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THOMAS BREZINA

Der Mann
ohne Gesicht
Abenteuer in Amsterdam

Abenteuer Nr. 45

NEUER BREITSCHOPF VERLAG


Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Brezina, Thomas:
Die Knickerbocker-Bande / Thomas Brezina. – Wien; Stuttgart: hpt-breitschopf
Der Mann ohne Gesicht: Abenteuer in Amsterdam. – 1. Aufl. – 1997
ISBN 3-7004-3749-8

1. Auflage 1997
Porträtfoto: Michael Fantur
Lektorat: Wolfgang Astelbauer
Satz und Repro: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrbach
Druck und Bindung: Ueberreuter Print

Bereits in der ab 1998 gültigen Rechtschreibung gesetzt.

Non-profit ebook by tg
Juli 2004
Kein Verkauf!

© hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG, Wien 1997


Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wie-
dergabe, der Übersetzung und der Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten.
Inhalt
Nächtlicher Kampf.................................................................... 6
Augenzeugen unerwünscht ....................................................... 9
Rette sich, wer kann!............................................................... 13
Dominiks Beobachtung........................................................... 17
Zu allem entschlossen ............................................................. 22
Ein Inspektor kommt............................................................... 24
Sehr merkwürdig..................................................................... 28
„Folgt mir!“............................................................................. 33
Die Nachricht .......................................................................... 37
Die Wassergruft ...................................................................... 40
„Ratten!“ ................................................................................. 44
Lauter Betrüger ....................................................................... 47
Wer ist Juliaan van der Ende?................................................. 51
Im Hafen ................................................................................. 55
Ein alter Bekannter.................................................................. 59
Das Versteck ........................................................................... 63
Freund oder Feind? ................................................................. 67
Gejagt ...................................................................................... 72
Poppis Idee.............................................................................. 76
Hochspannung......................................................................... 82
Ein bekanntes Gesicht............................................................. 86
Der Chef des Sicherheitsdienstes............................................ 90
In der Windmühle ................................................................... 95
Lilo macht einen Fehler .......................................................... 98
Des Rätsels Lösung............................................................... 101
Die Knickerbocker-Bande soll in einer großen TV-Show auf-
treten und verbringt ein paar Tage in Amsterdam. Eines Nachts
beobachtet Axel eine geheimnisvolle Gestalt mit einer Spie-
gelmaske: den Mann ohne Gesicht. Das wird den Juniordetek-
tiven zum Verhängnis, denn der Mann ohne Gesicht kann keine
Augenzeugen gebrauchen. Wird es den vier Freunden gelingen,
den Meister der Verwandlung zu entlarven? – Kein Fall für
schwache Nerven!

Der Name KNICKERBOCKER BANDE … entstand in


Österreich. Axel, Lilo, Poppi und Dominik waren die Sieger
eines Zeichenwettbewerbs. Eine Lederhosenfirma hatte Kinder
aufgefordert, ausgeflippte und knallbunte Lederhosen zu entwer-
fen. Zum großen Schreck der Kinder wurden ihre Entwürfe aber
verwirklicht, und bei der Preisverleihung mußten die vier ihre
Lederhosen vorführen.
Dem Firmenmanager, der sich das ausgedacht hatte, spielten
sie zum Ausgleich einen pfiffigen Streich. Als er bemerkte, daß
er auf sie hereingefallen war, rief er den vier Kindern vor lauter
Wut nach: „Ihr verflixte Knickerbocker-Bande!“
Axel, Lilo, Dominik und Poppi gefiel dieser Name so gut,
daß sie sich ab sofort die Knickerbocker-Bande nannten.

KNICKERBOCKER MOTTO 1:
Vier Knickerbocker lassen niemals locker!

KNICKERBOCKER MOTTO 2:
Überall, wo wir nicht sollen,
stecken wir die Schnüffelknollen,
sprich die Nasen, tief hinein,
es könnte eine Spur ja sein.
Nächtlicher Kampf
Der Plan schien absolut sicher. Es konnte gar nichts schief
gehen.
Pünktlich um ein Uhr morgens piepste der kleine Wecker un-
ter dem Kopfkissen. Ein zerstrubbelter Kopf sauste hoch, und
zwei drahtige Beine kamen unter der Bettdecke hervor. Die
Füße steckten in weichen Kletterschuhen.
Eine Minute nach eins wurde fast lautlos das mittlere Fenster
im dritten Stock geöffnet. Gleich darüber befand sich ein dik-
ker Holzbalken, an dem schon am Vorabend ein Seil befestigt
worden war. Die Beine schwangen sich ins Freie.
Vom Fenster ging es mindestens acht Meter in die Tiefe. Ei-
nen Gehsteig oder eine Straße gab es unten nicht. Das Haus lag
an einer der vielen Amsterdamer Grachten, einem Wasserweg.
Die dunklen Wellen schlugen sachte gegen die Hauswand,
und es plätscherte leise. Sonst war kein Geräusch zu hören.
Allerdings stand das Haus in einem sehr ruhigen Stadtteil von
Amsterdam.
Zwei kräftige Hände packten das Seil, und eine schlanke Ge-
stalt glitt aus dem Fenster. Geschickt schlang sie sich das Seil
um einen Knöchel und rutschte vorsichtig nach unten. Das Ziel
war ein Fenster im ersten Stock – genau gesagt: das Zimmer,
das dahinter lag.
Am Himmel zwischen den Häusern kam der Mond zwischen
den Wolken zum Vorschein. Sein Licht reichte aus, die Gestalt
ein wenig zu beleuchten.
Sie hatte einen unnatürlich großen, eckigen Schädel und
strähnige Haare. Kinn und Nase waren riesig, und die Augen
traten weit aus den Höhlen.
In der Ferne wurde das Brummen eines Motorbootes hörbar.
Die Gestalt verharrte einen Augenblick und lauschte in die
Nacht.

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Das Brummen kam rasch näher.
Damit hatte der nächtliche Kletterer nicht gerechnet. Auf
dem Seil hängend war er natürlich für jedes vorbeifahrende
Boot gut sichtbar.
Hastig begann er wieder nach oben zu klettern.
Das Motorboot war noch schneller, als er befürchtet hatte.
Mit jaulendem Motor düste es um die Ecke. Das Wasser spritz-
te zur Seite und traf so hart gegen mehrere Fensterscheiben,
dass das Glas klirrte.
Es handelte sich um ein schnittiges Motorboot, wie es in
Amsterdam einige Leute besaßen. Steuerrad und Gashebel wa-
ren hinter der hochgezogenen Windschutzscheibe unter einem
kleinen, schmalen Dach untergebracht, das vor Regen und
Spritzwasser schützen sollte. Der hintere Teil des Bootes mit
der Ladefläche und den Sitzplätzen war offen.
Deutlich waren drei schwarze Schatten zu erkennen. Den
breiten Schultern nach zu schließen, waren es Männer. Trotz
der rasanten Fahrt standen sie. Es sah aus, als würden sie sich
umarmen. Oder hielten die beiden äußeren den Mann in der
Mitte fest? Ja, sie hatten seine Arme gepackt und umklammer-
ten sie eisern. Der Gefangene wehrte sich. Er versuchte, seine
Gegner abzuschütteln.
Das Boot steuerte auf eine niedere Holzbrücke zu, unter der
es gerade durchkommen würde. Der Dachaufbau hätte nicht
viel höher sein dürfen.
Regungslos verharrte die seltsame Gestalt am Seil. Wie ein
Sack hing sie da. Über den Balken und die Seilwinde wurden
sonst Möbelstücke hochgezogen. Lieferungen waren nur auf
dem Wasserweg möglich.
Zwei laute Schmerzensschreie erklangen. Der Gefangene
musste einem Bewacher gegen das Schienbein getreten haben.
Einer hatte ihn losgelassen und krümmte sich, der andere ver-
suchte verzweifelt, den Gefangenen festzuhalten. Mit einem
kräftigen Tritt beförderte das Opfer auch seinen zweiten Geg-

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ner zu Boden.
Dann ging alles blitzschnell. Das Boot erreichte die Brücke.
Der Gefangene streckte die Arme hoch und griff nach der Brü-
stung. Schon zog er sich aus dem Motorboot nach oben. Ge-
schickt kletterte er über das Geländer.
Die Männer im Motorboot waren so überrascht, dass sie nicht
wussten, wo er hinverschwunden war. Die Geschwindigkeit
wurde verringert, ein Suchscheinwerfer auf das Wasser gerich-
tet.
Die Gestalt am Seil hielt den Atem an. Wenn das Licht nach
oben schwenkte, würden sie ihn entdecken. Und dann?
Der Geflohene hatte sich auf der Brücke zu Boden fallen las-
sen. Wie eine Eidechse robbte er voran. Die Brüstung gab ihm
Deckung.
Das Motorboot kehrte zurück und suchte den Kanal nach
Spuren ab. Die beiden Männer redeten wild durcheinander. Sie
schienen zu fluchen.
Fünf endlos lange Minuten schlichen dahin. Die Gestalt am
Seil spürte, wie sich ihre Muskeln zusehends verhärteten. Die
Hände waren blutleer und schmerzten, die Beine waren einge-
schlafen. Aber der Kletterer wagte keine Bewegung.
Nach weiteren fünf Minuten fuhr das Boot davon.
Der geflohene Gefangene hatte die ganze Zeit flach auf der
Brücke gelegen. Erst als das Brummen des Motors nicht mehr
zu hören war, stand er auf. Triumphierend streckte er die rechte
Faust in die Luft. Wieder kam für einen Augenblick der Mond
zwischen den dunklen Wolken hervor und beleuchtete den
Mann. Es war ein erschreckender Anblick.

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Augenzeugen unerwünscht
Der Mann hatte kein Gesicht! Man konnte zwar Haare und
Ohren ausnehmen, Mund, Nase und Augen jedoch nicht. Keine
noch so harte Miene hätte so grauenhaft wirken können wie die
glitzernde Leere. Erst im Licht des Mondes wurde allmählich
erkennbar, dass sich von seiner Stirn bis zum Kinn eine spie-
gelnde Fläche wölbte.
Noch immer hing die Gestalt am Seil und atmete kaum. Die
Schmerzen in den Händen und Beinen waren fast unerträglich
geworden.
Der Mann ohne Gesicht wandte sich um. Unentschlossen
stand er auf der Brücke.
Da verließ den nächtlichen Kletterer die Kraft, und er stürzte
in die Tiefe. Ohne Aufschrei, aber mit einem lauten Platschen
landete er im trüben Wasser der Gracht. Prustend tauchte er aus
den Fluten auf.
Der Mann ohne Gesicht beugte sich über das Brückengelän-
der und schien den kantigen Schädel wahrzunehmen, an dem
jetzt nasse Haarsträhnen klebten. Er stürmte über die Brücke
und verschwand zwischen den Häusern.
Die Gestalt im Wasser riss an ihrer Kopfhaut und zog sie ab.
Darunter kam Axels Gesicht zum Vorschein.
„Ich bin doch ein Blödmann!“, schimpfte er. Er war wütend,
weil er abgestürzt war. Verdammt, jetzt nur nicht von Fräulein
Linda entdeckt werden! Sie hatte einen leichten Schlaf, und
ohne Maske würde sie Axel sofort erkennen.
Fräulein Linda hatte von dem Juniordetektiv die Auszeich-
nung „Schreckschraube der dritten Art“ verliehen bekommen
und ausnahmsweise hatte er damit nicht übertrieben.
Er schwamm mit kräftigen Stößen zur Brücke, wo er an einer
Hausmauer Metallsprossen gesehen hatte. Dort kletterte er
nach oben und schwang sich, wie vorhin der rätselhafte Mann,

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über das Brückengeländer. Als er durch die enge Gasse zum
Eingang des Hauses schlich, hinterließ er eine deutliche Was-
serspur.
Der Junge zitterte am ganzen Körper. Daran war nicht nur
die kühle Nachtluft schuld. Seine Muskel schmerzten von der
Anstrengung und waren hart und verkrampft.
O nein! Das Haustor war natürlich abgeschlossen! Fräulein
Linda lebte in ständiger Angst, dass einer ihrer Schützlinge
entführt werden könnte. Zähneklappernd stand Axel da und
überlegte fieberhaft, was er tun sollte.
Da ging das Licht im Treppenhaus an.
Axel erschrak und sah sich nach einem Versteck um. Er
huschte zum Nebeneingang und schmiegte sich in die Türni-
sche.
Nur wenige Meter von ihm entfernt wurde die Haustür auf-
gesperrt. Er wagte es aber nicht, den Kopf vorzustrecken und
nachzusehen, wer ins Freie trat. Falls es Fräulein Linda war,
durfte sie ihn unter keinen Umständen entdecken.
„Sein Bett ist leer, und es ist etwas ins Wasser gefallen“, hör-
te er eine Stimme flüstern.
„Warum sollte er mitten in der Nacht aus dem dritten Stock
in den dreckigen Kanal springen?“, wisperte eine zweite Stim-
me.
Erleichtert trat Axel aus seinem Versteck.
„Leute, hier bin ich!“, keuchte er.
Lilo und Dominik, die ihren Kumpel gerade suchen gehen
wollten, fuhren zusammen, als er auf sie zutaumelte.
„Los, rein! Ich muss euch etwas erzählen“, zischte Axel.
Die drei Knickerbocker verschwanden im Haus und
schlossen wieder ab. Sie huschten auf Zehenspitzen in den drit-
ten Stock, wo sie nebeneinander liegende Zimmer bewohnten.
Während sich Axel aus den nassen Klamotten schälte und ab-
trocknete, schlich jemand um das Haus.
Es war der Mann ohne Gesicht. Er war zurückgekehrt, um

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festzustellen, wer oder was da ins Wasser geplumpst war. Er
konnte keine Augenzeugen gebrauchen. Ihn durfte niemand
verraten!
Wie ein Spürhund war er den Abdrücken gefolgt. Sie hatten
ihn direkt zum Haupteingang des Hauses geführt, in dem die
Knickerbocker untergebracht waren. Verwirrt hatte ihn freilich,
dass sich die Spur auch zu einer Tür an der Seite des Hauses
zog.
Als das Licht im Treppenhaus erlosch, blieb der Mann ohne
Gesicht noch eine Weile stehen. Hier wohnte jemand, der ihn
gesehen haben könnte! Vielleicht kamen die Männer am Mor-
gen zurück und befragten die Leute in der Nachbarschaft, ob
sie etwas beobachtet hatten. Im Augenblick hielten sie ihn für
tot – für ertrunken.
Ein Klicken hinter der Eingangstür ließ den Mann nach hin-
ten weichen. Hinter den Fenstern des Treppenhauses war das
Licht angegangen. Ein Schatten huschte am Fenster vorbei.
Es war Axel.
„Dieser verdammte Zeitschalter!“, fluchte er leise.
Das Licht im Treppenhaus war mit einer Schaltuhr verbun-
den. Eigentlich sollte die Vorrichtung dafür sorgen, dass es
nach fünf Minuten automatisch erlosch. Doch das Gegenteil
war der Fall: Fünf Minuten nachdem man es abgedreht hatte,
flammte es wieder auf.
Bloßfüßig sauste Axel nach unten. Im Laufen band er den
Gürtel seines Bademantels zu.
Gleich neben der Tür befand sich der Sicherungskasten, in
dem die Schaltuhr untergebracht war. Axel wusste, was jetzt zu
tun war.
Der Mann ohne Gesicht drückte sich gegen die Eingangstür.
Neben ihr war ein schmaler Milchglasstreifen, der vom oberen
Türrand bis zum Boden reichte. Verschwommen war Axels
Schatten zu erkennen.
Als der Mann den Knickerbocker hörte, kam ihm eine Idee.

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Er zog sich die schwarze Perücke vom Kopf und löste die Le-
derriemen, die das spiegelnde Oval festhielten. Vorsichtig
nahm er die Schale ab, die exakt auf seine Kopfform hin mo-
delliert worden war. Er drehte sich zum Haus und fixierte das
schwarz gestrichene Holz der Tür.
Der Sicherungskasten war uralt. Sicherungen dieser Art wa-
ren bestimmt nur noch im Museum zu finden. Aber bei Fräu-
lein Linda war alles so – hoffnungslos von gestern.
Nach mehreren Versuchen war es Axel endlich geglückt, den
Zeitschalter außer Betrieb zu setzen. Das Licht ging aus. Er-
leichtert wischte er sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Obwohl ihm von dem unfreiwilligen Bad noch immer kühl
war, begann er zu schwitzen. Außerdem spürte er einen Druck
im Kopf. Es war, als würde sich sein Hirn ausdehnen und im
Schädel nicht mehr genug Platz haben.
Im Dunkeln lief er nach oben. Die Tür zum Schlafzimmer
Fräulein Lindas im ersten Stock war nur angelehnt. Lautes
Schnarchen drang heraus.
Axel streckte die Zunge heraus, bevor er weiter rannte.
Der Mann vor dem Haus setzte die spiegelnde Schale wieder
auf und zog die Riemen fest. Er wusste jetzt, dass er etwas un-
ternehmen musste.

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Rette sich, wer kann!
Die Knickerbocker-Bande hatte sich im Jungenzimmer ver-
sammelt und veranstaltete ein kleines Nachtpicknick mit Chips,
Schokolade und Cola.
Poppi, Lilo und Dominik hörten gespannt zu, als Axel von
seinen Beobachtungen berichtete. So ganz glaubten sie ihm
aber nicht. Er übertrieb manchmal ziemlich.
„Ein Mann ohne Gesicht …“, wunderte sich Poppi.
Lieselotte meinte: „Es handelt sich bestimmt um eine Art
Maske, um eine Tarnung.“
Axel rümpfte die Nase: „Ha-ha-ha, Frau Superhirn. Tolle
Tarnung! Es ist ja überhaupt nicht auffällig, wenn jemand mit
so einem Ding auf dem Kopf herumrennt. Jeder wird es für
eine Riesensonnenbrille halten. Na klar!“
Lilo wollte sich schon wehren, ließ es dann aber bleiben.
Axel hatte Recht. Was auch immer dieses Ding war – es war
sehr auffällig.
„Wir sollten die Sache aber auf jeden Fall melden“, sagte
Dominik.
Axel war dagegen. Er fürchtete die neugierigen Fragen Fräu-
lein Lindas.
Poppi gähnte heftig. „Sag, wieso bist du überhaupt draußen
herumgeklettert?“
Axel wurde verlegen. Dominik würde bestimmt wütend wer-
den, wenn er von seinem Plan erfuhr.
Die Bande verdankte Dominik nämlich den Aufenthalt in
Amsterdam. Fräulein Linda allerdings ging auf das Konto von
Poppis Mutter.
Um keine Antwort geben zu müssen, begann nun auch Axel
heftig zu gähnen. „Ich erkläre euch das morgen“, murmelte er.
„Jetzt aber ab in die Falle!“
Glücklicherweise hakte Poppi nicht nach.

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Minuten später lagen die vier im Bett und waren bald einge-
schlafen.
Axel wurde jedoch von Alpträumen geplagt. Der Mann ohne
Gesicht jagte ihn durch das nächtliche Amsterdam bis zu einer
Stelle, wo er nicht mehr weiterkonnte. Er stand an einem Ab-
grund, und in der Tiefe brodelte Lava. Ein stechender Geruch
stieg ihm in die Nase. Qualm schlug ihm ins Gesicht und
brannte ihn in den Augen.
Axel hustete so heftig, dass er aufwachte. Das Zimmer war
voll Rauch. Der Junge konnte kaum mehr atmen.
„Feuer! Feuer!“, hörte er die Mädchen brüllen.
Dominik, der wie ein Murmeltier schlief, zog sich die Decke
über den Kopf. Axel riss sie ihm weg und schrie ihm ins Ohr:
„Raus, wir müssen raus! Es brennt!“
Dominik sauste hoch und geriet in Panik. Er stürmte aus dem
Zimmer, kehrte aber sofort wieder zurück: „Das Stiegenhaus
steht in Flammen! Wir können nicht nach unten. Wir werden
ersticken!“
Poppi und Lilo stürzten ins Zimmer der Jungen. Sie hatten
nasse Handtücher vor dem Gesicht. „Wir können doch nicht
aus dem dritten Stock ins Wasser springen! Das sind fast zehn
Meter!“, rief Lilo.
Da fiel Axel das Seil ein. Es baumelte noch immer draußen.
„Los … bindet euch etwas um die Hände! Wir lassen uns am
Seil ins Wasser!“, krächzte Axel und schob seine Freunde zum
Fenster.
Sie fetzten die Überzüge von den Kissen und Decken und
wickelten sie um die Hände.
Lilo rutschte als Erste. Ihr folgten Dominik und Poppi. End-
lich konnte auch Axel sich aus dem Zimmer schwingen. Er
glitt in die Tiefe und sah die Flammen hinter den Fenstern des
zweiten Stockes hochschlagen. Als er beim ersten Stock ange-
langt war, fiel ihm Fräulein Linda ein. Was war nur mit ihr los?
Warum rief sie nicht nach Hilfe?

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Der Junge tat nun, was er vorhin nicht hatte ausführen kön-
nen: Er stieg durch das offene Fenster in ihr Schlafzimmer.
Auch hier war alles voll Rauch.
Axel hielt sich die Hand vor das Gesicht und kämpfte sich
zum Bett vor, in dem das Fräulein schlummern musste.
Er tastete nach dem Schalter einer Stehlampe, um Licht zu
machen, zog dann aber erschrocken die Hand zurück.
Das Metallgestell glühte.
Neben Axel zischte es. Ein rötlicher Schein stieg an der
Wand empor. Ein Schwall von Funken quoll aus der Steckdo-
se.
Endlich hatte der Junge das altmodische Bett erreicht. Er
konnte es nicht fassen: Fräulein Linda trug tatsächlich eine
Nachthaube – mit Spitzen am Rand!
Das Fräulein hustete im Schlaf, wachte aber nicht auf. Axel
rüttelte seine „Schreckschraube“, bekam aber nur ein unwilli-
ges Brummen zu hören.
Endlich schlug das Fräulein die Augen auf und lallte: „Ja,
was ist denn?“
„Schnell, Sie müssen aufstehen. Das Haus brennt!“, rief
Axel.
Fräulein Linda hatte Mühe, die Augen offen zu halten. „Das
Haus brennt … schrecklich … Feuerwehr!“, japste sie benom-
men. Vermutlich hatte sie Schlaftabletten geschluckt.
Auf Axels Schulter gestützt schaffte es die Frau bis zum Fen-
ster. Widerspruchslos stieg sie auf das Fensterbrett. In ihrem
langen weißen Nachthemd sah sie wie ein Gespenst aus. Mit
einem hohen Schrei sprang sie ins Wasser.
Axel folgte ihr und zog sie im Rettungsschwimmergriff zur
Brücke.
Aus allen Fenstern des schmalen Hauses schlugen mittler-
weile die Flammen. In den Nachbargebäuden waren die Lichter
angegangen. Menschen beugten sich aus Fenstern, Stimmen
gellten durch die Nacht. Eine Feuerwehrsirene kam näher.

