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Vertrauen in die
natürliche Geburt
Gelassen und entspannt in den Kreißsaal
Kösel
9 Vorwort
135 Quellenangaben
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Oxytocin
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Adrenalin, Noradrenalin
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Endorphine
Prostaglandin
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Prolaktin
Damit die Mutter bereit und in der Lage ist, sich nach der Geburt
ganz und gar auf das Baby einzulassen und eigene Bedürfnisse
hintanzustellen, gesellt sich noch ein weiteres Hormon hinzu:
Prolaktin. Prolaktin unterstützt – gemeinsam mit dem Oxyto-
cin – die Fähigkeit, Liebe zum Baby aufzubauen und zu halten –
über alle Anstrengungen hinweg. Diese Hormone fördern müt-
terliches Verhalten, das heißt, die Bedürfnisse des Babys werden
erkannt und haben für die Mutter oberste Priorität. Prolaktin setzt
die Milchbildung in Gang und hält sie auch aufrecht. Auch wenn
eine Mutter ihr Baby weinen hört (manchmal reicht sogar schon
das Weinen eines anderen Babys), setzt dies Prolaktin frei und
Milch tritt aus. Dieses Hormon ist auch dafür verantwortlich, dass
der Schlaf der Mutter nur leicht ist, damit sie jedes Geräusch des
Babys mitbekommt und es beschützen kann.
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heit geben würden. Oft ist jedoch das Gegenteil der Fall. Je mehr
Informationen gesammelt werden, umso unsicherer werden die
Frauen, denn zu jeder Information gibt es auch die Gegeninforma-
tion. Das verwirrt häufig mehr, als es beruhigt.
Es ist eine gute Idee, sich von konkreten Ängsten zu befreien.
Denn sie sind meist nur Fantasieprodukte und die Realität sieht
dann ganz anders aus. Eine gute Portion Nichtwissen und viel-
leicht sogar Ignoranz kann gerade bei der Geburt hilfreich sein.
Das Großhirn der Mutter darf nicht der Geburtshelfer werden,
denn es ist eher ein Geburtsverhinderer. Das Stammhirn ist als
Geburtshelfer viel besser geeignet. Es denkt nicht, sondern in
ihm ist die Fähigkeit zur Hingabe beheimatet und die ist eher ein
Reflex.
Auch das Bedürfnis nach Kontrolle ist bei einer Geburt sehr
hoch. Kontrolle ist in gewisser Weise ein Urbedürfnis des Men-
schen. Die Welt um sich herum halbwegs sortiert zu wissen, gibt
das Gefühl, sicher und geborgen zu sein – eine der Rahmenbedin-
gungen, die eine Geburt benötigt. Das war zu allen Zeiten so. War
eine Zeugung noch auf der Flucht möglich, so brauchte die Geburt
schon immer einen Rückzugsort, wo sich die Frauen sicher und
geborgen fühlten.
Je unüberschaubarer, komplexer und weitläufiger die Welt
wird, umso mehr droht das Kontrollgefühl verlorenzugehen. Als
Gegenstrategie suggeriert uns der Zeitgeist, dass alles irgend-
wie kontrollierbar sei. Wir fallen nur zu gern auf diesen Mythos
herein und fordern kontrollierte Abläufe in allen Lebensberei-
chen. Bei der Arbeit, auf Reisen, im computerisierten Auto und
Heim und natürlich im Kreißsaal. Saß man früher zufrieden in
einer Postkutsche mit völlig unklarem Ankunftstermin, so bricht
heute bei einer halbstündigen Zugverspätung schon das Chaos
aus. Selbst beim Sport wird alles in kontrollierte, messbare Ein-
heiten eingebettet, die wohltuend suggerieren: Hier ist alles unter
Kontrolle.
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dung, Einlassen dagegen eher ein Prozess. Hingabe ist auch eine
Form des Mitschwingens, Mitgehens. Das schafft oft mehr Er-
leichterung, als gegen etwas anzugehen: »Mit dem Schmerz zu
gehen« ist leichter, als gegen ihn anzukämpfen. Aber natürlich nur
bis zu einem bestimmten Punkt.
Sich hinzugeben ist in Bezug auf die Elternschaft ein über-
lebennotwendiges und evolutionsbiologisch sinnvolles Konstrukt.
Babys bringen einen an die eigenen Grenzen. Sie sind unbere-
chenbar – sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag. Es gibt
kaum eine vergleichbare Herausforderung, denn bei all dem Glück
bedeuten sie auch Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Verzweiflung und
manchmal Wut. Diese Herkulesaufgabe können die Eltern nur
durch absolute Hingabe stemmen. Glücklicherweise wird diese
Hingabe sogar hormonell unterstützt (siehe Oxytocin). So ge-
stärkt schaffen es Mütter und Väter, sich nächtelang rührend
um ihr Kind zu kümmern, im Sitzen mit Baby auf dem Bauch zu
schlafen und auf der Bettkante zu liegen, damit der Nachwuchs
das ganze Bett zur Verfügung hat. Die Hingabe unter der Geburt
ist somit nur die Vorstufe für eine ganz andere Form der Aufopfe-
rung, zu der der Mensch biologisch verpflichtet ist.
Eine Frau, die sich vertrauensvoll hingeben und dem Körper die
Kontrolle überlassen kann, ist bei der Geburt in der Regel ent-
spannter. Ein entspannter Beckenboden gibt leichter nach, erleich-
tert die Öffnung der Weichteile, verkürzt oft die Dauer der Geburt
und sorgt dafür, dass es zu weniger Dehnungsschmerz kommt.
Was aber passiert, wenn sich eine Frau so gar nicht auf die
Geburt einlassen kann und mit ihr nur Unannehmlichkeiten
und Scham verbindet? Das führt häufig zu unnötigen Schmer-
zen. Auch Ekel vor sich selbst und all dem, was der Körper bei
der Geburt so absondert, kann ein Grund für Schmerz sein. Die
Sterilität unseres sauberen Lebens sieht keine schmutzigen Stel-
len mehr vor. Beim Kaiserschnitt ist ein Sauger für all das Uner-
wünschte verantwortlich.
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Frau M. bekommt ihr erstes Kind. Sie wird zu mir in die Sprech-
stunde geschickt, weil sie große Geburtsangst hat. Im Gespräch be-
richtet sie, dass sie ein »Sensibelchen« sei, schon bei der Menstru-
ation würde sie vor Schmerzen jedes Mal fast zusammenbrechen.
Körperlich könne sie sich auch nicht viel zumuten. Sie sei halt »zu
zart für diese Welt«.
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»Wie soll so jemand eine Geburt schaffen?«, fragt sie mich mit
großen Augen. Ich erkläre ihr, dass es durchaus möglich sei, dass
sie die Anforderungen einer Geburt überfordern, dass dies aber
nicht zwangsläufig so sein müsse. Ausführlich erkläre ich ihr, was
bei einer Geburt ablaufen kann und berichte von Frauen, die da-
bei mitunter regelrecht über sich hinauswachsen. Zudem erkläre ich
ihr, dass eine Geburt nicht unbedingt etwas mit dem zu tun hat,
was sie bis jetzt in ihrem Leben erlebt hat, und dass dies eine große
Chance ist, daran in Bezug auf ihre Empfindlichkeit zu wachsen
und aus der Geburt gestärkt hervorzugehen. Frau M. will dies nicht
so recht glauben und ist weiterhin skeptisch. Ich entlaste sie da-
hingehend, dass ich ihr anbiete, dass wir zu jedem Zeitpunkt, auf
Wunsch auch direkt zu Geburtsbeginn, den Geburtsmodus abwan-
deln können und dann doch einen Kaiserschnitt durchführen. Da-
durch lässt sie sich überzeugen, zunächst einmal auf die Wehen zu
warten.
Frau M. erscheint mit einer Muttermundweite von 5 cm im Kreiß-
saal. Sie ist ganz erstaunt, dass die wenigen Wehen schon so viel
am Muttermund bewirkt haben. Alles läuft so anders, als sie es sich
vorgestellt hat. Sie entbindet rasch und unkompliziert einen kräfti-
gen Jungen. Als ich sie im Wochenbett besuche, ist sie ausgesprochen
dankbar: »Schön, dass Sie nicht meiner Angst gefolgt sind. Ich kann
offenbar viel mehr, als ich mir bis jetzt zugetraut habe. Ich glaube,
jetzt kann mir so recht nichts mehr im Leben passieren.«
Ich verlasse freudig das Zimmer, wohl wissend, dass es nicht
immer so läuft, und dass es durchaus auch Frauen gibt, die sich
nach der ersten Wehe den Kaiserschnitt wünschen und ihn selbst-
verständlich dann auch bekommen.
Das Ziel – eine an Leib und Seele gesunde Familie – erreicht man
nur über den noch so kurzen Weg!
Bisher ging es hier immer nur um die Angst der Frauen vor der
Geburt. Doch sie sind nicht die Einzigen, die Angst haben. Wir
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Wenn wir nicht wissen, wie etwas werden wird, haben wir die
Wahl: Wir können mit dem Schlimmsten rechnen oder aber davon
ausgehen, dass wir Schritt für Schritt geleitet werden und sich die
Situation gut und richtig entwickeln wird.
Der erste Fall beschreibt das, was derzeit mehr und mehr pas-
siert. Daher ziehen sich immer mehr Kliniken auf das vermeintlich
sichere Terrain der Interventionen zurück. Haftpflichtversicherer
sind kurz davor, Mindestquoten an operativen Entbindungen zu
fordern. Das liegt daran, dass es in der Rechtsprechung nur um
Fälle geht, in denen ein Kaiserschnitt geboten gewesen wäre und
nicht oder zu spät gemacht worden ist. Es gibt in Deutschland
noch kein einziges Urteil zu einem unnötigen Kaiserschnitt. Und
das, obwohl gerade der Kaiserschnitt zusätzliche medizinische
Risiken nach sich zieht – und damit auch Kosten für die Versiche-
rungen beziehungsweise Krankenkassen.
