Sie sind auf Seite 1von 128

Rick-Arne Kollatsch (Hrsg.

Des Abraham von Worms


Buch der wahren Praktik von der alten Magie

Ein als jüdisch fingierter Magietext


des frühen 17. Jahrhunderts

Band 1 – Edition
© 2021 Rick-Arne Kollatsch
2., durchgesehene Auflage
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
ISBN 978-3-347-26288-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des
Verlages und des Herausgebers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfälti-
gung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://
dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt

Einführung ................................................................................................................................................ ⅠⅩ
Beschreibung des Textzeugen ......................................................................................................... ⅩⅩⅠⅩ
Zur Edition ............................................................................................................................................ ⅩⅬⅤ
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ............................................................... ⅩⅭⅠ
Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................................... ⅭⅠⅤ
Abbildungsnachweis ............................................................................................................................. ⅭⅤ
Literaturverzeichnis .............................................................................................................................. ⅭⅤ
Edition ......................................................................................................................................................... 1
Erstes Buch ............................................................................................................................................ 3
Zweites Buch ...................................................................................................................................... 30
Drittes Buch ........................................................................................................................................ 79
Viertes Buch ...................................................................................................................................... 138
Gebete ................................................................................................................................................ 174
Entschlüsselungstabelle ................................................................................................................. 184
Einführung

Ich bin nicht der erste, der einen Text von Des Abraham von Worms Buch der wahren Praktik
von der alten Magie im Druck herausgibt. Die älteste Edition erschien zur Mitte des 19. Jahr- Bisherige
hunderts, mutmaßlich 1853, im Verlag des Johann Scheible in Stuttgart,1 führt einen erfunde- Ausgaben des
Magietextes
nen, bemüht altertümelnden Titel und ein fingiertes Impressum und macht so einen vorder-
hand unseriösen Eindruck,2 und doch handelt es sich, wie ein Vergleich zeigt, um eine recht
getreue Wiedergabe einer Handschrift (oder einer nahen Verwandten dieser Handschrift), die
aus dem 18. Jahrhundert stammt und heute in einer Bibliothek in Amsterdam verwahrt wird.3
Scheible war nicht nur Verleger, sondern ebenso Antiquar, vertrieb in der Funktion gleichfalls
Handschriften und mag auf dem Wege an seine Editionsvorlage gekommen sein. Vermutlich
schon 1854 veranstaltete er eine um zwei Anhänge erweiterte Ausgabe,4 und bis mindestens
in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hielt sich der Titel im Programm des Verlages; über
die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus wurde der Text von anderer Seite nachgedruckt.5 Bis
heute, bis zur vorliegenden Edition, stellte die Scheiblesche Ausgabe bei allen ihren Unzuläng-
lichkeiten die historisch verläßlichste Edition von Des Abraham von Worms Buch der wahren
Praktik von der alten Magie dar.
Ehe ich fortfahre, muß ich ein Wort zu dem Titel des Textes verlieren, um dessen Edition
es geht. Eigentlich hat der Text keinen Titel, sondern setzt archaisierend – er will ja als Werk
des frühen 15. Jahrhunderts erscheinen – mit einem Titelprolog ein. Wenn ich den Text für
meine Edition unhistorisch Des Abraham von Worms Buch der wahren Praktik von der alten
Magie nenne, so folge ich einem Bedürfnis, das einen umfangreicheren Text mit einem Titel
ansprechbar und kenntlich gemacht sehen möchte. Willkürlich ist der Titel, den ich wähle,
selbstverständlich nicht, denn der Text bezeichnet sich in dem Titelprolog gerade als das,
was ich als seinen Titel verwende. Ich weise aber darauf hin, daß der Text in seiner Selbstbe-
nennung nicht konsequent ist und im Kolophon von sich als dem Buch der wahren, alten und
göttlichen Magie spricht; ich hätte dies mit demselben Recht aufgreifen können. Historische
Bearbeiter und Kopisten wie auch moderne Herausgeber empfanden das gleiche praktische
Bedürfnis wie ich, und so firmiert der Text im Laufe der Jahrhunderte unter Titeln wie Magia

1
Emil Weller: Die falschen und fingirten Druckorte. Repertorium der seit Erfindung der Buchdruckerkunst unter
falscher Firma erschienenen deutschen, lateinischen und französischen Schriften. Erster Band, Leipzig 1864, S. 73
2
Die egyptiſchen großen Offenbarungen, in ſich begreifend die aufgefundenen Geheimnißbücher Moſis; oder des Ju-
den Abraham von Worms Buch der wahren Praktik in der uralten göttlichen Magie und in erſtaunlichen Dingen, wie
ſie durch die heilige Kabbala und durch Elohym mitgetheilt worden. Sammt der Geiſter- und Wunder-Herrſchaft,
welche Moſes in der Wüſte aus dem feurigen Buſch erlernet, alle Verborgenheiten der Kabbala umfaſſend. Aus einer
hebräiſchen Pergament-Handſchrift von 1387 im ⅩⅤⅠⅠ. Jahrhundert verteutſcht und wortgetreu herausgegeben. – Das
Impressum lautet: Köln am Rhein, bei Peter Hammer. 1725. Ein Exemplar der Ausgabe von 1853 befindet sich unter
der Signatur 1 E 5914 in der Universitätsbibliothek Münster.
3
Bibliotheca Philosophica Hermetica Amsterdam Ms. M 316
4
Die zwei Anhänge stehen in keiner unmittelbaren Beziehung zu dem Magietext des Abraham von Worms. Daß
die erweiterte Ausgabe die jüngere ist, kann man aus Anzeigen ersehen, die Scheible in Zeitungen schalten ließ.
Ein Exemplar der Ausgabe von 1854 befindet sich unter der Signatur Hb 5027 in der Universitäts- und Landes-
bibliothek Sachsen-Anhalt in Halle.
5
Soweit ich sehe, beschränkten sich spätere Auflagen und auch Nachdrucke auf den Magietext des Abraham von
Worms. Der um Anhänge erweiterte Umfang der Ausgabe von 1854 blieb somit singulär.
Ⅹ Einführung

Abrahami oder Unterricht von der heiligen Kabbala; Practica Magiae verae, wie sie die Erzväter,
Propheten und Apostel gehabt; Magie des Ägyptischen Abraham Elim; Praxis Cabalae albae; Ca-
bala mystica Aegyptiorum et Patriacharum; Die ägyptischen großen Offenbarungen oder auch
Die heilige Magie des Abramelin. Solchen Titelerfindungen, vormodernen wie modernen, hat
die meine voraus, sich auf den ursprünglichen Wortlaut des Textes berufen zu können. Daß
ich diesem Wortlaut den Namen des fiktiven Verfassers voransetze, soll dazu dienen, die Er-
kennbarkeit des Textes zu erhöhen, was ich angesichts der unterschiedlichen Benennungen,
unter denen er bisher ans Licht trat, und dem dennoch immer gleichbleibenden Namen seines
angeblichen Verfassers Abraham für sinnvoll erachte. Der gewählte Titel klingt nunmehr
aber etwas irrlichternd nach einer Esoterikerausgabe, und darum sah ich als geraten an, einen
gänzlich unhistorischen Untertitel hinzuzusetzen, so daß bereits der Einband einen hinrei-
chenden editorischen Abstand zu Scheibles und jüngeren Textausgaben zu erkennen gibt: Ein
als jüdisch fingierter Magietext des frühen 17. Jahrhunderts. Diesen Untertitel darf der Leser zu-
gleich als Motto der folgenden Bemerkungen verstehen. Für den wiederholten Gebrauch, wie
ihn meine Ausführungen erfordern, sind der gewählte Haupt- und Untertitel freilich durchaus
unhandlich, und so werde ich von dem Text im weiteren abkürzend nur als von der Wahren
Praktik sprechen.
Offenbar ohne von Scheibles Ausgabe zu wissen, veröffentlichte Samuel Liddell Mathers
im Jahre 1898 eine englische Übersetzung 6 einer Handschrift, die er in einer Bibliothek in
Paris vorgefunden hatte.7 Die Handschrift enthält den Text der Wahren Praktik nicht allein
ins Französische übersetzt, sondern zudem stark bearbeitet und beträchtlich verderbt. Ma-
thers hielt die Pariser Handschrift für den einzigen überlieferten Textzeugen, berichtet aber
in der Vorrede seiner Übersetzung von dem Gerücht, in Holland befinde sich eine weitere
Handschrift. Zumindest in dem ersten Punkt irrte Mathers erheblich: Was historische Hand-
schriften der Wahren Praktik angeht, haben sich in Wirklichkeit wenigstens achtundzwanzig
in zwanzig europäischen Bibliotheken erhalten; die meisten der Handschriften sind deutsch,
fünf nach zwei unabhängigen Übersetzungen französisch, ein Textzeuge ist italienisch und
ein Fragment hebräisch. Mathers verfolgte keine wissenschaftlichen Interessen, oder besser
gesagt: keine Interessen, die man für wissenschaftlich ansehen sollte, sondern beabsichtigte
mit seiner Übersetzung, Eingeweihten der Magie Lektürestoff zur Vertiefung ihrer Kenntnisse
bereitzustellen. Dies scheint ihm gelungen zu sein; die Übersetzung hat in der Esoterik- und
Okkultismusszene viel Glück gemacht und ist auch heute noch im Buchhandel erhältlich. Von
der Pariser Handschrift, die Mathers seinerzeit benutzte, veröffentlichte 1959 Robert Ambe-
lain, der in dieselbe Fachrichtung schlägt, eine in der Folge mehrfach aufgelegte Übertragung
in modernes Französisch.8
1928 gab der Volkskundler Will-Erich Peuckert ein von ihm in der Breslauer Stadtbibliothek
vorgefundenes Fragment der Wahren Praktik heraus.9 Der edierte Text ist Teil einer populär-

6
Samuel Liddell Mathers: The Book of the sacred magic of Abra-Melin the mage, as delivered by Abraham the Jew
unto his son Lamech, A. D. 1458. London 1898
7
Bibliothèque de l’Arsenal Paris Ms. 2351
8
Robert Ambelain: La magie sacrée d’Abramelin la Mage. Paris 1959
9
Will-Erich Peuckert: Von schwarzer und weißer Magie. Berichte aus einem vergessenen Jahrhundert. Berlin o. J.
(nach Angaben der Deutschen Nationalbibliothek: 1928), S. 15 –40
Einführung ⅩⅠ

wissenschaftlichen Anthologie und wurde von Peuckert in der Absicht, den Lesern den Zu-
gang zu erleichtern, sprachlich modernisiert, geglättet und gekürzt. Peuckert war dem An-
schein nach zu der Zeit, da er das Fragment herausgab, über die Existenz der Scheibleschen
Edition ebensowenig wie über die der Mathersschen Übersetzung unterrichtet.
Peuckerts Veröffentlichung benutzte gut drei Jahrzehnte später ein Unbekannter unter dem
Namen Johann Richard Beecken, um sich daraus eine eigene Fassung der Wahren Praktik zu
basteln.10 Da das Breslauer Fragment nur die ersten zwölf Kapitel des Textes umfaßt und sich
Peuckerts Wiedergabe sogar nur auf die ersten neun Kapitel beschränkt, ergänzte der Unbe-
kannte den Rest mit einer stark kürzenden deutschen Übersetzung von Mathers englischer
Übersetzung der Pariser Handschrift; fast unnötig ist zu erwähnen, daß den Lesern die Quel-
len der Bastelarbeit verschwiegen werden. Das Büchlein erschien 1957 und ist noch heute im
Esoterikhandel zu bekommen.
Weniger dunkelmännisch, aber nicht weniger unsachgemäß verfuhren zwei neuere Edi-
toren. Der Unbekannte, der sich Beecken nannte, hatte immerhin den inhaltlichen Zusam-
menhang des von Peuckert herausgegebenen Fragmentes und der Mathersschen Übersetzung
erkannt. Eine weitere Kenntnis der Textüberlieferung der Wahren Praktik stellte Jürg von Ins
unter Beweis, als er 1988 eine, wie er es bezeichnete, vergleichende Textausgabe veröffentlich-
te.11 Für seine Edition zog er eine Überlinger Handschrift des 18. Jahrhunderts, den Scheible-
schen Text, das Peuckertsche Fragment, Mathers’ Übersetzung, Ambelains Übertragung und
Beeckens Bastelarbeit heran; bekannt war ihm, ohne daß die Textzeugen aber in die Edition
einflossen, die Existenz zweier Dresdner Handschriften, des hebräischen Fragmentes in Ox-
ford sowie der italienischen und einer deutschen Handschrift in Wien. Im wesentlichen grün-
dete von Ins seine Textausgabe auf ein Typoskript unklarer Herkunft, von dem er annahm,
es stamme von Carl Gustav Jung, und disqualifizierte so von vornherein seine Arbeit. Den
Text des Typoskriptes meinte er dann aus den von ihm benutzten weiteren Textzeugen und
Ausgaben bessern zu müssen, wobei für den Leser aber undurchsichtig bleibt, nach welchen
Kriterien er vorging.
Mehrere Ausgaben der Wahren Praktik hat mittlerweile Georg Dehn veranstaltet. Die Rei-
he begann anscheinend 1980 mit einer Neuausgabe des Scheibleschen Textes, setzte sich 1984
mit einer ersten synoptischen Rekonstruktion des Urtextes, die auf dem Scheibleschen Text und
Mathers’ Übersetzung fußte, 1995 mit einer nicht näher spezifizierten Edition und schließ-
lich 2001 mit der ersten vollständigen, kritisch überarbeiteten Ausgabe fort; diese letztgenannte
Ausgabe soll wiederum eine synoptische Rekonstruktion des Urtextes sein, die nun aber, so
heißt es allen Ernstes, die Fassung letzter Hand darstelle.12 2006 schob Dehn noch eine engli-
sche Übersetzung nach, von der 2015 eine Neuauflage herauskam, so daß er nunmehr auch auf
dem angelsächsischen Okkultismus- und Esoterikmarkt reüssiert und Mathers’ Übersetzung
Konkurrenz macht. Dehn benutzte für seine Textausgabe von 2001 den Scheibleschen Text,

10
Johann Richard Beecken: Die heilige Magie des Abramelin. Die Überlieferung des Abraham von Worms. Nach dem
hebräischen Text aus dem Jahre 1458. Berlin 1957
11
Jürg von Ins: Das Buch der wahren Praktik in der göttlichen Magie. Vergleichende Textausgabe mit Kommentar.
München 1988
12
Georg Dehn: Buch Abramelin, das ist: Die egyptischen großen Offenbarungen oder des Abraham von Worms Buch
der wahren Praktik in der uralten göttlichen Magie. Leipzig 2001
ⅩⅠⅠ Einführung

Mathers’ Übersetzung, zwei Dresdner und zwei Wolfenbütteler Handschriften sowie, was er-
staunlich ist, die Oxforder hebräische Handschrift – er konnte einen Rabbiner bewegen, ihm
den Text dieser Handschrift zu übersetzen. Wenngleich sich die Güte der Übersetzung nicht
einschätzen läßt, ist doch zu bedauern, daß Dehn nicht begriff, welche Gelegenheit sich ihm
bot: Hätte er (möglichst unter Vermeidung aller eigenen Kommentierung) den hebräischen
Originaltext und die Übersetzung statt seiner vermeintlichen Urtextrekonstruktion veröffent-
licht, hätte er unter Umständen einen Beitrag leisten können, aus dem ein Erkenntnisgewinn
zu schöpfen gewesen wäre. So aber flickte er ein kurzes Stück der Übersetzung in den Text
seiner Ausgabe von 2001 ein und führte einige Lesarten in Endnoten an. Für die Rekonstruk-
tion eines wie auch immer beschaffenen Urtextes der Wahren Praktik ist die Oxforder Hand-
schrift ohne Belang, für eine Betrachtung der Textgeschichte aber könnte erhellend sein zu
verfolgen, wie ein als jüdisch fingierter deutscher Text unter der Hand eines als Juden anzu-
nehmenden Übersetzers gegebenenfalls umgestaltet wurde.
Zwei Textzeugen will Dehn, wie er schreibt, in Wolfenbüttel gefunden haben. Ich lasse mir
nicht nehmen, im zweiten Band dieses Editionsprojektes kurz zu beleuchten, was Dehn groß-
zügig seinen Handschriftenfund nennt; Flunkerei wird zum guten Ton des Genres gehören,
dem seine Ausgabe der Wahren Praktik zuzurechnen ist. Daß er mit den Wolfenbütteler Text-
zeugen womöglich demjenigen einen großen Schritt nahe kam, was er als Urtext bezeichnet,
ging Dehn freilich nicht auf; die Handschriften wurden von ihm wenig genutzt, und so fußt
seine Fassung letzter Hand wie alle vorherigen Ausgaben im wesentlichen auf dem Scheible-
schen Text.
Die Textausgaben eines Beecken, von Ins und Dehn sind für die Erforschung des histo-
rischen Textes der Wahren Praktik wertlos. Die Klittertexte schreiben durch Verschnitt ver-
schiedener Textzeugen die Textgeschichte der Wahren Praktik in das 20. und 21. Jahrhundert
fort und mögen als Zeugnisse sich wandelnden Okkultismus- und Esoterikzeitgeistes allen-
falls selbst zum Gegenstand der Untersuchung taugen. Nicht ganz unnütz erscheint mir dage-
gen, soweit man Vorrede und Anmerkungen weitgehend ignoriert, die Matherssche Überset-
zung, die eine in das 18. Jahrhundert datierende historische Bearbeitung der Wahren Praktik
mit ihrem Inhalt im Druck zugänglich macht.
Bei der Wahren Praktik handelt es sich um einen bemerkenswerten Magietext der frühen
Ein Desiderat: Neuzeit, und eine seriöse historische Edition war ein Desiderat. Bemerkenswert ist die Wahre
eine seriöse Praktik aber nicht allein als Magietext, bemerkenswert ist sie – ohne daß man den Text lite-
historische
rarisch überschätzen sollte – als eine fiktive, nicht fabelhafte, sondern als realistisch angeleg-
Edition des
Magietextes
te historische Autobiographie: In versuchtem Perspektivenwechsel schildert ein christlicher
Verfasser des beginnenden 17. Jahrhunderts in einer Ich-Erzählung die Lebensgeschichte eines
Juden an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert und verfolgt dabei eine aufs Jahr genaue in
den Text verwobene Chronologie. Gewiß war es dem Verfasser nicht um eine literarische Pio-
nierleistung zu tun; in Zeiten, in denen sich ein modernes Verständnis von Fiktionalität erst
ausbildete, mag der »christliche Betrüger« 13 vor allem auf materiellen Ertrag gearbeitet ha-
ben, indem er mit seinem Faktizität vortäuschenden Text hoch- und finanziell wohlgestellten

13
So nennt Steinschneider seltsam polemisch, aber in der Sache nicht völlig unzutreffend den Verfasser (Mo-
ritz Steinschneider: Die hebraeischen Uebersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Berlin 1893,
S. 907).
Einführung ⅩⅠⅠⅠ

Personen ihre zeittypische Vorstellung vom Juden als Magier zu bedienen suchte. So begeg-
nen als tatsächlicher Erwerber des Textes Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Lü-
neburg (1579–1666) und – wenn zutrifft, daß es sich, wie Carlos Gilly annimmt, bei einem zeit-
genössisch erwähnten Wormbser buch um die Wahre Praktik handelt – als möglicher Erwerber
der Kurfürst und Erzbischof von Köln, Ernst von Bayern (1554–1612), sowie als Interessent im
Hintergrund der Fürst August von Anhalt (1575–1653).14 Doch geht die Wahre Praktik in der
allfälligen Ertragsabsicht ihres Verfassers ganz offensichtlich nicht auf, sie enthält einen be-
trächtlichen literarischen, »magischen« und auch spielerischen Überschuß, der für den Text
in besonderer Weise interessieren muß.
Es war ein Zufall, der mich auf die Wahre Praktik stoßen ließ. Ein Aufsatz, in dem sich
Harold Jantz an der Fiktionalität des Textes begeisterte,15 befeuerte meine Neugierde, und als Leithandschrift
ich feststellen mußte, daß keine seriöse Edition des Textes existierte, war der Keim zu meinem des Magietextes
und Gegenstand
Editionsvorhaben gelegt. Den Weg zu einer verwertbaren Textgrundlage wiesen mir Carlos
der vorliegen-
Gillys Ausführungen in seinen Cimelia Rhodostaurotica.16 Gilly hebt vor allem auf einen der den Edition:
insgesamt fünf in der Herzog-August-Bibliothek 17 in Wolfenbüttel befindlichen Textzeugen der Wolfen-
der Wahren Praktik ab; diesen Textzeugen bezeichne ich nach seinem Verwahrort mit der bütteler Text-
Sigle W₁. Die Amsterdamer Handschrift aus dem 18. Jahrhundert, die ich oben erwähnte, ist zeuge W₁
an mehreren Stellen verderbt, und demgemäß fällt die Scheiblesche Ausgabe, die sich auf
eine bloße unkritische Textwiedergabe beschränkt, aus. Der Textzeuge W₁ ist nicht allein ma-
teriell älter als die Amsterdamer Handschrift, er bietet, wie sich zeigte, im Gegensatz zu ihr
eine fast makellose Textqualität und steht, was die Textgeschichte betrifft, zudem auf einem
Bearbeitungsstand, der dem der Amsterdamer Handschrift vorausliegt; W₁ ist mithin auch
im Wortlaut älter. Denn einem historischen Bearbeiter oder Kopisten fiel auf, daß die Wahre
Praktik, angeblich von dem Juden Abraham von Worms im 15. Jahrhundert verfaßt, in ihrem
zweiten Buch, das die sogenannte vermischte Kabbala beschreibt, von zahllosen Sprüchen aus
der Lutherbibel durchsetzt ist, und unternahm es, die Herkunft der Sprüche (weil nahelie-
genderweise der Fiktion abträglich) durch Wortumstellung, synonymem Ersatz und ähnliche
kleine Eingriffe zu verschleiern. Der Textzeuge W₁ und seine unmittelbaren Abkömmlinge
– drei weitere in Wolfenbüttel verwahrte Handschriften – sind die einzigen mir bekannten
Textzeugen der Wahren Praktik, die die originalen Zitate der Lutherbibel haben; alle ande-
ren Textzeugen, in denen eine vermiſchte Kabala vorkommt, und damit auch die Amsterda-
mer Handschrift und die Scheiblesche Ausgabe weisen dagegen die bearbeiteten Zitate auf.
Ähnlich verhält es sich mit den archaisierenden Incipit, die in dem ersten Buch der Wahren
Praktik die Kapitel einleiten. Auch sie finden sich vollständig nur in dem Textzeugen W₁ und
Abkömmlingen von ihm, doch stieß sich schon ein Schreiber eines dieser Abkömmlinge an
ihrer vermeintlichen Altertümlichkeit und ersetzte sie durch bloße Kapitelnummern. Solche

14
Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterdam 1994, S. 134
15
Harold Jantz: Geschichte und Fiktion. Einige pseudohistorische Werke des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis. Heft 12,
Amsterdam 1983, S. 72–86
16
Carlos Gilly: Cimelia Rhodostaurotica. Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1610 und 1660 entstandenen Hand-
schriften und Drucke. Amsterdam 1995, S. 18–19
17
Mir ist bekannt, daß sich die Wolfenbüttler Bibliothek offiziell ohne Bindestriche schreibt; man verstehe also die
Bindestrichschreibung als meine persönliche Bezeichnung der Bibliothek.
ⅩⅠⅤ Einführung

schlichten Nummern findet man durchgehend auch in der übrigen, von W₁ unabhängigen
Textüberlieferung; nur in einigen Textzeugen entdeckt man als letzten Rest der Incipit noch
das des ersten Kapitels. Man steht mit W₁ somit textlich nahe am Ursprung der Wahren Prak-
tik. W₁ ist materiell wie nach dem Wortlaut der älteste vollständige Textzeuge, er ist überdies,
wie ich sagte, so gut wie frei von aller Textverderbnis, und dies qualifiziert ihn hinreichend
als Leithandschrift der Wahren Praktik und damit als Gegenstand der vorliegenden Edition.
Doch fragt sich, ob man mit W₁ zwar nahe, aber womöglich nicht unmittelbar am Text-Ur-
sprung der Wahren Praktik steht. Unter den einundzwanzig historischen deutschen Hand-
schriften, die mir zugänglich waren, finden sich zwei, deren gemeinsame Textfassung dem
Inhalt wenig, aber merklich der Diktion nach von denen der übrigen deutschen Handschrif-
ten abweicht. Von dieser Textfassung hat sich nur das erste Buch, die Lebens- und Reisege-
schichte des Abraham von Worms, erhalten, und vielleicht hat diese Fassung nie für mehr
als dieses erste Buch existiert. Überliefert ist die Fassung in einer Dresdner Handschrift, und
überliefert war sie gleichfalls in der Breslauer Handschrift, die heute anscheinend verschollen
ist. Aus der Breslauer Handschrift gab Peuckert in seiner Anthologie von 1928 einen Auszug,
und eingebastelt findet sich diese abweichende Fassung damit auch in dem Beeckenschen
Plagiat. Nur als ein Rudiment weniger Seiten ist die Fassung in einer weiteren historischen
Handschrift erhalten geblieben, die sich in der Herzog-August-Bibliothek befindet – einer
Handschrift, die erkennbar alt, ja wahrscheinlich nicht jünger oder nicht viel jünger als W₁ ist.
Es obliegt dem zweiten Band des Editionsprojektes zu erörtern, ob man in dieser unvollständi-
gen Fassung eine Vorform des Textes zu erkennen hat, der, vervollständigt und von überlegter
Hand redigiert, in der Leithandschrift der Wahren Praktik, dem hier edierten Textzeugen W₁,
entgegentritt.
In dem zweiten Band des Editionsprojektes versuche ich, die gesamte Textüberlieferung
der Wahren Praktik, wie sie sich in den historischen Zeugen darstellt, nachzuzeichnen und be-
handele im einzelnen die Fragen und Probleme, die der in diesem ersten Band edierte Textzeu-
ge W₁ für sich und im Zusammenhang der Textüberlieferung aufwirft. Damit ein Leser dieses
ersten Bandes den edierten Textzeugen aber schon hier einzuordnen vermag, muß ich einige
Punkte – gleichsam aus dem zweiten Band referierend – vorwegnehmen; dabei verzichte ich
in meinem Referat auf die üblichen Nachweisungen, Zitationen und Fußnoten, die sich im
zweiten Band nachlesen lassen. Außer der Darstellung der Textüberlieferung bietet der zweite
Band des Editionsprojektes Bemerkungen zur Textbezeugung der Wahren Praktik, worunter
ich die Spuren verstehe, die der Text und sein fiktiver Verfasser, Abraham von Worms, vom
17. bis ins 19. Jahrhundert in der Literatur hinterlassen haben; wie ich am Rande erwähnen
möchte, fand Abraham als vermeintlich historische Gestalt beispielsweise Eingang in die BI-
BLIOTHECA HEBRAEA des Johann Christoph Wolf, das Allgemeine Gelehrten-LEXICON des
Christian Gottlieb Jöcher sowie in die Reichsſtadt Regensburgiſche Chronik des Carl Theodor
Gemeiner und zog auch die Aufmerksamkeit Peter Friedrich Arpes unter anderem in seinen
FERIAE AESTIVALES auf sich. Abschließend gehe ich in dem zweiten Band auf die, freilich
überschaubare, wissenschaftliche Auseinandersetzung ein, die der frühneuzeitliche Magietext
bisher erfahren hat.
Ein reizvoller Aspekt der Wahren Praktik dürften für den Leser die im vierten Buch auf-
geführten nicht weniger als 257 magischen Polygrammfolgen sein – so jedenfalls lautet ihre
Zahl in dem besten Textzeugen, dem Textzeugen W₁. Aus den Polygrammfolgen setzen sich
Einführung ⅩⅤ

257 Buchstabenquadrate zusammen, die bei der Magierinitiation, die das dritte Buch des Ma-
gietextes beschreibt, eine wichtige Rolle spielen: sie dienen dem angehenden Magier dazu,
die bösen Geister zu beschwören und auf sich zu verpflichten. Jedes Buchstabenquadrat gilt
einem bestimmten magischen Zweck, den in der Regel ein bestimmter Geist auszuführen
hat. Zweck und Geist sind in den Polygrammfolgen meist namentlich eingeschrieben, bis-
weilen jedoch nicht augenfällig, sondern in dem Buchstabenmaterial versteckt. Doch reizvoll
erscheint an den Polygrammfolgen und den aus ihnen konstruierten Buchstabenquadraten
nicht allein die Auswahl der Zwecke und die Art und Weise, wie Zweckbenennungen und
Geisternamen darin verbaut sind, reizvoll ist ebenso die Gestaltung der Buchstabenquadrate
an sich selbst, weil ihre Konstruktion darauf abstellt, das Buchstabenmaterial in den ineinan-
dergeschachtelten Rahmen der Quadrate nach variierenden Symmetrien anzuordnen. Dies
vermag aber nur zu erkennen, wer sich die Mühe macht, die 257 Buchstabenquadrate zusam-
menzusetzen. Die Symmetrieverhältnisse, denen die Quadrate jeweils unterliegen, erwiesen
sich bei der Edition als ein hilfreiches Emendationsmittel; denn wenn der Textzeuge W₁ auch
eine fast tadellose Textqualität bietet, so finden sich in ihm doch mitunter Schreibfehler, und
dies zumal in den Polygrammfolgen, die dem historischen Schreiber völlig unverständlich
vorkommen mußten.
Der größte Teil der Stichwörter, die den magischen Zweck der Buchstabenquadrate be-
zeichnen, stammt aus dem Hebräischen, und Gershom Scholem meinte deshalb, dem Verfas- Ein Wörterbuch
ser der Wahren Praktik eine ausnehmend gute Hebräischkenntnis attestieren zu können; 18 als Quelle und
ein Lutheraner
Raphael Patai ging sogar noch weiter und sah wegen der sephardischen Aussprache, die die
als Verfasser
Stichwörter in ihrer lateinischen Umschrift verraten, in dem Verfasser einen sephardischen des Magie-
Alchemisten des 15. Jahrhunderts.19 Indes wäre im Gegenteil nicht abwegig, wenn der Ver- textes
fasser der Wahren Praktik überhaupt kein Hebräisch beherrscht hätte. Es läßt sich nämlich
nachweisen, daß die hebräischen Stichwörter einem fünfsprachigen Wörterbuch entstam-
men, dessen Lemmata deutsch sind und das die hebräischen Übersetzungen nicht nur in he-
bräischer Schrift, sondern bequemerweise auch in lateinischer Umschrift enthält; und dies in
sephardischer Aussprache, denn sie war in der christlichen Hebraistik die übliche. Bei dem
Wörterbuch handelt es sich um die SYLVA QVINQVELINGVIS VOCABVLORVM ET PHRA-
SIVM, gedruckt im Auftrage des Druckerverlegers Nikolaus Basse in der Offizin des Zacha-
rias Palthenius in Frankfurt am Main; die SYLVA erschien in zwei druckgleichen Auflagen
1595 und 1596.20 Daß der Verfasser der Wahren Praktik dieses Wörterbuch benutzte, erweisen
Druck- und sachliche Fehler, die so nur in der Palthenischen Ausgabe vorkommen und die
der Verfasser anscheinend aus Unkenntnis des Hebräischen übernahm. Ursprünglich ging
das Wörterbuch auf den Gifhorner Schulmeister Heinrich Decimator zurück, wurde im Laufe

18
In seinem Aufsatz Alchemie und Kabbala (in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums,
69. Jahrgang, Frankfurt am Main 1925, S. 95), nimmt Scholem einen Juden der Renaissance als Verfasser der
Wahren Praktik an, später erwägt er einen nichtjüdischen, wohl deutschen Verfasser, der sich in das Hebräische
einzufühlen suchte (Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der
Kabbala. Frankfurt am Main 1973, S. 309).
19
Raphael Patai: The Jewish Alchemists. A History and Source Book. Princeton 3 1995, S. 271–288
20
Der vollständige Titel lautet: SYLVAE QVINQVELINGVIS. VOCABVLORVM ET PHRASIVM, CVM SOLVTAE TVM
LIGATAE ORATIONIS, EX OPTIMIS & probatis Latinae & Graecae linguae Auctoribus, PARS PRIMA. NVPER AB
HENRICO DECIMATORE GIFHORNENSI in lucem edita; Hebraicis poſtea Vocabulis a M. Valentino Schindlero
ⅩⅤⅠ Einführung

der Zeit von anderen Händen erweitert und von verschiedenen Druckerverlegern bis in das
17. Jahrhundert hinein in zahlreichen Auflagen vertrieben. Die SYLVA war ein Schulwörter-
buch mit unverkennbar lutherischer Tendenz – man lese nur das Lemma MÍnch mit den darin
angeführten Epitheta oder das Lemma Pabſt, Antichriſt –, und dieser Umstand fügt sich zu den
zahlreichen Zitaten aus der Lutherbibel, die sich in der Wahren Praktik finden. Man wird für
den Verfasser der Wahren Praktik folglich eine lutherische Herkunft annehmen können. Den
Nachweis, daß die SYLVA den magischen Stichwörtern der Buchstabenquadrate wie ebenso
einigen Geisternamen zugrunde liegt, die die Dämonentetrarchie des dritten Buches der Wah-
ren Praktik aufzählt, führe ich an einem anderen Ort, und dort erläutere ich auch, wie ich bei
der Emendation der Polygrammfolgen für diese Edition vorging. Der Nachweis läßt sich dank
der Textqualität besonders klar an dem Textzeugen W₁ erbringen, denn in ihm werden die
Palthenischen Fehler noch nicht durch Kopistenversehen überlagert, die sich in der weiteren
Überlieferung häuften. Scholem und Patai kannten den vorzüglichen Textzeugen W₁ nicht,
und dies dürfte unter anderem ein Grund für ihre irrtümlichen Annahmen sein; zwar ist der
Textzeuge seit mehr als einhundert Jahren ordnungsgemäß im neuzeitlichen Handschriften-
katalog der Herzog-August-Bibliothek verzeichnet, doch war Gilly der erste, der auf seine
Existenz überhaupt aufmerksam machte.
Gegen alle Esoteriker und Okkultisten und auch manche der Wissenschaftler, die sich bis-
her mit der Wahren Praktik beschäftigten, ist damit festzuhalten: Weder war der Verfasser
ein Jude, noch entstand der Text, wie er von sich behauptet, im frühen 15. Jahrhundert. Die
Zitate aus der Lutherbibel und der Palthenischen SYLVA sind dafür nur der augenscheinlich-
ste Beleg. Lexik, Stil und Syntax des Textes verweisen gleichfalls auf eine Entstehung erst in
der nachreformatorischen Zeit, und einen jüdischen Verfasser kann man an verschiedenen
inhaltlichen Aspekten des Textes ausschließen: Selbst wenn es den geringsten Anhalt gäbe,
daß die ausdrücklichen Erwähnungen des Buches Jesus Sirach und der Weisheit Salomos, mit
Scholem zu reden, lediglich christliche Interpolationen wären, so ließe sich doch zum Beispiel
nicht übersehen, daß auch ohne diese Erwähnungen der Text der Wahren Praktik ganz von
Anspielungen auf diese beiden Bücher und ebenso auf das Buch Tobias durchwoben ist; alle
drei biblischen Schriften aber werden nicht grundlos apokryph genannt, denn sie sind nicht
Teil des jüdischen Kanons. Seit der mittelalterlichen Kanonbildung, spätestens seit dem Hoch-
mittelalter wurden die drei Schriften vom Judentum bis in die Neuzeit nicht mehr rezipiert,
und es wäre somit erstaunlich, ja man möchte sagen, es müßte geradezu magisch zugegangen
sein, wenn ein Jude des 15. Jahrhunderts in einem Text in solcher Weise, wie es in der Wahren
Praktik geschieht, auf sie angespielt hätte.
Soweit zum Eingang. Im folgenden führe ich – wie angekündigt aus dem zweiten Band des
Editionsprojektes referierend – Überlegungen an, wann einerseits der Text, der in dem hier

professore aucta; NVNC VERO IN GRATIAM STVDIOSAE IVVENTUTIS, adiecto vbique idiomate Gallico, ſatiſque
magna atque locuplete, tum Graecarum tum Latinarum phraſium ſegete inſerta, plus tertia parte auctior atque ema-
culatior prodiens, labore indefeſſo M. ZACHARIAE PALTHENII FRIDBERGENSIS. FRANCOFVRTI. EX OFFICIANA
PALTHENIANA SVMTIBVS NICOLAI BASSAEI. In identischen Ausgaben 1595 und 1596. Die angeführte PARS
PRIMA umfaßt die Lemmata der Buchstaben A bis S; die Lemmata T bis Z erschienen als PARTIS I. PARS II. unter
weitgehend gleichem Titel ebenfalls identisch 1595 und 1596. Zu dem Werk gehört ferner eine PARS SECUNDA
(im Titel der PARS PRIMA als tertia pars bezeichnet), die kein Wörterbuch im engeren Sinne ist und von dem
Verfasser der Wahren Praktik, soweit ich sehe, nicht benutzt wurde.
Einführung ⅩⅤⅠⅠ

edierten Textzeugen W₁ vorliegt, und andererseits der Textzeuge selbst entstanden sein mag.
Vorher aber muß ich etwas zu dem »Verfasser« der Wahren Praktik sagen. Wenn ich von dem
»Verfasser« spreche, so verstehe ich dieses Wort nur als einen Platzhalter. Ich lasse offen, ob
der Text einen Verfasser oder mehrere, ob mehrere Verfasser und einen Bearbeiter oder auch
mehrere Bearbeiter hatte; das Wort »Verfasser« steht in meinen Ausführungen ohne Präjudiz
über die Anzahl lediglich hilfsweise für die unbekannte Person oder die unbekannten Perso-
nen, deren Wirken sich der Text verdankt, den der Textzeuge W₁ darbietet. Stilistische Unter-
schiede, die sich mit den differierenden Genres, denen die Bücher der Wahren Praktik jeweils
angehören, nicht völlig erklären lassen, das gewundene Verhältnis, in dem die vermiſchte Ka-
bala des zweiten Buches zu der Magia steht, die das dritte Buch beschreibt, auch die verschie-
denen Interessen, die in den angeblich vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten und
den magischen Zwecken des vierten Buches zutage treten, können den Gedanken aufkommen
lassen, daß ein Bearbeiter mindestens zwei ursprünglich unabhängige Texte zur Wahren Prak-
tik zusammenführte und einen dritten hinzufügte. Ich werde an dieser Stelle jedoch auf diese
Frage nicht weiter eingehen und spreche, wie gesagt, vom »Verfasser« ausschließlich in der
erläuterten Platzhalterweise.
Es ist grundlegend, zwischen der Entstehungszeit eines Textzeugen und der Entstehungs-
zeit des Textes, den er enthält, zu unterscheiden: jüngere Textzeugen können ältere Fassun-
gen, im Vergleich dazu ältere Textzeugen jüngere Fassungen eines Textes überliefern. Auf den
ersten Blick scheint einem der Textzeuge W₁, was seine Entstehungszeit betrifft, die Arbeit
einfach zu machen, denn ihm ist ein Blatt vorgeheftet, auf dem die Schreiberhand ANNO
DOMINI 1608. festhielt. Doch sollte man Eigendatierungen von Magietexten stets mit Skepsis
begegnen, denn oft sind solche Datierungen Teil der Fiktion. Zudem kann es sich bei einem
Textzeugen nur um eine Abschrift handeln, die die Datierung ihrer Vorlage übernahm. Na-
türlich hat man die Eigendatierung ANNO DOMINI 1608. nicht völlig außer acht zu lassen, bei
den folgenden Überlegungen wird sie aber keine maßgebliche Rolle spielen.
Zunächst soll es mir um die Entstehungszeit des Textes der Wahren Praktik gehen, den
der Textzeuge W₁ enthält, danach befasse ich mich mit der Entstehungszeit des Textzeugen Die vermutliche
selbst. Die Palthenische SYLVA setzt mit ihren Erscheinungsjahren 1595 und 1596 eine absolute Entstehungszeit
des Magietextes
untere Zeitschranke, sie ist, wie man sagt, ein terminus post quem der Entstehung des Textes
der Wahren Praktik, den der Textzeuge W₁ hat. Eine obere Zeitschranke, einen terminus ante
quem, ergibt sich aus weiteren Texten, mit denen sich die Wahre Praktik zusammengestellt
findet. Der Textzeuge W₁ nimmt nämlich nur den schmaleren Teil eines beträchtlich umfang-
reicheren Kodexes ein; den Großteil macht mit 771 Seiten eine Sammlung jüdischer Gebete
aus. Zwischen den Text der Wahren Praktik und diese große Gebetssammlung ist eine wei-
tere, kleinere Sammlung von nur sieben Gebeten eingeschaltet. Es sind dies keine jüdischen
Gebete, wie der neuzeitliche Bibliothekskatalog behauptet, sondern Gebete, die eigens zur
Wahren Praktik abgefaßt wurden und vorspiegeln, jemand, dessen Name mit einem nicht
eindeutig zu entziffernden Monogramm angegeben ist, habe vom April des Jahres 1608 bis
zum Oktober des Jahres 1609 die Magierinitiation durchlaufen, die die Wahre Praktik in ihrem
dritten Buch beschreibt; die Gebete begleiteten, so die Fiktion, die verschiedenen Phasen die-
ser Initiation. Von Bedeutung erscheint an den Gebeten in diesem Zusammenhang weniger
ihr Text, der unter Aufbietung vieler Wörter weitgehend den Vorgaben der Wahren Praktik
folgt, als vielmehr ihre taggenaue Datierung. Denn für vier der sieben Gebete ist angeführt,
ⅩⅤⅠⅠⅠ Einführung

über welchen Zeitraum oder an welchem Tag sie gehalten worden sein sollen. Nach dem Text
der Wahren Praktik, den W₁ hat, unterteilt sich die anderthalbjährige Magierinitiation in drei
halbjährige Abschnitte, die mit oder nach bestimmten jüdischen Festen beginnen. Die ersten
drei der Gebete soll der Unbekannte jeweils regelmäßig in diesen drei verschiedenen Initia-
tionsabschnitten gesprochen haben. Vor dem Anfang des dritten, des letzten und entscheiden-
den Abschnittes muß gemäß der Wahren Praktik ein zusätzliches Gebet gehalten werden, und
dieses ist ebenso mit seinem genauen Datum als viertes Gebet aufgeführt. Die übrigen drei
Gebete sind eines Inhaltes, der sich auf keine der Initiationsabschnitte im besonderen bezieht,
und daher undatiert.
Nun darf man die Gebete, die zu einer angeblich vorgefallenen Magierinitiation der Jahre
1608/09 gehalten wurden, getrost als fingiert annehmen, dennoch wird ihren Datierungen
Realitätskraft zukommen. Vielleicht hätte es ein versierter Zeitgenosse des 17. Jahrhunderts
vermocht, über Jahrzehnte hinweg die Daten jüdischer Feste nachträglich zu berechnen, viel-
leicht hätte es also nicht außerhalb des Möglichen gelegen, wenn die Gebete zum Beispiel erst
im Jahre 1650 verfaßt und auf die jüdischen Festtage der Jahre 1608 und 1609 zurückdatiert
worden wären. Allerdings wäre zu fragen, warum sich jemand im Jahre 1650 diese Mühe hät-
te machen sollen. Glaubhafter erscheint, daß hier niemand einen umständlichen Rechenauf-
wand trieb und die Gebete folglich mit Daten versehen wurden, die ihrer Abfassungszeit nahe
lagen; man kann somit als wahrscheinlich ansehen, daß die Jahre 1608/09 die tatsächliche
Entstehungszeit der Initiationsgebete waren. Dann aber muß der Text der Wahren Praktik, auf
den sich die Gebete beziehen, 1608/09 bereits existiert haben.
Wie ich sagte, macht den Großteil des Kodexes, in dem sich der Textzeuge W₁ befindet,
eine Sammlung authentischer jüdischer Gebete aus. Es sind ins Deutsche übersetzte Gebete
sowohl für den Werktag als auch für den Sabbat und die jüdischen Festtage. Dies ist durch-
aus bemerkenswert, denn in dem Wolfenbütteler Kodex liegt damit womöglich die älteste
fast vollständige deutsche Übersetzung des sogenannten Machsors, der Sammlung der Gebete,
die von Juden an Fest- und besonderen Sabbattagen gehalten werden, vor – zweihundert
Jahre älter als die Übersetzung, die Wolf Heidenheim zu Beginn des 19. Jahrhunderts fertigte
und die bisher als die älteste gilt. Doch stellt die Wolfenbütteler Übersetzung, anders als die
Heidenheimsche, keine Übersetzung aus dem originalen Hebräisch, sondern nur eine Sekun-
därübersetzung aus dem Judenspanischen dar. Den Nachweis führe ich im zweiten Band des
Editionsprojektes; dort gehe ich auch näher auf den Inhalt der Gebetssammlung ein. Leider
können die übersetzten Gebete zu der Datierungsfrage, die ich hier betrachte, keinen Anhalt
geben, weil sich ihre Vorlage nicht exakt bestimmen läßt; dies hängt mit der schwierigen
Überlieferungssituation gedruckter judenspanischer Gebetsbücher jener Zeit zusammen.
Obwohl sich die Abschnitte der Magierinitiation, die das dritte Buch der Wahren Praktik
beschreibt, nach jüdischen Festen richten, wurden die fingierten Initiationsgebete mit Daten
der christlichen Zeitrechnung festgehalten. Seit dem späten 16. Jahrhundert gab es im Westen
Europas mit dem alten julianischen, der sich noch von Julius Caesar herschrieb, und dem
neuen gregorianischen, der die Ungenauigkeit des julianischen behob und nach Papst Gregor
ⅩⅠⅠⅠ. benannt ist, zwei konkurrierende Kalender. Die Daten der Gebete passen für die Jahre
1608 und 1609 nur dann auf die jüdischen Feste, zu denen die drei Abschnitte der Magierinitia-
tion beginnen sollen, wenn man ihnen den gregorianischen Kalender zugrunde legt. Wie ich
ausführte, war der Verfasser der Wahren Praktik mutmaßlich lutherischer Herkunft. Er ist
Einführung ⅩⅠⅩ

gewiß nicht mit dem Verfasser der Gebete identisch, die die angeblich vorgefallene Magier-
initiation begleiteten – zu stark stechen die Gebete in Stil und Diktion von den Büchern der
Wahren Praktik ab. Da dem Gebetsverfasser zuweilen neutestamentliche Wendungen in die
Feder flossen, hat man ihn sich als Christen zu denken, und ich sehe keinen Anhalt, daß man
ihn nicht vielleicht ebenso wie den Verfasser der Wahren Praktik für einen Lutheraner halten
sollte. Dann aber müssen die gregorianischen Daten der Gebete verwundern. Denn in den
lutherischen Teilen des Heiligen Römischen Reiches galt bis in das Jahr 1700 der julianische
Kalender fort. Lediglich in wenigen kleinen gemischtkonfessionellen Gebieten wie etwa den
Reichsstädten Augsburg und Dinkelsbühl, deren katholisch dominierte Obrigkeit den grego-
rianischen Kalender einführten, mußten sich Lutheraner mehr oder weniger widerwillig der
neuen Zeitrechnung anbequemen. Zu verwundern hat man sich aber nicht nur über die gre-
gorianischen Gebetsdaten, verwunderlich ist auch, wie der womöglich lutherische, in jedem
Falle christliche Gebetsverfasser genau über die Tage, auf die die jüdischen Feste der Jahre
1608 und 1609 im gregorianischen Kalender fielen, unterrichtet sein konnte.
Die Sammlung echter jüdischer Gebete stellt eine Übersetzung aus dem Judenspanischen
dar. Natürlich läßt sich nicht ausschließen, daß die Schreibwerkstatt, die den Kodex herstellte,
sich eine fertige Vorlage der übersetzten Gebete beschaffen konnte. Angenommen aber, die
Schreibwerkstatt ließ die Gebete für den Kodex erst eigens aus dem Judenspanischen überset-
zen, so wird sie sich dazu vermutlich eines Juden, der dieser Sprache mächtig war, bedient ha-
ben. Zwar steht nach meinem Eindruck das Judenspanisch der Gebete dem frühneuzeitlichen
Spanisch nicht so fern, daß jemand, der Spanisch beherrschte, außerstande gewesen wäre, die
Gebete weitgehend sinngemäß ins Deutsche zu übertragen. Doch was Begriffe, die jüdische
Spezifika betreffen, und vor allem Wörter angeht, die dem Judenspanischen eigen sind, so
wären bei der Übersetzung eingehendere Kenntnisse von Vorteil gewesen. Arbeitete aber die
Schreibwerkstatt mit einem Juden zusammen, läge nahe, daß dieser nicht nur die Übersetzung
der jüdischen Gebetssammlung beisteuerte, sondern ebenso die Daten jüdischer Feste für die
Initiationsgebete. In diesem Falle wäre es womöglich nicht der Gebetsverfasser, sondern der
jüdische Zuarbeiter der Schreibwerkstatt gewesen, der sich an dem gregorianischen Kalender
orientiert hätte.
Man begibt sich mit diesen Überlegungen auf einen Pfad der Spekulation, den ich an dieser
Stelle nur ungern fortschreiten möchte. Wie die Untersuchung des Schreibdialektes ergeben
wird, entstand der Textzeuge W₁ und damit der gesamte Wolfenbütteler Kodex im oberdeut-
schen Sprachgebiet, das heißt, im deutschsprachigen Süden des Heiligen Römischen Reiches.
Dieser Teil des Reiches war von einer hohen Dichte an Reichsstädten geprägt, ich nenne nur
als bedeutendste Nürnberg, Regensburg, Augsburg, Ulm, Straßburg, Basel. Man wird anneh-
men dürfen, daß eine Schreibwerkstatt, die ein elaboriertes Werk wie den Wolfenbütteler
Kodex zu erstellen vermochte, in einer größeren Stadt, idealiter einer Reichsstadt, ansässig
war; hier hatte sie einen hinreichenden Kundenkreis, der ihre Subsistenz sicherte, von hier
aus bestanden Kontakte zu auswärtigen Fürsten und Herren, die Werke wie den Wolfenbüt-
teler Kodex erwarben, und von hier aus wurden direkte Handelsbeziehungen nach Italien
unterhalten, die es leicht machten, an das mutmaßlich italienische Papier zu gelangen, aus
dem sich der Kodex zusammensetzt. Nach den Vertreibungen vor allem des 15. Jahrhunderts
war es Juden nicht mehr gestattet, sich dauerhaft in den Reichstädten des Südens aufzuhalten.
Spekulativ ist daher – das obige Szenario einmal angenommen – sich auszumalen, wie eine
ⅩⅩ Einführung

Zusammenarbeit von Schreibwerkstatt und jüdischem Gebetsübersetzer hätte vonstatten ge-


hen können. Wenn auch Juden in den Reichsstädten sich nicht niederlassen durften und allen-
falls auf der Durchreise geduldet wurden, so hieß dies nicht, daß es für sie im deutschsprachi-
gen Süden des Reiches überhaupt keine Möglichkeit zu Ansiedlung oder längerem Aufenthalt
gegeben hätte. Nur waren dies nicht die Reichsstädte, sondern Landstädte und Dörfer. Von
den Toren Augsburgs bis fast nach Ulm erstreckte sich zum Beispiel die Markgrafschaft Bur-
gau mit ihrem Hauptort Günzburg, die Juden in dieser Hinsicht wenigstens zeitweise recht
günstige Bedingungen bot. Die Markgrafschaft war habsburgisches Territorium, und in ihr
galt der gregorianische Kalender.
Zur Spekulation laden freilich nicht nur die gregorianischen Daten der Initiationsgebete
und die jüdische Gebetssammlung als solche ein, es drängt sich auch die Frage auf, weshalb
sich die Gebetssammlung in dem Wolfenbütteler Kodex ausgerechnet mit dem Text der Wah-
ren Praktik zusammengestellt findet. Vielleicht war der Kodex als bloße mehr oder weniger
willkürliche Kollektion tatsächlicher und vermeintlicher Judaika gedacht. Möglich wäre aber
auch, daß die Zusammenstellung im Gegenteil eine klare Absicht verfolgte und der Kodex als,
wie ich mich ausdrücken möchte, eine Art Hausbuch eines kryptojüdischen Magiers, dessen
Gestalt die Wahre Praktik entwirft, dienen sollte. Hinweise darauf können sowohl der Text der
Wahren Praktik selbst als auch eine unvollendete Abschrift des Textzeugen W₁ geben, die sich
gleichfalls in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel befindet und auf die ich noch zu
sprechen komme. Unterstützung scheinen diese Hinweise zudem von den weiteren Bestand-
teilen des Wolfenbütteler Kodexes zu erhalten: Denn der Sammlung jüdischer Gebete ist nicht
allein ein umfassendes Register beigegeben, das den Benutzer in die Lage versetzt, im einzel-
nen die an Werk-, Sabbat- und Feiertagen morgens, mittags und abends zu haltenden Gebete
zu finden, es schließt sich der Sammlung überdies eine allgemein gehaltene Beschreibung der
Monate des jüdischen Kalenders und der in sie fallenden Feste an – ein nichtjüdischer und
des Hebräischen unkundiger Leser hat mit dem Wolfenbütteler Kodex somit alles Wesentliche
an der Hand, das er braucht, ein Leben zu führen, wie es die Wahre Praktik dem Adepten der
wahren und göttlichen Magie auferlegt.
Ich kann nach dem Gesagten festhalten: Der Text der Wahren Praktik, wie er in dem Text-
zeugen W₁ vorliegt, entstand mutmaßlich zwischen 1595/96, den Erscheinungsjahren der Pal-
thenischen SYLVA, und 1608/09, den Jahren, in denen die Gebete der Magierinitiation gespro-
chen worden sein sollen. Gestützt wird diese Datierung durch Gillys Vermutung, wonach es
sich bei einem Wormbser buch, wovon in dem Briefwechsel des Fürsten August von Anhalt
mit dem Augsburger Arzt Karl Widemann (1555–1637) in den Jahren 1611/12 die Rede ist, um
die Wahre Praktik handelt – und umgekehrt wird Gillys Vermutung durch diese Datierung
gestützt. Jantz hielt zunächst eine Entstehung der Wahren Praktik erst zu Ende des 17. Jahr-
hunderts für wahrscheinlich, stieß dann aber auf einen Hinweis, der ihre Existenz bereits
für 1677 belegt; er wäre wahrscheinlich nicht wenig überrascht gewesen, hätte sich schon zu
seiner Zeit erwiesen, daß eines der frühesten Beispiele einer gelungenen historischen fiktiven
Erzählung, als die er das erste Buch der Wahren Praktik ansah, noch ein gutes Dreivierteljahr-
hundert älter ist.
Die obere Zeitschranke für die Entstehung des Textes der Wahren Praktik, wie ihn W₁ hat,
stellt zugleich eine absolute untere Zeitschranke für die Entstehung des Textzeugen selbst
und des Kodexes dar, dessen Teil er ist: Ein Kodex, worin sich Gebete befinden, die angeblich
Einführung ⅩⅩⅠ

bis zum Oktober 1609 gehalten wurden, wird von der Schreibwerkstatt schlechterdings nicht
vor ebendiesem Oktober 1609 fertiggestellt und an einen Abnehmer ausgehändigt worden Die vermutliche
sein; zumindest hätte dies der Fiktion schweren Abbruch getan. Doch ist mit dieser unteren Entstehungszeit
des Textzeu-
Zeitschranke nicht viel gewonnen, denn es läßt sich vorerst nicht ausschließen, daß die Fer-
gen W₁
tigstellung des Textzeugen in Wirklichkeit deutlich nach 1609, also zum Beispiel in das Jahr
1650 fällt, weil man an dem Textzeugen nicht ohne weiteres ablesen kann, ob er nicht lediglich
die Abschrift einer Vorlage ist, die 1609 oder kurz darauf geschrieben wurde. Damit sich eine
Entstehung des Textzeugen W₁ um das Jahr 1609 wahrscheinlich machen läßt, muß man auf
anderem Wege eine obere Zeitschranke finden, die hiervon nicht allzuweit abliegt.
Einen Textzeugen zu datieren helfen unter Umständen materielle Indizien weiter: Wasser-
zeichen des verwendeten Papiers und der paläographische Befund. Ich gehe auf diese beiden
Punkte nur kurz ein und verweise auf die Darstellung im zweiten Band sowie, was das Was-
serzeichen betrifft, außerdem auf die Beschreibung im folgenden Kapitel. Ein paläographi-
scher Befund gestattet in der Regel nur eine Datierung mit einer Genauigkeit von mehreren
Jahrzehnten und kann daher zu der Frage, ob der Textzeuge W₁ um 1609 oder vielleicht einige
Jahrzehnte später entstand, nicht den einen entscheidenen Beitrag leisten. Eine einzige Seite
ausgenommen, wurde der Wolfenbütteler Kodex von einer Hand, und zwar sichtlich einer
Berufsschreiberhand ausgeführt; die Kurrente trägt das Gepräge des aufkommenden 17. Jahr-
hunderts, wobei sich in ihrem Buchstabenrepertoire noch Formen finden, die in das 16. Jahr-
hundert zurückweisen. An einer Stelle entdeckt man in dem Kodex zwei kurze Kommentare,
die Leser hinterließen, und diese Kommentare erscheinen paläographisch altertümlicher als
die Kodexschreiberhand; nach meiner Ansicht wäre die sich ihnen manifestierende Ausprä-
gung der Kurrente um das oben beispielhaft genannte Jahr 1650 keinesfalls mehr zu erwarten.
In dem Kodex läßt sich ein Wasserzeichen, das sich identisch durch alle seine Bestandteile,
also auch den Textzeugen W₁, zieht, in wünschenswerter Klarheit erkennen, ich konnte es
aber keinem Beispiel in einem Wasserzeichenkatalog exakt zuordnen, und so erlaubte es mir
keine genauere Datierung. Das Grundmotiv des Wasserzeichens scheint besonders in Italien
gängig gewesen zu sein, und das Papier, woraus der Kodex gefertigt wurde, stammte vermut-
lich ebendorther. Das wäre nicht ungewöhnlich, denn italienisches Papier genoß, bis ihm zur
Mitte des 17. Jahrhunderts das holländische den Rang ablief, einen hervorragenden Ruf und
wurde europaweit gehandelt. Dem Wasserzeichen und dem paläographischen Befund lassen
sich so erste Hinweise entnehmen, daß der Textzeuge W₁ vermutlich vor 1650 entstand.
Reichen materielle Indizien nicht aus, können im Falle des Textzeugen W₁ externe textuelle
Indizien dazu beitragen, eine Zeitspanne für seine Entstehung einzugrenzen. Denn es gibt
Anhalte in anderen Texten, die auf die Existenz des Textzeugen deuten. Freilich erweist sich
die Angelegenheit bei näherem Hinsehen als widersprüchlich. Ehe ich darauf eingehe, muß
ich auf eine weitere Besonderheit des Textzeugen W₁ hinweisen. W₁ ist nicht nur der älteste
vollständige Textzeuge der Wahren Praktik, er hat nicht nur eine vorzügliche, von keinem
anderen Textzeugen erreichte Textqualität, er steht nicht nur in einem besonderen kodikalen
Kontext, W₁ ist auch der einzige erhaltene Textzeuge, in dem der Text der Wahren Praktik
verschlüsselt überliefert ist. Die Verschlüsselung erfolgte durch Zeilensprünge und durch die
Verwendung von Chiffren, die für Kernbegriffe des Textes und für Zahlen stehen. Historisch
jedoch wird W₁ nicht die einzige Handschrift gewesen sein, in der der Text der Wahren Praktik
verschlüsselt wurde, denn man stößt in der übrigen Textüberlieferung auf Lesarten, die sich
ⅩⅩⅠⅠ Einführung

zwanglos als Falschauflösungen von Chiffrierungen erklären lassen. Diese Spuren ehemaliger
Chiffrierung in Textzeugen, die von W₁ unabhängig sind, legen den Gedanken nahe, daß wo-
möglich die gesamte Textüberlieferung der Wahren Praktik in einer einzigen Schreibwerkstatt
ihren Ursprung hat.
Nach Gilly läßt sich die Existenz von W₁ aus dem Briefverkehr zwischen Herzog August
dem Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg und dem Fürsten August von Anhalt vom Früh-
jahr 1614 erschließen. Ersterer hatte zu dieser Zeit noch nicht das Fürstentum Wolfenbüttel
inne, sondern hatte seinen Sitz als Apanageherzog in dem kleinen Amt Hitzacker an der Elbe.
Mit der Bibliothek, die er sich dort aufbaute und die er nach Regentschaftsantritt überführte,
legte er den Grundstein zur heutigen Herzog-August-Bibliothek. In einem Brief vom 29. März
1614 21 teilte der Herzog dem Fürsten erläuternd mit, ein Caballiſtiſes bu, das er diesem zu-
vor übersandt hatte, sei zum Zwecke der Geheimhaltung mit einem besonderen Alphabet und
in wirrer Anordnung, als wäre es bloß eine Ansammlung von Textbruchstücken, geschrieben
worden. Mit diesem Buch war, so vermutet Gilly, der Textzeuge W₁ und also mit den Text-
bruchstücken und der wirren Anordnung dessen durch Zeilensprünge versetzte Textgestalt
gemeint, während das besondere Alphabet anscheinend auf die im Text enthaltenen Begriffs-
und Zahlenchiffren abstellte. Dem Schreiben des Herzogs ging ein Brief des Fürsten vom
24. Februar voraus, in dem dieser mit Blick auf das zugesandt erhaltene Buch über Schreibde-
fekte und vermeintliche Hieroglyphen klagte. Man könnte mithin annehmen, daß der Herzog
den Kodex, zu dem der Textzeuge W₁ gehört, für seine Hitzackersche Bibliothek erwarb und
den Textzeugen daraufhin zu Ende des Jahres 1613 oder zu Anfang des Jahres 1614 an den Für-
sten auslieh. Trifft Gillys Deutung zu, müßte der Kodex mitsamt dem Textzeugen W₁ folglich
in der Zeitspanne zwischen dem Ende des Jahres 1609 und ungefähr dem Ende des Jahres 1613
fertiggestellt worden sein.
Doch sieht man sich im weiteren mit Erklärungsschwierigkeiten konfrontiert, wenn man
sich dieser Deutung anschließt. Denn in den erhaltenen Briefen, die Fürst August von Anhalt
an den Herzog richtete, versteckt sich außer dem von Gilly angeführten ein weiterer Hinweis
auf die Wahre Praktik, und dieser bezieht sich nicht nur mutmaßlich, sondern so gut wie
zweifelsfrei auf den Magietext. In seinem Brief vom 9. Juni 1624 entschuldigte sich der Fürst,
eine Cabala mixta, zu deutsch: eine vermischte Kabbala, noch nicht an den Herzog zurückge-
sandt zu haben. Die Wahre Praktik handelt zwar erklärtermaßen von dem, was sie die alte und
wahre Magie nennt, in ihrem zweiten Buch enthält sie aber magische Rezepte, die aus einer
Vermengung der Kabbala mit zwölf magischen Künsten hervorgegangen sein sollen und die
sie insgesamt als vermiſchte Kabala bezeichnet. ›Vermischte Kabbala‹ ist ein originärer Begriff
der Wahren Praktik, der nach meiner Kenntnis nirgendwo sonst als in ihr und, hier ins Latei-
nische gewendet, in dem besagten Brief des Fürsten vorkommt. Man kann demnach mit hoher
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß der Fürst mit der Cabala mixta die Wahre Praktik
und folglich den Textzeugen W₁ meinte.
Die drei Briefe – die zwei aus dem Jahre 1614 und der eine vom 9. Juni 1624 – stimmen in der
Aussage überein, daß sich Fürst August von Anhalt bei dem Herzog einen »kabbalistischen«
Text ausgeliehen hatte. Fraglich ist, ob es sich um den nämlichen Text handelt, denn zwischen
den Briefen liegen mehr als zehn Jahre. Der Herzog verlieh zwar freigebig Schriften seiner

