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Auszüge aus „Atemschaukel“ von Herta Müller- Nobelpreisträgerin

Wir sind fünfhundertzwölf Leute im Arbeitslager. Unsere Häftlingsnummer steht auf der
linken Brustseite der Jacke, auf der rechten Seite ist ein schwarzer Dreiecksaufnäher
aufgenäht, und in der Mitte steht der Anfangsbuchstabe unseres Namens. Auf dem Kopf
tragen wir einen Hut mit einer weißen Manschette. So können wir uns draußen im Schnee
gut erkennen. Hier im Lager haben wir alle die gleichen Schuhe, die gleichen Hosen, die
gleichen Jacken, die gleichen Hemden. Nur unsere Unterwäsche und Strümpfe hat jeder für
sich.

Als ich ins Lager gekommen bin, wusste ich nicht, wie man sich verhält. Ich wusste nicht, wie
man sich hinsetzt, wie man isst, wie man sich wäscht. Ich wusste nicht, wie man hier
überlebt. Aber ich hatte schon in der ersten Nacht das Gefühl, dass ich sterben würde. Ich
lag auf meinem Strohsack und dachte, jetzt kommt der Tod, ich habe keine Angst mehr. Ich
wollte schlafen, aber ich konnte nicht. Ich war so müde, dass ich nicht einmal mehr die
Augen schließen konnte. Ich wusste, dass ich irgendwann einschlafen würde, aber ich wusste
nicht, ob ich jemals wieder aufwachen würde.

Am nächsten Morgen musste ich um fünf Uhr aufstehen. Es war stockdunkel und eiskalt. Ich
stand auf und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sah die anderen Leute um mich herum,
wie sie sich anzogen und sich auf den Weg zur Arbeit machten. Ich folgte ihnen. Ich wusste
nicht, wohin ich gehen sollte, aber ich wusste, dass ich nicht alleine sein wollte.

Ich ging durch den Schnee, und ich wusste, dass ich nicht zurückkehren würde. Ich wusste,
dass ich hierbleiben würde, bis ich sterben würde. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich hier
irgendwie dazugehörte. Ich hatte das Gefühl, dass ich hier etwas finden würde, was ich in
meinem Leben noch nie gefunden hatte.

Ich arbeitete im Kohlenbergwerk. Ich musste Kohle aus dem Berg schlagen und in Loren
laden. Die Arbeit war schwer, aber ich konnte sie tun. Ich war jung und stark, und ich hatte
das Gefühl, dass ich alles tun konnte, was ich wollte. Aber ich wusste, dass ich hier nicht für
immer bleiben würde. Ich wusste, dass ich irgendwann sterben würde, aber ich wusste auch,
dass ich bis dahin überleben musste.

Ich hatte Freunde hier im Lager. Wir sprachen nicht viel miteinander, aber wir verstanden
uns. Wir hatten alle dasselbe durchgemacht, und wir wussten, was es bedeutete, hier zu
sein. Wir gaben uns gegenseitig Kraft, und wir halten uns, wenn wir konnten. Aber wir
wussten auch, dass wir allein waren. Wir wussten, dass wir niemandem vertrauen konnten,
außer uns selbst.

Ich hatte auch eine Freundin hier im Lager. Ihr Name war Ana. Sie war schön und klug, und
sie hatte das gleiche durchgemacht.
Auszug 2:
Am 15. Januar 1945 um 3 Uhr nachts holen zwei Polizisten in Hermannstadt den

siebzehnjährigen Leopold Auberg in der Wohnung seiner Eltern ab und bringen ihn

zusammen mit anderen Siebenbürger Sachsen zu einem Sammellager. Sein Vater ist

Zeichenlehrer, und während der Saison geht er sonntags auf die Jagd. Montags sah ich ihm

zu, wie er den geschossenen Hasen das Fell abzog. So nackig gehäutet, bläulichsteif und

langgestreckt glichen die Hasen den sächsischen Turnerinnen an der Stange. Die Hasen

wurden gegessen. Die Felle an die Schuppenwand genagelt und nach dem Trocknen auf den

Dachboden in eine Blechtruhe gelegt. Alle halbe Jahr kam der Herr Fränkel sie abholen. Dann

kam er nicht mehr. Mehr wollte man nicht wissen. Er war Jude, rotblond, groß, schlank fast

wie ein Hase. Auch der kleine Ferdi Reich und seine Mutter, die bei uns unten im Hof

wohnten, waren nicht mehr da. Mehr wollte man nicht wissen. Es war leicht, nichts zu wissen.