Es geht im Grunde darum, das Geheimnis der Geburt wieder
erleben zu können. Denn keine Geburt ist in ihrem Verlauf vor-
hersagbar. Eine Geburt ist wie das Leben selbst: immer wieder
überraschend und voller Wunder. Es kann hilfreich sein, in der
Schwangerschaft die Geburtsgeschichten aus der Familie zu hören
und sich mit anderen Schwangeren auszutauschen. Nicht, um sich
gegenseitig mit Horrorgeschichten zu übertrumpfen, sondern um
sich gegenseitig Mut zu machen. Was heutzutage fehlt, sind näm-
lich Mutmach-Geschichten rund um die Geburt. Frauen, die leicht
und unkompliziert geboren haben, trauen sich kaum noch, dies
laut zu sagen. Sie fürchten, dass die anderen Mütter mit schlech-
ten Geburtserfahrungen über sie herziehen. Besonders die Hor-
rorgeschichten, die im Internet über Geburten zu lesen sind, be-
wirken meist nichts als eine Steigerung der Angst. Daher mein
Rat: Bitte nicht im Netz informieren! Denn nicht selten entwi-
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ckeln sich die Dinge ganz anders als angenommen oder geplant.
Zum Beispiel in dem folgenden Fall:
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Eine Geburt bleibt eine besondere Leistung. Auch bei einem Kai-
serschnitt. Keine Frau muss sich deshalb schlecht fühlen, wenn
nichts anderes half und die Entscheidung nicht leichtfertig getrof-
fen wurde.
Jenseits der Erwartungen gibt es noch die Ziele. Ziele erreicht
man manchmal nur, wenn man sie auf dem Weg vergisst. Es ist
dennoch eine gute Idee, sich den Weg zum Ziel einzuteilen. Mal
einen Halt einzulegen, sich auszuruhen und sich generell nicht zu
übernehmen. Am Anfang geht vieles in großen Schritten – später
kann jeder Schritt zur Qual werden. Reinhold Messner hat dieses
Prinzip so beschrieben: Nicht den Mount Everest im Blick, son-
dern die Lager, die Tagesetappen, und schließlich die Stunden,
Minuten, Schritte – manchmal nur einen halben Schritt. Wehen
sind wie Schritte, zwischen Anstrengung und Pause. Sie erst
machen den Weg möglich, denn jeder Schritt, jede Wehe bringt
das Ziel näher. »Kleine Schritte, ein starkes Team und die Vor-
freude auf das Gipfelglück haben mir auf allen Bergen und bei der
Geburt meiner Kinder sehr geholfen«, so auch Extrembergsteige-
rin und Motivationscoach Helga Hengge. Eine Wehe ist wie ein
Minutenzeiger an der Uhr. Dieser teilt die Zeit ein, definiert Ge-
schafftes und das, was noch kommt. Und die Pause folgt immer –
wie der Atemzug am Berg. Zwei Drittel der Geburt sind Pausen!
Ein dauernder Wehenschmerz wäre kaum auszuhalten.
Nun sind Frauen aber auch nicht allein bei der Geburt. Auf die
Frage, wer oder was ihnen bei der Geburt am meisten geholfen
habe, geben die meisten Frauen die Hebamme und/oder den Part-
ner an. Beziehung hilft offenbar am besten. Erstaunlicherweise ge-
ben nur ganz wenige Frauen an, dass ihnen auch das Kind eine
Unterstützung war. Das überrascht mich immer wieder. Viele
Frauen haben offenbar das Gefühl, dass sie es ganz alleine seien,
die das Kind zur Welt brächten. Dass auch die Kinder bei ihrer Ge-
burt unterstützend wirken, wird nicht so häufig bemerkt. Sicher-
lich sind es mitunter ganz banale biologische Faktoren, die den
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zeit akut. Es wäre viel gewonnen, würde bei der ersten Vorstel-
lung bei der Hebamme oder beim Geburtshelfer die Geschichte
der eigenen Geburt thematisiert. Dann ist noch Zeit, sich even-
tuell bestehende Negativprägungen bewusst zu machen und Stra-
tegien zu entwickeln, um damit umzugehen oder sie aufzulösen.
Deshalb ist es auch so sinnvoll, bei der Anmeldung in der Ge-
burtsklinik mit einer Hebamme zu sprechen. Hier fällt es erfah-
rungsgemäß leichter, über Tabubesetztes zu reden als mit einem
Gynäkologen.
Auch bei einer Geburt vor 20, 30 oder 40 Jahren waren Ge-
burtseinleitung, Zange und Saugglocke an der Tagesordnung. Und
ebenso wurden Kaiserschnittgeburten damals auch schon nicht
mehr nur im Notfall durchgeführt. Aber auch, wenn wir noch wei-
ter zurückgehen, sehen wir, dass Mütter und Babys unter den Be-
dingungen rund um die Geburt zu leiden hatten. Babys wurden
zum Beispiel weggelegt und trotz stundenlangem Schreien nicht
hochgenommen. Auch dies hat Spuren bei den Kindern hinter-
lassen, die sie an ihre Nachkommen weitergegeben haben – und
zwar auf Genebene beziehungsweise in der Genexpression (siehe
nächstes Unterkapitel). Wir haben es mit Generationen von
Frauen zu tun, die mit einem Geburtstrauma behaftet sind, ohne
es zu wissen. Damit soll nun kein Schreckensszenario aufgebaut
werden, denn ganz offensichtlich ist die »Gebärkompetenz« ja so
stark, dass Frauen noch immer gebären »können«. Die Resilienz-
fähigkeit – die Fähigkeit, auch unter schwierigen Umständen das
Beste aus einer Situation zu machen – scheint beim Geburtsge-
schehen wichtig zu sein.
Wenn wir Geburten allerdings von unnötigen Komplikationen
befreien wollen, ist es höchste Zeit, die »Altlasten« anzuschauen
und aufzulösen. Wir dürfen jedoch auf keinen Fall dem Irrtum
verfallen, zu meinen, dass mit einer belasteten eigenen Vorerfah-
rung eine gute Geburt unmöglich sei. Geburt ist viel zu komplex,
um sich auf eine solche Formel reduzieren zu lassen. Und auch
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Lange Zeit nahm die Wissenschaft an, dass sich Vererbung nur im
DNA -Code abspielen könne und daher auch strikt auf körperliche
Attribute beschränkt sei. Inzwischen wissen wir, dass es durch-
aus auch andere Möglichkeiten gibt, Erfahrungen von Generation
zu Generation weiterzugeben. Erforscht werden diese Möglich-
keiten in dem noch relativ jungen Feld der Epigenetik (die Vor-
silbe epi bedeutet im Griechischen über, außer oder höher – es ist
also eine außerhalb der DNA bestehende Genetik). Der deutsche
Biologe und Wissenschaftsautor Peter Spork nutzt zur Erklärung
dieses Verhältnisses Begriffe aus der Welt der Datenverarbeitung.
Während die DNA laut Spork vergleichbar ist mit der Hardware,
ist die Epigenetik so etwas wie die Software, die unserem Körper
sagt, welche Gene genutzt und welche ungenutzt oder abgeschal-
tet werden. »Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die
Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem
Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher
Zeit aktiv ist und welches nicht. (…) Die Werkzeuge des Epige-
noms sind sogenannte epigenetische Schalter. Sie lagern sich ge-
zielt an bestimmte Stellen des Erbguts an und entscheiden, wel-
che Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht.«4
Diese Epigenetik-Schalter reagieren auf Umweltfaktoren wie
Nahrung, Bindungsqualität, Hormone, Erlebnisse im Mutterleib,
Stress, Traumata, Nikotin, Alkohol, Drogen und vieles mehr. Weil
das so ist, hat der eigene Lebensstil eine sehr viel größere Be-
deutung, als wir bisher geglaubt haben. Auch deshalb, weil diese
Schaltungen von Generation zu Generation weitergegeben wer-
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Sich den eigenen Wunden aus der frühesten Kindheit – auch vor
und während der Geburt – zuzuwenden, braucht Offenheit und
Mut. Es ist sinnvoll, ein Schwangerschaftstagebuch zu führen. Die
Gedanken und Erinnerungen sind nicht nur im Moment hilfreich
(auch um gegebenenfalls mit der Hebamme darüber ins Gespräch
zu kommen), sondern sind auch noch nach Jahren eine schöne
Dokumentation zum Nachlesen. Spannende und wichtige The-
men für die Schwangerschaft sind zum Beispiel die Geburtsge-
schichten der weiblichen Linie. Je mehr in der Hebammensprech-
stunde erzählt wird, umso besser! Dazu gehören die Geschichten
der eigenen Mutter über die eigene Schwangerschaft. In welcher
Situation hat sie sich damals befunden, welche Herausforderun-
gen musste sie eventuell meistern? Wie war das Verhältnis zum
Vater? Und schließlich auch: Wie ist die Geburt verlaufen?
Hilfreich wäre grundsätzlich, einen alternativen Mutterpass
auszufüllen. Dazu gehört generell die Schilderung aller eigenen
erinnerbarer Erfahrungen mit dem Thema Fortpflanzung und
Geburt: Hatte die Schwangere vielleicht einmal einen Frühab-
gang oder eine Abtreibung? Womöglich gibt es Missbrauchser-
fahrungen oder eine Vergewaltigung? Bei Mehrfachgebärenden
sind selbstverständlich auch die Geschichten der ersten Gebur-
ten von Bedeutung. Wie bereits erwähnt, gibt es bei mir einen
lebenslangen Gutschein zur Nachbesprechung der Geburt, denn
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zu wissen, was damals passiert ist. Das werden die Gespräche mit
den Eltern – hauptsächlich mit der eigenen Mutter – hoffentlich
geleistet haben. Aber, was wird dann mit dem Wissen gemacht?
Im Nachhinein kann schließlich nichts verändern werden. Das
Einzige, was verändert werden kann, ist die Art und Weise, wie
ein Ereignis bewertet wird.
Die Medizin kennt eine Forschungsrichtung, welche sich nicht
mit Krankheit und Störungen beschäftigt, sondern sich die Frage
stellt, unter welchen Bedingungen Menschen gesund bleiben. Die-
ses Forschungsfeld nennt man Salutogenese. Ein wichtiger Fak-
tor für Gesundheit scheint die Fähigkeit zu sein, die Dinge für
sich stimmig zu machen, beziehungsweise auch schwere Bürden
in sein Leben zu integrieren. So sind Menschen, die Niederlagen
und Verluste gut verkraften können, glücklicher im Alter. Dieses
Gefühl – oder eher diese Kompetenz – nennt man Kohärenz.
Das hat nichts damit zu tun, sich die Dinge einfach schönzure-
den. Nein, man nimmt sie in all ihrer Tragik und Widersprüchlich-
keit wahr, aber ohne daran zu verzweifeln. Dazu gehört ebenso die
Annahme des eigenen Lebensweges – zu dem selbstverständlich
in hohem Maße auch die eigene Geburt gehört. Dann ist es jedoch
wichtig, zu wissen, dass sobald sich etwas aus dem Unbewuss-
ten ins Bewusstsein gehoben hat, Veränderungen möglich sind.