21
Die historischen Daten, die ich im weiteren anführe, folgen dem julianischen Kalender.
Einführung ⅩⅩⅠⅠⅠ

Bibliothek, er verfolgte die Rückgabe aber recht rigoros, und eine Verleihdauer von einem
Jahrzehnt und mehr erschiene überaus ungewöhnlich. Die Erwähnung der Cabala mixta im
Jahre 1624 weckt mithin Zweifel an Gillys Deutung. Für mich ist mit dem Brief vom 9. Juni
1624 jedenfalls eine obere Zeitschranke gewonnen, der nahezu definitive Wahrscheinlichkeit
zuzukommen scheint, die aber den Nachteil hat, nur eine recht weite Zeitspanne für die Ent-
stehung des Textzeugen W₁ einzugrenzen: die Zeitspanne zwischen 1609 und 1624.
Es fällt auf, daß der Fürst in seinem Brief nur von der Cabala mixta, also dem zweiten Buch
der Wahren Praktik, schreibt. Ich setze mich im zweiten Band des Editionsprojektes mit den
Briefstellen von 1614 und 1624 näher auseinander und suche dort zu erklären, warum der Fürst
1624 nur von der vermischten Kabbala schreibt. An dieser Stelle genügt, daß die vermischte
Kabbala Teil der Wahren Praktik ist und ihre Erwähnung damit zugleich eine Erwähnung der
Wahren Praktik darstellt.
Außer einer mutmaßlichen und einer höchstwahrscheinlichen gibt es noch eine dritte und
ganz unzweifelhafte Bezeugung des Textzeugen W₁ im 17. Jahrhundert. Das Problematische
an dieser dritten Bezeugung ist, daß sie die vorherigen, also auch die höchstwahrscheinliche
aus dem Jahre 1624, in Frage stellt. Der Herzog führte seit 1611 Kataloge über den Bestand
seiner Bibliothek, und er tat dies bis 1648/49 in eigener Person; danach oblag Bediensteten die
Aufgabe. 1625 schloß er einen ersten Katalog ab, in dem sich kein Hinweis auf den Textzeugen
W₁ oder den Kodex, zu dem er gehört, findet. Der Katalog, den der Herzog darauf nach einem
neuen System begann, ist als »Radkatalog« bekannt. Die Bezeichnung leitet sich von einer
mechanischen Einrichtung, dem sogenannten Bücherrad, her, die es dem Katalogbearbeiter
erlaubte, sich alle Bände des Kataloges aufgeschlagen vorzuhalten, um leichter Verweisungen
zwischen Einträgen vornehmen zu können. Bis zum Tode des Herzoges wuchs der Radkatalog
auf sechs Bände mit über sechstausend beschriebenen Seiten an. Heute wird der Bestand der
Herzog-August-Bibliothek selbstverständlich nicht mehr in dem Radkatalog, sondern weitge-
hend von neuzeitlichen Katalogen erfaßt, wobei diese Kataloge inzwischen ihrerseits zum Teil
ein wenig betagt sind – die Angaben zu den fünf Textzeugen der Wahren Praktik zum Beispiel
stammen durchweg von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Was nun den historischen
Radkatalog angeht, findet sich der Textzeuge W₁ und sein Kodex in dem fünften Band ver-
zeichnet. Die Katalogbearbeiter datierten ihre Einträge nicht, doch ist zu jedem Katalogband
festgehalten, an welchem Tag er begonnen wurde, und so läßt sich in einem ersten Schritt
wenigstens eine Zeitspanne ersehen, in der ein Bearbeiter einen Eintrag vornahm. Der fünfte
Band wurde am 10. August 1655, der sechste Band am 3. August 1665 begonnen. Da man in
dem Katalog unterschiedlos nacheinander Drucke wie Handschriften eintrug, kann man an
den Erscheinungsdaten verzeichneter Drucke die Zeitspanne, in der Einträge getätigt wurden,
feiner eingrenzen: danach wird ein Bediensteter den Kodex, zu dem der Textzeuge W₁ gehört,
gegen 1659/60 im Katalog festgehalten haben. Der Eintrag koinzidiert damit in merkwürdiger
Weise mit der ersten Erwähnung der Wahren Praktik in gedruckter Literatur: In dem 1659
erschienenen LIBER PRIMVS PRODROMI HISTORIAE LITERARIAE äußert der Verfasser Peter
Lambeck einige Worte über eine Handschrift der Wahren Praktik, die sich in seinem Eigentum
befand. Die Handschrift hat sich mit dem Besitzvermerk Lambecks erhalten und wird heute in
der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien verwahrt.
Es ist bekannt, daß Schriften im gewöhnlichen Geschäftsgang der Bibliothek Herzog Au-
gusts des Jüngeren nicht sofort nach Erwerb in den Katalog eingetragen wurden, sondern
ⅩⅩⅠⅤ Einführung

bis zu ihrer Verzeichnung eine Weile, sogar ein Weile von Jahren vergehen konnte. Außer-
gewöhnlich erschiene aber eine Verzeichnung, die erst mehrere Jahrzehnte später erfolgte.
Setzte man für den Textzeugen W₁ einen normalen Geschäftsgang voraus, schlösse ein Kata-
logeintrag um 1659/60 somit eine Bezeugung im Jahre 1614, die Gilly annimmt, genauso aus
wie eine Bezeugung im Jahre 1624, wie sie die briefliche Erwähnung der Cabala mixta eigent-
lich darstellen sollte. Jedoch ist ebenso bekannt, daß sich der Herzog bisweilen Neuerwerbun-
gen persönlich vorbehielt und sie zeit seines Lebens nicht im Bibliothekskatalog eingetragen
wurden. Eine mutmaßliche Erwähnung an Briefstellen aus den Jahren 1614 oder 1624 und die
unzweifelhafte Verzeichnung im Katalog um 1659/60 lassen sich nur übereinbringen, wenn
man die Annahme trifft, daß der Textzeuge W₁ und der Kodex, zu dem er gehört, zunächst ei-
nem herzoglichen Vorbehalt unterlagen und in den gewöhnlichen Geschäftsgang womöglich
erst dann gegeben wurden, als der Herzog Jahrzehnte nach dem Erwerb sein unmittelbares
Interesse an ihnen verloren hatte.
Einen Anhalt für eine solche Annahme könnte ein Textzeuge der Wahren Praktik bieten,
Eine unvollen- der sich gleichfalls in Wolfenbüttel befindet; ich bezeichne ihn mit der Sigle W₂. Dabei han-
dete dechiffrie- delt es sich um eine unvollendete dechiffrierende Abschrift des Textzeugen W₁, die laut dem
rende Abschrift
neuzeitlichen Bibliothekskatalog von Herzog August dem Jüngeren angefertigt wurde – eine
von W₁: der
Wolfenbütteler
eigenhändige Abschrift sollte in der Tat das besondere persönliche Interesse bekunden, das
Textzeuge W₂ der Herzog anfänglich an der Wahren Praktik hatte. Doch was der Katalog sagt, trifft nicht zu.
Ich bin kein Experte für Autographe des Herzogs, habe aber genug von ihm Geschriebenes
aus den Jahren 1594 bis 1663 gesehen, um mit Gewißheit sagen zu können, daß der Textzeuge
W₂ nicht von seiner Hand stammt. Wer der wirkliche Urheber der Abschrift war, muß vorerst
ebenso im unklaren bleiben wie die genaue Entstehungszeit. Zwar läßt sich in dem Papier des
Textzeugen deutlich ein Wasserzeichen bestimmen, doch war es mir nicht möglich, es eindeu-
tig einem datierten Beispiel aus einem Wasserzeichenkatalog zuzuordnen; das Grundmotiv
des Wasserzeichens wurde anscheinend unter kleinen Abwandlungen vom Ende des 16. bis
über das 17. Jahrhundert hinaus gleichermaßen von Papiermachern in Deutschland, Holland
und Frankreich benutzt.
Wenn er auch nicht der Schreiber war, so bietet der Textzeuge W₂ trotzdem einen mögli-
chen Anhalt für das besondere Interesse des Herzoges an der Wahren Praktik. Auffällig sind
an dem Textzeugen W₂ sein Einband und die Art seiner Verwahrung. Der Buchblock des Ko-
dexes ist in einen rotseiden überzogenen und mit silbernen Beschlägen und Schließen verse-
henen Einband gefaßt und hebt sich so von den sonst in Pergament eingeschlagenen Bänden
der herzoglichen Bibliothek merklich ab. Doch war der Kodex auch gar nicht dafür vorgese-
hen, neben anderen Bänden in der Bibliothek aufgestellt zu werden: denn zur Verwahrung
wurde ihm eigens ein mit einem Schlüssel verschließbares Holzkästchen angefertigt. Es ist
offensichtlich, daß hier nachgestellt wurde, was der Titelprolog der Wahren Praktik ausführt;
der Ich-Erzähler Abraham von Worms habe, so heißt es dort, den Magietext seinem
Iungen Sohn Lamech, als dem Iüngſtgebornen Zu einer gedächtnuſz Inn ſchrifften verfaſſt, vnd als einen
ſonderbaren Schatz inn diſze küſten gelegt, vnd hinderlaſſen. (3, 5–7)

Das Wort küſte ist gerundetes ›Kiste‹, und ›Kiste‹ konnte im Frühneuhochdeutschen einen
Kasten bedeuten. Der Textzeuge W₂ figuriert somit als der besondere Schatz, den Abraham
seinem Sohn Lamech in einem Kästchen vermacht. Der Aufwand, den man mit Einband und
Einführung ⅩⅩⅤ

Verwahrung um den Textzeugen W₂ trieb, macht es wahrscheinlich, daß das Arrangement für
den Herzog persönlich bestimmt war.
Der Textzeuge W₂ gibt manche Rätsel auf; so ist rätselhaft, warum er unvollendet blieb und
warum er, obwohl unvollendet, dennoch aufwendig eingebunden und in einem eigens gefer-
tigten Kästchen verwahrt wurde. Es obliegt dem zweiten Band des Editionsprojektes, diesen
Rätseln nachzugehen; an dieser Stelle will ich nur auf zwei Punkte zu sprechen kommen, zu
denen der Textzeuge seiner Rätselhaftigkeit zum Trotz Licht werfen kann, und zwar Licht auf
den Kodex, zu dem seine Vorlage, der hier edierte Textzeuge W₁, gehört. Ich sagte oben, daß
der insgesamt über achthundert Seiten umfassende Kodex von einer einzigen Hand geschrie-
ben wurde, eine Seite nur ausgenommen. Auf dieser Seite, der letzten beschriebenen des Kode-
xes, findet sich eine Entschlüsselungstabelle festgehalten, die die Begriffs- und Zahlenchiffren
auflöst, die in dem Textzeugen W₁ verwendet wurden. Der neuzeitliche Bibliothekskatalog
gibt von dem Sachverhalt eine unzutreffende Beschreibung; er weist zwar richtig darauf hin,
daß der Kodex von zwei ganz verschiedenen Händen stamme, doch ordnet er irrigerweise das
enthaltene Register der Hand des Herzoges zu. Das Register gehört zu der Sammlung jüdi-
scher Gebete und stammt von der nämlichen Hand wie die Sammlung selbst; darüber hinaus
gehen auf diese Hand, wie angeführt, der verschlüsselte Text der Wahren Praktik, die Gebete
der Magierinitiation und die Beschreibung der jüdischen Monate und Feste zurück. Wahr-
scheinlich brachte der Katalogbearbeiter das Register mit der Entschlüsselungstabelle durch-
einander; aber auch die Entschlüsselungstabelle stammt mit Gewißheit nicht von der Hand
des Herzogs – und ebensowenig stammt sie von der Hand dessen, der den Textzeugen W₂
schrieb, und auch nicht, um dies vorwegzunehmen, von der Kanzleischreiberhand, der sich
ein weiterer Wolfenbütteler Textzeuge, auf den ich noch eingehen werde, verdankt.
Erhellend ist W₂ für den Textzeugen W₁ und seinen Kodex nun aus folgendem Grunde: Be-
ginnt man W₂ zu lesen, merkt man sofort, daß Chiffren falsch aufgelöst wurden. Anscheinend
versuchte sich jemand an der Entschlüsselung von W₁, dem die erwähnte Entschlüsselungsta-
belle nicht vorlag. Es läßt sich bereits aus der fremden Hand, die die Tabelle in dem Kodex des
Textzeugen W₁ festhielt, vermuten, daß die Entschlüsselungstabelle nachgetragen wurde, und
der Textzeuge W₂ bestätigt mit seinen Dechiffrierfehlern diese Vermutung: die Tabelle befand
sich offenbar noch nicht in dem Kodex, als der Herzog ihn erwarb und als ein Unbekannter
mit der Arbeit an dem Textzeugen W₂ begann. Liest man W₂ weiter, stellt man aber von einem
bestimmten Punkt an fest, daß alle Chiffren richtig aufgelöst sind (oder ich sage vorsichtiger:
fast alle, denn bei einer oder zwei Chiffren erlaubte sich der Abschreiber beharrlich weiterhin
Fehler). Man könnte sich dies damit zu erklären suchen, daß der Abschreiber im Verlaufe sei-
ner Arbeit hinzulernte und daher immer treffsicherer wurde. Doch gibt es Chiffren, die sich
einer eindeutigen Auflösung durchaus widersetzen, und trotzdem meisterte der Abschreiber
solche Klippen mit einem Male ohne alle Schwierigkeit. Begreiflich wird das meines Erach-
tens nur, wenn man annimmt, daß der Abschreiber über seiner Arbeit in den Besitz einer Ent-
schlüssungstabelle gelangte – ebender Entschlüsselungstabelle, die dann von anderer Hand in
dem Kodex des Textzeugen W₁ nachgetragen wurde.
Bei dieser Nachtragshypothese tut sich indes ein kleines Problem auf, das ich im nächsten
Kapitel anspreche. Erhellend ist aber W₂ für den Textzeugen W₁ und den Kodex, zu dem er
gehört, noch in einem anderen Punkt. Ich stellte oben die Frage, ob der Kodex eine bloß will-
kürliche Zusammenstellung echter und vermeintlicher Judaika sei oder ob die Bestandteile
ⅩⅩⅤⅠ Einführung

eine Einheit bilden, die Zusammenstellung folglich einem erkennbaren Konzept gehorche. In
dem Buchblock des in dem Kästchen verwahrten Textzeugen W₂ folgen nach den Seiten, die
die unvollendete Abschrift der Wahren Praktik enthalten, mehrere hundert textleere Seiten;
zunächst wurde auf ihnen noch ein Schriftspiegelrahmen vorgezeichnet, danach blieben die
Seiten gänzlich leer. Allein für eine vollständige Abschrift des Textes der Wahren Praktik und
gegebenenfalls der folgenden Initiationsgebete wären dies weitaus zuviel Seiten in dem Buch-
block gewesen. Man darf vermuten, daß die mehreren hundert leeren Seiten dafür vorgesehen
waren, den gesamten Rest des Kodexes, zu dem W₁ gehört, als Abschrift aufzunehmen: also
nicht nur die Wahre Praktik, sondern auch die Sammlung jüdischer Gebete, ihr Register und
die Beschreibung der jüdischen Monate und Feste. So wie nach dem Titelprolog Abraham
die Wahre Praktik in einem Kästchen aufbewahrt auf seinen Sohn kommen ließ, so sollte
hier, ebenfalls in einem Kästchen aufbewahrt, die Wahre Praktik gleichsam auf einen Sohn
Abrahams im Geiste kommen, nunmehr aber um die Sammlung jüdischer Gebete und die
Beschreibung der jüdischen Monate und Feste ergänzt. Der Abschreiber muß demnach den
Kodex, der den Textzeugen W₁ enthält, als eine Einheit verstanden haben, und dies erlaubt
die vorsichtige Annahme, daß die Schreibwerkstatt, die den Kodex anfertigte, ihn gerade in
diesem Sinne gemeint hatte: als ein, wie ich es oben nannte, Hausbuch eines kryptojüdischen
Magiers, der sein Leben den Forderungen der Wahren Praktik gemäß ausrichtet. Das Haus-
buch sollte vermutlich den nichtjüdischen und des Hebräischen unkundigen Adepten in die
Lage versetzen, einen Grundbestand jüdischer Gebräuche auszuüben, ohne auf den Rat von
Rabbinern angewiesen zu sein, den die Wahre Praktik eigentlich ans Herz legt; denn es heißt
– ich muß die Stelle in ihrer ganzen Länge zitieren – in dem Text:
[…] wer aber die gelegenheit hat, vnd die Feſſt deſz Herrn dem befelch nach hallten vnd begehn kan, der ſoll
vnd muſz es thon, er ſey beſchnitten oder vnbeſchnitten, Iud, Chriſt, haid oder SaraZen, dan der Herr alle Zu
diſzer gnade Zugelaſſen: wirdt ers vnderlaſſen, ſo wirdt Gott vnd alle heillige Engel vnd Geiſter, denen ſein
vnfleiſz vnd verachtung bekant vnd vnverborgen, Ihne ernſtlich ſtraffen, vnd an ſtatt der Weiſzheit ſchmach
vnd ſchand geben. Werden alſo Inn einem vnd anderm alle gottsförchtigen wiſſen, wie ſy nach gelegenheit
der Zeit vnd des Lands ſich verhallten, vnd deſz Herrn Feſſt begehn ſollen, wer es aber nicht waiſzt, er ſey
Iud oder Hayd, der frage vmb rhat bey vnſzern gelehrten Vättern vnd Rabinen, die werden Ihme anlaitunge
geben, dan wie ſich dieſzelbigen verhallten, alſo mueſtu vnd ein Ietwederer auch thuen, es ſcheine darnach
deines glaubens gebreüchen gleichförmig oder nit, dan da haben wir den austrucklichen beuelch Gottes, ſo
er durch Moſe ſeinen diener, vnd nachmals durch ſeine heillige Engel vns gegeben, können es auch wol thon,
dan hie nit opfer oder groſſe Cerimonien, ſonУ ein demütiges gebet vnd gottſeliges leben von vns erfordert
wirdt. (89, 10–90, 1)

Da sich der Textzeuge W₂ an Hand des Wasserzeichens vorerst nicht genauer datieren
Eine dechiffrie- läßt, wäre wünschenswert, für seine Entstehung wenigstens eine obere Zeitschranke herzu-
rende Abschrift leiten. Im Radkatalog ist W₂ nicht verzeichnet, eine obere Zeitschranke ergibt sich aber aus
eines herzog-
einer weiteren Abschrift von W₁, die sich ebenfalls in der Herzog-August-Bibliothek befindet.
lichen Kanzlei-
schreibers: der
Diese Abschrift – ich bezeichne sie mit der Sigle W₃ – unterscheidet sich von den Textzeu-
Wolfenbütteler gen W₁ und W₂ unter anderem in drei wesentlichen Punkten: Erstens läßt sich der Schreiber
Textzeuge W₃ ermitteln, zweitens kann die Abschrift sicher auf einen schmalen Zeitraum datiert werden,
und drittens ist sie der einzige Wolfenbütteler Textzeuge der Wahren Praktik, in dem sich
tatsächlich die Hand Herzog Augusts des Jüngeren findet, was dem Bearbeiter des neuzeitli-
chen Bibliothekskatalogs womöglich entging. Von dem Textzeugen W₂ unterscheidet sich W₃
ferner dadurch, daß er zwar auch einen dechiffrierten, jedoch einen von Anfang an korrekt
Einführung ⅩⅩⅤⅠⅠ

dechiffrierten und zudem vollständigen Text der Wahren Praktik bietet. Als der Schreiber an
dem Textzeugen W₃ zu arbeiten begann, lag ihm die Entschlüsselungstabelle vor; W₃ muß
folglich jünger als W₂ sein.
Der verschlüsselte Textzeuge W₁ wurde gegen 1659/60 im Radkatalog verzeichnet. Es ist be-
kannt, welcher herzogliche Bedienstete zu dieser Zeit mit der Führung des Kataloges betraut
war: der Kanzleischreiber Johann Heinrich Arlt. Betrachtet man das Titelblatt des Textzeugen
W₃ und den zu ihm gehörigen Anhang, worin der Schreiber die Zeilensprungverschlüsselung
seiner Vorlage W₁ erläutert und überdies ausdrücklich die im Kodex beigefügte Entschlüsse-
lungstabelle wiedergibt, fällt die Übereinstimmung der Hand mit der des Katalogeintrages ins
Auge. Die Hand des eigentlichen Textes von W₃ weicht auf den ersten Blick dagegen in ihrer
Erscheinung ab: sie ist stärker kursiv und wirkt dynamischer als die Hand des Katalogeintra-
ges. Wenn man sich die spezifische Ausgestaltung von Buchstaben und Ligaturen genauer
ansieht, erkennt man gleichwohl auch in der stärker kursiven Schrift des Textes von W₃ die
Hand des Katalogeintrages wieder. Im letzten Drittel des Textzeugen wechselt zudem für eini-
ge Seiten der Schriftduktus, um darauf wieder in den stärker kursiven überzugehen; in dieser
Passage tritt wiederum die Hand hervor, von der der Katalogeintrag von W₁ stammt. Ich halte
damit Johann Heinrich Arlt für den Schreiber nicht nur eines Teiles, sondern des gesamten
Textzeugen W₃.
Es liegt nahe, einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Katalogeintrag des Kode-
xes, zu dem der Textzeuge W₁ gehört, und der dechiffrierenden Abschrift W₃ zu vermuten.
Der Zusammenhang bestätigt sich, wenn man die Wasserzeichen untersucht, die sich in dem
Papier des Textzeugen W₃ finden. Nach den Erfahrungen, die ich bei der Datierung der Text-
zeugen W₁ und W₂ mit Hilfe von Wasserzeichenkatalogen machen mußte, wählte ich bei dem
Textzeugen W₃ einen anderen Weg. Die Art des benutzten Papiers und das Wissen darum,
daß der Textzeuge in der herzoglichen Kanzlei entstand, veranlaßte mich, die Briefkorrepon-
denz des Herzogs auf Wasserzeichen durchzusehen. In dem Textzeugen W₃ lassen sich zwei
verschiedene Wasserzeichen bestimmen, die ein Monogramm gemeinsam haben und daher
mutmaßlich auf denselben Papiermacher verweisen. Das erste Wasserzeichen konnte ich in
der Briefkorrespondenz nicht ausmachen, dafür jedoch das zweite: es findet sich in Papier, das
zwischen dem August 1655 und dem September 1657 verwandt wurde. Da Arlt dasselbe Papier
für das letzte Drittel seiner Abschrift benutzte, darf man annehmen, daß der Textzeuge W₃
ebenfalls in diesem Zeitraum fertiggestellt wurde.
Selbstverständlich fertigte Arlt seine Abschrift nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf
des Herzogs Geheiß, und dieser nahm die Angelegenheit so wichtig, daß er Arlts Abschrift
Korrektur las. Auf eine solche Korrektur war die Abschrift von vornherein angelegt, denn
Arlt faltete jedes Blatt längs in der Mitte und beschrieb jede Seite rechts der Faltung, so daß
links ein breiter Rand für Berichtigungen verblieb. Hier und dort entdeckt man tatsächlich
Korrekturen; an einer Stelle, in den vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten Buches
der Wahren Praktik, mußte sogar eine ganze Überschrift ergänzt werden, die Arlt vergessen
hatte. Einige Berichtigungen stammen von Arlt selbst, in anderen Berichtigungen wie zum
Beispiel der ergänzten Überschrift gibt sich eindeutig die Hand des Herzogs zu erkennen. Bei
dem Textzeugen W₃ handelt es sich folglich um eine bloße Konzeptschrift, die ergänzend zu
dem Textzeugen W₁ vorgehalten wurde, in historischer Zeit keinen Einband erhielt und der
keine Würdigung mit einem eigenen Eintrag in den Radkatalog zuteil wurde.
ⅩⅩⅤⅠⅠⅠ Einführung

In den vorstehenden Ausführungen ging es um die Frage, wann der Textzeuge W₁, der hier
edierte Text, und damit auch der Kodex entstand, zu dem der Textzeuge gehört. Die untere
Zeitschranke setzen mit den Jahren 1608/09 die im Kodex enthaltenen Gebete einer angebli-
chen Magierinitiation. Weniger zweifelsfrei läßt sich eine möglichst frühe obere Zeitschranke
bestimmen. Ich rekapituliere in umgekehrter Zeitfolge: Der Kodex wurde gegen 1659/60 von
dem Kanzleischreiber Johann Heinrich Arlt im Radkatalog der herzoglichen Bibliothek ver-
zeichnet. Um 1655/57 hatte Arlt bereits eine dechiffrierende Abschrift von dem Textzeugen
angefertigt; der Kodex befand sich somit schon einige Jahre vor seiner Verzeichnung im Besitz
des Herzoges. Das war für den Bibliotheksbetrieb nicht ungewöhnlich, und so deuten diese
Befunde vorderhand darauf, daß der Herzog den Kodex mit dem Textzeugen W₁ ungefähr zur
Mitte der 1650er Jahre erwarb. Nimmt man keinen Erwerb aus zweiter Hand an, müßte der
Textzeuge kurz zuvor entstanden sein.
Der Arltschen Abschrift ging eine unvollendete dechiffrierende Abschrift eines Unbekann-
ten voraus, deren genaue Datierung vorerst aussteht. Da dem Abschreiber gelang, über seiner
Arbeit eine Entschlüsselungstabelle für die im Textzeugen W₁ gebrauchten Chiffren zu erhal-
ten, dürfte die Abschrift nicht lange nach dem Erwerb des Textzeugen W₁ und damit nicht
lange nach dessen Entstehung gefertigt worden sein. Denn man sollte naheliegenderweise
annehmen, daß der Abschreiber die Entschlüsselungstabelle von der Schreibwerkstatt erhielt,
in der der Textzeuge W₁ entstand, und dies wäre nach Verfluß einiger Jahrzehnte sicherlich
nicht mehr möglich gewesen. Immer noch einen gewöhnlichen Geschäftsablauf in der Bi-
bliothek vorausgesetzt, müßte die unvollendete Abschrift zwischen 1650 und 1655 zu datieren
sein; vielleicht war gerade das kurz zuvor erfolgte Scheitern dieses aufwendigen Projektes,
das sich auf den gesamten Kodex, zu dem W₁ gehört, erstreckte, der Grund, daß der Herzog
seinen Kanzleischreiber anwies, eine Abschrift zu fertigen, diesmal jedoch in schlichter Form
und auf den Text der Wahren Praktik beschränkt.
Eine angenommene Entstehung des Textzeugen W₁ und ein Erwerb in den 1650er Jahren
kollidierte indes mit der Erwähnung einer Cabala mixta in einem Brief aus dem Jahre 1624.
Aus der Erwähnung ist zu folgern, daß der Herzog den Kodex mit dem Textzeugen W₁ um
diese Zeit schon besaß. Für Entstehung und Erwerb deutlich vor 1650 könnte außer der Brief-
stelle auch der paläographische Befund sprechen, den man vor allem an zwei kurzen Kom-
mentaren, die unbekannte Leser in dem Kodex hinterließen, feststellt. Solange sich der Begriff
der vermischten Kabbala nicht in magischer oder kabbalistischer Literatur, die unabhängig
von der Wahren Praktik ist, nachweisen läßt, hat man die Briefstelle von 1624 meiner Meinung
nach als Beleg für die Wahre Praktik zu nehmen und wird die Zeitspanne von fünfunddreißig
Jahren bis 1659/60 mit der Annahme überbrücken müssen, daß der Herzog den Kodex, der
den Textzeugen W₁ enthält, zunächst seinem persönlichen und dem Gebrauch Vertrauter – als
solche könnte man sich vielleicht die beiden Kommentatoren vorstellen – sowie ausgesuchter
Interessenten wie dem Fürsten August von Anhalt vorbehielt und erst wenige Jahre vor sei-
nem Tode dem offiziellen Bestand der herzoglichen Bibliothek überließ.
Um Gillys Annahme, wonach der Textzeuge W₁ sogar schon in einem Briefwechsel aus dem
Jahre 1614 erwähnt wird, mit der Briefstelle von 1624 zu vereinbaren, bedarf es mindestens
einer Zusatzhypothese, die das Jahrzehnt zwischen den Briefen erklärt. Dennoch bin ich der
Ansicht, daß einiges für Gillys Annahme spricht. Ich habe unter den Handschriften der Her-
zog-August-Bibliothek keinen Anhalt für einen Text magischen oder kabbalistischen Inhaltes
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅩⅠⅩ

entdeckt, auf den die Beschreibung des Herzogs – Textbruchstücke, wirre Anordnung, beson-
deres Alphabet – besser paßte als auf den Textzeugen W₁. Mit Gillys Annahme ließe sich die
Fertigstellung des Textzeugen auf eine Zeitspanne von vier Jahren, von Ende 1609 bis etwa
Ende 1613, eingrenzen. Daß eine Schreibwerkstatt zu dieser Zeit Handschriften der Wahren
Praktik fertigte, darauf könnte nicht nur die eingangs angeführte Erwähnung eines Wormbser
buches in den Jahren 1611 und 1612, sondern auch ein Textzeuge deuten, der von W₁ unab-
hängig ist. Er wird in der Schloßbibliothek Raitz in Tschechien verwahrt und gehörte einst,
wie sich zeigen läßt, zu der codices-magici-  Sammlung des Leipziger Arztes Samuel Schröer
(1669–1716); diese Sammlung hat sich fast vollständig erhalten und befindet sich heute in der
Universitätsbibliothek Leipzig. Der Raitzer Textzeuge ist in seinem Kolophon auf das Jahr 1611
datiert. Zwar hat man Eigendatierungen magischer Texte mit Skepsis zu begegnen, und in der
Tat wurde der Raitzer Textzeuge nicht 1611, sondern später geschrieben; nahe liegt in diesem
Falle aber die Vermutung, daß der Schreiber die reale Datierung einer Vorlage übernahm.

Beschreibung des Textzeugen

Der edierte Textzeuge W₁ ist Teil eines in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel ver-
wahrten Kodexes mit der Signatur Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o. Im fünften Band des historischen Der Kodex,
Radkataloges findet sich der Kodex wie folgt verzeichnet: 22 dessen Teil der
Textzeuge
ⅩⅬⅤⅠⅠ.ⅩⅠⅠⅠ. Mſs. in 4t. v. p. 5340. W₁ ist
Abraham eines Iuden von Worms unter einander Verſteckte zum theil aus der Kabala und Magia gezo-
gene, Zum theil durch vornehme Rabbiner als Arabern Т wie auch ſeinem Vatter Simon erhaltene nach-
gehents aber ſelbst erfahrene undt probirte in dieſe Schrifft verfaſte undt endlichen ſeinem Iüngeren Sohn
Lamech hinterlaſzene Künſte. Nebst der Iuden Ordinari Gebetten, ſo Sy durchs gantze Iahr gebrauchen.

Es fällt auf, daß der Eintrag vor allem auf den Text der Wahren Praktik abstellt und die Samm-
lung jüdischer Gebete, die den Großteil des Kodexes ausmacht, nur wie am Rande erwähnt.
Im zweiten Band des Editionsprojektes gehe ich auf den Katalogeintrag näher ein. Der Kodex
ist in Pergament eingebunden und trägt auf dem Rücken einen Quertitel ähnlichen Tenors:
Abrahams eines Iudē
aus Worms geſriebene Saē
teils aus der Cabalâ, teils aus
der Magiâ {gez}ogen und ſeinem So{n}
Lame Aō. 1404 hinterla{ſſ}en.
Hierbey dy Gebäte, ſo die Iuden
durs gantze Iaar beten.
47.13. Msſ.

Die bei der Wiedergabe des Titels benutzten geschweiften Klammern bezeichnen verblaßte
und von mir ergänzte Buchstaben. Daß Abraham seinem Sohn Lamech im Jahre 1404 die
Wahre Praktik als Vermächtnis hinterlassen habe, wie der Titel sagt, muß auf einem Mißver-
ständnis beruhen, denn 1404 gelangte Abraham erst von seiner langjährigen Reise zurück

22
Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel BA Ⅰ, 326, S. 5281–5282
ⅩⅩⅩ Beschreibung des Textzeugen

ins heimatliche Worms und hatte die Magierinitiation noch gar nicht durchlaufen. Nach der
Chronologie der Erzählung berechnet sich vielmehr 1438 als fiktives Abfassungsjahr.
Zum Vorsatz dienen in dem Kodex zwei Doppelblätter, die von dem gleichen Papier sind
wie der eigentliche Buchblock. Auf dem Vorderspiegel wurde von neuzeitlicher Hand 428 Bll.
festgehalten, und auf dem Recto des zweiten Blattes, das sozusagen das fliegende Blatt bildet,
ist von ebenso neuzeitlicher Hand vermerkt:
Enthält:
1) Abrahams eines Juden von Worms Buch der alten Magie. 1608. (Eine Abſchrift davon von Hzg. Auguſts
Hand im Schrank).
2) Gebete, ſo die Juden durchs ganze Jahr beten.

Mit der Abschrift, die vermeintlich Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Lüneburg
anfertigte, ist die in Seide eingeschlagene und in einem Holzkästchen aufbewahrte unvollen-
dete Handschrift gemeint, auf die ich in der Einführung als Textzeugen W₂ zu sprechen kam.
Wie ich dort bemerkte, stammt die Handschrift nicht von dem Herzog.
Der Kodex besteht aus einheitlichem Papier und setzt sich im eigentlichen Buchblock bis
auf eine einzige Doppelblattlage aus Biniolagen, also Lagen aus zwei ineinander gelegten
Doppelblättern, zusammen. Das Einzelblattmaß beläuft sich, so sagt der neuzeitliche Biblio-
thekskatalog korrekt, auf ungefähr 19,5 × 13,5 cm.23 In dem Papier des Kodexes findet sich
durchgängig dasselbe Wasserzeichen; es liegt, wie es bei Quartformat gewöhnlich ist, jeweils
in der Doppelblattfalz und ließ sich daher nicht exakt in seinen Abmessungen erfassen. Die
Motive des Wasserzeichens waren gleichwohl weitgehend erkennbar: ein Vogel, vielleicht
eine Ente, in Seitenansicht mit Augenkontur und konturiertem angelegtem Flügel, auf einem
freistehenden Dreiberg stehend oder sitzend – Genaueres vermag ich nicht anzugeben, weil
der untere Teil des Vogelrumpfes, die anzunehmende Beinpartie sowie die Spitze des Dreiber-
ges in den für mich nicht einsehbaren Bereich längs der Falz fallen. Vogel und Dreiberg sind
eingefaßt in einen Kreis, der einen geschätzten Durchmesser von 4 cm hat. Mittig über dem
Kreis schwebt in geringem Abstand ein zweikonturiges lateinisches Kreuz; das Kreuz mißt in
der Höhe etwa 1,2 cm. Das Wasserzeichen befindet sich mittig zu einer Kettlinie. Die Kettlini-
en des Papiers halten einen regelmäßigen Abstand von 2,5 bis 2,6 cm, die Ripplinien habe ich
auszuzählen unterlassen.
Das Corpus chartarum italicarum führt ein unvermaßtes Wasserzeichen auf, das dem des
Kodexes recht nahe kommt; als Verwendungsjahr ist 1591 und als Verwendungsort Pesaro in
den Marken angegeben.24 Daneben finden sich in dem Corpus zwei weitere Wasserzeichen, die
durch kleinere Abwandlungen wie zum Beispiel Buchstaben als zusätzliche Beizeichen sowie
eine Gegenmarke abweichen. Das Grundmotiv aus Vogel über Dreiberg, eingeschlossen in
einem Kreis, ist für das 16. und 17. Jahrhundert auch in anderen Wasserzeichensammlungen
mehrfach für italienisches Papier anzutreffen.25

23
Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe. Nachdruck der Ausgabe 1884–1913. Achter
Band. Die Augusteischen Handschriften 5. Beschrieben von Otto von Heinemann. 5. Codex Guelferbytanus 34. 1. Aug.
4 o bis 117 Augusteus 4 o. Frankfurt am Main 1966, S. 34
24
Siehe unter www.informinds.com/demo/filigrane. Die segnatura des Wasserzeichens lautet icpl.cci.XXII.102.a.
25
Vgl. z. B. digitale Wasserzeichenkataloge, die im Bernstein-Projekt (memoryofpaper.eu) zusammengeführt sind:
Gibt man in die Suchmaske kurzerhand die Stichwörter ›Kreis‹, ›Vogel‹, ›Dreiberg‹ ein, werden Wasserzeichen
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅩⅩⅠ

Die nachträglich hinzugefügte Entschlüsselungstabelle ausgenommen, ist der Kodex von


einer einzigen Hand geschrieben. Sein Inhalt unterteilt sich wie folgt:
•  Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁: verschlüsselter Text der Wahren Praktik
•  Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂: Gebete einer Magierinitiation gemäß der Wahren Praktik
•  Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o b₁: Sammlung übersetzter jüdischer Gebete
•  Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o b₂: Register der Sammlung jüdischer Gebete
•  Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o c: Beschreibung der jüdischen Monate und Feste
•  Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃: Entschlüsselungstabelle zum Text der Wahren Praktik

Auf dem Recto des vierten Blattes der ersten Biniolage des Buchblockes steht von der Hand
des Schreibers, auf den die fünf ersten Kodexteile zurückgehen, geschrieben:
‫יהוה‬
ANNO DOMINI
1608.

Zwischen ANNO DOMINI und der Jahreszahl zog der Schreiber eine Zierleiste, die ich hier
nicht wiedergebe. Das hebräische ‫ יהוה‬bedeutet ›Jahwe‹ oder nach der in der frühen Neuzeit
üblichen Vokalisierung ›Jehova‹. Der Text der Wahren Praktik beginnt auf dem Recto des er-
sten Blattes der zweiten Biniolage des Buchblockes. Es ist unklar, ob die auf dem Blatt davor
befindliche Jahresangabe sich auf den Kodex im ganzen oder nur den Text der Wahren Prak-
tik beziehen soll. Die Jahresangabe wurde auf einem Blatt festgehalten, das nicht zur selben
Lage wie der Beginn der Wahren Praktik gehört, und dies mag auf ersteres schließen lassen.
Da in dem Kodex Gebete folgen, die nach der Fiktion erst 1609 gehalten wurden, könnte die
Jahresangabe den Beginn der Arbeit an dem Kodex bezeichnen. In der Einführung wurde die
Vermutung geäußert, daß der Kodex zwischen Ende 1609 und Ende 1613 fertiggestellt wurde.
Die Niederschrift der über achthundert Seiten dürfte einige Zeit beansprucht haben; nimmt
man an, daß der judenspanische Text der Gebetssammlung zur Niederschrift eigens übersetzt
wurde, erschiene eine Bearbeitungsdauer, die vom Ende des Jahres 1608 bis in den Herbst des
Jahres 1609 reichte, vielleicht nicht unmöglich. Die Jahresangabe könnte somit in der Tat den
Niederschriftbeginn angeben, und der vermutete Zeitpunkt der Fertigstellung des Kodexes
wäre dann jedenfalls näher an das Jahr 1609 als an das Ende des Jahres 1613 heranzurücken.
Weil sich die Jahresangabe nicht eindeutig dem Text der Wahren Praktik zuordnen läßt, sehe
ich davon ab, das Blattrecto in der nachfolgenden Edition wiederzugeben; seinen Inhalt habe
ich oben mitgeteilt. Der letzte Kodexteil, die Entschlüsselungstabelle, wurde auf die einzige
Doppelblattlage des eigentlichen Buchblockes geschrieben; nach Augenschein und Kettlinien-
zahl handelt es sich um dasselbe Papier wie der übrige Buchblock.
Der Kodex wurde von seinem Schreiber nur in dem dritten Teil, der Sammlung jüdischer
Gebete, durchgehend paginiert, alle übrigen Kodexteile blieben unpagniert und unfoliiert.
Eine neuzeitliche Hand nahm mit Bleistift in dem ersten und zweiten Teil eine Foliierung und
im vierten bis sechsten Teil eine Paginierung, die sich an die historische Paginierung der Ge-
betssammlung anschließt, vor; der moderne Bibliothekskatalog führt dagegen eine Foliierung
an, die sich über den gesamten Kodex erstreckt. Sowohl die neuzeitliche Hand als auch der

in Papier, das in Rom, Mantua, Ferrara und Poggio verwendet wurde, angezeigt. Bei detaillierterer Suche lassen
sich weitere Wasserzeichen italienischen Ursprungs mit dem Motiv ausfindig machen.
ⅩⅩⅩⅠⅠ Beschreibung des Textzeugen

Bibliothekskatalog berücksichtigen das Blatt mit der Jahresangabe nicht, und ihre Foliierung
setzt erst mit dem Beginn des Textes der Wahren Praktik ein. Ich richte mich in der nachfol-
genden Edition des Textzeugen W₁ nach der Foliierung und Paginierung, die die neuzeitliche
Hand in dem Kodex durchführte, denn zum einen ist dies die Blatt- und Seitenzählung, die
vor Augen hat, wer den Textzeugen im Original einsieht, zum anderen sind die Angaben
des Bibliothekskataloges, wie ich im vorigen Kapitel bemängelte, fehlerhaft, und daher läßt
sich seine eigentlich sinnvolle durchgehende Foliierung nicht heranziehen. Man darf sich also
nicht wundern, wenn auf dem Rand der Seiten des edierten Textes die Angaben einer Foli-
ierung mitlaufen, sich auf dem Rand der letzten Seite aber mit einem Male eine Paginierung
findet.
Als Textzeugen W₁ verstehe ich nicht allein den Text der Wahren Praktik, sondern rechne
auch die Gebete, die eine angebliche Magierinitiation begleiteten, sowie die Entschlüsselungs-
tabelle dazu. Die Edition umfaßt folglich die Kodexteile Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁, Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₂ und Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃. Nur auf diese drei Kodexteile soll im folgenden
eingegangen werden. Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂, der Text der
Wahren Praktik und die Initiationsgebete, sind in einem einheitlichen Schriftspiegel mit den
Abmessungen von ungefähr 17,3 × 12 cm geschrieben; der Schriftspiegel unterteilt sich ebenso
einheitlich in beiden Kodexteilen in 46 Zeilen. Eine Zeile hat damit rechnerisch eine Höhe von
etwa 3,8 mm. Der Schreiber verwendete eine Kurrente als Grundschrift und zur Auszeichnung
eine Kanzlei; Fremdsprachiges oder für fremdsprachig Gehaltenes schrieb er in Antiquakursi-
ve. Kanzlei und Antiquakursive führte der Schreiber stets größer als die Kurrente aus.
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁, der Text der Wahren Praktik, ist mit Zeilensprüngen und Chif-
Der verschlüs- fren verschlüsselt. Der Schreiber teilte den Schriftspiegel in drei gleichbreite Kolumnen, be-
selte Magietext gann auf jeder Seite in der obersten Zeile der linken Kolumne zu schreiben und ließ den Text,
als Teil von W₁
sobald die Kolumne gefüllt war, in die zweite Zeile der zweiten Kolumne, sodann in die dritte
Zeile der dritten Kolumne springen. Danach setzte der Schreiber in der zweiten Zeile der
ersten Kolumne wieder an und führte den Text in entsprechender Weise in den Folgezeilen
der beiden Folgekolumnen fort. War er in der zweiten Kolumne am Fuß des Schriftspiegels
angelangt, ließ er den Text in die erste Zeile der dritten Kolumne, von dort in die letzte Zeile
der ersten Kolumne, dann in die erste Zeile der zweiten Kolumne und zuletzt in die zweite
Zeile der dritten Kolumne springen. Was sich in der Beschreibung verwickelt anhört, ist in der
Durchführung simpel: Der Schreiber ging vor, als setze sich das Füllungsschema vom unteren
Rand des Schriftspiegels zum oberen fort, als sei der Schriftspiegel gleichsam am oberen und
unteren Rand zu einer Rolle zusammengeklebt. Auf diese Weise wurden alle Zeilen in den drei
Kolumnen der Seite gefüllt. Auf der nächsten Seite fing der Schreiber nach dem nämlichen
Verfahren von neuem an. Eine Vorzeichnung der Kolumnen – wie im übrigen auch der Zei-
lengrundlinien – läßt sich auf dem Papier nicht erkennen. Es ist offensichtlich, daß eine Zei-
lensprungverschlüsselung, wie sie der Schreiber durchführte, den Text kaum vor einer Ent-
schlüsselung durch neugierige Leser schützt. Die Zeilensprünge werden daher, so darf man
annehmen, nicht ernsthaft der Verschlüsselung gedient haben, sondern sollten, indem sie dem
Lesen einen Widerstand entgegensetzen, dem Text nur eine geheimnisvolle Aura verleihen.
Die Chiffren, die der Schreiber gebrauchte, bestehen zum einen aus Großbuchstaben der
Kanzlei und der Antiquakursive, zum anderen aus griechischen Kleinbuchstaben. Mit letzte-
ren verschlüsselte der Schreiber Ordinal-, mitunter auch Kardinalzahlen. Die Zahlenschrift
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅩⅩⅠⅠⅠ

E
OB
PR
SE
LE

Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o fol. 1 r: Der Beginn des verschlüsselten Textes der Wahren Praktik (Originalgröße)

entspricht nicht historischen Vorbildern wie zum Beispiel der antiken milesischen Zahlen-
schrift (die zusätzlich zu den gebräuchlichen drei historische Schriftzeichen als Zahlzeichen
ⅩⅩⅩⅠⅤ Beschreibung des Textzeugen

verwandte), wird aber von ihnen angeregt sein; faktisch folgt sie in griechischen Buchstaben
der hebräischen Zahlenschrift, was aber nur eine zufällige Übereinstimmung sein mag. Nach
der Ordnung des Alphabetes stehen α bis ι für die Zahlen Eins bis Neun; zweistellige Zahlen
werden durch die im Alphabet folgenden Buchstaben ausgedrückt, so die Zwanzig durch κ,
die Dreißig durch λ usw. Die dazwischen liegenden Zahlen ergeben sich als Kombinationen
der Zehner- und der Einserkleinbuchstaben; so verschlüsselt zum Beispiel ein κα die Zahl
Einundzwanzig, ein λι die Zahl Neununddreißig.
Großbuchstaben benutzte der Schreiber als Chiffren für Begriffe, die in der Wahren Praktik
eine bedeutendere Rolle spielen. Genaugenommen stellen sich die Begriffschiffren aber nur
als Abkürzungen, präziser: als Suspensionen dar, die aus dem Anfangsbuchstaben des Begrif-
fes bestehen. Ist der Begriff deutsch oder als deutsch verstanden, gebrauchte der Schreiber
eine Kanzleimajuskel, ist er fremdsprachig, eine Majuskel der Antiquakursive: ein Kanzlei-
M vertritt zum Beispiel den Begriff ›Mensch‹ und ein Antiqua-M den lateinischen Begriff
›Magia‹, die Magie. War eine Kanzleimajuskel als Chiffre schon vergeben, griff der Schreiber
auch für deutsche Begriffe auf Majuskeln der Antiquakursive zurück, wie bei ›Gott‹, wofür
das Kanzlei-G steht, und ›Geist‹, wofür der Schreiber auf ein Antiqua-G ausweichen mußte.
Dies galt wohl auch umgekehrt: Da das Antiqua-L schon für ›Luzifer‹ vergeben war, mußte
der Schreiber für ›Leviathan‹ das Kanzlei-L als Chiffre gebrauchen. Großer Bedarf herrschte
an dem Majuskel-A, und der Schreiber löste das Problem auf diese Weise: Für die Gottesbe-
zeichnung ›Adonai‹ wählte er ein Antiqua-A, für ›Ariton‹, den Namen eines Unterfürsten der
bösen Geister, ein majuskelgroß geschriebenes Antiqua-a und für ›Amaymon‹, den Namen
eines weiteren Unterfürsten, eine Antiquafigur, die einer Æ-Ligatur ähnelt; vermutlich ist es
auch in der Tat eine Æ-Ligatur. Das Kanzlei-A war dagegen zum einen für das Wort ›Abend‹
vorgesehen – die Entschlüsselungstabelle führt eine solche Chiffre an, sie wird in dem Text
der Wahren Praktik aber nicht verwandt –, zum anderen tritt es in einer Chiffre auf, die für
›Aufgang der Sonne‹ steht, ein Ereignis, das in vielen vermischt-kabbalistischen Rezepten des
zweiten Buches von Bedeutung ist. Weiterhin gibt es Chiffren, die aus zwei Majuskeln beste-
hen, so BG. für ›böser Geist‹, DG. für ›Dienstgeist‹ und GG. für ›guter Geist‹. Für die Begriffe
›Zauberer‹ und ›Zauberei‹ dient eine Kanzlei-Z als Chiffre, die zur Unterscheidung einmal
mit einem nachgesetzten hochgestellten Kurrente-r, das andermal einem Kurrente-y versehen
wurde. Die Begriffschiffren treten in dem Text unverändert je nach Kontext für den Singular
wie den Plural in allen Flektionsformen ein, selten fungieren sie sogar als Adjektive.
Eine spezielle Chiffre gebrauchte der Schreiber für das Wort ›Herr‹; sie setzt sich aus ei-
nem Kanzlei-H, dessen Unterlängenschlaufe in eine weitere, kleinere Schlaufe im Mittelband
übergeht – diese kleinere Schlaufe sieht einem kleinen e der Kanzlei oder mehr noch einem
heutigen Schreibschrift-e ähnlich – und einem sich anschließenden Abbrechungshaken zu-
sammen. Ich gebe die Chiffre zur Anschauung in der Nachzeichnung wieder: Ó.26 Steht die
Chiffre für die flektierte Form ›Herr(e)n‹, findet sich an den Abbrechungshaken an langem
Aufstrich ein weiterer, doch einfacherer Abbrechungshaken angehängt, und das Ganze sieht
dann ungefähr so aus: Ô. Die ›Herr‹-Chiffre ist damit die einzige Chiffre, bei der Flektions-
formen berücksichtigt sind.

26
Die im Gleichzug ausgeführten Nachzeichnungen sollen veranschaulichen, wie der Schreiber die Schriftzeichen-
figuren zog. Für die originalen Figuren hat man sich Fleisch an diese Skelette zu denken.
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅩⅩⅤ

Außer Großbuchstaben der lateinischen und Kleinbuchstaben der griechischen Schrift fin-
den sich im Text bisweilen die bekannten Planetensymbole verwandt, die je nach Zusammen-
hang als Bezeichnung der Planeten (zu denen die frühe Neuzeit zunächst auch Sonne und
Mond zählte) oder der ihnen korrespondierenden Metalle dienen. Der Gebrauch der Planeten-
symbole war in der frühen Neuzeit weit verbreitet, und es erscheint deshalb zweifelhaft, ob
sie von dem Schreiber in jedem Falle als Verschlüsselung gemeint waren. Eine Kombination
aus Begriffschiffre, Abbreviatur und Planetensymbol stellen die Chiffrierungen A. Ф ☉. und
V. Ф ☉. dar, die ›Aufgang der Sonne‹ und ›Untergang der Sonne‹ bedeuten. Die Entschlüsse-
lungstabelle listet daneben noch die Chiffrierung N. Ф ☉. für ›Niedergang der Sonne‹ auf, die
in dem Text der Wahren Praktik jedoch nicht gebraucht wird. Allen Chiffren außer der ›Herr‹-
Chiffre folgt im übrigen stets ein Punkt, auch den Planetensymbolen.
Eine Chiffre wurde in der Entschlüsselungstabelle nicht aufgeführt; es handelt sich bei
ihr um keine Chiffre, die für einen Begriff stünde, der in Wahren Praktik eine tragende Rolle
spielte, und so verdankt sie sich vielleicht nur dem Augenblickseinfall eines Schreibers. Die
Chiffre erscheint zweimal; das eine Mal besteht sie aus einem Kanzlei- oder Kurrente-G mit
Abkürzungspunkt sowie einem Kanzlei- oder Kurrente-F mit angefügtem Abbrechungshaken
und nachgesetztem Abkürzungsdoppelpunkt und sieht so aus: Ś; das andere Mal ist auch
dem G ein Abbrechungshaken angefügt, und es folgen jeweils Abkürzungspunkte: ž Die
Chiffre bedeutet ›Graf Friedrich‹ – laut erstem Buch der Wahren Praktik befreite Abraham
von Worms mit seinen Magiekünsten einen Grafen dieses Namens aus den Händen eines Her-
zogs Leopold von Sachsen. Erscheinen tut die Chiffre allerdings nicht in diesem ersten Buch,
sondern erst in zwei vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten Buches.
Der Text der Wahren Praktik füllt den Schriftspiegel vollständig aus und ist durch keine
Absätze, Einrückungen oder Leerzeilen gegliedert; Ausnahme ist nur der Textanfang, der mit
einer Ausrückung und einem deutlich vergrößerten Initialbuchstaben hervorgehoben ist. Der
Schreiber war bemüht, die Kolumnen des Schriftspiegels vollständig bis zu ihrem Rand auszu-
füllen und den rechten Spiegelrand möglichst glatt zu gestalten. Um die Kolumnen zu füllen,
griff er gelegentlich auf Notmittel wie die Verbreiterung von Buchstaben und vor allem von
Ligaturen wie ff, ſſ und der Eszettligatur, die Verwendung von seinem Schreib- wie Sprechdia-
lekt fremden Formen wie bücheren, Vätteren sowie den Gebrauch von Abbreviaturen zurück.
Anfangs versuchte der Schreiber, die linke und die mittlere Kolumne mit ganzen Wörtern zu
füllen oder die Wörter am Kolumnenrand nach den damals üblichen Regeln zu trennen, ohne
daß er aber Trennungsstriche setzte, doch bald gestattete er sich auch, Wörter »wild« zu tren-
nen, das heißt, gerade so, wie die Buchstaben noch in die Kolumne paßten. Am Rand der rech-
ten Kolumne, der mit dem rechten Schriftspiegelrand zusammenfällt, verfuhr er anders, hier
trennte er den ganzen Text hindurch den historischen Gepflogenheiten gemäß und benutzte
regelmäßig – es sei denn, er vergaß es – Trennungsstriche. Die historischen Gepflogenhei-
ten erlaubten eine Worttrennung nach dem Silbenprinzip oder nach dem morphologischen
Prinzip. Der Schreiber wandte beide Prinzipien an, je nachdem welches eher einen annähernd
glatten Rand herzustellen gestattete.
Eine Gliederung des so blockhaft geschriebenen Textes erfolgte allein durch Wechsel der
Schriftart. So wird der Beginn des Textes und der Beginn jedes einzelnen Textkapitels, ferner
der Beginn der Buch- und Kapitelangaben, der Buch- und Kapitelüberschriften und der Kapi-
telincipit, wie sie im ersten Buch vorkommen, durch Ausführung des ersten Wortes in Kanzlei
ⅩⅩⅩⅤⅠ Beschreibung des Textzeugen

hervorgehoben, wobei, wie gesagt, der Schreiber die Kanzlei größer als die Kurrente schrieb.
Außerdem versah der Schreiber innerhalb der Kapitel mitunter Satzanfänge mit Kanzleima-
juskeln, ohne daß er den Rest des Wortes, das am Satzanfang steht, in Kanzlei ausführte; of-
fenkundig sollten diese Kanzleimajuskeln einen Texteinschnitt bezeichnen, der einem Absatz
entspricht. Bisweilen scheint eine Kanzleimajuskel jedoch keinen Absatz anzuzeigen, sondern
dient vielmehr der Hervorhebung eines Wortes oder des folgenden Satzes; darüber hinaus
tritt das Majuskel-D der Kanzlei des öfteren in Namen auf, vermutlich um die graphische Un-
eindeutigkeit der entsprechenen Majuskel der Kurrente zu umgehen. Ein besonderes System
beobachtete der Schreiber in den vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten Buches der
Wahren Praktik: Der Beginn eines Bibelspruches wurde, sofern er zu sprechen ist, durch Aus-
führung des ersten Buchstabens in Kanzlei markiert; muß der Spruch hingegen schriftlich
appliziert werden, wurde das gesamte erste Wort des Bibelspruches in Kanzlei ausgeführt.
Bisweilen unterlief dem Schreiber freilich ein Versehen, dann findet man auch das ganze erste
Wort eines zu sprechenden Bibelwortes in Kanzlei geschrieben.
In Kontrast zu dem Bestreben des Schreibers, den Text zu verschlüsseln und so das Lesen
zu erschweren, steht die Verwendung von Reklamanten, die das Lesen bequemer machen
sollen. Eine Reklamante verstehe ich als ein am rechten Schriftspiegelrand unter den Text
einer Seite gesetztes Wort, das dem ersten Wort der folgenden Seite entspricht; sie soll den
weiten Augensprung von der letzten Zeile zur ersten Zeile der Folgeseite, der gegebenenfalls
mit Umblättern verbunden ist, überbrücken helfen. Dazu muß die Reklamante nicht immer
ein Wort sein, sie kann, gerade wenn das erste Wort der Folgeseite nur kurz ist, auch mehrere
Wörter umfassen, und sie muß auch nicht immer aus vollständigen Wörtern bestehen; ist ein
Wort am Seitenende getrennt, so kann eine Reklamante auch nur den abgetrennten Rest die-
ses Wortes darstellen. In dem verschlüsselten Text der Wahren Praktik kommen Reklamanten
regelmäßig, aber ausschließlich auf dem Verso der Blätter vor; nur auf foll. 11 v und 18 v vergaß
der Schreiber sie zu setzen. Die Reklamanten umfassen ein Wort oder bei Worttrennung den
abgetrennten Teil des Wortes; folgt dem Wort ein Satzzeichen, wird auch dieses angeführt. In
einem Falle besteht die Reklamante aus der Ordinalzahl einer Aufzählung und dem nächstfol-
genden Wort. Auf der letzten Seite der Wahren Praktik reicht der Text nicht bis zum Fuß des
Schriftspiegels; der Schreiber ordnete deshalb unter das letzte Wort – ein mittig geschriebenes
ENDE. – ebenso mittig ein Quadrat aus 7 × 7 kleinen Kreisen an und füllte auf diese Weise den
Schriftspiegel zumindest annähernd optisch.
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂, die Gebete, die angeblich eine Magierinitiation begleiteten, führ-
Die Initiations- te der Schreiber weitgehend den Üblichkeiten gemäß aus. Allerdings war er auch in diesem
gebete als Teil Kodexteil bemüht, eine blockhafte Textgestalt zu erzeugen. So unterließ er, die Gebete mit
von W₁
Leerzeilen voneinander abzusetzen, wodurch auf den Text eines Gebetes unmittelbar die
Überschrift des nächsten Gebetes folgt, und unterteilte die Gebete nicht in Absätze, sondern
benutzte wie im verschlüsselten Text der Wahren Praktik einzelne Kanzleimajuskeln, um Text-
einschnitte zu markieren. Grundschrift der Gebete ist die Kurrente; die jeweils erste Zeile der
Gebetsüberschriften ist in Kanzlei ausgeführt, der Rest der Überschrift wiederum in Kurrente;
die Kanzlei fand ferner Verwendung für die Anfangsmajuskel des ersten Wortes eines jeden
Gebetes. Dabei haben die Majuskeln eine Schriftgröße, die über die sonst übliche Größe von
Kanzleibuchstaben hinausgeht, zudem sind sie leicht nach links aus dem Schriftspiegel ge-
rückt. Die Gebetsüberschriften setzte der Schreiber mittig in den Schriftspiegel; umfaßt eine
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅩⅩⅤⅠⅠ

Überschrift mehr als eine Zeile, wurde sie, wie es zu der Zeit beliebt war, trapezförmig ver-
jüngend angeordnet. An einer Stelle finden sich in den Gebeten Abkürzungen oder Chiffren,
die nicht in der Entschlüsselungstabelle aufgeführt sind und deren Deutung mir versagt blieb.
Ebenso wie im Text der Wahren Praktik verwandte der Schreiber in den Gebeten Reklaman-
ten, die ein Wort oder bei Trennung den abgetrennten Wortrest umfassen und nur auf dem
Verso der Blätter vorkommen.
In der vorausgehenden Beschreibung der zwei ersten Teile des Textzeugen W₁ unterscheide
ich zwischen den Schriftarten Kurrente, Kanzlei und Antiquakursive. Tatsächlich läßt sich
diese Unterscheidung nicht immer ohne weiteres treffen. Nicht selten findet man in histo-
rischen Handschriften, daß Schreiber Schriftarten mischten, zum Beispiel, indem sie in die
Antiquakursive sich Buchstabenformen der Kurrente und umgekehrt in die Kurrente Buch-
stabenformen der Antiquakursive einschleichen ließen. Der Schreiber, auf den die bisher
beschriebenen Teile des Textzeugen W₁ zurückgehen, trennte jedoch durchaus konsequent
zwischen Antiquakursive und Kurrente; bei ihm vermischten sich Kurrente und Kanzlei. Dies
betrifft vor allem die Majuskeln. In den meisten Fällen verwandte der Schreiber für seine
Kanzlei Majuskelformen, die der Kurrente zugehören, und so läßt sich die Kanzlei, was die
graphische Form betrifft, oft nur an den Kleinbuchstaben, insbesondere an den Schaftbre-
chungen der graphischen Realisierungen des <m>, <n> und <u> sowie der Bogengestalt des <e>,
erkennen. Das ‹H› in der Chiffre Ó zum Beispiel ist graphisch eigentlich ein Kurrente-H;
wenn ich es oben gleichwohl als Kanzlei ansprach, begründet sich dies allein damit, daß der
Schreiber die Formen von Kanzlei- und Kurrentemajuskeln grundsätzlich vermischte, aus der
Größe aber, in der er im allgemeinen die Majuskeln der Begriffschiffren ausführte, abzuleiten
ist, daß er sie vermutlich als in Kanzlei geschrieben verstanden wissen wollte. Allerdings ist
die Schriftgröße von Majuskeln nicht immer ein hinreichendes Kennzeichen, um Kurrente
und Kanzlei auseinanderzuhalten. Ich werde auf dieses Problem in dem nächsten Kapitel zu-
rückkommen müssen.
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃, die Entschlüsselungstabelle zu den Chiffren, die in dem Text der
Wahren Praktik verwandt wurden, stammt von anderer Hand als die übrigen Kodexteile. Ihr Die Entschlüsse-
Schreiber zeichnete die Tabellenzeilen und -spalten mit Lineal vor und zog dabei die waage- lungstabelle als
Teil von W₁
rechten Linien von der senkrechten Linie, die den linken Tabellenrand bezeichnet, bis ganz
zum rechten Seitenrand aus. In der ersten, schmalen Spalte der Tabelle stehen, überwiegend
schon auf dem Tabellenrand ansetzend, in vierunddreißig Tabellenzeilen untereinander vier-
unddreißig Begriffschiffren; in der breiten Folgespalte sind, ebenso teils schon auf, teils aber
auch hinter dem Spaltenrand ansetzend, untereinander die entsprechenden vierunddreißig
Chiffrenauflösungen angeordnet. Die nächste Spalte fällt von neuem schmal aus; eingetragen
sind von der ersten Tabellenzeile an untereinander in vierunddreißig Zeilen die griechischen
Zahlenchiffren für die Zahlen Eins bis Vierunddreißig. Die Zahlenchiffren stehen aber ge-
naugenommen nicht in der Spalte, sondern auf dem linken Spaltenrand. Dasselbe gilt für
die Zahlen aus arabischen Ziffern, die die vierunddreißig Zahlenchiffren auflösen; auch sie
stehen nicht in der etwas breiteren Folgespalte, sondern schon auf deren linkem Rand oder
setzen zumindest auf ihm an. In der nächsten, wieder schmaleren Spalte sind von der ersten
bis zur sechsten Tabellenzeile sechs weitere griechische Zahlenchiffren für die Zahlen Fünf-
unddreißig bis Vierzig angeordnet, und sie befinden sich dabei ausnahmsweise in der für sie
gezogenen Spalte. Die folgende, gleichfalls recht schmale Spalte ist leer; die Auflösungen der
ⅩⅩⅩⅤⅠⅠⅠ Beschreibung des Textzeugen

sechs Zahlenchiffren finden sich erst in der übernächsten Spalte, deren rechter Rand mit dem
Seitenrand zusammenfällt. Auch hier setzte der Schreiber mit den Auflösungen schon auf dem
linken Spaltenrand an. In den sechs Tabellenzeilen unterhalb der sechs griechischen Zahlen-
chiffren sind sechs Planetensymbole eingetragen, doch stehen sie nicht wie die Zahlenchif-
fren in der Spalte, sondern auf dem rechten Spaltenrand. Die Auflösungen folgen, bereits
auf dem linken Spaltenrand ansetzend, in der übernächsten, der letzten Spalte, die bis zum
Seitenrand reicht. Aufgelöst werden die Planetensymbole als die korrespondierenden Metalle.
Unter den Planetensymbolen fehlt als siebentes der Merkur, dessen korrespondierendes Me-
tall Quecksilber ist. Der Merkur kommt in dem Text der Wahren Praktik nichtsdestoweniger
mit seinem Symbol vor, jedoch nicht in der Bedeutung ›Quecksilber‹, sondern als Zeichen für
den Planeten, und so kann man vermuten, daß der Tabellenschreiber die Planetensymbole in
der Tat nur hinsichtlich ihrer Metallbedeutung als Chiffren auffaßte.
Obgleich die Entschlüsselungstabelle für eine sichere Einschätzung zuwenig Text bietet, so
ist doch für ihren Schreiber anzunehmen, daß er sich außer der Kurrente und der Antiqua-
kursive auch der Kanzlei bediente. Doch wird er dabei wie der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o a₁ und a₂ die graphischen Formen von Kanzlei- und Kurrentemajuskeln vermischt ha-
ben; an der Form jedenfalls lassen sich die Schriftarten mutmaßlich nur für <D> und <H> un-
terscheiden. Der Schreiber führte somit in der Regel Begriffschiffren und ihre Auflösungen,
die für Fremdsprachiges oder als fremdsprachig Verstandenes stehen, in Antiquakursive und
Begriffschiffren und Auflösungen, die für Deutsches stehen, wohl in Kanzlei, was die Chiffre,
und in Kurrente, was die Auflösung betrifft, aus. Bei den Chiffren gibt es Ausnahmen, wenn
ein Buchstabe für mehrere Verschlüsselungen eintreten mußte. Die Auflösungen Leviatan
und Lucifer sind allerdings ganz oder größtenteils in Kurrente geschrieben (doch scheint das
u in Lucifer trotz übergesetzten Häkchens ebenso wie das c aus der Antiquakursive zu stam-
men); die Auflösung ›Herr‹ hob der Schreiber mit einem mutmaßlichen Kanzlei-H hervor.
Der Schreibgebrauch, den man in dem Text der Wahren Praktik und den beigegebenen Ini-
Der Schreibdia- tiationsgebeten beobachtet, legt eine Entstehung des Textzeugen W₁ im westoberdeutschen,
lekt des Magie- näherhin im schwäbischen Dialektgebiet nahe. Ich mache dies an den folgenden Erscheinun-
textes und der
gen fest:
Initiationsge-
bete als Teile
a) In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ begegnen ausschließlich Diminutive, die mit der Suffixform
von W₁ -lin und einmal mit der Suffixform -len gebildet sind: büchlin (3, 12), büechlin (4, 9/10), Stätt-
lin (8, 10), bildlin (13, 16), Bildlin (13, 18. 19), Büchlin (15, 12), ſtüblin (21, 9), härlin (24, 9), hälmlin
(25, 8), ſtücklin (31, 12), täfelin (32, 21), knäblin (37, 16), Zettelin (42, 12) usw. sowie ſteüdlen (‚klei-
ne Stauden‘; 101, 5). Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ enthält keine Diminutive. Im 17. Jahrhundert und
weitgehend schon im 16. Jahrhundert sind -lin und -len die Leitformen des Diminutivsuffixes
in westoberdeutschen Texten.27
b) Im Mittelhochdeutschen entwickelte sich aus langvokalischem ûf ‚auf‘ – gefördert von
der grundsätzlichen Unbetontheit der Präposition – eine Form uf mit gekürztem Vokal. Im
Übergang zum Frühneuhochdeutschen wurde die langvokalische Form der Präposition größ-
tenteils zu auf diphthongiert, während die kurzvokalische Form in ihrer Lautgestalt erhalten
blieb. In den oberdeutschen Sprechdialekten der frühen Neuzeit setzte sich, das Bairische

