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INTERVIEWS & PORTRÄTS, SACHBUCH

Veröffentlicht am 16. Januar 2023

Schillernd und umstritten


von Thomas Hummitzsch

Susan Sontag gilt bis heute als intellektuelle Ikone ihrer Zeit. In diesen
Tagen wäre sie 90 Jahre alt geworden. Seit ihrem Tod haben zahlreiche
Bücher von und über Sontag den Blick auf Leben und Werk der Essayistin
geweitet.

»Ich möchte schreiben – ich möchte in einer intellektuellen Atmosphäre leben


– ich möchte in einem kulturellen Zentrum leben, wo ich jede Menge Musik
hören kann – all dies und noch viel mehr«, hält die am 16. Januar 1933 als
Susan Lee Rosenblatt geborene Susan Sontag mit 16 Jahren in ihrem Tagebuch
fest. Gerade hat sie ihr Elternhaus verlassen und ein Studium der Literatur,
Theologie und Philosophie in den Blick genommen. In diesen Zeilen ruft sie
das Programm aus, das sie zu der Intellektuellen ihrer Zeit machen sollte.
Noch heute gilt sie neben Ayn Rand, Hannah Arendt und Joan Didion als eine
der wichtigsten literarischen, politischen und feministischen Ikonen ihrer
Generation. 

Gierig auf das Leben


Susan Sontag galt als herausragende Publizistin und Ikone
der politischen Linken. Im Dezember 2004 starb sie an
Krebs. Zwei Bücher blicken auf die größte amerikanische
Intellektuelle des 20. Jahrhunderts zurück.

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Weniger ihr literarisches Werk (trotz National Book Award für ihren
historischen Roman »In Amerika«) als vielmehr ihre mit Aphorismen
gesättigten Essays sind Grundlage ihres Rufs einflussreiche Intellektuelle. Allen
voran ihre Nobilitierung der vermeintlich unintellektuellen Popkultur
in »Anmerkungen zu ‚Camp‘«, ihre nüchternen Gedanken über »Krankheit als
Metapher« oder die gesammelten Kulturkritiken in »Gegen Interpretation«.
Wie keine andere hat Sontag den Blick auf die Welt geschärft und dabei
verändert, wie wir das Leiden der anderen betrachten, über Fotografie
sprechen oder auf die Herausforderungen unserer Zeit schauen.
Amerikanischen Leser:innen hat sie in den USA wenig bekannte europäische
Autoren wie Antonin Artaud, Walter Benjamin, Elias Canetti oder W.G. Sebald
nahegebracht. Als sie 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in
der Frankfurter Paulskirche erhielt, wurde ihre große analytische Schärfe
betont, mit der »seit den sechziger Jahren die Ausprägungen der dynamischen
Alltagskultur und ihre Bedeutung für unsere Vorstellung von Modernität und
Freiheit beschrieben« hat.

Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour. Au au Verlag 2007.


342 Seiten. 18 Euro. Hier bestellen.

Seit ihrem Tod am 28. Dezember 2004 sind in regelmäßigen Abständen


Bücher erschienen, die sich in erster Linie dem Leben der intellektuellen
Säulenheiligen Amerikas widmen. Daniel Schreiber schrieb schon 2007 ein
erstes Porträt. In »Susan Sontag. Geist und Glamour« setzte er sich kritisch mit
der Ikone auseinander und unterstellte ihr durch die »Er ndung Susan
Sontags« als Marke – ein Wunder, das Net ix noch keine Serie namens
»Inventing Susan« in Au rag gegeben hat – eine »Ikonisierung« des eigenen
Images. 2008 und 2009 folgten eine Ausgabe ihrer letzten Reden und Essays
unter dem Titel »Zur gleichen Zeit« sowie das zweifelha e Sterbebuch »Tod
einer Untröstlichen« (beide übersetzt von Reinhard Kaiser), in dem Sontags
Sohn David Rie die Intimität der letzten Tage am Sterbebett in mitunter
unangenehmer Weise o enlegt.
Susan Sontag: Wiedergeboren. Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Hanser Verlag 2010. 384 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen.

2010 und 2013 erschienen die beiden Tagebuch-


Bände »Wiedergeboren« und »Ich schreibe, um herauszufinden, was ich
denke«, die Rieff herausgegeben hat. Sie speisen sich aus den mehr als
einhundert Notizhe en, die Sontag nach dem Vorbild von Lichtenbergs
Sudelbüchern angelegt hat. Die Journale umfassen Auszüge und Notizen aus
den Jahren 1947 bis 1980 und machen die Entwicklung ihrer Philosophie aus
der persönlichen Erfahrung von Glück und Unglück nachvollziehbar. »Ein
Intellektueller ist ein Mensch, dessen Geist sich selbst beobachtet«, schreibt
Sontag in dem ersten der beiden Bände, in denen man diesem kritischen
Selbststudium beiwohnen kann.
Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszu nden, was ich denke. Aus dem
Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag 2013. 560 Seiten. 30,-
Euro. Hier bestellen.

