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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


45/2010 · 8. November 2010

Gesundheit
Paul U. Unschuld
Kranke als Ressource, Gesundheit als Ware

Nils C. Bandelow · Florian Eckert · Robin Rüsenberg


Reform(un)möglichkeiten in der Gesundheitspolitik

Stefan Felder
Ökonomie des Gesundheitswesens: Genese und Optimierung

Kerstin Funk
Gesundheitspolitik in internationaler Perspektive

Uwe H. Bittlingmayer · Diana Sahrai


Gesundheitliche Ungleichheit. Eine ethnologische Perspektive

Thomas Lampert · Thomas Ziese · Bärbel-Maria Kurth


Gesundheitliche Trends in Ost- und Westdeutschland

Detlef Briesen
Was ist „gesunde Ernährung“?
Editorial
Der Gesundheitsmarkt zählt in den meisten Industriestaaten
mittlerweile zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren. Es wird
offenbar immer lukrativer, Kranke und Gesunde zu untersu-
chen und zu behandeln. Bei einer von betriebswirtschaftlichen
Parametern dominierten Sichtweise droht indes auf der Stre-
cke zu bleiben, was Jahrhunderte lang zum hohen gesellschaft-
lichen Ansehen der Heilkunst und des Arztberufs beigetragen
hat: Zeit, Empathie und eine ausschließlich der Gesundheit des
Einzelnen und der Allgemeinheit dienende Therapie.

Seit Jahrzehnten wird die Gesundheitspolitik von steigenden


Kosten bei stetig schrumpfenden Einnahmen der gesetzlichen
Krankenkassen geprägt. Als Hauptgründe für die prekäre Lage
des aus dem 19.  Jahrhundert stammenden, auf dem Solidari-
tätsprinzip beruhenden Modells sozialer Sicherung werden im-
mer wieder genannt: steigende Arbeitskosten und immer weni-
ger Erwerbstätige und damit Beitragszahler, der demografische
Wandel, der teure medizinisch-technologische Fortschritt und
eine höhere Lebenserwartung.

Die jüngste Gesetzesreform bewegt sich auf vorgezeichneten


Pfaden. Beitragserhöhungen für Arbeitnehmer und – allerdings
gedeckelt – für Arbeitgeber sowie eine Überprüfung des Leis-
tungskatalogs der Kassen sollen den Kollaps eines teuren, ver-
schwendungsanfälligen und wenig transparenten Systems ver-
meiden und Milliardenlöcher stopfen helfen. Doch mehr Geld
bedeutet nicht unbedingt mehr Qualität. Ein Interessengeflecht
von Berufsverbänden und Lobbygruppen der Versicherungen,
Ärzte, Krankenhäuser, Apotheker und der florierenden Phar-
maindustrie lässt eine nachhaltige Lösung innerhalb des Sys-
tems als unwahrscheinlich erscheinen. Mit Steuerung durch
mehr Wettbewerbsstrukturen allein dürfte es nicht getan sein.

Hans-Georg Golz
Paul U. Unschuld als einen Zustand, den es zu verhindern, oder
doch so schnell wie möglich in Gesundheit zu-
Kranke als Ressource, rückzuführen trachtete. Mit der Einführung
einer „Gesundheitswirtschaft“ haben wir eine

Gesundheit als Ware historisch neue Dimension des gesamtgesell-


schaftlichen Umgangs mit Kranksein und Ge-
sundheit erreicht. Erstmals in der Zivilisations-
Essay geschichte ist der Kranke volkswirtschaftlich
mindestens so wertvoll wie der Gesunde. Der
Kranke stellt in der Gesundheitswirtschaft ei-

D ie Botschaft ist unmissverständlich: Das


bisherige Gesundheitswesen war eine
unscheinbare, hässliche Raupe. Aus ihr hat
nen Wert dar, eine Ressource, und die Frage,
wie man damit umgeht, beantwortet sich fast
von selbst. Gesunde oder Leichtkranke müs-
sich in natürlichem sen, so ein krankenkasseninterner Ausdruck,
Paul U. Unschuld Wandel ein wunder- „zielgerichtet verkrankt“ werden, der „HIV-
Dr. phil., Master of Public Health schöner Schmetterling Patient ist“, so ein prominentes Aufsichtsrats-
(M. P. H.), geb. 1943; Medizinhis- entpuppt, welcher der mitglied einer privaten Betreibergesellschaft
toriker und Sinologe; Direktor Sonne entgegenfliegt. von Krankenhäusern, „ein unheimlich lukrati-
des Horst-Görtz-Stiftungsins- Aussagekräftiger hät- ver Kunde“. Da fragt man sich, wer, außer den
tituts für Theorie, Geschichte, ten sich die Gestalter Betroffenen selbst, ein Interesse daran haben
Ethik Chinesischer Lebenswis- das Titelblatt der Zeit- könnte, dass dieser „lukrative Kunde“ aus dem
senschaften an der Charité- schrift „Gesundheits- Gesundheitsmarkt ­verschwindet.
Universitätsmedizin Berlin, wirtschaft“ im April/
Campus Mitte, 10098 Berlin. Mai 2007 kaum den-
unschuld@charite.de ken können. „Meta- Gesundheit als Mittel zum Zweck
morphose. Aus dem
Gesundheitswesen erwächst die Gesundheits- Es lohnt sich, zurückzublicken. Bis weit in
wirtschaft“ lautete die Unterschrift. Nicht in das 18.  Jahrhundert hinein war Gesundheit
einer Zeichnung, sondern mit Worten hat der Selbstzweck. Wenige Ärzte wurden an Uni-
„Trendreport Gesundheitswirtschaft“ im Ap- versitäten ausgebildet und waren vor allem
ril 2010 die Richtung der neuen Dynamik for- für die Oberschicht verfügbar. Die Obrigkeit
muliert: „Im expertendominierten Gesund- beaufsichtigte die Apotheken; vereinzelte
heitsmarkt wird aus Sicht der Akteure ge- amtliche Arzneibücher schrieben Standards
dacht und gehandelt. Zuerst kommt deshalb in der Zubereitung von Arzneimitteln vor.
zunächst einmal immer die eigene Instituti- Gesundheitspolitik im heutigen Sinne exis-
on. Meine Praxis, mein Krankenhaus, meine tierte nicht. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts
Apotheke lautet das Maß aller Dinge.“ änderte sich die Situation. Hatte noch 1741
der Statistiker Johann Peter Süßmilch aus sei-
Die Alternative kann nur lauten: In Zu- nen Erhebungen zu Geburt, Krankheit und
kunft dürfen im Gesundheitsmarkt weder die Tod eine von Gott gegebene Ordnung her-
Experten noch die Akteure im Zentrum der auslesen können, so sah der Arzt Johann Pe-
Entscheidung stehen. Ärzte sind nicht mehr ter Frank die Dinge wenige Jahrzehnte spä-
die „Halbgötter in Weiß“, sondern unan- ter schon ganz anders. Sein mehrbändiges
sehnliche Raupen, die alles in sich selbst hi- Werk über die „Medizinische Policey“ war
neinfressen. Der Schmetterling, der sich aus nichts anderes als eine erste Forderung nach
der Raupe befreit hat, wird das ändern. Er ist einer staatlichen Gesundheitspolitik. Nicht
der Investor, der sich aus der Eigensucht der Gott, so Frank, sondern der Mensch selbst
Ärzte und Apotheker befreit und eine sonni- sei für die Güte und die Länge seines Lebens
ge Zukunft verheißt. weitgehend verantwortlich. Das hatten Ärz-
te schon in der Antike behauptet und damit
Ist das Satire? Kaum. Schon an diesen beiden nicht selten den Konflikt mit der Kirche und
Mosaiksteinchen wird ein Wandel sichtbar, der der Theologie riskiert.
sich vor Jahrzehnten andeutete und der nun
seine ganze Kraft entfaltet. Es geht um die Re- Zu diesem Beitrag siehe ausführlicher: Paul  U. Un-
form eines Gesundheitswesens, das den Gesun- schuld, Ware Gesundheit. Das Ende der klassischen
den als Maß aller Dinge ansah und Krankheit Medizin, München 2009.

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Im späten 18.  Jahrhundert nun schenkten für die Politik Mittel zum Zweck eines star-
die Regierenden erstmals den Ärzten ihre ken Nationalstaats.
Aufmerksamkeit. Franks „Medizinische Po-
licey“ und andere Werke ähnlicher Stoßrich- Aus diesen Zusammenhängen haben die eu-
tung hatten direkten Einfluss auf staatliche ropäische Medizin und das Gesundheitswe-
Politik. Das kam nicht von ungefähr. Fürs- sen, in dem sie sich entfalten konnte, ihre Kraft
ten, Könige und Kaiser waren keineswegs un- gewonnen. Sie waren freilich auch mitverant-
vermittelt von einem humanitären Virus be- wortlich dafür, dass das Konzept der Volksge-
fallen. Die Ursache für den Sinneswandel lag sundheit in Deutschland mit der Vernichtung
in der Herausbildung der Nationalstaaten in schließlich ganzer Bevölkerungsteile, die als
Europa, deren Grenzen sich zunehmend we- „Volksschädlinge“ identifiziert worden waren,
niger durch fürstliche Heiraten und Erbschaf- langfristig desavouiert wurde. Als die wissen-
ten veränderten. Allmählich bildeten sich fes- schaftliche Beschäftigung mit Risiken, wel-
te politische Gebilde heraus, die ihre Stärke che die Gesundheit der gesamten Bevölkerung
einerseits einer schlagkräftigen Armee und oder größerer Teilgruppen gefährden, wieder
andererseits einer produktiven Industrie ver- aufgenommen wurde, stand nur noch die eng-
dankten. Nicht mehr multinationale Söldner­ lische Bezeichnung public health zur Auswahl.
armeen bestimmten fortan die Schlachtfelder. Verglichen mit etwa den USA freilich, hat sich
Seit der Französischen Revolution war allen Public Health in Deutschland ungeachtet des
militärischen Strategen der Wert der nationa- Einsatzes höchst engagierter und auch inter-
len Begeisterung der jungen Menschen, die sie national anerkannter Wissenschaftler nie aus
in den Kampf schickten, bekannt. Diese Men- einer marginalen Bedeutung lösen können.
schen konnte man nur aus dem eigenen Land Die so genannten Schools of Public Health
holen – und sie mussten kräftig und gesund fristen ein Schattendasein am Rande der Me-
sein, um ihren Zweck zu erfüllen. Das war der dizinischen Fakultäten. Die Individualmedi-
erste Anreiz für die neue Gesundheitspolitik. zin nutzte nach dem Krieg in Westdeutschland
die Gunst der Stunde und überführte viele der
Der Wettbewerb in friedlicheren Zeiten lief Maßnahmen, die zuvor in Gesundheitsämtern
über die Produktion der Manufakturen. Die zur Anwendung kamen, in die private ärztliche
Hierarchie glich einer Pyramide: ganz un- Praxis. Der Blick in die DDR, wo der Sozialis-
ten die breite Masse der Arbeiter, darüber mit mus weniger Probleme mit der Fortführung
abnehmender Zahl die Vorarbeiter und lei- von Gesundheitsaktionen unter staatlicher
tenden Angestellten und schließlich an der Anleitung hatte, konnte nie einen Anreiz in
Spitze der Eigner. Rasch erkannten die Mäch- der Bundesrepublik entfalten; die Individual-
tigen, dass die Gesundheit der Arbeiter der medizin verknüpfte sich im öffentlichen Be-
Grundstein für eine starke Industrie sei. Die wusstsein erfolgreich mit dem Grundwert ei-
bislang dominierende Individualmedizin er- ner freiheitlichen Gesellschaftsordnung.
fuhr die erforderliche Ergänzung durch den
Blick auf die Volksgesundheit. Die Mächti- Die eigentliche Ursache für die Unfähigkeit
gen sahen einen Sinn darin, der Medizin ein der Idee einer Public Health, in Deutschland
Privileg einzuräumen, das die Heilkundigen eine starke Position zu erlangen, liegt freilich
nie zuvor gekannt hatten: das Privileg, Fra- tiefer. In der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhun-
gen an die Herrschenden und an die Besit- derts sind die Beweggründe entfallen, die in den
zenden richten zu dürfen. Es waren unan- mehr als 150 Jahren zuvor die Gesundheitspo-
genehme Fragen, wenn die Ärzte erkannten, litik bestimmt und das deutsche Gesundheits-
dass Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Umwelt- wesen zu einem weltweit bewunderten Vorbild
bedingungen die Gesundheit der Allgemein- gemacht hatten. Alle großen europäischen Staa-
heit gefährdeten. Dieses Privileg kam einem ten hatten diese Entwicklung mehr oder weni-
Mandat an die Ärzteschaft gleich, sich für ger modifiziert mitgetragen. Doch die Staaten
die gesundheitlichen Belange aller Bevölke- benötigen nicht mehr Millionen kräftiger jun-
rungsschichten einzusetzen, weil für die mi- ger Männer, um sie in Angriffs- oder Vertei-
litärische wie die ökonomische Konkurrenz digungskriege zu schicken; kleine militärische
der europäischen Staaten die Gesundheit al- Einheiten werden heute hier oder dort, in Eu-
ler, ungeachtet der sozialen Schichtzugehö- ropa oder am Hindukusch, eingesetzt, um die
rigkeit, von Bedeutung war. Gesundheit war Interessen der Politik zu verfolgen. Und auch
nicht mehr Selbstzweck; Gesundheit wurde das Ziel, der Industrie eine kräftige Arbeitneh-

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merschaft zur Verfügung zu stellen, hat für die deutlicher gesagt: Entmündigung dieser beiden
Politik ihren Reiz verloren. Die Staaten haben Berufsgruppen beobachten. Sie stören, weil sie
nicht zu wenige, sondern, so zynisch das klin- ausgebildet wurden, ihre medizinisch-fachliche
gen mag, zu viele gesunde Männer und Frauen, und ethische Kompetenz an vorderster Stelle in
die nach Arbeit suchen, aber keinen Platz mehr den Dienst des Patienten zu stellen, nicht aber
in den herkömmlichen Produktionsstätten fin- die Investorenrendite. Indem die Vorkämp-
den, da diese gar nicht mehr existieren. fer einer Gesundheitswirtschaft für sich bean-
spruchen, erstmals die „Patientensouveränität“
ernst zu nehmen, schaffen sie sich den Rah-
Gesundheit als Ware men, an Ärzten und Apothekern vorbei direkt
auf die Kunden einzuwirken. Die Zerstörung
Wer also glaubt, die Gesundheit der Bevölke-
der traditionellen deutschen Apothekenstruk-
rung müsse weiterhin im Zentrum politischer
tur folgt diesem Prinzip. Mit der Einführung
Bestrebungen stehen, ist naiv. Der Druck auf
der Kettenapotheken wird die Autorität über
die Politik, die Gesundheit aller zu gewähr-
die Beratung der Kunden und die Abgabe von
leisten, wenn nicht sogar zu erzwingen, ist ge-
Arzneimitteln der Entscheidung des einzelnen
sunken und hält sich bestenfalls dort, wo es
Apothekers entzogen und den Renditezielen
darum geht, die Gesunden, etwa beim Nicht-
der Investoren untergeordnet.
raucherschutz, vor gesundheitsgefährdenden
Handlungsweisen anderer zu schützen. Doch Die Ärzteschaft geht diesem Status der Ab-
die etwa HIV-Infizierten eingeräumte Frei- hängigkeit mit derselben Geschwindigkeit
heit, selbstverantwortlich mit dem Virus um- entgegen. Die Werbung für rezeptpflichtige
zugehen, zeigt, dass der in solchen Situatio- Arzneimittel ist folgerichtig nun auch in der
nen in früheren Zeiten angewandte autoritäre Laienpresse erlaubt. Der so beeinflusste Laie
Zwang heute ungeachtet der Mahnung von Vi- kann Druck auf die Ärzte ausüben. Der Zwang
rologen keine Anwendung mehr finden kann. in Chefarztverträgen, jährlich vier bis fünf
Das gesundheitsfördernde Verhalten wird zu- Prozent zur Umsatzsteigerung beizutragen,
nehmend in die Hände des Individuums zu- die Vorgaben des Fallpauschalensystems nach
rückgeführt, und da der einzelne Bürger meist DRG (Diagnosis Related Groups) und viele an-
nicht die Kompetenz besitzt, sich gesundheits- dere Neuerungen mehr treiben die Ärzteschaft
bewusst zu verhalten, wären Ärzte und Apo- zunehmend in die professionelle Unfreiheit.
theker die beiden zentralen Expertengruppen Die wichtigen Entscheidungen werden von an-
für die Beratung, Betreuung und Behandlung deren getroffen – von einer Koalition von Kräf-
der Kranken sowie derer, die gar nicht erst ten, die kein Interesse daran haben, alte Struk-
krank werden möchten. turen zu erhalten, und stattdessen das Heil in
der Gesundheitsmarktwirtschaft sehen.
Aber so läuft es nicht. Gesundheit als Mit-
tel zum Zweck des starken Nationalstaats ist Das in der Vergangenheit mühsam erworbe-
heute politisch irrelevant. Gesundheit wird ne Vertrauen des Patienten, dass ein Eingriff
wieder Selbstzweck, und es steht jedem frei, zur Vorbeugung oder Therapie aus seinem
seinen privaten Mitteln entsprechend diese besten medizinischen Interesse und nicht aus
Gesundheit zu erwerben. Hier liegt der Kern kommerziellen Erwägungen vorgenommen
der neuen Zeit: Gesundheit wird zur Ware, wird, geht im Gesundheitsmarkt zunehmend
die ein Gesundheitsmarkt feilhält. Es zeigt verloren, und es gibt keine politische Instanz,
sich, dass dieser Markt seine eigenen Struktu- die dem Einhalt gebieten möchte. Die ver-
ren und Prioritäten schafft. Wie in jedem an- trauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung mag
deren Markt sind Umsatz und Rendite auch in ökonomisch irrelevanten Nischen weiter
im Gesundheitsmarkt durch Absatz fördern- existieren – das System als Ganzes kennzeich-
de Maßnahmen stetig auszuweiten. net sie nicht mehr. Die Nichtbeachtung der
Aufrufe zu einer Impfung gegen die „Schwei-
Die Industrie, die mit diagnostischen und
negrippe“ zeigt, wie schnell es weite Teile der
therapeutischen Verfahren den Markt be-
Bevölkerung gelernt haben, staatlichen Vor-
schickt, sieht das nicht ungern. Störend wirken
gaben zu misstrauen. Der Schmetterling, so
hier freilich die im alten System zentralen Ge-
steht zu erwarten, wird eher zu einer hässli-
sprächspartner der Patienten oder Ratsuchen-
chen Raupe werden als umgekehrt.
den, das sind Ärzte und Apotheker. Folglich
kann man eine kontinuierliche Verdrängung,

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Nils C. Bandelow · Florian Eckert · sundheitspolitik haben sich zuletzt we-
sentlich verändert – es gibt neue Akteure,
Robin Rüsenberg Interessen, Entscheidungsarenen und Beteili-

Reform(un)mög-
gungsmöglichkeiten, welche die traditionelle
Entscheidungsfindung zumindest ergänzen. ❙3
Dies führt zur Frage, ob diese Veränderun-

lichkeiten in der gen zum Lösen der Blockaden geführt ha-


ben. Um diese Frage zu beantworten, werden
wir zunächst die historisch gewachsenen Be-

Gesundheitspolitik sonderheiten des Politikfelds Gesundheit in


Deutschland im Hinblick auf die politische
Steuerbarkeit untersuchen. Anschließend
werden Veränderungen des politischen Um-

D as Politikfeld Gesundheit steht unter


­ständigem Veränderungsdruck – und wird
zugleich durch besondere Beharrungskraft
felds und des Gesundheitssystems analysiert,
bevor der Ausblick die besondere Situation
für Reformvorhaben im Politikfeld Gesund-
­geprägt. Wirtschaftli- heit in den kommenden Jahren ­beschreibt.
cher, gesellschaftlicher,
Nils C. Bandelow
medizinisch-techni-
Dr. rer. soc., geb. 1967; Profes-
scher und politischer Stabile Blockaden und Umbau
sor für Politikwissenschaft an
der TU Braunschweig, Bienroder
Wandel sowie die Al- in kleinen Schritten
terung der Bevölke-
Weg 97, 38106 Braunschweig.
rung führen regelmä- Die jahrzehntelangen Reformblockaden in
nils.bandelow@
ßig zu Forderungen der Gesundheitspolitik sind einerseits auf Ei-
tu-braunschweig.de
nach grundlegenden genschaften des Politikfelds zurückzuführen,
Veränderungen. Wird andererseits haben die besonderen Strukturen
Florian Eckert
jedoch gehandelt und gesundheitspolitischer Interessenvermittlung
Dr. phil., geb. 1977; wissen-
werden Reformvorha- und Entscheidungsfindung in Deutschland
schaftlicher Mitarbeiter eines
ben in Gang gesetzt, die Blockaden verstärkt. Grundsätzlich gilt:
Bundestagsabgeordneten,
ist Widerstand pro- Das Gut „Gesundheit“ hat bei den meisten
Berlin.
grammiert: „Die Ge- eine hohe Präferenz – mit hoher Wahrschein-
eckert.florian@gmx.net
sundheitspolitik ist in lichkeit werden wir alle früher oder später zu
Robin Rüsenberg
allen Industrieländern „Teilnehmern“ am Gesundheitsmarkt. Das
Dipl.-Pol., geb. 1980; Referent
sicherlich das schwie- öffentliche Erregungspotential in diesem Po-
im Stabsbereich Politik eines
rigste, konfliktreichste litikfeld ist deshalb besonders groß. Die klas-
Verbandes in Berlin.
und zugleich emotio- sische Rolle als Sicherungssystem im sozialen
robin.ruesenberg@web.de
nalste politische The- Notfall – für deren Versagen sich Regierun-
ma“, ❙1 umreißt Bundes- gen bei Wahlen verantworten müssen – wird
kanzlerin Angela Mer- ergänzt durch die wachsende Bedeutung als
kel die Herausforderungen, die in Deutschland Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber. Gesund-
besonders groß sind. Bis Ende der 1980er Jah- heitspolitische Entscheidungen betreffen po-
re sind regelmäßig alle Versuche grundlegen- tenziell die physische Existenz aller und die
der Reformen gescheitert. Die Schwierigkeit, wirtschaftliche Grundlage vieler. ❙4
Reformen umzusetzen, kann dem politischen
System und den Interessenkonstellationen des
Politikfelds zugeschrieben werden: Koaliti-
❙1  Interview mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, in:
onsregierungen, der spezifische deutsche Fö-
Kölner Stadt-Anzeiger vom 6. 3. 2010.
deralismus und die starken Interessenverbände ❙2  Vgl. Bernd Rosewitz/Douglas Webber, Reform-
sowie deren besondere Rolle im Rahmen von versuche und Reformblockaden im deutschen Ge-
Selbstverwaltung und korporatistischer Ein- sundheitswesen, Frankfurt/M. 1990.
bindung verhinderten demnach weitergehende ❙3  Vgl. mit einer umfassenden Analyse: Nils C. Ban-
Reform­entwürfe. ❙2 delow/Florian Eckert/Robin Rüsenberg (Hrsg.), Ge-
sundheit 2030. Qualitätsorientierung im Fokus von
Politik, Wirtschaft, Selbstverwaltung und Wissen-
Doch es zeichnet sich ein Wandel ab: So- schaft, Wiesbaden 2009.
wohl das deutsche politische System als auch ❙4  Vgl. Jutta Hoffritz, Gesundheit – kein Produkt wie
die Strukturen und Konstellationen der Ge- jedes andere, in: APuZ, (2003) 33–34, S. 3–5.

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Im Vergleich zu anderen Branchen wird Zwar kann ein steigender Steueranteil die
dem Gesundheitswesen durch den medizi- Krankenversicherung stabilisieren, doch vor
nisch-technischen Fortschritt ein erhöhter dem Hintergrund steigender Staatsverschul-
Finanzbedarf prognostiziert. Diesen Effekt dung ist die Basis einer solchen Finanzie-
können demografische Entwicklungen ver- rung ungesichert. Geht man indes den Weg
stärken – wenngleich der Zusammenhang der Privatisierung von Gesundheitsausgaben
zwischen Demografie und Gesundheitsaus- durch Leistungskürzungen, höhere Zuzah-
gaben komplizierter ist, als dies in politischen lungen oder andere Formen der Differenzie-
Reden oft anklingt. rung von Leistungen, konkurriert man mit
dem umfassenden Solidaritätsverständnis der
Die Folge ist eine besondere Intensität Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
der Einflussnahme von Interessenvertretern und weiter Teile der Bevölkerung. Gesund-
aus der Pharmaindustrie, den Kassenärzten, heitsleistungen sollen – so der normative An-
Krankenhausträgern, Hilfsmittelherstellern, spruch – unabhängig von sozialem Status und
Apothekern, Krankenkassen, privaten Kran- Krankheitszustand allen zur Verfügung ge-
kenversicherungen und anderen Bereichen der stellt werden.
Gesundheitswirtschaft. Dabei treffen gegen-
sätzliche Interessen und Ziele aufeinander, die
keine gleichzeitige Optimierung zulassen. Das Gesundheitspolitik
führt dazu, dass kontinuierlich für Teilberei- als spezielle Kunst
che des Gesundheitswesens zusätzliche finan-
zielle Mittel gefordert werden – bei begrenzten Die Finanzierbarkeit ist nicht die einzige He-
Ressourcen. Gesundheitspolitik befindet sich rausforderung. Gesundheitspolitik ist kom-
so im konstanten Spannungsfeld zwischen fi- plex. Es geht immer um die Frage, welche
nanzierungsseitigen Worst-Case- und wachs- Maßnahme welche Folgen für die Versorgung
tumsseitigen Best-Case-Erwartungen. hat. Das führt dazu, dass medizinischem,
pharmazeutischem und anderem professio-
Deutschland steht prototypisch für ein wohl- nellen Sachverstand besondere Bedeutung
fahrtsstaatliches System Bismarck’scher Prä- zukommt. Politische Entscheidungsträger
gung: In Abgrenzung zu rein staatlichen oder und die Öffentlichkeit müssen Experten ver-
marktwirtschaftlichen Gesundheitssystemen trauen, deren Urteil oft widersprüchlich ist.
erfolgt die Steuerung des Krankenversorgungs- Das liegt nicht nur daran, dass sich Wirkun-
systems über das Modell der „Gemeinsamen gen therapeutischer Maßnahmen auf un-
Selbstverwaltung“, also der Verantwortungs- terschiedliche Individuen schwer verallge-
übernahme vor allem von Krankenkassen und meinern lassen. Problematisch ist auch eine
Vertragsärzten nach gesetzlich festgelegten mögliche enge Verflechtung der zugrunde-
Regeln. Die Finanzierung basiert überwie- liegenden wissenschaftlichen Forschung mit
gend auf Beiträgen aus abhängiger Lohnarbeit, Einzelinteressen des Gesundheitswesens.
die von Beschäftigten und Arbeitgebern auf-
gebracht werden. Das traditionelle Normal­ Allerdings fließt nicht nur medizinische Ex-
arbeitsverhältnis als finanzielle Grundlage des pertise in gesundheitspolitische Entscheidun-
Krankenversicherungssystems ist in den ver- gen ein: Auch die Gesundheitsökonomie hat
gangenen Jahren erodiert: Sinkende Realein- prägenden Einfluss, so zuletzt insbesondere
kommen, anhaltende Massenarbeitslosigkeit durch die Idee der Einführung wettbewerbli-
sowie der Rückgang sozialversicherungspflich- cher Elemente ins Gesundheitssystem. Anders
tiger Beschäftigung wurden so auch zum Pro- als in anderen Politikfeldern – etwa in der Kli-
blem des Gesundheitswesens. Ohne politische mapolitik – hat sich in den Gesundheitswis-
Eingriffe droht ein kontinuierlicher Anstieg senschaften keine Problemsicht wissenschaft-
der Beitragssätze und Lohnnebenkosten. Bei- lich eindeutig durchsetzen können. Daher
des bewirkt politische Konflikte – aber auch können sich unterschiedliche und sogar gegen-
jede Maßnahme zur Steigerung der Finanzier- sätzliche politische Strategien gleichermaßen
barkeit produziert politischen Widerstand. ❙5 auf fachlich etablierten Sachverstand stützen.
Wissenschaftler werden dadurch einerseits
❙5  Vgl. Nils C. Bandelow, Chancen einer Gesund- unverzichtbare Teilhaber gesundheitspoliti-
heitsreform in der Verhandlungsdemokratie, in: scher Entscheidungen, können andererseits
APuZ, (2003) 33–34, S. 14–20. aber keine technokratischen Konzepte bieten,

