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Wolf Lütje

Vertrauen in die natürliche Geburt

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Wolf Lütje

Vertrauen in die
natürliche Geburt
Gelassen und entspannt in den Kreißsaal

Unter Mitarbeit von Theresia Maria de Jong

Kösel

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Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Umschlagmotiv: © plainpicture / Cultura / Emma Kim
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-466-31065-4
www.koesel.de

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

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Für all die Frauen,
welche mir Mann
die Augen und den Sinn
für die Geburt geöffnet haben.

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Inhalt

9 Vorwort

13 Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind


16 Die Weisheit des Körpers bei der Geburt
21 Vertrauen und Hingabe: Wie die Angst überwunden
werden kann
30 Die abwartende Gelassenheit oder der positiven
Überraschung die Tür öffnen

37 Was Ihre eigene Geburtsgeschichte mit der Geburt


Ihres Babys zu tun hat
39 Was das Körpergedächtnis alles speichert
42 Lieben, was IST  – die Heilung eigener Wunden
48 Wie eine geglückte Bindung einen Schutzraum
für das ganze Leben gibt

53 Eine Entscheidungshilfe: Klinik, Geburtshaus


oder Hausgeburt
53 Die Geburt zu Hause
54 Die Geburt im Geburtshaus
55 Die Geburt in der Klinik

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59 Damit es keinen Schnitt im Leben gibt –
Sinn und Unsinn des Kaiserschnittes
59 Welche Gründe gibt es für einen Kaiserschnitt?
65 Warum der Kreißsaal zum Hochsicherheitstrakt werden
kann
68 Risiken, Nebenwirkungen und Folgen für Mutter, Kind und
Gesellschaft
73 Gibt es einen »sanften« Kaiserschnitt?

77 Wie Ihr Baby die Geburt erlebt


77 Im Vorraum zur Welt – Schwangerschaft von innen
betrachtet
82 Willkommen im Leben – Geburt als Übergang

89 Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann


89 Den Reservetank gut füllen
93 Dem Körpergefühl vertrauen
94 Das Bauchgefühl wieder beleben – unser sechster Sinn
97 Ambivalenzen zulassen und aushalten
100 Die Stimme als Unterstützung nutzen (singen und tönen)
104 Den Schmerz umarmen lernen
109 Unterstützende Geburtspositionen
111 Geburt im Wasser: fließen und fließen lassen
114 Leben ist Rhythmus – so wie die Wehen

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117 Auf eine gute Begleitung kommt es an
122 Eine Geburt ist intim und privat
124 Wenn aus Männern Väter werden – und wie sie die
Geburt begleiten können
129 Eine friedliche Geburt für eine friedliche Gesellschaft

135 Quellenangaben

137 Hilfreiche Adressen

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Vorwort

Eine Geburt ist mehr als der rein physiologische Geburtsvorgang.


Die Geburt ist der Anfang des Lebens und als solcher prägend für
den gesamten weiteren Weg eines Menschen.
Grundsätzlich sollte die Geburt als Willkommensgruß verstan-
den und gefeiert werden. Damit dies möglich ist, braucht es für
die Gebärende eine sichere Umgebung, in der sie sich fallen lassen
kann. Es braucht ein Wissen um die eigenen Kraftquellen und eine
Begleitung, die unterstützt, ohne einzuengen oder zu ängstigen.
Heutzutage wird von schwangeren Frauen vielfach der Wunsch
nach einem Kaiserschnitt geäußert. Neben einer Angst vor den
Schmerzen und dem Unkontrollierbaren besteht der Grund dafür
häufig darin, dass die Risiken einer natürlichen Geburt überbetont
werden. Wer seinem Kind einen guten Start ins Leben ermög-
lichen möchte, sollte den Kaiserschnitt nur für den Notfall auf-
heben.
Dieses Buch will Frauen und ihren Partnern Mut machen,
sich auf eine natürliche Geburt einzulassen. Es möchte die Vor-
teile einer natürlichen Geburt für Mutter und Kind verdeutlichen
und gleichzeitig aufzeigen, welche Folgen ein Kaiserschnitt haben
kann.

Dr. med. Wolf Lütje


Hamburg, im Juni 2016

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Über die Geduld

Man muss den Dingen


die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären.
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!

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Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit …
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer
sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Aus: Rainer Maria Rilke, »Briefe an einen jungen Dichter«

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Die Geburt – eine Kraftquelle
für Mutter und Kind

Geburt ist ein Bauchthema. Und zwar im doppelten Sinn. Unser


»Bauchhirn« weiß oft mehr als unser »Kopfhirn«, und es gibt ein
Wissen des Körpers, das gerade bei der Geburt ungemein nützlich
ist. Doch unser Körper spricht seine ganz eigene Sprache. Diese
wird in unserer technisierten Alltagswelt kaum noch wahrgenom-
men und verstanden. Heutzutage hört man eher auf die Botschaf-
ten von Laborberichten, Ultraschall und anderer Diagnostik  –
und das, obwohl es nach wie vor der Körper der Frau ist, der für
die Geburt zuständig ist. Seit Jahrtausenden gebären Frauen Kin-
der. Die Menschheit hätte nicht überlebt, hätten die Körper die-
ser Frauen nicht gewusst, was zu tun ist. Wie vertraut sind Frauen
heute mit der Sprache ihres Körpers? Es würde sich lohnen, ihn
schon lange vor einer Schwangerschaft verstehen zu lernen, um
bei einer Geburt auf seine Weisheit zurückgreifen zu können.
Bei der Geburtsvorbereitung geht es heute fast ausschließ-
lich um Wissensvermittlung. Über jede Phase der Schwanger-
schaft lässt sich etwas nachlesen, für alles gibt es Hinweise, alles
scheint verstanden, geregelt und kontrolliert zu sein. Vernach-
lässigt wird dabei allerdings das persönliche Wissen der Gene-
rationen von Frauen, die geboren haben. Dieses kollektive Unbe-
wusste wird nicht mehr gefüttert und nur noch selten abgerufen.
Die Hälfte der Frauen weiß fast nichts über ihre eigene Geburt,
geschweige denn über die Geburt der Mutter. Das Wissen rund

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

um den Kaiserschnitt und die PDA , kurz um Interventionen, wird


dagegen immer größer.
Es gab eine Zeit, da hörten Schwangere von ihren Müttern
Sätze wie diese: »Die Wehen, die Geburt, sind wie ein Sturm. Du
wirst ihn überstehen. Lass ihn über dich herziehen, er geht vor-
bei. Und glaub mir: Du wirst dadurch nur noch stärker. Danach
bist du gut gewappnet für den wahren Sturm in deinem Leben:
dein Kind!«
Bei der Geburt erlebt man tatsächlich wie im Zeitraffer, was es
heißt, ein Kind zu haben. Sie bereitet auf eine anstrengende Zeit
vor – sie ist sozusagen das Vorspiel für eine Phase völliger An-
passung und Hingabe, fern von Perfektionismus und Kontrolle.
Die Geburt kann auch als lebenslange Ressource dienen, wenn sie
selbstbestimmt erlebt wurde. Eine Frau, die den Sturm der Geburt
gemeistert hat, hat ein Wissen um ihre Kraft, das sie durch alle an-
deren schwierigen Lebenssituationen tragen kann – für das Kind
gilt übrigens das Gleiche.
Die Zeit der (neuen) Elternschaft ist eine Zeit der Veränderung
und der Bereitschaft dazu. Nie sind Menschen so empfänglich für
Fragen der Gesundheit, der Pädagogik und der Rollenadaption wie
in den ersten Monaten und Jahren als Eltern. Schwangerschaft
ist die erfolgreichste Suchtprävention und -behandlung: weni-
ger Zigaretten, Alkohol, Kaffee und andere Drogen, keine Medi-
kamente. Gebrauchsanweisungen aller Art werden abgeheftet,
und auf den Nachttischen von Eltern und solchen, die es werden,
stapeln sich Ratgeber und Internetausdrucke. Männer mutieren
durch ihre Vaterschaft zu einer ganz neuen Spezies und hören zu
wie sonst nie.
Physisch wie körperlich ist die Geburt ohne Frage eine der
größten Herausforderungen, die man sich vorstellen kann. Die
Sehnsucht, diesen Akt gerade deswegen möglichst sanft zu ge-
stalten, ist ebenso verständlich wie schwer erfüllbar. Gebären ist
und bleibt anstrengend. Das kann und soll man nicht schönreden.

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Doch anstrengend heißt nicht automatisch belastend, überfor-


dernd und kränkend. Auch eine Bergtour ist anstrengend. Unter
dem Gesichtspunkt des Lohns für die Anstrengung sieht die
Bilanz für eine Geburt aber besser aus – so viel Glück und Erfül-
lung gibt es nur selten im Leben. Natürlich werden Sie einwenden,
dass man auch mit einer Seilbahn auf einen Berggipfel kommen
kann. Das ist richtig und für Menschen, die nicht laufen können
oder schon erschöpft sind, sicher eine gute Lösung. Das Glücks-
gefühl am Gipfel ist jedoch nach einer erfolgreichen Besteigung
größer, als wenn man diese umgangen hat.
Verantwortlich für dieses Glücksgefühl sind Endorphine,
Glücksbotenstoffe, die besonders nach Anstrengungen ausge-
schüttet werden. Das ergibt auch biologisch betrachtet Sinn:
Überleben war und ist anstrengend, da braucht es Belohnung. Bei
einer Geburt sind es positive Emotionen wie Erfüllung, Stolz und
Freude, die alles, was davor war, vergessen machen. Wir nennen
das Mutterglück – Elternglück. Vielleicht ist es die unmittelbare
Erfahrung und das Erleben des Wunders der Geburt. Die Tatsache,
das Kind selbst »gebracht zu haben«, in einer Zeit der Fremdpro-
duktion, in der alles ins Haus geliefert wird: aus der Steckdose,
dem Internet und vom Tiefkühldienst. Eine Geburt ist da nicht
nur ein ganz besonderes Erlebnis, es ist auch eines, das den Frauen
vorbehalten ist. Männer gehen heute anders auf die Jagd, Frauen
sammeln anders als früher, aber ihnen ist (noch) ein Merkmal in
der Genderdiskussion geblieben, was sie unverwechselbar macht:
die Fähigkeit zu gebären. Interessanterweise werden Frauen von
Männern darum nicht beneidet, eher bemitleidet. Vielleicht ist das
aber auch gut so, denn wenn Männer im Gebären eine erstrebens-
werte Herausforderung sehen würden, hätten sie das auch noch
irgendwie möglich gemacht. So aber bleibt es ein potenziell zu-
tiefst weibliches Ermächtigungsritual.
In unserer Kultur wird es als normal angesehen, dass eine
Geburt etwas Gefährliches ist und deshalb engmaschig überwacht

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

werden muss. Auch wird vorausgesetzt, dass Frauen dazu Hilfe


benötigen. Und zwar so viel, wie technisch machbar ist. Dies ist
eher eine männliche Sicht auf die Dinge, die im Übrigen auch
nach hinten losgehen kann. Natürlich können Geburtsinterven-
tionen im Notfall ein Segen sein, doch bei einer normalen Ge-
burt können sie verhindern, dass Frauen das Potenzial ihrer ur-
eigenen Kraft ausschöpfen. Die Überzeugung, dass Frauen unter
der Geburt möglichst viel Hilfe benötigen, baut auf einem Frauen-
bild auf, das der weiblichen Kraft nicht gerecht wird. Eine Geburt
rührt allerdings auch an die tiefsten kollektiven, oft unbewuss-
ten Ängste. In jeder Ahnenreihe sind in der Vergangenheit Babys
oder Mütter unter der Geburt gestorben. Diese kulturelle Angst
vor der Geburt verstärkt das individuelle Geburtstraumata. Doch
dazu später mehr (ab Seite 37).
Was bei all dieser (Vor-)Sorge übersehen wird, ist die Tatsache,
dass eine »gute« Geburt das Leben einer Mutter für immer ver-
ändern kann. Und damit auch das Leben des Kindes. Von einer
innerlich starken Mutter wird es selbstverständlich profitieren.
Abgesehen davon wird das Baby unter einer natürlichen Geburt
mit der genau richtigen Dosis all der wichtigen Hormonen ver-
sorgt, die es für das Überleben außerhalb des Leibes der Mutter
dringend braucht. Doch nicht nur für das Baby, auch für die Mut-
ter sind diese Geburtshormone wichtig.

Die Weisheit des Körpers


bei der Geburt

Der weibliche Körper ist darauf ausgerichtet, eine Geburt zu meis-


tern. Bei einer gesunden Frau, die sich in Sicherheit dem natür-
lichen Geburtsvorgang hingeben kann, schützen körpereigene
Botenstoffe und Opiate Mutter und Kind. Da diese Regelkreise
jedoch extrem störanfällig sind, ist es wichtig, in die natürlichen

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Die Weisheit des Körpers bei der Geburt

Vorgänge so wenig wie möglich einzugreifen. Jeder Eingriff in ein


in sich funktionierendes und hochkomplexes System zieht Verän-
derungen nach sich, die dazu führen können, dass die Selbstregu-
lation zusammenbricht.
Das Mengenverhältnis und das Zusammenspiel der Geburts-
hormone haben einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der
Geburt. Diese Hormone werden im »archaischen« Gehirnstamm
gebildet, dem alten »Säugerhirn«. Damit dieser ungestört arbei-
ten kann, ist es notwendig, Ablenkungen, die den Vorderhirnbe-
reich (Sitz des analytischen Verstandes) aktivieren, möglichst ge-
ring zu halten. Die Gebärende muss die Möglichkeit haben, ihren
eigenen »Geburtsplaneten« zu betreten. Auf diesem stellt sich
ihr gesamtes Körpergeschehen darauf ein, ein Kind sicher auf die
Welt zu bringen.
Folgende Hormongruppen sorgen unter der Geburt für einen
guten Verlauf.

Oxytocin

Oxytocin wird auch als Liebeshormon bezeichnet. Es spielt über-


all da eine Rolle, wo es um Liebe, Bindung, Berührung und Lust
geht und ist das Geburtshormon schlechthin. Im Zusammenhang
mit einer Geburt von Lust zu sprechen, scheint zunächst befremd-
lich – aber das zeigt nur, wie weit wir uns von der Weisheit des
Körpers abgekoppelt haben. Vielleicht sind die Gedanken meiner
amerikanischen Kollegin Christiane Northrup ja ein Impuls, die
Geburt anders zu sehen: »Viele Frauen beschreiben eine Geburt
in natürlicher Umgebung als erotisch. Ina Mae Gaskin schreibt,
Frauen müssten während einer Geburt wie Göttinnen behan-
delt werden. Anderswo habe ich die Auffassung gelesen, dass die
Geburt die Krönung des Aktes der Liebe, der Empfängnis, der
Schwangerschaft und schließlich der Wehen ist. Durch den Akt
des Gebärens schließt sich der Kreis.«1

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Oxytocin wird im Gehirn gebildet, aber schon kurz vor Beginn


der Wehen setzt durch ein organspezifisches Oxytocinsystem die
Ausschüttung des Hormons im Uterus selbst ein. In dieses uterine
Oxytocin speist auch der Embryo Oxytocinvorstufen, die in sei-
nen Nebennieren gebildet werden.
Oxytocin setzt die Wehentätigkeit in Gang, es sorgt für effek-
tive Kontraktionen der glatten Muskulatur und senkt den Blut-
druck. Unter der Geburt steigt die Oxytocinausschüttung im
Körper der Gebärenden auf Spitzenwerte an. Und auch nach der
Geburt spielt Oxytocin eine wichtige Rolle: Es regt die Plazenta-
ablösung an und unterstützt den Aufbau der Mutter-Kind-Bin-
dung. Mutter und Kind »verlieben« sich intensiv ineinander. Ein
hoher Oxytocinspiegel fördert die Prolaktinproduktion und damit
den Milchspendereflex. Bei jedem Stillvorgang erhöhen sich die
Oxytocinwerte erneut. Sogar für die Paarbeziehung ist Oxytocin
segensreich, denn es fördert auch die Bindung zwischen Sexual-
partnern. Das ist in der ersten Zeit nach der Geburt durchaus hilf-
reich. Auch Väter, die sich um ihr Kind kümmern, und viel Haut-
kontakt mit diesem haben, produzieren vermehrt Oxytocin. Hohe
Oxytocinwerte lassen Wunden schneller heilen und sie machen
vergesslich. So können auch starke Geburtsschmerzen »verges-
sen« werden, was die Angst vor einer erneuten Schwangerschaft
und Geburt senkt.

Adrenalin, Noradrenalin

Das Stresshormon Adrenalin regt die Muskeln an, sich zusam-


menzuziehen. In der Eröffnungsphase können dadurch der Blut-
druck erhöht, und die Wehen geschwächt werden. In der Aus-
treibungsphase jedoch kann Adrenalin dafür sorgen, dass der
Austreibungsreflex erhöht wird. Gleichzeitig sorgt es dafür, den
Schmerz besser ertragen zu können.2 Kurz bevor der Kopf des
Babys heraustritt, gibt Adrenalin der Gebärenden einen enormen

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Die Weisheit des Körpers bei der Geburt

Kräftekick. Bei starker und steigender körperlicher und psychi-


scher Belastung schüttet der Körper vermehrt Katecholamine (zu
denen auch das Adrenalin gehört) aus. Diese sorgen wiederum
dafür, dass die Endorphinproduktion (siehe unten) angekurbelt
wird. Auch das Baby profitiert von der Adrenalindusche. Sie be-
wirkt, dass die Flüssigkeit in seinen Lungen besser abgeführt wird.
Außerdem sind Mutter und Kind dadurch direkt nach der Geburt
sehr wach – sie schauen sich in die Augen und dies fördert ihre
Bindung. Den wachen und weisen Blick ihres Neugeborenen ver-
gessen Eltern oft ein ganzes Leben lang nicht!

Endorphine

Endorphine können Menschen in andere Bewusstseinszustände,


in eine Art von Trance versetzen. Sie beruhigen bei Angst und
fördern Wohlgefühle, Euphorie und Befriedigung. Diese Glücks-
hormone sind im Grunde körpereigene Opiate, also richtige,
erstklassige Schmerzmittel, und hemmen auch die Aktivität des
Neokortex, des rationalen Gehirnteils, sodass die Frau sich fallen
lassen und sich dem Geburtsvorgang »überlassen« kann. Endor-
phine sind regelrechte Wunderhormone. Sie sind auch dafür ver-
antwortlich, dass sich Frauen nach einer Geburt so zufrieden und
erfüllt fühlen. Und auch sie begünstigen die Mutter-Kind-Bin-
dung. Beim Stillen werden nämlich auch Endorphine ausgeschüt-
tet, nicht nur Oxytocin. Diese Hormonflut hilft, die Strapazen der
Geburt und der ersten Zeit mit einem Baby besser zu bewältigen.

Prostaglandin

Prostaglandin ist ein Gewebshormon, das unter der Geburt ver-


mehrt ausgeschüttet wird und dafür sorgt, dass der Muttermund
weich wird und sich öffnet. Es unterstützt ebenfalls die Wehen-
tätigkeit positiv.

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Prolaktin

Damit die Mutter bereit und in der Lage ist, sich nach der Geburt
ganz und gar auf das Baby einzulassen und eigene Bedürfnisse
hintanzustellen, gesellt sich noch ein weiteres Hormon hinzu:
Prolaktin. Prolaktin unterstützt  – gemeinsam mit dem Oxyto-
cin – die Fähigkeit, Liebe zum Baby aufzubauen und zu halten –
über alle Anstrengungen hinweg. Diese Hormone fördern müt-
terliches Verhalten, das heißt, die Bedürfnisse des Babys werden
erkannt und haben für die Mutter oberste Priorität. Prolaktin setzt
die Milchbildung in Gang und hält sie auch aufrecht. Auch wenn
eine Mutter ihr Baby weinen hört (manchmal reicht sogar schon
das Weinen eines anderen Babys), setzt dies Prolaktin frei und
Milch tritt aus. Dieses Hormon ist auch dafür verantwortlich, dass
der Schlaf der Mutter nur leicht ist, damit sie jedes Geräusch des
Babys mitbekommt und es beschützen kann.

Ich meine, dass Frauen nach einer Geburt unerschütterbar werden


können. Sie lernen mit all den Unwägbarkeiten des Lebens gut zu-
rechtzukommen. Sie bekommen ein Repertoire an Bewältigungs-
strategien geliefert, mit dem sie fast jede Lebenskrise meistern
können. Und vielleicht ist gerade das der Sinn dieser unglaubli-
chen Herausforderung, die sich Geburt nennt: befähigt zu werden,
all das, was folgt, bewältigen zu können. Vielleicht sind Schmerz,
Angst und Anstrengung die biopsychosozialen Fitmacher für eine
kompetente Lebensbewältigung mit Kindern.
Die Länge einer Geburt lässt sich niemals im Vorfeld bestim-
men. Es ist eben ein zutiefst individuelles Geschehen. Und jede
Intervention löst wie gesagt eine Kaskade von Veränderungen aus,
die ebenfalls niemals vorher absehbar sind. Es wäre ein Segen,
die geschätzten Geburtszeiten von vorneherein zu verdoppeln.
Denn nichts ist in dieser Situation ungünstiger als Ungeduld. Und
manchmal ist auch ein kurzeitiger Stillstand sehr gewinnbringend.

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Vertrauen und Hingabe: Wie die Angst überwunden werden kann

Es kann nämlich vorkommen, dass die natürliche Oxytocinpro-


duktion irgendwann ausgereizt ist. Was dann geschieht, ist im
Grunde ein Wunder. Alles schläft ein, auch die Wehen. Dies ist ein
wunderbarer Zustand, denn es ist wie eine Erholungszeit vor dem
Endspurt. Wenn in dieser Phase, um die Geburtsvorgänge wieder
anzukurbeln, Oxytocin gespritzt wird, versetzt das die Gebärmut-
ter in einen wahren Gewittersturm, den dann niemand mehr stop-
pen kann. Eine solche Situation kann zur vorzeitigen Ermüdung
der Mutter führen. Deshalb: Abwarten ist eine der wichtigsten
Tugenden eines Geburtshelfers und Geduld macht sich auf lange
Sicht bezahlt. Zurückhaltung heißt nicht Tatenlosigkeit. Alles zur
rechten Zeit im rechten Maß.

Vertrauen und Hingabe:


Wie die Angst überwunden werden kann

Frau S. ist Angstpatientin und schon jahrzehntelang in Therapie. Sie


glaubt, für ihre Vergehen in der Kindheit irgendwann einmal bestraft
zu werden. Nun ist sie unerwartet mit Zwillingen schwanger. Sie
geht fest davon aus, bei irgendeiner Komplikation rund um die Ge-
burt zu sterben.
Im Rahmen einer Psychotherapie gelingt es, die Patientin so weit
zu stabilisieren, dass sie die Schwangerschaft aushalten kann. Aller-
dings erlebt sie täglich mehrere Panikattacken, bei denen sie sich alle
möglichen Horrorszenarien rund um die Geburt zusammenfanta-
siert. Dies lässt sich therapeutisch kaum auflösen. Glücklicherweise
liegt eine völlig unkomplizierte Zwillingsschwangerschaft vor und
paradoxerweise bessern sich Angst und Panik mit dem Auftreten der
ersten Anzeichen für die anstehende Geburt. Frau S. bringt schließ-
lich ohne Komplikationen zwei gesunde und reife Zwillinge normal
zur Welt. Beide Kinder werden voll gestillt. Der Wochenbettverlauf
ist komplett unauffällig.

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Vor einer unbekannten Situation Angst zu haben, ist ganz nor-


mal. Es liegt jedoch an uns, ob wir uns der Angst überlassen, ob
wir versuchen, ihr entgegenzuwirken, oder ob wir sie besser ver-
stehen wollen. Es ist sinnvoll, genauer hinzusehen, wovor man
Angst hat. Denn Angst kann lähmen und verhindert oft, dass die
wichtigen Geburtshormone in der individuell passenden Dosie-
rung ausgeschüttet werden. In dem Moment, wo Ängste und Be-
fürchtungen auf die – meist ganz andere – Realität treffen, kön-
nen sie sich auflösen. Dies ist ein Phänomen, das man häufig auch
im Kontext der Psychotherapie beobachtet. Nach Viktor Frankl,
dem bekannten österreichischen Psychotherapeuten, kann Fol-
gendes passieren, wenn wir uns vor vermutet unüberwindbaren
Grenzen befinden: Sie können wirklich real sein und damit un-
überwindbar. Es kann aber auch sein, dass sie plötzlich verschwin-
den, weil wir sie uns nur fantasiert haben. Möglich ist auch, dass
wir plötzlich eine Kompetenz spüren, Grenzen zu überwinden.
Und mitunter passiert es, dass Grenzen sich zwar nicht auflösen,
aber doch wesentlich nach hinten verschieben lassen, damit ein
neuer Gestaltungsspielraum entsteht.3
Das Fallbeispiel von Frau S. und die Psychodynamik, die
Frankl beschreibt, lassen sich auf jede Geburtssituation übertra-
gen. Angst und Respekt vor der Geburt sind wie gesagt ganz nor-
male Empfindungen. Um allerdings das Mach- und Bewältigbare
abschätzen zu können, müssen wir uns in den Prozess der Ge-
burt hineinbegeben. Erst dann werden unsere Möglichkeiten und
Grenzen real und wir können deren Ausmaß abschätzen. Dies
ist ein Plädoyer dafür, bei Entscheidungen für oder gegen einen
Kaiserschnitt stets den Geburtsbeginn und die sich daraus erge-
bende Dynamik abzuwarten.
Um der Angst Herr zu werden, die durch die Ungewissheit, was
wohl auf sie zukommen mag, ausgelöst wird, tragen Schwangere
häufig so viele Informationen wie möglich über die Geburt zu-
sammen. Es gibt die Vorstellung, dass viele Informationen Sicher-

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Vertrauen und Hingabe: Wie die Angst überwunden werden kann

heit geben würden. Oft ist jedoch das Gegenteil der Fall. Je mehr
Informationen gesammelt werden, umso unsicherer werden die
Frauen, denn zu jeder Information gibt es auch die Gegeninforma-
tion. Das verwirrt häufig mehr, als es beruhigt.
Es ist eine gute Idee, sich von konkreten Ängsten zu befreien.
Denn sie sind meist nur Fantasieprodukte und die Realität sieht
dann ganz anders aus. Eine gute Portion Nichtwissen und viel-
leicht sogar Ignoranz kann gerade bei der Geburt hilfreich sein.
Das Großhirn der Mutter darf nicht der Geburtshelfer werden,
denn es ist eher ein Geburtsverhinderer. Das Stammhirn ist als
Geburtshelfer viel besser geeignet. Es denkt nicht, sondern in
ihm ist die Fähigkeit zur Hingabe beheimatet und die ist eher ein
Reflex.
Auch das Bedürfnis nach Kontrolle ist bei einer Geburt sehr
hoch. Kontrolle ist in gewisser Weise ein Urbedürfnis des Men-
schen. Die Welt um sich herum halbwegs sortiert zu wissen, gibt
das Gefühl, sicher und geborgen zu sein – eine der Rahmenbedin-
gungen, die eine Geburt benötigt. Das war zu allen Zeiten so. War
eine Zeugung noch auf der Flucht möglich, so brauchte die Geburt
schon immer einen Rückzugsort, wo sich die Frauen sicher und
geborgen fühlten.
Je unüberschaubarer, komplexer und weitläufiger die Welt
wird, umso mehr droht das Kontrollgefühl verlorenzugehen. Als
Gegenstrategie suggeriert uns der Zeitgeist, dass alles irgend-
wie kontrollierbar sei. Wir fallen nur zu gern auf diesen Mythos
herein und fordern kontrollierte Abläufe in allen Lebensberei-
chen. Bei der Arbeit, auf Reisen, im computerisierten Auto und
Heim und natürlich im Kreißsaal. Saß man früher zufrieden in
einer Postkutsche mit völlig unklarem Ankunftstermin, so bricht
heute bei einer halbstündigen Zugverspätung schon das Chaos
aus. Selbst beim Sport wird alles in kontrollierte, messbare Ein-
heiten eingebettet, die wohltuend suggerieren: Hier ist alles unter
Kontrolle.

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Nun ist ein Geburtsverlauf jedoch ein Paradebeispiel für einen


Vorgang, der sich vollends unserer Kontrolle entzieht. Hier lässt
sich nichts vorhersagen, nichts terminieren, nichts festlegen. Hier
läuft etwas ohne klare Strategie ab. Das Kind wird kontrolliert, der
Geburtsfortschritt ebenfalls, aber mehr ist nicht möglich. Keine
Ankunftszeit, keine Prognose zum Zustand von Mutter, Kind und
Vater, kein Fahrplan. Wie damals in der Postkutsche. Das auszu-
halten fällt sowohl den Geburtshelfern als auch den werdenden
Eltern schwer.
Frauen, die sich grundsätzlich nur einen Kaiserschnitt als Ge-
burtsform vorstellen können, haben meiner Erfahrung nach ein
besonders stark ausgeprägtes Kontrollbedürfnis. Für sie fühlt sich
eine Prozedur wie der Kaiserschnitt – obwohl mit völliger Abhän-
gigkeit und eigentlich komplettem Kontrollverlust verbunden –
trotzdem planbarer und kontrollierbarer an als ein natürlicher Ge-
burtsverlauf.
Eine Schulung in Hingabe und Kontrollabgabe könnte in Bezug
auf dieses Problem sicher viel bewirken. Die Gebärende könnte
ihre eigenen Kontrollwünsche besser regulieren und wäre in der
Lage, auf die umfassende technokratische Fremdkontrolle zu ver-
zichten. Sie könnte auch die Wehen leichter akzeptieren und in
ihnen vielleicht das erkennen, was sie tatsächlich sind: Hilfen, die
ein intelligentes Körpersystem einsetzt, um den Geburtskanal so
weit zu machen, dass ein Baby hindurchpasst. Kurz, sie könnte
lernen, sich dem Prozess der Geburt voll hinzugeben.
Hingabe! Dieses altertümlich anmutende Wort ist für eine gute
Geburt von großer Bedeutung. Die Hingabefähigkeit, das sich
völlige Überlassen, steht im kompletten Widerspruch zum Kon-
trolldiktat unserer Zeit. Und es ist fürwahr eine Kunst. Dazu ge-
hört, sich fallen lassen zu können, nur bei sich selbst zu sein, sich
zu überantworten. Religiöse Menschen würden sagen: Man kann
nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Hingabe verlangt zwei Dinge:
etwas zuzulassen und sich einzulassen. Zulassen ist eine Entschei-

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Vertrauen und Hingabe: Wie die Angst überwunden werden kann

dung, Einlassen dagegen eher ein Prozess. Hingabe ist auch eine
Form des Mitschwingens, Mitgehens. Das schafft oft mehr Er-
leichterung, als gegen etwas anzugehen: »Mit dem Schmerz zu
gehen« ist leichter, als gegen ihn anzukämpfen. Aber natürlich nur
bis zu einem bestimmten Punkt.
Sich hinzugeben ist in Bezug auf die Elternschaft ein über-
lebennotwendiges und evolutionsbiologisch sinnvolles Konstrukt.
Babys bringen einen an die eigenen Grenzen. Sie sind unbere-
chenbar – sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag. Es gibt
kaum eine vergleichbare Herausforderung, denn bei all dem Glück
bedeuten sie auch Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Verzweiflung und
manchmal Wut. Diese Herkulesaufgabe können die Eltern nur
durch absolute Hingabe stemmen. Glücklicherweise wird diese
Hingabe sogar hormonell unterstützt (siehe Oxytocin). So ge-
stärkt schaffen es Mütter und Väter, sich nächtelang rührend
um ihr Kind zu kümmern, im Sitzen mit Baby auf dem Bauch zu
schlafen und auf der Bettkante zu liegen, damit der Nachwuchs
das ganze Bett zur Verfügung hat. Die Hingabe unter der Geburt
ist somit nur die Vorstufe für eine ganz andere Form der Aufopfe-
rung, zu der der Mensch biologisch verpflichtet ist.
Eine Frau, die sich vertrauensvoll hingeben und dem Körper die
Kontrolle überlassen kann, ist bei der Geburt in der Regel ent-
spannter. Ein entspannter Beckenboden gibt leichter nach, erleich-
tert die Öffnung der Weichteile, verkürzt oft die Dauer der Geburt
und sorgt dafür, dass es zu weniger Dehnungsschmerz kommt.
Was aber passiert, wenn sich eine Frau so gar nicht auf die
Geburt einlassen kann und mit ihr nur Unannehmlichkeiten
und Scham verbindet? Das führt häufig zu unnötigen Schmer-
zen. Auch Ekel vor sich selbst und all dem, was der Körper bei
der Geburt so absondert, kann ein Grund für Schmerz sein. Die
Sterilität unseres sauberen Lebens sieht keine schmutzigen Stel-
len mehr vor. Beim Kaiserschnitt ist ein Sauger für all das Uner-
wünschte verantwortlich.

