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5.

19
5.19

Warum sterben
die Insekten?
Der dramatische
Verlust für unser Ökosystem
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

Physik Der vierdimensionale Quanten-Hall-Effekt


Künstliche Intelligenz Algorithmen erschaffen eigenständig Kunstwerke
Astronomie Die ersten Galaxien
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

HEIMLICHES
VERSCHWINDEN
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

JACOBS FOUNDATION
 Jetzt geht es wieder los im Garten: Überall sprießt und grünt es, die Vögel
zwitschern um die Wette, dazu im Hintergrund das stete Summen und Brum-
men der zahllosen Insekten. Besonders faszinieren meine Familie und mich dabei
die großen, dunklen Holzbienen mit ihrem charakteristischen sonoren Sound. MICHAEL TOMASELLO
Später im Sommer ziehen dann die Schmetterlinge ihre Show ab, die sich gern Der Max-Planck-Wissenschaftler
um den Sommerflieder tummeln. erforscht die soziale Kognition bei
Umso größer war meine Überraschung, als im Herbst 2017 die Ergebnisse der Menschen und anderen Primaten.
Krefelder Insektenstudie bekannt wurden. Offenbar geht es den kleinen Sechs- Ab S. 34 schildert er, wie unser
beinern nämlich ziemlich schlecht. Nicht nur die Artenzahl, vor allem auch Moralgefühl entstand.
schlicht die Biomasse, also die Anzahl an Individuen, hat in den letzten Jahrzehn-
ten dramatisch abgenommen, in Extremfällen um bis zu 80 Prozent.
Kaum zu glauben – belegte nicht das rege Leben vor unserer Tür das Gegen-
teil? Aber dann erinnerte ich mich daran, wie früher regelmäßig die Blüte unseres
Kiwistrauchs für ein Spektakel sorgte: Massen an Hummeln drängelten sich um
die Blüten, das dröhnende Brummen war überwältigend. In den letzten Jahren
dagegen waren dort oft nur einzelne Tiere zu sehen. Zwar liefert die Pflanze
weiterhin üppige Ernten – doch was, wenn die Bestäuber ganz ausbleiben?
Geht es um die Insektenfauna, mag der eine oder andere insgeheim ja ganz
froh sein, falls es weniger lästige Fliegen, Mücken oder Wespen geben sollte.
Und vergisst dabei, wie wichtig diese und andere Arten im ökologischen Kontext DAN COE
sind: Sie dienen zahllosen Vögeln und Fledermäusen als Nahrung und spielen Mit einer ausgeklügelten
darüber hinaus eine entscheidende Rolle als Bestäuber jener Nutzpflanzen, von Suchstrategie und dem Hubble-
denen wir uns ernähren. Auf diese Zusammenhänge weist Josef Settele in sei- Weltraumteleskop hat der
nem Artikel ab S. 12 hin. Für Spektrum hat der Professor am Helmholtz-Zentrum für US-Astronom das All nach beson-
Umweltforschung in Halle und Schmetterlingsexperte den aktuellen Forschungs- ders weit entfernten Galaxien
stand zu Diversität und Häufigkeit der Insekten zusammengetragen – und macht durchforstet (S. 46).
die wahrscheinlichsten Ursachen hinter den Veränderungen fest.
Besonders bedenkenswert finde ich seinen Hinweis, dass jeder Einzelne von
uns etwas tun kann. Selbst auf dem Balkon lassen sich Pflanzen kultivieren, die
für Insekten wichtige Nahrung liefern, und »Insektenhotels« aufhängen. Und in
etwas größeren Gärten stört es sicher nicht, wenn man in einer Ecke einfach mal
ein paar alte Äste stapelt, die den kleinen Helfern ein Zuhause bieten können. Wir
halten es jedenfalls so bei uns; und vielleicht ist das ja der Grund, warum uns
immer noch Wildbienen und Schmetterlinge umschwirren, wenn wir im Sommer
vor die Tür treten.

Herzlich, Ihr AHMED ELGAMMAL


Wer ist der Urheber eines per
künstlicher Intelligenz geschaffenen
Kunstwerks? Fragen wie diese
diskutiert der Professor für Compu-
terwissenschaften ab S. 68.

NEU AM KIOSK!
Unser Spektrum SPEZIAL Archäologie – Geschichte – ­
Kultur 1.19 dreht sich um Alexander den Großen und
dessen ebenso riesiges wie kurzlebiges Weltreich.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 INSEKTENSTERBEN BEUNRUHIGENDER SINKFLUG
Forscher beobachten über Jahrzehnte einen erschreckenden Rückgang
6 SPEKTROGRAMM in der Biomasse von Fluginsekten. Woran liegt das? Und: Was lässt sich
dagegen unternehmen?
22 FORSCHUNG AKTUELL Von Josef Settele

Papierdünne Linsen dank


Nanostrukturen
Ultraflache Bauteile sollen
Glasoptiken ersetzen. 34 MORAL DIE GEBURT DES »WIR«
Serie: Was ist der Mensch? (Teil 5) Die Wurzeln der menschlichen Moral liegen
Das Ende der Bronzezeit
in der gemeinsamen Jagd, die Kooperation und Teamgeist förderte.
Ein Klimawandel ließ blühen­ Von Michael Tomasello
de Großreiche kollabieren.
Abelpreis für
Karen Uhlenbeck 40 REAKTIONSDYNAMIK WACKELN UND ZITTERN DER MOLEKÜLE
Sie vereinte die Geometrie Bei einer chemischen Reaktion können Molekülschwingungen darüber ent­
mit der Analysis. scheiden, welches Produkt entsteht. Entsprechende Simulationen gewähren
neue Einsichten in die Mechanismen hinter Stoffumwandlungen.
Teures Systemversagen Von Dean Tantillo
Die Forschungsförderung
muss überarbeitet werden.
46 ASTRONOMIE BLICK IN DIE KINDERSTUBE DES KOSMOS
Forscher haben mit Hilfe von Gravitationslinsen extrem weit entfernte Gala­
33 SPRINGERS EINWÜRFE
xien aufgespürt, die ein Fenster in eine bislang unbekannte frühe Phase des
Die allzu künstliche Universums öffnen.
Intelligenz Von Dan Coe
Neuronale Netze sollen vom
Gehirn noch mehr lernen.
54 QUANTENPHYSIK AUFBRUCH IN NEUE DIMENSIONEN
45 FREISTETTERS FORMELWELT Dank ausgeklügelter Experimente haben Physiker den vierdimensionalen
Quanten-Hall-Effekt im Labor nachgewiesen.
Unendlich viel Bier nach Von Michael Lohse
Feierabend
Und das, ohne dass die
Vorräte eines Wirts zu Ende 68 INFORMATIK KREATIVE COMPUTER
gehen. Inzwischen erschaffen fortgeschrittene Algorithmen eigenständig außerge­
wöhnliche Bilder – ohne Zutun eines menschlichen Künstlers. Das revolutio­
63 ZEITREISE niert bisherige Auffassungen von Kunst.
Von Ahmed Elgammal

64 SCHLICHTING!
Die Physik im Dienst 74 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
der Kunst TAPETENFUNKTIONEN
Leonardo da Vinci war auch Aus der Überlagerung ganz gewöhnlicher periodischer Funktionen entstehen
als Naturforscher visionär. die merkwürdigsten Muster, darunter sogar nichtperiodische Quasikristalle.
Von Christoph Pöppe
86 REZENSIONEN
80 PERSIEN WIE EIN WELTREICH FUNKTIONIERT
94 LESERBRIEFE
Tontafeln aus Persepolis und Schriftfunde aus den Provinzen belegen: Das
altpersische Imperium war ­beeindruckend effizient organisiert. Paradoxer­
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE weise spielte dies ausgerechnet Alexander dem Großen bei seinem Erobe­
rungsfeldzug in die Hände.
97 IMPRESSUM Von Wouter Henkelman

98 VORSCHAU

TITELBILD:
DTIMIRAOS / GETTY IMAGES / ISTOCK

4 Spektrum der Wissenschaft  5.19


12

4U4ME / GETTY IMAGES / ISTOCK


TITELTHEMA
WARUM STERBEN UNSERE
INSEKTEN?

46
NO_LIMIT_PICTURES / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

ASTRONOMIE
KINDERSTUBE
DES
KOSMOS

34
MORAL
DIE GEBURT DES »WIR«
RON MILLER

68
MICHAEL LOHSE

54 INFORMATIK
QUANTENPHYSIK KI MACHT KUNST
VIERDIMENSIONALER
AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY

QUANTEN-HALL-EFFEKT

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aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 5


SPEKTROGRAMM

DIE QUELLEN
DES LITHIUMS

 Nach Schätzungen der Internationa­


len Energieagentur könnten im Jahr
2030 weltweit 125 Millionen Elektro­
autos unterwegs sein – heute sind es
knapp sechs Millionen. Im Zuge dieser
Mobilitätswende müsste auch die Zahl
der Anlagen zur Gewinnung von Lithium
dramatisch steigen, das in den Batterien
der Fahrzeuge zum Einsatz kommt. Die
Aufnahme des NASA-Satelliten Land­
sat-8 zeigt eine dieser Förderstätten in
der Salar de Atacama im Norden Chiles,
wo Experten knapp ein Drittel der
derzeit bekannten Lithiumvorkommen
vermuten.
Unter der Kruste der Salzwüste
verbergen sich große Mengen zähflüssi­
gen Salzwassers, das Ionen des Leicht­
metalls enthält. Unternehmen pumpen
die Flüssigkeit nach oben und sammeln
sie in mit Plastik ausgeklei­deten Becken.
Beim Verdunsten bleibt dann das
lithiumhal­tige Salz zurück. Die Farbe der
Becken verrät dabei die Konzentration
des begehrten Stoffs: Hellblaue Becken
haben einen besonders hohen Lithium­
gehalt. Die Gewinnung strapaziert
(EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/144393/WHERE-BATTERIES-BEGIN)

jedoch die knappen Wasservorräte in


der Region, weshalb es immer wieder
zu Konflikten mit Umweltschützern
kommt.
NASA EARTH OBSERVATORY, LAUREN DAUPHIN

Mitteilung des NASA Earth Observatory

6 Spektrum der Wissenschaft  5.19


NASA EARTH OBSERVATORY, LAUREN DAUPHIN
(EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/144393/WHERE-BATTERIES-BEGIN)

Spektrum der Wissenschaft  5.19


7
SPEKTROGRAMM

TAO SU, UNIVERSITY OF CHINESE ACADEMY OF SCIENCES, BEIJING


Heute ist das Lunpola-
becken eine raue
Hochebene. Früher
lag die Gegend ver-
mutlich deutlich tiefer.

GEOLOGIE Die neu identifizierte Palmenart


Sabalites tibetensis aus dem Lunpola­
PALMEN IN TIBET becken stehe im Widerspruch zu

 Eine überraschende Entdeckung in


4655 Meter Höhe stellt bisherige
Annahmen über das »Dach der Welt«
dieser Theorie, argumentieren die
Forscher um Tao Su vom Xishuang­
banna Tropical Botanical Garden in
Vor 25 Millionen Jahren
wuchsen in Tibet Palmen,
in Frage: Im Boden eines ausgetrock­ Mengla. Denn mit hoher Wahrschein­ wie dieses Fossil zeigt.
neten tibetischen Sees fand eine lichkeit habe die Pflanze nur in gemä­
britisch-chinesische Arbeitsgruppe ßigtem Klima gedeihen können. Der

TAO SU, UNIVERSITY OF CHINESE ACADEMY OF SCIENCES, BEIJING


Fossilien von 25,5 Millionen Jahre kälteste Monat dürfte allenfalls eine nach Auswertung verschiedener
alten Palmwedeln. Sie sind damit Durchschnittstemperatur von 5 Grad Klimaszenarien. Außerdem müsste das
überraschend jung. Viele Geologen Celsius gehabt haben, der Jahresmit­ Tal von 4000 Meter hohen Bergen
gehen davon aus, dass Tibet zu dieser telwert müsste bei mindestens 14 Grad eingerahmt gewesen sein. Vermutlich
Zeit bereits ein weitgehend ebenes gelegen haben. habe das »Dach der Welt« daher erst
Hochland war – schließlich ließ der Solche Bedingungen seien nur dann später als gedacht seine heutige Höhe
Zusammenstoß von indischer und denkbar gewesen, wenn die Land­ und Form erlangt, schreiben die Wis­
eurasischer Kontinentalplatte schon schaft vor 25,5 Millionen Jahren senschaftler.
vor 35 bis 40 Millionen Jahren den maximal 2300 Meter über dem Mee­ Science Advances
benachbarten Himalaja aufsteigen. resspiegel lag, berichtet das Team 10.1126/sciadv.aav2189, 2019

PHYSIK
ABSTOSSENDER CASIMIR-EFFEKT

 Der Casimir-Effekt ist eine Beson­


derheit der Quantenwelt: Platziert
man zwei ungeladene Metallplatten
Physiker gezeigt, dass Platten aus
unterschiedlichen Materialien durch
den Casimir-Effekt auch auseinander­
Platten schiebt und das die Polarisa­
tionsrichtung von Lichtteilchen ge­
schickt dreht. Auf diese Weise könne
parallel nebeneinander und lässt nur gedrückt werden können. Bei identi­ man einigen der virtuellen Photonen
einen winzigen Spalt zwischen ihnen, schen Körpern schlossen sie eine unter die Arme greifen, argumentieren
werden sie wie von Zauberhand abstoßende Kraft bisher jedoch aus, die Physiker. Zusammen mit einem
zusammengedrückt. Nach Ansicht der da sie im Widerspruch zu Symmet­ Magnetfeld ließe sich so letztlich die
meisten Physiker sind »virtuelle« rieprinzipien zu stehen scheint. Stärke und Richtung des Casimir-Ef­
Photonen verantwortlich, die ständig Qing-Dong Jiang von der Univer­ fekts steuern.
im Vakuum aufploppen und sich nach sität Stockholm und Frank Wilczek Ob das in der Realität funktioniert,
einigen Sekundenbruchteilen paarwei­ vom Massachusetts Institute of Tech­ müssen nun Labormessungen zeigen.
se auslöschen. Im Zwischenraum der nology haben nun ein Schlupfloch in Falls ja, ist eine Anwendung in der
Platten können weniger dieser Teil­ dieser Regel entdeckt. Mit einem Trick Nanotechnologie denkbar: Hier be­
chen entstehen als auf den Außensei­ könne man die Casimir-Kraft nach steht eine Herausforderung darin,
ten; durch die Zusammenstöße zwi­ außen richten und dreimal so stark winzige Bauteile auf immer weniger
schen Photonen und Platten ergibt werden lassen wie die nach innen Platz unterzubringen – ohne dass sie
sich somit insgesamt eine nach innen orientierte, berichten die Wissen­ dabei wie von Zauberhand zusammen­
gerichtete Kraft. schaftler nach aufwändigen Rechnun­ gedrückt werden.
Aber muss das immer so sein? gen. Möglich macht es ein »chirales« Physical Review Letters
Bereits in der Vergangenheit haben Spezialmaterial, das man zwischen die 10.1103/PhysRevB.99.125403, 2019

8 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

ZOOLOGIE Sprungbrett auf und ab und überträgt


die Schwingungen auf den Boden.
BALZFUNK Die Forscher sind durch Zufall auf
DER ZIKADEN den Vibrationssender gestoßen.
Eigentlich analysierten sie Zikaden

 Britische Forscher haben in Spitz­


kopfzikaden ein bis dato unbekann­
tes Kommunikationsinstrument zur
der Spezies Agalmatium bilobum für
einen Artenvergleich in einem Syn­
chrotron-Teilchenbeschleuniger – eine
Anbahnung sexueller Kontakte aufge­ Technik, die das scharfe Fokussieren
spürt: Männchen und Weibchen auf win­zige Details erlaubt. Mit Mikro­
produzieren mit einer blitzschnell tomografie, Hochgeschwindigkeits­ Männliche
vor- und zurückschnellenden Unter­ fotografie und weiteren Methoden Zikaden locken
körperstruktur Vibrationen, die das ent­hüllten die Zoologen zusammen mit Weibchen per
andere Geschlecht noch in einiger Kollegen aus den Ingenieurwissen­ Vibration an.
Entfernung wahrnimmt und beantwor­ schaften schließlich die Arbeitsweise
tet. Mit Hilfe der für Menschen un­ des Organs.

LEONIDAS-ROMANOS DAVRANOGLOU,
UNIVERSITY OF OXFORD
hörbaren Balzfunkwellen finden sich Anschließend sammelte und unter­ Nutzpflanze zu Nutzpflanze übertra­
die Zikaden dann zur Paarung zusam­ suchte das Team hunderte weitere gen. Das jetzt entdeckte Kommunika­
men, berichten Beth Mortimer und Zikaden – und stellte fest, dass der tionsorgan muss in der Evolution
ihre Kollegen von der University of Sprungbrettvibrator bei Männchen wie dieser Tiergruppe schon sehr früh
Oxford. Weibchen offenbar zur Grundausstat­ entstanden sein: Spitzkopfzikaden
Die Zikade kann das Schnalz- oder tung aller Familien der Spitzkopfzika­ rufen vermutlich seit rund 250 Millio­
Schnapporgan aktivieren, indem sie den gehört. Bei ihnen handelt es sich nen Jahren mit Hilfe von Vibrationen
per Muskelkontraktion Energie auf um eine Unterordnung, zu der auch nach Geschlechtspartnern.
eine elastische Gewebestruktur über­ wirtschaftlich bedeutende Schädlinge
trägt. Daraufhin schnellt diese wie ein zählen, die bakterielle Infektionen von PLoS Biology 17, e3000155, 2019

Reisetermine des Verlags


Spektrum der Wissenschaft

EVENTS

REISE ZU ISLANDS FASZINIERENDER GEOLOGIE


FÜR SPEKTRUM-LESER
Island ist eine absolute Ausnahmeerscheinung unter den Ländern der Welt: atembe-
raubende Schönheit, große und beeindruckende Wasserfälle, dampfende Geysire,
Eis und Feuer auf engem Raum, unendliche Weite. Farben, die man nur auf fremden
Planeten vermuten würde. Island ist aber auch geologisch so gut wie einzigartig.
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tionen buchen können.
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Infos und Anmeldung:

Spektrum.de/live
Spektrum der Wissenschaft  5.19 9
SPEKTROGRAMM
GENETIK
RIESENVIRUS VERWANDELT WIRT ZU STEIN
 Riesenviren sind eine Gruppe
infektiöser Partikel, über die Wis­
senschaftler bisher wenig wissen. Eine
Im Gegensatz zu anderen DNA-Vi­
ren, die sich im Zytoplasma der infi­
zierten Zellen vervielfältigen, lässt das
die mythologische Schreckensgestalt
mit ihren Schlangenhaaren auf dem
Haupt.
Gruppe um Hiroyuki Ogata von der Medusavirus seine Nachkommen Der Vergleich der Gensequenzen
Universität Kyoto hat nun eine bisher innerhalb des Zellkerns der Amöbe von Amöbe und Riesenvirus deutet auf
unbekannte Version dieser DNA-Viren zusammenbauen. Dabei sorgt eines einen »horizontalen« Gentransfer hin,
in einer heißen Quelle in Japan aufge­ der Wirtsenzyme dafür, dass die bei dem Wirt und Parasit Erbmaterial
spürt. Die Forscher tauften das Virus Amöbe eine harte Außenhülle bildet, ausgetauscht haben. Demnach könn­
auf den Namen Medusa, das die neue in der sich der Eindringling ungestört ten DNA-Viren bei der Evolution
Familie Medusaviridae begründet. replizieren kann. eukaryotischer Lebewesen – Pilze,
Wie seine Namensgeberin aus der Das Virus selbst schützt sein Erbgut Pflanzen und Tiere – eine wichtige
griechischen Mythologie verwandelt durch einen mit Hunderten von Sta­ Rolle gespielt haben, spekulieren die
es seine Opfer – Amöben der Art cheln überzogenen Panzer, an deren Forscher.
Acanthamoeba castellanii – gewisser­ Enden runde Köpfe sitzen. Diese Journal of Virology 10.1128/JVI.02130-18,
maßen zu Stein. Stacheln erinnern damit ebenfalls an 2019

WARHAFTIG VENEZIAN / ISRAEL ANTIQUITIES AUTHORITY


ARCHÄOLOGIE
DAS SILBER
DER PHÖNIZIER

 Die Phönizier waren ein rätselhaftes


Volk: Oft untereinander verfeindet,
kolonisierten sie im 1. Jahrtausend
v. Chr. vom heutigen Libanon und Is-
rael aus große Teile des Mittelmeer­
raums. Dabei gründeten sie nicht nur
Karthago, sondern drangen sogar bis
an die Atlantikküste vor.
Wann und warum sie aus ihrer
Heimat aufbrachen, ist bis heute
umstritten. Eine neue Studie legt nun
nahe, dass sie sich wohl früher ins
Unbekannte vorwagten als gedacht –
und in erster Linie lossegelten, um
neue Silbervorkommen zu erschließen.
Dafür sprechen jedenfalls Analysen
von Silberbruchstücken aus dem
heutigen Israel. Anhand von Bleiisoto­
pen fand das Team um Tsilla Eshel von
der Universität in Haifa heraus, dass
das Silber im 10. Jahrhundert v. Chr. in
Sardinien und im 9. Jahrhundert v. Chr.
im Südwesten der Iberischen Halbinsel Immer wieder brachten die Phönizier Bottiche voll Silber in
abgebaut wurde. Damit wären die ihre Heimat, das heutige Israel.
Phönizier mindestens 200 Jahre früher
aufgebrochen, als die meisten Exper­
ten bisher vermuten. nommen hat, um Gold, Silber und seinen sagenhaften Silberreichtum be-
Ein Hinweis darauf findet sich so- andere Luxusgüter aus einem Land kannt war. Auch griechische und römi­
gar in der Bibel. Das erste Buch der namens Tarschisch in ihre Heimat zu sche Quellen berichten, dass die Phönizi­
Könige berichtet von Expeditionen, die bringen. Damit könnte das Königreich er dort einst Silber gewonnen haben.
König Salomon gemeinsam mit dem von Tartessos in Südwestspanien
Phöni­zierkönig Hiram von Tyros unter­ gemeint sein, das in der Antike für PNAS 10.1073/pnas.1817951116, 2019

10 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

SONNENSYSTEM
EUROPAS OZEAN BEWEGT SICH
 Schon länger vermuten Planetolo­
gen unter der Eiskruste des Jupiter­
monds Europa einen ausgedehnten
In den Simulationen der Forscher
bildeten sich dadurch zum einen
Turbulenzen nördlich und südlich des
che Kräfte auf den darüber liegenden
Eispanzer ausüben, spekulieren die
Forscher, womit sie einen Anteil an der
Ozean. Dieser wird wahrscheinlich Äquators aus. Außerdem entstand die zerfurchten Oberfläche des Trabanten
sowohl von Gezeitenkräften als auch groß angelegte Strömung, die sich mit haben könnte.
von radioaktiven Zerfällen im Mantel einigen Zentimetern pro Sekunde gen Nature Astronomy 10.1038/s41550-019-
erwärmt. Durch Konvektion und heiße Westen bewegt. Sie müsste beträchtli­ 0713-3, 2019
Quellen am Meeresgrund müsste das
Wasser also immer wieder in Bewe­
gung geraten.
Christophe Gissinger und Ludovic
Petitdemange vom französischen
Forschungszentrum CNRS wollen nun
eine neue, besonders mächtige Strö­
mung unter der Eiskruste aufgespürt
haben: Vermutlich umspannt sie wie
ein riesiges Band den ganzen Him­
melskörper, berichten die Forscher auf
Basis von Computersimulationen.
Verantwortlich soll das Magnetfeld
von Jupiter sein. Es reicht bis weit
ins All hinaus und unterliegt periodi­
schen Schwankungen. Dadurch müss­
te es elektrische Ströme in dem leit­
fähigen Salzwasser von Europas
Ozean induzieren. Da die Ladungsver­ Unter der zerfurchten
teilung nur mit einiger Verzögerung Eiskruste des Jupiter-
auf die Änderungen des Magnetfelds monds Europa vermuten
reagiert, wirkt auf das geladene Was­ Forscher seit Langem
ser die Lorentzkraft, die bewegte einen Ozean aus Wasser.
Ladungen senkrecht zu einem Mag­
netfeld umlenkt.
NASA/JPL-CALTECH/SETI INSTITUTE (PHOTOJOURNAL.JPL.NASA.GOV/CATALOG/PIA19048)

MEDIZIN
ZWILLINGE DER DRITTEN ART
 Australische Forscher um Michael
Gabbett von der Queensland Uni­
versity of Technology haben eine
gegangen sind. Die drei Chromoso­
mensätze teilten sich dabei ungleich­
mäßig auf beide Geschwister auf, so
allerdings nicht. Doch in seltenen
Fällen teilt sich die befruchtete Eizelle
nicht in zwei, sondern in drei Zellen,
Zwischenform von eineiigen und zwei- dass sie das gleiche mütterliche Erb­ von denen jede wie vorgesehen zwei
eiigen Zwillingen entdeckt: Bei einer gut besitzen, aber nur 78 Prozent des Chromosomensätze besitzt: zwei
28-jährigen Schwangeren besaßen väterlichen gemeinsam haben. Die Zellen mit mütterlichen Chromosomen
die Föten zwar eine gemeinsame Zwillinge sind somit weder monozygo­ und Genmaterial der Samenzellen
Plazenta, was normalerweise nur bei tisch (eineiig) noch dizygotisch (zwei­ sowie eine dritte mit den restlichen
eineiigen, genetisch identischen eiig), sondern sesquizygotisch. Chromosomen beider Spermien.
Zwillingen der Fall ist. Später stellte Bereits im Jahr 2007 hatten Wis­ Letztere wird jedoch schnell abgesto­
sich jedoch heraus, dass die beiden senschaftler einen ähnlichen Fall ßen. Der heranwachsende Zellhaufen
Geschwister unterschiedliche Ge­ beobachtet. Offenbar kommt es immer aus den beiden verbliebenen Zellen
schlechter haben. wieder vor, dass zwei Spermien eine trennt sich dann zu den sesquizygoten
Genauere Erbgutanalysen ergaben, Eizelle befruchten. Normalerweise Zwillingen auf.
dass die Zwillinge aus einer von zwei überleben die so entstehenden Embry­ New England Journal of Medicine
Spermien befruchteten Eizelle hervor­ onen mit drei Chromosomensätzen 10.1056/NEJMoa1701313, 2019

Spektrum der Wissenschaft  5.19 11


4U4ME / GETTY IMAGES / ISTOCK
INSEKTENSTERBEN
BEUNRUHIGENDER
SINKFLUG
Krefelder Forscher beobachteten über Jahrzehnte
einen dramatischen Rückgang in der Biomasse von
Fluginsekten. Andere Studien bestätigen die
bedrohliche Situation – auch für die Bestäubung
vieler Nutzpflanzen.