Dabei belegen ihre Aufzeichnungen zu Literatur und Philosophie, Bildung


und Politik, warum sie nicht nur Amerikas lauteste, sondern auch klügste
Stimme war. Immer wieder verdünnen sich die großen Linien und lösen sich
im Kleinen auf, in Listen und Kommentaren von gelesenen und zu lesenden
Büchern, Zitaten und Personen. Sie legt Zeugnis ab von ihren Erwartungen an
und den Eindrücken von kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen. Über
diesem Mikrostudien ihres Alltags und den Makrostudien des menschlichen
Daseins schwebt Sontags Sehnsucht nach Leben. Ihre Lese-, Schreib- und
Reiseprojekte erzählen von der Begierde, den Augenblick mit der
größtmöglichen Intensität erleben zu können.

Zum zehnten Todestag erschien 2014 Nancy D. Kates ausgezeichnete HBO-


Dokumentation »Regarding Susan Sontag«, die anhand von Archivmaterial,
Zeitzeugen-Berichten, Fotografien und Sontags Texten auf Leben und Werk
der Kulturkritikerin blickt. Der Film nimmt vor allem auch die ikonischen
Fotografien in den Blick, die Sontag mal betont leger, dann wieder in
ernsthafter Pose als public intellectual in Szene setzten. Parallel erschien das
legendäre Rolling-Stone-Interview als Buchausgabe, in dem die legendäre
Aussage fiel, dass sie, müsste sie zwischen den Doors und Dostojewski wählen,
»selbstverständlich« Dostojewski wählen würde. 
Benjamin Moser: Sontag. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Penguin
Verlag 2020. 928 Seiten. 40 Euro. Hier bestellen.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Sontags Leben ist zweifellos die
Publikation von Benjamin Mosers monumentaler Biografie »Sontag«. Noch nie
wurde derart viel Material über »Amerikas letzten großen Literaturstar«
zusammengetragen, wie in diesem von Hainer Kober übertragenen Wälzer.
Moser nimmt ganz im Sinne eines Freud-Schülers unbewältigte Traumata in
den Blick und wühlt sich in seinem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten
Psychogram durch jedes Detail in Leben und Werk. Ungeduldig, zum Teil
auch ungnädig arbeitet er sich an der »Königin der Leugnung« und »Sklavin
der Ernstha igkeit« ab, die er immer wieder latent als Opfer kindlicher
Traumata zeichnet. Die Lebensleistung von Sontag schmälert er dabei nicht,
ihre unbändige Energie – aller Widerstände und Traumata zum Trotz –
kommt dabei aber zu kurz.
Sigrid Nunez: Sempre Susan. Erinnerungen an Susan Sontag. Aus dem
Englischen von Anette Grube. Aufbau Verlag 2020. 141. Seiten. 18,- Euro.
Hier bestellen.

Nobelpreisträger Salman Rushdie sprach einmal von zwei Susans, einer guten
und einer bösen. »Die gute Susan war brillant, witzig, loyal und einfach
großartig, die böse Susan hingegen konnte ein gnadenloses Biest sein.« Davon
erzählt auch Sigrid Nunez in ihrem parallel zur Moser-Biogra e erschienenem
Memoir »Sempre Susan«. Als ehemalige Assistentin und Ex-Partnerin von
Sohn David lebte sie in New York zeitweise mit Sontag in einer Wohnung. Sie
zeichnet in ihrem Buch das Bild einer herrischen Diva, die zu emotionaler
Kälte neigte. Von derlei Attitüden wusste auch die Fotogra n Annie Leibovitz,
Sontags langjährige On- und O -Partnerin, zu berichten. »Im Rückblick«,
schreibt Nunez betro en, »wünschte ich nur, dass ich mehr Freude emp nden
könnte – oder mich zumindest auf eine Weise erinnern, die nicht so
schmerzha ist.«