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Ein weiterer Hemmschuh für eine natürliche Geburt: Wir


empfinden es als peinlich, wenn wir uns öffentlich laut äußern,
schreien, dem Schmerz hörbar Luft machen. Und leider reagie-
ren viele Geburtshelfer auf Schreie im Kreißsaal nur mit Sprü-
chen wie: »Seien Sie jetzt nicht hysterisch« oder »Reißen Sie sich
doch zusammen«. Doch wer schreit, entspannt und schafft sich
dadurch Erleichterung. Wichtig ist also, ein Ambiente im Kreis-
saal zu schaffen, das Lautsein zulässt, ja fördert (siehe Seite 100).
Das würde die Geburt vielen Frauen erleichtern. Für Geburtshelfer
ist es daher hilfreich, sich mit der eigenen familiären Geburtsbio-
grafie, aber auch den beruflich traumatisierenden Geburtserfah-
rungen auseinandergesetzt zu haben. Jeder Geburtshelfer braucht,
wie ein Psychotherapeut, ein gehöriges Maß an Selbsterfahrung
und Supervision.
Es gibt eine Fähigkeit – ich möchte sie die »Kunst des Gebä-
rens« nennen  – die eine grundsätzliche Hingabefähigkeit an
das Andere beinhaltet. Mit ihrer Hilfe fällt es der Frau leichter,
auch Unangenehmes auszuhalten und auch dies als einen Akt
der Selbstkontrolle zu verstehen. Es gibt Frauen, die genau diese
Fähigkeit noch immer haben, die nichts anderes brauchen, als die
Hilfe ihres Körpers. Sie entbinden im Grunde ganz allein. An-
dere brauchen für ihre Kunst des Gebärens ein gewisses Maß an
Fremdkontrolle, also die Zuwendung der Hebamme oder ihres
Partners, Schmerzmittel und manchmal auch einen Arzt oder eine
Ärztin. Auch hier wirkt Beziehung wie eine Droge, die Gebären
möglich macht.

Frau M. bekommt ihr erstes Kind. Sie wird zu mir in die Sprech-
stunde geschickt, weil sie große Geburtsangst hat. Im Gespräch be-
richtet sie, dass sie ein »Sensibelchen« sei, schon bei der Menstru-
ation würde sie vor Schmerzen jedes Mal fast zusammenbrechen.
Körperlich könne sie sich auch nicht viel zumuten. Sie sei halt »zu
zart für diese Welt«.

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Vertrauen und Hingabe: Wie die Angst überwunden werden kann

»Wie soll so jemand eine Geburt schaffen?«, fragt sie mich mit
großen Augen. Ich erkläre ihr, dass es durchaus möglich sei, dass
sie die Anforderungen einer Geburt überfordern, dass dies aber
nicht zwangsläufig so sein müsse. Ausführlich erkläre ich ihr, was
bei einer Geburt ablaufen kann und berichte von Frauen, die da-
bei mitunter regelrecht über sich hinauswachsen. Zudem erkläre ich
ihr, dass eine Geburt nicht unbedingt etwas mit dem zu tun hat,
was sie bis jetzt in ihrem Leben erlebt hat, und dass dies eine große
Chance ist, daran in Bezug auf ihre Empfindlichkeit zu wachsen
und aus der Geburt gestärkt hervorzugehen. Frau M. will dies nicht
so recht glauben und ist weiterhin skeptisch. Ich entlaste sie da-
hingehend, dass ich ihr anbiete, dass wir zu jedem Zeitpunkt, auf
Wunsch auch direkt zu Geburtsbeginn, den Geburtsmodus abwan-
deln können und dann doch einen Kaiserschnitt durchführen. Da-
durch lässt sie sich überzeugen, zunächst einmal auf die Wehen zu
warten.
Frau M. erscheint mit einer Muttermundweite von 5 cm im Kreiß-
saal. Sie ist ganz erstaunt, dass die wenigen Wehen schon so viel
am Muttermund bewirkt haben. Alles läuft so anders, als sie es sich
vorgestellt hat. Sie entbindet rasch und unkompliziert einen kräfti-
gen Jungen. Als ich sie im Wochenbett besuche, ist sie ausgesprochen
dankbar: »Schön, dass Sie nicht meiner Angst gefolgt sind. Ich kann
offenbar viel mehr, als ich mir bis jetzt zugetraut habe. Ich glaube,
jetzt kann mir so recht nichts mehr im Leben passieren.«
Ich verlasse freudig das Zimmer, wohl wissend, dass es nicht
immer so läuft, und dass es durchaus auch Frauen gibt, die sich
nach der ersten Wehe den Kaiserschnitt wünschen und ihn selbst-
verständlich dann auch bekommen.
Das Ziel – eine an Leib und Seele gesunde Familie – erreicht man
nur über den noch so kurzen Weg!

Bisher ging es hier immer nur um die Angst der Frauen vor der
Geburt. Doch sie sind nicht die Einzigen, die Angst haben. Wir

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Geburtshelfer kennen dieses Gefühl ebenso, wenn wir im Kreiß-


saal stehen. Meine Angst begleitet mich beruflich jeden Tag, aber
ich habe mich mit ihr angefreundet. Sie warnt mich und gibt mir
gute Tipps, doch sie bestimmt nicht mein Handeln. Das ist Pro-
fessionalität: die Angst als Ratgeber, aber nicht als Bestimmer
zu nutzen. Diesen Rat möchte ich auch jeder Frau geben. Sie ist
in eigener Angelegenheit hoch professionell. Auch wenn sie sich
dessen gar nicht bewusst ist. Keine Frau könnte gebären, wenn sie
nicht schon von Haus aus auf diesem Gebiet ein Profi wäre. Und
darum wäre es schön, wenn auch für die Gebärende die Angst nur
ein Ratgeber wäre.
Leider werden nur die Risiken einer natürlichen Geburt alleror-
ten im Detail behandelt – von den Chancen hingegen ist kaum et-
was zu hören oder zu lesen. Die moderne Schwangerenbetreuung
kennt unzählige Grauwerte und Normabweichungen und verwen-
det dafür gern das Wort »zu«: zu viel, zu wenig, zu groß, zu klein,
zu früh, zu spät, zu lang, zu kurz. Ich wundere mich nicht, dass
bei Frauen, die ständig mit »zu« gefüttert werden, tatsächlich alles
zumacht: der Kopf, das Herz, die Seele, das Becken, der Gebär-
kanal. Zu viel Angst, zu viel Sorge, zu viel Verunsicherung – all
das sind bedeutende Bausteine für die Einbahnstraße zur Schnitt-
entbindung. Es wäre eine gute Entscheidung, diese »Zu«-Straße
erst gar nicht zu betreten. Allerdings ist das eine Entscheidung,
die werdende Mütter kaum selbst treffen können. Denn die »Zu«-
ordnungen werden von anderer Seite gefällt, stehen dann unüber-
sehbar im Raum und verändern das Erleben einer Schwanger-
schaft, die schon lange nicht mehr als »Zeit der guten Hoffnung«
bezeichnet wird. Vor allem verändern sie damit gleichzeitig auch
die Einstellung zur Geburt, für die ganz eigene, zusätzliche Risi-
ken benannt und hell beleuchtet werden.
Wir Geburtshelfer sind gezwungen, alles, was wir wahrnehmen
und registrieren, mitzuteilen. Wer dies nicht tut, wird meist be-
traft. Und leider, muss man fast sagen, können wir immer mehr

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Vertrauen und Hingabe: Wie die Angst überwunden werden kann

wahrnehmen und registrieren. Allerdings macht es einen Unter-


schied, wie Diagnosen übermittelt und vor allem, in welchen Zu-
sammenhang sie gesetzt werden. Je unaufgeregter, umso besser.
Oftmals handelt es sich nämlich nur um Momentaufnahmen, die
sich im weiteren Verlauf der Schwangerschaft wieder normalisie-
ren. Wobei auch die Frage »Was ist überhaupt normal?« durch-
aus zu stellen ist. Denn die Bandbreite ist groß und jede Frau und
jedes Paar kommt mit einer ganz eigenen Geschichte und Situa-
tion in die Praxis oder Klinik. All dies spielt eine Rolle, wenn es
darum geht, einzuschätzen, wie »normal« eine Schwangerschaft
ist.
Im Grunde nehmen werdende Eltern an vorgeburtlichen Unter-
suchungen teil, um zu erfahren, dass alles in Ordnung ist. Das soll
beruhigen und entspannen. Das will jede werdende Mutter und
jeder werdende Vater hören. Die Hiobsbotschaft ist nicht einkal-
kuliert – und die Verunsicherung des Verdachtes auch nicht.
Es ist nötig, neue Umgangsformen mit all dem vielen neuen
Wissen zu entwickeln und es herunterzubrechen auf eine indivi-
duelle Verdaubarkeit. So bekommt man einen sicheren Hand-
lungsspielraum, in dem das Für und Wider der Entscheidung er-
gebnisoffen besprochen werden kann.
Begegnen wir unbekannten Situationen mit dem Vertrauen,
dass sie gut ausgehen werden, hilft das, sie besser zu bewältigen.
Wie Astrid Lindgren ihre Mutmachfigur Pippi Langstrumpf sinn-
gemäß sagen ließ: »Das haben wir noch nie probiert, also geht es
sicher gut.«

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Die abwartende Gelassenheit oder


der positiven Überraschung die Tür öffnen

Wenn wir nicht wissen, wie etwas werden wird, haben wir die
Wahl: Wir können mit dem Schlimmsten rechnen oder aber davon
ausgehen, dass wir Schritt für Schritt geleitet werden und sich die
Situation gut und richtig entwickeln wird.
Der erste Fall beschreibt das, was derzeit mehr und mehr pas-
siert. Daher ziehen sich immer mehr Kliniken auf das vermeintlich
sichere Terrain der Interventionen zurück. Haftpflichtversicherer
sind kurz davor, Mindestquoten an operativen Entbindungen zu
fordern. Das liegt daran, dass es in der Rechtsprechung nur um
Fälle geht, in denen ein Kaiserschnitt geboten gewesen wäre und
nicht oder zu spät gemacht worden ist. Es gibt in Deutschland
noch kein einziges Urteil zu einem unnötigen Kaiserschnitt. Und
das, obwohl gerade der Kaiserschnitt zusätzliche medizinische
Risiken nach sich zieht – und damit auch Kosten für die Versiche-
rungen beziehungsweise Krankenkassen.
Es geht im Grunde darum, das Geheimnis der Geburt wieder
erleben zu können. Denn keine Geburt ist in ihrem Verlauf vor-
hersagbar. Eine Geburt ist wie das Leben selbst: immer wieder
überraschend und voller Wunder. Es kann hilfreich sein, in der
Schwangerschaft die Geburtsgeschichten aus der Familie zu hören
und sich mit anderen Schwangeren auszutauschen. Nicht, um sich
gegenseitig mit Horrorgeschichten zu übertrumpfen, sondern um
sich gegenseitig Mut zu machen. Was heutzutage fehlt, sind näm-
lich Mutmach-Geschichten rund um die Geburt. Frauen, die leicht
und unkompliziert geboren haben, trauen sich kaum noch, dies
laut zu sagen. Sie fürchten, dass die anderen Mütter mit schlech-
ten Geburtserfahrungen über sie herziehen. Besonders die Hor-
rorgeschichten, die im Internet über Geburten zu lesen sind, be-
wirken meist nichts als eine Steigerung der Angst. Daher mein
Rat: Bitte nicht im Netz informieren! Denn nicht selten entwi-

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Die abwartende Gelassenheit …

ckeln sich die Dinge ganz anders als angenommen oder geplant.
Zum Beispiel in dem folgenden Fall:

Frau S. sitzt zum Geburtsplanungsgespräch vor mir. Sie hatte bereits


einen Kaiserschnitt. Freimütig räumt sie ein, dass der Entschluss für
eine operative Entbindung Teil ihres Gesamtkonzeptes einer körper-
lichen Optimierung war. Dazu gehörte auch die Devise »Save your
lovechannel!« (Bewahre deinen Liebeskanal). Frau S. trägt Brust-
implantate und wollte ihr erstes Kind deswegen auch nicht stillen.
Ihre Lippen sind aufgespritzt und der Rücken ist durchtätowiert,
außer an der Stelle, an der ein Anästhesist eine Peridural- oder Spi-
nalanästhesie anlegen kann.
Ich frage mich, warum diese Frau vor mir sitzt. Es liegt doch auf
der Hand, dass sie wieder einen Kaiserschnitt bekommen möchte.
Aber nein, sie hat sich dieses Mal eine Beleghebamme gesucht und
hat den dringenden Wunsch, normal zu entbinden und ihr Kind da-
nach auch zu stillen.
Ich möchte wissen, woher der Sinneswandel kommt. »Mit mei-
nem ersten Kind hat sich meine Sicht auf die Welt völlig verändert.
Ich habe gelernt, dass es viel, viel wichtiger ist, in Beziehung und
Bindung zu investieren, als in körperliche Attribute. Meine Mutter-
schaft hat mich gelehrt, dass wir nicht alles kontrollieren und ge-
stalten können, vor allem aber, dass es sinnvoll ist, in natürliche
Prozesse nicht unnötig einzugreifen. Für den Fall, dass die Natur ver-
sagt, gibt es ja immer noch Hebammen und Ärzte.«
Ich bin sehr angetan von diesem Sinneswandel und stimme
Frau S. natürlich vollkommen zu. Innerhalb von zwei Stunden ent-
bindet sie in der Gebärwanne völlig unkompliziert und wird dabei
lediglich von ihrer Beleghebamme begleitet. Danach verlässt Frau S.
voll stillend, froh und bereichert die Klinik. »Sie können mich überall
als Anwältin der natürlichen Geburt zitieren«, sagt sie bei der Verab-
schiedung, »und wenn Sie jemanden haben, der meinen Rat braucht,
kann er gerne anrufen.«

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Ab und an erlaube ich mir im Sinne eines Peer-Coachings von


diesem Angebot Gebrauch zu machen.

Es braucht Ermächtigungsgeschichten wie diese, um Frauen Mut


zu machen und ihr Vertrauen zu stärken, dass sie das auch können.
Die Geburt ist ein völlig normaler Vorgang, der den Körper einer
Frau keineswegs überfordert, sondern ihr zeigt, wie viel Kraft in
ihr steckt. Gleichzeitig ist es sinnvoll, sich nicht vorher festzu-
legen, wie die eigene Wunschgeburt auszusehen hat. Es ist wich-
tig, offen an die konkrete Situation heranzugehen. Das gilt auch
für uns Geburtshelfer. Manchmal machen wir uns vorschnell ein
Bild von einer Frau, weil wir ähnliche Situationen bereits erlebt
haben. Doch jede Frau ist anders und jede Geburt ist es auch. Es
ist also wichtig, sich immer wieder neu einzulassen und alles für
möglich zu halten. Besonders das positive Ende.
Wer als Geburtshelfer die Eigenkontrolle und den Selbstge-
staltungswillen einer Gebärenden fördert, gilt schnell als lieblos
und wenig unterstützend. Doch eine Geburt ist grundsätzlich ein
selbstbestimmter und privater Akt. In Zeiten der Dienstleistungs-
mentalität und Wellnesskultur wird dies oft übersehen. Frauen
wird weniger zugetraut und sie selbst trauen sich auch weniger
zu. Beides bedingt sich gegenseitig. Es ist wichtig, sich darüber
auszutauschen, es braucht die richtige Mischung aus Eigen- und
Fremdkontrolle. Vertrauen entsteht auch durch vertraut werden.
Dies sollte schon vor der Geburt geschehen, am besten ausführ-
lich und umfassend.
Selbstverständlich gibt es Geburten, die nicht so ausgehen, wie
alle Beteiligten sich das wünschen. In so einem Fall ist es empfeh-
lenswert, im Nachhinein noch einmal mit den anwesenden Ge-
burtshelfern darüber zu sprechen. Bei mir gibt es einen lebens-
langen Gutschein zur Nachbesprechung der Geburt. Circa zehn
Prozent der Frauen nehmen diesen in Anspruch. Oft auch noch
Jahre später, zum Beispiel, wenn eine erneute Schwangerschaft

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Die abwartende Gelassenheit …

besteht. Es ist wichtig, mit einer Geburt im Reinen zu sein, sie


wirklich abgeschlossen zu haben. Dann erst kann eine weitere Ge-
burt anders laufen – besser werden.
Vielleicht noch ein Wort zum Thema Erwartungen. Erwartun-
gen können wundervoll sein, wenn sie erfüllt werden. Allerdings
serviert uns das Leben oftmals ein gänzlich anderes Menü, als das,
was wir bestellt haben. Je höher unsere Erwartungen waren, umso
größer ist im Zweifelsfall die Enttäuschung. Fast nichts ist so stör-
anfällig und unvorhersehbar wie eine Geburt, das heißt, Erwar-
tungen können leicht enttäuscht werden. Es ist also ratsam, sie
auf ein Minimum zu beschränken. Sich ganz und gar einzulassen
auf die Geburt, ist im Grunde das Einzige, was wirklich zum Ge-
lingen der Geburt beigetragen werden kann. Der willentliche Ge-
staltungsspielraum einer Geburt ist in Wahrheit denkbar gering.
Entscheidungsfaktoren wie Uterus, Kind, Plazenta, Umfeld und
das Unbewusste sind nicht wirklich zu beeinflussen. Zu hohe Er-
wartungen können eine positive Überraschung verhindern, denn
eine Überraschung ist ja im Grunde das Gegenteil einer Erwar-
tung. Eine positive Überraschung ist sozusagen eine übertrumpfte
Erwartung. Das funktioniert aber nur, wenn die Dinge kommen
dürfen.
Natürlich ist es gut, sich auf die Geburt vorzubereiten. Abge-
sehen davon geht es darum, sich einzulassen. Mitzuschwimmen.
Und bereit zu sein für das Unerwartete, Besondere  – neben all
der Qual, vielleicht wegen all der Qual. Die Dinge, die einem wie
auch immer zufliegen (unverdient), sind nur für die ganz Demüti-
gen von hohem Wert. Alle anderen werden über die Anstrengung
(oder eben die Qual) glücklich, wenn sie ein Ziel (doch noch) er-
reichen. Das Geschenkte ist wundervoll, das Erarbeitete und Er-
quälte erfüllend und beglückend. Eine geglückte Geburt ist nicht
zwangsläufig eine einfache Geburt. Es ist die Geburt der besonde-
ren, unerwarteten, ungewöhnlichen Begleitumstände. Also: Run-
ter mit den Erwartungen, hoch mit der abwartenden Gelassenheit!

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Die Geburt – eine Kraftquelle für Mutter und Kind

Eine Geburt bleibt eine besondere Leistung. Auch bei einem Kai-
serschnitt. Keine Frau muss sich deshalb schlecht fühlen, wenn
nichts anderes half und die Entscheidung nicht leichtfertig getrof-
fen wurde.
Jenseits der Erwartungen gibt es noch die Ziele. Ziele erreicht
man manchmal nur, wenn man sie auf dem Weg vergisst. Es ist
dennoch eine gute Idee, sich den Weg zum Ziel einzuteilen. Mal
einen Halt einzulegen, sich auszuruhen und sich generell nicht zu
übernehmen. Am Anfang geht vieles in großen Schritten – später
kann jeder Schritt zur Qual werden. Reinhold Messner hat dieses
Prinzip so beschrieben: Nicht den Mount Everest im Blick, son-
dern die Lager, die Tagesetappen, und schließlich die Stunden,
Minuten, Schritte – manchmal nur einen halben Schritt. Wehen
sind wie Schritte, zwischen Anstrengung und Pause. Sie erst
machen den Weg möglich, denn jeder Schritt, jede Wehe bringt
das Ziel näher. »Kleine Schritte, ein starkes Team und die Vor-
freude auf das Gipfelglück haben mir auf allen Bergen und bei der
Geburt meiner Kinder sehr geholfen«, so auch Extrembergsteige-
rin und Motivationscoach Helga Hengge. Eine Wehe ist wie ein
Minutenzeiger an der Uhr. Dieser teilt die Zeit ein, definiert Ge-
schafftes und das, was noch kommt. Und die Pause folgt immer –
wie der Atemzug am Berg. Zwei Drittel der Geburt sind Pausen!
Ein dauernder Wehenschmerz wäre kaum auszuhalten.
Nun sind Frauen aber auch nicht allein bei der Geburt. Auf die
Frage, wer oder was ihnen bei der Geburt am meisten geholfen
habe, geben die meisten Frauen die Hebamme und/oder den Part-
ner an. Beziehung hilft offenbar am besten. Erstaunlicherweise ge-
ben nur ganz wenige Frauen an, dass ihnen auch das Kind eine
Unterstützung war. Das überrascht mich immer wieder. Viele
Frauen haben offenbar das Gefühl, dass sie es ganz alleine seien,
die das Kind zur Welt brächten. Dass auch die Kinder bei ihrer Ge-
burt unterstützend wirken, wird nicht so häufig bemerkt. Sicher-
lich sind es mitunter ganz banale biologische Faktoren, die den

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Die abwartende Gelassenheit …

Verlauf einer Geburt bestimmen, doch zweifellos haben auch die


psychische Verfassung von Mutter und Kind und ihr Zusammen-
spiel einen Einfluss. Unser Denken und Fühlen kann die Dinge
beeinflussen, das haben uns die Neurobiologen gelehrt. Wir er-
reichen Ziele leichter und öfter, wenn wir daran glauben und
nicht ständig daran zweifeln. Der Glaube nicht nur an die eigenen
Fähigkeiten, sondern auch an das Kind und seine Möglichkeiten,
ist eine der wichtigsten Überzeugungen für eine gute Geburt. Er
macht Unmögliches möglich.

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Was Ihre eigene Geburtsgeschichte
mit der Geburt Ihres Babys zu
tun hat

Die Gebärkultur in einer Familie hat großen Einfluss darauf, wie


die Geburt des eigenen Kindes verlaufen wird. Denn alles, was
eine Frau zum Thema Geburt in ihrem Leben erfahren hat, hin-
terlässt eine Spur. Auch die eigene Geburt wird nicht vergessen
und bleibt für immer präsent  – wenn auch nicht bewusst. Wer
selbst leicht und unkompliziert geboren wurde, hat gute Chan-
cen, auf ebensolche Weise ein Baby auf die Welt zu bringen. Aber
der Umkehrschluss ist in diesem Fall eben leider auch oftmals
wahr: Wer selbst eine komplizierte Geburt mit Zange, Saugglocke
oder Kaiserschnitt erlebt hat, hat in seinem Körper kein positi-
ves Referenzmuster gespeichert, wenn es um das Thema Geburt
geht. Im schlimmsten Fall ist der Geburtsvorgang noch immer mit
einem Trauma belegt, das getriggert wird, sobald die ursprüng-
liche Traumasituation – oder etwas, das manchmal nur entfernt
daran erinnert – wieder aktuell wird. Im Alltag macht sich ein Ge-
burtstrauma meist nicht bemerkbar. Eine Frau wird also in der
Regel gar nicht wissen, dass ihr Körper Erfahrungen gespeichert
hat, die sie bei der Geburt überrollen können. Doch die Geburt ist
der Moment, in dem alles, was in diesem Zusammenhang erlebt
wurde, eine Rolle spielt.
Unsere Gesellschaft ist sich generell nicht im Klaren darüber,
welche tief greifenden Frühprägungen eine Geburt nach sich zieht.
Solche behindernden Körpererinnerungen werden dann zur Un-

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

zeit akut. Es wäre viel gewonnen, würde bei der ersten Vorstel-
lung bei der Hebamme oder beim Geburtshelfer die Geschichte
der eigenen Geburt thematisiert. Dann ist noch Zeit, sich even-
tuell bestehende Negativprägungen bewusst zu machen und Stra-
tegien zu entwickeln, um damit umzugehen oder sie aufzulösen.
Deshalb ist es auch so sinnvoll, bei der Anmeldung in der Ge-
burtsklinik mit einer Hebamme zu sprechen. Hier fällt es erfah-
rungsgemäß leichter, über Tabubesetztes zu reden als mit einem
Gynäkologen.
Auch bei einer Geburt vor 20, 30 oder 40 Jahren waren Ge-
burtseinleitung, Zange und Saugglocke an der Tagesordnung. Und
ebenso wurden Kaiserschnittgeburten damals auch schon nicht
mehr nur im Notfall durchgeführt. Aber auch, wenn wir noch wei-
ter zurückgehen, sehen wir, dass Mütter und Babys unter den Be-
dingungen rund um die Geburt zu leiden hatten. Babys wurden
zum Beispiel weggelegt und trotz stundenlangem Schreien nicht
hochgenommen. Auch dies hat Spuren bei den Kindern hinter-
lassen, die sie an ihre Nachkommen weitergegeben haben – und
zwar auf Genebene beziehungsweise in der Genexpression (siehe
nächstes Unterkapitel). Wir haben es mit Generationen von
Frauen zu tun, die mit einem Geburtstrauma behaftet sind, ohne
es zu wissen. Damit soll nun kein Schreckensszenario aufgebaut
werden, denn ganz offensichtlich ist die »Gebärkompetenz« ja so
stark, dass Frauen noch immer gebären »können«. Die Resilienz-
fähigkeit – die Fähigkeit, auch unter schwierigen Umständen das
Beste aus einer Situation zu machen – scheint beim Geburtsge-
schehen wichtig zu sein.
Wenn wir Geburten allerdings von unnötigen Komplikationen
befreien wollen, ist es höchste Zeit, die »Altlasten« anzuschauen
und aufzulösen. Wir dürfen jedoch auf keinen Fall dem Irrtum
verfallen, zu meinen, dass mit einer belasteten eigenen Vorerfah-
rung eine gute Geburt unmöglich sei. Geburt ist viel zu komplex,
um sich auf eine solche Formel reduzieren zu lassen. Und auch

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Was das Körpergedächtnis alles speichert

umgekehrt garantiert eine eigene problemlose Geburt keineswegs


zwangsläufig eine ebensolche bei den eigenen Kindern. Dies zu
folgern, wäre fahrlässig und viel zu kurz gegriffen.

Was das Körpergedächtnis alles speichert

Lange Zeit nahm die Wissenschaft an, dass sich Vererbung nur im
DNA -Code abspielen könne und daher auch strikt auf körperliche
Attribute beschränkt sei. Inzwischen wissen wir, dass es durch-
aus auch andere Möglichkeiten gibt, Erfahrungen von Generation
zu Generation weiterzugeben. Erforscht werden diese Möglich-
keiten in dem noch relativ jungen Feld der Epigenetik (die Vor-
silbe epi bedeutet im Griechischen über, außer oder höher – es ist
also eine außerhalb der DNA bestehende Genetik). Der deutsche
Biologe und Wissenschaftsautor Peter Spork nutzt zur Erklärung
dieses Verhältnisses Begriffe aus der Welt der Datenverarbeitung.
Während die DNA laut Spork vergleichbar ist mit der Hardware,
ist die Epigenetik so etwas wie die Software, die unserem Körper
sagt, welche Gene genutzt und welche ungenutzt oder abgeschal-
tet werden. »Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die
Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem
Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher
Zeit aktiv ist und welches nicht. (…) Die Werkzeuge des Epige-
noms sind sogenannte epigenetische Schalter. Sie lagern sich ge-
zielt an bestimmte Stellen des Erbguts an und entscheiden, wel-
che Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht.«4
Diese Epigenetik-Schalter reagieren auf Umweltfaktoren wie
Nahrung, Bindungsqualität, Hormone, Erlebnisse im Mutterleib,
Stress, Traumata, Nikotin, Alkohol, Drogen und vieles mehr. Weil
das so ist, hat der eigene Lebensstil eine sehr viel größere Be-
deutung, als wir bisher geglaubt haben. Auch deshalb, weil diese
Schaltungen von Generation zu Generation weitergegeben wer-

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

den. Der Lebensstil, die Erlebnisse und die Umweltbedingungen


unserer Großeltern wirken sich noch auf uns heute aus, ebenso
wie unser Lebensstil das Leben unserer Enkel mit beeinflussen
wird. Der Einfluss der Außenwelt auf die Genaktivität ist also sehr
weitreichend, was unsere körperliche und psychische Gesundheit
angeht.
Spork macht darauf aufmerksam, dass man noch vor Kurzem, in
Unkenntnis der Ergebnisse der epigenetischen Forschung, davon
ausging, dass Umwelteinflüsse wie Liebesentzug, Kultur oder die
Nahrung nur akut in das Verhalten, die Psyche oder das Hormon-
system eingreifen könnten. Man nahm damals noch an, dass die
Dauer eines Umwelteinflusses vom aktuellen Vorhandensein ab-
hängig sei. Würde also das Signal verändert, würde auch die Wir-
kung verschwinden. Dies lässt sich allerdings heute so nicht auf-
rechterhalten, so Spork. Ihm zufolge haben Zellen ein Gedächtnis,
das die Reaktionen auf die Umwelt speichert und das Epigenom
beeinflusst.
Offenbar ist es so, dass die ganz frühen Erfahrungen im Mutter-
leib, bei der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren besonders
starken Einfluss darauf haben, wer und wie wir später sein werden.
Viele dieser »Schaltungen« wirken sich allerdings erst viele Jahre
später aus, weshalb diese Verbindungen bislang nicht erkannt
worden sind. Sie finden ihren Niederschlag auch in Krankheiten
wie Diabetes, Krebs, Herzschwäche und Fettleibigkeit.
Wir können also sehr viel für die Gesundheit unserer Nach-
kommen tun, wenn wir heute gesund leben. Und es kommt noch
besser: Diese Verschaltungen sind nicht starr, sondern elastisch.
Sie können verändert werden – von uns selbst. Wir können un-
sere genetischen Programmierungen überschreiben oder auch
löschen, indem wir unseren Lebensstil verändern.
Auf diesem Gebiet wird derzeit sehr stark geforscht und die
Ergebnisse sind beachtlich. So ist es laut einer israelischen For-
schergruppe als erwiesen anzusehen, dass auch Traumata vererbt

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Was das Körpergedächtnis alles speichert

werden können. Grundlage dieser Erkenntnis ist eine Untersu-


chung über die Stressanfälligkeit von Kindern, deren Eltern den
Holocaust erlebt haben. Die Kinder selbst hatten keine trauma-
tischen Ereignisse erlebt, ihre Stressanfälligkeit war bemerkens-
werterweise jedoch ebenfalls erhöht. Die Forscher kamen auf-
grund einer speziellen epigenetischen Veränderung eines Gens,
das für die Stressregulation verantwortlich ist, zu dem Ergebnis:
Nachkommen von Holocaustopfern haben an demselben Gen eine
Veränderung, die bewirkt, dass sie empfindlicher auf Stressfakto-
ren reagieren. Die Forscher folgerten: »Zusammenfassend spre-
chen unsere Daten dafür, dass die physiologische Stressantwort
der Nachkommen stark traumatisierter Menschen generations-
übergreifend epigenetisch geprägt wird. Das kann zum erhöhten
psychopathologischen Erkrankungsrisiko der folgenden Genera-
tion beitragen«.5
Noch ist nicht abschließend geklärt, wie genau die Verer-
bung traumatischer Ereignisse stattfindet. Diskutiert wird in die-
sem Zusammenhang, ob der Stresshormonspiegel im Blut der
Schwangeren die Stress-Achse des Fötus anders prägt als bei an-
deren Kindern. Möglicherweise verändert das Trauma aber auch
die Epigenome der elterlichen Keimzellen, sodass die Anweisung
zur vorsorglichen Anpassung an eine extrem belastende Umwelt
direkt per Ei oder Spermium vererbt wird. Auf diese Weise könn-
ten Traumata von Generation zu Generation weitervererbt wer-
den. In Tierversuchen sind beide Varianten möglich. Wie diese
Vererbung von Traumata beim Menschen nun genau abläuft, muss
noch geklärt werden. Auf die Geburt bezogen bedeutet sie jeden-
falls nichts anderes, als dass eine Mutter, die selbst unter trau-
matischen Bedingungen zur Welt gekommen ist, diese Erfahrung
gespeichert hat und sie an ihre Kinder und Kindeskinder weiterge-
ben kann. Mit anderen Worten: Die Geburtserfahrungen (positive
wie negative) unserer Ahnenreihe wirken in uns als Programm.
Dies zu erkennen und zu verändern ist eine Aufgabe, der sich die

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

Geburtshilfe stellen muss. Daneben ist aber auch jede werdende


Mutter aufgerufen, ihr genetisches Erbe zu erforschen und gege-
benenfalls zu verändern. Dass dies möglich ist, zeigen die vielen
Fälle, in denen geburtstraumatisierte Frauen natürlich entbunden
haben.

