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JOE NAVARRO

ALLEIN GEGEN
DEN FEIND
EX-FBI-AGENT
JOE NAVARRO

ALLEIN
GEGEN DEN
FEIND
WIE ICH DEN GRÖSSTEN SPIONAGE-
SKANDAL DER USA AUFDECKTE
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1. Auflage 2017
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© der Originalausgabe: 2017 by Joe Navarro


Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Scribner, einem Imprint von Simon&­
Schuster Inc., unter dem Titel Three Minutes to Doomsday.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der
Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Foto-
kopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verla-
ges reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet,
vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Birgit Walter


Redaktion: Annett Stütze
Umschlaggestaltung: Laura Osswald
Umschlagabbildung: isarvut/shutterstock; R-studio/shutterstock; Christian Delbert/shutter­
stock
Satz: Carsten Klein, München
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-788-0


ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-041-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-042-8

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Für meine Tochter Stephanie – damit du verstehst,
warum ich so oft nicht zu Hause war
Es kommt nicht darauf an, was passiert,
sondern wie man darauf reagiert.

Joe Navarro
INHALT

Vorwort......................................................................................................... 11

1 »Zielperson Ramsay war nackt …«..................................................... 15

2 Schwieriges Lebensumfeld.................................................................... 41

3 Müde und doch munter........................................................................ 65

4 Erklärungen und Ausflüchte................................................................. 71

5 Triumph und Verzweiflung................................................................... 83

6 Umwege................................................................................................... 97

7 Bestandsaufnahme................................................................................. 107

8 Mein Jahr in der Wüste......................................................................... 121

9 Partnersuche........................................................................................... 133

10 Eine Lehrstunde für Agent Navarro.................................................... 149

11 Der Klügste von uns............................................................................... 171

12 Das ändert alles?..................................................................................... 197

13 Kognitive Dissonanz.............................................................................. 217

14 »Something’s got to give«...................................................................... 233

15 Das erste Date......................................................................................... 245

16 Josef-Schneider-Platz 4 ......................................................................... 259

17 Unglaublich!............................................................................................ 267

18 Manschetten und Hosenträger............................................................. 287

19 In der Satellitenstation........................................................................... 297


20 Multiple Choice...................................................................................... 307

21 Aus nächster Nähe................................................................................. 311

22 Alle an ihren Platz!................................................................................. 321

23 »Weiß Joe Navarro davon?«.................................................................. 331

24 Überleben................................................................................................ 345

Danksagung................................................................................................. 359
VORWORT

17. April 1961

Die Stadt Cienfuegos liegt in der Mitte einer langen, geschützten Bucht
an der Südküste Kubas. Es ist früh am Morgen. Ich bin sieben Jahre alt
und auf dem Weg zur Bäckerei an der Ecke, um für die Familie zum
Frühstück frisches Brot zu holen, als der Himmel plötzlich vom Dröh-
nen niedrig fliegender Flugzeuge erfüllt ist, die aus allen Rohren feuern.
Ich höre meine Mutter nach mir rufen, doch ich bleibe wie angewur-
zelt stehen, fasziniert von dem, was über mir geschieht. Plötzlich finde
ich mich auf dem Boden wieder. Mein Vater liegt auf mir, drückt seine
Knie an mich und deckt meinen Körper mit seinem vollständig ab. We-
nige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt steht ein Strommast. Ich
kann den Teer am Fuß des Mastes riechen und die Einkerbungen sehen,
die die Steigeisen unzähliger Mitarbeiter der Versorgungsbetriebe hin-
terlassen haben.
Mein Vater ermahnt mich flüsternd, ruhig liegen zu bleiben, und doch
strecke ich meinen Kopf an ihm vorbei, um in den Himmel zu sehen.
Ich kann nicht anders. Wie ich später begreife, handelt es sich bei den
metallisch glänzenden Objekten, die von den Flugzeugen während der
Feuersalven hinabfallen, nicht um Projektile, sondern um Patronenhül-
sen. Wenn wieder Ruhe eingekehrt ist, werde ich mit den Kindern aus
12

der Nachbarschaft stundenlang die Hülsen zusammensuchen. Aber nicht


jetzt. Ohne dass wir es vorhersehen konnten, hat in der kaum eine Auto-
stunde entfernten Schweinebucht die Invasion der Amerikaner begonnen.
Am nächsten Tag wird mein Vater von Castros Schergen abgeholt.
Nachdem er 19  Tage in Haft verbracht hat, verprügelt und bedroht
wurde und kaum etwas zu essen bekam  – er ist einer von Tausenden,
die ohne Anklage in einer Turnhalle festgehalten werden –, schenkt ihm
ein Mitgefangener einen Ausweis. Der Mann weiß, dass mein Vater Fi-
del Castro hasst und letztendlich als Konterrevolutionär verurteilt wer-
den wird. Der Trick mit dem Ausweis ist durchschaubar, doch in dem
herrschenden Chaos kommt mein Vater dadurch frei. Er kommt zu uns –
meiner Mutter, meiner älteren und meiner jüngeren Schwester und mir –
nach Hause, jedoch nur für zwei, drei Stunden. Er packt ein paar Sachen,
die er am Körper tragen kann – kein Gepäck –, zusammen und erklärt
meiner Mutter, dass er verschwinden müsse, bevor die Wachen ihren Irr-
tum bemerken und er wie so viele andere Konterrevolutionäre endet – al
paredón, vor eine Mauer gestellt, um erschossen zu werden.
Mein Vater verrät uns nicht, wohin er geht. Er möchte uns für den Fall,
dass die Soldaten zurückkehren, nicht mit diesem Wissen belasten. Er
umarmt uns und gibt zuletzt mir einen Kuss. Kuba ist eine patriarchali-
sche Gesellschaft. Entsprechend sind die letzten Worte, die ich von mei-
nem Vater höre: »Nun bist du das Oberhaupt der Familie. Sei ein Mann.«
Tränen laufen meine Wangen hinunter, meine dürren Beine zittern. In
diesem Moment endet meine Kindheit.
Eine Woche nach dem Verschwinden meines Vaters dringen kuba-
nische Soldaten, die uns heimlich beobachtet haben, nachts in unser
Haus ein. Um sich schießend, durchsuchen sie jeden Raum. Bevor sie
den Rückzug antreten, pferchen sie uns im Wohnzimmer zusammen und
richten ihre Gewehre auf uns. Die Botschaft ist klar: Wir müssen Kuba
verlassen, und die USA sind unsere einzige Hoffnung.

WIR SCHREIBEN DAS JAHR 1971. Die Invasion in der Schweinebucht


ist auf den Tag genau zehn Jahre her. Ich bin 17 Jahre alt und absolvie-
re mein letztes Schuljahr an der Hialeah High School. Meine Leistun-
gen als Abwehrspieler in der Footballmannschaft haben mir 30 Angebote
für Stipendien eingebracht. Abends arbeite ich im Richards Department
13

Store in der 103rd Street in Hialeah in der Sportabteilung. Eines Abends,


ich stehe wie immer an der Kasse, erhalte ich einen Anruf vom Manager
des Kaufhauses. »Halte die beiden Männer auf, die gerade nebeneinan-
der durch den Laden laufen«, sagt er mit Nachdruck. »Sie haben uns be-
klaut.«
Als ich auf sie zulaufe, verstecken sich die beiden Männer hinter ei-
nem Kleiderständer. Ich renne zur Tür, um den Ausgang zu versperren.
Einer der Männer springt hinter dem Kleiderständer hervor und läuft di-
rekt auf mich zu. Als er mich angreift, bemerke ich im letzten Moment,
dass er ein Messer in der Hand hält. Ich drehe mich zur Seite und versu-
che, meinen linken Arm von der Messerklinge wegzubewegen. Zu spät.
Die Ärzte müssen meinen Arm innen und außen an 18 Stellen nähen.
Sie flicken meinen Bizeps, meinen Trizeps und die aufgeschlitzten Arteri-
en zusammen. Die Ärzte führen die durchschnittenen Muskelfasern, die
in meinen Brustkorb geschnellt waren, in meinen Arm zurück. Ich liege
21 Tage lang im Krankenhaus. Ich habe extrem viel Blut verloren. Auf-
grund der schweren Entzündung in meinem Arm spüre ich meine Finger
kaum und kann sie nicht bewegen.
Meine Verletzung verheilt, doch meine sportliche Karriere ist vorbei.
Zwei Jahre lang kann ich meinen Arm nicht über Schulterhöhe anheben.
Als ich alle medikamentösen Behandlungen, Elektrostimulationen, Ein-
griffe der plastischen Chirurgie und Rehabilitationsmaßnahmen schließ-
lich überstanden habe, erhalte ich ein Schreiben von Richard Nixon, in
dem sich der Präsident für meinen »heldenhaften Einsatz« bedankt. Ni-
xon steht sein persönlicher Albtraum – die Watergate-Affäre – noch be-
vor. Ich fühle mich geehrt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten sich
die Zeit nimmt, einem Immigranten zu danken, der nichts weiter getan
hatte, als seine Bürgerpflicht zu erfüllen.

VON KINDHEIT AN haben drei Faktoren meinen Weg bestimmt: meine


Liebe zu den Vereinigten Staaten von Amerika, die meiner Familie eine
Heimat gegeben haben, das beständige Gefühl (es begleitet mich bis heu-
te), dass ich mich diesem Land gegenüber niemals für all die Chancen,
die es uns gegeben hat, in ausreichender Form erkenntlich zeigen kann,
und der tiefe Glaube an die Worte von Ralph Waldo Emerson: »Wenn die
Pflicht sachte flüstert: ›Du musst‹, dann flüstert die Jugend: ›Ich kann.‹«
14

Rod Ramsay hat mein Pflichtbewusstsein in ungeahnter Weise auf die


Probe gestellt. Eine Zeit lang befürchtete ich, er würde gewinnen. Sein In-
tellekt und seine Interessengebiete sind beeindruckend. Dennoch liegen
ihm wenige Dinge am Herzen – vor allem nicht jene, die mir am wich-
tigsten sind: Heimat, Ehre und Vaterlandsliebe. Das macht ihn so gefähr-
lich – nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt.
1
»ZIELPERSON RAMSAY WAR
NACKT …«

23. August 1988

Ich bin 35 Jahre alt und habe den größten Teil meines Erwachsenenle-
bens, seit meinem 23. Lebensjahr, für das FBI gearbeitet. Bei meiner Re-
krutierung erzählte mir der zuständige Agent, dass ich der zweitjüngs-
te Anwärter war, der je vom FBI angeworben wurde. Ich kenne mich mit
dieser Historie nicht aus, doch in meiner Lebensgeschichte war es bemer-
kenswerterweise der Football, den ich nie wieder als Leistungssport aus-
üben kann, der mich – zumindest auf Umwegen – auf den Radarschirm
des FBI rücken ließ.
Während ich in Miami im Krankenhaus lag und mir mein letztes Jahr
an der Highschool durch die Finger glitt, lösten sich auch 31 der mir
angebotenen 32 Sportstipendien in Luft auf. Lediglich die Offerte von
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der Brigham Young University (BYU) verblieb. Eines Nachmittags rief


mich LaVell Edwards, der Cheftrainer der Footballmannschaft der BYU,
an und teilte mir mit, dass er immer noch an mir interessiert sei, da ich
groß und schnell war. Warum also nicht einen Versuch starten? Ich trat
zu diesem Test an, bis mein Arm, den ich einige Monate zuvor fast verlo-
ren hätte, nach drei Tagen auf das Dreifache des normalen Umfangs an-
geschwollen war und die Ärzte von Blutgerinnseln und einer möglichen
Schädigung der Nerven sprachen.
Nach diesem offiziellen Ende meiner Träume von einer ruhmreichen
Karriere im American Football blieb ich an der BYU und hielt mich mit
Stipendien, Darlehen und Gelegenheitsjobs über Wasser. Auf Anregung
meines Professors für Kriminalwissenschaften arbeitete ich für die Cam-
pus Police, jenen Schutztrupp, der das Universitätsgelände bewacht. Als
die NSA, die CIA und das FBI, wie diese Behörden es an überwiegend
von Mormonen besuchten Schulen tun, auch an der Brigham Young
University Studenten zu rekrutieren begannen, erschien dem FBI mein
persönlicher Hintergrund besonders geeignet: Ich war Mitarbeiter der
Campus Police, Absolvent der Utah Police Academy, überzeugter Anti-
kommunist im Allgemeinen und ein Fidel Castro ablehnend gegenüber-
stehender Auswanderer aus Kuba im Besonderen, und ich liebte Amerika
heiß und innig. Vielleicht war ich tatsächlich der zweitjüngste Anwärter
beim FBI. Eine bessere Kombination an Charakterzügen hätte die Behör-
de kaum finden können.
Ich für meinen Teil benötigte so dringend einen gut bezahlten Job,
dass ich auf der Stelle zusagte, ohne groß einen weiteren Gedanken dar-
an zu verschwenden.

ICH LERNTE SCHNELL, dass es beim FBI keine normalen Arbeitszei-


ten gibt. In meinem Arbeitsvertrag sind zehneinhalb Stunden pro Tag
vereinbart, aber ich werde permanent gebeten, mit immer weniger Spiel-
raum immer mehr zu tun. Es gibt immer einen neuen Engpass, immer
wieder werden »die Erfordernisse der Behörde« angeführt – eine Floskel,
die mich stets aufs Neue ärgert, wenn ich ein freies Wochenende geplant
habe und die Zeit dann doch nicht mit meiner Familie verbringen kann.
Als ich in Puerto Rico stationiert bin, werden Einsatzkräfte für eine Spe-
zialeinheit (SWAT) zur Terrorismusbekämpfung benötigt. Mein Vorge-
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setzter meldet meine freiwillige Teilnahme an – was bedeutet, dass ich eines
Tages aus heiterem Himmel meinen Namen auf einer Liste von Teilneh-
mern an einer SWAT-Grundausbildung entdecke. Grundsätzlich macht
mir das nichts aus. Die Ausbildung macht Spaß, und ganz im Ernst: Wer
hätte nicht gern eine schallgedämpfte Maschinenpistole des Typs MP5 von
Heckler & Koch im Kofferraum seines Wagens? Doch plötzlich kommen
alle paar Wochen zu meiner regulären Arbeit SWAT-Einsätze hinzu, vie-
le davon kurzfristig. Die Anlässe für diese Einsätze reichen von Flugzeug-
entführungen bis zur Zerschlagung der terroristischen Vereinigung Los
Macheteros (Macheteros bedeutet »Machetenkämpfer«, doch diese Jungs
kennen sich auch mit Pistolen, Gewehren und Bomben gut aus).
Am meisten Freizeit büße ich aber für das Fliegen ein. Bei der Über-
prüfung meines Werdegangs findet das FBI heraus, dass ich an der High-
school meinen Pilotenschein gemacht habe. Nach meiner Aufnahme
werde ich bald aufgefordert, bei der Luftraumaufklärung mitzuhelfen.
Beschwere ich mich? Nicht wirklich. Der Wechsel von der minimalistisch
ausgestatteten Cessna 150, in der ich meine Flugstunden absolviert habe,
zu einer Cessna 182 mit Einziehfahrwerk und Klimaanlage ist ein gewal-
tiger Fortschritt. Außerdem werde ich diesmal fürs Fliegen bezahlt, statt
dafür Geld ausgeben zu müssen. Oft habe ich regulären Schichtdienst
und sitze von 18 Uhr bis Mitternacht im Cockpit – eine wunderbare Zeit
zum Fliegen, da der Luftraum nachts im Allgemeinen ruhig ist –, doch
wenn man alles zusammennimmt, arbeite ich viel zu oft 16 Stunden am
Tag. Wenn mich meine Familie tatsächlich einmal zu Gesicht bekommt,
bin ich meist so müde, dass ich in der Warteschlange an der Supermarkt-
kasse im Stehen einschlafe.
Letztendlich stehen für mich persönlich jedoch das Fliegen und die
SWAT-Einsätze hinter dem Arbeitsbereich zurück, der mir wirklich Spaß
macht: der Spionageabwehr. Diese Arbeit ist spannend, weil man durch
sie mit der Welt in Kontakt kommt. Man wird aufmerksam auf das, was
in fernen Ländern passiert. Jedes Land kann Bankraube, Autodiebstähle,
Vergewaltigungen und sogar Aufstände verkraften – Spionage ist das ein-
zige Verbrechen, das einen Staat zu Fall bringen kann. Mit der richtigen
Form von geheimdienstlicher Tätigkeit kann man fremde Staaten zum
Stillstand bringen oder den Lauf der Geschichte verändern. Deshalb be-
geistert mich die Spionageabwehr – weil sie wirklich wichtig ist.
18

An fast jedem Arbeitstag beschäftige ich mich morgens zuerst mit dem
Überblick, den der Geheimdienst täglich kurz nach Sonnenaufgang über
unseren Fernschreiber rattern lässt. Der heutige Tag bildet keine Ausnah-
me. Gestern habe ich noch bei einer Einheit, der es an Überwachungs-
kräften fehlte, ausgeholfen und bis Mitternacht über der Tampa Bay mei-
ne Kreise gedreht. Heute Morgen reise ich zu den Krisenherden der Welt
und durchforste die über Nacht erstellte Übersicht nach allem, was den
Weg nach Zentralflorida finden könnte.
Ein Beispiel: Gestern durchsuchte die Polizei in Lima, Peru, die Fabrik,
in der die Zeitung El Diario gedruckt wird. Es wird angenommen, dass
die Zeitung das Sprachrohr der maoistischen Guerillaorganisation Sende-
ro Luminoso (»Leuchtender Pfad«) ist. Das mag zugegebenermaßen nicht
allzu bedeutend wirken, doch wenn maoistische Guerillas in Südamerika
verärgert werden, horche ich auf, da das kubanische American Depart-
ment extremistische Aktivitäten in dieser Region finanziert und der mar-
xistische Exguerillero in Havanna selbst manchmal unwirsch wird.
Einige Meldungen kann ich mehr oder minder abhaken. Es tut mir
leid, dass es bei einem Erbeben in Nordindien und Nepal Hunderte Tote
und Tausende Verletzte gab, doch gegen die durch die Plattentektonik
in solch fernen Ländern verursachten Phänomene kann man viel unter-
nehmen. Der soeben in Pakistan ausgerufene Ausnahmezustand ist ein
anderes Thema. Vor einigen Tagen kamen der pakistanische Präsident
Mohammed Zia-ul-Haq und zehn seiner wichtigsten Generäle bei einer
Flugzeugexplosion ums Leben. Nun lässt Zias Nachfolger Ishaq Khan
die Presse wissen, dass »der Feind die innere Sicherheit des Staates un-
terwandert« habe. Ist mit dem »Feind« Indien gemeint? Vermutlich. Al-
lerdings können Unruhen auf oder nahe dem indischen Subkontinent
schnell über die Grenzen schwappen. Außerdem befindet sich seit 1983
der Hauptsitz des United States Central Command, des Zentralkomman-
dos der Vereinigten Staaten, das unter anderem für Zentralasien zustän-
dig ist, in Tampa. Zu meinen Aufgaben gehört es, für das United S­ tates
Central Command potenzielle Gefahren auszumachen. Der Konflikt
zwischen Pakistan und Indien ist auch ein Stellvertreterkrieg zwischen
China und der UdSSR, und dieser könnte sehr schnell hässlich werden.
Der Nahe Osten strotzt wie immer vor Gewalt und Intrigen. In Haifa
wurden durch eine Handgranate, die in ein Straßencafé geworfen wurde,
19

25 Menschen verletzt, darunter sieben Mitglieder einer Familie, die das


Schaufenster des benachbarten Spielwarenladens bewunderten.
Eine weitere fast schon alltägliche Meldung besagt, dass die IRA in Ir-
land erneut zugeschlagen hat. Diesmal wurden acht Menschen getötet
und 28 verwundet, als in einem mit britischen Soldaten besetzten Bus,
einem Zivilfahrzeug, eine Bombe explodierte. Die Bombe enthielt nach
Angaben der IRA über 90 Kilogramm des Plastiksprengstoffs Semtex, der
in der Tschechoslowakei hergestellt worden war. Sie hinterließ einen zwei
Meter tiefen Krater. Unsere Distanz zu diesem Geschehen ist geringer, als
man meint: In Tampa gibt es einige, die die IRA finanziell unterstützen
und heute vermutlich sehr frohgemut in den Tag gestartet sind.
Die Spionageabwehr steht dem größten Platzhirsch, das heißt der So-
wjetunion, zwangsläufig voreingenommen gegenüber. Die UdSSR hat die
meisten Spione und das meiste Geld, und ich schenke ihr die meiste Auf-
merksamkeit. Doch auch die anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer
Paktes sind nicht zu unterschätzen. Die DDR ist zwar viel kleiner als die
Sowjetunion, doch ihr von Markus Wolf geleiteter Geheimdienst ist noch
schwerer zu knacken als der KGB. Er ist robuster und – auf erschrecken-
de Weise – besser.
Der Kurzübersicht entnehme ich außerdem, dass sich in Polen 75 000
Bergarbeiter im Streik befinden, um die staatliche Anerkennung der ver-
botenen Gewerkschaft Solidarność einzufordern. Das wird Moskau nicht
freuen. Dem KGB wäre nichts lieber, als Papst Johannes Paul II. und
dessen Einfluss auf seine polnischen Landsleute loszuwerden. Tatsäch-
lich haben die Sowjets mithilfe der Bulgaren bereits einen Attentatsver-
such unternommen. Nun erlebt der KGB das, was er auslöschen wollte:
Einflussnahme auf die Macht. Der Papst lässt den KGB erzittern. Es gibt
noch einen weiteren Unruheherd: In der Tschechoslowakei, dem Her-
kunftsland des Semtex, mit dem in Nordirland britische Polizisten in die
Luft gejagt wurden, versammelte sich vor zwei Tagen – am 20. Jahrestag
des Einmarsches von 200 000 Soldaten und 5000 Panzern des Warschau-
er Paktes, die den »Prager Frühling« niederschlagen sollten  – auf dem
Prager Wenzelsplatz eine kleine Gruppe von Menschen, die die National-
hymne des Landes sangen.
Für sich allein genommen, ist keines der sich in den mit der Sowjetuni-
on befreundeten Länder abspielenden Ereignisse besonders besorgniser-
20

regend. Selbst 75 000 wütende Bergarbeiter stellen für die zweite Super-
macht der Welt keine ernsthafte Bedrohung dar – die UdSSR hat in der
Vergangenheit das Streben der Menschen nach Freiheit stets zunichte­
gemacht, und sie wird es auch wieder tun. Das Gesamtbild zeigt aber,
dass sich etwas verändert: Hinter dem Eisernen Vorhang wächst der Mut.
Vielleicht lässt sich aber auch das auf allen Ebenen – wirtschaftlich, poli-
tisch und moralisch – stattfindende Versagen des Sowjetregimes einfach
nicht mehr leugnen und kaschieren.
Wie dem auch sei – wahrscheinlich ist es ein wenig verfrüht, den Un-
tergang der Sowjetunion zu feiern. Der KGB besitzt die Macht und die
Motivation zur Knechtung und Unterdrückung. Ein KGB-Überläufer
sagte einmal zu mir: »Wir können es uns nicht leisten aufzugeben. Wir
haben alle gesehen, wie Mussolinis Leichnam öffentlich aufgehängt wur-
de, nachdem seine Regierung gescheitert war. Das wird auch uns passie-
ren, vor allem in Osteuropa – man hasst uns dort.«
Während mir der Gedanke durch den Kopf geht, dass nichts gefährli-
cher ist als ein verwundeter Russischer Bär, tritt Jay Koerner, mein Vorge-
setzter, an meinen Schreibtisch. Es ist 7:57 Uhr. Das Datum ist Dienstag,
der 23. August 1988. Ohne dass es mir bewusst wäre, ist ab dem jetzigen
Zeitpunkt das nächste Jahrzehnt meines Lebens vorherbestimmt.
»Deine Aufgabe«, sagt Jay und drückt mir ein Fernschreiben vom
Hauptquartier des FBI in die Hand. »Jetzt.«
»Meine?« Ich habe einen prall gefüllten Arbeitstag vor mir und bin
heute Nacht als Aushilfe bei der Luftraumüberwachung eingeteilt.
»Lynn ist nicht in der Stadt. Der Mann vom Nachrichtendienst der
Army wird in einer halben Stunde hier sein.«
Als ich das Fernschreiben zu lesen beginne, ist Jay fast schon wieder
in seinem Büro. Ich mag Jay. Er kommt einem selten in die Quere, ist al-
lerdings auch nicht sonderlich gesprächig. Die Nachricht stammt von der
National Security Division, der Abteilung für innere Sicherheit des ame-
rikanischen Justizministeriums, und ist in dem für die Behörde typischen
Stil verfasst:

Sie sind angewiesen, jederzeit ab 4:00 Zulu 8/23/88 Roderick James


RAMSAY, zuletzt bekannter Aufenthaltsort Tampa, ausfindig zu machen
und hinsichtlich seiner Kenntnisse von oder seiner Verbindung zu ­Clyde
21

Lee CONRAD während seiner Stationierung bei der 8. US-Infanterie-


division in Bad Kreuznach, Bundesrepublik Deutschland, zu befragen:
Dienstjahre 1983 – 1985. INSCOM [Nachrichtendienst der Armee] wird
Kontakt aufnehmen und unterstützen: aufspüren, befragen, berichten.

Bei strafrechtlichen Untersuchungen ist Wissen Macht. Deshalb besitzt


das Dokument, das ich in meinen Händen halte, den Wert einer Fünf-
Watt-Lampe, mit der man gerade mal ein Handschuhfach ausleuch-
ten kann. Trotzdem bin ich neugierig. Die Tatsache, dass INSCOM,
das ­United States Army Intelligence and Security Command, involviert
ist, bedeutet, dass es vermutlich um mehr geht als um ein paar auf dem
Schwarzmarkt gehandelte Wertgutscheine, die man an Militärstützpunk-
ten für verbilligte Zigaretten einlösen kann. Als der mir zugewiesene Mit-
arbeiter des Nachrichtendienstes der Army zur Tür hereinkommt, bren-
ne ich darauf, mit ihm zu sprechen.

MEIN INSCOM-KONTAKT, Al Eways, ist sehr nett, doch die Zeit drängt,
und die Befragung von Roderick James Ramsay ist nur eine von vielen
Aufgaben, die auf seinem Arbeitsplan stehen.
»Legen wir los«, sagt er kurz nach Beginn unseres Gesprächs und hän-
digt mir einen Zettel mit einer Adresse aus. »Wir glauben, dass er sich
dort aufhält.« Eine Minute später sitze ich am Steuer meines ›BU-Steed‹.
So werden in der Agentensprache die von der Regierung gestellten grau-
braunen Limousinen genannt. Neben mir auf dem Beifahrersitz ist Al in
die Lektüre von Unterlagen vertieft. Vermutlich handelt es sich um Hin-
tergrundinformationen zu Ramsay, aber ich mutmaße nur. Ich fahre, er
liest. Es steht mir nicht zu, durch einen Blick in seine Unterlagen Infor-
mationen zu erhaschen.
Die Spionageabwehr arbeitet streng nach dem Need-to-know-Prinzip.
Al darf mich einweihen, aber die Vorgehensweise ist streng geregelt: So-
fern er mich nicht ins Bild setzt, habe ich keinerlei Informationen, bis er
mit der Befragung der Zielperson beginnt. Das mag unlogisch klingen,
doch manchmal ist es die beste Herangehensweise, genau zu beobachten
und aus der Situation heraus Erkenntnisse zu gewinnen.
Die erste Herausforderung ist, die Adresse zu finden, die Al mir ge-
geben hat. Ich kenne die Gegend – eine ausgedehnte Wohnwagensied-
22

lung im Westen des Tampa International Airport. Das Gebiet war frü-
her für den Anbau von Orangen bekannt. Vor ein oder zwei Monaten
habe ich auf der Suche nach einem kleinen Drogendealer einen Überwa-
chungsflug über dem Gebiet unternommen. Da ich mir sicher bin, dass
wir die Adresse finden werden, stelle ich Überlegungen zu unserer Si-
cherheit an.
Wo befinde ich mich? Wo ist das nächstgelegene Krankenhaus? Wer ist
in dieser Gegend anzutreffen? Junge oder alte Männer? Mütter mit Kin-
derwagen oder arbeitslose Männer, die an den Straßenecken herumlun-
gern? Ziehen Teenager durch die Straßen?
Während ich die Adresse suche, denke ich auch darüber nach, wo ich
das Auto parken werde. Ich möchte, dass die Fahrerseite vom Wohnhaus
abgewandt steht, damit ich im Notfall den Motorblock als Deckung nut-
zen kann und mich so in der vorteilhafteren, weiter entfernten Position
befinde. Wir nähern uns bereits dem Wohnwagen, aber ich drehe noch
ein paar Runden, um mir für den Fall, dass ich schnell verschwinden oder
Hilfe suchen muss, einen Überblick von der Umgebung zu verschaffen.
Außerdem beschäftigt mich der eigentliche Zweck dieser Fahrt: die
Befragung selbst. Worüber werden wir sprechen? Wie werden wir die-
sen Ramsay dazu bringen, entspannt zu bleiben? Menschen erzählen viel
mehr, wenn sie das Gefühl haben, sich in ihrer Komfortzone zu befin-
den, als wenn sie auf der Folterbank ins Schwitzen geraten. Und noch et-
was kommt hinzu: Letztlich bin ich für mehr als nur unsere Sicherheit
verantwortlich. Ich werde auch für die Befragung zur Rechenschaft ge-
zogen. Ramsay ist eine Zivilperson, und INSCOM besitzt im Grunde ge-
nommen keine Rechtsbefugnis gegenüber Zivilisten. Dennoch muss ich
Al Spielraum lassen, denn er hält die Karten in der Hand. Er weiß mehr
als ich. Wenn etwas schiefgeht, muss ich den Kopf hinhalten.
Al und ich fahren schweigend an einem gepflegten Wohnwagen mit ei-
nem dunkelgrünen Unterbau vorbei. »Hier ist es«, sagt Al ein wenig ver-
wundert, als ich noch eine weitere Runde durch die Nachbarschaft drehe.
»Ich weiß«, entgegne ich. »Ich will nur sichergehen, dass ich das Ge-
lände kenne.«
Al sieht sich nun ebenfalls aufmerksam um, und ich weiß das zu schät-
zen. Die Arbeit für die Spionageabwehr führt oft genug in eine Sackgas-
se, doch es gibt eine Grundregel beim FBI: Befragungen und Arreste sind
23

niemals Routine. Geht man zu lässig an sie heran, ist es vielleicht das
Letzte, was man in seinem Leben tut.
Als ich vor einigen Jahren die örtliche Polizei in Yuma, Arizona, bei
einer Verhaftung unterstützte, streckte der von uns gesuchte Mann ein
Gewehr aus seiner Haustür und schoss. Eine Kugel streifte den Kopf
des Polizisten, der direkt neben mir stand. Ein Jahr später telefonierte
ich während meiner Stationierung in Yuma mit ein paar FBI-Agenten
im rund 100 Kilometer entfernten El Centro, Kalifornien. Die Kollegen
warteten gerade auf einen Mann, der zugesagt hatte, die Dienststelle für
eine Befragung aufzusuchen. Der Mann erschien und schoss mit einem
Gewehr um sich, noch während ich in der Leitung war. Als ich in der
Dienststelle eintraf, wand sich ein Agent in seinem Blut, er starb wenige
Minuten später. Auch der Angreifer lag tot am Boden, er hatte sich selbst
erschossen. Solche Erlebnisse bleiben ein Leben lang im Gedächtnis. Den
Geruch einer Leiche vergisst man nicht.

HEUTE JEDOCH hält sich das Drama in Grenzen. Als wir an die Tür des
Wohnwagens klopfen, stellt sich heraus, dass niemand zu Hause ist. Das
Herumfahren mit dem Auto hat die Bewohner der Anlage darauf auf-
merksam gemacht, dass sich Fremde auf ihrem Terrain befinden. Ein An-
wohner tritt an uns heran und fragt, ob wir Hilfe benötigen. Wir sagen
ihm, dass wir Rod Ramsay suchen.
»Hier wohnt seine Mutter«, teilt er uns mit. »Rods Haus liegt ein Stück-
chen weiter.«
Al und ich vermitteln so deutlich den Eindruck, Polizeibeamte zu sein,
dass der Mann gar nicht erst fragt, warum wir hier sind. Hilfsbereit nennt
er uns eine Adresse und weist mit seinem Kinn in die Richtung, in die
wir fahren sollen. Das Viertel, eine Anfang der 1960er-Jahre erbaute Rei-
henhaussiedlung, liegt nur zwei Minuten entfernt. Heute, 25 Jahre spä-
ter, haben die kleinen Häuser ihre beste Zeit hinter sich. Nachdem ich die
richtige Adresse gefunden, den Wagen geparkt und die Tür des Bu-Steed
verschlossen habe, sehe ich hinter dem Panoramafenster an der Front des
Hauses einen Schatten vorbeihuschen  – wenn ich mich nicht täusche,
den Schatten eines Mannes, der gänzlich unbekleidet ist.
»Ist der Mann nackt?«, frage ich, doch Al steht schon vor der Tür – di-
rekt vor der Tür, um genau zu sein, und damit genau dort, wo man sich
24

nicht aufhalten sollte. Beim FBI werden Türen als ›tödliche Trichter‹ be-
zeichnet. Wenn man mittig davorsteht, wird man vom Türstock so gut
eingerahmt, dass selbst ein hundsmiserabler, schielender und kurzsichti-
ger Schütze kaum danebenschießen könnte.
Durch die offenen Fenster hören wir Geräusche im Haus  – jemand
stapft durchs Haus und scheint Schranktüren zu öffnen und zu schlie-
ßen –, doch niemand kommt an die Tür. Ich hasse es, so lange herumzu-
stehen.
»Ich frage mich, was dort drinnen vor sich geht«, sagt Al.
Für mich ist diese Frage inzwischen so präsent, dass ich mein Jackett
auf der rechten Seite gerade so weit nach hinten schiebe, dass ich leicht
an die SIG Sauer P226 herankomme, die ich in einem Holster an meinem
Rücken trage. Angriffe mit Schusswaffen erfolgen zu 90 Prozent aus einer
Entfernung von weniger als sechs Metern – der Abstand, in dem die Be-
teiligten einander gegenüberstehen, entspricht also oft nicht einmal der
Breite eines Wohnzimmers. Je schneller man die eigene Waffe ins Spiel
bringen kann, desto eher ist der Spuk vorbei. Deshalb bringe ich meine
Hand auf dem Rücken in Position.
Auch Al wirkt ein wenig nervös, als die Sicherheitskette an der Tür
gelöst wird, sich die Türe öffnet und Rod Ramsay vor uns steht. Er ist
schlaksig – 1,85 Meter groß bei vielleicht 70 Kilogramm. Gott sei Dank
ist er angezogen, er trägt Jeans und ein ärmelloses, kariertes Shirt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigt er sich mit einem leichten Bos-
toner Akzent.
Statt zu antworten, zeigen wir ihm unsere Ausweise: INSCOM und
FBI. Falls Rod der Anblick beunruhigt, gelingt es ihm gut, dies zu verste-
cken. Rod sieht sich beide Ausweise genau an, doch an meinem bleibt sein
Blick einen Moment länger haften. Vermutlich würde ich dieselbe Reak-
tion zeigen. Ich nehme sein Verharren zum Anlass, das Eis zu brechen.
»Sind Sie Rod Ramsay?« Die Frage mag überflüssig erscheinen, doch
ich kenne Agenten, die bei einer Anhörung erst nach einer halben Stun-
de feststellten, dass sie mit der falschen Person sprachen.
Rod nickt.
»Dürfen wir hereinkommen und mit Ihnen reden?«
Rod zeigt die ersten Anzeichen von Besorgnis. Er hebt den Arm und
kratzt sich am Nacken. Dieses Verhalten ist ein Relikt aus über sechs Mil-
25

lionen Jahren der Evolution des Menschen. In der Zeit, in der Raubkat-
zen die größte Bedrohung darstellten, lernten unsere Vorfahren, bei ei-
nem Angriff als Erstes ihren Hals zu schützen.
»Worum geht es?«, fragt Rod. Ein weiteres Zeichen von Nervosität: Ich
kann seinen Adamsapfel hüpfen sehen.
»Entspannen Sie sich«, antworte ich mit einem Lächeln. »Wir wol-
len nicht über Sie sprechen, sondern uns von Ihnen Informationen über
die 8. Infanteriedivision holen.« Dieser Moment ist entscheidend, denn
wenn Rod sagt: »Verschwindet!«, haben wir verloren. Man kann nach ta-
gelanger Vorbereitung ein Vorhaben innerhalb von Minuten ruinieren,
wenn man die Zielperson in die Defensive bringt.
Glücklicherweise schlägt meine Strategie an. »Klar, kommen Sie her-
ein«, entgegnet Rod. Im Haus gewöhnen sich meine Augen nur langsam
an die Dunkelheit.
Um Rod zu signalisieren, dass ich nicht zu den steifen Anzugträgern
gehöre, die man aus Fernsehserien rund um das FBI kennt, starre ich ihn
grinsend an, während Al seine Unterlagen hervorholt. »Waren Sie das,
der bei unserer Ankunft durch dieses Zimmer gelaufen ist?«
»Ja«, antwortet Rod mit einem kurzen Kichern. »Ich war gerade aufge-
standen und noch nackt.«
»Ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht an Halluzinationen leide
oder eine andere Person gesehen habe«, behaupte ich, um herauszufin-
den, ob sich noch jemand im Haus befindet, der uns vielleicht Probleme
bereiten könnte.
»Nein, das war ich. Tut mir leid, ich hatte vergessen, dass die Jalousien
hochgezogen waren.«

Die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Army werden alle an dem-


selben Institut für Befragungen geschult und gehen alle nach derselben
Anleitung vor. Sie arbeiten mit vorgegebenen Techniken – vorschriftsmä-
ßig, detailliert und exakt. Mir liegt das nicht. Die Kollegen sind zweifels-
ohne Profis, doch die von ihnen durchgeführten Befragungen gleichen
Gewaltmärschen durch die einzelnen Punkte des Leitfadens. Sie sehen
nur selten von ihren Notizblöcken und Notebooks hoch, um die non-
verbalen Reaktionen der Menschen, mit – oder eher zu – denen sie spre-
chen, zu beobachten.
26

Al bildet diesbezüglich keine Ausnahme, doch ich lasse ihn gerne sei-
nen Fragenkatalog abarbeiten, da es mir Zeit verschafft, Rod Ramsay ein-
zuschätzen – nicht bezüglich der Frage nach Schuld oder Unschuld, denn
meines Wissens nach hat er kein Verbrechen begangen. Ich möchte heu-
te und, falls nötig, auch in Zukunft lediglich Eindrücke aus dem persön-
lichen Gespräch sammeln. Wenn ich mit Menschen spreche, interessiert
mich ihre Art zu kommunizieren. Dieses Verhalten ist stets individuell.
Ich möchte ein Gespür dafür bekommen, wie mein Gesprächspartner mit
den Fragen umgeht, wie schnell er antwortet, in welchem Tonfall er sich
äußert, welche Wörter er verwendet und wie er seine kleinen oder großen
Sünden kaschiert. Befragungen drehen sich immer um Menschen, und je
mehr man über ihre Eigenheiten weiß, umso besser kann man beurtei-
len, was wirklich hinter ihren Äußerungen steckt.
Ein Beispiel: Al stellt Ramsay eine Reihe von Routinefragen zu dessen
Militärzeit – »Haben Sie jemals Ausgangssperre erhalten oder wurden
degradiert?«, »Haben Sie jemals eine Abmahnung erhalten?« etc. Plötz-
lich klinkt sich Ramsay schroff und fast schon kaltschnäuzig ein.
»Sind Sie an Kavaliersdelikten interessiert, Mr Eways? Geht es darum?
Möchten Sie ein bisschen schmutzige Wäsche waschen?«, erkundigt er
sich.
»Nein, gar nicht«, antwortet Al freundlich. Er hält kurz mit seinen
Mitschriften inne, sieht mit einem Lächeln auf und hebt seinen Kugel-
schreiber wie zur Kapitulation empor. »Ich fülle nur die Formularfelder
aus. Wie das bei der Army eben so ist.«
Rod ist jedoch nicht willens, das Thema fallen zu lassen.
»Das kann auch ein Affe machen. Vielleicht sogar eine Ratte, wenn
man ihr eine Skinnerbox baut, die ihr für jeden Versuch ausreichend Be-
lohnung zuwirft.«
Seine Stimme klingt nun ärgerlich, die Stichelei ist Absicht.
»Ich würde vorschlagen, Al, dass Sie ein paar höherrangige Fragen in
Angriff nehmen – Sie wissen schon, greifen Sie nach den Sternen. Dann
können wir ein wesentlich erhellenderes Gespräch führen.«
Ramsay lässt uns beiden ein wissendes Lächeln zuteilwerden und si-
gnalisiert Al durch Kopfnicken, mit seiner monotonen Abfrage fort-
zufahren. Während die Befragung weiterläuft, überlege ich, was einen
Mann, der mit seiner Mutter in einem Wohnwagen lebt, dazu bringt, ei-
27

nen anständigen, soliden Kerl wie Al plötzlich so herablassend zu be-


handeln.
Ist Ramsay ein Narzisst? Gut möglich. Auf jeden Fall hält er größere
Stücke auf sich selbst, als seine Lebensumstände zu rechtfertigen schei-
nen. Außerdem scheint er angriffslustig zu sein: Ohne dass Al ihm wirk-
lich Anlass dazu geben hätte, springt er ihn wie ein Raubtier an. Und
noch etwas: Trotz seiner schnodderigen Art ist Ramsay sehr klug. Uns ist
bekannt, dass seine Ausbildung an der Highschool endete, doch Schul-
abbrecher werfen üblicherweise nicht mit Begriffen wie ›Kavaliersdelikt‹
und ›Skinnerbox‹ um sich. Vielleicht liest er viel, vielleicht ist er Autodi-
dakt. Ich weiß nur, dass er bei der Beantwortung des Fragenkatalogs mit
Al Eways Psychospielchen spielt.

IN DER HALBEN STUNDE, die die Befragung nun schon dauert, er-
weist sich eines als konstant: Ramsay ist immer noch so zappelig wie in
dem Moment, in dem wir das Haus betreten haben. Ist das typisch für
ihn? Ist er mit Speed vollgepumpt? Hat ihn die Tatsache, dass plötzlich
zwei Bundesagenten vor seiner Tür standen, aus der Fassung gebracht –
und wenn ja, warum? Vielleicht leidet er an einer Hyperaktivitätsstö-
rung. Auf jeden Fall kann ich die Tatsache, dass er sein nervöses Verhal-
ten nicht ablegt, nicht ignorieren.
Auch sein Zigarettenkonsum ist für mich relevant. Er raucht bereits
die dritte Zigarette. Flatternde Nerven? Nikotinabhängigkeit? Zum jet-
zigen Zeitpunkt kann ich nicht mehr tun, als sein Rauchverhalten zur
Kenntnis zu nehmen.
Da Rod uns in die Küche geführt hat, bleibt uns nichts anderes übrig,
als inmitten der Nikotinschwaden herumzustehen – die Raumhöhe von
nur 2,40 Metern und die mangelnde Belüftung verschlimmern die Situ-
ation. Vielleicht hat uns Ramsay nicht gebeten, im Wohnzimmer Platz
zu nehmen, weil es ihm schlichtweg an Sozialkompetenz fehlt. Vielleicht
wollte er aber auch dafür sorgen, dass die Befragung nicht allzu lange
dauert, indem er uns Stehplätze in der Küche zuwies.
Ich nutze eine Pause in Als Erkundigungsstrecke, um selbst eine Frage
zu stellen: »Haben Sie das gehört? Ist da jemand …?«
»Nein, nein«, antwortet Rod. »Ich bin allein im Haus. Der Eigentümer
kehrt erst morgen zurück.«
28

Die Frage, ob noch eine weitere Person anwesend ist, beschäftigte mich
die ganze Zeit. Zur Durchsuchung hätten wir keine rechtliche Handha-
be. Tatsächlich aber stellt mich Rods Antwort zufrieden: Diesmal führt
er seine Hand nicht zum Nacken oder zum Mund, während er spricht.
Während sich Al und Rod über den Alltag eines durchschnittlichen Sol-
daten in Deutschland unterhalten, lausche ich noch ein paar Minuten
lang nach Geräuschen in den anderen Räumen und funke dann mit ei-
ner weiteren Frage dazwischen: »Befinden sich Schusswaffen im Haus?«
»Ja.« Rod spricht langsam und mit gesenktem Kinn. »Hier in der Kü-
che liegt eine Waffe.«
›Verdammt, Navarro‹, sage ich zu mir selbst. ›So handelst du dir doch
noch ein Loch in der Brust ein.‹ Al fordert mich mit seinen Blicken auf,
die Situation zu klären.
Ich halte meine Augen fest auf Rods Hände gerichtet, denn nur von
seinen Händen droht uns Gefahr. Glücklicherweise ist zumindest eine
Hand mit der Zigarette beschäftigt. »Tun Sie mir einen Gefallen«, fordere
ich Rod deshalb auf. »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, und sagen Sie mir,
wem die Waffe gehört und wo sie sich befindet.«
»Kein Problem«, erwidert Rod. »Sie gehört dem Hausbesitzer. Er be-
wahrt sie im Schrank auf.«
»In welchem Schrank?«
Rod weist mit dem Kinn auf den Hängeschrank über dem Kühl-
schrank. Von seinem Standort aus kann Rod ihn in einer halben Sekun-
de erreichen. Diese Entfernung ist beunruhigend. Nun fühle ich mich
wirklich unwohl. Wir müssen noch viele Fragen stellen. Es gibt keine Kli-
maanlage, meine Pistole klebt an meinem durchnässten Hemd, und wir
befinden uns in der Nähe einer möglicherweise geladenen Waffe – kein
besonders einladendes Szenario für eine Befragung.
»Hören Sie, Rod«, meine ich deshalb, »ich weiß, Sie haben damit nichts
zu tun, aber diese Waffe macht mich nervös. Außerdem ist es glühend
heiß hier – das macht meinen Spermien zu schaffen. Wie wäre es, wenn
wir drei vor die Tür gehen und die Befragung im Freien fortsetzen wür-
den? Was meinen Sie?«
»Klar«, sagt Rod. »Warum nicht?« Sobald wir nach draußen übergesie-
delt sind, scheint sich Rod zu entspannen. Wer weiß – vielleicht geht er
davon aus, dass es nun mehr Zeugen gibt, falls wir handgreiflich werden.
29

Al verschenkt keine Sekunde. Er markiert die Stelle des Fragebogens,


an der wir aufgehört haben, mit dem Daumen und setzt die Befragung
in dem Moment fort, in dem wir uns in dem kleinen, schäbigen Palmen-
hain hinter dem Haus niedergelassen haben. Um Rods Aufrichtigkeit zu
überprüfen, bitte ich darum, das Badezimmer benutzen zu dürfen. Zu-
rück im Haus, öffne ich sofort den Hängeschrank über dem Kühlschrank.
Da liegt er: ein .38-Revolver eines mir unbekannten Herstellers. Die Her-
kunft spielt jedoch keine Rolle  – eine tödliche Schussverletzung kann
man mit dieser Waffe auf jeden Fall verursachen.
Als ich wieder ins Freie trete, nähert sich Al dem eigentlichen Thema
der Befragung. Ich bin mit Strafverfolgung und Spionageabwehr vertraut,
habe jedoch niemals im Militär gedient. Dienstgrade, Abkürzungen, Ar-
meesprache – all das geht weit über meinen Horizont. Also beteilige ich
mich nur dann, wenn es mir möglich ist.
Al: »Sie waren also in welchem Bereich eingesetzt?«
Rod: »In der G-3-Planung.« (Was immer das sein mag.)
Al: »Und Sie wurden 1985 aus dem Dienst entlassen?«
Rod: »Ja, ich habe den Pinkeltest nicht bestanden.«
Ich: »Was zum Teufel ist ein Pinkeltest?«
Rod mit einem breiten Grinsen: »Nun ja, bei einer spontanen Über-
prüfung konnte in meinem Urin wohl Cannabis nachgewiesen werden.«
Ich: »Na, so was, wie ist das bloß dort hingekommen?«
Rod lacht.
Ich glaube das Puzzle nun ein wenig besser zu verstehen. Rod konsu-
miert offensichtlich Drogen. Da ihm bekannt gewesen sein muss, dass
stichprobenartig Urintests durchgeführt wurden, handelt es sich bei ihm
um einen Menschen, der entweder das Risiko sucht oder selten über die
Konsequenzen seines Handelns nachdenkt. Die besserwisserische Art,
die ihn das Wort »Cannabis« wählen lässt, gestattet mir Rückschlüsse auf
seinen Intellekt. Der Art und Weise, wie er sich äußert, entnehme ich au-
ßerdem, dass er nicht erwartet hatte, erwischt zu werden, und über seine
Entlassung aus der Armee nicht glücklich war.
Während ich mir diese Gedanken mache, kommt Al zum Kern der
Sache: »Hat damals nicht auch Clyde Conrad bei der 8. Infanteriedivi-
sion in der G-3-Planung gearbeitet?« Nun kommen all die Grundlagen,
die ich seit unserer Ankunft am Haus zusammengetragen habe, ins Spiel.
30

Anstatt wie bisher schnell zu antworten, zögert Rod mit seiner Antwort.
Es scheint, als müsse er ganz tief in seiner Erinnerung graben. Außerdem
bringt er seine Antwort diesmal nicht präzise hervor. Nach etwas Ge-
stottere sagt er schließlich: »Oh, ja sicher, Clyde Conrad, natürlich.« Er
spricht mit leichter Betonung, doch meine Aufmerksamkeit erregt vor al-
lem seine Hand.
Die Hand, die die Zigarette hält, zittert. Anders als das Zappeln, das
ich bisher beobachtet habe, gleicht dieses ausgeprägte Zittern einem Seis-
mografen, der einen Ausbruch des Mount St. Helens ankündigt. Bevor
Al diese Frage stellte, atmete Rod den Zigarettenrauch in glatten, durch-
gängigen Schwaden aus. Nun, 30 Sekunden später, bläst er wieder gera-
de Rauchschwaden in die Luft. In dem Moment jedoch, in dem Al Eways
den Namen Clyde Conrad erwähnte, verriet der zickzackförmige Aus-
stoß des Zigarettenqualms, dass Rod seine Atmung genauso wenig unter
Kontrolle hatte wie seinen Kreislauf.
Ist das wichtig? Und ob! Wir speichern jedes für uns bedrohliche Er-
eignis – zum Beispiel eine Verbrennung der Hand, die wir an einer hei-
ßen Herdplatte erlitten haben, oder ein von uns ausgeübtes Verbrechen –
im hintersten Winkel unseres Gedächtnisses ab. Der sensorische oder
emotionale Eindruck, den dieses Erleben bei uns hinterlässt, wird in un-
serem Gehirn über den Hippocampus vom Kurz- ins Langzeitgedächt-
nis übertragen. Jedes Signal, das die erlebte Bedrohung für uns wieder
präsent werden lässt – ein glühendes Heizelement oder die Erwähnung
des Namens unseres Komplizen  –, versetzt uns sofort in Habachtstel-
lung. Rod erging es nicht anders: Er erzitterte und erstarrte einen Mo-
ment lang – so wie wir alle kurz regungslos verharren würden, wenn wir
einen Weg entlangspazieren würden und hinter einer Kurve plötzlich ein
knurrender Hund vor uns stünde.
Warum empfand Rod Ramsay den Namen Clyde Conrad als Bedro-
hung?
»Rod«, sage ich, als Al die Befragung kurz unterbricht, »Ihr Erinne-
rungsvermögen ist außergewöhnlich gut. Ich bin davon ausgegangen,
dass die Befragung nicht lange dauert, doch wie ich sehe, können Sie
noch viele unserer Informationslücken füllen. Ich mache Ihnen einen
Vorschlag. Es ist brütend heiß, und wir könnten Ihre Hilfe noch sehr gut
brauchen. Wie wäre es also, wenn wir in ein nahe gelegenes Hotel ­gingen?
31

Wir könnten uns ein Zimmer nehmen, uns gemütlich zusammensetzen,


die Klimaanlage genießen und uns ein leckeres Mittagessen bestellen,
falls Sie auch Hunger haben.«
Da ich merke, dass Rod sich still verhält, während er sich meinen Vor-
schlag anhört, verlagere ich mein Gewicht nach hinten und platziere mei-
ne Füße so, dass ich ein paar Zentimeter weiter von ihm entfernt bin und
in einem weniger bedrohlich wirkenden, schrägen Winkel zu ihm stehe.
Al wirft mir einen starren Blick zu. Da Rod auf meinen leichten Rück-
zug reagiert, hebe ich die Schultern und lächle, um nonverbal die Frage
»Was halten Sie davon?« zum Ausdruck zu bringen. Rods Körperhaltung
entspannt sich nach diesem Signal noch mehr. Die Fahrt ins Hotel ist be-
schlossene Sache. Sollte er bisher befürchtet haben, wir würden ihn in
den Kofferraum meines Bu-Steed sperren und den Krokodilen zum Fraß
vorwerfen, hat sich diese Sorge nun verflüchtigt.
»Ich habe noch eine Idee«, sage ich. »Meinen Sie, Ihre Mutter ist inzwi-
schen zu Hause?«
»Wahrscheinlich«, antwortet Rod.
»Dann rufen Sie sie an. Sagen Sie ihr, dass wir ins Pickett Hotel drü-
ben am U. S. Highway 60 fahren, um unser Gespräch in Ruhe zu been-
den. Fragen Sie sie, ob sie irgendwelche Bedenken hat. Kommt Ihnen das
entgegen?«
Ich mache diesen Vorschlag auch aus pragmatischen Gründen. Es ist
davon auszugehen, dass in der engen Gemeinschaft der Wohnwagensied-
lung bereits irgendjemand Rods Mutter mitteilt hat, dass Bundesagen-
ten nach ihrem Sohn gefragt haben. Eine in Panik versetzte Mutter, die
gleich zu Beginn einer einfachen Befragung einen Anwalt zu Hilfe ruft,
ist das Letzte, was ich gebrauchen kann. Irgendetwas lässt mich vermu-
ten, dass Rod nicht viele Freunde hat. Vielleicht ist seine Mutter sein ein-
ziger Rückhalt.
»Ja, in Ordnung«, willigt Rod ein. Der Hauch von Erleichterung, den
ich bei ihm wahrnehme, bestätigt mich in meiner Vermutung.

MAN WEISS NIE, welcher Köder Wirkung zeigt. Manchmal kommen


mehrere Dinge gleichzeitig zum Tragen: der Tonfall, ein Lächeln, ein we-
niger bedrohlich wirkender Standort im schrägen Winkel zur befragten
Person oder die Aussicht auf ein kostenloses Mittagessen in einem Hotel
32

mit Klimaanlage. Was auch immer Rod dazu bewogen hat, uns zu beglei-
ten – mein Vorhaben ist geglückt, und ich habe noch mehr Zeit gewon-
nen, ihn im persönlichen Gespräch zu beobachten. Nur das zählt. Zehn
Minuten später bucht Al an der Rezeption des Pickett Hotel für uns eine
geräumige Suite, in der wir uns ausbreiten können. Es ist mir wichtig,
dass wir beide Abstand zu Rod halten können – wir befinden uns nicht
in einem Hollywoodfilm, und wir müssen uns sicher fühlen. Außerdem
müssen wir natürlich berücksichtigen, dass Rod Raucher ist. Während Al
eincheckt, stehen Rod und ich ein wenig abseits.
»Wie lief es denn damals mit den deutschen Mädchen?«, erkundige ich
mich. Rods Stimmung hellt sich sofort auf.
Das ist natürlich ein billiger Trick, doch bei Befragungen sollte man
die Messlatte niemals zu hoch legen. Es geht, wie bereits erwähnt, um die
Gelegenheit zur persönlichen Kommunikation. Wenn man ausreichend
Gesprächszeit gewinnt, erfährt man letztendlich alles, was man wissen
möchte. Rod ist recht schlaksig. Trotz seines jungen Alters sieht sein Ge-
sicht aufgrund der Aknenarben und des starken Rauchens mitgenommen
aus. Ich bezweifle, dass die begehrtesten Frauen der Stadt nachts davon
träumen, dass sich Rods dünne Lippen auf die ihren pressen. Ich vermu-
te aber auch, dass Rod sich selbst für einen Frauenhelden hält. Wenn ich
ihn als solchen behandle und seinem Narzissmus Futter gebe, wird er den
Kontakt zu mir intensivieren, um weitere Bestätigung zu erhalten. Rods
breites Grinsen zeigt mir, dass ich mit meiner Strategie richtigliege.
»Wussten Sie, dass in Deutschland Prostitution legal ist?«, fragt Rod.
»Nein! Sahen die Damen denn gut aus?«
»Na ja«, antwortet Rod mit einem kleinen Seufzer, »die eine, die ich
häufig besucht habe, sah unglaublich gut aus. Sie hatte die Figur eines Su-
permodels. Ich habe mich oft krank gemeldet, um sie zu sehen, und für
sie ein Vermögen ausgegeben.« Rod zieht während dieser Aussage erneut
die Augenbrauen hoch.
»Wie viel?«
»Manchmal mehrere Hundert Dollar pro Woche. Einmal habe ich in-
nerhalb einer Woche 1200 Dollar für sie ausgegeben, aber bei Gott – sie
war es wert. Was für ein Körper!«
»Und das Marihuana?«, wechsle ich das Thema. »Ganz unter uns: Wie
viel kostete denn damals in Deutschland ein Tütchen?«
33

»20 Gramm kosteten umgerechnet etwa 22 Dollar«, antwortete Rod im


Stil eines Geschäftsmannes. »Ich kam damit ungefähr eine Woche lang aus.«
Als Al mit dem Zimmerschlüssel in der Hand die Ecke der Lobby er-
reicht, in der wir stehen, habe ich nicht nur einiges über Rods Lebensstil
während seines Aufenthaltes in Deutschland erfahren – Drogen und Hu-
ren –, sondern auch ein ziemlich klares Bild von seinen finanziellen Ver-
hältnissen gewonnen. Letztere waren beunruhigend. Auch wenn ich selbst
nie im Militär gedient habe, ist mir doch aus der Zeit meiner Zusammen-
arbeit mit Sergeants der Armee in Yuma bekannt, dass diese weniger als
100 Dollar pro Woche verdienten. Allein Rods Marihuanakonsum hätte
ein Viertel dieses Einkommens verschlungen. Sofern Rod nicht Geldan-
lagen besaß, auf die sein aktueller Lebensstil keine Rückschlüsse zulässt,
hätte ihn die für seine Besuche bei Prostituierten zu zahlende Summe
selbst in einer diesbezüglich ruhigen Woche in Schulden gestürzt, denn
diese Dienste wurden (wie das Cannabis) nicht vom Army & Air Force
Exchange Service verbilligt an den Stützpunkten angeboten. Rod hatte in
Deutschland entweder weit über seine Verhältnisse gelebt, oder er hatte
seinen Dienstgrad weit übersteigende Geldmittel besessen. Sollte Letzte-
res der Fall gewesen sein, stellte sich die Frage, woher diese Mittel kamen.
Mit jeder neuen Information wurde Rod für mich rätselhafter. In Ame-
rika ist es jedoch erlaubt, undurchschaubar zu sein … solange man auf
der richtigen Seite des Gesetzes steht.

DAS HOTELZIMMER zeigt die Wirkung, die ich mir erhofft habe. Nach-
dem wir über eine Stunde in der brütenden Hitze in und vor dem kleinen
Haus verbracht hatten, ist die Klimaanlage äußerst wohltuend. Das brei-
te Sofa und die beiden Sessel sind ebenfalls reine Medizin. Sogar Al lehnt
sich ein wenig zurück, und ich nutze die entstehende Pause, um wieder
einige Fragen zu stellen.
»Erzählen Sie mir von diesem G-3«, bitte ich Rod. »Ich weiß mehr
über ›Twelfth of Never‹ als über die 8. Infanteriedivision.« Rod war noch
gar nicht auf der Welt, als Johnny Mathis dieses Lied aufnahm, doch sein
leichtes Kopfnicken zeigt mir, dass er die Anspielung auf die Popkultur zu
schätzen weiß und, wie ich gehofft hatte, darauf eingehen wird.
»In der Abteilung G-3 werden die Pläne zur Kriegsführung ausgear-
beitet und aufbewahrt.«
34

»Krieg?«
»Gegen die Sowjets. Falls Sie es nicht bemerkt haben, Joe: Der Füh-
rungsstaat des Warschauer Paktes liegt gleich hinter der DDR.«
Die Tatsache, dass er mich mit ›Joe‹ anspricht, macht mich neugierig.
Seit wir ihm unsere Ausweise gezeigt haben, hat Rod x-mal Al beim Na-
men genannt, sich aber noch nie mit einer persönlichen Anrede an mich
gewandt, noch nicht einmal mit ›Agent Navarro‹. Mir wird bewusst, dass
hinter jeder Äußerung Rods Berechnung steckt. Was also will er mit ›Joe‹
bezwecken?
»Ich bitte um Nachsicht«, erwidere ich. »Klären Sie mich auf.«
Das tut er: »Wenn es zur Konfrontation kommt, geht es nur darum, wie
die jeweilige Partei reagiert und mit der aktuellen Situation umgeht. Da
sich die Gegebenheiten permanent ändern, müssen die Pläne beinahe
wöchentlich aktualisiert werden. Wie groß ist die Truppenstärke? Wie
sollen die Luftwaffe oder die NATO-Soldaten eingesetzt werden? Was
passiert, wenn eine unserer Raumfähren statt in Spanien in Sibirien lan-
det? Erinnern Sie sich noch daran, dass wir drei Wasserstoffbomben über
Spanien verloren haben?« Ich erinnere mich – Januar 1966, Kollision ei-
nes US-amerikanischen Langstreckenbombers des Typs B-52 mit einer
Boeing KC-135 Stratotanker der amerikanischen Luftwaffe –, und mir
ist bewusst, dass Rod mich mit dieser Frage auf die Probe stellt. »Was
wäre, wenn morgen zum Beispiel über Bulgarien etwas Vergleichbares
passiert? Wir benötigen Notfallpläne für jedes erdenkliche Szenario.«
Es läuft gut. Rod gefällt es, mich zu belehren und sein Wissen zur
Schau zu stellen. Hinsichtlich der G-3-Planung und verwandter The-
men sind seine Kenntnisse immens. Ich bin beeindruckt. Rods Vortrag
entspricht meiner Vorstellung von einer von einem ranghohen Offizier
formulierten Darstellung. Sein Verständnis von taktischen und strategi-
schen Belangen ist erstaunlich ausgeprägt. Außerdem besitzt er Kennt-
nisse von historischen Ereignissen und weiß deren Einfluss auf die jetzi-
ge Zeit einzuschätzen. Sein Kenntnisstand fasziniert mich … und mir ist
klar, dass Rod bei eventuellen weiteren Begegnungen eine Herausforde-
rung bleiben wird.
In Befragungen erlebe ich oft, dass Menschen, die ein vertieftes Fach-
wissen besitzen – zum Beispiel Ärzte oder Anwälte –, schnell arrogant
werden und uns äußerst herablassend behandeln. Sie vergessen dabei,
35

dass wir Agenten ihnen mit geballter Regierungsgewalt entgegentreten


können, wenn sie nicht einen Gang zurückschalten. Rod zeigt dieses Ver-
halten nicht offensichtlich  – dazu fehlt ihm der anerkannte Bildungs-
stand. Doch ich merke, wie er in unserem Gespräch darauf zusteuert,
eine rote Linie zu überschreiten.
Al hat anscheinend noch nicht gemerkt, dass Rod ihn nicht mehr als
Bedrohung wahrnimmt. Als ehemaliger Militär weiß Rod, dass INSCOM
über ihn als Privatperson keine Verfügungsgewalt hat. Simsalabim! Al ist,
da für ihn völlig ungefährlich, aus Rods Kopf verschwunden. Nun ver-
sucht Rod herauszufinden, wie er mir gegenüber die Oberhand gewin-
nen kann.
»Joe«, erkundigt er sich herablassend, »wie weit reichen Ihre Befugnis-
se für Sicherheitsüberprüfungen?«
»Sehr weit«, entgegne ich.
»Nein, Joe. Wie weit genau? Haben Sie die Legitimation für Ermittlun-
gen im streng geheimen Bereich?«
»Ja.«
»Wie sieht es mit der Akkreditierung für Sensitive Compartmented
Information aus?« Damit spricht John die nächsthöhere Stufe von Er-
mittlungen im Bereich der nationalen Sicherheit an.
Da Rod unverkennbar die Absicht hat, sich auf dieser Leiter immer
weiter nach oben zu arbeiten, und mir sein zunehmend schnodderiger
Tonfall widerstrebt, beschließe ich, seinen Fragen ein Ende zu setzen.
»Roderick«, sage ich mit gesenkter Stimme und achte darauf, dass der
Blickkontakt nicht abreißt, während ich mich nach vorne beuge. »Mei-
ne Befugnisse reichen weiter als die irgendeiner anderen Person hier im
Raum, Mr Eways eingeschlossen. Genau deshalb bin ich hier. Verstehen
Sie?« Al verharrt regungslos, und im Zimmer scheint sich eisige Kälte
auszubreiten, doch ich bin noch nicht fertig. Ich halte die unangeneh-
me Stille aufrecht und spanne absichtlich weiter meine Kiefermuskeln an.
Nach einigen Sekunden richtet sich Rod auf dem Sofa auf. Er wendet kurz
die Augen ab, dann sieht er mich zerknirscht an. Botschaft angekommen.
Ich habe nun zwar erstmals in scharfem Tonfall zu Rod gesprochen,
doch aus einem ganz bestimmten Grund bin ich dabei nicht laut gewor-
den: Ich möchte ihm nicht drohen, aber ich möchte auch nicht, dass er
sich mir überlegen fühlt. Sollte Rod in dieser Sache – worum auch im-
36

mer es sich dabei handelte – noch einmal befragt werden müssen, würde
diese Aufgabe aller Wahrscheinlichkeit nach in meiner Hand liegen, und
ich führe keine Befragungen aus einer vermeintlich unterlegenen Posi-
tion heraus durch. Niemand legt einem 15-Jährigen gegenüber ein Ge-
ständnis ab, doch genau diese Situation entsteht, wenn sich ein Befragter
mir überlegen fühlt.
Erstaunlicherweise scheint Rod genügend Sympathien für mich zu he-
gen, um hinzunehmen, von mir in die Schranken gewiesen zu werden.
Seine Gesichtszüge entspannen sich, und er nickt freundlich. Ich habe
gesagt, was ich sagen musste, aber keine Strafpredigt gehalten. Wie ich
merke, begreift Rod dies schnell. Für uns beide geht das Spiel nun ein-
fach weiter.

DAS PHÄNOMEN, dass Rods Hand, mit der er seine Zigarette hält, zit-
tert, beschäftigt mich noch immer. Es ist bislang zweimal aufgetreten. Als
wir vor etwa 20 Minuten erstmals auf die G-3-Planung zu sprechen ka-
men, erkundigte sich Al, ob Clyde Conrad nicht auch an diesen Planun-
gen beteiligt gewesen sei . Al sah nur kurz auf und nahm Rods Reaktion
nicht wahr. Mir fiel jedoch auf, dass Rods Hand erneut zu zittern begann
und der Zigarettenrauch in zickzackförmigen Schwaden aufstieg.
Zweimal ist bemerkenswert, doch aller guten Dinge sind drei, den-
ke ich. Diesmal möchte ich die Reaktion jedoch selbst hervorrufen. Um
meinen Test, soweit dies in einem Hotelzimmer möglich ist, unter kont-
rollierten Bedingungen durchzuführen, muss ich Rod erst einmal beru-
higen.
Zufällig bekommen wir genau in diesem Moment unser Mittagessen
serviert. Ein Hotelpage in violetter Uniform mit goldenen Paspeln schiebt
auf einem Wagen einen Berg Sandwiches, Essiggurken und Pommes
­frites herein. Rod macht es sich sofort bequem. Angesichts seiner aktu-
ellen Lebensumstände ist diese Mahlzeit für ihn eine willkommene Gau-
menfreude, doch ich biete auch Personen, die in Saus und Braus leben,
bei Befragungen gerne Speisen an. Ein Essen verändert die Dynamik: Es
ist wesentlich schwieriger, sich einem Menschen zu widersetzen, von dem
man gerade eine Mahlzeit erhalten hat. Um die Stimmung aufrechtzuer-
halten und Al die Möglichkeit zu geben, ein paar Happen zu sich zu neh-
men, lege ich wieder mein scherzhaft konspiratives Verhalten an den Tag.
37

Ich: »Rod, Ihren Erzählungen entnehme ich, dass die Offiziere den
Laden nicht im Griff hatten und die Unteroffiziere tun konnten, was sie
wollten: die Vorschriften umgehen, Gras rauchen …«
Rod wirft mir ein verstohlenes Lächeln zu: »Es war locker. Alle rauch-
ten Hasch, auch viele Offiziere. Und dann gab es da noch den Schwarz-
markt, auf dem man die an den Militärstützpunkten verbilligt angebote-
nen Produkte handeln konnte.«
»Sie haben sich natürlich von all diesen Versuchungen entfernt gehal-
ten?«, frage ich mit einem breiten Grinsen, das Rod erwidert – eine wei-
tere Bestätigung dafür, dass in Rods Augen Gesetze und Regeln dazu da
waren, umgangen zu werden.
»Und Wein? War der am Stützpunkt günstig zu haben?«
»Sehr günstig.«
»War er gut?«
»Oh ja, vor allem der Riesling. Am Stützpunkt waren alle ständig be-
trunken. Man hatte dort ja sonst nichts zu tun.«
Rod verwendet nun schon zum vierten oder fünften Mal das Wort
»alle« – ein Ausdruck, der Schuld signalisiert. Rod folgt der Logik: »Wenn
alle etwas Verwerfliches tun, warum sollte ich es dann nicht auch machen?«
Ich frage mich, ob er überhaupt Steuern zahlt (vorausgesetzt, seine derzei-
tigen Einkünfte sind nicht so niedrig, dass er gar nicht steuerpflichtig ist)
oder ob er das als unnötig erachtet, da alle anderen ja auch betrügen.
Al nimmt die Befragung wieder auf und erkundigt sich, welche Reisen
die Soldaten unternehmen durften. Rod erklärt, dass er, wie viele Deut-
sche auch, an den Wochenenden zum Wandern aufs Land gefahren sei,
erzählt aber nichts von Reisen in andere Länder. Bedeutender als Rods
Antwort ist jedoch die Tatsache, dass er sich erkennbar entspannt. Er
spricht mit normaler Geschwindigkeit und zappelt nicht mit seinen Hän-
den herum. Er hat die letzten 15 Minuten nicht geraucht und schüttelt
erst jetzt wieder eine Zigarette aus der Packung heraus. Ich warte, bis er
sie angezündet und den ersten kräftigen Zug inhaliert hat. Dann stelle ich
die Frage, für die das gesamte Szenario Vorbereitung war:
»Die Leute, für die Sie gearbeitet haben, dieser Clyde Conrad. Wie war
er? War er ein netter Kerl?«
Rod hört mir aufmerksam zu. Die Muskeln zwischen seinem linken
Auge und dem Wangenknochen zittern leicht. Diese Erscheinung ist
38

für gewöhnlich nur bei Pokerspielern, die bluffen, zu beobachten. Mein


Hauptaugenmerk gilt jedoch Rods Zigarette.
»Conrad ist sehr klug«, antwortet Rod schließlich. »Er las viel und
kannte sich mit den Planungen besser aus als die meisten Offiziere.« In
diesem Moment sehe ich Rods Hand mit der Zigarette zum dritten Mal
zittern und erhalte damit die gewünschte Bestätigung.
Diese sogenannten autonomen Reaktionen sind stark an konkrete Be-
griffe gebunden. Bei einem Menschen, der einen anderen mit einer Mache-
te umgebracht hat, zeigen zum Beispiel die Worte ›Eispickel‹ oder ›Messer‹
keine Wirkung. Nur unmittelbar mit der Tat in Verbindung stehende Wör-
ter oder Ausdrücke können diesen unbewussten Reflex auslösen. Bei Rod
ist, wie ich nun bestätigt sehe, der Name Clyde Conrad der Auslöser. Aber
warum? Auch wenn sie so stark mit Bedeutung belegt sind, ist bei Eigen-
namen der Kontext schwer zu entschlüsseln. Vielleicht haben Conrad und
Rod gemeinsam Ausflüge in die Bordelle gemacht oder, wie von Rod ange-
deutet, auf dem Stützpunkt erhältliche Zigaretten auf dem Schwarzmarkt
gehandelt. Da Rods Reaktion auf die Namensnennung jedoch immer wie-
der auftritt, muss zwischen den beiden etwas Ernstes vorgefallen sein.
Diese Angelegenheit muss auf jeden Fall weiterverfolgt werden, doch
erst gilt es, ein praktisches Problem zu umgehen: Al hat keine Zeit mehr.
Um Rod muss ich mich nicht kümmern – er ist uns auf der Fahrt zum Pi-
ckett Hotel in seinem heruntergekommenen Dodge Aries gefolgt, wobei
ich ihn im Rückspiegel nicht aus den Augen gelassen habe –, doch wenn
ich Al nicht innerhalb der nächsten halben Stunde zum Flughafen brin-
ge, verpasst er seinen Flug.
»Möchten Sie nicht Ihre Mutter anrufen, bevor wir aufbrechen?«,
schlage ich Rod vor. »Damit sie sich keine Sorgen macht?«
»Das ist nicht nötig«, erwidert Rod. »Ich rufe sie an, wenn ich zurück
bin.« Er lächelt – ein echtes Lächeln diesmal, kein Grinsen. Er scheint mit
den Antworten, die er uns gegeben hat, zufrieden zu sein, und wir haben
ihn während der Befragung nicht unter Druck gesetzt. Hätte ein Unbe-
teiligter Mäuschen gespielt, wäre für ihn vermutlich fraglich, ob wir über-
haupt ein Ergebnis erzielt hatten. Außer Prahlen und Geschichtenerzäh-
len mit ein paar historischen Fakten aus dem Kalten Krieg und ein wenig
Blödelei schien nichts passiert zu sein. Doch das Mäuschen hätte sich ge-
waltig geirrt.
39

Aufgemuntert durch unsere Dankesbekundungen und mit Sicherheit


froh, dass die Befragung vorüber ist (zumindest glaubt er das), geht Rod
zur Tür des Hotelzimmers. Ich warte, bis er die Klinke in der Hand hält,
ehe ich ihm eine letzte Frage stelle.
»Hat Ihnen Conrad irgendwann einmal irgendetwas gegeben?«
Im Fachjargon wird diese Strategie als »Konfrontation am Türpfosten«
bezeichnet. Die Befragung ist vorbei, die Zielperson wiegt sich in Sicher-
heit. Die Freiheit liegt nur einen Schritt entfernt – es steht buchstäblich
nur noch das Drücken der Klinke dazwischen. Man weiß nie, was man
durch Anwendung dieser Strategie erreichen kann.
»Nein, nichts Wichtiges. Einmal hat er mir eine Telefonnummer ge-
geben.«
Ohne zu zögern, zieht er eine Brieftasche aus seiner hinteren Hosenta-
sche, nimmt einen zerknitterten Zettel heraus und hält diesen hoch.
»Kann ich den Zettel haben?«, frage ich.
»Klar«, antwortet Rod, »nehmen Sie ihn.«
Ich fasse den Zettel vorsichtig an einer Ecke an, drehe ihn um und sehe
mir die Nummer an, die darauf geschrieben steht: 266-933. Da mir so-
fort auffällt, dass die Ziffer Neun auf deutsche Art, also wie ein »g« mit ei-
ner geschwungenen unteren Linie, geschrieben ist, vermute ich, dass Rod
nicht der Verfasser war.
»Wozu dient diese Nummer?«
»Für einen Telefonanschluss, denke ich. Er sagte, unter dieser Num-
mer könne ich ihn erreichen«, sagt Rod, verlässt den Raum und schließt
die Tür.
Noch bevor Rod den Aufzug erreicht, habe ich den Zettel vorsich-
tig in einen der im Hotelzimmer ausliegenden Briefumschläge gesteckt.
Die Nummer ist nicht wichtig, aber das Papier, auf dem sie geschrieben
steht – dessen Dicke, Fasern, Struktur –, fühlt sich merkwürdig an.
2
SCHWIERIGES LEBENSUMFELD

Al Eways ist doch nicht der stoische Geheimnisträger, für den ich ihn ge-
halten habe. Auf der nur zehnminütigen Fahrt vom Pickett Hotel zum
Tampa International Airport weicht Al (auf meine Veranlassung hin)
vom Protokoll ab und setzt mich über den Fall Conrad in Kenntnis.
Eine vom amerikanischen Geheimdienst rekrutierte Person  – Al
konnte oder wollte keine genaueren Angaben machen – hatte INSCOM
den Tipp gegeben, dass sich unter den 250 000 in Deutschland stationier-
ten Mitgliedern der US Army ein Spion befand. Der unbekannte Soldat
entwendete Unterlagen, die über Ungarn ihren Weg in die Sowjetuni-
on fanden. Laut Al beschäftigen die Nachforschungen in diesem Fall den
Nachrichtendienst der Army und die Außenstelle des FBI in Washing-
ton schon seit Jahren. Bei der Suche nach der berühmten Nadel im Heu-
haufen stießen die Ermittler schließlich aus zwei Gründen auf Clyde Lee
Conrad: Anders als die meisten Soldaten, die nach wenigen Jahren in an-
dere Gebiete versetzt wurden, war Conrad lange in Deutschland statio-
42

niert. Noch bedeutender war die Tatsache, dass er die meiste Zeit über of-
fiziell für die Bewachung genau jener G-3-Planungen, die in die UdSSR
durchgesickert waren, zuständig gewesen war.
Die Geschichte ging noch weiter. Nachdem sich die Behörden auf Con-
rad konzentriert und sich eines verdeckten Ermittlers namens Danny
Williams in der Armee bedient hatten, konnten sie Zoltan Szabo als un-
garischen Verbindungsmann identifizieren. Der aus Ungarn in die USA
emigrierte Szabo war nach seinem Einsatz im Vietnamkrieg mit dem Sil-
ver Star, dem für besondere Tapferkeit vor dem Feind verliehenen Orden,
ausgezeichnet worden, wurde dann aber in Deutschland zum Verräter.
Mithilfe seiner ehemaligen Landsleute spielte er den Sowjets die gehei-
men Dokumente zu. Als Szabo aus dem Militärdienst ausschied, ernann-
te er Conrad zum Hüter der Unterlagen der 8. Infanteriedivision.
Mithilfe des verdeckten Ermittlers konnten die Behörden auch zwei
Ärzte ungarischer Abstammung, die Brüder Imre und Sandor Kercsik,
ausfindig machen, die die Unterlagen in ihren unantastbaren Medikamen-
tenkoffern von Deutschland, wo Conrad stationiert war, nach Ungarn ge-
bracht hatten. Die beiden Brüder waren in Schweden, wo sie sich nie-
dergelassen hatten, festgenommen worden. In den von den schwedischen
Behörden unter deutscher Anleitung durchgeführten Verhören gestanden
sie schnell, dem Spionagering um Clyde Conrad angehört zu haben. Laut
Al sind die beiden nun in Stockholm inhaftiert. Zweifellos wurden bereits
großartige Erfolge erzielt, doch ich frage mich, welchen Beitrag die ameri-
kanischen Behörden – INSCOM und das FBI – geleistet haben.
»Was ist mit Rod Ramsay?«, erkundige ich mich, als wir vor dem Ter-
minal anhalten. »Was hat er mit der ganzen Sache zu tun?«
»Vermutlich nichts«, erwidert Al. »Im fraglichen Zeitraum gehörten
Zehntausende Menschen der 8. Infanteriedivision an. Davon haben etwa
1000 mit Clyde Conrad zusammengearbeitet oder waren in seinem nä-
heren Umfeld tätig. Entsprechend unserer üblichen Vorgehensweise wer-
den sie alle von uns befragt. Im Prinzip ist dieser Fall aber abgeschlos-
sen.«
»Abgeschlossen?«, hake ich nach. Al ist bereits aus dem Auto ausge-
stiegen und holt seine Tasche aus dem Kofferraum.
»Ja«, wirft mir Al noch über die Schulter zu, bevor er zu seinem Flug
eilt. »Szabo lebt in Österreich. Die Kercsiks sind in Schweden inhaftiert.
43

Da Spionage in diesen beiden Ländern zu den Staatsschutzdelikten zählt,


können wir keine Auslieferung beantragen. Und was Conrad anbelangt:
Er wurde vor elf Stunden von den deutschen Behörden aufgegriffen  –
um 4:00 Zulu, wie es in dem Fernschreiben stand, also mitten in seinem
Schönheitsschlaf. Alles Weitere liegt in den Händen der Deutschen. Wir
sind raus.«
Seine Schilderung der Sachlage klingt schlüssig, doch irgendetwas
stört mich. Ich kann nur nicht genau sagen, was.
Wir verabreden, in Kontakt zu bleiben, falls neue Erkenntnisse auftau-
chen, dann sehe ich Al hinterher, der mit hängenden Schultern zum Gate
rennt. Eigentlich sollte ich mich eilig in die entgegengesetzte Richtung
aufmachen und ins Büro zurückkehren. Der abzuarbeitende Papierstapel
ist inzwischen bestimmt ins Unermessliche gewachsen. Stattdessen drehe
ich jedoch drei gemächliche Runden um das Terminal und lasse mir das
soeben Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen.
Erstens: An dem Spionagering waren mindestens zwei einander nach-
folgende Besetzungen beteiligt gewesen. Warum ziehen die Behörden
nicht in Betracht, dass auch Conrad die einzelnen Posten – sozusagen in
dritter (oder gar vierter und fünfter) Generation – neu besetzt hat?
Zweitens: Wenn INSCOM und die Washingtoner Außenstelle des FBI
tatsächlich bereits sechs Jahre Ermittlungsarbeit in den Fall investiert ha-
ben, ist es merkwürdig, dass nun nicht noch wenigstens ein paar Monate
für weitere Nachforschungen aufgewendet werden können, während sich
Conrad an das Leben hinter Gittern gewöhnt.
Am meisten beschäftigt mich jedoch die Tatsache, dass die Ergreifung
Conrads den deutschen Behörden überlassen worden war und diesen
nun Als Angaben zufolge auch die weitere strafrechtliche Verfolgung ob-
liegt. Beim FBI gilt der Glaubensgrundsatz, dass es in den Fällen, in de-
nen die USA das Opfer sind – die geschädigte Partei, also das Land, dem
der Angriff gegolten hat –, es in der Zuständigkeit der Behörde liegt, den
Täter zu belangen, auch wenn ein wenig Einfallsreichtum erforderlich ist,
um den Beschuldigten auf amerikanischen Boden zu bringen. Die nöti-
gen Ideen lassen sich selbst für die raffiniertesten Verbrecher entwickeln.
Ich denke an einen Einsatz zurück, an dem ich vor vier Jahren betei-
ligt war. Die mexikanischen Behörden hatten uns um Hilfestellung bei
der Ergreifung des wegen Korruption gesuchten ehemaligen Polizeichefs
44

von Mexiko-Stadt, Arturo Durazo, gebeten. Durazo flüchtete damals auf


der Suche nach einem sicheren Aufenthaltsort von einem lateinamerika-
nischen Land zum anderen. Unsere Verfolgung verlief wenig erfolgreich,
bis wir aufgrund von Hinweisen von FBI-nahen Quellen Durazos Freun-
din aufspürten und diese überredeten, es ihrem Liebhaber schmack-
haft zu machen, auf eine Insel in der Karibik – einem Paradies für Ga-
noven, da es dort keine Auslieferungsabkommen mit Mexiko und den
USA gab– überzusiedeln. Das war viel verlangt, doch Durazos Freundin
war so überzeugend, dass der Expolizeichef aus freiem Willen in eine als
Zivilflugzeug getarnte zweimotorige Maschine des FBI stieg  – mit sei-
ner Freundin, seinem Bodyguard und einer Million Dollar Bargeld. Statt
ins versprochene Paradies brachten wir Durazo auf eine Insel, die un-
ter amerikanischer Gerichtsbarkeit stand: Puerto Rico. Wir nahmen ihn
sofort auf Basis eines internationalen Haftbefehls fest, beschlagnahmten
das gestohlene Geld und brachten ihn zur Gerichtsverhandlung in sein
Heimatland zurück. Wenn es möglich ist, in einem Fall, der uns nur in-
direkt betrifft, alle Kreativität auszuspielen, dann hätte die Washingtoner
Außenstelle Berge versetzen können, um Conrad in die USA zurückzu-
holen.
War Conrad aus Mangel an Einfallsreichtum, aufgrund fehlender Wil-
lenskraft oder aus Mangel an Mut den Deutschen überlassen worden?
Wer weiß. Ich für meinen Teil würde fehlenden Mut als Ursache nicht
ausschließen.

NACH MEINER DRITTEN RUNDE um das Terminal folge ich den


Schildern Richtung Stadtzentrum, doch meine Gedanken sind noch im-
mer nicht nach vorne gerichtet. Auch die Fallbeschreibung beschäftigt
mich. Al hatte die Fahndung nach Conrad mit der Suche nach einer Na-
del im Heuhaufen verglichen, der aus insgesamt einer halben Million Mi-
litärkräften bestand, die in wechselnder Besetzung Ende der 1970er- und
Anfang der 1980er-Jahre der 8. Infanteriedivision angehört hatten. Trägt
man von diesem Heuhaufen aber die äußersten Schichten ab, bleibt nur
noch ein kleiner Berg übrig, aus dem Conrad wie eine Signallampe her-
ausleuchtet. Die zeitliche Eingrenzung funktionierte perfekt: Conrad hat-
te Zugang zu den betroffenen Dokumenten. Die Gelegenheit bot sich an,
ja sie drängte sich förmlich auf.
45

Ein echter Erfolg wäre es, unter den über 10 000 Menschen, mit deren
Befragung man Al, mich und viele andere beauftragt hatte, einen Mitver-
schwörer zu finden. Während ich mich dem FBI-Büro in der Zack Street
im Zentrum von Tampa nähere, komme ich zu dem Schluss, dass sich ein
von Aknenarben gezeichneter, Hasch rauchender, schlaksiger, vielleicht
70 Kilogramm schwerer Kerl mit übergroßem Intellekt, der zufällig ganz
in meiner Nähe wohnt, als Möglichkeit Nummer eins erweisen könnte.

Meine Tätigkeit für die Campus Police hatte mir Zutritt zum FBI ver-
schafft, doch sobald ich dort im Sattel saß, weckte die Spionageabwehr
mein Interesse. An meinem ersten Einsatzort in Phoenix zählte die Spi-
onageabwehr nur begrenzt zu meinen Aufgaben. Drogenfahndung,
Grenzkontrollen, das Unterbinden von Geldwäsche und die Auseinan-
dersetzung mit allen illegalen Machenschaften, die über die Staatsgren-
ze herüberschwappten – es galt, dem gesamten Spektrum der nach dem
Bundesstrafrecht zu ahndenden Vergehen zu begegnen. Während mei-
ner anschließenden Stationierung in New York City war die Spionage-
abwehr mein einziges Betätigungsfeld: Einsätze mit Doppelagenten, das
Akquirieren von nachrichtendienstlichen Quellen und das Ausschalten
von in den Reihen der Vereinten Nationen tätigen Spionen. Das sowje-
tische Kontingent an Einsatzkräften der Vereinten Nationen war damals
fast zur Gänze von Geheimagenten durchsetzt.
Abgesehen von der Tatsache, dass die Spionagefälle nicht abrissen, be-
geisterte mich in New York die Arbeit unter Special Agent Don McGorty,
der die Außenstelle leitete. Don führte die Aufsicht über das landesweit
größte Spionageabwehrprogramm. Er scherte sich nicht um die Anwei-
sungen des FBI-Hauptbüros, da er weitreichendere Kenntnisse besaß
und bessere Ergebnisse erzielte als jede andere Außenstelle. Dons Leitsät-
ze für den Umgang mit dem FBI-Hauptquartier machte ich mir schnell
zu eigen: »Besser, sich im Nachhinein zu entschuldigen, als vorher um
Erlaubnis zu fragen« und »Du weißt mehr über die Zielperson als irgend-
ein Mitarbeiter im Hauptbüro«.
Puerto Rico, meine nächste Station unter den FBI-Außenstellen, stand
unter der Leitung eines weiteren renommierten Special Agent. Dick Helds
Einstellung hinsichtlich des Umgangs mit der übergeordneten Washingto-
ner Dienststelle lautete: »Unternimm alles, was der Lösung des Falls dient,
46

solange es rechtlichen und ethischen Grundsätzen nicht widerspricht.


Lasse ein Nein nicht als Antwort gelten – vor allem nicht, wenn es vom
Hauptquartier kommt.« Für mich persönlich war eine Stationierung in
Tampa das Ziel. Die dortige Außenstelle hatte eine außergewöhnlich hohe
Anzahl von Spionagefällen vor Gericht gebracht. Außerdem lag Tampa
näher an den Wohnorten meiner ebenfalls ausgewanderten Familienmit-
glieder, die sich inzwischen in ganz Südflorida niedergelassen hatten.
Ein weiterer Vorteil meiner Stationierung in Tampa ist die Arbeit un-
ter meinem direkten Vorgesetzten Jay Koerner, der unter den im Bereich
der Spionageabwehr tätigen Mitgliedern des FBI zunehmend an Renom-
mee gewinnt. Innerhalb der von einer wachsenden Bürokratie, der vie-
le junge Mitarbeiter zum Opfer fallen, geprägten Behörde bildet er eine
der seltenen Ausnahmen. Jay wird von der Zentrale des FBI respektiert,
obwohl er niemals dort tätig war. Außerdem hält er sich anders als die
karriereorientierten FBI-Mitglieder, die das Hauptbüro wie Bienen um-
schwärmen, mit Aufstiegsambitionen angenehm zurück.
Leider erachtet Jay die Zusammenarbeit mit mir nicht immer in glei-
chem Maße als segensreich. Das zeigt sich auch heute wieder. Er telefo-
niert gerade, als ich in sein Büro hineinplatze. Wie bei diesen Gelegen-
heiten üblich fixiert er mich mit einem Blick, der besagt: »Du siehst doch,
dass ich telefoniere!« Ich sortiere erst wie üblich die Papierstapel auf sei-
nem Schreibtisch – Jay ist diesbezüglich ausgesprochen schlampig – und
laufe dann vor ihm auf und ab, um ihm zu signalisieren, dass ich ihm et-
was Wichtiges mitzuteilen habe.
Die Botschaft kommt schließlich bei ihm an, und er beendet das Tele-
fongespräch. »Was?«, fragt er, wobei sein New Yorker Akzent das kurze
Wort noch abgehackter erscheinen lässt und sein Gesichtsausdruck ein-
deutig den Gedanken vermittelt: »Navarro, tu mir den Gefallen, und fall
auf der Stelle tot um.«
»Ich habe gerade Eways zum Flughafen gebracht«, antworte ich. Ich
setze mich und lockere meine Krawatte.
»Du stapfst vor meinem Schreibtisch auf und ab, um mir das zu sagen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Okay. Wie lief es denn?« Ich vernehme ein leichtes Seufzen in seiner
Stimme. Vermutlich wappnet er sich ein wenig, da ihm bewusst ist, dass
ich ihn mit irgendetwas konfrontieren werde.
47

»Ich möchte eine vollständige Untersuchung von Rod Ramsay veran-


lassen.«
»Warum? Was hat er gesagt?«
»Nicht viel«, entgegne ich.
»Nicht viel?«
»Nun ja, er war kooperativ.«
»Und das soll unsere Grundlage für eine vollständige Untersuchung
sein? Seine Kooperationsbereitschaft?«
»Nein, seine Zigarette.«
»Seine Zigarette? Ist Rauchen jetzt ein vom Bundesstaat zu ahndendes
Verbrechen? Diesen Erlass des Kongresses habe ich nicht gelesen.«
»Die Hand, mit der Ramsay seine Zigarette hielt, hat gezittert.«
Koerner lächelt. Es ist ihm bekannt, dass ich mich ausführlich mit dem
Studium der Körpersprache beschäftigt habe. Er hegt aber auch den Ver-
dacht, dass ich ein wenig verrückt bin. »Zum Teufel, willst du mich ver-
schaukeln?«
»Seine Hand hat nicht nur einmal, sondern dreimal gezittert.«
»Damit ich es recht verstehe: Du willst auf Grundlage der Tatsache,
dass der Befragte seine Zigarette hin und herschwenkte, eine vollständige
Untersuchung gemäß der Attorney General Guidelines einleiten?«
Dieses Argument habe ich erwartet. Die vom Justizministerium fest-
gelegten Richtlinien für Ermittlungen wurden vor rund zehn Jahren in
Kraft gesetzt, um dem Amtsmissbrauch, der unter der Leitung von John
Edgar Hoover beim FBI vorherrschte, entgegenzuwirken. Kurz gesagt,
legt das umfangreiche Regelwerk fest, unter welchen Bedingungen und
über welchen Zeitraum hinweg eine vollständige Untersuchung erfolgen
darf. Die Schwelle für die Aufnahme solcher Ermittlungen ist hoch: Eine
vollständige Untersuchung setzt voraus, dass der begründete Verdacht
besteht, dass eine Straftat begangen wurde oder dass ein Spionageangriff
unmittelbar bevorsteht. Eine in der Hand zitternde Zigarette ist, selbst
wenn dieses Phänomen dreimal zu beobachten war, innerhalb dieser
Rahmenbedingungen zugegebenermaßen eine Nichtigkeit. Aber würde
es sich nicht lohnen, über das Kleingedruckte hinwegzusehen?
»Ja«, antworte ich deshalb und strecke entschieden meine Hände über
die Armlehnen meines Stuhls hinaus. »Genau auf dieser Grundlage soll-
ten wir eine vollständige Untersuchung veranlassen.«
48

»Möchtest du, dass wir alle gefeuert werden?«, schüttelt Koerner den
Kopf.
»Ich glaube, dass Ramsay in den Fall involviert ist.«
»In welchen Fall, um Himmels willen?«
Ich hatte vergessen, dass Jay, der nur das Fernschreiben gelesen hat-
te, noch immer den Kenntnisstand besaß, den ich vor sieben Stunden ge-
habt hatte. Während ich die Informationen, die ich von Al Eways nach
Abschluss der Befragung erhalten habe, zusammenfasse, holt Jay eine
große Packung Säureblocker aus seiner obersten Schreibtischschublade.
Zumindest in Tampa operiert der Rechtsschutz des amerikanischen Staa-
tes mit einer soliden Basis an Magenmitteln.
»Aha«, meint Jay, nachdem ich meine Erläuterung beendet habe. »Der
Fall lag in den Händen der Armee, nun sind die Deutschen dran, und du
willst trotzdem eine eigenständige Untersuchung durch unser Büro in
Tampa einleiten?«
»Genau.«
»Verfolgt die Washingtoner Außenstelle diesen Fall?«
Die Frage zielt auf den Umstand ab, dass wir Gefahr laufen würden,
in einen Zuständigkeitskonflikt zu geraten, der so unangenehm werden
kann wie ein Hahnenkampf.
»Laut Eways«, erkläre ich, »hat die Außenstelle in Washington jahrelang
bei den Ermittlungen Unterstützung geleistet, aber nichts vorzuweisen.
Außerdem liegt deren Fall nun in den Händen der deutschen Behörden.«
»Was meinst du mit ›nichts vorzuweisen‹«?
»Du hast die uns zugesandte Kurzübersicht gelesen. Welche Kenntnis-
se Washington auch besitzen mag, uns haben sie nichts anzubieten. Ich
möchte beweisen, dass Ramsay in irgendeiner Form mit dem Kerl, der in
Deutschland verhaftet wurde, in Verbindung steht.«
»Woher wollst du das wissen?«
»Die Hand, mit der er seine Zigarette hielt, hat jedes Mal gezittert,
wenn der Name Clyde Lee Conrad fiel.«
»Conrad?«
»Der Mann, der mithilfe der Army verhaftet wurde. Ramsay hat für
ihn gearbeitet.«
»Du willst also eine Untersuchung einleiten, nur weil Ramsay für Con-
rad arbeitete und seine Hand mit der Zigarette zitterte?«
49

»Genau. Du hast es erfasst. Glückwunsch.« Ich bin von meinem Stuhl


aufgestanden, um die Formalitäten einzuleiten, doch Jay ist noch nicht
fertig.
»Du bist vollkommen verrückt. Ich kann mir die Anhörung schon vor-
stellen: ›Ja, Frau Senatorin, ich habe die Genehmigung zu Ermittlungen
gegen diesen Amerikaner aufgrund seines engen Arbeitsverhältnisses zu
Conrad und der nervösen Zuckungen, die er beim Rauchen zeigte, er-
teilt.‹ Um Himmels willen, Navarro, denk noch einmal darüber nach!«
Ich lächle, während ich mir vorstelle, wie sich Koerner auf der Ankla-
gebank windet. »Vielleicht bin ich verrückt«, entgegne ich. »Diese Ver-
mutung hast du ja bereits geäußert. Doch ich möchte wirklich eine Un-
tersuchung einleiten, Jay.« Ich spreche Koerner nur selten mit Vornamen
an. Auch diesmal verwende ich ihn bewusst, um meinen Standpunkt un-
missverständlich klarzumachen. »Ramsay flatterten während der gesam-
ten Befragung die Nerven, obwohl wir ihm mitgeteilt hatten, dass wir
nicht an ihm persönlich interessiert seien. Meiner Ansicht nach weist er
genügend asoziale Tendenzen und Probleme in seinem Lebensumfeld
auf, um ihn ins Zentrum einer Ermittlung zu stellen.«
»Großartig. Dann kann ich vor meiner Inhaftierung ja noch meiner
Aussage hinzufügen: ›Frau Senatorin, er hatte Probleme in seinem Le-
bensumfeld.‹ Navarro, die Hälfte der Erdbevölkerung hat ein schwieriges
Lebensumfeld. Du eingeschlossen.«
Uns beiden verschlägt es den Atem.
»Hör mal«, sagt Koerner nach einer langen Pause. »Es tut mir leid. Das
war unfair, ein grobes Foul.«
Koerner ist sehr groß. Mit seinen stattlichen 1,92 Metern, den blonden
Haaren und dem Schnurrbart erinnert er an die Werfer, die Anfang der
1970er-Jahre das Baseballteam Oakland Athletics zu bisher unbekannten
Erfolgen führten. Er war in unserer Dienststelle und in weiteren Krei-
sen des FBI dafür bekannt, sich nichts gefallen zu lassen, doch wie sich
auch in diesem Moment wieder zeigt, hat er ein Herz aus Gold. Meine
Frau Luciana wurde in Brasilien geboren und wuchs dort auf. Sie muss
sich immer noch an das Leben in Amerika gewöhnen. Da wir in den ver-
gangenen sieben Jahren dreimal umgezogen sind, war es schwer, soziale
Kontakte zu knüpfen. Jay ist jedoch bekannt, dass unsere Probleme noch
weiter reichen.
50

Ich spreche mit Jay meist nur über die Arbeit, doch als mein Vor-
gesetzter hat er das Recht nachzufragen, wenn ich auf ihn den Ein-
druck mache, wegen außerberuflichen Schwierigkeiten unkonzentriert
zu sein. Er weiß, dass Luciana gesundheitliche Probleme hatte. Außer-
dem habe ich mehrmals erwähnt, dass Luciana sich darüber beklagte,
dass ich selten zu Hause und in meiner knappen Freizeit ihr und un-
serer Tochter Stephanie gegenüber nicht aufmerksam genug war. Je-
der Agent wird bestätigen, dass die mangelnde Konzentration auf die
Familie bei allen, die keinen ruhigen Schreibtischjob schieben, ein
Berufs­risiko ist.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, erwidere ich. »Luciana hat recht,
und ich werde mich darum kümmern. Ich würde aber nicht fragen, Jay,
wenn ich mir nicht sicher wäre, dass mit Ramsay irgendetwas nicht
stimmt. Ich habe ihn auf die Probe gestellt, um sicherzugehen. Die Ziga-
rette in seiner Hand hat dreimal wie die Nadel eines Lügendetektors ge-
zittert, und zwar jedes Mal, wenn ich den Namen Clyde Lee Conrad er-
wähnte.«
»Oh, nicht doch, Navarro!« Jay schiebt seinen Stuhl nach hinten und
blickt an die Decke, als würde er um göttlichen Beistand flehen.
»Ich meine es ernst. Lass mich noch ein paarmal mit ihm sprechen, nur
um zu hören, was er sagt. Was, wenn er doch beteiligt war, was, wenn …«
Koerner fällt mir ins Wort: »Das ist alles sehr vage. Die Attorney Ge-
neral Guidelines geben genaue Bedingungen vor. Was sagt Eways dazu?«
»Nicht viel. Nur dass Ramsay beim Urintest aufgeflogen ist. Außer der
Tatsache, dass er mit Conrad zusammenarbeitete, haben sie nichts gegen
ihn in der Hand.«
»Herrgott noch mal, Navarro!« Jay scheint die Hoffnung auf göttlichen
Beistand aufgegeben zu haben. Er rollt nun vor Verzweiflung mit den Au-
gen.
»Da ist noch etwas: Als Ramsay im Begriff war zu gehen, fragte ich ihn,
ob Conrad ihm jemals etwas gegeben habe. Er sagte: ›Ja‹ und holte dies
aus seiner Brieftasche heraus.« Ich zeige Koerner den Inhalt des Briefum-
schlags aus dem Hotel, bitte ihn aber, den Zettel nicht zu berühren.
»Was ist das?«
»Ich weiß es noch nicht. Ramsay meinte, es sei eine Telefonnummer.«
»Und die trägt er in seiner Brieftasche herum?«
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»Ja. Auffällig ist auch, dass die Nummer nicht lang genug ist, um damit
irgendwo anrufen zu können.«
»Es ist nicht gesetzeswidrig, eine Nummer in der Brieftasche mit sich
zu führen, ob diese nun vollständig ist oder nicht.«
»Jay, hör mir zu. Ich bin mir sicher, dass Ramsay keine weiße Wes-
te hat. Ich möchte diese Nummer nachverfolgen. Ich möchte den Zettel
auf Fingerabdrücke überprüfen und einen Handschriftenvergleich vor-
nehmen lassen. Ich möchte herausfinden, woher das Papier stammt, und
ich möchte in Erfahrung bringen, ob und in welcher Form Ramsay mit
Conrad Kontakt hatte. Sollte Ramsay Dreck am Stecken haben, werde
ich nach zehn Befragungen ein Geständnis von ihm vorlegen. Verspro-
chen.«
»Zehn?«
»Also gut, fünf.« Eine mutige Aussage, doch mir läuft die Zeit davon.
»Raus«, sagt Jay, »raus aus meinem Büro. Ich muss mich um andere
Dinge kümmern. Es gibt hier glücklicherweise auch einige Agenten, die
zurechnungsfähig sind.«
Um Blickkontakt mit mir zu vermeiden, hantiert er mit den Akten auf
seinem Schreibtisch herum und zerstört dabei die vorher von mir sorg-
fältig errichteten Stapel.
»Ich werde darüber nachdenken«, brummt er schließlich. Noch bevor
ich seine Bürotür schließe, sehe ich, dass er bereits die Nummer des FBI-
Hauptbüros wählt.
Der große Zeiger steht auf neun und der kleine fast auf sechs, als Jay
endlich sein Büro verlässt. Meiner Schätzung nach hat er in den letzten
vier Stunden vier Anrufe entgegengenommen und fünf getätigt. Ich habe
gesehen, wie er versucht hat, schmeichelnd zu überzeugen, wie er ein-
dringlich gebeten hat und sogar einige Male laut geworden ist. Aber das
muss nichts heißen.
Jay tritt an meinen Schreibtisch heran. »Leite die Formalitäten ein«,
fordert er mich auf. »Nimm die Untersuchung auf. Schreib in der Be-
gründung keinesfalls irgendetwas von Körpersprache oder zitternden Zi-
garetten. Und befrag Ramsay gleich morgen. Du hast 90  Tage, danach
lege ich den Fall zu den Akten.«
»Danke, Koerner«, erwidere ich, doch Jay ist bereits auf dem Weg zur
Tür – kopfschüttelnd wie ein Hirsch, der sein Geweih loswerden möchte.
52