Es kamen Flüchtlinge aus Bessarabien und Transnistrien, sie wurden einquartiert, blieben und

gingen wieder. Und es kamen deutsche Soldaten aus dem Reich, wurden einquartiert, blieben

und gingen wieder. Und es gingen Nachbarn und Verwandte und Lehrer in den Krieg zu den

rumänischen Faschisten oder zum Hitler. Und es kamen manche in den Fronturlaub und

andere nicht. Und es gab Scharfmacher, die sich vor der Front drückten, aber zu Hause

hetzten und in Uniform auf den Tanzball und ins Kaffeehaus gingen. (Seite 56) Leopold ist

froh, aus Hermannstadt fortzukommen, denn er ist homosexuell und lebte in ständiger Furcht

davor, beim „Wildwechsel“ im Erlenpark oder mit einem Partner im Neptunbad erwischt zu

werden. Er wäre dann hart bestraft worden. Allerdings erwarten Leopold keine Ferien,

sondern er wird wie die anderen zwischen siebzehn und fünfundvierzig Jahre alten Männer

und Frauen im Viehwaggon zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gebracht. […] die Prozedur

des Einsteigens habe ich vergessen, weil wir so lange Tage und Nächte im Viehwaggon

fuhren, als wären wir schon immer drin gewesen. (Seite 16) In dem Waggon, der zwei
Wochen lang unterwegs ist, sitzt Leopold neben Trudi Pelikan. Sie kommen in das

Arbeitslager Nowo-Gorlowka und werden in eines der fünf Arbeitsbataillone eingeteilt. Wir

stellten uns auf in Reih und Glied – welch ein Ausdruck für diese fünf Elendsregimenter aus

dicken Augen, großen Nasen, hohlen Wangen. Die Bäuche und Beine waren aufgepumpt mit

dem dystrophischen Wasser. Ob Frost oder Gluthitze, ganze Abende vergingen im

Stillgestanden. Nur die Läuse durften sich rühren an uns. Beim endlosen Durchzählen

konnten sie sich vollsaufen und Paradegänge absolvieren über unser elendiges Fleisch, uns

stundenlang vom Kopf bis in die Schamhaare kriechen. Meist hatten sich die Läuse schon satt

gesoffen und in die Steppnähte der Watteanzüge schlafen gelegt, und wir standen immer noch

still. Der Lagerkommandant Schischtwanjonow schrie noch immer. Seinen Vornamen

kannten wir nicht. Er hieß nur Towarischtsch Schischtwanjonow. Das war lang genug, um vor

Angst zu stottern, wenn man es aussprach […] Ich übte beim Appell, mich beim Stillstehen zu

vergessen und das Ein- und Ausatmen nicht voneinander zu trennen. Und die Augen

hinaufzudrehen, ohne den Kopf zu heben. Und am Himmel eine Wolkenecke suchen, an die

man seine Knochen hängen kann. Wenn ich mich vergessen und den himmlischen Haken

gefunden hatte, hielt er mich fest. Oft gab es keine Wolke, nur einerlei Blau wie offenes

Wasser. Oft gab es nur eine geschlossene Wolkenecke, einerlei Grau. Oft liefen die Wolken,

und kein Haken hielt still. Oft brannte der Regen in den Augen und klebte mir die Kleider an

die Haut. Oft zerbiss der Frost mir die Eingeweide. An solchen Tagen drehte mir der Himmel

die Augäpfel hinauf, und der Appell zog sie hinunter – die Knochen hingen ohne Halt nur in

mir allein. (Seite 27f) Die russischen Befehle hörten sich an wie der Name des

Lagerkommandanten Towarischtsch Schischtwanjonow, ein Knirschen und Krächzen aus Ch,