Lieben, was IST  –


die Heilung eigener Wunden

Sich den eigenen Wunden aus der frühesten Kindheit – auch vor
und während der Geburt – zuzuwenden, braucht Offenheit und
Mut. Es ist sinnvoll, ein Schwangerschaftstagebuch zu führen. Die
Gedanken und Erinnerungen sind nicht nur im Moment hilfreich
(auch um gegebenenfalls mit der Hebamme darüber ins Gespräch
zu kommen), sondern sind auch noch nach Jahren eine schöne
Dokumentation zum Nachlesen. Spannende und wichtige The-
men für die Schwangerschaft sind zum Beispiel die Geburtsge-
schichten der weiblichen Linie. Je mehr in der Hebammensprech-
stunde erzählt wird, umso besser! Dazu gehören die Geschichten
der eigenen Mutter über die eigene Schwangerschaft. In welcher
Situation hat sie sich damals befunden, welche Herausforderun-
gen musste sie eventuell meistern? Wie war das Verhältnis zum
Vater? Und schließlich auch: Wie ist die Geburt verlaufen?
Hilfreich wäre grundsätzlich, einen alternativen Mutterpass
auszufüllen. Dazu gehört generell die Schilderung aller eigenen
erinnerbarer Erfahrungen mit dem Thema Fortpflanzung und
Geburt: Hatte die Schwangere vielleicht einmal einen Frühab-
gang oder eine Abtreibung? Womöglich gibt es Missbrauchser-
fahrungen oder eine Vergewaltigung? Bei Mehrfachgebärenden
sind selbstverständlich auch die Geschichten der ersten Gebur-
ten von Bedeutung. Wie bereits erwähnt, gibt es bei mir einen
lebenslangen Gutschein zur Nachbesprechung der Geburt, denn

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Lieben, was IST – die Heilung eigener Wunden

vieles kommt erst später hoch. Manchmal kommen Frauen noch


nach Jahren, weil ihnen etwas nicht aus dem Kopf gehen will. Erst
wenn alles verstanden ist, kann ein Erlebnis gut verarbeitet wer-
den. Manchmal aber braucht es auch die Erkenntnis, dass nicht
immer alles erklärbar ist und trotzdem angenommen werden
möchte. Es geht nicht um Bewertungen oder ungute Vergleiche.
Eine Geburt ist nur selten perfekt, sie läutet vielmehr den Ab-
schied von dem so weit verbreiteten Perfektionsstreben ein. Der
Verzicht auf Perfektion, der Umstand, sich vielleicht das erste Mal
im Leben hinzugeben, fallen zu lassen, mitzugehen und durch-
zuhalten – das alles sind Prozesse, die Gebären ermöglichen und
einen neuen Blick öffnen: Das Leben ist Entwicklung, und Neu-
gier auf alles Neue gehört dazu. Nach der Geburt beginnt tatsäch-
lich ein neues, ein anderes Leben. Das gilt auch schon für das Er-
leben der Geburt selbst.
Oft wünschen sich Frauen nach als traumatisch erlebten Ge-
burten einen Kaiserschnitt, um dieses Ereignis nicht wieder-
holen zu müssen. Damit berauben sie sich der Chance, durch
eine »Neuinszenierung« das Trauma zu bearbeiten und zu über-
winden. Denn der Kaiserschnitt heißt dann auch Vermeidung
und Verdrängung. Er setzt möglicherweise sogar noch ein wei-
teres Trauma oben drauf. In manchen Fällen mag er unumgäng-
lich sein. In vielen – meiner Erfahrung nach den meisten – Fällen
gelingt es aber, Frauen zu überzeugen, es doch noch einmal auf
natürlichem Wege zu versuchen. Und zwar unter der Vorausset-
zung, dass dieser Versuch jederzeit diskussionslos abgebrochen
werden kann. Das Motto für einen Geburtsversuch »über dem
Sprungtuch« ist dann: Du bekommst alles – aber zu seiner Zeit.
Es vermittelt, dass letztendlich nichts passieren kann. Und man-
che lernen zu schweben, gar zu fliegen, auch wenn es zunächst
unmöglich erscheint.
Um zu verhindern, dass Wunden aus frühester Zeit ihren Ein-
fluss auf Schwangerschaft und Geburt haben, ist es zunächst nötig,

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

zu wissen, was damals passiert ist. Das werden die Gespräche mit
den Eltern – hauptsächlich mit der eigenen Mutter – hoffentlich
geleistet haben. Aber, was wird dann mit dem Wissen gemacht?
Im Nachhinein kann schließlich nichts verändern werden. Das
Einzige, was verändert werden kann, ist die Art und Weise, wie
ein Ereignis bewertet wird.
Die Medizin kennt eine Forschungsrichtung, welche sich nicht
mit Krankheit und Störungen beschäftigt, sondern sich die Frage
stellt, unter welchen Bedingungen Menschen gesund bleiben. Die-
ses Forschungsfeld nennt man Salutogenese. Ein wichtiger Fak-
tor für Gesundheit scheint die Fähigkeit zu sein, die Dinge für
sich stimmig zu machen, beziehungsweise auch schwere Bürden
in sein Leben zu integrieren. So sind Menschen, die Niederlagen
und Verluste gut verkraften können, glücklicher im Alter. Dieses
Gefühl – oder eher diese Kompetenz – nennt man Kohärenz.
Das hat nichts damit zu tun, sich die Dinge einfach schönzure-
den. Nein, man nimmt sie in all ihrer Tragik und Widersprüchlich-
keit wahr, aber ohne daran zu verzweifeln. Dazu gehört ebenso die
Annahme des eigenen Lebensweges – zu dem selbstverständlich
in hohem Maße auch die eigene Geburt gehört. Dann ist es jedoch
wichtig, zu wissen, dass sobald sich etwas aus dem Unbewuss-
ten ins Bewusstsein gehoben hat, Veränderungen möglich sind.
Da geht es um die Entwicklung von Selbstbestimmung. Frauen
mit einem hohen Kohärenzgefühl neigen tendenziell eher dazu,
selbstbestimmt und natürlich zu entbinden. Nun ist Kohärenz
zwar etwas, was in der Kindheit erlernt wird, doch auch dort, wo
sie nicht vermittelt wurde, lässt sich das im Laufe des Lebens
nachholen. Unser Gehirn ist flexibel und kann neue Verhaltens-
weisen lernen und verankern. Eine wirksame Geburtsvorberei-
tung beginnt deshalb schon lange vor der Geburt, sogar lange vor
der Schwangerschaft.
Wer sich die Belastungen der Geburt stimmig machen kann,
wer den Sinn der Schmerzen erkannt hat, gewinnt Potenz und

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Lieben, was IST – die Heilung eigener Wunden

Kompetenz für die Geburt. Das Kohärenzgefühl zu entwickeln


und zu fördern, ist sicherlich auch eine Herausforderung für Ge-
burtshelfer und -vorbereiter.
In den meisten Fällen wird die Frau für die Entwicklung von
Kohärenz belohnt. Das Belohnungsgefühl hat Hormonausschüt-
tungen, Bindung, Glücksgefühle, Stolz, Potenz, Lebensbewälti-
gung und vieles mehr im Gepäck.
In gewisser Weise beinhaltet Kohärenz die Fähigkeit, seine
Lebensgeschichte im Sinne einer Selbstermächtigung zu interpre-
tieren. Man ist dann nicht mehr Opfer der Umstände, sondern
agiert auf Schöpferebene. Die Geburt ist der Moment, an dem die
Schöpfungskraft der Frau sich zeigt – und zwar in jeglicher Form.
Unsere Gedanken und Worte steuern und verändern unsere Hirn-
aktivität, ja sogar unser Gedächtnis. Deshalb ist es möglich und
sinnvoll (!), im Vorfeld der Geburt hinderliche Überzeugungen
und Erfahrungen zu verändern.
Wenn sich im Vorgespräch zur Geburt (am besten direkt beim
ersten Kennenlern-Gespräch mit der Hebamme) herausstellt,
dass es in der Familie oder in der eigenen Geschichte Erlebnisse
gibt, die nur schwer allein zu bewältigen sind, so ist das ein guter
Zeitpunkt, um sich professionelle, psychotherapeutische Hilfe zu
holen. Früher gab es die Auffassung, dass eine Psychotherapie
in der Schwangerschaft nicht sinnvoll sei, weil sich dabei even-
tuell Traumata zeigen und aktiviert werden, die zu einer zu gro-
ßen psychischen Belastung führen könnten. Das wird inzwischen
differenzierter gesehen. Wenn es Inhalte gibt, die geschützt wer-
den müssen, weil sonst alles auseinanderbricht, dann hält dieser
Schutz auch in der Schwangerschaft. Aber alles, was sich zeigen
mag, kann bearbeitet werden und belastet dann nicht mehr bei der
Geburt. Denn die Intensität der Geburt kann alte Wunden auf-
brechen: Kränkungen, Scheitern, Gewalt, Verluste, Niederlagen,
Schmerz. Das meiste bleibt unter der Oberfläche des Bewuss-
ten, es bewirkt aber trotzdem einen Wirbelsturm im Geburtsge-

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

schehen beziehungsweise legt ihn lahm. Das sind häufig die Si-
tuationen, in denen es zu einem Geburtsstillstand kommt, der
medizinisch nicht zu erklären ist und auch mit noch so viel We-
henmitteln nicht mehr in Gang gesetzt werden kann. Geburtsstill-
stand ist eine der häufigsten Indikationen zum Kaiserschnitt unter
der Geburt.
All dies ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten.
Wenn allerdings schon während der Schwangerschaft vorsichtig
versucht wird, ans »Eingemachte« zu kommen, und es verfügbar
und sichtbar zu machen, ergeben sich Bewältigungs- und Hand-
lungsoptionen. So wird eine Frau mit Gewalterfahrung eine an-
dere Form der Geburtsbegleitung wünschen, als eine, die andere
Schmerzerfahrungen hat. Ein Team kann sich dann besser darauf
einstellen und dadurch Retraumatisierungen verhindern. Hebam-
mensprechstunde und Geburtsgespräche mit psychosomatischem
Fokus haben hier eine besondere Bedeutung.
Es gibt inzwischen zahlreiche Richtungen der Traumatherapie,
sodass jede Frau die für sie passende finden kann. Der Heidelber-
ger Physiologe Johann Caspar Rüegg forscht seit Jahren an den
engen Verknüpfungen von Körper und Geist. Er schreibt: »Auto-
biografische Gedächtnisinhalte sind nicht unverbrüchlich fest-
gelegt. Wenn wir uns an etwas erinnern wollen, werden die Ge-
dächtnisspuren – die synaptischen Verknüpfungen im neuronalen
Ensemble – wieder labil, quasi verformbar und dabei möglicher-
weise sogar ›umgeschmolzen‹. Dank dieser Plastizität kann die
(…) Erinnerung gegebenenfalls durch neues Lernen unbewusst
modifiziert und mit anderen Erfahrungen oder Gedanken asso-
ziiert werden.«6 Sobald wir ein Ereignis neu bewerten, verändern
wir damit auch die Erinnerungsspuren daran. Geschieht dies wie-
derholt, können diese neuen Gedanken sogar Einfluss nehmen
auf das epigentische Programm und Schalter aktivieren oder still-
legen. Im Grunde liegt in unseren Wunden das größte Geschenk
und Potenzial. Wenn wir bereit sind, es auszupacken, es aus sei-

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Lieben, was IST – die Heilung eigener Wunden

ner Hülle von Schmerz und Vermeidung zu befreien, befreien wir


uns selbst und haben die Möglichkeit, neue Wege zu beschreiten.
Wenn wir in diesem Zusammenhang an die epigenetische For-
schung denken, so wird noch etwas anderes deutlich: Wir kön-
nen, indem wir unsere alten Wunden anschauen und versorgen,
das Leben unserer Nachkommen positiv beeinflussen und sie vor
alten Prägungen durch Schmerz und Ohnmacht bewahren!
Geburt ist immer auch eine Initiation (besonders die erste). Es
ist gleichzeitig die Geburt einer Mutter. Eine Frau, die selbst durch
Kaiserschnitt zur Welt kam, berichtet: »Das Urvertrauen und die
Sicherheit in dem Prozess des Geborenwerdens kannte ich ja gar
nicht in diesem Leben. Seit dieser Geburt [sie hat mit einer Heb-
amme zu Hause entbunden, A. d. Autors] habe ich eine völlig neue
Beziehung zur Erde, zum Boden, zum wirklich ›Hier-Sein‹ entwi-
ckelt. Seit ich D. zwischen meinen Beinen herausgepresst habe,
stehen meine Beine viel stabiler auf dem Boden und dies leitete
den inneren Prozess des Geerdetseins für mich ein.«7 Sie ist über-
zeugt davon, dass in den fünf Stunden, in denen die Geburt ihres
Sohnes sich in die Länge zog und es schwierig war, in denen sie
fast aufgegeben hatte, sie ihre eigene Geburt wiedererlebt, bezie-
hungsweise ver- und bearbeitet hatte.
Eine geglückte Geburt kann tatsächlich alte, übertragene oder
auch eigene Geburtstraumata lösen und den Weg frei machen für
einen neuen, gemeinsamen Start ins Leben. Dabei gibt es keinen
goldenen Standardweg, sondern es sind die Bedürfnisse und die
Gegebenheiten einer jeden Frau sehr individuell zu berücksichti-
gen. Es gibt Fälle, da kann dann auch ein Kaiserschnitt genau die
richtige Lösung sein.

Frau M. hat ihr erstes Kind, einen Sohn, in der 38. Schwanger-
schaftswoche im Mutterleib verloren. Die beiden folgenden voller
Angst verlaufenden Schwangerschaften enden in einem von ihr ge-
wünschten geplanten Kaiserschnitt in der 37. Woche. Nach ihren bei-

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

den Mädchen ist sie nun wieder mit einem Jungen schwanger. Sie
beschließt, diese Schwangerschaft psychotherapeutisch begleiten
zu lassen. Ihr großer Wunsch ist, sich von der Angst nicht so weit
bestimmen zu lassen, dass sie die ganze Geburtsplanung vorgibt.
Eigentlich wünscht sie sich eine normale Geburt, wie bei ihrem ers-
ten Sohn. Wünscht, dass dieses Kind ausgetragen wird, dass sich die
Angst ums Kind bei ihr »normalisiert«.
In wöchentlichen Therapiesitzungen gelingt es, sie mit ihren
Wünschen in Kontakt zu bringen und gleichzeitig die medizinischen
Risiken einer Spontangeburt nach zwei Kaiserschnitten abzuwägen.
Schlussendlich ist sie in der Lage, eigene Wehen um den Termin ab-
zuwarten. Allerdings stellt sich dann Panik ein und es muss wieder
ein Kaiserschnitt durchgeführt werden. Für diesen Fall war im Vor-
feld besprochen, ihn unter ganz anderen, bindungszentrierten Vorga-
ben durchzuführen. Genau das war auch möglich.
Frau M. schließt ihren gesunden Sohn tränenreich in den Arm. In
den Folgegesprächen sagt sie immer wieder: »Ich bin so froh, dass ich
das alles so gemacht habe. Und der Kaiserschnitt kam zum rechten
Zeitpunkt und war wirklich gut, so wie er ablief. So wie ich meine
Schwangerschaft und Geburt gestaltet habe, fühle ich mich geheilt
von meinem Trauma und meiner Angst. Ich kann jetzt meinen Kin-
dern – und mehr werden es bestimmt nicht – angstfrei begegnen und
ihnen eine noch bessere Mutter sein.«

Wie eine geglückte Bindung


einen Schutzraum für das ganze Leben gibt

Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist, darüber sind sich
Verhaltensforscher einig, die Urform, der Prototyp der Liebe.
Eine gute Entbindung begünstigt eine gesunde Mutter-Kind-Bin-
dung, denn im Moment der natürlichen Geburt werden sämtli-
che Hormone, die die Bindung unterstützen, im Höchstmaß aus-

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Wie eine geglückte Bindung einen Schutzraum für das ganze Leben gibt

geschüttet. Wenn einem Baby am Lebensanfang genügend Nähe


und Liebe gegeben wird, gehört das zu den besten Investitionen
für die Zukunft, die man einem Kind überhaupt mit auf den Weg
geben kann.
In diesem Zusammenhang ist nochmals auf das Hormon Oxy-
tocin hinzuweisen. Direkt nach der Geburt erreichen die Werte
dieses Bindungshormons Höchstwerte. Mutter und Kind ver-
lieben sich ineinander. Das Kind ist durch diese Hormondusche
wach und bereit, die Umwelt – sprich die Mutter und den Vater –
wahrzunehmen. Oxytocin stimuliert mütterliches und soziales
Verhalten, aber auch die Paarbindung. Eine Studie der schwedi-
schen Wissenschaftlerin Kerstin Uvnäs-Moberg hat im Tierver-
such gezeigt, dass die günstigen Wirkungen des Oxytocins, wenn
es in der Neugeborenenphase in genügendem Maße vorhanden
ist, lebenslang anhalten.8 Das heißt, Babys können stressige, an-
strengende Situationen besser bewältigen. Das ist sogar dann der
Fall, wenn die Mutter vorgeburtlich Stress hatte (was normaler-
weise negative Auswirkungen auf ein Baby hat). Zusammenfas-
send lässt sich sagen: Wenn genügend Oxytocin im Körper zirku-
liert, sind sämtliche Stresssituationen besser zu verarbeiten und
zu verkraften.
Der höhere Oxytocin-Level nach der Geburt bringt zudem Ent-
spannung, und manche Mütter fühlen sich dadurch auch etwas
benommen. In diesem Zustand erreichen emotionale Informati-
onen das Gehirn der Mutter leichter – Sachinformationen hinge-
gen werden nicht so intensiv aufgenommen. Das ist die häufig be-
schriebene Vergesslichkeit von jungen Müttern. Oxytocin schafft
eine positive Atmosphäre und ist auch dafür verantwortlich, dass
die Mutter die Strapazen der Geburt schneller vergisst. Was sie
behält – und zwar oft für immer – sind die ersten Momente mit
dem Baby, den Zauber der ersten Stunden. Diese Erinnerungen
helfen der Mutter, sich intensiv und liebevoll um ihr Kind zu küm-
mern.

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

Auch das Baby profitiert wie gesagt vom Oxytocin: Es hat weni-
ger Angst und ist nicht so schmerzempfindlich, Wunden heilen
besser und es nimmt besser zu. Oxytocin wird ausgeschüttet bei
Berührung, beim Stillen und bei der Wehentätigkeit (deshalb ist
auch ein Kaiserschnitt, ohne die Wehen abgewartet zu haben,
wahrscheinlich besonders ungünstig). Auch andere sensorische
Stimulationen wie Saugen, die Nahrungsaufnahme, Wärme, Licht
und massageartiges Streicheln (Babymassage) führen zu einer
erhöhten Konzentration von Oxytocin im Blut.
Nebenbei gesagt haben Oxytocinforscher auch herausge-
funden, dass es durchaus empfehlenswert ist, eine Hochzeitsfeier
so richtig schön emotionalisiert zu feiern. Bei einer Eheschließung
werden in der Regel ja zwei miteinander unvertraute Familien-
verbände vereint. Je mehr Emotionen dabei entwickelt werden, je
mehr Tränen der Rührung fließen, umso besser ist es. So wird auf
hormoneller Ebene sichergestellt, dass Kinder in einen wohlwol-
lenden Beziehungsrahmen hineingeboren werden.
Die Qualität der Bindung von Eltern und Kind bestimmt den
Aufbau des kindlichen Gehirns und seine Persönlichkeitseigen-
schaften. Zudem hat es Einfluss auf die Nutzung seiner Gene.
Insbesondere in der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit
werden Gene aktiviert oder abgeschaltet. Die Hardware des Ge-
hirns – das von Vater und Mutter ererbte Potenzial – wird in der
allerersten Zeit in Betrieb genommen oder eben nicht. In Tier-
versuchen konnte gezeigt werden, dass Rattenbabys, die gut be-
muttert wurden (viel geleckt, freier Zugang zur Bauchunterseite
zum Säugen), sich später in der Fellfarbe, der Körpergröße und im
Körperbau (fett oder schlank) von denen unterschieden, die eine
solche Fürsorge nicht erlebt hatten. Bei den gut bemutterten Rat-
tenbabys wurden überprüfbar andere Gene freigeschaltet als bei
denen, die vernachlässigt wurden. Das Erstaunlichste war aber
Folgendes: Nahm man die Rattenbabys von ihren nicht so gut ver-
sorgenden Müttern weg und gab sie in ein Nest von Kuschel-Rat-

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Wie eine geglückte Bindung einen Schutzraum für das ganze Leben gibt

tenmüttern, änderten sich ihre Fellfarbe und auch ihr Körperbau.


Dieser glich dann exakt dem des Nachwuchses der gut versorgen-
den Mutter. Das Gleiche wurde im umgekehrten Fall beobachtet.9
Karl-Heinz Brisch, der renommierte Bindungsforscher aus
München, ist überzeugt: »Mit einer sicheren Bindung werden die
Eltern große Freude an ihrem Kind haben, weil sicher gebundene
Kinder eine bessere Sprachentwicklung haben, flexibler und aus-
dauernder Aufgaben lösen, sich in die Gefühlswelt von anderen
Kindern besser hineinversetzen können, mehr Freundschaften
schließen und in ihren Beziehungen voraussichtlich glücklichere
Menschen sein werden.«10
Bindungsgefühle unterliegen nicht unserem Willen, sie ent-
sprechen einem komplexen, tief verwurzelten, emotionalen und
biologischen Sinn. Deshalb kann man sie auch nicht einfach »aus-
ziehen wie ein Hemd«. Unsere ersten Bindungserfahrungen be-
einflussen als Teil unserer inneren Welt unsere Gefühle zu uns
selbst und zu anderen. Die Lübecker Psychotherapeutin Bet-
tina Alberti widmet sich seit Jahren der Frage, welchen Einfluss
Schwangerschaft und Geburt auf die Bindungsqualität von Mut-
ter und Kind haben. Sie beschreibt wie neben allen aktuellen Le-
bensthemen die werdende Mutter auch eine eigene Geschichte in
sich trägt, die in ihr wirkt. Dies sind eigene Erfahrungen aus ihrer
vorgeburtlichen Lebenszeit und aus ihrer Kindheit. Das Erleben
einer Schwangerschaft und die Beziehungsaufnahme zum Kind
kann vergessene und verdrängte Gefühle dieser Zeit wieder wach-
rufen.11 Sich dessen bewusst zu sein und belastende Situationen in
diesem Zusammenhang zu klären, kann viel Positives für die zu-
künftige Mutter-Kind-Beziehung bewirken.
In der Interaktion zwischen Baby und Mutter gibt es ein viel
zitiertes Ping-Pong-Spiel. Sind Mutter und Kind gut gebunden,
kann die Mutter die Signale ihres Babys verstehen, sie verstär-
ken und bestätigen. Das Baby lernt durch die Interaktion mit der
Mutter und dem Vater oder einer anderen festen Bezugsperson

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Ihre eigene Geburtsgeschichte

und baut dementsprechend seine Welt auf. Gab es in der eige-


nen Säuglingszeit Defizite, wirkt sich das auch auf die Betreuung
der eigenen Kinder aus. In Elternschulen kann dieses Beziehungs-
spiel, das als Muster für alle späteren (Liebes-)Beziehungen fun-
giert, trainiert werden.

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Eine Entscheidungshilfe: Klinik,
Geburtshaus oder Hausgeburt

Eine Geburt braucht Intimität, denn der intimste Ort ist häu-
fig der sicherste. Das trifft auf einen Hightech-Kreißsaal nur in
Ausnahmefällen zu. Daher ist er aus dieser Sicht mitunter zum
falschen Ort geworden. Dennoch finden in Deutschland über
90 Prozent aller Geburten genau hier statt. Es gibt aber auch an-
dere Orte, Formen und Möglichkeiten, um sein Kind auf die Welt
zu bringen.

Die Geburt zu Hause

Seit fast vier Generationen sind Hausgeburten bei uns kaum noch
üblich. In der Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich der Geburts-
ort in westlichen Industrienationen mehr und mehr ins Kranken-
haus verlegt. Dabei wäre es grundsätzlich sicher falsch zu sagen,
eine Hausgeburt sei nicht empfehlenswert. Vier meiner Kinder
sind zu Hause zur Welt gekommen. Es geht bei so einer Entschei-
dung im Wesentlichen darum, sich selbst richtig einzuschätzen
und seine Schmerzbelastbarkeit zu kennen. Und natürlich muss
man sich klar darüber sein, dass es zu Hause schwer beherrsch-
bare, aber seltene Restrisiken gibt. Dies muss man mit den sub-
jektiven Vorteilen im Gespräch mit der Hebamme und der be-
treuenden Frauenärztin bzw. dem Frauenarzt abwägen. Natürlich

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Eine Entscheidungshilfe

sollte niemand sich zu einer Hausgeburt überreden lassen, denn


das Sicherheitsgefühl zu Hause wird manchmal auch zu hoch ein-
geschätzt.
Eine deutsche Studie mit 42 154 Hausgeburten, die im Auftrag
der Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe
e. V. (QUAG ) in den Jahren 2000 bis 2004 durchgeführt wurde,
kam – wie andere europäische Studien zuvor auch – zu dem Er-
gebnis, dass eine geplante Hausgeburt nach einer unproblemati-
schen Schwangerschaft ebenso sicher ist wie die Geburt in einer
Klinik. Wenn gut vorbereitet und begleitet, sind außerklinische
Geburten ähnlich sicher wie Klinikgeburten.12
Tatsache ist aber, dass in Deutschland nur ein bis zwei Prozent
aller Geburten außerhalb einer Klinik stattfinden.
Wer eine Geburt zu Hause plant, sollte ein soziales Umfeld
haben, das eine gute Unterstützung gewährleistet. Eine traditi-
onelle Wochenbett-Kultur gibt es ja nicht mehr. Früher war es
üblich, dass Frauen aus der Nachbarschaft und Verwandtschaft die
junge Mutter im Wochenbett mit Essen versorgten und sich um
ihren Haushalt kümmerten. Heute übernimmt größtenteils der
Vater diese Aufgaben.

Die Geburt im Geburtshaus

Hochburgen der Geburtshauskultur sind Berlin mit 1112 Geburten


im Jahr 2014 (neun Geburtshäuser), sowie Bayern mit 1334 Ge-
burten im Jahr 2014 (20 Geburtshäuser).13 So viele Geburten
hat auch eine große deutsche Klinik in einem Jahr. Eine Geburt
in einem Geburtshaus findet in einem kleineren, intimeren Rah-
men statt als in einer Klinik. Nach der Geburt gehen die Eltern mit
ihrem Kind gleich wieder nach Hause.
Zu den Gründen, weshalb sich Eltern entscheiden, zu Hause
oder in einem Geburtshaus zu entbinden, gehören nach einer

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Die Geburt in der Klinik

Hebammenumfrage die folgenden (und zwar in dieser Reihen-


folge): Selbstbestimmung, vertraute Hebamme, vertraute und an-
genehme Umgebung, eigene Geburtserfahrung (zum Beispiel:
Wie erlebe ich die Geburt?) und Sicherheitsbedürfnis. Besonders
viele Mütter aus Gesundheitsberufen entscheiden sich für eine
außerklinische Geburt.
Im Grunde gäbe es die Möglichkeit, Geburtshäuser in Kliniken
zu integrieren. Dann würden bei plötzlichen Notfällen die Trans-
portwege entfallen, was die Sicherheitslage natürlich sehr verstär-
ken könnte. Es lohnt sich immer, nachzufragen, ob es eine solche
Kooperation gibt und wie sie im Einzelnen aussieht.

Die Geburt in der Klinik

Die Fragen »In welche Klinik gehe ich zum Entbinden?« und
»Woran erkenne ich eine Klinik, die eine natürliche Geburt be-
vorzugt?«, gehören zu den wichtigsten Fragen einer Schwanger-
schaft. Und die Antworten darauf sollten nicht übers Knie gebro-
chen werden. Denn es gilt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer
zu einem der Infoabende in einer Klinik geht, sollte sich bereits im
Vorfeld mit der Philosophie des Hauses vertraut machen. Eventu-
ell ist es auch sinnvoll, einen eigenen Kriterienkatalog aufgestellt
zu haben, was man für wirklich wichtig erachtet, damit man sich
während der Geburt entspannen kann, sich wohlfühlt und in gu-
ten Händen weiß. Denn dies sind die Voraussetzungen für eine
gute Geburt. Hier einige Anregungen, welche Fragen ein solcher
Informationsabend beantworten sollte:

– Welche Kurse zur Geburtsvorbereitung werden angeboten?


(Es ist nämlich empfehlenswert, diese in der ausgewählten
Geburtsklinik zu belegen, weil einem dadurch das Umfeld
schon vertrauter wird.)

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Eine Entscheidungshilfe

– Kann ich meine eigene Beleghebamme mitbringen?


(Wer seine eigene, vertraute Hebamme mit in die Klinik
nehmen kann, erlebt natürlich eine gute Kontinuität in der
Begleitung und Betreuung. Vier Wochen vor der Geburt be-
ginnt die Rufbereitschaft einer Beleghebamme. Dann ist sie
rund um die Uhr erreichbar.)

– Gibt es eine Hebammensprechstunde bei der Anmeldung


zur Geburt?

– Wie hoch sind die medizinischen Interventionsraten (Damm-


schnitt, Saugglocke) – insbesondere die Kaiserschnittrate?

– Wie hoch ist die Kaiserschnittrate, wenn bereits per Kaiser-


schnitt entbunden worden ist?

– Werden Kaiserschnitte geplant oder erst nach Wehenbeginn


vollzogen?

– Wie ist das Bonding-Konzept der Klinik?

– Stehen für die Geburtshilfe rund um die Uhr erfahrene Ge-


burtshelfer zur Verfügung?

– Ab welchem Tag der Terminüberschreitung werden Gebur-


ten eingeleitet?

– Ist die Geburtshilfe hebammen- oder arztgeleitet?

– Wie ist der Personalschlüssel (insbesondere der Hebam-


men)? Wie viele Geburten hat eine Hebamme gleichzeitig
zu betreuen? (Der Hebammenverband zum Beispiel fordert,
dass eine Hebamme im Jahr nicht mehr als 120 Geburten be-
treut. Das ist in Norwegen Standard.)

– Wird die Beckenendlage natürlich entbunden? Auch bei


Zwillingen?

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Die Geburt in der Klinik

– Ist ein Hebammenwechsel auf eigenen Wunsch möglich?


(Wenn die »Chemie« zwischen Hebamme und Gebärender
nicht stimmt, kann dies sinnvoll sein.)

– Kann die Klinik psychische Störungen nach der Geburt be-


gleiten und behandeln, oder ist sie zumindest in einem Netz-
werk organisiert?

– Wird eine Nachbesprechung der Geburt angeboten?

– Wie hoch ist die Verlegungsrate von reifgeborenen Neuge-


borenen in die Kinderklinik? Ist ein Kinderarzt vor Ort?

Und grundsätzlich sollte geklärt werden:

– Ist die Klinik zertifiziert als babyfreundliches Krankenhaus?

– Welche Ausstattung hat der Kreißsaal? Gibt es Gebärhocker,


Deckenseile, Pezzibälle und ein Multifunktionsbett?

– Gibt es im Kreißsaal eine Geburtsbadewanne? Wenn ja, gibt


es Einschränkungen, wer dort hinein darf? Welche sind das?

– Gibt es ein Wehen- oder Familienzimmer, sodass man sich


mit dem Partner noch einmal zur Ruhe legen kann, wenn der
Muttermund noch nicht weit genug geöffnet ist?

– Gibt es nach der Geburt Rooming-in?

– Gibt es flexible Frühstücks- und Abendessenszeiten?

Jenseits aller Faktenanalysen ist für die Wahl der Klinik letztlich
entscheidend, ob sich die Schwangere dort aufgehoben fühlt und
den Eindruck hat, dass die Chemie mit den Geburtshelfern vor
Ort stimmt. So sinnvoll es in anderen Bereichen sein kann, auf
Mund-zu-Mund-Propaganda zu hören, ist das bei der Auswahl
einer Geburtsklinik nicht unbedingt ein entscheidendes Krite-

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Eine Entscheidungshilfe

rium. Denn selbst die beste Freundin kann unter Umständen ganz
andere Bedürfnisse bei der Geburt haben als man selbst. Auf sich
selbst und die eigene innere Stimme zu hören, ist generell eine
gute Entscheidung – bei der Auswahl des Geburtsortes ist es ein
Muss.

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Damit es keinen Schnitt
im Leben gibt – Sinn und Unsinn
des Kaiserschnittes

Welche Gründe gibt es für einen Kaiserschnitt?