Josef Settele ist Agrarbio-


SEBASTIAN WIEDLING / UFZ

loge am Helmholtz-Zent-
rum für Umweltforschung –
UFZ in Halle sowie Profes-
sor für Ökologie an der
Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg und
Mitglied des Deutschen Zentrums für
integrative Biodiversitätsforschung - iDiv.
Der Insekten- und Landnutzungsspezialist
berät weltweit als Sachverständiger die
Politik und wirkt in zentraler Funktion am
Weltbiodiversitätsrat IPBES mit.

 spektrum.de/artikel/1634738

12 Spektrum der Wissenschaft  5.19


4U4ME / GETTY IMAGES / ISTOCK

Als Nutztiere sind Honig-


bienen nicht so unmittel-
bar vom Insektenschwund
betroffen wie ihre natür­
lichen Verwandten. Doch
auch sie leiden unter
Umweltveränderungen,
etwa einem zunehmenden
Pestizideinsatz.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 13



Etliche wissenschaftliche Studien warnen schon lange
vor massiven Verlusten in der Pflanzen- und Tierwelt.
Doch nur wenige von ihnen schaffen es, weltweit in
die Schlagzeilen zu geraten. Zu diesen seltenen Ausnahmen
zählt ein im Oktober 2017 veröffentlichter Beitrag, der
über einen Rückgang der Biomasse fliegender Insekten um
drei Viertel vor allem in Naturschutzgebieten Nordwest-
deutschlands berichtete. Renommierte Fachzeitschriften
wie »Nature« oder »Science« griffen die Studie auf, so dass
sich schließlich auch Umweltschützer und Politiker darauf

ALBERT VLIEGENTHART; MIT FRDL. GEN. VON JOSEF SETTELE UND ALBERT VLIEGENTHART
beriefen.
Die unter Federführung des niederländischen Ökologen
Caspar Hallmann von der Radboud-Universität in Nimwe-
gen erschienene Arbeit wird meist als »Krefelder Studie«
bezeichnet, da sie auf Daten des Biologen Martin Sorg und
seiner Kollegen vom Entomologischen Verein Krefeld
aufbaut. Die Krefelder Insektenkundler sind Koautoren
dieser bahnbrechenden Publikation und hatten bereits 2013
erste Ergebnisse veröffentlicht. Seit 1989 hatten sie an
zahlreichen Standorten vor allem in Nordrhein-Westfalen so
genannte Malaise-Fallen aufgebaut (siehe Fotos rechts
unten). Die nach dem schwedischen Entomologen René
Malaise (1892–1978) benannten zeltartigen Aufbauten sind
so konstruiert, dass Insekten an einem Ende hineinfliegen, Da immer mehr Moorgebiete zuwachsen und damit als
am anderen aber nicht mehr herauskommen. Sie bewegen natürlicher Lebensraum verloren gehen, ist der Hoch­
sich darin dem Licht entgegen nach oben und landen dort moorgelbling (Colias palaeno) selten geworden. Außer-
in einem Behälter, wo sie in Alkohol konserviert werden. dem setzt der Klimawandel der Schmetterlingsart zu.
Die Fallen erfassen somit standardisiert Fluginsekten wie
Fliegen, Mücken, Bienen, Wespen und Schmetterlinge.
Wenn man Insektenpopulationen betrachtet, gilt es wicklungen bestimmter Spezies innerhalb einer Insekten-
zunächst zwei grundsätzlich verschiedene Ebenen ausein- gruppe, aus denen sich ermitteln ließ, inwieweit diese
anderzuhalten, die mitunter gern vermischt werden: 1. Ver- Arten an sich gefährdet sind und von welchen Schutzmaß-
änderungen in der Biomasse, also dem Gewicht aller Indivi- nahmen sie profitieren. Dabei werden allerdings Populati-
duen einer Gruppe oder auch aller Insekten zusammen, und onsveränderungen bei den seltensten Spezies oft genauso
2. Veränderungen bei der Artenzusammensetzung und der stark gewichtet wie bei den häufigsten. Damit besteht die
Häufigkeit einzelner Arten. Meist war in bisherigen Studien Gefahr, den Insektenrückgang insgesamt zu überschätzen,
vor allem von Letzterem die Rede. Im Fokus standen Ent- zumal generell seltenere Arten auch am stärksten zurückge-
gangen sind, während die häufigen – die den mit Abstand
größten Beitrag zur Insektenbiomasse stellen – stabiler
blieben.
Wir brauchen aber Angaben zur generellen Häufigkeit,
AUF EINEN BLICK um abzuschätzen, wie sich Veränderungen auf die Ökosys-
DRAMATISCHER INSEKTENSCHWUND teme auswirken. So spielt für die Bestäubung und die
biologische Schädlingsbekämpfung die Anzahl ausgewach-

1 Insekten spielen als Bestäuber eine zentrale Rolle in


den Ökosystemen der Erde und sichern somit unsere
Ernährung. Doch seit Jahrzehnten gehen weltweit
sener Tiere, wie etwa von Bienen oder Schlupfwespen, eine
entscheidende Rolle. Und wenn es um Nährstoffzyklen, die
Zersetzung von organischem Material oder um die Nah-
die Bestände zurück – auch in Naturschutzgebieten.
rungsgrundlage Insekten fressender Tiere geht, benötigen
wir sogar Daten zur Häufigkeit und somit zur Biomasse aller
2 Als Ursachen gelten: Verlust von Lebensräumen,
strukturelle Verarmung von Wald-, Acker- und Garten-
landschaften, Einsatz von Düngern und Pestiziden
Entwicklungsstadien. Solche Analysen von Gesamtbiomas-
sen fehlten bislang – eine ernsthafte Lücke auch angesichts
sowie der Klimawandel. der wirtschaftlichen Leistungen, die Insekten vollbringen:
Weltweit werden fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen – und

3 Die Eindämmung der Risikofaktoren wäre ein Aus-


gangspunkt für eine Trendwende. Dieses Ziel lässt sich
nur im gesamtgesellschaftlichen Konsens verfolgen,
75 Prozent aller wichtigen Nutzpflanzen – von Insekten
bestäubt. Insgesamt schätzt man den globalen Wert der
Bestäubung für die Ernteerträge auf 200 bis 600 Milliarden
bei dem sich alle gemeinsam um Lösungen bemühen. Euro pro Jahr. Darüber hinaus sind 70 Prozent der Fleder-
maus- sowie 60 Prozent der Vogelarten auf Insekten als
Futter angewiesen.

14 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Diese Wissenslücke zur Gesamtbiomasse von Insekten Auf Basis der Tagfalter-Monitoring-Daten aus 22 Län-
zu schließen, ging die Krefelder Studie erstmals an, wenn- dern erstellte ein internationales Team von Wissenschaft-
gleich sie ursprünglich gar nicht dafür geplant war. Neu an lern für die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen den
ihr war vor allem, dass sie sich über einen Zeitraum von europäischen Schmetterlingsindikator für Grünland. In
27 Jahren erstreckte. Bisher stützen sich relativ wenige diesen Indikator flossen die Daten für 17 vorwiegend auf
Arbeiten zur Biomasse beziehungsweise zur Individuenzahl Wiesen und Weiden vorkommende Tagfalterarten ein.
auf Beobachtungen von mehr als 15 Jahren. Demnach nahmen deren Bestände im Zeitraum von 1990
Die Ergebnisse der Studie erschienen in zweierlei Hin- bis 2015 insgesamt um ein Drittel ab (siehe »Schmetter-
sicht alarmierend: Die Krefelder Entomologen verzeichne- linge in Europa«, S. 17).
ten erschreckende Einbrüche in der Biomasse der Flug­ Seit vielen Jahren führen so genannte Rote Listen ge-
insekten. Und diese Verluste traten ausgerechnet in Natur- fährdete Pflanzen und Tiere auf. Dabei beurteilen Experten
schutzgebieten auf – dabei sollten gerade solche Areale kurz- sowie langfristig die Entwicklung der Bestände; die
dem Erhalt der Natur dienen.
Es war bereits bekannt, dass in den letzten Jahrzehnten
die Bestände an Insekten stärker schrumpften als bei Eine Malaise-Falle besteht aus einem Zelt, in das Insekten
einheimischen Pflanzen oder Vögeln. Doch der hier doku- zufällig hineinfliegen. Die Tiere versuchen dann, dem
mentierte Rückgang übertraf um ein Vielfaches die Verlus- Licht entgegen nach oben zu entkommen – und gelangen
te, die bis dahin in vergleichbaren Zeiträumen in naturnahen in einen mit Alkohol gefüllten Behälter, wo sie konser-
Lebensräumen beobachtet worden waren. Die Biomasse viert werden. Die Fallen können an unterschiedlichen
der Fluginsekten verringerte sich im Schnitt um drei Viertel, Stand­orten wie nährstoffreicheren Wiesen (oben) oder
wobei die schlimmsten Einbrüche in den Sommermonaten nähr­stoff­armen Heiden (unten) aufgestellt werden, um
auftraten, wenn die meisten Sechsbeiner umherfliegen so verschiedene Habitate zu vergleichen.
(siehe Grafiken »Insektenbiomasse in Deutschland«, S. 16).
So ging beispielsweise im Schutzgebiet Orbroicher Bruch
die binnen zwölf Monaten gesammelte Insektenbiomasse
von anderthalb Kilogramm im Jahr 1989 auf unter 300
Gramm im Jahr 2013 zurück.
Am besten lässt sich die Situation bei Schmetterlingen
einschätzen. Seit 2005 koordinieren wir am Helmholtz-Zent-
rum für Umweltforschung (UFZ) zusammen mit der Gesell-
schaft für Schmetterlingsschutz (GfS) das Tagfalter-Monito-
ring Deutschland (TMD) als bisher einziges systematisch
betriebenes, langfristiges, deutsches Insektenbeobach-
tungsprogramm. Es handelt sich um ein so genanntes
Citizen-Science-Projekt: Bürgerinnen und Bürger erfassen
freiwillig Jahr für Jahr deutschlandweit bei wöchentlichen
oder zweiwöchentlichen Begehungen entlang festgelegter
Strecken alle Tagfalter. Die so entstehenden Bestandsdaten
dokumentieren die Entwicklung der Tiere auf lokaler, regio-
naler sowie nationaler Ebene und lassen sich mit denen aus
anderen europäischen Ländern vergleichen.

Wie geht es den Schmetterlingen in Europa? HALLMANN, C.A. ET AL.: MORE THAN 75 PERCENT DECLINE OVER 27 YEARS IN TOTAL FLYING INSECT BIOMASS IN PROTECTED AREAS.
PLOS ONE 12, E0185809, 2017, FIG. 1 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0185809) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
Bei den Daten bis 2016 zeigte sich ein leichter, wenn auch
nicht signifikanter Anstieg der Individuenzahlen. Da die
Individuen der verschiedenen Falterspezies etwa gleich
groß und schwer sind, dürfte sich hier die Entwicklung der
Gesamtbiomasse widerspiegeln. Ähnliches beobachteten
Schweizer Forscher für den Zeitraum 2003 bis 2016. Diese
Daten scheinen der Krefeld-Studie zu widersprechen, die ab
2005 eine Abnahme der Insektenbiomasse um mehr als
40 Prozent feststellte. Gewichten wir hingegen die Trends
aller Arten gleich und mitteln sie – als kombinierte Analyse
aus Artenvielfalt und Häufigkeit –, so offenbart sich in
diesem Zeitraum ein Rückgang der Tagfalter Deutschlands
um elf Prozent. Das niederländische Tagfalter-Monitoring
verzeichnete zwischen 1992 und 2016 hingegen einen
Einbruch der Biomasse um 47 Prozent, wobei die Flächen-
anteile verschiedener Lebensräume berücksichtigt wurden.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 15


resultierenden Einstufungen beruhen letztlich auf dem net und als rückläufig, zunehmend oder gleich bleibend
kollektiven Eindruck der entsprechenden Artenkenner – ei- zusammengefasst. Alle zehn Jahre erarbeiten zentrale
ner leider ebenfalls vom Aussterben bedrohten Spezies. Koordinatoren zusammen mit zahlreichen ehrenamtlichen
Daraus ergibt sich ein umso fundierteres Bild, je beliebter Expertinnen und Experten unter Federführung des Bun-
die betreffende Insektengruppe ist. desamts für Naturschutz die nationalen Roten Listen. Aus
Die Einstufungen in den Roten Listen für den jeweiligen der aktuellen Fassung ergeben sich langfristige Be-
Bezugsraum – Region, Bundesland, Deutschland, Europa – standsentwicklungen von insgesamt 7444 Insektenarten
erfolgt über standardisierte Kriterien. Dabei werden die über einen Zeitraum von bis zu 150 Jahren. Dabei nahmen
Arten in Deutschland insgesamt zehn Kategorien zugeord- 44 Prozent der Arten ab, 41 Prozent blieben gleich, und bei
nur 2 Prozent war ein Zuwachs zu verzeichnen (siehe
»Bestandsentwicklung von Insektenarten in Deutschland«,
S. 21, obere Grafik).
Insektenbiomasse in Deutschland Neben langfristigen Trends lassen sich auch kurzfristige
abschätzen, die einen Zeitraum von 10 bis 25 Jahren um-
Seit 1989 registrieren Forscher des Entomologi- fassen. So zeigt sich bei Bienen und Tagfaltern, dass
schen Vereins Krefeld einen dramatischen ins­besondere seltene Spezies rückläufig sind, während es
Schwund an Insektenbiomasse (obere Grafik). Die den häufigeren eher noch gut zu gehen scheint (siehe
Balken repräsentieren die Schwankungen der »Bestandsentwicklung von Insektenarten in Deutschland«,
Messungen, die graue Linie gibt den Trend nach S. 21, untere Grafik). Kurz- und langfristige Trends zusam-
Berücksichtigung von Wetter-, Landschafts- und mengefasst, müssen 42 Prozent der Insektenarten in
Habitateffekten wieder, die schwarze Linie stellt Deutschland als bestandsgefährdet bewertet werden
den Gesamttrend dar. Beachten Sie den logarith- (Rote-Liste-Arten). Solange nur spärliche Studien vorliegen,
mischen Maßstab der y-Achse. Wie die untere die wirklich langfristige Zeitreihen auswerten, bleiben die
Grafik zeigt, treten die Biomasseverluste beson- Roten Listen nach wie vor das Hauptinstrument, um die
ders in den Sommermonaten auf (von blau, 1989, Gefährdung von Arten einzuschätzen.
bis orange, 2016). Eine der wenigen und zugleich richtungsweisenden
Arbeiten zu langfristigen Entwicklungen von Artenbestän-
den stammt von Forschern um den Ökologen Jan Christian
20,0 Habel von der Technischen Universität München. Die
Biomasse (Gramm pro Tag)

10,0 Wissenschaftler analysierten die Veränderungen von


Tagfaltergemeinschaften eines Berghangs in Regensburg
5,0
von 1840 bis 2013 – also über einen Zeitraum von fast zwei
2,0 Jahrhunderten –, indem sie systematisch historische
1,0 Quellen auswerteten. Dabei hat sich die Zusammenset-
zung der Falterarten stark gewandelt, und die Artenzahl
0,5
nahm von 117 auf lediglich 71 ab. Betroffen waren vor allem
0,2 so genannte Spezialisten, also Tiere, die besondere An-
0,1 sprüche an den Lebensraum haben und oft nur ein einge-
schränktes Nahrungsspektrum nutzen. Die meisten von
PLOS ONE 12, E0185809, 2017, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0185809) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

1990 2000 2010 ihnen gelten heute als gefährdet, während umgekehrt die
Generalisten mit wenig spezialisierten Umweltansprüchen
Jahr
HALLMANN, C.A. ET AL.: MORE THAN 75 PERCENT DECLINE OVER 27 YEARS IN TOTAL FLYING INSECT BIOMASS IN PROTECTED AREAS.

sogar zugenommen haben. Insbesondere Falterspezies, die


sich kaum ausbreiten und nährstoffarme Habitate be­-
nötigen, erlitten gravierende Einbrüche.
20,0
Biomasse (Gramm pro Tag)

10,0 Kein Schutz in Schutzgebieten – selbst hier


5,0
gehen die Insektenzahlen zurück
Da die Krefelder Entomologen ihre Messungen in ge-
2,0 schützten Landschaften durchgeführt haben, stellen sich
1,0 folgende Fragen: Erfüllen Schutzgebiete überhaupt noch
0,5
die von ihnen erwartete Funktion? Und wie sieht die Ent-
wicklung der Insektenbiomasse in nicht geschützten
0,2 Ökosystemen aus? Mit den vorliegenden Daten der Studie
0,1 lassen sie sich kaum beantworten. Dazu müssten wir
wissen, welche Arten betroffen sind. Nur eine genauere
A M J J A S O N
Aufschlüsselung der Spezies samt ihrer ökologischen
Monat
Ansprüche erlaubt differenzierte Aussagen. Auf Grund des
hohen Aufwands war das den Forschern bislang nicht
möglich.

16 Spektrum der Wissenschaft  5.19


EUROPEAN ENVIRONMENT AGENCY, EU COUNTRIES GRASSLAND BUTTERFLIES POPULATION INDEX (WWW.EEA.EUROPA.EU/DATA-AND-MAPS/DAVIZ/EUROPEAN-GRASSLAND-BUTTERFLY-INDICATOR-2#TAB-CHART_4)

Schmetterlinge in Europa
EU countries — Grassland butterflies - population index

140
140
Der europäische Indikator für Tagfalter des Grünlands verzeichnet seit 1990
in 22 Ländern einen Rückgang der Populationsgrößen von 17 Schmetter-
120
lingsarten. Der graue Bereich symbolisiert die statistische Ungenauigkeit
120
UND VAN SWAAY, C.A.M. ET AL.: THE EUROPEAN BUTTERFLY INDICATOR FOR GRASSLAND SPECIES: 1990-2015. REPORT VS2016.019. DE VLINDERSTICHTING, 2016

der berechneten Daten, die dunkelblaue Linie zeigt den Trend.

100
100
(1990 = 100)
Population index (1990=100)

80
80
Populationsgröße

60
60

40
40

20
20

00
1990 0

1991 1

1992 2

1993 3

1994 4

1995 5

1996 6

1997 7

1998 8

1999 9

2000 0

2001 1

2002 2

2003 3

2004 4

2005 5

2006 6

2007 7

2008 8

2009 9

2010 0

2011 1

2012 2

2013 3

2014 4

2015 5
9

1
19

19

19

19

19

19

19

19

19

19

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20

20
Grassland butterflies (17 species) Trend line
Jahr

2019 veröffentlichten wir hierzu zusammen mit Stanislav logen haben einige mögliche Gründe untersucht, beispiels-
Rada, der inzwischen an der tschechischen Universität weise Veränderungen in Niederschlag, Temperatur oder
Olmütz forscht, eine eigene Studie. Dabei stellten wir – er- Pflanzenbedeckung. Dabei handelt es sich um Korrelatio-
wartungsgemäß – fest: Tagfalter weisen in deutschen nen, die jedoch nicht unbedingt kausale Zusammenhänge
Schutzgebieten des Natura-2000-Netzwerks einen höheren beschreiben. Zudem lassen sich nur Faktoren analysieren,
Artenreichtum auf als außerhalb. Ebenfalls erwartungsge- für die entsprechende Daten vorliegen. Da solche etwa zu
mäß nimmt dieser Reichtum mit dem Abstand von solchen Details der Landnutzung wie Pestizid- oder Düngemittelein-
Gebieten ab. Allerdings zeigten die mit den Daten des satz fehlen, sind kaum gesicherte Aussagen möglich,
Tagfalter-Monitorings kombinierten Auswertungen auch, wenngleich derartige Einflüsse sehr wahrscheinlich sein
dass die Artenvielfalt binnen elf Jahren um zehn Prozent dürften.
zurückging – und zwar jenseits der Naturschutzgebiete Auch wenn es somit schwierig sein mag, den beobach-
genauso wie innerhalb. Demnach waren die Areale nicht in teten Insektenschwund auf eindeutige Ursachen zurückzu-
der Lage, den generellen Trend aufzuhalten. Oder anders führen, gibt es durchaus wissenschaftliche Erkenntnisse
formuliert: Die Rückgänge in den Naturschutzgebieten zum Thema. So wertete der Weltbiodiversitätsrat (Inter­
spiegelten die Gesamtentwicklung wider. Der Unterschied governmental Science-Policy Platform on Biodiversity and
bestand nur darin, dass die Schutzgebiete einen höheren Ecosystem Services, IPBES) tausende dem wissenschaftli-
Artenreichtum aufwiesen als außerhalb. chen Peer-Review unterzogene Studien zur Lage bestäu-
Es erscheint also plausibel, dass die in der Krefelder bender Insekten aus, um wesentliche Gefährdungsfaktoren
Studie festgestellte Abnahme durchaus repräsentativ
für großräumige Landschaften sein könnte. Es handelt
sich dabei jedoch um Biomassen, während unsere Studie
die Artenzahlen betrachtet. Wenn aber Insekten in
Schutzgebieten schon auf einem niedrigen Niveau von Mehr Wissen auf
Biomasse oder Artenvielfalt angelangt sind, dürfte die
Situation in der ungeschützten Umgebung noch schlech-
Spektrum.de
Was Sie selbst gegen den Insekten-
ter aussehen!
schwund tun können, erfahren Sie
Warum verschwinden unsere Insekten? Grundsätzlich unter spektrum.de/artikel/1635420
lassen sich Phänomene eines globalen Wandels schwer TOMATITO26 / STOCK.ADOBE.C
OM

nach ihren Ursachen aufschlüsseln. Die Krefelder Entomo-

Spektrum der Wissenschaft  5.19 17


Empfehlungen des Weltbiodiversitätsrats
zur Förderung bestäubender Insekten
Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat einen Maßnahmenkatalog zusammengestellt, der die
Bedrohung von bestäubenden Insekten wie Bienen eindämmen soll. Von der Bestäubung
hängt unsere Nahrungsmittelproduktion und damit letztlich unsere Lebensgrundlage ab.
Die fett gedruckten Maßnahmen werden bereits in einigen Teilen der Welt umgesetzt und
zeigen einen wissenschaftlich belegten Nutzen für Bestäuber. Die mit * markierten Hand-
lungsempfehlungen könnten neben positiven auch negative Auswirkungen haben.

ZIEL BEISPIELE

verbesserte Bedingungen für Produktzertifizierung


Bestäuber und/oder Bestäubung Verbesserung der Bienenhaltung
(Bekämpfung von
Krankheitserregern
und Parasiten; Vermeidung
von Infektionen
von bewirtschafteten auf
STRATEGIE wild lebende Bienen;
Aufrechterhaltung der
unmittelbare
genetischen Vielfalt)
Verbesserungen
Quantifizierung des Nutzens
STRATEGIE bewirtschafteter Bestäuber
Reduktion bestäuberfreundliche Gestaltung
unmittelbarer von Straßenrändern und Gärten
Risiken (reduzierte Mahd)*
städtische Freiflächen zur
Unterstützung von Bestäubern

BEISPIELE

Schaffung nicht kultivierter, blütenreicher Vegetationsflächen, etwa entlang von Feldern,


die über die gesamte Vegetationsperiode hinweg Nektar und Pollen bereitstellen
zeitliche Staffelung blühender Kulturpflanzen (kleinteiligere Bewirtschaftung; unterschiedliche
Kulturarten; Erweiterung der Fruchtfolgen; Verwendung früh, mittel und spät blühender Kulturarten)*
extensivierte Grünlandnutzung (reduzierte Mahd / Düngung; geringere Besatzdichte bei Beweidung)
Förderung bestäuberfreundlicher Praktiken
Information der Landwirte über die Rolle der Bestäubung
höhere Standards bei der Risikobewertung von Pestiziden und genetisch veränderten Organismen
Förderung von Technologien und landwirtschaftlichen Praktiken, um die
von Pestiziden ausgehenden Gefahren für Bestäuber zu verringern
Vermeidung von Infektionsrisiken und Krankheitsbekämpfung bei Bestäubern
Verringerung des Pestizideinsatzes (integrierter Pflanzenschutz)

nach Potts, S. G. et al. (Hg.): The assessment report on pollinators, pollination and food production.
Secretariat of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, 2016

18 Spektrum der Wissenschaft  5.19


STRATEGIE

ökologische
Intensivierung der
Landwirtschaft durch
aktives Management BEISPIELE
ZIEL von Ökosystem-
leistungen Förderung diversifizierter
Transformation von Anbausysteme
Agrarlandschaften Förderung von Direktsaatverfahren
Anpassung der Landwirtschaft an den Klima-
wandel (Auswahl von trockenresistenten
Kultursorten)
STRATEGIE
politische Beteiligung von Landwirten und
STRATEGIE Stärkung bereits existierender Gemeinden bei Planung, Gestaltung und
diversifizierter Anbausysteme Nutzung von Landschaften (partizipatives
Investitionen
in ökologische Management; in Deutschland bereits häufige
Infrastruktur Praxis)
Förderung des integrierten Pflanzenschutzes
Bewertung von Bestäubungsleistungen für
landwirtschaftliche Betriebe
BEISPIELE Förderung von bestäuber- und bestäubungs-
freundlichen Nutzungssystemen
Förderung
BEISPIELE von Bioanbau und Entwicklung von Märkten für alternative
Nahrungsmittel­ Bestäuberarten
Wiederherstellung naturnaher sicherheit
Lebensräume (auch in Städten) Unterstützung traditioneller Fruchtfolgen
Förderung biokultu- (höherer Anteil an Nektar bietenden Blüten-
Schutz von Naturerbestätten und reller Schutzansätze pflanzen) und kleinräumiger Vielfalt von
traditionellen Anbaupraktiken (traditionelle Nut- Lebensräumen; Zusammenarbeit von lokalen
Lebensraumverbund (Verbindung zungsformen) Wissensträgern mit anderen Akteuren
isolierter Lebensräume)
großräumige Landnutzungsplanung
für eine strukturelle und biokulturelle
Vielfalt von Lebensräumen

BEISPIELE

Integration der Ergebnisse aus Bestäuber­


forschung in landwirtschaftliche Praxis
ZIEL STRATEGIE
Informationsaustausch zwischen lokalen
Verbesserung der Integration
Wissensträgern, Wissenschaftlern und
Beziehung der vielfältiger Wissens-
weiteren Akteuren
formen und Werte
Gesellschaft zur
in Bewirtschaftung Stärkung des lokalen Wissens über Bestäuber
Natur und Management und Bestäubung
Einbeziehung der vielfältigen soziokulturellen
Werte von bestäubenden Tierarten

STRATEGIE

Verbindung von
Menschen und
Bestäubern
BEISPIELE

Beobachtung von Bestäubern


Verbesserung taxonomischer Kenntnisse durch Bildung,
Schulung und neue Techniken
Informationsprogramme etwa für Entscheidungsträger,
Öffentlichkeit und Medien
Management von städtischen Räumen für Bestäuber
(»Bürgergärten«, »Biene sucht Blüte«, »Deutschland summt«)
Entwicklung, Verbreitung und Unterstützung gesellschaftlich und politisch
sichtbarer Initiativen und Strategien zur Unterstützung der Bestäubung

19
herauszustellen. Diese eröffnen zugleich Verbesserungs- nikotinoide, die gegen Schädlinge verabreicht werden, aber
chancen – nicht nur für die Bestäuber, sondern generell für auch das Nervensystem von Bienen beeinträchtigen. 2018
Insekten. Hierzu analysierte eine internationale Fachgruppe untersagte die EU-Kommission die Nutzung dreier dieser
von annähernd 100 Expertinnen und Experten, unterstützt Insektizide. Durch intensive Düngung sowie durch Auto­
durch die Zuarbeit hunderter weiterer Fachleute von etli- abgase aus der Luft gelangt außerdem vermehrt Stickstoff
chen Forschungseinrichtungen, privaten Unternehmen in die Böden. Das beeinflusst wiederum Schmetterlingsrau-
sowie Nichtregierungsorganisationen, den Kenntnisstand pen, die bevorzugt auf Pflanzen leben, die weniger Stick-
über Bestäubung und Nahrungsmittelproduktion. stoff brauchen.
Die zahlreichen Freilandstudien legen den Schluss nahe, Biologische Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Honig-
dass die intensive Landwirtschaft die Anzahl, Vielfalt und bienen werden von eingeschleppten Parasiten wie der
Gesundheit der Insekten und damit deren Bestäubungsleis- Varroamilbe befallen. Neue Pflanzen, die nach Europa
tung bedroht. In den gemäßigten Breiten Mitteleuropas eingeschleppt werden und sich hier ausbreiten, können
stellt Landwirtschaft seit jeher einen massiven Einflussfak- Arten verdrängen, die für heimische Insekten beziehungs-
tor dar. Viele Tier- und Pflanzenarten haben sich an unsere weise deren Larvenstadien überlebensnotwendig sind.
Kulturlandschaften angepasst; manche wurden erst über
die Forst- und Landwirtschaft bei uns heimisch. Ändert Wir wissen genug, um zu handeln
sich die Nutzung entweder durch Intensivierung oder auch In Zukunft dürfte zudem der Klimawandel ein immer
durch Nutzungsaufgabe, geschieht das auf Kosten der schwerwiegenderes Problem darstellen, denn die sich
Vielfalt in diesen Landschaften. verschlechternden klimatischen Bedingungen werden den
So ist der heutige Ackerbau durch großflächige, arten­ Artenschwund noch forcieren. Von höheren Temperaturen
arme Monokulturen geprägt, in denen Wildkräuter zurück- sollte die Insektenwelt zwar eigentlich profitieren. Die
gedrängt werden – hier können nur wenige Insektenarten zunehmende Wärme kann allerdings auch in Kombination
überleben. Eine häufigere und intensivere Mahd sowie mit einem erhöhten Stickstoffeintrag zu einer dichteren
wiederholtes Umpflügen beeinträchtigen die Tierwelt Vegetation führen, womit sich wiederum das Mikroklima
ebenfalls. Zusätzlich werden durch Siedlungs- und Straßen- abkühlt. Das vermag klimatische Effekte zu kaschieren.
bau immer mehr Lebensräume zerstört. Naturschutzgebiete Die zahlreichen Umweltfaktoren können sich in ihren
erstrecken sich meist über kleine Flächen, die inselartig von negativen Folgen auch gegenseitig verstärken. Letztlich
Nutzland umgeben sind. Den Insektenpopulationen fehlt wird es uns nicht gelingen, alle Ursachen lückenlos zu
durch diese Isolierung der genetische Austausch. belegen und näher einzugrenzen. Aber allein um weiteren
In der Landwirtschaft eingesetzte Pestizide und ihre Verschlechterungen vorzubeugen, wäre es wichtig, plausi-
Abbauprodukte reichern sich im Boden und in den Gewäs- bel erscheinenden Ursachen für das Insektensterben entge-
sern an. Besonders umstritten sind die so genannten Neo­ genzuwirken.
Der IPBES-Bericht empfiehlt Strategien, um die Lebens-
bedingungen von Bestäubern und somit von vielen weite-
Der Dunkle Dickkopffalter (Erynnis tages) lebt im ren Insekten zu verbessern – und dadurch letztlich auch
trockenen Grünland. Noch ist die Art verbreitet, manche unsere Nahrungsmittelproduktion zu sichern! Die Liste
Populationen verzeichnen aber bereits Rückgänge. reicht von sofortigen Maßnahmen zur Risikoreduzierung bis