Sch, Tsch, Schtsch. Den Inhalt der Kommandos verstanden wir sowieso nicht, aber die

Verachtung. An Verachtung gewöhnt man sich. Mit der Zeit klangen die Befehle nur noch

wie ständiges Räuspern, Husten, Niesen, Schnäuzen, Spucken – wie Schleimauswerfen. (Seite

30) Der Kapo Arthur („Tur“) Prikulitsch ist kein Russe, sondern er stammt aus dem
Gebirgsdorf Lugi im Dreiländereck der Karpato-Ukraine, aber er gehört gewissermaßen zu

den Russen. Er hat eine Geliebte im Lager, sie heißt Beatrice („Bea“) Zakel, kommt ebenfalls

aus Lugi und saß als Kind mit Tur in derselben Schulbank. In der Nähe des Lagers werden

sechs Wohnhäuser für Russen gebaut. Zement reichte nie. Kohle gab es mehr als genug. Auch

Schlackoblocksteine, Schotter und Sand gab es genug. Der Zement aber ging immer aus. Er

wurde von sich aus weniger. Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte

zum Alptraum werden. Nicht nur von sich aus, sogar in sich selbst konnte Zement

verschwinden. Dann war alles voller Zement, und es war kein Zement mehr da. Der Brigadier

schrie: Auf Zement muss man aufpassen. Der Vorarbeiter schrie: Zement muss man sparen.

Und wenn es regnete oder schneite: Zement darf nicht nass werden. Zementsäcke sind aus

Papier. Das Zementsackpapier ist zu dünn für einen vollen Sack. Man kann den Sack allein

oder zu zweit tragen, am Bauch oder an seinen vier Ecken packen – er reißt. Mit einem

zerrissenen Sack kann man Zement nicht mehr sparen. Bei einem trockenen zerrissenen

Zementsack läuft die Hälfte auf den Boden. Bei einem feuchten zerrissenen Zementsack

bleibt die Hälfte am Papier kleben […] Man schuftet und hört seinen eigenen Herzschlag und:

Zement darf nicht nass werden, Zement darf nicht wegfliegen. Aber Zement streut sich, ist

selbstvergeuderisch und mit uns geizig bis ins Letzte. (Seite 36 / 39) Plötzlich ist ein gellender

Schrei einer Zwangsarbeiterin namens Irma Pfeifer zu hören. Wir sind mit Schaufeln und

Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir

mussten alles aus den Händen fallenlassen. Ruki na sad, Hände auf den Rücken – mit einer

erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen. Die Irma

Pfeifer lag mit dem Gesicht nach unten, der Mörtel machte Blasen. Erst schluckte der Mörtel

ihre Arme, dann schob sich die graue Decke bis zu den Kniekehlen hoch. Ewig lang, ein paar

Sekunden, wartete der Mörtel mit gekräuselten Rüschen. Dann schwappte er mit einem Mal

bis zur Hüfte. Zwischen Kopf und Mütze wackelte die Brühe. Der Kopf sank und die Mütze

hob sich. Mit den gespreizten Ohrenklappen trieb die Mütze langsam an den Rand wie eine
aufgeplusterte Taube. Der Hinterkopf, kahlgeschoren mit den verkrusteten Läusebissen, hielt

sich noch oben wie eine halbe Zuckermelone. Als auch der Kopf geschluckt war, nur noch der

Buckel herausschaute, sagte der Bauleiter: Schalko, otschin Schalko. (Seite 68) Der Bauleiter

behauptet, Irma Pfeifer sei absichtlich in die Mörtelgrube gesprungen, aber die Häftlinge

vermuten, dass sie einen nassen Zementsack vor dem Bauch trug und deshalb nicht sah,

wohin sie ihren Fuß setzte. Nach der Arbeit geht Leopold mit einem gestohlenen Stück