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mit denen sich politische Konflikte wissen- Stabilität und Berechenbarkeit ausgerichteten
schaftlich entscheiden ­ließen. Strukturen der alten Bundesrepublik ergän-
zen. Gerade in der Gesundheitspolitik er-
Gesundheitspolitische Entscheidungen sach­ setzen sie diese aber auch. Dabei sind unter-
verständig zu treffen, politisch durchzuset- schiedliche, teils gegenläufige Veränderungen
zen und überzeugend zu kommunizieren ist zu beobachten.
daher eine spezielle Kunst. Das langjährige
Muster der Gesundheitspolitik war geprägt Verstaatlichung und Zentralisierung. Trotz
von inkrementellen, also schrittweisen Ver- der von fast allen Parteien offiziell vertrete-
änderungen. Mit der Stärkung des Wettbe- nen Strategie der Stärkung des Wettbewerbs
werbs durch das Gesundheitsstrukturgesetz im Gesundheitssystem ist der Einfluss der
des legendären Lahnsteiner Kompromisses Bundesregierung hoch und wachsend. Das ist
von 1992 – zwischen CSU-Gesundheitsmi- nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass
nister Horst Seehofer und der oppositionel- – anders als in anderen Branchen – nicht der
len SPD – begann aber ein langfristiger Um- Markt, sondern die Politik notwendige An-
bau nicht nur des Gesundheitswesens selbst, passungen an veränderte Rahmenbedingun-
sondern vor allem auch der Interessenver- gen vornimmt. ❙8 So wird die Krankenversi-
mittlung und Entscheidungsfindung in die- cherungspolitik in besonderer Weise von der
sem Politikfeld. Mit Lahnstein gewann Wett- Exekutive dominiert, was auf die Komplexität
bewerb deutlich an Bedeutung, so etwa durch der gesundheitspolitischen Materie zurück-
Einführung der freien Kassenwahl. ❙6 Ziel der zuführen ist, die dem Bundesministerium für
Politik war es dabei, Effizienz und Effektivi- Gesundheit (BMG) und der Fachkompetenz
tät der Krankenversorgung zu erhöhen. An- seiner Ministerialverwaltung eine Schlüssel-
gesichts dieses Paradigmenwechsels zu mehr stellung zuweist. Das Haus ist Regisseur al-
Wettbewerb sprechen manche Beobachter ler Reformbemühungen, eine gesundheits-
von einer schleichenden Abkehr vom System politische Steuerung gegen das Ministerium
Bismarck. ❙7 In der Folge haben ursprüng- ist schlicht nicht möglich. ❙9 Ungeachtet des-
lich dominierende Verbände, insbesonde- sen erhöhte sich die Steuerungskompetenz in
re die Kassenärztlichen Vereinigungen, an jüngster Zeit jedoch noch weiter: So hat die
Einfluss verloren. Neue Akteure entstanden, Regulierungskompetenz insbesondere mit
während alte Bündnisse erodierten. Auch das der Gesundheitsreform 2007 einen weiteren
Verhältnis von Bund und Ländern in der Ge- Schub erfahren. ❙10 Zwar ist dies in einem Po-
sundheitspolitik hat sich in den vergangenen litikfeld mit komplizierten Entscheidungs-
20 Jahren wesentlich verändert. strängen und notwendigem Spezialistentum
nicht ungewöhnlich. Dennoch hat sich nicht
zuletzt durch die Zentralisierung der Finan-
Dynamisierung und Pluralismus zierung, verbunden mit steigenden Steuer-
zuschüssen und einer teilweise umfassend
Die Veränderungen im Politikfeld Gesund- interpretierten Rechtsaufsicht über den Ge-
heit waren und sind nicht nur das Ergebnis meinsamen Bundesausschuss (G-BA), ❙11 der
langfristig wirkender Reformmaßnahmen. Einfluss der Bundesregierung beträchtlich
Auch die politischen Rahmenbedingungen
sind einem kontinuierlichen und tiefgehen- ❙8  Vgl. Hartmut Reiners, Mythen der Gesundheits-
den Wandel unterworfen. Dabei sind zuneh- politik, Bern 2009, S. 10.
mend komplexe und dynamische Netzwerke ❙9  Vgl. Robert Paquet, Motor der Reform und Schalt-
und Arenen entstanden. Diese können die auf zentrale: Die Rolle des Bundesministeriums für Ge-
sundheit in der Gesundheitsreform 2007, in: ders./
Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Gesundheitsreform
❙6  Vgl. Ingo Bode, Disorganisierte Governance und 2007. Nach der Reform ist vor der Reform, Wiesba-
Unterprivilegierung. Die Konsequenzen neuer Steu- den 2009, S. 32–49.
erungsformen in der gesetzlichen Krankenversiche- ❙10  Vgl. Nils C. Bandelow/Florian Eckert/Robin Rü-
rung, in: Ute Clement et  al. (Hrsg.), Public Gover- senberg, Parteienherrschaft oder Bürokratisierung?
nance und schwache Interessen, Wiesbaden 2010, Gesundheitsreformen und politische Entscheidungs-
S. 27–46. findung im Fünf-Parteien-System, in: dies. (Anm. 3),
❙7  Vgl. Thomas Gerlinger/Rolf Schmucker, A Long S. 275–285.
Farewell to the Bismarck System: Incremental ❙11  Vgl. z. B. Bundessozialgericht (BSG), Rechtsauf-
Change in the German Health Insurance System, in: sicht statt Fachaufsicht des BMG gegenüber GBA, in:
German Policy Studies, 5 (2009) 1, S. 3–20. Medizinrecht, 28 (2010) 5, S. 347–359.

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erhöht. Durch Zusammenschlüsse von Kran- schaft am Bruttoinlandsprodukt bis 2020 von
kenkassen über die Grenzen von Bundeslän- heute etwa zehn auf fast 13 Prozent und die
dern hinweg ist auch in diesem Bereich die Zahl der Beschäftigten von rund fünf auf
Aufsichtskompetenz des Bundes gegenüber sieben Millionen Menschen wachsen. ❙13 Ge-
den Landesverwaltungen gestiegen. Die Bun- sundheitspolitische Entscheidungen und Re-
desländer bleiben jedoch unter anderem über formbemühungen betreffen folglich nicht nur
die Krankenhausplanung in die gesundheits- sozialpolitisch Versicherte und Patienten so-
politische Steuerung eingebunden. wie Ärzte und Krankenhäuser, sondern da-
rüber hinaus zunehmend wirtschaftspoli-
Wandel des Korporatismus. Vor allem die tisch auch (internationale) Unternehmen und
ambulante Versorgung wird traditionell über Beschäftigte. Dies stellt die traditionelle Ge-
Kollektivverhandlungen zwischen Ärzte- sundheitspolitik vor Herausforderungen, da
verbänden und den Krankenkassen im Rah- die GKV-Ausgaben zwar Kern einer größe-
men der Selbstverwaltung gelenkt und gilt ren Gesundheitswirtschaft sind, zugleich
als Prototyp korporatistischer Steuerung. ❙12 aber nicht wirtschaftspolitischen Zielsetzun-
Dieser bereichsspezifische Korporatismus ist gen dienen können.
durch die Einführung des Wettbewerbs unter
Druck geraten: Mit zunehmenden Verträgen Wandel des Parteiensystems. Auch Mak-
zwischen einzelnen Kassen und Ärztegrup- ro-Trends der Parteienlandschaft wirken sich
pen nimmt nicht nur die Zahl der gesund- unmittelbar auf gesundheitspolitische Ge-
heitspolitisch bedeutsamen Akteure zu – auch staltungsmöglichkeiten aus: Die Herausbil-
die Frage nach der Zukunft des Korporatis- dung eines Fünfparteiensystems, wie es 2009
mus stellt sich. Dabei ist das Gesundheitssys- erneut bestätigt wurde, stärkt kleinere Partei-
tem keineswegs vollständig auf wettbewerbli- en, während große an Kraft verloren haben. ❙14
che Steuerung umgestellt. Wettbewerb findet Dies verändert nicht nur Koalitionsbildun-
bisher fast nur zwischen den Krankenkassen gen, sondern erschwert auch die Entschei-
und im ambulanten Bereich statt. Kollektive dungsfindung und Reformdurchsetzung in
Vereinbarungen, die für ganze Versorgungs- der Gesundheitspolitik. Verhandlungsbedin-
sektoren Gültigkeit haben, werden zwar ge- gungen früherer Reformen – zumeist formel-
schwächt, nicht aber abgelöst – es ist vielmehr le oder informelle Große Koalitionen (wie
seit 2004 mit der Errichtung des G-BA und bei den Einigungen 1992, 2003 und 2007) un-
2007 des GKV-Spitzenverbands eine Zent- ter Ausschluss der kleineren Koalitionspart-
ralisierung von Steuerungsaufgaben zu be- ner – sind nicht mehr unbedingt ausreichend.
obachten. Vor allem dem G-BA als „kleinem Vor allem die Mehrheitsbeschaffung im Bun-
Gesetzgeber“ kommt bei der Ausgestaltung desrat lässt bei der neuen Vielfarbigkeit von
der Versorgung Bedeutung zu. Durch die zu- Länderexekutiven eine andere gesundheits-
nehmende Wettbewerbsorientierung wird politische Themenakzentuierung als in der
die Politik jedoch nicht entlastet, im Gegen- Vergangenheit durchaus möglich werden. ❙15
teil: Um eine qualitative und flächendeckende Parteien nehmen bei der Steuerung des Ge-
Versorgung sicherzustellen, wird die staatli- sundheitswesens aber keine zentrale Rol-
che Regulierung ausgeweitet, die Frage an- le ein. Dies ist schon mangelnden fachlichen
gemessener politischer Steuerung stellt sich Kapazitäten geschuldet. Gerade die erstma-
erneut. Liberalisierung wird begleitet von lige Übernahme des Gesundheitsministeri-
­Regulierung. ums durch die FDP stärkt liberale Positionen
in der Gesundheitspolitik, da sich die fachli-
Gewachsene wirtschaftliche Bedeutung. chen Ressourcen durch den administrativen
Die Gesundheitsbranche wird zum Wachs-
tums- und Beschäftigungsmotor, die sich ❙13  Vgl. TU Berlin/Roland Berger/BASYS, Erstellung
selbst in der jüngsten Wirtschaftskrise kraft- eines Satellitenkontos für die Gesundheitswirtschaft
voller als andere Sektoren entwickelt hat. in Deutschland. Forschungsprojekt im Auftrag des
Ein Ende ist nicht absehbar. Analysen zufol- Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
ge können der Anteil der Gesundheitswirt- (BMWi), Berlin 2009.
❙14  Vgl. Frank Decker, Koalitionsaussagen und Koali-
tionsbildung, in: APuZ, (2009) 51, S. 20–26.
❙12  Vgl. Rolf Rosenbrock/Thomas Gerlinger, Ge- ❙15  Vgl. Nils C. Bandelow/Florian Eckert/Robin Rü-
sundheitspolitik. Eine systematische Einführung, senberg, Gesundheitspolitik neu gemischt, in: Ge-
Bern 20092. sundheit und Gesellschaft, 13 (2010) 4, S. 48 f.

APuZ 45/2010 9
Unterbau perspektivisch um ein Vielfaches nalisten mit gesundheitspolitischer Expertise
erweitern. ausdifferenziert, und die Nutzung klassischer
Medien nimmt zugunsten schneller, internet-
Zersplitterung der Interessenvertretung. basierter Information ab – wenngleich Politik
Kaum ein anderes Politikfeld verzeichnet ein und Exekutive nach wie vor Print- und TV-
vergleichbares Aufeinandertreffen gut orga- Medien zur Eigendarstellung bevorzugen. Im
nisierter Interessen wie die Gesundheits- Ergebnis entstehen Teilöffentlichkeiten mit ei-
branche. ❙16 Im Verlauf der Jahrzehnte hat genen Rezeptionsgewohnheiten, die zugleich
sich die Zahl der Akteure trotz gleichzeiti- weniger hierarchisch steuerbar sind. Ein neu-
ger Zentralisierungstendenzen vervielfacht. er Vermittlertypus, der „Bürger-Journalist“,
Die Konkurrenz um knappe Ressourcen entsteht. ❙18 Wesentlich für diese Entwicklung
und die Änderung der politischen Rahmen- ist der Anstieg von sozialen Netzwerken im
bedingungen erzeugen kontinuierlich Ver- Internet (z. B. Twitter und Facebook). Diese
teilungskämpfe innerhalb ehemals homogen Erweiterung des Kommunikationsreservoirs
vertretener Interessengruppen. Inzwischen ist vor allem für „schwache“ Interessen rele-
konkurrieren alte und neue Ärzteverbän- vant: Patienteninteressen können leichter Ge-
de um Einfluss. Auch die Pharmaindustrie hör finden. ❙19 Die neuen Medien tragen so zu
wird mittlerweile von sieben teils konkur- einem öffentlichen Gegengewicht und inhalt-
rierenden Verbänden vertreten. Neben den lichen Perspektivwechsel der Gesundheitspo-
Verbänden unterhalten zunehmend auch litik bei. Parallel versuchen auch Apotheker,
Unternehmen, vor allem aus dem Pharma- Ärzte und Krankenhäuser durch die öffent-
bereich, Lobby-Abteilungen in Berlin. Hin- liche Instrumentalisierung von Patientenin-
zu kommen Public-Affairs-Agenturen und teressen ihren Interessen zusätzlichen Nach-
Kanzleien, deren Bedeutung für politische druck zu verleihen.
Entscheidungen schwer einzuschätzen ist.
Das Ergebnis der Pluralisierung und Frag- Stärkere Patientenorientierung. Patienten-
mentierung der Interessenvertretung ist ein interessen zählten lange Zeit zu den „schwa-
unübersichtliches Netzwerk starker und chen“ Interessen in der Gesundheitspolitik:
schwacher Interessen. Teilweise lassen sich Zu groß war die Heterogenität und zu ge-
neue Übereinstimmungen und Koalitionen ring die (finanzielle) Fähigkeit, die eigenen
feststellen, etwa bei Fragen der Qualitäts- Interessen organisations- und lautstark zu
orientierung. ❙17 Aber auch die alten Bünd- vertreten, was teilweise zu einer engen In-
nisse und das traditionelle Lobbying ha- dustrienähe und -abhängigkeit führte. Da
ben ihre Bedeutung nicht verloren und üben verschärfend hinzukommt, dass das Arzt-
weiterhin Einfluss auf die Inhalte von Re- Patienten-Verhältnis asymmetrisch zuguns-
formen aus. ten des Arztes ausgerichtet ist, verwundert
es nicht, dass (eher abstrakte) Patientenin-
Neue kommunikative Muster. Ungeachtet teressen weit weniger einflussreich sind als
des immer noch starken Einflusses gut or- etwa Ärzteinteressen. Vor allem politische
ganisierter Interessen auf die Gesundheits- Entscheidungen haben hier jedoch zu einem
politik im Verborgenen rückt die strategi- Kurswechsel beigetragen: So wurde 2004 ein
sche Kommunikation gesundheitspolitischer Patientenbeauftragter der Bundesregierung
Themen verstärkt ins Licht der Öffentlich- eingesetzt, ferner ausgewählte Patientenver-
keit. Medienlandschaft und -nutzung befin- bände (bisher ohne Stimmrecht) in den G-BA
den sich im Wandel. Wie schon bei der Ge- integriert, wodurch nicht nur die traditionel-
sundheitsreform 2007 zu beobachten war, hat len Aushandlungsprozesse verstärkt auf Pa-
sich der Kreis von Journalistinnen und Jour- tienteninteressen nach Qualität und Effizi-
enz der Versorgung zurückgeführt werden
❙16  Vgl. Nils C. Bandelow, Akteure und Interes- konnten – Entscheidungen des G-BA wer-
sen in der Gesundheitspolitik: Vom Korporatismus
zum Pluralismus?, in: Politische Bildung, 37 (2004) 2, ❙18  Vgl. Rudolf Speth, Kommunikation von Refor-
S. 49–63. men am Beispiel der Gesundheitsreform 2007, in:
❙17  Vgl. Nils C. Bandelow/Florian Eckert/Robin R. Paquet/W. Schroeder (Anm. 9), S. 229–236.
Rüsenberg/Kristina Viciska, Gemeinsam für mehr ❙19  Vgl. Nils C. Bandelow/Florian Eckert/Robin Rü-
Qualität? Idealtypische Perspektiven und mögliche senberg, Interessenvertretung bei 82  Millionen Ge-
Koalitionen für ein Gesundheitswesen 2030, in: N. C. sundheitsministern. Kommunikationsstrategien zur
Bandelow et al. (Anm. 3), S. 299–327. Qualitätsorientierung, in: dies. (Anm. 3), S. 286–296.

10 APuZ 45/2010
den zunehmend auch öffentlich diskutiert. ❙20 und die sukzessive Erhöhung des Steuerzu-
In dem Maße, wie sich alle Parteien für eine schusses zur GKV-Finanzierung. ❙23
weitere Stärkung der Einbeziehung und Mit-
bestimmung des Patienten im Versorgungs- 2. Die Fragmentierung und Pluralisierung
geschehen aussprechen und der Wettbewerb der Interessen(-vertretungen) von Leistungs-
im Gesundheitswesen ausgebaut werden soll, anbietern – als indirekte Folge der 1992 ein-
rücken entsprechende Interessen deutlicher geleiteten Politik – trägt dazu bei, die Blo-
als in der Vergangenheit in den Mittelpunkt ckadekraft einzelner Gruppen zu reduzieren.
der Versorgung. Auch Patienten sind zuneh- Die Politik hat alternative Ansprechpartner
mend daran interessiert, an medizinischen gewonnen, um Maßnahmen mit Betroffenen-
Entscheidungen beteiligt zu werden und Ver- gruppen auszuhandeln.
sorgungsaspekte zu hinterfragen. ❙21 Die so-
lidarische Grundausrichtung des Kranken- 3. Der Einfluss der Öffentlichkeit wächst –
versorgungssystems in Deutschland genießt und damit vor allem jener der Versicherten
dabei weiterhin hohe Akzeptanz, wenngleich und Patienten. Zumindest Teile der Gesund-
Umfragen dokumentieren, ❙22 dass sich Zwei- heitspolitik verlassen die Hinterzimmer. Da-
fel über dessen Zukunftsfähigkeit mehren – bei geraten die gesundheitspolitischen Akteu-
was sich auch auf die gesellschaftliche Legiti- re unter öffentlichen Rechtfertigungsdruck,
mität des Gesamtsystems auswirken kann. was Regelungen im Sinne einzelner (Partiku-
lar-)Interessen erschwert.

Ausblick Trotz allem bleibt ein hohes Blockadepotenzi-


al: Gesundheitspolitik ist nach wie vor ein Feld
Mit seiner Gleichzeitigkeit von hoher Komple- mit vielen mächtigen Interessen, umfassenden
xität, hohem Wissensbedarf, multiplen Interes- Konsenszwängen und sektoral getrennten
senlagen unterschiedlichster Akteure, hohem Versorgungsstrukturen, das weit reichende
Problemdruck sowie fehlender Information Veränderungen nur in Ausnahmesituationen
bei hoher Sensibilität in der Bevölkerung han- erlaubt. Anders als in anderen Politikberei-
delt es sich bei der Gesundheitspolitik um ein chen trägt hier auch die EU-Ebene nicht zur
hochgradig konfliktträchtiges, aber auch aus- Überwindung von nationalen Politikblocka-
gesprochen dynamisches Politikfeld. Die Dy- den bei, da die Organisation der sozialen Si-
namik betrifft nicht nur Politikinhalte, son- cherungssysteme (noch) in nationalstaatlicher
dern vor allem die Struktur des Feldes selbst. Kompetenz verblieben ist. Gesundheitspoli-
Dabei ist bei allen Widersprüchen der unter- tik ist die Kunst, es keinem recht zu machen
schiedlichen Entwicklungen die politische – Entscheidungen, die den Interessen und
Problemlösungsfähigkeit insgesamt gestiegen. Werten aller Beteiligten gerecht werden und
Drei Entwicklungen haben zum Abbau tradi- allgemeine Zustimmung erhalten könnten,
tioneller Reformblockaden beigetragen: sind auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Im Ge-
genteil: Der Ausgleich zwischen den konkur-
1. Durch die Zentralisierung von Kom- rierenden Interessen und Normen im Rahmen
petenzen wurde der Einfluss des Bundesge- der deutschen Verhandlungsdemokratie bleibt
sundheitsministeriums gestärkt – zu nennen auch zukünftig die reformpolitische Normal-
ist vor allem die Festlegung des allgemeinen strategie. Das bedeutet aber auch, dass Ver-
Beitragssatzes durch die Bundesregierung änderungen im Politikfeld Gesundheit wei-
terhin vornehmlich durch eine schrittweise
Anpassung stattfinden werden. Die ständigen
❙20  Vgl. Stefan Etgeton, Perspektiven der Sicherung
und Entwicklung von Qualität und der Einbezug der
Reformbemühungen im Politikfeld Gesund-
Patientensicht – ein Zukunftsmodell?, in: N. C. Ban- heit sind somit nicht unbedingt Ausdruck ei-
delow et al. (Anm. 3), S. 97–106. nes Politik(er)versagens. Sie spiegeln vielmehr
❙21  Vgl. Jan Böcken/Bernhard Braun/Melanie Schnee bleibenden Anpassungsdruck sowie struktu-
(Hrsg.), Gesundheitsmonitor 2004. Die ambulante relle Besonderheiten dieses Feldes wider.
Versorgung aus Sicht von Bevölkerung und Ärzte-
schaft, Gütersloh 2004.
❙22  Vgl. z. B. MLP Gesundheitsreport 2009. Einschät- ❙23  Vgl. Stefan Sell, Gesundheitspolitik der Großen
zungen von Bürgern und Ärzten zu den Veränderun- Koalition: Die Suche nach der Goldformel, in: Ge-
gen im Gesundheitswesen, Umfrage des Instituts für sundheit und Gesellschaft, 12 (2009) 7–8, S. 35–41.
Demoskopie Allensbach.

APuZ 45/2010 11
Stefan Felder liche Ziele zu charakterisieren. Darüber hi-
naus kann sie Gesetzmäßigkeiten erklären,

Ökonomie des beispielsweise, weshalb wir immer mehr für


Gesundheit ausgeben.

Gesundheitswesens: Mögliche Erklärungen für steigende

Genese und Gesundheitsausgaben


Die Tabelle zeigt die Entwicklung des An-
Optimierung teils der Gesundheitsausgaben am Bruttoin-
landsprodukt (BIP) für einige ausgewählte
Länder der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)

U nsere Welt ist (leider) kein Schlaraffen-


land: Dort hätte die ökonomische The-
orie keine Daseinsberechtigung, weil alle
und den Zeitraum von 1970 bis 2005. Die
USA erweisen sich als Spitzenreiter: Ihre Ge-
sundheitsausgabenquote (Anteil am BIP) be-
Wünsche – etwa die trug im Jahre 2005 15,3 Prozent. Gegenüber
Stefan Felder sprichwörtlichen ge- dem Jahr 1970 ist dieser Anteil um 119  Pro-
Dr. rer. pol., geb. 1960; Profes- bratenen Tauben – au- zent gestiegen und hat sich somit mehr als
sor für Volkswirtschaftslehre, genblicklich in Erfül- verdoppelt. Deutschland hat seine Quote seit
insbesondere Gesundheits- lung gehen, und das 1970 um 78  Prozent gesteigert und liegt da-
ökonomik an der Universität ohne jede Anstren- mit exakt im Durchschnitt aller berücksich-
Duisburg-Essen, gung und eigenes Zu- tigten 22 OECD-Länder. Der aktuelle Wert
Schützenbahn 70, 45117 Essen. tun. In unserer Welt in Deutschland liegt etwa auf dem Niveau
stefan.felder@uni-due.de begrenzter Ressour- der USA im Jahr 1990. In den vergangenen
cen dagegen müssen 15 Jahren war der Anstieg der Gesundheits-
Menschen, ob sie wollen oder nicht, Ent- ausgabenquote in Deutschland im Vergleich
scheidungen treffen, die Verzicht bedeuten. zu den anderen OECD-Ländern vergleichs-
So sehr man dies aus ethischer Sicht vielleicht weise gering. In absoluten Pro-Kopf-Größen
wünschen möchte, der Gesundheitssektor ist nimmt Deutschland heute den zehnten Platz
ebenfalls nicht im Schlaraffenland angesie- ein. Das jährliche Wachstum der Gesund-
delt. Individuen in einer Gesellschaft müssen heitsausgaben in den vergangenen 35  Jahren
entscheiden, ob sie Mittel für ihre Gesundheit betrug in Deutschland 7,5 Prozent.
einsetzen oder doch lieber an anderer Stelle.
Vor der gleichen Entscheidung stehen Akteu- Insgesamt stellen wir für alle Länder der
re im Gesundheitssektor selbst: Sie müssen OECD einen erheblichen Anstieg der Ge-
entscheiden, Mittel entweder für Klinik A sundheitsausgaben fest. Dies gilt unabhän-
oder B, für Vorsorgeprogramm C oder D, für gig davon, ob ein Gesundheitssystem eher
Medikament E oder F zu verwenden. privatwirtschaftlich organisiert und prämi-
enfinanziert ist wie in den USA, eher plan-
Die ökonomische Theorie ist eine speziel- wirtschaftlich funktioniert und steuerfinan-
le Verhaltenstheorie, die für Entscheidungen ziert ist wie im Vereinigten Königreich und
über die konkurrierende Verwendung knap- in Kanada oder korporatistisch strukturiert
per Ressourcen entwickelt wurde. Menschen und über Lohnbeiträge finanziert ist wie in
stehen nicht nur „in der Wirtschaft“, son- Deutschland. Diese Tatsache weist eher auf
dern bei nahezu allen Entscheidungen vor fundamentale Determinanten der Nachfrage
dem gleichen Grundproblem: Sie müssen nach Gesundheit hin, die ihre Wirkung un-
auch bei Gesundheitsfragen eine Auswahl abhängig von Organisation und Finanzie-
unter den vorhandenen Handlungsmöglich- rung der Bereitstellung entfalten. Sie zeigt im
keiten treffen. Die Diskussion über die Ge- Übrigen auch die Grenzen staatlicher Regu-
sundheitsreform verdeutlicht zudem, dass lierung im Gesundheitsbereich auf: Offen-
auch die Gesellschaft insgesamt eine solche bar ist selbst das staatliche Gesundheitssys-
Auswahl treffen muss. Die ökonomische tem des Vereinigten Königreichs nicht in der
Theorie erlaubt es, die optimale Wahl im Lage, den Anstieg der Gesundheitsausgaben
Hinblick auf individuelle und gesellschaft- auf Dauer zu begrenzen.