ALBERT VLIEGENTHART; MIT FRDL. GEN. VON JOSEF SETTELE UND ALBERT VLIEGENTHART

20 Spektrum der Wissenschaft  5.19


durch die Krefelder Studie oder das Tagfalter-Monitoring
– gehen auf das Engagement vieler ehrenamtlich tätiger
Bestandsentwicklung von Insektenkundler zurück. Seit jeher ist die Expertise für
Insektenarten in Deutschland Insekten im Ehrenamt verankert und wird nur durch
wenige professionelle Entomologen ergänzt – wobei
Die Roten Listen des Bundesamts für Naturschutz »professionell« lediglich den Sachverhalt beschreibt, dass
liefern langfristige Bestandsentwicklungen von diese Experten das Glück haben, für ihre Arbeit bezahlt zu
7444 Insektenarten in Deutschland. Demnach werden. Umso ärgerlicher war es, als die Krefelder Kolle-
nahm fast die Hälfte der Arten ab (oben). Kurzfris- gen anfangs als »Hobby­forscher« diskreditiert wurden,
tige Trends über 10 bis 25 Jahre bei 569 Bienen- deren Ergebnisse »zweifelhaft« seien. Abgesehen davon,
und 189 Tagfalterarten zeigen, dass vor allem die dass mehr als ein Drittel der Vereinsmitglieder einen
seltenen Spezies bedroht sind (unten). naturwissenschaftlichen Universitätsabschluss besitzen,
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH BINOT-HAFKE, M. ET AL. (HG.): ROTE LISTE GEFÄHRDETER TIERE, PFLANZEN UND PILZE DEUTSCHLANDS. BAND 3: WIRBELLOSE TIERE (TEIL 1). BUNDESAMT FÜR

schätze ich aus eigener Erfahrung mit Citizen-Science-


NATURSCHUTZ, 2011; GRUTTKE, H. ET AL. (HG.): ROTE LISTE GEFÄHRDETER TIERE, PFLANZEN UND PILZE DEUTSCHLANDS. BAND 4: WIRBELLOSE TIERE (TEIL 2). BUNDESAMT FÜR NATURSCHUTZ, 2016

Projekten wie dem Tagfalter-Monitoring sehr viele ehren-


amtliche Akteure als ausgewiesene Experten. Ohne deren
13 %
Rückgang
Wissen und Engagement wüssten wir fast nichts über
Zunahme
unsere heimische Flora und Fauna.
44 % gleich bleibend Die Arbeit der ehrenamtlichen Experten muss fortge-
Daten ungenügend setzt werden, um so ein dringend notwendiges, standardi-
41 % siertes Monitoring zu etablieren. Die »Bürgerwissenschaft-
ler« brauchen dafür jedoch auch die Unterstützung durch
wissenschaftliches Fachpersonal – finanziert mit öffentli-
chen Geldern. Denn das Ehrenamt stößt etwa bei komple-
2% xen Auswertungen an seine Grenzen.
Der Insektenschutz betrifft die Landwirtschaft genauso
Bienenarten Tagfalterarten
wie den Forst, die Gestaltung urbaner Bereiche, die Land-
100 % 100 %
schafts- und Umweltplanung sowie nicht zuletzt die Nut-
80 % 80 % zung des eigenen Gartens oder Balkons – also uns alle!
60 % 60 % Einheimische Kräuter statt exotischer Zierpflanzen bieten
reichlich Nektar für Wildbienen. Die Tiere freuen sich auch
40 % 40 %
über Nisthilfen, die man kaufen oder leicht selbst bauen
20 % 20 % kann. Wer im Garten Brennnesseln oder andere »Unkräu-
0% 0% ter« stehen lässt, tut damit dem Nachwuchs von Schmet-
terlingen einen Gefallen. Und gerade Hobbygärtner sollten
sehr häufige
häufige
mäßig häufige
seltene
sehr seltene
extrem seltene

sehr häufige

häufige

mäßig häufige

seltene

sehr seltene

extrem seltene

sich gut überlegen, ob sie wirklich chemische Schädlings-


bekämpfungsmittel verwenden müssen.
Es geht nicht darum, bestimmte gesellschaftliche Akteu-
re wie Landwirte als Alleinverantwortliche an den Pranger
zu stellen. Jeder kann seinen Beitrag leisten und sich für
den Erhalt der Insekten einsetzen, um so einem drohenden
hin zu umfassenden und langfristigen Umwandlungspro- ökologischen Kollaps Einhalt zu gebieten. Wenn es dabei
zessen in der Landnutzung. Zu nennen wären hier beispiels- noch gelingt, die zahlreichen Aktivitäten in Deutschland zu
weise Blühstreifen entlang der Ackerflächen, die Nektar für vernetzen – auch auf Seiten der zuständigen Bundesminis-
Insekten bereitstellen, oder die Förderung von diversifizier- terien –, sollte es möglich sein, den Trend zu stoppen und
ten Anbaumethoden, um Monokulturen einzudämmen. sogar umzukehren. 
Wiederhergestellte naturnahe Lebensräume auch in den
Städten helfen unseren Kerbtieren ebenfalls (siehe »Emp- QUELLEN
fehlungen des Weltbiodiversitätsrats zur Förderung bestäu- Habel, J. C. et al.: Butterfly community shifts over two centu-
bender Insekten«, S. 18/19). ries. Conservation Biology 30, 2016
Die wenigen langfristigen Studien, die wir haben, zeigen,
Hallmann, C. A. et al.: More than 75 percent decline over
wie wertvoll es ist, Insekten über Zeiträume von mehr als 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS
zehn Jahren systematisch und wiederholt zu erfassen. Nur One 12, e0185809, 2017
dadurch erhalten wir zuverlässige Aussagen zu allmähli-
Rada, S. et al.: Protected areas do not mitigate biodiversity
chen Entwicklungen und können wesentliche Ursachen declines: a case study on butterflies. Diversity and Distributions
dieser Trends sowie deren Auswirkungen auf die Ökosyste- 25, 2019
me analysieren.
Sorg, M. et al.: Ermittlung der Biomassen flugaktiver Insekten
Die große Mehrzahl unserer Erkenntnisse über den im Naturschutzgebiet Orbroicher Bruch mit Malaise-Fallen in
Insektenschwund – sei es durch behördlich koordinierte den Jahren 1989 und 2013. Mitteilungen aus dem Entomologi-
Bestandsabschätzungen wie die Roten Listen, sei es schen Verein Krefeld 2013/1

Spektrum der Wissenschaft  5.19 21


FORSCHUNG AKTUELL
heraus und ließ nur die gekrümmten
JARED SISLER/HARVARD SEAS

Oberflächen stehen (siehe »Aus rund


mach flach«, rechts). Die Erfindung
funktionierte, und Seefahrer konnten
das Leuchtfeuer weiter vor der Küste
erkennen als je zuvor.
Noch heute leiten Linsen nach
Fresnels Prinzip die Helligkeit einer
nahen Quelle gezielt in die Ferne: Ihre
typische Rillenstruktur findet sich
beispielsweise im transparenten
Plastik jedes Fahrzeugscheinwerfers.
Derlei Bauteile lassen sich jedoch nur
dann sinnvoll anwenden, wenn es eher
auf die Intensität und weniger auf die
Qualität der Abbildung ankommt. Sie
können hochwertige normale Linsen
nicht generell ersetzen, denn ihre
mehrfach durch steile Kanten unter­
brochene Oberfläche streut Teile des
Lichts auf störende Weise.
Rund 200 Jahre nach Fresnel sollen
flache Linsen nach dem Willen einiger
Forscher nun doch noch klassischen
Glasoptiken Konkurrenz machen. Mit
einem Trick lassen sich die Stufen
völlig entfernen, die Linse wird einheit­
lich flach – und trotzdem beeinflusst
die Oberfläche das Licht so, als wäre
sie gekrümmt. Der paradoxe Kniff
gelingt den Physikern, indem sie an ein
Ein nanostrukturiertes Plättchen anderes Vermächtnis Fresnels anknüp­
bündelt alle Farben aus dem Spektrum fen: die Wellennatur des Lichts, zu
des weißen Lichts auf einen Punkt. Das deren Enthüllung der Franzose eben­
soll etwa Untersuchungen an Gewebe falls maßgeblich beitrug.
erleichtern, wie in dieser Illustration. Die Wissenschaftler platzieren
nämlich Rillen und Säulen auf der
Oberfläche, die nur wenige zehn bis

OPTIK hunderte Nanometer dünn sind. Derart


schmale Strukturen fangen die einzel­

PAPIERDÜNNE LINSEN nen Wellen des Lichts gewissermaßen


zwischen sich ein und führen sie durch

DANK NANOSTRUKTUREN das Medium. Die individuellen Elemen­


te unterscheiden sich leicht voneinan­
der. Dadurch halten einige Abschnitte
Physiker wollen herkömmlichen Glaslinsen mit 1000-mal flacheren das Licht länger gefangen und verzö­
Bauteilen Konkurrenz machen. Nun funktioniert eine solche gern seine Ausbreitung stärker. So tritt
»Meta­linse« erstmals mit dem größten Teil des sichtbaren Lichts es an manchen Stellen früher wieder
und unabhängig von dessen Schwingungsrichtung. aus, an anderen später. Die Lichtwel­
len überlagern sich daraufhin zu einer


Im frühen 19. Jahrhundert waren gewesen. Der französische Physiker neuen Front, die in einer bestimmten
Linsen in Teleskopen und sonsti­ Augustin Jean Fresnel erkannte je­ Richtung schräg aus der Oberfläche
gen optischen Instrumenten doch, dass Licht erst beim Übergang herausläuft – obwohl diese eigentlich
bereits verbreitet, doch um das Licht von einem Medium ins andere gebro­ flach ist. Hinter einer solchen »Meta­
von Leuchttürmen effizient hinaus aufs chen wird. In seinen Plänen schnitt er linse« breitet sich das Licht also letzt­
Meer zu bündeln, wären die dafür deswegen das entbehrliche Material in lich aus wie die Strahlen bei einer
nötigen riesigen Glaslinsen zu schwer der Mitte einer Linse scheibenweise herkömmlichen Linse.

22 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

In technischen Anwendungen könn­ und blauen Teil des Spektrums gefer­

CAPASSO LAB/HARVARD SEAS


te das eine ungeahnt kompakte und tigt. Die Abbildungsqualität bei den
leichte Bauweise bei optischen Gerä­ entsprechenden Wellenlängen erwies
ten ermöglichen. Die entscheidenden sich der eines herkömmlichen Glas­
Elemente solcher Linsen in lichtdurch­ objektivs für Mikroskope als ebenbür­
lässigen Halbleitern wie Titandioxid tig. Seinerzeit gelang es den Forschern
sind kaum einen Mikrometer (tau­ allerdings noch nicht, die verschiede­
sendstel Millimeter) dick. nen Wellenlängen mit einer einzelnen
Zwar gelang es Forschern bereits Linse auf einen Punkt zu fokussieren.
vor Jahrzehnten, Strahlung mittels Das holten sie in zwei Publikationen
spezieller Oberflächenstrukturen zu vom Januar 2018 nach. Mit ausgeklü­
bündeln, sogar im sichtbaren Spekt­ gelten Designs der Nanostrukturen
rum. Aber der Effekt hängt stark von erzeugten sie eine gemeinsame Brenn­
der Wellenlänge ab: Jede Farbe fällt in weite für Wellenlängen zwischen 470
einen eigenen Winkel. Die vielen und 670 beziehungsweise zwischen Die rasterelektronenmikroskopische
Wellenlängen des weißen Lichts 400 und 660 Nanometern. Das funk­ Aufnahme eines etwa 20 Mikrometer
ließen sich nicht auf einen Punkt tio­nierte indes nur mit polarisiertem breiten Bereichs einer Metalinse zeigt
zusammenführen. Nun ist Wissen­ Licht, also solchem mit einer bestimm­ die typische Struktur der Oberfläche.
schaftlern das Kunststück jedoch mit ten Schwingungsrichtung. Normales
raffiniert im Computer berechneten Umgebungslicht hat aber keine Vor­
Nanostrukturen gelungen. zugsorientierung, so dass die Linse rechteckiger Grundfläche errechnet
bloß auf einen Teil davon wirkt. und die Linse mittels Elektronenstrahl­
Ein Ort, sie zu bündeln Den jüngsten Durchbruch erreichte lithografie hergestellt. Dabei fräst ein
Den Erfolg verbuchte eine US-Arbeits­ im Januar 2019 Wei Ting Chen aus dünner Strahl aus Elektronen Furchen
gruppe um Federico Capasso von der Ca­passos Arbeitsgruppe. Er präsen­ in eine Halbleiterschicht. Die Wissen­
Harvard University in Cambridge, tierte erstmals eine Metalinse, die schaftler hoffen jedoch, solche Linsen
Massachusetts. Die Wissenschaftler Licht unabhängig von dessen Polarisa­ in Zukunft auch mit der auf Licht
konstruieren bereits seit einigen tionsrichtung und über fast den gan­ basierenden Fotolithografie – einer
Jahren gezielt Metalinsen im Bereich zen Bereich des sichtbaren Spektrums etablierten Methode aus der Massen­
sichtbarer Wellenlängen. Schon 2016 fokussiert. produktion von Computerchips – im
haben sie leistungsfähige Exemplare Chen hatte eine geschickte Anord­ großen Stil zu fertigen.
jeweils speziell für den roten, grünen nung verschiedener Strukturen mit Werden nun Metalinsen bald die
Linsen in Smartphonekameras und
weiteren miniaturisierten Geräten
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

ersetzen? Darauf spekuliert zumindest


Aus rund mach flach
Capassos Arbeitsgruppe, die seit 2017
klassische Linse
Eine klassische Linse bündelt mit einer ausgegründeten Firma und
Licht mittels ihrer gekrümmten mehreren Patenten eine Kommerziali­
Oberflächen (oben). Bleiben sierung vorantreibt. Ein Problem ist
nur diese stehen und entfernt allerdings derzeit noch die Winzigkeit
man die inneren Glasschichten, der Bauteile. Chens polarisations- und
ergibt sich eine viel dünnere wellenlängenunabhängiges Exemplar
Fresnel-­Linse (Mitte). Sie bricht Fresnel-Linse bringt es auf gerade einmal 26 Mikro­
das Licht ähnlich, doch die meter Durchmesser. Die Linsen in
Säge­zahn­struktur ermöglicht Nur gekrümmte Smartphones sind 100-mal größer.
keine gute Abbildung mehr. Oberflächen Auf dem Weg zu entsprechend
bleiben stehen.
In mikrosko­pischen Dimen­ dimensionierten Metalinsen gibt es
sionen lassen sich die Stufen diverse Hürden. Beispielsweise sind
durch einzelne, unterschiedlich darauf schlicht mehr Nanostrukturen
breite Nanoblöcke ersetzen Metalinse nötig. Deren Zahl wächst mit dem
(unten). Bei einer solchen »Meta­ Quadrat der Fläche, und millimeter-
linse« verzögern die Strukturen Nanostrukturen oder gar zentimetergroße Linsen
die Wellen des Lichts gerade verzögern die brauchen Milliarden von Elementen.
Wellen unter-
so, dass es in eine bestimmte Jedes muss berechnet und mittels
schiedlich stark.
Richtung gebündelt wird. Lithografie in die Oberfläche geritzt
werden. Von Capassos Team entwi­
ckelte Kompressionsalgorithmen

Spektrum der Wissenschaft  5.19 23


FORSCHUNG AKTUELL
nutzen bereits gewisse Symmetrien, ersparte das zumindest einen Teil der oder andere Weise noch kompakter
um den Prozess zu vereinfachen und Dicke und des Gewichts. Eine beson­ und leistungsfähiger machen werden.
handhabbar zu machen. dere Eigenschaft von Metalinsen Alles wird davon abhängen, wie
Ein zweites Problem ist subtiler: brächte zusätzliche Vorteile: Bei ihnen erfolgreich und massenfertigungskom­
Wellen, die von der Mitte der Linse sinkt die Brennweite tendenziell mit patibel die Wissenschaftler die Durch­
zum Fokuspunkt laufen, haben rein zunehmender Wellenlänge, das heißt, messer aus dem Bereich einiger zehn
geometrisch einen kürzeren Weg rotes Licht wird näher bei der Meta­ Mikrometer in die Millimeterdimension
dorthin als solche, die vom Rand linse gebündelt als blaues. Bei klassi­ treiben. So lange bleiben Metalinsen
kommen. Eine Lichtfront, die auf der schen Linsen ist es genau umgekehrt. eine schlagkräftige Armada, die noch
Vorderseite einfällt, erreicht den Sam­ So könnten darauf abgestimmte ihr Leuchtturmfeuer sucht. 
melpunkt dahinter also nicht gleichzei­ Nano­strukturen die typischen Farbfeh­ Mike Beckers ist Physiker und Redak­
tig, sondern in Form kleiner Pakete, bei ler einer Glaslinse gerade ausgleichen. teur bei Spektrum der Wissenschaft.
denen die Berge und Täler der Wellen Außerdem kommen beispielsweise in
nicht mehr genau übereinanderliegen. Smartphones ohnehin bereits Compu­ QUELLEN
Statt sich wieder auf die ursprüngliche terprogramme zum Einsatz, die Bilder
Chen, W. T. et al.: A broadband achro­
Intensität zu verstärken, löschen sich unmittelbar nach der Aufnahme opti­
matic polarization-insensitive metalens
einige nun gegenseitig aus. mieren. Und sind bei einer Metalinse consisting of anisotropic nanostruc­
die Abbildungsfehler im Weißlicht im tures. Nature Communications 10, 2019
Der Wald von Nanosäulen Vorhinein bekannt, lassen sie sich Chen, W. T. et al.: Broadband achroma­
will nicht wachsen wieder herausrechnen. Das haben tic metasurface-refractive optics. Nano
Um den Effekt auszugleichen, müssen Forscher von der University of Wa­ Letters 18, 2018
die Strukturen zusätzlich das Licht shington 2018 demonstriert. Colburn, S. et al.: Metasurface optics
zwischen den äußersten Bereichen bis Vieles spricht dafür, dass Metaober­ for full-color computational imaging.
zur Mitte insgesamt gerade passend flächen optische Systeme auf die eine Science Advances 4, 2018
verzögern. Das können die Wissen­
schaftler aber nur in gewissen Grenzen
über die Oberflächeneigenschaften
steuern. Der naheliegendste Weg PALÄOKLIMATOLOGIE
wäre, die Metalinsen schlicht dicker zu
machen – mehr zu durchquerendes DAS ENDE DER BRONZEZEIT
Material bedeutet eine größere mögli­
Radiokarbon- und Keramikdatierungen bestätigen zusammen mit
che Gesamtverzögerung.
archäobotanischen Analysen eine lang gehegte Vermutung: Ein
Allerdings ist es schwierig, die
­Klimawandel setzte um 1200 v. Chr. eine Kaskade in Gang, an deren
feingliedrigen Säulen immer weiter in
Ende blühende Großreiche kollabierten.
die Höhe wachsen zu lassen. Die
Physiker um Capasso erreichen mittels


Elektronenstrahllithografie 600 Nano­ Wer sich für die nahe Zukunft unse- durch ein weit gespanntes Handels­
meter. Dänische Nanowissenschaftler rer westlichen Kultur interessiert, netz miteinander verbunden. Hatten
haben 2016 mit einem neuen Verfah­ sollte vielleicht auch einen Blick in die Eliten dieses System überreizt?
ren und dem gleichen Werkstoff die ferne Vergangenheit werfen. Lösten wachsende gesellschaftliche
(Titandioxid) extrem steile, 4500 Nano­ Genauer gesagt: auf den als »3.2kaBP Spannungen zwischen Arm und Reich
meter hohe Strukturen erzeugt, deren event« bezeichneten Kollaps der Kul- womöglich Revolten aus? Welche
Breite von 90 Nanometern etwa den turen des östlichen Mittelmeerraums Rolle spielten die in altägyptischen
typischen Säulendicken auf einer um 1200 v. Chr. Eine aktuelle Studie Texten erwähnten Überfälle durch
Metalinse entspricht. Das ist an der bestätigt den Verdacht, ein dramati­ »Seevölker«, und woher kamen diese?
Grenze des Machbaren – und reicht scher Klimawandel habe maßgeblich Seit einigen Jahren mehren sich
trotzdem nicht, um in den benötigten dazu beigetragen, dass die mykeni­ allerdings auch Hinweise auf lang
Millimeterbereich vorzustoßen. schen Paläste in Flammen aufgingen andauernde Kälte und Dürre, die eine
Aber womöglich gibt es einfachere und das Großreich der Hethiter vom auf Ackerbau basierende Nahrungs­
Auswege. Analog zu üblichen, zusam­ Erdboden verschwand. Innerhalb versorgung und Wirtschaft in Schief­
mengesetzten Linsengruppen, die ihre weniger Jahrzehnte war die Bronzezeit lage bringen mussten. Insbesondere
optischen Abbildungsfehler gegensei­ Geschichte; es sollte drei »dunkle Pollenanalysen aus Bohrkernen von
tig korrigieren, ließen sich mehrere Jahrhunderte« dauern, bis die Region ehemaligen Seen sprechen eine deutli­
Metalinsen stapeln. Oder eine Meta­ erneut Hochkulturen hervorbrachte. che Sprache: Von Italien bis zum Iran,
oberfläche könnte mit einer Glaslinse Über die Ursachen des jähen Epo­ von Griechenland bis in die Levante
kombiniert werden. Im Vergleich zu chenendes haben Forscher viel speku­ regnete es viel zu wenig, und statt
herkömmlichen Linsensystemen liert. Die verschiedenen Reiche waren fruchtbarer Felder breiteten sich Step-

24 Spektrum der Wissenschaft  5.19


pen aus. Doch die präzise Datierung Ascheschicht bedeckt war. Darin Paläoökologen David Kaniewski von
dieser Befunde war bislang unklar. steckte auch ein Tongefäß, das mit der Université Paul Sabatier Tou­
Erstmals wurden nun Bodenproben verbranntem pflanzlichem Material louse III verkohlte Körner von Weizen
aus archäologisch datierten Siedlungs­ gefüllt war. Ob die Kammer beispiels­ und Hafer, deren geringe Größe einen
schichten zweier Fundstätten paläo­ weise als Zisterne oder Vorratsspei­ Wassermangel in der Wachstumspha­
klimatologisch analysiert. Damit ist cher diente, darüber lässt sich vorerst se anzeigt. In dieses Bild passen auch
sicher: Der Untergang der Hoch­kul­tu­ nur spekulieren. Olivenkerne – die Bäume sind an eine
ren und die folgende dunkle Zeit von Trockenheit geprägte Lebenswelt
ereigneten sich vor dem Hintergrund Ein hastiger Aufbruch angepasst.
14
einer 300-jährigen Dürrephase. C-Messungen und Keramikzeitreihen Ein ähnliches Bild liefert die Fund­
Auf Zypern wählten die Archäolo­ datieren sie in die Zeit von etwa 1200 stätte Tell Tweini an der heutigen
gen der belgischen Universität Gent bis 1170 v. Chr. – die Keramiken gehö­ syrischen Mittelmeerküste. Vermutlich
unter Leitung von Joachim Bretschnei­ ren in der so genannten Ägäischen ist sie mit dem in antiken Schriften
der einen küstennahen Siedlungsplatz Chronologie in die Phase »Späthella­ erwähnten Gibala identisch, einer
nahe dem heutigen Pyla aus, der disch IIIC Früh 1«. Metallhorte und die Hafenstadt im Königreich Ugarit,
offenbar ein oder zwei Generationen Ausstattung mancher Häuser der eingebunden in den Fernhandel mit
lang besiedelt war. Sie untersuchten Siedlung legen nahe, dass die Einwoh­ der Ägäis, Zypern, Ägypten, Mesopo­
einen ins Felsplateau eingehauenen ner flohen und nur das Nötigste mit­ tamien und dem Hethiterreich. Hier
Schacht (siehe Bild unten), dessen nahmen. Mit Licht- und Elektronenmi­ war es den Archäologen möglich,
Boden mit einer 30 Zentimeter dicken kroskopen entdeckte das Team des mehrere Siedlungsschichten zu unter­
suchen. Eine Ascheschicht und verein­
zelte Pfeilspitzen deuten die Forscher
Ein Schacht aus der Bronzezeit Zyperns lieferte den Forschern neue als Hinweise auf Kriege oder Unruhen,
Hinweise auf die um 1200 v. Chr. einsetzende Dürre. die 14C-Messungen und Keramiken
zufolge um 1190 v. Chr. stattfanden.
JOACHIM BRETSCHNEIDER, UNIVERSITEIT GENT

Das erinnert an den Kriegsbericht


Ramses’ III., der 1187 v. Chr. eine
Invasion der so genannten Seevölker
abgewehrt haben will. Eine zweite
Zerstörungsschicht wurde auf die
gleiche Weise in die Jahre 1050 bis
1000 v. Chr. datiert. Zu kleine Getreide­
körner und die Kerne wilder Olivenbäu­
me (Olea oleaster) im Erdreich bestäti­
gen auch hier: Es herrschte Dürre,
Ernten fielen mager aus. Ein Tontafel­
archiv, das schon in den 1960er Jahren
in der nahe gelegenen Königsstadt
Ugarit ausgegraben wurde, verzeich­
net Missernten und Hungersnöte.
Beide Fundstätten lassen sich in Be­
zug zu anderen Orten setzen, die seit
Anfang der 2000er Jahre paläoklimato­
logisch untersucht werden. Die neuen
Daten geben diesen Studien einen
verlässlichen Zeitrahmen. Demnach
erlebte der Mittelmeerraum von Italien
über den Balkanraum und die Levante
bis nach Ägypten und in den Iran
hinein ab dem Anfang des 12. Jahrhun­
derts v. Chr. eine dramatische Trocken­
phase, die 300 Jahre lang anhielt und
nur in der Levante kurz von einer
etwas feuchteren Zeit unterbrochen
wurde. Ganze Landstriche verödeten.
In einer Region, die ohnehin mit wenig
Niederschlag auskommen musste,

Spektrum der Wissenschaft  5.19 25


FORSCHUNG AKTUELL
brachten Äcker keine Frucht mehr zurück. Auch das passt vielerorts zum Harmonische Abbildungen sind
hervor, das Vieh fand keine Weiden. archäologischen Befund: Die Eisenzeit ebenfalls Lösungen bestimmter Ex­
Flüchtlinge überfielen die Nachbar­ hatte begonnen, die dunklen Jahrhun­ tremwertprobleme. Dazu kann man
staaten und drängten in deren Sied­ derte waren vorüber.  sich ein unendlich dünnes Haargummi
lungsgebiete. Das auf einem globali­ Klaus-Dieter Linsmeier ist Redakteur (quasi ein Kreis) vorstellen, das man
sierten Handel basierende Wirt­ und Koordinator Archäologie Geschich­ auf ein starres Objekt aufbringt, etwa
schaftssystem der Späten Bronzezeit te bei Spektrum der Wissenschaft. eine Kugel. Um zu testen, ob die
musste letztlich kollabieren. Positionierung des Haargummis eine
QUELLE
Das Ende dieser Dürrezeit hatten harmonische Abbildung ist, lässt man
die Forscher bereits 2009 anhand Kanieswki, D. et al.: 300-year drought es einfach los: Rollt es sich wegen
von Sedimenten aus der Umgebung frames Late Bronze Age to Early Iron seiner elastischen Spannung ab, dann
Age transition in the Near East: new
von Tell Tweini bestimmt: Im 9. oder palaeoecological data from Cyprus and
ist die Abbildung nicht harmonisch.
8. Jahrhundert v. Chr. eroberten Acker­ Syria. In: Regional Environmental Verharrt es dagegen im Gleichgewicht,
bau und Viehzucht die Levanteküste Change. Springer, 2019 hat man eine solche Abbildung gefun­
den. Anschaulich gesehen sucht man
also nach einer Form, die das kleinste

MATHEMATIK
elastische Potenzial hat. Mathematiker
sagen, dass in diesem Fall die »Dirich­

ABELPREIS FÜR
let-Energie« minimal ist.
Auf einer Kugel wird das Haargum­

KAREN UHLENBECK
mi immer einen Kreis beschreiben, der
sich, wenn man ihn leicht anstupst, zu
einem Punkt zusammenzieht. Deshalb
Als erste Frau erhält sie die nobelpreisähnliche Auszeichnung. gibt es genau eine harmonische Abbil­
In ihren bahnbrechenden Arbeiten vereinte sie die Geometrie dung auf ihr. Betrachtet man statt
mit der Analysis und erschloss damit ein neues mathemati- einer Kugel aber eine kompliziertere
sches Gebiet. Oberfläche mit Löchern, wird es
schwieriger. Man kann das Haargum­