Am nächsten Morgen  – am Dienstag, den 24.  August 1988  – erreiche


ich pünktlich um sechs Uhr das Büro. Wie gewohnt werde ich von dem
Agenten, der gerade seine Nachtschicht beendet, begrüßt und bekomme
von dem Kommunikationsspezialisten, der seinen Arbeitsplatz im Kel-
lergeschoss verlässt, meinen Umschlag ausgehändigt. Um 6:02 Uhr weiß
ich, dass der Fall Ramsay nicht einfach werden wird. Nein, das ist zu mil-
de formuliert: Ich weiß, dass der Fall Probleme bereiten wird, vielleicht
sogar große.
Gestern Abend habe ich mit der Nachtpost den Antrag auf Aufnah-
me der Untersuchungen abgeschickt. Außerdem habe ich der Abteilung
des FBI-Labors, die für Beweisstücke im Bereich der Spionageabwehr zu-
ständig ist, den Zettel zukommen lassen, den ich von Ramsay erhalten
hatte. Meine Anweisungen waren schlicht und eindeutig gewesen: »Un-
tersuchen Sie das Papier und die Tinte, ermitteln Sie deren Herkunft, fo-
tografieren Sie die Nummern, und vergleichen Sie die Handschrift mit
gespeicherten Proben.« Ich hatte außerdem eine Überprüfung des Zettels
auf Fingerabdrücke und Spuren von Rauschmitteln angefordert, um fest-
zustellen, ob das Schriftstück mit Kokain oder anderen Drogen in Kon-
takt gekommen war. Diese Maßnahmen hatte ich für umsichtige Schrit-
te gehalten. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass die Washingtoner
Zentrale unsere Ermittlungsarbeit unterbinden würde, noch bevor sie
richtig begonnen hatte. Doch genau das war der Fall.
Ich lese mir das als »Geheim/Empfänger von der Ausgabestelle proto-
kolliert« gekennzeichnete Dokument immer wieder durch in der Hoff-
nung, irgendetwas falsch verstanden zu haben. Vielleicht hatte man aus
Versehen ein Wort ausgelassen, oder es hatte sich ein Tippfehler einge-
schlichen. Am Ende lese ich die einzelnen Sätze sogar rückwärts – neben-
bei bemerkt, eine gute Methode, um Tippfehler aufzuspüren –, aber die
Botschaft blieb dieselbe: Das Dokument enthält die offizielle Mitteilung,
dass die von FBI und INSCOM gemeinsam unter dem Decknamen Ca-
nasta-Spieler durchgeführte Untersuchung Vorrang vor allen von unter-
geordneten Dienststellen unternommenen Ermittlungen hat und deshalb
jedwede mit diesem Fall in Verbindung stehende Aktivität von der Wa-
shingtoner Zentrale des FBI koordiniert wird. Zudem wird der Hinweis
erteilt, dass von unserer Seite aus keine Nachforschungen aufgenommen
werden dürfen, die die Arbeit des Hauptbüros behindern könnten.
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Wow, denke ich, gestern war ich ihnen noch von Nutzen. Heute bin ich
weniger gefragt. Um nicht zu sagen: gar nicht. Die Untersagung von die
Arbeit der Zentrale möglicherweise beeinträchtigenden Tätigkeiten ist
so weitreichend, dass strenger Gehorsam im Sinne einer Nichtaufnah-
me der Ermittlungsarbeit als einzig sinnvolle Vorgehensweise erscheint.
Doch warum sollte ich dieser Anweisung folgen? Wir haben das Recht,
eine Untersuchung aufzunehmen, sofern wir eine Begründung liefern
können, und diese habe ich in Übereinstimmung mit den vom Justizmi-
nisterium herausgegebenen Richtlinien formuliert. Außerdem befindet
sich Conrad bereits in Deutschland in Gewahrsam. Wie könnte ich der
Zentrale also in die Quere kommen, wenn ich weitere Fakten ermittle?
Zur Beruhigung greife ich instinktiv in meine oberste Schreibtisch-
schublade, finde jedoch nur eine leere Packung Säureblocker. Koerner
ist noch nicht im Büro, doch er nimmt seine riesige Schachtel mit Ma-
gentabletten nie mit nach Hause, und seine Schubladen sind immer un-
verschlossen. Ich finde die Schachtel an ihrem gewohnten Ort  – zwi-
schen einer ebenso großen Packung Kopfschmerztabletten und Koerners
Schuhputzzeug. Koerner ist noch vom alten Schlag. Als das FBI noch un-
ter der Leitung von John Edgar Hoover stand, bewahrten alle Mitarbeiter
ein Schuhputzset in Griffweite auf, und wehe dem Agenten, dessen Schu-
he nicht glänzten.
Vielleicht werde ich später auch noch Koerners Vorrat an Kopf-
schmerztabletten plündern müssen, doch fürs Erste nehme ich drei Säu-
reblocker mit, setze mich wieder an meinen Schreibtisch und lese das
verflixte Telegramm erneut. Als ich gestern zu Bett ging, dachte ich, ei-
nen großartigen Tag vor mir zu haben. Ich hatte mich unter anderem auf
die Zusammenarbeit mit Lynn Tremaine gefreut, einer Ermittlerin, die
eine große Karriere vor sich hatte und die Al Eway bei der Befragung von
Rod Ramsay begleitet hätte, wenn sie vor Ort gewesen wäre. Um ehrlich
zu sein, bezweifle ich, dass Lynn die Indizien, die ich beobachtet habe,
ebenfalls wahrgenommen hätte. Sie ist jung – 26, glaube ich – und in der
Spionageabwehr unerfahren. Während der gemeinsamen Arbeit an ei-
nem Fall in Cape Canaveral ist mir jedoch aufgefallen, dass sie eine groß-
artige Einstellung, viel Humor und eine hervorragende Arbeitsmoral be-
sitzt. Sie kommt gut mit den jüngeren männlichen Kollegen aus – sie geht
mit ihnen joggen oder nach Feierabend etwas trinken, und sie spielt je-
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den Tag Football. Ich schätze Ramsay so ein, dass er sie wie eine kleine
Schwester behandelt hätte – wie jemanden, den man gerne um sich hat.
Für mich persönlich wäre die Zusammenarbeit eine Möglichkeit gewe-
sen, Spaß zu haben und dabei ein wenig berufliche Schützenhilfe zu leisten.
Stattdessen scheint uns nun eine Auseinandersetzung mit der Außenstel-
le in Washington und aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit dem Haupt-
büro des FBI bevorzustehen. Kein Wunder, dass ich vor Wut schnaube, als
Lynn und Jay eine halbe Stunde später das Gebäude betreten.
Koerners Haare sind noch nass vom Training im Fitnesscenter. Er
nimmt sich eine Tasse Kaffee, geht in sein Büro und verschwindet hinter
dem kleinen Papierstapel, der sich über Nacht auf seinem Schreibtisch
aufgetürmt hat. Etwa zwei Minuten später trottet der Agent für die Siche-
rung geheimer Mitteilung mit einigen Dokumenten herein, die Jay per-
sönlich unterzeichnen muss. Kaum hat der Agent Jays Büro verlassen, er-
tönt donnernd die Stimme meines Vorgesetzten:
»Navarro, warst du an meinem Schreibtisch?«
»Ja, Sir. Magentabletten.«
»Kannst du dir nicht selbst welche kaufen?«
»Das könnte ich, aber an deine komme ich preiswerter.«
»Gern geschehen«, kontert er und schließt polternd seine Schreibtisch-
schublade. Ich verstehe das nicht: Ich fasse seine Medikamentenschachtel
so vorsichtig an, als würde sie Sprengstoff enthalten, doch trotzdem er-
tappt er mich jedes Mal.
Lynn hat Lust auf einen Kaffee, aber nicht auf das Gebräu, das die Ge-
neral Service Administration im Büro bereitstellt. Wir gehen gemeinsam
in den kleinen kubanischen Coffeeshop Perrera’s, der den besten Café
con leche und die leckersten Sandwiches in der Umgebung serviert.
Ich bin drauf und dran, mir meinen Ärger über die Washingtoner Au-
ßenstelle von der Seele zu reden, doch Lynn hat offensichtlich eine po-
sitivere Einstellung zum Leben. »Erzähle mir von dem Fall«, fordert sie
mich auf, während wir in einer Sitzecke an die Wand gelehnt auf unse-
re Bestellung warten. Ich berichte ihr von dem Fernschreiben, das sie er-
halten hätte, wenn sie nicht dienstfrei gehabt hätte, von der Suche nach
Ramsays Unterkunft, von der Tatsache, dass Ramsay splitternackt durchs
Haus gelaufen war, und von den Befragungen – im Haus, vor dem Haus
und im Hotel.
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Obwohl sie beim FBI nahezu keinen Unterricht in der Interpreta-


tion von Körpersprache erhalten hat, glaubt mir Lynn aufs Wort, dass
Ramsays zitternde Hand von Bedeutung ist. Wie ich bringt sie dem Zet-
tel, den Ramsay uns überlassen hat, großes Interesse entgegen und weist
von sich aus darauf hin, dass die Ziffer Neun auf deutsche Art mit ge-
schwungener unterer Linie geschrieben ist. Sofern es mir überhaupt be-
kannt gewesen war, hatte ich vergessen, dass Lynn in Deutschland stu-
diert hat und die Sprache fließend beherrscht – ein weiterer Pluspunkt,
sollten wir die Untersuchung tatsächlich auf den Weg bringen.
Als wir den Coffeeshop verlassen, habe ich mich weitgehend beruhigt.
Die Washingtoner Außenstelle wird uns sicher weiterhin auf die Nerven
gehen, aber Lynn ist der Typ Agent, der mir liegt – lernbegierig und hilfs-
bereit. Für uns beide wäre der beste Weg, so schnell wie möglich mit Rod
Ramsay zu sprechen, aber es gibt noch ein weiteres Hindernis: Für Rod
besteht keinerlei Verpflichtung, sich mit uns zu unterhalten. Er muss nur
nach einem Anwalt verlangen, um die Untersuchung sofort zum Still-
stand zu bringen.
Ich denke fieberhaft darüber nach, wie wir Ramsay am geschicktes-
ten begegnen, doch als wir das Büro erreichen, präsentiert uns Sharon
Woods, die Sekretärin unserer Außenstelle, die Lösung des Problems:
»Rod Ramsay hat angerufen«, teilt sie mir mit. »Er bittet um Rückruf.«

ROD HEBT GLEICH nach dem ersten Läuten ab. Unser Gespräch ist
ihm offenbar wichtig – er muss neben dem Telefon gewartet haben. Er
stellt zunächst ein paar Dinge klar, von denen er uns gestern erzählt hat-
te – er korrigiert den einen oder anderen Namen und ergänzt einige zeit-
liche Abläufe. Er macht sich Sorgen, dass wir angesichts des Hauses, das
er wegen der Abwesenheit des Eigentümers gehütet hatte, einen falschen
Eindruck von ihm gewonnen haben könnten.
»Die früheren Bewohner waren nicht die beste Sorte Menschen«, er-
klärt er.
»Bezieht sich das auf die Schusswaffe im Schrank?«
»Ja«, antwortet er, »und auf ein paar andere Dinge.«
Letztendlich handelt es sich nur um Kleinigkeiten. Ich lasse ihn wis-
sen, dass ich die neuen Informationen an Agent Eways weiterleiten wer-
de. Dann erkundigt sich Rod, ob ich Neuigkeiten aus Deutschland er-
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fahren hätte. Das erinnert mich zum einen an die Tatsache, dass sich,
obwohl telefonische Nachfragen von Zeugen und Opfern gang und gäbe
sind, in meiner gesamten Karriere nur ein einziger Verdächtiger zu die-
sem Zweck bei mir gemeldet hat, und zum anderen an den Umstand, dass
dieser Verdächtige mich lediglich auszuhorchen versuchte, um heraus-
finden, in welche Richtung die Ermittlungen liefen. Vielleicht versucht
Rod das auch. Vielleicht ist er aber auch nur einsam und würde sich ger-
ne weiter über deutsche Prostituierte unterhalten.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sage ich zu Rod. »Es gibt noch ei-
nige Fragen, die ich Ihnen gestern nicht mehr stellen konnte. Kann ich
mit meiner Kollegen Lynn bei Ihnen vorbeikommen? Eways ist nicht
mehr in der Stadt.«
»Klar«, antwortet Rod. »Kommen Sie vorbei. Ich bin im Wohnwagen
meiner Mutter.«
»Wir sind in 40 Minuten da«, beende ich das Gespräch, wohl wissend,
dass nur 25 Minuten Fahrt vor uns liegen. Sollte Rod uns eine Falle stel-
len, möchte ich, dass sie nach unserer statt nach seiner Zeitplanung zu-
schnappt. Lynn und ich sprechen auf dem Weg die Sicherheitsmaßnah-
men durch, die wir ergreifen werden, falls die Situation aus dem Ruder
läuft. Außerdem bitte ich sie, mir die Führung zu überlassen und so we-
nig wie möglich wie ein Agent aufzutreten. Kein Vorzeigen der Ausweise,
wenn wir eintreffen. Kein eigenes Schreibmaterial benutzen – ich möch-
te, dass Rod uns Papier zur Verfügung stellt, sollten wir etwas Wichtiges
notieren müssen. Da ich darauf gehofft hatte, Rod heute zur weiteren Be-
fragung zu treffen, hatte ich Kakihosen und ein Polohemd gewählt – ein
deutlicher Unterschied zu dem blauen Anzug, den ich gestern getragen
hatte. Auch Lynn ist leger gekleidet, da sie davon ausgegangen war, den
Tag mit liegen gebliebener Büroarbeit zu verbringen.
Unser Erscheinungsbild wird dabei helfen, Rods Wachsamkeit herab-
zusetzen. Efrem Zimbalist Jr. lockerte in all den Jahren, in denen die Fern-
sehserie FBI ausgestrahlt wurde, nur selten seine Krawatte (glauben Sie
mir, ich weiß das genau. Ich habe die Serie ehrfürchtig verfolgt, selbst als
ich noch kaum Englisch sprach!), aber in der von differenzierten Emoti-
onen geprägten Realität machen Befragte beim Anblick von Dienstabzei-
chen und gestärkten Hemden oft die Schotten dicht – so wie es auch Rod
getan hatte, als Al und ich ihn gestern erstmals aufsuchten.
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Überraschenderweise erwartet uns Rod vor dem Wohnwagen seiner


Mutter, als wir 15 Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt eintreffen.
Er wirkt angespannt, aber nicht nervös. Statt vor dem Wohnwagen zu
verweilen, bittet uns Rod gleich in den Wohnwagen hinein. Im Wagen
herrscht dank der Klimaanlage eine angenehme Temperatur, und er ist
hübsch eingerichtet. Überall zeigt sich die, wie ich vermute, persönli-
che Note von Rods Mutter: Bilder an den Wänden und ein aparter Ta-
felaufsatz in der Mitte des kleinen, makellos sauberen Esstisches in der
Küche.
»Ihre Mutter hat den Wohnwagen sehr schön eingerichtet«, sage ich.
»Ja, das kann sie gut«, erwidert Rod.
»Wirklich hübsch«, bestätigt Lynn, während Rod uns ins Wohnzim-
mer führt. Er verhält sich ganz anders als am Vortag.
Wie vermutet, erweist sich Lynn als perfekter Gesprächspartner für
Rod. Ich hatte sie während der Anfahrt gebeten, locker und spielerisch
mit Rod umzugehen. Männliche Agenten haben oft Probleme, diese Hal-
tung an den Tag zu legen – sie möchten von Anfang an eher wie ein kom-
promissloser Polizist in einem TV-Krimi wirken. Ganz anders Lynn: Sie
scherzt mit Rod über Reisen nach Europa und alle möglichen Themen,
die nichts mit unserem eigentlichen Anliegen zu tun haben.
Es überrascht mich nicht, dass Rod heute ruhiger und entspannter ist
als während seines Aufenthalts in dem fremden Haus am Vortag. Ohne
von uns dazu gedrängt werden zu müssen, erzählt er freimütig, woher er
stammt und in welchen Ländern er gelebt hat, zum Beispiel in Japan und
auf Hawaii – zwei weitere Regionen, die wir überprüfen müssen.
Wie ich es gestern tat, gibt Lynn auf meine Anweisung hin vor, kei-
ne Kenntnisse über die Army zu besitzen. Folglich bekomme ich vieles,
das Rod bereits erzählt hat, noch einmal zu hören. Diese Wiederholung
ist Teil meines Plans für den heutigen Tag: Die Art und Weise, wie er die
Geschichten aus der Armeezeit erneut wiedergibt und zusammenfasst,
gestattet Rückschlüsse auf sein Erinnerungsvermögen und seine Glaub-
würdigkeit. Außerdem möchte ich hinsichtlich des Zettels, den er angeb-
lich von Conrad erhalten hat, noch einmal nachhaken, Rod dabei aber
nur geringfügig unter Druck setzen. Sollte Rod tatsächlich in ein Spiona-
gedelikt verwickelt gewesen oder immer noch in den Tatbestand invol-
viert sein, würde ihn eine allzu große Hartnäckigkeit meinerseits sofort
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in die Arme eines Anwalts treiben, und die in Europa stattfindende Un-
tersuchung würde dadurch vermutlich sabotiert.
Bei Delikten, die die äußere Sicherheit eines Staates betreffen, sind Be-
weise nur schwer zu ermitteln, und die mühevolle Arbeit kann innerhalb
eines Augenblickes zunichtegemacht werden. Wenn ein Ermittler sich
hingegen langsam der Ziellinie nähert, statt einen Spurt hinzulegen, hat er
größere Chancen, das Rennen bis zum Ende durchzustehen. Lynn hat in-
zwischen bei Rod voll und ganz die Illusion erzeugt, die beiden befänden
sich auf einem Date, und ich wäre lediglich als Fahrer akquiriert worden.
Ramsay sitzt gemütlich auf dem Sofa, die Beine auf einem kleinen
Tisch ausgestreckt, und erzählt, dass seine Mutter Dorothy nach ihrer
Pensionierung nach Tampa gezogen sei, nun aber als Archivarin bei ei-
ner ortsansässigen Firma arbeite. Er spricht über seine Liebe zu Büchern,
die er von seiner Mutter geerbt hat, und berichtet, dass er gleich nach der
Highschool zum Militär gegangen sei.
»Warum haben Sie nicht studiert?«, erkundigt sich Lynn. »Das wäre
für jemanden, der so gerne liest, doch naheliegend gewesen.«
»Daran hatte ich kein Interesse«, fällt Rod Lynn ins Wort.
Seine knappe Antwort lässt darauf schließen, dass mehr  – vielleicht
viel mehr – hinter dieser Entscheidung steckt, doch ich möchte Rod nicht
drängen, auf Themenbereiche einzugehen, die er nicht selbst ansprechen
möchte. Er liefert uns aus eigenem Antrieb zahlreiche Informationen
über sein Leben, zum Beispiel dass er einen Bruder namens Stewart hat.
Er erzählt, dass sein Vater sich von seiner Mutter scheiden ließ und dass
sein Kontakt zu seinem Vater im Lauf der Jahre immer seltener wurde. Es
gibt weitere Hinweise darauf, dass die Ramsays nicht dem Idealbild einer
heilen Familie entsprechen, doch der hübsch eingerichtete Wohnwagen
legt nahe, dass Rods Mutter versucht hat, für sich und ihren zu Hause le-
benden Sohn ein normales Umfeld zu schaffen.
Lynn signalisiert rasch Anerkennung für Rods ausgeprägte Intelligenz,
sein umfangreiches Wissen über historische Ereignisse und seine hervor-
ragenden Deutschkenntnisse. Rod macht sich darüber lustig, dass Lynn
ihren breiten Akzent des Mittleren Westens nicht verbergen kann, wenn
sie Deutsch spricht. Ich kenne zwar nur ein Dutzend deutscher Wörter,
aber Rods Aussprache erinnert mich an die mit langen Ledermänteln be-
kleideten SS-Offiziere, die in Filmen über den Zweiten Weltkrieg zu ­sehen
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sind. Rod und Lynn machen auf Deutsch ein paar Witze  – über mich,
nehme ich an, denn sie scheinen sich auf meine Kosten zu amüsieren.
Rod kommt bereitwillig auf die dunkleren Seiten seines Aufenthalts
in Bad Kreuznach zu sprechen – den starken Alkoholkonsum, die Besu-
che bei Prostituierten (als er davon spricht, vermeidet er es, Lynn in die
Augen zu sehen) und die verfügbaren Drogen, darunter LSD, Marihuana
und Lachgaspatronen, die man angeblich in den Geschäften des Army &
Air Force Exchange Service auf dem Militärstützpunkt erwerben konnte.
Seine Schilderungen bestätigen meinen Eindruck, dass es Rod an mora-
lischer Integrität und der Fähigkeit zur Selbstkontrolle mangelt und dass
er sich leicht von anderen beeinflussen lässt.
Rod erzählt erneut mit offenkundigem Stolz von seiner Arbeit für die
8. Infanteriedivision und betont, dass diese mit den Zielen des V Corps,
des Großverbands der US Army, der zur Zeit des Kalten Krieges von
Frankfurt am Main aus operierte, und den strategischen Interessen der
Vereinigten Staaten in Europa in Einklang stand. Es scheint, als wolle
er seine liberale Einstellung unter Beweis stellen, als er außerdem er-
wähnt, dass, kurz nachdem er Deutschland verlassen hatte, ein General
mit afro­amerikanischen Wurzeln namens Colin Powell das Kommando
des V Corps übernahm. Dabei vergisst er anzumerken, dass er den neuen
Kommandanten nicht begrüßen konnte, da er den mittlerweile berühm-
ten Urintest nicht überstanden hatte – diese Auslassung ist ein weiterer
Beweis dafür, dass in Rods Psyche zwischen Ursache und Wirkung nur
ein loser Zusammenhang besteht.
Rod beschreibt anschließend die Verfahren, die bei der 8. Infanteriedi-
vision zur Aufbewahrung von Dokumenten angewendet wurden, und er-
zählt, dass diese voller Schlupflöcher waren.
»Es gab zahllose Safes und Sicherheitsmaßnahmen, doch um Doku-
mente zu entwenden, musste man sie nur in eine Brandtasche stecken
und wieder herausnehmen, bevor die Tasche der Verbrennungsanlage
zugeführt wurde.«
»Was meinen Sie mit Brandtasche und Verbrennungsanlage?«, frage
ich nach.
»Nun ja«, antwortet Rod, »dort, wo die Dokumente gelagert wurden,
konnte man nichts verbrennen. Die Verbrennungsanlage lag zwei Stra-
ßenzüge entfernt. Am Ende jedes Arbeitstages packten wir die Sachen,
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die vernichtet werden sollten, in brennbare Tüten und fuhren diese zur
Verbrennungsanlage hinüber. Wir wurden nicht kontrolliert, wenn wir
das Lagergebäude verließen, und niemand hatte ein Auge darauf, ob auch
wirklich alle Dokumente in den Taschen in die Öfen wanderten.«
»Das ist eine gewaltige Sicherheitslücke«, merke ich an.
»Riesig«, stimmt Rod mir zu.
Ich kann nicht einschätzen, ob Rod mir ein paar Brotkrumen hinwirft,
deren Spur ich verfolgen soll, oder ob er schlichtweg in Gesprächslaune
ist. Auf jeden Fall raucht er heute angesichts der entspannten Atmosphä-
re weniger, und der Kommunikationsfluss ist, vor allem von seiner Sei-
te aus, besser. Auch die Spielchen, die er gestern erst mit Al Eways und
dann mit mir trieb, um zu beweisen, dass er der Klügste von uns dreien
ist, unterlässt er. Diese Entwicklung ist äußerst positiv, doch nach etwa ei-
ner Stunde beschließe ich, dass es an der Zeit ist, fokussierter vorzugehen
und das Gespräch auf Clyde Conrad und den mysteriösen Zettel mit den
sechs Ziffern zu lenken.
»Welche Freunde hatten Sie in Deutschland?«, frage ich deshalb. »Mit
wem haben Sie Ihre Freizeit verbracht?«
»Das waren überwiegend Männer in meinem Alter«, antwortet Rod.
»Trinkkumpane und so, Sie wissen schon …« Da ihn meine Frage offen-
sichtlich nicht unangenehm überrascht hat, fahre ich fort.
»Haben Sie zusammen Ausflüge unternommen und Sehenswürdigkei-
ten besucht?«
»Klar, doch sobald wir den Stützpunkt verlassen hatten, waren die an-
deren auf mich angewiesen. Ich war der Einzige, der Deutsch sprach, und
nahezu der Einzige, der einen Reisepass besaß.«
Diese Information klingt trivial, für mich ist sie jedoch ein bedeuten-
der Hinweis. Die meisten Soldaten besitzen lediglich einen Truppenaus-
weis. Sie dürfen deshalb nur Länder bereisen, mit denen ein Status of
Forces Agreement besteht. Solche Vereinbarungen werden von einem
Land mit einer Nation geschlossen, auf deren Boden man eigene Trup-
pen stationiert hat. Da Rod jedoch einen Reisepass besessen hatte, hätte
er auch andere Ziele bereisen können, ohne dabei preiszugeben, dass er
dem Militär angehörte.
Rod erzählt, dass nicht all seine Freunde ledig waren. Einigen verhei-
rateten Männern war gestattet, ihre Familien mit nach Deutschland zu
61

bringen. Diese Männer verbrachten ihre Nächte selbstverständlich nicht


bei Prostituierten, und ihre Ehefrauen luden oft zu einem selbst gekoch-
ten Essen ein.
»Und Ihr Boss, Conrad?«, hake ich nach. Auch wenn Rod in diesem
Moment nicht raucht, habe ich den Zeitpunkt für die Nennung dieses
Namens bewusst gewählt. Ich möchte Rod auf andere Art und Weise tes-
ten.
»Er war mit einer Deutschen verheiratet und wohnte außerhalb des
Stützpunktes«, erklärt Rod und zupft dabei zweimal an seinem Hemd-
kragen. Die Geste des Sich-Luft-Verschaffens ist ebenso aussagekräftig
wie eine in der Hand zitternde Zigarette.
»Ich vermute, Sie wurden auch von seiner Frau ab und zu zum Essen
eingeladen.«
»Ja. Annja, seine Frau, ist sehr nett und eine hervorragende Köchin.
Ihre Schnitzel waren fantastisch.« Rod sieht bei dieser Erklärung Lynn
an, als ob nur sie ein gutes Schnitzel zu schätzen wüsste.
»War die wirtschaftliche Lage schwierig?«, erkundige ich mich. Über
dieses Thema haben wir gestern bereits gesprochen, aber ich möchte Rod
wieder auf ein Terrain führen, auf dem er sich sicher fühlt, bevor ich auf
den Zettel zu sprechen komme, den er aus seiner Brieftasche gezogen hat.
Ich bin gespannt, ob seine Reaktion diesmal anders ausfällt.
»Der Dollar war zunächst stark, wurde dann aber schwächer. Einige
Soldaten verkauften ihre Rationen zum D-Mark-Preis, um über die Run-
den zu kommen.«
»Was verkauften sie denn?«
»Zigaretten, Jack Daniel’s, Benzingutscheine und so was.«
»Haben Sie das auch gemacht?« Ich rolle spielerisch die Augen.
»Vielleiiiiicht«, antwortet Rod mit dem Gesichtsausdruck eines fre-
chen Jungen, den er uns gestern bereits präsentiert hat.
Ich lache. »Ich nehme an, das heißt Ja.« Dann lachen wir alle drei in
uns hinein. Wenn man zusammen mit Al Eways eine Befragung durch-
führt, kommt ein gemeinsames Schmunzeln auf keinen Fall infrage,
doch in der heutigen Konstellation fühlt Rod sich so wohl, dass er vom
Sofa aufspringt und uns Limonade anbietet. Ich warte, bis er unsere drei
Gläser gefüllt hat, bevor ich das Thema anschneide, das ich besprechen
möchte.
62

»Ach ja, was den Zettel, den Sie mir gestern gegeben haben, anbelangt:
Das Papier fühlt sich seltsam an, finden Sie nicht?«, setze ich schließlich
das Gespräch fort.
Ramsay stellt vorsichtig sein Glas auf dem Couchtisch ab, schiebt sei-
ne Brille auf dem Nasenrücken nach oben und zupft erneut an seinem
Hemdkragen, bevor er antwortet. »Clyde hat das Papier in einem Ge-
schenkartikelladen gekauft. Ich war mit ihm zusammen dort.«
»Jetzt verstehe ich. Das Papier fühlt sich nämlich nicht wie normales
Schreibpapier an.«
»Nein, nein, das ist eine andere Sorte Papier«, sagt Rod hustend. »Man
nennt es Pyropapier. Es wird von Magiern benutzt – wenn man es mit
nassen Händen anfasst, löst es sich auf.«
»Ja, davon habe ich gehört«, erwidere ich. Mir ist bewusst, dass Rod
mir gerade kompletten Unsinn aufgetischt hat. Gestern habe ich beob-
achtet, wie geschickt Rod Al Eways manipuliert hat, doch diese Clever-
ness schützt ihn nicht davor, in einer Befragung nicht auch einmal einen
Fehler zu machen. Genau das ist gerade passiert. Er hat sich in eine Ecke
manövriert, aus der ich ihn nicht wieder herauskommen lassen werde,
doch ich warte ab, bis ich vom forensischen Labor exakte Informationen
über die Beschaffenheit des Papiers erhalte.
Für den Moment reicht es mir, in Erfahrung gebracht zu haben, dass
Ramsays Beziehung zu Clyde Conrad, die Rod gestern noch als distan-
ziert beschrieben hatte, tatsächlich enger war. Rod hatte Conrad in des-
sen Haus besucht und war in den Genuss der Kochkünste von Conrads
Frau gekommen. Angeblich waren die beiden sogar zusammen einkau-
fen gegangen, und zwar ausgerechnet in einen Geschenkartikelladen.
Manche Ermittler verlieren vor Wut die Nerven, wenn sie belogen wer-
den. Ich nicht. Je mehr Lügen ich zu hören bekomme, umso sicherer bin
ich mir, der Wahrheit auf der Spur zu sein.
Rod scheint zu merken, dass es besser wäre, das Thema zu wechseln,
denn er fragt Lynn aus heiterem Himmel, welche Schusswaffe sie bei sich
trage.
»Keine«, antwortet Lynn (was übrigens nicht der Wahrheit entspricht).
»Aber ich besitze eine Smith & Wesson Model 10-6 als Dienstwaffe.«
Ramsays Begeisterung, mit der er auf diese Information reagiert, erin-
nert mich an das aufgeregte Murmeln, das sich in Klassenzimmern aus-
63

breitet, wenn wir Schulkindern am Berufsinformationstag unsere Waf-


fen zeigen.
Er wendet sich mir zu: »Und Sie?«
»Eine SIG Sauer P226.«
»Wow, diese Pistolen sind toll«, sagt Rod mit hochgezogenen Augen-
brauen. »Sie werden in der Schweiz hergestellt, stimmt’s?«
»Ja«, antworte ich. »Und sie sind sehr teuer.«
»Warum wurden Sie mit einer exzellenten Schusswaffe ausgestattet,
während sie« – Rod weist nickend auf Lynn – »mit einer Smith & ­Wesson
auskommen muss?«
»Weil ich ein S-p-e-c-i-a-l Agent bin«, antworte ich scherzend und zie-
he die einzelnen Buchstaben in die Länge.
Lynn greift den Witz auf. »Dabei ist er gar nichts Besonderes, glauben
Sie mir. Aber er gehört einer Spezialeinheit an. Deshalb hat er eine SIG
Sauer bekommen.«
»Cool«, meint Ramsay, und ich spüre deutlich, dass mein beruflicher
Stellenwert in seinen Augen gerade eine beträchtliche Aufwertung erfah-
ren hat.
»Es tut mir leid, wir müssen jetzt gehen«, sage ich für Lynn völlig über-
raschend. »Doch bevor wir aufbrechen – welche Bedeutung hat die Num-
mer, die Conrad Ihnen gegeben hat?« Ich lasse die Frage beiläufig klin-
gen, als ob die Antwort kaum wichtig wäre.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortet Rod. »Es ist einfach eine Num-
mer, die Conrad mir an die Hand geben wollte.«
»Ich verstehe. Es handelt sich aber nicht um Conrads private Telefon-
nummer in Deutschland, oder?«
»Nein. Diese Nummer kenne ich. Ich habe ihn oft zu Hause angeru-
fen.«
»Na gut, vielleicht hatte er vor, in Urlaub zu fahren, und dies ist die
Nummer, unter der er erreichbar war.«
Rod zuckt mit den Achseln, während ich mein leeres Glas in die Kü-
che bringe.
Lynn und ich bedanken uns bei Rod dafür, dass er sich Zeit genom-
men, uns geholfen und uns Erfrischungen serviert hat.
»Gerne«, sagt er. »Sie können mich jederzeit anrufen.« Er scheint das
wirklich ernst zu meinen.
64

Zum krönenden Abschluss unseres vergnüglichen Vormittags machen


Lynn und Rod auf Deutsch noch einen Witz, vielleicht erneut über mich.
Den beiden kommen vor Lachen die Tränen.

»WOZU WAR DAS GUT?«, fragt Lynn, als wir im Auto sitzen und uns
anschnallen. »Warum haben wir die Befragung so früh beendet? Ich hat-
te den Eindruck, Rod hätte uns noch mehr erzählt.«
»Das hätte er. Eine echte Quasselstrippe – und ich möchte, dass er das
auch bleibt.«
Da Lynn offenbar immer noch perplex ist, als wir den Wohnwagenpark
verlassen, füge ich eine weitere Erklärung hinzu: »Es geht um das rich-
tige Timing  – darum, nicht zu viel Druck auszuüben, sondern schritt-
weise vorzugehen. Dadurch, dass wir die Befragung jetzt schon beendet
haben, vermitteln wir ihm den Eindruck, dass wir glauben, was er uns er-
zählt – auch die Aussagen, die absoluter Quatsch sind. Zum jetzigen Zeit-
punkt ist es deshalb besser, Desinteresse zu signalisieren, als hartnäckig
nach Details zu fragen. Dafür ist es noch zu früh. Rod liefert uns, was wir
brauchen.«
»Nämlich?«
»Gründe, ihn erneut aufzusuchen.«
»Und welche seiner Aussagen waren Unsinn?«
»Er hat niemals zusammen mit Conrad in einem Geschenkeladen Py-
ropapier gekauft.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil bei dieser Behauptung sein Adamsapfel auf und ab gehüpft ist
wie ein Kind auf dem Trampolin.«
3
MÜDE UND DOCH MUNTER

In Nächten, in denen es bei der Luftraumüberwachung nicht gut läuft,


starrt man als Pilot auf ein kleines Objekt am Boden, das man stunden-
lang nicht aus den Augen lassen darf, und muss dabei gleichzeitig die
richtige Flughöhe einhalten, anderen Flugzeugen ausweichen, sich an die
Windverhältnisse anpassen, über einem umherirrenden Fahrzeug krei-
sen, sich mit dem Fahnder/Beobachter, dem man zugeteilt wurde, ab-
sprechen und vermeiden, mit den Gedanken abzuschweifen. Das ist
wirklich nicht einfach. Obwohl mein Flugzeug mit einer Klimaanlage
ausgestattet ist, ist mein Hemd nach den Einsätzen oft am Rücken kom-
plett schweißnass.
Die heutige Nacht verläuft anders. Ein Kopilot unterstützt mich bei
dem Flug. Während wir südlich von Tampa über Apollo Beach fünf Ki-
lometer weite Kreise ziehen, hat er die Flugzeuge im Blick, die den Tam-
pa International Airport anfliegen oder verlassen. Ich sitze auf der lin-
ken Seite und beobachte das Haus an der Golfküste, das der Anführer
66

eines kleinen Drogenrings bewohnt. Wir warten darauf, dass der Mann
in seinen in der Auffahrt parkenden Caddy steigt und zu seiner nächtli-
chen Runde aufbricht, aber der Drogenboss taucht nicht auf. Vielleicht ist
er ein Fan der Fernsehserie Wunderbare Jahre, die just um diese Zeit als
Wiederholung gezeigt wird. Was auch immer der Mann in seinem Haus
treibt – um 21 Uhr teilt uns der Einsatzleiter mit, dass die Operation be-
endet ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir Feierabend haben. Nachdem
wir gelandet sind, das Flugzeug in Parkposition gebracht und im Cockpit
die Schreibarbeit erledigt haben, ist es bereits 22 Uhr, und vor mir liegen
noch 40 Minuten Fahrt nach Hause.
Kurz vor 23 Uhr betrete ich auf Zehenspitzen das Haus, husche schnell
unter die Dusche, nehme für einen Moment das Gesicht meiner schla-
fenden Tochter Stephanie in meine Hände – das mache ich jeden Abend,
egal, wie spät ich nach Hause komme – und schlüpfe zu meiner Frau Lu-
ciana ins Bett. Luciana ist fünf Jahre jünger als ich, sie ist jetzt 35. Sie
ist schlank und zerbrechlich. Wenn sie sich früher mitten in der Nacht
an mich kuschelte und sich ihr verlängerter Rücken an meinen Bauch
schmiegte, staunte ich jedes Mal darüber, wie perfekt unsere Körper zu-
sammenpassten, obwohl ich einen Kopf größer war. Ich sehne mich nach
diesen Nächten zurück und bete, dass Luciana gesund wird – sie hatte in
letzter Zeit verschiedene Probleme.
Auf meinem Nachttisch steht ein gerahmtes Foto von Luciana,
Stephanie (damals drei Jahre alt, nun ist sie acht) und mir an einem
Strand von Culebra, einer östlich von Puerto Rico gelegenen kleinen
Insel. Strahlende Sonne, glitzerndes Wasser und wir drei mit einem
fröhlichen Lächeln. Dieses Foto habe ich nicht zur Erinnerung an bes-
sere Zeiten aufgestellt, sondern um mir immer wieder die Dinge be-
wusst zu machen, die wir durch meinen Wechsel vom FBI-Büro in San
Juan nach Tampa zu erreichen erhofft hatten. Puerto Rico hatte seine
schönen Seiten  – die Wochenenden am Strand, meine Spaziergänge
mit Stephanie durch den Park, ihre kleine Hand fest in meiner –, aber
das FBI war dort auf der Jagd nach Terroristen, den bereits erwähn-
ten Macheteros, und wurde im Gegenzug von ihnen gejagt. Die meis-
ten Agenten trugen nicht nur eine, sondern zwei Schusswaffen bei sich.
Wir durchsuchten unsere Autos jeden Tag nach Bomben, und viele von
uns trugen auf die Griffe an den Türen, am Kofferraum und an der Mo-
67

torhaube Talkumpuder auf, um zu sehen, ob sich nachts jemand am


Wagen zu schaffen gemacht hatte. Luciana wurde bewusst, wie gefähr-
lich die Lage war, als unser Wohnhaus auf Kosten des FBI mit split-
terfesten Metalltüren und metallenen Sicherheitsriegeln ausgestattet
wurde. Auch die Tatsache, dass Luciana und andere Ehepartner von
FBI-Agenten für den Fall, dass ihr Haus von Terroristen umstellt wer-
den würde, Handfunkgeräte ausgehändigt bekamen, verdeutlichte die
Gefahr. Agenten und deren Familien hatten in Puerto Rico wahrlich
kein leichtes Leben.
Von Tampa hatten wir uns erhofft, Erleichterung zu finden – nicht un-
bedingt in Form eines heimatlichen Idylls, aber mit einem weniger kräf-
tezehrenden Umfeld. Eine Zeit lang erfüllte Tampa unsere Erwartun-
gen. Unser Lebensrhythmus war entspannter. Meist war ich rechtzeitig
zum Abendessen zu Hause oder zumindest früh genug, um Stephanie
eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Schnell stellte sich jedoch heraus,
dass das FBI-Büro in Tampa entsprechend seiner Lage im Rentnerpara-
dies Florida eine Art Auffangstation für vorzeitig alternde Agenten war.
Nur wenige waren dazu in der Lage oder dazu bereit, den Sporttest für
die Aufnahme in eine Spezialeinheit (SWAT) in Angriff zu nehmen. Das-
selbe galt für die Flugraumüberwachung – zu schlechtes Sehvermögen,
zu viele medikamentöse Behandlungen etc. Für diejenigen unter uns, die
zu diesen Leistungen imstande waren, wuchs damit zwangsläufig die Ar-
beitsbelastung, und die Zeit für gemeinsame Abendessen mit der Familie
und das Vorlesen von Gutenachtgeschichten schwand. Inzwischen sehne
ich mich meist nur noch nach einem weichen Kopfkissen, wenn ich nach
Hause komme. Wie in vielen anderen Nächten auch bin ich heute »müde
und doch munter«. Sosehr ich mich auch bemühe – ich bekomme Rod
Ramsay nicht aus dem Kopf.
Dieses Problem ist zum größten Teil durch meine Arbeitsweise be-
dingt. Wenn ich eine Befragung leite, untersage ich meinen Kollegen, No-
tizen zu machen, sofern wir nicht von der Zielperson Papier ausgehän-
digt bekommen. Es entgeht einem zu viel, wenn man mit gesenktem Kopf
mitschreibt. Notepads bauen zwischen dem Ermittler und dem Befragten
eine Mauer auf. Auch Tonbandgeräte haben diese Wirkung: Es ertönt die
Ansage »Dienstsache«, und der Befragte wird darauf hingewiesen, sich
jede Antwort sorgfältig zu überlegen. Ich möchte zu den B ­ efragten ein
68

gutes Verhältnis aufbauen und nicht deren Blutdruck in die Höhe trei-
ben. Meine Vorgehensweise hat jedoch einen Nachteil: das Formular FD-
302.
In dem FD-302-Formular halten Agenten alle Informationen fest,
die für ein Gerichtsverfahren in irgendeiner Form relevant sein könn-
ten. Manche Mitarbeiter füllen während ihrer gesamten Laufbahn kein
einziges FD-302-Formular aus, da viele geheimdienstliche Ermittlungen
niemals an die Öffentlichkeit und schon gar nicht vor Gericht gelangen.
Sollte Rod Ramsay jedoch Clyde Conrad bei dessen Spionagetätigkeit in
maßgeblicher Weise Beihilfe geleistet haben, wird aller Wahrscheinlich-
keit nach ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Die FD-302-Formulare, die
Lynn und ich nach jeder Befragung auszufüllen verpflichtet sind, haben
vor Gericht den Stellenwert einer unter Eid geleisteten Aussage, in der
wir unsere Beobachtungen schildern. Es sind offizielle Dokumente, die
unsere Unterschriften tragen und die sowohl der Staatsanwaltschaft als
auch dem Verteidiger ausgehändigt werden.
Fazit: Wir müssen hieb- und stichfeste FD-302-Formulare erstellen.
Sofern man sich während der sich zum Teil über Stunden erstrecken-
den Befragungen keine Notizen macht oder die Unterredungen in ande-
rer Form protokolliert, ist dazu eine immense Gedächtnisleistung erfor-
derlich. Ich habe mir im Lauf der Jahre eine ganze Reihe von Merkhilfen
angeeignet – Assoziationstechniken, Schlüsselwörter, mit deren Hilfe ich
mir eine halbstündige Befragung so exakt ins Gedächtnis rufen kann, als
hätte ich das Protokoll des Gerichtsschreibers gelesen. Wenn ich Befra-
gungen außerhalb von Tampa durchführe, habe ich die Möglichkeit, auf
dem Weg zurück ins Büro die wesentlichen Punkte auf Band zu sprechen
und eine Sekretärin mit der Niederschrift zu beauftragen, sodass ich am
nächsten Tag das FD-302-Formular unterzeichnen kann. Schwierig wird
es jedoch, wenn ich mit der Erwartung, für die Anfertigung meines Ge-
dächtnisprotokolls ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben, das Büro
betrete und stattdessen mit anderen eiligen Dingen konfrontiert werde.
Dann muss ich meine Memory-Funktion für gewisse Zeit ausschalten
und darauf hoffen, dass meine mentalen Strategien danach wieder funk-
tionieren.
Nach der Befragung von Rod Ramsay habe ich Lynn im Auto den Um-
gang mit den FD-302-Formularen erklärt und ihr einige Merkhilfen be-
69

schrieben. Jay erwartet von mir, bei dieser Befragung als Lynns Mentor
aufzutreten. Lynn das Ausfüllen der FD-302-Formulare zu erklären ist
Teil dieser Aufgabe.
Was ich ihr nicht gesagt habe: Das Gedächtnis funktioniert nicht wie
ein Wasserhahn. Man kann es nicht einfach auf- und zudrehen. Hat man
ein Gespräch so fest im Gedächtnis verankert, dass es zum Beispiel noch
nicht einmal durch einen in die Quere kommenden SWAT-Einsatz ge-
löscht wird, dann trägt man es wochenlang oder manchmal sogar über
Monate und Jahre Tag und Nacht mit sich herum. Dabei geht es nicht nur
um die gesagten Worte, sondern um alle Facetten der Situation, die den
Worten Bedeutung verleihen: ein Blick, eine Nuance, ein schlanker Fin-
ger, der die Brille auf den Nasenrücken nach oben schiebt, zickzackför-
mig aufsteigender Zigarettenrauch. All diese Dinge bleiben präsent, auch
jetzt, da ich im Bett liege und versuche, meinen Atem mit dem meiner
Frau synchron werden zu lassen. Rod Ramsay spukt in meinem Kopf he-
rum.
Verflixt, denke ich, wenn es schon nach zwei Befragungen so schlimm
ist, wie wird es dann erst sein, wenn sich dieser Fall über ein halbes Jahr
oder länger hinzieht? Ich werde von einem Dämon besessen sein!

EINE WEITERE STIMME hat sich in den Chor eingeklinkt  – eine et-
was tröstlichere, aber nicht ganz problemlose: die Stimme von Al Eways.
Al hatte sich gefreut, von mir zu hören, als ich ihn in seinem Hotel
nahe Baltimore ausfindig gemacht und kurz vor Beginn meines nächt-
lichen Einsatzes für die Flugraumüberwachung kontaktiert hatte. Ange-
sichts der nicht sicheren Telefonleitung gab er zwar nur ungern detaillier-
te Informationen preis, ließ mich aber dennoch wissen, dass Conrad die
Aussage verweigerte. Außerdem signalisierte er mir, dass von den Kerc-
sik-Brüdern nicht viel zu erwarten sei und dass Szabo, das erste über-
führte Mitglied des Spionagerings, vielleicht niemals von uns gefasst wer-
den würde.
Al erzählte auch, dass bei der Durchsuchung von Conrads Haus in
Deutschland ein Kurzwellenradio, eine Kamera und eine Videoaus-
rüstung entdeckt worden waren. Er hielt diesen Fund anscheinend
für bedeutsam, aber ich habe Zweifel, dass diese Gegenstände für die
Strafverfolgung relevant sind. Wenn man jeden Deutschen, der ein Kurz-
70

wellen-Radio von Grundig oder eine Leica-Kamera mit Makroobjektiv


besitzt, verhaften wollte, müsste man erst einmal mehr Gefängnisse bau-
en. Außerdem geht man in Deutschland bekanntermaßen nachsichtig
mit Spionen um. Das Strafmaß beläuft sich im Schnitt auf Monate, nicht
Jahre. Die Aussicht auf eine Verkürzung einer sechsmonatigen Haftstra-
fe um sechs Wochen wird jemanden wie Conrad kaum dazu veranlassen,
mit den Behörden zu kooperieren.
Am intensivsten beschäftigen mich folgende Fragen: Warum wurde
Conrad überhaupt verhaftet? Und warum haben die amerikanischen Be-
hörden, wenn tatsächlich eine Straftat vorliegt, den Deutschen die Ver-
folgung überlassen? Es geht mir nicht um verletzte Eitelkeit, weil ein an-
deres Land die Ermittlungen übernimmt – obwohl dieser Aspekt beim
FBI stets eine große Rolle spielt. Das eigentliche Problem besteht dar-
in, dass wir nun, da Conrad weiß, dass wir hinter ihm her sind, und kei-
ne Angaben zur Sache macht, sich die Kercsik-Brüder nicht äußern und
Szabo sich aus dem Staub gemacht hat, vermutlich niemals herausfin-
den werden, welche Dokumente tatsächlich entwendet wurden und in
welchem Maße unsere nationale Sicherheit dadurch gefährdet ist. Unse-
re einzige Chance, das Chaos zu lichten, ist, ein Hintertürchen zu finden.
Rod Ramsay könnte ein Hintertürchen sein, doch Conrads Verhaftung
ist wahrscheinlich auch für ihn ein Warnschuss gewesen.
SNAFU – dieses Akronym geht mir durch den Kopf, als ich endlich
einschlafe. Die Buchstaben stehen in der Armeesprache für »Situation
Normal, All Fucked Up«, also »Lage normal, alles im Arsch«. Kein Wun-
der, dass ich unter Schlafstörungen leide: Die Leuchtanzeige des Weckers
auf meinem Nachttisch zeigt 0:35 Uhr an. Um 4:55 Uhr wird der Wecker
wie gewohnt klingeln.
4
ERKLÄRUNGEN UND AUSFLÜCHTE

25. August 1988

Um 4:55 Uhr reißt mich der Wecker aus einem schrecklichen Traum, den
ich immer wieder habe: Ich muss in der FBI Training Academy in Quan-
tico eine wichtige Prüfung ablegen, finde das Zimmer aber nicht. Das Ge-
bäude ist voller Treppen, die in Korridoren enden, in denen es keine Tü-
ren gibt. Das Klingeln des Weckers fällt exakt mit dem letzten Läuten in
der Akademie zusammen, in meinem Traum das Signal für: »Prüfungs-
räume geschlossen und gesichert.«
Um 5:30 Uhr sitze ich rasiert und angezogen (leger, da ich mit einem
weiteren Treffen mit Ramsay rechne) am Frühstückstisch  – mit einer
Schüssel Joghurt, einer großzügigen Portion Obst und einem Café Cu-
bano, der den Unterschied zwischen flüssig und fest aufzuheben scheint.
Vor mir liegt die ständig länger werdende To-do-Liste, die meine noch
im oberen Stockwerk schlafende Frau allabendlich zu meiner Informati-
72

on verfasst. Mich schmerzen die vielen Ereignisse und Termine, die für
Stephanie anstehen – weil ich jetzt schon bedauere, dass ich all diese Er-
eignisse versäumen werde.
Kurz vor 6:00 Uhr fahre ich los, und als etwa 15 Minuten später das
Gebäude der FBI-Außenstelle in Tampa in Sichtweite ist, bin ich erneut
erstaunlich optimistisch. Natürlich wird uns die Washingtoner Außen-
stelle Probleme machen. Natürlich ist der Kontakt der FBI-Zentrale zu
Washington viel enger als zu unserem Büro im subtropischen Florida.
Natürlich ist an der Art und Weise, wie die Ermittlungen im Fall Con-
rad gelaufen sind, irgendetwas faul – ein neben dem U. S. Highway 41
seit drei Tagen verrottendes Gürteltier würde den gleichen Gestank ver-
strömen. Doch wie heißt es in dem Musical »Annie« so schön: »Morgen
kommt die Sonne wieder raus.«
Durch eine Handvoll Säureblocker gestärkt  – statt erneut Koerners
Zorn auf mich zu ziehen, habe ich lieber meine Vorräte zu Hause geplün-
dert –, betrete ich um 6:00 Uhr gut gelaunt mein Büro. Um 7:05 Uhr ist
jeder Optimismus den Bach hinuntergegangen.

Auch Lynn muss positiv gestimmt gewesen sein, denn sie stürmte gleich-
zeitig mit mir um 7:05 Uhr in den Kommunikationsraum im Keller­
geschoss und war offenkundig ebenso enttäuscht wie ich, dass dort für
keinen für uns Berichte über Conrad oder den rätselhaften Zettel mit der
seltsamen Nummer, den ich an das Labor geschickt hatte, vorlagen und
uns auch kein anderes Ergebnis an die Hand gegeben wurde, das uns bei
unserem Vorhaben, Rod Ramsay die Wahrheit zu entlocken, ein wenig
unterstützen würde.
Koerner ist gerade erst angekommen, als wir durch seine Bürotür stür-
men.
Mit Lynns schweigender Zustimmung komme ich sofort zur Sache:
»Wir haben rein gar nichts aus Washington erhalten.«
»Herrgott, Navarro – ich habe noch nicht einmal meinen Kaffee ge-
trunken!«
»Wir führen heute eine weitere Befragung durch, und wir haben nichts
in der Hand. Nada, null Komma nichts.«
»Gebt ihnen ein paar Tage«, versucht Koerner uns zu beruhigen. »Ihr
wisst doch, wie das ist. Die Leute im Labor bekommen drei-, vier-, fünf-
73

tausend Anfragen pro Woche, und alle haben höchste Priorität: Vergewal-
tigungen, Morde, Fälle, die kurz vor der Gerichtsverhandlung stehen …
In diesem Fall sitzt der Hauptverdächtige doch bereits im Gefängnis, ver-
steht ihr, was ich meine?«
»Und …«
»Und?« Der seltsame Blick, den mir Koerner zuwirft, erinnert mich
an den Gesichtsausdruck, den Menschen in Filmen haben, wenn sie eine
Bombe sehen. Explodiere ich gleich? »Sprich nur frei heraus, Navarro.«
»Ich weiß, dass wir nur ein kleines Büro sind und von der Zentrale
weitgehend ignoriert werden, aber es handelt sich hier nicht um einen lä-
cherlichen Fingerabdruck aus einem Banküberfall. Es geht um Spionage,
und du selbst hast mir beigebracht, dass Spionagefälle über allen ande-
ren Delikten stehen. Außerdem sind, sollte das noch niemandem aufge-
fallen sein, inzwischen drei Nationen betroffen, und nach Angaben von
Al Eways steht die Sicherheit von ganz Westeuropa auf dem Spiel. Des-
halb bin ich wütend, und …«, ich wende mich Lynn zu, die zustimmend
nickt, »wir sind beide wütend, weil das Labor so lange für die Untersu-
chung braucht.«
»Bist du fertig?«
»Herrgott, Jay, du weißt, dass ich recht habe!«
Jay blickt zur Zimmerdecke und hofft entweder auf göttlichen Bei-
stand oder darauf, dass ich von einem der in Südflorida berüchtigten Blit-
ze getroffen werde, denen schon oft Menschen zum Opfer gefallen sind.
»Was willst du?«
»Ich möchte, dass du dem Labor Feuer unterm Hintern machst, damit
dem Fall dort Vorrang gegeben wird. Lynn und ich haben das auch ge-
macht. Wir forcieren die Ermittlungen, so gut wir können. Wir bitten le-
diglich um Unterstützung.«
Koerner lässt sich meine Worte, sein Kinn auf seine Hände gestützt,
eine Minute lang durch den Kopf gehen und erwidert dann im typischen
Tonfall eines Vorgesetzten: »Als gut, warten wir ab, was ihr beide heute
erreichen werdet. Morgen werden wir dann hoffentlich von der Washing-
toner Außenstelle oder von der Army hören. Wer weiß, vielleicht sogar
von beiden.«
»Wirst du im Labor anrufen?«
»Ja. Und nun verlasst endlich mein Büro!«
74

Um ehrlich zu sein, hätte ich an seiner Stelle dieselbe Antwort gege-


ben – unser Fall ist nicht der einzige, der dringend Aufmerksamkeit be-
nötigt. Dennoch bin ich frustriert. Ich möchte alles immer sofort erledi-
gen und nicht erst zehn Minuten später. Ich weiß, dass das eine Schwäche
von mir ist, aber ich habe das Gefühl, dass man in diesem Fall schnell
handeln muss. Deshalb bringt mich ein ›Warten wir ab‹ auf die Palme.
Lynn und ich räumen unsere Schreibtische auf, gehen zu Parrera’s
und vereinbaren bei dem wie immer exzellenten Kaffee, dass sie dieses
Mal den Kontakt mit Ramsay aufnimmt und ihn um ein Treffen bittet.
Doch wie am Vortag kommt Rod uns zuvor. Während unserer Abwe-
senheit hat er im Büro die Nachricht hinterlassen, dass er um Rück-
ruf bitte. Lynn möchte ihn sofort anrufen, aber ich weise sie an zu war-
ten. Ich möchte nicht, dass Rod den Eindruck gewinnt, wir würden ihn
brauchen. Da er nun schon zum zweiten Mal den Kontakt aufgenom-
men hat, gehe ich außerdem davon aus, dass er entweder furchtbar ein-
sam oder aus irgendeinem Grund beunruhigt ist. Da Letzteres wahr-
scheinlicher ist, kann es nicht schaden, ihn noch ein wenig schmoren
zu lassen.
Wie ich es in ähnlichen Situationen in Koerners Büro tue, läuft Lynn
die nächste Viertelstunde vor meinem Schreibtisch auf und ab, bis ich ihr
endlich das O. k. gebe, Rods Nummer zu wählen. Wie erwartet, hebt Rod
nach dem zweiten Läuten ab. Wenig später machen Rod und Lynn genau
dort weiter, wo sie gestern aufgehört haben: Sie sprechen Deutsch und
machen offensichtlich Witze über mich. Ein Kommentar Rods lässt Lynn
vor Lachen fast zusammenbrechen, und ihre Heiterkeit scheint nicht ge-
spielt zu sein. Unmittelbar nachdem sie aufgelegt hat, zeigt sie mit dem
Daumen nach oben.
»Rod möchte seine Antwort auf eine Frage, die ihm Eways stellte, ge-
nauer erklären. Ich habe ihm gesagt, dass wir innerhalb der nächsten
Stunde bei ihm sein werden.«
»In Ordnung«, stimme ich zu, »aber wir werden auf dem Weg noch
einmal bei Perrera’s haltmachen.«
»Noch mehr Kaffee?« Vermutlich denkt Lynn, dass ich schon munter
genug bin.
»Nein, wir nehmen ein paar Sandwiches mit. Auch Spione hören auf
ihren Bauch.«
75

Nachdem wir den Wohnwagen seiner Mutter erreicht haben, händi-


gen wir Rod sofort eine Tüte mit drei ofenwarmen kubanischen Sandwi-
ches aus. Der köstliche Duft von gebratenem Schweinefleisch und Schin-
ken breitet sich im Wohnzimmer aus. Rod freut sich erkennbar über die
Sandwiches und vielleicht noch mehr über die Dose Coca-Cola light, die
Lynn aus ihrer Handtasche holt. Bei unserem gestrigen Besuch waren uns
im Mülleimer einige leere Dosen dieses Softdrinks aufgefallen.
»Wie geht es Ihrer Mutter, Rod?«, frage ich und nehme wie ein alter
Kumpel am Ende des Sofas Platz.
»Es geht ihr gut«, erwidert Rod, doch die Tatsache, dass er sich bei die-
ser Aussage auf die rechte Seite seiner Unterlippe beißt, lässt anderes ver-
muten. »Sie befürchtet, dass ich in Schwierigkeiten stecke.«
Lynn spielt ihre Rolle perfekt. Der Blick, mit dem sie Rod fixiert, im-
pliziert die Frage: »Warum sollte Ihre Mutter das denken?« Ich nehme
einen großen Bissen von meinem Sandwich, kaue gründlich und greife
dann Lynns Hinweis auf.
»Ich versichere Ihnen, Rod, dass Sie keinesfalls in Schwierigkeiten ste-
cken. Wie auch, da Sie uns und den Deutschen doch helfen. Mütter ma-
chen sich immer Sorgen. Sie können Ihrer Mutter sagen, dass sie mich
jederzeit anrufen kann, wenn sie beunruhigt ist, und ich werde ihre Be-
denken ausräumen.« Ich hole eine Visitenkarte hervor und schreibe zwei
Telefonnummern auf die Rückseite. »Sagen Sie ihr, dass sie mich Tag und
Nacht anrufen kann. Sie kann sich auch bei Lynn melden. Das sind unse-
re privaten Telefonnummern.«
Noch mache ich mir wegen Rods Mutter keine Gedanken. Rod ist ein so
großes Muttersöhnchen, dass er die Treffen mit uns nicht initiieren wür-
de, wenn seine Mutter tatsächlich schwerwiegende Einwände hätte. Wo
auch immer die Schwelle ihres Einflussbereichs verlaufen mag – wir sind
sofort und ohne Umschweife (wenn auch nicht mit echter Aufrichtigkeit)
auf dieses Thema eingegangen, und ich sehe Rod an, dass er erleichtert ist.
»Das schmeckt wirklich gut«, sagt er und beißt in sein Sandwich.
Lynn: »Haben Sie noch nie eines probiert?«
»Nein, ich esse das zum ersten Mal.«
Ich: »Wie bitte? Sie leben schon so lange hier und haben noch nie ein
kubanisches Sandwich gegessen? Was für eine Schande! Eine Beleidigung
für meine Landsleute!«
76

Rod lächelt, beißt noch ein paarmal von seinem Sandwich ab und
kommt dann zur Sache.
»Haben Sie etwas von Al gehört?«, fragt er und rutscht dabei leicht auf
dem Stuhl hin und her.
›Interessant‹, denke ich, ›er stellt Fragen, fühlt sich aber nicht wohl da-
bei.‹ Während er die Bedenken seiner Mutter ansprach, zeigte er dasselbe
Verhalten – nervöses Herumrutschen, Lippenbeißen. Nun, da das erste
Thema geklärt ist, spricht er den zweiten Punkt an, der auf seiner Tages-
ordnung steht und der für ihn vermutlich wichtiger ist. Ich frage mich,
ob Rod wie ich die halbe Nacht wach gelegen und sich darüber Gedan-
ken gemacht hat, wie wenig er über Conrads Verhaftung weiß und wie er
uns am besten aushorchen kann. Die bisherigen Befragungen waren zu
kurz, um diese Parallele zwischen uns einschätzen zu können, und ich
habe nicht die Absicht, daran etwas zu ändern.
»Nein«, antworte ich schließlich. »Der Fall ist seitens der Army abge-
schlossen und liegt nun in den Händen der deutschen Behörden.«
Ramsay lehnt sich in seinem Stuhl zurück, genießt den letzten Rest
Sandwich und trinkt die Cola light aus.
»Was wollten Sie Mr Eways noch erklären, Rod?«, erkundigt sich Lynn.
»Er fragte mich, ob ich jemals etwas beobachtet hätte, das verdächtig
sein könnte.«
Ich erinnere mich an diese Frage, die mir zum damaligen Zeitpunkt
unpassend schien. Das Wort ›verdächtig‹ löst bei den verschiedensten
Menschen unterschiedlichste Assoziationen aus. Polizisten, in der Spio-
nageabwehr tätige Agenten, Ehefrauen, die fürchten, von ihren Männern
betrogen zu werden, Lehrer, Mädchen im Teenageralter – sie alle inter-
pretieren dieses Wort aus ihrer aktuellen Lebenssituation heraus und auf
Basis ihrer bisherigen Erfahrungen. Rod muss ohne Zweifel ›verdächtig‹
erschienen sein, dass Al und ich vor dem Haus, das er gehütet hatte, auf-
tauchten. Ich halte Rod seit unserer ersten Begegnung für ›verdächtig‹.
›Verdächtig‹ ist eines dieser Wörter, die alles und nichts bedeuten, aber
Rod hat offensichtlich über diese Frage nachgedacht und möchte sich et-
was von der Seele reden. Die Anspannung in seinem Gesicht verrät mir
jedoch, dass er noch nicht so weit ist.
Um ihn abzulenken, zeige ich auf die bunt lackierte Puppe, die auf dem
Couchtisch steht.
77

»Ist die echt?«


»Ja, ich habe sie als Geschenk für meine Mutter in Japan gekauft«, ant-
wortet Rod. Er atmet tief ein, und das verrät mir, dass er sich zu beruhi-
gen versucht. »Die Puppe ist ganz hübsch, nicht wahr?«
»Ganz hübsch? Sie ist wunderschön!«, erwidert Lynn.
»Wirklich schön«, füge ich hinzu.
»Sie ist inzwischen einiges wert«, erklärt Rod mit einem Anflug von
Stolz. Lynn macht sich seine entspanntere Gemütslage zunutze und treibt
das Gespräch voran: »Was möchten Sie Mr Eways gegenüber richtigstel-
len?« Ich gehe absichtlich in die Küche und werfe ein paar Brotkrümel in
den Mülleimer. Ich möchte Ramsay den Eindruck vermitteln, ich sei an
seiner Antwort in keinster Weise interessiert. In TV-Krimis ist das gegen-
teilige Verhalten zu beobachten: Die Ermittler lehnen sich auf ihren Stüh-
len nach vorne, während dem Verdächtigen Schweiß über die Stirn zu lau-
fen beginnt. In der Realität jedoch ist es von wesentlicher Bedeutung, sich
in den entscheidenden Momenten zurückzuziehen, um dem Befragten den
psychologischen Druck zu nehmen, damit er frei und offen reden kann.
»Ich war in ein in Deutschland stationiertes Mädchen, Caroline, sehr
verliebt. Sie zeigte an mir jedoch nicht ganz so viel Interesse.« Da Rod
bei dieser Erklärung mich statt Lynn ansieht, kommuniziere ich durch
meinen Gesichtsausdruck die Frage, ob Caroline ein Hingucker gewesen
war. »Sie war sehr hübsch«, fährt Rod, der meinen Blick richtig interpre-
tiert hat, fort.
»Was passierte dann?«, erkundige ich mich.
»Ich wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Deshalb ließ ich den Hinweis
fallen, dass ich etwas am Laufen hätte, und fragte sie, ob sie mitmachen
wolle.« Lynn und ich lehnen uns automatisch nach vorne, ziehen uns, so-
bald wir uns dessen bewusst sind, aber sofort wieder zurück.
»Und dann?«, fragt Lynn nach.
»Sie lehnte ab.«
»Das war alles?«
»Wir verkauften Benzingutscheine auf dem Schwarzmarkt. Ich wollte
herausfinden, ob sie uns ihre überlassen würde.« Rod mustert uns, um zu
überprüfen, ob wir ihm glauben.
»Ehrlich, das ist die Wahrheit«, sagt er im Versuch, uns zu überzeu-
gen, bewirkt aber das Gegenteil: Menschen, die die Wahrheit sagen, tei-
78

len Sachverhalte einfach mit. Menschen, die lügen, versuchen, ihr Gegen-
über zu überzeugen.
»Ich verstehe«, sagt Lynn.
»Hatten Sie denn vielleiiiicht über Ihr Bedürfnis, mit ihr mehr Zeit zu
verbringen hinaus, noch andere Wünsche an Caroline?« Mit dieser Frage
nehme ich den spielerischen Tonfall von gestern wieder auf.
»Vielleiiiicht«, erwidert Ramsay und klopft verlegen seine Fingerspit-
zen aneinander.
»Ich nehme an, das heißt Ja.«
Rod lächelt. Zehn Punkte für Navarro, weil er den Druck aus der Situ-
ation genommen und den Befragten bei Laune gehalten hat.
»Warum macht Ihnen die Geschichte mit Caroline Sorgen?«, bringt Lynn
uns wie zwei missratene Jungs wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Mir ist klar, dass Eways auch sie irgendwann befragen wird. Ich weiß
nicht, was sie über die nachfolgenden Ereignisse erzählen wird, aber ich
möchte nicht, dass Eways glaubt, ich hätte versucht, Caroline in die Ma-
chenschaften hineinzuziehen, für die Conrad verhaftet wurde. Ich wollte
lediglich Carolines Interesse wecken.«
»Hat sie jemals mit Ihnen kooperiert?«, erkundigt sich Lynn.
»Nein.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie beide kein Paar wurden«, frage ich mit
misstrauischem Blick.
»Wir waren nur Freunde.«
Lynn ist an der Reihe, für gute Laune zu sorgen: »Ihr beiden  – ihr
klingt, als wärt ihr noch in der Highschool!«
»Wichtige Dinge muss man klären«, meine ich. Rod stimmt mir durch
ernstes Nicken zu.
»Jungs!«
»Ich denke, Sie müssen sich keine Sorgen machen, schließlich haben
Sie sie nicht gebeten, Dokumente an sich zu nehmen oder etwas Ähnli-
ches zu tun«, spiele ich die Angelegenheit herunter.
»Nein, ich habe nichts Derartiges verlangt«, betont Rod und kneift da-
bei die Mundwinkel zusammen – ein eindeutiges Anzeichen für Stress.
»Es war also tatsächlich nur eine Strategie, die Sie angewendet haben,
um zu erreichen, dass Caroline mehr Zeit mit Ihnen verbringt, und es
handelte sich ausschließlich um Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt?«
79

»Ja. Es hatte nicht mit Conrad oder dem Zuspielen von Informationen
zu tun«, bestätigt Ramsay. Er vermeidet nun schon zum zweiten Mal das
Wort ›Spionage‹. Warum distanziert er sich durch seine Ausdrucksweise
von diesem Tatbestand? Ich frage mich, ob Lynn dieses Verhalten eben-
falls auffällt.
»Benzin war teuer. Viele Soldaten besserten ihr Einkommen durch
den Verkauf ihrer Gutscheine auf. Auch Zigaretten wurden gehandelt.
Auf dem Schwarzmarkt konnte man mit amerikanischen Marlboros ein
Vermögen machen. Die Zusammensetzung des Tabaks ist anders als bei
den in Europa erhältlichen Zigaretten.«
»Von wie viel Geld reden wir?«
»In den Läden des Army & Air Force Exchange Service kostete eine
Stange Zigaretten ungefähr acht Dollar. Auf dem Schwarzmarkt bekam
man 20 bis 25 Dollar dafür. Die Deutschen lieben die echten amerikani-
schen Zigaretten – nicht das Zeug, das bei ihnen in den Geschäften her-
umliegt.«
Lynn pfeift anerkennend angesichts der damals erzielten Gewinnspanne.
»Auch CD-Player waren begehrt. In den Läden am Stützpunkt waren
gute Geräte, zum Beispiel von Sony, für rund 100 Dollar erhältlich. Wenn
die Deutschen sie von uns für 300 Dollar erwarben, machten sie immer
noch ein Schnäppchen.«
»Wow!«
»Ja.«
»Wie es scheint, kennen Sie sich mit diesen Dingen ganz gut aus.«
»Eventuell, unter Umständen, vielleiiiicht«, erwidert Ramsay.
»Ich verstehe auch das als sicheres Ja. War Conrad an diesem Schwarz-
handel auch beteiligt?«, werfe ich ein.
Der plötzliche Themenwechsel scheint Rod nicht aus der Fassung zu
bringen. »Als ich am Stützpunkt angekommen bin, hatte ich zunächst
kein Auto. Conrad bat mich deshalb um meine Benzingutscheine, und
wir handelten einen Deal aus.«
»Da Sie die Gutscheine selbst nicht verwenden konnten, war das sicher
nicht weiter schlimm?«
»Nein, das haben alle gemacht«, bestätigt Ramsay.
»Vermutlich ist das auf allen Militärstützpunkten gängige Praxis?«,
frage ich nach.
80

»Aber ja!«
Der wesentliche Aspekt bei dieser Unterhaltung ist, dass Ramsay und
ich eine gemeinsame Ebene gefunden haben. Wie bereits erwähnt, kom-
munizieren Menschen auf unterschiedliche Art und Weise: Manche äu-
ßern sich unumwunden, andere schleichen um den heißen Brei herum
oder erwarten, dass man ihnen die Worte aus dem Mund zieht. Eini-
ge möchten gar nichts sagen. Wenn man von Anfang an die richtige Ge-
sprächsform findet, hat man später, wenn die Befragung ins Stocken ge-
rät (das passiert grundsätzlich), etwas, worauf man zurückgreifen kann:
einen gemeinsamen Nenner, der hilft, das Gespräch wieder in Gang zu
bringen. Wenn sich Ramsay zurückhaltend gibt, ist das für mich in Ord-
nung, solange er sich weiterhin mit uns unterhält.
Für uns ergibt sich heute ein genaueres Bild von den Vorkommnis-
sen in Deutschland und dem damaligen Wert des Geldes. Auch die Ein-
stellung, die Ramsay und Conrad zu kriminellen Handlungen besa-
ßen, wird deutlich. Ramsay war offensichtlich der Überzeugung gefolgt:
»Warum sollte ich nicht tun, was alle anderen auch machen?« Die gro-
ße Frage, die noch zu beantworten ist, lautet: Haben Ramsay und Con-
rad auch in anderer Hinsicht kooperiert? War der Handel mit Zigaretten
auf dem Schwarzmarkt für Rod eine Art Einstiegsdroge in das Spiona-
gegeschäft?
Oberflächlich betrachtet, lassen sich die einzelnen Punkte leicht zu ei-
nem schlüssigen Szenario verbinden: Da Conrad bereits seit über zehn
Jahren in Deutschland war, muss er mit allen bekannt gewesen sein.
Ramsay scheint der Typ Mensch zu sein, der in keinem Lebensumfeld
Gutes im Schilde führt – er ist jemand, der das Risiko sucht. Fügt man
dieser Konstellation noch Bordelle, Prostituierte und Drogen hinzu,
scheinen die Signale in eine ganz bestimmte Richtung zu weisen. Ande-
rerseits jagen Soldaten seit eh und je jedem Rock hinterher, und Drogen-
konsum gehört seit den dunklen Zeiten des Vietnamkriegs für im Aus-
land stationierte Soldaten zur Realität. Dennoch sind nur wenige noch
einen Schritt weiter gegangen und haben ihr eigenes Land verraten.
Der einfachste Weg wäre für mich und Lynn natürlich, Rod eine Wei-
le bei Laune zu halten, indem wir den einen oder anderen Scherz mit
ihm austauschen, und ihn in dem Moment, in dem er am wenigsten
damit rechnet, mit der für uns zentralen Frage zu konfrontieren: »Ha-
81

ben Sie Spionage betrieben?« Auf diese Frage gibt es jedoch drei mögli-
che Antworten – vier, wenn man »Definieren Sie Spionage!« mitzählt –,
und keine davon ist befriedigend. Würde Rod antworten: »Nein. Au-
ßerdem möchte ich einen Anwalt konsultieren«, wäre der Fall erledigt.
Keine weiteren Befragungen, keine weiteren Ermittlungen – die Bewei-
se liegen in Moskau. Würde Rod die Frage zwar verneinen, aber keinen
Anwalt fordern, könnten wir das Spiel fortsetzen. Rod wüsste dann al-
lerdings genau, worauf wir abzielen, und würde die Informationen (oder
falschen Informationen), mit denen er uns versorgt, entsprechend aus-
wählen.
Rod könnte auch »Ja« schreien, sich unter bitteren Selbstvorwürfen
die Haare raufen oder eine andere theatralische Reaktion zeigen, die sei-
nem Charakter überhaupt nicht entspricht. Doch selbst wenn er auf ei-
nen ganzen Stapel Bibeln schwören würde, Landesverrat begangen zu ha-
ben, und den Richter anflehen würde, an den Galgen gebracht zu werden,
müssten wir ihm sein Vergehen immer noch nachweisen. Wir müssten
durch unterstützendes Beweismaterial belegen, dass Rod sich am Sound-
sovielten irgendeines Monats tatsächlich an dem von ihm angegebenen
Ort aufhielt, dass er sich tatsächlich, wie von ihm behauptet, mit dem Ge-
heimagenten XY traf und dass er tatsächlich, wie beschuldigt, exakt die-
se und jene Dokumente an die erklärten Feinde der USA lieferte. Ver-
rückt, nicht wahr? Diese Beweispflicht ist Resultat des missbräuchlichen
Verhaltens seitens der Ermittlungsbehörden in den 1960er- und 1970er-
Jahren. Ein intelligenter Kerl wie Rod Ramsay weiß darüber mit Sicher-
heit Bescheid.
Es empfiehlt sich also, das eigentliche Thema zu umkreisen und über
Essen, Benzin, Zigaretten, Taxis, Snacks, Filme, CDs, Restaurants, Wein,
Brot, Prostituierte, Marihuana, Heroin etc., aber auf keinen Fall über Spi-
onage zu sprechen. Außerdem trägt jede noch so kleine Enthüllung dazu
bei, das Rätsel, wer Rod Ramsay wirklich ist und wozu er fähig ist, zu lösen.
Für den heutigen Tag hatte ich mir zum Ziel gesetzt, ausreichend In-
formationen zu sammeln, über die wir nachdenken konnten, und dabei
in keinster Weise Rods Neugier zu befriedigen. Nach etwa zwei Stunden
denke ich, dieses Ziel erreicht zu haben. Wir haben genug Zeit mit Rod
verbracht – auch weil es in dem kleinen Wohnwagen bald wie in einem
Bienenstock summen wird, wenn Rod sich täglich hinter verschlossenen
82

Türen mit zwei Besuchern trifft, die, auch wenn sie noch so leger geklei-
det sind, unter den Anwohnern auffallen wie bunte Hunde.
Als wir zum Auto gehen, gießt tatsächlich gerade ein Nachbar seinen
Garten und starrt uns fragend an. Um abzulenken, winken wir Rod zu
und lächeln ihn so vertraut an, als würden wir uns schon ein Leben lang
kennen. Rod lächelt und winkt auf dieselbe Art und Weise zurück.
5
TRIUMPH UND VERZWEIFLUNG

26. August 1988

»Aufwachen!«, rufe ich so laut, dass ich Tote wecken könnte. Ich sehe
­Koerner in seinem am Ende des Flurs gelegenen Büro blitzartig den Kopf
über die auf seinem Schreibtisch unordentlich aufgeschichteten Papier-
stapel heben. Auch Lynn scheint sich erschrocken zu haben, obwohl sie
mir dabei zugesehen hatte, wie ich die Telefonnummer wählte.
Tote zu wecken scheint aber erforderlich zu sein, denn Rods Stimme am
anderen Ende der Leitung klingt alles andere als lebendig. Vielleicht ist er
verkatert oder hat schlecht geschlafen (ein schlechtes Gewissen?). Als er end-
lich den Hörer abgenommen hat, spricht er mit rauer Stimme und eine Okta-
ve tiefer als gewohnt. Sein »Was gibt’s« scheint aus einer Krypta zu erklingen.
Ich antworte so munter wie möglich: »Wir haben Neuigkeiten aus
Deutschland. Hätten Sie vielleicht heute noch einmal Zeit für ein Tref-
fen mit Lynn und mir?«
84

Einen Hauch lebendiger antwortet Rod: »Klar. Geben Sie mir nur ein
bisschen Zeit, um …«
»Ich weiß schon. Müssen Sie mir nicht sagen.«
»Okay.« Rods Stimme klingt nun fast normal.
»Wir sind in einer Stunde bei Ihnen. Sollen wir Kaffee mitbringen?«
Er macht sich nicht die Mühe zu antworten.

EHRLICH GESAGT, hatte ich mich ein wenig dazu zwingen müssen,
herzlich und freundlich zu klingen. Mein Einsatz bei der Flugraum-
überwachung letzte Nacht war kräftezehrend gewesen. Ich war erst
um Mitternacht gelandet, und bis ich das Gesicht meiner Tochter in
meine Hände nehmen konnte, war es 1:30 Uhr geworden. Bevor ich
ins Bett ging, stellte ich den Wecker auf 6:00 Uhr statt auf 4:55 Uhr,
doch wieder stand mir Rod Ramsay beim Einschlafen im Weg. Noch
schlimmer war mein Einstieg in den Tag: Wie am Vortag erwies sich
mein Besuch des Kommunikationsraums im Kellergeschoss als ergeb-
nislos. Wir hatten keinerlei Informationen von der Zentrale des FBI,
der Außenstelle in Washington, der Army oder dem Justizattaché des
FBI in Bonn, der (angeblich) die deutschen Behörden unterstützte, er-
halten.
Die ersten Stunden des Arbeitstages verbrachte ich damit, das FD-
302-Formular für unsere gestrige Befragung auszufüllen und mit Lynn
durchzugehen. Um 9:30 Uhr hatten Lynn und ich die Untätigkeit satt und
beschlossen, in die Offensive zu gehen. Ich rief Rod an – und begrüß-
te ihn aus einer Eingebung heraus mit dem ohrenbetäubenden »Aufwa-
chen!«. Die Idee schien funktioniert zu haben.
In der kleinen Wohnwagensiedlung warten überall Menschen neben
ihren Briefkästen – ein seltsames Szenario, doch dann fiel mir ein, dass
heute die Schecks von der Rentenversicherung zugestellt wurden. Im von
Pensionären reich bevölkerten Sunshine State ist dieser Zahltag so et-
was wie ein Feiertag. Da uns die nahe Rods Wohnwagen lebenden Nach-
barn nun schon einige Male gesehen haben, winken sie, als wir vorbei-
fahren. Lynn antwortet mit einem Winken, mit dem sie der Königin von
England Konkurrenz machen könnte, während ich (ganz Gewohnheits-
mensch) überprüfe, ob nicht doch einer der Wegelagerer eine Waffe in
der Hand hält. Zum Glück sind alle unbewaffnet. Rod erwartet uns be-
85

reits – das frisch geduschte Haar zur Seite gekämmt und mit tiefen Au-
genringen.
Ich drücke Rod einen Kaffee und eine Tüte mit kubanischem Toast
(auf einem Grill geröstetes, reichlich mit Butter bestrichenes kubanisches
Brot) in die Hand. Rod und ich machen uns über die Brote her. Lynn hat
ihre Portion bereits im Auto verzehrt, doch ich wollte unbedingt mit Rod
zusammen essen.
»Es tut uns leid, Sie noch einmal belästigen zu müssen«, sage ich mit
vor Butter glänzendem Kinn, »aber unser Justizattaché in Deutschland
hat uns eine Frage zukommen lassen.« Lynns Gesichtsausdruck bleibt
ungerührt, obwohl sie weiß, dass ich Unsinn erzähle.
Rod, den Mund voller Toast, nimmt einen gierigen Schluck Café con
leche und meint schließlich gnädig: »Schießen Sie los.«
»Der Attaché möchte wissen, ob Conrad nach seinem Ausscheiden aus
der Armee vielleicht noch einmal die Vereinigten Staaten besucht hat?«
»Das hat er – in der Zeit, in der ich in Boston lebte, vor meinen Um-
zug nach Tampa.«
»Oh, ich dachte, Sie hätten sich gleich nach Ihrer Militärzeit hier nie-
dergelassen.«
»Nein. Bis meine Mutter nach Tampa zog, war ich eine Zeit lang in
Boston.«
»Ich verstehe.« Ich wundere mich, warum diese Tatsache bisher nicht
ans Tageslicht gekommen ist. »Und warum war Conrad in den USA?«
»Wegen eines Familienbesuchs in Ohio.«
»Hat er Sie in Boston auch besucht?«
»Ein Höflichkeitsbesuch, mehr nicht.«
»Höflichkeitsbesuch?«
»So nannte es Conrad. Ich erinnere mich, dass er diese Bezeichnung
verwendete.«
»Und wie sieht so ein Höflichkeitsbesuch aus?«
»Kurz. Wir haben Neuigkeiten über Deutschland und den Militärstütz­
punkt ausgetauscht, dann verabschiedete er sich. Er hatte mich zwischen
zwei Flügen besucht.«
»Haben Sie nicht über Privates gesprochen?«
»Nein, wir haben uns fast nur über die guten alten Zeiten unterhal-
ten.«
86

Neue Fragen drängen sich auf: Wusste die FBI-Zentrale von diesem
Treffen? Wenn ja, hätte sie uns diese Information irgendwann zukom-
men lassen? Andererseits sind diese Gedanken müßig, da wir von der
Zentrale bisher rein gar nichts gehört haben.
Ich: »Wann fand dieser Besuch statt?«
Rod: »Das weiß ich nicht mehr genau. Sicher nach dem nicht bestande-
nen Urintest« – wieder schwingt ein ironischer Unterton mit – »und vor
dem Umzug meiner Mutter nach Tampa, also vielleicht im Frühjahr 1986.«
Die Washingtoner Außenstelle hatte damals bereits seit Jahren eine
Akte Conrad vorliegen. Conrads Besuch wäre die perfekte Gelegenheit
gewesen, ihn auf amerikanischem Boden zu verhaften und ihn vor ein
amerikanisches Gericht zu stellen. Verdammt.
»Reiste Conrad allein?«
»Ich denke schon. Zumindest wurde er von niemandem begleitet, als
er mich besuchte.«
»Hat er Ihnen ein Geschenk mitgebracht?«
»Eine kleine Kuhglocke, wie man sie in Deutschland am Flughafen
und in Souvenirläden kaufen kann.«
»Eine Kuhglocke? Seltsam.«
»So seltsam ist das nicht. Von Reisen nach Frankreich bringen viele
eine Miniaturausgabe des Eiffelturms mit. Eine Kuhglocke ist ein typi-
sches Mitbringsel aus Deutschland. Dahinter steckt dieselbe Idee.«
Lynn klingt sich auf Deutsch in das Gespräch ein. Mir scheint es, als
würde sie sagen: »Das stimmt. Ich habe selbst ein ganzes Regal voller Kuh-
glocken.« Allerdings sind die einzigen Wörter, die ich wirklich verstehe,
da, mein und Glocke wie in Glockenspiel, dem von Blaskapellen der High-
schools verwendeten Instrument. Was auch immer Lynn tatsächlich ge-
sagt hat – es versetzt uns alle, mich eingeschlossen, in bessere Stimmung.
»Sehen Sie?«, fragt Rod mit einem Lächeln. »Lynn weiß Bescheid.
Sie hat etwas von der Welt gesehen.« Sein Tonfall impliziert, dass meine
Kenntnis der Welt sich nur auf ein paar Hundert Straßenzüge im Zent-
rum von Tampa erstreckt.
»Schon gut, schon gut, ich gebe auf«, erwidere ich und strecke wie zur
Kapitulation meine Arme in die Höhe. »Was habe Sie mit der Glocke ge-
macht?«
»Die habe ich immer noch. Möchten Sie sie sehen?«
87

»Oh jaaaa«, sagt Lynn, noch bevor ich antworten kann.


»Ich hole sie.«
»Ähm, Sie bewahren dort hinten nicht zufällig ein Gewehr auf?«, frage
ich, obwohl ich weiß, dass er es nicht zugeben würde, wenn er gerade auf
dem Weg zu einer Schusswaffe wäre.
»Nein«, antwortet Rod, »ich habe meine SIG Sauer im Handschuh-
fach liegen.«
Ha, ha.
Nach 30 Sekunden kehrt Rod mit einer schäbigen kleinen Glocke aus
imitiertem Messing zurück. Vermutlich hat Conrad diese Dinger en gros
zum Spottpreis im Laden des Army & Air Force Exchange Service am
Stützpunkt erworben.
»Ist die Glocke für Sie mehr als ein Erinnerungsstück?«, frage ich und
lasse den Klöppel leicht gegen den Rand schwingen.
»Eigentlich nicht.« Rod neigt seinen Nacken auf die linke Seite und
lässt die Gelenke knacken.
»Würden Sie mir die Glocke für ein paar Tage überlassen, damit ich
ein Foto davon an unsere Leute in Bonn schicken kann? Für unsere Kol-
legen kann alles von Interesse sein« – sogar, aber das sage ich nicht laut,
ein billiges Souvenir.
»Natürlich, nehmen Sie sie mit. Ich brauche sie nicht.«
»Danke.« Ich gebe Lynn die Glocke.
»Nach dem Besuch bei Ihnen ist Conrad also nach Ohio gereist?«
»Das hat er gesagt.«
»Hat er einen Ort genannt? Cleveland? Toledo? Cincinnati? Können
Sie sich daran erinnern, welchen Flughafen er angesteuert hat?«
»Ich habe ihn nicht danach gefragt und ich weiß noch genau, dass er
keine Stadt erwähnt hat.«
»Hat er sich noch einmal gemeldet?« Da ich Rod für äußerst neugierig
halte, würde es mich wundern, wenn er nicht nachgefragt hätte.
»Nein, ich habe nach diesem Besuch nie wieder etwas von ihm gehört.«
»Keine Briefe oder Postkarten?«
»Nein, nichts.« Erneut lässt Rod die Gelenke in seinem Nacken kra-
chen. Andere würden davon ausgehen, dass Rod in ganz normaler Art
und Weise seine Muskeln dehnt, wenn er seinen Kopf zur Seite legt, aber
für mich ist diese Bewegung Hinweis darauf, dass er sich mit der eben ge-
88

gebenen Antwort unwohl fühlt. Warum, weiß ich nicht, aber diese Tat-
sache lässt erneut den Rückschluss zu, dass Ramsay und Conrad ein en-
geres Verhältnis zueinander hatten, als nach der ersten Befragung zu
vermuten war. Hatten die Army oder die Washingtoner Außenstelle des
FBI davon ebenfalls Kenntnis?
Ich wende mich wieder Rod zu. »Was ich beim letzten Mal schon fra-
gen wollte: Mit welchen Spielen haben Sie und die anderen Jungs sich in
Deutschland die Zeit vertrieben?«
»Mit Videospielen. Donkey Kong war sehr beliebt« – Lynn kommen-
tiert diese Aussage mit einem Ächzen –, »und Hydlide« – wieder ein Äch-
zen –, »überwiegend dämliches Zeug.«
»Noch andere Spiele?«
»Dungeons & Dragons.«
»Was zum Teufel ist das?«
»Kollege, Sie müssen sehr alt sein«, klinkt Lynn sich ein.
»Ich habe noch nie etwas von Dungeons & Dragons gehört. Ehrlich!«,
erwidere ich ein bisschen gekränkt. Alt? Ich? »Was ist das?« Ich bereue
diese Frage sofort. Ramsay ergeht sich die nächsten 27 Minuten lang in
einer peinlich genauen, totlangweiligen Beschreibung dieses äußerst be-
liebten Fantasyspiels, dessen Existenz mir überhaupt nicht bewusst war.
»Hat Conrad mitgespielt?«, werfe ich in einer Atempause Rods ein.
»Nein, er war wie Sie – altmodisch.«
»Altmodisch? Wer hat denn mitgespielt?«
»Alle. Alle Jungs in der Kaserne. Wir haben oft stunden- oder tage-
lang gespielt.«
»Niemals.«
»Doch, man wird süchtig. Wenn man ein Spiel begonnen hat, kann
man nicht mehr aufhören. Ich besitze sogar ein Buch über Dungeons &
Dragons. Möchten Sie es sehen?«
»Gerne«, antworte ich, obwohl ich davon ausgehe, dass es nach Rods
ausführlicher Abhandlung nichts weiter über dieses Spiel zu erfahren
gibt. Rod kehrt prompt mit einem dicken gebundenen Buch aus seinem
Schlafzimmer zurück, das reich an Illustrationen ist. Ich blättere das Buch
durch, während Lynn und Rod ihre Erfahrungen mit Dungeons & Dra-
gons austauschen, doch mir verschließt sich die Faszination dieses Spiels
noch immer. Spricht es Menschen an, die bekifft oder zu Tode gelang-
89

weilt sind? (Ich kann mir Lynn in keinem dieser beiden Zustände vor-
stellen.) Oder birgt dieses Buch eine verschlüsselte Information, die ich
nicht erkenne –, wie in Ken Folletts Roman Der Schlüssel zu Rebecca, in
dem das berühmte Werk von Daphne du Maurier zur Übermittlung einer
geheimen Botschaft dient. Da sich allseits bekannte Werke am besten als
Codebücher eignen, ist die Bibel für Spione oft von ebenso großem Nut-
zen wie für Priester. Ich komme zu dem Schluss, dass ich mich ein wenig
intensiver mit dem Bildband beschäftigen muss.
»Darf ich das mitnehmen, um es zu lesen?«, frage ich Rod und halte
das Buch in die Höhe.
»Natürlich. Behalten Sie es.« Damit habe ich ein weiteres Rätsel zu lö-
sen: Warum händigt mir Rod so viele Dinge aus? Vielleicht ist er einfach
großzügig oder wohl eher impulsiv. Es ist allerdings auch nicht unwahr-
scheinlich, dass er mich auf undurchschaubare Weise auf die Probe stellt.
Welche Motivation auch immer hinter Rods Verhalten steckt – ich be-
schließe, das Thema zu wechseln.
»Lesen Sie gerne historische Abhandlungen?«
»Die Werke Herodots natürlich. Und die Schriften Napoleons.«
»Wie steht es mit Carl von Clausewitz?«
»Natürlich auch.«
»Machiavelli?«
»Was denken Sie? Selbstverständlich. Warum?«
»Ich habe mich gefragt, ob Sie sich nur Schund wie Dungeons & Dra-
gons zu Gemüte führen.« Mein harscher Tonfall ist beabsichtigt – Rods
schnodderige Art gewinnt wieder Oberhand –, doch sobald ich die Wor-
te ausgesprochen habe, ist mir bewusst, dass ich zu weit gegangen bin. Ei-
nen Moment lang befürchte ich, Rod wirklich verärgert zu haben. Rod
hingegen ist anscheinend zum Schlagabtausch bereit.
»Haben Sie schon einmal etwas über Theodora gelesen?«, legt er sich
ins Zeug, als wolle er mich in die Schranken weisen.
»Meinen Sie die Gattin von Justinian?«
»Die Gattin von Justinian dem Ersten«, stellt er klar. »Es überrascht
mich, dass Sie zumindest so viel wissen.«
»Ich weiß tatsächlich kaum über Theodora Bescheid«, räume ich ein,
obwohl ich einige Kenntnisse besitze.
»Sie war Hure, bevor sie Kaiserin wurde.« Rod wirft Lynn einen kur-
90

zen Blick zu, um zu prüfen, ob sie schockiert ist. Lynn zuckt jedoch nur
mit den Achseln.
»Ich bezweifle, dass sie eine Hure war. Sie ist von ihrer Mutter verkauft
worden«, wende ich ein. »Später wurde sie Schauspielerin.«
»Sie war eine Prostituierte.«
»Wie auch immer, am Ende wurde sie Kaiserin«, sage ich mit zusam-
mengebissenen Zähnen. »Justinian der Zweite …«
»Rhinotmetos – ›mit der abgeschnittenen Nase‹.«
»Jungs, Jungs, Jungs«, funkt Lynn klugerweise dazwischen und hebt
mahnend den Zeigefinger. »Was soll ich nur mit euch machen?«
»Dieses Thema besprechen wir beim nächstes Mal«, sage ich.
»Auf jeden Fall.« Rod strahlt und glüht beinahe vor Begeisterung. Die-
se Art des Wettbewerbs macht ihm offensichtlich Spaß. Ich für meinen
Teil beschließe, mir weitere Fakten über das Byzantinische Reich einzu-
pauken. Da aber, wie bereits erwähnt, die mit einer Zielperson im per-
sönlichen Gespräch verbrachte Zeit in unserem Beruf von entscheiden-
der Bedeutung ist, nehme ich es gerne in Kauf, an meinen Arbeitstag
noch ein paar nächtliche Geschichtsstunden anzuhängen.
»Bonn wartet«, sage ich, während ich mich von meinem Stuhl erhebe.
»Wir lassen den Kollegen nun besser die Sachen zukommen. Wie spät ist
es jetzt in Deutschland?«
»Vier Uhr zweiundvierzig«, entgegnet Rod wie aus der Pistole geschos-
sen. Ich sehe nirgendwo eine Uhr. »Nachmittags«, fügt er hinzu – für den
Fall, dass ich nicht besonders helle bin.
Als ich schon halb zur Tür hinaus bin, besinne ich mich auf meine Ma-
nieren.
»Danke für das Buch«, sage ich und halte das Dungeons-&-Dragons-
Lehrbuch in die Höhe.
»Und für die Glocke«, fügt Lynn hinzu und bimmelt leise.
»Gerne.« Rods beiläufiger Ton erinnert an einen Philanthropen, dem
Dank zuteilgeworden ist, weil er die Armen beschenkt hat.
Kurz bevor wir unser Auto erreichen, fällt mir Rods Mutter ein.
»Haben Sie schon mit Ihrer Mutter gesprochen? Haben Sie ihr ausge-
richtet, dass sie Lynn und mich jederzeit anrufen kann?«
»Das habe ich ihr gesagt.«
»Alles in Ordnung zwischen uns?«
91

»Alles bestens.«
»Dann bis bald.«
Diesmal macht sich der Nachbar, der auf der gegenüberliegenden Stra-
ßenseite seinen Rasen sprengt, nicht die Mühe, den Blick von seinem
Gartenschlauch abzuwenden, als wir losfahren.
»Diesmal hätten Sie es fast vergeigt, Navarro, stimmt’s?«, meint Lynn,
nachdem wir die Wohnwagensiedlung verlassen haben.
»Das war Kalkül, Agent Tremaine.«
»In welcher Absicht?«
»Um Ramsay aus seiner Komfortzone herauszulocken.«
»Wie kommt es, dass Sie etwas über Theodora wissen?«
»Justinian I. war Chef eines Spionagerings. Er entsandte zwei Mönche
auf geheimer Mission nach China, um hinter das Geheimnis der Seiden-
produktion zu kommen. Die Mönche kehrten mit Seidenraupen und Sa-
men der Weißen Maulbeere zurück, die sie in ihren Wanderstäben versteckt
hatten. In der Folge verlagerte sich der Schwerpunkt des Seidenhandels in
das Byzantinische Reich, und Chinas Wirtschaft wurde geschwächt.«
»Woher zum Teufel wissen Sie das?«
»Ich lese gerne, genau wie Rod.«

VON MEINEM WUTAUSBRUCH ABGESEHEN, bin ich mit dem heutigen


Vormittag zufrieden. Indem wir die Initiative ergriffen haben, verwandel-
ten wir einen Tag, der schrecklich begann, in einen Erfolg. Ich bin nicht da-
rauf gefasst, dass uns in der FBI-Außenstelle ein weiterer Triumph erwartet.
Koerner kann kaum an sich halten, als wir das Gebäude betreten.
»In mein Büro«, presst er zwischen den Zähnen hervor. Er packt Lynn
und mich an den Ellenbogen, schiebt uns durch seine Bürotür und drückt
uns in die Stühle, die vor seinem Schreibtisch stehen. Er selbst lässt sich
hinter den Papierbergen in seinen Schreibtischstuhl fallen.
»Seht euch das an«, befiehlt er, greift hinter sich und drückt uns bei-
den ein Dokument in die Hand. »Das ist vor 20 Minuten eingetroffen.«
»Heilige Scheiße!«, entfährt es mir, während ich das Schriftstück lese.
Lynn äußert sich ein wenig schicklicher: »Verdammt!«
»Ich überlasse es dir, Joe.« Koerner verwendet meinen Vornamen
ebenso selten wie ich den seinen. »Du hattest von Anfang an recht. Das
hier ändert alles.«
92

Endlich.
Die Nachricht stammt von der Zentrale des FBI, Kopien wurden an
den Justizattaché in Bonn und an die Washingtoner Außenstelle ge-
sendet. Das Labor hat den Zettel, den ich von Ramsay bekommen hat-
te, analysiert. Das Untersuchungsergebnis besagt, dass das Papier »mit
dem vom osteuropäischen Geheimdienst verwendeten Papier überein-
stimmt«. Es handelt sich um »wasserlösliches Papier, das sich sofort zer-
setzt, wenn es mit Wasser oder Speichel in Kontakt kommt«. Diese Art
von Papier hilft zum Beispiel Spionen, rasch Informationen zu vernich-
ten, indem sie Zettel in die Toilette werfen oder sich in den Mund ste-
cken. Und es hat absolut nichts mit irgendwelchem im Geschenkartikel-
laden erworbenen Zauberpapier zu tun, das Ramsay aus der Not heraus
erfunden hat.
Es gibt weitere und noch interessantere Ergebnisse: Die auf dem Zettel
notierten Ziffern bilden die ›Hallo-Nummer‹ des ungarischen Geheim-
dienstes in Budapest. Jedes Spionagenetzwerk verfügt über eine solche
Notfallnummer. Bei einem Anruf meldet sich eine Stimme mit ›Hallo‹,
anschließend übermittelt der Anrufer mittels eines festgelegten Codes
eine verschlüsselte Botschaft. »Bin ich mit der Apotheke verbunden?«
kann beispielsweise bedeuten, dass eine Operation gescheitert oder ein
Mitglied des Spionagerings in Gefahr ist. Bei Spionen ist der Besitz ei-
ner ›Hallo-Nummer‹ nicht außergewöhnlich, bei Rod Ramsay hingegen
schon. Außerdem stellt sich die Frage, warum, sofern Ramsays Behaup-
tung der Wahrheit entspricht, Clyde Conrad ihm diese Nummer ausge-
händigt hat.
Dass die Nummer nur sechsstellig ist, gehört zu den Einschränkun-
gen, die Bewohner der Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes in Kauf
nehmen müssen. Der technische Standard in Ungarn ist so rückschritt-
lich, dass das in Westeuropa übliche siebenstellige System erst noch ein-
geführt werden muss.
»Was wirst du tun?«, fragt Koerner schließlich.
»Die Washingtoner Außenstelle wird sich des Falls nun annehmen
müssen und uns unterstützen. Sie können uns nicht länger ignorieren«,
erwidere ich. »Wir müssen uns Gedanken machen und alle Anhaltspunk-
te, die wir nachverfolgen wollen, aufschreiben. Wirklich alle. Außerdem
müssen wir einen Plan für unsere weitere Vorgehensweise erstellen. Die
93

Katze ist aus dem Sack  – wir müssen nun in Richtung Strafverfolgung
denken.«
Koerner stimmt mir zu. Die Tatsache, dass sich nun doch so schnell
das Bild eines Verbrechens abzeichnet, scheint ihn noch immer zu scho-
ckieren.
»Wir werden noch sehr viel mehr tun müssen«, fahre ich fort. »Ich
möchte ein Meeting in Washington, DC, ansetzen, um die Aktivitäten zu
koordinieren und mit allen zu sprechen, die in den Fall Conrad involviert
sind, die Abteilung für Innere Sicherheit eingeschlossen. Von den Hin-
weisen, die wir in der Hand haben, sind einige brandeilig, andere können
warten. Wir müssen Prioritäten setzen, nochmals durchdenken, was wir
bisher herausgefunden haben, und entscheiden, was wir als Nächstes tun
wollen.« Lynn notiert meine schnell gesprochenen Aussagen.
»Willst du Ramsay erneut befragen?«, fragt Koerner.
»Selbstverständlich, aber wir werden vielleicht einen Tag aussetzen
müssen, um erst die übergeordnete Organisation in Angriff zu nehmen«,
antworte ich. »Wir müssen sicherstellen, dass die Army, die Deutschen
und die Schweden mit an Bord sind. Wenn wir von den Kercsik-Brüdern
weitere Hintergrundinformationen erhalten, können wir die Befragung
Ramsays leichter vorantreiben. Wissen ist Macht. Wir können diesen Ei-
ertanz hier nicht ewig aufführen. Ich muss mehr wissen. Ich muss über
den gesamten Fall Bescheid wissen – von A bis Z.«
»Vergessen Sie nicht, dass morgen Samstag ist«, mahnt Lynn. »Bis
Montag wird nichts vorangehen.« ›Das mag sein‹, denke ich, ›und den-
noch wird aus dem erholsamen Wochenende  – der zweitägigen Pause
mit den Unternehmungen, die ich geplant habe, um die familiäre Bin-
dung zu stärken (oder eher wieder aufzubauen) – nichts werden. Meine
Gedanken werden das gesamte Wochenende über wie wild um den Fall
kreisen.‹

KENNEN SIE DIESE PHASEN, in denen Sie völlig in Ihrer Arbeit auf-
gehen? In denen Sie morgens voller Begeisterung für Ihren Beruf auf-
wachen und abends ebenso begeistert ins Bett gehen? In denen Sie das
Gefühl haben, dass die Arbeit, die Sie täglich leisten, wirklich von Be-
deutung ist? Dass Ihr Leben und Ihre Arbeit durch und durch sinnvoll
sind? Das bedeutet nicht, dass die Arbeit einfach ist – ganz im Gegen-
94

teil  –, doch jeder vollbrachte Schritt erweitert den Horizont. Richtung


und Ziel sind klar, und am Ende des Tunnels ist Licht zu sehen.
Der Beginn der neuen Arbeitswoche ist für mich von diesen Empfin-
dungen geprägt – ein Paradies für einen Workaholic. Lynn und ich tragen
Dutzende Anhaltspunkte zusammen. Wir erarbeiten Strategien und ent-
wickeln einen Zeitplan. Wir lesen uns die FD-302-Formulare noch ein-
mal durch. Wir erstellen ellenlange Listen mit weiterführenden Fragen
und zeichnen in Diagrammen die Szenarien auf, die sich aus den mögli-
chen Antworten ergeben könnten.
Gewissermaßen auf seine Einladung hin setzen wir die Befragung von
Rod Ramsay fort. Nachdem wir ein paar Tage nicht bei ihm im Wohn-
wagen gewesen waren, hat er uns anscheinend vermisst. Wir plaudern
wie gehabt und unterhalten uns über Belanglosigkeiten, unsere neuen Er-
kenntnisse erwähnen wir nicht.
Auf dem Höhepunkt unserer Arbeitseuphorie werden wir gebremst.
Auf mein Ansinnen hin, bei einem Meeting von der Washingtoner Au-
ßenstelle den Kenntnisstand abzugleichen und weitere Informationen zu
erhalten, werde ich daran erinnert, dass Washington und nicht Tampa in
diesem Fall die Zügel in der Hand halten. Ich werde mit deutlichen Wor-
ten ermahnt, meine Befugnisse nicht zu überschreiten.
Ich weise jeden in der Befehlskette noch einmal darauf hin, was in
Tampa vorgefallen ist. Ich teile mit, dass Rod Ramsay auf indirekte Weise
kooperiert, wir jedoch ausführlichere Informationen über den Fall benö-
tigen, um die richtigen Fragen stellen zu können. Daraufhin fordert man
mich auf, es langsam anzugehen – Ramsay könne warten.
Dann begehe ich den Fehler, mich nach dem Tatort zu erkundigen.
»Tatort? Welcher Tatort?«, bekomme ich zu hören. »Der Tatort, an dem
die Dokumente entwendet wurden«, entgegne ich. Es stellt sich heraus,
dass die Washingtoner Außenstelle keine Untersuchung des Tatorts vor-
genommen hat. In diesem Moment wird mir bewusst, dass die Lage weit-
aus schlimmer ist, als ich befürchtet habe.
Am 31. August 1988 erkundigt sich Rod Ramsays Mutter bei mir, ob
ihr Sohn Probleme habe. Es rührt mich, dass sie anruft, und ich versiche-
re ihr während eines langen Plauschs, dass nur Conrad in Schwierigkei-
ten stecke und Rod uns und den deutschen Behörden eine große Hilfe
sei. Sie erzählt, dass ein befreundeter Anwalt ihr den Rat gegeben habe,
95

dass Rod nicht mehr mit uns kommunizieren solle. Ich erkläre, dass dies
die richtige Vorgehensweise wäre, wenn Rod im Zentrum der Ermittlun-
gen stünde. Unser Augenmerk richte sich jedoch auf Conrad, nicht auf
Rod. Sie bedankt sich für meine beruhigenden Aussagen. Als ich auflege,
fühle ich mich wie ein Betrüger. Wer belügt schon gerne eine fürsorgli-
che Mutter? Ich lasse mir das Gespräch noch einmal durch den Kopf ge-
hen und komme zu dem Schluss, dass einige der von mir geäußerten Un-
wahrheiten vielleicht sogar vertretbar sind. Dennoch tut es mir leid, Rods
Mutter eitel Sonnenschein vorgetäuscht zu haben. Vielleicht ist meine ka-
tholische Erziehung für diese Gewissensbisse verantwortlich – die Non-
nen, von denen ich unterrichtet wurde, hätten eine solche Heuchelei si-
cher nicht gebilligt.
Am darauffolgenden Tag, am 1. September, ruft mich der in der Wa-
shingtoner Außenstelle für den Fall zuständige Agent, Bill Bray, an und
bittet mich, die Befragungen von Rod Ramsay einzustellen.
»Aufhören?«, protestiere ich. »Mitten in einer Ermittlung, die gera-
de ins Rollen gerät? Das ist völliger Quatsch.« Wenige Minuten später
richtet ein Mitarbeiter der FBI-Zentrale dieselbe Aufforderung an mich,
und ich gebe dieselbe Antwort: Wir haben in Übereinstimmung mit den
Richtlinien des FBI und des Justizministeriums eine Untersuchung ein-
geleitet und werden diese mit größter Sorgfalt weiterführen.
Gegen 14:00 Uhr wird mir per Fernschreiben von einer der höchsten
Abteilungen der FBI-Zentrale mitgeteilt, dass das höfliche Ersuchen nun
ein Ende hat. Nur neun Tage nach der ersten Befragung von Rod Ramsay
und nach all den Anstrengungen, die wir in der kurzen Zeit unternom-
men haben, um seine Kooperationsbereitschaft zu wecken, erhalten mei-
ne Kollegin und ich den Befehl, unter keinen Umständen noch einmal
mit Ramsay zu sprechen.
6
UMWEGE

Wenn man seit Langem für das FBI arbeitet, hat man gelernt, zwischen
Befehlen und Anweisungen zu unterscheiden. Befehle sind unbedingt zu
befolgen, damit man sich nicht im Handumdrehen um fünf Dienstgra-
de degradiert auf einer Planstelle im Niemandsland wiederfindet. Anwei-
sungen hingegen kann man als Empfehlungen verstehen, die oft von je-
nen hochrangigen Mitarbeitern der Zentrale ausgesprochen werden, die
seit ihrem Aufstieg auf der Karriereleiter kleinkariert agieren und über-
wiegend mit sich selbst beschäftigt sind. Nachdem wir uns einige Tage
unserem Zorn, vom Fall Ramsay abgezogen geworden zu sein, hingege-
ben haben, beschließen Lynn und ich, dass es sich bei der uns mitgeteil-
ten Aufforderung nicht um einen strikt zu befolgenden Befehl, sondern
um eine Empfehlung handelt, die man am besten ignoriert. Schließlich
steht viel Arbeit an.
Zum Beispiel gilt es, sich mit den Kercsik-Brüdern zu beschäftigen. Sie
geben in ihren Aussagen zwar nicht alle Details preis, kooperieren aber
98

besser als erwartet. Sie haben bestätigt, dass es sich bei der sechsstelligen
Nummer, die mir Ramsay ausgehändigt hatte, um die ›Hallo-Nummer‹
des ungarischen Geheimdienstes handelt. Da sich die Kercsik-Brüder mit
dieser Auskunft bereits ein gutes Stück weit aus dem Fenster gelehnt ha-
ben, vermute ich, dass sie bereit sein könnten, noch einen Schritt weiter
zu gehen und uns mitzuteilen, ob sie Rod jemals getroffen haben. Um das
herauszufinden, rufe ich Jane Hein an, eine freundliche Agentin in der
FBI-Zentrale, mit der ich seit Langem eine gute Arbeitsbeziehung pflege.
Jane (sie hieß damals noch Chenowith) und ich waren gemeinsam in
New York stationiert und auf dieselben Zielpersonen angesetzt – über-
wiegend für die Vereinten Nationen arbeitende Attachés aus Mitglieds-
staaten des Warschauer Paktes und deren Freunde. Jane geht wie ich ganz
und gar in der Jagd nach Spionen auf. Sie arbeitet nun in der FBI-Zent-
rale für die Spionageabwehr, und ich habe gerade erfahren, dass sie auf
den Fall Conrad angesetzt worden ist. Jane bekleidet eine untergeordnete
Funktion mit eingeschränkten Befugnissen, aber ein Freund mit halber
Kraft ist besser als ein starker Feind.
»Wie geht es dir, Joe? Ich habe lange nichts mehr von dir gehört!«, be-
grüßt mich Jane, als es mir endlich gelungen ist, sie im Labyrinth der FBI-
Zentrale ausfindig zu machen. »Wem verdanke ich diese große Ehre?«
»Spionen.«
»Ach was!«
»Ja, der ganz große Wurf. Hör mal, Jane, ich benötige bei dem Fall, an
dem ich arbeite, Hilfe. Ich laufe ständig gegen Wände.«
»Gegen Wände der FBI-Zentrale?« Jane weiß, wo der Ärger üblicher-
weise herkommt.
»Der FBI-Zentrale und der Washingtoner Außenstelle.«
»Dann lass mal hören. Und übrigens: Es geht mir gut, danke der Nach-
frage.«
Zugegeben, ich habe den Austausch von Höflichkeiten vergessen, aber
Jane weiß, dass ich, wenn wichtige Fälle vorliegen, von der Arbeit beses-
sen bin.
»Es geht um Conrad – einen von deinen Fällen, wie ich gehört habe«,
erkläre ich. »Meine Kollegin und ich haben einen Mann befragt, der in
Deutschland mit Conrad zusammengearbeitet hat: Rod …«
»Hoppla«, unterbricht mich Jane. »Wer hat die Befugnis erteilt?«
99

»Koerner«, antworte ich. Ich muss nicht mehr über Jay sagen, da ihn
jeder in der FBI-Zentrale kennt.
»Warum wurde überhaupt eine Untersuchung eingeleitet? Es gibt be-
reits Ermittlungen in diesem Fall.«
»Ich weiß, ich weiß. Die Washingtoner Außenstelle, die Army, INS-
COM, die schwedischen Behörden – alle sind an den Ermittlungen be-
teiligt, außer uns Stiefkindern hier in Tampa, obwohl wir vermutlich die
Einzigen sind, die einen US-Bürger dingfest machen und vor ein heimi-
sches Gericht stellen können. Conrads Verrat hat zwar unserem Erzfeind,
der Sowjetunion, in die Hände gespielt, aber was soll’s – er wird von den
deutschen Behörden belangt. Von den deutschen Behörden, Jane. Von
den Deutschen, nicht von uns  – das ist einfach nicht richtig. Und was
noch schlimmer ist: Es gibt keinerlei Garantie, dass er verurteilt werden
wird, und selbst wenn das der Fall sein wird, wird er eine lächerliche Stra-
fe erhalten.«
»Keine Spekulationen.«
»Ach, Jane, du weißt doch, wie es in Deutschland läuft. Günter Guil­
laume spielte der DDR und der Sowjetunion höchst sensible NATO-Ge-
heimnisse zu, die Karriere von Bundeskanzler Willy Brandt war damit zu
Ende, doch Guillaume erhielt gerade mal 13 Jahre Haft.«
»Joe …«
Ich ignoriere Janes Einwurf: »Außerdem geht es hier nicht mehr nur
um einen Spionageverdacht. Es geht um eine Straftat, deren Aufklärung
vorangetrieben werden muss. Ich möchte gegen Ramsay vorgehen. Des-
halb rufe ich dich an, Jane.« Zugegebenermaßen werde ich bei dieser Äu-
ßerung ein wenig laut.
»Beruhige dich, Navarro.«
»Ich weiß – ich bin verärgert. Aber …«
»Joe.«
»Okay, du hast recht. Ich möchte auf keinen Fall meine Freunde ver-
graulen. Ich habe genug Feinde, die darauf brennen, mir eins auszuwi-
schen.«
»Wie kann ich dir also helfen?«
»Wir möchten herausfinden, ob die Kercsik-Brüder Ramsay jemals
begegnet sind und ob sie ihn identifizieren können, wenn man ihnen Fo-
tos von verschiedenen Männern zeigt. Ich weiß, dass für diese Maßnah-
100

me eine schriftliche Einwilligung der FBI-Zentrale erforderlich ist, und


ich weiß auch, dass wir diese nicht umgehend vorliegen haben werden.
Die Washingtoner Außenstelle wird uns weiter blockieren, da sie nach
dem Motto ›Mal sehen, ob sich die Lösung nicht von selbst ergibt‹ ope-
riert. Eine Genehmigung unserer Untersuchungen beim Außen- und Jus-
tizministerium einzuholen würde ebenfalls sehr lange dauern. Wir kön-
nen aber nicht monatelang warten – wir müssen jetzt herausfinden, was
passiert ist.«
»Wir?«, fragt Jane, die genau weiß, was dahintersteckt.
»Also gut, ich möchte herausfinden, was passiert ist.«
»Joe, ich verstehe, was du meinst und wie du dich fühlst, aber die Er-
mittlungen im Fall der Kercsik-Brüder werden nicht von uns, sondern
vom schwedischen Nachrichtendienst durchgeführt. Die Untersuchung
liegt in den Händen der Säkerhetspolisen, und diese Sicherheitspolizei
vertritt einen souveränen Staat.«
»Und Schwedens Rolle ist neutral, auch das ist mir bekannt, aber die
schwedischen Behörden beschäftigen sich mit zwei Männern, die an einer
Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten beteiligt waren. Ich möchte
zu diesen Männern jetzt Zugang erhalten, nicht erst in einem halben Jahr.
Wenn die Washingtoner Außenstelle nicht in die Gänge kommt, machen
wir die Arbeit eben selbst.«
»Ich bin skeptisch, Joe«, meint Jane. »Eine ›Gegenüberstellung‹ an-
hand von Fotos weckt sofort Assoziationen an die Aufklärung eines Ver-
brechens. Zum jetzigen Zeitpunkt empfiehlt es sich aber nicht, mit kri-
minaltechnischen Methoden zu operieren oder überhaupt den Anschein
der Verfolgung einer Straftat zu erwecken.«
»Jane, bitte. Ich habe 90  Tage, um zu beweisen, dass Koerners Kopf
nicht auf dem Spiel steht. 90 Tage, Jane – tick, tick, tick. Die Zeit läuft.
Seien wir doch mal ehrlich: Die Zentrale, die Washingtoner Außenstelle,
INSCOM – sie alle werden keinen Finger rühren, und ich sollte wirklich
nicht darum betteln müssen, dass die Arbeit gemacht wird, verdammt
noch einmal!«
»Navarro, beruhige dich!« Ich habe erneut den Bogen überspannt.
»Oh, Gott!«
Jane wartet, bis ich hörbar zweimal tief durchgeatmet habe. Dann fährt
sie fort: »Es ist einfach so, dass der Fall Conrad in den Zuständigkeitsbe-
101

reich der Washingtoner Außenstelle fällt und nun auch die deutschen Be-
hörden involviert werden. Soweit ich weiß, ist der Fall so gut wie abge-
schlossen.«
»Es ist noch nicht aller Tage Abend, Jane, was den Fall anbelangt. Wir
glauben, dass mehr dahintersteckt und dass Ramsay nicht nur eine Kom-
parsenrolle innehatte.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das sagt mir mein Gespür, weil ich wie du, Jane, seit zwölf Jahren
ähnliche Fälle bearbeite. Außerdem lassen bereits die wenigen Gesprä-
che, die ich mit Ramsay geführt habe, diesen Schluss zu.«
»Du möchtest also, dass ich mich gegen meine Vorgesetzten wende.
Falls du es vergessen hast: Ich arbeite noch nicht lange hier.«
»Ich weiß, Jane. Trotzdem möchte ich das.«
»Außerdem soll ich gegen die Washingtoner Außenstelle, das Justizmi-
nisterium und das Außenministerium angehen.«
»Genau.«
»Du verlangst viel.«
»Ich würde dich nicht darum bitten, Jane, wenn es nicht gerechtfer-
tigt wäre.«
Jane lässt sich meine Äußerung schweigend durch den Kopf gehen.
Unter Agenten ist »gerechtfertigt« keine Floskel, sondern ein Codewort,
das die Bedeutung von »rechtens« und »berechtigt« in voller Überzeu-
gung vereint. Dieses Wort kann man nicht ignorieren. Außerdem trägt
Jane das Herz am rechten Fleck. Sie ist zwar Teil des Verwaltungsappa-
rats, aber keine Bürokratin. Wären unsere Rollen vertauscht, würde sie
dieselben Bitten an mich richten, allerdings ein wenig höflicher.
»Ich werde sehen, was ich tun kann. Stell die Fotos zusammen. Schick
sie direkt an mich und an niemanden sonst.«
»Ich danke dir.«
»Und bitte erwähne in deinem Schriftverkehr nichts von einer Straf-
sache. Stell das Vorlegen der Fotos einfach als Maßnahme dar, die Aus-
sagen der Kercsik-Brüder über Conrad durch Inaugenscheinnahme zu
überprüfen.«
»Oh, diese Idee gefällt mir. Auf diese Weise lenken wir die Aussagen
auch nicht in eine bestimmte Richtung, weil wir nicht preisgeben, dass es
um eine bestimmte Person auf den Bildern geht.«
102

»Lass mir die Fotos rasch zukommen. Ich werde sie in die richtigen
Hände geben. Und mache die Angelegenheit nicht publik, Joe.«
»Das werde ich nicht. Danke, Jane, ich wusste, du würdest dich für die
Sache einsetzen.«
»Warten wir’s ab, ob wir nicht beide dafür noch hinter Gitter kom-
men.«
»Graut es dir etwa vor dem Gefängnisessen?«, scherze ich, doch Jane
hat bereits aufgelegt.
Ich halte den Telefonhörer noch in der Hand, während ich darüber
nachdenke, ob die von der FBI-Zentrale ausgeübte Zurückhaltung im
Fall Conrad durch die aktuelle politische Situation motiviert sein könn-
te. In zwei Monaten steht die Präsidentschaftswahl an, und wenn der
Sitz im Weißen Haus auf dem Spiel steht, wirbeln die Machthaber un-
gern Staub auf. In der jetzigen Wahlperiode besitzen viele Mitarbeiter
des Geheim- und Sicherheitsdienstes zudem eine natürliche Affinität zu
dem Kandidaten, der in den Umfragen vorne lag: zum Vizepräsidenten
George Bush. Bush hatte im Zweiten Weltkrieg als Pilot gedient und war
in den 1970er-Jahren Direktor des CIA gewesen. Angesichts der Tatsa-
che, dass ihm mit Michael Dukakis ein vermeintlich schwacher Gegen-
kandidat gegenübersteht, geht Bush vermutlich davon aus, dass ihm die
Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bald unterstellt sein werden. Folg-
lich hat die FBI-Zentrale sicher kein Interesse daran, den zukünftigen
Präsidenten der Vereinigten Staaten auf Fehler aufmerksam zu machen,
die unter seiner Leitung der Dienststelle von Agenten begangen wur-
den.
Ein mögliches Szenario. Doch ich habe nun zumindest Jane auf mei-
ner Seite.

