihrer Gebilde nicht Anspruch erheben<<
Subjekt, das sich ereignet im Zwischenraum und in ( 14). Die Anbildung der einander fremden >>Arten des
der Zwischenzeit sprachlicher Ansprüche und Erwi- Meinens<< deutet daher eher in ihrer vorübergehenden
derungen. Der Übersetzer ist ein Subjekt, das einen Ereignishaftigkeit auf die >Uneinlösbarkeit< der >>reinen
Vertrag und eine Verpflichtung zu erfüllen hat, für den Sprache<<. Benjamin unterstreicht dies mit Nachdruck:
und für die es sich nie entschieden hat, eine Pflicht, >>[ ... ] in der Übersetzung den Samen reiner Sprache
die, wie jede andere Pflicht, nicht von ihren sozialen zur Reife zu bringen, scheint niemals lösbar, in keiner
Verkettungen und Verflechtungen zu lösen ist. Bedin- Lösung bestimmbar<< (17). Die >>reine Sprache<< ist
gung der Möglichkeit für das sprachliche Wirken des zwar versprochen, bleibt aber auf ewig im Kommen,
Übersetzers als go between ist und bleibt die Differenz sie motiviert die Bewegung des übersetzungsprozesses,
zwischen Ausgangstext und Zieltext, wenngleich es ohne doch je zur vollen >>Reife<< zu gelangen. Die Er-
zwischen beiden keine klare Grenzlinie gibt. Vielmehr lösung, die durch die >>reine Sprache<< in die profane
gibt es Verschränkungen in Syntax und Paradigmatik, Welt einziehen könnte, bleibt im übersetzeraufsatz
die das übersetzen zwischen Texten immer auch zu versagt. Anders klang dies noch im frühen Sprachauf-
einem Übersetzen in Texten- und zu einer >Passage< satz, wo Benjamin im Namen jene Instanz ausmachte,
in ihnen- macht (vgl. Hart Nibbrig 2001, 14). Zwar die als ganzheitliches Kontinuum von der Welt der
besteht Benjamin auf jener klassischen Differenz von unbeseelten Natur bis hin zu Gott alles in eine Einheit
Original und übersetzung, von Autor und Übersetzer, zusammenfließen läßt. Der Name als der >>ununter-
aber zugleich wird auch deutlich- und dies spätestens brochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die
seit dem Frühromantikbuch -, daß er diese Differenz ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum
als relationalesWerden und Gewebe (Text) beschreibt Menschen und vom Menschen zu Gott<< (II, 157). Die
und nicht als einen Unterschied, der auf der Gegen- Nähe des Wortes Gottes wird im Namen als Eigenna-
überstellung zweier abgeschlossener Substanzen und men erfahrbar. Der Name als Eigenname auch der
mit sich identischer Ganzheiten beruht. profanen Sprache ist durchzogen von dieser Möglich-
Die Benjaminsehe Sprachmetaphysik sieht nahezu keit der Erlösung. Im übersetzeraufsatz und der für
alles in sprachliche Bezüge und Verweise gebannt, und diesen wesentlichen >>reinen Sprache<< gilt dies nicht
das bedeutet, daß der sprachliche Effekt, den Original mehr. Die messianische Erfüllung der >>reinen Spra-
und Übersetzung als solche darstellen, auf einen diesen che<< hält sich in unaufhebbarer Distanz zur endlichen
vorausgehenden konstitutiven Prozeß verweist. Dieser Sprache und zur Immanenz der Geschichte (vgl. I,
vollzieht sich in einem Zwischen, das noch vor der 1239). Im >>Theologisch-politischen Fragment<<, das
Unterscheidung in Original und übersetzung, Autor zur gleichen Zeit wie der übersetzeraufsatzentstanden
und übersetzer, seine Wirkung entfaltet, ohne aller- ist, präzisiert Benjamin seine Annahme einer absoluten
dings sich als unipolarer Ursprung ergründen zu las- Jenseitigkeit und Ahistorizität des Messianischen: >>Erst
sen. Alles Bemühen um eine Restitution dieses konsti- der Messias selbst vollendet alles historische Gesche-
tutiven Prozesses, der sich in das Zwischen der Texte hen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung
und Sprachen zurückzieht, ist zum Scheitern verur- auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet,
teilt. Und doch kann es keine dringlichere >Aufgabe< schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus
geben, als sich dieser mit der Differenz zwischen den sich aufMessianisches beziehen wollen. Darum ist das
profanen Sprachen verbundenen Mangelhaftigkeit Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis;
und Verstellung anzunehmen und Techniken und Li- es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch ge-
sten für ihre Verarbeitung zu entwickeln (vgl. Dütt- sehen ist es nicht Ziel, sondern Ende<< (I, 203). Die
mann 2001, 145). Anknüpfungen an einen bestimmten jüdischen Mes-
Aber eine Entledigung dieses Mangels und mit ihm sianismus werden auch im übersetzeraufsatz greifbar,
der Sühne und Schuld scheint nicht möglich. Mit der denn dort dominiert die Perspektive einer Unerlösbar-
Sammlung der >>Arten des Meinens<< eine Annäherung keit der profanen und sprachlichen Entzweiung (Scho-
an die >>reine Sprache<< und an die Sprache der >Wahr- lem 1970,95 ff.). Diese Einsicht steht einem christlich
heit< zu erreichen, scheint zwar denkbar, aber in ihrer geprägten hermeneutischen Sprachdenken auffällig
Durchführung letzthin unmöglich. Und doch kommt entgegen, denn dieses sieht die Entzweiung der Spra-
derübersetzungeine zentrale Rolle bei der Suche nach che >nach Babel< durch das Pfingstwunder als über-
622 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

wunden an. Das Ereignis der mit einer Sprache und ginal in einen »endgültigeren Sprachbereich<< transfe-
Stimme sprechenden Jünger steht stellvertretend für riert, so gilt dies doch nur, weil »es aus diesem durch
eine in einer unedösten Welt erlöste Sprache. Für das keinerlei Übertragung mehr zu versetzen ist<< und >>in
jüdisch-messianisch geprägte Denken Benjamins gilt ihn nur immer von neuem und an anderen Teilen er-
die Babelsehe Entzweiung und Verwirrung der Spra- hoben zu werden vermag<< (IV, 15). Der Hunger nach
chen in actu. Andeutungen einer erlösten Sprache qua Sprachergänzung wächst nur weiter durch ihre stete
»reine Sprache<< stellen sich daher erst ein, wenn der Befriedigung, und doch gibt es keine Alternative zum
Idealismus einer einheitlichen Sprache aufgegeben Verlangen der »reinen Sprache<<.
wird und der unedöste Status eines immer schuldhaf-
ten Sprechens die Demonstration des Sprachzerfalls
hervorruft. Die übersetzerische Technik einer Zer- Zwischen fremden Sprachen
trümmerung des Sinns und der Syntax des Originals
in der >Wort für Wort<-Ühersetzung hat sich gerade Benjamin wendet sich gegen eine >Sinn-für-Sinn<-
dies zur Aufgabe gemacht (Übersetzung als >Technik<, Übersetzung, weil diese die fremde >>Art des Meinens<<
vgl. VI, 159). Es ist ihr Bemühen, aus der Darstellung dadurch verdeckt, daß sie einen Sinn in die eigene
der Brüche und Risse ein Nicht-Mitteilbares und Un- Sprache überträgt, der in dieser eine genaue Entspre-
sagbares aufscheinen zu lassen, das Spuren eines Un- chung finden muß. Dadurch bleibt von der Andersheit
endlichen entdeckt. Dieses Unendliche ist die »reine und Fremdheit des Originals und seiner Sprache nichts
Sprache<<, die mit dem Verlangen nach ihr auch die in der übersetzung erhalten. Indem aber der überset-
Übersetzung und das Original stiftet. Denn auch und zer versucht, die Beziehung zwischen »Art des Mei-
schon das Original beginnt mit einem Mangel und nens<< und »Gemeintem<< oder, mit anderen Worten,
einem Verlangen: »Das Original ist der erste Schuldner, die zwischen symbolisierender und symbolisierter
der erste Bittsteller, es ist das, was zuerst fordert und Ebene der Ausgangssprache in die Sprache der Über-
verlangt, es fängt an mit einem (Ver )Fehlen und einem setzung zu übertragen, will er Verhältnisse und Verwe-
Ermangeln- es beginnt damit, sich nach der Überset- hungen zur Darstellung bringen. Die besondere Ak-
zung zu sehnen, um das Vermißte zu trauern und zu tualität der Benjaminsehen übersetzungstheorie be-
flehen<< (Derrida 1997, 140). Das erstaunlich Paradoxe steht nun gerade in der erstaunlichen intellektuellen
aber an diesem Verlangen nach übersetzung und der Sensibilität für die spezifische Gestalt sprachlicher
Entsprechung dieses Verlangens durch die Überset- Fremdheit. Die Fremdheit der anderen Sprache wird
zung ist, daß es nicht etwa zu einem geringerwerden- als Geflecht von Beziehungen und Zwischenräumen
den Mangel kommt, sondern ganz im Gegenteil, mit gedacht und nicht als von jeglichem Ausdruck befrei-
jeder Übersetzung sich der Mangel und das Verlangen ter Gehalt. Benjamin selbst sieht sich mit dieser über-
nur noch vergrößern (vgl. Hirsch 1997,407f.). Im Be- setzungstheoretischen Einsicht in der Nachfolge Goe-
mühen darum, das >Nicht-Mitteilbare<, die »Art des thes und Pannwitz' und meint zu deren Ausführungen
Meinens<< des Originals in der Übersetzung offenzu- zum Thema, das diese >>leicht das Beste sein dürften,
legen, findet zwar eine übertragung statt, aber das was in Deutschland zur Theorie der Übersetzung ver-
>Nicht-Mitteilbare< des Originals bleibt unberührbar öffentlicht wurde<< (20). Von besonderem Stellenwert
zurück. Entkommen könnte es seiner Verborgenheit sind in dieser Hinsicht Goethes Überlegungen in den
allein in der unendlichen »Harmonie alljener Arten Noten zum West-östlichen Divan. Hier unterscheidet
des Meinens als die reine Sprache<< (IV, 14). Goethe drei Epochen des übersetzensundspricht sich
Aber diese Sprache entfernt sich nur um so mehr, je eindringlich für den letzten der von ihm beschriebe-
intensiver man sich ihr durch eine quantitative Häu- nen Zeiträume aus, denn in diesem schmiegt sich der
fung von übersetzungen zu nähern sucht. Diese Art Übersetzer so intensiv der Sprache des Originals an,
des> Verlangens< des Originals nachübersetzungsteht daß er »mehr oder weniger die Originalität seiner Na-
einer überlegung Emmanuel Levinas' erstaunlich tion<< (Goethe 1963, 35) aufgibt und auf diese Weise
nahe: »Das Verlangenswerte sättigt nicht mein Verlan- ein >Drittes< entstehen läßt. Dieses >Dritte< bricht mit
gen, sondern läßt es anwachsen, indem es mich in der Vertrautheit der eigenen Sprache und hat aber
gewissem Sinne mit neuem Hunger nährt<< (Levinas auch die fremde Ausgangssprache bereits verlassen.
1989, 38). Das >Verlangenswerte< ist im Benjaminsehen Eine Beförderung des >Dritten< vermag daher nur
übersetzeraufsatzdie »reine Sprache<<, und je mehr durch eine Verschlingung des Fremden - und dessen
sich ihr die Übersetzung durch die Ergänzungen der markanter Beibehaltung - ins Eigene zu erfolgen.
»Arten des Meinens<< nähert, desto größer wird das Diese Überzeugung läßt sich trefflich vervollständigen
Verlangen nach ihr. Obgleich dieübersetzungdas Ori- durch die von Benjamin ebenfalls an zentraler Stelle
»Die Aufgabe des Übersetzers« 623

zitierte Kritik von Rudolf Pannwitz an einem Großteil das Meinende der fremden Sprache ausgetauscht wer-
der übersetzungen, denn >>sie wollen das indische grie- den, verändert sich durch die neue Relation, die »Art
chische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu des Meinens<<, auch das Gemeinte in der Zielsprache.
verindischen vergriechischen verenglischen. Sie haben Aus diesem Grunde auch ist die übertragungdes Ge-
eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen meinten und des Sinns der Ausgangssprache in die
Sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden Zielsprache zu vernachlässigen. Eine solche überset-
werks [... ] der grundsätzliche irrturn des übertragen- zung bewirkte sehr wenig, außer daß ein Sinn zu einem
den ist dass er den zufälligen stand der eigenen sprache neuen Sinn umgewandelt wird, mit seiner fremden
festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig Einzigkeit geht er in dieser Umdeutung verlustig. Ent-
bewegen zu lassen. er muß zumal wenn er aus einer scheidend ist es daher, auf die jeweils spezifische Re-
sehr fernenspracheüberträgt auf die letzten elemente lation zwischen Gemeintem und Meinendem in der
derspracheselbst wo wortbild ton in eins geht zurück jeweiligen Sprache zu achten und dabei auch die be-
dringen er muß seinesprachedurch die fremde erwei- deutungskonstitutiven Beziehungen und Verwehungen
tern und vertiefen [... ] << (Pannwitz zit. nach Benjamin, sowohl auf der Ebene des Ausdrucks als auch im Ver-
IV, 20). Besonders interessant ist, daß schon Pannwitz hältnis zum Inhalt der Sprache zur >Darstellung< (vgl.
hier Sprachentwicklung und Sprachgeschichte auf die 12) zu bringen. Das Bedeutung und Sinn Stiftende hat
Ein- und Beimischung des Fremden zurückführt, denn selbst nämlich keine Bedeutung und keinen Sinn, es
dieses >bewegt< die Sprache gewaltig. Werden und Ver- generiert diese in unsichtbaren und unbenennbaren
gehen von Sprache, d. h. ihre Geschichte, und eine Prozessen. Insofern performiert die Übertragung der
gewisse Fremdheit werden in einem engen Zusammen- wesentlichen Verhältnisse der Ausgangssprache als
hang gedacht. deren >>Art des Meinens<< sowohl eineübersetzungder
Die Aufnahme eines Fremden in die eigene Sprache Andersheit des fremden Textes als auch ein Hindeuten
setzt allerdings immer schon eine gewisse Fremdheit auf die Generierung sprachlichen Sinns. Jede Sprache
und Andersheit im Eigenen voraus, damit ein Fremdes, beginnt als differentielles Gewebe und Netz von Ver-
das von >außen< kommt, in die eigene Sprache Einlaß hältnissen, daher beginnt jede Sprache auch mit jener
findet (vgl. Haverkamp 1997, 8f.). Nach Benjamin Konstellation, die Benjamin das >Nicht-Mitteilbare<
findet sich solche Fremdheit, die das eigentliche Cha- und die >>Art des Meinens<< nennt (vgl. Hirsch 1993,
rakteristikum einer jeden Sprache ist und die sie zu- 55 f.). Dies gilt zweifelsfrei ebenso auch für die eigene
gleich von jeder anderen unterscheidet, nicht auf der Sprache, und weil dies so ist, sind überhaupt fremde
Mitteilungsebene der Sprache. Das Fremde an der an- >>Arten des Meinens<< in der eigenen Sprache anbildbar
deren Sprache, das das Werden und Vergehen der ei- und darstellbar. Beachtlich ist dabei auch Benjamins
genen Sprache dynamisiert, ist das >Nicht-Mitteilbare< Einsicht in die Modalität der Fremdheit, denn die
an ihr. Zieht man von einer Sprache alles Mitteilbare Fremdheit der anderen Sprache wird nicht zu einer
ab, dann verbleibt zuletzt ein »Nicht-Mitteilbares<< in absoluten Fremdheit hinaufgesteigert, in der Allbil-
ihr. Für die Sprache ist nach Benjamin dieses >Nicht- dung kann sie in der eigenen Sprache >erlöst< werden
Mitteilbare< >>ein Letztes, Entscheidendes<< (IV, 19). (vgl. IV, 19). Erlösung bedeutet aber hier, daß die
Dieses >Letzte< und >Entscheidende< bezeichnet das fremde >>Art des Meinens<< nicht der eigenen Sprache
>Verhältnis< der Sprache zu ihrem Gehalt oder - mit einfach assimiliert oder angeglichen wird, sondern sie
anderen Worten - des Gemeinten zum Meinenden. wird ergänzt. Der Benjaminsehen Konzeption der
Dieses Verhältnis oder diese Beziehung ist nichts an- Übersetzung liegt eine erstaunliche Kommensurabili-
deres als die >>Art des Meinens<< einer Sprache. Die >>Art tät der Sprachen zugrunde. Denn erst durch die >>Art
des Meinens<< selbst ist eine Relation, nämlich diejenige des Meinens<< als >Unberührbares< der eigenen Sprache,
zwischen Ausdruck und Inhalt, Meinendem und Ge- das diese unendlich übersteigt, wird überhaupt eine
meintem einer Sprache. >Anbildung< fremder >>Arten des Meinens<< denkbar
Für die Aufgabe der Übersetzung bedeutet dies, daß, (vgl. Hirsch 2000, 964).
um eine fremde >>Art des Meinens<< zu übertragen, ein Dadurch, daß die Benjaminsehe Theorie der inter-
Verhältnis, eine Relation, übertragen werden müßte. linearen Übersetzung die Syntax der Ausgangssprache
Hier stellt sich allerdings bei der zwischensprachlichen in der Übertragung zum Stillstand bringt, legt er eine
Übersetzung das Problem ein, daß mit der Zurücklas- Technik frei, die die Beziehung von Meinendem und
sung des Ausdrucks und des Meinenden der fremden Gemeintem des Originals in die übersetzung einzie-
Sprache ein Relationspol wegfällt und damit die Dar- hen läßt. Die >>Art des Meinens<< der fremden Sprache
stellung der Relation selbst nicht mehr möglich scheint. spannte eine Beziehung und einen fremden >Zwischen-
Indem nun aber in der Übersetzung der Ausdruck und raum< auf. Das >heilige Wachstum< der Sprachen, von
624 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

dem Benjamin spricht, besteht gerade in der Ergän- Schlußfolgerungen


zung jener fremden >Zwischenräume<. Ergänzte man
alle Sprachen in ihren >>Arten des Meinens<< und käme Grundlage jeglicher sprachlicher Übersetzungs- und
es zu ihrer vollständigen >Integration<, wäre die >>reine Übertragungsvorgänge sind Differenzen zwischen
Sprache<< als die >>wahre Sprache<< auf Dauer gestellt. mehr oder weniger erkennbaren sprachlichen Ord-
Welch eigentümlichen Charakter und Aufbau diese nungen. Dies trifft evidentermaßen sowohl für die
Sprache hätte, wird nunmehr in besonderer Weise intra- als auch intersprachliche Übersetzung zu. Jede
deutlich. Denn die >>reine Sprache<< bestünde nur aus Theorie der Übersetzung undübertragungvon Wör-
Nicht-Mitteilbarem, Unberührbarem und Zwischenräu- tern und Texten muß sich der Beschreibung dieser
men. Differenzen und dem durch sie konstituierten Verhält-
Eine solche >>reine Sprache<< wäre eine Komposition nis der sprachlich divergierenden Ordnungen zuwen-
aller - und das heißt unendlich vieler - sprachlichen den. Nichts anderes fordert Benjamin. Hiermit unmit-
Fremdheiten. Wenn auch eine solche >>reine Sprache<< telbar einher geht die Notwendigkeit der Bestimmung
weder denkbar noch sagbar ist, so ereignet sie sich des dem übersetzungsvorgang zugrundeliegenden
doch jeden Augenblick, indem sie die Sprachen in ih- Sprachbegriffs. Dieser sollte Auskunft geben über
ren winzigsten Teilen bereichert und bewegt (vgl. Struktur, Verweisordnung, Systematizität und das Ge-
Wohlfahrt 2001, 119). Indem sie fortwährend den Wei- schehen der Sprache, wie auch über sprachliche Kon-
terbau des Textes konstituiert und erzeugt, vermag struktion, Kreation und Reproduktion. Beachtlicher-
immer wieder von neuem jenes >Dritte<, das Goethe weise ist es der übersetzungsvorgang selbst - und in
insinuierte, zu entstehen. Das Denken in Beziehungen, dieser Hinsicht gilt es, die überlegungen Benjamins
Konstellationen und Spannungen betrifft allerdings zu ergänzen und zuzuspitzen-, der solche theoreti-
auch die semantische Ebene des Benjaminsehen Textes schen Grundlegungen ermöglichen und zur Darstel-
selbst. Denn die Fremdheit der >>Art des Meinens<<, die lung bringen kann. Denn es ist der innersprachliche
stets mit Blick auf die >>Interlinearversion des heiligen und intersprachliche übersetzungsvorgang, der luzide
Textes<< (IV, 21) benannt scheint, ist von der theologi- macht, daß Texte sich in differentieller Bewegung her-
schen Sphäre kaum zu sondern. Das Denken der Un- vorbringen, daß Sprache mithin als differentielles und
berührbarkeit der >>Art des Meinens<< steht selbst auf artikulatorisches System, als im steten Vollzug befind-
der Schwelle zwischen profanem und sakralem Text. liches zu beschreiben ist. Das Sich-Vollziehen der Spra-
Sein Zuhause ist daher weder die profane noch die che im Prozeß der Übertragung modifiziert dabei
heilige Sprache. Es zirkuliert zwischen und im Nie- nicht nur die paradigmatische, sondern zugleich und
mandsland der Sprachen und symbolischen Ordnun- immer auch die syntagmatische und semantische
gen. Mit diesem Denken, das ein nachbabelsches Den- Ebene der am Übertragungsprozeß beteiligten Ord-
ken ist, eröffnet sich die Einsicht, daß jenes einheitliche nungen. Da Sprache als differentielle, sich modifizie-
Zentrum, das zuletzt der >TurmbaU< herstellen sollte, rende und aus Beziehungen bestehende Ordnung zur
in einer von Fremdem, Nicht-Mitteilbarem und un- Darstellung kommt, wird deutlich, daß in der Über-
sagbaren Zwischenräumen durchzogenen Ordnung setzung nicht einzelne Elemente übertragen werden
niemals denkbar war, noch jemals denkbar sein wird. können, sondern immer Beziehungen, Verwehungen
Das babelsehe Ereignis selbst allegorisiert eine sprach- und Verhältnisse zu übertragen sind. Eine Bestimmung
liche Ordnung, die ohne arche und ohne telos auszu- und vollständige Eingrenzung dieser Beziehungen und
kommen hat (vgl. Hirsch 1995,21 f.). Da die Sprache Verwehungen ist allerdings unmöglich und gibt damit
als Ordnung, die weder über ein Zentrum noch arche Auskunft über die Uneinholbarkeit der textualen
noch telos verfügt, zu bestehen vermag, stiftet sie Ori- Übersetzungsbewegung selbst. Insofern sich der zu
entierung und Nähe, ohne über eine zentrale Kontroll- übertragende Text in einer permanenten und peren-
und Herrschaftsinstanz zu verfügen. Das Bauen am nierenden Verschiebungs- und Verstellungsbewegung
Text der Sprachen nach Babel schreitet dennoch fort, befindet, wird zudem evident, daß es zu keiner Ab-
weil die fremde >>Art des Meinens<< uns Sprechen und und Einschließung textualer Ordnungen kommen
übersetzen als notwendige und zugleich unlösbare kann. Benjamin bereits deutlich überschreitend, gilt
>>Aufgabe<< auferlegt. es anzufügen, daß textuale Ordnungen qua Sprachen
nicht über einen >Eigenleib< verfügen und daher immer
schon von anderen und fremden Geweben durchzogen
sind. Keine sogenannte Natur- und Nationalsprache
verfügt mithin über einen solchen abgeschlossenen
>Eigenleib<, sondern jede Sprache ist gewissermaßen
»Die Aufgabe des Übersetzers« 625

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626 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Städtebilder, Reisebilder, Städtebildes ergeben (vgl. Adorno 1990, 79). Entgegen


seinen im Oktober 1924 geäußerten Erwartungen,
Denkbilder >>den vorläufigen Ertrag der Reise<< (2, 497) zunächst
>>Neapel<< I »Weimar<< I »Marseille<< I »Essen<< I »Nor- lettisch »und vielleicht auch deutsch<< (SOl) in Kürze
dische See<< I »Kurze Schatten<< (1!11) I »In der Sonne<< gedruckt zu sehen, ist das Manuskript bei der Frank-
I >>lbizenkische Folge<< I »Denkbilder<< I »Kleine Kunst- furter Zeitung noch etwa zehn Monate liegen geblie-
Stücke<< ben; zur geplanten Übersetzung ins Lettische kommt
es schließlich nicht. Im Mai 192S glaubt Benjamin
Von Roger W. Müller Farguell seinen Text bereits gesetzt, wie er Scholem schreibt ( 3,
37), aber erst am 19.August findet der Autor sein Städ-
tebild auf der neapolitanischen Post (8S).
Die Italienreise über Genua, Pisa und Neapel nach
Die Denkbilder Walter Benjamins sind allegorische Capri, wo Benjamin vor dem 20. April eintraf, stand
Konstruktionen, die bildliches mit begrifflichem Den- im Zeichen einer »tollkühnen Eskapade<< (2, 433), mit
ken kombinieren. Ihr Merkmal ist die dialektische der er aus seinen existentiellen und finanziellen Be-
Konstellation, worin sich darstellende Metaphorik und drängnissen auszubrechen gedachte. Auf Capri schrieb
Erkenntnis verschränken. Ihr Formgesetz ist das Wech- er unter sommerlicher Hitze mit ungewohntem Tempo
selspiel von konkreter und abstrakter Darstellung, etwa am Barockbuch, das ihm die erhoffte venia in Frank-
in Gestalt des Porträts einer Stadt (vgl. Lindner 2000, furt einbringen sollte, zugleich aber auch am Städte-
86; Leifeld 2000). Wenngleich Benjamins Denkbilder bild NEAPEL, das seine gegenwärtige Erfahrung reflek-
zumeist in Sammlungen erschienen sind, bleiben sie tierte. Von Capri berichtet Benjamin dem Verleger
doch stets in sich geschlossene Gebilde, die an be- Richard Weißbach: >>Die Insel hat das Gefährliche, daß
stimmte lebensgeschichtliche Situationen geknüpft man, einmal gekommen, sich nicht wieder loszureißen
sind. Seine Städte- und Reisebilder sind daher weniger vermag und die Kraft ihrer Verführung steigert sich
dem Genre der Reiseliteratur denn der figurativ ver- noch durch die große Nähe Neapels, der glühendsten
schlüsselten Synthese einer Lebenserfahrung verpflich- Stadt, etwa außer Paris, die ich je gesehen habe<<
tet. Für Benjamin, der auf seinem Lebensweg kein (4S1 f.). Am 10. Oktober verließ Benjamin Capri in
langes Bleiben gekannt hat, stellt die Dialektik von Richtung Neapel, um sich dort noch einige Zeit auf-
Aufenthalt und Passage eine existentielle Konstante zuhalten, bevor er die Rückreise über Rom und Florenz
dar. Aus seiner Art der Nachdenklichkeit, die durch nach Berlin antrat.
Ortsveränderung entsteht, hat sich die kleine Form Benjamin hat von sich gesagt, er habe sich an Neapel
dieser Reise-, Städte- und Denkbilder kristallisiert. förmlich >>festgesogen<< (S07), und erst rückblickend
Solche allegorischen Miniaturen, die ohne wissen- habe er am >>extremen Temperament des neapolitani-
schaftlichen Apparat auch auf Reisen zu bewerkstelli- schen Stadtlebens<< ermessen können, >>wie orientalisch
gen und publizistisch zu vermarkten waren, sind zur Neapel ist<< (SOl). Das Orientalische Neapels erschöpft
charakteristischen Begleiterscheinung seines Lebens- sich in Benjamins Städtebild keineswegs in seiner Er-
laufs geworden. wähnung phantastischer Reiseberichte, chinesischer
Feuerwerke und des geschäftigen Basar-Lebens. Sein
programmatisches Leitmotiv ist das der Porosität, der
"Neapelcc Durchlässigkeit verschiedenster urbaner Erschei-
nungsformen ineinander und füreinander: »Porosität
Das Städtebild NEAPEL (IV, 307-316), wie es am ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz die-
19.8.192S in der Frankfurter Zeitung publiziert wurde, ses Lebens<< (IV, 311). Es ist durchaus im etymologi-
ist im Herbst 1924 entstanden, als Benjamin von Capri schen Wortsinn zu erfassen, also als »Durchgang<< und
her, wo er sich mehrere Monate aufhielt, die Haupt- »Öffnung<< (griech. por6s), als »durchdringen<<, >>her-
stadt Kampaniens bereiste. Wohl zum zwanzigsten Mal überbringen<<, »durchbohren<< und »durchfahren<<
habe er Neapel besichtigt, schreibt Benjamin am (griech. peirein), was Benjamin gewissermaßen als
16.9.1924 an Scholem und berichtet, er habe »Viel Ma- epistemologische Begriffs-Sonde ins neapolitanische
terial, merkwürdige und wichtige Beobachtungen<< Stadtleben einsenkt. Bereits Jahre vor seinen Studien
gesammelt, die er vielleicht werde verarbeiten können zum Passagenwerk arbeitet er angesichts der sozialen
(2, 486). Aus der Capreser Bekanntschaft mit der let- Phänomenologie Neapels an einer Konzeption urba-
tischen Kommunistin Asja Lacis hat sich eine- aller- nen Zusammenlebens, das sich durchlässig zeigt für
dings umstrittene - gemeinsame Autorschaft dieses die geschichtliche Erfahrung, indem es in zahllosen
Städtebilder- Reisebilder- Denkbilder 627

Situationen zur Konstellation aufbrechen kann. Die sich die benachbarten Kirchenspiele mit stets überwäl-
poröse Struktur hat Benjamin tief in die Formen seiner tigenderen Lichtspielen wechselseitig zu übertreffen
Stadtbeschreibung hineingelegt; die vertikale Stadt ist -ein Phänomen, das die Ethnologie als >>Potlach<< be-
zwar >>felsenhaft<< (309), in sich aber von natürlichen schreibt.
Grotten und baulichen Krypten durchsetzt bis in den In der vielschichtigen Überlagerung urbaner Phä-
Grund hinein. Auch das soziale Elend, das sich dem nomenologie weist Benjamins Städtebild ein engma-
Reisenden offenbart, führt hinab in die Krypten und schig beschriebenes Beziehungsnetz aus, das selbst in
Katakomben (308). Mag der Eingang zu ihnen auch seinen kaleidoskopisch erscheinenden Brechungen von
ein weißer Gebäudekomplex sein, wie das Hospital San einer strengen reflexiven Beschreibungslogik durch-
Gennaro dei poveri, oder die versteckte Pforte zu einer wirkt ist. Methodischer Angelpunkt bleibt dabei der
eingebauten Kirche, durch welche man aus dem >>Wirr- Begriff der Porosität, der bei jeder neuen Erwähnung
sal schmutziger Höfe<< (310) eher zufällig sich Zutritt als Merkpunkt und wiederkehrendes paradigmatisches
verschafft: Wer ins Weichbild der Stadt eindringt, be- Objekt einer virtuellen Stadtwanderung wirkt, welches
gibt sich bereits in den Durchdringungs-Zusammen- Ereignis und Struktur, Sinnliches und Abstraktes zur
hang ihrer Porosität. Benjamin konstruiert sein Städ- bedachten Figur einer Konstellation verschränkt (vgl.
tebild aus dem Ineinander von Gebautem und >>Ge- Brodersen 1990, 159). Augenscheinlich wird sein Ver-
meinschaftsrhythmik<<, aus Architektur und Aktion, fahren besonders im letzten der insgesamt fünf Teile
die stets aufs Neue in Situationen zusammentreten, (zur Bedeutung der Gliederung vgl. Garher 1992, 175),
um den Schauplatz einer Konstellation zu eröffnen der den Wohn- und Arbeitsverhältnissen der Neapo-
(309). Nichts scheint hier definitiv, keine Gestalt be- litaner gewidmet ist. Das städtische Porträt geht den
hauptet auf Dauer ihr Gepräge (zur Polarität von >>Po- sozialen Verhältnissen dieser Bewohner in einer Kette
rosität<< und >>Definitivem<< vgl. van Reijen/van Doorn deskriptiver Gegensätze nach, welche die Polarität der
2001, 88). Neapel besitze keine urbane Architektur inneren Gesellschaftsformen ausleuchten. >>Auch hier
nach dem Muster nordischer Städte, mit dem Haus als Durchdringung von Tag und Nacht, Geräuschen und
deren Zelle, sondern stelle ein Netzwerk ineinander Ruhe, äußerem Licht und innerem Dunkel, von Straße
verklammerter Nischen dar. Daraus ergibt sich, daß in und Heim<< (IV, 315). Ausgehend vom Privatleben, das
solchen Winkeln kaum zu erkennen sei, >>WO noch >>ausgeteilt, porös und durchsetzt ist<< (314), zeigt Ben-
fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten jamin, wie jede private Haltung und Verrichtung >>Von
ist<< (IV, 310). Mit solcher baulichen Porosität korre- Strömen des Gemeinschaftslebens<< (ebd.) durchflutet
spondiert auch der menschliche Zugriff, der dem sei, ja das Privateste im Innersten eine Kollektivsache
Raum alle erdenklichen Potentiale zur Entwicklung bedeute. Nicht allein, daß die Menschen ihre Grund-
frei läßt. >>Porosität begegnet sich nicht allein mit der bedürfnisse des Schlafens und Essens kaum ans Heim
Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor al- binden, sondern auf Straßen, Treppen und hinter dem
lem mit der Leidenschaft fürs Improvisieren<< (ebd.). Ladentisch verrichten, auch die Fähigkeit, sich selbst
Das Impromptu des Gebauten setzt sich in der Impro- bei der Arbeit auf Plätzen und Gassen zum Gestell
visation seines Gebrauchs ohne Anstrengung fort: eines Werktischs zu verwandeln, >>ihren Leib zum Tisch
Neapels Bauten und Plätze sind die Volksbühne ihrer zu machen<< (ebd.), zeugt von der Durchdringung des
Bewohner: >>Alle teilen sie sich in eine Unzahl simultan Kollektiven mit dem Privaten. Und was fürs Gestische
belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Tor- des Leibes gilt, kehrt wieder in der Behausung, die ein
weg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich<< unerschöpfliches Reservoir fürs Lebendige darstelle.
(ebd.). Diese Inszenierung des urbanen Lebens ge- Öffentlichkeit und privates Heim sind dialektisch in-
horcht freilich keiner von außen herangetragenen einander verschlungen: >>Wie die Stube auf der Straße
Regie, sie verdankt sich vielmehr dem >>dumpfen Dop- wiederkehrt, mit Stühlen, Herd und Altar, so, nur viel
pelwissen<< ihrer Akteure, die in sich Dramatis perso- lauter, wandert die Straße in die Stube hinein<< (ebd.).
nae und Publikum vereinen, womit sie der Durchläs- Am Heiligenbild, in der Madonna an den Häuserwän-
sigkeit ihrer Existenz ein Janusgesicht aufsetzen. Ben- den wie in der Stube, wird diese Durchdringung von
jamin hebt die Theatralität Neapels vielfach hervor Außenwelt und Innenwelt flagrant. Nicht selten ent-
und betrachtet in ihr das Laboratorium städtischer stammt aber die enge soziale Verflechtung auch einem
Porosität. Das Spektakel des Volkslebens gipfelt Teufelskreis von Armut und erdrückendem Kinder-
schließlich in der Apotheose nächtlicher Feuerwerke, reichtum, so daß sich Familien oft in Verhältnissen
die von Juli bis September über Neapel aufgehen. In durchdringen, >>die der Adoption gleichkommen kön-
ihnen besitze das Feuer >>Kleid und Kern<< (312). Ent- nen<< (315; zum Vergleich Neapel-Moskau vgl. Szondi
lang der Küste zwischen Neapel und Salerno suchen 1978, 301 f.).
628 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Die eigentlichen »Laboratorien dieses großen 14.2.1929, stelle >>die dem Sowjetstaate abgewandte
Durchdringungsprozesses<< (IV, 316) bilden indessen Seite meines Janushauptes aufs lieblichste<< vor: >>Das
die neapolitanischen Cafes. Benjamin stellt ihre nüch- Haupt wird sich, vollständig, wenn auch nur en mi-
terne, politische Offenheit in Gegensatz zum bürger- niature, nach Erscheinen von >Marseille< darstellen,
lich-literarischen Wesen des Wiener Kaffeehauses. Sein das ich um der Korrespondenzwillen an gleicher Stelle
Reisebild zur Hauptstadt Kampaniens schließt er mit erscheinen sehen möchte<< (438).
einem dialogischen Tableau, worin ein neapolitani- Das Weimarer Denkbild gliedert sich in drei lokale
scher Kellner seinen Gast hinauskomplimentiert. Das Szenen: Marktplatz, das Goethe-Schiller-Archiv sowie
sprichwörtliche >>Neapel sehen und sterben<<, das der Goethes Arbeitszimmer. Die szenischen Allegorien
Deutsche beim Abschied nachsagt, gilt dem Heimi- entfalten je einen dialektischen Bildraum, der in Kor-
schen als kalauerndes Scherzwort: >>Vedere Napoli e respondenzen zu den anderen Bildräumen steht. Der
poi Mori<< (ebd.), mit diesen Worten schickt er den morgendliche Blick auf den Weimarer Marktplatz,
Fremden einige Kilometer weiter zum Vorort von Nea- besehen vom Hotelzimmer des >>Elefanten<<, eröffnet
pel namens Mori. den Standort selbst in seiner theatralischen Dimen-
sion: Das überbreite Fensterbrett macht >>das Zimmer
zur Loge<< (IV, 353), unter der sich der Marktplatz zur
uWeimar(( Bühne für ein Ballett verwandelt. Die Weimarer
Marktszene vermittelt sich aus der distanzierten Posi-
Die Entstehung des dreiteiligen Denkbildes mit dem tion des Privatiers, wie sie Benjamin später auch am
Titel WEIMAR (IV, 353-355) verdankt sich dem Um- Beispiel von E.T.A Hoffmanns Des Vetters Eckfenster
stand, daß Benjamin im April 1926 von der Großen illustrieren wird, dessen Position sich deutlich von E.A.
Russischen Enzyklopädie den Auftrag erhielt, einen Po es Mann in der Menge absetzt (ÜBER EINIGE MonvE
300 Zeilen umfassenden Artikel zum Lemma >Goethe< BEI BAUDELAIRE, I, 628; vgl. Bub 1991, 133). Vor den
aus marxistischer Sicht zu verfassen (li, 705-739). Auf Augen des distanzierten Betrachters in der Fensterloge
der Rückreise von Frankfurt am Main nach Berlin traf spielt sich jener dialektische Austausch von privater
Benjamin Anfang Juni 1928 in Weimar ein, wo er sich, Sphäre und öffentlichem Raum ab, der zugleich den
>>zum Gedeihen meines Enzyklopädie-Artikels wieder- historischen Umschlag des kapitalistischen Marktes
einmal die Goetheana, die ich länger als zehn Jahre ins Goethesche Weimar markiert, als die Stadt auf
nicht sah, vergegenwärtigen<< wollte (3, 383 ). Erst nach demselben Schauplatz ihr >>merkantiles Frührot« (IV,
seiner Rückkehr in die Berliner Wohnung verfaßte 353) erlebte. Was sich im Weimarer Denkbild aus be-
Benjamin indes >>ein ganz kleines >Weimar<<< (392), von obachtender Distanz zur panoptischen Schaulust ge-
dem er hoffte, es bald zu veröffentlichen. Bereits Ende radezu theatralisch aufbaut, wird anschließend durch
Oktober konnte er das Denkbild aus der Neuen Schwei- die Vermengung des Betrachters mit den Attraktionen
zer Rundschau einem Brief an Scholem gedruckt bei- der Masse vernichtet. Wie emblematisch dieses Denk-
legen (421). Dieser von Max Rychner besorgten Aus- bild gebaut ist, läßt auch die abschließende Sentenz
gabe von 1928 folgte vier Jahre später ein Nachdruck erkennen, die es gleichsam als barocke Subscriptio
in der Literarischen Welt von Willy Haas. Benjamin hat unterstreicht: >>Nichts kann so unwiederbringlich wie
dieses Weimarer Stadtporträt in einem Brief an Hof- ein Morgen dahin sein<< (ebd.; zur weiteren Charakte-
mannsthai als >>Nebenprodukt meines >Goethe< für die ristik vgl. Garher 1992, 140 f.).
Russische Enzyklopädie<< qualifiziert, jenes lexikogra- Wenn Benjamin davon schrieb, das Werk sei >>die
phischen Artikels, der >>in die Enzyklopädie höchstens Totenmaske der Konzeption<<, so findet diese Sentenz
bis zur Unkenntlichkeit entstellt<< gelangen würde im zweiten Denkbild von WEIMAR gewissermaßen ihr
(472). Das Wesentliche seines Weimarer Besuches vor Memento mori. Der geräuschlose, spitalreine Ort des
einem Jahr sei dem kleinen Weimarer Reisebild nun Goethe-Schiller-Archivs wird hier als Ruhestätte des
zugute gekommen: >>Die Essenz aber suchte ich, unbe- Werkes inszeniert, worin die Fades hippocratica des
schwert vom Zusammenhang einer Darstellung, auf Goetheschen Werkes einer physiognomischen Studie
diesen beiden Seiten festzuhalten<< (ebd.). Tatsächlich unterzogen wird. Im >>barschen Lichte<< der Anstalt
hat Benjamin den Weimarer Text, in seiner präzisen liegt das Werk in weißen Sälen und Schaukästen in
Unbeschwertheit, dem anderen Städtebild, MARSEILLE, seiner Leidensform ausgesetzt wie in einem Kranken-
zur Kontrafaktur gesetzt, zum Gegensatz deshalb, weil lager. Dieser Analogie gilt im Wesentlichen die Allego-
er mit Marseille wie >>mit keiner anderen Stadt so ge- rese dieses Denkbildes, wonach die Werke ganz in
kämpft habe<< (ebd.). >>Weimar<<, so positionierte Ben- Mimik zurückverwandelt seien (IV, 353 f.). Die Mate-
jamin seinen Text bereits im Brief an Scholem vom rialität der Schrift ist allegorisch zur opaken Toten-
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 629

maskedes Werkes erstarrt. Im Zentrum von Benjamins Bei seinem sechstägigen Aufenthalt in Marseille hatte
Allegorese steht die Schrift, insofern sie schon bei ihrer sich Benjamin am 8.9.1926 im >>Cafe Riche<< in unmit-
Entstehung von der Vernichtung bedroht ist. Vernich- telbarer Nähe seines Hotels an der Place Saadi Carnot
tend ist aber auch der Nachruhm für das Werk, denn mit Kracauer verabredet ( 185 ). Zu den ersten Marseil-
nach Benjamins Auffassung der Kritik besteht deren ler Miniaturen Benjamins kann der Text MARSEILLE
nachhaltigste Funktion in der >>Mortifikation der KATHEDRALE gezählt werden, da sich die Erwähnung
Werke<< (2, 393). Konsequent verschließt sich denn des unverwechselbaren Stichwortes >>Religionsbahn-
auch das Goethesche Werk unter den musealen Bedin- hof<< in diesem Zusammenhang schon in der Korre-
gungen des Nachruhms zur leidenden Gestalt einer spondenz mit Kracauer vom November 1926 findet
Monade (vgl. dazu Garher 1992, 139). (212). Benjamin hat diese Miniatur in das Buch ErN-
Im dritten Bild der Weimarer Miszelle ist die Rede BAHNSTRASSE und fast unverändert in das Städtebild
vom Arbeitszimmer Goethes, das Benjamin in einsa- MARSEILLE eingebunden (IV, 123 f.; 939). Die weiteren
men Minuten alleine besichtigen konnte. Davon Miniaturen, die Benjamin sein >>neues >Marseille<<<
spricht er nicht nur im Weimarer Briefvom 6.6.1928 nannte, hätten sich schließlich >>rings um die Kathe-
(3, 386), sondern auch in den beiden Traumbildern drale<< (3, 425) herumgebaut. Insgesamt hat Benjamin
der EINBAHNSTRASSE: VESTIBÜL und SPEISESAAL (IV, die zehnteilige Skizzenreihe im Oktober 1928 fertig-
87). Autobiographisch geprägt ist die abschließende gestellt und im Januar 1929 zur >>editio ne varietur<<
Passage: >>Wem ein glücklicher Zufall erlaubt, in die- (431) redigiert. Bei mehreren Gelegenheiten hat er die
sem Raume sich zu sammeln, erfährt in der Anord- komplementäre Korrespondenz der Städtebilder MAR-
nung der vier Stuben, in denen Goethe schlief, las, SEILLE und WEIMAR hervorgehoben (438; 472). Mit
diktierte und schrieb, die Kräfte, die eine Welt ihm keiner Stadt habe er indes so gekämpft wie mit Mar-
Antwort geben hießen, wenn er das Innerste anschlug<< seille. Als Jagd->>Trophäe<< will er die Skizzenfolge aus
(IV, 355). Wenn Benjamin hier den Locus amoenus der Marseille heimgebracht haben, berichtet er im Brief
primitiven Arbeitszelle anruft, so geschieht dies im an Alfred Cohn vom 22.10.1928: >>Aber wer weiß, ob
Zeichen einer >>Schwellenkunde<< (vgl. Menninghaus die Spuren eines erbitterten Kampfes nicht in dem
1986), die denübergangvom >>Schlaf und der Arbeit<< gefleckten Raubtierfell zurückgeblieben sind. Mir stek-
(IV, 355) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wo- ken jedenfalls die Haare dieser Bestie noch zwischen
mit zugleich auch eine Korrespondenz zur Dialektik den Zähnen. Ich weiß jetzt, daß es schwerer ist, über
des Erwachens im ersten Weimarer Denkbild geschaf- Marseille drei Seiten zu schreiben als über Florenz ein
fen wird. >>Nur die Schwelle trennte, gleich einer Stufe, Buch<< (417f.).
bei der Arbeit ihn von dem thronenden Bett. Und Die zehn Städte-Miniaturen zu Marseille tragen
schlief er, so wartete daneben sein Werk, um ihn all- deutliche Züge von Kampfszenen. Es sind verschlun-
nächtlich von den Toten loszubitten<< (ebd.). Leuchtete gene Szenerien einer mit allem und jedem ringenden
im ersten Denkbild noch das >>merkantile Frührot<< Stadt, die ihren Namen zwar dem griechischen >>Mas-
dem Träumenden heim, so ist es nun >>das höllische salia<< verdankt, den römischen Kriegsgott Mars aber
Frührot des bürgerlichen Komforts<< (354), das sich unverkennbar mitträgt. Benjamin hat im horriblen
der Asket außen vor hält. Benjamin, der selbst in sol- Antlitz Marseilles ein bellum omnium contra omnes
chen asketischen Klausen zu arbeiten liebte, findet in erkannt. Abstoßend und abschreckend wirkt die Fratze
Goethes Arbeits- und Schlafgemach zu jener >>Magie des gelben, angestockten Seehundgebisses, womit Ben-
der Arbeitsbedingungen<< zurück, die er später im PA- jamin den Eingang in sein Städtebild bewehrt (IV,
RISER TAGEBUCH vom 1.1.1930 bei Jouhandeau als 359). Mit allen Insignien der industriellen Hafenstadt
>>vollendetste Durchdringung von Atelier und Mönchs- ist das amphibische Tier gerüstet: gezähnten Kiefern,
zelle<< (570) loben wird (vgl. Garher 1992, 141). stinkendem Rachen und rosigem Gaumen, dem ein
ranziger Odem von >>Öl, Urin und Druckerschwärze<<
entsteigt, entsprechen Fischerei-, Petroindustrie und
,,Marseille<< - ,,Haschisch in Marseille« Verlagswesen, denen die >>Proletenleiber<< (ebd.) aus
zahllosen Schiffsladungen zum Fraße vorgeworfen
Eine erste Erwähnung des Städtebildes MARSEILLE (IV, werden. Das Hafenvolk erscheint als >>Bazillenkultur<<
359-364), das im Aprill929 in der Neuen Schweizer (ebd.) in einer sozialen Kloake, deren Schande und
Rundschau erscheint, findet sich im Brief an Siegfried Elend sich in die vorherrschende Farbe Rosa kleidet
Kracauer vom 20.10.1926, worin Benjamin >>vier kleine und damit der sprichwörtlichen >>vie en rose<< eine tri-
Miniaturen aus Marseille<< zu senden verspricht, die ste Kontrafaktur bietet. Ist hier noch der Kampf um
an >>gemeinsame Stunden<< (3, 205) erinnern sollen. die menschliche Natur dem Denkbild moralisch-kri-
630 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

tisch inhärent, so ist es das Jagd-Spiel mit den Men- ist zum Opfer von Ort und Zeit geworden: Benjamin
schen in der zweiten Miniatur über das Marseiller macht das aufwendige Bauwerk kenntlich als anachro-
Hurenviertel >>Les bricks<<. Im kläglichen Spießruten- nistisches Gemäuer in industrialisierter Zeit, ein >> Rie-
lauf durch die Gassen wird hier die Männlichkeit ihrer senbahnhof<< oder >>Religionsbahnhof<< ( ebd.), der
Embleme beraubt, namentlich ihrer Canots, Melonen, niemals dem Verkehr übergeben werden konnte. Als
Jägerhüte, Borsalinos und Jockeimützen. >>Die Huren Verkehrsknotenpunkt des Immateriellen kann es hin-
sind strategisch placiert, auf einen Wink bereit, Un- gegen, wie auch die Passagen, Wintergärten und Pan-
schlüssige zu umzingeln, den Widerspenstigen wie oramen, Benjamins Einreihung in die>> Traumhäuser
einen Ball von einer Straßenseite zur anderen sich zu- des Kollektivs<< (V, 511) folgen (vgl. Bub 1991, 214f.).
zuspielen. Wenn er sonst nichts bei diesem Spiele ein- Im atavistischen Zeithof der Kathedrale wird der In-
büßt, ist es sein Hut<< (360). Um nichts weniger ist der nenraum zum para-industriellen Wartesaal, die Ge-
Schauplatz dieses Denkbildes seinerseits strategisch sangsbücher korrespondieren mit internationalen
abgesteckt mit den Antipoden zweier weiblicher Per- Kursbüchern und die Tarife für den Ablaß hängen zur
sonifikationen, die den Kampf ums Lebendige beherr- Information der Reisenden an den Wänden. Benjamin
schen: einerseits die Gasse selbst in Gestalt eines Fi- hat die Aura dieses Ortes in ein Vexierbild der Indu-
scherweibs, an dessen >>schämiger, triefender<< Hand strie-Kathedrale gebannt.
ein Siegelring glänzt, der eigentlich das alte Amtshaus Eingestreut zwischen die Miniaturen mit topischem
>>h6tel de ville<< repräsentiert; andererseits die Heb- Charakter finden sich drei Miszellen, die das Spektrum
amme Bianchamori, deren Etablissement verspricht, sinnlicher Wahrnehmung auffächern: GERÄUSCHE (IV,
trotzzwiespältigen sprechenden Namens (amor/mori), 360), DAs LICHT (361 f.) sowie MuscHEL- UND Au-
>>allen Kupplerinnen des Viertels die Stirne<< (ebd.) zu STERNSTÄNDE (362 f.). Die auditive Welt des Hafen-
bieten. Ihr männliches Pendant finden diese antago- viertels von Marseille erschließt sich dem einsamen
nistischen Personifikationen in der Gestalt des >>Ver- Flaneur von der Grenze zur Lautlosigkeit her. Wie eine
kommenen<<, der Titelfigur der neunten Miniatur Parodie auf Eichendorffs Credo: >>Es schläft ein Lied
dieser Reihe, einem Buchverkäufer an den Straßenek- in allen Dingen<<, liest sich in diesem Denkbild der
ken. Er verkörpert das fatum libelli, wenn er mit den Satz: >>Jeder Schritt schreckt ein Lied<< (360). Das Bild
Trümmern namenlosen Unglücks in den Büchern, die von aufgeschreckten Schmetterlingen vermittelt hier
er zum Kaufe feilbietet, die "schlechten Instinkte<< der zwischen Stille und Geräusch im Kontext einer auf
Passanten dazu aufkitzelt, sich »frisches Elend zunutze Jagd getrimmten Grundstimmung. Denn der einsame
zu machen<< (363). Das personifizierte Schicksal, das Flaneur ist da weniger als Sammler, sondern als Jäger
auch den Vorbeihastenden stets aufs Neue überholt, dargestellt, der die auffliegenden Geräusche mit dem
hat Benjamin in der Gestalt dieses allgegenwärtigen Käscher gleich Schmetterlingen zu erhaschen versucht,
Buchhändlers im Bettlermantel in schmerzlicher Weise ehe ihn selbst der geballte Lärm >>wie eine riesenhafte
zu erkennen gegeben (zum Buch-Motivvgl. Bub 1991, Hornisse von hinten [... ] mit dem zischenden Stachel
216f.). durchbohrt<< (ebd.).
>>Notre Dame de Ia Garde<<, die festungsartige Basi- Dieser Gegenläufigkeit von Grundstimmung und
lika auf der Anhöhe über Marseille, hat in Benjamins Pointe bedient sich in gewisser Weise auch die Miszelle
vierter Miniatur eine profane Allegorese erfahren. Aus- über das grünliche Licht in den autochthonen Binnen-
gehend vom alten Fort am Bergfuß erschließt die zu- räumen der Stadt, die der >>Quellenfinder der Trübsal<<
bringende Gondel der Zahnradbahn gleich einem (362) aufsucht, wogegen das grelle Weiß eines Rätsel-
Reißverschluß die heilige Stätte über den Häusern der schiffesnamens >>Nautique<< (ebd.) absticht, das die
Cite Chabas. Den >>Pilgerschwärmen<< (IV, 361) indes Fremden einlädt, an seinen weißen, wie ausgewasche-
werde die verlockende Pracht zur klebrigen Fliegen- nen Tischen zu speisen. - Die haptische Dimension
falle, an der sie hängen bleiben. Für diese an sich ma- dieser sinnlichen Miszellen gewinnt wiederum in der
gere Pointe von Benjamins Miniatur entschädigt das siebten Miniatur über MuscHEL- UND AusTERN-
Gesamtbild einer urbanen Stätte, die in fast unheim- STÄNDE am deutlichsten an Profil. Ihr gedankliches
licher Weise ortlos erscheint. Kernstück ist die analoge Prägung von Mensch und
Ebenso ortsenthebend beginnt die Beschreibung der Natur, ihre sinnliche Form ist die der Muschel und ihre
KATHEDRALE von Marseille in der fünften Skizze. Sie moralische Evidenz liegt in der Metamorphose der
stehe auf dem >>unbetretensten, sonnigsten Platz<< tektonischen Härte beim erotischenGenuß der Weich-
(ebd.), ein ausgestorbener >>Umschlagplatz für ungreif- teile. Benjamin hat in den komplexen Cluster des Bild-
bare, undurchschaubare Ware<< (ebd.). Die 1893 nach zusammenhangs eine explikative Passage eingebettet,
fast vierzigjähriger Bauzeit vollendete neue Kathedrale welche die geltende Analogie programmatisch festhält:
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 631

>>Der Druck von tausend Atmosphären, unter dem hier klar bleibt jedoch, warum er HASCHISCH IN MARSEILLE
diese Bilderwelt sich drängt und bäumt und staffelt, auf den 29. Juli datiert hat. Benjamin hat seine Ver-
ist die gleiche Kraft, die sich in harten Schifferhänden suchsprotokolleals >>lesenswerten Anhang<< (3, 324) zu
nach langer Fahrt an Frauenschenkeln und Frauen- seinen philosophischen Schriften eingeschätzt, und
brüsten erprobt« (ebd.). Benjamin hat diese Passage noch im Juli 1932 trug er sich mit dem Gedanken, >>ein
fast unverändert in die Geschichte eines Haschisch- höchst bedeutsames Buch über das Haschisch« (4, 113)
Rausches M YSLOWITZ- BRAUNSCHWEIG- MARSEILLE zu verfassen.
übernommen, die er 1930 in der Zeitschrift Uhu ver- Wenngleich HASCHISCH IN MARSEILLE mehr im
öffentlichen ließ (731). Sinne eines verfremdeten Städtebildes auftritt und die
Der vorherrschenden Kraft und Erotik in der siebten charakteristische Strenge der allegorischen Denkbilder
Städte-Miniatur entsprechen Kampf und Krieg in der nur zeitweilig zwischen narrativen Passagen des Ich-
achten und der letzten Miniatur, MAUERN (363) und Erzählers aufblitzt, zeigt dieser Schlüsseltext doch eine
VoRSTÄDTE (363f.). Der Klassenkampfhabe sich tief Engführung zahlreicher Themen, deren Zitate und
in die Fassaden Marseilles eingezeichnet: Jene Mauern Variationen weit in sein übriges Werk hinausreichen.
im Zentrum trügen >>Livree« und stünden >>im Solde Schon die ersten Aufzeichnungen zur Passagenarbeit
der herrschenden Klasse<< (363); jene in den ärmeren sind in Setzung und Thematik bis in einzelne Formu-
Vierteln mobilisierten mit ihren roten Insignien zum lierungen hinein wesensverwandt (V, 993 ff.). Aber
politischen Kampf. Während die propagandistischen auch die Verdichtung fragmentarischer Raumerfah-
Außenflächen der Mauern im Zentrum von Marseille rungen ist in der BERLINER CHRONIK und in derBER-
noch die inneren Kämpfe der Bevölkerung manifestie- LINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT fortgeführt
ren, so wendet sich diese innere Front, je weiter man worden. Besonders aber seine zeitgleiche Beschäfti-
aus der Stadt heraustritt, zur politisch profilierten Au- gung mit dem >>Sürrealismus<< hat ihn das >>Wesen des
ßenfront der Stadt selbst, die sich förmlich im Kriegs- Rausches<< >>kraft einer dialektischen Optik, die das
zustand mit dem Umland befindet. Das Weichbild Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdring-
Marseilles, wie es sich in VoRsTÄDTE darstellt, ist das liche als alltäglich<< (II, 307) ermessen lassen und den
>>Terrain, auf dem ununterbrochen die große Entschei- Bildraum der >>profanen Erleuchtung<< (310) zu erken-
dungsschlacht zwischen Stadt und Land tobt<< (ebd.). nen gegeben. (Zum weiteren Zusammenhang von
Im Nahkampf zwischen Telegraphenstangen und Aga- Inszenierung und Rausch vgl. Marshall2000, 179-268;
ven, im >>Pulvergang<< strategischer Ausfallstraßen und ferner Schweppenhäuser 1992, 104-123; Sdun 1994,
mit den auffliegenden >>Granatsplittern« seiner Außen- 225-236).
bezirke treibt das Weichbild Marseilles den permanen- Im Aufsatz über HAsCHISCH IN MARSEILLE ist Ben-
ten Ausnahmezustand voran. Die>> Verschmelzung von jamin sich selbst zum begabtesten Stichwortgeber ge-
Bildräumen<< (Bub 1991, 53f.) erlangt hier eine poli- worden. Der >>kanonische Zauber<< des Haschisch ließ
tische Dimension. Das Weichbild der Stadt ist zum ihn zum »Physiognomiker<< werden, der sich förmlich
Vexierbild geworden, das seinen inneren wie äußeren >>in die Gesichter verbiß<< (IV, 411), in die häßlichen
Kämpfen Gesicht und Namen verleiht: Mars. Aber zumal. Gleich den großen Porträtisten des 17. Jh.s re-
Einkehr findet dieser äußere Kampf wiederum im In- gistriert der kalt Berauschte die wechselnden Konstel-
neren dessen, >>der es mit dieser Stadt versucht hat<< lationen im nächtlichen Hafenmilieu, worin ihm der
(IV, 364) und die Bitternis ihres Staubes im Munde >>Sinn für alles Gleichartige in der Welt<< aufgeht (414).
zerreibt. Auch dieses zähneknirschende Schlußtableau Dabei treffen manche seiner Aperc;:us bereits den Kern
hat Benjamin in seine spätere Geschichte MYSLOWITZ seiner späteren LEHRE VOM ÄHNLICHEN (Il, 204-210)
- BRAUNSCHWEIG - MARSEILLE übertragen, sie dort sowie von der »unsinnlichen Ähnlichkeit<< im MIME-
aber auf einen Ich-Erzähler fokussiert (730f.). TISCHEN VERMÖGEN (210-213). Im programmatischen
Mit HASCHISCH IN MARSEILLE (409-416) erscheint Bild eines Knäuels, von dem sich die Ereignisse wie ein
am 4.12.1932 in der Frankfurter Zeitung die letzte zu Ariadne-Faden abwickeln, findet er schließlich zum
Lebzeiten Benjamins publizierte deutschsprachige Paradigma der surrealistischen >>ecriture automatique<<
Schrift, die sich ausdrücklich mit Marseille befaßt. Der (zu Ariadne vgl. Sdun 1994, 115-119; Muthesius 1996,
Text geht zurück auf eine berichtartige Aufzeichnung 128ff.).
Benjamins, getitelt >>28. September 1928. Sonnabend.
Marseille<< (VI, 579-587), die zusammen mit weiteren
Protokollen zu Drogenversuchen im sechsten Band der
Gesammelten Schriften dokumentiert ist. Belegt sind
seine Haschisch-Experimente von 1927 bis 1934. Un-
632 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