12 APuZ 45/2010
Die ökonomische Theorie bietet mehre- Tabelle: Entwicklung der Gesundheitsausgaben
re mögliche Erklärungen für den ständigen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Prozent,
Anstieg der Gesundheitsausgaben in der in- 1970 bis 2005 (ausgewählte Länder)
dustrialisierten Welt. Prominent und immer
1970 1980 1990 2000 2005
wieder vertreten ist die These, dass die Alte-
Belgien 3,9 6,3 7,2 8,6 10,3
rung der Bevölkerung die Ausgaben im Ge-
Deutschland 6,0 8,4 8,3 10,3 10,7
sundheitsbereich treibe. Wenn überhaupt, so
vermag sie jedoch nur einen kleinen Anteil Finnland 5,5 6,3 7,7 6,6 7,5
des Anstiegs zu erklären. Der Grund hierfür Frankreich 5,4 7,0 8,4 9,6 11,1
sind die hohen Kosten im Zusammenhang Irland 5,1 8,3 6,1 6,3 7,5
mit dem Sterben: Der Anstieg der Gesund- Island 4,7 6,3 7,8 9,3 9,5
heitsausgaben im Alter ist nicht so sehr dem Kanada 6,9 7,0 8,9 8,8 9,8
Alter an sich zuzurechnen, sondern der Tat- Neuseeland 5,1 5,9 6,9 7,7 9,0
sache, dass das Zahlenverhältnis von Sterben- Norwegen 4,4 7,0 7,6 8,4 9,1
den und Überlebenden mit zunehmendem Österreich 5,2 7,5 7,0 10,0 10,2
Alter steigt. Ein Anstieg der Lebenserwar- Portugal 2,5 5,3 5,9 8,8 10,2
tung verschiebt die Todesfälle in ein immer Schweden 6,8 9,0 8,3 8,4 9,1
höheres Alter und verdichtet sie gleichzeitig Schweiz 5,5 7,4 8,3 10,4 11,6
auf weniger Jahre, ohne dadurch die Gesamt-
Spanien 3,5 5,3 6,5 7,2 8,2
ausgaben für Gesundheit wesentlich zu be-
USA 7,0 8,8 11,9 13,2 15,3
einflussen.
Vereinigtes 4,5 5,6 6,0 7,3 8,3
Königreich
Eine zweite Erklärung stützt sich auf die
These, wonach die Nachfrage nach medizi- Quelle: OECD, Gesundheitsdaten 2007.
nischen Leistungen in erster Linie durch die
Leistungserbringer (Ärzte, Krankenhäuser,
Pharmakonzerne) induziert wird. Beispiels- heits- und der übrigen Wirtschaft an. Wäh-
weise lässt sich beobachten, dass die Zahl rend die Wirtschaft insgesamt durch eine
der Arztbesuche von Versicherten besonders stetig steigende Kapitalintensität der Produk-
in Regionen mit hoher Arztdichte hoch ist. tion gekennzeichnet ist, sind in der Gesund-
Diese These ist nicht abwegig, aber sie kann heitswirtschaft dem Ersatz von Arbeitskräf-
bei Weitem nicht den dramatischen Anstieg ten durch Kapital enge Grenzen gesetzt. Da
der Gesundheitsausgaben über Jahrzehnte aufgrund der zunehmenden Kapitalintensität
hinweg erklären. die Löhne steigen, müssen daher – so das Ar-
gument – die Kosten im Gesundheitsbereich
Eine dritte Erklärungsmöglichkeit liegt stärker steigen als in der übrigen Wirtschaft.
im sogenannten Verhaltensrisiko der Versi- Diese These konnte empirisch bestätigt wer-
cherten aufgrund der umfassenden Versiche- den; sie erklärt aber nur maximal zehn Pro-
rungsdeckung für die Kosten der medizini- zent des Gesamtanstiegs der Gesundheitsaus-
schen Versorgung. Einfach gesagt gehen wir gaben. Es wird geschätzt, dass die genannten
zu häufig zum Arzt, weil unsere Zuzahlung vier Gründe zusammen etwa ein Viertel des
zu den Kosten des Arztbesuchs so gering ist. säkularen Anstiegs der Gesundheitsausgaben
Tatsächlich kennen wir aufgrund des Sach- erklären können.
leistungsprinzips in der Gesetzlichen Kran-
kenversicherung nicht einmal die Kosten Ist es schließlich der technische Fort-
unserer medizinischen Leistungsinanspruch- schritt in der Medizin, der das Wachstum
nahme. Weshalb sollten wir uns also zurück- des Gesundheitssektors treibt? Unbefriedi-
halten und nicht so oft zum Arzt gehen? Je- gend an dieser sehr verbreiteten Erklärung
doch hat das Verhaltensrisiko wie auch die ist, dass sie die Präferenzen der Menschen
angebotsinduzierte Nachfrage immer schon nicht berücksichtigt. Richtig ist zwar, dass
bestanden und kann daher die Veränderung sich die diagnostischen und therapeutischen
über die Zeit in den Gesundheitsausgaben Möglichkeiten der Medizin laufend verbes-
ebenfalls nicht erklären. sern. Aber ohne eine hinreichende Nach-
frage nach der neuen Medizin könnte sich
Eine vierte Erklärung setzt bei Unterschie- das Angebot letztlich nicht realisieren. Es
den in der Produktion zwischen der Gesund- muss also nachfrageseitige Gründe für die

APuZ 45/2010 13
sprunghafte Entwicklung der Gesundheits- Die Säuglingssterblichkeit ist in der OECD
ausgaben g­ eben. in den vergangenen 35  Jahren von 21,4 auf
4,9 Todesfälle pro 1000 Lebendgeburten zu-
rückgegangen. Zwischen der Gesundheits-
Höheres Einkommen, ausgabenquote und der Säuglingssterblich-
höhere Gesundheitsausgaben – keit in diesem Zeitraum existiert eine hohe
Korrelation (−0,73). Betrachtet man die Län-
aber auch mehr Gesundheit? der dagegen nur im Querschnitt des Jahres
2005, so lässt sich kein signifikanter negati-
Das fehlende Glied in der Kette der Erklä- ver Zusammenhang mehr feststellen. Dies ist
rung kann ein ökonomisches Standardmodell darauf zurückzuführen, dass der medizini-
liefern: Falls der Grenznutzen des Konsums sche Fortschritt in der Neonatologie inzwi-
bei zunehmendem Einkommen hinreichend schen offenbar an eine Grenze gestoßen ist,
stark fällt, steigt die optimale Gesundheits- an der die Säuglingssterblichkeit nicht mehr
ausgabenquote über die Zeit. Der Konsum wesentlich reduziert werden kann. Heutzuta-
wächst ebenfalls, aber weniger schnell als die ge betrifft der medizinisch-technische Fort-
Gesundheitsausgaben. Die Begründung hier- schritt stärker das Alter und reduziert dort
für ist ein mit dem Einkommen steigender die Sterblichkeit: Zwischen 1970 und 2005 ist
Wert von Gesundheit und Leben. Wenn die die Lebenserwartung in den OECD-Ländern
Menschen reicher werden, kaufen sie vor al- im Schnitt von 71,9 auf 79,8 Jahre gestiegen.
lem mehr Gesundheit und ein längeres Leben Die Korrelation zwischen der Gesundheits-
und weniger zusätzlichen Konsum. Künftig ausgabenquote und der Lebenserwartung
weiter steigende Einkommen werden somit für die 22 OECD-Länder in den Jahren 1970
zunehmend für Gesundheit ausgegeben. Für und 2005 ist hoch (0,81): Zunehmende relati-
die USA gibt es seriöse ökonomische Studien, ve Ausgaben für Gesundheit sind mit einem
die eine Ausgabenquote für Gesundheit von deutlichen Anstieg der Lebenserwartung ein-
40  Prozent im Jahre 2050 prognostizieren. hergegangen. Der Zusammenhang hat sich
Der treibende Faktor in dieser Schätzung ist allerdings über die Zeit auch hier abgeflacht.
die hohe Einkommenselastizität der Nach- Dies ist ein Indiz dafür, dass eine weitere Re-
frage nach Gesundheit. duktion der Sterblichkeit nur mit einem über-
proportionalen Ressourceneinsatz zu errei-
Nun stellt sich allerdings die Frage, ob mehr chen ist.
Gesundheit und ein längeres Leben tatsäch-
lich durch höhere Ausgaben erreicht werden Für einen kausalen Zusammenhang zwi-
können. Milton Friedman, Nobelpreisträger schen Gesundheitsausgaben und Gesund-
für Wirtschaftswissenschaften, bezeichne- heitszustand der Bevölkerung spricht auch
te den Gesundheitssektor als das „schwar- die unterschiedliche Entwicklung der Le-
ze Loch“ der Volkswirtschaft: Dieser Sektor benserwartung in Ost- und Westdeutschland
verschlinge immer mehr Ressourcen, ohne vor und nach der deutschen Vereinigung.
einen spürbaren Zuwachs an Output zu reali- Zwischen 1980 und 2000 stieg die Lebenser-
sieren. Diese fatalistische Sichtweise, die einst wartung im gesamten (neuen) Bundesgebiet,
von vielen Ökonomen geteilt wurde, ist mitt- wobei die Gewinne nach 1990 in den neuen
lerweile aufgrund vieler neuer Untersuchun- Bundesländern wesentlich stärker ausfielen
gen der Einsicht gewichen, dass die zusätz- als in den alten. In den neuen Bundesländern
lichen Ausgaben im Gesundheitsbereich die waren die Zugewinne im Jahrzehnt nach der
Lebenserwartung und die Lebensqualität der deutschen Wiedervereinigung für beide Ge-
Bürger deutlich verbessert haben. Insbeson- schlechter um ein Vielfaches größer als im
dere neue Behandlungen von Erkrankungen Jahrzehnt davor. Die damit einhergehende
am Anfang und am Ende der Lebensspanne Konvergenz der Lebenserwartung zwischen
eines Menschen haben zu einer deutlichen Ost und West hält bis heute an. Die gewonne-
Reduktion der Sterblichkeit geführt und da- nen Lebensjahre sind vor allem ein Resultat
mit zu einer höheren Lebenserwartung bei- der verbesserten medizinischen Versorgung
getragen. Zudem revolutionieren neue Arz- in den östlichen Bundesländern. Insbeson-
neimittel die Behandlung von psychisch dere die Fortschritte bei der Behandlung von
Erkrankten und verbessern ihre Lebensqua- Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben die Le-
lität signifikant. benserwartung beträchtlich erhöht.

14 APuZ 45/2010
Marktordnung im Gesundheitswesen – Die Regulierung des deutschen Gesund-
heitswesens verfolgt jedoch nicht nur Effizi-
Steuerung durch Markt oder Staat? enzziele – die Beitragszahlenden erhalten Ge-
sundheitsgüter in der gewünschten Menge und
Wenn man über Gesundheitsmärkte spricht, Qualität zu einem möglichst günstigen Preis –,
bildet die Sicht der Nachfrager von medizi- sondern auch Gerechtigkeitsziele. Die Gerech-
nischen Leistungen die normative Basis für tigkeitsziele auf Gesundheitsmärkten kann
eine Beurteilung. Dies bedeutet, dass allei- man folgendermaßen beschreiben: Der Zu-
niger Referenzpunkt für ein Werturteil über gang zu Gesundheitsdienstleistungen soll un-
die Institutionen des Gesundheitswesens abhängig vom Einkommen und insbesondere
letztlich die Krankenversicherten sind. unabhängig vom individuellen Krankheitsri-
siko möglich sein. Auch Kranken und finanzi-
Der Markt für Gesundheitsleistungen ell schlecht Gestellten soll Zugang zu Gesund-
weist allerdings Charakteristika auf, die heitsdienstleistungen verschafft ­werden.
ihn von anderen Märkten deutlich unter-
scheiden. Diese Besonderheiten lassen sich Die zur Durchsetzung von Effizienz- und
im Wesentlichen auf Informationsproble- Gerechtigkeitszielen vorgenommenen staatli-
me zurückführen. Patienten sind bei me- chen Eingriffe bewirken, wie alle Regulierun-
dizinischen Leistungen häufig nicht in der gen, leider nicht nur den gewünschten Effekt,
Lage, die Rolle eines souverän entscheiden- sondern auch unerwünschte Nebenwirkungen.
den Konsumenten einzunehmen, etwa im Patienten und Leistungserbringer gleicherma-
bewusstlosen Zustand, in Todesangst oder ßen verhalten sich in einem staatlich regulier-
mit starken Schmerzen. Doch selbst wenn ten Gesundheitswesen ganz anders, als sie es
Zeit für eine überlegte Auswahl vorhanden in einem marktwirtschaftlich gesteuerten Um-
wäre, verfügen Patienten in aller Regel nicht feld täten. Die gesundheitsökonomische Ana-
über die notwendigen Informationen, Ange- lyse erlaubt es, die staatlichen Eingriffe in ihrer
bote zu vergleichen. Weder wissen sie, was in tatsächlichen Wirkung zu beschreiben – ent-
ihrem Fall die Therapie der Wahl wäre, noch spricht die tatsächliche Wirkung der intendier-
können sie in den meisten Fällen weder vor ten, welche unerwünschten Nebenwirkungen
noch nach Inanspruchnahme die Qualität gibt es? – und gegebenenfalls alternative insti-
der erbrachten Leistung beurteilen. Schließ- tutionelle Lösungen vorzuschlagen.
lich besteht für die meisten medizinischen
Leistungen Versicherungsdeckung, so dass
selbst für informierte Patienten keine Not- Korporatismus als grundlegender
wendigkeit bestünde, Preis und Leistung ei- Ordnungsfaktor
ner Therapie gegeneinander abzuwägen. Die
Folge der zahlreichen Besonderheiten von Im deutschen Gesundheitswesen fällt die im
Gesundheitsmärkten wäre, überließe man Vergleich zu anderen Staaten außerordent-
den Markt sich selbst, erhebliches Markt­ lich große Anzahl der Sachwalter auf allen
versagen. Ebenen auf. Mindestens drei staatliche Ebe-
nen und die dazugehörigen Bürokratien,
Bei einer reinen Marktlösung müsste be- zahlreiche private und gesetzliche Kranken-
fürchtet werden, dass zu viele teure, nicht versicherungen (PKV und GKV), karitati-
zielführende Leistungen minderer Qualität ve, staatliche und private Leistungserbringer
erbracht und den Versicherungen in Rech- sowie ihre jeweiligen Standes- und Abrech-
nung gestellt werden. Es gibt darum kaum nungsorganisationen fühlen sich legitimiert –
Ökonomen, welche die grundsätzliche Not- und sind es zum großen Teil de jure auch –,
wendigkeit staatlicher Eingriffe auf Gesund- im Auftrag und zum Wohle der Versicher-
heitsmärkten in Zweifel ziehen. Nötig ist, ten tätig zu werden. Die Marktordnung im
dass der Staat das Gesundheitswesen auf eine Gesundheitssektor ist stark korporatistisch
Art und Weise reguliert, die ein Marktergeb- geprägt und orientiert sich damit an wirt-
nis entsprechend den Konsumentenpräferen- schaftspolitischen Vorstellungen des begin-
zen hervorbringt. Markt oder Staat ist dabei nenden 20. Jahrhunderts.
ein falsches Gegensatzpaar; die Kritik, wo sie
geübt wird, bezieht sich vielmehr auf die Art Der Staat versteht sich im Verhandlungs-
der staatlichen Rahmensetzung. prozess um diese vielfältigen Interessen, bei

APuZ 45/2010 15
dem die Konsumenten außen vor bleiben, versicherung anbieten, hätten ein unmittelba-
als neutraler Moderator. Dabei ist es üblich, res Interesse daran, wirksame Leistungen in
die Interessen aller Lobbygruppen als glei- guter Qualität und möglichst preiswert ein-
chermaßen berücksichtigenswert zu betrach- zukaufen. Die Krankenkassen wären also –
ten. Diese merkwürdige ordnungspolitische unter dem Druck knapper Mittel und stei-
Sichtweise gilt für die Republik insgesamt, gender Beiträge – bestrebt, den Faktoreinsatz
sie findet sich jedoch besonders ausgeprägt über eine Strukturplanung zu optimieren und
bei den politischen Bemühungen um Struk- auch möglichst günstig zu beziehen. Im Ge-
turreformen im Gesundheitssektor. gensatz zu den Patienten hätten die Kranken-
kassen als Sachwalter ihrer Versicherten die
Die gegenwärtige Marktordnung räumt Möglichkeit, die vorhandene Evidenz zu er-
Vertretern der Leistungserbringer und Ver- schließen und zu bewerten und auf diese Wei-
tretern der Regionalpolitik weitgehende Mit- se das Preis-Leistungs-Verhältnis der angebo-
spracherechte bei der Planung und Steuerung tenen Dienstleistungen einzuschätzen.
des Gesundheitswesens ein, so etwa bei Ent-
scheidungen über die Kapazitäten im stati- Eine solche alleinige Sachwalterrolle der
onären Bereich. Beide Sachwalter betonen Krankenkassen wäre ein Bruch mit der korpo-
zwar in ihrem öffentlichen Auftreten immer ratistischen Grundverfassung des deutschen
ihre Rolle als Interessenvertreter der Patien- Gesundheitswesens, könnte aber vergleichs-
ten. Verschwiegen wird dabei jedoch, dass weise leicht herbeigeführt werden: Es genügte,
Leistungserbringer auch eigene Interessen den Sicherstellungsauftrag an die gesetzlichen
haben, etwa – was nicht verwerflich ist – ein Krankenkassen zu delegieren und den Zwang
Interesse an einer möglichst hohen Entloh- zu Kollektivverträgen zwischen den Kassen
nung und einer sicheren Beschäftigung. Pro- und den Spitzenverbänden der Leistungser-
blematisch ist nur, dass diese Interessen nicht bringer – seien es die kassenärztlichen Verei-
mit denen der Beitragszahlenden überein- nigungen oder die Landeskrankenhausgesell-
stimmen. An der korporatistischen Grund- schaften – aufzuheben. Dies bedeutete, dass
verfassung des Gesundheitswesens ist aus die einzelne Krankenkasse zwar einem Zwang
ökonomischer Sicht auszusetzen, dass sie unterläge, die gesetzlich in Qualität und Um-
Wettbewerb nicht nur dort verhindert, wo fang definierten Leistungen für ihre Versicher-
er möglicherweise Effizienz- und Gerech- ten einzukaufen, zu diesem Zweck aber nicht
tigkeitsziele behindert – auf der Ebene Leis- mehr mit jedem einzelnen in den Verbänden
tungserbringer/Konsument  –, sondern auch organisierten Leistungserbringer abrechnen
dort, wo er diesen Zielen in höchstem Maße müsste. Jede Krankenkasse könnte selbst ent-
dienlich wäre – zwischen den verschiedenen scheiden, mit welchem Leistungserbringer sie
Leistungserbringern und zwischen den ver- zu welchen Konditionen Verträge abschließt.
schiedenen Versorgungssystemen.
Die Vertragsfreiheit würde einen grund-
Statt auf die Gemeinwohlverpflichtung der legenden Strukturmangel des deutschen Ge-
Verbände zu vertrauen, käme es darauf an, sundheitswesens beseitigen, weil die Ver-
die Stellvertreter der Patienten von vornher- handlungsmacht der Leistungsanbieter fortan
ein zielgenauer auszuwählen. Der Vorschlag durch einen Preiswettbewerb beschränkt wäre.
der Gesundheitsökonomik für eine Struktur- Die Leistungserbringer im stationären oder
reform lautet daher, die Sachwalterfunktion ambulanten Sektor stünden untereinander
zukünftig von den Leistungserbringern und nicht mehr länger nur in einem Qualitäts-
der Regionalpolitik auf die Krankenkassen wettbewerb, sondern auch in einer Konkur-
zu übertragen. Die grundlegende Idee die- renz um die günstigsten Preise. Eine solche
ses Vorschlages ist es, wettbewerbliche Steue- Entwicklung wäre ein nachhaltiger Bruch
rungsinstrumente dort einzusetzen, wo sie zu mit den gewachsenen Strukturen der Ver-
aus Beitragszahlendensicht gewünschten Re- bändelandschaft und würde von den Ver-
sultaten führen, also im Verhältnis Leistungs- bänden der Leistungsanbieter sicherlich er-
erbringer/Krankenkasse und im Verhältnis bittert bekämpft. Dennoch ist der Abschied
der Krankenversicherungen untereinander. von der Verbänderepublik vielleicht weni-
Im Wettbewerb stehende Krankenkassen, die ger utopisch, als man meinen könnte. Wenn
ein in Umfang und Qualität identisches Leis- der Eindruck nicht täuscht, sind selbst die
tungspaket wie in der Gesetzlichen Kranken- Nutznießer – in erster Linie die organisierten

16 APuZ 45/2010
Leistungserbringer – mit den Resultaten der 3. Die Trennung zwischen gesetzlicher und
gegenwärtigen Marktordnung im Gesund- privater Krankenversicherung würde auf-
heitswesen nicht mehr länger zufrieden. Die gehoben. Es gibt keinen Grund, von einer
Ergebnisse, ausgehandelt von den eigenen Transferleistung, die im Rahmen der so-
Funktionären, werden von den Verbandsmit- zialen Grundversicherung vorgenommen
gliedern zunehmend in Frage gestellt. Wenn wird, ausgerechnet die Bezieher hoher
aber der Korporatismus nicht mehr länger in Einkommen auszunehmen. Ebenso we-
der Lage ist, eine einvernehmliche und ins- nig gibt es einen Grund, Menschen auf-
besondere für alle Akteure verbindliche Lö- grund einer bestimmten Einkommens-
sung hervorzubringen, verliert er seine Rai- grenze den Abschluss einer Versicherung
son d’être. Von dieser Erkenntnis ist es nur nach dem Kapitaldeckungsverfahren zu
ein kleiner Schritt zum Verzicht auf den Kon- verwehren. Vielmehr könnten GKV und
trahierungszwang. Er wird der Politik umso PKV grundsätzlich beide Vertragsar-
leichter fallen, je deutlicher die Nachteile der ten anbieten – die soziale, obligatorische
gegenwärtigen Marktordnung in den Vorder- Grundversicherung und die freiwillige,
grund treten. individuell gestaltete Zusatz­versicherung.
4. Die Lücke zwischen dem medizinisch
Gesetzliche Krankenversicherung Machbaren und den im Rahmen der
Grundversicherung zur Verfügung ste-
nach dem Geschmack des Ökonomen henden Mitteln würde immer größer wer-
den. Eine Trennung zwischen Grund- und
Ein Vorschlag, der gleich mehrere Fliegen mit
Zusatzversicherung würde diese nicht zu
einer Klappe schlägt, liegt in der Trennung
leugnende Tatsache transparent machen
zwischen einer sozial gestalteten Grundversi-
und die Möglichkeit eröffnen, individuel-
cherung und individuell abgeschlossenen und
len Versicherungsschutz zu kaufen, bevor
finanzierten Zusatzverträgen. Der Bereich
der Krankheitsfall eintritt.
der Grundversicherung wäre für alle Bürge-
rinnen und Bürger obligatorisch und würde
die Kosten für eine Grundversorgung in ei- Eine obligatorische Krankenversicherung mit
nem für alle verbindlichen Umfang decken. gesetzlich vorgeschriebenem Umfang stellt
In diesem Bereich erfolgen Markteingriffe immer einen Kompromiss zwischen kon-
nicht nur zur Effizienzsteigerung, sondern kurrierenden Zielen dar. Solange Menschen
auch mit dem Zweck, Gerechtigkeitsziele zu bezüglich ihrer individuellen Absicherung
erreichen. Der Bereich der Zusatzversiche- unterschiedliche Wünsche haben, wird ein
rung diente dazu, den Mindestschutz je nach solcher Kompromiss nie wohlfahrtsmaximie-
den individuellen Präferenzen nach oben an- rend sein. Die aufgrund von Gerechtigkeits-
zupassen. Gerechtigkeitsziele würden in die- erwägungen gewünschte Umverteilung kann
sem Bereich nicht angestrebt. Eine solche demzufolge immer nur durch einen Verzicht
Trennung hätte eine Reihe von Vorteilen. auf Effizienz „erkauft“ werden: je umfangrei-
cher die obligatorische Deckung, umso mehr
wird umverteilt, umso höher aber auch die
1. Die Abweichung der Zwangsversiche-
Effizienzverluste durch das Verhaltensrisi-
rung von den individuellen Präferenzen
ko und überproportionale Transaktionskos-
wird geringer, da nur noch eine Grund-
ten. Die Vorschläge der Gesundheitsökono-
versicherung vorgeschrieben würde. Die
mik laufen darauf hinaus, durch Abkehr von
Bürgerinnen und Bürger hätten auf diese
der Vollversicherung – Trennung zwischen
Weise die Wahl zwischen verschiedenen
Grund- und Zusatzversicherung, absolute
Versorgungssystemen, die sie ihren eige-
und proportionale Zuzahlungen – die Effi-
nen Bedürfnissen anpassen können. Die
zienzverluste einzuschränken und gleichzei-
größere Wahlfreiheit bedeutet einen Effi-
tig die Abweichung der kollektiven Lösung
zienzgewinn.
von den individuellen Präferenzen möglichst
2. Die Grundversicherung bewirkte eine klein zu halten, ohne aber die Gerechtigkeits-
Konzentration der Transferzahlungen zur ziele bei den großen finanziellen Risiken im
Erreichung von Gerechtigkeitszielen auf Rahmen der Grundversicherung aufzugeben.
das Wesentliche, nämlich auf diejenigen
Risiken, die individuell nicht tragbar sind.

APuZ 45/2010 17
Kerstin Funk stehen. Als Gründe hierfür werden vor allem
der demografische Wandel, Arbeitslosigkeit,

Gesundheitspolitik der medizinisch-technologische Fortschritt,


die Nachfragesteigerung nach Gesundheits-
leistungen sowie fehlende Kostentransparenz

in internationaler und die mangelnde Eigenverantwortung der


Versicherten genannt.

Perspektive Im Folgenden wird dargestellt, welche Maß-


nahmen ausgewählte Staaten ergriffen haben,
um diesen Problemen zu begegnen. Um eine
Vergleichbarkeit mit dem Gesundheitssystem

G esundheit ist ein wichtiges menschliches


Gut. Für viele ist es wichtiger als wirt-
schaftlicher Wohlstand oder Erfolg. Die ei-
in Deutschland zu ermöglichen, wird dabei
auf Reformbeispiele in Industriestaaten zu-
rückgegriffen, und zwar auf die Reformen in
gene Gesundheit bzw. der Schweiz, in den Niederlanden und in den
Kerstin Funk die Gesundheit der Fa- USA. Anhand einer Bilanz dieser Reformen
Dr. phil, geb. 1971; Politikwis- milie sind die wich- kann abschließend untersucht werden, inwie-
senschaftlerin und Referentin tigsten Faktoren per- weit die dortige Neugestaltung der Gesund-
für Gesundheitspolitik im Libe- sönlichen Glücks. ❙1 Es heitssysteme beispielhaft für das deutsche Ge-
ralen Institut der Friedrich-Nau- liegt daher nahe, dass sundheitssystem sein kann.
mann-Stiftung für die Freiheit, der Erhalt oder die
Karl-Marx-Straße 2, Wiederherstellung von
14482 Potsdam. Gesundheit von großer Ausgaben und Einnahmen
kerstin.funk@freiheit.org Bedeutung sind. Schon
in der Antike entwi- Die Ausgaben im Gesundheitswesen sind in
ckelte sich ein regelrechter Markt, auf dem Ge- den vergangenen Jahrzehnten kontinuier-
sundheitsleistungen angeboten wurden: Hei- lich gestiegen. Im Jahr 2007 wurden in den
ler, Mediziner und Bader sorgten sich im anti- OECD-Ländern durchschnittlich 8,9 Prozent
ken Rom um die Gesundheit und das Wohlbe- des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Ge-
finden der Bevölkerung, und es entstand eine sundheitsausgaben verwendet. ❙2 In den meis-
systematische Gesundheits­versorgung. ten Ländern stiegen die Ausgaben für Ge-
sundheit schneller an als das BIP. Während der
Seit Ende des 19.  Jahrhunderts ist die Or- Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP in der
ganisation der Gesundheitssysteme infolge Türkei weniger als 6 Prozent beträgt, liegt die-
der industriellen Revolution zunehmend in ser Wert in den USA bei 16 Prozent. Ein hoher
den Bereich des Staates übergegangen. Das Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP wird
erste Modell einer staatlichen Sozialversiche- auch für Frankreich (11 Prozent), die Schweiz
rung wurde 1883 in Deutschland geschaf- (10,8 Prozent), Deutschland (10,4 Prozent) und
fen, als Reichskanzler Otto von Bismarck die Niederlande (9,8 Prozent) ausgewiesen.
neben einer Unfallversicherung eine Alters-
und Invalidenversicherung einführte und die Einen nicht unerheblichen Einfluss auf die
Krankenversicherung vereinheitlichte. Die Ausgabensteigerungen hat der demografische
Popularität der Sozialversicherung in der Ar- Wandel, genauer: die zunehmende Alterung
beiterklasse führte zur Einrichtung ähnlicher der Bevölkerung. Die Krankheitskosten er-
sozialer Sicherungssysteme über Deutsch- höhen sich mit zunehmendem Lebensalter
land hinaus. So führten bald auch Belgien, und mit zunehmendem Anteil älterer Men-
Norwegen, Großbritannien und Russland schen an der Bevölkerung. In Deutschland
eine Krankenversicherung ein. Weitere Staa- entfielen 2002 rund 43 Prozent der Ausgaben
ten folgten dem deutschen Vorbild nach dem
Ersten Weltkrieg. ❙1  So auch das Ergebnis einer repräsentativen Um-
frage der Bertelsmann-Stiftung: „Glück, Freude,
Wohlbefinden – Welche Rolle spielt das Lernen?“,
Heute existieren verschiedene Modelle staat-
Gütersloh 2008, online: www.bertelsmann-stif-
lich organisierter Gesundheitssysteme, die alle tung.de/cps/rde/xbcr/SID-DA9505F3-3AD54EC2/
einer immensen Steigerung ihrer Ausgaben und bst/xcms_bst_dms_23599_23600_2.pdf (22. 9. 2010).
einer verminderten Einnahmebasis gegenüber- ❙2  Vgl. OECD, Health Data Report, Paris 2009.