27
Hugo Stopp (Bearb.), Hugo Stopp und Hugo Moser (Hrsg.): Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur
Laut- und Formenlehre. Erster Band. 3. Teil: Vokalismus der Nebensilben ⅠⅠⅠ. Heidelberg 1978, S. 125
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅩⅩⅠⅩ

ausgenommen, die Form mit gekürztem Vokal durch.28 Oft spiegelten sich die Verhältnisse
der Sprechdialekte jedoch nicht in dem Schreibgebrauch wider, sondern wurden von Schreib-
konventionen überdeckt: so schrieb man auf, obwohl man alltäglich uf sprach. In Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ herrscht die diphthongierte Form der Präposition vor, an vier Stellen aber trifft
man gekürztes uf an: vf gut Heidniſch vnd gottloſz (13, 4), Vf Ihr groſſe Zuſagung (14, 13), vfs we-
nigſte (101, 23), Vff dem Feld (101, 27/28). In den Initiationsgebeten findet sich ausschließlich
die Form auf. Die, wenn auch seltene, Anwesenheit der gekürzten Form läßt sich als Reflex
des nicht bairischen, sondern westoberdeutschen Sprechdialektes des Schreibers deuten, dem
versehentlich das sprechsprachliche uf gegen die Schreibkonvention entschlüpfte.
c) In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ begegnet des öfteren die Form thon, die für den Infi-
nitiv, auch den substantivierten, und die dritte Person Plural Indikativ Präsens von ›tun‹ steht:
Zuthon (6, 16), Ihr thon (12, 20), thon (Inf.; 18, 19), dein thon vnd laſſen (22, 13), thon (Inf.; 24, 4),
all ſein thon (26, 23), thon (Inf.; 28, 26; 34, 18; 45, 12) usw., thon (3. Pers. Pl. Ind. Präs.; 63, 7; 93, 18;
131, 30). Im Mittelhochdeutschen lauteten diese Formen noch tuon, doch wandelte sich der Di-
phthong /uo/ im Bairischen und Schwäbischen vor dem Nasallaut zu einem Diphthong, des-
sen erste Komponente ein /o/ war. Insbesondere im Schwäbischen wurde dieser Diphthong
unter Vernachlässigung der zweiten Komponente mit einfachem <o> verschriftet, wodurch
die scheinbar einen Monophthong anzeigende Schreibung thon entstand. In Handschriften
begegnet diese Form bis in das 17. Jahrhundert.29
d) In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ finden sich ungewöhnliche Ablautformen der Verben ›fal-
len‹, ›halten‹, ›lassen‹: das Samuel [...] dahin fuelle vnd ſtarbe (7, 11/12), gefuel es dem Herrn
(9, 10), da fuel ſy [...] nider (15, 2/3), das er ſolche [...] für die wahre Magiam huelte (5, 16/17), das
Ich [...] mich [...] aufhuelte (6, 11–14), [sie] huelte mir [...] fürs geſicht (13, 17/18), luſz Ich mich
bereden (14, 14). Daß starke Verben, die der Ablautklasse ⅤⅠⅠ angehören, in die Ablautklasse ⅤⅠ
übertreten, ist eine Erscheinung, die man als typisch dem Westoberdeutschen bis in die zweite
Hälfte der frühen Neuzeit zuschreibt.30
e) Ebenfalls eine Erscheinung besonders des frühneuzeitlichen Westoberdeutschen ist die
die Endung -in, die sich bei femininen Abstrakta und Konkreta an Stelle von -e und -en zeigt.31
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ hat die Formen deckin (‚Decke, Dach‘; 58, 16; 101, 2), Beckin (‚Becken‘;
72, 4), und Köttin (‚Kette‘; 166, 15). Im eigentlichen Sinne liegt das Suffix -in hier allerdings nur
bei dem Wort deckin vor, bei Beckin und Köttin wurde die Endung lediglich an das Suffix an-
gelehnt, da die Wörter aus dem Lateinischen entlehntes baccinum und catena sind.
f) In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ fällt die Schreibung des Wortes ›Freude‹ als fraide
oder synkopiert als fraid auf, und diese Schreibung hält sich ausnahmslos durch; in dem Text
der Wahren Praktik heißt es fraide (5, 5), Fraid (8, 23), mit fraiden (9, 1. 9; 15, 6), Fraid (19, 15),
inn [...] fraiden (19, 17), mit [...] Fraiden (27, 16/17), Fraid (28, 12) usw., in den Initiationsgebeten

28
Virgil Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik. 1. Band: Lautlehre. 1. Hälfte: Orthographie, Betonung, Stammsil-
benvokale. Heidelberg 1929, S. 160
29
ebd. S. 195
30
Robert Peter Ebert, Oskar Reichmann, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsche Gram-
matik. Tübingen 1993, S. 293
31
Hugo Stopp (Bearb.), Hugo Stopp und Hugo Moser (Hrsg.): Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur
Laut- und Formenlehre. Erster Band. 2. Teil: Vokalismus der Nebensilben ⅠⅠ. Heidelberg 1973, S. 106–107
ⅩⅬ Beschreibung des Textzeugen

fraid (175, 25), Fraid (176, 28), Fraide (177, 2), inn [...] Fraiden (179, 25), vor Fraiden (180, 1). An
einer Stelle wurde ein aus der Lutherbibel zitiertes mit freuden (Tob. 3, 23) in ein mit frai-
den überführt (60, 10). Die Form fraid(e) wird als charakteristisch für schwäbische Texte des
17. Jahrhunderts angesehen.32
Die genannten Erscheinungen sprechen für eine Herkunft des Textzeugen W₁ aus dem
westoberdeutschen oder genauer noch aus dem schwäbischen Dialektgebiet. In Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ erscheint neben der Wortform eingenehet (‚eingenäht‘; 56, 10/11) indes auch ein
eingeneyet (134, 1), das man eher in einem Text aus dem alemannischen Dialektgebiet erwarten
sollte. Ich schlage die Evidenz dieser Form jedoch nicht so hoch an wie die des regelmäßig
anzutreffenden fraid(e), zumal auch bei dem Augsburger Chronisten Georg Kölderer mit Ab-
gemeytten (‚abgemähten‘) einmalig eine ähnliche und für seinen Sprechdialekt ebenso unge-
wöhnliche Form begegnet.33
Im 16. Jahrhundert bildeten sich überregionale handschriftliche Schreibkonventionen aus,
die den Sprechdialekt des Schreibers überdecken konnten. Zwar erlauben diese Schreibkon-
ventionen weiterhin, oberdeutsche von mitteldeutschen Texten zu scheiden, doch erschweren
sie eine kleinräumige Zuordnung innerhalb der Sprachgebiete. An dem Schreibgebrauch allein,
den man in einem Text beobachtet, läßt sich daher eine enger gefaßte Entstehungsregion oft
nicht bestimmen, es sei denn, dem Schreiber unterlief ein groberer phonetischer Dialektismus
oder es fällt in dem Text ein dialekttypisches Kennwort, aus dem man die Entstehungsregion
erschließen kann. Aber selbst bei einem halbprofessionellen Schreiber wie dem erwähnten
Georg Kölderer muß man in seiner zweitausendseitigen Chronik suchen, ehe man auf einen
extremen phonetischen Dialektismus wie Pfaltzgrawf  34 (‚Pfaltzgraf‘) oder graussen Daumen 35
(‚großen Daumen‘) stößt; doch bediente sich Kölderer wenigstens regelmäßig des dialekttypi-
schen Afftermontag für den Dienstag, woran sich ebenso wie an dem Diphthong /au/ für /a:/
und /o:/ sein ostschwäbischer Dialekt verrät. Der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und
a₂ tut einem den Gefallen nicht, daß ihm ein merklicher Dialektismus unterlief, darum kommt
man über eine nur ungefähre Charakterisierung der Texte als westoberdeutsch, mutmaßlich
schwäbisch, nicht hinaus.
Im vorigen Kapitel deutete ich spekulativ Spuren an, die auf die der Markgrafschaft Burgau
benachbarten Reichsstädte Ulm oder Augsburg als Entstehungsort des Textzeugen W₁ weisen
könnten; als Anhaltspunkte dienten mir der lutherische Verfasser der Wahren Praktik, die
gregorianischen Daten der Initiationsgebete sowie der Jude, der womöglich an der Erstellung
des Kodexes, zu dem der Textzeuge W₁ gehört, mitwirkte. Vor allem auf Augsburg könnte da-
bei das Augenmerk fallen: Die Stadt besaß eine lutherische Bevölkerungsmehrheit, doch hatte

32
Moser a. a. O. S. 187–188
33
Silvia Strodel (Bearb.), Wolfgang Weber (Hrsg.): Georg Kölderer: Beschreibunng vnnd Kurtze Vertzaichnus Für-
nemer Lob vnnd gedenckhwürdiger Historien. Eine Chronik der Stadt Augsburg der Jahre 1576 bis 1607. Band  4:
1606–1607 (Codex S  44). Augsburg 2013, S. 1832
34
Silvia Strodel (Bearb.), Wolfgang Weber (Hrsg.): Georg Kölderer: Beschreibunng vnnd Kurtze Vertzaichnus Für-
nemer Lob vnnd gedenckhwürdiger Historien. Eine Chronik der Stadt Augsburg der Jahre 1576 bis 1607. Band  1:
1576–1583 (Codices S  39 und S  40). Augsburg 2013, S. 270
35
Silvia Strodel (Bearb.), Wolfgang Weber (Hrsg.): Georg Kölderer: Beschreibunng vnnd Kurtze Vertzaichnus Für-
nemer Lob vnnd gedenckhwürdiger Historien. Eine Chronik der Stadt Augsburg der Jahre 1576 bis 1607. Band 2:
1584–1588 (Codices S  41 und S  42). Augsburg 2013, S. 1014
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅬⅠ

die katholisch dominierte Stadtobrigkeit den gregorianischen Kalender eingeführt, und prak-
tisch in Sichtweite der Stadt lagen burgauische Dörfer, in denen Judengemeinden bestanden
und ebenso der gregorianische Kalender galt. Eine solche Spekulation auf den Entstehungsort
findet in dem Schreibgebrauch, der sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ zeigt, mangels
ausgesprochener Dialektismen einerseits keine unmittelbare Stütze, andererseits steht er ihr
aus demselben Grunde ebensowenig direkt entgegen.
Noch viel weniger eindeutig läßt sich der Schreibgebrauch in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃,
der Entschlüsselungstabelle, beurteilen. In der nur kleinen Textmenge, die die Tabelle bietet, Der Schreib-
fallen die Schreibungen Eiſzen (184, 11), Nidergang (184, 23), Teiffel (184, 28), Untergang (184, 29) dialekt der
Entschlüsse-
und Wax (184, 30) auf. Die Form Teiffel für ›Teufel‹ haben auch der Text der Wahren Praktik
lungstabelle als
als Eheteiffel (52, 1) – gemeint ist der ehemannmordende Dämon Asmodi aus dem apokry- Teil von W₁
phen Buch Tobias – und die Initiationsgebete als Genitiv deſz Teiffels (180, 6). Die Form könn-
te mithin westoberdeutsch oder schwäbisch sein, wozu paßte, daß der Augsburger Chronist
Kölderer gleichfalls Teüffel auf Feyfel (eine Pferdekrankheit) reimte,36 also anscheinend eine
der Schreibung Teiffel entsprechende Lautung zugrunde legte. Jedoch ist die Form für das
Westoberdeutsche nicht spezifisch, sondern kann sich auch als Verschriftung in anderen,
selbst mitteldeutschen Dialekten finden. Die Schreibung Wax mutet heutzutage oberdeutsch
an, weil die moderne Schriftsprache eine etymologische Schreibung als Wachs, Fuchs, Luchs
vorzieht und sie Schreibungen mit <x> außer aus Fremdwörtern vor allem aus oberdeutschen
Importen wie Fex, kraxeln usw. bezieht. Eine Vorliebe für das Schriftzeichen <x> ist in der Tat
bei oberdeutschen Schreibern schon der frühen Neuzeit zu beobachten, und hierfür lassen
sich aus dem Text der Wahren Praktik mit Oxen (‚Ochsen‘; 39, 5; 170, 5; oxen 80, 29), Oxenblut
(58, 8), Luxen (‚Luchse‘; 169, 20) und Füx (‚Füchse‘; 171, 15) Belege beibringen; historisch kann
man Schreibungen wie Wax aber auch bei Schreibern außerhalb Oberdeutschlands antreffen.
Das Eszett in Eiſzen deutet auf einen Sprechdialekt, der nicht wie die moderne Standard-
sprache einen phonematischen Unterschied zwischen stimmhaftem /z/ und stimmlosem /s/
kannte; dies gilt indes für die meisten rezenten und historischen Dialekte des Deutschen. Der
deutlichste Hinweis auf einen oberdeutschen Schreibdialekt dürfte die Schreibung Nidergang
sein. Beim Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen wurden Vokale in
offener und potentiell offener Stellung gelängt, und so auch der Wurzelvokal in dem Wort
›nieder‹; diese Länge blieb in oberdeutschen Schreibdialekten aber mit <i> zunächst unbe-
zeichnet, während in ostmitteldeutschen Schreibdialekten zur Verschriftung von /i:/ die Zei-
chenfolge <ie> Verwendung fand. In der Summe weisen die Schreibungen Teiffel, Wax, Eiſzen
und Nidergang somit auf einen oberdeutschen Schreibdialekt, ohne daß sich dieser genauer
als west- oder ostoberdeutsch, als schwäbisch, alemannisch oder bairisch bestimmen ließe.
Nach den Überlegungen, die ich im vorigen Kapitel anstellte, wurde die Entschlüsselungs-
tabelle in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o erst eingetragen, als sich der Kodex schon in dem Besitz des
Herzogs August des Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg befand. Dann aber erscheint der
oberdeutsche Schreibdialekt, der in der Entschlüsselungstabelle zutage tritt, erklärungsbe-
dürftig, denn man muß annehmen, daß derjenige, der die Tabelle eintrug, süddeutscher Her-
kunft war. Es fragt sich, ob es Personen im Umfeld des Herzoges gab, die hierfür in Betracht
kämen. Daß ein nord- oder mitteldeutscher Schreiber die Schreibungen einer oberdeutschen

36
Strodel/Weber a. a. O. Band 2, S. 996
ⅩⅬⅠⅠ Beschreibung des Textzeugen

Vorlage absichtlich in gleichsam editorischer Treue in den Kodex übernahm, schätze ich für
wenig wahrscheinlich ein. So weiß ich die oberdeutschen Schreibungen in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o a₃ vorerst nicht zu erklären; vielleicht ließ sich ja ein norddeutscher Schreiber in sei-
nem Schreibgebrauch von dem oberdeutschen Schreibdialekt beeinflussen.
Dem aufgezeigten Problem zum Trotz sehe ich keinen Grund, von der Annahme abzurük-
ken, daß die Entschlüsselungstabelle nachgereicht und in dem Kodex nachgetragen wurde.
Denn die Annahme findet nicht allein in den Falschauflösungen des Textzeugen W₂ und der
fremden Hand, die die Tabelle in den Kodex eintrug, eine Stütze. Im vorigen Kapitel suchte
ich den Zeitraum näher einzugrenzen, in dem der Textzeuge W₁ entstand. Eine absolute unte-
re Zeitschranke stellen die Erscheinungsjahre der Palthenischen SYLVA, eine weitere untere
Schranke die Daten der Initiationsgebete dar. Als obere Zeitschranken kommen eine hypo-
thetische und eine höchstwahrscheinliche Erwähnung des Textzeugen in Briefstellen sowie
eine unzweifelhafte Erwähnung im Radkatalog der Bibliothek Herzog Augusts des Jüngeren
von Braunschweig-Lüneburg ins Spiel. Nimmt man mit Gilly an, daß die Wahre Praktik schon
in einem Briefwechsel von 1614 erwähnt wird, so läßt sich das, was die Beteiligten in diesem
Briefwechsel äußern, ebenfalls als ein Beleg deuten, daß zu dieser Zeit eine Entschlüsselungs-
tabelle noch nicht vorlag. In seinem Schreiben vom 24. Februar 1614 klagte Fürst August von
Anhalt, es sei schade, daß der Text, den Gilly als die verschlüsselte Wahre Praktik vermutet,
ſo gar viel defect […] [in] den Hierogliphicis haben ſoll. 37 Anscheinend hatte er Probleme, den
Text zu entziffern, und zwar nicht nur wegen der lästigen Zeilensprünge, sondern auch des-
sentwegen, was er lateinisch hieroglyphicae (ergänze wohl: litterae ), also ›hieroglyphische
Buchstaben‹, nennt. Herzog August der Jüngere antwortete mit Datum vom 29. März 1614,38
die Person, von der er den Text erhalten hatte, habe ihm mitgeteilt, daß der Text wegen beſſerer
verheelung [‚Geheimhaltung‘], mit einem ſonФn [‚besonderen‘] Alphabeth geschrieben wor-
den sei. Letztlich fiel dem Herzog nichts anderes ein, als dem Fürsten Mut zuzusprechen: er
werde schon irgendwie dank seinem hochbegabt С [‚hochbegabten‘] verſtande mit dem ver-
schlüsselten Text zurechtkommen.39 Die Bemerkungen wären in dem Briefwechsel unnötig
gewesen, hätte der Herzog damals eine Entschlüsselungstabelle zur Verfügung gehabt und
sie zusammen mit dem Text der Wahren Praktik dem Fürsten überlassen. Daß der Herzog die
Tabelle besaß und sie dem Fürsten aus Bosheit vorenthielt, um sich über dessen Dechiffrier-
probleme zu amüsieren, halte ich für unwahrscheinlich; insofern wird der Verweis auf den
angeblich hochbegabten Verstand des Fürsten sicherlich kein Spott sein.
Leider äußerte sich der Herzog nicht dazu, von wem er den verschlüsselten Text erhalten
hatte, es heißt in dem Brief nur: ФIehnige [‚derjenige‘] ſo mirſz [d. h. den Text] communicieret
[hat ]. 40 Im vorigen Kapitel stellte ich, um die Ausführungen nicht zu verkomplizieren, den
Sachverhalt vereinfacht so dar, als hätte der Herzog den Kodex, zu dem der Textzeuge W₁ ge-
hört, unmittelbar von der Schreibwerkstatt geliefert bekommen. Dies entspricht gewiß nicht
der Realität. Der Herzog bediente sich Mittelsmänner, die beauftragt waren, für ihn Literatur
zu beschaffen, und mutmaßlich war mit der obigen Formulierung ein solcher Mittelsmann

37
Niedersächsisches Landesarchiv Abteilung Wolfenbüttel 2 Alt Nr. 30, fol. 10 v
38
Von dem Schreiben hat sich das Konzept erhalten.
39
Niedersächsisches Landesarchiv Abteilung Wolfenbüttel 2 Alt Nr. 30, fol. 13 r
40
ebd.
Beschreibung des Textzeugen ⅩⅬⅠⅠⅠ

gemeint. Selbstverständlich ist neben dem Szenario, wonach der Mittelsmann den Kodex
frisch in einer Schreibwerkstatt gefertigt dem Herzog »kommunizierte«, auch die Möglich-
keit zu erwägen, daß der Herzog über den Mittelsmann den Kodex von einem Vorbesitzer, ihn
also aus zweiter Hand erwarb. In diesem Falle könnten die kurzen Kommentare, die sich in
dem Kodex finden, von einem Vorbesitzer oder Vorbesitzern stammen. Doch sind dies Alter-
nativhypothesen, die es im zweiten Band des Editionsprojektes zu erörtern gilt. Wenn ich im
übrigen von »Schreibwerkstatt« spreche, so stelle ich auf keine bestimmte Organisationsform
ab; die Schreibwerkstatt könnte aus einem einzelnen Schreiber bestanden haben.
Eine letzte Besonderheit, die die Schreibungen von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ zeigen, möch-
te ich noch anmerken. Bis in das 17. Jahrhundert hinein verwandte man im deutschen Schrift-
system <u> und <v> in der Weise, daß man damit das Vokalphonem /u/ 41 im Wechsel wieder-
gab; es galt die Regel, daß <v> wortinitial und <u> wortmedial gesetzt wurde. Der Schreiber
von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ folgte mit einigen Inkonsequenzen dieser Regel, wobei
die Inkonsequenzen nur den wortmedialen Gebrauch betrafen, wortinitial schrieb er stets
<v>. Im Laufe des 17. Jahrhunderts begann man allmählich, <u> und <v> nach der phonetischen
Verschriftungsfunktion zu scheiden und wortinitial wie -medial <u> für das Vokalphonem
/u/ und <v> nur noch für ein Konsonantphonem zu benutzen. Dieser Wandel zog sich über
Jahrzehnte hin und kam in Handschrift und Druck erst in der zweiten Jahrhunderthälfte zum
Abschluß. Man könnte auf den Gedanken kommen, die Schreibung Untergang, die sich in Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ findet, sei ein weiterer Beleg, daß die Entschlüsselungstabelle jünger als
der Kodex und folglich nachgetragen ist. In der Tat ist diese Schreibung ein Indiz, für einen
eindeutigen Beleg eignet sie sich aber nicht. Zieht man etwa den Briefwechsel aus dem Jah-
re 1614, den ich soeben anführte, zum Vergleich heran, so hält sich der Fürst von Anhalt an
die hergebrachte Schreibung mit wortinitialem <v>, wohingegen sich bei dem Herzog bereits
neues wortinitiales <u> mit altem <v> mischt. In jüngeren Autographen des Herzogs wird man
feststellen, daß wortinitiales <u> für /u/ mehr und mehr das wortinitiale <v> verdrängt; der
Herzog zeigte sich offenbar früh Neuerungen der Schreibung gegenüber aufgeschlossen.
Wortinitiales <u> tritt in dem Brief des Herzogs jedoch nur als Kleinbuchstabe auf. Nun
waren <u> und <v> seit je Teil des deutschen Schriftsystems, und es bedurfte für den Wandel
nur einer neuen Aufgabenzuordnung. Anders verhielt es sich mit dem Großbuchstaben <U>.
Ein solcher Großbuchstabe war bis dahin in den Schreibschriften, mit denen man deutsche
Texte schrieb, nicht existent. Man mußte den Großbuchstaben also erst schaffen, und man
bediente sich dazu des denkbar einfachsten Verfahrens: man vergrößerte das kleine <u> über
das Mittelband hinaus bis zur Großbuchstabenhöhe. Die Frage ist somit nicht nur, wann im
deutschen Schriftsystem wortinitales <u> für /u/, sondern mehr noch, wann erstmals wortin-
itiales <U> für /u/ aufkam.
Zwischen 1594 und 1635 führte der Herzog ein Reisetagebuch, das er Ephemerides. Sive
Diarium nannte, was auf griechisch und lateinisch soviel wie ›Tagebuch‹ bedeutet. Obwohl
sich das Reisetagebuch für solche Untersuchungen nicht gerade aufdrängt – seitenweise be-
schränken sich die Einträge auf die Angaben von Datum, Reisestation und zurückgelegten
Meilen –, hat es den Vorteil, daß man in einem Kodex die Entwicklung verfolgen kann, die die
Hand des Herzogs und sein Schreibgebrauch über vier Jahrzehnte nahm; und überdies lassen

41
/u/ stehe hier für /u/ und /u:/.
ⅩⅬⅠⅤ Beschreibung des Textzeugen

sich alle Entwicklungen gleichsam taggenau datieren. Als der Herzog das Reisetagebuch 1594
im Alter von fünfzehn Jahren begann, schrieb er, wie er es von seinen Präzeptoren gelernt
hatte, ausschließlich wortinitiales <v> für das Vokalphonem. Allerdings gilt dies nur für deut-
sche Passagen des Tagebuches; in lateinischen verwendete er von Anfang an wortinitiales
<u> und auch <U>. Man wird sicherlich nicht fehlgehen, wenn man die spätere Verwendung
von wortinitialem <u> und <U> in seinem deutschen Schreibgebrauch unter dem Einfluß des
lateinischen sieht.
Das Reisetagebuch wurde von der Herzog-August-Bibliothek digitalisiert und läßt sich im
Netz einsehen.42 Außerdem findet sich im Netz eine Transkription,43 die ich für meine Zwecke
aber nur eingeschränkt nutzen konnte. Zwar wird in den Transkriptionsrichtlinien angege-
ben, daß <u> und <v> nach der Vorlage transkribiert worden seien, doch trifft dies allenfalls
für die ersten Blätter des Reisetagebuches zu. Denn es wechseln sich in der Folge Abschnitte
ab, in denen bald der historische Gebrauch abgebildet, bald ahistorisch wortinitiales <v> nach
dem Lautwert als <u> transkribiert wird; schließlich setzt sich letzteres durch, wobei sich aber
mitunter wieder einzelnes historisch korrekt transkribiertes <v> einschleicht. Das Transkript
erwies sich folglich als unzuverlässig, und mir blieb nichts anderes übrig, als in jedem Fall,
in dem die digitale Suche im Transkript wortinitales <u> anzeigte, das Digitalisat des hand-
schriftlichen Originals zu konsultieren. Das erste Mal stieß ich in deutschen Passagen des
Reisetagebuches auf tatsächliches wortinitiales <u> unter dem Datum vom 5. November 1598,
und zwar als Großbuchstaben <U>; der Beleg ist bezeichnenderweise ein lateinisches Lehn-
wort: UniЦſitet (‚Universität‘).44 Die Schreibung bleibt zunächst aber singulär und mag nur
auf einem Versehen, der Verwechselung des deutschen und lateinischen Schreibgebrauches,
beruhen. Die ersten wortinitialen <u> trifft man unter dem Datum vom 8. April und 9. Juli 1611
an: und sowie umb 6 uhr. 45 Danach gebrauchte der Herzog wieder wortinitiales <v>; dies än-
dert sich erst mit den Einträgen vom 19. März 1618 und 7. Februar 1619, hier schrieb der Herzog
ein einzelnes und und hielt sodann fest: HochZeit […] Zwiſchen H. Ulrichen Zu St. Pommern,
und F. Hedewigen, Zu Br. und Lüneburgk (‚Hochzeit […] zwischen Herzog Ulrich zu Stettin-
Pommern 46 und Frau Hedwig zu Braunschweig-Lüneburg‘).47 In Ulrichen tritt nun erstmals
unzweifelhaftes <U> im deutschen Schreibgebrauch des Reisetagebuches auf. Von diesem Ein-
trag an herrschen wortinitiales <u>/<U> für /u/ wie auch sogar wortinitiales <ü>/<Ü> für den
Umlaut vor; so schrieb der Herzog unter dem Datum vom 4. Juni 1623 Ültzen 48 (das ist Uelzen
in der Lüneburger Heide), für das er vorher stets die Schreibung Vltzen gebrauchte.
Daß zwischen den Belegen größere Zeitabstände liegen, muß nicht irritieren. Ich sagte ja,
das Reisetagebuch ist wegen seiner Inhalts- und Ausdrucksarmut für solche Untersuchun-
gen wenig geeignet; Schreibungen mit wortinitialem <U> werden sich bei dem Herzog schon

42
http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=mss/42-19-aug-2f&lang=de
43
http://selbstzeugnisse.hab.de/edition/diarium (eingesehen am 19. Juni 2020)
44
Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel Cod. Guelf. 42.19 Aug. 2  o, fol. 10 r
45
ebd. fol. 42 v
46
Heute nennt man das Herzogtum üblicherweise ›Pommern-Stettin‹. Witzig ist, daß das Transkript der Biblio-
thek das originale St. Pommern zu Sanct Pommern auflöst; man fragt sich, ob hier ein Transkriptor aus Fleisch
und Blut oder sogenannte künstliche Intelligenz am Werke war.
47
Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel Cod. Guelf. 42.19 Aug. 2  o, fol. 47 v
48
ebd. fol. 50 r
Zur Edition ⅩⅬⅤ

früher entdecken lassen, wenn man andere Autographe durchsieht. Mir genügt für meine
Zwecke, daß sich selbst in seinem Reisetagebuch hinreichende Belege für einen gewandelten
Schreibgebrauch finden, nämlich im Jahre 1611 für wortinitiales <u> und im Jahre 1619 für
wortinitiales <U>. Wenn der Herzog bereits im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wortin-
itiales <U> benutzte, so werden dies andere Schreiber schon einige Jahre vor ihm getan haben,
denn es wäre unwahrscheinlich, daß ausgerechnet der Herzog der erste in diesem Gebrauch
war.49 Somit läßt sich aus der Schreibung Untergang allein nicht zwingend ableiten, daß die
Entschlüsselungstabelle jünger als der Kodex ist, zu dem der Textzeuge W₁ gehört; dies ergibt
sich vielmehr erst aus der Summe mit weiteren Indizien.

Zur Edition

Die vorliegende Edition orientiert sich an dem, was die Editionswissenschaft einen diplo-
matischen Abdruck nennt. Ich finde diese Bezeichnung unglücklich, weil Uneingeweihte sie
mißverstehen müssen und sie auch Eingeweihten eigentlich nicht sagen kann, was sie sagen
sollte. Es geht bei einem diplomatischen Abdruck nicht darum, daß sich der Editor mit seiner
Edition klug und nach allen Seiten vermittelnd aus der Affäre zöge, im Gegenteil, ein diplo-
matischer Abdruck zwingt ihn dazu, scheinbar unklug zu verfahren, indem er viel Mühe und
Arbeit aufwendet und dennoch gewiß sein kann, daß er sich bei einigen Lesern keinen Dank
verdienen wird. Das Adjektiv ›diplomatisch‹ leitet sich in der Bezeichnung nicht von ›Diplo-
matie‹ her, sondern von der Diplomatik, einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit der
Erforschung vor allem historischer Urkunden befaßt. Die Bezeichnung soll demnach soviel
wie ›urkundengetreuer Abdruck‹ bedeuten. Nun ist der urkundengetreueste Abdruck einer
Vorlage ihr Faksimile, aber gerade dies ist nicht gemeint; jedem diplomatischen Abdruck liegt
vielmehr eine Transkription zugrunde. Worum es bei einem diplomatischen Abdruck also
geht, ist ein vorlagengetreues Transkript, und so sollte man das Ganze dann auch nennen.
Es ist nicht Pedanterie, die einen Editor antreibt, einen historischen Text als vorlagenge-
treues Transkript zu veröffentlichen, es ist die Absicht, der historischen Gestalt, die der Text
hat, Genüge zu leisten. Historisch sein ist eine Erscheinungsform eigenen Rechts, und dem
sollte das Transkript eines historischen Textes entsprechen. Ein vorlagengetreues Transkript
dient aber nicht allein solcher formaler Rechtswahrung. Historisches hilft Gegenwärtiges
verstehen, weil das Gegenwärtige aus dem Historischen erwachsen ist, und zugleich tritt Hi-
storisches dem Gegenwärtigen als eine Alternative gegenüber, die ihre Existenzmöglichkeit
unter Beweis gestellt hat. Zu allererst aber, und dies ist in der Tat der gewichtigste Aspekt,
leistet ein vorlagengetreues Transkript Gewähr, daß ein veröffentlichter historischer Text von
verschiedenen Disziplinen, die auch an anderem interessiert sind als dem bloßen Textinhalt,
genutzt werden kann, weil der Editor nicht verfälschend in die ursprüngliche Textgestalt ein-
gegriffen hat.

49
Ich gehe hier nicht näher auf das Aufkommen von wortinitialem <u> und <U> im deutschen Schriftsystem ein;
tatsächlich gab es schon vor dem Herzog Schreiber, die die Schriftzeichen initial verwandten. Die Scheidung von
<u> und <v> (sowie auch von <i> und <j>) ging im 16. Jahrhundert von romanischen Schriftsystemen aus und kam
im deutschen Schriftsystem erstmals auch bereits in dem Jahrhundert, freilich äußerst selten, zur Anwendung.
ⅩⅬⅤⅠ Zur Edition

Eine vorlagengetreue Transkription gehorcht nach meinem Verständnis den folgenden vier
Maßgaben:
1. Schriftzeichentreue
2. getreue Wiedergabe von Schriftartwechseln
3. getreue Wiedergabe von Schriftgrößenwechseln
4. getreue Wiedergabe sonstiger graphischer Mittel, soweit sie ein Druck zuläßt.
Schriftzeichentreue soll besagen, daß jedes Schriftzeichen der historischen Vorlage an der-
Erster selben Stelle des Textes durch dasselbe Schriftzeichen im Transkript wiedergegeben wird.50
Transkriptions- Dabei geht es wohlgemerkt um Schriftzeichen, ein Transkript ist ja gerade kein Faksimile:
grundsatz:
Nicht die originale graphische Realisierung eines Schriftzeichens wird in das Transkript über-
Schrift-
zeichentreue
nommen, sondern die originale graphische Realisierung wird durch eine andere graphische
Realisierung ersetzt, die aber die Realisierung desselben Schriftzeichens ist. Schriftzeichen-
treue bedeutet somit die getreue Übertragung keiner graphischen, sondern einer Schriftzei-
cheninformation, die einer graphischen Realisierung anhaftet.
Die Schriftlinguistik bezeichnet die graphische Realisierung eines Schriftzeichens als ein
Graph und nennt das, was ein Graph realisiert, nicht Schriftzeichen, sondern Graphem. Ich
möchte diese Begriffe hier nicht gebrauchen. Es ist zweifelhaft, ob sich der Begriff des Gra-
phems sinnvoll auf deutsche Texte der frühen Neuzeit anwenden läßt. Wollte man es nichts-
destoweniger tun, müßte man bei historischen Schreibungen wie zum Beispiel vnter und dar-
unter zu dem Schluß kommen, daß v und u Allographe ein und desselben Graphems seien, und
dies unabhängig davon, ob man das Graphem als Verschriftung eines Phonems oder, wie man
es heute in der Regel tut, als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit des Schriftsystems
versteht. Stellte man eine Transkription unter die Maßgabe einer graphemgetreuen Übertra-
gung, ließen sich die genannten historischen Schreibungen sowohl als ›vnter‹ und ›darunter‹,
›unter‹ und ›darvnter‹, ›unter‹ und ›darunter‹ wie auch als ›vnter‹ und ›darvnter‹ wiederge-
ben – es ist offensichtlich, daß solche Beliebigkeit nicht sachgerecht sein kann. Graphemtreue
reichte bei einer Transkription folglich nicht aus, und man müßte als Maßgabe zusätzlich
eine Allographietreue verlangen, für die festzulegen wäre, auf welche Allographien sie sich
zu erstrecken hätte. Bündiger erscheint mir deshalb, wenn man im Zusammenhang von Tran-
skriptionen den Begriff des Graphems fernhält und statt dessen von Schriftzeichen spricht.
Maßgabe einer vorlagengetreuen Transkription ist dann nicht Graphem- und eine irgendwie
geartete Allographietreue, sondern schlicht Schriftzeichentreue.
Soll aber das Graphem fernbleiben, so bleibe auch das Graph fern. Ich möchte das Verhält-
nis von Schriftzeichen und graphischer Realisierung vielmehr in Analogie eines Konzeptes
verstehen, das man in der objektorientierten Programmierung als Verhältnis von Klasse zu
Instanz oder Klasse zu Objekt anwendet; in diesem Sinne sind in einem Text für Schriftzei-
chen Stellen definiert, die von graphischen Realisierungen der Schriftzeichen, den Schriftzei-
chenobjekten, besetzt werden. Man tauscht nach diesem Konzept bei einer Transkription an
den entsprechend definierten Stellen des Textes die Schriftzeichenobjekte der Vorlage durch

50
Eigentlich möchte ich unter Schriftzeichentreue nur die identische Abbildung der Schriftzeichenmenge der Vor-
lage auf die des Transkriptes verstehen. Hier aber subsumiere ich der Schriftzeichentreue der Einfachheit halber
den Grundsatz der Stellentreue, der in einer allgemeineren Darstellung gesondert zu betrachten wäre.
Zur Edition ⅩⅬⅤⅠⅠ

Schriftzeichenobjekte des Transkriptes aus, die zwar graphisch andere Objekte, aber weiter-
hin Objekte desselben Schriftzeichens sind. Faßt man <v> und <u> als Schriftzeichen auf, läßt
eine schriftzeichengetreue Transkription von vnter und darunter nur eine Wiedergabe als ›vn-
ter‹ und ›darunter‹ zu.
Ein Schriftsystem dient dazu, natürliche Sprache graphisch zu fixieren. Es besteht aus einer
Menge von Elementen und Regeln, wie die Elemente zu verwenden sind. Die Elemente eines
Schriftsystems sind die Schriftzeichen. Ein Schriftzeichen bestimmt sich somit als das, wofür
ein Schriftsystem Verwendungsregeln festlegt. Verwendungsregeln bedeuten, daß sich das
Auftreten von Schriftzeichen nach den Stellen im Text weitgehend vorhersagen läßt.51 So wie
der Begriff des Schriftzeichens von seiner konkreten graphischen Realisierung abstrahiert,
stellen auch ihre Verwendungsregeln nicht auf den Aspekt graphischer Realisierung ab.
Das deutsche Schriftsystem hat im Laufe der Jahrhunderte Veränderungen erfahren, und
dennoch stimmen, was die Menge der Elemente und ihre Verwendungsregeln angeht, seine
moderne und seine historischen Ausprägungen soweit überein, daß es gerechtfertigt ist, diese
Ausprägungen als diachrone Varietäten des in der Tat selben Schriftsystems aufzufassen. Ge-
rade historische Varietäten sind jedoch nicht homogen, sondern unterscheiden sich regional
und auch individuell. Eine historische Varietät des deutschen Schriftsystems fächert sich so-
mit ihrerseits synchron in Varietäten auf; eine synchrone regionale Varietät nenne ich einen
Schreibdialekt und eine synchrone individuelle Varietät einen Schreibgebrauch. Transkribiert
man einen handschriftlichen Text, entscheidet der Schreibgebrauch, was man als Schriftzei-
chen zu betrachten hat; es gilt hier: Schriftzeichen ist das, wofür sich aus dem Schreibge-
brauch Verwendungsregeln ableiten lassen.
Zu der Menge der Schriftzeichen zähle ich im deutschen Schriftsystem Buchstaben, Abbre-
viaturzeichen, Logogramme, Interpunktionszeichen und Schriftleerräume. Manchmal kom-
men in deutschen Texten Ideogramme vor; dies ist in den hier edierten Texten nicht der Fall,
weshalb ich auf Ideogramme nicht eingehe. Buchstaben haben die Aufgabe, Phoneme der Groß- und Klein-
deutschen Sprache zu verschriften. Das deutsche Schriftsystem kannte an der Wende zum buchstaben als
zu transkribie-
17. Jahrhundert ein Alphabet aus den 24 Buchstaben <a, b, c, d, e, f, g, h, i, k, l, m, n, o, p, q, r, ſ,
rende Schrift-
t, u, w, x, y, z>,52 wozu ergänzend die drei Schriftzeichen <ꝛ >, <s> und <v> traten. <ſ > und <s> sowie zeichen
<u> und <v> standen zueinander im Verhältnis systematischer Verteilung, wie die Schreibun-
gen vnser : vns und vnter : darunter zeigen. Offensichtlich gebot das Schriftsystem <ſ > silbenini-
tial, <s> silbenfinal, <v> wortinitial und <u> wortmedial zu setzen. Das sogenannte runde r <ꝛ >
betrachte ich unten gesondert. Ebenfalls im Verhältnis systematischer Verteilung standen an
der Wende zum 17. Jahrhundert Groß- und Kleinbuchstaben, zumindest was das Verhältnis
von satzinitialem und satzmedialem Gebrauch angeht; daher sind Groß- und Kleinbuchstaben
bei der Transkription als eigene Schriftzeichen anzusehen.
Nach Erfindung des Buchdruckes hat man bei historischen Varietäten des deutschen Schrift-
systems nicht nur synchrone regionale und individuelle Varietäten zu unterscheiden, sondern
auch synchrone druck- und handschriftliche Varietäten. Im Druck erscheint beispielsweise

51
Die Einschränkung ›weitgehend‹ ist erforderlich, weil es in der frühen Neuzeit keine normierte Rechtschrei-
bung gab und man zudem stets mit Schreibversehen rechnen muß.
52
Vgl. z. B. Johann Rudolph Sattler: Teutſche Orthographey Vnd Phraſeologey das iſt die Kunſt vnd wiſſenſchaft Teut-
ſche ſprach recht vnd wohl zu ſchreiben. Basel 1607, S. 11
ⅩⅬⅤⅠⅠⅠ Zur Edition

das <j> zu Beginn des 17. Jahrhunderts schon nahezu regelmäßig als Schriftzeichen, während
es zur gleichen Zeit Schreiber gab, die es so gut wie gar nicht verwandten. In Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o a₁ finden sich Schriftzeichenobjekte, die man auf den ersten Blick als Realisierungen
eines Schriftzeichens <j> auffassen könnte. Die Objekte unterscheiden sich von gewöhnlichen
Objekten des Schriftzeichens <i> darin, daß ihr Schaft unter die Schriftgrundlinie verlängert
ist; sie erscheinen nur wortfinal und verschriften wie normale <i>-Objekte die Phoneme /i/
und /i:/. Ich betrachtete diese Objekte als bloße Realisationsvariante des Schriftzeichens <i>
und gebe sie im Transkript als normale <i>-Objekte wieder. Zwar hat das Schriftzeichen <j>
tatsächlich in einer solchen Realisierungsvariante von <i>-Objekten seinen schriftgeschichtli-
chen Ursprung, in dem Schreibgebrauch von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ aber zeigt sie sich von
der gewöhnlichen Realisierungsweise funktionell nicht so weit emanzipiert, daß es angemes-
sen wäre, sie mit einem anderem Schriftzeichen im Transkript zu erfassen. Denn neben der j-
ähnlichen Realisierungsvariante erscheint wortfinal mehrheitlich die normale Realisierungs-
weise von <i>-Objekten: die Realisierungsvariante begegnet in Rabi (5, 7; 6, 18; 7, 16; 11, 20. 21;
12, 30; 87, 25), Antoni (10, 21), Concili (21, 5), Melancholi (35, 14), Libani (67, 17), Cerimoni (107, 8),
die gewöhnliche Realisierungsweise dagegen in Rabi (10, 10; 11, 22; 12, 20), Moysi (11, 20), Horai
(11, 25), Hauptmonarchi (23, 14), Histori (26, 26), Asmodi (52, 1; 114, 6. 9. 10/11; 118, 31, 122, 1; 123, 7;
130, 27. 28; 131, 2) und Aſzmodi (121, 4), Hemisferi (92, 4), Salomoni (87, 2), Materi (92, 21; 135, 1)
sowie in allen Geisternamen des dritten Buches und Polygrammen des vierten Buches, die
auf /i/ oder /i:/ auslauten. Die Realisierungsvariante erscheint übrigens ferner in i. theil (‚ein
Teil‘; 103, 1); hier soll der unter die Grundlinie verlängerte Schaft verhüten, daß man das kleine
i übersieht. Ähnliche Realisationsvarianten mit verlängertem letztem Schaft finden sich des
öfteren bei wortfinalen Objekten des <m> und des <n>, und auch diese Varianten werden im
Transkript nicht berücksichtigt.
In der frühen Neuzeit unterschieden sich handschriftliche Varietäten des Schriftsystems
von druckschriftlichen ebenso in dem ausgiebigeren Gebrauch von Superskripten. So kom-
men im Textzeugen W₁ die Realisierungen der Schriftzeichen <a, o, u, v, w, y> sowie <O, V>
mit Superskripten versehen vor; Objekte des <u> und des <y> treten sogar ausnahmslos mit
Superskripten auf: Objekten des <u> sind entweder ein Haken oder zwei Punkte übergesetzt,
während Objekte des <y> regelmäßig zwei Punkte über sich führen. Superskripte werden von
mir transkribiert, wenn sie als Teil eines Schriftzeichenobjektes einen offenkundigen Funk-
tionsunterschied gegenüber einem Schriftzeichenobjekt ohne Superskript anzeigen. Der Ha-
ken über Objekten des <u> soll in der Kurrente verhindern, daß man den Buchstaben mit
Objekten des <n> verwechselt; er ist somit ein bloßes Zeichen zur Kenntlichmachung, das dem
darunterstehenden Objekt keine neue Funktion zuweist. Wozu die Punkte über Objekten des
<y> dienen, ist im Schreibgebrauch des Textzeugen weniger klar, denn zur Kenntlichmachung
scheinen sie nicht recht geeignet zu sein, verleiten sie doch allenfalls dazu, Objekte des <y> mit
Realisierungen einer ij-Ligatur zu verwechseln. Jedenfalls gilt aber auch hier, daß die Punkte
den Objekten des <y> keine Funktion zuweisen, die nicht in gleicher Weise Objekte ohne diese
Punkte hätten. Der Haken über Objekten des <u> und die Punkte über Objekten des <y> wer-
den daher bei der Transkription nicht berücksichtigt.
Anders verhält es sich mit den zwei Punkten, die in dem Textzeugen W₁ über graphischen
Realisierungen von <a, o, u, O> auftreten können. Sie bilden mit dem Superskript eine Ein-
heit, die eine andere phonemische Verschriftungsfunktion hat als die, die Objekte ohne die
Zur Edition ⅩⅬⅠⅩ

Superskripte oder die im Falle des <u> ein Objekt mit dem übergestellten Haken wahrnimmt;
es handelt sich bei <ä, ö, ü, Ö> folglich um gesonderte Schriftzeichen. Angemerkt sei, daß an
der Wende zum 17. Jahrhundert im Druck zwar noch das Schriftzeichen <ü> begegnen kann,
es aber bald abkommt und die Zeichenverbindungen <|, }, ~> allein herrschend werden, die
die nämliche Funktion ausüben wie <ä, ö, ü> in Handschriften. Insofern bestand gleichsam
eine systematische Verteilung von übergesetzten Punkten und übergesetztem <e> zwischen
Handschrift und Druck.
Gleichfalls in das Transkript übernommen werden Superskripte, die sich in dem Textzeu-
gen W₁ über graphischen Realisierungen des <v>, des <V> und des <w> finden. Auch sie bilden
mit diesen Realisierungen Objekte gesonderter Schriftzeichen. Realisierungen von <v> und
<V>, die mit zwei übergesetzten Punkten versehen sind, repräsentieren die Schriftzeichen <{>
und <„>; diese verhalten sich zu <v> und <V> wie <ü> zu <u> hinsichtlich der phonemischen Ver-
schriftungsfunktion und zu <ü> wie <v> und <V> zu <u> hinsichtlich der Verteilung. Realisierun-
gen des <w>, denen ein Haken, der sich auch bei Objekten des <u> findet, übergesetzt ist, zeigen
in dem Textzeugen W₁ eine abweichende Verschriftungsfunktion gegenüber superskriptlosem
Objekten des <w> an; sie repräsentieren somit ebenfalls ein gesondertes Schriftzeichen <ẃ>.
Dieses Schriftzeichen steht in bestimmten Zusammenhängen in annähernd systematischer
Verteilung zu <ü>, wie die Beispiele getreẃer, verſtreẃet, Seẃ gegenüber weitleüfftigen, kreütter,
Freündſchafft dartun.
Insgesamt ergibt sich eine Menge von 58 Buchstabenschriftzeichen, die in dem Textzeugen
W₁ zu transkribieren sind: <a, ä, b, c, d, e, f, g, h, i, k, l, m, n, o, ö, p, q, r, ſ, s, t, u, ü, v, {, w, ẃ,
x, y, z, A, B, C, D, E, F, G, H, I, K, L, M, N, O, Ö, P, Q, R, S, T, U, V, „, W, X, Y, Z>. Daß unter
diese Menge sogar die Großbuchstaben <X, Y> fallen, obwohl sie in deutschen Texten außeror-
dentlich selten gebraucht werden, verdankt sich den als exotisch intendierten Geisternamen,
die der Verfasser der Wahren Praktik erfand. Der Großbuchstabe <U> kommt, wie im vorigen
Kapitel erwähnt, nur in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ vor.
In der gewöhnlichen deutschen Schreibschrift der frühen Neuzeit, der Kurrente, werden
Kleinbuchstabenobjekte innerhalb eines Wortes in der Regel verbunden. Einige Objekte ge- Die Auflösung
hen eine besonders innige Verbindung ein, die dazu führt, daß die Objekte verschmelzen und von Ligaturen
in der Regel mindestens eines von ihnen in der Gestaltung, die Objekte des Schriftzeichens
sonst erfahren, deutlich abweicht; man nennt solche Verbindungen Ligaturen. Als Beispiele,
wie man sie in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ antrifft, seien die <tz>- und die <ſp>-Ligatur
angeführt: In der <tz>-Ligatur ´ verliert das <t>-Objekt seinen typischen waagerechten Strich
bzw. die an seiner Stelle gebrauchte Schlaufe, so daß der Anschluß des Folgeobjektes völlig
untypisch zustande kommt, und das <z>-Objekt nimmt seinerseits zum Anschluß eine ober-
längenlose Form an, die außerhalb der <tz>-Ligatur sonst, eine bestimmte Abbreviatur aus-
genommen, nicht begegnet; in der <ſp>-Ligatur Е geht der Bogen des <ſ  >-Objektes in den
Schaft eines <P>-Objektes über, das an die Stelle des <p>-Objektes tritt, weil es eine fließende
Verbindung ermöglicht; die <ſp>-Ligatur erscheint der Form nach in den Texten also stets als
eine <ſP>-Ligatur.
Ligaturen treten bei der Abfolge einiger Schriftzeichen im Schreibgebrauch eines Schrei-
bers regelmäßig auf, sie sind demnach im Grundsatz vorhersagbar. Dennoch repräsentieren
die durch Ligaturen formveränderten Schriftzeichenobjekte keine gesonderten Schriftzei-
chen. Die Formveränderung des <ſ  >-Objektes etwa in Hase : Haſt verhält sich anders als die
Ⅼ Zur Edition

vermeintliche Formveränderung des <ſ  >-Objektes in ein <s>-Objekt in vnser : vns; denn wäh-


rend letzteres gerade keine Formveränderung, sondern den Ersatz eines Schriftzeichens gegen
ein anderes nach einer Silbenregel des Schriftsystems darstellt, ergibt sich die Formverän-
derung des <ſ  >-Objektes in Haſt rein objektkontextual: die Veränderung ist somit eine bloße
Erscheinung auf der Ebene der Objekte. Dies zeigt sich auch darin, daß ein Schreiber, der in
der Kurrente eine Ligatur für die Objekte einer Schriftzeichenfolge verwandte, für die gleiche
Schriftzeichenfolge in der Kanzlei – also einer anderen Schriftart, aber innerhalb desselben
Schriftsystems – unter Umständen keine Ligatur setzte, weil die Objektformen andere sind.
Da die Objekte der Vorlage bei der Transkription grundsätzlich untergehen und nur die an die
Objekte geknüpfte Schriftzeicheninformation in das Transkript übertragen wird, gehen auch
die aus Objekten gebildeten Ligaturen unter, und ihr Vorkommen in der Vorlage ist für die
Transkription irrelevant. Dies gilt indes auch umgekehrt: Der Glyphensatz der Digitalschrift,
die ich hier und im Transkript benutze, hält zum Beispiel die Ligaturen fi und ſt für den Nutzer
bereit; ihre Verwendung im Transkript fiele aus dem gleichen Grunde wie die Verwendung
von Ligaturen in der Vorlage unter den Aspekt der Irrelevanz. Ich setze für meine Edition
jedoch die Maßgabe fest, daß einerseits alle Ligaturen der Vorlage im Transkript aufgelöst
werden und andererseits das Transkript selbst keinerlei Ligaturen enthält. Eine originales ´
wird im Transkript mithin als tz, ein originales ® als ſch und ebenso ein originales Ж als ſt
wiedergegeben, auch wenn wenigstens in diesem Falle eine Wiedergabe als ligiertes ſt mög-
lich wäre. Die <ſP>-Ligatur der Vorlage löse ich im übrigen als ſP auf und behalte die von der
originalen Ligatur veranlaßte <P>-Majuskel im Transkript bei.
In diesem Zusammenhang muß ich ein Wort darüber verlieren, wie ich bei der Transkrip-
tion mit dem Eszett verfahre. Das Eszett zeigt sich in Handschriften des 17. Jahrhunderts meist
in einer Gestalt, die der eines heutigen handschriftlichen Eszetts gleicht – so schrieb der
Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ das Eszett zum Beispiel so: ¯ –, und dies dürf-
te der Grund sein, weshalb in Editionen das frühneuzeitliche Eszett in der Regel als moderner
Buchstabe Eszett wiedergegeben wird. Es ist jedoch zweifelhaft, ob eine solche Wiedergabe
dem historischen Verständnis gerecht wird. Ich gehe davon aus, daß man in der frühen Neu-
zeit das Eszett nicht als Buchstaben, sondern noch immer seinem Ursprung gemäß als eine
Ligatur auffaßte.53 Nach meiner Maßgabe, alle Ligaturen der Vorlage im Transkript aufzulö-
sen, löse ich demnach auch die Eszettligatur auf, und zwar in Objekte der Buchstabenfolge
<ſz>. Die Eszettligatur kommt bei dem Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ nur in
der Kurrente vor, in der Kanzlei schrieb er für das Eszett eine unligierte Folge aus Objekten
von <ſ  > und <z>.
Handschriften zeigen neben der vorherrschenden Eszettligatur bisweilen in gleicher Funk-
tion ähnliche Ligaturen von Objekten der Folge <ſs>,54 und gerade aus diesem Grunde ist es
wichtig, solche Folgen deutlich zu machen, indem man sie in einem Transkript auflöst und
nicht alles, was nach einem Eszett auszusehen oder seine Funktion wahrzunehmen scheint,
unterschiedslos als Buchstaben Eszett wiedergibt. In Handschriften vor allem des 15. Jahr-
hunderts kann in der Funktion eines Eszetts ferner eine ursprünglich lateinische Abbreviatur

53
Ich benutze ›Eszett‹ hier gleichermaßen zur Bezeichnung der Ligatur wie des späteren Buchstabens.
54
In vielen Fällen ist freilich zweifelhaft, ob es sich um Ligaturen von <ſs> handelt oder nur die Form einer <ſz>-
Ligatur an eine vermeintliche <ſs>-Ligatur angelehnt wurde. Vgl. hierzu Fabian Frangks Schreibe-Kunſt (o. O.
Zur Edition ⅬⅠ

aus Objekten eines <ſ  >, die mit einem langen Strich oder Haken versehen sind, begegnen.
Umgeformt zu Objekten eines <ſ  >, dem im Mittelband ein Bogen angesetzt ist, läßt sich eine
entsprechende Letter in Drucken bis in das letzte Viertel des 17. Jahrhunderts vor allem in der
Schwabacher, seltener in der Fraktur beobachten. Daß eine lateinische Abbreviatur in deut-
schen Texten für das Eszett eintreten konnte, beruhte vermutlich auf einem »Übersprungs-
ersatz«: Im Mittelalter verwandte man im Lateinischen eine Abbreviatur, die sich aus einem
Objekt des <ſ  > und einem semikolonähnlichen, aus einem Haken mit übergesetztem Punkt
bestehenden Abbreviaturzeichen zusammensetzte; denkt man sich bei einem solchen ſ; die
Luftlinie zwischen Punkt und Haken bei schnellem Schreiben mitgeschrieben, ergibt sich eine
Figur, die einem ſꝫ und damit einem unligierten Eszett ähnelt. In gleicher Funktion wie diese
Abbreviatur aber gebrauchte man alternativ im Lateinischen und danach auch mitunter im
Deutschen die erwähnte Abbreviatur aus <ſ  >-Objekt und langem Strich oder Haken. Auf diese
Weise konnte vermutlich über die Assoziation der Alternativabbreviatur ſꝫ mit dem Eszett
jene Abbreviatur aus ſ mit Strich oder Haken in deutschen Texten für Objekte des Eszetts ein-
treten. Womöglich erklärt sich mit gleichem »Übersprungsersatz«, doch in entgegengesetzter
Richtung das im deutschsprachigen Raum übliche Eszett als Abkürzungszeichen für die Wäh-
rungseinheit ›Schilling‹; hier war Ausgangspunkt das einfache ſ mit Abbreviaturstrich oder
-haken, für das über die Alternativabbreviatur ſꝫ das Eszett eintrat. In dem Textzeugen W₁
kommen freilich kein ſ mit Strich oder Haken, kein ſꝫ oder ſ; vor; mit meinen Bemerkungen
möchte ich nur darauf hinweisen, daß das Eszett und seine allfälligen Konkurrenzfiguren bei
der Transkription frühneuzeitlicher Texte Aufmerksamkeit verdienen. Leider gibt es bis heute
keine Darstellung, die die sich wandelnde Form- und Funktionsgeschichte des Eszetts, das im-
merhin seit gut achthundert Jahren die Verschriftung des Deutschen kontinuierlich begleitet,
umfassend beleuchtet, und so können immer wieder Entstehungshypothesen aufkommen wie
jüngst die Max Bollwages, der das Eszett gleichsam als volksetymologisches Mißverständnis
der Abbreviatur aus ſ mit Haken entlarven möchte.55 Der sporadische Gebrauch dieser Abbre-
viatur an Stelle des Eszetts setzte aber gerade umgekehrt dessen Existenz voraus. Das Eszett
entstand, als man noch einstöckiges z schrieb, und erst dessen Verdrängung durch das jün-
gere geschwänzte (also mit einer Unterlänge versehene) ӡ ermöglichte graphisch überhaupt
den Ersatz durch die Abbreviatur. Das Eszett ist folglich kein Mißverständnis, es trägt seinen
Namen dem Ursprung gemäß zu Recht.