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Die vier Knickerbocker standen triefend nass auf der Brücke
und atmeten schwer. Fräulein Linda war total geschockt und
brachte kein Wort heraus. Axel ließ sich zu Boden sinken und
wollte sich mit dem Rücken gegen einen Holzpfeiler lehnen.
Dabei sah er ihn.

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Dominiks Beobachtung
Er stand am anderen Ende der Brücke und wandte den Kopf
vom Feuer zu den Knickerbockern und wieder zurück – der
Mann ohne Gesicht!
„Dort, dort steht er!“, keuchte Axel und stieß Lieselotte an.
Der Unheimliche schien ihre Blicke zu spüren und ergriff die
Flucht.
„Wir müssen ihn stellen!“, japste Axel. Aber er hatte keine
Kraft. Alle seine Reserven waren aufgebraucht.
Lilo zögerte einen Augenblick und nahm dann die Verfol-
gung auf.
Der Mann ohne Gesicht hatte ungefähr 70 Meter Vorsprung.
Er rannte mit gleichmäßigen großen Schritten. Mehrfach
schlug er einen Haken und bog in eine Nebengasse ein. Liese-
lotte verlor ihn wiederholt aus den Augen, konnte aber am
Klappern seiner Schuhe die Richtung feststellen, in die er ge-
laufen war.
Doch dann stürzte der Mann. Eine weggeworfene Getränke-
dose war ihm zum Verhängnis geworden.
Lilo näherte sich dem Unbekannten. Je kleiner der Abstand
wurde, desto größer wurde ihre Angst. Was sollte sie tun, wenn
sie dem geheimnisvollen Mann gegenüberstand?
Ihre Schritte wurden langsamer. Schließlich blieb sie stehen
und starrte die rätselhafte Gestalt an.
Diese war mittlerweile wieder auf den Beinen und rüttelte an
den Fahrrädern, die an das Geländer der Gracht gelehnt stan-
den. Beim neunten hatte der Mann Glück. Es war nicht abge-
sperrt. Er schwang sich auf den Sattel und trat in die Pedale.
Je weiter er sich entfernte, desto klarer konnte Lilo denken.
Sofort wollte sie die Verfolgung aufnehmen. Es war jedoch zu
spät! Der Mann ohne Gesicht war verschwunden.
Über Amsterdam ging bereits die Sonne auf, als die Knick-

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erbocker endlich ins Bett krochen. Die vier waren völlig er-
schöpft und sanken dankbar in die weißen Laken.
Die Feuerwehr war mit einem Schiff gekommen und hatte
gelöscht, was noch zu retten war. Glücklicherweise hatten die
Rammen nicht auf die umliegenden Häuser übergreifen kön-
nen.
Da das Holländische dem Deutschen sehr ähnlich ist, hatten
die vier Freunde einige Wortfetzen verstehen können. Die Po-
lizisten und die Feuerwehrleute hielten einen Kabelbrand für
die Ursache des Feuers. Die Leitungen waren alt und so hatten
sich durch einen Kurzschluss die Flammen im ganzen Haus
schnell ausbreiten können.
Fräulein Linda war einmal kurz aus der Starre des Schocks
erwacht und in die Gasse gelaufen, in der ihr zerstörtes Haus
lag. Dominik war ihr gefolgt und hatte sie zurückgeholt. Dabei
war ihm etwas aufgefallen, was er seinen Freunden unbedingt
erzählen wollte. Im Trubel der Ereignisse hatte er dann aber
darauf vergessen.
Die Polizei hatte aus Fräulein Linda Name und Telefonnum-
mer ihrer Schwester herausbekommen und diese verständigt.
Sie war herbeigeeilt und hatte Fräulein Linda und ihren Besuch
aus Österreich zu sich nach Hause mitgenommen.
Etwas war den vieren am Haus der Schwester sofort merk-
würdig erschienen, aber sie waren zu müde gewesen, um län-
ger darüber nachzudenken.
Der Arzt, den die Polizei gerufen hatte, hatte den Juniorde-
tektiven und Linda Beruhigungstropfen verabreicht, die ihre
Wirkung nicht verfehlten.

Als Dominik die Augen aufschlug, war es gleißend hell. Die


Sonne schien durch ein schmales Fenster genau auf sein Kopf-
kissen.
Zuerst hatte der Junge Mühe, sich zurechtzufinden. Er lag in
einem Bett, das wie eine Truhe aussah und an der Wand stand.

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Der Raum war schmal und nieder. Auf der anderen Seite er-
kannte er ein zweites Bett, in dem Axel schlummerte.
Dominik wollte aufstehen und suchte nach etwas, an dem er
sich hochziehen konnte. Er bekam eine Holzleiste zu fassen,
die aber sofort nachgab. Ein Deckel klappte über ihm zu, und
er lag in der Dunkelheit. Wo war er? In einem Sarg? Mit bei-
den Fäusten trommelte er gegen das Holz. „Hilfe, rauslassen!“,
brüllte er.
Schritte näherten sich, und der Deckel wurde geöffnet.
Das braungebrannte Gesicht einer älteren Dame lächelte ihn
an. Ihr Haar war fast weiß und ganz kurz geschnitten. An ihrem
linken Ohr baumelte ein großer
Ring, in dem ein Papagei aus Keramik saß. „Ausgeschla-
fen?“, lächelte sie.
„Wer sind Sie?“, fragte Dominik misstrauisch.
„Ich bin Lindas Schwester, Annabel. Und du musst Dominik
sein, der tolle Schauspieler, Tänzer und Sänger, nicht wahr?“
Sie streckte ihm den Arm entgegen, um ihm aufzuhelfen.
Dominik bemerkte, dass er nur mit einer Unterhose bekleidet
war. Verschämt zog er die Bettdecke hoch.
„Ich schau schon weg“, versprach Annabel grinsend und ver-
ließ den Raum. „Das Badezimmer findest du hinter der näch-
sten Tür links, und Frühstück, besser gesagt Mittagessen, gibt
es am Vorderdeck!“, rief sie über die Schulter.
Als Dominik durch eines der kleinen Fenster blickte, sah er
die Beine von vorbeigehenden Menschen. Auf der anderen
Seite glitzerte Wasser.
Sie befanden sich auf einem Hausboot! Davon gab es in Am-
sterdam noch viele, und es galt als sehr schick, so zu wohnen.
Lilo und Poppi lagen im selben Raum, ebenfalls in Kistenbet-
ten. Tagsüber klappte man den Deckel zu, und schon hatte man
ein Sofa.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die vier Knick-
erbocker auf dem Vorderdeck rund um ein Metalltischchen

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saßen.
„Sie sind Fräulein Lindas Schwester?“, fragte Lieselotte un-
gläubig.
Annabel lachte. „Kaum zu glauben, nicht wahr? Wir sind
sehr verschieden. Ich war ein Blumenmädchen und bin mit der
Gitarre unter dem Arm durch ganz Europa gezogen. Ich habe
auf der Straße gesungen und mir so mein Geld verdient. Für
Linda war ein Hippie schlimmer als sieben Pickel auf der Na-
se.“ Annabel musste über ihren Vergleich lachen.
„Übrigens hat sie mir eingeschärft, euch keine Sekunde aus
den Augen zu lassen. Sie musste noch einmal zur Polizei we-
gen des Hauses. Eine schlimme Geschichte, aber Hauptsache,
es ist keiner verletzt worden.“
Beim Stichwort Haus fiel Dominik wieder ein, was er seinen
Freunden gestern Nacht hatte erzählen wollen.
Zur Sicherheit wartete er damit, bis Annabel in die Küche
ging, um ein paar Eier zu braten.
„Also: Das Feuer ist durch einen Kurzschluss ausgebrochen,
der einen Kabelbrand ausgelöst hat“, begann er.
Seine Freunde nickten.
„Ihr erinnert euch an die Milchglasscheibe neben dem Ein-
gang? Das Glas war zerbrochen, als ich Fräulein Linda zurück-
holte“, berichtete Dominik.
Lieselotte fand das nicht ungewöhnlich: „Klar, durch die Hit-
ze.“
„Aber es lag keine einzige Scherbe auf der Straße. Alle wa-
ren nach innen gefallen. Außerdem hat es im Erdgeschoss gar
nicht gebrannt. Das Feuer hat im ersten Stock begonnen!“, sag-
te Dominik aufgeregt.
Axel kam ein Verdacht. „Der Sicherungskasten befindet sich
genau neben der Tür. Es ist sicher eine Kleinigkeit, in diesem
altmodischen Ding einen Kurzschluss zu verursachen … Der
Mann ohne Gesicht muss um das Haus geschlichen sein!“
Poppi flüsterte: „Meinst du, er hat den Kurzschluss ausge-

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löst? Absichtlich?“
Axel nickte stumm.
„Aber woher wusste er von dem Sicherungskasten?“, über-
legte Lilo.
„Glaubt mir! Er war’s! Wie sonst wäre zu erklären, dass er
sich nicht gleich aus dem Staub gemacht hat, nachdem er sei-
nen Gegnern entkommen ist? Ich glaube, er wollte sichergehen,
dass ihn niemand …“, Axel schluckte. Ihm war soeben klar
geworden, welchen Zweck das Feuer gehabt hatte. Er war ein
unerwünschter Zeuge und sollte beseitigt werden.
Doch der Plan des geheimnisvollen Mannes war schief ge-
gangen. Würde er es noch einmal versuchen?
Lilo griff sich an die Nase. Sie spürte, wie gefährlich der Un-
bekannte war. Finger weg, warnte sie eine innere Stimme.
Doch sie wollte unbedingt mehr über die Gestalt ohne Gesicht
herausfinden.
Vorerst aber blieb für Nachforschungen keine Zeit. Die
Knickerbocker-Bande war nämlich aus einem ganz bestimmten
Grund nach Amsterdam gekommen.

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Zu allem entschlossen
Der Mann ohne Gesicht war in der Nacht mit dem Fahrrad
bis zum Hafen gefahren.
Um nicht aufzufallen, hatte er kurz in einer dunklen Durch-
fahrt angehalten und die spiegelnde Schale abgenommen. Vor-
sichtig hatte er sie unter seiner Jacke verschwinden lassen,
denn sie war für ihn kostbarer als Gold.
Unter dem Futter seiner Jacke waren mehrere falsche Bärte
und Augenbrauen versteckt. Er wählte einen Vollbart und be-
sonders buschige Augenbrauen aus und klebte sie sich sorgfäl-
tig an. Niemand, der ihn jetzt sah, sollte später sein wahres
Gesicht beschreiben können. Der Mann war ein Meister der
Verkleidung.
Zum Glück waren nur wenige Menschen unterwegs. Um den
Blumenmarkt, wo das Leben schon mitten in der Nacht be-
gann, machte der Mann ohne Gesicht einen großen Bogen.
Er steuerte auf eine kleine düstere Pension zu. Über dem
Eingang hing eine völlig verschmutzte Leuchtschriftreklame,
die aus nur drei Buchstaben bestand: RIP.
Der Mann trat ein und ging auf einen niederen Tresen zu.
Dahinter lümmelte ein Bursche, der wohl als Portier hier arbei-
tete.
In der Pension stank es nach Essen, abgestandenem Rauch
und Toilette.
Der verschlafene Portier reichte dem Mann wortlos einen
Schlüssel und streckte die andere Hand nach dem Geld aus.
Bezahlt wurde hier im Voraus.
Aber der Mann ohne Gesicht hatte kein Geld bei sich. Er war
doch erst gerade … Ein schwerer Fehler! Er hätte sich dafür
ohrfeigen können.
Als der Portier bemerkte, dass der späte Gast nicht zahlen
konnte, zog er den Schlüssel wieder zurück und wies ihm die

22
Tür.
Davon ließ sich der Mann ohne Gesicht aber nicht beein-
drucken. Er würde hier übernachten, auch ohne Geld. An der
Rückseite des Hauses kletterte er an der Regenrinne nach oben
und stieg durch ein Fenster. Er hatte Glück: Das Zimmer war
unbewohnt.
Schnell verriegelte er die Tür und ließ sich auf das knarrende
Bett fallen. Er schlief sofort ein.
Da das Zimmer als nicht vermietet galt, wurde er am näch-
sten Morgen auch nicht von der Putzfrau gestört. Obwohl ihn
der Hunger quälte, wagte er sich den ganzen Tag über nicht
nach draußen. Er wollte auf den Einbruch der Dunkelheit war-
ten. Da fühlte er sich sicherer.
Um sich die Zeit bis zum Abend zu vertreiben, schaltete er
den Fernsehapparat ein. Es gab Zeichentrickfilme und Quiz-
sendungen und gelangweilt starrte der Mann auf den Bild-
schirm. Dann aber kam ein Bericht, der ihn interessierte: Er sah
das Mädchen, das ihm in der Nacht nachgelaufen war, und die
anderen drei Kinder, die er auf der Brücke beobachtet hatte.
Soviel er verstand, nahmen sie an einem Wettbewerb teil. Es
war ein Bericht, der live vom Veranstaltungsort gesendet wur-
de. Am unteren Bildrand wurde ein Hinweis eingeblendet: Es
gab noch Karten für die Show, die in einer Halle am Stadtrand
für das Fernsehen aufgenommen wurde.
Da der Mann ohne Gesicht kein Papier hatte, notierte er sich
den Namen der Halle auf die Manschette seines Hemdes.
Sein Plan, sich von dem Augenzeugen zu befreien, war ge-
scheitert! Und dann hatten ihn auch noch dessen Freunde gese-
hen! Was hatten sie über ihn erzählt? Wem hatten sie etwas
verraten?
Der Mann ohne Gesicht war wild entschlossen, alle zum
Schweigen zu bringen, die von ihm wussten. Das Geheimnis
musste um jeden Preis gewahrt bleiben.

23
Ein Inspektor kommt
Die Halle, in der die Show geprobt wurde, hieß Tulpenhalle.
Sie lag nämlich inmitten riesiger Tulpenfelder, für die Amster-
dam so berühmt ist.
Axel, Lilo, Poppi und Dominik standen auf der Bühne im
grellen Scheinwerferlicht. Die Mädchen und Dominik fanden
die Probe cool, Axel aber hätte sich am liebsten aus dem Staub
gemacht.
Vor ihnen hüpfte ein kleiner Mann hin und her, der mit sei-
nen langen Haaren an eine Gnompuppe erinnerte. „Mehr
Schwung, Kinder, mehr Schwung!“, rief er, ließ sein Becken
wie eine Bauchtänzerin kreisen und bewegte die Arme, als wä-
ren seine Knochen elastisch.
„Das verzeih ich dir nie!“, zischte Axel Dominik zu.
Begonnen hatte alles im Februar. Auf der großen Schulparty
hatte die Knickerbocker-Bande zum Spaß eine Popband nach-
gemacht, die mit ihren Songs gerade die Hitparaden stürmte.
Die Juniordetektive fanden die Band aber ganz und gar nicht
toll, sondern äußerst komisch. Die vier Sänger traten nämlich
immer in knallbunten Kostümen auf und bewegten sich wie
Gummifiguren.
Die Schulkollegen der Knickerbocker waren von der Parodie
begeistert gewesen, und Herr Kascha, Dominiks Vater, hatte
den Auftritt sogar auf Video aufgenommen.
Im Fernsehen war dann zu einem internationalen Wettbewerb
aufgerufen worden. Kandidaten aus verschiedenen Ländern
sollten Popstars nachmachen, durften aber nicht älter als 14
Jahre sein.
Heimlich hatte Dominik das Video eingeschickt, und zu sei-
ner Überraschung waren sie tatsächlich für die Show ausge-
wählt worden.
Den Siegern winkten fantastische Preise, aber Axel war das

24
egal. Er fand es unter seiner Würde, vor Tausenden Menschen
auf der Bühne herumzuhüpfen und sich dämlich zu verrenken.
Erschwerend kam Fräulein Linda hinzu. Da niemand die
Knickerbocker nach Amsterdam begleiten konnte, hatte sich
Poppis Mutter an ihre alte Gouvernante erinnert. Sie hatte als
junges Mädchen auf Frau Monowitsch aufgepasst und war ge-
nau das, was sich Poppis Mutter unter einem geeigneten
Wachhund vorstellte.
Fräulein Linda lebte in Amsterdam und war über den Besuch
begeistert. Am liebsten hätte sie jedoch die vier unter einen
Glassturz gesetzt, damit sie sich nicht schmutzig machten,
schön brav und still waren und nichts anstellten.
Es verging kaum eine Minute ohne Ermahnung: „Sitz gerade!
Iss langsam! Eine junge Dame schmatzt nicht! Bohr nicht in
der Nase! Frisier dich! Schneuz dich! Halt die Hand vor, wenn
du gähnst!“
Auf Axel hatte es Fräulein Linda besonders abgesehen. Sie
hatte ihm versprochen, einen „echten kleinen Kavalier“ aus
ihm zu machen, was auch immer das sein sollte.
Als sie Axel eines Tages nach dem Abendessen beibringen
wollte, wie der vollendete Mann von Welt einer Dame die
Hand küsst, hatte es ihm gereicht.
In der darauf folgenden Nacht hatte er sich dafür rächen und
dem alten Fräulein einen Schreck einjagen wollen. „Zufälli-
gerweise“ hatte er in seinem Rucksack eine alte Gummimaske
dabei. Doch die Dinge hatten sich ganz anders entwickelt.
Wohin war der Mann ohne Gesicht bloß verschwunden? Die
Knickerbocker hatten Annabel von seinem Auftauchen erzählt,
aber Lindas Schwester hatte ihnen nicht so recht geglaubt.
Endlich war die Probe zu Ende!
Axel atmete erleichtert auf.
Dominik warf ihm einen tadelnden Blick zu und meinte:
„Man könnte denken, du kommst aus der Folterkammer!“
„So fühle ich mich auch!“, knurrte Axel. Die Reise nach Am-

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sterdam hätte ihm überhaupt gestohlen bleiben können.
„Kinder, Kostümprobe!“, rief eine Frau. Sie hatte die größte
Wuschelmähne, die Lieselotte je gesehen hatte, und winkte die
vier Freunde in einen Nebenraum. Dort hingen auf fahrbaren
Kleiderstangen ein paar hundert Kostüme.
„Mein Name ist Mareike“, stellte sich die Kostümbildnerin
vor. Sie nahm vier enge, glitzernde Trikots von der Stange und
reichte sie den Knickerbocker-Freunden.
„Was? Das soll ich anziehen? Niemals!“, protestierte Axel,
als sie ihm ein bonbonrosa Teil hinstreckte. „Darin sehe ich ja
wie Zuckerwatte aus. Kommt gar nicht in Frage!“
„Aber eure Vorbilder tragen das auch!“, gab Mareike zu be-
denken.
Lilo stieß ihren Kumpel mit dem Ellbogen an und meinte:
„Los, mach keinen Ärger! Morgen haben wir es überstanden.“
Jemand räusperte sich hinter ihnen.
Mareike drehte sich zur Tür, in der ein Mann stand. Er trug
eine schwarze Lederjacke und hatte die Hände in den Taschen
vergraben. Irgendwie wirkte er verlegen. Sein Haar war rot-
blond und struppig, sein Gesicht mit Sommersprossen übersät.
„Man hat mir gesagt, ich würde euch hier finden“, begann er.
„Wer sind Sie?“, fragte Mareike scharf.
„Inspektor Caspar van Fries!“, antwortete der Mann. „Ich un-
tersuche den Brand des Hauses von Linda de Note. Kann ich
euch kurz ein paar Fragen stellen?“
Lilo nickte.
Der Mann hielt den Kopf die ganze Zeit über leicht gesenkt,
als würde er auf seine Schuhspitzen starren. Knapp befragte er
die vier über die Vorfälle der vergangenen Nacht. Auf einem
winzigen Block machte er ein paar Notizen.
„Wollen Sie nicht kurz hereinkommen?“, fragte Mareike.
Van Fries winkte ab und blieb im Schatten der Tür stehen.
Lieselotte übernahm das Beantworten der Fragen.
Plötzlich aber konnte sich Axel nicht länger zurückhalten und

26
platzte heraus: „Der Mann ohne Gesicht ist an allem schuld.“
Atemlos berichtete er von seinen Beobachtungen.
Der Inspektor schien sehr interessiert und schrieb alles mit.
Die nächsten Kandidaten waren mit der Bühnenprobe fertig
und kamen nun lachend auf die Garderobe zu.
Hastig klappte der Mann das Notizbuch zu und verabschiede-
te sich. „Wenn ich weitere Fragen habe, finde ich euch hier,
nicht wahr?“
„Oder bei der Schwester von Fräulein Linda. Wir wohnen
jetzt auf ihrem Hausboot!“, gab Dominik bereitwillig Aus-
kunft.
Fünf kichernde Mädchen aus Italien drängten durch die Tür.
Im nächsten Augenblick war der Inspektor verschwunden.
Lilo machte das misstrauisch. Sie stürmte auf den Gang hin-
aus und blickte sich um.
Der Mann war nicht mehr zu sehen.
Dem Superhirn der Bande wurde sehr unbehaglich zu Mute.
Vielleicht war Caspar van Fries gar kein Inspektor!
Sie musste ihre Freunde warnen. Von nun an würden sie ge-
nau darauf achten, was sie wem erzählten.

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Sehr merkwürdig
„Wart ihr auch schön brav?“, fragte Fräulein Linda, als die
vier Knickerbocker durch den Künstlerausgang der Tulpenhalle
traten.
„Nein, wir haben gespuckt wie die Lamas, auf die Bühne ge-
pinkelt, mit der Steinschleuder geschossen und zum Abschluss
die Halle unter Wasser gesetzt“, murmelte Axel.
Poppi zischte flehend: „Axel, bitte, hör auf! Sonst erzählt sie
alles meiner Mutter und ich kann die nächste Reise vergessen!“
Das alte Fräulein machte ein Gesicht, als hätte es gerade ei-
nen halben Liter Essig getrunken.
„Entschuldigung“, brummte Axel. „Ich werde auch bestimmt
nie wieder so vorlaut sein.“
Augenblicklich verzog sich das hagere Gesicht zu einem Lä-
cheln. „Braver Junge, es geht ja, siehst du!“, lobte Fräulein
Linda.
Sie fuhren mit Bus und Straßenbahn zum Hausboot. Lilo hat-
te unterwegs keine Gelegenheit, mit ihren Freunden auch nur
ein Wort zu sprechen. Fräulein Linda rückte sofort näher, wenn
die vier sich einander zuwandten. Sie wirkte sehr müde. Die
Aufregung über den Brand hatte sie völlig geschafft. Es war für
sie unvorstellbar, nicht in ihrem Haus mit den alten Möbeln,
den alten Tapeten und den alten Bildern zu wohnen. Bis das
Haus instand gesetzt war, würde mindestens ein halbes Jahr
vergehen.
Auf dem Hausboot wurden die jungen Stars schon von An-
nabel erwartet. Lichterketten erhellten das Vorderdeck, und in
bunten Lampions flackerten Kerzen.
„Gibst du ein Fest?“, fragte Fräulein Linda säuerlich.
„Bei mir ist jeder Tag ein Fest“, erwiderte ihre Schwester.
„Übrigens ist Besuch für euch da, Kinder.“‘
Lilos Herz schlug schneller: Besuch? Wer konnte das sein?