Karen Uhlenbecks Leistungen nämlich vor jeder Art von Beruf zu­ mi beispielsweise um das Loch eines
haben »zu einigen der drama­ rück, in der man viel mit Menschen zu Donuts wickeln: Dann kann es sich
tischsten Fortschritte in der tun hat. nicht mehr zu einem Punkt zusam­
Mathematik der letzten 40 Jahre Mitte der 1960er Jahre begann sie menziehen, ohne die Oberfläche zu
geführt«, hieß es bei der Verleihung ihre Doktorarbeit an der Brandeis verlassen – stattdessen wird es dem
des Abelpreises 2019, der als mathe­ University in Massachusetts, wo sie kürzesten Weg um das Loch folgen.
matisches Äquivalent des Nobelprei­ Richard Palais als ihren Betreuer
ses gilt. Damit würdigte die Norwegi­ wählte. Zu dieser Zeit hatte Palais Haargummi trifft Donut
sche Akademie der Wissenschaften zusammen mit Stephen Smale, der Zudem können harmonische Abbildun­
das Lebenswerk der Forscherin, die kurz darauf die Fields-Medaille erhielt, gen mehr als eine Dimension haben.
eine ganze Generation von Mathemati­ gerade große Fortschritte bei der In diesen Fällen werden sie nicht mehr
kern prägte. Erforschung so genannter harmoni­ von Haargummis, sondern anderen
Uhlenbeck kam 1942 in Cleveland scher Abbildungen gemacht. Diese verformbaren Objekten beschrieben.
zur Welt. Ihr Interesse an Mathematik gehen auf das jahrhundertealte Feld Man kann etwa eine Abbildung su­
entdeckte die wissbegierige Vielleserin der Variationsrechnung zurück. Dabei chen, die einen elastischen Ball um
erst bei einer Einführungsveranstal­ sucht man nach Formen, die Extrem­ einen dreidimensionalen Raum stülpt.
tung an der University of Michigan: wertprobleme lösen. In solchen Situa­tionen ist es häufig
»Die Struktur, Eleganz und Schönheit Eines der berühmtesten Beispiele schwer, alle möglichen harmonischen
der Mathematik hat mich sofort in dafür ist das 1696 von Johann Bernoul­ Abbildungen zu finden, weil ein phy­
ihren Bann gezogen, und ich habe li aufgeworfene »Brachistochronen«- sikalisches Modell fehlt, aus dem man
mein Herz an sie verloren«, erzählt sie Problem: Entlang welcher Kurve rollt erkennt, wie sich die gummiartige
2009 in dem Buch »Mathematicians: eine Kugel am schnellsten von einem Figur verhalten wird: Ist sie im Gleich­
An outer view of the inner world« von Punkt zum anderen? Auch außerhalb gewicht, oder wird sie sich abrollen?
Mariana Ruth Cook. Zudem bot die der Mathematik entpuppen sich Daher entwickelten Mathematiker
mathematische Forschung aus ihrer solche Aufgaben als überaus wichtig. eine Methode, um harmonische Lö­
Sicht einen weiteren Vorteil: Man hat In der Physik lassen sich beispielswei­ sungen zu konstruieren: Zuerst startet
die Möglichkeit, völlig allein an einem se die Bahnkurven von Teilchen durch man mit einer beliebigen Abbildung,
Projekt zu arbeiten. In jungen Jahren Formeln beschreiben, die eine gewisse die dann nach und nach so verändert
schreckte die Wissenschaftlerin Energiegleichung minimieren. wird, dass die gummiartige Form in

26 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Als Uhlenbeck Mitte der 1970er
Jahre Professorin an der University of
Illinois in Urbana-Champaign war,
widmete sie sich dieser Frage. In ihren
fünf Jahren dort war sie nicht beson­
ANDREA KANE/INSTITUTE FOR ADVANCED STUDY

ders glücklich. Da sie und ihr Mann


gleichzeitig einen Posten an der Uni­
versität antraten, hatte sie das Gefühl,
in erster Linie als »Frau des Profes­
sors« gesehen zu werden. Doch in
dieser Zeit begegnete sie auch dem
damaligen Postdoc Jonathan Sacks,
Karen Uhlenbecks Forschung prägte Dirichlet-Energie, das ein Haargummi mit dem sie wichtige wissenschaftli­
nicht nur die Mathematik, sie brachte über einer starren Oberfläche be­ che Erfolge erzielen sollte.
auch große Fortschritte in der Physik. schreibt, erfüllt diese Palais-Smale-Be­ Da man harmonische Abbildungen
dingung. Das heißt, man kann durch zweidimensionaler gummiartiger
wiederholtes Verformen immer einen Oberflächen nicht über wiederholte
jedem Schritt weniger elastische Gleichgewichtszustand finden. Wenn Verformungen finden kann, überlegten
Spannung hat. die gummiartige Form aber höher­ sich Uhlenbeck und Sacks einen
1964 fanden Palais und Smale dimensional ist, etwa eine Kugel, dann Umweg. Anstatt die Dirichlet-Energie
jedoch heraus, dass der wiederholte kann die Palais-Smale-Bedingung direkt zu betrachten, konzentrierten sie
Verformungsprozess nur dann zu verletzt sein. Die allmähliche Verände­ sich auf eine Folge anderer Energie­
einem Gleichgewichtszustand führt, rung einer Abbildung führt daher nicht gleichungen, welche die Palais-Smale-
wenn die betreffende Energieglei­ immer zu einer harmonischen Lösung. Bedingung erfüllen, sich dabei aber
chung eine gewisse Bedingung erfüllt. Damals verstand allerdings niemand, der Dirichlet-Energie immer weiter
Das eindimensionale Problem der was in solchen Fällen schiefläuft. nähern. Uhlenbeck und Sacks fragten

Reisetermine des Verlags


Spektrum der Wissenschaft

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Infos und Anmeldung:

Spektrum.de/live

Spektrum der Wissenschaft  5.19 27


FORSCHUNG AKTUELL

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF


Verformt man nach und nach eine zweidimensionale elastische Form, um Energie nähern. Erreicht man schließ­
eine bestimmte Energiegleichung zu minimieren, können sich an manchen lich die Dirichlet-Energie, würde die
Stellen Blasen bilden (links). Je näher diese Energiegleichung an die Dirichlet- Blase nur noch aus einem einzigen
Energie rückt, desto dünner wird das Material um die Blase (Mitte), sie steht Punkt bestehen: An dieser Stelle lässt
dann unter starker Spannung. An der Dirichlet-Energie selbst (rechts) besteht sich die Abbildung nicht mehr definie­
die Blase nur noch aus einem Punkt (schwarz) – an dieser Stelle ist die mini- ren, es entsteht eine so genannte
mierende Abbildung nicht definiert. Singularität.
Glücklicherweise können nicht
beliebig viele dieser Blasen auftau­
sich, ob die Abbildungen, welche die bilden sie an manchen Stellen eine chen. Ihre Anzahl hängt von dem
Energiegleichungen minimieren, seltsame Art Blase, an der die elasti­ Raum ab, um den man die zweidimen­
irgendwann zu einer harmonischen sche Spannung groß ist und die daher sionale gummiartige Form stülpt. Die
Abbildung konvergieren, wenn die nicht dem Gleichgewichtszustand Blasen können nämlich nur um ein
entsprechenden Energiegleichungen entspricht. Loch herum entstehen. Und da jeder
immer näher an die Dirichlet-Energie Die Blasen ähneln denjenigen, die Raum eine begrenzte Anzahl an Lö­
heranrücken. man mit einem Kaugummi erzeugen chern hat, ist dadurch auch die Zahl
Anfang der 1980er Jahre konnten kann. Zieht man allmählich immer der Blasen endlich.
Uhlenbeck und Sacks zeigen, dass die mehr von dem Kaugummi zurück in
Antwort auf die Frage »fast« lautet. Die den Mund, während man die Blase auf Von der Mathematik zur Physik
Abbildungen der Energiegleichungen, gleicher Größe hält, wird das Material An der Anzahl der Löcher eines Raums
welche die Form der gummiartigen um die Blase immer dünner. Unter der sind insbesondere Topologen interes­
Oberfläche beschreiben, konvergieren Annahme, dass der Kaugummi belie­ siert, die Formen ungeachtet ihrer geo­
an beinahe jedem Punkt zu einer big dehnbar ist, bleibt sie aber beste­ metrischen Details kategorisieren. Für
harmonischen Abbildung. Allerdings hen. Irgendwann wird man jedoch den sie sind beispielsweise eine Tasse und
gesamten Kaugummi im Mund haben, ein Donut gleich, da beide jeweils ein
so dass die Blase platzt. Etwas Ähnli­ Loch haben. Durch ihre Arbeit haben
Platziert man ein Haargummi (rot) ches passiert mit den Abbildungen der Uhlenbeck und Sacks also harmoni­
um das Loch eines Torus (blau), Energiegleichungen auf dem Weg zur sche Abbildungen, die aus der Analy­
kann es sich nicht mehr zu einem Dirichlet-Energie. sis stammen, mit der Topologie und
Punkt zusammenziehen, ohne den Sacks und Uhlenbeck wiesen nach, der Geometrie verbunden, woraus ein
Torus zu verlassen. Den Zustand dass die Blasen der gummiartigen neuer mathematischer Bereich ent­
geringster elastischer Spannung Formen immer kleinere Bereiche der stand: die moderne »geometrische
(orange) erreicht es, wenn es dem Oberfläche enthalten, während sich Analysis«.
kürzesten Weg um das Loch folgt. die Energiegleichungen der Dirichlet- Nach ihrer Entdeckung tauchten die
seltsamen Blasen plötzlich in vielen
verschiedenen Gebieten der Mathema­
tik und der Physik auf. Das führte
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

Uhlenbeck in den frühen 1980er Jah­


ren zur Eichtheorie. Dieser Ansatz, der
dem Elektromagnetismus entsprang,
bildet inzwischen die mathematische
Grundlage vieler physikalischer Theori­
en, darunter des Standardmodells der
Teilchenphysik. In der Eichtheorie geht
es – wie bei harmonischen Abbildun­
gen auch – darum, Objekte zu finden,

28 Spektrum der Wissenschaft  5.19


die eine Energiegleichung minimieren. Nun ging der Abelpreis erstmals in Erica Klarreich hat in Mathematik
Im Elektromagnetismus sind solche seiner 17-jährigen Geschichte an eine promoviert und ist Wissenschaftsjour­
nalistin in Berkeley (Kalifornien). 
Objekte Lösungen der berühmten Frau. Die Rolle der Pionierin hat Uhlen­
Maxwell-Gleichungen, in allgemeinen beck nicht zum ersten Mal inne. 1990
QUELLEN
Eichtheorien erfüllen sie die kom­ war sie etwa nach Emmy Noether die
plizierten so genannten Yang-Mills- zweite Frau, die jemals einen Plenar­ Palais, R. S., Smale, S.: A generalized
Gleichungen. vortrag auf dem Internationalen Kon­ Morse theory. Bulletin of the American
Mathematical Society 70, 1964
In diesem Zusammenhang konnte gress der Mathematiker hielt. Damit
Uhlenbeck ihren berühmten Satz der beendete sie eine 58 Jahre andauern­ Sacks, J., Uhlenbeck, K.: Minimal
»hebbaren Singularitäten« beweisen. de Durststrecke der männerdominier­ immersions of closed Riemann surfaces.
Transactions of the American Mathema­
Er besagt, dass vierdimensionale ten Veranstaltung. Mit der Zeit wurde tical Society 271, 1982
gummiartige Formen keine Blasen um sie zu einer inspirierenden Figur für
isolierte Punkte herum bilden können. eine ganze Generation von Mathemati­ Uhlenbeck, K.: Removable singularities
in Yang-Mills fields. Communications in
Hat man also eine endliche Lösung der kerinnen und Mathematikern. Mathematical Physics 83, 1982
Yang-Mills-Gleichungen in der Umge­ Ab Anfang der 1990er Jahre leitete
bung eines Punkts gefunden, dann sie mit anderen ein Mentorenpro­
lässt sich die Lösung auch problemlos gramm für Frauen in der Mathematik Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetz­
auf den Punkt selbst erweitern, ohne am Institute for Advanced Study in te und redigierte Fassung des Artikels
»Karen Uhlenbeck, Uniter of Geometry and
störende Singularität. Diese Erkennt­ Princeton, New Jersey. »Vorbild zu
Analysis, Wins Abel Prize« aus »Quanta
nisse »untermauern die meisten späte­ sein, ist eine Herausforderung«, Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen
ren Veröffentlichungen der mathemati­ schrieb sie 1996, »denn man muss den Magazin der Simons Foundation, die sich
schen Eichtheorie«, sagt Simon Do­ Studenten zeigen, wie unvollkommen die Verbreitung von Forschungsergebnissen
naldson vom Imperial College London, ein Mensch sein kann und dabei aus Mathematik und den Naturwissenschaf­
ten zum Ziel gesetzt hat.
der 1986 eine Fields-Medaille für seine dennoch erfolgreich. Ich bin vielleicht
Ergebnisse erhielt, die auf Uhlenbecks eine gute Mathematikerin, aber ich bin
Arbeiten aufbauen. auch sehr menschlich.« 

WISSENSCHAFTSFÖRDERUNG
TEURES SYSTEMVERSAGEN
Die Art und Weise, wie wir Fördergelder vergeben, ist verschwenderisch
und behindert den Fortschritt. Die zehn größten Fehlentwicklungen und
mögliche Lösungen: Ein Meinungsbeitrag.


Jahr für Jahr fließen weltweit anderen Wissenschaftsbereichen sieht Mögliche Lösungen:
mehr als zwei Billionen Dollar in es ähnlich aus. Unser System der  Fördermittelvergabe per Los. Objek­
die Forschung und Entwicklung, finanziellen Förderung versagt gleich tiv mangelhafte Anträge könnte man
und Jahr für Jahr erscheinen mehrere in mehreren Punkten – doch es gibt vorher mittels einer Prüfmethode
Millionen Fachartikel. Können wir uns mögliche Lösungen dafür. aussieben, die sich freilich auf grund­
also beruhigt zurücklehnen und uns legende Dinge konzentrieren sollte.
am wissenschaftlichen Fortschritt
erfreuen? Die Hinweise mehren sich,
dass die Art und Weise, wie wir
1  Wir fördern zu wenige
Wissenschaftler
Der Großteil der Mittel konzentriert
Ein Losverfahren würde das mühsame
und teure Prüfen der Anträge ersparen
und deutlich mehr Forschern die
Forschung betreiben, evaluieren und sich momentan auf nur wenige For­ Chance auf Förderung geben.
in der Öffentlichkeit kommunizieren, scher. Es gibt aber viele talentierte  Festsetzen einer Obergrenze für die
erschreckend wenig effektiv sind. Wissenschaftler(innen), deren berufli­ Beträge, die einzelnen Personen
Eine Artikelserie beispielsweise, die cher Erfolg sowohl von harter Arbeit zukommen können. Der Vorschlag
im Jahr 2014 in der Fachzeitschrift als auch von glücklichen Fügungen kursiert schon seit Längerem, doch
»Lancet« erschien, kam zu dem abhängt. Jene, die zurzeit in den renommierte Wissenschaftsinstitutio­
Ergebnis, dass rund 85 Prozent der in Genuss üppiger Fördermittel kommen, nen, die stark von der Konzentration
die biomedizinische Forschung inves­ sind nicht unbedingt die produktivsten finanzieller Mittel profitieren, sind
tierten Gelder weitgehend nutzlos Genies, sondern oft nur besonders gut erfolgreich dagegen vorgegangen.
verschwendet werden. In vielen vernetzt. Eine Umschichtung der Fördermittel

Spektrum der Wissenschaft  5.19 29


FORSCHUNG AKTUELL
von älteren auf jüngere Forscher, wir Gefahr, die Fachzeitschriften mit nicht von staatlichen Institutionen,
zumal innerhalb desselben Labors, Fehlinformationen zu überfluten, die sondern aus privaten, gewinnorien­
würde diese Institutionen nicht be­ niemals korrigiert werden. tierten Quellen, was unausweichlich
nachteiligen, aber leitende Wissen­ zu Interessenkonflikten führt. In
schaftler aufgeschlossener gegenüber Mögliche Lösungen: klinischen Studien etwa, die von der
Innovationen machen.  Fördermittelgeber unterstützen auch Pharmaindustrie gesponsert werden,
die Reproduktion von Studien. besteht eine um 27 Prozent höhere

2  Wir belohnen
Transparenz nicht
Versuchsabläufe, Analysemethoden,
­ Die finanzielle Unterstützung von
Wissenschaftlern unter anderem da­-
ran festmachen, inwieweit sie Experi­
Wahrscheinlichkeit, zu für den Geld­
geber günstigen Ergebnissen zu
kommen, als bei öffentlich geförder­
Datenverarbeitung und leider auch die mente anderer nachvollzogen haben ten Studien. In vielen Bereichen hat
Daten selbst sind häufig undurchsich­ beziehungsweise ihre eigenen Ergeb­ sich die Offenlegung von Interessen­
tig. Viel zu oft stellen Wissenschaftler nisse von Kollegen reproduziert wer­ konflikten zwar verbessert, aber
fest, dass sich Aufsehen erregende den konnten. investigative Untersuchungen deuten
Ergebnisse von Kollegen nicht repro­ darauf hin, dass hier noch sehr viel zu
duzieren lassen. Das trifft in der Psy­
chologie auf zwei von drei vermeintli­
chen Top-Veröffentlichungen zu, in der
4  Wir fördern kaum
junge Wissenschaftler
Im biomedizinischen Bereich sind
tun bleibt.

Mögliche Lösungen:
experimentellen Wirtschaftsforschung Wissenschaftler durchschnittlich 46 ­ Die Förderung von Projekten ein­
auf eine von drei und in der Krebsfor­ Jahre alt, wenn sie das erste Mal in schränken oder verbieten, bei denen
schung sogar auf drei von vier. Der den Genuss substanzieller Fördermit­ offensichtlich Interessenkonflikte
wichtigste Grund dafür lautet, dass tel kommen – Tendenz steigend. Das bestehen. Fachzeitschriften sollten
Wissenschaftler weder für Transpa­ mittlere Alter ordentlicher Professoren keine Arbeiten annehmen, die
renz noch für das Teilen von Arbeits­ in den USA liegt bei 55 und wächst ­solchen Konflikten unterliegen.
techniken oder Software belohnt kontinuierlich an. Von den Fördermit­  Bei weniger eindeutigen Interessen­
werden. Im Gegenteil: Derlei Bemü­ teln der National Institutes of Health konflikten zumindest Transparenz und
hungen um gute wissenschaftliche (NIH) in den USA gingen im Jahr 2014 gründliche Offenlegung sicherstellen.
Praxis sind mit handfesten Nachteilen weniger als zwei Prozent an For­
verbunden. Denn angesichts der
Konkurrenz fragen sich viele Forscher,
warum sie ihren Mitbewerbern wert­
schungsgruppenleiter unter 36 Jahren,
während nahezu zehn Prozent an
66-Jährige und Ältere gingen. In
6  Wir fördern die
falschen Disziplinen
Manche Forschungsgebiete sind
volles Rüstzeug liefern oder kostbare anderen Wissenschaftsdisziplinen ist erfolgreicher als andere darin, Res­
Daten mit ihnen teilen sollten. die Situation ähnlich, und sie lässt sich sourcen an sich zu ziehen. Üppig
nicht einfach mit der gestiegenen finanzierte Disziplinen locken mehr
Mögliche Lösungen: Lebenserwartung erklären. Werner Forscher an, was ihrer Lobbyarbeit
­  Ein geeignetes Umfeld schaffen, um
 Heisenberg, Albert Einstein, Paul Dirac ein größeres Gewicht verleiht, wor­
Transparenz, Offenheit und das Teilen und Wolfgang Pauli waren Mitte 20, aufhin sie wiederum mehr Mittel
von Arbeitstechniken oder Software als sie ihre bedeutenden Arbeiten ver- einwerben können und so weiter – ein
zu fördern. öffentlichten. Man stelle sich vor, sie Teufelskreis. Einige Fachbereiche
­ Transparenz zu einer notwendigen hätten damals gesagt bekommen, auf absorbieren auf diese Weise enorme
Voraussetzung machen, um Förder­ eine Förderung müssten sie noch 25 Fördergelder, obwohl ihre Produktivi­
mittel zu erhalten. Jahre warten. Für nicht wenige könnte tät gering ist oder ihr Nutzen zweifel­
­ Bevorzugt solche Forscher beschäfti­ die Konsequenz daraus sein, sich aus haft. Weiterhin in solche Bereiche zu
gen, fördern oder für eine Zusammen­ der Forschung zu verabschieden. investieren, ist unsinnig.
arbeit auswählen, die für Transparenz
einstehen. Mögliche Lösungen: Mögliche Lösungen:
­ Einen größeren Anteil der Förder­ ­ Großzügig finanzierte Disziplinen

3  Wir ermutigen nicht dazu,


Ergebnisse zu reproduzieren
Unter dem ständigen Druck, neue
mittel jungen Forschern zukommen
lassen.
­ An Universitäten mehr jüngere
unabhängig und überparteilich be­
werten lassen und dabei besonders
ihren fachlichen Ertrag unter die Lupe
Resultate zu liefern, zeigen Forscher Forscher einstellen und so das Durch­ nehmen.
oft wenig Interesse daran, jene frühe­ schnittsalter in den Fakultäten senken. ­ Mehr Mittel für innovative und
rer Untersuchungen zu reproduzieren. risikoreiche Forschung bereitstellen.
Dabei gehört die unabhängige Be­
stätigung eines Experiments zum Kern
wissenschaftlicher Arbeit. Ohne
5  Wir stützen uns auf vorein-
genommene Mittelgeber
In den USA stammen die meisten
­ Wissenschaftler dazu ermutigen,
das Arbeitsgebiet zu wechseln, falls
triftige Gründe dafür sprechen. Der­
Bemühungen in diese Richtung laufen Gelder für Forschung und Entwicklung zeit wird die Fokussierung auf ein eng

30 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Bewegende Geschichte,
spannende Zukunft.

Geschichte, echt spannend. Neugierig auf morgen.

Jetzt im Handel.
FORSCHUNG AKTUELL
begrenztes Gebiet belohnt, was zur Mögliche Lösungen: Mögliche Lösungen:
massenhaften Entstehung von »Fach­ ­ Wissenschaftler vor allem für ­ Förderung von exzellenten Wissen­
idioten« führt. hochwertige Arbeiten, Reproduzier­ schaftlern statt von Projekten. For­
barkeit ihrer Ergebnisse und gesell­ scher sollten die Freiheit haben, ihre

7  Wir geben nicht genug


Fördermittel aus
In vielen Ländern stagniert die Förde­
schaftliche Relevanz ihrer Forschung
belohnen – weniger jedoch für das
Organisieren von finanzieller Unter­
Ansätze nach eigenem Ermessen zu
verfolgen. Institutionen wie das
Howard Hughes Medical Institute
rung durch die öffentliche Hand stützung. setzen das bereits mit Erfolg um.
und steht in zunehmender Konkurrenz ­ Den Wert von Forschungsprojek­ ­ Der Öffentlichkeit und Entschei­
zu anderen Budgetposten. In den ten nicht nur an ihren Kosten be­ dungsträgern klarmachen, dass
USA beispielsweise sind die Militär­ messen. Spitzenforschung ist oft Wissenschaft eine kumulative Inves­
ausgaben mit rund 900 Milliarden auch mit geringen finanziellen Mit­ tition ist. Von 1000 Projekten können
Dollar gut 24-mal so hoch wie das teln möglich, erfordert allerdings 999 fehlschlagen, und wir können
Budget der NIH, das lediglich 37 in jedem Fall Zeit. Institutionen nicht vorher wissen, welches sich als
Milliarden Dollar umfasst. Der ge­ sollten diese Zeit zur Verfügung erfolgreich erweist. Der Erfolg be­
schätzte Wert eines einzelnen Fußball­ stellen und solche Wissenschaftler misst sich an der Gesamtagenda,
vereins wie Manchester United honorieren, die hervorragende nicht an einzelnen Experimenten
(4,1 Milliarden Dollar) liegt über dem Arbeit leisten, ohne haufenweise oder Ergebnissen.
jährlichen Forschungsbudget selbst Geld zu verbrennen.
der renommiertesten Universitäten.
Dabei kommen Investi­tionen in die
Wissenschaft der ganzen Gesellschaft 9  Wir finanzieren keine
riskante Forschung
10  Wir haben zu wenig
belastbare Daten
Es gibt nur wenige wissenschaftliche
zugute. Leider erweisen Wissen­ Gutachtergremien, selbst wenn sie Erkenntnisse darüber, welche wis­
schafts­repräsentanten ihrer ­Sache sich aus exzellenten Wissenschaft­ senschaftliche Praxis die beste ist.
häufig einen Bärendienst, wenn sie die lern zusammensetzen, reagieren Wir brauchen mehr Forschung über
Öffentlichkeit zu überzeugen versu­ allergisch auf Ideen, die ein hohes die Forschung (»Meta-Forschung«),
chen und dabei Unmögliches wie den Risiko des Scheiterns bergen. Der etwa in Form der Szientometrie, der
baldigen Sieg über Krebs- oder Druck, Steuergelder sinnvoll auszu­ Lehre vom Messen der Wissenschaf­
­Alzheimererkrankungen versprechen. geben, bringt staatliche Fördermittel­ ten. Sie soll uns herausfinden helfen,
geber dazu, eher solche Projekte zu wie man Wissenschaft am besten
Mögliche Lösungen: unterstützen, die sehr wahrscheinlich betreibt, bewertet, überprüft, fördert
­ Klarer kommunizieren, wie Förder­ positive Ergebnisse liefern werden – und kommuniziert.
mittel eingesetzt werden. Den Prozess auch wenn die riskanteren Konkur­
des wissenschaftlichen Erkenntnisge­ renzvorhaben zu deutlich wichtige­ Mögliche Lösung:
winns besser erklären und deutlicher ren Durchbrüchen führen könnten. I­n Untersuchungen investieren, die
machen, wie viel Arbeit es erfordert, Industrieunternehmen vermeiden es sich damit befassen, wie man Wis­
wichtige Durchbrüche zu erzielen. ebenfalls, risikoreiche Arbeiten zu senschaft am besten praktiziert und
Universitäten, Museen und Wissen­ finanzieren, und beobachten statt­ wie man die klügsten Köpfe auswählt
schaftsjournalisten können hieran dessen, wie sich Start-ups an fri­ und fördert. Ohne empirische Daten
mitwirken. schen Ideen abarbeiten (wobei diese hierzu sollten wir keiner Meinung
­ Deutlicher machen, wie hart Wissen­ oft scheitern). Neun der zehn größten vertrauen – auch nicht meiner eige­
schaftler daran arbeiten, Methoden Pharmaunternehmen geben mehr für nen, die ich hier dargestellt habe. 
und Abläufe zu verbessern. Werbekampagnen als für Forschung
und Entwicklung aus. Öffentliche

8  Wir belohnen
große Verschwender
Gute Karrierechancen bieten sich vor
Fördermittelgeber behaupten oft, sie
würden »Innovationen« unterstützen.
Das ist Unsinn, denn Innovationen im
John P. A. Ioannidis ist Professor an
der Stanford University und dort in
den Bereichen Medizin, Gesundheits­
allem solchen Wissenschaftlern, die in Voraus als solche zu erkennen, ist forschung und -politik, biomedizini­
der Lage sind, umfangreiche Förder­ extrem schwierig bis unmöglich. sche Daten und Statistik tätig. Er ist
Vizedirektor am Meta-Forschungs­
mittel einzuwerben. Aber die Kosten Eine Idee, die der Überprüfung von zentrum METRICS (Meta-Research
eines Projekts korrelieren nicht not­ 20 Gutachtern standhält (so viele Innovation Center at Stanford). Ioanni­
wendigerweise mit seiner Bedeutung. sind bei den NIH typischerweise dis wurde vor allem durch seine
Unser Belohnungs- und Auswahlsys­ beteiligt), ist selten innovativ oder gar Methodenkritik bekannt; 2005 veröf­
tem begünstigt insbesondere politisch revolutionär. Auf allgemeine Akzep­ fentlichte er den viel beachteten
Fachartikel »Why Most Published
gewiefte Manager-Persönlichkeiten, tanz stößt in der Regel das, was im Research Findings Are False« (Warum
die wissen, wie sie Mittel an sich Mainstream liegt oder schlicht die meisten publizierten Forschungs­
ziehen können. mittelmäßig ist. ergebnisse falsch sind).