))Essen(( - sechs kulinarische Miniaturen Trastevere, jenseits des Tibers, so der sprechende
Name, zieht der Hungrige an zahllosen Osterien un-
Die sechs Miniaturen, FRISCHE FEIGEN, CAFE CREME, schlüssig und wählerisch vorbei. Die üppige Auswahl
FALERNER UND STOCKFISCH, BORSCHT, PRANZO CA- treibt ihn zur Flucht durch die Gassen Roms, um sich
PRESE und MAULBEER-0MELETTE (JV, 375-381) er- endlich in einem schlichten Lokal einzufinden. Das
schienen am 29.5.1930 auf den ersten Seiten der Frank- >>Geheimnis des Essens<< (376) offenbart sich nun als
furter Zeitung, gefolgt von einem Einzelabdruck des Initiation ins kleinbürgerliche Feierabend-Milieu der
letzten Textes dieser Reihe am 8. Juni in der Neuen Arbeiter, Frauen und Kinder, die Einzug halten, um
Leipziger Zeitung. Die glossenartigen Reminiszenzen sich hier mit demselben getrockneten Stockfisch ver-
der Sammlung EssEN verdanken sich Benjamins zum köstigen zu lassen, der auch dem Fremden gereicht
Teil einige Jahre zurückliegenden Aufenthalten in Ca- wird. Den aufkeimenden Ekel verschlingt der fremde
pri und Neapel, Rom, Paris und Moskau. Gast mitsamt dem Stockfisch. Dabei hüllt er sich le-
Trotz der scheinbaren Beiläufigkeit dieser Miniatu- send gleichsam in den >>schmutzigen Mantel<< einer
ren im Themenkreis des Essens können sie als Klein- faschistischen Tageszeitung, die, wie er selbst, >>mit den
ode seiner Denkbild-Kunst gelten. Deren erstes, FRI- Begebenheiten des Tages gefüttert war<< (378).
SCHE FEIGEN, geht auf einen Ausflug nach Secondi- Als bedächtiges Pendant zu dieser kulinarischen
gliano in der Landschaft Neapels zurück. Einem Initiation liest sich das Denkbild CAFE CREME. Beim
Grundzug dieser Miniaturen gemäß, wohnt auch hier einsamen Frühstück im Pariser Bistro scheint sich die
dem Essen-zumal dem Verschlingen- etwas Vernich- Jetztzeit in der französischen Metropole wie in einem
tendes inne, wobei die reine Destruktion am Ende sich Hohlspiegel zu Benjamins Berliner Kindheit zu ver-
von der Gewißheit nährt, einen Entscheid errungen kehren. In der verschlafen ergriffenen Madeleine, die
zu haben (vgl. Wolf 1999, 556-558; van Reijen/van mit niemandem geteilt werden kann, bricht zugleich
Doorn 2001, 115f.). Benjamin berichtet, wie er für die Proustsche >>memoire involontaire<< als melancho-
wenige Soldi ein gutes Pfund Feigen auf dem Dorf- lische Reminiszenz auf (vgl. Wolf 1999, 558-562).
markt erstanden habe, was mit Händen kaum zu tra- BoRSCHT (IV, 378) hingegen, das vierte Denkbild in
gen sei. Feigen in Hosentaschen und Jackett, in beiden dieser Reihe, spielt diese Inversion mit größter Em-
vorgestreckten Händen und Feigen im vollen Mund, phase aus. Es ist ein dialogisches Essen. Im Selbstge-
geht er auf der >>Straße des Appetits<< unter neapolita- spräch spricht sich der Hunger förmlich in Rage, als
nischer Sonne von dannen. Ein Brief, den er seit Tagen ginge es darum, die Blutsverwandtschaft der damp-
bei sich getragen hat, liegt vergessen in seiner Tasche, fenden Suppe aus Roter Bete mit dem sie aufuehmen-
und alles liegt darin, sich der Masse von drallen Früch- den Blut zu beschwören: >>Lange, ehe deine Eingeweide
ten zu erwehren, sich in sie hineinzuwühlen, sie sich aufhorchen und dein Blut eine Woge ist, die mit der
einzuverleiben, um alldas Strotzende und klebrig Plat- duftenden Gischt deinen Leib überspült, haben deine
zende von sich abzutun; - bald aß er wider den auf- Augen schon von dem roten überfluß dieses Tellers
steigenden Ekel, um ihn zu vernichten: >>Der Biß hatte getrunken<< (ebd.). Auch dieses an Selbstaufgabe gren-
seinen ältesten Willen wiedergefunden. Als ich die zende Essen ist im Modus der Erinnerung verfaßt,
letzte Feige vom Grund meiner Tasche losriß, klebte diesmal einen Moskauer Winter mit Asja Lacis geden-
an ihr der Brief. Sein Schicksal war besiegelt, auch er kend (Wolf 1999, 554 f. ). Und auch hier spielt ein Rest
mußte der großen Reinigung zum Opfer fallen; ich von unverdaulicher Trauer in den überwältigenden
nahm ihn und zerriß ihn in tausend Stücke<< (IV, 375). Genuß, wenn es heißt, der warme Guß lockere die
Die Auflösung der dem Denkbild zugrundeliegenden Krume des Fleisches, so daß es >>wie ein Sturzacker in
Aporie spiegelt sich in der Metamorphose, die das Es- dir daliegt, aus dem du das Kräutlein >Trauer< leicht
sen und Gegessen-Werden aneinander vollziehen. Im mit der Wurzel jätest<< (IV, 378).
übergangauf der>> Paßhöhe des Geschmacks<<, in den Zum üppigen Mittagessen lädt dann das Denkbild
Kehren (Tropen) zwischen überdruß und Ekel, wird PRANzo CAPRESE (ebd. ). Darin ist die Erotik der Mahl-
das Essen zum befreienden Akt der Vernichtung. Das zeit förmlich mit Händen zu greifen, zumal die Köchin
Fatum des Briefes, so wird in diesem Denkbild vor eine berühmte Capreser Dorfkokotte ist, der das Löf-
Augen geführt, besiegelt sich zugleich mit der Kathar- feln in Schüsseln wie das ununterbrochene Schwatzen
sis, die der Esser als Reinigung von seiner Freßgier eins sind. Selten wird in Benjamins Texten so sinnlich
erfährt. zugegriffen wie hier, wenn der Esser ganz und gar von
Von einer anderen, nicht weniger entscheidenden seiner italienischen Speise gepackt, gewalkt und durch-
Selbst-Überwindung des Essers spricht Benjamin in geknetet wird, um von ihr bald >>wie von den Händen
FALERNER UND STOCKFISCH. Im römischen Stadtteil dieser alten Hure ergriffen, gepreßt und mit ihrem
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 633

Safte - dem Saft der Speise oder dem der Frau, das Rundfunkbeitrag gesprochen hat (II, 648-660). Die
hätte ich nicht mehr sagen können - eingerieben zu beiden Reisegeschichten verbindet das Flucht-Motiv
werden<< (379). Es ist, als ginge die angesprochene aus der deutschen Heimat. Von seiner Reise an den
>>Magie der Speise<< mit dem Esser soweit, ihn wieder Polarkreis hat sich Benjamin zudem eine biographi-
zum eßbaren Rohstoff zurückzuverwandeln, ganz so, sche Wende erhofft.
wie es die Anspielung auf die mythologische Zauberin Anders als noch in der Vorlage seiner REISENOTIZEN,
Circe nahelegt, welche die Gefährten des Odysseus in die sich am lokalen Reiseverlauf orientieren, ist das
Schweine verwandelte (vgl. Wolf 1999, 552 f.). Denkbild NoRDISCHE SEE nach den Motiven eines
Ausdrücklich märchenhaft jedenfalls schließt sich Orakels gestaltet. Nicht zufällig wird es von einem
der Kreis von Benjamins kulinarischen Denkbildern Aphorismus aus Balthasar Gracians Oraculo manual y
im Text MAULBEER-0MELETTE (IV, 380 ), worin von Arte de Prudencia (1647) eingeleitet: >>Die Zeit, in wel-
einem König und dessen Leibkoch die Rede ist: Dem cher selbst der lebt, der keine Wohnung hat<<, sie gehöre
letzten Wunsch eines mächtigen, aber trübsinnigen dem Reisenden, der keine hinter sich ließ (IV, 383).
Königs, sich eine Maulheer-Omelette zubereiten zu Benjamins Denkbild eröffnet seine fünf Leitmotive in
lassen, wie sie ihm aus seiner entbehrungsreichen der Folge als irrlichterndes Menetekel an den Hallen-
Kindheit erinnerlich ist, verweigert der weise Koch die Wänden eines mnemonischen Palais: >>Möwen und
Ausführung. Damit hat Benjamin dem Wunsch-Motiv Städte, Blumen, Möbel und Statuen erschienen auf
aus der BERLINER KINDHEIT von einer Speisekammer, ihren Wänden, und durch ihre Fenster fiel Tag und
deren >>Jungfräulichkeit[ ... ] ohne Klagen sich erneu- Nacht Licht<< (ebd.).
erte<< (250), ein Gegenstück erbracht, das die Unwie- Diese Leitmotive bilden sowohl Rubriken-Titel als
derholbarkeit des Genusses erweist (vgl. Wolf 1999, auch einen inneren Zusammenhang der nordischen
556f.). Reise-Bilder. Deren erstes- STADT- beschreibt zu-
nächst das vom Reisebild NEAPEL (309ff.) bekannte
Ineinander von urbaner Konstruktion und Bewohner-
>>Nordische See« schaft, das Benjamin hier für die norwegische Hafen-
Stadt Bergen zur Geltung bringt. Ein deutlicher Kon-
Sein Denkbild NoRDISCHE SEE (IV, 383-387) hat Ben- trast zu den südlichen Kulturen zeichnet sich indessen
jamin am 15.8.1930 abgeschlossen (vgl. 3, 537) und es ab (vgl. Brodersen 1990, 195). Im Norden herrsche die
bereits im folgenden Monat, am 18.9., in der Frank- strenge Grenze des Hauses (IV, 383). Auch die harte
furter Zeitung publizieren können. Ebenso eng läßt Sonne des Nordens trage zur barschen Kontrastierung
sich auch die Entstehungszeit dieses Zyklus abgrenzen: bei, zumal ihr despotisches Licht alle Dinge ihrer In-
Sie beginnt Ende Juli 1930, als Benjamin über Harn- timität enteigne (vgl. 384).
burg zu einer Seereise über Norwegen nach Nord- Die Zeit indes, wie sie Benjamin in den leeren Stra-
Finnland bis zum Polarkreis aufbricht, und dies, nach- ßen des norwegischen Küstenortes Svolvaer beschreibt,
dem er zuvor die Auflösung seiner Ehe mit Dora be- verweigert sich jeglicher Aneignung. Im Zwielicht der
schlossen und besiegelt hat. Die REISENOTIZEN 1930 nördlichen Sommernacht eröffnet sich dem Betrachter
(VI, 419-421) zu seiner Skandinavienreise bilden die eine vom Wandel der Zeit unberührte Hafen-Szenerie.
tagebuchartig verfaßte Vorstufe zu den entsprechen- Hier, beim Eintritt in eine scheinbar zeitlose Fremde,
den Denkbildern. Hier findet sich auch, auf der Rück- berührt sich Benjamins Denkbild mit Gracians einlei-
seite des ersten Blattes, eine bemerkenswerte Skizze tendem Aphorismus, der orakelhaftdavon sprach, dem
zum Schluß der NoRDISCHEN SEE, die Aufschluß über Reisenden werde die Zeit zur Wohnung.
die assoziative Arbeitsweise Benjamins gibt (VI, Das Denkbild MöwEN weist in diesem Zyklus zwei-
792). fellos die ausgeprägtesten Züge eines Orakels auf. Es
Auf der dreiwöchigen Dampfer-Fahrt entlang der handelt von Schrift und Lektüre visionärer Zeichen.
norwegischen Küste verfaßt Benjamin u. a. ein Reise- Vom Schiffsdeck aus folgt ein Beobachter den Pendel-
tagebuch und liest die >>neuesten mythologicis<< (3, bewegungen des Mastes und dem Spiel der Möwen.
537), namentlich Erich Ungers Wirklichkeit, Mythos, Stoßweise >>zeichnet<< der Mast seine Bewegungen in
Erkenntnis ( 1930) sowie Ludwig Klages' Der Geist als den Himmel, und eine auf seiner Spitze ruhende Möwe
Widersacher der Seele (1930). Er betrachtet sich iro- >>beschreibt<< sie mit, bis sie von einer anderen Möwe
nisch als Nachfahre des >>unverdrossenen Reisenden<< von der Stelle gedrängt wird, so daß >>die Spitze leer
Schelmuffsky (535), in Anspielung auf Christian Reu- bleibt<< (386). Während das Schiff in der Abend-Däm-
ters parodistischen Reise- und Schelmenroman aus merung seinen Kurs auf Süden hält, folgen ihm die
dem Jahre 1696, über den Benjamin im März einen Möwenschwärme, >>beschreiben [... ] ihre Kreise<<, bis
634 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

sie sich, mit einem Male, in zwei »Möwenvölker<< tei- plementäre Figuren zu Benjamins vielfach rezipiertem
len, >>eines die östlichen, eines die westlichen, linke und >>Engel der Geschichte<< aus der neunten These ÜBER
rechte, so ganz verschieden, daß der Name Möwen von DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (I, 697), der >>das Ant-
ihnen abfiel<< (ebd.). Was die Teilung der Möwenvölker litz der Vergangenheit zugewendet<< hat, stehen diese
bedinge, geschehe >>kraft des Platzes<<, den der Beob- von der Fahrt geschundenen Statuen dem Kommen-
achter einnehme, >>etwas anderes<< hingegen sei es, >>was den hart zugewandt, ihr >>Antlitz von salzigen Tränen
eine Ordnung in sie hineinbringt<< (ebd.), so hält Ben- verwittert, die Blicke aus zerstoßenen, hölzernen Höh-
jamin die Kausalitätsbedingungen enigmatisch fest. len nach oben gerichtet, die Arme, wenn sie noch da
Namenlos und als >>eine ununterbrochene, unabseh- sind, beschwörend über der Brust gekreuzt<< (IV, 387).
bare Folge von Zeichen<< wird das Schwingengeflecht Diese Galions- Figuren sind es, die auch den Reisenden,
der Möwen zu einem zwar >>lesbaren<<, aber sprachlo- der sie studiert, keine Ruhe finden lassen. Benjamin
sen Gewebe (textum): >>Hier stand mir nichts mehr hat seine mythologisch-konkrete Betrachtung zu den
bevor, nichts sprach zu mir<< (ebd.). Nur wenige Sen- Bugfiguren in sachlicher Verkehrung ans Ende des
tenzen Benjamins haben zu so eindringlichen Speku- Nordsee-Zyklus gesetzt: als gegenläufige Zukunft des
lationen Anlaß gegeben, wie die hiernach gesetzte: Vergangenen. Es sind Denkbilder, die einer fluchtarti-
>>Links hatte noch alles sich zu enträtseln, und mein gen Reise an den Polarkreis entspringen und zugleich
Geschick hing an jedem Wink, rechts war es schon die Erforschung eines Orakels im Schilde führen. Ih-
vorzeiten gewesen, und ein einziges stilles Winken<< nen liegt ein ebenso unverkennbares wie uneingelöstes
(386). Die politische Radikalisierung, die sich am Ende Orientierungsbedürfnis zugrunde. Die richtungs-wei-
der Weimarer Republik abzeichnet, legt eine politische sende Figur bleibt aber letztlich auch hier streng alle-
Allegorese dieses Denkbildes ebenso nahe (vgl. Bro- gorisch und damit deutungsbedürftig, wenn der Text
dersen 1990, 194 f.) wie die drängende Frage nach der damit schließt, genau in der Mitte der beschriebenen
biographischen Existenz des Autors Benjamin auf der Kammer erhebe sich auf einer Estrade ein >>Steuerrad<<
beklemmenden Rückreise nach Berlin. Als allegorisch (ebd.), und mit barockem Gleichmut fragt dazu der
formuliertes Dilemma kann die Verdinglichung des Allegoriker, ob es wieder hinaus in den Wogenschlag
Beobachters in Form einer >>Schwelle<< gelten, der un- gehe, >>der ewig ist wie das Höllenfeuer<< (ebd.).
ter dem Eindruck des dauernden Wechselspiels kohä-
renter Schicksals-Metaphern steht (vgl. Kurz 1982,
28 f.; zum Verlust zweier Identitäten in der Metapher nKurze Schatten(( I und II
vgl. Szondi 1978, 304f.; zur komplexen Transforma-
tion zwischen den Polen methodisch geleiteten Den- Die beiden Sammlungen von Denkbildern KuRZE
kens vgl. Lindner 1985, 9 f.). ScHATTEN I (IV, 368-373) und KuRZE ScHATTEN II
Im Schatten der Möwen-Episode steht das Schluß- (425-428) bilden selbständige Publikationen, denen
bild zum Nordsee-Zyklus mit dem Titel STATUEN. Un- lediglich der jeweils abschließende Textteil, der im
ter dem Eindruck seiner Reiselektüre der aktuellen Wortlaut identisch ist, den Titel gab. Während der er-
mythologischen Studien von Erich Unger und Ludwig ste Teil der Folge KuRZE ScHATTEN im November 1929
Klages (vgl. 3, 537) hat Benjamin seine Impressionen in der Neuen Schweizer Rundschau erschien, wurde der
aus dem Osloer Schiffahrts-Museum zu einer mytho- gleichnamige zweite Teil am 25.2.1933 in der Kölni-
logisch verbrämten Betrachtung von Galions- Figuren schen Zeitung abgedruckt. Benjamin hat beide Reihen
verdichtet, wovon auch eine fragmentarische Skizze als >>Fortsetzungen zur >Einbahnstraße<<< (4, 89) ver-
aus den REISENOTIZEN zeugt (VI, 792). Von einer >>An- standen, jener Anthologie seiner Denkbilder, die 1928
tike des Nordens<< (ebd.) ist in dieser Skizze die Rede. als einzige in Buchform erschienen ist (IV, 83-148).
Als unsagbar hilflose>> Niobiden des Meeres<< und auf- Tatsächlich hat Benjamin bereits im Oktober 1928
begehrende >>Mänaden<< (387) kehren die hölzernen Scholem gegenüber brieflich angemerkt, er würde seit
Galionen im bearbeiteten Denkbild wieder. In der längerer Zeit eine Liste mit >>Nachträgen zur >Einbahn-
moosgrünen Kammer des Museums finden sich nicht straße<<< führen (3, 421). Diese Nachtragsliste (IV,
nur aus unförmigen Rümpfen herausragende Frauen- 911 f.), die sich im Nachlaß findet, umfaßt 43 Titel von
gestalten mit halb entblößten hölzernen Brüsten und anderweitig publizierten Denkbildern, die möglicher-
geborstenen Lippen, auch der warnende Nordgermane weise für eine erweiterte Auflage der EINBAHNSTRASSE
Heimdall steht spähend unter ihnen. Diese mannsho- oder eine neue Anthologie vorgesehen waren. Ebenfalls
hen Statuen, die am Schiffsbug befestigt waren, fanden im Nachlaß befindet sich eine Liste der Titel, die Ben-
ihren Halt im Rücken; - mit dem Boden stünden sie jamin in die IBIZENKISCHE FoLGE aufzunehmen ge-
nun >>auf schlechtem Fuß<< (ebd.). Gleichsam als kom- dachte (1002), unter ihnen EINMAL IST KEINMAL, tat-
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 635

sächlich gedruckt in KuRZE ScHATTEN I, außerdem deren Innerstes liebt (dazu Sdun 1994, 95; Weigel1997,
DAS SPIEL sowie DIE FERNE UND DIE BILDER, die beide 158f. u. 174f.; Baumann 2002, 94; zur »platonischen
in KuRzE ScHATTEN II aufgenommen wurden. Die Sprachliebe<< vgl. Menninghaus 1995, 181-187).
Vorlage ZU DIE FERNE UND DIE BILDER findet sich im Im folgenden Denkbild ErNMAL rsT KEINMAL sucht
Tagebucheintrag vom 13.5.1931 (VI, 427 f.) aus Sanary Benjamin erneut den Gemeinplatz auf. Diesmal, um
sur Mer im Departement Var, wo Benjamin bei Wil- die ȟberraschendsten Evidenzen im Erotischen<< dia-
helm Speyer zu Gast war. Der Redakteur der Neuen lektisch hervorzukehren. Wo nämlich Sehnsucht in der
Schweizer Rundschau, Max Rychner, schlug im April Erfüllung einmal voreilig aufgehe, werde sie erotisch
1929 vor, das Denkbild ScHÖNES ENTSETZEN wegzu- entwertet und zum »Keinmal<< annulliert; demgegen-
lassen, worauf Benjamin ihm im Juni einen weiteren über lebe das »Ein-für-Allemal des Genusses<< (IV, 369)
Text >>für die freigewordene Stelle<< (3, 467) zukommen von der »Verschränkung der Zeiten<<: Es holt die Er-
ließ. Von den vorgesehenen zehn Denkbildern wurden wartung nach, die es im Werben vorwegnimmt.
letztlich acht gedruckt, ScHÖNES ENTSETZEN (IV, 434) Der Dialektik von Sehnsucht und Erfüllung widmet
erschien erst am 6.4.1934 in der Zürcher Zeitschrift sich auch das Denkbild Zu NAHE (370). Der Gegen-
Der öffentliche Dienst. stand des platonischen Eros ist nunmehr die gotische
Das titelgebende Denkbild KuRZE SCHATTEN bildet Kathedrale Notre-Dame de Paris, die dem Namen Ma-
den verbindenden Ankerpunkt, indem er beide Reihen rias geweiht ist. Im Unterschied zu den Kathedral-Mi-
in identischer Form abschließt. Hier nimmt Benjamin niaturen aus dem Bereich der Denkbilder zu MAR-
ausdrücklichbezugauf ein Leitmotiv aus dem Kontext SEILLE, NOTRE DAME DE LA GARDE und KATHEDRALE
von Nietzsches Zarathustra, den Denker im »Lebens- (361), zählt Zu NAHE zur Gruppe der Traumbilder.
mittag<<, im »Sommergarten<< (373; 428), und dies in Dieses Pariser Traumbild handelt vom Paradox der
Anlehnung an den Nachgesang »Aus hohen Bergen<< Sehnsucht in der Präsenz (vgl. Baumann 2002, 93 f.),
zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (»Oh Lebens »Sehnsucht nach eben dem Paris, in dem ich hier im
Mittag! Feierliche Zeit!/ Oh Sommergarten!<<). Es ist Traume mich fand<< (IV, 370). Verblüffend und über-
der scharf umrissene Schatten »am Fuß der Dinge<<, wältigend ist zunächst die Feststellung, vor einem in
wenn die Sonne dem Zenith zugeht, der hier, wie auch Holz verschalten Backsteingebäude zu stehen, das
in Nietzsches Der Wanderer und sein Schatten, als Bild- gleichwohl die Kathedrale von Notre-Dame sei. Die
spender der Erkenntnis dient. Charakteristisch für Reflexion im Traumbild macht dazu geltend, die Ent-
Benjamins Denkbild ist indes, daß dies auch den Mo- stellung des ersehnten Gegenstandes sei dadurch be-
ment bezeichnet, in dem sich das Geheimnis in den dingt, daß ihm der Träumer zu nahe getreten sei. Im
Bau der Dinge zurückzieht. Mit Benjamins Auffassung Traum war schon die »Schwelle des Bildes und Besitzes
der »Aura der Dinge<<, wie er sie mit der Lichtwahr- überschritten<< (ebd.), der Abstand aufgehoben, der für
nehmung am »Sommermittag<< (II, 378) oder am die mediale, vermittelnde Funktion des Bildes konsti-
»Sommernachmittag<< (I, 440) an einschlägigen Stellen tutiv ist. Im Bilde angekommen, hört jede mediale
seiner kunsttheoretischen Schriften beschreibt, ist die- Vermittlung auf. Was bleibt, ist die »Kraft des Namens
ses Denkbild zu wiederholten Malen in Verbindung [... ],aus welchem das Geliebte lebt<< (ebd.). Daß in
gebracht worden (Stoessel1983, 44; Sdun 1994, 92; zur diesem Traumbild sich ein Stück von Benjamins früher
Aura-Konzeption vgl. Lindner 1992, 217-248). Sprachphilosophie verwirklicht, erschließt sich aus
Auch wenn keine distinkte Thematik die Texte in dem Zusammenhang seiner Studie ÜBER SPRACHE
KuRzE ScHATTEN I beherrscht, so kreisen diese Denk- ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN
bilder doch um die Brennpunkte von innerem und (1916), worin der Name nicht als Instrument der Ver-
äußerem Bild des Menschen. Sie beschreiben dabei mittlung verstanden wird, sondern »das innerste We-
eine elliptische Bewegung des Eros. PLATONISCHE sen der Sprache selbst ist<< (II, 144). Erst vor diesem
LIEBE, der Eröffnungs-Text dieser achtteiligen Reihe, sprachphilosophischen Hintergrund tritt die gedank-
unterminiert den vermeintlichen Gemeinplatz der liche Schlüsselfigur dieses Traumbildes hervor, wonach
platonischen Liebe, indem er das Dasein der Geliebten bei zunehmender Nähe zum Wesen des Namens sich
in deren Namen fundiert. Im Namen, Vornamen, ja in das Bild von Notre-Dame entstellt und letztlich aus-
den umhüllenden Kosenamen würde, so Benjamin, löscht (dazu Stoessel1983, 104; Sdun 1994, 95).
das Dasein der Geliebten »wie Strahlen aus einem An schiere Lebensweisheiten wagen sich die drei
Glutkern<< (IV, 369) hervorgehen und damit die »Fer- folgenden Denkbilder heran: PLÄNE VERSCHWEIGEN,
nenneigung<< des Eros, den man platonische Liebe WORAN EINER SEINE STÄRKE ERKENNT und VoM
nennt, als Ausdruck der Spannung entstehen. Dem- GLAUBEN AN DIE DINGE, DIE MAN UNS WEISSAGT. Sie
nach liebt platonisch, wer im Namen der Geliebten sind im engeren Wortsinn kaum als allegorische Denk-
636 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

bilder zu bezeichnen, sondern vielmehr als explikative Die beiden Denkbilder DER BAUM UND DIE SPRACHE
moralische Studien, in denen gleichwohl einige Züge sowie DIE FERNE UND DIE BILDER heben sich in ihrem
des >>destruktiven Charakters« (IV, 396 ff.) zu erkennen kontemplativen Gestus von den übrigen Miniaturen
sind. dieser Reihe ab. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt
In der siebenteiligen Serie KuRzE ScHATTEN II be- der darstellenden Beobachtung der Sprachwerdung
sitzen die Denkbilder GEHEIMZEICHEN, EIN WoRT voN von Dingen und der Bildwerdung von Sprache. Im
CASANOVA und DAs SPIEL einen episodischen Charak- Zentrum des Denkbildes DER BAUM UND DIE SPRACHE
ter. Während sich das erste einem Aphorismus von steht eine >>Anthropomorphose des Baumes« (Stoessel
Alfred Schuler verdankt, wonach in jeder Erkenntnis 1983, 51). Ausgehend von der unentscheidbaren Frage,
ein >>Quentchen Widersinn<< enthalten sein müsse, er- von welcher Gattung der Baum sei, unter den sich der
hebt Benjamin diese unscheinbare Abweichung zur Ich-Erzähler legt, ergreift bald die Bewegung des Lau-
eigentlichen Echtheitsmarke der Erkenntnis. Die daran bes die Sprache des Betrachters, um gemeinsam die
anschließende Anekdote zu Casanova, der nicht die >>uralte Vermählung« (IV, 425) zu vollziehen. In dis-
>>Kraft« aufgebracht habe, eine Kupplerin um ihren junktiven Fügungen und onomatopoetischen Wen-
Lohn zu prellen (425), prüft die Frage, wie sich die dungen erwächst in der Folge die sprachliche Mimesis
Scham im Geld verbirgt: Wo die Frechheit des Freiers des Baumes: Die >>Wipfel wogen sich erwägend oder
die erste Münze aufwerfe, bedecke er seine Scham mit bogen sich ablehnend; die Zweige zeigten sich zunei-
hundertfacher Zahlung. Nicht anders ergeht es dem gend oder hochfahrend« (ebd.). Obgleich lyrisch ver-
leidenschaftlichen Spieler, der sich ganz dem Zufall des stärkt, ist hierbei weniger die Mimesis des Dichtens
Roulettes anheimgibt, wobei die rechte Hand den Ein- für das Verständnis des Denkbilds zentral, als vielmehr
satz vorwirft, die linke indes sich in die Brust verkrallt, die strukturelle Verbindung von Ding und Sprache
um dort- wie die Anekdote über Fürst von Ligne kol- zum Bild-Ding oder Ding-Bild, woraus schließlich die
portiert (zur Herkunft vgl. 1007)- als Echtheitsmarke Bilderrede hervorgeht (vgl. Leifeld 2000, 86). Aus >>gu-
seiner verzweifelten Hingabe, drei tiefe Narben zu hin- tem Grund«, so gibt der Allegoriker zu bedenken, ent-
terlassen. sprießt der wechselseitigen Metamorphose von Spra-
In SPURLOS woHNEN variiert Benjamin schließlich che und Ding nichts Geringeres als Bilderrede, die sich,
das Motiv der symbolischen Markierung als Echtheits- im wörtlichen Sinne der Versamung von Zeichen, neu-
marke der Existenz im Medium der bürgerlichen Inte- erdings in Laut-Bild und Bild-Sprache disseminiert
rieurs. In den >>Plüschgelassen« der Makart-Zeit, dem (vgl. Stoessel 1983, 199; Sdun 1994, 96): >>Ein leiser
prägenden Stil des ausgehenden Second Empire, sei das Wind spielte zur Hochzeit auf und trug alsbald die
Wohnen >>nichts andres als das Nachziehen einer Spur, schnell entsprossenen Kinder dieses Betts als Bilder-
die von Gewohnheiten gestiftet wurde« (428). Diese an rede unter alle Welt« (IV, 426).
sich unspektakuläre Einsicht in die Phänomenologie Seinem Denkbild DIE FERNE UND DIE BILDER stellt
menschlicher Gebrauchsgüter erhellt sich erst im Kon- Benjamin die skeptische Frage voran, >>ob sich nicht
text der von Paul Seheerbart 1914 thematisierten das Gefallen an der Bilderwelt aus einem düstern Trotz
>>Glaskultur« (ebd.; 1007). Benjamin, als Chronist der gegen das Wissen nährt?« (427). Die Frage ist keines-
glasüberdachten Passagen, erkennt im Glas auch den wegs rhetorisch. Geprüft wird vielmehr an den Wahr-
Feind des Geheimnisses, das Ende bürgerlicher Intimi- nehmungen der mediterranen Küstenlandschaft von
tät, mithin das Ausblenden der >>Aura«, die als Erfah- Sanary sur Mer (Var), inwiefern Tektonik, Kausalität
rung in den Dingen des täglichen Bedarfs aufscheint. und Funktionalität der beteiligten Elemente zur ko-
Die mit Goethes Schlußmonolog aus Faust I! benannte gnitiven Bildwerdung beitragen. >>Der Träumer« indes,
>>Spur von seinen Erdetagen« (428) zeugt in den zu- meint Benjamin, müsse das alles vergessen, >>um den
rückgelassenen >>Futteralen und Etuis« vom Privatleben Bildern sich zu überlassen« (ebd.). Genauer: Das >>Ver-
der Bewohner, worin der Emblematiker historisch zu gessen des Nahen« sollte ein >>Erinnerungsbild« her-
lesen vermag. ln ERFAHRUNG UND ARMUT (1933) hat vorrufen (vgl. Stoessel1983, 59). Denn das Denkbild,
Benjamin dieses Denkbild als kritische Reminiszenz um das es hier geht, entsteht nicht ursächlich aus dem
eingebettet (II, 217f.), und in DAS PARIS DES SECOND naturwissenschaftlichen Kausalitätszusammenhang,
EMPIRE BEI BAUDELAIRE (1938) kehrt das Motiv ana- es ist auch kein photographisches Bild, sondern eine
lytisch wieder, wenn es heißt, seit Louis Philippe finde figurative Synthese. Zur Synthese des Denkbildes be-
man im Bürgertum das Bestreben, sich mit der Fülle darf es aber der Wahrung einer Distanz, um Phänomen
individualisierter Gebrauchsgegenstände für die >>Spur- und Zusammenhang in einem dialektischen Bild zu
losigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu ent- abstrahieren. Allzu aufdringliche Nähe eines partiellen
schädigen« (1, 548; vgl. Weidmann 1992, 104--108). Phänomens, etwa eine >>Vogelschwinge, die ihn streift«
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 637

(IV, 427), gefährdet die Einstellungsarbeit des Beob- chen Arten nicht benennen kann, beraubt ihn nicht
achters zur Proportionalität des durchdrungenen Bil- der Fähigkeit, den Benennungsgründen für die Viel-
des. >>Jede Nähe, die ihn trifft, straft ihn Lügen<< (ebd.), zahl ihrer Namen und Chiffren nachzuspüren. Die
so hält der Analytiker in eigener Sache fest. Sowohl der Einleitung zum Text exponiert die methodische Kern-
Natur als auch dem Wissen über sie im Rahmen eines frage, der die Entdeckung dieses Landstriches gilt: Wie
synthetischen Bildes >>Einhalt zu gebieten<<, ist eine ins kommen Namen zustande? Damit ist ein sprachmeta-
Denkbild gefaßte produktionsästhetische Darstellung physisches Leitmotiv Benjamins angesprochen, das er
dessen, was Benjamins Konzeption des >>dialektischen in seiner Münchner Abhandlung ÜBER SPRACHE
Bildes<< und der >>Dialektik im Stillstand<< kennzeichnet ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN
(zur Verschränkung von >>Bild und Bilddementierung<< (II, 140-157) bereits im Jahre 1916 ausformuliert hat:
in diesem Text vgl. Menke 1994, 47f.). Während die Natur von einer >>namenlosen stummen
Sprache<< durchzogen sei, gebe der Mensch der Natur
>>den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr emp-
nln der Sonne(( fängt<< (157). Diesem Thema, wie sich ein Name aus
den Dingen mitteilt, ohne den Namen mitzuteilen, hat
Die Insel-Beschreibung IN DER SoNNE (IV, 417-420) sich Benjamin auch in den spanischen GESCHICHTEN
trägt im Manuskript den Vermerk >>zum 15. Juli 1932<< AUS DER EINSAMKEIT, DIE MAUER (IV, 755), gewid-
( 1004), was darauf hinweist, daß Benjamin diesen Text met.
zwei Tage vor seiner Abreise aus Ibiza verfaßt hat. Am Dem ibizenkischen Wanderer teilt sich die Land-
27. Dezember dieses Jahres wurde dieser Beitrag in der schaft wortlos mit, ohne daß der Berichtende deren
Kölnischen Zeitung gedruckt. IN DER SoNNE steht in Eigennamen je zu Papier bringen würde (vgl. 420). Wie
thematischem Zusammenhang mit den Denkbildern die gestalthaften Namen der Inseln am Horizont, so
der IBIZENKISCHEN FOLGE (402-409) und dem Reise- treten auch die Landstriche in namenlose Orte zusam-
tagebuch SPANIEN 1932 (VI, 446-464), aus welchem men, worin sich in Jahrhunderten die Gänge von
die Erzählungen DAS TASCHENTUCH (IV, 741-745), Mensch und Vieh zur Konstellation eines Kreuzwegs
DER REISEABEND (745-748), DIE FAHRT DER MAS- inmitten der Äcker verbinden (419). Selbst auf den
COTTE (738-740) sowie DIE KAKTUSHECKE (748-754) abgeernteten Feldern schrumpft, als wäre es deren
erwuchsen. letzte Habe, der Schatten zur >>Stunde der Sammlung<<
Benjamin hatte sich am 7. April in Harnburg auf (ebd.). Das silberne Laub der Weiden wird wortlos
einem Frachternamens >>Catania<< in Richtung Barce- beredt und voller Wimpel überreich an >>Winken, die
lona eingeschifft, wo er nach elftägiger, stürmischer kaum mehr vernommen werden<< (418). Die sprach-
Fa!Irt eintraf (vgl. 4, 83). Von hier aus setzte er nach liche >>Anthropomorphose des Baumes<< (Stoessel
Ibiza über; vom 19. April bis 17. Juli wohnte er teils 1984, 51) beginnt hier wieder Raum zu greifen, ent-
allein, teils bei dem Paar Jean und Guyet Selz (zum sprechend dem Denkbild DER ßAUM UND DIE SPRACHE
weiteren biographischen Kontext vgl. Fuld 1979, aus KuRZE ScHATTEN II (IV, 425). Schließlich zieht sich
222 ff.; Brodersen 1990, 208 ff.; van Reijen/van Doorn dem Lauschenden in der reglosen Stille auch >>ein
2001, 131 ff.). In Ermangelung jeglicher Bibliotheks- Hundebellen, ein Steinfall oder ein ferner Zuruf<< in
apparate betreibt Benjamin auf der Balearen-Insel eine seinem Inneren zum >>Ton-Bild<< (Stoessel 1983, 86)
ungewohnte, aber inspirierende >>musische Kritzelei, zusammen und sammelt sich - Ton für Ton - zur
auf die ich hier, ohne Bücher, angewiesen bin<< (an >>Glockentraube<< (IV, 420). Damit schließt synästhe-
Scholem, 4, 89). tisch das ibizenkische Reise-Bild Benjamins und blen-
In seinem spanischen Reisetagebuch hält er für seine det in ein lautloses Tableau aus (zur Akustik der Bilder
narrative >>Reisetechnik<< programmatisch fest, er wolle vgl. Kaffenberger 1999, 460-471; zur >>Aufhebung des
es diesmal ganz >>aufs Epische<< absehen, >>an Fakten, Visuellen durch das Akustische<< vgl. Baumann 2002,
an Geschichten sammeln was ich nur finden konnte 60ff.), das mit der Vision von reglos durchs Land wal-
und eine Reise daraufhin erproben, wie sie von aller lenden Frauengestalten >>eine Urform des Ornaments<<
vagen Impression gereinigt, verlaufen mag<< (VI, 456). (Stoessel1983, 88) beschreibt (vgl. IV, 420; zum >>my-
Tatsächlich plante Benjamin eine Sammlung von >>Ge- thischen Augenblick<< vgl. Lindner 1992b, 224; zur
schichten aus Ibiza<<, die von allen >>Reise-Impressio- >>auratischen Schwebung von Nähe und Ferne<< vgl.
nen und -Synthesen gereinigt<< sein sollten (4, 89). Sdun 1994, 94).
>>Siebzehn Arten von Feigen gibt es, wie es heißt, auf
der Insel.<< So beginnt das Reise-Bild IN DER SoNNE
(IV, 417-420). Daß der reisende Fremde die zahlrei-
638 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

))lbizenkische Folge<< NIEN 1932 (VI, 446f.) weiter entwickelt. Es entspringt


einem emblematisch wahrgenommenen Einblick in
Die neunteilige IBIZENKISCHE FOLGE (IV, 402-409) ist ein bäurisches Interieur in San Antonio auf den Bale-
am 4. Juni 1932 in der Frankfurter Zeitung (Jg. 76, Nr. aren. Der Blick fällt auf drei oder vier rückwärtig in
41 0/411) erschienen. Eine Vorstufe zu den enthaltenen strenger Ordnung aufgestellte Stühle von anspruchs-
Denkbildern NICHT ABRATEN, RAuM FÜR DAS KosT- loser Form, in deren Konfiguration dem Beobachter
BARE, ERSTER TRAUM und ÜBUNG findet sich im Rei- die Symmetrie um eine Mittelachse auffällt. In ihr
setagebuch SPANIEN 1932 (VI, 446 f.). Benjamin hat die spiele >>die Zunge einer unsichtbaren Waage, in der
Denkbilder der IBIZENKISCHEN FoLGE während seines Willkomm und Abwehr in gleich schweren Schalen
Aufenthaltes auf Ibiza zusammengestellt und teilweise liegen« (IV, 403). Die ambiguose Empfangssituation
auch hier verfaßt. Er gedachte, wie er im Brief an Gre- wird durch die Konstellation der Stühle stets aufs Neue
tel Karplus von Mitte Mai 1932 vermerkt, >>die Darstel- angestoßen, in welcher sie hundertmal am Tag bedarfs-
lungsform der Einbahnstraße für eine Anzahl von bereit den Platz wechseln, um sich neu zu vereinen.
Gegenständen wieder aufzunehmen, die mit dem Daraus erschließe sich das >>Geheimnis ihres Wertes«
wichtigsten dieses Buches zusammenhängen<< (4, 96). (404), daß die karge Geräumigkeit des bäurischen Le-
Die Denkbilder der IBIZENKISCHEN FOLGE befassen bensraumes den geeigneten >>Spielraum« für wech-
sich mit lebenspraktischen Fragen. Höflichkeit, Rat- selnde, symbolisch kommunizierende Konstellationen
schlag, Erfolg, Übung, Ordnung und Aufmerksamkeit biete.
sind ihre zentralen Themen. Sie zeichnen sich durch Erfolg, das ist die Ausgangsthese des Denkbilds
exemplarische Episodik aus, die eine Konstellation WINDROSE DES ERFOLGES, sei keineswegs eine folge
umreißt, um sich zum Denkbild zu zentrieren. HöF- des Willens: >>Erfolg ist die Marotte des Weltgesche-
LICHKEIT, das erste Denkbild dieser Reihe, ist vage hens« (405). Als >>Ausdruck für die Kontingenzen die-
datiert vom April/Mai 1932. Es geht von einer parado- ser Welt« (ebd.) niste er sich in den Idiosynkrasien der
xalen Definition des Leitbcgriffes aus: Höflichkeit sei Subjekte ein, denen er in unzähligen kleinen Fehlern
>>weder sittliche Forderung noch Waffe im Kampf« und und Versehen gleichsam eine >>mathematische Figur«
dennoch beides (IV, 402). Perspektivisch aufgelöst einverleibe, die, jenseits von Schicksal, Mythos und
wird dieser Widerspruch, indem Höflichkeit den Verhängnis, zum Schlüssel ihres Vorteils werde. Diese
>>Kampf ums Dasein«, der in seiner >>Unentschieden- Kontingenz in den Figuren des einzelnen Lebens bildet
heit« abstrakt erstarrt sein kann, aus den >>Schranken in diesem Denkbild die Achse, auf der die wechselnden
der Konvention« hinausführt, und damit »den Kampf Pole von Erfolg - mit oder ohne Überzeugung -, re-
ins Schrankenlose erweitert« (ebd.). Ihr strategischer spektive von Überzeugungslosigkeit - mit oder ohne
Zweck liege im wachen Sinn für die konkrete Situati- Erfolg - gleich einer Windrose sich wenden und aus-
onsregie jenseits konventioneller Erwartungen: Sie richten. An den Charakteristiken des Hochstaplers, des
spielt mit dem >>Extreme[n], Komische[n], Private[n] Glückspilzes, des Spießers sowie des Komikers wird
oder Überraschende[n] der Lage« (ebd.) und unter- dies exemplifiziert. Bei der Bestimmung der >>Wind-
miniert dadurch die offene Kampfbereitschaft der rose des Erfolges« drehe alles sich darum, deren >>Mitte
Partner. So führe diese >>Muse des Mittelwegs« aus dem zu bestimmen, den Schnittpunkt der Achsen, den Ort
verhärteten >>Konflikt der Pflichten« heraus und berge, völliger Indifferenz von Erfolg und von Mißerfolg«
als ihr gewichtigstes Pfand, für den Unterliegenden die (406). Alle die bezeichneten Pole indes, so befindet
>>nächste Chance« (403). Benjamin, konvergierten nur in jener einzigartigen
Nicht weniger paradox verläuft die Tendenz der ge- Figur, die ihren Existenzgrund in der Fiktion verankert
genläufigen Beratung im Denkbild NICHT ABRATEN. hat: Es ist der Träumer Don Quichotte de Ia Mancha.
Es entspricht im Wortlaut der Vorlage im spanischen Den Anstoß zur Ausführung dieses Denkbildes haben
Tagebuch von 1932 (VI, 452). Hier wird vorausgesetzt, Reminiszenzen zu Benjamins Erfahrung mit einem
daß, wer um Rat frage, nur die >>Kehrseite« dessen su- Hochstapler zur Zeit seiner Ibiza-Reise gegeben, der
che, was in ihm schon beschlossen sei. Daller wäre dem sowohl Benjamin in Berlin als auch seinen Freund
Rat-Suchenden vornehmlich dadurch >>halb« geholfen, Noeggerath in Ibiza um die Wohnung betrogen hatte,
ihn auch in seinem verkehrten Vorhaben >>skeptisch zu was Benjamin im Tagebuch SPANIEN 1932 (VI, 455)
bestärken« (IV, 403; VI, 453), die komplementäre sowie im Brief an Schotern vom 22. April dieses Jahres
Kehrseite des Rates müßte sich aus der besagten Vor- festgehalten hat (4, 83).
aussetzung von selbst erschließen. Das Kinderspiel indes ist >>Arbeit, welche mäßigen
Auch das dritte Denkbild der Reihe, RAuM FÜR DAS Erfolg verspricht« (IV, 406). Darauf konzentriert sich
KosTBARE, wurde von Benjamin aus dem Text SPA- das Denkbild ÜBUNG mit Blick auf die Techniken des
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 639

Taschenspielers Rastelli. Sein Erfolg liege darin be- Denkbilder


gründet, »daß der Wille, im Binnenraum des Körpers,
ein für alle Mal zu Gunsten der Organe abdankt<< Walter Benjamin publiziert die kleine Sammlung der
(ebd.); die jahrelangeübungziele nämlich darauf ab, DENKBILDER (IV, 428-433) am 15. November 1933 in
sich der Sache zuerst hinter dem eigenen Rücken zu der Frankfurter Zeitung bereits unter dem Pseudonym
bemeistern, ehe sie sich >>im Handumdrehen<< offen- DedefHolz. Es sollten zu Lebzeiten seine letzten Denk-
bart. In der völligen Auflösung intentionalen Handeins bilder in dieser Zeitung sein. Trotz des für Benjamins
liegt schließlich auch die Tendenz des Denkbildes VER- Schreiben programmatischen Titels besitzen diese
Giss DAS BESTE NICHT, das in der Umkehrung von >>Denkbilder<< keinen spezifischen Status im Zusam-
Pünkdichkeit in Planlosigkeit und von peinlicher Ord- menhang seiner Theorie dieses Genres (zur Definition,
nung in unbesorgtes Leben ein Erfolgsprinzip zu er- Geschichte und Erforschung des >>Denkbildes<< vgl.
kennen gibt. Benjamin, der diesen Aspektwechsel der Leifeld 2000, 18 f., 53-70 und Kaffenberger 2001, 98-
Umkehr in seinem Kafka-Essayvon 1934 wieder auf- 113; zum Genre vgl. Schulz, 1968, 218-252; Leifeld
nehmen wird (II, 434), nimmt damit dessen Leit-Mo- 1996; Weigel1997, 57-62; Lindner 2000, 84-91). Viel-
tiv vorweg, im Vergessenen das Moment der Umkehr mehr handelt es sich um eine Sammlung von Texten,
zu entdecken (vgl. dazu Deuring 1994, 34 ff.). die teils auf frühere Jahre zurückreichen: DIE >>NEuE
>>Aufmerksamkeit und Schmerz sind Komplemente<< GEMEINSCHAFT<<, ein Exzerpt aus seinem Tagebuch
(IV, 408 ). Diese beiden Formen des Aufmerkens stehen vom 7. August 1931 (VI, 441 f.), sowie ERZÄHLUNG
im Zentrum von Benjamins Denkbild GEWOHNHEIT UND HEILUNG, hervorgehend aus einer Notiz vom
UND AUFMERKSAMKEIT, das sich den Amplituden der Frühjahr oder Sommer 1932 (vgl. IV, 1007f.). Zur Zeit
Seelenbewegung widmet. Gewohnheit, so fährt er fort, der Publikation befand sich Benjamin bereits im Pa-
finde hingegen im Traum ihr Gegenstück, denn darin riser Exil.
trete das Unvermerkte des Alltags überscharf hervor. Die DENKBILDER lassen sich in Traumbilder sowie
Hierzu trägt das Denkbild BERGAB die Feststellung in Bilder zur Ästhetik des Erzählens gliedern. Ein tra-
nach, auch die physische Erschütterung beim Abstieg gendes Motiv stellen dabei Krankheit und Tod dar. Das
vom Berge löse eine komplementäre Erschütterung Denkbild ZuM ToDE EINES ALTEN (IV, 428 f.) thema-
der Seele aus. So werde der Körper zum >>Kaleidoskop<<, tisiert zunächst die >>Zwiesprache<< zwischen den Ge-
das >>bei jedem Schritte wechselnde Figuren der Wahr- nerationen, deren >>Wohlwollen ohne jeden Beisatz<<
heit vorführt« (409). Diese Wahrnehmung sukzessiver von Kalkül und äußerer Rücksicht dem Jüngeren beim
Kollisionen birgt die Möglichkeit, der Erinnerung stets Verlust des Älteren schmerzlich fehlt: Er verlor den
neue Konstellationen abzugewinnen (vgl. Stoessel besten Gesprächspartner, mit dem er seine zentralen
1983, 162ff.). Fragen nie berühren mußte. Ein Denkbild wider Er-
In diese, von Kehrseiten, Ambiguität und Komple- warten.
mentaritäten durchzogene Folge der ibizenkischen Das Denkbild TRAUM ist ungleich komplexer gestal-
Denkbilder fügt sich, wie eine mitgebrachte Botschaft tet. Hier vermischen sich zahlreiche Motive aus einer
aus fremder Gegend, das Traumbild ERSTER TRAUM, gefährdeten Existenz. Nach Berlin, wo auch das Traum-
das von einer Bergwanderung mit Jula Radt-Cohn bild lokalisiert wird, war Benjamin im November 1932
handelt, einer jener großen enttäuschenden Liebschaf- zurückgekehrt, um es bereits fünf Monate später für
ten im Leben Benjamins. Seit 1921 werden Benjamins immer zu verlassen. Hier gab er sich >>Rechenschaft,
Avancen von der Heidelberger Künsderin, der Schwe- daß die Luft kaum mehr zu atmen ist; ein Umstand,
ster seines früheren Schulfreundes Alfred Cohn, zu- der freilich dadurch an Tragweite verliert, daß einem
rückgewiesen, zumal sie sich 1925 mit Fritz Radt ver- die Kehle zugeschnürt wird<< (4, 162). Benjamins
heiratet. Jula, beruflich Bildhauerin, erscheint in die- Traumbild schildert den Abstieg in die Tiefen eines
sem Traumbild beim abschließenden Kuß auf die Güter-Bahnhofs, der mit >>Sodom<< benannt ist (IV,
Wange surreal versteinert und brüchig, als wäre ihr 430). Zunächst findet eine Gerichtssitzung auf offener
Gesichtvon >>kunstvoll ausgespachtelten Riefen durch- Straße statt, worin es, einem gestrichenen Satz zufolge,
zogen« (IV, 404). Kurz nach der Abreise von Ibiza hat um eine vermögensrechdiche Auseinandersetzung
ihr Benjamin am Tag seines Suizid-Vorhabens aus gegangen sei (vgl. IV, 1008); dem folgt, entlang einer
Nizza einen Abschiedsbrief geschrieben (4, 116), die- Rampe, der Gang hinab zu einem schmalen Rinnsal,
sen aber nicht abgesandt. von dem eine Art Hermes in Gestalt eines >>kleinen
Unterbeamten<< (IV, 431) erläutert, hier würden
>>Selbstmörder<< enden. Auf schwankenden Porzellan-
platten stehend, eine unsichere Existenz inmitten von
640 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Blumen, wird eines mit Gewißheit verneint: Es handle worunter jene >>halb verpfuschten Bohemiens<< litten,
sich hierbei keineswegs um den Acheron. So bestätigt sei durch deren intensive Beschäftigung mit der sozi-
der Traum, was er negiert. Auf dem Rückweg aus den alen Frage bedingt. Denn >>die Kranken haben ganz
Tiefen des Bahnhofs fällt dem Träumer >>die seltsame besondere Kenntnis vom Zustand der Gesellschaft<<
Zeichnung der Kacheln<< (ebd.) auf, deren Motiv sich (ebd.). Ihre >>Nervosität<< bezeichnet untrüglich einen
gut für einen Film eigne. Aber man wolle nicht, in gesellschaftlichen Umschlagspunkt. 1932 in tiefster
Zeiten der Bespitzelung, daß >>So öffentlich von solchen Krise verfaßt und 1933 nach der >>Machtergreifung<<
Projekten gesprochen werde<< (ebd.). Die Expedition im Exil publiziert, besitzt dieser Text, der die soziale
in die Unterwelt endet in der Begegnung mit einem Nervosität attestiert, seine eigene, zeitgenössische Dia-
>>zerlumpten Knaben<< (ebd.), dem der Träumer eine lektik. Diesen Eindruck einer kaschierten Zeitdiagnose
kleine Münze zustreckt, während er ihren Weg kreuzt, verstärkt das abschließende Bild der fliehenden
als wäre es Charons Obolus. Trotz surrealer Entstellung Daphne, die beim Nahen der sie »Verfolgenden Wirk-
sind in diesem Traumbild die Motive von Gefahrdung lichkeit sich in ein Bündel bloßgelegter, in der Luft der
und Tod unverkennbar. Zugleich finden sich darin Jetztzeit erschauernder Nervenfasern verwandelt<<
Assoziationen zur mnemonischen Stadtwanderung, (ebd.; zum Daphne-Motiv vgl. 4, 312).
die Benjamin im Herbst 1932 in seinen fragmentari- Gleichsam mit einer spielerischen Wortgirlande
schen Aufzeichnungen zur BERLINER CHRONIK (VII, schließt BREZEL, FEDER, PAUSE, KLAGE, FIRLEFANZ
705-715) festhielt und die später im Kapitel TIERGAR- diese als DENKBILDER publizierte Reihe ab. Die titel-
TEN (393-395) Eingang gefunden haben (vgl. Muthe- gebenden Wörter gelte es, als Ausgangspunkt eines
sius 1996, 175-180). Gesellschaftsspiels, in bündigen Zusammenhang zu
Das kürzere Traumbild (IV, 429 f. ), das den gleichen bringen. Die dabei sich offenbarende Lust an der Aus-
Titel TRAUM trägt wie jenes vom >>Weichbild eines höhlung des semantischen Wortraumes und der Suche
Bahnhofs<< (430 ), kann als komplementäres Vexierbild nach disseminierenden Sinnfiguren hat Benjamin zur
gelten. Es spricht vom Aufstieg aus einem Zimmer Erfahrungsform des Lesens gewendet. Es geht um die
hinauf ins Obergeschoß, um von hier aus, statt des Umkehrung der Perspektive, indem die Spielregel der
erwarteten Ausblicks aufs weite Meer, wiederum ins Produktion zur Spielregel der Rezeption gewendet
selbige Zimmer hinabzublicken: Eine Inversion von wird. Daraus erschließt sich, daß, wer der verborgenen
Erwartung und Einsicht. Formel wegen die Texte liest und sich >>nach Wendun-
Das Denkbild ERZÄHLUNG UND HEILUNG beruht auf gen und Worten<< (IV, 433) auf die Lauer legt, das Lesen
einer Notiz aus der Zeit von Benjamins erster Reise als Spiel der Kontingenzbewältigung begreift. Dieses
nach Ibiza im Sommer 1932 (vgl. 1007f.), worin er konstruktive >> Ähnlichmachen des Bedeutungszusam-
einen Bericht Felix Noeggeraths über die Heilkräfte menhanges<< (Leifeld 2000, 103) verbindet das Kinder-
seiner zweiten Frau wiedergibt. Die Bewegungen ihrer spiel mit der sakralen Textexegese.
heilenden Hände hätten gleichsam eine therapeutische
Geschichte erzählt. Benjamin, den mit dem stets als
>>Genie<< apostrophierten Noeggerath während ihrer ,,Kleine Kunst-Stücke((
Münchner Studienzeit die begeisterten Gespräche zur
>>vergleichenden Mythologie<< verbanden (vgl. Broder- Die Sammlung von Denkbildern in der Rubrik KLEINE
sen 1990, 95 ff.), knüpft hier an die aus platonischer KuNST-STüCKE (IV, 435-438) zählt zu den Inedita, die
Philosophie, nordischer Mythologie und ärztlicher zu Lebzeiten Benjamins nicht integral veröffentlicht
Praxis bekannte >>heilsame Erzählung<< an. Zum eigent- wurden. Einzig der Text GuT SCHREIBEN wurde am
lichen Denkbild verdichtet sich der Bericht, indem der 16.2.1934 unter dem Titel DER GUTE SCHRIFTSTELLER
>>Schmerz als Staudamm<< dem >>Strome des Erzählens<< in der Zürcher Zeitschrift Der öffentliche Dienst ge-
(IV, 430) widerstehe, solange nicht der Krankheit mit druckt. Die Teile RoMANE LESEN und KuNST zu ER-
sanfter, narrativer Geste ein Fließbett ins >>Meer glück- ZÄHLEN stehen im weiteren Kontext von Benjamins
licher Vergessenheit<< (ebd.) gezeichnet werde. Projekt zu einer neuen >>Theorie des Romans<< und der
Ein pathographisches Gruppen-Porträt stellt dem- Erzählung (vgl. 3, 420), die er in den Jahren 1928-1935
gegenüber das Denkbild DIE >>NEUE GEMEINSCHAFT<< in zahlreichen Aufzeichnungen festhält, welche schließ-
dar, das sich, angeregt von Gerhart Hauptmanns Fa- lich 1936 in seine Lesskow-Studie DER ERZÄHLER (II,
miliendramen, dem gleichnamigen, um 1900 gebilde- 438-465) münden. Vorlagen ZU GUT SCHREIBEN fin-
ten Friedrichshagener Dichterkreis widmet. Benjamins den sich in den Tagebuch-Einträgen vom 5.5.1931 (VI,
Diagnose ist ebenso scharf wie dialektisch: Die >>Krank- 424ff.), ferner zu RoMANE LESEN im Tagebuch vom
heit der Jahrhundertwende, das mal de siede<< (ebd.), 16.8. dieses Jahres (444 ff.); weitere Vorstufen und Ma-
Städtebilder-Reisebilder- Denkbilder 641

terialien zu diesem Komplex sind in den einschlägigen Muse«, jener des Romans und der Kochkunst, wäre es
Kommentaren der Gesammelten Schriften dokumen- jedenfalls angelegen, die Welt aus dem Rohzustand der
tiert (IV, 1010-1015 und II, 1281-1287). Das Denkbild Erfahrung ins Genießbare der Lektüre zu erheben.
KUNST ZU ERZÄHLEN ging leicht verändert in die Ka- Erst im Denkbild KuNsT zu ERZÄHLEN wird die Kri-
pitel VI und VII der Lesskow-Studie ein (II, 444- tik am journalistischen Schreiben offenbar. In den
446). vorherrschenden Presse-Produkten seien die berich-
Der Themenkreis um die Frage,>> Warum es mit der teten Begebenheiten bereits mit Erklärungen durch-
Kunst Geschichten zu erzählen zu Ende geht<< (3, 474), setzt, die >>Kunst des Erzählens« indes liege darin, »eine
den er im Brief an Hofmannsthai vom 26.6.1929 an- Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärun-
spricht, ist für Benjamin eng verknüpft mit der Assi- gen freizuhalten« (43 7). Das produktive Gegenstück
milierung der Literatur an den Journalismus und der dazu bildet nicht allein die beigefügte Erzählung von
damit verbundenen >>Eingliederung der literarischen Psammenit aus den Geschichten des Herodot, sondern
Produktion in die der Waren« (VI, 445). Dadurch auch das einsame Eingedenken der Erzähler, die Ben-
würde herkömmliches Lesen und Schreiben zu einer jamin in seinem Aufsatz DER ERZÄHLER (II, 444-446)
Sache von Konsum und Produktion. Nicht zufällig beschreibt. Nicht ohne Ressentiment hat er dazu im
nimmt daher Benjamin für sein Denkbild GuT Tagebuch notiert, die besten Produkte des Schrifttums
scHREIBEN Maß an Ernest Hemingway. Der Name würden derzeit ins Feuilleton gepreßt, aber sie würden
dieses Vertreters des >>Klaren und Einfachen« (425) dort zum trojanischen Pferd, >>um eines Tages das Troja
findet sich allerdings nur in Benjamins entsprechen- dieser Presse in Brand zu setzen« (VI, 446).
der Aufzeichnung vom 5.5.1931. Das Denkbild ist Ein letztes Denkbild, NACH DER VOLLENDUNG, hat
einer zentralen These verpflichtet: >>Der gute Schrift- Benjamin vermutlich ebenfalls 1933 für die Publika-
steller sagt nicht mehr als er denkt« (IV, 435). Vom tion der KLEINEN KuNST-STüCKE vorbereitet. Es greift
>>Training« des Schreibenden hänge es ab, ob er seinem weit zurück in die platonische Thematik von Werk und
Gegenstand den sachgemäßen Gang verleihen könne, Geschlecht, die Benjamin in seinem SOKRATEs-Aufsatz
sich also nicht in erzählerischen Aperyus erschöpfe. (II, 129-132) vom Sommer 1916 im Zusammenhang
Guten Schreib- und Denkstil beschreibt Benjamin seiner Lektüre des Gastmahls beschäftigt hat. Stark
analog zum >>Schauspiel, das ein geistvoll trainierter vereinfacht ist der Gegenstand folgender: Die Geburt
Körper bietet« (436): Was der Schreibende sagt, ist die eines Meisterwerks werde oft als dialektisches Bild ge-
reine Form seines Gedanken-Ganges (vgl. Leifeld dacht- das Weibliche setze jenes Werk ins Leben, das
2000, 91 f.). Von >>allure« sprechen diesbezüglich die der Meister im Inneren des Werkes zur Vollendung
Franzosen, >>Unterbrechung- Haltung« (VI, 425) bringe und darin den Schöpfer neu gebäre. Dieser
nennen es die Deutschen, so ergänzt Benjamin in sei- Schöpfer habe demnach seine Heimat nicht im Mut-
ner ursprünglichen Aufzeichnung diese Betrach- terschoß, sondern dort, wo ihn das Werk als >>der
tung. männliche Erstgeborene« (IV, 438) hervorbringe (zum
Von der Produktion zur Rezeption wechselt im an- vergessenen Weiblichen vgl. Stoessel1983, 78-81; 131;
schließenden Denkbild RoMANE LESEN die Aufmerk- Weigel1997, 139f.; 175f.).
samkeit. Im Zentrum steht das Lesen als kulinarische Wenngleich der Text NACH DER VoLLENDUNG aus
Konsumform. Die tragende These, Romane seien dazu editions-technischen Gründen am Ende der Samm-
da, verschlungen und einverleibt zu werden (IV, 436), lung Benjaminscher Denkbilder figuriert, bildet er
erwächst einem wesentlich schärfer formulierten kul- selbstverständlich keinen kompositorisch intendierten
turkritischen Kontext, wonach der Roman von vorn- Schluß. In den Irrungen des Exils nach 1933 hat Ben-
herein deutlicher auf Konsum zu zielen scheine, »auf jamin keine Denkbilder mehr verfaßt: Es mögen äu-
ein unproduktives Genießen« (VI, 444), dessen Wa- ßere Motive gewesen sein, die ihn davon abhielten,
rencharakter, wie sonst kaum in einer Kunstform, beim etwa die verkarstete deutsche Publikationslandschaft
Konsum >>zersetzt und zerstört« (IV, 1013) werde. Aus oder die zunehmenden Beschwerden, die dem Herz-
der ursprünglichen Kritik der vernichtenden Einver- kranken in Paris und auf den letzten Reisen nach
leihung des Romans in die Warenzirkulation, wie er Svendborg und San Remo zu schaffen machten.- Den
sie in den Vorstufen profiliert, hat Benjamin fürs >>Siegen im Kleinen«, zu denen er seine Denkbilder
Denkbild den Stoffwechsel aus Rohstoff, Kochkunst noch im Rückblick zu seinem vierzigsten Geburtstag
und Ernährung herausgeformt Zentral bleibt indes zählte, hat Benjamin in den sieben Jahren seines Exils
die »erfahrene Metapher« (ebd.), ein Buch zu ver- jedenfalls keine mehr hinzugerechnet.
schlingen, ohne gleich dessen >>Erfahrungen am eige-
nen Leibe« (436) durchleiden zu müssen. Der >>zehnten
642 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Werk unsagbare Moderne als denkbares Bild, Frankfurt a. M./


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MARSEILLE (!V, 359-364)
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EssEN (IV, 374-381)
Lindner, Burkhardt {1992): >>Benjamins Aurakonzeption:
NoRDISCHE SEE (IV, 383-387)
Anthropologie und Technik, Bild und Text«, in: Walter
KuRzE ScHATTEN I (IV, 368-373)
Benjamin {1892-1949) zum 100. Geburtstag, hg. v. Uwe
KuRzE ScHATTEN I! (IV, 425--428)
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IN DER SONNE (IV, 417--420)
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lBIZENKISCHE FoLGE (IV, 402--409)
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DENKBILDER (!V, 428--433)
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KLEINE KuNsT-STüCKE (IV, 435--438)
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643