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Erst jetzt bemerkten die Juniordetektive einen Mann, der an
dem kleinen Metalltisch saß. Obwohl es angenehm warm war,
trug er eine kleine, flotte Wollmütze mit aufgerolltem Rand.
Der Mann ließ seine Pfeife schmatzend von einem Mund-
winkel in den anderen wandern und stand auf, um den vieren
die Hand zu reichen.
„Würden Sie sich bitte vorstellen, junger Mann!“, verlangte
Fräulein Linda scharf.
Der Besucher beugte sich zu den Knickerbockern und flüster-
te: „Wer ist denn das? Eure Großmutter? Oder ein Wach-
hund?“
„Das ist Fräulein Linda, die auf uns aufpasst!“, erklärte Poppi
leise.
Das Benehmen des Mannes änderte sich sofort. Er stürzte auf
das Fräulein zu und verbeugte sich artig. „Meine Teuerste, das
mit ihrem Haus tut mir leid, sehr leid. Mein Name ist Ian
Claes. Ich bin Reporter und möchte über Ihre Schützlinge einen
Bericht schreiben. Man hat mir erzählt, sie hätten Ihnen das
Leben gerettet.“
Fräulein Linda lächelte und nickte: „Das haben sie, die tapfe-
ren Kinder. Ach, ich habe ihnen dafür nicht einmal noch ge-
dankt. Aber ich bin völlig durcheinander.“
Annabel fasste ihre Schwester am Arm und zog sie ins Boot.
„Komm, der Arzt hat dir Ruhe verordnet. Ich werde auf die
vier Rangen gut Acht geben!“
Ian setzte sich mit den Knickerbockern an den Tisch und ließ
sich alles schildern, was in der Nacht geschehen war. Gespannt
folgte er ihrem Bericht über den Brand und die Flucht aus den
Flammen.
Axel schilderte, wie er die schnarchende Linda ins Wasser
geschubst hatte, und kam dann auf den Mann ohne Gesicht zu
sprechen. „Keiner glaubt uns, aber es ist wahr! Wir haben ihn
gesehen und bestimmt hat er das Feuer verursacht.“
Lilo ballte die Fäuste. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, ih-

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ren Kumpel zu warnen. Das Superhirn war überzeugt, dass es
besser war, über den Mann ohne Gesicht zu schweigen.
Ian Claes lauschte Axels Bericht mit großen Augen.
„Sie glauben uns doch, oder?“, fragte Axel hoffnungsvoll.
Der Reporter holte tief Luft und meinte: „Naja, um ehrlich zu
sein, ich denke, ihr schneidet jetzt ein wenig auf. Die Story
über das Feuer ist genug. Wahrscheinlich habt ihr euch ver-
schaut oder … oder irgendein Irrer hat sich einen Scherz er-
laubt. Glaubt mir, in dieser Stadt wimmelt es von ausgeflippten
Typen. So, und jetzt muss ich los! Spätestens am Sonntag
könnt ihr meinen Artikel in der Morgenzeitung lesen!“ Er
sprang vom Boot auf den Kai und fuhr auf einem Rad davon.
„So eine Pleite! Ich komme mir schon wie ein Märchenonkel
vor!“, seufzte Axel.
„Es gibt Futter!“, verkündete Annabel, die gerade mit einem
schwer beladenen Tablett aus dem Hausboot kam. „Linda
schläft schon. Aber sie hat mir eingeschärft, euch an die Kette
zu legen.“
Hunger hatten die vier Freunde an diesem Abend wenig.
Während Annabel etwas zum Trinken holte, berichtete Lilo
von ihrem Verdacht den Inspektor betreffend.
Poppis Augen wurden größer und größer.
„Wir haben es mit einem Gegner zu tun, dessen wahres Ge-
sicht wir nicht kennen. Ein gravierender Nachteil für uns, das
muss ich schon sagen!“, meinte Dominik verquer.
„Hallo! Ist jemand zu Hause?“, rief jemand mit tiefer Stimme
von der Kaimauer.
Die Knickerbocker sahen einen Mann, der neugierig den
Hals reckte. Er hatte einen Hut auf und stand genau unter einer
Straßenlampe. Die Hutkrempe warf einen breiten Schatten über
sein Gesicht.
Als keiner der vier antwortete, rief der Mann noch einmal:
„Guten Abend! Ich bin von der Polizei und suche Linda de
Note.“

30
„Sie schläft!“, erwiderte Lilo.
„Darf ich an Bord kommen?“
Annabel trat an Deck, und der Mann stellte sich noch einmal
vor.
„Kommen Sie nur!“, lud Annabel ihn ein.
Höflich lüftete er den Hut. Sein Gesicht wirkte verschlossen.
Sein Vollbart war sehr gepflegt und frisch gestutzt.
Der Mann sieht wie ein echter Detektiv aus, dachte Lilo –
wie ein Inspektor aus einem Fernsehkrimi.
Annabel bot ihm einen Platz an, und er setzte sich zu den
Knickerbockern an den Tisch.
„Soll ich meine Schwester wecken?“, fragte Annabel.
Der Kriminalbeamte winkte ab. „Nicht nötig, ich will jetzt
einmal mit den Kindern reden.“
Er stellte kurze, klare Fragen über das Feuer. „Sonst noch ir-
gendwelche Beobachtungen, die für uns wichtig sein könn-
ten?“, wollte er abschließend wissen.
Axel warf Lieselotte einen zweifelnden Blick zu.
Das Superhirn nickte: Der Mann war zweifellos ein Polizist.
Es war höchste Zeit, dass die verantwortlichen Stellen von dem
Mann ohne Gesicht erfuhren.
Wieder berichtete Axel von den Typen auf dem Boot und der
Flucht des unheimlichen Mannes. Er ließ nichts aus.
„Wem habt ihr von diesen Vorfällen erzählt?“, fragte der Po-
lizist.
Die Knickerbocker begannen ihre Aufzählung mit dem In-
spektor, der in der Garderobe aufgetaucht war.
„Caspar wie?“, fragte der Kriminalbeamte.
„Caspar van … van … Fries“, sagte Lilo. „Sie müssen ihn
doch kennen!“
Der Kriminalbeamte schüttelte nachdenklich den Kopf. „An
diesem Fall arbeite nur ich. Ein Caspar van Fries ist mir völlig
unbekannt.“
„Wir … wir haben Angst. Der Mann ohne Gesicht hat das

31
Feuer gelegt. Er verfolgt uns. Er … er will uns zum Schweigen
bringen!“, platzte Poppi heraus.
Der Polizist lächelte milde. „Nanana, so schlimm wird es
schon nicht sein! Aber zu eurer Beruhigung schicke ich zwei
Beamte, die in den nächsten Tagen das Hausboot bewachen
werden. Einverstanden?“
Die Juniordetektive nahmen das Angebot gerne an.
Nachdem der Kriminalbeamte gegangen war, fiel Axel etwas
auf. „Er hat uns nicht einmal seinen Namen verraten. Findet ihr
das nicht merkwürdig?“

In der Nacht schliefen die Knickerbocker sehr unruhig. Sie


wälzten sich in den Schlafkisten von einer Seite auf die andere
und stöhnten immer wieder laut auf.
Wie spät es war, wusste später keiner mehr. Aber irgend-
wann klopfte jemand an das schmale Fenster, durch das man
direkt auf den Gehsteig sah.
Als keiner reagierte, wurde das Klopfen drängender.
Dominik wachte als Erster auf.
Im Licht der Straßenlampe konnte er ein Paar schwarze
Schuhe und graue Hosenbeine ausnehmen.

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„Folgt mir!“
Der Mann ohne Gesicht hatte nur einen Gedanken: Er musste
alle zum Schweigen bringen, die ihn gesehen hatten. Die Män-
ner im Boot dachten, er sei ertrunken. Keiner durfte erfahren,
dass er noch am Leben war. Es war seine einzige Chance, sich
endlich zu befreien. Er hatte in der Nacht einen Plan geschmie-
det, was mit den vier Kindern geschehen sollte. Mittlerweile
war ihm auch klar geworden, dass er es nicht mit gewöhnlichen
Kindern zu tun hatte. Seit er ihnen Auge in Auge gegenüberge-
standen war und mit ihnen gesprochen hatte, wusste er, dass er
sie nicht unterschätzen durfte.

Dominik weckte seine Freunde und machte sie auf die Füße
vor dem Fenster aufmerksam.
Der Unbekannte klopfte gegen das Fenster.
„Was sollen wir bloß tun?“, flüsterte Axel.
„Zwei bleiben da, und zwei gehen an Deck!“, entschied das
Superhirn, dessen Herz zu rasen begonnen hatte. Axel meldete
sich freiwillig: Er wollte mit Lilo an Deck gehen.
Sie durchquerten den Wohnraum und hörten aus den Kabinen
der Schwestern tiefes Atmen. Sowohl Linda als auch Annabel
hatten einen gesegneten Schlaf.
Die Nacht war kühl und still.
Axel stellte überrascht fest, dass die Tür des Bootes
nicht abgesperrt war. Er drehte den Knauf und zog sie auf.
Das Deck lag vor ihnen, wie sie es am Abend verlassen hatten.
Lieselotte nahm allen Mut zusammen und machte einen
Schritt hinaus in die Nacht. Sie stand jetzt unter dem Vordach
aus rot-weiß gestreiftem Stoff. Nachdem sie noch einen Schritt
gewagt hatte, fiel das schummrige Licht der Straßenlampe auf
sie.
Sie sah zum Kai und ließ ihre Blicke über den Fußweg, die

33
Baumreihe und die Straße schweifen, konnte aber nichts Au-
ßergewöhnliches erkennen.
Axel schnappte einen der kleinen Metallstühle und hob ihn
mit beiden Händen hoch. Falls jemand überraschend angriff,
hatte er eine Waffe und konnte sich zur Wehr setzen.
Gemeinsam wagten sich die beiden ein Stück weiter vor.
Da flog etwas durch die Luft auf sie zu.
Erschrocken wichen Lilo und Axel zur Seite.
Krachend schlug das Ding vor ihnen auf.
„Sieht wie eine Coladose aus“, stellte Axel fest.
„Es ist etwas herumgewickelt“, hauchte Lilo. Sie machte ein
paar Schritte, bückte sich und hob die Dose auf.
Mit einem Gummiring war ein Zettel daran befestigt. Sie
rollte ihn auf und las: „Nur ihr könnt mir helfen. Ihr habt von
mir nichts zu befürchten! Es war ein Versehen gestern. Ich
werde gejagt und bin in Lebensgefahr. Ich flehe euch an, helft
mir!“ Auch ohne Unterschrift war klar, von wem die Nachricht
stammte.
Axel unterdrückte einen Aufschrei und trat näher an Lilo
heran.
Auf dem Kai, direkt unter der Straßenlampe, stand der Mann
ohne Gesicht. Mit den Händen machte er bittende Bewegungen
wie ein kleines Kind. Als die beiden Juniordetektive aber zö-
gerten, ließ er die Schultern sinken und blickte sich ängstlich
um.
Langsam traten Axel und Lilo näher an die Reling.
„Wer sind Sie? Wie sollen wir Ihnen helfen?“, fragte Lilo.
Der Mann kramte in seiner Jackentasche und holte einen Zet-
tel hervor. Darauf stand: „Ich kann nicht sprechen. Bitte folgt
mir! Ich flehe euch an.“
„Nein!“, entschied Axel.
Lieselotte rang mit sich. Einerseits spürte sie eine große Ge-
fahr, andererseits wollte sie unbedingt wissen, was mit diesem
rätselhaften Mann los war.

34
„Ich habe eine Idee“, flüsterte sie. Hastig besprach sie sich
mit Axel, und er war einverstanden.
„Wohin sollen wir ihnen folgen?“, fragte Lilo.
Der Mann zückte einen Block und kritzelte: „Nicht weit von
hier! Zu einem Haus, in dem ich euch etwas zeigen muss.“
Das Superhirn der Bande nickte Axel zu, und der Junge ver-
schwand im Hausboot. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf.
Die beiden Knickerbocker gingen über die kleine Holztreppe
an Land.
Der Mann ohne Gesicht schien auf etwas zu warten.
„Wir können los!“, sagte Lieselotte.
Der Mann schrieb: „Und die beiden anderen? Ich muss mit
euch allen reden. Bitte!“
„Unmöglich!“, erklärte Lieselotte. „Die beiden anderen
schlafen tief und fest.“
Der Mann schien sich zufrieden zu geben. Lilo fragte sich, ob
er bemerkt hatte, dass sie nun von Dominik und nicht von Axel
begleitet wurde.
Der Mann ohne Gesicht steuerte auf ein Fahrrad zu, das ge-
gen einen Baum gelehnt war. Lieselotte erkannte daneben noch
vier weitere. Er hatte an alles gedacht.
Er stieg auf und fuhr langsam los. Dominik und Lilo
schnappten sich zwei Fahrräder und folgten ihm.
Unterwegs nahm der Mann die verspiegelte Schale ab und
verbarg sie unter seiner Jacke. Er setzte eine Kappe mit breitem
Schirm auf und zog sie tief in die Stirn.
Axel hatte an Bord des Hausbootes gewartet und durch die
Luke die Abfahrt beobachtet. Er ließ ein paar Sekunden ver-
streichen und nahm dann – ebenfalls per Fahrrad – die Verfol-
gung auf. In sicherem Abstand fuhr er hinter seinen Freunden
her, jederzeit bereit zu helfen, wenn sie Hilfe brauchten.
Doch plötzlich spürte Axel einen eigenartigen Druck hinter
den Augen. Es war ihm, als würde sich sein Gehirn plötzlich
ausdehnen. Wieder und wieder kniff er die Augen fest zusam-

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men, schüttelte den Kopf, wischte sich über den Nacken und
versuchte, das seltsame Gefühl loszuwerden. Doch es wurde
sogar stärker.
Axel sah die roten Rücklichter der Fahrräder seiner Freunde
vor sich. Sie bogen gerade nach rechts ab, und er trat ein wenig
fester in die Pedale, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Plötzlich löste sich der Druck, als hätte jemand in seinem Kopf
ein Ventil geöffnet.
Erleichtert atmete Axel auf und bog in eine schmale Seiten-
gasse. Seine Freunde waren jedoch nicht mehr zu sehen. Er
bremste und sprang ab.
In der Gasse war es völlig still. Hinter keinem Fenster brann-
te Licht. Axel warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb drei.
Er schob das Fahrrad und ärgerte sich über das Surren der
Gangschaltung. In der Stille der Nacht klang es wie Motoren-
dröhnen.
Die Gasse war lang, und es schien keine Seitengassen zu ge-
ben. Doch so groß war der Vorsprung von Lilo und Dominik
nicht gewesen. Er hätte sie noch sehen müssen. Es sei denn, sie
waren in eines der Häuser gegangen. Dann aber mussten sie
ihm ein Zeichen hinterlassen haben.
Dem Jungen kam die Sache immer merkwürdiger vor.
„Axel!“, hörte er auf einmal Lilo flüstern.
„Ja?“
„Axel, hier!“
Der Knickerbocker wandte sich in die Richtung, aus der die
Stimme gekommen war, und blickte in einen stockfinsteren
Durchgang, der kaum einen Meter breit war und wohl haupt-
sächlich als Abstellplatz für Mülltonnen diente.
„Lilo?“, erwiderte Axel unsicher.
Was er nun sah, verschlug ihm den Atem.

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Die Nachricht
Ungeduldig wartete Poppi auf die Rückkehr ihrer Kumpel.
Genau 42 Minuten waren vergangen, seit Lilo und Dominik
dem Mann ohne Gesicht gefolgt waren und Axel sich aufge-
macht hatte, sie zu beschatten. Poppi starrte aus der schmalen
Luke auf den Gehsteig.
Die ganze Zeit über war kein Mensch vorbeigekommen. Nur
zwei Ratten waren zum Fenster gehuscht und hatten frech her-
eingeguckt.
Poppi war nicht erschrocken. Sie hatte vor Ratten keine
Angst. Bisher war sie auf der zugeklappten Truhe gekniet.
Doch jetzt taten ihr die Knie weh. Sie stand auf, um sich zu
strecken und sich die Beine zu vertreten.
Das Glas des schmalen Fensters klirrte, als jemand kräftig
dagegenklopfte.
Poppi spürte, wie ihr der Schrecken in alle Glieder fuhr. Sie
konnte zwar niemanden erkennen, entdeckte aber einen Zettel,
den jemand an die Scheibe geklebt hatte. Poppi erkannte Lilos
Handschrift sofort.
Die Nachricht lautete: „Poppi, bitte komm mit dem Mann
mit, der dir diesen Zettel bringt! Wir brauchen dich dringend.
Mach schnell!“ Auch Axel und Dominik hatten unterschrieben.
Das Mädchen zog sich einen Pulli über und schlich auf das
Vorderdeck. Im Schein der Straßenlaterne stand ein hellblonder
Mann, der ihr zuwinkte. Poppi zögerte noch, nahm dann aber
allen Mut zusammen und lief zu ihm. „Was ist denn los? Wer
sind Sie?“, fragte sie mit heiserer Stimme.
Der Mann packte sie an der Schulter und zog sie zu zwei
Fahrrädern. Keuchend stieß er hervor: „Das werden dir deine
Freunde erklären. Schnell, sie brauchen dich. Schnell!“ Er hielt
Poppi ein Fahrrad hin und schwang sich dann selbst auf eines.
Der Mann gab ein beachtliches Tempo vor und Poppi hatte

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Mühe, ihm zu folgen. Er drehte sich aber kein einziges Mal
um, sondern schien sicher zu sein, dass sie nachkam.
Poppis Lunge brannte von der Anstrengung, und ihre Beine
taten weh. Das Rad war viel zu groß für sie.
Bald verließen Poppi die Kräfte. Sie wollte dem Mann etwas
zurufen, war jedoch so außer Atem, dass sie kein Wort heraus-
brachte. Das Mädchen bremste und sprang von dem hohen Sat-
tel.
Hinter ihr quietschten Fahrradbremsen, und das Surren eines
Gangrades war zu hören. Verblüfft drehte sie sich um. Sie sah
den Schatten eines Mannes, der sich hinter einem Baum am
Straßenrand versteckte.
Poppi bekam es mit der Angst zu tun. Sie wollte so schnell
wie möglich zu ihren Freunden.
Noch immer nach Luft ringend fuhr sie weiter. Stehend trat
sie in die Pedale und raste bald mit großer Geschwindigkeit
dahin. Nach einiger Zeit tauchte der Mann wieder vor ihr auf,
und es gelang ihr, ihn einzuholen.
„Jemand ist hinter uns her!“, keuchte sie.
Der geheimnisvolle Überbringer von Lilos Nachricht reagier-
te nicht. Er bog in eine lange, gerade Gasse ein und begann
nach einer bestimmten Stelle zu suchen.
Bei einem schmalen Durchgang hielt er an und stieg ab. Er
deutete Poppi, ihm zu folgen.
In dem Durchgang war es so finster, dass Poppi kaum einen
Meter weit sehen konnte. Sie hatte den Blick auf das schwach
flackernde rote Rücklicht des Rads gerichtet, das der Mann
neben sich herschob.
Ihr Fahrrad stieß gegen etwas, das klirrte. Poppi streckte die
Hand aus und ertastete ein weiteres Fahrrad.
Der Mann lehnte seines zur Seite, und abermals klirrte es:
Hier mussten mehrere Fahrräder abgestellt sein.
Unsanft ergriff er das Mädchen am Arm und zerrte es zu
sich. Poppi wollte protestieren, aber er zischte ihr ein warnen-

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des „Psssst!“ zu.
Dann bückte er sich und zog eine Klappe hoch. Am Quiet-
schen war zu erkennen, dass sie aus Metall sein musste und
nicht oft benutzt wurde. Der Geruch von Salzwasser stieg auf.
„Was ist hier?“, fragte Poppi leise.
Der Mann drängte sie zu dem Loch im Boden und befahl:
„Runter, schnell!“
„Aber warum? Wo sind meine Freunde?“, drängte Poppi.
„Runter, rasch!“ Der Mann wurde ungeduldig.
„Nein, ich kann nichts sehen!“, wehrte sich das Mädchen.
Der Mann zündete ein Feuerzeug an, und im Lichtschein sah
es einen Schacht mit Metallsprossen, die in die Tiefe führten.
Aber Poppi erkannte noch etwas: die schwarzen Schuhe und
die grauen Hosenbeine!
Es war der Mann ohne Gesicht – jetzt hatte er allerdings ei-
nes. Warum war er nur gekommen, um sie zu holen? Weshalb
hatten Axel, Lilo und Dominik nach ihr geschickt?
Für Fragen blieb keine Zeit, denn der Mann zwang sie un-
sanft in die Öffnung. Über ihr wurde der Deckel wieder aufge-
setzt und festgeschraubt.
Poppi stand in der Finsternis und lauschte. Über ihrem Kopf
schien der Mann nun mehrere Riegel vorzuschieben.
Sie war im Augenblick starr vor Schreck und konnte sich
weder bewegen noch schreien.
Über ihr lief jemand davon. Dann rief jemand etwas. Es
knirschte und polterte. Ein Kampf schien im Gange zu sein.
Auf einmal ergriff einer die Flucht. Der zweite nahm Sekun-
den später die Verfolgung auf.
Erst jetzt kam Poppi wieder zu sich. Sie trommelte mit der
rechten Faust gegen den Deckel und schrie: „Aufmachen!
Aufmachen!“

39
Die Wassergruft
„Poppi?“
Die Stimme kam wie aus weiter Ferne.
„Lilo!“
Poppi begann die Metallsprossen nach unten zu klettern. Da
es stockfinster war, musste sie eine nach der anderen ertasten.
Am Ende des Schachts streckten sich ihr die Hände ihrer
Freunde entgegen und halfen ihr auf den Boden.
„Soll ich zur Feier des Tages meine Taschenlampe anknip-
sen?“, fragte Axel.
„Ja, aber nur kurz. Die Batterien sind schon fast leer!“, sagte
Lilo.
„Das war eine Falle!“, meinte Poppi leise.
„Kann man wohl sagen“, seufzte Dominik.
„Wo sind wir hier?“, flüsterte das jüngste Mitglied der
Knickerbocker-Bande.
Axel schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete die Um-
gebung ab. Sie standen in einem fast drei Meter hohen und gut
vier Meter breiten Tunnel. Die Wände waren feucht, und am
Boden floss ein dünnes Bächlein dahin.
„Ein Abwasserkanal“, vermutete Dominik.
Lieselotte schüttelte den Kopf. „Nein, bestimmt nicht. Der
würde stinken. Hier riecht es aber nach Salzwasser.“
„Ich habe in einem Reiseführer gelesen, dass das Wasser der
Grachten regelmäßig erneuert wird“, berichtete Dominik. „Fri-
sches Meerwasser wird ein- und das alte Wasser abgelassen.
Da Amsterdam gut fünf Meter unter dem Meeresspiegel liegt,
müssen nur die Schleusen geöffnet werden und schon strömt
das Wasser der Nordsee in die Kanäle der Stadt.“
„Aha, und wann geschieht das normalerweise?“, erkundigte
sich Lieselotte.
Das wusste Dominik nicht.