1525, fol. B iv v), wo sich in die Reihe von <ſz>-Ligaturen eine Ligatur gestellt findet, die graphisch einer Ligatur
aus Objekten von <ſ> und <s> gleicht.
55
Max Bollwage: Buchstabengeschichte(n). Wie das Alphabet entstand und warum unsere Buchstaben so aussehen.
Graz 2 2015, S. 119–123. Bollwage brachte seine Hypothese bereits 1999 vor (Ist das Eszett ein lateinischer Gast-
arbeiter? In: Gutenberg-Jahrbuch, 74. Jg., Mainz 1999, S. 35–41), worauf sie Brekle zurückwies (Herbert Brek-
le: Zur handschriftlichen und typographischen Geschichte der Buchstabenligatur ß aus gotisch-deutschen und
humanistisch-italienischen Kontexten. In: Gutenberg-Jahrbuch, 76. Jg., Mainz 2001, S. 67–76). So richtig Brekles
Bemerkungen zu Bollwages Hypothese sind, so sind sie mit Blick auf die Geschichte des Eszetts gleichfalls
ungenügend. Von Brekles Einwänden indes ungerührt, wiederholt Bollwage seine Hypothese in dem Buch aufs
neue. Bollwage glaubt, das Eszett sei zur Wiedergabe des stimmlosen s-Lautes im Gegensatz zum stimmhaften
geschaffen worden, und projiziert damit moderne Lautverhältnisse in die Vergangenheit. Die althochdeutschen
und zunächst auch die mittelhochdeutschen Dialekte hatten ein anderes s-Lautsystem als die frühneuhochdeut-
schen Dialekte und diese ein anderes als das moderne Standarddeutsch. Das moderne Standarddeutsch steht
phonetisch in keiner unmittelbaren historischen Kontinuität zum Frühneuhochdeutschen und damit auch nicht
ⅬⅠⅠ Zur Edition

Ich bezeichnete oben das runde r als Schriftzeichen. Das runde r ging im Mittelalter aus der
Ligatur von Objekten des <o> und des <r> hervor. In der Folge wurde es nicht nur nach Objek-
ten des <o> verwandt, sondern allgemein nach Buchstaben, deren Objekte einen Rechtsbogen
aufweisen wie Objekte des <b>, <p> und gegebenfalls des <d>; schließlich löste es sich mitunter
ganz von diesen spezifischen Objektkontexten. Rundes r nennt man das Schriftzeichen nach
seiner Gestalt ꝛ in Schriften wie etwa der Schwabacher oder der Fraktur; in der Kurrente hat
es eher eine Krückengestalt wie diese: Д. In solcher Krückengestalt wurde es auch in der An-
tiquakursive geläufig und vermag sich dort, während es in freierer Stellung in Schwabacher,
Fraktur und Kurrente allmählich verschwand, bis in das 20. Jahrhundert und noch darüber
hinaus zu halten. Das runde r erscheint zwar in dem Text der Wahren Praktik und den Initia-
tionsgebeten, doch nur nach normalen Objekten des <r>: Г. Es liegt somit nahe, das runde r in
dieser Verwendung als Teil einer Ligatur aufzufassen und damit als bloße objektkontextuale
Form auszulegen. Da ich Ligaturen bei der Transkription grundsätzlich auflöse, erscheint das
runde r im Editionstext nicht.
Diese Vorgehensweise ist aber anfechtbar. Denn tatsächlich ist das runde r ein Schriftzei-
chen und müßte nach einem schriftzeichengetreuen Ansatz in das Transkript übernommen
werden. Die Schriftzeicheneigenschaft des runden r liegt in einem typographischen Kuriosum
begründet. Denn das runde r erscheint seit der frühen Neuzeit regelmäßig in der Abkür-
zung ꝛc., die für lateinisches et cetera steht, und erhält sich in dieser Funktion in gebrochenen
Schriften, in denen es sonst zu dieser Zeit gar nicht mehr vorkommt, bis in das 20. Jahrhun-
dert. Natürlich ist es eigentlich unsinnig, et cetera als ꝛc. abzukürzen. Die Abkürzungsform
entstand aus einem Schriftzeichen, das für et stand und die Gestalt einer heutigen ›7‹ hatte;
dieses Schriftzeichen wurde mit der Abkürzung ›c‹ für cetera kombiniert und dann zu Kennt-
lichmachung als Abbreviatur in der Regel überstrichen: ⁊c. Bald ging man dazu über, das
Schriftzeichen ⁊ gegen das von der Form ähnliche ꝛ zu ersetzen. Man sollte annehmen, daß
dieser Ersatz vom Druck ausging, weil sich so im Setzkasten eine Letter einsparen ließ. Doch
begegnet die Abkürzungsform ꝛc., soweit ich sehe, mindestens schon zu Anfang der sechziger
Jahre des 15. Jahrhunderts in Handschriften,56 und dies macht ihren Ursprung im Druck un-
wahrscheinlich. Obwohl sich das runde r in allen anderen Stellungen als bloß allographische
Erscheinungsform von Objekten des <r> betrachten läßt und somit für eine Transkription irre-
levant erscheint, begründet doch die Abkürzung ꝛc. die Schriftzeicheneigenschaft des <ꝛ >, weil
seine Objekte in dieser Stellung nicht durch beliebige Objekte des <r> ersetzt werden können.57
Ist das <ꝛ > aber auf Grund dieser Stellung Schriftzeichen und somit zu transkribieren, muß es
ebenso in allen anderen Stellungen transkribiert werden.

zum Mittelhochdeutschen, zu dessen Zeit das Eszett entstand. Die Opposition von stimmhaftem /z/ und stimm-
losem /s/ hat das moderne Standarddeutsch, wie nahezu sein gesamtes Lautinventar, vom Niederdeutschen.
56
Womöglich auch schon früher, ich bin der Abkürzungsform ꝛc. bisher nicht nachgegangen. Obwohl sie für
deutsche Texte typisch ist, wird sie weder von Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Ger-
manisten. Eine Einführung. Berlin/Boston 2014, Friedrich Beck, Lorenz Friedrich Beck: Die lateinische Schrift.
Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2007 oder Jürgen Rö-
mer: Geschichte der Kürzungen. Abbreviaturen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der Frühen Neu-
zeit. Göppingen 1997 behandelt.
57
Diese Maßgabe gilt selbstverständlich nur für Transkriptoren. Historisch findet man die Abkürzung rc. statt ꝛc.
durchaus, so etwa in dem Reisetagebuch des Herzogs August des Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg.
Zur Edition ⅬⅠⅠⅠ

Indem ich das runde r der Vorlage nicht in den Editionstext übernehme, verstoße ich gegen
die Anforderung der Schriftzeichentreue. Der Grund ist, daß ich keine typographisch befrie-
digende Form eines runden r in der Antiqua habe finden können. Da in dem Textzeugen W₁
die Abkürzung ꝛc. nicht vorkommt, erachte ich meinen Verstoß gleichwohl für hinnehmbar;
denn in praktischer Hinsicht tritt das runde r in dem Schreibgebrauch, den man in Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ beobachtet, damit ja in der Tat nur als eine allographische Variante des
<r> auf. Der Schreiber benutzte das runde r ungeachtet von Silben- oder morphologischen
Grenzen: Es findet sich daher in beherꝛschet (5, 29) und Anherꝛn (‚Ahnherrn‘; 6, 4) genauso wie
in Öſterꝛeich (7, 9) oder verharꝛete (7, 10). Wurde jedoch ein Wort getrennt, sei es mit Trennstrich
oder an einem Zeilensprung ohne Trennstrich, setzte der Schreiber nach der Trennung stets
mit einem normalen Objekt des <r> fort, was wiederum ein Hinweis auf die ursprünglich nur
objektkontextuale Natur des runden r ist.
Außer den oben besprochenen Superskripten der Objekte von <ä, ö, u, ü, {, ẃ, y, Ö, „>
benutzte der Schreiber in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ ein weiteres Superskript, das bei ihm aus- Abbreviatur-
schließlich über Objekten des <m> erscheint: einen waagerechten Strich. In Texten der Zeit zeichen als zu
transkribierende
ist der Gebrauch dieses Superskriptes verbreitet, und es findet sich bei weitem nicht nur über
Schriftzeichen
Objekten des <m>, sondern ebenso über solchen des <n> und auch kleiner Vokalbuchstaben.
Der waagerechte Strich dient weder der Kenntlichmachung, noch zeigt er eine neue Funktion
an, die das Buchstabenobjekt samt Superskript übernimmt; vielmehr verweist er auf einen
fehlenden Buchstaben, den man sich hinzuzudenken hat – der waagerechte Strich ist folglich
ein Abbreviaturzeichen. Da er stets im Zusammenhang mit einem Nasalbuchstaben auftritt,
nennt man ihn den Nasalstrich. Der Zusammenhang kann dabei unterschiedlich sein: Entwe-
der besteht er darin, daß sich der Strich über einem Nasalbuchstaben befindet, oder darin, daß
der Strich den Ausfall eines Nasalbuchstabens anzeigt, oder auch beides zugleich. Was jeweils
der Fall ist und welchen Buchstaben man sich hinzuzudenken hat, lehrt der Kontext und der
Schreibgebrauch, den man beobachtet. In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ verweist der Nasalstrich
ausschließlich auf den Ausfall des Objekts eines zweiten Nasalbuchstabens <m> wie zum Bei-
spiel in kuÐer, IaÐer, froÐer usw.
Weitere Abbreviaturzeichen, die in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ vorkommen, sind der Ab-
kürzungspunkt, der Abkürzungsdoppelpunkt, der Abbrechungshaken, das er-Häkchen und
der er-Strich. Der Abkürzungspunkt erscheint einmal in v. (4, 1), der Abkürzung für ›und‹,
sowie in den oben angeführten Varianten der Chiffre für ›Graf Friedrich‹; außerdem steht
der Abkürzungspunkt regelmäßig bei den Begriffschiffren. Einmalig tritt der Abkürzungs-
doppelpunkt in dem Text auf, und zwar ebenfalls in einer der Varianten der Chiffre für ›Graf
Friedrich‹. Eine ganz ähnliche Funktion wie Abkürzungspunkt und -doppelpunkt hatte im
Grundsatz der Abbrechungshaken, auch er kürzte beliebige Wörter an beliebigen Stellen ab.
In dieser allgemeinen Funktion begegnet der Abbrechungshaken in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁
aber wieder nur in der Chiffre für ›Graf Friedrich‹. Sonst schränkte der Schreiber den Ge-
brauch auf die Abkürzung der in Endungen vorkommenden Buchstabenfolge -en(-) ein. In
dieser Funktion erscheint der Abbrechungshaken in der Regel am Wortende, und zwar nach
beliebigem Konsonantenbuchstaben; er wurde dabei mit dem vorausgehenden Buchstaben-
objekt so stark ligiert, daß er seine ursprüngliche Gestalt verlor und kaum mehr als der Ab-
brechungshaken, den man in der Chiffre für ›Graf Friedrich‹ antrifft, zu erkennen ist: so etwa
nach <t> in › (‚Spiegelfechten‘; 5, 17), nach <h> in Ź (‚ZuZiehen‘; 9, 7), nach <g>
ⅬⅠⅤ Zur Edition

in Ť (‚einZigen‘; 19, 1), nach <d> in ť (‚gnaden‘; 24, 18), nach <b> in ś (‚derſelben‘;


79, 11), nach <tz> in ‘ (‚ſetzen‘; 104, 9) usw. Regelmäßig verwandte der Schreiber den Ab-
brechungshaken in der hochgestellten Endung von Ordinalzahlen, so zum Beispiel in Ł
(‚13.ten tag‘; 7, 7), wo die Endung aus <t>-Objekt und Abbrechungshaken zu einem Kringel mit
Schwanz verschliffen ist.
Einerseits freier als der Abbrechungshaken, andererseits in der Stellung beschränkter fin-
det sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ ein Häkchen gebraucht, das als Abkürzung für die Buch-
stabenfolge -er(-) dient. Während der Abbrechungshaken als Abkürzung der Buchstabenfolge
-en(-) nur silbenauslautend auftritt, benutzte der Schreiber das er-Häkchen über Silbengren-
zen hinweg, so zum Beispiel in ź (‚andere‘; 104, 9). Das er-Häkchen kommt in dem Text der
Wahren Praktik ausschließlich bei <d> und ausschließlich ligiert vor. Bloßes <d>-Objekt mit er-
Häkchen kann als ˇ für den Artikel ›der‹ stehen, und in dieser Gestalt erscheint die Abbrevia-
tur unter anderem in den Chiffren für ›Aufgang der Sonne‹ und ›Untergang der Sonne‹. Bei
<v> verwandte der Schreiber ein anderes Abbreviaturzeichen, das aber die gleiche Funktion
wie das er-Häkchen bei dem <d> hat; es ist ein rechtsgeneigter Strich, der den linksgeneigten
Schaft des <v>-Objektes kreuzt: ˘. Dieser er-Strich findet sich allerdings in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o a₁ erheblich seltener verwandt als das er-Häkchen bei <d> und der Abbrechungshaken;
er kommt nur an drei Stellen vor. Insgesamt ist der Abbreviaturgebrauch für deutsche Texte
der Zeit nicht untypisch, und ebensowenig untypisch ist, daß Abbreviaturen nur dort be-
nutzt wurden, wo sie dringend erforderlich schienen; in den Initiationsgebeten, in denen der
Schreiber nicht vor dem Problem stand, Text in schmale Kolumnen zu pressen, treten keine
Abbreviaturen auf.
Auch <z>-Objekte können in der Schriftzeichenfolge <dz> als Abbreviaturzeichen fungieren.
Die Schriftzeichenfolge, die in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ die Gestalt З hat, bedeutet je nach
Zusammenhang entweder den Artikel ›das‹ oder die Konjunktion ›daß‹. Der Ursprung dieser
Abbreviatur liegt in einer mittelalterlichen Abkürzung, bei der einem <d>-Objekt eine Figur
angehängt wurde, die Ähnlichkeit mit einem <c>-Objekt hatte. Später wurde dieses Objekt
durch ein <z>-Objekt ersetzt.58 Die Formwandlung der Abbreviatur spielte sich zur Zeit des
Mittelhochdeutschen ab, das mit dem <z> nicht nur die Affrikate /ts/, sondern auch einen s-
Laut verschriftete, und daher erschien ein <dz> den Schreibern vermutlich plausibler als ein
<dc>, ließ es sich doch bequem als Kontraktion von daz interpretieren. Es ist aber fraglich,
ob es sich beim dem <z> in <dz> dem Ursprung nach wirklich um den Buchstaben <z> oder
nicht eher um das aus einer Art Semikolon verschliffene ӡ-ähnliche Abbreviaturzeichen han-
delt, das ich im Zusammenhang mit dem Eszett erwähnte.59 In seiner neuen Gestalt wurde
die Abbreviatur dann fest und an das Frühneuhochdeutsche vererbt. Der Schreiber führte in
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ das zweite Objekt in der Abbreviatur З wie das <z> in der <tz>-Liga-
tur aus, und darum ist zu vermuten, daß er dieses Objekt gleichfalls graphisch als <z> verstand.
Im 17. Jahrhundert kam dem <z> in der Abbreviatur <dz> aber nicht mehr der phonemische
Wert des Buchstabens <z> zu, der nunmehr nur noch die Affrikate /ts/ verschriftete, und daher
muß man das <z>, obwohl es die Gestalt des Buchstabens hat, bei der Transkription nicht als
Buchstaben, sondern als Abbreviaturzeichen auffassen.

58
Vgl. hierzu Schneider a. a. O. S. 90 und Römer a. a. O. S. 119–120
59
Dies nehmen Beck/Beck a. a. O. S. 90–91 an.
Zur Edition ⅬⅤ

Abbreviaturzeichen werden von mir als Schriftzeichen transkribiert. Ich bestimmte Schrift-
zeichentreue nicht nur als die Maßgabe, daß jedes Schriftzeichen der historischen Vorlage
durch dasselbe Schriftzeichen im Transkript wiedergegeben wird, sondern verstand darunter
die Anforderung mit, daß dies stets an derselben Stelle des Textes geschieht. Löste ich Abbre-
viaturen wie ˇ bei der Transkription in <der> auf, verstieße ich gegen diese Maßgabe, weil die
Schriftzeichenfolge <der> mehr Schriftzeichen als die originale Abbreviatur hat und sich in der
Konsequenz die Stellen der Schriftzeichen im Transkript gegenüber der Vorlage verschöben.
Auch wenn das Auftreten von Abbreviaturzeichen in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ in der Regel
nicht vorhersagbar ist, haben sie doch um der Stellentreue willen als Schriftzeichen betrachtet
zu werden.
Die Wiedergabe der Abbreviaturzeichen im Transkript bringt Schwierigkeiten mit sich; in
die modernen Varietät des deutschen Schriftsystems gibt es den Großteil der frühneuzeitlichen
Abbreviaturzeichen nicht mehr, und aus diesem Grunde fehlen in modernen Druckschriften
dafür Glyphen. Keine Probleme bereiten der Abkürzungspunkt und der Abkürzungsdoppel-
punkt. Den Abkürzungspunkt kennt auch die moderne Varietät des deutschen Schriftsystems
(es ist das einzige Abbreviaturzeichen, das die moderne Varietät hat), und den Abkürzungs-
doppelpunkt kann man mit dem normalen Doppelpunkt wiedergeben. Kein größeres Problem
ist auch der Nasalstrich, der sich im Transkript ohne weiteres als waagerechter Strich über
Objekten des <m> darstellen läßt.
Der Abbrechungshaken tritt in der Regel, das er-Häkchen nur ligiert auf. Für meine Tran-
skription gilt die Maßgabe, daß Ligaturen aufgelöst werden, und sie gilt damit ebenso für
die ligierten Abbreviaturzeichen. Nun stellt sich aber die Frage, welche Gestalt sie in unli-
gierter Form hätten. Der Abbrechungshaken kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ unligiert in
der oben angezeigten Chiffre für ›Graf Friedrich‹ vor; es handelt sich um eine Schlaufe, die
entfernt einem <l>-Objekt ähnlich sieht. In Anlehnung daran gebe ich den Abbrechungshaken
im Transkript wie folgt wieder: Р. Was das er-Häkchen angeht, findet sich in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o a₁ kein Anhalt für seine unligierte Form. In frühneuzeitlichen Drucken erscheint das
er-Häkchen bisweilen in einer Gestalt, die der eines heutigen Apostrophs ähnelt. Ich ent-
schied mich jedoch, für das Abbreviaturzeichen mit Ч eine Figur zu benutzen, die mit keinem
heutigen Satzzeichen in der Form übereinstimmt. Der er-Strich, der bei Objekten des <v> auf-
tritt, ist kein Superskript, sondern eine Art »Inskript«, dennoch gebe ich den er-Strich ebenso
mit Ч wieder, setze das Zeichen aber im Unterschied zum er-Häkchen nach <d> nicht hinter,
sondern über das Buchstabenobjekt des <v>. So ergibt sich eine Menge von sechs Abbreviatur-
schriftzeichen, die in dem Textzeugen W₁ zu transkribieren sind: <.>, <:>, <–>, <Р>, <Ч>, <z>.
Buchstaben und Abbreviaturzeichen haben im deutschen Schriftsystem die Aufgabe, Pho-
neme zu verschriften. Daneben gebraucht das Schriftsystem zuweilen Schriftzeichen, die man Logogramme als
eher einem Schriftsystem wie dem chinesischen zuordnet, nämlich Logogramme. Anders als zu transkribie-
rende Schrift-
Buchstaben und Abbreviaturzeichen verschriften Logogramme nicht Sprachlaute, sondern
zeichen
Sprachzeichen, das heißt, ganze Wörter. Die häufigsten Logogramme in deutschen Texten
sind Ziffern und Zifferketten; so verschriften die Ziffer <1> das Wort ›eins‹, die Zifferkette <11>
das Wort ›elf‹, die Zifferkette <111> das Wort ›einhundert(und)elf‹. Wie die Reihe zeigt, funk-
tioniert die Verknüpfung von Zifferschriftzeichen nach anderen Regeln als die Verknüpfung
von Buchstaben: Die Verknüpfung von <a> und <b> zu <ab> ergibt in der Summe das Wort ›ab‹,
die Verknüpfung von <1> und <2> zu <12> aber nicht das Wort ›einszwei‹. An Logogrammen
ⅬⅤⅠ Zur Edition

kommen in dem Textzeugen W₁ ferner die Symbole der in dem geozentrischen Weltbild der
frühen Neuzeit bekannten Planeten zusamt Sonne und Mond vor; zum Beispiel steht ☉ für das
Wort ›Sonne‹, in anderem Zusammenhang jedoch für ›Gold‹, ☾ für das Wort ›Mond‹, in ande-
rem Zusammenhang für ›Silber‹. Überhaupt wird man die Chiffren, die der Schreiber benutz-
te, um den Text der Wahren Praktik zu verschlüsseln, als Logogramme betrachten können: so
sicherlich die griechischen Kleinbuchstaben, die die Rolle von Ziffern wahrnehmen, und so
vielleicht auch den Großteil der Begriffschiffren, die zwar nur Abkürzungen sind, insofern
aber ihre Bedeutung von der Schriftart abhängt, in der sie ausgeführt sind, logogrammartigen
Charakter annehmen. Ob man die Begriffschiffren in der Tat als Logogramme anzusehen hat,
kann aber dahingestellt bleiben; transkribiert würden sie bei einem streng schriftzeichenge-
treuen Ansatz in jedem Falle, nämlich sonst als Buchstaben und Abbreviaturzeichen.
Als ein weiteres Logogramm erscheint in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ ein Schriftzeichen, das
einem p ähnelt. In der Regel betrachtet man dieses Schriftzeichen als ein Abbreviaturzeichen,
der Sache nach handelt es sich aber vorderhand um ein Logogramm. Daß man die Figur als
Abbreviaturzeichen auffaßt, mag damit zusammenhängen, daß oft behauptet wird, es sei die
Abkürzung von lateinischem perge, einem Imperativ, der soviel wie ›setze fort, fahre fort!‹
bedeutet. Aber dies trifft vermutlich nicht zu, das Schriftzeichen soll vielmehr aus der Abkür-
zung ⁊c, die ich oben anführte, hervorgegangen sein. Stellt man sich das c mit der Überstrei-
chung ligiert und in einem Schwung vor dem ⁊ unter die Grundlinie geführt vor, erhält man
eine Figur, die der Form des Schriftzeichens nahekommt. Diese Figur verselbständigte sich in
der Folge von der Abkürzung ⁊c und trat an ihre Stelle.60 Das Logogramm besagt mithin nichts
anderes als: ›und so weiter‹. Bei dem Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ hat es diese
Gestalt: И. Das Schriftzeichen kann in Texten verdoppelt oder sogar verdreifacht auftreten;
verdoppelt und als <p>-Objekt gedeutet hat es seinen Niederschlag in der Redewendung ›etc.
pp‹ gefunden. Darüber hinaus wurde das Schriftzeichen nicht selten als bloßes Textschlußzei-
chen an das Ende eines Textes gesetzt oder aber auch einem abgekürzten Wort angefügt – in
dieser letzteren Funktion dient es dann in der Tat als Abbreviaturzeichen und läßt sich leicht
mit dem Abbrechungshaken verwechseln. Der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13  Aug. 4  o a₁ ge-
brauchte das Schriftzeichen allerdings nur als Logogramm in der Bedeutung ›und so weiter‹.
Ich bilde es im Transkript in folgender Gestalt ab: Т. Damit ergibt sich, die Begriffschiffren
ausgenommen, eine Menge von mindestens 31 Logogrammschriftzeichen, die in dem Textzeu-
gen W₁ zu transkribieren sind: <0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, ♄, ♃, ♂, ☉, ♀, ☿, ☾, α, β, γ, δ, ε, ζ, η, θ, ι,
κ, λ, μ, ν, Т>.
Wie ich ausführte, trifft man den Punkt in dem Textzeugen W₁ als Abbreviaturzeichen
Interpunktions- an, weitaus häufiger begegnet er jedoch als Interpunktionszeichen. Man könnte streiten, ob
zeichen als zu der Punkt als Abbreviaturzeichen und der Punkt als Interpunktionszeichen unterschiedliche
transkribierende
Schriftzeichen oder ein und dasselbe Schriftzeichen in unterschiedlicher Verwendung sind.
Schriftzeichen
Mir scheint letzteres naheliegender, denn es käme sicherlich ebenso niemand auf den Gedan-
ken, die Schriftzeichen <a> und <b> in dem Wort ›ab‹ für andere zu halten als in den Aufzäh-
lungspunkten a) und b), in denen sie keine Phoneme verschriften, und ähnliches gälte für
die rechten Klammern, die in Aufzählungspunkten ebenso keine Parenthesen abschließen. In
der Darstellung meiner Editionsgrundsätze tue ich der Einfachheit halber aber so, als wären

60
Beck/Beck a. a. O. S. 92
Zur Edition ⅬⅤⅠⅠ

der Interpunktions- und der Abkürzungspunkt gesonderte Schriftzeichen. Dasselbe trifft auf
den Doppelpunkt, der in dem Textzeugen W₁ als Interpunktions- und an einer Stelle als Ab-
breviaturzeichen dient, und ferner auf das <z> zu, das sowohl ein Buchstabe als auch ein Ab-
breviaturzeichen ist.
Außer Punkt und Doppelpunkt kommen in dem Textzeugen sechs weitere Interpunktions-
zeichen vor: das Komma, das Semikolon, die linke und die rechte Klammer, das Fragezeichen
und der Trennungsstrich. In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ erscheint als Interpunktionszeichen
nur der Punkt, die übrigen Zeichen trifft man in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ an. Die linke
Klammer tritt stets zusammen mit einem nachfolgenden und die rechte mit einem voraus-
gehenden Punkt auf, es sei denn, der Schreiber vergaß den Punkt zu setzen. Fraglich ist, ob
man Klammer und Punkt als ein Schriftzeichen oder als die Folge von zweien verstehen soll.
Ich betrachte Klammer und Punkt als zwei Schriftzeichen und gebe sie daher im Transkript
als zwei Schriftzeichen wieder. Der Punkt hat hier nämlich eine weitere Funktion außer der
Abkürzung und der Bezeichnung eines Satzschlusses, er hebt heraus und stellt zugleich sicher,
daß die Klammer nicht mit anderen Strichen, die in einer Handschrift vorkommen können,
verwechselt werden; diese Gefahr bestand, solange in der Kurrente zum Beispiel die Virgel
verwandt wurde. Der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ aber benutzte die Virgel
schon nicht mehr, sondern nur noch das Komma. Obwohl der Punkt scheinbar zur bloßen
Kenntlichmachung vorgesehen war, ist er in dieser Funktion nicht mit dem Haken über Ob-
jekten des Kleinbuchstabens <u> gleichzusetzen – ich sehe in ihm als Heraushebungszeichen
vielmehr ein besonderes Interpunktionszeichen, das ich unten in anderem Zusammenhang
kurz beleuchten werde. Ähnlich wie der Punkt bei der Klammer läßt sich auch der Punkt be-
trachten, der regelmäßig in Ziffern geschriebene Zahlen, und zwar unabhängig davon, ob es
sich um eine Kardinalzahl oder eine Ordinalzahl handelt, abschließt. Die Menge der acht In-
terpunktionsschriftzeichen, die im Textzeugen W₁ zu transkribieren sind, stellt sich insgesamt
wie folgt dar: <.>, <,>, <:>, <;>, <(>, <)>, <?>, <->.
Befremden mag, daß ich Schriftleerräume als Schriftzeichen auffasse. Unter Schriftleer-
räumen verstehe ich Leerflächen, die innerhalb des Schriftspiegels einer Handschrift oder Schriftleer-
eines Druckes auftreten. Als graphisch leere Schriftzeichen untergliedern Schriftleerräume räume als zu
transkribierende
einen als zusammenhängende Schriftzeichenkette zu denkenden Text in bedeutungstragende
Schriftzeichen
Teilketten. Der in einem Text am häufigsten vorkommende Schriftleerraum ist der Wortzwi-
schenraum. Eine dem Wortzwischenraum analoge Funktion kann der Zeilenumbruch und
entsprechend der Seitenumbruch wahrnehmen. Weitere Schriftleerräume sind der Absatz
und die Leerzeile, die Einrückung und – als negative Einrückung – die Ausrückung. Verstehe
ich Schriftleerräume als Schriftzeichen, unterfallen sie meinem Ansatz gemäß der Maßgabe
einer schriftzeichengetreuen Transkription. Dies bedeutet, daß in das Transkript die origina-
le Seiteneinteilung, der originale Zeilenfall und die originale Absatzeinteilung und sonstige
Textgliederung übernommen und daß auch die historische Zusammen- und Getrenntschrei-
bung der Vorlage getreu abgebildet werden muß.
Ich habe damit die Gesamtmenge der Schriftzeichen dargelegt, die bei einer schriftzei-
chengetreuen Transkription des Textzeugen W₁ zu erfassen sind; die Gesamtmenge unterteilt
sich in die Teilmengen der Buchstaben, der Abbreviaturzeichen, der Logogramme, der Inter-
punktionszeichen und der Schriftleerräume. Was vor allem die Buchstaben betrifft, knüpfen
sich an die historischen Schriftzeichenobjekte der Vorlage Informationen, die über die bloße
ⅬⅤⅠⅠⅠ Zur Edition

Schriftzeicheninformation hinausgehen. Diese weiteren Informationen lassen sich systemati-


sieren, und es erscheint sinnvoll, sie gleichfalls im Transkript wiederzugeben.
Jedes Schriftzeichenobjekt wird in einer bestimmten Schriftart ausgeführt. Da ein histori-
Zweiter sches Schriftzeichenobjekt der Vorlage jeweils durch ein modernes Schriftzeichenobjekt des
Transkriptions- Transkriptes ersetzt wird, ist es gerade bei Handschriften so gut wie unmöglich, die originale
grundsatz:
Schriftartinformation, die sich mit dem historischen Schriftzeichenobjekt verbindet, in das
getreue
Wiedergabe
Transkript zu übertragen. Was man allerdings übertragen kann, ist eine Erscheinung, die man
von Schriftart- regelmäßig in deutschen Texten der frühen Neuzeit antrifft: den Wechsel der Schriftarten
wechseln oder, genauer ausgedrückt, die Tatsache, daß Schriftarten wechseln. Wenn ich von Schriftart
spreche, meine ich den Begriff nicht in spezifisch typographischem Sinne, sondern in dem all-
gemeineren Sinne einer Art oder eines Stiles, in der eine Schrift gestaltet ist. Schriftartwechsel
bedeutet also, daß sich in einem frühneuzeitlichen Text der Stil, in dem Schriftzeichenobjekte
ausgeführt sind, mehrfach ändert, und zwar meist systematisch ändert, wie die Beobachtung
zeigt. In aller Regel sind handschriftliche deutsche Texte der frühen Neuzeit in Kurrente ge-
schrieben, denn die Kurrente war die gewöhnliche Gebrauchs- oder Geschäftsschrift der Zeit.
Angesichts der Bedeutung, die damals Latein hatte, kann nicht verwundern, daß sich in deut-
schen Texten der frühen Neuzeit oft lateinische Einsprengsel finden, und diese Einsprengsel
wurden vom 16. Jahrhundert an gemäß der Doktrin, Lateinisches sei in der von italienischen
Humanisten kreierten Antiqua zu schreiben, auch in deutschen Texten in Antiqua, in hand-
schriftlichen Texten entsprechend in der Antiquakursive ausgeführt. Dieser Gebrauch von
Antiqua und Antiquakursive wurde in der Folge auf alles Fremdsprachige, das in deutschen
Texten erschien, ausgeweitet.
Der Wechsel zwischen Kurrente und Antiquakursive, wie er in Handschriften auftritt,
ist vorderhand ein Wechsel zwischen zwei Gebrauchsschriften, die für unterschiedliche
Sprachsphären benutzt wurden. Parallel zu diesem Wechsel findet sich, die deutsche Sprach-
sphäre betreffend, bei förmlicheren Texten vielfach ein Wechsel von Gebrauchs- und Aus-
zeichnungsschrift. Dabei ist Auszeichnung wörtlich zu verstehen: es geht in der Tat darum,
Textstellen auszuzeichnen, nicht bloß hervorzuheben. Als Auszeichnungsschrift dient vom
16. Jahrhundert an in Handschriften zu allererst die Kanzlei; es ist dies eine Schrift, die wie die
Druckfraktur Buchstabenbrechungen aufweist, aber insofern dem handschriftlichen Duktus
verpflichtet bleibt, als ihre Minuskeln weitgehend miteinander verbunden stehen. Als eine
weitere Auszeichnungsschrift trifft man eine händisch ausgeführte Fraktur an, die in ihren
Formen der gedruckten ähnelt. Kurrente, Kanzlei und händische Fraktur bewegen sich in ei-
ner Handschrift auf einer dreistufigen Skala zunehmender Repräsentativität.
In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ beobachtet man zunächst einen Wechsel zwischen Kur-
rente und Kanzlei: Wie ich bereits ausführte, dient die Kurrente ihrem Gebrauchsschriftcha-
rakter gemäß als Grundschrift, während die Kanzlei ihrem Auszeichnungscharakter entspre-
chend benutzt wurde, um im Textblock der verschlüsselten Wahren Praktik Markierungen für
Überschriften, Kapitel- und Absatzanfänge zu setzen und in den Initiationsgebeten jeweils die
erste Zeile von Überschriften herauszuheben. Ferner gebrauchte der Schreiber die Kanzlei,
um mit ihr den initialen Großbuchstaben bei Ausrückungen auszuzeichnen. Handschriftliche
Fraktur benutzte der Schreiber in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ nicht, sie kommt aber in
Überschriften anderer von ihm geschriebener Teile des Kodexes vor, zu dem der Textzeuge W₁
gehört. Für Fremdsprachiges, zumal fremdsprachige Namen, gebrauchte der Schreiber nach
Zur Edition ⅬⅠⅩ

den Gepflogenheiten der Zeit die Antiquakursive; insbesondere führte er die Polygramme
der magischen Buchstabenquadrate im vierten Buch der Wahren Praktik als – zum größten
Teil vermeintlich – hebräische, aramäische, griechische, lateinische, arabische usw. Wörter in
Antiquakursive aus. Auffällig indes ist, daß er für die exotischen Namen der bösen Geister in
der Dämonentetrachie des dritten Buches der Wahren Praktik die Kurrente benutzte.
Der Wechsel der Schriftart geht in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ mit dem Wechsel der
Schriftgröße einher: Kanzleitext wie auch Text in Antiquakursive ist stets größer ausgeführt Dritter
als der gewöhnliche Kurrentetext; den größten Schriftgrad haben die initialen Kanzleibuch- Transkriptions-
grundsatz:
staben, mit denen Ausrückungen versehen sind. Es existiert somit, teils redundant mit dem
getreue
Schriftartwechsel, eine mehrstufige Größenskala zur Auszeichnung, und die größere Schrift, Wiedergabe von
womit die Antiquakursive ebenso wie die Kanzlei vor der Kurrente herausgehoben ist, zeigt Schriftgrößen-
auf, daß der Schreiber die Antiquakursive anscheinend doch nicht nur wie eine gewöhnliche wechseln
Gebrauchsschrift einer anderen Sprachsphäre behandelte; Antiquakursive und Kurrente wa-
ren typographisch oder, so sollte man hier besser sagen, chirographisch einander gerade nicht
gleichgestellt. Diese Erscheinung läßt sich in vielen Handschriften der Zeit beobachten, und
man wird darin eine höfliche Verbeugung, gleichsam eine konventionalisierte chirographi-
sche Reverenz vor der mit einer bestimmten Sprachsphäre assoziierten Schriftart und damit
vor jener Sprachsphäre selbst sehen dürfen.
Bei der Transkription gehen die originalen Schriftzeichenobjekte der historischen Vorlage
unter, und so gehen auch unter die originale Schriftart und die originale Größe, in denen sie
ausgeführt sind. Doch kann man wenigstens die Tatsache, daß in der historischen Vorlage
ein Wechsel der Schriftart erfolgt, dadurch abbilden, daß im Transkript gleichfalls die Schrift-
art an den entsprechenden Stellen wechselt. Ebenso läßt sich die Tatsache des originalen
Schriftgrößenwechsels wiedergeben, indem sich auch im Transkript die Schriftgröße an den
entsprechenden Stellen ändert. Ich verfahre im Editionstext wie folgt: Kurrente der Vorlage
gebe ich durch die hier gebrauchte normale Serifen-Antiqua, Antiquakursive dagegen durch
normale serifenlose Antiqua wieder. Textpassagen in serifenloser Antiqua werden gegenüber
Textpassagen in Serifen-Antiqua in einem vergrößerten Schriftgrad ausgeführt. Kanzlei gebe
ich wie die Kurrente durch Serifen-Antiqua wieder, hebe diese aber ebenfalls mit vergrößer-
tem Schriftgrad heraus, wo sie in der Vorlage der Auszeichnung im Text und in Überschriften,
und mit noch weiter vergrößertem Schriftgrad, wo sie der Auszeichnung des initialen Buch-
stabens einer Ausrückung dient.
Daß ich der Kanzlei im Transkript keine eigene Schriftart zuweise, hat einen typographi-
schen Grund. Im Kosmos der historischen Vorlage besteht eine hergebrachte Staffelung von
Kurrente, Kanzlei und händischer Fraktur, die sich an der Repräsentativität der Schriftart
bemißt; im Kosmos der modernen Antiquadruckschrift, die ich im Editionstext verwende,
existiert eine derartige Repräsentativitätsskala nicht. Man könnte vielleicht auf den Gedan-
ken kommen, die Kanzlei im Editionstext durch eine kursive Antiqua wiederzugeben, doch
ist kursive Antiqua kein geeignetes Mittel, den Schriftartwechsel von Kurrente zu Kanzlei zu
bezeichnen, weil sie von dem Verhältnis, in dem die beiden Schriftarten in der historischen
Vorlage stehen, eine falsche Vorstellung vermittelte, ja das Verhältnis im Transkript womög-
lich umkehrte: Kursive Antiqua steht zur Normalantiqua gerade nicht im Verhältnis größerer
Repräsentativität, sondern erweckt mit ihrer angedeuteten Handschriftennähe gegenüber der
normalen Antiqua allenfalls einen informelleren Eindruck. Sachgerechter scheint mir daher,
ⅬⅩ Zur Edition

im Transkript auf eine Kennzeichnung der originalen Kanzlei durch eine eigene Schriftart
zu verzichten; Textpassagen in originaler Kanzlei heben sich im Editionstext folglich nur mit
ihrer größeren Schrift von Textpassagen in originaler Kurrente ab.
Außer durch Schriftgrößenwechsel können Schriftzeichenobjekte in historischen Hand-
Vierter schriften durch weitere graphische Mittel wie etwa durch Schriftfarbenwechsel oder durch
Transkriptions- Unterstreichungen herausgehoben sein. Soweit eine Wiedergabe in einem Transkriptdruck-
grundsatz:
text möglich ist, gibt es keinen Grund, sie zu unterlassen. In dem Textzeugen W₁ finden sich
Wiedergabe son-
stiger graphi-
an solchen graphischen Mitteln nur Überstreichungen, die in Ziffern ausgeführte Zahlen von
scher Mittel den übrigen Schriftzeichen abheben. Solche Überstreichungen sind für handschriftliche Tex-
te der frühen Neuzeit charakteristisch, ohne daß freilich jeder Schreiber sie anwandte. Der
Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ gebrauchte sie wiederholt, aber nicht durch-
gängig, der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ benutzte sie überhaupt nicht. Wo in der
Vorlage Überstreichungen vorkommen, werden sie im Editionstext wiedergegeben.
Ich formulierte eingangs mit der Schriftzeichentreue und der getreuen Wiedergabe von
Schriftart- und Schriftgrößenwechseln und anderer graphischer Mittel vier Anforderungen,
denen die Transkription eines historischen Textes nach meinem Verständnis genügen sollte.
Erfüllt ein Transkript die Anforderungen vollständig, so ist es in meinen Augen ein ideales
Transkript, das die Historizität des wiedergegebenen Textes so weit bewahrt, wie es ein Tran-
skript nur eben vermag. In der nicht idealen Realität aber trifft vor allem die Befolgung der
Schriftzeichentreue nicht selten auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten verant-
wortet zu einem Teile die historische Vorlage selbst, zum anderen Teile erwachsen sie aus
Zwängen, die die typographische Einrichtung des Transkriptdrucktextes setzt. Im weiteren
werde ich darlegen, wo das vorliegende nicht ideale Transkript des Textzeugen W₁ gegen die
vier Anforderungen verstößt.
Zwei Fälle habe ich schon erwähnt: Ich vernachlässige das runde r, das in der Vorlage nach
Absichtliche Ver- normalem r auftritt, und ordne der Kanzlei, die in der Vorlage als Auszeichnungsschrift dient,
stöße gegen die im Transkript keine eigene Schriftart zu. Das eine ist ein Verstoß gegen die Schriftzeichen-
Transkriptions-
treue, das andere ein Verstoß gegen die Maßgabe, Schriftartwechsel getreu zu reproduzieren.
grundsätze
Beide Verstöße sind typographisch begründet. Weitere, und zwar gravierende Verstöße gegen
die in der Schriftzeichentreue inbegriffene Stellentreue ergeben sich aus einer grundsätzli-
chen editorischen Entscheidung. Der Text der Wahren Praktik ist im historischen Original
verschlüsselt, in der Edition jedoch soll er unverschlüsselt wiedergegeben werden. Diese Ent-
scheidung läßt sich gleichfalls typographisch begründen. Der Versuch, die Zeilensprünge der
handschriftlichen Vorlage in einem Transkript abzubilden, das in Druckschrift ausgeführt
wird, kann bei der unterschiedlichen Laufweite der Schriften nur ein gänzlich unansehnliches
Ergebnis zeitigen. Bedeutsamer aber ist der Aspekt der Nutzbarkeit der Edition. Die Zeilen-
sprünge machten das Arbeiten mit dem Transkript unbequem und vor allem erschwerten sie
die Orientierung im Text und das Auffinden von Stellen beträchtlich. In der vorliegenden Edi-
tion hebe ich daher die originalen Zeilensprünge auf und ordne den Text den Gepflogenheiten
gemäß an; ebenso löse ich die Begriffs- und Zahlenchiffren auf.
Der Text der Vorlage ist in kleiner Schriftgröße und in Zeilen mit relativ großer Schriftzei-
chenzahl ausgeführt, und auch dies ergäbe, in die Edition übernommen, kein typographisch
annehmbares Resultat; dies gilt um so mehr, als sich in der Edition durch die Auflösung der
Begriffschiffren die Schriftzeichenzahl in vielen Zeilen über die Originalzahl hinaus erhöht.
Zur Edition ⅬⅩⅠ

Daher hebe ich im Transkript nicht allein die originalen Zeilensprünge am rechten Rand
der linken und mittleren, sondern ferner die Zeilenumbrüche am rechten Rand der rechten Aufhebung der
Schriftspiegelkolumne auf. Auch die Zeilenzahl – im Schriftspiegel der Vorlage sind es immer- Zeilensprünge
und -umbrüche
hin sechsundvierzig – läßt sich in die Edition nicht übernehmen, weil hier die maximal mög-
sowie Teilauf-
liche Zeilenzahl der einzelnen Seiten des Transkriptes wesentlich von dem jeweiligen Umfang lösung der
des Apparates abhängt, der sich am Fuß der Seiten befindet. Ich bin daher gezwungen, die blockhaften
originalen Seitenumbrüche gleichfalls aufzuheben. Um dem Leser eine Hilfe zu bieten, ge- Textgestalt der
gebenenfalls Transkript und Originalhandschrift zu vergleichen, halte ich im Transkript den Vorlage
originalen Seitenumbruch mit einem senkrechten Strich | als Marke fest – ein Pseudoschrift-
zeichen, das sich in der Originalhandschrift selbstverständlich nicht findet. Mit der Aufhe-
bung der originalen Seitenumbrüche verlieren nunmehr die Reklamanten, die die historische
Vorlage verwendet, jede Funktion; sie werden aus diesem Grunde nicht wiedergegeben und
auch nicht durch neue, unhistorische Reklamanten ersetzt.
Um die Orientierung im Transkript zu erleichtern, löse ich ferner die Buch- und Kapitel-
überschriften sowie die Überschriften der vermischt-kabbalistischen Rezepte im zweiten und
der magischen Polygrammfolgen im vierten Buch der Wahren Praktik aus dem geschlossenen
Textblock, als der sich der Vorlagetext im Textzeugen W₁ darstellt, und führe zwischen den
Büchern, Kapiteln, Rezepten und Polygrammfolgen Leerzeilen ein. Die Überschriften ordne
ich mittig im Schriftspiegel an und gebe ihnen, wenn sie die Länge einer Zeile überschreiten,
eine sich nach unten verjüngende Trapezform. Gegenüber der handschriftlichen Vorlage zeigt
sich der Text der Wahren Praktik damit in der Edition in einer stark veränderten äußerlichen
Gestalt. Um aber zumindest näherungsweise einen Eindruck von der Kompaktheit zu vermit-
teln, mit der Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ im Original dem Leser entgegentritt, unterließ ich es,
innerhalb der Kapitel und vermischt-kabbalistischen Rezepte Absätze einzuführen; meines
Erachtens tut dies der Lesbarkeit des Transkriptes keinen wesentlichen Abbruch.
Alles dies sind nicht nur rein formale Verstöße gegen die Maßgabe der Stellentreue, die
Eingriffe haben, so sinnvoll sie erscheinen mögen, für den Leser nachteilige Folgen, was die
Interpretation von Schreibungen betrifft. Das deutsche Schriftsystem gewährte Schreibern
und Setzern des 17. Jahrhunderts großzügige Lizenzen, mit denen man strategisch umging.
Der Schreiber nutzte in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ die Möglichkeit, Wörter durch Konsonan-
tenhäufung und seinem Schreib- und Sprechdialekt fremde Streckformen nach Belieben zu
verlängern oder durch Abbreviaturen zu kürzen, um so die Zeilen der Schriftspiegelkolumnen
bündig auszufüllen. Indem ich die Zeilensprünge aufhebe, hängen diese strategischen Konso-
nentenhäufungen, Streckformen und Abbreviaturen im edierten Text nunmehr gleichsam in
der Luft und können zu Fehldeutungen über ihren Gebrauch Anlaß geben. Indem ich ferner
die originalen Zeilenumbrüche am Rand der rechten Schriftspiegelkolumne aufhebe, wird
die historische Worttrennung in der Edition verschüttet, und ich stehe vor dem Problem,
eine neue Worttrennung, die zwangsläufig unhistorisch ist, durchzuführen. Denn auch bei
der Worttrennung verfuhr der Schreiber mit den Lizenzen des 17. Jahrhunderts strategisch:
Je nachdem, was eher einen glatten Textrand ermöglichte, trennte er Wörter nach dem Sil-
benprinzip, das in der modernen Varietät des deutschen Schriftsystems Norm ist, oder nach
dem morphologischen Prinzip, das sich in Trennungen wie ſonderbar- en, Caldeiſch- er oder
wohn- ung zeigt. Es erschiene kaum angebracht, Historizität vorzutäuschen, indem man in
der Edition künstlich ebenso bald nach dem Silbenprinzip, bald nach dem morphologischen
ⅬⅩⅠⅠ Zur Edition

Prinzip trennte; vielmehr führe ich der modernen Norm gemäß und damit unhistorisch stets
Trennung nach dem Silbenprinzip durch. Dies erfordert für einige Schreibungen gesonder-
te Regelungen: So trenne ich bei <s>, bei <tz>, das Konsonantbuchstaben folgt, bei <ck> und
<ſz> sowie bei geminierten Konsonantenbuchstaben, denen Diphthong oder Konsonant vor-
ausgeht, in der Weise, wie man in der modernen Varietät des deutschen Schriftsystems bei
den Schriftzeichenfolgen <ch> oder <sch> verführe; ich trenne im Transkript also volko- Ðene,
gan- tzen, Dan- cket, di- ſzer, stei- ffer, gegenwer- ttigen usw.
Die Aufhebung der originalen Verschlüsselung erfordert weitere Konjekturen. Die frühe
Neuzeit kannte keine normierte Zusammen- und Getrenntschreibung. Fällt in dem verschlüs-
selten Vorlagetext eine Kompositionsfuge mit einem Zeilensprung zusammen und hebe ich
den Zeilensprung im Transkript auf, stellt sich die Frage, welche Schreibung ich als von dem
historischen Schreiber intendiert konjizieren soll – ich erinnere daran, daß der Schreiber an
Zeilensprüngen, anders als an Zeilenumbrüchen, keine Trennungsstriche setzte. In solchen
Fällen versuche ich mich zunächst nach der Zusammen- oder Getrenntschreibung zu richten,
womit der Ausdruck an anderer Stelle ausgeführt ist; kommt der Ausdruck sonst im Text nicht
vor, lege ich den allgemeinen Schreibgebrauch, der sich in dem Text beobachten läßt, zugrun-
de. Da dieser aber nicht einheitlich ist, bleiben mitunter Zweifelsfälle, die ich im Textapparat
anzeige.
Ein ähnliches Problem gibt die Zeichensetzung an Zeilensprüngen auf. Verfolgt man die In-
terpunktion des verschlüsselten Textes, hat man den Eindruck, daß der Schreiber Interpunk-
tionszeichen, die man nach seinem Schreibgebrauch eigentlich erwarten könnte, an Zeilen-
sprüngen nicht selten entfallen ließ. Was der Grund hierfür war, ist im einzelnen unklar; viel-
leicht sollte auch dies Teil der Verschlüsselung sein, vielleicht meinte der Schreiber sich das
Zeichen ersparen zu können, weil der Leser an dem Zeilensprung ohnehin eine vom Augen-
sprung verursachte Pause mache; 61 in manchen Fällen wird am Ende der Kolumnenzeile auch
schlicht der Platz für das Zeichen gefehlt haben. Da an Zeilensprüngen entfallene Interpunk-
tionszeichen den Leser des edierten Textes, in dem die Zeilensprünge aufgehoben sind, zu
Fehlschlüssen über die historische Interpunktion veranlassen könnten, verzeichne ich immer
dann, wenn sich ein solcher Entfall vermuten läßt, den originalen Zeilensprung im Textap-
parat. Nun haben Interpunktionszeichen aber auch schon in der frühen Neuzeit die Aufgabe,
einen Text zu gliedern und damit die Lektüre zu erleichtern. Deshalb entschied ich mich, in
den besagten Fällen nicht nur den Zeilensprung im Textapparat festzuhalten, sondern darüber
hinaus im edierten Text an den Stellen der originalen Zeilensprünge Zeichensetzung durch-
zuführen, um so irritierende Interpunktionslücken zu vermeiden. Dabei richte ich mich im
Grundsatz nach der Norm moderner Zeichensetzung, aber nicht konsequent, sondern nehme
auf den originalen Interpunktionskontext Rücksicht: Im Vorlagetext finden sich zum Beispiel
Appositionen und Anreden bisweilen in Kommata eingeschlossen, bisweilen nicht; fällt nun
das Ende einer nicht eingeschlossenen Apposition oder Anrede mit einem Zeilensprung zu-
sammen, so setze ich im edierten Text entgegen den modernen Gepflogenheiten kein Komma.
In anderen Fällen verfahre ich entsprechend. Jedes Interpunktionszeichen, das ich nach dem
dargestellen Vorgehen in den edierten Text einfüge, wird im Textapparat vermerkt.

61
Es ist strittig, ob sich die frühneuzeitliche Zeichensetzung vor allem an grammatischen oder an intonatorischen
Kriterien orientierte; in der modernen Varietät des deutschen Schriftsystems überwiegen die grammatischen.
Zur Edition ⅬⅩⅠⅠⅠ

Auch an den rechten Rändern der rechten Schriftspiegelkolumne, also dem eigentlichen
Zeilenende, beobachtet man, daß zuweilen Interpunktionszeichen entfallen zu sein scheinen.
Zwar fehlen sie in nicht so großem Maße wie an Zeilensprüngen, doch ist der Entfall, gemes-
sen am sonstigen Schreibgebrauch, augenfällig. Vermutlich wird es vor allem das Bestreben
nach einem glatten Rand gewesen sein, die den Schreiber auf ein Interpunktionszeichen ver-
zichten ließ. Ich verfahre in solchen Fällen wie bei den aufgelösten Zeilensprüngen. Wenn
ich Interpunktionszeichen in den edierten Text einfüge, so benutze ich im übrigen stets nur
Punkte und Kommata, keine Semikola oder Doppelpunkte.
In mehrerer Hinsicht problematisch ist ferner die Auflösung der Begriffschiffren, wie ich
sie im edierten Text vornehme. Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃, die Entschlüsselungstabelle, stammt Auflösung der
von anderer Hand als der verschlüsselte Text der Wahren Praktik in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁, Begriffs- und
Zahlenchiffren
und daher lassen sich die Schreibungen der Tabelle nicht ohne weiteres übernehmen. Ich rich-
der Vorlage
te mich bei der Auflösung der Begriffschiffren zunächst nach den Texten, die von der Hand
des Schreibers von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ stammen; mitunter finden sich die entsprechen-
den Begriffe in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂, den Initiationsgebeten, oder sie blieben an einigen
Stellen in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ selbst unverschlüsselt, weil der Schreiber die Begriffe zu
chiffrieren vergaß oder sie aus bestimmten Gründen absichtlich nicht chiffrierte. Für manche
Chiffren läßt sich freilich kein Aufschluß gewinnen, wie der Schreiber einen Begriff ausge-
schrieben hätte. In solchen Fällen suche ich die Schreibung aus dem Schreibgebrauch von
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ zu konstruieren; ist dies nicht möglich, übernehme ich die Schrei-
bung von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃, was vor allem dann um so leichter fällt, wenn sie die
allgemein übliche war wie etwa bei ›Belial‹ oder ›Christ‹. Bei alledem setze ich stets voraus,
daß der Wortlaut der Auflösungen, die Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ bietet, korrekt ist. Für eine
gegenteilige Annahme habe ich nirgendwo einen Anhalt gefunden – mir ist wenigstens keine
Stelle in dem verschlüsselten Text der Wahren Praktik aufgefallen, wo sich die Auflösungen
von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ nicht sinnvoll in den Zusammenhang eingepaßt hätten. Was die
Auflösungen von Chiffren angeht, die für Geisterfürsten wie ›Ariton‹, ›Amaymon‹, ›Luzifer‹,
›Leviathan‹ usw. stehen, so finden sie in Textzeugen, die von W₁ unabhängig sind, eine Stütze.
Im einzelnen löse ich die Begriffschiffren im edierten Text wie folgt auf:
A. Adonai
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ bieten keinen Anhalt für eine vom Schreiber inten-
dierte Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o  a₃.
A. Die Chiffre wird in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ aufgeführt, in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁
aber nicht benutzt.
A. У ☉. Aufgang der Sonnen
Das Wort ›Aufgang‹ blieb einmal in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ in der Schreibung Auf-
gang der ☉. (34, 8) sowie dreimal in der umgestellten Fügung der ☉. Aufgang (54, 16;
69, 8/9) und der ☉. aufgang (72, 11) unverschlüsselt, ferner erscheint es dreimal unver-
schlüsselt für sich stehend als Aufgang (101, 10; 150, 3. 10). Entsprechend der Mehrzahl
der Belege löse ich in Aufgang mit großem Anfangsbuchstaben auf. Die Auflösung
der Chiffre für ›Sonne‹ folgt mit der schwachen Flektion dem Schreibgebrauch von
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁, man vergleiche zum Beispiel den Genitiv Singular einer
ⅬⅩⅠⅤ Zur Edition

Iungkfraẃen (13, 13), den Dativ Singular der Fraẃen (50, 21) oder den Akkusativ Singu-
lar Lampen (106, 23; 107, 2).
’. Ariton
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃.
“. Amaymon
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃.
B. Belial
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃.
BG. böſze Geiſter
Die Fügung tritt unverschlüsselt fünfmal in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ auf: den Böſzen
vnd verfluechten Geiſten (176, 10), den Böſzen Geiſtern (178, 20), böſzer Geiſter (180, 8),
der Böſzen Geiſter (181, 18), alle Böſze Geiſter (181, 20). Obwohl in der Mehrheit die-
ser Belege das Adjektiv ›böse‹ groß geschrieben ist, löse ich es als Teil der Chiffre
in Kleinschreibung auf – Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ neigt zu heraushebender Groß-
schreibung, während sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ ein solche Tendenz nicht er-
kennen läßt, man vergleiche etwa die teilverschlüsselten Fügungen den guten oder
böſzen E. (= Engeln; 130, 16) und der böſzen oder DG. (= Dienstgeister; 125, 22/23). Der
Schreiber führte das Adjektiv in anderen Zusammenhängen regelmäßig mit <ſz> aus,
nur dreimal findet sich das Adjektiv in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ mit einfachem <ſ  >
geschrieben: böſen (125, 12; 126, 9), böſem (134, 14); darum gebe ich das Adjektiv als
Teil der Chiffre gleichfalls mit <ſz> wieder. Dem Schreibgebrauch gemäß beuge ich
das Adjektiv im Nominativ und Akkusativ Plural nach Artikel oder artikelähnlichen
Wörtern stark, vergleiche hierzu den obigen Beleg alle Böſze Geiſter. Das Substantiv
›Geist‹ gebe ich als Teil der Chiffre in der Schreibung Geiſt wieder (siehe die Aus-
führungen zur Chiffre G.), im Plural verwende ich nach Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ die
Form Geiſter. Der in einem der obigen Belege vorkommende Dativ Plural Geiſten ist
sprachgeschichtlich durchaus möglich; da der Schreiber in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂
sonst aber den Plural Geiſter gebrauchte, läßt sich jedoch mit einiger Wahrscheinlich-
keit ein bloßes Schreibversehen für Geiſtern vermuten.
C. Chriſt
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃.
DG. DienſtGeiſter
Für eine von dem Schreiber intendierte Schreibung bietet Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁
keinen rechten Anhalt. Es tritt das halbverschlüsselte nicht zusammengeschriebene
Kompositum dienſt oder Familiar G. (= Geister; 131, 16) mit klein geschriebenem Vor-
Zur Edition ⅬⅩⅤ

derglied dienſt auf, doch nehme ich die Schreibung des unverschlüsselten SchutzEngel
(183, 2. 4) in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ zum Muster und löse die Chiffre in zusammen-
geschriebenes DienſtGeiſt mit groß geschriebenem Vorder- und Hinterglied auf. Zum
Plural siehe die Ausführungen zur Chiffre BG.
E. Engel
Das Wort ›Engel‹ kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ mehrfach vor: deiner heilligen
Engel (176, 8), alle Engel (179, 21), deiner Heilligen Engel (181, 15), Engel (181, 25), deiner
lieben Engel (182, 32), deiner heilligen Engel (183, 22); zweimal tritt es dabei als Hin-
terglied eines Kompositums auf: SchutzEngel (183, 2. 4). Die Chiffrenauflösung folgt
dieser Schreibung. Den Dativ Plural bilde ich nach dem Schreibgebrauch von Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ als Englen, das heißt, mit Synkope des vorletzten Schwa statt –
wie heutzutage üblich – des letzten; man vergleiche etwa die Dativ Plurale flüglen
(45, 2), Mauleſzlen (47, 4), Öpflen (‚Äpfeln‘; 51, 19).
G. Gott / göttlich
Die Auflösung des Substantivs wird sowohl von Simplizia – Gott (174, 4. 14; 175, 2. 4. 6.
7. 15. 21. 23. 29. 32. 33 usw.) – und einem Kompositum – gnadenGott (175, 1) – in Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ als auch einem Simplex – der G. [= Geist] gottes (13, 10) – und
mehreren Komposita – Gottsförchtig (15, 18), gottloſzen (11, 26), gottloſz (13, 4), gottloſze
(13, 23), Gottesdienſten (18, 3) usw. – in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ gestützt. Als inten-
diert wird man für das Simplex Großschreibung annehmen dürfen, die einmalige
Kleinschreibung in der G. gottes dürfte ein Versehen sein. An einer Stelle legt der
Kontext nahe, die Chiffre als Adjektiv aufzulösen: aller G. vnd M. W. (= aller göttlichen
und magischen Weisheit; 5,8). Das Adjektiv findet sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ in
unverschlüsselter Form mehrfach und dabei oft attributivisch vor der Chiffre W., die
für ›Weisheit‹ steht, und es ist in dieser Stellung stets göttlich (also klein, umgelautet
und mit <tt>) geschrieben. Entsprechend löse ich die Chiffre an der genannten Stelle
auf. Einzige Ausnahme der Geminatenschreibung ist ein götlichen (80, 24), einzige
Ausnahme der generellen Kleinschreibung ein Göttlichen Magiae (173, 17) im Kolo-
phon von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁. In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ dagegen wird ›gött-
lich‹ immer groß geschrieben, hier trifft man auch einmaliges Götlichen (174, 8) und
Gottlichen (178, 35) an.
G. Geiſt
Das Wort findet sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ einmal unverschlüsselt als Geiſt
(105, 7). Dem entspricht die Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂. Zum Plural siehe
die Ausführungen zur Chiffre BG.
GG. gute Geiſter
Den zweiten Bestandteil der Chiffre löse ich als Geiſt auf, siehe hierzu die Ausfüh-
rungen zur Chiffre G. und zum Plural die Ausführungen zur Chiffre BG. Das Adjek-
tiv ›gut‹ kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ oft vor und ist dabei mehrheitlich als
gut ohne Bezeichnung des oberdeutschen Diphthongs geschrieben: gutem (9, 7; 20, 11;
25, 24; 27, 16), gute (9, 16; 22, 2; 26, 13; 27, 14), guten (9,  18; 14, 28; 15, 28), gutes (26, 12. 13)
usw. In dieser Schreibung tritt es ebenso vor der Chiffre E. auf, die ›Engel‹ bedeutet:
die H. vnd guten E. (4, 12/13), der gute E. (125, 16), guten E. (126, 7), dem guten E. (129, 33).
ⅬⅩⅤⅠ Zur Edition

Daher verwende ich für die Chiffrenauflösung ebenfalls diese Schreibung. Erheblich
seltener erscheint in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ Diphthongschreibung: gueten (4, 12),
guetem (16, 10), guetthat (20, 15) usw. In Cod. Guelf. 47.13  Aug. 4  o a₂ kommt die Fügung,
für die in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ die Chiffre steht, zweimal vor – deiner heilligen
Engel vnd guten Geiſter (176, 8), deiner Heilligen Engel vnd guten Geiſter (181, 15/16) –,
und auch hier hat das Adjektiv die Schreibung gut.
H. heillig
Das Adjektiv erscheint in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ mehrfach unverschlüsselt sowie
verbaut in Ableitungen: heillige (4, 20), heilligen (12, 12; 74, 17; 136, 30), heilligkeit (25, 3;
105, 9), ſcheinheilligen (84, 24), heilligung (104, 4; 105, 13; 106, 11), heillige (Imp.; 105, 9),
geheilligt (105, 10. 11); daneben kommen zweimal die Schreibung mit <ey> sowie ein-
mal die Schreibung mit großem Initialbuchstaben vor: heyllige (4, 18), allerheylligſten
(136, 8), Heilligen Öl (Dativ; 106, 7). Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ hat Heilliger (174, 4), Hei-
lligerer (175, 2), heilligen (176, 8; 181, 7; 183, 22), heillige (178, 27; 179, 26; 181, 25), heilliger
(179, 1; 183, 4), heilligkeit (179, 8), Heilligen (181, 15; 182, 30. 33; 183, 1), Heilligung (182, 3),
Heilligkeit (182, 22. 25. 29), Heillige (Imp. am Satzanfang; 182, 28; 183, 20). Der überwie-
gende Schreibgebrauch von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ weist somit auf <ei>, <ll> und
kleinen Initialbuchstaben; dies lege ich der Chiffrenauflösung zugrunde. Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₂ zeigt dagegen eine Neigung zur heraushebender Großschreibung.
”. Herr
Das Wort kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ unverschlüsselt in Herren (Dat. Sg.;
159, 15) sowie als Hinterglied in Anherrn (‚Ahnherrn‘, d. h. Großvaters; Gen. Sg.; 6, 4)
und Landsherrn (Gen. Sg.; 21, 1) vor. Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ hat die Formen Herr
(174, 12; 175, 1. 4. 15. 23. 29. 32. 36; 176, 18. 25 u. ö.), Herren (Gen. Pl.; 174, 12; 182, 6; 183, 5),
Herren (Akk. Sg.; 176, 14; 181, 23; 182, 1. 28), Herren (Dat. Sg.; 180, 18; 183, 5), Herrn (Dat. 
Sg.; 181, 26), Schutzherren (Dat. Sg.; 183, 5). Ich gebe die Chiffre als Herr und nach dem
Vorbild von Anherrn und Landsherrn in den flektierten Singularformen als Herrn wie-
der, im Plural verwende ich die Form Herren.
H. Honig
Das Wort ›Honig‹ tritt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ einmal unverschlüsselt als Honig
(16, 6) auf. In dieser Form – Großschreibung und umlautlos – verwende ich es zur
Chiffrenauflösung.
I. Iehouah
Der Gottesname kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ einmal unverschlüsselt als Ie-
houah (46, 10) in Antiquakursive vor. Diese Schreibung lege ich der Chiffrenauflö-
sung zugrunde.
K. Kabala
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃. Den Gepflogenheiten der frühen Neuzeit gemäß flektiere ich Kabala la-
teinisch, siehe hierzu die Chiffre M.; besondere Auswirkungen hat dies im Falle des
Dativs nach Präpositionen.
Zur Edition ⅬⅩⅤⅠⅠ

L. Lucifer
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ hat die unverschlüsselte Form Lucifern (Dat. Sg.; 4, 6) in
Kurrente. Da der Geistername verschlüsselt jedoch in einer Reihe mit Geisternamen
auftritt, die ich in serifenlose Antiqua auflöse – so Belial, Satan, Lucifer (24, 7) und
Lucifer, Lifiathan, Satan, Belial (118, 29) –, löse ich die Chiffre ebenfalls in serifenlose
Antiqua auf. Zwei Polygramme des vierten Buches der Wahren Praktik enthalten
Großbuchstaben, die anagrammatisch den Namen LVCIFER ergeben (140, 8; 150, 4);
wie alle Polygramme sind diese Großbuchstaben in der Vorlage in Antiquakursive
ausgeführt.
L. Lifiathan
Der Name des Geisterfürsten erscheint in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ unverschlüs-
selt einmalig in Antiquakursive ausgeführt als Lifiathan (10, 26); diese Schreibung
gibt eine Lautung nahe am Hebräischen wieder. Ein Polygramm des vierten Buches
der Wahren Praktik enthält dagegen die Großbuchstaben L, I, A, A, T, N, F, I (140, 6),
ein anderes die Großbuchstaben L, E, V, I, A, T, A, N (150, 9), die anagrammatisch die
Schreibungen LIFIATAN und LEVIATAN ergeben. Möglicherweise war es noch der
Verfasser der Wahren Praktik, von dem die in die Polygramme nachträglich eingefüg-
ten Großbuchstaben stammen, doch ist dies nicht sicher. Ich lege der Chiffrenauflö-
sung die Schreibung Lifiathan zugrunde.
M. Magia / Magiſch
Ich löse die Chiffre nach Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ als lateinisches Wort auf und flek-
tiere es den Gepflogenheiten der frühen Neuzeit gemäß lateinisch. Der jeweilige Ka-
sus richtet sich nach der Grammatik des deutschen Kontextes; nach Präpositionen
jedoch, die im Deutschen den Dativ regieren, setze ich, so wie es historisch in aller
Regel geschah, den Ablativ, weil sich im Lateinischen keine Präpositionen mit dem
Dativ verbinden. Zweimal erscheint die Chiffre in adjektivischem Gebrauch, und in
diesen Fällen löse ich sie in Serifenschrift auf und verwende großen Anfangsbuch-
staben; dies orientiert sich an mehreren Stellen, an denen das Adjektiv in Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ unverschlüsselt auftritt: Magiſcher (12, 31) und Magiſche (26, 22; 80, 16;
  83, 17; 86, 5; 125, 26; 148, 14).
M. Menſch
In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ kommt viermal das unverschlüsselte Simplex Menſchen
(45, 10. 12; 72, 15; 146, 11) vor, und dreimal erscheint das Wort unverschlüsselt in den
Komposita Menſchenkindern (54, 23; 61, 19) und menſchen geſtallt (140, 9). Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₂ hat ebenso Menſch (174, 8; 177, 10), Menſchen (175, 11; 176, 1; 179, 24) usw.
Ich lege der Chiffrenauflösung nach der Mehrzahl der Belege groß geschriebenes
Menſch zugrunde.
N. У ☉. Die Chiffre wird in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ aufgeführt, in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁
aber nicht benutzt.
O. Oriens
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃.
ⅬⅩⅤⅠⅠⅠ Zur Edition

P. Paymon
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Bei der Auflösung folge ich der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o  a₃.
R. rauchwerck
Das Wort findet sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ zweimal unverschlüsselt als rauch-
werck (36, 11; 43, 25). Ich lege diese Schreibung – das heißt, mit kleinem Anfangsbuch-
staben – der Chiffrenauflösung zugrunde.
S. Satan / Satan
Der Geisterfürstenname kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ einmal unverschlüsselt
als Satan (59, 5) in Kurrente geschrieben vor. Dem entsprechend löse ich die Chiffre
auf. Wo der Name jedoch zusammen mit Chiffren anderer Geisterfürstennamen auf-
tritt, die ich in serifenloser Antiqua wiedergebe, ziehe ich entgegen der angeführten
Stelle für die Chiffre die Auflösung in serifenlose Antiqua als Satan vor. In Antiqua-
kursive findet sich der Geistername im vierten Buch der Wahren Praktik in dem Po-
lygramm satan (140, 10; 161, 6) sowie verbaut in den Polygrammen enyae, gysyg, eayte
(150, 11).
T. Teüffel
In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ tritt das Wort unverschlüsselt im Kompositum Ehetei-
ffel (52, 1) und in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ im Simplex Teiffels (Gen. Sg.; 180, 8) auf.
Dem stehen in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ die unverschlüsselten Komposita teüffels-
blendungen (13, 7), teüffelsZauberer (26, 24), teüffelsbetriegereyen (83, 21), Teüffelskünſt-
ler (87, 20/21), Teüffelsbuch (87, 21), teüffelserfindungen (90, 15/16), teüffelsbeſchwörun-
gen (126, 4/5) sowie die Ableitungen teüffliſche (24, 14; 84, 1), teüffelley (83, 25; 86, 21),
teüfliſche (87, 27) gegenüber. Ich verwende für die Chiffrenauflösung daher die Di-
phthongschreibung <eü>. Zweifelhaft ist die Groß- oder Kleinschreibung des Wortes.
Das Kompositum Eheteiffel darf man bei der Einschätzung nicht berücksichtigen,
weil der Schreiber das Simplex ›Ehe‹ und Komposita mit ›Ehe‹ als Vorderglied an-
scheinend immer groß schrieb. Ebenso schrieb er unkomponiertes und komponier-
tes ›Buch‹ weit überwiegend groß, ›Künstler‹ jedoch zweimal klein und nur einmal
groß. Generell dürften Komposita ohnehin zur Einschätzung, ob ein Vorderglied
(oder ein Hinterglied) als Simplex groß oder klein zu schreiben ist, nicht geeignet
sein, denn auch zu ›Gott‹, das man sich als Simplex im Schreibgebrauch von Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ grundsätzlich als groß geschrieben zu denken hat, finden
sich die Komposita gotteslöſterungen (22, 9), gottheit (25, 3), gottsforcht (84, 7), und die
mit dem Vorderglied ›Gott‹ komponierten Adjektive sind ebenfalls zu einem großen
Teile klein geschrieben: gottloſzen (11, 26; 27, 27; 42, 24; 93, 18; 111, 12/13), gottloſz (13, 4;
80, 25), gottloſze (13, 23; 43, 13; 83, 21; 90, 14), gottsförchtig (82, 10; 109, 29), gottſeeligen
(85, 14; 108, 18/19), gottsförchtigen (89, 15; 94, 31), gottſeliges (89, 22/90,1), gottſeeligem
(108,15). Ich halte für angebracht, den Teufel in Großschreibung wiederzugeben; tritt
die Chiffre vor der Chiffre Z. r auf, löse ich sie nach dem oben angeführten teüffels-
Zauberer jedoch mit kleinem Anfangsbuchstaben auf.
V. У ☉. Vntergang der Sonnen
Der Ausdruck, den die Chiffre verschlüsselt, begegnet in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁
Zur Edition ⅬⅩⅠⅩ

zweimal halbverschlüsselt: der ☉. Vndergang (53, 6/7), Vndergang der ☉. (107, 4/5). Im