Zur späteren Sprachphilosophie benheit der sprachphilosophischen Überlegungen mit


dem autobiographischen Text zeigt sich unter anderem
>>Lehre vom Ähnlichen<< I >>Über das mimetische Ver- an der Übernahme kleinerer Textpassagen aus der
mögen<< I >>Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sam- LEHRE voM ÄHNLICHEN in die Erinnerungsepisode
melreferat<< >>Die Mummerehlen<<, an der Benjamin Anfang 1933
gearbeitet hat. Darüber hinaus dürften die kindlichen
Von Anja Lemke Sprach- und Wahrnehmungsformen der >>entstellten
Ähnlichkeit<<, die die Erinnerungsbilder der BERLINER
KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT bestimmen, den
Schlüsselimpuls zur Ausarbeitung eines mimetischen
In drei Texten hat Benjamin in dem persönlich wie Sprachkonzeptes geliefert haben. Während Benjamin
politisch krisenhaften Zeitraum 1933/1934 seine frü- in seinen Kindheitserinnerungen den ontogenetischen
hen sprachphilosophischen Überlegungen wiederauf- Aspekten des mimetischen Vermögens nachfragt, un-
genommen. Die beiden kurzen Schriften LEHRE voM tersuchen die LEHRE VOM ÄHNLICHEN und ÜBER DAS
ÄHNLICHEN und ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN MIMETISCHE VERMÖGEN den Zusammenhang von
lassen sich als zwei Fassungen eines gemeinsamen Phylogenese und Ontogenese im Kontext einer allge-
sprachphilosophischen Entwurfes verstehen. Die meinen Theorie der Sprache.
LEHRE voM ÄHNLICHEN entstand bereits Anfang 1933 Bei dieser Theorie handelt es sich nicht um einen
kurz vor Benjamins Flucht ins Exil, die Arbeit ÜBER Neuansatz. Vielmehr entwickelt Benjamin in beiden
DAS MIMETISCHE VERMÖGEN stellt eine im Sommer Texten seine früheren sprachphilosophischen Überle-
1933 auflbiza überarbeitete Fassung dar. Sie weist ge- gungen weiter. Die thematische Nähe geht so weit, daß
genüber dem ersten Entwurf kaum neue Aspekte auf, Benjamin die Schalem versprochene maschinen-
sondern ist im wesentlichen eine Verknappung, die schriftliche Kopie der LEHRE voM ÄHNLICHEN laut
konkrete Beispiele und eine Reihe von Hinweisen auf eigenem Bekunden nur vornehmen könne, wenn ihm
die Einbettung der sprachphilosophischen Thesen in zuvor ein >>Vergleich<< mit dem 1916 entstanden Text
vormoderne magisch-animistische Zusammenhänge ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE
tilgt. Das Sammetreferat über>> Probleme der Sprachso- DES MENSCHEN möglich wäre. (4, 214) Da sich dieser
ziologie<< entstand vermutlich im Herbst 1934 als Auf- Text unter den bei der Emigration in Berlin zurückge-
tragsarbeit für das Institut für Sozialforschung, in lassenen Papieren befand, bittet er Scholem im Som-
dessen Zeitschrift der Text im zweiten Heft des Jahr- mer 1933 um eine Abschrift, die ihn im Spätsommer
gangs 1935 veröffentlicht wurde. Trotz seines Auftrag- auf Ibiza erreicht. Daß Benjamin beide Arbeiten tat-
scharaktersmüssen die in ihm ausgeführten Probleme sächlich miteinander abgeglichen und auf Korrespon-
der Sprachsoziologie im Kontext der späten Sprach- denzen und Bezüge untersucht hat, bezeugt eine kurze
philosophie gelesen werden. Notiz, die Scholem mit dem Titel ANTITHETISCHES
ÜBER WoRT UND NAME überschrieben hat (vgl. VII,
795). In zwei Kolumnen hat Benjamin hier aus der
Entstehungskontext frühen Spracharbeit zunächst die Grundzüge des Ver-
hältnisses von Wort und Name exzerpiert und mit der
Wie bereits Benjamins erkenntniskritische Vorrede Schlüsselkategorie der späten Arbeit, dem Begriff des
zum URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS und Ähnlichen, verbunden. Auf der Grundlage dieses Ver-
das Vorwort zu den Baudelaire-Übertragungen DIE gleichs gerät Benjamin die geplante Abschrift der
AUFGABE DES ÜBERSETZERS sind auch die sprachphi- LEHRE voM ÄHNLICHEN zu einer Umarbeitung, deren
losophischen überlegungen in der Auseinanderset- Ergebnis den Titel ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN
zung mit dem eigenen Schreiben entstanden. Am 28. trägt. Wie bereits die frühe Sprachabhandlung von
Februar 1933 schreibt Benjamin unter Bezugnahme 1916 sind auch die beiden späteren Texte von Benja-
auf die Machtergreifung Hitlers und das bevorste- min selbst nicht veröffentlicht worden; auch liegen
hende Exil an Scholem: >>Wenn ich Dir nun noch mit- keinerlei Belege vor, daß eine solche Veröffentlichung
teile, daß unter so bewandten Umständen dennoch intendiert war.
eine neue - vier kleine Handschriftenseiten umfas- Daß es sich bei den beiden Texten, trotz ihrer Kürze
sende- Sprachtheorie entstanden ist, so wirst Du mir und Skizzenhaftigkeit um programmatische Schriften
eine Ehrenbezeugung nicht versagen. [... ] Bemerken zur Sprachtheorie handelt, zeigt sich in der Tragweite,
will ich nur, daß sie bei Studien zum ersten Stück der die das dort entwickelte Konzept der >>unsinnlichen
>Berliner Kindheit< fixiert wurde<< (4, 163). Die Verwo- Ähnlichkeit<< für Benjamin in den verschiedenen Pro-
644 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

jekten der 30er Jahre gehabt hat. Neben der BERLINER tiven Sprachmomenten. Daß er dabei auch Theorien
KINDHEIT sind hier vor allem der Essay ZuM BILDE in den Blick nimmt, die in diesem »Ausdruckscharak-
PRousTs, Teile des Passagenwerks, der Essay über Bau- ter<< gleichzeitig einen gesellschaftlich-politischen Ent-
delaire und verschiedene Notizen aus den Jahren wicklungsantrieb sehen, zeigt die Bedeutung des Sam-
1933-1935 (II, 955-958) zu nennen, in denen Benja- mdreferates für die von Benjamin in der späten
min immer wieder auf die zentralen Gedanken der Sprachphilosophie angestrebte Vermittlung von mi-
LEHRE VOM ÄHNLICHEN und ÜBER DAS MIMETISCHE metischen und geschichtsphilosophischen Überlegun-
VERMÖGEN zurückkommt. gen innerhalb seiner Sprachtheorie.
Einige Aspekte aus den unveröffentlichten Notizen,
wie etwa den Hinweis auf die Bedeutung von Paul
Valerys >>L'Ame et Ia Danse<< und Heinz Werners Mimesis und Semiotik
Grundfragen der Sprachphysiognomik für eine Lehre
vom mimetischen Vermögen, nimmt Benjamin in dem Im Zentrum des Interesses stehen bei Benjamin dieje-
erstaunlich umfassend angelegten Literaturreferat nigen Überlegungen zur Sprache, durch die es gelingt,
über PROBLEME DER SPRACHSOZIOLOGIE (III, 452--480) eine einfache onomatopoetische Sprachkonzeption
auf. Daß die Verbindung zwischen diesem Überblicks- durch eine sprachwissenschaftlich fundierte Theorie
artikel und der eigenen Sprachtheorie für Benjamin zur Mimesis zu ersetzen, die die repräsentativen As-
systematischen Charakter hatte, bezeugt ein Brief an pekte des Sprachlichen nicht ignoriert. Hierfür zieht
Werner Kraft vom 30.1.1936: »Zu Ihrer Bemerkung er sowohl linguistische Überlegungen im engeren
über mein sprachtheoretisches Referat, dem seine Sinne, als auch entwicklungspsychologische, ethnolo-
Grenzen durch die Form vorgeschrieben waren: es gische und sozialwissenschaftliche Ansätze heran. Sein
präjudiziert nichts über eine >Metaphysik< der Sprache. Ausgangspunkt bildet die Kritik an onomatopoeti-
Und es ist von mir, wenn auch keineswegs manifest, so schen Sprachursprungstheorien, wie sie für die ethno-
eingerichtet, daß es genau an die Stelle führt, wo meine logische Sprachforschung Lucien Levy-Bruhl und in
eigene Sprachtheorie, die ich auf Ibiza vor mehreren systematischer Hinsicht Kar! Bühler ( 1934) formuliert
Jahren in einer ganz kurzen programmatischen Notiz haben.
niedergelegt habe, einsetzt<< (5, 237). Im Rahmen seiner Untersuchung über Les fonctions
mentales dans les societes inferieures hebt Levy-Bruhl
das »Bedürfnis zeichnerischer Beschreibung<< der Pri-
»Probleme der Sprachsoziologie« mitiven hervor. Ihre Sprache »verfügt über außeror-
dentlich zahlreiche Mittel, einen Eindruck unmittelbar
Das Sammelreferat berücksichtigt neuere sprachphi- durch Töne wiederzugeben. Dieser Reichtum rührt
losophische und sprachsoziologische Untersuchungen von ihrer fast unwiderstehlichen Neigung, alles Hör-
aus den 20er und 30er Jahren. Entlang der Frage nach bare nachzumachen. Desgleichen alles, was man sieht,
dem Sprachursprung sowie dem Zusammenhang von und überhaupt, was wahrgenommen wird ... in erster
Sprache und Denken referiert Benjamin Sprachtheo- Linie die Bewegungen. Aber diese stimmlichen Nach-
rien im Grenzbereich zwischen Soziologie, Linguistik, ahmungen oder Reproduktionen, diese >Lautbilder<
Kinder- und Tierpsychologie, Psychopathologie und erstrecken sich ebenfalls auf Töne, Farben, Ge-
Ethnologie. Was sich zunächst als kursorischer Über- schmackswahrnehmungen und taktische Eindrücke ...
blick über die aktuellen Debatten der Sprachwissen- Man kann hier nicht von onomatopoetischen Schöp-
schaft ausnimmt, erhält seine Relevanz im Rahmen fungen im strengen Sinn reden. Es handelt sich mehr
von Benjamins Sprachphilosophie durch die themati- um beschreibende Stimmgebärden<< (zit. III, 455f.).
sche Verbindung mit der Frage des mimetischen Ver- Auch wenn Benjamin mit Frederick Charles BartJett
mögens. Neben den präzisen Kenntnissen der zeitge- und Olivier Leroy auf die Kritik an Levy-Bruhls ahi-
nössischen sprachwissenschaftlichen Debatten, zeigt storischer Konzeption des »Primitivismus<< eingeht, ist
der Aufsatz vor allem, wie zielgerichtet Benjamins In- die Erweiterung des onomatopoetischen Konzeptes
teresse sich auf diejenigen Aspekte der Linguistik und durch die mimetische Gebärde für ihn von zentraler
Sprachsoziologie konzentriert, die nicht >>über der se- Bedeutung.
mantischen Funktion der Sprache den ihr innewoh- Auch Bühlers Zweifeldtheorie wird von Benjamin
nenden Ausdruckscharakter, ihre physiognomischen in diesem Kontext gelesen. Wie in Levy-Bruhl sieht
Kräfte vergessen haben<< (III, 479). Benjamin sucht hier Benjamin auch in Bühler einen Sprachtheoretiker,
Anschlußmöglichkeiten an seine eigenen Überlegun- dessen Kritik am onomatopoetischen Sprachursprung
gen zum Verhältnis von mimetischen und repräsenta- die Onomatopoetik nicht hinter sich läßt, sondern sie
Zur späteren Sprachphilosophie 645

erweitert. Für Benjamins eigene Sprachtheorie ist da- min selbst leitend ist. Ausgehend von Bühlers Unter-
bei bedeutsam, daß diese Erweiterung in Form einer teilung in die Sprachfunktionen: Ausdruck, Appell und
Verknüpfung von lautmalerischer und symbolischer Darstellung, konzentriert sich Benjamin zunächst auf
Sprachfunktion geschieht. Statt beide Funktionen als eine kursorische Darstellung des >>Zeigefelds<< deikti-
zwei getrennte, mögliche Wege der Sprachentwicklung scher Ausdrücke auf der einen und des symbolischen
aufzufassen, sieht Bühler das onomatopoetische Prin- Feldes der >>Nennwörter<< auf der anderen Seite.
zip >>[n]ur an einzelnen Stellen seines [des Wortes, Von besonderem Interesse ist dabei der Übergang
d.Verf.] Innern [... ] zum Ausdruck kommen<< (III, von der zeigenden Geste mit der Hand zur >>Deixis am
455). Eine Verwobenheit, die Benjamin in einem Bild Phantasma<<, d. h. zu einer Verständigungsform, bei der
von Charles Callet festgehalten sieht, das als metapho- die deiktischen Ausdrücke >>Ich<<, >>Hier<< und >>Jetzt<<
rische Entsprechung zu Benjamins eigener Rede vom die Funktion der to-deixis schrittweise übernehmen,
>>semiotischen Fundus der Sprache<< (vgl. II, LEHRE wobei die Sprache die Unterstützung der >>natürliche [n]
VOM ÄHNLICHEN, 208f. und ÜBER DAS MIMETISCHE Werkzeug[e] der demonstratio ad oculos<< niemals
VERMÖGEN, 213) gelten kann. >>Onomatopoetische ganz entbehren kann (vgl. 111, 469). Obwohl Bühler
Prägungen erklären keine einzige Sprache [... ].Sie fin- selbst die systematische Trennung von Zeige- und
den sich in einem durchgebildeten Idiom, wie Lampi- Nennwörtern unterstreicht und damit die Annahme
ons und Papierschlagen sich am Tage eines Volksfestes zurückweist, die Zeigewörter könnten >>als die Urwör-
im Laub eines Baumes finden können<< (zit. 111, 455). ter der Menschensprache schlechthin erscheinen<<
Es ist diese Verwobenheit, die der mimetischen Di- (470), hebt Benjamin im folgenden vor allem auf den
mension in BenjaminsAugen ihre sprachwissenschaft- entwicklungsgeschichtlichen Aspekt des Verhältnisses
liche Dignität verleiht. Wie in der eigenen Sprachtheo- von Deixis und Symbolfeld ab, den Bühler gegen Ende
rie, so ist auch im Sammelreferat das Bemühen zu seiner Abhandlung erläutert: >>Man kann sich im gro-
erkennen, mit dem Interesse an der mimetischen Seite ßen Entwicklungsgang der Menschensprache Einklas-
der Sprache, die semiologisch-repräsentative nicht aus sensysteme deiktischer Rufe als das erste vorstellen.
dem Blick zu verlieren, und das Philologische zugun- Dann aber kam einmal das Bedürfnis, Abwesendes
sten eines rein magisch-animistischen Welt- und einzubeziehen, und das hieß, die Äußerungen von der
Sprachbezugs nicht aufzugeben. In diesem Kontext ist Situationsgebundenheit zu befreien ... Die Enthebung
auch Benjamins Besprechung einer >>mathematischen einer sprachlichen Äußerung aus dem Zeigfeld der
Weltsprache<< sowie der logischen Syntax des Wiener demonstratio ad oculos beginnt<< und >>die Sprachzei-
Kreises zu verstehen. Zwar betont er deren Beschrän- chen [unterstehen] einerneuen Ordnung, sie erhalten
kung auf die >>Darstellungsfunktion<< der Sprache un- ihre Feldwerte im Symbolfeld<< (ebd.).
ter Ausschluß ihrer anderen Funktionen, gleichzeitig Indem Benjamin Bühlers Zweifeldtheorie in erster
gelten ihm diese Versuche jedoch als Beispiele einer Linie entwicklungsgeschichtlich versteht, kann er in
streng am Sprachlichen selbst orientierten Wissen- ihr eine sprachwissenschaftlich fundierte Ersetzung
schaft. Neben Carnap und einem Verweis aufHusserls des onomatopoetischen Sprachursprungs durch ein
>>reine Grammatik<< konzentriert sich Benjamin auch Modell sehen, bei dem die Zeigefunktion der Hand
hier vor allem auf Bühlers »Semantologie<<, die er als allmählich auf die Sprache übergeht, bis diese ihrer-
Versuch, die Sprachentwicklung von Erklärungsansät- seits im Zuge der >>Emanzipierung der sprachlichen
zen physikalischer, physiologischer oder psychologi- Darstellung von der jeweils gegebenen Sprechsitua-
scher Provenienz freizuhalten und auf linguistische tion<< (ebd.) die Ausdrucksfunktion in die Darstel-
Ausgangsdaten zurückzuführen, würdigt: >>Um diese lungsfunktion mit einfließen läßt. Damit ist nicht nur
Fakta aufzuweisen, konstruiert der Verfasser ein >Or- das >>papierschlangengleiche<< Bewahren des Onoma-
ganonmodell der Sprache<, mit dem er gegenüber dem topoetischen im Semiotischen gewährleistet, sondern
Individualismus und Psychologismus des vergangeneu gleichzeitig ein Zusammenschluß von Deixis und Mi-
Jahrhunderts die durch Platon und Aristoteles fun- mesis, der letztere nicht mehr auf lautmalerische
dierte objektive Sprachbetrachtung wieder aufnimmt<< Nachahmung reduziert.
(111, 468). Anders als bei Carnap geht diese Konzen- In der Linie dieser Argumentation verweist Benja-
tration auf die >>Axiome[], die ... aus dem Bestande der min gegen Ende seines Aufsatzes auf die Forschungen
erfolgreichen Sprachforschung ... durch Reduktion zu von Richard Paget und Marcel Jousse, nach deren
gewinnen sind<< (ebd.), bei Bühler nicht mit der Re- sprachpsychologischen überlegungendas phonetische
duktion der Sprache auf ihre formale Seite einher, Element der Sprache >>ein auf dem mimisch-gestischen
sondern verfolgt mit der Zweifeldtheorie jene Ver- fundiertes<< (477) ist. Sowohl für Paget als auch für
schränkung von Gestik und Symbolik, die für Benja- Jousse konzentriert sich der sprachliche Ausdruck
646 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

nicht auf den Laut. Vielmehr besteht dessen Aufgabe dem er deren Zug ins Magisch-Animistische wurzeln
zunächst darin, so Jousse, >>die Bedeutung einer be- sieht. >>Da hier alles in Bildbegriffen zum Ausdruck
stimmten mimischen Gebärde zu vervollkommnen. kommt, ... so muß der Wortschatz dieser >primitiven<
[... ]er ist lediglich Begleiterscheinung, akustische Un- Sprachen über einen Reichtum verfügen, von dem die
terstützung einer optischen, in sich verständlichen unsrigen uns nur noch einen sehr entfernten Begriff
Gebärdensprache. Allmählich trat zu jeder charakte- geben<< (III, 456f.). Sowohl Levy-Bruhl als auch Ernst
ristischen Gebärde ein ihr entsprechender Ton<<, der Cassirer sehen in diesem Zug zur Konzentration und
sich erst langsam von der Gebärde gelöst hat. Somit ist Konkretion das Hauptmerkmal der mythischen Be-
die phonetische Seite einer Sprache weniger Onoma- grifflichkeit. Erst durch sie werden die magisch-ani-
topoetik als >>akustische Transponierung alter sponta- mistischen Verweise jedes Dinges und jedes Zeichens
ner mimischer Ausdrucksbewegungen<< (ebd.). Mit auf ein ihm Entsprechendes möglich: >>kein Phäno-
dieser Verbindung von Gestik und Sprache ist für Ben- men, das nur ein Phänomen, kein Zeichen, das nur
jamin >>die Schwelle einer Sprachphysiognomik be- Zeichen sei: wie könnte ein Wort nichts als ein Wort
schritten, die weit über die primitiven Versuche der sein? Jede Gegenstandsform, jedes plastische Bild, jede
Onomatopoetiker hinausführt, ihrer Tragweite wie Zeichnung hat mystische Qualitäten: der sprachliche
ihrer wissenschaftlichen Dignität nach<< (478). Her- Ausdruck, der ein mündliches Zeichen ist, hat sie mit-
ausragendes Beispiel hierfür sind für ihn Heinz Wer- hin notwendig ebenfalls. Und diese Macht kommt
ners Grundfragen der Sprachphysiognomik und Rudolf nicht nur den Eigennamen zu, sondern allen Wörtern,
Leonhards Arbeit über Das Wort, das schon in der gleichviel von welcher Art sie sind<< (457). Anders als
LEHRE VOM ÄHNLICHEN als, wenn auch in seiner Sinn- Cassirer und Levy-Bruhl sieht Olivier Leroy in La rai-
lichkeit begrenzter Ausgangspunkt für die eigenen son primitive diese Konkretion der Sprache nicht als
Überlegungen genannt wurde. In der Erweiterung der Ausdruck einer primitiven Geisteshaltung, sondern
onomatopoetischen Sprachtheorie in Richtung auf ein unterstreicht die Angemessenheit der Sprachform im
Verständnis der Sprache als >>Form [... ] des Instinkts Kontext der jeweiligen sozioökonomischen Erforder-
mimetischer Ausdrucksbewegungen durch den Kör- nisse der Sprachgemeinschaften. >>Wenn der Lappe
per<< ( ebd.) sieht Benjamin Anschlüsse an seine eigene besondere Wörter hat, um ein-, zwei-, drei-, fünf-,
Theorie des mimetischen Vermögens, die ihrerseits auf sechs- und siebenjährige Rentiere zu bezeichnen [... ],
die Verwobenheit von semiotischer und mimetischer so ist dieser Reichtum nicht das Ergebnis einer beson-
Sprachfunktion besteht, die Verbindung von Gestik deren Absicht, sondern der vitalen Notwendigkeit ei-
und Mimesis jedoch im Begriff der unsinnlichen Ähn- nen Wortschatz zu schaffen, der den Erfordernissen
lichkeit noch über die hier besprochenen sprachphy- der arktischen Zivilisation entspricht<< (458). Zu diesen
siognomischen Versuche hinaustreibt. Erfordernissen zählen für Leroy auch die magischen
Sprachformen, die keineswegs voreilig als >>Symptome
prälogischen Verhaltens« (459) aufgefaßt werden dürf-
Sprachmagie und gesellschaftskritisches ten. Indem Leroy dem Wortreichtum eine gesellschaft-
Potential liche Funktion beimißt, löst er das Magisch-Animisti-
sche als dessen Produkt ebenfalls aus seiner Verklam-
Die Darstellung der unterschiedlichen Positionen im merung mit dem Primitivismus und öffnet es für
Sammelreferat ist geeignet, ein differenzierteres Licht Anschlußmöglichkeiten an die Moderne.
auf die in der Forschung bis heute schwelende Frage Benjamins Aufsatz vollzieht einen solchen Anschluß
nach dem Verhältnis von >magischen< und >marxisti- nicht explizit, legt ihn jedoch nahe, wenn er ausführ-
schen< Anteilen in Benjamins später Sprachtheorie zu lich auf die Ergebnisse der Wort-Sach-Forschung in
werfen, da hier sowohl die Frage nach der Sprachma- bezug auf die Entwicklung des Fachwortschatzes mo-
gie als auch die gesellschaftliche Relevanz der unter- derner Techniksprachen eingeht. Wie Studien von Leo
schiedlichen sprachsoziologischen überlegungen von Weisgerber, Max Lohss und anderen belegen, läßt sich
Benjamin in den Blick genommen und miteinander durch die Entwicklung der Produktionsmittel und die
verbunden werden. Veränderung der Produktionsformen nicht nur eine
Was die Sprachmagie betrifft, so ist auffällig, daß wachsende Verbreitung des Fachwortschatzes, sondern
Benjamin diejenigen Ansätze hervorhebt, die das ma- auch dessen stetiges Anwachsen feststellen. Ähnlich
gisch-animistische Moment aus seiner Verbindung mit wie bei der Sprache der >>Primitiven« läßt auch hier die
dem Primitivismus zu lösen suchen. Den Ausgangs- Tendenz zur Vereindeutigung und Normierung das
punkt bildet Levy-Bruhls Hervorhebung des Begriffs- Vokabular einzelner Wortfelder immer umfassender
reichtums der sogenannten primitiven Sprachen, in werden. >>Um 1900 nahm der Verband deutscher In-
Zur späteren Sprachphilosophie 647

genieure die Arbeit an einem umfassenden technolo- schichte außer Kraft zu setzen<< (462). Was Marr am
gischen Lexikon auf. In drei Jahren waren über drei- Beispiel der Entwicklung der indoeuropäischen Spra-
einhalb Millionen Wortzettel gesammelt. Aber<<, so chen aus den japhetischen in Abhängigkeit zur jeweils
Eugen Wüster, >>1907 berechnete der Vorstand, daß herrschenden Klasse zeigt, führt Benjamin zu dem
vierzig Jahre erforderlich seien, um bei derselben Be- Fazit, daß >>als das Wesentliche im Leben der Sprache
setzung der Schriftleitung das Manuskript des Tech- die Verbindung ihres Werdens mit bestimmten sozi-
niklexikons druckfertig zu machen<< (III, 465). alen, wirtschaftlichen Gruppierungen, die den Grup-
Die in der Wort-Sach-Forschung deutlich werdende pierungen von Ständen und Stämmen zugrunde liegen
Rolle der Entwicklung der Produktionsmittel für die [erscheint]<< (463). Der sich damit eröffnende Weg
Sprachentwicklung greift Benjamin an zwei weiteren einer soziologischen Untersuchung der Verbindung
Stellen seines Referates noch einmal auf. So untermau- von unterdrückten Bevölkerungsschichten und den
ert er die von Levy- Bruhl konstatierte Entwicklung der Spezifika ihrer Sprache sei von der Sprachwissenschaft
Gebärdensprache zur Lautsprache mit Niklaus Marrs bislang allerdings kaum beschritten worden. Lediglich
Hinweis auf deren Verbindung mit dem Arbeitsprozeß, die Studie von Alfredo Niceforo aus dem Jahr 1912
durch die er >>die phantastischen Elemente der Theorie über Legenie de l'argot weist für Benjamin in diese
von Levy-Bruhl durch konstruktive ersetzen will. Es Richtung, geht es diesem Text doch wesentlich um das
sei nämlich<<, so zitiert Benjamin Marr, »völlig undenk- revolutionäre Potential, das in der Umgangssprache
bar, daß die Hand, ehe Werkzeuge sie als Erzeugerin der unteren Schichten liegt. >>Die Umgangssprache des
materieller Güter ablösten, als Erzeugerin eines geisti- gemeinen Volks ist in gewissem Sinne ein Klassen-
gen Werts, der Sprache, ersetzt werden und daß damals merkmal, auf das die Gruppe, der es eignet, stolz ist;
schon eine artikulierte Lautsprache an die Stelle der sie ist gleichzeitig eine von den Waffen, mit deren Hilfe
Handsprache treten konnte<< (461). Eine solche Ent- das Volk, das unterdrückt ist, die Herrscherklasse an-
wicklung wird für Marr erst nach einer Veränderung greift, an deren Stelle es sich setzen will<< (463f.). Von
des Arbeitsprozesses in Form des >>Übergang[s] der zentralem Interesse für Benjamins eigene Sprachphi-
Menschheit zur produktiven Arbeit mit Hilfe künstlich losophie ist in diesem Zusammenhang Niceforos Be-
bearbeiteter Werkzeuge<< (462) möglich. schreibung der Umgangssprache als eine im Kern
Dieser äußere Übergang korrespondiert nach Ben- analoge: >>Methodisch ist ihr beherrschendes Kennzei-
jamin mit den tier- und entwicklungspsychologischen chen einerseits in der Verschiebung der Bilder und der
Ergebnissen im Bereich der Verbindung von Sprache Worte in der Richtung der materiellen Drastik zu su-
und Denken, wie sie Wolfgang Köhler und Bühler für chen, andrerseits in der Neigung, analegisehe Über-
die Schimpansensprache und LewS. Wygotski für die gänge von einer Idee zur anderen, von einem Wort
Sprachentwicklung vorgelegt haben. Da die, der Spra- zum anderen zu bahnen<< (464). Die Fähigkeit zur Bil-
che vorgängige Entwicklung von Werkzeugen nicht dung von Analogien und Ähnlichkeiten wird von Nice-
ohne Denken möglich sei, bilde sich ein vorsprachli- foro in seiner Funktion als Instrument des Klassen-
ches, nicht spezifisch humanes >>Werkzeugdenken<< kampfes untersucht, womit er genau die historisch-
(Bühler) aus. Benjamin sieht hier zwei Entwicklungs- materialistische Erklärung des Mimetischen liefert, die
koordinaten, eine >>Intelligenz- und eine gestische sowohl Levy-Bruhls Analyse der primitiven Sprache
(Hand- oder Laut- )Koordinate<<, in deren Schnitt- als auch Benjamins eigenen sprachphilosophischen
punkt der Sprachursprung anzusiedeln sei. Das onto- Überlegungen fehlt. Indem Niceforo gerade die Fähig-
genetische Korrelat dieser beiden Koordinaten findet keit zur Mimesis und zur Analogiebildung als Instru-
sich in der Trennung zwischen einer >>egozentrischen<<, ment des Klassenkampfes bestimmt, liefert er Benja-
nicht auf Mitteilung ausgerichteten, und einer >>sozia- min das Bindeglied zwischen seinen eigenen überle-
lisierten<< Sprache innerhalb der kindlichen Sprachent- gungen zur unsinnlichen Ähnlichkeit und der Frage
wicklung, wie sie Jean Piaget und Wygotski gleicher- nach der marxistischen Anschlußmöglichkeit seiner
maßen hervorheben. Sprachphilosophie.
Neben der Rolle, die die Produktionsformen für die
Entwicklung der Sprache des Einzelnen spielen, kon-
zentriert sich Benjamin in einem kurzen, aber zentra- nlehre vom Ähnlichen<<
len Abschnitt auf die Entwicklung von Volks- und und nÜber das mimetische Vermögen<<
Gruppensprachen. Mit Nikolaus J. Marr verfolgt er die
Möglichkeit, die klassische sprachwissenschaftliche Die LEHRE VOM ÄHNLICHEN und ÜBER DAS MIMETI-
Perspektive der Volkssprache >>zugunsten einer auf den SCHE VERMÖGEN entsprechen sich in ihrem Aufbau
Bewegungen der Klassen begründeten Sprachge- und ihrem Inhalt derart, daß sie im folgenden gemein-
648 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

sam behandelt werden können. Ausgehend von der Der gesamte Bereich der natürlichen Ähnlichkeiten,
natürlichen Fähigkeit des Menschen zur Wahrneh- auf den das Wechselgefüge von Mikrokosmos und
mung und Produktion von Ähnlichkeitsbeziehungen Makrokosmos abhebt, erhält nach Benjamin seine ei-
untersucht Benjamin die >>historische[] Entwicklung gentliche Tiefendimension jedoch erst in bezug auf
dieses mimetischen Vermögens<< (li, 205} als Transfor- den Menschen, dessen mimetische Kräfte mit den mi-
mation von unmittelbar magisch-animistischen Wahr- metischen Objekten korrespondieren.
nehmungsformen im Rahmen einer umfassenden Als Beispiel für dieses Korrespondenzverhältnis
kosmologischen Struktur des Analogen hin zur Erzeu- dient neben dem Tanz und der Gabe der Manik und
gung und Hervorbringung »unsinnlicher Ähnlichkeit<< des Haruspiziums vor allem die Astrologie. Entschei-
(207} in der Sprache. Trotz dieser entwicklungsge- dend bei der Bewertung der vormodernen Kunst der
schichtlichen Ausgangsthese verfolgt Benjamin die Sterndeutung ist das Ineinandergreifen von Raum-
Ausbildung des mimetischen Vermögens nicht histo- und Zeitkonstellationen in einem dynamischen Pro-
risch. Sein Interesse ist vielmehr ein sprachtheoreti- zeß, durch den die wechselvolle Anordnung der Ge-
sches, dem der vormoderne, prähistorische Zustand stirne augenblicks- und schicksalhaft mit den Charak-
als systematischer Bezugspunkt dient. Dafür zeugt terzügen des Menschen in Korrespondenz tritt. Die
nicht nur die vage Datierung, die sich in Begriffen und Sterne entfalten ihre Kraft nicht als jeweils einzelne,
Formulierungen wie »vormals<<, >>ehemals<<, >>entlegene sondern im Rahmen ihrer beweglichen Gesamtkon-
Vergangenheit<< und >>alte Völker<< niederschlägt, son- stellation. >>Der Gestirnstand stellt eine charakteristi-
dern auch die mangelnde Sorgfalt in der Ausarbeitung sehe Einheit dar und erst an ihrem Wirken im Gestirn-
der unterschiedlichen Entwicklungsschritte. Es geht stand werden die Charaktere der einzelnen Planeten
Benjamin nicht um den exakten Nachvollzug der von erkannt<< (li, 206}. Die Analogiebeziehung zum Men-
ihm konstatierten Transformierung des mimetischen schen besteht nun darin, daß er seinerseits seine Cha-
Vermögens von einer vormodernen Welt der Korre- rakteristik erst in der mimetischen Allverwandlung an
spondenzen und Ähnlichkeiten zur arbiträr-repräsen- dieses Geflecht erfährt, in dem jeder Punkt aus der
tativen >>Merkwelt des modernen Menschen<< (210f.), flüchtigen Positionierung zu allen anderen definiert
sondern um die Grundbezüge zwischen diesen beiden wird. >>Man muß, grundsätzlich, damit rechnen, daß
Polen im Transformationsprozeß des mimetischen Vorgänge am Himmel von früher Lebenden, und zwar
Vermögens ins Sprachliche. Im Mittelpunkt steht dabei sowohl durch Kollektiva als durch Einzelne, nachahm-
der Begriff der >>unsinnlichen Ähnlichkeit<<, der, anders bar waren: ja, daß diese Nachahmbarkeit die Anwei-
als herkömmliche onomatopoetische Sprachmodelle, sung enthielt, eine vorhandene Ähnlichkeit zu hand-
die Ähnlichkeitsstrukturen des Sprachlichen als Kor- haben. [... ] Wenn aber wirklich das mimetische Genie
respondenzstrukturell auszuweisen sucht, die nicht auf eine lebensbestimmende Kraft der Alten gewesen ist,
die arbiträr-verweisende Seite des sprachlichen Zei- dann ist es kaum anders möglich, als den Vollbesitz
chens verzichten. Statt die Ähnlichkeitsstruktur als dieser Gabe, insbesondere die vollendete Anbildung
Alternative zur repräsentativen Seite der Sprache aus- an die kosmische Seinsgestalt, dem Neugeborenen
zuweisen, verfolgt Benjamins späte Sprachphilosophie beizulegen.
eine Verbindung beider Elemente, die die >>Fundie- Der Augenblick der Geburt, der hier entscheiden
rung<< des mimetischen Momentes im Semiotischen soll, ist aber ein Nu. Das lenkt den Blick auf eine andere
betont. Das arbiträre Zeichen wird zum Träger der Eigentümlichkeit im Bereiche der Ähnlichkeit. Ihre
augenblickhaft aufscheinenden Ähnlichkeitsbezüge, Wahrnehmung ist in jedem Fall an ein Aufblitzen ge-
da >>[a]lles Mimetische der Sprache[ ... ] überhaupt nur bunden. Sie huscht vorbei, ist vielleicht wiederzuge-
an etwas Fremdem, eben dem Semiotischen, Mittei- winnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahr-
lenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung nehmungen festgehalten werden. Sie bietet sich dem
treten kann<< (208}. Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirn-
konstellation. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten
also scheint an ein Zeitmoment gebunden<< (206f.).
Vormoderne Korrespondenzen Es sind diese beiden Momente der beweglichen
und ihre Transformation in die Sprache Konstellation und des Augenblicks, die für Benjamins
Sprachtheorie entscheidend werden und es ihm erlau-
Den Ausgangspunkt der Überlegungen zu einem ben, in der Astrologie >>einen ersten Anhaltspunkt für
sprachphilosophischen Konzept der unsinnlichen das [... ],was unter dem Begriff einer unsinnlichen
Ähnlichkeit bilden vormoderne Ähnlichkeitsmodelle, Ähnlichkeit zu verstehen ist<< (211), zu sehen. Es han-
denen die Welt insgesamt als zeichenhaft erscheint. delt sich dabei, wie Benjamin schreibt, um einen
Zur späteren Sprachphilosophie 649

>>relative [n] << Begriff, »er besagt, daß wir in unserer die Ähnlichkeiten hervortreten können. Diese sind
Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es dabei immer wieder neu im Prozeß der Lektüre zu
einmal möglich machte, von einer Ähnlichkeit zu spre- erzeugen. Es geht nicht um einen vorgängig festgeleg-
chen, die bestehe zwischen einer Sternkonstellation ten Sinnzusammenhang, sondern um das, was »in den
und einem Menschen. Jedoch auch wir besitzen einen Lauten des Satzes« steckt, aus deren Konstellation
Kanon, nach dem die Unklarheit, die dem Begriff von Ȁhnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vor-
unsinnlicher Ähnlichkeit anhaftet, sich einer Klärung schein kommen kann« (ebd.).
näher bringen läßt. Und dieser Kanon ist die Sprache« Es handelt sich nicht um eine einfache Kippfigur
(207). Die unsinnliche Ähnlichkeit markiert also das zwischen magischer und semiotischer Zeichenlektüre.
Ende vormoderner Analogiekonzepte als Übergang in Vielmehr eignet diesem Zeichenmodell der Korre-
die Sprache, deren zentrale Merkmale sich ihrerseits spondenzen eine nicht stillzustellende Dynamik, die
in Korrespondenz zur Astrologie strukturieren. In die- alle ihre Elemente immer wieder wechselseitig aufein-
sem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der ander verweisen läßt. Indem Benjamins Sprachtheorie
Begriff des Kanons nicht nur einen verbindlichen Leit- die starren Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Sprache
faden einer Textsammlung meint, sondern auch als und Dingen zugunsten einer beweglichen Konstella-
Lehre von den richtigen Proportionen und als Anord- tion aller Sprachelemente aufgibt, geht sie deutlich
nung für die Bewegung der Himmelskörper verwendet über onomatopoetische Ansätze hinaus. Diese dienen
wird. Die Sprache ist für Benjamin nicht nur das Richt- ihm, wie der Verweis auf Rudolf Leonhards Studie Das
maß, an dem sich die Frage nach dem mimetischen Wort bezeugt, lediglich zur Ausgangsfeststellung, daß
Vermögen in der Moderne auszurichten hat, sie ist für »die Sprache [... ] nicht ein verabredetes System von
ihn mit eben den Fähigkeiten ausgestattet, die vormals Zeichen ist« (207), sondern das Mimetische entschei-
den Sternen zukamen: Konstellationskraft und Augen- denden Anteil an ihr hat. Ein Mimetisches, das jedoch
blicklichkeit. nach Benjamin nichts mehr mit einfacher Lautmalerei
zu tun hat, sondern sich als unsinnliche Ähnlichkeit
wie folgt generiert: »Ordnet man Wörter der verschie-
Unsinnliche Ähnlichkeit zwischen Magie denen Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes
und Semiotik Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so wäre zu erforschen,
wie sie alle - die miteinander oft nicht die geringste
Zwar betont Benjamin sowohl für das Geschriebene Ähnlichkeit besitzen - ähnlich jenem Bedeuteten in
wie das Gesprochene, daß beides nicht aufgehe in ei- ihrer Mitte sind<< (ebd.).
nem arbiträren Zeichensystem mit eindeutigen Refe- Mit dieser Anordnung knüpft Benjamin direkt an
renzen, sondern untereinander sowie in bezug auf das seine Überlegungen in der AuFGABE DES ÜBERSETZERS
Bedeutete eine Vielzahl von Korrespondenzen und an. Auch in diesem Essay geht es nicht um den Aufweis
unsinnlichen Ähnlichkeiten stiftet, die die semiotische sinnlicher Ähnlichkeiten zwischen Wort und Bedeu-
Funktion der Sprache übersteigen, gleichzeitig hebt er tung, so als ließe sich über den Vergleich zwischen
jedoch auch hervor, daß diese magische Seite der Spra- Signifikat und Signifikant und über den Vergleich der
che nicht loszulösen ist von ihrer arbiträr verweisen- Signifikanten miteinander eine Ähnlichkeit zu den
den. Beide Texte betonen ausdrücklich, daß die mime- Dingen selbst feststellen. Ähnlichkeit in diesem Sinne
tische Seite der Sprache »nicht beziehungslos neben ist überhaupt nichts, was »notwendig bei Verwandt-
der anderen, der semiotischen einher [läuft]. Alles Mi- schaft sich einfinden muß. [... ] Vielmehr beruht alle
metische der Sprache kann vielmehr, der Flamme überhistorische Verwandtschaft der Sprachen darin,
ähnlich, nur an einer Art von Träger in Erscheinung daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar
treten. Dieser Träger ist das Semiotische« (II, 213). Wie dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von
im »Vexierbild« (208 f.) versteckt sich die magische ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergän-
Dimension in der Wortbedeutung als ihrem anderen. zenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache«
Der »buchstäbliche Text der Schrift« ist »der Fundus, (IV, 13 ). Dieses wechselseitige Ergänzungsverhältnis
in dem einzig und allein sich das Vexierbild formen kann ebensowenig in seiner Totalität als solches zur
kann« (208 f.). Eine Lektüre, die die Erfahrung der Darstellung gebracht werden, wie einzelne Verwandt-
magischen Seite der Sprache machen will, bleibt an- schaftsbeziehungenzwischen den Worten verschiede-
gewiesen auf den hermeneutischen Verstehensprozeß, ner Sprachen als stabil herausgegriffen werden kön-
denn der Sinnzusammenhang bildet ein »Archiv« nen.
(209), ein über die Jahrhunderte mit verborgenen Kor- Indem nach Benjamin die Worte verschiedener
respondenzen angereichertes Textgedächtnis, aus dem Sprachen in bezug auf ihr jeweils Gemeintes zwar
650 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

identisch sein können, sich in ihrer Art des Meinens sind, sondern nur momenthaft und flüchtig sichtbar
jedoch ausschließen, läßt sich das Ergänzungsverhält- werden, um gleich darauf wieder in der Kette der Be-
nis einzig als eines denken, das immer nur aus der sich deutungen zu verschwinden. Ähnliches erscheint im-
stetig wandelnden Konstellation der Worte zueinander mer nur blitzartig, so daß die magische Seite der Spra-
und in bezug auf ihre Gesamtkonstellation entsteht. che in der Lektüre nicht festgehalten und in Besitz
>>Während dergestalt die Art des Meinens in diesen genommen werden kann, ihre Zeitform ist der Augen-
beiden Wörtern [>Brot< und >Pain<, d. Verf.] einander blick, der plötzlich aufscheint und eine andere Erfah-
widerstrebt, ergänzt sie sich in den beiden Sprachen, rungswelt öffnet, die nicht dauerhaft anzueignen ist.
denen sie entstammen. Und zwar ergänzt sich in ihnen Ähnliches erscheint >>blitzartig«, >>mit einem Nu« (II,
die Art des Meinens zum Gemeinten. Bei den einzel- 209) und >>[i]hre Wahrnehmung ist in jedem Fall an
nen, den unergänzten Sprachen nämlich ist ihr Ge- ein Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei, ist viel-
meintes niemals in relativer Selbständigkeit anzutref- leicht wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich
fen, wie bei den einzelnen Wörtern oder Sätzen, son- wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden«
dern vielmehr in stetem Wandel begriffen, bis es aus (206).
der Harmonieall jener Arten des Meinens als die reine
Sprache herauszutreten vermag« (IV, 14). Jede Über-
setzung kann immer nur in Richtung auf diese reine Ähnlichkeiten in der Sprache der Dinge
Sprache weisen, ohne sie selbst als >>Verhältnis aller und Menschen
Verhältnisse« zur Darstellung zu bringen.
Ähnlichkeiten im Sprachlichen sind für Benjamin Möglich wird die Verschiebung der Ähnlichkeitsstruk-
nicht als feste Konstanten zu verstehen, sondern ent- turen in den Bereich des Sprachlichen vor dem Hin-
stehen erst im Differenzverhältnis zwischen den Wor- tergrund der Zeichenhaftigkeit der Dingwelt, durch
ten und deren Konstellationen. Das Vexierbild der die das Lesen zur gemeinsamen Voraussetzung natür-
Sprache, das die unsinnlichen Ähnlichkeiten moment- licher und sprachlicher Welterschließung wird. >>Was
haft in der Kette der Bedeutungen aufscheinen läßt, nie geschrieben wurde, lesen«, zitiert Benjamin Hof-
wird erzeugt durch eine bewegliche Konstellation mannsthai und unterstreicht: >>Dies Lesen ist das älte-
dreier Elemente. Es geht Benjamin nicht darum, die ste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden,
arbiträre Zeichenbeziehung durch das Auffinden sinn- den Sternen oder Tänzen. Später kamen Vermittlungs-
licher Bezüge zwischen Signifikat und Signifikant zu glieder eines neuen Lesens, Runen und Hieroglyphen
unterlaufen. Eine solche onomatopoetische oder ein- in Gebrauch. Die Annahme liegt nahe, daß dies die
fach magisch-animistische Sprachauffassung verfehlt Stationen wurden, über welche jene mimetische Bega-
den - leeren - Kern seiner Sprachphilosophie, der es bung, die einst das Fundament der okkulten Praxis
um die Beschreibung einer sich immer wieder neu gewesen ist, in Schrift und Sprache ihren Eingang
konstellierenden Beziehung zwischen den verschiede- fand« (II, 213).
nen Worten untereinander und in bezug auf ihre Be- Auf die Einbindung der Sprache als Zeichensystem
deutung geht. Es geht weder um das Auffinden gehei- in eine kosmologische Struktur von Zeichen im Rah-
mer Ähnlichkeiten zwischen Form und Inhalt des men einer allgemeinen Wahrnehmungstheorie hat
Zeichens, noch zwischen dem Zeichen und dem Ding, Benjamin schon in seinen frühen Notizen zu Wahr-
sondern um eine Ähnlichkeitsbeziehung, die sich erst nehmung und zum Lesen hingewiesen (VI, 32-38).
in der Differenz zwischen den Zeichen in bezug auf Scholem sieht in diesen frühen Fragmenten die >>Keim-
ein nicht vorgängig gegebenes, sondern erst zu erzeu- zelle« für die späte Sprachphilosophie: >>Schon damals
gendes Drittes herstellt. Die Bedeutungsproduktion beschäftigen ihn Gedanken über die Wahrnehmung
im Sinne der unsinnlichen Ähnlichkeiten kann niemals als ein Lesen von Konfigurationen der Fläche, als die
zum Abschluß und zum Stillstand kommen, sondern der urzeitliehe Mensch die Welt um sich und besonders
stellt sich in jedem Akt der Lektüre und des Schreibens den Himmel aufnahm. [... ] Die Entstehung der Ster-
immer wieder neu und anders her. Jede Ähnlichkeit nenbilder als Konfiguration auf der Himmelsfläche,
ergibt sich immer nur im Blick auf die ganze, ihrerseits behauptete er, sei der Beginn des Lesens, der Schrift,
undarsteilbare Konstellation, so daß eine einzelne die mit der Ausbildung des mystischen Weltalters zu-
Ähnlichkeit zwischen Worten oder Texten niemals aus sammenfalle« (Scholem 1975, 80). Gleichzeitig führt
der Substanz dieser Texte oder Worte gewonnen wer- eine solche allgemeine Semiotik im weitesten Sinne
den könnte. auch zurück auf den Aufsatz ÜBER SPRACHE ÜBER-
Wie für die Sternkonstellation gilt auch für die HAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES MENSCHEN, der
sprachliche, daß solche Ähnlichkeiten nicht von Dauer ebenfalls von der Prämisse ausgeht, daß es >>kein Ge-
Zur späteren Sprachphilosophie 651

schehen oder Ding [gibt,] weder in der belebten noch chencharakter des Wortes auf[blitzt]<< (796). Was sich
in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise im Aufblitzen des Mimetischen am repräsentativen
an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, Zeichen zeigt, ist nicht die Sprache des Göttlichen
seinen geistigen Inhalt mitzuteilen<< (II, 140 f.). Nun selbst, sondern die Erinnerung an deren Verlust.
ist diese Teilhabe der Dinge am Sprachlichen in Ben- Die Entstehung der LEHRE VOM ÄHNLICHEN im
jamins früher Sprachtheorie eine stumme, der erst das Rahmen der Ausarbeitung der BERLINER KINDHEIT
erkennende Benennen des Menschen zur Transforma- erhält an diesem Punkt ihre theoretische Relevanz: was
tion ins Lautliche verhilft. In der reinen Sprache ist das in der unsinnlichen Ähnlichkeit aufblitzt ist die Erin-
Benennen der Dinge keine Ermächtigung, sondern ein nerung an eine verlorene vorgängige Ähnlichkeitsbe-
Empfangen der >>Mitteilung der Materie in [... ] ziehung, deren Entzug sich nur in den blitzartigen
magische[r] Gemeinschaft<< (VII, 795), die den Dingen Konstellationen der verschiedenen Sprachmomente
eignet. Und noch die Vielheit der Sprachen nach dem zeigt, womit die Philologie, die Benjamin in der LEHRE
Sündenfall verweisen in ihrer Unvollkommenheit auf voM ÄHNLICHEN den mystischen und theologischen
diesen vormaligen Mitteilungsstrom zwischen Namen Momenten seiner Sprachtheorie zur Seite stellt, nicht
und Ding. nur deren Begleiter, sondern deren Bedingung wird.
Ein Blick auf die Notizen, die Benjamin beim Ver- Der vieldiskutierte Schlußsatz aus ÜBER DAS MIME TI-
gleich der frühen mit der späten Sprachtheorie vorge- scHE VERMÖGEN, daß die Sprache als >>höchste Stufe
nommen hat, zeigt, daß der Begriff der Ähnlichkeit des mimetischen Verhaltens<<, ein >>Medium<< sei, >>in
jetzt in zweifacher Weise zum Schlüsselbegriff inner- welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer
halb dieses Korrespondenzverhältnisses von Men- Hervorbringung und Auffassung hineingewandert
schen- und Dingsprache wird. Zum einen >>[erfolgt] sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liqui-
[d]ie Mitteilung der Materie in ihrer magischen Ge- dieren<< (II, 213) signalisiert in diesem Kontext jenseits
meinschaft [... ] durch Ähnlichkeit<< (ebd.), das heißt der Frage nach Messianismus und historischem Ma-
die stumme Sprache der Dinge ist eine der Analogien, terialismus zunächst die Warnung, das Mimetische
zum anderen korrespondiert die Art und Weise dieser gänzlich an das Kultische zurückzubinden und damit
Ähnlichkeiten mit den Ähnlichkeitsbeziehungen in der das für Benjamins Sprachphilosophie konstitutive Ver-
Lautsprache des Menschen: >>Dem flüchtigen Aufblit- hältnis von Repräsentation und Mimesis zugunsten
zen dieser Ähnlichkeit im Gegenstand entspricht die des Mimetischen aufzulösen.
flüchtige Existenz der gleichen Ähnlichkeit im Laute<<
(ebd.). Verklammert werden beide Elemente über eine
>>Urform des Lesens«, der die >>Runen als Übergangs- Rezeption
form zwischen Wipfeln, Wolken, Eingeweiden auf der
einen und Buchstaben auf der anderen Seite<< (796) Vorgeprägt durch die Einschätzung Scholems, daß in
sind. beiden Fragmenten eine »unverkennbare[] Spannung<<
Dabei wird eine Verbindung von mystischen und zwischen einer >>materialistischen Sprachansicht<< und
semiotischen Elementen deutlich, die sich als Erläute- einer »unter theologisch-mystischer Inspiration ste-
rung zu Benjamins Hinweis aus der LEHRE voM ÄHN- henden Sprachbetrachtung<< (Scholem 1975, 259) zum
LICHEN lesen lassen, die Wirkungsweise der unsinnli- Ausdruck kommt, stand die Diskussion um die LEHRE
chen Ähnlichkeit sei >>natürlich mystischen oder theo- VOM ÄHNLICHEN undÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖ-
logischen Sprachtheorien engstens verwandt, ohne GEN lange Zeit im Zeichen der allgemeinen Debatte
darum jedoch empirischer Philologie fremd zu sein<< um Benjamins Situierung innerhalb des Spannungs-
(II, 207 f.). Denn das >>Aufblitzen der Ähnlichkeit<< hat feldes von Messianismus und historischem Materia-
für Benjamin >>geschichtlich den Charakter einer Ana- lismus (vgl. in diesem Sinne auch den Kommentar der
mnesis, die einer verlornen Ähnlichkeit, die frei von GS, II, 950 ff.). In bezug auf die messianischen Ele-
der Verflüchtigungstendenz war, sich bemächtigt. Diese mente wurden dabei die Trennungslinie entweder
verlorene Ähnlichkeit, die in der Zeit Bestand hat, zwischen der frühen und der späten Sprachtheorie,
herrscht im adamitischen Sprachgeist. Der Gesang hält oder zwischen der ersten und der zweiten Fassung ge-
das Abbild einer solchen Vergangenheit fest<< (VII, 79 5), zogen, enthält letztere doch jenes umstrittene Schluß-
ein Abbild, das freilich angesichts der oben gezeigten wort von der >>Liquidation der Magie<<, an dem sich
augenblickhaften Konstellierung aller möglichen die Diskussion immer wieder aufgehängt hat. Schon
sprachlichen Elemente niemals mehr ein festes, dauer- Habermas sieht in seinem frühen Aufsatz über Be-
haftes sein kann, sondern als unsinnlich ähnliches wußtmachende oder rettende Kritik den >>profanen In-
>>stets an einem heterogenen Substrat, nämlich am Zei- halt der messianischen Verheißung<< darin, die sich im
652 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Magischen bezeugende Abhängigkeit von den Gewal- humanspezifischen Eigenschaften der Sprache interes-
ten der Natur »ZU liquidieren, ohne daß die Kräfte der sieren Benjamin, sondern die Funktion, die sie mit den
Mimesis und die Ströme der semantischen Energien Tiersprachen verbindet: die expressive<< (Habermas
versiegen<< (Habermas 1972, 205), und Krista Greffrath 1972, 203; das Expressive betont auch Schwarz 1984,
nennt sie das >>profane Erbe der Namens- und Über- 43-78). Dagegen setzt Tilman Lang ein semiologisches
setzungstheorie<< (Greffrath 1981, 125). Winfried Men- Mimesis-Konzept, »das Mimesis als Weltzugang auf
ninghaus konstatiert neutraler: »Diese neue Sprach- der Basis des Vermögens zur Lektüre, Verzeichnung
theorie ist zu einem großen Teil die in ein anderes und Supplementierung einer (unbekannten) Ordnung
begriffliches Medium >übersetzte< alte<< (Menninghaus der Dinge [... ] exponiert<< (Lang 1998, 13).
1980, 60), wohingegen Michael Bröcker den Neuansatz Interessanterweise stützt Habermas seine These mit
der späten Sprachphilosophie in Richtung auf eine der von Benjamin in den PROBLEMEN DER SPRACHSO-
Theorie der Erinnerung betont, die Wendung ins ZIOLOGIE dargelegten Lektüre Bühlers, wobei ihm die
»Marxistische<< aber beibehält (vgl. Bröcker 1999, dort vorgenommene Verschiebung von der Expression,
272-281 und 2000, 770). d. h. vom Ausdruck im Sinne Bühlers auf den Appell,
Inhaltliches Zentrum der Forschungsdiskussion also die deiktische Funktion der Sprache entgeht. Ha-
bildet das umstrittene Konzept der »unsinnlichen bermas' Bezugnahme auf die PROBLEME DER
Ähnlichkeit<<. Menninghaus sieht die Tragweite des SPRACHSOZIOLOGIE kann als symptomatisch für den
Konzeptes nur dort gesichert, wo die mimetische Ähn- Umgang mit diesem Text gelten. Anders als die sprach-
lichkeit nicht auf einzelne Wörter und deren Bedeu- theoretischen Schriften selbst wurde der Text als Auf-
tungsgehalte beschränkt bleibt, sondern als »das for- tragsarbeit mit referierendem Charakter von der For-
mative, die Struktur der Rede wie die Syntax der Sätze schung bislang lediglich am Rande thematisiert. Zwar
und den >Ton< der Worte prägende Prinzip eines Spre- wurde Benjamins Versuch, die sprachwissenschaftli-
chens<< (Menninghaus 1980, 70) verstanden wird. Die chen überlegungen der Zeit mit seiner eigenen Theo-
Verbindung der späten Sprachphilosophie mit der rie zu verbinden, verschiedentlich wie etwa bei Men-
BERLINER KINDHEIT Jegt jedoch nah, daß Benjamin ninghaus und Lang hervorgehoben (Menninghaus
durchaus auch einzelne Buchstaben und Syntagmen 1980, Lang 1998), eine eigene Aussagekraft sprechen
im Auge gehabt haben könnte. Allerdings weniger in ihm jedoch lediglich Ullrich Schwarz in einem kurzen
dem von Menninghaus bei Gagnebin kritisierten Sinne Oberblicksartikel (Schwarz 1984, 43-77) sowie Günter
einer »sinnlich, subjektiv-assoziativen Ähnlichkeit<< Kar! Pressier zu. Dessen Monographie ist die einzige
(Menninghaus 1980,243 f.; vgl. Gagnebin 1978, 106). bislang erschienene eigenständige Würdigung des
Die in der BERLINER KINDHEIT und in der LEHRE VOM Sammelreferats.
ÄHNLICHEN aufgeführten Beispiele einzelner Wortent-
stellungen und Bedeutungsverschiebungen dienen Werk
nicht der Festschreibung einer eindeutigen sinnlichen PROBLEME DER SPRACHSOZIOLOGIE. EIN SAMMELREFERAT (III,

Ähnlichkeit als fester Form einer »anderen Welterfah- 452-480)


LEHRE VOM ÄHNLICHEN (li, 204-210)
rung<< im Gegensatz zur begrifflichen Auslegung, son- ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN (li, 210-213)
dern sind Benjamin Beispiele für die Praxis des Ver- Anja und Georg Mendelsohn, Der Mensch in der Handschrift
schiebens und Verstellens, die das Verhältnis von in- (III, 135-139)
ANTITHETISCHES ÜBER WORT UND NAME (VII, 795)
strumenteller Begriftlichkeit und unsinnlicher
DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS (IV, 9-21)
Ähnlichkeit bestimmt. In diesem Sinne verfolgt Wer- DER BAUM UND DIE SPRACHE, in: DENKBILDER (IV, 425)
ner Hamacher an einzelnen Syntagmen der BERLINER Fragmente zur Ästhetik aus der Zeit zwischen 1914 und 1921
KINDHEIT die für eine Sprache der unsinnlichen Ähn- (VI, 109-129)
MosKAUER TAGEBUCH (VI, 292-409)
lichkeit konstitutiven Momente der Entstellung (Ha-
Notizen zur Malerei (II, 602-607 und 1414f.)
macher 1986, 133-162 ), wohingegen Michael Bröcker Rez. zu Richard Hönigswald: Philosophie und Sprache (III,
die Ähnlichkeit als vorsubjektive Einheitserfahrung 564-569)
von Welt und Ich faßt, der sich die Erinnerung reflexiv ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE SPRACHE DES
MENSCHEN (II, 140-157)
anzunähern sucht (Bröcker 1999, 272-281). ZuR AsTROLOGIE (VI, 192-194)
Ein weiterer Forschungsstrang liest die sprachphilo- Bühler, Kar! ( 1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion
sophischen Texte als eine Theorie der Expression, die der Sprache, Jena.
das Spannungsfeld von Ähnlichkeit und Semiotik zu- Callet, Charles (1926): Le mystere du Iangage, Paris.
Lefevre, Frederic/Marcel )ousse (1927): »Une novelle psycho-
gunsten einer am Ausdruck orientierten Mimesis auf- logie du Iangage«, in: Les cahiers d'Occident, Bd. l, 10,
zulösen sucht. So sieht Habermas den mimetischen Paris.
Gehalt der Sprache in ihrer Expressivität: »Nicht die Leonhard, Rudolf (1932): Das Wort, Berlin.
653

Leroy, Olivier (1927): La raison primitive. Essai de n!futation


de Ia theorie du prelogisme, Paris.
»Berliner Kindheit
Levy-Bruhl, Lucien (1918): Les fonctions mentales dans les um neunzehnhundert<<
societes inferieures, Paris.
Marr, Niklaus ( 1926): >>Über die Entstehung der Sprache<<, in: Von Anja Lemke
Unter dem Banner des Marxismus 1.
Nicefero, Alfredo (1912): Legenie de l'argot. Essai sur les
langages speciaux, Ies argots et Ies parlers magiques, Pa- Mit der BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT
ris. verfaßt Benjamin einen literarischen Text, der auto-
Paget, Richard (1933): »L'evolution du Iangage<<, in: H. De- biographische, poetologische und gesellschaftskriti-
lacroix u. a. (Hg.): Psychologie du Iangage, Paris. sche Züge miteinander verbindet. Geplant als Zyklus
Valery, Paul ( 1923): L' äme et Ia danse, Paris.
Werner, Heinz (1932): Grundfragen der Sprachphysiogno- von 30 Stücken werden miteinander nicht chronolo-
mik, Leipzig. gisch verbundene, kurze Erinnerungsepisoden aus der
Wüster, Eugen ( 1931 ): Internationale Sprachnormung in der eigenen Kindheit dargestellt, die sich jeweils auf einen
Technik, besonders in der Elektrotechnik, Berlin. Schauplatz oder eine konkrete Begebenheit konzen-
trieren. Statt der in der Autobiographie üblichen Nar-
Literatur ration entlang der Stationen des Lebenslaufs bilden
Bröcker, Michael (1999): »Benjamins Versuch >Über das mi- Orte und Gegenstände die zentralen Strukturmerk-
metische Vermögen<<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm male des Textes. Der Raum tritt an die Stelle zeitlicher
(Hg.): global benjamin, Bd. 1, München, 272-281.
Bröcker, Michael (2000): »Sprache<<, in: Michael Opitz/Erd-
Erstreckung und fungiert gleichsam als Schwelle zwi-
mut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, Frankfurt schen den individuellen Erinnerungen und deren so-
a.M., 740-773. ziokulturellen Prägungen.
Gagnebin, Jeanne-Marie (1978): Zur Geschichtsphilosophie Damit verschiebt Benjamin den Fokus gegenüber
Walter Benjamins, Erlangen.
Greffrath, Krista R. (1981): Metaphorischer Materialismus.
herkömmlichen Autobiographien gleich doppelt. Zum
Untersuchungen zum GeschichtsbegriffWalter Benjamins, einen steht bei ihm nicht die Darstellung des eigenen
München. Lebens im Mittelpunkt, sondern das, was an ihm die
Habermas, Jürgen (1972): »Bewußtmachende oder rettende Umbruchsituation der Jahrhundertschwelle sichtbar
Kritik- die Aktualität Walter Benjamins<<, in: Siegried Un-
seld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des macht. Gleichzeitig hat diese Verschränkung von Kol-
80. Geburtstags von Walter Benjamin, Frankfurt a.M., lektiv- und Individualgeschichte nicht nur gesell-
173-223. schaftstheoretische Relevanz, sondern interessiert
Harnach er, Werner ( 1986): »The word Wolke - If it is one«, Benjamin als erinnerungspoetisches Phänomen, »wo
in: Studies in Twentieth Century Literature. Special issue
on Walter Benjamin, Vol.l1, Nr.1, 133-162. [... ] im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen
Jäger, Lorenz (1992): »>Primat des Gestus<. Überlegungen zu Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunk-
Benjamins >Kafka<-Essay<<, in: Lorenz Jäger/Tbomas Re- tion (treten]<< (ÜBER EINIGE MOTIVE BEI BAUDELAIRE,
gehly (Hg.): »Was nie geschrieben wurde, lesen<<. Frank- I, 611). Die Erinnerungsbilder der eigenen Kindheit
furter Benjamin-Vorträge, Bielefeld, 96--111.
Lang, Tilman (1998): Mimetisches oder semiologisches Ver- zielen nicht nur allgemein auf eine »Berliner Kindheit
mögen? Studien zu Walter Benjamins Begriff der Mimesis, um neunzehnhundert<<, sondern sind als Erinnerungs-
Göttingen. bilder gleichzeitig Bilder des Erinnerns, so daß ihre
Lindner, Burkhardt (1992): »Benjamins Aurakonzeption: formale Ausgestaltung gegenüber den konkreten Er-
Anthropologie und Technik, Bild und Text<<, in: Uwe Stei-
ner (Hg.): Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburts- innerungsinhalten in den Vordergrund rückt. In die-
tag, Bern/Berlin, 217-249. sem Sinne ist die Konzentration auf den Aspekt des
Maas, Utz ( 1999 ): »Sprachwissenschaftliches im Werk Walter Räumlichen und die Isolierung der einzelnen Erinne-
Benjamins<<, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global
rungssequenzen nicht nur als atemporäres Ordnungs-
benjamin, Bd. 1, München, 282-297.
Menninghaus, Winfried (1980): Walter Benjamins Theorie schema für die Erlebnisse aus der Kindheit zu verste-
der Sprachmagie, Frankfurt a. M. hen, sondern auch als poetologischer Hinweis auf die
Pressier, Günter Karl ( 1992 ): Vom mimetischen Ursprung der sprachliche Gestalt des Erinnerns selbst.
Sprache. Walter Benjamins Sammelreferat »Probleme der
Sprachsoziologie<< im Kontext seiner Sprachtheorie, Frank-
furt a.M.
Scholem, Gershorn (1975): Walter Benjamin- Geschichte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte
einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
Schwarz, UHrich (1984): »Walter Benjamin: Mimesis und
Erfahrung<<, in: Joseph Speck (Hg.): Grundprobleme der
Die Entstehungsgeschichte der BERLINER KINDHEIT
großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart VI, Göt- UM NEUNZEHNHUNDERT macht deutlich, warum der
tingen, 43-78. Autor diese Sammlung kleiner Prosastücke zu seinen
>>Zerschlagenen Büchern<< zählt (5, 189). Kein anderer
Text spiegelt in seinem Entstehungsprozeß die Ge-
654 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

schichte der Verfolgung, Exilierung und Heimatlosig- Herbst 1931 war die Literarische Welt an Benjamin mit
keit seines Autors so direkt wie diese Sammlung. Was der Bitte herangetreten, in loser Abfolge eine Reihe von
1931 als Auftragsarbeit begann- s. u. BERLINER CHRO- subjektiv eingefärbten Geschichten über seine Heimat-
NIK -,wurde zu einem auf den verschiedenen Statio- stadt Berlin zu verfassen. Zwar kam es nicht zum ge-
nen des Exils mehrfach umgearbeiteten Konvolut von planten vierteljährlichen Abdruck der kurzen Erzäh-
einzelnen Erinnerungstexten, das trotz Benjamins in- lungen, doch mit ihnen war der Grundstein für Ben-
tensiven Bemühungen zu seinen Lebzeiten nicht mehr jamins anhaltende Auseinandersetzung mit der
in Buchform erschien. In Deutschland sind zwischen literarischen Darstellung der eigenen Kindheitserin-
Dezember 1932 und August 1934 lediglich einzelne nerungen gelegt.
Stücke in der Frankfurter und der Vossischen Zeitung Die als BERLINER CHRONIK betitelten fragmentari-
abgedruckt worden, ab August 1933 nur noch anonym schen Aufzeichnungen stellen in zweifacher Hinsicht
oder unter den Pseudonymen DetlefHolz und C. Con- die >>Keimzelle<< (Scholem) für die BERLINER KINDHEIT
rad. 1938 erscheinen sieben Stücke in der Exilzeit- dar. Zum einen enthalten sie bereits eine Reihe kleiner
schrift Maß und Wert (vgl. IV, 968). Erinnerungstexte aus Benjamins früher Kindheit in
Die von Benjamin schon im Februar 1933 progno- Berlin, von denen etwa zwei Fünftel umgearbeitet in
stizierte >>verschwindende Aussicht« auf eine Veröf- die BERLINER KINDHEIT aufgenommen wurden. Ne-
fentlichung der BERLINER KINDHEIT als Gesamttext ben dem Motto >>0 braungebackene Siegessäule/ Mit
- >>Jedermann sieht, daß sie so vortrefflich ist, daß die Kinderzucker aus den Wintertagen<<, das auf die
Unsterblichkeit sie auch als Manuscript zu sich berufen Rauscherfahrungen aus der Zeit von 1928-1931 zu-
wird. Man druckt Bücher, die es nötiger haben<< (Brief rückgeht (vgl. PROTOKOLLE ZU DROGENVERSUCHEN,
an Schotern vom 28.02.1933, 4, 162)- bestätigte sich 618), finden sich in ihnen zahlreiche Entwürfe zu Tex-
auch im Exil. Erst 1950 hat Theodor W. Adorno die ten, die unter anderem Titel in verändertem Kontext
Sammlung erstmals als Buch veröffentlicht, wobei so- in der BERLINER KINDHEIT wiederbegegnen. Anders
wohl die Anzahl als auch die Reihenfolge der Stücke als diese beschränkt sich der Betrachtungszeitraum der
vom Herausgeber auf der Basis einiger bereits veröf- CHRONIK jedoch noch nicht auf die früheste Kindheit,
fentlichter Einzeltexte und eines ihm von Benjamin sondern umfaßt auch Jugendepisoden und Erinnerun-
überlassenen losen Blattmanuskriptes besorgt wurde. gen an die Studienzeit, wobei sowohl die eigene poli-
Auch der rezeptionsgeschichtlich einflußreichen er- tischeüberzeugungals auch die konkreten Lebensum-
weiterten Fassung für die Gesamtausgabe von 1972 stände im Umfeld von Familie und Freunden mit zur
(vgl. IV, 235-304) liegt keine komplette, von Benjamin Sprache kommen. Derart konkrete Bezüge, wie etwa
autorisierte Manuskript- oder Typoskriptfassung zu- die Erinnerung an den Jugendfreund Fritz Heinle, die
grunde. Mit der Veröffentlichung der 1981 in der Pa- Beschreibung der politischen Aktivitäten in der Stu-
riser Nationalbibliothek aufgefundenen Typoskript- dienzeit oder die Erzählung der >>vier Ringe<<, durch
fassung HANDEXEMPLAR KOMPLETT im Nachtragsband die die Freunde und Freundinnen miteinander ver-
der Gesamtausgabe (VII, 385-433) sowie der 2000 bunden waren, werden in der BERLINER KINDHEIT
gesondert publizierten sogenannten >>Gießener Fas- sämtlich ausgelassen.
sung<< von 1932, hier künftig als GF zitiert, liegt mitt- Neben den Vorarbeiten zu einzelnen Kindheitserin-
lerweile eine frühe und eine späte von Benjamin selbst nerungen bildet die BERLINER CHRONIK auch die theo-
·besorgte Textfassung vor, deren Auswertung im Rah- retische Vorstufe zur poetischen Darstellung der auto-
men einer historisch-kritischen Ausgabe allerdings biographischen Erinnerungen in der BERLINER KIND-
bislang noch aussteht (zur Entstehungsgeschichte im HEIT. Benjamin, der >>das Wort >ich< [... ] außer in
einzelnen vgl. IV, 964-986, VII, 691-723). Briefen<< (475) und privaten autobiographischen Auf-
zeichnungen in seinen Texten bislang immer vermie-
den hatte, beginnt hier von sich selbst zu sprechen und
,,Berliner Chronikcc als Vorarbeit macht die Erfahrung, >>daß dies Subjekt, das jahrelang
im Hintergrund zu bleiben war gewohnt gewesen, sich
Das unvollendete, 59 Seiten starke Manuskript BERLI- nicht so einfach an die Rampe bitten ließ<< (476).
NER CHRONIK, das 1970 erstmals von Gershorn Scho- Die Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit,
lem ediert wurde, bildet die wichtigste Vorarbeit zur Zugang zu diesem Ich zu finden, führt zum >>ge-
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT. Der heimnisvolle[n] Werk der Erinnerung<< (ebd.), dem
Text, der überwiegend zwischen April und Juli 1932 nachzugehen die zentrale Gemeinsamkeit der BERLI-
auf Ibiza entstanden ist (zur Entstehungsgeschichte NER CHRONIK und der BERLINER KINDHEIT UM NEUN-
VI, 797-807), geht auf eine Auftragsarbeit zurück. Im ZEHNHUNDERT bildet. Doch während es sich bei der
»Berliner Kindheit um neunzehnhundert« 655