18 APuZ 45/2010
auf die über 65-Jährigen. ❙3 Im Jahr 2004 ent- Eine Wechselbeziehung schließlich lässt
standen bei den über 64-Jährigen 45 Prozent sich zwischen der Alterung der Gesellschaft
der gesamten Krankheitskosten. Sie kon- und dem medizinisch-technologischen Fort-
zentrieren sich auf eine im Verhältnis klei- schritt erkennen. So können Krankheiten
ne Bevölkerungsgruppe mit einem Anteil früher diagnostiziert und erfolgreicher the-
von 18  Prozent. Ein Vergleich mit dem An- rapiert werden. Dies wiederum bringt eine
teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Al- längere Lebenserwartung mit sich. Der de-
ter zeigt folgende Ergebnisse: Obwohl sich mografische Wandel und der medizinisch-
die Krankheitskosten im Alter auf weni- technologische Fortschritt sind demnach
ger Personen verteilten, reichte ihr Volumen zwei Seiten derselben Medaille, des Ausga-
fast an das der Bevölkerung im erwerbsfähi- benwachstums im Gesundheitswesen.
gen Alter heran. ❙4 Mit fortschreitendem Al-
ter steigen die Pro-Kopf-Krankheitskosten Die Zunahme bei den Ausgaben erfordert
überproportional an: Bei durchschnittlichen parallel eine Steigerung der Einnahmen, die
Pro-Kopf-Ausgaben von 2730 Euro (im Jahr jedoch nur schwer umsetzbar ist. Auch für die
2004) waren diese für die Gruppe der 65- bis fehlenden Einnahmen sind mehrere Gründe
84-Jährigen 2,2 mal so hoch wie der Durch- zu nennen: der demografische Wandel, hohe
schnitt, bei den über 84-Jährigen gar 5,4 Lohnnebenkosten und vor allem die fehlen-
mal so hoch. Sie lagen für diese Gruppe bei de Kostentransparenz und mangelnde Eigen-
14750 Euro pro Kopf. ❙5 verantwortung der Versicherten. Infolge des
demografischen Wandels sinkt der Anteil der
Auch der medizinisch-technologische Fort­ Berufstätigen an der Bevölkerung. Gleich-
schritt hat zu Ausgabensteigerungen im Ge- zeitig steigt der Anteil der Rentner, während
sundheitswesen geführt. Neue Medikamente, aufgrund der niedrigen Geburtenrate weniger
Transplantationen, minimalinvasive Chirur- Menschen in den Arbeitsmarkt nachrücken.
gie, künstliche Organe oder Kernspintomo- Aufgrund der Abhängigkeit der Finanzie-
graphen sind hoch entwickelte Innovationen. rung der Beiträge der Gesetzlichen Kranken-
Die neuen Diagnose- und Behandlungsme- versicherung von den Arbeitseinkommen feh-
thoden werden in der Regel ergänzend zu len damit notwendige Einnahmen. Es kommt
vorhandenen Verfahren eingesetzt oder ange- zu einer Situation, in der immer weniger Bei-
wandt (add-on-Technologien). Dies lässt sich tragszahlern immer mehr Versicherte gegen-
darstellen an der Anzahl der Geräte, die im überstehen.
stationären und ambulanten Bereich vorhan-
den sind: Von 2003 bis 2006 nahm in Deutsch- In jüngster Vergangenheit haben einige
land die Anzahl der Großgeräte um 15,6 Pro- Staaten ihre Gesundheitssysteme teilweise
zent zu. ❙6 Der Einsatz von Medizintechnik grundlegend reformiert. Sie alle haben damit
wird in Zukunft aller Voraussicht nach auch auf die Probleme reagiert, die durch Ausga-
deshalb weiter steigen, weil die Halbwertzei- bensteigerungen und Einnahmeverluste für
ten der Geräte teilweise nur wenige Jahre be- das jeweilige Gesundheitswesen entstanden
tragen. Angebot und Nachfrage verstärken sind.
sich insbesondere in diesem Bereich wech-
selseitig, vor allem, weil die Qualität medizi-
nischer Behandlung weitgehend am Einsatz Das Schweizer Modell
modernster Medizintechnik gemessen wird.
Das Krankenversicherungsgesetz in der
Schweiz trat am 1.  Januar 1996 in Kraft. Es
❙3  Quelle: Statistisches Bundesamt, online: www.
enthält eine landesweite Versicherungspflicht.
gbe-bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_
uid=gastg&p_aid=&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_ Die ausschließlich privaten Krankenkassen
suchstring=10911::Krankheitskostenrechnung%20 unterliegen einem Kontrahierungszwang, das
%28KKR%29 (15. 7. 2010). heißt, sie sind gesetzlich verpflichtet, jeden
❙4  Vgl. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des in die Grundversicherung aufzunehmen. Die
Bundes, Gesundheit und Krankheit im Alter. Eine Schweiz hat als erstes Land weltweit das Mo-
gemeinsame Veröffentlichung des Statistischen Bun-
dell einer sogenannten „Kopfpauschale“ imple-
desamtes, des Deutschen Zentrums für Altersfragen
und des Robert Koch-Instituts, Berlin 2009, S. 229. mentiert. Dies bedeutet, dass jeder Versicherte
❙5  Vgl. ebd., S. 230. die Prämie für die Krankenkasse selbst be-
❙6  Vgl. ebd., S. 256. zahlt. Versicherungspflichtig sind alle Schwei-

APuZ 45/2010 19
zer, auch nicht berufstätige Ehepartner und ten ist. Allerdings muss das Funktionieren
Kinder. Die Prämienhöhe ist unabhängig von dieses Marktes stets vor dem Hintergrund
Einkommen und Vermögen. Der Abschluss ei- der Besonderheiten des Gesellschaftssys-
ner Grundversicherung ist für alle Einwohner tems betrachtet werden: Die Schweizerin-
obligatorisch, und es besteht freie Kassenwahl. nen und Schweizer sind traditionell einen
Die Prämie für die Grundversicherung variiert hohen Grad von Eigenverantwortung und
nach den Regionen und unterliegt der Geneh- Mitbestimmung gewohnt, und sie sind weit
migung durch das Bundesamt für Gesundheit. mehr als die Bürger anderer Länder bereit,
Untere Einkommensschichten und kinderrei- finanzielle Lasten selbst zu tragen. Dies
che Familien erhalten Prämienverbilligungen, zeigt sich insbesondere an der Wahl der Ta-
die aus Steuermitteln finanziert werden. rife. So waren im Jahr 2008 nur 41,4 Prozent
der Versicherten im sogenannten Grundta-
Im Grundtarif sind alle Leistungen nach ei- rif versichert; fast 60 Prozent wählten dem-
nem gesetzlich vorgegebenen Leistungskata- nach einen Tarif, der höhere Selbstbehalte
log enthalten. Diese Leistungen umfassen alle ­u mfasst. ❙7
notwendigen ambulanten, stationären und
teilstationären Leistungen sowie ausgewählte Umfragen belegen ein grundsätzliches
präventive Leistungen. Ausgenommen vom Einverständnis mit dem marktwirtschaft-
Leistungskatalog sind Zahnbehandlungen lichen System der Krankenversicherung. ❙8
und auch das Krankengeld. Ergänzend zur Trotz der Bereitschaft zur eigenen Vorsor-
obligatorischen Grundsicherung kann jeder ge anerkennen die Befragten die Bedeutung
Versicherte freiwillig Zusatzversicherungen von Solidarität in der Krankenversicherung:
abschließen. Für die Zusatzversicherungen So stimmen 87  Prozent der Frage zu, ob es
berechnen die Krankenversicherungen Prä- Solidarität zwischen Arm und Reich in der
mien, die sich nach dem individuellen Risiko Krankenversicherung brauche; 75  Prozent
bemessen. Allerdings können für die Zusatz- wollen auch die Solidarität zwischen Kran-
versicherungen auch Interessenten abgewie- ken und Gesunden sichergestellt wissen.
sen werden. Allerdings halten es ebenfalls 75  Prozent
der Befragten für unfair gegenüber anderen
Um eine Prämienverbilligung – auch für Prämienzahlern, wenn jemand keine Sor-
den Grundtarif – zu erreichen, können ver- ge für seine Gesundheit trägt. 38  Prozent
schiedene Formen von Kostenbeteiligungen sind sogar bereit, die Franchise bei gesund-
gewählt werden. So kann die Eigenbeteili- heitlichen Problemen zu ändern und höhe-
gung über den obligatorischen Selbstbehalt re Prämien zu bezahlen. Fast die Hälfte der
von 300 Franken (sogenannte Franchise) hi- Befragten zeigt sich mit dem System zufrie-
naus erhöht werden, die Wahlfreiheit kann den (46  Prozent), 12  Prozent möchten, dass
reduziert werden, oder es können Leistungs- die Grundversicherung vom Staat, also über
freiheitsrabatttarife gewählt werden. Da- Steuern und andere Einnahmen, finanziert
rüber hinaus kann die im Grundtarif ent- wird. Schließlich zeigt sich auch ein großes
haltene Unfallversicherung ausgeschlossen Kostenbewusstsein: 70  Prozent der Befrag-
werden. Zwischen den Krankenkassen exis- ten kontrollieren ihre Arztrechnungen; we-
tiert ein Risikoausgleich, um Unterschiede niger als die Hälfte (43 Prozent) der Befrag-
in der Struktur der Versicherten auszuglei- ten ist der Meinung, Kosten spielten keine
chen. Seit Beginn des Jahres 2010 berücksich- Rolle, wenn es um die Gesundheit geht. Vor
tigt dieser das Alter, das Geschlecht und das allem die Bereitschaft zur Übernahme von
Krankheitsrisiko der Versicherten. Darüber Kosten ist von großer Bedeutung, gehört
hinaus erfolgt innerhalb einer Krankenkasse doch das Gesundheitssystem in der Schweiz
eine Umverteilung zwischen Altersgruppen weltweit zu den teuersten. So liegen die Ge-
und Geschlechtern.
❙7  Vgl. Bundesamt für Gesundheit, Statistik der ob-
Das Gesundheitssystem der Schweiz ist ligatorischen Krankenversicherung 2008, online:
stark marktwirtschaftlich organisiert. Die www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/​
01156/02446/index.html?lang=de (28. 7. 2010).
Versicherten haben die Möglichkeit, auf ❙8  Vgl. für das Folgende: Santesuisse, Sondage san-
dem Markt der Versicherungsanbieter eine té, online: www.santesuisse.ch/de/srv_sondage_de-
Krankenversicherung abzuschließen, die auf tail.html?&objects.detail_id=166&objects.master_
ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnit- id=166 (19. 7. 2010).

20 APuZ 45/2010
sundheitsausgaben pro Kopf bei 4417 US- dazu dürfen die Versicherer Interessenten für
Dollar (kaufkraftbereinigt). Zum Vergleich: die Mindestversicherung nicht ablehnen.
In den Niederlanden liegt dieser Wert bei
3837, in Deutschland bei 3588 US-Dollar. Die Beiträge setzen sich zusammen aus ei-
Noch deutlich höher liegt der Wert in den nem Pauschalbeitrag und einem einkom-
USA mit 7290 US-Dollar. ❙9 mensabhängigen Anteil, der vom Arbeitge-
ber getragen wird. Der Pauschalbeitrag wird
Parallel zu den Kostensteigerungen stieg von den Versicherten direkt an die Versiche-
auch die Höhe der Prämien. Während ein Er- rung gezahlt. Die Höhe ist nicht einheitlich,
wachsener in der Schweiz Ende der 1990er sondern wird von der jeweiligen Versiche-
Jahre noch durchschnittlich 203,90 Schweizer rung bestimmt. Innerhalb einer Versicherung
Franken für den Grundtarif zahlte, beläuft muss die Basisversicherung zum gleichen Ta-
sich die Prämie jetzt auf 351,10 Schweizer rif angeboten werden, unabhängig vom Al-
Franken. ❙10 Auch die Höhe der Selbstbetei- ter, Geschlecht oder Risiko der Versicherten.
ligungen nahm von 1996 bis 2009 um fast Die Prämien werden jährlich neu kalkuliert.
50 Prozent zu. ❙11 Schließlich wuchs auch der Darüber hinaus sind die Versicherten ver-
Anteil der Steuerzuschüsse stark an. Allein pflichtet, einen prozentualen Beitrag ihres
die Ausgaben für die Prämienverbilligung Einkommens zu zahlen – im Jahr 2009 waren
stiegen von 1996 bis 2007 um fast 90  Pro- das 6,9 Prozent. Dieser Beitrag wird bis zu ei-
zent. Fast 30 Prozent der Wohnbevölkerung ner Beitragsbemessungsgrenze erhoben, die
erhielten im Jahr 2008 eine Prämienverbilli- zuletzt bei 32369  Euro lag. Die Arbeitgeber
gung (2007: 23,3  Prozent). ❙12 Die Praxis der müssen ihren Arbeitnehmern diesen Beitrag
Prämienverbilligung entlastet vor allem Fa- erstatten, er wird allerdings vom Arbeitneh-
milien im unteren und mittleren Einkom- mer versteuert. Die Erträge fließen in einen
mensbereich, so dass der soziale Ausgleich Krankenversicherungsfonds. Der Beitrags-
zielgenau dort stattfindet, wo er notwendig satz wird jährlich durch das Gesundheits-
ist. Dennoch bringt der Sozialausgleich über ministerium festgelegt. Auch Leistungen für
das Steuersystem keine höhere steuerliche Arbeitslose, Sozialhilfe, Renten und Selb-
Belastung mit sich. Vielmehr ist auch die Be- ständige unterliegen der Beitragspflicht.
lastung durch Steuern in der Schweiz im in-
ternationalen Vergleich sehr gering, so dass Eine staatliche Unterstützung für ein-
den Bürgern ein deutlich höherer Lohnan- kommensschwache Bürger erfolgt über das
teil zur freien Verfügung steht als in anderen Steuersystem. Der sogenannte Gesundheits-
Ländern, der zur Vorsorge über die Grund- zuschuss ist abhängig vom Haushaltsein-
leistungen hinaus genutzt werden kann. kommen und ist beim Finanzamt zu beantra-
gen, das den Gesundheitszuschuss auszahlt.
Allerdings ist der Zuschuss gedeckelt: Für
Reform in den Niederlanden Einzelhaushalte betrug der maximale Trans-
feranspruch im Jahr 2009 57,66 Euro monat-
Anfang 2006 erfolgte mit der Gesundheitsre- lich, für Mehrpersonenhaushalte maximal
form in den Niederlanden ein Übergang zu 121,75  Euro monatlich. Rund zwei Drit-
einem neuen Versicherungssystem. Zentraler tel der Haushalte in den Niederlanden ha-
Bestandteil war die Abschaffung des Dualis- ben den sozialen Ausgleich im Jahr 2008 in
mus von gesetzlichen und privaten Kranken- Anspruch genommen, dies entsprach einem
versicherungen hin zu einem privat organi- steuerlichen Ausgleich in Höhe von insge-
sierten Versicherungsmarkt unter staatlicher samt 3,6 Milliarden Euro. ❙13
Aufsicht. Für alle Bürger ab 18 Jahren besteht
eine Pflicht zum Abschluss einer gesetzlich Der Leistungskatalog der Basisversicherung
festgelegten Mindestversicherung, parallel ist gesetzlich geregelt. Er umfasst alle notwen-
digen stationären und ambulanten Leistun-
❙9  Vgl. OECD (Anm. 2). gen der Akutversorgung, ist jedoch nur ein
❙10  Vgl. Bundesamt für Gesundheit (Anm. 7). Mindestschutz. Ein Großteil der zahnärztli-
❙11  Vgl. Frank Schulze Ehring/Anne-Dorothee Köster,
chen und kieferorthopädischen Ver­sorgung
Gesundheitssysteme im Vergleich. Die Gesundheits-
reform in den Niederlanden und in der Schweiz als
Vorbild für Deutschland?, Köln-Berlin 2010, S. 103. ❙13  Vgl. F. Schulze Ehring/A.-D. Köster (Anm.  11),
❙12  Vgl. Bundesamt für Gesundheit (Anm. 7). S. 17.

APuZ 45/2010 21
ist aus dem Mindestschutz ebenso herausge- gatorischen Mindestschutz wurde dieses Ziel
nommen wie das Krankengeld. ❙14 Nicht zu- erreicht. Zudem sollten zumindest Teile der
letzt aus diesem Grunde nutzen viele Nieder- Finanzierung von der Beschäftigungssituati-
länder die Möglichkeit, Zusatzversicherungen on abgekoppelt werden. Auch dies ist mit Ein-
abzuschließen. So hatten sich 2009 92 Prozent führung der Pauschalbeiträge gelungen. Da-
der Versicherten für eine Zusatzversicherung rüber hinaus hat die Reform zu verstärktem
entschieden. Die Prämien und der Leistungs- Wettbewerb im Gesundheitssystem geführt.
umfang der Zusatzversicherungen sind nicht
reguliert, so dass die Berechnung der Prämien Die Bereitschaft, höhere Selbstbehalte in
in der Regel Alter, Geschlecht und das jewei- Kauf zu nehmen, findet sich jedoch nur bei
lige Risiko der Versicherten berücksichtigt. einem vergleichsweise geringen Bevölke-
Ebenso besteht für die Zusatzversicherungen rungsanteil. So hatten 2008 nur 5,2  Prozent
kein Kontrahierungszwang. der Versicherten einen Tarif mit höheren
Selbstbehalten gewählt. Allerdings hatten die
Eine verpflichtende Selbstbeteiligung in Krankenkassen schon vor der Reform eine
Höhe von 150 Euro jährlich gilt für alle Versi- Reihe von einkommensunabhängigen Zusatz-
cherten ab 18 Jahren. Zudem können die Ver- prämien von ihren Versicherten verlangt, die
sicherten höhere Selbstbehalte wählen, de- zum Teil bis zu 15 Prozent der Beiträge aus-
ren Stufen allerdings gesetzlich vorgegeben machten und für die es keinen sozialen Aus-
sind und zwischen 100 und 500 Euro liegen. gleich gab. Mit der Einführung des Sozialaus-
Eine Beitragsrückerstattung ist nicht mög- gleichs konnten übermäßige Belastungen für
lich. Alternativ zu einer individuellen Versi- die Versicherten vermieden werden, so dass
cherung ist der Krankenversicherungsschutz die Reform in der Bevölkerung grundsätzlich
über eine Gruppenversicherung möglich. Bei akzeptiert wird. Für die meisten Haushalte
dieser Gruppenversicherung können Arbeit- führte die Reform eher zu einer Entlastung
geber oder andere Interessengruppen (Ge- als zu einer weiteren Belastung.
werkschaften, Sportvereine, Patientenverei-
nigungen) mit einer Krankenversicherung Die Kosten für das Gesundheitssystem
einen Gruppenvertrag abschließen, der einen in den Niederlanden sind im internationa-
speziellen Leistungskatalog sowie in der Re- len Vergleich geringer als in den USA oder in
gel eine Prämienvergünstigung umfasst. Deutschland. Ein Grund hierfür liegt auch in
den Besonderheiten der Versorgung. So gilt in
Die einkommensabhängigen Beiträge sowie den Niederlanden ein striktes „Primärarzt-
die aus Steuergeldern finanzierten Beiträge prinzip“. Danach muss jeder Patient  – außer
für Kinder und Jugendliche unter 18  Jahren in Notfällen – zunächst einen Hausarzt auf-
fließen in einen Fonds. Die Krankenkassen suchen. Allein der Hausarzt entscheidet über
erhalten aus dem Fonds Risikoausgleichszah- eine Überweisung zu einem Spezialisten oder
lungen, welche das Alter, das Geschlecht und über eine stationäre Behandlung. Auf diese
morbiditätsrelevante Faktoren berücksichti- Weise werden die meisten medizinischen Pro-
gen. Auf diese Weise erfolgt eine Kompensa- bleme in den Hausarztpraxen geklärt und kos-
tion der unterschiedlichen finanziellen Belas- tenintensive Besuche bei Spezialisten zunächst
tung der einzelnen Versicherungen. vermieden. Auch werden deutlich weniger
Arzneimittel verschrieben, so dass die Aus-
Ziel der Reform des Gesundheitssystems in gaben für Arzneimittel deutlich geringer sind.
den Niederlanden war eine Vereinheitlichung
des bis dahin sehr unübersichtlichen Systems. Die Entwicklung der Prämienhöhen zeigt,
Neben der gesetzlichen Krankenversicherung dass der Wettbewerb in den meisten Fällen zu
waren bis zur Reform Teile der Bevölkerung einer niedrigeren Prämie geführt hat. Die Be-
privat versichert, andere – z. B. Beamte – un- deutung der Prämienhöhe zeigt sich auch an
terlagen besonderen Regelungen in der Kran- der Wechselquote, also am Anteil der Versi-
kenversicherung. Mit dem Übergang zu einem cherten, welche die Versicherung wechselten.
privaten Versicherungssystem mit einem obli- Gleich nach Inkrafttreten der Reform wechsel-
ten im Jahr 2006 18 Prozent der Versicherten,
❙14  Das Krankengeld ist in den Niederlanden priva- um günstigere Tarife zu erhalten. Dieser Wert
tisiert und wird in der Regel von den Arbeitgebern ist jedoch in den Folgejahren gesunken. Ende
übernommen. des Jahres 2009 entschieden sich nur noch vier

22 APuZ 45/2010
Prozent für einen Versicherungswechsel. Viele jeder Amerikaner in einem Krankenhaus
Versicherte wechseln aber auch innerhalb der behandelt, auch jene, die über keinen Versi-
Versicherung hin zu einer günstigeren Prämie cherungsschutz verfügen. Die Behandlung in
oder zu einem Gruppenvertrag. Die weitere den Krankenhäusern wird nicht staatlich fi-
Entwicklung wird zeigen, inwieweit der Wett- nanziert, die Krankenhäuser können die Kos-
bewerb zu einem marktorientierten Verhalten ten aber als Spenden von der Steuer ­absetzen.
der Versicherten weiter beitragen wird.
Der hohe Anteil Nichtversicherter lässt
sich folgendermaßen begründen: Zum ei-
USA: Gesundheitsreform nen können sich viele Menschen keine pri-
als Meilenstein vate Krankenversicherung leisten, sind aber
dennoch nicht berechtigt, die Leistungen von
Die Einführung einer für alle Amerikaner be- Medicaid in Anspruch zu nehmen. Mit ei-
zahlbaren Krankenversicherung war ein zen- nem Anteil von 56 Prozent ist dies bei weitem
trales Wahlkampfthema von Barack Obama. die größte Gruppe unter den Nichtversicher-
Ein Großteil der amerikanischen Bevölke- ten. Darüber hinaus können Versicherungen
rung hat keine oder keine ausreichende Kran- Anträge auf Krankenversicherung ablehnen,
kenversicherung. Viele Menschen können wenn Menschen Vorerkrankungen hatten.
sich die notwendige medizinische Versorgung Schließlich verzichten viele Amerikaner auch
nicht leisten, da Versicherungen sehr teuer auf den kostspieligen Versicherungsschutz
sind und teure Behandlungen nicht überneh- beziehungsweise begnügen sich mit der Not-
men. Bis zur Reform wurde der Krankenver- versorgung im Rahmen von EMTALA.
sicherungsschutz der Amerikaner als priva-
te Angelegenheit betrachtet, eine allgemeine Präsident Obama brachte zügig einen Re-
Pflicht zur Versicherung gab es nicht. Zwar formvorschlag in den Gesetzgebungspro-
gibt es mehrere Säulen staatlicher Gesund- zess ein, der kontrovers diskutiert wurde. Im
heitsfürsorge, doch können rund 15 Prozent März 2010 wurde der Patient Protection and
der Einwohner diese Hilfe nicht beanspru- Affordable Care Act verabschiedet. Paral-
chen. Ihnen ist bislang nur in Notfällen me- lel dazu wurde der Health Care and Educa-
dizinische Hilfe sicher. Im Jahr 2008 waren tion Affordability Reconciliation Act of 2010
15,4 Prozent aller Amerikaner nicht kranken- beschlossen, der im Wesentlichen die Ände-
versichert, darunter fast 10 Prozent aller Kin- rungswünsche der Demokraten enthält. Ins-
der. ❙15 Eine private Krankenversicherung hat- besondere für die Krankenversicherungen
ten im Jahr 2008 67,5 Prozent der Amerikaner, sehen die Gesetze eine Reihe von Änderun-
rund 59 Prozent waren über den Arbeitgeber gen vor. So dürfen sie Antragsteller nun nicht
versichert. Einen Anspruch auf staatliche Ge- mehr wegen Vorerkrankungen ablehnen, die
sundheitsfürsorge hatten 27,8 Prozent. Prämien dürfen für ältere Versicherte nicht
mehr unverhältnismäßig höher sein als zum
Es gibt in den USA zwei Arten staatlicher Beispiel für jüngere Versicherte, und auch für
Krankenversicherung: Medicare bietet Ame- Menschen mit Vorerkrankungen dürfen keine
rikanern ab 65 Jahren und Behinderten Versi- erhöhten Versicherungsbeiträge mehr verlangt
cherungsschutz und wird von rund 40 Milli- werden. Die Einkommensgrenzen für Medic­
onen Amerikanern in Anspruch genommen. aid wurden deutlich erhöht – nunmehr sind
Medicaid ist eine Krankenversicherung für Einwohner mit einem Einkommen von bis zu
Menschen mit geringem Einkommen. Hier 133  Prozent gemessen an der Armutsgrenze
sind ebenfalls etwa 40  Millionen Menschen anspruchsberechtigt. Für Einwohner mit ei-
versichert. Allerdings werden die Voraus- nem Einkommen bis zu 400 Prozent gemessen
setzungen für die Berechtigung für Medic­ an der Armutsgrenze wird die Krankenver-
aid von den Bundesstaaten festgelegt. Dies sicherung staatlich bezuschusst. Darüber hi-
führt zu sehr unterschiedlichen Regelun- naus wird erstmals eine Versicherungspflicht
gen. In Notfällen wird seit der Verabschie- eingeführt. Schließt ein Amerikaner keine
dung des Emergency Medical Treatment and Krankenversicherung ab, muss er Strafzah-
Active Labor Act (EMTALA) im Jahr 1986 lungen leisten. Auch die Arbeitgeber werden
stärker als bisher verpflichtet, ihren Mitarbei-
❙15  Vgl. US Census Bureau, online: www.census.gov/ tern eine Krankenversicherung anzubieten.
compendia/databooks (23. 7. 2010). Tun sie dies nicht, müssen auch sie eine Stra-