32 Spektrum der Wissenschaft  5.19


SPRINGERS EINWÜRFE
DIE ALLZU KÜNSTLICHE
INTELLIGENZ
Maschinelles Lernen verbucht verblüffende Resultate.
Doch um weiterzukommen, müssen die neuronalen
Netze noch einmal bei unserem Gehirn in die Lehre gehen.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1634778

D
ie Erfolge der künstlichen Intelligenz (KI) sind Das Ziel solcher Überlegungen hat schon einen
atemberaubend: Neuronale Netze können lernen, Namen: artificial general intelligence (AGI). Einen
Sprachmuster zu erkennen, Objekte vom Hinter­ interessanten, geradezu philosophischen Aspekt disku­
grund zu unterscheiden, Apparate durch unüber­ tiert der israelische Informatiker und Kognitionsforscher
sichtliches Gelände zu steuern, experimentelle Daten zu Shimon Ullman vom Weizmann Institute of Science in
analysieren und Menschen beim Pokern zu schlagen. Rehovot (Science 363, S. 692–693, 2019).
Das erstaunt umso mehr, als die KI vorläufig nur die Philosophen fragen seit jeher, ob unser Erkenntnis­
primitivsten Anleihen bei der Informationsverarbeitung apparat eher einem leeren Blatt gleicht, auf dem sich
des Gehirns nimmt. Künstliche neuronale Netze beste­ Erfahrungen ansammeln, oder ob der menschliche
hen aus einigen wenigen Schichten, in denen Daten­ Verstand bereits mit einer Vorprägung zur Welt kommt.
kanäle mit variabler Signalstärke in Knoten zusammen­ Dieser alte Streit zwischen Empiristen und Rationalis­
laufen. Obwohl derartige Systeme damit bloß stark ten wurde wieder aktuell, als der Linguist Noam
vereinfachte Modelle von natürlichen Nervenzellen und Chomsky behauptete, ein Kind könne unmöglich die
Synapsen darstellen, sind sie zu jenen Leistungen fähig, komplexe Struktur seiner Muttersprache aus Beispiel­
die ihnen schon heutzutage den Anschein von einiger­ sätzen erlernen; der Spracherwerb setze eine angebo­
maßen intelligentem Verhalten verleihen. rene »Tiefengrammatik« voraus.
Strukturell lassen sich die künstlichen Netze noch

W
am ehesten mit den primären Verarbeitungsebenen ie Ullman hervorhebt, entspricht die KI
eines tierischen Sehsystems vergleichen. Ihre Komple­ derzeit einem rein empiristischen Modell:
xität wird von höheren, zu kognitiven Leistungen Das neuronale Netz ist eine Tabula rasa,
fähigen Hirnarealen weit in den Schatten gestellt. Das die erst durch den Dateninput konditioniert
betrifft vor allem den Grad der Vernetzung: Natürliche wird. Hingegen funktioniert unser Wahrnehmungsap­
Nervenzellen einer bestimmten Verarbeitungsebene parat offensichtlich nicht voraussetzungslos. Er bedient
stehen nicht bloß auf- und abwärts mit den nächst­ sich anscheinend angeborener »Proto-Konzepte«, um
höheren und -tieferen Niveaus in Verbindung, sondern beispielsweise aus dem Zusammenspiel von Auge und
sind zudem horizontal, das heißt auf der eigenen Ebene Hand auf die Eigenschaften von Objekten zu schließen.
vielfach verknüpft – anders als die meisten künstlichen Ullman spekuliert nun, dass eine künftige künstliche
Netze. Außerdem reichen die vertikalen Kontakte bei allgemeine Intelligenz, die den Namen wirklich ver­
höheren Tieren weit über die nächstliegenden Organi­ dient, auf passend vorgeformten Netzen beruhen sollte.
sationsebenen hinaus. In unserem Gehirn erstrecken Deren Binnenstrukturen könnten autonom entstehen,
sich die Nervenbahnen, die mit bewusstem Wahrneh­ indem Netze das einmal Gelernte an andere Netzgene­
men oder Sprache assoziiert sind, über ganze Areale. rationen weiterreichen, so wie Kinder mit Hilfe eines
Was würden artifizielle Netze leisten, wenn sie sich durch Evolution und kulturelle Vererbung geprägten
derart reichhaltige Hirnstrukturen zum Vorbild nähmen? Denk­apparats flink ihre Erfahrungen sammeln. In den
Könnten sie dann auf die Frage nach dem Inhalt eines Grundzügen klingt das viel versprechend – falls sich
Bilds umgangssprachlich antworten? Würden sie den das Design eines solchen Systems in den Details nicht
Doppelsinn von Witzen und sarkastischen Bemerkun­ als ebenso verzwickt entpuppen wird wie der Versuch,
gen verstehen? unser Gehirn in seinen Einzelheiten zu verstehen.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 33


MORAL
DIE GEBURT
DES »WIR«
Die Wurzeln der menschlichen Moral liegen in der gemein­
samen Jagd, die Kooperation und Teamgeist förderte.
JACOBS FOUNDATION

Michael Tomasello ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaft an der


Duke University in Durham (USA) und emeritierter Direktor des Max-Planck-­
Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Hier leitete er bis 2018 die
Abteilung für vergleichende und Entwicklungspsychologie sowie das Wolfgang-
Köhler-Primatenforschungszentrum.

 spektrum.de/artikel/1634750


»Survival of the fittest«, der am besten Angepasste dafür war die Erkenntnis, dass Menschen in einer sozialen
überlebt – so lautet eine Grundregel der Evolution. Gruppe, in der jeder auf jeden zum Überleben und Wohler-
Aber wie konnte sich dann der Mensch zu einem mora- gehen angewiesen ist, nach einer ganz besonderen Prämis-
lischen Wesen entwickeln? Wenn es nur darum geht, den se handeln. In dieser Logik der gegenseitigen Abhängigkeit
eigenen Gewinn zu maximieren, warum entstand über- gilt das Prinzip: Wenn ich dich brauche, liegt es in meinem
haupt unser Sinn für Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft? Interesse, für dein Wohlergehen zu sorgen. Oder allgemei-
Auf diese Fragen gibt es traditionell zwei Antworten. ner gesagt: Wenn wir alle aufeinander angewiesen sind,
Erstens erscheint es für den Einzelnen sinnvoll, seinen müssen wir uns auch alle umeinander kümmern.
Verwandten zu helfen, mit denen er seine Gene teilt – For- Wie kam es in der Evolution des Menschen dazu? Die
scher sprechen hier von Verwandtenselektion. Zweitens gilt Antwort findet sich in den besonderen Umständen, die
das Prinzip der Gegenseitigkeit: Eine Hand wäscht die Individuen zu immer mehr Kooperation zwangen – insbe-
NO_LIMIT_PICTURES / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

andere, und auf lange Sicht profitieren beide davon. sondere bei der Beschaffung von Nahrung und anderer
Aber Moral besteht nicht nur darin, nett zu Verwandten grundlegender Ressourcen.
zu sein, wie das Bienen oder Ameisen tun. Und Gegensei- Schimpansen und Bonobos, unsere engsten heute noch
tigkeit kann riskant werden, wenn der eine profitiert, sich lebenden Verwandten, suchen gemeinsam in kleinen
aber dann aus dem Staub macht und den anderen im Gruppen nach Früchten und Pflanzen. Aber sobald sie
Regen stehen lässt. Außerdem dringt keine dieser traditio- fündig werden, frisst jedes Tier für sich allein. Konflikte
nellen Erklärungen zum Kern der menschlichen Moral vor: werden durch Dominanz gelöst: Der beste Kämpfer ge-
zum Pflichtbewusstsein gegenüber unseren Mitmenschen. winnt. Ein Sinn für Gemeinsamkeit scheint sich immerhin
In letzter Zeit rückte für die Frage nach der Moral eine abzuzeichnen, wenn mehrere Schimpansenmännchen
neue Betrachtungsweise in den Vordergrund. Entscheidend einen Kleinaffen umzingeln und fangen. Dieses Jagdverhal-

34 Spektrum der Wissenschaft  5.19


SERIE
Was ist der Mensch?

Teil 1: Januar 2019 Teil 4: April 2019


Ein einzigartiges Wesen Die Letzte ihrer Gattung
NO_LIMIT_PICTURES / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Kevin Laland Kate Wong


Schlaue Köpfe Unterschiedlich verdrahtet
Thomas Suddendorf Chet C. Sherwood

Teil 2: Februar 2019 Teil 5: Mai 2019


Das schwierigste Problem Die Geburt des »Wir«
Susan Blackmore Michael Tomasello

Teil 3: März 2019 Teil 6: Juni 2019


Der Rede wert Warum wir kämpfen
Christine Kenneally R. Brian Ferguson

Spektrum der Wissenschaft  5.19 35


ten ähnelt im Grunde jedoch eher dem von Löwen oder gen, motivierten Individuen, die gut mit anderen zusammen­
Wölfen als einer Form, die von Zusammenarbeit geprägt ist, arbeiteten.
wie sie beim Menschen vorherrscht. Jeder Schimpanse Entscheidend für die Evolution der Moral wurden neue
versucht, seine eigenen Chancen zu verbessern, indem er Formen der Beziehung untereinander. Kooperierende Früh-
der Beute potenzielle Fluchtwege versperrt. Sobald ein menschen entwickelten so etwas wie Sympathie füreinan-
Schimpanse den Kleinaffen erwischt, will er ihn allein der und halfen sich gegenseitig aus einem einfachen Grund:
verspeisen – was ihm aber in der Regel nicht gelingt. Wer auf andere angewiesen ist, sollte dafür sorgen, dass es
Schließlich kommen alle Individuen der Gruppe zur Beute diesen auch in Zukunft gut geht. Zusätzlich hing das eigene
und greifen zu. Der Fänger muss dies zulassen oder die Überleben davon ab, als kompetenter, motivierter Partner zu
anderen bekämpfen, was wohl darauf hinausliefe, in der gelten. Entsprechend war es wichtig, wie man eingeschätzt
Hitze des Gefechts die Nahrung ganz zu verlieren. Deshalb wurde. Wie wir bei Studien in unserem Institut in Leipzig
teilt sich die Gruppe bis zu einem gewissen Grad die Beute. beobachteten, legen schon kleine Kinder Wert darauf, wie
Der Mensch macht es schon seit Langem anders. Vor andere sie beurteilen – bei Schimpansen scheint das dage-
rund zwei Millionen Jahren tauchte die Gattung Homo mit gen keine Rolle zu spielen.
ihrem großen Gehirn samt neuen Fähigkeiten zur Herstel-
lung von Steinwerkzeugen auf. Wenig später führte eine Gemeinschaftliches Handeln erzeugt gegenseitig
globale Abkühlungs- und Trockenheitsperiode dazu, dass anerkannte Rechte
sich am Boden lebende Kleinaffen vermehrten und mit Der Vergleich der Verhaltensweisen unserer engsten Prima-
Homo um viele Ressourcen konkurrierten. tenverwandten mit denen von Kindern, die noch nicht die
Jetzt waren Alternativen gefragt. Eine Möglichkeit Normen ihrer Kultur verinnerlicht haben, hat sich als außer-
bestand darin, Kadaver zu verwerten, die andere Tiere ordentlich wertvoll erwiesen, um die Ursprünge des
erlegt hatten. Doch einige Frühmenschen, vermutlich von menschlichen Denkens und der Moral aufzuspüren. Schließ-
der Art Homo heidelbergensis, begannen nach Ansicht der lich fehlt es hierfür an historischen Aufzeichnungen und
Anthropologin Mary Stiner von der University of Arizona somit meist an fossilen oder archäologischen Funden.
vor rund 400 000 Jahren, sich ihre Nahrung größtenteils Unsere Studienergebnisse legen nahe, dass sich bei Früh-
selbst zu beschaffen, indem sie beim Jagen und Sammeln menschen eine neue Form des kooperativen Denkens
kooperierten und gemeinsam ihre Ziele verfolgten. Schließ- entwickelte: Zuverlässige Partner bei der gemeinsamen
lich wurde die Zusammenarbeit für das Überleben unver- Nahrungs­suche kamen nicht nur in den Genuss von Sympa-
zichtbar: Die Individuen waren unmittelbar und vollständig thie, sondern auch von Fairness, also einem Gefühl der
aufeinander angewiesen, um sich ihre tägliche Ernährung Gleichberechtigung. Die Einzelnen begriffen, dass sie bei
zu sichern. der Kooperation prinzipiell jede beliebige Rolle übernehmen
Als wesentlich bei der obligatorischen gemeinsamen konnten und dass dabei alle an einem Strang zogen. Arbei-
Nahrungssuche erwies sich die richtige Wahl der Partner. teten zwei Individuen wiederholt zusammen, entwickelte
Individuen, die kognitiv oder aus irgendwelchen anderen sich bei ihnen ein Verständnis für gemeinsame Interessen,
Gründen unfähig zur Zusammenarbeit waren – vielleicht wobei jeder eine bestimmte Rolle auszufüllen hatte, um im
weil ihnen die entsprechenden Kommunikationsfähigkeiten Team erfolgreich zu sein. Solche rollenspezifischen Maßstä-
fehlten –, wurden nicht ausgewählt und blieben so ohne be prägten die Erwartung an das Handeln des anderen. So
Nahrung. Auch solche, die sich unkooperativ zeigten und muss bei der Antilopenjagd der Treiber eine andere Hand-
möglicherweise versuchten, die ganze Beute an sich zu lung als der Speerwerfer ausführen. Diese idealisierten
reißen, wurden gemieden und waren damit dem Untergang Vorgaben legten unparteiisch fest, wer was zu tun hatte,
geweiht. Ergebnis: eine aktive soziale Selektion von fähi- um den gemeinsamen Erfolg zu gewährleisten. Die Rollen,
für die allseits bekannte Leistungsstandards galten, blieben
austauschbar. Deshalb besaß jeder Jagdpartner aber auch
das gleiche Anrecht auf die Beute – im Gegensatz zu Betrü-
AUF EINEN BLICK gern und Trittbrettfahrern, die keinen Finger krumm ge-
DER WEG ZUR GRUPPENIDENTITÄT macht hatten.
Als Mitspieler für Gemeinschaftsunternehmungen bevor-

1 Der Keim der menschlichen Moral entstand vermut-


lich vor rund 400 000 Jahren, als Menschen begannen,
gemeinsam zu jagen und Nahrung zu sammeln.
zugte man Individuen, welche die in sie gesetzten Erwartun-
gen erfüllten. Um das Risiko eines Fehlgriffs zu mindern,
konnten potenzielle Partner ihre Kooperationsfähigkeiten
durch eine Art gemeinsamer Verpflichtungserklärung unter-

2 Die kooperativen Beziehungen wurden überlebens­


notwendig und förderten ein Gefühl für gegenseitigen
Respekt und Fairness.
streichen: Sie sagten sich gegenseitig zu, ihre Aufgaben zu
erledigen, und forderten dafür eine faire Aufteilung der
Beute. Außerdem konnten sich die zukünftigen Partner
unausgesprochen darauf einigen, dass jemand, der nicht
3 Durch zunehmende Populationsgrößen festigten sich
schließlich kollektive Gruppenidentitäten mit ge­-
mein­samen kulturellen Praktiken und sozialen Normen.
Wort hielt, eine Rüge verdient hatte. Wer von den Erwartun-
gen abwich und dennoch weiterhin eine gute Stellung als
Kooperationspartner anstrebte, verurteilte sich daher bereit-
willig selbst – psychisch als Schuldgefühl verinnerlicht. So

36 Spektrum der Wissenschaft  5.19


PORTIA SLOAN ROLLINGS / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2018;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Die Evolution der menschlichen Moral
Tiere kooperieren häufig mit Artgenossen; Menschen ebenso, aber anders. Die menschliche
Form der Kooperation – Moral genannt – besteht aus zwei zusammenhängenden Aspekten: Ein
Individuum vermag einem anderen aus selbstlosen Motiven wie Mitgefühl, Sorge oder Wohlwol-
len zu helfen. Zusätzlich streben die Mitglieder einer Gruppe danach, dass alle profitieren, und
schaffen hierfür Normen für Fairness, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Diese Fähigkeiten
entwickelten sich im Lauf etlicher hunderttausend Jahre, als Menschen zu-
nächst wegen schierer Überlebensnot begannen zusammenzuarbeiten. Die
Eigen-
kognitiven und sozialen Aspekte dieses Prozesses kann man mit dem interesse
philosophischen Begriff der Intentionalität beschreiben. Er besagt,
wie Personen die Welt interpretieren und ihre Ziele verfolgen.

Individuelle Intentionalität vor zirka sechs


Millionen Jahren
Charakteristisch für die individuelle Intentionalität ist die Fähig-
keit, das Verhalten flexibel zu ändern und so ein Ziel zu errei-
chen – meist in Konkurrenz zu anderen. Diese Perspektive des
Eigeninteresses ist die Haupttriebkraft von Schimpansen. Sie galt
auch für den gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und
Mensch und vermutlich für die ersten Homininen. Ein Beispiel sind
Schimpansen auf Futtersuche: Eine kleine Gruppe sucht ge-
meinsam; aber sobald die Tiere Früchte finden, sammelt jeder
gemeinsame
für sich und frisst seinen Teil, ohne mit anderen Gruppenmitglie- Nahrungs-
dern zu kooperieren. Ähnlich egozentrisch handeln die Affen bei suche
»wir«
der Jagd. statt
»ich«

Gemeinsame Intentionalität
Vor rund 400 000 Jahren erschloss sich Homo heidelbergensis
bessere Nahrungsquellen. Im Gegensatz zur Kleintierjagd erfor- vor 400 000
derte das Erlegen von Auerochsen und anderem Großwild ver- Jahren

stärkte Kooperation – eine gemeinsame Intentionalität, die sich


auf übereinstimmende Ziele konzentrierte. Diese Form der Team-
arbeit unterscheidet sich drastisch vom Durcheinander jagender
Schimpansen, bei denen das Prinzip »jeder für sich« herrscht. Die
steinzeitlichen Jäger und Sammler konnten nur dann überleben,
wenn ihre Praktiken der Nahrungssuche verpflichtend wurden
und nicht mehr eine Frage der Beliebigkeit waren. Als Jagdpart- forcierte
ner bevorzugte man Individuen, die unausgesprochen die kulturelle
Organisation
Notwendigkeit der Kooperation verstanden und die Beute nicht Moral
rücksichtslos an sich rissen. Eine »zweitpersonale Moral« von richtig
und falsch
entstand: Die Menschen begriffen, dass sie das Ich dem Wir
unterordnen mussten.

Kollektive Intentionalität
vor 100 000
Jahren
Vor rund 150 000 Jahren vergrößerten sich die Gruppen: Kleinere
Horden bildeten einen Stamm mit gemeinsamen Praktiken und
legten damit den Keim der menschlichen Kultur. Ein System aus
Normen, Konventionen und Institutionen wuchs heran und defi-
nierte sowohl die Gruppenziele als auch die Arbeitsteilung, die den
Mitgliedern ihre Rollen zuwies – diese kollektive Intentionalität zeich-
nete den jeweiligen Stamm aus. Jedes Mitglied verinnerlichte die Ziele
als »objektive Moral«, die festlegte, was richtig und was falsch ist.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 37


durchbrach bei den gemeinschaftlichen Aktionen das »Wir« schaft führte so zu einem Gefühl der kollektiven Identität und
die egoistisch-individuelle Ebene und steuerte die Handlun- Loyalität. Wer davon abwich, wurde stigmatisiert oder kam
gen der Kooperationspartner »Ich« und »Du«. Der Mensch bei Auseinandersetzungen mit Gegnern zu Tode.
entwickelte eine »geteilte Intentionalität«: die Fähigkeit, Heutzutage kennzeichnen Menschen ihre Gruppenidenti-
gemeinsame Ziele zu definieren (siehe »Die Evolution der tät auf vielfältige Weise; ursprünglich jedoch geschah das
menschlichen Moral«, S. 37). vorwiegend durch Verhaltensmerkmale, die sich auf eine
Die Anpassung der Frühmenschen an eine obligatorisch Reihe von Annahmen stützten: Menschen, die reden wie ich,
gemeinsame Nahrungssuche führte damit zu einer »zweit- das Gleiche essen wie ich und auch sonst meine kulturellen
personalen Moral« – zur Neigung, Beziehungen zu anderen Praktiken teilen, gehören wahrscheinlich zu meiner kulturel-
mit einem Gefühl des Respekts und der Fairness einzuge- len Gemeinschaft. Aus solchen Hypothesen erwuchs die
hen, basierend auf der Grundlage, dass sowohl ich selbst Neigung der heutigen Menschen, die kulturellen Praktiken
als auch die anderen gleichermaßen verdienstvolle Mitspie- der eigenen Gruppe auszuüben. Kindern beizubringen, wie
ler des Gemeinschaftsunternehmens darstellen. Dieses man Dinge auf die übliche, von der Gruppe definierten
Gespür für Fairness wurde verstärkt durch ein Pflichtgefühl Weise tut, wurde zu einer unentbehrlichen Voraussetzung
dem Mitmenschen gegenüber. Zwar verfolgen alle Prima- zum Überleben.
ten ihre individuellen Ziele, wegen der gegenseitigen sozia-
len Abhängigkeiten der Frühmenschen fühlten sich die Gruppenspezifische Normen werden von Generation
Individuen jedoch ebenfalls verpflichtet, andere so zu be­- zu Generation weitergegeben
handeln, wie sie es verdient hatten, und erwarteten um­ Unterricht und Konformität legten auch das Fundament für
gekehrt dasselbe für sich. Diese zweitpersonale Moral be­- eine kumulative kulturelle Evolution, in deren Verlauf sich
saß noch nicht alle Merkmale unserer jetzigen, aber die lang bewährte Praktiken oder Produkte verbessern ließen,
wichtigsten Elemente – gegenseitiger Respekt und Fair­- wobei diese Neuerungen dann im Rahmen der gruppenspe-
ness – waren ansatzweise bereits vorhanden. zifischen Konventionen, Normen und Institutionen an nach-
folgende Generationen weitergegeben wurden. In solche
kooperativen Sozialstrukturen hineingeboren, blieb den
Individuen nichts anderes übrig, als sich ihnen zu fügen.
Zum entscheidenden psychologischen Merkmal avancierte
Mehr Wissen auf das Gruppenbewusstsein: Die Menschen nahmen die kogni-
Spektrum.de tive Perspektive der Gruppe als Ganzes ein, um so für ihr
Unser Online-Dossier Wohlergehen zu sorgen und sich ihren Gebräuchen anzupas-
zum Thema finden Sie unter sen. Schon bei dreijährigen Kindern konnten wir das beob-
spektrum.de/t/altruismus achten.
FOTOLIA / PERCENT
Individuen, die zu einem bestimmten Kulturkreis gehör-
ten, mussten sich den herrschenden kulturellen Gebräuchen
Der zweite entscheidende Schritt in der Evolution der und sozialen Normen fügen, um so zu demonstrieren, dass
menschlichen Moral trat ein, als zwei demografische Fakto- sie sich mit der Gruppe und ihren Praktiken identifizieren.
ren die gemeinsame, im kleinen Maßstab stattfindende Dabei ging es aber auch um mehr als nur um Konformität
Nahrungssuche der Frühmenschen destabilisierten und und Gruppenidentität. Betroffen war ebenfalls das von
damit vor mehr als 200 000 Jahren Homo sapiens entstehen Frühmenschen geerbte Gefühl für Sympathie und Fairness,
ließen. Die neue Ära begann durch die Konkurrenz zwi- das sich zu moralischen Normen weiterentwickelte. Genau
schen Menschengruppen. Auf Grund der Auseinanderset- wie manche Normen festlegten, wie man etwas bei der Jagd
zungen mussten sich locker strukturierte Populationen in oder bei der Werkzeugherstellung richtig oder falsch mach-
engere soziale Verbände verwandeln, die sich gegen äußere te, so schufen die moralischen Normen Kategorien für den
Eindringlinge wehren konnten. In jeder dieser Gruppen angemessenen Umgang mit anderen Menschen. Die kollek-
entwickelte sich eine interne Arbeitsteilung, und das alles tiven Ziele und die gemeinsamen kulturellen Grundlagen der
führte zu einer kollektiven Gruppenidentität. Gruppe schufen eine Perspektive, bei der nicht das »Ich«,
Gleichzeitig nahm die Populationsgröße zu. Als die Zahl sondern das »Wir« zählt. Es entstand die menschliche Moral
der Menschen in den Stammesgruppen wuchs, spalteten mit ihrem Sinn für richtig und falsch.
sich die größeren Einheiten in kleinere Untergruppen auf, Natürlich kann der Einzelne sich entschließen, gegen eine
die sich immer noch an die Übergruppe – die man jetzt als moralische Norm zu verstoßen. Aber wer von anderen
eigenständige »Kultur« bezeichnen könnte – gebunden Gruppenmitgliedern zur Ordnung gerufen wird, dem bleibt
fühlten. Nun erwies es sich als unverzichtbar, Mitglieder der nur ein begrenzter Spielraum: Er kann die Kritik ignorieren
eigenen kulturellen Gruppe, die nicht unbedingt enge und sich damit außerhalb der gemeinsamen Werte der
Verwandte waren, zu erkennen – und sie von Personen Gemeinschaft stellen, was möglicherweise zum Ausschluss
anderer Verbände zu unterscheiden. Das war wichtig, weil führt. Für Homo sapiens erwiesen sich kulturelle Normen als
man sich nur bei Mitgliedern darauf verlassen konnte, dass legitimes Mittel, um die eigenen Impulse unter Kontrolle zu
sie dieselben Fähigkeiten und Werte teilten und insbeson- halten und ein Signal der Gruppenidentität auszusenden.
dere bei der Verteidigung der Gruppe vertrauenswürdig Wer von den Normen abwich, musste die mangelnde Ko-
waren. Die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemein- operationsbereitschaft unter dem Gesichtspunkt gemeinsa-

38 Spektrum der Wissenschaft  5.19


mer Werte rechtfertigen (etwa: »Ich konnte meinen Pflich- vor. Seit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor etwa
ten nicht nachkommen, weil ich ein Kind retten musste«). 10 000 Jahren bestehen menschliche Gesellschaften jedoch
Auf diese Weise verinnerlichten die Menschen nicht nur aus Personen mit unterschiedlichem politischen, ethnischen
moralisches Handeln, sondern auch moralische Rechtferti- und religiösen Hintergrund.
gungen und schufen eine vernunftbasierte moralische Deshalb ist nicht mehr ganz so klar, wer zum »Wir«
Identität. gehört und wer nicht. Daraus erwächst ein Konfliktpoten­
In meinem Buch »Eine Naturgeschichte der menschli- zial mit zwischenmenschlichen Spannungen innerhalb einer
chen Moral« gehe ich von der Annahme aus, dass sich die Gesellschaft als auch auf internationaler Ebene – Kriege
moralische Psyche des Menschen zum größten Teil evoluti- gelten als Musterbeispiel für Auseinandersetzungen zwi-
onär durch natürliche Selektion erklären lässt. Der sprin- schen Eigen- und Fremdgruppe (siehe Teil 6 der Serie im
gende Punkt: Die Selektion setzte dabei nicht an der physi- Juniheft). Aber wenn wir als Spezies den größten Heraus-
schen, sondern an der sozialen Umwelt an. Während man- forderungen begegnen wollen, die alle Gesellschaften der
che evolutionstheoretischen Ansätze sich auf das Prinzip Erde gleichermaßen bedrohen, sollten wir bereit sein, die
der Gegenseitigkeit und den eigenen Ruf in der Gemein- ganze Menschheit zum »Wir« zu zählen. 
schaft stützen, betone ich etwas anderes: Die Frühmen-
schen verstanden, dass sie durch moralische Normen QUELLEN
sowohl zum Richter als auch zum Gerichteten wurden. Für Schmidt, M. F. H., Tomasello, M.: Young children enforce social
jeden Einzelnen war es nicht wichtig, was »die« von mir norms. Current Directions in Psychological Science 21, 2012
halten, sondern was »wir« einschließlich meiner selbst von
Stiner, M. C. et al.: Cooperative hunting and meat sharing
mir denken. Kernstück ist also eine psychologische Orien- 400–200 kya at Qesem Cave, Israel. PNAS 106, 2009
tierung nach dem Motto »Das Wir ist wichtiger als das Ich«.
Tomasello, M.: Warum wir kooperieren. Suhrkamp 2010
Das verleiht moralischen Vorstellungen ihre außerordentli-
che Legitimität für die persönliche Entscheidungsfindung.
Für unsere heutige Welt ergibt sich eine besondere LITER ATURTIPP
Herausforderung aus der Erkenntnis, dass die Anpassungen Tomasello, M.: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral.
des Menschen an Kooperation und Moral vorwiegend auf Suhrkamp, 2016
das Leben in kleinen oder innerlich homogenen kulturel- Michael Tomasello rekonstruiert die Entstehung des einzigartigen
len Gruppen abgestimmt waren – Fremde blieben außen menschlichen Sinns für Werte und Normen.