BERLINER KINDHEIT um einen auf Erläuterungen fast dungmit einer allgemeinen Analyse der gesellschaft-
gänzlich verzichtenden, literarischen Text handelt, in lichen Umbrüche liest, wurde in neueren Studien
dem sich die Wirkungsweise der Erinnerung als Mo- durch eine poetologische Blickrichtung erweitert, die
ment einer immanenten Poetik lesen läßt, trennt die den Fluchtpunkt des Textes weniger im lebensweltli-
CHRONIK noch deutlich zwischen narrativen und re- chen Referenzrahmen des Autorsubjektes verortet als
flexiven Passagen, so daß ihre theoretischen Passagen vielmehr in der ihm immanenten Reflexion auf die
als eine Art >>programmatischer Vorentwurf« zu einer, Darstellungsverfahren des zu Erinnernden. In diesem
sich erst in der BERLINER KINDHEIT literarisch darstel- Sinne konzentriert sich etwa Manfred Schneider zur
lenden Poetik der Erinnerung verstanden werden kön- Analyse des Verhältnisses von Identität und Identifi-
nen. Daß die Gegenwart des Schreibenden die Darstel- kation nicht allein auf die konkrete Verfolgungssitua-
lung der Erinnerung entscheidend mitbestimmt, ge- tion des Autors, sondern untersucht diese Wechselwir-
hört zu den programmatischen Einsichten der kung mit einem medientheoretischen Ansatz in der
BERLINER CHRONIK, die von der Gegenwart als dem Entwicklungsgeschichte der Gattung Autobiographie
>>Medium<< spricht, >>in dem diese Bilder allein sich als solcher (vgl. Schneider 1986, 105-149). Der Frage
darstellen und eine Transparenz annehmen, in welcher, nach einer immanenten Sprachpoetik gehen auch
wenn auch noch so schleierhaft die Linien des Kom- Texte nach, die, wie Werner Hamachers >> The word
menden wie Gipfelzüge sich abzeichnen<< (471). Wolke<< (vgl. Hamacher 1986/87) die BERLINER KIND-
HEIT in enger Verbindung mit den zeitgleich entstan-
denen sprachphilosophischen Fragmenten LEHRE
Rezeptionsgeschichte VOM ÄHNLICHEN und ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖ-
GEN lesen, oder sie wie Nicolas Pethes (1999, vgl.
Die Rezeptionsgeschichte der BERLINER KINDHEIT war 263-306), Detlef Schöttker (1999, vgl. 221-243) und
lange Zeit dadurch bestimmt, diesen Hinweis nicht Anja Lemke (2005) unter dem Aspekt einer Poetik der
nur poetologisch im Gegensatz zu Prousts Recherche Erinnerung nicht nur als Darstellung von Erinnerun-
als >>Erinnerung an die Zukunft<< zu lesen (vgl. Szondi gen, sondern als Darstellung des Erinnerns zu verste-
1978; Stüssi 1977), sondern ihn auf Benjamins Situa- hen suchen.
tion des Exils und der Vertreibung zu beziehen und
die Erinnerungsbilder der BERLINER KINDHEIT so ins-
gesamt im Kontext des Faschismus zu deuten. Daß der Textkohärenz und Anordnung der Texte
Versuch eines Rückblicks zeitgeschichtlich auch durch
die Verfolgung und Vertreibung bestimmt ist, macht Umstritten bleibt in der Forschung die Rolle der An-
neben einzelnen Briefpassagen (Vgl. IV, 966 und Brief ordnung der einzelnen Erinnerungssequenzen. Zwei
an Scholem vom 28.02.1933, 4, 162) das Vorwort zur der wenigen bislang zur BERLINER KINDHEIT erschie-
Fassung letzter Hand explizit, in dem der Anlaß zur nenen Monographien, Anna Stüssis hermeneutische
Niederschrift 1932 als der Moment bestimmt wird, in Auslegung zum Motiv der Erinnerung an die Zukunft
dem >>mir klar zu werden [begann], daß ich in Bälde (Stüssi 1977) und Muthesius' psychoanalytische Über-
einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied legungen Mythos Sprache Erinnerung (Muthesius 1996)
von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen anhand des Schwellenmotivs und der Labyrinthmeta-
müssen« (VII, 385). Das >>Verfahren der Impfung<< pher, machen dieses Problem, das durch die neuen
(ebd.), mit dem die Erinnerungsbilder die Sehnsucht Typos- und Manuskriptfunde nur teilweise beseitigt
und das Heimweh des Exilierten in Schranken halten worden ist, deutlich. Beide Arbeiten orientieren sich
sollen, bezieht sich dabei nicht allein auf die eigene jeweils an ausgewählten, von ihnen als dominant her-
Biographie, sondern zielt auf die gesellschaftlichen ausgestellten Motiven und suchen auf diese Weise eine
Umbrüche, die in einer Kindheit um Neunzehnhun- gewisse Textkohärenz herzustellen, die der losen Folge
dert bereits die Schatten der Zukunft sichtbar gemacht der Erinnerungstexte zunächst zu fehlen scheint. Ge-
haben. Adorno spricht in seinem Nachwort zur Erst- gen einen solchen thematischen Ordnungsversuch
ausgabe der BERLINER KINDHEIT davon, daß >>[d]ie stellt Bernd Witte auf der Basis der Fassung letzter
Luft um die Schauplätze, welche in Benjamins Darstel- Hand die Absicht, das Werk in seiner letzten von Ben-
lung zu erwachen sich anschicken, [... ] tödlich [ist]. jamin festgelegten Reihenfolge als >>gestaltete Einheit<<
Auf sie fällt der Blick des Verurteilten, und als verur- zu lesen (vgl. Witte 1984). Zwar wird in allen Fassun-
teilte gewahrt er sie« (Adorno 1975, 169f.). gen sowie den sie kommentierenden Briefen und No-
Das sozialgeschichtliche Interesse, das den Text als tizen deutlich, daß Benjamin bei der Buchpublikation
autobiographisches Zeugnis der Verfolgung in Verb in- die Anordnung der Textstücke sowie ihre Begrenzung
656 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

auf 30 überaus wichtig war. Ob die jetzt vorliegende verbinden. Darüber hinaus hat erst die Mitte der 20er
>Fassung letzter Hand< tatsächlich als endgültige Text- Jahre einsetzende Beschäftigung mit Proust Benjamin
fassung zu verstehen ist, bleibt jedoch fraglich. Nicht die Thematik der Erinnerung sowie die Frage des Au-
nur der Notizzettel über Um- und Einarbeitungen, der tobiographischen überhaupt nähergebracht. Gemein-
der Typoskriptfassung letzter Hand beigefügt war (vgl. sam mit Pranz Hesse!, dessen Spazieren in Berlin zu-
VII, 695f.), auch die immanente Poetik der BERLINER sammen mit Luis Aragons Le Paysan de Paris einen
KINDHEIT scheint einer solchen Abgeschlossenheit weiteren wichtigen Bezugspunkt zur BERLINER KIND-
entgegenzustehen. Auch wenn Benjamin offenkundig HEIT bildet, übersetzt Benjamin drei Bände der Recher-
eine Geschlossenheit der Sammlung intendiert hat - che (Suppl. III, 588ff.). An diese übersetzungsarbeit
die zahlreichen Umarbeitungen und Neuordnungen schließt der Essay ZuM BILDE PRousTs (li, 310) an,
der Reihenfolge bis in die Fassung letzter Hand spre- dessen Verbindung zur BERLINER KINDHEIT sich nicht
chen dafür -, bestätigt sich gerade in den verschiede- nur in der Verwendung ähnlicher Motive und Meta-
nen Versuchen, eine endgültige Reihenfolge für die phern wie etwa der des Strumpfes zeigt, sondern sich
Erinnerungstexte zu finden, daß deren Anordnung auf die generelle Auseinandersetzung mit der Frage
sich nicht in ein lineares Schema fügt. der autobiographischen Erinnerung bezieht. Was Ben-
Gleiches gilt auch für den Versuch, über einzelne jamin am Beginn des Essays für die Recherche festhält,
Leitmotive und Zentralmetaphern Textkohärenz zu kann durchaus auch als poetologisches Prinzip der
stiften. Die fragmentarische Form führt zur überde- BERLINER KINDHEIT gelesen werden: >>Man weiß, daß
terminierung der Motivkomplexe, durch die jeder Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem
Versuch eines zentralen Ordnungsmotivs oder einer Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der,
definitiven Reihenfolge zwar in sich kohärent bleibt der's erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist
- allerdings jeweils um den Preis des Ausschlusses aller auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt.
übrigen Verknüpfungsmöglichkeiten. In diesem Sinne Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Haupt-
stellt der Text autoreflexiv die Schwierigkeiten seiner rolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben
eigenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen dar seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingeden-
und unterläuft als »Kaleidoskop der Erinnerungen<< kens<< (311 ).
eine endgültige Fixierung im Lektüreprozeß, indem Anders als Proust wählt Benjamin für die Darstel-
jede Umgruppierung der in sich geschlossenen Erin- lung dieser Arbeit des Eingedenkens nicht die narrative
nerungsbilder neue Konstellationen und neue Verste- Extension, sondern die darstellerischen Prinzipien der
hensoptionen generiert. Es geht der BERLINER KIND- Verräumlichung und der Verknappung. Er folgt damit
HEIT um >>Bilder, die aus allen früheren Zusammen- seinem eigenen Hinweis aus der BERLINER CHRONIK,
hängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den daß Proust in seinem >>tödlichen Spiel<<, mit dem er
nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht- wie >>den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen
Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers- ste- hat<<, so daß die >>Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste,
hen<< (VI, 486). vom Kleinsten ins Winzigste [geht] und immer gewal-
tiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegen-
tritt[ ... ], Nachfolger schwerlich mehr finden wird als
Fremde und eigene Intertexte er Kameraden brauchte<< (VI, 467f.).
Auch die Verknüpfungen der BERLINER KINDHEIT
Wie fast alle Texte Benjamins ist auch die BERLINER mit Benjamins eigenen Texten sind überaus zahlreich.
KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT ein äußerst dicht Neben der Ein- und Umarbeitung kleinerer literari-
gewobenes Netz aus Zitaten, Allusionen und Verweisen scher Arbeiten wie etwa des Erzähltextes DIE KAKTus-
auf eigene und fremde Texte. Neben den zahlreichen HECKE (li, 748-754), dem das Motiv der Impfung aus
Hinweisen auf die Welt der Märchen und Sagen, die der Einleitung zum HANDEXEMPLAR KOMPLETT sowie
die kindliche Wahrnehmung ebenso bestimmen wie die Thematik der Maske entnommen ist und aus dem
die Poetik des Textes, finden sich literarische Bezüge eine kurze Passage in dem Text DER MoND wieder
zu Shakespeare, Dante und den deutschen Romanti- auftaucht, sind es vor allem sprachphilosophische und
kern. wahrnehmungsästhetische Überlegungen, die die BER-
Der wichtigste fremde Intertext der BERLINER KIND- LINER KINDHEIT literarisch aufgreift. So verbindet eine
HEIT ist Prousts A Ia recherche du temps perdu. Obwohl Kinderphotographie Kafkas Benjamins Überlegungen
ein direkter Hinweis auf den Text fehlt, läßt sich eine im Essay über PRANZ KAFKA (409-438) mit den me-
Vielzahl von Motivkomplexen ausmachen, die Benja- dientheoretischen Reflexionen in der KLEINE[N] GE-
mins Kindheitserinnerungen mit denen der Recherche scHICHTE DER PHOTOGRAPHIE (368-385) und dem
»Berliner Kindheit um neunzehnhundert« 657

später umgeschriebenen Eingangstext DIE MuMMER- Erfahrungsraum zeigt sich als eine Welt, in der prin-
EHLEN. Darüber hinaus lassen sich bestimmte ästheti- zipiell jedes Ding zum Zeichen werden und jedes Zei-
sche Fragen bis in die frühen Schriften zurückverfol- chen seine materielle, dinghafte Seite aufscheinen
gen. So taucht die Auseinandersetzung mit dem Motiv lassen kann. Durch dieses Vermögen ist das Kind in
der Farbigkeit, ihrem Verhältnis zum Grau der Buch- der Lage, dem Leser Anschlußmöglichkeiten an vor-
staben, zum Traum und zur Phantasie des Kindes, die repräsentative Formen der Weltdeutung aufzuzeigen.
in der BERLINER KINDHEIT in Texten wie FARBEN, DER Dabei geht es jedoch nicht um einen ungebrochenen
FISCHOTTER, KNABENBÜCHER und den MUMMEREH- Zugang zur magisch-animistischen Welt, sondern um
LEN eine Rolle spielt, bereits in den Fragmente[n] zur den Aspekt der entstellten Ähnlichkeit, der sich an den
Ästhetik aus der Zeit zwischen 1914 und 1921 (VI, natürlichen Medien der Dingwelt ebenso zu zeigen
109-129) sowie in der AbhandlungAussiCHT INS KIN- vermag wie an den technischen Medien, denn - so
DERBUCH VOn 1926 (609-615) auf. Benjamin im >>Passagenwerk<<- >>daß zwischen der
Das zentrale Bezugsfeld der BERLINER KINDHEIT Welt der modernen Technik und der archaischen Sym-
stellen die zeitgleich entstandenen sprachphilosophi- bolwelt der Mythologie Korrespondenzen spielen,
schen Essays LEHRE voM ÄHNLICHEN (II, 204-210) kann nur der gedankenlose Betrachter leugnen<< (V,
und ÜBER DAS MIMETISCHE VERMÖGEN (210-213) dar. 576). Explizit wird diesen Korrespondenzen in Texten
In ihnen entwickelt Benjamin theoretisch, was die wie KAISERPANORAMA oder DAS TELEFON nachgefragt.
BERLINER KINDHEIT in der nachträglichen Darstellung Implizit bilden sie einen Aspekt der Erinnerungspoe-
des kindlichen Wahrnehmungsvermögens zeigt. Die tik, indem die Logik der entstellten Ähnlichkeit für
enge Verbindung der Texte ist nicht nur entstehungs- Benjamin zum entscheidenden Merkmal der Sprache
geschichtlich bezeugt (vgl. den Brief an Scholem von selbst wird. In diesem Sinne geht es der BERLINER
Ende Febr. 1933,4, 162 f.), sie spiegelt sich auch in der KINDHEIT um das Erlernen einer Lektürehaltung, die
Einarbeitung kleinerer Textpassagen aus den Essays in die Spuren des Ähnlichen als nicht zu kontrollierende
dem ursprünglichen Eingangstext DIE MuMMEREH- Spuren der Sprache des Traumes und der Erinnerung
LEN wider. Im Mittelpunkt steht ein Sprach begriff, der, im Text wahrzunehmen in der Lage ist. Was die ein-
dem Prinzip der unsinnlichen Ähnlichkeit folgend, die zelnen Texte zeigen, ist nicht die Abkehr von einem
Logik reiner Repräsentationsbeziehungen unterläuft repräsentativen, auf Bedeutung und Sinnproduktion
und den Zugang zu vorrepräsentativen Formen der ausgerichteten Zeichenmodell, sondern eine Semiotik,
Weltdeutung ermöglicht. Während die Essays im An- die an diesem Zeichenmodell jeweils momenthaft ihr
schluß an Benjamins frühe Schriften zur Sprachphi- anderes als die Unterbrechung des Sinns aufscheinen
losophie (ÜBER SPRACHE ÜBERHAUPT UND ÜBER DIE läßt. Mit seiner Konzentration auf die Materialität des
SPRACHE DES MENSCHEN Il, 140-157, DIE AUFGABE Zeichens, die Flächigkeit der Buchstaben und das Glei-
DES ÜBERSETZERS IV, 9-21) den Schwerpunkt auf die ten der Bedeutung von einem Träger zum nächsten
phylogenetische Entwicklung des Ähnlichkeitsprinzips läßt das Kind etwas an der Sprache aufscheinen, das
legen, kann die BERLINER KINDHEIT als die literarische dem Erwachsenen entgeht. Es zeigt die Gefahr, durch
Verarbeitung der ontogenetischen Seite des Problems das einseitige Interesse an Inhalt und Bedeutung das,
gelten, die in den Essays nur mit der Randbemerkung was an der Sprache den Weg zu den Spezifika der Er-
gestreift wird, daß >>[d]as Kinderspiel überall durch- innerung weisen kann, zu verfehlen und macht deut-
zogen [ist] von mimetischen Verhaltensweisen« (II, lich, daß nur ein Sprachbegriff, der die Dichotomie
210). Diesen verschiedenen mimetischen Verhaltens- von Repräsentation und Mimesis, Bedeutungsbildung
weisen im Spiel des Kindes sowie ihren poetologischen und Materialität unterläuft, die Strukturen der Erin-
Konsequenzen für den literarischen Text und seine nerungen in ihrer konstitutiven Dopplung von Verges-
Darstellung von Erinnerung geht die BERLINER KIND- sen und Erinnern, Heimlichkeit und Unheimlichkeit,
HEIT nach. Traum und Bewußtsein darzustellen vermag.
Der Text KNABENBÜCHER zeigt das Lesenlernen als
ein Gleiten von der Lektüre natürlicher Zeichen zum
Entstellte Ähnlichkeit: Textzeichen, bei dem beide Formen des Lesens durch
Zeichen- und Dingwelt des Kindes den ständigen Entzug eines zu fixierenden Sinns ge-
kennzeichnet sind. Zunächst ist es das >>Schneegestö-
In einer Vielzahl von Texten der BERLINER KINDHEIT ber<<, das dem Kind »lautlos<< erzählt. >>Was es erzählte,
steht die kindliche Fähigkeit zur Wahrnehmung und hatte ich zwar nie genau erfassen können, denn zu
Erzeugung von Ähnlichkeiten und Analogien zwischen dicht und unablässig drängte zwischen dem Altbe-
Ding- und Zeichenwelt im Mittelpunkt. Der kindliche kannten Neues sich heran. Kaum hatte ich mich einer
658 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Flockenschar inniger angeschlossen, erkannte ich, daß vor. Weil mir nun >Muhme< nichts sagte, wurde dieses
sie mich einer anderen hatte überlassen müssen, die Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummereh-
plötzlich in sie eingedrungen war<< (VII, 396). Die len<< (417). Die Verschiebung der Bedeutungsebene,
Nichtfixierbarkeit des durch die unablässige Bewegung die den kindlichen Spracherwerb angesichts der Fülle
der Flocken Erzählten wird zum Modell des Lesens unbekannter Signifikanten und ungewisser Signifikate
jeder Art von Schrift. Der Text macht deutlich, daß die begleitet, führt nicht in die Sinnlosigkeit, sondern die
Buchstabenschrift kein Gegenmodell semiotischer Verstellung eröffnet den Weg in eine andere Dimen-
Klarheit bildet, sondern ihrerseits den Regeln des Sinn- sion der Welt. Zwar war »[d]as Versehen[ ... ] entstellt;
entzugs unterliegt. Zwar spricht der Text zunächst doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin
verheißungsvoll von dem >>Augenblick[ ... ], im Gestö- Platz<< (ebd.). Die MummerehJen als Geist jenes Mum-
ber der Lettern den Geschichten nachzugehen, die sich mens bildet ein sprachliches Mißverständnis, durch
am Fenster mir entzogen hatten<< (ebd.), doch auch das das Kind gewahr wird, daß >>die Worte[ ... ] eigent-
diese Lettern bieten keine Alternative, sondern orien- lich Wolken waren<< (ebd.). Ausgehend von der >>pro-
tieren sich in ihrer Struktur am Entzugsgeschehen der fanen[ ... ] Bedeutung des Wortes<< (LEHRE VOM ÄHN-
Schneeflocken. >>Die fernen Länder<<, heißt es über das LICHEN II, 209) läßt das Verstehen des Kindes eine
Lesen der Knabenbücher, >>spielten vertraulich wie die unsinnliche Ähnlichkeit aufblitzen, deren magische
Flocken umeinander<< (ebd.). Die magische Seite der Seite die Wirkungsweise des mimetischen Vermögens
Sprache, der die Aufmerksamkeit des Kindes gilt, läßt selbst zeigt. In der Differenz zwischen der >>Muhme
sich nicht von ihrer arbiträren Zeichenstruktur ablö- Rehlen<< und dem »Mummerehlen<< zeigt sich die
sen. Vielmehr steckt sie wie ein >>Vexierbild[]<< (LEHRE Spannung zwischen semiotischer und magischer Zei-
voM ÄHNLICHEN, II, 208) in der Wortbedeutung selbst, chendimension, die den Sprachbegriff der BERLINER
so daß eine Lektüre, die diese andere Seite der Sprache KINDHEIT bestimmt. Das Mißverständnis führt nicht
erfahren will, auf den Sinnzusammenhang angewiesen zu einem weiteren Begriff oder zu einem eindeutigen
bleibt, in diesem jedoch nicht länger aufgeht. Referenten, sondern weist auf das Wesen der Sprache
Die Fähigkeit zur Entdeckung des >>Vexierbilds<< im selbst. Die MummerehJen ist nicht dingfest zu machen,
Sprachlichen hat Benjamin in dem Text ZwEI RÄTSEL- die kindliche Suche nach ihr führt nicht zu einer klar
BILDER aufgegriffen. Dort ist von einigen >>Ansichts- umrissenen Gestalt, denn, so heißt es bereits in der
karten<< die Rede, »deren Schriftseite mir deutlicher in Gießener Fassung, »sie war das Stumme, Lockere und
der Erinnerung haftet als ihr Bild. Sie trugen schöne, Flockige, das gleich dem Schneegestöber in den kleinen
leserliche Unterschriften: Helene Pufahl. Das war der Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkte. Manchmal
Name meiner Lehrerin. Das P, mit dem er anhob, war wurde ich darin umgetrieben<< (GF 10). Der Geist des
das P von Pflicht, von Pünktlichkeit, von Primus; fhieß MummerehJen wirkt an jeder Lektüre mit. Er verweist
folgsam, fleißig, fehlerfrei und was das I am Ende an- auf die Vexier- und Rätselbilder in der Schrift und
ging, war es die Figur von lammfromm, lobenswert verschränkt die Zeichen der Dinge und der Sprache.
und lernbegierig<< (VII, 400). Anstelle der Bild- rückt Zwischen dem Schneegestöber und dem Gestöber der
hier die Textseite der Ansichtskarte in den Mittelpunkt, Lettern in dem Text »Knabenbücher<< können sich nur
allerdings dergestalt, daß sie von Benjamin nun ihrer- deshalb Korrespondenzen zeigen, weil die Dinge wie
seits wie eine Art Bild gelesen wird. Statt sich auf die die Worte wolkige Stellen aufweisen. Erst durch die
Bedeutung des Wortlauts der Postkarte zu konzentrie- Verrückung der festen Semantikkönnen sich die Kon-
ren, interessiert sich das Kind für die graphische Ge- stellationen nach dem formwandlerischen Prinzip der
stalt der einzelnen Buchstaben. Indem es die her- Wolke entfalten.
kömmliche semantische Interpretation der Abbildung
und des Textes gleichermaßen außer Acht läßt, entfal-
tet sich vor ihm das Rätselbild der Handschrift. Der Autobiographie zwischen Identität
Name der Lehrerin zerfällt in seine einzelnen graphi- und Identifikation
schen Komponenten, die hier mehr über den Charak-
ter des Schreibenden auszusagen wissen als der Eigen- Obwohl die BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUN-
name dies vermag. DERT keine Autobiographie im Sinne einer chronolo-
Das zugrundeliegende >transzendentalpoetische< gischen Narration des eigenen Lebens darstellt, erweist
Prinzip, das dem Kind die Entdeckung der Vexierbilder sich auch in Benjamins Erinnerungspoetik das Pro-
ermöglicht, beschreibt der Text DIE MuMMEREHLEN. blem der Ich-Konstitution als treibende Kraft für den
Die Eingangssätze erläutern den Titel wie folgt: >>In autobiographischen Entwurf. Zwar verweigert das la-
einem alten Kinderverse kommt die Muhme RehJen byrinthische Netz der Erinnerungstexte sich den Maß-
»Berliner Kindheit um neunzehnhundert« 659

gaben einer durch lineare Erzählung homogenisierten des Kindes als unendliche Mimesis an die symbolische
Ich- Bildung, doch gerade dadurch rückt die Frage nach Umwelt, die ihrerseits auf das Ich ausgreift und sich
den noch verbleibenden Formen der Identitätsbildung seiner Eigenschaften bemächtigt. Ausgangspunkt ist
in den Mittelpunkt des Schreibens. zunächst der kindliche Wunsch nach Anverwandlung.
Die Epochenerfahrung der Subjektdekonstruktion >>Wenn so ein Fuchs oder Ligusterschwärmer [... ]
in der Moderne wird im Fall der BERLINER KINDHEIT durch Zögern, Schwanken und Verweilen mich zum
durch die reale Bedrohtheit der Existenz im Exil zu Narren machte, dann hätte ich gewünscht, in Licht und
einer biographischen Realität, die Benjamin entgegen Luft mich aufzulösen, nur um ungemerkt der Beute
seiner ursprünglichen Konzeption zu weiteren Umar- mich zu nähern und sie überwältigen zu können<< (VII,
beitungen des Textes treibt. So schreibt er im August 392). Doch die Unterwerfungsphantasien kehren sich
1933 aus Ibiza an Gretel Adorno über den Text >>Log- um; das jagende Ich wird zum gejagten, denn >>je mehr
gien«, in der er >>eine Art Selbstportrait erblick[t]«: ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte,
>>Wahrscheinlich werde ich es anstelle jenes photogra- je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm
phischen, das in der >Mummerehlen< enthalten ist, an dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe
die erste Stelle des Buches setzten.[ ... ] Wüßte ich nicht menschlicher Entschließung an und endlich war es, als
je länger je genauer, welche Verborgenheit gerade jetzt ob sein Fang der Preis sei, um den einzig ich meines
Versuchen wie denen der >Berliner Kindheit< zukommt, Menschendaseins wieder habhaft werden könne<<
so würde mich das publizistische Geschick der Folge (ebd.).
bisweilen zur Verzweiflung bringen. Nun aber ist es an Die tödliche Gefahr der Mimesis beschreibt auch
dem, daß dies Geschick mich lediglich in meiner Über- der Text VERSTECKE. Das alte Kinderspiel enthält seine
zeugung von der notwendigen Verhüllung, in der allein besondere Komponente dadurch, daß das Kind sich
Derartiges entwickelt werden kann, bestärkt und diese nicht hinter den Gegenständen verbirgt, sondern in
Überzeugung hilft mir wieder, vorläufig der Versu- diese eingeht und auf diese Weise Subjekt und Objekt
chung abzuschließen zu widerstehen<< (4, 275 f.). Die zu einem Dritten verschmelzen läßt. >>Das Kind, das
in der BERLINER KINDHEIT formulierten Versuche, hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehen-
>>ich<< zu sagen, befinden sich sämtlich in dieser Span- dem und Weißen, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter
nung zwischen der Notwendigkeit der Verhüllung und den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol
damit des Schutzes vor der Identifikation von außen des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier
und der Suche nach den noch verbleibenden Formen Säulen sind. Und hinter einer Tür ist es selber Tür, ist
der Selbstdarstellung. Im Mittelpunkt steht nicht mehr mit ihr angetan als schwere Maske[ ... ]<< (418). Im Spiel
das Begehren, das im Text aufscheinende Ich zur Iden- des Verhergens werden die Verstecke zur magischen
tität von schreibendem und geschriebenem Selbst sich Maske und das Ich wird zur Person, das heißt Identität
zu führen, sondern vielmehr der Versuch, deren Dif- bildet sich in diesen Momenten über die persona als
ferenz als Bedingung der Möglichkeit für die Erinne- Maske des Schauspielers, dessen Rolle die symbolische
rung sichtbar zu machen. Verschmelzung mit der Umgebung fordert. Diese Ver-
Vorbild für die Verhüllungsstrategie bilden die Fä- schmelzung birgt jedoch die Gefahr der tödlichen
higkeiten des Kindes, sich im Spiel seiner Umwelt an- Erstarrung durch den Blick des Dritten. >>Wer mich
zuverwandeln und auf diese Weise die herkömmliche entdeckte, konnte mich als Götzen unterm Tisch er-
Trennung von Subjekt und Objekt zu unterlaufen. starren machen, für immer als Gespenst in die Gardine
Zwar kommen dabei zunächst gerade jene Aneig- mich verweben, auf Lebenszeit mich in die schwere
nungsstrategien zum Tragen, die die neuzeitliche Sub- Tür bannen<< (ebd.).
jektkonstitution ausmachen, diese werden jedoch in Der enthüllende Blick von Außen ist in der Lage, die
ihrer ganzen Ambivalenz deutlich, wenn der Prozeß Verschmelzung von Ich und Dingwelt auf Dauer zu
der Unterwerfung der Dingwelt jäh in die Bannung stellen. Er macht das eigene Ich zum magischen Kunst-
des Ichs durch die magische Macht der Gegenstände werk und damit das double-bind der Identität des
umschlägt. In diesem Moment wird ein Ich sichtbar, Selbst deutlich: Diese bedarf des dinglichen Ausdrucks,
das sich nicht mehr im Rahmen von klaren Subjekt- um sichtbar und wahrnehmbar zu werden, gleichzeitig
Objekt-Schemata konstituiert, sondern seine wandel- droht die ästhetische Darstellung das lebendige Ich in
baren Konturen aus dem unkontrollierbaren Aspekt der Form erstarren zu lassen. Der einzige Ausweg aus
des Umschlags bezieht. der drohenden Mortifizierung ist die erneute Flucht
Die im Text ScHMETTERLINGSJAGD beschriebene des Ichs aus der Umklammerung der Dinge: >>Ich ließ
Szene zeigt die Probleme der Subjektkonstitution im darum mit einem lauten Schrei den Dämon, der mich
Rahmen der magisch-animistischen Wahrnehmung so verwandelte, ausfahren, wenn der Suchende mich
660 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

packte- ja, wartete den Augenblick nicht ab und griff biographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit
ihm mit einem Schrei der Selbstbefreiung vor<< dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens aus-
(ebd.). macht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblik-
Wie sich die Anverwandlungsprozesse von der Ding- ken und vom Unstetigen die Rede<< (VI, 488). Als Kon-
welt auf die Sprache selbst verschieben, zeigt der Text sequenz dieses Befundes entwirft die BERLINER KIND-
MuMMEREHLEN, in dem es, unter direkter Bezug- HEIT eine Reihe von räumlichen Erinnerungsschemata
nahme auf die LEHRE VOM ÄHNLICHEN heißt: >>Beizei- des Autobiographischen, um, wie es in der CHRONIK
ten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken heißt, >>[d]en Raum des Lebens- Bios- graphisch in
waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu einer Karte zu gliedern<< (466).
erkennen, ist ja nichts als ein schwaches überbleibsei Diese graphische Gliederung vollzieht sich in der
des alten Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu ver- BERLINER KINDHEIT VOr allem über die Darstellung
halten. Den übten Worte auf mich aus. Nicht solche, der räumlichen Struktur der Stadt. Ihre Straßen, Plätze,
die mich musterhaften Kindern sondern Wohnungen, Monumente und Wohnungen bilden als Labyrinthe,
Möbeln, Kleidern ähnlich machten. Ich war entstellt Irrgärten und Verstecke den Ort, wo sich die individu-
vor Ähnlichkeit mit allem, was um mich war<< (417). ellen Erinnerungen des Kindes mit den kulturellen
Statt das Ich in den Erinnerungsbildern feste Form Voraussetzungen der Identitätsbildung verbinden. So
gewinnen zu lassen, mummt die nichtfixierende Spra- beschreibt der Text TIERGARTEN die verschlungenen
che der BERLINER KINDHEIT das Selbst in >>Worte wie Wege des Kindes durch das städtische Labyrinth der
Wolken<< ein und läßt es so momenthaft als vor Ähn- Parkanlage mit ihren Wasserläufen, Waldstücken, Sta-
lichkeit Entstelltes in der aufmerksamen Lektüre auf- tuen und Picknickplätzen, DIE SIEGESSÄULE entfaltet
blitzen. Wer in der BERLINER KINDHEIT ein Selbstpor- anhand der Beschreibung des Monumentes die zeitli-
trait im Sinne einer klassischen Autobiographie sucht, che Verschränkung von geschichtlicher und individu-
wird nichts davon finden, denn das Ich nimmt in die- eller Erinnerung, >>Markthalle<< und >>Krumme Straße<<
sen Erzählungen keine klar umrissene Gestalt an, son- verknüpfen die Dienlichkeit der Orte der Großstadt
dern hüllt sich in den Text ein wie das Kind in die mit deren bedrohlicher Unterseite, und Texte wie
Worte. In diesem Sinne verweist der allgemein gehal- >>Steglitzer, Ecke Genthiner<< oder >>Blumenshof 12<<
tene Titel BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUN- lassen über die Beschreibung der Wohnungen kleine
DERT nicht nur auf den Versuch, eine Charakteristik Portraitminiaturen der Tante und der Großmutter
des bürgerlichen Lebens im Großstadtmilieu der Jahr- entstehen.
hundertwende zu entwerfen. In ihm zeigt sich auch Mit dieser Darstellungsform greift Benjamin auf die
die Absicht, über die komplexe Darstellung der indi- Strukturen der antiken ars memoria zurück und trans-
viduellen Kindheitserinnerung eine Problematisierung formiert ihre Grundelemente der loci und der imagi-
dessen zu erreichen, was die kollektive Geschichte des nes agentes in ein poetisches Verfahren. Was in der
Abendlandes sich angewöhnt hat, Subjekt zu nennen. antiken Mnemotechnik als Teil der Rhetorik zur Me-
In der Verbindung von Erinnerung und Identitätsbil- morierung der gesprochenen Rede diente, nutzt Ben-
dung im autobiographischen Text wird deutlich, daß jamin zur Strukturierung der Erinnerungen und des
sich das Subjekt gerade nicht als autonomes, selbstbe- Textes, so daß Gedächtnisräume und Texträume ein-
stimmtes, sich in einem narrativen Kontinuum erzeu- ander entsprechen. Die Räume bilden nicht nur den
gendes Ganzes generiert, sondern im Gegenteil, seine Schauplatz des erinnerten Geschehens, sondern sie
Ich-Konstitution durch die Anverwandlung an eine entfalten die Struktur der Erinnerung selbst als eine
Sprache entfaltet, die sich als Gegenstrategie zu einer räumliche. Deutlich wird dies etwa, wenn sich in dem
stabilen Identität und der damit verbundenen Mög- Tiergartentext die Kunst des Verirrens im Labyrinth
lichkeit der Identifikation versteht. der Stadt als Erfüllung eines Traums zu erkennen gibt,
>>von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Lösch-
blättern meiner Hefte waren<< (VII, 393).
Gedächtnisräume als textuelle Die Schrift ist dabei für Benjamin nicht in erster
Schwellenräume Linie Träger von Bedeutung, sondern wird sowohl in
ihrer Materialität als auch in ihrer räumlichen Struktur
Sowohl in der BERLINER CHRONIK als auch in derBER- der Zeichen und Leerstellen wahrgenommen. Nicht
LINER KINDHEIT findet sich der Aspekt der Räumlich- die sinnproduzierende Verkettung der Zeichen, son-
keit als der zentrale Baustein der Erinnerung, durch dern die Differenz ihrer unterschiedlichen materiellen
den Benjamin seinen Text von der herkömmlichen Strukturen, d. h. ihre eigene Bildlichkeit und Figürlich-
Autobiographie abzugrenzen sucht. >>Denn die Auto- keit machen die Buchstaben zum wichtigsten Raum
»Berliner Kindheit um neunzehnhundert« 661

der Erinnerung. Es zeichnet die Wahrnehmung des verortet Erinnerung als solche immer auf der Schwelle
Kindes aus, diese Qualität der Schrift noch nicht vor zwischen Traum und Wachen, Chaos und Ordnung,
der semantischen zurücktreten zu lassen. Der Text Unbewußtem und Bewußtem.
selbst wird ihm zu einem Labyrinth, in dem sich nur Die öffentlichen Räume der Stadt können in der
der zurechtfinden kann, der Lesen als körperlich-sinn- Wahrnehmung des Kindes jederzeit in ihr bedrohliches
liche Erfahrung be-greift. Diese unauflösliche Verstrik- anderes umschlagen. In KRUMME STRASSE verwandelt
kung von Inhalt und Form zeigt der Text DER STRUMPF sich der Innenraum einer öffentlichen Schwimmhalle
in der Entdeckung der Dopplung von »Tasche<< und plötzlich in eine mythologische Unterwelt, deren frem-
>>Mitgebrachtem<<. Die Strümpfe werden Benjamin zur den Gesetzen das Kind rückhaltlos ausgeliefert ist.
Zentralmetapher des autobiographischen Erinnerns. »Den Fuß über die Schwelle setzen bedeutete, von der
»Jedes Paar hatte das Aussehen einer kleinen Tasche. Oberwelt Abschied zu nehmen. Danach bewahrte ei-
Nichts ging mir über das Vergnügen, die Hand so tief nen nichts mehr vor der überwölbten Wassermasse im
wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Ich tat das Innern. Sie war der Sitz einer scheelen Göttin, die dar-
nicht um ihrer Wärme willen. Es war >Das Mitge- auf aus war, uns an die Brust zu legen und aus den
brachte<, das ich immer im eingerollten Innern in der kalten Kammern uns zu tränken, bis dort oben nichts
Hand hielt, was mich in ihre Tiefe zog. [... ] Ich zog es mehr an uns erinnern werde<< (VII, 415 f.). Und auch
immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich die intimen Schutzräume der Bürgerwohnungen sind
ereignete: ich hatte >Das Mitgebrachte< herausgeholt, vor der Bedrohung durch das Unheimliche nicht wirk-
aber >Die Tasche< in der es gelegen hatte, war nicht lich gefeit. Das »fast unvordenkliche Gefühl von bür-
mehr da<< (416f.). Es ist diese Erfahrung, durch die gerlicher Sicherheit<<, das das Kind in der Wohnung
Benjamin gewahr wird, »daß Form und Inhalt, Hülle der Großmutter überkommt, in der es »geborgener als
und Verhülltes dasselbe sind<< und es gilt, »die Wahr- selbst in der elterlichen<< (411) war, ist ständig von
heit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen Auflösung bedroht. Denn diese Räume zeichnen sich
wie die Kinderhand den Strumpf aus >Der Tasche<<< nach Benjamin neben aller Geborgenheit auch da-
(417). Die haptisch-taktile Lektüre des Kindes verbin- durch aus, daß sie versuchen, den Tod auszugliedern.
det Materialität und Sinn der Schrift, so daß »[d] ie In ihnen gibt es »keinen Platz zum Sterben [... ], in
Welt, die sich im Buch eröffnete und dieses selbst, [... ] ihnen war der Tod nicht vorgesehen. Darum erschie-
um keinen Preis zu trennen [waren] und vollkommen nen sie bei Tage so gemütlich und wurden nachts der
eins. So war mit einem Buche auch sein Inhalt, seine Schauplatz böser Träume<< (412). Der Versuch des Aus-
Welt handgreiflich da, mit einem Griff zur Stelle. [... ] schlusses produziert das Ausgeschlossene mit. Der
Man las sie nicht aus, nein, man wohnte, hauste zwi- scheinbar gesicherte Innenraum läßt sich nicht dau-
schen ihre[n] Zeilen[ ... ]<< (VI, 514f.). erhaft vor dem schützen, was er als sein anderes aus-
Erweitert wird Benjamins Transformation des Ge- zugrenzen sucht. Und so zeigt der Erinnerungstext das
dächtnisraumes in einen in seiner graphisch-materi- Kind auf der Schwelle zwischen diesen beiden Welten.
ellen Struktur wahrzunehmenden Textraum durch »Das Stiegenhaus, das ich betrat, erwies sich als Wohn-
eine signifikante Teilung der Räume in heimliche und sitz eines Alps, der mich zuerst an allen Gliedern
unheimliche, dunkle und helle, durch Ordnung und schwer und kraftlos machte, um schließlich, als mich
durch Chaos beherrschte Sphären, wodurch die Regeln nur noch wenige Schritte von der ersehnten Schwelle
der Mnemotechnik angeschlossen werden an psycho- trennten, mich in Bann zu schlagen. Dergleichen
analytische Überlegungen zur topographischen Ge- Träume sind der Preis gewesen, mit dem ich die Ge-
dächtnisstruktur. Daß Benjamin versucht, poetologi- borgenheit erkaufte<< (ebd.).
sche Erinnerungsverfahren mit den Erkenntnissen der Nicht nur die Orte, auch die in ihnen befindlichen
Psychoanalyse engzuführen, wird in den Freud-Ab- Gegenstände bürgerlicher Häuslichkeit sind in der
schnitten seines Baudelaire-Essays deutlich (I, 615 ff.). BERLINER KINDHEIT in dieser Spannung von Heim-
Gilt sein Interesse dort der theoretischen Verbindung lichkeit und Unheimlichkeit konzipiert. So gerät die
von Prousts memoire involontaire mit den Freudschen Ordnung des Biedermeieridylls der nähenden Mutter
Ausführungen zum psychischen Apparat, vollzieht die am Fenster in dem Moment ins Wanken, wo der Näh-
BERLINER KINDHEIT in der räumlichen Darstellung kasten selbst genauer in Augenschein genommen wird.
der eigenen Kindheitserinnerung die Verschränkung Der kindliche Zweifel, »ob der Kasten von Haus aus
von poetischen Räumen und psychoanalytischer Tex- überhaupt zum Nähen sei<< (425) bezieht sich nicht
tur des Traumes. Die Topographie der Erinnerung, die nur auf die erotische Anziehungskraft, die die durch
Benjamin in den einzelnen Texten entfaltet, ist nicht eine Oblate versiegelten Garnrollen auf die tastenden
als in sich jeweils homogener Raum zu lesen, sondern Finger des Kindes ausüben, sondern wird gespeist
662 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

durch die dieser Erotik unterliegende dionysische Kraft vergebens nachgetrachtet hatte, drehte die nächste
des Chaos, denn >>[n)eben der oberen Region des Ka- Nacht den Spieß zuweilen um und im Traume zielten
stens, wo diese Rollen beieinander lagen, die schwarzen Blicke, die mich dingfest machten, aus solchen Keller-
Nadelbücher blinkten, und die Scheren jede in ihrer löchern<< (429f.). Im weiteren Verlauf des Textes be-
Lederschneide steckten, gab es den finsteren Unter- zeugen diese nächtlichen Traumgestalten, deren Blicke
grund, den Wust, in dem der aufgelöste Knäuel re- das Kind aus seiner bürgerlichen Sicherheit aufschrek-
gierte, Reste von Gummibändern, Haken, Ösen, Sei- ken lassen und zu bannen trachten, ihre Zugehörigkeit
denfetzen beieinander lagen<< (426). zu den Märchen- und Sagengestalten der Literatur. Es
Die Doppelstruktur von Tag und Nacht, Heimli- handelt sich um eine >>Sippe<<, die dem Kind wohlbe-
chem und Unheimlichem, Ordnung und Chaos be- kannt, >>auf Schaden und Schabernack versessen war
stimmt Gedächtnis- und Textraum in ihrer wechsel- und daß sie sich im Keller zu Hause fühlte, war selbst-
seitigen Verwiesenheit gleichermaßen. Es ist der Text verständlich. >Lumpengesindel< war es. Die Nachtge-
selbst, dessen scheinbar geordnete Oberfläche ständig sellen, die sich auf dem Nußberge an das Hähnchen
ihr anderes mitproduziert, indem Materialität und und das Hühnchen heranmachen- die Nähnadel und
Sinn, Logos und Chaos in ihrer unauflöslichen Ver- die Stecknadel, die da rufen, es würde gleich stichdun-
schränkung sichtbar werden. Die >>Penelopearbeit des kel werden- waren vom gleichen Schlag<< (430).
Eingedenkens<<, von der der Proust-Essay spricht, be- Mit Hähnchen und Hühnchen, der Stecknadel und
steht für Benjamin in einer Sprache, die das nächtliche der Nähnadel füllt sich der Schauplatz des Unheimli-
Gewebe des Traumes, - die >>Ornamente des Verges- chen mit literarischen Figuren aus Grimms Märchen,
sens<<, die sich der Tagseite unseres Daseins entziehen deren nächtliches Treiben darauf ausgerichtet ist, dem
-, momenthaft in der Rede aufblitzen läßt (li, 311). Es Menschen das Phantasma seiner körperlichen Unver-
gilt, dem Blick des Kindes zu folgen, wenn es an den sehrtheit sowie das einer Kontrolle über die Objekte
Winterabenden auf der Schwelle zur Dunkelheit >>mit zu desavouieren. Wie alle literarischen Intertexte der
[den] Augen der Nadel folg[t), von der ein dickerwoll- BERLINER KINDHEIT führt auch der Hinweis auf
ner Faden herunterhing. Ohne davon zu reden hatte Grimms Märchen nicht zu einer eindeutigen Identifi-
jedes seine Ausnähsachen vorgenommen- Pappteller, zierung der Traumgestalten, sondern lediglich an eine
Tintenwischer, Futterale -, in die es nach der Zeich- weitere Schwelle des Textes, auf der die vermeintlich
nung Blumen nähte. Und während das Papier mit klare Trennung zwischen Fiktion und Realität ins Wan-
leisem Knacken der Nadel ihre Bahn freimachte, gab ken gerät.
ich hin und wieder der Versuchung nach, mich in das
Netzwerk auf der Hinterseite zu vergaffen, das mit
Werk
jedem Stich, mit dem ich vorn dem Ziele näherkam,
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (Fassung letz-
verworrener wurde<< (VII, 426). ter Hand) (VII, 385-433, 691-723)
Die Polyvalenz der Schwellenräume wird noch er- BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (Giessener
weitert durch die gesellschaftliche und zeitliche Grenze, Fassung), hg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiede-
mann, Frankfurt a. M. 2000.
die Texte wie LOGGIEN und DAS RUCKLICHTE MÄNN-
BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (IV, 235-304,
LEIN zeigen, wenn sie die Kluft zwischen der bürgerli- 964-986)
chen und der proletarischen Sphäre beschreiben und ZuM BILDE PROUSTS (II, 310-324)
diese gleichzeitig als Zeitschwelle zwischen den Jahr- AUSGRABEN UND ERINNERN (IV, 400-401)
Aus EINER KLEINEN REDE ÜBER PROUST, AN MEINEM VIER-
hunderten deutlich machen. So verdichtet sich in der
ZIGSTEN GEBURTSTAG GEHALTEN (!I, 1064)
Eingangssequenz des >>Bucklichte[n] Männleins<< die
psychoanalytische Topik des Traums und des Unbe-
Literatur
wußten mit der sozialen Dimension der gesellschaft-
Adorno, Theodor W. (1975): >>Nachwort<<, in: Walter Benja-
lichen Grenzen zu einem literarisch eingebetteten min: Berliner Kindheit um 1900, Frankfurt a.M.
Erinnerungsbild. Beschrieben wird zunächst der kind- Brüggemann, Heinz ( 1989 ): >>Fenster mit brennender Lampe
liche Blick, der beim Einkaufsbummel in der Stadt vor schadhafter Mauer- Räume und Augenblicke in Wal-
ter Benjamins Berliner Kindheit um 1900<<, in: ders.: Das
durch das >>waagerechte Gatter<< vor den Schaufenstern andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen, Frank-
in eine Luke fällt, die >>kaum ins Freie, sondern eher furt a. M., 233-266.
ins Unterirdische<< (429) geht. >>Daher die Neugier, mit Giuriato, Davide (2006): Mikrographien. Zu einer Poetologie
der ich durch die Stäbe jenes Gatters, auf dem ich ge- des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerun-
gen (1932-1939), München (Erscheinen angekündigt).
rade fußte, heruntersah, um aus dem Souterrain den Günter, Manuela (1996): Anatomie des Anti-Subjekts. Zur
Anblick eines Kanarienvogels, einer Lampe oder eines Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried
Bewohners davonzutragen. Wenn ich dem bei Tage Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein, Würzburg.
663

Hamacher, Werner (1986/87): >> The word Wolke- If it is one«,


in: Studies in twentieth century Literature 11, 133-162.
Aufzeichnungen
Hart-Nibbrig, Christiaan (1973): »Das Dejavu des ersten
Blicks. Zu Walter Benjamins >Berliner Kindheit um Neun- Tagebücher I >>Agesilaus Santander<< I Träume I Dro-
zehnhundert<<<, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Litera- genprotokolle I >>Verzeichnis der gelesenen Schrif-
turwissenschaft und Geistesgeschichte 47, H. 4, 711-729. ten<<
Harverty Rugg, Linda ( 1997): »The Angel ofHistory as Pho-
tographer: Walter Benjamin's >Berlin Childhood araund
1900«<, in: dies.: Picturing ourselves. Photography and Von Manfred Schneider
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Jacobs, Carol (1999): >>Berlin Chronicle. Topographically
Speaking<<, in: dies.: In the language of Walter Benjamin,
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Kany, Roland ( 1987): Mnemosyne als Programm. Geschichte, Walter Benjamins Aufzeichnungen haben in der For-
Erinnerung und die Andacht zu Unbedeutenden im Werk schung bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden. Tat-
von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen. sächlich enthalten diese Tagebücher, Notizen, Proto-
Lemke, Anja (2003): »>Im Gestöber der Lettern< - mediale
Übersetzungsprozesse der Erinnerung in Walter Benjamins kolle, Reisejournale, Träume zumeist Vorformen und
>Berliner Kindheit um neunzehnhundert<<<, in: Harald Vorstufen von weiter ausgearbeiteten Schriften. Solche
Hillgärtner/Thomas Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik. Vorstufen präsentieren sich im Nachlaß nicht mit glei-
Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld, 34-50.
cher Evidenz wie die Materialsammlungen, die zu
Lemke, Anja (2005): Gedächtnisräume des Selbst. Walter
Benjamins >Berliner Kindheit um neunzehnhundert<, verschiedenen Arbeiten und Essays vorliegen. Vor al-
Würzburg. lem aber geben diese sehr unterschiedlichen Notizen
Lindner, Burkhardt (1981): »Das Interesse an der Kindheit<<, Aufschluß über den Prozeß, der von Wahrnehmungen,
in: Literaturmagazin 14, 112-132.
Lindner, Burkhardt ( 1984 ): »Das >Passagenwerk<, die >Berliner Erfahrungen, Erlebnissen, Begegnungen, Lektüren hin
Kindheit< und die Archäologie des >Jüngstvergangenen<<<, zu den formal und gedanklich durchgearbeiteten >end-
in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Ben- gültigen< Texten führt. Die Aufzeichnungen gehören
jamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Mün- daher im Zeichen eines aktuellen Werkbegriffs zur
chen, 26-48.
Lindner, Burkhardt (1992): »Engel und Zwerg. Benjamins Substanz der Schriften. So wenig wie es ein definitiv
geschichtsphilosophische Rätselfiguren und die Heraus- abgeschlossenes Leben gibt, gibt es abgeschlossene
forderung des Mythos<<, in: Lorenz Jäger/Thomas Regehly Werke.
(Hg.): »Was nie geschrieben wurde, lesen<<. Frankfurter Im Widerspruch hierzu erscheint auffällig, daß Ben-
Benjamin-Vorträge, Bielefeld, 235-265.
Muthesius, Marianne (1996): Mythos Sprache Erinnerung. jamin mit dem Einsetzen seiner literarischen Aktivität
Untersuchungen zu Walter Benjamins »Berliner Kindheit als Schüler bereits auf sprachliche und formale Abge-
um neunzehnhundert<<, Basel/Frankfurt a. M. schlossenheit geachtet hat. Zitierbare Sätze zu schrei-
Pethes, Nicolas (1999): Mnemographie. Poetiken der Erinne-
ben, bildet von allem Anfang an sein Ziel. Im Mos-
rung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen.
Schneider, Manfred ( 1986): Die erkaltete Herzensschrift. Der KAUER TAGEBUCH gibt er zustimmend die Feststellung
autobiographische Text im 20. )h., München/Wien. seines Freundes Bernhard Reich wieder: »in der großen
Schöttker, Detlef (I 999): »Poetik der Erinnerung: Berliner Schriftstellerei sei das Verhältnis der Satzanzahl über-
Kindheit<<, in: ders. 1999, 223-243.
Schöttker, Detlef (1999): Konstruktiver Fragmentarismus. haupt zur Menge schlagender, prägnanter, formulier-
Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins ter Sätze wie 1:30- bei mir wie 1:2<< (VI, 330). Auch
Frankfurt a. M. die Entwicklung seiner Schriftzüge führt zu immer
Schuller, Marianne (2000): »Ent-Zweit - Zur Arbeit des höherer Konzentration und Kontrolle. Benjamins
>Bucklicht Männlein< in Walter Benjamins >Berliner Kind-
heit um neunzehnhundert<<<, in: Anja Lemke/Martin Weltbezug ist von Anfang an literarisch ausgerichtet;
Schierbaum (Hg.): »In die Höhe fallen<<. Grenzgänge zwi- auch seine Philosophie und Theorie zeigen stets eine
schen Literatur und Philosophie, Würzburg, 141-149. literarische Faktur. Dadurch sind die Kontaktstellen,
Stüssi, Anna (1977): Erinnerungen an die Zukunft: Walter an denen seine Sinne und sein Denken den Weltbezug
Benjamins »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert<<,
Göttingen. organisieren, streng kontrolliert. Wo den >Datenflüs-
Szondi, Peter (1978): »Hoffnung im Vergangenen<<, in: ders.: sen< der Welt Eingang gewährt wird, sind die Filter
Schriften Bd.2, Frankfurt a. M., 275-294. dicht. Wenn Benjamin von >>Chok<< spricht, von >>blitz-
Witte, Bernd (1984): »Bilder der Endzeit. Zu einem authen-
artiger Erleuchtung<< oder auch wenn ihn etwas >>be-
tischen Text der >Berliner Kindheit< von Walter Benjamin<<,
in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft troffen<< hat, spürt der Leser zugleich die starken Son-
und Geistesgeschichte 58, H. 4, 570-592. dierungen, die der >>Chok<<, die >>Blitze<< und das >>Be-
Wohlfahrth, Irving ( 1988): »Märchen für Dialektiker. Walter treffen<< durchlaufen müssen, um aufgeschrieben zu
Benjamin und sein bucklicht Männlein<<, in: Klaus Dode-
werden.
rer (Hg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur, Wein-
heim/München, 121-176. Bei ihrer Verarbeitung rufen alle Eindrücke, zumal
auf Benjamins vielen Reisen, gleich nach der Sprache
664 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

der Literatur und der Theorie. Die Welt sieht er erst, trachten die Welt zunehmend als »Physiognomiker
wenn sie spricht, wenn sie die Gestalt eines literari- der Dingwelt<< (V, 274).
schen Bildes angenommen hat. In seinem Journal Das früheste in den Gesammelten Schriften vollstän-
SPANIEN 1932 legte er daher die Devise nieder, daß es dig abgedruckte Dokument von Benjamins Hand ist
eine Sache von »Zeit und Studium<< sei, >>die nächste ein Bericht PFINGSTREISE VON HAUBINDA AUS, der mit
Nähe auch des Entferntesten gegenständlich zu ma- einiger Sicherheit in das Jahr 1906 fällt. Der Ausgangs-
chen<< (VI, 454). Den Bezug zu sich selbst und zu der punkt der Reise war das Landerziehungsheim Hau-
von ilim so genannten »Dingwelt<< überwacht ein un- binda in Thüringen. Dorthin war Benjamin von seinen
erbittliches Sprachbewußtsein. Mit Kar! Kraus erblickt Eltern aus Gesundheitsgründen von 1905 bis 1907
er in der Literarisierung des Alltags in den Feuilletons geschickt worden. Die Reise mit dem Schulfreund
»den Schauplatz der tiefsten Erniedrigung des ge- Hellmut Kautel führte über Lichtenfels, Bayreuth nach
druckten Wortes.<< (446). Dem stellte er die Anweisung Pegnitz in der fränkischen Schweiz, wo ein Aufenthalt
der EINBAHNSTRASSE entgegen:»[ ... ] führe dein No- für eine Woche geplant war. Auf den wenigen Seiten
tizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister<< werden Beobachtungen während der Bahnreise fest-
(IV, 106). gehalten, es fallen Bemerkungen über die Beziehung
zu dem Kameraden, die Beschwerlichkeit eines Fuß-
marsches. Dann bricht der Text unvermittelt ab. Wäh-
,,Tagebüchercc 1906 bis 1912 rend dieser Bericht noch Züge des Schulaufsatzes zeigt,
dokumentiert das TAGEBUCH PFINGSTEN 1911 bereits
Walter Benjamin hat nicht kontinuierlich Tagebuch den Willen zur literarischen Stilisierung. Die Reise
geführt. Als Sammler, Archivar, Autobiograph und gemeinsam mit dem Schulfreund Alfred Steinfeld ging
Briefschreiber bevorzugte er andere Formen, um sein nach Schloß Reinhardsbrunn in Thüringen. Dort stieß
persönliches Leben kontinuierlich für sich und zu Herbert Blumenthai dazu, und die drei Freunde ver-
anderen sprechen zu lassen. Dennoch verfaßte Benja- brachten die vier Tage vom 11. bis zum 15. April mit
min bereits als Schüler tagebuchartige Aufzeichnun- Spaziergängen und Wanderungen. Schon zu Beginn
gen auf Reisen. Die Gewohnheit behielt er bei. Aller- des Journals erkennt der Neunzehnjährige ein Grund-
dings gingen auch Journale der früheren Jahre, wie motiv seines Lebens: »Reisen und Lesen- ein Dasein
das WACHSTUCH-TAGEBUCH NACH HEINLES TOD (vgJ. zwischen zwei neuen aufschluß- und wunderreichen
VI, 631), verloren. Benjamin bewahrte die erhaltenen Wirklichkeiten<< (VI, 232). Reisen und Lesen bilden
frühen Tagebücher später in einem Umschlag auf und früh bereits ganz ähnliche Formen des Weltbezugs aus:
schrieb darauf ein Inhaltsverzeichnis, das die verschie- Texte werden ebenso auf ihr Wesen hin befragt wie die
denen Reisen und Tagbücher nach Ort und Zeit be- bereiste Welt. Die autobiographischen Notizen wollen
stimmte. (VI, 771) Alle Aufzeichnungen, Notizen und genau diese »Aufschlüsse<< und »Wunder<< festhalten,
Tagebücher haben einen nur wenig ausgeprägten dia- sie berichten von Erfahrungen und Lektüren. Den Li-
ristischen Charakter. Die Ansätze zum Tagebuch wur- teraturbezug dieser Reise mit zwei Mitgliedern des
den zumeist irgendwann abgebrochen, wie auch das gemeinsamen »Leseabends<< zeigt auch die Notiz: »Im-
frühe TAGEBUCH FÜR SCHREIBERHAU aus dem Jahre mer nach Spittelers Rat: nicht die Natur anglotzend,
1902 zeigt, das in die Gesammelten Schriften nicht Ein- sondern redend, über Berlin, Theater, Sprachverhun-
gang fand. Ein Ausschnitt daraus wurde erst 1990 zung<< (ebd.).
veröffentlicht (Marbacher Magazin 55, 1990, 16 f.) Die Im Juli 1911 unternahm Benjamin mit seiner Fami-
frühen Tagebücher zeigen, wie der Schüler in seiner lie und mit der Familie Crzellitzer seiner Tante Martha
Schreibweise Anschluß suchte an die literarische Tra- eine Reise in die Schweiz, wo man in Weggis und Men-
dition des Journals und des Reiseberichts, an Goethe, gen Hotels bezog, um u. a. den Luzerner See und den
Alexander von Humboldt, Chamisso, Pückler-Mus- Rütli zu besuchen. Von der Reise hat Benjamin auch
kau, Fontane. Tagebücher und Reiseberichte bilden briefliche »Bülletins über meinen Seelenzustand<< an
seit dem 18. Jh. wichtige literarische Medien der den Schulfreund Herbert Blumenilial geschickt. Das
Selbst- und der Weltbeobachtung. Sie gehören in den auf Papierbögen des Hotels Belvedere in Wengen nie-
modernen Prozeß der Experimentalisierung und der dergelegte TAGEBUCH VON WENGEN bemerkt über das
Protokollierung des Wissens. Benjamins frühe Versu- eigene Journalschreiben, daß es nicht kontinuierlich,
che in diesen Formen zeigen aber auch, daß sie für ihn sondern stets im Rückblick erfolgt, »teils weil ich er-
nur bedingt und zeitlich befristet brauchbar waren. fahrungsgemäß nicht jeden einzelnen Tag zum Schrei-
Sein Selbstbezug ist der des Lesers, und sein Weltbezug ben Zeit fmde, teils weil der Rückblick schon manches
der des Sammlers. Der Reisende wie der Sammler be- klärt<< (VI, 235). Offensichtlich beruht das Tagebuch
Aufzeichnungen 665