APuZ 45/2010 23
fe zahlen. Ausgenommen davon sind Klein- Leistungsangebotes in der Gesundheitsver-
unternehmen. Bieten diese ihren Mitarbeitern sorgung feststellbar. Eine Reduktion der Kos-
dennoch Krankenversicherungsschutz an und ten scheint daher nur über Wettbewerbseffekte
übernehmen sie mindestens die Hälfte der Prä- und Effizienzsteigerungen möglich. Der An-
mienkosten, können sie einen Großteil davon satz, zunächst die Einnahmeseite zu reformie-
(ab 2010 sogar bis zu 50 Prozent) von der Steu- ren, ist daher sinnvoll und nachvollziehbar.
erschuld abziehen. Schließlich werden in den
Bundesstaaten „Gesundheitsversorgungsbör- Dieser Weg scheint in der Schweiz sehr gut
sen“ sowie „Börsen für Programme mit Ver- gelungen zu sein, ist aber nur vor dem Hinter-
sicherungsoptionen für Kleinunternehmer“ grund der Besonderheiten in der Akzeptanz
eingerichtet, an denen Einzelne oder Klein- von Eigenverantwortung und eigener Vorsor-
unternehmen Versicherungen kaufen können, ge der Bevölkerung zu verstehen. Ein ähnlich
die eine Basisversicherung anbieten. Der Leis- drastisches Modell der Finanzierung wäre
tungsumfang dieser Basisversicherung wird in den Niederlanden kaum vorstellbar, spielt
staatlich festgelegt, er soll einen Großteil der doch dort die soziale Vorsorge von Seiten des
Kosten für medizinische Leistungen abde- Staates traditionell eine wesentlich größe-
cken und die Zuzahlungen begrenzen. Auch re Rolle. In den USA spiegelt sich die soziale
für diese Versicherungen gibt es Kredite und Schichtung der Bevölkerung in der Reaktion
staatliche Zuschüsse für Geringverdiener. auf die Gesundheitsreform wider: Während
einem Teil der Bevölkerung, die traditionell
Ziel der Reform ist es, mehr Amerikanern an Eigenverantwortung gewöhnt ist, die Re-
Versicherungsschutz zu bieten, und zwar ent- form viel zu weit geht, ist sie für einen ande-
weder durch den besseren Zugang zu einem ren Teil ein erheblicher Fortschritt in der sozi-
der staatlichen Programme (Ausweitung von alen Sicherung. Da die Reform noch sehr jung
Medicaid) oder durch die Möglichkeit, eine ist und die Umsetzung der Entscheidungen
bezahlbare private Versicherung abschließen kaum abgeschlossen ist, bleibt abzuwarten,
zu können. Die Kosten der Reform werden welche Auswirkungen sie haben wird und ob
auf 940 Milliarden US-Dollar für die nächs- sie schließlich positiv zu bilanzieren ist.
ten zehn Jahre geschätzt und sollen durch
Steuererhöhungen sowie durch Effizienzstei- Auch wenn vor dem Hintergrund nationa-
gerungen bei den Krankenversicherungen ge- ler Besonderheiten Vergleiche eher schwie-
genfinanziert werden. rig erscheinen, können gleichwohl einzelne
Elemente der jeweiligen Reformen durchaus
auch für die Reform des Gesundheitssystems
Ähnliche Probleme, in Deutschland von Bedeutung sein. So stär-
verschiedene Lösungen ken Wettbewerbselemente die Eigenverant-
wortung und können dazu beitragen, dem
Ein wesentlicher Anlass für die Reformen war Problem des sogenannten moral hazard zu
der enorme Anstieg der Kosten für das Ge- begegnen. Kostentransparenz und Selbstbe-
sundheitssystem – das gemeinsame Ziel war halte sind wichtige Bausteine dieser Elemen-
(und ist) es, eine nachhaltige Finanzierung des te. Um die Beiträge möglichst gering zu hal-
Gesundheitswesens zu erreichen. Anhand der ten, werden die Versicherten Angebote und
Beispiele wird deutlich, dass dies nur zum Teil Preise vergleichen, sich gleichzeitig aber auch
gelungen ist. So wurde die Finanzierung der gesundheitsbewusster verhalten. Denn da die
Systeme zwar grundlegend verändert – von Höhe der Prämien wesentlich vom Risiko ei-
weniger staatlicher Finanzierung in den Nie- ner Erkrankung abhängt, sind sie daran inte-
derlanden bis hin zu mehr staatlicher Finanzie- ressiert, ihr individuelles Risiko möglichst zu
rung in den USA. Die Ausgabenentwicklung minimieren. Ein wenig gesundheitsbewuss-
konnte aber durch diese Maßnahmen nicht tes Verhalten hätte unmittelbare Konsequen-
grundlegend verändert werden. Angesichts ei- zen für die Höhe der Prämie und damit für
ner mit der Reduktion der Ausgaben notwen- die Leistung der Versicherten. Dieses schein-
dig einhergehenden Leistungskürzung stellt bar egoistische Interesse wiederum führt
sich jedoch die Frage, ob dieses Ziel überhaupt langfristig zu einem Wettbewerb, der für alle
vorrangig sein kann. Vielmehr scheint eine Versicherten die Prämie reduzieren kann.
Entwicklung zu einem immer größeren und
umfassenderen Konsum des immer dichteren

24 APuZ 45/2010
Uwe H. Bittlingmayer · Diana Sahrai Abbildung: Zusammenhang zwischen Einkommen
und Lebenserwartung; Alle Erwerbstätigen in

Gesundheitliche Deutschland

Ungleichheit. Plädo-
yer für eine ethno-
logische Perspektive
N achdem in Deutschland im internationa-
len Vergleich mit Verspätung registriert
worden ist, dass es auch hierzulande eine er-
Quelle: Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epi-
hebliche sozial beding- demiologie (IGKE) Köln.
Uwe H. Bittlingmayer te Ungleichheit ge-
Dr. phil., geb. 1970; Professor sundheitlicher Zustän-
für Soziologie am Institut für de in der Bevölkerung
Sozialwissenschaften der Päda- gibt, lässt sich seit etwa gung haben, von 78,4  Jahren, im Gegensatz
gogischen Hochschule Freiburg, einem Jahrzehnt ein zu Frauen, die über ein monatliches Brut-
Kunzenweg 21, emsiges Sammeln von toeinkommen von mehr als 4500  Euro ver-
79117 Freiburg i. Br. sozialepidemiologi- fügen, von 87,2  Jahren. Bei Männern ist die
uwe.bittlingmayer@ schen Daten beobach- Differenz ebenso ausgeprägt: Männer, die
ph-freiburg.de ten. Diese Daten sol- weniger als 1500  Euro Bruttoeinkommen
len darüber Auskunft besitzen, leben im Durchschnitt 71,1  Jah-
Diana Sahrai geben, welche Bevöl- re, während Männer, die mehr als 4500 Euro
M. A., geb. 1973; wissenschaft- kerungsgruppen auf- monatliches Bruttoeinkommen aufweisen,
liche Mitarbeiterin an der Fakul- grund welcher Merk- mit einer durchschnittlichen Lebenserwar-
tät für Bildungswissenschaften male besonders von tung von 80 Jahren rechnen können (siehe die
der Universität Duisburg–Essen, Krankheiten und vor- Abbildung). ❙2
Berliner Platz 6–8, 45117 Essen. zeitigem Tod bedroht
diana.sahrai@uni-due.de sind. Auch das Bildungsniveau wird in sozial­
epi­demio­lo­g ischen Studien immer wieder als
Aus der ­Literatur besonders relevante Stellgröße für die indi-
wissen wir zunächst, dass das verfügba-
re Einkommen für eine Reihe von Krank-
heiten und für die Lebenserwartung eine ❙1  Maßgeblich zur Rolle des Einkommens sind die
Studien des britischen Sozialepidemiologen Richard
sehr bedeutsame Rolle spielt. ❙1 Allein auf der
Wilkinson und seiner Kollegin Kate Pickett. Vgl. Ri-
Grundlage der Zugehörigkeiten zu Einkom- chard G. Wilkinson/Kate E. Pickett, Das Problem
mensgruppen ergeben sich Ungleichheiten in relativer Deprivation. Warum einige Gesellschaften
der Lebenserwartung zwischen den einkom- erfolgreicher sind als andere, in: Ullrich Bauer u. a.
mensärmsten sozialen Gruppen oder unte- (Hrsg.), Health Inequalities. Determinanten und
ren sozialen Schichten einerseits und den ein- Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit, Wies-
baden 2008, S.  59–86; dies., Gleichheit ist Glück.
kommensreichsten sozialen Gruppen oder
Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind,
den höheren sozialen Schichten andererseits. Frankfurt/M. 2009.
Auch wenn die errechneten Lebenserwar- ❙2  Die Abbildung und die Zahlen sind entnommen
tungsdifferenzen zwischen gut und schlecht aus: Karl Lauterbach u. a., Zum Zusammenhang zwi-
gestellten Personen variieren: Eine immer schen Einkommen und Lebenserwartung. Studien zu
wieder zitierte Studie von Karl Lauterbach Gesundheit, Medizin und Gesellschaft 2006, Köln
2006, S. 7; eine Lebenserwartungsdifferenz von fünf
und anderen aus dem Jahr 2006 errechnet
Jahren für Frauen und von zehn Jahren für Männer
eine durchschnittliche Lebenserwartung von findet sich in: Anette Reil-Held, Einkommen und
Frauen, die ein monatliches Bruttoeinkom- Sterblichkeit in Deutschland: Leben Reiche länger?,
men von weniger als 1500  Euro zur Verfü- Mannheim 2000.

APuZ 45/2010 25
viduelle Gesundheit hervorgehoben. ❙3 Je ge- were seventy-four or seventy-five, whereas
ringer das individuelle Bildungsniveau – so black men in the poorest areas could expect
könnte man zunächst ganz allgemein zusam- to live to only about fifty-nine. The differ-
menfassen  –, desto größer die Wahrschein- ence in life expectancy between whites in rich
lichkeit einer ganzen Reihe von Krankheiten areas and blacks in poor areas of the United
wie Herz-Kreislauferkrankungen, Skelett­ States was close to sixteen years for both men
erkran­kungen oder Depressionen. Einer and ­women.“ ❙5
der bedeutendsten Sozialepidemiologen in
Deutschland, der sich um die Diskussion ge- In den Gesundheitswissenschaften und der
sundheitlicher Ungleichheiten in Deutsch- Sozialepidemiologie liegen mittlerweile eine
land besonders verdient gemacht hat, ist An- große Anzahl von Untersuchungen, Studien
dreas Mielck. In einer den Forschungsstand und Daten vor, mit denen sich das bedrohli-
gut zusammenfassenden Studie zeigt er auf, che Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit
dass allein der Erwerb des Abiturs eine deut- auch für Deutschland abschätzen lässt. Dass
liche Differenz in der Lebenserwartung mar- es gesundheitliche Ungleichheit in Deutsch-
kiert (bei Männern von 3,3 Lebensjahren, bei land gibt, ist eindeutig. Offen ist im Augen-
Frauen von 3,9 ­Lebensjahren). ❙4 blick, ob sie in den vergangenen Jahren zu-
genommen hat – wofür einige Anzeichen
Das verfügbare Einkommen und das er- sprechen – und wie die stetige Reprodukti-
reichte Bildungsniveau sind aber keineswegs on gesundheitlicher Ungleichheit zu erklä-
die einzigen gesundheitsrelevanten Ressour- ren ist.
cen. Wir wissen ferner, dass sich beispielswei-
se die berufliche Position, Arbeitslosigkeit
oder die Beschaffenheit des sozialen Nah­ Sozialepidemiologische Erklärungen
raums – zum Beispiel ein sozial segregierter
Wohnort oder eine Hochhaussiedlung, die Die Abhängigkeit des individuellen Gesund-
als sozialer Brennpunkt gilt – ungünstig auf heitszustands von bestimmten Einflussgrö-
die Gesundheit auswirken. Insbesondere für ßen kann zunächst einmal nicht überraschen.
räumliche Effekte auf die Gesundheit liegen Das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken,
für Deutschland sehr wenige Daten vor. Ein ist für einen Tiefbauarbeiter, der dreißig Jah-
Seitenblick auf die USA offenbart im Hin- re lang Kaltasphalt auf Straßen aufträgt, hö-
blick auf gesundheitliche Ungleichheit ein her als für einen Hartz-IV-Case-Manager,
Schreckensszenario: „����������������������
Research (…) using of- selbst wenn beide Raucher sind. Auch ist un-
ficial data from twenty-three rich and poor mittelbar einsichtig, dass heruntergekom-
areas in the United States found that white mene, nicht sanierte Wohnquartiere durch
women who had reached the age of sixteen Schimmelpilzbefall, Feuchtigkeit oder Lärm-
and were living in the richest areas could ex- belastungen größere Krankheitsrisiken für
pect to live until they were eighty-six years die Bewohnerinnen und Bewohner mit sich
old, compared to seventy for black women in bringen als ein Wohnen in gediegenen, wohl-
the poorest areas of New York, Chicago, and habenden Vierteln. ❙6
Los Angeles – a difference of sixteen years.
Similarly, sixteen-year-old white men living Diese mehr oder weniger unmittelbaren
in rich areas could expect to live until they Effekte des Zusammenhangs von Arbeits-

❙3  Eine gute Übersicht über die Zusammenhänge lie- ❙5  Richard G. Wilkinson, The Impact of Inequality,
fern John Mirowsky/Catherine Ross, Education, So- New York-London 2005, S. 14 f.
cial Status and Health, New York 2003; für den deut- ❙6  Vgl. zum Zusammenhang von Gesundheit und
schen Sprachraum sind die Studien von Thomas Abel Raum z. B. Frank J. van Lenthe u. a., Neighbourhood
und Mitarbeitenden zentral, z. B.: Thomas Abel u. a., Unemployment and All Cause Mortality: a Compa-
Kulturelles Kapital, kollektive Lebensstile und die rison of Six Countries, in: Journal of Epidemiolo-
soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit, gy and Community Health, 59 (2005) 3, S. 231–237;
in: Matthias Richter/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Ge- Nico Dragano et al., Neighbourhood Socioecono-
sundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, mic Status and Cardiovascular Risk Factors: a Mul-
Perspektiven, Wiesbaden 2006. tilevel Analysis of Nine Cities in the Czech Repub-
❙4  Vgl. Andreas Mielck, Soziale Ungleichheit und lic and Germany, in: BMC Public Health,  7  (2007),
Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion, online: www.biomedcentral.com/1471-2458/7/255
Bern 2005, S. 16. (23. 9. 2010).

26 APuZ 45/2010
und Umweltbelastungen einerseits sowie ge- Gesundheitsverhalten bilden das sozialepide-
sundheitlichem Zustand und Krankheits- miologische Erklärungsfundament, auf dem
risiko andererseits werden dann wesentlich die statistischen Signifikanzen in den Krank-
komplexer, wenn die statistisch signifikanten heitsrisiken und Lebenserwartungen ruhen.
Zusammenhänge zwischen sozialer Schicht- Es erscheint logisch, dass ein gesundheitsab-
zugehörigkeit, dem erreichten Bildungsni- trägliches Verhalten mit überhöhtem bewe-
veau und dem verfügbaren Einkommen auf gungsinaktivem Fernsehkonsum, fettreicher
der einen Seite sowie den Krankheitsrisiken Ernährung und extensivem Alkohol- und
und sozial ungleichen Sterblichkeitsraten auf Tabakgenuss auf lange Sicht gegenüber einem
der anderen Seite erklärt werden sollen. Um gesundheitszuträglichem, bewegungsintensi-
den Befund zu erklären, dass eine niedrige vem und ernährungsbewusstem Verhalten zu
Schichtzugehörigkeit oder ein geringer Bil- statistisch erhöhten Krankheits- und Sterb-
dungsabschluss mit spezifischen Krankheits- lichkeitsrisiken führt.
risiken und vorzeitigem Tod einhergeht, sind
eine Reihe von – in der Regel sehr implizi-
ten – Zusatzannahmen notwendig. Denn sol- Kulturelle und milieuspezifische
che Sozialstrukturindikatoren wie Einkom- Differenzen
men, Bildung oder soziale Schicht folgen stets
einer Ressourcenlogik: Ein hoher sozialer Was die Sozialepidemiologie nicht oder nur
Status, hohes Einkommen, hohes Bildungsni- unzureichend zu erklären vermag, ist, warum
veau gehen mit vielen Handlungsressourcen, sich Individuen bzw. nach bestimmten Merk-
ein geringer Sozialstatus, geringes Einkom- malen definierte Gruppen von Menschen (sta-
men, geringes Bildungsniveau mit entspre- tistische Aggregate) so verhalten, wie sie sich
chend wenigen Handlungsressourcen einher. eben verhalten – oder mit den Worten des bri-
tischen Gesundheitswissenschaftlers Michael
Nun ist die Verfügbarkeit über ein monat- Marmots: Wenn individuelles Gesundheitsver-
liches Bruttoeinkommen von nur 1500 Euro halten die Ursache (cause) für gesundheitliche
oder ein erreichter Hauptschulabschluss Ungleichheiten ist, was sind dann die causes of
nicht unmittelbar ein gesundheitsgefährden- the causes? Wird individuelles Gesundheits-
der Tatbestand. Theoretisch lässt sich selbst verhalten aus einer Ressourcenlogik heraus
mit relativ wenig Geld in hoch entwickelten erklärt, dann haben die gesundheitlichen Ri-
kapitalistischen Gesellschaften ebenso ein ge- sikogruppen entweder nicht genug Geld, um
sundheitsverträgliches Leben führen wie mit gesundheitszuträglich zu leben, oder sie sind
einem Hauptschulabschluss, wenn einmal die aufgrund ihres geringen formalen Bildungsni-
durchaus wahrscheinlichen, anhängenden ge- veaus nicht in der Lage, ihr Gesundheitsver-
sundheitsschädigenden Wohn- und Arbeits- halten mittel- und langfristig einschätzen zu
bedingungen außer Acht gelassen werden. ❙7 können, und verhalten sich deshalb gesund-
Der missing link zwischen Schichtzugehörig- heitsabträglich. Bisweilen gilt sogar beides.
keit und den formalen Handlungsressourcen
Geld und Bildung sowie den Krankheitsrisi- Solchen (hier in der kritischen Zuspitzung
ken und Gesundheitseinschränkungen liegt überzeichneten) sozialepidemiologischen Er-
in der Sozialepidemiologie im individuellen klärungsansätzen, die soziale Großgruppen-
Gesundheitsverhalten. Die Differenzen im kategorien wie Einkommensschwache oder
Bildungsferne unmittelbar mit individuel-
❙7  Dieser Satz ist polemisch. Die Realisierung eines lem Verhalten in Verbindung bringen, fehlt
gesundheitszuträglichen Lebensstils kostet Geld – eine Dimension, die sich nicht ohne Weiteres
von teureren Bio-Lebensmitteln angefangen über
in eine messbare Variable übertragen lässt. ❙8
Sportvereinsmitgliedschaften bis hin zu kostenin-
tensiver Sportkleidung. Es ist kaum übertrieben fest-
zustellen, dass eine Hartz-IV-Sozialpolitik nicht mit ❙8  In der Public-Health-Literatur existieren eine Rei-
Ideen einer Gesundheitsförderung und Krankheits- he von fruchtbaren Anknüpfungspunkten für die
reduzierung in Einklang zu bringen ist. Vgl. hierzu hier vorgeschlagene Perspektive. Zu nennen ist u. a.
z. B. Peter-Ernst Schnabel, Gesundheit fördern und Annette Sperlich/Andreas Mielck, Sozialepidemio-
Krankheit prävenieren, Weinheim-München 2006; logische Erklärungsansätze im Spannungsfeld zwi-
Gregor Hensen/Peter Hensen (Hrsg.), Gesundheits- schen Schicht- und Lebensstilkonzepten. Plädoyer
wesen und Sozialstaat. Gesundheitsförderung zwi- für eine integrative Betrachtung auf der Grundlage
schen Anspruch und Wirklichkeit, Wiesbaden 2008. der Bourdieuschen Habitustheorie, in: Zeitschrift für
Wir werden weiter unten darauf zurückkommen. Gesundheitswissenschaften, 11 (2003) 2, S. 165–179.

APuZ 45/2010 27
Es handelt sich um die kulturelle Dimensi- (Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, herrschen-
on von Verhaltensweisen, die nicht unmittel- de Klasse, Subproletariat) mit unterschied-
bar deckungsgleich ist mit ihrer materiellen lichen verfügbaren Handlungsressourcen
Seite, also mit den verfügbaren Handlungs- zu verstehen. Erst durch die Zugehörigkeit
ressourcen. Individuelle Verhaltensweisen zu spezifischen sozialen Milieus – so unsere
sind eingebettet in überindividuelle kultu- These im Anschluss an die Arbeiten von Ves-
relle Orientierungen, denn gesellschaftliche ter und anderen – erhalten soziale Praktiken,
Normen und Werte sind nach wie vor die so- Alltagsroutinen und Bewertungsmuster von
zialen Motoren für individuelle Verhaltens- Gesundheit ihren individuellen sowie ihren
weisen. Normen und Werte unterscheiden sozialen Sinn. ❙10
sich aber innerhalb einer Bevölkerung ganz
erheblich. Solche normativen und alltags- Um also – so lässt sich zusammenfassen –
praktischen Differenzierungslinien verlau- die Verhaltensdifferenzen von Menschen be-
fen – um auf einen jüngeren Vorschlag in der friedigend zu erklären, sind klassenkultu-
Erforschung gesundheitlicher Ungleichhei- relle, nach sozialen Milieus unterschiedene
ten zurückzugreifen – entlang von sozialen Wahrnehmungen der sozialen Welt und der
Milieus. Der Ungleichheitsforscher Micha- Einschätzung und Wertschätzung von indi-
el Vester, der den Milieuansatz in Deutsch- viduellen Verhaltensweisen als überindivi-
land etabliert hat, führt hierzu aus: „Die Le- duelle, Sinn setzende Verhaltensstrukturie-
bensführung der Menschen, von der auch ihr rungen zu berücksichtigen, mit denen die
Verhältnis zu Gesundheit und Krankheit ab- vorhandenen Unterschiede in den verfügba-
hängt, ist nach sozialen Milieus verschieden. ren Handlungsressourcen milieuspezifisch
(…) Gesundheitsrelevant ist (…) die ‚tätige interpretiert und symbolisch in Wert gesetzt
Seite‘, die Gesamtheit der Lebenspraxis der werden. Diese Perspektive lässt sich als Eth-
Milieus und ihrer Teilgruppen. (…) Morali- nologie der eigenen Gesellschaft bezeichnen
sche und materielle Aspekte sind verbunden und ist prominent von Irving Goffman und
mit Beziehungszusammenhängen und mit Pierre Bourdieu vertreten worden. Die Ein-
spezifischen körperlichen und geistigen, in- nahme eines solchen ethnologischen Blicks
dividuellen und geselligen, belastenden und auf die Verhaltensweisen der einheimischen
aufbauenden – immer gesundheitsrelevan- Bevölkerungsgruppen, wie er hier für die
ten  – Tätigkeiten und damit biografischen Gesundheitswissenschaften und Sozialepi-
Strategien, die die Bildungs- und Berufswe- demiologie eingeklagt wird, erlaubt es, die
ge anbahnen.“ ❙9 Kontextgebundenheit individuellen Gesund­
heitsverhaltens präziser zu bestimmen als
Individuelles Verhalten und individuelle ausschließlich ressourcenorientierte Ansätze.
Lebensführung wird im Rahmen eines An- Die Ethnologie lässt sich hier nutzen als eine
satzes, der vor allem auf die kulturelle Seite spezialisierte Wissenschaft zur Erforschung
alltäglicher Lebenspraxis schaut, durch die kultureller Differenzen.
Zugehörigkeit zu sozialen Milieus erklärt.
Soziale Milieus sind als kulturelle Verdich-
tungen traditionsreicher sozialer Gruppen Ethnische Zugehörigkeit
Die milieuspezifischen klassenkulturel-
❙9  Michael Vester, Milieuspezifische Lebensführung len Differenzlinien sind nicht die einzigen
und Gesundheit, in: Health Inequalities. Jahrbuch kulturellen Differenzen, die in einer hoch
für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaf- entwickelten und modernen Industriege-
ten, Nr. 45, (2009), S. 36–56; hier S. 36 f.; Versuche, den
sellschaft auffindbar sind. Das Bild sozi-
Ansatz sozialer Milieus für die Erklärung gesund-
heitlicher Ungleichheiten zu nutzen, finden sich u. a. al bedingter gesundheitlicher Ungleich-
in Ullrich Bauer, Das Präventionsdilemma. Potenzia- heit wird noch einmal komplexer, wenn die
le schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozia- zweite große kulturelle Differenzierungsli-
ler Polarisierung, Wiesbaden 2005, S. 186–196; Ullrich
Bauer/Uwe H. Bittlingmayer, Zielgruppenspezifi-
sche Gesundheitsförderung, in: Klaus Hurrelmann ❙10  Maßgeblich ist hierzu die Pionierstudie des fran-
u. a. (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, zösischen Soziologen Pierre Bourdieu, der statt von
Weinheim-München 2006, S. 781–818; Sybille Nider­ sozialen Milieus von Klassenfraktionen spricht. Vgl.
öst, Männer, Körper und Gesundheit. Somatische Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der
Kultur und soziale Milieus bei Männern, Bern 2007. gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.

28 APuZ 45/2010
nie, die ethnische Zugehörigkeit, ins Blick- kuloseinfektionen bei Migranten gegenüber
feld gerät. Die Sozialepidemiologie hat eine der deutschen Bevölkerung ebenso signifi-
ganze Reihe von zum Teil widersprüchlichen kant erhöht wie die Säuglingssterblichkeit
Befunden zusammengetragen, ob Menschen (in deutschen Krankenhäusern!). Die subjek-
mit anderen ethnischen Zugehörigkeiten tive Zufriedenheit mit dem eigenen gesund-
als der deutschen beziehungsweise Men- heitlichen Zustand ist bei türkischen Män-
schen mit Migrationshintergrund (im Fol- nern ab einem Alter von 44 Lebensjahren
genden werden diese beiden Bezeichnungen gegenüber deutschen Männern, aber auch ge-
der Lesbarkeit halber synonym verwendet) genüber Männern aus anderen Anwerbelän-
innerhalb Deutschlands als besondere ge- dern, deutlich niedriger. Und schließlich ist
sundheitliche Risikogruppe betrachtet wer- das Risiko, an Fettleibigkeit zu leiden, bei
den müssen oder aber – im Gegenteil – sogar nichtdeutschen Frauen ab einem Alter von
einen gegenüber Deutschen besseren durch- 40 gegenüber deutschen Frauen signifikant
schnittlichen Gesundheitszustand aufwei- erhöht. ❙13
sen. ❙11 Für beide Richtungen gibt es ausrei-
chend ­Befunde. Für den vorliegenden Argumentationszu-
sammenhang ist es weniger zentral, ob nun
Besonders auffällig sind Migranten aus ei- Angehörige von ethnischen Minderheiten po-
ner gesundheitswissenschaftlichen Perspek- sitiv oder negativ auffällig sind in Hinblick
tive dann, wenn sie zwar überproportional in auf Krankheitsrisiken und Sterblichkeitsra-
einer niedrigen sozialen Schicht anzutreffen ten, sondern dass sie zunächst unabhängig
sind, sich daraus aber kein erhöhtes Krank- von der Richtung des statistischen Effekts in
heits- und Sterblichkeitsrisiko ergibt: „In- der Regel (aber nicht immer) eine statistisch
nerhalb der nicht migrierten Bevölkerungs- signifikante Gruppe bilden. Auch diese Dif-
gruppen ist hinreichend bekannt, dass ein ferenzen zwischen Angehörigen ethnischer
niedrigerer sozialer Status mit erhöhten Ri- Minderheiten und der deutschen Mehrheits-
siken für Krankheit und vorzeitigen Tod ein- gesellschaft werden mit großer Wahrschein-
hergeht (…). Paradoxerweise haben Migran- lichkeit durch individuelle Verhaltensunter-
ten aber trotz ihrer sozialen Benachteiligung schiede hervorgerufen. Und ebenso wie bei
oftmals eine niedrigere Sterblichkeit als die den milieuspezifischen kulturellen Differen-
Allgemeinbevölkerung (…). Dieser Vorteil zen ist auch bei den kulturellen Differenzen
ist zum Teil ausgeprägt.“ ❙12 Die Faustformel, im Gesundheitszustand entlang ethnischer
dass ein niedriger sozialer Status und nied- Differenzierungslinien davon auszugehen,
rige Bildung mit erhöhten Krankheits- und dass es sich hier um alltägliche individuel-
Sterblichkeitsrisiken verbunden ist, muss le Verhaltensunterschiede handelt, die durch
also für Menschen mit nicht-deutscher eth- überindividuelle Normen und Werte struk-
nischer Zugehörigkeit zumindest relativiert turiert sind. Aber anders als bei den klassen-
werden. kulturellen milieuspezifischen Differenzen
liegen die ethnischen Differenzen zunächst
Anderseits weisen Menschen mit Migrati- einmal quer zu einer ungleichen Ressourcen-
onshintergrund durchaus auffällige einzelne logik.
Gesundheitsbelastungen auf. So sind Tuber-
Soziale Ungleichheiten in den durch-
❙11  Einen kurzen Überblick über positive und nega- schnittlich verfügbaren Handlungsressour-
tive Befunde der Migrationsbevölkerung im Gegen- cen zwischen der Migrationsbevölkerung
satz zur einheimischen Bevölkerung findet sich u. a. und der deutschen Mehrheitsgesellschaft
in Jacob Spallek/Oliver Razum, Erklärungsmodelle
für die gesundheitliche Situation von Migrantinnen
spielen eine wichtige Rolle – die (klas-
und Migranten, in: U. Bauer (Anm. 1), S. 274 ff.; Ro- sen-)kulturell verankerten gesundheitsbezo-
bert Koch-Institut (Hrsg.), Migration und Gesund- genen Differenzen zwischen Migranten und
heit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsbericht- Nicht-Migranten gehen aber nicht darin auf.
erstattung des Bundes, Berlin 2008; Diana Sahrai,
Healthy Migrants oder besondere Risikogruppe? Zur
Schwierigkeit des Verhältnisses von Ethnizität, Mi- ❙13  Alle aufgeführten Vergleiche in diesem Ab-
gration, Sozialstruktur und Gesundheit, in: Jahrbuch satz sind entnommen aus Robert Koch-Institut
für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaf- (Anm. 11), S. 38–40 für Tuberkulose, S. 35 für Säug-
ten, Nr. 45, (2009), S. 70–94. lingssterblichkeit, S. 50 ff. für subjektive Gesundheit
❙12  J. Spallek/O. Razum (Anm. 11), S. 274. und S. 52 ff. für Übergewicht/Fettleibigkeit.