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REAKTIONSDYNAMIK
DAS WACKELN
UND ZITTERN
DER MOLEKÜLE
Viele chemische Umwandlungen laufen komplizierter
ab als bisher angenommen. Das zeigen Computer-
simulationen, die Molekülschwingungen während einer
Reaktion berücksichtigen.


Fährt ein Skifahrer einen Hang hinunter, ist er ständig
Dean Tantillo ist Professor für Chemie an äußeren Einflüssen wie dem Wind oder vereisten
der University of California in Davis. Er Schneeflächen ausgesetzt. Je nachdem, wie er mit
untersucht die komplexen Zusammenhän-
diesen zurechtkommt, verläuft sein Weg bergab, und er
ge chemischer Reaktionen.
wird entsprechend an unterschiedlichen Stellen unten
 spektrum.de/artikel/1634754 ankommen. Ganz ähnlich können bei einer chemischen
Reaktion die Moleküle durch äußere Umstände beeinflusst
werden. Während sie sich vom Ausgangsstoff in ein Pro-
dukt verwandeln, durchlaufen sie einen Punkt höchster
Energie, den so genannten Übergangszustand. Anschlie-
ßend führt sie ihr Weg – energetisch betrachtet – bergab,
ähnlich wie beim Skifahrer. Bisher nahm man an, dass der
Pfad dieser chemischen Talfahrt relativ geradlinig verläuft.
Doch das ist zu einfach gedacht, denn der Weg kann sich
AUF EINEN BLICK noch mehrmals gabeln. Forscher beginnen jetzt, die Viel-
zahl dieser molekularen Pfade aufzuzeichnen, um mit Hilfe
CHEMISCHE WEGGABELUNGEN der so entstehenden Landkarten den Ausgang von Reaktio-
nen besser kontrollieren zu können.
1 Während einer chemischen Reaktion durchlaufen
Moleküle einen so genannten Übergangszustand: eine
Struktur mit einer hohen potenziellen Energie. Bisher Gängiges Modell im neuen Licht
nahm man an, dass aus jeder dieser Strukturen genau Im Grundstudium lernen angehende Chemikerinnen und
ein Produkt entsteht. Chemiker normalerweise, dass Reaktionspfade relativ
geradlinig von einem Startpunkt über einen Hügel bis zum

2 Heute weiß man, dass sich der Reaktionspfad danach


noch ein- oder mehrmals gabeln kann (Bifurkation). Aus
einem Übergangszustand können so mehrere Produkte
Ziel verlaufen: Ein oder mehrere Reaktanden, also Aus-
gangsmoleküle mit niedriger potenzieller Energie, werden in
ein Produkt überführt, das ebenfalls eine niedrige poten­
entstehen. zielle Energie hat. Der Pfad verläuft über einen Übergangs-
zustand – die Molekülstruktur mit der höchsten potenziellen

3 Die Schwingungen des Moleküls entscheiden darüber,


welchen Weg es an der Weggabelung einschlägt und
welches Produkt gebildet wird. Mit diesem Wissen
Energie in dieser Reaktion. Dieser Hügel bildet sozusagen
eine energetische Barriere zwischen Reaktanden und Pro-
könnte es künftig möglich sein, Reaktionen gezielter zu dukten (siehe »Die Kartierung von Reaktionswegen«, S. 43).
kontrollieren. Entstehen bei einer Reaktion mehrere Produkte, erklären
sich das die Experten bislang mit einem einfachen Modell:
In solch einem Fall existieren verschiedene Reaktionswege,

40 Spektrum der Wissenschaft  5.19


9 12
9 -22.44 17
3/195
8 14

93/195
8 13 J1 15
13
(0/155)
(0/155) 17 16 15
17
H3C
16
[0/187]
9
H3C
[110/187] 8
13

15 D2
-12.31 12 15
16
H -12.16 9 CH3
CH3 G2
13 17
0/195 15
13 TS13 -9.11 8

(0/155) 9
17
-9.66 D3 84/195
[1/187] 8
CH3 M1 (4/155)
16
-14.11 -1.38 12 [7/187]
TS8 -1.69 15
TS19b
9 15
13 -13.41 G1 13 17

17
H3C
16
8
CH3
0/195 16
-13.86
K1 TS19a
-5.69
(0/155) +5.89
9 12
[8/187] +5.06 -5o
17
-5.83 F2 8 14
TS11 13
TS12 15
9
13
H3C 16
8

3/195 15
17
-27o +5.00
H 0/195
(0/155) 16 CH3
TS18 TS7
(6/155)
12
17
[56/187] +8.35 +46o
9
8 14 13
-19o -3o
9 12
17 15
8 14 13
H3C
-83o TS10re +10.72 15
-21.02
16
2/195
+5.48 TS14 H3C
16 I1 (12/155)
+83o
[0/187]
0o +90o +9.38 C +2.49
12
-20 -15 -10 -5 0 +5 +10
9 14

-90o +90o TS2si +100o 13

kcal/mol +3.00 -12.88 15 17


TS17
TS23 P1 CH3
+180o 16
+5.32
TS3 TS6 12 0/195
-4.56 H3 +121o 17
(1/155)
+3.51 13
3/195 12
17
+6.93 14 15 [0/187]
+1.48 TS21 H1
(0/155) 13 16 H3C
CH3 -1.76 5/195
[2/187] 14 -132o +4.66 16
15
TS15 12
17
(100/155)
+3.93 TS22 H2 -0.23 13 [2/187]
TS20 15

+1.59 14 CH3
+157o 16
17
N1
HONG, Y.J., TANTILLO, D.J.: BIOSYNTHETIC CONSEQUENCES

12
-168o L1
TS4 17 +0.58 13
BIFURCATIONS. NATURE CHEMISTRY 6, 2014, FIG. 4;

+3.15 12
OF MULTIPLE SEQUENTIAL POST-TRANSITION-STATE

9 15
MIT FRDL. GEN. VON DEAN TANTILLO, UC DAVIS

TS16 +4.14 13 8
CH3
1/195
15
14
16 (29/155)
+3.77 14 CH3
16
[1/187]
-4.11 G3 0/195(2/155)[0/187]
12 16 17
9
CH3 -8.66 13
15 13
TS5 D1 8 15
17 H
1/195 -10.38 CH3 0/195
(0/155)
16
(1/155)
[0/187] -14.20 E1 [0/187]
9

K2 -14.08 8 13

0/195 H3C
15 17

(0/155) 9 16 CH3 13 16

[0/187] 15 17
8

Ein komplexes Reaktionsnetzwerk führt zum Natur-


stoff Miltiradien. Ausgehend von zwei ersten Über-
gangszuständen, TS10re (rot) und TS2si (pink), können
sich durch Molekülbewegungen zahlreiche weitere Hürde am schnellsten verläuft und am meisten Produkt
Übergangszustände (TS) und daraus Zwischenstufen ergibt. Doch so manche Produktverhältnisse lassen sich mit
(C-P) bilden. Nur zwei Strukturen entstehen in substan- diesen einfachen Regeln nicht erklären.
ziellen Mengen: die Carbokationen G1 und G2 (auf 1 Neuere quantenchemische Untersuchungen zeichnen
Uhr) sowie D2 und D3 (auf 11 Uhr). Letztere sind direk- ein komplizierteres Bild: Reaktionspfade können sich nach
te Vorläufer von Miltiradien. einem Übergangszustand gabeln – Fachleute sprechen von
einer Bifurkation (englisch: »post-transition state bifurca-
tion«) – und führen dann zu zwei oder mehr Punkten mit
von denen jeder über einen eigenen Übergangszustand zu niedriger Energie. So entstehen aus einem Übergangszu-
genau einem Produkt führt. Die Übergangszustände liegen stand mehrere Produkte. Das hat gravierende Auswirkun-
energetisch unterschiedlich, bilden also verschieden hohe gen für alle, die in irgendeiner Weise Moleküle herstellen
Barrieren, so dass diejenige Reaktion mit der niedrigsten oder verändern. Denn dass man Reaktionsprozesse kontrol-

Spektrum der Wissenschaft  5.19 41


Entscheidende Moleküldynamik
In vielen chemischen Reaktionen der Reaktionspfad nach dem Über- hängt davon ab, wie seine Atome
bilden sich Produktgemische. Mit gangszustand in zwei Wege auf- »wackeln und zittern«. Die Molekül-
Hilfe der hier gezeigten Reaktion spaltet (Bifurkation). Welchen Weg dynamik beeinflusst also das Pro-
werden so genannte ß-Lactone das reagierende Molekül nimmt, duktverhältnis.
hergestellt, die antimikrobiell wirk-
sam sind. Zu 50 Prozent entsteht
O O unerwünschtes
dabei ein unerwünschtes Produkt Nebenprodukt
O

BARBARA AULICINO / AMERICAN SCIENTIST JAN-FEB 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
und nur zu 18 Prozent die nützli- (entsteht zu 50
Prozent)
che Verbindung. Dynamische
Berechnungen zeigen, dass sich

O O
O O O O O gewünschtes
O O ß-Lacton
O OCHOCH OCH3 (entsteht zu
O O
3
3 18 Prozent)
H3CO H CO O O
H3CO3 O

N+ +
N+ N Ausgangsstoff
O O O
4-tert-Butylcyclohexyldiazomalanat

N– N– N–

lieren und so die Ausbeute an gewünschten Zielmolekülen die Untersuchung des dynamischen Verhaltens der reagie-
steigern kann, während unerwünschte Nebenprodukte auf renden Teilchen immer wichtiger werden würde, um Reak-
ein Mindestmaß reduziert oder ganz eliminiert werden, ist tivität zu erklären. Und der organische Chemiker Barry
die Grundlage für alle heutigen chemischen Synthesever- Carpenter von der englischen University of Bristol präsen-
fahren, sei es die Herstellung von medizinischen Wirkstof- tiert seit rund 30 Jahren überzeugende Argumente dafür,
fen, wichtige Chemikalien, Kunststoffen oder speziellen dass chemische Reaktionen nicht nur hinsichtlich der
Materialien, aber beispielsweise auch für die maßgeschnei- Positionen ihrer Atome, sondern auch unter dem Gesichts-
derte Entwicklung von Enzymen. punkt von deren Massen und Schwingungen betrachtet
werden sollten (die so genannte Phase-Space-Perspektive).
Neben den Positionen der Atome werden ihre Massen Dieses Konzept misst den Geschwindigkeiten und Mas-
und Geschwindigkeiten wichtig sen der Atome dieselbe Bedeutung zu wie ihrer Anordnung
Die Erkenntnis, dass sich ein Reaktionsweg gabeln kann, im Molekül (inklusive der Aufenthaltswahrscheinlichkeiten
macht auch die traditionelle Sichtweise auf chemische ihrer Elektronen). In einer Reaktion mit einer Bifurkation
Reaktionen ein Stück komplizierter. So nimmt man verein- können also die Bewegungen an Stellen des Moleküls, die
facht an, dass sich Struktur und Energie der Reaktanden nicht direkt an der Spaltung und Neubildung von Bindun-
gleichmäßig verändern, wenn sie zu Produkten werden. gen beteiligt sind, mit darüber entscheiden, welches Pro-
Doch das stimmt nicht ganz: Vielmehr müssen Wissen- dukt entsteht. Wie das Molekül schwingt, während es sich
schaftler die Schwingungsenergie in den reagierenden der »Weggabelung« nähert, ist maßgeblich dafür, welchen
Molekülen berücksichtigen und ebenso die Art und Weise, weiteren Weg es einschlägt – und somit auch dafür, wo der
wie diese Oszillationen die Abstände und Bindungswinkel chemische Skifahrer letztlich ankommt, also welcher Stoff
zwischen den einzelnen Atomen verändern. Der berühmte sich bildet.
Quantenphysiker Richard Feynman (1918–1988) brachte In Simulationen berechnen theoretische Chemiker nun
diese Erkenntnis schon früh auf den Punkt: »Alles, was die Energien verschiedener Schwingungszustände eines
lebende Organismen tun, können wir durch das Gewackel Übergangszustands. Diese Oszillationen strecken einzelne
und Gezitter der Atome verstehen.« Doch erst seit Kurzem Bindungen oder modifizieren Bindungswinkel. Während
steht genügend Rechenleistung zur Verfügung, um diese sich der Übergangszustand dann strukturell dem Produkt
Bewegungen in komplexeren Molekülen quantenchemisch nähert, verändern sich mit seiner Struktur auch die Bewe-
zu modellieren. gungen der Atome.
Fachleute diskutieren bereits seit ungefähr einem halben Durch solche Berechnungen hat man bereits Antworten
Jahrhundert darüber, wie Molekülschwingungen Reaktions- auf die Frage bekommen, warum in manchen Reaktionen
mechanismen beeinflussen. Im Jahr 1970 sagte der theore- unerwünschte Nebenprodukte entstehen. Beispielsweise
tische Chemiker Lionel Salem vom französischen Centre werden seit vielen Jahren so genannte ß-Lactone synthe-
National de la Recherche Scientifique (CNRS) voraus, dass tisch hergestellt. Viele dieser Verbindungen kommen in der

42 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Natur vor und sind zum Teil antimikrobiell aktiv, was sie zu beeinflusst, wurden erst relativ wenige daraufhin unter-
interessanten Kandidaten für Medikamente macht. Will sucht. Daher ist noch unklar, wie viele Prozesse Bifurka­
man Moleküle dieser Stoffklasse im Labor herstellen, so tionen beinhalten. Doch je mehr über diese Abläufe und
erhält man oft Gemische verschiedener Komponenten. Die deren Spielregeln bekannt ist, desto besser wird es möglich
Reaktion in der Grafik »Entscheidende Moleküldynamik«, sein, neue Moleküle effizienter herzustellen und komplexe
links, beispielsweise ergibt nur 18 Prozent des gewünschten chemische Prozesse der Natur nutzbar zu machen.
ß-Lactons und 50 Prozent eines unerwünschten Stoffs. Auch in manchen enzymkatalysierten biologischen Re-
aktionen treten Bifurkationen auf, und diese Abläufe kön-
Neue Möglichkeiten zur Reaktionskontrolle nen wichtige Einblicke in Vorgänge in lebenden Organis-
Dynamische Berechnungen für diesen Prozess haben men geben. Die Pflanze Salvia miltiorrhiza (chinesischer
gezeigt, dass es entscheidend für den Ausgang einer Reak- Salbei oder Rotwurzelsalbei) beispielsweise wird in der
tion ist, wie die Moleküle »zittern und wackeln«, nachdem Traditionellen Chinesischen Medizin seit Langem verwen-
sie den Übergangszustand durchlaufen haben. Nach die- det, um verschiedene Krankheiten von Herzerkrankungen
sem taucht zunächst eine klassische Bifurkation auf: Der bis zu Hepatitis zu behandeln. Sie stellt durch eine Reihe
Reaktionspfad spaltet sich in zwei Wege, die jeweils zu enzymkatalysierter Reaktionen so genannte Tanshinone
einem der beiden Produkte führen. Aber gemäß den Simu- her. Inwieweit diese Moleküle der Pflanze nutzen, ist unklar,
lationen bildet sich je nachdem, wie die Moleküle vibrieren, doch sie sind viel versprechende Kandidaten für Wirkstoffe
entweder der eine oder der andere Stoff. In diesem Beispiel gegen Krebs oder Herzerkrankungen. Ein einziges Enzym
bietet die Phase-Space-Perspektive ein unerwartetes kontrolliert das Reaktionsnetzwerk, welches das Kohlen-
Reaktivitätsmodell, mit dem man nun sowohl den Anteil an stoffgerüst dieser Naturstoffe aufbaut. Dieses Netzwerk
unerwünschtem Nebenprodukt reduzieren als auch die besitzt die größte bisher entdeckte Anzahl miteinander
Ausbeute der begehrten Komponente steigern kann. verbundener Bifurkationen.
Insgesamt nehmen diese Ideen nur langsam Fahrt auf. Die Vorstufe der Tanshinone heißt Miltiradien. Dieser
Obwohl die Moleküldynamik alle chemischen Reaktionen komplexe Naturstoff ist aus 20 Kohlenstoffatomen aufge-

Die Kartierung
von Reaktionswegen
Bifurkation
Bislang haben Chemiker Reaktionswege auf relativ Übergangs-
einfache Weise beschrieben, wie die untere Grafik zustand
zeigt: Ein Reaktand wird zu einem Produkt und
durchläuft dabei einen energetisch höher liegen-
den Übergangszustand (ÜZ). Entstehen in einer

Energie
Reaktion verschiedene Produkte, nimmt man an, Produkt 2
Reaktand
dass mehrere Übergangszustände existieren (ÜZ1
und ÜZ2).
Dynamische Berechnungen des Reaktionsver-

OBEN: STEPHANIE HARE, MIT FRDL. GEN. VON DEAN TANTILLO, UC DAVIS; UNTEN: BARBARA AULICINO / AMERICAN SCIENTIST JAN-FEB 2019
laufs, die quantenchemische Effekte mit einbezie-
hen, zeigen jedoch, dass Reaktionen ungleich Produkt 1
komplizierter ablaufen können (obere Grafik, ein-
schließlich zweidimensionaler Projektion). Reak­
2
al

tionswege mit nur einem einzigen Übergangs­


km
er

zustand können sich gabeln – diese Gabelung nach


m

Stru
ur

kturm
kt

dem Übergangszustand bezeichnen Fachleute als erkm


ru

al 1
St

Bifurkation. Die Schwingungen eines Moleküls auf


dem Weg zur Gabelung bestimmen, auf welchem
Pfad die Reaktion anschließend verläuft und damit,
ÜZ1
welches Produkt gebildet wird.
potenzielle Energie

Chemiker haben erst einen kleinen Bruchteil von Reaktio- ÜZ2


nen mit dynamischen Berechnungen untersucht. Ein klareres
Verständnis dafür, wie solche Effekte Reaktionen beeinflus- Produkt 2
sen, könnte jedoch dabei helfen, die Ausbeute gewünschter Reaktand
Produkt 1
Produkte zu erhöhen und besser nachzuvollziehen, wie Reak-
tionen in der Natur ablaufen. Reaktionsverlauf

Spektrum der Wissenschaft  5.19 43


Molekülspezifische Vorlieben +
Auch enzymkatalysierte Reaktionen können Bifurkationen
beinhalten. Hier sieht man einen kleinen Ausschnitt aus dem
komplexen Reaktionsnetzwerk, das zur Bildung von Milti­
radien führt (siehe Bild, S. 41). Dieses Molekül ist eine
Vorstufe so genannter Tanshinone, einer Gruppe medi­
zinisch interessanter Naturstoffe. Simulationen
haben gezeigt, dass sich in der Reaktion
bevorzugt Produkte bilden, die infolge der
Rotation um eine Kohlenstoff-Kohlen-

BARBARA AULICINO / AMERICAN SCIENTIST JAN-FEB 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
stoff-Einzelbindung (rot) entstehen.
Den Berechnungen zufolge erge- +
ben sich nur zwei der vielen mögli-
+
chen Produkte in nennenswerten +
Mengen (blau und violett gegenüber +
grau) – und zwar, ohne dass man das
Enzym, das die Reaktion steuert, be-
rücksichtigt. Eine gewisse Tendenz zu
bestimmten Dynamiken ist dem Molekül
also immanent. Diese Erkenntnisse
könnten helfen, die Funktionsweise von
Miltiradien unbekannter Naturstoff
Enzymen genauer zu untersuchen und (bildet sich in über 48 (bildet sich in über 43
neue Katalysatoren maßzuschneidern. Prozent der Reaktionswege) Prozent der Reaktionswege)

baut und besitzt ein Grundgerüst von drei miteinander Bewegungen, die während der Umwandlung zum Ausdruck
verbundenen Ringen. Wie viele andere Reaktionen, die kommt.
sowohl beim synthetischen als auch beim natürlichen Die Ergebnisse bedeuten aber auch, dass das Enzym
Aufbau solcher Strukturen zum Einsatz kommen, führt die gezielt die Bildung des einen möglichen Nebenprodukts
enzymkatalysierte Bildung von Miltira­dien über eine positiv aktiv unterdrücken muss – und nicht, wie bislang vermutet,
geladene Zwischenstufe, die als Carbokation bekannt ist. einen Weg unter vielen begünstigen. Mit dieser wichtigen
Solche Zwischenstufen können ihre Kohlenstoffatome Information können sich die Forscher nun auf die Frage
umstellen und sich so umfassend neu strukturieren – eine konzentrieren, wie das Enzym genau diesen einen uner-
Vielzahl von Molekülen kann entstehen. wünschten Weg unterbindet.
Wissenschaftler beginnen erst, im Detail zu verstehen,
Das Molekül bestimmt mit, wo es langgeht wie die Dynamik von Molekülen deren chemische Reakti-
Im Fall von Miltiradien beinhaltete solch eine Umstrukturie- onswege beeinflusst. Die Suche ist ein komplexes Unter-
rung (siehe »Molekülspezifische Vorlieben«, oben) nach un- fangen, doch die Erkenntnisse können ein neues grundle-
seren energetischen Berechnungen mehrere aufeinander gendes Verständnis dafür schaffen, wie Stoffe miteinander
folgende Bifurkationen, so dass ein Übergangszustand viele reagieren. Damit könnte es einmal möglich sein, selektivere
unterschiedliche Produkte hervorbrachte. Doch als wir die Syntheserouten für Produkte zu erschaffen oder gezielt
Wackel- und Zitterbewegungen in den Molekülen simulier- Enzymmutationen zu entwerfen, die nützliche, nicht natür-
ten, beobachteten wir, dass sich lediglich zwei Stoffe in lich vorkommende Moleküle herstellen. 
substanziellen Mengen bilden: die beiden blau und violett
hervorgehobenen Kationen. Diese Ergebnisse lassen ver- QUELLEN
muten, dass das zuerst gebildete Carbokation (schwarz) Carpenter, B. K.: Nonstatistical dynamics in thermal reactions of
dazu neigt, Produkte zu bilden, die von einfachen Bewegun- polyatomic reactions. Annual Review of Physical Chemistry 56,
gen innerhalb des Moleküls herrühren – so zum Beispiel 2005
von der Rotation um eine Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfach- Hare, S. R., Tantillo, D. J.: Cryptic post-transition state bifurca-
bindung (rot). Darauf weist auch eine weitere Beobachtung tions that reduce the efficiency of lactone-forming Rh-carbenoid
hin. In der Natur unterstützt ein Enzym die Bildung von C-H insertions. Journal of Chemical Sciences 8, 2017
Miltiradien, doch in unseren dynamischen Berechnungen Hong, Y. J., Tantillo, D. J.: Biosynthetic consequences of
hatten wir das Enzym gar nicht berücksichtigt. Das bedeu- multiple sequential post-transition-state bifurcations. Nature
tet, dass der Enzymkatalysator nicht allein dafür verant- Chemistry 6, 2014
wortlich ist, welches Produkt gebildet wird. Vielmehr be-
sitzt der Ausgangsstoff eine eigene Tendenz zu gewissen © American Scientist

44 Spektrum der Wissenschaft  5.19


FREISTETTERS FORMELWELT
UNENDLICH VIEL BIER
NACH FEIERABEND
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
FRANZISKA SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.DE/BILDER.HTML) /

Selbst wenn zahllose Menschen in eine Kneipe gehen,


trinken sie nicht zwingend alle Vorräte leer.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und


Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1634756

U
nendlich viele Mathematiker gehen in eine Bar. den Flächeninhalt 2 hat, und entfernen davon Recht-
Der erste bestellt ein Bier. Der zweite ein halbes ecke, deren Fläche jeweils den einzelnen Termen der
Bier. Der dritte ein viertel Bier. Der vierte ein unendlichen Reihe entsprechen.
achtel Bier. ›Geht mir nicht auf die Nerven‹, sagt Der erste Summand ist dann ein Quadrat mit Seiten-
der Barkeeper und stellt zwei Bier auf den Tresen.« länge 1, also genau die Hälfte des Rechtecks. Für den
Diesen Scherz habe ich Anfang 2018 auf dem Twitter- zweiten Term streichen wir eine Fläche der Größe ½,
Account der »Science Busters«, einer Wissenschaftska- das heißt ein Rechteck mit Seitenlängen 1 und ½, was
barettgruppe, zu deren Ensemble ich gehöre, gepostet. der Hälfte des verbliebenen Quadrats entspricht. Und
Und selbst mehr als ein Jahr später beschäftigt er die auch der dritte Term (¼) halbiert die verbleibende
Leser immer noch. Der scheinbare Widerspruch ist Hälfte; heraus kommt ein Quadrat mit Seitenlänge ½.
gleichermaßen verwirrend und faszinierend. »Nie im Das geht ewig so weiter. Jeder folgende Term passt in
Leben reichen zwei Bier für unendlich viele Mathemati- den übrig gebliebenen Teil des ursprünglichen Recht-
ker«, antwortete jemand darauf, und selbst eine lange ecks. Im Grenzfall unendlich vieler Summanden ist das
Diskussion konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Rechteck komplett beseitigt, so dass sich die Terme
Den Witz kann man jedoch über eine geometrische insgesamt zu 2 addieren.
Reihe erklären:

G
eometrische Reihen findet man nicht nur in
wissenschaftlichen Witzen, sondern in vielen
Bereichen der Mathematik. Zum Beispiel lässt
sich so auch die verwirrende Tatsache erklären,
dass 0,99999… gleich 1 ist. Die nicht enden wollende
periodische Dezimalzahl ist nämlich nichts anderes als
eine geometrische Reihe mit a₀ = 9 ⁄ 10 und q = 1 ⁄ 10, also
Diese Formel gilt, wenn q kleiner als 1 und größer als die unendliche Summe von 0,9 + 0,09 + 0,009 + … Der
–1 ist. Für die Werte a₀ = 1 und q = ½ ergibt sich Grenzwert, der sich aus der Formel errechnet, beträgt
die Abfolge aus dem Witz. Man setzt der Reihe nach dann 0,9 geteilt durch (1 – 0,1), was nichts anderes als 1
0, 1, 2, 3, … für k ein und summiert die Ergebnisse: ergibt.
1+ ½ + ¼ + ⅛ + … Der Barkeeper kennt schon den Meist verunsichern uns Unendlichkeiten, weil unser
Grenzwert dieser Folge, der sich durch die Formel intuitives Verständnis bei niemals endenden Prozessen
berechnen lässt, und weiß, dass er mit zwei vollen versagt. In solchen Fällen muss man auf die Mathema-
Biergläsern die unendlich vielen Mathematiker bedie- tik zurückgreifen und akzeptieren, dass die Ergebnisse
nen kann. Je größer k wird, desto kleiner wird qk, und unseren Erwartungen widersprechen können. Denn
insgesamt wird die Summe nie größer als 2. manchmal hat selbst die Unendlichkeit ein Ende: im
Man kann das überraschende Ergebnis aber auch obigen Witz bei zwei Gläsern Bier – obwohl sich man-
geometrisch veranschaulichen. Stellen wir uns ein che vielleicht mehr wünschen, um die verwirrenden
Rechteck mit den Seitenlängen 1 und 2 vor, das also Aspekte der Unendlichkeit erträglicher zu machen.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 45


ASTRONOMIE
BLICK IN
DIE KINDERSTUBE
DES KOSMOS
Forscher haben extrem weit
entfernte Galaxien aufge-
spürt, die ein Fenster in eine
bislang unbekannte Epoche
der kosmischen Frühzeit
öffnen.

Dan Coe ist Astronom am


Space Telescope Science
Institute in Baltimore in den
USA. Er ist Chefwissen-
schaftler des Projekts
­RELICS, des Reionization
Lensing Cluster Survey.

 spektrum.de/artikel/1634758

46 Spektrum der Wissenschaft  5.19


RON MILLER
AUF EINEN BLICK
DIE ERSTEN GALAXIEN

1 Mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops hat ein Team


von Astronomen 300 Galaxien im jungen Universum
aufgespürt.

2 Die Forscher machten sich dabei Gravitationslinsen zu


Nutze – Regionen mit massereichen kosmischen
­Objekten, die das Licht weiter entfernter Strahlungs-
quellen verstärken.

3 Noch immer klafft eine Lücke in der kosmischen Ge-


schichte: Die ersten 400 Millionen Jahre nach dem
Urknall werden erst für künftige Teleskope zugänglich.