Da geht es um die Entwicklung von Selbstbestimmung. Frauen
mit einem hohen Kohärenzgefühl neigen tendenziell eher dazu,
selbstbestimmt und natürlich zu entbinden. Nun ist Kohärenz
zwar etwas, was in der Kindheit erlernt wird, doch auch dort, wo
sie nicht vermittelt wurde, lässt sich das im Laufe des Lebens
nachholen. Unser Gehirn ist flexibel und kann neue Verhaltens-
weisen lernen und verankern. Eine wirksame Geburtsvorberei-
tung beginnt deshalb schon lange vor der Geburt, sogar lange vor
der Schwangerschaft.
Wer sich die Belastungen der Geburt stimmig machen kann,
wer den Sinn der Schmerzen erkannt hat, gewinnt Potenz und
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schehen beziehungsweise legt ihn lahm. Das sind häufig die Si-
tuationen, in denen es zu einem Geburtsstillstand kommt, der
medizinisch nicht zu erklären ist und auch mit noch so viel We-
henmitteln nicht mehr in Gang gesetzt werden kann. Geburtsstill-
stand ist eine der häufigsten Indikationen zum Kaiserschnitt unter
der Geburt.
All dies ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten.
Wenn allerdings schon während der Schwangerschaft vorsichtig
versucht wird, ans »Eingemachte« zu kommen, und es verfügbar
und sichtbar zu machen, ergeben sich Bewältigungs- und Hand-
lungsoptionen. So wird eine Frau mit Gewalterfahrung eine an-
dere Form der Geburtsbegleitung wünschen, als eine, die andere
Schmerzerfahrungen hat. Ein Team kann sich dann besser darauf
einstellen und dadurch Retraumatisierungen verhindern. Hebam-
mensprechstunde und Geburtsgespräche mit psychosomatischem
Fokus haben hier eine besondere Bedeutung.
Es gibt inzwischen zahlreiche Richtungen der Traumatherapie,
sodass jede Frau die für sie passende finden kann. Der Heidelber-
ger Physiologe Johann Caspar Rüegg forscht seit Jahren an den
engen Verknüpfungen von Körper und Geist. Er schreibt: »Auto-
biografische Gedächtnisinhalte sind nicht unverbrüchlich fest-
gelegt. Wenn wir uns an etwas erinnern wollen, werden die Ge-
dächtnisspuren – die synaptischen Verknüpfungen im neuronalen
Ensemble – wieder labil, quasi verformbar und dabei möglicher-
weise sogar ›umgeschmolzen‹. Dank dieser Plastizität kann die
(…) Erinnerung gegebenenfalls durch neues Lernen unbewusst
modifiziert und mit anderen Erfahrungen oder Gedanken asso-
ziiert werden.«6 Sobald wir ein Ereignis neu bewerten, verändern
wir damit auch die Erinnerungsspuren daran. Geschieht dies wie-
derholt, können diese neuen Gedanken sogar Einfluss nehmen
auf das epigentische Programm und Schalter aktivieren oder still-
legen. Im Grunde liegt in unseren Wunden das größte Geschenk
und Potenzial. Wenn wir bereit sind, es auszupacken, es aus sei-
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Frau M. hat ihr erstes Kind, einen Sohn, in der 38. Schwanger-
schaftswoche im Mutterleib verloren. Die beiden folgenden voller
Angst verlaufenden Schwangerschaften enden in einem von ihr ge-
wünschten geplanten Kaiserschnitt in der 37. Woche. Nach ihren bei-
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den Mädchen ist sie nun wieder mit einem Jungen schwanger. Sie
beschließt, diese Schwangerschaft psychotherapeutisch begleiten
zu lassen. Ihr großer Wunsch ist, sich von der Angst nicht so weit
bestimmen zu lassen, dass sie die ganze Geburtsplanung vorgibt.
Eigentlich wünscht sie sich eine normale Geburt, wie bei ihrem ers-
ten Sohn. Wünscht, dass dieses Kind ausgetragen wird, dass sich die
Angst ums Kind bei ihr »normalisiert«.
In wöchentlichen Therapiesitzungen gelingt es, sie mit ihren
Wünschen in Kontakt zu bringen und gleichzeitig die medizinischen
Risiken einer Spontangeburt nach zwei Kaiserschnitten abzuwägen.
Schlussendlich ist sie in der Lage, eigene Wehen um den Termin ab-
zuwarten. Allerdings stellt sich dann Panik ein und es muss wieder
ein Kaiserschnitt durchgeführt werden. Für diesen Fall war im Vor-
feld besprochen, ihn unter ganz anderen, bindungszentrierten Vorga-
ben durchzuführen. Genau das war auch möglich.
Frau M. schließt ihren gesunden Sohn tränenreich in den Arm. In
den Folgegesprächen sagt sie immer wieder: »Ich bin so froh, dass ich
das alles so gemacht habe. Und der Kaiserschnitt kam zum rechten
Zeitpunkt und war wirklich gut, so wie er ablief. So wie ich meine
Schwangerschaft und Geburt gestaltet habe, fühle ich mich geheilt
von meinem Trauma und meiner Angst. Ich kann jetzt meinen Kin-
dern – und mehr werden es bestimmt nicht – angstfrei begegnen und
ihnen eine noch bessere Mutter sein.«
Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist, darüber sind sich
Verhaltensforscher einig, die Urform, der Prototyp der Liebe.
Eine gute Entbindung begünstigt eine gesunde Mutter-Kind-Bin-
dung, denn im Moment der natürlichen Geburt werden sämtli-
che Hormone, die die Bindung unterstützen, im Höchstmaß aus-
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Auch das Baby profitiert wie gesagt vom Oxytocin: Es hat weni-
ger Angst und ist nicht so schmerzempfindlich, Wunden heilen
besser und es nimmt besser zu. Oxytocin wird ausgeschüttet bei
Berührung, beim Stillen und bei der Wehentätigkeit (deshalb ist
auch ein Kaiserschnitt, ohne die Wehen abgewartet zu haben,
wahrscheinlich besonders ungünstig). Auch andere sensorische
Stimulationen wie Saugen, die Nahrungsaufnahme, Wärme, Licht
und massageartiges Streicheln (Babymassage) führen zu einer
erhöhten Konzentration von Oxytocin im Blut.
Nebenbei gesagt haben Oxytocinforscher auch herausge-
funden, dass es durchaus empfehlenswert ist, eine Hochzeitsfeier
so richtig schön emotionalisiert zu feiern. Bei einer Eheschließung
werden in der Regel ja zwei miteinander unvertraute Familien-
verbände vereint. Je mehr Emotionen dabei entwickelt werden, je
mehr Tränen der Rührung fließen, umso besser ist es. So wird auf
hormoneller Ebene sichergestellt, dass Kinder in einen wohlwol-
lenden Beziehungsrahmen hineingeboren werden.
Die Qualität der Bindung von Eltern und Kind bestimmt den
Aufbau des kindlichen Gehirns und seine Persönlichkeitseigen-
schaften. Zudem hat es Einfluss auf die Nutzung seiner Gene.
Insbesondere in der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit
werden Gene aktiviert oder abgeschaltet. Die Hardware des Ge-
hirns – das von Vater und Mutter ererbte Potenzial – wird in der
allerersten Zeit in Betrieb genommen oder eben nicht. In Tier-
versuchen konnte gezeigt werden, dass Rattenbabys, die gut be-
muttert wurden (viel geleckt, freier Zugang zur Bauchunterseite
zum Säugen), sich später in der Fellfarbe, der Körpergröße und im
Körperbau (fett oder schlank) von denen unterschieden, die eine
solche Fürsorge nicht erlebt hatten. Bei den gut bemutterten Rat-
tenbabys wurden überprüfbar andere Gene freigeschaltet als bei
denen, die vernachlässigt wurden. Das Erstaunlichste war aber
Folgendes: Nahm man die Rattenbabys von ihren nicht so gut ver-
sorgenden Müttern weg und gab sie in ein Nest von Kuschel-Rat-
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Eine Geburt braucht Intimität, denn der intimste Ort ist häu-
fig der sicherste. Das trifft auf einen Hightech-Kreißsaal nur in
Ausnahmefällen zu. Daher ist er aus dieser Sicht mitunter zum
falschen Ort geworden. Dennoch finden in Deutschland über
90 Prozent aller Geburten genau hier statt. Es gibt aber auch an-
dere Orte, Formen und Möglichkeiten, um sein Kind auf die Welt
zu bringen.
Seit fast vier Generationen sind Hausgeburten bei uns kaum noch
üblich. In der Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich der Geburts-
ort in westlichen Industrienationen mehr und mehr ins Kranken-
haus verlegt. Dabei wäre es grundsätzlich sicher falsch zu sagen,
eine Hausgeburt sei nicht empfehlenswert. Vier meiner Kinder
sind zu Hause zur Welt gekommen. Es geht bei so einer Entschei-
dung im Wesentlichen darum, sich selbst richtig einzuschätzen
und seine Schmerzbelastbarkeit zu kennen. Und natürlich muss
man sich klar darüber sein, dass es zu Hause schwer beherrsch-
bare, aber seltene Restrisiken gibt. Dies muss man mit den sub-
jektiven Vorteilen im Gespräch mit der Hebamme und der be-
treuenden Frauenärztin bzw. dem Frauenarzt abwägen. Natürlich
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Die Fragen »In welche Klinik gehe ich zum Entbinden?« und
»Woran erkenne ich eine Klinik, die eine natürliche Geburt be-
vorzugt?«, gehören zu den wichtigsten Fragen einer Schwanger-
schaft. Und die Antworten darauf sollten nicht übers Knie gebro-
chen werden. Denn es gilt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer
zu einem der Infoabende in einer Klinik geht, sollte sich bereits im
Vorfeld mit der Philosophie des Hauses vertraut machen. Eventu-
ell ist es auch sinnvoll, einen eigenen Kriterienkatalog aufgestellt
zu haben, was man für wirklich wichtig erachtet, damit man sich
während der Geburt entspannen kann, sich wohlfühlt und in gu-
ten Händen weiß. Denn dies sind die Voraussetzungen für eine
gute Geburt. Hier einige Anregungen, welche Fragen ein solcher
Informationsabend beantworten sollte:
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Jenseits aller Faktenanalysen ist für die Wahl der Klinik letztlich
entscheidend, ob sich die Schwangere dort aufgehoben fühlt und
den Eindruck hat, dass die Chemie mit den Geburtshelfern vor
Ort stimmt. So sinnvoll es in anderen Bereichen sein kann, auf
Mund-zu-Mund-Propaganda zu hören, ist das bei der Auswahl
einer Geburtsklinik nicht unbedingt ein entscheidendes Krite-
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rium. Denn selbst die beste Freundin kann unter Umständen ganz
andere Bedürfnisse bei der Geburt haben als man selbst. Auf sich
selbst und die eigene innere Stimme zu hören, ist generell eine
gute Entscheidung – bei der Auswahl des Geburtsortes ist es ein
Muss.