auf Exzerpten, und die endgültige Version erfährt eine muß die Gestalt eines literarischen Reiseberichts an-
sorgfältige Ausarbeitung: >> [... ] die Niederschrift eines nehmen. Zu Beginn des Journals stehen daher auch
Tagebuches kostet schon an sich genug geistige Arbeit<< programmatische Absichten: >>Aus dem Tagebuch, das
(241). Die Besichtigungen und Wanderungen erzählt ich schreiben will, soll erst die Reise erstehen. In ihm
der Journalautor breit, bisweilen ironisch. Er begreift möchte ich das Gesamtwesen, die stille, selbstverständ-
im Zuge dieser Niederschriften, daß Landschaftsbe- liche Syntllese, deren eine Bildungsreise bedarf und
schreibungen nicht seine Sache sind. Das Protokoll der die ihr Wesen ausmacht, sich entwickeln lassen. Um
Aussicht von der Station Eigerwand lautet: >>ein Aus- so unabweislicher ist mir dies, als durchaus keine Ein-
blick wie viele Ausblicke<< (242). An Blumenthai zelerlebnisse mit Macht den Eindruck dieser ganzen
schreibt Benjamin auch, daß er sich auf »romantische Reise prägten. Natur und Kunst gipfelten überall
Schilderungen<< und auf» Postkartenfabrikation aus gleichmäßig in dem, was Goetlle die >Solidität< nennt<<
freier Hand<< nicht verstehe (1, 31 f.). Das eigentliche (VI, 252). Das ist der Ton eines schriftstellerisch am-
Interesse des >>Pseudotagebuches<<, wie er es selbst bitionierten Abiturienten, der Leben und Erfahrung
nennt, bilden Beobachtungen von Personen und Be- nach kanonischen literarischen Modellen aufschreibt.
merkungen über die eigene Befindlichkeit. Deutlich Der Reisebericht soll ja auch den Freunden des >>Le-
privilegiert der Reisende Szenen in bewegter Perspek- seabends<< zugänglich gemacht werden. Momme Bro-
tive: auf Spaziergängen, auf Fahrten mit Dampfern, dersen bezeichnete dieses Journal sehr abfällig als
Trams, Eisenbahnen, Bergbahnen. Das Ergebnis hat >>ungelenk und misslungen<< (Brodersen 1990, 45). Das
Benjamin nicht befriedigt. An die Adresse von Blu- Urteil ist nur im Hinblick auf den großen Anspruch
menthai bemerkt er selbstkritisch: >>Was ich bis jetzt des jungen Autors gerechtfertigt.
geschrieben habe, ist schlecht; aber sicher gibt es wenig Hier wird bereits ein Zug des reifen Benjamin sieht-
schwerere schriftstellerische Aufgaben als ein Tage- bar, nämlich das immerbereite pointierte ästlletische
buch<< (1, 42). Urteil, das auch Kleinigkeiten nicht übersieht. So lau-
Eine weitere tagebuchartige Ausarbeitung dieser tet die Beschreibung eines geschmacklos eingerichte-
Reise in die Schweiz mit Eltern und Geschwistern hält ten Hotelzimmers in Mailand: >>Das eigentliche Bett
Erlebnisse in Chamonix und Genf fest. Gleich am An- ist aber Nebensache. Beherrschend ist ein ungeheuer
fang des nachträglich geschriebenen Reiseberichts VoN langer hölzerner Aufbau darüber. Völlig zwecklos stellt
DER SOMMERREISE 1911 stellt sich der Autor die Auf- er die Vereinigung von allerlei geraden und krummen
gabe: >>Ich will hier nachträglich einiges herausheben Linien in einen plumpen oberen Bogen vor und dies
und aufheben, da mancherlei und nicht zum wenigsten Spiel von Sinnlosigkeit und vehementer Häßlichkeit
auch die Schwierigkeiten der Aufgabe, eine leise liebe- wird lebhaft gesteigert durch kleine Aufbauten der
volle Schilderung auch des Alltages einer Reise, und Nachttische in ähnlicher Art und durch das dritte und
des gemäßigten, schön bewegten Schwankens und letzte Bett, das die Scheußlichkeiten der beiden andern
Träumens in Erwartung und befriedigtem Genuß ver- in seinem Aufbau variiert<< (VI, 265). Sehr kritisch
hindert hat<< (VI, 242). Bewußt und mit bisweilen fallen die Schilderungen einer Aufführung von Gabriele
virtuosen Sprachwendungen montiert der Autor Stim- d'Annunzios La Gloria im Mailänder Teatro Olympico
mungen und Bilder ineinander: >>Am Nachmittag aus und ebenso der Bericht über den Besuch der Mai-
bringt eine Fahrt auf dem See mir wieder diese seine länder Brera. Zwischendurch formuliert Benjamin
seltsam ruhige, fast wesenlose und tief beruhigende seine ästhetischen überzeugungen: >>Wir erkennen
Erscheinung vor Augen. Gewitterwolken stehen am eine grundlegende Zweiheit im ästhetischen Urteil:
Himmel, ganz gelb erstrahlt das Wasser an einer Stelle Das Urteil über das Werk, das zeitlos und über den
von ihrer Spiegelung, einige bewegtere Schaumwellen Meister, das zeitlich bedingt ist<< (VI, 283). Den größ-
erheben sich, aber vergebens erhoffe ich ein kleines ten Teil dieses Journals machen Berichte über den
stürmisches Abenteuer<< (245). Neben den Bildern von Aufenthalt in Venedig aus, wo die drei Studenten vier
Fahrten stehen subjektiv akzentuierte Eindrücke von oder fünfTage verbrachten und alle Sehenswürdigkei-
Vevey, Lausanne und Genf. ten abarbeiteten. Große Begeisterung spricht aus dem
Rund vierzig Seiten umfaßt das Journal MEINE Bericht nicht, die Eindrücke, so notiert Benjamin, ver-
REISE IN ITALIEN PFINGSTEN 1912. Die Reise nach dem blassen rasch, und die Erinnerungen ordnen sich von
Abitur mit den Klassenkameraden Erich Katz und selbst. Nach drei Tagen verwandelt sich auch >>das
Franz Sirnon führt über Locarno, Bellinzone, Lugano, Fremdeste und Schönste zum Angenehmen oder Un-
Mailand, Verona, Vicenza, Venedig nach Padua, von angenehmen, Praktischen oder Widrigen<< (VI, 285).
wo aus die Rückfahrt nach Freiburg angetreten wird. Erst nachdem er sich seiner Möglichkeiten als Schrift-
Das Unternehmen ist als Bildungsreise konzipiert und steiler sicher ist, liefern ihm Reisen Anlässe für kleinere
666 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

oder größere literarische Textstücke. Die von den Her- erst lasse sich der Kampf, der ihr Inneres durchläuft,
ausgebern der Gesammelten Schriften unter den DENK- richtig erkennen: >>Aus den Torbogen, an den Rahmen
BILDERN versammelten Städtebilder von Neapel, Mos- der Haustür springt in verschieden großen, schwarzen,
kau, Paris, Weimar oder auch Stücke wie NORDISCHE blauen, gelben und roten Buchstaben, als Pfeil <das>
SEE bezeugen die neue Qualität dieses Reisens und Bild von Stiefeln oder frisch gebügelter Wäsche, als
Sehens, das ein neues Schreiben sein wird. In dem ausgetretene Stufe oder als solider Treppenabsatz ein
Denkbild SAN GIMIGNANO steht dann die Lösungsfor- stumm in sich verbissenes, streitendes Leben an. Man
mel, wie es zu diesen Stücken kommt: >>Worte zu dem muß auch in der Tram die Straßen durchfahren haben,
zu finden, was man vor Augen hat - wie schwer kann um aufzufangen, wie sich dieser Kampf durch die Eta-
das sein. Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit gen fortsetzt um dann endlich auf Dächern in sein
kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild entscheidendes Stadium zu treten<< (VI, 306). Tram-
aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben ha- bahnfahrten oder auch Fahrten im Schlitten, da Mos-
ben<< (IV, 364). kau tief verschneit und ungeheuer kalt ist, eröffnen
bewegte und vom Mißlingen unberührte Erfahrungs-
räume (VI, 398). Dem Auge des Beobachters stellen
nMoskauer Tagebuch'' sich alle Bilder und Gestalten dabei in völliger Distanz
dar. Leere Läden, Schlangen vor Geschäften, das Ne-
Erst fünfzehn Jahre später verfaßt Benjamin wieder ein beneinander von Luxus und Armut. über die Lage der
ReisejournaL Schalem bezeichnet das Moskauer Tage- vielen Bettler auf den Straßen fällt die kühle Bemer-
buch als >>unstreitig das weitaus persönlichste, gänzlich kung, daß dies eine >>Korporation von Sterbenden<< sei.
und unbarmherzig offene Dokument<<, das wir von Ihre stärkste Grundlage habe die Bettelei eingebüßt,
Benjamin besitzen (Schalem 1983, 196). Es ist aber nämlich das schlechte gesellschaftliche Gewissen. Das
auch das Dokument eines Mißlingens. Nach wenigen spricht auch aus den Bemerkungen des Flaneurs. In
Tagen bereits erkennt Benjamin, daß ganz wie Asja seinen Augen verwandeln sich die Bettler in Bildzitate:
Lacis auch Moskau für ihn eine >>fast uneinnehmbare >>Ich sah auch einen Bettler genau in der Haltung des
Festung<< darstellt (VI, 316). Dieser Widerstand der Unglücklichen, dem der heilige Martin mit dem
Metropole resultiert zumal aus der Unkenntnis der Schwert seinen Mantel durchschneidet, kniend mit
Sprache. Rasch erwirbt der Besucher die Einsicht, daß einem vorgestreckten Arme<< (VI, 319). Diese Abküh-
>>nichts so eintrifft, wie es angesetzt war<< (VI, 312). lung des Blicks verläuft in einem mit der Enttäuschung,
Solches Mißlingen gehört dann zur Bilanz eines jeden die Moskau dem Besucher auferlegt. Während die er-
Tages und legt sich wie Mehltau über den Bericht: Mu- sten Journaleinträge noch kurze, aufmerksame, in
seen und Ausstellungen sind geschlossen, Restaurants physiognomische Details gehende Porträts einzelner
lassen sich nicht finden, Theaterkarten sind uner- Personen erstellen, etwa von Grigorij Lelevic oder Jo-
schwinglich, Rendezvous werden versäumt, Busse ver- seph Roth, läßt dieses Interesse im Verlauf der zwei
kehren nicht, Straßen werden nicht gefunden, Tram- Monate spürbar nach. Die Begegnungen der späteren
stationen verpaßt, immer wieder wartet er vergeblich, Wochen bleiben gesichtslos. Zu den Enttäuschungen
Nachrichten werden mißverstanden, das Zollamt ist zählt auch, daß die Zahl der durch Reich vermittelten
geschlossen, bei einer Abendeinladung gibt es kein Bekanntschaften begrenzt ist, und Gershorn Schalem
Essen, bei anderer Gelegenheit bietet man Süßigkeiten verwies bereits darauf, daß er im Wesentlichen nur
an, aber er hat schon gegessen etc. Das Mißlingen des Leuten der parteiinternen Opposition begegnete, die
Aufenthalts setzt sich aus einem Hagel solcher Minia- später kaltgestellt wurden (Schalem 1983, 197).
turkatastrophen zusammen (zu den politischen Ein- Da die Erfahrung nicht ins Innere der Stadt, der
drücken und Kontakten vgl. den Artikel >>Zur russi- Macht und des Privatlebens vordringt, heftet sie sich
schen Literatur und Kultur<<, 343-358). an Bilder in Theatern, Kinos und Museen. Das Tage-
Die Einträge des MosKAUER TAGEBUCH entziehen buch berichtet weiter vom Besuch einer Fabrik, von
sich diesem hartnäckigen Mißlingen stets dann, wenn einer Gerichtsverhandlung und von der Besichtigung
der Besucher jene kontemplative Haltung einnimmt, des Kremls, dessen gepflegtes Äußeres an die Bauten
die ihn zu genauen Beschreibungen der Stadt oder in der>> Musterstadt Monaco<< erinnert. Die eindrucks-
auch einzelner Museen gelangen läßt. Nur langsam vollsten Theatererlebnisse genießt Benjamin im revo-
zeichnet sich ein Bild der Stadt ab, denn >>Moskau sieht lutionären Theater Wsewolod Meyerhold, wo er am
freilich überall nicht recht wie die Stadt selbst aus, 19. Dezember einer Aufführung von Gogols Revisor
sondern eher wie ihr Weichbild<< (VI, 352). Auch Mos- beiwohnt, über die in Moskau heftig gestritten wird.
kau sollte man fahrend erleben, denn an vielen Details Von dem enormen Aufwand der Inszenierung, die über
Aufzeichnungen 667

vier Stunden dauerte, zeigt er sich ebenso beeindruckt lange aber das Christuskind braucht, um die Bewe-
wie von den vielen >>entzückenden Genrebildern<<. Die gungsfreiheit auf dem Arm der Mutter zu gewinnen,
Regie, die zahlreiche Szenen und Menschengruppen die es in jenen Epochen ausübt. Und ebenso dauert es
auf engstem Raume konzentriert, rühmt er als mei- Jahrhundertelang, bis sich die Hand des Kindes und
sterlich. Am 23. Dezember sieht Benjamin mit ähnli- die Hand der Gottesmutter finden« (VI, 378).
cher Begeisterung Meyerholds Inszenierung von Wenn am Ende der Moskau-Aufenthalt neben der
Ostrovskis Der Wald. Am 31. besucht er im Revoluti- literarischen Ausbeute doch noch zu einem kleinen
onstheater die Revue Dajosch Ewropa und lernt den Erfolg wird, dann gewährt ihn das Spielzeug. Der
berühmten Regisseur kurz kennen, der ihm Gelegen- Sammler Benjamin kehrt als Triumphator zurück, sein
heit gibt, im >>Museum« des Theaters die Modelle der Koffer steckt voller Beute. Das Kaufen von Spielzeug
Dekorationen zu besichtigen. Am 3. Januar sitzt er wird im Laufe der Wochen zu einer Obsession. Offen-
erneut in diesem Theater, um einer Diskussion über sichtlich drängt das Sammlerglück die Enttäuschungen
Meyerholds Inszenierung des Revisors beizuwohnen. der Reise in den Hintergrund. Das Tagebuch vermerkt
Zu den Diskutanten, die sich für Meyerhold einsetzten, mehr als zehn Mal Besuche in Spielzeuggeschäften.
zählt auch Wladimir Majakowski. Benjamin hat über Erworben werden Papierblumen, Puppen, Häuschen
diese Veranstaltung unter dem Titel DISPUTATION BEI aus Buntpapier, eine Balalaika, ein chinesischer Papier-
MEYERHOLD berichtet und beobachtet, daß>> Rußlands fisch, eine Harmonika, eine Holznähmaschine, eine
bedeutendster Regisseur« eine »unglückliche Natur« Schaukelpuppe aus Papiermache. Noch am vorletzten
ist (IV, 481--483). Benjamin erzählt auch von der ab- Tag der Reise ist Benjamin auf Spielzeugjagd. Weil er
lehnenden Reaktion der Partei. Prophetisch schreibt zuvor ein Spielwarenmagazin entdeckt hat, folgt er
er, daß es nun eine Front gegen Meyerhold gibt. Tat- sogar bei der Besichtigung des berühmten Klosters
sächlich überlebte der Regisseur die stalinistische Zagorsk der Führung nur ungeduldig und unaufmerk-
Wende nur kurz, sein Theater wurde 1938 geschlossen sam. Im Anschluß an die Besichtigung durchsucht er
und er selbst kam 1939 in Haft und starb ein Jahr spä- mit einem Bekannten einige dieser Magazine und ta-
ter. stet sich an unbeleuchteten Warenlagern entlang, um
Die kontemplativsten Momente erlebt Benjamin in noch Holzsachen und Papiermachespielzeug zu erste-
Museen. Die ersten Ausstellungen, die er zu Beginn hen. Im Spielzeugmuseum läßt er auch Fotos von ein-
aufsucht, zeigen Spielzeug. Er besucht auch das Mu- zelnen Stücken herstellen. Diese Bilder hat Benjamin
seum für Malkultur. Ausführlich studiert er in der 1930 mit einem kurzen Kommentar unter der Über-
Tretjakoff-Galerie die russische Genremalerei des 19. schrift RussiSCHE SPIELSACHEN in der Südwestdeut-
Jh.s. Länger und mit dem Ergebnis froher Stimmung schen Rundfunkzeitung veröffentlicht (IV, 623-25).
versenkt er sich dort in zwei Bilder von Schtschedrin, Das MOSKAUER TAGEBUCH schließt mit der Be-
die Sorrent und Capri zeigen, weil sie ihn an die erste schreibung des tränenreichen Abschieds von Asja La-
Begegnung mit Asja Lacis erinnern. Zufällig stößt er cis. Es folgt kein Resümee, keine Bilanz, und so wird
auf eine >>Sammlung der neuen Kunst des Westens« erkennbar, wie sehr diese Reise im Zeichen der Leiden-
mit bedeutenden Bildern der französischen Moderne. schaft für diese Frau gestanden hat. Moskau selbst
Am meisten berühren ihn hier im winterlichen Mos- bleibt eine Erfahrung, die Benjamin gegen alle späteren
kau zwei Pariser Boulevardansichten von Pissarro und Überlegungen immunisierte, seinen Exilstandort in
Monet, und er fühlt >>eine Sehnsucht nach dieser Stadt« Moskau aufzuschlagen. Der schließlich in Martin Bu-
(VI, 325). Auf seinem >>Besichtigungsplan« steht weiter hers Zeitschrift Die Kreatur veröffentlichte Moskau-
eine Ausstellung von Zeichnungen Geisteskranker im Aufsatz bildet eine eingehende Bearbeitung des Tage-
Polytechnischen Museum, die er erst einmal nicht fin- buchs. Das Rhythmische des Lebens in der Sowjet-
det, da sie über einen Seiteneingang zugänglich ist. Die union, das dort einen starken thematischen Akzent
im zweiten Anlauf studierten Bilder dort wecken aber bildet, ist in den Moskauer Notaten nur in Ansätzen
nur mäßiges Interesse. Am 15. Januar besucht er erst verzeichnet.
die Schtschukin-Galerie mit einer großen Gauguin-
Sammlung und später das Museum für Malerei und
Ikonographie, das die Sammlung des Malers Ilja "Reisetagebücher und Notizen<< 1927-1932
Ostouchov zeigt. Dort und im Historischen Museum
wenige Tage später studiert er die verschiedenen For- Nach der Rückkehr aus Moskau bleibt Benjamin nur
men und Ausdrucksweisen der Ikonen. Wie im Zeit- wenige Wochen in Berlin und zieht Ende März nach
raffer erkennt er die über Jahrhunderte laufende all- Paris. Von dort unternimmt er im Jahr 1927 mehrere
mähliche Veränderung der ikonischen Gesten: >>Wie Reisen. Mit seiner Frau Dora und mit seinem Sohn
668 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Stefan bereist er Anfang bis Mitte Juni die Riviera. Im strategische) Bemerkungen enthält auch eine auflosen
Casino von Monaco gewinnt er eine so bedeutende Blättern niedergelegte Nonz ÜBER EIN GESPRÄCH MIT
Summe Geldes, daß er eine Reise nach Korsika an- BALLASZ aus dem Jahr 1929.
schließen kann. In das Jahr 1930 fallen die REISENOTIZEN (VI, 419-
Die Reise an die Loire vom 12. bis 16. August steht 421) einer Fahrt nach Norwegen. Die Reise führt ihn
allerdings wieder einmal im Zeichen des Mißlingens. von Ende Juli bis Mitte August auf einem Dampfer
Eigentlich wollte er von dieser Reise einige »Darstel- über Trondheim und Troms0 bis über den Polarkreis
lungen« für die Frankfurter Zeitunggeben (3, 263). Das und in das nördliche Finnland. Die literarische Aus-
Angebot war aber bei Siegfried Kracauer auf Ableh- beute umfaßt eben drei Seiten, die nicht diaristisch
nung gestoßen. Außerdem wollte er die Reise mit einer angelegt sind, sondern einige literarische Räume spre-
Pariser Freundin unternehmen, die kurzfristig abge- chen lassen. Die Notizen über einen blonden Mann in
sagt hatte. Die Stationen der Reise sind Orleans, Blois, Rörwik, einen >>Intellektuellen und Clown«, über Häu-
Tours. Alle Plätze, die Benjamin aufsucht, bilden, wie ser und ihre Bewohner in Bergen, über Bäume und
er in dem TAGEBUCH MEINER LOIRE-REISE schreibt, Blumen im Norden und die leeren Straßen von Svol-
leere Rahmen für die vermißte Reisegefährtin. Die vrer bilden die Vorstufe des >>Zyklus« NoRDISCHE SEE,
journalartigen Aufzeichnungen, die gerade vier Seiten der im September in der Frankfurter Zeitung erschien
umfassen, füllen sich mit Bemerkungen des gekränk- (IV, 383-387; 997).
ten Liebhabers (VI, 409-413). Gewichtiger noch sind die Notizen MAI-JUNI 1931
Aufzeichnungen gibt es wieder aus Anlaß der Reise (VI, 422-441), die Benjamin auf losen Bögen nieder-
nach Frankfurt zur Beerdigung des Großonkels Arthur geschrieben hat. Die Bemerkungen entspringen den
Schönflies, des jüngeren Bruders seiner Großmutter, Beobachtungen und Erfahrungen während einer Reise,
der ein namhafter Mathematiker war. Hier werden die ihn diesmal für beinahe zwei Monate an die Cöte
einige Reflexionen über das Generationenverhältnis d' Azur führt. Dort lebt er in Gesellschaft von Wilhelm
formuliert. Sie sind als Notizen von der REISE NACH Speyer, seines Vetters Egon Wissing und dessen Frau
FRANKFURT 30 MAI 1928 wie das TAGEBUCH MEINER Gert. Zeitweise stoßen auch Bertolt Brecht und dessen
LOIRE-REISE in das schwarze Lederheft geschrieben. >>Stab von Freunden<< dazu, dem u. a. Elisabeth Haupt-
Unvermittelt aber wenden sich diese überlegungen mann, Carola Neher sowie Kurt WeiH und Lotte Lenya
zwei Schriftstellertypen zu: Da ist einmal der erfolg- zugehören. Die Aufzeichnungen halten eigene Gedan-
reiche Autor, der einen Kontakt zum Publikum unmit- ken fest, aber auch Gespräche mit den Freunden und
telbar gewinnt, während der andere Typus lange Zeit Bekannten. Benjamin setzt erneut zu einem Tagebuch
erfolglos versucht, der Leserschaft einen Begriff von an, weil er sich in einer tiefen Krise spürt. Er blickt
»seiner Denk- und Erfahrungswelt<< zu geben. Nur im zurück, Selbstmordgedanken klingen an. Nach der für
Grenzfall der >>genialen Autorschaft<< stießen die bei- ihn finanziell desaströsen Scheidung von seiner Frau
den idealen Typen zusammen. Dora ist er ganz darauf angewiesen, durch eigene ver-
Im September 1928 scheint Benjamin wieder den wertbare Arbeiten seinen Lebensunterhalt und die
Entschluß gefaßt zu haben, regelmäßig Tagebuch zu langfristig angelegten Projekte zu finanzieren. Die
führen. Die >VERSTREUTEN NoTIZEN JuNI BIS OKTO- Krise beschreibt er als>> Kampfmüdigkeit an der öko-
BER 1928< (VI, 415-418) enthalten unter dem 10. Ok- nomischen Front«. Er verspürt zugleich tiefe Abnei-
tober einen solchen Beschluß. Doch sind die Notizen gung gegenüber den Wegen, die er und andere Intel-
auch wieder nicht kontinuierlich niedergelegt, sondern lektuelle einschlagen, um der >>trostlosen geistespoli-
auf auseinander liegende Seiten des Pergamentheftes tischen Lage Herr zu werden<< (VI, 422). Die Lage
>>SSch<< [Slg. Scholem] eingetragen (VI, 790). Dazwi- vergleicht er mit den Rauschgifterfahrungen der letz-
schen stehen erste Entwürfe eines Drogenprotokolls, ten Zeit. >>Der universale Vorbehalt de<r> eigenen
das später in den Aufsatz HASCHISCH IN MARSEILLE Lebensweise gegenüber, zu dem die Betrachtung der
Eingang findet (vgl. die Anm. in VI, 822 f.). Vor allem Dinge in Westeuropa jeden Schriftsteller - ohne Aus-
sind es >>Gesprächsnotizen<<, die er sich machen will nahme wie mir scheint- nötigt ist aufbittre Art dem-
und die er auch als Protokolle seiner Diskussionen mit jenigen verwandt, den das Gift dem Berauschten sei-
Ernst Joel, Ernst Bloch undAlfred Sohn-Rethel geführt nen Mitmenschen gegenüber eingibt<< (VI, 422 f.).
hat. Teile dieser Notizen flossen in Benjamins Bericht Seine Bereitschaft, sich das Leben zu nehmen, stellt
über die von Ernst Joel1930 betreute Ausstellung >>Ge- er an das Ende einer Bilanz, wonach er ein Leben gelebt
sunde Nerven<< ein, die unter dem Titel BEKRÄNZTER habe, dem die >>höchsten Wünsche<< erfüllt wurden.
EINGANG in der Literarischen Welt erschien (IV, 557- Allerdings weiß er, daß die Lebenswünsche immer erst
561). Interessante sprachtheoretische (und gesprächs- nachträglich, als eine Art Schicksalstext, erkannt wer-
Aufzeichnungen 669

den. Bei der Aufzählung dieser Wünsche gelangt er gur zu Schweyk. Dieser sei einer, den nichts erstaunt,
über den ersten nicht hinaus: >>Von den drei größten während sich Kafkas K. über alles wundert. Allerdings
Wünschen meines Lebens habe ich den nach weiten, versucht Benjamin in diesen Aufzeichnungen stets
vor allem aber langen Reisen zuerst erkannt<< (VI, 423). auch kontrapunktisch zu den von Brecht geäußerten
Das Tagebuch läßt die beiden anderen Wünsche aber Thesen zu denken bzw. zu schreiben, sei es, daß es um
durchblicken. Eine Bemerkung über Ernest Heming- Kafka, um das Wohnen geht oder um Shakespeares
way definiert das gute Schreiben. Gutes Schreiben Romeo und Julia.
heißt nicht: genau sagen, was man denkt. >>Das Sagen Die Fortsetzung dieser Aufzeichnungen bildet das
ist nämlich nicht nur ein Ausdruck sondern vor allem im >>Mittleren Pergamentheft<< überlieferte TAGEBUCH
eine Realisierung des Denkens, die es den tiefsten Mo- VOM SIEBENTEN AUGUST NEUNZEHNHUNDERTEINUND-
difikationen unterwirft genau so wie das Gehen auf DREISSIG BIS ZUM TODESTAG. Benjamin ist inzwischen
ein Ziel zu nicht nur der Ausdruck eines Wunsches es nach Berlin zurückgekehrt. Der Titel deutet die düstere
zu erreichen sondern seine Realisierung ist<< (VI, 425). Stimmung an, in der dieser Journalversuch unternom-
Und auf nicht explizite Weise kommt der dritte men wird. Den unmittelbaren Anlaß für das Tagebuch
Wunsch zum Ausdruck, wenn er von einem Gespräch des Lebensmüden gibt die Nachricht des Verlegers
mit den Wissings über Erfahrungen in der Liebe be- Anton Kippenberg, der einen Buchvorschlag Benja-
richtet. Benjamin nimmt dabei einen Gedanken aus mins zu Goethes hundertstem Todesjahr ablehnt. Bis
der Aufzeichnung AGESILAUS SANTANDER vorweg, zum Juli 1932, dem Datum seines eigenen vierzigsten
wenn er sagt, daß ihn jede seiner drei großen Liebes- Geburtstages, wird sich der Gedanke an einen Selbst-
beziehungen verwandelt hat. Hier notiert er: >>Ich habe mord so weit ausbilden, daß Benjamin bereits Ab-
drei verschiedene Frauen im Leben kennen gelernt und schiedsbriefe an die nächsten Freunde verschickt und
drei verschiedene Männer in mir. Meine Lebensge- ein Testament aufsetzt. So will er die letzten Tage und
schichte schreiben, hieße Aufbau und Verfall dieser Wochen, wie es in dem Tagebuch heißt, klug und men-
drei Männer darstellen und den Kompromiß zwischen schenwürdig nutzen.
ihnen - man könnte auch sagen: das Triumvirat, das Wie anders als schreibend? Die ersten Bemerkungen
mein Leben jetzt darstellt<< (VI, 427). des nur drei Tage, den 7., 12. und 16. August umfas-
Diese Bemerkungen der Krise füllen die Tagebuch- senden Tagebuchs gelten Gerhart Hauptmanns Dra-
seiten des 4. bis 6. Mai. Unter dem 13. Mai notiert men Friedensfest und Einsame Menschen, die er eben
Benjamin eine erste Annäherung an die Aura-Konzep- gelesen hat. Die Thematik des Pathologischen in
tion der nächsten Jahre. Die Bilder der Landschaft, die Hauptmanns Stücken bringt ihn auf den Gedanken,
der Träumende sich macht, stellen einen >>düsteren daß die Krankheit in der modernen Gesellschaft em-
TrotZ<< gegen das Wissen dar, wonach im Inneren des blematisch ist wie der Wahnsinn bei den Alten. Das
Meeres, der Wolken, des Lebendigen dauernde Verän- inspiriert ihn zu einer Bemerkung zur Nervosität im
derungsprozesse stattfinden: >>Jede Nähe die ihn trifft, Jugendstil: >>Die Nerven jedenfalls sind inspirierte Fä-
straft ihn Lügen aber jede Ferne baut seinen Traum den, gleichen jenen Fasern, die sich mit unbefriedigten
wieder auf, an jedem verdämmernden Berggrat reckt Verjüngungen, mit sehnsuchtsvollen Buchten um Mo-
er sich hoch, an jedem erleuchteten Fenster entglimmt biliar und Fassade zogen<< (VI, 442). Weiter berichtet
er von neuem << (428). Der Gedanke setzt sich fort bei er von einem Gespräch mit Albert Salomon und Fritz
einem Besuch in Saint-Paul de Vence. Eben noch er- Holborn, denen er seine Vorstellung vom Historischen
klärt er seinen Begleitern, welches Glück darin liege, erläutert hat. Die Geschichte laufe nicht wie ein Fluß
daß dieser Ort von den Kinoleuten noch nicht entdeckt im Flußbett, sondern könne bildlich nur als Strudel
sei, da tauchen Lilian Harvey und Willy Fritsch in grö- verstanden werden. Aus einem Gespräch bei Willy
ßerer Gesellschaft auf. Haas über Marxismus und Kunst berichtet er, wie er
Die Journalseiten vom 3. bis 17. Juni 1931 enthalten weitläufige Thesen entwickelte, wonach der Journalis-
Nachschriften mehrerer Gespräche mit Brecht. Benja- mus die Kunst gegenwärtig assimiliert und ersetzt. Das
min stellte später eine Liste verschiedener Notizen von ist auch der Prozeß, dem sich Benjamin selbst zu ent-
Gesprächen mit Brecht zusammen, die im Kommentar ziehen sucht. In seinem Abschiedsbrief an Egon und
zu den Gesammelten Schriften zu finden sind (VI, 793) Gert Wissing bemerkte er darüber: >> [... ] mag er über
und die darauf hinweisen, welche Bedeutung der Autor den Wert seiner Produktion denken wie er will - die
den Äußerungen Brechts zugeschrieben hat. Im Juni Geschmeidigkeit, mit der sie, als journalistische, der
1931 drehen sich die Gespräche um Kafka, den Brecht Konjunktur sich anzupassen hat, hindert sie seiner
als prophetischen Autor charakterisiert. Bei anderer Existenz Dauer und Wachstum zu gewährleisten<< (4,
Gelegenheit bezeichnet Brecht Kafkas K. als Gegenfi- 118).
670 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Ehe er im Juli 1932 in Nizza dem Gedanken an einen Aufzeichnungen 1933-1939 (1):
Selbstmord bis kurz vor der Ausführung nachgibt, nAgesilaus Santandercc
unternimmt Benjamin im April1932 auf einem Frach-
ter eine Seereise von Harnburg nach Barcelona, von Mit der Orts- und Zeitbestimmung >>Ibiza 12 August<<
wo aus er nach Ibiza weiterreist. Von Ibiza begibt er und >>Ibiza 13 August<< hinterließ Benjamin zwei Fas-
sich dann im Juli über Mallorca nach Nizza. Auf Ibiza sungen eines rätselhaften, spielerischen Selbstporträts.
befaßt er sich in den Monaten April bis Juli mit der Die beiden Versionen des AGESILAUS SANTANDER trug
BERLINER CHRONIK und mit einem Reisebuch SPA- er in das >>mittlere Pergamentheft<<, wie er es selbst
NIEN 1932 (VI, 795), das Eindrücke der Seereise auf- nannte, ein (VI, 633). Das Heft enthält auch die Ein-
nimmt, aber auch Träume und Erlebnisse auf Ibiza. tragungen VOM SIEBENTEN AUGUST NEUNZEHNHUN-
Beide Texte sind in das gleiche mit braunem Leder DERTEINUNDDREISSIG BIS ZUM TODESTAG (VI, 441 ff.),
eingeschlagene Heft geschrieben und erproben eine REFLEXIONEN ZUM RUNDFUNK (Il, 1506f.) sowie die
ähnliche Darstellungstechnik Es wird die Technik der LEHRE voM ÄHNLICHEN (II, 204ff.). Die endgültige
DENKBILDER sein. Für das Reisebuch und seine Fort- Fassung des AGESILAUS SANTANDER ist nicht überlie-
schreibung erlegt sich Benjamin eine Disziplin auf, fert. Benjamin hat dieses Selbstporträt der holländi-
>>Welche es dem Autor verbietet, Effekte aus der ersten schen Malerin Anna Maria Blaupot ten Cate zuge-
Begegnung zu schlagen, der, wenn sie nicht als Impres- dacht, die er im Frühsommer 1933 auf Ibiza kennen
sion verwertet, sondern als Samenkorn dem Schoße gelernt hat. Der 13. August war der 31. Geburtstag der
des Gewohnten eingesenkt wird, später der wunder- jungen Frau, die Wil van Gerwen noch Anfang der 90er
bare Baum entwachsen kann, dessen Früchte das Jahre besucht und gesprochen hat (van Gerwen 1999,
Aroma der >nächsten Nähe< haben<< (VI, 454). Eine 969-981 ). Benjamin und Anna Maria Blaupot ten Cate
ganze Reihe der Texte dieses Spanienbuches wurde zu hatten sich ineinander verliebt, und das Prosastück
Geschichten verwertet, die in der Abteilung >>Kleine spricht in den letzten Zeilen die Beschenkte und Adres-
Prosa<< der Gesammelten Schriften zu finden sind, DIE santin direkt an. Es gibt noch einige Briefzeugnisse,
FAHRT DER MASCOTTE (IV, 738), DAS TASCHENTUCH die diese Liebesgeschichte dokumentieren; erst vor
(IV, 741), DER REISEABEND (IV, 745), GESCHICHTEN kurzem wurde die Stimme der Frau vernehmbar. (Luhr
AUS DER EINSAMKEIT (IV, 755). Es ist erstaunlich und 2000, 129-173) Der Entwurf eines Schreibens anAnna
von manchen Lesern auch bemerkt worden, daß diese Maria Blaupot ten Cate enthält vielleicht einige der
Aufzeichnungen von besonderer Ruhe und Abgeklärt- schönsten Liebesbriefsätze der deutschen Sprache:
heit zeugen. (Scholem 1975,226 f.) Benjamin will auch >>Aus Deinen Zügen steigt alles, was die Frau zur Hü-
dem Selbstmordgedanken noch eine literarische Er- terin, zur Mutter, zur Hure macht. Eines verwandelst
fahrung abtrotzen. Und so wie er das >>Sagen eine Mo- Du ins andere und jedem gibst Du tausend Gestalten.
difikation des Denkens<< nannte, so bildet das Schrei- In deinem Arm würde das Schicksal für immer aufhö-
ben hier eine Modifikation des Sterbens. Die schönste ren, mir zu begegnen. Mit keinem Schrecken und mit
Eintragung könnte die >>Geschichte der Einsamkeit<< keinem Glück könnte es mich mehr überraschen. Die
sein. Meditationen über die Einsamkeit gehen bis zum ungeheure Stille, die um Dich ist, deutet nur an, wie
18. Jh. zurück, wo der Arzt und Schriftsteller Johann weit von dem, was Dich am Tag beansprucht, Du ent-
Georg Zimmermann zuerst 1783 sein mehrbändiges fernt bist. In dieser Stille vollzieht sich die Verwand-
Werk Von der Einsamkeit veröffentlichte. lung der Gestalten<< (4, 278f.). Weiter zählen zu den
Für Benjamin aber ist die Einsamkeit nicht zeitlos. Zeugnissen dieser kurzen Liebe zwei Gedichte, eine
Die Moderne duldet sie nur noch als Abfallprodukt, fünfzeilige ungereimte Strophe sowie ein Sonett, die
denn wer sich absondert, der entdeckt immer die glei- in der Überschrift den Namen der jungen Frau nann-
che Gesellschaft. Die Eintragung schließt mit einem ten und die Benjamin gleichfalls in das >>Mittlere Per-
diskreten Selbstportrait >>So hatte einer, der mit der gamentheft<< eintrug, Sie sind neben anderen Materi-
Welt nicht zurechtkam, sich ins Innerste einer entleg- alen im Anhang des VI. Bandes der Gesammelten
nen Insel zurückgezogen. Wenige störten ihn auf, Schriften abgedruckt (VI, 810f.).
nichts aber wunderte sie so sehr wie die Beschlagenheit Gershorn Schalem, der dem AGESILAUS SANTANDER
des Mannes in allen Vorfällen und Intrigen des Kü- eine in der Hauptsache immer noch gültige Interpre-
stenlandes. Es war als hätte die Einsamkeit sein Ohr tation gewidmet hat (Schalem 1983), waren die bio-
geschärft und der Wind ihm die Skandalgeschichten graphischen Hintergründe noch unbekannt. Er hatte
zugetragen, die der Großstädter am Telefon in sich im September 1933 von Benjamin aus Ibiza brieflich
aufnimmt<< (VI, 455). die Bitte empfangen, ihm ein Gedicht von seiner
(Scholems) Hand auf Paul Klees Aquarell Angelus No-
Aufzeichnungen 671

vus, das Benjamin 1921 erworben hatte, zuzuschicken. des >>Mannbarwerdens<<, wird der Dreizehnjährige zum
Scholem hatte dieses Gedicht im Juli 1927 verfaßt, als erstenmal mit seinem >>geheimen<< Namen zur Lesung
das Bild für einige Zeit in seiner Münchner Wohnung der Tora aufgerufen. Dieser Name nun bleibt, wie Ben-
hing (2, 174f.). Im Sommer 1933 trug Benjamin seine jamin weiter schreibt, bei den wahrhaft Frommen
Bitte mit der Begründung vor, er habe auf Ibiza eine unverändert. Bei denjenigen aber, die in ihrem Leben
junge Frau kennen gelernt, die das weibliche Gegen- ein solches >>Mannbarwerden<< im Sinne einer eroti-
stück, ja, der Bruder des Angelus Novus sei. (4, 287) schen Erfahrung mehrfach erleben, kann sich ein Wan-
Die Ungenannte war Anna Maria Blaupot ten Cate. del ihres Namens vollziehen und dann schlagartig
Zehn Tage später wiederholte er diesen Wunsch und offenbaren. So tritt der esoterische Name mit einer
fügte hinzu, daß er es >>dem einzigen Subjekt zu un- neuen erotischen Erfahrung ins Exoterische. Das, so
terbreiten gedenke, welches ich - in den Jahren seit spricht das Ich des AGESILAUS SANTANDER, widerfuhr
Erwerbung des Angelus- neu in diesen schmalen, aber ihm. Das, so darf die beschenkte Leserin für sich er-
mir einzig vertrauten Sektor der Angelologie einzu- gänzen, widerfuhr ihm mit mir: nämlich die Verwand-
führen gedenke<< (4, 290f.). lung der >>geheimen<< Namen Benedix Schönflies in
Von Engeln spricht der AGESILAUS SANTANDER eso- Agesilaus Santander.
terisch und exoterisch. Scholem hat überzeugend Nun aber erst setzt die geheimnisvolle angelologi-
nachgewiesen, daß der rätselhafte Name weniger auf sche Lehre ein, von der Benjamin in seinem Brief an
den spartanischen König Agesilaus und auch nicht auf Scholem sprach. Der Name verwandelt sich nicht nur
die spanische Stadt Santander verweist, sondern ein selbst, sondern verwandelt auch denjenigen, den er
Anagramm darstellt. Aufgelöst lautet der Name >>der bezeichnet. Diese Kraft im Namen, diese Kraft des Na-
Angelus Satanas<<, wobei ein i noch übrig bleibt. Von mens, verkörpert sich in einem Engel. Und den Engel
einem solchen Angelus Satanas sprechen sowohl he- bringt der Sprechende weiter in Zusammenhang mit
bräische Texte, wie Scholem belegt, als auch der Apo- Paul Klees Bild des Angelus Novus. Diesen Angelus hat
stel Paulus im 2. Korintherbrief 12,7. Der Paulinische der Träger des alten Namens (erg. Benedix Schönflies)
Angelos Satanas ist mit dem abgefallenen Engel Luzi- als sein Bild an der Wand des Zimmers, das er in Ber-
fer, dem Lichtbringer, identisch. Dieser anagrammati- lin bewohnte, befestigt, ehe er >>aus meinem Namen
sche Name macht Sinn in der Reihe der Namen, die gerüstet und geschient ans Licht trat<< (VI, 522). Der
Benjamin von seinen Eltern gegeben wurden. Neben Angelus ist mithin das Bild des alten Namens. Dann
dem Rufnamen Walter >>gaben sie mir<< noch zwei aus- aber trat aus diesem alten Namen derjenige >>gerüstet
gefallene, >>an denen man weder sehen konnte, daß ein und geschient<< ans Licht, der jetzt als ein anderer
Jude sie trug, noch daß sie ihm als Vornamen gehör- spricht. Scholem kommentiert: >>Hier transzendiert
ten<< (VI, 521). Werner Fuld dokumentierte anhand Benjamin die alte angelologische Tradition, wonach
der von der Gestapo ausgestellten Ausbürgerungsur- der Engel des Menschen dessen reine, urbildliehe Ge-
kunde Benjamins, daß dieser tatsächlich noch die bei- stalt bewahrt und dadurch menschenähnlicher wird<<
den weiteren Vornamen Benedix und Schönflies trug (Scholem 1983, 53). Weiter aber beruft sich der Spre-
(Fuld 1981, 253-263). Benedixwar auch der Vorname cher des AG ES ILAUS SANTANDER auf eine kabbalistische
seines Großvaters von der Vaterseite, Schönflies der Lehre, wonach Gott in jedem Augenblick eine Unzahl
Familienname der mütterlichen Linie. In dem an die neuer Engel schafft, die bestimmt sind, ehe sie wieder
junge Freundin gerichteten Geburtstagstext nennt ins Nichts vergehen, vor seinem Thron sein Lob zu
Benjamin diese Namen nicht und behält auch sie ge- singen. Der Angelologe behauptet nun, daß sich der
heim. Dazu erklärt er, indem er über sich als eine dritte Angelus Novus als einen solchen Engel ausgab, ehe er
Person spricht, daß der Träger dieser Namen die klu- in den Satansengel verwandelt wurde. Daher sei er
gen Vorkehrungen der Eltern nicht beachtete. Statt die nicht zu seinem Gottesgesang gekommen. Aber der
Namen mit seinen Schriften >>öffentlich zu machen, Angelus habe ihm das heimgezahlt: Er schickte >>seine
hielt er es wie die Juden mit dem zusätzlichen [Namen] weibliche Gestalt der männlichen im Bilde auf dem
ihrer Kinder, der geheim verbleibt<< (VI, 522). Erst längsten, verhängnisvollsten Umweg nach, obschon
wenn die Knaben >>mannbar<< werden, wird ihnen ihr doch beide einmal - nur kannten sie einander nicht,
geheimer Name mitgeteilt. Scholem hat auf die nicht aufs innigste benachbart gewesen waren<< (VI, 522).
völlig zutreffende Darstellung des jüdischen Namens- Diese weibliche Gestalt des Angelus Novus, so
ritus hingewiesen. Nur in assimilierten jüdischen Fa- konnte man in Benjamins Brief an Scholem lesen, ist
milien war es üblich, einen zweiten oder dritten Na- nun die junge Frau, in die er sich >>verhängnisvoll<<
men, der dem Knaben gegeben wurde, geheim zu verliebt hat. Daher spricht Will van Gerwen auch von
halten. Erst bei der Bar Mitzwa, dem religiösen Ritus der >>Angela Nova<< (van Gerwen 1997). Aber diese
672 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Schwester erschien ihm auf dem »längsten Umweg<<. hat, deutet Anna Maria Blaupot ten Cate in einem
Dies nun führt zu einer Bemerkung des Sprechers, daß späteren Brief an: >>Und ich mag Sie auch bedingungs-
er stets, wenn er sich in eine Frau verliebte, entschlos- los- obwohl ich Sie nicht immer verstehe [ ... ] << (Luhr
sen war, sich auf die Lauer ihres ganzen Lebens zu 2000, 152). Benjamins briefliche Bitte um Scholems
legen, bis sie krank, gealtert, in zerschlissenen Kleidem Gedicht zur angelalogischen Belehrung eines weibli-
in seine Hände fiel. Die Schwingen dieser Geduld, so chen Gegenstücks Angelus Novus gibt einen Hinweis,
fährt er fort, ähneln den Schwingen des Engels darin, daß der Schenkende der Beschenkten einige Rätsel des
daß sie nur wenige Stöße benötigen, um sich im An- Textes lösen wollte. Im Text, der eine Gabe ist, ist selbst
gesicht dessen zu halten, von dem er nicht mehr lassen von Gaben, vom Schenken und von der Verwandlung
wollte. Dann aber heißt es, indem der Sprecher zur durch Gaben, von der Magie der Gaben, die Rede: von
Ich-Perspektive zurückkehrt, der Engel ähnelt allem, der Gabe der Namen, der Gabe, >>menschenähnlich zu
»wovon ich mich habe trennen müssen: den Menschen erscheinen<<, den Gaben/Geschenken an andere. Von
und zumal den Dingen<< (VI, 523). Er haust in allen den Gaben, der Kraft der Gaben, gehen umgekehrt
Dingen, die er nicht mehr hat. Er ist ein Engel der auch wieder Verwandlungen aus: die Verwandlung des
Gabe, denn er macht die verlorenen Dinge durchsich- Namens, die Verwandlung durch nicht-jüdische Na-
tig und gibt den zu sehen, dem die Gabe zugedacht men, die Verwandlung durch erotische Erfahrungen,
war. Daher auch »bin ich von niemandem im Schenken die Verwandlung durch Geschenke. Dem Namen und
zu übertreffen.<< Das Geschenk gibt den Beschenkten Bild des Namens, heißt es im AGESILAUS, wird die Gabe
zu erkennen. Vielleicht aber wurde dieser Engel von genommen, menschenähnlich zu sein. Diese werden
einem Schenkenden angelockt, der leer ausging. Viel- aus der Macht der Ähnlichkeit herausgerissen und dem
leicht gerade von dem, der spricht. Denn dieser Engel Wandel übergeben. Nur so ist Liebe möglich. Ersicht-
faßt denjenigen, den er aufsucht, fest ins Auge und lich kehrt hier der Gedanke aus dem autobiographi-
zieht sich dann stoßweise und unerbittlich zurück. schen Abriß in den Notizen MAI-JUNI 1931 wieder,
>>Warum? Um ihn sich nachzuziehen, auf jene<m> wonach der Schreiber ein Triumvirat von drei Män-
Wege in die Zukunft, auf dem er kam und den er so nem in sich vereinigte. Jeder wurde durch eine andere
gut kennt, daß er ihn durchmißt ohne sich zu wenden Frau verwandelt. Und ein Blick in den bereits zitierten
und den, den er gewählt hat, aus dem Blick zu lassen. Brief an Anna Maria Blaupot ten Cate vom August
[... ] So wie ich, kaum daß ich zum ersten Male dich 1933 zeigt, daß auch sie die Verwandlung von Mutter,
gesehen hatte, mit dir dahin zurückfuhr, woher ich Hüterin, Hure ist. So unterzeichnet auch Anna Maria
kam« (VI, 523). Blaupot ten Cate mit einem anderen Namen: Sie nennt
Die letzte Bemerkung erinnert sehr an die beiden sich Toet. Was im Text der Verwandlung entspricht,
anderen prominenten Stellen, an denen Benjamin den sind Bilder, die sich als Kippbilder betrachten lassen,
Angelus Novus aufruft, in seinem großen Essay KARL sind Sätze, die in mehreren Bedeutungen schillern. Wie
KRAus sowie in der IX. der so genannten Geschichts- anders erklärt man die Liebe als durch das Bekenntnis
philosophischen Thesen. Auch nach dem Wortlaut der Verwandlung? Und soll nicht auch diese Gabe, die
dieser beiden weitgehend identischen Passagen starrt der Text selbst sein will, die Geburtstagsgabe, das Ge-
der Engel auf etwas, wovon er sich entfernt; auch er ist schenk eine solche Wandlungsmacht ausüben?
auf dem Weg in die Zukunft, der er den Rücken zu-
kehrt (I, 697f.). Dieses Zitat des eigenen künftigen
Werkes in dem kleinen Text, diese esoterische, zugleich Aufzeichnungen 1933-1939 (II):
private wie philosophische Dimension, hat zu vielen Gespräche mit Brecht
Interpretationen und Debatten angeregt. Scholems
frühe Deutung stieß zum Teil auf Ablehnung, da man Die gleichfalls in das >>Mittlere Pergamentheft<< einge-
ihm gerne unterstellte, Benjamin, der sich intellektuell tragenen NoTIZEN SvENDBORG SoMMER 1934 schließen
ortlos zwischen Moskau, Berlin, Paris und Jerusalem an die Aufzeichnungen von Gesprächen mit Brecht,
bewegte, nach Jerusalem zu holen, nämlich in der jü- die bereits im Journal MAI-JUNI 1931 einsetzen, an.
dischen Sphäre seines Denkens festzuhalten (vgl. Fuld Benjamin verbrachte 1934 die Monate von Juni bis
1981, 26 ff.; weitere Beiträge: Wolf 1991, Lindner 1992, Oktober, und 1936 und 1938 jeweils mehrere Sommer-
Werkmeister 1999, van Gerwen 1999, Baumann wochen als Gast Bertolt Brechts in Svendborg!Däne-
2002). mark. Diese Notizen sowie auch die verlorenen Ge-
Der kleine Text ist ein Geschenk, eine Gabe. Nur von sprächsprotokolle seiner Begegnungen mit Brecht
daher erschließt sich diese rätselvolle autobiographi- deuten darauf hin, daß Benjamin zeitweise Material
sche Etüde. Daß sie Benjamin nicht immer verstanden sammelte, um über Brecht zu schreiben. Die Gesprä-
Aufzeichnungen 673

ehe der Sommermonate 1936 drehen sich vor allem sein. Bereits in einem Brief an Gretel Karplus vom Juli
um Benjamins Aufsatz DER AuTOR ALS PRoDUZENT 1933 hatte Benjamin darauf hingewiesen, daß er in
und um seinen Kafka-Essay. Brecht will sich scharf dem LoGGIEN überschriebenen Stück der BERLINER
vom bürgerlichen Produzenten unterscheiden, den KINDHEIT UM 1900 >>eine Art von Selbstporträt<< er-
Benjamin beschrieben hat, ebenso vom Substanz- blickte. An gleicher Stelle bemerkt er, daß die nach
Dichter, wie er ihn nennt, dem Visionär, der es >>ganz 1933 schwierig gewordene Veröffentlichung dieses Bu-
ernst<< meint. Brecht zählt sich selbst zu den >>Beson- ches ebenso zu einer >>notwendigen Verhüllung<<
nenen<<, die es eben nicht vollständig ernst meinen. Die zwinge (4, 275 f.). Darum stehen auch diese MATERI-
von ihm hochgeschätzten Dichter Kleist, Grabbe, ALIEN ZU EINEM SELBSTPORTRÄT im Zeichen der Ver-
Büchner, Kafka rechnet er zu den Gescheiterten. Vor- hüllung und Verborgenheit. Und so lautet der letzte
behalte äußert Brecht auch gegenüber Benjamins Satz: >>Auflösung des Rätsels, warum ich niemanden
Kafka-Essay.Angemessen sei nicht die Frage nach dem erkenne, die Leute verwechsle. Weil ich nicht erkannt
Wesen einer Dichtung, die Benjamin stellt, vielmehr sein will; selber verwechselt sein will<< (VI, 532).
müsse man Kafka innerhalb seines Milieus sehen und In den TAGEBUCHNOTIZEN 1938, die im März des
seine Reaktionen auf die Umwelt bewerten. Die Tiefe Jahres einsetzen, hielt Benjamin neben einigen Träu-
eines Dichters, fährt Brecht fort, die Geheimniskräme- men erneut seine Gespräche während der Sommerwo-
rei sei wertlos. Man muß vom Dichter nehmen, was chen in Svendborg mit Brecht fest. Themen dieser
nützlich ist. In einer weiteren Diskussion über Kafka Gespräche sind u. a. das epische Theater, die Lage in
entwickelt Brecht einen anderen Gedanken: Kafka sei der Sowjetunion, über die sich Brecht keine Illusionen
ein Dichter aktueller Übelstände, im Prozeß stecke die macht. Benjamin zitiert wörtlich: >>Daß auf der andern
Angst vor dem ungeheuren Wachstum der Städte. Kaf- Seite, in Rußland selbst, gewisse verbrecherische Cli-
kas Perspektive sei die eines Mannes, >>der unter die quen am Werke sind, darin ist kein Zweifel. Man er-
Räder gekommen ist<< (VI, 529). Ihre verschiedenen sieht es von Zeit zu Zeit aus ihren Untaten<< (VI, 536 f.).
Sichtweisen entwickeln die beiden Diskutanten am Als Brecht Benjamin bei der Lektüre des Kapitals an-
Beispiel von Kafkas knapp zehn Zeilen langer Erzäh- trifft, begrüßt er diese Lektüre, zumal bei >>unseren
lung Das nächste Dorf Für einen alten Mann ist das Leuten<< Marx immer weniger studiert werde. Benja-
Leben erstaunlich kurz, und die Erinnerung drängt min antwortet darauf, er nehme die vielbesprochenen
alles so zusammen, daß er kaum begreift, wie ein jun- Bücher am liebsten dann vor, wenn sie aus der Mode
ger Mann einen Ritt ins nächste Dorf unternehmen seien. Benjamins Hinweis, daß Goethes Wahlverwandt-
könne, wo schon die Zeit eines gewöhnlichen glückli- schaften bei den Zeitgenossen keine gute Resonanz
chen Lebens dafür zu kurz sein könne. Brecht hält die fanden, quittiert Brecht mit der Bemerkung: >>Die
kleine Fabel für ein Gegenstück zum Wettlauf zwi- Deutschen sind ein Scheißvolk<< (537). In der Diskus-
schen Achill und der Schildkröte. Wer einen Ritt ins sion darüber, ob auch die >>Kinderlieder<< Eingang in
nächste Dorf in seine kleinsten Teile zerlegt, der wird seine Gedichte aus dem Exil finden sollten, spricht
selbst zerlegt und für den ist die Einheit des Lebens Brecht mit seltener Heftigkeit, daß man die Faschisten
dahin. Benjamin hingegen meint, daß sich für Kafkas mit allen Mitteln bekämpfen müßte: >>>Sie planen auf
Mann das Leben in Schrift verwandelt hat, die sich nur dreißigtausend Jahre hinaus. Ungeheures. Ungeheure
noch rückwärts lesen lasse. Nur so begegnen die Alten Verbrechen. Sie machen vor nichts halt. Sie schlagen
sich selbst, nur so können sie es verstehen. auf alles ein. Jede Zelle zuckt unter ihrem Schlag zu-
Ein anderes Mal kommen Brecht und Benjamin auf sammen. Darum darfkeine von uns vergessen werden.
Dostojewskij zu sprechen. Die Lektüre von Schuld und Sie verkrümmen das Kind im Mutterleib. Wir dürfen
Sühne macht Brecht für Benjamins aktuelle Krankheit die Kinder aufkeinen Fall auslassen.<<< Daraufuin no-
verantwortlich. Dostojewskij und Chopin hält Brecht tiert Benjamin: >>Während er so sprach fühlte ich eine
für besonders gefährlich. Als Jugendlicher sei bei ihm Gewalt auf mich wirken, die der des Faschismus ge-
durch das Hören Chopinseher Klaviermusik eine lang- wachsen ist<< (VI, 539).
wierige Krankheit ausgebrochen. Gegenüber seinem In seine Aufzeichnungen der Gespräche mit Brecht,
Favoriten Hasek sei Dostojewskij ein >>Würstchen<<. den er sehr bewundert, fließen häufig irritierte Bemer-
Im >>Mittleren Pergamentheft<< folgt dann ein kurzer kungen über Brechts Sprechweise ein, wie dieser zum
Text MATERIALIEN ZU EINEM SELBSTPORTRÄT (VI, Beispiel Dostojewski als >>Würstchen<< bezeichnet oder
532). Das Selbstporträt bietet eigentlich neben zwei die >>Nichtsnutzigkeit<< Kafkas betont. Schließlich
biographischen Anekdoten nur einen Hinweis, was in bringt er Brecht dazu, die >>Oberflächlichkeit<< seiner
diesem >>Porträt<< zu sehen gegeben werden soll: den Formulierungen einzugestehen.
Wunsch nach Unerkennbarkeit oder nach Unerkannt- Eine letzte NoTiz ÜBER BRECHT findet sich in dem
674 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Nachlaß, den Benjamin 1940 der Bibliotheque Natio- unterbrach ihn, aber er erzählte doch<< (Lacis 1971, SO).
nale anvertraute. Sie ist von Heinrich Blücher angeregt, Gershorn Scholem berichtet, daß Benjamin oft Träume
der bestimmte Momente in Brechts Lesebuch für Städ- erzählte und gerne auf das Thema der Traumdeutung
tebewohner als Formulierungen der GPU- Praxis, d. h. zu sprechen kam (Scholem 1975, 80). So erzählte er
des von Trotzki gegründeten sowjetischen Geheim- bereits um 1920, daß ihm der Tod seiner Tante Frie-
dienstes und seines Terrors, bezeichnet. Benjamin hatte derike Joseephi im Jahr 1916 in einem symbolischen
in seinem KoMMENTAR ZU GEDICHTEN VON BRECHT Traum angekündigt worden sei. Benjamin hat eine
das dritte Gedicht aus dem Lesebuch so kommentiert, ganze Reihe von Schriften Freuds gelesen, ob er auch
daß die Verse, die vorgeben, wie >>wir mit unseren Vä- die Traumdeutung genau kannte, ist zweifelhaft. Gewiß
tern sprechen<<, den Sadismus Hitlers und die Über- galt Benjamins großes Interesse an Träumen und an
tragung aller kapitalistischen Weltübel auf die Juden der Traumdeutung nicht in erster Linie der Psycho-
ansprächen (II, 557f.). Der Antisemitismus sei die analyse. Aber seine Traumtheorie zeigt eine gewisse
Parodie des Klassenkampfes. Nachträglich bezeichnet Verwandtschaft zu Freuds These vom Traum als
Benjamin diesen Kommentar als »eine Vertuschung Wunscherfül!ung. In ERFAHRUNG UND ARMUT heißt
der Mitschuld, die Brecht an der gedachten Entwick- es: »Auf Müdigkeit folgt Schlaf, und da ist es denn gar
lung hatte<< (VI, 540). Auch die GPU-Praxis höre auf nichts Seltenes, daß der Traum für die Traurigkeit und
die Ankündigung des Gedichts »Du sollst verschwin- Mutlosigkeit des Tages entschädigt und das ganz ein-
den wie der Rauch im Himmel.<< fache aber ganz großartige Dasein, zu dem im Wachen
die Kraft fehlt, verwirklicht zeigt<< (II, 218). Auch in
der BERLINER KINDHEIT taucht dieser Gedanke der
Träume Entschädigung durch Schlaf und Traum auf (IV, 298).
In der Glosse TRAUMKITSCH regt Benjamin 1927 eine
Zu den Notizen und Aufzeichnungen Benjamins ge- Geschichte des Traumes an. Auch das Träumen habe
hören zahlreiche Träume. Er hat Ignaz Jetowers an der Geschichte teil. Daher lasse sich jetzt nicht mehr
Traumsammlung von 1928 mit zehn Träumen beliefert träumen wie in der Romantik. Die Träume heute seien
(Jetower 1985), er hat eigene Träume gesammelt und nur noch ein Richtweg ins Banale, und was die Sur-
sie auch unter dem Titel SELBSTBILDNISSE DEs TRÄU- realisten produzierten, indem sie das Träumen gleich
MENDEN veröffentlichen wollen (vgl. IV, 991). Diese Dichten nennten, sei eine zum Kitsch verklärte Traum-
»Selbstbildnisse<< gehören zu jenem Typ von Nachricht welt. Hier beruft sich Benjamin doch kurz auf die
an die lesende Welt, in denen der Schriftsteller sich Psychoanalyse, welche geträumte Vexierbilder als
zugleich mitteilt und verhüllt. Auch die Aphorismen »Schematismen der Traumarbeit<< aufgedeckt habe.
und Prosastücke der EINBAHNSTRASSE enthalten fünf »Was wir Dichtung nannten, beginnt erst zwei Meter
Träume. Da die Traumnotate doch erst Mitte der 20er vom Körper entfernt<< (II, 620 ff.). Ein Zeit- und ein
Jahre einsetzen, ist die Vermutung begründet, daß so- Raumintervall trennen jede Erfahrung von der Dich-
wohl die Psychoanalyse als auch der Surrealismus die tung.
Anregung dazu gaben. Erst im Aufsatz DER SüRREA- In einem EntwurfKAPITALISMUS ALS RELIGION, der
LISMUS prägt er die Formel von der profanen Erleuch- auf die Zeit um 1921 zu datieren ist, hat Benjamin
tung, die der Traum gewähren kann (II, 297). Sollten auch eine Verbindung zwischen Unbewußtem und
auch die Träume zu den Werken der Dichter gerechnet Kapitalismus hergestellt, wenn auch in einem bildli-
werden? Diese Ansicht vertraten zeitweise die Surrea- ehen Zusammenhang: »Das Verdrängte [ ... ] ist aus
listen. Mehrfach erwähnt Benjamin die Anekdote aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapi-
Andre Bretons erstem Manifest des Surrealismus, wo- tal, welches die Hölle des Unbewußten verzinst<< (VI,
nach der Dichter Saint-Pol-Roux jeden Tag vor dem 101). Die Anregung des Surrealismus, die über diese
Schlafengehen an seiner Tür ein Schild befestigte: »Le Position hinausführt, läßt sich vielleicht so pointieren,
poete travaille<< (II, 296f.; II 621). Aber mit den Anre- daß Träume nicht nur individuelle Ereignisse sind,
gungen, die Benjamin empfängt, setzen gleich die Kri- sondern einen historischen, politischen oder revolu-
tik am Surrealismus und die Distanzierung von den tionären Sinn in sich tragen. Darüber geben viele Be-
surrealistischen Kunstauffassungen ein. merkungen des Passagen-Werks Aufschluß: »Die Ju-
»Geträumte Selbstbildnisse<< teilt Benjamins Freun- genderfahrung einer Generation hat viel gemein mit
den auch bisweilen mündlich mit, und manche seiner der Traumerfahrung. Ihre geschichtliche Gestalt ist
Zuhörer zeigten sich durch diese Mitteilungen irritiert Traumgestalt<< (V, 490). Über den Charakter des
und befremdet. »Oft erzählte er mir seine Träume<<, Traumbildes führt Benjamin in den 30er Jahren eine
erinnert sich Asja Lacis. »Ich hörte sie ungerne und lebhafte Diskussion mit Adorno. In seinem Adorno
Aufzeichnungen 675