ZEHN MINUTEN und einen Toilettengang später laufe ich mit dem
Foto von Rods Armeeausweis  – dem einzigen Hilfsmittel, das uns von
INSCOM ausgehändigt wurde – durch das Gebäude und sammle von al-
len, die Rod Ramsay ein wenig ähnlich sehen (schmales Gesicht, spit-
ze Nase, unter 30 Jahre), ihre FBI-Ausweisbilder ein, um für die Kercsik-
Brüder eine Fotoserie zusammenzustellen.
Während ich Lowell, unserem Fotografen, dabei helfe, die Bilder
in eine plausible, scheinbar zufällige Reihenfolge zu bringen, höre ich
103

Shirley (aus Gründen, die bald ersichtlich werden, ist dies nicht ihr ech-
ter Name), eine der Leiterinnen unserer Dienststelle, meinen Namen
rufen.
»Joe-o!«
Allein die Tatsache, dass sie es wagt, mich auf diese Weise anzuspre-
chen, ist von Bedeutung. Als wir uns das letzte Mal unterhielten, warf ich
ihr einen jener Blicke zu, mit denen ich Straftäter ansehe, wenn ich sie
verhafte. Shirley besitzt jedoch keinerlei Wahrnehmungsvermögen für
nonverbale Signale. Sie fährt stets munter und ungerührt mit der An-
gelegenheit fort, die für sie im jeweiligen Moment von Bedeutung ist.
Bei unserer letzten Begegnung, vor etwa einer Woche, brachen Lynn und
ich gerade etwa 15 Minuten verspätet zu einer unserer »Wir halten Rod
bei Laune«-Missionen auf – kein großer Fauxpas, aber ich lege Wert auf
Pünktlichkeit. Shirley hatte jedoch andere Prioritäten.
»Joe-o«, rief sie, als Lynn und ich eilig Richtung Ausgang liefen. »Ihr
könnt jetzt nicht gehen. Gleich findet die Tombola statt.«
»Tombola?« Einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob sie in ei-
ner mir unbekannten Fremdsprache kommunizierte.
»Ja, das wissen Sie doch: unsere jährliche Tombola. Sie müssen hier-
blieben. Was, wenn Sie gewinnen?«
»Gewinnen, Shirley? Gewinnen?! Ich habe vier Stunden geschlafen.
Vor mir liegt ein hektischer Arbeitstag. Ich bin auf dem Weg zu einer Be-
fragung und bereits 15 Minuten zu spät. Nun soll ich alles stehen und lie-
gen lassen, nur weil eine Tombola stattfindet?«
»An der jährlichen Tombola müssen alle teilnehmen«, sagte Shirley,
»das hat die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit festgelegt.«
Während mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass Mitarbeiter
aufgrund von Situationen wie dieser mit einem Schlagfall, Herzinfarkt
oder Nervenzusammenbruch im Krankenhaus landen, weiteten sich
Shirleys Augen vor Panik. In der nächsten Sekunde machte sie auf ihren
Pfennigabsätzen kehrt und suchte sich ein anderes Opfer.
»Steve! Hallo, Ste-eve …«
Diesmal geht es nicht um die Tombola. Die nächste Verlosung wird
Gott sei Dank erst in 358 Tagen anstehen. Nun geht es um ein offizielles
Formular, das jeden Monat oder jeden Tag oder jeder Stunde auszufüllen
ist – im Moment kann ich mich nicht an die Frequenz erinnern.
104

»Joe-o«, sagt Shirley, »Sie haben das VI-Formular für Ihr Auto nicht
eingereicht.«
»Für die vorbeugende Instandhaltung?«
»Wir haben heute den Vierten, Joe. VI-Formulare müssen am Dritten
jedes Monats abgegeben werden. Sie sind einen Tag zu spät.«
Sie hat natürlich recht. VI-Formulare müssen am Dritten eingereicht
werden, und heute ist der Vierte. Um das Formular ausfüllen zu können,
müsste ich allerdings den Tachostand ablesen  – die exakte Kilometer-
zahl, auf die Kommastelle genau, nicht einen Pi mal Daumen ermittelten
Durchschnittswert – und mein Bu-Steed steht zwei Straßenzüge entfernt
in der Garage unserer Dienststelle. Allein Shirleys Worte sorgen dafür,
dass mein Magen übersäuert.
»Ich gebe es morgen ab, Shirley, okay?«, schlage ich vor. »Lowell und
ich stecken mitten in der Zusammenstellung von Fotos für eine Ge-
genüberstellung, die ich mit der Nachtpost nach Washington schicken
muss …«
»Joe-e, morgen werden Sie dann aber zwei Tage zu spät dran sein.«
»Also gut! Also gut.«
Draußen ist es heiß und schwül. Am Nachmittagshimmel zieht ein Ge-
witter auf, das wohl in etwa 20 Minuten losgehen wird. Wenn ich zum
Auto renne, werde ich schweißnass ins Büro zurückkehren. Renne ich
nicht, werde ich vermutlich vom Regen durchnässt. Ich entscheide mich,
zum Auto zu traben. Die Eingangstür unserer Außenstelle ist schon in
Sichtweite, als Platzregen einsetzt. Ich muss einen Spurt einlegen und ins
Trockene flüchten, den Tachostand meines Wagens fest im Gedächtnis
verankert. Als ich Shirley das VI-Formular aushändige, klebt mein nas-
ses Hemd an meinem Körper.
»Haben Sie nicht etwas vergessen?«, fragt Shirley nach einem kurzen
Blick auf das Formular.
»Vergessen?«
»Wir haben den Vierten, Joe-o. Gestern wäre bei Ihrem Wagen ein Öl-
wechsel fällig gewesen. Der Ölwechsel ist ein wesentlicher Bestandteil der
vorbeugenden Instandhaltung.«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge, Shirley«, erwidere ich. »Ich bin etwas
langsam von Begriff. Sehe ich so aus, als hätte ich nichts zu tun? Erwe-
cke ich den Anschein, Däumchen zu drehen? Ich arbeite an einem Spio-
105

nagefall und muss heute noch Unterlagen an die Zentrale senden. Sie er-
warten von mir, dass ich das hintanstelle und stattdessen einen Ölwechsel
durchführen lasse, weil …«
»Weil die vorbeugende Instandhaltung wichtig ist, Joe-e …«
»Und morgen …«
»Morgen werden Sie zwei Tage zu spät dran sein.«
Mir fällt auf, dass Shirley sich hinter einen Schreibtisch zurückgezogen
hat, um eine Barrikade aufzubauen. Ein kluger Schachzug, doch die Dis-
tanz wird nicht lange währen. Die Shirleys dieser Welt verschwinden nie,
da die Bürokratie sie immer wieder lockt und belohnt.
7
BESTANDSAUFNAHME

20. September 1988

Beim FBI ist folgende Arbeitsweise verpflichtend: Jeder Agent muss  –


ohne Wenn und Aber  – alle drei Monate eine zusammenfassende Be-
richterstattung einreichen. Anhand des Berichtes können Vorgesetzte
und Fallbeauftragte den Fortschritt laufender Ermittlungen beurteilen.
Da mich in den vergangenen zehn Jahren die Erfahrung lehrte, dass ei-
nem diese Arbeit über den Kopf wächst, wenn man die gesamte Zeit-
spanne verstreichen lässt, schreibe ich meine Berichte jeden Monat und
verschaffe mir damit selbst einen Überblick über die absolvierten Flug-
einsätze, die Fortbildungsmaßnahmen, die Operationen der Spezialein-
heit sowie alle weiteren Vorkommnisse.
Auch jetzt nehme ich eine Bestandaufnahme vor, indem ich die Er-
eignisse rund um Ramsay in chronologischer Reihenfolge nieder-
schreibe.
108

22.08.1988: Über Nacht zugestelltes Einschreiben enthält die Anweisung


an die Außenstelle Tampa, eine Person namens Roderick James Ramsay
ausfindig zu machen und zu befragen.
23.08.: Ramsay von Agent Joe Navarro ( = mir) und Al Eways, INS-
COM, aufgefunden und befragt, erst in einem einer unbeteiligten Partei
gehörenden, von Ramsay beaufsichtigten Haus, dann im Pickett Hotel.
Ramsay händigt vor dem Verlassen des Hotels eine angeblich von Con-
rad notierte Nummer aus.
24.08.: Ramsay nimmt aus eigener Initiative mit der Außenstelle Tampa
Kontakt auf und bittet, mit Agent Navarro über die früheren Eigentümer des
Hauses, das am Vortag Schauplatz der ersten Befragung gewesen war, spre-
chen zu dürfen. Agent Navarro und Agent Lynn Tremaine suchen Ramsay
an seinem derzeitigen Wohnort, dem Wohnwagen seiner Mutter, auf.
25.08.: Ramsay meldet sich erneut, um in der Befragung mit Eways
geäußerte Angaben über eine Kameradin aus der Zeit seiner Stationie-
rung im Hauptquartier der 8. US-Infanteriedivision in Bad Kreuznach,
Deutschland, richtigzustellen. Agent Navarro und Agent Tremaine su-
chen Ramsay für ein weiteres Gespräch auf.
26.08.: Agent Navarro und Agent Tremaine führen im Wohnwagen
der Mutter eine vierte Befragung Ramsays durch. Seitens des Labors der
FBI-Zentrale übermittelte Untersuchungsergebnisse belegen, dass es sich
bei dem am 23.08. von Ramsay an Agent Navarro übergebenen Zettel um
wasserlösliches Papier des von Mitarbeitern des sowjetischen Geheim-
dienstes verwendeten Typs handelt. Die FBI-Zentrale übermittelt außer-
dem die Information, dass es sich bei der auf dem Papier notierten Num-
mer um die ›Hallo-Nummer‹ des ungarischen Geheimdienstes handelt
(Information von Kercsik-Brüdern bestätigt).
01.09: Agent Navarro und Agent Tremaine erhalten die Anweisung,
den Kontakt zur »Zielperson Ramsay« einzustellen.
08.09: Kontaktaufnahme mit Jane Hein von der FBI-Zentrale. Hein
erteilt (nach Zögern) Zustimmung zu dem Versuch einer Identifikation
Ramsays anhand einer Auswahl an Fotos, sofern das Außen- und das Jus-
tizministerium, der schwedische Nachrichtendienst (Säkerhetspolisen),
die Kercsik-Brüder etc. ihr Einverständnis erteilen.
09.09. (anfangs): Fotostrecke und offizielle Anfrage an FBI-Zentra-
le versandt (verspätete Übermittlung wegen Ölwechsels; offenbar hatte
109

ich nicht als Einziger den fälligen Ölwechsel vergessen, da ich vor Ort auf
eine lange Warteschlange traf.)
09.09. (später): Agent Navarro wird von (üblicherweise zuverlässi-
ger) Quelle mitgeteilt, dass die FBI-Außenstelle in Washington davon
Kenntnis erhalten hat, dass die Behörde in Tampa eine vollständige Un-
tersuchung der Zielperson Ramsay eingeleitet hat, und diesen Schritt auf
Schärfste missbilligt.
12.09.: Erster konkreter Beweis der Behinderung der Ermittlungen
durch die FBI-Außenstelle in Washington: Washington hat aus Öster-
reich eingetroffene Informationen über den Verdächtigen Szabo zurück-
gehalten, statt sie an die Außenstelle in Tampa weiterzuleiten.
14.09.: Zweiter Beweis der Behinderung der Ermittlungen durch die
FBI-Außenstelle in Washington: Agent Termaines Ersuchen, die Kercsik-
Brüder in Schweden befragen zu dürfen, auf Antrag der Washingtoner
Außenstelle von der FBI-Zentrale abgelehnt. Ersuchen dieser Art wer-
den in vergleichbaren Fällen üblicherweise bewilligt. Diese Handlungs-
weise ist neu.
19.09.: John Martin, Leiter der Abteilung für Innere Sicherheit des
Justizministeriums, trifft zu einem Gespräch mit Agent Navarro und
Agent Tremaine sowie deren Vorgesetztem Koerner in Tampa ein. Bei
allem Lob für unsere Bemühungen fordert er uns im Kern dazu auf, die
Ermittlungen einzustellen, da der Fall inzwischen in der Zuständigkeit
der deutschen Behörden und der Washingtoner Außenstelle des FBI lie-
ge. (Tatsächlich? Bislang hatte man dort noch keinerlei Kenntnisse über
Ramsay.) Koerner erteilt mir den Rat, ›wegen Martin nicht allzu beun-
ruhigt‹ zu sein, doch seit wann reist der Leiter der Abteilung für Inne-
re Sicherheit zu einer kleinen Außenstelle des FBI, um eine Untersu-
chung zu torpedieren, indem er den Ermittlern erst auf die Schultern
klopft und sie dann wissen lässt, dass der Fall nicht mehr in ihren Hän-
den liegt?
Ebenfalls 19.09.: Die Army teilt uns mit, dass Rod über einen außer-
ordentlich hohen Intelligenzquotienten verfügt: Er erzielte bei dem vom
Militär durchgeführten grundlegenden Intelligenztest das zweitbeste al-
ler bisher protokollierten Ergebnisse. Außenstehende mag es überra-
schen, dass ich diese Information jetzt erst erhalten habe, doch mir sind
die Ursachen für die Verspätung bekannt: Zum einen waren nach der
110

Verhaftung Conrads neben Rod Tausende weitere Personen befragt wor-


den, und Al Eways hatte, wie die anderen Ermittler auch, nur grundle-
gende Informationen wie den Namen der Zielperson, ihr Geburtsdatum
und den Zeitraum ihrer Angehörigkeit zum Militär an die Hand bekom-
men, mehr nicht. Zum anderen gleicht das Eruieren von Dokumenten
beim Militär den Strapazen in Jäger des verlorenen Schatzes abzüglich der
von Spielberg hinzugefügten Feinheiten: Zunächst muss das richtige Ge-
bäude gefunden werden. Dann müssen sich blassgesichtige Beamte, die
kaum jemals das Sonnenlicht sehen, kilometerlange, feuchte, mit Spinn-
weben behangene Korridore entlangkämpfen und im richtigen Raum das
richtige Regal und im richtigen Regel die richtige Schachtel und in der
richtigen Schachtel das richtige Fach finden.
Ich schätze mich glücklich, diese Information erhalten zu haben – be-
stätigt sie doch meine vom ersten Moment an gehegte Vermutung, dass
Rod Ramsay ein verdammt kluger Mistkerl ist. Und die Tatsache, dass ich
es in diesem Fall ganz sicher nicht mit irgendeinem gewöhnlichen Trot-
tel zu tun habe, bestärkt mich in meiner Entschlossenheit, mich nicht
der FBI-Zentrale, der Washingtoner Außenstelle, dem Justizministerium
oder irgendeiner anderen ach so wichtigen Behörde zu beugen und die
Ermittlungen ruhen zu lassen.

20.09.1988. DER HEUTIGE TAG. Lynn und ich sitzen auf dem Park-
platz einer Shopping Mall am U. S. Highway 41 in meinem Bu-Steed und
gehen vor unserem für zehn Uhr anberaumten Treffen mit Rod Ramsay
die in der United States Code Section 794 unter Punkt 18 angegebenen
gesetzlichen Anforderungen, vor allem den Unterpunkt a), durch. Dieses
US-amerikanische Bundesgesetz stellt die Offenlegung von militärischen
Informationen unter Strafe. Im Kern handelt es sich bei unserer Unter-
haltung um eine von mir abgehaltene Lehrstunde. Bei Spionagedelikten
kann man in Befragungen viel Zeit verschwenden, wenn man das Ziel
nicht vor Augen hat.
»Du verstehst, was ich meine?«, frage ich Lynn. »Wir zielen nicht auf
ein Geständnis ab.«
»Worum geht es denn dann?« Lynn ist ein wenig überrascht.
»Hast du schon einmal in einem Spionagefall ermittelt?«
»Nein, aber ich habe in einem Fall Unterstützung geleistet.«
111

»Das macht nichts. Von den 95 Außenstellen des FBI waren bislang
nur sechs mit der strafrechtlichen Verfolgung von Spionagedelikten be-
traut. Tampa ist eine davon.«
»Was also wollen wir erreichen?«
»Wir könnten ein Geständnis anvisieren, aber vielleicht werden wir
nie eines bekommen. Was wir brauchen, sind Eingeständnisse.«
»Von …?«
» … von allen Vergehen, die unter das Bundesgesetz fallen. Ich weiß –
diese Thematik wird in der Grundausbildung von Agenten nicht berück-
sichtigt.«
»Nein, wird sie nicht.«
»Wir müssen uns darauf konzentrieren, kleine Zugeständnisse zu sam-
meln, die zusammengenommen durch Anwendung des Bundesgesetzes
bestraft werden können.«
»Erzähl weiter.«
»Die United States Code Section 794 legt fest, dass der Beschuldig-
te sensible Informationen an sich genommen und diese Informationen
wissentlich an andere Personen oder Einrichtungen, die zu deren Besitz
nicht berechtigt sind, weitergegeben haben und dadurch den Vereinigten
Staaten von Amerika schwerwiegenden Schaden zugefügt haben muss.«
»Ein Nachweis kann nicht schwer zu erbringen sein.«
»Das dachte ich bei meinem ersten Spionagefall auch. Wenn man je-
doch versucht, die Äußerungen eines Verdächtigen den Vorgaben des
Bundesgesetzes zuzuordnen, merkt man, wie schwierig das ist. Deshalb
ist jedes noch so kleine Zugeständnis wichtig.«
Während Lynn sich meine Erläuterungen durch den Kopf gehen lässt,
hole ich aus einer kubanischen Bäckerei, die ich oft besuche, mit Guaven
gefüllte pastelitos für Rod.
»Oh, das riecht lecker«, sagt Lynn mit Blick auf die Tüte, als ich wieder
im Auto sitze und mich anschnalle.
»Soooo lecker und soooo kalorienreich«, scherze ich, während ich ihr
ein ofenfrisches pastelito reiche.
»Ich muss noch viel über Spionagefälle lernen, nicht wahr?« Die
Blätterteigpastete hat sie für einen Moment in verträumte Ekstase ver-
setzt.
»Das müssen wir alle, Lynn. Jeder Fall ist anders, und einfach ist es nie.«
112

ROD SCHMECKEN DIE PASTELITOS. Er hat zwei innerhalb von Se-


kunden verschlungen. Ich selbst kann es kaum erwarten, meinen Anteil
an der Portion zu verzehren, doch Lynn grinst mich an und lädt Rod
dazu ein, auch die restlichen Pasteten zu essen.
»Wirklich?«, fragt Rod mit von der Guavenfüllung rot gefärbten
Mundwinkeln.
»Wirklich«, bestätigt Lynn. »Greifen Sie zu.«
Ha, ha. Ich habe allerdings keinen Anlass, beleidigt zu sein, da ich be-
reits im Auto ein paar Happen genommen hatte.
Ich beschließe, zur Sache zu kommen: »Sie haben uns erzählt, Rod,
dass es auf dem Militärstützpunkt in Deutschland recht locker zuging.
Für mich klang es so, als hätte es im Bereich der Dokumentensicherung,
für den Sie gearbeitet haben, keine ernst zu nehmenden Kontrollen ge-
geben.«
Rod leckt sich wie ein zweijähriges Kind die Lippen und nickt.
»Können Sie uns mehr darüber erzählen? Den Verantwortlichen ist
bewusst, dass die Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland verschärft
werden müssen. Ihre Erfahrungswerte und Ihre Kenntnisse wären für die
Kollegen sehr hilfreich.«
Vermutlich um herauszufinden, in welchem Ausmaß ich ihn beschum-
mele – und das tue ich kräftig –, wirft Rod mir einen prüfenden Blick zu.
Ich vertraue jedoch darauf, dass er der Versuchung, seinerseits eine kurze
Lehrstunde abzuhalten, nicht widerstehen kann. Ich habe recht.
»Grundsätzlich«, setzt er an, »gab es bei den Dokumenten überhaupt
keine Überwachung.«
»Erläutern Sie uns die Vorgänge.«
»Ja«, fügt Lynn hinzu, »stellen Sie sich vor, wir wären Dummköpfe.«
»Das muss ich mir nicht vorstellen.« Rod ist heute zu Scherzen aufge-
legt. Gut.
»Nun ja«, fährt er fort, »unsere Tätigkeit reichte von der Annahme bis
zur Entsorgung. Wir erfassten die Dokumente, wenn sie eintrafen. Solan-
ge sie verwahrt wurden, wurde protokolliert, wer worauf Zugriff genom-
men hatte. Wurden die Dokumente nicht mehr benötigt, wurden sie von
uns vernichtet und aus dem Bestand ausgetragen.«
»Wen bezeichnen Sie mit ›wir‹ und ›uns‹?«
»Das für die Verwahrung zuständige Personal.«
113

»Und wer war das?«, hakt Lynn nach.


»Clyde und ich.« Bei dieser Aussage strahlt Rod über das ganze Ge-
sicht. »Wir waren dafür zuständig.«
»Wie sah das aus?«, frage ich und spiele den neugierigen Schüler. »Er-
zählen Sie uns mehr.«
»Also gut.« Rod verwendet die Gegenwartsform, als wäre er noch im-
mer bei der 8. US-Infanteriedivision für die sichere Verwahrung der Do-
kumente zuständig: »Nicht mehr benötigte Dokumente werden von den
Mitgliedern der Einheit in große, schwere Brandtaschen gesteckt, die wir
mit Klebeband versiegeln und mit Lkws abtransportieren. Wenn die Ver-
brennungsanlage läuft, geben wir die Brandtaschen hinein. Die Anlage
ist mit einem riesigen Grillkorb, wie er zur Zubereitung von Spanferkeln
verwendet wird, vergleichbar – ein gewaltiges Behältnis aus Drahtgewe-
be. Man wirft die Taschen mit den Dokumenten hinein und dreht den
Korb, als würde man ein Spanferkel über dem Feuer grillen. Dabei kann
sehr viel Dreck und Schmutz entstehen, und der Vorgang dauert Stun-
den.«
»Wer führte die Aufsicht, während Sie diese Arbeit verrichten?«
»Niemand«, erklärt Rod. »Clyde und ich waren als für die Dokumen-
te zuständiges Personal natürlich alleine vor Ort. Wer hätte sonst noch da
sein sollen?«
Als wäre meine Frage völlig abwegig gewesen, erscheint eine Spur von
herablassendem Grinsen auf Rods Gesicht. Unter anderen Umständen
würde ich ihm sofort einen Dämpfer geben, doch wir befinden uns nicht
in einem Verhör. Wir befinden uns noch nicht einmal in einer Befra-
gung. Unser Gespräch dient nur dazu, ihm Informationen zu entlocken.
Also ist es meine Aufgabe, Rod dazu zu animieren, in seinen Erzählun-
gen fortzufahren, und abzuwarten, welche Hinweise er auf die Vorfälle
liefert, die sich vor rund drei Jahren, also Mitte der 1980er-Jahre, in Bad
Kreuznach ereignet haben, bevor in seinem Urin Cannabis nachgewiesen
und er aus der Army entlassen wurde.
Anstatt ihm die Stirn zu bieten, zucke ich also mit den Achseln, mur-
mele unter großzügiger Anerkennung von Rod und Lynn »Wie dumm
von mir« und komme auf ein Thema zu sprechen, von dem ich mir vie-
le Erkenntnisse erwarte.
»Schon gut«, sage ich, »ich habe verstanden, dass Sie und Clyde die
114

Herren im Hause waren.« Rod nickt zustimmend, vor allem in Lynns


Richtung. »Was haben Sie denn sonst noch zusammen gemacht?«
»Wir sind manchmal gemeinsam ein Bier trinken gegangen, und wir
haben zusammen das Gelände erkundet.«
»Das Gelände erkundet?«, hakt Lynn nach.
»Ja, natürlich. Wir haben uns die topografische Beschaffenheit des Ge-
biets angesehen. Unsere Touren führten uns meist in die Fulda-Lücke –
das Gebiet, in das die Panzer der Roten Armee nach Durchbrechen der
Grenze bei Thüringen vorstoßen würden, sollte sich der Kreml dazu ent-
schließen, nach Bonn vordringen zu wollen. Napoleon …«
»Ich weiß, ich weiß«, werfe ich ein, »die Völkerschlacht bei Leipzig,
der Rückzug etc.« Mir steht gerade nicht der Sinn nach einer Lehrstun-
de in Geschichte, vor allem da Rod auf ein interessanteres Thema zuzu-
steuern scheint.
»Fast alle Operationspläne, die den Bereich der Dokumentensiche-
rung durchliefen, beschäftigten sich mit der Lücke von Fulda: Falls die
Sowjets dies tun, tun wir das, falls sie etwas anderes machen, reagieren
wir so. Es schien, als hätte das Pentagon für andere strategische Überle-
gungen kaum noch Zeit. Clyde und ich fühlten uns wie die Protagonis-
ten in einem Videospiel. Wir liefen die Anhöhe am Rand des Geländes
entlang und stellten uns vor, jeder von uns würde eine Panzerdivision be-
fehligen – eine der Sowjets und eine der NATO. ›Greifst du mich auf die-
ser Seite an, hole ich in deiner Flanke zum Gegenangriff aus. Und töte all
deine Soldaten‹.«
Der Blick, den Lynn mir zuwirft, enthält die Frage: »Unglaublich, nicht?«
Rod gibt zu, die Operationspläne nicht nur verwaltet, sondern sie auch
gründlich studiert zu haben. Ohne die Augen von Rod abzuwenden, ver-
suche ich, Lynn telepathisch die Botschaft zukommen zu lassen, dass ich
genau diese Art von Bekenntnissen meinte, als wir vor einer Stunde im
Auto über unser Gesprächsziel sprachen. Ramsay ist kein Nullachtfuff-
zehn-Spion. Er weiß, worauf es ankommt. Er erkennt die taktische und
strategische Bedeutung von Dokumenten und war zusammen mit Clyde
als unbeaufsichtigter Verwalter dieser Unterlagen eingesetzt.
»Klingt, als hätten Sie beide eine Menge Spaß gehabt«, sage ich zu Rod.
Ich nehme bewusst eine entspannte Körperhaltung ein und lehne mich
wie zu einem gemütlichen Plausch in meinem Sessel zurück. Lynn greift
115

mein Signal auf und macht es sich auf dem Sofa des Wohnwagens be-
quem.
»Ja, das hatten wir«, antwortet Rod und streckt seine Beine neben der
bunt lackierten Puppe auf dem Sofatisch aus. »Aber wir haben nicht nur
herumgealbert. Clyde war ein kluger Kopf. Er las viel. Wenn er eine Sei-
te in einem Buch gelesen hatte, riss er sie heraus und warf sie weg. Diese
Angewohnheit habe ich von ihm übernommen.«
Ich: »Seltsam.«
Rod (lacht): »Ja. Denken Sie doch mal darüber nach. Warum soll-
te man bereits gelesene Seiten mit sich herumtragen? Wenn man damit
durch ist, ist man damit durch. Ich habe viel von Clyde gelernt, und er
stellte mir immer wieder neue Aufgaben.«
Lynn: »Wie in einer Klassenarbeit? Einer Prüfung?«
»Nein, keine Schulaufgaben.«
»Sondern?«, frage ich.
»Nun ja, zum einen wollte Clyde herausfinden, inwieweit ich bereit
war, mich nicht an die Regeln zu halten.«
»Regeln?«
»Ja. Clyde hatte viele Regeln aufgestellt. Seine oberste Maßgabe war,
sich unentbehrlich zu machen. Ich erinnere mich daran, wie er einmal zu
mir sagte: ›Wenn dich deine Vorgesetzten für unverzichtbar halten, las-
sen sie dich in Ruhe.‹«
»Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, dass sie dich nicht kontrollieren. Dass sie nicht nach
dir sehen.«
Zwei Gedanken gehen mir durch den Kopf: Erstens haben Rod und
Clyde recht: Mitarbeiter, die als unverzichtbar gelten, haben zum Beispiel
die besten Möglichkeiten, Betriebsgeheimnisse zu veruntreuen. Zwei-
tens können Untergebene, deren Überwachung nicht für nötig befun-
den wird, tun, was sie wollen, beispielsweise geheime Unterlagen kopie-
ren und sie Vorgesetzten, die die höchsten Sicherheitsbefugnisse haben,
unter der Nase wegstehlen.
»Hat Clyde noch andere Regeln aufgestellt?«, fragt Lynn. »Sie sagten,
dies sei die wichtigste gewesen.«
»Klar«, erwidert Rod und zählt die weiteren Maßgaben an den Fingern
ab: »Immer beschäftigt aussehen. Stets den Eindruck erwecken, man hät-
116

te es eilig. Immer etwas in den Händen halten. Stets als Erster im Büro
sein und es immer als Letzter verlassen.«
»Wow«, erwidere ich. »Wozu ist das alles gut?«
»Ganz einfach«, antwortet Rod und erklärt in sachlichem Tonfall:
»Wenn man immer beschäftigt wirkt, immer etwas in der Hand hält,
immer eilig hin und her rennt und jeden Morgen als Erster und jeden
Abend als Letzter im Büro gesehen wird, dann …«
Rod lässt uns den Satz beenden, und Lynn und ich äußern fast gleich-
zeitig fast die gleichen Worte: »… kannst du tun, was immer du willst.«
Rod strahlt uns an, als wären wir Einserschüler. Auch ich sehe ihn
glücklich an – nicht, weil ich die richtige Antwort erraten habe, sondern
weil Rod uns gerade erklärt hat, wie man im Alltag unbehelligt zu Wer-
ke gehen kann, statt das Risiko einzugehen, tagsüber herumzuschleichen
oder nachts – nach Feierabend oder vor dem morgendlichen Weckruf –
in ein Gebäude einzubrechen. Bisher lässt sich aus den von ihm erteilten
Informationen noch kein gerichtlich verfolgbarer Tatbestand konstruie-
ren, aber Rod liefert uns Stück für Stück Beweismaterial, ein Eingeständ-
nis nach dem anderen, und ich möchte, dass er diese Sammlung weiter
aufstockt.
»Hatten Sie, ganz unter uns gesprochen«, fahre ich deshalb fort, »je-
mals den Eindruck, dass Clyde etwas im Schilde führte?«
Rod bleibt lange mit einem Lächeln auf den Lippen ruhig sitzen. Ich
weiß nicht, was ihm durch den Kopf geht, aber seine Körpersprache ver-
rät nichts von Angst oder Besorgnis – er bewegt seine Hand nicht zum
Mund, und sein Adamsapfel hüpft nicht. Dann beugt Rod sich vor, als
wäre der Wohnwagenpark voller Menschen und er wolle nur mit uns
sprechen, wartet, bis auch wir uns in seine Richtung lehnen, und sagt
beinahe flüsternd: »Das war die Aufgabe, die er mir stellte.«
»Sich nicht an die Regeln zu halten?«
»Nein, mehr als das. Er stellte immer wieder meine moralische Ein-
stellung auf die Probe, indem er mich mit all diesen Herausforderungen
konfrontierte.«
»Warum sollte er das tun?«, frage ich. »Schließlich waren Sie Kumpel,
Freunde.«
Rod sieht verlegen drein, beugt sich noch weiter nach vorne und erwi-
dert kaum hörbar: »Weil er dieses Geschäft am Laufen hatte.«
117

»Ach so«, entgegne ich und lehne mich wieder in meinem Stuhl zu-
rück, um der Situation die Spannung zu nehmen. »Ein Geschäft, ja? So
etwas wie der Handel mit Zigaretten auf dem Schwarzmarkt, von dem Sie
uns erzählt haben? Meiner Meinung nach hat er Ihre moralische Einstel-
lung damit nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen.«
Auch Lynn hat sich wieder auf dem Sofa zurückgelehnt. Rod greift das
Signal auf und nimmt bald ebenfalls eine entspannte Sitzposition ein.
Fast spürbar füllt sich der Raum wieder mit Luft.
»Clyde«, setzt Rod an und fährt nach einer kurzen Pause, in der er sei-
ne Gedanken sortiert oder sie vielleicht vorab zensiert, um nicht zu viel
preiszugeben, fort: »Clyde war ein Verschwörer, ein Intrigant. Er hatte
immer irgendeine Sache laufen, und manche waren, wie soll ich sagen,
grenzwertig.«
»Was denn zum Beispiel?«, fragt Lynn.
»Ja, geben Sie uns ein Beispiel«, schließe ich mich an.
»Gehen wir einmal rein hypothetisch davon aus, Clyde habe einen Vi-
deoverleih eröffnen wollen.«
»Wir sprechen von Raubkopien, nehme ich an.«
Rod quittiert meine Äußerung mit einem Lächeln. »Rein hypothe-
tisch«, wiederholt er.
»Natürlich«, erwidere ich. »Rein hypothetisch.«
»Was aber, wenn dieser ›hypothetische« Videoverleih gar nichts mit
Videos zu tun gehabt hätte?«, fährt Rod fort.
»Keine Ahnung«, antworte ich. »Worum könnte es, rein hypothetisch,
sonst gegangen sein?«
»Informationen?« Rod verleiht diesem Wort erst in letzter Sekunde die
Intonation einer Frage. »Clyde betonte immer wieder, dass Information
das einzig Wichtige sei. Vielleicht hatte er also die Absicht, den Videover-
leih, rein hypothetisch, zu nutzen, um von den Soldaten, die den Laden
aufsuchten, Informationen zu erhalten.«
»Was hätte er, rein hypothetisch, mit diesen Informationen anfangen
können?«, erkundigt sich Lynn.
»Rein hypothetisch hätte er sie verkaufen können«, erwidert Rod.
Ich brenne darauf zu fragen, an wen, doch Rod hat das »rein hypo-
thetisch« absichtlich gewählt. Er spielt mit uns, indem er uns Hinwei-
se gibt und dabei eventuell auch sein Bedürfnis nach Risiko befriedigt.
118

Wenn wir ihn bitten, konkreter zu werden, wird er das Spiel wahr-
scheinlich beenden und kein Wort mehr sagen. Also nicke ich stattdes-
sen Richtung Toilette und frage ihn durch einen Blick, ob ich sie benut-
zen darf.
»Natürlich«, antwortet Rod, »nur zu.«
Ich betätige die Toilettenspülung und bespritze das Waschbecken ein
wenig mit Wasser, um den Eindruck zu vermitteln, meine Bitte sei auf-
richtig gewesen. Ich hoffe darauf, dass Lynn während meiner Abwesen-
heit das Ruder übernimmt und das Gespräch ohne meine Gegenwart im
Raum in leichteres Fahrwasser gerät. Mein Vorhaben scheint geglückt zu
sein: Als ich das Badezimmer verlasse, höre ich, wie sich Lynn nach ande-
ren Freunden Rods erkundigt – ein guter Schachzug, den ich selbst eben-
falls als Nächstes gewählt hätte. Während ich mich wieder auf den Stuhl
setze, trifft Rod eine Unterscheidung zwischen ›Pokerspielern‹ und ›Po-
ker-Pokerspielern‹.
»Nanu«, klinke ich mich ein. »Ich kenne Pokerspieler, Leute die Stud
Poker oder Five-Card-Draw spielen. Was aber sind ›Poker-Pokerspieler‹?
Sind das diejenigen, die mit richtig hohen Einsätzen spielen?«
»Nein«, erwidert Rod. »Poker-Pokerspieler sind Clydes echte Kumpel,
die ihm jeden Gefallen tun.«
»Welche Gefallen?«
Rod gibt keine Antwort.
»Was ist mit Ihnen, Rod?«, frage ich. »Waren Sie auch ein Poker-Po-
kerspieler?«
»Vielleiiiiiiiiicht.« Mit breitem Grinsen dehnt Rod das Wort scheinbar
unendlich lange aus. Ich entnehme daraus, dass wir für den heutigen Tag
alles erreicht haben, was möglich war.
Lynn ist noch dabei, ihre Schuhe anzuziehen, während ich schon die
Türklinke in der Hand halte.
»Sie haben uns erneut äußerst wertvolle Hilfe geleistet, Rod«, sage ich
und drehe mich noch einmal zu ihm um. »Sie vermitteln uns wirklich ei-
nen sehr guten Eindruck von der Arbeitsweise bei der 8.  Infanteriedi-
vision. Ich werde heute erneut mit den Kollegen in Bonn sprechen und
mich erkundigen, ob sie weitere Informationen benötigen. Wir werden
uns aber auf jeden Fall bald wieder bei Ihnen melden und fragen, ob wir
vorbeikommen können.«
119

»Morgen?«, fragt Rod erwartungsvoll. Die taktischen Manöver, die er


mit uns heute veranstaltet hat, haben ihm Spaß gemacht. Das merkt man
ihm an. »Ich habe Zeit. Wie wär’s?«
»Vielleiiiiiiiiicht.«

WIE ES SICH FÜR PROFESSIONELLE ERMITTLER GEHÖRT, warten


Agent Tremaine und ich ab, bis wir den Wohnwagenpark verlassen ha-
ben, ehe wir uns mit einem High Five zu den Erfolgen des heutigen Tages
beglückwünschen – zumindest soweit ein High Five in einem ­Bu-Steed,
in diesem Fall einem Chevrolet Malibu, Baujahr 1983, möglich ist. Nein,
wir haben kein Geständnis erhalten. Wir haben etwas, das meiner An-
sicht nach viel besser ist: eine Reihe von Eingeständnissen, die es uns –
unabhängig davon, ob wir letztendlich ein Geständnis bekommen wer-
den oder nicht – ermöglichen werden, einen handfesten Tatbestand zu
präsentieren, den auch der gewiefteste Verteidiger nicht auseinanderneh-
men kann.
Rod Ramsay hat zugegeben, gegen die Regeln verstoßen zu haben. Er
hat eingestanden, von einem hoffentlich bald als Spion verurteilten Mann
in seinen moralischen Werten herausgefordert und von diesem angelei-
tet und beeinflusst worden zu sein. Außerdem hat er freiwillig von ruch-
losen Machenschaften Clyde Conrads berichtet, exakte Kenntnis von die-
sen Unternehmungen offenbart und von potenziellen Mitverschwörern,
den ›Poker-Pokerspielern‹, gesprochen. Conrad und Ramsay hatten en-
gen Kontakt und wurden von ihren Vorgesetzten nicht behelligt. Solchen
Geschichten schenken Geschworene gerne Glauben.
Keine schlechte Ausbeute. Ich freue mich für Lynn, die sich trotz ihrer
Jugend als fähige Partnerin mit rascher Auffassungsgabe erwiesen hat.
Vor allem aber freue ich mich für Jay Koerner, der mehr zu verlieren hat
als Lynn und ich – ein besseres Gehalt, die bislang in seinen Beruf inves-
tierte Zeit und die größeren Aufstiegschancen (meine Aufstiegschancen
werden sich auf null belaufen, sollte der Kampf gegen die Washingtoner
Außenstelle noch länger andauern). Koerner hatte mir drei Monate Zeit
gegeben  – die maximale Frist, die man unter den gegebenen Umstän-
den erwarten kann. Nun aber haben Lynn und ich vor Ablauf eines Mo-
nats Beweismaterial zusammengetragen, das das in uns gesetzte Vertrau-
en voll und ganz rechtfertigt.
120

»Vielen Dank, Lynn«, sage ich, während ich den Bu-Steed auf dem
Kennedy Boulevard um einen Bagatellunfall herumsteuere.
»Wofür?«
»Für deine Herangehensweise an die Ermittlungen und deine Art und
Weise, mit Rod umzugehen. Dazu wären nicht viele Agenten in der Lage
gewesen.«
»Im Ernst?«, fragt Lynn mit ihrem unverkennbaren Akzent des Mitt-
leren Westens.
»Ja. Du springst auf den Zug auf, und wenn ich die Richtung wechsle,
geht du das Manöver mit. Ich weiß das sehr zu schätzen.«
»Danke. Das bedeutet mir viel.«
»Jay hatte recht – du bist ein guter Agent. Und was noch viel wichtiger
ist: Rod mag dich.«
»Yepp, das tut er wohl«, erwidert Lynn. Mein Lob zollt der Tatsache
Respekt, dass Lynn absichtlich jeder von Rods Äußerungen Begeisterung
zollt. Andererseits ist anzunehmen, dass Rod jeder Frau, die ihm Auf-
merksamkeit schenkt, gewogen ist.
»Gut«, meine ich, »dann behalten wir das auch so bei. Und noch et-
was …«
»Was denn?«
»Ich kann es kaum abwarten, diesen verdammten Betrüger noch ein-
mal zu befragen.«
»Ich auch nicht, Joe«, sagt Lynn. »Ich auch nicht.«
Lynn bekommt keine Gelegenheit dazu. Neun Tage nach unserem Ge-
spräch mit Rod Ramsay am 20. September identifizieren die Kercsik-Brü-
der Rod Ramsay auf den von uns versandten Fotos und sagen aus, dass
Ramsay in den Fall Conrad involviert gewesen sei. Am darauffolgenden
Tag untersagt uns die FBI-Zentrale erneut jeden weiteren Kontakt mit
Ramsay – diesmal in Form eines Befehls, den man nicht ignorieren kann.
Als ich 357 Tage später die Genehmigung erhalte, die Gespräche mit Rod
Ramsay wieder aufzunehmen, ist Lynn verheiratet und nicht mehr in der
Außenstelle in Tampa tätig. Die Ermittlungen gegen Rod Ramsay waren
in der Zwischenzeit auf Eis gelegt worden.
8
MEIN JAHR IN DER WÜSTE

Washington, DC – 29. Oktober 1989

Die gute Nachricht lautet: Ich habe die Erlaubnis erhalten, die Gespräche
mit Rod Ramsay wieder aufzunehmen!
Die schlechte Nachricht lautet: Man hatte die Untersuchungen im Fall
Ramsay ein Jahr und acht Tage ruhen lassen – ohne dass dies jemanden
zu kümmern schien. Nur mich quälte jeden einzelnen Tag des vergange-
nen Jahres die Tatsache, dass ich gegen einen Mann, der den Vereinig-
ten Staaten mit Sicherheit großen Schaden zugefügt hatte, nicht vorge-
hen durfte.
Die vielleicht noch schlechtere Nachricht lautet: Ein Sturm zieht auf –
nicht hier vor den Fenstern des Eastern Airlines Ionosphere Club im
zweiten Stock des Hauptterminals des Washington National Airport,
sondern in obskureren Gefilden. Rod war mehrmals von dem Nachrich-
tensender ABC News angerufen worden. Vielleicht hatte einer der Pro-
122

duzenten von Ted Koppels Magazin Nightline den Hinweis erhalten, dass
Rod mit dem Fall Conrad in Verbindung stehen könnte. Vielleicht lie-
ßen die Redakteure von World News Tonight aber auch einfach nur jour-
nalistische Sorgfalt walten und stellten nach dem im März in der New
York Times erschienenen Artikel über Conrad weitere Recherchen an. Im
allerschlimmsten Fall hat James Bamford begonnen, sich mit dem Fall
Conrad zu beschäftigen. Noch bevor er sein Buch The Puzzle Palace – den
internationalen Bestseller, der die National Security Agency (NSA) bei-
nahe vollständig auseinandergenommen hatte – hatte Bamford von Mit-
arbeitern der nationalen Sicherheitsbehörde immer wieder wichtige In-
formationen zugespielt bekommen. Nun, da er erstens berühmt ist und
zweitens innerhalb der in Washington angesiedelten Abteilung von ABC
News, die sich mit investigativen Recherchen im Bereich der nationalen
Sicherheit beschäftigt, die Karriereleiter emporklettert, überschlagen sich
Angehörige der Sicherheitsdienste förmlich, auf seiner und damit auf der
guten Seite zu stehen. Der Fall Conrad scheint ihnen dazu die beste Ge-
legenheit zu bieten.
Mir ist bewusst, dass die Presse einen Auftrag zu erfüllen hat und dass
Bamford dieser Aufgabe entsprechend handelt. Allerdings habe auch ich
einen Auftrag zu erfüllen, und dieser bereitet mir große Sorgen. Rod ist
ein 27-jähriges Nervenbündel mit einer Mutter, die im Hintergrund in
Habachtstellung lauert. Mir ist daran gelegen, dass er bei der Wiederauf-
nahme unserer Gespräche in entspannter Verfassung ist und nicht bei je-
der meiner Fragen mit der Nummer des von seiner Mutter bestellten An-
walts im Kopf zum Telefon schielt. (Ich verwette meinen letzten Cent,
dass Rod die Rufnummer seines Anwalts jederzeit aus seinem fotografi-
schen Gedächtnis abrufen kann.)
Um mich herum stehen Männer in Anzügen mit gelockerten Krawat-
ten vor den Faxgeräten oder sitzen vor den neuen IBM-PS/2-Computern
des Klubs, die gratis ausgeschenkten Longdrinks neben ihren Ellenbo-
gen. Vielleicht stocken einige dieser reisenden Geschäftsleute und Lobby-
isten gerade ihr Spesenkonto auf oder vergewissern sich ihres Erfolgs, ein
Treffen mit dem Kongressabgeordneten X, dem Senator Y oder gar dem
Sprecher des Repräsentantenhauses Tom Foley persönlich arrangiert zu
haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie aber damit beschäftigt, FD-
302-Formularen vergleichbare Formblätter auszufüllen und abzuschicken.
123

Auch ich trage einen Anzug, doch mein Krawattenknoten hängt nicht
auf Halbmast, und statt eines Jack Daniel’s Ginger steht ein Glas Mine-
ralwasser neben meinem Ellenbogen. Außerdem arbeite ich nicht vor
einem Computerbildschirm, sondern mit einem althergebrachten No-
tizbuch – so, wie es sich für ein Mitglied einer Behörde ziemt, in der Fax-
geräte ein Novum sind und die Computer noch aus prähistorischer Zeit
zu stammen scheinen. Vor mir liegen zwei Stunden Wartezeit – der Flug
nach Tampa um 18:29 Uhr war ausgebucht, und der nächste geht erst um
21:00 Uhr. Eine gute Gelegenheit, das zurückliegende Jahr aufzuarbeiten,
und mir persönlich helfen Papier und Bleistift am besten dabei.

Für die erste Seite wähle ich die Überschrift »FBI-Zentrale/Außenstelle


Washington« (alias Shitstorm-Zentrale). In diesem Abschnitt liste ich all
die Hindernisse, Verschleierungen, Lügen, bürokratischen Hürden und
kleinlichen, belanglosen Einwände auf, durch die unsere Ermittlungen
im Fall Rod Ramsay von Anfang an und vor allem seit dem im letzten
Jahr erteilten Befehl, uns Rod nicht mehr zu nähern und keine Gesprä-
che mehr mit ihm zu führen, torpediert worden sind.
Ein Beispiel: Im Oktober 1988 wurde uns untersagt, in dieser Angele-
genheit direkt mit INSCOM oder der Army Kontakt aufzunehmen. Uns
wurde mitgeteilt, dass jede Kommunikation und jeder Informationsaus-
tausch mit dem Militär von der Washingtoner Außenstelle abgewickelt
werden würde. Für uns bedeutete das, dass die Informationen verspätet
oder gar nicht eintrafen. (Glücklicherweise gelang es uns, diese Maßgabe
teilweise zu umgehen. Erstaunlicherweise zeigte die Army größere Ko-
operationsbereitschaft als die eigenen Kollegen.)
Ein zweites Beispiel: Exakt zu dem Zeitpunkt, als in der FBI-Zentra-
le ein Meeting stattfand, teilten uns seitens der Washingtoner Außenstel-
le Dale Watson, der Leiter der Abteilung für Terrorbekämpfung, und Bill
Bray, der mit der Akte Conrad betraute Agent, in überaus herablassender
Art und Weise mit, dass der Fall für eine kleine Außenstelle wie Tampa
»eine Nummer zu groß« sei. (Die Washingtoner Außenstelle selbst schien
der Fall allerdings als zu geringfügig zu erachten, um ernsthafte Ermitt-
lungen anzustrengen.)
Ein letztes Beispiel: Die FBI-Zentrale und die Washingtoner Außen-
stelle kämpften mit allen Mitteln gegen Lynns Vorhaben, nach Schweden
124

zu reisen, um die Kercsik-Brüder zu befragen, und in Deutschland den


Tatort in Augenschein zu nehmen. Nachdem Lynn schließlich doch die
Erlaubnis erhalten hatte, war es ihr kaum gestattet, Fragen zu stellen, und
jede ernsthafte Ermittlungsarbeit wurde ihr untersagt.
Die Erinnerung an Lynns vereitelte Tatortuntersuchung führte mir
wieder vor Augen, wie unglaublich schlampig die genialen Köpfe der
Washingtoner Außenstelle mit den kriminaltechnischen Details um-
gegangen waren. Es war bekannt, dass höchst geheime Unterlagen aus
dem Hauptquartier der 8. US-Infanteriedivision in die Hände des unga-
rischen Geheimdienstes gelangt waren. Es war bekannt, dass es sich bei
geschmuggelten Unterlagen oft um Kopien der Originaldokumente han-
delt. Es ist bekannt, welche Kopiergeräte Clyde Conrad und Rod Ramsay
in ihrer Funktion als Verwalter der geheimen Unterlagen bei der 8. Infan-
teriedivision am häufigsten benutzten. Es ist bekannt, dass jedes Kopier-
gerät einen einzigartigen Fingerabdruck hinterlässt – in Form von Krat-
zern, Flecken oder anderen Merkmalen, die mit bloßem Auge nicht zu
erkennen sind. Warum also hat die Washingtoner Außenstelle für den
Fall, dass eines der entwendeten Dokumente wieder in den Besitz der
USA fallen sollte, nicht von allen Kopiergeräten, die Conrad und Ramsay
bekanntermaßen verwendeten oder verwendet haben könnten, »Finger-
abdrücke« genommen – oder wie es in der Fachsprache des FBI-Labor
heißt, »Muster gesammelt«? Man muss kein Meisterdetektiv wie Dick
Tracy sein, um auf diese Idee zu kommen.
(Ich merke, dass meine Frustration wächst. Meine Handschrift wird
fahriger, und ich drücke mit dem Bleistift immer fester aufs Papier.)
Mit Blick auf den Tatort selbst  – Bad Kreuznach, das Hauptquartier
der 8. Infanteriedivision, der Bereich der Dokumentensicherung, in dem
Conrad und Ramsay tätig waren, die Verbrennungsanlage, in der die Do-
kumente vernichtet wurden  – würde man davon ausgehen, dass seriö-
se Ermittler, die den Vorgängen auf den Grund gehen wollten, Fotos ge-
macht und Lagepläne angefertigt hätten, nicht nur zum Zwecke weiterer
Untersuchungen, sondern auch zur Vorlage bei Gericht. Das hätte aber
vorausgesetzt, dass man Arbeit leistet, statt auf dem Bürostuhl zu sitzen
und den eigenen Lebenslauf aufzupolieren. Außerdem wurde mitnich-
ten von irgendeiner Seite – von der Washingtoner Außenstelle, der Army
oder den Kollegen in Bonn  – irgendeine Anstrengung unternommen,
125

den Tatort zu sichern, um beispielsweise zu verhindern, dass ein Mitver-


schwörer Conrads bislang unentdeckte Beweisstücke verschwinden lässt.
Es lässt sich nicht anders sagen: Die Vorgehensweise bei diesen Ermitt-
lungen war hundsmiserabel. Punkt.
Auch der bereits erwähnte Artikel, der im März in der New York Times
erschienen war, ist von Belang. Er fasste alle im Fall Conrad bislang ge-
sammelten Erkenntnisse zusammen. Die folgenden beiden Absätze sind
dabei besonders interessant (ich trage den Zeitungsausschnitt in meiner
Brieftasche bei mir, kann ihn aber inzwischen fast auswendig):

Nach Angaben von Vertretern der amerikanischen Behörden und von Sven
Olof Hakansson, dem für die Kercsik-Brüder zuständigen schwedischen
Staatsanwalt, ermittelt das FBI, das gemeinsam mit dem Militär und mit
westdeutschen Beamten die Untersuchungen im Fall Conrad leitete, nun
gegen fünf Armeekollegen von Mr Conrad, von denen angenommen wird,
dass sie ihn unterstützten …
Laut einiger Beamter halfen sie Conrad dabei, die aus den Armeebestän-
den entwendeten Dokumente zu fotokopieren und nach Ungarn zu brin-
gen. Ein Sprecher des FBI ließ wissen, dass die Behörde keinen Kommentar
zu diesen Vorgängen abgeben werde.

Vor allem der letzte Satz ist bemerkenswert: »… dass die Behörde keinen
Kommentar zu diesen Vorgängen abgeben werde«. ›Interessant‹, dachte
ich damals und denke ich heute noch, denn die Times hatte nur auf einem
einzigen Weg alle Details über den Fall erfahren können: Ein Beamter der
FBI-Zentrale oder der Washingtoner Außenstelle musste gegenüber dem
Reporter Jeff Gerth gesungen haben wie ein Kanarienvogel. Wichtiger
noch ist die Tatsache, dass es für diese umfassende Übermittlung von In-
formationen nur einen Grund geben konnte: das Ziel, die laufenden Er-
mittlungen zum Scheitern zu bringen. Von den »fünf Armeekollegen von
Mr Conrad«, die in dem Artikel genannt wurden, war Roderick James
Ramsay der Einzige, der die Ermittlungen in eine neue Richtung führen
lassen konnte. Vermutlich war Ramsay jedoch von dem Artikel so einge-
schüchtert worden, dass er seinen Anwalt angerufen hat und nie wieder
ein Wort mit uns wechseln wird.
Skeptisch? Ja, das bin ich. Und meistens habe ich guten Grund dazu.
126

18.45  UHR. DIE ZEIT VERGEHT NUR LANGSAM. Ich stärke mich
mit einem weiteren Glas Mineralwasser – diesmal mit einer unter dem
Eis versteckten Scheibe Zitrone – und schreibe »UdSSR« als Überschrift
auf die nächste Seite. Die Sowjetunion ist der Abnehmer der von Conrad
(und meiner Meinung nach auch Ramsay) gehandelten Ware. Was aber
hat sich im »Paradies der Werktätigen« getan? Nun ja … viel.
Der Virus, mit dem die Sowjets im November die Computersysteme
des Pentagon, des Forschungszentrums der Strategic Defense Initiative
und mehrerer amerikanischer Universitäten infiziert hatten, übersteigt
meinen Horizont bei Weitem. Bei mir löst das Wort »Virus« immer noch
die Assoziation »Grippe« aus, doch angesichts der engen Vernetzung der
Computer und deren wachsender Bedeutung weltweit haben diese elekt-
ronischen Viren das Potenzial, die Spionageabwehr vor große Herausfor-
derungen zu stellen.
Es hatte noch weitere bestürzende Ereignisse gegeben: Seit die Ermitt-
lungen gegen Ramsay ausgesetzt worden waren, hatte die Sowjetunion
neun Kernwaffentests durchgeführt. Neun! Die Tests hatten größtenteils
im Nordosten Kasachstans stattgefunden  – und einer war nur eine Wo-
che nach Michail Sergejewitsch Gorbatschows Besuch in der Vereinigten
Staaten erfolgt, der unter dem Motto ›Lasst uns doch alle gut miteinander
auskommen‹ gestanden hatte und auf durchweg positive Resonanz gesto-
ßen war. Nuklearwaffen bereiten mir Unbehagen, seit während der Kubak-
rise an unserer Maisonettewohnung in Miami Tag und Nacht Züge voller
Wehrmaterial zum Luftwaffenstützpunkt in Homestead vorbeigerattert wa-
ren. Kernwaffen, die sich im Besitz eines Staates befinden, der kurz vor dem
Kollaps zu stehen scheint, lassen mein Unbehagen zu einem Gefühl der Be-
drohung wachsen – nicht zuletzt, da bei den militärischen Streitkräften die-
ses Staates aufgrund der jüngsten Ereignisse die Anspannung gestiegen ist.
Beispielsweise hat Estland in allen inneren Angelegenheiten seine Un-
abhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. In Jugoslawien fordern Jour-
nalisten mehr Freiheit. In der Tschechoslowakei hat sich die Lage so zu-
gespitzt, dass Václav Havel von sowjetnahen Polizeieinheiten verhaftet
wurde – ein Schriftsteller wohlgemerkt! In Polen ist seit fast fünf Monaten
mit dem Bürgerkomitee des Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarność
die von Lech Walęsa gegründete Partei an der Macht. Vor zwei Wochen
stand – kaum vorstellbar! – anscheinend die Sozialistische Einheitspartei
127

Deutschlands kurz vor dem Aus, und vergangene Woche ließ die Nach-
richt, dass Ungarn seine Unabhängigkeit erklärte, bei den Mitgliedern des
sowjetischen Politbüros mit Sicherheit den Blutdruck nach oben schnellen.
Die Politologen, mit denen ich gesprochen habe, gehen mehrheitlich
davon aus, dass die Mitgliedsstaaten der NATO diese Unruhen aussitzen
können, solange die in Westdeutschland positionierten Pershing-II-Ra-
keten Moskau ausreichend Abschreckung bieten. Nichtsdestotrotz nei-
gen unter Druck gesetzte Mächte dazu, bis zum Äußersten zu gehen, und
die Kommissare im Kreml wären nicht die ersten Despoten, die im Ver-
such, ihre eigene Haut zu retten, einen Krieg anzetteln würden  – zum
Beispiel, indem sie Tausend Panzer durch die Lücke von Fulda rattern
lassen. Oder sich noch Schlimmeres ausdenken.

WÄHREND ICH AUF MEINEN NOTIZBLOCK STARRE, versuche ich,


mich mit optimistischeren Gedanken aufzuheitern. Bei meinem heuti-
gen Besuch in der FBI-Zentrale hatte man sich dort ein wenig koope-
rativer gezeigt, und auch das Justizministerium scheint dem Fall inzwi-
schen ein wenig Interesse entgegenzubringen. Anfang Oktober hatten die
deutschen Behörden darum gebeten, Lynns und meine FD-302-Formu-
lare im Fall Conrad als Beweismaterial verwenden zu dürfen. Diese Tat-
sache stärkte meine Arbeitsmoral beträchtlich.
Die erfreulichste Entwicklung ist, dass ich nicht nur die Erlaubnis
habe, wieder mit Rod Ramsay sprechen zu dürfen, sondern dass es uns
tatsächlich gelungen ist, ihn ausfindig zu machen. Angesichts der Tatsa-
che, dass der Fall so lange auf Eis gelegen hatte, war das weiß Gott nicht
einfach. Wir können eine Person nicht ständig im Auge behalten, nur
weil wir davon ausgehen, sie vielleicht irgendwann einmal verhaften zu
wollen. Unter John Edgar Hoover wurden solche Manöver noch gedul-
det, doch diese Zeiten sind längst vorbei. Außerdem erfordert eine stän-
dige Überwachung Kompetenz und Geschicklichkeit. Man kann sie nicht
von Amateuren durchführen lassen, die die Zielperson immer wieder aus
den Augen verlieren oder bei der Verfolgung so plump und offensichtlich
vorgehen, dass der Gesuchte möglichst schnell untertaucht.
Am Anfang unserer Suche nach Rod standen wiederholte Anrufe wäh-
rend der einzelnen Schichten im Restaurant Bob Evans am U. S. High-
way 60, Rods uns zuletzt bekanntem Arbeitsplatz. Jedes Mal bekamen
128

wir eine andere Geschichte zu hören: Rods Mutter sei krank, sein Auto
müsse aus der Werkstatt abgeholt werden etc. Rod war niemals vor Ort,
und wir hatten den Eindruck, dass die meisten, mit denen wir sprachen,
nie von ihm gehört hatten. Deshalb suchte einer unserer jüngsten Agen-
ten das Restaurant auf und gab vor, ein Freund von Rod zu sein, der nach
langer Zeit wieder Kontakt zu ihm suchte. Dadurch erhielten wir die In-
formation, dass Rod seine Stelle in dem Restaurant schon vor Monaten
gekündigt hatte und nun vermutlich im 140 Kilometer nordöstlich gele-
genen Orlando als Taxifahrer arbeitete.
Mit dieser rudimentären Kenntnis ausgestattet, besuchte ich Rods
Mutter Dorothy. Ich bin froh, diesen Schritt unternommen zu haben.
Auch Rods Mutter hatte Anrufe von ABC News erhalten und befürchtete
nun, dass Rod aufgrund der Tatsache, dass sein Name in Verbindung mit
dem Fall Conrad genannt worden war, in Gefahr sein könnte.
»Rod war diesem Einsatzbereich zugeteilt worden, Mr Navarro«, be-
tonte sie mir gegenüber. »Er hat ihn sich nicht ausgesucht. Man kann
doch nicht für schuldig erklärt werden, nur weil man seinen Arbeitsplatz
mit einem Verbrecher geteilt hat.«
Ich mochte Dorothy sofort. Sie war temperamentvoll und besaß offen-
sichtlich ein großes Herz. Sie erinnerte mich an die Bibliothekarin an mei-
ner Junior Highschool, die uns zappeligen Siebt- und Achtklässlern stets
ein Lächeln schenkte und uns unser Fehlverhalten immer wieder nachsah.
Es war ein grauer Nachmittag. Peitschender Regen war von der Golf-
küste landeinwärts gezogen und tropfte durch ein Loch im Metalldach in
Dorothys Wohnwagen. Ein in der Küche stehender Plastikeimer füllte sich
langsam mit Wasser. Das permanente Tropfen untermalte den Imbiss mit
Tee und Plätzchen, zu dem Dorothy mich nachdrücklich eingeladen hatte.
»Rod hat zwar keinen Kontakt mehr zu seinem Vater und seinem Bru-
der, doch die drei sind sich sehr ähnlich«, erzählte sie mir. »Sie alle sind
äußerst kluge Köpfe. Leider zerbrach unsere Familie, als Rod noch zur
Highschool ging. Rods Vater seilte sich ab, und auch Stewart ging sei-
nes Weges. Rod und ich blieben übrig.« Ihr Gesichtsausdruck verriet, wie
sehr sie sich eine andere Entwicklung gewünscht hätte.
»Rod entdeckte schließlich die Army für sich«, fuhr Dorothy fort. »Ich
dachte, er würde dort zur Ruhe kommen, aber … ach, das Marihuana. Er
gerät immer wieder in Schwierigkeiten.«
129

›Vielleicht in größere Schwierigkeiten, als Sie es sich vorzustellen ver-


mögen‹, dachte ich, aber so etwas kann man kaum zu einer Mutter sagen.
»Vielleicht kommt er jetzt zur Ruhe«, erwidere ich. »Manche brauchen
einfach ein wenig länger, bis sie ihren Platz im Leben finden.«
»Vielleicht«, pflichtet Dorothy mir bei, doch in ihrer Stimme schwingt
kaum Hoffnung mit.
Unser Gespräch dauerte noch etwa 20 Minuten an – ein Moment der
Ruhe an meinem wie gewohnt hektischen Tag. Am Schluss bestätigte Do-
rothy, dass Rod in den Großraum Orlando gezogen und dort als Taxifah-
rer tätig sei. Seine Adresse und das Unternehmen, für das er arbeitete,
kannte allerdings auch sie nicht.
»Wissen Sie«, sagte Dorothy, während ich mich darauf vorbereitete,
durch den Regen zu meinem Auto zu spurten, »Rod ist ein Wandervogel.
Er bleibt nie lange an einem Ort.«
Dorothy ist zweifellos nett. Sie kämpft sich tapfer durch widrige Le-
bensumstände und unterstützt uns bereitwillig. Dennoch stellte uns die
Tatsache, dass von Rod lediglich bekannt war, dass er irgendwo in Zen-
tralflorida als Taxifahrer unterwegs war, damals vor eine große Heraus-
forderung. Da in Orlando Disney World, Epcot und viele weitere touris-
tische Attraktionen angesiedelt sind, verfügt die Stadt vermutlich über
die größte Anzahl an Taxiunternehmen in den Vereinigten Staaten. Die
immense Bandbreite an potenziellen Arbeitgebern zwang uns dazu,
ein Dutzend verdeckte Ermittler einzusetzen. Kurz bevor uns die jun-
gen Agenten, die wir für eine glaubhafte Tarnung benötigten, ausgingen,
konnte ein von uns zufällig beim richtigen Unternehmen eingeschleus-
ter Mitarbeiter Rod identifizieren, als dieser morgens seinen Wagen ab-
holte.
Dennoch müssen wir nach wie vor vorsichtig zu Werke gehen. Es ist
bekannt, dass ABC News Recherchen über Rod anstellt. Niemand kann
einschätzen, wie Rod reagiert, sollte er merken, dass sowohl die nationale
Presse als auch das FBI hinter ihm her sind. Rod ist der Typ Mensch, dem
die üblichen Hemmungen fehlen.

AM 26.  SEPTEMBER, etwa einen Monat vor meiner Reise nach Wa-
shington, DC, traf ich Rod nach der erzwungenen, ein Jahr währenden
Unterbrechung erstmals wieder. Rod war in desolatem Zustand.
130

Meine Erwartungen an unser Zusammentreffen waren ohnehin nicht


hochgesteckt. Es ging mir lediglich darum, den Kontakt wiederherzustel-
len, während wir eine Hilfsmannschaft zusammenstellten, die den Be-
dürfnissen aller am Fall interessierten Behörden  – vom Nationalen Si-
cherheitsrat bis zum Justizministerium  – gerecht werden würde. Eine
ernsthafte Befragung sollte erst später stattfinden.
Als ich Rod bei dem Taxiunternehmen ans Telefon bekam, ließ er mich
wissen, dass er nicht offen sprechen könne, signalisierte mir aber, dass er
zusammen mit einer Frau in einem Wohnmobil lebe, mit ihr aber nicht
glücklich sei. Laut Rod hatte die Frau einen weiteren Geliebten, der Rod
bei seinen regelmäßigen Besuchen vor die Tür setzte. Rod schlief in jenen
Nächten in seinem Auto. Was für ein Leben!
Wir vereinbarten, uns um 19:30 Uhr in der Lobby eines Hotels in Kis-
simmee nahe Disney World zu treffen. Ich traf vor der vereinbarten Zeit
ein und beobachtete vom oberen Stockwerk aus, wie Rod das Hotel be-
trat, ohne von ihm gesehen zu werden. Nachdem ich sichergestellt hatte,
dass Rod nichts in den Händen trug, womit er einen Schusswechsel aus-
lösen könnte, näherte ich mich ihm von hinten und überraschte ihn. Be-
reits von hinten konnte ich erkennen, dass er ungepflegt aussah, doch als
er sich umdrehte, war ich schockiert. Er war noch hagerer, da er stark ab-
genommen hatte, und es war offensichtlich, dass er seit Tagen kein Bade-
zimmer gesehen hatte. Nachdem wir uns zur Begrüßung die Hand gege-
ben hatten, zog er sofort einen Kamm aus der Tasche und versuchte, sein
fettiges Haar in Ordnung zu bringen.
›Der Kerl steht völlig unter Strom‹, dachte ich. ›Entweder explodiert
er gleich, oder er bricht zusammen.‹ Doch in welcher Richtung das Pen-
del auch ausschlagen würde, ich würde selbstverständlich gerne den Arzt,
Krankenpfleger, Seelenklempner oder Beichtvater spielen, sollte sich Rod
als so gewinnbringend für uns erweisen, wie ich vermutete.

LÄSST SICH DIESE ENTWICKLUNG als Fortschritt bezeichnen? Im


Großen und Ganzen ja. In der Zentrale schien man weniger Antipathi-
en gegen mich zu hegen, als ich befürchtet hatte. Der Zugang zu Ramsay
war wieder möglich geworden. Würde ich nicht verdeckt eine Waffe tra-
gen, würde ich mir einen Cuba Libre bestellen. Stattdessen ordere ich
wieder Mineralwasser, diesmal mit Angosturabitter. Während der Bar-
131

keeper auf mich zusteuert, wird auf dem Fernsehbildschirm hinter ihm
gerade die Sendung World News Tonight der ABC ausgestrahlt … und der
Sturm setzt erneut ein. Clyde Lee Conrad ist Thema der Hauptnachricht
des Abends. »Verdammt«, sage ich so laut, dass die drei Männer, die in
meiner Nähe sitzen, es hören können.
»ABC hat mit Ermittlern gesprochen, die Ermittlungsakten eingesehen
und mit geständigen Mitgliedern des vermuteten Spionagerings gespro-
chen haben«, heißt es am Anfang der Sendung. »Unser Korrespondent
für nationale Sicherheit, John McWethy, kennt die ganze Geschichte.«
McWethy kennt in der Tat die ganze Geschichte, jedes Detail. Er be-
richtet von Zoltan Szabo, den Ungarn und den von Clyde Conrad mit
geheimen Dokumenten vollgepackten Koffern, die »alles enthielten au-
ßer den ›Go-Codes‹, den chiffrierten Kurznachrichten, mittels deren der
Einsatz von Kernwaffen befohlen werden kann«. Er zitiert dabei eine
Person, die ihre Beteiligung an dem Spionagering eingestanden hat. Es
werden sogar kurze Interviews mit Conrads Frau Annja und deren Sohn
ausgestrahlt. Doch vor allem das Ende des Beitrags verschlägt mir den
Atem:

Conrad war der Einzige, der an jenem Tag in Westdeutschland verhaftet


wurde. Seither fanden von amerikanischer Seite aus umfangreiche Ermitt-
lungen statt. Es handelt sich um die größte Untersuchung im Bereich der
Spionage, die das FBI jemals durchgeführt hat. Quellen zufolge gehörten
dem Spionagering zahlreiche weitere Personen an. Was mit Szabo 1967 be-
gann und Mitte der 1970er-Jahre zu einer Gruppierung um Clyde Conrad
angewachsen war, könnte sich mit einer völlig neuen Gruppe von Mitglie-
dern – einer dritten Generation des Spionagerings –, die von Conrad Mitte
der 1980er-Jahre rekrutiert worden waren, fortgesetzt haben.
Regierungsquellen geben an, dass das FBI aktuell mehr als zwölf Ver-
dächtige verfolgt. ABC News konnte in Erfahrung bringen, dass eine der
von Conrad angeworbenen Personen nach ihrer Rückkehr in die Vereinig-
ten Staaten weiterhin für Conrad tätig war und über eine Briefkastenfirma
in Kanada Hunderttausende hoch entwickelte Computerchips in den Ost-
block exportierte. Der Mann, dessen Namen wir auf seinen Wunsch hin
nicht nennen möchten, gab an, von Conrad für die Anschaffung des Mate-
rials bezahlt worden zu sein.
132

Irgendeine Vermutung, wer diese von Conrad angeworbene Person sein


könnte? Ich gehe davon aus, dass es sich dabei um einen schlaksigen Kerl
handelt, der Recht nicht von Unrecht unterscheiden kann und bald vor
Angst zittern wird. (Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit dieser An-
nahme richtigliege, da mir Rods Mutter erzählt hatte, dass die Reporter
von ABC bei Rod explizit das Thema Computerchips angesprochen hat-
ten.)
Irgendeine Vermutung, wer John McWethy all diese Informationen
zugespielt hat? Wahrscheinlich steckt dahinter dieselbe Person, die vor
über sieben Monaten Jeff Gerth von der Times ins Bild gesetzt hat, und
wenn ich nicht völlig falschliege, gehört sie jenem Kreis von Kollegen
an, mit denen ich mich heute getroffen habe. Jemand muss das gesam-
te vierstündige Meeting hindurch gewusst haben, dass, auch wenn wir
glaubten, in der FBI-Zentrale Fortschritte zu machen, unser Ermittlungs-
verfahren noch am selben Tag durch die Ausstrahlung von World News
Tonight torpediert werden würde.
Verurteilten wird ein letzter Anruf gestattet. Also wähle ich, nachdem
ich mein inzwischen abgestandenes Mineralwasser ausgetrunken habe,
Jay Koerners Nummer: »Jay«, frage ich, »wer arbeitet in der Zentrale für
die Kommunisten?«
Beim FBI kursiert ein Sprichwort, das nach Ansicht vieler der in den
Außenstellen tätigen Agenten ihr Verhältnis zur Zentrale hervorragend
beschreibt: »Nur die kleinen Fische werden gefressen, die Haie nicht.«
9
PARTNERSUCHE

Wie bereits erwähnt, hatte sich Lynn in der Zeit, in denen unsere Un-
tersuchungen von der FBI-Zentrale auf Eis gelegt worden waren, einen
Bräutigam geangelt. Ironischerweise hatte sie den INSCOM-Agenten ih-
rer Träume kennengelernt, als sie in Deutschland bei den Ermittlungen
im Fall Ramsay gegen Wände lief. Schön für sie und schlecht für mich,
denn nun muss ich einen neuen Partner finden.
Dafür kommt keinesfalls irgendwer infrage. Es muss jemand sein, der
intelligent ist, hart arbeitet und mir den Rücken frei hält. Wenn ich mit
der falschen Person zusammengewürfelt werde, werden wir beide un-
glücklich. Ich spreche aus Erfahrung.
In meiner Anfangszeit war ich in der Außenstelle in Yuma einem Kolle-
gen zugeteilt worden, den ich Frank nenne. Der erste Kommentar, den ich
von ihm hörte, als wir uns zur Begrüßung die Hände schüttelten, lautete:
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Hispano.« »Und Sie haben keine Ähnlich-
keit mit Efrem Zimbalist Jr.«, erwiderte ich. Von da an ging es stetig bergab.
134

Frank war ein Chaot, besorgniserregend dick – das genaue Gegenteil des
eleganten, schlanken Efrem Zimbalist, der in der Fernsehserie FBI zu se-
hen war – und besaß in etwa so viel Persönlichkeit wie ein Leguan. Er war
kleinlich, pedantisch, paranoid, argwöhnisch und permanent unglücklich.
Er stand jedem Menschen ablehnend gegenüber und verabscheute die Me-
xikaner und amerikanischen Ureinwohner, die in den umliegenden Reser-
vaten lebten – also fast alle, mit denen wir täglich zu tun hatten.
Ich schwor mir damals, nie wieder mit einem Menschen wie Frank zu-
sammenzuarbeiten. Bisher hatte ich Glück, doch die Auswahl an Agenten
in der Außenstelle in Tampa ist gering, und ich hoffe darauf, dass die Un-
tersuchungen im Fall Ramsay bald volle Fahrt aufnehmen werden.
»Wie wäre es mit Terry Moody?«, schlägt Koerner vor. Wir sitzen am
späten Vormittag in seinem Büro zusammen, und er bemüht sich, mich
aufzumuntern. Er weiß, dass ich wegen der vor zwei Tagen von der ABC
ausgestrahlten Sendung immer noch wütend bin. Terry Moody ist ge-
wissermaßen der Knochen, mit dem er den knurrenden Hund besänfti-
gen will.
Koerner weiß, dass ich Terry Moody mag. Terry ist der Neuzugang in
unserer Spezialeinheit. Vor zwei Monaten erst habe ich ihm beigebracht,
wie man sich an einem elf Millimeter dünnen Seil von einem 13 Meter
hohen Turm herablässt. Terry hat eine schnelle Auffassungsgabe, er ist
tough und hat Humor. Es gibt nur ein Problem.
»Ich brauche eine Partnerin, Jay.«
Koerner schüttelt den Kopf.
»Komm schon, Jay! Rod hat Lynn geliebt. Er hat ihr aus der Hand ge-
fressen. Ich weiß nicht, ob er einen Mutter- oder Schwesterkomplex hat
oder einfach nur auf alle Mädels scharf ist, aber ich brauche eine Partne-
rin – der Fall fordert eine Partnerin.«
»Das weiß ich, Navarro.« Koerner hat aufgehört, den Kopf zu schüt-
teln, und lächelt mich an, als würde er einen Fünfjährigen beschwören,
ein Rätsel zu lösen. Plötzlich dämmert es mir: »Ach so! Mrs Moody?«
»Genau die.«
In unserer Außenstelle gibt es zwei Mitarbeiter mit dem Namen Moo-
dy: Terry Moody und dessen Frau Terry Moody. Die Wahrscheinlichkeit,
zwei Kollegen mit übereinstimmendem Vor- und Nachnamen zu haben,
geht wahrscheinlich gegen null, aber bei uns ist das so. Terry Halverson
135

war bereits Agentin des FBI, als sie ihren Kollegen Terry Moody heira-
tete. Deshalb arbeiten bei uns nun zwei Personen, die die offizielle Be-
zeichnung Agent Terry Moody tragen. Um die beiden auseinanderzuhal-
ten, bezeichnen wir die ehemalige Miss Halverson als Mrs Moody und
ihren Gatten als Mr Moody. Koerner hatte mir also eine Falle gestellt, als
er schlicht von »Terry Moody« gesprochen hatte, und ich war prompt auf
seinen Trick hereingefallen. Nun liegt es an mir, mich möglich elegant
aus der Bredouille zu ziehen.
»Um Himmels willen, Koerner, Mrs Moody hat noch nie im Bereich
der Spionageabwehr gearbeitet. Noch kein einziges Mal. Sie war bisher
nur mit Kriminalfällen betraut. Das ist nicht dasselbe, das weißt du ge-
nau. Ich möchte nicht noch einen Agenten ausbilden  – dazu habe ich
wirklich keine Zeit.«
Noch während ich gegen eine Zusammenarbeit mit Mrs Moody ar-
gumentiere, kommt mir der Gedanke, dass die Idee vielleicht doch nicht
schlecht ist. Terry ist groß und, ehrlich gesagt, sehr hübsch. Die Befra-
gungen mit Lynn haben gezeigt, dass die Optik einen Gutteil dazu bei-
trägt, Rod Ramsay gesprächig zu machen. Terry hat ein entwaffnendes
Lächeln. Sie ist bodenständig, und man kann wunderbar mit ihr auskom-
men. Sollten sich die Ermittlungen in die von mir gewünschte Richtung
entwickeln, werden wir buchstäblich Hunderte, wenn nicht Tausende
Stunden zusammen verbringen. Wir werden Befragungen durchfüh-
ren, die sich leicht über einen halben Tag erstrecken können. An die Be-
fragungen schließen sich Analysen  – und eine endlose Reihe von FD-
302-Formularen  – an. Unter solchen Umständen können sich kleine
Reibereien zwischen Partnern schnell zu Zerwürfnissen oder gar offener
Feindschaft entwickeln.
In dieser Hinsicht wird eine Zusammenarbeit mit ihr für mich mit Si-
cherheit angenehm sein. Eine Partnerschaft beruht jedoch auf Gegensei-
tigkeit, und mir ist zu Ohren gekommen, dass ich auf Mrs Moodys Liste
ihrer Lieblingskollegen nicht besonders weit oben stehe – vielleicht weil
ich ein bisschen, nun ja, übereifrig bin. Terry wirkt deutlich entspann-
ter – bei Gott nicht faul, aber zwischendurch durchaus dazu geneigt, die
schönen Seiten des Lebens zu genießen.
»Also?« Koerner hält den Telefonhörer in der Hand, und ich merke ihm
an, dass er nur darauf wartet, die Nummer von Mrs Moody zu wählen.
136

»Nun ja«, erwidere ich, »wir haben bereits zusammengearbeitet – bei


einer telefonischen Überwachung, als das Personal knapp war.«
»Und?«
»Sie war gut, sehr gut sogar. Klug. Aber es ging dabei um Überwa-
chung und Drogen, nicht um Spionageabwehr. Außerdem …«
»Ja, bitte, Navarro, was noch?«
»Außerdem …«, ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her,
»sind wir vielleicht vom Charakter her nicht unbedingt kompatibel.«
»Ja, sie ist nett«, entgegnet Koerner, während er Mrs Moodys Durch-
wahl eintippt. »Und nun geh mir aus den Augen.«
»Ja, Chef! Aber …
»Aber, aber, aber. Bei dir kommt immer noch etwas nach, Navarro.
Aber was?«
»Aber lass mich wissen, was sie gesagt hat.«
Doch Koerner spricht bereits mit Mrs Moody.

WÄHREND ICH AUF NACHRICHT von Koerner bezüglich meiner


neuen Partnerin warte, versuche ich, mit minimalem Budget ein Über-
wachungsteam zusammenzustellen. Rod nach einem Jahr in der Wüs-
te aufzuspüren war schwierig gewesen. Die Aufgabe, ihn nun, da wir ihn
ausfindig gemacht haben, im Auge zu behalten, ist noch komplizierter.
Rod fährt nun statt seines eigenen Wagens ein Taxi. Er holt jeden Tag
ein Fahrzeug ab, von dem man nicht weiß, ob er es vorher schon einmal
benutzt hat, und sitzt mindestens zwölf Stunden hinter dem Steuer. Die
meiste Zeit über reiht er sich in die lange Warteschlange der Taxis am Or-
lando International Airport ein und nimmt, wenn er sich bis nach vor-
ne gearbeitet hat, den Passagier auf, der in diesem Moment am Bordstein
steht. Dann steuert er ein Ziel an, das der Kunde im Fond des Wagens
nennt – mit einem gelben Taxi, das, ob von der Luft oder vom Boden aus
betrachtet, geschätzten 2000 anderen gelben Taxis gleicht, die im Groß-
raum Orlando unterwegs sind.
Wir können sein Taxi nicht mit einer Wanze ausstatten, da wir nie wis-
sen, welchen Wagen er zugeteilt bekommt. Wir können auch nicht da-
für sorgen, dass alle von ihm beförderten Passagiere verdeckt ermittelnde
Agenten sind. Viel zu viele Arbeitsstunden würden damit verschwendet,
am Taxistand des Flughafens in Warteposition zu stehen, und die für die
137

Fahrten zu begleichenden Kosten wären viel zu hoch. Außerdem wäre es


unmöglich sicherzustellen, dass stets ein Agent an der Reihe ist, das Taxi
zu besteigen, wenn Rod schließlich mit seinem Wagen vorfährt. (Das
ganze System würde ja schon durcheinandergeraten, wenn ein Agent im
falschen Moment zur Toilette muss.) Es handelt sich hier nicht um eine
Überwachung, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Dies ist die Rea-
lität, und man muss ständig auf Zack bleiben, denn eine Überwachung
fliegt schnell auf, wenn die Zielperson weiß, was sie tut.
Außerdem steht bei dieser Überwachung besonders viel auf dem Spiel:
Zum einen ist, zwei Tage nachdem ich am National Airport in Washing-
ton, DC, die jüngsten Ereignisse niedergeschrieben habe, die Welt nicht
sicherer geworden. Irgendwann wird sich das KGB den ständigen Ru-
fen nach Freiheit widersetzen, und keiner weiß, was dann nicht nur hin-
ter dem Eisernen Vorhang passieren wird. Zum Zweiten wird Rod seit
der Ausstrahlung der Nachrichtensendung über Clyde Conrad perma-
nent von ABC News belästigt – oder würde permanent von ABC News
belästigt werden, wäre dem Sender sein Aufenthaltsort bekannt. Stattdes-
sen behelligen die Journalisten Dorothy unaufhörlich mit der Suche nach
ihrem Sohn, und Dorothy fällt mir in dem Maße zu Last, wie es eine im
Grunde anständige und freundliche Dame mittleren Alters vor sich selbst
vertreten kann. Des Weiteren kann ich zwar nicht einschätzen, welche
Geheimnisse Rod zu verraten hat, bin mir aber der Gefahr bewusst, dass
wir diese niemals erfahren werden, sollte er sich bedrängt fühlen und
sich aus dem Staub machen.
Jedem in der Spionageabwehr tätigen Agenten des FBI sollte sich die
Geschichte um Edward Lee Howard, die sich vor ein paar Jahren ereigne-
te, als mahnendes Beispiel eingeprägt haben: Howard stand bereits unter
Verdacht, geheime Informationen an die Sowjets weiterzuleiten, als Vita-
ly Yurchenko die amerikanische Botschaft in Rom betrat, sich in die Ver-
einigten Staaten absetzte und Ronald Pelton und Howard als KGB-Agen-
ten enttarnte. Als Yurchenko im November 1985 zurück nach Russland
verschwand, herrschte kurzfristig Verwirrung: War er ein Doppelagent
gewesen? War er nun zum Doppel-Doppelagenten geworden? Die Be-
weislast gegen Howard wog dennoch so schwer, dass das FBI die Geneh-
migung erhielt, dessen Telefon in Santa Fe, New Mexico, anzuzapfen und
es rund um die Uhr zu überwachen.
138

Die Überwachung war auch im September 1985 aktiv, als Howard mit
seiner Frau Mary von einem Abendessen zurückkehrte. Während seine
Frau vor einer Kurve das Tempo verlangsamte, sprang Howard aus dem
Auto und ließ auf dem Beifahrersitz eine mit einer alten Perücke drapier-
te Puppe zurück, um die Agenten, die sie verfolgten, zu täuschen. Um
auch die Telefonüberwachung hinters Licht zu führen, wählte Mary, zu-
rück im Haus, eine mit einem Anrufbeantworter verbundene Rufnum-
mer und spielte ein Tonband ab, das ihr Mann vorher aufgenommen hat-
te. Ehe man es sich versah, klopfte Howard, sämtliche Geheimnisse bei
sich tragend, an die Tür der russischen Botschaft in Helsinki.
Wenn wir mit unserer Überwachung scheitern, wenn wir zu weit ge-
hen und Rod zu sehr einschüchtern, werden wir am Ende ebenfalls mit
leeren Händen dastehen – und die meiner Ansicht nach in diesem Fall
noch wesentlich wichtigeren Geheimnisse werden nie enthüllt werden.
Diese Sorge hat mich in den vergangenen Nächten ebenso um den Schlaf
gebracht wie das Fernschreiben, in dem die FBI-Zentrale uns wissen ließ,
dass die schwedischen, die deutschen und die österreichischen Behör-
den verärgert seien, da sie angesichts der Vorgänge in Washington in ein
schlechtes Licht gerückt würden, und das Durchsickern der Nachrichten
an die Presse missbilligten. Missbilligen? Uns ergeht es weiß Gott nicht
besser: Unsere mit dem Ziel einer Anklage vor Gericht durchgeführten
Ermittlungen werden andauernd durchkreuzt!
Aber eines nach dem anderen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Rod un-
tertaucht, ist geringer, wenn es uns gelingt, ein bisschen mehr Stabilität in
sein Leben zu bringen. Und da ich noch immer keinen neuen Partner be-
sitze, bedeutet ›uns‹ in diesem Fall ›ich‹.
Ich habe Rod heute Morgen in dem Büro, in dem er die Autoschlüssel
abholt, telefonisch erreicht und mit ihm ein Treffen nach Ende seiner Ar-
beitsschicht vereinbart. Mrs Moody und Koerner sind hinter verschlosse-
nen Türen so ins Gespräch vertieft, dass sich keiner von ihnen die Mühe
macht aufzusehen, als ich an Koerners Bürofenster klopfe, um zu signali-
sieren, dass ich mich auf den Weg mache.