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– Plazentaablösung
– Nabelschnurvorfall
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– Angst, zu scheitern
Alle diese Gründe haben oft miteinander zu tun oder sind Facetten
ein und desselben Phänomens, nämlich von gefühlter Schwäche
und schambesetzter Vermeidungsstrategie. Wenn es dem Ge-
burtshelfer oder der Hebamme gelingt, das zu enttarnen und an-
zusprechen, Verständnis dafür zu zeigen und sich einzufühlen,
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Frau S. sitzt vor mir, sie bekommt ihr zweites Kind. Sie ist jetzt in der
36. Schwangerschaftswoche. »Ich brauche einen Kaiserschnitt«, sagt
sie. Ich betrachte mir den Mutterpass und stelle fest, dass Frau S. das
erste Kind offenbar völlig unkompliziert geboren hat. Ich befrage sie
ausführlich zur ersten Geburt. »Jesse«, sagt sie, »wurde innerhalb
von drei Stunden geboren, es gab keine Geburtsverletzungen. Trotz-
dem war die Geburt das Schlimmste, was ich je in meinem Leben
erlebt habe. Ich fühlte mich wie von einer Dampfwalze überrollt.«
Sie erzählt von kaum wahrnehmbaren Wehenpausen. Für eine Peri-
duralanästhesie war es irgendwann zu spät. Es war für sie ein Alb-
traum. »Nein, an der Betreuung lag es nicht, die war gut«, sagt sie,
»aber ich war völlig außer Kontrolle. Ich möchte das nicht noch ein-
mal erleben«.
Ich erkläre Frau S., dass ich das alles sehr gut nachvollziehen
könne. Schnelle Geburten sind mitunter belastender als die zähen
und langwierigen. Das, was sich viele wünschen, eine schnelle und
unkomplizierte Geburt, wird, selbst wenn sie nach außen so aussieht,
keineswegs von der Gebärenden immer so erlebt. Insbesondere dann,
wenn die Frau den reibungslosen und schnellen Ablauf so nicht er-
wartet hatte oder etwas erlebt, was ganz anders ist, als das, was sie
sich vorgestellt hat, entsteht oft eine große Traurigkeit, mitunter so-
gar ein Trauma.
Nur schwer lässt sich Frau S. von ihrem Wunsch nach einem
geplanten Kaiserschnitt abbringen. Ich verspreche ihr, dass wir zu
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jeder Zeit das von ihr Gewünschte tun, doch gleichzeitig bitte ich sie
inständig, sich wenigstens eingangs auf eine natürliche Geburt ein-
zulassen.
Sie zögert lange, versteht aber, dass auch ein Kaiserschnitt ein
Trauma bedeuten kann und auch, dass die bei der ersten Geburt ent-
standene psychische Wunde möglicherweise nur heilen kann, wenn
sie noch einmal die Chance ergreift, ein halbwegs positives Geburts-
erleben zu haben. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass die Ge-
samtbilanz des Gebärens befriedigend ausfällt, eine Möglichkeit, die
durch einen geplanten Kaiserschnitt vielleicht vertan wäre.
Frau S. erscheint bei der zweiten Geburt relativ früh in der Klinik.
Sie erhält auf Wunsch eine PDA . Die Geburt nimmt in jeder Hin-
sicht einem normalen Verlauf und Frau S. ist am Ende stolz und
glücklich, sich gegen einen Kaiserschnitt entschieden zu haben.
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besprechung ca. 80 Prozent der Frauen doch noch auf den Ver-
such einer zweiten Geburt einlassen und nur 20 Prozent weiterhin
einen Kaiserschnitt wünschen. Ein Großteil der Frauen entbindet
dann überraschend gut und unkompliziert. Re-Traumatisierungen
sind selten und eher ungewöhnlich. Frauen, die den Kaiserschnitt
bekommen, sind auch zufrieden, tragen aber möglicherweise ein
Leben lang an den schlimmen Erfahrungen der ersten Geburt.
Dies ist so oder so vermeidbar.
Natürlich ist ein Kaiserschnitt manchmal eine wichtige Option.
Er sorgt immer wieder dafür, dass Kinder nicht völlig erschöpft,
überfordert und unbotmäßig gestresst zur Welt kommen und da-
nach nicht nur überwacht, sondern womöglich auch noch von der
Mutter getrennt in eine Kinderklinik verlegt werden müssen. In
diesen Fällen kann ein Kaiserschnitt sogar bindungsfördernd sein
und dann müssen auch die Nachteile in Kauf genommen werden –
trotzdem stimmt die Bilanz.
Man kann davon ausgehen, dass Frauen, die das bekommen,
was sie erwartet haben, auch ein gutes Geburtserleben haben. Wer
den gewünschten Kaiserschnitt bekommt, schneidet dann viel-
leicht fast genauso gut ab wie die Frauen, welche die gewünschte
Normalgeburt erleben. Aber eben nur fast so gut.
Und wenn denn nun der Kaiserschnitt ein Evolutionssprung
wäre, wie es einer meiner Kollegen einmal formulierte? Frauen
werden älter, die Kinder größer, die Ansprüche steigen. Vielleicht
hat die Evolution Kultur vorgesehen? Und die behilft sich mit
Operationen. Überzüchtete Tierarten werden auch per Sectio ent-
bunden, sonst würden sie nicht überleben. Gilt das auch für uns?
Sind wir womöglich auch schon überzüchtet? Vielleicht ein Stück
weit ja. Möglicherweise sind wir schon so weit jenseits vom Ge-
bären, dass der Kaiserschnitt ein Zwischenschritt auf dem Weg in
die Retorte ist. Doch es gilt, alle uns bekannten Szenarien durch-
zuspielen, bevor wir die Geburt zur Disposition stellen. Leitlinien
gehen mit Empfehlungen zur Intervention derzeit noch relativ
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Man kann also vermuten, dass alle Störungen, welche direkt oder
indirekt mit dem Immunsystem zusammenhängen, nach einem
Kaiserschnitt wahrscheinlicher auftreten. Das gilt auch für Aller-
gien und vermutlich ebenfalls für Diabetes, Asthma und rheuma-
tische Erkrankungen aller Art. Und es ist gut möglich, dass diese
Erkenntnisse nur die Spitze des Eisberges sind. Erst in 10–20 Jah-
ren werden wir mehr wissen, im Grunde können erst dann die
Fragen nach dem Sinn der natürlichen Geburt genauer beantwor-
tet werden.
Und dann sind da noch die Folgen für die Mütter: Frauen, die
sich nach einem Kaiserschnitt ein weiteres Kind wünschen, haben
öfter Probleme, erneut schwanger zu werden. Denn offenbar fin-
det das befruchtete Ei seltener einen sicheren Nährboden und so
häufen sich Einnistungsstörungen des Mutterkuchens, Frühge-
burten und sogar Totgeburten. Ganz abgesehen von den eventuell
traumatischen Erinnerungen an den ersten Kaiserschnitt, die auf
einer unbewussten Ebene dazu führen können, dass es zu keiner
erneuten Schwangerschaft mehr kommt.
Eine Einnistung des Mutterkuchens rund um den Narben-
bereich kann dazu führen, dass dieser sich so lange ins Gewebe
»frisst«, bis er sichergestellt hat, dass eine ausreichende Blut-
versorgung für die Schwangerschaft garantiert ist. Denn Narben
gehören zu dem am schlechtesten durchbluteten Gewebe über-
haupt. Die Folge davon ist, dass die Plazenta mehr oder weniger
in die gesamte Uterusmuskulatur – manchmal sogar bis in die
Blase – hineinwächst. Ein natürliches Ablösen des Mutterkuchens
ist dann fast nicht mehr möglich. So drohen nach der Geburt Blu-
tungen, und oft muss in der Folge operiert, manchmal sogar die
Gebärmutter entfernt werden, um die Sache in den Griff zu be-
kommen.
Gern wird argumentiert, dass die meisten Frauen heute ja über-
haupt nur noch ein Kind bekommen. Da könne man also getrost
auch beim zweiten einen Kaiserschnitt machen, selbst wenn dabei
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der Uterus entfernt werde: Die Frau habe ja schon zwei Kinder,
und damit mehr als der Durchschnitt. Außerdem wäre sie dann
auch gleich die lästigen Blutungen los. Dass sie damit aber auch
verfrüht in die Wechseljahre kommt – und natürlich auch um den
Organverlust trauern kann –, bleibt oft unerwähnt.
Würden sich tatsächlich alle Frauen nicht mehr als zwei Kin-
der wünschen, ließe sich rein theoretisch natürlich so argumentie-
ren. Doch die Gruppe der Frauen, die viele Kinder haben möchte,
wächst und sie wird dadurch in ihrer Lebensplanung massiv be-
einträchtigt. Eine solche Argumentation wirkt daher fast schon
zynisch.
Nicht viel anders sieht es aus, wenn sich zum Beispiel auch auf-
grund der Narbenproblematik das Ei am Muttermund einnistet
und die Plazenta den natürlichen Austrittsweg des Kindes ver-
stellt. Hier ist dann ebenfalls ein teilweise komplizierter Kaiser-
schnitt nicht zu vermeiden.
Ein weiteres Problem ist, dass die Narbe in der Gebärmutter
bei Weitem nicht die Rissfestigkeit von gesundem Gewebe hat.
Es kann in der Folge zu bedrohlichen Einrissen der Gebärmutter-
wand unter der Geburt kommen. Obwohl dies wirklich selten vor-
kommt, es sich meist absehbar entwickelt und damit beherrschbar
ist, kommt es bisweilen auch zu plötzlichen »Rupturen« (Einris-
sen), die lebensbedrohlich sein können.
Verringern ließen sich all diese Probleme durch eine kritische
Indikationsstellung zur Sectio, doch leider sind die Folgeprobleme
noch nicht so in den Köpfen verankert. Lieber löst man auf ver-
meintlich einfachem Wege ein unmittelbares Problem, als sich
Gedanken über das Mittelbare und Langfristige zu machen.