zugeleiteten Expose der Passagen-Arbeit hatte er das Benjamin in der Nacht vom 11. auf den 12. Oktober
»Gesetz der Dialektik im Stillstand« als >>Traumbild<< 1939. Den Traum hat er zuerst Gretel Adorno mitge-
bezeichnet, das dem »kollektiven Unbewußten<< ange- teilt (6, 34lff). Er ist aber auch in die Gesammelten
höre, und weiter geschrieben: »Ein solches Bild stellt Schriften aufgenommen worden (VI, 540ff.). Den
die Ware schlechthin: als Fetisch<< (V, 55). Diese De- Traum hatte er auf dem Stroh des Lagers in Nevers,
komposition der Ware zu einem Symptom des Unbe- einem Loirestädtchen, wo er interniert war, als gleich
wußten wollte Adorno nicht mitmachen. (Briefwech- nach Kriegsbeginn im September 1939 alle Deutschen
sel mit Adorno, 138 ff.) Die theoretische Begrifflichkeit, und Österreicher zunächst in einem Pariser Stadion
die sich um Benjamins Traumkonzepte rankt, bedarf gesammelt und anschließend auf verschiedene Lager
einer eigenen Untersuchung. Gute Ansätze dazu finden verteilt wurden. Die Mitteilung an Gretel Adorno lei-
sich bei Valerie Baumann (vgl. Baumann 2002, tet Benjamin mit der Bemerkung ein, daß er einen
75 ff.). solchen Traum nur alle fünf Jahre erlebe. Der Traum
Anders als die Traumdeutung, die mit der Selbstbe- ist gewoben um das Motiv des Lesens und um das
obachtung und dem Experimentprotokoll im 18. Jh. Motiv des Bettes, des Gelagertseins, des Grabes. Sein
einsetzte, ist Benjamins Glaube an den Traum nicht Zentrum ist eine Episode, wo der Träumer mit einem
wissenschaftlich, sondern theoretisch und literarisch. Begleiter zu einer Gruppe von drei oder vier schönen
Von der Wissenschaft des 18. und 19. Jh.s übernimmt Frauen stößt. Eine von ihnen befaßt sich mit einer
er lediglich das Verfahren des Protokolls (zu dieser graphologischen Expertise. Sie hat etwas in der Hand,
Praxis vgl. Schmidt-Hannisa 2005). Der literarische was mit Schriftzeichen von des Träumers Hand be-
Traum bringt im 20. Jh. zahlreiche Traumbücher her- deckt ist. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, daß
vor: von Friedrich Huch, Isolde Kurz, Wieland Herz- die Frau ein Stück Stoff in der Hand hält, das mit Bil-
felde, Michel Leiris oder Wolfgang Bächler (vgl. dern bedeckt ist. Die einzigen Schriftzüge, die er darauf
Schmidt-Hannisa 2005) und Traum-Archive (vgl. auch entdecken kann, sind die Oberlängen des Buchstaben
Jeiower 1985). Benjamins These von der Geschicht- >d<, die in ihrer langen Ausfaserung »une aspiration
lichkeit des Traumes hat sich in der Literatur nieder- extreme vers Ia spiritualite<< (»ein außerordentliches
geschlagen, wie etwa in der Sammlung Das Dritte Reich Bestreben zur Vergeistigung<<) ausdrücken (VI, 541).
des Traums, das Träume aus der Zeit zwischen 1933 Gleich gibt der Träumer (auf Französisch) eine Erklä-
und 1939 versammelt (Beradt 1966). rung, die Benjamin in seinem Brief selbst übersetzt,
Benjamins Schlaferfahrungen tragen seinen Stil. Die und die lautet: »Es handelt sich darum, aus einem Ge-
ausgearbeiteten Traumerzählungen lassen vermuten, dicht ein Halstuch zu machen<< (6, 343; vgl. dazu auch
daß er die Protokolle seiner Träume vernichtete, nach- Derrida 2003). Im gleichen Augenblick sieht er, wie
dem er ihnen einen Platz in seinen Schriften gegeben eine andere Frau, die in einem Bett liegt, eine blitzar-
hatte. Was seine literarischen Träume von anderen tige Bewegung macht. Sie schlägt ein Stück ihrer Decke
doch wieder unterscheidet, das ist der Kontext. Diese auf, und macht auf dieser Decke eine Bilderfolge
Träume treten in das Repertoire der »Denkbilder<< und (»imagerie<<) sichtbar, die der Träumer vor Jahren für
der Vexierbilder ein. Als Bilder haben sie im Grunde den Begleiter hat »schreiben<< sollen.
eine sprachliche Struktur, wie ein Beispiel aus der EIN- Diese Wahrnehmung erlangt der Träumer aber
BAHNSTRASSE zeigt, das die Überschrift TIEFBAU-AR- durch eine Art Erleuchtung. Die von Benjamin betonte
BEITEN trägt. Der Träumer befindet sich auf dem Schönheit des Traumes hängt offenbar an dieser Le-
Marktplatz von Weimar, wo Ausgrabungen veranstal- seszene, die gewiß auch zur psychoanalytischen Inter-
tet werden. Auch er gräbt ein wenig und holt die Spitze pretation einlädt. Dem erwachten Träumer jedoch
eines Kirchturms hervor. »Hocherfreut dachte ich mir: bietet der Traum eine Anschauung seiner wichtigsten
ein mexikanisches Heiligtum aus der Zeit des Präani- theoretischen Überzeugungen, die als Kippbilder das
mismus, dem Anaquivitzli. Ich erwachte mit Lachen. Traumgeschehen durchlaufen: Es sind die Reversibili-
(Ana = ava; vi = vie; witz = mexikanische Kirche [!]) (( tät und Übersetzung von Schrift und Bild, die Umkeh-
(IV, 101). Der Traum ist eine Erzählung mit einem rung von Text und Textil sowie zwei Modi des Sehens
Rätselknoten, dessen Entzifferung der Autor mitgibt, (Augenschein und Erleuchtung). Es ist ein Bettungs-
ohne doch das Rätsel selbst zu lösen. Seine Hinweise traum und ein Theorietraum. Der Traum von den
aber deuten auf diejenige Seite des Traums, die die Reversibilitäten vollzieht selbst eine Umkehrung: Nicht
sprachliche ist. Das Bildliehe des Traumes hat bereits der Traum geht in die Texte ein, sondern ein Text in
Freud der »Rücksicht auf Darstellbarkeit<< zugeschrie- den Traum. Im Passagen-Werk steht nämlich sein Ur-
ben und damit auf die sprachliche Ordnung des Trau- text: »Langeweile ist ein warmes graues Tuch, das in-
mes verwiesen. Ganz ähnlich träumt und kommentiert nen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter
676 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns, wenn oder Charles Baudelaire in De l'Ideal artificiel, le Ha-
wir träumen [... ]. Denn wer vermöchte mit einem Griff schisch ( 1858). Dann aber folgten immer mehr diesem
das Futter der Zeit nach außen zu kehren? Und doch Ruf. Berühmt wurden im 20. Jh. Jean Cocteaus Opium
heißt Träumeerzählen nichts anderes<< (V, 1054). Der ( 1930 ), Aldous Huxleys The Doors ofPerception (1954),
Traum schreibt und liest aus eigener Kraft Benjamins Ernst Jüngers Annäherungen. Drogen und Rausch
Theorie des Lesens. ( 1970). Wesentlicher noch aber ist die Tradition des
Rauschprotokolls, das, ähnlich wie das Traumproto-
koll, die Niederschrift in möglichst unmittelbare zeit-
Drogenprotokolle liche Nähe zur Erfahrung selbst zu rücken sucht. Diese
wissenschaftliche Methode des Rauschprotokolls setzt
Benjamin begann um 1927 Erfahrungen mit Drogen auch Mitte des 19. Jh.s ein. Ein wichtiger Titel dafür
zu machen und sie zu notieren. Den Anlaß bildeten ist Ernst Freiherr von Bibras Die Narkotischen Genuss-
Experimente der beiden Ärzte Ernst Joel und Fritz mittel und der Mensch (1855).
Fränkel, die den Jugendfreund einluden, als Versuchs- Die Anregung, Rauscherfahrungen produktiv zu
person zu dienen. Später unternahm Benjamin solche machen, empfing Benjamin vermutlich auch von den
Versuche auch mit seinem Vetter, dem ArztEgon Wis- Surrealisten, mit denen er sich etwa seit 1924, als Andre
sing und dem Freund Jean Seltz. Zu einer Reihe von Bretons erstes Surrealistisches Manifest erschien, aus-
Versuchen trat auch Ernst Bloch bei, über dessen Er- einandersetzte. Als er seinen Essay DER SüRREALISMUS
fahrungen Benjamin gleichfalls Protokolle verfaßte im Herbst 1928 abschließt, hat er seine eigenen Dro-
und aufbewahrte. Die Drogenexperimente unter ärzt- generfahrungen gemacht und vermag als Experte das
licher Aufsicht wurden mit Unterbrechungen bis ins Rauschkonzept zu kritisieren: >>Die Kräfte des Rau-
Jahr 1934 fortgeführt. Probiert wurden Haschisch, sches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist
Opium, Meskalin und Eudokal. über einige Versuche der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen<<
liegen Protokolle vor, die teils von Benjamins eigener (II, 3079). Doch der Rausch liefere weniger Erleuch-
Hand stammen, teils von den Versuchsleitern aufge- tung über das Denken als umgekehrt. Und rauschhaft
setzt wurden. Benjamin hat diese Protokolle für be- seien nicht nur die Erfahrungen des Haschischrau-
sonders bedeutend gehalten. In einem Schreiben an chers: >>Der Leser, der Denkende, der Wartende, der
Gershorn Schalem vom 30. Januar 1928 betont er das: Flaneur sind ebenso wohl Typen des Erleuchteten wie
>>Die Aufzeichnungen, die ich teils selbständig, teils im der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte<< (II,
Anschluß an die Versuchsprotokolle darüber gemacht 308).
habe, dürften einen sehr lesenswerten Anhang zu mei- Seine eigene Praxis hält sich nicht an diese Einsicht.
nen philosophischen Notizen geben[ ... ]<< (3, 324). Vier Wie dem Traum schreibt Benjamin auch dem Rausch
Jahre später zählt er in einem anderen Brief an Scha- Erleuchtungskräfte zu. Hinter dieser Privilegierung
lem >>ein höchst bedeutsames Buch über den Ha- von Traum und Rausch steht der Wunsch, völlig neue
schisch<< zu den vier Projekten der nächsten Zeit (4, unvertraute und unverbrauchte Zeichen zu gewinnen
112 f.). Zur abgeschlossenen Gestalt gelangten nur der und in die Prozesse der Erfahrung und des Denkens
Aufsatz HASCHISCH IN MARSEILLE (IV, 409), der 1932 einzutragen.
von der Frankfurter Zeitung gedruckt wurde und 1935 Dieses Programm läßt sich dem Essay ERFAHRUNG
auf Französisch in den Cahiers du Sud herauskam, UND ARMUT entnehmen, der in Klee, Brecht, Adolf
sowie die Erzählung MYSLOWITZ-BRAUNSCHWEIG- Loos, Seheerbart Vertreter einer modernen Sprache
MARSEILLE, die 1930 in der Zeitschrift Uhu erschien. erkennt, die das >>von Grund auf Neue zu ihrer Sache
Teile und Vorstufen dieser beiden Veröffentlichungen gemacht haben<< (II, 219). Das sind die >>neuen Barba-
finden sich zunächst in den Haschisch-Protokollen, ren<< (vgl. hierzu Lindner 1985 und Schneider 1997).
die 1928 in Marseille entstanden. Wie seine Träume verarbeitete Benjamin daher auch
Sind auch Rauschdelirien Werke? Benjamins Proto- Rauscherfahrungen, vor allem aber im Rausch gespro-
kolle und literarische Verarbeitungen stehen einmal in chene, gedachte und niedergelegte Sätze in anderen
einer literarischen Tradition, die prominente Namen Werken. Den prominentesten Beleg bildet das Motto
umfaßt. >>Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte der zur BERLINER KINDHEIT, das auch zuvor bereits in der
Narcotica [... ]<<,lockt Nietzsche in der Fröhlichen Wis- BERLINER CHRONIK angeführt worden ist: >>0 braun-
senschaft (Buch 2, Nr. 86). Einige Autoren hatten be- gebackne Siegessäule/ mit Kinderzucker aus den Win-
reits erste Materialien zur Verfügung gestellt wie Tho- tertagen<<, das dem Protokoll eines undatierten Ver-
mas de Quincey in seinen zunächst anonym veröffent- suchs entnommen ist, aber in die Zeit vor 1932 fällt
lichten Confessions of an English Opium-Eater (1821) (VI, 618). Zumal die Raumerfahrung des Haschisch-
Aufzeichnungen 677

rausches überwältigt Benjamin. Im September 1928 sagen-Werkes bemerkt Benjamin nämlich einmal, sie
hält er fest: >>Nun kommen die Zeit- und Raumansprü- habe das >>Es war einmal<< der klassischen Historie zer-
che zur Geltung, die der Haschischesser macht. Die trümmert, >>die ungeheuren Kräfte der Geschichte<<
sind ja bekanntlich absolut königlich. Versailles ist freigemacht und damit das >>stärkste Narkotikum des
dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu groß und Jahrhunderts<< beseitigt: die Historie >>wie sie eigentlich
die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange<< (VI, 581). Das gewesen ist<< (V, 578). Das Passagen-Werk enthält aber
Privileg der Halluzination, auf dem Zeitpfeil in alle auch viele Notizen, wonach die >>profanen Erleuchtun-
Richtungen reisen zu können, überträgt Benjamin auf gen<< nicht nur aus Drogen bezogen werden können.
die Bewegung des Flaneurs: Das Protokoll der zweiten Solche Erleuchtungen notiert er (vermutlich auf seiner
Haschischimpression hält fest: >>Ich erfahre das Gefühl, Loire-Reise im August 1927) auf der Place du Maroc
nebenan im Zimmer könnte sowohl die Kaiserkrönung in Belleville: >>dieser trostlose Steinhaufen mit seinen
Karls des Großen wie die Ermordung Heinrichs IV, die Mietskasernen wurde mir, als ich an einem Sonntag-
Unterzeichnung des Vertrages von Verdun und die nachmittag auf ihn stieß, nicht nur marokkanische
Ermordung Egmonts sich abgespielt haben<< (VI, 561). Wüste sondern zudem und zugleich noch Monument
Die Wendung findet sich beinahe wörtlich in den >>Frü- des Kolonialimperialismus; und es verschränkte sich
hen Entwürfen<< des Passagen-Werkes wieder (V, 1050). in ihm die topographische Vision mit der allegorischen
An anderer Stelle verweisen diese Entwürfe auf eine Bedeutung und dabei verlor er nicht seinen Ort im
>> Haschischerfahrung >Dante und Petrarca<<< (V, 527). Herzen von Belleville. Eine solche Anschauung zu er-
Anders als die Surrealisten, die den Rausch für die wecken, ist aber für gewöhnlich den Rauschmitteln
zukünftige Revolution zu nutzen hofften, läßt sich vorbehalten. Und in der Tat sind Straßennamen in
Benjamin von seinen Drogenexperimenten in die Ver- solchen Fällen wie berauschende Substanzen, die unser
gangenheit versetzen. Die >>profane Erleuchtung<<, die Wahrnehmen sphärenreicher und vielschichtiger ma-
er sich erhofft, soll zu einem >>rein filtrierten intellek- chen, als es im gewöhnlichen Dasein ist<< (V, 1021).
tuellen Ertrag<< gebracht werden (VI, 587). Die Drogenaufzeichnungen geben einen Eindruck
Der intellektuelle Ertrag dieser Protokolle und Ver- von der Bedeutung der Rauscherfahrung für Benja-
suche ist bislang noch nicht erschöpfend erfaßt. Zwei mins späte Arbeiten. Die Aura-Konzeption der Ab-
größere Arbeiten nähern sich dem Thema an. Carsten handlung DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER
Bäuerl ist stärker an der theoretischen Seite des TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKElT hat auch einen
Rauschkonzepts bei Benjamin interessiert und inter- Ursprung in Haschischexperimenten. HAsCHISCH AN-
pretiert dieses Konzept in Auseinandersetzung mit FANG MÄRZ 1930 bildet die Ausarbeitung von Notizen,
Adornos Reserve allen Versuchen gegenüber, das Un- die Gert Wissing gemacht hat: >>Alles was ich da sagte,
bewußte durch Drogen produktiv zu machen (Bäuerl hatte eine polemische Spitze gegen die Theosophen,
2003). Im Kontext der ästhetischen Übersetzung von deren Unerfahrenheit und Unwissenheit mir höchst
Rauscherfahrungen, die von de Quincey und Baude- anstößig war. Und ich stellte [... ] in dreierlei Hinsicht
laire ausgeht, untersucht Brigitte Marschall die Dro- die echte Aura in Gegensatz zu den konventionellen
genexperimente Arthur Strindbergs und Walter Ben- banalen Vorstellungen der Theosophen. Erstens er-
jamins. Sie versucht in einem umfangreichen Kapitel scheint die echte Aura an allen Dingen. Nicht nur an
zu zeigen, daß Benjamins Versuche als >>Schau-Spiele<< bestimmten, wie die Leute sich einbilden. Zweitens
oder als >>Passagentheater<< zu verstehen sind, und bie- ändert sich die Aura durchaus und von Grund auf mit
tet eine erste schlüssige und überzeugende Darstellung jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie
der Beziehung zwischen der Drogenerfahrung und ist. Drittens kann die echte Aura auf keine Weise als
Benjamins Spätwerk (Marschall2000, 180). der geleckte spiritualistische Strahlenzauber gedacht
Die Erfahrungen der Drogenversuche behandelt werden. [... ] Vielmehr ist das Auszeichnende der ech-
Benjamin wie alle anderen Eindrücke und Erlebnisse, ten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung
wie Lektüren und Träume, wie alles den Sinnen zu- in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral
strömende Datenmaterial. Die Drogenprotokolle eingesenkt liegt<< (VI, 588).
schreiben den Rausch nicht lückenlos und kritiklos Wie sich der Gedanke vom Ornament fortbildet,
auf, sondern wählen ungewöhnliche Entstellungen der zeigt eine Bemerkung im Protokoll des Versuchs vom
Welt sowie sprachlich anregende Formulierungen aus. 12. April1931 mit einem unbekannten Präparat: >>Or-
Wie der Traum verschafft der Rausch Erkenntnisse namente sind Geistersiedlungen<< (VI, 597). Der Aura-
und bietet Einblicke in die abgelagerte Geschichte des Gedanke, der viel mehr also eine Aura-Vision darstellt,
Subjekts, seiner Gattung und seiner Zeiterfahrung. wird so immer weiter verarbeitet, er bildet ein leben-
Über die radikal veränderte Geschichtssicht des Pas- diges Element in Benjamins Denken, das aus zwei
678 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Kräften besteht: dem Erfahrungshunger und dem Ähnlich überraschend (und zu einer gewissen Skep-
langsamen Verarbeitungsprozeß. sis einladend) ist der Befund zu den marxistischen
Schriften. Benjamin las die Bücher seiner Freunde
Bloch, Adorno und einiger anderer, aber von den mar-
nVerzeichnis der gelesenen Schriften<< xistischen Klassikern hat er nur Marx' Die Klassen-
kämpfe in Frankreich, Der achtzehnte Brumaire des
Ein wertvolles Dokument des Nachlasses bildet Walter Louis Bonaparte und die Randglossen zum Programm
Benjamins VERZEICHNIS DER GELESENEN SCHRIFTEN der Deutschen Arbeiterpartei studiert. Die letzten Titel
(VII, 437-476). Leider setzt das Verzeichnis erst mit nahm er vor, als er bei Brecht in Svendborg zu Gast
der laufenden Nr. 462 ein. Damit sind seit dem Jahre war. Er las vor allem Geschichte und Klassenbewußtsein
1917 die Einträge vollständig erhalten. Sie enden 1939 von Georg Lukacs, Bucharins Proletarische Revolution
mit der Nr. 1712, wobei zu berücksichtigen ist, daß und Literatur, ansonsten eher biographische Literatur
Benjamin sich bisweilen verzählt und verschiedene zu Lenin und Lenins eigene Briefe (vgl. III, 51). An
Nummernfolgen mehrfach belegt hat. Gretel Karplus berichtet er im Sommer 1932 aus Ibiza,
Die Bilanz besagt, daß Benjamin in den 22 Lektüre- daß er die Autobiographie und di:: Geschichte der rus-
jahren, die die Liste dokumentiert, jährlich etwa 60 sischen Revolution von Trotzki mit >>atemloser Span-
Bücher vollständig gelesen hat, wobei nicht jede lau- nung<< in sich aufgenommen habe (4, 97). Mit diesem
fende Nummer des Verzeichnisses auch der Titel eines Befund ist das Thema >>Benjamin und der Marxismus<<
Buches ist. Dabei ist auch vielleichte Kost und Trivi- noch einmal ganz neu anzupacken. Und zwar als eine
alliteratur (auch bisweilen vom Leser als >>Schund<< literarische Beziehung. Seine Affinitäten zu Goethe
markiert). Eine besondere Zuneigung gilt dem Krimi- sind größer als die zu Kar! Marx (vgl. hierzu Hörisch
nalroman, allein 20 Bücher von Georges Simenon sind 1998 und Wohlfarth 1998).
verzeichnet. In der Hauptsache aber las Benjamin den Die trotz möglicher Irrtümer sorgfältig geführte
Kanon der Weltliteratur sowie die wichtigste zeitge- Lektüreliste gibt noch einmal zu erkennen, daß Ben-
nössische Literatur Deutschlands (bis 1933) und jamins Leidenschaft nicht die Philosophie, erst recht
Frankreichs. Allerdings melden sich bisweilen auch nicht der Marxismus, sondern die Literatur gewesen
Zweifel, ob dieses Verzeichnis ganz lückenlos geführt ist. Er verfolgt nicht nur aus Gründen seiner journali-
worden ist. stischen Brotarbeit die literarische Szene in Deutsch-
Denn eine gewisse Überraschung bilden die Belege land und Frankreich sehr genau. Seinen bevorzugten
dafür, daß Benjamin zur Vorbereitung seines Buches Autoren hat er Essays und Aufsätze gewidmet: Kafka,
URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS nur eine Robert Walser, Paul Scheerbart, Bertolt Brecht, Kar!
recht knappe Liste von Titeln zur Thematik selbst ver- Kraus, Hofmannsthal, Marcel Proust, Julien Green.
zeichnet und wohl auch durchgearbeitet hat. Quellen Auch die Bedeutung von Andre Gide und Paul Valery
und Sekundärliteratur umfassen danach eben 14 Bü- hat Benjamin früh erkannt und zum Ausdruck ge-
cher. bracht hat. Die literarische Leidenschaft hat auch die-
Eine weitere Auffälligkeit dieser Liste ist der gering- sen egomanischen Zug, daß sich Benjamins Lesen
fügige Anteil, den philosophische Werke im weitesten selbst aufschreibt. Es ist eben das Schreiben eines Le-
Sinne haben. Benjamin hat die philosophische Diskus- sers, das dieses Autor- und Dichterleben trägt. Zugleich
sion seiner Zeit nicht nachhaltig verfolgt. Von den wachte ein scharfer, kritischer Verstand darüber, daß
knapp 1400 Titeln, die im Verzeichnis aufgeführt sind, nur substanzreiche Erfahrungen den Weg in das Ge-
können nur gut 60 der Philosophie zugeschrieben wer- dächtnis der Schrift fanden. Fragt man also nach der
den. Benjamin liest immer wieder Kant und Nietzsche, Bedeutung dieser Aufzeichnungen, der Journale, Pro-
von den Zeitgenossen Simmel, Bergson, Max Weber, tokolle, Träume, Skizzen, Listen, dann ergibt sich der
Klages und Kar! Mannheim, aber die philosophische Befund, daß Benjamin sein Leben, Lesen, Schreiben,
Diskussion, Busserl, Scheler, Heidegger, verfolgt er Sprechen, Denken, Träumen, Lieben der Verwandlung
nicht. Heidegger kannte er nur von dessen Antritts- und Rettung dienstbar machen wollte. Jedes Zeichen
vorlesung über den Zeitbegriff in der Geschichtswissen- sollte davon Rechenschaft ablegen.
schaft und von der Habilitationsschrift über Duns
Scotus her. Sein und Zeit hat er offenbar nicht gelesen; Werk
den Heidegger-Verweis in den Materialen zum Passa- AGESILAUS SANTANDER (VI, 520-523)
BERLINER CHRONIK (VI, 465-519)
gen-Werk (V, 590) bezieht Heidbrink auf Heideggers BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT (IV, 235-304;
Aufsatz von 1938 Die Zeit des Weltbildes (Heidbrink VII, 385-433)
1999, 1228), wofür aber kein Beleg gegeben wird. DENKBILDER (IV, 305-438)
Aufzeichnungen 679

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680 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Briefe und Briefwechsel brieflichen Verkehrs. Intellektuell vereinsamt war Ben-


Von Gert Mattenklott jamin in keiner Phase seines Lebens, selbst im Exil
nicht. Wenn er sich selbst gelegentlich so bezeichnet,
so zeigt der Kontext ihn als einen intellektuellen Se-
Die rund 1400 aus Benjamins Feder überlieferten und zessionisten, den die Leidenschaft zu seiner Arbeit und
in der sechsbändigen Ausgabe gesammelten Briefe die Radikalität nicht nur seiner Zuwendungen, son-
stammen aus einem Zeitraum von dreißig Jahren. Sie dern vor allem auch dezidierter Ablehnung eine enge
sind dort ohne die Gegenbriefe gedruckt, die allenfalls Auswahl seines persönlichen Umgangs treffen ließ.
gelegentlich als Regeste im Apparat zitiert werden. In Briefe wirken hier als Korrektiv.
gesonderten Ausgaben sind die Briefwechsel mit Zu den der Universität nur lose oder gar nicht as-
Theodor und Gretel Adorno sowie mit Gershorn Scho- soziierten Intellektuellen gesellen sich zum Korre-
lem erschienen. Das Spektrum umfaßt nahezu das spondentenkreis Benjamins Autoren vor allem der
komplette Register der Epistolographik vom Zweizei- literarischen Avantgarde unterschiedlicher Prominenz.
ler einer Verabredung bis zum Zehnseitenbrief der Ihr Spektrum reicht von Pranz Hesse! bis Bertolt
Gelehrtenkorrespondenz. Es schließt Behörden- und Brecht und Elisabeth Hauptmann, es schließt Hugo
Geschäftsbriefe ebenso ein wie Liebes- und einige Fa- von Hofmannsthai und Hermann Hesse, Werner Kraft,
milienbriefe. Beträchtlichen Umfang haben auch Ludwig Strauß und Martin Buher ebenso ein wie
Briefwechsel mit zeitgenössischen Intellektuellen, die Bernard von Brentano, Giseie Freund und Jean Selz,
der Bekundung von Aufmerksamkeit und der An- dazu die Redaktionen überregionaler Feuilletons wie
knüpfung von Bekanntschaft dienen. Sieht man vom der Frankfurter Zeitung und der Literarischen Welt.
Ausfall von Briefen ab, die aufgrund der Zeitumstände Auch hier ist die überlieferte Korrespondenz durch
-Verfolgung, Vertreibung, Flucht der Adressaten- als Verlust oft lückenhaft, so etwa im Fall von Elisabeth
verloren gelten müssen (etwa an Benjamins Frau Dora Hauptmann. Einblick in das soziale Feld, in das Ben-
oder die spätere Geliebte Anna Maria Toet Blaupot ten jamins CEuvre eingelagert war, gewährt indessen nicht
Cate), sowie Botschaften, die ungeschrieben blieben, nur der Adressatenkreis. Wie keine andere Quelle er-
weil der persönliche Umgang so dicht war, daß Briefe lauben die Briefe eine Rekonstruktion der Lebensum-
sich erübrigten, so fällt vor allem das Ausbleiben von stände ihres Autors von der Berliner Schulzeit im
Briefen in das akademische Milieu auf. Das Umfeld, in Zeichen der deutschen Jugendbewegung an bis in die
dem Benjamin sich als Wissenschaftler im Lauf seines Zeit des französischen Exils und die letzten Tage seines
Lebens orientiert, hat den Radius eines recht kleinen Lebens. Sie geben Einblick in das Geflecht seiner mehr
Kreises von geistig Verwandten: Gershorn Scholem und oder weniger engen Bekanntschaften und Beziehun-
Theodor W. Adorno, Florens Christian Rang, Karl gen, lassen Neigungen und Idiosynkrasien wahrneh-
Thieme und Salomon Friedländer, Siegfried Kracauer men, erlauben es, seine Lektüren und die ersten Reak-
und Ernst Bloch, Max Horkheimer, Leo Löwenthal, tionen zu verfolgen, die sie auslösen. Vor allem brief-
Norbert Elias und Hannah Arendt. Erich Gutkind wäre liche Äußerungen Dritten gegenüber belegen, wie
noch zu nennen, mit ihm dürfte aber der persönliche vielschichtig und differenziert sein Verhältnis zu Ste-
Verkehr in Berlin Briefe ersetzt haben. Eine akademi- fan George und seinem Kreis, später dasjenige zu
sche Karriere war aus diesem Kreis heraus kaum zu Brecht war, und ebensolche Äußerungen des Autors
beginnen, und das meist kritische, wenn nicht abschät- sprechen etwa seine >Verachtung< für Eduard Fuchs
zige Urteil auch über die prominentesten und tonan- und Karl Mannheim aus, die er aus sozialer Diploma-
gebenden akademischen Lehrer in den Geisteswissen- tie nicht publiziert. Auch seine Motivation zum Stu-
schaften - etwa den Zirkel um Max Weber und die dium marxistischer Theorie erhält aus einer fast non-
Gelehrten aus dem George-Kreis, Rickert und Dilthey, chalant formulierten Äußerung Werner Kraft gegen-
Jaspers und Rothacker - verdeutlicht die Unverträg- über, der ihm bekannt hatte, >>den Kommunismus >als
lichkeit, die zwischen dem Kreis um Benjamin und Menschheitslösung< vor der Hand nicht annehmen zu
diesem Universitätsmilieu bestand. Noch ehe das wollen<< (4, 467), eine Beleuchtung, die dem langen
Thema als Inhalt zur Sprache kommt, bezeugen die erbitterten Streit um die vermeintliche Alternative von
Form und der Adressatenkreis dieser Korrespondenz Geschichtsphilosophie und Kommunismus in der
die von Beginn an drohende Exklusivität des Schrei- Forschungsliteratur gutgetan hätte. Benjamins Ant-
bers und seiner Partner. Ihr durch die Erweiterung und wort an Kraft: >>Aber es handelt sich ja eben darum,
Verdichtung des Umgangs von Gleichgesinnten ent- durch die praktikablen Erkenntnisse desselben die
gegenzuwirken, ist über die drei Jahrzehnte hinweg ein unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen
wichtiger Impuls hinter den wechselnden Anlässen des abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspek-
Briefe und Briefwechsel 681

tive auf >totale< Systeme aufzugeben, und den Versuch plomatie Benjamins auch als ein Echo auf individuelle
zumindest zu unternehmen, den Lebenstag der Partner gelesen werden können.
Menschheit ebenso locker aufzubauen, wie ein gut-
ausgeschlafener, vernünftiger Mensch seinen Tag an-
tritt<< (4, 467). Beiläufig, quasi linker Hand und ad Freundesbriefe
personam ergänzen solche Äußerungen das offiziell
Publizierte zu einem reicheren Bild. Der erste und der letzte publizierte Brief sind Freun-
An anderer Stelle werden Spekulationen über ver- desbriefe: des 18jährigen kurz vor dem Abitur an den
meintliche Wahlverwandtschaften blockiert. So ist Schulfreund Herbert Blumenthai (Belmore) am 15.
wohl am zuverlässigsten der Korrespondenz zu ent- Juli 1910; des Flüchtlings vor den Nazis zwei Tage vor
nehmen, welcher Art Benjamins Verhältnis zu Georges dem Freitod mit einem letzten Gruß an Adorno vom
Bataille war, seinerzeit Bibliothekar der Bibliotheque 25. September 1940 aus Port Bou: >>Dans une situation
Nationale, den er dort bei seinen Baudelaire-Studien [... ],je n'ai d'autre choix que d'en finir. [... ] II ne me
häufiger sah; welche Eindrücke er von einem Diskus- reste pas assez de temps pour ecrire toutes ces Jettres
sionsabend mit dem Dramatiker, Philosophen und que j'eusse voulu ecrire<< (6, 483). Die Korrespondenz
zum Katholizismus konvertierten Gabriel Marcel da- mit Freunden nimmt in dieser Sammlung gleichmäßig
vontrug; welches Bild er von Pierre Klossowski, dem über die drei Jahrzehnte hin den breitesten Raum ein.
Theologen, Philosophen und Kunstmetaphysiker, Wie groß auch immer die Wandlungen im Werk des
hatte, der ihn bei dieser Gelegenheit begleitete. Derge- Autors in diesen Dezennien gewesen sein mögen und
stalt treten die Briefe zu einer Biographie ihres Schrei- wie vielfältig die darin erprobten dichterischen, publi-
bers aus eigener Hand zusammen, und so wenig dies zistischen und wissenschaftlichen Formen, der Brief
auch in jedem Fall eine Authentizität im Faktischen - insbesondere auch der Freundesbrief- behauptet
garantieren mag, so zuverlässig ergeben sie doch ein sich kontinuierlich und in gleichbleibender Intensität
Selbstbild des Autors, dessen Umrisse schärfer kontu- der Mitteilung. Darauf läßt sich von jeder Stelle aus
riert, die Farben dichter gerastert und reicher schattiert die Probe machen. Zwar verändert sich mit den Be-
sind als in den Lebensbeschreibungen aus fremder dürfnissen und Aufgaben der Lebensjahre, ihrer Nei-
Hand. Welche Einschränkung dieses Bild freilich da- gungen, Herausforderungen und Zumutungen auch
durch erfährt, daß Gegenbriefe nur begrenzt vorliegen der Charakter der Verhältnisse zu den Freunden und
-von den prominentesten Partnern die von Scholem, Freundinnen. Doch jenseits der unvermeidlichen Auf-
Adorno und von Gretel Karplus, der späteren Frau lösung und gewünschten Anknüpfung alter und neuer
Adornos- erhellt aus deren Lektüre. Man erfährt dar- Beziehungen hält Benjamin sich an den Brief, eine
aus, mit welcher Sensibilität Benjamin auf die Eigenart zeitlebens als gemäß empfundene Form. In seiner Ge-
seiner Korrespondenten Rücksicht nimmt, ja in wie schichte, Poetik und Philosophie hat der Autor gewisse
hohem Maß seine eigene Wandlungsfähigkeit als Autor idees fixes seines eigenen Lebensentwurfs so unaus-
durch diese inspiriert ist. Ob die Scherzrede Raum tauschbar verwirklicht gefunden, daß er ihn wie eine
erhält, wie manchmal in der Korrespondenz mit Scho- Naturform seines intellegiblen Lebens bis zum Ende
lem, oder er sich durch umsichtige Berichterstattung betrachtet zu haben scheint.
bewährt, wie gelegentlich seiner Lageberichte zur Si- Im Widerspruch zur Totsagung des Briefs im Zeit-
tuation der Intelligenz in Paris an Horkheimer, Selbst- alter technisch modernerer Kommunikationsmedien
behauptungswillensich artikuliert, wie vielfach in den hat Benjamin an dieser bereits zu seiner Zeit altmodi-
Briefen an Adorno, oder teilnehmende Sorge zum Aus- schen Form des Austauschs festgehalten. Wie sehr
druck kommt, wie im Verhältnis zu Werner Kraft, so dafür auch äußere Umstände gesprochen haben mö-
hat das weniger mit Rollenspiel zu tun als mit dem gen - am gravierendsten die des Exils -, so scheinen
Bestreben, über der eigenen Obsession kontinuierli- doch letztlich nicht sie die epistolographische Passion
chen Studiums den sozialen Boden unter den Füßen Benjamins begründet zu haben. In der freundschaft-
nicht zu verlieren, dessen Fortbestand sich für ihn im lichen Gemeinschaft seiner Korrespondenten hat der
sprachlichen Reichtum seiner Briefwechsel bezeugte. Autor ein Leben sui generis geführt, dessen Formen
Liest man nur seine eigenen Briefe, entsteht leicht der sich selbst in Augenblicken des Zwistes, ja selbst des
unzutreffende Eindruck des solipsistisch Monologi- Abbruchs aller persönlichen Verhältnisse behauptet
schen, und es bleibt trotz der gründlichen Kommen- und bewährt zu haben scheinen. Er war dazu freilich
tierung durch die Herausgeber der sechsbändigen auf die Bereitschaft seiner Briefpartner angewiesen,
Ausgabe oft dunkel, ob und in welcher Weise etwa die epistolographische Äußerung so ernst zu nehmen,
Fluchtpunkt, Perspektive, Intonation und soziale Di- wie es ihm selbstverständlich war. Wenn man über
682 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Benjamin als Epistolographen spricht, so müßte man nossen hatte Benjamin wenig oder gar nichts zu tun,
in der Tat eigentlich auch über seine Briefpartner spre- für sie alle sollten aber die Briefwechsel ein intellegib-
chen, Herbert Blumenthai (Belmore), Fritz Radt und les Leben sui generis herstellen, dem keine andere
Ernst Schoen, Carla Seligson, Florens Christian Rang, Wirklichkeit beschieden war als diese.
Hugo von Hofmannsthai und Gershorn Scholem, Ber-
tolt Brecht, Max Horkheimer, Gretel Karplus und
Theodor W. Adorno. Benjamins Epistolographik ist Der Brief als Form
dialogisch und partnerschaftlich. Eine der nicht ver-
siegenden Quellen, aus denen sie sich erneuert, ist die Die umfangreiche Forschung über Benjamin hat das
Freundschaftsfähigkeit des Autors. Die Gemeinschafts- Briefwerk bislang fast nur als Arsenal für Belegmaterial
ideologie, die Vorstellung einer Vergesellschaftung ausgewertet. Eine Ausnahme ist Klaus Garbers Buch
jenseits von Interessenaufgrund einer ursprünglichen über Benjamin als Briefschreiber und Kritiker (Garber
Dialogizität des Menschen, wie er sie etwa bei Martin 2005). Darin wird die Stilkunst des Epistolaristeil ge-
Buher formuliert fand, hat er nicht nur in seiner mar- würdigt, wie sie in den sorgfältig und variantenreich
xistisch inspirierten Zeit abgelehnt. Zu den stabilsten gestalteten Eröffnungen- Natureingänge, literarische
Unterstellungen, auf denen seine vitale und intellektu- Reminiszenzen, Autorfiktionen, Scherzreden - zum
elle Existenz beruhte, scheint dennoch die Möglichkeit Ausdruck kommt. Ebenso pointiert sind die Schluß-
einer als individuelle Gabe gewährten und empfange- wendungen: bald sarkastisch und provozierend, bald
nen Zuwendung und Teilnahme gehört zu haben. An lapidar und lakonisch. Fast durchweg diskret und zu-
diese appellieren noch die an Pranz Hesse!, Jula Radt- meist undramatisch sind Mitteilungen über die per-
Cohn, Ernst Schoen sowie Egon und Gert Wissing sönliche Situation des Schreibenden gehalten, gleich
verfaßten Abschiedsbriefe vor dem 1932 beabsichtigten ob glückliche oder unglückliche Umstände im Hinter-
(4, 115-122), der an Henny Gurland vor dem 1940 grund zu vermuten sind. Erotische Intimitäten bleiben
dann verwirklichten Freitod am 25. September 1940 ebenso ausgespart wie große Affekte anderer Art. Sie
geschriebene Brief, in dem er die Adressatin bittet, die lassen sich meist nur aus den Umständen ihrer prag-
Gründe des Abschieds an Adorno zu übermitteln. matischen Umgebung, ihren Voraussetzungen oder
Freundschaften stehen im Zentrum seiner jugend- Folgen erahnen. Indem der Autor sich kaum einmal
bewegten Anfänge, und Grüße an einen Freund stehen in der Gewalt von Emotionen zeigt, bewahrt er Höf-
dergestalt am Ausgang seines Lebens. Briefe sind aber lichkeit gegenüber seinen Adressaten selbst in den
nicht bloß und oft auch über Jahre des Mangels per- prekärsten Situationen, als fürchte er, sie durch eine
sönlicher Begegnung Dokumente der Freundschaft, Zumutung zu bedrängen und um ihre Freiheit zu brin-
sondern deren Vollzugsform. Im Unterschied zu eini- gen. In stilistischer übereinstimmung mit der Prosa
gen anderen großen Briefwechseln des 20. Jh.s, deren seiner Dichtungen, Abhandlungen und Kritiken steht
Schreibökonomie von vornherein der Vorstellung ei- die gleichmäßige Intensität und Dichte von Mitteilung
ner späteren Publikation folgt- viele Briefe Hermann und Reflexion, die jede ungestaltete Konversation oder
Hesses oder Thomas Manns sind dafür Beispiele - Entspannung in bloß geselliger Rede meidet. Wo diese
steht die Epistolographik Benjamins selten von vorn- gleichwohl einmal in Anschlag kommt, bedient der
herein im Zeichen seiner literarischen oder wissen- Autor sich einer literarischen Manier, als würde er Jean
schaftlichen Autorschaft. Wo dies zutrifft, zumeist in Paul oder eine der mutwilligen Eskapaden aus der Epi-
der Korrespondenz mit den Wissenschaftlern unter stolographik der Schlegels zitieren. Brüche, Torsi, Frag-
seinen Freunden, wie Scholem, Rang oder Adorno, ist mente, bloße Seufzer und Stoßgebete, Grotesken, Sa-
dieser Zusammenhang in der Regel deutlich markiert. tiren oder Verwünschungen bleiben nie stehen, ohne
Charakteristischer ist aber die Form einer frei gewähl- quasi gerahmt zu werden. Dergestalt ist das romanti-
ten Selbstmitteilung, die ihren Weg zwischen dem sche Erbteil stilistisch durchaus integriert, behält aber
Ausdruck privater Intimität und bürgerlich ausgefil- fast durchweg den Charakter des Zitats aus sicherer
terter Konventionalität sucht und findet. Die Traditi- Distanz.
onswahl Benjamins zeigt darin historisch in die Spanne Die späte Veröffentlichung des größeren Teils von
vor allem der deutschsprachigen Epistolographik zwi- Benjamins Briefen und die erst zögernd einsetzende
schen Jean Paul, Georg Forsterund Goethe, der frühen Beschäftigung der Forschung mit diesem Teil des
Romantik und Jakob Bernays. Unter den originären Werks hat bisher übersehen lassen, daß der Brief für
Briefschreibern des 20. Jh.s kommen Max Kommeren Benjamin eine nicht ersetzbare eigene Form zwischen
und Hugo Ball, Gottfried Benn, Kar! Wolfskehl und oder gar jenseits von Kunst und Leben war. Er hat sie
Jürgen von derWensein Betracht. Mit diesen Zeitge- nicht nur Zeit seines Lebens ausführlich benutzt, son-
Briefe und Briefwechsel 683

dern - unter anderem in der Briefsammlung DEuT- fen Reinhardt geführt hat. Benjamin rühmt daran die
scHE MENSCHEN- auch historisch dokumentiert und erstaunliche, höchst edle und unbeirrbare Sicherheit
gelegentlich theoretisch bedacht.- In diesem Zusam- des Tones, mit dem sie voneinander und zueinander
menhang wird deutlich, daß Benjamins Briefverständ- reden. Darauf folgen dann die Sätze:
nis nicht nur vor dem Horizont von Briefwechseln der >>MAN unterschätzt heute Briefwechsel, weil sie auf
Aufklärung und Frühromantik gesehen werden sollte, den Begriff des Werkes und der Autorschaft völlig
von denen er gründliche Kenntnis hatte, sondern eine schief bezogen werden; während sie in Wahrheit dem
wesentliche Dimension vor dem Hintergrund der Ge- Bezirk des >Zeugnisses< angehören, dessen Beziehung
schichte des jüdischen Briefes deutscher Sprache er- auf das Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Beziehung
hält. Als solcher hat er eine eigene Tradition spätestens irgend eines pragmatisch-historischen Zeugnisses (In-
seit Moses Mendelssohn und Rahe! von Varnhagen, schrift) auf die Person seines Urhebers. Die >Zeugnisse<
die über Börne, Heine, Bernays und Auerbach im 19. gehören zur Geschichte des Fortlebens eines Menschen
bis zu Karl Wolfskehl, Arnold Zweig, Gershorn Scha- und eben, wie in das Leben das Fortleben mit seiner
lem und eben auch Benjamin im 20. Jh. reicht (vgl. eignen Geschichte hereinragt, läßt sich am Briefwechsel
Mattenklott 1992a). Darin gewinnt er sein Profil als studieren. (Nicht so an den Werken, in ihnen vermi-
eine chimärische Form, die am Leben teilhat, ohne den schen sich nicht Leben und Fortleben, sondern die
Geist aufzugeben; die Reflexion zu Wort kommen läßt, Werke sind wie eine Wasserscheide.) Für die Nach-
aber in den Grenzen, die durch einen Lebenszusam- kommenden verdichtet sich der Briefwechsel eigen-
menhang bestimmt werden: moralische Gewissenhaf- tümlich (während der einzelne Brief mit Beziehung auf
tigkeit im Umgang mit sich selbst in der symbolisch seinen Urheber an Leben einbüßen kann): die Briefe,
hergestellten Form von Lebensspontaneität. Bedenkt wie man sie hintereinander in den kürzesten Abstän-
man diese Bedeutung recht, so wird man nicht ganz den liest, verändern sich objektiv aus ihrem eignen
fehlgehen, sich das O:luvre dieses Autors insgesamt als Leben. Sie leben in einem andern Rhythmus als zur
eine immer neu einsetzende Epistel vorzustellen, die Zeit, da die Empfänger lebten, und auch sonst verän-
Korrespondenz im eigentlichen Sinne aber als deren dern sie sich<< (VI, 95).
Miniatur. Benjamins apodiktischer Redeweise entsprechend,
Benjamin selbst lädt zu einem derartigen Verständ- wird das vermeintlich Selbstverständliche hier erst gar
nis ein. Ist vor dem Hintergrund seiner Sprachphilo- nicht erwogen: die Funktion von Briefen als Verkehrs-
sophie doch durchaus zweifelhaft, ob strenggenom- mittel zur Übermittlung von Informationen. Sie bleibt
men wirklich nur der brieflich Angesprochene auch aus den gleichen Gründen außer Betracht, die er gegen
der Adressat seiner Korrespondenzen ist. - In seiner die kommunikationstheoretische Sprachwissenschaft
Generation und unter den Auspizien einer Kulturkri- geltend macht. Beschränkt sich die theoretische Refle-
tik, die in diesem Punkt von Heidegger über Margarete xion auf die pragmatischen Beziehungen zwischen
Susmann bis Eugen Rosenstock-Huessy überein- empirischen Personen, so unterstellt sie zu Unrecht
kommt, tritt zu dem Balanceversuch zwischen lebens- eine Proportionalität zwischen den natürlichen Men-
weltlicher und sittlicher Bestimmung das Bemühen, schen und ihrer sprachlichen Repräsentation. Im
brieflich einen idealen Dialog zu begründen, der nicht Augenblick der Sprachwerdung schon gehört das Wort
durch die allgegenwärtige Kommunikationsmaschine- nicht mehr nur und jedenfalls in keinem wesentlichen
rie vorbestimmt wäre. In der Philosophie Benjamins Sinne der einmaligen und privaten Beziehung des Ab-
ist das Briefzeugnis deshalb der reinen Sprache zuge- senders zum Adressaten zu. Statt dessen bildet sich der
wandt, im Unterschied zur instrumentalisierten Sprachzusammenhang zwischen diesen beiden als ein
Sprachpraxis. Hier liegt der Grund, weshalb für ihn Drittes. Wenn Benjamin das deutlichere Hervortreten
der Brief auch im Zeitalter praktischerer Kommuni- des Briefwechsels als Eigenschaft des Fortlebens von
kationsmedien nicht veralten kann; zugleich der An- Briefen besonders hervorhebt, so pointiert er damit
laß, diese Apotheose der Epistolographie als Heraus- nicht das dialogische Verhältnis als vielmehr die objek-
forderung für ihre späteren Leser und mit der Frage tive Gestalt der Briefschaft, die das einzelne Stück in
nach ihrer Gegenwartstüchtigkeit zu prüfen. seiner Eigenschaft als Quelle oder Dokument von In-
Aus Benjamins Nachlaß stammt eine theoretische formationen über soziale oder psychische Verhältnisse
Reflexion über den Umgang mit Briefen, die er selbst zurücktreten läßt. Auch dies ist ein Grund, weshalb
aus einem eigenen Brief an Ernst Schoen vom 19. Sep- bereits für Benjamin die Beachtung jeweils nur einer
tember 1919 exzerpiert und überarbeitet hat. Im Kor- Seite von Korrespondenzen auf Kosten von deren
respondenzzusammenhangschließt sie an eine Erwäh- Wechselbeziehung eine wesentliche Dimension ver-
nung des Briefwechsels an, den Goethe mit dem Gra- fehlt.
684 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

Was die Sprecher einander zu sagen haben, können ist ein Lob, das Benjamin gern spendet, nicht nur in
sie sich nicht anders zukommen lassen, als indem sie den Kommentaren seiner Brief-Anthologie, wo der
es auf Gedeih und Verderb einem Dritten - in Wahr- apologetische Gesamtzusammenhang dieser >>gol-
heit einem immer schon vorgängig Ersten - anver- dene[n] Klassikerbibliothek in nuce« (IV, 949) es na-
trauen. Was dann daraus wird, ist ihnen so strikt ent- helegen könnte. Im Bedürfnis nach Haltung, dieser
zogen wie der eigene Brief, sobald er erst einmal in den Würdeform des natürlichen und Naturform des gei-
Postkasten geworfen ist. Eben dies ist aber in besonders stigen Menschen, stand Benjamin Stefan George und
erhellendem Maß die Situation von Korrespondenten. seinem Kreis sehr viel näher als seine vielfach bezeugte
Sie bleiben ihrer selbst im Brief nicht Herr, oder sie Distanz es im übrigen nahelegen würde. In charakte-
werden brieflich, was ihnen leibhaftig abgeht. Aus gu- ristischem Unterschied zu deren ästhetischer und
tem Grund weist Benjamin deshalb im seihen Atemzug pointiert modernekritischer Auslegung dieses Begriffs,
die Symmetrie des Briefes zu Autor und Werk ab, in zu der Benjamin selbst auch noch in der Zeit seiner
dem er für die Charakterisierung der Briefschaften den Bindung an die Jugendbewegung neigt, versteht er ihn
Begriff des Fortlebens in Anspruch nimmt. Es ist ein später wesentlich als einen die Person bewahrenden
Modus, dem Rudolf Kassner wohl das Prädikat des moralischen Habitus, den er auch >Gefaßtheit< nennt.
Chimärischen zugesprochen hätte: ein Zustand der Deren Abtönung in Rücksicht auf den Adressaten ver-
Verpuppung des Einen, aus dem er jederzeit im Begriff hindert Steifheit und Monotonie.
steht als ein Anderer herauszufahren. Statt ein Leben Wofür zeugt nun aber der Brief, wenn nicht für den
abzubilden, verwandelt vielmehr der Brief dasjenige pragmatischen Zusammenhang, in den er durch sei-
des Schreibers in eine scheinlebendige Natur zweiten nen Urheber gestellt ist? Für ein geistiges Leben, auf
Grades, die - ungeachtet ihrer abstrakten Schriftgestalt das der einzelne Urheber einer Korrespondenz nur
- derart kräftig zu wirken vermag, daß sie das Leben Anleihen macht. Das Zeugnis eines Briefes betrifft
des Schreibers sich unterwirft. Der Brief gibt dergestalt Benjamin zufolge alles Situative nur peripher. Es ist
die Möglichkeit - ja er läßt gar nichts anderes übrig dennoch nötig, daß die näheren Umstände bei der
als- die Form des eigenen Fortlebens zu erfinden; mit Herausgabe von Briefwechseln kommentiert werden;
jedem Brief erneut und womöglich immer in einer nicht aber, um das Private auszustellen, als vielmehr
anderen Gestalt. An eine Denkfigur Derridas anknüp- es durch seine Versachlichung so weit zu neutralisieren,
fend, hat man die Zeugnisse der Schrift in jüdischer daß der Brief im Sinne eines Zeugnisses desto deutli-
Tradition gemäß des Bildes der >Arche< gedeutet, eine cher Gestalt annehmen kann.
Form, das wesentliche Leben in Zeiten höchster Be- Für die Form, in der Benjamin als Theoretiker des
drohung dem Nachleben in einer späteren Zeit zu Briefes Boden zu gewinnen sucht, ist das kleine Frag-
überliefern (Greiner 2002). ment - so unscheinbar es sich ausnimmt - dennoch
Für Benjamin - zeitlebens durch Leben und Werk charakteristisch. Denn lesen auch wir es nicht nur als
Goethes aufs Höchste fasziniert, wie denn nicht zufäl- philologische Quelle und als Dokument, dann bezeugt
lig ein Goethe-Briefwechsel der Anlaß seiner brief- es die Physiognomie eines Denkens, das an Zeitzeugen
theoretischen Reflexion ist- machte diese Gelegenheit weniger als an Zeugnissen gegen die Zeit interessiert
zum Gestaltwandel den Brief so willkommen. Weniger ist, zuallererst aber an der Möglichkeit des Zeugnisses
der romantische Aspekt von widerspruchsreicher Viel- selbst.- Allzu viel scheint im Fall der Korrespondenzen
falt hat für ihn dabei im Vordergrund gestanden als dagegen zu sprechen: ihre Befangenheit im Privaten
vielmehr die Stabilität eines brieflich gewonnenen oder Beschränktheit auf Kommunikation über Sachen,
Selbst, dem der reale Schreiber sich rückhaltlos anver- um nur die beiden Extreme nach der subjektiven und
trauen kann, weil auf die metamorphotische Kraft des objektiven Seite zu bezeichnen. Beides würde im
Mediums Verlaß ist. - Spielerisch hervorgebrachte Verständnis Benjamins den Brief als Zeugnis verfehlen.
Vielfalt der Töne im Sinn einer romantisch verstande- Dessen ideale Form ließe sich etwa so umschreiben:
nen subjektiven Mehrstimmigkeit ist denn auch eher Er muß dem Leben zugehören, ohne sich darin zu
ein Merkmal der Briefe von Benjamins ungleichem gründen. Denn seinen Grund kann das Leben nie in
Bruder Kommerell, diesem nicht minder glänzenden sich selbst suchen und finden wollen. Er muß sich aber
Briefschreiber, der sich gelegentlich in ein wahres Cha- auch auf die Wirklichkeit eines Geistes beziehen, aber
mäleon verwandelt. hier wiederum ohne dabei das Leben zu verraten. Der-
Das Lob der edlen unbeirrbaren Sicherheit des Tons gestalt konstituiert sich der Brief als ein wahres Me-
bei Goethe und Reinhardt gilt mindestens so empha- dium, nämlich als ein Mittler, der die Möglichkeit einer
tisch der Briefform allgemein wie Goethe als deren Balance zwischen Natur und Geist bezeugt. Als Adorno,
mustergültigem Gewährsmann. Edel oder Vornehm gemeinsam mit Gershorn Scholem, 1966 die erste Aus-
Briefe und Briefwechsel 685

gabevon Benjamin-Briefen vorlegte, hat er den Kor- seiner Reisen an seine Freunde schrieb-, bespricht er
respondenten Benjamin in diesem Sinn in schöner sie in diesem Verstande: hier für den Jugendstil (III,
Genauigkeit charakterisiert: >>Der Brief war ihm darum 383-386).- In seinen PARISER BRIEFEN I und II von
so gemäß, weil er vorweg zur vermittelten, objektivier- 1936 (III, 482-507) scheint er im Sinn zu haben, an
ten Unmittelbarkeit ermutigt. Briefe schreiben fingiert die Tradition der Exilantenbriefe von Campe, Börne
Lebendiges im Medium des erstarrten Worts. Im Brief und Heine anzuknüpfen, aber anders als bei den gro-
vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und ßen Vorgängern sind es Rezensionsbriefe. Der eine
gleichwohl der Ferne, abgeschieden zu bleiben<< berichtet über Gide und seine französischen Gegner;
(Adorno 1966, 15 f.). der andere über die Dokumentation von Künstler-
Nun kann der Brief freilich aus eigener Machtfülle Konferenzen in Venedig und Paris; beide mit einem
auf kein Drittes als den möglichen Grund verweisen, hohen Anteil zeitpolitischen Kommentars.
in dem dies beides versöhnt wäre. Daher der per- Aber Benjamin ist nicht Franz Blei und ist nicht
formative Charakter des Briefes. Weder folgt er dem Egon Friedell. Nicht darum nur geht es, das private
Rhythmus des natürlichen Lebens, noch findet er dau- Leben als vermeintliches Substrat durch ein nicht min-
erhaft Halt in einer Abstraktion jenseits davon. Sein der problematisch Allgemeineres zu ersetzen. Statt
Charakter ist wesentlich appellativ, nämlich darauf dessen soll Zeugenschaft in einer anderen Ordnung als
gerichtet, seine eigene Wirklichkeit allererst herzustel- der empirischen begründet werden, ohne diese Empi-
len, zumindest für die Dauer des brieflichen Aus- rie preiszugeben. Wie nur irgendeiner aus der Gefolg-
tauschs. Darin hat er seinen Anteil am Eros, ohne schaft Stefan Georges sucht Benjamin- statt nach In-
dessen wie immer auch verschwiegene Gegenwart kein halten -nach einer Form, die so viel Gewähr wie nur
Briefwechsel dauert. - Im Begriff des Zeugnisses denkt möglich gegen den Fraß der Zeit, diese Furie des Ver-
Benjamin Produktivität in einer ungeschlechtlichen schwindens bietet.
Form: das Fortzeugen vermöge einer paraerotischen,
einer Schriftform der leiblichen Zeugungskraft, dieser
nicht ähnlich, sondern an deren Stelle. Im Gespräch, "Auf der Spur alter Briefecc
mehr noch im Brief, erwirkt sich der Eros eine Lizenz
im Leben des Geistes, ohne darin zu verschwinden. Dem Begriff des Zeugnisses wie allgemein Benjamins
Weil dies alles in Benjamins Begriff des Zeugnisses Verständnis des Briefs lassen sich mit Blick auf seine
mitschwingt, erschöpft sich dessen Bedeutung nicht Sammlung DEUTSCHE MENSCHEN. EINE FoLGE voN
als Quelle für Kulturgeschichte. BRIEFEN noch einige weitere Bedeutungen zuführen
Ginge es nur darum, die pragmatisch biographische (III, 482-507). Aufschlußreich sind hier Materialien
Lesart von Briefwechseln durch eine geistes- oder aus dem Umfeld des Buches. Als 1932 die Frankfurter
kulturgeschichtliche zu ersetzen, es wäre leichter zu Zeitung 27 Briefe aus der Zeit zwischen 1783 und 1883
sagen. Nicht viel stünde im Wege, um die reso- (in fortlaufender Numerierung, ohne Hinweis auf
nanzarmen Briefe Kar! Wolfskehls aus Dokumenten Benjamin als ihren Herausgeber) abdruckte, scheint
eines gelehrten George-Verehrers in Zeugnisse einer dieser die Kommentierung durch einen Rundfunk-
monologisch-bacchantischen Sprachleidenschaft zu Vortrag vorgehabt zu haben. Jedenfalls fand sich im
verwandeln; Kommerells Briefe, diese anmutigen Ent- Nachlaß ein entsprechendes Manuskript.
lastungen eines diszipliniert geführten Studienlebens, Darin zitiert der Autor Gundolfs Bild vom tektoni-
zu Zeugen des Humors gegen die steilen Erhebungen schen Aufbau der Kunstwelt: auf der Basis von Ge-
ins Erhabene aufzurufen, in denen sich sonst der sprächen über das breite Massiv brieflicher Hinterlas-
George-Kreis übte; Benjamins Korrespondenzen- statt senschaften, aufsteigend zu den Gipfeln solitärer
als Quelle und fortlaufenden Kommentar zur Werke. Benjamin führt diese Vorstellung an, um sie im
Entstehungsgeschichte seines Werks - als einen groß Blick auf die Wirkungsgeschichte der Deutschen Klas-
angelegten Versuch zu lesen, sich brieflich aus den sik durch Skepsis zu erschüttern. 1932 war das Jahr
intelligenzpolitischen Alternativen seiner Zeit zugun- kultischer Goethe-Feiern, im Rückblick: ohnmächtiger
sten eines namenlosen Dritten herauszuschrauben. Beschwörungen einer Kulturnation, die gleichzeitig im
Tatsächlich gibt es auch neben dem anspruchsvollen Begriff stand, der Barbarei eine Apotheose zu bereiten.
Programm geschichtsphilosophischer Zeugenschaft Gegen den vergletschernden Heroenkult mobilisiert
gelegentlich die Auffassung von Korrespondenzen im Benjamin eine andere Klassik, für die er die Briefe nach
Sinn kulturgeschichtlicher Dokumentation. Wo Ben- Inhalt und Form als Zeugen zitiert; zuallererst wie-
jamin eher beiläufig einmal einen Briefband rezensiert derum Goethe-Briefe. Er schlägt vor, sie als solche zu
hat- 1933 die Briefe, die Max Dauthendey während lesen, d. h. ohne Hinblick auf das Monument, zu dem
686 Sprachphilosophie; literarisches und autobiographisches Schreiben

ein unproduktiver Kult das Werk hat erstarren lassen. schiedene Pointierungen derselben Sache sind, im
Damit ist nicht der Optik von den Hintertreppen und klassischen Weimar niemand widersprochen. Gerade
-bänken das Wort geredet, wie es denn auch nicht diese Überzeugung erheischt nun aber bei den jüdi-
darum geht, allzu menschlich Privates gegen das Er- schen Autoren Deutschlands Konsequenzen für das
habene auszuspielen. Benjamins Briefzitate werben für Ensemble der Kunstgattungen und innerhalb der Gat-
die Klassik nicht durch den Versuch, sie seinem Publi- tungen für die Bevorzugung gewisser Formen wie des
kum nahezubringen; im Gegenteil. Sein Pathos der Briefs.
Sachlichkeit rückt sie um der physiognomischen Er- Daß unter den Schriftstellern deutscher Sprache so
kennbarkeit willen in die Ferne der geschichtlichen ungleich viel mehr Juden sind als unter Musikern oder
Betrachtung: bildenden Künstlern; daß wiederum in der Literatur
>>Diese historische Distanz aber ist es, die uns die die pädagogisch auszulegenden Formen von Juden
Gesetze unserer Betrachtung vorschreibt, und vor al- privilegiert werden, während sie etwa in der Geschichte
lem das oberste: des Inhalts, daß jene Unterscheidung des Ästhetizismus kaum in Erscheinung treten, dürfte
von Mensch und Autor, von Privatem und Objektivem, damit zu tun haben, daß der ästhetische Immoralismus,
von Person und Sache mit zunehmender historischer ja selbst auch nur Indifferentismus in der jüdischen
Distanz zunehmend ihr Recht verliert. Dergestalt, daß Tradition keinerlei Begründung findet. Daher die Op-
auch nur einem bedeutsamen Briefe wirklich gerecht tion für Gattungen und Formen, die es erlauben, die
werden, in allen seinen sachlichen Bezügen, allen sei- sittliche Widmung der Kunst und ihre Bestimmung
nen Anspielungen und Einzelheiten ihn aufzuhellen, als Lehre vom besseren Lebenunverstellt auszuprägen.
bedeutet, mitten in das Menschliche zu treffen<< (AuF Gerade mit der geschichtsphilosophischen Tradition
DER SPUR ALTER BRIEFE, IV, 944). deutscher Ästhetik- die Künste als Organ moralischer
Das Menschliche ist nach dieser Auffassung mit- Vervollkommnung der Welt - konnte jüdische Ethik
nichten der vulgäre Bodensatz bloßen Lebens, der sich eng verschränken. Die Liebe zur Deutschen Klas-
abzüglich des intellegiblen Anteils übrigbleibt. Es ist sik gehört ebenso hierher wie die Entscheidung für die
vielmehr die Sphäre, in der die Sprache des 18. Jh.s, Ästhetik Hegels von Heine bis Lukacs: ein Votum für
der Benjamin sich in seinem Brief-Buch durch Mime- die Idee des sittlichen Fortschritts. Daß dieser sich
sis anschmiegt, den allgemeinen Menschen angesiedelt nicht im Selbstlauf vollzieht, vielmehr entschiedenster
hatte. Benjamin waren die zitierten Sätze so wichtig, Promotion bedarf, haben die Teilnehmer der jungjüdi-
daß er sie wörtlich in einem >>Memorandum<< wieder- schen Emanzipation in den ersten Jahrzehnten des 20.
holt, eine Selbstrezension für Werbezwecke, wo er noch Jh.s- durch den Blick auf die jüdische Geschichte hin-
die Sätze ergänzt: länglich oft eines schlechteren belehrt- mit Vehemenz
>>Die kurzen Kommentare, die den einzelnen Briefen betont. In der Sphäre des Ästhetischen kommt der
vorangestellt sind, haben nichts mit den schablonen- deutliche Kunstvorbehalt durch diese jungen Juden zu
mäßigen Angaben zu schaffen, die man so oft in Antho- Wort: bei Max Nordau angefangen- um nur erst im
logien findet. Nichts was von der konkreten physio- 20. Jh. zu beginnen- bis zu den Attacken auf die Aura
gnomischen Würdigung des einzelnen Schreibens ab- zugunsten der reproduzierbaren Künste bei Benja-
führt, findet einen Platz. Nichtsdestoweniger stellen min.
sie eine umfassende deutsche Bildungsgeschichte des In diesem Sinne auch spielt er in DEUTSCHE MEN-
fraglichen Zeitraumes dar<< (IV, 950). scHEN die ästhetisch >>arme<< Briefform gegen die
Die historische Distanz zur Klassik, die Benjamin in Goldschnitt-Klassiker, die >>unrein<< auf Leben und
seinem Brief-Buch voraussetzt, betrifft nicht die Sozi- Geist zugleich bezogenen Korrespondenzen gegen die
alethik des deutschen Idealismus, und er hätte den klassische Kunstautonomie aus. Von den Briefen seiner
Kontrakt, den die Autoren der klassischen deutschen studentischen Jugend an entwirft Benjamin auch sein
Literatur, allen voran Goethe und Schiller, zur Bildung eigenes moralisches Selbstbild vorzugsweise in Briefen,
der Nation geschlossen hatten, wohl auch gut mitun- deren Zeugnisform eine Verbindlichkeit erreicht, die
terschreiben können.- In kaum einer anderen National- weder die Kunst noch auch das bloße Leben erreichen;
kultur als der deutschen wird ästhetischer Bildung so beides auf je eigene Weise frivol, wo die moralische
viel zugemutet und zugetraut. Keine andere Bevölke- Selbstbestimmung auf dem Spiel steht.- In wie hohem
rungsgruppe innerhalb Deutschlands hat dieses zu- Maße dieser generelle Kunstvorbehalt auch in Benja-
gleich ästhetische und moralische Programm so ge- mins Verständnis von Literaturkritik eingegangen ist
schlossen mitgetragen wie die jüdische. So hätte auch - analog zur Aufwertung der Briefe gegenüber den
Benjamins jüdischer Tradition entnommener über- Kunstwerken -, kann hier nur en passaut angemerkt
zeugung, daß ästhetische und moralische Kultur ver- werden.
Briefe und Briefwechsel 687