APuZ 45/2010 29
Ebenso bedeutsam für die Gesundheit sind hinter den Verhaltensdifferenzen sensibel
beispielsweise Verhaltensweisen, die aus nachzuzeichnen und als soziale Tatsachen,
kulturellen Ernährungs- und Bewegungs- die individuelles Verhalten strukturieren,
vorschriften hervorgehen oder kulturell un- anzuerkennen. Wird die Erforschung und
terschiedliche Vorstellungen von Krank- Thematisierung gesundheitlicher Ungleich-
heitsursachen und Gesundheitskonzepten heiten um eine ethnologische Perspektive
transportieren. ergänzt, ergeben sich wichtige gesundheits-
politische Konsequenzen, die abschließend
Diese kulturellen Differenzen werden tra- skizziert werden sollen.
ditionell von der Medizinethnologie be-
schrieben. Dabei werden in den klassischen
Texten andere als die modernen bio-medi- Gesundheitspolitische Konsequenzen
zinischen Krankheits- und Gesundheits- einer ergänzenden ethnologischen
konzepte empirisch und kulturvergleichend
nachgezeichnet. ❙14 Das Besondere einer eth- Perspektive
nologischen Perspektive ist dabei, von nor-
mativen Beurteilungen so weit wie mög- Es ist breiter Konsens in den Gesundheits-
lich abzusehen. Stattdessen werden fremde wissenschaften, aber auch in den gesund-
Krankheits- und Gesundheitskonzepte zu- heitspolitischen Diskussionen, dass die mitt-
nächst als soziale Tatsachen bestimmt und lerweile auch für Deutschland empirisch gut
die Konsequenzen für das Verhalten von In- beschriebenen bestehenden gesundheitlichen
dividuen beschrieben. Jüngere Studien wei- Ungleichheiten reduziert werden sollten. Die
sen über die Bestimmung und Beschreibung aktuellen Versuche zur Reduktion dieser so-
kultureller Differenzen hinaus und zeigen die zialen Ungleichheiten zielen vor allem auf die
Verschränkungen und Überlappungen von Änderung gesundheitsschädlichen individu-
traditionellen und bio-medizinischen Ver- ellen Verhaltens ab – mit starkem Fokus auf
ständnissen von Krankheit und Gesundheit sozial benachteiligte Gruppen, den so ge-
auf. So wird etwa in bestimmten Gebieten In- nannten Risikogruppen.
donesiens oder Indiens ein gebrochener Arm
im nächsten Krankenhaus behandelt, wäh- Die hier vorgeschlagene Perspektive einer
rend Krankheit gleichzeitig mit einer mögli- Verknüpfung von Ungleichheitsforschung
chen De-Sozialisierung des Kranken von der und ethnologischer Perspektive, wie sie in
kulturellen Gemeinschaft in Verbindung ge- den Werken von Pierre Bourdieu und Mi-
bracht wird. ❙15 chael Vester zu finden ist, sollte für das Ver-
ständnis und die Erklärung gesundheitlicher
Gerade diese Analysen der Pluralisie- Ungleichheiten stärker als bislang fruchtbar
rung von Krankheitskonzepten und Ge- gemacht werden. Aus einer solchen Perspek-
sundheitsvorstellungen dürften für mul- tive wäre zunächst die aktuelle gesundheits-
tiethnische Industriegesellschaften wie politische Strategie zu überdenken. Denn
Deutschland in hohem Maße gelten. Der wenn individuelles Verhalten durch überin-
Gesundheitswissenschaft wäre zum besse- dividuelle kulturelle Kontexte vorstruktu-
ren Verständnis sozial bedingter gesund- riert wird, dann wird verständlich, warum
heitlicher Ungleichheiten gerade bei der Versuche, durch Aufklärungskampagnen,
Migrationsbevölkerung diese ethnologi- allgemeine Gesundheitserziehung und -bil-
sche Perspektive hilfreich, um die Ursachen dung individuelle Verhaltensänderungen
herbeizuführen, so häufig scheitern, selbst
❙14  Eine wichtige klassische Studie ist z. B. Edward E.
wenn für die Individuen unmittelbare Ge-
Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den sundheitsgewinne zu erwarten sind. Ernst zu
Zande, Frankfurt/M. 1978. nehmen wäre einmal mehr das strukturorien-
❙15  Siehe für Indonesien Jos D. M. Platenkamp, Health tierte Motto der Weltgesundheitsorganisati-
as a Social Condition, in: Folk, 40 (1998), S.  57–69; on (WHO): „Making the healthier choice the
für Indien Tina Otten, Heilung durch Rituale. Zum easier choice.“
Umgang mit Krankheit bei den Rona im Hochland
Orissas, Indien, Münster 2006; Tina Otten/Stefan
Ecks, Medizinethnologie Südasiens: Ritus, Pluralis- Die meisten Gesundheitswissenschaftle-
mus, Postkolonialismus, in: Curare, 27 (2004) 1+2, rinnen und -wissenschaftler sind sich darin
S. 129–137. einig, dass sich die Veränderung gesundheits-

30 APuZ 45/2010
abträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse nische) kulturelle Differenzen, zunächst un-
nachhaltiger auf die Verbesserung des gesund- abhängig davon, ob sie gesundheitszuträgli-
heitlichen Zustands der Gesamtbevölkerung che oder gesundheitsabträgliche individuelle
auswirkt als Maßnahmen zur Veränderung Verhaltensweisen provozieren, als gleicher-
des individuellen Gesundheitsverhaltens. maßen individuell handlungsmotivierend
Das würde auch bedeuten, dass sich die Pri- und sinnstiftend wahrzunehmen.
orität bei der Reduktion gesundheitlicher
Ungleichheiten zu einer umverteilenden So- Damit wäre ein präziseres Verständnis ge-
zialpolitik verschiebt: Aus gesundheitswis- sundheitlicher Ungleichheit zu gewinnen.
senschaftlicher Sicht ist die Existenz von Erst in einem zweiten Schritt wäre dann zu
Armut die wichtigste Ursache gesundheitli- überlegen, wie gesundheitsabträgliche und
cher Ungleichheit. Will Gesundheitspolitik riskante Elemente kultureller Bezugssyste-
gesundheitliche Ungleichheit ernsthaft re- me – übrigens auch der deutschen Mittel-
duzieren und die auch in Deutschland mar- schichtmilieus mit ihrem überzogenen Ar-
kanten Differenzen in der Lebenserwartung beitsethos – überwunden werden können.
unterschiedlicher sozialer Gruppen anglei- Denn aus einer ethnologischen Ergänzung
chen, dann sollte sie mit Armutsbekämpfung der Gesundheitswissenschaften im Allge-
beginnen. meinen und der gesundheitlichen Ungleich-
heitsforschung im Besonderen folgt nicht die
Auch aus einer ethnologisch ergänzten unkritische Feier aller kulturellen Differen-
Perspektive wäre die Reduktion von Res- zen, sondern ein genaueres Verständnis in-
sourcenungleichheiten ein primäres Ziel. dividueller gesundheitsabträglicher Verhal-
Diese Sichtweise geht aber über die Thema- tensweisen.
tisierung von Ressourcenungleichheiten hi-
naus und nimmt die symbolische Dimensi- Die normative Zielperspektive für eine
on kultureller Differenzen mit in den Blick. entsprechende Gesundheitspolitik wäre die
Denn soziale Ungleichheiten entfalten sich Kombination aus einer umfassenden Res-
ebenso entlang von kulturellen Hierarchi- sourcenumverteilung, der vorrangigen Ver-
sierungen. So können zum Beispiel Ange- änderung gesellschaftlicher Institutionen
hörige von ethnischen Minderheiten oder und Strukturen in Richtung Gesundheits-
unterprivilegierter Milieus auf der Grund- förderung und der mittelfristigen Verän-
lage ihrer (klassen-)kulturellen Bezugssys- derung der kulturellen Bezugssysteme in
teme über andere Vorstellungen von Ge- Richtung Gesundheitszuträglichkeit bei
sundheit und Krankheit und entsprechend prinzipieller Anerkennung und Akzeptanz
andere Verhaltensweisen als die definiti- kultureller Differenzen. Es lässt sich nicht
onsmächtige einheimische Mittelschicht bestreiten, dass wir im Moment von einer
verfügen. Wenn diese aber durch den in solchen Perspektive und Praxis in der Ge-
Deutschland durch die Mehrheitsgesell- sundheitspolitik noch sehr weit entfernt
schaft (selbst in seiner klassenkulturellen sind – umso dringender ist es, eine Verän-
Differenziertheit) herrschenden Konsens derung in der Perspektive auf den Weg zu
über angemessene Verhaltensweisen oder bringen.
Einstellungsmuster gegenüber Gesundheit
und Krankheit (oder auch Prävention) als
illegitime, unangemessene Verhaltenswei-
sen wahrgenommen werden, dann schlagen
kulturelle Differenzen um in gesundheitli-
che ­Ungleichheiten.

Die Handlungsdimension dieser Form


gesundheitlicher Ungleichheit folgt kei-
ner Ressourcenlogik, sondern einer Logik
kultureller und symbolischer Abwertung.
Gesundheitspolitik müsste sich zur Ver-
meidung solcher Ungleichheiten eine eth-
nologische Perspektive aneignen, die darauf
abzielen würde, (milieuspezifische oder eth-

APuZ 45/2010 31
Thomas Lampert · Thomas Ziese · von großer Bedeutung. Der Angleichungs-
prozess an die westdeutschen Strukturen er-
Bärbel-Maria Kurth folgte in einigen Bereichen, vor allem in der

Gesundheitliche vertragsärztlichen Versorgung sowie im Arz-


neimittelsektor, sehr schnell, so dass bereits
nach einigen Jahren ähnliche Bedingungen

Entwicklungen und wie in Westdeutschland vorzufinden waren.


Entsprechend rasch konnten Versorgungsde-
fizite, die in der DDR etwa hinsichtlich der
Trends in Ost- und Verfügbarkeit moderner diagnostischer und
therapeutischer Verfahren bestanden hatten,

Westdeutschland
beseitigt werden. In den Bereichen, in denen
komplexe Versorgungsstrukturen weitgehend
neu geschaffen werden mussten, wie etwa bei
der ambulanten psychiatrisch-psychothera-

S eit der Wiedervereinigung Deutschlands


vor 20  Jahren wurden enorme gesell-
schaftliche Anstrengungen unternommen,
peutischen, der rehabilativen und der pflege-
rischen Versorgung, verlief der Aufbau etwas
weniger dynamisch, kann mittlerweile aber
um die Lebensver- auch als weitgehend abgeschlossen ­gelten. ❙3
Thomas Lampert hältnisse in den neu-
Dr. PH, geb. 1970; stellvertre- en Bundesländern an Eine erste Bestandsaufnahme zur gesund-
tender Leiter des Fachgebiets die in den alten an- heitlichen Lage in den ost- und den westdeut-
Gesundheitsberichterstattung, zugleichen. In vie- schen Bundesländern wurde vom Bundesmi-
Robert Koch-Institut (RKI), len Bereichen konn- nisterium für Gesundheit (BMG) anlässlich
General-Pape-Straße 62–64, te eine Annäherung des zehnten Jahrestages der deutschen Ein-
12101 Berlin. erreicht werden, wel- heit vorgenommen. Der im Jahr 2000 vorge-
lampertt@rki.de che sich auch im Le- legte Bericht und der Nachfolgebericht aus
bensstandard und in dem Jahr 2004 zeigten, dass sich viele der kurz
Thomas Ziese der subjektiven Zu- nach der Wiedervereinigung zu beobachten-
Dr. med., geb. 1964; Leiter des friedenheit mit den den Unterschiede im Gesundheitszustand,
Fachgebiets Gesundheits­ Lebensbedingungen im Gesundheitsverhalten und in der Gesund-
bericht­erstattung, RKI (s. oben). widerspiegelt. ❙
1
Von heitsversorgung verringert hatten. ❙4 Die Beob-
zieset@rki.de einer vollständigen achtungen waren aber zumeist auf die 1990er
Angleichung der Le- Jahre begrenzt, und zu vielen Aspekten der
Bärbel-Maria Kurth bensverhältnisse der gesundheitlichen Lage mangelte es an aussa-
Dr. rer. nat., geb. 1954; Leiterin Menschen in Ost- gekräftigen Daten. Vor diesem Hintergrund
der Abteilung für Epidemiolo- und Westdeutschland wurde das Robert Koch-Institut (RKI) im
gie und Gesundheits­bericht­ kann allerdings keine Frühjahr 2009 beauftragt, einen Bericht zu er-
erstattung, RKI (s. oben). Rede sein. So konn- stellen, der auf einer breiteren und verbesser-
kurthb@rki.de te die wirtschaftliche ten Datengrundlage eine Bilanz nach 20 Jah-
Leistungsfähigkeit in ren gemeinsamer Entwicklung ermöglichen
den neuen Bundes- sollte. Der Bericht, der ein breites Spektrum
ländern zwar deutlich gesteigert werden, gesundheitspolitisch relevanter Themen ab-
das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Ein-
wohner beträgt aber auch gegenwärtig ledig-
lich 73 Prozent des Durchschnitts der alten ❙1  Vgl. Bundesministerium des Innern (BMI), Jah-
resbericht der Bundesregierung zum Stand der Deut-
Bundesländer. Ebenso sprechen eine höhe-
schen Einheit, Berlin 2010; Destatis/gesis-zuma/
re Arbeitslosigkeit und Armutsbetroffen- WZB, Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die
heit dafür, dass sich die Lebensverhältnisse Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008.
der Menschen in Ost- und Westdeutschland ❙2  Vgl. BMI (Anm. 1).
noch voneinander unterscheiden. ❙2 ❙3  Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und So-
ziale Sicherung (BMGS), Gesundheit in den neuen
Ländern. Gesundheitliche Lage und Stand der Ent-
Für die Entwicklung der gesundheitlichen
wicklung, Berlin 2004.
Lage in Ostdeutschland war darüber hinaus ❙4  Vgl. BMG, Gesundheit in den neuen Ländern.
der tiefgreifende Wandel des Gesundheitssys- Stand, Probleme und Perspektiven nach 10  Jahren
tems und der gesundheitlichen Versorgung Deutscher Einheit, Bonn 2000; vgl. BMGS (Anm. 3).

32 APuZ 45/2010
deckt, beschränkt sich allerdings nicht auf den Abbildung 1: Mittlere Lebenserwartung bei Geburt
Ost-West-Vergleich, sondern betrachtet auch Lebenserwartung bei Geburt ( Jahre)
regionale Unterschiede auf Ebene der Bundes- 85

länder und zum Teil auch auf Ebene der für 80

Deutschland ausgewiesenen Raumordnungs- 75


Frauen NBL
regionen. Im Folgenden werden zentrale Er- 70 Frauen ABL

gebnisse des Berichtes dargestellt, der im Rah- 65


Männer NBL
Männer ABL
men der Gesundheitsberichterstattung des
Bundes zum 20. Jahrestag des Mauerfalls am 1991/93 1992/94 1993/95 1994/96 1995/98 1996/98 1997/99 1998/00 2002/04 2003/05 2005/07
Jahr
9. November 2009 publiziert wurde. ❙5
Quelle: Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung
1991–2007.
Entwicklungen und Trends
Abbildung 2: Sterberaten für Herz-Kreislauf-
Die mittlere Lebenserwartung bei Geburt lag ­Erkrankungen
zu Beginn der 1990er Jahre für Frauen aus den
neuen Bundesländern bei 77,2 Jahren und da- 800
Sterbefälle je 100.000 Einwohner

mit um 2,3 Jahre niedriger als für Frauen aus 600


Frauen NBL
den alten Bundesländern. Bei Männern be- 400 Frauen ABL*
trug der Ost-West-Unterschied sogar 3,2 Jah- 200
Männer NBL
Männer ABL*
re. Seitdem hat die Lebenserwartung weiter * mit Berlin

kontinuierlich zugenommen, wobei der Zuge- 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
Jahr
winn an Lebenszeit in den ostdeutschen Län-
dern noch größer ausfiel als im Westen. Bis Altersstandardisiert auf die alte Europabevölkerung.
zu den Jahren 2005/07 stieg sie bei ostdeut- Quelle: Todesursachenstatistik 1991–2007.
schen Frauen auf 82  Jahre an und lag damit
nur noch 0,3 Jahre unter dem Vergleichswert menden Erkrankungen des Krankheits- und
für westdeutsche Frauen. Für ostdeutsche Todesursachenspektrums. Wie für die Herz-
Männer betrug sie 75,8 Jahre, was einer Dif- Kreislauf-Mortalität, so lässt sich auch für die
ferenz von 1,4  Jahren gegenüber westdeut- Sterblichkeit infolge von Krebserkrankun-
schen Männern entsprach ­(Abbildung 1). gen ein Rückgang beobachten. Bezüglich der
Krebssterblichkeit insgesamt bestehen heute
Entscheidenden Anteil an der Verringerung wie vor 20 Jahren nur geringe Ost-West-Un-
der Ost-West-Unterschiede in der Lebenser- terschiede. Für einzelne Krebslokalisationen
wartung hat der Rückgang der Sterblichkeit zeigen sich aber Differenzen: Beispielsweise
infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, lag die Sterberate für Lungenkrebs bei Män-
der sich im Osten noch schneller vollzog als nern aus den ostdeutschen Ländern lange Zeit
im Westen. Kurz nach der Wiedervereini- deutlich über der bei Männern aus den west-
gung war die Herz-Kreislauf-Mortalität bei deutschen. Erst in den vergangenen Jahren
Frauen und Männern aus den neuen Bundes- hat im Zuge eines deutlichen Rückgangs der
ländern etwa 1,5-mal höher als bei Frauen Sterberaten, der in Ostdeutschland stärker
und Männern aus den alten. Schon im Verlauf ausfiel als in Westdeutschland, eine Annähe-
der 1990er Jahre kam es zu einer deutlichen rung stattgefunden. Bei Frauen hingegen hat
Annäherung, die sich nach der Jahrtausend- die Lungenkrebssterblichkeit zugenommen
wende fortsetzte. Infolge dessen waren im und sich im Zuge dessen der bereits zu Be-
Jahr 2007 nur noch vergleichweise geringere ginn der 1990er Jahre zu beobachtende Un-
Ost-West-Unterschiede in der Herz-Kreis- terschied zu Ungunsten westdeutscher Frau-
lauf-Mortalität festzustellen (Abbildung 2). en ausgeweitet.

Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen ge- Auch die Brustkrebssterblichkeit war kurz


hören bösartige Neubildungen zu den bestim- nach der Wiedervereinigung bei ostdeut-
schen Frauen niedriger als bei westdeutschen.
❙5  Vgl. Robert Koch-Institut (RKI), 20  Jahre nach
Bis zum Jahr 2007 sank sie im Osten von 28
dem Fall der Mauer: Wie hat sich die Gesundheit in auf 20 Sterbefälle je 100 000 Frauen und im
Deutschland entwickelt? Beiträge zur Gesundheits- Westen von 33 auf 25 Sterbefälle, so dass der
berichterstattung des Bundes, Berlin 2009. Ost-West-Unterschied weitgehend erhalten

APuZ 45/2010 33
Abbildung 3: Adipositasprävalenz in der 18-jährigen Darüber hinaus weisen die Daten des RKI
und älteren Bevölkerung aus den Jahren 1990 bis 1992 und 1998 auf eine
stärkere Verbreitung der Adipositas im Osten
20 Prozent
Frauen Männer
hin. Für den Zeitraum von 1999 bis 2005 kann
15
mit Daten des Mikrozensus gezeigt werden,
dass die Verbreitung der Adipositas bei Frau-
10
en und Männern in beiden Landesteilen um
NBL
5 etwa zwei Prozentpunkte zugenommen hat.
ABL
Aufgrund dieser gleichförmigen Entwick-
1999 2003 2005 1999 2003 2005
Jahr lung gilt nach wie vor, dass mehr Frauen und
Männer im Osten als im Westen adipös sind
Quelle: Mikrozensus 1999, 2003, 2005. (Abbildung 3).

geblieben ist. Auch die Neuerkrankungsra- Gesundheitliche Situation


te für Brustkrebs ist in Ostdeutschland nach der nach der Wiedervereinigung
wie vor deutlich niedriger als in Westdeutsch-
land. geborenen Generation
Für die meisten anderen Krebslokalisa- Die bisher dargestellten Ergebnisse bezo-
tionen haben sich die Sterbe- und Neuer- gen sich auf Erwachsene, die im geteilten
krankungsraten mittlerweile weitgehend Deutschland gelebt und die Wiederverei-
angenähert, zum Beispiel bei Magenkrebs, nigung erlebt haben. Im Folgenden richtet
Prostatakrebs bei Männern und Gebärmut- sich der Blick auf die gesundheitliche Situa-
terhalskrebs bei Frauen, oder es bestanden tion von Kindern und Jugendlichen, die erst
bereits zu Beginn der 1990er Jahre keine nen- nach dem Fall der Mauer geboren wurden.
nenswerte Ost-West-Unterschiede, etwa bei Eine umfassende Beschreibung der gesund-
Bauchspeicheldrüsenkrebs und Leukämie. heitlichen Situation von Kindern und Ju-
gendlichen in Deutschland ist mit den Daten
Viele Herz-Kreislauf-, Krebs- und ande- des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys
re chronische Krankheiten können auf Ri- (KiGGS) des RKI möglich, die in den Jahren
sikofaktoren zurückgeführt werden, die im 2003 bis 2006 erhoben wurden. ❙6 Nach den
Zusammenhang mit dem Gesundheitsver- KiGGS-Daten wächst die große Mehrheit
halten stehen. Dies trifft etwa auf den Tabak­ der Kinder und Jugendlichen in Deutsch-
konsum und auf Adipositas (Fettleibigkeit) land gesund auf. Lediglich 7 Prozent der El-
zu. Für den Tabakkonsum lässt sich mit Da- tern beurteilen den allgemeinen Gesund-
ten der Gesundheitssurveys des RKI für die heitszustand ihres Kindes als „mittelmäßig“,
25- bis 69-jährige Bevölkerung zeigen, dass „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Als verhal-
zu Beginn der 1990er Jahre Frauen in den tensauffällig sind – unter Berücksichtigung
ostdeutschen Bundesländern mit 21 gegen- von Verhaltensproblemen, emotionalen Pro-
über 28  Prozent deutlich seltener rauchten blemen, Hyperaktivitätsproblemen und Pro-
als Frauen in den westdeutschen. In den Fol- blemen mit Gleichaltrigen – rund 7 Prozent
gejahren hat das Rauchen bei ostdeutschen der Heranwachsenden einzustufen. Über-
Frauen deutlich zugenommen und sich der gewicht wurde in der KiGGS-Studie bei
Ost-West-Unterschied verringert. Im Jahr 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen fest-
2009 rauchten 28 Prozent der Frauen im Os- gestellt. Darin eingeschlossen sind 6 Prozent
ten und 30  Prozent der Frauen im Westen. der Heranwachsenden, bei denen sogar eine
Bei Männern, die insgesamt deutlich häufiger Adipositas vorliegt. Zwischen Kindern und
rauchen als Frauen, lag die Rauchquote zu Jugendlichen aus den neuen und den alten
Beginn der 1990er Jahre in den ostdeutschen Bundesländern sind diesbezüglich keine be-
Bundesländern bei 41 Prozent und damit hö- deutsamen Unterschiede festzustellen, auch
her als in den westdeutschen mit 39 Prozent.
Seitdem ist der Tabakkonsum bei Männern
❙6  Vgl. RKI/Bundeszentrale für gesundheitliche
etwas zurückgegangen, wobei der Ost-West- Aufklärung (BZgA), Erkennen-bewerten-handeln:
Unterschied mit 38 gegenüber 36 Prozent er- Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in
halten geblieben ist. Deutschland, Berlin 2008.

34 APuZ 45/2010
Abbildung 4: Anteil der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen mit einem mittel­
mäßigem bis sehr schlechtem allgemeinen Gesundheitszustand, Verhaltens­auffällig­
keiten und Adipositas

12 Prozent
Mädchen Jungen
10

4
NBL
2
ABL

Allgemeiner Verhaltens- Adipositas Allgemeiner Verhaltens- Adipositas


Gesundheits- auffälligkeiten Gesundheits- auffälligkeiten
zustand zustand

Quelle: Kinder- und Jugendgesundheitssurvey 2003–2006.

nicht in Bezug auf Adipositas, die bei Er- Mit Blick auf den Ost-West-Vergleich sind
wachsenen nach wie vor in Ostdeutschland darüber hinaus Daten der Bundeszentra-
stärker verbreitet ist als in Westdeutschland le für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
(Abbildung 4). zum Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum
von Jugendlichen interessant, zumal diese
Auch hinsichtlich der meisten im Kindes- auch Aussagen über zeitliche Entwicklun-
und Jugendalter vorkommenden Erkrankun- gen und Trends erlauben. ❙8 Die BZgA-Daten
gen stellt sich die Situation bei den Heran- zeigen, dass der Anteil der 12- bis 17-jähri-
wachsenden in Ost- und Westdeutschland sehr gen Jugendlichen, die zumindest gelegent-
ähnlich dar. Dies trifft sowohl auf akute Er- lich rauchen, im Verlauf der 1990er Jahre zu-
krankungen wie grippaler Infekt, Mandelent- genommen hat (Abbildung 5). Die Zunahme
zündung, akute Bronchitis oder Blasen- und fiel dabei in den ostdeutschen Bundeslän-
Harnwegsinfektionen als auch auf chronische dern stärker aus als in den westdeutschen.
Erkrankungen wie Allergien, Stoffwechsel- Im Jahr 2001 rauchten mit 31 gegenüber
störungen oder Migräne zu. Besonders be- 26 Prozent mehr Jungen in Ost- als in West-
merkenswert ist dieser Befund in Bezug auf deutschland. Bei Mädchen war der Ost-
allergische Erkrankungen, da frühere Studi- West-Unterschied ähnlich stark ausgeprägt.
en bei Kindern wie Erwachsenen auf geringe- Seitdem ist der Tabakkonsum bei Jugendli-
re Prävalenzen in Ost- im Vergleich zu West- chen rückläufig, wobei der Entwicklungs-
deutschland hingewiesen haben. ❙7 verlauf im Westen kontinuierlicher war als
im Osten. Auffällig ist insbesondere die in
Deutlichere Ost-West-Unterschiede zei- den vergangenen Jahren zu beobachtende
gen sich bei impfpräventablen Krankheiten. neuerliche Zunahme des Rauchens bei Mäd-
Beispielsweise tritt Keuchhusten bei Kin- chen in Ostdeutschland, die entgegen dem
dern und Jugendlichen in den westdeutschen generellen Trend ­verlief.
Ländern mit 10 gegenüber 3 Prozent mehr als
dreimal so häufig auf wie bei Gleichaltrigen Im Hinblick auf den Alkoholkonsum zei-
aus Ostdeutschland. Auch die Lebenszeit- gen die Daten der BZgA, dass der Anteil der
prävalenz von Masern und Scharlach liegt im 11- bis 17-jährigen Jugendlichen, die min-
Westen höher. Mumps und Röteln hingegen destens einmal pro Woche alkoholhaltige
betreffen mehr Kinder in den ostdeutschen Getränke konsumieren, seit einigen Jahren
Bundesländern.
❙8  Vgl. BZgA, Die Drogenaffinität Jugendlicher in der
❙7  Vgl. BMG (Anm. 4). Bundesrepublik Deutschland, Köln 2008.