Anthrazitkohle im Russendorf betteln. Ich klopfte an eine Tür. Eine alte Russin öffnete, nahm

mir die Kohle ab und ließ mich ins Haus. Das Zimmer war niedrig, in der Wand das Fenster

so tief wie mein Knie. Auf einem Hocker standen zwei magere, grauweiß gescheckte Hühner

[…] Die alte Frau redete seit einer Weile. Ich verstand nur hie und da ein Wort, spürte aber,

worum es ging […] Dass sie einen Sohn in meinem Alter hat, dass er Boris heißt und von zu

Hause so weit weg ist wie ich, in der anderen Richtung, in einem Lager in Sibirien, in einem

Strafbataillon, weil ein Nachbar ihn denunziert hat […] Sie zeigte auf den Stuhl, und ich

setzte mich an die Tischecke. Sie nahm mir die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch.

Sie legte einen Holzlöffel neben die Mütze. Dann ging sie zum Herd und schöpfte aus dem

Topf Kartoffelsuppe in eine Blechschüssel. Es war bestimmt ein Liter Suppe. Ich löffelte, sie

stand neben meiner Schulter und schaute mir zu. Die Suppe war heiß, ich schlürfte und

schielte zu ihr. Und sie nickte. Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe

haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß […] Die Suppe

heizte mich bis in die Zehen. Meine Nase tropfte. Abadschij, warte, sagte die Russin und

brachte aus dem Nebenzimmer ein schneeweißes Taschentuch. Sie gab es mir in die Hand und

drückte meine Finger zu, als Zeichen, dass ich es behalten soll. Sie schenkte es mir. Und ich

wagte nicht, mich zu schnäuzen. Was da geschah, ging weit über das Geschäftliche des

Hausierens und mich und sie und ein Taschentuch hinaus. Es betraf ihren Sohn […] Mir war

es peinlich, dass ich da war, dass ich nicht er war. (Seite 76ff) Das weiße Taschenbuch aus

Batist hatte noch niemand benutzt. Auch ich habe es nie benutzt, aber wie eine Art Reliquie
von einer Mutter und einem Sohn bis zum letzten Tag im Koffer aufbewahrt. Und schließlich

auch nach Hause mitgenommen. Im Lager hatte so ein Taschentuch nichts zu suchen. Ich

hätte es all die Jahre auf dem Basar für etwas Essbares tauschen können. Ich hätte Zucker

oder Salz dafür bekommen, vielleicht sogar Hirse. Die Versuchung war da, der Hunger blind

genug. Was mich abhielt: Ich glaubte, das Taschentuch ist mein Schicksal. Wenn man sein

Schicksal aus der Hand gibt, ist man verloren. (Seite 79f) Irgendjemand schleppt eine

Kuckucksuhr an und hängt sie in der Baracke auf. Allerdings ruft der Kuckuck zu falschen

Zeiten. Der Dreher Anton Kowatsch, der im Lagerorchester Schlagzeuger und Trommler ist,

erklärt den anderen, in Bezug auf andere Weltzeiten seien die Kuckucksrufe korrekt. Der

Kowatsch Anton war in die ganze Uhr vernarrt […] Aber alle anderen in der Baracke wollten

weder in den Weltgegenden des Kuckucks wachliegen noch schlafen. (Seite 98) Kowatsch

will die Uhr reparieren. Aber bevor er die Gewohnheiten des Kuckucks in den Griff bekam,

hatte jemand den Kuckuck aus der Uhr gerissen. Das Türchen des Kuckucks hing schief im

Scharnier. Und wenn das Uhrwerk den Vogel zum Singen animieren wollte, ging das Türchen

zwar halbwegs auf, aber es trat statt des Kuckucks ein Stückchen Gummi wie ein Regenwurm

aus dem Gehäuse. (Seite 98) Die Zwangsarbeiter, die am Morgen von einer hässlichen Frau

namens Fenja ihre Brotration für den Tag bekommen, können die paar Brocken sofort

aufessen oder sich wenigstens einen Teil davon für den Abend aufsparen. Als Albert Gion

von der Arbeit zurückkommt, fehlt unter seinem Kopfkissen das Brot, das er sich seit fünf