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Axel bückte sich und tastete den Boden ab. „Der Boden ist
nur ein bisschen feucht. Ich glaube, dass in dieser Nacht noch
kein Meerwasser eingelassen wurde.“
Mit einem Schlag wurde Lilo klar, weshalb der Mann ohne
Gesicht sie hier eingesperrt hatte: „Der Mistkerl will uns er-
tränken. Bestimmt füllt sich der Tunnel bis zur Decke und dann
…“
„Raus, schnell!“, rief Axel. Er rannte mit leuchtender Ta-
schenlampe los.
„He, warte, warum in diese Richtung?“, schrie Lieselotte.
„Weil das Wasser auch in diese Richtung fließt!“, lautete
Axels Antwort. Die Grachten mussten ganz in der Nähe liegen,
und Axel hoffte, dort einen Weg nach oben zu finden.
Die Schritte der vier Juniordetektive hallten durch den Tun-
nel. Sie liefen, so schnell sie nur konnten.
Hinter ihnen erhob sich in der Ferne ein leises Donnergrol-
len. Das Rinnsal in der Mitte des Tunnels schwoll innerhalb
von Sekunden an.
„Das Wasser kommt!“, kreischte Lilo.
Axel leuchtete die Wände des Tunnels ab und begann zu flu-
chen. Das Mauerwerk war glatt, und nirgendwo konnte er eine
Öffnung entdecken. Er stürmte weiter.
Das Wasser stieg schnell. Bald war der gesamte Tunnelboden
mit Wasser bedeckt, das bei jedem Schritt nach allen Seiten
spritzte.
„Siehst du schon was?“, fragte Dominik keuchend.
Axel floh mit riesigen Schritten und hoffte bei jeder Biegung
des Tunnels, endlich auf einen Ausgang zu stoßen.
Nach nur drei Minuten reichte den Knickerbockern das Was-
ser bereits bis zu den Knien. Das Weiterkommen wurde zuse-
hends schwieriger. Sie mussten nun waten.
Axels Vorsprung wurde größer und größer – der Lichtschein
seiner Taschenlampe war bald nur noch als schwacher Schim-
mer zu erkennen.

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„Endlich!“, rief er auf einmal.
Poppi, Dominik und Lieselotte schöpften neuen Mut. Sie ris-
sen sich zusammen und stapften laut platschend durch die jetzt
schon reißenden Wassermassen.
Axel stand an einem Gitter, das vom Boden bis zur Decke
und von links nach rechts reichte. Es war eine Art Filter, in
dem sperrige Sachen hängen blieben, die das Meerwasser in
die Stadt schwemmte. Bretter, halbe Baumstämme, Wrackteile
von Autos und jede Menge Plastikmüll hatten sich hier ange-
sammelt.
Zum Durchschlüpfen waren die Gitterstäbe aber viel zu eng.
Dahinter wurde der Tunnel nach ein paar Metern breiter und
stieg dann allmählich an.
Verzweifelt stürzten die vier an das Gitter, das jedoch keinen
Millimeter nachgab.
„Hilfe!“, brüllten sie. Ihre Stimmen hallten schaurig durch
den Tunnel.
„Wir werden ertrinken!“, schluchzte Poppi.
„Dieser Dreckskerl! Was ist das für ein mieser Schuft, der
sich unter dieser Spiegelmaske versteckt? So ein Schwein!“,
tobte Axel.
„Still!“, herrschte ihn Lieselotte an.
„Kinder, kommt zurück! Schnell! Ihr braucht keine Angst zu
haben!“, rief jemand aus weiter Ferne. Dem Klang der Stimme
nach konnte es sich nur um den Mann ohne Gesicht handeln.
„Kinder, schnell!“
Die vier stürmten gleichzeitig los. Die Kraft des Wassers war
aber bereits so groß, dass sie kaum vom Fleck kamen. Die
Stimme war nicht mehr zu hören. Hatte sie der Mann ohne Ge-
sicht endgültig ins Verderben locken wollen?
Das Wasser reichte den Knickerbocker-Freunden bereits bis
zum Bauch, Poppi sogar bis zur Brust. Sie versuchte zu
schwimmen, doch die Strömung war zu stark. Poppi wurde
zurückgerissen, bemühte sich verzweifelt, Halt auf dem Boden

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zu finden, schaffte es aber nicht und wurde von den Fluten da-
vongetragen.
Ihre Kumpel hörten sie schreien und wussten, dass nun alles
vorbei war.

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„Ratten!“
Axel, Lilo und Dominik gaben den Kampf gegen die Was-
sermassen auf. Sie ließen sich fortreißen.
Keuchend klammerte sich Poppi an die Gitterstäbe. „Lilo, tu
doch was!“, jammerte sie.
Aber das Superhirn war ausnahmsweise einmal völlig ratlos.
Der Tunnel war bereits zur Hälfte mit Wasser gefüllt und der
Pegel stieg sekündlich. Die Schleusentore mussten jetzt ganz
geöffnet sein.
„Iiiii!“, kreischte Dominik.
„Was ist?“, schrie Axel.
Dominik deutete auf mehrere schwarze Fellmassen, die zwi-
schen den Knickerbockern klatschend im Wasser gelandet wa-
ren.
„Ratten!“, stieß Lilo entsetzt hervor.
Woher kamen die auf einmal?
Axel kletterte an den Stangen des Gitters bis zur Decke des
Tunnels. „Hier ist ein Loch!“, meldete er aufgeregt.
Genau über den Köpfen der vier befand sich ein Mauervor-
sprung, den sie in der Panik übersehen haben mussten. In der
dem Gitter zugewandten Seite war ein großes Loch, durch das
die Ratten heruntergefallen waren.
„Wir lassen uns vom Wasser noch ein Stück höher tragen
und versuchen dann unser Glück! Irgendwoher müssen die
Ratten ja gekommen sein!“, rief Axel.
Lilo kämpfte mit sich: Sie hatte schreckliche Angst vor Rat-
ten. Vielleicht wurde sie von den Tieren angefallen, wenn sie
durch das Loch kroch. Vielleicht wurde sie in die Nase gebis-
sen, vielleicht sprangen sie ihr gar ins Gesicht!
Bald unternahm Axel einen Versuch, durch das Loch zu
schlüpfen. Seine Freunde hörten ihn schnaufen und ächzen,
und bald verschwanden seine triefenden Hosenbeine in der

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Mauer.
„Schnell, Poppi!“, schrie er und streckte ihr den Arm entge-
gen.
Dann kam Dominik an die Reihe. Lilo war die Letzte: Sie
verdrängte den Gedanken an die Ratten und ließ Axel keine
Sekunde aus den Augen.
Axels Taschenlampe war zum Glück wasserdicht und brann-
te noch immer. So konnten die vier erkennen, dass sie sich in
einem Gang befanden, durch den ebenfalls Wasser kam – al-
lerdings viel weniger als im unteren Tunnel.
Poppi bemerkte, dass es hier von Ratten nur so wimmelte.
Sie drängten sich auf dem trockenen Streifen, der an einer Seite
noch blieb, den Gang entlang.
„Den Ratten nach! Die kennen einen Weg ins Freie!“, rief
das Mädchen.
Bereits nach zwanzig Schritten entdeckten die Knickerbocker
den Durchschlupf der Nager. Er war allerdings viel zu klein für
sie.
Nachdenklich starrten die Juniordetektive auf das fußballgro-
ße Loch in der Mauer. Plötzlich strahlte Axel über das ganze
Gesicht. Er tastete mit den Händen die Mauer ab und klopfte
dagegen.
Knapp neben dem Rattenloch hatte er Glück. Das Mauerwerk
war lose, und der Junge brach mehrere Ziegel heraus. Nach und
nach fiel ein Teil der Wand in sich zusammen, weil er von un-
ten nicht mehr gestützt wurde.
Staubwolken stiegen auf, und die Knickerbocker begannen
zu husten.
Als sich der Staub ein wenig gelegt hatte, erkannten sie hin-
ter dem Durchbruch eine Art Keller. Zahlreiche dicke Balken
ragten kreuz und quer durch den modrigen Raum.
„Die meisten Häuser in dieser Gegend sind auf einem Gerüst
aus Stämmen erbaut worden. Wir befinden uns hier in einem
Sumpfgebiet. Das muss der Hohlraum unter einem Haus sein!“,

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stellte Lilo fest.
Unter ihren Schuhen quatschte es, als sie sich weiterkämpf-
ten. Fast hätten sie das Gitter in der Wand übersehen, aus dem
kühle Luft strömte. Es war eine Luke, die sich problemlos öff-
nen ließ. Die vier Freunde waren der Wassergruft entkommen.
Keuchend lagen sie im feuchten Gras vor der Luke. Erst jetzt
wurde ihnen bewusst, wie durchnässt sie waren. Bald fröstelte
ihnen schrecklich.
„Jetzt müssen wir nur noch zurück zum Hausboot finden!“,
meinte Lilo.
Fast eine Stunde irrten sie durch die nächtlichen Gassen, bis
sie endlich eine Stelle erreichten, die ihnen bekannt vorkam.
Ein paar Minuten später standen sie vor dem Hausboot.
Sie versteckten die nassen Klamotten in einer Truhe des
Wohnraumes, schlüpften in trockene Sachen und verkrochen
sich zähneklappernd in die Schlafkisten. Trotz der Erschöpfung
konnte keiner der vier einschlafen. Immer wieder tauchten die
schrecklichen Bilder vor ihnen auf.
Lilo beschäftigte eine Frage sehr: „Warum hat der Mann
nach uns gerufen? Warum stößt er uns in den Schacht und will
uns dann herausholen?“ Wollte er die Juniordetektive nur ein-
schüchtern?
Poppi erinnerte sich an den Kampf, der über ihrem Kopf
stattgefunden hatte. Flüsternd erzählte sie Lilo davon. Das Su-
perhirn konnte sich allerdings keinen Reim darauf machen.

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Lauter Betrüger
Am nächsten Morgen stellte Annabel fest: „Irgendwie riecht
es auf meinem Boot nach Kanal. Habt ihr eine Idee, wie das
kommt?“
Die Juniordetektive, die noch ziemlich verschlafen waren,
stammelten etwas von einer Wette, in der Nacht in der Gracht
zu baden, und zeigten ihr die verdreckten Klamotten.
Lindas Schwester stopfte sie in eine Plastiktüte und wollte sie
später waschen lassen.
Fräulein Linda bestand auf einem gemeinsamen Frühstück.
„Heute ist es so weit, heute habt ihr euren großen Auftritt!“,
meinte sie feierlich. „Wir sollen pünktlich um drei Uhr in der
Tulpenhalle sein. Es gibt eine letzte Probe, und am Abend wird
dann die Show vom Fernsehen aufgenommen. Ich wünsche
euch eine gute Plazierung.“
„Danke!“, riefen die Knickerbocker im Chor.
„Ihr seid ja schon richtige kleine Berühmtheiten. Allein ge-
stern wurde ich so oft nach euch gefragt“, setzte Fräulein Linda
kopfschüttelnd fort.
„Von wem denn?“, wollte Lilo wissen.
„Ach, als ich beim Haus stand und die Polizei den Bericht
fertig stellte, kam ein sehr höflicher junger Mann auf mich zu.“
„Mit vielen Sommersprossen?“, fragte Lilo aufgeregt.
Fräulein Linda überlegte kurz und nickte dann. „Ja, Nachbarn
müssen ihm von euch erzählt haben. Er wollte euch gerne spre-
chen. Ich habe allerdings völlig vergessen, nach dem Grund zu
fragen.“
Caspar van Fries war also kein Polizist. Das stand fest.
Lilo beschrieb Fräulein Linda den Mann mit dem Bart, der
auf dem Hausboot gewesen war und sich mit ihr in Verbindung
setzen wollte.
„Nein, bei mir hat sich niemand gemeldet, auf den diese Be-

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schreibung passt!“, sagte Fräulein Linda.
Also war wahrscheinlich auch dieser Mann ein Betrüger.
„Und hat jemand mit einer Wollmütze nach uns gefragt?“,
erkundigte sich Lieselotte.
Annabels Schwester rief: „Ja, woher kennt denn ihr den? Er
hat auch mit den Nachbarn geredet, wie ich später erfahren
habe – ein äußerst neugieriger Mensch!“
Vielleicht war Ian Claes tatsächlich Reporter. Neugierig zu
sein gehörte zu seinem Beruf.
„Gibt es eine Amsterdamer Morgenpost?“, fragte Lilo.
Die beiden Schwestern hatten von dieser Zeitung noch nie
gehört. Ian war also doch kein Journalist.
„Dürfen wir ein bisschen bummeln gehen?“, bat Lilo.
Dominik fügte schlau hinzu: „Das ist vor großen Auftritten
das beste Mittel gegen Lampenfieber.“
Zur Überraschung der Juniordetektive hatte Fräulein Linda
nichts dagegen einzuwenden.
Die Knickerbocker brachen sofort auf. Lilo erklärte ihren
Freunden den Plan, den sie ausgeheckt hatte: Sie wollte noch
einmal den Weg gehen, den sie mit dem Fahrrad in der Nacht
hinter dem Mann ohne Gesicht zurückgelegt hatten.
Sie hielten die ganze Zeit nach Spuren oder Hinweisen Aus-
schau, fanden aber keine.
Schließlich standen sie wieder vor dem Durchgang, wo in der
Nacht die Schrecken begonnen hatten.
Als Axel dort eingetroffen war, hatte der Mann die Spiegel-
maske wieder aufgesetzt gehabt und Dominik als Geisel ge-
nommen. Er hatte gedroht, dem Jungen etwas anzutun, wenn
Lilo und Axel nicht alle seine Befehle genau befolgten.
Sie mussten die Fahrräder in den Durchgang schieben und
dann in den Tunnel hinabsteigen. Vorher hatte er sie noch ge-
zwungen, die Nachricht an Poppi zu schreiben.
Die Räder standen noch immer gegen die Mauer gelehnt.
Auch den Deckel des Einstiegs entdeckten die Juniordetektive.

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„He, seht euch das an!“, rief Dominik.
Ein paar Schritte von dem Abgang entfernt lagen kreuz und
quer Dutzende Bretter auf dem Boden.
Lilo bückte sich und untersuchte sie. Es handelte sich um
verwitterte ungehobelte Latten. Das Superhirn kombinierte:
„Bis vor kurzem sind die hier an der Hausmauer aufgeschichtet
gewesen. Wahrscheinlich ist der Stapel erst in der Nacht umge-
stoßen worden.“ Sie zeigte auf die helleren Flächen der Bretter.
„Hier sind die Bretter aufeinander gelegen. Das Holz ist da-
her weniger verwittert. Nach ein paar Regengüssen werden
auch diese Stellen grau sein“, ergänzte Dominik.
„Gestern ist ja jemand gekommen und hat mit dem Mann oh-
ne Gesicht gekämpft!“, erinnerte sich Poppi.
„Los, das schauen wir uns genauer an!“, entschied Lilo. An
den rauhen Kanten waren vielleicht Spuren zu finden – Fasern
von Stoffen oder Haare.
Axel steckte seine rechte Hand zwischen ein paar Bretter und
zog etwas hervor. „Ich glaube, ich habe einen Haupttreffer ge-
macht!“, verkündete er.

In der Pension RIP ging der Mann ohne Gesicht wie ein ge-
fangenes Tier ruhelos auf und ab. Was hatte er nur getan?
Kinder ausschalten zu wollen! Und das, nachdem sie schon
einigen Leuten von ihm erzählt hatten. Seine Verfolger wuss-
ten längst, dass er am Leben war.
Doch der Mann ohne Gesicht hatte zwei große Stärken: Seine
Muskelkraft und eine Eigenschaft, die nur er hatte und die sich
viele gerne zunutze machen wollten.
Seinen gestrigen Verfolger hatte er bald außer Gefecht setzen
können. Und dann war ihm klar geworden, wie unmenschlich
und sinnlos es war, die Kinder im Tunnel zugrunde gehen zu
lassen. Schnell hatte er sich entschlossen, die vier wieder aus
dem Kanal zu holen. Er hatte das Wasser rauschen hören und
ganz in der Ferne die Schreie der Kinder vernommen. Aber sie

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waren nicht gekommen.
Er war sogar hinuntergeklettert, aber die Fluten waren bereits
zu reißend gewesen. Er hatte nichts mehr tun können.
Er musste Amsterdam verlassen – auf dem schnellsten Weg.
Doch er hatte noch immer kein Geld. Er hatte auch keinen
Pass. Er hatte nur das Gewand, das er am Leib trug, und ein
paar Klamotten, die er sich aus einem Nebenzimmer beschafft
hatte.
Die Kinder gingen dem Mann nicht aus dem Kopf. Immer
wieder musste er an die entsetzten großen Augen des schmäch-
tigen Jungen denken, der seinen Freunden nachgefahren war.
Die hielten zusammen wie Pech und Schwefel! Außerdem
waren sie ungewöhnlich neugierig und schlau.
Der Mann ohne Gesicht hatte die Spiegelmaske, die Perücke,
den falschen Bart und die aufgeklebten Augenbrauen abge-
nommen. Sein Schädel war völlig kahl.
Plötzlich blieb er stehen. Er spürte ein Gefühl der Erleichte-
rung. Gleichzeitig aber zuckte ihm der Schreck wie ein glühen-
der Blitz durch alle Glieder: Die Kinder lebten! Aber sie waren
soeben im Begriff, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

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Wer ist Juliaan van der Ende?
„Zeig mal!“, verlangte Lilo.
Axel reichte ihr das abgewetzte Ledermäppchen, das er zwi-
schen den Brettern gefunden hatte. Prüfend betrachtete es das
Superhirn von allen Seiten. „Sieht aus wie eine Geldtasche“,
meinte es und holte mit spitzen Fingern einen völlig aufge-
weichten Ausweis und eine Kreditkarte heraus. Sie gehörte
einem Juliaan van der Ende. Auf dem Ausweis war mit Nieten
ein Passfoto angebracht: es war ganz verblichen, doch der Na-
me war noch erkennbar. Auch der Ausweis lautete auf den
Namen Juliaan van der Ende.
„Was ist das für ein Ausweis?“, fragte Dominik.
Am unteren Rand entdeckte Axel ein Zeichen, das ein altes
Segelschiff darstellte. Daneben stand in schrägen dicken Buch-
staben: FLYING DUTCHMAN.
Dominik übersetzte: „Das ist Englisch und bedeutet: Der
Fliegende Holländer. Es gibt eine Oper von Richard Wagner,
die so heißt. Der Fliegende Holländer ist eine Sagengestalt –
ein Kapitän, der ein Schiff mit blutroten Segeln kommandiert.
Er ist dazu verflucht, über die Weltmeere zu segeln, bis er ein
Mädchen findet, das ihn liebt und ihm treu ist bis in den Tod.“
„Wie romantisch!“, spottete Lilo.
„Ist dieser Juliaan ein Opernsänger?“, fragte Poppi, fand die
Frage aber sofort ziemlich dumm.
„Nein, aber ich könnte mir vorstellen, dass er Matrose ist“,
meinte die Anführerin der Knickerbocker-Bande. „Entweder ist
er unser Mann ohne Gesicht, oder er ist der Typ, der ihm ge-
folgt ist.“
Axel warf einen Blick auf die Uhr und sagte: „Wir haben
noch etwas Zeit. Eine kleine Hafenrundfahrt wäre doch jetzt
nicht schlecht – was meint ihr?“

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Ein paar Kilometer außerhalb von Amsterdam, ganz nahe an
der Küste, ragten drei einsame Windmühlen in den Himmel.
Sie standen auf einer kleinen Anhöhe und waren schon seit
vielen Jahren stillgelegt.
Rund um den Hügel zog sich ein hoher Metallzaun, dessen
Oberkante mit Stacheldraht versehen war. Es war unmöglich,
über den Zaun zu klettern. Und es war ebenso unmöglich, sich
darunter durchzugraben: der Zaun reichte fast zwei Meter in
die Tiefe.
Alle paar Schritte war eine Tafel angebracht, die vor dem Be-
treten des Grundstückes warnte. Es bestünde Lebensgefahr.
Die Bewohner der umliegenden Gehöfte waren der Meinung,
die Windmühlen seien baufällig. Eine neugierige Touristin war
vor ein paar Jahren schwer verletzt worden: Der Boden einer
der Mühlen war unter ihr eingebrochen, und die Frau war meh-
rere Tage mit einem gebrochenen Bein im Keller gelegen, be-
vor man sie gefunden hatte – so hieß es. Angeblich hatte sie
den Besitzer der Windmühlen verklagt.
Die Mühlen lagen so, dass sie von keinem der benachbarten
Gehöfte gesehen werden konnten. Die Wiesen waren versan-
det, und Spaziergänger hielten
sich davon fern. Dem Besitzer der Windmühlen war das
mehr als recht. Die Geschichte mit dem Unfall war von ihm in
Umlauf gesetzt worden. Er hatte einen guten Grand für den
Zaun gebraucht.
Unter den Windmühlen befand sich ein Lagerraum, in dem er
seine „Ware“ aufbewahrte. Sie wurde ihm in dunklen Nächten
direkt vom Meer her gebracht. Sobald seine Leute ein Blink-
zeichen bekamen, fuhren sie mit einem Boot auf die großen
Ozeanriesen zu, die den Hafen von Amsterdam ansteuerten.
An einem Seil wurden die „Pakete“ herabgelassen und von
seinen Männern im Boot übernommen. Dann ging es zurück
zur Küste.
Auch der Weiterverkauf ging so vor sich. Weder Polizei noch

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Zoll bemerkten etwas davon.
„Ja, die guten alten Methoden sind eben noch immer die be-
sten!“, pflegte der Besitzer der Windmühlen zu sagen.
An diesem Samstag hatte er seine beiden wichtigsten Mitar-
beiter zu sich gerufen, weil es etwas Dringendes zu besprechen
gab.
Der Mann ließ die Hand auf die Holzplatte knallen und brüll-
te: „Ihr habt euch wie Idioten angestellt! Er konnte entkom-
men, und ihr wisst genau, dass wir ohne ihn das Ding nicht
drehen können.“
„Das Ding“ war das größte Vorhaben, das er je geplant hatte.
Eine halbe Milliarde würde ihm der Coup einbringen.
Seine beiden Helfer traten verlegen von einem Bein auf das
andere. „Tut uns leid, Chef. Aber … aber … Sie dachten doch
selbst, dass er abgesoffen ist!“
Der Windmühlenbesitzer höchst persönlich hatte nämlich das
Motorboot gesteuert.
Einer der Männer sagte: „Wir … wir waren bei Juliaan. Aber
er hat auch keine Ahnung, wo er sich versteckt.“
„Ich habe mit den Kindern geredet, in deren Haus es ge-
brannt hat. Die haben ihn gesehen. Aber sie wissen auch nicht
mehr“, berichtete der andere Mann.
Der Windmühlenbesitzer begann an seinen Nägeln zu kauen.
Das tat er immer, wenn er ratlos war. Er hatte alles so genau
geplant gehabt! Und nun hatte sich das wichtigste Zahnrad
seiner Maschine verabschiedet. Er brauchte es zurück – und
zwar schnell!
„Die Flying Dutchman legt übermorgen Nacht ab. Sie fährt
in seine Heimat. Vielleicht versucht er, sich an Bord zu ver-
stecken, und will auf diesem Weg das Land verlassen“, über-
legte er.
Seine Helfer stimmten ihm zu. „Juliaan würde ihn wiederer-
kennen – ganz egal, welche Verkleidung er wählt. Er muss die
Augen offen halten.“