APuZ 45/2010 35
Abbildung 5: Tabakkonsum bei 11- bis 17-jährigen Jugendlichen

Prozent Prozent
50 50
Mädchen Jungen
40 40

30 30

20 20

10 10 NBL
ABL

1993 1997 2001 2003 2004 2005 2007 2008 1993 1997 2001 2003 2004 2005 2007 2008
Jahr Jahr

Quelle: Repräsentativerhebungen der BZgA 1993–2008.

rückläufig ist und im Jahr 2008 mit 23  Pro- 1990er Jahre zeichneten sich die Ost-West-
zent gegenüber 17  Prozent im Osten höher Unterschiede in den Impfquoten deutlich ab.
lag als im Westen. Bezüglich des sogenann- Seitdem hat die Teilnahme an Impfungen ins-
ten Rauschtrinkens, bei dem fünf oder mehr gesamt stark zugenommen, auch bei Impfun-
alkoholhaltige Getränke pro Gelegenheit ge- gen, bei denen lange Zeit erhebliche Defizite
trunken werden, und der insgesamt kon- bestanden, etwa die zweite Masern-Impfung,
sumierten Menge an reinem Alkohol sind die Pertussis- und die Hepatitis B-Impfung.
hingegen keine statistisch signifikanten Ost- Gleichzeitig haben sich die Ost-West-Unter-
West-Unterschiede zu beobachten. schiede verringert, so dass sich im Jahr 2007
die Impfquoten bei Kindern und Jugendli-
Der Konsum illegaler Drogen spielte in der chen weitgehend angenähert hatten.
DDR eine weitaus geringere Rolle als in der
Bundesrepublik. Allerdings war im Osten Neben Schutzimpfungen zählt das Krank-
Deutschlands bereits kurz nach der Mauer­ heitsfrüherkennungsprogramm für Kinder
öffnung eine deutliche Zunahme des Zu- zu den wichtigsten Präventionsmaßnahmen
spruchs zu illegalen Drogen zu beobachten. im Kindes- und Jugendalter. Die sogenann-
Mittlerweile haben Jugendliche aus dem Os- ten U-Untersuchungen, die auf eine frühzei-
ten ihre Altersgenossen aus dem Westen nicht tige Erkennung von Entwicklungsdefiziten
nur eingeholt, sondern sogar überholt. Dass und Gesundheitsstörungen zielen und zum
sie jemals illegale Drogen wie Cannabis, Ecs­ Regelkatalog der gesetzlichen Krankenver-
tasy oder Amphetamine konsumiert haben, sicherung gehören, gibt es in den alten Bun-
trifft nach den Zahlen der BZgA aus dem Jahr desländern seit dem Jahr 1971, während sie in
2008 auf 15  Prozent der ostdeutschen und den neuen Bundesländern erst nach der Wie-
9 Prozent der westdeutschen Jugendlichen im dervereinigung eingeführt wurden. So gese-
Alter von 12 bis 17 Jahren zu. Die 12-Monats- hen überrascht es nicht, dass die Inanspruch-
Prävalenz liegt im Osten bei 11 Prozent und nahme der U-Untersuchungen im Osten
im Westen bei 7 Prozent. zunächst deutlich geringer war als im Wes-
ten. Noch 1997 ließen sich spätestens ab der
Aufschlussreich für die Beurteilung der ge- U5 deutliche Unterschiede zu Ungunsten
sundheitlichen Situation von Kindern und von Kindern aus den ostdeutschen Bundes-
Jugendlichen sind darüber hinaus Daten zur ländern ausmachen. Seitdem haben sich die
Inanspruchnahme von Präventionsangebo- Teilnahmequoten weiter angenähert. Im Jahr
ten. Mit den Daten der Einschulungsunter- 2008 ließen sich anhand der Daten des Zen-
suchungen kann gezeigt werden, dass die Be- tralinstitutes für die Kassenärztliche Ver-
teiligung an Impfungen bei Kindern in den sorgung nur noch geringe Ost-West-Unter-
ostdeutschen Bundesländern zunächst höher schiede identifizieren. Die Teilnahmequoten
war als in den westdeutschen. Noch Ende der für die Untersuchungen, die im ersten Le-

36 APuZ 45/2010
bensjahr durchgeführt werden, also bis zur Abbildung 6: Vorzeitige Sterblichkeit (­unter 65 Jahre)
U6, lagen im Osten wie im Westen bei über nach Bundesländern
90  Prozent. Zur U8 und U9 wurden knapp
über 80 Prozent der Kinder vorgestellt. Frauen Männer

Regionale Unterschiede jenseits


der Ost-West-Perspektive
Die Betrachtung regionaler Unterschiede jen-
seits der Ost-West-Perspektive muss sich auf
die Erwachsenenbevölkerung beschränken,
da für Kinder und Jugendliche keine gleicher-
maßen belastbaren Daten zur Verfügung ste-
hen. Welche Bedeutung der Analyse regio-
naler Unterschiede auf Ebene der einzelnen
Bundesländer zukommt, lässt sich an der vor- <125 <255
255 – <275
zeitigen Sterblichkeit verdeutlichen (Abbil- 125 – <135
135 – <145 275 – <295
dung 6). In den Jahren 2004/06 war bei Frauen ≥145 ≥295
die vorzeitige Sterblichkeit im Saarland und
in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg am Sterbefälle je 100 000 Einwohner, altersstandardisiert auf die
höchsten. Auch in Schleswig-Holstein, Nie- alte Europabevölkerung.
Quelle: Todesursachenstatistik 2004/06.
dersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rhein-
land-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Berlin lag sie
über dem Bundesdurchschnitt. Vergleichs-
weise niedrig war die vorzeitige Sterblichkeit Abbildung 7: Sterberaten für Herz-Kreislauf-
in Bayern und Baden-Württemberg, aber auch Erkran­kun­gen nach Bundesländern
in Thüringen und Sachsen. Das regionale Ver- Frauen Männer
teilungsmuster bringt bei Frauen somit we-
niger einen Ost-West- als einen Nord-Süd-
Unterschied zum Ausdruck. Bei Männern
hingegen ist ein deutlicher Unterschied zu
Ungunsten der ostdeutschen Bundesländer
festzustellen. Am höchsten war die vorzei-
tige Sterblichkeit in Mecklenburg-Vorpom-
mern und Sachsen-Anhalt, gefolgt von den
anderen ostdeutschen Ländern. Mit Ausnah-
me des Saarlandes und Bremen lag die vorzei-
tige Sterblichkeit in den westdeutschen Bun-
desländern deutlich niedriger. Am geringsten
war sie in Bayern, Baden-Württemberg, Hes- <190
sen und Rheinland-Pfalz, so dass neben dem 190 – <205
Ost-West-Unterschied auch von einem Nord- 205 – <235
235 – <260
Süd-Gefälle gesprochen werden kann. 260 – <310
≥310

Der Vergleich zwischen den einzelnen


Bundesländern ist auch in Bezug auf die Sterbefälle je 100 000 Einwohner, altersstandardisiert auf die
Herz-Kreislauf-Mortalität aufschlussreich alte Europabevölkerung.
Quelle: Todesursachenstatistik 2005/07.
(Abbildung  7). Bei Frauen war in den Jah-
ren 2005/07 die Herz-Kreislauf-Mortalität in
Brandenburg und Sachsen-Anhalt am höchs- tät in Baden-Württemberg, Hessen und den
ten. Auch in Mecklenburg-Vorpommern, Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen.
Sachsen und Thüringen lagen die Werte über Bei Männern zeichnete sich ein deutlicher
dem Bundesdurchschnitt. Das galt gleichfalls Ost-West-Unterschied zu Ungunsten der
für Rheinland-Pfalz und das Saarland. Am neuen Bundesländer ab. Die niedrigste Herz-
niedrigsten war die Herz-Kreislauf-Mortali- Kreislauf-Mortalität fand sich wie bei Frauen

APuZ 45/2010 37
Abbildung 8: Zusammenhang zwischen Armutsrisiko- und Rauchquote auf Ebene
der Bundesländer

aktuell Rauchende in Prozent


34

32 Mecklenburg-Vorpommern
Berlin
30 Bremen

Hamburg Brandenburg
28
Nordrhein-Westfalen NBL Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein
Niedersachsen Thüringen
26 ABL Saarland
Hessen Rheinland-Pfalz
24
Baden-Württemberg Sachsen
Bayern
22

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Armutsrisikoquote in Prozent

Quelle: Mikrozensus 2005.

in Baden-Württemberg und Hessen, gefolgt Bundesländern am häufigsten geraucht wird,


von Berlin und Hamburg. in denen das Armutsrisiko am höchsten ist
(Abbildung 8). Von einem Armutsrisiko wird
Aussagen zur unterschiedlichen Verbrei- gemäß einer auf EU-Ebene erzielten Konven-
tung des Tabakkonsums in den Bundeslän- tion bei einem Netto-Äquivalenzeinkommen
dern sind anhand von Daten des Mikrozensus von weniger als 60  Prozent des gesamtge-
2005 möglich. Bei Frauen fand sich die höchs- sellschaftlichen Mittelwertes (Median) aus-
te Raucherinnenquote in Berlin mit 28  Pro- gegangen. Besonders eindrücklich zeigt sich
zent, gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern der Zusammenhang zwischen Armutsrisiko-
und Hamburg mit 27 bzw. 26 Prozent. Frau- und Rauchquote im Vergleich von Bayern
en aus Sachsen hatten im Ländervergleich mit und Baden-Württemberg gegenüber Meck­
18 Prozent die niedrigste Quote. Relativ sel- lenburg-Vorpommern und Bremen. Eine
ten wird außerdem in Bayern mit 20 Prozent bemerkenswerte Ausnahme stellt Sachsen
und in Baden-Württemberg und Thüringen dar: Die Armutsrisikoquote liegt über dem
mit jeweils 21 Prozent geraucht. Bei Männern Durchschnitt der Bundesländer, die Rauch-
war die Raucherquote mit 41 Prozent in Meck­ quote ist aber eine der geringsten.
len­burg-Vorpommern am höchsten. Auch in
Brandenburg und in den Stadtstaaten Berlin, Auch für andere Gesundheitsindikatoren
Bremen und Hamburg lag sie mit jeweils über lässt sich auf Ebene der Bundesländer ein
35 Prozent vergleichsweise hoch. In Sachsen Zusammenhang zur Armutsrisikoquote fest-
rauchten 32  Prozent der Männer und damit stellen. So liegt die mittlere Lebenserwar-
ein deutlich geringerer Anteil als in den an- tung von Frauen aus den Bundesländern mit
deren ostdeutschen Bundesländern. Am ge- der höchsten Armutsrisikoquote etwa zwei
ringsten waren die Quoten bei Männern aus Jahre unter dem Vergleichswert für die Bun-
Bayern und Baden-Württemberg mit jeweils desländer mit der niedrigsten Armutsrisiko-
knapp unter 30 Prozent. Während in der re- quote. Bei Männern macht diese Differenz
gionalen Verteilung des Rauchens bei Frauen drei Jahre aus. Betrachtet man den Zusam-
insbesondere ein Nord-Süd-Unterschied auf- menhang zwischen der mittleren Lebenser-
fällt, kommt bei Männern außerdem ein Ost- wartung bei Geburt und der Armutsbetrof-
West-Unterschied zum ­Ausdruck. fenheit auf der Ebene der 96 für Deutschland
ausgewiesenen Raumordnungsregionen, be-
Darüber hinaus kann mit Daten des Mi- trägt der Unterschied bei Männern sogar vier
krozensus 2005 gezeigt werden, dass in den Jahre.

38 APuZ 45/2010
Diskussion sentlichen Beitrag geleistet haben. ­Neben der
wirtschaftlichen Erneuerung und Entspan-
Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass sich nung der Arbeitsmarktsituation sowie Verbes-
die gesundheitliche Situation in den neuen und serungen in Bezug auf die Stadtentwicklung,
alten Bundesländern kurz nach der Wieder- Wohnbedingungen und Umwelteinflüsse ist
vereinigung in vielen Bereichen unterschied. insbesondere die sehr rasch vollzogene Ein-
Nach 20  Jahren gemeinsamer Entwicklung beziehung in die sozialen Sicherungssysteme
kann in vielen Fällen eine Annäherung, zum und das System der Gesundheitsversorgung
Teil sogar ein Ausgleich der Ost-West-Unter- hervorzuheben.
schiede in der Gesundheit beobachtet wer-
den. Zumeist ist diese Verringerung auf eine Für die Gesundheitsunterschiede zwi-
positive Entwicklung zurückzuführen, die schen Bundesländern und Raumordnungs-
sich in Ostdeutschland schneller vollzog als regionen ist insbesondere auf die zum Teil
in Westdeutschland. Beispiele hierfür sind sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen
der Anstieg der mittleren Lebenserwartung zu verweisen, die neben der Armuts­r isiko­
und der Rückgang der Herz-Kreislauf-Mor- quote auch an anderen sozialräumlichen
talität. Für eine weitgehende Annäherung Kennziffern, wie etwa dem Bruttoinlands-
der Ost-West-Unterschiede sprechen auch produkt und der Arbeitslosenquote, fest-
die Ergebnisse zur gesundheitlichen Situati- gemacht werden können. Zum Teil dürften
on von Kindern und Jugendlichen, die nach die beschriebene Zusammenhänge auf die
der Wiedervereinigung geboren sind. So las- sozialräumliche Segregation von Personen
sen sich anders als bei Erwachsenen keine in unterschiedlichen Lebenslagen zurück-
Unterschiede in der Verbreitung allergischer zuführen sein. Die Ergebnisse von Mehr­
Erkrankungen und von Adipositas beobach- ebenenanalysen verweisen aber darauf, dass
ten. Auch in der Teilnahme an Impfungen die Qualität des Sozialraums auch unabhän-
und den U-Untersuchungen haben sich die gig von der individuellen sozialen Lage ei-
Ost-West-Unterschiede inzwischen deutlich nen Einfluss auf die Gesundheitschancen der
verringert. Menschen hat. ❙9

Für die Bewertung der gesundheitlichen Abschließend ist darauf zu verweisen, dass
Entwicklung und Trends in Ost- und West- sich die Entwicklung der beiden Landestei-
deutschland ist darüber hinaus die verglei- le nach dem Fall der Mauer nicht auf einer
chende Betrachtung zwischen den einzel- „Insel“, sondern im europäischen Kontext
nen Bundesländern interessant. Diese macht vollzogen hat. Durch den Zusammenbruch
einerseits regionale Verteilungsmuter jen- des sozialistischen Systems in Europa fan-
seits der Ost-West-Perspektive deutlich, so den ähnliche Umbrüche wie in den neuen
etwa ein Nord-Süd-Gefälle in der vorzeiti- Ländern auch in Polen, Tschechien, Ungarn
gen Sterblichkeit und der Herz-Kreislauf- und anderen osteuropäischen Staaten statt.
Mortalität von Frauen. Andererseits erge- Im Vergleich zu diesen Staaten, in denen die
ben sich Hinweise auf die Sonderstellung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse
Stadtstaaten und auch einzelner Flächenstaa- ohne Anschluss an ein ökonomisches starkes
ten, wie etwa Sachsen in Bezug auf den Tab- Land und der damit verbundenen Möglich-
akkonsum und die mittlere Lebenserwartung keit weit reichender Investitionen und Auf-
bei Geburt. Ebenso ist von einer regionalen bauhilfen erfolgte, zeichnen sich die positi-
Verteilung der Gesundheitschancen inner- ven Entwicklungen in der Gesundheit und
halb der einzelnen Bundesländer auszugehen. Lebenserwartung in Ostdeutschland deut-
Dafür sprechen unter anderem die auf der lich stärker ab.
Ebene der Raumordnungsregionen berichte-
ten Unterschiede in der Lebens­erwartung.
❙9  Vgl. Nico Dragano et  al., Neighbourhood So-
Für die deutliche Annäherung der Ge- cioeconomic Status and Cardiovascular Risk Factors:
sundheitschancen dürfte die im Zuge des Ei- a Multilevel Analysis of Nine Cities in the Czech Re-
public and Germany, in: BMC Public Health, 7 (2007),
nigungsprozess erfolgte Verbesserung der
online: www.biomedcentral.com/1471-2458/7/255
allgemeinen Lebensbedingungen in Ost- (21. 10. 2010).
deutschland, die mit erheblichen Investitio-
nen und Aufbauhilfen möglich war, einen we-

APuZ 45/2010 39
Detlef Briesen Humoralpathologie

Was ist „gesunde Eine erste Antwort auf die Frage nach gesun-
der Ernährung geben Erklärungsansätze, die
sich auf die Tradition der Humoralpathologie

Ernährung“? zurückführen lassen. Bis heute berufen sich


Ernährungsratgeber auf die Kräuterheilkun-
de der Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179).
Nach solchen Schonkostlehren ist – ähnlich

B ei Debatten über Gesundheitspolitik


spielt die Vorstellung eine große Rolle,
die Menschen zu einem stärker ihre Gesund-
wie beim indischen Ayurveda – persönliche
Gesundheit angeblich durch eine Ernährung
erreichbar, welche die Prinzipien universeller
heit berücksichtigen- Harmonie berücksichtigt. Vorstellungen wie
Detlef Briesen den Lebensstil zu mo- diese prägten bis weit ins 19. Jahrhundert hin­
Dr. phil., geb. 1957; Privatdo- tivieren. Davon wird ein das alteuropäische Erbe, also jene vorbild-
zent im Fach Geschichte an eine ­erhebliche Kos- haften Lehren, die sich (angeblich) bei Griechen
der Justus-Liebig-Universität tenersparnis für das und Römern herausgebildet hatten. Allerdings
Gießen, FB 04, Otto-Behaghel- überlastete Gesund- war nach dem 5. Jahrhundert der Großteil des
Straße 10 G, 35394 Gießen. heitssystem ­erwartet, antiken Wissens verlorengegangen. Zudem
detlef.briesen@ und ohnehin gilt war die Medizin bis zum Aufkommen der mo-
geschichte.uni-giessen.de Verhaltens­prävention dernen Chirurgie und Chemotherapie im spä-
als Mit­tel, unnötige ten 19. Jahrhundert im Wesentlichen eine Prä-
Leiden und vorzeitiges Ableben von vornhe- ventionslehre: Sie versuchte, durch „gesunde“
rein zu verhindern. Solche Ansätze sind aus Verhaltensweisen Krankheiten erst gar nicht
dem hier eingenommenen gesundheitshisto- entstehen zu lassen – heilbar waren diese durch
rischen Blickwinkel weder neu noch origi- Intervention von Ärzten ohnehin fast nie. Teilt
nell. Die Vermeidung von Krankheiten durch man diese Skepsis gegenüber Heilungschancen
ein wie auch immer als „gesund“ bezeichne- durch die Schulmedizin, so sind die traditio-
tes Verhalten zieht sich vielmehr wie ein ro- nellen Lehren bis heute maßgeblich geblieben.
ter Faden durch die Geschichte der menschli-
chen Gesundheit. Gut fassbar wurde die Verbindung von Kos-
mologie und Gesundheit bei Hippokrates von
Dies gilt insbesondere für Prävention Kos (ca. 460–370 v. Chr.). In der Schrift „De
durch Ernährung. Sie zeichnet sich durch Diaeta“ wurden Krankheiten als Störungen
eine Reihe von Besonderheiten aus: Zum ei- des Gleichgewichts durch Maß- und Zügello-
nen liegen hier – statt einfacher und klarer sigkeit begriffen. ❙2 Daraus entstand ein Regel-
Konzepte, wie etwa dem, nicht zu rauchen werk für eine gesunde Lebensweise mit idea-
oder keine Drogen zu nehmen – oft nur dif- lem Tagesablauf und ebensolcher Ernährung.
fuse Anleitungen vor. Ernährungslehren be- Konstitutiv war dabei die Humoralpathologie,
ruhen mitunter eher auf Glaubenssystemen auch Viersäftelehre genannt. Eine bestimmte
oder nicht genannten persönlichen Vorlieben Fassung der antiken Physik mit den Grund-
ihrer Apologeten. Zum anderen können sich substanzen Feuer, Wasser, Erde, Luft erhielt
in ihnen voreilige Schlüsse von wissenschaft- zusätzlich die Funktion eines Krankheits-
lichen Studien auf gesundes Verhalten abbil- konzeptes. Die vier Elemente wurden zu vier
den. Gerade auch Fachwissenschaftler haben konstitutiven Säften im menschlichen Körper
in den vergangenen Jahrzehnten Positionen (Blut, Schleim und zweierlei Galle), vier Le-
eingekommen, die sich bald als falsch oder bensaltern und vier Qualitäten (kalt, warm,
sogar gesundheitsschädlich erweisen sollten. trocken, feucht) in Analogie gesetzt. Gesund-
Damit soll allerdings nicht behauptet wer- heit war seitdem eine Folge des richtigen Flus-
den, Ernährungswissenschaftler, Mediziner
und Physiologen hätten nicht auch echten
wissenschaftlichen Fortschritt erreicht. Im ❙1  Die Darstellung folgt Detlef Briesen, Das gesunde
Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahr-
Folgenden werde ich versuchen, einen Über- hundert, Frankfurt/M. 2010.
blick über die wichtigsten Ernährungsleh- ❙2  Vgl. Paul Potter/Beate Gundert, Hippokrates aus
ren, deren Herkunft und aktuelle Relevanz Kos, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike,
zu ­geben. ❙1 Bd. 15, Stuttgart 1998, Sp. 590–599.

40 APuZ 45/2010
ses der Körpersäfte; noch bei der Kneippkur regierungsamtlicher Status zu, wenn sich auch
versucht man, diesen durch Behandlung mit gerade in der Bundesrepublik der Staat in Fra-
Wasser wiederherzustellen. Durch richtige gen der Lebensführung eher zurückhielt.
Kost ist nach dieser Lehre manches Leiden zu
vermeiden. Die Hippokratiker bedachten da- Ursprung der gesunden Mischkost war Kri-
bei Tätigkeiten, Temperamente, Lebensalter, tik an der Humoralpathologie. Alchemisten
Wind- und Witterungsverhältnisse mit. Brot und Iatrochemiker entdeckten die Funktio-
und Fleisch standen im Zentrum der gesun- nen der inneren Organe und den Stoffwech-
den Ernährung; Vorsicht war bei Fisch, Obst, sel. Das neue Verständnis von diesem als zen-
Gemüse und Milch angebracht. tralem Vorgang bei der Ernährung ging vom
französischen Chemiker Antoine-Laurent
Galen von Pergamon (ca. 129–199) bestimm- Lavoisier (1743–1794) aus. Weitere Meilenstei-
te über viele Jahrhunderte die Vorstellungen ne der Forschung waren das Verständnis des
von gesunder Ernährung, wobei er die hip- Zuckerstoffwechsels und der Fette und Pro-
pokratischen Lehren um wichtige Einzelhei- teine. Der Physiologe Claude Bernard (1813–
ten ergänzte. Von den Früchten und Gemüsen 1878) entdeckte die Funktion von Bauchspei-
waren Weintrauben am besten – was wahr- cheldrüse und Leber für die Verdauung. Der
scheinlich bis heute ihren Einsatz als Kran- Stoffwechsel war nun als Abbau von Grund-
kenkost mit erklärt. Genießen sollte man laut stoffen und als Aufbau körpereigener Sub-
Galen vorrangig Brot und Schweinefleisch. stanzen erkannt. Die spezielle Leistung von
Damit war eine Antwort auf die Frage nach Liebig bestand darin, aus den bis dahin frag-
der richtigen Kost formuliert, die bis heute mentarischen Forschungsergebnissen eine Er-
in den Versuchen weiterwirkt, gesunde Er- nährungslehre zu schaffen. Er teilte die Nähr-
nährung als Re-Integration in die kosmische stoffe in zwei Gruppen: Die Proteine waren
Ordnung zu begreifen. Übergänge zu esote- vorrangig, denn sie lieferten die Energie für
rischen Heilslehren sind dabei offensichtlich. Muskelarbeit und geistiges Schaffen; Fette
Aber nicht nur die aktuelle Esoterik, auch die und Kohlenhydrate versorgten den Körper
heutige Kochpraxis ist durch humoralpatholo- nur mit Wärme. Diese Eiweißlehre trug einer-
gische Rezepte beeinflusst. Birnen werden ei- seits zu den hohen Tagesdosen an tierischen
gentlich in Rotwein gekocht, um sie zu entgif- Proteinen bei, die unter Berufung auf Liebig
ten, die „Kälte“ von Blattsalat wird durch eine empfohlen wurden, bis hin zu Nur-Fleisch-
„warme“ Substanz, Essig, ausbalanciert. Ernährung und Glyx-Diät, die einen niedri-
gen glykämischen Index, also eine kohlenhy-
dratarme bis -freie Kost, als Voraussetzung
Gesunde Mischkost für die „schlanke Linie“ propagiert. Ande-
rerseits zeigten Forschungen eine echte Un-
Eine weitere Antwort auf die Frage nach der terversorgung der damaligen Unterschichten
gesunden Ernährung ist die Idee von der ge- mit Proteinen auf. Liebig selbst – durch seinen
sunden Mischkost. Sie kam nach 1840 mit der Fleischextrakt – und weitere Ernährungswis-
organischen Chemie auf. Ausgehend von den senschaftler wie Jacob Moleschott (1822–1893)
Ideen von Justus von Liebig (1803–1873) ver- trugen ihre Ergebnisse daher als sozialpoliti-
breitete sich die Mischkost vor allem nach 1950 sche Reformansätze in die Öffentlichkeit. 1858
in einer modifizierten Variante im deutsch- erschien die Ernährungslehre von Moleschott
sprachigen Raum. Dort wurde sie in der Nach- bereits in der dritten Auflage. ❙4 Sie propagierte
kriegszeit geprägt von Ernährungsforschern gesunde Mischkost aus pflanzlichen und tieri-
wie Werner Kollath (1892–1970) und Ernst schen Bestandteilen und empfahl, das jahres-
Kofrányi (1908–1989). ❙3 Die gesunde Misch- zeitliche Angebot ebenso zu berücksichtigen
kost war über viele Jahrzehnte die Standard- wie individuelle Vorlieben. Menschen sollten
lehre in der Ökotrophologie und wurde von nicht mehr essen, was Traditionen vorschrie-
der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ben, sondern was ihrer Physiologie und ihren
(DGE) propagiert. Damit kam ihr ein quasi persönlichen Bedürfnissen entsprach. Zudem
waren innerhalb der Produktgruppen Lebens-
mittel, auch mit Rücksicht auf den Geldbeutel,
❙3  Vgl. Werner Kollath, Die Ordnung unserer Nah-
rung, Stuttgart 1942; Ernst Kofrányi/Willie Wirths,
Einführung in die Ernährungslehre, Frankfurt/M. ❙4  Vgl. Jacob Moleschott, Lehre der Nahrungsmittel.
199411. Für das Volk, Erlangen 18583.