Wie sehr Sontag aber auch zu berühren wusste, wird in Leibovitz Bildband
»Pilgrimage« deutlich, der nach Sontags Tod entstand. Er ist eine Art Ersatz für
ein gemeinsam geplantes Schönheiten-Buch, das nie entstand. Ganz im Sinne
von Sontag bezeugen die Bilder in diesem Band die Existenz des Menschen
und seine gegenständliche und geistig-spirituelle Hinterlassenscha .
Susan Sontag: Wie wir jetzt leben. Aus dem Englischen von Kathrin
Razum. Hanser Verlag 2020. 128 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Mit jedem weiteren Jahr, das seit Sontags Tod vergeht, lichtet sich der
biogra sche Nebel. Mehr und mehr tritt ihr Werk in den Vordergrund. Dazu
hat auch der elegant von Kathrin Razum übersetzte Band »Wie wir jetzt leben«
mit fünf schillernden Erzählungen – unter anderem einer über die frühe
Begegnung mit Thomas Mann – beigetragen, weil die Geschichten einen Blick
auf die andere Seite freimachen. Sie bilden in ihrer spielerischen Pose »das
Bindeglied« zwischen den Selbstzweifeln der Tagebücher und der Autorität
ihrer analytischen Essays, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Verena
Lueken in ihrem Nachwort zu den Stories.
Anna-Lisa Dieter: Susan Sontag. 100 Seiten. Reclam Verlag 2022. 102 Seiten. 10
Euro. Hier bestellen.

Zum diesjährigen 90. Geburtstag hat sich die Literaturwissenschaftlerin Anna-


Lisa Dieter noch einmal über Sontags Essays gebeugt. Für den Reclam-Verlag
hat sie auf 100 Seiten geschnurrt, was es Bedeutendes zu sagen gibt. Sie

beschreibt unter Rückgri auf die von Sontag geliebten Listen, wie sich die
Essayistin selbst erfand. Sie blickt auf ein ussreiche Wegbegleiter:innen,
ordnet bedeutende Texte ein, bietet Rückschlüsse auf Bezüge zwischen Leben
und Werk und zeigt, wie Sontag intellektuell zwischen Akademie und
Kunstszene sur e. Eine eigens zusammengestellte Playlist zum Buch gibt dem
Ganzen noch einen zusätzlichen Charme.

Dieters Essay-Essay ist auch deshalb so lesenswert, weil sie aktuelle Fragen und
Debatten an Sontags Texten re ektiert und so aufzeigt, wie es Sontag gelang,
politisch engagierte Texte zu schreiben, die auch von ihr handelten, ohne
identitätspolitisch zu werden. Oder wie sie durch das genaue Betrachten des
Leidens anderer zur Antikriegsaktivistin wurde, ohne in blinden Pazi smus zu
verfallen.
Anna-Lisa Dieter, Silvie Tiedtke (Hrsg): Radikales Denken. Zur Aktualität Susan
Sontags. Diaphanes Verlag 2017. 288 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen.

»Ich möchte lieber einen Schritt zu weit in Richtung Gewalt und Exzess gehen,
als den Moment nicht voll auszuschöpfen«, hielt die junge Susan Sontag im
Tagebuch fest. Diese Unmittelbarkeit nimmt der Sammelband »Radikales
Denken« in den Blick. Dessen Texte widmen sich, ausgehend von einem
gleichnamigen Symposium zum zehnten Todestag, der Aktualität von Susan
Sontag. »Sontags Aktualität geht gegen Interpretation. Die Wucht ihrer Texte
berührt, egal, wie viel zusätzliche Komplexität sich in der Zwischenzeit auch
angehäuft haben mag«, schreiben die beiden Herausgeberinnen Anna-Lisa
Dieter und Silvia Tiedtke.

Die Autor:innen fragen in ihren Texten, wie bei Sontag Stil und Form
aufeinander bezogen sind, wer ihr Denken und Schreiben beeinflusst hat, wie
sie als öffentliche Intellektuelle auftrat und wie sie bis heute wirkt.
Kulturkritikerin Ina Hartwig etwa schreibt über »Bilder von Geburt und Tod«
in Anlehnung an Sontags Texte, die Philosoph:innen Carolin Emcke und
Juliane Rebentisch diskutieren mit Daniel Schreiber über »Ethik und Ästhetik
des Sehens«, Verleger Michael Krüger über Sontags Verhältnis zu Deutschland
und Popkritiker Jens-Christian Rabe mit Bezug auf Umberto Eco, Roland
Barthes und Susan Sontag darüber, was originelle Kulturkritik ausmacht.

Dieser Band zeigt facettenreich, wie sich Sontags Denken zwischen den
Fundamenten der klassischen Bildung und den Superlativen der
Bewunderung bewegt und dabei einen Ehrgeiz des Schreibens hervorbringt,
der ihre Texte zeitlos gültig und unverrückbar macht.

Eine kürzere Fassung des Beitrags erschien im Freitag 2/2023.

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