Tagen aufgespart hat. Da Karli Halmen an diesem Tag frei hatte und sich allein in der

Baracke aufhielt, gibt es keinen Zweifel, wer das Brot gestohlen hat. Das Brot war nicht da,

und Karli Halmen saß in der Unterwäsche auf seinem Bett. Albert Gion brachte sich vor ihm

in Stellung und gab ihm, ohne ein Wort, drei Fäuste auf den Mund. Karli Halmen spuckte,

ohne ein Wort, zwei Zähne aufs Bett. Der Akkordeonspieler führte Karli am Nacken zum

Wassereimer und drückte seinen Kopf unters Wasser. Es blubberte aus Mund und Nase, dann

röchelte es, dann wurde es still. Der Trommler zog den Kopf aus dem Wasser und würgte ihm
den Hals, bis Karls Mund so hässlich zuckte wie Fenjas Mund. Ich stieß den Trommler weg,

zog aber meinen Holzschuh aus. Und es hob mir derart die Hand, dass ich den Brotdieb

beinah totgeschlagen hätte. Der Advokat Paul Gast hatte bis dahin von seinem Bett oben

zugeschaut. Er sprang mir auf den Rücken, riss mir den Schuh weg und warf ihn an die Wand.

Karli Halmen lag angepisst neben dem Eimer und kotzte Brotschleim. (Seite 112f) Heimlich

treffen sich einige der Zwangsarbeiterinnen mit deutschen Kriegsgefangenen zur

„Katzenhochzeit“. An Frauen ist Leopold nicht interessiert. Diskret schau ich mir nach der

Arbeit die jungen Dienstrussen unter der Dusche an. So diskret, dass ich selbst nicht mehr

weiß, warum. Die würden mich totschlagen, wenn ich es wüsste. (Seite 117) Im Lauf der Zeit

spielt die Sexualität allerdings keine Rolle mehr, und die Unterschiede zwischen Männern und

Frauen nivellieren sich nicht nur, weil sie die gleiche Kleidung tragen und schon deshalb

kaum zu unterscheiden sind. Der „Hungerengel“ macht sie alle gleich. Einmal verschafft Bea

Leopold einen Passierschein für den Basar. Dort will er die Gamaschen eintauschen, die ihm

ein Nachbar in Hermannstadt mitgegeben hatte. Doch als er im Schlamm einen 10-Rubel-

Schein findet, wirft er die Gamaschen weg. Er kauft sich Himbeerwasser und Sauermilch,

Pfannkuchen, Mais- und Sonnenblumenkuchen, Dörrpflaumen, isst und trinkt, bis er kein

Geld mehr hat. Auf dem Rückweg zum Lager kotzt er jedoch alles aus und weint darüber.

Einige Zeit später gibt er Bea den roten Schal, den er von zu Hause mitgebracht hat. Sie soll

ihn auf dem Basar gegen Lebensmittel eintauschen. Doch beim Appell am nächsten Morgen

trägt Tur den Schal. Hatten die beiden Sattgefressenen eine Ahnung, wie schwer sie meinen

Hunger betrogen. Hatten nicht sie mich verelenden lassen, dass mein eigener Schal nicht mehr

zu mir passte. (Seite 181) Leopold stellt Bea zur Rede. Tur habe ihr den Schal abgenommen,

klagt sie. Als er schon nicht mehr damit rechnet, etwas dafür zu bekommen, schickt Tur ihn

für einen Tag zur benachbarten Kolchose. Gewiss will Tur ihn „auf der Flucht“ erschießen

lassen, um ihm nichts für den Schal geben zu müssen. Aber zunächst teilt ihn der

Wachtposten dazu ein, den Frauen zu helfen, die mit bloßen Händen Kartoffeln ernten.
Leopold befürchtet, dass man ihn erst noch einen Tag lang arbeiten lässt, bevor er erschossen

wird. Am Abend ziehen alle ab und lassen ihn allein zurück – mit einem Haufen Kartoffeln.