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Die beiden Männer wollten sofort los zum Hafen.
„Eines sage ich euch: Falls etwas schief läuft oder die Bullen
Wind bekommen, werde ich sehr ungemütlich!“

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Im Hafen
Der Hafen von Amsterdam war riesig und laut. Schiffssire-
nen dröhnten, und ein schwerer Geruch von Meerwasser, Öl
und Ruß lag in der Luft.
Hafenarbeiter dirigierten die mächtigen Kräne, mit deren Hil-
fe die tiefen Bäuche der Schiffe gefüllt oder geleert wurden.
Lastwagen, auf denen sich gerade geliefertes Obst, Fisch und
tiefgekühltes Fleisch befand, kurvten über die Piers.
In einem Teil des Hafens lagen die hohen Passagierschiffe
vor Anker, jedes größer als ein fünfstöckiges Haus. Wie stolze
Schwäne sahen sie neben den einfacheren Frachtschiffen aus.
Die Knickerbocker-Bande hatte schnell herausgefunden, wo
die Flying Dutchman zu finden war. Es handelte sich um einen
Luxusdampfer am äußersten Ende des Kais.
„Wenn es golden glänzt, seid ihr richtig!“, hatte ihnen ein al-
ter Fischer erklärt, der Touristen durch den Hafen führte.
Er hatte nicht übertrieben. Dem Fliegenden Holländer war
der Luxus anzusehen. Reling, Bullaugen, Klinken, Knäufe und
zahlreiche Schiffsglocken funkelten im Sonnenlicht.
„Ist was, Lilo?“, fragte Poppi ein wenig besorgt.
Das Superhirn hatte den ganzen Weg zum Hafen kaum ein
Wort gesprochen.
„Ich muss ständig an die drei Männer denken, die uns gestern
über den Mann ohne Gesicht ausgefragt haben. Sie haben uns
belogen. Mir ist gerade durch den Kopf gegangen, dass alle
deutsch gesprochen haben.“
Axel fand das nicht besonders bemerkenswert. „Die meisten
Holländer sprechen Deutsch. Es klingt nur ein wenig eigenar-
tig, aber viele Leute mögen den Akzent!“
„Das ist es ja!“, sagte Lilo. „Nur einer der drei hatte einen
holländischen Akzent. Die beiden anderen haben mich an unse-

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re Abenteuer in Moskau* erinnert.“
„Du meinst, es waren Russen?“, fragte Axel.
Lieselotte nickte.
Es blieb ihnen keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn
ein Mann in blauer Uniform trat auf sie zu. „Zutritt nur für Pas-
sagiere!“, brummte er.
„Äh … wir … also …“, stotterte Lilo. Sie hatte vergessen,
sich einen guten Grund auszudenken, warum sie unbedingt an
Bord mussten.
Dominik sprang ein. Er bewies wieder einmal sein Schau-
spieltalent: „Guten Tag, Herr Kapitän“, begrüßte er den Mann.
Natürlich war ihm klar, dass sie es keinesfalls mit dem Kapi-
tän zu tun hatten. Aber als der Mann geschmeichelt lächelte,
wusste Dominik, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Der Typ
war eitel, und das musste er nutzen. „Wir suchen meinen On-
kel. Er ist der Bruder meines Vaters und arbeitet hier auf dem
Schiff. Ich habe ihn noch nie gesehen. Vati redet kaum von
ihm: Er findet, es sei eine Schande, dass ein Mitglied unserer
Familie zur See fährt.“
Der Mann in Uniform hatte Mühe, Dominiks etwas kompli-
zierten Ausführungen zu folgen.
„Aber ich will meinen Onkel endlich kennen lernen. Meine
Schwester und ich bewundern seinen Mut, sich gegen die Fa-
milie aufgelehnt zu haben, und wir wollen unbedingt mit ihm
in Verbindung treten!“
„Gleich muss ich weinen“, dachte Lilo und unterdrückte ein
Grinsen.
„Onkel Juliaan ist unser Vorbild. Wir sind nur über das Wo-
chenende hier in Amsterdam und haben durch Zufall herausge-
funden, dass er sich an Bord dieses Schiffes befindet. Bitte,
lassen Sie uns zu ihm. Bitte!“, Dominik schenkte dem Unifor-
mierten seinen treuherzigsten Dackelblick.

*
Siehe Knickerbocker-Abenteuer Nr. 30: „Im Reich des Geisterzaren“.

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„Wie heißt euer Onkel?“, wollte der Mann wissen.
„Juliaan van der Ende“, sagte Dominik.
Der Uniformierte hatte eine Mappe mit mehreren Listen in
der Hand. Er blätterte sie durch, und sein Zeigefinger glitt über
lange Spalten von Namen. „Ach ja, Juliaan van der Ende, er ist
Kellner im Roten Salon. Da es bald Zeit für das Mittagessen
ist, werdet ihr ihn dort finden.“
Er trat zur Seite und ließ die vier über die teppichbelegte
Treppe nach oben an Bord.
„Vielen Dank, Herr Kapitän!“, riefen die Knickerbocker.
„Ganz schön hoch das Schiff“, stellte Axel staunend fest. Er
beugte sich über die blank polierte Reling und ließ seinen Blick
über den Kai schweifen.
Plötzlich fuhr er zurück.
„Was ist?“, wollte Lilo wissen.
„Dort unten ist der angebliche Journalist!“, hauchte Axel
aufgeregt.
Lieselotte erkannte den Mann sofort. Er trug dieselbe Woll-
mütze wie am Vortag. Pfeife hatte er diesmal allerdings keine
im Mund. Was wollte er hier?
Lilo holte aus ihrer Jackentasche einen kleinen Spiegel her-
vor und hielt ihn über die Reling. So konnte sie den Mann beo-
bachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Ian Claes oder wie der Mann auch immer hieß schlenderte
am Kai entlang und steuerte auf einen zweiten Aufgang zu.
Dieser führte zu einer offenen Luke, durch die gerade Kisten
mit Gemüse, Früchten, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln
verladen wurden.
Lilo beobachtete, wie der angebliche Reporter eine der Ki-
sten schnappte, sie schulterte und den Kopf dahinter verbarg.
Als wäre auch er ein Lieferant, ging er den Steg hinauf und
verschwand im Inneren des Schiffes.
Aber da war noch jemand! Ein zweiter Mann, den Lilo noch
nie gesehen hatte! Auch er packte eine Holzkiste und folgte

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dem ersten.
„Vorsicht!“, warnte sie ihre Freunde. „Jetzt müssen wir auf-
passen!“
Auf einmal legten sich zwei schwere Hände von hinten auf
die Schultern von Lilo und Dominik. Verblüfft drehten sich die
beiden Juniordetektive um.

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Ein alter Bekannter
Hinter ihnen stand der Mann in der Livree. Er war ihnen
nachgekommen und sprach sie auf holländisch an.
Die Juniordetektive verstanden nur wenig.
Dann bellte er auf deutsch: „Ihr haltet euch wohl für sehr
schlau. Juliaan ist Holländer – ihr aber sprecht kein Wort Hol-
ländisch!“
„Wir … wir leben in Österreich. Meine Mutter ist Österrei-
cherin, und ich bin deutschsprachig erzogen worden, verstehen
Sie?“, schwindelte Dominik.
Der Mann überlegte angestrengt.
Unten am Kai rief jemand nach ihm. Er drehte sich um. Als
er sich den Knickerbockern wieder zuwenden wollte, hatten
sich die vier aus dem Staub gemacht.
Sie hatten den Augenblick genützt und waren durch eine of-
fene Tür im Inneren des Luxusdampfers verschwunden.
„Der Rote Salon liegt ein Deck tiefer!“, meldete Dominik,
der eben eine Hinweistafel entdeckt hatte.
Sie stürmten die steile Treppe nach unten und folgten den
Pfeilen, die an den Wänden angebracht waren.
Der Rote Salon machte seinem Namen alle Ehre. Nicht nur
der Teppich war rot, sondern auch die Bespannung der dick
gepolsterten altmodischen Stühle und die Tapeten. Die weiß-
goldenen Holztische wurden gerade kunstvoll gedeckt.
Im hinteren Teil des Raumes standen mehrere Kellner im
Frack, auf die ein Mann mit ernstem Gesicht einredete. Sie
lauschten ihm gelangweilt, das war nicht zu übersehen.
„Und wer ist Juliaan?“, fragte Axel leise.
Lieselotte ahnte, dass sie nicht viel Zeit hatten. Der Mann,
der sie an Bord gelassen hatte, war misstrauisch geworden und
wusste, wo er sie finden konnte. Die Anführerin der Knickerb-
ocker-Bande holte Luft und rief: „He, Juliaan!“

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Ihre Freunde zuckten zusammen. Damit hatte keiner gerech-
net.
Ein dunkelblonder Mann, der seine Kollegen um fast einen
Kopf überragte, drehte sich erstaunt in die Richtung, aus der er
den Ruf vernommen hatte. Er wirkte jedoch nicht im gering-
sten überrascht, als er die vier Juniordetektive erblickte.
Poppi meinte warnend: „Leute, der Typ erinnert mich an ei-
nen Wachhund, der nicht bellt, sondern gleich beißt.“
Mit großen Schritten kam Juliaan auf sie zu. Er schien zu ko-
chen.
Lilo zog die Ausweistasche hervor und streckte sie ihm ent-
gegen. „Das haben wir gefunden. Sie gehört doch Ihnen,
oder?“
Der Kellner riss ihr das abgewetzte Ding aus der Hand und
wollte sich auf sie stürzen. Im letzten Augenblick erinnerte er
sich daran, dass sie nicht allein waren. Er begnügte sich mit
einem drohenden Knurren: „Haut auf der Stelle ab!“
„Wir haben Ihnen doch nur Ihren Ausweis und Ihre Kredit-
karte zurückgebracht. Normalerweise bekommt man dafür ei-
nen Finderlohn!“, erklärte Dominik. Seine Knie waren weich
wie Butter, aber er schaffte es trotzdem, cool zu wirken.
„Juliaan!“, rief einer der Kellner.
Die Bande nützte diese Gelegenheit für einen schnellen Ab-
gang.
„Habt ihr gesehen, wer sich nach Juliaan erkundigt hat?“,
zischte Dominik.
Es war keinem der Juniordetektive entgangen. Der Mann mit
der Wollmütze hatte einen von Juliaans Kollegen angespro-
chen.
„Was haben die zwei miteinander zu tun?“, wunderte sich Li-
lo.
Sie schlichen den Gang entlang, bis sie zu einem zweiten
Eingang des Roten Salons kamen. Vorsichtig spähte Lilo um
die Ecke und sah Juliaan und den Mützenmann. Sie zog sofort

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den Kopf zurück. Die beiden standen nur drei Schritte entfernt.
Sie redeten holländisch miteinander.
Die Knickerbocker schnappten einige Brocken auf und ver-
suchten, sich zusammenzureimen, worum es ging: Juliaan hatte
den Mann ohne Gesicht auf eigene Faust gesucht. Auch er war
bei der Brücke gewesen, wo der Mann verschwunden war, und
hatte von dem Feuer erfahren. Die Berichte der Nachbarn hat-
ten ihn auf die Spur der Bande gebracht.
Die halbe Nacht lang war er beim Hausboot Annabels auf der
Lauer gelegen. Er war davon überzeugt gewesen, dass der
Mann ohne Gesicht auftauchen werde.
Juliaan hatte sich nicht getäuscht: Beinahe wäre es ihm ge-
lungen, den Mann ohne Gesicht zu überwältigen. Aber dann
war er in dem Durchgang so unglücklich gestürzt, dass er das
Bewusstsein verloren hatte. Als er wieder zu sich gekommen
war, hatte sich der Mann ohne Gesicht bereits aus dem Staub
gemacht.
Der Mützentyp sprach von „Rückkehr“ und „dem einzigen
Weg“.
Juliaan schien die Idee für völlig verrückt zu halten, aber der
angebliche Reporter ließ sich nicht davon abbringen. Schließ-
lich verließen beide den Salon.
Die Knickerbocker kauerten hinter dem offenen Türflügel
und bibberten vor Angst, entdeckt zu werden.
Sekunden später konnten sie aufatmen.
Der Kellner und sein Kumpan hatten die andere Richtung
eingeschlagen.
„Los, ihnen nach!“, flüsterte Lilo.
„Zu viert sind wir zu auffällig!“, widersprach Axel.
Lieselotte musste ihm Recht geben.
Dominik und Poppi blieben freiwillig zurück. Lilo und Axel
hefteten sich den Männern an die Fersen.
Die beiden verschwanden hinter einer Tür mit der Aufschrift
„Personal“.

61
Die Juniordetektive warteten einen Augenblick und öffneten
dann vorsichtig die Tür. Sie führte in einen langen schmalen
Gang. Am Ende des Korridors lagen die Kabinen des Perso-
nals, die alle ziemlich klein und eng zu sein schienen.
Eine Kabinentür stand offen. Die Stimmen der beiden Män-
ner waren zu hören. Die Knickerbocker drehten am Knauf der
Tür daneben. Sie hatten Glück und konnten in die angrenzende
Kabine schlüpfen.
Es dauerte nicht lange, bis die beiden Verdächtigen wieder
die Kabine verließen. Juliaan hatte den Frack gegen einen
schmierigen blauen Overall eingetauscht. Er jammerte, dass er
seinen Job verlieren könnte, aber Claes tat seine Befürchtungen
mit einer Handbewegung ab.
Die Männer steuerten immer tiefer in das Innere des großen
Schiffes hinab und betraten schließlich den Maschinenraum.
Da der Fliegende Holländer im Hafen lag, herrschte dort kein
Betrieb. Die riesigen Motoren waren abgeschaltet, nur die Ge-
neratoren, die zur Stromversorgung dienten, surrten vor sich
hin.
Axel und Lieselotte bewiesen nun, dass sie Meister im Be-
schatten waren. Kein einziges Mal kamen die Männer auch nur
auf die Idee, dass ihnen jemand folgte.
Hinter dem Maschinenraum begannen die Frachträume. Sie
waren fast leer. Die Juniordetektive versteckten sich hinter ei-
nigen öligen Fässern und beobachteten, wie Juliaan sich an der
Wandverkleidung des Frachtraums zu schaffen machte. Er lö-
ste mehrere Schrauben und nahm eine Platte ab.
Nachdem er sich umgesehen hatte, kroch er durch das Loch
in der Wand.
Der Mützenmann tat es ihm nach.
Axel warf Lilo einen fragenden Blick zu. Wohin waren die
beiden unterwegs?

62
Das Versteck
Poppi und Dominik kauerten hinter einem großen Topf mit
einer Zierpalme. So konnten sie den Korridor und den Ausgang
des Roten Salons im Auge behalten, ohne selbst gesehen zu
werden.
Auf dem Schiff herrschte wenig Betrieb. Es sollte erst am
nächsten Tag ablegen. Die Passagiere waren noch nicht an
Bord gegangen. Im Roten Salon fand nur ein „Probeessen“
statt. Man übte das neue Galadiner.
Mit langsamen Schritten schlenderte ein Mann den Gang ent-
lang. Genau vor der Pflanze blieb er stehen. Die Juniordetekti-
ve hielten die Luft an. Poppi lugte nach oben und sah gekrau-
stes rotbraunes Haar und einen üppigen Vollbart. Sie hatte die-
sen Mann noch nie gesehen, und das beruhigte sie ein wenig.
Der Mann machte zwei Schritte auf die Palme zu. Da sah
Poppi die grauen Hosenbeine und die schwarzen Schuhe: Es
war der Mann ohne Gesicht.
Er schien unentschlossen, was er tun sollte. Schließlich aber
steuerte er ebenfalls auf die Tür zu, die dem Personal vorbehal-
ten war. Dominik und Poppi starrten ihm entsetzt nach.

Lilo und Axel hatten zwei Minuten verstreichen lassen, ohne


sich aus ihrem Versteck hervorzuwagen.
Als Juliaan und der Mützenmann nicht zurückkehrten, deute-
te Lilo mit dem Kopf in Richtung der geheimen Wandöffnung.
Geduckt schlich sie näher. Sie hatte das Loch gerade erreicht,
als sie flüsternde Stimmen in der Tiefe hörte. An den Geräu-
schen erkannte sie, dass die beiden eine Leiter heraufkletterten.
Schnell huschte sie zu den Fässern zurück. Auf dem Weg
stieß sie gegen ein paar kleine Holzkisten, die kippten und zu
Boden krachten. In Panik hastete Lilo weiter und ließ sich zit-
ternd neben Axel fallen. Mit angehaltenem Atem äugten die

63
beiden durch einen winzigen Spalt zwischen den Fässern.
Juliaan und sein Begleiter kamen aus dem Loch gekrochen
und schienen zu streiten. Juliaan war äußerst missmutig, und
der Mützenmann entschuldigte sich mehrmals bei ihm.
Sie schraubten die Platte wieder fest und durchquerten den
Frachtraum. Endlich waren die beiden draußen, und die Tür
fiel hinter ihnen laut klickend ins Schloss. Die Knickerbocker
blieben dennoch regungslos in ihrem Versteck.
Minuten verstrichen.
„Jetzt ist die Luft rein! Ich muss unbedingt sehen, was da un-
ten los ist!“, flüsterte das Superhirn.
Gemeinsam lösten sie die Schrauben und nahmen die Platte
wieder ab. Die Holzleiter unterhalb der Wandöffnung war mit
Draht verzurrt, damit sie auch bei stürmischer See nicht umfal-
len konnte.
Die Juniordetektive leuchteten mit ihren Taschenlampen in
die Tiefe. Die Leiter führte in den Schiffsrumpf.
Lilo begann die Sprossen hinunterzuklettern. Im Schiffs-
rumpf war es deutlich kälter. Die Hohlräume dienten als
Schwimmkörper und wurden normalerweise nie betreten.
Das Superhirn wartete, bis Axel nachgekommen war.
Der Raum hatte keinen wirklichen Boden. Zwischen den ge-
bogenen Wanden waren Bretter verspreizt, auf denen Schuhab-
drücke zu erkennen waren.
Vorsichtig balancierten sie voran. Der Raum war von schau-
rigen Geräuschen erfüllt. Es war, als würden die verschraubten
Stahlplatten stöhnen. Das Ächzen ging einem durch Mark und
Bein. Es hörte sich an, als würde das mächtige Schiff bald aus-
einander fallen.
Axel blieb stehen und griff sich an den Kopf.
„Was hast du?“, fragte Lilo, als sie bemerkte, dass er zurück-
blieb.
„Ich weiß nicht. Ich habe so einen merkwürdigen Druck im
Kopf … hinter den Augen.“

64
„Sollen wir umkehren?“
Nein, Axel war dagegen. Er wollte endlich wissen, was sich
hier unten verbarg.
„Vielleicht bekommt dir der Gestank hier unten nicht“, ver-
mutete Lilo.
Es roch nach Metall, Rostschutzfarbe, Schmierfett und fau-
lem Fleisch.
Lieselotte zog sich den Rand ihres T-Shirts über die Nase,
um besser atmen zu können.
Ein Stück weiter stießen sie auf einen äußerst improvisiert
wirkenden Bretterverschlag. Fast gleichzeitig ließen Axel und
Lilo einen Pfiff ertönen: Es gab keinen Zweifel! Hier unten war
ein Mensch versteckt worden. Auf dem Bretterboden lag eine
alte Matratze, eine zerwühlte Decke und ein fleckiges Kissen.
Die Knickerbocker entdeckten mehrere Kanister mit Wasser,
eine Camping-Toilette, einen Stapel Zeitschriften und Bücher
und einige schmutzige Teller.
„Freiwillig war der nicht hier“, stellte Axel fest und zeigte
auf eine Kette, an deren Ende Handschellen hingen.
Lieselotte deutete auf die Wand, die der Matratze gegenüber-
lag. Auf ihr prangten vier stark vergrößerte Fotos von Männer-
köpfen; am Gesichtsausdruck und an den Posen war zu erken-
nen, dass es sich nicht um Porträts handelte, sondern dass die
Aufnahmen heimlich geknipst worden waren.
„Wie Fotos von einem Privatdetektiv, der jemanden über-
wacht“, schoss es Lilo durch den Kopf.
„Hast du die Gesichter schon einmal gesehen?“, wollte Axel
wissen.
Lilo verneinte.
Es waren vier Männer, deren Alter zwischen vierzig und
sechzig Jahren liegen musste. Zwei trugen weiße Hemden und
Anzüge, zwei steckten in Arbeitsmänteln. Sie waren alle etwas
rundlich. Einer hatte einen Kinnbart, einer lange Koteletten,
einer einen sehr altmodischen Kurzhaarschnitt, und der vierte

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schien schon längere Zeit keinen Friseur mehr gesehen zu ha-
ben.
„Schau, das ist Russisch!“, sagte Axel und deutete auf die
Zeitschriften.
„Hier unten wurde jemand gefangen gehalten und nach Am-
sterdam gebracht – es kann nur der Mann ohne Gesicht gewe-
sen sein!“, kombinierte Lieselotte und begann ihre Nasenspitze
zu massieren.
„Aber wieso?“, meinte Axel.
Lilo gab ihm keine Antwort, denn sie hatte noch etwas ent-
deckt. Neben und hinter dem Verschlag standen Metallkisten.
Sie waren nicht abgesperrt. Alle fünf waren leer. Lieselotte
kniete sich vor einer nieder und steckte den Kopf tief hinein.
„Was machst du denn da?“, wunderte sich ihr Kumpel.
„Ich versuche etwas zu erschnuppern. In Kisten wird etwas
transportiert – und wenn es auch bereits weggebracht wurde,
bleibt manchmal der Geruch hängen.“
„Und, wonach riecht es in der Kiste?“
„Nach Dachboden!“, lautete Lilos Antwort, mit der Axel aber
nichts anfangen konnte.
Das Knarren der Schiffswände wurde plötzlich stärker. Wel-
len schlugen gegen den Rumpf, und es dröhnte, als würde je-
mand mit Eisenhämmern dagegen schlagen.
„Komm, wir verschwinden besser!“, meinte Axel.
Lilo war einverstanden. Sie kletterten die Leiter nach oben
und befestigten die Wandplatte wieder an der richtigen Stelle.
Als sie sich dann umdrehten, um den Lagerraum zu durchque-
ren, stockte ihnen der Atem.