ERSCHRECKENDERWEISE ist Rods Leben noch mehr aus den Fugen


geraten, als ich vermutet hatte. Nach wie vor wirft ihn seine ›Lebensge-
fährtin‹ in regelmäßigen Abständen aus dem Wohnmobil, um mit ihrem
139

Lover Schäferstündchen zu verbringen. Außerdem wird er, so erfahre ich,


bei der Arbeit betrogen: Er muss dafür jeden Tag 75 Dollar an das Un-
ternehmen abtreten – unabhängig davon, wie viel er tatsächlich verdient.
Manchmal, so erzählt er, macht er gerade noch Gewinn. Manchmal
schreibt er aber auch Verluste und muss den Betrag aus eigener Tasche
zahlen. Nur selten passiert es, dass die Touristen, die er zum Orlando In-
ternational Airport bringt, so großzügig Trinkgeld geben, dass er tatsäch-
lich eine akzeptable Summe verdient.
Bilder von in erbärmlichen Lebensumständen gefangenen Pachtbau-
ern in den Südstaaten schießen mir durch den Kopf, während ich Rod
zuhöre. Kein Wunder, dass Rod, der ohnehin nicht zu den Ruhigsten
zählt, äußerst nervös wirkt. Einen Moment lang frage ich mich, ob er auf
Speed ist. Eine Ader in seiner rechten Schläfe pulsiert wie ein Stroboskop.
Letztlich gelange ich aber zu der Überzeugung, dass diese Erscheinungen
Auswirkungen dessen sind, was Rod in jüngster Zeit passiert ist.
Ich erfahre all diese Neuigkeiten, während Rod und ich auf dem Park-
platz eines Supermarkts nahe dem Campingplatz, den Rod nun sein Zu-
hause nennt, gegen mein Auto gelehnt, Doritos mit French Dressing es-
sen und Dosenbier trinken. Das klingt nach einem schäbigen Ambiente?
Ist es auch. Gleichzeitig aber ist es der perfekte Schauplatz für mein heu-
tiges Vorhaben.
Ich beabsichtige nicht, Rod einer Befragung zu unterziehen. Das ist gar
nicht möglich. Bei Befragungen muss man nuanciert vorgehen und vor-
ab viel Zeit in die Planung investieren. Außerdem erleichtert in Rods Fall
die Anwesenheit einer weiblichen Person das Verfahren beträchtlich. Der
heutige Abend dient einer Veranstaltung, die wesentlich simpler gestrickt
und dringend notwendig ist: einem klassischen Gespräch von Mann zu
Mann unter freiem Himmel  – schlicht, einfach und schnörkellos. Nir-
gendwo kommt das Befinden eines Menschen stärker zum Vorschein als
auf dem Parkplatz eines Minimarktes am Rand der Zivilisation nach Ein-
bruch der Dämmerung. Hier draußen hat jeder eine Geschichte zu er-
zählen, und eine Geschichte ist trauriger als die andere. Während Rod
mir seine Probleme aufzählt, verweise ich auf die an uns vorbeiziehende
Prozession von Menschen, denen es ohne Zweifel noch schlechter geht –
sie gehen gebeugt, sind ausgemergelt oder versehrt. Ein Passant hat ein
verstümmeltes Bein, als wäre der Mann in eine Dreschmaschine geraten.
140

Ein niederträchtiger Schachzug? Mit Sicherheit. Und berechnend. Ich


möchte Rod vor Augen führen, was ihn möglicherweise erwartet, wenn
er sich nicht am Riemen reißt. Außerdem möchte ich natürlich bei dieser
Schicksalswende eine tragende Rolle spielen. Mein Handeln ist aber nicht
nur kaltblütig – Rod strahlt ein gewisses Verlangen nach Hilfe aus. Wie
bereits erwähnt, kann Rod auf nahezu kindliche Weise einnehmend sein.
Als ich ihn frage, ob er Lust hätte, sich morgen bei einem Abendessen
im Embassy Suites Hotel am International Drive erneut mit mir zu tref-
fen, sehe ich zum ersten Mal an diesem Abend so etwas wie ein Lächeln
über sein Gesicht huschen. Ich weiß nicht, wann Rod zuletzt eine anstän-
dige Mahlzeit eingenommen hat. Als ich ihm (daumendrückend) erzäh-
le, dass uns meine neue Kollegin begleiten wird, wird Rods Lächeln zum
Grinsen.
»Ist sie nett?«, erkundigt er sich.
»Sie ist nett«, bestätige ich, »und hübsch.«
Rods Grinsen wird schäbig.
»Rod«, ermahne ich ihn, während ich in mein Auto steige, »sie ist eine
Dame – wie Lynn. Putz dich ein wenig für sie heraus, okay?«
»Okay«, erwidert er. »Auf jeden Fall okay.«

ROD HÄLT WORT. Ich weiß nicht, wo er Gelegenheit zum Duschen ge-
funden hat, doch er sieht am nächsten Abend einigermaßen vorzeigbar
aus. Auch ich löse mein Versprechen ein – zumindest teilweise. Wir neh-
men ein üppiges Abendessen zu uns – Steak, Ofenkartoffeln, Salat. Rod
schlingt seine Portion zum größten Teil, ohne zu kauen, hinunter, wäh-
rend ich ihn mit einer Mischung aus väterlichem Rat (›Wehre dich gegen
den Kerl, der es mit deiner Freundin treibt, und wirf ihn aus dem Wohn-
mobil hinaus‹) und mütterlicher Fürsorge (›Putz dir zweimal täglich die
Zähne, achte auf deine Ernährung, mach den Abwasch nicht nur dann,
wenn ich dich besuchen komme‹) versorge. Den wichtigsten Teil mei-
nes Versprechens kann ich jedoch nicht einlösen. Ja, ich habe inzwischen
eine neue Partnerin – Mrs Moddy –, und sie sieht fantastisch aus. Heu-
te Abend kann sie aber nicht hier sein. Sie ist mit einem anderen Fall be-
schäftigt. De facto ist es vermutlich von Vorteil, dass Terry und ich diesen
Abend nicht zusammen verbringen. Das verschafft uns die Möglichkeit,
die bisher gemeinsam verbrachte Zeit zu verarbeiten.
141

MIT DEM SCHREIBEN, das uns von den österreichischen Behörden


anlässlich der Berichterstattung von ABC News zugestellt wurde, hatte
der heutige Tag denkbar schlecht begonnen. In ihrer Nachricht am Vor-
tag hatten sich die Österreicher lediglich verärgert gezeigt, heute kom-
munizierten sie jedoch regelrechten Zorn: Nachdem es ihnen gelun-
gen war, mit Zoltan Szabo Kontakt aufzunehmen, teilte dieser ihnen
mit, dass er dem FBI nicht länger traue und nichts mehr mit uns zu
tun haben wolle. Wirklich? Nur weil irgendjemand die ganze Geschich-
te den Medien zugespielt hatte? Merkwürdig, merkwürdig. Dennoch
bereitet mir diese Nachricht große Sorgen, da ich im weiteren Verlauf
meiner Ermittlungen um eine Reise nach Österreich nicht umhinkom-
men werde. Einen freundlichen Empfang habe ich dann wohl nicht zu
erwarten.
Die ersten Worte, die ich heute von Koerner zu hören bekam, trugen
wenig dazu bei, meine Stimmung zu heben.
»Mrs Moody würde lieber nicht mit dir zusammenarbeiten«, teilte er
mir mit. Er lehnte am Türstock meines Büros und hielt seine erste Tasse
Kaffee in der Hand. »Tatsächlich würde sie mit jedem anderen lieber zu-
sammenarbeiten als mit dir.«
»Wirklich? Mit jedem?« Diese Aussage schmerzte mich ein wenig. Un-
ter unseren Mitarbeiter befinden sich ein paar echte Trottel.
»Ja, so ziemlich.«
»Wo liegt das Problem?«
»Sie kennt deine Arbeitseinstellung und möchte sich nicht von dir ver-
einnahmen lassen. Nichtsdestotrotz ...« Koerner zögerte, als wäre es ihm
lieber gewesen, diese Nachricht nicht überbringen zu müssen.
»Nichtsdestotrotz?«
»… hat sie in die Zusammenarbeit eingewilligt, weil sie weiß, dass es
für uns wichtig ist.«
»Keine Sorge«, erwiderte ich, »wir werden gut miteinander auskom-
men.«
»Im Ernst, Navarro: Sei nett zu ihr, und lass sie zwischendurch ein we-
nig Luft schnappen. Nicht jeder arbeitet gerne im Eiltempo.«
»Ich werde darauf achten.«
Vielleicht täusche ich mich, aber der vernichtende Blick, den mir Koer­
ner daraufhin zuwarf, war vollkommen unberechtigt.
142

WENIGE STUNDEN SPÄTER sah ich, wie Mrs Moody die Treppe vom
oberen Stockwerk, in dem sich ihr Büro befindet, hinabstieg und in mei-
ne Richtung lief. Ihr Lächeln besagte: »Das schaffe ich schon«, doch al-
les andere an ihr schrie: »Was zum Teufel habe ich mir da nur angetan?«
Ich führte sie in einen unserer kleinen Besprechungsräume, um mit ihr
in Ruhe über den Fall im Allgemeinen zu sprechen und die Details un-
serer Zusammenarbeit zu klären. Moody sprach kaum ein Wort, bis die
Klärung der Details anstand.
»Zwei Dinge sollten Ihnen von Anfang an bewusst sein«, erklärte sie
und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Erstens: Ich werde mich
nicht völlig verausgaben, um mit Ihnen Schritt zu halten. Sollten Sie das
von mir erwarten, bin ich raus.«
»In Ordnung. Zweitens?«
»Ich bin schwanger.«
»Okay.«
»Okay? Ich teile Ihnen zu Beginn unserer Zusammenarbeit an einem
äußerst wichtigen Fall mit, dass ich schwanger bin, und alles, was Ihnen
dazu einfällt, ist ›okay‹?«
»Was soll ich denn sagen? Ich kann daran nichts ändern. Allerdings
muss ich zugeben, dass ich es als wenig vorteilhaft empfinden würde,
wenn Sie Ihrem Kind den Namen Terry geben würden. Dann hätten wir
hier Mrs Moody, Mr Moody und klein Moody.«
Diese Äußerung ließ sie erstmals richtig lächeln.
»Mir ist Folgendes wichtig: Ich übernehme bei den Befragungen die
Führung, und ich fülle bis auf Weiteres alle FD-302-Formulare aus. Die-
se Formulare haben Lynn aufgerieben.«
»Ich weiß.«
»Hat sie Ihnen davon erzählt?«
»Sie hat oft davon gesprochen. Und von vielen anderen Dingen. Ihr
Ruf eilt Ihnen voraus, Navarro«, sagte Moody mit wissendem Lächeln
und selbstbewusstem Gesichtsausdruck.
Als wollte ich ihr recht geben, kam ich auf das eigentliche Thema un-
seres Treffen zu sprechen: die Form unserer Zusammenarbeit. Während
meiner Erläuterungen kam ich nicht umhin zu bemerken, dass ihr auf-
richtiges, warmes Lächeln immer mehr in Richtung Ungläubigkeit chan-
gierte.
143

»Erstens: Bei unserer ersten Begegnung mit Ramsay werde ich darauf
achten, dass er sich zu meiner Rechten befindet. Bleiben Sie also, wenn
Sie eintreten, auf meiner linken Seite stehen. Rod muss gewissermaßen
durch mich hindurchsehen, um einen Blick auf Sie werfen zu können.«
Rechts? Links? Moody wandte den Blick nicht von mir ab, doch ich
konnte deutlich erkennen, wie ihr hinter ihren strahlend blauen Augen
ein »Wie bitte?« durch den Kopf schoss.
»Zweitens: Wir müssen in allen Belangen synchron agieren, außer
beim Thema Humor. Wenn Sie lachen wollen, dann lachen Sie. Ich werde
dann aus der Situation heraus entscheiden, wie ich mich verhalte. Drit-
tens: Rod wird versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Das haben
die Befragungen mit Lynn gezeigt. Wir dürfen das auf keinen Fall zulas-
sen. Wenn ich ihn anschnauze, heißt das, er übertreibt. Viertens: Tragen
Sie keine für einen Agent typische Kleidung. Keinen Rock, keinen Ho-
senanzug – Jeans sind in Ordnung. Ich werde meist in Kakihose und Po-
lohemd erscheinen. Und fürs Protokoll: Meine Waffe werde ich verdeckt
tragen, und das werden Sie ebenfalls tun.«
Terry quittierte den letzten Punkt mit einem Augenrollen – sie besaß
offensichtlich die richtige Einstellung.
»Fünftens: Wir machen keine Notizen. Wir müssen uns jedes Detail
unserer Gespräche mit Rod genauestens einprägen. Ich weiß nicht, wie
lange die Befragungen jeweils dauern werden. Bislang haben sie immer
mindestens zwei Stunden in Anspruch genommen.«
»Worüber sprechen Sie denn mit Rod?«, erkundigte sich Moody.
»Über alles Mögliche. Rod wird über Frauen sprechen, über die Army,
über seine Mutter, über historische Ereignisse, den Peloponnesischen
Krieg und über Physik.«
»Was sage ich dazu?«
»Bedanken Sie sich bei ihm. Lassen Sie sich von ihm belehren. Saugen
Sie jedes Wort von ihm auf, als wäre er ein hoch angesehener Professor.
Bremsen Sie ihn nicht aus, und kritisieren Sie ihn nicht.«
»Auch nicht, wenn er Unsinn redet?«
»Das wird er vermutlich nicht tun. Rod ist hochintelligent. Doch selbst
wenn er uns mit dem größten Nonsens überschüttet, sagen Sie nichts –
zumindest so lange nicht, bis wir an dem gewünschten Punkt angekom-
men sind. Ich werde Ihnen das Signal geben, wenn es so weit ist.«
144

»Sechstens?« Ich hatte vergessen, wie weit ich mit meiner Aufzählung
gekommen war, aber Moody war offensichtlich im Bilde.
»Sechstens: Setzen Sie Ihr Lächeln ein.«
»Mein Lächeln? Ich hoffe, Sie und Jay gehen nicht davon aus, dass ich
nur wie ein Püppchen herumsitzen werde, um diesen Kerl bei Laune zu
halten?«
»Sie müssen schauspielern, und Ihre Rolle ist wichtig. Sie agieren nach
den Regeln von Komödie und Improvisation: Sie widersprechen nicht.
Sie pflichten bei, leisten positive Beiträge oder lenken das Gespräch in
eine sinnvolle Richtung, aber Sie widersprechen nicht. Vergessen Sie al-
les, was man Ihnen im Ausbildungszentrum in Quantico an Befragungs-
techniken beigebracht hat. Wir müssen in Rods Gedankenwelt eindrin-
gen. Sofort. Zu guter Letzt: …«
»Siebtens«, korrigierte mich Moody. »Mein Lächeln war sechstens.«
»Also gut, siebtens: Wir werden uns jeden Morgen zum Frühstück tref-
fen und genau festlegen, wer wo sitzen wird, worüber wir sprechen wer-
den, welche Beweise wir vorbringen oder welche Hinweise wir aufgrei-
fen werden. Wir werden unser Bestmöglichstes tun, um nicht von diesem
Plan abzuweichen. Ich möchte innerhalb einer Woche ein Geständnis
vorliegen haben – in einer Woche. Wir brauchen das Geständnis.«
»Ihre Ansprüche sind hoch.«
»An mich selbst und an andere.«
»Noch etwas?«, erkundigte sich Moody in einem Tonfall, der die Hoff-
nung transportierte, dass keine weiteren Punkte folgen würden.
»Ja. Ramsay darf keine Sitzposition einnehmen, die höher ist als unse-
re, selbst wenn wir dafür das Mobiliar austauschen oder Stuhlbeine kür-
zen müssten. Wir betreten den Raum zuerst, er folgt uns nach. Wir kon-
trollieren, wann er zur Toilette geht und wann er isst. Wir beide agieren
als Elternfiguren, verstehen Sie? Er wird erwarten, dass wir ihm Orien-
tierung geben. Wir erweisen ihm diesen Gefallen, aber zuerst muss er auf
uns zugehen.«
»Besteht die Möglichkeit, dass Ramsay eine Waffe besitzt?«
»Wer weiß? Bisher trug er keine bei sich, aber ich werde ihn jedes Mal
überprüfen – mit einem abrazo, einer Umarmung unter Männern. Wenn
Sie möchten, können Sie ihn ebenfalls umarmen. Tasten Sie dabei aber
stets seinen unteren Rücken ab. Wenn er eine Pistole trägt, dann ver-
145

mutlich dort. Sollte Rod tatsächlich eine Waffe ziehen und mich in ei-
nen Kampf verwickeln, dann zögern Sie um Himmels willen nicht: Ver-
suchen Sie nicht, sorgfältig zu zielen, sondern schießen Sie ihm direkt in
den Kopf. Ist das klar?«
»Sonnenklar. Nur eine Frage, Navarro: Sind Sie zu Hause auch so?«
»Nein. Wenn ich zu Hause etwas erkläre, müssen es anschließend alle
auswendig aufsagen.«
Moodys Blick verriet, dass sie nicht sicher war, ob ich log oder die
Wahrheit sagte. Tatsächlich tat ich beides. Ich sah Moody an, dass ihr die
konkreten Umstände dieser Ermittlungen zu schaffen machten.
»Machen wir zehn Minuten Pause«, schlug ich vor.
»Gut. Ich muss mir die Nase pudern und darüber nachdenken, warum
ich eingewilligt habe, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«

NEUN MINUTEN UND 50 SEKUNDEN SPÄTER stand Moody in mei-


ner Bürotür. Sie sah nicht nur erleichtert, sondern auch erstaunlich er-
frischt aus. Während unseres Meetings im Besprechungszimmer war ihr
Haar ein wenig in Unordnung geraten. Nun lag es wieder perfekt. Ihr Ge-
sicht wirkte frisch und leicht gerötet. In einer Hand hielt sie einen Kugel-
schreiber und einen Notizblock, in der anderen eine Flasche Wasser. Ich
war beeindruckt – zumindest war sie nicht davongelaufen.
»Womit soll ich anfangen?«, fragte sie. Offensichtlich erwartete sie,
dass ich ihr einen Aktenordner aushändigen würde.
»Sehen Sie den Schrank mit den vier Schubladen dort hinten? Den mit
der Aufschrift ›Nur für Navarros Augen‹?«
»Ja«, sagte sie, meinem Blick folgend. »Ich sehe ihn.«
»Beginnen Sie mit Band eins, Sammlung eins, und arbeiten Sie sich
dann vor.«
»Ich soll alles durchsehen, was sich in diesem Schrank befindet?«
»Alles«, bestätigte ich, während wir inzwischen vor dem Schrank stan-
den.
»Worum handelt es sich dabei?«
»Einzelne Sammlungen«, erwiderte ich und öffnete die oberste Schub-
lade. »Sie werden Ihnen zunächst nicht viel sagen.« Ich blätterte einen der
Aktendeckel durch und zeigte ihr einen Wust von Schriftstücken, Fotos
und anderem Papierkram. »Da sich die Spionageabwehr deutlich von an-
146

deren strafrechtlichen Verfolgungen unterscheidet, müssen Sie sich völlig


neues Vokabular aneignen: ›Verbindung aufnehmen‹, ›falsche Flagge‹.«
»Klingt machbar.«
»Was sind Rechtshilfeersuchen?«, fragte ich provozierend.
»Rechtshilfe was?«
»Rechtshilfeersuchen sind von einem souveränen Staat an einen an-
deren anerkannten Staat beziehungsweise an dessen Justizministerium
gerichtete förmliche Bitten um Unterstützung bei der Ermittlungsar-
beit – zum Beispiel indem die Erlaubnis erteilt wird, mit jemandem ein
Gespräch zu führen, eine eidesstattliche Erklärung einzuholen oder Fra-
gen zu stellen.«
»Verstanden. Rechtshilfeersuchen«, wiederholte Moody, während sie
sich den Begriff notierte. Auch wenn ihr meine Unterrichtsstunde viel-
leicht missfiel, zeigte sie Lernbereitschaft.
Ȇblicherweise holen die das Rechtshilfeersuchen erhaltenden Staa-
ten die Erkundigungen ein. Die Qualität reicht dabei von durchschnitt-
lich bis schlecht, da sie ein geringeres Interesse an der Aufklärung besit-
zen. Wenn man relevante Fragen nicht explizit vorgibt, werden sie nicht
gestellt, und wenn ein Verdächtiger die Aussage verweigert, werden kei-
ne weiteren Untersuchungen angestellt. Die Art und Weise, wie diese Be-
fragungen durchgeführt werden, ist wirklich lausig.«
»›Lausig‹ wie ›grausig‹?«
Mir war nicht nach Scherzen zumute.
»Rechtshilfeersuchen haben wir den Einfällen von Diplomaten zu ver-
danken. Man bekommt einen Gastermittler zugeteilt, meist einen An-
walt, der den Vereinigten Staaten ablehnend gegenübersteht, weil ir-
gendjemand in seiner Familie zu lange auf ein Einreisevisum in die USA
warten musste. Dieser Anwalt leistet dann entweder grottenschlechte Ar-
beit oder zögert die Erledigung so lange heraus, dass das Ergebnis nicht
mehr wichtig ist. Deshalb arbeiten in den amerikanischen Botschaften
Justizattachés für das FBI. Schon bevor die CIA mit ihrem Schwerpunkt
der Informationsbeschaffung durch Befragungen gegründet wurde, sorg-
ten diese Attachés dafür, dass die richtigen Verbindungen hergestellt und
Informationen beschafft wurden, manchmal auch mithilfe von unkon-
ventionelleren Methoden wie sanfter Überredung bei einem Drink.«
»Verstanden.«
147

»Ach ja? Und wie sieht es mit PHOTINT, HUMINT und SIGINT aus?«
»Ich habe diese Begriffe schon einmal gehört.«
»Was ist ›Mikronachweis‹?«
»Okay, ertappt«, räumte Moody achselzuckend ein.
»Sie müssen sich mit diesen Dingen auskennen!« Poch, poch, poch –
ich konnte fast hören, wie mein Blutdruck auf Höhe der Ozonschicht an-
stieg. Ich hatte keine Zeit, Nachhilfestunden zu geben, aber es blieb mir
nichts anderes übrig.
»›Mikronachweise‹ ermöglichen die Nachverfolgung aufgrund eines
minimalen Makels – einer Kerbe, eines Kratzers, einer Markierung, ei-
nes kaum wahrnehmbaren Risses, eines in mehreren Dokumenten ver-
wendeten Wortes oder eines an wenig prominenter Position falsch ge-
schriebenen Wortes. Diese Merkmale ermöglichen es uns, den Verfasser,
den Übermittler und/oder den Rezipienten des Dokumentes zu ermit-
teln. Würden beispielsweise sowohl Sie als auch Ihr Mann unter Verdacht
stehen, Spionage zu betreiben, würde ich Ihnen den gleichen Brief oder
das gleiche Dokument aushändigen, mit der Bitte, es weiterzuleiten. Al-
lerdings würde in dem Ihnen ausgehändigten Dokument in der achten
Zeile ein Komma stehen, während das Dokument, das Ihr Mann erhält,
an dieser Stelle einen Strichpunkt aufweist. Den meisten Menschen fällt
ein solcher Unterschied nicht auf. Taucht das Dokument nun aber bei ei-
nem Empfänger auf, in dessen Besitz es nicht gelangen sollte, können wir
einen Agenten bitten zu überprüfen, ob in der achten Zeile ein Komma
oder ein Strichpunkt steht – ein scheinbar harmloses Ansinnen, das es
uns aber ermöglicht, den Weg des Dokumentes zurückzuverfolgen und
den Täter zu identifizieren. Wir arbeiten andauernd mit solchen ›Mikro-
nachweisen‹.«
»Okay«, erwiderte Moody. »Botschaft angekommen. Bis wann soll ich
die Unterlagen gesichtet haben?«
Ich sah auf meine Armbanduhr: »Nun ja, es ist jetzt kurz vor zwölf. Ich
werde erst einmal Mittag machen. Danach möchte ich am Strand joggen
gehen. Am Nachmittag habe ich eine Verabredung mit einem Agenten,
dem ich gerade beibringe, wie man vortäuscht, ein abtrünniger Spion zu
sein. Wir werden ihn auf eine Sowjetbehörde ansetzen, um zu testen, ob
man dort noch Interesse zeigt, obwohl im Umfeld alles zusammenzubre-
chen scheint. Ich denke, ich werde zwischen fünf und sechs zurück sein.
148

Meinen Sie, Sie könnten sich bis dahin alle Unterlagen eingeprägt ha-
ben?«
»Navarro?«, fragte Moody mit scharfer Stimme.
»Was ist?«
»An welcher Stelle des FBI-Handbuchs steht das?«
»Steht was?«
»Dass man ein Arschloch sein muss.«
10
EINE LEHRSTUNDE FÜR
AGENT NAVARRO

Von Tampas Stadtzentrum aus erreicht man über die Interstate 4 den In-
ternational Drive in Orlando in 85 Minuten. Die Fahrt dauert also nicht
sehr lange, und im Moment ist jede Minute kostbar. Moody ist nun seit
zwei Wochen meine neue Partnerin, doch sie musste noch einige alte Fäl-
le abschließen. De facto arbeiten wir erst seit zwei Tagen zusammen. Die
Autofahrt ist für mich die letzte Gelegenheit, Moody auf unser Treffen
mit Rod Ramsay vorzubereiten. Deshalb verschwende ich keine Sekunde.
»Was genau werden Sie tun, wenn Sie Rod zur Begrüßung die Hand
geben?«
»Navarro!«
»Ich meine es ernst. Was werden Sie tun?«
»Nun ja«, antwortet sie, »da Sie nicht erwähnt haben, dass ihm der rech-
te Arm fehlt, werde ich vermutlich meinen rechten Arm in Richtung seiner
150

rechten Hand ausstrecken und ihm während eines festen Händedrucks di-
rekt in die Augen sehen. Um ihm zu zeigen, wie sehr ich mich freue, ihn ken-
nenzulernen, werde ich vielleicht noch meine linke Hand auf die seine legen.«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein!«, sage ich mit mehr Nachdruck als nötig. »Das werden Sie nicht
tun. Bedecken Sie niemals die Hand eines anderen mit der Ihren. Poli-
tiker tun das, weil sie Idioten sind, aber alle anderen Menschen verab-
scheuen diese Geste. Sie können Rods Ellenbogen berühren, während Sie
ihm die Hand schütteln, aber nicht heute.«
»Warum nicht?«
»Weil Rod sich diese Extraberührung noch nicht verdient hat.«
»Oh, herrje …«
»Ich möchte, dass dieser erste Handschlag neutral bleibt, verstehen Sie
mich? Blickkontakt, ja. Ein fester Händedruck nach Art des FBI. Mehr
nicht. Wenn Rod artig ist und uns Informationen liefert, können Sie ihm
eine weitere Berührung zuteilwerden lassen.«
»Wo?«
Die Pause, die auf diese Frage folgt, ist, ehrlich gesagt, ein wenig be-
unruhigend. Moodys Gesichtsausdruck lässt mich befürchten, dass sie
die jüngst von ihr getroffene berufliche Entscheidung noch einmal über-
denkt – und vielleicht sogar plant, aus dem Auto zu flüchten, sollten wir
in einen Stau geraten. Nach einem Seufzer atmet Moody tief ein und
blickt auf ihre Armbanduhr.
»Wir sind um 18:00 Uhr mit Rod verabredet, stimmt’s?«
»Ja, im Embassy Suites Hotel am International Drive.«
»Wir brauchen vielleicht noch 15 Minuten bis dorthin.«
»Yep«, bestätige ich mit Blick auf die Uhr. »Wir werden gegen 16:45 Uhr
dort sein.«
»Und was machen wir in den eineinviertel Stunden bis zu Rods An-
kunft?«
»Wir stellen die Möbel um. Mit ein bisschen Glück bleibt uns auch
Zeit, alles noch einmal durchzusprechen.«
Nach einem erneuten Seufzer wartet Moody darauf, dass ich die Un-
terhaltung wieder aufnehme. Ich halte es unter den gegebenen Umstän-
den jedoch für besser, ein bisschen Ruhe einkehren zu lassen.
151

ZIMMER 316 SIEHT IN ETWA SO AUS, wie ich es mir vorgestellt hat-
te – eine mittelgroße Suite mit ausreichend Sitzgelegenheiten im vorde-
ren Bereich. Der Drehstuhl mit Rollen, um den ich eigens gebeten hat-
te, stand in der Mitte des Raumes. Wir positionieren das Sofa so, dass
Rod einige Schritte von der Tür entfernt sitzen wird, und stellen einen
kleinen Tisch mit einer Lampe um, damit das Licht nicht direkt auf ihn
scheint. Da wir vielleicht drei, vier oder mehr Stunden hier verbringen
werden, würde ihn das Licht viel zu sehr ablenken. Der einzige Lehnstuhl
im Raum wird Moodys Sitzgelegenheit werden – ich ordne ihn in leicht
schrägem Winkel zu Rods Platz auf dem Sofa an.
»Setzen Sie sich«, sage ich, während ich mich auf das Sofa fallen lasse.
»Warum?«
»Weil ich sichergehen möchte, dass Sie höher sitzen als Rod, und das tun
Sie«, erkläre ich und stehe wieder auf, »solange Sie nicht herumlümmeln.«
Ich bringe den Drehstuhl auf die für mich passende Höhe, während
Moody den Couchtisch direkt vor das Sofa stellt.
»Nicht so nah«, weise ich sie an.
»Das ist ein Couchtisch. Couchtische sind dazu gedacht, etwas darauf
abzustellen.«
»Dieser Couchtisch nicht. Im Laufe der Befragung werde ich Rod ir-
gendwann fragen, ob er etwas trinken möchte. Er wird Ja sagen, weil er
bis dahin durstig ist. Ich werde ihn dann auffordern, aufzustehen und
sich ein Getränk vom Couchtisch zu holen.«
»Wenn wir den Couchtisch weiter wegrücken, werden Sie näher am
Tisch sitzen als er. Warum wollen Sie dann nicht so nett sein, ihm ein Ge-
tränk zu reichen?«
»Weil ich versuche, eine Vater-Sohn-Beziehung aufzubauen. Wenn er
die Toilette aufsuchen möchte, muss er mich um Erlaubnis fragen. Wenn
er etwas trinken möchte, muss er warten, bis ich es ihm anbiete, und er
muss sich das Getränk selbst holen. Sie werden genauso mit ihm ver-
fahren. Wir machen es ihm nicht leicht, und er bekommt nichts um-
sonst. Deshalb muss er auch auf der niedrigsten Sitzgelegenheit in die-
sem Raum Platz nehmen – er muss buchstäblich zu uns beiden aufsehen.
Ich bin der Vater, Sie sind die Mutter. Vergessen Sie das nicht.«
»Nach allem, was Sie mir über Rod Ramsay erzählt haben, möchte ich
keinesfalls seine Mutter sein!«
152

»Moody«, entgegne ich. »Spionageabwehr ist Theater auf internatio-


naler Bühne. Wir müssen das hinkriegen  – nicht uns selbst, dem FBI,
den Deutschen und vor allem nicht der Washingtoner Außenstelle zu-
liebe, sondern weil wir für diese Arbeit bezahlt werden, eine Arbeit, die
nicht jeder machen kann. Wäre die Zerstörung von Besitztümern der Re-
gierung Gegenstand der Ermittlungen, wäre dieser Fall nicht weiter von
Interesse. Doch es geht um Spionage. Mit diesem Fall beschäftigen sich
auch die strategische Luftstreitmacht und der Direktor der CIA. Im Wei-
ßen Haus hat David Major vom nationalen Sicherheitsrat die Ereignisse
in noch höhere Ebenen kommuniziert, und das Außenministerium be-
fasst sich mit dem Fall.«
Ich weiß nicht, ob Moody der Name des Repräsentanten des FBI im
Nationalen Sicherheitsrat David Major bekannt ist, aber ich habe eindeu-
tig ihre Aufmerksamkeit geweckt.
»Auch wenn Sie keine Lust haben, Rods Mutter zu spielen, und ich we-
nig Neigung habe, die Rolle des Vaters eines Menschen zu übernehmen,
der meine Wertvorstellungen nicht teilt, werden wir das trotzdem tun.
Mir ist vollkommen egal, was man Ihnen in Quantico über Befragungen
beigebracht hat. Wir müssen in Rods Gedankenwelt eindringen, und wir
müssen sein Denken steuern. Deshalb bitte ich Sie höflich, meinen An-
weisungen Folge zu leisten und meine Methoden nicht 20 Minuten vor
Beginn unserer Gesprächs mit Rod infrage zu stellen.«
Moodys Schweigen mag bedeuten, dass sie über meine Worte nach-
denkt oder dass sie mich nun noch mehr verabscheut. Ich schicke ein
Stoßgebet zum Himmel, dass Ersteres der Fall ist.
»Eines noch: Man hat uns beiden einen Haufen Mist an die Hand gege-
ben. Conrad wird niemals reden. Den Kercsik-Brüdern können wir kei-
nen Glauben schenken, und wir können ihre Aussagen nicht verwenden.
Außerdem tut die Washingtoner Außenstelle alles, um die Ermittlungen
zu sabotieren. Das heißt, wir beide – Mrs Moody und Agent Navarro –
tragen die gesamte Last auf unseren Schultern.«

IN DEN NÄCHSTEN ZEHN MINUTEN herrscht – abgesehen von den


laut in unseren Schläfen pochenden Adern – absolute Stille. Mir kommt
das Bild zweier die Schweigeregeln ihres Ordens befolgender Trappisten
in den Kopf, doch dann ergreift Moody das Wort.
153

»Was machen wir nun, wenn ich fragen darf?«


»Wir proben das Betreten des Raumes.«
»Das Betreten des Raumes? Das hier ist eine Befragung, Navarro, kei-
ne Hochzeit.«
Moody widersetzt sich immer noch, aber ihr Protest fällt milder aus.
»In beiden Fällen ist es eine Art Prozession, ein Ritual. Man kann es
immer richtig oder falsch machen. Wir müssen von Anfang an, noch be-
vor wir diesen Raum betreten, Dominanz ausüben und ein hierarchi-
sches Verhältnis aufbauen.«
Das Augenrollen, mit dem Moody auf meine Äußerung reagiert, muss
während ihrer im Mittleren Westen glücklich verbrachten Highschool-
zeit die jungen Männer verrückt gemacht haben. Mich versetzt es hinge-
gen in Besorgnis.
»Sie haben nicht zufällig einen Hund?«, erkundige ich mich.
»Nein.«
»Man lässt einen Hund niemals zuerst durch die Tür gehen. Man
bringt ihm bei, vor der Tür sitzen zu bleiben, und entscheidet, wann man
ihm Zutritt gewährt. Tut man das nicht, glaubt der Hund, die Rolle des
Rudelführers innezuhaben. Bei Menschen ist dieser Sachverhalt ein we-
nig differenzierter, im Grunde aber gleich.«
»Man hat mir gesagt, dass Sie Psychospielchen mögen, Navarro, aber
ich hatte weiß Gott keine Vorstellung davon, wie weit Ihre Leidenschaft
dafür reicht.«
»Ich wünschte, dies wäre ein Spielchen, aber Spiele bringen einen nicht
um den Schlaf.«
Ich verbringe die nächsten sieben Minuten damit, Moody das Betreten
eines Raumes à la Navarro beizubringen: Sie selbst wird zuerst hineinge-
hen, dann folge ich. Rod wird das Zimmer als Letzter betreten. Er wird
dann als Erster seinen Sitzplatz einnehmen, allerdings erst, nachdem wir
ihn dazu aufgefordert und ihm seinen Platz zugewiesen haben. Danach
wird sich Moody in den Lehnstuhl setzen, und schließlich werde ich auf
dem Drehstuhl Platz nehmen. Vor 14 Monaten habe ich Lynn Tremaine
diese Vorgehensweise beigebracht. Anders als Lynn, die mit der Spiona-
geabwehr bereits ein wenig vertraut gewesen war, ist Moody in diesem
Bereich blutige Anfängerin, und ich hoffe, dass das Wort »blutig« im wei-
teren Verlauf der Ereignisse keine allzu konkrete Bedeutung annimmt.
154

Um 18:09 Uhr, zwölf Minuten später, nehmen Terry Moody und ich in


der Lobby des Embassy Suites Hotel links vom Haupteingang unsere Be-
obachtungsposten ein. In dem Moment, in dem ich Moody noch einmal
einschärfe, dass wir mit Rod sofort ins Zimmer hinaufgehen werden und
sie in jeder Hinsicht den von mir während der Befragung vorgegebenen
taktischen Entscheidungen zu folgen hat, kommt Rod durch die Tür und
sieht zu dem Treppenabsatz hinauf, von dem aus ich ihn zwei Tage zuvor
beim Betreten des Hotels beobachtet habe.
»Ist er das?«, fragt Moody.
»Ja, aber wir warten, bis er uns entdeckt.«
Moody geht jedoch bereits auf Rod zu.
»Sie müssen Rod Ramsay sein«, höre ich sie sagen, während ich mich
den beiden nähere. Moody streckt ihren Arm aus. Sie begrüßt Rod mit
festem Händedruck und direktem Blickkontakt. »Ich bin Agent Moody,
Agent Navarros neue Partnerin.«
Rod wirkt ein wenig überrascht, aber nicht im negativen Sinne.
»Nennen Sie mich einfach Terry. ›Agent‹ klingt so …«
»Förmlich?«
»Ja, genau: förmlich.«
Rods verblüffter Gesichtsausdruck weicht einem breiten Lächeln.
»Vielen Dank, Rod, dass Sie …«, sage ich, während ich mich zwischen
die beiden stelle.
Moody schiebt mich mit einem erstaunlich wirkungsvollen Hüft-
schwung beiseite. »Würden Sie uns noch einen Moment geben, Agent
Navarro?«
»Rod«, fährt sie fort und sieht Ramsay dabei unverwandt an, »ich hof-
fe, Sie entschuldigen, wenn meine Frage zu sehr nach mütterlicher Für-
sorge klingt: Was haben Sie heute gegessen?«
Ihre Frage macht mir bewusst, dass Rod noch abgemagerter aussieht
als vor zwei Tagen.
»Ein paar Riegel Kit Kat«, antwortet Rod, den Blick auf seine Schuhe
gesenkt.
»Kit Kat?« Moody legt einen Finger an sein Kinn und hebt seinen Kopf
wieder auf Augenhöhe.
»Zwei Riegel«, erklärt Rod, »und eine Pepsi.«
»Das ist alles?«
155

Rod nickt verlegen, während Moody sich unvermittelt umdreht und


nun mir direkt in die Augen sieht.
»Dann ist ja jetzt alles klar, Agent Navarro.«
»Was ist klar?«
»Wir verhelfen diesem jungen Mann erst einmal zu einem ordentlichen
Abendessen, bevor wir irgendwelche Gespräche führen. Und Rod …«
Ramsay zeigt wieder dieses unverschämte breite Grinsen.
»Ja, Terry?«
»Sie werden Ihr Gemüse aufessen, und wenn ich Sie damit häppchen-
weise füttern muss.«
Wenn ich in einem Wort beschreiben müsste, was Rod Ramsay in die-
sem Augenblick offensichtlich empfand, dann wäre es ›Glück‹. Glück in
Anbetracht der Aussicht auf Gemüse. Unfassbar!

AUF DEM WEG ZUM HOTELZIMMER fehlt nicht mehr viel, bis ich
Moody an die Kehle springe. Meine Anweisung ›Ich werde die Führung
übernehmen‹ scheint völlig an ihr vorbeigegangen zu sein. Wenn sie nun
auch noch die Reihenfolge, in der wir den Raum betreten, durcheinan-
derbringt, werde ich Koerner definitiv darum bitten, sie von dem Fall
abzuziehen. Moody reiht sich jedoch wie verabredet ein. Im Zimmer
täuscht sie vor, nach ihrer Handtasche zu suchen (die über ihrer Schulter
hängt), und setzt sich erst in den Lehnstuhl, nachdem Rod auf dem Sofa
Platz genommen hat. Sie sitzt aufrecht und überragt, wie geplant, Rod
um etwa fünf Zentimeter. Rod streift seine Schuhe ab und macht es sich
auf dem Sofa bequem. (Hätte ich nicht darauf bestanden, den Couch-
tisch in einiger Entfernung zu platzieren, würde er seine Beine darauf-
legen.)
Außerdem muss ich zugeben, dass es keine schlechte Idee war, das
Abendessen vorzuziehen. Mein Plan war gewesen, Burger und Pom-
mes frites aufs Zimmer bringen zu lassen, sofern sich Rod als mitteil-
sam erweist. Moody hatte jedoch den ungezwungenen Kontakt zu Rod
Ramsay, den ihr das gemeinsame Abendessen ermöglicht hatte, hervor-
ragend genutzt. Sie hatte ihn sogar dazu überredet, Salat mit einem ge-
sunden Dressing zu bestellen – »Nein, Rod, Essig und Öl ist wesentlich
besser für Sie als dieses pampige französische Zeug mit Mayonnaise« –
und ihn dazu gebracht, den Salat aufzuessen. Rod sieht rundum zufrie-
156

den aus, als wir die Suite Nr. 316 betreten und er sich erstmals an diesem
Abend eine Zigarette anzündet. Als ich merke, dass Moody Einwände ge-
gen das Rauchen hegt, lenke ich das Gespräch sofort in eine andere Rich-
tung. Ich halte es für besser, Rod nicht von allen schlechten Angewohn-
heiten gleichzeitig befreien zu wollen.
»Rod, ich weiß, wir beide haben bereits über Ihren Aufenthalt in
Deutschland gesprochen«, wechsle ich deshalb das Thema.
»Wir beide und Lynn«, stellt Rod richtig und wirft Moody dabei einen
Blick zu, der ›Was sollen wir bloß mit Navarro machen‹ zu sagen scheint.
»Ja, natürlich, Lynn war auch dabei. Da Agent Moody jedoch …«
»Terry?«
»Richtig. Da Terry jedoch erst jetzt zu diesem Fall hinzugezogen wur-
de …«
»Offensichtlich.«
»Offensichtlich«, gebe ich so freundlich zu, wie es mir irgend möglich
ist, denn ich spüre das akute Verlangen, Rod hier im dritten Stock vom
Balkon zu stoßen. »Da Sie offensichtlich zu Scherzen aufgelegt sind, wür-
den Sie vielleicht Agent Terry das Vergnügen bereiten …«
»Ähm …«
»Terry, meine ich natürlich. Vielleicht wären Sie so freundlich und
würden Terry kurz Ihr Verhältnis zu Clyde und die Arbeitsabläufe in
Deutschland schildern, damit sie auf dem Laufenden ist?«
»Selbstverständlich!«, erwidert Rod und blickt Moody mit einem
strahlenden Lächeln an. »Das mache ich doch gerne.« Er zündet sich eine
weitere Zigarette an, streckt seine Beine und seine in Socken steckenden
Füße auf dem Sofa aus und ergeht sich in einem detailreichen, tiefgrün-
digen und vor Narzissmus triefenden Monolog, der seine Persönlichkeit
haargenau spiegelt.
Zuerst erzählt Rod Moody, dass Conrad für ihn ein Vorbild gewesen
sei, eine Vaterfigur. Seinen leiblichen Vater charakterisiert er mit einer
abfälligen Handbewegung als »jemanden, den ich nie wirklich kannte …
einen Menschen, mit dem ich nicht reden konnte«. Clyde, betont er, sei
anders gewesen. Er habe mit ihm »täglich Seite an Seite gearbeitet« und
mit ihm die Verantwortung geteilt. Auch seine Freizeit habe er mit Clyde
verbracht. Rod erzählt, dass er Clyde oft in dessen Haus zu einem Abend-
essen oder einem Imbiss mit dessen Familie besucht habe.
157

Viele dieser Schilderungen habe ich bereits vor einem Jahr gehört, als
Lynn und ich uns Rod Ramsay annäherten, doch heute höre ich sowohl
mit dem Ohr eines Ermittlers als auch mit dem Ohr einen Staatsanwal-
tes zu. Im Grunde nimmt uns Rod unsere Arbeit ab: Beziehungen zwi-
schen Menschen definieren sich oft über die Häufigkeit und die Dau-
er des Kontakts. Rod liefert uns alle Details. Anklagen vor Gericht sind
eine Form der Erzählung: Sollte der Fall die Entwicklung nehmen, die ich
vermute, werden wir den Geschworenen eine glaubhafte Geschichte prä-
sentieren müssen, die erklärt, wie und warum Rod Ramsay zum Spion
wurde. Unbewusst oder bewusst – bei Rod kann man sich diesbezüglich
nicht sicher sein – gibt uns Rod Informationen über die Hauptfiguren,
den Handlungsablauf und den Kontext an die Hand. Im Geiste mache ich
mir wie wild Notizen.
Ohne Aufforderung meinerseits kommt Rod als Nächstes auf den
Punkt zu sprechen, den ich hören will: seine Zusammenarbeit mit Clyde
im Bereich der G-3-Planungen und die damit verbundenen Aufgaben. Bis
auf Clyde wechselten die dieser Abteilung zugewiesenen Offiziere schnell
in andere Einsatzgebiete, erzählt Rod. Clyde war der Fels (in Wirklichkeit
wohl eher der Parasit) im Ressort der Dokumentensicherung. Seine Vor-
gesetzten respektierten ihn und verließen sich in ihrer Arbeit auf seine
fundierten Kenntnisse der strategischen Planungen. Auch diese Beschrei-
bung habe ich schon einmal gehört, doch die Wiederholung ist wich-
tig, denn sie ist als eine Art Bekräftigung der bereits getätigten Äußerun-
gen zu verstehen. Außerdem offenbart Rod in seinen Erläuterungen, dass
auch er mit dem Inhalt der Pläne bestens vertraut war und herausragende
Fähigkeiten besitzt, alle Details im Gedächtnis zu behalten.
Moody scheint meine Anweisungen besser verinnerlicht zu haben, als
ich dachte. Sie scheint hingebungsvoll Rods Ausführungen zu lauschen
und hält dabei permanent Blickkontakt mit ihm. Das verschafft mir die
Möglichkeit, Rods Körpersprache auf Mittel der Emphase zu überprüfen,
die Lügner niemals korrekt einsetzen. Das Heben einer Augenbraue, die
Art und Weise, bei verschränkten Fingern plötzlich die Daumen in die
Höhe zu strecken, ein leichtes Anheben des Knies – all diese meist unbe-
wussten Bewegungen treten nur auf, wenn ein Mensch überzeugt ist von
dem, was er sagt. Selbst Soziopathen stehen voll und ganz hinter ihren
Äußerungen, solange sie die Wahrheit sagen.
158

Angesichts des raschen Tempos, in dem Rod seine Informationen of-


fenbart, bin ich mir nicht sicher, ob Moody nicht längst mit ihrer Rol-
le verschmolzen ist. Sie hängt so gebannt an Rods Lippen, dass ich be-
fürchte, dass ihre Aufmerksamkeit nicht gespielt ist. Womöglich ist sie
innerhalb weniger Stunden zu Rods Lakaien mutiert – das könnte ich
ganz bestimmt nicht brauchen. Als könnte sie meine Gedanken lesen,
lockert Moody ihrer Körperhaltung, lächelt Rod an und unterbricht be-
hutsam seinen Redefluss: »Offensichtlich kennen Sie sich mit diesen –
wie war die Bezeichnung? – G-3-Planungen sehr gut aus. Ich dachte, Sie
und Clyde waren nur für die sichere Aufbewahrung der Dokumente zu-
ständig.«
»Das waren wir auch«, antwortet Rod. »Bei Bedarf haben wir sie aber
auch kopiert.«
»Kopiert? Wie erklärt das Ihre Kenntnisse? Beim Kopieren sehen Sie
den Text doch kaum eine Sekunde lang.«
»Ich bin ein Schnellleser«, erwidert Rod mit unverhohlenem Stolz.
»Und wie viel Inhalt prägen Sie sich dabei ein?«
»Ich merke mir alles.«
»Himmeldonnerwetter!«, zeigt sich Moody beeindruckt, und ich pflich-
te ihr im Stillen bei. Ein Dokument zu kopieren oder abzufotografieren
und es einem feindlichen Geheimdienst zuzuspielen ist eine Sache, über
ein fotografisches Gedächtnis, wie Rod es zu besitzen scheint, zu verfügen
eine ganz andere. Kopien werden unabhängig von ihrer Quelle weiterge-
leitet. Menschen mit fotografischem Gedächtnis werden selbst zu dieser
Kopie und stellen eine wesentlich größere Gefahr dar, ist es ihnen doch
möglich, in ein fremdes Land zu reisen und dort mit den Worten vorstel-
lig zu werden: »Hier bin ich. Wenn Sie Ihr Diktiergerät einschalten und
mein Schweizer Bankkonto füttern, erhalten Sie von mir einen Daten­
input, der Sie umhauen wird.«
Natürlich schenke ich Rods Äußerungen nicht ohne Weiteres Glauben.
Seine Körpersprache, die mir im Moment als einziges Hilfsmittel zur Ein-
schätzung der Aufrichtigkeit seiner Aussagen zur Verfügung steht, sugge-
riert jedoch, dass er die Wahrheit sagt. Letztendlich müssen seine Anga-
ben aber noch bekräftigt werden.
Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob es so etwas wie ein »fo-
tografisches Gedächtnis« überhaupt gibt. Vielleicht ist es – wie der Yeti –
159

nur ein Mythos, den wir aufrechterhalten, weil wir daran glauben wol-
len. Fakt ist jedoch, dass Rod trotz seines niedrigen Bildungsstands über
ein immenses Wissen und das dazu passende Vokabular verfügt. Wie ich
schon zweimal mit jeweils unterschiedlichen Partnern beobachten konn-
te, liebt er es, Vorträge zu halten, und je hübscher die Zuhörerschaft,
umso eher läuft er zur Höchstform auf. Diese Neigung stellt er auch jetzt
wieder unter Beweis.
Rod ist nach seiner Erläuterung der G-3-Planungen mit einer, wie ich
zugeben muss, eleganten Überleitung auf den historischen Kontext mi-
litärischer Strategien zu sprechen gekommen. Er blickt dabei weit in die
Geschichte zurück. Die Namen Thukydides und Sunzi sind bereits gefal-
len, und als von Hannibal die Rede war, flötete Moody »Elefanten!« da-
zwischen. »Eine Bagatelle in diesem Fall«, hielt Rod dagegen, »de minimis
sozusagen.« Carl von Clausewitz’ Werk Vom Kriege bedachte Rod kurz
mit dem Kommentar »eine viel zu konventionelle Strategie!«. Nun wid-
met er sich Caesars De bello Gallico.
»Gallien in seiner Gesamtheit zerfällt in drei Teile«, rezitiert er.
»Tatsächlich?«, fragt Moody nach. Rod fällt nicht auf, dass ihre Stim-
me ein wenig ermattet klingt, denn er ist zu sehr damit beschäftigt, den
Dozenten zu spielen. Ich nehme den Hinweis jedoch sehr wohl wahr:
Moody wartet darauf, dass ich mich wieder ins Geschehen einklinke.
»Habe ich es nicht gesagt?«, ergreife ich deshalb das Wort. »Rod soll-
te an der Universität Seminare halten.« Rod lächelt mich huldvoll an, als
hätte ich ihm einen Lorbeerkranz zu Füßen gelegt. Auch Moody scheint
dankbar zu sein – vermutlich weil ich sie davor bewahrt habe, Rods Aus-
führungen über den Gallischen Krieg später schriftlich zusammenfas-
sen zu müssen. Ich habe das Gespräch jedoch noch aus einem weiteren
Grund unterbrochen: Wir unterhalten uns nun schon seit zwei Stunden,
und Rod scheint auf seinem Sofa ein wenig unruhig zu werden.
»Möchten Sie eine Toilettenpause einlegen?«, frage ich ihn. »Das Bad
ist gleich dort drüben, vor dem Schlafzimmer links.« Ich strecke meinen
Arm aus wie ein Verkehrspolizist, um sicherzugehen, dass er die von mir
angegebene Richtung einschlägt.
»Nun ja«, meint Rod. »Jetzt, da Sie es ansprechen …«, während seine
Füße bereits der von mir vorgegebenen Wegbeschreibung folgen. Unbe-
wusst hat Rod meine Führungsrolle akzeptiert.
160

Moody wartet, bis wir hören, dass Rod die Badezimmertür abgesperrt
hat, ehe sie mit den Lippen das Wort »interessant« formt. Im Gegenzug
stelle ich pantomimisch das Erklimmen einer Leiter dar. Moody nickt
zustimmend. Während unserer Fahrt nach Orlando hatte ich ihr erklärt,
dass Rod sich bei Themen, die für ihn nicht bedrohlich sind, am gesprä-
chigsten erweisen würde. Dieses Verhalten ist natürlich. Alles, was bis-
lang besprochen wurde, fällt in diese Kategorie. Wir können Rods Erzäh-
lung über Conrad und die beim Kopieren gelesenen Dokumente bei einer
Anklage vor Gericht als aussagekräftige Hintergrundinformation nutzen.
Selbst seine Angeberei kann uns dienlich sein, um zu beweisen, dass Rod
erstens über ein exaktes Erinnerungsvermögen verfügt und zweitens für
die Vereinigten Staaten ein eindeutiges und akutes Sicherheitsrisiko dar-
stellt. Ich hatte Moody aber auch darauf hingewiesen, dass es nötig sein
würde, das Gespräch irgendwann auf den eigentlichen Sachverhalt zu
lenken, sprich auf die in der United States Code Section 794 unter Punkt
18 genannten Spionagedelikte. Indem ich auf meine Armbanduhr zeige,
signalisiere ich ihr, dass dieser Zeitpunkt nun gekommen ist.
Moody nickt bestätigend, während Rod die Badezimmertür öffnet,
sich theatralisch wieder auf dem Sofa niederlässt und seine Aufmerksam-
keit voller Hingebung auf Agent Moody richtet. Ich stehe währenddessen
am Fenster und tue so, als würde ich irgendeinen Tumult auf dem Hotel-
parkplatz beobachten. De facto warte ich nur, bis Rod seinen Platz einge-
nommen hat, bevor ich mich setze. Ich rolle mit meinem Drehstuhl ein
wenig näher an Ramsay heran. Moody greift dieses Signal auf.
»Rod, ich glaube, Agent Navarro möchte etwas sagen«, merkt sie
freundlich an.
»Ja?« Rod dreht sich zu mir um und wirkt zum ersten Mal am heuti-
gen Abend misstrauisch.
»Ich möchte Sie auf keinen Fall in Verlegenheit bringen, Rod, doch
Agent Moody …«
Rod setzt dazu an, mich zu korrigieren, unterlässt es dann aber.
» … ist bei den Vorbereitungen zu unserem Gespräch aufgefallen, dass
in Ihrer Militärakte steht, dass Sie aus wichtigem Grund aus dem Dienst
entlassen wurden. Wären Sie so nett und würden ihr das erklären? Sie
können das bestimmt besser als ich.«
Rod ist die Erleichterung anzusehen.
161

»Ach so«, sagt er und nimmt wieder seinen großzügigen, jovialen Ton-
fall an. »Der Urintest! Also …«
Wir starten erneut zu einer munteren, ganz auf Rod fixierten Zeitrei-
se in die von Drogen, Sex, Rock ’n’ Roll und Bagatellgeschäften auf dem
Schwarzmarkt geprägte Welt im Hauptquartier der 8. Infanteriedivision
im westdeutschen Bad Kreuznach. Inzwischen habe ich diese Geschich-
ten oft genug gehört, um meine Aufmerksamkeit guten Gewissens dros-
seln zu können.
Auch wenn ich nur mit halbem Ohr zuhöre, fällt mir auch dieses Mal
auf, dass Rod von seinem Drogenmissbrauch erzählt, als hätte er nichts
anderes getan, als ein Glas Milch zu trinken. Gleichzeitig handelt es sich
bei Rod um einen Mann, der die Befugnisse hatte, streng geheime Doku-
mente einzusehen, auf die ansonsten nur NATO-Befehlshaber Zugriff hat-
ten. ›Was um aller Welt ist hier los?‹, frage ich mich. Die ganze Geschichte
erweckt den Anschein einer Fallstudie, die aufzeigen soll, welchen Scha-
den eine intelligente Person zentralen staatlichen Strukturen zufügen
kann. Das Problem ist nur, dass wir nicht in einem Hörsaal sitzen und alle
Möglichkeiten durchdiskutieren. Wir befinden uns in einem Zimmer des
Embassy Suites Hotel, und Beweisstück Nummer eins sitzt mir gegenüber,
seine in Socken steckenden Füße erneut auf dem Sofa ausgestreckt.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, mimt Moody mei-
nen perfekten Gegenpart. Vielleicht ist »mimen« aber gar nicht das richtige
Wort – vielleicht geht sie mit Rod nur in der Art und Weise um, wie Mütter
es mit ihrem missratenen Nachwuchs tun. »Hatten Sie keine Angst, erwischt
zu werden?«, fragt sie immer wieder oder äußert besorgt: »Nein, Rod, das
haben Sie nicht wirklich getan.« Einem Durchschnittsbürger mögen diese
Kommentare als banale mütterliche Bemerkungen erscheinen, aber Moo-
dy trägt, wie ich schweren Herzens anerkennen muss, mit ihrem Verhalten
dazu bei, ans Licht zu bringen, dass Rod sich nicht um Regeln oder Geset-
ze kümmert. Rod waren seine Fehltritte nicht peinlich, er war stolz darauf.
Wie jeder Jäger arbeitete er gern in einem beutereichen Umfeld.
Mir geht es, offen gesagt, nicht anders, doch da uns die Zeit davonläuft,
beschließe ich – nachdem ich noch ein, zwei Minuten Rods Geplapper
zugehört habe – zur Sache zu kommen: »Rod, wir alle – Agent Moody
und ich, INSCOM, das FBI und Al Eways – danken Ihnen für Ihre Ko-
operation, aber wir drei – Sie, ich und Agent … Terry – können die vor
162

vier Tagen ausgestrahlte Sendung der ABC nicht außer Acht lassen. Ihre
Mutter hat die Sendung gesehen. Sie haben sie bestimmt gesehen ... [Rod
nickt] Agent Moody hat sie gesehen [auch Moody nickt]. Vermutlich ha-
ben auch fast alle in Washington, DC, sie gesehen.«
»Den Beitrag über die Computerchips?«, fragt Rod, während er sich
aufrecht hinsetzt und eine Zigarette aus der Packung zieht.
»Ja«, bestätige ich. Ich rolle auf meinem Stuhl noch näher an ihn heran
und lehne mich zu ihm nach vorne. Ich sitze zu seiner Rechten, im Ge-
genwinkel zu Moody. »Der Beitrag über die Computerchips. Ich denke
immer wieder darüber nach. Ich habe den genauen Wortlaut nicht mehr
im Kopf, aber es wurde in etwa Folgendes gesagt: ›ABC News konnte in
Erfahrung bringen, dass eine der von Conrad angeworbenen Personen
nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten weiterhin für Conrad tä-
tig war und über eine Briefkastenfirma in Kanada Hunderttausende hoch
entwickelte Computerchips in den Ostblock exportierte. Der Mann, des-
sen Namen wir auf seinen Wunsch hin nicht nennen möchten, gab an,
von Conrad für die Anschaffung des Materials bezahlt worden zu sein.‹«
»Das ist der genaue Wortlaut«, sagt Rod. »Ich bin beeindruckt.«
»Danke. Mich bekümmert die Tatsache, dass meinen Überlegungen
nach nur eine einzige Person als Quelle der ABC infrage kommt, und
zwar …« Ich unterbreche den Satz, um ihn vom Rod beenden zu lassen.
»Ich?«
»Sie, Rod?«, echot Moody, um Rod genau im richtigen Moment Unter-
stützung zu signalisieren. »Aber Sie würden doch nicht …«
»Dieser Produzent, Jim Bamford, hörte nicht auf, meine Mutter zu be-
lästigen. Sie war beunruhigt. Ich dachte, wenn ich ihm diese kleine, frei
erfundene Geschichte erzähle, lässt er sie in Ruhe.«
Das kann sogar ich nachvollziehen. Dorothy hatte mir selbst erzählt,
wie besorgt sie gewesen sei, und weder sie noch Rod hatten ahnen kön-
nen, dass ein Mitarbeiter der FBI-Zentrale Bamford sensible Informati-
onen zuspielen und das gesamte Szenario offenbaren würde, in dem die
Computerchips jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielten.
»Außerdem«, fährt Rod fort, »war das alles nur hypothetisch.«
Ich habe nicht die geringste Neigung, erneut in die hypothetische Welt
einzutauchen, aber da Rod bereit scheint, sich zu öffnen, tue ich alles, um
ihn dabei zu unterstützen.
163

»Hypothetisch? Was meinen Sie damit?«


»Nun ja, es ist kein Verbrechen, über etwas zu sprechen, was man tun
könnte, oder? Terry?«
Moody lässt sich wohlweislich nicht auf diese Diskussion ein und nickt
schweigend in meine Richtung.
»Joe?«
»Ich fürchte, Sie müssen ein wenig konkreter werden, Rod. Hier sind
zu viele Variablen im Spiel.«
»Wenn sich zum Beispiel, rein hypothetisch, zwei Menschen in einem
fremden Land darüber unterhalten, dass sie Computerchips erwerben
und diese an ein anderes Land verkaufen könnten«, erklärt Rod, »könnte
man sie dann strafrechtlich verfolgen?«
Nun bin ich an der Reihe: »Sind die beiden hypothetischen Menschen
in diesem fremden Land amerikanische Staatsbürger?«
Rod: »Vielleicht. Spielt das eine Rolle?«
Ich: »Unter Umständen. Das hängt von einigen weiteren Faktoren ab.«
»Zum Beispiel?«
»Sprechen die beiden nur darüber, oder haben sie die Absicht, Schrit-
te zur Umsetzung dieses Vorhabens einzuleiten?«
»Rein hypothetisch haben die beiden nur darüber gesprochen.«
»Wäre das rein hypothetisch eine Gesetzesübertretung gewesen?«
»Ja, denke ich, rein hypothetisch«, erwidert Rod und zeigt sein schel-
misches Grinsen, das er immer an den Tag legt, wenn er von seinen Mis-
setaten erzählt. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um ein rein
hypothetisches Gespräch über rein hypothetische Computerchips han-
delt.«
Moody: »Rein hypothetisch bin ich ein bisschen verwirrt.«
Rod und ich: »Haha!«
Nun bin ich wieder an der Reihe: »Rein hypothetisch gesprochen, wur-
den also niemals in den USA Waren erworben mit dem Ziel, diese an ein
mit einem Handelsembargo belegtes Land zu verkaufen?«
»Rein hypothetisch gesprochen, nein.« Rod scheint mit dem Ge-
sprächsverlauf sehr zufrieden zu sein, tatsächlich bewegen wir uns aber
auf juristisch äußerst bedenklichem Terrain.
Verschwörungen können strafrechtlich verfolgt werden, wenn eine der
involvierten Parteien Schritte zur Umsetzung einer kriminellen Hand-
164

lung einleitet. Ob die Straftat tatsächlich ausgeführt wird, spielt dabei


keine Rolle. Ein gerichtlich belangbarer Tatbestand besteht bereits, wenn
alle Beteiligten übereinstimmend beschließen, eine strafbare Handlung
durchzuführen, und sich über die Vorgehensweise einig sind. Wenn ich
Rod über diesen Sachverhalt aufkläre, wird er sich sofort wieder in sein
Schneckenhaus zurückziehen. Wenn ich ihm, seinem offenkundigen
Wunsch entsprechend, versichere, dass er nicht belangt werden kann, si-
chere ihm, ohne dazu berechtigt zu sein, Straffreiheit zu. Angesichts die-
ses Dilemmas entscheide ich mich für eine Strategie, von der ich hoffe,
dass sie dem Mittelweg sehr nahe kommt, auch wenn sie der aktuellen Si-
tuation wahrscheinlich eher gerecht wird als Koerners Bewertung mor-
gen Vormittag.
»Ich bin zwar kein Staatsanwalt, Rod«, sage ich deshalb, »aber ich kann
mir nicht vorstellen, dass, rein hypothetisch, ein Strafverfahren eingelei-
tet werden kann, wenn keine Waren erworben oder in ein mit einer Han-
delsblockade belegtes Land verkauft wurden.«
Da Rod meine Äußerung schweigend hinnimmt, fahre ich fort: »Rein
hypothetisch gesprochen, müsste eine der beiden Personen die andere
durch eine Aussage belasten oder über eine Tonbandaufzeichnung des
Gesprächs verfügen. Außerdem müsste eine der Parteien die Compu-
terchips zumindest erwerben und dabei eindeutig die Absicht besitzen,
sie an ein Land zu verkaufen, über das eine Handelssperre verhängt wur-
de. Aus dem Bericht von ABC News geht aber nicht hervor, dass dies tat-
sächlich der Fall war.«
Auf diese Erklärung hin schweigt Rod so lange, dass sogar Moody ner-
vös zu werden scheint. Dann aber entscheidet sich Rod, in die reale Welt
zurückzukehren: »Ich erzähle Ihnen von den Computerchips, wenn ich
absolut sicher sein kann, dass ich nicht verhaftet werde, nur weil ich dar-
über gesprochen habe.«
Da das quälende hypothetische Hin und Her mittlerweile über 30 Mi-
nuten in Anspruch genommen hat, ist es nach meinem Empfinden höchs-
te Zeit, es zu beenden.
»Wie Benjamin Franklin sagte, sind uns nur zwei Dinge auf dieser
Welt sicher, Rod: der Tod und die Steuer. Erzählen Sie uns einfach, was
passiert ist. Keine hypothetischen Überlegungen mehr – kommen wir zu
den Fakten, denn mir schwirrt schon der Kopf. Mein Chef möchte wis-
165

sen, ob wirklich etwas vorgefallen ist und ob tatsächlich Computerchips


an den Ostblock verkauft wurden. Ich bitte Sie also herzlich um Ihre Ko-
operation.« Ich drehe in einer flehenden Geste meine Handflächen nach
oben. »Aber vielleicht möchten Sie erst etwas trinken?« Ich rolle auf mei-
nem Drehstuhl rückwärts zum Couchtisch und öffne die kleine Kühlbox,
die schon die ganze Zeit über dort steht. »Bedienen Sie sich.«

DER ERSTE SCHLUCK, den Rod aus der Pepsi-Flasche nimmt, miss-
glückt – vermutlich weil ihm die Anspannung die Kehle zuschnürt. Er
kippt die Flasche so weit nach hinten, dass ihm Flüssigkeit in die Luft-
röhre fließt und ihm der Rest in die Nase steigt. Er hustet wie wild und
wischt sich mit dem Handrücken die Nase ab. Moody springt auf, holt ein
Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, tupft Rod damit den Hemdkra-
gen ab und klopft ihm sacht auf den Rücken. Während ich Moody beob-
achte, wird mir bewusst, wie wenig Zeit ich mit meiner kleinen Tochter
verbracht habe und wie selten ich ihr die Nase geputzt und sie beim Hus-
ten getröstet habe.
Rod hat gerade die Fassung wiedererlangt, als Moody aus dem Bade-
zimmer zurückkommt. Sie reicht Rod ein feuchtes Handtuch, mit dem
er sich die Hände abwischen kann, und ein Glas. »Daraus trinkt es sich
leichter«, sagt sie, während sie den Rest Pepsi einschenkt. Rod beginnt zu
erzählen.
Er berichtet, dass von den Computerchips zum ersten Mal die Rede
war, als Conrad 1986 auf dem Weg nach Ohio (ob Ohio tatsächlich sein
Ziel war, sei dahingestellt) bei Rod in Boston haltmachte.
»Es war also kein rein privater Besuch?«
»Nein, es steckte mehr dahinter. Ich hatte damals keinen richtigen Job,
und Clyde dachte, so könnten wir beide gutes Geld verdienen.«
»Erklären Sie uns das bitte genauer, Rod. Für Moody und mich ist es
wirklich wichtig, die ganze Geschichte zu erfahren.«
Rod spricht nun wieder im Ton eines Dozenten: »Nun ja, es gibt Com-
puterchips, und es gibt Computerchips. Die technisch ausgereifteren
durften nicht in die Sowjetunion und die anderen Länder des Warschau-
er Paktes ausgeführt werden. Clyde meinte, er wüsste ein Land, das uns
diese Computerchips für eine siebenstellige Summe abkaufen würde,
wenn wir sie in ausreichend großer Menge anbieten könnten.«
166

Rod hebt den Kopf und sieht Moody und mich an. Sein Blick soll uns
verdeutlichen, wie clever und einträglich dieser Plan war. Die damit ver-
bundenen Rechtswidrigkeiten spielen für ihn natürlich keine Rolle – sie
hatten für Rod nie eine besonders hohe Priorität.
»Welches Land könnte Clyde gemeint haben?«, erkundige ich mich.
»Nicht die Sowjetunion«, erwidert Rod. »Mit den Leuten dort ist nicht
gut Kirschen essen. Vielleicht Ungarn. Dort geht es bei Weitem zivilisier-
ter zu.«
Ich frage mich, auf welchen Erfahrungen diese Einschätzung basiert,
sage aber nur: »Das denke ich auch, schließlich ist der Zugang zu Ungarn
über ein Drittland wie Österreich leichter.«
Die Tatsache, dass ich nachvollziehen kann, dass die Wahl eines Lan-
des wie Ungarn effizienter gewesen wäre, lässt Rod vor Freude strah-
len. Vielleicht denkt er, dass ich im Grunde doch nicht ganz dumm bin.
Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er von sich selbst begeistert ist, da er
diese Zusammenhänge so gut erklären kann.
»Was ist dann passiert?«, erkundige ich mich mit der Intention, unser
Gespräch langsam zum Abschluss zu bringen.
»Nichts.«
»Nichts?«
»Es stellte sich heraus, dass das Vorhaben schwieriger umzusetzen war,
als angenommen. Ein Computerchip wäre kein Problem gewesen, auch
nicht ein oder zwei Dutzend. Die technisch ausgereifteren Chips sind
etwa halb so groß wie eine Kreditkarte. Man kann sie, in einem Stofftier
versteckt, problemlos transportieren. Wenn man aber Hunderte Com-
puterchips erwerben will, sieht man sich seitens des Händlers mit vielen
Fragen über die eigene Identität und den Verwendungszweck konfron-
tiert: ›Wie lautet der Name Ihrer Firma?‹, ›In welchem Unternehmens-
register werden Sie geführt?‹, ›Wie lautet Ihre Steuernummer?‹, ›Beab-
sichtigen Sie, die Produkte im Ausland einzusetzen?‹ Das ist schon lästig
genug, von den Verpackungsproblemen und den immensen Vorauszah-
lungen ganz zu schweigen.«
»Eine letzte Frage, Rod, bevor wir für heute Schluss machen: Wie
kommt es, dass Sie über all diese Dinge so gut Bescheid wissen?«
»Ich habe mich, rein hypothetisch, ausführlich mit diesem Vorhaben
befasst.«
167

»ABC News hat Ihre Informationen also missverstanden?«


»Der Plan wurde nicht in die Tat umgesetzt. Es war unmöglich.«
»Gut«, sage ich mit einem Seufzer, der meine Erleichterung ange-
sichts meiner Verantwortung gegenüber Koerner signalisieren soll. »Un-
ser Chef wird sich sicher freuen, das zu hören. Ich hatte schon befürchtet,
dass irgendetwas vorgefallen ist, das uns dazu zwingen würde, Ermittlun-
gen einzuleiten. Unser Chef wird erleichtert sein, dass über den Plan nur
gesprochen wurde und alle anderen Behauptungen Unsinn sind.«
»Wie ist Ihre Meinung, Terry?«, fragt Rod und wendet sich Moody zu.
»Ach, Rod«, erwidert Moody, »ich habe nicht einen Moment an Ih-
nen gezweifelt.«
›Was für eine wunderbare Antwort‹, denke ich, gebe diese Einschät-
zung aber natürlich nicht preis.

ALS WIR ENDLICH alle Möbel wieder an ihren ursprünglichen Platz


gestellt haben, liegt Rod vermutlich längst in seinem Wohnmobil neben
seiner sogenannten Freundin im Bett und träumt von Agent Moody.
Ich ahne bereits, dass ich morgen ein weiteres Mal unserem Bürodra-
chen Shirley gegenüber rechtfertigen muss, diese Befragung in einem
Hotelzimmer durchgeführt zu haben. Oft genug hat sie mich bereits er-
mahnt: »Unser Besprechungsraum steht kostenlos zur Verfügung. War-
um müssen Sie Ihre Befragungen immer ins Waldorf Astoria verlegen?«
Als ob das Embassy Suites Hotel auch nur annähernd etwas mit der Wal-
dorf-Luxuskette zu tun hätte. Ich könnte ihr erneut erklären, dass die
kühle Atmosphäre des Besprechungsraums abschreckend wirkt und Ver-
dächtige schnell dazu veranlasst, einen Anwalt zurate zu ziehen, doch
mir kommt ein Spruch von Mark Twain in den Sinn: »Versuche niemals,
einem Schwein das Singen beizubringen. Du verschwendest deine Zeit
und verärgerst das Schwein.«
Als wir auf den Lift warten, reißt mich Moody aus meinen Tagträumen.
»Wie lautet Ihre Einschätzung, Navarro?«
»Wovon?«
»Na, wie bewerten Sie den Verlauf des heutigen Gesprächs?«
Ich strecke drei Finger in die Höhe.
»Ja … erstens?«, fragt Moody, doch in diesem Moment marschieren
zwei mit geblümten Panama-Jack-Stiefeln bekleidete Touristinnen an uns
168

vorbei. Sie tragen zwei Eiskühler in den Händen und sind eindeutig auf
dem Weg zur Eiswürfelmaschine, die sich hinter den Aufzügen befindet.
Erst als ich die Eiswürfel klappernd in die Eimer fallen höre und sich die
Fahrstuhltür langsam schließt, antworte ich Moody.
»Erstens haben wir ein erstklassiges Eingeständnis der Beteiligung an
einer Verschwörung erhalten. Ramsay hat uns offenbart, dass er und Con-
rad keine Skrupel hatten, über ein gesetzeswidriges Vorhaben zu spre-
chen, das eine Strafanzeige nach sich ziehen könnte, und dass sie beide
dazu bereit gewesen wären, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Au-
ßerdem haben wir erfahren, dass einer von den beiden mit einem poten-
ziellen Käufer in dem mit einem Handelsembargo belegten Land Kontakt
gehabt haben muss. Eine solche Kontaktperson findet man nicht einfach
im Telefonbuch  – vermutlich gab es schon länger einen Verbindungs-
mann, der die Planungen unterstützte.«
»Genau das habe ich mir auch gedacht. Zweitens?«
»Zweitens werde ich morgen mächtig eins aufs Dach kriegen.«
»Wegen der rein hypothetischen Straffreiheit?«
»Das ist Ihnen aufgefallen?«
»Mir war nicht klar, worauf Sie abzielten oder worauf Rod abzielte,
aber ich denke, Sie haben recht: Diese Äußerung wird der Klärung be-
dürfen. Allerdings …«
»Allerdings?«
»Allerdings stehe ich in dieser Sache hinter Ihnen. Ich denke nicht,
dass Sie mit Ihrer Äußerung einen Regelverstoß begangen haben, und ich
bin mir sicher, dass wir die relevanten Informationen nur erhalten haben,
weil Sie dieses Risiko auf sich genommen haben. Rod hat Sie gefragt, und
Sie haben versucht, ihm eine Antwort zu geben – und Sie haben Ihre Ant-
wort mit dem Hinweis eingeleitet, dass Sie kein Staatsanwalt sind.«
»Danke. Ich weiß Ihre Unterstützung zu schätzen.« Ich bin unglaub-
lich froh darüber, dass ich diesen Hinweis, kein Staatsanwalt zu sein,
habe einfließen lassen. Vielleicht ist das meine Rettung. Außerdem be-
eindruckt mich Moodys Leistung am heutigen Abend immer mehr.
»Und drittens?«
»Drittens kratzen wir trotz allem nur an der Oberfläche. Rod verfügt
über wesentlich weitreichendere Informationen, und ich glaube, er ist be-
reit …«
169

»… uns sein Herz auszuschütten?«


»Vielleicht.«
»Oder?«
»Sie noch mehr zu beeindrucken.«
Als wir den Parkplatz verlassen und auf den International Drive ab-
biegen, merke ich, dass auch ich das Bedürfnis habe, mein Herz auszu-
schütten.
»Viertens.«
»Viertens?«, fragt Moody mit gespielter Verwunderung. »Da ist noch
etwas?«
»Ja. Viertens hatten Sie recht: Nirgendwo im FBI-Handbuch steht, dass
ich ein Arschloch sein muss.«
»Nicht immer und überall?«
»Nein, nicht immer und überall.«
Moody lehnt sich auf dem Beifahrersitz zurück und verschränkt ihre
Hände unter ihrem kleinen Babybauch. »Ich bin wirklich erleichtert, das
zu hören.«
11
DER KLÜGSTE VON UNS

6. November 1989

Jay Koerner nimmt meinen unglücklichen Vorstoß in Richtung poten-


zielle Straffreiheit gelassener auf als vermutet – zumindest springt er nicht
über den Schreibtisch und prügelt mit Fäusten auf mich ein. Er hat allen
Grund, verärgert zu sein, doch er weiß auch, dass die weitere Bewertung
in den Händen der Juristen liegt. Als ich meine Beichte ablege, ist auch
Moody in Koerners Büro. Koerner ist Gott sei Dank altmodisch genug,
um gerne den Gentleman zu spielen, wenn Damen anwesend sind. Au-
ßerdem hat mir Moody hervorragende Schützenhilfe geleistet, obwohl
sie mich auch im Regen hätte stehen lassen können.
»Alle Aussagen waren rein hypothetisch«, erklärt sie Koerner immer
wieder. »Es wurde nichts Konkretes versprochen. Joe ist dem Modus von
Rods Fragestellung gefolgt und hat seine Antwort unter dem Vorbehalt
formuliert, kein Staatsanwalt zu sein.«
172

Ich bin dankbar für Moodys Unterstützung. Es fällt mir schwer, un-
ter den anderen Kollegen, die ich der Reihe nach vor Dienstbeginn um
8:00 Uhr das Gebäude betreten sehe, jemanden auszumachen, der in ei-
ner Situation wie dieser für mich Partei ergriffen hätte. Am Ende der Un-
terredung einigen wir uns auf die folgende Strategie: Wir führen die für
heute Abend angesetzte Befragung wie geplant durch. Sollten erneut ir-
gendwelche rein hypothetischen Anfragen an mich gerichtet werden
oder sollte noch einmal das Thema Straffreiheit aufkommen, werde ich
meinen Mund halten (Mrs Moody ist ganz aus dem Häuschen angesichts
der Aussicht, für die Einhaltung dieser Regel sorgen zu dürfen). Morgen
Vormittag werde ich mich dann mit meinem Freund Greg Kehoe tref-
fen. Greg ist als erster Assistent des United States Attorney im mittleren
Gerichtsbezirk von Florida für die Strafverfolgung von Bundesverbre-
chen zuständig und wird den Fall Ramsay übernehmen, sollte es zu einer
Anklage kommen – »und danach sieht es im Moment aus«, wirft Koer-
ner ein, »wenn Agent Navarro die Angelegenheit nicht völlig versaut hat.
Entschuldigen Sie bitte.« Den letzten Satz richtet er mit reuigem Blick an
die sittsame Mrs Moody.
Moody und ich sitzen nun eine Straße vom FBI-Gebäude entfernt im
Zack Street Sandwich Shop am linken Ende der Theke. Ich mag das Lo-
kal nicht. Aus naheliegenden Gründen sind zahlreiche Agenten zugegen,
und der Einzige, der sich nicht daran zu stoßen zu scheint, Mrs Moo-
dy und mich so eng beieinandersitzen zu sehen, ist Mr Moody. Er winkt,
umringt von seinen Kollegen aus der Abteilung für Wirtschaftskrimina-
lität, fröhlich von einem Tisch am anderen Ende des Lokals zu uns hin-
über. Noch viel schlimmer ist, dass der Kaffee im Zack Street Sandwich
Shop schrecklich dünn ist. Ich habe versucht, Mrs Moody zu überreden,
unsere morgendlichen Einsatzbesprechungen im Perrera’s abzuhalten,
doch Moody behauptet, der kubanische Kaffee sei so stark, dass ihr Kind
in ihrem Bauch den ganzen Tag über treten und boxen würde und spä-
ter vermutlich mit drei verschiedenen Formen von Aufmerksamkeitsde-
fizit-/Hyperaktivitätsstörung zu kämpfen hätte.
»Unsinn«, erkläre ich, »Kubaner sind die entspanntesten, gelassensten,
lockersten und lässigsten Menschen auf der Welt. Mañana, no problema.«
»Wie Fidel Castro während einer seiner vierstündigen Ansprachen?«
»Ausnahmen bestätigen die Regel.«
173

»Oder wie Ricky Ricardo in I love Lucy?«


»Ohhh, der Vergleich hinkt.«
»Wie steht es mit Ihnen, Navarro?«, fragt Moody mit breitem Grinsen.
Sie weiß genau, dass sie damit einen wunden Punkt berührt.
»Ich bin gelassen. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
»Das Einzige, das bei Ihnen für Entspanntheit spricht, ist das Foto in
Ihrem Büro.«
Ich weiß sofort, welches Foto sie meint, denn es gibt nur eines in mei-
nem Büro: Meine Tochter ist 18 Monate alt, frisch gebadet und in ein gro-
ßes Handtuch gewickelt. Ich halte sie in den Armen. Diese Bild steht auf
meinem Schreibtisch. »Ansonsten sind Sie wie ein Orkan, Navarro, und das
ist noch eine freundliche Bezeichnung. Ich bin heute in sanfter Stimmung.«
»Ich sehe mich überhaupt nicht so.«
»Das liegt daran, dass kein Spiegel einem Wirbelsturm standhält.«
»Verstanden. Können wir nun über etwas Wichtiges sprechen?«
»Ich dachte, das täten wir bereits.«
»Etwas Wichtiges, worüber ich sprechen möchte. Ein Thema, das für
den Fall von Bedeutung ist.« Ich äußere diese Worte, ohne darüber nach-
zudenken, und der Blick, mit dem Moody darauf reagiert, ist so mitleids-
voll, dass ich sie am liebsten zurückgezogen hätte.
»Also gut, Joe«, sagt Moody nach einer langen Pause. »Was ist das für
ein wichtiges Thema, über das Sie reden möchten und das für den Fall
von Bedeutung ist?«
»Über die bei Befragungen zu verwendende Sprache. Darüber, welche
Wörter wir benutzen und welche wir vermeiden.«
»Aha!« Moodys Stimme signalisiert, wie ich meine, echtes Interes-
se. Ich lege wenig Wert auf einen geselligen Umgang mit meinen Kolle-
gen, aber ich habe Spaß daran, Jüngeren etwas beizubringen, und Moo-
dy scheint an meinen Erklärungen interessiert zu sein. In dieser Hinsicht
gleicht sie Lynn. Sie weiß, dass sie in einer noch immer von Männern do-
minierten und Frauen voreingenommen gegenüberstehenden Behörde
viel lernen muss, und ich bin mir sicher, dass sie den Eindruck hat, härter
als ihre männlichen Kollegen arbeiten zu müssen, um sich zu behaupten.
In meinem Fall ist das anders: Ich habe bei meinen Einsätzen meist mit
Partnerinnen zusammengearbeitet. Keine davon hat mich hängen lassen,
und ich gehe davon aus, dass Terry das auch nicht tun wird.
174

»Spionage«, sage ich.


»Spionage?«
»Spionage ist ein Wort, das keiner von uns beiden während einer Be-
fragung Rods jemals in den Mund nehmen wird.«
»Warum nicht?«, fragt Moody, ohne mich provozieren zu wollen.
»Wenn ich einen potenziellen Bankräuber verhöre, komme ich zwangs-
läufig irgendwann darauf zu sprechen, dass eine Bank überfallen und
Geld gestohlen wurde. Bei einem Mord oder jedem anderen Verbrechen
ist das genauso.«
»Nicht bei Spionage«, erwidere ich, während unsere Kellnerin Linda mit
ihrem schief sitzenden Haarnetz einen Teller mit Spiegeleiern und vier hal-
ben Scheiben gebuttertem Vollkorntoast, die schon ganz kalt und labberig
aussehen, vor mir hinstellt. »Bei einem Bankraub geht es ausschließlich da-
rum herauszufinden, wer ihn begangen hat, und dem Täter ein Geständ-
nis zu entlocken  – oder zumindest ausreichend Beweismaterial für eine
Anklage zu sammeln. Bei einem Mord ist es nicht anders: Man findet eine
Leiche, klärt durch eine forensische Untersuchung deren Identität und die
Todesursache, stellt eine Beweiskette zwischen dem Verdächtigen, dem Ta-
thergang und dem Opfer her und bringt den Fall vor Gericht. Bei Spio-
nagefällen spielt das konkrete Verbrechen sozusagen eine untergeordne-
te Rolle. Selbst wenn wir zweifelsfrei beweisen können, dass Conrad und
Ramsay, sollte er beteiligt gewesen sein, Spionage betrieben haben, gibt es
kein Corpus Delicti, das wir aus Ungarn oder der Sowjetunion zurückho-
len können. Es gibt keine Leiche und vermutlich auch keine hinter einer
Falltür versteckte Tasche voller Geld. Stattdessen kursieren höchst sensible
Informationen in feindlichen Kreisen, und solange wir nicht wissen, wel-
che Geheimnisse verbreitet, das heißt, welche Akten kopiert, gestohlen und
weitergeleitet wurden, können wir nicht einschätzen, in welchem Maße die
Sicherheit unseres Landes oder unserer Bündnispartner gefährdet ist.«
»In welchem Zusammenhang steht das mit der Maxime, das Wort ›Spi-
onage‹ nicht äußern zu dürfen?« Moody hat ihren Joghurt mit Früchten
nicht angerührt, und meine Spiegeleier sehen inzwischen versteinert aus.
»Sobald wir das konkrete Verbrechen benennen, wird Rod sich be-
wusst mit den rechtlichen Konsequenzen auseinandersetzen und viel-
leicht sogar eine mögliche Todesstrafe im Kopf haben, wie sie über Ethel
und Julius Rosenberg verhängt wurde. Er wird sich einen Anwalt nehmen
175

und kein Wort mehr sagen. Wir haben dann keine Möglichkeit mehr her-
auszufinden, welchen Schaden Rod und Conrad angerichtet haben.«
Statt zu antworten, bittet Moody die Kellnerin um eine weitere Tasse
Tee und wendet sich ihrem gesunden Frühstück für werdende Mütter zu.
Ich habe den Verdacht, erneut zu weit gegangen zu sein, doch nachdem
Moody die letzte Erdbeere gegessen und den Teebeutel mit dem Löffel
ausgedrückt hat, sieht sie mich so konzentriert und aufmerksam an, wie
es sich ein Lehrmeister nur wünschen kann.
»Wie werden wir also vorgehen?«, fragt sie.
»Wir werden ihn  – über den gestern erreichten Punkt hinaus  – die
Leiter weiter hinaufklettern lassen, bis er uns von sich aus, ohne dass
wir das Wort in den Mund nehmen, erzählt, dass er Spionage betrie-
ben hat, und uns erklärt, wie und mit wem. Anschließend wird uns der
Mistkerl bis ins Detail schildern, welche Dokumente er entwendet hat.«
»Und wie, Agent Navarro, werden wir all diese Wunder bewirken?«, fragt
Moody mit ironischem Grinsen.
»Indem wir ihm das Gefühl geben, dass er von uns allen der Klügs-
te ist.«

WIR TREFFEN ROD erneut am Abend im Embassy Suites Hotel, ha-


ben diesmal aber Vorkehrungen getroffen. Rods Eingeständnis, mit Con-
rad zumindest darüber gesprochen zu haben, hoch entwickelte Compu-
terchips verbotenerweise in ein fremdes Land zu verkaufen, hat mich
dazu veranlasst, mit einem minimalen Überwachungsaufgebot zu arbei-
ten: Auf dem Hotelparkplatz hat ein Kollege Position bezogen, ausgestat-
tet mit einem Foto von Rod und einer Beschreibung von Rods verroste-
tem Dodge Aries, den er fährt, wenn er nicht gerade hinter dem Steuer
eines blitzblanken Taxis sitzt. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass
Rod in dieser Phase der Ermittlungen die Flucht ergreift, nicht besonders
hoch ein, und ein Mann reicht aus, um dieses Vorhaben zu vereiteln. Mir
liegt viel mehr daran zu erfahren, wo unser Verdächtiger nach der Befra-
gung hinfährt. Zurück in sein Wohnmobil, um dort weitere Kränkungen
zu erdulden? An irgendeinen Ort, an dem er sich mit seinem geliebten
Cannabis eindecken kann? Vielleicht hat er auch immer noch Kontakt zu
einem fremdländischen Gönner – allerdings scheint sich, sofern eine sol-
che Verbindung besteht, diese nicht in finanziell positiver Weise auszu-
176

wirken, zumindest soweit dies nach Rods Lebensstil zu beurteilen ist. Au-
ßerdem ist es ein durchaus angenehmes Gefühl, wenn mir zwei Piepser
auf meinem Pager signalisieren, dass die von mir erwartete Person nur
noch zwei Schritte vom Hoteleingang entfernt ist.
Wie am Vorabend zeigt sich Moody sofort besorgt angesichts des Ge-
wichts, der Ernährungsweise und der Gesundheit eines der Anwesenden.
Zu meiner großen Überraschung richtet sie ihre Aufmerksamkeit nicht
auf Rod, sondern auf mich.
»Sehen Sie, was ich sehe?«, fragt sie Rod und hält ihn am Ellenbogen.
»Aber ja«, antwortet Rod. Er hat nicht die geringste Ahnung, wovon
Moody spricht, freut sich aber wie ein Schneekönig, von einer energisch
zur Tat schreitenden Frau in Obhut genommen zu werden.
»Wann sind Sie Agent Navarro zum ersten Mal begegnet? Vor einem
Jahr?«
»Vor über 14 Monaten«, erklärt Rod. »Agent Eways war damals noch
mit dabei.«
»Und wie viel hat Agent Navarro Ihrer Schätzung nach damals im Ver-
gleich zu heute gewogen?«, hakt Moody sofort nach.
Moody und Rod mustern mich von Kopf bis Fuß, als wäre ich ein hal-
bes Rind, das in einem Schlachthaus am Haken hängt.
»Etwa fünf Kilo mehr, würde ich sagen. Er magert ab«, meint Rod.
»Das meine ich auch«, bestätigt Moody und wirft Rod ein strahlendes
Lächeln zu. »Und was machen wir mit jemandem, der sich nicht richtig
ernährt?«
»Wir verhelfen ihm zu einem ordentlichen Abendessen.«
»Und?«
»Sorgen dafür, dass er seinen Salat aufisst.«
»Selbst wenn …«
»Selbst wenn es die ganze Nacht dauert und wir ihm jedes Blatt ein-
zeln füttern müssen.«
15 Minuten später sitzen wir im Hotelrestaurant – am selben Tisch wie
am Abend zuvor. Vor mir stehen ein 800g-medium-rare-Porterhouse-
Steak, eine Ofenkartoffel (ohne Sour Cream) und ein mit einem Hauch
von Öl und Balsamico angemachter Salat, an dem ein Kaninchen seine
reine Freude gehabt hätte. Rod hat sich ohne Aufforderung von Mutter
Moody dasselbe Gericht bestellt.
177

›Moody macht ihre Sache gut‹, denke ich. ›und sie hat recht.‹ Ich bin
kein Modefanatiker, aber bemüht, mich ordentlich anzuziehen, und mir
ist aufgefallen, dass mir seit einiger Zeit meine Kleidung zu weit ist. Mein
Gürtel hat bereits ein Loch zu wenig, um meine Hose damit eng um mei-
ne Taille schnallen zu können, die längst nicht mehr den Umfang von
96 Zentimetern hat. Dass ich wie heute Morgen, als ich nur eine halbe
Scheibe Toast gegessen habe, mein Essen mindestens zur Hälfte stehen
lasse, weil meine Gedanken bereits fieberhaft um die zu erledigende Ar-
beit kreisen, kommt im Moment viel zu oft vor. Ich renne ständig der Zeit
hinterher, während mein Körper dringend nach einem anderen Rhyth-
mus und vor allem nach mehr Schlaf verlangt.

WIR SIND HEUTE in Suite 416 – ein Stockwerk höher, doch die Raum-
aufteilung ist identisch. Moody und ich haben das Sofa, den Lehnstuhl,
den Couchtisch und den kleinen Tisch mit der Lampe exakt wie am
Abend zuvor positioniert (diesmal ohne unsere kleine Streiterei wegen
des Couchtischs). Der Drehstuhl mit Rollen, der in der Mitte des Raumes
steht, scheint derselbe zu sein wie gestern.
›Showtime‹, denke ich, denn Rod, der gerade mit nervösen Händen
eine Zigarette aus der Packung geschüttelt und angezündet hat, liefert uns
einen denkwürdigen Einstieg.
»Übrigens«, sagt er, doch sein Tonfall klingt alles andere als beiläufig,
»habe ich erneut einen Anruf von Bamford erhalten.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein.« Rod klingt so wenig überzeugend, dass Moody ihn ermahnt:
»R-o-d?«
Rod nimmt einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Na ja, vielleicht ein
bisschen.«
»›Ein bisschen‹ wie in ›ein bisschen schwanger‹?« Meine Frage veran-
lasst uns beide, einen kurzen Blick auf Moodys Bauch zu werfen.
»Ich habe ihm aber nichts erzählt«, behauptet Rod mit dem Tonfall ei-
nes Vierjährigen, der darauf beharrt, nichts mit der zu seinen Füßen in
Scherben liegenden Vase zu tun zu haben.
»Beantworten Sie mir nur eine Frage, Rod«, schlage ich vor, »dann las-
sen wir das Thema ruhen. Haben Sie Bamford erzählt, dass Sie mit uns –
mit Moody und mir – gesprochen haben?«
178

»Ich konnte nicht lügen«, erwidert Rod.


Am liebsten würde ich ihn anschreien: ›Lügen ist das, was Sie am bes-
ten können, verdammt noch einmal! Lügen und betrügen, Staatsgeheim-
nisse stehlen, mit Hasch handeln und jede Nacht am Arsch der Welt in
Ihrem heruntergekommenen Wohnmobil gehörnt werden!‹ Stattdes-
sen atme ich tief ein, zähle  – wie ich es mir für Situationen wie diese
mit mehr oder weniger Erfolg antrainiert habe – bis fünf und sage mit
möglichst ruhiger Stimme: »Rod, machen Sie mir bitte das Leben nicht
schwer, okay?« Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein hinzuzufügen: »Und
Mrs Moody auch nicht.«
Vielleicht ist es der Hinweis auf Mrs Moody, der die gewünschte Reak-
tion auslöst: Rods Blick wirkt entschlossen, und er lächelt uns beide ent-
schuldigend an. »Das werde ich nicht, ganz bestimmt nicht«, sagt er. Aber
natürlich kann man einem Lügner nicht vertrauen.
Es ist höchste Zeit, das Gespräch voranzutreiben. Wenn sich Bamford
nach wie vor bei Rod meldet, ist ABC News weiterhin an der Geschich-
te interessiert. Das wiederum bedeutet, dass wir den Fall Rod Ramsay
abgeschlossen haben müssen, bevor Rod sich erneut in einer abendli-
chen Nachrichtensendung als Hauptfigur wiederfindet. Ich spreche also
das Thema an, das ich ohnehin zu Beginn der heutigen Befragung an-
schneiden wollte.
»Sie haben uns sehr damit geholfen, dass Sie gestern offen und ehrlich
von Conrad und dem geplanten Verkauf der Computerchips erzählt ha-
ben. Wir wissen das sehr zu schätzen, und ich versichere Ihnen, dass un-
ser Chef Ihnen ebenfalls dankbar ist.«
Rod lächelt anerkennend.
»Wir sind immer noch dabei, den deutschen Behörden zu helfen, ein
vollständiges Bild von Conrad zu erhalten – welcher Motivation er ge-
folgt ist etc. Nun haben die Deutschen angefragt, ob Sie uns vielleicht
über Conrads Verhältnis zu Geld Auskunft geben könnten.«
»Soll heißen?«
»Wir sprechen zum Beispiel von Gold. Nach Angaben der deutschen
Behörden gibt es Hinweise darauf, dass Conrad Goldmünzen gesammelt
hat.«
»Aus gutem Grund.« Rod greift das Thema gerne auf – wie erwartet, ist
es ihm lieber, nicht über sich selbst sprechen zu müssen. »Clyde hatte nie-
179

mals Geldprobleme. Eines Nachmittags zeigte er mir in seinem Haus in


Bosenheim eine große – wirklich große – Schachtel mit einer imposan-
ten Sammlung von Goldmünzen.«
»Wie viele Münzen hatte er?«
»Das weiß ich nicht«, erwidert Rod. »Er besaß Goldmünzen aus aller
Welt, darunter viele südafrikanische Krügerrand-Münzen. Er verwahrte
sie in einer Schachtel wie andere Menschen Kleingeld für die Parkuhr.«
»Hat Conrad erzählt, wie viel die Münzen in der Schachtel insgesamt
wert waren?«
»Nein«, antwortet Rod rasch, »aber der Wert lag bestimmt bei ­einigen
Zehntausend Dollar, und Clyde besaß mehrere solcher Schachteln.«
»Er hatte mehrere?«
»Selbstverständlich. Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber
Sie und Terry sind Regierungsangestellte, die sich vermutlich von einer
Gehaltszahlung zur nächsten hangeln.« ›Das sagt der Richtige‹, denke
ich, während Rod uns mitleidig ansieht. »Clyde war anders gestrickt. Ihm
lag daran, im Besitz einer Währung zu sein, die auch in schlechten Zeiten
nicht an Wert verliert und die man überall einlösen kann.«
»Warum?«, fragt Moody in bester Schulmädchenart.
»Clyde dachte immer an die Zukunft und daran, wie es für ihn enden
könnte. Es war ihm wichtig, das Geld im Notfall vergraben zu können.«
»Was für ein Notfall?«, frage ich möglichst gelassen, um nicht preis-
zugeben, wie sehr ich an einer Antwort interessiert bin. »Warum hätte er
das Geld vergraben sollen? Wer macht denn so etwas?«
»Clyde wollte verbergen, dass er zusätzliche Einkommensquellen hat-
te«, antwortet Rod vergnügt. »Er plante alles sorgfältig.«
Eine zusätzliche Einkommensquelle war uns bereits bekannt, doch Con-
rads Schwarzmarktgeschäfte hatten ihm sicher nicht genug eingebracht,
um Krügerrand-Münzen im Garten vergraben zu müssen. Rods Offenba-
rung bringt uns eindeutig auf eine höhere Ebene. Ich bemerke, dass Moo-
dy ungeduldig darauf wartet, unter dem Vorwand, der schwachen Blase
einer Schwangeren gehorchen zu müssen, ins Bad zu eilen und sich dort
Notizen über das eben Gehörte zu machen. Mir erscheint es  – auch in
Rods Sinne – jedoch zu früh, um auf ihre Anwesenheit zu verzichten.
Statt das Thema zu wechseln, weite ich es gewissermaßen aus: »Clyde
war offensichtlich kein Dummkopf. Das zeigt Sammeln von Goldmünzen.«
180

»Gut erkannt, Agent Navarro«, erwidert Rod und wirft Moody einen
Blick zu, mit dem er sich über mich lustig macht.
»Es liegt auf der Hand, dass er für die Zukunft vorgesorgt hat. [Rod
nickt nachdrücklich mit dem Kopf.] Bestimmt hat er auch ein paar Helfer
organisiert. Helfer, die zum Beispiel seine ›Geschäfte‹ weiterführen wür-
den, sollte er gezwungen sein, die Goldmünzen auszugraben und in ein
anderes Land zu flüchten. Ist das richtig? [Rod nickt zweimal.] Und diese
Helfer musste er sorgfältig auswählen.«
Moody liefert statt Ramsay die Bestätigung: »Natürlich musste er das!«
Rod nickt.
Ich: »Es mussten Menschen sein, denen er vertraute – kluge Köpfe, die
bereit waren, bis an die Grenze zu gehen. Menschen, die ebenso schlau
waren wie er selbst.«
»Das würde absolut Sinn machen«, bestätigt Rod und legt die Beto-
nung auf das Wort absolut.
Ich: »Fast alle Kumpel von Clyde, von denen Sie bisher erzählt ha-
ben – ich glaube, Sie haben Sie Poker-Pokerspieler genannt [Rod nickt] –,
scheinen keine Intelligenzbestien gewesen zu sein, sondern ein paar Trot-
tel aus Oklahoma und West Virginia, deren Grips gerade mal reichte, um
Zigarettenmarken auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Kann man das
in etwa so sagen?«
»Man kann durchaus davon ausgehen«, erklärt Rod, »dass Clyde und
ich uns auf einer höheren intellektuellen Ebene bewegten als die Men-
schen um uns herum.«
»Sie beiden agierten auf einer höheren intellektuellen Ebene«, betone
ich. Rod lächelt über das ganze Gesicht. Moody schweigt, doch ich sehe
ihr an, dass sie rätselt, worauf ich hinauswill.
Rod streckt in einer selbstbewussten Geste die Arme aus, lehnt sich zu-
rück und legt die Hände auf die Sofalehne. »Lassen Sie es mich so sagen:
Clyde und ich spielten in einer eigenen Liga.«
»Das glaube ich sofort. Vielleicht liege ich falsch, aber ich würde davon
ausgehen, dass Clyde jemanden brauchte, der nicht nur intelligent, son-
dern auch … nennen wir es einmal ›geschäftstüchtig‹ war.«
»Damit liegen Sie richtig.«
»Jemanden, der den Weitblick, Scharfsinn und Mut besaß, Clydes Ge-
schäfte weiterzuführen, sollte es zum Äußersten kommen.«
181

Hinter dem leichten Achselzucken, mit dem Rod auf meine Äußerung
reagiert, scheint wesentlich mehr zu stecken.
»Meiner Ansicht nach, Rod …« Ich bringe meinen Drehstuhl unmit-
telbar vor Rod zum Stehen und blicke ihm direkt in die Augen. »… gab es
in dem gesamten mechanisierten Verband der 8. US-Infanteriedivision
in Bad Kreuznach nur eine einzige Person, die für diese Aufgabe infrage
kam. Was meinen Sie: Ist diese Person heute hier anwesend?«
Rod weicht meinem Blick aus, doch als Moody sich auf ihrem Lehn-
stuhl nach vorne beugt, huscht ein verlegenes Lächeln über sein Gesicht.
»Rod, ich glaube, die Person, von der ich gerade gesprochen habe, sind
Sie.«
Rod windet sich auf dem Sofa und ich kann ihm den Konflikt, der
sich in seinem Kopf abspielt, beinahe von der Stirn ablesen: Sein na-
türlicher Instinkt, sich selbst zu verteidigen und die von mir aufgestell-
te Behauptung zu verneinen, kämpft gegen sein ureigenes Bedürfnis, als
kluger, raffinierter Unternehmer und ebenbürtiger Partner beziehungs-
weise, wenn nötig, Nachfolger von Clyde Conrad – dem Mann, den er
von allen Menschen am meisten zu schätzen scheint  – anerkannt zu
werden. Wie ich gehofft und fast vermutet hatte, entscheidet sich Rod
dafür, dem in seinem Innersten tobenden narzisstischen Verlangen
nachzugeben.
»Gut kombiniert, Agent Navarro.« Rod setzt sich aufrecht hin und er-
widert nun meinen Blick. »Ich war Clydes rechte Hand – seine ›bessere
Hälfte‹, wie er mich nannte.«
»Das hoffe ich doch!«, ergreift Moody das Wort. »Clyde Conrad hätte
keinen besseren Partner finden können.«
Einerseits würde ich am liebsten aufspringen und Rod wegen seiner
anmaßenden Bemerkungen wie ›gut kombiniert‹ und ›bessere Hälfte‹
ohrfeigen, andererseits könnte ich Moody dafür umarmen, wahrgenom-
men zu haben, dass wir mit diesem Bekenntnis lediglich die erste Sprosse
der Leiter erklommen haben, und genau den richtigen Ton getroffen zu
haben, um die Aufwärtsbewegung fortzusetzen. Stattdessen rolle ich mit
meinem Stuhl zurück – ein psychologischer Trick, um Rod eine Atem-
pause zu verschaffen und seinem Unterbewusstsein Anerkennung für
das soeben geleistete Eingeständnis zu signalisieren. Anschließend schla-
ge ich ihm eine Toilettenpause vor.
182

»Das Bad ist dort hinten.« Wie am Vorabend weise ich ihm mit der
Hand den Weg. Ich bin der Schrankenwärter, der über den Zugang zum
Essen, zu Getränken und zur Toilette entscheidet. Ohne darüber nachzu-
denken, ob für ihn ein Gang zur Toilette überhaupt notwendig ist, steht
Rod auf und hat, kaum habe ich den Satz ausgesprochen, das Badezim-
mer bereits erreicht.