Wohl aber sind hier noch ein paar Beobachtungen Werk


an Benjamins Kommentaren zu Briefen deutscher AuF DER SPUR ALTER BRIEFE (IV, 942-944)
Menschen mitzuteilen, die dem Begriff des Zeugnisses BRIEFE VON MAX DAUTHENDEY (III, 383-386)
DEUTSCHE MENSCHEN (IV, 149-233)
noch weiteres Volumen geben können. -Als wolle er
seine Absicht konkreter physiognomischer Würdi-
gung, wie sie in dem zitierten >>Memorandum« Literatur
ausgesprochen wird, durch Umschreibungen verdeut- Adorno, Theodor W. ( 1966): »Vorrede«, in: Walter Benjamin:
lichen, exponieren etliche der kommentierenden Skiz- Briefe, Bd. 1, Frankfurt a.M., 14-21 (wiederabgedruckt
unter dem Titel: >>Benjamin, der Briefschreiber<<, in: ders.
zen wie in einem Suchbild gewisse Begriffe oder Bilder,
[1974]: Noten zur Literatur IV. Gesammelte Schriften 11,
die als Hinweise auf die Poetik des Verfahrens gelesen Frankfurt a. M., 583-590).
werden können. Garber, Klaus (2005): »Die Kehrseite des Werkes. Porträt Wal-
Das Herzstück der Sammlung, ein Brief von Samuel ter Benjamins aus seinen Briefen«, in: ders.: Walter Benja-
min als Briefschreiber und Kritiker, München, 11-143.
Collenbusch an Immanuel Kant, den Benjamin zu den Greiner, Bernhard (2002): Arche Noah. Die Idee der >Kultur<
»Meisterstücken der Briefliteratur aller Zeiten<< (IV, im deutsch-jüdischen Diskurs, Freiburg.
950) rechnet, beginnt zum Beispiel mit der Schilde- Heißenbüttel, Helmut (1967): »Vom Zeugnis des Fortlebens
rung einer zeitgenössischen Portraitminiatur, die in in Briefen«, in: Merkur 228, 232-244.
Mattenklott, Gert (1992): Benjamin als Korrespondent, als
nuce die Physiognomie des Autors aus einer morali- Herausgebervon »Deutsche Menschen« und als Theoreti-
schen Deutung seiner Gesichtszüge entwirft.- Darauf ker des Briefes, in: Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin
folgt- ein weiteres Beispiel- ein Schreiben von Hein- (1892-1940) zum 100. Geburtstag, Bern, 273-282.
rich Pestalozzi an Anna Schultheß, dessen Inhalt es sei, Mattenklott, Gert (1992a): über Juden in Deutschland,
Frankfurt a. M.
die Leidenschaft nicht zu läutern, sondern sie auf Di-
stanz bringen: »Die Natur wollte Pestalozzi weniger
veredeln als [... ] im Namen des Menschen ihr Halt
gebieten<< (IV, 165).
Benjamin beginnt seinen Kommentar mit einer An-
ekdote: »Nach einer mündlichen Überlieferung soll
Pestalozzi den Wunsch ausgesprochen haben, auf sein
Grab solle kein anderes Denkmal gesetzt werden als
ein rauher Feldstein; er sei auch nur ein rauher Feld-
stein gewesen<< (IV, 165). Das schlichte Grabmal wird
dergestalt zum moralischen Zeichen für die geistige
Ökonomie einer Lebensführung, die der Wollust der
Natur die Geistbestimmtheit des Menschen nicht bloß
als abstraktes Programm, sondern zugleich als Symbol
gegenüberstellt.- Andere Kommentare beziehen sich
auf Amulette und Medaillons, Portraitbüsten, Epita-
phe oder Kästchen. Dergestalt entsteht eine metapho-
rische Textur jenseits der durchgängigen Reflexion
über die moralischen Inhalte der zitierten Briefe. Wor-
auf sie gemeinsam verweisen, ist der Begriff des Zeug-
nisses, den sie pictogrammatisch umschreiben. Samt
und sonders gehören sie damit in den Zusammenhang
von Phänomenologie, Medientheorie und Poetik kul-
tureller Erinnerung, die immer wieder nicht bloß den
Inhalt von Benjamins Schriften prägen, sondern den
Motor ihrer Produktion antreiben.
Anhan g
Abbildungen 689

Walter Benjamin, Kinderbild (preußischer Husar), ca. 1902 (Photostudio Seile & Kuntze, Potsdam)
Original: l 0,2 x 6,5 cm
690 Abbildungen

Walter Benjamin, Porträt, 1920er Jahre (Photostudio Joel-Heinzelmann, Berlin)


Original: 16,8 x 11,7 cm
eine revolutionäre Erziehung herausgegebe
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•Diskuss1on + Anhang

Vorder-und Rückumschlag eines >Raubdrucks<. Durch Photokopierer vervielfältigte Schreibmaschinenabschrift von mehreren Texten Benjamins
mit dem Erstdruck von >>Programm eines proletarischen Kindertheaters<< Berlin 1969. Dazu heißt es einleitend, der Text sei der Verfügungsge- Icn
walt der Frankfurter Benjamin-Verwalter entrissen worden. Original: 30,5 x 20,8 cm
692 Abbildungen

Benjamin- Ardliv
·&4 .. 667
-------·-··-

Schema zu »Anthropologie«, um 1920, vgl. VI, 672 f.


Original: 16,5 x 10,5 cm
Abbildungen 693

Benji!l'lin- Ardliv
'{42

Arbeitsdisposition zu >>Kar! Kraus<<, 1930; vgl. die Teilwiedergabe II, 1090


Original: 19,5 x 12,4 cm
694 Abbildungen

r. "' •.,,,,.,.H
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Manuskript >>Kaiserpanorama<< aus d ..


der >>Berliner Kindh . em FellZltas-Konvolut
· · eJt um neunzehnh d
0 ngmal: 27,2 x 20,5 cm un ert<<, Herbst 1932
Abbildungen 695

(/

Benlimin-ArdJiY .
M!. _2236

Manuskript der Passagenarbeit Blatt J 23 (V, 345 f.)


Original: 21,8 xl4 cm
696

Bildquellen

Abb. 1, 2, 4, 5, 6, 7: Walter Benjamin-Archiv Berlin.


Der Abdruck von Abb. 6 erfolgt mit freundlicher
Genehmigung von Dr. Rolf Tiedemann
Abb. 3: Sammlung Lindner
697

Werkregister

In dem Register sind die von Benjamin stammenden Ti- 384,418,424,506,508,511,515,562,585(,591,593,


tel der abgeschlossenen Schriften und der Fragmente bzw. 631, 633, 643 f., 651 f., 653 ff., 673 f., 676, 678
der Projekte aufgeführt. Bei Textsammlungen werden Fran.yois Bernouard 342
auch Titel von Einzelstücken berücksichtigt. Bestimmte Besuch im Messingwerk 383
und unbestimmte Artikel am Anfang der Oberschriften Borseht 632
(z.B. »Der<<, >>Eine<<) werden bei der Alphabetisierung mit Borsig 383
erfaßt. Bei Rezensionen ohne eigenen Titel wird der be- Bert Brecht 79, 90
treffende Buchtitel in Anführungszeichen gesetzt. Brechts Dreigroschenroman 85, 90
Briefe von Max Dauthendey 687
Briefmarken-Handlung 368
ABC-Bücher vor hundert Jahren 373,385 Briefmarkenschwindel 383
Agesilaus Santander 7, 302, 586, 669 ff., 678 Bücher, die übersetzt werden sollten 334, 338, 342
Allegorie und Trauerspiel211, 396 Bücher von Geisteskranken 452, 463
Allemands de quatre-vingt-neuf 43 7, 443 f., 44 7 ff. Iwan Bunin 357
Alte Landkarte 370
Altes Spielzeug 373, 385 Cafe creme 632
Alte und neue Graphologie 418 Chichleuchlauchra. Zu einer Fibel373, 376,385
»Alte vergessene Kinderbücher<< 132, 373, 385 Chinawaren 367
Am Kamin562 Coiffeur für penible Damen 209
Angelus Novus 159,301 ff., 314,595 Curriculum vitae Dr. Walter Benjamin 507
Ankleben verboten! 367
Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus 18 f., Das bucklichte Männlein 662
301 ff., 314f., 329,331,363,372,595,602 Das Gespräch 45
»Anthologie de Ia nouvelle prose fran.yaise<< 439 Das Glück des antiken Menschen 4, 118 ff.
Antithetisches über Wort und Name 643, 652 Das kalte Herz 381 f., 415
Auf der Spur alter Briefe 413,418,443,449, 686f. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
Auf die Minute 406 duzierbarkeit 7, 27, 78. 106, 229 ff., 290, 338, 344,
Aus dem Brecht-Kommentar 78f., 90 360 f., 363, 405, 420 f., 427, 448 f., 455, 457, 461, 574,
Aus einer kleinen Rede über Proust, an meinem vierzig- 583,677
sten Geburtstag gehalten 508,513,517,521,662 Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden
Ausgraben und Erinnern 662 darf84, 90
Aussicht ins Kinderbuch 124, 131 f., 373, 376ff., 452, Das Leben der Studenten 4, 107, 109, 113, 117, 176f.,
657,463 192,301,306,310,312,331,490,499,595,602
Das Licht 630
Johann Jakob Bachofen 7, 539,542,549,563,565 Das mimetische Vermögen 631
Balzac 342 Das öffentliche Lokal, ein unerforschtes Milieu 418
Gaston Baty, Le Masque et L'Encensoir 339 Das Paris des Second Empire bei Baudelaire 7, 15, 24,
Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hoch- 31, 74, 97, 106,372,563, 567ff., 572,574,578,581,
kapitalismus 7, 97, 282, 344 583,636
Baudelaire unterm Stahlhelm 342 Das Spiel 635 f.
Charles Baudelaires Tableaux parisiens 18, 302 Das Taschentuch 559f., 637,670,679
Baustelle 370 Das Telefon 657
Bekränzter Eingang 668 Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet 418
»Bella<< (Rez. zu Jean Giraudoux) 334, 342 Denkbilder 7, 500, 639 f., 642, 652, 666, 670, 678
Bemerkung über Gundolf: Goethe 479 Der Autor als Produzent 7, 20, 27, 33, 84, 89f., 357,361,
Bergab 639 405, 420ff., 435,512,561,673
Berliner Chronik 6, 9, 20, 117, 320, 331, 352, 372,417, Der Baum und die Sprache 636 f., 652
466,562,583, 585f., 588, 590f., 631,640, 654ff., 660, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik
670,676,678 4, 9, 17, 62, 131, 150ff., 190,225,302,310,313,331,
Berliner Dialekt 383, 417 429,465,472,609,611,625
Berliner Kindheit um neunzehnhundert 3, 5 ff., 9 f., 16, Der destruktive Charakter 6, 191 f., 359,366,372,451,
22(,46,124,126,265,267,281,297,299,352,374, 453,459,463,538
698 Werkregister

Der eingetunkte Zauberstab 132,318,331 Die Wiederkehr des Flaneurs 321


Der Erzähler 6f., 74,278,289,299,344,454, 497ff., 504, Die Zeitung 361 f., 371 f., 459, 463
506,521, 557ff., 574f., 583, 640f. Disputation bei Meyerhold 348, 357f., 667,678
Der Fischotter 65 7 Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexio-
Der Flieger 112 nen (Kafka) 543, 555
Der gute Schriftsteller 640 Drei Bücher 342, 357
>>Der Idiot<< von Dostojewskij 302,310,344 Drei Franzosen 342
Der Irrtum des Aktivismus 310 Dreizehn Thesen wider Snobisten 359
Der Junge sagt einem kein wahres Wort 412
Der Kampf der Tertia 249 Eidos und Begriff 139, 149
Der Kaufmann im Dichter 338, 342 Ein Außenseiter macht sich bemerkbar 325, 331
Der Mond656 Einbahnstraße 5, 9, 17, 19, 46, 51, 167, 174, 181,241,
Der Moralunterricht 136, 149,595,602 255,259,266,278,281,294,308,316,323,331,336,
Der Regenbogen 4, 120ff., 129, 132, 140, 149 346, 359ff., 374f., 388, 395ff., 412,416,428,459,462,
Der Reiseabend 637,670,679 472,481,500,511,522, 525f., 535,541 f., 629,634,
Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau 273 ff., 664, 674f., 679
282 Ein bedeutender französischer Kritiker in Berlin
Der Strumpf 661 342
Der Sürrealismus 6, 26, 102, 255, 278, 279,342, 344, Ein Berliner Straßenjunge 383
348,357,365,372,499,511,543,674,676,394,398, Ein deutsches Institut freier Forschung 97, 104, 106,
435 435,457,463
Der wahre Politiker 168 Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen 331
Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen 417 Eine kommunistische Pädagogik 373, 380, 385
Deutsche Briefe I 43 7, 443 f., 446 f. Ein Familiendrama auf dem epischen Theater 28, 83, 90
Deutsche Menschen 7, 9, 17, 74, 165,378,418,437,442, Ein internationales Gesellschaftsspiel459, 463
444 ff., 502, 505 f., 683, 685 ff. Ein Jakobiner von heute 324, 331
Deutsch in Norwegen 439, 449, 495 Einmal ist keinmal 634 f.
Dialog über die Religiosität der Gegenwart 107, 117, Ein Schwarmgeist auf dem Katheder: Franz von Baader
119,121,123,135,149,307,310 166
Dichter nach Stichworten 412 Ein Wort von Casanova 636
Die »Neue Gemeinschaft<< 640 »Ei mayor monstruo, los celos<< von Calderon und
Die Aufgabe des Kritikers 6, 312,329,331 »Herodes und Marianne<< von Hebbel227, 319,331
Die Aufgabe des Übersetzers 4, 39, 64, 76, 87, 186,225, Erdbeben von Lissabon 382
302,307,310,313,329,331,335,465,471,593,595, Erfahrung 392
597, 601 f., 609, 611, 619 f., 625, 643, 649, 652, 657 Erfahrungsarmut I Erfahrung und Armut 34, 79, 90,
Die Bastille, das alte französische Staatsgefängnis 342 132, 361, 372, 392,415, 428, 451, 453 ff., 458 f., 461 ff.,
Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie 500,532,538,549,559,574,583,590(,636,674,676
4,61,220,227,592,602,625 Erkenntniskritische Vorrede 64 f., 123, 139, 141, 211,
Die Dirne 536 224,259,267,271,294,310,364,371,389,558,593,
Die Fahrt der Mascotte 637, 670, 679 607f.
Die Farben 126,657 Erotische Erziehung 112
Die Farbe vom Kinde aus betrachtet 124, 127, 132 Erster Traum 638 f.
Die Ferne und die Bilder 635 f. Erwiderung an Oscar A.H. Schmitz 249,348,357
Die Jugend schwieg 3 Erzählung und Heilung 639 f.
Die Kaktushecke 637,656 Essen 500, 632, 642
Die Mauer 637
Die Mietskaserne 324,331 Robert Faesi 439
Die MummerehJen 65 7 f., 660 Falerner und Stockfisch 632
Die »Neue Gemeinschaft<< 639 Falsche Kritik 330 f.
Die Phantasie 377 Faust im Musterkoffer 481,492
Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller Feuergeiz-Saga 341 f.
348,357 Feuermelder 364, 367
»Die Rückschritte der Poesie<< von Carl Gustav Joch- Florenz Baptisterium 364
mann 7, 106,437,448f. Frankreich und Rußland 357
Diese Flächen sind zu vermieten 362,371 Frech wird der Junge auch noch 412
Die Siegessäule 660 Friedensware 315ff., 331,334,342,526
Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen 316,323, Frische Feigen 632
334,339,362,367 Frühstücksstube 367
Die unendliche Aufgabe 149 Eduard Fuchs 22, 42, 93, 106, 282, 299,375, 455, 463,
Die Waffen von morgen 538 505,562
Die wahre Politik 168 Fundbüro 370
Werkregister 699

Für arme Sammler 452 Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages
Für die Diktatur 342, 435 76, 88, 90, 498, 500 f., 542, 543 ff., 563, 656
Für Männer 369 Franz Kafka. Beim Bau der Chinesischen Mauer 543 ff.
Galanteriewaren 365 Kaiserpanorama. Reise durch die deutsche Inflation
Gedanken zu einer Analysis des Zustandes von MitteJ- 308,359,364,657
europa 308, 310 Kapitalismus als Religion 4, 167ff., 182,218,674
Gehaltserhöhung?! Wo denken Sie hin?! 411 Karussell der Berufe 418
Geheimzeichen 636 Karussellfahrendes Kind 370
Geld und Wetter 167, 174 Kasperl und der Rundfunk 414
Geräusche 630 Kategorien der Ästhetik 488
Geschichten aus der Einsamkeit 637, 670, 679 Kathedrale 630, 635
Gespräch mit Andre Gide 342, 435 Käuflich, doch unverwertbar 459
Gespräch mit Anne May Wong 249 Kavaliersmoral 543, 546,556
Gespräch mit Ernst Schoen 410,460 Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtaus-
gabe seiner Werke 6, 28, 502 ff., 537
Gewohnheit und Aufmerksamkeit 639
Kinderliteratur 373, 384f., 498,501
Andre Gide: La porte etroite 310, 341
Kleine Briefwechsel mit der Steuerbehörde 460
Andre Gide und Deutschland 335, 341, 435
Kleine Geschichte der Photographie 22,231,233,242,
Andre Gide und sein neuer Gegner 420,427
249, 399 ff., 421, 435, 549, 553, 656
Gides Berufung 342 Kleine Kunst-Stücke 500,640,641,642
Glozel und Atlantis 459, 463 Knabenbücher 657
Goethe 356f., 492 Kolonialpädagogik 379, 385
Goethes Politik und Naturanschauung 482 Kommentare zu Gedichten von Brecht 15, 28, 87, 90,
Goethes Wahlverwandtschaften 5, 13, 15, 19, 121,225, 674,679
299,301,310,314,331,359,440,449,456,465, Kar! Kraus 6, 302,310,498, SOl, 522ff., 544,552,563,
472ff., 544,563,593,595,601 f., 625 672
Oskar Maria Graf als Erzähler 328, 331,561 Kar! Kraus liest Offenbach 528, 538
Granowski erzählt 357 Kriegerdenkmal 525 ff., 535, 538
Julien Green 342, 435 Krisis des Darwinismus 149
Grünende Anfangsgründe 373, 378, 385 Krisis des Romans 327, 328,331,561
Gut schreiben 640 f. Krisis und Kritik 77f., 330,410,425
Krumme Straße 661
Haschisch Anfang März 1930 677,679 Kulturgeschichte des Spielzeugs 373, 380, 385
Haschisch in Marseille 631, 642, 668,676 Kunst zu erzählen 559, 640 f.
J. P. Hebel495 Kurze Schatten 14, 500, 634 ff., 642
J.P. Hebel. Ein Bilderrätsel zum 100. Todestage des Kurzwaren 363
Dichters 494, 500
J. P. Hebels Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes L'angoisse mythique chez Goethe 479, 492
494,500 L'CEuvre d'art a l'epoque de sa reproduction mecanisee
Johann Peter Hebel6, 494, 497,500 93,100,249
Johann Peter Hebel. Zu seinem 100. Todestage 494, 500 Landschaft und Reisen 438 f., 449, 542
Hebel gegen einen neuen Bewunderer verteidigt 494, Lehre vom Ähnlichen 7, 77,299,547,593 f., 601 f., 631,
497,500,563 642 ff., 651 f., 655, 657 f., 660, 670
Franz Hesse! 320, 331 Les Cahiers du Sud 342
Lesendes Kind 370
Kar! Hobrecker: Alte vergessene Kinderbücher 373
Lichtenberg. Ein Querschnitt 413, 460, 463
E. T.A. Hoffmann und Oskar Panizza 30
Linke Melancholie 33 f., 327,331,341, 434f.
Höflichkeit 638
Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft 43, 231,
Hugo von Hofmannsthal, Der Turm 331
299,319,331,413,498,503
Hundert Jahre Schrifttum um Goethe 481,492 Lob der Puppe 373, 376,385
Loggien 662, 673
Ibizenkische Folge 634, 63 7 f., 642 Lösungsversuch des Russellschen Paradoxons 145, 149
Ich packe meine Bibliothek aus 6, 374,376,385,451,
459,463,545 Madame Ariane, zweiter Hof links 366, 370
Idee eines Mysteriums 545 ff. Mai-Juni 1931 90,642,668,672,679
In der Sonne 637,642 Malerei und Graphik 302,310
Malerei und Photographie s. Pariser Brief II
Jahrmarkt des Essens 460 Marseille 628 f., 635, 642
»Die Rückschritte der Poesie<< von Carl Gustav Joch- Materialien zu einem Selbstporträt 673, 679
mann 93,448 Mauern 631
Journalismus 459, 463 Maulheer-Omelette 632 f.
700 Werkregister

Meine Reise in Italien Pfingsten 1912 115,665,679 Probleme der Sprachsoziologie 7, 74, 643ff.
Memorandum zu den >>Sechzig Briefen<< 443 Programm der literarischen Kritik 323, 329, 331
Metaphysik der Jugend 4, 45, 107, 113, 117,586,589, Programm eines proletarischen Kindertheaters 6, 26,
591 90,373,380,385,459,463
Moliere: Der eingebildete Kranke 342 Protokolle zu Drogenversuchen 654
Moskau 6, 348, 351 ff., 357 Puppentheater in Berlin 383
Moskauer Tagebuch 90, 343 ff., 377, 393,422, 432, Puppen und Puppenspiele 373
509ff., 521,652,663, 666f., 679
Möwen633 Radau um Kasperl381, 414f.
Muschel- und Austernstände 630 Raum für das Kostbare 638
Myslowitz- Braunschweig- Marseille 418,631,642, Reflexionen zum Rundfunk 406,410,412,670
676,679 Reisenotizen 633 f., 642, 668, 679
Rezepte für Komödienschreiber 412
Nach der Vollendung 641 Romane lesen 328, 640 f.
Nachträge zum Aufsatz über Keller 503 Rückblick auf Chaplin 249
Naschendes Kind 370 Rückblick auf Stefan George 590 f.
Neapel355,357,383,626,633,642 Russische Debatte auf deutsch 357
Neoklassizismus in Frankreich 342 Russische Romane 357
Neue Dichtung in Rußland 348, 357 Russische Spielsachen 348,357,373,385,667,679
Neues von Blumen 404 f.
Nicht abraten 638 Sammlung von Frankfurter Kinderreimen 437,449
Nichts gegen die >>Illustrierte« 459,463 San Gimignano 6, 666, 679
Nordische See 6, 633,642, 666ff., 679 Paul Scheerbart: Lesabendio 174
Notes sur les Tableaux parisiens de Baudelaire 567, 569, Schemata zum psychophysischen Problem 175
583 Schicksal und Charakter 4, 121, 123, 173f., 213,227,
Notizen Svendborg Sommer 1934 672, 679 302,310,486,544,553
Notizen von der Reise nach Frankfurt 30 Mai 1928 668, Schmetterlingsjagd 659
679 Schönes Entsetzen 635
Notizen zu einer Theorie des Spiels 385 Selbstbildnisse des Träumenden 674
Notiz über Brecht 673, 679 Friedrich Sieburgs Versuch »Gott in Frankreich?« 342
Notiz über ein Gespräch mit Ballasz 668, 679 Situation im Rundfunk 411
Notre Dame de la Garde 635 Skandal im Theatre 342
Sokrates 641 f.
Oedipus oder Der vernünftige Mythos 435 Soll die Frau am politischen Leben teilnehmen? 342
Spanien 1932 637 f., 642, 664, 670, 679
Paris, Capitale du XIXeme siede 258, 273 f., 282, 342 Spanische Reise 347
Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts 7, 93, 95, Speisesaal 629
106,258,273(,282,362,390 Spielwaren 371
Paris, die Stadt im Spiegel 342, 405 Spielzeug und Spielen 249,373,377,379,385
Paris als Göttin 334, 342 Spurlos wohnen 636
Pariser Brief (1). Andre Gide und sein neuer Gegner Staatsmonopol für Pornographie 459, 463
337,342,420(,427,429,435,521,685 Stadt 633
Pariser Brief (2). Malerei und Photographie 342, 337, Statuen 634
405, 420f., 426f., 429ff., 435,521,685 Stereoskop 371
Pariser Köpfe 342 Steuerberatung 167,368
Pariser Passagen 93, 106, 255, 272 f., 275, 282, 342, 359 Strenge Kunstwissenschaft 240
Pariser Tagebuch 342, 435, 629, 642 Studien zur Theorie des epischen Theaters 88, 90
Pariser Theaterskandale II 342 Studio >>L'assaut« 342
Passagen 255, 272, 275, 278, 282,522 Surrealismus und Politik 340
Pestalozzi in Yverdon 373,385 Surrealistische Zeitschriften 398, 435
Pfingstreise von Haubinda aus 664, 679
Phantasie 130, 132 Tagebuch für Schreiberhau 664, 679
Phantasiesätze 437f., 449 Tagebuch meiner Loire-Reise 342,668,679
Phantasie und Farbe 385 Tagebuchnotizen 1938 673,679
Piscator und Rußland 357 Tagebuch Pfingsten 1911 664,679
Pläne verschweigen 635 Tagebuch vom siebenten August neunzehnhundertein-
Platonische Liebe 635 unddreißig bis zum Todestag 299, 453, 642, 669 f.,
Poliklinik 362 679
Pranzo caprese 632 Tagebuch von Wengen 664, 679
Prinzipien der Wälzer oder Die Kunst, dicke Bücher zu Tankstelle 19, 364 f., 368 ff.
machen 361 Technische Nothilfe 362, 366 f.
Werkregister 701

Theater und Rundfunk 84, 90, 409 f., 460 Versuch eines Beweises, dass die wissenschaftliche
>Theologisch-politisches Fragment< 168, 310 Beschreibung eines Vorganges dessen Erklärung vor-
Theologische Kritik 546, 556 aussetzt 147, 150
Theorien des deutschen Faschismus 24, 317f., 331,435 Verzeichnis der gelesenen Schriften 151, 197, 344, 502,
Thesen über das Identitätsproblem 145, 149 678f.
Tiefbau-Arbeiten 367, 675 Vestibül 629
Tiergarten 640, 660 Vom Glauben an die Dinge, die man uns weissagt 635
Tip für Mäzene 323,331 Vom Manuskript zum 100. Tausend 412
Torso 294 Vom Weltbürger zum Großbürger 43 7, 440, 442 f., 44 7,
Trauerspiel und Tragödie 4, 61, 176, 187,211,214,227, 449,483
592,602 Von der Sommerreise 1911 665,679
Traum 639f. Vorschläge für den Besprechungsteil der >>Zeitschrift für
Traumkitsch 256,341 f., 387,398,674 Sozialforschung<< 106
Vorstädte 631
über das mimetische Vermögen 68, 74, 76,264,547,
Wachstuch-Tagebuch nach Heinles Tod 664
594,602,642,643ff.,655,657
Wahrnehmung ist Lesen 150
über das Mittelalter 119, 123
Robert Walser 495, 501
über das Programm der kommenden Philosophie 3 f., Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker
19, 62, 119, 123, 134ff., 175, 176, 178, 192, 194,252, schrieben 413
392,592, 596f., 625 Was ist das epische Theater? 80 ff., 90, 435, 549
Über den Begriff der Geschichte 3, 6 f., 9, 14, 22, 26 ff., Wedekind und Kraus in der Volksbühne 528, 538
34f., 37, 42, 77, 85, 99, 105f., 109, 117, 168, 174, Weimar 628 f., 642
277f., 280,282, 284ff., 302,310,345,367,384,456, Wider ein Meisterwerk 318,331,466,471,481,492
483, 492, 498 ff., 504 ff., 508, 511, 519, 521, 541, 562, Widerstände gegen die Umfunktionierung 90
565,586,602,634 Wie ein russischer Theatererfolg aussieht 357
über die Fläche des unfarbigen Bilderbuches 132 Wie erklären sich große Bucherfolge? 560
Über die Malerei oder Zeichen und Mal125, 302,310 Wie nehme ich meinen Chef? 411
Über die Wahrnehmung 134, 142f., 145 f., 149 Antoine Wiertz: Gedanken und Gesichte eines Geköpf-
Über einige Motive bei Baudelaire 28, 93, 98, 106, 130, ten 437,449
299,367,370,372,519,521,563,567,569,573,580, Windrose des Erfolges 638
583,628,653 Woran einer seine Stärke erkennt 635
Obersetzungen 342
über Sprache überhaupt und über die Sprache des Zentralpark 7, 221,223,365,371 f., 506,568,570,574,
Menschen 3 f., 19, 45, 60, 65, 76, 90, 125, 135, 146 f., 581 ff.
149,162,166,307,310,313,331,442,449,522,590(, Zu einem dritten Hebel-Aufsatz 494
592 ff., 605, 608 f., 611, 625, 635, 637, 642 f., 650, 652, Zu einer Arbeit über die Schönheit farbiger Bilder in
657 Kinderbüchern 132
Über Stefan George 466,471,591 Zu spät gekommenes Kind 370
übung638 Zum >Alexanderplatz< 328, 331
Unbekannte Anekdoten von Kant 437f., 449 Zum Bilde Prousts 6, 299, 507 ff., 529, 562, 644, 656,
Une lettre au sujet de >>Le regard<< de Georges Salles 342, 662
455,463 Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des
französischen Schriftstellers 67, 93 f., 100, 106, 334,
Unordentliches Kind 370
337 ff., 342, 420, 435
Ursprung des deutschen Trauerspiels 6, 13, 17, 44 f., 64,
Zu Micky-Maus 249
76, 150, 165f., 183, 192, 210ff., 288,294,299,301,
Zum Planetarium 364, 541 f.
359(,364ff.,369,372,440,456,465,524,592,602,
Zum Tode eines Alten 639
607ft, 616,625,643,678
Zu nahe 635
Urwaldgeister 587, 591 Zur Astrologie 652
Zur Kritik der Gewalt 4, 31, 39ff., 64, 76, 86, 141, 149,
Paul Valery 339, 342,435 168, 172 ff., 179, 193 ff., 216f., 227, 477, 544, 625
Paul Valery in der Ecole Normale 339, 342,435 Zur Lage der russischen Filmkunst 249, 357
Vereidigter Bücherrevisor 270, 362, 364, 369,462 f. Zur Phantasie 132
Verein der Freunde des neuen Rußland = in Fankreich Zur Wiederkehr von Hofmannsthals Todestag 320, 331
337,339,342,357,435 Zuschrift an Florens Christian Rang 301 ff.
Vergiß das Beste nicht 639 Zweierlei Volkstümlichkeit 384,410,413,460
Vergrößerungen 370 Zwei Gedichte. Von Gertrud Kolmar 437f., 449
Verstecke 659 Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin 4, 19, 121, 123,
Verstecktes Kind 370 139, 150, 166, 188, 465ff., 591
Verstreute Notizen Juni bis Oktober 1928 668,679 Zwei Rätselbilder 658
702

Namensregister

In dem Register werden die Namen von Benjamins Zeit- Arendt, Hannah 7, 10, 14, 20f., 24, 29, 31, 71, 74,76-78,
genossen verzeichnet, zudem die von ihm behandelten 90,105,258f.,273,285,311,331,346,351,357,451,
Autoren, die Autoren der Wirkungs-geschichte und der 463,566,570,583,680
Forschungsliteratur sowie auch Publikationsorgane und Argonauten, Die (literarische Monatsschrift) 302, 305
Institutionen. Ariadne 631
Aristoteles 3, 81, 83, 90, 188, 192,249,645
Arnheim, Rudolf 231,236,243,250
Abot, Berenice 402 Arnim, Bettina von 185, 192,486
Abensour, Miguel571, 583 Arnold, Heinz Ludwig 494,501
Achilleus 122 Arntzen, Helmut 362, 372
Adorno, Gretel (Karplus) 10, lSf., 22,92-106, 158, 166, Aron,Max 13
175,232,250,275, 277f., 282,286,291,395,455,481, Aron, Raymond lOOf.
512,540,545,563,585,591,638,659,673,675,678, Artaud, Antonin 39, 389
680-682 Asholt, Wolfgang 281,283
Adorno, Theodor W. 3, 5, 7-10, 13-33, 41, 46, 49, 51, 54, Asman, Carrie 90
74f., 77f., 81 f., 87, 90,92-106, 141, 150, 153, 158, Assheuer, Thomas 54 ff.
161, 166-168, 175, 178f., 210,228,230, 232f., 236, Assmann, Aleida 52, 299
241 f., 245, 249f., 255,257-269,273,275, 277f., 282, Assmann, Jan 519,521
28Sf., 291,295,297-299,320, 329f., 343,360, 363f., Atatürk, Kemal 350
366f., 369f., 372 f., 385,388,390,392,395-398,419, Atget, Eugene 399, 402 f.
426f., 431,435,437,449,452, 45Sf., 465, 470f., 478, Athenäum 19, 133, 153 f., 160, 163,305-307,309-311,
481,491 f., 500, SOSf., 512f., 521,529,531 f., 538, 314,595
540-543, 549, 555 f., 558, 563-565, 568-570, 576, 581, Aubarede, Gabriel d' 338, 342
583,585,591,626,642, 654f., 659,662, 674f., 677- Auerbach, Berthold 495, 501, 683
682, 684 f., 687 Auerbach, Erich 334,512
Agamben, Giorgio 15,31 f., 37f., 55, 83, 86, 90, 126, 193, Augustinus 291,299
209, 216f., 227,251,273,285,299,544,556,567,569,
570,585 Baader, Pranz von 164ff., 176
Agnon, Samuel Joseph 5, 303 Baal80, 90
Aias 122 Bächler, Wolfgang 675
Akademie der Künste Ost-Berlin 569 Bachofen, Johann Jakob 7, 70, 539-542, 549, 552, 554,
Aktion, Die 29, 44, 112 f., 117 563,565
Akzente 332, 586, 591 Baecker, Dirk 50, 52, 169, 174
Alain (Emile Chartier) 425, 435 Bahr, Hermann 526 f.
Alewyn, Richard 210, 226f. Bahti, Timothy 37f., 620,625
Alexander der Große 555 Balasz, Bela 231,668,679
Allemann, Beda 55, 547, 556 Ball, Hugo 436, 682
Alt, Peter-Andre 18, 21, 44, 307, 310, 471 Ballard, Jean 336
Alter, Robert 76 Balzac, Honore de 253, 280, 342
Anders, Günther 7, 500 Barbusse, Henri 426
Anderson, Dag T. 283, 292, 299 Barck, Karlheinz 47 f., 386 f., 398
Anfang3 Barner, Wilfried 217, 22 7
Angelus Novus (Zeitschrift) 4, 18f., 22, 159,301-310, Barres, Maurice 423 f., 426, 515
314ff., 329,331,334,363,372,384,595,602,671 f., Barthes, Roland 48,352,357,400,405,435,521
679 Bartlett, Frederick Charles 644
Apollinaire, Guillaume 100,338, 342,387,422 Basedow, Johann Bernhard 377,483
Arabatzis, Stavros 44, 570, 583 Baßler, Moritz 372
Aragon, Louis 6, 30,255, 257f., 261,273,333,340,357, Bataille, Georges 7, 15,212,265,285,336,569,585, 587,
368 f., 372, 386 ff., 398, 422, 426 f., 430f., 435, 507, 679,681
656 Baudelaire, Charles 4f., 7, 9, 15, 18, 24, 28f., 31, 37,42-
Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Ar- 45,63, 74f., 77f., 93, 97ff., 126, 130, 132,237,254-
beiterbewegung 92 261, 265 f., 269 f., 272 f., 276, 278, 280, 282, 295, 299,
Namensregister 703

301 f., 326,332, 334f., 342,344,353,355,367,370, Blätter der Staatsoper und der Städtischen Oper
372,375, 396f., 477,486,506, 508f., 513f., 519-521, 528
542,563,567-584,585,593,609,617,628,636,643(, Blätter für die Kunst (George) 305
653,661, 676f., 681 Blaupot ten Cate, Annemarie (Toet) 7, 13, 586, 670-
Bäuerl, Carsten 677,679 672,680
Baumann, Valerie 50, 52,281,283,635,637,642,672, Blei, Franz 587, 685
675,679 Bleichrode, Isaak 59
Baumgardt, David 164f., 166 Blobel, Martin 251,273
Becher, Johannes R. 380 Bloch, Ernst 4-6, 14, 19, 28, 33, 35, 38, 63 f., 87, 90, 168,
Beck Verlag 558 175, 180f., 185f., 192f.,209,232,256,271,273,303,
Becker, Jochen 403, 405 330,360(,363,366,369-373,395-398,429,436,492,
Beckett, Samuel470 494--497,500-502,507,551(,668,676,678,680
Beethoven, Ludwig van 239 Bloch, Jean-Richard 429
Beguin,Albert 165f., 342 Bloßfeld, Karl399, 401,404
Behne, Adolf 363 Bloy, Leon 340
Behrens, Roger 410,419 Blücher, Heinrich 7, 74, 78,674
Below, Irene 55 Blum, Leon 432
Benda, Julien 340, 342, 422, 424--426, 434 f. Blumenberg, Hans 458,463,474,477,482,492
Benjamin, Andrew 48, 166 Blumenthal, Herbert W. 3, 14, 45, 109, 112 f., 136, 592,
Benjamin, Dora (Schwester Walter Benjamins) 15, 77, 664f., 681 f.
285 Bock, Wolfgang 37f., 277,283,293,299,463,580,583
Benjamin, Dora Sophie (geb. Kellner, Gattin Walter Boethius, Manlius Torquatus Severinus 128
Benjamins) 4, 7, 10, 13, 60-63, 374, 472, 507, 566, Böhlendorf, Casimir Ulrich 81,444
585, 633, 667 f., 680 Böhm, Wilhelm 466
Benjamin, Janet 374 Böhme, Hartmut 50, 52
Benjamin, Stefan (Sohn Walter Benjamins) 4, 13, 62, Böhme, Jacob 180f.
374,668 Bohrer, Karl-Heinz 26, 29,281,283,395,398, 470f.,
Benn, Gottfried 428, 682 573,583
Bennett, Arnold 558, 562 Boie, Bernhild 586, 591
Beradt, Charlotte 675, 679 Boileau, Nicolas 342
Bergmann, Hugo 60 Bois, Curt 565
Bergmann, Kar! Hans 277,283 Boisseree, Sulpiz 131, 133
Bergson, Henri 4, 124,210,291,515,517, 520f., 574- Bokma, Horst 373, 385
577,579,584,678 Bolle, Willy48, 51 f., 270,273,277,281,283,299,360,
Berl, Emmanuel 340, 425, 435 373,567,569,583
Berlau, Ruth 77 Boltanski, Christian 55
Berlin, Isaiah 194, 209 Bolz, Norbert W. 12, 30, 32, 46, 48,52, 168, 174,210,
Berliner Börsencourier 496 216(,227,251,260,273,280,283,474,492
Berliner Funk-Stunde 408,413 Borchardt, Rudolf 310, 335, 439 f., 441 f., 449
Berliner Tageblatt 359, 373 Börne, Ludwig 683, 685
Bernard, Andreas 55 Borso, Vittoria 281, 283
Bernays, Jakob 682 f. Bossert, Helmuth Theodor 399, 405
Berndt, Frauke 506 f. Bourriand, Nicolas 55
Bernfeld, Siegfried 117, 389 Boyer, Christine 273
Bernoulli, Carl Albrecht 539 f., 542 Boym, Svetlana 351 f., 357
Bernstein, Charles 53 Braese, Stephan 30, 32,331,342,358,431,435,679
Bertrand, Louis 428 Brecht, Bertolt 6f., 12, 14f., 19, 21,23-30,32,49, 63, 74,
Bertuch, Friedrich Johann Justin 126, 378 76ff., 104,228, 232f., 241,250,257,261,265,267-
Betz, Maurice 507 270,273,286,288(,293,295,299,301,311,324,327,
Bevilacqua, Giuseppe 494 330f., 345f., 349, 357f., 372,381 f., 385,388, 390f.,
Bezold, Friedrich von 220, 224, 227 395,404--411, 414f., 419, 420f., 427,429,431-436,
Biale, David 76 452-454,463,500-504,506,508,512, 523f., 533,536,
Bibliothek Suhrkamp 586 543,545, 548f., 550ff., 568,571,583, 668f., 672ff.
Bibliotheque Nationale 6, 7, 16, 278, 282, 285, 567, Brecht, Christoph 372
569f., 674 Bredel, Willi 232,421,427,429
Bienert, Michael 372 Brentano, Bernard von 330,446,497,502,507,680
Blackert, Hermann 512 Breton, Andre 30, 127, 131,336,375,389,392,394,
Blanchot, Maurice 299 398f., 426
Blanqui,Auguste 97,260,277, 279f., 281,283,288,567, Breuers, Josef 577
571,574,583 Breysach, Barbara 437, 449
Blass, Ernst 302, 305 Breysig, Kurt 4, 438
704 Namensregister

Brill, Hans Klaus 101 Chaplin, Charles Spencer (Charlie) 48f., 53,231, 245f.,
Brion, Marcel 342, 504 247, 249f., 415,463
Broch, Hermann 494 Chaves, Ernani 288, 299
Bröcker, Michael 596, 600, 602, 652 f. Chevreul, Ernest 126
Brod, Max 71,494,543,545,548,552,556 Chirico, Giorgio de 389
Brodersen,Momme 10f., 12, 14, 17,21,26,29f.,32, Chopin, Fn!deric 673
113,117,164,166,210,227,315,319,329,331,358, Christ, Wilhelm von 122 f.
437,450,466,471,494,503,507,538,627,633(,637, Claudel, Paul336, 444
640,642,665,679 Claudius, Mattbias 533
Bronnen, Arnolt 78, 419, 428 Cocteau, Jean 334, 676
Brückner, Wolfgang 133 Cohen, Hermann 32, 37f., 117, 121, 136, 141 f., 143,
Brüggemann, Heinz 124, 132f., 281,283,432,436,662 144(,148,150,177-179,184,192,255,471,486,492,
Brüggemann, Theodor 377,385 552,587,591
Bub, Stefan 20f., 591,628, 630f., 642 Cohen, Margaret 34, 273 f., 280, 283, 357 f., 388, 392,
Buher, Martin 60, 182, 184, 192,304, 309, 351, 353 f., 394,397
373,443,533,595,597,603ff.,680,682 Cohen, Robert 538
Bucephalus 555 Cohen, Tom 51 f.
Bucharin, Nikolai 678 Cohn,Alfred 113,335,387,389,395,522,527,558,587,
Buchhardt, Escha 63 629,639
Büchner, Georg 499, 673 Cohn, Jonas 4, 121
Buck-Morss, Susan 32, 45, 250f., 270,273,278, 280f., Cohn, Jula 4, 63,302,347,350,472,510, 585f., 639,682
283,346,352,358,381,384(,398,416,419,570,583 Collenbusch, Samuel439, 687
Bühler, Karl644f., 647,652 Collomb, Michel 250, 342
Bulthaup, Peter 38, 284, 299 Columbia University 100
Bunge, Hans 78, 90 Comenius, Johann Amos 377
Buono, Franeo 500 f. Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Mar-
Burdach, Kar! Friedrich 540 quis de 461
Bürger, Gottfried August 444 Conrad, C. (Pseudonym Walter Benjamins) 654
Bürger, Peter 43 f., 398, 617 Cornelius, Hans 359
Bürgisser, Hanns 494-499,501 Coulanges, Pustel de 287
Burke, Edmund 489 Courbet, Gustave 431
Burrow, Merrick 273 Courtois, Jean-Patrice 437,450
Buschendorf, Bernhard 474, 492 Crimp, Douglas 400, 405
Curjel, Hans 528
Cabet, Etienne 281 Curtius, Ernst Robert 50,335,509,512
Cagliostro 383 f.
Cahiers du Sud 94, 336, 342,479, 492, 510, 676 Daguerre, Louis Jacques Mande 258, 280, 400
Caillois, Roger 212,248,250,261,342,435 Dante, Alighieri 89, 656, 677
Calder6n de Ia Barca, Pedro 212,214,221, 226f., 228, Daphne640
319f., 331 Darwin, Charles 143
Callet, Charles 645, 652 Daudet, Leon 428
Calvelli-Adorno, Agathe 94 Daumier, Honore 276, 280, 584
Campe, Joachim Heinrich 685 Dauthendey, Max 685, 687
Campe, Rüdiger 216f., 227 Deleuze, Gilles 292, 299
Cancik, Hubert 123 Derrida, Jacques 31 f., 34,37-42,51,82, 90, 166f., 193,
Canetti, Elias 500, 528 209,216,227(,293,299,332,351(,358,400,405,
Cantor, Georg 145, 149 474,492,516,557,597,617-619,622,625,675,679,
Carnap, Rudolf 645 684
Casanova 636 Descartes, Rene 127,454
Casini-Ropa, Eugenia 380,385 Desjardins, Paul 335, 520
Caspar Hauser 383 Deubel, Leon 334 f., 342, 455
Cassirer, Ernst 6, 646 Deuber-Mankowsky, Astrid 30, 32, 37f., 45, 108, 117,
Cassou, Jean 507 466,471, 587f., 591
Catania 637 Deuring, Dagmar 639, 642
Caute, David 426 f., 436 Deutsche Bauhütte 309, 311, 363,373
Cauter, Lieven de 273 Deutsche Welle 408
Caygill, Howard 391 Deutsche Zeitung 416
Cervantes, Miguel de 85 Deutsches Zentralarchiv Potsdam 15, 59, 569
Chagall, Mare 125 f., 129, 302 Dewitz, Hans-Georg 90
Chamisso, Adelbert von 238, 664 Diamant, Dora 497
Chaouli, Michel158, 163, 166 Didi-Huberman, Georges 398
Namensregister 705

Diers, Michael437, 445,450 Felman, Shoshana 125, 133, 586, 591


Dietzgen, Joseph 288 Fenves, Peter 134, 146, 150,213,215,221,227, 597,600,
Dilthey, Wilhelm 290,299,466,471,498,575,680 602
Disney, Walt 246 Ferguson, Priscilla Parkhurst 573, 583
Djassemy, Irina 538 Ferneyhough, Brian 53
Döblin, Alfred 327-329, 331, 382,434,504, 559, 561, Ferris, David 12, 151, 158, 164, 166
565f. Feuerbach, Ludwig 134, 150
Doderer, Klaus 385, 419 Fichte, Johann Gottlieb 110f., 130, 150, 154f., 160-164,
Döhl, Reinhard 415,419 166,306,442
Domke, Martin 15, 285, 496 Fietkau, Wolfgang 571,583
Don Quichotte de Ia Mancha 638 Figal, Günter 193, 209
Doorn, Hermann van 14,274,283,343,557,614,625, Figaro 428,508,516
627,632,637,642 Fineberg, Jonathan 133
Dörr, Thomas 614,625 Finkelde, Dominik 521
Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 61, 85,302,310, Fischer, Jens Malte 538
343-345,552,673 Flaskamp, Christoph 157, 166
Dotzler, Bernhard 565 Flaubert, Gustave 509
Drews, Jörg 14,311 f., 331,385,538 Flesch, Hans 408 f., 419
Dreyfus, Alfred 422 f., 425 f., 436, 509, 513 Flusser, Viiern 46 f., 400, 405
Dudek, Peter 110, 117 Focillon, Henri 243, 250
Duhamel, Georges 231,250 Folkers, Horst 50, 52, 193, 209, 522
Dürer, Albrecht 4, 218f., 227f. Fontane, Theodor 664
Düttmann,Alexander Garcia 32, 42,621,625 Forster, Georg 442,444,447,682
Foucart, Claude 342
Eckermann, Johann Peter 482 Foucault, Michel17f., 21, 39, 53,222,227
Eddington, Arthur Stanley 556 Fourier, Jean Baptiste Joseph 94, 249, 258, 276, 279 ff.,
Eichenbaum, Boris 558-560, 565 283,288,342,384,461
Eichendorff, Joseph von 438, 444, 495,630 Fränkel, Fritz 676
Einfalt, Michael 438, 444, 495,630 Fränkel, Jonas 502 f., 505, 507
Einstein, Carl129, 133, 143, 454, 662 Frankfurter Allgemeine Zeitung 55, 283
Eisler, Gerhard 90, 380, 433 Frankfurter Rundschau 55
Elias, Norbert 680 Frankfurter Zeitung 5, 17, 19, 78, 80,312,315,324,331,
Eluard, Paul 336, 388 f. 333, 359, 368, 373,404,411,418,437,439,441,443 f.,
Emmerich, Wolfgang 90 449,452,460,481,494,502,505,507,528,559-563,
Engels, Friedrich 89, 172, 174, 276, 280, 538 590, 626, 631-633, 638 f., 654, 668, 676, 680, 685
Engström, Ingemo 565 Frege, Gottlob 135f., 610,626
Enzensberger, Hans Magnus 27, 29, 47f., 235,250 Freud, Fania 73
Erlich, Viktor 558, 565 Freud, Sigmund 3, 39, 90, 171, 174,218-220, 227, 245 f.,
Ermatinger, Emil319, 498,503,507 250,254,262,267,271,273,280,284,291,294[,299,
Ernst, Max 388 f. 389,398,486,519,548,572-574, 576ff., 583,661,
Ernst, Paul150, 466,471 674f.
Erpenbeck, Fritz 421 Freudl, Jürgen 52
ESI 429 Freund, Giseie 342, 405, 430 f., 435 f., 680
Espagne, Michel270, 273,278,283, 569f., 581,583 Frey, Hans Jost 613,616,625
Etiemble, Rene 41 Friedell, Egon 685
Europe (Zeitschrift) 94, 104, 437, 492, 563 Friedländer, Salomon 680
Ewers, Hans-Heino 565 f. Friedrich der Große 438
Exner, Adolf 503, 506 Fritsch, Willy 669
Exner, Marie 503, 506 Fromm, Erich 93
Fuchs, Eduard 456--458, 462 f., 505, 562, 659, 680
Faber, Richard 281,283, 500f. Fuld, Werner 429,436,466,471,637,642,671 f., 679
Fachinelli, Elvio 385 Funk-Stunde AG 408,411,413
Fackel, Die 522, 525-530, 533, 535-538 Fürnkäs, Joseph 48 f., 250, 283, 291, 294, 290, 360, 365,
Faesi, Robert 439, 449 369, 372f., 397f.,514,521,533,538,580,583,642
Farocki, Harun 565
Fatzer 78-80, 90 f. G - Material zur elementaren Gestaltung (Zeitschrift)
Faust 44, 80,383,477, 480f., 483,488,491--493,495, 363
530,636 Gage, John 125, 128, 133
Favez, Juliane 94, 105 Gagnebin, Jeanne-Marie 42, 284, 290, 298 f., 565 f.,
Fedortschenko, Sofja 345, 357 652f.
Felix Alcan Verlag 93, 100 Gall, Franz Joseph 444
706 Namensregister

Gallimard, Gaston 100 Greffrath, Krista R. 291, 299, 513 f., 521, 614, 632 f.
GalyGays 80 Greiner, Bernhard 684,687
Gandillac, Maurice de 514 Greve, Gisela 478,492
Garber, Klaus 11, 18, 21,23 f., 26, 29,33 f., 36, 38,42-44, Grimm, Albert Ludwig 131-133,662
46, 48, 55, 210f., 217,283,299,331,481,492,570, Grimm, Jacob 445
583,627-629,642,682,687 Grimme, Hubert 240, 250
Garloff, Peter 571, 583 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph 504
Garve, Christian 135 Groddeck, Wolfram 471
Gasche, Rodolphe 42, 82, 90, 158 f., 161, 166, 549, 556 Grossmann, Henryk 93
Gauguin, Paul 667 Grossmann, Jeffrey 18,21
Gay!, Wilhelm Freiherr von 416 Groth, Peter 419
Gebauer, Gunter 133 Groys, Boris 47 f., 250
Gebhardt, Peter 152, 166 Grözinger, Kar! Erich 76, 150, 450
Geiger, Moritz 4, 136, 150 Grünberg, Carl 92
Geissler, Erich 111, 113, 117 Gryphius, Andreas 80, 227 f., 373, 479
Geist, Johann Friedrich 52 Gundolf, Friedrich 4, 210,440,473-475, 479ff., 486,
Genette, Gerard 559, 566 685
Gentz, Friedrich von 446 Günter, Manuela 662
George, Stefan 4, 22, 99ff., 158,302,305,307,310,319, Günther, Henning 36, 38,281,283,385
439,466,471,479,522,539,588-590,680, 684f. Günther, Horst 212,227
Gerlach, Kurt Albert 92 Günther, Joachim 446, 450
Gervinus, Georg Gottfried 480 f. Gurland, Henny 682
Gerwen, Will van 586, 591, 670 f., 672, 679 Gutkind, Erich 680
Gesellschaft für Sozialforschung e.V. 92 Guttmann, Heinrich 399, 455
Gesellschaft, Die 325-327,561 Guy, Constantin 578
Geulen, Eva 45 f., 214 f., 226f., 250
Gide, Andre 7, 41, 104,310,329,333,335 f., 340-343, Haacke, Wilmont 373
420,423,426-429,435 f., 507,511,678,685 Haas, Willy 5, 210,227,333,386,398,437, 442f., 453,
Giehlow, Karl218f., 227,540 543, 546 f., 552, 554, 556, 628, 669
Gilloch, Graeme 48,281,283,351 f., 355,358 Häberlin, Paul4, 132, 164, 167
Gipper, Andreas 425, 436 Habermas, Jürgen 14, 23,28-34,250,255,257,273,299,
Girard, Pierre 335, 342 337,340,342,651-653
Giraudoux, Jean 333 f., 388 Haecker, Theodor 102, 434
Girshausen, Theo 78, 90 Hagen, Wolfgang 4, 14,419
Gladkow, Fjodor 357 Hamacher, Werner 41 f., 44, 89f., 142, 150, 168, 174f.,
Glasbrenner, Adolf 383 186, 192,209,213,227,554,557,590(,612,625,
Glück, Pranz 493 f., 500 f. 652 f., 655, 662
Glück, Gustav 191, 524 Hamann, Johann Georg 36, 135, 167, 596-600, 602
Gnedin, Evgenij Aleksandrovi=350, 358 Hamburger, Käte 474, 492
Gödde, Christoph 10, 13, 16,55, 92, 106, 167, 250, 282, Harnlet 218,221,227-229
343,679 Hamsun, Knut 495, 552
Goethe, Johann Wolfgang von 31, 43, 80, 90, 122, 124, Handke, Peter 565 f.
127f., 131-133, 137, 150, 153, 156ff., 238ff., 267,305, Hansen, Miriam 248, 250
347, 356 f., 425, 438 f., 457, 468, 472-493, 495, 513, Hanssen, Beatrice 166, 227, 471
522, 525, 533, 546 f., 552, 555, 595, 616, 622, 624, Hardenberg, Friedrich 133, 155, 158, 160 f., 163
628 f., 664 f., 678 f., 682-686 Härt!, Heinz 478, 492
Gogol, Nikolaj 558, 666 Hart-Nibbrig, Christiaan L. 621, 625, 663
Goldberg, Oskar 64, 303 Hartung, Günter 28 f., 34, 109, 117, 316-318, 332 f., 337,
Gombrich, Ernst H. 124, 128, 133 342
Gontard, Susette 466 Harverty Rugg, Linda 663
Gorki, Maxim 345, 357 Harvey, Lilian 669
Görling, Reinhold 51 f., 281,283,585 Hasek, Jaroslav 673
Gottlieb (Pseudonym v. Alfred Kerr, siehe dort) Hauff, Wilhelm 381 f., 415
Gough, Maria 35 7 f. Haug, Wolfgang Fritz 424
Grabbe, Christian Dietrich 80, 673 Hauptmann, Elisabeth 85, 422, 668, 680
Graci<in, Balthasar 633 Hauptmann, Gerhart 526, 640, 669
Graeff, Werner 363, 373 Hausmann, Raoul 363
Graf, Oskar Maria 328,331,477,497,561,683 Haussmann, Georges Eugene 94, 258, 278, 280, 342,
Grandville 258f., 275f., 278,280,282,461 362,371,389,423,574
Green, Julien 39, 42,329,336,341-423,435,506-508, Haverkamp, Anselm 41 f., 193,209,219,221, 226f., 623,
523,678 625
Namensregister 707

Heartfield, John 431 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 30, 85,417, 572,
Hebamme Bianchamori 630 628
Hebbel, Friedrich 227,319,331 Hoffmann, Heinrich 379,383
Hebel, Johann Peter 6, 324, 329, 384,416 f., 429, 493- Hofmannsthal, Christiane von 440
501,504,506,529, 562f. Hofmannsthal, Hugo von 22, 99ff., 109,301, 304f., 307,
Hege!, Georg Wilhelm Friedrich 39, 67, 82, 90, 146, 150, 310, 319ff., 331-333,335, 387f., 395,439-442,450,
153,227(,236,238ff.,240-242,247,250,261(,264- 472f., 486,502,504, 526f., 547, 558f., 561,594,628,
266,285,287(,291,298,310,372,391,394,398,447, 641,650,678,680,682
452,534,546,557,686 Hohendal, Peter Uwe 342
Hegemann, Werner 324-326 Holborn, Fritz 669
Heidbrink, Ludger 31 f., 678 f. Hölderlin, Friedrich 4, 19, 81, 88, 114, 117, 121-123,
Heidegger, Martin 24, 3lf., 48, 77, 83, 90, 116, 139, 197, 137-139, 143f., 150(, 156, 161, 164, 166, 185, 187f.,
236, 239ff., 242,250,267,271, 390ff., 398f., 470,502, 192,239,429,438,440,444,447,465ff.,488,491,
597, 602 f., 618, 678 f., 683 561,591, 617f.
Heil, Carl414 Hollier, Denis 212,227
Heil, Susanne 209, 340, 342, 398 Holz, Detlef (Pseudonym Walter Benjamins) 7, 331,
Heine, Heinrich 152, 238, 584, 683, 685 f. 481,639,654
Heinle, Christoph Friedrich (Fritz) 4, 61, 117, 126, 151, Homer 42, 122, 506, 565
303,311,466,585-591,654 Honold,Alexander 47f., 90, 163, 166,316,329,332,
Heinle, Wolf 4, 303 343,410,419,497,499-501,504,507,522,538,565(,
Heinrich IV. 607 567,583
Heißenbüttel, Helmut 23 f., 29, 687 Horaz 154, 526
Heitger, Ulrich 409,419 Horch, Hans Otto 498, 500 f.
Helbling, Carl 502 Hörisch, Jochen 474, 492, 678 f.
Helena 239, 480, 488, 491 Horkheimer, Max 7, 10, 18, 26, 74f., 92ff., 141, 150,
229 f., 232, 237, 255, 257, 261, 264, 273, 275, 277f.,
Hellingrath, Norbert von 121, 151, 465f., 468f., 471
297(,372,434,448,450,455-457,478,492,504,521,
Helmensdorfer, Urs 56
542,568,574,680-682
Helvetius, Claude Adrien 461
Horn, Eva 220, 228 f.
Hemingway, Ernest 641, 669
Hosemann, Theodor 378
Henning, Annemarie 125
Houssaye, Arsene 573
Henning, Emmy 125
Huber, Therese 444
Herbertz, Richard 4, 152, 157
Huch, Friedrich 675
Herder, Johann Gottfried 447f. Hugo, Victor 276, 280, 301, 583
Herodot641 Humboldt, Alexander von 664
Herrmann, Ulrich 117 Humboldt, Caroline von 122
Herzfelde, Wieland 675 Humboldt, Wilhelm von 36, 110f., 122, 137,440,461,
Herzmanovsky-Orlando, Astrid 303, 305 596,598,612,625
Hesse, Hermann 7, 10,680 Humboldt-Blätter 558
Hesse!, Franz 6, 54,255,257,275,283, 320ff., 324f., Hüppauf, Bernd 281,283
329,331 f., 366,369, 372f., 388,508-510,512,521, Husserl, Edmund 135f., 138-144, 148,150, 164,267,
562,656,680,682 597,600,645,678
Hetman, Frederik 53, 55 Huxley,Aidous 231, 235f., 250,676
Heym, Georg 303, 335
Hiebe!, Hans Helmut 548, 557 Ibarlucia, Ricardo 391,398
Hieber, Jochen 278, 283 Ihering, Herbert 330
Hilberseimer, Ludwig 363 Illes, Bela 348 f.
Hilferding, Rudolf 327 Ilting, Kar! Heinz 199,209
Hili, David Octavius 399-403 Imdahl, Max 124, 127, 129, 133
Hillach,Ansgar 25, 27, 29,32, 34, 49, 117f., 123,232, Ingram, Susan 346, 358
250,283,291,294,299,436 Insel-Verlag 334,480
Hiller, Kurt 109, 434 Institut für das Studium des Faschismus (INFA) 421,
Hirsch, Alfred 32, 40, 42, 313, 332, 609, 612, 619, 622- 432
625 Institut für Jugendbuchforschung der Universität
Hirschfeld, Kurt 410 Frankfurt am Main 14,374,385
Hitler, Adolf7, 78, 87,231 f., 249,286,331,384, 445f., Institut für Sozialforschung 6, 15, 22, 29, 73 f., 78, 92 ff.,
448,455,507,509,533,643,674 257,261,285,536,567(,574,583,643
Hobbes, Thomas 204, 530 Ivernel, Philippe 90, 253, 273
Hobrecker, Karl5, 124, 130, 373 f., 383, 385
Hoernle, Erwin 380 Jacobi, Friedrich Heinrich 478, 598
Höfer, Candida 55 Jacobs,Carol181,283,597,602,618,625,663
708 Namensregister