Natürlich werden Frauen vor einem Kaiserschnitt aufgeklärt –
auch über diese Risiken. Aber geschieht dies wirklich so eindring-
lich, dass sie nachvollziehen können, wie sinnvoll es ist, alles zu
tun, um ihn zu vermeiden?
Was wir zudem nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist, dass
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Man muss sich das wie folgt vorstellen: Ein Operateur berei-
tet die Bauchdecke der Mutter vor und die Eltern können beim
Herausheben des Babys zusehen. Was liegt näher, als diese
Chimäre aus Kaiserschnitt und Geburt als »Kaisergeburt« zu be-
zeichnen? Wer solche Wortschöpfungen in die Welt setzt, muss
sich klar darüber sein, was er damit bewirkt. Zum einen wird
sprachlich mindestens eine Gleichstellung der natürlichen und
der operativen Geburt geschaffen und damit die Tür geöffnet, die
Spontangeburt als überholt zu verwerfen. Selbst »Geburtserle-
ben« und »Bonding« sind nun vollumfänglich im OP gestaltbar
und somit als ein psychologisches Argument gegen den Kaiser-
schnitt scheinbar hinfällig geworden.
Eine »Kaisergeburt« suggeriert aber auch, dass es unkaiserliche
Geburten geben muss. Sind das dann »Bettlergeburten«, bei denen
Frauen all der Ungemach von Schmerz, Angst und Erschöpfung
zugemutet wird, weil man ihnen das kaiserliche Gebären versagt?
Es wundert mich nicht, dass es Geburtsmediziner und nicht
Psychosomatiker sind, die solche Ideen entwickelt haben. Letztere
können in Anbetracht solcher Surrogate nur warnend den Fin-
ger heben. Es gibt keinerlei Forschung, ob das direkte Erleben der
Schnittentbindung keine nachteiligen, möglicherweise sogar trau-
matisierenden Effekte hat. Die Spontangeburt ihres Kindes kann
eine Frau in der Regel auch nicht beobachten, und das wird seinen
Sinn haben.
Auch nicht vergessen werden sollte, dass die »Kaisergeburt«
meist geplant wird. Das kommt den organisatorischen Nöten von
Klinikbetrieben sehr entgegen, welche mit der Philosophie der
Kaisergeburt ein psychologisches Deckmäntelchen bekommen.
Eine Folge dieser Planung sind vermehrt anpassungsgestörte
Säuglinge, denen eine Kaisergeburt eher die Trennung von den
Eltern beschert, denn ein unmittelbares Bonding.
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Fazit: Ein Kaiserschnitt wird nie etwas anderes sein als eine opera-
tive Geburt, zukünftig wahrscheinlich die mit Abstand häufigste
Operation am offenen Bauch weltweit. Nichts spricht gegen das
Ausschalten der OP -Leuchten und das unmittelbare und langzei-
tig ungetrennte Bonding im OP . Kein Mensch muss hingegen die
Geburt aus der Bauchdecke sehen. Und Säuglinge wünschen sich
sicherlich eine babybestimmte Geburtshilfe, die den Kaiserschnitt
als segensreichen, gerne auch psychologisch motivierten Notfall-
eingriff versteht.
Die Sichtweise des Kindes bei der Geburt kennt kein Mensch.
Allen Bemühungen der pränatalen Psychologie zum Trotz lässt
sich über Befindlichkeiten und Gefühle der Ungeborenen nur spe-
kulieren. Trotzdem sollten wir davon ausgehen, dass Ungeborene
ein Wissen, vielleicht ein kollektiv Unterbewusstes haben, was die
Geburt angeht. Vielleicht gibt es sogar ein Geburtshirn des Unge-
borenen.
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»Ja, auf jeden Fall! Hier drin wachsen wir und werden stark für
das, was draußen kommen wird«, antwortet der andere Zwilling.
»Ich glaube, das ist Blödsinn«, sagt der erste, »es kann kein Leben
nach der Geburt geben – wie sollte das denn bitte schön aussehen?«
»So ganz genau weiß ich das auch nicht. Aber es wird sicher sehr
viel heller sein als hier. Und vielleicht werden wir herumlaufen und
mit dem Mund essen.«
»So einen Unsinn habe ich noch nie gehört! Mit dem Mund essen,
was für eine verrückte Idee. Es gibt doch die Nabelschnur, die uns er-
nährt. Und wie willst du herumlaufen? Dafür ist die Nabelschnur
doch viel zu kurz.«
»Doch, es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles nur ein bisschen
anders sein.«
»Du spinnst! Es ist noch nie einer von ›nach der Geburt‹ zurück-
gekommen. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Punktum.«
»Ich gebe ja zu, dass keiner weiß, wie das Leben nach der Geburt
aussehen wird. Aber ich weiß, dass wir dann unsere Mutter sehen
werden und sie wird für uns sorgen.«
»Mutter, du glaubst doch wohl nicht an eine Mutter? Wo ist sie
denn bitte?«
»Na hier – überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und
durch sie. Ohne sie könnten wir gar nicht sein!«
»Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas bemerkt,
also gibt es sie auch nicht.«
»Doch, manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst du sie singen
hören, oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt.«
Babys bekommen von der Welt »draußen« sehr viel mehr mit,
als wir uns das manchmal vorstellen. Ihre Sinne entwickeln sich
nämlich schon früh in der Schwangerschaft. In gewisser Weise ist
die Gebärmutter für die körperliche, aber auch die psychische Ent-
wicklung des Kindes das Klassenzimmer. Weshalb sollten unsere
Erfahrungen auch erst nach der Geburt beginnen? Das ist nicht
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logisch. Insbesondere, wenn wir uns vor Augen halten, wie viel
Neugeborene schon können, liegt es praktisch auf der Hand, dass
sie das nicht erst beim ersten Atemzug lernen, sondern dass sie
bereits früher hören, tasten, schmecken, riechen und sehen kön-
nen.14
Dass Kinder bereits im Mutterleib gut hören können, ist inzwi-
schen erwiesen. Akustisch gesehen ist die Umwelt des Ungebore-
nen um ein Vielfaches reicher, als wir uns das noch bis vor Kurzem
vorgestellt haben. Eigentlich ist es im Mutterleib nie ganz still. Ein
Kind hört nicht nur alle Innengeräusche der Mutter – den Herz-
schlag, das Rumpeln der Gedärme, das Einströmen der Luft beim
Atmen, das konstante Rauschen des Blutes –, sondern es hört vor
allem auch ihre Stimme.
Und es kann sogar Geschichten wiedererkennen, die ihm vor
der Geburt regelmäßig vorgelesen wurden. Diese entspannen
das Kind weitaus besser als »neue« Geschichten. Gerade auch der
mütterliche Herzschlag ist in der ersten Zeit nach der Geburt be-
sonders wichtig. Immerhin hat ihn das Ungeborene ca. 26-milli-
onenmal gehört und ihn als sichernd und beschützend erlebt. In
einer bekannten Studie konnte nachgewiesen werden, wie positiv
sich das Hören von Herztönen auf das Gedeihen und die Gesund-
heit von Neugeborenen auswirkt. In einer Säuglingsstation bekam
eine Gruppe von Babys täglich Herztöne vorgespielt, eine andere
Gruppe nicht. Die »Herztonbabys« nahmen schneller zu, schliefen
besser und weinten weniger. Diese Entdeckung wird inzwischen
mit gutem Erfolg auch auf Frühgeborenen-Stationen eingesetzt.
Auch hier entspannen sich die Babys und gedeihen besser, wenn
sie die Töne zu hören bekommen, die sie noch aus dem Mutterleib
kennen. Mittlerweile gibt es sogar Spezialaufnahmen mit ganzen
»Geräuschcocktails«, die die Geräuschkulisse im Mutterleib nach-
ahmen. Sicherlich ist der direkte Kontakt zur Mutter durch nichts
zu ersetzen, und durch das Stillen und Bonden direkt am Körper
hört das Kind den Herzschlag der Mutter live. Rund um die Uhr
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mutet werden kann und vielleicht sogar muss. Hat diese Zumu-
tung womöglich einen Sinn?
Zweifelsohne gibt es für jeden Organismus eine Stressgrenze,
hinter der ein Kollaps droht. Nur bis dahin ist es ein weites Feld –
im Zusammenhang mit der Geburt sogar ein besonders weites.
Vielleicht ist es wie im richtigen Leben sogar überlebensnotwen-
dig, ein wenig Stress zu erleben. Geburt war und ist (!) immer ge-
fährlich. Da muss das Abwehrsystem hochaufmerksam sein. Zu
keinem Zeitpunkt im Leben (außer beim Sterben) wird ein Orga-
nismus derart umgepolt wie bei einer Geburt.
Das Leben im Mutterleib hat mit dem Leben da draußen fast
nichts gemein. Das ist so ähnlich, als ob wir ohne jede Vorberei-
tung ins Weltall geschossen würden. Da sind wir auch über jede
Sekunde Vorlauf froh, in der wir wenigstens unser Stressbewäl-
tigungsprogramm aktivieren können. Vom Raketenabschuss bis
zum Eintreffen in der Schwerelosigkeit haben wir zumindest eine
kurze Phase der Adaptation.
Das Kind hat dazu im Schnitt acht Stunden. Und die sind auch
wichtig. Wir haben schon gehört, was alles an Hormonen ausge-
schüttet wird, um den Lebenseintritt zu erleichtern. Und nicht nur
das. Auf wundersame Weise wird die Lunge in den Stunden vor
der Geburt trockengelegt und damit auf das Atmen vorbereitet.
Das erleichtert das Ankommen in der Welt ungemein.
Bei einem terminierten Kaiserschnitt fehlt all das völlig. Stel-
len Sie sich vor, Sie schlafen friedlich in Ihrem Bett. Plötzlich wird
Ihnen mitten in der Nacht die Bettdecke weggezogen, grelles Licht
blendet Ihre Augen und Sie werden aus dem Fenster des ersten
Stocks in ein Schwimmbecken geworfen, in dem das Wasser ge-
rade mal 14 Grad hat. Sie werden es überleben, sicher. Aber an-
zunehmen, dass solch ein Überfall völlig ohne Folgen bleibt, ist
sicherlich naiv. Die meisten reifen Kinder, die auf die Kindersta-
tion verlegt werden müssen, sind anpassungsgestörte Kaiser-
schnittkinder.
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Die Vorbereitung auf die Geburt ist auf vielfältige Weise eine
Zeit des Neuanfangs. Wenn sich ein Kind ankündigt, führt das
fast zwangsläufig auch zu einer Bestandsaufnahme des bisherigen
Lebens. Das ist nämlich jetzt vorbei, weil ein Kind das Leben einer
Frau – und auch das des Mannes, wenn der Vater sich darauf ein-
zulassen bereit ist – von der Wurzel her verändern wird. Jetzt ist
die Zeit, die Lebensweichen bewusst so zu stellen, dass sowohl die
Eltern als auch das Kind damit gut leben können.