Wenn es um die Frage »Kaiserschnitt – ja oder nein?« geht, sollte


unterschieden werden zwischen Gründen, die bereits vor der Ge-
burt diese Entbindungsform nahelegen, und solchen, die sich erst
im Verlauf der Geburt ergeben. Im ersten Fall spricht man des-
halb von einem primären Kaiserschnitt, im zweiten Fall von einem
sekundären Kaiserschnitt.
Zunächst einmal zu den Gründen, warum eine Frau sich von
vorne herein auf einen Kaiserschnitt festlegen sollte. Aus medizi-
nischer Sicht sind das die folgenden:

– Plazenta praevia (wenn der Mutterkuchen (Plazenta) ganz


oder teilweise vor dem Muttermund liegt und ihn dadurch
verdeckt)

– Eine »eingewachsene« Plazenta (gibt es gehäuft nach voraus-


gegangenen Kaiserschnitten)

– Erstmalig aktiver Herpes im Genitalbereich zur Zeit der Ge-


burt

– HIV -Infektion der Mutter

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

Diese medizinischen Gründe zwingen mitunter zur Planung


eines Kaiserschnittes. In allen anderen Fällen, in denen man sich
nach reiflicher Überlegung entschlossen hat, operativ zu entbin-
den (zum Beispiel bei Beckenendlage, Querlage, Zwillingen, nach
Uterusoperationen, bei einem zu großen Kind) kann man ohne
medizinisches Risiko oder Nachteil auch auf den Geburtsbeginn
warten. Dies hat nicht nur psychologische Vorteile, sondern auch
medizinische. Es gibt so weniger anpassungsgestörte Babys, und
Bonding und Stillen verlaufen erfolgreicher und problemloser.
Natürlich können sich auch während der Geburt Situationen
entwickeln, die einen Kaiserschnitt notwendig machen können:

– Plazentaablösung

– Uterusruptur (bei einem Wiederholungskaiserschnitt)

– Nabelschnurvorfall

– Sauerstoffmangel des Kindes

– Geburtsstillstand (wenn also die Eröffnungsphase des Mut-


termundes über Stunden nicht vorangeht)

– Eine falsche Einstellung des vorangehenden Teils des kind-


lichen Körpers im mütterlichen Becken

– Missverhältnis zwischen Kopf und Becken

Und dann gibt es ja auch noch den »Wunschkaiserschnitt«, für den


die Gebärende persönliche Gründe hat. Hier möchte ich anmer-
ken, dass es sich wahrscheinlich niemand wünscht, aufgeschnit-
ten zu werden, sondern sich zwischen zwei Übeln für das vermu-
tet Kleinere – nämlich den Kaiserschnitt – entscheidet. Wenn Sie
bis hierher gelesen haben, wissen Sie, was ich in so einem Fall
rate. Die Frau sollte diesen Wunsch noch einmal genau betrach-
ten und sich fragen: Wo kommt er her? Ist der Wunsch wirklich

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Welche Gründe gibt es für einen Kaiserschnitt?

mein Wunsch? Wer im Internet sucht, findet viele Risiken, die


einen Kaiserschnitt ratsam erscheinen lassen. Doch das ist nicht
zwangsläufig richtig. Eine einmal festgestellte Risikoschwanger-
schaft (wobei auch hier noch zu hinterfragen wäre, weshalb die-
ses Etikett überhaupt vergeben wurde) dient oft schon für sich
genommen als »Grund«.
In Wahrheit ist nur ein kleiner Teil der vermeintlich sicheren
und nachvollziehbaren Kaiserschnittindikationen medizinisch
wirklich sinnvoll. Wer genauer hinschaut, nachfragt und hinter-
fragt, wird den wahren Grund für den Wunsch nach einem Kai-
serschnitt finden. Die häufigsten Gründe sind aus meiner Sicht
folgende:

– Angst vor Kontrollverlust

– Angst, ausgeliefert und nicht beteiligt zu sein

– Angst vor dem Unbekannten

– Angst vor dem Nichtplanbaren

– Angst vor den Schmerzen der Geburt

– Angst vor der Erinnerung an alte Schmerzen und Wunden

– Angst vor dem nicht Vorhersehbaren

– Angst, zu scheitern

– Angst vor Langwierigkeit und Anstrengung

– Angst vor körperlicher Veränderung durch die Geburt

Alle diese Gründe haben oft miteinander zu tun oder sind Facetten
ein und desselben Phänomens, nämlich von gefühlter Schwäche
und schambesetzter Vermeidungsstrategie. Wenn es dem Ge-
burtshelfer oder der Hebamme gelingt, das zu enttarnen und an-
zusprechen, Verständnis dafür zu zeigen und sich einzufühlen,

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

dann ist es am ehesten möglich, die dahinterliegende Stärke und


Potenz, den Wunsch nach Entwicklung und Überwindung eigener
Defizite freizulegen und zu entfesseln.
Gelingt dies nicht, sitzt das Leiden meist so tief, dass der Kai-
serschnitt vielleicht tatsächlich die sinnvolle Alternative zu einer
natürlichen Geburt ist. Der tiefere Grund – was immer er auch
sein mag – ist dann die psychosoziale Indikation für eine Sectio.
Und das hat mit Wünschen nichts mehr zu tun.

Frau S. sitzt vor mir, sie bekommt ihr zweites Kind. Sie ist jetzt in der
36. Schwangerschaftswoche. »Ich brauche einen Kaiserschnitt«, sagt
sie. Ich betrachte mir den Mutterpass und stelle fest, dass Frau S. das
erste Kind offenbar völlig unkompliziert geboren hat. Ich befrage sie
ausführlich zur ersten Geburt. »Jesse«, sagt sie, »wurde innerhalb
von drei Stunden geboren, es gab keine Geburtsverletzungen. Trotz-
dem war die Geburt das Schlimmste, was ich je in meinem Leben
erlebt habe. Ich fühlte mich wie von einer Dampfwalze überrollt.«
Sie erzählt von kaum wahrnehmbaren Wehenpausen. Für eine Peri-
duralanästhesie war es irgendwann zu spät. Es war für sie ein Alb-
traum. »Nein, an der Betreuung lag es nicht, die war gut«, sagt sie,
»aber ich war völlig außer Kontrolle. Ich möchte das nicht noch ein-
mal erleben«.
Ich erkläre Frau S., dass ich das alles sehr gut nachvollziehen
könne. Schnelle Geburten sind mitunter belastender als die zähen
und langwierigen. Das, was sich viele wünschen, eine schnelle und
unkomplizierte Geburt, wird, selbst wenn sie nach außen so aussieht,
keineswegs von der Gebärenden immer so erlebt. Insbesondere dann,
wenn die Frau den reibungslosen und schnellen Ablauf so nicht er-
wartet hatte oder etwas erlebt, was ganz anders ist, als das, was sie
sich vorgestellt hat, entsteht oft eine große Traurigkeit, mitunter so-
gar ein Trauma.
Nur schwer lässt sich Frau S. von ihrem Wunsch nach einem
geplanten Kaiserschnitt abbringen. Ich verspreche ihr, dass wir zu

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Welche Gründe gibt es für einen Kaiserschnitt?

jeder Zeit das von ihr Gewünschte tun, doch gleichzeitig bitte ich sie
inständig, sich wenigstens eingangs auf eine natürliche Geburt ein-
zulassen.
Sie zögert lange, versteht aber, dass auch ein Kaiserschnitt ein
Trauma bedeuten kann und auch, dass die bei der ersten Geburt ent-
standene psychische Wunde möglicherweise nur heilen kann, wenn
sie noch einmal die Chance ergreift, ein halbwegs positives Geburts-
erleben zu haben. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass die Ge-
samtbilanz des Gebärens befriedigend ausfällt, eine Möglichkeit, die
durch einen geplanten Kaiserschnitt vielleicht vertan wäre.
Frau S. erscheint bei der zweiten Geburt relativ früh in der Klinik.
Sie erhält auf Wunsch eine PDA . Die Geburt nimmt in jeder Hin-
sicht einem normalen Verlauf und Frau S. ist am Ende stolz und
glücklich, sich gegen einen Kaiserschnitt entschieden zu haben.

Ein Geburtsprotokoll sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie


die Frau die Geburt erlebt. Das wurde in dem Fallbeispiel schon
deutlich. Dies wird von ganz anderen Faktoren bestimmt. Das,
was wir Geburtshelfer von außen als traumatisch erleben, muss es
überhaupt nicht sein und umgekehrt. Das Problem bei dem oben
geschilderten Fall ist auch, dass die offenbar als traumatisch erlebte
erste Geburt nicht ordentlich nachbesprochen, aufgearbeitet oder
unter Umständen sogar therapiert wurde. Sie wurde unverpackt
in die Schublade gelegt und kam dann erst am Ende der zwei-
ten Schwangerschaft relativ dramatisch wieder zum Vorschein. So
etwas lässt sich durch Nachbesprechungen der Geburt vermeiden.
Hier sind sowohl die unmittelbaren als auch die mittelbaren Ge-
burtshelfer, die die Nachsorge übernehmen (Hebammen, behan-
delnde Gynäkologen), gefragt. Vielleicht könnte man ähnlich dem
Screening zur Wochenbettdepression auch ein gutes und einfa-
ches Befragungskonzept zur Erkennung von Geburtstraumatisie-
rungen entwickeln.
Meine Erfahrung ist, dass sich nach solch einer Geburtsnach-

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

besprechung ca. 80 Prozent der Frauen doch noch auf den Ver-
such einer zweiten Geburt einlassen und nur 20 Prozent weiterhin
einen Kaiserschnitt wünschen. Ein Großteil der Frauen entbindet
dann überraschend gut und unkompliziert. Re-Traumatisierungen
sind selten und eher ungewöhnlich. Frauen, die den Kaiserschnitt
bekommen, sind auch zufrieden, tragen aber möglicherweise ein
Leben lang an den schlimmen Erfahrungen der ersten Geburt.
Dies ist so oder so vermeidbar.
Natürlich ist ein Kaiserschnitt manchmal eine wichtige Option.
Er sorgt immer wieder dafür, dass Kinder nicht völlig erschöpft,
überfordert und unbotmäßig gestresst zur Welt kommen und da-
nach nicht nur überwacht, sondern womöglich auch noch von der
Mutter getrennt in eine Kinderklinik verlegt werden müssen. In
diesen Fällen kann ein Kaiserschnitt sogar bindungsfördernd sein
und dann müssen auch die Nachteile in Kauf genommen werden –
trotzdem stimmt die Bilanz.
Man kann davon ausgehen, dass Frauen, die das bekommen,
was sie erwartet haben, auch ein gutes Geburtserleben haben. Wer
den gewünschten Kaiserschnitt bekommt, schneidet dann viel-
leicht fast genauso gut ab wie die Frauen, welche die gewünschte
Normalgeburt erleben. Aber eben nur fast so gut.
Und wenn denn nun der Kaiserschnitt ein Evolutionssprung
wäre, wie es einer meiner Kollegen einmal formulierte? Frauen
werden älter, die Kinder größer, die Ansprüche steigen. Vielleicht
hat die Evolution Kultur vorgesehen? Und die behilft sich mit
Operationen. Überzüchtete Tierarten werden auch per Sectio ent-
bunden, sonst würden sie nicht überleben. Gilt das auch für uns?
Sind wir womöglich auch schon überzüchtet? Vielleicht ein Stück
weit ja. Möglicherweise sind wir schon so weit jenseits vom Ge-
bären, dass der Kaiserschnitt ein Zwischenschritt auf dem Weg in
die Retorte ist. Doch es gilt, alle uns bekannten Szenarien durch-
zuspielen, bevor wir die Geburt zur Disposition stellen. Leitlinien
gehen mit Empfehlungen zur Intervention derzeit noch relativ

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Warum der Kreißsaal zum Hochsicherheitstrakt werden kann

sorglos um  – allein die Kinderärzte melden Bedenken zum ge-


planten Kaiserschnitt und zu Geburtseinleitungen an.
Übrigens hat besagter Kollege, der sich so für den Kaiserschnitt
einsetzt, auch einen hebammengeleiteten Kreißsaal. Für alle, die
eine »unzeitgemäße Spielwiese« bevorzugen. Direkt daneben aber
befindet sich der Operationssaal.

Warum der Kreißsaal


zum Hochsicherheitstrakt werden kann

Geburtshilfe ist zu einer großen Herausforderung geworden. Ein


gesundes Kind ist – besonders wenn Paare sich nur ein Kind wün-
schen – das höchste Gut. Und der Glaube, dass ein behindertes Kind
nur das Ergebnis ungenügender Diagnostik, Selektion und Vor-
sorge ist, ist weit verbreitet. So sucht man heutzutage die Verant-
wortung für behinderte Kinder bei unverantwortlichen Eltern oder
gewissenlosen Geburtshelfern. Wer wirklich wissen möchte, was
hinter so manch merkwürdig erscheinender Erfahrung im Gesund-
heitssystem steckt, den lade ich ein, dieses Kapitel zu lesen. Wer für
politische Hintergründe nur wenig übrig hat, mag es überspringen.
Nicht nur Eltern, auch Krankenkassen suchen heute bei jedem
vermuteten Kunstfehler in der Geburtshilfe nach dem Schuldigen.
Haftpflichtsummen explodieren und sind für kaum jemanden
noch tragbar. Gerade da, wo nachweislich wegen guter Betreu-
ung weniger Kaiserschnitte anfallen – im Geburtshaus, mit Be-
leghebammen und natürlich auch bei einer Hausgeburt – finden
immer weniger Geburten statt, da selbstständige Hebammen we-
gen extrem hoher Haftpflichtprämien ihren Beruf nicht mehr aus-
üben können. Andererseits zieht man sich in den Kliniken mehr
und mehr auf das vermeintlich sichere Terrain der Interventionen
zurück. Haftpflichtversicherer sagen mitunter frank und frei, dass
man ihretwegen gar nicht genügend Kaiserschnitte machen kann.

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

Ein weiteres Problem ist der Vorgabenkatalog, wie und über


welche Risiken die werdenden Eltern aufgeklärt werden müssen.
Hier müssen umfassend auch seltene Komplikationen benannt
werden. Das verunsichert natürlich enorm und lässt Eltern oft
keine Wahl, als sich für den vermeintlich risikoärmeren Weg zu
entscheiden. Geburtshelfer, die eine entängstigende Aufklärung
pflegen, laufen in diesem System immer Gefahr, dass man ihnen
Verharmlosung vorwirft. Das betrifft auch Geburtshelfer, die zum
Beispiel auf Nachfrage bestätigen, dass sie selbst die erwähnte
Komplikation im Laufe eines langen Berufslebens noch nicht er-
lebt haben.
Die hohen Kosten für eine Geburt veranlassen zudem die Ver-
waltungen der Krankenhäuser, den Verantwortlichen ihrer ge-
burtshilflichen Abteilungen genau auf die Finger zu sehen. Häu-
fen sich Haftpflichtanfragen, wird sogar schon mit Kündigung
gedroht.
Es herrscht also ein Klima der Angst in den Praxen und Kreiß-
sälen, das sich auch auf die Klienten überträgt. Das Internet tut
dann noch mal das Seine dazu, um die werdenden Eltern zu ver-
unsichern, und so schwinden Zuversicht und Selbstvertrauen und
die Angst wird handlungsbestimmend. Der Glaube »es wird schon
gut gehen« weicht in solch einem Klima der Sorge »es kann immer
etwas passieren«. Selbst viele Hebammen sind heute mit dieser
Sorge infiziert. Ein Haftpflichtfall kann das Ende der eigenen Be-
rufstätigkeit bedeuten, ist mit jahrelangem Ärger verbunden und
bedeutet fast immer die Auseinandersetzung mit der Frage nach
der persönlichen Schuld. Der Kreißsaal ist zu einer Intensivstation
geworden, auf der alle pathologischen Szenarien stets geprobt, er-
wartet – und damit leider oft auch provoziert werden.
Nicht unproblematisch erscheint mir in diesem Zusammen-
hang auch das neue Patientenrechtegesetz. Es ist einerseits si-
cher begrüßenswert und sinnvoll, doch andererseits bedeutet die
Rechtsstärkung mit Beweislastumkehr, dass die Hemmschwelle

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Warum der Kreißsaal zum Hochsicherheitstrakt werden kann

juristisch vorzugehen sinkt. Das wird die Defensivmedizin weiter


vorantreiben. Und genau hier sehe ich auch das Hauptproblem für
die Geburtshilfe. Auf diese Weise machen sich ehemals amerika-
nische Verhältnisse breit. Das macht Angst. Angst kann zwar vor
Gefahr schützen, aber nur, wenn man sie nicht hinter jeder Ecke
vermutet. Dies jedoch wird die Folge sein und dann entfernt sie
sich immer weiter von ihrer ursprünglichen Aufgabe.
Im Kreißsaal sind Respekt, Demut und ein ausgeprägtes Ver-
antwortungsgefühl gute und wichtige Begleiter. Wenn allerdings
ständig von Schuld die Rede ist, werden archaische Urformen der
Kränkung bedient, bei der das Thema Angst eine Negativspi-
rale steter Verunsicherung hervorruft. Damit ist niemandem ge-
dient! Außerdem werden bei der Rechtsprechung nur unmittel-
bare Gründe überprüft. Indirekte, aber bedeutsame Kausalketten
werden nicht berücksichtigt.
Ein Beispiel: Bei einer schweren Blutung beim dritten Kaiser-
schnitt könnte man zunächst sein Augenmerk auf die Frage rich-
ten, ob denn das unmittelbare Eingreifen korrekt war. Des Wei-
teren sollte aber auch dringend hinterfragt werden, weshalb es
überhaupt zu diesem Drama kommen konnte. Da würde man dann
wahrscheinlich schnell feststellen, dass das Problem mit dem Mut-
terkuchen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Folge der vorausge-
gangenen Kaiserschnitte war. Folgerichtig müsste man dann diese
Indikationen noch einmal überprüfen. Das macht aber keiner!
Erst wenn diese Kausalketten berücksichtigt und auch mittel-
bare und langfristige Folgestörungen in den Blick genommen
würden, könnte es ein Umdenken geben. Erst dann wäre in der
Rechtsprechung auch das Prinzip der Nachhaltigkeit angemessen
vertreten.
Wichtig wäre aber auch, die für alle Seiten entwürdigenden oft
jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen abzukürzen. Das
wäre eine Entlastung für alle: die Gerichte und die Betroffenen –
und das sind Kläger und Beklagte in gleicher Weise. Große Sum-

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

men fließen derzeit in einen eigenen »Wirtschaftszweig«, in dem


sich Juristen und Gutachter eingerichtet haben. Und Geschädigte
kommen bei aller Berechtigung erst sehr spät und eingeschränkt
an ihr Geld. Zudem sollte es nicht mehr nur heißen: »Im Zweifel
für den Angeklagten«, sondern auch: »Im Zweifel für den Geschä-
digten«. Länder wie Österreich und Frankreich versuchen solche
Wege zu gehen. Hoffentlich lässt sich auch in Deutschland so eine
Lösung finden.
Bitte nicht missverstehen! Natürlich muss alles dafür getan
werden, dass eine Familie nach der Geburt an Leib und Seele ge-
sund nach Hause geht. Doch genau darum geht es mir. Das Ziel
muss sein, dies mit möglichst wenig Intervention zu erreichen.
Unendlich viele Frauen werden bestraft, damit  – wenn über-
haupt – in meist nur einem von 1000 Fällen ein besseres Ergebnis
durch einen Kaiserschnitt erzielt wird. Eine Folge für die anderen
999 Fälle kann es sein, dass ein Kind wegen der vorausgegange-
nen Intervention zu Schaden kommt. Denn der Kaiserschnitt ist
vor allem eines: eine Gefahr für Mutter und Kind bei der Folge-
geburt.

Risiken, Nebenwirkungen und Folgen


für Mutter, Kind und Gesellschaft

Man glaubt es kaum, aber in Amerika ist es inzwischen üblich,


Frauen, die sich einen Kaiserschnitt wünschen, zu fragen, ob sie
denn vorhaben, nur ein Kind zu bekommen. Mit der Zunahme
der Schnittentbindungen (inzwischen kommen mehr als 30 Pro-
zent der Kinder in Deutschland per Kaiserschnitt zur Welt) häufen
sich natürlich auch bei uns die Erkenntnisse über die kurz-, mittel-
und langfristigen Folgeprobleme. Sanfter Kaiserschnitt hin oder
her, es bleibt immer eine Narbe zurück und die kann Probleme
bereiten. So kann die Wundheilung verzögert sein, die Wunde

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Risiken, Nebenwirkungen und Folgen für Mutter, Kind und Gesellschaft

kann sich entzünden oder sogar eitern. Möglicherweise ist sogar


eine erneute Öffnung der Narbe notwendig. Aber auch jenseits
der Narbenproblematik bedeutet der Kaiserschnitt für eine Frau
immer ein Zusatzrisiko: Das Risiko, bei der Geburt zu sterben, ist
erhöht (Narkosekomplikationen, Herz-Kreislauf-Versagen bei un-
erkannten Herzproblemen). Zudem können vorkommen: Bauch-
fellentzündungen, Entzündungen der Gebärmutterschleimhaut,
Blutarmut, Thrombose, Organverletzungen an Blase oder Darm,
Darmverschluss, Blutvergiftung sowie Lungenembolie. All dies ist
selbstverständlich ein großes Hindernis, wenn es darum geht, die
erste Zeit mit dem Kind zu genießen.
Auch für das Kind ist ein Kaiserschnitt keineswegs die optimale
und schonendste Lösung. Im Gegenteil, wahrscheinlich würde es
sich eine normale Geburt wünschen, denn danach kann es bei der
Mutter bleiben, bonden und gleich an die Brust. All dies wird auch
beim Kaiserschnitt probiert, aber wesentlich seltener und weni-
ger intensiv. Außerdem fehlt die hormonelle Unterstützung. Nach
einem geplanten Kaiserschnitt ist ein Kind häufig gestresster.
Möglicherweise profitiert auch das Darm- und Immunsystem
des Kindes von der Tatsache, dass es bei der Geburt mit mütter-
lichen Keimen in Berührung kommt. Diese haben eine wichtige
Funktion für die Arbeitsweise des zunächst sterilen Darms. Jeder,
der schon einmal Durchfall hatte, weiß, dass dies meist mit einer
gestörten Darmflora zu tun hat. Und die gilt es schnell wieder her-
zustellen. Eine gesunde Darmflora schützt das Baby aber nicht nur
vor lebensbedrohlichen Durchfällen, sondern der Darm und seine
Bakterien scheinen auch eine große Rolle bei der Ausbildung des
Immunsystems zu spielen. Dieses entwickelt sich ja maßgeblich
erst nach der Geburt – natürlich auch durch den positiven Ein-
fluss des Stillens.
Kaiserschnittkinder hinken im Hinblick auf ihre Entwicklung
der Darmflora den normal entbundenen Kindern drei Monate hin-
terher. Und diese ersten drei Monate sind eine ganz wichtige Zeit.

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

Man kann also vermuten, dass alle Störungen, welche direkt oder
indirekt mit dem Immunsystem zusammenhängen, nach einem
Kaiserschnitt wahrscheinlicher auftreten. Das gilt auch für Aller-
gien und vermutlich ebenfalls für Diabetes, Asthma und rheuma-
tische Erkrankungen aller Art. Und es ist gut möglich, dass diese
Erkenntnisse nur die Spitze des Eisberges sind. Erst in 10–20 Jah-
ren werden wir mehr wissen, im Grunde können erst dann die
Fragen nach dem Sinn der natürlichen Geburt genauer beantwor-
tet werden.
Und dann sind da noch die Folgen für die Mütter: Frauen, die
sich nach einem Kaiserschnitt ein weiteres Kind wünschen, haben
öfter Probleme, erneut schwanger zu werden. Denn offenbar fin-
det das befruchtete Ei seltener einen sicheren Nährboden und so
häufen sich Einnistungsstörungen des Mutterkuchens, Frühge-
burten und sogar Totgeburten. Ganz abgesehen von den eventuell
traumatischen Erinnerungen an den ersten Kaiserschnitt, die auf
einer unbewussten Ebene dazu führen können, dass es zu keiner
erneuten Schwangerschaft mehr kommt.
Eine Einnistung des Mutterkuchens rund um den Narben-
bereich kann dazu führen, dass dieser sich so lange ins Gewebe
»frisst«, bis er sichergestellt hat, dass eine ausreichende Blut-
versorgung für die Schwangerschaft garantiert ist. Denn Narben
gehören zu dem am schlechtesten durchbluteten Gewebe über-
haupt. Die Folge davon ist, dass die Plazenta mehr oder weniger
in die gesamte Uterusmuskulatur  – manchmal sogar bis in die
Blase – hineinwächst. Ein natürliches Ablösen des Mutterkuchens
ist dann fast nicht mehr möglich. So drohen nach der Geburt Blu-
tungen, und oft muss in der Folge operiert, manchmal sogar die
Gebärmutter entfernt werden, um die Sache in den Griff zu be-
kommen.
Gern wird argumentiert, dass die meisten Frauen heute ja über-
haupt nur noch ein Kind bekommen. Da könne man also getrost
auch beim zweiten einen Kaiserschnitt machen, selbst wenn dabei

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Risiken, Nebenwirkungen und Folgen für Mutter, Kind und Gesellschaft

der Uterus entfernt werde: Die Frau habe ja schon zwei Kinder,
und damit mehr als der Durchschnitt. Außerdem wäre sie dann
auch gleich die lästigen Blutungen los. Dass sie damit aber auch
verfrüht in die Wechseljahre kommt – und natürlich auch um den
Organverlust trauern kann –, bleibt oft unerwähnt.
Würden sich tatsächlich alle Frauen nicht mehr als zwei Kin-
der wünschen, ließe sich rein theoretisch natürlich so argumentie-
ren. Doch die Gruppe der Frauen, die viele Kinder haben möchte,
wächst und sie wird dadurch in ihrer Lebensplanung massiv be-
einträchtigt. Eine solche Argumentation wirkt daher fast schon
zynisch.
Nicht viel anders sieht es aus, wenn sich zum Beispiel auch auf-
grund der Narbenproblematik das Ei am Muttermund einnistet
und die Plazenta den natürlichen Austrittsweg des Kindes ver-
stellt. Hier ist dann ebenfalls ein teilweise komplizierter Kaiser-
schnitt nicht zu vermeiden.
Ein weiteres Problem ist, dass die Narbe in der Gebärmutter
bei Weitem nicht die Rissfestigkeit von gesundem Gewebe hat.
Es kann in der Folge zu bedrohlichen Einrissen der Gebärmutter-
wand unter der Geburt kommen. Obwohl dies wirklich selten vor-
kommt, es sich meist absehbar entwickelt und damit beherrschbar
ist, kommt es bisweilen auch zu plötzlichen »Rupturen« (Einris-
sen), die lebensbedrohlich sein können.
Verringern ließen sich all diese Probleme durch eine kritische
Indikationsstellung zur Sectio, doch leider sind die Folgeprobleme
noch nicht so in den Köpfen verankert. Lieber löst man auf ver-
meintlich einfachem Wege ein unmittelbares Problem, als sich
Gedanken über das Mittelbare und Langfristige zu machen.
Natürlich werden Frauen vor einem Kaiserschnitt aufgeklärt –
auch über diese Risiken. Aber geschieht dies wirklich so eindring-
lich, dass sie nachvollziehen können, wie sinnvoll es ist, alles zu
tun, um ihn zu vermeiden?
Was wir zudem nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist, dass

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

die Geschichte der Geburtshilfe auch eine Geschichte der Irrtümer


ist. Vor dem Hintergrund, dass wir keinerlei Kenntnisse über den
Sinn oder Unsinn des Gebärens beziehungsweise der Geburt
haben, bleibt uns neben der Formulierung von Forschungsfragen
nur der Blick in die Geschichte. Und diese ist gespickt mit Irrtü-
mern, was eine gute Geburt betrifft. Geburtszange, Dammschnitt,
Operation zur Gebärmutteraufrichtung, Verschlussoperationen
des Gebärmutterhalses (Cerclagen), all dies galt zur seiner Zeit
als Wunderwerk und mitunter unabdingbar. Kein Mensch hätte
diese Maßnahmen ernsthaft infrage gestellt. Mühsam errungene
wissenschaftliche Erkenntnisse haben alle diese ehemaligen Para-
digmen relativiert, mitunter sogar ad absurdum geführt. Die Krö-
nung der Irrtümer bildet allerdings das Thema Stillen. Mit Ein-
führung der Formelnahrung wurde, nicht nur aus ökonomischen
Gründen, das Ende des Stillens propagiert und weltweit umge-
setzt – zum Teil mit verheerenden Folgen. Im Gegenzug entstand
eine auch heute noch nicht abgeschlossene Forschung, deren Er-
kenntnisse selbst die Babynahrungsindustrie gezwungen hat, in
ihrer Werbung zu erwähnen: »Stillen ist das Beste für Mutter und
Kind!«
Dieses Fallbeispiel sollte uns in Analogie lehren, dass wir die
Geburtshilfe nur dann abschaffen dürfen, wenn wissenschaft-
lich eindeutig feststeht, dass wir mit dem anderen, dem opera-
tiven Weg des Kaiserschnittes kurz-, mittel- und langfristig kei-
nen schweren Schaden anrichten. Dies kann bis heute niemand
beweisen.
Die »Erfindung« einer »sanften« Operationsmethode, bei der
mehr gedehnt als geschnitten wird, die Misgav-Ladach-Methode,
führt dazu, dass die Indikation zum Kaiserschnitt noch leich-
ter gestellt wird als davor. Insgesamt hat dies zu einer Zunahme
der Kaiserschnitt-Entbindungen geführt, wohingegen die Gebur-
ten mit Zange und Geburtsglocke abgenommen haben. Der Weg
durch die Bauchdecke wird inzwischen vorgezogen.

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Gibt es einen »sanften« Kaiserschnitt?

Der Versuch, den Kaiserschnitt als alternative Gebärform zu


propagieren, treibt seine eigenen Blüten. So zeigt das Bemühen,
das Geburtserleben über das Konstrukt »Kaisergeburt« (siehe
nächstes Kapitel) doch noch zu ermöglichen, im Grunde nur, dass
es offenbar durchaus ein Ahnen um das Versäumte gibt. Die Er-
kenntnis der Bedeutung des Mikrobioms für die kindliche Ent-
wicklung wird mittlerweile teilweise dahingehend korrigiert, dass
Kinder nach Kaiserschnitt mit mütterlichen Vaginalsekreten ein-
gerieben beziehungsweise ihnen entsprechende Prä-, Pro- und
Postbiotika zugeführt werden, um dieses Manko der Schnittent-
bindung zu korrigieren.
Ich bin überzeugt davon, dass man bei einer Untersuchung
zum Thema Kaiserschnitt im Stundentakt Argumente für die
vaginale Geburt finden würde, welche durch keine Begleitmaß-
nahme rund um den Kaiserschnitt ergänz- oder ersetzbar wäre.
Ebenso wie es der Babynahrungsindustrie nie gelingen wird,
der künstlichen Milch Stammzellen zuzuführen, welche, wie wir
heute wissen, für die gestillten Kinder einen bedeutenden Krebs-
schutz darstellen.

Gibt es einen »sanften« Kaiserschnitt?

In letzter Zeit macht ein Unwort Schlagzeilen: die Kaisergeburt.


Damit soll suggeriert werden, dass es sich dabei um eine Pre-
mium-Geburt handele. Eine solche Bezeichnung ignoriert alles,
was ich im bisherigen Kapitel ausgeführt habe. Sicherlich sind Be-
mühungen, einem notwendigen Kaiserschnitt die Schärfe zu neh-
men, grundsätzlich zu begrüßen. Genauso, wie es sinnvoll ist, das
Bonding im OP zu fördern und das Stillen sowieso. Aber den Kai-
serschnitt damit begrifflich über eine natürliche Geburt zu stellen,
ist mehr als fraglich. Was verbirgt sich denn nun eigentlich hinter
dem Begriff »Kaisergeburt«?

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Damit es keinen Schnitt im Leben gibt

Man muss sich das wie folgt vorstellen: Ein Operateur berei-
tet die Bauchdecke der Mutter vor und die Eltern können beim
Herausheben des Babys zusehen. Was liegt näher, als diese
Chimäre aus Kaiserschnitt und Geburt als »Kaisergeburt« zu be-
zeichnen? Wer solche Wortschöpfungen in die Welt setzt, muss
sich klar darüber sein, was er damit bewirkt. Zum einen wird
sprachlich mindestens eine Gleichstellung der natürlichen und
der operativen Geburt geschaffen und damit die Tür geöffnet, die
Spontangeburt als überholt zu verwerfen. Selbst »Geburtserle-
ben« und »Bonding« sind nun vollumfänglich im OP gestaltbar
und somit als ein psychologisches Argument gegen den Kaiser-
schnitt scheinbar hinfällig geworden.
Eine »Kaisergeburt« suggeriert aber auch, dass es unkaiserliche
Geburten geben muss. Sind das dann »Bettlergeburten«, bei denen
Frauen all der Ungemach von Schmerz, Angst und Erschöpfung
zugemutet wird, weil man ihnen das kaiserliche Gebären versagt?
Es wundert mich nicht, dass es Geburtsmediziner und nicht
Psychosomatiker sind, die solche Ideen entwickelt haben. Letztere
können in Anbetracht solcher Surrogate nur warnend den Fin-
ger heben. Es gibt keinerlei Forschung, ob das direkte Erleben der
Schnittentbindung keine nachteiligen, möglicherweise sogar trau-
matisierenden Effekte hat. Die Spontangeburt ihres Kindes kann
eine Frau in der Regel auch nicht beobachten, und das wird seinen
Sinn haben.
Auch nicht vergessen werden sollte, dass die »Kaisergeburt«
meist geplant wird. Das kommt den organisatorischen Nöten von
Klinikbetrieben sehr entgegen, welche mit der Philosophie der
Kaisergeburt ein psychologisches Deckmäntelchen bekommen.
Eine Folge dieser Planung sind vermehrt anpassungsgestörte
Säuglinge, denen eine Kaisergeburt eher die Trennung von den
Eltern beschert, denn ein unmittelbares Bonding.

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Gibt es einen »sanften« Kaiserschnitt?

Fazit: Ein Kaiserschnitt wird nie etwas anderes sein als eine opera-
tive Geburt, zukünftig wahrscheinlich die mit Abstand häufigste
Operation am offenen Bauch weltweit. Nichts spricht gegen das
Ausschalten der OP -Leuchten und das unmittelbare und langzei-
tig ungetrennte Bonding im OP . Kein Mensch muss hingegen die
Geburt aus der Bauchdecke sehen. Und Säuglinge wünschen sich
sicherlich eine babybestimmte Geburtshilfe, die den Kaiserschnitt
als segensreichen, gerne auch psychologisch motivierten Notfall-
eingriff versteht.