Sinne von ›Sonnenuntergang‹ findet sich der erste Bestandteil der Chiffre an ande-
rer Stelle kurz aufeinander einmal groß und einmal klein geschrieben: Vndergang
(131, 19), vndergang (131, 19). In anderer Bedeutung führte der Schreiber das Wort zwei-
mal klein aus: vndergang meines hauſzhabens (18, 19), deiner Seelen fall, vndergang vnd
verderben (24, 9/10). Ich lege der Chiffrenauflösung die Schreibung Vntergang zugrun-
de. Zum schwachen Flektion des Wortes Sonne siehe die Ausführungen zur Chiffre
A. Ф ☉.
W. Wax
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen genauen Anhalt für eine vom Schreiber inten-
dierte Schreibung von ›Wachs‹. Auf Grund der Schreibungen Oxen (Dat. Sg.; 39, 5),
Oxenblut (58, 8), oxen (Dat. Sg.; 80, 29), Oxen (Akk. Pl.; 170, 5), Luxen (‚Luchse‘; 169, 20),
Füx (‚Füchse‘; 171, 15), die in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ begegnen, konjiziere ich für die
Chiffrenauflösung Schreibung mit <x>: Wax. Eine Großschreibung des Wortes läßt
sich freilich weder begründen noch begründet verwerfen, ich habe sie schlechter-
dings ausgewürfelt: Wachs ist ein wichtiges Ingrediens der vermischt-kabbalistischen
Rezepte des zweiten Buches der Wahren Praktik, und ebenso wichtige Ingredienzien
sind rauchwerck und Honig: Honig erscheint dort, wo das Wort nicht verschlüsselt
wurde, groß geschrieben, rauchwerck dagegen klein geschrieben. Im übrigen löse ich
die Chiffre auch an Stellen, die eine adjektivische Auflösung erlaubten, immer sub-
stantivisch auf, weil man die Konjektur einer Adjektivschreibung (waxin, wäxin, wa-
xen, wäxen, wäxern usw.) für noch unsicherer als die der Substantivschreibung halten
müßte.
W. Weiſzheit
Das Wort findet sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ einmal unverschlüsselt als Weiſzheit
(76, 9). In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂ erscheint es mehrfach in gleicher Schreibung:
Weiſzheit (174, 6; 178, 25. 35; 180, 25; 181, 20; 182, 34), nur einmal wurde es klein und mit
<ſſz> geschrieben: weiſſzheit (176, 12). Ich lege der Chiffrenauflösung die Schreibung
Weiſzheit zugrunde. Das Adjektiv, zu dem das Abstraktum gebildet ist, führte der
Schreiber dagegen oft mit <ey> aus: Weyſzen (3, 3), die Weyſzen Meiſter (4, 12), den
Weyſzen Allten Vatter Abramelim (5, 20/21) usw.
Z. Zebaoth / Zebaoth
In Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ ist der vermeintliche Gottesname sechsmal unverschlüs-
selt in Kurrente ausgeführt: Zebaoth (40, 23; 42, 4. 9. 15; 57, 20; 58, 3), in der Schreibung
Sebaoth (30, 15; 36, 11; 38, 11; 58, 10) erscheint er ebenfalls in Kurrente, und nur an ei-
ner Stelle führte der Schreiber ihn unverschlüsselt in Antiquakursive aus: Zebaoth
(49, 15). Ich löse die Chiffre nach den überwiegenden Belegen in Serifenschrift auf;
nur wo sie im Zusammenhang mit den Gottesbezeichnungen Adonai und Iehouah
vorkommt, die ich in serifenloser Antiqua wiedergebe, wähle ich ebenfalls eine sol-
che Auflösung.
Z.r Zauberer
Das Wort erscheint in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ unverschlüsselt als Hinterglied des
Kompositums teüffelsZauberer (26, 24). Diese Schreibung lege ich der Auflösung der
ⅬⅩⅩ Zur Edition

Chiffre zugrunde. An Stellen, an denen die Chiffre der Chiffre T., die für ›Teufel‹
steht, nachgesetzt ist, löse ich beide Chiffren nach dem Vorbild der angeführten Stelle
in zusammengeschriebenes teüffelsZauberer auf.
Z.y Zauberey
Das Wort begegnet in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ siebenmal unverschlüsselt und damit
wesentlich öfter, als die Chiffre verwandt wurde: Zauberey (24, 14; 25, 9; 33, 4, 60, 11;
83, 22), Zaubereyen (87, 23; 126, 4). Ich lege diese Schreibung der Chiffrenauflösung
zugrunde.
☉. Gold / gülden / Sonn
Das Wort ›Gold‹ kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ mehrmals unverschlüsselt vor,
komponiert in von Goldfarber Seidin (102, 16), gold vnd Silberader (144, 1) sowie un-
komponiert in gold (21, 10), Gold (154, 14. 16), Gold vnd Silber (172, 6). An den letzten
drei Stellen läßt sich die Groß- oder Kleinschreibung nicht beurteilen, weil das Wort
an Überschriftanfängen steht. Daneben fällt dreimal das unverschlüsselte Adjektiv:
mit einem güldenen Harband (53, 3), ein güldin Blech (102, 17), Güldene Müntz (172, 7);
in dem letzten Beleg steht das Adjektiv wiederum an dem Anfang einer Überschrift.
Wo die Chiffre für Gold an sich steht, löse ich sie nach dem obigen Beleg gold eben-
falls in Kleinschreibung auf. Dient die Chiffre als Attribut eines Gegenstandes, löse
ich nach den obigen drei Belegen adjektivisch in Kleinschreibung als gülden auf; das
Adjektiv wird in der Regel gebeugt, ist das Bezugswort ein Neutrum im Akkusativ
Singular, bleibt es ungebeugt. Wo die Chiffre als Attribut koordiniert mit der Chiffre
W. für ›Wachs‹ steht, löse ich hingegen substantivisch in gold auf. Die adjektivi-
schen Auflösungen orientieren sich an dem überwiegenden Schreibgebrauch, den
man an den obigen Belegen und an unverschlüsselten ähnlichen Fügungen in Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ beobachtet: mit einem Bleyenen griffel (32, 12; 33, 8), Eyſzene blech
(38, 5), ein Eyſzin blat (41, 19), 2. eiſzene Stirnband (47, 2), Eyſzenen thüren (68, 11), ey-
ſzerne Rigel (69, 4). Zu der Regelung, die ich im Zusammenhang mit der Chiffre W.
treffe, siehe die Ausführungen zu dieser Chiffre. In der Bedeutung ›Sonne‹ ist die
Chiffre ☉. mehrfach im sechsten Kapitel des dritten Buches der Wahren Praktik ge-
braucht. Ich verstehe sie dort nicht als Verschlüsselung, sondern als übliches astro-
nomisches Symbol und löse sie nicht auf. Anders verhält es sich an Stellen, wo der
Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ statt der Chiffren A. Ф ☉. und V. Ф ☉. verbale
Ausdrücke wie ehe dz die ☉. aufgehet (30, 9), das die ☉. gleich vndergangen (30, 13/14)
oder ähnliches benutzte; hier löse ich die Chiffre auf. Den Nominativ gebe ich in der
apokopierten Form wieder, in der das Wort an drei Stellen in Cod. Guelf. 47.13  Aug. 4  o 
a₁ unverschlüsselt erscheint: Sonn (11, 12; 12, 17; 60, 9).
☾. Silber / Silbern
Das Wort ›Silber‹ kommt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ zweimal unverschlüsselt vor:
komponiert in gold vnd Silberader (144, 1) und unkomponiert in Gold vnd Silber (172, 6).
Einmal begegnet auch das Adjektiv unverschlüsselt: Silberne grobe Müntz (172, 11); hier
steht es an dem Anfang einer Überschrift, so daß sich die Groß- oder Kleinschreibung
nicht einschätzen läßt. Ich löse die Chiffre nach den gleichen Regeln auf wie die Chif-
fre G., die für ›Gold‹ steht. Ergänzend gilt die Regelung, die ich im Zusammenhang
Zur Edition ⅬⅩⅩⅠ

mit der Chiffre W. für ›Wachs‹ treffe, auch im Zusammenhang mit der Chiffre Z. für
›Zinn‹. Bei der adjektivischen Auflösung wähle ich – der Substantivschreibung in
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ entsprechend – Großschreibung. In der Bedeutung ›Mond‹
ist die Chiffre mehrfach im sechsten Kapitel des dritten Buches der Wahren Praktik
gebraucht; hier verstehe ich sie nicht als Verschlüsselung, sondern als übliches astro-
nomisches Symbol und löse sie nicht auf.
♄. In der Bedeutung ›Blei‹ wurde die Chiffre in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ nicht verwen-
det – an einer Stelle schrieb der Schreiber die Chiffre nur versehentlich für die Chiffre
H., die für ›Honig‹ steht –, es kommt aber zweimal das unverschlüsselte Adjektiv vor:
mit einem Bleyenen griffel (32, 12; 33, 8). In der Bedeutung ›Saturn‹ ist die Chiffre im
sechsten Kapitel des dritten Buches der Wahren Praktik gebraucht; hier verstehe ich
sie nicht als Verschlüsselung, sondern als übliches astronomisches Symbol und löse
sie nicht auf. Dies gilt ebenso für die folgenden drei Planetensymbole.
♃. Zin
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Ich folge bei der Chiffrenauflösung der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o  a₃; das einfache <n> kann man von der Schreibung Sin (‚Sinn‘; 12, 31) in Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ als gestützt ansehen. Da es keinerlei Anhalt für eine Adjektiv-
schreibung (zinin, zinnin, zinnen, zinnern usw.) gibt, löse ich stets substantivisch auf.
♂. Eyſzen / Eyſen / Eyſzen
Die Chiffre kommt nur in den vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten Bu-
ches der Wahren Praktik vor. Bezeichnet die Chiffre Eisen nicht an sich, sondern das
Material eines Gegenstandes, bleibt zweifelhaft, ob die Chiffre als Vorderglied ei-
nes Kompositums (das in der frühen Neuzeit nicht zusammengeschrieben sein muß)
oder adjektivisch als Attribut aufzulösen ist. An Stellen, wo der Schreiber nicht ver-
schlüsselte, scheinen in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ beide Fügungen gebraucht zu sein:
7. Eyſzene blech (38, 4/5), ein Eyſzen SPangen (38, 18), ein Eyſzin blat (41, 19), das Eyſzen
blat (41, 21), auf ein Eyſen blech (43, 24), auff 2. eiſzene Stirnband (47, 2), Zuer Eyſzernen
Saul (‚Säule‘; 48, 4), Zwischen Eyſzenen thüren (68, 11), eyſzerne Rigel (69, 4). Allerdings
kann man sich nicht gewiß sein, ob Fügungen wie ein Eyſzen SPangen, das Eyſzen blat
oder ein Eyſzin blat wirklich Komposita (bei der ersten und zweiten mit Substantiv
oder Adjektiv als Vorderglied?) sind oder es sich bei Eyſzen und Eyſzin nicht vielmehr
um unflektierte Adjektive handelt; der regelmäßig flektierende Gebrauch, den man
bei attributiven Adjektiven vor Feminina in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ beobachtet,
spricht aber wenigstens im Falle von ein Eyſzen SPangen für ein Kompositum. Wo
die Chiffre für ›Eisen‹ an sich steht, löse ich in Eyſzen auf, weil die Schreibung mit
<y> und <ſz> in den Belegen vorherrscht; wo sie vor dem Singular blech steht, löse ich
nach dem Vorbild von auf ein Eyſen blech in Eyſen auf. An den übrigen Stellen gebe
ich die Chiffre adjektivisch wieder. In Eyſzin zeigt sich in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁
die ältere, in Eyſzen und eiſzen eine jüngere und in eyſzern die jüngste Form des
Adjektivs, die in heutigem ›eisern‹ vorliegt. Da sie bei den sicher als adjektivisch
zu erkennenden Belegen überwiegt, wähle die mittlere Form, und zwar mit <y> und
großem Anfangsbuchstaben; das Adjektiv wird bei der Auflösung flektiert.
ⅬⅩⅩⅠⅠ Zur Edition

♀. Kupfer / kupfern
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet keinen Anhalt für eine vom Schreiber intendierte
Schreibung. Wo Kupfer selbst mit der Chiffre gemeint ist, löse ich substantivisch
entsprechend der Schreibung in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ auf. An einer Stelle komme
ich nicht umhin, die Chiffre adjektivisch wiederzugeben: auf ein ♀. 7. eckicht blech
(62, 19). Da es keinerlei Hinweis auf eine von dem Schreiber intendierte Adjektivform
gibt, wähle ich die heute noch gültige: kupfern. Diese Auflösung verwende ich auch
an zwei weiteren Stellen, an denen die Chiffre anscheinend attributiv vor einem Sub-
stantiv steht. Je nach dem durch andere attributive Adjektive gesetzten Kontext wird
das Adjektiv flektiert oder bleibt unflektiert.

Damit sich die Chiffrenauflösungen für den Leser im edierten Text erkennen lassen, setze ich
sie in kursiver Schrift. Dabei wende ich auf Schriftart und Schriftgröße dieselben Maßgaben
an, die für Unverschlüsseltes gelten: Was im edierten Text in Serifen-Antiqua ausgeführt wird
– zum Beispiel das Wort heillig für die Chiffre H. –, erhält gewöhnlichen Textschriftgrad; was
in serifenloser Antiqua ausgeführt wird – dies sind wie etwa Lifiathan für die Chiffre L. in der
Regel fremdsprachige oder zumindest fremdsprachig wirkende Namen sowie fremdsprachige
Begriffe –, erhält dagegen einen vergrößerten Schriftgrad.
Die Auflösung der Begriffschiffren stellt wiederum nicht nur einen bloß formalen Verstoß
gegen das Gebot der Stellentreue dar, sie führt womöglich nicht nur unhistorische, weil vom
Schreiber nicht intendierte Schreibungen für einzelne Begriffe und Namen in den edierten
Text ein, sie zieht darüber hinaus ebenso wie die Auflösung der Zeilensprünge und die Auf-
hebung der originalen Zeilenumbrüche Probleme nach sich, die die Lesbarkeit des edierten
Textes und die Interpretation der in ihm wiedergegebenen Schreibungen betreffen. In der
Vorlage bestehen die Begriffschiffren aus einem Großbuchstaben und einem nachgesetz-
ten Abkürzungspunkt. In der modernen Varietät des deutschen Schriftsystems gibt es für
Abkürzungspunkte wie auch für die Punkte nach Ordinalzahlen, die in Ziffern geschrieben
sind, eine besondere Interpunktionsregel: Steht zum Beispiel ein usw. am Ende eines Satzes,
setzt man keinen zusätzlichen Satzschlußpunkt, sondern läßt Abkürzungspunkt und Satz-
schlußpunkt in einem Punkt zusammenfallen. Keine solche absorbierende Wirkung zeigen
Abkürzungs- und Ordinalzahlpunkt jedoch, wenn ein anderes Interpunktionszeichen als ein
Satzschlußpunkt folgt. In dem Schreibgebrauch, den man in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ beob-
achtet, haben der Abkürzungspunkt sowie der Punkt, den der Schreiber nach Kardinal- und
Ordinalzahlen setzte, ebenfalls eine absorbierende Wirkung, sie geht aber weit über die ihrer
modernen Gegenstücke hinaus – denn der Punkt absorbierte alle weiteren Interpunktionszei-
chen, mutmaßlich nur die linke Klammer ausgenommen. Löse ich im edierten Text Begriffs-
chiffren auf, entfällt ihr Abkürzungspunkt und damit das von ihm allfällig absorbierte, also
im Original virtuell als vorhanden zu denkende Folgeinterpunktionszeichen, und es tut sich
im edierten Text unter Umständen eine Interpunktionslücke auf. Ich gehe deshalb wie folgt
vor: Nach aufgelösten Begriffschiffren interpungiere ich grundsätzlich nach moderner Norm;
dabei verwende ich als Interpunktionszeichen nur den Punkt oder das Komma. Ich unterlasse
eine moderne Interpunktion allerdings dann, wenn sie in offensichtlicher Weise mit der hi-
storischen Zeichensetzung kollidierte. Als Beispiel mögen wieder Appositionen dienen, die
der Schreiber teils in Kommata einschloß, teils nicht. Folgt in einem angenommenen Fall auf
Zur Edition ⅬⅩⅩⅠⅠⅠ

eine Begriffschiffre eine Apposition und findet sich im historischen Text ein die Apposition
abschließendes Komma, so setze ich nach der aufgelösten Begriffschiffre gleichfalls ein Kom-
ma. Schließt die Apposition dagegen mit keinem Komma ab, setze ich gegen die moderne
Norm nach der aufgelösten Begriffschiffre kein Komma, und entsprechend gehe ich in ande-
ren Fällen vor. Der Leser des edierten Textes hat mithin eingedenk zu sein, daß alle gesetzten
oder auch nicht gesetzten Interpunktionszeichen nach aufgelösten Begriffschiffren – aufgelö-
ste Begriffschiffren lassen sich, wie gesagt, daran erkennen, daß sie in Kursivschrift erschei-
nen – auf mich zurückgehen. Die von mir in den edierten Text eingefügten Interpunktionszei-
chen werden nicht eigens im Textapparat verzeichnet. Das Verfahren gilt jedoch ausnahms-
weise nicht bei der Begriffschiffre, die für das Wort ›Herr‹ steht; sie ist die einzige Chiffre, die
nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Abbrechungshaken abschließt, und nach ihr führte
der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ daher eine normale Zeichensetzung, wie sie sei-
nem Gebrauch entsprach, durch. Somit stammen auch die Interpunktionszeichen, die sich im
edierten Text nach dem kursiv gesetzten Wort Herr finden, nicht von mir, sondern folgen der
historischen Vorlage.
Ein nicht befriedigend lösbares Problem stellen die Fälle dar, in denen Begriffschiffren Teil
von Komposita sind. Der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ wandte bei der Zusammen-
und Getrenntschreibung keine sicher nachvollziehbaren Regeln an. Nur selten erscheint im
originalen Text eine Chiffre so nahe an ein Hinterglied herangerückt, daß man dies als Hin-
weis auf eine Zusammenschreibung nehmen kann; meistens hält sie dagegen einen Abstand,
aus dem sich nichts auf eine intendierte Schreibung schließen läßt. Ich lege in diesen Fäl-
len die Schreibung zugrunde, in der ein Kompositum an anderer Stelle unverschlüsselt in
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ vorkommt; gibt es kein solches Vorkommen, wähle ich die
Getrenntschreibung.
Die griechischen Zahlenchiffren löse ich in Zahlen aus arabischen Ziffern auf und setze
sie wie die aufgelösten Begriffschiffren kursiv. Dem originalen Schreibgebrauch gemäß ist
im edierten Text jede aufgelöste Zahlenchiffre mit einem abschließenden Punkt versehen,
unabhängig davon, ob es sich um eine Ordinal- oder eine Kardinalzahl handelt. Man kann
die Vorgehensweise auch so deuten, daß ich die Zahlenchiffren zwar auflöse, die Punkte, die
ihnen im Original folgen, im edierten Text aber beibehalte. Dies hat zur Konsequenz, daß den
Punkten im edierten Text gleichfalls ihre originale absorbierende Wirkung erhalten bleibt, so
etwa in 6. 7. vnd 19. (130, 27), das man in der modernen Varietät des deutschen Schriftsystem
als 6., 7. und 19. zu interpungieren hätte.
Was ich bis hierhin ausführte, betrifft im wesentlichen den verschlüsselten Text der Wah-
ren Praktik, Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁. Die Initiationsgebete, Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂, haben
weder Zeilensprünge noch Chiffren (außer einer), doch sind sie in denselben Schriftspiegelab-
messungen und mit derselben Zeilenzahl wie Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ geschrieben. Deshalb
bleiben sie zwar von Eingriffen unberührt, die die Auflösung der Verschlüsselungen nach
sich ziehen, die originalen Zeilen- und Seitenumbrüche werden von mir aus typographischen
Gründen aber gleichfalls im edierten Text aufgehoben; zudem führe ich zwischen dem Schluß
eines Gebetes und der Überschrift des Folgegebetes jeweils eine Leerzeile ein. Somit weicht
auch hier die Textgestalt des Transkriptes von der der historischen Vorlage ab, und auch die
Interpunktion an Stellen originaler Zeilenumbrüche, an denen in der Vorlage Interpunktions-
zeichen um des glatten Randes willen ausgefallen sein könnten, folgt den Maßgaben, die ich
ⅬⅩⅩⅠⅤ Zur Edition

oben darlegte. Vorderhand keine Einbußen an der Schriftzeichen- und Stellentreue erleidet
im Transkript dagegen die Entschlüsselungstabelle, Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃; ich verzichte
allerdings darauf, die Lineatur der Tabelle wiederzugeben.
Eine schwierige Frage ist der Umgang mit Versehen, die dem historischen Schreiber un-
terliefen. Eine vorlagengetreue Transkription muß im Grundsatz alle Fehler getreu wieder-
geben, und dies ist auch angemessen, denn Fehlern wohnt stets ein Informationsgehalt inne.
Da der zum großen Teil verschlüsselte Vorlagetext aber ohnehin nicht gestattete, ein ideales
Transkript herauszugeben, leitete ich für mich die Lizenz ab, bei der Wiedergabe von Schreib-
versehen gleichfalls nicht streng nach den Maßgaben zu verfahren. Als Leitlinie setzte ich
mir, Fehler dann im edierten Text zu berichtigen, wenn sie den Leser zu stark irritieren und
damit den Lesefluß merklich hemmen könnten. Heißt es in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ zum
Beispiel an zwei Stellen richtig Ceremonien (14, 7; 17, 35), die übrigen Male jedoch Cerimonien
(11, 14. 27; 40, 15; 51, 22 u. ö.), so sind dies keine Fehler, die ich zu berichtigen für nötig erachte.
Anders verhält es sich, wenn der Schreiber ein Wort ausließ und so die Grammatik eines
Satzes durcheinandergeriet; hier ergänze ich das ausgelassene Wort in der Regel nach dem
Wortlaut anderer Textzeugen. Berichtigend greife ich auch meist dort ein, wo Schreibung
und Interpunktion zu kollidieren scheinen, wo also der Schreiber nach Satzschlußpunkt mit
Kleinschreibung oder nach Komma mit Großschreibung fortfuhr. Was ich in solchen Fällen
berichtige, das Interpunktionszeichen oder die Schreibung, hängt jeweils vom Kontext ab.
Auch die aufgelösten Zeilensprünge und die aufgehobenen Zeilenumbrüche machen be-
richtigende Eingriffe erforderlich. So wäre es etwa unsinnig, in das Transkript getreu die
Schreibung ſonder baren zu übernehmen, bei der der Schreiber am Zeilenumbruch Trennungs-
striche zu setzen vergaß (3, 12/13); gäbe das Transkript den originalen Zeilenumbruch wieder,
wäre eine Berichtigung hingegen nicht notwendig, weil der Fehler weniger irritierend ins
Auge fiele. Da der Schreiber bei Bedarf Wörter nach dem morphologischen Prinzip trenn-
te, kamen an Zeilensprüngen und -umbrüchen Schreibungen wie gewiſz  eſtes und deſz-  en
zustande, denn es wirkte hier zugleich die Regel, daß in Endstellung geratendes <ſſ  > gegen
<ſz> ersetzt wird. Diese Schreibungen berichtige ich im edierten Text zu gewiſſeſtes (13, 3) und
deſſen (16, 12), wie es dem Schreibgebrauch abseits von Worttrennungen entspricht. Zuweilen
vermengte der Schreiber bei Trennungen versehentlich das morphologische und das Silben-
prinzip, woraus zum Beispiel an einem Zeilensprung die Schreibung waſz ſer hervorging;
diese wird im edierten Text ebenfalls dem Schreibgebrauch gemäß zu waſſer (31, 20) korrigiert.
An einigen Stellen ist der originale Text des Textzeugen W₁ beschädigt oder durch kleinere
Flecken verdeckt. Auch hier greife ich in den edierten Text ein und stelle die unlesbaren
Schriftzeichen durch Konjektur wieder her. Alle Eingriffe – die Berichtigung von Schreib-
versehen, die Änderung der Schreibung an aufgelösten Zeilensprüngen und aufgehobenen
Zeilenumbrüchen sowie die Wiederherstellung unlesbar gewordener Schriftzeichen – werden
im Textapparat der Edition verzeichnet.
Im Voranstehenden erläuterte ich Verstöße, die ich mit Absicht gegen die Anforderungen
Unabsichtliche einer vorlagengetreuen Transkription begehe; für die Verstöße lassen sich, so meine ich, trif-
Verstöße gegen tige Gründe nennen. Nun komme ich auf Verstöße zu sprechen, die ich in dieser Edition unab-
die Transkrip-
sichtlich begehe. Leider kann ich nicht eingrenzen, wo ich sie begehe (und deshalb natürlich
tionsgrund-
sätze
auch nicht im Textapparat verzeichnen), und doch muß ich annehmen, daß sie mir mit großer
Wahrscheinlichkeit hier und dort unterlaufen.
Zur Edition ⅬⅩⅩⅤ

In frühneuzeitlichen Texten, die in Kurrente geschrieben sind, lassen sich oft Groß- und
Kleinbuchstaben nicht leicht auseinanderhalten, wenn die Gestalt der Buchstabenobjekte der- Zusammenfall
selben Grundform folgt und sich die Zuordnung als Groß- und Kleinbuchstabe allein an der von Groß- und
Kleinbuchstaben-
Objektgröße bemißt. Unter den zu transkribierenden Buchstabenschriftzeichen betrifft diese
formen der Kur-
Schwierigkeit in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ vornehmlich Objekte des <D> und des <V> ente in der
sowie des <H> und des <L> und ihre jeweiligen wortinitial stehenden Kleinbuchstabengegen- Vorlage
stücke. Dabei besteht die Schwierigkeit nicht darin, Buchstabenobjekte überhaupt als großes
<D>, <V>, <H>, <L> oder als kleines wortinitiales <d>, <v>, <h>, <l> zu erkennen – bei der weit
überwiegenden Zahl der Buchstabenobjekte ist eine solche Zuordnung ohne weiteres an der
Größe, bei <H>/<h> und <L>/<l> auch an der Art der Ausführung, möglich: ein О läßt sich ohne
Schwierigkeit als <D>-, ein Ý als <d>-, ein ¸ als <V>-, ein º als <v>-, ein é als <H>-, ein ê als <h>-,
ein ð als <L>- und ein ñ als <l>-Objekt bestimmen. Doch gibt es eine kleine, aber leider merk-
liche Zahl an Buchstabenobjekten, die sich der einfachen Zuordnung als <D> und <d> sowie als
<V> und <v> entziehen, indem sie einerseits größer auszufallen scheinen als wortinitiale Buch-
stabenobjekte, die eindeutig als klein zu erkennen sind, andererseits aber zweifeln lassen, ob
man ihnen tatsächlich die volle Anmutung von Großbuchstabenobjekten zurechnen kann.
Das dritte Buch der Wahren Praktik in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ bietet mit seiner Aufli-
stung von 417 Namen böser Geister 62 in dieser Hinsicht Anschauungsmaterial. Obwohl die
Namen fremdsprachig sind oder, soweit es sich um Phantasienamen handelt, als fremdspra-
chig erscheinen sollen, führte sie der Schreiber in Kurrente aus. Alle Geisternamen, die mit
einem Buchstaben beginnen, dessen große und kleine Variante sich eindeutig unterscheiden,
sind bis auf versehentliches oroya (121, 2) groß geschrieben. Verfolgt man den Schreibgebrauch
in dem Text von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ abseits der Geisterliste, so kommt man gleicherma-
ßen zu dem Schluß, daß der Schreiber Namen grundsätzlich groß schrieb, nur ein einmaliges
und gewiß ebenfalls versehentliches griechenland (11, 9) ausgenommen. Es liegt nahe, diesen
Befund in der Geisterliste auf diejenigen Namen zu übertragen, die mit Buchstaben beginnen,
bei denen die Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben Probleme bereitet, und
somit die Buchstabenobjekte am Anfang dieser Namen für graphische Realisierungen der
Großbuchstaben <D> und <V> zu nehmen. Sieht man sich nun die Geisternamen an, die mit
mutmaßlichem <D> beginnen, wird man feststellen, daß die <D>-Objekte in der Form nicht
wesentlich anders als initiale <d>-Objekte geschrieben wurden, nur daß sie um ein weniges
größer ausfallen; als Beispiel sei der Name К (= Daglus; 123, 5) angeführt, der mit dem
Artikel П (= die; 123, 7) in der Folgezeile des Originals kontrastiert. Das große Problem ist, die
Einsicht in dieses Um-ein-weniges-größer auf andere Fälle im Text zu übertragen. Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ wurden in recht kleiner, beinahe einer Miniaturschrift geschrieben, und
dennoch variiert die Größe, in der der Schreiber Buchstabenobjekte ausführte, im Text stark.
Mit absoluten Größenwerten läßt sich daher bei der Einschätzung von Groß- und Kleinbuch-
staben nicht operieren, und es bleibt letztlich nichts anderes übrig, als an jeder zweifelhaften
Stelle subjektiv darüber zu entscheiden, ob im konkreten Kontext der Buchstabenobjekte ein
Um-ein-weniges-größer vorliegt oder nicht. Ich kann deshalb nicht ausschließen, daß ich in
einzelnen Fällen fälschlich als groß geschrieben deute, was der Schreiber als klein geschrieben
intendierte, und umgekehrt. Dies also meinte ich, wenn ich davon sprach, in dieser Edition

62
Es sind aber nur 413 unterschiedliche Namen, weil sich drei wiederholen.
ⅬⅩⅩⅤⅠ Zur Edition

unabsichtlich und an Stellen, die ich nicht kenne, gegen die Maßgaben einer vorlagengetreuen
Transkription zu verstoßen.
Anscheinend war sich der Schreiber selbst des Problems bei <D>/<d> durchaus bewußt, denn
dort, wo es ihm wichtig war, daß ein Wort vom Leser unzweifelhaft als groß geschrieben er-
kannt wird, benutzte er kein initiales Kurrente-<D>, sondern wich auf ein eindeutig als groß
erkennbares Kanzlei-<D> aus; so kommen die Namen des Königs David und des Propheten
Daniel stets mit solchem Kanzlei-<D> am Anfang geschrieben vor. Damit wird der Schreiber
selbstverständlich die Bedeutung herausgestrichen haben wollen, die den beiden biblischen
Gestalten in der Wahren Praktik zukommt, doch schreibt er in der erwähnten Geisterliste
zunächst auch Geisternamen wie Л (= Darochim; 121, 7) mit initialem Kanzlei- statt Kur-
rentebuchstaben und geht erst bei den folgenden Namen zum Kurrente-<D> über.
Das Verhältnis von Objekten des <V> und des wortinitialen <v> gestaltet sich noch proble-
matischer: So trifft man in der Geisterliste Namen wie beispielsweise Й (= Vbarim; 122, 11)
an, deren vermutliches <V>-Objekt sich in der Größe so gut wie gar nicht von wortinitialen
<v>-Objekten an anderen Stellen des Textes abhebt. Für wortinitiales <V>/<v> traf ich deshalb
eine Regelung, die ich sonst ablehne – ich normalisierte, und zwar wie folgt: Mit <V> wieder-
gegeben wird 1., was ich eindeutig als groß geschrieben erkenne, 2. Namen, 3. Vorderglieder
von Komposita wie VorVätter oder VnderFürſten, sofern das Hinterglied groß geschrieben ist,
sowie 4. nach Punkt, wenn der Punkt erkennbar als Satzschlußzeichen dient; ansonsten gebe
ich wortinitiales <v> wieder.
Man könnte das Problem, das die unklare Unterscheidung von <D>- und <d>- sowie <V>- und
<v>-Objekten aufwirft, für marginal halten, denn schließlich betrifft es nur einzelne konkrete
Stellen, während sich aus dem Schreibgebrauch sonst immerhin auf einige allgemeine Re-
geln für die Groß- und Kleinschreibung schließen läßt: Nach Satzschlußpunkt etwa fährt der
Schreiber mit Großbuchstaben fort, Partikeln, worunter die Präposition vnter und die Kon-
junktion vnd fallen, sowie Determinative wie der bestimmte Artikel der, die, das schreibt er
innerhalb des Satzes grundsätzlich klein; Großschreibung findet man regelmäßig bei Namen
und sonst, wenn überhaupt, bei Substantiven vor, seltener bei Adjektiven, noch seltener bei
Verben. Doch die unklare graphische Unterscheidung von <D> und <d> und <V> und <v> er-
schwert es beispielsweise an einigen Stellen, Erscheinungen der historischen Interpunktion
zutreffend zu deuten. Ich führte an, welche Interpunktionszeichen in dem Textzeugen W₁
vorkommen, und daraus folgt, welche Interpunktionszeichen nicht vorkommen: nicht vor
kommen zum Beispiel der Gedankenstrich und die Anführungszeichen, obwohl es aus heu-
tiger Sicht genügend Stellen in dem Text der Wahren Praktik gibt, an denen sich diese Inter-
punktionszeichen sinnvoll hätten verwenden lassen. Der Gedankenstrich kam im deutschen
Schriftsystem erst im 18. Jahrhundert in vollen Gebrauch, Anführungszeichen haben dagegen
ihren Ursprung bereits im 16. Jahrhundert, wurden aber zunächst nicht wie heute in den fort-
laufenden Text, sondern an den Rand der Zeile gesetzt; sie wiesen also die Anführung nicht
unmittelbar aus, sondern zeigten dem Leser nur an, daß sich in der Zeile eine Anführung be-
finde. Doch gab es früh Ansätze, Anführungen mit Schriftzeichen direkt zu markieren. Wenn
zum Beispiel Rauw in seiner COSMOGRAPHIA von 1597 schreibt: 63

63
Johann Rauw: COSMOGRAPHIA, Das iſt: Ein ſchËne Richtige vnd volkomliche Beſchreibung des GËttlichen Ge-
ſchËpffs, Himmels vnd der Erden. Frankfurt am Main 1597, S. 1
Zur Edition ⅬⅩⅩⅤⅠⅠ

Daſz ich aber geſagt hab, daſz der allm|chtige Gott diſz ſch}ne Geb|w [d. i. den Kosmos ] geſchaffen hab, vnd
daſſelbig durch ſein allm|chtiges vnd wesentliches Wort: das bezeuget vnd lehret vns die heilige Schrifft,
denn Geneſ. 1. ſchreibt Moſes [Im anfang ſchuff Gott Himmel vnd Erden.]

so benutzt er eckige Klammern, um ein Zitat aus der Lutherbibel zu bezeichnen. Auch in Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ könnte es einen Beleg dafür geben, daß dem Schreiber Klammern in der
Funktion heutiger Anführungszeichen geläufig waren; so heißt es im dritten Buch der Wahren
Praktik:

Diſze weyſze vnd Cerimoni ſoltu 2. gantzer tag ann einander alſo vnfehlbarlich thon, vnd dich nicht hin-
dern laſſen, du ſeheſt oder höreſt was du wolleſt. Ô mein Son, lob vnd Preiſze ſey dem Namen deſz ainigen
Gottes, was mainſtu das Ich mit diſzen worten (. ſehen vnd hören .) andeütten wolle? (107, 8–11)

Vielleicht gebrauchte der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ in den vermischt-kabba-


listischen Rezepten des zweiten Buches der Wahren Praktik außer Klammern noch andere
Zeichen in einer Funktion, die heute Anführungszeichen wahrnehmen. Für eine komplika-
tionslose Schwangerschaft und Geburt wird zum Beispiel empfohlen:
Das weib ſolle tragen auf Ihrer Bruſt hangen ein Blech von feinem gold, darauf auff einer ſeitten gegraben
ſey. Wunderbarlich. vnd auf У anderen. Samson. (57, 2/3)

Das Wort und der Name, die man in das Goldblech gravieren soll, sind mit einem abschließen-
den Punkt markiert; der Punkt nach Wunderbarlich bewirkt nicht, daß das folgende vnd groß
geschrieben wurde, er hat also keine Satzschlußfunktion. In einem Rezept, mit dem man gunſt
bey menigklich erlangt, also bei jedermann erreicht, was man möchte, finden sich sogar ganze
Sätze – die hier allerdings für den Gottesnamen ›Jahwe‹ oder, wie man ihn zeitgenössisch
sprach, ›Jehova‹ stehen – mit einem solchen Punkt abgeschlossen:
[…] Schreib in die rechte hand mit Honig. Ich wirdt ſein der Ich ſein wirdt. vnd in die lincke. Ich wirdt ſein,
der hat mich Zu eüch geſandt. So verrichteſt vnd erlangeſtu alles nach deinem begeren. (72, 7–9)

Der Punkt nach dem Satznamen Ich wirdt ſein der Ich ſein wirdt verursachte wiederum keine
Großschreibung des nachfolgenden vnd. Dagegen fällt der abschließende Punkt nach dem
Satznamen Ich wirdt ſein, der hat mich Zu eüch geſandt offenbar mit dem Satzschlußpunkt
zusammen, so daß der Rezepttext danach mit Großschreibung fortfährt.
Fraglich ist, wie man die Punkte einzuschätzen hat, die den beiden Satznamen genauso wie
in dem ersten Zitat dem Wort Wunderbarlich und dem Namen Samson vorausgehen. Allge-
mein scheint in dem Schreibgebrauch von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ der einfache Punkt eine
Funktion wahrnehmen zu können, die heute der Doppelpunkt innehat. Zwar kannte man
seinerzeit bereits den Doppelpunkt als Interpunktionszeichen, doch wurde er, wie auch in
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁, in der Regel eher wie ein Semikolon verwendet oder aber wie ein
Komma zur Abtrennung von Vorder und Hintersatz in einer Periode – man vergleiche die
obige Stelle aus Rauws COSMOGRAPHIA. Die heutige ausschließliche Einleitungs- und Hin-
weisungsfunktion wuchs dem Doppelpunkt erst nach und nach im Laufe des 17. und 18. Jahr-
hunderts zu. Vielleicht haben die vorausgehenden Punkte in den angeführten Beispielen ja
eine Doppelpunktfunktion. Dies könnte eine Stelle nahelegen, wo wie in den vorigen Stellen
ein abschließender, nicht aber ein vorausgehender Punkt auftritt. Sie findet sich in einem Re-
zept, mit dem man sicherstellt, daß ein Freund in einem Zweikampft obsiegt:
ⅬⅩⅩⅤⅠⅠⅠ Zur Edition

[…] nim ein wenig vngeſeẃrten taige, bach ein Brot daraus, darauf ſchreib mit Honig den namen Gedeon.
berauchs dann vnd ſPrich darüber 7. mahl. Gedenck Herr ann den Bund ſo du mitt deinem diener gemacht
[…] (39, 13–15)

Dem Namen Gedeon ist ein Punkt nachgesetzt (der hier zugleich ein Komma, das man an der
Stelle erwartete, absorbiert), doch geht ihm kein Punkt voraus. Die Funktion, die der nach-
gesetzte Punkt in dem Zitat hat, entspringt einer älteren Schreibtradition: Man ließ einem
Wort oder insbesondere einem Namen außerhalb aller Interpunktionszusammenhänge einen
Punkt folgen, um so das Wort oder den Namen herauszuheben; es handelt sich also um einen
Heraushebungspunkt, den man in diesem Zusammenhang vielleicht zutreffender einen Ehr-
erbietungspunkt nennt.
Doch der Schreiber scheint dem Heraushebungspunkt in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ eine
umfassendere Funktion gegeben zu haben, indem er ihn zu einem »Anführungspunkt« mach-
te und nicht nur nach einzelnen Wörtern und Namen (oder Satznamen) gebrauchte, sondern
zur Markierung ganzer Bibelzitate verwandte. Um in Feindschaften zu bestehen, empfiehlt
sich, dieses vermischt-kabbalistische Rezept anzuwenden:

Schreibe auf rain Wax, gold oУ Silber die wort, berauchs […] dan hencks an ein gelb ſeidene ſchnur, hencks
an halſz, vnd alle Ihar erneẃers. Der Herr iſt mit mir, darumb förcht Ich mir nitt, was können mir Menſchen
thon. vnd auf die ander ſeitten. Der Herr iſt mit mir, mir Zuhelffen, darumb werde Ich meinen luſt ſehen an
meinen Feinden. (45, 8–13)

Gemäß dem Rezept soll man auf eine beliebige Unterlage aus Wachs, Gold oder Silber zwei
dem 118. Psalm entnommene Sprüche schreiben, den einen auf die Vorderseite, den anderen
auf die Rückseite. Die zitierten Psalmsprüche sind wie das Wort Wunderbarlich und der Name
Samson in der weiter oben angeführten Stelle in Punkte eingeschlossen; dabei bewirkt der
abschließende Punkt des ersten Psalmspruches wiederum keine Großschreibung des nachfol-
genden vnd.
Es ist hier nicht der Ort, dieser Erscheinung weiter nachzugehen; der Vollständigkeit hal-
ber merke ich nur an, daß erstens an einer Stelle der unverschlüsselte Gottesname Iehouah,
anders als der Name des Streiters Gedeon, ohne nachgesetzten Punkt auskommt:
Laſz auf ein güldin oУ Silbern bleche den Namen Iehouah inn einer rechten hand geſchriben, auf aine, vnd
auf die ander ſeitten die wort ſchreiben […] (46, 10/11)

daß zweitens neben den angenommenen »Anführungspunkt« alternativ das »Anführungs-


komma« tritt:
[…] ſchreib auf das Feel diſz wort, Phase, berauche es mit dem rauchwerck […] (31, 14/15)

wobei im übrigen das Komma genauso wie in der zeitgenössischen Druckschrift die Virgel
gleichsam die Funktion eines Doppelpunktes ausüben kann; daß es drittens in Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ – vielleicht versehentlich – zur Kombination von »Doppelpunktkomma« und
»Anführungspunkt« kommt:
[…] fahe dann die Schlacht an mit diſzen wortten, Die hand deſz Herrn. du ſigeſt allen Feinden an, weren ſy
auch 100. mahl ſtärcker als du biſt […] (43, 8/9)

und daß schließlich viertens auch der Doppelpunkt Zitate abschließen kann:
Zur Edition ⅬⅩⅩⅠⅩ

Schreibe auf rain Wax, gold oУ Silber die wort, berauchs, vnd ſPrich. Dancket dem Herrn dan er iſt freündt-
lich, vnd ſeine güte wehret ewigklich: gut iſt es auf den Herrn vertraẃen, vnd ſich nit verlaſſen auf Men-
ſchen: das thue alſo 7. Morgen vor Aufgang У Sonnen […] (45, 8–10)

Auf den mutmaßlichen »Anführungspunkt« und die weiteren Interpunktionserscheinun-


gen weise ich nicht nur zur Propädeutik hin, um Leser, die mit frühneuhochdeutschen Tex-
ten keine Erfahrung haben, auf möglicherweise Irritierendes vorzubereiten; es geht mir hier
mehr darum: Zwar schlösse eine nachfolgende Großschreibung die Existenz eines »Anfüh-
rungspunktes« in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ nicht zwingend aus, doch ließe er sich nun einmal
dann vergleichsweise sicher erkennen, wenn nach ihm gerade nicht mit Groß-, sondern mit
Kleinschreibung fortgesetzt würde. Und damit kommt das oben angesprochene Problem der
gelegentlich nicht eindeutigen Unterscheidbarkeit von <V> und <v> und von <D> und <d> ins
Spiel: Denn in vielen Fällen setzt der Text nach einem Punkt, den man als einen »Anfüh-
rungspunkt« verstehen könnte, mit einem Wort fort, das ausgerechnet mit diesen Buchstaben
beginnt. Die drei der eingangs angeführten Stellen, die ein vnd nach einem angenommenen
»Anführungspunkt« haben, zeigen tatsächlich zweifelsfrei kleines vnd. An anderen Stellen ist
der Befund weniger klar, und für die Hypothese verschärfend kommt hinzu, daß es in Cod. 
Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ auch Stellen gibt, in denen eindeutig nicht mit kleinem Buchstaben nach
einem Zitatende fortgesetzt wird, so etwa in dieser:
[…] auf die eine ſeitten ſchreib. Der Herr iſt, der dem Krieg ſteüren kan, Herr heiſzt ſein Nam. Auf die andere
ſeitten: Der Herr ſtreittet für ſein volck, das er vns errette von allen vnſzern Feinden. (48, 20–22)

Wenn es aber Fälle gibt, wo eindeutig groß geschrieben wurde, und andere Fälle, wo die
Schreibung zweifelhaft ist, so könnten die Fälle, in denen eindeutig klein fortgesetzt wurde,
lediglich Schreibversehen sein, und die Hypothese vom »Anführungspunkt«, dem im Grund-
satz Kleinschreibung folgt, fiele in sich zusammen. Es ist somit durchaus hilfreich, wenn ein
historischer Schreiber deutlich zwischen Klein- und Großschreibung unterschied, so daß man
Erscheinungen der Interpunktion zutreffend einschätzen kann; der Schreiber von Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ verhielt sich in dieser Hinsicht leider nicht hilfreich. Bei der Transkription der
zahlreichen Bibelzitate in den vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten Buches der
Wahren Praktik folge ich, wie auch sonst bei der Transkription von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁,
in Zweifelsfällen allein dem erwähnten (leider unvermeidbar subjektiven) Um-ein-weniges-
größer-Kriterium und suche mich dabei nicht von der Hypothese vom »Anführungspunkt«,
nach der ich mir etwa die Schreibungen zurechtdeutete, beeinflussen zu lassen.
Ebenfalls Schwierigkeiten, Groß- und Kleinschreibung zu unterscheiden, können <H> und
<h> sowie <L> und <l> bereiten. Im Normalfall stehen die Objekte dieser Buchstaben als é
und ê und als ð und ñ nach Größe und Gestalt deutlich voneinander ab. Doch sind der mit
einem Gegenbogen ansetzende Anschwung, die fast waagerecht gestellte Oberlängenschlau-
fe und bei dem <L> zusätzlich die Einbiegung des Schaftes im Mittellängenbereich sowie die
Knickung an der Grundlinie zwar Formmerkmale, die hinreichend sind, ein Objekt als Groß-
buchstaben zu qualifizieren, als notwendig für eine solche Einordnung erweisen sie sich aber
nicht. So begegnen in den Namen der Geisterliste des dritten Buches der Wahren Praktik
<H>-Objekte, bei denen wie in М (= Haraoth; 124, 1) der Anschwung verkümmert ist und
sich die Oberlängenschlaufe aufzurichten anschickt, und gleichwohl hat man diese Objekte
als Realisierung des Großbuchstabens aufzufassen; sie unterscheiden sich von zweifelsfreien
ⅬⅩⅩⅩ Zur Edition

<h>-Objekten wie dem in Н (‚hättest‘; 125,6), das einige Zeilen später folgt, nur durch ihre
Größe. Während aber die Größe der zwei angeführten Beispiele so merklich differiert, daß
man keine Schwierigkeit hat, die Buchstabenobjekte jeweils als groß und klein zu erkennen,
stößt man an anderen Stellen im Text auf eine Vielzahl von Zwischengrößen, die es illuso-
risch machen, eine Einordnung im Sinne des historischen Schreibers in jedem einzelnen Falle
korrekt vornehmen zu können. Hier muß wiederum eine rein subjektive und damit unsichere
Einschätzung nach dem konkreten Kontext benachbarter Buchstabenobjekte festlegen, ob ein
Buchstabenobjekt tatsächlich schon als <H> oder doch noch als <h> transkribiert wird.
Auch das <L> läßt sich in Einzelfällen nur schwer vom <l> unterscheiden. Zwar verwandte
der Schreiber in der Geisterliste des dritten Buches der Wahren Praktik ausschließlich die
markante überhöhte Grundform des Großbuchstabens, die ich oben anführte, anderenorts
aber schrumpfen Großbuchstabenobjekte merklich zusammen, verlieren ihren Anschwung-
bögen sowie die charakteristische Knickung des Schaftes und nähern sich mehr und mehr den
Formen des Kleinbuchstabenobjektes an. Daher muß auch hier in Einzelfällen die subjektive
Einschätzung des Kontextes benachbarter Buchstabenobjekte entscheiden, ob ein Objekt als
Groß- oder Kleinbuchstabe wiedergegeben wird.
Eine andere Erscheinung beobachtet man in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ bei dem Zett:
Der Schreiber gebrauchte zwar zwei leicht abweichende Grundformen þ und ÿ, doch ver-
wandte er sie unterschiedlos an allen Stellen, an denen einfaches Zett in den Texten auftre-
ten kann: wortinitial am Satzanfang und im Satz sowie wortmedial in der Komposition. Der
Schreiber wechselte also die beiden alternativen Grundformen nach Belieben, und zugleich
generalisierte er sie, und zwar generalisierte er sie als Grundformen des Großbuchstabens.
Die Generalisierung einer Majuskelgrundform, die auch für die Minuskel eintritt, begegnet
beim Zett nicht selten in frühneuzeitlichen Handschriften. Der Hintergrund ist vermutlich,
daß es in der Kurrente damals Varianten der Zettminuskel gab, die eine Oberlänge aufwiesen
und sich so graphisch bereits der Grundform der Zettmajuskel annäherten; dies mochte in der
individuellen Schrift eines Schreibers in der Folge dazu führen, daß beide Grundformen in der
Grundform des Großbuchstabens zusammenfielen. Mittelbar erhalten blieb eine Zettminus-
kel in solchen Fällen dann nur in der <tz>-Ligatur und im Eszett. In der Schrift des Schreibers
von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ begegnen die oben angeführten zwei Grundformen der
Zettmajuskel, und man wird sicherlich nicht fehlgehen, wenn man in dem ÿ das Forminventar
einer ursprünglichen Minuskel erkennt, die zur Majuskel vergrößert wurde. Im Transkript
gebe ich die beiden Grundformen des einfachen Zetts stets als Objekt des Großbuchstabens
<Z> wieder, das Zett der aufgelösten <tz>-Ligatur und des aufgelösten Eszetts dagegen als Ob-
jekt des Kleinbuchstabens <z>.
Ich sagte, daß eine umfassende Darstellung der Funktions- und Formgeschichte des Eszetts
aussteht. Man könnte daher Zweifel haben, ob es richtig ist, das Eszett ¯ in ein langes <ſ  > und
ein kleines <z> aufzulösen. Der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ benutzte eine
<ſP>-Ligatur, und so könnte man das Eszett vorderhand nicht nur als Ligatur aus langem <ſ  >
und kleinem <z> – einem kleinen <z> mit Oberlänge? –, sondern ebenso als Ligatur aus langem
<ſ  > und großem <Z> auffassen. In der frühen Neuzeit und schon im ausgehenden Mittelal-
ter wurde das Zett geschwänzt geschrieben, das heißt, das kleine und das große Zett hatten
eine Unterlänge; bei beiden Ansätzen müßte man demnach die Unterlänge des kleinen wie
des großen Zetts in der Ligatur als geschwunden annehmen. Soweit ich die Formgeschichte
Zur Edition ⅬⅩⅩⅩⅠ

des Eszetts übersehe, ist die charakteristische Gestalt, in der es der Schreiber von Cod. Guelf. 
47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ verwandte und die noch heute in der Handschrift üblich ist, jedoch
weder aus der Ligatur von langem <ſ  > und großem <Z> noch aus der Ligatur von langem <ſ  >
und kleinem <z> mit Oberlänge hervorgegangen, geschweige denn, daß sie aus einem langen
<ſ  > und einem <z>, das, mit seiner Unterlänge auf der Grundlinie sitzend, an den Bogen des
<ſ  > angefügt worden wäre, entstand. Das Eszett hat seinen Ursprung in einem Nexus von Ob-
jekten des langen <ſ  > und des ursprünglichen ober- und unterlängenlosen kleinen Zetts des
Mittelalters; nachdem das oberlängenlose geschwänzte Zett diese Zettform verdrängt hatte,
ergab sich für das Eszett, das noch halb Nexus, halb schon Ligatur war, nach und nach eine
Figur mit zwei Unterlängen – der Unterlänge des <ſ  > und der Unterlänge des <z> – sowie drei
Bögen – dem Oberlängenbogen des <ſ  >, dem Mittellängenbogen des <z> und der Unterlänge
des <z>. Es wäre zu untersuchen, wie sich aus dieser komplexen Figur im Laufe der Zeit ein
Eszett mit nur einer Unterlänge und zwei Bögen (oder bei Verschleifung: zwei Bögen und ei-
nem mittleren Gegenbogen) entwickelte und ob vielleicht die historischen Konkurrenzfiguren
– die Abbreviatur aus <ſ  > und Haken, die ligiert eine zweibogige Figur ergibt, und die Ligatur
aus <ſ  > und <s>, die nur eine Unterlänge hat – Einfluß auf die Formentwicklung nahmen oder
die Vereinfachung der Gestalt davon unabhängig bloßer Schreibökonomie folgte. Was nun die
Auflösung des Eszetts ¯ im Transkript des Textzeugen W₁ angeht, scheint mir unabhängig
von den genauen Wegen dieser Formentwicklung vorläufig nur die Auflösung in langes <ſ  >
und kleines <z> historisch richtig zu sein.
Ein vorlagengetreues Transkript eines historischen Textes setzt nach meinen Maßgaben
Schriftzeichentreue – worin ich Stellentreue inbegriffen denke – und die getreue Wiedergabe Zusammenfall
graphischer Mittel wie der Schriftarten- und Schriftgrößenwechsel voraus. Ich erörterte oben von Großbuch-
stabenformen
die Fälle, in denen ich in dieser Edition einerseits absichtlich, andererseits unabsichtlich gegen
der Kurrente
die Maßgabe der Stellentreue verstoße, und ich führte an, daß ich absichtlich, und zwar aus und Kanzlei in
typographischen Gründen, den originalen Wechsel zwischen Kurrente und Kanzlei in den der Vorlage
edierten Texten nicht in Gestalt eines Schriftartenwechsels berücksichtige. Darüber hinaus
kann ich nicht ausschließen, daß in der Edition unabsichtliche Verstöße gegen die getreue
Abbildung des Schriftgrößenwechsels vorkommen, der in der Vorlage stets mit dem Wechsel
zwischen Kurrente und Kanzlei einhergeht. Ursache ist die Art und Weise, wie der Schreiber
von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ die Großbuchstaben der Kanzlei ausführte.
Der Schreiber gebrauchte die Kanzlei, um in dem verschlüsselten Text von Cod. Guelf. 47.13 
Aug. 4  o a₁ die Anfänge von Überschriften, Absätzen und von Bibelsprüchen oder Bibelspruch-
adaptionen zu markieren sowie um in den Initiationsgebeten von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₂
zusätzlich die ersten Zeilen von Überschriften auszuzeichnen. Zur Markierung von Absätzen
und lediglich gesprochener Bibelsprüche schrieb er nur den großen Anfangsbuchstaben in
Kanzlei, in den anderen Fällen führte er das ganze erste Wort oder die ganze Zeile in Kanzlei
aus. Das Problematische an diesem Verfahren ist, daß die Menge der Grundformen der Kur-
rentemajuskeln und die Menge der Grundformen der Kanzleimajuskeln eine beträchtliche
Schnittmenge aufweisen, das heißt, der Schreiber benutzte bei den meisten Buchstaben in der
Kurrente und der Kanzlei dieselbe Majuskelgrundform. Eindeutig als Majuskelgrundformen
der Kanzlei erkennbare Figuren finden sich nur zu <D>, <M> und <V>, vermutlich auch zu <H>
– doch auch das Vorhandensein dieser eindeutigen Kanzleiformen verhinderte nicht, daß der
Schreiber für die genannten Buchstaben in der Kanzlei daneben Majuskelformen benutzte,
ⅬⅩⅩⅩⅠⅠ Zur Edition

die eigentlich der Kurrente angehören. Wo eine einzelne Kanzleimajuskel einen Absatz oder
Bibelspruch markiert, läßt sie sich darum nicht immer an ihrer Gestalt erkennen. Nun kommt
bei der Kanzlei ein zweites Merkmal hinzu, mit dem sie sich in der Vorlage von der Kurrente
abhebt, nämlich die Schriftgröße. Doch läßt sich an die Schriftgröße kein absoluter Maßstab
anlegen, weil sie von Zeile zu Zeile deutlich schwankt, und so erweist sich die Erkennung
einzelner Kanzleimajuskeln und damit die Erkennung vor allem der vom Schreiber intendier-
ten Absätze insgesamt als schwierig. Bei einigen Großbuchstabenformen stellt sich zudem
das besondere Problem, daß sie von vornherein keine Erkennung von Absatzmarkierungen
erlauben, weil sie in Kanzlei und Kurrente identisch sind und sie der Schreiber bereits in der
Kurrente stets so überlängt ausführte, daß sie den Zeilenraum vollständig füllen und in der
Kanzlei nicht mehr vergrößert werden konnten; dies betrifft vor allem Objekte des <L> und
des <C>: ð, Ú, wobei das <C> aber an keinem potentiellen Absatzbeginn auftritt. Anders als
bei Absätzen ist bei Bibelsprüchen das Erkennungsproblem nicht ganz so gravierend, weil sie
sich an ihrem Inhalt und dem Kontext, in dem sie stehen, ohne weiteres ausmachen lassen.
Übrigens verwandte der Schreiber einzelne Kanzleimajuskeln nicht nur zur Absatz- und
Bibelspruchmarkierung. Daß er die Namen des Königs David und des Propheten Daniel stets
mit Kanzleimajuskel schrieb, erwähnte ich bereits; in den Initiationsgebeten ist ferner oft das
Wort ›Herr‹ als Anrede des Gottes mit vermutlichem Kanzlei-<H> ausgeführt. An anderen
Stellen dient die Kanzleimajuskel der akzentuierenden Hervorhebung; wenn es zum Beispiel
im Text der Wahren Praktik heißt:

[…] darneben aber ſey gebeten, diſzen Schatz, ſo Ich dir hiemit verehre, wie ſichs gegen einem Schatz gebü-
ret, Zuhallten, vnd nit, als ob es SPreẃr weren, für die Seẃ Zuſchitten: Dir hab Ich Ihne geſchenckt, behallt
Ihne für dich, aber ſeinen Wuecher [‚Ertrag‘ ] theile mit wem du kanſt […] (27, 18–20)

so ist in der Handschrift das <D> von Dir in Kanzlei geschrieben, weil auf diesem Dir der Ton
des Satzes liegt.
Ich kann nicht Gewähr leisten, daß ich alle originalen Absatzmarkierungen bemerkt habe
noch daß ich vielleicht Absatzmarkierungen wiedergebe, wo im Original keine sind. Da ich im
edierten Text die Absatzmarkierungen aber ohnehin nicht in reale Absätze auflöse, sondern
den Text in einer ähnlich blockhaften Gestalt einrichte, in der Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und
a₂ dem Leser entgegentreten, halte ich die Fehler, die mir bei der Erkennung von Absatzmar-
kierungen eventuell unterlaufen, für läßlich. Ich verfahre im Gegenteil in der Edition so, daß
ich dort, wo ich im Text einen Sinneinschnitt herauslese, eine Absatzmarkierung immer dann
annehme, wenn die Majuskel in der Vorlage nur um ein weniges größer gegenüber anderen
Großbuchstaben im näheren Buchstabenkontext ausgeführt erscheint. Die Schriftvergröße-
rung, die ich im edierten Text für die Kanzlei-Wiedergabe benutze, beträgt nur einen Punkt
(etwa ein Drittel Millimeter) und fällt damit so gering aus, daß der Leser genau hinsehen muß,
um eine vergrößerte Anfangsmajuskel überhaupt wahrzunehmen. Damit stelle ich gleichsam
die Situation nach, in der sich ein Editor bei der Bestimmung von Absatzmarkierungen der
historischen Handschrift befindet. Erst wenn sich einer vergrößerten Majuskel vergrößerte
Kleinbuchstaben anschließen, sticht die Schriftvergrößerung im edierten Text deutlicher ins
Auge, und auch dies entspricht den Verhältnissen im handschriftlichen Original; denn im Ge-
gensatz zu den Großbuchstaben lassen sich hier die Kleinbuchstaben dank ihrer Brechungen
oder ihrer besonderen Form zu einem guten Teile leicht als Kanzlei erkennen.
Zur Edition ⅬⅩⅩⅩⅠⅠⅠ

Mit Folgen aus Kanzleimajuskel und einer oder mehreren sich anschließenden Kanzleimi-
nuskeln markierte der Schreiber in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ die Anfänge von Überschriften
sowie von Bibelsprüchen (oder Bibelspruchadaptionen), die bei der Anwendung eines ver-
mischt-kabbalistischen Rezeptes nicht gesprochen, sondern geschrieben, geritzt oder graviert
werden müssen. Mehrere Bibelsprüche setzen mit ›Gott‹ und ›Herr‹ als Bezeichnungen des
Gottes, an den man sich wendet, ein, und da der Schreiber beide Wörter regelmäßig chiffrier-
te, kollidieren im Original an solchen Stellen die Chiffren mit der vorgesehenen Markierung
durch Kanzleibuchstaben. Im edierten Text löse ich die Chiffren auf und führe das System,
das der Schreiber vorsah, an den beiden Wörtern durch, und das heißt: Ist der Spruch, der mit
›Gott‹ oder ›Herr‹ beginnt, zu sprechen, vergrößere ich den nur Anfangsbuchstaben, ist er zu
schreiben oder zu gravieren, vergrößere ich jeweils das ganze Wort um einen Punkt.
Für Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃, die Entschlüsselungstabelle, unterstelle ich das gleiche Sy-
stem graphischer Mittel, wie es in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂ vorliegt. Fremdsprachige
oder als fremdsprachig aufgefaßte Namen und Begriffe wurden in vergrößerter Antiquakur-
sive, deutsche Begriffe in Kurrente und normaler Schriftgröße geschrieben; entsprechend
übertrage ich die Namen und Begriffe im edierten Text in serifenlose Antiqua mit vergrö-
ßertem und in Serifen-Antiqua mit normalem Schriftgrad. Nur das Wort ›Herr‹ hat eine ver-
größerte Anfangsmajuskel, die in Kanzlei ausgeführt ist. Ich vermute, daß der Schreiber der
Entschlüsselungstabelle ebensowenig wie der Schreiber von Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₁ und a₂
die Reihen der Kanzlei- und der Kurrentemajuskeln streng schied, und konjiziere deshalb alle
Chiffrenmajuskeln, die nicht in Antiquakursive geschrieben sind, als in Kanzlei ausgeführt; 64
im edierten Text gebe ich sie in Serifen-Antiqua, aber gleichfalls um einen Punkt vergrößert
wieder. Nach der Form eindeutig als Kanzlei läßt sich das <D>-Objekt in der Chiffre DG., die
für ›Dienstgeist‹ steht, und das <H>-Objekt der Chiffre für ›Honig‹ erkennen.
Ich habe nunmehr erläutert, nach welchen Grundsätzen und unter welchen Abweichun-
gen von diesen Grundsätzen der edierte Text von W₁ erstellt ist. Zuletzt möchte ich einige Hinweise zum
Bemerkungen zu der Einrichtung der Edition und dem Anmerkungsapparat machen. Da in Anmerkungs-
apparat der
der Edition die originalen Seitenumbrüche aufgehoben sind, werden sie im laufenden Text
Edition
mit der Marke | verzeichnet, und ergänzend hält eine Marginalie, die auf dem Außensteg der
Seiten steht, das Blatt bzw. die Seite fest, die im Original an der Textstelle beginnt. Auf dem
Innensteg der Seiten des edierten Textes ist ferner eine Zeilenzählung aufgeführt. Die Zei-
lenzählung ermöglicht, die Anmerkungen des Apparates dem edierten Text zuzuordnen. Der
Anmerkungsapparat befindet sich am Fuß des Schriftspiegels. Er untergliedert sich in zwei
Teile: den Textapparat und danach den Sachapparat. Besteht kein Erfordernis für Anmerkun-
gen, entfällt der jeweilige Apparatteil oder auch der Anmerkungsapparat ganz. Der Textap-
parat behandelt Lesarten des edierten Textes; er vermerkt, wenn ich in originale Lesarten
eingreife, und er führt abweichende Lesarten an, die man in anderen Textzeugen vorfindet.
Der Sachapparat dagegen enthält Anmerkungen, die den Inhalt des edierten Textes betreffen.
Beide Teilapparate unterscheiden sich ein wenig in ihrem Aufbau. Gemeinsam haben sie, daß
Anmerkungen stets mit fettgedruckten Zahlen und einem Lemma beginnen; das Lemma gibt
das Wort oder die Wortfolge des edierten Textes an, auf die sich eine Anmerkung bezieht, und
die fettgedruckten Zahlen verweisen auf die Zeile oder die Zeilen, in denen sich das Wort oder

64
Die Kleinbuchstaben der Chiffren Z.r und Z.y sind in Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4  o a₃ wie a₁ aber erkennbar Kurrente.
ⅬⅩⅩⅩⅠⅤ Zur Edition

die Wortfolge im edierten Text befinden. Die Schriftart, in der ein Wort oder eine Wortfolge
Hinweise zum im edierten Text erscheint, wird in dem Lemma stets reproduziert, nicht aber Schriftgrößen-
Textapparat wechsel oder Kursivierungen. Im Textapparat folgt auf das Lemma stets eine Sigle, die einen
der Edition
Textzeugen bezeichnet, und sodann eine Bemerkung von mir oder eine Lesart, die sich in dem
angeführten Textzeugen findet. Lesarten führe ich in normaler aufrechter Schrift, Bemerkun-
gen von mir in kursiver Schrift an. In den Anmerkungen können mehrere Lesarten nachein-
ander angeführt sein, und sie sind dann nur durch die Siglen der Textzeugen, zu denen die
Lesarten gehören, getrennt; die Siglen dienen somit zugleich quasi als Interpunktionszeichen.
Ich weise darauf hin, daß es sich bei allen echten Interpunktionszeichen, die in den Anmer-
kungen des Textapparates vorkommen, um Bestandteile von Lesarten handelt.
Der hier edierte Textzeuge W₁ ist die Leithandschrift des Textes der Wahren Praktik, und er
bietet eine vorzügliche Textüberlieferung. Es gilt damit, daß W₁ im Vergleich zu allen ande-
ren Textzeugen so gut wie immer die beste Lesart hat. Daher halte ich nicht für erforderlich,
im Textapparat umfängliche Lesartenvergleiche anzustellen. Ich verzeichne Lesarten anderer
Textzeugen der Wahren Praktik nur, wenn die Möglichkeit besteht, daß sie ausnahmsweise die
bessere Lesart haben – der Schreiber von W₁ war zwar überaus sorgfältig, doch unfehlbar war
er nicht, und ihm unterliefen hier und dort wenige Schreibversehen. Lesarten anderer Text-
zeugen verzeichne ich ferner dann, wenn sie in der Sache »interessant« erscheinen. Dies ist
zum Beispiel der Fall, wo abweichende Lesarten aufzeigen, daß es mindestens einen weiteren
Textzeugen gegeben haben muß, der wie W₁ verschlüsselt war und von dem der Großteil der
erhaltenen Textzeugen der Wahren Praktik abstammen.
Dieser vermutlich verlorengegangene verschlüsselte Textzeuge enthielt die Zitate aus der
Lutherbibel, die in den vermischt-kabbalistischen Rezepten des zweiten Buches der Wahren
Praktik eine wichtige Rolle spielen, in einer zur Herkunftsverschleierung bearbeiteteten Form.
Die bearbeiteten Zitate, die sich – außer in W₁ und seinen Abkömmlingen – in allen Textzeu-
gen vorfinden, die das zweite Buch enthalten, führe ich im Textapparat der Edition nicht als
abweichende Lesarten an, weil ihr Umfang den Apparat gesprengt hätte. Im zweiten Band die-
ses Editionsprojektes beleuchte ich, wie der Bearbeiter bei der Umgestaltung der Bibelverse
vorging, und führe in diesem Zusammenhang hinreichend Beispiele an.
Im übrigen beschränke ich die Zahl der Textzeugen, deren abweichende Lesarten ich be-
rücksichtige, auf drei: Der Textzeuge Lo₃ dürfte gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden
sein 65 und bietet zwar keinen makellosen Text, aber trotz seines vergleichsweise jungen Alters
immer noch den besten Text unter allen Textzeugen der Wahren Praktik, läßt man W₁ und
seine Abkömmlinge außer acht. Der Textzeuge L wird in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts geschrieben worden sein 66 und weist wie die meisten Textzeugen eine nur mittelmäßige
Textqualität auf; er dient mir vor allem als Stütze von Lo₃ gegen W₁. Der Textzeuge Wi₂ hat
von den dreien mit Abstand den schlechtesten Text, noch dazu ist der Text unvollständig,
denn er bricht zu Anfang des dritten Buches der Wahren Praktik ab.67 Ich führe Wi₂ im Lesar-
tenvergleich nur deshalb an, weil er außer W₁ der einzige mir bekannte Textzeuge ist, dessen
Existenz in einem historischen Druck bezeugt ist.