Die Geburt und die Zeit davor sind kein Spaziergang, sondern
eher eine strapaziöse Bergtour in unbekanntem Gelände, das
haben wir ja bereits festgestellt. Zu einer solchen Tour würde nie-
mand ohne gut gefüllten Rucksack mit den wichtigsten Dingen
für unterwegs aufbrechen. Auch körperlich und geistig würde man
sich darauf vorbereiten.
Wie also können sich werdende Eltern am besten auf das be-
vorstehende Großerlebnis vorbereiten? Wer den Rucksack füllen
möchte, sollte sich seine Energiebilanz anschauen. Wo verausgabe
ich mich im Alltag (Arbeit, Freizeit etc.) zu stark? Wie kann ich
den alltäglichen Wahnsinn so gestalten, dass genügend Zeit für
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mich selbst bleibt? Sich Zeit für sich selbst zu nehmen, ist wie
eine Verabredung mit der besten Freundin zu haben. Vorausge-
setzt, man hat eine gute Beziehung zu sich. Sollte in dieser Hin-
sicht auch nur der Hauch eines Fragezeichens in der Luft hängen,
ist dies ein wichtiger Hinweis für weitere Fragen: Was mag ich
nicht an mir, wo fühle ich mich eventuell ungenügend, warum bin
ich nicht gerne allein mit mir, was fehlt mir dann?
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, was diese Fragen mit
der Geburt zu tun haben. Eine ganze Menge! Während der Ge-
burt sollte eine Frau sich gut auf sich selbst verlassen können. Das
kann sie nur, wenn sie sich erstens gut kennt, und zweitens – noch
viel wichtiger – sich gern mag und sich selbst vertraut.
Es kann eine gute Übung sein, während der Schwangerschaft
allein in der Natur spazieren zu gehen, sich mit sich selbst zu un-
terhalten und sich vielleicht im Anschluss hinzusetzen und das in-
nere Gespräch aufzuschreiben.
Schreiben ist generell in Übergangszeiten ein erstklassiges
Mittel, um sich über vieles klar zu werden. Ein Schwangerschafts-
tagebuch kann sich überaus positiv auswirken: Sie haben immer
ein Ventil zur Hand, um seltsame Gedankengänge (die in der
Schwangerschaft völlig »normal« sind) genauer zu durchleuchten.
In einem Tagebuch können Sie sich regelrecht die Sorgen von der
Seele schreiben. Alle Unsicherheiten, die großen und die kleinen,
sind dort ebenfalls gut aufgehoben. Im Schreibprozess können Sie
sich selbst auf die Schliche kommen. Und das Gute daran ist: Sie
können Ihre Gedanken nach einigen Wochen oder Monaten noch-
mals lesen und merken, wie Sie weiter vorankommen, aber auch,
wo es offenbar »hängt«.
Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken. Was können Sie besonders
gut? Was macht Ihnen am meisten Spaß? Kommen diese Dinge in
Ihrem Leben in genügendem Ausmaß vor? Oder haben Sie dies
alles auf »später« verschoben? Spätestens jetzt ist die Zeit, es zu
tun. Wer weiß, ob Sie mit einem Kind an der Seite so schnell wie-
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der dazu kommen werden. Jetzt ist die Zeit, sich den einen oder
anderen lang gehegten Traum noch zu erfüllen!
Natürlich werden Sie zunächst einmal mit der Tatsache »Ich bin
schwanger« zurechtkommen müssen. Auf einen Schlag wissen Sie
nicht mehr, wie Ihr Leben in Zukunft aussehen wird. Das Einzige,
was Sie wissen ist: Alles wird anders! Mit so einem Gedanken
sind häufig große Unsicherheiten verbunden.
Ist die Partnerschaft noch frisch, stellt sich natürlich die Frage:
»Was ist mit dem Vater, wird er für mich und mein Kind da sein?«
Dies ist eine elementare Frage, und werdende Väter sollten sich
darüber im Klaren sein, dass ihre Vaterschaft genau jetzt be-
reits beginnt – nicht erst bei der Geburt! Bereits jetzt können Sie
Ihrem Kind Ihre Unterstützung signalisieren – und zwar durch die
Art und Weise, wie Sie mit seiner Mutter umgehen. Alle Gefühle
der Mutter während der Schwangerschaft kommen nämlich beim
Kind an. Ja, das klingt zu Recht nach Verantwortung. Dies kann
im Übrigen durchaus als Initiation für Männer betrachtet werden.
Doch mehr dazu im nächsten Kapitel.
Für die werdende Mutter kann es sinnvoll sein, sich mit erfah-
renen Müttern auszutauschen, insbesondere solchen, die sie in
der Vergangenheit schon bewundert hat. Diese Mütter haben si-
cherlich sehr viel Erfahrung weiterzugeben. Vielleicht ist auch die
eigene Mutter eine solche Frau. Die Schwangerschaft ist eine gute
Zeit, die Mutter-Tochter-Beziehung zum Positiven zu verändern.
Auf einmal bekommt die Tochter eine Ahnung davon, wie es sich
anfühlt, für ein anderes Lebewesen ganz da zu sein. Gleichzeitig
können auch die eigenen Wunden aus der frühen Kindheit noch-
mals aufbrechen. Wenn die eigene Mutter zum Beispiel nicht so
fürsorglich war wie gewünscht. Dies ist ebenfalls eine gute Zeit
für eine Frau, um mit der Mutter darüber ins Reine zu kommen,
damit sie selbst ganz andere Wege beschreiten kann. Dazu kann
auch die eigene Stillgeschichte (oder eben Nicht-Gestillt-Sein-Ge-
schichte) gehören.
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Sie stellen sich vor, Sie sind in der Wüste. Da ist eine kleine Oase mit
einer Palme. An der Palme befindet sich ein roter Knopf, das Notfall-
alarmsystem. In der Oase ist außer Ihnen selbst niemand. Sie haben
frisches Wasser und auch etwas zu essen, aber sonst sind Sie ganz
auf sich selbst gestellt. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie in Ge-
fahr sind und sich nicht mehr selbst helfen können, haben Sie aller-
dings die Möglichkeit, auf den roten Knopf zu drücken. Dann kommt
sofort ein Helikopter und bringt Sie in Sicherheit. Die Entscheidung,
den Knopf zu drücken, liegt ganz allein bei Ihnen. Sie werden ins-
tinktiv wissen, wenn es angezeigt ist, dies zu tun. Meist allerdings
werden Sie merken: Alles ist gut.
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die Väter nicht vergessen werden. Frauen, die das Gefühl haben,
den hohen Anforderungen an die Mutterschaft nicht gerecht wer-
den zu können, brauchen Unterstützung und keine Häme. Doch
diese wird derzeit über die Mütter ausgeschüttet, die sich trauen,
ein Mutterideal infrage zu stellen, das vielleicht tatsächlich kein
Ideal ist, sondern vielmehr ein Phantom, in dem sich die kollek-
tive Sehnsucht nach einer heilen Welt widerspiegelt.
Eine Schwangerschaft ist von Anfang an ein von Ambivalen-
zen und Zweifeln begleiteter Prozess. Je mehr man dies sieht,
akzeptiert und es sich vor allem erlaubt, entgegen dem Main-
stream auch mal Zweifel und Ängste zu zeigen, desto weniger
sucht sich die Ambivalenz andere Ausdruckskanäle: schlimmes
Schwangerschaftserbrechen, verfrühte Wehen, hoher Blutdruck,
Störungen im Geburtsablauf, Stillschwierigkeiten, Wochenbett-
depressionen. Ich nenne alle diese Phänomene, die selbstver-
ständlich auch eine organische Ursache haben, Störungen der
Ambivalenz.
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lange sind Sie mit ihrem Mann zusammen?« »15 Jahre«, antwor-
tet sie. Ich sage spontan: »Jetzt erzählen sie mir bloß nicht, dass
Sie Ihren Mann noch nie zum Kotzen fanden!« Damit zaubere ich
Frau D. ein Lächeln auf die Lippen und sie sagt: »Das schafft er täg-
lich einmal.« Ich führe weiter aus: »Aber deswegen lieben Sie ihn
doch keinen Deut weniger. Es ist doch gerade das Wesen des Lie-
bens, auch die Schattenseiten des Partners auszuhalten. Und ist es
mit Kindern nicht genauso? Sie machen uns so unglaublich viel Sor-
gen und Ärger und gerade deswegen lieben wir sie so unendlich. Also
erlauben Sie sich einfach einmal, zumindest die Situation, in die Sie
die Zwillinge gebracht haben, zum Kotzen zu finden.«
Frau D. nimmt diese Erlaubnis ernst. Sie hat nun endlich die
Erlaubnis für ihre Ambivalenz und muss dafür nicht mehr ihren
Körper sprechen lassen. Fast wie durch ein Wunder nimmt die Übel-
keit in den nächsten Tagen ab und Frau D. kann kurzfristig entlas-
sen werden.
Eine schöne, glückliche, aber eher zufällige Wunderheilung. In
diesem Fall war die Frau zur rechten Zeit am rechten Ort und bereit,
ihr Denken zu verändern. Ich musste leider die Erfahrung machen,
dass diese Form der Intervention nicht immer funktioniert. Jeder Fall
ist eben anders.
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Das kann zur Folge haben, dass der Wehenrhythmus gestört wird
und sich der ganze verdrängte Schmerz doppelt intensiv meldet.
Diese Anspannung macht es dem Kind schwer, seinen Weg durch
den panzerartigen Muskelschlauch des Beckenbodens zu finden.
Ambivalenz ist normal! Sie muss und darf sein. Konflikte sind
unser Leben. Sie zu negieren und zu tabuisieren, macht es nur
schwerer. Wenn es uns gelingt, die Zunge zu lösen, die Scham zu
beseitigen und nicht zwingend als die gesellschaftlich gewünsch-
ten »guten Eltern« gelten zu wollen, bereiten wir nach meiner
Erfahrung den Weg zum guten Gebären.
Nicht immer lassen sich solche Blockaden und Ambivalenzen
lösen. Und nicht alles Verdrängte strebt der Bewusstwerdung ent-
gegen. Trotzdem helfen Empathie und der Hinweis auf die Nor-
malität des Zwiespältigen in den meisten Fällen weiter. Die Er-
laubnis, alles fühlen zu dürfen, was da ist, entlastet und nimmt
Druck.