273 Stück schleppt er ins Arbeitslager. Offenbar verständigte Tur sich nicht nur mit dem

Wachposten der Kolchose, sondern auch mit der Wache des Lagers, denn diese winkt

Leopold durch. Heidrun, die Ehefrau des Advokaten Paul Gast, arbeitet in einer

Autowerkstatt. Durch ein Loch in der Decke wirft ihr ein deutscher Kriegsgefangener fast

täglich eine Kartoffel zu, bis Heidrun ihn eines Tages nicht mehr sieht. Was aus ihm

geworden ist, erfährt sie nicht. Die Suppe, die sie in der Kantine stehen lässt, isst Leopold auf.

Den leeren Teller schob ich zur Heidrun Gast, an ihre linke Hand, bis er an ihren kleinen

Finger stieß. Sie leckte ihren unbenutzten Löffel ab und wischte ihn an der Jacke trocken, als

hätte sie gegessen, nicht ich. (Seite 225) Am nächsten Tag saß Paul Gast trotz der eiternden

Zähne wieder neben seiner Frau in der Kantine. […] tauchte der Advokat seinen Löffel schon

längst in den Teller seiner Frau. Ihr Löffel tauchte immer seltener und seiner immer öfter. Er

schlürfte, und seine Frau fing an zu husten, damit sie mit dem Mund etwas tut. Und beim

Husten hielt sie sich den Mund zu und spreizte wie eine Dame ihren kleinen Finger, der von

der Schwefelsäure zerfressen und vom Schmieröl so dreckig war wie alle Finger hier in der

Kantine. (Seite 228f) Die nackte Wahrheit ist, dass der Advokat Paul Gast seiner Frau

Heidrun Gast aus dem Essgeschirr die Suppe stahl, bis sie nicht mehr aufstand und starb, weil

sie nicht anders konnte, so wie er ihre Suppe stahl, weil sein Hunger nicht anders konnte, so

wie er ihren Mantel mit dem Bubikragen und den abgewetzten Hasenfellklappen trug und

nichts dafür konnte, dass sie gestorben war, so wie sie nichts dafür konnte, dass sie nicht mehr

aufstand, so wie dann unsere Sängerin Loni Mich den Mantel trug und nichts dafür konnte,

dass durch den Tod der Frau des Advokaten ein Mantel frei geworden war, so wie der

Advokat nichts dafür konnte, dass auch er frei geworden war durch den Tod seiner Frau, so

wie er nichts dafür konnte, dass er sie durch die Loni Mich ersetzen wollte, so konnte auch die

Loni Mich nichts dafür, dass sie einen Mann hinter der Decke wollte oder einen Mantel, oder
dass beides voneinander nicht zu trennen war, so wie auch der Winter nichts dafür konnte,

dass er eisigkalt war, und der Mantel nichts dafür konnte, dass er gut wärmte, so konnten auch

die Tage nichts dafür, dass sie eine Kette von Ursachen und Folgen waren, so wie auch die

Ursachen und Folgen nichts dafür konnten, dass sie die nackte Wahrheit waren, obwohl es um

einen Mantel ging. (Seite 230) Gleichgültigkeit macht sich unter den Zwangsarbeitern breit.

Das ist auch nötig, wenn sie überleben wollen. Wie soll man sonst flink sein, wenn man den

Toten als Erster entdeckt. Man muss ihn rasch nackt machen, solang er biegsam ist und bevor

sich ein anderer die Kleider nimmt. Man muss sein gespartes Brot aus dem Kissen nehmen,

bevor ein anderer da ist. Das Abräumen ist unsere Art zu trauern. Wenn die Tragbahre in der

Baracke ankommt, darf außer einem Leichnam für die Lagerleitung nichts zu holen sein.