APuZ 45/2010 41
austauschbar. Eine solche Sichtweise liegt bis 1856) und Sylvester Graham (1794–1851), der
heute allen Ernährungspyramiden zugrunde, Pionier des Vollkornbrotes. ❙5
die etwa die öffentliche Gesundheitsaufklä-
rung verbreitet. Nach 1880 formierte sich die Lebensreform.
Sie unterschied sich noch deutlicher von der
In der langen Debatte um die Mischkost re- Humoralpathologie als die Naturheilkunde.
lativierte sich allmählich die Bedeutung von Hatten diejenigen, die sich auf Hippokrates
tierischem Protein. Heute gilt Fleisch nicht und Galen beriefen, Fleischkost bisher als be-
mehr als unverzichtbar für die Kost, was sich sonders wertvoll empfohlen, so wandten sich
inzwischen in den Ernährungspyramiden manche Reformer dem Vegetarismus zu. Ei-
widerspiegelt. Weiterhin zeigte sich, dass die nen noch stärkeren Bruch mit der Tradition
menschliche Nahrung bis dahin unbekannte nahm die Rohkostlehre vor. Bisher hatte man
Substanzen enthalten musste. Nachdem 1911 großen Wert auf die Zubereitung der Kost ge-
eine später Vitamin B genannte Substanz iden- legt, um deren Verdaulichkeit zu verbessern.
tifiziert worden war, rissen die Entdeckun- Die Rohkostlehre verlangte dagegen, pflanz-
gen nicht mehr ab: Weitere Vitamine sowie liche Kost nur gering verarbeitet zu verspei-
die Mineral- und sekundären Pflanzenstoffe sen, um die bis dahin als unverdaulich oder
wurden in ihrer Bedeutung erkannt. Dies hat giftig geltenden pflanzlichen Faserstoffe auf-
die gesunde Mischkost bis heute fortlaufend zunehmen. Bis heute einflussreiche Rohköst-
verändert. Sie ist – bei allen Unterschieden in ler sind Emil Drebber (1873–1943) und Max-
Details – noch immer die Basis der wissen- Oskar Bircher-Benner (1867–1939).
schaftlich fundierten Ernährungslehren.
Die Lebensreform war keineswegs rück-
wärtsgewandt, sondern befasste sich mit zeit-
Lebensreform genössischen Herausforderungen. In Deutsch-
land oder den USA standen spätestens um
Die Lebensreform behauptet: Eine gesunde 1900 Lebensmittel in größerer Auswahl und
Ernährung folgt den Prinzipien der Natur. ausreichend für jedermann zur Verfügung.
Sie bildet die Basis für zwei Konjunkturen Die moderne Mühlentechnik erzeugte preis-
der Naturnahrung, die eigentliche Lebens- werte Weißmehlprodukte, in Deutschland
reform (ungefähr 1890 bis 1940) sowie die verzehnfachte sich zwischen 1850 und 1900
Bio- und Öko-Kost (in der Bundesrepublik der Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker, eben-
seit den 1970er Jahren). Die Naturkost wird falls zuvor ein Luxusprodukt. Es war die Leis-
oft mit der Humoralpathologie gleichgesetzt. tung der Lebensreform, diesen quantitativen
Diese These ist ebenso ungenau wie die di- Überfluss als qualitativ mangelhaft darzu-
rekte Ableitung der Bio-Kost aus der Le- stellen. Die Zivilisationskrankheiten wurden
bensreform. Die Lebens- als Ernährungs- so zur Folge einer falschen Kost. Außerdem
reform ist maßgeblich durch den Vitalismus musste die Lebensreform ihre Behauptungen
beeinflusst. Die Vorstellung einer dem Men- wissenschaftlich belegen. Es wurde versucht,
schen immanenten Vitalkraft bildete sich im den Vitalismus mit Prinzipien aus Chemie
18.  Jahrhundert heraus, als Reaktion auf die oder Physiologie in Einklang zu bringen. Da-
Lehre von der Maschine Mensch. Der Vita- bei ging man nicht selten mit dubiosen Mitteln
lismus betonte dagegen das ganzheitliche Zu- vor, zog aus richtigen Beobachtungen falsche
sammenwirken von Seele und Körper. Die- Schlüsse oder entwickelte falsche Erklärun-
ses principe vital wurde einflussreich über gen für durchaus richtige Therapien.
jene Zivilisationskritik verbreitet, die Jean-
­Jacques Rousseau (1712–1778) vertrat. Aus Der Mediziner Mikkel Hindhede (1862–
der Naturphilosophie ergaben sich Verbin- 1934) zum Beispiel interpretierte die Vorgän-
dungen zur Naturmedizin. Sie behauptet ge in seinem Heimatland Dänemark wäh-
apriorisch einen jeweils heilenden Wert von rend des Ersten Weltkriegs als gigantisches
Wasser, Luft oder Sonne. Ihre Heilmethoden Experiment. Denn selbst in dem nicht krieg-
wurden bald um eine Naturnahrung vor al- führenden Land wurde eine schwere Versor-
lem aus Getreideprodukten ergänzt, welche gungskrise ausgelöst. Die dänische Regierung
die Genesung angeblich beschleunigte. Noch
heute einflussreiche Verfechter sind Wilhelm ❙5  Vgl. Christoph Wilhelm Hufeland, Die Kunst das
Hufeland (1762–1836), Johann Schroth (1798– menschliche Leben zu verlängern, Jena 1797.

42 APuZ 45/2010
rationierte tierische Produkte und Alkohol. in den USA heraus, eine Folge des umfassen-
Daraufhin sanken die Sterbe- und Krank- den Wandels der wirtschaftlichen und kul-
heitsraten. Hindhede legte dies als Beweis für turellen Rahmenbedingungen in einem sich
die Reformgedanken aus: Falsche Ernährung verändernden internationalen Machtgefüge. ❙8
schwächte die Lebenskraft. Sie war durch lak-
tovegetabile Kost, Sonnen- und Luftbäder Nach 1900 begann der deutschsprachige
und vor allem durch Abhärtung wiederzuer- Raum allmählich jenen Spitzenplatz zu ver-
langen, was Hindhede in die Nähe der NS-Be- lieren, den er im 19.  Jahrhundert in den Na-
wegung brachte. ❙6 Max-Oskar Bircher-Benner turwissenschaften gehalten hatte. Zum wich-
war der einflussreichste Ernährungsreformer tigsten Forschungszentrum wurden die USA.
des deutschen Sprachgebietes. Die Wirkung Ernährungswissenschaftler wie Russell H.
seiner Reformkost erklärte er mit der Idee Chittenden (1856–1943) oder Elmer McCol-
von Lichtquanten, die der menschliche Kör- lum (1879–1967) verfügten an der Yale Uni-
per beim Verzehr von Baumfrüchten, Beeren, versität über Forschungslabore mit einer
Nüssen, Feld- und Körnerfrüchten und un- Ausstattung, die ihre europäischen Kollegen
gekochter Milch aufnehme. Unterversorgung nicht besaßen. Die Spitzenforschung verla-
mit Lichtquanten schwäche die Lebenskraft gerte sich in die USA; so nach 1920 die über
und mache krank. Positiv dagegen sollte sein Vitamine und nach 1950 diejenige über Wohl-
lichtquantenreiches Müsli wirken. ❙7 standskrankheiten. Neben den Universitä-
ten förderten die Regierungen die Forschung,
Die Ernährungs- als Teil der Lebensreform so besonders das Bureau of Chemistry des
war zwischen 1890 und dem Zweiten Weltkrieg Landwirtschaftsministeriums in Washing-
vor allem in Deutschland die bedeutendste „al- ton. Es unterstand seit 1906 Harvey Wa-
ternative“ Reformbewegung. Viele Lebens- shington Wiley (1844–1930), dem führenden
reformer stellten sich nach 1933 in den Dienst Kopf der Pure-Food-Bewegung, einer Reak-
des Nationalsozialismus, wie auch viele pro- tion auf die zahllosen damaligen Lebensmit-
minente Nazis Anhänger der Reform waren. telskandale. Wiley war maßgeblich daran be-
Dies versah nach 1945 die gesamte Lebens- und teiligt gewesen, dass 1906 die Federal Food
Ernährungsreform mit dem Verdacht, Teil der and Drug Administration (FDA) gegründet
NS-Bewegung gewesen zu sein. Daher führte worden war. Die Aufgabe der behördlichen
die Ernährungsreform in der frühen Bundes- Kontrollinstanz bestand darin, bundesweit
republik eher eine Nischenexistenz. Die Über- gegen Verfälschung und Hygienemängel bei
gänge von der Lebensreform zur Öko-Bewe- Lebensmitteln und Medikamenten vorzuge-
gung waren deshalb, über den Einfluss der hen, was empirische Forschung voraussetz-
USA, durch Organic Food und Negative Nu- te. Aus der Tätigkeit der Forschungsinstitute
trition, durch Diskontinuitäten geprägt. und Kontrollbehörden entstanden im Zweiten
Weltkrieg jene recommended daily allowances
(RDAs), die seitdem weltweit wissenschaftli-
Internationaler Ernährungsstil che Normen für die gesunde Kost setzen.

Der Internationale Ernährungsstil gibt eine Dabei waren die Übergänge zur Industrie-
weitere Antwort auf die Frage nach gesun- forschung fließend. Erzeugerverbände (etwa
der Ernährung: Eine Ernährung ist gesund, die der Milchproduzenten) und Großkonzerne
wenn sie von der Wissenschaft empfohlen, führten selbst in erheblichem Maße empirische
von der Industrie hergestellt und von der Re- Studien durch. Diese waren durch zwei Mo-
gierung kontrolliert wird. Dabei spielen Er- tive bestimmt, welche die Industrieforschung
nährungswissenschaften und -industrie so- bis heute prägen: mögliche Kritik an Hygie-
wie die staatliche Lebensmittelkontrolle und ne und Qualität durch Verbraucherbewegun-
die entsprechenden Ernährungslehren eine gen von vornherein zu unterbinden und Pro-
zentrale Rolle. Der Internationale Ernäh- duktinnovationen zu ermöglichen. In den USA
rungsstil bildete sich zwischen 1870 und 1940
❙8  Vgl. für das Folgende: Harvey A. Levenstein, Re-
❙6  Vgl. Mikkel Hindhede, Die neue Ernährungslehre, volution at the Table: The Transformation of the
Dresden 1922. American Diet, New York 1988; ders., Paradox of
❙7  Vgl. Max-Oskar Bircher-Benner, Kranke Men- Plenty: A Social History of Eating in Modern Ame-
schen in diätetischer Heilbehandlung, Zürich 1944. rica, New York 1993.

APuZ 45/2010 43
hatte sich seit dem Sezessionskrieg (1861–1865) Interessen von Herausgebern und Werbeabtei-
eine bis dahin weltweit einmalige Lebensmit- lungen. Die Hausfrauen kochten die Rezepte
telindustrie entwickelt. Sie versorgte immer unter Verwendung der beworbenen Produkte
mehr Verbraucher mit verarbeiteter Kost, etwa zu Hause nach. Es war die moderne Hausfrau,
Frühstückszerealien, Obst- und Gemüsekon- die zunächst in den USA, von den 1950er Jah-
serven oder Würzsaucen. Da der Versorgungs- ren an auch in Westeuropa die Esskultur neu
stand selbst in der Großen Depression (1929– bestimmte. Diese Kost hat durchaus positive
1941) hoch blieb, versuchten die Unternehmen, Aspekte: Zweifellos ist die Wertschätzung von
ihre Produktpalette zu erweitern oder schon Früchten, Milch und Gemüse ein Fortschritt
eingeführte Erzeugnisse mit Zusatzleistungen gegenüber der Kost des 19. Jahrhunderts.
zu versehen. So kamen bis in die 1930er Jahre
Fertigmenüs, Tiefkühlkost, Vitaminpillen und
angereichertes Mehl zu den Verbrauchern. Negative Nutrition
Die gute Versorgungslage in den USA war Seit Ende der 1950er Jahre verbreitet sich,
ein wichtiger Impuls für die Werbung. Hier ausgehend von den USA, eine weitere Ant-
trafen sich die Interessen der Lebensmittelin- wort auf die Frage nach gesunder Ernährung:
dustrie mit denjenigen einer Gruppe von So- Diese gibt nicht mehr an, was Menschen
zialreformern, die an den Ideen von Ellen S. nach Herzenslust, in Maßen oder jedenfalls
Richards (1842–1911) und Mary Hinman Abel ohne Bedenken zu sich nehmen können, wie
(1850–1938) orientiert waren. ❙9 Deren Konzept, es die Ernährungslehren zuvor getan hat-
die Neue Ernährung, hatte die gesunde Misch- ten. Die neue Lehre empfahl ihren Anhän-
kost in die USA gebracht, und zwar zunächst gern vor allem eines: grundsätzliche Skepsis
aus sozialpolitischen Erwägungen: Die Unter- gegenüber allen Ratschlägen von Wissen-
schichten konnten durch preiswertes und gutes schaftlern, Behörden, Werbewirtschaft und
Essen Geld für bessere Wohnungen, Kleidung besonders gegenüber den Erzeugnissen der
und Bildung sparen. Diese Ideen beeinfluss- Lebensmittelindustrie. Wegen ihrer kriti-
ten nach 1900 jene Hauswirtschaftslehre, die in schen Grundtendenz wurde dieses Konzept
Schulen und Colleges besonders an junge Frau- daher von Warren J. Belasco Negative Nu-
en aus der Mittelschicht vermittelt wurde. Da- trition genannt. ❙10 Es ist heute die Basis für
bei verschob sich der Reformgedanke allmäh- einflussreiche Verbraucherbewegungen. Ne-
lich von finanziellen zu gesundheitspolitischen gative Nutrition steht mit kritischer Ernäh-
Motiven. Der Wandel wurde durch wissen- rungsforschung, mit Umwelt- und Verbrau-
schaftliche Erkenntnisse, etwa über Vitamine, cherschutz in enger Verbindung.
und durch einen weiteren Boom der Industrie-
erzeugnisse noch beschleunigt. Aus der Neuen Für die kritische Ernährungsforschung war
Ernährung entstand so bis zum Zweiten Welt- die Framingham-Studie von herausragendem
krieg der Internationale Ernährungsstil. Wert; mit ihr begann 1950 die systematische
Suche nach den Ursachen der damals drama-
Die amerikanische Hausfrau wurde zur Fa- tisch zunehmenden kardiovaskulären Krank-
milienmanagerin aufgewertet. Als Familien- heiten. Dabei richtete man die Untersuchung
köchin stand sie allerdings vor einer schwie- auf den Lebensstil aus. Beobachtet wurde
rigen Aufgabe. Gefordert war nun eine über mehr als vier Jahrzehnte hinweg eine
abwechslungsreiche, gesunde, nicht zu kost- Stichprobe von anfangs 6507 Personen aus der
spielige und leistungsoptimierende Kost. Die Kleinstadt Framingham in Massachusetts.
Anleitung dazu konnten die Hausfrauen den Dabei ermittelte die Studie sechs Risikofak-
prosperierenden Massenmedien entnehmen. toren: Bluthochdruck, Rauchen, ein geringes
In den 1920er Jahren entstand eine journalisti- Ausmaß körperlicher Aktivitäten, Blutfett-
sche Praxis, die bis heute angewandt wird: Die werte, hohes Übergewicht und Diabetes. Die
Ernährungsredaktionen in Zeitschriften oder letzten drei Faktoren erwiesen sich durch die
(später) im Fernsehen griffen auf die Rezept- Ernährung beeinflusst, ja, es zeigte sich, dass
dienste von Großkonzernen zurück. Deren die bisher angepriesene Kost mit ihren hohen
Menüvorschläge zu übernehmen verband die
❙10  Vgl. Warren J. Belasco, Appetite for Change: How
❙9  Vgl. Ellen H. Richards, The Costs of Living as Mo- the Counter Culture Took on the Food Industry,
dified by Sanitary Science, New York 1900. 1966–1988, New York 1989.

44 APuZ 45/2010
Anteilen an tierischem Fett und Eiweiß maß- Ein Höhepunkt in der Eskalation der Um-
geblich an der Entstehung von Herzkreislauf­ welt- und Ernährungsängste war zu Beginn
erkrankungen beteiligt war. Ab 1961, mit Be- der 1980er Jahre erreicht: 1979 ereignete sich
kanntwerden der Cholesterin-Studien, schien der Unfall im Atommeiler von Harrisburg,
es so, als wäre die bis dahin empfohlene Kost 1986 trug sich die bisher größte Katastrophe
überhaupt todbringend. Ein großer Teil des- bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie
sen, wozu die Experten bisher geraten hatten, im heute ukrainischen Tschernobyl zu. Da-
Milch, Butter und Rindfleisch, enthielt eine mals wurden Pilze und Beeren aus dem Wald
Substanz, die (angeblich) Herzinfarkte und und selbst Muttermilch suspekt. Zeitgleich
Schlaganfälle auslöste. erreichte Negative Nutrition breitenwirksam
die Bundesrepublik Deutschland. Schon 1982
Damit war eine neue Dimension von Ernäh- hatte die Kölner Katalyse-Umweltgruppe die
rungsängsten erreicht. Cholesterin konnte man zahlreichen Dubiositäten der modernen In-
durch Verzehr von Margarine und cholesterin- dustriekost zusammengefasst: Wurstwaren
freien Dressings vermeiden. Zudem wurde er- enthielten schädliche Emulgatoren, Geflügel
kannt, dass der Internationale Ernährungsstil war durch Salmonellen belastet, in Fluss- und
nur nordwesteuropäische Traditionen berück- Seefischen fanden sich große Mengen von
sichtigte. Waren die Küchen der Mittelmeer- Blei, Kadmium, Pestiziden und Phosphaten.
länder, Japans oder Chinas nicht viel gesünder? Mit der angeblich gesunden Kuhmilch nahm
Die folgende, langjährige Debatte veränderte man Pflanzenschutzmittel wie DDT, Lindan,
allmählich die offiziellen Ratschläge für gesun- Schwermetalle wie Thallium oder sogar Rat-
de Kost. Erstmals 1977 wandte sich das Reprä- tengift auf. ❙12
sentantenhaus der Negative Nutrition zu: Ame-
rikaner sollten weniger Fleisch und tierisches Eine wichtige Folge der Negative Nutrition
Fett zu sich nehmen und stattdessen Fisch, Oli- ist eine seitdem ungebrochene Konjunktur
venöl, Früchte, Gemüse und Getreideproduk- des Vegetarismus und Veganismus sowie der
te verspeisen. Ähnlich wandelten sich seitdem Bio-Kost. Weiterhin führte Negative Nutri-
die Ernährungsratschläge der DGE; die jüngs- tion zur Gründung von Verbraucherorgani-
te Debatte um die „Ernährungsampel“ soll zu- sationen nach dem Vorbild des Umweltschut-
mindest erwähnt werden. zes, besonders von Greenpeace. Ein gutes
Beispiel dafür gibt die Organisation Food-
Vorangetrieben wurde Negative Nutrition watch ab, die aktuell von Thilo Bode geleitet
durch eine Flut von Umwelt- und Ernährungs- wird: Foodwatch ist durch tiefe Skepsis vor
skandalen, die wiederum zunächst die USA allem gegen die hoch technisierte Lebensmit-
erschütterten. Die lange Liste beginnt 1958 mit telproduktion geprägt und fordert umfassen-
der Erkenntnis, dass chemische Zusatzstof- de Kontrollen der Großkonzerne. ❙13
fe in Lebensmitteln Krebs auslösen. Additive,
Pestizide und Herbizide gerieten in den Fo-
kus der Kritik, nicht zuletzt durch die bahn- Gesunde Ernährung und Lebensstil
brechende Studie von Rachel Carson (1907–
1964) über deren verheerende Wirkungen auf Negative Nutrition trug maßgeblich dazu
Wildtiere. ❙11 Es folgten zahllose weitere Skan- bei, dass sich zahlreiche weitere Antworten
dale: Quecksilber in Fisch, Botulismus durch auf die Frage nach der gesunden Ernährung
Pizza, Arsen in Hühnern, Hormone im Rind- herausgebildet haben. Diese stehen allerdings
fleisch und Salmonellen in der Dosensuppe. in enger Beziehung zu den bisher genannten
Das Resultat war, dass sich, wiederum zuerst Lehren. Was die neuen Konzepte von gesun-
in den USA, eine neue Verbraucherbewegung der Mischkost, Naturkost oder Negative Nu-
formierte. Sie wurde zusätzlich durch ein tra- trition unterscheidet, ist zumeist ihre Ver-
ditionelles Problem befeuert. Im Juli 1967 wie- bindung mit zwei wichtigen soziokulturellen
sen der Verbraucheranwalt ­Ralph Nader und Veränderungen der vergangenen 40 Jahre.
der Journalist Nick Kotz nach, dass Indust-
riefleisch zumeist von sogenannten 4D-Tieren
❙12  Vgl. Katalyse-Umweltgruppe Köln e. V. (Hrsg.),
(dead, dying, diseased, disabled) stammte.
Chemie in Lebensmitteln, Köln 1982.
❙13  Vgl. Thilo Bode, Abgespeist. Wie wir beim Essen
❙11  Vgl. Rachel Carson, The Silent Spring, Boston betrogen werden und was wir dagegen tun können,
1963. Frankfurt/M. 2007.

APuZ 45/2010 45
In diesem Zeitraum hat sich erstens eine neu- ren Verbrauch sich in Deutschland ebenfalls
artige Verbindung von sozialem und Bildungs- seit den 1970er Jahren im Rahmen der so ge-
status mit Gesundheitsbewusstsein eingestellt. nannten Edelfresswelle erheblich erhöht hat.
Die (manchmal übertriebenen) Horrormel- Dass Fine Food mit gehobenen Einkommen
dungen über die Gefahren durch Umwelt und einhergeht, liegt auf der Hand. Ethno-Food
Ernährung veränderten vor allem das Verhal- beschreibt dagegen die ungebrochene Kon-
ten der Mittel- und Oberschichten. Die Unter- junktur von Speisen, die nicht aus der nord-
schicht genießt bis heute gerne salzige Snacks westeuropäischen Küchentradition stammen.
sowie extrem Süßes und sieht ein großes Stück Sofern Ethno-Küche mit ostasiatischer Kost
Fleisch auf dem Teller immer noch als Indiz einhergeht, gilt sie mitunter auch als gesünder.
für Wohlstand und Wohlergehen an. Zudem Mit Wellness-Lebensmitteln wird die Behaup-
ist in der Unterschicht das Rauchen weiter ver- tung verbunden, dass deren Verbrauch – etwa
breitet. Für die besonders durch Bildung Pri- von bestimmten Joghurt-Kulturen oder Kräu-
vilegierten gehören dagegen häufig optima- teressenzen – das allgemeine Wohlbefinden
le Blutwerte und geringes Körperfett zu den stärken solle. Dabei existiert ein breiter Über-
wichtigsten Indikatoren einer richtigen Er- gang von (angeblich) wissenschaftlich nachge-
nährung, ebenso wie die regelmäßig erfreu- wiesenen Wirkungen bis zu Begründungen,
lich verlaufenden Checkups beim Hausarzt. die besonders aus dem Ayurveda stammen.
Erreicht wird dies angesichts des immer viel- Convenience-Produkte schließlich sind prak-
fältiger werdenden Angebotes an Lebensmit- tisch für die Verbraucher, nach Aussagen der
teln durch lebenslangen Verzicht bzw. perma- Erzeuger frisch, hygienisch und schmackhaft
nentes Diät-Halten, mitunter erleichtert durch und stehen daher vielleicht am eindeutigsten
Konzepte wie Slow Food oder LOHAS (life- in der Tradition der normierten Industriewa-
style of health and sustainability, Lebensstil ren des Internationalen Ernährungsstils. Und
für Gesundheit und Nachhaltigkeit). Diese natürlich sind alle diese Lebensstilprodukte
soziokulturelle Polarisierung durch gesunde nach Angaben der Hersteller auch gesund …
Kost und ausreichende Bewegung oder eben
deren Fehlen zeigt sich inzwischen sehr deut-
lich am Taillenumfang der verschiedenen so- Resümee
zialen Schichten, vor allem in den USA: Dort
bringen Menschen aus den Unterschichten, Geschichtswissenschaftler beschreiben eher
besonders Frauen und Personen afrikanischer gesellschaftliche Entwicklungen und ver-
oder mexikanischer Herkunft, im Durch- suchen diese zueinander in Beziehung zu
schnitt erheblich mehr Gewicht auf die Waage setzen. In dieser Hinsicht immerhin sollte
als Wohlhabende und Gebildete. ❙14 deutlich geworden sein: Die jeweiligen De-
finitionen gesunder Ernährung sind erstens
Im selben Zeitraum wurde zweitens die Ori- von sehr allgemeinen Referenzsystemen ab-
entierung an Lebensstilkonzepten immer po- hängig. Diese beruhen auf vielfältigen Fakto-
pulärer. Diese bestimmen inzwischen oft die ren wie Wirtschaft, Technik, Wissenschaft,
jeweils typischen Ernährungsweisen. Die Ver- Moden und allgemeinen Glaubenssätzen.
bindung mit der oben erwähnten sozialen Po- Zweitens führen diese Referenzsysteme als
larisierung ist dabei ebenso offenkundig wie Traditionen beinahe ein Eigenleben, so dass
die bis heute weiterwirkenden Kontinuitäten es mitunter den Zeitgenossen kaum möglich
zu Humoralpathologie, gesunder Mischkost, ist, Herkunft und Ausrichtung der jeweiligen
Lebensreform, Internationalem Ernährungs- Konzepte für eine gesunde Kost überhaupt
stil oder Negative Nutrition. Eine besonde- richtig einzuschätzen. Drittens: Gesunde Er-
re Rolle spielt dabei die Bio- oder Öko-Kost. nährung ist nicht einfach da, sondern eher
Functional Food dagegen bezeichnet Lebens- eine nie endende Herausforderung, die sich
mittel, die zusätzlich mit Vitaminen oder in der gesellschaftlichen Praxis immer wie-
Bakterienkulturen angereichert werden. Die der von Neuem stellt. Dabei wissen wir heu-
begleitende Werbung behauptet dabei einen te selbst nach Jahrzehnten exzellenter Er-
positiven Effekt auf die Gesundheit. Fine Food nährungsforschung mehr über schädliche als
meint vor allem teure und Luxusprodukte, de- über gesundheitsfördernde Auswirkungen
unserer Kost.
❙14  Vgl. Kenneth F. Kiple, A Movable Feast. Ten Millen-
nia of Food Globalization, Cambridge 2007, S. 253 ff.

46 APuZ 45/2010
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der Bundeszentrale
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Redaktion
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(verantwortlich für diese Ausgabe)
Dr. Asiye Öztürk
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29. Oktober 2010

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Gesundheit APuZ 45/2010

Paul U. Unschuld
3–5 Kranke als Ressource, Gesundheit als Ware
Erstmals ist Kranksein volkswirtschaftlich mindestens so wertvoll wie die Ge-
sundheit der Bevölkerung. Der Druck auf die Politik, Gesundheit für alle zu ge-
währleisten, ist gesunken.

Nils C. Bandelow · Florian Eckert · Robin Rüsenberg


6–11 Reform(un)möglichkeiten in der Gesundheitspolitik
Veränderungsdruck und Beharrungskraft zeichnen Gesundheitspolitik aus. Diese
ist dabei konfliktträchtig, aber auch dynamisch. Schrittweise Anpassung bleibt
die reformpolitische Normalstrategie.

Stefan Felder
12–17 Ökonomie des Gesundheitswesens: Genese und Optimierung
Der Beitrag geht den Gründen für die überproportional steigenden Gesundheits-
ausgaben nach, fragt nach dem optimalen Mix von Staat und Markt und charakte-
risiert die optimale gesetzliche Krankenversicherung aus ökonomischer Sicht.

Kerstin Funk
18–24 Gesundheitspolitik in internationaler Perspektive

Die Gesundheitssysteme in der Schweiz, den Niederlanden und den USA können
auch als Vorbilder für eine Reform in Deutschland angesehen werden, denn die
Probleme sind in allen Staaten sehr ähnlich.

Uwe H. Bittlingmayer · Diana Sahrai


25–31 Gesundheitliche Ungleichheit. Eine ethnologische Perspektive

Versuche zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit zielen vor allem auf die Ver-
änderung individuellen Verhaltens. Dabei ist eine ergänzende ethnologische Per-
spektive auf kulturelle Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit notwendig.

Thomas Lampert · Thomas Ziese · Bärbel-Maria Kurth


32–39 Gesundheitliche Trends in Ost- und Westdeutschland

Kurz nach der Wiedervereinigung unterschied sich die gesundheitliche Situati-
on in Ostdeutschland deutlich von der in Westdeutschland. Mittlerweile hat eine
Annäherung, zum Teil sogar eine Angleichung stattgefunden.

Detlef Briesen
40–46 Was ist „gesunde Ernährung“?
Derzeit versucht sich die Gesundheitspolitik auf die Förderung „richtiger“ Er-
nährung auszurichten. Was aber ist gesunde Kost? Der Aufsatz stellt die Entwick-
lung von Konzepten vor, die diese Frage höchst unterschiedlich beantworten.

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