Kinder sind ein Glück, aber eines, das es nur für den Preis
einer gewaltigen Umstellung und Einschränkung für einen langen
Lebenseinschnitt gibt. Wer sich dies bewusst macht, für den sind
Kinder der größte vorprogrammierte Sturm im Leben. Und eine
echte Bereicherung.
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So banal das auch klingen mag, über den Schmerz wissen wir nur,
dass er wehtut. Was hinter ihm steckt, ist nicht immer leicht ein-
zuordnen. Aber auch der Schmerz hat eine schützende Funktion
und seinen Sinn.
Vor was aber kann Schmerz bei einer Geburt schützen? Der
Sinn des Ganzen erschließt sich nicht sogleich. Und auch die bib-
lische Auslegung, dass der Schmerz unter der Geburt eine Folge
der Erbsünde sei, weil sich die Menschen erdreisteten, göttliche
Erkenntnis zu erlangen, hilft nicht unbedingt weiter.
Auch aus medizinischer Sicht können wir den Sinn des Ge-
burtsschmerzes nur bedingt nachvollziehen: Wenn sich der Mut-
terkuchen vorzeitig ablöst oder ein Riss in der Gebärmutter ent-
steht, dann sind das hochschmerzhafte Vorfälle, bei denen höchste
Gefahr für Mutter und Kind besteht. Daher müssen dann auch alle
Alarmglocken läuten. Aber warum kann auch eine ganz normale
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– Meditieren
Unterstützende Geburtspositionen
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vor Schäden bewahrt. Und zwar sowohl in Bezug auf den eige-
nen Körper wie auch auf den des Kindes. Das Kind wird dadurch
weniger Stress erleben und das Risiko, dass es unter der Geburt
Sauerstoffmangel erleidet, ist dadurch möglicherweise geringer.
Der Geburtsschmerz kann – so verstanden – leiten und indirekte
Anweisungen geben.
Geburt im Wasser:
fließen und fließen lassen
Wasser ist ein zutiefst weibliches Element. Es ist weich und ent-
spannt wunderbar. Viele Frauen haben gerade bei der Geburt auf
einmal das Bedürfnis, in die Geburtswanne zu steigen und dann
einfach drin zu bleiben.
Frau P. meldet sich in unserer Klinik zur Geburt an. Die Schwan-
gerschaft verläuft offenbar komplikationslos. Sie erwartet ihr ers-
tes Kind. In der Hebammensprechstunde wird sie nach besonderen
Wünschen und Erwartungen gefragt. Sie antwortet darauf spontan:
»Ich kann mir alles vorstellen, nur keine Wassergeburt!« Die Heb-
amme antwortet darauf, dass selbstverständlich dieser Wunsch re-
spektiert wird, erläutert aber dennoch die Vorteile einer Geburt im
Wasser: Sie hätte nicht nur einen geschützten Raum, wäre zudem
viel entspannter, sondern könnte auch damit rechnen, dass die Ge-
burt nicht allzu lange dauern würde. Frau P. antwortet, dass sie mit
Wasser noch nie etwas anfangen konnte und ihr schon die tägliche
Dusche schwerfalle.
Sie kommt um den Termin mit Wehen in den Kreißsaal. Bei rela-
tiv zähem Verlauf werden alle Möglichkeiten diskutiert, um für mehr
Entspannung und bessere Wehen zu sorgen. Wissend um die be-
sonderen Vorstellungen von Frau P. fasst sich Hebamme S. trotz-
dem ein Herz und versucht die ihr anvertraute Schwangere noch ein-
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Eine Wassergeburt hilft nicht nur bei der Entspannung, sie ist
auch extrem sicher. Und sie ist ein angenehmer Rückzugsort für
viele Frauen. Hier sind Interventionen selten oder kaum möglich.
Hier ist Intimität und Privatsphäre weitestgehend auch in einer
Klinik möglich. Das Sein im Wasser wird als grenzenlos und ar-
chaisch empfunden. Die Wärme des Wassers entspannt zusätz-
lich und die Muskeln sprechen darauf an, indem auch sie loslas-
sen. Frauen berichten immer wieder von einem starken Gefühl
der Geborgenheit im Wasser. Aber nicht nur das: Sie fühlen sich
schwerelos und leicht und finden schneller eine gute und bequeme
Position zum Gebären. Das gilt besonders dann, wenn der Vater
mit im Wasser ist. Deshalb sollte eine Badehose für ihn immer
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Die Geburt ist eine Entwicklung. Das Gebären ist ein Prozess, der
zur Geburt führt. Im Grunde ist auch der Kaiserschnitt ein Pro-
zess, ein operativer, zeitlich planbarer Prozess mit standardisier-
ten und festgelegten Schritten. Die Überschaubarkeit gibt allen
Beteiligten ein Gefühl von Kontrolle.
Eine Sturzgeburt ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem
Kaiserschnitt. Auch dies ist ein rascher, zeitlich begrenzter Prozess.
Dabei fällt das Kind fast aus der Mutter heraus. Wir wissen, dass
dies für Kinder mindestens so belastend ist wie eine allzu lange,
schwere Geburt. Offenbar fehlt Kindern nach sehr schnellen Ge-
burten der Prozess des Ankommens und der Anpassung. Dieser
wird hormonell begleitet, die Umstellung des Kreislaufs und der
Beginn des Atmens werden vorbereitet – genau wie alles Weitere,
was für ein Leben außerhalb des mütterlichen Körpers wichtig ist,
etwa die Temperaturregulation und die Verdauung. Man kann sich
vorstellen, dass für diese einmalige und nie wiederkehrende An-
passungsleistung nach der Geburt Vorbereitung nötig ist.
Wir neigen heute dazu, zu negieren, dass es bestimmte Prozesse
im Laufe eines menschlichen Lebens gibt und manche von ihnen
viel Zeit brauchen. Das Erwachsenwerden, die Wechseljahre, das
Altern, der Prozess der Gesundung nach einer Erkrankung. Vieles
wird abgelehnt oder ignoriert, weniges akzeptiert und integriert.
Unser Zeitgeist suggeriert eine völlig neue Bewertung von Zeit.
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Zur Kunst des Gebärens gehört an erster Stelle eine perfekt abge-
stimmte Betreuung. Diese wird am ehesten gewährleistet durch
eine vertraute Hebamme in der sogenannten Eins-zu-eins-Be-
treuung. Es gibt genügend Hinweise, dass sich dieses Konzept
»auszahlt«. Zumindest aus Sicht der Kassen. Denn derart betreute
Geburten sind risiko- und interventionsärmer, sprich preiswerter.
Das Problem ist, dass sie für die Krankenhäuser kostenintensi-
ver sind und weniger Geld einbringen. Das Spardiktat führt dann
dazu, dass immer weniger Hebammen immer mehr Geburten be-
treuen müssen und aufgrund der weniger intensiven Betreuung
mehr Komplikationen auftreten.
Erst wenn die Intervention zum Verlustgeschäft wird und eine
Klinik für Zurückhaltung belohnt wird – sprich, wenn eine Nor-
malgeburt mehr Geld bringt als ein Kaiserschnitt –, erst dann
kann sich dieser Widerspruch auflösen. Wir sind weit entfernt da-
von. Trotzdem bin ich guter Hoffnung. Der Markt der Geburtshilfe
ist einer, auf dem mit den Füßen der Frauen und ihren Bedürf-
nissen abgestimmt wird. Letztlich werden Frauen sich eine Klinik
aussuchen, in der sie die besten Betreuungsangebote für sich se-
hen. Den Bedürfnissen der Frauen wird auf diese Weise Rechnung
getragen. Und sie merken auch sehr gut, wo es um »echte« Be-
treuungskonzepte geht, oder wo nur mit wohltönenden Bekennt-
nissen (Geburt als »Wellness«) etwas versprochen wird, das nicht
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zu halten ist. Frauen haben ihr inneres Gespür dafür nicht verlo-
ren. Kliniken, die dies nicht berücksichtigen, werden dies an den
Belegzahlen zu spüren bekommen.
Allerdings sind immer weniger Hebammen bereit, Tag und
Nacht zur Verfügung zu stehen. Und das ist durchaus verständ-
lich – geregelte Arbeitszeiten haben ihren Charme. Ebenso wie
eine Festanstellung. Wir kommen also nicht umhin, Konzepte zu
entwickeln, bei denen eine gute Betreuung auch im Team möglich
ist. Die psychosomatische Forschung bestätigt, dass gute Teamar-
beit bei einer Geburt einer Einzelbetreuung durchaus nahekommt.
Das ist alles eine Frage nahtloser und intensiver Übergabekultur
im Schichtwechsel und der Bereitschaft zu einem gewissen Grad
an Flexibilität, um im entscheidenden Moment nicht abtreten zu
müssen. Daneben sollte das Grundprinzip des hebammengeleite-
ten Kreißsaals beherzigt und die ärztliche Präsenz (insbesondere
die handelnde) minimiert werden.
Selbstverständlich ist auch die Kommunikation ein wesentli-
cher Faktor für eine gute Geburt. Wenn es Stoßzeiten im Kreißsaal
gibt und alle Hebammen ausgelastet sind, ist es wichtig, dies der
Gebärenden mitzuteilen. Sie kann sich dann darauf einstellen und
ihre Erwartungshaltung korrigieren. Wird dies nicht kommuniziert,
kann sich ein Gefühl des Defizits, des nicht genügenden Versorgt-
werdens einschleichen. Und auch dies wird sich negativ auf die Ge-
burt auswirken, obwohl es einfach hätte vermieden werden können.
Letztlich lässt sich eine gute Betreuung im Team nur mit dem
passenden Personalschlüssel umsetzen. Dort, wo so kalkuliert
wird, dass eine Hebamme generell zwei Geburten parallel lei-
ten muss, gibt es eine Schieflage, die zum Risiko für das Gebären
wird. Dies ist daher auch eine wichtige Frage für die Infoabende.
Als Chefarzt von Deutschlands erstem babyfreundlichen Kran-
kenhaus habe ich mal versucht, unsere sogenannten B.E.St.-Kri-
terien (Bindung, Entwicklung, Stillen) für ein geburtsfreundliches
Krankenhaus auszuformulieren.