65
Wellcome Library London Ms. 821
66
Universitätsbibliothek Leipzig Cod. mag. 15
67
Österreichische Nationalbibliothek Wien Cod. 10580
Zur Edition ⅬⅩⅩⅩⅤ

Ich halte meine Anmerkungen im Textapparat möglichst knapp, und darum mag hilfreich
sein, wenn ich an dieser Stelle einige Anmerkungen zitiere und sie erläutere, so daß das Sy-
stem deutlich wird. Die folgende Anmerkung findet sich im Textapparat auf Seite 9 der Edi-
tion:
18 wahrZeichen Lo₃ Wortzeichen L Wi₂ wahrzeichen | mich W₁ n. v. Lo₃ L Wi₂ mich

Sie bezieht sich auf das Wort wahrZeichen in Zeile 18. Da unter den folgenden Siglen die Sigle
W₁ nicht aufgeführt ist, kann der Leser für sich ableiten, daß die Lesart des edierten Textes mit
der originalen Lesart des Textzeugen W₁ übereinstimmt. Lo₃ hat dagegen die Lesart Wortzei-
chen, L und Wi₂ die Lesart wahrzeichen. Die Anmerkung fällt unter die Rubrik »Interessantes«,
denn L und Wi₂ stützen die Lesart wahrZeichen bei W₁ als ursprüngliche Lesart gegen Lo₃, und
somit wäre die Anmerkung eigentlich unnötig. Wenn nicht gerade »Interessantes« berührt
ist, führe ich nämlich Lesarten der Textzeugen Lo₃, L und  Wi₂ nur dann an, wenn mindestens
zwei dieser Textzeugen eine identische von W₁ abweichende Lesart haben. Interessant ist an
der Stelle, auf die sich die Anmerkung bezieht, daß ausgerechnet in dem so jungen Textzeugen
Lo₃ ein Wort als abweichende Lesart auftritt, das als Synonym von ›Wahrzeichen‹ bereits im
17. Jahrhundert außer Gebrauch geriet.
In der Regel gebe ich einzelne Lesarten in der Reihenfolge W₁, Lo₃, L, Wi₂ gemäß ihrer
abnehmenden Zuverlässigkeit an. Wenn ich eine Lesart wie in der angeführten Anmerkung
mit der Siglenfolge L Wi₂ aufführe, bedeutet dies, das sowohl in L als auch in Wi₂ die Lesart
wahrzeichen vorkommt. Lesart bedeutet dabei Wortlaut, nicht die konkrete Schreibung; so
findet sich in Wi₂ zwar die Lesart wahrzeichen, konkret geschrieben könnte das Wort in Wi₂
aber durchaus auch anders sein, ohne daß ich dies angäbe. Ich verzeichne in solchen Fällen
keine abweichenden Schreibung; die angegebene Schreibung einer Lesart gehört stets dem
Textzeugen zu, den ich als ersten nenne, in dem Beispiel also dem Textzeugen L.
Anmerkungen, die sich auf zwei Lemmata in ein und derselben Zeile beziehen, werden wie
in dem angeführten Beispiel durch einen senkrechten Strich | voneinander getrennt. Das Wort
mich, dem die zweite Anmerkung gilt, befindet sich somit ebenfalls in Zeile 18 auf Seite 9 des
edierten Textes. Die Angabe W₁ n. v. bedeutet, daß das Wort mich in dem Textzeugen W₁ nicht
vorkommt; die Anmerkung verzeichnet folglich einen Eingriff, zu dem ich mich gezwungen
sehe, weil dem historischen Schreiber ein sinnentstellendes Schreibversehen unterlief. Der
Eingriff erfolgt unter Berufung auf die Textzeugen Lo₃, L und Wi₂, die an der Stelle ein mit
großer Wahrscheinlichkeit richtiges mich haben.
Im Textapparat benutze ich Sonderzeichen, die einer Erklärung bedürfen. Auf Seite 1 des
edierten Textes findet sich zum Beispiel diese Anmerkung:
1 Abraham, W₁ Abraham:

Ich greife im Editionstext im Grundsatz nicht in die historische Interpunktion ein, Ausnahme
ist, wie ich erläuterte, die Interpunktion nach aufgelösten Begriffschiffren, an aufgelösten Zei-
lensprüngen und bisweilen an aufgehobenen Zeilenumbrüchen. An solchen Stellen interpun-
giere ich im edierten Text in der Regel nach den heute geltenden Prinzipien. Die zwei hoch-
gestellten Punkte in der Anmerkung zeigen einen Zeilensprung im verschlüsselten Original
an; die Anmerkung besagt also, daß in der Vorlage nach dem Wort Abraham ein Zeilensprung
folgt und das Komma, das sich an der Stelle des aufgelösten Zeilensprunges im edierten Text
ⅬⅩⅩⅩⅤⅠ Zur Edition

findet, von mir gesetzt wurde. Es bleibt dem Leser einzuschätzen überlassen, ob das im Ori-
ginal nicht vorhandene Komma versehentlich dem Zeilensprung zum Opfer fiel oder es nicht
vorkommt, weil der historische Schreiber an der Stelle kein Komma zu setzen vorhatte. Vier
hochgestellte Punkte bedeuten einen Zeilenumbruch im Original. So besagt zum Beispiel die
Anmerkung
12/13 ſonderbaren W₁ ſonderba:: ren

daß ich am Umbruch von Zeile 12 zu Zeile 13 auf Seite 1 des edierten Textes das Wort ſonderba-
ren zusammenschreibe, während der originale Text ein ſonderba ren hat, weil der Schreiber
keine Trennungsstriche am Zeilenende setzte. Ein weiteres Sonderzeichen, das ich im Text-
apparat verwende, sind geschweifte Klammern. An wenigen Stellen ist der originale Text
beschädigt oder durch Flecken verdeckt, so daß Buchstaben unlesbar oder wenigstens schwer
lesbar geworden sind. Im edierten Text konjiziere ich die verlorengegangenen Buchstaben
und gebe die Konjektur in geschweifte Klammern eingeschlossen in einer Anmerkung an.
So fehlt durch eine Beschädigung des Seitenrandes zum Beispiel im Original die Endung des
Wortes haben in dem Relativsatz darinn vnſzere liebe VorVätter gelebt haben und wird von mir
im edierten Text wiederhergestellt; auch ein Komma, das den Relativsatz mutmaßlich einst
abschloß und ebenso verlorenging, wird von mir ergänzt. Im Textapparat lautet eine entspre-
chende Anmerkung zu Zeile 3 auf Seite 7 des edierten Textes damit wie folgt:
3 haben, W₁ hab{en,}

In der Regel greife ich nicht in die historischen Wortlaut ein, es sei denn, er erscheint sinn-
entstellt. Dann und wann kann der Leser aber Zweifel haben, ob eine merkwürdig anmutende
Schreibung auf das historische Original zurückgeht oder nicht vielmehr dem Editor ein Verse-
hen unterlaufen ist. Wo immer ich den Zweifel des Lesers vorauszuahnen glaube, findet man
im Textapparat Anmerkungen wie die folgende auf Seite 8 des edierten Textes:
21 ſeinr W₁ so

Die Anmerkung versichert dem Leser, daß sich die Schreibung ſeinr in Zeile 21 original im
Textzeugen W₁ findet.
Bei Anmerkungen im Sachapparat verfahre ich ein wenig anders als im Textapparat. Doch
Hinweise zum beginnt auch hier eine Anmerkung stets mit einer Zeilenangabe und dem Lemma, und auch
Sachapparat hier benutze ich senkrechte Striche, wenn sich Anmerkungen eine Zeilenangabe teilen. Über-
der Edition
schreitet ein Lemma die Länge von drei Wörtern, kürze ich die Wortfolge ab, indem ich nur
das erste und das letzte Wort angebe und dazwischen drei Auslassungspunkte setze. Ein Lem-
ma wird stets von einer eckigen Klammer ] abgeschlossen, und nach der Klammer folgt mei-
ne Bemerkung, die in kursiver Schrift ausgeführt ist. Eine Anmerkung wird stets mit einem
Punkt abgeschlossen.
Jeder Text enthält eine ganze Welt und ein frühneuzeitlicher Text eine Welt, die sich von
der heutigen in einigem unterschied. Ein Editor muß sich Beschränkungen auferlegen, was
er in dem Sachapparat behandelt, weil er sonst mit seinen Anmerkungen nie zu einem Ende
fände. So brennend ich selbst mich für historische Realien interessiere, so kann ich doch
zum Beispiel darauf in den Anmerkungen kaum eingehen, was besonders für die vermischt-
kabbalistischen Rezepte des zweiten Buches der Wahren Praktik schade ist. Ich konzentriere
Zur Edition ⅬⅩⅩⅩⅤⅠⅠ

mich statt dessen auf folgende Punkte: Spracherklärungen sowie den Nachweis von Bibel-
zitaten und Zitaten aus der Palthenischen SYLVA. Die Lutherbibel und das Wörterbuch sind
die maßgeblichen Quellen, aus denen der Verfasser der Wahren Praktik schöpfte; die SYLVA
ist überdies der entscheidende terminus post quem der Entstehung der Wahren Praktik, und
ohne sie lassen sich die Polygramme des vierten Buches nicht zutreffend deuten. Als weiteren
Punkt stelle ich im dritten Buch, soweit dies der Platz erlaubt, die Konstruktion der 417 Gei-
sternamen dar, die der Verfasser der Wahren Praktik erfand.
Wer mit dem Frühneuhochdeutschen vertraut ist, dem wird der edierte Text keine Schwie-
rigkeiten bereiten, und er kann die Anmerkungen, die ich zu sprachlichen Erscheinungen des
Textzeugen W₁ mache, guten Gewissens ignorieren. Mir schwebte bei der Erstellung des Sach-
apparates vorrangig ein Leser vor, der sich für einen von den Händen neuzeitlicher Esoteriker
und Okkultisten unberührten Text der Wahren Praktik interessiert, sich nun aber unversehens
mit einem echten historischen Text und keiner modernisierten Lesebuchfassung konfrontiert
sieht. Zwar kann jeder, der im 21. Jahrhundert Deutsch beherrscht, einen frühneuhochdeut-
schen Text des 17. Jahrhunderts lesen und meist im großen und ganzen verstehen; möchte
man sich mit dem Text aber ernsthaft auseinandersetzen, sollte man sich mit solchem ober-
flächlichen Verstehen nicht begnügen. Die Spracherklärungen, die ich im Sachapparat gebe,
sind eine Handreichung für einen Frühneuhochdeutsch-Unkundigen, und ich versuche, so gut
ich vermag, die Klippen auszumachen, an denen ein solcher Unkundiger scheitern könnte.
Womöglich tue ich dabei mit meinen Anmerkungen des Guten zuviel, doch meine ich, daß
in dieser Sache ein Zuviel verzeihlicher ist als ein Zuwenig. Zur Platzschonung beschränke
ich mich in der Regel darauf, zu einem Lemma eine in einfachen Anführungsstrichen einge-
schlossene Übersetzung ins heutige Deutsch anzuführen. Vor allem bei sogenannten falschen
Freunden, also Wörtern, deren Bedeutung sich in den letzten vierhundert Jahren gewandelt
hat, ohne daß dies ein Unkundiger beim Lesen sogleich bemerken muß, gebe ich auch eine
ausführlichere Erklärung. Für heutige Leser grammatisch ungewöhnliche Konstruktionen
werden von mir ebenfalls nur übersetzt, mitunter folgt eine kurze Bemerkung. Für ausführ-
lichere grammatische Erläuterungen läßt der Sachapparat keinen Raum, was ich bedauere,
denn gerade in Handschriften der frühen Neuzeit stößt man des öfteren auf interessante syn-
taktische Konstruktionen, die im Druck zu der Zeit schon nicht mehr geduldet wurden. Um
den Apparat auch in dieser Hinsicht nicht zu überlasten, gebe ich Erklärungen von Wörtern
und Wortfügungen nur bei ihrem ersten Auftreten, es sei denn, sie erscheinen bei ihrem noch-
maligen Auftreten in anderer Bedeutung.
Idealerweise sollte man historische Texte aus Texten ihrer eigenen Zeit erklären. Zu man-
chen Textstellen zitiere ich darum zeitgenössische Literatur. Dies ist nicht so verstehen, als
unterstellte ich damit, daß der Verfasser die angeführte Literatur kannte. Bei manchen der
zitierten Texte wäre das gar nicht möglich, weil sie jünger als der Textzeuge W₁ sind. Die
Anführungen sollen allein dazu dienen, die Zeitgenossenschaft des Textes der Wahren Praktik
herauszustellen.
Außer auf Spracherklärungen liegt das Gewicht der Anmerkungen ferner auf Bibelstellen,
die die Wahre Praktik zitiert, adaptiert oder auf die sie anspielt. Die Lutherbibel gibt gleichsam
die Folie ab, auf der die Wahre Praktik verfaßt wurde. Um es dem Leser zu erlassen, sich den
historischen Text der Lutherbibel zu beschaffen, nenne ich nicht nur die Bibelstellen, sondern
führe die Verse im Wortlaut an; dies erlaubt, auf einen Blick zu übersehen, wie die Bibelverse
ⅬⅩⅩⅩⅤⅠⅠⅠ Zur Edition

aus der Kompromißschriftsprache der Lutherbibel in den oberdeutschen Schreibdialekt des


Textes überführt und von dem Verfasser zuweilen inhaltlich umgearbeitet wurden. Die Lu-
therbibel zitiere ich nach der Wittenberger Ausgabe von 1545. Es ist freilich nicht anzuneh-
men, daß dem Verfasser der Wahren Praktik diese Ausgabe zur Hand war, doch hat sie als die
letzte, die zu Luthers Lebzeiten erschien, Referenzcharakter. Jüngere Ausgaben des 16. und
frühen 17. Jahrhunderts weichen nicht im Wortlaut, sondern nur in den Schreibungen von der
Wittenberger von 1545 ab. Diese Ausgabe zeigt typographische Eigenheiten, die von späteren
Drucken nicht übernommen wurden. Dazu zählt der spezifische Gebrauch von Antiquama-
juskeln in einem Text, der überwiegend in Schwabacher gedruckt ist. In den Bibelzitaten, die
ich in den Anmerkungen anführe, verzichte ich zu meiner Arbeitserleichterung darauf, diesen
Gebrauch nachzubilden. Weil nicht allein die Lutherbibel, sondern die Bibel als solche und
vor allem Gegenstände des Alten Testamentes eine wichtige Rolle für Textstellen der Wahren
Praktik spielen, gehe ich in den Anmerkungen hier und dort auf biblische Sachverhalte etwas
ausführlicher ein. Die Wahre Praktik entwirft den »wahren Magier« als biblischen Hohen-
priester und Gottgesalbten, als zweiten König David, seinen Gebetsraum als Allerheiligstes
der mosaischen Stiftshütte und des Salomonischen Tempels, und so erscheint angebracht, ein
wenig den biblischen Hintergrund zu beleuchten.
Die zweite wichtige Quelle, die der Verfasser für die Wahre Praktik nutzte, war die Palthe-
nische SYLVA. Sie gebrauchte er dort, wo er vor allem hebräische, aber auch griechische Wör-
ter zur Authentitätsbezeugung seiner Fiktion benötigte. Daß er sich der Palthenischen SYLVA
bediente, ersieht man aus den zahlreichen Druck- und sachlichen Fehlern, die dieses Wörter-
buch charakterisieren. Wegen der Fehler – manche von ihnen sind freilich nicht der Druk-
kerei, sondern dem damaligen Stand der Hebraistik zuzuschreiben – füge ich Zitatbelegen
regelmäßig Worterklärungen aus modernen Wörterbüchern bei. In diesen Worterklärungen
fallen einige grammatische Begriffe wie Kal, Piel, Hifil usw. Ich kann an dieser Stelle nicht die
Grammatik des Hebräischen auseinandersetzen und will nur soviel anmerken: Das Hebrä-
ische baut wesentlich auf dreikonsonantigen Wurzeln auf, die einen Sinnbereich bezeichnen,
zum Beispiel verweist die Wurzel ‫ קטל‬ktl auf den Sinnbereich ›töten‹. Eine Wurzel ist nicht
einem deutschen Infinitiv zu vergleichen, es handelt sich nur um ein abstrahiertes Konstrukt;
reale Wortgebilde entstehen erst, indem die Stellen zwischen den Konsonaten mit Vokalen
gefüllt werden. Dabei vermitteln vorgegebene Vokalkombinationen eine konkrete Bedeutung.
Die einfachste Vokalfüllung, mit der sich verbale Ausdrücke bilden lassen, nennt man Kal-
stamm (nach ‫ ַקל‬kal, hebräisch ‚leicht, einfach‘), und die einfachste Form des Kalstammes
ist für die Wurzel ‫ קטל‬ktl die Verbalform ‫ ָקַטל‬katal, die angenähert ›er hat getötet‹ bedeutet.
Allerdings nur angenähert, denn das biblische Hebräisch kannte kein Tempussystem, wie
es das moderne Deutsch hat, sondern verfügte über ein Aspektsystem. Die Form ‫ ָקַטל‬katal
besagt, daß ein Subjekt, das als grammatisches Maskulinum aufgefaßt wird, eine Handlung,
hier das Töten, abgeschlossen hat; wie diese abgeschlossene Handlung temporal verortet ist,
muß der Kontext ausweisen. Man nennt diese Art des Kalstammes wegen der Abgeschlossen-
heit der Handlung perfektiv. Erweitern läßt sich das Wurzelsystem durch Anfügungen, mit
denen man verbale Ausdrücke bilden kann, die mehr als nur drei Konsonanten enthalten. So
kommt etwa die Kalform ‫ ִיְקֹטל‬jiktol zustande, indem man der Wurzel ‫ קטל‬ktl ein Präformativ
voransetzt; die Form besagt, daß einem Subjekt, das als grammatisches Maskulinum aufge-
faßt wird, eine unabgeschlossene Handlung, hier des Tötens, zugeordnet wird. Die Form ist
Zur Edition ⅬⅩⅩⅩⅠⅩ

also imperfektiv, und die Handlung steht zu anderen Handlungen oder Ereignissen in einem
Verhältnis der Nachzeitigkeit, das der Kontext näher bestimmen muß. Das Aspektsystem aus
Perfektiv und Imperfektiv ist ein Merkmal des Bibelhebräischen. Ich stelle auf das Bibelhe-
bräische ab, weil im Mittelpunkt der frühneuzeitlichen Hebraistik die Sprache der Urtexte des
Alten Testamentes stand; die christlichen Hebraisten beschäftigten sich mit dem Hebräischen
zunächst nicht um des Hebräischen, sondern um des Verständnisses des Alten Testamentes
willen. Freilich merkte man bald, daß es für dieses Verständnis dienlich sein könnte, die Texte
jüdischer Ausleger zu studieren, und so erweiterte sich das Interesse in der Folge auf nachbi-
blische Schriften und das Hebräisch, in dem sie verfaßt sind. Daher enthält die Palthenische
SYLVA zuvörderst Bibelhebräisches, aber hier und da auch jüngeres Hebräisch. Außer dem
Kalstamm gibt es weitere Stämme wie Piel, Hifil usw., mit denen sich verbale Ausdrücke
bilden lassen, und diese unterteilen sich ebenso in die Kategorien ›perfektiv‹ und ›imperfek-
tiv‹. Bei genauerer Betrachtung des Gebrauches der Verbalformen im Bibelhebräischen zeigt
sich jedoch, daß ihre Funktion mit Perfektivität und Imperfektivität allein nicht hinreichend
beschrieben wird. Deshalb benutzt die neuere Grammatikschreibung zunehmend andere Be-
griffe, und ich nenne die überkommenen hier nur, weil sich die Wörterbücher, die ich in den
Anmerkungen zitiere, ihrer bedienen.68
Aus dem dreikonsonantigen Wurzelsystem können sich im Hebräischen nicht nur verbale,
sondern auch substantivische und adjektivische Ausdrücke herleiten, so zum Beispiel aus der
Wurzel ‫ קטל‬ktl das Substantiv ‫ ֶקֶטל‬ketel ‚Mord‘ oder auch das Partizip ‫ ֹקֵטל‬kotel ‚tötend‘, das
substantiviert soviel wie ›Töter‹ oder ›Mörder‹ bedeutet. Substantive lassen sich im Hebrä-
ischen in einer Konstructus-Verbindung zusammenfügen; semantisch entspricht dies nähe-
rungsweise einer deutschen Nominalgruppe aus Substantiv und Genitivattribut oder einem
Substantivkompositum. Während aber im Deutschen in einer Nominalgruppe das Grundwort
unverändert bleibt und das Attribut eine Formänderung erfährt, indem es in den Genitiv ver-
setzt wird (oder in einem Kompositum das Grundwort als Hinterglied unverändert bleibt und
das hinzutretende Wort als Vorderglied unter Umständen durch ein Fugenelement erweitert
wird), verhält es sich im Hebräischen gerade andersherum: In der Konstruktus-Verbindung
wird das Grundwort in den sogenannten Status constructus versetzt, wogegen das Wort, mit
dem sich das Grundwort verbindet, seine Ausgangsform, den sogenannten Status absolutus,
behält. Die Luthersche Bibelübersetzung sucht zuweilen eine solche Konstruktus-Verbindung
im Deutschen nachzubilden, indem sie, statt das Attribut im Genitiv beizufügen, dem Grund-
wort einen Nominativ – gleichsam als deutsche Entsprechung des Status absolutus – nach-
setzt. So entstand dann eine Fügung wie der Gott Abraham, der Gott Iſaac, vnd der Gott Iacob
(Ex. 3, 6), die nichts anderes besagt als ›der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Ja-
kobs‹. Auch der geläufige Ausdruck ›Arche Noah‹ ist eine solche nachgeahmte Konstruktus-
Verbindung. Für Weiteres verweise ich auf Grammatiken des Bibelhebräischen.
Hebräische und griechische Wörter werden von mir in den Anmerkungen des Sachappa-
rates sowohl in hebräischen und griechischen Schriftzeichen als auch transliteriert in »latei-
nischer« Antiqua angeführt. Was insbesondere das Hebräische betrifft, so wende ich keine
wissenschaftliche, sondern eine eindeutschende Transliteration an, die sich an der Tabelle

68
Da ich nicht den Anspruch habe, Hebraistik zu betreiben, halte ich für ausreichend, zwar neuzeitliche, aber
gleichwohl etwas angejahrte Wörterbücher zu benutzen. Ich verweise dazu auf das Literaturverzeichnis.
ⅩⅭ Zur Edition

orientiert, die das Wissenschaftliche Bibellexikon (WiBiLex) für eine vereinfachte Translitera-
tion des Hebräischen im Netz angibt.69 Eine solche vereinfachte Transliteration genügt für die
Zwecke der vorliegenden Edition und ermöglicht vor allem einen unmittelbaren Vergleich
mit der ebenfalls eindeutschenden historischen Transliteration, die die Palthenische SYLVA
für hebräische Begriffe durchführte; auf die Transliterationen der SYLVA griff der Verfasser
der Wahren Praktik vor allem für die Geisternamen des dritten Buches und die Polygramme
des vierten Buches zurück. An dieser Stelle sei nebenbei darauf hingewiesen, daß ein – even-
tuelles – singuläres arabisches Polygramm von mir in den Anmerkungen nicht ganz korrekt
in arabischen Schriftzeichen wiedergegeben werden konnte; leider ließ sich das Textverarbei-
tungsprogramm nicht bewegen, die Ligatur zu setzen, die die Schreibgepflogenheiten eigent-
lich erfordern.
Zitate führe ich im Sachapparat in Normalschrift, also aufrechter Schrift, an, um sie von
meinen kursiv geschriebenen Bemerkungen abzusetzen. Für Zitate aus historischen Texten
verwende ich Serifen-Antiqua dort, wo der historische Text eine historische Schreibschrift
oder eine gebrochene Druckschrift, und serifenlose Antiqua, wo er eine Antiqua benutzt. Für
Zitate aus modernen Texten verwende ich nur Serifen-Antiqua. Ich kürze Zitate zur Platzer-
sparnis ein, indem ich drei Auslassungspunkte ohne eckige Klammern setze.
Auf die Schreibungen zitierter Texte wende ich den Grundsatz der Schriftzeichentreue an,
soweit dies der Sachapparat gestattet, das heißt, ich übernehme weitgehend die originalen
Schriftzeichen nach den oben für den edierten Text dargelegten Maßgaben, aber selbstver-
ständlich nicht die originalen Zeilenumbrüche, Einrückungen, Absätze usw. und ebensowe-
nig allfällige Schriftgrößenwechsel. Während in deutschen Drucktexten des 17. Jahrhunderts,
die in gebrochener Schrift gesetzt sind, als Interpunktionszeichen regelmäßig die Virgel
vorkommt – ein nach rechts geneigter Strich, der das Mittelband der Zeile überstreicht –,
begegnen in Handschriften der Zeit statt dessen meist nur noch kurze Striche, die die Zei-
lengrundlinie schneiden und die man in solcher Gestalt füglich als Kommata anspricht. Bei
Zitation frühneuzeitlicher Drucktexte gebe ich keine Virgeln wieder; ich betrachte Virgel und
Komma als allographische Varianten ein und desselben Schriftzeichens, und da ich nach mei-
nem Schriftzeichenansatz keine Allographe berücksichtige, erscheinen originale Virgeln in
den Zitaten als Kommata. Mit diesem Vorgehen setze ich mich allerdings in Widerspruch zu
einer Regelung, die ich für Umlautschreibungen traf. So gebe ich im edierten Text die ori-
ginalen Schreibungen ×, û, ¶ als ä, ö, ü wieder und führte dafür als Rechtfertigung an, daß
sich die Schreibungen mit übergesetzten Punkten im 17. Jahrhundert nur in Handschriften
fänden, wohingegen Drucke <|>, <}>, <~> hätten, und folglich eine systematische Verteilung
beider Schreibungen bestehe, die die Schriftzeicheneigenschaft von <ä>, <ö>, <ü> begründe.
Offensichtlich beugte ich mit dieser vorgeschobenen systematischen Verteilung meine Tran-
skriptionsgrundsätze, denn im 17. Jahrhundert waren ×, û, ¶ keine gesonderten Schriftzeichen,
sondern lediglich allographische Varianten der im Druck üblichen Umlautschreibungen mit
übergesetztem <e>.
Ein heutiger Schreiber und Leser faßt <ä>, <ö>, <ü> als Schriftzeichen auf und weiß vermut-
lich meist nicht einmal, worin die zwei Punkte ihren Ursprung haben. Einem Schreiber des
17. Jahrhunderts waren jedoch Umlautschreibungen mit übergesetztem <e> allgegenwärtig – er

69
https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/transliteration/
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅩⅭⅠ

las sie, wo immer er Gedrucktes las, in der Bibel, in sonstigen Büchern, in Flugschriften. Wenn
er aber dennoch bei seinem eigenen handschriftlichen Schreiben keine Umlautschreibungen
mit übergesetztem <e>, sondern mit übergesetzten Punkten ausführte, so dürfte er sich diese
Punkte als genau das erklärt haben, was sie in der Tat sind: als die vereinfachende Schreibung
eines ursprünglichen e. Der Schreiber wird also, ohne diesen Begriff zu kennen, seine ×, û, ¶
als allographische Schreibung von <|>, <}>, <~> oder präziser noch: die zwei Punkte als allo-
graphische Variante eines <e> verstanden haben. Wenn nun aber die Punkte in dem Schreib-
gebrauch des edierten Textes eine allographische Variante des <e> sind, ich im Transkript
allographische Varianten grundsätzlich vernachlässige und das Schriftzeichen <e> stets in der
Form e wiedergebe, dann müßte ich die originalen Schreibungen ×, û, ¶ konsequenterweise
im Transkript eigentlich in ein Ç, Ë, Í übertragen, denn nur so wahrte ich die Maßgabe der
Schriftzeichentreue und, was die Position der <e>-Objekte anlangt, die inbegriffene Maßgabe
der Stellentreue.
Daß ich dies nicht tue, stellt einen Verstoß gegen meine Transkriptionsgrundsätze dar: Ich
halte mich einerseits an die Schriftzeichentreue, wenn ich Virgel und Eszett als Komma und
<ſz> transkribiere, andererseits suspendiere ich ebendiese Schriftzeichentreue bei der Tran-
skription von Umlautschreibungen. Die Inkonsequenz dieses Vorgehens zeigt ein Problem
meiner Transkriptionsgrundsätze auf. Ich formulierte sie, um für mich die Transkription früh-
neuzeitlicher deutscher Texte auf einen bündigen Nenner zu bringen: Transkribiert werden
Schriftzeichen sowie diejenigen graphischen Mittel, die sich im Druck wiedergeben lassen. Ich
bin mir jedoch nicht schlüssig, ob ein solcher Ansatz vollauf angemessen ist. Denn er erlaubt
zwar, historische Auffassungen des Gebrauches von Elementen des deutschen Schriftsystems
deutlich vor Augen zu führen – was ein wesentlicher Zweck vorlagengetreuer Transkription
ist –, es werden mit ihm, konsequent durchgeführt, aber zugleich Hinweise auf graphische
Schriftzeichenrealisierungen aus dem Transkript getilgt, die sich als zukunftsträchtig insofern
erwiesen, als sie wie die handschriftliche Eszett- und Umlautrealisierung Jahrhunderte später
vom Druck aufgegriffen wurden und in der modernen Varietät des deutschen Schriftsystems
zu eigenen Schriftzeichen avancierten. In der vorliegenden Edition habe ich dieses Problem
nicht auflösen können.

Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

Im dritten Buch der Wahren Praktik behandelt der Sachapparat, wenn auch jeweils knapp,
die Namen der Geister, die sich der angehende »wahre Magier« am Schluß seiner Initiation
botmäßig macht und die ihm fortan mit der Ausführung der magischen Zwecke des vierten
Buches dienen. Vielleicht wird der Leser in dem Sachapparat ähnliche Anmerkungen zu den
Phantasienamen vermissen, die der Verfasser der Wahren Praktik für einige nicht geisterhafte
Personen und auch den ein oder anderen Ort erfand. Für die Betrachtung dieser Namen, die
vor allem im ersten Buch, der Lebens- und Reisegeschichte des Abraham von Worms, vor-
kommen, müßten sinnvollerweise nicht nur vier Textzeugen, sondern die gesamte Textüber-
lieferung und zumal die abweichende Textfassung, die in einem Wolfenbütteler Fragment,
einer Dresdener Handschrift und einem modernisierenden Auszug, den Peuckert aus einer
vermutlich heute verschollenen Breslauer Handschrift gibt, berücksichtigt werden. Da es um
ⅩⅭⅠⅠ Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

Phantasienamen geht, fällt ihre allfällige Deutung notwendig spekulativ aus, und dies, meinte
ich, würde den Rahmen des Anmerkungsapparates sprengen. Ich entschied mich daher, auf
die Namen erst in dem zweiten Band des Editionsprojektes, in dem ich die gesamte Textüber-
lieferung betrachte, einzugehen und in dem Sachapparat dieser Edition auf alle Anmerkungen
zu verzichten. Im nachhinein bedauere ich solchen Rigorismus. Ich werde darum hier einige
Bemerkungen nachtragen oder besser, was nunmehr die Abfolge in der Edition angeht, vor-
anstellen, beschränke aber den Blick weiterhin auf den edierten Textzeugen W₁ sowie die im
Textapparat herangezogenen Textzeugen Lo₃, L und  Wi₂, doch berühre ich wenigstens oben-
hin Lesarten der abweichenden Textfassung des ersten Buches. Nicht als Phantasienamen
von dem Verfasser der Wahren Praktik erfunden wurden die Namen des Protagonisten des
Textes, Abraham, und seiner Familie sowie weiterer Personen, und auch hierzu erscheint ein
Vergleich mit der erwähnten abweichenden Fassung des ersten Buches erforderlich. In dem
Sachapparat der vorliegenden Edition gehe ich auf diese Namen gleichfalls nicht ein, im fol-
genden gebe ich aber zum Ausgleich einige Hinweise.
Im Textapparat wird eine von der Leithandschrift W₁ differierende Lesart im allgemeinen
nur verzeichnet, wenn sie mindestens zwei der drei Textzeugen Lo₃, L und  Wi₂ haben. Da es
für die genauere Betrachtung der Phantasienamen aber von Interesse sein kann, nur einma-
lig belegte Lesarten einzubeziehen, seien hier in einer Übersicht alle Lesarten von W₁, Lo₃,
L und  Wi₂ zu den Stellen versammelt, an denen im edierten Text die Namen von Abrahams
Lehrmeister und des ägyptischen Städtchens, in dessen Nähe er seine Bleibe hat, sowie die
Namen der ägyptischen, griechischen und arabischen Zauberer und des Wohnortes von ei-
nem von ihnen vorkommen:
5, 21 Abramelim Lo₃ Abramelim L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
5, 23 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
6, 1 Abramelims Lo₃ Abramelim L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
8, 11 Araky Lo₃ Araky L ArKi Wi₂ Arak
8, 19 Araky Lo₃ Araky L AraKi Wi₂ Araki | Abramelim Lo₃ Abram L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
9, 2 Abramelim Lo₃ Abram [Marginalie: Abramelim.] L Abrahamelim Wi₂ Absamelim
9, 8 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Absamelim
11, 15 Epiphas Lo₃ Epiphas L Epiphas Wi₂ Epiphas
11, 25 Horai Halimeg, Alkoron vnd Silek Lo₃ Horaj Halimeg, Alkoron u. Sileck L Horai, Haline9, Alxaron,
und Sileck [Marginalie: Horai, Haline9, Alxaron Silex] Wi₂ Horai Halimeg AlKaron vnd Silegk
11, 28 Haliorik vnd Abimelech Lo₃ Haliorik u. Abimelech L Halion9 und Habimeleck [Marginalie: Halion9
Habimeleck] Wi₂ Halionik vnd Abimelech
12, 8 Abramelym Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim | Araki Lo₃ Araky L n. v. Wi₂ Araki
12, 14 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
15, 17/18 Philonion Lo₃ Philonion L Philomon [Marginalie: Philomon] Wi₂ Philomon
16, 3 Epiphas Lo₃ Epiphas L Epiphas Wi₂ Epiphas | Philippus Lo₃ Philippus L Philipp [Marginalie: der alte
Philipp zu Epiphas] Wi₂ Philippus
16, 12 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abſamelim
16, 16 Abramelims Lo₃ Abrams L Abrahamelims Wi₂ Abramelims
16, 18 Halimeg Lo₃ Halimeg L Halinae9 [Marginalie: Halinaeus] Wi₂ Halimeg
16, 23 Halimeg Lo₃ Halimeg L Halinaeus Wi₂ Halimeg
17, 2 Alkyky Lo₃ Alkyky L AlKiKi [Marginalie: AlKiKi] Wi₂ AlKihi
17, 8 Abramelims Lo₃ Abram Т L Abrahamelims Wi₂ Abramelims
17, 15 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
17, 31 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
18, 8 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅩⅭⅠⅠⅠ

18, 10 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim


18, 20 Abramelim Lo₃ Abram Т L n. v. Wi₂ Abramelim
19, 21 Abramelim Lo₃ Abram Т L [in dem von der Leipziger Universitätsbibliothek ins Netz gestellten Digita-
lisat fehlen die Seiten 56/57 ] Wi₂ Abramelim
21, 18 Abramelims Lo₃ Abrahams L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
77, 29 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ Abramelim
87, 24 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ n. v.
128,24 Abramelim Lo₃ Abram Т L Abrahamelim Wi₂ n. v.

Aus der Auflistung erhellt die Vertrauenswürdigkeit der Lesarten, die die Leithandschrift W₁
hat. Der Name von Abrahams Lehrmeister in Ägypten lautet definitiv Abramelim, und diese Der Name von
Namensform hat auch die abweichende Fassung des ersten Buches. Wenn moderne Herausge- Abrahams Lehr-
meister Abram-
ber in der Nachfolge Mathers’ eine Namensform ›Abramelin ‹ kolportieren, so hat diese keine
elim
Grundlage in den ältesten Textzeugen; es handelt sich lediglich um eine Verschreibung und
Verballhornung der französischen Handschrift, die Mathers benutzte. Jedem, der ein bißchen
bibelkundig ist, muß der Name Abramelim durchsichtig erscheinen; offenbar handelt es sich
um eine Zusammenrückung aus ›Abram‹ und ›Elim‹. ›Abram‹ lautet der Name des Erzvaters
Abraham, bis dessen Gott einen Bund mit ihm schließt und ihm dazu den (vermeintlichen)
Ehrennamen ›Abraham‹ verleiht (Gen. 17, 3–5):

Da fiel Abram auff ſein angeſicht. VND Gott redet weiter mit jm, vnd ſprach, Sihe, Ich bins, vnd hab meinen
Bund mit dir, Vnd du ſolt ein Vater vieler Völcker werden, Darumb ſoltu nicht mehr Abram heiſſen, ſondern
Abraham ſol dein name ſein, Denn Ich habe dich gemacht, vieler völcker Vater.

Die Bibelstelle unterlegt dem Namen ›Abraham‹ die volksetymologische Deutung als Kon-
struktus-Verbindung ‫ ָאב ָהמוֹן‬av hamon ‚Vater einer Menge‘. Vermutlich sind ›Abram‹ und
›Abraham‹ aber nur dialektale Varianten ein und desselben Namens, der soviel wie ›Der Vater
ist erhaben‹ bedeutet, wobei mit ›Vater‹ der jeweils verehrte Gott gemeint ist. ›Elim‹ dagegen
ist der Name einer Oase, in der Mose und das von ihm aus der ägyptischen Gefangenschaft
geführte Volk Israel auf ihrer Wüstenwanderung rasten (Ex. 15, 27–16, 1 70):

VND ſie kamen in Elim, da waren zwelff Waſſerbrunnen, vnd ſiebenzig Palmbewme, vnd lagerten ſich da-
ſelbs ans waſſer. Von Elim zogen ſie, vnd kam die gantze gemeine der kinder Iſrael in die wüſten Sin, die da
ligt zwiſſchen Elim vnd Sinai, am funffzehenden tage des andern monden [‚zweiten Monats‘ ], nach dem ſie
aus Egypten gezogen waren.

Die Fassung, die die Leithandschrift hat, zeichnet die Oase, in der Abramelim lebt, als eine
kleine höhe […] ſo mit Büſchen vnd Beümen bewachſzen (8, 25/26), die in einer Einöde (8, 19)
und vnbewohnte[n] ſandächtige[n] ebne (‚sandigen Ebene‘; 8, 25) gelegen sei; die abweichende
Fassung des ersten Buches spricht von einem hügel und wenig erhabenen Bergelein, gantz mit
Lieblichen Bäumen umbwachſen und mit Ströhmlein [‚Bächen‘, auch: ‚Quellen‘] umb und umb
umbgeben, und erwähnt also auch das für eine Oase unerläßliche Wasser. In dieser Fassung
fällt überdies das Wort Wüſte, in der sich Abramelims Oase befinde.
Man wird folglich nicht fehlgehen, wenn man den Namen Abramelim als ein ›Abram von
Elim‹ deutet. Einen mittelbaren Hinweis, daß bereits frühneuzeitliche bibelkundige Kopi-
sten und Bearbeiter den Namen in ähnlichem Sinne auslegten, gibt die Lesart Abrahamelim,

70
Parallele Erzählung in Num. 33, 9–10. Erwähnt wird die Oase auch in Jes. 15, 8.
ⅩⅭⅠⅤ Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

die man durchgängig in dem Textzeugen L antrifft; eine aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts stammende Bearbeitung der Wahren Praktik, deren Titel ich in der Einführung zitierte,
schreibt den Namen sogar konsequent als Abraham Elim getrennt. Deutungen des Namens
als hebräisches ›Vater des Sandes‹, als verderbter arabischer Name einer historischen Person
oder als Zusammensetzung mit dem Zauberernamen ›Merlin‹, wie sie von Ins, ohne daß ihn
eine davon freilich überzeugte, mitteilt,71 sind in der Tat verfehlt und größtenteils vermutlich
von ihren Urhebern ohnehin nur als Jux gemeint.
Auch die in der Leithandschrift W₁ überlieferten Namensformen Horai Halimeg, Alkoron,
Die Namen Silek und Haliorik sind vorderhand als zuverlässig anzusehen. Horai ist nicht etwa ein Vorna-
der Zauberer me, sondern dient als Epitheton: Der Verfasser der Wahren Praktik entnahm es der Paltheni-
Halimeg, Al-
schen SYLVA, wo es als hebräische Vokabel für ›Vater‹ angegeben ist – ›Vater Halimeg‹ wird
koron und
Philonion
im Text als der fürnemſte (16, 18), also der bedeutendste, der ägyptischen Zauberer bezeichnet,
die Abraham von Worms aufsucht. In Wirklichkeit ist Horai aber kein Wort für ›Vater‹. ‫הוֹ ַרי‬
horai stellt eine Geisterwortform dar, die jüdische Gelehrte in Gen. 49, 26 zu lesen glaubten.
Der Form nach handelt es sich um einen mit dem enklitischen Pronomen der ersten Person
suffigierten Status constructus von ‫ הוֹ ִרים‬horim; dies ist formal der Plural zu einem substanti-
vierten Partizip Aktiv ‫ הוֹ ֶרה‬horeh, das soviel wie ›schwanger Seiender‹ oder ›Schwangerer‹
bedeutete. Wohlgemerkt: nicht Schwangere. Den Gelehrten schwebte mit dem Plural ‫הוֹ ִרים‬
horim offenbar etwas vor, das es ähnlich als parentes im Lateinischen gibt; parentes bedeutet
›Eltern‹ und ist der Form nach der Plural des Partizips Aktiv parens ‚gebärend‘. Vergleichbar
ist, nebenbei bemerkt, auch das gotische berusjos, das wörtlich ›die geboren Habenden‹ be-
deutet und ebenfalls die Eltern bezeichnet. Das vermeintliche biblische ‫ הוֹ ַרי‬horai sollte dem-
nach für ›die Eltern meiner‹ oder, in normales Deutsch übertragen, für ›meine Eltern‹ stehen.
Die christlichen Hebraisten der frühen Neuzeit schlossen sich der Deutung der jüdischen Ge-
lehrten an, und so übersetzte Luther Gen. 49, 26, indem er den Begriff ›Eltern‹ zu ›Vorfahren‹
erweiterte:

Die Segen deines Vaters gehen ſtercker denn die ſegen meiner Voreltern [‫ הוֹ ַרי‬horai ] (nach wundſch der
Hohen in der welt) vnd ſollen kommen auff das heubt Ioſeph, vnd auff die ſcheitel des Naſir [‫ ָנ ִזיר‬nazir ‚Ge-
weihter, Fürst‘] vnter ſeinen Brüdern.

Philologen sind allerdings seit längerem der Überzeugung, daß die jüdischen Gelehrten den
hebräischen Bibeltext an der Stelle mißdeuteten. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Wort-
form um einen unregelmäßig gebildeten Status constructus des Plurals von ‫ ַהר‬har ‚Berg‘; er
erfordert, die grammatischen Bezüge neu zu ordnen, und gibt so der Bibelstelle teilweise eine
andere Bedeutung. In der revidierten Lutherbibel von 1984 liest sich der Vers deshalb nun-
mehr wie folgt:

Die Segnungen deines Vaters waren stärker als die Segnungen der ewigen Berge, die köstlichen Güter der
ewigen Hügel. Mögen sie kommen auf das Haupt Josefs und auf den Scheitel des Geweihten unter seinen
Brüdern !

Die bibelhebräische Existenz eines ‫ הוֹ ִרים‬horim aber einmal angenommen, hätte das in der
SYLVA angegebene Horai nicht den Sinn von ›Vater‹, sondern allenfalls von ›meine Erzeuger‹.

71
von Ins a. a. O. S. 41
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅩⅭⅤ

Ich habe an dieser Stelle nicht vor, über eine mögliche Bedeutung aller Phantasienamen zu
spekulieren. Der Name Alkoron klingt unverkennbar an ›Alkoran‹ an. In der frühen Neuzeit
behielt man die Artikel, die übernommenen arabischen Begriffen voranstanden, zunächst bei,
setzte aber nichtsdestoweniger nötigenfalls einen zusätzlichen Artikel der eigenen Sprache
davor. So nannte man den Koran gemeinhin ›Alkoran‹, und die ägyptische Stadt Kairo heißt
in der Faust-Historia ›Alkeir‹. Teilweise verloren die Wörter später den arabischen Artikel,
so wie ›Kairo‹ und der Koran, teilweise verblieb er ihnen wie dem Alkohol, der Algebra, dem
Algorithmus usw. Aus der Alchemie wurde durch den Entfall des Artikels die Chemie, und
interessant ist, daß die Wahre Praktik einerseits noch von Alchimiſtiſche[r] Arbeit (145, 2), an-
dererseits aber schon von Chimiſche[r] kunſt (145, 3), Chimiſtiſche[r] arbeit (145, 5) und Chimi-
ſtiſche[n] künſten (145, 7) spricht. In frühneuzeitlichen Texten trifft man für den Koran neben
den Schreibungen ›Alkoran‹ oder ›Alcoran‹ selten auch ›Alkoron‹ an, doch läßt sich schwer
einschätzen, ob es sich nicht nur um Schreibversehen handelt.
Besonders ins Auge fallen Lesarten, die sich in dem Textzeugen L für den Zauberer Hali-
meg finden: Halin(a)eꝯ, Halinaeus. Das der Ziffer Neun ähnliche Abbreviaturzeichen ꝯ steht
für die lateinische Endung -us. Eigentlich pflegte man es hochgestellt über das Mittelband zu
setzen, mitunter schrieb man es aber wie der Schreiber von L der Einfachheit halber einem
Buchstaben gleich auf die Grundlinie. In dieser Position läßt sich das Zeichen leicht mit ei-
nem <g >-Objekt und umgekehrt ein <g >-Objekt leicht mit dem Abbreviaturzeichen verwech-
seln. Somit könnte der Schreiber von L das <g >-Objekt in ursprünglichem Halimeg mißdeutet
und den Namen zu abbreviertem Halin(a)eꝯ und ausgeschriebenem Halinaeus entstellt haben.
Ebensowenig auszuschließen ist jedoch, daß der Fehler nicht dem Schreiber von L unterlief,
sondern der oder die Schreiber von W₁ und des verschlüsselten Textzeugen, von dem Lo₃ und
Wi₂ abstammen, das Abbreviaturzeichen als <g >-Objekt verlasen und ursprüngliches ›Hali-
m(a)eus‹ zu Halimeg verderbten. So lautet in der abweichenden Textfassung des ersten Bu-
ches der Wahren Praktik der Name des ägyptischen Zauberers in der Tat Halymeus. Allerdings
ist diese Namensform nicht in dem – hinsichtlich seiner Schreibungen – guten Wolfenbütteler
Fragment überliefert, das leider nicht bis zu der Stelle reicht, wo der Name fällt, sondern fin-
det sich in dem durchaus nicht guten Dresdener Textzeugen; gemäß Peuckerts Auszug hatte
diese Namensform auch die Breslauer Handschrift. Welche die ursprüngliche ist, ›Halimeg‹
oder ›Halim(a)eus‹, läßt sich darum nicht mit Gewißheit entscheiden.
Ein Name der Form Halimaeus begegnet in Jacobus Golius’ LEXICON ARABICO-LATINUM
von 1653; 72 es ist der latinisierte Name von Lotfallah Halimi, einem gebürtigen Perser, der den
Osmanen diente und 1516 verstarb.73 Halimi betätigte sich unter anderem als Lexikograph, und
von ihm stammt ein persisches Wörterbuch mit türkischen und arabischen Erläuterungen,
das Golius benutzte. Eine alternative Latinisierung des Namens ›Halimi‹ lautet Halimius.  74
Gesetzt, der Name Halimis wäre zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Mitteleuropa bekannt ge-
wesen, so ließe sich doch kein Motiv erkennen, das den Verfasser der Wahren Praktik hätte

72
Jacobus Golius: LEXICON ARABICO-LATINUM, CONTEXTUM EX PROBATIORIBUS ORIENTIS LEXICOGRA-
PHIS. Leiden 1653, Sp. 327
73
Vgl. die Encyclopaedia Iranica im Netz: https://iranicaonline.org/articles/halimi-lotf-allah-b-abi-yusof
74
Franciszek Mesgnien-Meniński: THESAURUS LINGUARUM ORIENTALIUM TURCICAE, ARABICAE; PERSICAE,
Praecipuas earum opes à Turcis peculiariter uſurpatas continens. Wien 1680, fol. Ⅹ†Ⅹ 2 r
ⅩⅭⅤⅠ Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

veranlassen können, den Namen eines persischen Lexikographen auf einen ägyptischen Zau-
berer zu übertragen. Als Pate einer ursprünglichen Namensform ›Halim(a)eus‹ in der Wahren
Praktik scheidet der historische Halimi darum sicherlich aus.
Bei der Beliebigkeit der Endungen, mit denen man in der frühen Neuzeit Namen mitunter
latinisierte, wäre zu erwägen, ob sich ›Halim(a)eus‹ nicht als die Latinisierung des arabischen
Namens ›Halim‹, dem das Adjektiv ‫ ﺣﻠﻴﻢ‬halim ‚sanftmütig, einsichtsvoll‘ zugrunde liegt, deu-
ten ließe. Der Verfasser der Wahren Praktik könnte durchaus in seiner Zeit an den arabischen
Namen gekommen sein.75 Doch wenn er den Namen kannte, warum sollte er ihn latinisieren
und ihm so einen Teil seiner Exotik nehmen? Keine seiner sonstigen Personennamenschöp-
fungen haben eine lateinische Endung, und in der Tat wäre unverständlich, daß er ausge-
rechnet den einzigen echten arabischen Personennamen, dessen er sich bediente, mit einer
solchen hätte versehen sollen. Gerade diese Beobachtung dürfte jedoch nicht allein gegen den
arabischen Namen als Grundlage, sondern überhaupt gegen ein ›Halim(a)eus‹ und für ein
›Halimeg‹ als ursprüngliche Namensform in der Wahren Praktik sprechen. Ist aber ›Halimeg‹
ursprünglich, so müßte man die in L und der Dresdener Handschrift belegten Formen Hali-
n(a)eꝯ/Halinaeus und Halymeus vorderhand als voneinander unabhängige Verschreibungen
betrachten. Doch ließe sich ebenso nicht ausschließen, daß die eine Verschreibung die andere
beeinflußte; denn Randbemerkungen und Berichtigungen in einigen Textzeugen weisen dar-
auf, daß historischen Lesern der Wahren Praktik zuweilen mehrere Handschriften des Textes
vorlagen, die sie aufmerksam verglichen und aneinander »berichtigten«.
Damit bin ich nunmehr tief ins Spekulieren geraten. Bei einer Auseinandersetzung mit den
Namen in der Wahren Praktik dürften sich Spekulationen aber kaum vermeiden lassen. Spe-
kulieren heißt für mich Deutungen versuchen, wo es keinen hinreichenden Anhalt für eine
gibt; Spekulationen sind Gedankenspiele, die man anstellt, wenn unklar erscheint, ob eine
Deutung angebracht ist oder man es nur mit Zufall und Willkür des Textverfassers zu tun hat.
Ich halte Spekulationen darum grundsätzlich für zulässig, wenn man sie als solche kennzeich-
net. Und wo ich einmal bei Spekulationen bin, möchte ich gleich noch folgendes ergänzen:
Dehn bemerkte (und diesen Fund darf man vielleicht tatsächlich als seinen eigenen ansehen),
daß es in Oberägypten im Gouvernement Qina eine Ortschaft namens El ʿAraki gibt.76 Wie
alte Karten ausweisen, war die Ortschaft zu Anfang des 18. Jahrhunderts existent, und wo-
möglich bestand sie auch bereits zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Dehn ist selbstverständlich
überzeugt, damit das Städtchen Araky aus der Wahren Praktik gefunden zu haben. Leicht läßt
sich auch ermitteln, daß der Name des Iungen Arabiſchen Pfaffen Alkyky (17, 2) der Form nach
dem Namen ›Al Kiki‹ gleicht, der heutzutage im Nahen Osten, zum Beispiel in Qatar oder im
Irak, gängig ist und dies vielleicht auch schon früher war. Esoteriker und Okkultisten kön-
nen aus solchen Übereinstimmungen Honig saugen, andere sehen darin lediglich den Zufall
walten. Abraham von Worms ist ja nur eine fiktive Gestalt, aber auch von dem Verfasser der
Wahren Praktik ist nicht anzunehmen, daß er jemals Europa verließ, und deshalb wird er
Ägypten und die arabische Halbinsel nie aus der Nähe gesehen haben. Bezeichnenderweise

75
Ich finde den Namen ›Halim‹ zum Beispiel in Onofrio Panvinios REIPVBLICAE. ROMANAE COMMENTA-
RIORVM LIBRI. TRES, gedruckt zu Venedig im Jahre 1558, unter den REGES. SARACENORVM ARABVM (S. 916–
917)
76
Dehn a. a. O. S. 23
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅩⅭⅤⅠⅠ

läßt der Verfasser seinen Protagonisten Abraham auf dem Landweg von Konstantinopel aus
erst nach Ägypten und dann nach Palästina gelangen (7, 10–18) und scheint folglich nur eine
ungefähre Vorstellung von der Geographie des Nahen Ostens gehabt zu haben. Der Name
der ganz unbedeutenden Siedlung El ʿAraki in Oberägypten ist nirgends in zeitgenössischer
Literatur erwähnt, und darum kann der Verfasser das Araky der Wahren Praktik nur erfunden
haben. Offenbar hatte er mitbekommen, daß nahöstliche Begriffe bevorzugt mit /a/ oder /al/
anfangen – dies rührt von dem arabischen Artikel her, der Begriffen vorgeschaltet ist –, und
bastelte sich so sein Araky und Alkyky zusammen.
Kein Phantasiename im eigentlichen Sinne scheint Philonion (15, 17/18) zu sein, der Name
eines griechischen Zauberers. Bestätigt wird die von der Leithandschrift W₁ überlieferte Na-
mensform nicht nur durch den Textzeugen Lo₃, auch in der spezifischen Verschreibung Phi-
lomon bei L und Wi₂ erhält sie eine Stütze; die Verschreibung Philemon nach dem Adressaten
von Paulusʼ Brief an Philemon haben dagegen die Dresdener und Peuckerts Auszug aus der
Breslauer Handschrift. Gegenüber solchem Philemon spricht der Grundsatz der lectio diffici-
lior für Philonion als die ursprüngliche Lesart.
Im Zusammenhang mit diesem Zauberernamen stellt sich die Frage, über welche Fremd-
sprachenkenntnisse der Verfasser der Wahren Praktik verfügte. Daß er sich eines Wörter- Mutmaßliche
buches für die hebräischen Wörter seines Textes bediente, deutet nicht auf tiefere Kenntnis Fremdsprachen-
kenntnisse des
dieser Sprache hin; ein ausgewiesener Hebraist hätte sicherlich keines Wörterbuches (zumal
Verfassers des
nicht eines, das nur ein Schulwörterbuch war) bedurft, um die Geisternamen des dritten und Magietextes
die Polygramme des vierten Buches zu ersinnen. Der SYLVA entnahm der Verfasser aber auch
griechische Wörter, und im Gegensatz zu den hebräischen sind diese in dem Wörterbuch nur
mit griechischen Buchstaben und nicht in lateinischer Umschrift angegeben. Der Verfasser
muß also zumindest in der Lage gewesen sein, die griechischen Buchstaben selbst zu translite-
rieren. Doch darin können sich seine Griechischkenntnisse nicht erschöpft haben. Der Name
Philonion und ein Polygramm wie isichadamion (146, 12) aus dem vierten Buch der Wahren
Praktik setzen voraus, daß dem Verfasser wenigstens die Anfangsgründe der griechischen
Wortkomposition geläufig waren. Philonion ist eine Verkleinerungsform zu dem griechischen
Namen ›Philo‹ und bedeutet ›kleiner Philo‹ oder ›Philochen‹. Der Name ›Philo‹ war der frü-
hen Neuzeit insbesondere durch Philo von Alexandrien, einen antiken jüdischen Theologen
und Philosophen, bekannt. Das Polygramm isichadamion ist offenbar eine Zusammensetzung
aus griechisch ἥσυχος hesychos ‚still‘, hebräisch ‫ ָא ָדם‬adam ‚Mensch‘ und dem wiederum grie-
chischen Suffix -ιον -ion, und soll vermutlich soviel wie ›stilles Menschlein‹ bedeuten; da das
enthaltene adam aber auch für den Namen ›Adam‹ stehen kann, ließe sich das Polygramm
ebenso als ›stiller kleiner Adam‹ lesen.
Doch brauchte Philonion nicht notwendig eine Verkleinerungsform des Namens ›Philo‹ zu
sein. Der Verfasser benannte den ägyptischen Zauberer Alkoron mutmaßlich nach dem Koran,
und daher könnte der griechische Zauberer in analog merkwürdiger Übertragung seinen Na-
men von dem Philonion, einem antiken schmerzstillenden Opiat, erhalten haben; ›Philonion‹,
zu deutsch ›Philonisches‹, heißt die Arznei nach dem Arzt Philo von Tarsos, der sie erfand.
Das Mittel kannte die frühe Neuzeit aus antiken Medizinschriften. Allerdings heißt es von
dem Zauberer Philonion in der Wahren Praktik nur, daß er sich darauf verstand, Nachtfinster-
nis, Unwetter und Schnee herbeizuzaubern (15, 17–27), es ist keine Rede davon, daß er seine
Zauberkräfte zu Heilzwecken verwandte, und so fehlte im Grunde ein Motiv, den Zauberer
ⅩⅭⅤⅠⅠⅠ Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

nach einem Schmerzmittel zu nennen. Doch wer weiß schon, was dem Verfasser der Wahren
Praktik so genau bei der Namenwahl durch den Kopf ging. Wie dem also auch immer sei – fie-
le der Zauberername Philonion als Indiz aus, so bliebe doch ein Polygramm wie isichadamion,
das Griechischkenntnisse verrät.
Die Kenntnisse des Verfassers scheinen aber nicht so weit gegangen zu sein, daß er bei der
Erfindung der griechischen Geisternamen und Polygramme auf den Gebrauch eines Wör-
terbuches wie der SYLVA hätte verzichten können. Und so fragt sich, ob er sich bewußt war,
daß er mit dem Phantasienamen Epiphas eine Buchstabenfolge schuf, die einer griechischen
Wortform entspricht: nämlich dem Partizip Präsens Aktiv von ἐπίφημι epiphemi ‚zusagen, bil-
ligen‘. Das Partizip bedeutet damit substantiviert soviel wie ›Zusagender‹ oder ›Billigender‹.
Daß Abraham in einem Ort, der einen solch seltsamen Namen hätte, einen Zauberer aufsucht,
ergäbe jedoch keinen rechten Sinn, und ich vermute daher, daß der Verfasser mit Epiphas
willkürlich einen Ortsnamen erfand, der in seinen Ohren irgendwie griechisch klang, ohne zu
bemerken, daß er eine grammatisch mögliche griechische Wortform bildete.
Keinen Phantasienamen trägt hingegen der griechische Zauberer Philippus, der in Epiphas
Der Name ansässig ist. Bei ihm besteht Kongruenz zwischen der Herkunft der Person und der Herkunft
des Zauberers des Namens. Anders verhält es sich auf den ersten Blick mit dem ägyptischen Zauberer Abi-
Abimelech
melech. Sein Name erscheint in einer Reihe neben den Phantasienamen Halimeg, Silek und
Haliorik, ist aber selbst kein Phantasiename, doch auch nicht »ägyptisch« bzw. arabisch, son-
dern hebräisch. Den Namen Abimelech fand der Verfasser der Wahren Praktik in der Bibel.
Hier tragen ihn mehrere Personen, die aber alle nichts mit Ägypten oder der Zauberei zu tun
haben. Die bekannteste dieser Personen ist der König von Gerar. Von ihm erzählt die Bibel
folgende Geschichte (Gen. 20): Der Erzvater Abraham zieht mit seiner Frau Sarah, seinem
Gesinde und seinen Herden in das Südland (so nennt die Lutherbibel den Negev) und lagert
in der Nähe der Stadt Gerar. Da er fürchtet, um seiner Frau willen getötet zu werden, gibt er
sie als seine Schwester aus. Wirklich eignet sich Abimelech, der König von Gerar, Sarah für
seinen Harem an. Daraufhin erscheint ihm Abrahams Gott im Traum und heißt ihn, Sarah
zurückzugeben. Nahezu dieselbe Geschichte erzählt die Bibel von Abimelech, dem Erzvater
Isaak und seiner Frau Rebekka (Gen. 26, 6–33). Hier ist Abimelech nicht ausdrücklich als Kö-
nig von Gerar, sondern allgemeiner als Philisterkönig bezeichnet. Und ebenfalls fast dieselbe
Geschichte berichtet die Bibel von dem ägyptischen Pharao und wiederum Abraham, der
damals noch Abram hieß, und seiner Frau (Gen. 12, 10–20). Die Parallelität dieser Geschichten
scheint mir die einzige Brücke, die sich zwischen dem Namen Abimelech und Ägypten schla-
gen läßt: vielleicht vermengten sich in der Erinnerung des Verfassers der Wahren Praktik die
Geschichten, und er assoziierte Abimelech mit der Gestalt des Pharaos und so mit Ägypten.
Die sonstigen Namen, die in der Wahren Praktik begegnen, sind durchgängig real oder
literarisch belegt. Als topographische Namen kommen vor: Worms, Mainz, Prag, das öster-
reichische Linz, Konstantinopel, Venedig, Paris, Straßburg, Coſtnitz (das ist Konstanz), Speyer,
Regensburg; Deutschland, Böhmen, Österreich, Ungarn, Griechenland, Ägypten, Palästina,
das öde Arabien als Übersetzung von lateinischem Arabia deserta, Welſchland (das ist Italien),
Frankreich; in Herrschertiteln erscheinen außerdem Sachsen und Bayern. Mit Worms, Mainz
und Speyer nennt der Verfasser der Wahren Praktik die wichtigsten Zentren des mittelalter-
lichen und frühneuzeitlichen deutschen Judentums. Interessant ist der Kraenberg, also der
Krähenberg, auf dem in der Fassung des ersten Buches, die die Leithandschrift W₁ hat, ein
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅩⅭⅠⅩ

Amtmann des Wormser Bischofs sitzt, dessen Verrat Abraham von Worms aufdeckt (21, 1/2).
Es gibt in Deutschenland mancherlei Krähenberge, doch konnte ich keinen in dem damaligen
Herrschaftsgebiet der Wormser Bischöfe ausmachen. Interessanter freilich noch ist die Lesart,
die die abweichende Fassung des ersten Buches hat: hier sitzt der Amtmann nicht auf einem
Krähenberg, sondern in dem Schloß zu Ladenburg. Die Stadt Ladenburg war in der frühen
Neuzeit Nebenresidenz der Wormser Bischöfe, und noch heute gibt es dort ein historisches
Gebäude, das man landläufig das Bischofsschloß nennt.
In der Wahren Praktik kommen die Namen folgender historischer Personen vor: Kaiser Si-
gismund (20, 21; 53, 25), Papst Johannes ⅩⅩⅠⅠⅠ. (21, 4. 6) und Papst Martin Ⅴ. (21, 6). Die Namen
der Päpste fallen im Zusammenhang mit dem Konstanzer Konzil (1414-1418), das als histori-
sches Ereignis zwecks Authentitätsbeglaubigung der Erzählung angeführt wird. Den Namen
einer historischen Person könnte auch ›Albrecht‹ (12, 19) darstellen; ihn trägt einer der deut-
schen Zauberer, die Abraham von Worms in ihrer Person oder aus ihren Schriften kennenge-
lernt haben will, und Steinschneider vermutet darin den mittelalterlichen Theologen und Na-
turforscher Albertus Magnus.77 Als historische Personen nur erfunden sind ein Graf Friedrich
(20, 13; 38, 7; 45, 4), dem Abraham von Worms mit seinen Magiekünsten beisteht, und dessen
Opponent Herzog Leipold (dialektal für ›Leupold‹/›Leopold‹) von Sachsen (20, 25).
Biblisch-hebräischen Ursprung wie Abimelech haben der Name des Protagonisten der Wah-
ren Praktik, Abraham von Worms, und die seiner Familienmitglieder: Simon heißen Abrahams Weitere
Vater und Urgroßvater, Juda sein Großvater (3, 1/2). Juda dient dabei als Signalname, Abraham Namen biblisch-
hebräischen Ur-
und vor allem Simon könnten durchaus auch Christen heißen. Die Gleichnamigkeit von Abra-
sprunges
hams Vater und Urgroßvater ist eigentlich unauffällig, weil historisch nicht ungewöhnlich,
vielleicht aber geht die Namensverdoppelung auf ein Schreibversehen zurück. In der abwei-
chenden Fassung des ersten Buches lautet die Abstammungsangabe Abrahams jedenfalls an-
ders, und sie ist zumal mit dem, was ›Juda‹ anzeigen soll, noch deutlicher: Abraham, ein Sohn
Simonis, aus dem Stam Iuda. Auch dem Schreiber des Textzeugen W₂ war das ›Juda‹ besonders
wichtig, und darum setzte er über das hebräisch geschriebene ›Jehova‹ und die Jahresangabe
ANNO DOMINI 1608., die er von dem Vorblatt seiner Vorlage W₁ übernahm, ein zusätzliches
‫יהדח‬, das ich als verschriebenes ›Jehuda‹, also als die hebräische Form des Namens ›Juda‹,
deute. Bei allem angenommenen Signalcharakter des Namens ›Juda‹, aus dem sich letztlich
die Bezeichnung ›Jude‹ ableitet, darf man aber nicht übersehen, daß auch Jesus von Nazareth
aus dem Stamm Juda hervorgegangen sein soll (Hebr. 7, 14; auch Mt. 1, 2; Lk. 3, 33).
Die Lutherbibel verwendet für den Namen ›Simon‹ zwei Formen: ›Simeon‹ und ›Simon‹.
Die Form ›Simeon‹ geht auf die Septuaginta zurück, sie ist gräkisiertes hebräisches ‫ִשְׁמעוֹן‬
schim‘on; die Form ›Simon‹ lehnt sich dagegen an einen griechischen Namen an, der mit dem
hebräischen nichts zu tun hat. Im Kanon des Alten Testamentes erscheint durchweg die Form
›Simeon‹, und einmal begegnet ein ›Simon‹, das hebräisch ‫ ִשׁימוֹן‬schimon wiedergibt (1. Chr. 
4, 20). In den Makkabäerbüchern ist das Verhältnis umgekehrt, hier erscheint einmal ›Simeon‹
(1. Makk. 2, 1) und sonst ›Simon‹; das ebenfalls zu den Apokryphen gehörige Buch Judith hat
wiederum ›Simeon‹. Der Prophet, der nach dem Lukasevangelium bei der Darstellung Jesu
im Jerusalemer Tempel einen Lobgesang anstimmt, führt den Namen ›Simeon‹ (Lk. 2, 25. 34),
außerdem findet sich die Namensform in diesem Evangelium im Stammbaum Jesu (3, 30).