Riesige Massen wie


­Galaxienhaufen verformen
die Raumzeit. Das Licht
dahinterliegender Objekte
wird dadurch wie von einer
Linse gebündelt. So lassen
sich extrem weit entfernte
Galaxien beobachten.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 47


RON MILLER

Wir stehen kurz davor, eine vollständige Geschichte reichlich vorhanden, da den frühen Galaxien in großen
des Kosmos niederschreiben zu können. Denn Astro- Mengen kaltes Wasserstoffgas zuströmte.
nomen haben jetzt Galaxien zu einer Zeit beobachtet, Zudem stießen die Galaxien oft zusammen und ver-
die lediglich 3,5 Prozent des Weltalters von 13,8 Milliarden schmolzen miteinander, was ihr Wachstum beschleunigte
Jahren entspricht. Das Licht einer dieser Galaxien, ihre und zu geradezu explosiver Entstehung neuer Sterne führte.
Katalogbezeichnung lautet SPT0615-JD, begann seine Reise Mit der Expansion des Universums verlangsamte sich das
zur Erde vor unglaublichen 13,3 Milliarden Jahren. Im Jahr Wachstum der Galaxien dann, Verschmelzungen wurden
2017 erreichte es das Weltraumteleskop Hubble. seltener, und der Zustrom von Gas ebbte ab. Dafür entstan-
Die Beobachtung stellt eines der Highlights eines Pro- den Planeten und auf mindestens einem von ihnen auch
jekts namens RELICS dar (Reionization Lensing Cluster Lebewesen, die sich Gedanken über die Geschichte des
Survey), an dem ich maßgeblich beteiligt war und das Universums machen.
einige der ersten Galaxien im Kosmos aufspüren sollte. So oder so ähnlich stellen wir uns die Entwicklung des
Zwischen Oktober 2015 und Oktober 2017 nutzte das Kosmos vor. Viele Einzelheiten in der fernen Vergangenheit
RELICS-Team dazu mehr als 100 Stunden Beobachtungszeit sind aber noch unklar: Wann bildeten sich die ersten Gala­
am Hubble-Teleskop sowie mehr als 900 Stunden Beobach- xien? Wie groß waren sie, und wie sahen sie aus? Waren
tungszeit am Spitzer Space Telescope. sie die »Bausteine« für spätere Galaxien, mit jeweils einer
Insgesamt lieferte uns das Projekt 300 Kandidaten für einzigen großen Region, in der Sterne entstanden? Fand in
Galaxien mit einer Entstehungszeit in der ersten Milliarde allen von ihnen eine explosionsartige Entstehung von
Jahre nach dem Urknall. Diese extrem weit entfernten Sternen statt – oder waren manche Galaxien ruhiger, ähn-
Himmelsobjekte sind so faszinierend, weil sie einen Einblick lich wie heutige Exemplare?
in eine noch völlig unbekannte Ära der kosmischen Ge- Ebenfalls offen ist, ob die damaligen Galaxien Zeit genug
schichte geben. Durch sie können wir etwas darüber ler- hatten, eine scheibenförmige Struktur auszubilden, wie die
nen, wie die ersten Gala­xien entstanden sind und wie sie Milchstraße sie zeigt; möglicherweise kam es dazu auch zu
das junge Universum um sich herum beeinflusst haben. häufig zu Verschmelzungen. Eine spannende Frage ist
So gehen wir beispielsweise davon aus, dass Galaxien zudem, ob wir jemals eine Galaxie mit reinem Wasserstoff-
wie SPT0615-JD das Weltall entscheidend verändert haben: gas finden werden oder ob die ersten Supernovae die
Sie sendeten ultraviolette Strahlung aus, die vermutlich jungen Sterninseln dafür zu schnell mit schwereren Elemen-
vom umgebenden Gas absorbiert wurde. Das ionisierte ten angereichert haben. Andere Unklarheiten betreffen die
neutrale Wasserstoffatome, sie spalteten sich also wieder Rate, mit der die Masse und Anzahl der Galaxien zunah-
in Protonen und Elektronen auf. men, und die Frage, ob sie tatsächlich für die Reionisierung
Astronomen bezeichnen diesen Vorgang als Reionisie- des Universums verantwortlich waren.
rung, weil Elektronen und Protonen nach dem Urknall
zunächst ebenfalls getrennt voneinander waren, bis der Gewaltige Galaxien dienen als ­
Kosmos weit genug abgekühlt war, um neutrale Atome kosmische Vergrößerungsgläser
zu formen. Wie und wann genau die Reionisierung ablief, Es gibt also noch viel zu erforschen im jungen Universum.
ist bislang unklar. Mit etwas Glück könnten die Galaxien, Mit RELICS hofften wir Antworten zu finden. Unser Projekt
die wir im jungen Kosmos beobachten, uns Antworten macht sich so genannte Gravitationslinsen zu Nutze, um
darauf liefern. weit in die Vergangenheit zu schauen. Dabei handelt es sich
Die frühen Galaxien waren ganz anders als die heutigen, um natürliche Vergrößerungsgläser in Form masse­reicher
die wir um uns herum sehen. Sie waren homogener und Galaxienhaufen. Diese Ansammlungen von etlichen Stern­
bestanden hauptsächlich aus Wasserstoff, dem leichtesten inseln enthalten so viel Masse, dass sie mit ihrer Gravitation
Element im Kosmos. Im Lauf der Zeit fusionierten dann Raum und Zeit gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie
diese Atome in den Sternen, wodurch sich schwerere von Einstein stark verbiegen.
Elemente bildeten. Als die ersten Sterne am Ende ihres Die Strahlung eines weiter entfernten Objekts folgt den
Lebens in Supernova-Explosionen vergingen, verteilten Krümmungen der Raumzeit und wird auf diese Weise
diese die schwereren Elemente im Weltall, darunter jene gebündelt und verstärkt. Wenn die Strahlung schließlich die
Stoffe, die für die Entstehung von Leben nötig sind. Erde erreicht, sieht das Objekt hinter dem Galaxienhaufen
Auch die Struktur der Galaxien war eine andere: Die verzerrt und auseinandergezogen aus – mitunter erscheinen
ersten von ihnen mussten sich noch zu jenen majestäti- sogar mehrere Bilder von ihm. Das Phänomen mag abstrakt
schen Spiralen oder geschwollenen Ellipsoiden entwickeln, erscheinen, aber wir kennen etwas Ähnliches aus unserem
die wir im heutigen Kosmos sehen. Sie waren weniger Alltag: Blickt man durch den Boden eines Weinglases auf
geordnet und viel kleiner – was es schwerer macht, sie eine Kerzenflamme, so sieht man mehrere verzerrte Bilder
aufzuspüren. Die ersten Galaxien, von denen wir bislang von ihr. Hier lenkt das Glas die Lichtstrahlen um.
wissen, maßen nur etwa ein Prozent unserer Milchstraße. Per Gravitationslinse vergrößerte Galaxien sind heller
Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sie beobachten, wuch- und zeigen mehr Einzelheiten als solche auf gewöhnlichen
sen sie rasant an und bildeten mit einer erstaunlich großen Teleskopaufnahmen. Wir können dadurch Objekte beob-
Rate neue Sterne. Diese Pioniere waren massereicher als achten, die sonst zu weit entfernt und zu leuchtschwach
die heutigen Sterne, sie enthielten vermutlich das Zigfache wären, um für uns sichtbar zu sein. Ein weiterer Vorteil: In
der Masse unserer Sonne. Kernbrennstoff war damals Regionen, die durch den Gravitationslinseneffekt vergrößert

48 Spektrum der Wissenschaft  5.19


NASA/ESA/STSCI/B. SALMON (PHOTOJOURNAL.JPL.NASA.GOV/CATALOG/PIA22079)
Roter Fleck: Bei dieser schwachen Schliere in einer Leitung von Marc Postman beobachtete das Team 25 Gala-
Aufnahme des Weltraumteleskops Hubble handelt xienhaufen. Ich half dabei, den Antrag für das Projekt zu
es sich um SPT0615-JD, eine der am weitesten von ­schreiben und die gewonnenen Aufnahmen zu analysieren.
uns entfernten bekannten Galaxien. Dabei entdeckte ich im Jahr 2012 die Galaxie MACS0647-JD,
die ihr Licht, das wir heute empfangen, gerade einmal 420
Millionen Jahre nach dem Urknall ausgesendet hat.
werden, lassen sich Galaxien effizienter aufspüren als in auf Damit war sie eine Weile die am weitesten entfernte
den ersten Blick »leeren« Himmelsflecken, wie sie das bekannte Galaxie, übertroffen erst 2016, als Pascal Oesch
Hubble-Teleskop im Rahmen seiner Deep-Fields-Aufnah- von der Yale University eine Galaxie aufspürte, die ihre
men immer wieder anvisiert hat. Strahlung noch einmal 20 Millionen Jahre früher auf den
Das ist nicht so einfach zu verstehen – zumal der Blick Weg geschickt hat. Oesch gelang die Entdeckung im Rah-
durch eine Gravitationslinse auch einen Nachteil mit men des Cosmic Assembly Near-Infrared Deep Extragalactic
sich bringt. Die Verstärkung durch die Gravitationslinse Legacy Survey (CANDELS), bei dem das Hubble-Teleskop
macht einerseits zuvor unsichtbare leuchtschwache Gala­ relativ leere Himmelsregionen absucht, also ohne die Hilfe
xien heller und damit sichtbar. Zugleich aber führt die starker Gravita­tionslinsen.
Vergrößerung per Gravitationslinse dazu, dass wir einen Nach den Erfolgen von CLASH half ich dabei, Charles
kleineren Bereich des Himmels mit entsprechend weniger Mattias Mountain, damals Direktor des Space Telescope Sci-
Galaxien betrachten. Das reduziert die Chance, eine davon ence Institute, davon zu überzeugen, beim nächsten großen
zu finden. Hubble-Projekt eine andere Strategie zu fahren. »Frontier
Welcher der beiden Effekte bestimmt nun den Erfolg Fields« sollte in die Fußstapfen der berühmten Hubble-
bei der Galaxienjagd? Wenn es ausreichend viele leucht- Deep-Fields-Programme treten, die sich die leersten Regio-
schwache Galaxien gibt, dann dominiert der Verstärkungs- nen am Himmel vorgenommen hatten. In diesen gibt es
effekt und kompensiert den Verlust an Fläche über. Glück­ keine hellen, nahen Galaxien (womit Entfernungen von bis
licherweise gab es im jungen Universum sehr viele kleine, zu mehreren Milliarden Lichtjahren gemeint sind), die unse-
leuchtschwache Galaxien. Das macht es vergleichsweise ren Blick in größere Entfernungen behindern könnten.
unwahrscheinlich, dass wir mit unserer Technik ins Leere Das erste Bild des Hubble-Deep-Fields-Programms, eine
blicken. Kombination von 342 Bildern, aufgenommen im Verlauf von
Drei der umfangreichsten Programme, die in den ver­ zehn Tagen im Jahr 1995, war eine Offenbarung: In einem
gangenen sieben Jahren mit dem Hubble-Teleskop durch- vermeintlich leeren Himmelsausschnitt, deren Ausdehnung
geführt wurden, haben die Gravitationslinsenwirkung von der Größe eines Sandkorns in einer Armlänge Abstand
Galaxienhaufen für die Suche nach weit entfernten Galaxien entspricht, zeigten sich etwa 3000 Galaxien. Das nachfol-
genutzt. Im Rahmen aller dieser Programme haben Wissen- gende Hubble Deep Field South und das Ultra Deep Field
schaftler auch Beobachtungen des Weltraumteleskops vermieden ebenso sorgfältig alle »nahen« Galaxien und
Spitzer genutzt, das im Infrarotbereich arbeitet, also bei offenbarten eine ähnliche Vielfalt.
größeren Wellenlängen als Hubble. Das Frontier-Fields-Programm sollte mit der Tradition der
Das erste dieser Programme, der Cluster Lensing and leeren Himmelsflecken brechen. In seinem Rahmen unter-
Supernova Survey (CLASH), lief über drei Jahre. Unter der suchten Astronomen sechs Himmelsregionen, in denen sich

Spektrum der Wissenschaft  5.19 49


Gravitationslinsen
Bei ihrer Suche nach extrem weit entfernten Galaxi-

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
en im jungen Kosmos machen sich die Astronomen Lichtstrahlen

das Phänomen der Gravitationslinsen zu Nutze.


Dabei handelt es sich um massereiche Objekte wie Galaxienhaufen
etwa Galaxienhaufen, welche die Raumzeit in
ihrer Umgebung verbiegen. Strahlung, die
diese Regionen durchquert, muss daher
einem gebogenen Pfad folgen. Dadurch
Gesichtsfeld
kann eine hinter einer Gravitationslinse
liegende, weiter entfernte Galaxie
von der Erde aus gesehen ver-
größert, an einer anderen
Stelle oder sogar mehrfach weit entfernte Galaxie (wahre Position)
erscheinen.

Weltraumteleskop scheinbare Position der Galaxie


Hubble
mehrfache Bilder der Galaxie

Das durch die Gravitationslinse abgelenkte


Licht folgt unterschiedlichen Pfaden zur Erde
und erzeugt so mehrere Bilder der Galaxie.

die dichtesten Ansammlungen von Galaxien befinden, die Satelliten gestoßen, der
uns in drei bis fünf Milliarden Lichtjahren Entfernung be- einen Katalog der großen
kannt sind. Zusätzlich beobachteten sie sechs relativ leere Ansammlungen von Galaxien
Regionen in der Nachbarschaft der anderen Felder. erstellt hatte. Planck ist zwar eher für seine detailreiche
Frontier Fields wandelte die vermeintliche Schwäche der Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung be-
störenden Vordergrundobjekte in eine Stärke um: Die rühmt. Doch Galaxienhaufen verzerren diese Hintergrund-
Galaxienhaufen im Bild verstärkten die Fähigkeiten der strahlung, daher konnten die Wissenschaftler anhand der
beiden Teleskope Hubble und Spitzer mit Hilfe des Gravita­ Planck-Messungen rund 1000 von ihnen aufspüren.
tionslinseneffekts, so dass die Teleskope viele weit entfern- Die meisten dieser Ansammlungen waren zwar bereits
te Galaxien aufspüren konnten – darunter die kleinsten und bekannt, bei einigen handelte es sich jedoch um neue
leuchtschwächsten Galaxien, die wir bisher kennen. Entdeckungen. Der massereichste Galaxienhaufen in dem
Katalog, Abell 2163, war nur mit Hubble im sicht­baren
Relikte der Vergangenheit Bereich beobachtet worden, nicht aber im Infraroten. Und
Nachdem CLASH und Frontier Fields bereits liefen, war auch der Galaxienhaufen mit der zweitgrößten Masse,
zunächst unklar, ob die Gemeinschaft der Astronomen ein PLCK G287.0+32.9, aus dem Planck-Katalog sah sehr viel
weiteres großes Hubble-Projekt zur Beobachtung von versprechend aus: Er hatte sich schon bei Beobachtungen
Galaxienhaufen befürworten würde. Doch viele masserei- mit Teleskopen auf der Erde als exzellente Gravitationslinse
che Galaxienhaufen waren bis dahin weder mit Hubble entpuppt. Aber das Weltraumteleskop Hubble hatte dort
noch im Infrarotlicht beobachtet worden. Und just in die- noch nicht hingeschaut.
sem Bereich des elektromagnetischen Spektrums sollte Ich erstellte also eine Liste von 41 massereichen Gala-
man besonders ferne Galaxien aufspüren können. Schließ- xienhaufen, von denen es noch keine Hubble-Aufnahmen
lich wird die Wellenlänge von Strahlung durch die Expansi- im nahen Infrarotbereich gab, und schrieb zusammen mit
on des Weltalls ständig gestreckt, was bei sichtbarem Licht einem Team von Astronomen einen Hubble-Projektantrag.
einer Verschiebung hin zum Infraroten gleichkommt. Wir baten um Beobachtungszeit für 190 von H ­ ubbles
Die Galaxienhaufen stellten also gewissermaßen eine Umläufen um die Erde. Das entspricht etwa fünf Prozent
Reihe natürlicher Teleskope dar – und wir hatten uns bei der verfügbaren Beobachtungszeit für das Antragsjahr –
unserer Suche nach fernen Galaxien bislang nicht die Mühe ins­gesamt mehr als 100 Beobachtungsstunden.
gemacht, durch sie hindurchzuschauen. Auf die Galaxien- Nachdem alle Projektvorschläge für das Jahr eingereicht
haufen war ich 2015 durch Daten des europäischen Planck- waren, versammelten sich Astronomen aus der ganzen

50 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Welt in Baltimore, um darüber zu beratschlagen. Unser spricht auf den ersten Blick einer Zeit, als das Universum
Team hatte Glück: Im Juni 2015 erfuhren wir, dass unser weniger als 500 Millionen Jahre alt war. Beobachtungen mit
Vorschlag angenommen worden war. Es war das größte Spitzer zeigten uns jedoch, dass die Rotverschiebung von
»General Observers«-Projekt im 23. wissenschaftlichen zwei dieser Kandidaten vermutlich lediglich 2 beträgt.
Betriebsjahr des Weltraumteleskops. Damit hätte ihr Licht »nur« etwa zehn Milliarden Jahre zu
Im Rahmen von RELICS beobachteten wir alle 41 Gala- uns benötigt, was etwa drei Vierteln des jetzigen Weltalters
xienhaufen auf unserer Liste im infraroten Kanal der Wide entspricht. Lediglich SPT0615-JD überstand den Spitzer-
Field Camera 3 (WFC3/IR) von Hubble. Außerdem betrach- Test und verblieb als Kandidat für einen neuen Entfernungs-
teten wir mit Hubbles Advanced Camera for Surveys (ACS) rekord.
die Objekte im roten, grünen und blauen sichtbaren Licht, Durch die Kombination von Salmons Auswertung der
sofern das nicht zuvor geschehen war. Die ACS-­Aufnahmen Hubble-Daten mit einer Analyse der Spitzer-Messungen
haben eine höhere Auflösung und helfen uns damit, die durch Victoria Strait von der University of California in Davis
Linseneigenschaften der Galaxienhaufen zu messen und konnten wir zeigen, dass die Intensität der Strahlung von
daraus die Vergrößerung der auf den WFC3/IR-Bildern SPT0615-JD bei einer Wellenlänge von etwa 1,34 Mikrome-
entdeckten, weit entfernten Galaxien abzu­schätzen. tern schlagartig abfällt. Bei kleineren Wellenlängen ist die
Wir beobachteten bei sieben verschiedenen Wellenlän- Galaxie nicht mehr zu sehen. Die fehlende Strahlung, so
gen zwischen 0,4 und 1,7 Mikrometern und erhielten auf unsere Vermutung, hat den Wasserstoff im jungen Kosmos
diese Weise grobe Spektren der Galaxienstrahlung. Indem reionisiert.
wir auf spezifische Strukturen im Spektrum achteten, Die Abbruchkante im Spektrum von SPT0615-JD ist für
beispielsweise auf die Absorption durch neutralen Wasser- uns ausgesprochen nützlich: Sie erlaubt uns, die Entfernung
stoff, konnten wir die Rotverschiebung der Strahlung und der Galaxie zu bestimmen. Zwar sehen wir die Kante bei
damit die Entfernung der Galaxien abschätzen. 1,34 Mikrometern. Aber wir wissen aus der Atomphysik,
Weitere Projektanträge brachten uns zusätzliche 946 dass neutraler Wasserstoff eigentlich ganz anderes Licht
Stunden Beobachtungszeit am Infrarot-Weltraumteleskop absorbiert, nämlich extreme ultraviolette Strahlung mit
Spitzer ein. Da es andere Wellenlängen erfasst als Hubble, Wellenlängen kleiner als 0,12 Mikrometer. Der Vergleich
konnten wir mit ihm die Sterne in den Galaxien genauer zwischen dieser ursprünglichen und der beobachteten
charakterisieren und auch ihre Gesamtmasse bestimmen.
Daneben überprüften wir, ob die Galaxien wirklich so weit
entfernt sind, wie es anhand der Hubble-Aufnahmen
scheint. Zwei unterschiedliche Strategien
Eine einzigartige Entdeckung Für ihre Suche nach weit entfernten Galaxien kön-
Unserem Postdoc Brett Salmon gelang dann die wohl nen Astronomen zwei verschiedene Verfahren
wichtigste Entdeckung: Er stieß auf SPT0615-JD. Die Gala- anwenden. Beim ersten machen sich die Wissen-
xie stach auf den Hubble-Aufnahmen keineswegs sofort als schaftler Langzeitaufnahmen von vermeintlich
das einzigartige Objekt hervor, das es ist. Galaxien können leeren Himmelsregionen zu Nutze. Beim zweiten
aus unterschiedlichen Gründen einen Rotstich haben. beobachten sie gerade solche Regionen, in denen
Einige von ihnen sind stark rotverschoben wie eben sich Galaxienhaufen befinden, und nutzen diese
SPT0615-JD. Andere sind lediglich in dichte Staubwolken als Gravitationslinse, die Licht dahinterliegender
gehüllt, die ihr blaues Licht absorbieren und im infraroten Quellen bündelt. Wegen der Vergrößerung betrach-
Bereich wieder aussenden. Dadurch erscheinen sie röter, tet man so zwar einen kleineren und seltsam ge-
als sie eigentlich sind. formten Himmelsausschnitt, kann aber Galaxien
Wieder andere rote Galaxien befinden sich in unserer aufspüren, die sonst zu leuchtschwach wären.
lokalen Umgebung, sind aber sehr alt. In ihnen
NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2018;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
haben sich in jüngerer Zeit nicht mehr viele neue
Sterne gebildet; dadurch dominieren alte Sterne, die
vor allem rot leuchten. Bei roten Galaxien auf Teles-
kopbildern können sogar alle diese Faktoren zusam-
men auftreten: Sie sind mitunter rotverschoben,
staubig und zum Zeitpunkt der Aufnahme schon
ziemlich alt.
Deshalb sind Spitzer-Beobachtungen im Infrarot-
bereich bei Wellenlängen von drei bis fünf Mikrome-
tern so wichtig für uns: Mit ihnen lassen sich ferne,
stark rotverschobene Galaxien von nahen, intrinsisch
roten Galaxien unterscheiden. Tatsächlich stießen
wir auf den Hubble-Aufnahmen zunächst auf drei leeres Feld durch eine Gravitationslinse
Kandidaten – darunter SPT0615-JD –, die eine Rotverschie- beobachtetes Feld

bung mit einem Wert von 10 zu haben schienen. Das ent-

Spektrum der Wissenschaft  5.19 51


Absorptionskante im Spektrum von SPT0615-JD zeigte uns Milchstraße werfen. Unsere Beobachtungen mögen hier
daher, wie stark sich das Universum zwischen der Aussen- nicht allzu viel an Details hergeben, aber wir wollen nun
dung der Strahlung und ihrem Empfang auf der Erde ausge- mit dem Hubble-Teleskop noch aussagekräftigere Bilder
dehnt hat, und damit auch, wie lange die Strahlung zu uns machen.
unterwegs war. Unter anderem hoffen wir, auch die durch die Gravita­
So kommen wir auf die rekordverdächtige Rotverschie- tionslinse erzeugten Abbilder der Galaxie aufzuspüren,
bung von 10. Damit ist SPT0615-JD eine der am weitesten wie sie Rachel Paterno-Mahler von der University of Cali­
entfernten Galaxien, die wir kennen. Es gibt zwar zwei fornia in Irvine vorhergesagt hat. Darüber hinaus konnten
Galaxien, die eine Rotverschiebung von 11 besitzen, die also wir uns bereits Beobachtungszeit am Atacama Large
etwas weiter entfernt sind und wohl bereits 400 Millionen Millimeter Array (ALMA) im chilenischen Hochland sichern.
Jahre nach dem Urknall existierten. Hubble zeigt sie aller- Damit wollen wir unsere Entfernungsmessung bestätigen
dings lediglich als infrarote Punkte, die zu klein sind, um und zudem Sauerstoff in der Galaxie nachweisen – das
Einzelheiten ihrer Struktur zu erkennen. wäre der bislang früheste Nachweis dieses Elements im
Bei SPT0615-JD ist das anders: Ihr Licht wurde durch Kosmos.
eine Gravitationslinse verzerrt, was das Bild der Galaxie Und schließlich werden wir Beobachtungen mit dem
vergrößert hat (siehe Bild S. 49). Dadurch können wir einen James Webb Space Telescope (JWST) vorschlagen, dem
detaillierteren Blick auf diese ferne Verwandte unserer nächsten großen Weltraumteleskop der NASA, dessen

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Kosmische Zeitleiste vor 13,3 Milliarden Jahren:
Galaxie SPT0615-JD,
Rotverschiebung 10
dunkles
Das Projekt RELICS nutzte die Weltraumteleskope Hubble und Spitzer, Zeitalter
um nach Galaxien in der Zeit zwischen 400 und 600 Millionen Jahren Epoche der
Reionisierung kosmische
nach dem Urknall zu suchen. Astronomen bezeichnen diese Ära als
12 Mrd. Hintergrund-
Epoche der Reionisierung, weil die ersten Sterne mit ihrer Strahlung die
Jahre ? strahlung
neutralen Wasserstoffatome im Weltall wieder ionisierten. Da sich 10 Mrd. 12 Mrd.
Jahre Jahre ? kosmische
elektromagnetische Strahlung mit Lichtgeschwindigkeit 10 Mrd. Inflation
8 Mrd.
ausbreitet, ist der Blick in große Entfernungen Jahre
Jahre
zugleich ein Blick in die ferne Vergangenheit. 8 Mrd.
6 Mrd.
Jahre Urknall
Jahre
6 Mrd.
4 Mrd.
Jahre
Eine herausragende beschleunigte Jahre
2 Mrd.
Expansion 4 Mrd.
Entdeckung von
Jahre Jahre
RELICS war die 2 Mrd.
Galaxie SPT0615- Jahre
heute
JD, deren Licht 13,3
Milliarden Jahre zur heute
Erde benötigte – wir 20
10
sehen sie also so, 20
3 10
wie sie damals
aussah. 2 3
2 ultraviolette
Strahlung
1
1

Spitzer

0 heute Urknall
0 1 2 3 20
0 infrarote heute Urknall
Hubble Strahlung 0 1 2 3 20
Die Rotverschiebung
Während das Weltall expandiert, dehnt sich auch die Strahlung aus,
die sich durch den Kosmos bewegt. Dadurch verschieben sich die Wellen­
längen vom blauen zum roten Bereich des elektromagnetischen Spektrums.
Je weiter ein Objekt von der Erde entfernt ist, desto länger nimmt seine
Strahlung an der Expansion teil und desto größer ist daher seine Rotverschiebung.