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Eine Geburt ist ein sexueller Akt, ein Akt, der Hingabe und Selbst-
bezogenheit fordert, und ein Akt, der Scham auslösen kann, auf-
grund ungezügelten Emotionsäußerungen und der Absonderung
von Körperflüssigkeiten aus verschiedenen Öffnungen. Es ist eine
Zerreißprobe im wahrsten Sinne des Wortes und damit eigentlich
etwas, bei dem sich ein normaler Mensch gern in seine Höhle zu-
rückzieht. Die hochmoderne Geburtsmedizin aber verbietet dies
größtenteils. Sie überwacht den ganzen Vorgang und viele Per-
sonen sind dabei anwesend. Das war noch vor gar nicht so langer
Zeit nur Risikogeburten vorbehalten.
Es gibt im Zusammenhang mit einer Geburt also noch im-
mer so etwas wie »Schamangst«. Damit meine ich die Vorstel-
lung: »Wie wirkt mein Verhalten (Schreien, Stöhnen) auf die An-
wesenden im Raum? In einem vertrauten Setting ist diese Angst
noch am geringsten ausgeprägt, deshalb geht es darum, eine
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Sie werden sich fragen, was die Väter mit der Kunst des Gebärens
zu tun haben. Ich meine: immer mehr! Und ich setze große Hoff-
nungen auf die Männer. Im Rahmen eines unerforschten Kul-
turexperiments hat man sie auf Wunsch der Frauen oder der
Geburtshelfer (da streiten sich die Geister) zur jeweiligen Unter-
stützung in eine Tabuzone geholt und immer intensiver in alle
Belange der Elternschaft integriert. Die Männer sind nun da und
nicht mehr wegzudenken. Sie formieren sich zu einer neuen Spe-
zies von Vätern – in historisch beispielloser Art. Wir sollten das
Beste daraus machen.
Aus psychosozialer Sicht können Männer eine wichtige Rolle
als Begleiter und Betreuer von Kindern einnehmen. Und sie
können ihren Frauen bei der Geburt eine Stütze sein. Sie können
begleiten, betreuen, motivieren – kurz zum Teamplayer in der Ge-
staltung der Kunst des Gebärens werden. So wie wir wissen, dass
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die Anwesenheit bei der Geburt sie emotionalisiert hat, lässt sich
schwer sagen. Wir wissen wenig über das väterliche Geburtser-
leben. Was wir wissen ist, dass viele Männer sich nicht ausrei-
chend vorbereitet fühlen und dies offenbar auch nicht sind. Daher
erklärt sich ihre häufig völlig falsche Erwartungshaltung, die zu
einer Enttäuschung führen kann.
Frau M. liegt in den Wehen. Der Muttermund ist schon lange geöff-
net. Geburtsstillstand in Beckenmitte. Suspektes CTG . Das zustän-
dige Team bittet mich um Rat. Ich betrete den Kreißsaal. Flehender
Blick einer verzweifelten Mutter. Zunächst unscheinbar: ein kleiner
Mann an ihrem Kopf. Ich tue, was ich zu tun habe, relativiere das
CTG , treffe Anordnungen, spreche mit der Frau, kündige mein Wie-
dererscheinen in 20 Minuten an und will den Raum verlassen. Da
baut sich vor mir der Mann auf und poltert:
»Wenn ich meinen Job so beschissen machen würde wie Sie hier,
wäre ich schon längst rausgeflogen!«
Stille
Stille
Innehalten
Ruhig bleiben
Meta-Ebene: Bin ich beleidigt, gekränkt, entrüstet, wütend?
Ja! Von allem ein wenig.
Aber: Warum macht er das? Hat er Angst? Ist er überfordert?
Macht er sich Sorgen? Spürt er einen Kontrollverlust? Will er, der
kleine Mann, seiner Frau Stärke zeigen? Fühlt er sich nicht gesehen?
Ja! Von allem ein wenig.
Wie reagiere ich? Wie würden Sie reagieren?
Denkpause.
Ich spürte, dass der Mann eine Auszeit braucht. Dass er vielleicht
sogar rausgeschickt werden möchte, weil er nicht helfen kann und
hilflos ist.
Ich schlage also ebendies vor:
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»Gehen Sie doch mal ein wenig raus, eine rauchen oder einen
Kaffee trinken. Ich mach hier mal meinen beschissenen Job weiter
und helfe Ihrer Frau und Ihrem Kind. Wir holen Sie dann wieder.«
Wortlos geht der Mann.
Es gibt eine Saugglocke. Alle sind wohlauf. Der Mann kommt
sichtlich erleichtert ins Geburtszimmer. Er weint. Er ist still!
Beim Nähen – der Mann ist wieder draußen – fragt mich die
peinlich berührte Mutter, wie ihr Mann denn sein Fehlverhalten gut-
machen könne. Ich erkläre mein Verständnis für seine Situation, sage
aber auch, dass ich mich über eine Entschuldigung freuen würde.
Der Mann hat die Größe, sich zwei Tage später mit Schokolade
und einem Tränchen im Auge bei mir zu entschuldigen. Respekt!
Wie viele Männer wohl Ähnliches auf den Lippen haben und sich
nur nicht trauen, auf den Tisch zu hauen? Der Mann im Kreiß-
saal – selbstverständlich, aber unerforscht.
Dieses Beispiel mag auch verdeutlichen, wie sehr wir im Kreiß-
saal mit Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert sind. Unsere
industrialisierte Gebärkultur hat Familien komplett entmündigt
und abhängig gemacht von Experten, welche nur von Risiken
sprechen. Kein Wunder, dass viele Frauen keine eigenen Vorstel-
lungen vom Gebären haben und uns ihren Bauch einfach über-
lassen. Vom Wunschkaiserschnitt bis zur abgebrochenen Hausge-
burt: Jeder erwartet von uns volles Verständnis, vollsten Einsatz,
Dauererklärungen, höchste Kompetenz und beste Betreuung. Wir
leisten das gerne, aber manchmal überfordern wir uns damit auch.
Frauen haben über Jahrmillionen ein kollektives Unterbewusst-
sein zur Geburt entwickelt. Männer hatten dafür nur 40–50 Jahre
Zeit. Ein Grund mehr, Männer gezielter, intensiver und womög-
lich gendergerechter auf die Geburt vorzubereiten. Der Rollen-
konflikt, Testosteron, mangelndes Wissen und falsch verstandenes
Mitleid können Gründe sein, warum Männer eher zum Handeln
und zur Intervention neigen und diese dann auch subtil oder offen
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– Deine Frau ist eine andere unter der Geburt – für sie ist alles
erlaubt.
– Reagiere nur auf ihre Wünsche und hilf ihr, solche zu for-
mulieren.
– Sorge für dich, damit deine Frau das nicht auch noch tun
muss.
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Die Geburt ist nicht alles, aber sie ist besonders. Sie ist Metapher,
Signal, Start, Beispiel, Wegweiser. Wir sollten sie nicht überhö-
hen, aber sie ist und bleibt das einzige Wunder, an das wir auch
heute noch glauben.
Die Geburt ist damit die Chance zur Weichenstellung für die
Art und Weise, wie wir Neugeborene in unserer Gesellschaft be-
grüßen. In der Wirtschaft wird man sich zunehmend der Bedeu-
tung von Pförtnern bewusst. Sie sind die Türöffner. Und der erste
Eindruck zählt. Daher ist es nicht egal, durch welche Pforte wir ins
Leben treten und was sich hinter ihr auftut. Fühlt sich das warm
und freundlich an? Bin ich willkommen? Macht man es mir schwer
oder leicht? Gibt man mir Zeit? Fordert und fördert man mich?
Es kann gut sein, dass dieses Ankommen viel bedeutender ist,
als wir ahnen. Wir werden es nie in Gänze herausfinden können,
aber gilt nicht auch hier: im Zweifel immer für das Kind. Daher
sollten wir das, was wir für uns selbst im Alltag als friedvoll und
wohltuend empfinden, als Maßstab für die Begrüßung bei dem
zentralen Lebensereignis »Geburt« nehmen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie
Menschen bei ihrer Geburt empfangen werden und der Friedfer-
tigkeit einer Gesellschaft? Ich glaube schon. Eine friedliche Geburt
führt zu einer friedlichen Gesellschaft. Auch wenn die These dem
einen oder der anderen vielleicht etwas hochgegriffen vorkommen
mag, ich glaube fest daran. Friede ist ein multikausaler Zustand,
doch erfahren lässt er sich schon bei den ersten sozialen Begeg-
nungen in einer wie auch immer gearteten Familie, und gerade
auch bei der Geburt.
Bei den Spartanern, für die der Krieg eine große und wichtige
Rolle spielte, und die in der Erziehung ihrer männlichen Nach-
kommen Wert darauf legten, sie zu unerschrockenen Kriegern
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wird dieses Kind haben, dafür hat sie gesorgt. Im Keller lagert noch
jede Menge Bindungsmilch. Die hat es einmal im Sonderangebot ge-
geben. Ilse ist wirklich heilfroh in dieser Zeit zu leben – was ihr alles
erspart bleibt!
Im Badezimmer betrachtet sie kurz Werner. An ihm ist in männ-
licher Hinsicht nicht viel übrig geblieben, sie sind sich im Körperbau
sehr ähnlich. Wie gut, dass endlich diese Unterschiede zwischen den
Geschlechtern nicht mehr so offensichtlich sind.
Während sie noch im Ratgeber zum Retortenbaby ein paar Seiten
liest, schlürft Werner zufrieden seinen Lustlos-Tee. Auch er ist froh,
dass männliches Begehren zum Fremdwort geworden ist und denkt
mit Mitgefühl an seinen Großvater zurück, der ohne Viagra nicht
mehr leben konnte. All dies hat er nicht mehr nötig. Ilse denkt in die-
sem Moment an die überholten Kernsätze der Beziehungskurse, die
ihre Großeltern noch besuchen mussten. Da hieß es zum Beispiel:
All dies ist längst unbedeutend geworden. Der Mensch ist befreit von
biologischen, sexuellen und sozialen Zwängen. Wie einfach ist doch
alles geworden, wie perfekt und geregelt ist die Welt. Welche Freude
muss Gott an seiner Schöpfung haben!
Vielleicht kommt Ihnen das jetzt weit hergeholt vor. Dabei sind
wir von der Umsetzung nur ein paar Gigabytes entfernt. Wollen
wir das? Wie so vieles liegt die Antwort in der Zukunft. Und auch
über richtig und falsch wird erst dann entschieden. Nur eines soll-
ten wir tun. Bevor wir uns noch aktiver für die Abschaffung des
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Österreichisches Hebammen-Gremium,
Landstraßer Hauptstr. 71/2, A-1030 Wien, Tel.: 01/71 72 81 63,
Email: kanzlei@hebammen.at, Internet: www.hebammen.at
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