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Freund oder Feind?
Vor ihnen stand Juliaan. Er hielt eine dicke Eisenstange und
starrte die Knickerbocker wutentbrannt an.
„Ihr geht mir auf den Geist!“, zischte er. „Ihr Schnüffler!
Wer hat euch geschickt? Ihr Schnüffler! Wer hat euch ge-
schickt?“
Lieselotte wusste später nicht mehr, wie sie den Mut aufge-
bracht hatte. Sie fragte ganz trocken: „Könnte es sein, dass bei
Ihnen die Platte hängen geblieben ist?“
Juliaans graues, kantiges Gesicht verzog sich zu einer wilden
Grimasse. „Ihr kommt hier nicht mehr raus!“, tobte er.
„Sag niemals nie!“, erklärte Lilo cool.
Sie brachte den Kellner zur Weißglut. Der Mann verlor die
Nerven, hob die Stange hoch über den Kopf und rannte auf die
Knickerbocker zu.
Axel und Lilo stürmten jeder in eine andere Richtung davon.
Für Juliaan kam die Flucht völlig überraschend. Als er einen
Haken schlagen wollte, um Axel nachzusetzen, stolperte er und
stürzte zu Boden.
„Raus!“, brüllte Lilo.
Das musste sie Axel nicht zweimal sagen. Im Rekordtempo
hatte der Juniordetektiv den Ausgang erreicht und stemmte sich
gegen die schwere selbstschließende Tür. Lilo drängte sich an
ihm vorbei in den Maschinenraum.
Juliaan hatte den Schreck überwunden und die Verfolgung
aufgenommen. Schnaubend rannte er zum Ausgang. Seine Au-
gen traten weit aus den Höhlen und waren blutunterlaufen.
Die Juniordetektive warfen sich mit aller Kraft gegen die
Tür, bis das Schloss klickend einrastete.
Sie hörten, wie Juliaan an der Klinke riss.
Axel schlug mit der Handfläche gegen einen Riegel, der sich
widerstrebend durch mehrere Metallklammern schob.

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„Jaaaa!“, schrie Axel triumphierend.
Juliaan war gefangen.
Axel und Lieselotte kletterten über die schmalen Stege und
Leitern zwischen den riesigen öligen Maschinen. Sie drehten
sich wiederholt zur Frachtraumtür um, an der Juliaan rüttelte.
„Von allein kommt der da nicht heraus!“, stellte Axel fest
und grinste zufrieden.
Vor ihnen tauchte schon der Ausgang aus dem Maschinen-
raum auf – jetzt war es nicht mehr weit bis zu den Mann-
schaftskabinen.
Axel musste kurz stehenbleiben, um seine Schnürsenkel zu
binden.
Da stieß Lieselotte einen Schrei aus.
Er blickte auf und sah den Mützenmann, der völlig unerwar-
tet hinter einem der Motoren hervorgekommen war. Er ver-
stellte Lilo den Weg. An ihm vorbeizulaufen war ausgeschlos-
sen.
Schon streckte er seine kurzen kräftigen Arme aus, um sie zu
fangen.
Lilo wirbelte herum. Die Stege zwischen den Maschinen gli-
chen einem Irrgarten. Es musste ihr doch gelingen, den Verfol-
ger abzuhängen.
Nach genau drei Schritten war Lilos Fluchtversuch zu Ende.
Sie stolperte über Axel und stürzte.
Der Mann, der sich als Ian Claes ausgegeben hatte, war so-
fort bei ihnen und packte sie an den Armen. „Hat sich Juliaan
doch nicht verhört!“, sagte er. „Ihr seid ja eine echte Plage!“
Mit Lilos Lockerheit war es nun vorbei. Sie rang nach Luft,
und die Angst rumorte in ihrem Bauch wie ein Feuerball.
„Macht euch zu einer netten Reise nach Russland bereit. Es
ist eine Kleinigkeit, euch dort für immer verschwinden zu las-
sen!“, knurrte der Mützenmann.
Er drehte den beiden die Arme auf den Rücken. Dann stieß er
sie vor sich her in Richtung Frachtraum.

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Die Knickerbocker wussten genau, dass alles aus war, wenn
sie nach unten in das Versteck im Rumpf gebracht wurden.
Kein Mensch würde sie dort suchen.
„Unsere Freunde sind auch an Bord. Sie werden die Polizei
rufen, wenn wir nicht in ein paar Minuten wieder an Deck
sind!“, drohte Lilo.
„Dann werden wir sie eben auch verschwinden lassen. Danke
für den Tip“, sagte Claes mit eisiger Stimme.
Lilo hätte sich ohrfeigen können. Sie hatte gehofft, den Mann
aus der Fassung bringen zu können. Nun waren auch Dominik
und Poppi in Gefahr.
„Los, aufmachen!“, zischte der Mann und schob Axel auf die
verriegelte Tür zu.
Der Junge hatte nur seine Linke frei und werkte ungeschickt
an dem Riegel. Der Mann riss ihm den rechten Arm höher, und
Axel brüllte vor Schmerz.
„Schneller, los!“, befahl der Peiniger.
Das nächste, was die Juniordetektive von ihm hörten, war ein
tiefes, fast erleichtertes Stöhnen. Sein Griff lockerte sich, und
sie konnten ihre Arme befreien. Erstaunt wandten sie sich um.
Der Mützenmann lag mit geschlossenen Augen zu ihren Fü-
ßen. Hinter ihnen stand ein Mann mit einer rotbraunen Kraus-
haarfrisur und einem mächtigen Bart.
Lieselotte wich zurück.
„Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich bin gekommen, um
euch zu retten. Ehrlich!“
Axel erkannte die Stimme sofort. „Das ist der Mann ohne
Gesicht!“
„Sie … und uns retten?“, keuchte Lilo.
„Hätte ich ihn sonst außer Gefecht gesetzt?“, sagte der Mann.
„Ist er tot?“, krächzte Axel, dessen Kehle wie abgeschnürt
war.
„Nein, nur bewusstlos. Los, macht schon! Ihr müsst schnell
weg!“, drängte der Mann.

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„Sie … Sie waren gestern am Hausboot und haben uns aus-
gefragt. Wieso? Und warum haben Sie uns in die Falle ge-
lockt? Wir sind in den unterirdischen Kanälen fast ertrunken!“
Lilos Vorwürfe kamen wie aus der Pistole geschossen.
„Das ist jetzt egal! Ihr müsst von Bord! Tempo! Diese Kerle
sind gefährlich!“
„Sie aber auch!“, rief Axel.
„Hört zu, ich … ich war blind vor Angst. Ich wollte euch
dann wieder rausholen. Ich … ich kann es euch nicht erklären.
Nicht jetzt!“
Hinter ihnen trommelte Juliaan im Frachtraum gegen die Tür.
Um seine guten Absichten zu beweisen, machte der Mann
Platz und deutete den Knickerbockern, dass sie gehen konnten.
Lieselotte nickte Axel zu und drängte sich an dem Mann oh-
ne Gesicht vorbei. Ihr Kumpel folgte ihr. Mit großen Schritten
durchquerten sie den Maschinenraum zum zweiten Mal und
stürmten dann die steilen Treppen nach oben.
Erst als sie in dem Korridor standen, der zum Roten Salon
führte, blieben sie stehen und rangen nach Luft. Ihre Lungen
brannten, und die Beine versagten ihnen fast den Dienst.
„Axel, Lilo!“ Dominik und Poppi verließen ihr Versteck und
liefen auf die beiden zu.
Da tauchte der Mann ohne Gesicht auf.
Poppi schrie auf.
„Nicht, kein Aufsehen, bitte!“, flehte der Mann. Er schubste
die vier vor sich her durch den Korridor. Endlich erreichten sie
den Abgang und stellten zu ihrer Erleichterung fest, dass der
Mann in Livree nicht mehr an seinem Platz stand.
Sie rannten die Treppe hinunter – der Mann ohne Gesicht
dicht hinter ihnen.
„Jetzt will ich endlich wissen, wer Sie sind! Was ist da los?“,
beharrte Lieselotte.
Der Mann sah sich hastig um und gab ihnen zu verstehen,
dass sie noch ein Stück weitergehen sollten. Sie durchquerten

70
eine Halle, in der die Passagiere der Ozeanriesen begrüßt wur-
den, bevor man sie an Bord bat.
Ein Wagen mit verdunkelten Scheiben parkte auf der Straße
davor.
Die Perücke des Mannes ohne Gesicht war verrutscht, und
sein aufgeklebter Bart begann sich zu lösen. „Also ich …!“,
begann er.
Weiter kam er nicht.

71
Gejagt
Die Beifahrertür des Autos flog auf, und ein bulliger Mann in
einem dunklen Anzug stieg aus. Er packte den Mann ohne Ge-
sicht und riss die hintere Wagentür auf. Unsanft stieß er ihn
hinein und schrie ihm etwas zu, das nach einer Drohung klang.
Der Mann ohne Gesicht leistete keinen Widerstand. Er zog
die Beine ein, und die Autotür wurde zugeknallt.
Unschlüssig starrte der Typ, der aus dem Wagen gesprungen
war, die Knickerbocker an. Er schien zu überlegen, was er tun
sollte.
„Weg!“, schrie Lieselotte und lief los. Ihre Freunde folgten
ihr sofort.
Da hörten sie Stimmen hinter sich. Juliaan und der Mützen-
mann kamen die Gangway heruntergerannt.
Die Juniordetektive stürmten in ein Lagerhaus, dessen hinte-
res Tor offen stand, und durchquerten es.
Der Motor des Wagens heulte auf.
Als die vier Freunde das Lagerhaus verließen, sah sich Lilo
verzweifelt um. Links oder rechts – das war hier die Frage! Sie
entschied sich für links und rannte, so schnell sie ihre Beine
trugen.
Mit quietschenden Reifen schlitterte der Wagen, in den der
Mann ohne Gesicht verfrachtet worden war, um die Kurve und
raste genau auf sie zu.
Die Knickerbocker konnten sich nur durch einen mächtigen
Sprung in Sicherheit bringen.
„Los, dorthin!“, brüllte Lilo.
Axel packte die geschockte Poppi, die dem Wagen mit gro-
ßen Augen nachstarrte.
Das Superhirn hetzte auf einen riesigen Stapel von Kisten
und Fässern zu.
Als Axel sich umsah, traute er seinen Augen nicht: Der Müt-

72
zenmann war ihnen dicht auf den Fersen!
Die Knickerbocker kämpften sich zwischen dem Frachtgut
durch und gelangten auf einen betonierten Platz.
„Vorsicht!“, schrie Dominik.
Juliaan kam ihnen entgegen. Er hatte ihren Plan durchschaut
und ihnen den Weg abgeschnitten.
Axel war nicht nur beim Fußballspielen ein guter Täuscher.
Er sprang vor dem Schiffskellner hin und her, und Juliaan, der
nach ihm schnappte, griff immer nur in die Luft. Schließlich
rammte Axel ihn mit der Schulter, und Juliaan verlor das
Gleichgewicht.
Der Weg war wieder frei.
Ungefähr hundert Meter von den Knickerbockern entfernt
hielt gerade ein Taxi. Ein älteres Ehepaar stieg aus und bezahl-
te umständlich.
„Das nehmen wir!“, rief Lilo.
Die Juniordetektive hechteten auf die Rückbank des Taxis,
und Axel schrie: „Bitte losfahren, schnell!“
Das ältere Ehepaar drehte sich verwundert um und sah die
beiden Männer auf sich zustürmen. Sie hielten sie für Diebe
und waren wild entschlossen, sich nichts stehlen zu lassen: Die
Frau schlug mit ihrer Handtasche nach Juliaan. Der Mann ver-
teidigte sich mit seinem Gehstock.
Der Taxifahrer war glücklicherweise schnell von Begriff und
trat auf das Gaspedal.
Dominik beobachtete durch die Rückscheibe, was hinter ih-
nen vorging. „Die Männer steigen in den Wagen. Sie folgen
uns!“, meldete er aufgeregt.
Lilos Blick fiel auf die Uhr des Armaturenbretts. Es war halb
drei. Das Superhirn hatte eine Idee. „Zur Tulpenhalle – Künst-
lereingang!“, sagte sie zum Taxifahrer.
Er hatte verstanden und nickte.
„Und könnten Sie bitte den Wagen hinter uns abhängen?“,
fragte Lilo.

73
Der Fahrer lachte, weil er meinte, Lilo hätte einen Scherz
gemacht.
„Dürfen wir Ihr Handy benutzen?“, wollte Dominik wissen.
Der Fahrer reichte es ihm mit dem Hinweis, dass sie für das
Gespräch bezahlen mussten.
Poppi war immer sehr ordentlich und hatte sich die Telefon-
nummer von Annabels Hausboot notiert. Dominik rief Fräulein
Lindas Schwester an und verständigte sie, dass sie bereits zur
Tulpenhalle unterwegs waren.
„Linda ist außer sich vor Sorge!“, berichtete Annabel.
„Wir treffen sie in der Halle!“, meinte Dominik knapp und
beendete das Telefonat.
Der dunkle Wagen folgte ihnen bis zur Veranstaltungshalle.
Die Knickerbocker bezahlten die Fahrt, stiegen aber noch
nicht aus. Soeben war nämlich der Bus mit den italienischen
Teilnehmern eingetroffen. Die Jungen und Mädchen stiegen
laut singend und lachend aus und kamen direkt am Taxi vorbei.
„Jetzt!“, gab Lilo das Kommando.
Sie öffneten die Türen, sprangen ins Freie und umarmten die
überraschten Kinder. Sie hängten sich bei ihnen ein, als wären
sie alte Freunde, und gingen mit ihnen rasch durch den Büh-
neneingang.
Als sie in der Halle angelangt waren, atmeten sie erleichtert
auf. Die Verfolger hatten sie abgehängt – für den Augenblick
wenigstens. Wer hinter die Bühne wollte, benötigte einen
Ausweis.
Mareike, die Kostümbildnerin, musterte sie verwundert.
„Habt ihr einen Dauerlauf gemacht?“, fragte sie.
Die vier Knickerbocker waren total verschwitzt und hatten
rote Köpfe.
„So was Ähnliches …“, sagte Lilo.
„He, ihr sollt kurz rauskommen!“, rief da ein Junge auf eng-
lisch.
Die vier blickten einander entsetzt an.

74
Hinaus? Niemals!
„Hallo Kinder! Bitte, bitte kommt her!“, hörten sie die fle-
hende Stimme des Mannes ohne Gesicht von der Tür her.
„Ich gehe, ihr bleibt hier!“, entschied Lieselotte.
Sie zwängte sich an den anderen Wettbewerbsteilnehmern
vorbei, die durch den Eingang drängten, blieb aber im Türrah-
men stehen. So konnte sie niemand entführen, ohne größtes
Aufsehen zu erregen.
Der Mann mit dem aufgeklebten Bart und der Perücke flü-
sterte: „Bitte … ich flehe euch an, bitte tut, was sie verlangen.
Sonst ist mein Leben in Gefahr. Ihr hättet nicht herumschnüf-
feln dürfen. Aber jetzt ist es zu spät. Sie werden euch nichts
tun. In zwei Tagen ist alles vorbei, und dann lassen sie euch
frei – ich schwöre, dass euch nichts zustoßen wird!“
Lilo sah den Mann entgeistert an: „Was soll das heißen?“
„Ihr müsst mitkommen! Bitte! In zwei Tagen, wenn alles
vorbei ist, lassen sie euch frei – sie haben es versprochen.“
„Wir sind doch nicht wahnsinnig!“, erwiderte Lilo.
Der Mann schluckte heftig. Er drehte sich zu seinen Beglei-
tern um, die neben dem Wagen warteten. Sie hatten die Hände
in den Jackentaschen. Hatten sie Pistolen auf sie gerichtet?
„Bitte, sie … sie … meinen es ernst“, stöhnte der Mann ohne
Gesicht.
„Unmöglich, wir müssen hier auftreten. Wir können uns
nicht einfach aus dem Staub machen!“, zischte Lieselotte.
Der Mann ohne Gesicht kehrte zum Wagen zurück und er-
stattete Bericht. Nach weniger als zwei Minuten stand er wie-
der in der Tür und unterbreitete Lilo einen neuen Vorschlag.

75
Poppis Idee
Das Angebot lautete: Sie sollten den Männern Zutritt zur
Halle verschaffen. Sie würden die ganze Zeit in ihrer Nähe
bleiben und die Knickerbocker nicht aus den Augen lassen. Die
vier Freunde sollten ihren Auftritt hinter sich bringen und sie
dann begleiten. Falls sie etwas verrieten, war das Leben des
Mannes ohne Gesicht verspielt.
Lilo beriet sich mit ihren Kumpeln. Hatten sie eine Wahl?
Schließlich willigten Axel, Dominik und auch Poppi ein.
Lieselotte beschaffte vom Portier des Bühneneinganges
leuchtend gelbe „Backstage“-Aufkleber.
Der Mann ohne Gesicht stieg in das Auto. Er war groß und
breitschultrig, wirkte nun aber, als hätte ihm jemand die Luft
ausgelassen. Der Mützenmann schloss den Wagen ab und kam
mit seinem Komplizen und Juliaan auf Lilo zu. Das Superhirn
überreichte den drei Männern die Aufkleber, die sie sich breit
grinsend an die Klamotten hefteten. „So ist es brav!“, lobten sie
spöttisch.
Ian Claes war sehr unruhig und leckte sich dauernd die Lip-
pen. „Keine faulen Tricks!“, warnte er und deutete zum Wa-
gen: „Von innen kann man die Türen nicht öffnen. Falls ihr
auch nur ein falsches Wort von euch gebt, bezahlt er dafür.“
Dem Superhirn tat der Mann ohne Gesicht schrecklich leid.
Wozu er wohl nach Holland geschmuggelt worden war? Und
warum war in zwei Tagen alles vorbei? Was planten die Gau-
ner?
„Kinder, da seid ihr ja endlich!“ Fräulein Linda trippelte auf
die vier zu und hielt ihnen sofort eine Standpauke.
„Pfui, pfui, pfui! Dass ihr nicht rechtzeitig zurückgekommen
seid!“, schimpfte sie.
Annabel, die sie begleitete, legte ihr beruhigend die Hand auf
die Schulter und sagte: „Reg dich ab, Linda! Die Kinder müs-

76
sen sich schnellstens umziehen. Die Probe beginnt in drei Mi-
nuten.“ Sie folgte den vieren zu den Garderoben und wollte
wissen, wo sie so lange gesteckt hatten.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Lilo den Mützenmann,
der sich mit schnellen Schritten von hinten näherte. Als er in
Hörweite war, verlangsamte er sein Tempo.
„Wir … wir haben uns … die Stadt angesehen“, stammelte
Lieselotte.
Annabel runzelte die Stirn. „Ihr wollt mich wohl auf den
Arm nehmen! Ihr habt doch sicher wieder irgendetwas Wildes
unternommen. Los, mir könnt ihr es doch verraten!“, lachte sie.
Zum Glück hatten sie jetzt die Garderobe erreicht. Die Juni-
ordetektive baten Annabel draußen zu warten und schlossen
hastig die Tür.
Schon im nächsten Moment klopfte es. „Ich muss nach der
Klimaanlage sehen“, sagte Ian Claes.
Die Gauner wollten die Knickerbocker tatsächlich keine Se-
kunde aus den Augen lassen.
Die Probe, die bereits mit Publikum aufgezeichnet wurde,
war für die vier eine einzige Katastrophe. Axel vergaß seine
Tanzschritte und knallte gegen Poppi, die das Gleichgewicht
verlor. Sie suchte nach Halt, griff nach Dominiks linkem Arm
und riss ihm den Ärmel seines Jacketts ab.
Ständig hielten die Freunde nach ihren Verfolgern Ausschau.
Die Haare der Perücken, die man ihnen aufgesetzt hatte, flogen
dabei von einer Seite auf die andere, was äußerst seltsam wirk-
te.
Der Song, zu dem die Knickerbocker nur die Lippen beweg-
ten, war fast zu Ende, als etwas Entsetzliches geschah.
Ein Schuss hallte durch den riesigen Saal.
Erschrocken warfen sich die vier flach auf den Boden.
Die Musik war endlich aus und einen Augenblick lang
herrschte Stille. Dann aber begann das Publikum zu rasen. Die
Popstars, die die Knickerbocker nachmachten, waren in Hol-

77
land nicht sehr beliebt. Die meisten Leute fanden die knallbun-
te Kleidung, die schlaksigen Tanzschritte und die dämlichen
Lieder einfach abstoßend.
Das holländische Publikum war daher begeistert, wie die
Bande die Gruppe nachmachte.
Vorsichtig hob Axel den Kopf. Neben ihm lagen Glassplitter
auf der Bühne. Ein Mann in einem blauen Overall lief herbei
und half den Juniordetektiven auf die Beine. Es war bloß ein
Scheinwerfer explodiert.
„Brav, brav, brav!“, lobte Fräulein Linda, als die Freunde
von der Bühne trotteten.
Der Mützenmann kam auf sie zugestürzt und rief: „Großar-
tig, ich muss euch sofort für das Tagblatt interviewen! Gehen
wir doch in eure Garderobe.“
„Können wir denn gar nichts tun?“, raunte Axel Lilo zu.
Das Superhirn verdrehte die Augen. Ihm war noch kein
Ausweg eingefallen.
Bis zum Beginn der Show blieben noch zwei Stunden, die
nicht und nicht vergehen wollten.
Poppi musste mehrmals die Toilette aufsuchen. Dort entdeck-
te sie ein kleines Fenster. Sie stieg auf die Muschel und lugte
hinaus. Sie sah den Platz, auf dem der Mützenmann und seine
Begleiter ihren Wagen abgestellt hatten: Er stand noch immer
da.
Gleich nach der Show würden die Knickerbocker darin weg-
gebracht werden. Poppi wurde bei diesem Gedanken ganz
schlecht. Zitternd kauerte sie sich zusammen und versuchte die
Tränen zurückzuhalten.
Plötzlich aber hatte sie einen Einfall. Sie riss an der Papier-
rolle und breitete einen Streifen auf dem Deckel auf. Hastig
kramte sie in den Taschen ihres blitzblauen Glitzerkostüms.
Die Dame, von der sie geschminkt worden war, hatte ihr einen
Lippenstift gegeben. Poppi sollte sich damit kurz vor dem Auf-
tritt noch einmal über die Lippen fahren.

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„Hilfe! Bitte Polizei rufen! Wir sollen nach der Show ent-
führt werden!“, schrieb sie auf das weiche Papier. Sie rollte den
Streifen zusammen und steckte ihn ein. Dann betätigte sie die
Spülung.
Vor der Toilette wartete schon Juliaan auf sie. Poppi schaffte
es, ihn anzulächeln, und ging in den Schminkraum.
Dort herrschte lebhafter Betrieb. Die Kinder wurden in ihre
erwachsenen Vorbilder verwandelt und wollten den Popstars
natürlich so ähnlich wie möglich sehen.
Poppi erspähte Mareike, die neben einem Mädchen in einem
weißen Hosenanzug kniete und gerade den Saum kürzte. Sie tat
so, als würde sie stolpern, und landete neben Mareike auf dem
Boden. Dabei ließ sie die Nachricht in die große Tasche ihrer
Jacke gleiten.
„Hallo Poppi, alles in Ordnung?“, erkundigte sich Mareike
besorgt.
„Jaja“, stammelte Poppi.
Sie verließ den Schminkraum und kehrte zu ihren Freunden
in die Garderobe zurück.
Der Mützenmann wich den Juniordetektiven keinen Augen-
blick von der Seite.
Poppi gab Lilo unauffällig zu verstehen, dass sie etwas un-
ternommen hatte. Nun hieß es Geduld zu haben und zu hoffen.
Falls die Polizei jedoch einfach hereinplatzte, war alles aus und
vorbei.
Die Minuten gingen dahin. Schließlich blieb nur noch eine
Viertelstunde bis zum Beginn der Show.
Mareike kontrollierte noch einmal die Kostüme und war sehr
zufrieden. Im Schminkraum wurden die Perücken zurechtge-
rückt und das Make-up ausgebessert und aufgefrischt.
„Toi, toi, toi!“, wünschte Fräulein Linda den Knickerbockern
und spuckte ihnen, nach altem Theaterbrauch, über die Schul-
ter. Sie war so in Fahrt, dass sie Juliaan traf, der hinter den Ju-
niordetektiven stand.