ALS MOODY von ihrer Stippvisite im Bad zurückkehrt und wieder auf
ihrem Lehnstuhl Platz nimmt, sprechen Rod und ich – wie könnte es an-
ders sein? – über Frauen.
»Etwas Kaltes zu trinken?«, frage ich Moody und schwenke meine
­Coladose in ihre Richtung.
»Nein danke«, erwidert sie, ohne mir wie am Vorabend vorzuschlagen,
auch Rod ein Getränk anzubieten. Rod folgt der Bewegung meiner Cola-
dose mit angetanem Blick. ›Du musst dir dein Getränk erst verdienen, du
Mistkerl‹, denke ich und eröffne die zweite Runde der Befragung mit ei-
nem vorsichtigen Schritt auf die nächste Leitersprosse zu.
»Nun, da erwiesen ist, dass Sie der [ich verleihe dem Artikel übermä-
ßige Betonung] Experte in Sachen Clyde Conrad sind, würde mich inte-
ressieren, worin Clydes größte Talente lagen.«
»Er war besonders gut darin, Unsinn zu erzählen und andere hinters
Licht zu führen«, erwidert Rod. »Und es gelang ihm hervorragend, sich
unverzichtbar zu machen und damit allen Fragen aus dem Weg zu gehen.
Clyde arbeitete mit sämtlichen psychologischen Tricks.«
Moody: »Zum Beispiel?«
»Die Offiziere wechselten alle 18 Monate. Die Neulinge benötigten je-
des Mal viel Zeit, um sich in der Abteilung einzuarbeiten. Clyde hingegen
bekleidete seit über zehn Jahren denselben Posten. Er hatte längst her-
ausgefunden, wie man das System manipulieren konnte. Er führte immer
irgendetwas im Schilde, schmiedete ständig Pläne, für die er sich dann
immer voll und ganz einsetzte. [In Rods Tonfall schwingt Bewunderung
mit.] Den Leitenden gegenüber bot er aber immer ein perfektes Bild.«
Ich: »›Den Leitenden gegenüber?‹ Das klingt, als würden Sie von einer
Versicherungsgesellschaft sprechen.«
»Also gut: den Obersten gegenüber. Klingt das besser, Agent Navar-
ro?« Erneut würde ich ihm am liebsten an die Kehle springen. »Die Ge-
183

neräle dachten, Clyde hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen. Vor jeder
militärischen Übung wurde sein Rat eingeholt. Clyde kannte die geogra-
fischen Gegebenheiten, und er kannte die Strategiepläne. Er hatte jeden
taktisch relevanten Standort persönlich in Augenschein genommen und
kannte die einzelnen Dörfer wie seine Westentasche. Die Generäle hatten
von diesen Orten nur gelesen oder sie auf Karten verzeichnet gesehen –
Karten, nebenbei bemerkt, die Clyde und ich gezeichnet hatten. Wir ha-
ben die einzelnen Orte auf unseren Erkundungsgängen besichtigt. Ich
hatte Lynn und Ihnen davon erzählt, erinnern Sie sich?«
»Ich erinnere mich«, erwidere ich. Ich bin mir sehr wohl bewusst, das
Rod mich gerade auf die Probe gestellt hat.
»Anders als die Generäle, die in schwarzen Geländewagen herumfuh-
ren, gingen Clyde und ich die Straßen, Radwege und Felder zu Fuß ab.
Wir konnten den Generälen genau sagen, ob eine Straße breit genug war,
um sie mit einem Panzer zu befahren, oder ob ein Feld im Frühjahr unter
Wasser stand. Diese Informationen, die keiner der Offiziere liefern konn-
te, waren von unschätzbarem Wert.«
»Das war alles?« In meiner Stimme schwingt leichte Enttäuschung mit.
»Sie sind durch das Gelände spaziert, damit sich die Generäle nicht ihre
auf Hochglanz polierten Schuhe schmutzig machen mussten?«
»Nein«, entgegnet Rod. »Es steckte mehr dahinter. Viel mehr.«
»Möchten Sie uns einweihen?«
»Wir kannten nicht nur jede Straße und jeden Engpass, in dem die
Truppen stecken bleiben würden. Clyde kannte auch jedes Gasthaus und
jeden Hotelbesitzer. Da er fließend Deutsch sprach, sorgte er dafür, dass
die Offiziere während der Manöver stets die besten Zimmer erhielten.«
»Was erhielt er als Gegenleistung?«
»In Gegenzug stellten ihm die Offiziere, die sich auf seine Kompetenz
und seine Deutschkenntnisse verließen, hervorragende Beurteilungen aus.
Er hatte sich einen geschlossenen Kreislauf bester Referenzen aufgebaut
und brachte mir bei, so ein System auch für mich zu etablieren.« Eine kurze
Pause signalisierte, dass Rod nicht wusste, wie er fortfahren sollte. »Für den
Fall, dass er nicht mehr verfügbar oder den Dienst quittiert haben sollte.«
»Ich verstehe«, erwidere ich und ignoriere für den Moment den Köder,
den er uns gerade unter die Nase gehalten hat. »Darüber haben Sie also
auf Ihren Erkundungsgängen gesprochen?«
184

»Nicht nur«, antwortet Rod. »Wir haben über vieles gesprochen – die
Beschaffenheit des Geländes und der Gebäude, die besten Orte für ei-
nen Hinterhalt und die Engpässe. Wir haben darüber diskutiert, wo man
Benzin beschaffen, wo man Antennen aufstellen und wo man die Feldar-
tillerie positionieren könnte. Und wir haben besprochen, welches Gelän-
de als Landeplatz für Hubschrauber dienen könnte und an welchen Or-
ten Lazarette eingerichtet werden könnten.«
Moody hakt mit sanfter Stimme nach: »Gab es noch weitere Themen?«
Rod erwidert mit einem Lächeln: »Natürlich. Wir haben über Frauen ge-
sprochen, über Städte, die einen Besuch wert sind, über die Folgen eines mög-
lichen Krieges, über Clydes Familie und über Wege, an Geld zu kommen.«
›Geld‹ ist das Wort, auf das ich gewartet habe. Moody offensichtlich
auch, hat sie doch mit ihrer Frage Rod zu dieser Äußerung verleitet.
Ich greife das Stichwort sofort auf: »Rod, hat Ihnen Clyde jemals finan-
ziell unter die Arme gegriffen?«
»Klar, er hat manchmal das Abend- oder Mittagessen für mich bezahlt,
mir eine Schachtel Zigaretten oder ein Bier gekauft – gelegentlich, wenn
er besonders großzügig gestimmt war, auch eine Flasche Riesling.«
»Hat er Sie noch in anderer Weise unterstützt?« Moodys Frage führt
diesmal auf heikleres Terrain.
Rod zögert seine Antwort hinaus. Die Häufigkeit seines Blinzelns, die
ich vorher auf zwölfmal pro Sekunde geschätzt habe, verdreifacht sich
plötzlich. Er presst seine Lippen zusammen – ein eindeutiges Anzeichen
dafür, das er um eine Entscheidung ringt – und zupft an seinem Hemd-
kragen. Diese Geste des Sich-Luft-Verschaffens hatte ich bereits an ihm
beobachtet, als ich ihn zusammen mit Al Eways das erste Mal in dem
Haus in Tampa aufsuchte, das er damals hütete.
»Rod«, sage ich nach einer langen Pause, »Sie sehen so aus, als würden
Sie uns etwas mitteilen wollen.«
Moody lehnt sich, den Kopf nach rechts gebeugt, nach vorne und zeigt
ein Lächeln, das selbst das Herz eines Tyrannen erweichen würde.
»Rod?«, fragt sie und dehnt das »o« wie eine Mutter, die mit ihrem
Kind spricht.
Da Rod eine weitere gefühlte Ewigkeit lang schweigt, wende ich mich
ein wenig von Rod ab und sehe auf den Boden, um ihm den Druck, den
mein Blick vielleicht verursacht, zu nehmen.
185

»Darf ich eine rein hypothetische Frage stellen?«


»Um Himmels willen, nein!«, entgegne ich. »Keine hypothetischen
Fragen mehr!«
Mein Protest veranlasst Rod dazu, seinen Kopf zu heben und wieder
Blickkontakt aufzunehmen. Ich nutze seine Reaktion und hake nach.
»Wir unterhalten uns nun schon eine ganze Weile, doch einige Infor-
mationen ergeben einfach keinen Sinn. Wir wissen, dass Conrad nichts
Gutes im Schilde führte. Wie Ihnen bekannt ist, wurde er in Deutschland
festgenommen und sieht einem Gerichtsverfahren entgegen. Neu ist Ih-
nen vielleicht, dass die Kercsik-Brüder in Schweden ebenfalls in Gewahr-
sam genommen wurden und im Verhör singen wie ein nordischer Chor
zur Sonnenwende [bei dieser Information springt Rods Adamsapfel her-
vor wie ein Bagel aus dem Toaster]. Und was den Zettel mit der Telefon-
nummer anbelangt, den Sie mir letzten Herbst gegeben haben: Clyde hat
das Papier nicht in einem Geschenkartikelladen gekauft, stimmt’s? Keine
Spielchen mehr, Rod, und keine hypothetischen Diskussionen. Sagen Sie
uns einfach die Wahrheit.«
Mein Tonfall ist sachlich. Ich zeige keinen Zorn, und ich bettle nicht.
Ich leite diese Veranstaltung, und ich möchte, dass Rod sich dieser Tatsa-
che bewusst ist. Mir fällt auf, dass wir nun bereits seit mehr als vier Stun-
den mit Rod sprechen, und doch gibt es keinen Ort auf der Welt, an dem
ich jetzt lieber wäre. Ich betrachte Rods Füße und beobachte, ob sie sich
Richtung Tür wenden – so, wie Geschworene es tun, die nicht aufseiten
des Staatsanwalts sind. Seine Füße zeigen, Gott sei Dank, weiterhin zu
mir, doch Rod presst die Arme fest an den Körper und steckt seine Dau-
men immer weiter in die zu Fäusten geballten Hände hinein – zwei klare
Anzeichen dafür, dass sein Mut sinkt.
Schließlich entspannen sich Rods Lippen. In seinem Oberlippengrüb-
chen hat sich Schweiß gebildet. Er beugt sich nach vorne und schüttelt
eine Zigarette aus der Packung, lässt diese dann aber wieder in das Päck-
chen zurückgleiten.
»Ich fürchte, ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt«, erklärt er.
»In welcher Hinsicht?« Ich bin froh, dass Moody an meiner statt die-
se Frage stellt.
»Generell. Ich habe Clyde Conrad geholfen, die Dokumente aus der
Abteilung G-3 zu entwenden.«
186

Moody und ich denken dasselbe: ›Jetzt haben wir es geschafft. Jetzt
wird es wirklich spannend.‹
»Wie kam es dazu?«, hakt Moody sofort mit einer warmen, sanften,
beruhigenden Stimme nach, die auch in mir sofort das Bedürfnis weckt,
meine Sünden zu beichten.
»Conrad und ich …«
»Warten Sie.« Ich unterbreche Rod und rücke ein Stück vom Couch-
tisch ab. »Sie haben doch sicher Durst. Wie wäre es mit einem kalten Ge-
tränk? Bedienen Sie sich doch einfach.«

»CONRAD UND ICH haben jeden Tag miteinander gesprochen.« Rod


setzt erneut an, sobald wir alle unsere Plätze wieder eingenommen ha-
ben. Er hat eine Dose Sprite in einem Zug gelehrt. Im Aschenbecher ne-
ben ihm liegt eine glimmende Zigarette. »Er hat mich immer wieder in
verschiedenster Weise auf die Probe gestellt. Vielleicht hat er mir we-
gen meines Marihuanakonsums nicht völlig vertraut. Conrad hielt es für
dumm, Drogen zu nehmen.« Rod runzelt auf eine Art die Stirn, wie ich
sie an ihm noch nie beobachtet habe, und kneift die Augen ein wenig zu-
sammen. Diese Signale lassen darauf schließen, dass weitere Eingeständ-
nisse zu erwarten sind.
»Es ist dumm«, sage ich mit väterlicher Stimme, doch Rod scheint
meinen Kommentar nicht wahrzunehmen.
»Auf einer unserer Erkundungstouren fragte mich Conrad: ›Was ist
das Wertvollste auf der Welt?‹«
»Was haben Sie geantwortet?«, frage ich und überlege, wie meine Ein-
schätzung ausgefallen wäre.
»Welche Antwort hätten Sie gegeben?«
»Titan vielleicht.«
Rod wendet sich an Moody: »Und Sie?«
»Familie.«
»Ich dachte mir, dass Sie so etwas sagen würden«, meint Rod mit ei-
nem freundlichen Lächeln.
»Und Sie? Welche Antwort haben Sie gegeben?«, frage ich Rod erneut,
um das Gespräch voranzutreiben.
»Mein erster Gedanke war ›Gold‹, da Conrad es so sehr schätzte, doch
dann hatte ich den Verdacht, dass Conrad mir eine Falle stellen wollte,
187

und dachte an Diamanten oder irgendein seltenes Edelmetall – eines, das


noch viel wertvoller ist als Titan«, fügt Rod hinzu, um mir zu verdeut-
lichen, wie banal meine Antwort gewesen war. »Letztendlich sagte ich:
›DNS.‹«
»DNS?«
»Desoxyribonukleinsäure, Joe. Dieses Molekül …«
»Ich weiß, was DNS ist, verdammt noch einmal!«
»War DNS die richtige Antwort, Rod?«, fragt Moody in einem Tonfall,
der die aufkeimende Reiberei zwischen uns Männern sofort zu schlich-
ten versucht.
»Informationen. Für Clyde waren Informationen das Wichtigste auf
der Welt. Er fragte mich, ob ich Interesse daran hätte, mit dem Verkauf
von Informationen Geld zu verdienen. Dieser Gedanke faszinierte mich.
Ich nahm an, dass es darum ging, kommerziell einträgliche Informati-
onen zu verbreiten, zum Beispiel indem man Hotels im Voraus wissen
ließ, wann Manöver angesetzt waren und viele Generäle nach gemütli-
chen Zimmern und mit amerikanischem Whiskey ausgestatteten Bars
Ausschau halten würden. Dann aber setzte mich Conrad ins Bild.«
Ich: »Fahren Sie fort.«
Rod: »Denken wir zum Beispiel an ein Telefonbuch. Welche Informa-
tionen können Sie einem Telefonbuch entnehmen?«
Moody: »Telefonnummern?«
Rod erklärt nachsichtig: »Sie finden dort viel mehr, Terry. Dem Tele-
fonbuch ist zu entnehmen, wer eine Führungsposition bekleidet, wer wo-
hin versetzt wurde und wer für welche Einheit arbeitet.«
Ich stelle mich dumm: »Moment einmal. Das Telefonbuch beim FBI
führt nur die Namen der Mitarbeiter auf. Weitere Angaben sind dort
nicht zu finden.«
»Das mag beim FBI so sein.« Rod spricht einmal mehr mit unendli-
cher Geduld signalisierender, hoher Stimme. »Beim Militär werden zu
jedem Namen Einsatzgebiet und Rang angegeben. Diese Informationen
sind äußerst wertvoll.«
»Verstanden«, sage ich. »Gab es noch andere wertvolle Informatio-
nen?«
»Die exakten Termine für militärische Übungen fallen ebenfalls in die-
se Kategorie«, erklärt Rod. »Manche Manöver werden angekündigt, an-
188

dere nicht. Bei Manövern, die im Voraus bekannt gegeben werden, wer-
den die genauen Informationen, welche Truppenstärke sich um wie viel
Uhr an welchen Ort aufhält, nicht öffentlich gemacht.«
»Verschaukeln Sie mich nicht, Rod«, entgegne ich. »Es gibt Satelliten.
Informationen wie diese sind seit Langem nicht mehr wichtig. Man kann
Übungen wie diese von Moskau aus in Echtzeit ablaufen sehen.«
»Ach, Joe, Joe, Joe.« Rod schüttelt den Kopf und zündet sich erneut
eine Zigarette an. »Satelliten übermitteln zum Beispiel die Informatio-
nen, dass Lastwagen unterwegs sind. Was aber verraten sie nicht?«
»Ach, Rod, Rod, Rod – verdammt noch einmal –, was?«
»Absichten, Ziele«, erwidert Rod. »Genau das sind die wertvollen In-
formationen.«
Moody schaltet sich erneut schlichtend ein.
»Was genau können die Sowjets per Satellitenübertragung sehen?«, er-
kundigt sie sich bei Rod.
»Es ist bekannt, dass sie über Satelliten verfügen, die Bilder aus einer
Höhe von etwa drei Metern über dem Boden senden – das entspricht un-
gefähr der Entfernung zwischen Sofa und Badezimmertür.« Rod zeigt an
mir vorbei in den im Dunklen liegenden Bereich der Suite. »Wir wissen
auch, dass sie über technische Instrumente verfügen, die noch näher an
das zu beobachtende Objekt heranreichen. Der Knackpunkt ist aber, dass
die Sowjets, selbst wenn sie einen Lastwagen die Straße entlangfahren se-
hen und sogar das Nummernschild lesen können und erkennen, ob der
Fahrer Gauloises oder Camel raucht, nicht vorhersagen können, warum
oder wo der Lkw zum Stehen kommt.«
»Ich bin beeindruckt, Rod.« Mein Zugeständnis ist nur halb gelogen.
»Ich hätte niemals gedacht, dass ein Telefonbuch so wertvoll sein könnte.«
»Clyde war äußerst clever.«
»Offensichtlich. Irgendwann muss er jedoch die Grenze zwischen all-
gemein zugänglichen und sensiblen Informationen überschritten haben.
Letztendlich ist der Wert von Manöverdaten und Telefonbüchern doch
begrenzt.«
»Das ist richtig, Joe.« Rod hat noch immer die Stimme eines Lehrers,
der einen begriffsstutzigen Schüler unterrichtet. »Wenn allgemein zu-
gängliche Informationen wertvoll sind, dann ist es nur logisch, dass sen-
sible Informationen noch größeren Wert haben …«
189

»Selbst ich kann das nachvollziehen, Rod. Und geheime Informatio-


nen …«
»… besitzen einen noch höheren Wert. Es ist nicht anders als bei Klei-
dung.« Mit diesem Vergleich wendet sich Rod erwartungsvoll an Moody.
»Von der Stange: billig. Maßgeschneidert: teurer.«
»Dior: am teuersten«, ergänzt Moody.
»Genau!«
»Conrad war vermutlich nicht der Typ, der Kleidung von der Stan-
ge verkaufte, wenn Designermode so viel einträglicher war«, ergreife ich
wieder das Wort.
»Ganz und gar nicht.«
»Ich vermute, dass sich auch niemand, der mit Conrad zusammenar-
beitete, damit zufriedengegeben hätte.«
Rod ignoriert meine Anspielung. »Clyde hat mich, wie gesagt, immer
wieder auf die Probe gestellt.«
»Nennen Sie uns ein Beispiel.«
»Eines Tages sagte Clyde aus heiterem Himmel: ›Ich fahre in ein paar
Tagen nach Österreich, um Informationen zu verkaufen. Ich möchte,
dass du mich begleitest. Deine einzige Aufgabe wird sein, dass Geld zu-
rückzutransportieren.‹ Ich willigte ein.«
»Sie willigten ein?«
»Ich hatte keine andere Wahl. Clyde wies mich an, in einem Restau-
rant in der Nähe des Wiener Hauptbahnhofs zu warten, in dem er sich
mit einem Mann an einem der hinteren Tische traf. Ich beobachtete, dass
Clyde dem Mann einen braunen Briefumschlag aushändigte, den er un-
ter dem Arm getragen hatte. Der Mann übergab Clyde einen ähnlichen
Umschlag und verließ das Lokal. Danach kam Clyde an meinen Tisch,
gab mir den Umschlag und beauftragte mich, das Kuvert während unse-
rer Zugfahrt nach Deutschland bei mir zu tragen.«
»Was befand sich in dem Umschlag?«, erkundigt sich Moody.
»Geld. Etwa 20 000 US-Dollar in amerikanischen Banknoten.«
»Haben Sie das Geld gesehen?«, frage ich nicht nur aus juristischen
Gründen, sondern auch aus Neugier.
»Natürlich. Clyde war es wichtig, es mir zu zeigen. Er wollte, dass ich
es berühre und daran rieche. Ich hatte nie zuvor so viel Bargeld gese-
hen.«
190

»Was war in dem Umschlag, den Conrad dem Mann ausgehändigt


hat?«, möchte Moody wissen, doch ich funke dazwischen:
»Warten Sie, Rod. Schildern Sie uns die Szene genauer. Erzählen Sie
uns, wie das Restaurant aussah. Sie haben so ein gutes Erinnerungsver-
mögen.«
Ich merke Moody an, dass sie sich sehr darüber wundert, dass ich auf
solche Nebensächlichkeiten zu sprechen komme, während wir kurz da-
vor stehen, einen weiteren Fortschritt zu erzielen. Ich mache mir im Geist
eine Notiz, ihr auf der Rückfahrt nach Tampa zu erklären, warum meine
Frage wichtig ist: Rods Behauptung, in dem Restaurant gewesen zu sein,
reicht alleine nicht aus. Wenn er uns Details der Einrichtung schildert,
macht er uns die Beweisführung wesentlich leichter. Wie ich vermutet
hatte, kommt Rod uns in höchstem Maße entgegen. Er berichtet mit halb
geschlossenen Augen:
»Das Restaurant hieß Gasthaus ›Elsass‹. An der Rückwand des
Gastraums hing ein großer Spiegel. In diesem Spiegel habe ich gesehen,
wie Conrad und der Mann die Umschläge tauschten. Die Wand war um
den Spiegel herum mit einer Art vergoldeter Filigranarbeit verziert. Über
dem Spiegel hing ein Familienwappen – mit gekreuzten Speeren und ei-
nem Elch, meine ich. Der gesamte Raum war mit dunklem Holz getäfelt.«
»Vielen Dank, Rod. Das ist eine sehr genaue Beschreibung. Sind Sie
sicher, dass der Name des Restaurants korrekt ist?« Rod wirft mir einen
Blick zu, der mir klarmachen soll, dass ihn seine Erinnerung niemals trügt.
»Kommen wir nun zu Agent Moodys Frage«, fahre ich fort. »Was be-
fand sich in Conrads Umschlag?«
»Conrad sagte, dass es sich um nicht allzu bedeutende Dokumente
handelte, die er aus der Abteilung G-3 entwendet hatte.«
»Haben Sie die Unterlagen gesehen?«
»Nein. Ich trug den Umschlag auf Conrads Anweisung hin während
der gesamten Zugfahrt nach Wien bei mir. Der Umschlag war die ganze
Zeit über versiegelt.«
»Das verstehe ich nicht«, sage ich, obwohl ich den Zusammenhang
sehr wohl durchschaue. »Warum war es Conrad wichtig, dass Sie auf der
gemeinsamen Fahrt die Dokumente und das Geld mit sich führten?«
»Wie gesagt: Er stellte mich auf die Probe. Er wollte testen, wie ich
mich verhalte, wenn ich mit heißer Ware die Grenze passiere. Ich war ein
191

bisschen nervös, habe es aber gut geschafft. Als wir wieder in Bad Kreuz-
nach waren, gab Conrad mir einige Hundert Dollar und bedankte sich
bei mir. Für mich war das Erlebnis ein Kick wie ein Drogenrausch. Ich
hatte Feuer gefangen.«
»Hat Conrad Ihnen erzählt, woher das Geld kam?«
»Er sprach von seinen ›ungarischen Freunden‹.«
»Hatten Sie je die Befürchtung, an einer von Conrads Herausforderun-
gen zu scheitern?« Die Besorgnis in Moodys Stimme klingt beinahe au-
thentisch.
»Beim zweiten Test«, erwidert Rod. »Der zweite Test war wirklich
schwierig.«
»Warum?«, fragt Moody. Sie weiß genau, wann sie die Initiative ergrei-
fen und wann sie die Beobachterin spielen muss.
»Clyde nahm mich nach Dienstschluss mit in die Kellerräume, in de-
nen die G-3-Planungen verwahrt wurden.«
»Nach Dienstschluss?«, hake ich nach. »War noch jemand anwesend?«
»Nur einige Wachen an der Eingangstür. Da wir oft von den Obersten
angewiesen wurden, kurzfristig Pläne zu erstellen, waren die Wachen da-
ran gewöhnt, dass wir uns auch außerhalb der Dienstzeiten in dem Ge-
bäude aufhielten.«
»Was passierte, als Sie in den Kellerräumen waren?«
»Clyde zeigte auf ein paar Dokumente und forderte mich auf, sie zu-
sammenzuheften. Als ich damit fertig war, fragte ich ihn, was ich als
Nächstes tun solle. Clyde half mir, die Dokumente um meinen Arm zu
wickeln und sie mit ein paar Gummibändern zu befestigen. Er zog mei-
nen Ärmel wieder nach unten und knöpfte ihn zu. Dann sagte er: ›Ich bin
in fünf Minuten zurück‹ und ging zur Kellertür hinaus.«
»Und dann?« Ich versuche, mit möglichst neutraler Stimme zu spre-
chen, obwohl mein Puls rast. Zwar werden wir Clyde Conrad vermut-
lich nie vor einem US-amerikanischen Gericht aussagen hören, doch nun
spricht Ramsay an seiner statt  – und jede Äußerung Conrads, die uns
Ramsay wiedergibt, wird in einem Prozess als beweiskräftig anerkannt
werden.
»Conrad hatte die Wachen wohl dazu überredet, eine kurze Pause ein-
zulegen, denn er klopfte mit aller Gewalt gegen die Kellertür und rief mit
einer Stimme, die ich kaum erkannte, irgendetwas auf Deutsch.«
192

»Das verstehe ich nicht. Welche Absicht verfolgte er damit?«, fragt


Moody.
»Er wollte testen, wie ich reagiere.«
»Und wie fiel Ihre Reaktion aus?«, frage ich.
»Nun ja, zuerst hätte ich mir fast in die Hosen gemacht, doch dann
habe ich mich beruhigt. Ich bestand den Test. Anschließend gingen wir
zur Kegelbahn auf dem Stützpunkt. Ich ließ die Dokumente aus meinem
Ärmel gleiten und gab sie Clyde. ›Gut‹, sagte er, ›diese Unterlagen sind
wirklich wertvoll. Nun können wir sie verkaufen.‹ Wir mussten die Do-
kumente nur noch kopieren und sie für die Brüder versandfertig ma-
chen.«
»Für welche Brüder?«
»Sie wissen schon: die Kercsiks, die jetzt in Schweden sind. Wir hän-
digten ihnen die Unterlagen aus. Die Kercsik-Brüder steckten die Doku-
mente in medizinische Fachzeitschriften wie The Lancet oder The Jour-
nal of the American Medical Association. Wenn ihre Taschen während
der Fahrt durch Österreich oder Ungarn kontrolliert wurden, sah es so
aus, als würden sie nur die für Ärzte übliche Lektüre mit sich führen.
Conrad hielt diese Tarnung für perfekt. Ärzte genießen generell hohen
Respekt.«
Am liebsten würde ich vor Freude tanzen. Ramsay ist  – wissentlich
oder unabsichtlich – von »er« und »ich« zu »wir« übergegangen. Die be-
trügerischen Absprachen zwischen den beiden werden immer leichter zu
beweisen sein. Allerdings fehlt noch immer die Antwort auf die Frage,
welche Absichten sie mit ihren Machenschaften verfolgten. Es ist kurz
vor Mitternacht. ›Ein letzter Vorstoß‹, sage ich mir. Moody unterdrückt
ein Gähnen. Wir beide sind nun seit fast 18 Stunden im Dienst.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Rod«, fahre ich fort, »aber wie
können Sie sich sicher sein, dass Clyde Sie nicht bezüglich des Werts der
Unterlagen angelogen hat? Schließlich haben Sie die Dokumente nur zu-
sammengeheftet und hatten keine Zeit, sie zu lesen.«
»Ich hatte genug Zeit, um zu erkennen, worum es sich handelte.«
»Wie das? Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie sich vor lauter Angst
fast in die Hosen gemacht hätten.«
»Erst als Clyde gegen die Tür gehämmert hat.«
»Also gut. Um welche Dokumente handelte es sich?«
193

Rod nennt wie aus der Pistole geschossen die Kennziffern zweier stra-
tegischer Planungen – 33001 sowie die Anhänge OPLAN 33001 –, die für
Moody und mich vollkommen bedeutungslos sind.
Als würde ich kapitulieren, strecke ich meine Arme in die Höhe und
bitte Rod: »Helfen Sie uns. Agent Moody mag bei den Pfadfindern gewe-
sen sein …«
»Ich bin schon im Grundschulalter ausgestiegen«, erklärt Moody. »Der
Leistungsdruck war mir zu groß.«
»Also gut. Agent Moody hat niemals ihr Pfadfinderabzeichen für beson-
dere Fähigkeiten erworben, und ich habe meine Zeit damit verbracht, im
Dienste meines Landes an der puerto-ricanischen Küste Terroristen zu ja-
gen. Was bedeuten diese Nummern, die Sie gerade heruntergespult haben?«
»Die erste bezeichnete eine aktualisierte Version des Einsatzplanes der
NATO im Kriegsfall.«
»In welchem Fall?«
»Im Kriegsfall, Joe. Peng, peng, Sie verstehen? Der Plan legte fest, wo
die einzelnen Divisionen Stellung beziehen würden, sollten die Panzer
der Roten Armee in die Lücke von Fulda vorstoßen. Was meinen Sie, Joe,
war dieser Plan wichtig?«
Ich unterdrücke einen Ausruf der Begeisterung. »Es klingt zumindest
so, als könnte er wichtig gewesen sein. Was meinen Sie, Agent Moody?«
»Ich sehe das auch so. Er könnte wichtig gewesen sein. Probieren geht
über Studieren.« Mir ist ein Rätsel, was sie damit meint, und der Aus-
druck, der über Moodys Gesichts huscht, scheint zu verraten, dass sie
sich selbst über ihre Äußerung wundert. Vor allem aber beschäftigt mich
die Frage, ob es uns später, wenn wir unser Protokoll anfertigen, gelingen
wird, uns an die Kennziffern zu erinnern, die Rod uns nannte.
»Was wäre, wenn Teile dieses Plans als sensible Informationen einge-
stuft gewesen wären? Oder vielleicht sogar als geheime Informationen?
Was wäre, wenn …«
»… wenn man durch Kenntnis dieses Plans die Streitkräfte der USA
und ihrer Verbündeten gegen die Wand fahren lassen könnte«, vollen-
de ich Rods Satz.
»Genau«, pflichtet Rod mir bei. »Was halten Sie davon?«
Soeben hat Rod bestätigt, vorherige Kenntnis von den die Sicherheit
der USA ernsthaft gefährdenden Konsequenzen der von ihm vollzoge-
194

nen Handlungen gehabt zu haben, die gemäß der United States Code
Section 794 unter Strafe zu stellen ist. Nicht willens, es dabei zu belassen,
fahre ich fort: »Da ist noch etwas, Rod.«
»Was denn?«
»Sie haben uns bezüglich der Computerchips nicht sofort die Wahr-
heit gesagt und den Redakteuren von ABC News einen Bären aufgebun-
den. Nun sollen wir Ihnen glauben, dass es sich bei den von Ihnen ent-
wendeten Dokumenten um die Einsatzpläne für eine Art Armageddon
handelte?«
»Joe«, erwidert Rod. Immer wieder dieses herablassende ›Joe‹. Irgend-
wann werde ich mich dafür rächen. »Wenn diese Dokumente nicht wich-
tig gewesen wären, hätten die Kercsik-Brüder wohl kaum auf ihrer Rück-
reise 50 000 US-Dollar für Clyde und mich im Gepäck gehabt.«
»Vielleicht hat Clyde auch diesbezüglich geflunkert.«
»Ich habe das Geld selbst gesehen«, erwidert Rod. »Und ich war dabei,
als die Kercsik-Brüder Clyde erzählten, wie begeistert die Ungarn gewe-
sen waren, solch wertvolle Informationen zu erhalten.«
»Beantworten Sie mir folgende Frage, Rod, damit ich die gesamte
Tragweite erfassen kann – wie Sie wissen, bin ich, im Gegensatz zu Ih-
nen, in einem kleinem gelben Bus zu einer ordinären Schule gefahren
worden. Welchen Vorteil hätten wir, wenn wir mit dem OPLAN 33001
und den Anhängen zu 33001 [ich wiederhole die offiziellen Bezeichnun-
gen bewusst, um sie mir für die spätere Niederschrift noch besser einzu-
prägen und damit Moody sie noch einmal hört] vergleichbare sowjeti-
sche Pläne zur Hand hätten?«
»Jeden Vorteil. Sie wären im Besitz aller Informationen, die notwendig
wären, um den Krieg zu gewinnen.«
»Sie meinen, die Schlacht zu gewinnen.«
»Nein, den Krieg.«
Wir alle schweigen eine Sekunde lang.
Ich blicke auf meine Armbanduhr. Mir ist schwindelig vor Müdigkeit
und angesichts des erzielten Erfolgs. »Wir haben heute eine ganze Men-
ge erreicht, Rod«, sage ich. »Mrs Moody und ich haben noch eine lange
Fahrt vor uns, Sie müssen morgen zur Arbeit, und ich glaube, Mrs Moo-
dy braucht ein wenig Ruhe.«
»Entschuldigung.« Rod wirft einen Blick auf Moodys Bauch. »Sie ha-
195

ben natürlich recht. Terry braucht Ruhe, damit das Kleine gesund und
stark auf die Welt kommt.«
»Wir würden uns gerne morgen wieder mit Ihnen treffen. Genauer ge-
sagt, zu einem späteren Zeitpunkt am heutigen Tag [Rod und Moody la-
chen]. Wäre das möglich?«
»Selbstverständlich. Kein Problem.«
De facto werden Moody und ich den ganzen Tag für die Niederschrift
der gewonnenen Erkenntnisse benötigen, und wir müssen beide an be-
reits festgesetzten Terminen teilnehmen. Ich werde Rod vormittags anru-
fen und ihm absagen. Meine Frage habe ich gestellt, um zu überprüfen,
ob er bereit ist, sich aus eigenem Antrieb erneut mit uns zu treffen. Seine
Reaktion hat mich nicht enttäuscht.
Vorbeugend werfe ich ein: »Lassen Sie uns auf jeden Fall abwarten, wie
es Mrs Moody nach ihrem Schönheitsschlaf geht.«
»Dafür habe ich jedes Verständnis«, erwidert Rod großmütig. »Geben
Sie mir einfach Bescheid.«
»Ich melde mich. Sollten wir uns aus irgendwelchen Gründen nicht se-
hen, bestehe ich darauf, dass Sie eine ordentliche Mahlzeit zu sich neh-
men. Das ist ein Befehl! Keine Süßigkeiten mehr zum Abendessen.« Mir
ist es damit tatsächlich ernst. Moody schließt sich mir an, indem sie mah-
nend den Zeigefinger hebt. Auch sie meint es ernst.
»Schon gut, schon gut«, erwidert Rod. Der Klang seiner Stimme und
seine Körperhaltung beim Verlassen des Raumes erinnern an einen Teen-
ager, der gerade zur Einsicht gebracht worden ist. Vermutlich besitzt er
auch die zweifelhafte Zuverlässigkeit eines Heranwachsenden.

OBWOHL WIR VÖLLIG ERSCHÖPFT SIND, strahlen Moody und ich


wie kleine Kinder auf der Fahrt nach Disney World (das tatsächlich nur
fünf Kilometer von uns entfernt liegt), während wir wie wild unsere No-
tizen zu Papier bringen. Wir haben auch allen Grund dazu: Wir haben
ein Geständnis erhalten und viele weitere Details erfahren.
In meinem Eifer, alle Informationen aufzuschreiben, vergesse ich,
dem Kollegen auf dem Hotelparkplatz über den Pager mitzuteilen, dass
Rod auf dem Weg zu seinem Auto ist (Code 11 für zwei Beine in Be-
wegung). Zur Überwachung wurde jedoch ein Sicherheitsmechanismus
eingebaut – eine leere Getränkedose hinter einem der Hinterreifen von
196

Rods Wagen. Das knirschende Geräusch ist laut genug, um den Agenten
aus dem Halbschlaf zu reißen. Über die sichere Funkverbindung teilt der
Kollege uns mit, dass Rod nicht den direkten Weg zu seinem Wohnmo-
bil nimmt. Dafür kann es alle möglichen Gründe geben. Ich weise den
Kollegen an, Rod zu folgen, während Moody und ich die etwa 60-minü-
tige Fahrt zum Büro antreten, wo Moody ihren Dienstwagen geparkt hat.
Noch bevor wir die Interstate 4 erreichen, ist Moody auf dem Beifah-
rersitz eingeschlafen. Ich fahre gewissermaßen mit Autopilot, da meine
Gedanken wie üblich hektisch um jedes Wenn und Aber kreisen: Was
steht als Nächstes an? Was müssen wir tun? Wer wird sich uns in den
Weg stellen: die FBI-Zentrale, die Washingtoner Außenstelle, Jim Bam-
ford, die Deutschen, die Schweden, Ramsays Mutter, ein zur Hilfe geru-
fener Anwalt, Rod selbst oder irgendjemand, den wir noch nicht auf dem
Radar haben? Am meisten quält mich die Sorge, mit meiner irgendwie,
potenziell, rein hypothetisch erteilten Zusicherung der Straffreiheit eine
Anklage längst vereitelt zu haben.
Natürlich ist es großartig, ein Geständnis erhalten zu haben, aber ein
Geständnis allein reicht für eine Verurteilung nicht aus. Um den Fall
überhaupt zur Verhandlung zu bringen, müssen wir jede einzelne Aussa-
ge Rods durch Beweise untermauern …
›Genug‹, ermahne ich mich selbst. ›Augen auf die Straße.‹ Ich frage
mich, ob Moody, die inzwischen mit einem Lächeln auf dem Gesicht tief
und fest schläft – das habe ich noch nie an einem Menschen beobach-
tet –, bewusst ist, wie kompliziert, anstrengend, zeitraubend und kräfte-
zehrend der Fall noch werden wird.
›Genieße deinen Schlaf, Moody‹, sage ich in Gedanken, ihr Lächeln
noch immer vor Augen. ›Du hast gute Arbeit geleistet.‹
Ich selbst sehne mich so sehr nach Schlaf, dass es wehtut.
12
DAS ÄNDERT ALLES?

Mrs Moody und ich haben Orlando kurz nach 1:30 Uhr verlassen. Gegen
2:30 Uhr erreichen wir unsere Außenstelle in Tampa. Ich wecke Moody
und begleite sie zu ihrem Auto, dann mache ich mich auf den Weg nach
Hause. Natürlich schläft meine Tochter längst, doch als ich ihr Gesicht in
meine Hände nehme, öffnet sie einen Moment lang die Augen. Wird sie
später denken, meine Anwesenheit sei nur ein Traum gewesen? Ich weiß
nicht, wann ich eingeschlafen bin, doch um 5:55 Uhr klingelt mein We-
cker. Ich hinterlasse auf dem Frühstückstisch für Luciana und Stephanie
einen Zettel mit der Botschaft »Ich liebe euch«. Das habe ich schon so oft
getan, dass die beiden meine Beteuerung vermutlich inzwischen als ge-
geben voraussetzen.
Auf meinem Weg zur Arbeit beschäftige ich mich in Gedanken er-
staunlicherweise mit Astronauten und Mondgestein. Kurz nachdem Neil
Armstrong auf dem Mond gelandet war, beugte er sich in seinem wei-
ßen Raumanzug, der ihn wie ein Michelin-Männchen aussehen ließ, zu
198

Boden, hob ein Stück Gestein auf und verstaute es in seiner Tasche. Das
Gesteinsstück war seine Rückversicherung: Sollte der Spaziergang auf
der Mondoberfläche scheitern und Armstrong und Buzz Aldrin sich ge-
zwungen sehen, in ihrer Landefähre Eagle zurück zum von Michael Col-
lins gesteuerten Raumschiff Apollo 11 zu düsen, bliebe ihm das Stück
Mondgestein als Beweis für die von ihm zurückgelegten 385 000 Kilome-
ter und die überstandenen Gefahren der Mission.
Rods Geständnis ist unser Stück Mondgestein: Es verschafft uns die
Möglichkeit, Anklage zu erheben, es erfüllt zumindest eine der in der
United States Code Section 794 festgeschriebenen Vorgaben, und es
reicht aus, Rod, wie er es verdient, ins Gefängnis zu bringen. Vorausset-
zung dafür ist allerdings, dass ich durch mein Suggerieren von Straffrei-
heit »die Angelegenheit nicht völlig versaut« habe, wie es Koerner for-
mulierte.
Bevor ich Jane Hein, meine geschätzte Kollegin, die inzwischen in
der FBI-Zentrale eine übergeordnete Position bekleidet, um Punkt
8:00 Uhr anrufe, beschließe ich, ihr nur die guten Neuigkeiten mitzu-
teilen. Um diese Zeit hat Jane ihre morgendliche Joggingrunde bereits
absolviert. Aus unserer gemeinsamen Zeit in New York weiß ich, wie
gewissenhaft sie ihrer sportlichen Betätigung nachgeht: Wir liefen oft
gemeinsam durch die gerade erwachende Stadt – den ersten Kilometer
Seite an Seite, dann sah ich Jane nur noch von hinten. Sie ist fit wie ein
Turnschuh.
»Jane, sitzt du oder stehst du?«, beginne ich mit möglichst wacher
Stimme das Gespräch.
»Warum?«
»Sitzt … du … oder … stehst … du?« Ich spreche langsam und betone
jedes einzelne Wort, um Janes volle Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Ich sitze, Joe. Bringe es mir schonend bei: Was ist diesmal schiefgelau-
fen? Wie schlimm ist es?«
»Oh, ihr Kleingläubigen!«, zitiere ich das Matthäusevangelium.
»Wird es mich meinen Arbeitsplatz kosten?«, fragt Jane und nimmt ei-
nen Schluck Tee.
»Sitzt du wirklich?«
»Ja, verflixt noch einmal! Jetzt sag schon!«
»Ramsay hat gestern Abend ein Geständnis abgelegt.«
199

»Wie bitte?« Jane ist sich nicht sicher, meine Äußerung richtig verstan-
den zu haben.
»Ramsay hat gestern Abend Moody und mir gegenüber ein Geständ-
nis abgelegt.«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein völliger Ernst. Rod hat gestanden.«
»Was hat er gestanden?«
»Er hat gestanden, Dokumente aus dem Bereich der G-3-Planung ent-
wendet zu haben und Clydes ›rechte Hand‹ bei dessen Spionagetätigkei-
ten gewesen zu sein. Er hat zugegeben, wissentlich geheime Dokumente
nach Wien transportiert zu haben mit der Absicht, diese an für Fremd-
staaten tätige Agenten zu verkaufen. Er hat gestanden, die für die Doku-
mente erhaltene Geldsumme – seiner Schätzung nach rund 20 000 Dol-
lar  – wissentlich nach Deutschland gebracht zu haben. Und er hat
eingeräumt, dabei geholfen zu haben, den Einsatzplan der 8. US-Infante-
riedivision für den Kriegsfall zu stehlen.«
»Für den Kriegsfall?«
»Du hast richtig gehört. Für den Kriegsfall. Rod hat gestanden, die-
sen Einsatzplan gemeinsam mit Conrad den Kercsik-Brüdern für den
Transport nach Ungarn ausgehändigt zu haben, obwohl er Kenntnis da-
von hatte, dass diese Handlung für die Sicherheit der USA eine ernsthaf-
te Bedrohung darstellen könnte.«
»Wie viel?«
»Wovon spricht du?«
»Wie viel haben die Ungarn für diesen Plan gezahlt?«
»Laut Ramsay 50 000 Dollar.«
»Das ist nicht viel. Ein echtes Schnäppchen.«
»Das denke ich auch.«
»Sollen wir Ramsay sofort dingfest machen, oder hat er noch mehr zu
erzählen?«
»Ich bin mir sicher, dass er noch mehr zu berichten hat. Viel mehr.«
Ich höre, wie Jane sich Notizen macht. Dann atmet sie tief durch.
»Ich brauche den gesamten Papierkram, Joe.«
»Ist unterwegs«, flunkere ich ein bisschen. »Ich habe auch ein Ersu-
chen an unseren Justizattaché in Wien beigelegt. Ramsay beschrieb uns
die Inneneinrichtung eines Restaurants, in dem er beobachtete, wie Con-
200

rad einem Mann gestohlene Dokumente aushändigte und im Gegenzug


einen Umschlag voller Geld erhielt. Ich brauche jemanden, der die Be-
schreibung verifiziert und …«
»Du möchtest, dass die Washingtoner Außenstelle dieses Ersuchen ab-
segnet, stimmt’s?«
»Du kannst Gedanken lesen, Jane.«
Kurz bevor sie auflegt, sagt Jane: »Joe, das ändert alles.«
Das hoffe ich sehr.

ICH SITZE AN MEINEM SCHREIBTISCH und zermartere mir den


Kopf, ob ein guter Staatsanwalt glaubhaft machen könnte, dass hinter
meinem leichtfertigen Umgang mit rein hypothetischen Äußerungen die
Absicht steckte, Rod bewusst hinsichtlich einer möglichen Straffreiheit
zu täuschen.
Meine Sorge ist nun, da wir es mit einem handfesten Anklagegrund zu
tun haben, umso größer. Rod Ramsay wäre für die Ausführung des ange-
dachten Verkaufs der mit einem Ausfuhrverbot belegten Computerchips
niemals zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Nun aber hat er
ein deutlich schwerwiegenderes Verbrechen gestanden. Ein guter Anwalt
könnte behaupten, dass Rod davon ausgegangen sei, dass die von mir im
Kontext des Handels mit den Computerchips in Aussicht gestellte Straf-
freiheit auch für alle weiteren Eingeständnisse gelte, die er Moody und
mir gegenüber äußern würde. In diesem Fall würde das Hochgefühl, das
Moody und ich gestern Abend vor der Rückfahrt nach Tampa empfan-
den, schnell bitterer Enttäuschung weichen.
Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass Rod mich absichtlich
in diese juristische Falle gelockt hat. Ich weiß, es klingt verrückt, doch wenn
ich mir das betreffende Gespräch noch einmal vor Augen führe, erscheint
es mir, als hätte Rod die Unterhaltung vorsätzlich in den Bereich des Hy-
pothetischen geführt und mich so lange mit nebulösen Äußerungen und
dehnbaren Begriffen genarrt, bis ich wie ein Kaninchen in die Falle stürzte.
Ich frage mich immer wieder, ob Rod für ein solches Manöver schlau ge-
nug ist, und komme stets zu dem Schluss: ja. Er hat gestern Abend so offen
mit Moody und mir gesprochen, weil er wusste, dass er, selbst wenn er ge-
standen hätte, ein Serienmörder oder der echte Entführer des Lindbergh-
Babys zu sein, ein Ass im Ärmel trug, auf dem ›Straffreiheit‹ stand.
201

Andererseits ist es natürlich auch möglich, dass wir Rod tatsächlich


ausgetrickst haben. Ich komme zu keinem Ergebnis.

ICH WEISS ES SEHR ZU SCHÄTZEN, dass Jay die gute Nachricht wür-
digt (»Ein Geständnis? Fantastisch!«), als Moody und ich kurz vor neun
sein Büro betreten, ohne auf den Umstand hinzuweisen, der uns allen
bewusst ist: dass das Geständnis vielleicht nichts wert ist. Da ich meine
Gefühle generell schlecht verbergen kann, sieht er mir an, wie sehr die-
ses Problem an mir nagt. Er weiß auch, dass ich trotz der Tour de Force
durch die juristischen Fußangeln, die mich bis in den Nachmittag hinein
beschäftigen wird, heute Abend für einen unserer Piloten einspringe und
einen Überwachungsflug übernehme.
Jay nimmt lediglich durch den Hinweis, dass ich sofort mit dem
Rechtsbeistand unserer Abteilung Kontakt aufnehmen und diesem die
Verschwiegenheitspflicht auferlegen solle, Bezug auf mein Dilemma.
45 Minuten später finde ich mich bei unserem Anwalt ein.
Jede Abteilung des FBI verfügt über einen in Vollzeit für sie arbeiten-
den Rechtsbeistand. Diese Anwälte versorgen die Mitarbeiter mit den ju-
ristischen Informationen, die nötig sind, um jeden Fall akkurat abzu-
wickeln. Die Tatsache, dass diese Anwälte Teil des Justizsystems sind,
bedeutet nicht, dass sie außerhalb des geltenden Systems der Erteilung
von Sicherheitsbefugnissen stehen. Wenn, wie im Falle von Rod Ramsay,
sensible oder geheime Informationen Gegenstand der Ermittlungen sind,
ist dem Anwalt eine ›Verschwiegenheitspflicht‹ aufzuerlegen. Das bedeu-
tet, dass die sensiblen oder geheimen Informationen nicht weiter erör-
tert werden.
Kaum habe ich unserem Rechtsbeistand einen Überblick über den Fall
gegeben und ihn daran erinnert, dass Schweigen nicht Gold, sondern rei-
ne Notwendigkeit ist, verbalisiert er den Gedanken, der mich seit 36 Stun-
den quält: Unsere Ermittlungsergebnisse werden nicht nur den allgemei-
nen Verfahren der Rechtsprechung standhalten müssen, sondern auch
dem kompetenten Angriff des Anwalts der Verteidigung. Nach Einschät-
zung des Rechtsbeistands hat die Verteidigung ausreichend Basis zu be-
haupten, dass die von mir als Eisbrecher intendierte Behauptung so abs-
trus und unzulänglich war, dass Rods Verwirrung angesichts dessen, was
real und was rein hypothetisch war, vollkommen nachvollziehbar ist.
202

Da diese zweifelsohne fundierte Aussage unseres Rechtsbeistands


selbstverständlich nicht der von mir gewünschten Einschätzung ent-
spricht, wende ich mich an die nächsthöhere Ebene. Normalerweise ha-
ben Mitarbeiter der Außenstellen keinen direkten Kontakt zur Abteilung
für Innere Sicherheit des amerikanischen Justizministeriums: Anfragen
werden an den für die Kommunikation mit dem Ministerium zuständi-
gen Agenten der Außenstelle gerichtet, und dieser nimmt dann stellver-
tretend Verbindung auf. Diese Verfahrensweise schützt die Anwälte der
Abteilung für Innere Sicherheit davor, sich mit Agenten niederen Ran-
ges auseinandersetzen zu müssen. Da ich bereits mehrere Male versucht
habe, gegen das Justizministerium anzugehen, wird der in unserer Au-
ßenstelle arbeitende Vermittler kaum geneigt sein, durch die Weiterlei-
tung meiner Anfrage einen Karriereknick zu riskieren. Außerdem drängt
die Zeit, und ich weiß, dass die Anwälte der Abteilung für Innere Sicher-
heit selbst in dringenden Fällen mit quälender Langsamkeit zu Werke ge-
hen.
Ich nehme also über eine sichere Leitung selbst Kontakt auf und er-
halte, wie vermutet, eine ausweichende, verklausulierte Antwort, die eher
verwirrend als hilfreich ist. Wenn ich es richtig verstanden habe, hal-
ten die Anwälte es zwar für bedenklich, dass Moody und ich Rod bisher
nicht die in Ermittlungsverfahren von Amts wegen vorzunehmende Be-
lehrung erteilt haben, erachten meinen rein hypothetischen Austausch
mit Rod jedoch nicht als allzu großes Problem. Allerdings führe ich diese
Auskunft darauf zurück, dass die Abteilung für Innere Sicherheit in den
Fall nicht involviert ist. Die Anwälte fungieren hier nicht als Ankläger,
sondern als Berater – und in Washington, DC, kann man auf Ratschlä-
ge nicht viel geben.
Die dritte rechtliche Instanz, mit der ich am heutigen Tag Kontakt auf-
nehme, ist Greg Kehoe. Ich bin mir absolut sicher, bei ihm an der rich-
tigen Adresse zu sein. Unter uns kleinen FBI-Agenten erlangte Greg be-
reits durch die Zerschlagung eines Drogenrings in Miami Berühmtheit,
bevor er zum United States Attorney des mittleren Gerichtsbezirks von
Florida berufen wurde. In jüngster Zeit zeichnete er für die Vorberei-
tung des Strafverfahrens gegen Manuel Noriega verantwortlich. Die Bun-
dessicherheitspolizei muss zwar noch einen Weg finden, den ehemaligen
Regierungschef Panamas vor ein US-amerikanisches Gericht zu stellen,
203

doch wenn ich Noriega wäre, würde ich keine Sekunde ruhig schlafen,
wüsste ich, dass mir Greg Kehoe auf den Fersen ist.
Ich habe schon mehrfach mit Greg zusammengearbeitet und schätze
seine Herangehensweise. Meine Hochachtung seines juristischen Scharf-
sinns grenzt an Neid, und ich bewundere seine Arbeitsauffassung, die im
Grunde auf die Maxime hinausläuft: »Verbrecher müssen sofort hinter
Gitter.« Es überrascht nicht, dass Greg den Anwälten in Washington gut
bekannt ist: Die auf Gemächlichkeit und Ruhe bedachten Mitarbeiter des
Justizministeriums sehen in Greg vermutlich eine Bedrohung. Ich habe
jedoch gehört, dass Bob Mueller, der erste Assistent des United States
Attorney für West-Pennsylvania, große Stücke auf Greg hält. Aus gutem
Grund: Greg schafft Fakten. Er greift hart durch und kennt kein Pardon.
Greg ist ein Prozessanwalt, dem man nicht gegenüberstehen möchte. Da
ich weiß, dass Greg – sollte es uns gelingen, die juristischen Hürden, die
ich uns in den Weg gestellt habe, zu umschiffen – für den Fall Ramsay zu-
ständig sein wird, schlucke ich meinen Stolz hinunter, suche Greg in sei-
nem Büro im unteren Stockwerk unseres Gebäudes auf und bitte ihn um
Hilfe.
»Gibt es hier eine SCIF, in der wir uns unterhalten können?«, frage ich
Greg. SCIF steht für Sensitive Compartmented Information Facility und
bezeichnet in der Sprache der Sicherheitsbehörden einen geschützten Be-
reich, in dem geheime Informationen erörtert werden.
»Selbstverständlich«, erwidert Rod und führt mich in die größte SCIF,
die ich je gesehen habe.
Greg liest mir meine Frage, was ein geschützter Bereich dieser Größe
in klein Tampa zu suchen hat, von den Augen ab.
»Die SCIF wurde gerade erst fertiggestellt«, erklärt er mit seinem aus-
geprägten New Yorker Akzent. »Hier werden wir unsere Besprechungen
abhalten, sobald wir Noriega alias Cara de Piña in die Finger bekommen
haben.« Seinem erwartungsvollen Tonfall entnehme ich, dass dies noch
vor Ablauf dieses Jahres der Fall sein wird. (Cara de Piña ist übrigens Spa-
nisch für ›Ananasgesicht‹ und in Lateinamerika eine geläufige Bezeich-
nung für ein pockennarbiges Gesicht.)
»Worum geht es?«
Die nächsten 25  Minuten schildere ich Greg den Fall Rod Ramsay,
während uns weißes Rauschen umgibt und die mit Blei versiegelten Wän-
204

de verhindern, dass irgendein Geräusch nach innen oder außen dringt.


(Ich habe schon SCIFs gesehen, in denen die Fußböden buchstäblich in
der Luft schweben und einen Raum innerhalb des Raumes schaffen. In
diesem SCIF wurde auf die Einrichtung einer solchen Sicherheitsvorkeh-
rung verzichtet, aber vermutlich sind Noriegas Spione auch nicht so aus-
gebufft wie die Mitglieder des KGB.) Meiner Erwartung entsprechend,
reagiert Greg mit finsterem Blick auf meinen Bericht, dass die Ermittlun-
gen gegen Ramsay auf Anweisung von oberster Stelle ein Jahr lang ausge-
setzt worden waren. »Warum um alles in der Welt …«, ruft Greg so laut,
als würde er auf der Straße gegen den Verkehrslärm anschreien. Da wir
beide schon zahlreiche Schlachten gegen die Bücklinge und Egozentri-
ker in Washington, DC, ausgefochten haben, muss er nicht mehr sagen.
Gregs Interesse wächst mit jedem Detail meiner Schilderung. Als ich
ihm von den zusammengehefteten Dokumenten erzähle, die aus den
Kellerräumen der Abteilung G-3 entwendet wurden, hält es Greg kaum
noch auf seinem Stuhl. Bei meinem Bericht über den Verkauf der Ein-
satzpläne für den Kriegsfall mithilfe der Ungarn läuft er anscheinend
schon in Erwartung des einzuleitenden Gerichtsprozesses im Raum hin
und her.
»Steht noch mehr zu erwarten?«, fragt er, offenkundig erpicht darauf.
»Ja.« Mein Tonfall signalisiert, dass ich mir diesbezüglich sehr sicher
bin. »Aber es gibt ein Problem.«
»Das dachte ich mir«, erwidert Greg und nimmt wieder auf seinem
Stuhl Platz.
»Ach ja?«
»Joe, du bist zwei Stockwerke hinabgestiegen, um dich an diesem wun-
derbaren Dienstagnachmittag mit mir zu treffen, statt in der Tampa Bay
Kajak zu fahren.«
Gregs Äußerung erinnert mich daran, dass wir oft stundenlang ge-
meinsam mit dem Kajak unterwegs waren, und führt mir vor Augen, wie
sehr ich ihn mag. Deshalb fällt mir mein Geständnis umso schwerer.
»Sehr scharfsinnig von Ihnen, Herr Anwalt.« Auch wenn wir gut be-
freundet sind, bin ich nervös.
»Sprich mit mir, Joe.« Hinter Gregs ruppigem Tonfall klingt die Bot-
schaft durch: ›Ich stehe hinter dir. Du weißt, du kannst dich auf mich ver-
lassen.‹ Er hat recht.
205

»Ich habe Rod vielleicht den Eindruck vermittelt, ihm Straffreiheit zu-
gesichert zu haben.«
»Und dazu bist du natürlich nicht befugt.«
»Genau.« Ich spiele vor Anspannung mit meinem Krawattenknoten.
»Und wie hast du diesen Flaschengeist freigesetzt, Navarro?«
»Kurz gesagt: Ich habe meinen Mund aufgemacht.«
»Joey, Joey, Joey – wie oft habe ich es dir schon gesagt: Für das, was du
nicht sagst, musst du auch nicht geradestehen.«
»Vielen Dank, Greg, sehr hilfreich. Das Letzte, das ich jetzt brauchen
kann, ist eine Moralpredigt.«
Ich ignoriere Gregs bedrohlichen Blick à la Robert De Niro, der ›Die
kannst du aber gebrauchen‹ zu sagen scheint.
»Außerdem haben Moody und ich es bisher versäumt, Rod die von
Amts wegen erforderliche Belehrung zu erteilen. Die Anwälte des Jus-
tizministeriums meinen, diese Unterlassung könnte auch zum Problem
werden.«
»Ist Ramsay verhaftet worden?«
»Nein.«
»Habt ihr die Absicht, ihn zu verhaften?«
»Vielleicht irgendwann. Wie du weißt, liegt diese Entscheidung nicht
bei mir.«
»Damit kann ich leben. Es besteht keine Notwendigkeit, Rod zu beleh-
ren, sofern er nicht verhaftet wurde oder seine Verhaftung bevorsteht.«
»Das ist nicht der Fall.«
»Dann erzähle mir von deinem anderen Problem.«
Ich schildere Greg die Abfolge der Ereignisse: Rods rein hypothetische
Fragen und meine rein hypothetischen Antworten. Gregs stahlblaue Au-
gen zeigen einen durchdringenden Blick, mit dem er vermutlich Stahl
zum Schmelzen bringen könnte.
»Joey, Joey«, sagt er, nachdem ich meinen Bericht beendet habe. »Du
weißt, wie sehr ich dich mag, aber ich muss dir sagen, du hast Mist ge-
baut. Gibt es dafür auch eine freundlichere Bezeichnung? Ich weiß es
nicht. Du hast kompletten Mist gebaut. Die Verteidigung wird diesen
Vorfall entweder bei der Verhandlung über den Ausschluss von Bewei-
sen anführen oder dir damit während des Prozesses das Genick brechen.
Capisce?«
206

»Ich weiß, Greg, ich weiß«, gebe ich zu, und mir ist plötzlich sehr kalt.
Meine Hände fühlen sich so eisig an, als hätte man mich in Supermans
frostige Festung der Einsamkeit verbannt. Am liebsten würde ich davon-
laufen, aber Flucht hilft nicht weiter, und Greg hat mir noch mehr zu sa-
gen.
»Ich möchte nicht, dass irgendein Grundschullehrer unter den Ge-
schworenen Mitleid für Rod empfindet, weil er den Eindruck hat, wir
hätten diesen Kerl in die Irre geführt. Wenn du das von dir verursach-
te Problem nicht aus der Welt schaffst, wirst du dich immer weiter darin
verstricken und am Ende völlig machtlos sein. Da deinem Bericht zufol-
ge der Prozess gegen Ramsay der einzige sein wird, den wir in den Verei-
nigten Staaten führen können, musst du die Sache geradebiegen.«
›Leichter gesagt als getan‹, denke ich und sinke noch tiefer auf meinem
Stuhl zusammen.
»Dieser Fall wird letztendlich in meinen Zuständigkeitsbereich fallen,
und ich möchte, dass er unanfechtbar ist. Ich will, dass du diesen Mist-
kerl ans Kreuz nagelst, verstehst du? Ich möchte mich nicht mit Fragen
der Zulässigkeit beschäftigen. Und …«
»Und?« Gregs Worte haben einen unheilvollen Klang.
»Und ich möchte den Anwalt der Verteidigung während des gesam-
ten Gerichtsverfahrens nicht einmal das Wort ›Belehrung‹ sagen hören.«
Der Tritt in die Magengrube schmerzt umso mehr, da ich ihn von ei-
nem Mann verabreicht bekomme, den ich sehr schätze, und vor allem, da
ich ihn verdient habe.
»Joe«, sagt Greg, während wir zu Tür gehen und den geschützten Be-
reich des SCIF verlassen. »Wie viele Agenten arbeiten in dieser Außen-
stelle?«
»Etwas über Hundert.« Ich wundere mich, worauf Greg hinauswill.
Ȇber hundert Agenten, und doch sehe ich nur eine Handvoll immer
wieder. Ihr seid die Zugpferde, Joe, die Männer, die die Behörde verheizt.
Ihr seid diejenigen, die mir Fälle vorlegen, die ich vor Gericht bringen
kann. Die anderen machen nichts. Ich habe keine Ahnung, wofür sie be-
zahlt werden.«
Ich frage mich immer noch, was Greg mit dieser Bemerkung bezweckt,
doch schließlich kommt er zum Punkt: »Die anderen, Joey, sind Mitläu-
fer. Sie riskieren nichts. Auch hier im Büro des United States Attorney
207

gibt es viele davon. Sie stecken ihre Gehaltszahlungen ein, aber sie zei-
gen kein Engagement. Wer keinen Einsatz zeigt, macht auch keine Feh-
ler. Mir ist dein Fauxpas egal. Komplizierte Fälle gehen mit großen Prob-
lemen einher. Ich kenne dich: Du wirst deinen Fehler ausbügeln, weil du
zu den Zugpferden gehörst. Du blickst immer nach vorne, nicht zurück.
Schaffe das Problem aus der Welt, bevor du irgendetwas anderes unter-
nimmst, und alles wird gut. Ich stehe hinter dir.«
Ich war mit hängenden Schultern und gesenktem Haupt in das Ge-
spräch mit Greg gegangen, doch seine aufmunternden Worte haben mei-
ne Stimmung sofort gehoben. Seine Aufforderung, das Problem aus der
Welt zu schaffen, ist für mich nichts anderes als die Startglocke beim
Kentucky Derby.

AUS DIESEM GRUND warten Mrs Moody und ich 29 Stunden später
in einem Steakhaus im Großraum Orlando auf Rod. Da das Restaurant
nahe Disneyworld liegt, verlangt es überteuerte Preise und ist dennoch
voll besetzt.
Ich bin müde. Der Überwachungsflug letzte Nacht verlief ergebnis-
los – das mit Kokain beladene Schnellboot, von dem wir gehofft hatten,
dass es in den südlich der Tampa Bay gelegenen Hafen von Bradenton
einlaufen würde, steuerte eine andere Anlegestelle an oder löschte seine
Fracht auf dem offenen Meer. Unabhängig vom Resultat bedeuten fünf
Stunden in der Luft jedoch fünf Stunden Anstrengung. Außerdem bin
ich jemand, der sich ständig Sorgen macht, und die bevorstehende Auf-
gabe ließ mich kaum Schlaf finden, vor allem da nun alle – von den deut-
schen und schwedischen Behörden über das Justizministerium bis hin
zur FBI-Zentrale und der Washingtoner Außenstelle – unsere jüngsten
FD-302-Formulare gelesen hatten und sich mit Sicherheit wunderten,
was ich mir bei meinem Vorstoß gedacht hatte. Außerdem hatte ich mich
heute bereits zahllosen anderen Pflichten widmen müssen.
Moody ist wahrscheinlich noch erschöpfter. Sie wurde meinem Fall
zugeteilt, von anderen aber nicht abgezogen. Ihr Mann nimmt gerade an
einer Fortbildung teil, sie ist schwanger und hat bereits ein Kind, um das
sie sich kümmern muss, da die Babysitterin an Grippe erkrankt ist. An
Moodys Stelle hätte ich vermutlich abgelehnt, als ich sie gebeten habe,
mich heute nach Orlando zu begleiten. Moody weiß jedoch, was auf dem
208

Spiel steht, und fühlt sich vielleicht ein wenig mitschuldig an dem Um-
stand, dass ich auf Rods Spielchen – rein hypothetisch – eingestiegen bin.
Letztendlich haben wir einen Kompromiss ausgehandelt: Moody er-
klärte sich bereit, selbst nach Orlando zu fahren, an dem Abendessen mit
Rod teilzunehmen und anschließend eine Stunde lang der Befragung im
Embassy Suites beizuwohnen. Anschließend wird sie nach Hause fahren,
und ich werde vor Ort bleiben, um meinen Fehler auszubügeln.
Als Rod am Empfangstisch des Chef de Rang erscheint, quälen mich
angsterfüllte Gedanken. Unser stets auf ein Essen erpichter Verräter
winkt uns fröhlich zu und spaziert schnurstracks durch die Gästeschar.
Wenigstens einer von uns ist bester Laune, obwohl er vor weniger als
48 Stunden gestanden hat, an Verbrechen gegen den Staat beteiligt gewe-
sen zu sein. Ohne dass wir uns dessen erwehren können, steckt Rod uns
mit seiner Hochstimmung an.
Er erzählt uns, wie sein Tag verlaufen ist. Er erklärt uns, wie es sich an-
fühlt, am Orlando International Airport stundenlang auf zahlende Fahr-
gäste warten zu müssen. Sein liebster Zeitvertreib, so sagt er, sei Lesen.
Heute hat er, wenn man ihm glauben darf, zwei ganze Bücher geschafft
und die gelesenen Seiten herausgerissen.
Ich erinnere mich vage daran, dass Clyde ihm diesen Trick beigebracht
hat. In jedem Fall aber ist diese Angewohnheit die Erklärung für eine
kryptische Meldung eines Agenten, der Rod eine Stunde lang am Flugha-
fen überwachte. Der Agent berichtete, dass »die Zielperson anscheinend
Bücher zerstörte«, während sie sich in der Warteschlange der Taxis Stück
für Stück nach vorne schob. Derselbe Agent hatte sich nach der stunden-
langen Befragung im Embassy Suites Hotel an Rods Fersen geheftet. Rod
war nach Verlassen des Hotels schnurstracks zu einem Stundenhotel am
South Orange Blossom Trail gefahren. Vielleicht ist er deshalb heute so
fröhlich – von der Mitbewohnerin seines Wohnmobils bekommt er si-
cher keine Liebe mehr geschenkt.
Rod sprüht immer noch vor Jovialität, als der Kellner an unseren Tisch
kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen. Auf Moodys Drängen hin
entscheide ich mich erneut für ein Steak. Diesmal wähle ich ein Klub-
steak, blue rare, mit Pommes frites sowie einen Gartensalat mit Blaukäse
statt des gedünsteten Spinats. Moody wählt ein Gericht mit Goldmakre-
len. Rod gibt bei dem Kellner exakt dieselbe Bestellung auf wie ich – wenn
209

ich mich nicht täusche, mit exakt demselben Wortlaut und mit dem glei-
chen bissigen Blick Richtung Moody, der ihr signalisieren soll, dass wir
heute beim Salatdressing keine Kompromisse eingehen.
›Seltsam‹, denke ich, ›Rod bestellt sein Steak immer medium-rare.‹
Mir bleibt jedoch keine Zeit, über Rods Nachäfferei nachzudenken, denn
dieser entpuppt sich gerade als Weinkenner.
»Goldmakrelen? Dazu sollten Sie unbedingt einen Riesling nehmen,
Terry!«, erklärt er mit Nachdruck und diskutiert fünf Minuten lang mit
dem Kellner über Rebsorten, Jahrgänge und Anbaugebiete vom Rhein-
land bis zum Elsass. Als Rod sich mit der Frage »Zwei Gläser oder drei?«
an mich wendet, ist es Zeit, ihm Einhalt zu gebieten. Sollte uns die An-
gelegenheit mit der Straffreiheit vor Gericht doch nicht das Genick bre-
chen, würde es uns ganz sicher zum Verhängnis werden, wenn wir Rod in
alkoholisiertem Zustand die Belehrung erteilen würden.
Außerdem hege ich den Verdacht, dass Rod uns mit der Aufforde-
rung, Wein zu trinken, eine weitere Falle stellt, da er sich der fatalen Aus-
wirkungen, die eine Flasche Riesling auf den Fall haben würde, voll und
ganz bewusst ist. Allerdings steckt er, sollte er diese Absicht verfolgen,
den Rückschlag locker weg. Während des Desserts unternehmen wir mit
Rod eine Zeitreise in die Blütezeit der Seidenstraße (ein Traum für jeden
Spion, nebenbei bemerkt). Beim Kaffee – Rod trinkt ihn heute wie ich
schwarz statt mit Milch – spricht er über die Gefahren der elektromag-
netischen Strahlen der Sonne für die Erde – das Thema eines der Bücher,
das er heute vernichtet hat.
Normalerweise würde ich mit Rod über die von ihm kommunizierten
Fakten diskutieren oder ihm auf andere Weise die Stirn bieten – teils um
des spielerischen Wettbewerbs willen und teils, um ihm klarzumachen,
wer in unserer Runde das Sagen hat. Heute stehen aber weitaus wichtige-
re Punkte auf dem Programm. Rod ist immer noch bester Laune, als wir
im Embassy Suites Hotel – wie beim vorletzten Mal – das Zimmer 316
betreten. Wie üblich, sitzt Rod auf dem Sofa nahe der Tür.
Ich leite unsere Gesprächsrunde mit der Ankündigung ein, dass Moo-
dy uns heute nur für kurze Zeit Gesellschaft leisten wird.
»Wir können uns glücklich schätzen, dass sie sich überhaupt für uns
freinehmen konnte«, betone ich.
Mit einer Handbewegung, die dem Papst gut stehen würde, wischt Rod
210

jede Implikation, er könnte dazu geneigt sein, Moody Unannehmlichkei-


ten zu bereiten, beiseite.
»Mütter müssen ihren Pflichten nachgehen.« Rods großzügiger Ton-
fall ist mir mittlerweile bestens bekannt. Warum also nicht darauf auf-
bauen?
»Ich möchte noch einmal betonen, dass ich … wir … Terry und ich es
sehr zu schätzen wissen, dass Sie in unserem letzten Gespräch den Vor-
fall mit den Computerchips aufgeklärt haben. Da ich im Moment weiß
Gott keine Kapazitäten hätte, mich mit dem illegalen Handel von techni-
schen Geräten zu beschäftigen, bin ich froh und dankbar, dass sich die-
ses Problem gelöst hat.«
Wieder winkt Rod ab. Diese Geste soll bedeuten: »Das war doch selbst-
verständlich.«
Moody ist anzusehen, dass sie sich wundert, worauf ich hinauswill.
Wäre ich mir selbst absolut sicher, welche Richtung ich einschlagen
möchte, würde ich ihr ein Signal geben. Im Moment folge ich jedoch nur
meinem Instinkt, der sich in Tausenden von Befragungen herausgebildet
hat, und meinem Bauchgefühl für mein Gegenüber. Ich atme tief ein, öff-
ne mich für alle weiteren Eindrücke und atme tief aus. Ich wende mei-
nen Kopf ein wenig ab, sodass Rod und ich uns nicht direkt in die Augen
sehen. Ich blicke nach unten, um Verletzbarkeit zu signalisieren. Dann
springe ich von der Klippe und komme auf den eigentlichen Anlass un-
seres heutigen Treffens zu sprechen.
»Rod, wie Sie sich sicher erinnern, haben wir in unserem Gespräch
über die Computerchips rein hypothetische Aussagen gemacht [Rod
formt mit den Lippen das Wort »sicher«]. Eines müssen wir jedoch ein-
deutig feststellen: Weder Agent Moody noch ich haben Einfluss auf die
Entscheidung, gegen wen, wann und warum eine Strafverfolgung ein-
geleitet wird. Sie haben eine rein hypothetische Frage gestellt, und ich
habe in derselben Weise darauf geantwortet. Meine Auskunft war recht-
lich nicht bindend. War Ihnen das bewusst?«
»Könnte ich eine Cola haben?«, fragt Rod mit einem Nicken in Rich-
tung der wie immer auf dem Couchtisch platzierten Kühlbox.
»Natürlich«, erwidere ich. »Ich bringe sie Ihnen.« Im Moment sind
Tricks zur Behauptung von Dominanz nicht angemessen. Das weiß auch
Rod genau.
211

»Mir ist bewusst, dass wir rein hypothetische Aussagen gemacht ha-
ben«, räumt Rod ein, nachdem er sich zu seinem Softdrink eine Zigarette
angezündet hat. »Und mir ist bewusst, dass Sie nicht entscheiden, ob eine
Strafverfolgung eingeleitet wird. Botschaft angekommen.«
»Das ist gut, denn Sie sind ein kluger Kopf, Rod, und eigentlich müss-
te ich Ihnen das gar nicht sagen – ein Staatsanwalt kann ganz nach Belie-
ben ein Strafverfahren gegen ein Thunfischsandwich, einen Rod Ramsay
oder sogar einen Joe Navarro einleiten.«
»Ich weiß«, erwidert Rod.
»Sehr gut. Ich bin froh, dass wir das geklärt haben.«
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich feiere im Stillen, während Moody
wie besprochen Rod einige weitere Fragen zu seiner Funktion als Pack-
esel für Conrads Dokumente und Banknoten auf der Wienreise stellt. Ich
unterbreche ihr Gespräch mit einem weiteren mutigen Vorstoß, in der
Hoffnung, auch diesmal nicht auf Gegenwind zu stoßen.
»Rod, ich möchte Ihnen noch für etwas anderes danken.«
Rod sieht mich fragend an, eine Augenbraue, wie es eigentlich meiner
Gewohnheit entspricht, nach oben gezogen und mit einem Ausdruck in
seinen Augen, der ›Worum geht es denn jetzt?‹ zu sagen scheint.
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit vor zwei Tagen.«
»Meine Offenheit?«, fragt Rod.
Auch Moody sieht mich fragend an, allerdings kommuniziert sie mit
ihrem Blick eher die Botschaft: »Was um Himmels willen, treiben Sie
da?«
»Ja, Ihre Ehrlichkeit bezüglich Ihres Verhältnisses zu Clyde, der Her-
ausforderungen, vor die er Sie gestellt hat, der Art und Weise, wie Sie ihm
geholfen haben, et cetera.«
»Ach so«, entgegnet Rod. »Kein Problem. Was geschehen ist, ist ge-
schehen.«
»Ich weiß Ihre Offenheit wirklich zu schätzen. Vermutlich ließe sich
die gesamte Menschheitsgeschichte mit dem Satz ›Was geschehen ist, ist
geschehen‹ abhaken.«
Da Rod zustimmend nickt, fahre ich fort: »Es gibt allerdings ein Pro-
blem: Mein Chef …«
»Koerner?«
»Ja. Koerner macht sich Sorgen, dass wir Ihnen zu viel Zeit rauben und
212

Sie zu sehr beanspruchen. Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören, da
Koerner deswegen wirklich wütend auf mich ist.«
»Nein, nein«, sagt Rod, »kein Problem. Ich treffe mich wirklich gerne
mit Ihnen.« Ich habe den Eindruck, dass Rod dieses Zugeständnis – aus
welchen Gründen auch immer – ernst meint. »Das macht mir gar nichts
aus.«
»Gut«, erwidere ich. »Ich freue mich, das zu hören, dann kann ich
­Koerner beruhigen. Koerner macht sich immer viel zu viele Gedanken,
und er befürchtet, dass ich Ihnen zu nahe trete. Ich versichere Ihnen in
aller Aufrichtigkeit, dass Sie nicht mit mir oder mit Mrs Moody sprechen
müssen, wenn Ihnen nicht danach ist. Ich möchte, dass Sie sich nur mit
uns unterhalten, wenn Sie Lust dazu oder zumindest nichts dagegen ha-
ben. Sie haben die Wahl.«
»Joe«, sagt Rod und sieht dann Mrs Moody an. »Terry – ich weiß, dass
ich unsere Gespräche jederzeit beenden kann.«
»Gut«, erwidert Moody, »denn wir möchten nicht, dass Sie den Ein-
druck haben, von uns gezwungen zu werden.«
Rod lacht, als sei die Annahme, ihn durch Zwang zum Reden bringen
zu können, völlig abwegig.
»Rod«, fahre ich fort, um mein Anliegen ein für alle Mal zu klären.
»Sie sehen doch Fernsehen [Rod nickt]. Ich bin mir sicher, Sie haben
schon viele Krimis gesehen.«
»Natürlich«, erwidert Rod. »Selbstverständlich.«
»Dann wissen Sie, dass Polizeibeamte bei einer Verhaftung sagen: ›Sie
haben das Recht zu schweigen …«
»… ›Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet wer-
den.‹« Rod vollendet den Satz in der Art von Don Johnson als Sonny
Crockett in Miami Vice.
»Richtig. Weiterhin heißt es: ›Sie haben das Recht, zu jeder Verneh-
mung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidi-
ger leisten können, wird Ihnen einer gestellt.‹«
»Ich weiß.«
»Mir ist wichtig, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass diese Wor-
te nicht nur in Fernsehkrimis, sondern auch in der Realität Gültigkeit
haben. Da Sie, wie Sie mir erzählt haben, noch nie mit dem Gesetz in
Konflikt geraten sind, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass diese Rechte
213

auch von Personen in Anspruch genommen werden können, denen kei-


ne Verhaftung droht. Ich möchte, dass Sie heute Abend dieses Hotelzim-
mer in dem Bewusstsein verlassen, dass Moody und ich Ihnen keine wei-
teren Fragen stellen werden, wenn Sie es nicht wünschen. Haben Sie das
verstanden?«
Rod sieht Moody an und antwortet: »Ja.« Moody lächelt ihn an.
»Prima«, sage ich. »Das hilft mir sehr, denn Koerner hat mir heute
Morgen ganz schön zugesetzt.«
»Soll ich Koerner anrufen und ihm sagen, dass alles in Ordnung ist?«,
fragt Rod.
»Das ist nicht nötig. Wichtig ist nur, dass Sie verstanden haben, dass
es an Ihnen liegt, ob Sie mit uns sprechen, und dass Sie das Recht auf ei-
nen Anwalt haben.«
»Das habe ich, Joe«, sagt Rod und wendet sich Terry zu. »Mrs Moody,
machen Sie sich keine Sorgen.«
»Schon gut, Rod«, beschwichtigt Terry. »Mir ist nur wie Agent Navarro
daran gelegen, dass Sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlen.«
Dankbar für Moodys Beistand, greife ich ihren Hinweis auf: »Ich ver-
mittle Ihnen gerne einen guten Anwalt, Rod.«
»Meine Mutter kennt mehrere gute Anwälte«, erwidert Rod nach kur-
zem Schweigen. »Sie hat mich bereits mit deren Namen und Telefon-
nummern versorgt. Es ist also alles in Ordnung. Ich danke Ihnen beiden
trotzdem. Koerner können Sie ausrichten, dass er sich keine Gedanken
machen muss.«
»Wirklich alles in Ordnung?«, versichere ich mich noch einmal.
»Ich habe alles verstanden«, bestätigt Rod und besiegelt seine Worte
mit einem festen Händedruck, nachdem ich aufgestanden bin, um ihm
die Hand zu reichen.
»Danke«, sage ich, »Sie haben mir eine große Sorge genommen.«
»Oh«, meint Rod und greift unvermittelt das Thema wieder auf,
über das er beim Kaffee im Steakhaus gesprochen hat: über die Ge-
fahren der elektromagnetischen Strahlen der Sonne für die Erde. Als
Rod seine Ausführungen unterbricht, um sich eine Zigarette anzuzün-
den, blicke ich zu Moody hinüber. Ich sehe ihr an, dass ihr bewusst ist,
was ich soeben kommuniziert habe: Ich habe Rod gegenüber die er-
forderliche Belehrung ausgesprochen, und Rod hat eingewilligt, mit
214

uns zu kooperieren. Die Art der Durchführung war zugegebenerma-


ßen ein wenig unkonventionell, doch es steht nirgendwo geschrieben,
dass die Belehrung, wie es in den Fernsehserien gezeigt wird, stereo-
typ heruntergebetet werden muss. Wichtig ist, dass Rod bestätigt hat,
seine Rechte zu kennen, und dass Agent Moody dies bezeugen kann.
Das Lächeln, mit dem Moody meinen Blick erwidert, verrät mir, dass
sie ebenso erleichtert ist, dass wir diese Angelegenheit hinter uns ge-
bracht haben.
›Mistkerl‹, denke ich, während Rod weiterdoziert. Er erzählt gerade ir-
gendetwas vom Magnetfeld der Erde und von einem weltumspannenden
Stromnetz. Ich weise ihn sanft darauf hin, dass Mrs Moody sich nun ver-
abschieden muss. Rod präsentiert sich als galanter Gentleman: Er steht
auf, reicht Moody die Hand und wünscht ihr eine gute Fahrt. Dann wen-
det er sich mit ernsterem Blick an mich.
»Was halten Sie davon, wenn wir beide uns noch ein wenig unterhal-
ten?« In der Annahme, dass Rods Gesprächsbereitschaft Vorbote weite-
rer Geständnisse ist, stimme ich bereitwillig zu. Allerdings liege ich mit
meiner Vermutung völlig falsch.

MRS MOODY HAT VERMUTLICH noch nicht einmal den Aufzug er-
reicht, als Rod wieder auf dem Sofa Platz genommen hat. Er zündet sich
eine Zigarette an, rutscht ein wenig nach vorne (mir fällt auf, dass er da-
mit eine ähnliche Sitzposition einnimmt wie ich vorhin auf dem Dreh-
stuhl) und gibt mir Kontra.
»Haben Sie mich angelogen?«
Ich antworte verzweifelt mit einer Gegenfrage, während ich überlege,
was Rod dazu veranlassen könnte, mich ins Verhör zu nehmen: »Wovon
sprechen Sie?«
»Bamford, der Journalist von der ABC, behauptet, meine Verhaftung
stehe unmittelbar bevor. Haben Sie mich angelogen, Agent Joe Navarro?«
Diesmal spielt Rod keine Spielchen. Jetzt verstehe ich, warum Rod die-
se Frage erst jetzt stellt, da Moody sich verabschiedet hat: Wir sprechen
nun von Mann zu Mann. Ich muss vorsichtig sein: Es gibt keine Zeugen
mehr, von jetzt an steht seine Aussage gegen meine.
Ich blicke Rod direkt in die Augen: »Soweit ich weiß, hat niemand Ihre
Verhaftung angeordnet, und abgesehen von Mrs Moody bin ich der ein-
215

zige Agent, der mit diesem Fall betraut ist. Darauf gebe ich Ihnen mein
Wort.«
Rod sieht mich prüfend an, um herauszufinden, ob ich lüge. Das tue
ich nicht. Jedes einzelne Wort meiner Äußerung ist wahr, auch wenn ich
nicht die ganze Wahrheit gesagt habe.
Ich gebe Rod einen Ratschlag, von dem ich mir einen Vorteil erhof-
fe: »Stellen Sie die Gespräche mit ABC ein, Rod! Es ist Aufgabe der Jour-
nalisten, Nachrichten zu verbreiten, und Sie füttern sie damit [Rod nickt
zustimmend]. Ich habe jedoch auch eine Nachricht für Sie: Diese Jour-
nalisten werden Sie so lange nicht in Ruhe lassen, bis Sie sie zum Teufel
schicken.«
Die Phrase ›zum Teufel schicken‹ bewegt Rod seltsamerweise zum
Einlenken.
»Ich wollte nur sichergehen«, sagt er beinahe entschuldigend.
»Rod, ich würde es Sie selbstverständlich sofort wissen lassen, wenn
Ihre Verhaftung anstünde. Lassen wir es für heute gut sein. Ehrlich ge-
sagt, bin ich müde und habe Kopfschmerzen. Und Sie haben genug an-
dere Probleme – zum Beispiel mit Ihrer sogenannten Lebensgefährtin.«
»Erinnern Sie mich bloß nicht daran.«
»Sind Sie mit einem weiteren Treffen mit Mrs Moody und mir mor-
gen einverstanden?«
»Klar«, erwidert Rod und zeigt nun fast wieder dasselbe breite Lächeln
wie beim Abendessen. »Gleiche Uhrzeit?«
»Ja, und bringen Sie Hunger mit.«
Als sich die Fahrstuhltür öffnet und wir die Lobby betreten, sagt Rod:
»Eines noch: Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht geglaubt habe.«
»Kein Problem, Rod. Es ist Ihr gutes Recht, jederzeit meine Angaben
zu hinterfragen«, erwidere ich. Rod verabschiedet sich von mir mit ei-
nem abrazo, einer Umarmung unter Männern, und macht sich auf den
Weg.
Als Rod zur Tür hinaus ist, sende ich dem Kollegen auf dem Hotel-
parkplatz über meinen Pager den Code 11: Zielperson in Bewegung.

RUND 90  MINUTEN SPÄTER befinde ich mich, nachdem mich ein
schwerer Unfall auf der Interstate 4 zwang, eine Ausweichstrecke zu neh-
men, auf dem U. S. Highway 60 nahe Plant City, der Erdbeerhauptstadt
216

der Welt, als sich mein Schlafdefizit rächt. Eben noch wach und aufmerk-
sam, schlafe ich ein. Ich schlittere von der Autobahn  – Gott sei Dank
nach rechts und nicht über die anderen Fahrspuren – und finde mich in
einem frisch gepflügten Feld wieder. Meine Räder drehen sich in der Luft,
und meine Windschutzscheibe ist voller Dreck.
13
KOGNITIVE DISSONANZ

9. November 1989

Ich habe Glück. Während ich zu Hause ein paar Stunden tief und fest
schlafe, regnet es in Strömen. Ich finde meinen Bu-Steed, den ich in der
Auffahrt geparkt habe, sauber gewaschen vor und muss nur noch den
Kühlergrill von Gras befreien und den Unterboden abspritzen. Also sehe
ich keinen Grund, warum ich meinen Unfall melden oder irgendjeman-
dem davon erzählen sollte.
Auch in anderer Hinsicht habe ich Glück: Das Auto hat keinen Scha-
den genommen, und ich habe, abgesehen von einer kleinen Prellung am
Kopf an der Stelle, an der ich gegen das Lenkrad gestoßen bin, und ei-
nem vermutlich durch den Sicherheitsgurt, der mich davor geschützt
hat, durch die Windschutzscheibe zu fliegen, verursachten leichten
Schmerz in der Schulter, keine Verletzungen erlitten. Und es gibt kei-
ne Leichen, die sich nach dem von Joe Navarro (der in diesem Fall sei-
218

nen Status als Agent des FBI umgehend verloren hätte) verursachten
Frontalzusammenstoß neben den rauchenden Wracks der Fahrzeuge
türmen. Ich habe letzte Nacht auf der Fahrt nach Hause gezittert wie
Espenlaub bei dem Gedanken, welche Auswirkungen mein Sekunden-
schlaf hätte haben können. Oh mein Gott  – was hätte alles passieren
können!
Ich denke noch eine Weile darüber nach, doch meine oberste Pflicht
ist nun, die Formulare auszufüllen. Beim FBI existieren Ermittlungsfort-
schritte erst, wenn der Papierkram eingereicht wurde, und im Bereich
Spionage ist der Schreibaufwand besonders groß. Bei anderen Kriminal-
fällen sind die FD-302-Formulare relativ einfach gehalten: Sie fragen die
Ergebnisse von Verhören ab und die Beobachtungen, die gemacht wur-
den. Sie umfassen nicht mehr als drei Seiten und konzentrieren sich auf
die wesentlichen Aspekte, die erforderlich sind, um ein Verbrechen zu
beweisen. Bei Spionagedelikten hingegen zählt jedes Detail – nicht das
Beobachtete und die Äußerungen allein, sondern auch, wie und wann
etwas gesagt wurde und in welcher Reihenfolge die einzelnen Angaben
gemacht wurden. Im Bereich der Spionage zählen alle denkbaren Nuan-
cen.
Bei keinem anderen Verbrechen spielen so viele Faktoren eine Rol-
le: die verwendeten Techniken und Technologien, die nationalstaatliche
Zugehörigkeit der Beteiligten, einzelne Diplomaten oder Mitarbeiter von
Geheimdiensten, die Operationsgebiete, die Kommunikationsmetho-
den, die Methoden der Geheimhaltung, Transportmittel, politische Hin-
tergründe, Gefolgschaftstreue, Loyalitäten innerhalb der Volksgruppe,
die Tageszeit, der Wochentag und sogar der historische Zusammenhang.
Über die eigentliche Straftat hinaus helfen uns ergänzende Informatio-
nen zu ermitteln, in welcher Form ein feindlicher Staat Spionage betreibt:
Gegenstand und Umfang des Interesses, die Art der Kontaktaufnahme
mit Spionen, die gewählten Treffpunkte, die spezifischen Einsatzgebie-
te, die Höhe der finanziellen Gegenleistung, der den jeweiligen Infor-
mationen zugemessene Wert und die Namen der besten Geheimagen-
ten in den eigenen Reihen. In der Spionageabwehr tätige FBI-Agenten
werden von ihren in anderen Bereichen aktiven Kollegen häufig damit
aufgezogen, dass ihre FD-302-Formulare einer Neufassung von Tols-
tois Krieg und Frieden gleichen. Unsere Formulare sind vergleichsweise
219

umfangreich – die Niederschrift des gestrigen Gesprächs mit Rod wird


etwa zwölf Seiten umfassen –, weil wir aufgrund der höheren Beweislast
gründlicher zu Werke gehen müssen. Nicht immer ist die Schreibarbeit
langweilig.
Heute macht es zum Beispiel sehr viel Spaß, das FD-302-Formu-
lar auszufüllen. »Der Verdächtige Rod Ramsay bestätigte, aus eigenem
Willen mit uns zu sprechen, und erklärte es als zutreffend, dass ihm kei-
ne Straffreiheit eingeräumt und die Möglichkeit der Erlangung dersel-
ben auch nicht suggeriert wurde. Dem Verdächtigen wurde die von Amts
wegen erforderliche Belehrung erteilt, deren Kenntnisnahme wurde von
ihm explizit bestätigt. Agent (Mrs) Terry Moody wohnte diesem Teil der
Befragung bei und kann die oben genannten Sachverhalte bezeugen.« Ich
habe noch jede Menge weitere Informationen zu ergänzen, doch mein ju-
ristischer Fauxpas ist Gott sei Dank aus dem Weg geräumt. Ich kann mir
die langen Gesichter, die die Kollegen in der Washingtoner Außenstelle
machen werden, wenn sie dieses per Fernschreiber übermittelte Formu-
lar lesen, gut vorstellen. ›Wie bitte? Navarro ist doch nicht der Dumm-
kopf, für den wir ihn gehalten haben? Verflixt noch einmal!‹
Während ich das FD-302-Formular ausfülle, denke ich auch an Greg
Kehoe. Er wird sich sicher freuen, die Neuigkeiten zu erfahren. Ich bin
seiner Aufforderung, das von mir verursachte Chaos zu beseitigen, in
vollem Umfang nachgekommen. Nun können wir beide beruhigt sein.
Auch Rods Anwalt – wer auch immer das letztendlich sein wird – habe
ich im Kopf. Ich möchte ihm die Lückenlosigkeit der in den Befragungen
erzielten Ergebnisse und das volle Ausmaß von Rods Geständnis vor Au-
gen führen und keinen Zweifel daran lassen, dass die belastenden Aussa-
gen in diesem Fall nur ein Ergebnis zulassen: einen Schuldspruch.
Ich bin gerade dabei, die letzten Minuten des gestrigen Abends zu be-
schreiben – die Fahrt mit Rod im Aufzug, seine (tatsächlich) anrührende
Entschuldigung, unseren abrazo –, als mein Telefon klingelt. In der An-
nahme, dass Mrs Moody sich vor ihrer Fahrt in die Stadt bei mir meldet,
sage ich mit fröhlichem Trällern in der Stimme: »Terry!«
»Nein, Rod.« Er klingt furchtbar – seine Stimme bebt.
»Rod?«
»Joe«, sagt er. »Sie müssen mir helfen. Ich habe mir den Tripper ge-
holt.«
220

DIE FBI-AKADEMIE in Quantico, Virginia, bietet exzellente Unter-


richtseinheiten für eine enorme Bandbreite von Themen an. Den Studen-
ten wird beigebracht, wie man einen Angreifer entwaffnet, wie man bei
einer Leiche den Todeszeitpunkt ermittelt, wie Überwachungen durchge-
führt werden und wie man auf 20 verschiedenen Oberflächen, darunter
Haut, am besten Fingerabdrücke sichert. Die Akademie hat jedoch noch
nie – und wird das vermutlich auch nie tun – Schulungen angeboten, die
sich mit der Frage beschäftigen, wie man damit umgeht, wenn der Haupt-
verdächtige in einem Spionagefall einem Agenten frühmorgens am Tele-
fon mitteilt, dass er sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen hat.
Als Erstes schießen mir folgende Gedanken durch den Kopf: ›Wie soll
ich das zur Niederschrift bringen? Mit welcher Überschrift versehe ich
den Bericht? Welche Informationen soll ich aufnehmen und welche weg-
lassen?‹ Sie entspringen der Lebenswirklichkeit einer stark bürokratisch
geprägten Regierungsbehörde. Zunächst aber muss ich mich, wie ich es
als Agent im Umgang mit wertvollen Informationsquellen gelernt habe,
mit dem menschlichen Faktor auseinandersetzen – mit der Tatsache, dass
Menschen nicht vollkommen sind. Selbst wenn man von der Person am
anderen Ende der Leitung angewidert ist, hilft man ihr und leitet sie an,
wie es sich für einen guten Agenten gehört. Ich rekrutiere seit über zehn
Jahren Informanten und fungiere dabei die halbe Zeit über als Therapeut.
Auch Menschen, die selbstsicher und zuverlässig wirken, haben Prob-
leme. Mit einer solchen Komplikation hatte ich allerdings noch nie zu
tun – einer Harnröhrenentzündung, die höchst relevante Ermittlungen
kurzfristig oder vollständig scheitern lassen kann.
Ich wechsle von meiner Rolle als FBI-Agent zumindest ansatzweise in
die eines Vaters.
»Um Himmels willen, Rod! Seit wann haben Sie das schon?«
»Vor ein paar Tagen hat es angefangen zu jucken. Jetzt habe ich beim
Wasserlassen schreckliche Schmerzen.«
»Das klingt nach Gonorrhoe«, sage ich in Erinnerung an meine wäh-
rend meiner Ausbildung als Notfallsanitäter gesammelten Erfahrungen.
»An welcher Türklinke, meinen Sie, haben Sie die Bakterien abgestaubt?«
»Sehr witzig«, erwidert Rod. »Ich habe mich einsam gefühlt und bin
zum South Orange Blossom Trail gefahren. Da gibt es eine Reihe von
Motels …«
221

›Das weiß ich‹, denke ich, ›unser Überwachungsmann ist dir zum
Motel gefolgt, du Dummkopf. Du hast dieses Etablissement angesteu-
ert, nachdem du uns 40 Minuten vorher versprochen hast, auf deine Er-
nährung zu achten und dich mehr um deine Mutter zu kümmern.‹ Ich
spreche diese Gedanken nicht aus, denn zum einen würde sich dadurch
nichts ändern, und zum anderen würde ich Rod verraten, dass wir ihm
auf den Fersen sind. Stattdessen versuche ich mich weiter in der Rolle ei-
nes maßregelnden und doch besorgten Vaters.
»Rod«, sage ich, »Sie haben von Aids gehört, oder?«
»Natürlich.«
»Und Sie wissen, dass sich HIV in den Vereinigten Staaten und dem
Rest der Welt wie eine Epidemie verbreitet?« Mir fällt auf, dass ich mit
Rod tatsächlich so spreche, als wäre er mein Sohn.
»Joe, ich verfolge die Nachrichten. Sehr genau sogar.«
»Das ist löblich«, erwidere ich. »Dann wissen Sie auch, dass die Anste-
ckungsgefahr entgegen der anfänglichen Vermutung nicht auf den sexu-
ellen Kontakt von Schwulen beschränkt ist?«
»Diskutieren Sie nicht über Epidemiologie mit mir, Joe!« Rod hat den
Tonfall eines leitenden Oberarztes einer Seuchenstation. »Ich kenne die
Vektoren.«
»Also gut, Schlauberger, dann haben Sie anscheinend nicht nachge-
dacht«, erwidere ich nicht mehr ganz so väterlich.
»Nein«, gesteht Rod.
»Ich korrigiere meine Aussage: Sie sind nicht Ihrem Verstand gefolgt –
sondern der kleine General in der Unterhose hat das Kommando über
den Blutkreislauf übernommen.«
Rods Lachen klingt betrübt. Er ist wirklich angeschlagen und macht
sich Sorgen.
»Okay, Spaß beiseite: Wie schlimm ist es?«, flüstere ich ins Telefon, als
würde ich mit meiner Frau über ein Problem sprechen. Ich kann beinahe
hören, wie die an meinem Büro vorbeilaufenden Kollegen denken: ›Was
um alles in der Welt machen Sie da, Navarro?‹
»Ach, Joe.« Das Zittern in Rods Stimme lässt auch mich in der unteren
Körperregion Schmerz empfinden. »Es ist furchtbar. Es brennt wie Feuer,
wenn ich Wasser lassen muss, und ich kann nicht schlafen.«
»Welche Beschwerden haben Sie außerdem?«
222

Statt mit Freuden den letzten triumphalen Abschnitt meines FD-


302-Formulars zu vollenden, machen ich mir nun umfangreiche Noti-
zen über Rods wunden Penis, seine geschwollenen Hoden und den gelb-
grünlichen Ausfluss, der heute Morgen in seiner Unterhose klebte und
beim Trocknen verkrustet.
»Das klingt tatsächlich nach Gonorrhoe«, bestätige ich, nachdem Rod
seine Aufzählung beendet hat. »Glückwunsch!«
»Danke vielmals.«
»Sie sind derjenige, der seinen Schwanz nicht in der Hose lassen kann
und dem es anscheinend zu viel Mühe macht, einen Präser überzuzie-
hen.« Ich versuche immer noch, Rod ein wenig Vernunft einzubläuen.
»Wenn ich dabei nicht so große Schmerzen hätte, würde ich jetzt lachen.«
»Wo haben Sie beim Lachen Schmerzen?«
»Ich weiß nicht genau. Irgendwo in meinem Bauch.«
»Das ist schlecht«, erwidere ich. »Das bedeutet, dass sich die Entzün-
dung auf Ihre Blase ausgeweitet hat und vielleicht auch Ihre Nieren be-
troffen sind.« Rod schweigt, doch ich kann ihn atmen hören – in langen,
tiefen Zügen, die verraten, dass er sich vollkommen hilflos fühlt.
»Was soll ich jetzt tun?«
»Bleiben Sie in der Nähe des Telefons, während ich einige Anrufe täti-
ge. Trinken Sie literweise Wasser, und nehmen Sie alle vier Stunden eine
Aspirintablette.«
»Warum?«
»Weil ich es Ihnen sage«, sprudelt es aus mir heraus, bevor ich den Hö-
rer auf das Telefon knalle. Ich habe keine Zeit, Rod zu erklären, dass sein
Harntrakt durchgespült und der renale Blutfluss reduziert werden muss.
Das FBI, der Nationale Sicherheitsrat, die CIA, die deutschen Behörden
und die NATO – sie alle müssen dringend von Rods Geständnis erfahren,
doch im Moment muss ich für Rod, der sich den Tripper geholt, wenn
nicht gar mit dem HI-Virus infiziert hat, den Rettungsassistenten spie-
len. Während ich meine Rollkartei durchblättere, wird mir der Sinn des
unter Agenten kursierenden Aphorismus »semper Gumby« klar: Wie die
aus Knetmasse geformte Figur müssen wir stets flexibel sein.

ALS ERSTES RUFE ICH den Arzt an, der in den Gelben Seiten mit der
größten Anzeige für sich wirbt. Ich gehe davon aus, dass ein Mediziner,
223

der so offen um Patienten buhlt, sich nicht allzu streng an die ärztliche
Ethik gebunden sieht. Die Arzthelferin erklärt mir jedoch, dass ein per-
sönliches Gespräch mit dem Doktor erst stattfinden könne, wenn ich
schriftlich in eine dreiteilige »Ganzkörperuntersuchung« eingewilligt und
die entsprechende Vorauszahlung geleistet hätte.
Also spreche ich mit dem Arzt, dessen Kurse ich alle paar Monate be-
suche, um meine Qualifikation als Notfallsanitäter aufrechtzuerhalten.
Mit meiner Geschichte finde ich bei ihm jedoch keinen Glauben.
Ich: »Hör mal, Fred, ein Freund von mir …«
Er: »Ein Freund, ja?«
Ich: »Ja. Ein Freund hat sich den Tripper geholt.«
Er: »Dein ›Freund‹ [ich kann die Anführungszeichen fast hören] hat
also Schmerzen beim Wasserlassen?«
Ich: »Ja. Starke Schmerzen, sagt er.«
»Schmerzhafte Miktion«, erinnert er mich an die korrekte medizini-
sche Bezeichnung.
Ich rolle mit den Augen: »Ja, danke, Fred, aber es ist jetzt nicht der
richtige Zeitpunkt für Spitzfindigkeiten.«
Er: »Angeschwollene Hoden?«
Ich: »Ja.«
Er: »Ausfluss?«
Ich: »Gelblich grün.«
»Joe«, meint Fred, »lass uns Tacheles reden. Seit wann hast du diese
Probleme? Und warum sprechen wir am Telefon darüber?«
Ich lasse noch einige Erklärungen folgen, doch es gelingt mit nicht,
Fred zu überzeugen. Da er weiß, dass ich beim FBI arbeite, kommt er je-
doch schließlich zu der Überzeugung, dass ich ihn nicht nach Strich und
Faden belüge.
»Ich werde dir ein Rezept zuschicken«, lenkt er ein. »21 Tabletten Tet-
racyclin, eine pro Tag. Dein Freund muss die Tabletten unbedingt die ge-
samten drei Wochen lang einnehmen. Eine Gonorrhoe muss man voll-
ständig auskurieren, denn es ist möglich, dass die Beschwerden eine
Woche lang aussetzen, die Krankheit dann aber mit aller Macht zurück-
kehrt. Verstanden?«
Ich versichere Fred, dass ich seiner Erklärung Wort für Wort folgen
konnte, und danke ihm von Herzen für seine Hilfe. Kaum habe ich auf-
224

gelegt, habe ich jedoch Bedenken: Das Rezept wird auf meinen Namen
ausgestellt. Wenn ich Rod das mir verschriebene Tetracyclin aushändige,
fungiere ich als medizinischer Dienstleister. In Florida stellt das Ausüben
von ärztlichen Tätigkeiten ohne Approbation eine Straftat dar, die mit bis
zu fünf Jahren Haft geahndet werden kann.
Damit verbunden ist die zweite, größere Sorge, dass Luciana und ich
unseren Lebensabend in bitterer Armut verbringen müssen. Wenn man
für das FBI arbeitet, wird man zwar nicht reich, hat nach 25 Dienstjah-
ren aber Anspruch auf eine Pensionszahlung in Höhe von 75 Prozent des
letzten Monatsgehalts – unabhängig davon, ob man anschließend in der
Lotterie gewinnt, eine milliardenschwere Computerfirma gründet oder
einfach nur täglich auf einem 18-Loch-Golfplatz das sonnige Wetter Flo-
ridas genießt.
Ich persönlich hoffe darauf, nach meinem Ausscheiden noch gute
30  Jahre von meiner Rente leben zu können. Das bin ich meiner Frau
nach all den verpassten Abendessen, Schulvorführungen, Urlauben und
Kindergeburtstagen schuldig. Dieses Ziel werde ich jedoch nicht errei-
chen, wenn ich mir vorher etwas zuschulden kommen lasse. Auch nur
für eine minder schwere Straftat belangt zu werden würde das Ende mei-
ner Karriere bedeuten, vor allem da ich mir in der FBI-Zentrale wenig
Freunde gemacht habe.
Ich sehe mich schon in Handschellen abgeführt und wegen unerlaub-
ten Erbringens medizinischer Dienstleistungen verurteilt werden. Den
Rest meines Lebens grille ich dann (nachdem ich auf Bewährung freige-
lassen wurde) in einem No-Name-Fast-Food-Restaurant Burger, weil ich
keine vernünftige Anstellung finde. Kein Spaß für meine Familie. Außer-
dem erinnere ich mich an die mir in meiner Pilotenausbildung erteilte
Belehrung über die Gefahren, wenn man in übermüdetem Zustand eine
Entscheidung trifft. Dann erscheint das Unvernünftige plötzlich sinnvoll,
und Piloten landen auf Highways statt auf Landebahnen oder wählen den
Steig- statt dem Sinkflug.
Ich besinne mich einer Alternative und rufe eine Klinik in Orlando an.
Ich weise darauf hin, dass ich dem FBI angehöre – in manchen Kreisen
hat diese Funktion noch Gewicht –, bitte den Klinikleiter darum, heu-
te noch mit Rods Behandlung zu beginnen, und versichere ihm, dass die
Regierung für die Kosten aufkommen wird. Es stellt sich heraus, dass die-
225

se Kostenübernahme gar nicht nötig ist: Die Behandlung wird vom Be-
zirk Orange County bezahlt. Der Klinikleiter, ein ehemaliger Sanitätsoffi-
zier der Navy, bietet mir für Rod einen Termin um 15 Uhr an.
Ich rufe sofort Rod an, der wie vereinbart neben dem öffentlichen
Fernsprecher vor dem Minimarkt nahe dem Campingplatz, auf dem sein
Wohnmobil steht, gewartet hat. Ich weise ihn an, sofort die Klinik aufzu-
suchen, und erinnere ihn an seine Verabredung mit Mrs Moody und mir
um 18:30 Uhr im Embassy Suites Hotel, von wo aus wir zum Abendes-
sen starten werden.
»Erscheinen Sie ordentlich und gepflegt, Rod«, ermahne ich ihn. »Und
sprechen Sie mit niemandem über Ihren tropfenden Wasserhahn.«
»Sie werden Moody doch nichts davon erzählen, oder?«
»Nein. Das ist unser Geheimnis.«
»Gut, aber ich glaube, ich kann heute Abend nicht kommen.«
»Warum nicht?«
»Ich habe gestern beim Taxifahren keine schwarze Null geschrieben,
sondern Verluste gemacht. Aktuell habe ich 23 Dollar Schulden und nur
noch 86 Cent. Das reicht nicht fürs Tanken für den Hin- und Rückweg.«
Ich atme ein paarmal tief ein und aus. »Also gut, Rod, dann machen
wir das so: Sie fahren jetzt in die Klinik und befolgen die Anweisungen
der Ärzte. Um 18:30  Uhr komme ich zu Ihrem Wohnwagen. Ich brin-
ge Abendessen mit. Wir essen zusammen und unterhalten uns. Ich gebe
Agent Moody heute Abend frei.«
Am anderen Ende der Leitung bleibt es lange still. Rods Stimme klingt,
als habe er geweint, als er schließlich sagt:
»Danke, Joe. Vielen Dank.« Bevor er auflegt, fügt er noch hinzu: »Die-
ser Tripper bringt mich um.«
»Dieser Tripper bringt dich um?«, schnaube ich, während das Freizei-
chen ertönt und ich auf meinen Büroschrank starre. »Dein Tripper bringt
mich um!«
In diesem Moment betritt Shirley mit einem Klemmbrett in der Hand
mein Büro.

»Mr Navarro!«, sagt Shirley in einem Ton, als hätte sie den ganzen Tag
darauf gewartet, diese Worte zu sprechen.
»Was gibt’s?«
226

»Mr Navarro!«, wiederholt Shirley mit noch größerem Nachdruck und


tippt mit dem Finger auf ihr Klemmbrett. Diese Geste weckt in mir die
unangebrachte Assoziation, dass ich Shirley dieses Brett am liebsten in ei-
nen bestimmten Körperteil schieben würde.
»Ist Ihnen bewusst, dass Sie seit über sechs Wochen keine Trainingsein-
heit auf dem Schießplatz absolviert haben?«
»Ich hatte viel zu tun«, erwidere ich und denke daran, dass ich in den
vergangenen Wochen keinen Tag frei hatte, nicht mit meiner Tochter ge-
spielt habe, nicht …
»Die Vorschriften legen fest, dass Sie alle vier Wochen an einer Schieß-
übung teilnehmen müssen. Sie sind also [Shirley starrt auf ihr Klemm-
brett] zwei Wochen überfällig. Das heißt [Shirley legt zum Kopfrechnen
eine lange Pause ein], Sie haben die vorgegebene Zeitspanne um 50 Pro-
zent überschritten.«
»Shirley …«
»Außerdem …«
»Außerdem …?«
Shirley wirft einen prüfenden Blick auf die ordentlichen, aber sehr
hohen Papierstapel auf meinem Schreibtisch, auf die Oberflächen der
Schränke und jeden anderen Platz im Raum. »Außerdem sollten Sie vor-
her vielleicht noch Ihr Büro aufräumen.«
»Vor dem Schießtraining?«
»Vor dem Besuch des Direktors am 13.«
»William Sessions?«
»Er ist seit zwei Jahren Direktor des FBI, Joe«, erklärt Shirley herab-
lassend.
»Das weiß ich! Er kommt hierher? Nach Tampa?«
In noch herablassenderem Tonfall – sofern das überhaupt noch mög-
lich ist – erwidert Shirley: »Es würde wohl kaum Sinn machen, das Büro
aufzuräumen, wenn der Direktor der Außenstelle in Miami einen Besuch
abstatten würde.«
Herrje! Ein Besuch des Direktors und seines Gefolges kommt mir im
Moment ganz und gar nicht gelegen!
»Wir haben es heute Morgen erfahren«, flötet Shirley, macht mit ihren
dicken Knöcheln auf dem Absatz kehrt und stakst davon, um dem Mitar-
beiter im nächsten Büro den Nachmittag zu verschönern.
227

Shirleys Ankündigung bietet mir zumindest teilweise eine Lösung des


Rätsels. Koerner ist heute nicht im Büro, er nimmt in der Akademie in
Quantico an einer Schulung für Führungskräfte teil. Jemand anderes hät-
te mich vermutlich nicht über den Besuch des Direktors informiert. Da-
bei handelt es sich angeblich um eine Routinetour durch die einzelnen
Außenstellen, doch ich wette, dass mehr dahintersteckt. Gerüchten zu-
folge hält die alte Garde in der FBI-Zentrale nicht viel von William Sessi-
ons, dessen Führungsstil und dessen Ehefrau, die sich immer wieder ein-
zumischen scheint. In der eingeschworenen Gemeinde der Piloten, die
gern wie Damen bei einem Nähkränzchen plaudern, wird erzählt, dass
Mr und Mrs Sessions die Flugzeuge des FBI allzu häufig und auch außer-
halb der Arbeitszeiten in Anspruch nehmen. Mit diesen Problemen habe
ich nichts zu tun, doch je näher der Besuch von Richter Sessions, wie sich
der Direktor gerne nennen lässt, rückt, umso mehr Arbeit kommt auf
alle Mitglieder der Spezialeinheit zu, die zusätzlich zu ihren bestehenden
Aufgaben als Sicherheitspersonal für den Direktor und seine Frau einge-
setzt werden.
Ich vermute, Sessions’ Besuch liegt darin begründet, dass ihn die
Nachricht, dass der Einsatzplan der NATO von Conrad und Ramsay ge-
stohlen wurde, aus heiterem Himmel getroffen hat, schließlich hatte die
Washingtoner Außenstelle den Fall für abgeschlossen erklärt. Ich hoffe
natürlich, dass Sessions die Tragweite des Falles begreift, aber über den
Flurfunk der Piloten habe ich auch vernommen, dass Sessions eine deut-
lich politischere Ausrichtung besitzt als sein Vorgänger William Webster,
und nichts lässt sich bei der politischen Presse und anderen Medien bes-
ser verkaufen als ein solider Spionagefall.