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Wie Ihr Baby die Geburt erlebt

Die Sichtweise des Kindes bei der Geburt kennt kein Mensch.
Allen Bemühungen der pränatalen Psychologie zum Trotz lässt
sich über Befindlichkeiten und Gefühle der Ungeborenen nur spe-
kulieren. Trotzdem sollten wir davon ausgehen, dass Ungeborene
ein Wissen, vielleicht ein kollektiv Unterbewusstes haben, was die
Geburt angeht. Vielleicht gibt es sogar ein Geburtshirn des Unge-
borenen.

Im Vorraum zur Welt –


Schwangerschaft von innen betrachtet

Die Fantasie hat natürlich schon immer versucht, abstraktes


Wissen durch Bilder zu illustrieren. Im Netz findet man passende
Anekdoten in den unterschiedlichsten Ausführungen. Mir gefällt
diese Geschichte besonders gut. Sie ist in Kürze tausendfach in
den sozialen Netzwerken geteilt worden und zeigt dadurch, dass
sie den Nerv trifft:

Ein ungeborenes Zwillingspärchen unterhält sich im Bauch seiner


Mutter:
»Sag mal, glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?«
fragt der eine Zwilling.

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Wie Ihr Baby die Geburt erlebt

»Ja, auf jeden Fall! Hier drin wachsen wir und werden stark für
das, was draußen kommen wird«, antwortet der andere Zwilling.
»Ich glaube, das ist Blödsinn«, sagt der erste, »es kann kein Leben
nach der Geburt geben – wie sollte das denn bitte schön aussehen?«
»So ganz genau weiß ich das auch nicht. Aber es wird sicher sehr
viel heller sein als hier. Und vielleicht werden wir herumlaufen und
mit dem Mund essen.«
»So einen Unsinn habe ich noch nie gehört! Mit dem Mund essen,
was für eine verrückte Idee. Es gibt doch die Nabelschnur, die uns er-
nährt. Und wie willst du herumlaufen? Dafür ist die Nabelschnur
doch viel zu kurz.«
»Doch, es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles nur ein bisschen
anders sein.«
»Du spinnst! Es ist noch nie einer von ›nach der Geburt‹ zurück-
gekommen. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Punktum.«
»Ich gebe ja zu, dass keiner weiß, wie das Leben nach der Geburt
aussehen wird. Aber ich weiß, dass wir dann unsere Mutter sehen
werden und sie wird für uns sorgen.«
»Mutter, du glaubst doch wohl nicht an eine Mutter? Wo ist sie
denn bitte?«
»Na hier – überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und
durch sie. Ohne sie könnten wir gar nicht sein!«
»Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas bemerkt,
also gibt es sie auch nicht.«
»Doch, manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst du sie singen
hören, oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt.«

Babys bekommen von der Welt »draußen« sehr viel mehr mit,
als wir uns das manchmal vorstellen. Ihre Sinne entwickeln sich
nämlich schon früh in der Schwangerschaft. In gewisser Weise ist
die Gebärmutter für die körperliche, aber auch die psychische Ent-
wicklung des Kindes das Klassenzimmer. Weshalb sollten unsere
Erfahrungen auch erst nach der Geburt beginnen? Das ist nicht

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Im Vorraum zur Welt

logisch. Insbesondere, wenn wir uns vor Augen halten, wie viel
Neugeborene schon können, liegt es praktisch auf der Hand, dass
sie das nicht erst beim ersten Atemzug lernen, sondern dass sie
bereits früher hören, tasten, schmecken, riechen und sehen kön-
nen.14
Dass Kinder bereits im Mutterleib gut hören können, ist inzwi-
schen erwiesen. Akustisch gesehen ist die Umwelt des Ungebore-
nen um ein Vielfaches reicher, als wir uns das noch bis vor Kurzem
vorgestellt haben. Eigentlich ist es im Mutterleib nie ganz still. Ein
Kind hört nicht nur alle Innengeräusche der Mutter – den Herz-
schlag, das Rumpeln der Gedärme, das Einströmen der Luft beim
Atmen, das konstante Rauschen des Blutes –, sondern es hört vor
allem auch ihre Stimme.
Und es kann sogar Geschichten wiedererkennen, die ihm vor
der Geburt regelmäßig vorgelesen wurden. Diese entspannen
das Kind weitaus besser als »neue« Geschichten. Gerade auch der
mütterliche Herzschlag ist in der ersten Zeit nach der Geburt be-
sonders wichtig. Immerhin hat ihn das Ungeborene ca. 26-milli-
onenmal gehört und ihn als sichernd und beschützend erlebt. In
einer bekannten Studie konnte nachgewiesen werden, wie positiv
sich das Hören von Herztönen auf das Gedeihen und die Gesund-
heit von Neugeborenen auswirkt. In einer Säuglingsstation bekam
eine Gruppe von Babys täglich Herztöne vorgespielt, eine andere
Gruppe nicht. Die »Herztonbabys« nahmen schneller zu, schliefen
besser und weinten weniger. Diese Entdeckung wird inzwischen
mit gutem Erfolg auch auf Frühgeborenen-Stationen eingesetzt.
Auch hier entspannen sich die Babys und gedeihen besser, wenn
sie die Töne zu hören bekommen, die sie noch aus dem Mutterleib
kennen. Mittlerweile gibt es sogar Spezialaufnahmen mit ganzen
»Geräuschcocktails«, die die Geräuschkulisse im Mutterleib nach-
ahmen. Sicherlich ist der direkte Kontakt zur Mutter durch nichts
zu ersetzen, und durch das Stillen und Bonden direkt am Körper
hört das Kind den Herzschlag der Mutter live. Rund um die Uhr

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Wie Ihr Baby die Geburt erlebt

ist dies auf einer Frühchen-Intensivstation aber eben nicht mög-


lich. Da können Tonaufnahmen ein Hilfsmittel sein.
Babys im Mutterleib fühlen, wenn man sie berührt, und sie er-
kunden ihre Umgebung durch Tasten. Manche spielen intensiv
mit der Nabelschnur, andere nuckeln bereits im Bauch selig an
ihrem Daumen. Ihr Tastsinn ist so gut entwickelt, dass sie eine
streichelnde Hand durch die Bauchdecke spüren können und da-
rauf reagieren, indem sie sich ihr zuwenden.
Ungeborene sind Schleckmäuler. Bei mehreren Untersuchun-
gen wurde eine Verdoppelung der Schluckbewegungen verzeich-
net, wenn süßes Wasser ins Fruchtwasser gespritzt wurde. Bei
saurem oder bitterem Wasser hingegen wurde seltener »getrun-
ken«. Die Reifung der Geschmacksknospen konnte schon vor der
14. Woche nachgewiesen werden. In den letzten drei Monaten der
Schwangerschaft trinkt ein Ungeborenes durchschnittlich stünd-
lich 15 bis 40 Milliliter Fruchtwasser. Das sind circa 40 Kalorien
täglich. Babys von Müttern, die regelmäßig rauchen oder Alko-
hol trinken, nehmen allerdings weniger Fruchtwasser zu sich. Das
wird als einer der Gründe dafür angesehen, weshalb diese Babys
bei der Geburt kleiner sind und auch weniger wiegen. Süß bleibt
auch nach der Geburt die Lieblingsgeschmacksrichtung von Säug-
lingen. Auch Muttermilch schmeckt ja süß. Kein Wunder, dass
Babys sie so gerne mögen. Abgesehen davon ist sie immer ganz
speziell auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt und bedeutet
mehr als die reine Nahrungsaufnahme. Muttermilch ist Seelen-
milch.
Direkt nach der Geburt können Babys die eigene Mutter unter
allen anderen Frauen erkennen, und zwar am Geruch. Kurz darauf
auch an der Stimme. Babys erkennen die Stimme ihrer Mütter
schon nach zwei Tagen, Mütter brauchen ein wenig länger, um die
Stimmen ihrer Kinder zu identifizieren. Kein Wunder, die Kin-
der kennen die Stimme ihrer Mutter eben schon länger. Hat eine
Mutter bereits während der Schwangerschaft eine innige innere

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Im Vorraum zur Welt

Beziehung zum Kind hergestellt  – indem sie sich zum Beispiel


mit dem Kind im Bauch unterhalten hat – so wirkt sich das auch
bei der Geburt sehr positiv aus. Die Schmerzspezialistin Verena
Schmid meint sogar: »Letztendlich ist also die Öffnung gegenüber
dem Kind bereits in der Schwangerschaft die wichtigste und wirk-
samste Ressource der Frau, um den Geburtsschmerz zu reduzieren
und umzuwandeln bis hin zur Extase.«15
Im Mutterleib wird auch die Grundausstattung der Epigenetik
festgelegt. Und da spielt die Umwelt – das heißt die Innenwelt
der Mutter – eine besonders große Rolle. Die Frage, welche Gene
aktiviert oder stumm geschaltet werden, spielt sich zum großen
Teil in dieser frühen Phase ab. Größtenteils sogar innerhalb der
ersten drei Monate der Schwangerschaft. Auch Anfälligkeiten für
bestimmte Krankheiten werden in dieser Zeit angelegt. So fanden
Forscher heraus, dass Menschen, die in den ersten drei Monaten
im Mutterleib nur wenig Nahrung bekamen, später im Leben ge-
häuft an Diabetes erkranken. Das wird dadurch erklärt, dass sich
die kleinen Körper an das Angebot anpassen, das sie zur Verfü-
gung haben. Ändert sich später das Umfeld – können sie in diesem
Fall also mehr essen – hat der Körper Schwierigkeiten, sich darauf
einzustellen. Dieser Zusammenhang wurde zum ersten Mal mit-
hilfe einer niederländischen Metaanalyse beobachtet. In der Zeit
von September 1944 bis Mai 1945 gab es aufgrund des Krieges
eine große Hungersnot im Westen der Niederlande. Kinder von
Müttern, die in dieser Zeit schwanger waren, entwickelten später
im Leben gehäuft Diabetes, Schizophrenie und Verstopfung. Diese
Effekte haben sich sogar über eine Generation weitervererbt, aller-
dings mit teilweise anderen Symptomen.16

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Wie Ihr Baby die Geburt erlebt

Willkommen im Leben – Geburt als Übergang

Menschliche Babys müssen bei der Geburt relativ komplizierte


und genau abgestimmte Körper- und Kopfbewegungen durchfüh-
ren, um geboren zu werden. Die Anpassung an das Leben beginnt
schon im Gebärkanal (natürlich im Grunde bereits in den neun
Monaten davor).
Bei unseren Vorfahren, den Neandertalern, war die Geburt
noch vergleichsweise einfach. Der Kopf konnte gerade durch das
Becken treten. Beim Homo Sapiens ist hingegen wegen des ver-
engten Beckens (das nötig ist für die schnelle Beweglichkeit auf
zwei Beinen) mit einem Queroval am Beckeneingang und einem
Längsoval am Beckenausgang ein komplizierter Schraubmecha-
nismus während der Geburt nötig. Beim Kaiserschnitt übernimmt
eine Hand den Geburtsprozess. Die gesamte Geburtsmechanik ist
somit eine völlig andere, sie wird nicht durch das Becken vorge-
geben und gelenkt.
Nun kann eine regelwidrige Geburt durch die Scheide, zum
Beispiel mit Zange oder Saugglocke, gerade den Kopf des Kindes
erheblich in Mitleidenschaft ziehen. Aber aus einem unverbeulten
Babykopf bei einem Kaiserschnitt zu folgern, dass das Kind sanf-
ter und unverletzter geboren wurde, ist wahrscheinlich nicht rich-
tig. Zumindest ist diese Sichtweise einseitig. Denn zum einen sind
»Geburtsschäden« wohl diejenigen, welche die Natur bei Mutter
und Kind am schnellsten und umfassendsten reparieren kann.
Eine Geburtsgeschwulst beim Kind verschwindet wie von Zau-
berhand, Geburtsverletzungen der Mutter heilen besser als jede
vergleichbare Wunde, noch dazu in »schmutzigem« Milieu. Und
der von der Schwangerschaft mitunter maximal veränderte Kör-
per gewinnt in überschaubaren Zeiträumen wieder vorgeburtli-
che Konturen. Und selbst die von der Geburt gezeichnete Psyche
bleibt meist unbeschädigt. Ein Wunder! All dies lässt vermuten,
dass Mutter und Kind während der Geburt erstaunlich viel zuge-

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Willkommen im Leben – Geburt als Übergang

mutet werden kann und vielleicht sogar muss. Hat diese Zumu-
tung womöglich einen Sinn?
Zweifelsohne gibt es für jeden Organismus eine Stressgrenze,
hinter der ein Kollaps droht. Nur bis dahin ist es ein weites Feld –
im Zusammenhang mit der Geburt sogar ein besonders weites.
Vielleicht ist es wie im richtigen Leben sogar überlebensnotwen-
dig, ein wenig Stress zu erleben. Geburt war und ist (!) immer ge-
fährlich. Da muss das Abwehrsystem hochaufmerksam sein. Zu
keinem Zeitpunkt im Leben (außer beim Sterben) wird ein Orga-
nismus derart umgepolt wie bei einer Geburt.
Das Leben im Mutterleib hat mit dem Leben da draußen fast
nichts gemein. Das ist so ähnlich, als ob wir ohne jede Vorberei-
tung ins Weltall geschossen würden. Da sind wir auch über jede
Sekunde Vorlauf froh, in der wir wenigstens unser Stressbewäl-
tigungsprogramm aktivieren können. Vom Raketenabschuss bis
zum Eintreffen in der Schwerelosigkeit haben wir zumindest eine
kurze Phase der Adaptation.
Das Kind hat dazu im Schnitt acht Stunden. Und die sind auch
wichtig. Wir haben schon gehört, was alles an Hormonen ausge-
schüttet wird, um den Lebenseintritt zu erleichtern. Und nicht nur
das. Auf wundersame Weise wird die Lunge in den Stunden vor
der Geburt trockengelegt und damit auf das Atmen vorbereitet.
Das erleichtert das Ankommen in der Welt ungemein.
Bei einem terminierten Kaiserschnitt fehlt all das völlig. Stel-
len Sie sich vor, Sie schlafen friedlich in Ihrem Bett. Plötzlich wird
Ihnen mitten in der Nacht die Bettdecke weggezogen, grelles Licht
blendet Ihre Augen und Sie werden aus dem Fenster des ersten
Stocks in ein Schwimmbecken geworfen, in dem das Wasser ge-
rade mal 14 Grad hat. Sie werden es überleben, sicher. Aber an-
zunehmen, dass solch ein Überfall völlig ohne Folgen bleibt, ist
sicherlich naiv. Die meisten reifen Kinder, die auf die Kindersta-
tion verlegt werden müssen, sind anpassungsgestörte Kaiser-
schnittkinder.

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Wie Ihr Baby die Geburt erlebt

Wenn ein Kaiserschnitt terminiert wird und deshalb die Vorbe-


reitungszeit wegfällt, geschieht in der Regel jedoch ein weiteres
Wunder. Die meisten Neugeborenen schaffen es auch ohne Vor-
bereitung, zu atmen und ohne Unterstützung das Notwendigste
zum Leben zu meistern. Das heißt, sie benötigen keine Atemhilfe
und müssen nicht abgesaugt werden, um das Wasser aus den Lun-
gen zu befördern. Das gilt auch für einen Großteil der Frühgebo-
renen. Nur ein kleiner Teil dieser Kinder schafft diese Anpassung
nicht. Sie haben dann »nasse« Lungen, stöhnen, wirken unbot-
mäßig gestresst und brauchen Starthilfe.
Früher dachte man tatsächlich, dass der Kaiserschnitt die stress-
ärmste und damit die beste Form der Geburt für das Kind sei.
Heute weiß man, dass der Stress und seine Hormone das Basis-
Lebensprogramm vorbereiten. Aber wenn sie erst unmittelbar
nach der Geburt aktiviert werden, entfalten sie ihre Wirkung
mitunter zu spät. Dann muss das Kind kämpfen. Manchmal mit
Atemhilfe, manchmal sogar auf der Kinderintensivstation. Und
wohlgemerkt: nicht nur die Frühchen.
Es ist daher sinnvoll, auch darauf wurde hier schon mehrfach
hingewiesen, den Kaiserschnitt  – wenn er denn nötig ist  – zur
rechten Zeit durchzuführen. Und die ist erst nach Wehenbeginn.
Dies Vorgehen hat für die Mutter in der Regel keinerlei Nachteile,
aber viele Vorteile fürs Kind! Dennoch wird selten so lange abge-
wartet. Warum ist das so?
Der ungeplante Kaiserschnitt passt nicht in unser Kontroll-
und Planungskonzept, weder in das der Eltern noch das der Kli-
nik. Wenn schon Sectio, dann wenigstens zu vernünftigen Zei-
ten und entsprechend vorbereitet. In Zeiten knapper Ressourcen
(sowohl an Zeit als auch Geld) kann man die Kliniken durchaus
verstehen, wenn sie über die neuen Trends in der Geburtshilfe
nicht uneingeschränkt glücklich sind. Ein geplanter Kaiserschnitt
ist günstiger und das Personal wird nachts geschont. Außerdem
bekommen die Eltern so das Gefühl, dass sie es mit einer eindeu-

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Willkommen im Leben – Geburt als Übergang

tigen Routineoperation zu tun haben. So sind es auch nur circa


30 Prozent der Eltern, welche das Angebot eines vorvereinbarten
aber zeitlich ungeplanten Kaiserschnitts gut heißen. Sie tun dies
für ihr Kind.
Genau so lautet auch der Grund vieler Mütter, die sich ausdrück-
lich eine Sectio wünschen: »Das ist doch sicherer fürs Kind«. Ich
habe erklärt, weshalb dies ein Irrtum ist. Wenn es um das Wohler-
gehen des Kindes geht, dann ist eine natürliche Geburt das Beste.
Wenn das  – aus welchen Gründen auch immer  – schon im
Vorfeld unmöglich erscheint, dann ist der Kaiserschnitt nach We-
henbeginn die beste Alternative. Die Geburt ist für das Kind der
größte Seinswechsel im Leben. Die gesamte bislang bekannte
Welt wird ausgetauscht. Bei einem Kaiserschnitt innerhalb von
Sekunden. Wehen bereiten das Kind nicht nur körperlich auf den
Wechsel vor, sondern auch psychisch. Bei einer normalen Geburt
arbeitet es sogar aktiv am »Übergang« mit. Es ist das erste ge-
meinsame »Projekt« von Mutter und Kind. Eine gute vorgeburt-
liche Bindung wirkt sich auch bei der Geburt als segensreich aus.
Hat sich die Mutter schon vor der Geburt mit dem Kind »unter-
halten«, funktioniert diese Kommunikation auch während der Ge-
burt. Sie kann ihrem Kind erklären, was passiert und es um seine
Mitarbeit bitten. Das mag vielleicht etwas abgehoben klingen, ist
jedoch durchaus wirkungsvoll. Mutter und Kind sind ein Team –
besonders bei der Geburt!
Für das Kind ist der Seinswechsel allumfassend: Aus einer be-
hüteten Höhle mit intensivem Körperkontakt, in der es angenehm
warm ist und in der die Ernährung wie von selbst funktioniert,
geht es hinaus in eine als grenzenlos und kalt erlebte Welt. Um
diesen Neuanfang zu verkraften, braucht es eine liebevolle Begrü-
ßung bei der Geburt und es sollte versucht werden, eine gewisse
Kontinuität aufrechtzuerhalten. Die wichtigste Quelle der Konti-
nuität ist natürlich die Mutter. Ist sie mit Geburtshormonen geflu-
tet, kann sie sich ganz auf ihr Kind einstellen.

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Wie Ihr Baby die Geburt erlebt

Bei der Geburt passiert noch etwas Bemerkenswertes  – und


zwar im mütterlichen Gehirn. Die Mutter wird eine andere.
Sie wird nach der Geburt nie mehr dieselbe sein wie davor. Im
Grunde beginnt diese Verwandlung schon in den vorangegange-
nen neun Monaten. Die Schwangerschaftshormone sorgen zum
Beispiel dafür, dass das Gehirn in den letzten Monaten vor der
Geburt tatsächlich etwas schrumpft. Das bedeutet nicht, dass Ge-
hirnzellen abgebaut werden, es schafft nur die Voraussetzun-
gen, dass sich die Schaltkreise im Gehirn neu formieren kön-
nen. Aus manchen einspurigen Landstraßen werden Autobahnen
und umgekehrt. In den letzten ein bis zwei Wochen vor der Ge-
burt nimmt die Größe des Gehirns schon wieder zu und das müt-
terliche Netzwerk formiert sich neu. Während der Geburt nun
aktiviert der schon viel erwähnte Oxytocinschub neue Rezep-
toren, die Tausende von neuen Verbindungen zwischen den Neu-
ronen schaffen. »Innerhalb weniger Stunden oder Tage ergreift
ein überwältigender Beschützerinstinkt von ihr Besitz. Die müt-
terliche Aggression setzt ein. Ihre Stärke und Entschlossenheit,
den kleinen Menschen zu versorgen und zu schützen, verdrän-
gen in ihren Gehirnschaltkreisen alles andere.(…) Ihr Gehirn –
und damit auch ihre Realitätswahrnehmung  – hat sich ein für
alle Male gewandelt. Es ist vielleicht die größte Verwandlung im
Leben einer Frau«, schreibt die US-amerikanische Neuobiologin
Louann Brizendine.17
Nun sind Lebensübergänge nicht nur einfach. Sobald gewohn-
tes Terrain verlassen werden soll, meldet sich nicht selten die
Angst vor der Ungewissheit. Das ist für das Kind so (siehe Ge-
spräch der Zwillinge), aber sicherlich auch für die Mutter vor ihrer
ersten Geburt. Eine Geburt bedeutet die Überschreitung einer
Schwelle, sie erfordert Mut und das Vertrauen, dass dahinter kein
Monster lauert. Sowohl Mutter als auch Kind haben neun Monate
Zeit, sich darauf einzustellen. In der Schwangerschaft können noch
viele Weichen neu gestellt werden. Deshalb ist es auch so eine

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Willkommen im Leben – Geburt als Übergang

wichtige Zeit. Im Grunde beginnt die Vorbereitung auf die Geburt


bereits direkt nach der Empfängnis – und zwar nicht nur die des
Kindes, sondern auch die der Mutter. Und noch früher beginnt die
persönliche Einstellung zum Gebären – eine Herausforderung für
Eltern, Kitas und Schulen, der man bis heute nicht gerecht wird.

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Wie es eine gute und glückliche
Geburt werden kann

Die Vorbereitung auf die Geburt ist auf vielfältige Weise eine
Zeit des Neuanfangs. Wenn sich ein Kind ankündigt, führt das
fast zwangsläufig auch zu einer Bestandsaufnahme des bisherigen
Lebens. Das ist nämlich jetzt vorbei, weil ein Kind das Leben einer
Frau – und auch das des Mannes, wenn der Vater sich darauf ein-
zulassen bereit ist – von der Wurzel her verändern wird. Jetzt ist
die Zeit, die Lebensweichen bewusst so zu stellen, dass sowohl die
Eltern als auch das Kind damit gut leben können.

Den Reservetank gut füllen

Die Geburt und die Zeit davor sind kein Spaziergang, sondern
eher eine strapaziöse Bergtour in unbekanntem Gelände, das
haben wir ja bereits festgestellt. Zu einer solchen Tour würde nie-
mand ohne gut gefüllten Rucksack mit den wichtigsten Dingen
für unterwegs aufbrechen. Auch körperlich und geistig würde man
sich darauf vorbereiten.
Wie also können sich werdende Eltern am besten auf das be-
vorstehende Großerlebnis vorbereiten? Wer den Rucksack füllen
möchte, sollte sich seine Energiebilanz anschauen. Wo verausgabe
ich mich im Alltag (Arbeit, Freizeit etc.) zu stark? Wie kann ich
den alltäglichen Wahnsinn so gestalten, dass genügend Zeit für

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

mich selbst bleibt? Sich Zeit für sich selbst zu nehmen, ist wie
eine Verabredung mit der besten Freundin zu haben. Vorausge-
setzt, man hat eine gute Beziehung zu sich. Sollte in dieser Hin-
sicht auch nur der Hauch eines Fragezeichens in der Luft hängen,
ist dies ein wichtiger Hinweis für weitere Fragen: Was mag ich
nicht an mir, wo fühle ich mich eventuell ungenügend, warum bin
ich nicht gerne allein mit mir, was fehlt mir dann?
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, was diese Fragen mit
der Geburt zu tun haben. Eine ganze Menge! Während der Ge-
burt sollte eine Frau sich gut auf sich selbst verlassen können. Das
kann sie nur, wenn sie sich erstens gut kennt, und zweitens – noch
viel wichtiger – sich gern mag und sich selbst vertraut.
Es kann eine gute Übung sein, während der Schwangerschaft
allein in der Natur spazieren zu gehen, sich mit sich selbst zu un-
terhalten und sich vielleicht im Anschluss hinzusetzen und das in-
nere Gespräch aufzuschreiben.
Schreiben ist generell in Übergangszeiten ein erstklassiges
Mittel, um sich über vieles klar zu werden. Ein Schwangerschafts-
tagebuch kann sich überaus positiv auswirken: Sie haben immer
ein Ventil zur Hand, um seltsame Gedankengänge (die in der
Schwangerschaft völlig »normal« sind) genauer zu durchleuchten.
In einem Tagebuch können Sie sich regelrecht die Sorgen von der
Seele schreiben. Alle Unsicherheiten, die großen und die kleinen,
sind dort ebenfalls gut aufgehoben. Im Schreibprozess können Sie
sich selbst auf die Schliche kommen. Und das Gute daran ist: Sie
können Ihre Gedanken nach einigen Wochen oder Monaten noch-
mals lesen und merken, wie Sie weiter vorankommen, aber auch,
wo es offenbar »hängt«.
Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken. Was können Sie besonders
gut? Was macht Ihnen am meisten Spaß? Kommen diese Dinge in
Ihrem Leben in genügendem Ausmaß vor? Oder haben Sie dies
alles auf »später« verschoben? Spätestens jetzt ist die Zeit, es zu
tun. Wer weiß, ob Sie mit einem Kind an der Seite so schnell wie-

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Den Reservetank gut füllen

der dazu kommen werden. Jetzt ist die Zeit, sich den einen oder
anderen lang gehegten Traum noch zu erfüllen!
Natürlich werden Sie zunächst einmal mit der Tatsache »Ich bin
schwanger« zurechtkommen müssen. Auf einen Schlag wissen Sie
nicht mehr, wie Ihr Leben in Zukunft aussehen wird. Das Einzige,
was Sie wissen ist: Alles wird anders! Mit so einem Gedanken
sind häufig große Unsicherheiten verbunden.
Ist die Partnerschaft noch frisch, stellt sich natürlich die Frage:
»Was ist mit dem Vater, wird er für mich und mein Kind da sein?«
Dies ist eine elementare Frage, und werdende Väter sollten sich
darüber im Klaren sein, dass ihre Vaterschaft genau jetzt be-
reits beginnt – nicht erst bei der Geburt! Bereits jetzt können Sie
Ihrem Kind Ihre Unterstützung signalisieren – und zwar durch die
Art und Weise, wie Sie mit seiner Mutter umgehen. Alle Gefühle
der Mutter während der Schwangerschaft kommen nämlich beim
Kind an. Ja, das klingt zu Recht nach Verantwortung. Dies kann
im Übrigen durchaus als Initiation für Männer betrachtet werden.
Doch mehr dazu im nächsten Kapitel.
Für die werdende Mutter kann es sinnvoll sein, sich mit erfah-
renen Müttern auszutauschen, insbesondere solchen, die sie in
der Vergangenheit schon bewundert hat. Diese Mütter haben si-
cherlich sehr viel Erfahrung weiterzugeben. Vielleicht ist auch die
eigene Mutter eine solche Frau. Die Schwangerschaft ist eine gute
Zeit, die Mutter-Tochter-Beziehung zum Positiven zu verändern.
Auf einmal bekommt die Tochter eine Ahnung davon, wie es sich
anfühlt, für ein anderes Lebewesen ganz da zu sein. Gleichzeitig
können auch die eigenen Wunden aus der frühen Kindheit noch-
mals aufbrechen. Wenn die eigene Mutter zum Beispiel nicht so
fürsorglich war wie gewünscht. Dies ist ebenfalls eine gute Zeit
für eine Frau, um mit der Mutter darüber ins Reine zu kommen,
damit sie selbst ganz andere Wege beschreiten kann. Dazu kann
auch die eigene Stillgeschichte (oder eben Nicht-Gestillt-Sein-Ge-
schichte) gehören.

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

Der Körper einer Schwangeren verändert sich natürlich auch


optisch. Auch das kann in unseren Zeiten, in denen das Körper-
bild so wichtig ist, eine Herausforderung sein. Dazu kommt das
Wissen, dass nicht alles reversibel ist. Einiges wird vielleicht blei-
ben und an die Zeit erinnern, in der Sie Ihr Kind in Ihrem Kör-
per haben heranwachsen lassen. Es ist ein natürlicher Vorgang,
und je besser Sie sich damit anfreunden und dies zulassen, umso
leichter wird es für Sie sein. Es gibt aber auch Frauen, denen sieht
man es schon nach einem Jahr nicht mehr an, dass sie geboren
haben.
Das Wichtigste in dieser Zeit ist jedoch die Ruhe. Der Körper
leistet Schwerstarbeit, um das Kind zu versorgen. Da ist Müdig-
keit, Abgespanntheit und das Bedürfnis nach Rückzug und Sofa-
zeit keine Seltenheit. Geben Sie diesem Bedürfnis nach. Un-
bedingt. Sie müssen niemandem (weder Ihrem Partner, dem
Arbeitgeber, den KollegInnen oder Freundinnen) beweisen, dass
Sie schon jetzt eine Super-Mutti sind, die zwar schwanger ist,
aber trotzdem nebenbei noch alles locker wuppt. Schwanger ist
frau niemals nebenbei. Das ist für den Körper bereits zu Anfang
ein Fulltime-Job. Während der ersten zwei bis vier Schwanger-
schaftsmonate schießt der Progesteronspiegel um das Zehn- bis
Hundertfache seines normalen Wertes in die Höhe. Das Gehirn
wird gleichzeitig von einem Hormon umspült, das in seiner Wir-
kungsweise dem Valium ähnelt. Es beruhigt und macht müde, was
gleichzeitig einen Schutz vor Stress darstellt. Machen Sie es Ihrem
Körper nicht unnötig schwer, sondern achten Sie bereits jetzt auf
seine Signale. Legen Sie sich aufs Sofa, wenn Ihnen danach ist.
Ganz ohne schlechtes Gewissen!
Ebenfalls steigt bereits jetzt der Oxytocinspiegel. All dies sorgt
dafür, dass Sie vielleicht gar keine Lust mehr auf anstrengende
Aufgaben haben, die nicht unmittelbar mit der Schwangerschaft
in Verbindung stehen. Auch damit befinden Sie sich im Normbe-
reich. Doch natürlich gibt es auch hier Abweichungen – so strot-

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Dem Körpergefühl vertrauen

zen manche Frauen in der Schwangerschaft nur so vor Energie.


Vielleicht ist der Spruch »Alles kann  – nichts muss« eine gute
Ausgangsbasis.

Dem Körpergefühl vertrauen

Wer in gutem Kontakt zu seinem Körper steht, merkt vieles recht-


zeitig. Zum Beispiel, wenn etwas zu viel wird oder wann eine
kleine Pause guttun würde. Je besser eine werdende Mutter die
Signale ihres Körpers zu verstehen vermag, umso besser kann sie
auch ihr Kind im Bauch spüren und mit ihm in Kontakt treten.
Eine so enge Beziehung wie in der Schwangerschaft wird es zwi-
schen Mutter und Kind schließlich nie wieder geben.
Das Praktische an der Schwangerschaft ist, dass alles, was der
Mutter guttut, automatisch auch für das Baby in ihrem Bauch
gut ist. Die Mutter braucht dabei nur ihrer inneren Stimme zu
vertrauen. Den eigenen Körper und seine Veränderungen in der
Schwangerschaft wahrzunehmen, ist eine gute Übung für die
Geburt und die Zeit danach, um zu erkennen, wie es dem Baby
gerade geht und was es benötigt. Selbst Gefahr lässt sich so gut
erspüren.
Die Sprache des eigenen Körpers zu verstehen, benötigt nur am
Anfang etwas Übung. Mit der Zeit wird es immer leichter, weil
uns in Wahrheit unser innerer Instinkt laufend Bericht erstat-
tet. Diesen Körpernachrichten Folge zu leisten, ist ganz einfach,
und wahrscheinlich tun Sie das schon jetzt bei den elementaren
Dingen des Lebens: Sie trinken, wenn Sie Durst haben, Sie essen,
wenn Sie Hunger haben, Sie gehen zur Toilette, wenn Sie mer-
ken, es ist Zeit. Aber: Lassen Sie auch Ihren Gefühlen freien Lauf,
wenn Ihnen zum Weinen zumute ist oder zum Lachen? Gefühle
zu unterdrücken, weil gerade keine Zeit ist, sich darum zu küm-
mern, oder der Ort unpassend scheint, ist langfristig ungesund. Je

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

unmittelbarer sie erkannt werden, und ihnen Ausdruck verliehen


wird, umso besser.
Sie können aber noch weitaus mehr Signale Ihres Körpers
wahrnehmen, wenn Sie ein wenig üben. Zum Beispiel, indem
Sie Ihre Atmung beobachten. Atmen Sie manchmal tiefer und
manchmal flacher? Bei welchen Gelegenheiten ist das so? Klopft
Ihr Herz mal schneller und mal langsamer? All das sind keine
Dinge, die Sie beunruhigen sollen, sondern es sind ganz einfach
Botschaften des Körpers. Indem Sie darauf reagieren, können Sie
Ihrem Körper die Arbeit erleichtern und sich selbst damit auch.
Wenn Sie eine Treppe hinaufsteigen, geraten Sie im Verlauf der
Schwangerschaft wahrscheinlich immer schneller außer Atem.
Das ist ein Hinweis darauf, es langsamer anzugehen. Wie geht
es Ihnen, wenn Sie bestimmte Kapitel dieses Buches lesen? Gibt
es Themen, bei denen sich Ihre Atmung verändert oder Ihr Herz
schneller schlägt?
Es ist zunächst gar nicht notwendig zu wissen, warum das so
ist. Erst einmal geht es darum, zu beobachten, zu fühlen. Es kann
gut sein, dass Sie – nachdem Sie Veränderungen im Körperemp-
finden entdeckt haben – von selbst plötzlich wissen, wozu das gut
sein könnte. Es geht darum, das angeborene Wissen um den Kör-
per zu beleben und ihm zu vertrauen.