77
Steinschneider a. a. O. S. 908
Ⅽ Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

Sonst trifft man im Neuen Testament ausschließlich die Namensform ›Simon‹ an, so vor al-
lem als Namen des Jesusjüngers. Die Verteilung der beiden Namensformen entspricht in der
Lutherbibel der in der Vulgata und diese vermutlich (ich habe es nicht nachgeprüft) der in der
Septuaginta, soweit wie es das Alte Testment betrifft. Mit dem Groß- und Urgroßvaternamen
›Simon‹ folgt der Verfasser der Wahren Praktik somit eher neutestamentlichem Gebrauch.
Die Ehefrau des Abraham von Worms heißt in der Leithandschrift W₁ und den verwand-
ten Textzeugen Melcha (18, 12); die abweichende Fassung nennt keinen Namen. Auch Melcha
stammt aus der Bibel: Nach Gen. 11, 26 ist eine Melcha zugleich Nichte und Schwägerin des
Erzvaters Abraham, denn sie ist die Tochter seines Bruder Haran und ehelicht seinen zwei-
ten Bruder Nachor. Ihre Enkelin wird Rebekka sein, die Abrahams Sohn Isaak heiratet (Gen. 
24, 15). Eine andere Melcha ist eine der fünf Töchter des Zelofhad aus dem Geschlecht Manas-
se (Num. 26, 53). Als Zelofhad sohnlos verstirbt, fordern die Töchter für sich das Erbrecht ein,
das ihnen nach Rücksprache mit dem Gott auch gewährt wird (Num. 27, 1–11); doch müssen sie
ihre Oheime heiraten, damit das Erbe in der Sippe bleibt (Num. 36, 11). Es ist nicht ersichtlich,
daß die biblischen Geschichten ein Motiv lieferten, dessentwegen der Verfasser der Wahren
Praktik ›Melcha‹ als Namen der Ehefrau seines Protagonisten wählte; womöglich war der
Anlaß nur, daß der Name im Zusammenhang mit dem Erzvater Abraham fällt und die Wahl
des Namens von dessen Ehefrau Sarah zu plakativ angemutet hätte.
Melcha ist die Namensform, die die Vulgata hat, in der Lutherbibel lautet sie näher am
Hebräischen ›Milka‹. Obgleich der Verfasser in vielem die Lutherbibel der Wahren Praktik
zugrunde legte, hielt er sich bei den Namensformen nicht selten an die lateinische Vulgata.
Daß ihm Namensformen der Vulgata vertraut waren, ist nicht verwunderlich, sie hatten sich
in den Jahrhunderten vor Luthers Bibelübersetzung im Deutschen einerseits zur Tradition
verfestigt, andererseits behauptete auch im Luthertum die Vulgata zunächst durchaus ihre
Stellung; aus ihr wurde in lateinischen, gelegentlich selbst in nichtlateinischen Texten zi-
tiert. Dennoch ist auffällig, daß der Verfasser mitunter sogar in wörtlichen Zitaten aus der
Lutherbibel deren Namensformen gegen die aus der Vulgata ersetzte. Ich kann dabei kein
Prinzip erkennen, nach dem er verfuhr. So gebrauchte er die Namen Balaam (26, 26; 27, 2),
Gedeon (39, 14; 47, 11), Sephora, Phua (56, 7–8) und Samson (57, 3) nach der Vulgata, aber Hiskia
(34, 17) und Elisa (45, 15) nach der Lutherbibel; die Namensform ›Balaam‹ erscheint gemäß
der griechischen Vorlage allerdings auch in Luthers Übersetzung des Neuen Testamentes.
Bei anderen Namen stimmen die Formen der Vulgata und der Lutherbibel überein und wei-
chen gemeinsam vom Hebräischen ab, wie zum Beispiel bei ›Lamech‹ und ›Isaak‹. Der Name
›Melcha‹ bedeutet übrigens soviel wie ›die Königliche‹, doch ist zweifelhaft, ob der Verfasser
oder Bearbeiter der Fassung des ersten Buches, die der Textzeuge W₁ hat, dies wußte. Deutlich
ist freilich, daß Abrahams Ehefrau in dieser Fassung wohlwollender behandelt wird als in der
abweichenden, die einen misogynen Zug zeigt.
Abrahams erstgeborener Sohn trägt den Namen der alttestamentlichen Lichtgestalt Joseph,
Der Name und davon sticht grell der gleichfalls alttestamentliche Name von Abrahams jüngstem Sohn
von Abrahams Lamech ab, der nach der Fiktion der Adressat der Wahren Praktik ist. Im Alten Testament fin-
Sohn Lamech
den sich zwei Lamech: Der eine ist lediglich ein in einer Genealogie aufgeführter Posten, und
man erfährt von ihm nur, daß sein Vater Metuschelach heißt, er mit 187 Jahren Noah zeugt,
weitere Söhne und Töchter hat und mit 777 Jahren stirbt (Gen. 5, 25 .28–31). Von dem anderen
Lamech berichtet das Alte Testament mehr. Er stammt von dem Brudermörder Kain ab und
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅭⅠ

ist der erste Mann der biblischen Urgeschichte, der sich zwei Frauen nimmt. Über seine drei
Söhne ist er Stammvater der Nomaden, der Zither- und Flötenspieler sowie der Erz- und
Eisenschmiede (Gen. 4, 17–24). Was diesen Lamech über seine anrüchige Abkunft und die Bi-
gamie hinaus übel beleumdet, ist das sogenannte Lamechlied, ein Prahllied, das er vor seinen
zwei Frauen anstimmt (V. 23–24):

VND Lamech ſprach zu ſeinen weibern Ada vnd Zilla, Ir weiber Lamech höret meine rede, vnd merckt was
ich ſage. Ich hab einen Man erſchlagen mir zur wunden, vnd einen Iüngling mir zur beulen. Kain ſol ſieben
mal gerochen [‚gerächt‘ ] werden, Aber Lamech ſieben vnd ſiebenzig mal.

Das Lamechlied nimmt eine Bibelstelle auf, in der der Gott dem Brudermörder Kain Schutz
zuspricht und ihn mit dem Kainsmal zeichnet (Gen. 4, 13–15):

KAin aber ſprach zu dem HERRN, Meine Sünde ist gröſſer, denn das ſie mir vergeben werden müge. Sihe
[…] [ich ] mus vnſtet vnd flüchtig ſein auff Erden, So wird mirs gehen, das mich todſchlage wer mich findet.
Aber der HERR ſprach zu jm, Nein, Sondern wer Kain todſchlegt, das ſol ſiebenfeltig gerochen werden. Vnd
der HERR macht ein Zeichen an Kain, das jn niemand erſchlüge, wer jn fünde.

Mit der Namenwahl zweckte der Verfasser der Wahren Praktik vermutlich auf den Kontrast
ab, den die Namen des Stammvaters Joseph und des zweiten biblischen Lamech machen:
Abrahams Erstgeborenem Joseph ist die Kabbala vorbehalten, der Jüngstgeborene Lamech
darf sich hingegen nur die Magie aneignen; die Kabbala aber ist, so der Text, vil Edler alſz
die Magia (22, 24), und durch die Kabbala kann man zwar zur Magie, nicht aber durch die
Magie zur Kabbala gelangen (22, 24/25). Ebenso wie der Jüngstgeborene Lamech sind von der
Kabbala unehelich Geborene (85, 16/17) und Magdkinder (22,25/26) ausgeschlossen. Offenbar
soll sich der Gegensatz von edler Kabbala und nicht so edler Magie in dem Gegensatz der
Konnotationen spiegeln, die die Namen ›Joseph‹ und ›Lamech‹ bei dem bibelkundigen Leser
hervorrufen.
Außerbiblisch knüpft sich an die Figur des Lamech die Legende, wonach er bei der Jagd
versehentlich seinen Urururgroßvater Kain tötet (bei dem methusalemischen Alter, das die
Menschen der biblischen Urgeschichte erreichen, erscheint eine Begegnung beider ja nicht
gänzlich unmöglich). Der Rache- und Prahlliedsänger unterfällt damit selbst der Rache, und
zwar der, die der Gott schützend über Kain aussprach. Die christliche Tradition übernahm
diese jüdische Legende. Doch wurde die Gestalt des Lamech auch ohnedies als Gegenbild
schon neutestamentlich für das Christentum bedeutsam. So greift eine Stelle des Matthäus-
evangeliums indirekt die Kainsche Rache und das Lamechlied auf und stellt an den Gläubigen
eine diametrale Forderung (Mt. 18, 21–22):

DA trat Petrus zu jm [Jesus ], vnd ſprach, HErr, Wie offt mus ich denn meinem Bruder, der an mir ſündiget,
vergeben? Iſts gnug ſiebenmal? Iheſus ſprach zu jm, Ich ſage dir nicht ſiebenmal, ſondern ſiebenzig mal
ſieben mal.

Das Neue Testament setzt der maßlosen Rache des Lamech somit eine diese überbietende,
übermenschliche Vergebung entgegen.
Doch mag der üble Leumund des Namens ›Lamech‹ nicht der einzige Grund der Namen-
wahl gewesen sein. Während der biblische Joseph zum Stellvertreter des Pharaos aufsteigt,
schließt Abraham von Worms für seinen jüngeren Sohn eine bodenständig-handwerkliche
ⅭⅠⅠ Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes

Existenz anscheinend nicht aus (100, 2–3). Aus der Sippe des Kain und zumal von seinem
Nachkommen Lamech aber leiten sich einige spezifische Gewerbe her; so gilt Kain als der
erste Stadtbaumeister (Gen. 4, 17), und von Lamech stammen, wie ich sagte, nomadische Vieh-
züchter, Musiker und Schmiede ab; Musiker galten der frühen Neuzeit auch allenfalls als
Handwerker. Sebastian Franck stellt in seiner Geſchichtbibell die verschiedenen Aspekte der
biblischen Figur ›Lamech‹ in der Summe wie folgt dar: 78
DIſer Lamech hat zÅ erſt zwifache gemahelſchafft eingef~ret widder das daſz Adam auſz weiſſagendem geiſt
ſprach, Es werden ſein zwey in einem fleiſch. Derſelbig t}dtet Cain zwiſchen den Hecken ligende mit einem
pfeil […] (dann er warde vor alter blind als er auff das gej|g ward gef~rt, vnnd Cain f~r ein wild erschoſz)
[…] Es ſeind auch alle künſt menſchlicher h}fligkeit von den kindern Lamech erfunden worden, vnd alſo
die ehebrecheriſchen kinder von anfang allweg vnd ye (wie Chriſtus Luce am xvj. eynf~rt) ſubtiler geweſen
dann die andern.
Nun die eheweiber Lamech waren Ada vnd Sella. Ada gebar Lamech einen ſÅn Iabel genant, der ein zelt-
meiſter vt vatter der hirten anfieng zÅ ſein, vnd nichts dat fleiſchlich vermiſchung vnd bauchfüll zÅbeden-
cken. Weiter gebar Ada auſz Lamech ein ſÅn Tubal genant, der orglen, ſingen vt pfeiffen erfundÁ hat, auch
Muſicam die kunſt des geſangs. […] Sella das ander weib Lamech gebar Tubalcayn, der […] fand zÅ erſt die
kunſt des ſchmidens, grabens, reiſſens vt ſtechens in die metal zÅ begird der augen […]
Demnach zeuget Lamech auſz Sella ſeinÁ Weib auch ein tochter Noema genant, diſe hat die kunſt vil vnd
mancherley webe{n}s erfunden, vnd garn von lein vt woll geſpunnen, TÅch darauſz gemacht vt geweben
von lindigkeit wegen dann zuuor bekleidten ſie ſich mit thier heutten.

Alttestamentischen Ursprunges sind auch die Namen von Abrahams böhmischem Reise-
gefährten Samuel (6, 24; 7, 11), des Rabbis Moyses in Mainz (6, 19), von Aaron, der Abraham in
Araky beherbergt (8, 11), des Meisters Iacob in Straßburg (10, 18; 13, 11), des Simon Moysi (das
ist ›Simon, Sohn des Mose‹) und des Rabbis Abraham in Konstantinopel (11, 20/21) sowie des
Meisters Ioſef in Paris (12, 12; Ioſeph 17, 33; 128, 24) und schließlich von Lamechs Vettern Isaac
(21, 3). Von Samuel, Aaron, Simon Moysi und dem Rabbi Abraham äußert die Leithandschrift
W₁ explizit, daß sie – vom Ich-Erzähler Abraham aus gesagt – vnſzers geſchlechts (6, 24; 8, 11;
11, 20/21) seien, was ›aus unserem Volk‹ bedeutet – daß sie also Juden sind; bei Rabbi Abraham
erhellt dies freilich, genauso wie bei Rabbi Moyses, bereits aus der Berufsbezeichnung. Mei-
ster Ioſef ist – wiederum von Abraham aus gesagt – von vnſzerm glauben vnd heilligen geſatz
abtrünnig, vnd Chriſt geworden (12, 12/13) und war somit ursprünglich auch Jude. Von Lamechs
Vettern Isaac wird man ebenfalls jüdische Glaubenszugehörigkeit annehmen können. Mit den
Namen, die der Verfasser der Wahren Praktik für die Personen wählte, werden durchaus reale
Verhältnisse unter Juden der frühen Neuzeit, zumal in Deutschland, getroffen, und die Namen
sind insofern, anders als ›Lamech‹, unmarkiert. Kein Jude, sondern Christ ist Meister Iacob in
Straßburg (10, 18).
In welchem Grad der Verwandtschaft Lamech zu seinem Vettern Isaac steht, läßt sich nicht
sagen. Im Frühneuhochdeutschen ist ›Vetter‹ mehrdeutig. Der Begriff leitet sich von ›Vater‹
ab und bedeutet zunächst den Vaterbruder, in der Folge den Sohn des Vaterbruders, erwei-
tert dann auch den Sohn von Geschwistern des Vaters und der Mutter (wie sogar von deren
Schwagern und Schwägerinnen) und am Ende beliebige männliche Verwandte. Während im
heutigen Deutsch nur die dritte Bedeutung überlebt hat, konnten im Frühneuhochdeutschen

78
Sebastian Franck: Chronica ZeitbÒch vnnd Geſchichtbibell von anbegyn biſz in diſz gegenwertig M. D. xliij. jar ver-
lengt. Ulm 1543, fol. ix v–x r
Zu den Orts- und Personennamen des edierten Textes ⅭⅠⅠⅠ

alle vier präsent sein. Da es der Ich-Erzähler Abraham ist, der von Lamechs Vettern spricht,
wird man die erste Bedeutung ausschließen können, denn dann hätte Abraham Isaac sicher-
lich seinen Bruder genannt; gleichfalls unwahrscheinlich ist, daß ›Vetter‹ an der Textstelle
nur in der allgemeinen Bedeutung eines beliebigen männlichen Verwandten gebraucht wird,
weil in diesem Falle Abraham naheliegenderweise von seinem und nicht von Lamechs Vettern
gesprochen hätte. Folglich dürfte entweder die zweite oder die dritte Bedeutung einschlägig
sein; daß Abraham Brüder und Schwestern hat, wird im Text erwähnt (6, 13). Statt des Vettern
Isaac hat Peuckerts Auszug aus der abweichenden Fassung der Breslauer Handschrift übri-
gens einen namenlosen Vornehmen, den Abraham aus dem Gefängnis in Speyer befreit haben
will; in der Dresdener Handschrift fehlt der Vorfall, das Wolfenbütteler Fragment reicht nicht
bis zu der Stelle.
Zuletzt bleiben zwei Namen zu betrachten, die nicht aus der Bibel stammen: Chriſtof (8, 1)
und Antoni (10, 21). ›Christoph‹ ist eine Kurzform des griechischen Namens ›Christophoros‹,
der wörtlich ›Christusträger‹ bedeutet. Die Person, die in der Wahren Praktik diesen Namen
hat, ist in der Tat ein griechischer Christ. Er begleitet Abraham auf seinem Zug von Palästina
in das öde Arabien. Dort trennen sich ihre Wege; während der Jude Abraham nach Ägypten
zurückkehrt und in Abramelim seinen Kabbalalehrmeister findet, irrt der »Christusträger«
auf der Suche nach Erkenntnis weiter in der Wüste. Es ist zweifelhaft, ob der Verfasser der
Wahren Praktik damit eine besondere Aussage bezweckte. Antoni ist ein Teufelsbündler, dem
Abraham in Prag begegnet. Abraham zieht dorthin vermutlich in Begleitung seines Glau-
bensgenossen Samuel, der aus Böhmen stammt; sein weiterer Weg führt ihn gemeinsam mit
Samuel nach Konstantinopel, und dabei ist womöglich das österreichische Linz, wo er sein
Abenteuer mit der Chriſten tochter und ihrer Hexensalbe erlebt (14 ,10–15, 15), eine Zwischen-
station. Neben Worms, Mainz und Speyer repräsentiert Prag ein weiteres wichtiges Zentrum
jüdischen Lebens im Heiligen Römischen Reich. Dennoch scheint Antoni kein Jude zu sein,
denn wie ich aufzeigte, gab der Verfasser jüdischen Personen in der Wahren Praktik sonst
konsequent alttestamentliche Namen; Antoni geht als Form des Namens ›Antonius‹ dagegen
auf das Lateinische zurück. Von ferne erinnert Antonis Ende auf einem Misthaufen (14, 1–2)
an den Doktor Faustus der Faust-Historia, doch hatte dieser eine Bundesdauer von immerhin
vierundzwanzig Jahren zu vereinbaren vermocht,79 während der Teufel Antoni nur zwei Jahre
dient, ehe er ihn holt. Auch Faustus’ Famulus Christoff Wagner will in der Fortsetzung der
Faust-Historia gern dreißig Jahre aushandeln, aber der Teufel gewährt ihm gerade einmal fünf,
die er allerdings um jede Seele, die er für den Teufel gewinnt, um ein Jahr verlängern kann.80
Teufelsbündler, die Abraham in Österreich antrifft, können sich ebenfalls nur zwei, drei, vier
oder fünf Jahre teuflischer Dienste erfreuen, bevor sie Antonis Schicksal ereilt (14, 4–9).

79
Stephan Füssel, Hans Joachim Kreutzer (Hrsg.): Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kri-
tische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Stuttgart
2012, S. 23, 123
80
Ander theil D. JohaÑ Fauſti Hiſtorien, dariÑ beſchriben iſt. Chriſtophori Wageners, Fauſti geweſenen Diſcipels auff-
gerichter Pact mit dem Teuffel, ſo ſich genandt Auerhan, vnnd jhm in eines Affen geſtalt erſchienen, auch ſeine
Abentheuerliche Zoten vnnd poſſen, ſo er durch befËrderung des Teuffels geÍbet, vnnd was es mit jhm zu letzt fÍr ein
ſchrecklich ende genommen. O. O. 1593, foll. E v r, F viii v
LE
SE
PR
OB
E
Edition
W₁ – Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o, foll. 1 r– 35 r, pag. 785
W₁ – Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁

Diſz iſt das Buch der wahren Pratick vonn der allten Magia, die Ich Abraham, ein Sohn deſz fol. 1 r
Simons, deſz Sohns Iuda, deſz Sohns Simons, Zuem theil durch eigene erfahrung, Zum theil
durch {bergab vonn meinem Vatter Simon, vnd andern glaubigen vnd Weyſzen gelernet vnd
geſehen, Zum theil auch ſelbs geProbirt, erfunden vnd geIebt, vnd darmit groſſe ding Zuwe-
5 gen gebracht hab, Welche Ich meinem Iungen Sohn Lamech, als dem Iüngſtgebornen, Zu
einer gedächtnuſz Inn ſchrifften verfaſſt, vnd als einen ſonderbaren Schatz inn diſze küſten
gelegt, vnd hinderlaſſen hab, damit er beneben ſeinem elltern Brueder Ioſeph, der als der
erſtgebohrne die heillige {bergab vnd Kabalam von mir empfangen, auch möge die wunder
Gottes anſchaẃen, erkennen vnd dieſelbigen gebrauchen.

10 Das 1. Buch

Allhie fahet an das 1. Cap:


Auſz was Vrſachen Ich dir mein Son Lamech diſz büchlin Zuaigene, vnd alſz einen ſonder-
baren Schatz hinderlaſſe, kanſt du aus dem tittel deſſelben leichtlich ermeſſen, vnd iſt ohn
not, das Ich ſolches nochmals erZehle: wie Ich dann auch Inn diſzem gantzen werck alle
15 {berflüſſige wort fliehen, vnd mich allein der kürtz befleiſſen will, dann die warheit bedarffe
keiner weitleüfftigen erklärung oder auſzlegung, ſonder ſy iſt ſchlecht vnd gerecht, vnd was
war iſt, das iſt war, folge allein dem, was Ich dir hierinnen ſage, bleibe bey der ainfallt, biſz
fromm vnd aufrichtig, ſo wirdt dir mehr guts widerfahren, als Ich dir hierinnen vermelden

1 Abraham, W₁ Abraham: 5 hab, W₁ hab: | Iüngſtgebornen, W₁ Iüngſtgebornen: 9 erkennen W₁ erkennen: |


gebrauchen. W₁ folgt die Kolumnenzeile füllendes Ornament 12/13 ſonderbaren W₁ ſonderba:: ren 13 kanſt du
W₁ kanſt du: 17 dem, W₁ dem::

1 Diſz … Buch] Archaisierendes Incipit nach dem Vorbild spätmittelalterlicher und älterer frühneuzeitlicher Texte; zur
›Dies ist‹-Formel vgl. auch biblische Schriften (Spr. 1,1; Mt. 1,1; Offb. 1,1 usw.). | Pratick] ‚Praxis, Ausübung, Verfahren‘;
nach it. pratica oder fr. pratique, beides aus mlat. practica. | Magia] Lat. ‚Magie‘. 1/2 Abraham … Sohns Simons]
Nachahmung jüdischer Namengebung durch Abstammungsangabe; Juden führten bis mindestens in das 18. Jh. hinein
in der Regel keine Familiennamen. Vgl. biblisch z. B. Num. 16, 1: Korah der ſon Iezehar, des ſons Kahath, des ſons Leui.
3 Weyſzen] ‚Weisen‘. 4 geProbirt] ‚erprobt‘. | geIebt] ‚ausgeübt‘. 6 gedächtnuſz] ‚Erinnerung, Angedenken‘. |
ſonderbaren] ‚vortrefflichen‘. Fnhd. ſonderbar bedeutet hier und im weiteren ›besonder‹, speziell auch ›vortrefflich‹,
es hat nicht die Bedeutung von nhd. ›sonderbar‹. | küſten] ‚Kiste, Kasten‘. 7 beneben] ‚neben‘. 8 die … Kaba-
lam] Der Ausdruck heillige {bergab gibt in Anlehnung an lat. traditio (Verbalabstraktum zu tradere ‚übergeben,
überliefern‘) hebr. ‫ ַקָּבָלה‬kabbalah wieder, das ›das Empfangen, Empfangenes‹, im engerem Sinne ›das durch Tradition
Gegebene‹ (Levy 1889 : 237) bedeutet. Beachte die Verwendung von bloßem {bergab bereits in Z. 3. | Kabalam] Lat.
Akk. ‚Kabbala‘. | möge] ‚könne‘. Fnhd. mögen bedeutet hier und im weiteren ‚können, vermögen‘, es hat nicht die
Bedeutung von nhd. ›mögen‹. 11 Allhie … Cap:] Archaisierendes Kapitelincipit nach dem Vorbild spätmittelalter-
licher und älterer frühneuzeitlicher Texte. | fahet] ‚fängt‘. 12 was] ‚was für‘. 15 dann] Hier und im weiteren
meist: ‚denn‘. 16 ſonder] ‚sondern‘. | ſchlecht] ‚schlicht, einfach‘. Fnhd. ſchlecht hat hier und im weiteren nie die
Bedeutung von nhd. ›schlecht‹. | gerecht] ‚gerade, einfach‘. 17 ainfallt] Nicht abwertend: ‚Einfachheit‘. | biſz] ‚sei‘.
18 fromm] ‚integer, rechtschaffen‘. | aufrichtig] Ähnlich wie vorausgehendes fromm: ‚rechtschaffen‘.
4 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 1. Buch

werde. Dann nit eim Ietwedern die gnad v. gab verlihen iſt von dem heilligen Gott, das er die
hohe geheimnuſzen der Kabalae, deſz Geſatzes vnd deſz Talmuts begreifen vnd erkundigen
könne, oder ergründen, darum mueſz vnd ſoll er ſich ann dem genüegen laſſen, das Ihm der
Herr vergunt, vnd darbey bleiben: dann wan du wider ſeinen göttlichen vnd heilligen willen
gar zu hoch fliegen wolteſt, ſo dörfft vnd wurde dir von wegen deines ſtoltz eben das begeg- 5
nen, das Lucifern vnd ſeinem böſzen anhang widerfahren, das iſt, er dörfft dir einen ſtarcken
winde ſchicken, der dich auf den bodenn würffe, vnd dir die flügel breche, das dir nachmals
das fliegen gantz vnd gar verwehret vnd darnider gelegt wurde, da biſz klug vnd weiſz, vnd
verſtande recht, wie Ich diſzes maine. Vnd ſolleſtu wiſſen, das Ich inn diſzem gantzen büech-
lin mich allein dahin befliſſen, dir den Brey gekocht inn das Maul einZuſtreichen, weil du 10
noch ſo gar Iung biſt, wie man Ihne aber kochen vnd machen mieſſe, das wirſt du nach vnd
nach mit wachſendem allter vonn gueten Köchen, das ſein die Weyſzen Meiſter, Ia die heilli-
gen vnd guten Engel Gottes ſelbs, erlernen, dan vnſer keiner wirdt Meiſter geborn, ſonder mie-
ſſen alleſambt Zuem erſten lernen, vnd darnach Meiſter werden, wie dann auch mir vnd allen
andern begegnet, alſz du inn dem folgenden Cap. vernesen wirſt. 15

Allhie fahet ſich an das 2. Cap. deſz 1. Buchs.


Nun ſolt du wiſſen mein Son, als obgemeldt iſt, das Ich auch nit Meiſter geborn worden, oder
diſze heyllige kunſt von mir ſelbs gefunden, ſondern vonn andern gelernet hab, wie aber vnd
was geſtallt, da ſoltu mich alſo vernesen. Es iſt die Warheit, das mir mein Vatter Simon kurtz
vor ſeinem abſterben vnd ehe er ſich Zu ſeinen vättern geſamlet, das heillige geheimnuſz mit 20
ſeinem Munde, ſouil als ſichs geZiset hat, treülich v̈ bergeben vnd berichtet hat: Aber der

2 Talmuts W₁ Antiqua-T 11 wirſt du W₁ wirſt: du 17 ſolt du W₁ ſolt du: 20 abſterben W₁ abſterben:

1 Ietwedern] ‚jeden‘. | v.] ‚und‘. 2 Kabalae] Lat. Gen. ‚Kabbala‘. | Geſatzes] ‚Gesetzes‘, d. h. der fünf Bücher Mose,
welche die 248 Gebote und 365 Verbote enthalten, nach denen sich das Leben eines Juden ausrichten soll. | Talmuts]
Hebr. ‫ ַתּלמוּד‬talmud ‚Lehre‘ (Levy 1889 : 647); Bezeichnung für zwei Sammlungen jüdischer Religionsgesetze (Babylo-
nischer und Jerusalemer Talmud), die außerbiblische Religionsbestimmungen enthalten. | erkundigen] ‚ergründen,
erforschen‘. 4 vergunt] ‚vergönnt‘. | wan] Hier und im weiteren wie nhd. ‚wenn‘. 5 wurde] ‚würde‘. Hier und im
weiteren unumgelautete Formen für nhd. ›würde‹, ›würdest‹, ›würden‹. | eben] ‚genau, gerade‘. Die Partikel eben be-
deutet hier und im weiteren ›genau, gerade‹, zuweilen auch ›gleich‹. 6 das Lucifern … widerfahren] Nach jüdischer
Überlieferung ist der Teufel ein gestürzter Engel. Reflexe der Legende finden sich in Lk. 10, 18 und in der Offenbarung
des Johannes, sie bringt, verknüpft mit Ez. 28, 11–19, wo der König von Tyrus als von dem Gottesberg gestürzter Cherub,
und Jes. 14, 12–15, wo der König von Babel als vom Himmel gefallener Morgenstern verspottet wird, im lat. Christentum
die paradox wirkende Teufelsbezeichnung ›Luzifer‹ (lat. Lucifer ‚Morgenstern‘, wörtlich: ‚Tageslichtbringer‘) hervor.
Zum mit dem Teufel gestürzten Engelsanhang vgl. Offb. 12, 9. 7 breche] ‚bräche‘. | nachmals] Hier und im weiteren
wie nhd. ›danach‹. 9 verſtande] ‚versteh‘. | ſolleſtu] ‚sollst du‘. Bei nachgestelltem ›du‹ treten im Text in der Regel
enklitische Formen auf, bei denen das Pronomen mit dem Verb verschmilzt. 11 ſo gar] ‚so sehr‘. 12 ſein] Hier und
im weiteren als Verbform wie nhd. ›sind‹. 13 Meiſter] Lies: ‚als Meister‘. 15 alſz] Hier und im weiteren meist wie
nhd. ‚wie‘. 16 fahet ſich an] ‚fängt an‘. 17 ſoltu] ſolt ist die alte Form von ›sollst‹. | obgemeldt] ‚oben gesagt‘.
19 was geſtallt] ‚auf was für eine Weise‘. | alſo] Im weiteren wie nhd. ›so‹, nicht wie nhd. ›also‹; hier speziell: ‚wie
folgt‘. 20 Zu … geſamlet] Der Ausdruck zu jren Vetern verſamlet kommt bei Luther 1545 nur in Ri. 2, 10 vor, öfter
fällt dagegen zu ſeinem Volck geſamlet oder verſamlet (z. B. Gen. 25, 8. 17; 35, 29; 49, 29. 33; Luther 1984 an vier der fünf
Stellen: Vätern). Die Ausdrücke fassen den Tod als Eintritt in das Totenreich, in dem die verstorbenen Vorfahren auf
einen warten, oder auch als Niederlegung in dem Familienbegräbnis, in dem die verstorbenen Vorfahren bestattet sind.
21 geZiset] ‚geziemt‘.
2. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 5

Ihenige, der alles waiſzt, waiſzt auch, das er mir damals die genade nit verlihen gehabt, das
Ichs volkomlich vnd gnugſamlich, wie ſich es gebürt hette, verſtehen oder begreiffen können.
Mein Vatter Simon iſt alleZeit mit ſollichem Schatz wol Zufriden vnd benügt geweſen, vnd
hatt der Magi   ſchР wahren Kunſt, die Ich dir vnden inn dem 3. vnd 4. Buch entdecken werde,
5 nit weitters nachgeſuecht; Alſz er nuhn ſtarbe, da war Ich meins Alters bey 20. Iharen, aber
doch nit vollkommen, hatte wol fraide vnd luſt ann den geheimnuſzen deſz Herrn, kund-
te aber für vnd von mir ſelbs nicht darZu gelangen: da höret Ich von einem Weiſzen Rabi,
der Zu Meintz wonhafftig was, vnd aller göttlichen vnd Magiſchen Weiſzheit, wie das gemein
geſchreye war, voll ſein ſollte, Zu diſzem begabe ich mich, vmb Zulernen vnd Weiſz Zuwer-
10 den; aber derſelbige hatte auch nit volkosene gab von dem Herrn empfangen, dann ob er mir
gleich ettliche hohe geheymnuſzen der heilligen {bergab Zueröffnen ſich vnderwunde, ſo war
es doch nichts volkosens, vnd Inn der Magia behalff er ſich allein ettlicher vnglaubiger vnd
Abgöttiſcher völcker weiſz vnd künſten: hatte eines theils von den EgiPtieren mitt Bildern,
theils von Meden vnd Perſianern durch kreütter, theils von den Araben, durch Stern, Inn
15 Summa, er hatte gar nahend von | Ieglichem volck etwas, auch ſogar von den Chriſten vnd fol. 1 v
Ihrem Aberglauben, vnd verblendeten Ihne die liſtigen Geiſter dermaſſen, Inn dem ſy Ihme
inn ettlichen geringen SPiegelfechtР gehorſam erzeigten, das er ſolche ſeine blindheit für die
wahre Magia huelte, vnd der rechten weitters nit nachſuechete oder trachtete. Vnd Ich ver-
meinete eben auch, Ich hette es gantz wol geſchafft, vnd das recht erwiſchet, ſtuende Inn
20 ſollichem wohn, biſz das Ich hernach erſt {ber 10. Ihar lang Inn EgyPten den Weyſzen Allten
Vatter Abramelim angetroffen, der mich auf die rechte Straſz vnd Pan gewiſzen, wie Ich vn-
den dann weitter vermelden werde: alſo das Ich die fürnembſte anlaitung von dem beſagten
heilligen Vatter Abramelim gehabt, die obriſte vnd Haubtgenad aber iſt von dem Vatter aller
gütigkeit, dem hohen groſſen Gott, herkommen, der mein verſtand nach vnd nach vermehret,
25 auch die Augen, ſein göttliche Weiſzheit anZuſchaẃen, eröffnet vnd aufgethan hatt, das Ich
das heillige hohe geheimnus Ie lenger Ie mehr verſtanden, dardurch Zu erkandtnus der heilli-
gen Engel vnd guten Geiſter, Ia endtlich gar, alſo daruon Zureden, Inn Ihre Freündſchafft vnd
geſPrech kosen, die mir dann Zum letzten auch den grund der wahren Magiae vnd wie die
böſze Geiſter mieſſen vnd ſollen beherrſchet werden, eröfnet haben. Alſo das Ich, diſzes Cap.
30 Zubeſchlieſſen, anderſt nit ſagen kan, dan das Ich das heillige geheimnuſz durch anweiſung

1 Ihenige, W₁ Ihenige:: | Ihenige Lo₃ Zeuge L jenige Wi₂ Genius 4 Magi  ſchР W₁ M.ſchР 6 hatte W₁ ha berichtigt
8 göttlichen W₁ G. | Magiſchen W₁ M. 10 Herrn W₁ ›Herrn‹-Chiffre mit nachgesetztem Punkt

1 der alles waiſzt] Vgl. Bar. 3, 32: [Der Gott ] Der aber alle ding weis, kennet ſie [die Weisheit ]. Im NT ist es Jesus, der
alles weiß, vgl. Joh. 16, 30; 21, 17. | waiſzt] ‚weiß‘. 3 benügt] ‚zufrieden gestellt‘. 4 entdecken] ‚eröffnen, offenba-
ren‘. 4/5 der … Kunſt … nachgeſuecht] ‚nach der … Kunst … gesucht/forscht‘. 6 fraide] ‚Freude‘. 7 Rabi] Hebr.
‫ ַרִּבי‬rabbi, wörtlich: ‚mein Lehrer, Meister‘ (Levy 1889 : 409); Bezeichnung für den jüdischen Gesetzesgelehrten. 8 was]
‚war‘. 8/9 gemein geſchreye] ‚öffentliche Gerede‘. 11 vnderwunde] ‚bemühte‘. 13 Abgöttiſcher] ‚heidnischer‘. |
weiſz] ‚Weise‘. | eines theils] ‚einige‘. | EgiPtieren] ‚Ägyptern‘. | Bildern] ‚Bildwerken, Figuren‘. 14 theils] ‚eini-
ge‘. | Meden vnd Perſianern] ‚Medern und Persern‘. | Araben] ‚Arabern‘. 14/15 Inn Summa] ‚kurzum‘. 15 gar
nahend] Verstärktes nahend ‚fast‘. 17 SPiegelfechtР] ‚Spiegelfechtereien‘. 18 huelte] ‚hielt‘. 19 das recht] ‚das
Rechte‘. 20 wohn] ‚Wahn, falscher Meinung‘. 21 Pan] ‚Bahn‘. | rechte … Pan] Der Ausdruck ist biblisch, vgl. z. B.
Spr. 2, 13. 20; 4, 11; Ps. 23, 3. | gewiſzen] ‚gewiesen‘. 22 fürnembſte] ‚bedeutendste, wichtigste‘. Hier und im weiteren
bedeutet fürnemb nie nhd. ›vornehm‹. 26 Ie … Ie] ‚je … desto‘. 27 endtlich] ‚am Ende‘. 28 kosen] ‚gekommen
[bin]‘. | grund] ‚Fundament, Kern‘. | Magiae] Lat. Gen. ‚Magie‘. 30 anderſt] ‚anders‘ mit epithetischem t. | dan]
6 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 1. Buch

Abramelims von Gott ſelbs, die ware vnverfälſchte Magiam aber von den heilligen Englen
gelernet vnd Zuwegen gebracht hab.

Allhie fahet ſich an das 3. Cap. deſz 1. Buchs.


Inn dem vorigen Cap. hab Ich geſagt, was geſtallt Ich nach meines vatters deines Anherrn
abſterben, dem geheimnuſz vnd Weiſzheit deſz Herrn nachgeſucht: nun will Ich dir Inn diſem 5
Cap. erZehlen kürtzlich, was ort vnd land Ich, allein lernens halben, durchZogen, vnd diſzes
dir Zu einem Exempel vnd nachfolg, damit du dein Iugend auch darnach reguliereſt, vnd nit
auf dem Polſter oder hinder dem ofen verZereſt, dan wer nit auſzkoset, der komt auch nit
ein, wer nichts inn der Frembde erfehret, der waiſzt ſich daheim ſelbſt nit Zueregiern, vnd
iſt eben als ein gemahlter Schütz ann der wand, der ſchieſſet IederZeit nur ann ain ort, vnd 10
trifft doch niemals. So wiſſe nun, das Ich nach meines vattern Simons todt (. welcher aus di-
ſzer wellt abgeſchiden den 6.tР tag deſz Monats Tebheth, inn dem 1379.tР Ihar der gemeinen
IharZahl .) mich biſz Inn das 4.te Ihar vnder vnſzern befreündten, Brüdern vnd Schweſtern
aufhuelte, vnd allein mich befliſſe vnd ſtudierete, wie Ich das Ihenige, ſo mir von meinem
vatter war vertraut worden, recht verſtehn, vnd nutzbarlich gebrauchen künte. Nachdem Ich 15
aber ſahe, das Ich von vnd für mich ſelbs ſolches Zuthon nicht vermochte, nachdem Ich alle
andere mein geſchefft vnd ſachen der Notturft nach abgericht vnd angeſtellet hette, name Ich
meinen Abſchide von den befreündten, Zog von Worms nach Meintz Zu einem Alten Rabi,
Moyses genannt, Vermeinete, wie mir das gemein geſchrey die hoffnung gab, das Ihenige
was Ich ſuechete, Zufinden, aber, wie Ich auch inn vorgehendem Capittel vermeldet, ware 20
bey Ihm kein grund der göttlichen Weiſzheit, vnangeſehen Ich 4. gantze Ihar mich alda bey
Ihm ſaumete vnd aufhiellte. Vermainete Zwar ich hette gelernet was Ich können ſolte, vnd
war eben willens, widerumb nach meins Vatters hauſze ZuZiehen, ſihe, da triffe Ich an einen
Iungen Mann vnſzers geſchlechts, Samuel genannt, auſz dem Böhemerland, deſſen Sitten vnd
wandel gnugſam anZaigung gaben, das er In dem weege deſz Herrn Zuhandlen vnd wandlen 25

1 heilligen Englen W₁ HE. mit berichtigtem E 13 vnſzern W₁ vnſzerm 18 Rabi, W₁ Rabi:: 23 widerumb W₁
versehentliches u-Häkchen über dem zweiten Bogen des m gestrichen

‚denn‘ in der Bedeutung von nhd. ›als‹. 1 Magiam] Lat. Akk. ‚Magie‘. 4 Anherrn] ‚Großvaters‘. 6 kürtzlich]
‚kurz‘. 7 reguliereſt] ‚einrichtest‘. 8/9 wer … ein] ‚wer nicht hinauskommt, der kommt auch nicht hinein.‘ Fnhd.
Sprichwort, vgl. z. B. bei Seybold 1677 : 49, der es als Übertragung eines lateinischen Sprichwortes benutzt: Auſteritas
ſolitudinis comes [‚Unfreundlichkeit, der Einsamkeit Begleiter‘ ], Wer nicht auskommt, der kommt nicht ein. Wer
nicht unter die Leute kommt, der kann mit niemand umgehen. Bei Rauw 1597 : 158 wird der Gedanke hinter dem
Sprichwort mit Blick auf die Spanier so ausgesponnen: Die Hiſpanier ſind Choleriſcher Complexion, ſind von Natur
ſchwerm~tig vnd ernſthafft, faſt [‚sehr‘ ] vnfreundlich gegen die Frembden, weil ſie ſich in frembden Landen ſelbſt
nicht verſucht haben. 10 ort] ‚Stelle‘. 12 Tebheth] Hebr. ‫ ֵתֵבט‬tevet, Monat des jüdischen Kalenders, fällt etwa in
den Zeitraum November – Dezember. Vgl. Decimator 1595 a: Chriſtmonat, Wolffsmonat … December … ‫ תּבט‬tebhet.
12/13 gemeinen IharZahl] D. h. der Jahreszahl nach ›allgemeinem‹, also christlichem Kalender. 13 befreündten]
‚Verwandten‘. 15 vertraut] ‚anvertraut‘. 17 Notturft] ‚Notwendigkeit, Erfordernis‘. | abgericht] ‚eingerichtet‘. |
hette] ‚hatte‘. 19 Moyses] ‚Mose‘, Namensform nach der Septuaginta, gr. Μωυσῆς Moyses; die Namensform findet
sich auch in frühneuzeitlichen Ausgaben der Vulgata. 20 vorgehendem] ‚vorhergehendem‘. 22 Zwar] Hier und
im weiteren ohne korrespondierendes ›aber/doch‹ meist: ‚jedoch‘, mitunter auch: ‚wahrlich, fürwahr‘. 24 vnſzers
geſchlechts] Nicht im Sinne von ›unserer Familie‹, sondern von ›unseres Volkes‹, d. h. der Juden, gemeint; im Fnhd.
war ein solcher Gebrauch möglich, vgl. z. B. Heshusen 1564 : 10 v–11 r: Paulus … nennet doch gleichwol das I~dische
Geſchlecht heilig, zur anzeigung das jnÁ nicht aller ding [‚völlig‘   ] die ſeligkeit verſchloſſen, abgeſchnitten verſagt
LE
SE
PR
OB
E
Das 2. Buech.
ErZehlung ettlicher heimligkeiten, die Ich Abraham {ber diſzes ſo Ich von andern
empfangen, vnd gelernet, auſz den 5. Büchern Moyses vnd andern heilligen
Büchern durch mich ſelbs, vermittelſt der Kabalae erfunden, vnd
alle ſelbs würcklich Probiert vnd geIebet hab. 5

Das 1. Cap.
Für allerley kranckheiten.

1. Wan ſchwere Seichen durch ein gantzes land regieren.


Ann einem Morgen, ehe dz die Sonn aufgehet, nim Sibnerley holtz, ſo von 7. vnderſchidlichen
orten deſz gantzen lands genosen, die bringe Zuſamen vngefahrlich inn der mitten deſz 10
lands, vnd ſchreibe auf rain Wax die wort, vnd auf das Wax ſtreẃ rauchwerck, alſo das es oben
gantz bedeckt ſey, vnd leg alles Zuſamen oben auf das holtz, vnd Zünde es an vnder freyem
hisel, biſz das alles Zu aſchen werde, die laſſe vnangerhürt ligen biſz auf den Abendt, das die
Sonn gleich vndergangen, ſo nims vnd wirffs gegen den 7. orten, dauon das holtz herkosen,
allweg ſPrechende. Herr Gott Sebaoth erbarme dich vnſzer: Diſz aber ſein die wort. Herr, wir 15
haben geſündiget, vnd deine hand iſt vns Zuſchwer, doch iſt beſſer inn die hand deſz Herrn
fallen, dann ſeine barmhertzigkeit iſt ſehr groſz.

2. Für den Krebs vnd andere offene Schäden.


Nim ein raines glas, das berauch vor Aufgang dЧ Sonnen 7. mal, auf 7. vnderſchidlichen Feẃ-
ren, alſzdann ſchreib mit Honig auf das glaſz die wort, vnd nimb alſzdann ſeine ordenliche 20

2 Abraham W₁ Abraham: 4 Büchern Lo₃ L Wi₂ Schriften | Kabalae W₁ K. Lo₃ Wi₂ Cabaliſterey L Cabalae 16 ge-
ſündiget, W₁ geſündiget::

2 {ber … ſo] ‚über das hinaus, was‘. 8 Seichen] ‚Seuchen‘. 10 vngefahrlich] ‚ungefähr‘. 14 nims] ‚nimm sie‘.
Hier und im weiteren mitunter obd. Enklise von ›sie‹ als ›-s‹. 15 allweg] ‚jedesmal‘. | Herr Gott Sebaoth] Sebaoth
in lat. Transliteration statt Luther 1545 Zebaoth, hebr. ‫ ְצָבאֹות‬zeva’ot; in der Vulgata ist, der Septuaginta folgend, in
der Regel jedoch die Form Sabaoth gebräuchlich. Die ursprüngliche Bedeutung von ›Zebaoth‹ ist umstritten, es könnte
die Übernahme eines ägyptischen Wortes mit der Bedeutung ›Thronender‹ sein, das an ähnlich klingendes hebr. ‫ְצָבאֹות‬
angelehnt wurde. Dieses ist Pl. von ‫ ָצָבא‬zava ‚Heer, Kriegsdienst‘ und tritt als Gottesepitheton in Verbindung mit ‫יהוה‬
jhwh allein oder mit eingeschaltetem ‫ ֱאֹלִהים‬elohim ‚Gott‘ auf; in nichthebr. Bibeltexten wird es teils übersetzt (z. B. ‫יהוה‬
‫ ְצָבאֹות‬jhwh zeva’ot ‚HERR der Heerscharen‘), teils bleibt es unübersetzt. Fügungen mit unübersetztem ‫ ְצָבאֹות‬treten bei
Luther 1545 einmal in Satzform als der HERR ist Gott Zebaoth, sonst als HERR der Gott Zebaoth oder HERR Gott
Zebaoth auf. Letzteres findet sich u. a. in Ps. 80, 20, worauf hier angespielt sein mag: HERR Gott Zebaoth tr}ſte vns,
Las dein Andlitz leuchten, ſo geneſen wir. | erbarme dich vnſzer] Der Imp. erbarm(e) dich kommt in Luther 1545
an den Gott gerichtet in den kanonischen Büchern des AT einmal und mehrmals in den Apokryphen vor. Ferner tritt
er im NT auf und steht, meist Jesus geltend, dann im Zusammenhang mit einer Krankenheilung. 15–17 Herr …
groſz] Zitat und Anspielungen auf die parallelen Erzählungen 2. Sam. 24 und 1. Chr. 21, die von einer dreitägigen Pest
in Israel handeln. Vgl. 2. Sam. 24, 10 (1. Chr. 21, 8): Vnd Dauid ſprach zu Gott, Ich habe ſchwerlich [‚schwer‘ ] geſundigt,
das ich das gethan habe sowie 2. Sam. 24, 17. Zur ›schweren Hand‹ des Gottes vgl. 1. Sam. 5, 6 im Zusammenhang einer
Epidemie: Aber die hand des HERRN ward ſchweer vber die von Asdod, vnd verderbt ſie. Der Schluß der Stelle ist
ein Zitat von 1. Chr. 21, 13: Doch ich [David ] wil in die hand des HERRN fallen, Denn ſeine barmhertzigkeit iſt ſeer
gros. (2. Sam.  24, 14: Denn ſeine barmhertzigkeit iſt gros.) 18 offene Schäden] ‚offene Geschwüre‘.
1. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 31

Salb, ſo Zu dem Schaden dienlich, wiſche darmit die ſchrifft hinwegk, vermiſch die Salb wol
durch einandЧ, vnd gebrauchs alſzdann als du ſonſt pflegeſt, das thue allwegen, du wirſt ſehen,
das das wort deſz Herrn dein geſundheit aufs wenigſte vmb die halbe Zeit befürdert. Der Herr
verletzt vnd verbindet, er Zerſchmeiſſet, vnd ſeine Hand hailet.

5 3. Für allerlei kranckheiten.


Findeſtu einen dЧ hart kranck liget, vnd weder geneſzen oder ſterben kan, ſalbe Ihm ſein Ahn-
geſicht mit Baumöl, vnd eben mit ſelbigem öl ſchreib auf ein Brot, oder was du Ihme Zueſſen
geben kanſt, die wort, vnd laſſ Ihn eſſen, du wirſt die hülf deſz Herrn ehe das 3. tag vmb ſein,
erkennen: Der Herr kan tödten vnd lebendig machen, er kan ſchlagen vnd hailen, vnd iſt nie-
10 mand der aus ſeiner Hand errette.

4. Für die Peſt.


Nimb ein ſtücklin von einer Lambshautt, ſo auf den 14.tР tag des Monats Abib geſchlachtet
worden, auch gantz weiſz vnd vnthadelhafftig geweſzen, vnd mit dem Blut von demſelbigen
Lamm vnd einem Stil von Iſopen, ſchreib auf das Feel diſz wort, Phase, berauche es mit dem
15 rauchwerck, vnd trags auf deinem hertzen.

5. Für trieffende Augen.


Schreib auf ein gläſzin blatten mit Honig die wort, dann berauchs vnd ſPrich darZu. Herr du
biſt freündtlich dem der auf dich harret, vnd der Seelen, die nach dir fraget, dann du verſtoſ-
ſeſt nit ewigklich, du betrübeſt wol, aber du erbarmeſt dich wider nach deiner groſſen güte.
20 Waſche alsdann | daſz glas mit ſauberm friſchem waſſer, vnd mit demſelben waſche die Augen fol. 8 r
deſz tags 7. mal, das thue 7. tag ann einandЧ. Meine Augen flieſſen vnd können nicht ablaſſen,
dann es iſt kein auffhören da, biſz der Herr vom Hisel herab ſchaẃe vnd ſehe darein.

3 Herr W₁ ›Herr‹-Chiffre mit n-Haken 8 wort, W₁ wort. | laſſ W₁ so 12 auf … Abib Lo₃ L Wi₂ in dem Monat Ni-
san 14 Feel Lo₃ L Häutlein Wi₂ Haut 20 ſauberm Lo₃ L Wi₂ lauterm | waſſer W₁ waſz: ſer 21 flieſſen W₁ flieſſen:

2 allwegen] Wie allweg ‚jedesmal‘. 3/4 Der … hailet] Hiob  5, 18: Denn er [der Gott ] verletzet, vnd verbindet, Er zu-
ſchmeiſſt [‚zerschmeißt‘ ], vnd ſeine Hand heilet. 6 hart] ‚sehr, schwer‘. 7 Baumöl] ‚Olivenöl‘. 9/10 Der … er-
rette] Dtn. 32, 39: Ich [der Gott ] kan t}dten vnd lebendig machen, Ich kan ſchlagen vnd kan heilen, Vnd iſt niemand
der aus meiner Hand errette. 12/13 Lambshautt … worden] Vor dem Auszug aus Ägypten schlachten die Israeliten
am 14. Tag des Monats Abib Lämmer und streichen das Blut an die Pfosten ihrer Häuser, damit der Würgeengel, der
als zehnte Plage alle Erstgeburt in Ägypten tötet, an ihnen vorübergeht. Zum Gedenken wird an diesem Monatstage
alljährlich das Passahfest begangen (Ex. 12, 1–14). Der Monatsname ›Abib‹ (vgl. z. B. Dtn. 16, 1) wurde späterhin im jü-
dischen Kalender durch ›Nisan‹ (vgl. z. B. Neh. 2, 1) ersetzt; der Abib/Nisan fällt in die Zeit März – April. 14 Stil von
Iſopen] Ex. 12, 22: Vnd nemet ein p~ſſchel Iſopen, vnd tuncket in das Blut in dem becken, vnd beruret da mit die
Vberſchwelle, vnd die zween Pfoſten. Zum Zusammenhang siehe die Anm. zu Z. 12/13 | Feel] ‚Fell‘. | Phase] In der
Vulgata eine Bezeichnung des Passahfestes nach hebr. ‫ ֶּפַסח‬pesach (alternativ auch: pascha, nach gr. πάσχα pascha,
dieses nach aram. ‫ ַּפְסָחא‬pascha). Übertragen kann Phase auch das zum Passahfest geschlachtete Lamm bedeuten (z. B.
Ex. 12, 21). 16 trieffende Augen] Hier eine chronische Augenentzündung mit starker Tränenabsonderung. 17 glä-
ſzin] ‚gläserne‘. | blatten] ‚Platte‘. 17/18 Herr … fraget] Klgl. 3, 25: Denn der HERR iſt freundlich dem, der auff
jn harret, vnd der Seelen, die nach jm fraget. 18/19 dann … güte] Klgl. 3, 31–32: Denn der HERR verſt}ſſet nicht
ewiglich, Sondern er betr~bt wol, vnd erbarmet ſich wider, nach ſeiner groſſen G~te. 21/22 Meine … darein]
Klgl. 3, 49–50: Meine Augen flieſſen, vnd k}nnen nicht ablaſſen, denn es iſt kein auffh}ren da, Bis der HERR von
Himel herab ſchaw vnd ſehe drein.
32 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 2. Buch

6. Für linderung allerlei kranckheiten.


Die wort ſchreib alle mahlZeit mit Honig oder Butter dem krancken auf das brot, ſo er Zueſ-
ſen pfleget, auch inn das glaſz daraus er trinket, vnd allweg nach dem eſſen berauch Ihn, das
ſoll geſchehen 7. tag lang, du wirſt ſcheinbarliche ringerung ſehen. Alſo ſPricht der Herr Herr,
Ich will das verlohrne wider ſuechen, vnd das verirrete wider bringen, vnd das verwundte 5
verbinden, vnd deſz ſchwachen wartten, vnd was fett vnd ſtarck iſt, will Ich behüten, vnd will
Ihrer pflegen wie recht iſt.

7.
Eben vorgemellte wort auf ein 7. eckichtes rain Wax geſchriben, vnd 7. Morgen vor Aufgang
dЧ Sonnen beraucht vnd am halſz getragen, iſt ein Bruſtwöhr für alle böſe Zufäll. 10

8. Für böſze blattern vnd rauden.


Schreib mit einem Bleyenen griffel inn rain Wax die wort, Zerſchmöltz darnach das Wax mit
7. mal ſouil Baumöl, beſchmir deinen leib darmit Morgens vnd Abends, du wirſt rhu finden.
Ich will der kranckheit keine auf dich legen, die Ich auf EgyPten gelegt hab, dann Ich bin der
Herr dein Artzet. 15

9. Für den vrplötzlichen todt.


Obgemelte wort auf rain Wax geſchriben (. wiltu ſy inn gold oder Silber ſchreiben, iſt es auch
gut .) vnd beraucht, darnach an dem halſz getragen, iſt ein gewiſzer vnd vöſter bund deſz
Herrn mit dem Menſchen, das er Ihne durch gehen todt nit hinweg rauffet.

10. Für die Peſtilentz. 20


Schreib obgemelltes auf ein täfelin von gold, Silber oder rain Wax, das 7. ecken habe, berauchs
7. mal ann einem VorSabat, vnd trag es ſtetigs auf deinem hertzen, einwarts.

6/7 will … iſt Lo₃ wie recht pflegen L ihnen Recht pflegen Wi₂ ihre Kühe recht pflegen 9 rain W₁ a aus e berichtigt
22 VorSabat, W₁ VorSabat:

4 ringerung] ‚Verringerung‘, hier: ‚Linderung‘. 4–7 Alſo … iſt] Ez. 34, 15–16: … ſpricht der HErr HERR. Ich wil das
Verlorne wider ſuchen, vnd das Verirrete widerbringen, vnd das Verwundte verbinden, vnd des Schwachen war-
ten, Vnd was fett vnd ſtarck iſt, wil ich beh~ten, vnd wil jr pflegen, wie es recht iſt. 6 wartten] ‚pflegen‘. 9 vor-
gemellte] ‚zuvor genannte‘. | eckichtes] ‚eckiges‘. 10 Bruſtwöhr] ‚Brustwehr‘. | zufäll] ‚krankhafte Anfälle‘.
11 blattern] ‚Pocken‘. | rauden] ‚Räude‘; im Fnhd. auch für menschliche Erkrankungen wie Krätze oder allgemein
trockene, schorfige Hautausschläge. 12 Bleyenen] ‚bleiernen‘. 14/15 Ich … Artzet] Ex. 15, 26: So wil ich [der Gott ]
der Kranckheit keine auff dich [das Volk Israel ] legen, die ich auff Egypten gelegt habe, Denn ich bin der HERR
dein Arzt. Die Bibelstelle bezieht sich auf die Krankheiten unter den Plagen, die der Gott über Ägypten verhängt, als
der Pharao sich weigert, das Volk Israel ziehen zu lassen: Viehpest (Ex. 9, 1–7), Blattern (Ex. 9, 8–12) und Tod aller Erst-
geburt von Mensch und Tier (Ex. 11, 1–10; 12, 29–33). 16 vrplötzlichen todt] Der Tod, mit dem der Gott die Erstgeburt
in Ägypten schlägt, siehe die Anm. zu Z. 14/15 16–19 Für ... rauffet] Mit dem gehen todt kann im Mhd. und Fnhd.
außer einem plötzlichen Tod eine ansteckende Krankheit gemeint sein, die man lat. als pestis inguinaria ‚Leistenpest‘
bezeichnete (vgl. z. B. Schönbach 1886 : 196). Vgl. die Faust-Historia, in der von Pestilentz / Gehentod / vnd ander
seuchten (Füssel/Kreutzer 2012 : 73) die Rede ist. 18 gewiſzer] ‚sicherer‘. | vöſter] ‚fester‘. 19 gehen] ‚jähen‘. |
rauffet] ‚rafft‘. 20 Peſtilentz] ‚Pest‘. Siehe die Anm. zu Z. 14/15; die biblische Pestplage erfaßt als Viehpest nur Tiere.
22 VorSabat] Übersetzung Luthers für gr. προσάββατον prosabbaton (Mk. 15, 42 bei Luther 1545), den Vortag, da man
die Vorbereitungen für den Sabbat trifft. | auf … einwarts] D. h. der Bibelspruch weist zum Herzen.
1. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 33

11. Ein allgemeiner Segen für allerley kranckheiten vnd {bel.


Welcher nachfolgende wort auf rain gold, Silber oder Wax geſchriben, vnd alle VorSabat be-
raucht, auff ſeinem bloſſen leib tregt, waferr er nit ein wircklicher {bertretter deſz geſetz Got-
tes iſt, bleibt ſicher vor allen Zufälligen kranckheiten, Zauberey, vnd anderm {bel. Der Herr
5 ſegene vnd behüte dich, der Herr laſſe ſein Angeſicht leüchten {ber dich, vnd ſey dir genädig,
der Herr hebe ſein Angeſicht {ber dich vnd gebe dir fride.

12. Einem der weder ſterben oder geneſzen kan.


Schreib die wort mit einem Bleyenen griffel inn rain Wax, berauch es vor Aufgang dЧ Sonnen,
vnd henck es Ihme an, er wirdt inn kurtzer Zeit auf einen odЧ andern weeg erledigt. Es iſt der
10 Herr, er thue was Ihme wolgefällt.

13. Für allerley ſchwere Siechtag vnd kranckheiten.


Nimb 7. Saubere glasſchalen, darauf ſchreibe mit Honig vor Aufgang dЧ Sonnen die wort, deſz-
gleichen nise 7. kleine brot oder Zellten, da eines mag auf 7. biſſen auffgeeſſen werdР, darauf
ſchreibe auch die wort, leg alleZeit ein brot Inn ein Schalen, berauchs vnd ſPrich. Dancket
15 dem Herrn, dann er iſt freündtlich, vnd ſeine güte wehret ewigklich, dann er der Herr Züchti-
get dich wol, aber er gibt dich dem tode nicht. Diſze Brot vnnd glaſzſchalen behallte rainigk-
lich auf, das kein ſtaub darauf falle, vnd gib dem krancken alle tag aus einer ſchalen Zutrin-
cken, vnd ein brot Zueſſen, doch ſoll ſolches Zu ſeinem erſten eſſen oder Imbiſz, ſo er deſſelben
tags thuet, geſchehen, vnd andere gebürende mittel nit vnderlaſſen werden, dann mit augen
20 wirſtu ſehen, wie bald der Herr hülfft denen, ſo auff Ihn vertraẃen. Diſz ſind die wort. Ich
werde nit ſterben, ſonder leben vnd deſz Herrn wercke verkündigen.