ROD SITZT IN DER TÜR SEINES WOHNWAGENS, als ich kurz vor
18:30 Uhr mit dem Auto ankomme. ›Sehr gut‹, denke ich, ›seine Freun-
din und deren Geliebter sind ausgeflogen. Dann ist die Gesprächsatmo-
sphäre weniger belastet.‹ Als ich Rod genauer ansehe, bemerke ich, dass
er ausgemergelt und niedergeschlagen ist. Der Inhalt der beiden Tüten,
die ich bei Perrera’s geholt habe, wird ihm zumindest kurzfristig Auf-
schwung geben: Ich habe frijoles negros, arroz con pollo, carne con papas
und sogar zwei Tassen kubanische Kichererbsensuppe besorgt – nichts ist
besser zur Stärkung geeignet. Kaum haben wir die erste Tüte geleert, ge-
228

winnt Rods Kummer die Oberhand. Er weint und schluchzt, und zumin-
dest für den Moment scheint seine Trauer mit dem Wohnwagen in Zu-
sammenhang zu stehen.
»Gehen wir ein Stück spazieren«, fordere ich Rod auf. Ich deponiere
die zweite Tüte in meinem Wagen, um zu verhindern, dass sich Nagetiere
und/oder zurückkehrende Turteltäubchen darüber hermachen.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Rod, als er seine Gefühle wieder unter
Kontrolle hat. »Ich biete ihr einen Platz zum Wohnen. Ich tue alles für
sie …«
»Und sie schläft mit einem anderen, und das auch noch unter deinem
Dach.«
»Joe …«
»Rod, darf ich Ihnen einen Rat geben?«
Rod nickt.
»Trennen Sie sich von dieser Frau. Diese Beziehung tut Ihnen nicht
gut. Sie müssen nach vorne schauen.«
»Ich weiß.« Rod scheint mir zuzustimmen. »Aber ich kann sie nicht
vor die Tür setzen, wenn sie keine Wohnung hat.«
Am liebsten würde ich sagen: »Sie können sie vor die Tür setzen, auch
wenn sie keine Wohnung hat, und sie können heimlich Pfeffer auf das bes-
te Stück ihres Romeos streuen, ohne dass sie irgendjemand dafür verur-
teilt.« Rod wird diesen Satz aber nicht hören wollen. Außerdem habe ich
das sichere Gefühl, dass seine Probleme mit der Wohnsituation und der
Liebe nur ein kleiner Bereich einer hundsmiserablen Lebenssituation sind,
deren volles Ausmaß ich nur erahnen kann. Ich würde zwar lieber nicht
in Rods Welt eintauchen, sehe aber keinen anderen Weg, ihm zu helfen.
»Es geht nicht nur um Ihre Freundin und den Wohnwagen, stimmt’s?«
Rod sieht mich an. Er hat wieder Tränen in den Augen, zwischen sei-
nen dünnen Lippen steckt eine Zigarette. Ich schätze, er wiegt keine
60 Kilogramm mehr. Seit Moody und ich die Befragungen wieder aufge-
nommen haben, ist er vor unseren Augen abgemagert. Ohne die Abend-
essen, die wir ihm spendiert haben, hätte er noch weniger auf den Rip-
pen. Heute sieht Rod, vermutlich wegen des Trippers, schlechter aus
denn je. Sein Körpergeruch ist unerträglich. Sein Atem stinkt nach Ni-
kotin und verrät, dass er sich seit Langem nicht mehr die Zähne geputzt
hat. Ich habe dem Gelände, über das wir nun bei hereinbrechender Dun-
229

kelheit spazieren, insgeheim den Namen »Campingplatz der verwunde-


ten Seelen« gegeben. Unter dessen lädierten Bewohnern sticht Rod je-
doch noch immer heraus.
»Worum geht es, Rod?«, frage ich. Ich lege meine Hand auf seine
Schulter und veranlasse ihn, sich zu mir umzudrehen. »Was ist nicht in
Ordnung?« Daraufhin bricht Rod zusammen.
»Alles, Joe«, erwidert er und zwingt mich förmlich dazu, ihn zu umar-
men. »Einfach alles.«
Während Rod an meiner Schulter weint, rollen wir sein gesamtes jäm-
merliches Leben auf. Der Vater, den er nie richtig kennengelernt hat. Die
Mutter, die er immer wieder enttäuscht hat. Die Bank, die er zusammen
mit ein paar Freunden ausgeraubt hat, als er 18 Jahre alt war. Der Urin-
test, der zu seinem Ausscheiden aus der Armee geführt hat (aus Rods Er-
zählung wird deutlich, dass er das Leben beim Militär tatsächlich sehr
vermisst). Das stundenlange Warten vor dem Orlando International Air-
port in einem Taxi, dessen Mietgebühr er nur zahlen kann, wenn er mehr
Fahrten absolviert, als an einem Arbeitstag möglich ist. (»Warum arbei-
ten Sie nicht für die Hotels?«, schlage ich ihm vor. »Statt die Passagiere
vom Flughafen abzuholen, bringen Sie sie dorthin. Die Strecke ist diesel-
be. Vor dem Embassy Suites Hotel stehen immer nur wenige Taxis.« »In
der Warteschlange am Flughafen gibt es aber viele nette Menschen, mit
denen man sich unterhalten kann«, lautet Rods Antwort.) Rod erklärt,
dass er sogar von ABC News hinters Licht geführt worden sei. Man habe
ihm Versprechen gemacht (Rod beschreibt nicht, um welche Zusagen es
sich handelt), diese aber nicht eingelöst.
Während wir weiter um den Campingplatz herumspazieren, kommt
mir das Wort »unausgereift« in den Kopf – im Sinne der Angewohnheit,
viele Dinge anzuzetteln, aber niemals einen Plan zu verfolgen oder eine
Sache durchzustehen. Damit lässt sich Rods Leben ganz gut beschreiben.
Er bemüht sich, hat aber niemals Erfolg. Er raubt eine Bank aus (zumin-
dest hat er behauptet, einen Banküberfall begangen zu haben; ich werde
das prüfen) und trägt nicht mehr als ein Taschengeld davon. Er zerstört
seine Karriere bei der Army durch den Konsum von Cannabis. Er lässt
seine Freundin in seinen Wohnwagen einziehen, ohne die Möglichkeit in
Betracht zu ziehen, dass die Dame ihn mit einem anderen betrügt. Er mie-
tet ein Taxi an, um den ganzen Tag in einer Warteschlange zu stehen und
230

die anderen Fahrer mit seiner Belesenheit zu beeindrucken. Wir können


Rods Behauptung, für seine Hilfsdienste bei der Spionage – den Transport
der Dokumente und seine Unterstützung beim Entwenden der Einsatz-
pläne für den Kriegsfall – insgesamt 700 Dollar erhalten zu haben, zwar
nicht beweisen, es ist aber davon auszugehen, dass er in jedem Fall nur ei-
nen kleinen Teil der Summe bekommen hat, die Conrad gezahlt wurde.
›Rod muss für Conrad ein Geschenk des Himmels gewesen sein‹, den-
ke ich, als wir uns wieder dem Wohnwagen nähern. ›Ein intelligenter, be-
dürftiger, chaotischer Kerl, der sich bereitwillig höchst riskanten Vorha-
ben anschließt.‹

DIE ART, DIESES GESPRÄCH ZU FÜHREN, hat nichts mit meiner üb-
lichen Vorgehensweise bei Befragungen zu tun, bei der ich vorher über
die Anordnung der Sitzplätze entscheide, die Reihenfolge festlege, in der
die Beteiligten den Raum betreten, und so etwas wie ein Drehbuch im
Kopf habe. Ich agiere spontan. Als wir Rods Wohnmobil erreichen, im-
provisiere ich ein weiteres Mal: Ich ziehe zwei 20-Dollar-Scheine aus der
Tasche und gebe sie Rod.
»Für Sie, aber ich möchte nicht, dass Sie das Geld für Drogen, Alkohol
oder Ihre Freundin ausgeben«, sage ich.
»Versprochen«, sagt Rod. Er gibt mir einen freundlichen Klaps auf
den Rücken, bedankt sich für das ›super Essen‹, geht vergnügt auf sein
Wohnmobil zu, hebt die Hand über den Kopf und reibt demonstrativ die
beiden Geldscheine mit den Fingern gegeneinander. In diesem Moment
schwant mir, dass Rod mich gewaltig hinters Licht geführt haben könn-
te: Vielleicht hat er mich absichtlich dazu verleitet, mehr als zwei Stun-
den Fahrt auf mich zu nehmen, damit er an ein vernünftiges Abendessen
kommt und mir sein Melodram vorspielen kann. Mit dem Klaps auf den
Rücken und seinem fröhlichen Abgang scheint Rod mir genau das zu si-
gnalisieren.
Ein solches Verhalten wäre typisch für Rod: Auch wenn seine Tränen
echt waren, kann man sich nicht darauf verlassen, dass seine Äußerungen
der Wahrheit entsprechen.

BEVOR ICH DIE RÜCKFAHRT NACH TAMPA ANTRETE, kaufe ich


in dem Minimarkt vor dem Campingplatz einen Becher Kaffee zum Mit-
231

nehmen. Der Kaffee schmeckt scheußlich, aber ich riskiere lieber eine
Magenverstimmung, als noch einmal vor Müdigkeit von der Straße zu
schlittern.
Nachdem ich ein Viertel der Strecke zurückgelegt habe, bin ich davon
überzeugt, dass Rod mich betrogen, verschaukelt, getäuscht und geprellt
hat. Er hat mir nicht nur Zeit gestohlen, sondern mich auch um 40 Dollar
erleichtert und mich aus meiner emotionalen und intellektuellen Kom-
fortzone geschubst. Um mich meiner Souveränität zu berauben, hat mir
Rod eine Falle gestellt: Er hat mein Mitleid geweckt und sich dann über
mich lustig gemacht. Das war sein Ziel am heutigen Abend. Haha. Viel-
leicht hat er auch den Tripper nur zu diesem Zweck erfunden. Natürlich
habe ich mir sein bestes Stück nicht angesehen und würde das auch nie-
mals tun. Allerdings habe ich Rod aus eigenem Antrieb Geld gegeben,
das er für den Erwerb von Drogen nutzen kann. Außerdem kann mir das
Aushändigen der Banknoten als Versuch ausgelegt werden, durch Beste-
chung an weitere Geständnisse zu gelangen.
Nachdem ich die Hälfte der Strecke zurückgelegt habe, bin ich zur ge-
genteiligen Überzeugung gelangt. Rods traurige Lebensgeschichte ist zu
real und zu schmerzhaft, um sie in der Absicht, Joe Navarros Leben zu rui-
nieren oder zu zeigen, dass jeder Versuch, gegen Rod eine Strafverfolgung
einzuleiten, letztendlich scheitern wird, als Schauspiel zu inszenieren.
Für den Rest der Fahrt habe ich also den Kopf frei, um über die para-
doxe Situation nachzudenken, in der ich stecke. Ich bin auf der einen Sei-
te Rods Therapeut, auf der anderen Seite der Ermittler, der ihm ein Ge-
ständnis entlocken will. Einerseits helfe ich ihm dabei, Struktur in sein
chaotisches Leben zu bringen, andererseits werde ich derjenige sein, der
die bei Gericht einzureichende Versicherung an Eides statt verfasst, der
im Prozess als Hauptzeuge gegen ihn aussagt und der dafür sorgt, dass er
den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt.
Kognitive Dissonanz? In höchstem Maße.
Es gibt jedoch keine Alternative. Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich der
Einzige, der Rod dazu verleiten kann, seine Geschichte fertig zu erzäh-
len. (Ich vermute, dass es nicht einmal Mrs Moody gelingen würde, Rod
weitere Geheimnisse zu entlocken. Das werde ich ihr jedoch nicht sagen.)
Als ich die Lichter des Großraums Tampa vor mir sehe, schalte ich den
lokalen Nachrichtensender ein. Wow! Während ich mit Rod am Stadt-
232

rand von Orlando den ›Campingplatz der verlorenen Seelen‹ umrundete,


haben im 8000 Kilometer entfernten geteilten Berlin West- und Ostdeut-
sche gemeinsam die Mauer zu Fall gebracht.
›Sehr gut‹, denke ich. ›Auf Wiedersehen, Leninismus, Stalinismus etc.‹
Doch nichts ist gefährlicher als ein verwundeter Russischer Bär, und die
Sowjets verfügen über ausreichend atomare Waffen, um jede europäische
und amerikanische Stadt von Wien bis Los Angeles in Schutt und Asche
zu legen, und genug Raketen, um bis zum Mond und weiter zu fliegen.
Ich frage mich, was die im Kreml verbliebenen Psychopathen tatsächlich
gegen uns in der Hand haben. Werden sie in Panik geraten und die ihnen
noch zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen? Diese Gedanken führen
mich unweigerlich zu einer Person zurück: Rod.
14
»SOMETHING’S GOT TO GIVE«

10. November 1989

»If you’re lost … la, la, la.«


Stephanie sitzt am Frühstückstisch und singt – so wie sie es während
meiner Stationierung in Puerto Rico gerne tat. Stephanie und Luciana
haben sich immer wieder die Videoclips von Cyndi Lauper auf VH1 an-
gesehen und mitgesungen. Ich höre in Stephanies Stimme Lucianas leich-
ten brasilianisch-portugiesischen Akzent. Auch in der Art, wie Stephanie
mit ihrem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr tippt und dabei »time after
time …« singt, erkenne ich Luciana wieder.
Ich erinnere mich vage daran, dass Stephanie mit diesem Lied bei einer
Talentshow aufgetreten ist. Sie hat es ohne Scheu geschmettert und alles
gegeben. Wann und wo diese Show stattgefunden hat, weiß ich nicht mehr.
Es kann nicht allzu lange her sein, schließlich ist Stephanie erst acht Jahre
alt. Mir aber scheint diese Episode einem vorherigen Leben anzugehören.
234

Ich habe erneut schlecht geschlafen, bin geduscht und angezogen. Lu-
ciana steht neben dem Toaster und hebt fragend ein aufgeschnittenes
Milchbrötchen empor.
»Vielleicht ein wenig Joghurt und Obst dazu?«, erkundigt sie sich in
der Hoffnung, dass ich heute ausnahmsweise am gemeinsamen Früh-
stück teilnehmen werde. Ihrem Tonfall entnehme ich, dass sie ein Nein
erwartet. Luciana sieht mir nicht in die Augen. Sie spricht mit leicht nach
rechts gewandtem Blick mit mir.
»Es tut mir leid, mein Schatz«, erwidere ich. »Heute nicht. Ich habe wie
immer sehr viel zu tun.«
Ich meine, Luciana sagen zu hören: »Wann wirst du je wieder mit uns
frühstücken?« Während ich Stephanie einen Kuss auf den Kopf gebe,
atme ich ihren Geruch tief ein, um ihn mit mir nehmen zu können an
diesem wunderbaren Morgen, vor dem ein Sturm die Luft reingewaschen
hat.
So leicht komme ich aber nicht davon. Luciana klopft ans Wagenfens-
ter, während ich langsam die Auffahrt verlasse.
»Dieser Fall«, sagt Luciana, nachdem ich das Fenster heruntergekur-
belt habe, »worum auch immer es dabei geht, ist eine obsessão, eine …«
Ihr fällt nur das portugiesische Wort ein.
»Eine Obsession, amada. Auch wenn es so aussieht, trifft das nicht zu.
Es ist meine Pflicht, nichts weiter. Meine Arbeit. Die Ermittlungen wur-
den bisher sehr schlampig geführt, und ich muss rasch alles in Ordnung
bringen, bevor sich die Täter aus dem Staub machen.«
»Du murmelst den Namen Ramsay im Schlaf.«
»Du musst diesen Namen vergessen.« Wir halten uns durch das Fens-
ter hindurch an den Händen. Diese Berührung scheint mir die erste seit
Monaten zu sein. »Ich hätte diesen Namen niemals erwähnen dürfen,
nicht einmal im Traum.«
»Ich weiß.« Luciana sieht mir noch immer nicht in die Augen. »Segre-
dos.«
»Nein, nein, keine Geheimnisse. ›Kenntnis nur bei Bedarf‹«, zitiere ich
die offizielle Bezeichnung des FBI für den Zugang zu sensiblen Informa-
tionen.
»Ich hasse es, nicht eingeweiht zu sein, Joe. Und ich hasse, was dieser
Fall mit dir macht.«
235

Gerne würde ich ihr erzählen, welch großen Schaden Rod Ramsay
unserem Land zugefügt hat, wie weit wir mit den Ermittlungen hinter-
herhinken und was auf dem Spiel steht, aber das ist nicht möglich. Au-
ßerdem ist Luciana mit ihren Sorgen nicht allein. Auch ich hasse, was
dieser Fall mit mir und meiner Familie macht. Bei dem Gedanken an
Stephanie und an die wenige Zeit, die ich mit ihr verbringe, kommen
mir während der Fahrt die Tränen. Ich zwinge mich, an etwas anderes
zu denken.

›DER ZACK STREET SANDWICH SHOP war vor 30 Jahren bestimmt


ein schönes Lokal‹, denke ich, während ich mich wie gewohnt auf den
Stuhl am äußersten Ende der Theke setze. Aber die Zeit ist nicht ste-
hen geblieben. Unter meiner Sitzfläche drückt eine Sprungfeder so fest
nach oben, dass sie vermutlich bald die rote Plastikabdeckung durch-
brechen wird. Das ist vor einem halben Jahr schon einmal passiert, als
ich an einem der hinteren Tische saß. Nachdem ich meine Unterhose
von der metallenen Spirale befreit hatte, war diese nicht mehr zu retten.
Ich hörte hinter mir beständiges Kichern, als ich ins Büro zurückging
und versuchte, meinen Allerwertesten mit den Händen vor Blicken zu
schützen.
»Wo ist Ihre bessere Hälfte?«, fragt Linda, die Kellnerin, und stellt eine
Kanne mit dünnem Kaffee vor mir auf die Theke. Lindas Erscheinungs-
bild erscheint mir heute noch haarsträubender. Sie trägt zahllose Pier-
cings und Ohrringe, und ihre Kollektion an Tattoos mit floralen Motiven
wirkt überaus bizarr. »Darf sie heute das Auto parken?«
Einen Moment lang frage ich mich, ob und warum Luciana dieses Lo-
kal jemals aufgesucht hat.
»Ach«, sagt Linda und gibt mir einen Klaps auf die Hand, »da kommt
sie ja.« Ich drehe mich um und sehe, wie Mrs Moody sich ihren Weg
durch die Menge bahnt.
Jetzt verstehe ich. »Moody? Sie ist nicht meine Frau.«
»Ist sie nicht?«, fragt Linda überrascht. »Ihr beide wirkt so harmo-
nisch.«
»Moodys Ehemann sitzt dort drüben – der mit den roten Haaren.« Ich
zeige auf Mr Moody, der zusammen mit einigen Agenten aus der Krimi-
nalabteilung an einem der hinteren Tische sitzt.
236

»Da brat mir einer ’nen Storch.« Linda ist völlig überrascht. »Ich habe
die beiden noch nie zusammen gesehen. Er ist immer mit diesen anderen
Agenten hier, die noch feucht hinter den Ohren sind.«
Erstaunlicherweise steigt Mrs Moody sofort in das Gespräch ein.
»Glauben Sie mir, Linda, ich könnte mit diesem Mann auf keinen Fall
verheiratet sein. Keine zurechnungsfähige Frau könnte das«, sagt sie, so-
bald sie neben mir Platz genommen hat.
»Wie nett, Moody«, erwidere ich, ohne ihr wirklich böse zu sein. Ich
habe mich längst von der Illusion, bei Frauen beliebt zu sein, verabschiedet.
Linda bricht das Schweigen: »Auch wenn ihr beide nicht verheiratet
seid, klingt ihr wie ein Ehepaar. Das Übliche?«
»Heute brauche ich etwas Deftiges«, erwidert Moody und streichelt
ihren Bauch. »Das Baby schlägt schon den ganzen Morgen Saltos. Es
braucht etwas Anständiges zu essen.«
Tatsächlich verbringen Terry und ich viel Zeit zusammen. Wir treffen
uns jeden Tag im Zack Street Sandwich Shop, um unsere Strategie für die
Befragungen Rods zu besprechen. Wir pendeln zwischen meinem Büro
im fünften und ihrem Büro im sechsten Stock hin und her und unterhal-
ten uns dabei flüsternd, da den meisten Kollegen die Befugnis fehlt, von
den Informationen, die wir austauschen, Kenntnis zu haben. Wir fahren
in meinen Bu-Steed immer wieder nach Orlando. Wir teilen uns sogar
stundenweise ein Hotelzimmer – natürlich in Gesellschaft eines redseli-
gen, narzisstischen Landesverräters.
Ist Linda die Einzige, die vermutet, dass Terry und ich ineinander ver-
liebt sind oder gar ein Verhältnis haben? Vermutlich nicht. Wenn man
nichts von Rod weiß, sprechen alle Anzeichen dafür. Sie erscheinen sogar
überdeutlich. Ich frage mich, ob auch Luciana oder Rod diese Möglich-
keit in Betracht gezogen haben.
»Verbringen wir Ihrer Ansicht nach zu viel Zeit miteinander?«, frage
ich, während Linda mit Moodys Tee auf uns zusteuert.
»Ganz sicher! Wie kommt Ihre Frau damit klar, dass Sie so viele Stun-
den außer Haus verbringen?«
»Schlecht«, sage ich und denke daran, wie Luciana heute Morgen ver-
mieden hat, meinen Blick zu erwidern. »Ich kann es ihr nicht verübeln.
Im letzten Jahr war ich kein guter Ehemann und Vater. Als Stephanie
heute Morgen ihr Lieblingslied gesungen hat, ist mir bewusst geworden,
237

dass ich sie monatelang nicht singen gehört habe  – nicht wochenlang,
monatelang! Das tut weh.«
»Wann waren Sie das letzte Mal mit Luciana im Restaurant oder im
Kino?«, fragt Moody.
Während ich überlege, wann wir zuletzt einen gemeinsamen Abend
verbracht haben, beantwortet Moody ihre Frage selbst. »Es ist bestimmt
über ein Jahr her. Joe, Sie nehmen sich niemals frei. Sie schieben immer
Doppel- und Dreifachschichten.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Und Sie sehen heute Morgen schlecht aus.«
»Vielen Dank. Das höre ich oft.«
»Sie sehen wirklich schlecht aus.«
Moody schweigt und blickt etwa 30 Sekunden lang zu Boden, während
ich den Schwarm Kollegen beobachte, der das Lokal betritt. Dann hebt
sie den Kopf und sieht mir direkt in die Augen.
»Sie tun es, stimmt’s?«
»Was tue ich?«
»Sie beobachten mich, wenn ich spreche. Sie überprüfen, ob ich mei-
ne Augenbrauen hebe oder meine Hand an den Mund lege. Wahrschein-
lich hoffen Sie darauf, dass ich mir eine Zigarette anzünde, damit Sie be-
obachten können, wie der Rauch aufsteigt.«
»Meine unsinnige Analyse der Körpersprache?«
»Das ist kein Unsinn, Ihre Analysen sind gut. Aber warum beobach-
ten Sie mich?«
»Aus Gewohnheit.«
»Ich bin Ihre Partnerin, Joe. Sie müssen jemandem vertrauen. Sie müs-
sen an jemanden glauben.«
Vertrauen? Glauben? Diese Worte wirken auf mich, als würden sie der
untergegangenen Sprache eines antiken Volkes entstammen.
»Ich habe es Ihnen bisher nicht erzählt: Vor ein paar Tagen bin ich mit
meinem Auto von der Straße abgekommen. Ich bin hinter dem Steuer
eingeschlafen.«
»Joe!«
»Ich gebe Ihnen die Schuld, weil Sie darauf bestanden haben, mit zwei
Autos zu fahren. Hätten Sie neben mir gesessen, wäre ich die ganze Fahrt
über hellwach geblieben.«
238

»Netter Versuch. Wahrscheinlicher ist, dass wir beide zu Tode gekom-


men wären. Was ist passiert?«
»Die Interstate 4 war wegen eines Unfalls gesperrt. Ich bin auf den U. S.
Highway 60 ausgewichen. Es muss auf der Höhe von Lakeland oder Plant
City passiert sein  – ich weiß es nicht mehr genau. Auf einmal bin ich
durch ein Erdbeerfeld gefahren, und mein Kopf ist auf und ab geschnellt,
als wäre ich ein Wackeldackel auf dem Armaturenbrett.«
»Geht es Ihnen gut? Waren Sie beim Arzt?«
»Es geht mir nicht gut, aber ich habe überlebt. Und was noch viel wich-
tiger ist: Der Bu-Steed ist intakt. Dank des Regens war er am nächsten
Morgen wieder sauber.«
»Werden Sie den Vorfall melden?«
»Fragen Sie mich das in ein paar Tagen noch einmal, dann wird klar
sein, wie mein Gewissen sich entschieden hat. Allein mein Stolz wurde
verletzt. Das Feld war auf einer Länge von etwa 20 Metern von Reifen-
spuren durchzogen, aber ich habe keinen Zaun durchbrochen.«
»Was ist mit Ihrer Schulter? Sie massieren sie immer wieder.«
»Vielleicht eine Prellung. Das Schlüsselbein tut weh. Vielleicht habe
ich mir auch eine Sehne gerissen. Der Sicherheitsgurt hat mich erwischt.«
»Okay, jetzt reicht’s«, sagt Moody, während Linda unser Frühstück auf
die Theke stellt – einen Bagel mit Frischkäse für mich und das Spezial-
gericht für hungrige Mütter für Terry. »Sie gehen noch heute Vormittag
zum Arzt.«
»Ach ja? Und woher soll ich die Zeit dafür nehmen?«
»Joe, so kann es nicht weitergehen, sonst landen Sie irgendwann ein-
mal in der Notaufnahme – mit einem weitaus größeren Problem als ei-
ner kaputten Schulter.«
»Vieles kann nicht mehr so weitergehen«, erwidere ich, während Moo-
dy sich ihren Spiegeleiern mit Würstchen zuwendet.
»Zum Beispiel?«
»Spielen Sie nicht die Therapeutin. Die Situation zu Hause ist ange-
spannt. Luciana betont immer wieder, dass es unfair ist, dass ich so wenig
Zeit mit Stephanie verbringe, und dass sie Hilfe im Haushalt benötigt. Sie
braucht einen Ehemann, keinen convivado.«
»Was ist ein convivado?«
»Convivado ist das portugiesische Wort für Hausgast.«
239

»Autsch! Sie müssen die Lage zu Hause in den Griff kriegen, Joe. Das
meine ich ernst. Wie hat Luciana auf Ihren Unfall reagiert?«
»Ich habe ihr nichts davon erzählt. Wie auch – sie sieht mir nicht einmal
mehr in die Augen. Wir haben seit Monaten keine Mahlzeit zusammen ein-
genommen. Inzwischen habe ich schon fast Angst davor, mich mit ihr an
den Tisch zu setzen. Ich weiß gar nicht, worüber wir dann sprechen sollen.«
»Sie sind ein egoistischer Trottel, Navarro!«
»Noch einmal vielen Dank, Terry. Auch das wollte ich heute Morgen
mit Sicherheit nicht hören.«
»Gerade heute Morgen müssen Sie sich das anhören!« Moody spricht
mit gesenkter Stimme und presst die Wörter förmlich zwischen den Zäh-
nen hervor. Ein zwei Stühle weiter sitzender Gast beugt sich weit zu uns
herüber, um nichts von der sich neben ihm abspielenden Seifenoper zu
verpassen. »Verdammt noch einmal – Sie hätten bei diesem Unfall ster-
ben können! Damit hätten Sie niemanden geholfen!«
Ich sehe Terry schweigend an. Ich weiß, sie hat recht, aber meine Schul-
ter schmerzt, und ich bin viel zu müde, um mich mit ihr auseinanderzu-
setzen. Mein Leben scheint rundum aus den Fugen zu geraten.
»Sie können etwas ändern, Joe. Rod kann seinen Zeitplan umstellen.
Sie müssen sich auch nicht jeden Tag mit ihm treffen. Warum sind Sie
gestern zu ihm gefahren? Haben Sie ihm wieder Händchen gehalten?«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich darüber nicht sprechen kann. Das
habe ich Rod versprochen.«
»Das haben Sie Rod versprochen? Worum geht es hier? Ganoveneh-
re? Ich bin Ihre Partnerin, Joe, wir arbeiten zusammen an diesem Fall.«
»Es ist ihm peinlich, wenn Sie davon erfahren.«
»Herrgott noch mal!« Moody schreit mich fast an.
»Also gut. Er hat sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen. Aber Sie
haben das nicht von mir gehört.«
»Typisch! Männer und ihr lädierter Zauberstab. Wir müssen die Be-
fragungen aber nicht grundsätzlich abends durchführen. Sie könnten bei
Luciana zu Hause sein …«
»Doch, das müssen wir«, unterbreche ich. »Ich dachte, das hätten Sie
verstanden. Abends ist weniger Widerstand von einem Verdächtigen zu
erwarten, da sein Blutzuckerspiegel niedrig ist. Außerdem macht Rod
tagsüber beim Taxifahren mehr Umsatz.«
240

»Also gut. Was ist mit unseren Vorbereitungen? Unseren Planungen,


welche Themen wir in den Befragungen ansprechen werden, wie die Sitz-
verteilung aussehen wird, welche Kleidung wir tragen werden, in welcher
Reihenfolge wir unsere Fragen stellen, wann wir ›bedeutungsvolle‹ Pau-
sen einlegen und welche Signale wir uns geben? Können wir nicht ab und
zu darauf verzichten? Zusammengerechnet verbringen wir Tage damit.«
»Keine ganzen Tage«, widerspreche ich.
»Sie haben recht, Navarro. Vermutlich sind es sogar Wochen.«
»Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen. Jede Begegnung mit Rod ist
anders. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Die Befragungen laufen jedes Mal
anders ab. Wir müssen uns immer wieder mit neuen Situationen ausei-
nandersetzen und ihm immer wieder weitere Informationen entlocken.
Ich habe eine ellenlange Liste von Fragen im Kopf, mit denen wir Rod
noch konfrontieren müssen, um unsere Vorgesetzten zu beruhigen und
den Fall vor Gericht zu bringen.«
Moody ignoriert meinen schärfer werdenden Tonfall und die Tatsache,
dass sich der zwei Stühle entfernt von uns sitzende Gast erneut zu uns hi-
nüberlehnt. »Dann reduzieren wir den Aufwand mit den FD-302-For-
mularen. Die Berichte könnten weniger ausführlich sein, und sie müssen
Koerner auch nicht jeden Tag um Punkt elf Uhr vorliegen.«
»Das geht nicht! Bei jedem anderen Kriminalfall stört es niemanden, wenn
das Formular fehlerhaft ist. ›Kein Problem, dann fassen wir den Täter ein an-
dermal‹, heißt es dann einfach. Wir arbeiten jedoch an einem Spionagefall.
Habe ich Ihnen nicht erklärt, wer diese Formulare zu lesen bekommt?«
»Doch: Koerner, die strategische Luftstreitmacht, die FBI-Zentrale.«
»Das sind nur die ersten Stationen, Terry, nur die ersten. Die Formu-
lare gehen auch an die CIA, das Außenministerium, die Army und das
Justizministerium. Die NSA erhält ebenfalls ein Exemplar. Habe ich den
Nationalen Sicherheitsrat schon erwähnt? Selbst das Weiße Haus wird in-
formiert, damit es für Anfragen gerüstet ist. Deshalb erstellen wir die Be-
richte in zehnfacher Ausfertigung. Die Formulare sind wichtig. Wir müs-
sen sie bis elf Uhr morgens eingereicht haben, und das werde ich auch
weiterhin tun, bis der Fall abgeschlossen ist – falls er jemals abgeschlos-
sen sein wird –, selbst wenn es mich umbringt.«
»Navarro.« In Moodys Stimme schwingt Sorge mit, als hätte ich eben
meine eigene Totenglocke geläutet. »Vermutlich haben Sie in allen Punk-
241

ten recht. Sie haben fast immer recht, wenn es um die Arbeit geht. Ich be-
sitze jedoch durchaus ein wenig Lebenserfahrung, Herr FBI-Agent, und
diese Lebenserfahrung sagt mir, dass Sie vor die Hunde gehen werden,
wenn Sie so weitermachen.«
»Sie verstehen mich nicht. Sie haben keine Ahnung, wie ich mich fühle.«
»Das stimmt. Erzählen Sie es mir.«
»Ich fühle mich wie ein Footballspieler, der keine Ahnung hat, wann
die Spielzeit endet und wo die Torpfosten stehen. Ich weiß nur, dass ich
immer weiter rennen muss, bis das Spiel abgepfiffen wird. Wie lange
das noch dauern wird, sprich wann wir Rod endlich dingfest machen
können, entzieht sich meiner Kontrolle. Außerdem frisst mich dieser
Fall auf, weil es nicht um einen einfachen Banküberfall, sondern um
eine existenzielle Bedrohung geht. Selbst Menschen, die Rods Äuße-
rungen keinen Glauben schenken und die meine Befragungsmetho-
den infrage stellen, fordern mich immer wieder auf, die Gespräche auf-
rechtzuerhalten. Mit jedem Geständnis, das ich in den Befragungen
erhalte, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Rod den Rest seines Lebens
hinter Gittern verbringen wird. Da gehört er auch hin, aber ich bin der-
jenige, der ihn und seine Mutter jeden Tag aufs Neue belügen muss.
Ich darf mir bei den Ermittlungen keinen Fehler erlauben, weil ich für
den Fall verantwortlich bin. Außerdem muss ich die Versäumnisse der
Washingtoner Außenstelle ausbügeln. Ich bin Schritt für Schritt im-
mer tiefer in den Fall hineingeschlittert, und nun, da er mir über den
Kopf zu wachsen scheint, finde ich keinen Ausweg mehr. Das alles be-
trifft …«
»Ja? Sprechen Sie weiter.«
»Das alles betrifft ja nicht nur mich, Terry. Auch Sie haben darunter zu
leiden. Sie verbringen ebenfalls wenig Zeit mit Ihrem Mann und Ihrem
Sohn. Wer weiß, wie es nach der Geburt Ihres zweiten Kindes aussehen
wird. Auch deshalb habe ich ein schlechtes Gewissen.«
Terry saugt mit einem Stück Toast, das sie auf ihre Gabel gespießt hat,
den letzten Rest Eigelb von ihrem Teller auf. Dann legt sie das Besteck
beiseite, tupft sich mit einer Serviette die Lippen ab und dreht sich zu mir.
»Wie heißt mein Sohn?«
Ich kann ihre Frage nicht beantworten. Ich habe den Namen schon
einmal gehört, kann ihn aber nicht aus meinem Gedächtnis abrufen.
242

»Wie alt ist er?«


»Das weiß ich nicht«, erwidere ich. »Vermutlich ist er noch klein. Viel-
leicht zehn?«
»Mein Sohn heißt Kyle. Er ist 14 Jahre alt, Joe. Er wächst gerade mäch-
tig und reicht mir schon fast bis zur Schulter. Haben Sie Lust auf eine klei-
ne Rechenaufgabe?«
»Rechenaufgabe?«
»Ja, Rechenaufgabe. Ich bin 33  Jahre alt und seit zwei Jahren mit
Mr Moody verheiratet.«
»Das heißt, Kyle ist nicht Mr Moodys Sohn?«
»Bravo, Sie können also Minus-Rechnen. Ich war 19 Jahre alt, als Kyle
zur Welt kam. Die Schwangerschaft war nicht geplant – es ist einfach das
passiert, wovor alle Eltern ihre Töchter warnen. Kyles Vater war unglaub-
lich gut aussehend, aber er hat sich sofort aus dem Staub gemacht. Ich
habe mich durch das College gekämpft, Joe. Ich war ganz auf mich allein
gestellt. Ich habe Kyle mit in die Schule und mit zur Arbeit genommen.
Was ich damit sagen will …«
»Schon gut.«
»Nein, Joe, ich erzähle Ihnen das nicht zum Spaß. Alle anderen im
Büro kennen die Geschichte bereits. Sogar Shirley – vielleicht habe ich
ihr sogar am ausführlichsten davon erzählt. Wir nehmen an Betriebsfei-
ern teil. Wir erkundigen uns nach unseren Familien. Wir hängen an den
Wänden Bilder auf, die unsere Kinder auf dem Schoß vom Nikolaus zei-
gen. Würde Kyle jetzt durch diese Tür kommen, würde ihn jeder, der mit
Mr Moody zusammen am Tisch sitzt – und ja: Mr Moody ist in meinen
Augen Kyles Vater –, sofort erkennen.«
»Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Trotz der vielen Stunden, die wir bereits zusammen verbracht haben,
wissen Sie so gut wie nichts von mir und meiner Familie. Sie treffen sich
nie mit Kollegen und bleiben an keiner Bürotür stehen, um sich danach
zu erkundigen, wie das Fußballspiel der Kinder am Wochenende gelau-
fen ist. Sie lassen sich bei keiner Betriebsfeier blicken und nehmen an kei-
nem der Sport- und Freizeitprogramme der FBI Recreation Association
teil. Das Foto von Ihrer Tochter in Ihrem Büro …«
»Stephanie war damals 18  Monate alt. Wir lebten in Puerto Rico
und …«
243

»Das weiß ich. Dieses Foto steht so versteckt zwischen all den Papier-
stapeln, dass niemand es sehen kann. Sie sind eigenbrötlerisch und un-
nahbar, Joe.«
»Man fürchtet sich vor Ihnen«, stimmt Linda zu und legt den Zettel
mit unserer Rechnung auf die Theke. Terry hat ihr Frühstück wie immer
aufgegessen: zwei Spiegeleier, ein Toast, Maisgrütze und ein Würstchen.
Auf meinem Teller liegt noch immer die Hälfte des Bagels mit Frischkäse.
Nachdem wir uns zwischen den Barhockern und Stühlen fast bis zur
Kasse vorgearbeitet haben, wendet sich Moody mir erneut in einer Art
zu, die ein Außenstehender leicht als enge Vertrautheit interpretieren
könnte. »Erinnern Sie sich noch daran, als ich sagte, Sie müssten kein
Arschloch sein?«, flüstert sie.
»Und ob«, flüstere ich zurück. »Wie könnte ich das vergessen?«
»Ihnen sollte aber auch klar sein, dass Sie sich nicht völlig aufarbeiten
müssen. Und dass Sie nicht so einsam und unnahbar sein müssen.«
Muss ich das nicht? Ich wünschte, ich könnte mir dessen sicher sein.
15
DAS ERSTE DATE

12. Februar 1990

Im Bereich der Spionageabwehr ist Marc Reeser der beste Analytiker, den
das FBI je hervorgebracht hat. Außerdem ist er unter all den Kollegen,
mit denen ich bisher zusammengearbeitet habe, derjenige, der am we-
nigsten nach einem FBI-Agenten aussieht.
FBI-Agenten ähneln sich äußerlich sehr. Die meisten von uns sind
durchtrainiert, haben breite Schultern und wirken sehr bieder. Ganz an-
ders Marc: Er sieht immer unordentlich aus – seine Kleidung ist zerknit-
tert, seine Hemden sind ihm viel zu groß, und seine Krawatte sitzt nicht
richtig. Marc hat zwar beim Militär gedient, sich aber nie das für einen
Soldaten typische Auftreten angeeignet. Er geht in der Tätigkeit auf, die
die meisten Agenten (mich eingeschlossen) verabscheuen: Er durchfors-
tet stundenlang Datenbanken und Listen, liest aus den von Verdächti-
gen verwendeten Telefonnummern Muster heraus und kann dank seines
246

hervorragenden Gedächtnisses Adressen – zum Beispiel eine Anschrift


in Wien –, die in der Vergangenheit von Spionen aufgesucht wurden, mit
aktuellen Fällen in Verbindung bringen.
Am meisten schätze ich an Marc jedoch, dass er trotz seines herausra-
genden Intellekts ein ganz normaler Kerl ist: Er ist Eishockeyfan und ein
unverbesserlicher Optimist. Ich habe all diese Eigenschaften an ihm ent-
deckt, als ich ihn Anfang Dezember – eine Woche nachdem er dem Fall
Ramsay zugeteilt worden war – vom Tampa International Airport abhol-
te. An der Gepäckausgabe nahm Marc erst einen Koffer normaler Größe
vom Band, den er mit allen möglichen Kleidungsstücken und Gegenstän-
den vollgepackt hatte, von denen er annahm, dass er sie in der womöglich
langen Zeit, die er mit mir zusammenarbeiten würde, brauchen konnte.
Dann griff er nach einer prall gefüllten Reisetasche, die beinahe so groß
wie er selbst war.
»Was ist da drin?«, fragte ich.
»Schlittschuhe, Protektoren und Pucks.«
Ehe er weitersprechen konnte, kam sein Gepäckstück Nummer drei
auf uns zugerattert: sechs mit Klebeband zusammengebundene Eisho-
ckeyschläger.
Während wir sein Zubehör zum Parkhaus schleppten, fragte ich:
»Wozu um Himmels willen soll diese Ausstattung gut sein? Wollen Sie
damit im Sand von Clearwater Beach Hockey spielen?«
»Ich habe mich erkundigt. An den Interstates 4 und 75 gibt es Eis-
sporthallen.«
Tatsächlich? Dann müssten diese in der Nähe meines Wohnhauses lie-
gen.
»Außerdem«, sagte Marc, der sein Sportequipment routiniert durchs
Parkhaus bugsierte, »wird es in Tampa bald eine professionelle Eisho-
ckeymannschaft geben.«
»Wie bitte?«
»›The Lightning‹ ist als Name des Teams im Gespräch. Eishockey wird
hier bald weiter verbreitet sein als kubanische Zigarren, Joe.«
»Eishockey in Tampa? Alles klar. Holen wir uns den Stanley Cup.«
»Oh, ihr Kleingläubigen. Auf jeden Fall hat mich eine hiesige Hobby-
mannschaft zum Training eingeladen.«
»Tatsächlich?«
247

»Ja, heute Abend.«


»Heute Abend? Sie sind gerade erst angekommen!«
»Das macht nichts, aber wir müssen uns beeilen.«
»Wann sprechen wir über den Fall?«
»Was glauben Sie, wer die Berichte, die Sie versenden, liest? Jane ist die
einzige Agentin in der FBI-Zentrale, die die Ermittlungen nachverfolgt.
Ansonsten habe nur ich mich vom ersten Tag an mit dem Fall beschäftigt.
Ich weiß nicht so viel über Ramsay wie Sie, aber ich kenne den Fall bes-
ser als jeder andere. Außerdem sind Sie auf mich angewiesen, und heute
Abend spiele ich Eishockey.«
Fazit: Marc entscheidet frei und unabhängig. In den zwei Monaten,
die er inzwischen in Tampa verbracht hat, hat er sich unentbehrlich ge-
macht. Aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Militärpolizist kann er
mich mit allen grundlegenden Informationen über die Army versorgen.
Außerdem ist er im Fall Ramsay mit den Namen aller beteiligten Perso-
nen, jedem einzelnen Datum und allen zentralen Fakten vertraut. Ana-
lysten gelten innerhalb des FBI als Hilfskräfte. Ich halte Marcs Arbeit für
wertvoller als die eines Agenten. Koerner und ich behandeln Marc wie ei-
nen Kollegen.

SEIT ANFANG JANUAR treffen Marc und ich uns – gemeinsam mit Ter-
ry, sofern sie nicht mit anderen Fällen beschäftigt ist – jeden Tag kurz vor
Mittag, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Das tun wir auch heu-
te. Marc drückt mir eine Liste in die Hand. Ich starre auf das Blatt Papier,
habe jedoch zu viel andere Dinge im Kopf, um mich darauf konzentrie-
ren zu können.
»Ist Ihnen klar, was fehlt?«, fragt Marc, greift nach der Liste und hält
sie näher an mein Gesicht heran.
»Ja, die Sehstärke, die ich früher hatte, und ein funktionierendes Ge-
hirn. Bitte, Marc, erklären Sie mir einfach, was hier steht. Ich habe keine
Zeit für Ratespielchen.«
»Dies sind die Dokumente, von denen uns Rod erzählt hat«, sagt Marc
und zeigt mit dem Finger auf die erste Spalte. »In der zweiten Spalte sind
die Dokumente aufgeführt, die wir verifiziert haben, in der dritten dieje-
nigen, von denen die Army Kenntnis hatte, und in der vierten diejenigen,
von denen die Schweden glauben, sie gesehen zu haben.«
248

»Okay, und was fehlt?«


»Die Liste ist umfangreich, nicht wahr?«
»Zweifelsohne. Es steckt sicher viel Arbeit darin.«
»Darum geht es nicht.«
»Sondern?«
»Sie haben wirklich viel aus Rod herausbekommen, Joe. Was Sie erfah-
ren haben, reicht mit Sicherheit aus, um Rod ins Gefängnis zu bringen.«
»Aber?«
»Es fehlen Dokumente.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe mithilfe einiger Freunde in der Armee mit einem Militär-
stützpunkt in Deutschland Kontakt aufgenommen und mit einigen an-
deren Leuten gesprochen.«
»Und was kam dabei heraus?«
»Für die Umsetzung der G-3-Planungen der 8. Infanteriedivision wä-
ren viele weitere Dokumente nötig gewesen, die noch sensiblere Informa-
tionen enthalten und über die Rod kein Wort verloren hat.«
»Verdammt.«
»Wie gesagt: Wir haben viel in der Hand, doch der Einzige, der uns ei-
nen vollständigen Überblick geben kann, ist Rod. Bisher haben wir keine
exakte Aufstellung, wir können nur spekulieren.«
Ich springe auf und gehe zur Tür.
»Wohin gehen Sie?«
»Ich werde Rod anrufen und ihn fragen, ob er Zeit hat für ein Date.«
»Wollten Sie sich nicht erst morgen mit ihm treffen?«
»Dank Ihrer Informationen werden ich das heute noch tun.«
»Handeln Sie nicht überstürzt, Joe.«
»Das tue ich nicht, aber der Gedanke, dass noch weitere Dokumente
im Spiel waren, gefällt mir nicht.«
»Was ist mit Moody? Sie ist gerade auf dem Weg hierher.«
»Sagen Sie Ihr, sie kann sich den Rest des Tages freinehmen. Sie kann
es gebrauchen.«

ROD TEILT MIR MIT, dass er Überstunden machen muss. Er ist plei-
te und hinkt mit den Zahlungen für sein Taxi hinterher. Sein Chef hat
ihn vor die Alternative gestellt, eine Nachtschicht einzuschieben oder
249

sich einen anderen Job zu suchen. Es ist immer wieder dasselbe. Ich hat-
te geglaubt, Rod würde zur Vernunft kommen, wenn er erst einmal vom
Tripper geheilt war und seine untreue Freundin vor die Tür gesetzt hat-
te. Doch selbst wenn man Rod zu drei Millionen Dollar pro Jahr und ei-
ner kostenlosen Suite im Plaza Hotel verhelfen würde, würde Rod immer
noch in der Lage sein, alles zu vermasseln.
»Holen Sie mich einfach mit Ihrem Taxi um 18:30 Uhr im Embassy
Suites Hotel ab. Seien Sie pünktlich«, sage ich.
»Sie hören mir nicht zu, Joe. Ich muss heute Nacht Taxi fahren. Ich
muss arbeiten und Geld verdienen.«
»Ich höre Ihnen zu, Rod«, erwidere ich. »Besser, als Sie denken. Ich bu-
che Ihr Taxi für drei Stunden – so wie die japanischen Touristen, die Sie
selten genug durch die Stadt kutschieren. Ich bringe uns ein paar Snacks
mit, und während wir essen, läuft der Taxameter.«
»Von Perrera’s? Das schmeckt so gut.«
»Okay, von Perrera’s.«
»Ropa vieja und frittierte Kochbananen?«
»Aber gerne doch. Ropa vieja und Kochbananen. Möchte der Herr sei-
ne Mahlzeit vielleicht noch mit frijoles negroes als Beilage aufstocken?«
»Por supuesto«, erwidert Rod fast akzentfrei. »Dazu noch Eistee, sin
azúcar.«
»Verstanden.« Ich fühle mich fast wie die Servicekraft in einem Fast-
Food-Restaurant, als die ich mich in meinen Albträumen sehe. »Und
Rod …«
»Ja?«
»Räumen Sie Ihr Taxi auf, bevor Sie mich abholen. Ich habe keine Lust,
mein Abendessen zwischen Stapeln von Seiten einzunehmen, die Sie aus
Ecos Das Foucaultsche Pendel herausgerissen haben.«

ERSTAUNLICHERWEISE  – oder, wenn man genauer darüber nach-


denkt, vielleicht auch nicht – trifft Rod um 18:29 Uhr vor dem Embas-
sy Suites Hotel ein. Er bringt eine hübsche Überraschung mit: Abgesehen
von einem kleinen Bündel Seiten, das er zwischen den Beifahrersitz und
die Mittelkonsole geklemmt hat, hat Rod den Wagen herausgeputzt. Und
sich selbst: Er muss auf dem Weg einen Zwischenstopp eingelegt und sich
in der Herrentoilette eines McDonald’s frisch gemacht haben.
250

»Sie sehen gut aus«, begrüße ich ihn.


»Vielen Dank, Sie auch. Aber Sie sehen immer sehr korrekt aus, Agent
Navarro.«
»Vielen Dank.«
»Ist Moody nicht da?«, fragt Rod schmollend.
»Sie braucht eine Pause.«
»Wohin fahren wir?«, erkundigt er sich, während ich mich, anders als
in einem Taxi üblich, auf den Beifahrersitz setze. Der Duft der Snacks von
Perrera’s erfüllt schon den Wagen.
»Zu SeaWorld«, erwiderte ich. »Und schalten Sie den Taxameter ein.«
»Sicher?«
»Schalten Sie ihn ein.«
Rod legt den Gang ein, und der Taxameter läuft.
»Sehen wir uns den Orca Shamu an, während wir essen?«
»Nein, wir werden auf dem Parkplatz bleiben.«
Ich lasse ihn den Parkplatz von SeaWorld ansteuern, weil Taxis dort kei-
ne Gebühr zahlen müssen, und wähle eine Parklücke, die zwar abseits der
zahlreichen vor dem Eingang parkenden Autos liegt, sich aber nicht in ei-
nem dunklen Eck befindet. Auch wenn wir nur unser Abendessen einneh-
men und ein kurzes Gespräch führen werden, möchte ich in alle Richtungen
freie Sicht haben. (Deshalb habe ich mich gegen Disney World entschie-
den – außer an Weihnachten sind die Parkplätze dort immer viel zu voll.)
»Fühlt sich an wie ein Date«, meint Rod, während ich die Tüten auspa-
cke und ihm sein Abendessen reiche. »Küssen wir uns nach dem Essen?«
»Wir werden heftig knutschen«, erwidere ich und füge dann hinzu: »In
Wahrheit werde ich, sobald Sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt ha-
ben, meine Hände um Ihren Hals legen und Sie erwürgen, weil ich jeden
Tag zu Ihnen nach Orlando fahren muss.«
Wir lachen, obwohl Rod genau weiß, dass ich schon mehrfach Lust ge-
habt hätte, ihn zu erdrosseln.
Das Abendessen dauert nicht lange. Rod verschlingt seine Portion,
während ich eine Tüte chicharrones – frittierte Schweineschwarten – lee-
re. Ich habe diese fettreiche Kost gewählt, da ich ein wenig an Gewicht
zulegen möchte.
Im Radio läuft der Sender NPR, und Rod hört eine Zusammenfassung
der Nachrichten des heutigen Tages.
251

»Rod, wir kennen uns mittlerweile recht gut«, leite ich das Gespräch ein.
»Wir sprechen öfter miteinander, als die meisten Arbeitskollegen es tun.«
»Das stimmt. Außer Ihnen weiß keiner von meiner Situation«, bestä-
tigt Rod mit einem Blick zwischen seine Beine.
»Ja, wir unterhalten uns über Themen, über die andere nicht mitein-
ander sprechen. Machen Sie sich keine Sorgen – ich habe Moody nichts
davon erzählt.« Auch mit dieser Lüge werde ich leben müssen. »Obwohl
wir so oft miteinander gesprochen haben, Rod, muss ich Ihnen sagen …
habe ich den Eindruck …. meine ich zu spüren, dass Sie mir noch mehr
zu sagen haben, viel mehr.«
Rod blickt starr geradeaus und schweigt. Er versucht zu lächeln, aber
es gelingt ihm nicht.
»Ich glaube zu wissen, warum Sie nicht mehr preisgeben, aber ich wür-
de den Grund gerne von Ihnen hören.« Ich bezeichne diese Art von Äu-
ßerungen als Aufforderung zum Wahrscheinlichkeitsbeweis: ›Ich weiß,
was du getan hast, aber ich möchte wissen, warum.‹ »Ich kann mit sol-
chen Erklärungen umgehen«, fahre ich fort. »Ich meine, das hätte ich be-
reits bewiesen.«
»Das haben Sie.«
»Wissen Sie, wenn ich den Eindruck habe, dass Sie noch mehr zu sa-
gen haben, dann hat Koerner ihn auch.«
»Macht Ihnen Koerner Schwierigkeiten?«
Nun ist es an mir zu schweigen – ich atme lediglich tief ein und aus.
Rod starrt zum Fenster hinaus, während einige Besucher von SeaWorld
sich nach einem langen Tag auf den Weg zu ihren Autos machen, die Kin-
der völlig überdreht und die Eltern fix und fertig. Freizeitparks haben ei-
nes überall gemeinsam: Man verlässt sie völlig erschöpft.
»Können wir kurz aussteigen?«, fragt Rod. »Ich muss unbedingt eine
Zigarette rauchen.«
»Okay.« Ich beobachte genau, wie Rod mit der Hand ins Handschuh-
fach greift und eine Packung Zigaretten sowie ein ramponiertes Plastik-
feuerzeug hervorholt, das er bestimmt auf der Straße aufgeklaubt hat.
Nach all den Monaten, in denen ich mich nun mit Rod traf, habe ich
nicht an Wachsamkeit verloren. Für den Fall, dass Rod seinem lausigen
Leben – oder meinem – ein Ende setzen wollte, halte ich immer nach ei-
ner Waffe Ausschau.
252

Rod beobachtet ein kleines Flugzeug, das am abendlichen Himmel


kreist – vielleicht eines der Flugzeuge vom Kissimmee Airport, mit de-
nen Urlauber Sightseeingtouren unternehmen können. Rod und ich ste-
hen an die Motorhaube des Taxis gelehnt und sehen das Positionslicht
des Flugzeugs blinken. Wir schweigen, aber es herrscht keine Anspan-
nung, da wir beide es genießen, im Freien zu sein und die leichte Brise
zu spüren.
»Wissen Sie, dass ich gerne Schach spiele?«
»Ja, natürlich. Das haben Sie Agent Eways bei unserem ersten Treffen
erzählt.«
»Am liebsten spiele ich aber Dungeons & Dragons. Ich habe Ihnen da-
mals ein Buch gegeben …«
»Das habe ich noch«, erwidere ich. »Möchten Sie es zurückhaben?«
Rod schüttelt den Kopf.
»Clyde hat sich nicht für Dungeons & Dragons interessiert. Er war
Schachspieler. Jedes Spiel aber lehrt, Clydes Grundsatz zu begreifen: Für
alles, was man tut, braucht man eine Strategie. Man braucht einen Plan,
eine Motivation und Alternativen.«
»Das gilt auch für mich, Rod«, sage ich. »Und für Sie. Wer nicht plant,
droht zu scheitern.«
»Conrad und ich haben viele Pläne geschmiedet. Ich stand kurz vor
meiner Beförderung und sollte nach Heidelberg versetzt werden. Damit
wäre eine Erweiterung meiner Zugriffsmöglichkeiten und meines Ver-
antwortungsbereiches verbunden gewesen – Heidelberg war das Haupt-
quartier der US Army für ganz Europa. Mit dem vergeigten Urintest habe
ich mich um diese Chance gebracht.«
Während ich noch überlege, wohin diese Erzählung führen mag, wech-
selt Rod plötzlich das Thema.
»Joe, seien Sie ehrlich: Spielen all diese Informationen, nun da die Ber-
liner Mauer gefallen ist, überhaupt noch eine Rolle? Sind das, was ich Ih-
nen erzähle, und die Tatsache, dass ich Sie unterstütze, noch irgendet-
was wert?«
»Rod, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir uns mit den Russen
anfreunden werden? Abgesehen von Nordkorea, ist die Sowjetunion die
unberechenbarste Militärmacht der Welt. Die Russen werden dem Wes-
ten niemals trauen. Meinen Sie, der Spion ›Schau-dich-um‹ im Haupt-
253

quartier des KGB wird plötzlich zu einem glühenden Verfechter der


Demokratie? Die Sowjets werden sich nicht ändern, und trotz des Mau-
erfalls ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hinter dem Misstrau-
en gegenüber der westlichen Welt steckt auch ein finanzielles Interesse
des KGB und der russischen Streitkräfte. Mag sein, dass sie der Perestro-
ika ein Ende setzen. Ihre Herrschaft basiert auf Angst und Verbitterung,
nicht auf Händchenhalten und ›Kumbaya‹. Sobald sich die Lage beruhigt
hat, werden die Sowjets wieder ihre Messer wetzen.«
»Vermutlich haben Sie recht.« Rod nimmt einen tiefen Zug aus seiner
Zigarette.
»Interpretieren Sie nicht zu viel in die Situation hinein. Eine Schlange
bleibt ein gefährliches Reptil, auch wenn man freundlich mit ihr umgeht.«
Die Tatsache, dass nach meiner Äußerung erneut Stille herrscht, beunru-
higt mich. Für mich selbst ist Schweigen immer Mittel zum Zweck.
»Vermissen Sie das Fliegen, Joe?«, fragt Rod, seinen Blick an das über
SeaWorld kreisende Flugzeug geheftet.
»Ja, aber ich hatte in letzter Zeit viele andere Dinge zu tun.«
»Sie erzählen gar nichts mehr von Ihrer Tochter.«
»Ich weiß. Es ist nicht leicht, die ganze Zeit unterwegs zu sein.«
Rod starrt weiter in den Himmel und verfolgt mit seinen Augen den
Rauch seiner Zigarette, den der leichte Wind nach Osten treibt. Rod dik-
tiert das Tempo, er bereitet etwas vor. Ich habe ihn bei keiner Befragung
so nachdenklich erlebt.
Plötzlich lässt Rod den Kopf hängen, als hätte er keine Kraft mehr, sich
aufrecht zu halten. Er holt eine neue Zigarette aus der Packung und hebt
langsam den Kopf, als wäre die Bewegung mit großer Anstrengung ver-
bunden. »Ich hoffe, Sie haben einen Kugelschreiber dabei. Sie werden ihn
brauchen.
Freundlicher Gorilla, Löwenherz, Verzeichnis der taktischen Atom-
waffen, Flicker, Einsatzregeln in Friedenszeiten, kaltes Feuer, Wintex,
Cimex, Able Archer, Notfallpläne des United States European Com-
mand, Champagne Gourmet, AWP 4200 der 7.  Infanteriedivision,
Aufrichtigkeit und Ehrbarkeit, Einsatzplan für die 12.  Panzerdivisi-
on.« Rod rattert diese Begriffe wie aus der Pistole geschossen herun-
ter. »Hoppla, Entschuldigung. Natürlich wiederhole ich diese Bezeich-
nungen gerne.«
254

Ich mache mir an den Rändern von Rods herausgerissenen Buchseiten


Notizen, während Rod die Begriffe noch einmal aufführt – wie ich mei-
ne, in exakt derselben Reihenfolge.
»Clyde und ich haben all diese Unterlagen entwendet, kopiert und
nach Ungarn verkauft. Über welches Dokument soll ich Ihnen mehr er-
zählen?«
»Able Archer hat sich mir am schnellsten eingeprägt.«
»Oh ja, Able Archer«, erwidert Rod. »Eine gute Wahl.«
Der Tonfall und die Stimmlage, die Rod nun annimmt, lassen seine Er-
läuterung wie einen von dem Fernsehjournalisten Walter Cronkite ein-
gesprochenen Text zu einem Dokumentarfilm erscheinen: »1983: Ein ge-
fährliches Jahr in der Geschichte des Kalten Kriegs. April: Die US Navy
entsendet 40 Schiffe, 300 Flugzeuge und 23 000 Mann Besatzung – eine
Flotte bislang unbekannter Größe und Stärke – in den Nordpazifik, um
die sowjetischen Stellungen in der Region auszuspähen. Fünf Monate
später, am 1.  September, wird der Korean-Air-Lines-Flug 007 westlich
der Insel Sachalin in einem sowjetischen Luftsperrgebiet abgeschossen.
Alle 269 Menschen an Bord sterben, darunter auch Larry McDonald, der
Vertreter des Bundesstaates Georgia im amerikanischen Repräsentan-
tenhaus. Am 26. September, als die Situation schon äußerst angespannt
war, meldete das sowjetische Raketenabwehrsystem fälschlicherweise ei-
nen Angriff durch eine US-amerikanische Interkontinentalrakete. An-
schließend verzeichnete das Computersystem vier weitere abgefeuerte
Raketen. Ein atomarer Gegenschlag der Sowjetunion wurde vermutlich
nur durch die Tatsache verhindert, dass an diesem Tag ein umsichtiger
Oberstleutnant in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung
die Raketenabschüsse als Fehlalarm einstufte.«
»Brauchen Sie den Namen des Oberstleutnants?«, fragt Rod mit bei-
nahe normaler Stimmlage. Ich schüttele den Kopf, und Rod mutiert wie-
der zu Walter Cronkite.
»Sieben Wochen später, also Anfang November 1983, veranstaltete die
NATO vor den Augen der Sowjetunion eine groß angelegte Komman-
dostabsübung, die einen Atomkrieg simulierte. Es wird davon ausgegan-
gen, dass die Sowjetunion durch dieses Manöver beinahe dazu verleitet
wurde, einen präventiven Nuklearschlag zu initiieren – Able Archer wird
also eine größere Bedeutung zugemessen als allen anderen Ereignissen
255

des Kalten Kriegs, einschließlich der Kubakrise. Die ganze Angelegenheit


ist jedoch komplizierter, da – ta, ta! – den Sowjets die exakten Pläne des
­NATO-Manövers bereits bekannt waren.«
Rod gluckst in der für ihn typischen jungenhaften, narzisstischen Art,
während er mir diese Ereignisse schildert. Hatte er sich am Anfang des
Gesprächs reserviert und besonnen gezeigt, zeigte er nun wieder seine
wahre Persönlichkeit.
»Wem hatten die Sowjets diesen glücklichen Umstand zu verdanken?«,
frage ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaube. Rod bestätigt meine
Vermutung durch eine kleine Verbeugung.
»Rod, das ist Unsinn«, widerspreche ich. »Hätten die Sowjets die
­Able-Archer-Pläne gekannt, wären sie nicht so wütend geworden. Sie
hätten den Beweis in der Hand gehabt, dass es sich lediglich um eine
Übung handelt.«
»Joe, Joe, Joe«, erwidert Rod mit gütigem Lächeln. »Das ist ja das Schö-
ne daran.«
»Was soll das heißen?«
»Nachdem die Russen unsere an die Ungarn verkauften Pläne erwor-
ben hatten, gelangten sie zu der Überzeugung, falsche Informationen er-
halten zu haben, die als Deckmantel für einen echten Angriff der NATO
fungieren sollten. Sie haben doch selbst die Sowjets als unberechenbar
bezeichnet. Wir bekamen das Geld, und die Russen bekamen Angst.
Nachdem sie jedoch herausgefunden hatten, dass die Pläne echt waren,
setzten sie noch größeres Vertrauen in uns. Das war das Schöne daran!«
›Großartig‹, denke ich. ›Millionen Menschen hätten sterben können,
während du dich mit Clyde in zweifelhafter Vertrauenswürdigkeit sonnst
und ihr noch mehr Krügerrand-Münzen im Garten vergrabt.‹ Ich werde
später bestimmt Gelegenheit finden, ihm das an den Kopf zu werfen, doch
im Moment dränge ich darauf, von den anderen Dokumenten, die Rod ge-
nannt hat, zu erfahren. Je detaillierter wir über diese Pläne Bescheid wis-
sen, umso besser werden wir vor Gericht unseren Fall darlegen können.
»Erzählen Sie mir von dem Dokument, das Sie als Erstes gestohlen ha-
ben.«
Immer noch obenauf, ist Rod nur allzu gerne dazu bereit.
»Ich weiß noch genau, welches das war. Die Aktion fand in der Zeit
statt, in der ich von Clyde noch auf die Probe gestellt wurde. Clyde ver-
256

langte nach der jüngsten Version des AWP 4200. Dieser Plan wurde lau-
fend aktualisiert, und die Ungarn hatten Interesse daran. Ich kopierte das
Dokument mit allen Ergänzungen. Ich weiß nicht mehr genau, wie viel
Conrad dafür bekam – 20 000 Dollar mindestens.«
»Moment! Was um alles in der Welt ist ein AWP?«, frage ich – nicht
weil ich es nicht wüsste, sondern weil ich möchte, dass Rod preisgibt, dass
er über dieses Wissen verfügt.
»AWPs sind Ausweichpläne, Joe«, erklärt Rod in überaus geduldigem
Tonfall. »Ich habe Ihnen schon im ersten Gespräch mit Al Eways davon
erzählt. Diese Pläne enthalten exakte Anweisungen, wie sich alle auf ei-
nem Kriegsschauplatz aktiven Einsatzkräfte – von den Generälen bis zu
den Soldaten – im Falle einer unerwarteten Wendung der Ereignisse zu
verhalten haben. AWPs sind für vorgeschobene Truppen elementar.«
Ich unterbreche Rod erneut: »Entschuldigen Sie – welche Klassifizie-
rung hatte dieser Ausweichplan?«
»Oh, geheim«, erklärt Rod so beiläufig, als hätte ich ihn nach der Uhr-
zeit gefragt. »Einige Anhänge waren sogar streng geheim.«
Mit Blick auf die zu erwartende Gerichtsverhandlung hake ich ein
drittes Mal nach: »Welche Bedeutung hatten die im AWP 4200 enthalte-
nen Informationen?«
»Sie waren von äußerster Wichtigkeit. Der Plan legt bis ins Detail fest,
was im Notfall zu tun ist. Er enthält zum Beispiel Vorkehrungen für den
Fall, dass eine Raumfähre in einem fremden Land zu Boden kommt oder
ein Militärflugzeug vom Kurs abkommt und hinter dem Eisernen Vor-
hang notlandet. Der AWP 4200 ist die Bibel für jeden Katastrophenfall.
Haben Sie mir nicht zugehört, als ich Ihnen damals davon erzählte?«
Ich ignoriere diese Frage und lasse Rod in dem Glauben, ich könnte
mich nicht mehr an seine Erläuterung erinnern. Stattdessen versuche ich
ihm eine weitere Information zu entlocken, die ihm vor Gericht mit Si-
cherheit das Genick brechen wird: »Sie haben also diesen Plan kopiert.
Haben Sie ihn auch gelesen?«
Rod verliert langsam die Geduld mit mir: »Natürlich habe ich ihn gele-
sen. Ich musste ja die jüngsten Ergänzungen hinzufügen. Wie sonst hätte
ich neue von alten Informationen unterscheiden können?«
Er schließt die Augen, als wolle er meine Anwesenheit ausblenden,
und zitiert unter Angabe der exakten Seitenzahl und der genauen Positi-
257

on des Absatzes im Text wörtlich eine relevante Passage des AWP 4200.
Ein wahrhaft gespenstischer Moment. Ich habe gar keine andere Wahl,
als die Sätze mitzuschreiben.
Auch wenn ich von Rods Gedächtnisleistung beeindruckt bin, möch-
te ich mich absichern.
»Ich wette, Sie können das nicht wiederholen«, fordere ich ihn her-
aus und hole für meine Notizen weitere Buchseiten aus dem Taxi. Rod
bleibt ruhig auf der Motorhaube sitzen, als würde er einen Kuss erwarten,
und gibt dann unbeirrt die Textpassage erneut auf die Silbe genau wieder.
Obendrein erklärt er mir, welchen Kopierer er benutzt hat und dass die
extragroßen Klammern, mit denen die einzelnen Seiten zusammengehal-
ten wurden, sehr lästig waren.
»Also gut, Sie Genie«, sage ich, als Rod mit seiner Erzählung fertig ist.
»Ich werde diese Angaben überprüfen, um zu sehen, wie zuverlässig Ihre
Informationen sind.«
Während ich meine Notizen in der Tasche verstaue, legt Rod die Fin-
gerspitzen aneinander, als wäre er der Vorsitzende der US-Notenbank –
Rods abstoßende Angewohnheit Nr. 22, nebenbei bemerkt –, und meint
ruhig und entschieden: »Sie werden feststellen, dass jedes einzelne Wort
der Wahrheit entspricht.«
Während wir zum Embassy Suites Hotel zurückfahren, herrscht im
Taxi Schweigen. Rod hat das Radio eingeschaltet – vermutlich um weite-
re Belehrungen meinerseits über Körperhygiene, den richtigen Umgang
mit Geld, die Sauberkeit seines Taxis etc. zu umgehen. Rod hat mir schon
mehrfach zu verstehen gegeben, dass er wünschte, er hätte mich früher
kennengelernt. »Wäre mein Vater wie Sie gewesen«, sagte er einmal zu
mir, »wäre mein Leben vermutlich anders verlaufen.« Vielleicht. Mir er-
scheint meine Rolle ihm gegenüber jedoch eher wie die des dominante-
ren Parts in einer langjährigen Ehe. Trotzdem ist heute auf dem Parkplatz
von SeaWorld etwas Bedeutendes passiert, eine tief greifende Verände-
rung ist eingetreten. Eine Barriere ist gefallen. Unser Schweigen während
unserer langsamen Fahrt durch den starken Verkehr auf dem Internatio-
nal Drive erweist dieser Entwicklung Anerkennung.
Rod bringt das Taxi hinter meinem linker Hand des Hotels geparkten
Bu-Steed zum Stehen. Während ich 146  Dollar aus meiner Brieftasche
hole, überlege ich, wie ich diese Ausgabe der Abrechnungsstelle plausibel
258

mache. Ich höre den für die Dienstwagen zuständigen Buchhalter schon
stöhnen: »So viel für eine Taxifahrt?« Rod läuft mit ausgestreckten Ar-
men um das Taxi herum, als wäre er zutiefst erleichtert, und umarmt
mich. Ich taste ausnahmsweise nicht nach einer Waffe – wollte Rod mich
töten, hätte er Stunden zuvor die bessere Gelegenheit gehabt.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Rod«, sage ich. Ich bin tatsächlich erfreut,
welch positive Wendung dieser Abend genommen hat.
»Da ist noch etwas, Joe.«
»Ich weiß. Ich werde Mrs Moody ausrichten, dass Sie sie vermissen.«
»Nein, das meine ich nicht. Eine weitere Information. Die Wohnung
war vollgestopft mit kniehohen Papierstapeln.«
»Welche Wohnung?«
»Die Wohnung, die Clyde heimlich angemietet hatte und in der wir die
von mir entwendeten Dokumente sortierten.«
16
JOSEF-SCHNEIDER-PLATZ 4

Die Nachricht, dass Clyde heimlich eine Wohnung angemietet hatte, um


mit Rod die gestohlenen Dokumente für den Versand vorzubereiten, löst
in Geheimdienstkreisen dieselbe Reaktion aus wie ein Vortrag des Enter-
tainers Johnny Carson: Belustigung.
»Er hat eine Wohnung angemietet?«, fragt ein Mitarbeiter der Wa-
shingtoner Außenstelle, der mich extra wegen dieser in meinem FD-
302-Formular aufgeführten Information anruft, ungläubig. »Vielleicht
hat es sich in Tampa noch nicht herumgesprochen, Joe: Spione mieten
keine Wohnungen.«
»Kniehohe Stapel gestohlener Dokumente?«, erkundigt sich ein ande-
rer Kollege aus Washington per Fax. »Ihre Beschreibung klingt, als hätten
diese Kerle einen Versandhandel à la Neckermann betrieben.«
Nachdem ich die Information weitergegeben habe, dass Rod Fotografi-
en der entwendeten Dokumente in Videos von Disney-Filmen montierte,
erhalte ich die Rückmeldung, dass ich – wie Rod – wohl inzwischen zu vie-
260

le Märchenfilme gesehen hätte, da ich dieser Behauptung Rods überhaupt


Glauben schenkte. Meine Nachricht, dass Rod einen Aktenkoffer entwi-
ckelt (wenn auch niemals konstruiert) hatte, mit dessen Hilfe man diese
Videos in Sekundenschnelle vernichten konnte, indem man sie zwischen
zwei Magneten durchzog – der Fachbegriff lautet »Entmagnetisierung« –,
sorgt für weitere Erheiterung: »Oh, dieser Kerl ist ein wahrer Edison!«
Man sollte meinen, die Information, dass Rod eines Tages ein Black
Book auf dem Boden der Wohnung liegen sah, würde bei der Army
höchste Bestürzung auslösen, schließlich haben die Black Books für das
Militär denselben Stellenwert wie der tägliche Bericht der Geheimdiens-
te für den Präsidenten: Sie enthalten aktuelle Satellitenbilder, Mitschnitte
von Telefonüberwachungen und andere streng geheime Informationen,
die für die Befehlshaber an den Kriegsschauplätzen der Welt von zentra-
ler Bedeutung sind. In den Reaktionen, die ich auf diese Nachricht erhal-
te, zeigt sich die Army jedoch völlig unbeeindruckt: Black Books, so heißt
es, verschwinden nicht, und sie landen auch nicht in einer von Spionen
gemieteten Wohnung auf dem Fußboden.
Als ich der CIA mitteile, dass Ramsay und Conrad ihre reiche Aus-
beute an entwendeten Dokumenten nutzten, um andere Geheimdiens-
te hinters Licht zu führen, schüttelt man dort angesichts der Implikati-
on, dass die beiden für mehrere Auftraggeber gearbeitet haben könnten,
den Kopf. Als ich der Behörde von der als »DAVID« bezeichneten Ak-
tion erzähle, bei der sich Conrad Rods Angaben zufolge als Mitarbeiter
des tschechischen Geheimdienstes ausgab und der CIA für ein Entgelt
von 120 000 Dollar einige dieser Dokumente verkaufte, schlägt mir gro-
ße Empörung entgegen.
Eine Zeit lang sind diese Reaktionen durchaus amüsant, doch die ›ge-
heime Wohnung‹ droht, sich zu einem Mühlstein um meinen Hals zu
entwickeln – sie scheint zu beweisen, dass mich Rod getäuscht und mir
seine Geschichten nur erzählt hat, damit ich mich immer wieder mit ihm
treffe, ihm Abendessen spendiere und ihm ein guter Kumpel bin.
In dieser Situation ist es wenig hilfreich, dass Rod sich trotz seines
guten Gedächtnisses nicht an die Lage der von Clyde gemieteten Woh-
nung erinnern kann. Ein noch größeres Problem sind die Hilfsquellen
des FBI: Auf meine Bitte, einen Stadtplan von Bad Kreuznach zugesendet
zu bekommen, erhalte ich von der Washingtoner Außenstelle eine zer-
261

schlissene, 25 Jahre alte Broschüre des deutschen Fremdenverkehrsamts.


Diese enthält eine winzige Karte, die von Anzeigen von Hotels und Res-
taurants – vermutlich überteuerte Urlauberfallen – umringt ist. Ich kann
kaum glauben, dass Washington kein besseres Material besitzt.
Außerdem haben wir mit einem Personalproblem zu kämpfen. Rods
Sympathien für Terry Moody sind unverkennbar. Terry reduzierte ihre
Dienstfahrten jedoch, je näher der Geburtstermin rückte, und erledig-
te schließlich auf Anraten ihres Frauenarztes nur noch Büroarbeit. Susan
Langford ist für Terry eingesprungen und hat hervorragende Arbeit ge-
leistet. Sie hat mit ihrem ansteckenden Humor Situationen, in denen die
Spannung zwischen Rod und mir wuchs, entschärft. Susan hat Erfahrung
mit wichtigen Fällen, sie ist jung und steckt voller Energie, doch jedes
Mal, wenn sie mit ihrem Südstaatenakzent zu sprechen beginnt, denken
Rod und ich wehmütig an Terrys vom Mittleren Westen geprägte Aus-
sprache und ihre Bodenständigkeit zurück, die damit untrennbar ver-
bunden scheint. Fazit: Susan ist keine Mrs Moody, und das ist ein Pro-
blem. Zum ersten Mal glaube ich bei Rod eine gewisse Zielbindung zu
erkennen.
In gewisser Hinsicht wäre Rich Licht als mein Partner bei den Befra-
gungen die bessere Wahl. Rich arbeitet erst seit Kurzem in unserer Au-
ßenstelle in Tampa. Er wohnt in Orlando, wo seine Karriere beim FBI be-
gann. Falls sich Rod noch einmal mit einem akuten Problem – wie der
Infektion mit einer sexuell übertragbaren Krankheit – melden und drin-
gend Hilfe vor Ort benötigen sollte, könnte dies von großem Vorteil sein.
Für Rich spricht außerdem die Tatsache, dass er nicht nur generell ein
kluger Kopf ist, sondern ein rechtswissenschaftliches Diplom besitzt: Wer
ein Jurastudium durchlaufen hat, weiß, wie man Fragen stellt und rele-
vante Themen noch einmal aufgreift.
Allerdings haben die mit Lynn Tremaine und Terry Moody durchge-
führten Befragungen den Beweis erbracht, dass Rod bei unseren Treffen
großen Wert auf die Anwesenheit mindestens einer weiblichen Person
legt. Darüber hinaus leistet mir Rich im Büro bei der Nachverfolgung der
einzelnen Hinweise unverzichtbare Dienste. Außerdem würden meine
Kolleginnen vermutlich in Streik treten, wenn ich Rich auf meine Fahr-
ten nach Orlando mitnehmen würde: Die Leiterin des Schreibbüros hat
mir mitgeteilt, dass die weibliche Belegschaft Rich als »Traum von einem
262

Agenten« bezeichnet. Selbst mir, dem ansonsten jede Wahrnehmung für


solche Vorgänge fehlt, ist aufgefallen, dass viele der Damen Rich hinter-
hersehen, wenn er an ihren Büros vorbeiläuft. Würde ich das Schreibbü-
ro dieser Augenweide berauben, würden meine FD-Formulare wohl fort-
an im Schneckentempo abgetippt werden.
Schlussendlich besteht die Möglichkeit, dass Rod tatsächlich, wie es
der Chorus an Stimmen aus der Washingtoner Außenstelle behauptet,
mit mir gespielt und mich hinters Licht geführt hat. Vielleicht hat Rod
seine Erzählungen nur zu einer Art Weltuntergangsszenario ausgeweitet,
um meine Ermittlungsergebnisse bloßzustellen.
Susan und ich haben Rod immer wieder gebeten, sich vorzustellen,
er würde vom Eingangstor des Militärstützpunkts zu der angemieteten
Wohnung spazieren. In seinen Wegbeschreibungen ist Rod jedoch im-
mer wieder falsch abgebogen und hat uns zur Burg Sponheim, zur mittel-
alterlichen Kirche St. Nikolaus oder an irgendeinen ominösen Platz vor
der historischen Stadtmauer geführt. Selbstverständlich veranlassten die-
se Exkursionen Rod zu halbstündigen Vorträgen über die Römerstraße,
das Reich der Franken oder den Rabbiner Ephraim ben Elieser ha-Le-
wi, der im 13. Jahrhundert in Bad Kreuznach den Märtyrertod auf dem
Rad starb. Fast unerträglich waren die Abende, an denen uns diese vir-
tuellen Spaziergänge zu einem der umliegenden Weingüter führten, die
die von Rod geschätzten Rieslinge und Silvaner produzierten: Rod er-
ging sich in endlosen Beschreibungen der Rebsorten, der Bodenqualität
und allen möglichen Aspekten der Weinherstellung. Als Weinliebhaberin
schätzte Susan diese Anekdoten durchaus, aber auch ihr gelang es nicht
herauszufinden, ob Rod uns tatsächlich unabsichtlich in die Irre führte
oder ob hinter seinen falschen Wegbeschreibungen ein Täuschungsma-
növer steckte.
Mit den wenigen Adressen, an die sich Rod tatsächlich zu erinnern
glaubte, haben wir bisher nicht mehr erreicht, als einige respektable Im-
mobilieneigentümer vor den Kopf zu stoßen, die von den deutschen Be-
hörden auf unsere Bitte hin überprüft wurden. Nun stimmen die Deut-
schen in den Chorus der Washingtoner Außenstelle und der FBI-Zentrale
ein: Auch sie sind der Ansicht, dass fast alle strafbaren Handlungen, die
Rod gestanden hat, frei erfunden sind. In einem vor Kurzem aus Bonn
eingetroffenen Kommuniqué heißt es, nach Ansicht der deutschen Be-
263

hörden sei »die Tatsache unumstößlich, dass die besagte Wohnung nicht
existiert«.
»›Unumstößlich‹«, sagt Susan, als ich ihr das Fernschreiben zeige.
»Wer verwendet denn solche Wörter?«
»Es ist die deutsche Art zu sagen: ›Lasst uns in Ruhe, verschwendet nicht
unsere Zeit, eine noch deutlichere Stellungnahme folgt‹«, kläre ich sie auf.

EIN PAAR TAGE SPÄTER – ich befinde mich wegen einiger Erledigun-
gen in Orlando – bitte ich Rod um ein kurzes Treffen im Embassy Suites
Hotel, um noch einmal mit ihm über die Wohnung zu sprechen.
Rod willigt ein. Nach seinem Eintreffen erweist sich sein Erinnerungs-
vermögen als unverändert schlecht. Er zermartere sich den Kopf, erzählt
er, bei dem Versuch, sich an die Adresse zu erinnern, an die Straßenzüge
und an markante Bauten, aber er sehe nichts davon vor sich. So etwas sei
ihm noch nie passiert.
»Versuchen Sie es weiter«, fordere ich ihn auf, wohl wissend, dass ich
damit von ihm verlange, dass er mir den Strick aushändigt, mit dem er
erhängt werden wird. »Washington setzt mich mächtig unter Druck.
Man glaubt dort, die Wohnung gebe es gar nicht.«
Ich muss mich für einige Minuten entschuldigen. Obwohl ich so we-
nig esse, habe ich in letzter Zeit mit Magenproblemen zu kämpfen. Als
ich von der Toilette zurückkehre, sehe ich, dass Rod die Glastür aufge-
schoben hat und auf dem kleinen Balkon steht, auf dem noch nicht ein-
mal ein Klappstuhl Platz hat.
»Joe, ich bin bereit, von diesem Balkon zu springen, wenn ich die Leu-
te in Washington dadurch überzeugen kann, dass ich bezüglich der Woh-
nung die Wahrheit sage. Ich möchte nicht, dass irgendjemand glaubt, Sie
lügen.«
Ich bin gerührt – wie könnte ich das nicht sein? –, aber aus verschiede-
nen beruflichen und persönlichen Gründen möchte ich es nicht in mei-
nem Lebenslauf erwähnt sehen, einem Selbstmord beigewohnt zu haben
(und ich möchte nicht von der Erinnerung an ein solches Ereignis ver-
folgt werden).
»Rod, kommen Sie bitte wieder herein, und setzen Sie sich. Wir finden
schon einen Weg, diesen Verdacht auszuräumen.« Gott sei Dank kommt
Rod meiner Bitte nach.
264

Lange nachdem Rod das Hotel verlassen hat, erzählt mir der auf dem
Parkplatz für die Überwachung zuständige Kollege, dass ihm das Herz
in die Hose gerutscht sei, als er sah, wie Rod sich über die Balkonbrüs-
tung beugte. Einen Moment lang habe er gedacht, mir sei endgültig der
Geduldsfaden gerissen und ich würde Rod dazu treiben, vom Balkon zu
springen. Dieser Kommentar erschreckt mich zutiefst.
Zurück in Tampa, suche ich sofort Richs Büro auf.
»Häng dich ans Telefon, und sprich mit unserem Justizattaché in
Deutschland«, weise ich ihn an. »Wir verzichten auf die Kommunikati-
on über die Zentrale. Teile dem Attaché mit, dass es sich um mein per-
sönliches Anliegen handelt. Erkläre ihm, dass uns die mangelnde Unter-
stützung seitens der Army und der Washingtoner Außenstelle frustriert,
und bringe ihn dazu, uns eine Luftaufnahme von Bad Kreuznach zu schi-
cken.«
»Wie soll er an ein Luftbild kommen?«
»Das weiß ich nicht. Außerdem ist es mir egal. Setze ihn darauf an.«
Drei Tage später ruft mich Ed Beatty, unser Justizattaché, am späten
Vormittag aus Deutschland an.
»Es ist auf dem Weg zu Ihnen.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Ich habe über Ihre missliche Lage nachgedacht. Nach meinem High-
schoolabschluss habe ich im Straßenbau gearbeitet. Wir hatten stets Luft-
aufnahmen zur Verfügung. Also bin ich zum Bauamt gegangen und habe
für 73 Mark ein Luftbild von Bad Kreuznach erworben. Es sollte morgen
bei Ihnen eintreffen.«
»Gott schütze Sie, Ed.«
»Gott müssen Sie nicht bemühen«, erwidert Ed, »es reicht, wenn Sie
mich als Zeugen vorladen. Damit verhelfen Sie mir zu mindestens ei-
ner Woche Urlaub im sonnigen Tampa. In Bonn ist es zurzeit bitter-
kalt.«
»Ich werde Sie einen Monat lang hierherbeordern«, verspreche ich.
»Passen Sie auf sich auf, Joe. Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen
konnte.«
»Tausend Dank.«
Ein Anruf bei einem Kollegen, der sich kümmert und handelt. Warum
ist es oft so schwer, Menschen zu finden, die bereit sind zu helfen?
265

KAUM IST DAS LUFTBILD in Tampa eingetroffen, vergrößern wir es


auf die Ausmaße eines Posters und rollen es zusammen. Susan und ich
nehmen es mit nach Orlando, wo wir uns erneut im Embassy Suites Hotel
mit Rod treffen. Ich bin mir von vornherein sicher, dass unser Gespräch
diesmal sehr wenig Zeit in Anspruch nehmen wird.
Ich behalte recht. Die Hände in die Hüften gestützt, sieht sich Rod die
Aufnahme etwa zwei Minuten lang an. Dann legt er den Finger auf das
Eingangstor des Militärstützpunkts und zeichnet auf der Karte eine Stre-
cke nach. Er nennt dabei die Namen der Straßen und einiger Sehenswür-
digkeiten entlang des Wegs. Schließlich nimmt er den Wachsstift, den ich
bereithalte, starrt auf das Bild, und zeichnet einen Kreis um ein Gebäude,
das in einem ruhigen Gebiet voller Wohnhäuser zu stehen scheint. »Hier
ist es«, sagt er, »Josef-Schneider-Platz 4.« Wir alle atmen auf.
Ich umarme Rod, und Susan tut es mir gleich. »Sind Sie sich sicher?«,
frage ich.
»Absolut sicher«, erwidert Rod. »Gehen wir jetzt essen?«

ZWEI TAGE SPÄTER schicken die deutschen Behörden widerwillig ei-


nige Beamte in einem Privatfahrzeug zum Josef-Schneider-Platz 4. Als
diese in der festen Überzeugung, eine weitere falsche Spur zu verfolgen,
langsam an dem Gebäude vorbeifahren, läuft ein älterer Mann, der gera-
de in seinem Garten arbeitet, auf sie zu, stellt sich ihnen als Carl Gabri-
el Schmidt vor und überrascht sie mit der Aussage: »Ich wusste, dass Sie
mich früher oder später aufsuchen würden. Kommen Sie herein.«
Der Mann bestätigt, dass Conrad die Wohnung mietete und die
Schlösser austauschte. Später verbrachte ein »junger Freund« Conrads
(ein Mann, auf den die Beschreibung Rod Ramsays passt) viel Zeit in der
Wohnung. Dabei brannte stets helles Licht in den Zimmern.
Diese Bestätigung eines Sachverhalts, der niemandem bekannt war –
weder den deutschen Behörden noch der Army, geschweige denn der
Washingtoner Außenstelle  –, verleiht dem Fall eine weitreichendere,
noch schwerwiegendere Dimension. Man kann Rod Ramsay nicht länger
ignorieren. Mich hoffentlich auch nicht.
17
UNGLAUBLICH!

Zwei wichtige Ergebnisse:


Erstens hat Rod die Textpassage aus dem von ihm entwendeten Do-
kument korrekt aus dem Gedächtnis zitiert. Ich hatte meine Notizen in
Reinschrift gebracht und noch am selben Abend Rods Version der Army,
die über die originalen Unterlagen verfügt, zukommen lassen. Das Fern-
schreiben, das ich von der Army erhalte, beginnt mit den Worten: »Es ist
schlichtweg unglaublich …« Rod hat die Seitenzahl, die Position des Ab-
schnitts und jedes einzelne Wort exakt wiedergegeben. Als ich Koerner die
lange Textpassage, die Rod sich einprägte, während er im Hauptquartier
der 8. Infanteriedivision vor dem Kopierer stand, sowie die Bestätigung
der Army vorlege, fällt er fast vom Stuhl. Er weiß, dass man höchstens ein-
oder zweimal im Leben Menschen mit einer solchen Begabung begegnet.
Zweitens haben Susan, Terry oder wer immer mich begleiten wird,
und ich grünes Licht erhalten, in der folgenden Woche alles zu unterneh-
men, um Rod weitere Informationen zu entlocken. Die Ereignisse um die
268

­ ble-Archer-Pläne haben die Schreibtischtäter in Washington eindeutig in


A
Alarmbereitschaft versetzt. Außerdem ist die Nachricht von Rods präzisem
Erinnerungsvermögen bis ganz nach oben durchgedrungen. Auch wenn
wir keinen Überblick haben, welche Dokumente den Boden der Wohnung
bedeckten (und das vermutlich auch niemals herausfinden werden), ha-
ben sich Rods Angaben zum Josef-Schneider-Platz 4 als korrekt erwiesen.
»Wenn das alles tatsächlich passiert ist, womit haben wir noch zu rech-
nen?«, scheint die zentrale Frage zu sein, die die NSA, die CIA und sogar
die sich ansonsten gerne blind und taub stellende FBI-Zentrale beschäf-
tigt. Vielleicht kursiert auch der erschreckende Gedanke, dass diese In-
formationen erst jetzt – vier Jahre nach Beginn der Ermittlungen gegen
Conrad – ans Licht kommen.
Als der Direktor des FBI, William Sessions, im November durch unse-
re Außenstelle gewirbelt war, hatte er mich damit beauftragt, dafür zu sor-
gen, dass Rod rund um die Uhr überwacht wird. Auch wenn dieser Auf-
trag für mich zusätzliche Arbeit bedeutete, erschien er mir sinnvoll und
nachvollziehbar. Ein großer Nachteil ist allerdings, dass eine solche Über-
wachung mit horrenden Kosten verbunden ist – nicht nur angesichts der
großen Anzahl der dafür abzustellenden Mitarbeiter, sondern auch auf-
grund der Ausgaben für Übernachtungen, Mahlzeiten, Benzin etc.
In der Geschäftswelt begegnen Firmen diesem Problem, indem sie ih-
ren Angestellten Kreditkarten aushändigen. Nicht so das FBI. Unsere
Agenten benutzen ihre privaten Kreditkarten und reichen am Ende des
Monats ihre Spesenabrechnung ein. Normalerweise stellt das kein Prob-
lem dar, doch wenn zu den üblichen Ausgaben ein Einsatz dieser Größen-
ordnung hinzukommt, bricht das Buchhaltungssystem oft zusammen,
und die Zahlungen werden verspätet geleistet. Das ist auch in diesem Fall
passiert. Alle, die in die Ermittlungen involviert waren, hatten ihr Kre-
ditkartenlimit voll ausgeschöpft, ehe die FBI-Zentrale der Außenstelle in
Tampa endlich über eine telegrafische Geldanweisung 250 000 Dollar zu-
kommen ließ.
Um die Verteilung des Geldes zu beschleunigen, händigt mir Koerner
den Auszahlungsschein aus und weist mich an, die gesamte Summe in
kleinen Stückelungen von der Bank abzuholen. Mrs Moody wird mir von
Koerner mit den Worten »Knallen Sie ihn ab, wenn er sich mit dem Geld
aus dem Staub machen will« als Begleitung zugeteilt.
269

Auf dem Rückweg läuft Terry seitlich versetzt ein paar Schritte hin-
ter mir.
»Warum gehen Sie nicht neben mir?«, frage ich schließlich. »So fühlt
es sich unheimlich an.«
Terrys Antwort lautet: »Wenn ich hinter Ihnen laufe, ist es leichter, Ih-
nen in den Rücken zu schießen.«
Ich finde das nicht komisch.
Als wir am Spätnachmittag im Auto sitzen, um wieder einmal nach
Orlando zu fahren, teilt mir Terry eine weitere Hiobsbotschaft mit: Ihr
Frauenarzt hat den Termin für das Ende ihrer Dienstfahrten vorverlegt.
Ab nächster Woche wird sie nur noch Büroarbeit verrichten.

DAS ABENDESSEN ist eine traurige Veranstaltung. Rod behauptet,


schon mittags sehr viel gegessen zu haben. Als Moody sich nach kurzer
Zeit entschuldigt und die Toilette aufsucht, erkläre ich Rod, dass Moody
sich nun im Endspurt Richtung Mutterschutz befindet und dies vielleicht
unser letztes gemeinsames Treffen in Orlando sein wird. Wie erwartet,
ist Rod nach dieser Nachricht deprimiert. Es stellt sich die Frage, wie wir
seinen Gemütszustand zu unserem Vorteil nutzen können, und ich hoffe,
die Antwort parat zu haben.
Ich habe die Sitzverteilung im Hotelzimmer anders aufgeteilt: Moody
und ich nehmen auf dem Sofa Platz, Rod ist der Lehnstuhl, auf dem bis-
her Moody saß, zugedacht. Rod sitzt uns also direkt gegenüber. Mit die-
ser Aufteilung beabsichtige ich, Rod die Rolle zukommen zu lassen, in
der er sich am liebsten sieht: Professor Ramsay, Mr Intelligent.
»Rod, erzählen Sie uns von den Pershing-II-Raketen«, beginne ich das
Gespräch. »Warum waren diese Mittelstreckenraketen in Deutschland
stationiert?«
»Wie weit soll ich in die Historie eintauchen?«
»So weit, wie Sie es für nötig halten. Was meinen Sie, Agent Moody?«
Terry nickt zustimmend. Rod holt eine Zigarette hervor und öffnet
eine Dose Cola, die er der Kühlbox entnommen hat, die ich neben ihn
gestellt habe.
»Alllsooo«, sagt er mit leicht dramatischem Unterton, »die Geschich-
te beginnt mit den Sowjets. Ende der 1970er-Jahre brachte die Sowjet-
union an der westlichen Grenze ihres Staatsgebiets mehrere ballistische
270

Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 in Stellung. Diese Träger nuklearer


Sprengköpfe stellten nicht nur für mehrere europäische Städte, sondern
auch für den NATO-Stützpunkt in Großbritannien eine Bedrohung dar.
Jimmy Carter beschloss, zunächst zu versuchen, die Sowjetunion in Ver-
handlungen dazu zu bewegen, die Raketen abzuziehen. Für den Fall, dass
dieses Vorhaben misslingen sollte, sah er vor, im Gegenzug durch die Po-
sitionierung von Raketen an der östlichen Grenze Westdeutschlands eine
Bedrohung für bedeutende sowjetische Städte, Luftwaffenstützpunkte
etc. zu schaffen. Können Sie mir so weit folgen?«
»Voll und ganz«, erwidere ich. Moody bestätigt: »Ihre Erklärung ist
sehr hilfreich.«
»Sehr schön. Ronald Reagans Plan sah anders aus. Statt zu verhandeln,
wollte er die Sowjetunion in die Knie zwingen. Mitte des Jahres 1983
kündigte die NATO auf Reagans Drängen hin an, Cruise Missiles in Itali-
en und Großbritannien und Pershing-II-Raketen in Westdeutschland zu
positionieren. Am 22. November – exakt 20 Jahre nach der Ermordung
von John F. Kennedy [Rod fügt diesen Zusatz in einem Tonfall hinzu, als
würde er Almosen an Bedürftige verteilen] – stimmte die westdeutsche
Regierung der Stationierung der Raketen zu. Am nächsten Tag erreichten
die Pershing-II-Raketen deutschen Boden.«
»Wie reagierte die westdeutsche Bevölkerung darauf?«, fragt Terry. Sie
ist sich offenkundig nicht bewusst, wie zornig viele Menschen dort auf diese
Entscheidung reagiert hatten. Hätte ich diese Frage gestellt, hätte Rod mir
Naivität vorgeworfen. Nicht so bei Terry: Da sie nun vielleicht zum letzten
Mal unseren Treffen beiwohnt, zeigt sich Rod ausgesprochen tolerant.
»Sie werden nicht überrascht sein zu hören, Terry«, antwortet er mil-
de, »dass viele nicht begeistert waren, sich in unmittelbarer Nähe des nu-
klearen Schutzschilds der westlichen Welt wiederzufinden. Selbst wenn
die Sowjets keinen Erstschlag durchführen würden, bedeuteten die Ra-
keten eine Gefahr. Fehler passieren nun einmal: Warnsysteme fallen aus,
Raketen, die ihr Abschusssilo eigentlich nicht verlassen sollten, zünden
von selbst, die Handhabung radioaktiver Stoffe wird nicht korrekt abge-
wickelt ... Wenn solche Fehler passieren …«
»Dann?« Terrys Stimme klingt nun äußerst beunruhigt – wie ich her-
aushören kann, absichtlich, um Rod in seiner Rolle als Dozent weiter zu
motivieren.
271

Rod: »Dann lässt sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdre-
hen.«
Nun ist es meine Aufgabe, mich als Stimme der Vernunft einzuklin-
ken: »Richtig, richtig, wir alle haben den Film Dr. Seltsam gesehen: Ein
geistesgestörter General übernimmt das Kommando, und Major ›King‹
Kong rast, auf einer Atombombe sitzend, auf ein Angriffsziel in der So-
wjetunion zu. Im wahren Leben jedoch, Rodney [ich verleihe Rods Na-
men besondere Betonung], wurden umfangreiche Vorkehrungen getrof-
fen, um nukleare Waffensysteme ausfallsicher zu machen.«
»Das stimmt, Joe.« Auch Rod hebt meinen Namen durch Betonung her-
vor. »Absolut korrekt. Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.« Rod lacht,
bevor er fortfährt: »Um genau zu sein, verfügen Pershing-II-Raketen über
zwei zentrale Sicherheitsvorkehrungen: den Permissive Action Link (PAL),
der für das Scharfschalten der Waffe einen geheimen Code erforderlich
macht, und das Sealed Authenticator System (SAS), das vorschreibt, dass
die erforderlichen Codes in einem sicheren Safe verwahrt werden. Da die
Karten, auf denen die SAS-Codes verzeichnet sind, wie dünne Waffeln aus-
sehen, werden sie auch ›Kekse‹ genannt. Mit Oreos haben sie aber nichts
zu tun [Rods Lachen ist diesmal an Moody gerichtet]. Die Codes werden
in jenen Militärstützpunkten, die Befehlsgewalt über Atomwaffen haben,
im Allerheiligsten verwahrt: im Emergency Action Center (EAC), einem
kleinen Raum – denken Sie ans Kino, Terry, Film noir –, in dem im Krisen-
fall die Anweisungen für den Einsatz der Waffen eingehen.«
Ich: »Gab es auf dem Militärstützpunkt in Bad Kreuznach einen sol-
chen Raum?«
Rod: »Ja, selbstverständlich. Dem 8. Infanterieregiment oblag die Ver-
antwortung für den Umgang mit den nuklearen Täschchen und der Mu-
nition für die Artillerie im Falle einer Invasion von sowjetischen Panzern
in der Lücke von Fulda.«
Terry: »Täschchen?«
Rod, mit einer ausladenden Handbewegung: »Nukleare Landminen,
Terry, die in den Dörfern an der westdeutschen Grenze verteilt wurden,
ohne dass die Bewohner davon wussten.«
»Oh mein Gott!« Terry verschlägt es fast den Atem.
»Diese Verteidigungsstrategie, die den Tod von Teilen der eigenen Be-
völkerung in Kauf nimmt, wurde in Bonn entwickelt«, erklärt Rod. »Sie
272

diente als Absicherung für den Fall, dass es der NATO nicht gelingen soll-
te, die sowjetischen Panzer zu stoppen. Die Deutschen hatten sich ge-
schworen, nie wieder eine russische Besetzung zu erdulden. Nie wieder«,
fügt Rod zur Betonung hinzu.
Obwohl mir nicht einleuchtet, worauf diese Erzählung hinausläuft,
und ich bemerke, dass Moody ihr ungeborenes Baby auf die Blase drückt,
möchte ich Rod, der in diesem Thema gerade völlig aufgeht, nicht unter-
brechen.
Deshalb hake ich nach: »Damit ich es richtig verstehe, Rod: Diese nuk-
learen Landminen können durch Anwendung der PAL- und SAS-Codes
aktiviert werden?«
Rod nickt zustimmend, zieht aber auch eine Augenbraue hoch.
»Habe ich irgendetwas außer Acht gelassen?«
»Ja, eine Kleinigkeit.«
»Was denn?«
»Nicht nur die Landminen, Joe. Alle in Europa stationierten Atomwaf-
fen werden durch ein und dasselbe System gesteuert. Mit den Codes, die
die Landminen aktivieren, werden auch die Pershing-II-Raketen gezün-
det und umgekehrt.«
»Verstehe. Bei dem Raum, dem Emergency Action Center, in dem die
Codes verwahrt werden, handelt es sich vermutlich um eine Art unterir-
dischen Bunker?«
Diesmal nickt Rod, ohne eine Augenbraue hochzuziehen.
»Diese Schutzvorrichtung erscheint mir kaum ausreichend, um eine
ungewollte oder missbräuchliche Detonation der Atomwaffen zu verhin-
dern.«
»Ihnen fehlt ja auch noch das letzte Stück Information.«
»Das da wäre?«
»Die Codes werden in einem Safe verwahrt, der von zwei Personen ge-
öffnet werden muss, die unterschiedliche Zahlenkombinationen einge-
ben. Die Zugangsdaten für den Safe werden jedes Mal geändert, wenn die
im EAC diensthabenden Offiziere wechseln.«
»Aha, das klingt nach einer soliden Absicherung«, sage ich. »Damit
sollte es möglich sein, jeden Übeltäter abzuschirmen.«
»Das Sicherheitssystem ist nach menschlichem Ermessen durchaus
ausgereift«, pflichtet Rod mir bei.
273

Auch wenn Rods Schilderung relativ kompakt und übersichtlich er-


scheint, sind seit Beginn unseres Gesprächs vier Stunden vergangen.
Mein Hemd ist am Rücken völlig nass geschwitzt. (Auch darüber soll-
te ich mit einem Arzt sprechen: Ich schwitze zurzeit mehr als sonst.)
Rods schweißnassem Gesicht entnehme ich, dass er dringend zur Toi-
lette muss.
»Zeit für eine Toilettenpause«, verkünde ich. »Terry, möchten Sie zu-
erst gehen? Anschließend werde ich das Badezimmer aufsuchen.«

WÄHREND ROD IM BADEZIMMER ist, stelle ich die Möbel um, um


die alte Sitzordnung wiederherzustellen. Rod wird wie gewohnt auf dem
Sofa Platz nehmen. Für Terry stelle ich den Lehnstuhl wieder schräg ne-
ben das Sofa. Ich platziere den Aschenbecher und Rods Zigarettenschach-
tel auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa, die Kühlbox verbleibt
an ihrem jetzigen Standort. Als ich gerade den Drehstuhl vom Schlafzim-
mer hereinrolle, kehrt Rod von der Toilette zurück. Sein Gesicht ist im-
mer noch schweißnass.
»Für Terry ist es angenehmer, im Lehnstuhl zu sitzen«, erkläre ich und
weise Rod mit einer Handbewegung den Platz auf dem Sofa zu. Ich war-
te, bis Rod es sich bequem gemacht und sich eine Zigarette angezündet
hat, ehe ich das Gespräch fortsetze.
»Warum erzählen Sie Agent Moody nicht davon?«, frage ich Rod.
»Wovon?«
»Wie Sie die PAL-Codes entwendet haben.«
Meine Aufforderung basiert lediglich auf einem Verdacht, einer Ver-
mutung. Wenn ich mich irre, habe ich alles vermasselt, und wir müssen
von vorn anfangen, sofern das überhaupt möglich ist. Rods Formulie-
rung »nach menschlichem Ermessen durchaus ausgereift« hat mir jedoch
den Eindruck vermittelt, dass Rod kurz davorsteht, sich dem Gipfel sei-
ner Eitelkeit zu nähern, und wer könnte Rods Narzissmus besser zur Ent-
faltung bringen als Terry Moody? Schließlich bietet unser heutiges Ge-
spräch Rod vielleicht letztmals die Gelegenheit, sie zu beeindrucken.
Rod braucht mich – ich bin sein Freund, sein Beichtvater, sein Lebens-
berater. Terry jedoch bestätigt Rod in seiner Männlichkeit. Das Interesse,
das sie ihm entgegenbringt, ist für ihn der Beweis, dass er nicht der Ver-
sager ist, als der er sich angesichts der Tatsache, dass er monatelang in sei-
274

nem eigenen Wohnmobil betrogen wurde, fühlt. Deshalb – das erkenne


ich jetzt – hat es ihn so traurig gestimmt, als ich ihm erzählt habe, dass
Terry von unserem Fall abgezogen wurde. Ich hoffe, dass Rod der Ver-
suchung, durch das Offenbaren seines (vermutlich) größten Coups bei
Terry bleibenden Eindruck zu hinterlassen, nicht widerstehen kann. Tat-
sächlich präsentiert Rod Terry seine Taten auf dem Silbertablett.
»Sie waren dumm«, sagt er, direkt an Terry gewandt. »Und faul.«
»Wer?«, frage ich.
»Vielleicht wäre es besser«, sagt Terry mit sanfter Stimme und zu Rod
gebeugt, »Sie würden uns die Geschichte von Anfang an erzählen.«
Rod nickt zustimmend und fährt nach einer kurzen Pause fort: »Wir
hatten sowohl von den Ungarn als auch von den Tschechen erfahren,
dass die Sowjetunion großes Interesse an Informationen über das nuklea-
re Arsenal und den Entwicklungsstand der Atomwaffen in der westlichen
Welt hatte – vor allem hinsichtlich der Befehlsstrukturen, der Sicherheits-
vorkehrungen, der Kontrollfunktionen und des technischen Aufbaus.«
Meines Erachtens schwingt in Rods Stimme Erleichterung mit – Erleich-
terung angesichts der Tatsache, dass er sich eine lange im Gedächtnis ge-
tragene Last von der Seele reden kann. »Clyde hatte mich auf meine Ver-
setzung nach Heidelberg vorbereitet. Wie ich Ihnen bereits erzählt habe,
Joe, hätte ich dort auf noch sensiblere Informationen Zugriff gehabt.«
»Ich erinnere mich«, sage ich. »In Heidelberg befand sich das Haupt-
quartier der US Army für ganz Europa.«
»Genau. Ich hatte aber kein Interesse daran, nach Heidelberg zu ge-
hen. Mir gefiel es in Bad Kreuznach, und ich war gerne in Conrads Nähe.
Er brachte mir so viel bei. Außerdem gab es bei der 8. Infanteriedivision
auch viele geheime Informationen über das Atomwaffenarsenal. Also …«
»Also?«, hake ich nach.
».... befolgte ich Clydes Ratschlag. Ich zeigte Initiative und wurde selbst
zum Geschäftsmann.«
In seiner Funktion als für die Sicherung der streng geheimen Dokumen-
te zuständiger Soldat habe er gelegentlich berechtigterweise Zutritt zum
Emergency Action Center gehabt, erzählt Rod. Da er auch ohne C ­ lydes
Anleitung in der Lage gewesen sei, wertvolle Unterlagen zu identifizieren,
habe er sich beim Personal im EAC beliebt gemacht, indem er sich ihnen
für Dienstleistungen angeboten habe. Er habe für die Männer, die sich nie
275

weit von ihrer Kommunikationszentrale entfernen durften, Besorgungen


erledigt, Zigaretten gekauft und ihnen andere Gefallen getan.
Damit habe er natürlich gegen die Vorschriften verstoßen. Von den
Militärs im Emergency Action Center sei erwartet worden, dass sie das
Leben von Trappisten führten. Da Rod jedoch genügend Sicherheitsbe-
fugnisse besaß und selbst für die Archivierung sensibler Informationen
zuständig war, habe er das mit dem Regelverstoß verbundene Risiko als
gering eingestuft.
Letztendlich habe er sich auf zwei der Einsatzkräfte im EAC konzen-
triert.
»Wenn sie eine Nachtschicht hinter sich hatten, sah ich oft vor mei-
nem Dienstbeginn bei ihnen vorbei und brachte ihnen frische Brötchen.
Wenn sie von 16 Uhr bis Mitternacht Dienst hatten, versorgte ich sie mit
Kaffee. Schließlich hatten wir dieselben Sicherheitsbefugnisse, und ich
war mit der sicheren Verwahrung der Dokumente betraut. Der Alltag des
Personals im EAC ist absichtlich unerträglich langweilig gestaltet. Der
Zutritt zum Allerheiligsten war mir eigentlich nicht gestattet, doch nach
einiger Zeit spazierte ich dort nach Belieben ein und aus.«
Rods Gefälligkeiten waren natürlich nur Mittel zum Zweck. Sein Plan
ging auf: Die beiden Kontaktpersonen befriedigten bald Rods Neugier
und erläuterten ihm die Abläufe innerhalb des EAC. Sie erklärten ihm
beispielsweise die Zwei-Mann-Regel und die Funktionsweise des Safes.
Bei allen Vorgängen im Umgang mit den Atomwaffen war offensichtlich
die unverzügliche Ausführung zentral: Wenn der Befehl einging, die nu-
klearen Landminen zu aktivieren, war diesem sofort und nicht erst fünf
Minuten später Folge zu leisten. Um die Zeitspanne zwischen Befehl und
Ausführung zu minimieren, hatten die Männer ihre beiden Safeschlösser
so eingestellt, dass zum Öffnen nur noch die letzte Ziffer des Codes und
damit eine minimale Umdrehung des Schalters fehlten.
»Wie haben Sie das herausgefunden?«, frage ich.
»Ich habe mit ihnen gewettet.«
»Um welchen Einsatz?«
»Ohne Einsatz. Ich habe nur gefragt, wer von ihnen schneller ist. So-
fort war ihr Ehrgeiz herausgefordert, und sie versuchten, sich gegensei-
tig an Geschwindigkeit zu übertreffen. Sie haben vor meinen Augen die
beiden Schlösser geöffnet, und ich konnte beobachten, dass sie beide mit
276

demselben Trick arbeiteten: Sie mussten nur noch die letzte Ziffer einge-
ben.«
»Wow!«
»Beeindruckend, nicht wahr? Es war unglaublich dumm von den bei-
den, mich zusehen zu lassen.«
»Allerdings«, sage ich und male mir aus, welche Gefahren damit ver-
bunden waren.
»Zwei Tage später sah ich noch einmal bei diesen beiden Kollegen vor-
bei. Ich hielt mich so lange bei ihnen auf, bis sie eine Zigarettenpause ein-
legten. ›Ich halte für euch die Stellung‹, bot ich ihnen an. Sie waren nie
länger als sieben Minuten weg.«
Ich bin mir sicher, dass der gesamte Arbeitstag dieser Einsatzkräfte ex-
akt getaktet war.
»Ich wartete, bis die beiden zur Tür hinausgegangen waren, und  –
klick, klick – hielt keine zwei Sekunden später einen PAL-Code in mei-
nen Händen. Die Karten, auf denen diese Codes geschrieben stehen, se-
hen aus wie Kreditkarten. Ich steckte die Karte in meine Brieftasche.
Clyde war begeistert, die Ungarn waren begeistert, und im Kreml tanzte
man vermutlich eine barynya vor Freude.«
Rod erzählt, dass er auf dieselbe Art und Weise noch zwei SAS-Codes
entwendete. In der Folge erntete er, wie zu erwarten, noch mehr Lob von
Clyde, noch mehr Begeisterung seitens der Ungarn, und auf dem Roten
Platz wurde noch mehr getanzt.
Obwohl ich Rod eigentlich nicht unterbrechen möchte, kann ich nicht
mehr an mich halten: »Sie waren vor Ort, Rod, und wussten über all die-
se Dinge Bescheid. Hatten Sie keine Angst wegen der Gefahren, die sich
aus dem Verkauf dieses Materials an die Sowjetunion ergeben konnten?
Die Raketen und Landminen boten doch auch Ihnen Schutz.«
»Sie haben es immer noch nicht verstanden, Joe«, antwortet Rod. »Es
ging nie um die PAL- und SAS-Codes. Für Clyde und mich war ein po-
tenzieller Krieg nicht relevant. Wir beschäftigten uns mit Alchemie  –
wir wollten die Codes in Gold verwandeln. Die Sowjets waren bereit,
für Materialien, die mit den Atomwaffen in Verbindung standen, ein
Vermögen zu zahlen. Es ging, wie Clyde sagte, darum, das Wertvollste
auf der Welt zu verkaufen: Informationen. Die Codes waren Handels-
güter.«
277

Rod schweigt einen Moment lang, um mich das eben Gehörte begrei-
fen zu lassen. Dann wendet er sich an Moody und macht ihr ein weiteres
Präsent: »Ich habe Clyde verheimlicht, dass ich noch einen weiteren SAS-
Code besaß. Ich behielt ihn für mich.«
»Jetzt flunkern Sie aber«, erwidert Terry. Sie klingt wie eine Mutter, die
ihren Sohn durchschaut.
»Ich habe Clyde von dem zweiten Code nichts erzählt, weil ich ihn für
schlechte Zeiten aufheben wollte.«
»Haben Sie diesen SAS-Code noch?«, frage ich.
»Nein«, entgegnet Rod. »Ich habe die Karte nach meinem zweiten Ge-
spräch mit Lynn und Ihnen in kleine Stücke geschnitten und hinter dem
Wohnwagen meiner Mutter verbrannt. Ich hatte befürchtet, Sie würden
mit einem Durchsuchungsbeschluss zurückkehren.«
Rods Antwort lässt mich daran denken, dass uns die Washingtoner
Außenstelle über ein Jahr lang von diesem Fall abgezogen hatte. Wer
weiß, wie viele Beweismittel Rod in dieser Zeit, in der man in Washing-
ton nichts tat, außer die eigene Eitelkeit zu pflegen, noch vernichtet hatte.
Rod beschreibt das Feuer hinter dem Wohnwagen so detailliert, wie
es nur ein Mensch mit einem fotografischen Gedächtnis tun kann. Er
erzählt von dem Geruch, der Beschaffenheit der aufsteigenden Rauch-
schwaden und dem langsamen Schmelzen des Materials. Während ich
ihm zuhöre, ermahne ich mich selbst: ›Erinnere dich genau, Navarro,
präge dir jedes einzelnes Wort ein.‹

UM EIN UHR NACHTS schicke ich Moody ins Bett. Ich schließe hin-
ter ihr die Tür und rufe Mr Moody an, der sich bestimmt schon Sorgen
macht. (Noch vor einigen Jahren blieb auch Luciana neben dem Telefon
wach. Inzwischen scheint sie sich sicher zu sein, dass es nicht klingelt.) In
der Annahme, dass Terry früher nach Hause zurückkehren würde, sind
wir mit zwei Autos nach Orlando gefahren. Ich teile Mr Moody mit, dass
Terry im Hotel übernachten und morgens den Heimweg antreten werde.
Unserer Buchhaltung werde ich keine weiteren Kosten melden müssen,
schließlich ist die Suite bezahlt. Rod befindet sich während meines Tele-
fonats im Badezimmer – als er zurückkehrt, überreiche ich ihm eine Tas-
se frisch gebrühten Kaffee, den ich mit der im Zimmer stehenden Ma-
schine zubereitet habe.
278

»Wo ist Terry?«, erkundigt sich Rod.