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Auch Axel und Dominik wussten inzwischen, dass Poppi et-
was unternommen hatte, aber es geschah nichts. Lilo vermute-
te, dass die Polizei vielleicht erst nach der Show zuschlagen
wollte. Schließlich musste sie die Gauner auf frischer Tat er-
tappen, um ihnen etwas anhaben zu können.
Eine Kindergruppe nach der anderen ging auf die Bühne und
zog dort ihre Playbackshow ab. Die Stimmung im Saal war
großartig. Das Publikum applaudierte begeistert.
Und dann waren die vier an der Reihe. Ein Mädchen holte sie
ab und führte sie durch einen sehr schmalen, etwas düsteren
Gang zur Bühne.
Plötzlich spürte Lilo jemanden neben sich. „Nicht herschau-
en, wir helfen euch. Alles klar. Wir sind den Typen schon län-
ger auf der Spur. Was haben sie euch über ihren Plan erzählt?“
Neben Lilo ging ein Mann. Sie konnte sein Rasierwasser rie-
chen. Es war ein starker Duft, der sie ein wenig an Weihrauch
erinnerte.
„Nichts, außer dass in zwei Tagen alles vorbei sein soll!“,
flüsterte Lieselotte. Ihr Herz raste wie nie zuvor: die Aufregung
vor dem Auftritt und jetzt noch der Polizist, von dem die Gau-
ner nichts bemerken durften.
„Der Mann ohne Gesicht sitzt im Wagen gefangen. Ein dunk-
ler Wagen mit schwarzen Scheiben. Sie wollen ihn umbringen,
wenn etwas schief geht“, wisperte Lilo.
„Was kannst du uns noch sagen?“, drängte der Mann. Sie
hatten fast die Bühne erreicht.
„Nichts, gar nichts!“, hauchte das Superhirn.
„Okay Mädchen! Kein Wort zu irgendjemandem! Es darf
kein Aufsehen erregt werden. Meine Leute sind in der Halle,
wir erledigen das in aller Stille. Euch wird nichts geschehen,
das garantiere ich euch. Und jetzt alles Gute!“
Die Knickerbocker traten in das grelle Scheinwerferlicht.
Lieselotte drehte sich um, weil sie sehen wollte, mit wem sie
gesprochen hatte, aber der Durchgang erschien ihr wie ein

80
schwarzes Loch. Sie konnte niemanden ausmachen.
Als die ersten Takte des Songs aus den Lautsprechern dröhn-
ten, schoss Lilo ein schrecklicher Verdacht durch den Kopf:
„Und was ist, wenn das überhaupt kein Polizist war? Und was
ist, wenn die Gauner das Gespräch beobachtet haben?“

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Hochspannung
Die Stimmen der Sänger setzten ein, und Lilo begann die
Lippen dazu zu bewegen. Es sollte alles so echt wie möglich
aussehen.
Die vier Knickerbocker tanzten und sangen wie nie zuvor.
Die Unwirklichkeit der Situation hatte ihnen alle Hemmungen
genommen.
Als sie fertig waren, sprangen viele Besucher auf und
klatschten begeistert.
Mechanisch verbeugten sich die Juniordetektive. Der Jubel
kam wie aus weiter Ferne.
Was würde jetzt geschehen?
„Abgang, hier entlang!“, rief ihnen das Mädchen zu, das sie
auf die Bühne gebracht hatte.
Sie kehrten durch den düsteren Gang zu den Garderoben zu-
rück. In Stichworten schilderte Lieselotte ihren Freunden das
Gespräch mit dem Polizisten.
Linda und Annabel empfingen sie stürmisch. Das Fräulein
ahmte einige der Discobewegungen nach, was bei ihr beson-
ders drollig wirkte.
„Klasse, Axel!“, sagte Annabel und klopfte dem Jungen auf
die Schulter.
Die vier Knickerbocker sahen sich um.
„Sucht ihr jemanden?“, wollte Fräulein Linda wissen.
„Ja … äh … nein!“, stammelten die vier.
Der Mützenmann und seine beiden Komplizen waren ver-
schwunden.
Poppi rannte auf die Toilette und spähte nach draußen. Der
schwarze Wagen war nicht mehr da.
Sie waren in Sicherheit.
Poppi trat aus der Damentoilette in den Vorraum, in dem sich
die Waschbecken befanden. Er wurde sowohl von Frauen als

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auch von Männern benutzt. Sie ließ kaltes Wasser über ihre
Hände laufen. Dann trocknete sie sich mit einem Papierhand-
tuch ab. Als sie es in den Mülleimer warf, fiel ihr Blick auf
einen Streifen Toilettenpapier. Er war zerrissen, aber dennoch
erkannte sie die Lippenstiftspuren ihrer Nachricht.
Poppi stürzte aus der Toilette und an ihren Freunden vorbei,
die ihr gefolgt waren.
„Was ist denn?“, rief ihr Lilo nach, bekam aber keine Ant-
wort.
Poppi lief durch die Gänge und suchte nach Mareike. Sie
fand sie beim Bühnenaufgang, wo sie gerade noch ein Kostüm
zurechtzupfte.
„Mareike, ich habe dir eine Nachricht auf einem Stück Toi-
lettenpapier in die Tasche gesteckt. Hast du sie gefunden?“,
fragte Poppi keuchend.
Die Frau sah sie verwundert an. „Nein, was wolltest du denn
von mir?“
Um Poppi begann sich alles zu drehen. Wenn Mareike die
Polizei nicht verständigt hatte, wer war dann an Lilo herange-
treten?
Warum waren die Gauner verschwunden? Waren sie festge-
nommen worden? Oder hatten sie ihren Plan fallen lassen?
In der Garderobe berichtete Poppi ihren Freunden, was vor-
gefallen war. Axel, Dominik und Lilo bewunderten sie für ih-
ren Einsatz, waren jedoch ratlos, was ihre Situation betraf.
Eines stand für Lilo fest: Es musste einer der drei Gauner
gewesen sein, der Mareike die geheime Nachricht aus der Ta-
sche gezogen hatte. Warum aber hatten sich die Gauner aus
dem Staub gemacht?
„Schnell, auf die Bühne! Ihr werdet schon überall gesucht!“,
rief Fräulein Linda und zerrte Poppi aus der Garderobe auf den
Gang. Entsetzt stellte sie fest: „Mein Gott, Kinder, ihr seid ja
käseweiß! Was ist denn mit euch los?“
Endlich stand die Wertung fest.

83
Die Kinder aus Italien hatten gesiegt. Die Knickerbocker-
Bande landete auf Platz zwei, was dem Saalpublikum gar nicht
gefiel. Die Besucher der Veranstaltung hätten die Kinder aus
Österreich lieber als Gewinner gesehen.

Die Rückfahrt zum Hausboot erlebten die Juniordetektive


wie durch einen dicken Nebel. „Freut ihr euch denn gar
nicht?“, fragte Annabel immer wieder.
„Doch, doch“, murmelten die vier, aber in Gedanken waren
sie ganz woanders.
„Wir … wir müssen die Polizei informieren!“, beschloss Lie-
selotte nach reiflicher Überlegung.

Zwei Stunden später fühlten sie sich noch elender. Die Poli-
zeibeamten hielten die Geschichte für eine pure Wichtigtuerei,
die sich die Bande ausgedacht hatte, weil sie auf Platz 2 gelan-
det war.
Lilo musste sich schließlich eingestehen, dass sie keinen ein-
zigen Beweis in der Hand hatten.
„Doch, es gibt einen Beweis: das Versteck im Kielraum des
Fliegenden Holländers“, sagte Dominik.
Per Funk wurde ein Streifenwagen losgeschickt, dessen Be-
satzung sich schon bald meldete: Der Kapitän des Schiffes hielt
ein solches Versteck für unmöglich. Der Kielraum war ver-
schweißt.
Als die Polizisten gegangen waren, folgte eine Standpauke
von Fräulein Linda. „Auch verlieren will gelernt sein“, erklärte
sie mit erhobenem Zeigefinger.
„Die Gauner haben erkannt, dass eine Entführung viel zu auf-
fällig und gefährlich ist. Und da wir keine Beweise haben und
nicht einmal wissen, was sie eigentlich planen, haben sie die
Aktion abgebrochen“, kombinierte Lieselotte.
Wer war nur der Mann gewesen, der sich ihr im Durchgang
genähert hatte?

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Die Freunde blieben in der kühlen Nachtluft auf dem Vor-
derdeck sitzen und starrten zum Himmel. Morgen ging es nach
Hause zurück und sie waren froh darüber.
„Ich habe vergessen, euch etwas auszurichten!“ Fräulein
Linda trug bereits ihr weißes Nachthemd und das Schlafhäub-
chen, als sie noch einmal an Deck erschien. „Eure Eltern gratu-
lieren euch herzlich und ihr dürft als Belohnung noch drei Tage
bleiben.“
„Aha!“, war der einzige Kommentar.
Die vier Freunde beschlossen, schlafen zu gehen. Sie waren
total erschöpft und fühlten sich elend.
Was war mit dem Mann ohne Gesicht geschehen? Hatten sie
sein Leben in Gefahr gebracht? So nahe waren sie daran gewe-
sen, ein geplantes Verbrechen aufzudecken, und mit einem
Schlag hatte sich der Fall in Luft aufgelöst.
Bald war auch das letzte Licht auf dem Hausboot erloschen.
Bei einem der Bäume zwischen Gehweg und Straße stand ein
mittelgroßer Mann und zog seine schwarze Lederjacke enger
um sich. Er hatte seit Tagen kaum etwas gegessen und nur we-
nige Stunden geschlafen.
Er kauerte sich neben dem Baum zu Boden und lehnte den
Kopf an den Stamm. Sein rotblondes struppiges Haar war fett
und ungepflegt.
Beinahe hätte er es endlich geschafft gehabt, und dann war
wieder alles schief gegangen. Es lag vor allem daran, dass ihm
der Mut fehlte. Er wartete immer auf den absolut sicheren Au-
genblick, aber den gab es wohl nicht …
Wahrscheinlich hatte er endgültig verspielt.

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Ein bekanntes Gesicht
Beim Frühstück wirkte Fräulein Linda besonders ernst. Die
Knickerbocker befürchteten eine schlimme Nachricht, aber ihre
Aufpasserin wollte nicht damit herausrücken.
Erst als alle fertig gegessen hatten, verkündete sie: „Unsere
liebe Tante Anika ist schwer erkrankt und ich muss zu ihr, um
nach ihr zu sehen. Aus diesem Grund kann ich leider meinen
Aufsichtspflichten nicht mehr nachkommen.“
„Sie spricht fast so verdreht wie du“, flüsterte Axel Dominik
zu und erntete für seine Bemerkung einen Stoß in die Rippen.
„Meine kleine Schwester Annabel hat sich bereit erklärt,
meine Aufgabe zu übernehmen. Doch ich bezweifle, ob das gut
gehen wird“, meinte Fräulein Linda bekümmert.
Die Knickerbocker blickten von der alten Dame zu ihrer
fröhlichen Schwester mit den kurzgeschnittenen grauen Haa-
ren. Annabels Augen funkelten unternehmungslustig.
„Wir werden besonders brav sein und an all ihre Ermahnun-
gen und hervorragenden Ratschläge denken“, verkündete Do-
minik.
Axel, Poppi und Lilo bekamen fast einen Lachkrampf und
verschwanden hinter ihren Servietten.
Fräulein Linda fand Dominiks Satz gar nicht lustig, sondern
nickte zufrieden. „Brav, brav, so kann ich beruhigt abreisen.
Annabel soll euch die Schönheiten und Sehenswürdigkeiten
der Stadt zeigen. Ich werde mich bei meiner Rückkehr verge-
wissern, ob sie euch auch einen Eindruck von Amsterdam ver-
mittelt hat oder nicht.“

Am späteren Vormittag brachen die Juniordetektive dann zu


einem kleinen Ausflug auf. Annabel zeigte ihnen die Liste, auf
die Fräulein Linda mit gestochener Handschrift die sehenswer-
testen Stationen notiert hatte.

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Sie sollten den Käse- und den Blumenmarkt sehen, eine
Grachtenrundfahrt machen und vor allem das Rijks-, das Stede-
lijk- und das Vincent-van-Gogh-Museum besuchen.
Linda hatte sogar einige Gemälde Rembrandts und Vermeers
angegeben, die sich ihre Schützlinge auf keinen Fall entgehen
lassen sollten.
Annabel grinste ein wenig verlegen: „Hört zu, ich schlage
vor, wir ziehen das Programm durch, beeilen uns aber. Sonst
macht mir Linda die Hölle heiß. Ihr wisst, wie sie sein kann.“
Die Knickerbocker nickten.
„Und im Anschluss daran zeige ich euch ein paar echt coole
Plätze hier in Amsterdam“, versprach Annabel.
Nach einem ausgiebigen Mittagessen ging es zum Rijksmu-
seum. „Hier hängen einige der berühmtesten Werke von Rem-
brandt“, erklärte sie. „Er hat zwar im 17. Jahrhundert gelebt,
aber die Menschen auf seinen Bildern leben – auch heute
noch.“
Die Bande schlenderte durch lange Säle, in denen kleinere
und größere Gemälde des Meisters ausgestellt waren.
„Übrigens war er ein Schwindler, wenn ich das so sagen
darf“, flüsterte Annabel hinter vorgehaltener Hand. „Er hat
nämlich viele Bilder gar nicht selbst gemalt. Heute können
Experten feststellen, dass zahlreiche Gemälde von seinen Schü-
lern und Mitarbeitern stammen. Rembrandt hat sie nur si-
gniert.“
Die Juniordetektive grinsten. Wer hätte das von einem so be-
rühmten Maler gedacht?
„Die Werke, die ihr hier im Rijksmuseum seht, sind aber
wirklich alle von ihm … glaube ich!“, versicherte Annabel
schnell.
Sie betraten den Saal mit der Nummer 224 und standen vor
einem riesigen Bild, das einen Großteil der Wand bedeckte.
„Das ist ‚Die Nachtwache‘“, erklärte Annabel. „Eines der
größten Gemälde, das Rembrandt je gemalt hat. Es zeigt die

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Amsterdamer Schützengilde und hat schon einiges durchge-
macht. Ein Besucher hat es einmal mit einem Messer schwer
beschädigt. Und vor vielen Jahren, als es in einem kleineren
Saal untergebracht wurde, hat man es einfach oben abgeschnit-
ten, weil es zu groß war.“
Axel, Lilo, Poppi und Dominik schüttelten ungläubig den
Kopf.
Das Bild war durch eine dicke Panzerglasscheibe geschützt.
Die Juniordetektive erkannten Überwachungskameras und
zahlreiche Sensoren, die auf jede Veränderung im Raum rea-
gierten. Bestimmt verfügte das Museum über eine der modern-
sten Alarmanlagen der Welt.
„So, das genügt“, entschied Annabel und führte die Juniorde-
tektive zum Ausgang.
Sie hatten ihn fast erreicht, als Lilo stehen blieb.
„He, komm endlich! Oder kannst du dich von den Bildern
nicht trennen?“, drängte Axel.
Lieselotte zeigte aufgeregt in einen kleinen Saal mit Blumen-
stillleben aus dem 17. Jahrhundert.
Axel zuckte mit den Schultern.
„Schau doch! Kommt dir der Mann nicht bekannt vor?“
Axel hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
„Doch, den kennen wir!“, beharrte Lieselotte.
„Du siehst schon Gespenster!“, brummte Axel.
Der Mann, den Lilo meinte, trug einen schlecht sitzenden
grauen Anzug mit zu kurzen Hosenbeinen. Sein Haarschnitt
war altmodisch. Sowohl im Nacken als auch über den Ohren
waren die Haare viel zu kurz geschnitten. Die dunkelrandige
Brille wirkte, als hätte sie schon sein Großvater getragen.
Lieselotte schlenderte auf den Mann zu. Sie tat so, als würde
sie die Tafel neben einem Bild studieren, und kam dann schnell
wieder zurück.
„Er heißt Joost van Mellen und arbeitet hier im Museum. Er
hat ein Schildchen an seiner Jacke!“, berichtete sie.

88
„Na und? Kennst du einen Joost van Mellen?“, fragte Axel.
Lieselotte begann ihre Nasenspitze zu bearbeiten. Normaler-
weise half ihr das beim Nachdenken.
„He, kommt ihr endlich?“, riefen Dominik und Poppi. Ihre
Stimmen hallten laut durch den Raum.
Die Knickerbocker stürmten die breite Treppe hinunter und
traten zu Lindas Schwester ins Freie.
„Wie wäre es mit einer Portion Eis? Ich kenne da einen net-
ten Platz!“, schlug Annabel vor.
Bald saßen die vier mit ihrer Gastgeberin unter einem Son-
nenschirm auf der Terrasse des Café’s gegenüber.
Lilo war völlig abwesend.
Auf einmal erhellten sich ihre Züge. „Ich hab’s!“, rief sie.
„Ich weiß jetzt, woher ich den Mann kenne!“

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Der Chef des Sicherheitsdienstes
„Wovon redest du?“, fragte Annabel.
„Gestern auf dem Schiff haben wir im Kielraum ein Versteck
entdeckt. Auch wenn die Polizei uns nicht glaubt, es ist da.
Und an der Wand hingen Fotos von einigen Männern. Einer
davon ist der Typ im Museum!“ Lieselotte war nicht mehr zu
bremsen. Sie sprang auf und rannte zum Rijksmuseum zurück.
Lilo lief durch alle Säle und hielt nach dem Mann Ausschau,
aber er war verschwunden.
Als sie an dem Tresen vorbeikam, hinter dem zwei Frauen
standen, die Taschen und Mäntel zur Aufbewahrung übernah-
men, erinnerte sie sich daran, dass eine von ihnen Deutsch
sprach. Lieselotte beschrieb ihr den Mann. „Er heißt Joost van
Mellen!“, fügte Lilo hinzu. „Welche Aufgabe hat er hier im
Museum?“
„Er ist der Chef des Sicherheitsdienstes!“, lautete die Ant-
wort der Garderobenfrau. „Es gibt insgesamt vier. Sie wechseln
sich ab, denn Sicherheit ist für das Museum von größter Wich-
tigkeit.“
Lilo überlegte fieberhaft: vier Fotos, vier Sicherheitschefs.
Was sollten die Bilder im Versteck des Mannes ohne Gesicht?
Hatte er den Auftrag, die Männer … zu beseitigen?
Nein, Lilo verwarf den Gedanken. Dann hätte es genügt, ihm
beizeiten ein Foto in die Hand zu drücken. Er sollte sich ihre
Gesichter einprägen. Wozu?
Joost van Mellen kam die Treppe herunter und ging an Lilo
vorbei. Sie beobachtete, wie er sich die Hände an die Schläfen
legte und das Gesicht verzog, als ob er starke Kopfschmerzen
hätte.
„Entschuldigen Sie! Darf ich Sie etwas fragen“, rief Lilo.
Herr van Mellen blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
„Könnte es sein, dass … dass … jemand das Museum berau-

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ben … ich meine … die wertvollen Gemälde?“, stammelte Lilo
herum.
Herr van Mellen war sichtlich ungehalten, dass das Superhirn
ihn angesprochen hatte. Mehrfach kniff er die Augen fest zu-
sammen, als könnte er damit die Schmerzen dämpfen.
„Das Rijksmuseum ist heute eines der sichersten Museen der
Welt. Dafür verbürge ich mich. Ich betreue die Sicherungs-
und Alarmanlagen, die sich auf keine Weise außer Betrieb set-
zen lassen – außer über die zentrale Steuerung. Doch nur vier
Leute kennen die Zahlenkombinationen und Codes, die dafür
nötig sind. Und jetzt guten Tag!“ Mit schnellen Schritten ging
er davon.
Nachdenklich durchquerte Lilo die Halle und strebte auf den
Ausgang zu. Es herrschte viel Betrieb an diesem Sonntag. Lie-
selotte ließ sich vom Besucherstrom auf den Ausgang zutrei-
ben.
„Hilfe!“, hörte sie plötzlich jemanden hinter sich flüstern.
Sie drehte sich um und sah das Gesicht eines ihr unbekannten
Mannes. Er hatte die Menschenschlange, die das Museum ver-
lassen wollte, gekreuzt und ging bereits weiter.
Der Mann war groß und hatte langes dunkles Haar, das zu ei-
nem Pferdeschwanz gebunden war. Er trug eine Sportjacke und
Jeans und eine getönte Brille. Wer war das?
Lilo schaute ihm verwundert nach und wurde von den Besu-
chern ungeduldig weitergeschubst.
Und dann sah sie noch jemanden. Zum Glück blickte er nicht
in ihre Richtung, sondern auf den Langhaarigen.
Es war der Mützenmann! Er hatte einen Austellungskatalog
in der Hand und tat so, als würde er darin lesen. In Wirklichkeit
aber spähte er die ganze Zeit über den Rand der Broschüre
hinweg und ließ den Langhaarigen nicht aus den Augen.
Lieselotte wurde durch die Drehtür getrieben und stand im
Freien. Sie rannte über die Straße zu dem Café, in dem ihre
drei Freunde auf sie warteten.