Das Bauchgefühl wieder beleben –


unser sechster Sinn

Kleine Kinder haben es noch ganz selbstverständlich, das viel


zitierte Bauchgefühl. Je älter wir werden, umso mehr geht es ver-
loren, weil wir gelernt haben, dass dieses Gefühl von Erwachse-
nen eher abgewertet als anerkannt wird. Schon in der Schule geht
es eher um beweisbare Fakten als um so etwas schwer Fassbares
wie Intuition.

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Das Bauchgefühl wieder beleben – unser sechster Sinn

Zum Glück nimmt das Bauchgefühl in der öffentlichen Mei-


nung gerade wieder an Bedeutung zu. Wissenschaftler haben
nämlich entdeckt, dass Menschen zwei Gehirne haben. Eines sitzt
im Kopf – das ist bekannt – aber es gibt noch ein zweites und zwar
im Darm beziehungsweise im Bauch. Im Magen-Darm-Trakt be-
findet sich das zweitgrößte Nervensystem des Körpers. Es besteht
aus rund 100 Millionen Nervenzellen. Das sind sogar mehr als
im Rückenmark. Dieses System kontrolliert zum Beispiel, ob erre-
gende und hemmende Nervenbotenstoffe im Gleichgewicht sind.
90 Prozent aller Informationen werden von unten nach oben ge-
schickt, und nur zehn Prozent gehen vom Kopf an den Bauch. Also
ist der Bauch derjenige, der dem Hirn sagt, was gerade los ist. Die
meisten gesunden Menschen nehmen die Arbeit des Bauchhirns
nicht bewusst wahr. Menschen mit Reizdarm oder Reizmagen, mit
chronischen Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall und Verstop-
fung reagieren empfindlich auf die Informationen des Bauchge-
hirns. Wenn uns etwas »auf den Magen schlägt«, dann ist das ein
Hinweis, dass etwas gerade nicht stimmt. Auch bei nervöser Auf-
regung, wie zum Beispiel vor einem Vorstellungsgespräch oder
einer wichtigen Präsentation im Berufsleben, kann sich der Bauch
melden. Die meisten von uns kennen dieses Phänomen.
Unsere Instinkte nutzen das Bauchhirn, um uns etwas mitzu-
teilen, doch häufig können wir es nicht entziffern. Wenn etwas mit
unserem Körper nicht stimmt, gehen wir in der Regel zum Arzt.
Das ist ja auch sinnvoll, allerdings sendet uns unser Bauchgefühl
häufig bereits Nachrichten, ehe sich dies körperlich auswirkt. Das
Bauchgefühl ist so etwas wie ein Vorwarnsystem, so wie die gelbe
Wartungsleuchte im Auto. Noch ist es Zeit, etwas zu unterneh-
men, um Schlimmeres zu verhindern. Wird diese Anzeige hart-
näckig ignoriert (weil die Zeit einfach zu knapp ist, um sich darum
zu kümmern), ist dann irgendwann eine Panne unvermeidlich.
So ähnlich funktioniert das auch mit unserem Körper. Zuerst
ist die Warnung noch subtil. Das kann bei einer sich ankündigen-

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

den Erkältung das typische Frösteln oder auch vermehrtes Niesen


sein. Wenn in so einem Moment richtig reagiert wird, kann der
Verlauf der Erkältung meist noch beeinflusst werden. Das funk-
tioniert auch bei komplexeren Störungsbildern, auch die beginnen
meist ganz unspektakulär. Wird auf sie »gehört« und »eingegan-
gen«, lässt sich Schlimmeres vermeiden. Insofern ist es sinnvoll,
bereits in der Schwangerschaft (am besten natürlich noch davor)
zu lernen, auf das eigene Bauchgefühl zu hören.
Manchmal wird das Bauchgefühl auch »die innere Stimme«
genannt. Sie übermittelt uns wichtige Informationen. Haben Sie
gelernt, die Ratschläge dieser Stimme zu befolgen, ist das auch
während der Geburt von Vorteil, denn dann werden Sie häufig von
selbst wissen, was zu tun ist. Das Bauchgefühl lässt sich übrigens
trainieren. Meist braucht es nur ein klein wenig Übung dafür, um
es wahrzunehmen. Die Instinktebene war so lange Zeit unersetz-
lich für das menschliche Überleben, dass sie sich nicht innerhalb
weniger Generationen völlig zurückgebildet hat.
Ich kenne dazu eine schöne Übung, die ich im Kreißsaal ein-
setze, um von der Mutter zu erfahren, wie es ihr und ihrem Kind
geht. Sie können die Übung aber auch schon vorher gut trainieren.

Sie stellen sich vor, Sie sind in der Wüste. Da ist eine kleine Oase mit
einer Palme. An der Palme befindet sich ein roter Knopf, das Notfall-
alarmsystem. In der Oase ist außer Ihnen selbst niemand. Sie haben
frisches Wasser und auch etwas zu essen, aber sonst sind Sie ganz
auf sich selbst gestellt. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie in Ge-
fahr sind und sich nicht mehr selbst helfen können, haben Sie aller-
dings die Möglichkeit, auf den roten Knopf zu drücken. Dann kommt
sofort ein Helikopter und bringt Sie in Sicherheit. Die Entscheidung,
den Knopf zu drücken, liegt ganz allein bei Ihnen. Sie werden ins-
tinktiv wissen, wenn es angezeigt ist, dies zu tun. Meist allerdings
werden Sie merken: Alles ist gut.

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Ambivalenzen zulassen und aushalten

Ich bin überzeugt, dass Frauen spüren, ja wissen, wenn etwas


falsch läuft. Das ist dann das Signal, um etwas zu unternehmen.
Wenn sie allerdings das Gefühl haben, dass alles im grünen Be-
reich ist, dann ist es für Geburtshelfer oftmals besser, sich – so-
weit vertretbar – zurückzunehmen und abzuwarten.

Ambivalenzen zulassen und aushalten

Selbst wenn die Schwangerschaft die Erfüllung eines lang ge-


hegten Traumes ist – es kann trotzdem Tage und Phasen geben,
in denen sich die werdende Mutter unsicher fühlt. Kein Mythos
wird derartig hochgespielt, wie der Mythos von der glücklichen
Schwangerschaft und Elternschaft. Aus eigener Erfahrung weiß
ich, dass der Mythos so nicht stimmt. Selbst im glücklichsten Fall.
Glück wird ohnehin viel zu hoch gehängt – in allem. In Wahrheit
geht es doch nur darum, dass die Dinge glücken. Und dazu gehört
auch die Bewältigung des manchmal Schwierigen und Belasten-
den. Wie oft habe ich bei der Begleitung meiner Kinder daran ge-
dacht, dass die eine Stunde Glück am Tag die anderen 23 Stunden
voller Sorgen, Ärger und manchmal auch Wut und Verzweiflung
bei Weitem aufwiegt.
In letzter Zeit liest man von einem Phänomen, das sich
»Regretting motherhood« (die Reue der Mutterschaft) nennt.
Mittlerweile gibt es nicht nur Zeitungsartikel und Blogs dazu, son-
dern sogar ganze Bücher. Der Tenor lautet: Ich liebe mein Kind,
aber wenn ich vorher geahnt hätte, was da auf mich zukommt,
hätte ich mich nicht darauf eingelassen. Diese Diskussion kann
durchaus als gesellschaftliche Alarmglocke interpretiert werden.
Es gilt, die Anforderungen an Frauen und Mütter zu überdenken,
denn Überforderung und das Bedürfnis, die Zeit wieder zurück-
zudrehen, haben natürlich viel damit zu tun, welche Erwartungen
das Umfeld an Mütter aufbaut. Und natürlich dürfen dabei auch

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

die Väter nicht vergessen werden. Frauen, die das Gefühl haben,
den hohen Anforderungen an die Mutterschaft nicht gerecht wer-
den zu können, brauchen Unterstützung und keine Häme. Doch
diese wird derzeit über die Mütter ausgeschüttet, die sich trauen,
ein Mutterideal infrage zu stellen, das vielleicht tatsächlich kein
Ideal ist, sondern vielmehr ein Phantom, in dem sich die kollek-
tive Sehnsucht nach einer heilen Welt widerspiegelt.
Eine Schwangerschaft ist von Anfang an ein von Ambivalen-
zen und Zweifeln begleiteter Prozess. Je mehr man dies sieht,
akzeptiert und es sich vor allem erlaubt, entgegen dem Main-
stream auch mal Zweifel und Ängste zu zeigen, desto weniger
sucht sich die Ambivalenz andere Ausdruckskanäle: schlimmes
Schwangerschaftserbrechen, verfrühte Wehen, hoher Blutdruck,
Störungen im Geburtsablauf, Stillschwierigkeiten, Wochenbett-
depressionen. Ich nenne alle diese Phänomene, die selbstver-
ständlich auch eine organische Ursache haben, Störungen der
Ambivalenz.

Frau D. kommt in unsere Klinik, sie hat unstillbares Schwanger-


schaftserbrechen. Alle Therapiemaßnahmen waren erfolglos. Frau
D. wurde kurz nach der Geburt der Tochter überraschend mit Zwil-
lingen schwanger. Daher fiel es ihr sehr schwer, Ja zu dieser Schwan-
gerschaft zu sagen. Sie war bereits bei der Beratung und hatte sich
ernsthaft eine Abtreibung überlegt. Irgendeine innere Stimme habe
sie davon abgehalten. Nichtsdestotrotz ist die Vorstellung, mit den
Zwillingen in noch mehr Abhängigkeit zu geraten, fast unvorstellbar.
Sie hatte sich für ihr Leben schon Kinder vorgestellt, aber nicht in
dieser geballten Vielzahl. Nachdem mir die Patientin in circa 30 Mi-
nuten all ihr Leid geklagt hat, resümiere ich kurz: »Wenn ich mich
so in Sie reinfühle, dann würde ich diese Zwillinge auch zum Kotzen
finden.«
Frau D. guckt mich mit großen fragenden Augen an. »Man darf
doch seine Kinder nicht zum Kotzen finden.« Ich frage nach: »Wie

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Ambivalenzen zulassen und aushalten

lange sind Sie mit ihrem Mann zusammen?« »15 Jahre«, antwor-
tet sie. Ich sage spontan: »Jetzt erzählen sie mir bloß nicht, dass
Sie Ihren Mann noch nie zum Kotzen fanden!« Damit zaubere ich
Frau D. ein Lächeln auf die Lippen und sie sagt: »Das schafft er täg-
lich einmal.« Ich führe weiter aus: »Aber deswegen lieben Sie ihn
doch keinen Deut weniger. Es ist doch gerade das Wesen des Lie-
bens, auch die Schattenseiten des Partners auszuhalten. Und ist es
mit Kindern nicht genauso? Sie machen uns so unglaublich viel Sor-
gen und Ärger und gerade deswegen lieben wir sie so unendlich. Also
erlauben Sie sich einfach einmal, zumindest die Situation, in die Sie
die Zwillinge gebracht haben, zum Kotzen zu finden.«
Frau D. nimmt diese Erlaubnis ernst. Sie hat nun endlich die
Erlaubnis für ihre Ambivalenz und muss dafür nicht mehr ihren
Körper sprechen lassen. Fast wie durch ein Wunder nimmt die Übel-
keit in den nächsten Tagen ab und Frau D. kann kurzfristig entlas-
sen werden.
Eine schöne, glückliche, aber eher zufällige Wunderheilung. In
diesem Fall war die Frau zur rechten Zeit am rechten Ort und bereit,
ihr Denken zu verändern. Ich musste leider die Erfahrung machen,
dass diese Form der Intervention nicht immer funktioniert. Jeder Fall
ist eben anders.

Meines Erachtens ist es ganz wichtig, dass es die Erlaubnis zur


Ambivalenz gibt, dass sie aus der Tabuecke kommt, die das Glück
der Elternschaft preist und sie als das gelobte Land beschreibt. Nur
wer all das Negative spüren, hören und sehen darf, gibt ihm ein
Gesicht, mit dem man sich auseinandersetzen kann und muss.
Ansonsten wird es zum Gespenst, das in unterschiedlichem Ge-
wand und oft unerkannt daherkommt.
Eine verdrängte Ambivalenz steht auch einer guten Geburt im
Wege. Wer in sich unerkannt all die Sorge, Widersprüchlichkeit
und Belastung der herannahenden Elternschaft trägt, der kann
sich nur schwer einlassen, sich hingeben und sich fallen lassen.

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

Das kann zur Folge haben, dass der Wehenrhythmus gestört wird
und sich der ganze verdrängte Schmerz doppelt intensiv meldet.
Diese Anspannung macht es dem Kind schwer, seinen Weg durch
den panzerartigen Muskelschlauch des Beckenbodens zu finden.
Ambivalenz ist normal! Sie muss und darf sein. Konflikte sind
unser Leben. Sie zu negieren und zu tabuisieren, macht es nur
schwerer. Wenn es uns gelingt, die Zunge zu lösen, die Scham zu
beseitigen und nicht zwingend als die gesellschaftlich gewünsch-
ten »guten Eltern« gelten zu wollen, bereiten wir nach meiner
Erfahrung den Weg zum guten Gebären.
Nicht immer lassen sich solche Blockaden und Ambivalenzen
lösen. Und nicht alles Verdrängte strebt der Bewusstwerdung ent-
gegen. Trotzdem helfen Empathie und der Hinweis auf die Nor-
malität des Zwiespältigen in den meisten Fällen weiter. Die Er-
laubnis, alles fühlen zu dürfen, was da ist, entlastet und nimmt
Druck.
Kinder sind ein Glück, aber eines, das es nur für den Preis
einer gewaltigen Umstellung und Einschränkung für einen langen
Lebenseinschnitt gibt. Wer sich dies bewusst macht, für den sind
Kinder der größte vorprogrammierte Sturm im Leben. Und eine
echte Bereicherung.

Die Stimme als Unterstützung nutzen


(singen und tönen)

Michel Odent, mein bekannter Kollege aus Frankreich, nutzte


schon vor vielen Jahrzehnten das Wehensingen, um Gebärenden
die Geburt zu erleichtern. Mit der Stimme können intensive Ge-
fühle ausgedrückt werden. Sie ist ein Organ der Selbstermächti-
gung und Kraft.
Singen kann glücklich stimmen und bringt die Hormone auf
Trab. Das zeigt auch die Zunahme der »Glückshormone« Sero-

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Die Stimme als Unterstützung nutzen (singen und tönen)

tonin, Noradrenalin und der Beta-Endorphine beim Singen von


Lieblingsliedern, wie eine Studie des Musikpsychologen Thomas
Biegl belegt. Diese Glücksindikatoren sind Botenstoffe und Hor-
mone, die uns in eine glückliche und gehobene Stimmung ver-
setzen und gleichzeitig unser Angst- und Schmerzerleben redu-
zieren. Singen schafft Verbundenheit und liebevolle Gefühle. Und
nicht nur das. Es vertieft die Atmung und dadurch werden Gehirn
und Körper mit mehr Sauerstoff versorgt. Zudem wirkt Singen
ausgleichend und wohltuend. All dies trifft übrigens auch auf das
Hören von Musik zu, allerdings verstärkt sich beim Selbstsingen
der Effekt.
In anderen Kulturen werden Gebärende von einem Kreis von
Frauen seit Jahrhunderten singend und tönend begleitet. Es ist ein
schöner Brauch, aus Afrika überliefert. Dort singt die werdende
Mutter bereits während der Schwangerschaft »das Lied des Kin-
des«. Sie hat es selbst »gefunden«, indem sie sich ganz auf ihr
Kind eingelassen hat. Die Gefühle hat sie in Töne gekleidet und
gesungen. Jeden Tag der Schwangerschaft singt sie es. Sie bringt
es den Frauen, die sie bei der Geburt unterstützen werden, bei,
ebenso wie dem Vater. Während der Geburt ist es dieses Lied, das
der Mutter Kraft schenkt und dem Kind den Willkommensteppich
ausrollt. Dieses Lied wird das Kind sein gesamtes Leben beglei-
ten. Es wird bei allen wichtigen Ereignissen seines Lebens gesun-
gen – bei der Initiation, bei der Hochzeit und auf dem Sterbebett.
Hier zeigen sich die Kontinuität und der Kreislauf des Lebens in
besonderer Weise.
Ansonsten ist das einfache Anreichern des Atems mit ei-
nem Vokal (zum Beispiel dem AHHHH , dem UHHHHH oder
OHHHH ) eine sehr effektive Möglichkeit, um Anspannung los-
zulassen; sie quasi aus sich herausfließen zu lassen und Kraft ein-
zuladen. Solches Tönen entkrampft und verringert spürbar die
Anspannung. Nun leben wir in einer Kultur, die eine laute stimm-
liche Entfaltung mit einem Tabu belegt hat. Lautes Stöhnen hat

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

etwas Peinliches oder gar Anrüchiges. Kein Wunder, dass sich


einige Frauen selbst bei großen Schmerzen die Erleichterung des
lauten Stöhnens versagen. Zumal auch manche Geburtshelfer sie
auffordern, »still« zu sein. Wir geben damit eine sehr natürliche
und ungemein effektive Form der Schmerzlinderung bei der Ge-
burt aus der Hand. Um sie wiederbeleben zu können, ist es hilf-
reich, schon in der Schwangerschaft Erfahrungen mit lustvollem
Tönen zu machen. Dies kann in eine Trance führen, die Urins-
tinkte wecken und die Geburt insgesamt erleichtern.
Die Stimme kennenzulernen und mit ihr zu spielen, ist Res-
sourcenarbeit par exellence. Ein Schwangerensingkreis kann in
den Geburtsvorbereitungskurs integriert werden, oder aber auch
für sich stehen. Wer die erstaunlichen Wirkungen der Stimme und
der Töne am eigenen Leib erfahren hat, wird gerne darauf zurück-
greifen, »when the going gets tough«, wenn es also während der
Geburt richtig anstrengend wird. Urinstinkte dürfen sich ausdrü-
cken – gerne auch laut. Das Wilde in der Frau kann sich über die
Stimme befreien.
»Singen ist ein ideales Training für Selbstreferenz, Selbstkon-
trolle, Selbststeuerung und Selbstkorrektur«, sagt der bekannte
Neurologieprofessor Gerald Hüther. »Es ist eigenartig, aber aus
neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass die nutz-
loseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist un-
zweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen – den größten
Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen hat. Darüber
lohnt es sich, etwas länger nachzudenken.«18 Dieser Nutzeffekt ist
sicherlich nicht auf Kinderhirne beschränkt.
In Tönen zu »baden«, erinnert an ein Aufgehoben sein im Un-
konkreten, ist ein Erleben von Entgrenzung. Es weitet den Emp-
findungshorizont und ermöglicht die Ressourcenaktivierung und
ein Stück weit auch die körperliche Weitung. Es erhöht das Ge-
fühl der Selbstwirksamkeit, fördert die Tiefenentspannung und
erleichtert Flow-Erfahrungen.

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Die Stimme als Unterstützung nutzen (singen und tönen)

Töne haben die Fähigkeit, uns in Schwellensituationen tröstlich


zu begleiten:

– Musik erinnert uns an unseren Ursprung, unser ursprüng-


liches Geborgensein vor und nach der Geburt (Mutter singt
Wiegenlieder).

– Die Erfahrung von Klang, Rhythmus und Tonfall ist in je-


dem Menschen körperlich gespeichert.

– Musik kann ein Gefühl des »Zuhauseseins« vermitteln, un-


abhängig von Zeit- und Raumbegrenzungen, von Leben und
Tod, Gesundheit oder Krankheit.

»Entspannendes Singen bewirkt einerseits stressabbauende und


schmerzdämpfende hormonelle Reaktionen (Endorphine, Oxyto-
cin), andererseits regt es den Parasympathikus an und verringert
über dessen Aktivierung die Muskelspannung der Skelettmusku-
latur. […] Darüber hinaus können Emotionen durch Singen aus-
gedrückt und reguliert werden, was ebenfalls den Prozess der Ent-
spannung der Skelettmuskulatur unterstützen kann«, schreibt der
Musiktherapeut Wolfgang Bossinger.19 Er betont weiterhin die
Rolle der Atmung. Durch das Singen wird die Atmung harmoni-
siert, wird tiefer (die bei schmerzhafter Muskelverspannung ver-
flacht), und dies sorgt dafür, dass die Sauerstoffversorgung in der
Muskulatur sich verbessert.
Also: Singen Sie unter der Dusche (in Verbindung mit dem
Wasser und der meist ganz akzeptablen Akustik im Badezimmer
ist dies eine wunderbare kostenlose Wellnesseinheit), im Auto,
beim Spazierengehen. Auch das ist eine effektive Geburtsvorbe-
reitung. Singen Sie mit anderen zusammen – im Chor oder einem
Singkreis. Besonders schön ist es, wenn das Singen völlig ohne
Leistungsdruck (sprich Auftritte) einfach nur im Moment genos-
sen werden kann.20 Meine tägliche Entspannung sind 30 Minuten

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

Gitarre spielen – oft wochenlang dasselbe Stück. Dieses baue ich


mehr und mehr aus, ergänze hier und da, bis es in sich stimmig ist.
Aber Sie müssen nicht unbedingt selbst ein Instrument spielen,
singen und tönen. Es bringt durchaus auch etwas, Musik zu hören.
Musik ist universell einsetzbar, je nach Anlass und Ziel. Bewiesen
ist, dass Entspannungszustände sich leichter mit Musik erreichen
lassen, und auch Visualisierungen können durch Musikbegleitung
effektiver werden. Schmerzzustände können positiv beeinflusst
werden. In OP -Sälen, in denen Entspannungsmusik gespielt wird,
brauchen die Patienten weniger Narkosemittel.21 Musik verändert
den Blutdruck, den Herzschlag und die Gehirnwellen. Außerdem
reduziert Musik Stresshormone im Blut und erhöht andererseits
die Ausschüttung von Endorphinen.22 Auf diese Weise wirkt Mu-
sik schmerzlindernd.

Den Schmerz umarmen lernen

So banal das auch klingen mag, über den Schmerz wissen wir nur,
dass er wehtut. Was hinter ihm steckt, ist nicht immer leicht ein-
zuordnen. Aber auch der Schmerz hat eine schützende Funktion
und seinen Sinn.
Vor was aber kann Schmerz bei einer Geburt schützen? Der
Sinn des Ganzen erschließt sich nicht sogleich. Und auch die bib-
lische Auslegung, dass der Schmerz unter der Geburt eine Folge
der Erbsünde sei, weil sich die Menschen erdreisteten, göttliche
Erkenntnis zu erlangen, hilft nicht unbedingt weiter.
Auch aus medizinischer Sicht können wir den Sinn des Ge-
burtsschmerzes nur bedingt nachvollziehen: Wenn sich der Mut-
terkuchen vorzeitig ablöst oder ein Riss in der Gebärmutter ent-
steht, dann sind das hochschmerzhafte Vorfälle, bei denen höchste
Gefahr für Mutter und Kind besteht. Daher müssen dann auch alle
Alarmglocken läuten. Aber warum kann auch eine ganz normale

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Den Schmerz umarmen lernen

Geburt mitunter so wehtun? Da droht doch in der Regel keine Ge-


fahr. Eine Erklärung könnte sein, dass über den Schmerz alle Auf-
merksamkeit der Mutter auf die Geburt gelenkt wird. So etwas
erledigt sich nicht nebenbei.
Aber könnte es sich beim Geburtsschmerz nicht auch um einen
Liebesschmerz handeln? Liebe kann schmerzhaft sein, gerade in
ihren schönsten Momenten. Jede Trennung wird als unerträglich
empfunden, der Zweifel der Eifersucht und Unsicherheit nagt und
tut weh, und die Erkenntnis möglicher Endlichkeit macht trau-
rig. Auch die anstehende Trennung vom Kind, die Vorstellung, es
nicht mehr in sich beschützen zu können, vielleicht auch das Wis-
sen, dass eine alles bestimmende Lebensveränderung kurz bevor-
steht, können zutiefst wehtun.
Nun mögen Sie vielleicht einwenden, dass der Geburtsschmerz
ja alle betrifft, und nicht wie das Liebesempfinden von Persönlich-
keitsvariablen abhängig ist. Aber das stimmt so nicht! Schmerz ist
immer etwas ganz Individuelles. Und der Geburtsschmerz ganz
besonders. Man kann davon ausgehen, dass ungefähr jede sechste
Frau so gut wie keine Schmerzen bei der Geburt empfindet, wohin-
gegen ebenfalls jede sechste Frau große Qualen erleidet und zwei
Drittel aller Frauen den Schmerz irgendwo dazwischen erleben.
Die Rahmenbedingungen der Geburt spielen beim Schmerz
nur eine untergeordnete Rolle. Große Kinder und lange Geburten
sagen nicht automatisch etwas über die Intensität des Schmerzes
aus. Schnell ablaufende Geburten, die von Geburtshelfern häufig
als »einfache« Geburten empfunden werden, können mit maxima-
ler Schmerzintensität einhergehen, und umgekehrt kann es sein,
dass komplizierte Geburten relativ schmerzfrei erlebt werden.
Dieser Umstand deckt sich mit den Erkenntnissen aus der
Schmerzforschung. Danach generiert sich das Schmerzerleben
aus zwei Faktoren: dem Zeitpunkt des als maximal empfundenen
Schmerzes und dem Schmerz, der ganz am Ende gefühlt wird. So
gesehen hat der Schmerz keine Zeitachse und kann sowohl bei

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

langen als auch kurzen Geburten in ähnlicher Intensität auftreten.


Der oft geäußerte Wunsch nach einer schnellen Geburt kann sich
also zumindest im Hinblick auf die dadurch erhoffte Schmerzfrei-
heit als Irrweg entpuppen.
Aber nicht vergessen: Das ist nur einer von vielen Faktoren,
welche das individuelle Schmerzempfinden bestimmen. Erfahrun-
gen, Biografie, Einstellung, Bewältigung, Ängste, Erschöpfung,
Atmung: all dies und viel mehr wird zum Schmerztrigger.
Meine beiden eindrücklichsten Zitate von Frauen zum Erleben
ihrer Geburt bedienen sich erstaunlicherweise der Sprache der
Sexualität. So sagte eine Frau voller Inbrunst:
»Für mich war die Geburt wie ein nicht enden wollender Or-
gasmus.«
Eine andere berichtete:
»Für mich war es so, als ob mich tausend Männer vergewaltigt
hätten.«
Sexualität als eine heute nicht mehr zwingende Voraussetzung
für Fortpflanzung hat offenbar sehr viel mit der Geburt zu tun.
Bei genauerem Hinsehen ähneln sich der Ablauf von Ge-
schlechtsakt und Geburt in vielen Punkten. Wo ungewollt, wird
Sex zur schlimmsten Qual. Wo gewollt, wo es ein liebevolles Zu-
sammenspiel von zwei Menschen ist, da scheint der Schmerz zu-
mindest nicht die Regel zu sein. Man kann daher davon ausge-
hen, dass eine schmerzarme Geburt auch etwas mit einer guten
Abstimmung zwischen Mutter und Kind zu tun hat. Doch das
gelingt, wie wir aus dem Beziehungsalltag wissen, nicht immer.
Bei all diesen Überlegungen gilt natürlich nicht zwangsläufig der
Umkehrschluss, also wer Schmerz empfindet, liebt sein Kind des-
halb nicht minder und wer keinen Schmerz verspürt, hat sich nicht
zwangsläufig mit dem Kind abgestimmt. Es geht hier nur um
eine Theorie des gut gehüteten Geheimnisses um den Sinn der
Schmerzen bei der Geburt, die vielleicht für die eine oder andere
hilfreich bei der Deutung ihres ganz persönlichen Erlebens ist.

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Den Schmerz umarmen lernen

In dem Moment, in dem Schmerz »bekämpft« wird, wird er


zum Feind. Häufig wird er auch als ein solcher gesehen und emp-
funden. Allerdings erhöht sich in so einem Moment auch die An-
spannung, denn gegen einen »Gegner« ist ständige Alarmbereit-
schaft notwendig. Der ganze Organismus ist dann auf Abwehr
eingestellt. Dadurch wiederum steigt der Cortisol-Spiegel im Blut
und Entspannung ist dann nur noch schwer zu erreichen. Die Ein-
stellung des »Kampfes« setzt die Weichen in eine bestimmte Rich-
tung, die sich irgendwann verselbstständigen kann.
Sinnvoller ist der Versuch, den Schmerz so weit wie möglich
umarmen zu lernen. Das heißt, mit ihm zu sein. Ihn wahrzuneh-
men und mit ihm zu atmen, zu tönen und zu singen. Auch sich mit
ihm zu bewegen. »Wenn die gebärende Frau in der Lage ist, sich in
den Wehenpausen körperlich und emotional zu entspannen, wenn
sie auch während der Wehen lange ausatmen kann, wenn sie den
verbalen Ausdruck, den Schrei in Gesang verwandeln kann oder
mit offener Kehle tönt, wenn sie zur Lösung der Muskelverspan-
nung massiert wird, wenn sie sich während der Wehen frei be-
wegen kann, wenn sie sich ausreichend beschützt fühlt, um ihrer
Angst entgegentreten zu können oder sie sich einfach frei genug
fühlt, den Bedürfnissen ihres Körpers ohne innere oder äußere
Hemmungen zu folgen, dann erhält das retikuläre System keine
alarmierende Meldungen, sondern beruhigende; die physiologi-
schen Reaktionen normalisieren sich beziehungsweise kommen in
ihren richtigen Rhythmus«,23 weiß die Hebamme Verena Schmid.
Wer dem inneren Drang nach Bewegung und stimmlichem Aus-
druck folgt – der sich mit fortschreitender Wehentätigkeit vergrö-
ßert –, verringert die Wahrnehmung des Schmerzes und erfährt
eher ein Gefühl von Kraft und einer intensiven Anstrengung. Auf
diese Weise kann der Schmerz sich wandeln. »Anstatt Kontrolle
durch Unterdrückung des Schmerzes, Umwandlung des Schmer-
zes durch aktiven Ausdruck in Stimme und Bewegung!«24 Das
verändert die Einstellung und ermöglicht ein anderes Erleben.

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

Zumal der Schmerz Hormonausschüttungen im Körper initiiert,


die dafür sorgen, ihn besser ertragen zu können. Diese körper-
eigenen Schmerzmittel werden an das Kind weitergegeben, sodass
es ebenfalls davon profitiert und dadurch aktiver an der Geburt
teilnehmen kann. (Endorphine verändern übrigens nicht nur die
Wahrnehmung des Schmerzes, sondern sorgen auch dafür, dass
die Gebärende in eine Art von Trance oder spontaner Hypnose
fallen kann.)
Überhaupt ist die Eigenhypnose eine gute Möglichkeit, sich
während der Geburt zu entspannen und damit den Geburtsver-
lauf positiv zu beeinflussen. Das sogenannte »Hypnobirthing«
muss allerdings schon während der Schwangerschaft erlernt wer-
den. Am besten gemeinsam mit dem Partner, der dann unter der
Geburt Hypnoseimpulse geben kann. Gelernt werden in diesen
Kursen verschiedene Methoden der Tiefenentspannung. So ler-
nen Frauen, wie sie sich in Gedanken an einen schönen Ort bege-
ben können, um belastende Situationen besser zu ertragen. Aber
es werden auch spezielle Visualisierungen zum Geburtsvorgang im
Vorfeld eingeübt. Dies Training soll dazu beitragen, dass es dann,
wenn es so weit ist, unterstützend wirkt und die Geburt erleichtert.
Bereits am Anfang des Trainings werden zunächst negative
Geburtsbilder aufgespürt und verändert. Viele Frauen empfin-
den eine Geburt mit Hypnose-Unterstützung als selbstbestimmt,
ruhig und kraftvoll. Doch auch ohne diese Methode der Geburts-
begleitung unterstützen natürliche, körpereigene Schmerzmittel
den Geburtsverlauf.
Verena Schmid empfiehlt in ihrem Buch unter anderen diese
natürlichen »Schmerzmittel«25:

– Sich bewusst »schöne« Gedanken machen, um sich vom


Schmerz abzulenken. Vielleicht auf »innere Reisen« gehen –
zu Landschaften, die entspannen und guttun.