»Sie hat sich hingelegt«, erkläre ich und weise mit dem Kopf auf die ge-
schlossene Schlafzimmertür. »Sie ist müde. Wir sollten leise sprechen.«
»Es war ein Spiel, Joe, ein Geschäft. Wir hatten keinerlei Absicht, den
deutschen Dorfbewohnern die Lederhosen anzuzünden.«
»Auch Spiele haben ihre Konsequenzen, Rod.«
Rod lässt sich diesen Satz etwa fünf Minuten lang durch den Kopf
gehen. Er nippt an seinem Kaffee, während neben ihm eine Zigarette
qualmt. Dann sagt er nur ein Wort, das mir durch Mark und Bein geht.
»Kryptografie.«
»Kryptografie?«, frage ich nach, obwohl ich schon eine Vermutung
habe, worauf er hinauswill.
»Die Männer, die im EAC die für die Aktivierung der Atomwaffen er-
forderlichen PAL-Codes bewachten, mussten in der Lage sein, streng ge-
heime Dokumente extrem schnell zu decodieren. In der Army wird bei
solchen Angelegenheiten selbstverständlich nur mit verschlüsselten Bot-
schaften gearbeitet. Ich habe die Männer dazu gebracht, mich in die Ge-
heimnisse der Kryptografie einzuweihen. Es war faszinierend. Ich …«
»Ja?«
»Ich erwarb weitreichende Kenntnisse über Kryptografie. Als die Män-
ner im EAC genug Vertrauen zu mir gewonnen hatten, händigten sie mir
schließlich den für die Decodierung nötigen Schlüssel aus. Er hätte längst
vernichtet werden müssen, aber die Männer scheuten sich, in die Käl-
te hinauszugehen und die Unterlagen selbst zur Verbrennungsanlage zu
bringen. Sie hatten den Schlüssel aufbewahrt und überließen es mir, ihn
zu vernichten.«
»Und Sie haben den Schlüssel gemeinsam mit Clyde …«
»An die Russen verkauft. Die Sowjets waren begeistert.«
Begeistert? Begeistert! Verdammt noch einmal! Ich stehe kurz davor,
die Kontrolle zu verlieren. Es fehlt nicht viel, und Moody wird von dem
Getöse aufwachen, aus dem Schlafzimmer eilen und den Teppich blut-
verschmiert vorfinden. Ich habe bisher nur an einem einzigem Abend ein
solch überwältigendes Bedürfnis empfunden, Rod körperlichen Schaden
zuzufügen: Bei einem der Abendessen, die unter dem Motto »Lasst uns
Rod und Joe mit Steaks mästen« gestanden hatten, hatten Rich Licht und
Marc Reeser am Nebentisch gesessen. Ich hatte sie mit nach Orlando ge-
279

nommen, damit sie einen Blick auf die Zielperson unserer Ermittlungen
werfen konnten. Rod zeigte sich von seiner schlechtesten Seite. Das väter-
liche Verhalten, das er Moody gegenüber an den Tag legte, hätte beinahe
darin gegipfelt, dass er ihr über den Kopf streichelte. Mir gegenüber zeig-
te er sich äußerst abweisend, wenn ich versuchte, seinen Monolog zu un-
terbrechen. Als ich nach einiger Zeit verstohlen zu Rich und Marc hinü-
berblickte, bemerkte ich, dass die beiden in unsere Richtung sahen und
sich schon fast von ihren Stühlen erhoben hatten. Mir war nicht bewusst,
dass ich mein Steakmesser umklammerte – bereit, damit auf Rod loszu-
gehen.
Wie an jenem Abend gelingt es mir auch heute, meinen Impuls zu un-
terdrücken – Gott sei Dank, denn Rod hat noch mehr zu erzählen.
»In der Wohnung, die Clyde heimlich angemietet hatte, lagen ver-
schlüsselte Dokumente, die nicht ich entwendet hatte. Clyde muss noch
eine andere Quelle gehabt haben, denn einige dieser Dokumente stamm-
ten nicht aus dem EAC in Bad Kreuznach.«
›Um Himmels willen‹, denke ich. ›Wie weit reicht dieser Fall denn
noch?‹
Rod sieht erschöpft aus und scheint nicht mehr weitersprechen zu wol-
len.
»Es ist schon zwei Uhr morgens«, sage ich. »Zeit für unseren Schön-
heitsschlaf.«
Als Rod seine Hand auf die Türklinke legt, kann ich nicht anders. Alte
Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.
»Noch etwas?«, frage ich.
»Wie gesagt, Joe, es war nur ein Geschäft. Es ging nur ums Geld, um
nichts anderes. Es ist mir wichtig, dass Sie das verstehen.«
Trotz meiner Müdigkeit würde ich erneut am liebsten auf ihn losge-
hen. Ich möchte nicht mit ihm zusammen in diesem Zimmer sein. Ich
möchte ihn nicht berühren. Als Rod sich zu mir umdreht, um sich mit
einem abrazo zu verabschieden, bleibt mir nichts anderes übrig, als mei-
ne Abneigung hinunterzuschlucken. Ich darf mich der Abscheu, die ich
für ihn empfinde, nicht hingeben und muss darauf vertrauen, dass meine
Magentabletten gegen die Folgen wirken.
Es ist fast drei Uhr morgens, als ich mit meiner Niederschrift fertig
bin und mich einen Moment lang zurücklehne, um das Ausmaß des heu-
280

te Gehörten zu begreifen. Wenn ich mich nicht täusche, hatten Ramsay


und Conrad die Systeme, die eine sichere Kommunikation ermöglich-
ten und den Umgang mit atomaren Waffen kontrollierten, unbrauch-
bar gemacht. Die dem Kalten Krieg zugrunde liegende Strategie der Ab-
schreckung – die von beiden Seiten signalisierte Drohung, den Gegner
zu vernichten – basierte auf Geheimhaltung und der Wahrung des Über-
raschungsmoments. Das war nun hinfällig. Allerdings sind das nur Ver-
mutungen, und FBI-Agenten lernen früh, dass man sich mit Spekulatio-
nen lächerlich macht.
Während ich Moody die Nachricht auf einen Zettel schreibe, dass ich
ihren Mann angerufen habe und nun nach Tampa aufbrechen werde, ho-
len mich die gewaltigen Anstrengungen dieses Abends ein. Da ich be-
fürchte, erneut hinter dem Steuer einzuschlafen und im schlimmsten Fall
all die heute gesammelten Informationen mit ins Grab zu nehmen, stre-
cke ich mich auf dem Sofa aus, decke mich mit einem Handtuch zu und
lösche das Licht.

AM NÄCHSTEN MORGEN betrete ich um 10:59  Uhr Koerners Büro


und lege mit dem Ausruf »Unglaublich!« mein FD-302-Formular auf sei-
nen Schreibtisch.
»Unglaublich?«, fragt Koerner und greift instinktiv nach seinen Ma-
gentabletten.
»Ich nehme nur deine Reaktion vorweg«, erwidere ich und verlasse
sein Büro.
Eine halbe Stunde später höre ich durch meine offen stehende Büro-
tür, wie sich Koerner mit seinem durch seine 1,90 Meter Körpergröße be-
dingten für ihn typischen Schritt nähert. Ich setze mich auf, als er seinen
Kopf zur Tür hereinstreckt.
»Unglaublich, Navarro! Was … für … ein … Mistkerl.«

DIE NEU GEWONNENEN HINWEISE sorgen für allgemeine Auf-


ruhr – nicht weil alle den jüngsten Bekenntnissen Rods Glauben schen-
ken (in einigen Bereichen ist der Widerstand immer noch sehr groß),
sondern weil jede Information, die mit dem nuklearen Waffenarsenal in
Verbindung steht, an die Joint Chiefs of Staff weitergeleitet werden muss.
Nun verlangt auch der Vereinigte Generalstab der USA nach Aufklärung.
281

Terry und ich haben versucht, in weiteren Befragungen herauszufin-


den, ob die von Rod aufgestellte Behauptung, das im Emergency Action
Center der 8. US-Infanteriedivision beschäftigte Personal habe ihn vor-
sätzlich unterstützt, der Wahrheit entspricht und ob weitere Personen an
den geschilderten Vorgängen beteiligt waren. Rich Licht hat sich in der
Zwischenzeit seine Anwaltsrobe übergeworfen und nach Möglichkeiten
gesucht, Rod zum Beispiel durch Einberufen einer Grand Jury oder die
Zusicherung einer teilweisen Immunität dazu zu bewegen, weitere Betei-
ligte zu benennen.
Eines Morgens skizziert er uns mehrere Wege, doch ich lehne sie alle
ab.
»Warum?«, fragt er ein wenig beleidigt.
»Selbst wenn diese Möglichkeiten zum Erfolg führen, dauert ihre Um-
setzung viel zu lange. Außerdem sind zu viele Unwägbarkeiten damit ver-
bunden.«
Terry, die noch an den Ermittlungen beteiligt ist, aber keine Dienst-
fahrten mehr unternimmt, äußert sich ebenfalls ablehnend: »Rod wird
keine Namen nennen. Ich denke, es ist ihm auf gewisse Art und Weise be-
wusst, dass er zu einer Haftstrafe verurteilt werden wird, doch er möch-
te nicht, dass ihm irgendjemand aufgrund seiner Zeugenaussage nach-
folgt. Jedes Mal, wenn wir uns bei Rod nach Personen erkundigen, die
mit ihm zusammengearbeitet haben, erzählt er uns von deren Lebensstil,
berichtet, dass sie Drogen genommen haben, bezeichnet sie als Clydes
Poker-Pokerspieler oder liefert uns irgendeine andere Umschreibung,
aber er nennt keine Namen – es sei denn, sie stehen in Zusammenhang
mit einem weit zurückliegenden kleineren Vergehen wie dem Verkauf
von Benzingutscheinen. Auch wenn Rod eine verzerrte Wahrnehmung
von Recht und Unrecht hat, scheint er seinen Freunden gegenüber loy-
al zu sein.«
Reeser stimmt zu: »Moody hat recht. Wenn Rod die Absicht hätte, Na-
men zu nennen, hätte er es schon längst getan.«
»Das heißt also, wir kommen in diesem Punkt nicht weiter?«, frage ich
ungeduldig.
»Warum setzen Sie nicht Ihren Voodoozauber ein?«, meint Marc.
»Wenn Rod sich nicht explizit äußert, könnten Sie doch die Namen durch
die Analyse seiner Körpersprache aus ihm herauslesen.«
282

Ich bemerke, dass Rich auf diesen Vorschlag hin ein Grinsen unter-
drückt. Außerdem bin ich mir sicher, dass Marc das Thema Körperspra-
che nur angeschnitten hat, um unserem Meeting ein Ende zu setzen, da-
mit er rechtzeitig bei seinem Eishockeyspiel um 16:30  Uhr erscheinen
kann. Da ich mich aber mit der Analyse von Körpersprache beschäftige,
seit ich 1975 die Utah Police Academy verlassen habe, bin ich mir sicher,
dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist, diese Technik in vollem
Umfang bei Rod anzuwenden.
»Marc, treten Sie mit der Army in Kontakt. Jetzt. Sofort. Ich möch-
te eine Liste mit den Namen aller Personen, die in der Zeit, in der Rod
bei der 8. Infanteriedivision in Bad Kreuznach war, im Emergency Ac-
tion Center gearbeitet haben. Und ich möchte eine Liste mit den Namen
aller Personen, von denen bekannt ist, dass sie in enger Verbindung zu
Ramsay standen«, befehle ich.
»Was haben Sie vor, Joe?«, fragt Moody. »Rod wird niemanden verraten.«
»Nicht bewusst, da stimme ich Ihnen zu. Unbewusst wird er das aber
sehr wohl tun.«

MARC REESER erstellt mit der für ihn typischen enzyklopädischen Ge-
nauigkeit anhand der von der Army übermittelten Informationen eine Lis-
te mit 32 Namen. Ich schreibe die Namen einzeln auf acht mal zwölf Zen-
timeter große Karteikarten, sodass sie leicht zu lesen sind. Ich frage Rod,
ob er Lust hat, bei unserem nächsten Treffen vor dem Abendessen ein
kleines Spiel zu spielen. Die von mir vorgeschlagene zeitliche Reihenfol-
ge verwirrt Rod ein wenig – üblicherweise essen wir erst und unterhalten
uns danach. Ich führe diese Verunsicherung absichtlich herbei und ver-
traue außerdem darauf, dass Rods Begeisterung für Wettbewerbe, in de-
nen er seine Intelligenz beweisen kann, meine Arbeit erleichtert.
»Ein Spiel?« Rods Stimme am anderen Ende der Leitung verrät, dass er
sich bereits für die Idee erwärmt.
»Glauben Sie mir, es wird Ihnen gefallen.«
Bevor Rod im Embassy Suites Hotel eintrifft, stelle ich den Couchtisch
so vor das Sofa, dass Rod genau dahintersitzen wird. Meinen Drehstuhl
rolle ich näher als üblich an Rods Sitzposition heran.
»Ich erkläre Ihnen die Spielregeln«, sage ich, nachdem Rod Platz ge-
nommen hat. »Ich werde Ihnen diese Karten in schneller Abfolge zeigen
283

und möchte, dass Sie mir ein, zwei Begriffe nennen, die die Persönlich-
keit der Person beschreiben, deren Name auf der Karte steht. Sie haben
mir von diesen Leuten bereits erzählt. Mit diesem Spiel möchte ich Ihr
Erinnerungsvermögen testen. Antworten Sie bitte kurz und knapp. Am
besten nennen Sie die Charaktereigenschaft, die Ihnen als Erstes einfällt:
netter Kerl, Vollidiot, verklemmt, Snob, Abschaum, was auch immer – sa-
gen Sie aber nur ein, zwei Wörter. Führen Sie nur Charakterzüge oder Ei-
genheiten an, und lassen Sie die Frage, ob die jeweilige Person beteiligt
war, außer Acht. Verstanden?«
»Verstanden. Legen wir los!«, erwidert Rod wie ein kleiner Junge, der
sich begeistert zu einem Wettrennen auf dem Schulhof verabredet hat.
Auch ich brenne darauf, dieses Spiel durchzuführen  – natürlich aus
ganz anderen Gründen. Mit dem Wissen, dass Rod statt von ›Spionage‹
stets von ›Beteiligung‹ spricht, habe ich bei meiner Erklärung der Spiel-
regeln meine Worte sorgfältig gewählt. Indem ich ihn aufgefordert habe,
nicht an die Beteiligung der jeweiligen Person zu denken, habe ich ihn
dazu veranlasst, genau das zu tun. Unser Gehirn konzentriert sich grund-
sätzlich eher auf die Themen, von denen man gesagt hat, sie sollten kei-
ne Rolle spielen.
»Gut«, erwidere ich. »Fangen wir an.«
Ich zeige Rod jede einzelne Karte gerade so lange, dass er den Namen
lesen kann – kaum länger als eine Sekunde. Da ich keinen halben Meter
von ihm entfernt sitze, kann ich sein Gesicht und vor allem seine Augen
genau beobachten. Für Rod ist diese Aktion nichts anderes als ein Spiel,
bei dem sein Erinnerungsvermögen auf die Probe gestellt wird. Für ihn
steht die Geschwindigkeit im Mittelpunkt. Für mich nicht.
Ich greife auf Verhaltensweisen zurück, die schon die Hominiden zeig-
ten, die vor 3,5 Millionen Jahren in Afrika lebten. Wenn unsere Vorfah-
ren in der Ferne etwas Bedrohliches sahen – zum Beispiel einen Löwen
oder ein Rudel Hyänen –, verengten sich ihre Pupillen. Wie allen Säuge-
tieren ist uns dieser unwillkürliche Reflex aus guten Gründen noch heute
zu eigen: Je kleiner die Pupille ist, umso präziser und klarer können wir
ein Objekt erkennen. Deshalb können Menschen, die eine Lesebrille be-
nötigen, im Notfall auf ein Hilfsmittel ausweichen: Wenn man in ein Blatt
Papier ein winziges Loch stanzt, sieht man durch dieses Loch hindurch
ebenso scharf, als würde man Augengläser tragen. Auch die Technik, mit
284

der sich an einem Fotoapparat die Tiefenschärfe einstellen lässt, arbeitet


nach dem Prinzip einer sich verengenden Pupille.
Den meisten Menschen ist nicht bekannt, dass auch zu Papier gebrach-
te Wörter eine Bedrohung darstellen können. Unser Gehirn arbeitet mit
heuristischen Verfahren: Es nimmt gewissermaßen Abkürzungen vor,
um möglichst schnell von einer Information zu einer Schlussfolgerung zu
gelangen. Außerdem unterscheidet es nicht zwischen einem konkreten
Objekt und der Repräsentation dieses Objektes, also zum Beispiel dem
Wort, mit dem das Objekt bezeichnet wird. Unser evolutionäres Erbe be-
fiehlt uns, uns jeder Bedrohung möglichst schnell zu entziehen, damit die
Wahrscheinlichkeit des Überlebens steigt. Sollte einer der auf den Kartei-
karten verzeichneten Namen für Rod eine Bedrohung darstellen – zum
Beispiel, weil die betreffende Person an der Verschwörung beteiligt war,
weil sie gegen ihn aussagen könnte, weil sie etwas beobachtet hat oder
weil sie in irgendeiner Form mit ihm kooperierte –, werde ich es an sei-
nen Pupillen ablesen können.
Bei 30 der Namen, die ich Rod in rascher Abfolge präsentiere, zeigen
seine Pupillen keinerlei Reaktion. Er scheint alle genannten Personen zu
kennen, und seine Kommentare reichen von »cooler Typ« über »absolu-
ter Mistkerl« bis zu »strohdumm«: Bei den Namen Jeffery Gregory und
Jeffrey Rondeau blinzelt Rod leicht, und seine Pupillen ziehen sich kaum
merklich zusammen. Dieses Signal reicht mir aus – ich nehme die Cha-
rakterbezeichnungen, die er für diese beiden Personen anführt, gar nicht
mehr wahr.
Zurück in Tampa, bitte ich die Army, die Akten von Rondeau und Gre-
gory hervorzuholen und mir die Ausweisfotos dieser beiden Männer zu
schicken. Einige Tage später konfrontiere ich Rod in Zimmer 316 des
Embassy Suites Hotel mit den Bildern.
»Glauben Sie, Sie sind der Einzige, der uns hilft?«, fordere ich ihn her-
aus und lege ihm die Fotos von Gregory und Rondeau vor. Rod sieht sich
die Bilder einen Moment lang an und kneift wie Clint Eastwood in ei-
nem Italowestern vor Verachtung seine Augen zusammen. Dann spru-
delt es ungebremst aus ihm heraus: »Diese Hurensöhne!« Sofort erzählt
er mir alles über die beiden Männer – wie er sie dazu brachte, ihn mit
geheimen Informationen zu versorgen, dass sie für ihn unterzeichneten,
damit nicht nur seine Unterschrift auf der Ausgabeliste der Dokumente
285

erschien, dass sie als Wachposten dienten und ihm dabei halfen, die Un-
terlagen aus dem Archiv zu schmuggeln oder sie zu verstecken.
»Diese Männer«, betont er, »haben mir dabei geholfen, eine Tonne an
Dokumenten wegzuschaffen. Eine Reisetasche hätte kaum gereicht.«

ALS MARC REESER am nächsten Tag das Büro betritt, teile ich ihm so-
fort die Neuigkeit mit: Gregory und Rondeau identifiziert und enttarnt.
»Vielen Dank auch noch«, füge ich hinzu.
»Wofür?«
»Für die Anregung, ich solle meinen ›Voodoozauber‹ anwenden. Ich
nehme an, Sie machen nun keiner Witze mehr darüber?«
»Nur hinter Ihrem Rücken, Navarro, nur hinter Ihrem Rücken.«
18
MANSCHETTEN UND HOSENTRÄGER

ALS WIR ZU VIERT das J. Edgar Hoover Building, die an der Penn-
sylvania Avenue in Washington, DC, gelegene Zentrale des FBI, be-
treten, denke ich einen Moment lang an einen alten Western, in dem
die Gesetzestreuen (das sind natürlich wir – bekleidet mit weißen Hü-
ten) am Ende einer staubigen Straße stehen, bereit, es mit der gesam-
ten korrupten Stadt aufzunehmen. Die Vorstellung liegt nahe, schließ-
lich tragen wir alle, wie es von FBI-Agenten auf Reisen erwartet wird,
verdeckt eine Waffe. Tatsächlich aber sind wir in friedlicher Absicht
gekommen.
Jay Koerner, der unsere Delegation anführt, ist in eines der oberen
Stockwerke gegangen. Er lässt seine Kontakte spielen, damit wir den Fall
Ramsay weiter vorantreiben können. Ich rechne mit guten Ergebnissen
und bin froh, dass Jay so viel Einsatz zeigt. Koerner ist in einer einzigar-
tigen Position: Er genießt in der Zentrale großen Respekt, hat selbst aber
keinerlei Absicht, in dem beeindruckenden Gebäude ein Büro zu bezie-
288

hen. In Washington lässt sich viel erreichen, wenn die Kollegen dort wis-
sen, dass man nicht an ihren Stühlen sägt.
Auf mein Drängen hin sind Susan Langford und Rich Licht mit von
der Partie. Mit dem Fall Ramsay ist Susan erstmals in die Ermittlungen
in einem bedeutenden Spionagedelikt einbezogen. Sie zeigt großen Ein-
satz, doch ihre Unsicherheit ist ihr anzumerken. Ich hoffe, unser Aus-
flug in die geheiligten Hallen des FBI wird sie ein wenig beruhigen und
für die vor uns liegenden Aufgaben stärken. Auch Rich ist Neuling im
Bereich der Spionageabwehr, aber er lässt sich nicht so leicht aus der
Ruhe bringen. Ich habe ihm jede Menge Horrorgeschichten über den
Umgang mit der FBI-Zentrale erzählt. Nun ist es an der Zeit, dass er
den Ort des Geschehens selbst in Augenschein nimmt – vor allem das
Stockwerk, in dem die Büros der Division 5 liegen, der Abteilung für
Spionageabwehr. In diesen Räumen residieren unsere höchsten Vorge-
setzten.
Ich selbst freue mich am meisten auf den für die Mittagszeit anbe-
raumten Ausflug zum Fort Meade in Maryland, dem Hauptsitz der Na-
tional Security Agency. Wir werden dort mit einigen Mitarbeitern der
NSA sprechen. Bis dahin werde ich versuchen, mich möglichst unauf-
fällig zu verhalten und jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Trotzdem
möchte ich herausfinden, warum sich die Zentrale im Fall Ramsay ableh-
nend verhält, und hoffe dabei auf Jane Heins Hilfe.
Zunächst müssen wir im Sicherheitsbüro unsere Namensschilder ab-
holen, die uns zeitlich befristeten Zutritt gewähren – eine leichte Aufga-
be, da unser Besuch angemeldet wurde. Den richtigen Aufzug zu finden
ist weitaus schwieriger. Obwohl ich schon oft im Hoover Building gewe-
sen bin, führe ich uns den falschen Korridor entlang. Wir erreichen eine
Reihe von Fahrstühlen, die ich noch nie gesehen habe und von denen ich
nicht weiß, in welchen Gebäudetrakt sie uns bringen.
Letztendlich gelingt es uns, das Rätsel zu lösen: Ich bin einmal links
statt rechts abgebogen und zweimal rechts, statt den Weg geradeaus zu
nehmen. Das J. Edgar Hoover Building wurde im Stil des Brutalismus er-
baut. Man könnte auch sagen, es wurde bewusst hässlich gestaltet. Im In-
neren ähnelt es einer Skinnerbox, die konstruiert wurde, um zu testen,
wie gut sich Ratten auf der Suche nach einer Belohnung in einem Irrgar-
ten aus scheinbar endlosen Korridoren orientieren können.
289

Janes Büro ist so klein, dass wir vier kaum darin Platz finden. Dennoch
gelingt es ihr, dass Rich und Susan sich rasch willkommen fühlen. Um-
sichtig lädt sie uns zu einem Imbiss ein.
»Wie wär’s mit Kaffee und Gebäck?«, schlägt sie vor und führt uns zur
Cafeteria im elften Stock. Auf dem Weg dorthin nimmt sie Susan und
Rich zuliebe die Rolle einer Fremdenführerin ein. Die beiden geraten
auf der Tour, die an Bereichen vorbeiführt, die so geheim sind, dass kein
Agent sie jemals betreten wird, gehörig ins Staunen. Auch die Cafeteria
ist eine Offenbarung: Sie ist zur Frühstückspause bevölkert von sorgfältig
frisierten Agenten in makellosen Anzügen. Unter deren Jacketts spitzeln
bunte Hosenträger und an den Ärmeln französische Manschetten hervor.
»Sind wir hier auf einer Modenschau?«, fragt Rich.
»Ein lehrreicher Anblick«, erwidere ich. Susan und Rich an den Ar-
men berührend, frage ich: »Was tragen all diese geschniegelten Agenten
nicht?«
Rod benötigt nur eine Sekunde, um die richtige Antwort zu finden:
»Gürtel. Halfter. Hier trägt niemand eine Waffe.«
»Von diesen Jungs wechselt auch keiner seine Autoreifen selbst«, meint
Susan mit Blick auf die blütenweißen Manschetten.
»Willkommen in einer Welt, in der es keine Außeneinsätze und keine
Schmutzarbeit gibt«, sage ich just in dem Moment, in dem Marc Reeser
mit dem Elan eines Eishockeystürmers auf uns zusteuert. Auch das Wie-
dersehen mit Marc ist Anlass für unseren Besuch. Marc wurde, zumin-
dest für gewisse Zeit, in die Zentrale zurückberufen, um dabei zu helfen,
das durch unsere Ermittlungen hervorgerufene finanzielle Chaos in den
Griff zu bekommen.
Nachdem ich Marc begrüßt habe, verlasse ich meine drei Kollegen, die
sich in der Warteschlange vor der Essensausgabe einreihen, und gehe zu
Jane Hein, die vor einem der sechs Meter hohen Fenster Platz genom-
men hat, die Blick auf die Ninth Street bieten. Wir sitzen mit dem Rü-
cken zum Fenster, sodass wir das sich vor uns entfaltende Panorama der
Eitelkeiten beobachten können, während wir uns über die Arbeit unter-
halten.

»FÜR EUREN BESUCH in der Satellitenstation um 13 Uhr ist alles vor-


bereitet«, erklärt Jane. ›Satellitenstation‹ ist die in Geheimdienstkreisen
290

gängige Bezeichnung für den mit Kommunikationstechnik vollgestopf-


ten Hauptsitz der NSA.
»Prima. Begleiten Sie uns?«
»Nein, ich werde nicht dabei sein. Ich habe hier zu tun. Außerdem hat
mich Jay im Anschluss an seine Termine am heutigen Vormittag um ein
Gespräch gebeten.«
In der Warteschlange scheint Marc mit vollem Körpereinsatz einen
Schlagstoß beim Eishockey vorzuführen. Susan und Rich lachen sich
schief. Die drei werden von den Umstehenden beäugt, als hätten sie einen
unflätigen Witz gemacht. Humor ist in diesem Gebäude ein Fremdwort.
»Joe«, sagt Jane und wendet sich mir zu. »Ich kann Ihnen keine Details
verraten, aber ich möchte Sie wissen lassen, dass viele meiner Vorgesetzten
und einige hochrangige Mitarbeiter in der Washingtoner Außenstelle es auf
Sie abgesehen haben. Es missfällt ihnen, dass Sie die Ermittlungen in die
Hand genommen haben. Ich möchte nichts beschönigen: Man ist erzürnt,
von Ihnen vorgeführt worden zu sein. Die Washingtoner FBI-Mitglieder
wollten sich mit dem Fall Conrad selbst ihren Lorbeerkranz verdienen. Wie
Sie wissen, bauen in Washington Karrieren auf Fällen wie diesem auf.«
»Ist das Ihr Ernst? Deshalb all der Ärger?«
Janes Nicken ist mir Antwort genug.
»Vielen Dank«, erwidere ich, »oder vielleicht auch nicht. Auf jeden
Fall möchte ich Ihnen sagen, Jane, dass wir es sehr zu schätzen wissen,
was Sie für uns auf sich nehmen. Ich werde allen Vorgesetzten in Tam-
pa mitteilen, dass Sie und Marc Reeser unsere einzigen Freunde in Wa-
shington sind und dass Sie deshalb ständig zwischen den Stühlen sitzen.
Sie haben es nicht verdient, mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert zu
werden.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich habe einen starken Über-
lebensinstinkt. Apropos: Sie haben offenbar abgenommen. Geht es Ih-
nen gut?«
»Alles in Ordnung. Sie wissen schon: Wichtige Fälle ziehen große Pro-
bleme und wenig Schlaf nach sich. Ich habe kaum Appetit. Der Ärger mit
der Washingtoner Außenstelle …«
»Ich weiß. Passen Sie auf sich auf, Joe. Immerhin sind Sie für ein gan-
zes Team verantwortlich. Wie geht es Mrs Moody? Nur noch wenige Wo-
chen bis zur Geburt, nicht wahr?«
291

Ich nicke zur Bestätigung, obwohl der Termin eigentlich noch früher
ansteht.
»Vermissen Sie sie?« Terry spricht mir leise ins Ohr.
»Sehr. Sie zählt zu den wenigen Freunden, die ich noch habe, und sie
ist eine wunderbare Arbeitskollegin.« Ich wende mich ab, da mir die Trä-
nen kommen.
»Sie ist ein Schatz«, bekräftigt Jane und legt ihre Hand auf meinen
Arm. »Lassen Sie uns gehen und Ihre Truppe einsammeln.«
In Janes Büro lasse ich Rich, Susan und Marc erläutern, welche Infor-
mationen wir von Ramsay erhalten haben und welche Beweise wir sam-
meln konnten.
Rich präsentiert die Ergebnisse von Tausenden Anfragen, die wir zur
Überprüfung der Wohnorte von Ramsay an verschiedenste Orte in den
USA, an mindestens sieben europäische Staaten und an andere Länder
gerichtet haben – von Boston über Japan und Hawaii bis nach Deutsch-
land. Dabei ist es uns gelungen zu beweisen, dass Rod tatsächlich einen
Bankraub beging, bevor er Hawaii verließ. Außerdem haben wir mü-
hevoll Unmengen an Zoll- und Einreiseformulare gesichtet, um genau
nachweisen zu können, wann sowohl Conrad als auch Ramsay in die
USA gereist sind. Die FBI-Zentrale und die Washingtoner Außenstelle
hatten sich diese Mühe nicht gemacht.
Anschließend führt Susan sowohl die Dokumente auf, die Rod nach
eigenen Angaben entwendete, als auch die Unterlagen, die dieser in der
geheimen Wohnung in Deutschland, deren Existenz mittlerweile bewie-
sen ist, entdeckte. Marc bestätigt, dass die Anzahl der gestohlenen Doku-
mente weitaus größer ist als vermutet und dass Ramsay die einzelnen Un-
terlagen korrekt beschrieben hat. Anhand der Kopien, die wir inzwischen
von der Army erhalten haben, ließ sich feststellen, dass, wie Rich es for-
muliert, Rods Beschreibungen »bis ins letzte Detail auf nahezu beängsti-
gende Weise akkurat sind«.
Rich und Marc legen des Weiteren dar, dass die von Rod geschilder-
te Methode des Dokumentenschmuggels exakt mit den Informationen
übereinstimmt, die wir von der Army sowie von den deutschen und
schwedischen Behörden erhalten haben. Außerdem ist es uns gelungen
zu beweisen, dass Conrad nach seinem Ausscheiden aus der Armee sei-
ne »Geschäfte« Ramsay übertrug. Treffen zwischen den beiden in Öster-
292

reich und an anderen Orten ließen sich belegen. Weitere Ermittlungen


ergaben, dass Conrad tatsächlich, wie von Rod angegeben, zur Weiterlei-
tung der Dokumente Videoaufzeichnungen und Fotos verwendete.
Aus dem mittlerweile nicht mehr kommunistischen Ungarn haben wir
die gesicherte Information erhalten, dass Conrad und Ramsay den un-
garischen Geheimdienst teilweise direkt belieferten. Die Tatsache, dass
Conrad in der Mitte entzweigerissene US-Banknoten und kleine Kuh-
glocken als Erkennungszeichen für die Spione einsetzte, ist insofern inte-
ressant, als uns Rod eines dieser typisch deutschen Souvenirs überlassen
hat. Diese Glocke werden wir vor Gericht präsentieren. Auch die ›Hal-
lo-Nummer‹, von der Rod angenommen hatte, dass wir sie nicht als sol-
che identifizieren würden, wird im Prozess ein weiteres Beweisstück sein.
Als Marc, Susan und Rich ihren Bericht beendet haben, bin selbst ich
von der Beweislast überwältigt.
»Sie haben all meine FD-302-Formulare gelesen«, sage ich zu Jane. »Es
steht außer Frage, dass Rod wusste, was er tat, und dass er trotz der Ge-
fahr, die diese Spionagetätigkeit für die USA bedeutete, bereit war, sei-
nen Teil dazu beizutragen. Wir müssen Ramsay verhaften, wir müssen
den Prozess vorbereiten und den United States Attorney in Tampa ein-
beziehen.«
»Langsam, Cowboy«, erwidert Jane. »Glauben Sie mir, Joe, ich versu-
che, die Verantwortlichen dazu zu bewegen, weitere Schritte einzuleiten,
aber vor allem seitens der Washingtoner Außenstelle und der Abteilung
für Innere Sicherheit ist der Widerstand groß. Sie haben keine Vorstel-
lung davon, wie sehr man sich dort gegen ein Vorankommen wehrt. Es
wird alles unternommen, unser Vorhaben zu durchkreuzen.«
»Aber warum?«, frage ich noch einmal. »Ich verstehe das einfach nicht.
Wir haben gegen Ramsay mehr in der Hand als gegen jeden anderen Spi-
on, der jemals vor Gericht stand. Rondeau und Gregory sind auf freiem
Fuß und führen nichts Gutes im Schilde. Worauf warten wir also? Wir
haben alle Informationen, die wir benötigen. Kein … Zögern … mehr!«
»Joe, bei mir rennen Sie offene Türen ein!«
»Ich weiß. Entschuldigung«, lenke ich ein. »Was ist mit den undichten
Stellen? Noch bevor die relevanten Informationen in unserer Außenstel-
le in Tampa eintreffen, haben die New York Times, die ABC und Bamford
schon darüber berichtet.«
293

»Dieser heiße Draht existiert in der FBI-Zentrale schon länger, als ich
in diesem Büro sitze. Ich bin selbst überrascht, wie viele Informationen
nach außen dringen  – immer an bevorzugte Kontakte und stets in be-
stimmter Absicht. Soweit ich es beurteilen kann, wird dagegen nichts
­unternommen.«
»Das sollte aber dringend geschehen!« Ich merke, wie ich mich schon
wieder aufrege. »Wir haben großes Glück, dass Ramsay nicht längst in
Moskau untergetaucht ist. Die Russen würden für das, was er in seinem
Gedächtnis abgespeichert hat, ein Vermögen bezahlen. Herrgott noch
einmal  – Ramsay weiß ebenso gut über die Kriegs- und Ausweichplä-
ne Bescheid wie die Generäle in Europa. Jedes Mal, wenn durch undichte
Stellen Informationen nach außen gelangen, müssen wir alles stehen und
liegen lassen und dafür sorgen, dass Rod nicht davonläuft. Ich muss dann
Rods Mutter beruhigen und Rod selbst … Jane, wir müssen diesen Kerl
hinter Gitter bringen.«
»Diese Botschaft versuche ich bei jedem Meeting zu verkaufen.«
»Es geht hier doch nicht um Staubsauger oder Kosmetikartikel, ver-
dammt noch einmal! Diese Botschaft sollte man nicht verkaufen müssen.
Es ist verrückt, dass Jay einen ganzen Vormittag damit verbringen muss,
John Dion – den zweithöchsten Mitarbeiter in der Abteilung für Innere
Sicherheit – von der Notwendigkeit zu überzeugen, zumindest Greg Ke-
hoe mit Informationen zu versorgen. Dieser Fall hat weitreichende Kon-
sequenzen. Was um alles in der Welt bewegt die Abteilung für Innere Si-
cherheit dazu, dem United States Attorney in Florida vorzuenthalten, was
in seinem Gerichtsbezirk passiert? Das ist völlig verrückt!«
Jane bleibt als Reaktion auf meinen Wutausbruch nur ein Achselzu-
cken. Ein Blick in die Gesichter von Rich und Susan verrät mir jedoch,
dass die beiden zu begreifen beginnen, wie tief dieser Sumpf von Ver-
schleierungen ist.
Ich setze noch einmal an: »Ein letzter Punkt: Wir müssen den Hin-
weisen, die nach Österreich führen, nachgehen und die Restaurants, in
denen sich Ramsay mit den Ungarn getroffen haben will, überprüfen.
Ramsay hat uns detaillierte Beschreibungen dieser Lokale geliefert, kann
sich aber nicht an alle Namen erinnern. Wir müssen beweisen, dass es
diese Restaurants tatsächlich gibt, um vor Gericht darüber sprechen zu
können.«
294

»Apropos Österreich«, sagt Jane, »Aus Deutschland sind Rechtshil-


feersuchen eingetroffen, und sowohl der Direktor als auch die Abteilung
für Innere Sicherheit haben zugestimmt, dass …«
»Dass?«
»Sie werden nächsten Monat nach Deutschland reisen und vor Gericht
aussagen, Joe.«
»Verdammt noch einmal, Jane, nein! Nein und nochmals nein! Wenn
ich das tue, werden die Zeitungen voll davon sein. Ich weiß von mei-
nem Kontakt bei der Army, dass diese Verhandlung öffentlich ist. Wenn
ich in diesen Gerichtssaal hineinspaziere, wird Rod davon erfahren. Sei-
ne Mutter auch. Außerdem werden mich die Anwälte der Verteidigung
mit Sicherheit fragen, wo die Befragungen von Ramsay stattgefunden ha-
ben und ob Ramsay verhaftet wurde beziehungsweise ob seine Verhaf-
tung ansteht. Was soll ich darauf antworten? Nein, ich werde nicht nach
Deutschland fahren, solange Sie mir nicht ausdrücklich den Befehl ertei-
len.«
»Das ist mir ein Leichtes: Agent Navarro, hiermit erhalten Sie den Be-
fehl, in der Woche vom 6. Mai in Deutschland vor Gericht auszusagen.
Gut so?«
»Bitte, Jane.«
»Joe, wenn uns der Direktor die Anweisung erteilt zu springen, dann
ist es nicht unsere Aufgabe, den Sprung zu verweigern, sondern zu fra-
gen, wie hoch wir springen sollen.«
»Ich möchte, dass offiziell zu Protokoll genommen wird, dass ich die-
ses Ansinnen ablehne und dass mein Erscheinen vor Gericht schwerwie-
gende Konsequenzen für die Geheimhaltung des Falles und unsere Si-
cherheit haben wird.«
»Ist notiert. Sie haben in diesem Punkt keine Entscheidungsfreiheit,
Joe.« Während sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbrei-
tet, fügt Jane hinzu. »Wenn Sie ausgesagt haben, reise ich Ihnen nach
Deutschland nach, und dann machen wir gemeinsam in Österreich die-
se Restaurants ausfindig.«

WIR HALTEN MIT DEM AUFZUG zunächst in dem Stockwerk an, in


dem Marcs Büro liegt, und verabschieden uns von ihm. Unten angekom-
men, steuern wir den neben dem Gebäude der Federal Credit Union ge-
295

legenen Laden der FBI Recreation Association an, damit sich Rich und
Susan mit Souvenirs eindecken können. Der Shop vertreibt von T ­ -Shirts
über Tassen und Golfbälle bis zu Handtüchern alle möglichen mit dem
FBI-Logo versehenen Mitbringsel. Ich verwerfe den Gedanken, ein
­T-Shirt für Stephanie zu kaufen, da Luciana diese Geste missverstehen
könnte: Meine Familie bekommt ein T-Shirt, das FBI bekommt mich.
Stattdessen kaufe ich einen Strampelanzug für Kleinkinder im Alter von
null bis zwei Jahren mit der Aufschrift »Junior FBI-Agent«. Nächsten
Freitag ist der errechnete Geburtstermin von Terrys Baby.
19
IN DER SATELLITENSTATION

Marc stößt einige Zeit später wieder zu uns. Wir fahren zu viert in
einem uns von der FBI-Zentrale zur Verfügung gestellten Auto zum
Hauptsitz der NSA. Unterwegs machen wir kurz zum Mittagessen halt.
Auf den Parkplatz der NSA-Zentrale zu kommen ist allein schon ein
Problem, die Zutrittsberechtigung für das Gebäude zu erhalten noch
viel mehr – vor allem wegen meiner Person. Meine Sicherheitsbefug-
nisse reichen bis in die höchsten Stufen hinauf, doch im System der
NSA bin ich als »Joseph« verzeichnet, während auf meinem Dienst-
ausweis »Joe« steht.
Eine wertvolle halbe Stunde verstreicht, doch dann ist das Problem ge-
löst. Wir erhalten Zutritt zum Allerheiligsten, werden dort von einer Frau
und zwei Männern begrüßt, erhalten die Anweisung, abgesehen von Pa-
pier und Bleistift (keine Kugelschreiber) alles zurückzulassen, und wer-
den sofort in einen peinlich sauber gehaltenen Sicherheitsraum geführt.
Nachdem sich die Tür hinter uns geschlossen hat, haben unsere Ohren
298

gerade genug Zeit, sich an den veränderten Luftdruck in dem Raum zu


gewöhnen, ehe wir weitere Instruktionen erhalten.
Bei der NSA spricht man sich ausschließlich mit dem Vornamen an.
Obwohl man uns keine Titel nennt und die drei auch keine Namensschil-
der tragen, ist eindeutig zu erkennen, dass Emily eine leitende Funktion
bekleidet. Der ältere der beiden Männer heißt Leonard, der jüngere, Hen-
ry, hat drei Bleistifte in seiner Hemdtasche stecken. Ich stelle jeden von
uns mit Vornamen, Namen und Titel vor – Special Agent und, im Falle
von Marc, Senior Research Specialist.
Emily kommt, ganz im Stil einer Führungskraft, sofort zur Sache:
»Danke, dass Sie gekommen sind. Wir wissen Ihren Besuch zu schätzen.
Natürlich sind wir sehr besorgt angesichts der mit dem Fall verbundenen
Sicherheitsbelange der NSA.«
»Natürlich.«
»Leonard und Henry sind zwei unserer führenden Techniker in die-
sem Bereich. Sie gehen Ihnen gerne bei der Überprüfung, den weiteren
Ermittlungen und der Beweisführung zu Hand. Wenn die Aussagen Ihrer
Zielperson zutreffen, sehen wir uns mit einer Situation konfrontiert, in
der die Anzahl der unterwanderten Systeme jedes bisher bekannte Aus-
maß übersteigt. Bei aller Besorgnis sind wir jedoch auch skeptisch.«
»Das wäre ich bei jeder anderen Zielperson auch«, erwidere ich, »aber
nicht bei Roderick James Ramsay.«
»Glauben Sie alles, was er sagt, Mr Navarro?«, fragt Henry. Er ist of-
fensichtlich ein Mensch, der zu Bedenken neigt, und er steht beträchtlich
unter Stress. Er hat sich an seiner linken Augenbraue fast alle Härchen
ausgezupft, die Haut darunter ist rot  – ein klares Anzeichen für seine
Nervosität.
»Nein«, erwidere ich. »Ich glaube nicht alles, was er sagt. Das ist auch
nicht meine Aufgabe. Meine Pflicht ist es, Ramsay zum Reden zu bringen,
seine Aussagen zu protokollieren und seine Angaben zu überprüfen.«
»Ich verstehe«, meint Leonard. Aus der Art, wie er sich kleidet, wie er
läuft und wie er spricht, schließe ich, dass er an die 70 Jahre alt sein muss.
Er sieht aus wie ein Mathematiker der Harvard University, der in einem
fensterlosen Raum im Kellergeschoss arbeitet – in einem Bereich, in dem
statt Whiteboards noch alte Kreidetafeln omnipräsent sind, die genauso
verschlissen sind wie seine Ärmelschoner.
299

Emily ist keine Bilderbuchschönheit. Sie wirkt sehr streng, sogar ihr
Haarknoten ist extrem eng geflochten. Ich würde vermuten, dass sie
mehrere Doktortitel besitzt, allerdings nicht in Mathematik. Vermutlich
ist sie Ingenieurin. Ich tippe darauf, dass sie ihre Ausbildung am renom-
mierten Massachusetts Institute of Technology absolviert hat. Ihre Art,
beim Sprechen kaum die Lippen zu bewegen, lässt darauf schließen, dass
sie überwiegend im Nordosten der USA gelebt hat. Ihre Körperhaltung
im Stehen – mit erhobenem Kopf und hinter dem Rücken verschränkten
Armen – deutet darauf hin, dass sie außerdem einige Zeit in England ver-
bracht hat, vielleicht als Kontaktperson beim Government Communica-
tions Headquarters, dem britischen Pendant der NSA.
»Wir haben Ihre Berichte oder, wie Sie sie nennen, FD-302-Formulare
gelesen«, sagt Henry. »Darin haben Sie Rods Schilderungen zusammen-
gefasst. Es besteht aber immer die Möglichkeit einer Fehlinterpretation.
Deshalb möchten wir Ihnen einige Fragen stellen.«
»Schießen Sie los.«
»Waren Sie vor dem Fall Ramsay schon einmal mit Ermittlungen be-
traut, die Sicherheitssysteme der NSA involvierten? Mit anderen Worten:
Wussten Sie Bescheid über den Permissive Action Link und …«
Ich unterbreche Henry sofort: »Wenn ich recht verstehe, zielt Ihre Fra-
ge darauf ab, ob meine bereits existierenden Kenntnisse über die Sicher-
heitssysteme der NSA durch irgendeinen osmotischen Vorgang in Rods
Kopf gelangt sein könnten. Habe ich die Quelle infiltriert? Eine nachvoll-
ziehbare Frage, doch die Antwort lautet: Nein. Ich hatte vor den Ermitt-
lungen im Fall Ramsay keinerlei Berührungspunkte mit Sicherheitssyste-
men der NSA. Die von mir festgehaltenen Beschreibungen wurden allein
von Rod Ramsay zur Sprache gebracht.«
Nun ergreift Emily das Wort. Sie spricht mit dem überheblichen Ton-
fall einer Akademikerin. Vermutlich fühlt sie sich allen überlegen, Henry
und Leonard eingeschlossen.
»Warum hat Ramsay Ihnen davon erzählt? Wenn dieser Mann so klug
ist, wie Sie ihn beschreiben und wie es der bei der Army durchgeführ-
te Intelligenztest zu bestätigen scheint – im Vergleich zu anderen empi-
rischen Verfahren besitzt dieser Test freilich kaum verbindliche Aussage-
kraft –, muss ihm bewusst gewesen sein, dass er Ihnen Beweise für von
ihm selbst begangene Straftaten liefert.«
300

Bevor ich antworten kann, leistet mir Rich, der mir fest versprochen
hatte, kein Wort zu sagen, Schützenhilfe: »Weil Joe respektvoll mit ihm
umgeht.«
Ich werfe Rich den gleichen Blick zu, mit dem ich als Kind von mei-
nem Vater in die Schranken gewiesen wurde, wenn ich zu überschwäng-
lich war.
»Rich hat recht. Ramsay bringt mir aber nicht nur Respekt entgegen,
er vertraut mir auch. Vermutlich bin ich der einzige Freund, den er noch
hat.«
»Ist das der einzige Grund?« Emily wirkt überrascht. Es scheint, als
würde sie Vertrauen kaum als grundlegende Motivation eines Menschen
anerkennen.
»Ich wünschte, es würde mehr dahinterstecken«, räume ich ein. »Der
einzige Grund ist aber, dass er mich mag und dass wir gut miteinander
auskommen.« Emilys Gesichtsausdruck verrät, dass diese Basis allem wi-
derspricht, was sie aus dem Fernsehen über Verhöre weiß, und vermut-
lich auch nichts mit ihrem Verständnis der menschlichen Natur gemein
hat. Bei der NSA arbeiten Mathematiker und Ingenieure – Experten im
Umgang mit Formeln und abstrakten Zusammenhängen. Von Social En-
gineering verstehen sie wenig. Würde ich Emily erzählen, dass Rods Ver-
trauen in mich zum Teil darauf basiert, dass ich ihm bei der Behandlung
seiner Gonorrhoe geholfen habe, würde sie vermutlich vor Bestürzung
den Kopf verlieren.
Leonard der Ältere, wie ich ihn insgeheim nenne, sieht von seinen No-
tizen auf und setzt das Gespräch fort. Wie beim FBI wird den Mitarbei-
tern der NSA für Befragungen ein Leitfaden an die Hand gegeben. An-
ders als die drei Mitarbeiter der Behörde, denen ich nun gegenübersitze,
habe ich es bei meinen Befragungen mit Verdächtigen und Angeklagten
zu tun.
»Rod behauptet, auf den Permissive Action Link Zugriff gehabt zu ha-
ben. Hat er Ihnen eine konkrete Beschreibung der physischen Beschaf-
fenheit dieses Systems geliefert?«
»Das hat er – seine Beschreibung liegt Ihnen vor. Wir wissen allerdings
nicht, ob sie korrekt ist. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, haben wir für
die Beweisführung um eine Kopie gebeten. Bisher haben wir jedoch noch
kein Material erhalten, das einen Abgleich ermöglichen würde.«
301

Henry blickt Rat suchend zu Emily, ehe er fortfährt. Drei Sekunden


unangenehmer Stille vergehen, bis Emily zustimmend nickt.
»Selbstverständlich haben wir die Beschreibung, die Sie uns zugesandt
haben, gelesen. Wir sind überzeugt davon, dass Ramsay die relevanten
Unterlagen und Anleitungen gesehen hat. Wurden diese Dokumente
aber tatsächlich an die Gegenseite weitergeleitet?«
»Es ist bewiesen, dass alle anderen Unterlagen, die Rod, Conrad oder
uns nicht bekannte Personen, die von den beiden beauftragt wurden,
entwendet haben, an die Gegenseite verkauft wurden, manche sogar an
mehrere Staaten. Ist Ihnen das Antwort genug?«
Meine Antwort scheint auszureichen, denn aus den Blicken, die sich
die drei Mitarbeiter der NSA zuwerfen, spricht Angst. Wenn sie ihre Kie-
fer noch stärker zusammenpressen, brechen ihnen vermutlich die Kno-
chen.
»Glauben Sie wirklich, dass Ramsay auch SAS-Codes gestohlen hat?«,
fragt Henry.
»Ja. Ich denke, das Entwenden der Codes war für Ramsay die ultimati-
ve Herausforderung. Es bot ihm die Möglichkeit, an das ganz große Geld
zu kommen. Einen der Codes behielt er als Faustpfand. Er verbrannte
ihn, weil er in Panik geriet, als ich auf der Bildfläche erschien. Er be-
schrieb den Zerstörungsprozess so genau, so detailliert und so flüssig,
dass ich keine andere Wahl habe, als ihm zu glauben, auch wenn ein Irr-
tum meinerseits fatale Folgen für meine Karriere hätte.«
Leonard ergreift erneut das Wort. Sein sanfter Tonfall sorgt auf merk-
würdige Weise für Erschauern.
»Ich muss zugeben, dass wir zuerst weder Ihrem Bericht noch Ramsays
Schilderung Glauben schenkten. Dann aber haben wir einen SAS-Code
in der von Ramsay beschriebenen Weise verbrannt. Diese Materialien
werden üblicherweise durch Schreddern oder chemische Prozesse ver-
nichtet. Wir sind der Beschreibung exakt gefolgt: Wir sind ins Freie ge-
gangen und haben ein Einwegfeuerzeug verwendet. Wir haben die Karte,
auf der der Code verzeichnet ist, in kleine Stücke geschnitten und jedes
Detail von Ramsays Schilderung nachvollzogen. Das Schmelzen der ein-
zelnen Materialien – diese Karten sind aus verschiedenen, teilweise selte-
nen Grundstoffen gefertigt – hat sich genau in der von Ramsay beschrie-
benen Weise vollzogen. Die Bestandteile verbrennen abhängig von den
302

enthaltenen Chemikalien auf unterschiedliche Art. Unserer Meinung


nach lässt sich ausschließen, dass Ramsay diesen Vorgang frei erfunden
hat.«
»Das freut mich zu hören«, erwidere ich, »da wir selbst keine Möglich-
keit hatten, diese Angaben zu überprüfen.«
»Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen«, fährt Leonard
fort. »Um ehrlich zu sein, erinnert Rods Beschreibung, wie er sich zu
dem von zwei Wärtern bewachten Sicherheitssystem Zugang verschaffte,
ein wenig an einen Hollywoodfilm. Es ist Fakt, dass außer dem berechtig-
ten Personal niemand das EAC betreten darf.«
»Es ist auch Fakt, dass niemand eine Bank ausrauben darf«, erwide-
re ich. »Niemandem ist gestattet, zu morden oder Geld zu unterschlagen
oder Kokain im Wert von Millionen Dollar über die Grenze zu schmug-
geln. Trotzdem passieren all diese Dinge immer wieder. Möchten Sie hö-
ren, was ich denke?«
Leonard nickt, ohne sich bei Emily rückzuversichern – der Luxus ei-
nes kurz vor der Pensionierung stehenden Mitarbeiters, wie ich meine.
»Ich denke, dass die Männer auf den Stützpunkten so gelangweilt sind,
dass sie alle Vorschriften über Bord werfen. Deshalb sind dort Drogen-
und Alkoholmissbrauch, Ehebruch und Bordellbesuche gang und gäbe.
Entweder ist es Rod gelungen, sich im Lauf der Zeit durch Beobachtung
die Codes für die beiden Schlösser einzuprägen, oder die beiden Män-
ner hatten tatsächlich bereits alle Ziffern bis auf die letzte eingegeben,
um im Kriegsfall den Befehl in Sekundenschnelle ausführen zu können.
In jedem Fall aber hatte Rod meiner Kenntnis nach und Ihren Ergebnis-
sen zufolge Zugang zu dem Material. Für Rod ist nicht relevant, welchen
Schaden er mit dem Verkauf dieses Materials den USA oder gar der ge-
samten westlichen Welt zugefügt hätte. Für ihn zählt allein, welchen Preis
er – in diesem Fall von den Sowjets – für das Material erhält.«
»Den Russen«, korrigiert Emily.
»Russen, Sowjets, wie auch immer – wir werden immer Feind Num-
mer eins bleiben, egal, wie dieser Staat sich letztendlich nennen wird.«
»Was ist mit dem Schlüssel für die Decodierung der Befehle?«
»Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass er ebenfalls den So-
wjets zugespielt wurde. Rod muss es ein Leichtes gewesen zu sein, ihn zu
entwenden, denn weder das Personal im EAC noch die im Kommunika-
303

tionsbereich tätigen Soldaten waren geneigt, sich im kalten Winterwetter


den Anweisungen entsprechend selbst auf den Weg zur Verbrennungsan-
lage zu machen – vor allem nicht, wenn der stets hilfsbereite Rod Ramsay
ohnehin dorthin unterwegs war.«
Es ist nicht zu übersehen, dass alle drei NSA-Vertreter inzwischen we-
sentlich beunruhigter sind als zu Beginn unseres Gesprächs. Mit Sicher-
heit hatten sie etwas anderes von mir hören wollen. Ich spiele mit dem
Gedanken, sie wegen ihrer Skepsis aufzuziehen, doch ehe ich dazu kom-
me, ergreift Emily das Wort:
»Wir sind noch nie in einem solchen Ausmaß sabotiert worden. Der
Schaden ist größer als im Fall John Walker. Walkers Spionage war für
die Navy desaströs, im Vergleich erscheint sein Vergehen jedoch trivi-
al. Nun hat die Gegenseite alles in der Hand. Wenn Ramsay die Wahr-
heit gesagt hat, können die Russen unser Kernwaffensystem bis ins Detail
analysieren.« Emilys Lippen sind rau geworden, da sie sie ständig zusam-
menpresst und mit den Händen berührt. Von ihrem Lippenstift ist nichts
mehr zu sehen.
»Die Lage ist weitaus schlimmer, Emily«, sagt Leonard und erhebt sich
von seinem Stuhl. »Die Russen können weit mehr als unser System re-
konstruieren. Da sie im Besitz des Decodierungsschlüssels sind, können
sie unsere Nachrichten lesen. Dass sie unsere Kommunikation in Echt-
zeit mitverfolgen können, ist schlimm genug. Sollte es jemals zu einer nu-
klearen Konfrontation kommen, wären die Auswirkungen katastrophal.«
Mit diesem Satz weckt Leonard die volle Aufmerksamkeit von Marc,
Susan, Rich und mir.
»Bei der Entwicklung des Systems hatten wir eine solche Situation
nicht vor Augen.« Leonard spricht mit der Kompetenz eines Mannes,
der an der Planung tatsächlich beteiligt gewesen sein mag. »Unser Fo-
kus lag auf einer raschen und reibungslosen Funktionsweise. Mit einem
gefälschten Zugangscode, der wie ein echter aussieht, wäre ein Abfeu-
ern der Waffen unmöglich. Wir wären bei einem Angriff vollkommen
wehrlos. In der jetzigen Situation ist es nicht einmal mehr nötig, Infor-
mationen aus den Militärstützpunkten herauszuschmuggeln. Die Ge-
genseite benötigt nur noch einen Spion vor Ort, der einen echten Au-
thentifizierungscode durch einen falschen ersetzt. Das ist erheblich
einfacher.«
304

Mein von Haus aus angeschlagener Magen krampft sich zusammen.


Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt, und wir haben
immer noch nicht die Erlaubnis, Rod zu verhaften.
»Dieser Mann muss sofort in Gewahrsam genommen werden«, meint
Henry. Leonard und Emily nicken.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, bestätige ich, »aber das liegt nicht in
meiner Hand.«
»Das ist uns bekannt«, sagt Emily. »Wir haben hier in Washington
zwar durchaus Einfluss auf die Strafverfolgung, sind aber gerne bereit,
nach Tampa zu reisen, um Ihnen bei der Beweisführung zu helfen, wenn
das in Ihrem Sinne ist.«
»Je mehr, desto besser«, willige ich ein, ohne eine Sekunde darüber
nachzudenken, ob Jane Hein beziehungsweise die Washingtoner Außen-
stelle Einwände hegen könnten. »Ich muss Sie allerdings darauf hinwei-
sen, dass ich in Deutschland vor Gericht aussagen muss und deshalb eini-
ge der von uns besprochenen Sachverhalte an die Öffentlichkeit gelangen
werden.«
»Warum?«
»Weil es die Wahrheit ist und weil ich möglicherweise dazu aufgefor-
dert werde, zu allen Aussagen Ramsays Angaben zu machen.«
»Das ist schlecht«, sagt Leonard und nimmt wieder Platz.
»Meinen Sie? Ich verstehe, dass Sie um den Schutz der Sicherheitssys-
teme bemüht sind. Mir ist jedoch daran gelegen zu verhindern, dass Rod
mit allen Geheimnissen, die er in seinem Gedächtnis trägt, außer Lan-
des flüchtet.«
Emily – nun wieder ganz die souveräne Führungskraft, als die sie sich
am Anfang präsentierte – legt abschließend die Marschroute fest: »Wir
fliegen nächste Woche mit einigen aufbereiteten Materialen, die wir
Ramsay vorlegen können, nach Tampa. Wir brauchen unanfechtbare Be-
weise.«
»Gerne. Rich wird Ihnen telefonisch die Kontaktdaten übermitteln.
Aber ich kann Ihnen die Mühe ersparen – wir werden alle Sachverhalte,
sofern irgend möglich, überprüfen.«
»Wir werden sehen.« Erneut zeigt sich Emily in ihrem überheblichen
Tonfall von meiner Zusicherung wenig überzeugt. Sie bedankt sich bei
uns und geleitet uns aus dem Raum.
305

WIR FAHREN AUF DEM Baltimore-Washington Parkway zurück zur


FBI-Zentrale, um den geliehenen Wagen abzugeben, als mir erneut die
Tragweite des eben Gehörten bewusst wird.
»Wie werden sie das dem Präsidenten beibringen?«, überlege ich laut.
»Und wann?«
Aus Marc spricht reiner Zynismus: »Diese Frage ist leicht zu beantwor-
ten. Sie werden es ihm sagen, sobald sie einen Weg gefunden haben, Ih-
nen die Schuld in die Schuhe zu schieben, Joe. So macht man das in Wa-
shington.«
20
MULTIPLE CHOICE

Emily nimmt an dem zugesagten Besuch in Florida nicht teil. Henry und
Leonard, die nach wie vor nur ihre Vornamen angeben, reisen zwei Wo-
chen statt eine Woche nach unserem Gespräch im Hauptsitz der NSA an.
Sie bestehen darauf, am Flughafen abgeholt zu werden. Ich leiste der Auf-
forderung Folge. Henry trägt einen feuerfesten Koffer bei sich, der aus
einem mir unbekannten Material gefertigt ist und die Grundlagen des
amerikanischen Sicherheitssystems in Form einer Fotosammlung ent-
hält. Er hat den Koffer wie in einem Hollywoodfilm mit Handschellen an
seinem Arm gesichert.
Da wir keine Zeit zu verlieren haben, steigen wir sofort in meinen Bu-
Steed, fahren nach Orlando und checken im Embassy Suites Hotel ein.
Im Aufzug äußert Henry seine Verwunderung darüber, dass ich an der
Hotelrezeption namentlich bekannt bin.
»Das ist nicht weiter überraschend«, sage ich. »Ich war in den letzten
sechs Monaten über 20-mal hier.«
308

Für die Befragung habe ich wie üblich die Suite 316 reserviert. Wir
bringen Leonard und Henry in der benachbarten Suite unter, die eine
Verbindungstür zu unserem Befragungsraum besitzt. Wir haben uns aus
drei Gründen für dieses Arrangement entschieden: Zum einen dürfen
Leonard und Henry von Rod nicht gesehen werden. Zweitens verlan-
gen es die Regularien, dass die beiden sich stets in der Nähe des Koffers
aufhalten. Drittens wurden die beiden angewiesen, Rod bei der Sichtung
des von ihnen mitgebrachten Materials weder zuzuhören noch zuzuse-
hen, da sie ansonsten vom Gericht als Zeugen vorgeladen werden könn-
ten – und daran hat die National Security Agency nicht das geringste In-
teresse.
Während Henry die Handschellen öffnet und den Koffer abnimmt, er-
zählen mir die beiden Männer, dass sie zum ersten Mal zu einem Er-
mittlungseinsatz abgestellt wurden. Da ihre Nervosität unverkennbar ist,
überlasse ich ihnen mein mit Kopfhörern ausgestattetes Walkie-Talkie,
damit sie den Überwachungsfunk abhören können. Ich weise Leonard
und Henry an, auf dem Boden sitzen zu bleiben, solange sich Rod im Ne-
benzimmer aufhält.
»Auf dem Boden?« Leonard macht sich offenkundig Sorgen, wie sei-
ne 70 Jahre alten Knochen auf diese Herausforderung reagieren werden.
»Damit Stille herrscht«, erkläre ich. »Möbelstücke knarren. Ihre Kno-
chen knacken erst, wenn sie versuchen, wieder aufzustehen.«
Dieser Kommentar bringt mir ein kleines Lächeln ein. Als ich die Suite
verlasse, erinnern mich die beiden an zwei kleine Jungen, die mit ihrem
ersten Walkie-Talkie spielen.
20 Minuten später klopft Rod an die Tür, während ich mir gerade die
Mappe mit den Fotos ansehe. Ich habe ihn erneut unter dem Vorwand,
sein Erinnerungsvermögen testen zu wollen, ins Hotel bestellt. Fast fühlt
es sich so an, als würde ich einen hungrigen Löwen mit einem saftigen
Stück Fleisch locken.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Rod.« Ich begrüße Rod wie
gewohnt mit einem abrazo und weise ihm mit der Hand seinen üblichen
Platz auf dem Sofa zu. »Mein Anliegen ist sehr wichtig und eilig.« Die-
se Worte habe ich bewusst gewählt, denn ich möchte, dass Rod sich auf
die Bedeutung und Dringlichkeit meiner Aussage konzentriert, statt sich
Spekulationen hinzugeben, was er wohl zu sehen bekommen wird.
309

»Ich möchte, dass Sie sich diese Fotografien ansehen und die Objekte
benennen, die Sie gesehen, an sich genommen, entwendet und/oder den
Ungarn ausgehändigt haben. Bitte geben Sie nur die Gegenstände an, die
Sie anhand Ihrer persönlichen Erlebnisse eindeutig identifizieren kön-
nen.«
Rod wirft mir zur Rückversicherung, dass dieses Vorhaben rechtmäßig
ist, einen fragenden Blick zu. Auf mein Nicken hin wendet er sich sofort
den Bildern zu. Die von der NSA zusammengestellte Mappe ist voll von
interessantem Material, ich selbst kann jedoch nicht beurteilen, welche
der abfotografierten Dokumente echt sind. Ich nehme an, dass die Zu-
sammenstellung Rods Neugierde kitzelt, doch er steuert zuverlässig wie
ein Radarsystem nur die richtigen Ziele an.
»Seite zwei A4, Seite drei B6, Seite vier C7«, sagt er wie aus der Pistole
geschossen, klappt die Mappe zu und geht zur Tür.
»Ich muss mich beeilen«, meint er. »Ich habe Nachtschicht.« Bei Leo-
nard und Henry würde die Beiläufigkeit von Rods Aussage mit Sicherheit
Zweifel wecken. Ich kenne jedoch Rods typische Art zu zeigen, was er
kann: Er verhält sich wie ein Schachgroßmeister, der von Tisch zu Tisch
geht und alle Gegenspieler matt setzt.
»Sind Sie sich sicher? Möchten Sie nicht noch einmal über Ihre Ant-
wort nachdenken?«, hake ich nach, während Rod noch schnell nach ei-
ner der bereitstehenden Wasserflaschen greift.
»Ich bin mir sicher. Ist zwischen uns alles in Ordnung?«
»Natürlich«, erwidere ich. Rod verlässt den Raum und setzt damit dem
bisher kürzesten Gespräch zwischen uns ein Ende. Leonard und Henry
springen vom Boden auf, als ich an die Verbindungstür klopfe. (Im Fall
von Leonard ist ›springen‹ vielleicht zu vollmundig.)
»Was ist passiert?«
»Rod hat sich die Mappe angesehen. Er hatte wenig Zeit.«
»Wie bitte? Kommt er noch einmal zurück?«
»Nicht in dieser Angelegenheit. Er muss heute Nacht arbeiten.«
Über meinen Pager erhalte ich das Signal, dass der Kollege auf dem
Hotelparkplatz die Verfolgung aufnimmt. Henry, der noch immer den
Überwachungsfunk abhört, bestätigt, dass Rod das Hotel verlassen hat.
»Was hat Ramsay denn gesagt?«
»Seite zwei A4, Seite drei B6, Seite vier C7.«
310

»Unglaublich!«, sagt Henry, während ich ihm die Mappe überreiche.


»Er hat alle drei richtig erkannt.«
»Alle drei«, bestätigt Leonard. Würde er sein Kinn noch fester an die
Brust drücken, würde er vermutlich ersticken. »Alle drei.«
»Meine Herren«, erkläre ich, bevor Henry die Mappe in seinem feuer-
festen Koffer verstauen kann, »ich weiß, dass Sie diese Materialien wieder
mitnehmen müssen, doch diese Mappe ist nun ein Beweisstück der Re-
gierung. Ich werde also zu Protokoll nehmen, dass Sie sie in Verwahrung
genommen haben, und ein Schreiben aufsetzen, in dem Sie mir per Un-
terschrift bestätigen, dass ich sie Ihnen überlassen habe. Sie müssen die
Mappe bis zum Gerichtsprozess aufbewahren. Dieses Beweisstück unter-
liegt den Bestimmungen der Zivilprozessordnung.«
»Wie bitte?«, fragen Henry und Leonard fast gleichzeitig.
»Willkommen in meiner Welt.«
Mein persönliches Interesse gilt nicht nur der Sicherung dieses Be-
weisstücks, sondern vor allem den weitreichenderen Implikationen des
soeben durchgeführten Tests. Rod hat nicht nur die Aussagen, die er vor
ein paar Wochen gemacht hat, bestätigt, sondern unsere Welt erneut auf
den Kopf gestellt, denn nun bleibt kein Raum mehr für Zweifel: Dies ist
der größte Spionagefall in der US-amerikanischen Geschichte.
21
AUS NÄCHSTER NÄHE

Bevor ich nach Deutschland reise, muss ich noch einige Dinge erledigen:
Henry und Leonard [keine Nachnamen] von der NSA noch einmal dar-
über informieren, dass Rich für die Koordination zuständig sein wird, wäh-
rend ich im Ausland bin. Seit ihrem ersten Besuch Anfang März sind die
beiden fast jede Woche nach Orlando gekommen. Jedes Mal hatten die
beiden einen neuen Test im Gepäck – wie ich annehme in der Hoffnung,
beweisen zu können, dass Rods Behauptungen, geheime Unterlagen der
NSA entwendet und an die gegnerische Seite verkauft zu haben, doch
nicht der Wahrheit entsprechen. Jedes Mal reisten sie mit langen Gesich-
tern wieder ab, immer weiter bestärkt in der Überzeugung, dass Rod die-
se Straftaten tatsächlich verübt hatte.
Meinen dreimonatigen Rückstand an Schießübungen und allen anderen
Trainingseinheiten aufholen, bevor Shirley und Brian (der Ausbilder) mich
an den Marterpfahl stellen. Unglücklicherweise misslingt dieses Vorha-
ben. Ich bewältige zwar die Aufgaben am Schießstand mit gewohnt siche-
312

rer Hand, doch als Brian mich ermahnt, mein Nahkampftraining nicht
zu vernachlässigen, herrsche ich ihn an: »Mach die Biege, und lass mich
in Frieden!« Ich bin viel zu müde und zu erschöpft, um mich mit die-
sem Kram zu beschäftigen. »Dir ist klar, dass ich diesen Vorfall melden
muss!«, meckert Brian zurück. »Mach das«, erwidere ich. »Vielleicht wer-
de ich dann von diesem Fall abgezogen und komme endlich zur Ruhe.«
Mich auf den Prozess gegen Conrad vorbereiten. Von meinen Kontakt-
personen in der Army habe ich erfahren, dass in der Anklageführung
der Staatsanwaltschaft große Lücken klaffen, die nur durch die Aussagen
Rod Ramsays gefüllt werden können. Da ich in dem Verfahren gewisser-
maßen als Rods Stellvertreter auftreten werde, liegt es an mir, die fehlen-
den Informationen beizusteuern. Eine ganze Woche lang sichte ich die
36 Ordner mit Unterlagen sowie die mehrere Hundert Seiten umfassen-
den Niederschriften von Rods Bekenntnissen, die sich in diesem Fall in-
zwischen angesammelt haben. Ich präge mir noch einmal alle Daten und
Namen ein und bereite mich auf den Prozess vor, als würde ich den Text
für eine Theateraufführung lernen. Eine Gerichtsverhandlung ist in der
Tat nichts anderes als ein Schauspiel, in dem man seine Rolle glaubwür-
dig verkörpern muss.
Rod von der anstehenden Aufgabe erzählen. Dies ist der wichtigste und
schwierigste Punkt, den ich noch zu erledigen habe. Ich habe lange da-
rüber nachgedacht, in welchem Fall die Wahrscheinlichkeit, dass Rod
die Flucht ergreift, größer ist: wenn er von Außenstehenden, zum Bei-
spiel durch die Presse oder eine uns unbekannte Quelle, davon erfährt,
dass ich in dem Prozess gegen Conrad als Zeuge aussagen werde, oder
wenn ich ihm selbst davon erzähle. Bei beiden Varianten ist das Risiko
groß: Rod spricht fließend Deutsch, Japanisch und Spanisch. Es wäre ihm
ein Leichtes, in den entsprechenden Ländern unterzutauchen, und auch
Russland böte ihm die Möglichkeit zu verschwinden. Dass Rod zu drauf-
gängerischem Verhalten und übereilten Entscheidungen neigt, hat er in
der Vergangenheit mehrfach bewiesen. Seine Sprunghaftigkeit könnte in
dieser Situation eine Flucht begünstigen. Letzten Endes beschließe ich,
ihm die Nachricht persönlich zu überbringen. Bei einem kurzen Mittag-
essen am International Drive teile ich ihm mit: »Meine Vorgesetzten ha-
ben mich angewiesen, in dem Prozess gegen Conrad als Zeuge aufzutre-
ten. Mir persönlich widerstrebt dieser Auftrag.« Ich beobachte genau, ob
313

an Rod Anzeichen von Nervosität zu erkennen sind – eine hochgezoge-


ne Augenbraue, gespitzte Lippen oder ein Hüpfen des Adamsapfels. Rod
schluckt jedoch lediglich den letzten Bissen hinunter, lehnt sich in sei-
nem Stuhl zurück und sagt: »Bringen Sie einen guten Riesling mit!« Wie
ich Emily in unserem Meeting im Hauptsitz der NSA erklärt hatte, ist das
Vertrauensverhältnis zwischen Rod und mir ausschlaggebend. Um mich
dennoch abzusichern, erteile ich Susan Langford den Auftrag, Rod wäh-
rend meiner Abwesenheit täglich anzurufen. Ich hoffe darauf, dass ihn
ihre zuckersüße Kaskade von Koseworten wie »Schätzchen«, »Honey«
und »mein Lieber« bei der Stange hält.

DER TAG MEINER ABREISE verläuft anders als geplant. Ich finde mor-
gens in der Post auf meinem Schreibtisch die Nachricht vor, dass ich zu
den nur sechs Agenten (das FBI zählt landesweit rund 12 000 Mitarbei-
ter) gehöre, die von der FBI-Zentrale in die Behavioral Analysis Unit, die
neue Eliteeinheit der Abteilung für Innere Sicherheit, berufen wurden.
Zweifellos wird mir damit eine große Ehre zuteil – mir war nicht bewusst
gewesen, dass ich auf der Auswahlliste gestanden hatte –, und meine Ab-
ordnung liefert den Beweis dafür, dass in der Vorstandsetage der gehei-
ligten Hallen wenigstens noch einer an mich glaubt oder zumindest mei-
ne Fähigkeiten zu schätzen weiß. Andererseits zieht diese neue Aufgabe
noch mehr Arbeit und noch mehr Dienstreisen nach sich und lässt mir
damit noch weniger Zeit, mich um andere Dinge, beispielsweise um mei-
ne Familie, zu kümmern. Außerdem darf ich niemandem, nicht einmal
Koerner, davon erzählen. Die Mitglieder der Behavioral Analysis Unit
sind dem stellvertretenden Direktor der Abteilung für Innere Sicherheit
beziehungsweise in dessen Abwesenheit dem Direktor selbst unterstellt.
Als ich diese Nachricht verdaut und dem stellvertretenden Direktor
meine Zusage übermittelt habe, ist es höchste Zeit, zum Flughafen auf-
zubrechen. Ich hatte geplant, zu Hause einen Zwischenstopp einzulegen,
um mein kurzes Winken, mit dem ich heute Morgen durch die Küche ge-
rauscht bin, durch einen Abschiedskuss für Luciana wiedergutzumachen.
Nun bleibt mir nur ein Anruf vom Tampa International Airport, sofern
ich noch Zeit dazu habe. Als ich meinen Koffer aus dem Wagen nehme,
fallen mir die beiden Geschenke für die am 18. April geborene Caitlyn
Moody in die Hände, die in meinem Kofferraum liegen: der Strampel­
314

anzug, den ich vor vier Wochen im Souvenirshop der FBI-Zentrale ge-
kauft habe, und eine wunderschön verpackte Schachtel von Luciana, de-
ren Inhalt ich nicht kenne.

IHOR O. E. KOTLARCHUK, der Vertreter der Abteilung für Innere Si-


cherheit, der mich auf meiner Reise nach Deutschland begleitet, scheint
die strenge Anweisung erhalten zu haben, mich davon abzuhalten, mir
selbst vor, während oder nach der Gerichtsverhandlung in die Quere zu
kommen. Bei jedem – und ich meine wirklich jedem – anderen von der
Abteilung abgestellten Anwalt wäre ich angesichts einer solchen Maßre-
gelung äußerst erbost gewesen, aber ich mag Ihor. Er ist der einzige Mit-
arbeiter in der Abteilung für Innere Sicherheit, den ich schätze, und der
einzige, der meine Anrufe erwidert. Ihor hat einen erfrischenden Humor.
Er liebt Wein, gutes Essen und Frauen – und er spricht (es sei ihm ge-
dankt) offen über die Vorgänge in seiner Dienststelle. Bis wir in Frankfurt
landen, vermittelt er mir einen guten Eindruck von den Ressentiments,
die in den vordersten Reihen der Abteilung für Innere Sicherheit gegen
mich vorherrschen, und von der Empörung, mit der man darauf reagier-
te, Greg Kehoe vor ein paar Tagen über den Fall in Kenntnis setzen zu
müssen. Letzteres überrascht kaum: Gregs Erfolgsbilanz als Staatsan-
walt ist äußerst beeindruckend, ihn einbeziehen zu müssen kommt je-
doch dem Eingeständnis gleich, die Ermittlungen selbst nicht mehr un-
ter Kontrolle zu haben.
Von Frankfurt aus werden wir zu einem Gebäudekomplex bei Koblenz
chauffiert, in dem die seit mehreren Wochen laufende Gerichtsverhand-
lung stattfindet. Einer der Ersten, die ich dort treffe, ist Garry Pepper – je-
ner Ermittler der Army, ohne den Conrad nie wegen Spionage angeklagt
worden wäre. Gary sieht aus, als wäre er noch keine dreißig Jahre alt, tat-
sächlich aber ist er ein erfahrener und ausdauernder Ermittler. Seiner Be-
schreibung der letzten Tage, in denen er als Zeuge ausgesagt hatte, ent-
nehme ich, dass wir Hand in Hand arbeiten. Gary hat jedes Detail seiner
Schilderung darauf ausgerichtet, Conrad als zentrale Figur des Spionage-
rings darzustellen, und genau das habe ich auch vor.
So weit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass die Me-
dien ausführlich über den Prozess berichten. Gary teilt mir mit, dass im
Gerichtssaal Redakteure von der New York Times, der Zeitung Stars and
315

Stripes, dem Magazin Der Spiegel, des Guardian und von Le Monde anwe-
send sein werden. Sogar das seit dem Zerfall der Sowjetunion eigenstän-
dige Russland habe einige ›Journalisten‹ entstand, die aber immer noch
wie KGB-Schergen aussähen.
»Der Prozess wird als ›der Spionagefall des Jahrhunderts‹ gehandelt«,
erzählt Gary. »Deshalb wird die Verhandlung in diesem außerhalb der
Stadt gelegenen Areal abgehalten. Dennoch werden Sie sofort Ihrer Pri-
vatsphäre und Ihrer Anonymität beraubt, sobald Sie morgen den Ge-
richtssaal betreten.«
Garys Worte sollten sich bewahrheiten.
Koblenz präsentiert sich am nächsten Tag im Morgenlicht als bezau-
bernde Stadt. Das historische Gebäude des Oberlandesgerichts zählt zu
den schönsten Sehenswürdigkeiten – es ist wunderschön nahe der Mün-
dung der Mosel in den Rhein gelegen. Einer der für mich abgestellten Be-
gleiter erzählt, dass Koblenz für gewöhnlich ruhig und beschaulich sei,
eine Enklave, in der jedermanns Privatsphäre respektiert werde. Als ich
jedoch versuche, unerkannt das Gerichtsgebäude zu betreten, höre ich ei-
nen Reporter mit unverkennbar amerikanischem Akzent rufen: »Yo, Joe,
hierher bitte!« Ich ignoriere es einfach.
Der holzvertäfelte Gerichtssaal muss mindestens 100  Jahre alt sein.
Er strahlt Würde und Erhabenheit aus. Die Anordnung der Sitzreihen
verstärkt diesen Eindruck: Anders als in amerikanischen Gerichten, in
denen sich der Richterstuhl an der Stirnseite des Raumes befindet, die
Plätze der Jury seitlich davon angeordnet sind und die Positionen der
einzelnen Parteien sich in großem räumlichen Abstand zueinander be-
finden, werden in Deutschland Fälle wie dieser vor sechs Richtern ver-
handelt, denen ein Oberster Richter vorsitzt. Die Richter wiegen die ein-
zelnen Aussagen ab und stellen zwischendurch Fragen.
Kaum habe ich mich in dem Gerichtssaal umgesehen, werde ich an
den gut besetzten Besucherreihen vorbei zum Zeugenstand geführt. Der
Mann auf dem letzten Stuhl in der linken Reihe ist so dünn und aus-
gemergelt, dass ich ihn kaum wiedererkenne. Ich war davon ausgegan-
gen, dass Clyde Conrad immer noch so blond und kräftig ist wie auf den
zahlreichen Fotos, die Rod mir gezeigt hatte. Auf diesen Aufnahmen war
mir Conrad stets wie der Geschäftsführer eines zwielichtigen Unterneh-
mens erschienen. Der Clyde Conrad, an dem ich nun vorbeilaufe, ist er-
316

graut und wiegt mindestens 15 Kilogramm weniger als auf den Fotos. Er
hat sein Kinn in einer angespannten Körperhaltung auf die Daumen ge-
stützt, seine Zeigefinger liegen über dem Mund und reichen fast bis zu
seiner Nase.
In dem Jahr, in dem ich Rod nun schon von diesem Verbrecher erzäh-
len höre, habe ich mir in meinem Kopf ein Bild von ihm als eine Art bös-
artigem Titanen gemacht. Stattdessen sieht er so unscheinbar aus wie die
Exnazis, von denen alle zehn Jahre einer verhaftet wird, weil er im Zwei-
ten Weltkrieg in einem Konzentrationslager als Aufseher gearbeitet hat.
Als ich auf dem Stuhl im Zeugenstand Platz nehme, erkenne ich, dass
ich ausreichend Gelegenheit haben werden, Conrad aus nächster Nähe
zu beobachten. In den Gerichtssälen der Vereinigten Staaten sitzen die
Zeugen und der Angeklagte so weit voneinander entfernt, dass sie sich
nicht an den Kragen gehen können. Hier in Koblenz beträgt der Abstand
nicht einmal einen Meter. Wenn sich Clyde ein wenig nach rechts und ich
mich etwas nach links lehnen würde, könnten wir uns die Hände reichen.
Neben Conrad sitzt sein Verteidiger zusammengesunken auf seinem
Stuhl. Die beiden Staatsanwälte, deren Tisch ein wenig entfernt steht, zei-
gen eine stocksteife Körperhaltung.
»Herr Navarro, würden Sie dem Gericht bitte genau schildern, in wel-
cher Form Sie in die Ermittlungen eingebunden waren?«, fordert mich
einer der Staatsanwälte auf.
Die Show beginnt: In den nächsten eineinhalb Tagen erzähle ich in
insgesamt neun Stunden die ganze Geschichte. Ich fange mit dem ers-
ten Gespräch an, das ich gemeinsam mit Al Eways exakt an dem Tag, als
Conrad verhaftet wurde, mit Rod Ramsay geführt habe. Ich berichte von
den Befragungen, die ich zusammen mit Lynn Tremaine durchgeführt
habe, und davon, dass die Ermittlungen anschließend ein Jahr lang aus-
gesetzt wurden. Ich schildere, wie Rod sich in den Gesprächen mit Terry
Moody und mir langsam öffnete – wie auf sein anfängliches Zögern im-
mer mehr Informationen folgten, bis sich die Geständnisse und Offenba-
rungen schließlich überschlugen. Ich ende mit der Beschreibung meines
letzten Kontakts mit Rod vor wenigen Tagen, bei dem ich ihm mitteilte,
dass ich nach Deutschland reisen würde.
»Wie hat Rod Ramsay auf diese Ankündigung reagiert?«, fragt Con-
rads Verteidiger.
317

»Er bat mich, ihm einen guten Riesling mitzubringen.«


Bei einem der Richter sorgt meine Antwort für Erheiterung, doch
Conrads Gesicht bleibt ausdruckslos. Ich bemerke jedoch, dass Con-
rad während meiner Aussage auf seiner linken Gesichtshälfte – der Sei-
te, die unsere Gefühle am authentischsten zum Ausdruck bringt – ab und
zu den Ansatz eines Lächeln zeigt, vor allem wenn ich Sachverhalte er-
läutere, von denen er weiß, dass sie zutreffend sind. Dieser Anflug zeigt
sich zum Beispiel bei meiner Schilderung, wie Rod von Conrad mit dem
Auftrag, ein Dokument zu entwenden, in die Kellerräume des Archivs
geschickt und anschließend durch lautes Klopfen an der Tür erschreckt
wurde. Ich erkenne deutlich, dass Conrad im letzten Moment ein Lachen
unterdrückt. Er durchlebt diesen Moment erneut und ist stolz auf die He-
rausforderung, vor die er Rod gestellt hatte.
In den neun Stunden, die ich im Zeugenstand verbringe, halte ich kei-
nen Monolog: Conrads Verteidiger, die sechs Richter und die beiden
Staatsanwälte überhäufen mich mit Fragen. Der Verteidiger scheint be-
unruhigt zu sein, weil ich keinerlei Notizen bei mir habe. Immer wieder
schreibt er hektisch meine Antworten mit und stellt mir ein oder zwei
Stunden später noch einmal dieselben Fragen, um zu prüfen, ob ich in
meiner Aussage abweichende Fakten, Uhrzeiten oder Wortlaute anführe.
Das tue ich nicht, zumindest nicht in relevanter Weise.
»Wie ist es möglich, bei einer solchen Zeugenaussage nicht auf Noti-
zen zurückzugreifen?«, ruft er an meinem zweiten Verhandlungstag aus
und hebt in einer dramatischen Geste die Arme empor. »Es ist unmög-
lich, es ist schlichtweg unmöglich!«
Ich könnte ihm erklären, warum mir dieses freie Sprechen gelingt:
nicht weil ich besonders schlau bin, sondern weil ich in den letzten zwei
Jahren mit Rods Stimme, seinen Worten und seiner Geschichte gelebt
habe. Seine Erzählungen haben sich so tief in mein Gedächtnis einge-
brannt, dass sich Luciana bereits darüber beschwert hat, dass ich im
Schlaf die Befragungen laut wiederhole. Vermutlich hat sie deshalb unse-
ren Hobbyraum in ihr Schlafzimmer umgewandelt – einer von uns muss-
te ja zur Ruhe kommen. Vielleicht gab aber auch der Umstand den Aus-
schlag, dass wir nun zu dritt im Bett waren: Luciana, Rod und ich.
Zum heikelsten Thema meiner Aussage – dem Diebstahl von Materi-
alien aus dem Emergency Action Center und der Unterwanderung der
318

Sicherheitssysteme der NSA – stellen die Richter besonders viele Fragen.


Ich habe jedoch den Eindruck, dass diese Tat ihr Vorstellungsvermögen
übersteigt. Im Grunde erscheint es ihnen undenkbar, dass es Rod gelun-
gen sein sollte, diese Dokumente und Codes zu entwenden. Wäre es mir
gestattet preiszugeben, dass die NSA bereits bewiesen hat, dass Rods Be-
hauptungen der Wahrheit entsprechen, könnten wir dieses Thema so-
fort beenden. Allerdings müsste ich dann erklären, auf welche Weise Le-
onard, Henry und andere Mitarbeiter der NSA ihren Nachweis geführt
haben und würde letztendlich in dieser öffentlichen Verhandlung streng
geheime Informationen an die Allgemeinheit kommunizieren. Dieser
Punkt geht also an Conrad. Conrads Grinsen verrät mir, dass er weiß,
dass er gerade ein Ass im Ärmel hat. Andererseits zeigt mir die Tatsache,
dass er seinen Kopf immer mehr hängen lässt, dass ihm die geringe Be-
deutung der Vorgänge im EAC für seine unmittelbare Zukunft bewusst
ist: Durch meine Zeugenaussage ist der Nachweis für den Diebstahl al-
ler anderen Dokumente erbracht – auch der Einsatz- und Ausweichplä-
ne, an deren Verkauf Conrad und Ramsay so sehr gelegen war. Die PAL-
und SAS-Codes dieser Liste hinzuzufügen würde nicht mehr bedeuten,
als noch ein paar Tropfen Öl in ein ohnehin schon flammendes Inferno
zu gießen.
Wie ich erwartet hatte, zeigt sich das Gericht von der Existenz der ge-
heimen Wohnung völlig überrascht. Meine Beschreibung scheint jeder-
manns Vorstellungsvermögen zu übersteigen. Am meisten beschäftigt je-
doch alle die Frage, warum sich Ramsay überhaupt mit mir unterhält.
Conrads Anwalt möchte wissen, ob die Regierung Rod irgendwelche
Versprechungen gemacht hat, ob er bezüglich seiner Rechte belehrt wur-
de, ob er für seine Aussagen Geld erhält, ob er mit der Staatsanwaltschaft
einen Deal ausgehandelt hat und warum er noch nicht verhaftet wurde.
Diese letzte Frage ist für mich am nervenaufreibendsten  – und für die
Besucher am spannendsten, denn alle Journalisten (auch die russischen)
zücken sofort ihre Kugelschreiber und schreiben eifrig mit.
Der Oberste Richter ist entsetzt: »Herr Navarro, Rod Ramsay befindet
sich doch sicherlich in irgendeiner Form von Gewahrsam? In Anbetracht
der Beweislast, die Sie gegen ihn vorliegen haben, ist doch gar keine an-
dere Möglichkeit denkbar!« Dieser Ausruf richtet sich nicht an mich al-
lein – er hallt im gesamten Gerichtssaal wider, denn in ganz Deutschland
319

scheint man zu verstehen, dass Rod schon lange hinter Gittern sitzen
müsste.
Was soll ich sagen? Dass rückgratlose Bürokaten aus Sorge um ihre
Karriere die Hände in den Schoß gelegt haben? Dass Rods Verhaftung
Teil eines verachtenswerten Machtkampfs zwischen der FBI-Zentra-
le, der Washingtoner Außenstelle und dem Büro in Tampa ist? Ich ent-
scheide mich, wie ich es allzu selten tue, für eine diplomatische Antwort:
»Herr Vorsitzender, bei Spionagefällen kann eine Verhaftung nur durch
den United States Attorney angeordnet werden, und dessen Entschei-
dung steht noch aus.«

NACHDEM SICH DIE RICHTER an meinem zweiten Verhandlungstag


für die von mir investierte Zeit bedankt haben, höre ich, wie sich ­Clyde
Conrad räuspert. Da ich seinem Hüsteln Bedeutung zumesse, drehe ich
mich zu ihm um. Während meiner neun Stunden im Zeugenstand konn-
te ich von Conrads Gesicht alle für einen Psychopathen typische Regun-
gen ablesen  – vom narzisstischen Frohlocken, die eigene »Genialität«
bestätigt zu sehen, über das eiskalte Starren, mit dem er mich während
kurzer Pausen oder nach besonders belastenden Aussagen bedenkt, bis
hin zu einem Blick, der vollkommene Gleichgültigkeit signalisiert und
Ausdruck jener Geisteshaltung ist, die es Menschen wie ihm ermög-
licht, ohne einen Hauch von Reue abscheuliche Verbrechen und schreck-
liche Taten zu begehen. Der Blick, mit dem er mich nun fixiert, trans-
portiert jede dieser Empfindungen: Feindseligkeit, Verachtung und die
stillschweigende Überzeugung, dass seine Persönlichkeit und sein Tun
wertvoll und anerkennenswert sind, während alles an mir nichtig ist.
Als ich den Zeugenstand verlasse, nähere ich mich Conrad bis auf we-
nige Zentimeter an. Eigentlich bietet sich mir nun die perfekte Gelegen-
heit, meinen angestauten Zorn loszuwerden, meiner Verachtung Aus-
druck zu verleihen und meinen Triumph auszukosten. Ich habe zu Ende
gebracht, was Gary Pepper begonnen hat, und meiner Einschätzung nach
werden Clyde Conrads Goldmünzen noch lange Zeit in ihrem Versteck
im Garten ruhen. »Geschieht dir recht, du Mistkerl!«, könnte ich ihm
zurufen, doch ich empfinde weder Zorn noch Freude. Als ich an Clyde
Conrad vorbeigehe, regt sich kein Gefühl in mir. Es kommt mir vor, als
wäre er schon tot.
320

DEN ABEND VERBRINGE ICH bei einem privaten Essen in netter Run-
de. Neben Gary Pepper und seinen Kollegen aus der Army sind auch ei-
nige Ermittler des Bundeskriminalamts anwesend. Ihor hat einige Fla-
schen Riesling besorgt und mir auch eine für Rod überlassen. Als wir
zusammen rund vier Liter Wein getrunken haben, lehnt sich Ihor zu mir
hinüber und sagt: »Joe, die letzten beiden Tage sind im Ergebnis rundum
beeindruckend – gute Arbeit.«
Unter den vielen Glückwünschen, die ich an diesem Abend erhalten
habe, sind mir Ihors am meisten wert – und es sind vorerst die letzten.
Am nächsten Morgen werde ich nach Österreich aufbrechen und zusam-
men mit Jane Hein die von Rod beschriebenen Restaurants überprüfen.
Da ich diese Reise nicht mit Kopfschmerzen antreten möchte, verab-
schiede ich mich von Ihor und den anderen, die auf eine lange Nacht zu-
zusteuern scheinen.
Als ich den Gebäudekomplex des Gerichts verlasse, erkundigt sich der
Angestellte am Empfang, ob ich »Herr Navarro« sei. Er gibt mir ein Fax,
das nach seinen Worten aus »Tampa in Florida, Amerika« eingetroffen
ist.
Für den Fall, dass ich meine Reaktion nicht kontrollieren kann, lese ich
das Fax erst, als ich mein Zimmer erreicht habe – eine kluge Entschei-
dung, denn tatsächlich gelingt es mir nicht, ruhig zu bleiben. Die kurze
Nachricht lautet: »Rod Ramsay ist nicht aufzufinden. Melden Sie sich so-
fort im Büro.«
Es dauert bis zu meiner Landung am nächsten Mittag in Wien, bis
ich einen vollständigen Überblick über die Ereignisse habe: Ein für die
Überwachung Rod Ramsays zuständiger Kollege war am Orlando Inter-
national Airport einem falschen Taxi gefolgt. In der Zeit, in der sich die
Nachricht von meiner Zeugenaussage in Koblenz in der ganzen Welt ver-
breitete, war Ramsay 20 Stunden lang aus dem Blickfeld geraten. In die-
ser Zeit lag ich drei Stunden lang in meinem Bett in Koblenz in der festen
Überzeugung, einen Herzinfarkt erlitten zu haben. Ich war so erschüt-
tert und konfus, dass ich am nächsten Morgen vergaß, Rods Riesling ein-
zupacken. Als ich mich auf den Weg zum Frankfurter Flughafen machte,
ließ ich die Flasche auf dem Toilettentisch stehen.
22
ALLE AN IHREN PLATZ!