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„Wo ist Annabel?“, wollte sie wissen.
„Sie holt den Wagen, wir fahren weiter!“, antwortete Domi-
nik.
„Dort! Seht ihr: Es ist der Mann ohne Gesicht!“, flüsterte sie
und zeigte auf den Zugang zum Museum. Ihre Kumpel konnten
ihn natürlich nicht erkennen. Lieselotte musste ihnen erst seine
neue Tarnung beschreiben.
Der Mützenmann kam dicht hinter ihm. Es sah aus, als hätte
er unter der Jacke eine Waffe. Er öffnete die Tür eines Mini-
busses und der Mann ohne Gesicht stieg ein. Durch das Fenster
konnten die Juniordetektive sehen, wie er sich die spiegelnde
Maske aufsetzte.
Ian Claes war hinter das Lenkrad gerutscht, drehte sich um
und riss sie ihm wieder vom Gesicht. Es schien einen Streit zu
geben.
Da hupte Annabel, um auf sich aufmerksam zu machen. Die
Juniordetektive schlüpften zu ihr in den Wagen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Lindas Schwester.
„Wir folgen diesem Wagen!“, riefen die vier im Chor und
zeigten auf den Minibus.
Der Mützenmann dachte nicht im Traum daran, dass ihn je-
mand beschatten könnte.
Annabel bewies bei der Verfolgung großes Geschick. Sie
blieb minier ein bis zwei Wagen hinter dem Bus.
Bald hatten sie die Innenstadt hinter sich gelassen und er-
reichten den Stadtrand. Der Verkehr wurde schwächer, und
einige Male blieb Annabel stehen, weil sie sonst ohne Deckung
hinter dem Bus hätte herfahren müssen.
Und dann geschah die Sache mit der Ampel.
Der Bus überquerte gerade noch die Kreuzung.
Da leuchtete schon das gelbe Licht auf, und ein Schlitten vor
ihnen wurde langsamer.
Annabel bremste kurz, scherte dann jedoch nach links aus
und trat voll auf das Gaspedal. Der Motor heulte auf und der

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Wagen schoss im letzten Augenblick über die Querstraße.
Sofort beschleunigte der Bus. Der Mützenmann hatte sie be-
merkt. Da die Sonne von vorne auf die Windschutzscheibe
schien, glänzte das Glas wie ein Spiegel. Er konnte unmöglich
erkennen, wer im Wagen saß.
Der Kleinbus flitzte in ein Gewirr von engen Seitengassen.
Schließlich hatte der Gauner Erfolg und hängte Annabel ab.
Die Knickerbocker stöhnten enttäuscht auf.
Als Annabel dann aber auf die Hauptstraße zurückkehrte, sah
sie den Bus in der Ferne. Sofort nahm Lindas Schwester die
Verfolgung wieder auf.
Ian Claes schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Aber-
mals warf Annabel einen Blick in den Rückspiegel.
„Was ist?“, erkundigte sich Axel, der neben ihr saß.
„Haltet mich für verrückt, aber ich werde das Gefühl nicht
los, dass uns jemand verfolgt!“, murmelte sie.
Dominik drehte sich um und erkannte ein kleines, sehr stau-
biges Auto. Es war nicht zu erkennen, wer es lenkte.
Annabel hatte Recht. Der Wagen hatte es auf sie abgesehen.
Sie hatten Amsterdam nun hinter sich gelassen, und die Stra-
ßenschilder kündigten bereits die Küste an. Die Landschaft
wurde immer flacher und grüner. Mit einem Mal waren sie auf
dem Land, sahen Viehherden und Bauernhöfe.
Der Bus holperte auf einen Feldweg und Annabel bremste.
Sie konnte ihm jetzt nicht mehr folgen, ohne sich zu verraten.
„Los!“, rief Axel und sprang aus dem Wagen. Gemeinsam
mit seinen Freunden stürmte er auf einen kleinen Hügel. Er zog
sein Minifernrohr aus der Tasche und suchte die Gegend nach
dem Bus ab.
„Ich sehe ihn!“, meldete er aufgeregt.
Der Bus steuerte auf ein Wäldchen zu und verschwand.
„Wir müssen es wagen!“, entschied Lilo.
Annabel wollte die vier aufhalten, aber es war zu spät. Schon
rannten sie den Feldweg entlang und waren bald zwischen den

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Bäumen des Wäldchens untergetaucht.
„Kinder, bitte nicht! Kommt zurück!“, rief Annabel.
Sollte sie ihnen folgen? Doch sie hatte keine Chance, die vier
einzuholen.
Da packte sie jemand am Arm.
Erschrocken drehte sie sich um. Fast lautlos war jemand von
hinten an sie herangetreten. Sie starrte in gerötete große Augen.
Sie verstand nicht, was der Gesichtsausdruck des Unbekannten
zu bedeuten hatte. Täuschte sie sich, oder war er wirklich wü-
tend?
Energisch riss sich Annabel los.
„Wer sind sie? Was soll das?“, fuhr sie den Mann an.
„Was tun Sie hier?“, herrschte er sie an.

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In der Windmühle
Als sie aus dem Wäldchen traten, sahen die Knickerbocker-
Freunde einen kleinen Hügel mit drei Windmühlen, der von
einem hohen Zaun umgeben war,
Von dem Kleinbus war nichts zu sehen.
Lilo kniete sich hin und untersuchte den Boden. Er war hart,
und die Reifen hatten keine Spuren hinterlassen.
„Versteht ihr das?“, wunderte sich Dominik.
Poppi deutete auf das strohige Gras. Es war nicht sehr hoch
und an vielen Stellen niedergetrampelt.
Axel horchte auf. „Hört ihr das?“
Ein langgezogenes Rasseln und Quietschen wurde immer
höher und ging den vier Freunden durch Mark und Bein.
„Das klingt wie ein automatisches Garagentor“, meinte Axel.
„Mein Zimmer in unserer alten Wohnung lag über der Garage
des Hauses und deshalb kenne ich es gut.“
„Dort!“ Dominik zeigte auf ein Stück Wiese. Wie das hung-
rige Maul eines Krokodils war es nach oben geklappt. Darunter
befand sich ein rechteckiges Loch, aus dem die Geräusche ei-
nes Wagens drangen, der gerade abgestellt wurde.
„Eine versteckte Abfahrt!“, wisperte Lilo.
Das Tor senkte sich langsam.
Axel zog Lilo am Ärmel. „Komm mit!“, hauchte er.
Er rannte los. Das Superhirn folgte ihm.
Das Tor war noch zu einem Drittel offen. Der Junge zögerte
nicht und warf sich auf den Boden. Auf allen vieren robbte er
durch den immer schmäler werdenden Spalt.
Lieselotte machte es ihm nach, blieb aber mit dem rechten
Schuh an einem Stück Metall hängen. Sie riss und zerrte, aber
es nützte nichts. Der Schuh hatte sich verheddert.
Entsetzt sah Lilo den Lichtstreifen hinter sich kleiner und
kleiner werden. Die mächtige Klappe würde sich gleich schlie-

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ßen und ihr Bein abtrennen.
Axel war bereits tiefer in die Abfahrt vorgedrungen und hatte
Lilos Problem nicht bemerkt. Erst also sie seinen Namen rief,
wurde er aufmerksam.
Die Kante der Klappe war höchstens noch dreißig Zentimeter
von Lilos Bein entfernt. Das Superhirn erkannte eine dicke
Schiene, die unten am Tor zur Verstärkung eingezogen war.
Sie war dreieckig und scharfkantig. Lilo hätte am liebsten ge-
schrien, aber sie brachte keinen Ton heraus.
Sie spürte, wie das Tor ihr Bein berührte.
Lilo schloss die Augen.
Da brach ein Höllenspektakel los. Eine Sirene stieß tiefe
warnende Töne aus. Orangefarbene Lichter begannen sich zu
drehen.
Aus der Tiefe der Garage drang lautes Fluchen.
Axel, der auf der Rampe kauerte, hörte Schritte. Wo sollte er
sich verstecken?
Nachdem der Mechanismus unterbrochen und die Warnanla-
ge ausgelöst worden war, öffnete sich nun das Tor wieder ein
Stück und Lieselotte konnte ihr Bein befreien. Dann begann
sich das Tor abermals zu schließen und rastete bald ein.
Ian Claes schimpfte lautstark über die winzigen Kiesel, die
genügten, um das Tor zu verklemmen. Die Sirene ging ihm
schwer auf die Nerven.
Lilo hatte Mühe, sich zu beruhigen. Ihr Herz raste. Sie kroch
zu Axel, der kurz ihre Hand drückte.
„Los, komm!“, flüsterte er.
Die Schritte des Mützenmannes entfernten sich, und aus der
Tiefe kam nur ein schwacher Lichtschein.
Sie tasteten sich langsam nach unten und erreichten den ab-
gestellten Minibus. Daneben standen der schwarze Wagen und
ein zweiter Transporter. Von der unterirdischen Garage führte
eine Treppe nach oben. Rechts erkannte Lilo eine schwere Ei-
sentür. Türen dieser Art wurden in Atombunkern verwendet.

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Das Superhirn schlich näher und sah, dass die Tür angelehnt
war. Es stemmte die Hände dagegen und schaffte es, die Tür
einen Spaltbreit aufzustoßen.
Ein eigenartiger Geruch schlug ihr entgegen. Es roch nach
Dachboden, alten Kisten und lange nicht geöffneten Koffern.
„Wie an Bord des Fliegenden Holländers“, dachte Lieselotte.
„Sollen wir?“, fragte das Superhirn seinen Kumpel.
„Wenn wir schon einmal da sind!“, lautete Axels Antwort.
Seine Stimme war kaum noch ein Flüstern. Die Aufregung
schnürte ihm die Kehle zu.
Die beiden Juniordetektive krochen die Treppe hinauf.
Gelbliches Licht fiel auf die letzten Stufen. Sie sahen das
Gebälk der Windmühle, mächtige Zahnräder und lange An-
triebsstangen über sich. Die Mühle schien gut in Schuss zu
sein.
Sie spähten über die Bodenkante und entdeckten im hinteren
Teil des Raumes den Mützenmann und seinen Komplizen. Sie
standen links und rechts des Mannes ohne Gesicht, der jetzt
seine Maske trug. Vor ihm hatte sich jemand aufgepflanzt, den
Lilo und Axel bisher noch nicht gesehen hatten.
Er war groß und schlank und ganz in Schwarz gekleidet. Er
trug winzige Brillen mit bohnengroßen dunklen Gläsern, die
nur von einem dünnen Metallgestell gehalten wurden. Als er
den Mund öffnete, erkannte ihn Lilo sofort: Es war der Mann,
der sie auf dem Weg zur Bühne angesprochen hatte – der Kopf
des Gaunerringes! Er hatte eingegriffen und seine Leute abge-
zogen, nachdem ihm klar geworden war, dass die Knickerbok-
ker von seinem Plan keine Ahnung hatten.
„Und, habt ihr jetzt alle Codes?“, fragte er gespannt.
Der Mann ohne Gesicht, der auf einen Stuhl gesunken war,
nickte. Er begann mehrstellige Zahlen vor sich herzusagen und
der Gangsterboss schrieb mit.
Da entdeckte Lieselotte etwas. Mit einer Kopfbewegung
machte sie Axel darauf aufmerksam.

97
Lilo macht einen Fehler
Gegen die Holzbalken der Windmühle gelehnt standen zahl-
reiche Ölgemälde. Sie waren alle ohne Rahmen und hatten
große Ähnlichkeit mit bestimmten Bildern aus dem Museum,
an die sich die Juniordetektive erinnerten.
Es musste sich um Fälschungen handeln.
Der Boss des Gaunerrings rieb sich freudig die Hände. Noch
in dieser Nacht sollte der Raub stattfinden. Am Montag war
das Museum geschlossen, und so würde die Tat mit etwas
Glück erst am Dienstag entdeckt werden.
„Ihr müsst alle Rembrandts bekommen! Alle! Vor allem aber
‚Die Nachtwache‘. Da wir das gesamte Sicherungssystem aus-
schalten können, wird es keine Störungen geben. Der Abtrans-
port erfolgt über den Keller und das Kanalsystem. Die kleine-
ren Sachen werden sofort Juliaan übergeben, damit er sie außer
Landes bringen kann. Für die größeren habe ich Abnehmer in
Holland.“
Die Verbrecher planten ein Milliarden-Ding!
Lilo wusste, dass es nun höchste Zeit für den Rückzug war.
Sie hatten genug in Erfahrung gebracht und brauchten jetzt nur
noch die Polizei zu verständigen.
So lautlos, wie sie gekommen waren, schlichen die Juniorde-
tektive die Treppe hinunter. Sie tasteten die Wände der Garage
nach einem Knopf oder Schalter für das Tor ab, doch es war
keiner zu finden.
Axel suchte in den Wagen nach einer Fernsteuerung, hatte
aber keinen Erfolg.
Mist! Sie saßen in der Falle.
Ratlos kauerten sie sich neben den Minibus und überlegten,
was jetzt zu tun war. Es musste doch einen Ausweg geben!
Neben sich entdeckte Lilo den Anschluss für einen Garten-
schlauch. Ein Stück weiter stieß sie auf einen Berg alter Tücher.

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Mit Axels Taschenlampe inspizierte sie den Rest des Gerüm-
pels, das an der Wand aufgestapelt war. Dabei fiel ihr eine
Blechdose in die Hand, deren Geruch sie auf eine Idee brachte.
Zuerst riss sie eines der Tücher in mehrere breite Streifen und
befeuchtete diese mit Wasser. Einen Teil davon reichte sie Axel.
Dann nahm sie den Rest der Lumpen und trug sie zum Trep-
penaufgang. Sie leerte den Inhalt der Dose darauf und flüsterte
Axel zu: „Hast du ein Feuerzeug bei dir?“
Ihr Kumpel schüttelte den Kopf.
Lilo fluchte und begann dann die Garage nach Streichhölzern
oder einem Feuerzeug abzusuchen.
„He, Moment!“ Axel verschwand in einem der Autos und
brachte gleich darauf einen glühenden Zigarettenanzünder.
Lilo hielt das Ding an den Lumpenhaufen, den sie mit der
Flüssigkeit aus der Dose getränkt hatte: Die Folge war eine
Stichflamme, die von einem dumpfen Knall begleitet wurde.
Die Knickerbocker sprangen zurück und versteckten sich
zwischen den Wagen.
Das Zeug aus der Dose brannte hervorragend und entwickelte
dicke schwarze Rauchschwaden.
Es dauerte nicht einmal 30 Sekunden, bis die Gauner auf das
Feuer aufmerksam wurden.
Axel und Lilo hörten aufgeregte Stimmen.
Der Mützenmann und sein Komplize kamen die Treppe her-
untergestürzt, und in diesem Augenblick wurde Lieselotte be-
wusst, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte. Sie hatte
die Lumpen auf die Treppe gelegt. Den Männern musste klar
sein, dass sich jemand in der Garage befand.
Der Gangsterboss gab von oben schreiend Anweisungen. Er
warf etwas hinunter, das mit einem Krachen zwischen den
Männern landete.
Es war ein Feuerlöscher. Bald hatte der weiße Schaum die
Flammen erstickt.
Das Ding noch in der Hand, schickte sich Ian Claes nun an,

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die Garage unter die Lupe zu nehmen. Sein Komplize folgte
ihm. Mit langsamen Schritten gingen die beiden durch den
Raum.
Axel und Lilo kauerten zwischen dem Minibus und dem
schwarzen Wagen.
Als Lilo unter den Minibus kriechen wollte, verursachten ih-
re Schuhsohlen ein knirschendes Geräusch. Der Mützenmann
war sofort zur Stelle und packte sie am Kragen. Er zog sie hoch
und brüllte auf sie ein.
Nun eilten auch sein Komplize und der Boss des Verbrecher-
rings herbei.
Axel verbarg sich noch immer zwischen den Autos und wag-
te kaum Luft zu holen. Sie hatten ihn übersehen.
Der Kopf der Kunsträuberbande erteilte schnelle Befehle: Li-
lo sollte weggebracht werden. Die Männer wüssten schon, wo-
hin. Diesmal gab es keine Gnade.
Sie stießen Lilo in den Bus, und einer der Männer richtete
seine Uhr auf das Tor. Er drückte einen winzigen Knopf und
die mächtige Klappe begann sich zu öffnen. Für Lilo schien die
Zeit stillzustehen. Doch da riss sie ein gellender Schrei aus
ihrer Starre. Sie äugte aus dem Wagenfenster und sah, wie sich
der Mützenmann krümmte. Gleich darauf sank auch sein Kum-
pane zu Boden, und der Kopf der Bande heulte auf wie ein
verletztes Tier.
Mit dem Feuerlöscher in der Hand trat Axel zwischen den
Autos hervor. Der Löschschaum war vielseitig einsetzbar!
Die Gauner taumelten wie blind durch die Garage und rieben
sich die Augen. Axel zerrte Lilo aus dem Bus und zog sie die
Rampe hinauf.
„Nehmt mich mit!“, hörten sie hinter sich die erschöpfte
Stimme des Mannes ohne Gesicht.
Lieselotte und Axel stützten ihn und halfen ihm nach oben.
Als die drei ins Freie kamen, versperrte ihnen jemand den
Weg.

100
Des Rätsels Lösung
Es war der rotblonde Mann mit den vielen Sommersprossen
– Lilo erkannte ihn sofort.
Hinter ihnen stolperten die Gauner aus der Garage herauf.
Der Boss der Bande brüllte auf seine Männer ein, die Knick-
erbocker und den Mann ohne Gesicht unter keinen Umständen
entkommen zu lassen.
Axel war vom Auftauchen des rotblonden Mannes so über-
rascht, dass er die Arme hob. Das war das vierte Mitglied der
Bande.
Jetzt war wirklich alles aus!
„Peer!“, stöhnte der Mann ohne Gesicht. Durch die Spiegel-
maske hatte seine Stimme einen dumpfen Klang.
Der Rotblonde umarmte ihn stürmisch. „Pjotr, Pjotr!“, sagte
er immer wieder.
Als die Gangster, noch immer weiß vom Löschschaum, ins
Freie stürzten, blickten sie in den Lauf einer Pistole.
Der Rotblonde, den der Mann ohne Gesicht Peer genannt hat-
te, hatte sie aus der Jacke gezogen. „Keine Bewegung! Ab in
die Garage und das Tor schließen!“, befahl er.
„Nein! Nein! Das ist der einzige Ausgang aus den verdamm-
ten Mühlen!“, keuchte der Mützenmann verzweifelt.
„Um so besser!“, meinte Peer.
Den Ganoven blieb nichts anderes übrig, als seinem Befehl
Folge zu leisten. Hinter den Bäumen kamen Poppi, Dominik
und Annabel hervor.
„Los, holen Sie die Polizei, schnell!“, wandte sich Peer an
Lindas Schwester.
Nachdem die Verbrecher sich in die Garage zurückgezogen
hatten, schloss sich die Klappe.
Die beiden Männer schienen einander lange nicht gesehen zu
haben. Sie brachten eine Weile nichts anderes als ihre Namen

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heraus.
Der Mann ohne Gesicht wandte sich an die Knickerbocker
und sagte: „Mir bleibt nur wenig Zeit. Ich muss mich aus dem
Staub machen, bevor mich die Polizei findet. Mein alter Freund
Peer wird mir helfen unterzutauchen.“
„Also sind Sie doch ein Verbrecher?“, murmelte Dominik
leise.
Der Mann ohne Gesicht senkte den Kopf. „Ich … ich …
weiß nicht … nein! Ich … ich muss mich noch einmal bei euch
entschuldigen. Aber als ich den Gaunern entkommen bin, woll-
te ich …“ Er verstummte.
Lilos Verdacht hatte sich als richtig erwiesen: Pjotr war ga-
rantiert ein Russe und an Bord des Fliegenden Holländers ins
Land geschmuggelt worden.
„Was soll diese Maske?“, wollte das Superhirn endlich erfah-
ren.
„Ich habe telepathische Fähigkeiten“, sagte der Mann. „Wisst
ihr, was das heißt?“
Dominik kannte das Wort: „Sie können hellsehen, nicht
wahr?“
Der Mann wiegte den Kopf. „Nicht ganz, das Wort kommt
aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie Fernfühlen. Ich
kann seit meiner Kindheit durch die Augen anderer Menschen
sehen, eine Verbindung zu ihrem Bewusstsein herstellen und
sehe und empfinde, was sie gerade sehen und empfinden.“
Axel fiel etwas ein: „Bekommt derjenige, in den Sie sich
hineinversetzen, Kopfschmerzen und verspürt einen starken
Druck hinter den Augen?“
Pjotr nickte. „Ich habe in einem Nachtklub gearbeitet – als
Zauberkünstler. Ich wurde vom Geheimdienst als Spion ange-
worben. Man hat mir viel Geld versprochen, und ich habe das
Angebot angenommen. Doch es waren grauenhafte Geheimnis-
se, die ich herausfinden sollte. Es ging um chemische Waffen.
Und im Zuge meiner Nachforschungen habe ich entdeckt, dass

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meine Auftraggeber mit Terrororganisationen gemeinsame Sa-
che machen!“
Der Mann ohne Gesicht hatte Mühe weiterzusprechen. „Ich
… ich habe mich abgesetzt und bin untergetaucht. Ich habe
gelernt, mein Aussehen ständig zu verändern. Aber ich habe
mich den falschen Leuten anvertraut. Sie haben mich an diese
Kunsträuberbande verkauft und nach Rotterdam gebracht.“
Axel starrte auf die spiegelnde Maske.
„Ich trage sie, weil mich meine besondere Fähigkeit manch-
mal an den Abgrund der Verzweiflung treibt. Ich sehe oft nicht
mehr mit meinen eigenen Augen, sondern nur mehr durch
fremde. Die Maske hilft mir sozusagen, meine außergewöhnli-
che Kraft abzustellen. Ich bin dann nur ich und sehe und emp-
finde nichts anderes.“
„Was werden Sie jetzt machen?“, wollte Poppi wissen.
Peer antwortete für ihn: „Wir haben früher beim Varietee zu-
sammengearbeitet. Als Pjotr aus dem Geheimdienst aussteigen
wollte, habe ich ihn vor den Leuten gewarnt, die ihm ihre Hilfe
angeboten haben. Kurz darauf ist er verschwunden. Ich habe
ihn überall gesucht und einen Hinweis bekommen, dass er an
Bord des Fliegenden Holländers in die Niederlande gebracht
werden sollte. Durch seine Flucht habe ich seine Spur verloren,
denn ich bin kein Held. Ich … ich …!“
Pjotr legte seinem Freund den Arm um die Schulter. „Du bist
ein Held!“, versicherte er ihm. Zu den Knickerbockern sagte
er: „Bitte, verratet nichts! Ich werde versuchen, ein neues Le-
ben zu beginnen.“
In der Ferne war das Heulen von Polizeisirenen zu hören.
Peer und Pjotr reichten den Juniordetektiven die Hand, und
der Mann ohne Gesicht sagte: „Ihr seid wirklich außergewöhn-
liche Kinder.“ Dann verschwand er mit seinem Freund zwi-
schen den Bäumen.
„Viel Glück und alles Gute!“, murmelten die vier Freunde.
„Leute, wir haben einen riesigen Kunstraub verhindert!“,

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stellte Axel stolz fest.
„Ob uns das jemand glaubt, ist eine andere Sache. Die Ge-
mälde in der Mühle werden die Gauner aber auf jeden Fall für
längere Zeit hinter Gitter bringen!“, meinte Lieselotte.
Die vier ließen sich ins Gras sinken und genossen die Strah-
len der untergehenden Sonne. Sie waren ganz schön erschöpft,
und das war kein Wunder.

Bald nach seiner Rückkehr aus Amsterdam sollte Dominik


ein Schreiben seines Brieffreundes Benny ins Haus flattern: ein
Notruf, der die Knickerbocker im Handumdrehen in einen neu-
en äußerst rätselhaften und gefährlichen Fall verwickeln würde
…*

*
Siehe Knickerbocker-Abenteuer Nr. 46: „Hinter der verbotenen Tür“.

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