(Seite 148) Die Zwangsarbeiter dürfen zwar keine Briefe schreiben, können aber welche

empfangen. So wird Leopold eines Tages zu Tur gerufen. Ich habe Post von zu Hause. Vor

Freude tickt mein Gaumen, ich krieg den Mund nicht zu. Tur sucht im halboffenen Schrank in

einer Schachtel. An der geschlossenen Schrankhälfte klebt ein Bild von Stalin, hohe graue

Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrüce, sein

Schnauzbart wie eine Schwalbe. Neben dem Tisch dubbert der Kohleofen, darauf summt ein

offener Blechtopf mit Schwarztee. Neben dem Ofen steht der Eimer mit Anthrazitkohle. Tur

sagt: Leg mal bisschen Kohle nach, bis ich deine Post gefunden habe. (Seite 211) Die Rot-

Kreuz-Karte, die Leopold von seiner Mutter erhält, war sieben Monate unterwegs. Auf die

Karte hat sie mit der Maschine das Foto eines Säuglings genäht und daruntergeschrieben:

„Robert, geb. am 17. April 1947“. Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir

nicht mehr rechnen. (Seite 213) Im fünften Lagerjahr erhalten die Zwangsarbeiter etwas Geld

und dürfen damit auf dem Basar einkaufen. Aus uns wurden wieder Männer und Frauen, als

wäre es die zweite Pubertät. (Seite 250) Anfang 1950 kommt Leopold nach Hause. Auf der

Rückfahrt saßen er und Trudi Pelikan absichtlich in verschiedenen Viehwaggons. Ihr waren

im ersten Winter die Zehen erfroren. Im folgenden Sommer war sie mit dem Fuß unter das
Rad eines Kalkwagens geraten, und als sich im Herbst Würmer unter dem Verband geringelt

hatten, waren ihr die Zehen amputiert worden. Als sie Leopold in Hermannstadt auf der

Straße mit ihrem Gehstock entgegenkommt, tun sie beide so, als würden sie sich nicht

kennen. Onkel Edwin verschafft Leopold einen Arbeitsplatz in der Kistenfabrik, in der er

selbst beschäftigt ist. Im August erhält Leopold einen Brief von Oswald Enyeter, der im

Arbeitslager als Rasierer eine Sonderstellung eingenommen hatte. Weil in seiner Heimat

niemand mehr gewesen sei, schreibt er, lebe er jetzt in Wien. Tur Prikulitsch habe das

Gerücht verbreitet, nicht er, sondern Oswald Enyeter sei in Nowo-Gorlowka der der Kapo

gewesen. Vor zwei Wochen habe man seine Leiche mit eingeschlagenem Schädel unter einer

Donaubrücke gefunden. Leopold kauft ein Diktandoheft und beginnt mit einem „Vorwort“. In

den nächsten Wochen habe ich das VORWORT verlängert, drei Hefte lang. (Seite 281)

Schließlich streicht er „Vorwort“ durch und schreibt „Nachwort“ darüber. Nach einem Jahr

hört er in der Kistenfabrik auf, beginnt tagsüber auf einer Baustelle an der Utscha zu arbeiten

und schreibt sich im Abendlyzeum für einen Betonierkurs ein. Dabei lernt er Emma kennen,

die dort einen Buchhaltungskurs belegt hat. Vier Monate später heiratet er sie und zieht mit

ihr zu ihren Eltern. Ihr Vater stirbt vier Tage nach der Hochzeit. Nach einem halben Jahr

verlassen sie Hermannstadt und mieten eine Wohnung in Bukarest. Obwohl Leopold sich

wieder heimlich im Park herumtreibt („Wildwechsel“), hält die Ehe elf Jahre lang – bis es ihm

nach der Verhaftung von zwei homosexuellen Partnern in Bukarest zu heiß wird. Mit der

Begründung, dass Ehepaare das Land nicht zusammen verlassen dürfen, vertröstet er Emma

aufs nächste Mal und lügt, er wolle seine mit einem Konditor in Graz verheiratete Tante kurz

besuchen. Erst aus Graz teilt er seiner Frau mit, dass er nicht mehr zurückkommen werde. Auf

eine feste Beziehung lässt er sich nicht mehr ein.

Quelle: https://www.dieterwunderlich.de/Mueller_atemschaukel.htm (c) Dieter Wunderlich

Der Protagonist wird wegen seiner Homosexualität verfolgt.


Themen + Der Fuchs war damals schon der jäger atemschaukel

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