Jacobsen, Jens Peter 99 Kany, Roland 663


Jäger, Lorenz 30, 32, 53, 55,77, 90, 114, 116f., 157f., Karavan, Dani 13, 54 f.
166,212,228,304,308,310,440,450,653 Kar! der Große 677
Jalkotzy, Alois 379 Karplus, Gretel (siehe unter Gretel Adorno)
Janz, Rolf-Peter 118 Karrenbrock, Helga 377,385
Jaspers, Kar! 4, 680 Kasper, Judith 38, 521
Jauß, Hans Robert 43 f., 279, 283, 578, 584 Kassner, Rudolf 494, 684
Jean Paul43f., 124, 126f., 130--133, 150, 156, 165,461, Kästner, Erich 33,327, 340f., 433
495,682 Katz, David 244, 250
Jennings, Michael W. 158, 464, 471, 555, 557, 584 Katz, Erich 665
Jensen, Johannes V. 234, 250 Kaulen, Heinrich 19-21,43 f., 305,310,312,331 f., 337,
Jerzewski, Roland 427, 436 343,346,358,375,385,417-419,500f.,582,584
Jewish Theological Seminary 73 Kausch, Michael410, 419
Jeziorkowski, Klaus 505, 507 Kautel, Hellmut 664
Jefower, Ignaz 481,492, 674f., 679 Keller, Gottfried 6, 28, 324, 329, 452, 460, 502-507, 523,
Jhering, Rudolfvon 198f., 209 529,537
Jochmann, Carl Gustav 7, 35, 93, 106,231,437, 447ff. Keller, Philipp 112, 117
Joel, Ernst 668, 676 Kemp, Friedhelm 132f., 586, 591
Johannes (Evangelist) 483 Kemp, Wolfgang 250
John, Ottmar 17, 38, Kerr, Alfred 152 ff., 166, 526---529
Johnson, Barbara 224, 228 Kersten, Joachim 503, 507
Tolles, Andre 563 Kesser, Arm in 446, 450
Jöns, Dietrich Walter 365, 373 Kessler, Peter 506
Joost, Ulrich 496, 501 Keuner (Herr) 78-80,85,91,500,532
Joseephi, Friederike 674 Kiepenheuer, Gustav 444
Josef K. 546---548, 553, 669 Kierkegaard, Sören 81, 161, 176,210, 607f.
Jouhandeau, Marcel334, 340 f., 507, 629 Kiesel, Helmuth 561,566
Journal des Dames 361 Kiesler, Friedrich 363
Jousse, Marcel645 f., 652 Kippenberg, Anton 480 f.
Jouve, Pierre Jean 507 Kirste, Hartmut 56
Jude, Der 60, 309, 594, 603 Kisch, Egon Erwin 351,358
Jüdische Rundschau, Die 7, 60, 69,550 Kittsteiner, Heinz-Dieter 26, 29, 37f., 273
Juillard, Jacques 428, 436 Klages, Ludwig 7, 18, 164,261,264,271,428,459,481,
Jung, Carl Gustav 7, 264,271, 276f., 388,394,542,575 539-542,563,575,633[,678
Jung, Werner 117 Klee, Paul4, 7, 64, 124, 126, 129, 302f., 311,384,454,
Jünger, Ernst 317-319,406,428 532, 670 f., 676
Klein, Wolfgang 430, 436
Kaffenberger, Helmut 50, 52, 637, 639, 642 Kleiner, Barbara 18, 21, 45f., 397f., 513,521, 616f., 625
Kafka, Franz 6 f., 38, 40--42, 63 f., 69 ff., 74-78, 88-91, Kleinschmidt, Sebastian 78 f.
231,253, 256f., 259,261,266,295-297,324,350,355, Kleist, Heinrich von 444, 673
455,495,497f.,500f.,504,506,508,529,537,540, Klibansky, Raymond 219,228
542,543-556,563,639,642,653,656,669,673,678 Klimaszewski, Boleslaw 350, 358
Kahn, Robert 508,514,521 Klopstock, Friedrich Gottlieb 307, 44 7
Kahnweiler, Daniel-Henry 125 Klossowski, Pierre 7, 230, 681
Kaiser, Gerhard 506 Kluge, Alexander 273
Kaiser, Hellmuth 552 Knoche, Stefan 597,602
Kaiser, Volker 90 Knopf, Jan 331, 500f.
Kallai, Ernst 404 f. Ko, Ji-Hyun 278,283
Kambas, Chryssoula 10, 22, 29f., 32, 166, 168, 174,209, Koch, Hans-Gerd 497, 501
305,310,333-336,343,420,422,425f.,429,432,436, Koebner, Thomas 118
503,507,557,566 Koeppen, Edlef 411
Kamenew, Lew Borissowitsch 429 Kohlenbach, Margarete 194, 208 f.
Kaminski, Winfred 380, 385 Köhler, Andrea 54 f.
Kandinsky, Wassily 124f., 127, 129, 133,302f. Köhler, Wolfgang 74 f., 64 7
Kanitz, Otto Felix 380 Köhn, Eckhardt 20f., 275f., 283,315,321 f., 360--363,
Kant, Immanuel3 f., 42, 62, 108, 119-121, 127, 134- 373,399, 407f., 451,463, 572f., 584
148, 150ff., 157, 160--162, 164, 175f., 178f., 184f., Kolb, Richard 414
188f., 192, 194f., 198,215,228, 252f., 258,261,306, Kolmar, Gertrud 437 f., 449
316,392,417,437-439,449,476,489,538,595,597f., Kölnische Zeitung 634,637
600f., 678,687 Kommerell, Max 124, 132, 318f., 326,440, 466f., 481,
Kantorowicz, Ernst H. 215,228 682, 684f.
Namensregister 709

Konersmann, Ralf 299 Lehmann, Hans-Thies 88, 90, 212-214, 228


Kopp,Robert76,150,166,450,584 Lehmann, Walter 4
Korsch, Karl 280, 330 Lehning, Arthur 13, 336, 343
Koschorke,AUbrecht216,228 Leibniz, Gottfried Wilhelm 147f., 150,227,540
KPD 380,421, 428 Leifeld, Britta 626, 636,639-642
Kracauer, Siegfried 5, 18f., 21, 46f., 231,271,273, 315f., Leiris, Michel 394, 675
325-327,330-332,359-361,363-365,368(,373, Leitzmann, AUbert 496, 625
395-398,404,441,500,502(,629,662,668,680 Lelevi=, <iigorij (eigentlich Labori Gilelevi=Kalmanson)
Kraft, Werner 4, 14, 63f., 76,229,386,407,419,448, 350,666
496,502,525,538,543,545,549,552,555(,585(, Lemke, Anja 643, 653, 655,663
591' 644, 680 f. Lenin, Wladimir Iljitsch 345, 357, 389, 392, 481, 678
Kraus, Karl6, 35, 63, 98f., 231,288,295,302,310,324, Lenk, Elisabeth 397,399
329,335,361,454,498,501,506,508,511,522-539, Lenya, Lotte 668
544,546,552,561,563(,672,678 Lenz, Siegfried 80
Krauss, Rolf H. 49, 399, 405 Leonhard, Joachim-Felix 408f., 419
Krauss, Rosalind E. 400, 405 f. Leonhard, Rudolf 646, 649,652
Kräuter, Friedrich Theodor David 482 Lerg, Winfried B. 408,410,419
Kreatur, Die (Zeitschrift) 304, 353, 667 Leroy, Geraldi 421,436
Krischke, Roland 305,310 Leroy, Olivier 644, 646,653
Krise und Kritik 77f., 90, 330ff., 425,434 Lessing, Gotthold Ephraim 133, 153, 261,487
Kristeva, Julia 45,474 Lesskow, Nikolai 63,299,344, 499f., 506,557-566,
Krolop, Kurt 527, 538 640f.
Kronberger, Maximilian 588 Levinas, Emmanuel37, 39f., 622,625
Krüger, Heinz 364,373 Levy-Bruhl, Luden 644, 646f., 653
Krull, Germaine 282, 399, 404 Lewandowski, Via 55
Kupffer, Heinrich 112, 118 Lewy, Ernst 4, 461
Küpper, Thomas 17 Lichtenberg, Georg Christoph 148, 269f., 272f., 372,
Kuprin, AUeksandr 344 413f., 451,453, 459ff., 463,496,501
Kurella, AUfred 330 f. Lichtenstein, AUfred 303
Kurz, Gerhard 30, 32, 634, 642 Lieb, Fritz 7, 10, 88,503,507,557,566
Kurz, Isolde 675 Liebknecht, Karl 533
Lindner, Burkhardt 12, 18, 20f., 23, 25, 27, 29,31-36,
La Bruyiere 191 38,41-44,47,49,53,90,123,162,166,168,174,209-
La Gazette 336 211, 228 f., 233, 246, 250, 253,258 f., 272-274, 276-
Lacan, Jacques 49, 221, 228, 250, 474 278, 280f., 283, 296f., 299, 318f., 344,358,373,389,
Lacis,Asja (Anna) 5f., 13f., 20f., 65f., 77, 90,343,345- 397,399,406,410,419,429,436,451,454,457,460,
347,349,352(,355-358,362,373,380,385,453,472, 463,472,478,482,492(,512,521,529,538,542,
510f., 518,521,558,626,632, 666f., 674 565f., 573,581 f., 584,626, 634f., 637,639,642,653,
LaCoss, Ronald 399 663,672,676,679
Lacoste, Jean 251, 273, 399, 480, 492 Linfert, Carl 454
Lacoue-Labarthe, Philippe 158, 161, 166,471 Link, Jürgen 520f.
Laermann, Klaus 117 Linke, Paul F. 139, 145, 150
Landauer, Gustav 60, 172-174 Link-Heer, Ursula 507, 520f.
Landry, Harald 432 Linse, Ulrich 112f., 118
Lang, Anne-Marie 158 Linsmayer, Charles 503
Lang, Tilman 652 Liska, Vivian 474,493
Lange, Wilhelm 466, 471 Literarische Welt, Die 5f., 17, 19,227,312,315,318-
Lange, Wolfgang 584 321,324-326,333-335,337-340,368,387,389,399,
Laokoon487 404, 410f., 417, 437f., 441,451,481 f., 494, 502f., 507,
Laotse 88, 115, 552 510,528,539,543,558,586,588,628,654,668,680
Laronze, Georges 94, 342 Lohss, Max 646
Lassalle, Ferdinand 440, 442 Lonitz, Henri 10, 13, 16, 55, 92, 106, 167, 250, 273,
Lautreamont, Isidore Ducasse, Conte de 344 282 f., 343, 398, 506, 538, 542, 556,565 679
Lavater483 Loos, Adolf 449, 454, 532, 676
Le Banquet 508 Lotze, Rudolf Hermann 268
Le Corbusier 131,454 Louis Philippe 258, 280, 636
Le Figaro 428 Löwenthal, Leo 32, 93, 106, 680
Le Rider, Jacques 125, 133 Löwy, Michael34f., 277, 283f., 293, 295f., 299
Leautaud, Paul 335, 342
Leenhardt, Jacques 397, 399 Lukacs, Georg 19, 28, 33, 35, 50, 65, 87, 152ff., 166, 197,
Leggewie, Claus 427,436 209,213,228,232,245,250,258,262(,266,273,
710 Namensregister

328-331,428,436,523,552,557-560,562,566,678, Medusa 489


686 Mehlmann, Jeffrey 381,385,418 f.
Luna 389 Mehring, Pranz 502
Luther, Martin 218,364,495,519 Mehring, Walter 33, 327, 329,433
Luxemburg, Rosa 288, 533, 538 Mendelssohn, Anja 489, 492
Luzerner Tageblatt 446, 450 Mendelssohn, Georg 489,492
Lyotard, Jean-Fran<;ois 261,273 Mendelssohn, Moses 135, 683
Lyser, Johann Peter 126, 131 f., 378 Mendes, Anabela 414, 419
Menke, Bettine 36,38-40,42,44,210,219,221,224,
Maas, Utz 653 226,228,596,602,620,625,637,642
Mabille, Pierre 394 f., 399 Menke, Christoph 213 f., 216,221,228
Macheath 86 Menninghaus, Winfried 36, 38, 157f., 161, 166,211,
Machiavelli, Niecola 218 228,273,489,493, 506f., 570,581,596,598,603,610,
Macke, August 129, 302 f. 625, 629, 635, 642,652 f.
Mackie Messer 80 Mercier, Louis-Sebastien 361,572
MacOrlan, Pierre 338, 342 Mercure de France 104, 540
Maerker, Peter 123 Merkur 21, 29, 32,229,331 f., 564,584,687
Magnes, Judah Leon 66 Metchnikoff, Leon 552, 554
Majakowski, Wladimir 428, 566, 667 Metternich, Fürst Clemens von 445
Mallarme, Stephane 338, 369 Mett! er, Dieter 571, 584
Malraux, Andre 100, 423, 426 Meyerhold, Wsewolod 14, 21, 90,348,353, 357f., 511,
Man Ray 404, 430 f. 558,666-668
Man, Paul de 39f., 42, 44,51 f., 167,222-224,228,474, Meyer-Kalkus, Reinhart 217,228,343
597,602, 618f., 625 Meyring 341
Mann, Heinrich 335,431 f., 434,436 Michaelis, Caroline 447
Mann, Klaus 85,421,431 f., 436 Michelangelo 5 12, 5 17
Mann, Thomas 308,310,494,526,559,682 Michelet, Jules 263, 280
Mannheim, Kar! 678, 680 Mickey Mouse 49,245-247,250,455,463
Mare, Pranz 133 Mierau, Fritz 357 f.
Marcel, Gabriel 681 Mies van der Rohe, Ludwig 363
Marcuse, Herbert 23, 193, 209 f., 457 f., 463 Mignon 239, 491
Marin, Louis 216,228 Milch, Werner 363, 373
Marinetti, Filippo Tommaso 428 Miller, J. Hillis 223, 228, 493
Maritain, Jacques 342, 435, 444 Miller, Norbert 133
Markner, Reinhard 11, 18, 21, 30, 32, 40,42 Milner, Max 273
Marlitt, Eugenie 389 Minde-Pouet, Georg 440
Marr, Nikolai J. 647,653 Missac, Pierre 16, 267, 273, 285, 569
Marrinan, Michael 48 f., 250 Mitchell, Stanley 18, 21
Mars 389, 629, 631 Mitchell, Thomas W.J. 49, 235, 250
Marschall, Brigitte 642, 677, 679 Mohal, Anna 278, 283
Marti, Hugo 446, 450 Moholy-Nagy, Laszl6 360, 363,373,404-406,
Marx, Karl25, 29, 35, 37f., 86, 89, 93, 171-174, 179f., 463
197, 227, 231, 234, 253 f., 256-259, 261, 263 f., 267, Molderings, Herbert 399, 406
273, 275f., 278, 280f., 283,288,290,295,299,372, Molitor, Pranz Joseph 62
427, 522, 530 f., 673, 678 f. Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 75
Marx, Ursula 15 Mona Lisa 237
Marx, Wolfgang 5 17 Monet, Claude 667
Marx-Steinschneider, Kitty (siehe unter Kitty Stein- Monnier, Adrienne 14, 20f., 336,421,455
schneider) Monnoyer, Jean-Marie 343
Massis, Henri 339 Morgenblatt 483
Matala de Mazza, Ethel216, 228 Morgenroth, Sigmund 455
Mattenklott, Gert 43 f., 437, 450, 680, 683, 687 Mortimer, Edward 426, 436
Matz, Wolfgang 332 Moses 611
Maulnier, Thierry 427 f., 436 Moses, Stephane 35 f., 38, 59, 76, 91, 290 f., 298 f., 399 f.,
Maulschmidt (Herr) 415 550,556
Maurras, Charles 340, 424 Mozart, Wolfgang Amadeus 491
Maurus, Terenzianus 376 Müller, Bernd 548, 557
Mayer, Hans 550, 557 Müller, Günther 210,228
Mayer, Peter 91 Müller, Heiner 55, 90f., 228
McLaughlin, Kevin 273 Müller, Inez 91
McLuhan, Marshall46f., 235 Müller, Klaus- Detlef 331
Namensregister 711

Müller, Reinhard 10, 16, 457, 463 Odradek (Figur bei Kafka) 41,297
Müller, Uwe Lothar 381,385,415,419 Odysseus 112, 488, 552, 633
Müller-Farguell, Roger W. 276,584,626 Oehler, Dolf 571, 584
Müller-Freienfels, Richard 128, 133 Oesterle, Günter 133
Müller-Funk, Wolfgang 559, 566 Offenbach, Jacques 271, 273, 522, 527 f., 538
Müller-Schöll, Nikolaus 77 f., 80-83, 87-89, 91, 221, Ollig, Hans-Ludwig 123
228,272 Opitz, Martin 43 f., 228
Müller-Schöll, Ulrich 31 Opitz, Michael13, 18, 21, 28f., 55, 91,270,273,283,
Müller-Thamm, Jutta 565 300,311,420,514,521,584,625
Münchhausen, Thankmar von 321, 334f., 340 Oprecht, Emil104
Münster, Arno 575, 580, 584 Orient und Occident 94, 557, 563
Muschg,Adolf 331, 506f.
Musik, Gunar 280, 283 Osborne, Peter 53,391,399
Musil, Robert 113, 253, 532 Ostouchov, Ilja 667
Muthesius, Marianne 631,640,642,655,663 Ostrovski, Alexandre 667
Ottilie 239, 475, 477 f., 484-492
Naher, Hermann 56 Overbeck, Pranz 437,505
Nadeau, Maurice 426, 436 Ovid 130
Nadler, Josef 440, 602
Nagasawa, Asako 343 Paeschke, Hans 563 f., 566
Nägele, Rainer 88, 91,211 f., 219,221,224,226,228, Paget, Richard 645, 653
467,471,570,584,597 Palladios von Helenopolis 3, 362,372
Napoleon 318, 482 f. Palmer, Gesine 552, 557
Napoleon III. 516, 5 71 Panngritz, Andreas 295 f., 298, 300
Naville, Pierre 393, 399 Pannwitz, Rudolf 622 f.
Negt, Oskar 273 Panofsky, Erwin 218-220,228
Neher, Carola 668 Pariski, Wadaw Jan 350
Nestroy, Johann Ferdinand Nepomuk 533 Parini, Jay 53, 55
Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Pasch, Ralf 55
Geschichte 152, 157 Paulhan, Jean 540
Neue Deutsche Beiträge 210,301, 304f., 310,319,440, Paulus 192,671
472 PCP 426,429
Neue Deutsche Literatur 28 Peachum, Jeremy 27, 86
Neue Gesellschaft, Die 49 Peguy, Charles 193f., 210,423-425
Neue Leipziger Zeitung 632 Pelzer-Knoll, Gudrun 385
Neue Rundschau, Die 14, 21, 23,311,387,547,557,561, Penkert, Sibylle 225, 228
563, 584 f., 591 Penzoldt, Ernst 361,373
Neue Schweizer Rundschau 5, 14, 628 f., Peret, Benjamin 389
634f., Perse, Saint-John 333
Neue Zeit 503, 507 Pestalozzi, Johann Heinrich 373, 385,437, 445, 450, 687
Neuer Merkur 109 Petersen, Jürgen H. 123, 566
Neues Wiener Tagblatt 526 Pethes, Nicolas 48-50,53,244,250,281,283,464,521,
Neumann, Pranz 102 655,663
Newton, Isaak 136 Pfabigan, Alfred 538
Niceforo, Alfredo 647 Pfotenhauer, Helmut 33, 35,43 f., 133, 280, 283
Niefanger, Dirk 372 Piaget, Jean 647
Nielsen, Asta 243 Pias, Claus 463
Nierendorf, Kar! 399 Picasso, Pablo 24, 387
Nietzsche, Friedrich 81, 91, 108, llOf., 118, 134, 148, Pilkington, Anthony Edward 193,210
150,162,170-174,176,182,185,192,208,210, Pindar 121-123
212 f., 228, 245, 250, 253, 260 f., 265 f., 273, 277, Pinloche, Auguste 94, 342
287f., 290f., 299,304,307,309,372,427,454, 458ff., Piper Verlag 509
463, 473,487 ff., 499, 540, 550, 559, 566,635, 676, Piper, Reinhard 509,521
678f. Pirandello, Luigi 238, 243, 250
Niobe 206 Pisano, Andrea 364
Nizan, Paul427, 436 Pissarro, Camille 667
Noack, Klaus-Peter 437,450 Pistorius, George 513,517,521
Noeggerath, Felix 4, 6, 136f., 150, 638, 640 Platon 81, 119, 121, 135f., 140, 153, 187f., 192, 248f.,
Nouvelle Revue Francaise 333 f., 342 f., 540 291,490,635,645
Novalis 130, 133, 150, 154f., 156, 158f., 162-165,236, Plumpe, Gerhard 542
245,305,429 Podszus, Friedrich 22, 106, 585, 591
712 Namensregister

Poe, Edgar Allan 256, 270, 280, 295, 322, 572, 578 f., 628 Reneville, Rolland de 342
Polczyk, Peter 437,450 Renger-Patzsch, Albert 404
Pollack, Dora Sophie (siehe Dora Sophie Benjamin) Reschke, Renate 454, 463
Pollock, Friedrich 92 f., 95 Reuter, Christian 633
Poncet, 473 Ribbentrop, Joachim von 75
Ponzi, Mauro 343 Richard, Lionel 336, 343
Potemkin, Grigorij 248, 348, 543, 553 Richter, Dieter 385
Poulaille, Henry 335, 342 Richter, Gerhard 51, 53,352,354,358
Poulet, Georges 300,517,520,521 Richter, Hans 363, 404
Pressier, Günter Karll8, 21,300, 652f. Rickert, Heinrich 4, 120 f., 680
Primavesi, Patrick 213f., 219,228,465,469,471 Ricreur, Paul 292, 300
Proudhon, Pierre Joseph 208,281,583 Riede!, Inge 466, 471
Proust, Adrien 513 Riegl, Alois 50, 430, 540
Proust, 343 Riemer, Friedrich Wilhelm 482
Proust, Marcel6, 46, 63, 124,228,231,239,251,256, Rilke, Rainer Maria 4, 137,228,315,333-335,507,509,
259,261,280,284,291-294,298-300,320,324,329, 618
332,341(,374,387,418,421,423,454,506,507-521, Rimbaud, Arthur 344, 375,499
523,529,543,562,573-577,579,584,625,632,644, Rink, Holger 56
655 f., 661 f., 678 Ritter, Henning 54 f.
Proust, Robert 508 Ritter, Johann Wilhelm 164 f., 245
Pückler-Muskau, Hermann von 664 Ritterhoff, Teresa 91
Pudowkin, Wsewolod Illarionowitsch 231,403 Riviere, Jacques 508
Pufahl, Helene 658 Robespierre, Maximilien 295,448,521
Pulver, Max 164 f. Robin, Leon 342
Puschkin, Alexander Sergejewisch 552 f. Robin, Regine 436
Putscher, MarieJene 240, 250 Roche, Anne 421, 436
Puttnies, Hans 345, 356, 358,448, 450 Rochelle, Pierre Drieu La 428
Rochlitz, Rainer 286,300,336,343,399,514
Querido-Verlag (Amsterdam) 421,431 Roeßler, Rudolf 443-445, 450
Querschnitt (Zeitschrift) 275 Rohner, Ludwig 500 f.
Quincey, Thomas de 676f. Rolland, Romain 426
Roloff, Volker 509,521
Rabelais, 85 Romains, Jules 7, 507
Raddatz, Fritz J. 33, 35,311,332 Rosen, Charles 32
Radiguet, Raymond 334 Rosen, Philip 273
Radt, Fritz 137f., 389,395,639,682 Rosenstock-Huessy, Eugen 683
Radt, Jula (siehe unter Jula Cohn) Rosenzweig, Pranz 35, 38, 64, 69, 76,213,228,299,459,
Radt-Cohn, Jula (siehe unter Jula Cohn) 552,554,557,625
Raffael240 Rossmann, Karl553
Rajh, Berngard (siehe unter Bernhard Reich) Rotes Sprachrohr 380
Rang, Florens Christian 4f., 16, 32, 65, 157f., 166,210, Roth, Joseph 325,351,358,666
212 f., 221,228,301-311,314,363,373,440,459, Rothacker, Erich 472,680
472 f., 539, 680, 682 Rothe, Friedrich 538
Ranke, Leopold von 290, 446, 597 Rougemont, Denis de 552
Raoux, Natalie 436 Rouher, Eugene 423
Raulet, Gerard 34f., 48f., 296,300,359,363,367,373, Rowohlt, Ernst 412,528
454,463,577,584 Rowohlt-Verlag 5, 14, 17f., 329f., 359,365,472,481,
Rautmann, Peter 54f., 251,259,272-274 494,503,523,543,593
Rechel-Mertens, Eva 507 Rühle, Otto 380
Recht, Camille 399, 402 Runge, Philipp Otto 132 f.
Reemtsma, Jan Philipp 552, 538 Ruppel, Richard R. 506 f.
Regehly, Thomas 107,498, 500f., 603 Ruskin, John 124,510,521
Reich, Bernhard 232, 346, 349 f., 355 f., 358, 511, 663 Russell, Bertrand 135 f., 145
Reich-Ranicki, Marcel 311, 332 Ruttmann, Walter 371
Reijen, Willern van 12, 14, 52f., 274,280,283,343,391, Rychner, Max 14, 67,493,498,502-504,509,524,628,
399,546,557,597,603,614,625,627,632,637,642 635
Reik, Theodor 518,577
Reinhardt, Kar! Friedrich (Graf) 683 f. Sagnol, Mare 387, 399, 553, 557
Reinhardt, Max 346, 349 Sahlberg, Oskar 571,584
Reisch, Heiko 48 f., 281, 283, 463, 565 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 508 f., 571
Rembrandt (van Rijn, Harmenszoon) 237 Saint-Pol-Roux 674
Namensregister 713

Saint-Simon, Claude Henri de 276,280,516 493f., 496f., 502f., 506f., 509f., 513f., 519,521 f.,
Salles, Georges 237, 336, 342,455, 463 524f., 529f., 538-540,543-545,548-552,554-557,
Salmen, Brigitte 133 562,567,585,587,589,591-594,596,601,603,609,
Salomon, Albert 669 621, 626, 628, 634, 63 7 f., 643, 650 f., 653-655, 65 7,
Sand, Georg 447,450 666,668,670-672,674,676,679-684
Sander, August 399, 403--405 Scholem, Werner 60, 65
Sappho 114f. Schönberg, Arnold 96
Sartre, Jean Paul 336 Schöne,Albrecht 127,133,217,228,365,437,450,557
Sauder, Gerhard 276, 283 Schönlau, Christine 285, 300
Savigny, Friedrich Carl von 444 Schöttker, Detlev 12, 17-19,22, 43f., 47, 49,54f., 91,
Sax!, Fritz 218-220, 228 150,166, 174,250,252,274,278,284,294,300,405(,
Schäfer, Amin 218, 228 427,436,461,463,557,560-562,564,566,576,584,
Schäfer, Frank 496, 501 655,663
Schäfer, Peter 7 6 Schrader, Fred E. 429, 436
Schalz, Nicolas 54f., 251,259, 272f. Schröder, Rudolf Alexander 440
Schedler, Melchior 385 Schtschedrin, Semion Fjodorowitsch 667
Scheerbart, Paul167f., 174,414,451,454,461,463,504, Schubart, Christian Friedrich Daniel 44 7, 450
532,636,676,678 Schuler, Alfred 539, 636
Scheler, Max 678 Schuller, Marianne 663
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 146, 164, 176 Schüller, Wilhelm 415,419
Schelsky, Helmut 110 f., 118 Schulte, Christian 49, 522, 524, 534, 537 f.
Scheurmann, Ingrid 12-14, 54 f., 343 Schultheß, Anna 445, 450, 687
Scheurmann, Konrad 12 f., 54 f., 343 Schulz, Eberhard Wilhelm 373,639,642
Schiavoni, Giulio 373, 382, 385, 542 Schumacher, Eckart 158, 167
Schiller, Friedrich 4, 19, 44, 77, 90, 110, 120, 122f., 480, Schumpeter 269
482,546 Schwarz Wentzer, Thomas 597,603
Schiller-Lerg, Sabine 381,385, 406f., 411 f., 414f., 417, Schwarz, Heinrich 399
419,494, 500f. Schwarz, UHrich 652 f.
Schings, Hans-Jürgen 211,215,219,228 Schweizer Zeitung am Sonntag 88, 503
Schlaffer, Heinz 44, 360, 363-366, 372 f., 484, 493, 500 f. Schweppenhäuser, Hermann 9, 11, 22, 28, 36, 38, 168,
Schlawe, Fritz 305, 311 174(,343,556,631,642,679
Schlegel, August Wilhelm 133, 310f. Sdun, Dieter 362,369,373,631,365-637,642
Schlegel, Friedrich 118 f., 123, 129, 133, 150, 152-161, Sebald, Winfried Georg Max 274
163-167, 190f., 306f., 310f.,529,611,625 Seebass, Friedrich 440
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 108, 445 Seghers, Anna 331
Schlemihl 238 Seidel, Gerhard 24, 28 f., 421, 436
Schlögel, Kar! 281, 284 Seiffert, Johannes Ernst 437, 450
Schloßmann, Beryl 579, 584 Seligson, Carla 136, 502, 588, 595,682
Schmeljow, Iwan 345, 357 Seligson, Rika 4, 117, 585, 588
Schmidt-Hannisa, Hans-Walter 675,679 Selz, Guyet 63 7
Schmitt, Carl19, 86, 91,204, 209f., 215f., 221, 227f., Selz, Jean 6f., 13 f., 343,680
232,342,398,485 Seume, Johann Gottfried 444,447,449
Schneider, Irmela 408,411,419 Shakespeare, William 53,212,218,221,304,533,589,
Schneider, Manfred 34 f., 250, 454, 463,655, 663, 676, 656,669
679 Shields, Roh 353, 358
Schocken, Zalman 75, 543, 545 Sidorow, Alexys A. 353 f., 357, 405
Schoen,Ernst19,63, 113,117,163,190,193,333,344, Simenon, Georges 678
374,381 f., 407--411, 415f., 419,460,465,502,595, Simmel, Georg 4, 169 f., 172, 174, 280, 369, 678
682f. Simon, Pranz 665
Schoenflies,Artur 145, 149f. Simonis, Annette 50, 53, 480, 493
Schoeps, Hans-Joachim 543,552 Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch 429
Scholem,Arthur 152 Sirinelli, Jean- Frano;:ois 432, 436
Scholem, Betty 76 Sisyphos 552
Scholem, Gershorn 3-7, 9f., 14-20,22-24, 29f., 35, 38, Sklovskij, Viktor 342, 345, 566, 558 f., 566
59-76, 77f., 80, 82, 87,91, 112f., 118, 124-126, 129, Skrandies, Timo 17, 24, 27, 29, 54f., 274,284
133, 136f., 139, 141, 146, 148, 150-152, 157f., 162, Smith, Gary 12 f., 76, 343-345, 347, 351, 356-358, 448,
166,175,191-193,221,241,261,264,267(,272, 450,472,493
274f., 284f., 288f., 295-300,302-304, 308f., 311, Sohn-Rethel, Alfred 668
314f., 318f., 327,334,336, 340f., 343-347,349,357- Sokrates 153,641 f.
360,362-364,368,371,387,389-391,399,407,414, Sologub, Fedor 344
418f., 426,431,439,444,450,452,466,471 f., 481, Solski, Wadaw 350
714 Namensregister

Sontag, Susan 32, 405 f. Swift, Jonathan 85, 531


Sophokles 114, 465, 468 f., 617 Szondi, Peter 22, 27,212,229,291 f., 300, 470f., 513,
Soppe, August 408, 419 521,627,634,642,655,663
Sorbonne-Universität 527
Sore!, Georges 172-174, 193f., 197-199,201,205,207- Tantillo, Astride Orle 474,493
210,422,425,436 Tenorth, Heinz-Elmar 385, 418f.
Soret, Fn!deric 482 Tergit, Gabriele 361
Soupault, Philippe 231 Teschke, Henning 521
Spangenberg, Peter 521 Thales von Milet 461
Sparnaay, Harry 157, 167 Theophrast 191
Spartacus 288 Thiekötter, Angelika 345, 358
Speck, Reiner 513,521 Thieme, Karl443-445, 450,499,501,563,680
Speth, Rudolf 118, 121, 123, 471 Tiedemann, Rolf 9-11, 13, 15, 22-25, 28 f., 37f., 42, 44,
Speyer, Wilhelm 13,412,635,668 55, 76f., 91, 106, 133, 151, 167, 175,232,242,251,273,
Spinnen, Burkhard 362, 373 275,277(,282,343,382,386,390,398,454,472,488,
Spinoza, Baruch de 424, 598 556,569(,584,586,589,591,642,679
Spiteri, Raymond 399 Tiedemann-Bartels, Hella 512
Spitzer, Leo 512 Tietze, Hans 430
Stael, Anne Louise Germaine (Madame de) 478 Toller, Ernst 351
Stalin, JosefW. 7, 86f., 28Sf., 350,421,429 Tolstoj, Leo 108,307, 344f.
Stavrogin (Figur aus den Dämonen von Dostojewskij) Toussenel, Adolphe 280
344 Tretjakow, Sergej 357 f., 432, 434, 511
Steffin, Margarete 20, 77, 85,427,436 Trommler, Frank 118
Stein, Freiherr Heinrich Friedrich Kar! vom und zum Trotzki, Leo 35, 566, 674, 678
442,445 Tucholsky, Kurt 33,327,341,433
Steiner, George 30, 32, 158, 167 Turgot, Anne Robert Jacques 280
Steiner, Uwe 12, 17 f., 30, 32, 123, 126, 132 f., 151, 157 f., >Turnvater< Jahn 444
167f., 174, 192, 194,210-212, 220f., 228,301,304, Tzara, Tristan 404 f.
308, 311 f., 327,332,422,424,427,436,471,473,480,
493,552,557,592 Uhu 459,631,676
Steinfeld, Alfred 664 Unger, Erich 172, 174, 194, 204, 209 f., 303, 305, 633 f.
Steinhagen, Harald 581, 584 Unger, Ernst 193 f.
Steinschneider, Kar! 229 Unger, Peter 343
Steinschneider, Kitty 72 Unruh, Fritz von 31Sf., 318-320,334, 526f.
Steinwachs, Ginka 399 Unseld, Siegfried 14, 22,473,591
Stempflinger, K.A. (Pseudonym Walter Benjamins) 331,
590 Valery, Paul 7, 83, 124, 235 f., 250 f., 280, 334, 336,338 f.,
Stenze!, Hartmut 571,584 342 f., 423, 435, 561, 644, 653, 678
Stern, Howard 254, 274 Varnhagen, Rahe! von 446, 449 f., 683
Sternberger, Dolf 271, 274, 543 Vesper, Will 438, 450
Stevenson, Robert Louis 278 Vialon, Martin 346, 358
Stiegler, Bernd 406 Villiers, Marjorie 193 f., 210
Stierle, Karlheinz 565 f. Vinteuil518
Stifter, Adalbert 444, 531 Vita Nova Verlag 443-445,516
Stoessel, Marleen 4Sf., 251,344,358,521,580,584, Vogt, Joachim 385
635-637,639,641 f. Vogt, Jochen 559, 565 f.
Stone, Sasha 360,371,404-406 Voigts, Manfred 410,420,538
Stopford, John 436 VOKS 349
Storm, Theodor SOS f. Volke, Werner 439, 450
Strauß, Ludwig 60, 680 Vossische Zeitung 397, 654
Striedter, Jurij 558, 566 Vossler, Karl440
Strindberg, Arthur 80, 108, 307, 677 Vulpius, Christine 481
Stuart, Carl 222
Stüssi, Anna 655, 663 Wagner, Gerhard 18, 22, 33, 35, 49,410,418,420,464
Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG 408 Wagner, Nike 538
Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung 406,667 Wagner, Richard 81, 93, 98f., 133
Südwestdeutscher Rundfunk 5, 381,494 Wagner-Egelhaaf, Martina 44, 49,219,229
Suhrkamp Verlag 16, 22 f., 28, 54, 585 Wall, Jeff 53, 55, 565 f.
Suhrkamp, Peter 29, 106,531 Walser, Robert 329,335,495,501,504,506,523,552,
Sulpiz, Boisseree 131, 133 678
Susmann, Margarete 683 Walter, Hans-Albert 421,436
Namensregister 715

Walter, Heinrich 625 Wizisla, Erdmut 10, 12 f., 29 f., 32, 55, 77 f., 82, 84 f., 87,
Warburg, Aby 50, 126, 133,210,218,220,229,284,474, 90f., 117f., 251,270,273,300,311,330,332,420,
540,663 425,429,431,436,457,463,493,502,514,521,538,
Wawrzyn, Lienhard 251 564,566,584,591,625
Weber, Katharina 12 Wohlbold, Hans 481
Weber, Max 168-172, 174,210,218,678,680 Wohlfahrt, Irving 619, 624f., 663,679
Weber,Samuel48f.,83,91, 114,118, 158f., 167,211f., Wolf, Gerhard 632 f., 642
215,218 f., 223,226,229, 281,284,464, 552, 557,603 Wolf, Hugo 109
Weber, Thomas 11, 284, 300, 575, 584 Wolf, Marianne 672, 679
Wedekind, Donald 452 Wolff, Charlotte 15, 20,22
Wedekind, Frank 528, 538 Wolff, Janet 46, 49 f., 53, 251
Weidmann, Heiner 277f., 284,570,573,575,584,636, W ölfflin, Heinrich 4, 50
642 Wolfskehl, Kar! 682 f., 685
Weidner, Daniel 550, 557 Wolin, Richard 281,284,395,397,399
Weigel, Sigrid 20-23, 28 f., 45 f., 50, 53, 76, 118, 281, Wort, Das (Moskauer Monatsschrift) 87,231,337,345,
284,398f.,490,493,515,521,539,543,551,554,557, 421,427,429,436,444,449f.,652
589, 591,635,639,641 f. Wulf, Christoph 133
Weil, Felix 92 Wunberg, Gotthart 372
Weil, Jeanne 513 Wüster, Eugen 647,653
Weil!, Kurt 668 Wygotski, LewS. 647
Weisgerber, Leo 646 Wyneken, Gustav 3, 30, 113, 117f., 373,382
Weißbach, Richard 301-305,310,374,609,626 Wyss, Ulrich 559, 566
Weißberg, Liliane 493
Wellbery, David E. 471 Yale-University 397
Wellmann, Angelika 573, 584,
Welt im Wort, Die 463, 559 Zadek, J[ ulie] 503, 506 f.
Weltbühne, Die 411 Zalka, Mate (Bela Frank!) 349
Weltsch, Felix 494 Zarathustra 171, 185, 192,267,269,273,277,635
Weltsch, Robert 7, 69, 545 Zauberin Circe 633
Wenders, Wim 565 f. Zeitschrift für Sozialforschung 7, 67, 92 f., 97, 104, 106,
Wense, Türgen von der 682 229-231,241,337,396,421 f., 448,457, 562f., 569
Werckmeister, Otto Karl33-35, 302, 311,679 Zeller, Bernhard 439, 450
Werneburg, Brigitte 406 Zelter, Kar! Friedrich 19, 439, 483
Werner, Heinz 644, 646, 653 Zentner, Wilhelm 501
Werner, Michael270, 273,276,278,283,567, 569f., 583 Zille, Heinrich 383
Werner, Nadine 3, 9 f. Zimmermann, Hans Dieter 556
Werner, Zacharias 478,486 Zimmermann, Johann Georg 670
Westdeutsche Rundfunk AG 414 Zipes, Jack 380, 382, 385
Westerwelle, Karin 584 Zohn, Harry 618
Wickhoff, Pranz 540 Zola, Emile 423, 426
Wiener Zeitung 494, 500 f. Zschachlitz, Ralf 582, 584
Wiertz, Antoine 437f., 441,449 Zschokke, Heinrich 448, 450
Wiesenthal, Liselotte 596, 603 Zucker, WolfM. 407,411 f., 420
Wieser, Harald 56 Zumbusch, Cornelia 281,284,464
Wiggershaus, Rolf 27, 29, 427, 436 Zweig, Arnold 436, 683
Wild, Christopher J. 217,229 Zweig, Stefan 18
Wilde, Ann 399, 406
Wilde, Jürgen 399, 406
Wilde, Oscar 428
Wildgans, Anton 506, 526 f.
Wind, Edgar 474
Windischmann, Kar! Joseph Hieronymus 154, 160
Winkler, Richard G. 363, 373
Winock, Michel 428, 436
Wismann, Heinz 251,270,274,283,343,397,399,521
Wissing, Egon 668 f., 676 f., 682
Wissing, Gert 668 f., 682
Witte, Bernd 33, 35, 91, 117f., 152, 164, 167,211,222,
229, 251, 273 f., 276 f., 284, 305, 311 f., 327, 332, 334,
337,343,365,373,473,493,522,524,539,552,557,
570,584,596,655,663
716

Sachregister

In dem Register sind diejenigen Stellen vermerkt, an de- Destruktiver Charakter s. Destruktion
nen ein Sachbegriff im Kontext des jeweiligen Artikels Dialektik im Stillstand 81 f., 361, 370, 675
näher erläutert wird. Es handelt sich sowohl um von Ben- Dialektisches Bild 31,258,262-264,368,371, 394ff.,
jamin spezifisch geprägte Begriffe als auch um übergrei- 513 f., 520, 636 f.
fende Stichworte. Dialektischer Materialismus s. Materialismus
Dingwelt 20,214,220, 650f., 657f., 664
Abbild 235 f., 238 Dirne/Hure/Prostitution 45, 112 ff., 257, 375, 532 f.,
Abfall368, 375f.,390, 571,573 536f., 581,589
Adamitisch 114, 599, 651
Ähnlichkeit 128, 131, 293,485, 511, 515, 520, 643-653, Echtheit 236f.
657f. Ehe476f.,488
Aktualität 19, 52,213,254,271 f., 287,301 ff., 306-308, Eidos139,162,222
314-319,394,602 Einfühlung 231,287,290
Allegorie 43f., 183f., 211,215,220,221 ff., 360f., 363- Eingedenken 102f., 367,513,515,518-520,562,576,
367,574,581ff.,615ff. 579f.
Allmensch 530 ff. Engel der Geschichte 35 f., 302, 308,499, 530, 547, 565
Androgyne 45, 582 Entscheidung 102, 109,216,327, 340f.
Angelus Novus 4, 64,301 ff., 334, 670ff. Entstellung 295, 365, 511, 548, 551,554
Anthologie 437-449 epoche 140
Antike 118-123 Erfahrung 134-149, 175f., 252, 279, 289, 292,39lf.,
Apparat247,365,433,435 532, 559f., 575ff., 590f., 597f.
Armut433,532,559 Erfahrungsarmut 453 ff.
Art des Meinens 613 ff. Erinnerung 291,320,322, 353f., 562, 575ff., 587,590,
Ästhetik 124 ff., 229 ff., 472 ff. 653-663
Aufblitzen 252, 264, 285, 288, 648 ff. Erkenntnis 118, 125, 134-149, 155, 175ff., 211,242,
Aufgabe 39, 109, 112, 138, 145, 149, 151, 177, 247 265,267,478
Aufklärung 413, 496 Erlebnis 543,551,554,575
Aura 236ff., 320, 344,401-403,430,452 ff., 490, 573, Erlösung 35, 109, 178 ff., 184, 214, 248, 285ff., 298,475,
580,582,669,667 492
Ausdrucksloses 465, 489 f., 547 Eros 112 ff., 536 f., 589 f.
Ausnahmezustand 86,216 Erwachen 114, 116,368,391 ff., 513,517, 520f.
Ausstellungswert 240 f. Erzählen/Erzähler 327-330,454, 496f., 499, 504f., 529,
Autor 431-434 557-565
Ewige Wiederkehr 53, 253, 260, 277
Barbarei/Barbarentum 34, 101,355,361,367, 409f., Exil311, 331, 420ff.
429,454(,456,458,559 Expressionismus 303 ff.
Barock 210ff., 483 Farbe 124-133, 376f.
Begriff 139, 161 ff., 163 f., 594f. Faschismus 86 f., 231 f., 427 ff., 449, 483
Berlin 653-663 Fetisch 258 ff., 679
Beschriftung 405 Flaneur/Flanieren 321 f., 369, 529, 568, 571 ff., 677
Bewußtsein 138 Fortleben 19,683
Bild 288,291,292,394,542 Fortschritt 28,31 f., 34, 99, 101, 105, 109, 156, 177,256,
Bildung 20, 84, 111, 428, 433 ff., 442, 499 271,276,284ff.,345
Bloßes Leben 31, 544, 548 Fourierismus 280 f.
Frankfurter Schule 23, 92 ff.
Charakter 486, 554 Frühromantik 150ff., 611 f.
Chock 258, 266, 293, 295, 348, 572 f., 577, 582, 663
Chronist 287, 496f., 498f., 562, 654f. Gedächtnis 561 f., 575 ff., 653-663
Gedichtete, das 139, 465, 468, 470 f.
Dämon 530 ff. Gegenwart 98, 109f., 229,247, 252f., 271,276, 288ff.
Denkbild 359,363-367,500 Geistesgegenwärtigkeit 242, 263,485
Destruktion 191 f., 366,372, 452ff., 456,477,525 Gemeintes 613 f.
Sachregister 717

Genie 137,381,424,489,589,640 Korrespondenz 579, 648 f.


George-Kreis 4, 302,319,539,588,680,685 Krieg 232, 315 ff., 453 ff., 525 ff.
Gerechte, der 563, Krise 78, 238, 561, 565, 582
Gerechtigkeit 40, 496, 499, Kritik 152f., 155, 194ff., 311-331,475, 479f.
Geschichte 284 ff., 499, 546 Kult/Kultus/Kultwert/Ritual169 ff., 239 ff., 242, 248
Gesetz 69, 129,201, 544ff. Kultur 49 f., 562
Gestaltzusammenhang 468 f. Kunstkritik 150-167,313-315
Geste 78, 88 f., 554 Kunstwerk 229-251
Gewalt 40 f., 194 ff., 196 f., 202 ff.
Glück23,32, 119f., 173f., 181ff., 184ff., 190,428,544, Lebensphilosophie 290
Gottesurteil 69 Lehre 549f., 552
Göttliche Gewalt 207 ff. Lesbierin 573,581 f.
Lesen 328, 650 f., 658, 661, 675 f.
Haggadah 549 Lumpensammler/Chiffonier 326
Haggadist 498
Hasard 353, 355 ff. Magie 646 f., 649 f., 651, 658
Haschisch 6, 392, 629 ff., 668, 676 f. Manifestation 206
Held/Heros 211,213,573 Männlichkeit 44 f.
Historiker 496 f., 499, 562 Marseille 629 ff.
Historischer Materialismus s. Materialismus Märchen 321, 562f.
Historismus 505 Märtyrer 215, 217
Hitler-Stalin-Pakt 7, 285 f. Marxismus 32 ff., 42 f., 229, 231 ff., 481 f.
Hoffnung 472,475,491 f., 543 f., 551,553,555 Masse 247, 457, 459
Hölle 36, 89, 119, 171,218,368,491 Materialismus 67, 101 ff., 229,231 ff., 252 f., 267-269,
Hörmodell 411-413 323-325, 329 ff., 392 f., 395 f., 499, 503 ff., 523 ff.
Hülle 234, 239, 488 f., 490 Matriarchat 540
Humanismus 495 Medium 459ff., 463, 590f., 597f., 601,603,607,610,
Hure s. Dirne 651,655
Hybris 121 Melancholiker/Melancholie 44, 218ff., 226,366,529,
567,581
Idee 139, 156, 184, 186 ff. Messianisch/Messianismus/Messias 35 ff., 176 ff., 181,
Identität 659 f. 284ff., 293,296,298,490,492,543,546,551, 554f.
Illumination s. profane Erleuchtung Mimesis/mimetisch 247 ff., 643-653, 658 f.
Impotenz 506, 581 Mitteilbarkeit 82, 182 ff., 590
Information 561 Mittel 604 f., 607
Innere Form 468 f. Monade 89, 258, 262, 264, 280, 294 f.
Intellektueller 325, 330 f., 334-340, 420-435 Montage 258, 266 f., 326-328
Intention/Intentionsloses 159, 178f., 190,221,259,267 Moralist 495 f., 498
Interieur 263, 277, 280, 369, 636 Mosaiktechnik 326
Interlinearversion 615 f., 623 f. Moskau 343 ff.
Ironie 153, 159, 190f. Mythisches/Mythos/Mythologie 206f., 289, 388, 396,
467 ff., 476 ff., 482, 486 f., 489 ff., 534, 562 f.
Janus 45
Jetzt 31, 52,299,322,391 Nachgeschichte 211, 553
Judentum 35, 59, 63, 66 ff., 72, 550 f. Name/Namenssprache 598 ff., 609ff., 635, 637, 672
Jugendbewegung 107ff. Naturgeschichte 215, 223, 396, 497, 499
Jugendstil 329 Neapel 626 ff.
Neukantianismus 118, 120f., 135, 587f.
Kapitalismus 86, 167-174,674 Nihilismus 191
Katastrophe 216, 253 f., 257, 265, 297, 384, 417, 458 Nu 648ff.
Kind 124-133, 373-385, 437 f., 537, Nüchternheit 428 f., 466, 468
Kitsch 256, 67 4
Kollektiv 234 f., 263, 267, 280 f., 291, 353 ff., 368, 381, Offenbarung 69f.,551, 597f.
403,434,519 Öffentlichkeit 312
Kommentar 87,314,475 Opfer 484 ff.
Kommunismus 64 ff., 229, 231 ff., 422, 425 f., 525 Optisch Unbewußtes 401,554
Komplement 556
Konformismus 423 Paris 251 ff., 274ff.
Konstellation 211 f., 324, 353, 355 ff. Passagen 251 ff., 274ff., 322,615,626
Konstruktion/Konstruktivismus 269,270, 404f. Pazifismus 315-319
Körperlichkeit 352, 354-356 Phalanstere 280 f.
718 Sachregister

Phantasie 120, 124-133, 376f. Takt 531


Phantasmagorie 279 f., 568 Taktil 243 f.
Photographie 233 f., 399 ff. Technik 241, 242, 244 f., 246, 423 f., 428, 450, 458 f.,
Physiognomie 223, 259, 264, 352, 403, 529 460f., 483 f.
Politik 86, 168, 172 f., 177 ff., 231 f., 247, 481 ff., 525, Testen 243
603f. Theologie 36 ff., 267-269, 496, 524, 543 ff.
Popularisierung 384, 409 f., 413, 429,459 ff. Tier 537
Porosität 626 Tod 480f., 485f., 491 f.
Positives Barbarenturn s. Barbarei/Barbarentum Topographie 281 f.
Positivismus 290 Tradition 451, 456, 459, 543 f., 552, 556
Profan 180 ff. Tragödie 212 ff.
Profane Erleuchtung 368, 392, 396, 543, 674, 677 Traktat 558
Proletariat 20, 33, 84, 232, 294, 330, 338, 380, 425 Trauer/Trauerarbeit 218ff., 256, 586f.
Prostitution s. Dirne Trauerspiel210-229, 319f.
Psychoanalyse 245ff., 519,529, 577f., 661 f. Traum/Traumkollektiv 254, 263, 365, 367-369, 386-
398,541,635, 674ff.
Rausch 51, 103, 119, 355ff., 631,668, 676f.
Recht 40, 197 ff., 553 Übergang 147 f.
Reflexion/Reflexionsmedium 150, 154ff., 161 f., 164, überlieferung 42, 286
313,323 übersetzung/übersetzbarkeit 39f., 61, 147,313,323,
Reine Sprache 313 f., 590, 611, 614, 619 ff., 649 f. 601 f., 609-625, 649f.
Reizschutz 576ff. Umkehr 547, 550ff.
Reklame 275, 360, 362, 365 f., 369 f., 404, 459 f., 463 Unentschlossenheit 356 f.
Religion 36f., 59ff., 107, 146ff., 167-174,304,307-310 Unmensch 530 ff.
Reproduzierbarkeit 229-251 Unmittelbares/Unmitteilbarkeit 182 ff., 547 f.
Rettung 375 f. Unterhaltung 408 ff.
Revolution 34, 80, 111, 179, 190, 193 ff., 231, 238, 254, Urbild 157
521,523,531,676 Urgeschichte 223, 262, 387, 392, 536, 541
Ribbentrop-Molotow-Pakt 345 Ursprung 184,211,294,295, 478f., 488,489,
Ritual s. Kult 607f.
Roman 454, 560 f. Ursprüngliche Erkenntnis 478 f., 488, 489
Ruine 43, 223 f., 297 f., 341, 490 Urteil 323 f., 329, 599, 600
Rundfunk 381-384,407-419
Veraltetes 256, 272,392
Sachgehalt 476 f., 568 Verdinglichung 197,574
Säkularisierung 216f. Vergessen 548 f., 551, 554
Sammler 368,374-376,451 ff., 455 ff., 529 Vermittler 332-337
Schachspieler 295 f. Volkskunst 497
Schauplatz 214f., 353 ff. Volkstümlichkeit s. Popularisierung
Schicksal123, 213, 477f., 553 Vollendung 313 f., 323
Schöner Schein/das Schöne 238 f., 248 ff., 482 f., 487 ff., Vorgeschichte 211, 253 f., 262, 579 f.
490ff., 491 ff. Vorwelt 536
SchöpferturntSchöpfung 231, 461, 488 f., 543 f.
Schrift 463, 551 f., 603 f. Wachwelt 320
Schuld 169 f., 543 f., 548, 553 Wahrheit 314,323, 329f., 555
Schweigen 45, 114 f., 533 Wahrheitsgehalt/Sachgehalt 475 ff., 568
Schwelle 257,321 f., 516, 552f., 573, 660ff. Wahrnehmung 46, 353 f.
Sehen 124-133 Wandel341
Sexualität 44 ff., 352, 369, 477, 544 Ware 279 f., 365, 582, 675
Souverän 215 ff. Weibliches 44 f.
Spiel/Spielzeug 248ff., 380,571,657,667 Weimar 628 f.
Spleen 256, 579 ff. Weisheit 555, 560
Sprache 39f., 45, 182f., 442f., 547, 590f., 592-603, 603ff. Wesen 109f., 115, 139, 635
Sprachursprung 644 ff.
Spur 341,636,660 Zäsur 465, 470
Stadt/Stadtansichten 321 f., 324-328, 350-357, 626-642 Zeit 140,170, 176f., 185,190,217,288, 292f., 319,324,
Streik 173, 197,201 f., 205, 208 f. 417,579
Studium 551, 554f. Zeugnis 19, 683 ff.
Surrealismus 255, 256, 279, 326, 386-398, 423, 426 f., Zionismus 59 f., 68 f., 72
431, 674ff. Zweite Natur 245
Symbol43, 84, 143, 222 ff. Zwerg 295 ff.
719

Die Autorinnen und Autoren

Karlheinz Barck, geb. 1934, Ko-Direktor des Zentrums schaftder Johann Wolfgang Goethe- Universität Frank-
für Literaturforschung in Berlin. furt am Main.
Laure Bernardi, geb. 1973, unterrichtet deutsche Literatur Anja Lemke, geb. 1969, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
und Übersetzung in den Classes preparatoires al'Ecole am Institut für Allgemeine und Vergleichende Litera-
normale Superieure, Marseille. turwissenschaft, Johann Wolfgang Goethe- Universität
Momme Brodersen, geb. 1951, Professor für Deutsche Frankfurt am Main.
Literatur an der Philosophischen Fakultät der Univer- Burkhardt Lindner, geb. 1943, Professor für Geschichte
sität Palermo. und Ästhetik der Medien sowie für Neuere deutsche
Heinz Brüggemann, geb. 1943, Professor am Seminar für Literaturwissenschaft, Institut für Theater-, Film- und
deutsche Literatur und Sprache der Universität Han- Medienwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Uni-
nover. versität Frankfurt am Main.
Peter Fenves, geb. 1960, Professor für Vergleichende Lite- Ursula Link-Heer, geb. 1948, Professorin für Romanistik
raturwissenschaft, Northwestern University, Evanston, und Komparatistik/Literaturwissenschaft an der Ber-
Illinois. gischen Universität Wuppertal.
Justus Fetscher, geb. 1961, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Henri Lonitz, geb. 1948, leitet mit Christoph Gödde zu-
am Zentrum für Literaturforschung in Berlin. sammen das Theodor W. Adorno Archiv in Frankfurt
Jeanne Marie Gagnebin, geb. 1949, Professorin für Phi- am Main. Sie sind Hauptherausgeber der neuen Kriti-
losophie an der Pontificia Universidade Cat6lica Säo schen Gesamtausgabe der Werke Walter Benjamins im
Paulo und für Literaturtheorie an der Universidade Suhrkamp Verlag.
Campinas (Unicamp). Ursula Marx, geb. 1972, wissenschaftliche Archivarin im
Christoph Gödde, geb. 1954, leitet mit Henri Lonitz zu- Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin.
sammen das Theodor W. Adorno Archiv in Frankfurt Gert Mattenklott, geb. 1942, Professor für Allgemeine und
am Main. Sie sind Hauptherausgeber der neuen Kriti- Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Uni-
schen Gesamtausgabe der Werke Walter Benjamins im versität Berlin.
Suhrkamp Verlag. Bettine Menke, geb. 195 7, Professorin für Allgemeine und
Reinhold Görling, geb. 1952, Professor für Medienwis- Vergleichende Literaturwissenschaft an der Philoso-
senschaft in kulturwissenschaftlicher Orientierung an phischen Fakultät (Seminar für Literaturwissenschaft)
der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf. der Universität Erfurt.
Werner Hamacher, geb. 1948, Professor am Institut für Stephane Moses, geb. 1931, emeritierter Professor für
Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen
der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Universität Jerusalem. Korrespondierendes Mitglied
Main. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Ansgar Hillach, geb. 1934, Literaturwissenschaftler, lebt Doktor h.c. der Universität Tübingen.
in Frankfurt am Main und Staufenberg. Roger W. Müller Farguell, geb. 1961, Dozent für Deutsch
Alfred Hirsch, geb. 1961, Privatdozent, lehrt am Institut und Kommunikation am Departement Allgewandte
für Philosophie der Universität Hildesheim. Linguistik und Kulturwissenschaften der Zürcher
Axel Honneth, geb. 1949, Professor für Philosophie, Ge- Hochschule Winterthur (ZHW) sowie am dortigen
schäftsführender Direktor des Instituts für Sozialfor- Institut für Angewandte Medienwissenschaft (IAM).
schung in Frankfurt am Main. Nikolaus Müller-Schöll, geb. 1964, Wissenschaftlicher
Alexander Honold, geb. 1962, Professor für Neuere deut- Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-
sche Literatur an der Universität Basel/Schweiz. Universität Bochum.
Chryssoula Kambas, geb. 1949, Professorin an der Uni- Michael Opitz, geb. 1953, Literaturwissenschaftler, Do-
versität Osnabrück, Fachbereich Sprach- und Litera- zent am Institute for the International Education of
turwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Theo- Students (I ES) Berlin.
rie der Literatur. Patrick Primavesi, geb. 1965, Wissenschaftlicher Assistent
Eckhardt Köhn, geb. 1952, Privatdozent, lehrt Neuere am Institut für Theater-, Film- und Medienwissen-
deutsche Literaturwissenschaft sowie Theater-, Film- schaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frank-
und Medienwissenschaft an der Johann Wolfgang Goe- furt am Main.
the-Universität Frankfurt am Main. Gerard Raulet, geb. 1949, Professor für deutsche Ideen-
Thomas Küpper, geb. 1970, Wissenschaftlicher Mitarbei- geschichte an der Universite Paris-Sorbonne.
ter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissen- Thomas Regehly, geb.1956, Lehrbeauftragter für Germa-
720 Die Autorinnen und Autoren

nistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Universität Dortmund, selbständige Kommunikations-


Dozent an der Jüdischen Volkshochschule, Veranstalter beraterin und Trainerin in Rundfunkanstalten.
der >>Frankfurter Benjamin-Vorträge<<, Archivar der Sigrid Weigel, geh. 1950, Professorin und Geschäftsfüh-
Schopenhauer-Gesellschaft e. V. rende Direktorin am Institut für Literaturwissenschaft
Sergej Romaschko, Professor am Institute of Linguistics, der Technischen Universität Berlin, Direktorin des
Russian Academy of Sciences, Moskau/Rußland. Zentrums für Literaturforschung Berlin, Vorstandsvor-
Timo Skrandies, geh. 1966, Junior-Professor für Medien- sitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Ber-
und Kulturwissenschaft an der Heinrich Beine-Uni- lin.
versität Düsseldorf. Samuel Weber, geh. 1940, Avalon Foundation Professor
Giulio Schiavoni, geh. 1948, Professor für deutsche Lite- of Humanities, Northwestern University (Evanston),
ratur an der Universita del Piemonte Orientale, Ver- Department of German, Program in Comparative Li-
celli. terary Studies.
Christine Schmider, geh. 1968, Germanistikdozentin an Katharina Weber, geh. 1983, Studentische Hilfskraft am
der Universität Nizza-Sophia-Antipolis, Mitglied des Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft
Centre de Recherche d'Histoire des Idees der Univer- der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am
sität Nizza. Main.
Manfred Schneider, geh. 1944, Professor für Neugerma- Michael Werner, geh. 1946, Directeur de recherches, Cen-
nistik, Ästhetik und Medien an der Ruhr-Universität tre de recherches interdisciplinaires sur l' Allemagne
Bochum. (CRIA), Ecole des hautes etudes en sciences sociales
Detlev Schöttker, geh. 1954, Professor für Neuere deutsche (EHESS), Paris.
Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Nadine Werner, geh. 1979, Wissenschaftliche Hilfskraft
TU Dresden. am Institut für Theater-, Film- und Medienwissen-
Sarah Steffen, geh. 1980, war Studentische Hilfskraft am schaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frank-
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft furt am Main.
der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am ErdmutWizisla, geh. 1958, Leiter des Bertolt-Brecht-Ar-
Main. chivs und kommissarischer Leiter des Walter Benjamin
Uwe Steiner, geh. 1955, Associate Professor of German Archivs, Akademie der Künste in Berlin.
Studies, Rice University in Houston, Texas. Irving Wohlfarth, geh. 1940, Professor für Germanistik in
Sabine Schiller-Lerg, Lehrbeauftragte für Kommunika- Reims.
tion an der Fachhochschule Münster/Steinfurt und der

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