– Sich immer wieder den Sinn des Schmerzes vergegenwärti-

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Unterstützende Geburtspositionen

gen. Ihn zu akzeptieren, sich ihm hingeben. Mit den Polen


Anspannung – Entspannung zu spielen.

– Den Schmerz in Gedanken weich einhüllen. (Sich vorzu-


stellen, dass eine Katze mit ihrem weichen Fell den Schmerz
schnurrend umhüllt.)

– Sich rhythmisch bewegen, wippen, hüpfen, schütteln und


tanzen.

– Meditieren

– Den eigenen Gefühlen Ausdruck verleihen: stöhnen, jam-


mern, seufzen, schreien, heulen, schluchzen, singen, tönen,
schimpfen.

– Einen Gegenschmerz erzeugen, indem fester Druck auf eine


andere Körpergegend ausgeübt wird.

– Körperkontakt: gestreichelt werden, massiert werden, gehal-


ten werden.

– Den Schmerz über die Füße gedanklich in die Erde fließen


lassen. Dabei kann eine Fußmassage helfen.

Unterstützende Geburtspositionen

Die klassische Position während der Geburt  – auf dem Rücken


liegend und die Beine oben in Beinhaltern abgelegt – ist auf dem
Rückzug. Und das ist auch gut so, denn diese Position unterstützt
die Anatomie der Geburt nicht besonders wirksam. Im Gegenteil.
In der Rückenlage sind die Wehen weniger effektiv und oft so-
gar schmerzhafter. Selbst in den Wehenpausen ist es schwierig zu
entspannen, da die untere Gebärmutter in dieser Lage angespannt
bleibt. Und nicht nur das. Durch einen erhöhten Druck auf die

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

großen Blutgefäße wird die Plazenta weniger gut durchblutet. In


dieser Lage ist auch die Wahrscheinlichkeit für invasive Eingriffe
wie Zange, Saugglocke oder Kaiserschnitt größer.
Besser geeignet sind Positionen, die die Schwerkraft nutzen,
also Positionen, in denen die Gebärende mehr oder weniger einen
aufgerichteten Oberkörper hat. Zum Beispiel im Stehen oder in
der Hocke. Bei beiden Varianten drückt das Köpfchen des Kindes
auf den Muttermund und öffnet diesen weit. Im Stehen sind die
Wehen besonders effektiv und weniger schmerzhaft. Bei uns ist
diese Gebärhaltung noch recht ungewöhnlich, doch in anderen
Kulturen ist sie durchaus gebräuchlich.
In der Hocke ist es ähnlich, da kann ein Gebärhocker helfen, die
Position besser auszuhalten. Der Partner kann von hinten stützen
und die Frau kann sich an ihn lehnen. Bei dieser Gebärposition ist
der Beckenausgang maximal erweitert.
Wenn es unter der Geburt Phasen gibt, in denen etwas Druck
herausgenommen werden soll, eignet sich dafür der Vierfüßler-
stand. Es ist die Standardposition bei der Beckenendlagengeburt.
Dabei wird die Plazenta besonders gut mit Sauerstoff versorgt
und auch die Wirbelsäule wird entlastet. Das ist für Frauen mit
Rückenschmerzen gut geeignet. Auch ein Geburtsball kann dabei
eingesetzt werden. In dieser Stellung besteht eine große Beweg-
lichkeit bei gleichzeitig guter Balance. Allerdings hilft die Schwer-
kraft hier nicht mit. Als Ruheposition zwischen den Wehen eignet
sich auch eine Seiten- oder Halbseitenlage.
Es ist sinnvoll, öfter mal die Position zu wechseln und sich da-
bei auf die eigene Intuition zu verlassen. Ihr Körper weiß, was
jetzt gerade gut und passend ist. Bewegung ist dabei ein wich-
tiger Faktor. Der Schmerz spielt ebenfalls eine Hauptrolle, denn
die gesunde Reaktion auf Schmerz ist Bewegung. Die Möglichkeit,
sich zu bewegen, führt die Frau in genau die richtige Geburtsposi-
tion. Sie wird von selbst die Position einnehmen, die den Schmerz
erträglicher macht. Gleichzeitig wird dies eine Position sein, die

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Geburt im Wasser: fließen und fließen lassen

vor Schäden bewahrt. Und zwar sowohl in Bezug auf den eige-
nen Körper wie auch auf den des Kindes. Das Kind wird dadurch
weniger Stress erleben und das Risiko, dass es unter der Geburt
Sauerstoffmangel erleidet, ist dadurch möglicherweise geringer.
Der Geburtsschmerz kann – so verstanden – leiten und indirekte
Anweisungen geben.

Geburt im Wasser:
fließen und fließen lassen

Wasser ist ein zutiefst weibliches Element. Es ist weich und ent-
spannt wunderbar. Viele Frauen haben gerade bei der Geburt auf
einmal das Bedürfnis, in die Geburtswanne zu steigen und dann
einfach drin zu bleiben.

Frau P. meldet sich in unserer Klinik zur Geburt an. Die Schwan-
gerschaft verläuft offenbar komplikationslos. Sie erwartet ihr ers-
tes Kind. In der Hebammensprechstunde wird sie nach besonderen
Wünschen und Erwartungen gefragt. Sie antwortet darauf spontan:
»Ich kann mir alles vorstellen, nur keine Wassergeburt!« Die Heb-
amme antwortet darauf, dass selbstverständlich dieser Wunsch re-
spektiert wird, erläutert aber dennoch die Vorteile einer Geburt im
Wasser: Sie hätte nicht nur einen geschützten Raum, wäre zudem
viel entspannter, sondern könnte auch damit rechnen, dass die Ge-
burt nicht allzu lange dauern würde. Frau P. antwortet, dass sie mit
Wasser noch nie etwas anfangen konnte und ihr schon die tägliche
Dusche schwerfalle.
Sie kommt um den Termin mit Wehen in den Kreißsaal. Bei rela-
tiv zähem Verlauf werden alle Möglichkeiten diskutiert, um für mehr
Entspannung und bessere Wehen zu sorgen. Wissend um die be-
sonderen Vorstellungen von Frau P. fasst sich Hebamme S. trotz-
dem ein Herz und versucht die ihr anvertraute Schwangere noch ein-

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

mal von den Vorzügen eines Entspannungsbades zu überzeugen. Vor


dem Hintergrund der angedeuteten Alternativen (Wehentropf, Peri-
duralanästhesie) entscheidet sich Frau P. spontan, erstmalig in ihrem
Leben, in eine Wanne zu steigen.
Da die klassische Entspannungsbadewanne belegt ist, muss
Frau P. mit der Geburtsbadewanne Vorlieb nehmen. Als sie es sich
dort bei 38 Grad gut eingerichtet hat und merkt, wie gut ihr das
warme Wasser tut, entscheidet sie sich um: »Hier gehe ich nicht
mehr ohne Kind raus!«
Die Geburt schreitet gut voran. Frau P. bekommt Presswehen, ver-
sucht nun in der Wanne eine passende Position zu finden. Aber es
fehlt ihr an Halt. Spontan bittet sie ihren völlig konsternierten Mann,
auch in die Wanne zu kommen. Dieser hat sich nicht entsprechend
vorbereitet (keine Badehose dabei), wird aber letztlich gezwungen,
in der Unterhose in die Wanne zu steigen. Frau P. kann sich an ihm
festhalten und entbindet letztlich in der Wanne im Vierfüßlerstand
ihr Baby. Überglücklich bondet das Paar in der Wanne. Zurück
an Land darf der Mann seine Unterhose gegen ein Einmalhöschen
wechseln und Frau P. steigt stolz aus der Wanne mit den Worten:
»Es lebe das Wasser!«

Eine Wassergeburt hilft nicht nur bei der Entspannung, sie ist
auch extrem sicher. Und sie ist ein angenehmer Rückzugsort für
viele Frauen. Hier sind Interventionen selten oder kaum möglich.
Hier ist Intimität und Privatsphäre weitestgehend auch in einer
Klinik möglich. Das Sein im Wasser wird als grenzenlos und ar-
chaisch empfunden. Die Wärme des Wassers entspannt zusätz-
lich und die Muskeln sprechen darauf an, indem auch sie loslas-
sen. Frauen berichten immer wieder von einem starken Gefühl
der Geborgenheit im Wasser. Aber nicht nur das: Sie fühlen sich
schwerelos und leicht und finden schneller eine gute und bequeme
Position zum Gebären. Das gilt besonders dann, wenn der Vater
mit im Wasser ist. Deshalb sollte eine Badehose für ihn immer

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Geburt im Wasser: fließen und fließen lassen

mit in die Geburtstasche! Wer mag, kann auch angenehme Düfte


(die ebenfalls entspannen können), Meersalz und eigene Entspan-
nungsmusik mitnehmen.
In einer bekannten, fünf Jahre dauernden Studie haben Dr.
Albin Thöni und Dr. Konrad Mussner vom Kreiskrankenhaus Ster-
zing, Südtirol, verschiedene Entbindungsmethoden miteinander
verglichen: die Geburt im Wasser, im Bett und auf dem Gebär-
hocker. Die Wassergeburt konnte dabei besonders punkten. Nur
bei 0,5  Prozent aller Wassergeburten musste ein Dammschnitt
durchgeführt werden. Bei der Geburt auf dem Hocker waren es
acht Prozent, bei der Entbindung im Bett immerhin 17. Damm-
risse kamen bei allen Geburtsmethoden gleich häufig vor. Bei
Wassergeburten konnte allerdings weitgehend auf Schmerz- und
Wehenmittel verzichtet werden.
Die Ärzte untersuchten bei den Erstgebärenden auch die Ge-
burtsdauer. So verlief sie bei Frauen im Wasser deutlich kürzer.
Besonders die Eröffnungsphase war im Wasser schneller. Im
Schnitt lag sie bei 381 Minuten im Wasser und bei 473 Minuten im
Gebärbett. Die Austreibungsphase war bei durchschnittlich 35 Mi-
nuten bei allen Methoden etwa gleich lang. Die Forscher erklär-
ten das positive Abschneiden der Wassergeburt mit der besseren
Entspannung des Beckenbodens und der halb aufrechten Haltung
der Gebärenden.26
Es gibt also viele gute Gründe für die Wassergeburt. Allerdings
führt die relative Unkontrollierbarkeit der Schwangeren dazu,
dass viele Geburtshelfer nicht unbedingt auf eine Wassergeburt
drängen. Das erklärt vielleicht auch die Tatsache, dass weniger als
zehn Prozent der Geburten in Deutschland im Wasser stattfinden.
Neugeborene haben übrigens einen sogenannten Tauchreflex.
Sie fangen also unter Wasser nicht an zu atmen (sie werden ja
auch noch durch die Nabelschnur mit Sauerstoff versorgt), son-
dern erst dann, wenn sie aus dem Wasser heraus sind und die
kühlere Luft sie empfängt.

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

Es gibt natürlich bestimmte Leitlinien, die festlegen, ob eine


Wassergeburt erlaubt ist oder nicht. Ausschlusskriterien sind eine
Beckenendlage, eine Frühgeburt oder auch Mehrlingsgeburten
(obwohl es durchaus Zwillinge gibt, die im Wasser problemlos auf
die Welt gekommen sind).

Leben ist Rhythmus –


so wie die Wehen

Die Geburt ist eine Entwicklung. Das Gebären ist ein Prozess, der
zur Geburt führt. Im Grunde ist auch der Kaiserschnitt ein Pro-
zess, ein operativer, zeitlich planbarer Prozess mit standardisier-
ten und festgelegten Schritten. Die Überschaubarkeit gibt allen
Beteiligten ein Gefühl von Kontrolle.
Eine Sturzgeburt ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem
Kaiserschnitt. Auch dies ist ein rascher, zeitlich begrenzter Prozess.
Dabei fällt das Kind fast aus der Mutter heraus. Wir wissen, dass
dies für Kinder mindestens so belastend ist wie eine allzu lange,
schwere Geburt. Offenbar fehlt Kindern nach sehr schnellen Ge-
burten der Prozess des Ankommens und der Anpassung. Dieser
wird hormonell begleitet, die Umstellung des Kreislaufs und der
Beginn des Atmens werden vorbereitet – genau wie alles Weitere,
was für ein Leben außerhalb des mütterlichen Körpers wichtig ist,
etwa die Temperaturregulation und die Verdauung. Man kann sich
vorstellen, dass für diese einmalige und nie wiederkehrende An-
passungsleistung nach der Geburt Vorbereitung nötig ist.
Wir neigen heute dazu, zu negieren, dass es bestimmte Prozesse
im Laufe eines menschlichen Lebens gibt und manche von ihnen
viel Zeit brauchen. Das Erwachsenwerden, die Wechseljahre, das
Altern, der Prozess der Gesundung nach einer Erkrankung. Vieles
wird abgelehnt oder ignoriert, weniges akzeptiert und integriert.
Unser Zeitgeist suggeriert eine völlig neue Bewertung von Zeit.

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Leben ist Rhythmus – so wie die Wehen

Die Rhythmen sind aufgehoben. Es wird viel gearbeitet mit »open


end«. Dazwischen findet die Freizeit statt, doch im Regelfall gibt
es eine Work-Life-Inbalance. Es wird in Richtung Feierabend und
Urlaub gelebt – der dann aber auch keiner ist, weil dazwischen
immer noch mal etwas erledigt wird. So ist es auch bei der Geburt.
Prozessqualitäten werden zwar gesehen, aber nur unter dem
Blickwinkel von Effizienz und Effektivität. Gebären ist auf seine
eigene Weise hoch effektiv, das Kind ein unglaublicher Effekt.
Aber diese Effizienz ist etwas anderes, als man gemeinhin defi-
niert: Effizienz lässt sich messen, planen, kontrollieren, gradieren.
Die Effizienz der Geburt hat ihre eigenen Determinanten. Sie lau-
ten: Hingabe, Liebe, Vertrauen, Betreuung und Kontinuität.
Sport ist eine Wissenschaft. Eine spannende. Es geht um Span-
nung und Entspannung. Sport ist nichts anderes als Bewegung in
unendlichen Varianten. Ohne Bewegung gibt es keine Entwick-
lung, passiert Stillstand, Paralyse. Wer in die Paralyse gerät, zum
Beispiel depressiv wird, kommt gar nicht mehr auf die Beine. Sport
ist dann Therapie: Körperliche Verausgabung als Grenzerfahrung.
Sie schafft Spannung, die erst Entspannung ermöglicht. Beides ist
die Voraussetzung für ein gelingendes, glückliches Leben. Das Be-
dürfnis, sich lebendig zu fühlen, hat inzwischen dazu geführt, dass
Extremsport immer beliebter wird. Die eigenen Grenzen auszu-
testen und zu überschreiten und sich damit auch ein Stück selbst
zu beweisen, scheint gerade in behüteten Zivilisationen eine un-
geheure Anziehung zu haben. Menschen wollen offenbar wissen,
wie weit sie in der Lage sind zu gehen. Wie weit sie es aus eigener
Kraft schaffen. Wer tagein, tagaus am Bildschirm sitzt und seinen
Körper nicht mehr spürt (außer er macht sich durch Rückenbe-
schwerden, Nackenschmerzen oder Augenflimmern bemerkbar),
braucht einen Ausgleich, braucht Bewegung und vielleicht auch
ein Kräftemessen.
Was das mit der Geburt zu tun hat? Eine Geburt ist ein Mara-
thon, eine Geburt ist ein Achttausender. Verausgabung schafft die

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Wie es eine gute und glückliche Geburt werden kann

Voraussetzung für die gelöste Entspannung nach der Niederkunft.


Die Gesichter von Sportlerinnen im Ziel ähneln denen von frisch-
gebackenen Müttern. Bilder wie diese sind konkret. Sie lösen das
Abstrakte der Unvorhersagbarkeit der Geburt ein wenig auf, da-
her sind sie das beste Rüstzeug für die Geburtsvorbereitung. Sie
machen Gebären plastisch!
Wehen entwickeln sich im individuellen Rhythmus und sind
genauestens an das Befinden der Gebärenden angepasst. Das ist
wichtig zu wissen. Besonders, wenn aufgrund von einem hohen
Stresslevel die Wehen schwächer werden. Erst, wenn wieder ein
Zustand der Entspannung erreicht und der Parasympathikus sti-
muliert wird, können die Wehen ihren Rhythmus wiederfin-
den. Wird in diesen Rhythmus zu rasch von außen eingegriffen
(Wehenmittel), kann dies das gesamte System verändern. Ent-
spannungsübungen und auch Singen und Tönen können helfen,
das System zu beruhigen, damit sich der eigene Rhythmus wieder
einstellen kann.

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Auf eine gute Begleitung
kommt es an

Zur Kunst des Gebärens gehört an erster Stelle eine perfekt abge-
stimmte Betreuung. Diese wird am ehesten gewährleistet durch
eine vertraute Hebamme in der sogenannten Eins-zu-eins-Be-
treuung. Es gibt genügend Hinweise, dass sich dieses Konzept
»auszahlt«. Zumindest aus Sicht der Kassen. Denn derart betreute
Geburten sind risiko- und interventionsärmer, sprich preiswerter.
Das Problem ist, dass sie für die Krankenhäuser kostenintensi-
ver sind und weniger Geld einbringen. Das Spardiktat führt dann
dazu, dass immer weniger Hebammen immer mehr Geburten be-
treuen müssen und aufgrund der weniger intensiven Betreuung
mehr Komplikationen auftreten.
Erst wenn die Intervention zum Verlustgeschäft wird und eine
Klinik für Zurückhaltung belohnt wird – sprich, wenn eine Nor-
malgeburt mehr Geld bringt als ein Kaiserschnitt  –, erst dann
kann sich dieser Widerspruch auflösen. Wir sind weit entfernt da-
von. Trotzdem bin ich guter Hoffnung. Der Markt der Geburtshilfe
ist einer, auf dem mit den Füßen der Frauen und ihren Bedürf-
nissen abgestimmt wird. Letztlich werden Frauen sich eine Klinik
aussuchen, in der sie die besten Betreuungsangebote für sich se-
hen. Den Bedürfnissen der Frauen wird auf diese Weise Rechnung
getragen. Und sie merken auch sehr gut, wo es um »echte« Be-
treuungskonzepte geht, oder wo nur mit wohltönenden Bekennt-
nissen (Geburt als »Wellness«) etwas versprochen wird, das nicht

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

zu halten ist. Frauen haben ihr inneres Gespür dafür nicht verlo-
ren. Kliniken, die dies nicht berücksichtigen, werden dies an den
Belegzahlen zu spüren bekommen.
Allerdings sind immer weniger Hebammen bereit, Tag und
Nacht zur Verfügung zu stehen. Und das ist durchaus verständ-
lich – geregelte Arbeitszeiten haben ihren Charme. Ebenso wie
eine Festanstellung. Wir kommen also nicht umhin, Konzepte zu
entwickeln, bei denen eine gute Betreuung auch im Team möglich
ist. Die psychosomatische Forschung bestätigt, dass gute Teamar-
beit bei einer Geburt einer Einzelbetreuung durchaus nahekommt.
Das ist alles eine Frage nahtloser und intensiver Übergabekultur
im Schichtwechsel und der Bereitschaft zu einem gewissen Grad
an Flexibilität, um im entscheidenden Moment nicht abtreten zu
müssen. Daneben sollte das Grundprinzip des hebammengeleite-
ten Kreißsaals beherzigt und die ärztliche Präsenz (insbesondere
die handelnde) minimiert werden.
Selbstverständlich ist auch die Kommunikation ein wesentli-
cher Faktor für eine gute Geburt. Wenn es Stoßzeiten im Kreißsaal
gibt und alle Hebammen ausgelastet sind, ist es wichtig, dies der
Gebärenden mitzuteilen. Sie kann sich dann darauf einstellen und
ihre Erwartungshaltung korrigieren. Wird dies nicht kommuniziert,
kann sich ein Gefühl des Defizits, des nicht genügenden Versorgt-
werdens einschleichen. Und auch dies wird sich negativ auf die Ge-
burt auswirken, obwohl es einfach hätte vermieden werden können.
Letztlich lässt sich eine gute Betreuung im Team nur mit dem
passenden Personalschlüssel umsetzen. Dort, wo so kalkuliert
wird, dass eine Hebamme generell zwei Geburten parallel lei-
ten muss, gibt es eine Schieflage, die zum Risiko für das Gebären
wird. Dies ist daher auch eine wichtige Frage für die Infoabende.
Als Chefarzt von Deutschlands erstem babyfreundlichen Kran-
kenhaus habe ich mal versucht, unsere sogenannten B.E.St.-Kri-
terien (Bindung, Entwicklung, Stillen) für ein geburtsfreundliches
Krankenhaus auszuformulieren.

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

Demnach soll das »B« für Betreuung stehen, dem wichtigsten


Garant für natürliche Geburtsverläufe. Betreuung steht und fällt
mit guter Kommunikation.
Das »E« bringe ich mit Entängstigung in Zusammenhang. In
Zeiten, in denen alle nur noch die Risiken sehen, regiert die Angst
und bestimmt den Geburtsmodus, was sich meist in der Bevor-
zugung des Kaiserschnitts zeigt. Angst braucht einen Gegenspie-
ler, nämlich den dosierten Mut. Dieser bekommt Rückendeckung
durch veränderte Sichtweisen in der Rechtsprechung, aber auch in
Form einer neuen Leitlinie.
Das »S« würde für Sinnfindung und Sinnstiftung stehen. So-
lange wir den Sinn des Gebärens und den Unsinn des geplan-
ten Kaiserschnitts nicht wissenschaftlich hinterfragt haben, wird
es keine Argumente geben. Ist der Sinn gefunden, gilt es, diesen
allen an der Geburt Beteiligten wieder zu vermitteln.
Das »T« steht für mich für Training. Die Kunst der Geburtshilfe
geht zunehmend verloren und wird allenfalls im Reich der Virtua-
lität gelehrt und geprüft. Dem gilt es entgegenzuwirken durch täg-
lich praktizierte Geburtshilfe.
Über all den Punkten steht das Thema Kommunikation, aber
auch so etwas wie Körpersprache und eine innere Haltung. Ge-
burtshilfe orientiert sich heute tendenziell eher am Maschinenmo-
dell und demnach an den Befunden. Dabei gibt es viel wichtigere
»Bs«. Geht es doch um Bindung, um Beziehung, um Betreuung
und die Frage der Befindlichkeit.
Die schottische Wissenschaftlerin Vanora Hundley ist eine der
bedeutendsten Forscherinnen auf dem Gebiet des Geburtserle-
bens. Sie hat herausgefunden, dass es beim Geburtserleben auf
drei Dinge ankommt, die sie wiederum als die drei Cs bezeichnet
hat. Diese stehen für die englischen Begriffe: Control, Continuitiy,
Choice. Das bedeutet im Deutschen: Kontrolle, Kontinuität und
Beteiligung. Was heißt das im Einzelnen?
Kontrolle: Obwohl es wünschenswert wäre, Hingabe ganz ins

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

Zentrum einer Geburt zu stellen, geht es letztlich doch darum,


das Maß an Kontrolle so weit zu regulieren, dass zumindest kein
Gefühl von absolutem Kontrollverlust entsteht. Dies gilt es insbe-
sondere zwischen Hebamme und betreuter Frau auszuloten. Wie
sehr kann ich die Dinge auch in der Hingabe noch selbst kontrol-
lieren? Wie viel Hilfe brauche ich bei der Kontrolle von außen?
Wenn es gelingt, dies individuell abzustimmen, ist ein wichtiger
Baustein für ein gutes Geburtserleben gesetzt.
Kontinuität: Für ein gutes Geburtserleben braucht man einen
stimmigen roten Faden. Den legt am besten eine Person. Dies ist
ein Plädoyer für die Eins-zu-eins-Betreuung, im besten Fall die
Betreuung durch ein und dieselbe Hebamme in Schwangerschaft,
Geburt und Wochenbett. Da das leider nicht immer möglich ist,
muss es gelingen, durch gute Teamarbeit ein Gefühl von Konti-
nuität entstehen zu lassen, was nichts anderes bedeutet, als dass
es keine »Bruchrillen bei der Betreuung« gibt, insbesondere durch
widersprüchliche Aussagen. Wer Kontinuität in der Betreuung er-
lebt, ist auf einem guten Weg.
Beteiligung: Mit Beteiligung ist gemeint, dass die Gebärende
bei allen Entscheidungen miteinbezogen wird. Selbstredend gibt
es Vorgaben, Leitlinien und subjektive Einschätzungen, die in das
Beratungsgespräch einfließen. Letztlich geht es für die Geburts-
helfer aber darum, individuelle Vorstellungen – so sie nicht un-
mäßig gefährlich sind – zu akzeptieren und zu begleiten. Wir Ge-
burtshelfer sollten nicht so tun, als ob wir immer wüssten, was für
Mutter und Kind gut ist. Zumindest sollten wir die anderen Sicht-
weisen hören und bedenken. Das Spektrum der individuellen Vor-
stellungen, wie eine Geburt sein soll, reicht von einer Hausgeburt
bis zu dem Wunsch nach einem geplanten Kaiserschnitt. Je mehr
wir diese Vorstellungen respektieren und einbeziehen, desto bes-
ser ist letztlich das Geburtserleben. Falls wir bestimmte Schritte
für zwingend erforderlich erachten, müssen wir mit guten Argu-
menten und Überzeugungskraft dafür sorgen, dass unsere Vor-

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

stellung vom richtigen Vorgehen auch letztlich zum Wunsch der


betreuten Familien wird. Das ist eine große, aber eigentlich immer
erreichbare Kunst.
Meine Erfahrung ist die, dass wenn die drei Cs gut bedient wur-
den, das Geburtserleben letztendlich auch dann positiv ist, wenn
nicht das Erwartete und Gewünschte passiert ist. Die Traurig-
keit darüber vergeht wieder. Eine Traumatisierung ist fast aus-
geschlossen. Diese entsteht nämlich meist dann, wenn Frauen an
sich zweifeln. Wenn sie mit sich hadern, dass sie Dinge mit sich
haben geschehen lassen, die sie eigentlich gar nicht wollten. Dies
kommt bei Berücksichtigung der genannten Aspekte fast nie vor.
In der Gesamtbilanz werden diese Frauen sagen: »Es ist anders
gelaufen, als ich es mir vorgestellt habe, aber ich war unter Kon-
trolle, wurde fantastisch betreut und fühlte mich immer beteiligt.
Alle haben ihr Bestes gegeben und unter den gegebenen Umstän-
den richtig entschieden. Der Kaiserschnitt musste sein. Ich kann
damit gut leben.«
Hier fließt natürlich die emotionale Kommunikation, aber auch
die innere Gestimmtheit ein. Wer sich mit dieser auseinanderset-
zen möchte, muss ein wenig über Placebo- und Nocebo-Effekte
wissen. Der Glaube an das Gelingen und die eigene Wirksam-
keit löst eher Placebo-Effekte aus, sprich: Die Wahrscheinlichkeit,
dass das Erwartete auch eintrifft, steigt. Ähnliches gilt umgekehrt
für Nocebo-Effekte: Wer nur in Risiken denkt, schafft damit sol-
che! Und jedes sorgenvolle Gesicht im Kreißsaal ist schon Nocebo
genug, um eine vertrauensvolle Hingabe an die Geburt ins Wan-
ken zu bringen.
Die neurobiologische Forschung bestätigt diese psychologi-
schen Kenntnisse. Ein gutes Gefühl macht eben auch ein gutes
Gefühl. Diese Effekte schaffen bei den Schwangeren, bei den be-
gleitenden Vätern, aber auch bei den Geburtshelferinnen und Ge-
burtshelfern eine innere Gestimmtheit, welche natürlich auch
Einfluss auf die Abläufe nimmt.

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

In diesem Zusammenhang muss auch ich mir trotz großer Er-


fahrung immer wieder an die eigene Nase fassen, wenn sich in
mir innere Bilder auftun. So erinnere ich mich an eine sehr kleine
Frau in Begleitung eines hochgewachsenen, voluminösen Man-
nes, welche mich nach einem Infoabend auf die Möglichkeit einer
natürlichen Geburt nach einem Kaiserschnitt ansprach. Im Stil-
len musste ich laut lachen in Anbetracht dieses Ansinnens und
des von mir vermuteten Missverhältnisses von Babykopf und Be-
cken. Selbstverständlich hat meine vernünftige Stimme der Frau
geraten, die Spontangeburt zu versuchen. Als ich eines Morgens
in den Kreißsaal kam, begegnete mir diese Frau glückselig, weil
sie nachts ihr 4000-Gramm-Baby innerhalb von einer Stunde in
der Geburtswanne ohne Dammschnitt geboren hatte. Das sind die
Momente, in denen ich demütig werde.

Eine Geburt ist intim und privat

Eine Geburt ist ein sexueller Akt, ein Akt, der Hingabe und Selbst-
bezogenheit fordert, und ein Akt, der Scham auslösen kann, auf-
grund ungezügelten Emotionsäußerungen und der Absonderung
von Körperflüssigkeiten aus verschiedenen Öffnungen. Es ist eine
Zerreißprobe im wahrsten Sinne des Wortes und damit eigentlich
etwas, bei dem sich ein normaler Mensch gern in seine Höhle zu-
rückzieht. Die hochmoderne Geburtsmedizin aber verbietet dies
größtenteils. Sie überwacht den ganzen Vorgang und viele Per-
sonen sind dabei anwesend. Das war noch vor gar nicht so langer
Zeit nur Risikogeburten vorbehalten.
Es gibt im Zusammenhang mit einer Geburt also noch im-
mer so etwas wie »Schamangst«. Damit meine ich die Vorstel-
lung: »Wie wirkt mein Verhalten (Schreien, Stöhnen) auf die An-
wesenden im Raum? In einem vertrauten Setting ist diese Angst
noch am geringsten ausgeprägt, deshalb geht es darum, eine

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Wenn aus Männern Väter werden

Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Gebärende wirklich fal-


len lassen kann. Sie braucht eine Umgebung, in der sie sich aufge-
hoben und beschützt fühlt. In der sie nicht kämpfen muss, damit
ihre Vorstellungen und Wünsche berücksichtigt werden. Sobald
sie in den »Kampf-Modus« schaltet, ist Hingabe nur noch schwer
möglich. Während der Geburt ist nicht der Zeitpunkt für Grund-
satzdiskussionen. Sobald die Frau das Gefühl hat, dass sie miss-
verstanden wird, dass ihre Wünsche nichts gelten, verkrampft sie
oder macht im schlimmsten Fall »zu«.
Es kann eine Aufgabe für den begleitenden Vater sein, dafür
zu sorgen, dass alles, was seine Partnerin beim Gebären stören
könnte, von ihr ferngehalten wird. Er übernimmt damit die klassi-
sche Beschützerrolle in ihrer besten Ausprägung.

Wenn aus Männern Väter werden –


und wie sie die Geburt begleiten können

Sie werden sich fragen, was die Väter mit der Kunst des Gebärens
zu tun haben. Ich meine: immer mehr! Und ich setze große Hoff-
nungen auf die Männer. Im Rahmen eines unerforschten Kul-
turexperiments hat man sie auf Wunsch der Frauen oder der
Geburtshelfer (da streiten sich die Geister) zur jeweiligen Unter-
stützung in eine Tabuzone geholt und immer intensiver in alle
Belange der Elternschaft integriert. Die Männer sind nun da und
nicht mehr wegzudenken. Sie formieren sich zu einer neuen Spe-
zies von Vätern – in historisch beispielloser Art. Wir sollten das
Beste daraus machen.
Aus psychosozialer Sicht können Männer eine wichtige Rolle
als Begleiter und Betreuer von Kindern einnehmen. Und sie
können ihren Frauen bei der Geburt eine Stütze sein. Sie können
begleiten, betreuen, motivieren – kurz zum Teamplayer in der Ge-
staltung der Kunst des Gebärens werden. So wie wir wissen, dass

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

aufgeklärte Väter ihre Frauen beim Stillen unterstützen und es so-


gar oft erst möglich machen, so können wir davon ausgehen, dass
Männer, die den Sinn des Gebärens verstanden haben, auch ein
Meilenstein auf dem Weg zur normalen Geburt sein können.
Natürlich gibt es auch die technokratisch und pragmatisch den-
kenden Männer, die das Heil in der instrumentalisierten Geburts-
hilfe sehen. Das liegt aber meist an einer ungenügenden oder un-
spezifischen Geburtsvorbereitung für Männer und ihren daraus
resultierenden falschen Erwartungen. Die Beteiligung an der Ge-
burt hat Männer aber grundlegend emotionalisiert und damit
auch empfänglich gemacht für die Philosophie der Geburt. Da
ruht ein immenses Potenzial an Unterstützung für natürliche Ab-
läufe.
Diese Goldgrube liegt häufig noch unentdeckt neben den rein
frauenbezogenen Konzepten zur Geburtsvorbereitung, welche
Männer bei allem Engagement doch nur zu Statisten machen.
Hier gibt es Nachholbedarf, aber auch die große Chance, Frauen
über bewusste und aufgeklärte Männer zu erreichen und zu be-
stärken. Wenn Frauen schwanger werden und gebären, wird Män-
nern noch einmal unmissverständlich klar, dass sie eben nur Män-
ner sind! Das ist manchmal bitter, aber es ist auch hilfreich. Und
es stellt den Unterschied und das Besondere zwischen den Ge-
schlechtern noch einmal heraus. Das vereint und schafft Distanz
zugleich.
Männer sind testosterongesteuerter als Frauen, was mögli-
cherweise ihre pragmatischere Denkweise erklärt. Sie beneiden
Frauen häufig um ihr Einfühlungsvermögen. Das Hauptproblem
des heute zur Geburt fast zwangsverpflichteten Mannes ist seine
unklare Rollendefinition: zwischen Mitleidendem und unbeteilig-
tem Trittbrettfahrer, Doula und Geburtshelfer, zwischen Anwalt,
Kläger und Beklagtem. Dafür machen das die Männer heute recht
gut. Ob sie nun durch die Emanzipation der Frauen emotionali-
siert wurden und daher gute Geburtsbegleiter wurden, oder ob

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Wenn aus Männern Väter werden

die Anwesenheit bei der Geburt sie emotionalisiert hat, lässt sich
schwer sagen. Wir wissen wenig über das väterliche Geburtser-
leben. Was wir wissen ist, dass viele Männer sich nicht ausrei-
chend vorbereitet fühlen und dies offenbar auch nicht sind. Daher
erklärt sich ihre häufig völlig falsche Erwartungshaltung, die zu
einer Enttäuschung führen kann.