14. Für den Schwindel vnd für fallen.


Schreib vnd brauche die folgenden wort alſo: Ann einem VorSabat, ehe die Sonn auffgehet,
ſchreibe die wort auf gold, Silber oder Wax, berauchs, hencks ann Halſz vnd trags, erneẃers
25 alle Neẃmonden, diſz iſt warhafftig, gut vnd bewehrt. Die Augen deſz Herrn ſehen auf die ſo
Ihn lieb haben, er iſt ein gewalltiger Schutz, ein groſſe ſtärcke, ein hut wider das ſtrauchlen,
ein hülff wider den Fall.

2 nachfolgende W₁ nachfolgede 10 Herr, W₁ ›Herr‹-Chiffre : 14 wort, W₁ wort. 15 Herrn, W₁ ›Herrn‹-Chiffre :


19 werden, W₁ werden. :

4 Zufälligen kranckheiten] ‚krankhaften Anfällen‘. 4–6 Der … fride] Num. 6, 24–26; siehe zum Aaronitischen Segen
die Anm. zu 29, 11/12. 9 henck] ‚hänge‘. | auf … erledigt] ‚auf die eine oder die andere Weise befreit‘, also: durch
Tod oder Genesung. 9/10 Es … wolgefällt] Die Söhne des Priesters Eli mißbrauchen die Stellung ihres Vaters, ohne
daß Eli dem ernsthaft Einhalt gebietet. Eines Nachts offenbart der Gott dem Knaben Samuel, daß er die über das Haus
Eli bereits verhängte Strafe nunmehr vollziehen werde. Nachdem Samuel dem Priester berichtet hat, spricht dieser: Es
iſt der HERR, er thu was jm wolgefellet. (1. Sam. 3, 18) Elis Söhne kommen im Kampf gegen die Philister um, Eli selbst
fällt vom Stuhl und bricht sich das Genick, als er hört, daß die Philister die Bundeslade erbeutet haben (vgl. die Anm. zu
34, 11/12). 13 Zellten] ‚Kuchen‘. 14 alleZeit] ‚jedesmal‘. 14/15 Dancket … ewigklich] Ps. 118, 1 (ebenso Ps. 106, 1;
1. Chr. 16, 34): Dancket dem HERRN, Denn er iſt freundlich, Vnd ſeine G~te weret ewiglich. 15/16 dann … nicht]
Ps. 118, 18: Der HERR z~chtiget mich wol, Aber er gibt mich dem Tode nicht. 16/17 behallte … auf] ‚bewahre …
auf‘. 20/21 Ich … verkündigen] Ps. 118, 17: Ich werde nicht ſterben, ſondern leben, Vnd des HERRN Werck ver-
k~ndigen. 22 fallen] ‚Fallsucht, Epilepsie‘. 25–27 Die … Fall] Sir. 34, 19: Die Augen des HERRN ſehen auff die,
LE
SE
PR
OB
E
Das 3. Buech.
In diſzem Buch findeſtu, mein Son Lamech, einen gantzen vndЧricht vnd lehre,
wie du vnd ein Ietwederer froser Menſch innerhalb eines Ihars vnd
Sechs Monaten Zu der volkosenen kunſt kosen kan.

5 Vorrede deſz 3. Buchs.

Die Weiſzheit deſz Herrn iſt ein vnerſchöpflicher bronnen, vnd ein vnergründtliches Waſſer,
man nese daraus als vil man will, ſo wirdt ſy doch nit geringer, ſonder bleibt IederZeit in
Ihrer volkosenheit, iſt auch kein | Menſchen kind vnder der Sonnen geboren, wirdt auch kei- fol. 16 v
nes geboren werden, das Ihre quellen alleſambt ergründet hab. Alle heillige vätter, vorelltern,
10 ProphetР vnd Weyſzen haben daraus getruncken, vnd ſind reichlich geſättiget worden, noch
dannoch hat Ihren keiner dz Fundament vnd VrſPrung derſelbР wiſſen oder ergreiffen mögen,
dan ſolches hatt Ihme der höchſt Schöpfer aller ding, als ein eifferiger Gott, allein vorbehall-
ten, vnd will, das wir Menſchen der frucht Zwar genieſſen, aber Ihme den Baum vnd wurtzel
deſſelben vnangetaſtet vnd vnZerwuelet laſſen. Dieweil dan dem alſo, ſo wollen wir, mein
15 Son Lamech vns auch anderſt nit verhallten, als vnſere liebe vorelltern gethan haben, vnd in
diſzem Buch nit fürwitziglich nachforſchen, wie Gott In seiner Weiſzheit wircke, vnd regiere,
oder wie Er ſeine werckh verrichte, dan das were ſeinem göttlichen rhat eingriffen, ſonder
wir wollen vns vergnügen das wir wiſſen, was für groſze wolthaten er vns erZaigt, was rei-
che gnaden er vns geſchenckt, vnd wie er vns Menſchen {ber himliſche vnd Irdiſche ding
20 erhebt, geſetzt, vnd gewallt gegeben hat, auch wie wir ſelbige recht vnd gebürlich gebrau-
chen ſollen: mit diſzem wollen wir vns befridigen, vnd alle andere vnnohtwendige fürwit-
zungen fahren laſſen. Vnd dieweil vil wort das werck verſaumen vnd die lehr verduncklen,
will Ich mich, mein Son, in diſzem 3. Buch müglichſter kürtze befleiſſen, vnd dir allein, was
das nohtwendigſte iſt, anZeigen, dan das {brige alles Zu ſeiner Zeit ſich ſelbsten geben wirdt,

2 findeſtu, W₁ findeſtu: 4 volkosenen W₁ volkomenen 7 geringer Lo₃ Wi₂ geringert L verringert 4 Men-


ſchenkind W₁ M. kind 23 müglichſter kürtze Lo₃ Wi₂  ſonderlich der möglichſten Kürze L der möglichſten Kürtze
ſonderР. | allein, W₁ allein: 24 das nohtwendigſte iſt Lo₃ L nothdürftig iſt Wi₂ nothwendig

6–14 Die Weiſzheit … laſſen] Vgl. Stellen wie Sir. 1, 5: Das wort Gottes des Allerh}heſten, iſt der brun der Weisheit,
vnd das ewige Gebot iſt jre quelle. Sir. 1, 25: Den HERRN f~rchten iſt die wurtzel der Weisheit. Sir. 24, 38–39: Er
[‚der‘ ] iſt nie geweſt, der es [das Gesetz ] ausgelernet hette, vnd wird nimermehr werden, der es ausgr~nden m}ch-
te, Denn ſein ſinn iſt reicher weder [‚als‘ ] kein Meer, vnd ſein wort tieffer denn kein Abgrund. (Luther 1545 bezieht
die Aussage auf das zuvor erwähnte Gesetz, aus dem die Weisheit herfließe, Luther 1984 und vermutlich auch die
Vulgata und der Verfasser dagegen auf die Weisheit selbst.) Sir. 15, 3: Sie [die Weisheit ] wird ihn [den Gottesfürchti-
gen ] trencken mit waſſer der weisheit. Sir. 4, 25: Komet her zu mir [der Weisheit ], alle die mein begert, vnd ſettiget
euch von meinen Fr~chten. 10/11 noch dannoch] ‚dennoch‘. 12 eifferiger Gott] eifferiger ‚eifersüchtiger‘. Vgl.
Ex. 20, 5 (ebenso Dtn. 5, 9): Denn ich der HERR dein Gott, bin ein eiueriger Gott. 19–21 wie … ſollen] Vgl. Stellen
wie Weish. 10, 1–2: Die ſelbige Weisheit beh~tet den, ſo am erſten gemacht, vnd alleine geſchaffen ward, [d. h. den
Menschen ] zum Vater der Welt … Vnd gab jm krafft vber alles zu herrſchen. Weish. 9, 1–3: Der du [der Gott ] alle
ding durch dein Wort gemacht, den Menſchen durch deine Weisheit bereitet haſt, das er herrſchen ſolt vber die
Creatur, ſo von dir gemacht iſt, das er die Welt regieren ſolt, mit heiligkeit, vnd gerechtigkeit, vnd mit rechtem
hertzen richten. 21/22 fürwitzungen] ‚Neugierde‘. 22 verſaumen] ‚hindern, hemmen‘. 24 geben] ‚ergeben‘.
80 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 3. Buch

ſo du deme, was Ietzund fürgeſchriben, ordenlich vnd fleiſſig nachkosen thueſt, vnd was
die ſchwachheit deines verſtands nicht wirdt begreiffen können, das wirdt die treẃe deines
SchutzEngels, wan es Zeit ſein wirdt, reichlich erſtatten: du, wie gemeldt, ſchaẃ wol auf alles,
was Ich dir hienach auſztrucklich vermelde, vnfehlbarlich alſo Inn das werck Zuſetzen, dan
daran ligt es am meiſten, vnd ein guter anfang eines wercks iſt, ſamb were es halb gethan: Hie 5
iſt kein groſze kunſt, kein groſſe mühe, vnd kein groſſe geſchicklicheit vonnöten, ſonder allein
wahre Gottesforcht, ein vnſträffliches leben, vnd ein rechter ernſt vnd vorſatz, ſolche Weiſz-
heit Zulernen: wer das recht vnd wol betrachtet, vnd diſzes werckh alſo anfahet, der ſey ge-
wiſz, das er endtlich Zu erwünſchtem Ende gelangen wirdt. Wollen demnach alſo den 3. theil
In dem namen deſz Gottes Zebaoth für vns nesen, vnd Zum erſten hören, wie vilerley Weiſz- 10
heit vnd Magiae ſeyen, darnach auch, was für eine Magia in diſzem 3. theil gehandlet vnd
gelehret werde.

Das 1. Cap.
Wie vilerley, vnd was die rechte Magia ſey, vnd was für ein Magia inn
diſem Buch gelehret werde. 15

Wer alle künſten vnd würckungen, ſo bey vnſzern Zeitten für Weiſzheit vnd Magiſche heim-
ligkeiten ausgeſchryen vnd gehallten werden, erZehlen wollte, wurde ſich vnderſtehn, deſz
Mörs wellen vnd waſſer ausZuſchöpfen, dan es laider dahin kosen, das ein Ieglicher gauck-
lersſPrung vnd Affentantz für Magiam gehalten wirdt, vnd das Ich nur etliche erZehle, alle
Zauberiſche, teüfliſche vnd Gottsläſterliche greẃel, alle haydniſche vnd aberglaubiſche abgöt- 20
tereyen, alle betrügliche verblendungen vnd verführungen deſz Teüffels vnd böſzer Bueben,
ſowol in natürlichР als {bernatürlichen dingen, vnd In Susa alles das, ſo die grobe blindheit
deſz Pöfels nit mit händen vnd fieſſen greiffen kan, wirdt Ietzund mit vnd vnder dem Namen
der götlichen Weiſzheit oder Magiae herfür gebracht vnd ausgeſchryen: da will der Artzt, der
Sternſeher, der Poet, der Zauberer, der Abgöttiſch, die Hex, der gottloſz, der Gottslöſterer, Ia 25
der Teüffel ſelbſt ein weyſzer vnd Magus geſcholten werden: Diſzer hollt ſeine Weiſzheit auſz
der Sonnen, Ihener aus dem Mon, diſzer auſz den Sternen, Iener von einem böſzen Geiſt, diſzer
Irgend von einem leichtferttigen weib, Iener von einem vnvernünfftigen thier, diſzer vonn
einem oxen, Iener von einem Schwein, diſzer von einem holtz, Iener vonn einem Stein, diſzer
von kreüttern, Iener von worten, vnd in Susa von ſouil tauſzenterley vngereimten dingen, 30

1 Ietzund Lo₃ L itzo Wi₂ itzunder | nachkosen thueſt W₁ nachkosen,:: thueſt 3 alles Lo₃ L Wi₂ alles dasjenige
5 wercks iſt, W₁ wercks, iſt 6 kunſt, W₁ kunſt:: | vonnöten W₁ e berichtigt | ſonder W₁ n aus l berichtigt 9 Wol-
len W₁ wollen 11 Magiae W₁ M. Lo₃ Magie L Wi₂ Magiae

1 Ietzund] ‚jetzt‘. 3 erſtatten] ‚ergänzen‘. | ſchaẃ wol auf alles] Lies: ſchaẃ wol auf, alles. 5 ſamb] ‚wie, als‘. |
ein … gethan] Vgl. das Sprichwort: ›Wohl angefangen ist halb getan.‹ 11 Magiae] Lat. Pl. ‚Magien‘. 19 Affen-
tantz] ‚Narretei‘. 23 Pöfels] ‚Pöbels‘. 24–26 Artzt … werden] Zum Artzt als vermeintlichem Magus läßt sich
Agrippa 1622 : A a 4 r vergleichen, der Ärzten die scatomantia (‚Kotwahrsagerei‘), die oromantia (‚Harnwahrsagerei‘)
sowie die drymimantia (näherungsweise übersetzt: ‚Gestankswahrsagerei‘) als Divinationskünste zuschreibt; in we-
niger polemischer Weise rechnet auch Peucer 1553 : 203 v–235 v ärztliche Diagnose und Prognostik als ›medizinische
Semeotik‹ unter die Divination. 25 Sternſeher] ‚Astrologe‘. 26 Magus] Lat. ‚Magier‘. 27 Mon] ‚Mond‘.
1. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 81

das ſich der hisel darab ſelbſten verwundern muſz: Sy PropheZeyhen aus der Erden, aus dem
lufft, aus dem Feẃr, aus dem waſſer, aus bildern, aus dem Angeſicht, aus den händen, aus
gläſzern, aus ſPieglen, aus Schwertern, auſz Wein, aus Brot, aus den vöglen, aus den thieren,
aus derſelben Ingewaid, Ia das die Weiſzheit Gottes nur gnug geſchändet vnd verkleinert wer-
5 de, aus derſelben Koht vnd vnrhat ſo gar, vnd das alles muſz dan Weiſzheit vnd Magia ſein.
Ach, du arme Tochter, du raine vnd Zahrte Iungfraẃ, wie ſchändtlich biſtu geſchmächt vnd
beſudelt worden: hebe auf, hebe auf, dein Angeſicht aus dem Staub, erZaige dich wer du biſt,
vnd was du biſt, vnd wo du biſt: ſtopfe den lugnern das Maul, mache ſy Zuſchanden, die Ihre
Hurenkinder in deines Vatters haus eingefiehrt, vnd vnder deinem namen an ſeinen tiſch ge-
10 ſetzt | haben, Iage ſy aus, ſPrich vnd ſchreie laut; Ich, Ich, bin die wahre Weiſzheit, die dochter fol. 17 r
deſz lebendigen Gottes vnd der Schatz ſeines hertzens, weicht aus, weicht aus vor meinen
Augen Ihr döchter der vnrainigkeit: wolauf, wolauf, meine Schwester, du vnerforſchliches
geheimnus deſz Herrn, die wir vnder ainem hertzen gelegen, las vns aufſtehn, vnſer ehre ret-
ten, vnd vnſzere löſterer vertilgen, auf das die Wellt erkenne, das wir beide noch bey leben,
15 vnd nit gar geſtorben, ſonder nur entſchlaffen waren, laſz vns vnſzern vnd vnſers vatters vnd
ſchöpfers leimund retten. Mein Sohn, wer meinſtu die diſze 2. Schweſtern ſeyen? kenneſtu ſy
auch? haſtu Iemals hören daruon ſagen? Ach, du biſt vil ZuIung, es iſt in langer Zeit Ihrer nit
gedacht worden, aber damit du es wiſſeſt, ſo horche vnd höre mit fleiſz auf. Die 2. Schweſtern

2 waſſer W₁ waſz: ſer 3 Schwertern W₁ Schwerter 7 Staub Lo₃ L Wi₂ Koth u. Staub 9/10 geſetzt W₁ zt aus ztet
berichtigt 18 auf Lo₃ L zu | Die Lo₃ L Dieſe

1 darab] ‚darüber‘. 1–5 Sy … gar] Der Text zählt verschiedene Disziplinen der Wahrsagekunst auf: aus der Erden –
Geomantie; aus dem lufft – Aeromantie, aus dem Feẃr – Pyromantie, aus dem waſſer – Hydromantie, aus bildern –
Idolomantie, aus dem Angeſicht – Physiognomik, aus den händen – Chiromantie usw. Für Geomantie, Aeromantie,
Pyromantie, Hydromantie wie auch die Vogelschau (aus den vöglen – Auspizium) und die Eingeweideschau (aus …
Ingewaid – Haruspizium oder Extispizium) gibt es eine breite Überlieferung. Für die Önomantie, die Wahrsagung
auſz Wein, bedarf es der Kenntnis spezieller Literatur; Peucer 1553 : 154 r führt sie an, ebenso später Delrio 1608 : 286.
Die Wahrsagungen aus gläſzern und aus ſPieglen finden sich als Gaſtromantia und Catoptromantia gleichfalls bei
Peucer 1553 : 124 r–124 v, zuvor schon bei Cardano 1544 : 217–218 und in der Folge bei Pictorius 1563 : 51–52 und Bodin/
Fischart 1581 : 231–232. Bemerkenswert ist die Wahrsagung aus Schwertern, sie kommt in der Literatur selten vor,
es erwähnt sie z. B. Torreblanca 1618 :  Ⅰ  57 v (den Hinweis verdanke ich Gilly). Die Wahrsagungen aus Brot und aus
Tierkot mögen volkstümlicher Überlieferung entstammen, das HDA nennt s. v. Brot und Kot zumindest keine gelehrten
zeitgenössischen Quellen zu beiden Wahrsagungsarten. Eine Artomantia, wozu Praetorius 1680 : 4 ein Traktat unter
dem Titel Brod-Teuffel geschrieben haben wollte, ist nie erschienen; vermutlich war es Praetorius, der den Begriff über-
haupt erst erfand (gr. ἄρτος artos ‚Brot‘). 6 geſchmächt] ‚geschmäht, herabgewürdigt‘. 6–16 Ach … retten] Die
Personifikation der Weisheit ist angeregt von Personifikationen in den Sprüchen Salomos, der Weisheit Salomos und
dem Buch Jesus Sirach: Die Weisheit ruft auf den Gassen, am Tor und in der Stadt zu den Unverständigen (Spr. 1, 20 ff.,
so auch 8, 1 ff.); sie baut ihr Haus, schlachtet Vieh und lädt den Narren zu Tisch, auf daß er lerne (Spr. 9, 1 ff.); sie wurde
bereitet, als es die Erde noch nicht gab (Spr. 8, 22–27), und war als Werkmeister (Spr. 8, 30) dabei, als der Gott des AT
die Welt schuf (Weish. 9, 9). Sie thront in den Wolken, durchzieht das Himmelsgewölbe und die Tiefen des Abgrundes
(Sir. 24, 7–8); sie erhebt ihre Stimme in der Gottesgemeinde und lobt sich in seinem Reich (Sir. 24, 1–3). Der Gott hat sie
lieb (Weish. 8, 3), und sie ist um seinen Thron (Weish. 9, 4); sie greift rettend in das Geschick des Volkes Israel ein, von
Adam bis zu Mose (Weish. 10, 1–11, 1; die revidierte Übersetzung nach Luther 1984 weicht an den genannten Stellen
erheblich von Luther 1545 ab). Das ›Geheimnis‹ als Schwester der ›Weisheit‹ hat kein alttestamentliches Vorbild.
10/11 die … Gottes] Vgl. das Bekenntnis des Simon Petrus vor Jesus: Du biſt Chriſtus, des lebendigen Gottes Son.
(Mt. 16, 16) 11 weicht aus] ‚geht beiseite‘. 12 wohlauf] ‚wohlan, auf‘. 15 entſchlaffen] ‚eingeschlafen‘. 16 die
diſze … ſeyen] ‚daß diese … seien‘. 18 höre … auf] ‚höre … zu‘.
82 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 3. Buch

ſein das göttliche geheimnus, vnd die göttliche Weiſzheit, die aine Kabala, die ander Magia
genannt, Ihr Vatter vnd Schöpfer iſt der groſſe Gott, der allmächtige Gott, dЧ getreẃe Gott, die
baide ſein lang für todt vnd verloren gehallten worden, aber anietzt wachen ſy widerum auf,
vnd die Weiſzheit als die Iüngere vnd ſchwächere ruffet der geheimnus vmb hülff Zu wider die
Ihenigen, ſo ſich biſzher Ihres Namens fälſchlich gebraucht vnd gerhümet haben: Vnd bedarf 5
weitter keiner beſchreibung, ſchaẃe ſy nur wol an, du wirſt ſy an Ihren Farben erkennen: den
Namen haſtu alberait gehört, ſy haiſzt die göttliche Weiſzheit, Ihr klaidung iſt von 2. Farben,
die aine haiſzt Gottesforcht, die andere Gerechtigkeit, wiltu nun Ihr diener ſein vnd ſy Zum
Herrn haben, ſo beklaide dich In Ihren Wappenrock, du mueſt Ihre farb antragen, dan diſzes
iſt all Ihr weſzen, pracht vnd hofrecht. Sey gottsförchtig, vnd befleiſſe dich der gerechtigkeit, 10
ſo bleibſtu ein ewiger diener der Weiſzheit, willtu mehr wiſſen, wer ſy ſey, von wem ſy ſey,
vnd was ſy ſeye, ſo liſze fleiſſig die heillige Schrifft, ſonderlich aber das Buch, ſo von Ihr der
Weiſzheit alſo ſtarck ſchreyet, vnd von Ihrentwegen allein, durch den weyſen König Salomon
beſchriben worden, ſo wirſtu gnugſamen beſchaid finden. Diſzes iſt nun die rechte, wahre,
allte, göttliche vnd heillige Weiſzheit, die vnſzere vorelltern von anfang der Wellt gehabt, vnd 15
vil lange Ihar gebraucht haben: diſze Weiſzheit hat Nöe ſeinem Son Iaphet gegeben, Abraham
ſeinem Son Iſzmael, Iſaac ſeinem Son Eſaẃ; diſz iſt die Weiſzheit, ſo Abraham, Iſaac vnd Iacob
ſelber gebraucht, die Weiſzheit, ſo Loth aus Sodoma erlöſzt, die Weiſzheit, ſo Moses in der
wüſten aus dem Feürigen Buſch gelernet, vnd nachmahls ſeinen Bruder Aaron vnderwiſzen,
diſze Weiſzheit hat Iosua, Samuel, Dauid, Salomon, Elias, vnd alle Propheten vnd heillige 20
Männer deſz Herrn, Zuſambt der göttlichen geheimnus gehabt, Auch Ieſus von NaZaret, den
die Chriſten für Ihren Gott hallten, mit vil ſeinen Iüngern (. dern der fürnembſte Ioannes,
vnd ſeine PropheZeyung, ein köſtliches buch, noch verhanden .) haben ſich diſzer Weiſzheit

2 die Lo₃ L Dieſe 3 worden, W₁ worden: | auf, W₁ auf  : 8 ſein W₁ ſein: 15 göttliche W₁ göttliche:

3 anietzt] ‚jetzt‘. 9 ſo … Wappenrock] D. h. wie ein Wappenherold das Wappen seines Herrn auf der Amtstracht
trägt. | Ihre farb antragen] ‚ihre Farben [d. h. die ihres Wappens] tragen‘. 10 hofrecht] Recht und Brauch, die an
einem Fürstenhof gelten. 12–14 Buch … worden] D. h. das apokryphe Buch der Weisheit Salomos, das man tradi-
tionell König Salomo zuschrieb. 16 Nöe] ‚Noah‘. Es handelt sich um keine Umlautpunkte, sondern um ein Trema,
das die getrennte Aussprache der Vokale anzeigen soll. Vgl. die Anm. zu 24, 10 Noe. 16/17 diſze … Eſaẃ] Japhet ist
zweitgeborener Sohn Noahs (vgl. z. B. Gen. 6, 10). Ismael ist erstgeborener Sohn des Erzvaters Abraham (Gen. 16, 11. 15),
doch ist er mit dessen Nebenfrau Hagar gezeugt; Abrahams einziger Sohn mit seiner Hauptfrau Sarah ist Isaak. Esau ist
nach Gen. 25, 25 Isaaks erstgeborener Sohn, er verkauft aber das Erstgeburtsrecht dem zweitgeborenen Jakob gegen ein
Linsengericht (Gen. 25, 29–34). 18 Weiſzheit, ſo Loth … erlöſzt] Vgl. Weish. 10, 6–7: Die selbige [die Weisheit ] erl}-
ſet den Gerechten [Loth ], Da die Gottloſen vmbkamen, da er floch fur dem Fewr, das vber die f~nff Stedte [Sodom,
Gomorra, Adma, Zebojim, Zoar; vgl. Gen. 14, 2. 8 ] fiel. (Nach Gen. 19, 15–29) 18/19 Weiſzheit, ſo Moses … gelernet]
Vgl. Ex. 3, 1–4, 17: Der Gott spricht am Berg Horeb aus dem brennenden Dornbusch zu Mose und beruft ihn, das Volk
Israel aus der Knechtschaft in Ägypten zu führen. Dazu lehrt er ihn Wunderzeichen tun: seinen Stab in eine Schlange
verwandeln, seine Hand aussätzig und Wasser zu Blut werden lassen; mit den Wunderzeichen soll Mose beim Pharao
den Auszug seines Volkes erwirken. Mose ist nach Ex. 6, 20; 7, 7 der zweitgeborene Sohn Amrams und der Jochebed, sein
älterer Bruder ist Aaron. 19 nachmals … vnderwißen] Vgl. Ex. 4, 28–30: Vnd Moſe [nachdem er vom brennenden
Dornbusch zurückgekehrt ist ] ſagt Aaron alle wort des HERRN, der jn geſand hatte, vnd alle Zeichen die er jm
befolhen hatte. Vnd ſie giengen hin, vnd verſamleten alle Elteſten von den kindern Iſrael. Vnd Aaron redet alle
wort, die der HERR mit Moſe geredt hatte, vnd thet die Zeichen f~r dem Volck. 22/23 dern … verhanden] D. h.
die Offenbarung des Johannes, die man wie auch das Johannesevangelium und die drei biblischen Johannesbriefe
traditionell dem Lieblingsjünger Jesu, Johannes, zuschrieb. 23 köſtliches] ‚kostbares‘. | verhanden] ‚vorhanden‘.
2. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 83

Zum theil gebraucht, vnd alſo iſt ſy biſz auf vnſzer Zeit als ein liebe vnd wehrte dochter deſz
Herrn erZogen wordР , wiewol ſy von der vnachtſamen welt gantz vnd gar aus der acht ge-
laſſen vnd verloren war. Ferners ſoltu auch wiſſen, das diſze Magia für ſich ſelbs frey vnd
mit niemand verbunden iſt: dann ob ſy wol mit der Kabala nahe verwandt vnd ſchwächer
5 iſt als dieſzelbige, ſo kan ſy doch all Ihre wirckungen ohn ſy wol verbringen vnd Ins werck
ſetzen, bedarf keiner frembden hülff: da hingegen etlich andere künſten ſich befinden, die
auch geſtallt der Weiſzheit vnd Magiae haben, aber für ſich ſelbs nichts ſein, ſy werden dan
mit grund der heilligen geheimnuſz vermengt, daruon dann nachmals die vermiſchte Kabala
entſPringet, vnd ſein derſzelbigen fürnemlich 12. Aine, ſo mit treümen vnd geſichten wircket.
10 Vier, deren 3. in vngeraden Zahlen, 3. 5. vnd 7. (. darunder die mit 7. In der vermiſchten Ka-
bala die fürnembſte, als oben im 2. Buch Zuſehen, vnd Ich die vrſach im Buch von der Frucht
deſz Talmuts angeZaigt .) begriffen, vnd aine in gerader Zahl, nemlich 6. Zwo die mit dem
geſtürn vnd Hiselslauff, Aſtronomey genant, operieren, drey mit Metallen, vnd Zwo mitt
kreüttern: Alle diſze, wa ſy mit der heilligen Kabala vermiſcht, vnd gebürlicher weis (. als Io-
15 ſeph vnd Daniel gethan .) eingemenget werden, ſein ſy für geſchlecht der Weiſzheit Zuhallten.
Wer ſy aber allein brauchet, oder mit andern Sachen, auſſerhalb der Kabalae, vermiſcht, vnd
darmitt Magiſche wirckungen Ieben will, der wirdt eintweder Zuſchanden, odЧ von dem Teü-
ffel betrogen, dan ſy haben anders nichts als natürliche aigenſchafften in ſich, daher können
ſy auch nichts als natürliche ding wircken: für ſich ſelbs oder in geiſtlichen vnd {bernatürli-
20 chen dingen nichts gebieten vnd ſchaffen, ſonder, wan ſy Ie in ſollichem fall etwas krafft er-
Zaigen, ſo muſz es durch gottloſze beſchwörungen, denen teüffelsbetriegereyen einverleibt,
geſchehen, welches alſzdan kein Magia oder Weiſzheit, ſonder Zauberey Zunennen; Also das,
beſchlieſzlich Zumelden, allein 3. fürneme, warhafftige künſten aus göttlichem gehaimnus
herflieſſen, nemlich, die wahre Kabala, die vermiſchte Kabala vnd die wahre Magia, dan hie
25 keine vermiſchte Magia Zugedulden, weil dieſelb anders nichts, alſz Zauberey vnd teüffelley
ſein kan. Die wahre Kabala gehöret hieher nicht, Zuhandlen: die Vermiſchte haſtu oben, ſouil
alſz dir geZimbt, in dem 2. Buch. Die wahre | göttliche Weiſzheit aber oder Magia vnd kein fol. 17 v
andere, ſoll dir in diſzem vnd folgendem Buch lauter vnd klar, treülich vnd fleiſſig mit vnder-
ſchidlichen Capitln gnugſam beſchriben vnd entdecket werden.

30 Das 2. Cap.
Was der Menſch vor anfang betrachten ſoll, ehe er ſich Zu diſzer kunſt begibt.

Ich hallte mein Son, du habeſt nun gnugſam verſtanden, was für ein Magiam oder Weiſzheit
Ich dich hierinnen vnderweyſen will, nemlich nit ein natürliche, nit ein menſchliche, nicht

2 erZogen Lo₃ L Wi₂ gehalten 3 war Lo₃ L Wi₂ worden 10 deren 3. W₁ ſo Lo₃ Wi₂ deren 3. L oder 3 11 Zuſehen
Lo₃ L Wi₂ gemeldet u. zu ſehen 12 Talmuts W₁ Kurrente mit Antiqua-T | begriffen, vnd aine W₁ begriffen. Aine
Lo₃ L Wi₂ begriffen: und 1. 16 Wer W₁ wer 29 Capitln W₁ so

5 verbringen] ‚vollbringen‘. 6 ſich befinden] ‚es gibt‘. 8 grund] ‚Grundlage, Basis‘. 14/15 als … gethan] Nach
Gen. 40–41 und Dan. 2 üben der Stammvater Joseph und der Prophet Daniel die Traumdeutekunst aus; Joseph besitzt
zudem einen silbernen Becher, womit er Wahrsagerei betreibt (Gen. 44, 2. 5): Iſts nicht das [der Becher ], da mein Herr
[Joseph ] aus trincket, vnd da mit er weiſſaget? (V. 5) 15 geſchlecht] ‚Arten‘. 23 beſchlieſzlich] ‚abschließend‘.
25 Zugedulden] ‚zu dulden [ist]‘. 32 hallte] ‚meine‘.
LE
SE
PR
OB
E
LE
SE
PR
OB
E
Das 4. Buech.
Diſzes iſt die Frucht von dem 3. Buech, wer daſſelbige fleiſſig vnd wol gearbeitet hat, der
kan ſich diſzer nachfolgenden hohen künſten, vnd in gemein aller anderer, ſo er
fol. 29  v
Iser|mehr begerend oder gedenckend iſt, erfreẃen vnd genieſſen.

Das 1. Cap. 5
Alle vergangene vnd könfftige ding, ſo nicht wider Gott
vnd ſeinen willen ſein, Zuwiſſen.

1. Vergangene SachР Zuwiſſen.


moreh, orire, rinir, eriro, herom.

2. Zuekünfftige Sachen. 10
nabhi, adaih, bakab, hiada, ihban.

3. Zuekünfftige Sachen.
thirama, higanam, igogana, ragigar, anagogi, managih, amariht.

4. Zuekünfftige Sachen von Kriegen Zuwiſſen.


Milon, iraco, lamal, ocari, nolim. 15

5. Vergangene Sachen Zuwiſſen.


malach, amanec. lanana, ananal, cenama, hcalam.

6. könfftige betrübnuſz vorZuwiſſen.


nudeton, usiparo, diremat, epemele, tamerid, oralisu, notedun.

10 Zuekünfftige Sachen W₁ Zue künfftigen Sachen Lo₃ Zukünftige Sachen L Zukünfftige Sachen zu wiſzen 12 Zue-
künfftige Sachen W₁ Zue künfftigen Sachen Lo₃ Zukünftige Sachen L detto 13 amariht W₁ amarith Lo₃ L ama-
riht

4 Isermehr] ‚nur immer‘. 9 moreh] Hebr. ‫ מֹו ֶרה‬moreh ‚Lehrer‘. Vgl. Decimator 1595 a: Lehrer, Schulmeiſter, Vn-
derweiſer … ‫ מֹורה‬moreh, ‫ מלמּד‬melammed, ‫ אלּוּף‬alluph … νουθετῶν sowie 1595 b: Vnterweiſer … ‫ מלבדּ‬melabbed, ‫מֹורה‬
moreh. | orire] Lat. orire, Imp. Sg. zu oriri ‚sich erheben, aufgehen [von Gestirnen], entstehen‘, also: ‚erheb dich, steig
herauf‘. 11 nabhi] Hebr. ‫ ָנִביא‬navi ‚Prophet‘. Vgl. Decimator 1595 b: Warſager … ‫ קוסם‬Koſem, ‫ נביא‬nabhi sowie 1595 a:
Auſzleger … ‫ מבאר‬mebhaer … ‫ פֹותר‬pother, ‫ נביא‬nabhi. 13 thirama] Gr. θήραμα therama ‚Jagdbeute‘. | anagogi] Gr.
ἀναγωγή anagoge ‚das Hinaufführen‘, auch: ‚Erziehung‘. Vgl. Decimator 1595 a: Aufferzihung … ἀναγωγὴ sowie Be-
richt … αναγωγὴ. Vermutlich liegt das zweite bei Decimator genannte Lemma zugrunde. ›Anagoge‹ ist aber auch ein
Fachbegriff älterer christlicher Exegese und mag somit darauf verweisen, daß man das unpassend wirkende thirama
nicht im Wort-, sondern in einem ›hinaufführenden‹ höheren – also in einem anagogischen – Sinne zu verstehen habe.
15 Milon] Antiker Athlet aus dem italienischen Kroton, der nach Diodors Bibliotheca historica (ⅩⅠⅠ, 9) das Heer der
Krotoner erfolgreich im Krieg gegen die Stadt Sybaris führte. Doch vermutlich liegt eher lat. miles ‚Soldat‘ zugrunde.
17 malach] Hebr. ‫ ַמְלָא‬mal’ach ‚Bote, Engel‘. Vgl. Decimator 1595 a: Bot [‚Bote‘ ] … ‫ מלאך‬malach … ‫ מגּיד‬maggid sowie
Engel … ‫ מלאך‬malach, ‫ שׂרף‬ſaraph. 19 nudeton] Gr. νουθετῶν noutheton, Nom.  Sg. m. des Ptz. Präs. Akt. zu νουθετεῖν
nouthetein ‚ermahnen, warnen‘, also: ‚der Ermahnende, der Warnende‘. Siehe die Anm. zu Z. 9 moreh.
1./2. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 139

7. künfftige ding.
melammed, erifoise, lisileim, afirelom, molerifa, mielisil, esiofire, demmalem.

8. Vergangne ding.
ekdylun. klisatu, dinanal, ysagasy, lananid. utasilk, nulydke.

5 9. WunderZeichen vnd witterungen vorZuwiſſen.


sarapi, arairp, rakkia, aikkar, priara, iparas.

10. Könfftige dinge.


kosem, obode, sofos, edobo, mesok.

11. Künfftige ding.


10 allup, leiru, ligil, uriel, pulla.

Das 2. Cap.
Bericht auf allerley Zweyffelhafftige fragen Zuehaben.

1.
pother, orooie, todrah, horaht, eiahro, rehtop.

15 2.
melabbed, elinalse. lirakilb. anakakab, bakakana, blikaril, eslanile. debbalem.

6 sarapi, W₁ sarapi:: 9 11. W₁ über die Zeile geschrieben 16 blikaril W₁ blirakil

2 melammed] Hebr. ‫ ְמַלֵמּד‬melammed, Ptz. Sg. m. Piel zur Wurzel ‫למד‬, Piel ‚einüben, lehren‘, also: ‚Lehrer‘. Siehe die
Anm. zu 138, 9 moreh. 4 ekdylun] Gr. ἐκδηλοῦν ekdeloun, verstärktes δηλοῦν deloun ‚offenbaren, kund machen‘.
Der Verfasser transliterierte ‹ου› nach ngr. Aussprache als ‹u›. Vgl. Decimator 1595 a: Offenbaren … ‫ הֹורה‬horah …
ἐκδηλοῦν, παραδηλοῦν. 5 WunderZeichen] D. h. ungewöhnliche Erscheinungen in der Atmosphäre oder am Himmel,
denen man eine Vorbedeutung beimißt. Das Augsburger Wunderzeichenbuch aus dem 16. Jh. zeigt Darstellungen
solcher WunderZeichen. 6 sarapi] Aufzulösen in: sarap mit i-Anfügung, hebr. ‫ ָשׂ ָרף‬saraf ‚Schlange, Seraph‘, siehe
die Anm. zu 138, 17. Seraphim kommen als engelartige Wesen in Jesajas Vision vom Gottesthron vor (Jes. 6, 1–7). Der
Verfasser verstand unter WunderZeichen beispielhaft eine Engelserscheinung am Himmel, siehe die folgende Anm. |
rakkia] Aufzulösen in: rakia mit k-Einfügung, hebr. ‫ ָרִקיַע‬rakia ‚Himmelswölbung, Himmelsfeste‘. Vgl. Decimator
1595 a: Himmel … ‫ רקיע‬rakia. 8 kosem] Hebr. ‫ קֹוֵסם‬kosem, Ptz. Akt. Sg. m. Kal der Wurzel ‫קסם‬, Kal ‚wahrsagen‘, also:
‚Wahrsager‘. Siehe die Anm. zu 138, 11. | sofos] Gr. σοφός sophos ‚geschickt, kundig‘. Vgl. Decimator 1595 b: Weiſer
Mann … σοφὸς. 10 allup] Hebr. ‫ ַאלּוּף‬alluf ‚Freund‘ und homonymes ‫‚ ַאלּוּף‬Stammesoberhaupt‘, siehe die Anm. zu
138, 9 moreh sowie Decimator 1595 a: F~rſt … ‫ אדֹון‬adon, ‫ נגיד‬nagid, ‫ נשיא‬naſi … ‫ קצין‬Katſin … ‫ כהן‬cohen … ‫ אלּוף‬alluph
und 1595 b: Vorgenger [‚Anführer‘ ] … ‫ נשׂיא‬naſi, ‫ קצין‬katſin, ‫ אלּוּף‬alluph … δίοπος. | uriel] Im apokryphen 4. Buch Esra
vorkommender Engel, der im lat. Christentum bis in das Mittelalter als Erzengel verehrt wurde. 14 pother] Hebr.
‫ ּפֹוֵתר‬poter, Ptz. Akt. Sg. m. Kal der Wurzel ‫פתר‬, Kal ‚auslegen, deuten‘, also: ‚Deuter‘. Siehe die Anm. zu 138, 11. | ho-
raht] Aufzulösen in: horah mit t-Anfügung, hebr. ‫ הֹו ָרה‬horah ‚Belehrung‘ (Jastrow 1903 a : 341), siehe die Anm. zu Z. 4.
16 melabbed] Hebr. ‫ ְמַלֵּבד‬melabbed, Ptz. Sg. m. Piel zur Wurzel ‫לבד‬, Piel ‚jemanden des Verstandes berauben‘; vermut-
lich verwechselt mit ‫ ְמַלֵּבב‬melabbev, Ptz. Sg. m. Piel der Wurzel ‫לבב‬, Piel ‚ermutigen‘ (Levy 1879 : 465), also: ‚Ermutiger‘.
140 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 4. Buch

3.
mebhaer, elyayle, byrosya. haoroah, aysoryb. elyayle, reahbem.

Das 3. Cap.
Einen Ieden Geiſt erſcheinen machen.

1. Inn geſtallt eins Trachen. 5


marLIfim, ithisiro, dsekenim, AtaratnA. TiraraiN. minekesd, olarahla, somFIros.

2. Inn Thier geſtallt.


LirbiaC. esaermi, rashcup, FilEmiR. isamano, rerotin. IretisV.

3. In menſchen geſtallt.
satan, adama. tabat, amada, natas. 10

4. In Vogels geſtallt.
BEmtauL, emasdai, makiurg, tsippor, adapesa, maromad, AroreLI.

Das 4. Cap.
Allerley geſichte Zuehaben.

1. Inn SPiegel, glaſz vnd Criſtall. 15


gilionim, iryymiri, liosasin, iysaramo. omarasyi, nysasoyl, irymyiri, minoilig.

6 dsekenim, W₁ folgt die Kolumnenzeile füllender waagerechter Strich | minekesd, W₁ wie vor

Siehe die Anm. zu 138, 9 moreh. 2 mebhaer] Hebr. ‫ ְמַבֵאר‬meva’er, Ptz. Sg. m. Piel der Wurzel ‫באר‬, Piel ‚erklären‘,
also: ‚Erklärer‘. Siehe die Anm. zu 138, 11. | haoroah] Verbautes horah, siehe die Anm. zu 139, 14 horaht. 5 Trachen]
‚Drachen‘. 6 dsekenim] Hebr. ‫ ְז ֵק ִנים‬sekenim, Pl. zu ‫ ָז ֵקן‬saken m. ‚alt, Greis‘. Vielleicht lag der Polygrammfolge die
Assoziation ›alte Schlange(n) = Drache(n)‹ nach Offb. 20, 2 zugrunde, doch setzte sie Hebräischkenntnisse voraus, weil
Decimator keine Vorlage bietet; auch findet sich in den Polygrammen kein Hinweis auf ›Schlange‹. | marLIfim …
somFIros] Die Polygramme sind durch die Einfügung der Majuskeln L, I, A, A, T, N, F, I, die den Namen des Geisterfür-
sten Lifiatan ergeben, erheblich gestört. 8 LirbiaC … IretisV] Die Polygramme sind durch die Einfügung der Majus-
keln L, C, F, E, R, I, V, die den Namen des Geisterfürsten Lucifer ergeben, erheblich gestört. In der mittleren Spalte des
zu denkenden Quadrates findet sich ein behemot, hebr. ‫ ְּבֵהמֹות‬behemot, Pl. zu ‫ ְּבֵהָמה‬behemah ‚Tier‘, also: ‚Tiere‘. Vgl.
Decimator 1595 b: Thier … ‫ בהמֹות‬behemot. 10 satan … natas] Den Bezug zum magischen Zweck stellt aus adama
herauszulesendes hebr. ‫ ָא ָדם‬adam ‚Mensch‘ sowie ‫ ֲא ָדָמה‬adamah als Erde, woraus der Mensch nach Gen. 2, 7 geformt
ist, her. tabat ließe sich als gespiegeltes und verschränktes taba zu ‫ ָטַבע‬tava‘, 3. Pers. Sg. m. Kal perf. zur Wurzel ‫טבע‬,
Kal ‚ausprägen, formen‘ (Levy 1879 : 137), also: ‚er hat geformt‘, deuten. Der Polygrammfolge wäre so ein angemessen
satanischer Sinn zu unterlegen. Das Polygramm satan dürfte veranlaßt haben, daß in die übrigen Polygrammfolgen
des Kapitels die Namen der weiteren Oberfürsten der Geister nach dem 19. Kapitel des 3. Buches eingefügt wurden.
Vgl. Decimator 1595 a: Menſche … ‫ אדם‬adam sowie Erdt … ‫ אדמה‬adamah. 12 tsippor] Hebr. ‫ ִצּפֹור‬zippor ‚Vogel‘.
Vgl. Decimator 1595 b: Vogel … ‫ צפֹור‬tſippor. | BEmtauL … AroreLI] Die Polygramme sind durch die Einfügung der
Majuskeln B, E, L, A, L, I, die den Namen des Geisterfürsten Belial ergeben, erheblich gestört. 16 gilionim] Pl. zu ‫ִגָּלּיֹון‬
3./4. Kapitel Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 141

2. In hülen, gewölben vnd grotten vndЧ der Erden.


ethanim. tiadisi, harapin, adamada, niparah, isidait, minahte.

3. Inn dem Lufft.


apparet, pareote, prereor, aererea, roererp, etoerap. terappa.

5 4. Inn Edelgeſtein vnd Ringen.


bedſek, eliela, diapit, seppes, eliemi, katsin.

5. Inn Wax vnd durch allerley ſchrifften.


necot, araso, garac, imare, digan.

6. Durch Feẃr.
10 nasi, apys, sypa, isan.

7. Inn dem Mond.


cohen, orare, hasah, eraro, nehoc.

8. Inn waſſer.
adMon. drAso. MAIAM. osArd. noMda.

4 prereor, W₁ prereo{r,} | prereor W₁ prereo{r} Lo₃ L prereor 6 bedſek, W₁ bedſek: | eliemi, W₁ eliemi{,} | katsin
W₁ Anfang des Wortes leicht von einem Fleck beeinträchtigt 12 hasah W₁ erstes h aus k berichtigt

gillajon ‚Spiegel‘. Vgl. Decimator 1595 a: Spiegel … ‫ גּלּיֹונים‬gilionim. 1 hülen] ‚Höhlen‘. 2 ethanim] Hebr. ‫ ֵאָת ִנים‬eta-
nim, Pl. zu ‫ ֵאָתן‬etan ‚fest, dauerhaft‘, nachbiblisch von Menschen auch: ‚gewaltig, mächtig‘ (Levy 1876 : 72). Vgl. Deci-
mator 1595 a: F~rnembſten im Volck, Obriſten und Regenten einer Stadt … ‫ איתנים‬ethanim. | adamada] Aufzulösen
in: adama amada, also gespiegeltes und verschränktes adama, hebr. ‫ ֲא ָדָמה‬adamah ›Erde [als Stoff ], Land, Acker‹.
Siehe die Anm. zu 140, 10. 4 apparet] Lat. apparet, 3. Pers. Sg. Präs. Ind. Akt. zu apparere ‚erscheinen‘, also: ‚er/sie/es
erscheint‘. | aererea] Aufzulösen in: aere erea, also gespiegeltes und verschränktes aere, Abl. Sg. von lat. aer ›Luft‹.
Vermutlich ist aere mit vorausgehendem apparet zu ergänzen zu: apparet [in] aere ‚es [das geſicht] erscheint in der
Luft‘. 6 bedſek] Hebr. ‫ ֶּב ֶזק‬besek ‚Scherbe, Kiesel‘ (Jastrow 1903 a : 154). Vgl. Decimator 1595 a: Stein … Lapis, lapil-
lus … ‫ אבן‬ebhen … ‫ בזק‬bedſek. Lat. lapis ‚Stein‘ und lapillus ‚Steinchen‘ können in prägnantem Sinne ›Edelstein‹ be-
deuten; vielleicht auch bringt der Verfasser bedſek durch das bei Decimator vorausgehende ebhen mit ›Edelstein‹ in
Verbindung, vgl. die Anm. zu 153, 10. | katsin] Hebr. ‫ ָקִצין‬qazin ‚Feldherr, Fürst‘, siehe die Anm. zu 139, 10 allup. 8 ne-
cot] Hebr. ‫ ְנֺכאת‬necho’t ›Name eines Gewürzes oder Harzes‹. Vgl. Decimator 1595 b: Wachs … ‫ נּכֺאת‬nechoth. | di-
gan] Lies: nagid, hebr. ‫ ָנ ִגיד‬nagid ‚Fürst, Vorsteher‘, siehe die Anm. zu 139, 10 allup. 10 nasi] Hebr. ‫ ָנִשׂיא‬nasi ‚Fürst‘,
siehe die Anm. zu 139, 10 allup. | apys] Willkürlich oder vielleicht versehentlich für: apyr, aufzulösen in: pyr mit a-
Anfügung, gr. πῦρ pyr ‚Feuer‘. Vgl. Decimator 1595 a: Fewer … τὸ πῦρ. 12 cohen] Hebr. ‫ כֹּוֵהן‬kohen ‚Priester‘, siehe
die Anm. zu 139, 10 allup sowie Decimator 1595 a: Pfaff … ‫ כֹּוהן‬cohen. | orare] Lat. orare ‚bitten, beten‘. 14 adMon]
Aufzulösen in: adon mit M-Einschub, hebr. ‫ ָאדֹון‬adon ‚Herr‘, siehe die Anm. zu 139, 10 allup. | MAIAM] Aufzulösen in:
MAIM mit A-Einschub, hebr. ‫ ַמִים‬majim ‚Wasser‘. Vgl. Decimator 1595 b: Waſſer … ‫ מים‬maiim. | adMon … noMda]
Aus den Majuskeln M, A, M, A, I, A, M, A, M bildet sich – doch wird es vielleicht Zufall sein – zusammen mit den in
den Polygrammen enthaltenen on und no zweimal der Name des Geisterfürsten Amaimon, sofern man die Namen
sich die Majuskel I teilen läßt; Ama[y]mon ist gemeinsam mit Oriens, Paymon und Ariton für die magischen Zwecke
dieses Kapitels zuständig (vgl. 130, 29–30). Der Geist, der den magischen Zweck unmittelbar auszuführen hat, ist jedoch
Adon (vgl. 120, 3), siehe die Anm. zu Z. 14 adMon.
142 Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₁ 4. Buch

9. Inn der hand.


leleh, eiade, ladal, edaie, helel.

Das 5. Cap.
DienſtGeiſter verſchloſſen oder ledig Zuhaben vnd Zubekosen,
auch widerumb hinwegk Zuſchicken. 5

1. In geſtallt eines Riſen.


anakim, nilari, alisak, kasila, iralin, mikana.

2. Inn Laggeyen geſtallt.


oiketis, iporasi, kelirat, enipine, tariark, idensai, sitekio.

3. Wie ein Kriegsman. 10


paras, ahaha, racar, ahaha, sarap.

4. Inn form einer Blumen.


perachi, eripeih, rimenec. aperepa, cenemir, hiepire, ihcarep.

5. Wie ein Allter Mann.


rizir, isari, zaken, irepi, rinir. 15

6. Wie ein Reütter.


racab, aripa, cilic, apira, bacar.

7. Inn Moren geſtallt.


cusis, ucahi, saras, ihacu, sisuc.

5 Zuſchicken. W₁ Zuſchicken: 7 anakim, W₁ anakim: 9 sitekio W₁ siketio 19 ihacu W₁ u berichtigt

2 eiade] Aufzulösen in: iad mit vor- und nachgesetztem e, hebr. ‫ ָיד‬jad ‚Hand‘. Vgl. Decimator 1595 a: Handt … ‫ ידּ‬iad. |
helel] Hebr. ‫ ֵהיֵלל‬helel, in der Tradition als ›Morgenstern‹ verstanden, vermutlich aber: ‚Mond‘. Vgl. Decimator 1595 a:
Morgenſtern … ‫ הלל‬helel sowie Abendſtern … ‫ ֵהיֵלל‬helel. 4 ledig] ‚frei, unverschlossen‘. 7 anakim] Hebr. ‫ ֲע ָנִקים‬ana-
qim Pl. ‚Anakiter‘, kanaanäisches Volk, auf das die Israeliten bei der Landnahme stoßen; Abkömmlinge eines Anak, die
nach Num. 13, 33; Dtn. 1, 28; 9, 2 als Riesen gelten. Vgl. Decimator 1595 a: Rieſe … ‫ אנקים‬anakim. 8 Laggeÿen geſtallt]
‚Lakaiengestalt‘. 9 oiketis] Gr. οἰκέτης oiketes ‚Diener, Haussklave‘. Vgl. Decimator 1595 a: Knecht … οἰκέτης. |
oiketis … sitekio] Die Polygrammfolge ist gestört. 11 paras] Hebr. ‫ ָּפ ָרשׁ‬parasch ‚Reiter [als Krieger]‘. Vgl. Decima-
tor 1595 a: Kriegsman … ‫ ּפרשׁ‬paraſch. 13 perachi] Aufzulösen in: perach mit i-Anfügung, hebr. ‫ ֶּפ ַרח‬perach ‚Blume,
Blüte‘. Vgl. Decimator 1595 a: Blume … ‫ פרח‬perach. 15 zaken] Hebr. ‫ ָז ֵקן‬saken m. ‚alt, Greis‘. Vgl. Decimator 1595 a:
Alter man … ‫ זקן‬zaken. 17 racab] Hebr. ‫ ַרָכּב‬rakav ‚Reiter‘. ‫ ַרָכּב‬kommt in dieser Bedeutung nur in 2. Kön. 9, 17 vor,
sonst steht es für ›Wagenlenker‹. Vgl. Decimator 1595 a: Reuter … ‫ ַרָכּב‬racchabh, ‫ פרשׁ‬paraſch. 19 cusis] Aufzulösen
in: cusi mit s-Anfügung, hebr. ‫ כּוִּשׁי‬kuschi Sg. ‚Kuschiter, Einwohner von Kusch‘. Das mehrfach im AT vorkommende
Land Kusch, hebr. ‫ כּוּשׁ‬kusch (in der Vulgata lat. Cus), bezeichnet je nach Zusammenhang verschiedene Landschaften,
darunter ein im heutigen Sudan liegendes Gebiet im mittleren Niltal; dieses Gebiet hieß im Altertum bei den Griechen
›Äthiopien‹. Daher übersetzt die Septuaginta ‫ כּוּשׁ‬meist als ›Äthiopien‹, und in der Folge verstand man in der frühen
LE
SE
PR
OB
E
W₁ – Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4o a₂

fol. 32 r Gebeth vonn dem 9.tР Aprill, A.o 1608. an, biſz
auff den 3.tР October eben deſſelbigen Ihars
gethan vnd geſchehen, von mir •.
Ô du ainiger, Ewiger, Allmechtiger, gütiger, Heilliger, vnd getreẃer Gott, Herrſcher aller {ber-
himliſcher, Himliſcher, Irdiſcher, vnd Vnderirdiſcher Creaturen, der du alle ding nach vnd 5
Inn deiner Göttlichen Weiſzheit geordnet, geſchaffen vnd erſchaffen haſt: der du von Ewig-
keit her geweſzen, vnd Inn alle Ewigkeit bleiben wirſt, du Anfang vnd ende aller ding. Wie
ſoll Ich armer Ellender Menſch die Hoheit deiner Götlichen Mayeſtett doch nur Inn dem ge-
ringſten verſtehn oder begreiffen, vilweniger dieſzelbige mitt meiner Zungen auſzſPrechen,
Loben oder Preiſzen? dieweil dein Angeſicht niemand ſehen, deine Allmacht niemand be- 10
ſchreiben, deine Wunderſamme niemand begreiffen, deine Gottheit niemandt erkennen, vnd
deine Geheimnuſz, ô Ewiges Geheimnuſz, niemand erforſchen kan: Du Herr aller Herren, du
Herrſcher aller Herrſcharen, du ainiger König vnd Regent aller Göttlicher, Geiſtlicher vnd
Flaiſchlicher Creaturen: wa Iſt Irgends ein Gott dir gleich? wievil weniger einer {ber dich?

5 Vnderirdiſcher W₁ Vnderirdiſchen

1/2 Gebeth … Ihars] Gebet im ersten halben Jahr der Magierinitiation, wie sie das 3. Buch der Wahren Praktik be-
schreibt (vgl. 93, 1–12). Der 9. April 1608 des gregorianischen Kalenders entsprach dem 23. Nisan 5368 der jüdischen
Zeitrechnung. Dieser Tag war der erste Tag nach dem Ende des Passahfestes, das das Passahmahl am 15. Nisan 5368
und das ›Fest der ungesäuerten Brote‹ umfaßte. Das Passahfest währt in der Diaspora entgegen den Festlegungen
des AT acht statt sieben Tage. Der 3. Oktober 1608 des gregorianisches Kalenders entsprach dem 23. Tischri 5369; dies
war der letzte Tag des in der Diaspora ebenfalls um einen Tag verlängerten Laubhüttenfestes. 3 •.] Heinemann
1966 : 34 deutet das Monogramm als S. J. (vermutlich aus Antiqua  -S und Kurrente  -I); für wahrscheinlicher hielte ich
S. I. F. mit zusätzlichem Kurrente  -F; womöglich ist es auch ein H. (I.) F., an einer Stelle von W₁ kommt eine ähnliche
H-Gestalt vor. 4/5 aller … Creaturen] Kosmologische Spekulationen der Kirchenväter Hieronymus und Origenes,
wonach vier Weltsphären existierten, die sich aus Phil. 2, 9–10, wo von ›im Himmel‹, ›auf Erden‹ und ›unter der Erde‹
die Rede ist, ergäben; die überhimmlische als vierte Sphäre leitet Hieronymus aus dem ›Wasser, das über den Himmeln
ist‹ nach Ps. 148, 4, Origenes aber aus Jesu Wort in Joh. 8, 23 ab, daß er ›nicht von dieser Welt‹ sei, wozu der von dem
Gott geschaffene Himmel gehöre (Köckert 2009 : 259–262). 5/6 der … haſt] Vgl. z. B. Spr. 3, 19: Denn der HERR hat
die Erden durch Weisheit gegr~ndet, vnd durch ſeinen Rat die Himel bereitet. 7 du … ding] Vgl. Offb. 21, 6: Ich
[der Gott ] bin das A vnd das O, der anfang vnd das ende. Ähnlich Offb. 1, 8 von dem Gott und Offb. 22, 13 von Jesus.
8 Götlichen Mayeſtett] Zum Gebrauch des Wortes Mayeſtett vgl. Hebr. 1, 3; 8, 1. 10 dein … ſehen] Vgl. Ex. 33, 20:
Mein [des Gottes ] Angeſicht kanſtu [Mose ] nicht ſehen, Denn kein Mensch wird leben, der mich ſihet. Ferner 1. Tim. 
6, 16; Joh. 1, 18. 11 Wunderſamme] ‚Wunderbarkeit‘. Bei Luther 1545 werden in Ps. 68, 36 der Gott und in Offb. 15, 3
seine Werke wunderſam genannt. 12 Herr aller Herren] Vgl. 1. Tim. 6, 15: [der Gott, ] der K}nig aller K}nige, vnd
HERR aller Herrn. So auch Offb. 19, 16, dagegen auf Jesus gewendet Offb. 17, 14. 13/14 Göttlicher … Creaturen] Zu
Geiſtlichen Creaturen vgl. Luthers Ausspruch: Ein Engel iſt ein Geiſtliche Creatur, von Gott on leib geſchaffen. (Au-
rifaber 1593 : 196 v) Den Ausdruck Göttliche Creaturen finde ich mehrfach im Sinne einer von dem Gott geschaffenen
Kreatur, worunter dann selbstverständlich auch die Geiſtlichen vnd Flaiſchlichen Creaturen fielen. Anders heißt es in
den Zwo Predig von dem Zorn (Luther 1910 b : 587): … Darumb heiſſt ein Chriſt ein newe Gottes Creatur, die er ſelbs
allein machet … doch alſo, das es itzt nun der anfang und anbruch iſt, und er teglich daran machet bis dorthin, da
es volkomen und gar ein G}ttliche Creatur wird werden, rein und helle wie die Sonne, on alle ſunde und gebrechen.
14 wa … gleich] Vgl. 1. Kön. 8, 23: HERR Gott Israel, Es iſt kein Gott, weder droben im Himel, noch hunden [‚hier
Cod. Guelf. 47.13 Aug. 4 o a₂ 175

Wa iſt ein Schöpfer wie du biſt? wa iſt ein genadenGott wie du Herr? wa iſt ein gewaltigerer
Gott? wa ein mächtigerer? wa ein Herrlicherer? wa ein Heilligerer? wa ein wunderſamerer?
wa ein gütigerer? wa ein Barmhertzigerer? alſz du biſt? Iſt auch Irgend einer {ber, Inn, oder
vnder dem gantzen Firmament? Nain ô Herr du groſſer Gott, keiner Iſt Iemals geweſzen,
5 wirdt auch keiner nimmermehr ſein, ſonder du allein biſt vnd bleibſt der ainige, groſze vnd
Allmächtige Gott, vonn Ewigkeit Zu Ewigkeit. Lob, Ehr, Preiſz vnd danck ſey dir du hoher
vnd groſſer, du gütiger vnd Milltreicher Gott, vmb alle deine Barmhertzigkeit, gnade vnd
gutthat, die du der gantzen Wellt, vnd allen deinen Creaturen, von der Zeit an Ihrer erſchaf-
fung biſz auff gegenwertige ſtund erZaigt vnd bewiſzen, vnd noch ferners ZuerZaigen vnd
10 Zubeweiſzen inn deinen geſchöpfen verordnet, vnd bey dir beſchloſſen haſt, Sonderlich aber
das du auch mich Arme ellende Creatur Zu einem Menſchen erſchaffen, das Leben gegeben,
aufferZogen, erhallten, vnd biſz anietzo ernehret vnd behütet haſt, da doch meine VnZehli-
che Sünden vnd {bertrettungen billich weren wehrt geweſzen vnd verdient hetten, das du
mich alle Augenblick verworffen, Zerſchmettert, Zertrümmert, getödtet, Zumalmet, vnd inn
15 das eüſſerſte verderben geſtürtzt vnd verworffen hetteſt. Herr Allmächtiger Gott, Ich waiſz
es Ia vnd bekenne es, das Ich vor dir nie nichts guts gethan, geredt, oder gedacht hab, vnd
ſtetigs ein Vngehorſames, widerſPenſtiges, vnd vngetreẃes böſzes Kind, Ia ein vnbändiges,
wildes vnd Abſcheẃliches Thier geweſzen, auff allen meinen weegen vnd ſteegen dich be-
laidigt, verachtet, verſPottet, betrübt, gelöſtert, geſchmächt, Verleügnet vnd geſchändet hab:
20 Ich hab dir gelogen, Ich hab dich betrogen, Ich hab dich verhönet, vnd Inn Summa mich
allſo Gottloſz erZaigt, das nicht wunder were, du alle deine Creaturen {ber dem greẃel mei-
ner Sünden erweckt, vnd mich Zuſtraffen vnd Zuvertilgen gebraucht vnd Verordnet hetteſt.
Aber Herr, Herr, du Barmhertziger Gott, du Bronnen der gnaden vnd vrſPrung aller gütigkeit,
du haſt diſzes alles nicht angeſehen, ſonder Ie gröſzer meine Sünde geweſzen ſein vnd noch
25 ſein, Ie höher vnd gröſzer ſihe, finde vnd ſPüre Ich augenblicklich deine Barmhertzigkeit vnd
treẃ, vnd gibſt mir, der Ich eittele grauſzame Straff, Ia die eüſſerſte Quaal vnd Peen verſchul-
det, anders nichts als Leben, geſundheit, Narung, glück, fraid, Segen, gnad, vnd ſouil {ber-
ſchwengkliche gutthaten, das meine ſchwache vnd gebrechliche Zung ſolche nit den gering-
ſten theil erZehlen oder auſzſPrechen kan. Nun Herr Allmächtiger Gott, was ſoll vnd kan Ich
30 Armer Ellender Wurm anders thon, alſz Zu den Fieſſen deines Gnadentrohns fallen, vnd mit
ſeüfftzendem vnd bebendem hertzen dich vmb verZeihung meiner Miſſethat bitten. VerZeihe
mir Herr, VerZeihe mir ach du gnädiger, Barmhertziger vnd Milltreicher Gott alle meine Sünd
vnd {bertrettung, die Ich nit erZehlen noch auſzſPrechen kan. Tödte mein gottloſzes Hertz,
Zerſtöre meine laſterhaffte gedanckhen, | verſtumme meinen Sündhafften Mund, blende mei- fol. 32 v
35 ne Ärgerliche Augen, verſtopfe meine fürwitze vnd vnraine Ohren, erlähme meine leichtfer-
ttige glider, Ia vernichte vnd vertilge Herr alles, was ann mir iſt (. dann Ia nichts guetes Inn

32 gnädiger, W₁ gnädiger::

unten‘ ] auff Erden, dir gleich (ebenso 2. Chr. 6, 14–15, ähnlich auch Ps. 40, 6; 71, 19; 89, 7). 14 Zumalmet] ‚zermalmt‘.
20 dir gelogen] ‚dich belogen‘. 21/22 du … Verordnet hetteſt] ‚daß du … verordnet hättest‘; asyndetischer Ob-
jektsatz. 26 eittele] ‚lauter, nichts als‘. | Peen] ‚Pein, Marter‘. 26/27 verſchuldet] ‚als Strafe verdient [habe]‘.
27/28 {berſchwengkliche] ‚überreiche‘. 29–31 Nun … bitten] Vgl. Hebr. 4, 16: Darumb laſſet vns hinzu tretten,
mit freidigkeit [‚Mut, Zuversicht‘ ] zu dem Gnadenſtuel, Auff das wir barmhertzigkeit empfahen, vnd gnade finden.
35 fürwitze] ‚vorwitzigen‘.
LE
SE
PR
OB
E

Das könnte Ihnen auch gefallen