Der Schauplatz: ein altes Gebäude mit schlechter Beleuchtung und einer
ineffizienten Klimaanlage in sicherer, abgeschirmter Lage irgendwo im
Großraum Washington, DC. Das Verteidigungsministerium hat das Haus
mit Memorabilien aus dem Zweiten Weltkrieg ausgestattet. Wir sitzen in
einem großen Konferenzraum an einem leicht ramponierten Tisch, an dem
20 Personen Platz finden. Jeder Stuhl ist besetzt. Die Vertreter der einzel-
nen Behörden – des Justizministeriums, der Army, der NSA, der FBI-Zen-
trale und der Außenstelle in Tampa – sitzen jeweils nebeneinander.
Terry Moody, die nach der Geburt ihres Kindes ihre Arbeit wieder auf-
genommen hat, Rich Licht, Marc Reeser und ich haben linker Hand von
Jane Hein Platz genommen. Ich sitze ganz außen. Auf den Plätzen ne-
ben mir sitzen Dale Watson, der Leiter der Abteilung für Spionageab-
wehr in der FBI-Zentrale, und seine Mitarbeiter. Rechts von Jane Hein
sitzen Greg Kehoe und einige weitere Vertreter der Abteilung für Inne-
re Sicherheit.
322

Watson eröffnet das Meeting merkwürdigerweise mit einer Zusam-


menfassung von Informationen, die aus Schweden eingetroffen sind. Für
die heutige Versammlung ist dies wahrlich kein bedeutender Punkt der
Tagesordnung – da die Angaben der Schweden für uns auf Hörensagen
beruhen, werden wir sie vor Gericht nicht verwenden können. Es wäre
weitaus sinnvoller, uns mit »dem Spionagefall des Jahrhunderts«, der ge-
rade in Deutschland verhandelt wurde, zu beschäftigen oder der Army
für die Verhaftung Conrads zu danken. Watson, der mit dem zähen Ak-
zent der Südstaaten spricht, ist jedoch langsam von Begriff.
Als einige der Anwesenden ihn unterbrechen, um auf dringlichere An-
gelegenheiten wie die Ermittlungen gegen Rondeau und Gregory zu spre-
chen zu kommen, weist er sie zurück – so, wie er versucht hat, mich wäh-
rend der gesamten Untersuchungen auszubremsen. Ich weiß genau, was
als Nächstes passiert, da ich nun schon seit über einem Jahr mit dieser Si-
tuation lebe. Ich weiß, wer wirres Zeug reden, wer sich komplett heraus-
halten und wer sich ducken wie ein Schaf wird. Ich weiß, was jeder Ein-
zelne sagen wird, wogegen Einwände erhoben und worüber Monologe
gehalten werden und wer letzten Endes sein Fett abbekommt: ich.
Warum also nehme ich an diesem Meeting teil? Weil wir irgendwie
Struktur in den Umgang mit dem größten Spionagefall in der US-ame-
rikanischen Geschichte bringen und eine Verhaftung vornehmen müs-
sen, bevor alles den Bach hinuntergeht und ich zusammenbreche. Mei-
ne engsten Mitarbeiter (ausgenommen Susan Langford, da einer von uns
telefonisch erreichbar sein muss, falls Rod wieder einmal verloren geht
oder, bereit zum Sprung vom Dach eines hohen Gebäudes aus, anruft)
habe ich mitgebracht, weil ich fest entschlossen bin, ihnen zwischen dem
Wust an bürokratischen Spitzfindigkeiten ein Wort des Dankes zukom-
men zu lassen.
Wie vorherzusehen war, wird unsere Delegation aus Tampa – meine
Belegschaft, für die ich mir wünsche, dass sie Lob und Anerkennung er-
fährt – sofort mit vernichtender Kritik überhäuft.
Watsons Vorgesetzter durchbricht den einleitenden Monolog, weist
auf die Anwesenheit der »jungen, aber mit Sicherheit hart arbeitenden
Agenten Moody und Licht« hin und betont anschließend, »dass dieser
ausufernde und komplexe Fall der Expertise und der nuancierten Vorge-
hensweise einer weitaus erfahreneren Dienststelle bedarf« – zum Beispiel
323

der Washingtoner Außenstelle. Sein kurzer Vortrag führt mir die volle
Bedeutung des Wortes ›herablassend‹ vor Augen.
Eine andere leitende Angestellte von der Washingtoner Außenstelle
beschwert sich in einem Tonfall, als hätte sie gerade eine tote Maus in ih-
rem Glas Cola entdeckt: »Warum haben wir einen Feld-Wald-und-Wie-
sen-Anwalt hier sitzen? Dies ist ein Meeting der Spionageabwehr.«
Nachdem Jane den Anwesenden mitgeteilt hat, dass Greg der ers-
te Assistent des United States Attorney für den mittleren Gerichtsbezirk
von Florida ist, wendet ein Vertreter der Washingtoner Außenstelle leise
grummelnd ein, dass eine Teilnahme nur dem ersten Assistenten für den
Bezirk Columbia gebühre. Greg ignoriert diese Schimpftirade – er arbei-
tet schon zu lange als Anwalt vor Gericht, um sich von solchen Seitenhie-
ben beeindrucken zu lassen.
Weitere Anwesende stimmen bereitwillig in den Chorus ein und neh-
men uns unter Beschuss, obwohl wir die ganze Arbeit geleistet haben –
inklusive der Tatortuntersuchung, die die Washingtoner Außenstelle
nicht für angebracht hielt. Einer der leitenden Angestellten kritisiert in
einem Anflug von Übereifer die Anwesenheit eines Anwalts sogar grund-
sätzlich:
»Verfrüht, würde ich meinen«, sagt er und zupft an seinen pastellfar-
benen französischen Manschetten.
Hat er von dem Prozess in Koblenz gehört? Von meiner neunstündi-
gen Zeugenaussage, die direkt mit Ramsay in Verbindung stand? Hat er
auch nur ansatzweise eine Vorstellung von der Fluchtgefahr, die bei dem
einzigen Verdächtigen besteht, den wir hier in den Vereinigten Staaten
vor Gericht bringen können? Vielleicht sind ihm all diese Umstände tat-
sächlich nicht bekannt. Vielleicht entspricht das Gerücht, dass man sei-
nen gesunden Menschenverstand verliert, sobald man in Washington ein
Büro bezieht, den Tatsachen.
Als Nächstes stehe ich im Zentrum der Kritik. Wenn allein schon
Moody, Licht und sogar der in der FBI-Zentrale im Allgemeinen aner-
kannte Marc Reeser als Ermittler in diesem Fall, der erfahrene Kräfte statt
blutiger Anfänger erfordert hätte, eine klare Fehlbesetzung darstellen, er-
scheint es überhaupt nicht nachvollziehbar, warum ich darauf bestanden
hatte, die Untersuchungen zu leiten, obwohl die Washingtoner Außen-
stelle die ranghöchste aller Dienststellen ist, alle der beteiligten Institu-
324

tionen (die NSA, die CIA und der Nationale Sicherheitsrat) in Washing-
ton angesiedelt sind und die Außenstelle in Tampa so wenig Erfahrung
im Umgang mit großen Spionagefällen hat.
Einmal mehr füge ich mich in meine Rolle: Ich bleibe ruhig sitzen und
höre zu, obwohl ich mehr Spionagefälle bearbeitet habe als irgendein
Mitarbeiter in der Watson unterstellten Abteilung in Washington.
Die Vorwürfe werden immer härter: Es sei anmaßend von mir gewe-
sen, Ermittlungen an mich zu reißen, die nicht in meinen Zuständigkeits-
bereich fallen, unsere Aufgaben an andere Dienststellen zu delegieren
und an unsere Justizattachés in Bonn und anderen europäischen Städten
Forderungen zu stellen.
Als man mich als »herrisch« bezeichnet, beschließe ich, die Reißleine
zu ziehen. Ich erhebe mich von meinem Stuhl, bringe das Rednerpult, das
bisher ungenutzt neben Watson gestanden hatte, in eine Position, von der
aus ich über Watsons Kopf hinwegsehen kann, und lege los.
»Schuldig im Sinne der Anklage«, sage ich und strecke wie zur Kapi-
tulation meine Arme in die Höhe. »Ich habe die Ermittlungen durchge-
führt, weil ich für diese Arbeit bezahlt werde. Auch Agent Moody und
Agent Licht beziehen dafür ihre Gehaltsschecks. Wir haben die Untersu-
chungen in Abstimmung mit dem uns vorgesetzten Special Agent durch-
geführt. Bei Fragen hinsichtlich unserer Vorgehensweise, bitte ich Sie,
mit ihm Kontakt aufzunehmen. Wie Sie mehrfach dargelegt haben, lie-
gen aufsichtführende Aufgaben außerhalb meiner bescheidenen Gehalts-
klasse.
Nun, da dieser Punkt geklärt ist, möchte ich erläutern, warum ich
Agent Licht und Agent Moody zu unserem heutigen Meeting mitge-
bracht habe und Marc Reeser gebeten habe, zu uns zu stoßen: Ich war
davon ausgegangen, dass Sie die Gelegenheit ergreifen und sich bei den
dreien bedanken würden. Meine Kollegen haben hervorragende Arbeit
geleistet und mit großem Einsatz nachgeholt, was vorher an Ermittlungs-
arbeit versäumt worden war.«
Meine Stimme wird lauter.
»Danken Sie beispielsweise Agent Moody für die unzähligen Stunden,
die sie für die Befragungen Rod Ramsays aufgewendet hat, für die zahllo-
sen Fahrten zwischen Tampa und Orlando und für ihr unglaubliches Ta-
lent, Rod zum Sprechen zu bringen. Sie hat all diese Leistungen zusätz-
325

lich zur Bewältigung ihrer eigentlichen Aufgaben vollbracht  – in einer


Zeit, in der sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war.«
Für den Fall, dass tatsächlich einer der Anwesenden Dankesworte äu-
ßern möchte, halte ich einen Moment lang inne, doch niemand unter-
nimmt einen Versuch.
»Bedanken Sie sich bei Agent Licht dafür, dass er Hunderte Anfragen
stellte und deren Ergebnisse auswertete. Keine der anderen ermittelnden
Dienststellen hatte diese Hinweise verfolgt.«
Stille.
»Danken Sie Marc Reeser dafür, dass er sein großartiges Talent, aus
riesigen Datenmengen die richtigen Querverbindungen herauszufiltern,
zur Anwendung brachte. Er hat uns dabei unterstützt, Informationen zu
sammeln und Hinweisen nachzugehen, die seit 1986 unberücksichtigt
geblieben waren.«
Zumindest die aus der FBI-Zentrale entsandten Vertreter signalisieren
durch sachtes Nicken Anerkennung.
»Danken Sie der Überwachungsmannschaft, die so große Opfer ge-
bracht hat und die mit privaten Geldmitteln in Vorleistung gegangen ist.
Diese Kollegen haben hart gearbeitet, haben ihr Zuhause monatelang
kaum gesehen und Rod Ramsay niemals aus den Augen verloren.«
»Das stimmt nicht«, wendet einer der Lakaien von der Washingtoner
Außenstelle ein. »Ihr exzellentes Überwachungsteam hat erst vor ein paar
Tagen Ramsays Spur verloren. Es grenzt an ein Wunder, dass …«
»Sie haben ausnahmsweise recht – 20 Stunden lang war uns Ramsays
Aufenthaltsort unbekannt. Hat irgendeiner von Ihnen schon einmal ver-
sucht, in der Warteschlange der Taxis an einem Flughafen einen be-
stimmten Wagen im Auge zu behalten? Hat das jemand schon einmal
versucht?« Ich sehe die Vertreter der Washingtoner Außenstelle der Rei-
he nach an. »Wir können von Glück sprechen, dass wir Ramsay nur ein-
mal aus den Augen verloren haben. Angesichts all der Informationen, die
über die undichten Stellen in Washington nach außen gedrungen sind,
bin ich, ehrlich gesagt, überrascht, dass es uns erspart geblieben ist zu se-
hen, wie Ramsay in Moskau herzlich begrüßt wird.«
Habe ich gegen das Protokoll verstoßen? Mag sein. Ich gewinne mei-
ne Haltung zurück und bedanke mich – in der Hoffnung, ein Beispiel
zu setzen – bei allen anwesenden Justizattachés und Vertretern der ein-
326

zelnen Dienststellen. Ich spreche der Army und den schwedischen Be-
hörden meinen Dank für ihre Kooperationsbereitschaft aus und danke
sogar der Washingtoner Außenstelle für ihre Gastgeberrolle bei die-
sem Meeting, obwohl dieses Treffen eigentlich in Tampa hätte stattfin-
den müssen. Anschließend wende ich mich den Kernpunkten meiner
Rede zu: Ich betone die Notwendigkeit, die Ermittlungen weiterhin von
Tampa aus zu führen, da wir von dort aus Zugriff auf die Zielperson
haben und die Beweismittel  – Tausende Seiten von Untersuchungser-
gebnissen – vorliegen haben, die wir für eine Gerichtsverhandlung be-
nötigen (die Washingtoner Außenstelle hingegen hat außer Neid und
Giftigkeit nichts vorzuweisen). Ich präsentiere die Details meiner Zeu-
genaussage in Deutschland, um jeden im Raum wissen zu lassen, wel-
che Informationen ich öffentlich machen musste. Mit einem Nicken in
Jane Heins Richtung, das von ihr erwidert wird, gebe ich bekannt, dass
es uns gelungen ist, in Österreich zahlreiche der von Rod beschriebenen
Treffpunkte der Spione zu identifizieren. Damit liegen uns für die Ge-
richtsverhandlung weitere belastende Beweise vor. Zum Schluss weise
ich darauf hin, dass umgehend eine Verhaftung vorgenommen werden
muss, da die Gefahr besteht, dass Rod Ramsay »außer Landes flüchtet,
sich absetzt und verschwindet und/oder Beweise vernichtet«. Doch ich
bin noch nicht fertig. »Uns bleiben nur noch wenige Tage, vielleicht so-
gar nur ein paar Stunden«, betone ich. »Wir müssen eine Entscheidung
treffen. Hier. Jetzt. Sofort.«
Wenig überraschend, widerspricht einer der Anwälte aus der Abtei-
lung für Innere Sicherheit sofort und weist mich in die Schranken: Hier,
jetzt und sofort werde keine Entscheidung gefällt. Ein Vertreter der Wa-
shingtoner Außenstelle führt ins Feld, dass die Oberaufsicht über die Er-
mittlungen immer noch seiner Dienststelle und nicht dem Büro in Tampa
obliege. Mit seiner Äußerung greift er den Tenor des gesamten Meetings
auf, doch anstatt erneut Wut zu empfinden, habe ich ein Gefühl, als wür-
de jemand mit wachsender Kraft die Hand auf meinen Brustkorb pres-
sen.
Ich trinke einen Schluck Wasser, verspüre aber keine Besserung. Zu
meiner Anspannung kommt ein leichter Schwindel hinzu. Neben mir
steht Greg von seinem Stuhl auf, fordert mich leise auf, wieder Platz zu
nehmen, und räuspert sich, bevor er sich an die Versammlung wendet.
327

Greg ist ein wahrer Gentleman. Er ist gut aussehend und lebensfroh,
doch er duldet keinen Humbug. Da dieses Meeting vor Unsinn strotzt, ist
es für ihn an der Zeit, das Wort zu ergreifen: »Meine Damen und Herren,
dieser Fall dreht sich nicht um Belange der Spionageabwehr, um gehei-
me Treffpunkte oder um Sicherheitssysteme. Hier geht es um Straftaten.«
Greg versucht mit einem Lächeln, die Anwesenden dazu zu bewegen, von
ihren hohen Rössern hinunterzusteigen. Mit seinem Tonfall fordert er
von allen volle Aufmerksamkeit – vor allem von den Kontrahenten mit
den hübschen französischen Manschetten.
»Der Fall liegt denkbar einfach – wir haben es mit Kriminellen zu tun,
die gegen das Gesetz verstoßen haben. Diese Verbrecher haben Doku-
mente gestohlen, diese an ein fremdes Land verkauft und dadurch die
Vereinigten Staaten und andere Nationen großen Gefahren ausgesetzt.
Offen gesagt, können wir uns glücklich schätzen, zumindest einen die-
ser Übeltäter in den USA hinter Gitter bringen zu können. Capisce?« Ich
habe Greg dieses letzte Wort schon Hunderte Male sagen hören, doch die
Art und Weise, wie er es nun mit seinem starken New Yorker Akzent ar-
tikuliert, zieht das Interesse aller auf sich. Ich kann beinahe sehen, wie
die Versammelten die Ohren aufstellen wie Hunde, die etwas Bedrohli-
ches hören.
»Sie alle verhalten sich so, als ob dieses prall mit Geheimnissen ge-
füllte Mokkatässchen niemals überlaufen wird – als ob man diesen Fall
einfach aussitzen und anschließend zum Alltag zurückkehren könnte,
ohne dass etwas Schlimmes passiert ist. Nun, ich habe Neuigkeiten für
Sie: Dieser Zug ist bereits abgefahren. Die Misere begann, als Zoltan Sz-
abo vom feindlichen Geheimdienst rekrutiert wurde, und setzte sich fort,
als er seine ›Geschäfte‹ an Conrad übertrug. Nun hat sich die Lage noch
weiter zugespitzt, da Rod Ramsay den Dokumentenhandel in eine Art
Toys’R’Us verwandelt hat.«
Vielen Anwesenden ist anzusehen, dass Gregs fundierte Kenntnis des
Falles sie überrascht.
»Vielleicht halten Sie mich für verrückt«, sagt Greg, stellt sich an die
Stirnseite des Raums, hebt die Arme hoch und weist mit den Handflä-
chen zu seinem Publikum, »aber irgendjemand muss ins Gefängnis ge-
hen. Wenn die Bevölkerung von diesem Fall erfährt, wird sie uns fra-
gen: ›Was haben Sie unternommen? Welche Maßnahmen haben Sie, die
328

für unseren Schutz verantwortlich sind, ergriffen?‹ Was werden Sie die-
sen Menschen antworten? Werden Sie ihnen sagen, dass Sie aus reiner
Großmütigkeit den deutschen Behörden die Strafverfolgung überlassen
haben? Werden Sie von einer juristischen Handreichung im Sinne der
Völkerverständigung sprechen? Eine solche Argumentation stinkt zum
Himmel – so sehr, dass der Fulton Fish Market wie eine exquisite Parfü-
merie erscheint.«
Gregs Lächeln, das diese Aussage begleitet, wird von keinem, der di-
rekt von ihm angesprochen wird, erwidert.
»Meine Damen, meine Herren  – es ist unsere Aufgabe, Verbrecher
hinter Gitter zu bringen. Seit wann überlassen wir die Rechtsprechung
anderen, vor allem wenn es um Spione geht? Treten wir diesen Fall an die
Deutschen ab? Sind wir zufrieden damit, dass die Verantwortung bei ei-
ner schwedischen Haftanstalt liegt, die ihren Gefangenen großzügige Pri-
vilegien einräumt?
Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, doch Sie versuchen, Dreck in
Gold zu verwandeln. Jane, Mrs Moody – bitte entschuldigen Sie meine
unverblümte Ausdrucksweise. Dieses Vorhaben ist jedoch zum Scheitern
verurteilt, egal, wie viel Mühe Sie darauf verwenden. Ein Verbrechen ist
verübt worden, verdammt noch einmal, ein nach meinem Kenntnisstand
sehr schweres Verbrechen! Würden wir uns im Krieg befinden, würde ich
die Todesstrafe fordern.«
Gregs Stimme gleicht nun fast einem Knurren, und er blickt den Ab-
geordneten des Justizministeriums und der Abteilung für Innere Sicher-
heit direkt in die Augen.
»Was also werden Sie der amerikanischen Bevölkerung sagen? Dass
Sie heute in diesem Raum beschlossen haben, die unzusammenhängen-
de Ermittlungsarbeit in diesem Fall einfach fortlaufen zu lassen? Dass es
Ihnen nicht gelungen ist, über eine Verhaftung zu entscheiden, die schon
vor Monaten hätte erfolgen müssen? Anscheinend haben Sie über all Ih-
ren Intrigen vergessen, dass wir dem amerikanischen Volk gegenüber
eine Pflicht zu erfüllen haben.«
Greg bewegt sich auf seinen Aktenkoffer zu.
»Liebe Leute«, sagt er mit leiser Stimme – eine Technik, die er in seinen
Gerichtsverhandlungen perfektioniert hat –, »ich werde mich gleich ver-
abschieden, doch eines möchte ich noch sagen: Wir werden Rod Ramsay
329

und alle anderen, deren wir habhaft werden können, vor Gericht stellen.
Wir werden im kleinen, unbedeutenden Tampa im mittleren Gerichtsbe-
zirk von Florida eine Grand Jury einberufen und Vorladungen in die gan-
ze Welt hinaussenden.« Greg sieht Rich Licht und mich an, da wir ihm
bei den Vorbereitungen zur Hand gehen werden. »Wir werden das Be-
weismaterial von der Grand Jury überprüfen lassen, da ansonsten nie-
mand an diesen wichtigen Schritt gedacht hat.«
Auf diesen Satz hin winden sich einige der Anwesenden buchstäblich
auf ihren Stühlen.
»Ja, offenkundig ist es Ihnen entfallen, dass die Beweise begutachtet
werden müssen. Sind Sie ernsthaft davon ausgegangen, dass die Geständ-
nisse vor Gericht vorgelegt werden können, nur weil irgendjemand sie ir-
gendwann mal in irgendeinem Gespräch abgelegt hat? Wer hat Sie über
die Prozessordnung unterrichtet? Perry Mason? Haben Sie jemals einen
Fall für eine Verhandlung vorbereitet? Die Beweise sind nichts wert, so-
fern nicht eine Grand Jury entschieden hat, dass sie eine Anklage recht-
fertigen. Die einzelnen Aussagen, die wir bisher vorliegen haben, haben
vor Gericht keinerlei Bedeutung, wenn wir sie nicht durch Vorladungen
untermauern.«
Greg hat damit begonnen, seine Utensilien in seinem Aktenkoffer zu
verstauen, aber er ist mit seiner Ansprache noch nicht fertig. Anders als
bei den vorherigen Rednern wagt es niemand, nicht einmal die Führungs-
kräfte aus der Washingtoner Außenstelle, ihn zu unterbrechen, denn kei-
ner in diesem Raum kann Greg das Wasser reichen.
»Um es klar und deutlich zu sagen: Weder ich noch der United States
Attorney für den mittleren Gerichtsbezirk von Florida werden uns un-
serer Verantwortung entziehen. Genug ist genug. Ich werde gegen jeden
vorgehen, der die Justiz behindert. Sie scheinen vergessen zu haben, dass
die amerikanische Öffentlichkeit von uns erwartet, dass wir – völlig un-
abhängig davon, ob uns ein Fall auf dem Silbertablett präsentiert wird
oder ob wir die einzelnen Puzzleteile zusammensetzen müssen – Recht
sprechen und Schuldige ins Gefängnis bringen. Wir haben gegenüber der
Bevölkerung eine Verpflichtung und, offen gesagt, keine Legitimation für
die bisherigen Versäumnisse.«
Die Vertreter des Justizministeriums starren stocksteif geradeaus. Es
ist deutlich zu erkennen, dass die Adern auf ihren Stirnen pulsieren.
330

»Genug gesagt«, kommt Greg zum Schluss. »Kriegen Sie Ihre Hin-
tern hoch, und treffen Sie eine Entscheidung. Wir stellen in Tampa eine
Grand Jury zusammen, und wir werden Anklage erheben. Darauf gebe
ich Ihnen mein Wort. Schönen Tag noch, meine Damen und Herren.«
Greg wirft Moody, Licht und Reeser ein Lächeln zu, gibt mir die Hand
und sagt mit einem Flüstern, das die Umstehenden jedoch hören können:
»Lassen Sie sich von diesen Lemmingen nichts mehr gefallen. Ich muss
weiter zu einem anderen Meeting. Wir sehen uns am Flughafen.« Greg
geht zur Tür und scheint dem Raum die Atemluft zu entziehen. Jane Hein
springt von ihrem Stuhl auf, läuft Greg hinterher, gibt ihm die Hand und
bedankt sich für seine Teilnahme an diesem Meeting. Die durchdringen-
den Blicke, die sie dafür erntet, verraten mir, dass sie unter ihresgleichen
nun als Verräterin gilt.

GREG VERPASST BEINAHE den Rückflug nach Tampa. Als wir die Si-
cherheitsgurte angelegt haben und das Flugzeug startet, erzählt er mir,
dass er sich unmittelbar nach unserem Meeting im Justizministerium mit
Bob Mueller getroffen hat, der den Ausführungen des Assistenten des
United States Attorney generell aufgeschlossen gegenübersteht.
»Es ist vorbei«, sagt Greg.
»Vorbei?«
»Der Kampf. Die Verzögerungen. Die Auseinandersetzungen. Offen-
bar hat der United States Attorney bei der Abteilung für Innere Sicher-
heit angerufen und sie angewiesen, uns nicht mehr im Weg zu stehen.«
»Großartig.« Ich kann nicht mehr dazu sagen. Der Fall, der kein Ende
zu finden schien, geht nun endlich vor Gericht.
»Dir ist klar, was als Nächstes ansteht?«
»Ja, natürlich. Haftbefehl, Vorführung vor dem Haftrichter …«
»Nein, Joey, Joey.« Greg klingt plötzlich wie ein Statist in Der Pate.
»Das kommt später. Was steht als Nächstes für dich an?«
»Keine Ahnung, ich gebe auf. Was steht als Nächstes an?«
»Dass du gut auf dich aufpasst«, erklärt Greg. »Wenn du es am wenigs-
ten erwartest, werden sie ihre Messer zücken.«
23
»WEISS JOE NAVARRO DAVON?«

Als wir am 5.  Juni spätabends in Tampa landen, habe ich Schluckbe-
schwerden – vielleicht wegen der Beule, die sich unter meinem Kinn ge-
bildet hat. Die Stelle ist so empfindlich, dass ich sie fast den gesamten Flug
über mit einem Eisbeutel kühle, während Greg neben mir schnarcht. Als
ich meinen Koffer durch das Terminal auf den Parkplatz hinaustranspor-
tiere, fällt mir das Atmen schwer.
Am darauffolgenden Tag – am 6. Juni 1990 – wird Clyde Conrad vom
Oberlandesgericht in Koblenz zu lebenslanger Haft plus sechs Jahren ver-
urteilt. Es ist die höchste Strafe, die jemals in Westdeutschland über einen
Spion verhängt wurde – und der Beweis, dass der Fall Conrad zumindest
in diesem Land tatsächlich »der Spionagefall des Jahrhunderts« war. Ge-
gen Mittag ist die Telefonzentrale in unserer Außenstelle in Tampa beina-
he überlastet. Zeitungen und Pressestellen aus aller Welt erkundigen sich
nach Einzelheiten zum Fall Rod Ramsay. Wurde ihm für seine Zeugen-
aussage Immunität zugesichert? Wann findet die Gerichtsverhandlung
332

statt? In welchem Gefängnis sitzt er ein? Am liebsten würde ich ihnen


entgegenbrüllen: »Welche Zeugenaussage? Welche Gerichtsverhandlung
und welches Gefängnis?« Aber was würde das schon helfen.
Stattdessen kämpfe ich mich die zwei Treppen zu Gregs Büro hinab.
Greg befindet sich mitten in einem angeregten Telefongespräch.
»Wir müssen Nägel mit Köpfen machen«, sage ich, schwer gegen sei-
ne Bürotür gelehnt.
»Bald.« Greg hat die Sprechmuschel seines Telefonhörers mit der Hand
bedeckt. »Die Idioten in der Abteilung für Innere Sicherheit ziehen ihre
Entscheidung in die Länge.«
»Bald ist zu spät«, erwidere ich und trotte die Stufen wieder hinauf. Es
fühlt sich an, als würde ich den Mount Everest erklimmen.
Ich rufe Ihor an. Ihors Einfluss reicht nicht weit genug, um die Abtei-
lung für Innere Sicherheit zum Handeln zu bewegen, aber er ist wie im-
mer gut informiert.
»Kehoes Standpauke hat an der Pennsylvania Avenue ein Erdbeben
ausgelöst. Er hat unsere Vorgesetzten bis ins Mark erschüttert. Ein paar
Stunden später wurden sie vom United States Attorney zusammenge-
staucht. Es braut sich etwas zusammen. Unterlagen an dich sind unter-
wegs. Von mir hast du das aber nicht erfahren.«
Drei Stunden später treffen die von Ihor angekündigten Unterlagen
ein. Ihnen liegt ein Anschreiben der FBI-Zentrale bei: »Der United ­States
Attorney ordnet die Verhaftung von Roderick James Ramsay an. Sie ist
spätestens am 7.  Juni durchzuführen. Treten Sie sofort mit dem ersten
Assistenten, Greg Kehoe, im Büro des United States Attorney für den
mittleren Gerichtsbezirk in Florida in Kontakt.«

ICH RUFE ROD AN, der sich während meiner Abwesenheit mehr-
fach im Büro gemeldet hat. Er macht sich Sorgen um seine Zukunft und
möchte, dass ich ihm von Angesicht zu Angesicht versichere, dass sich
nicht das Netz um ihn herum zuzieht.
»Vielleicht könnten Sie morgen nach Orlando kommen?«, fragt er.
»Ich könnte Sie im Hotel abholen. Wir könnten ein bisschen herumfah-
ren und uns unterhalten – oder wieder im Auto was essen.«
»Das ist mir leider nicht möglich, Rod«, erwidere ich, »aber ich mache
Ihnen einen anderen Vorschlag: Kommen Sie doch morgen nach Tampa,
333

und ich werde Sie beruhigen. Die Benzinkosten übernehme ich. Außer-
dem habe ich eine Überraschung für Sie.«
»Was für eine Überraschung?« Mein Vorschlag macht Rod offensicht-
lich nervös.
»Mrs Moody!«
»Terry?«
»Ja, sie ist aus dem Mutterschaftsurlaub zurück und freut sich darauf,
Sie wiederzusehen. Sagen wir zwölf Uhr?«
Natürlich habe ich Rod nicht die Wahrheit gesagt  – und noch viel
schlimmer ist, dass ich Terry als Köder benutzt habe. Ich weiß, dass all
diese Lügen tief in meinem Innersten an mir nagen – dafür sorgt meine
katholische Erziehung. Rod willigt jedoch nur allzu gerne ein, schließlich
kann er sich nun auf Agent Moody freuen. Begegnungen mit ihr sind für
ihn immer ein Vergnügen.
Ich rufe Ihor noch einmal an.
»Sind die Unterlagen angekommen?«, fragt er.
»Ja, aber …«
»Aber?«
»Ihor, es ist vier Uhr nachmittags, und wir haben nur noch wenig Zeit,
bis die Deadline für die Verhaftung abläuft. Wann wird die Strafanzeige
gestellt?«
»Welche Strafanzeige?«
»Moment mal – Strafanzeigen werden von der Abteilung für Innere Si-
cherheit gestellt!«
»Diesmal nicht. Ihr seid auf euch allein gestellt.«
»Wie bitte?«
»Joe«, sagt Ihor, bevor er auflegt, »die Abteilung für Innere Sicherheit
wälzt die ganze Arbeit auf euch ab.«
Statt wie ein Rohrspatz zu schimpfen, eile ich, soweit es mir möglich
ist, die Treppen zu Gregs Büro hinunter. Ich teile ihm mit, dass uns die
Abteilung für Innere Sicherheit hängen lässt und wir die Strafanzeige
selbst stellen müssen. Ich bleibe ruhig sitzen, während Greg erst die Vä-
ter aller Führungskräfte der Abteilung für Innere Sicherheit ob der Zeu-
gung dieser Kretins beleidigt und anschließend deren Müttern mangeln-
de Keuschheit vorwirft. Es dauert ein paar Minuten, bis er sich beruhigt
hat. Dann bittet er seine Sekretärin um zwei Notizblöcke. Greg und ich
334

suchen den Besprechungsraum auf und entwerfen das Schriftstück, das


Rod offiziell der Übertretung eines Bundesgesetzes bezichtigen und uns
als Berechtigung für seine Verhaftung dienen wird. Das Dokument wird
uns außerdem gestatten, Rods Auto, den Wagen seiner Mutter, seinen ak-
tuellen Wohnsitz und andere Orte nach Beweisen für seine Spionagetä-
tigkeit zu durchsuchen.
»Wann kommt Rod hierher?«, fragt Greg nach etwa einer Stunde.
»Morgen«, erkläre ich. »Gegen Mittag.«
Eineinhalb Stunden später, als wir den ersten Entwurf der Strafanzei-
ge fertigstellen, ermahnt mich Greg: »Du musst gut vorbereitet sein, Joe.«
»Was du nicht sagst!«, erwidere ich. »Daran hätte ich gar nicht ge-
dacht!« Da ich in den vergangenen zweieinhalb Stunden etwa alle 20 Mi-
nuten den Besprechungsraum verlassen habe, um das Telefon auf Gregs
Schreibtisch zu benutzen, weiß Greg natürlich, dass ich ebenso sehr mit
meinen Planungen beschäftigt bin wie mit dem Verfassen unseres Do-
kuments. Ich muss dafür sorgen, dass der Campingplatz die ganze Nacht
über streng überwacht wird und dass sich jemand an Rods Fersen heftet,
wenn er am Morgen das Gelände verlässt. Es muss ein Zimmer gebucht
werden (das ist Moodys Aufgabe) und in einem anderen Raum des Ho-
tels eine Kommandozentrale eingerichtet werden. Ich muss mir Gedan-
ken darüber machen, wo und wann wir Rods Verhaftung ohne Risiko
durchführen können, und die anderen Strafverfolgungsbehörden, zum
Beispiel den United States Marshals Service, benachrichtigen, damit die-
se uns nicht in die Quere kommen. Wir dürfen den Marshals Service
nicht in Unkenntnis darüber lassen, dass im Stadtzentrum eine wichti-
ge Verhaftung stattfindet, und wir dürfen auch die örtliche Polizei nicht
vergessen. Die US Marshals sind Cowboys – wenn man sie verärgert, ist
ihre Rache gewiss. Wenn ein Einsatzwagen der örtlichen Polizei auf eine
Gruppe von FBI-Agenten trifft, die Zivilkleidung tragen und ihre Waffen
gezogen haben, kann es leicht passieren, dass sich eine Kugel verirrt. Au-
ßerdem sind innerhalb eines Zeitraums von acht Stunden nach Rods Ver-
haftung weltweit 160 erste Befragungen durchzuführen. Rich Licht und
Susan Langford kümmern sich dankenswerterweise darum. Die anste-
henden Ereignisse werden auf alle FBI-Außenstellen Auswirkung haben,
und auch unsere Attachés in Schweden, Deutschland und Japan, ja sogar
in Italien und Großbritannien werden die Folgen spüren.
335

Inzwischen ist es 23  Uhr. Ich reiße einige weitere Agenten aus dem
Schlaf, um für den morgigen Tag alles vorzubereiten. Gegen 24 Uhr sen-
det Greg unsere Strafanzeige per Fax an den Nachtschicht habenden An-
walt der Abteilung für Innere Sicherheit. Um etwa 1:00 Uhr erhalten wir
den Antrag mit Dutzenden Anmerkungen zurück  – die Kommentare
enthalten Spitzfindigkeiten, die nur ein Anwalt einer Regierungsbehör-
de zur Ergänzung fordern kann.
»Warum hat er das Dokument nicht einfach selbst verfasst?«, frage ich
Greg.
»Weil man dafür Leistung erbringen muss«, erwidert Greg, der mit
seinem Bleistift den angemerkten Änderungswünschen folgt. »Dies sind
die ›furchtsamen Seelen, die weder Sieg noch Niederlage kennen‹.«
»Woher stammen diese Worte?«
»Aus Theodore Roosevelts Rede an der Sorbonne im Jahr 1910.«
»Ich hatte angenommen, in der Abteilung für Innere Sicherheit wür-
de man uns nicht helfen, weil kein Lob zu erwarten ist, wenn alles über-
standen ist.«
»Auch das ist ein Grund«, erwidert Greg und wendet sich wieder der
Strafanzeige zu.
Monate, ja sogar Jahre an Arbeit komprimieren sich nun in der Anfer-
tigung eines rechtsverbindlichen Dokuments, das den Weg zu einem Ge-
richtsverfahren ebnen wird. Dieses Schriftstück muss sich über mehrere
Instanzen hinweg bewähren und den kritischen Augen der Richter und
Geschworenen standhalten. Ich bin froh, dass Greg der Verfasser dieses
Dokuments ist. Eine halbe Stunde später sieht Greg erneut von dem Pa-
pier hoch und fragt: »Hast du schon ein Schreiben für den Nationalen Si-
cherheitsrat angefertigt, damit der Präsident informiert werden kann?«
»Darum soll sich doch bitte die FBI-Zentrale kümmern.«
»Es wäre nicht von Vorteil, wenn der Präsident nichts zu erwidern
wüsste, wenn er nach der Verhaftung eines Spions in Tampa gefragt wird.
Glaube mir: Das Weiße Haus will informiert werden – am besten bis ges-
tern –, und der Nationale Sicherheitsrat wird höchst verärgert sein, wenn
er nicht vorab benachrichtigt wurde. Ich habe diese Erfahrung im Fall
Noriega gemacht: Wenn man den Sicherheitsrat nicht in die Informa-
tionskette einbezieht, sieht man sich mit Problemen konfrontiert. Du
musst auch das Außenministerium in Kenntnis setzen. Da von diesem
336

Fall auch die deutschen Behörden und die NATO betroffen sind und
unter anderem Atomwaffensysteme auf dem Spiel stehen, legen unsere
Freunde im Ausland mit Sicherheit Wert auf einen kurzen Ausblick auf
die Ereignisse des morgigen Tages.«
»Darum habe ich mich bereits gekümmert. Jane, unsere beste Freun-
din in der FBI-Zentrale, wird das Außenministerium informieren, sobald
die Strafanzeige unterzeichnet ist.«
»Apropos Strafanzeige.« Greg wedelt über seinem Kopf mit dem Ent-
wurf hin und her. »Du musst morgen vor Richterin Elizabeth Jenkins
einen Schwur auf diesen Zettel leisten. Gut, dass Rod erst mittags auf-
taucht, was?«

UM 4:30 UHR BRECHE ICH NACH HAUSE AUF. Ohne sie zu wecken,


gebe ich Stephanie einen Gutenacht- oder fast schon Gutenmorgenkuss.
Anschließend dusche ich eine halbe Stunde lang so heiß, wie ich es ge-
rade noch ertragen kann, rasiere mich und ziehe mir legere Kleidung an
(mit einem Anzug würde ich Rod zu Tode erschrecken, selbst wenn ich
die Krawatte auf Halbmast trüge). Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick
auf das Bett und frage mich, wann ich es jemals wieder mit Luciana tei-
len werde. Ich gehe in die Küche und starre ein paar Minuten lang in den
Kühlschrank, in der Hoffnung, mich so motivieren zu können, etwas zu
mir zu nehmen, doch ich weiß, ich werde nichts bei mir behalten können.
Ich werfe einen Blick in den Hobbyraum. Luciana liegt auf der Seite,
das Gesicht zur Tür gewandt.
»Bald haben wir es geschafft«, flüstere ich ihr in der Dunkelheit zu.
»Bald ist es vorbei. Dann können wir wieder ein normales Leben füh-
ren.«
Ich glaube zu erkennen, dass sie die Augen geöffnet hat.
Um 6:00 Uhr bin ich wieder im Büro. Ich gehe den Fall noch einmal
durch und verschicke die Schreiben, die ich gestern nicht mehr auf den
Weg bringen konnte, weil ich anfing, doppelt zu sehen. Um 8:00 Uhr ver-
sende ich die letzten Benachrichtigungen an die Justizattachés des FBI in
sämtlichen Großstädten Europas, die ihrerseits nun die Strafverfolgungs-
behörden und die Geheimdienste der einzelnen Länder informieren und
sich der Presse stellen müssen, deren Anfragen sie dann an das Büro des
United States Attorney in Tampa weiterleiten werden. Ich lasse Jane Hein,
337

die sich vermutlich gerade auf ihrer morgendlichen Joggingrunde befin-


det, die Nachricht zukommen, dass sie eine Kopie der Strafanzeige erhal-
ten wird, sobald diese unterzeichnet ist. Von diesem Zeitpunkt an wird
das FBI nicht mehr für diesen Fall verantwortlich sein. Er liegt dann im
Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums, und Gregs Büro wird die
Zügel in die Hand nehmen.
Die nächste Stunde beschäftige ich mich überwiegend mit meinem
Gesundheitszustand. Ich habe starke Schmerzen in der Brust, das Atmen
fällt mir schwer, und mir wird immer wieder schwindelig. Mittlerweile
tut mir der gesamte Rachen weh. Ich versuche, meinen Mundraum mit
ein wenig Joghurt zu kühlen, aber die Kälte verursacht solche Schmerzen,
dass ich dieses Vorhaben sofort wieder aufgebe.
Kurz vor 9:00 Uhr erhalte ich einen Anruf von einem Anschluss mit
der Vorwahl 202 für Washington, DC. Ohne seinen Namen zu nennen
und den erhaltenen Bericht beziehungsweise den Fall in irgendeiner
Form zu spezifizieren, bedankt sich der Anrufer für die übermittelten
Informationen und schildert kurz den Ablauf des Treffens mit Präsident
Bush: »Als der Präsident von den entwendeten PAL- und SAS-Codes er-
fuhr, lief er kreidebleich im Oval Office auf und ab.« Diese Nachricht ist
eine Überraschung: Offenbar hatte der Nationale Sicherheitsrat den Prä-
sidenten nicht über diesen Sachverhalt informiert.
»Als der Präsident sich bei seinem Sicherheitsberater Scowcroft erkun-
digte, wie viel man den deutschen Behörden offenlegen sollte, antwortete
dieser: ›So wenig wie möglich.‹«
Nach diesen Worten legte der Anrufer auf.
Die armen Deutschen. Die Strategie, möglichst wenig von den ent-
wendeten Codes zu erzählen, hatte ich in meiner Zeugenaussage im Fall
Conrad so konsequent verfolgt, dass die Richter nicht glaubten, dass ir-
gendjemand das Sicherheitssystem des nuklearen Waffenarsenals unter-
wandert haben könnte. Wird man in Bonn jemals erfahren, wie schutzlos
wir dieses Land ausgeliefert hatten? Auf jeden Fall aber zahlt es sich aus,
über gute Kontakte in der FBI-Zentrale zu verfügen, auch wenn diese an-
onym bleiben müssen.
Eine halbe Stunde später – ich habe gerade den Funkkontakt zu der
Überwachungsmannschaft auf dem Campingplatz hergestellt  – streckt
Terry Moody ihren Kopf zu meiner Bürotür hinein, winkt mir zögernd
338

ein »Guten Morgen« zu und meint: »Joe, ich glaube, das sollten Sie se-
hen.« Sie führt mich zu einem Fenster an der Südseite des Gebäudes, das
Blick auf den United States District Court des mittleren Gerichtsbezirks
von Florida bietet. Im meist brütend heißen Juni verspricht die aufgehen-
de Sonne einen malerischen Tag. Das sich uns bietende Panorama wür-
de sich perfekt für eine Werbeanzeige des Sunshine State in einer Reise-
broschüre eignen.
»Schön«, sage ich zu Terry und sehne mich danach, mit der Gewiss-
heit, mehr als fünf Minuten körperlicher Anstrengung durchzustehen, in
meinem Kajak zu sitzen. »Ich danke Ihnen.«
Dann folge ich jedoch ihrem Blick auf die Straße hinunter. Auf dem
Bürgersteig vor dem Gerichtsgebäude stehen drei Übertragungswagen,
auf denen in leuchtender Schrift die Buchstaben ABC prangen.
»Ich habe auf dem Weg zur Arbeit die Nummernschilder gesehen«, er-
klärt Moody. »Die Wagen kommen alle aus Washington, DC.«
»Bamford«, sage ich. »Verdammt!« Mein Fluchen klingt so schwach,
dass Moody sofort ihre Aufmerksamkeit auf mich richtet.
»Stehen Sie das durch?«
Am liebsten würde ich mit Nein antworten, doch andererseits scho-
ckiert es mich kaum noch, dass der Nachrichtensender auch über das
letzte Kapitel im Fall Ramsay Informationen aus der FBI-Zentrale er-
halten hat. Während ich mich frage, inwieweit sich dieses Verraten von
Dienstgeheimnissen von Spionage unterscheidet, ertönt aus meinem
Funkgerät, das ich mit ans Fenster genommen habe, erst ein Knacksen,
dann eine blecherne Stimme: »Iris 9 an Gunga Din. Iris 9 an Gunga Din.«
Diese Worte würden meine Aufmerksamkeit wecken, selbst wenn ich im
Zentrum eines Tornados stünde.
»Over«, spreche ich in das Gerät.
»Zielperson in Bewegung.«
»Moody, wir müssen uns beeilen!« Ich renne auf die Treppe zu, und
Moody heftet sich an meine Fersen.
Wir hatten zwölf Uhr vereinbart. Selbst wenn Rod die Interstate 4 im
Schneckentempo entlangkriecht und die Ausfahrt Tampa zunächst ver-
passt, wird er spätestens um elf Uhr hier sein.
»Los!«, rufe ich Moody zu und zeige in Richtung des im Stadtzentrum
von Tampa gelegenen Hotels Hyatt – den Treffpunkt, den Moody für ihr
339

Rendezvous mit Rod Ramsay gewählt hat. Ich eile auf Gregs Büro zu. In
dem Moment, in dem ich den Raum betrete, spuckt das Faxgerät die von
der Abteilung für Innere Sicherheit ohne weitere Korrekturen abgenom-
mene Strafanzeige aus.
»Keine Zeit für Erklärungen«, rufe ich Gregs Sekretärin zu, nehme den
noch warmen Papierstapel an mich und mache mich, so schnell es geht,
auf den Weg.
›Wir haben noch Zeit‹, versuche ich mich zu beruhigen. ›Wir haben
noch Zeit. Wir haben noch Zeit.‹ Das haben wir, auch wenn wir kurz vor
einer Katastrophe stehen.

»DER ZUTRITT IST IHNEN NICHT GESTATTET«, teilt mir der Wach-
mann vor dem Gerichtsgebäude mit.
»Natürlich habe ich Zutritt«, erwidere ich. »Sie kennen mich. Sie wis-
sen, dass ich vom FBI bin.« Zur Sicherheit zeige ich meinen Dienstaus-
weis.
»Sie tragen eine Waffe«, erklärt der Wachmann. »Waffen sind hier
nicht erlaubt. So sind die Regeln.«
»Das ist ein Notfall«, erwidere ich. Auch wenn das Panorama am Fens-
ter anderes suggeriert, ist dieser Junitag schwül. Die Strafanzeige, die ich
in meinen Händen halte, wird langsam von meinem Schweiß durchnässt.
»Welcher Buchstabe in dem Wort ›nicht‹ ist Ihnen nicht geläufig?«, er-
kundigt sich der Wachmann.
»Ich habe nur wenige Minuten Zeit. Wie wäre es, wenn ich meine
Dienstwaffe bei Ihnen lassen würde?«
»Das ist nicht erlaubt.«
Ich kenne die Regularien. FBI-Agenten wurde vom Obersten Rich-
ter untersagt, das Gerichtsgebäude mit einer Waffe zu betreten. Mit Si-
cherheit eine vernünftige Entscheidung, welcher der Wachmann Folge
zu leisten hat. Andererseits ist das FBI in der Pflicht, im Falle eines An-
schlags auf einen Richter zu intervenieren. Kein Agent würde in einer
solchen Situation schutzlos in das Gebäude eindringen. Wahrscheinlich
muss man schizophren sein, um diese richterliche Anordnung zu verste-
hen. Auf jeden Fall habe ich für Diskussionen keine Zeit.
»Kann ich meine Waffe in einem Schließfach deponieren?«, frage ich
fast bettelnd.
340

Der Wachmann verzieht keine Miene, doch er führt mich zu einer Rei-
he von nagelneuen Schließfächern. Sein quälend langsamer Gang verrät
mir, dass er niemals in den Genuss von Fitnesstraining kommt. Nachdem
ich meine Waffe verstaut habe, habe ich immer noch keinen freien Zu-
tritt. Der Wachmann teilt mir mit, dass ich erst mit dem Metalldetektor
überprüft werden müsse, bevor ich Zugang zum oberen Stockwerk habe.
Ich werde diesen Wachmann als weiteres stoisches Hindernis auf dem
Weg zum Erfolg in Erinnerung behalten.
»Sie ist in ihren Kanzleiräumen«, erklärt mir der Wachmann mit ei-
nem säuerlichen Lächeln, als ich in den Aufzug steige. Ich hoffe, dass vor
der Kanzleitür nicht bereits weitere Agenten Schlange stehen, die eben-
falls eine Unterschrift auf ihren Strafanträgen benötigen. Ich habe aus-
nahmsweise Glück  – zumindest hätte es schlimmer kommen können.
Die Richterin Elizabeth Jenkins bittet mich hinein und unterzieht das
von uns mit größter Genauigkeit ausformulierte Dokument einer detail-
lierten Prüfung.
Als sie mich bittet, die rechte Hand zu erheben und zu schwören, dass
die in dem Schriftstück dargelegten Fakten der Wahrheit entsprechen
und ich im vollen Umfang über alle Belange aufgeklärt worden bin, ver-
bleiben bis zu Rods Ankunft noch 27 Minuten, sofern dieser mit norma-
ler Geschwindigkeit fährt. Während ich zum Hotel Hyatt sprinte, atme
ich so schwer, dass ich kaum das Ziffernblatt meiner Armbanduhr er-
kennen kann. Dort angekommen, bleibt mir keine Zeit, mich zu erholen,
denn per Funk melden sich gleich drei Einheiten: die Kommandozent-
rale, das Überwachungsteam, das Ramsay auf den Fersen ist, und die für
die Verhaftung zuständigen Agenten. Sie alle versorgen mich mit aktuel-
len Informationen, und mit jeder neuen Information erhöht sich meine
Anspannung.
Die ohnehin schon hektische Situation wird durch die Tatsache ver-
schärft, dass die besorgten Anrufe von Dorothy Ramsay von unserer Te-
lefonzentrale an die Rezeption des Hyatt und von dort an mich weiter-
geleitet werden. Bei jedem Läuten (wenn ich richtig mitgezählt habe, alle
vier Minuten) muss ich rasch die drei Funkverbindungen stumm schal-
ten, damit Dorothy das Ausmaß meiner Heuchelei verborgen bleibt. Da
offenbar ein Reporter vor ihrem Wohnwagen steht, ist es kein Wunder,
dass sie meinen Beschwichtigungen wenig Glauben schenkt.
341

»Das ist nicht außergewöhnlich, Dorothy – wenn Reporter nichts zu


berichten haben, dann stochern sie herum, sammeln vermeintliche In-
formationen und stricken irgendeine Geschichte daraus. Machen Sie sich
keine Sorgen, das ist …«
»Ich möchte nichts mehr davon hören«, unterbricht mich Dorothy
und legt auf.
Ich sitze auf dem Sofa und versuche, irgendwie zu Kräften zu kom-
men, aber es gelingt mir nicht. Nach dem kurzen Sprint ins Hotel ringe
ich immer noch nach Atem. Wie lächerlich – ich kann, oder besser gesagt
konnte, mit voller Ausrüstung meiner Spezialeinheit drei Kilometer weit
laufen. Die Klimaanlage scheint auf Kühlschranktemperatur gestellt zu
sein, denn vom Laufen in Schweiß gebadet, zittere ich wie Espenlaub. Das
Überwachungsteam lässt uns per Funk wissen, dass Rod auf dem Weg zu
uns ist. ›Der Adler ist gelandet‹, denke ich, als Rod zum letzten Mal an die
Tür klopft und Moody ihn hineinbittet.
»Mama Moody«, sagt er mit breitem Grinsen. Anschließend mustert
er mich von Kopf bis Fuß und meint: »Sie sehen erbärmlich aus.«
»Vielen Dank, Rod«, erwidere ich. »Ich freue mich auch, Sie zu se-
hen.« Mir fällt auf, dass wir gleich gekleidet sind: Wir tragen beide Kaki­
hosen, Slipper und lachsfarbene Polohemden. In gewisser Weise über-
rascht mich das nicht. Rod ist ein Meister des Mimikry. Außerdem haben
Rod und ich uns bis zu diesem Moment, in dem der Showdown bevor-
steht, in vielfältiger Weise angenähert. Rod hat im Laufe der Zeit immer
mehr meine Sprechweise übernommen – mein Vokabular, meinen Satz-
bau und meinen Tonfall. Er hat seiner Mutter gegenüber sogar von mir
als seinem Vorbild gesprochen. Eine Angleichung des Kleidungsstils ist
vermutlich nur eine logische Konsequenz. Aktuell geben wir deshalb ein
Paradebeispiel eines guten und eines bösen Zwillings ab.
In der Fachliteratur bezeichnet man diesen Vorgang als »Rapport«:
Wenn zwei Menschen viel Zeit miteinander verbringen, übernehmen
sie typische Eigenschaften ihres Gegenübers und nähern sich unterbe-
wusst aneinander an. Deshalb müssen verdeckt arbeitende FBI-Agen-
ten von ihren Fällen abgezogen werden, ehe sie die in den Milieus, in
denen sie ermitteln, vorherrschenden gesellschaftsfeindlichen Verhal-
tensweisen übernehmen, statt dagegen vorzugehen. Ich meine dieser
Gefahr nicht ausgesetzt zu sein. Mir fehlt jede Neigung, Spionage zu
342

betreiben. Dennoch muss ich zugeben, dass mich Rod fasziniert: Er ist
hochintelligent, äußerst labil, in höchstem Maße bedauernswert und
steht nun bereits mit einem Fuß im Gefängnis. Es wäre kaum mensch-
lich, für Rod allein Hass zu empfinden. Außerdem kosten Hassgefüh-
le Kraft, und ich möchte meine wenige verbliebene Energie nicht da-
für opfern.
Wir verbringen etwa 15 Minuten mit dem üblichen anfänglichen Ge-
plauder. Wir erkundigen uns, ob Rod ausreichend Mahlzeiten zu sich
genommen hat, und diskutieren über Taxitarife. Wir sprechen über die
Bücher, die Rod gelesen (und dabei zerrissen) hat, die aktuellen Ver-
kehrsmeldungen über die Interstate 4, Moodys Töchterchen (das bei
der Geburt gesunde 3,9 Kilogramm auf die Waage brachte) und meinen
Fauxpas, die Flasche Riesling in Deutschland vergessen zu haben. Dann
jedoch hat Rod von diesem Geplänkel genug.
»Ich habe Gerüchte über eine Verhaftung gehört«, sagt er mit ernstem
Blick. Seine Lippen und sein Kinn zittern.
Mit ebenso ernster Miene erwidere ich: »Ich habe keinerlei Absicht,
Sie zu verhaften, Rod, und Mrs Moody sicher auch nicht.«
Vielleicht hätte das »ich« in meiner Aussage ein wenig mehr Betonung
vertragen, aber ich habe nicht gelogen. Eine Verhaftung ist für einen FBI-
Agenten ein bedeutendes Ereignis: Er führt, mit seinem Dienstjackett be-
kleidet, den Verdächtigen der Öffentlichkeit vor und steht während der
Pressekonferenz vor den Kameras. Dem Agenten wird höchste Anerken-
nung zuteil, und seine Karriereaussichten sind glänzend. Ich habe jedoch
heute Morgen unsere Dienststelle, die FBI-Zentrale und alle anderen da-
rüber informiert, dass ich die Verhaftung nicht vornehmen werde. Ich
habe das aus tiefster Überzeugung getan.
Meine Erklärung, die ich Koerner gegenüber abgegeben habe, kam
von Herzen: »An den Ermittlungen waren viele beteiligt, und sie alle ha-
ben Anerkennung verdient.« Koerner lenkte schließlich ein und übertrug
Rich Licht und Susan Langford die Leitung des für die Verhaftung zu-
ständigen Teams. Beiden gebührt diese Ehre aufgrund ihrer Leistungen.
Allerdings habe ich Koerner verschwiegen, dass ich mich nicht in der
Nähe des Parkplatzes aufhalten werde, wenn die Verhaftung vorgenom-
men wird. Moody hat dieselbe Entscheidung getroffen. Der Triumph,
Rod zu guter Letzt in Handschellen zu sehen, wurde uns schon vor Mo-
343

naten verleidet. Es gibt keinen Sieg zu feiern und keine Trophäe einzu-
heimsen. Die Verhaftung ist der letzte Akt einer Tragödie.
Im Anschluss an unsere Notlüge versuchen Terry, Rod und ich unser
Gespräch wieder aufzunehmen, doch keiner von uns scheint dies als an-
gemessen zu empfinden. Moody versucht, fröhlich zu erscheinen, ist aber
den Tränen nahe. Ich selbst bin vollkommen erschöpft. Rod, der Experte
des Rapport, passt sich unserer niedergeschlagenen Stimmung an. Um zu
verhindern, dass wir alle mürrisch und gereizt werden, setze ich dieser Si-
tuation ein Ende. Keiner von uns hat Lust, sich zu unterhalten.
»Es tut mir leid Rod, dass Sie um meinetwillen den weiten Weg auf
sich genommen haben«, sage ich. »Es geht mir heute nicht gut. Genauer
gesagt, fühle ich mich erbärmlich. Außerdem hat Ihre Mutter angerufen.
Sie macht sich Sorgen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, unser Treffen
an einem anderen Tag nachzuholen?«
»Bitte sehen Sie unbedingt bei Ihrer Mutter vorbei, während Sie in der
Stadt sind«, fügt Terry hinzu. »Sagen Sie ihr, dass es Ihnen gut geht. Sie
ist wirklich sehr besorgt.«
Terry und ich stehen von unseren Stühlen auf. Während wir Rod um-
armen, achten wir beide – für den Fall, dass er eine Waffe trägt – darauf,
ihm möglichst wenig Spielraum zu geben. Unsere letzte Begegnung mit
Rod nach insgesamt 42 Befragungen endet mit einer Art Judaskuss.
»Bis demnächst also«, sagt Rod und winkt uns zu. Er bleibt einen Mo-
ment lang mit der Hand auf der Türklinke stehen, als würde er darauf
warten, dass ich wie gewohnt noch etwas sage.
Kaum ist Rod zur Tür hinaus, breche ich auf dem Sofa zusammen,
während Moody die für die Verhaftung zuständigen Kollegen, die auf
dem Parkplatz warten, informiert: »Zielperson verlässt das Hotel.« Aus
allen drei Funkgeräten, die nun wieder eingeschaltet sind, ertönt eine
Nachricht nach der anderen, aber ich höre nicht zu. Das Geplapper auf
den einzelnen Frequenzen wächst sich in meinen Ohren zu einer uner-
träglichen Kakophonie aus.
»Kommen Sie, Joe, wir müssen gehen«, sagt Moody schließlich, aber
ich kann mich nicht bewegen. Während mir Moody auf die Beine hilft,
erschallt über Funk aus der Kommandozentrale Jubel, und Rich Licht
verkündet: »Rod ohne Zwischenfälle in Gewahrsam genommen.« Die-
se Nachricht wird nun sofort an die FBI-Zentrale, das Justizministeri-
344

um und alle beteiligten Behörden gehen. In wenigen Sekunden wird man


auch in Deutschland – und zweifelsohne in Russland – davon erfahren.
Ich stehe noch immer wie angewurzelt da, als Rich sich mit der Nach-
richt »Delta 3 kreischt« meldet. Mit dieser verschlüsselten Botschaft si-
gnalisiert er mir, dass ich auf eine wenig benutzte Frequenz der Spezi-
aleinheit ausweichen soll, die von niemandem in der Behörde mitgehört
werden kann. Terry geht mir zu Hand, und wir stellen schließlich die
Verbindung her.
»Können Sie sich vorstellen, was Rod als Erstes gesagt hat, nachdem
wir ihm die Handschellen angelegt hatten?«, fragt Rich.
Ich starre Moody mit leerem Blick an. Ich habe keinerlei Idee.
»›Weiß Joe Navarro davon?‹«
24
ÜBERLEBEN

Nachdem Rod das Hotelzimmer verlassen hat, bleiben Moody und ich
noch eine gefühlte Stunde in dem Raum. Vermutlich sind es eher 20 Mi-
nuten, doch wenn man sich vor Erschöpfung nicht bewegen kann, wenn
man in einem Zimmer mit angenehmer Temperatur stark schwitzt, wenn
der ganze Körper vor Fieber glüht und man dabei wie Espenlaub zittert,
dann fühlen sich Minuten wie Stunden an.
Terry schlägt vor, uns von einem Agenten mit dem Auto abholen zu
lassen. Als sie mir erneut auf die Beine geholfen hat, merke ich jedoch,
dass ich laufen möchte. Ich möchte spüren, wie mein Körper sich bewegt.
Vielleicht verschwinden meine Beschwerden, nun, da sich Rod in Ge-
wahrsam befindet. Das tun sie nicht. Normalerweise ein Spaziergang von
zehn Minuten, schleppe ich mich, von Moody gestützt, eine Dreiviertel-
stunde lang über den Asphalt.
Als sich die Fahrstuhltür im fünften Stock öffnet, schlägt uns Ju-
bel entgegen. Die meisten meiner Kollegen hatten nichts von dem Fall
346

Ramsay gewusst. Nun aber hat sich die Nachricht wie ein Lauffeuer
verbreitet, und alle sind in Ferienstimmung. Eine Verhaftung! Ein Spi-
on in Handschellen! Mir ist jedoch nicht nach Feiern zumute. Ich blei-
be, solange ich es aushalten kann, in meinem Büro sitzen. Die Wän-
de scheinen Karussell zu fahren. Um mich herum unterhält man sich,
doch ich nehme nichts davon wahr. Nachdem ich mich bei allen Betei-
ligten bedankt habe, schließe ich mich auf der Toilette ein, um abzu-
schalten.
Inzwischen sind meine Lymphknoten in beiden Armbeugen ange-
schwollen, und auch die Beulen zu beiden Seiten meines Kinns sind noch
vorhanden. Ich weiß nicht, was mir fehlt, doch diese Symptome versetzen
mich in Panik. Schlimmer noch ist das Gefühl der Distanz, mit der ich
alle Vorgänge um mich herum erlebe. Moody und Koerner ist selbstver-
ständlich bewusst, was ich in den letzten eineinhalb Jahren durchgemacht
habe. Greg Kehoe, Rich Licht und Susan Langford haben die schlimms-
ten Phasen miterlebt. Nicht nur, weil mein Kopf von Fieber vernebelt ist,
erscheinen mir fröhliches Plaudern und siegreiche Gesten nicht die rich-
tigen Schlusspunkte in dieser Geschichte zu sein.
Ich brauche Ruhe, unendlich viel Ruhe, doch die Arbeit am Fall
Ramsay ist noch nicht vorbei. Ich muss morgen, wenn Rod dem Haft-
richter vorgeführt ist, meine Aussage machen. Es wird ein Spießruten-
laufen werden – der Gerichtstermin bietet der Öffentlichkeit erstmals die
Möglichkeit, Hintergründe über diesen Fall zu erfahren. Rods Anwalt be-
kommt erstmals die Gelegenheit, sich mir entgegenzustellen, und es gilt,
unseren Fall schlüssig darzulegen. Im Moment bin ich mir nicht sicher,
ob ich der Anstrengung gewachsen bin. An Schlaf ist nicht zu denken –
ich werde die ganze Nacht hindurch die Antworten, die ich vor Gericht
geben werde, einstudieren. Außerdem bin ich körperlich und geistig al-
les andere als in Topform. Nachdem ich, zitternd vor Fieber, eine Stunde
auf der Toilette verbracht habe, überrede ich mich dazu, mich wieder im
Büro blicken zu lassen.
»Wo waren Sie?«, fragt Moody.
»Ich habe mich ausgeruht.«
»Der Chef sucht nach Ihnen. Sie sollen an der Pressekonferenz teil-
nehmen.«
»Machen Sie das.«
347

»Nein. Ich warte lieber, bis der Ringling Brothers Circus wieder in die
Stadt kommt, ehe ich diese Zirkusveranstaltung besuche.«
»Ich muss mich auf morgen vorbereiten«, erwidere ich. »Und es geht
mir nicht gut.«
»Sie sehen schrecklich aus, Joe. Gehen Sie nach Hause. So habe ich Sie
noch nie gesehen.«
»Ich weiß, Sie meinen es gut.« Ich packe meine Sachen zusammen und
umarme Moody. »Vielen Dank für alles, Terry. Ich habe Ihnen viel zu ver-
danken.«
»Joe …«
Ich lasse Moody nicht ausreden.
»Ich muss gehen. Springen Sie bitte für mich ein. Ich kann nicht hier-
bleiben. Ich brauche Ruhe.«
Ich verlasse das Gebäude durch die Hintertür. Es gelingt mir, mich an
der Presse vorbeizumogeln und nach Hause zu fahren, ohne hinter dem
Steuer einzuschlafen und quer durch eine Shoppingmall zu schlittern.

ALS ICH AM NÄCHSTEN TAG, am 8. Juni, vor dem Haftrichter meine


Aussage mache, sitzt mir Rod direkt gegenüber. Rods Mutter starrt mich
von den Besucherrängen aus an, als wäre ich ein Ketzer, der eine Kirche
besucht. Mark Pizzo, Rods Anwalt, versucht beherzt, meine Methoden
und meine Persönlichkeit zu hinterfragen. Pizzo erinnert dem Aussehen
nach ein wenig an den Schauspieler Andy Garcia (meinen kubanisch-
amerikanischen Landsmann) und besitzt ein ausgeprägtes Maß an Bau-
ernschläue. Im Gerichtssaal verfolgen etwa 50 Reporter jedes seiner Wor-
te. Pizzo zeigt sich dieser Situation auf beeindruckende Weise gewachsen.
Rod, der neben seinem Anwalt sitzt, unternimmt alles, um mich aus der
Fassung zu bringen. Er durchbohrt mich während der gesamten Zeit, die
ich im Zeugenstand verbringe, mit Blicken.
Einige Fragestellungen zielen eindeutig auf das Verhältnis zwischen
Rod und mir ab. Pizzo scheint damit das Ziel zu verfolgen, mich als emo-
tionales Wrack darzustellen  – womit er zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht unbedingt falschliegt.
»Entspricht es den Tatsachen, Agent Navarro, dass Sie den Angeklag-
ten bei fast jeder Begegnung umarmt haben – entweder vor oder nach
den Befragungen?«
348

»Das stimmt«, bestätige ich. »Ich habe ihn mit einem abrazo, einer
freundlichen Umarmung, begrüßt oder verabschiedet.«
»Lässt sich daraus nicht folgern, dass Sie eine intensive Beziehung zu
meinem Klienten pflegten?«
Pizzo fasst damit mein unendlich kompliziertes, von Zuneigung und
Aversion, von Übertragung und widersprüchlichen Gefühlen geprägtes
Verhältnis zu Rod mit knappen Worten zusammen. Ich lasse mich jedoch
nicht auf diesen Themenbereich ein.
»Ich habe Ihren Klienten umarmt, Mr Pizzo, um zu überprüfen, ob er
eine Waffe trägt. Schließlich hatte er mir erzählt, dass er an einem Bank-
überfall beteiligt gewesen war.«
Ich meine, aus Rods Gesichtsausdruck lesen zu können, dass ihn diese
Aussage zutiefst kränkt. Offen gesagt, bereitet mir diese Äußerung große
Gewissensbisse. Auf den Ausgang der Verhandlung hat dieser Moment
mit Sicherheit keinen Einfluss. Rod wird den US Marshals zur Unter-
suchungshaft überstellt. Rod gegen Kaution bis zum Prozessbeginn auf
freiem Fuß zu lassen steht nicht nur Diskussion. Der Tatsache, dass Rod
für die Vereinigten Staaten ein immenses Sicherheitsrisiko bedeutet, wird
Rechnung getragen.

BEVOR ICH MORGENS das Haus verließ, hatte das Fieberthermome-


ter 39 °C angezeigt. Da ich mich nun auf dem Rückweg nicht besser füh-
le, suche ich die Praxis eines weiteren kubanisch-amerikanischen Lands-
mannes auf. Dr. Juan Ling ist zwar wegen einer Konferenz außer Haus,
doch seine Sprechstundenhilfe nimmt mir Blut ab, da ihr mein schlech-
ter Zustand sofort auffällt. Selbst bei dieser harmlosen Prozedur wird mir
übel. Seit Tagen schwitze ich stark, und meine Beine waren schon vor
meinem Sprint zum Hotel Hyatt schwer wie Blei. Als ich spätnachmittags
in der Auffahrt vor unserem Haus parke, kann ich mich kaum aus dem
Auto hieven.
»Papa!«, ruft Stephanie voller Freude, als ich zur Tür hereinkomme.
Dass ihr Vater bei Tageslicht zu Hause ist, ist für sie völlig ungewohnt.
Meine Kraft reicht gerade aus, um ihr ein Lächeln zu schenken und ihr
über den Kopf zu streicheln. Danach steuere ich sofort auf mein Bett zu.
Luciana beobachtet, wie ich mich in Zeitlupe durchs Haus bewege – un-
fähig, auch nur ein Wort zu sagen.
349

In den nächsten drei Wochen versuche ich, regelmäßig ins Büro zu ge-
hen. Es gibt noch viel zu tun: Ich muss mich auf die Gerichtsverhandlung
vorbereiten, die Ermittlungen gegen Rondeau und Gregory weiterführen,
weitere Beweise für Rods Geständnisse sammeln und – wie beim FBI üb-
lich – jede Menge Papierkram erledigen. Es ist mir jedoch nicht möglich,
länger als zwei Stunden am Stück zu arbeiten.
In dieser Zeit erhalte ich einen Anruf von Jim Bamford, der mich zu
meinem »großartigen Ermittlungserfolg« beglückwünscht. Ich hatte bis-
her nur einmal mit Bamford Kontakt, als er mich vor Monaten wegen ei-
ner an die Presse durchgesickerten Information über den Fall Ramsay
anrief. Damals habe ich ihm gesagt, was ich jedem anderen Journalisten
unter den gegebenen Umständen auch mitgeteilt hätte: »Ich kann mit Ih-
nen darüber nicht besprechen, und ich kann Ihre Angaben nicht bestä-
tigen. Wenn Sie Ihren Artikel veröffentlichen wollen, dann tun Sie das.
Ich kann nichts dagegen unternehmen.« Diesmal nehme ich das Kompli-
ment gerne an, denn Bamford scheint es ernst zu meinen und keine wei-
tere Absicht damit zu verfolgen. Ich hege gegen Bamford keinen Groll.
Wer auch immer ihm geheime Informationen zugespielt hat, hat die Er-
mittlungen nicht zum Scheitern gebracht. Alles, was auf der Strecke ge-
blieben ist, ist meine Gesundheit.
Mein Leben ist völlig auf den Kopf gestellt. Hatte ich bisher mit besten-
falls drei Stunden Schlaf auskommen müssen, falle ich nun ins Bett, so-
bald ich nach Hause komme, und es fällt mir schwer, zwölf Stunden spä-
ter wieder aufzustehen. Die Tatsache, dass ich auch nach so viel Schlaf
keine Besserung verspüre, lässt auf eine ernsthaftere Erkrankung schlie-
ßen. Wenig hilfreich ist außerdem, dass ich meine körperlichen Be-
schwerden beharrlich ignoriere.
Schließlich suche ich doch noch einmal die Arztpraxis auf. Dr. Juan
Ling untersucht mich eine Stunde lang, geht die Ergebnisse der Blutun-
tersuchung durch, händigt mir vier Rezepte für Medikamente aus, die
ich sofort einnehmen soll, und verordnet mir bis auf Weiteres vollstän-
dige Bettruhe.
»Es sollte mir möglich sein, eine gewisse Zeit lang nur ab und an im
Büro vorbeizuschauen«, räume ich ein.
»Keine Arbeit!«, ermahnt mich Juan. »Keine! Joe, mein Befund lautet:
Du bist sehr, sehr krank.« Er schildert mir seine Diagnose ausführlich:
350

Erschöpfung, eine erhöhte Leukozytenzahl, eine Infektion mit dem Ep-


stein-Barr-Virus, Angstattacken und eine Vergrößerung der Milz. Vom
Hals bis zu den Beinen ist jeder Lymphknoten geschwollen.
»Du stehst zu sehr unter Stress, und ich gehe davon aus, dass du unter
einer klinischen Depression leidest. Viele deiner Symptome sprechen für
eine Posttraumatische Belastungsstörung«, warnt Juan.
»Sind Sie sich sicher, Doc?« Ich versuche zu scherzen, doch weder Juan
noch ich sind dazu in der Stimmung.
»Hör mir gut zu, Joe. Du musst dir deine Freizeit zurückerobern und
auf deine Gesundheit achten, sonst wirst du sterben. Hast du mich ver-
standen? Entweder du legst dich sofort ins Bett und ruhst dich aus,
oder du wirst nicht überleben. Dein Immunsystem ist am Boden, dei-
ne Lymphknoten versuchen, dein Blut zu reinigen, und dein Fieber ist
so hoch, dass es den stärksten Gaul umhauen würde. Du leidest unter
Angstattacken, weil dir dein Körper ›Stopp!‹ signalisiert. ›Stopp, oder du
stirbst‹ ist die Botschaft, die dir diese Attacken senden. Cuidate coño!«
Mit diesem spanischen Ausruf versucht Juan zu mir durchzudringen. Er
wird in Kuba benutzt, um zu mahnen: »Pass auf dich auf!«

JUAN BEWIRKT EINE ENTSCHEIDENDE VERÄNDERUNG. Ich fan-


ge an, auf meinen Körper und die Botschaften, die mir die Symptome
senden, zu hören, doch das ist erst der Anfang. Krankheiten, die ich bei
mir nie für möglich gehalten und von denen ich angenommen hatte, sie
würden nur andere treffen, werden meine ständigen Begleiter.
Neun Monate lang liege ich völlig erschöpft im Bett. Ich habe nicht ein-
mal die Kraft, alleine auf die Toilette zu gehen. Ich versinke in einer Art
Winterschlaf. Durchs Fensters sehe ich meine Tochter im Garten spielen,
doch es gelingt mir nicht, den Kopf zu heben oder zu lächeln, obwohl ich
versuche, den Anblick zu genießen. Eine Depression ist schrecklich. Man
fängt beim kleinsten Anlass an zu weinen. Die Krankheit ergreift von der
Seele Besitz und lässt sie nicht wieder los. Die Qualen sind so groß, dass
man über Selbstmord nachdenkt. So erging es auch mir.
Ich merke zwar, dass meine körperlichen Leiden verschwinden, doch
die Depression ereilt mich völlig überraschend. Erst als ich den Weg nicht
mehr herausfinde, merke ich, dass ich mich in dem Labyrinth verstrickt
habe. Dank eines chaotischen Krankenversicherungssystems spreche ich
351

bei mehreren Therapeuten vor – einigen guten und einigen schlechten.


Die Versicherungen kommen selten für eine gute psychologische Betreu-
ung auf, bei mir verschärft sich das Problem jedoch dadurch, dass ich
über die Umstände, die mich in dieses Tal geführt haben, nicht sprechen
darf. Aus dieser Sackgasse werde ich erst herauskommen, wenn das FBI
einen Psychologen bereitstellt, der über höchste Sicherheitsbefugnisse
verfügt.
Einige der Therapeuten gehen wie Juan davon aus, dass ich unter einer
Posttraumatischen Belastungsstörung leide. Manche erklären mir, dass
eine Virusinfektion zu Depressionen führen kann. Wieder andere führen
die Erkrankung darauf zurück, dass ich zu viel Zeit mit Rod Ramsay ver-
bracht habe. Ein bibliophiler Psychologe, bei dem ich geschlagene 55 Mi-
nuten verbringe, bezeichnet meinen Zustand als ›Weißes-Wal-Problem‹,
als wäre ich Kapitän Ahab und Rod mein Moby Dick. »Ahab hätte sein
Schiff auf einen anderen Kurs gebracht«, betont er immer wieder. »Wa-
rum haben Sie das nicht getan? Warum haben Sie das nicht getan?« Ich
habe wirklich keine Ahnung. Selbst in meinem müden, ermatteten Zu-
stand ist mir klar, dass diese Theorie mit dem Weißen Wal ein faden-
scheiniges intellektuelles Konstrukt ist, dass sich nur jemand ausdenken
kann, der noch nie eine solche Tortur erlebt hat. Der Weiße Wal wurde
für Kapitän Ahab zu einer Bedrohung, die er sich in seinen Gedanken
ausmalte – zu seinem Peiniger, zu seiner Obsession, zur Verkörperung
des Bösen. Ramsay dagegen ist real, und meinem Diensteid folgend, war
es meine Pflicht, gegen ihn zu ermitteln und ihn vor Gericht zu bringen,
egal, wie viele Hindernisse mir meine Vorgesetzten in den Weg legten.
Zahlreiche FBI-Agenten leiden aufgrund der hohen Anforderungen,
die ihre Arbeit an sie stellt, unter Depressionen. Viele behalten diese Tat-
sache für sich, um ihre Personalakte sauber zu halten und ihren Plan,
25 Dienstjahre abzuleisten und anschließend die Pensionszahlungen zu
genießen, nicht zu gefährden. Sie wenden sich stattdessen Alkohol oder
anderen Drogen zu. Zumindest diese Falle konnte ich bisher umgehen.
Meiner eigenen Einschätzung nach bin ich mental und seelisch aus-
gelaugt. Ich habe den Glauben an viele Dinge verloren und hatte mich
mit völlig unerwarteten Schwierigkeiten konfrontiert gesehen: Ande-
re Dienststellen hatten meine Pläne vereitelt. Die Washingtoner Außen-
stelle und die FBI-Zentrale hatten sich erst uneinsichtig, dann skeptisch
352

gezeigt. Ich habe unzählige Stunden mit verschiedensten Vorbereitun-


gen verbracht, um sicherzugehen, dass wir nicht scheitern würden. Stän-
dig bestand die Angst, Ramsay könnte verschwinden. Der Verdacht, dass
Ramsay noch weitere geheime Informationen besitzen könnte, dass noch
mehr Personen involviert waren und dass die ihnen zugespielten Doku-
mente es den Sowjets ermöglichten, einen Krieg gegen uns zu führen und
zu gewinnen, war beängstigend gewesen. Rod und seine Mutter ständig
anlügen zu müssen, um sie davon abzuhalten, sich einen Anwalt zu neh-
men, hatte mir zugesetzt. Der Zwang, Rod mit immer neuen Einfällen
dazu zu bewegen, uns weitere Geheimnisse anzuvertrauen, hatte an mei-
nen Kräften gezehrt.
Diese Anstrengungen fordern nun ihren Tribut. Es fühlt sich an, als
hätte man mir einen Mühlstein um den Hals gelegt.
Vielleicht spielt auch die mit meinen Erlebnissen zusammenhängende
existenzielle Bedrohung eine Rolle. Seit 1947 führt die Zeitschrift Bulle-
tin of Atomic Scientists anhand der sogenannten Atomkriegsuhr der Öf-
fentlichkeit vor Augen, wie groß die Wahrscheinlichkeit einer globalen
Katastrophe durch den Einsatz von nuklearen Waffen ist. Basis ist die
Metapher »fünf vor zwölf«, und tatsächlich steht der Minutenzeiger nie
weit von der Zwölf entfernt. Aufgrund meiner Ermittlungen in den letz-
ten zwei Jahren gehöre ich zu den wenigen Menschen, denen bewusst ist,
wie nah dieser kritischer Zeitpunkt tatsächlich war. In meinen kräftezeh-
renden Vorbereitungen, meiner unablässigen Verfolgungsjagd und mei-
ner beharrlichen Weigerung, ein Nein zu akzeptieren, wurde ich auch
von der Angst angetrieben, dass den Vereinigten Staaten und vielleicht
sogar der ganzen Welt nur noch wenig Zeit bleiben könnte. Rod Ramsay
hatte Menschen, die um ihre Macht fürchteten, die Mittel an die Hand
gegeben, auf zerstörerische Weise um sich zu schlagen und alles zu ver-
nichten. Er hatte uns der Handlungsmöglichkeiten beraubt und die Ge-
genseite zur Entscheidung ermächtigt.
Viele Agenten denken nach Abschluss der Ermittlungen nicht mehr an
einen Fall zurück. Auch ich habe das früher so gehalten. Der Fall Ramsay
war jedoch kein Alltagsgeschäft, und Rod ist kein banaler Verbrecher. In
gewisser Weise ist er für mich in den neun Monaten, in denen ich in mei-
nem Bett liege und mich frage, ob ich jemals gesunden und wieder zu
mir finden werde, an jedem einzelnen Tag gegenwärtig. Offen gestanden,
353

gehe ich davon aus, dass ich nie mehr derselbe sein werde. Angesichts des
Erlebten ist das wohl kaum möglich.

IN DEM NEBULÖSEN ZUSTAND, den ich nach Einsetzen der Depres-


sion, die mich meiner Kräfte beraubt, durchlebe, taucht immer wieder
die Frage auf, warum mir Rod seine Geheimnisse anvertraute. Sie be-
schäftigt nicht nur mich, sondern auch die Staatsanwaltschaft und die
wenigen Besucher, die sich in meine dunkle Welt hineintrauen. Zahl-
reiche Vermutungen werden geäußert: Anpassung (in gewisser Weise
sehnte sich Rod danach, wie ich zu sein), Narzissmus (das Bedürfnis, als
Klügster von uns allen zu gelten), ein schlechtes Gewissen etc. Mit Aus-
nahme des schlechten Gewissens – Rod ist unfähig, Schuld zu empfin-
den, weil er kein moralisches Verständnis besitzt – trug vermutlich jede
dieser Komponenten zu seiner Gesprächsbereitschaft bei. Die nachvoll-
ziehbarste Erklärung liefert mir jedoch Rods Verteidiger Mark Pizzo, der
die Motive seines Klienten inzwischen beinahe ebenso gut kennt wie ich:
Etwa ein Jahr, nachdem Rod nach einer Verständigung im Strafverfahren
verurteilt wurde, besuche ich Mark in seinem Büro. »Letztendlich haben
Sie ihn dazu verleitet«, erklärt Mark. »Ihr Handeln entsprach in keinerlei
Hinsicht den Erwartungen, die Rod aufgrund von Hunderten Kriminal-
filmen, die er gesehen hatte, besaß. Er dachte, er könnte gegen Sie gewin-
nen. Es war ihm zu keiner Zeit bewusst, dass Sie ihn langsam auf ver-
deckte Art verlockten, Ihnen zuzuarbeiten.«
»Tatsächlich?«, frage ich.
»Seine Geständnisse umfassen 177  Seiten  – ein Albtraum für einen
Verteidiger.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Auch ich war an den Hintergründen seiner Kooperationsbereitschaft
interessiert«, fährt Mark fort. »Im Rahmen unserer Verhandlungen mit
der Regierung, durch eine Verständigung im Strafverfahren das Strafmaß
festzusetzen, habe ich Rod gefragt, warum er so viel preisgegeben hat –
warum er all diese Geständnisse abgelegt und sich damit selbst den Strick
um den Hals gelegt hat. Seine Antwort lautete: ›Wegen Joe. Jedem ande-
ren hätte ich mich entzogen, doch Joe erschien mir überhaupt nicht ag-
gressiv. Er respektierte mich, und er machte sich niemals Notizen. Nach
einer Weile hatte ich den Eindruck, ich könnte ihm vertrauen, auch wenn
354

sich mein Vertrauen nicht auszahlen würde. Ich konnte nicht anders, als
mit ihm zu sprechen.‹«

Am Rande meines von der Krankheit dominierten Alltags nehme ich


wahr, dass sich in der Schattenwelt der Geheimdienste, der Sicherheits-
systeme und der Atomwaffenkontrolle infolge der von Rod enthüllten
Vorgänge bedeutende Veränderungen vollziehen. Das »ausfallsichere«
System der Army muss neu aufgebaut werden, um Missbrauch zu ver-
hindern. Den Menschen, die in Deutschland gegen die auf ihrem Boden
stationierten Pershing-II-Raketen demonstrieren, ist nicht bewusst, dass
diese Waffen aufgrund der Machenschaften von Conrad und Ramsay
noch in weiterer Hinsicht eine Bedrohung darstellen.
Die Systeme zur Sicherheitsüberprüfung des Personals, die in ekla-
tanter Weise versagt haben, müssen ebenfalls grundlegend überarbeitet
werden. Unter dieser Zielsetzung ist es erforderlich, alle weiteren Spio-
ne, die von Conrad und Ramsay in die Intrigen einbezogen wurden, auf-
zuspüren und ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Außerdem müssen
die Auswahlverfahren geändert werden: Es gilt, neue Kriterien zu entwi-
ckeln, anhand deren entschieden wird, ob eine Person für die Sicherung
geheimer Unterlagen geeignet ist. Auch die Art der Verwahrung und der
Prozess der Vernichtung nicht mehr benötigten Materials müssen durch-
dacht werden. Die Liste an zu klärenden Fragen ist mit Sicherheit endlos
lang. Während ich in meinem Bett liege – die Vorhänge zugezogen, um
das gleißende Licht auszusperren –, scheinen all diese Probleme einer an-
deren Galaxie anzugehören. Ich habe diesen Kampf nicht mehr durchzu-
stehen, und doch kreisen meine Gedanken in zermürbender Weise um
den Fall. Die vielen Hinweise, denen noch nachgegangen werden muss,
und die zahlreichen Lücken, die die Ermittlungen noch aufweisen, lassen
mich nicht zur Ruhe kommen.

SCHLIESSLICH GELINGT ES MIR DOCH, loszulassen und so weit zu


genesen, dass ich meine Arbeit wieder aufnehmen kann. Allerdings wer-
de ich vorerst nicht mehr für die Spezialeinheit und für die Luftraum-
überwachung tätig sein. Die Arbeitslast im Bereich der Spionageabwehr
ist während meiner Abwesenheit nicht geringer geworden. Jay Koerner
freut sich über meine Rückkehr. Meine Tätigkeit für die Behavioral Ana-
355

lysis Unit bietet mir die Möglichkeit, meine Befragungsmethoden und


meine Techniken der nonverbalen Kommunikation zu verfeinern. Von
den hoch motivierten Kollegen in dieser Einheit lerne ich viel.
Auch nach Rods Verhaftung ist der Fall Ramsay für mich nicht abge-
schlossen. In den nächsten sieben Jahren werde ich in mehreren Prozes-
sen vor dem Bundesgericht in Tampa als Sachverständiger hinzugezogen.
Jeffrey Rondeau und Jeffery Gregory werden jeweils zu 18  Jahren Haft
verurteilt. Über Kelley Therese Church, geborene Warren, die bei der
Army als Schreibkraft arbeitete und nach Rods Ausscheiden von Conrad
als Spionin der vierten Generation für das Netzwerk rekrutiert wurde,
wird eine Haftstrafe von 25 Jahren verhängt. Rod wird zu 36 Jahren Haft
verurteilt. Seltsamerweise bekomme ich noch jahrelang von Rod und sei-
ner Mutter zu Weihnachten Postkarten geschickt. Da ich die wahre Mo-
tivation nicht kenne, interpretiere ich die Karten als Signal, dass die bei-
den verstehen, dass ich eine Pflicht zu erfüllen hatte und meiner Arbeit in
bestmöglicher Weise nachging. In seinen Botschaften aus dem Gefäng-
nis dankt mir Rod oft dafür, dass ich ihm ein gutes Vorbild war. Er hegt
keinen Groll gegen mich und Mrs Moody. Nach einiger Zeit bitte ich die
Kollegen in der Außenstelle Tampa, mir keine weiteren Nachrichten von
Rod mehr zuzustellen. Ich kann und will sie nicht mehr lesen.
Clyde Lee Conrad verstarb 1998 im Alter von 50  Jahren in der Jus-
tizvollzugsanstalt und Sicherungsverwahrungsanstalt Diez nahe Koblenz
aufgrund eines Herzinfarkts. Zoltan Szabo, der Gründer des Spionage-
rings, lebt bis heute im neutralen Österreich und stand nie in den Ver-
einigten Staaten vor einem Gericht. Auch wenn es unvorstellbar scheint,
erhält Szabo noch immer die Pensionszahlungen aus seiner Zeit bei der
Army. Das Geld wird direkt auf sein Konto überwiesen. Ich habe mich
mit Szabo einige Tage lang an einem Ort, den ich nicht nennen darf, un-
terhalten. Meiner Einladung, mich in Tampa zu besuchen, ist er natür-
lich nie gefolgt.
Bis heute bekomme ich bei dem Gedanken, welchen Gefahren die
westliche Welt auf dem Zenit von Rod Ramsays und Clyde Conrads Spi-
onagetätigkeit ausgesetzt war, Gänsehaut.
Nachdem ich gemeinsam mit einem Dutzend anderer Zeugen im Pro-
zess gegen Conrad in Deutschland ausgesagt hatte, gelangte der Obers-
te Richter Ferdinand Schuth zu dem Schluss, dass der NATO nur zwei
356

Optionen geblieben wären, wenn sich die von Conrad und Ramsay mit
Informationen ausgestatteten Sowjets zum Angriff entschieden hätten:
»Kapitulation oder Einsatz der auf deutschem Boden stationierten Atom-
waffen.« Diese besonnenen Worte erschütterten die Geheimdienste und
das Militär bis ins Mark. Niemand hatte ein solches Ausmaß vermutet.
Andere erachteten die möglichen Konsequenzen als noch schwerwie-
gender. In dem Prozess gegen Ramsay, der im August 1992 vor dem Bun-
desgericht in Tampa stattfand, gab General Glenn K. Otis, der von 1983
bis 1988 das Kommando über die in Europa stationierten Einheiten der
US Army führte, in einer eidesstattlichen Erklärung seine Einschätzung
ab. Seiner Meinung nach hatte die Spionagetätigkeit von Ramsay und
Conrad den Westen so verletzbar gemacht und ihn in so großem Aus-
maß seiner Verteidigungsfähigkeit beraubt, dass »eine Niederlage un-
ausweichlich gewesen wäre«, wenn die Sowjets auf Basis der ihnen zur
Verfügung stehenden Kenntnisse gehandelt und einen totalen Krieg aus-
gelöst hätten. Diese Aussage muss man noch einmal deutlich machen:
Eine Niederlage der westlichen Mächte und damit auch der Vereinigten
Staaten wäre unausweichlich gewesen.
Ramsay und Conrad hatten die westliche Welt in einen Zustand ver-
setzt, in der ihr keine nennenswerte Verteidigung möglich gewesen wäre.
Weder die Berlin- noch die Kubakrise hatten dem Westen die Garantie
einer Niederlage beschert. Das deutsche und das amerikanische Gericht
waren sich bezüglich des Ausmaßes der von Conrad und Ramsay her-
vorgerufenen Katastrophe einig. In den Chroniken des Kalten Kriegs und
in der amerikanischen Geschichte kommt kein Ereignis diesem Schre-
ckensszenario gleich.

IN DEN NEUN MONATEN, in denen ich krank im Bett liege, drängt


sich mir auch immer wieder die Frage nach dem zentralen Aspekt dieses
Falls auf. Jedes Mal fällt meine Antwort unterschiedlich aus. Manchmal
beschäftigt mich die Tatsache, dass der gesamte Ermittlungserfolg auf
dem glücklichen Umstand beruhte, dass ich auf eine in der Hand zittern-
de Zigarette aufmerksam geworden war. An anderen Tagen lese ich aus
den Geschehnissen heraus, dass kein Sicherheitssystem Missbrauch aus-
schließen kann – jedes System kann von Verbrechern unterwandert wer-
den. Spionage stellt immer eine Bedrohung dar und kann existenzielle
357

Auswirkungen haben. Als Ermittler müssen wir weit in die Tiefe forschen
und uns darüber im Klaren sein, dass wir uns niemals sicher sein können,
was in der Welt passiert. Außerdem müssen wir uns der Tatsache bewusst
sein, dass in der Washingtoner Außenstelle und in der FBI-Zentrale nicht
jedermann hinter uns steht. Ein ehemaliger Mitarbeiter sagte einmal zu
mir: »Jeder FBI-Agent ist seines eigenen Glückes Schmied.«
Auch menschliche Schwächen spielen eine Rolle. Der Fall Ramsay
zeigt, welche Auswirkungen Habgier, Selbstüberschätzung, Neid und
Verachtung, gepaart mit einer kriminellen Neigung, haben können,
wenn man ihnen nicht Einhalt gebietet. Er kulminiert in einem Moment
der Geschichte, in dem uns die Zerstörung sicher gewesen wäre, wenn
ein winziges Detail einen anderen Verlauf bewirkt hätte. Im Zentrum des
Geschehens steht ein hagerer, bedauernswerter, völlig desolater junger
Mann, der das Potenzial gehabt hätte, viel aus seinem Leben zu machen.
Dieses Ausmaß des Bösen lässt mich nicht los.
»Nun bist du das Oberhaupt der Familie«, sagte mein Vater zu mir in
dieser traurigen Nacht in Cienfuegos, als er uns verließ. Seit ich diese
Worte im Alter von sieben Jahren vernahm, habe ich stets versucht, mei-
nen Pflichten nachzukommen, zu denen nicht zuletzt die Verteidigung
dieses von mir geliebten Landes gegen Feinde aus dem In- und Ausland
gehört. Erst als Erwachsener habe ich Nietzsches Warnung gelesen: »Wer
mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheu-
er wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund
auch in dich hinein.« Als Angehöriger einer Strafverfolgungsbehörde bli-
cke ich oft in diesen Abgrund. Ich habe diese Warnung ignoriert und mir
und meiner Familie damit geschadet.

AN DEM TAG, an dem ich krankgeschrieben wurde, fuhr ich ins Büro,
um meinen Dienstwagen abzugeben. Luciana fuhr mit unserem privaten
Auto hinterher, um mich ins Bett zurückbringen zu können. Kurz bevor
ich das Dienstgebäude verließ, bat mich der der gesamten Außenstelle
vorstehende Agent in sein Büro. Er teilte mir mit, dass mir die FBI-Zent-
rale für meine harte Arbeit, die zur Verhaftung Rod Ramsays geführt hat-
te, Anerkennung zolle, und händigte mir einen Umschlag aus, den ich zu
meinem Dienstausweis in die Tasche steckte. Ich war zu müde, um ihn
zu öffnen.
358

Wochen später, als meine Genesung so weit fortgeschritten war, dass


ich ohne Lucianas Hilfe ins Bad gehen konnte, sah ich einen Bankbeleg
auf dem Toilettentisch liegen.
»Was ist das?«, fragte ich Luciana.
»Ich habe den Scheck eingelöst, den du an deinem letzten Tag im Büro
erhalten hast.«
Ich konnte mich kaum noch daran erinnern. »Welcher Betrag stand
auf dem Scheck?«
»500  Dollar. Nach Abzug der Steuern, des Sozialversicherungs- und
des Krankenversicherungsbeitrags bleiben 327,36 Dollar.«
»Mit 500 Dollar kommt man heutzutage nicht mehr weit«, versuchte
ich zu scherzen, doch es gelang mir nicht zu lächeln.
»Nein, aber dieses Jahr wirst du an Stephanies Geburtstag zu Hause
sein – und du lebst, Joe.«
In diesem Moment fing ich an zu weinen. Zum ersten Mal in meinem
Leben schluchzte ich hilflos wie ein Baby. Luciana brachte mich zurück
ins Bett, und Stephanie half ihr dabei, so gut sie konnte. Dabei wieder-
holte Luciana immer wieder die Worte, mit denen wir Stephanie oft be-
ruhigten, wenn sie hingefallen war und sich wehgetan hatte: »Chore nao.
A vida e boa.«
Weine nicht. Das Leben ist schön.
Das ist es.
DANKSAGUNG

Als ich anfing, Bücher zu schreiben, wies mich meine Freundin und Men-
torin – die Autorin Toni Sciarra Poynter – darauf hin, dass der schwie-
rigste Teil eines Werkes oft der für die Unterstützung auszusprechende
Dank sei. Sie hatte recht, denn so vielen Menschen ist zu danken. Bei al-
len unseren Bemühungen lassen uns andere Anleitung, Bestärkung und
Ermutigung zuteilwerden und bereichern unsere Arbeit mit ihren Kennt-
nissen – das gilt für das Verfassen eine Buches ebenso wie für zehn Jahre
andauernde Ermittlungen in einem Spionagefall.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit, und es ist kaum möglich, die genaue
Zahl meiner Helfer anzugeben. Meiner tiefen Dankbarkeit kann ich je-
doch Ausdruck verleihen.
Die Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika haben dem
U. S. Army Intelligence Security Command (INSCOM) – dem Nach-
richtendienst der Armee  – und dabei vor allem der Foreign Coun-
terintelligence Activity (FCA) viel zu verdanken. Einem Hinweis der
CIA folgend, haben diese beiden Institutionen mehr als 250  000 in
Deutschland stationierte Soldaten überprüft und ihre Ermittlungen
schließlich auf einen Mann konzentriert, der der Sowjetunion streng
geheime Unterlagen zuspielte. Der immense Arbeitsaufwand, der da-
mit verbunden war, verschlägt mir bis heute den Atem. Durch dieses
große Engagement ist es gelungen, unter den amerikanischen Staats-
360

bürgern zwei Verräter auszumachen: Clyde Lee Conrad und Zoltan


Szabo.
Unter der Anleitung von General Ed Soyster und Colonel Stuart A. Her-
rington haben die Mitarbeiter dieser Institutionen schier Unmögliches er-
reicht. Dieser Erfolg ist in der US-amerikanischen Geschichte einzigartig.
Im Laufe der Jahre habe ich mit den hochprofessionellen INSCOM-
FCA Special Agents Norman Runk, Al Eways, Al Puromaki, Bob Gaiter
und Mike McAdoo zusammengearbeitet oder Kontakt gehabt. Hervorhe-
ben möchte ich Gary Pepper, mit dem mich jahrelang eine enge Arbeits-
beziehung verband. Er ist der beste Ermittler, mit dem ich je kooperiert
habe. Ich habe viel von ihm gelernt, und seine unvergleichliche Beharr-
lichkeit wurde mir zum Vorbild.
Ich möchte all den Männern und Frauen danken, die als ehemalige
und gegenwärtige Mitglieder des FBI der in ihrem Diensteid geleisteten
Verpflichtung, »die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu
schützen und gegen Feinde aus dem In- und Ausland zu verteidigen«, mit
großem Einsatz nachkommen. Ich weiß, welche Opfer sie Tag für Tag er-
bringen, und erweise ihnen meine höchste Anerkennung.
Mein besonderer Dank geht an die Mitarbeiter der Außenstelle des
FBI in Tampa für ihre Unterstützung bei der äußerst komplexen Ermitt-
lungsarbeit. Von den insgesamt 59  Außenstellen des FBI waren bisher
nur wenige mit der Strafverfolgung in Spionagefällen betraut. Tampa hat
fünf solcher Fälle aufgeklärt.
Julian »Jay« Koerner, Lynn Tremaine, Marc Reeser, Rich Licht, ­Susan
Langford, Jane Hein und vor allem Terry H. Moody danke ich für ihren
Einsatz, ihre Unterstützung, ihre harte Arbeit und ihr großes Engage-
ment. Dieses Buch erzählt auch ihre Geschichte.
Ihor O. E. Kotlarchuk leistete mir im Lauf der Jahre in vielen Fällen
Unterstützung und half mir dabei, mich im Labyrinth der Abteilung für
Innere Sicherheit des Justizministeriums zurechtzufinden. Ich danke ihm
für seinen Beistand und seine Freundschaft.
Dem ehemaligen ersten Assistenten des United States Attorney Greg
Kehoe, der den Fall Ramsay vor Gericht brachte, danke ich für seine
energische Führungsstärke, für seine Entschlossenheit und seine intel-
lektuelle Kraft. Kehoe als Koryphäe des Rechtwesens zu bezeichnen wird
seinen herausragenden Fähigkeiten nicht gerecht.
361

Donna Bucella, die als United States Attorney für den mittleren Ge-
richtsbezirk in Florida tätig war, danke ich dafür, dass sie in so vielen
Fällen Hindernisse aus dem Weg räumte. Auch an den Assistenten des
­United States Attorney Walter »Terry« Furr, meinen Freund, der mir fünf
Jahre lang bei der Bearbeitung des Falles zur Seite stand, ergeht mein
herzlicher Dank.
25 Jahre lang wollte ich den Fall Ramsay hinter mir lassen und nicht da-
rüber sprechen. Im Lauf der Jahre gelang es Steve Ross, meinem Freund,
der in New York als Literaturagent für die Abrams Artists Agency tätig
ist, mir mit großer Feinfühligkeit einige Details zu entlocken. Schließ-
lich überzeugte er mich mit dem Satz »Die amerikanische Öffentlichkeit
sollte über diesen Fall informiert werden«, ein Buch zu schreiben. Steve
ist nicht nur ein hervorragender Literaturagent, er ist auch ein wunder-
barer Mensch. Unter seiner behutsamen Anleitung wurde dieses Projekt
verwirklicht. Ihm und seinen fantastischen Kollegen in der Abrams Ar-
tists Agency Book Division ist es zu verdanken, dass diese Geschichte er-
zählt worden ist.
Mein Dank geht an David Doerrer von Abrams Books, der dieses Buch
Verlegern in aller Welt vorstellte, und an Paul Weitzman, der das Mate-
rial George Clooney und dessen Partnern von Smokehouse Pictures vor-
schlug.
Ich danke dem exzellenten Schriftsteller Howard Means, der sich die
Zeit nahm (während der Entstehung dieses Buches arbeitete er gerade an
seinem jüngsten Werk 67 Shots: Kent State and the End of American In-
nocence), mich bei meiner Arbeit zu unterstützen. Ich bin sehr froh über
seine Hilfe beim Formulieren meiner Gedanken zu einer durchgängigen
Erzählung. Ich habe von ihm sehr viel über die Kunst des Schreibens ge-
lernt.
Einen Entwurf anzufertigen ist eine Sache, eine Geschichte von An-
fang bis Ende zu erzählen und zu veröffentlichen eine ganz andere. Mein
Dank für die Bewältigung dieser Aufgabe gebührt Rick Horgan, dem Vi-
zepräsidenten und leitenden Herausgeber von Scribner, und seinen Mit-
arbeitern. Rick sichtete den Entwurf und erkannte dessen Potenzial. Er
stellte stets die richtigen Fragen und lektorierte das fertige Manuskript
selbst. Ricks Fähigkeiten, das Beste aus einem Autor herauszuholen, su-
chen ihresgleichen. Ich hätte mir keinen besseren Herausgeber wünschen
362

können. Rick hat mich in herausragender Weise durch den Entstehungs-


prozess geführt. Ich danke außerdem Ricks Mitarbeitern Colin Harrison,
Sally Howe, Jaya Miceli, Pete Garceau, Laura Wise, Mia Crowley-Hald,
Chris Milea und Richard Willett, deren Unterstützung essenziell war.
Auch meiner Familie bin ich zu großem Dank verpflichtet. Durch ihre
Aufopferung und ihr leuchtendes Vorbild zeigten mir meine Eltern die
Liebe zur Familie, die Bereitschaft, hart zu arbeiten, und eine tiefe Ver-
bundenheit mit dem Land, das uns als Flüchtlingen eine Heimat gab. Die
Erfolge, die ich in meinem Leben erzielt habe, sind auf ihren Einfluss zu-
rückzuführen. Ich verdanke ihnen so viel. An all meine Familienmitglie-
der nah und fern mein herzliches Dankeschön.
Zu guter Letzt möchte ich ganz besonders meiner Frau Thryth für ihre
Liebe, ihre Anteilnahme und ihre Geduld danken. Das Schreiben lenkt
mich allzu oft ab. Thryth ist mein Anker und führt mich zum Wesentli-
chen zurück. Mit ihrer Hilfe gelang es mir, jene Erlebnisse, die ich so lan-
ge für mich behalten hatte, nach außen zu tragen. Ich trage ihre Zunei-
gung und ihre Liebe immer bei mir.
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Menschen wie ein
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Joe Navarro Der Körper verrät uns alles, was eine Person eigent-
lich nicht sagen möchte. Man muss ihn nur verstehen
Menschen lesen können. Der ehemalige FBI-Agent und international
Ein FBI-Agent erklärt, anerkannte Experte für Körpersprache Joe Navarro
hat jede Geste und Haltung, sowie jeden Gesichtsaus-
wie man Körpersprache
druck unter die Lupe genommen und nach dem neu-
entschlüsselt esten Stand analysiert. Er erklärt genau, wie man sein
Gegenüber durchschaut, Gefühle und Verhaltenswei-
sen entschlüsselt, Täuschungsmanöver erkennt und
souverän die Körpersprache entlarvt.
Mit diesem Buch macht Ihnen keiner mehr etwas vor!
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ISBN 978-3-86882-239-7

Joe Navarro Wüssten wir nicht alle gerne, was andere Menschen
Menschen verstehen wirklich denken, fühlen oder planen? Wie wir sie
zu etwas überreden oder beeinflussen können?
und lenken Wie wir sofort erkennen können, ob sie besorgt
Ein FBI-Agent erklärt, oder zufrieden sind? Und wünschen wir uns nicht
wie man Körpersprache für auch, dass sie uns als jemanden wahrnehmen,
den persönlichen Erfolg nutzt der Selbstsicherheit, Autorität und Empathie aus-
strahlt? Menschen kommunizieren ständig nonver-
bal: durch Körpersprache und Gesichtsausdrücke,
Tonlage und Aussprache, die Art, wie sie Gefühle
zeigen oder sich kleiden. In diesem Buch zeigt uns
der Bestsellerautor und Körperspracheexperte Joe
Navarro, wie wir diese universelle Sprache verste-
hen und anwenden können. Denn wer diesen Code
kennt, wird sowohl beruflich als auch privat besser
und effizienter kommunizieren, seine Ziele leichter
erreichen und erfolgreicher sein.
416 Seiten
14,99 € (D) | 15,50 € (A)
ISBN 978-3-86883-583-0

Chris Kyle Chris Kyle diente von 1999 bis 2009 bei den US
Scott McEwen Navy SEALs und verzeichnete in jener Zeit die
Jim DeFelice höchste Zahl an tödlichen Treffern in der amerika-
nischen Militärgeschichte. In dieser eindring-
American Sniper lichen Autobiografie erzählt der geborene Texa-
Die Geschichte des ner, der 2013 erschossen wurde, die Geschichte
Scharfschützen Chris Kyle seiner außergewöhnlichen Karriere. Nach dem
11. September 2001 wurde er im Kampf gegen
den Terror an die Front geschickt und fand seine
Berufung als Scharfschütze. Hart und ehrlich
spricht Kyle über die Schattenseiten des Krieges
und das brutale Handwerk des Tötens. Seine Frau
Taya schildert in bewegenden Einschüben, wie der
Krieg sich nicht nur auf ihre Ehe und ihre Kinder
auswirkte, sondern auch auf ihren Mann.
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