Frau M. liegt in den Wehen. Der Muttermund ist schon lange geöff-
net. Geburtsstillstand in Beckenmitte. Suspektes CTG . Das zustän-
dige Team bittet mich um Rat. Ich betrete den Kreißsaal. Flehender
Blick einer verzweifelten Mutter. Zunächst unscheinbar: ein kleiner
Mann an ihrem Kopf. Ich tue, was ich zu tun habe, relativiere das
CTG , treffe Anordnungen, spreche mit der Frau, kündige mein Wie-
dererscheinen in 20 Minuten an und will den Raum verlassen. Da
baut sich vor mir der Mann auf und poltert:
»Wenn ich meinen Job so beschissen machen würde wie Sie hier,
wäre ich schon längst rausgeflogen!«
Stille
Stille
Innehalten
Ruhig bleiben
Meta-Ebene: Bin ich beleidigt, gekränkt, entrüstet, wütend?
Ja! Von allem ein wenig.
Aber: Warum macht er das? Hat er Angst? Ist er überfordert?
Macht er sich Sorgen? Spürt er einen Kontrollverlust? Will er, der
kleine Mann, seiner Frau Stärke zeigen? Fühlt er sich nicht gesehen?
Ja! Von allem ein wenig.
Wie reagiere ich? Wie würden Sie reagieren?
Denkpause.
Ich spürte, dass der Mann eine Auszeit braucht. Dass er vielleicht
sogar rausgeschickt werden möchte, weil er nicht helfen kann und
hilflos ist.
Ich schlage also ebendies vor:

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

»Gehen Sie doch mal ein wenig raus, eine rauchen oder einen
Kaffee trinken. Ich mach hier mal meinen beschissenen Job weiter
und helfe Ihrer Frau und Ihrem Kind. Wir holen Sie dann wieder.«
Wortlos geht der Mann.
Es gibt eine Saugglocke. Alle sind wohlauf. Der Mann kommt
sichtlich erleichtert ins Geburtszimmer. Er weint. Er ist still!
Beim Nähen  – der Mann ist wieder draußen  – fragt mich die
peinlich berührte Mutter, wie ihr Mann denn sein Fehlverhalten gut-
machen könne. Ich erkläre mein Verständnis für seine Situation, sage
aber auch, dass ich mich über eine Entschuldigung freuen würde.
Der Mann hat die Größe, sich zwei Tage später mit Schokolade
und einem Tränchen im Auge bei mir zu entschuldigen. Respekt!

Wie viele Männer wohl Ähnliches auf den Lippen haben und sich
nur nicht trauen, auf den Tisch zu hauen? Der Mann im Kreiß-
saal – selbstverständlich, aber unerforscht.
Dieses Beispiel mag auch verdeutlichen, wie sehr wir im Kreiß-
saal mit Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert sind. Unsere
industrialisierte Gebärkultur hat Familien komplett entmündigt
und abhängig gemacht von Experten, welche nur von Risiken
sprechen. Kein Wunder, dass viele Frauen keine eigenen Vorstel-
lungen vom Gebären haben und uns ihren Bauch einfach über-
lassen. Vom Wunschkaiserschnitt bis zur abgebrochenen Hausge-
burt: Jeder erwartet von uns volles Verständnis, vollsten Einsatz,
Dauererklärungen, höchste Kompetenz und beste Betreuung. Wir
leisten das gerne, aber manchmal überfordern wir uns damit auch.
Frauen haben über Jahrmillionen ein kollektives Unterbewusst-
sein zur Geburt entwickelt. Männer hatten dafür nur 40–50 Jahre
Zeit. Ein Grund mehr, Männer gezielter, intensiver und womög-
lich gendergerechter auf die Geburt vorzubereiten. Der Rollen-
konflikt, Testosteron, mangelndes Wissen und falsch verstandenes
Mitleid können Gründe sein, warum Männer eher zum Handeln
und zur Intervention neigen und diese dann auch subtil oder offen

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Wenn aus Männern Väter werden

einfordern. Wenn Männer ihre Frauen noch mehr in ihrer Gebär-


potenz unterstützen würden, weil sie mehr von der Geburt und
ihrer Bedeutung verstanden haben, könnte dies zu einer gelunge-
nen Geburt beitragen.
Aufgrund der allgemeinen Verunsicherung von Vätern im
Kreißsaal habe ich das ABC der Männer-Geburtshilfe entwickelt:

– Deine Frau ist eine andere unter der Geburt – für sie ist alles
erlaubt.

– Es geht darum, nicht zu stören.

– Deine Anwesenheit allein ist hilfreich genug!

– Lenk deine Frau nicht ab.

– Reagiere nur auf ihre Wünsche und hilf ihr, solche zu for-
mulieren.

– Respektiere ihre Entscheidungen.

– Beobachte die Zusammenarbeit von deiner Frau und der


Hebamme.

– Frage nur das Nötigste.

– Häng den Werkzeugkoffer an die Wand – es gibt nichts zu


tun!

– Sorge für dich, damit deine Frau das nicht auch noch tun
muss.

– Bleib am Kopf deiner Frau.

– Fotografiere nur mit deinen Augen, dann bleibt die Geburt


ein Geheimnis.

– Geh raus, oder lass dich rausschicken, wenn nötig.

– Halte Hilflosigkeit, Angst und Ohnmacht aus.

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

– Hilf deiner Frau, die Geburt aufzuarbeiten.

– Der Weg ist das Ziel.

– Nicht dabei zu sein ist weder lieblos noch feige, sondern


manchmal sinnvoll.

– Mann kann nicht versagen (außer du hältst dich nicht an die


Regeln).

Männer können durchaus eine wichtige Rolle im Kreißsaal über-


nehmen. Sie können darauf achten, dass es ihrer Frau gut geht.
Atmosphärisch meine ich. Dass zum Beispiel die Chemie zwi-
schen Hebamme und Gebärender stimmt. Denn das ist ein wich-
tiger Faktor bei der Geburt. Die Frau muss das Gefühl haben, dass
sie sich vertrauensvoll fallen lassen kann, weil ihr eine Hebamme
zur Seite steht, von der sie sich verstanden fühlt. Wenn es da Rei-
bungsverluste gibt, ist es ratsam, einen Hebammentausch vorzu-
nehmen. Wenn ein Vater bemerkt, dass es da stimmungsmäßig
nicht ganz rund läuft (was nichts mit den fachlichen Kompetenzen
zu tun hat), dann wäre es nach Absprache seine Aufgabe, kurz den
Kreißsaal zu verlassen und dafür Sorge zu tragen, dass es zu einem
Wechsel kommt. Seine Frau würde das vielleicht gar nicht einfor-
dern, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt ist, aber sie wird es
sehr zu schätzen wissen, wenn nach der Ablösung plötzlich alles
leichter geht.
Auch Vaterschaft will gelernt sein. In den letzten Jahren hat sich
zwar schon viel getan, doch hier gibt es noch immer Nachholbe-
darf. Es ist eine große Chance, Frauen über bewusste und aufge-
klärte Männer zu erreichen und zu bestärken. Die Zukunft des
Gebärens ist also auch eine männliche.

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Eine friedliche Geburt für eine friedliche Gesellschaft

Eine friedliche Geburt


für eine friedliche Gesellschaft

Die Geburt ist nicht alles, aber sie ist besonders. Sie ist Metapher,
Signal, Start, Beispiel, Wegweiser. Wir sollten sie nicht überhö-
hen, aber sie ist und bleibt das einzige Wunder, an das wir auch
heute noch glauben.
Die Geburt ist damit die Chance zur Weichenstellung für die
Art und Weise, wie wir Neugeborene in unserer Gesellschaft be-
grüßen. In der Wirtschaft wird man sich zunehmend der Bedeu-
tung von Pförtnern bewusst. Sie sind die Türöffner. Und der erste
Eindruck zählt. Daher ist es nicht egal, durch welche Pforte wir ins
Leben treten und was sich hinter ihr auftut. Fühlt sich das warm
und freundlich an? Bin ich willkommen? Macht man es mir schwer
oder leicht? Gibt man mir Zeit? Fordert und fördert man mich?
Es kann gut sein, dass dieses Ankommen viel bedeutender ist,
als wir ahnen. Wir werden es nie in Gänze herausfinden können,
aber gilt nicht auch hier: im Zweifel immer für das Kind. Daher
sollten wir das, was wir für uns selbst im Alltag als friedvoll und
wohltuend empfinden, als Maßstab für die Begrüßung bei dem
zentralen Lebensereignis »Geburt« nehmen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie
Menschen bei ihrer Geburt empfangen werden und der Friedfer-
tigkeit einer Gesellschaft? Ich glaube schon. Eine friedliche Geburt
führt zu einer friedlichen Gesellschaft. Auch wenn die These dem
einen oder der anderen vielleicht etwas hochgegriffen vorkommen
mag, ich glaube fest daran. Friede ist ein multikausaler Zustand,
doch erfahren lässt er sich schon bei den ersten sozialen Begeg-
nungen in einer wie auch immer gearteten Familie, und gerade
auch bei der Geburt.
Bei den Spartanern, für die der Krieg eine große und wichtige
Rolle spielte, und die in der Erziehung ihrer männlichen Nach-
kommen Wert darauf legten, sie zu unerschrockenen Kriegern

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

heranzuziehen, spiegelte sich das in der Art der Begrüßung auf


dieser Welt wider. Männliche Neugeborene wurden auf den Boden
geworfen, wer das gut wegsteckte, passte in die Gesellschaft. Von
anderen ethnomedizinischen Forschungen wissen wir, dass Ge-
sellschaften, die Mutter und Kind rund um die Geburt unterstüt-
zen und ihnen einen angenehmen Empfang bereiten, weniger zu
kriegerischen Auseinandersetzungen neigen.
Somit ist die Geburt in gewisser Weise auch ein Politikum.
Eines, welches viel mehr öffentliches Interesse bräuchte. Die
schrittweise Technisierung der Geburt und die Nichtachtung psy-
chologischer, sozialer und physiologischer Faktoren könnte zu
Szenarien führen, bei denen es uns kalt den Rücken herunterläuft.
Ich habe ein solches Szenario entworfen, denn oft wird in der Zu-
spitzung deutlich, was im »normalen« bereits als Tendenz ange-
legt ist.

Geburt und Fortpflanzung im 22. Jahrhundert –


die Geschichte einer fraglichen Optimierung
Ilse steht sinnierend vor ihrem Schreibtisch und betrachtet ein Fami-
lienfoto. Ilse und ihre drei Schwestern sind alle durch Kaiserschnitt
zur Welt gekommen. Das ist zu dieser Zeit gar nichts Besonderes
mehr. Solange sie zurückdenken kann, werden Kinder per Kaiser-
schnitt geboren. Lediglich von der Ur-Urgroßmutter wird berichtet,
dass sie ein Kind noch vaginal zur Welt gebracht hatte.
Als Ilse im Familienalbum das vergilbte Foto dieser Ur-Urgroß-
mutter betrachtet, fällt ihr auf, was diese für ein breites Becken hatte.
Auf dem Foto sieht man sie glücklich lächelnd und schmusend mit
einem Baby im Arm.
Wenn Ilse das Foto mit ihren Schwestern betrachtet, sieht sie, wie
schmal sie alle sind. Keine der Schwestern hatte bis jetzt ein Kind.
Keine hatte Lust dazu. Sie schmunzelt bei dem Gedanken, dass ihre
Großmutter noch etwas von Sex und Liebe erzählt hat. Heutzutage
sind das alles Fremdwörter.

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Eine friedliche Geburt für eine friedliche Gesellschaft

Zeugung und Geburt sind heute durchgeplant. In der obersten


Schublade ihres Schreibtisches liegt eine genaue Beschreibung, wie
Ilses Designerbaby sein soll.
Es klingelt – wahrscheinlich Werner, ihr Mann. Ilse nimmt noch
schnell einen Hub Nasenspray mit Oxytocin, weil sie ansonsten wie-
der vergessen würde, ihm einen Begrüßungskuss zu geben.
Im Laufe des Abends kommt das Gespräch auf Fortpflanzung.
Werner berichtet, dass es nun endlich gelungen sei, Kinder ganz in
einem künstlichen Uterus aufzuziehen, um den Frauen das schreck-
liche Schicksal einer Schwangerschaft zu ersparen. Das Schöne wäre,
dass man sein Kind, wann immer man wolle, in seiner gläsernen
Gebärmutter besuchen und wachsen sehen könne. Bei diesen Besu-
chen würden der fruchtwasserartigen Nährflüssigkeit ein paar Sprit-
zer Bindungshormone hinzugefügt, und schon würde das von der
Stimme der Eltern angelockte Baby mit diesen in einen intensiven
Kontakt treten.
Ilse ist von dieser Idee begeistert. Endlich ist der Fluch der Erb-
sünde überwunden, endlich gibt es Babys den eigenen Wünschen
und Perfektionsvorstellungen entsprechend, ohne die belastende Zeit
von Schwangerschaft und Geburt.
Wenn das Baby reif ist, öffnet sich unter Fanfaren die Retorten-
kammer. Die Geburt selbst findet im feierlichen Beisein der gesamten
Familie statt. Die Eltern können beobachten, wie das Kind aus der
künstlichen Gebärmutter über einen Gebärkanalsimulator zur Welt
kommt. Am Ausgang des Simulators steht eine richtige Hebamme,
nimmt das Baby in Empfang und bringt es in das Bonding-Zimmer,
wo die Eltern nun vier Stunden ungestört bleiben. In dieser Zeit fin-
det sich die junge Familie und bindet sich für ein Leben.
Ilse ist fest entschlossen. Sie wird gleich am nächsten Tag einen
Termin im Retortenzentrum ausmachen. Wie schön, dass ihr auch
die künstliche Befruchtung erspart bleiben wird. Längst wurden per
Computer eine Ei- und Samenzelle nach ihren Wünschen designed.
Es soll ein Mädchen werden. Weder eine Gebärmutter noch Brüste

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

wird dieses Kind haben, dafür hat sie gesorgt. Im Keller lagert noch
jede Menge Bindungsmilch. Die hat es einmal im Sonderangebot ge-
geben. Ilse ist wirklich heilfroh in dieser Zeit zu leben – was ihr alles
erspart bleibt!
Im Badezimmer betrachtet sie kurz Werner. An ihm ist in männ-
licher Hinsicht nicht viel übrig geblieben, sie sind sich im Körperbau
sehr ähnlich. Wie gut, dass endlich diese Unterschiede zwischen den
Geschlechtern nicht mehr so offensichtlich sind.
Während sie noch im Ratgeber zum Retortenbaby ein paar Seiten
liest, schlürft Werner zufrieden seinen Lustlos-Tee. Auch er ist froh,
dass männliches Begehren zum Fremdwort geworden ist und denkt
mit Mitgefühl an seinen Großvater zurück, der ohne Viagra nicht
mehr leben konnte. All dies hat er nicht mehr nötig. Ilse denkt in die-
sem Moment an die überholten Kernsätze der Beziehungskurse, die
ihre Großeltern noch besuchen mussten. Da hieß es zum Beispiel:

– Wenn du sexuelle Probleme haben willst, dann such dir einen


Partner.

– Orgasmus heißt nur, dass es vorbei ist.

– Männer haben, Frauen bekommen Lust.

– Lebenspartnerschaften und Leidenschaft schließen sich aus.

All dies ist längst unbedeutend geworden. Der Mensch ist befreit von
biologischen, sexuellen und sozialen Zwängen. Wie einfach ist doch
alles geworden, wie perfekt und geregelt ist die Welt. Welche Freude
muss Gott an seiner Schöpfung haben!

Vielleicht kommt Ihnen das jetzt weit hergeholt vor. Dabei sind
wir von der Umsetzung nur ein paar Gigabytes entfernt. Wollen
wir das? Wie so vieles liegt die Antwort in der Zukunft. Und auch
über richtig und falsch wird erst dann entschieden. Nur eines soll-
ten wir tun. Bevor wir uns noch aktiver für die Abschaffung des

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Eine friedliche Geburt für eine friedliche Gesellschaft

Gebärens aussprechen, sollten wir uns die Entscheidung mög-


lichst schwer machen. Es gilt, alle uns bekannten Szenarien durch-
zuspielen, bevor wir die Geburt zur Disposition stellen.
Der Mensch entschlüsselt sich immer mehr: Wir kennen un-
ser Genom, wir verstehen langsam, wie Gene, Hirn und Hor-
mone funktionieren und wir verstehen auch die Zusammenhänge
immer besser.
Das heißt: Wir glauben zu verstehen. Ich meine, wir sind im-
mer noch dabei zu erklären. Vieles ist noch im Dunkeln. Trotzdem
sind die neuen Modelle hilfreich. Sie machen zumindest deutlich,
dass unser intuitives und Jahrtausende altes Verständnis von Leib
und Seele grundsätzlich richtig ist: Es gibt beides und es bedingt
sich gegenseitig. Auch wenn wir Emotionen und Gefühle mes-
sen können, das Zusammenspiel von Hirn, Genen und Hormonen
immer deutlicher wird, so sind wir weit davon entfernt zu wissen,
was in Wahrheit unser Handeln, Denken und Fühlen bestimmt.
Dass unsere Kultur heute die Natur mitbestimmt, ist anzuneh-
men. Natur handelt nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum.
Was im System nicht benutzt wird, bildet sich zurück. Sie kennen
das vom Hirn. Wenn wir es nicht benutzen, verkümmert es. Die
Alzheimerforschung scheint das zu bestätigen. Aber wie übertra-
gen wir diese Erkenntnisse auf das Gebären? Kann es sein, dass
die Fähigkeit dazu auch verkümmert, wenn es nicht mehr prakti-
ziert wird? Welche Auswirkungen hat das? Oft helfen Fragen wei-
ter, wo es keine Antwort gibt:
Verkümmert der Gebärapparat? Verändert sich das Becken?
Wird Gebären deshalb irgendwann unmöglich? Was passiert mit
den Hormonen? Leidet unsere Beziehungs- und Bindungsfähig-
keit, die ja auch am hormonellen Tropf der Geburt hängt? Brau-
chen Kinder die Geburt, oder ist der Kaiserschnitt eine vernünftige
kulturelle Anpassungsleistung ohne schwerwiegende Nachteile?
Lassen sich Hormone, Immun- und Atemstimulation nicht ge-
nauso künstlich zuführen wie Muttermilchersatz?

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Auf eine gute Begleitung kommt es an

Kann man Liebe und Bindung nicht auch im OP vermitteln


oder später nachholen? Schade, dass wir auf solche existentiellen
Fragen keine Antwort haben, nicht mal ein vernünftiges Modell.
Gerade deswegen halte ich es aber für umso wichtiger, extrem
achtsam auf den sich entwickelnden Mainstream zu reagieren.
Irgendwann gibt es kein Zurück mehr. Und was das bedeutet,
weiß kein Mensch.
Wer glaubt, dass diese Fragen irrelevant sind, weil die Evolu-
tion ein Prozess von Jahrmillionen ist, der irrt. So viel kann uns
die moderne Genforschung schon versichern: Unser Denken, Füh-
len, Handeln hat einen unmittelbaren und bedeutenden Einfluss
auf unsere Gene. Sie verändern sich dadurch, werden an- oder ab-
geschaltet und sogar neu kombiniert. Evolution findet also im-
mer und sofort statt. Ein so intensiver Impuls, wie die massiven
Veränderungen beim Gebären (PDA , Sectio, Einleitung etc.) kann
nicht ohne genetische, hormonelle und neurobiologische Antwort
bleiben. Wir kennen sie nur nicht. Und wir haben nicht mal eine
Wissenschaftstheorie, um die richtigen Fragen zu stellen. Es ist
höchste Zeit dies zu ändern. Es ist eine große Herausforderung:
Das Gewaltige an der Geburt zu verstehen und die Angst und Ver-
unsicherung dadurch nicht durch unnötige Gewalt zu besänftigen.

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Quellenangaben

1 Northrup, Christiane: Frauenkörper  – Frauenweisheit. Wie Frauen


ihre ursprüngliche Fähigkeit zur Selbstheilung wiederentdecken kön-
nen. Zabert Sandmann, München 1998, S. 450
2 Balaskas, Janet & Gordon, Yehudi: Schwangerschaft und Geburt. Trias
Verlag, Stuttgart 2004
3 Viktor Frankl: Bergerlebnis und Sinnerfahrung. Tyrolia, Insbruck,
7. Auflage 2013
4 Spork, Peter: Der zweite Code. Epigenetik oder: Wie wir unser Erbgut
steuern können. Rowohlt, Hamburg, 4. Auflage 2014, S. 15
5 Yehuda, Rachel et al.: Holocaust exposure induced intergenerational
effects on FKBP5 methylation. Biological Psychiatry, 12.08.2015, On-
line-Vorabpublikation. Aus: epigenetik Newsletter http://www.pe-
ter-spork.de/files/newsletter_epigenetik_2015_03_nov.pdf
6 Rüegg, Johann Caspar: Mind & Body. Wie unser Gehirn die Gesund-
heit beeinflusst. Schattauer, Stuttgart 2014, S. 23
7 Geburtsbericht aus: Schwitzke, Heike (Hg): »GEBURTsTage – Frauen
berichten, wie sie Schwangerschaft und Geburt erlebt haben.« Selbst-
verlag 1995, S.104
8 Vgl: Uvnäs Moberg, Kerstin: Oxytocin, das Hormon der Nähe. Sprin-
ger Spektrum, Berlin, Heidelberg 2016
9 Siehe Spork (a.a.O) wie auch Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Kör-
pers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Piper,
Frankfurt am Main, 6. Auflage 2015
10 http://www.khbrisch.de/3-0-Zur+Person.html
11 Alberti, Bettina: Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfah-
rungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. Kösel, München, 8. Auf-
lage 2016

135

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Quellenangaben

12 Loytved, Christine & Wenzlaff, Paul: Außerklinische Geburt in


Deutschland. Huber, Bern 2007
13 QUAG (Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe
e.V.): Bericht 2014
14 Siehe auch: De Jong, Theresia Maria: Im Dialog mit dem Ungebore-
nen. Via Nova, Petersberg 2004
15 Schmid, Verena: Der Geburtsschmerz. Hippokrates, Stuttgart, 2. Auf-
lage 2011, S. 92
16 Nathanielsz, Peter W.: Life in the Womb. The Origin of Health and
Disease. Promethean Press, New York 1999
17 Brizendine, Louann: Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders
sind als Männer. Hoffmann & Campe, Hamburg, 2. Auflage 2007,
S. 163
18 http://www.gerald-huether.de/populaer/veroeffentlichungen-von-
gerald-huether/texte/singen-gerald-huether/index.php; Stand: 29.06.
2016
19 Bossinger, Wolfgang: Die heilende Kraft des Singens. Traumzeit-Ver-
lag, Battweiler, 2. Auflage 2006, S. 154
20 Vgl. Bossinger, Wolfgang: Die heilende Kraft des Singens. Traumzeit-
Verlag, Battweiler, 2. Auflage 2006
21 Spintge, Ralph & Droh, Roland: Musik-Medizin  – Physiologische
Grundlagen und praktische Anwendungen. Gustav Fischer, Stuttgart
1992
22 Blood, A.J., Zatorre, R. J.: Intensly pleasurable responses to music cor-
relate with activity in brain regions implicated in reward and emotion.
PNAS 98, S. 11818-11823
23 Schmid, Verena: Der Geburtsschmerz. Hippokrates, Stuttgart 2005,
S. 22
24 Schmid a. a. O., S. 22
25 Schmid a. a. O., S. 70
26 Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie 2007; S. 211 ff.

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Hilfreiche Adressen

Bund Deutscher Hebammen e. V.,


Gartenstr. 26, 76133 Karlsruhe,
Tel.: 07 21/98 18 90, Fax: 07 21/981 89 20,
Email: info@hebammenverband.de,
Internet: www.hebammenverband.de

BfHD – Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands e. V.,


Kasseler Str. 1a, 60486 Frankfurt/Main,
Tel.: 069/79 53 49 71, Email: fortbildungsakademie@bfhd.de,
Internet: www.bfhd.de

Österreichisches Hebammen-Gremium,
Landstraßer Hauptstr. 71/2, A-1030 Wien, Tel.: 01/71 72 81 63,
Email: kanzlei@hebammen.at, Internet: www.hebammen.at

Schweizerischer Hebammenverband Geschäftsstelle,


Rosenweg 25 c, CH-3000 Bern 23, Tel.: 0 31/332 63 40,
Fax: 0 31/332 76 19, Email: info@hebamme.ch,
Internet: www.hebamme.ch

Verein Doulas in Deutschland e. V.,


Internet: www.doulas-in-deutschland.de

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Hilfreiche Adressen

Deutscher Fachverband für Hausgeburtshilfe e. V. (DFH),


Lokstedter Weg 57, 20251 Hamburg, Tel.: 0 40/33 98 99 84,
Fax: 0 40/33 98 99 85, Email: geschaeftsstelle@dfh-hebammen.
de, Internet: www.dfh-hebammen.de

Institut für HypnoBirthing Deutschland,


Lärchenweg 4, 76571 Gaggenau-Michelbach,
Tel.: 0 72 25/91 31 70, Email: info@hypnobirthing-institut.de,
Internet: www.hypnobirthing-institut.de

»Babyfreundliches Krankenhaus« (BFHI) e. V.,


Jan-Wellem-Str. 6, 51429 Bergisch Gladbach,
Email: info@babyfreundlich.org,
Internet: www.babyfreundlich.org

Berufsverband Deutscher Laktationsberaterinnen IBCLC e. V.,


Hildesheimer Strasse 124 E, 30880 Laatzen,
Tel.: 05 11/87 64 98 60,
Fax: 05 11/87 64 98 68, Email: sekretariat@bdl-stillen.de,
Internet: www.bdl-stillen.de

Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen AFS e. V.,


Wallfriedsweg 12, 45479 Mülheim an der Ruhr,
Tel.: 0 60 81/6 88 33 99, Email: geschaeftsstelle@afs-stillen.de,
Internet: www.afs-stillen.de

La Leche Liga Deutschland e. V.,


Louis-Mannstaedt-Str. 19, 53840 Troisdorf, Tel.: 0 22 41/123 25 81,
Email: versand@lalecheliga.de, Internet: www.lalecheliga.de

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Hilfreiche Adressen

wellcome – für das Abenteuer Familie


Hoheluftchaussee 95, 20253 Hamburg, Tel.: 0 40/226 229 720,
Fax: 040/226 229 729, Email: info@wellcome-online.de,
Internet: www.wellcome-online.de

Verein für Mütter- und Familienpflege e. V.,


Zum Bahnhof 28, 35394 Gießen-Rödgen,
Email: info@muetterpflege.de,
Internet: www.muetterpflege.de

FrauenGesundheitsZentrum e. V. für Frauen und Familien,


Neuhofstr. 32 H, 60318 Frankfurt, Tel.: 0 69/59 17 00,
Fax: 0 69/59 31 29, Email: info@fgzn.de,
Internet: www.fgzn.de

Mütterzentren Bundesverband e. V.,


Geschäftsstelle, Amandastraße 58, 20357 Hamburg,
Tel.: 0 40/40 17 06 06, Fax: 0 40/4 90 38 26,
Email: info@muetterzentren-bv.de,
Internet: www.muetterzentren-bv.de

NANAYA – Zentrum für Schwangerschaft,


Geburt und Leben mit Kindern,
Zollergasse 37, 1070 Wien, Tel.: 01/523 17 11, Fax: 01/523 17 64,
Email: rundumgeburt@nanaya.at, Internet: www.nanaya.at

Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,


Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V.
Bundesverband: Stresemannallee 3, 60596 Frankfurt am Main,
Tel.: 0 69/26 95 77 90, Email: info@profamilia.de,
Internet: www.profamilia.de

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Hilfreiche Adressen

GfG – Gesellschaft für Geburtsvorbereitung – Familien-


bildung und Frauengesundheit – Bundesverband e. V.,
Ebersstr. 68,10827 Berlin, Tel.: 0 30/45 02 69 20,
Fax: 0 30/45 02 69 21, Email: gfg@gfg-bv.de,
Internet: www.gfg-bv.de

DGPFG, Deutsche Gesellschaft für psychosomatische


Frauenheilkunde und Geburtshilfe,
Messering 8, Haus F, 01067 Dresden, Tel: 03 51/8 97 59 33,
Fax: 03 51/8 97 59 39, Email: info@dgpfg.de,
Internet: www.dgpfg.de

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA),


Ostmerheimer Str. 220, 51109 Köln, Tel.: 02 21/89 92-0,
Fax.: 02 21/89 92-300, Email: poststelle@bzga.de,
Internet: www.bzga.de

Bundesministeriums für Familie, Senioren,


Frauen und Jugend,
Internet: www.bmfsfj.de

EA – Emotions Anonymous,


Selbsthilfegruppen für emotionale Gesundheit,
Katzbachstr. 33, 10965 Berlin, Tel.: 0 30/7 86 79 84,
Fax: 030/78 89 61 78, Email: info@emotionsanonymous.de,
Internet: www.emotionsanonymous.de

Schatten & Licht – Krise nach der Geburt e. V.,


c/o Sabine Surholt, Obere Weinbergstr. 3, 86465 Welden,
Tel.: 0 82 93/96 58 64, Fax: 0 82 93/96 58 68,
E-mail: info@schatten-und-licht.de,
Internet: www.schatten-und-licht.de

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Hilfreiche Adressen

»Trostreich«, Selbsthilfeinitiative für Familien


mit »Schrei-Babys«,
Jutta Riedel-Henck, Schulstr. 10, 27446 Deinstedt,
Tel.: 0 42 84/395 (Do 10–12h), Email: info@trostreich.de,
Internet: www.trostreich.de

Münchner Sprechstunde für Schreibabys,


Kinderzentrum München,
Heiglhofstr. 63, 81377 München, Tel.: 0 89/710 09-0,
Fax: 0 89/710 09-148,
Email: info@kinderzentrum-muenchen.de,
Internet: www.kinderzentrum-muenchen.de

SchreiBabyAmbulanz der Berliner Nachbarschaftszentren,


Lubminer Pfad 9a, 13503 Berlin, Tel.: 0 30/43 66 90 44
(Fr. 10–13 Uhr), Email: info@pauladiederichs.de,
Internet: www.schreibabyambulanz.info

Wilhelminenspital – Kinderklinik Glanzing,


Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde mit Neonatologie
und Psychosomatik, Säuglingspsychosomatik mit
Schreiambulanz,
Montleartstr. 37, A-1171 Wien 16, Tel.: 01/491 50-29 08,
Fax: 01/491 50-29 09, Email: glanzing@wienkar.at

Das frühgeborene Kind e. V.,


Bundesverband, Speyerer Str. 57, 60327 Frankfurt/Main,
Tel.: 0 69/58 70 09 90, Email: info@fruehgeborene.de,
Internet: www.fruehgeborene.de

Verein zur Förderung von Früh- und Risikoneugeborenen


»Das Frühchen e. V.«,
Internet: www.dasfruehchen.de

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Dr. med Wolf Lütje, geboren 1957
in Hamburg, war über 17 Jahre
Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Krankenhaus
Dritter Orden in München, zuletzt als leitender Oberarzt; von
2003–2011 Chefarzt am Allgemeinen Krankenhaus Viersen. Seit
Juli 2012 arbeitet er als Chefarzt in der Klinik für Gynäkologie
und Geburtshilfe des Ev. Amalie Sieveking-Krankenhaus in Ham-
burg, das als erstes in Deutschland von WHO und Unicef mit dem
Zertifikat »Babyfreundliches Krankenhaus« ausgezeichnet wurde.
Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomati-
sche Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG e.V.) und zudem
Buchautor, Referent und mit Leidenschaft Vater.

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