52 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Start wegen technischer Probleme nach derzeitigem Stand Je weiter wir in der Zeit zurückblicken, desto stärker domi-
allerdings frühestens 2021 ansteht. Das JWST könnte uns nieren kleinere Systeme die Verteilung der Galaxien. Wenn
einen Einblick in die innere Struktur der Galaxie liefern, sich dieser Trend bis in die ersten 400 Millionen Jahre
ihren Beitrag zur Reionisierung messen und ihre chemische fortsetzt, vergrößert sich der Vorteil von Gravitationslinsen
Zusammensetzung bestimmen – ob sie also noch aus noch einmal ganz erheblich. Auf Basis derzeitiger Schätzun-
reinem Wasserstoffgas besteht oder bereits mit schwere- gen wage ich vorauszusagen, dass Gravitationslinsen das
ren Elementen angereichert ist. entscheidende Element für die Entdeckung der allerersten
SPT0615-JD war die wichtigste Entdeckung von Galaxien mit dem JWST sein werden.
RELICS, aber wir haben darüber hinaus rund 300 weitere Mit Sicherheit wird das JWST Galaxien zu einer Zeit von
Kandi­daten für sehr frühe Galaxien gefunden. Alle von 300 Millionen Jahren nach dem Urknall sehen. Womöglich
ihnen müssen noch durch Nachfolgebeobachtungen über- werden Gravitationslinsen es uns dann sogar ermöglichen,
prüft werden. Im Rahmen unseres Projekts entdeckten junge Galaxien 200 Millionen Jahre nach dem Urknall
wir außerdem die bislang hellsten bekannten Galaxien bei aufzuspüren. Das halbiert die Lücke in der kosmischen
Rotverschiebungen mit einem Wert von 6, was einem Geschichte, zumindest sofern Galaxien tatsächlich so früh
Universumsalter von etwa einer Milliarde Jahren entspricht. entstanden sind.
Nach dem Start des Teleskops müssen wir uns mit
Die Lücke in unserer Geschichte diesem Vorhaben beeilen. Wir haben lediglich fünf bis zehn
Die frühen Galaxien könnten uns letztlich dabei helfen, ein Jahre Zeit, um mit dem Instrument zu arbeiten. Während
fehlendes Kapitel im Geschichtsbuch des Universums zu das Hubble-Teleskop 28 Jahre nach seinem Start – trotz
füllen. Wissenschaftler haben zwar eine grundlegende kleiner Altersschwächen – immer noch gute Arbeit leistet,
Theorie über die ersten Momente nach dem Urknall, als hat das JWST bloß Treibstoff für ein Jahrzehnt an Bord.
sich der Kosmos vermutlich durch ein als Inflation bezeich- Danach können wir es nicht mehr auf seiner Umlaufbahn
netes Phänomen für einen kurzen Moment mit gewaltiger am Lagrange-Punkt L2 halten, der 1,5 Millionen Kilometer
Geschwindigkeit aufblähte. Und etwa 380 000 Jahre nach von der Erde entfernt liegt und damit fast viermal so weit
der Entstehung von Raum und Zeit hatte sich das Univer- entfernt ist wie der Mond. Damit ist das Teleskop praktisch
sum ausreichend abgekühlt, um die Bildung der ersten unerreichbar für Astronauten – Reparaturmissionen oder
Atome zu ermöglichen, wodurch der Kosmos erstmals für der Austausch von Instrumenten wie bei Hubble sind kaum
Licht durchsichtig wurde. Das Nachglühen dieser Epoche denkbar.
ist bis heute in der kosmischen Hintergrundstrahlung
verewigt. James Webb wird noch weiter zurückblicken
Auf diesen Schnappschuss folgt dann jedoch eine 400 In einer Hinsicht sind die bisherigen Ergebnisse besonders
Millionen Jahre große Lücke in unserem Wissen. Bislang spannend für uns: Die Milchstraße ist vermutlich etwa zur
haben wir kein einziges Objekt in dieser Epoche aufspüren gleichen Zeit entstanden wie SPT0615-JD. Doch wir sehen
können. Drei Prozent der kosmischen Saga liegen damit unsere Galaxie nur so, wie sie heute ist, und wir haben
völlig im Dunkeln. Wir wissen allerdings, dass diese Epoche keine Möglichkeit zu erfahren, wie sie im jungen Kosmos
ereignisreich gewesen sein muss. Die ersten Sterne ent- ausgesehen hat. Im Gegensatz dazu sehen wir SPT0615-JD
standen wohl 100 Millionen Jahre nach dem Urknall. An- in ihrer Jugend, weil das Licht dieser Galaxie so lange zu
schließend begannen sie wahrscheinlich damit, immer uns brauchte. Unsere Milchstraße und SPT0615-JD könnten
größere Ansammlungen zu bilden, aus denen schließlich letztlich eine ganz ähnliche Geschichte haben. Beide sind
die ersten Galaxien hervorgingen. Das Licht dieser Galaxien im Verlauf von 13 Milliarden Jahren immer weiter ange-
reionisierte dann den Wasserstoff im Universum. wachsen. Und auch in SPT0615-JD sind wahrscheinlich
Anhand der ersten Galaxien können wir vielleicht etwas rund um Sterne Planeten entstanden – auf einigen dieser
über diese Prozesse lernen. Mit RELICS und ähnlichen Planeten vielleicht sogar Leben.
vorangegangenen Projekten– wie etwa CLASH, CANDELS Falls eine dieser Lebensformen Intelligenz entwickelt hat,
und Frontier Fields – haben wir zweifellos Fortschritte schaut sie womöglich gerade mit Teleskopen durch densel-
gemacht. Wenn erst das JWST im All ist, hoffen wir auf ben Galaxienhaufen hindurch und sieht einen schwach
einen noch größeren Sprung. Es wird dann das leistungs- leuchtenden roten Fleck – ein vergrößertes Bild der Milch-
stärkste Instrument der Menschheit zur Untersuchung straße kurz nach ihrer Geburt. Das ist wohl einer der Haupt-
der frühesten Epochen des Kosmos sein. Es wird leucht- gründe, warum wir immer weiter in die Tiefen des Kosmos
schwächere, weiter entfernte Galaxien bei größeren Wel- und zurück in die Zeit blicken: um unsere Ursprünge zu
lenlängen und mit höherer Auflösung beobachten als alle erforschen und unsere Rolle im Kosmos zu ergründen. 
bisherigen Teleskope. Und wir sollten mit dem JWST in der
Lage sein, die Massen und die chemische Zusammen­ QUELLEN
setzung der Galaxien sowie ihren Beitrag zu Reionisierung Oesch, P. A. et al.: A remarkably luminous galaxy at z = 11.1
zu bestimmen. measured with Hubble space telescope grism spectroscopy.
Gravitationslinsen haben uns bereits mit den gegenwär- The Astrophysical Journal 819, 2016
tigen Teleskopen geholfen, weit entfernte Galaxien aufzu- Salmon, B. et al.: RELICS: a candidate z ~ 10 galaxy strongly
spüren. Dieser Vorteil wird bei den Beobachtungen mit dem lensed into a spatially resolved arc. The Astrophysical Journal
JWST bei höheren Rotverschiebungen sogar noch größer. Letters 864, 2018

Spektrum der Wissenschaft  5.19 53


QUANTENPHYSIK
AUFBRUCH IN

MICHAEL LOHSE
NEUE DIMENSIONEN
Dank ausgeklügelter Tricks haben
Physiker den vierdimensionalen Quanten-
Hall-Effekt im Labor nachgewiesen.

Michael Lohse ist promovierter Physiker und war an


dem beschriebenen Versuch beteiligt. Er arbeitet inzwi-
schen als Patentingenieur bei einer Kanzlei in München.

 spektrum.de/artikel/1634760

54 Spektrum der Wissenschaft  5.19


MICHAEL LOHSE

Mit aufwändigen Laser­


systemen gelang
Phy­sikern der wich-
tige Laborversuch.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 55



Viele Menschen haben vermutlich erst-
mals durch die berühmte Geschichte des
Quadrats A. Square einen greifbaren
Eindruck von Räumen mit mehr als drei Dimen-
sionen bekommen. Neben einer satirischen
Darstellung der damaligen viktorianischen Gesell-
schaftsstruktur in England beschreibt Edwin Abbott
Abbott in seiner 1884 erschienenen Novelle »Flächen-
land«, wie der quadratische Protagonist einer flachen Welt

PRIZES/PHYSICS/2016/PRESS-RELEASE/ - TOPOLOGY); BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


auf eine Kugel trifft, die ihn von der Existenz einer dritten

JOHAN JARNESTAD/THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES (WWW.NOBELPRIZE.ORG/


Dimension überzeugen will.
Für Mathematiker ist es nichts Besonderes mehr, sich
geistig in hochdimensionale oder gar unendlich-dimensio-
nale Räume zu begeben, um dort komplizierte Beweise zu
führen. Und selbst in manchen Bereichen der Physik ist es
mittlerweile an der Tagesordnung, an Objekte mit mehr als
drei Dimensionen zu denken.
Außerhalb dieser theoretischen Sphären und vor allem,
wenn es um das alltägliche Leben geht, ist nach drei Raum-
dimensionen allerdings Schluss. Gerade Experimental­
physiker, die Theorien im Labor überprüfen, sind auf Syste-
me mit maximal drei Dimensionen beschränkt. Doch nun
ist es mir mit meinen Kollegen gelungen, einen vierdimen­
sionalen Quanteneffekt experimentell zu untersuchen.

Die seltsamen Gesetzmäßigkeiten, denen In der Topologie klassifizieren Mathematiker Objekte


mikroskopische Teilchen folgen gemäß ihrer unveränderlichen Eigenschaften. Für
Die klassische Physik, die wir in unserer Welt wahrnehmen, geometrische Formen bietet sich etwa die Anzahl ihrer
unterscheidet sich drastisch von den Gesetzen, die das Löcher an. Eine Tasse und ein Donut gehören daher zur
Verhalten von Molekülen und anderen Teilchen auf atoma- gleichen topologischen Kategorie. Ein abstrakteres
rer und subatomarer Ebene diktieren. Der Grund dafür ist, Beispiel ist die »Chern-Zahl«, die das Verhalten der
dass Quantensysteme in der Regel ihre eigentümlichen Elektronen im Quanten-Hall-Effekt charakterisiert. Die
Merkmale verlieren, sobald sie mit ihrer Umgebung wech- Hall-Spannung hängt lediglich von dieser Zahl ab.
selwirken. Ein alltägliches Objekt wie ein Ball hat gar keine
Chance seine quantenmechanischen Eigenschaften zu
entfalten: Er ist von unzählbar vielen Luftmolekülen umge- nach seinem Entdecker Edwin Hall benannte klassische
ben, wird von Photonen bombardiert und kommt hin und Hall-Effekt: Führt man einen stromdurchflossenen Leiter
wieder in Berührung mit einem Fuß. in ein Magnetfeld, lenkt die Lorentzkraft die bewegten
Das macht es für Physiker schwer, die Quantenwelt zu Elek­tronen seitlich ab, so dass eine Spannung senkrecht
erkunden. Meist können sie nur wenige Teilchen in abge- zum angelegten Strom entsteht. Diese »Hall-Spannung«
schotteten Systemen untersuchen, die äußerst störanfällig hängt sowohl von der Elektronendichte des Materials als
sind. Die kleinste Temperaturschwankung oder eine leichte auch von der Stärke des äußeren Magnetfelds ab, weshalb
Vibration machen das ganze Experiment zunichte. der Hall-Effekt zum Vermessen magnetischer Felder ge-
Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der so genannte nutzt wird.
Quanten-Hall-Effekt (siehe Spektrum März 1986, S. 46), den Klaus von Klitzing führte ein ähnliches Experiment durch,
der deutsche Physiker Klaus von Klitzing 1980 erstmals um eine künstlich hergestellte Halbleiterstrukur zu unter­
beobachtete. Das Quantenphänomen ist in Festkörpern suchen: die so genannten MOSFETs, deren freie Elektronen
messbar, die aus mehr als 1023 Teilchen bestehen, und ist in einer zweidimensionalen Ebene eingeschlossen sind.
unempfindlich gegenüber äußeren Einflüssen. Diese Als der Forscher die Proben in einem extrem starken Mag-
Entdeckung sollte weitaus weitreichendere Folgen für die netfeld immer weiter herunterkühlte, stellte er überrascht
Physik haben, als es der Forscher oder das Nobelkomitee, fest, dass die Hall-Spannung nicht mehr kontinuierlich
das ihm 1985 den prestigeträchtigen Preis verlieh, ahnen mit der Feldstärke zu- oder abnahm, sondern ihren Wert
sollten. Denn Quanten-Hall-Systeme sind das erste Beispiel ruckartig änderte.
einer neuen Stoffklasse, welche die heutige Elektronik­ Dieses unstetige Verhalten ist eigentlich ein Merkmal
industrie revolutionieren und zu neuartigen Quantencom- von Quantensystemen. Doch von Klitzing verwendete
putern führen könnte: Sie gehören zu den topologischen makroskopische und vergleichsweise unreine Halbleiter, in
Materialien (siehe Spektrum Februar 2019, S. 50). denen sich quantenmechanische Effekte eigentlich nicht
Als von Klitzing seine überraschende Beobachtung beobachten lassen. Als er den Versuch für andere MOS-
machte, war ein ähnliches Phänomen bereits bekannt, der FETs wiederholte, fand er exakt die gleichen Messwerte

56 Spektrum der Wissenschaft  5.19


vor – und das, obwohl die Hall-Spannung von der Elektro-
nendichte einer Probe abhängen sollte. Seine Ergebnisse
ließen sich dagegen ausschließlich auf Naturkonstanten AUF EINEN BLICK
zurückführen. Diese erstaunliche Eigenschaft nutzt man VIERDIMENSIONALER
inzwischen, um den elektrischen Widerstand zu definieren.
Zwei Jahre nach der unerwarteten Entdeckung fand der
QUANTEN-HALL-EFFEKT
britische Physiker David Thouless mit seinen Kollegen
Mahito Kohmoto, Peter Nightingale und Marcel den Nijs
eine Erklärung für das sonderbare Verhalten der Elektronen:
1 Anders als die meisten anderen Quantenphänomene
taucht der Quanten-Hall-Effekt unabhängig von
mikroskopischen Details in Festkörpern auf.
Anders als in gewöhnlichen Festkörpern diktieren Gesetze

2
aus dem abstrakten Gebiet der Topologie das Verhalten der Lange galt er als Spezialfall: In ein- oder dreidimen­
Teilchen in Quanten-Hall-Systemen. sionalen Materialien kann er nicht entstehen. Theo­
Die Topologie stammt aus der Mathematik und dient der retischen Berechnungen zufolge könnte es den
Klassifizierung geometrischer Körper. Dabei gelten zwei exotischen Effekt aber in vier Dimensionen geben.
Objekte als gleich, wenn sie sich kontinuierlich ineinander
umformen lassen. Es ist, als würde man einen Teig kneten,
ohne Löcher in diesen zu reißen. Daher sind ein rundes 3 Zwei Forschergruppen haben nun unabhängig von­
einander jeweils ein charakteristisches Merkmal
des vierdimensionalen Quanten-Hall-Effekts im Labor
Brötchen und ein längliches Baguette topologisch gesehen
untersucht und dadurch seine Existenz bestätigt.
gleich, während ein Donut einer anderen Kategorie ange-
hört. Topologen ordnen jeder Klasse eine »Invariante« zu,
welche die unveränderlichen Eigenschaften der Objekte
widerspiegelt. Für zweidimensionale Oberflächen ist eine
solche Invariante beispielsweise die Anzahl ihrer Löcher. also des Verhältnisses aus Hall-Spannung und senkrecht
In der Quantenmechanik gibt es etwas Vergleichbares. dazu angelegtem Strom. An bestimmten Schwellenwerten
Stellt man sich die möglichen Zustände eines Teilchens als veränderte das äußere Feld das Verhalten der Elektronen so
Punkte in einem Raum vor, dann verändert das Magnetfeld stark, dass die Chern-Zahl des Systems auf den nächsten
diesen Raum. Es ist, als würde es ihn krümmen. Dadurch ganzzahligen Wert hüpfte. So wie eine extreme Krümmung
beeinflusst es in von Klitzings Experiment die Geschwindig- irgendwann ein Loch in eine geometrische Oberfläche reißt,
keit und die Ausbreitungsrichtung der Elektronen in der kann auch ein sehr starkes Magnetfeld die topologische
Halbleiterstruktur. Diese Analogie zu geometrischen Objek- Invariante eines abstrakten Raums ändern.
ten machten sich Thouless und seine Kollegen zu Nutze. Die Topologie erklärt außerdem die bemerkenswerte
Topologen klassifizieren nämlich nicht bloß Oberflächen, Stabilität des seltsamen Quanteneffekts. Ähnlich wie das
sondern auch abstrakte Objekte. Deshalb konnten die vier Kneten einer Teigmasse zwar die geometrische Form eines
theoretischen Physiker den Wellenfunktionen im Quanten- Gebäcks ändert, aber keine Löcher erzeugt, können Verun-
Hall-System eine topologische Invariante namens Chern- reinigungen eines MOSFETs der Chern-Zahl nichts anhaben.
Zahl zuordnen, die einer Lochzahl für geometrische Ober­ Die Unvollkommenheit der Probe verformt die Wellenfunk­
flächen ähnelt. Sie bewiesen, dass die Hall-Spannung in tionen, ohne dabei die gesamte Topologie zu ändern.
von Klitzings Experiment umgekehrt proportional zu dieser
Invarianten ist, die genau wie eine Lochzahl nur ganzzahlige Eine neue Materialklasse ist geboren
Werte annimmt (siehe Bild links). Die Erkenntnisse von Thouless und seinen Kollegen sollten
Als der deutsche Forscher während seines Experiments die Festkörperphysik revolutionieren. Doch bevor sich Wis-
die Stärke des Magnetfelds immer weiter erhöhte, beob- senschaftler des Ausmaßes dieser Entdeckung bewusst
achtete er ein ruckartiges Wachstum des Hall-Widerstands, wurden, vergingen etwa zwei Jahrzehnte. Anfangs hielt man
den Quanten-Hall-Effekt für einen Spezialfall, der nur unter
besonderen Bedingungen auftritt. Als unausweichliche
Dreht man die Schraube einer Archimedes- Voraussetzung galt insbesondere die zweidimensionale
Pumpe, bewegt sich das Wasser entlang Struktur der MOSFETs, die Elektronen in eine Ebene zwingt.
des Pfeils nach oben. So kann man es von Wenig später bewiesen Forscher auch mathematisch, dass
einem tiefer liegenden Becken in ein es im Allgemeinen keinen Quanten-Hall-Effekt in drei Di-
höheres be­fördern. mensionen geben kann.
Um das Jahr 2000 fanden zwei Teams aus theoretischen
Physikern allerdings unabhängig voneinander heraus,
dass eine ähnliche Form des Quanten-Hall-Effekts in vier
Dimensionen auftreten könnte. Jürg Fröhlich und seine
Kollegen von der ETH Zürich sowie die Gruppe von Shou-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

cheng Zhang von der Stanford University berechneten,


dass das bizarre quantenmechanische Phänomen nicht wie
bisher angenommen bloß auf zweidimensionale Systeme
beschränkt ist.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 57


2D2D Quanten-Hall-Effekt 1D
Quanten-Hall-Effekt 1DLadungspumpe
Ladungspumpe

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF


2-D-Quanten-Hall-Effekt 1-D-topologische-Ladungspumpe

Magnetfeld Hall-Strom

angelegte
Spannung

Zeit
Bewegung des langen Gitters
MOSFET

Legt man eine Spannung an ein MOSFET in einem starken Magnet- 2-D-Quanten- 1-D-topologische-
feld an (links), entsteht ein Hall-Strom, der wegen der Lorentzkraft Hall-Effekt Ladungspumpe
senkrecht zur Spannung (pink) und zum Magnetfeld (gelb) verläuft. angelegte Verschieben des
Tatsächlich entspricht das zweidimensionale Quantensystem einer Spannung langen Gitters
eindimensionalen topologischen Ladungspumpe (rechts). Das
optische Übergitter (schwarz), das sich aus der Überlagerung eines Verhältnis von kurzer zu
Magnetfeld
langer Gitterperiode
kurzen (blau) und langen (grün) Gitters ergibt, wird zeitlich verändert,
wodurch Atome (rot) in benachbarte Senken tunneln können. Hall-Strom gepumpte Atome

In einer vierdimensionalen Probe sollte es den Wissen- das noch niemand nachgewiesen hat. Wie sollte man auch
schaftlern zufolge nicht nur eine, sondern zwei quantisierte einen vierdimensionalen Effekt in einer dreidimensionalen
Hall-Spannungen geben. Im gewöhnlichen Quanten-Hall- Welt untersuchen?
Effekt erscheint diese Spannung senkrecht zur Bewegungs- Tatsächlich ist es unserer Arbeitsgruppe an der Universi-
richtung der Elektronen und zum äußeren Magnetfeld. Im tät München zeitgleich mit einem Team um Mikael Rechts-
vierdimensionalen Fall gibt es jedoch eine weitere Raum- man von der Pennsylvania State University 2018 gelungen,
richtung, die senkrecht zu den übrigen steht. Entlang dieser, das vierdimensionale Phänomen im Labor zu studieren. In
das ergaben die Überlegungen der Physiker, würde unter Zusammenarbeit mit den theoretischen Physikern Hannah
bestimmten Umständen eine zweite quantisierte Spannung Price und Oded Zilberberg haben meine Kollegen und ich mit
verlaufen. Hilfe von ultrakalten Atomen zwei quantisierte Hall-Ströme
Auf den ersten Blick erscheint der vierdimensionale gemessen, während sich Rechtsman und seine Gruppe auf
Quanten-Hall-Effekt wie eine mathematische Kuriosität ein anderes charakteristisches Merkmal topologischer
ohne wirkliche Relevanz. Allerdings hatte die Erkenntnis Systeme konzentrierten: Sie wiesen mit Photonen nach, dass
weit reichende Folgen. Durch sie begannen Wissenschaft- die Oberfläche eines vierdimensionalen Quanten-Hall-Sys-
ler topologische Phänomene besser zu verstehen. Als 2007 tems leitend ist, während sein Inneres isoliert (siehe »Herum-
die »topologischen Isolatoren« entdeckt wurden, begann hüpfende Photonen«, S. 60).
ein regelrechter Boom, der neun Jahre später mit der Die entscheidende Idee für unseren Versuch hatte Zilber-
Vergabe des Nobelpreises für Physik unter anderem an berg zusammen mit zwei Kollegen im Jahr 2013. Dabei
David Thouless seinen vorläufigen Höhepunkt fand und bis griffen sie ein 30 Jahre altes Modell von David Thouless auf,
heute andauert. die »topologische Ladungspumpe«. Der britische Physiker
Topologische Materialien sind ein junges Forschungs- hatte damals gezeigt, dass die periodische Veränderung
feld, das noch viele Geheimnisse birgt. Elektronen verhalten eines Systems zu einem Teilchenfluss führen kann, der eng
sich in einigen dieser Festkörpern so seltsam, dass sie mit dem Quanten-Hall-Effekt zusammenhängt. Im Prinzip
keinen bisher bekannten Teilchen ähneln. In manchen beschrieb er die quantenmechanische Version einer Archi-
Systemen wirken die beweglichen Ladungen beispielswei- medes-Pumpe, die über eine Schraube in einem Rohr Was-
se wie Bruchstücke eines Elektrons. Diese Zustände gelten ser transportiert (siehe Bild, S. 57). Dreht man die Schraube –
als Hoffnungsträger für eine neue Art von Quantencom­ was einer periodischen Veränderung entspricht –, wird
puter, der stabiler sein könnte als die aktuellen Varianten. Wasser aus einem tiefer liegenden Becken in ein höheres
Abgesehen von der rasanten Entwicklung im Bereich der gepumpt.
Festkörperphysik faszinierte der vierdimensionale Quanten- Das Besondere an dieser Pumpe ist, dass kein Potenzial-
Hall-Effekt weiterhin die Wissenschaftler. Sie fragten sich, unterschied durch eine elektrische Spannung oder die
ob es wirklich zwei quantisierte Spannungen geben könnte. Schwerkraft nötig ist, um die Teilchen oder das Wasser zu
Das wäre ein vollkommen neues topologisches Phänomen, bewegen. Stattdessen führt die zyklische Veränderung zu

58 Spektrum der Wissenschaft  5.19


dem Fluss. Obwohl das System nach einer Umdrehung Atome wie in einem Eierkarton fangen. Trifft ein Lichtstrahl
genau so aussieht wie am Anfang, haben sich Wassermole- auf ein Atom, vibrieren dessen Valenzelektronen mit der
küle während des Vorgangs verschoben. Frequenz des elektromagnetischen Lichtfelds, wodurch sich
Die quantenmechanische Version der Archimedes-Pum- ein Dipol bildet. Bei geeigneter Laserfrequenz schwingen
pe von Thouless besteht aus einer eindimensionalen Kette die Elektronen derart, dass sie stets mit dem Licht in Phase
geladener Teilchen, die periodisch verändert wird, wodurch sind. In diesem Fall entsteht eine Kraft zwischen dem Dipol
sich die Position der Partikel ändert. Überraschenderweise des Atoms und dem elektromagnetischen Feld des Lasers,
hängt die topologische Ladungspumpe mit dem Quanten- wodurch sich das Teilchen zu der Stelle bewegt, an der der
Hall-Effekt zusammen: Thouless bewies, dass die Anzahl Strahl seine höchste Intensität hat.
der pro Pumpzyklus transportierten Ladungen der Chern- In unserem Experiment stellten wir einen Spiegel auf, der
Zahl entspricht, von der der Hall-Strom im Quanten-Hall- den Laserstrahl auf sich selbst zurückreflektiert. Dadurch
System abhängt. Diese Erkenntnis war für uns ein Grund bildet sich eine stehende Welle aus, in der sich helle und
zum Jubeln. Denn das bedeutet, dass es möglich ist, das dunkle Bereiche regelmäßig abwechseln. Die Atome aus der
zweidimensionale Quantenphänomen durch eine eindimen- chaotischen Wolke ordnen sich dann in diesem eindimensio-
sionale Teilchenkette zu untersuchen. nalen »optischen Gitter« an. Um die Analogie des Eierkar-
Diesem Gedanken folgend schlugen Zilberberg und tons wieder aufzugreifen, kann man sich das periodische
seine Kollegen vor, dass man den vierdimensionalen Quan- Lichtmuster als sinusförmige Welle vorstellen, bei der die
ten-Hall-Effekt durch eine zweidimensionale topologische Intensitätsmaxima den Senken entsprechen, in denen die
Ladungspumpe studieren könnte. Doch bevor wir uns Atome gefangen sind.
dieser Aufgabe widmeten, setzten wir zuerst das ursprüng- Nun hatten wir eine geordnete Atomkette erzeugt. Wir
liche Modell von Thouless um. benötigten also nur noch eine periodische Veränderung im
Lichtmuster, ähnlich dem Drehen der Schraube in der Archi-
Eine Wolke ultrakalter Teilchen, medes-Pumpe. Dafür brauchten wir ein komplizierteres
gefangen in einer optischen Falle optisches Gitter. Daher fügten wir eine weitere stehende
Dazu verwendeten wir ultrakalte Atome, die uns als »Quan- Welle mit der halben Wellenlänge des ersten Lichtstrahls
tensimulatoren« dienten (siehe Spektrum September 2016, hinzu. Weil sich beide Laser überlagern, entsteht ein opti-
S. 30). Solche quantenmechanische Systeme simulieren sches »Übergitter«, in dem sich jedes Minimum des ur-
andere Quantensysteme. Gerade in der Festkörperphysik sprünglichen Gitters in zwei benachbarte Senken spaltet, so
erweisen sich ultrakalte Atome als hilfreich: Während genannte Doppeltöpfe (siehe Bild links).
gewöhnliche Materialien aus über 1023 Teilchen bestehen, Für die zyklische Veränderung verschoben wir die erste
die auf vielfältige Weise miteinander wechselwirken, kön- (»lange«) stehende Welle um genau eine Periode im Raum.
nen Forscher ultrakalte Atome gut kontrollieren und zum Um das zu erreichen, variierten wir die Wellenlänge des
Teil sogar die Wechselwirkungen zwischen ihnen steuern. Lasers minimal – um etwa ein hunderttausendstel ihres
So können sie einfache Modellsysteme realisieren, die in Werts. Die Periode des langen Gitters ändert sich dadurch
realen Festkörpern undenkbar sind. kaum, so dass das Doppeltopfmuster des Übergitters beste-
Zunächst mussten wir die Atome bis knapp
über den absoluten Temperatur-Nullpunkt

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT /


MANON BISCHOFF
abkühlen. Doch wie erreicht man solch niedrige Magnetfeld 1
Magnetfeld 3
Temperaturen, die deutlich unterhalb der be-
kannter Kühlmittel wie etwa flüssigem Helium
liegen – zumal sich die Atomwolke in unseren
Experimenten in einer von außen unzugäng­
lichen Vakuumkammer befindet? Die Lösung
Magnetfeld 2
liefert die Laserkühlung (siehe Spektrum Juni
2003, S. 28), bei der man Teilchen durch Licht v
bremst. Dazu beschießt man sie von verschiede- w
nen Seiten mit unzähligen Photonen, die zwar
y
keine Masse haben, aber dennoch einen Impuls
tragen. Durch ständige Stöße mit ihnen, absor- x
bieren die Atome die Lichtteilchen und werden
immer langsamer. Das ist, als würde man einen
Lastwagen mit Tischtennisbällen bewerfen, um
ihn abzubremsen. Glücklicherweise lassen sich
Photonen deutlich einfacher erzeugen als Tischtennisbälle. Das Übergitter in x-Richtung (blau) entspricht einem Quan-
Auf diese Weise konnten wir die Atome auf wenige milli- ten-Hall-System mit einem starken Magnetfeld in der
ardstel Kelvin abkühlen. xv-Ebene, während das zweite Übergitter (rot) ein Quanten-
Jetzt mussten wir die so entstandene ultrakalte Teilchen- Hall-System mit starkem Magnetfeld in der yw-Ebene
wolke in einer Kette anordnen, um das Modell von Thouless simuliert. Ein schwaches zusätzliches Magnetfeld in der
umzusetzen. Dazu brauchten wir weitere Laser, die die xw-Ebene koppelt die beiden Systeme.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 59


Herumhüpfende Photonen
Topologische Materialien zeichnen immer einen leitenden Bereich. gefräst sind. Photonen können
sich nicht bloß durch jene quanti- Weil Vakuum und Luft gewöhnliche ihnen bloß entfliehen, wenn zwei
sierten Teilchenflüsse aus, die Isolatoren sind, ist die Oberfläche Lichtleiter eng beisammen stehen.
meine Kollegen und ich untersucht topologischer Materialien leitend. Variiert man in regelmäßigen
haben. Eine ihrer bezeichnendsten Dieses charakteristische Merkmal Zeitabständen die Distanz zwischen
Eigenschaften sind ihre extrem gut sollte genauso im vierdimensiona- den senkrecht in einem Gitter
leitenden Oberflächen in Kombina­ len Quanten-Hall-­Effekt auftreten. angeordneten Leitern, entspricht
tion mit einem isolierenden Inneren. Rechtsman und seine Kollegen das einer periodischen Veränderung
Auf genau diese Eigentümlichkeit fanden heraus, dass sich die beson- des Systems. Allerdings gestaltet
hat sich Mikael Rechtsman von der dere Leitfähigkeit auch in der sich dieses Unterfangen sehr
Pennsylvania State University mit topologischen Ladungspumpe aufwändig. Daher nutzten Rechts-
seinem Team konzentriert, um den niederschlägt. Der Rand eines wie man und seine Kollegen einen
vierdimensionalen Quanten-Hall-Ef- in unserem Versuch erzeugten Trick: Anstatt die Abstände zeitlich
fekt nachzuweisen. Übergitters sollte daher leitend zu variieren, haben sie die Länge
Die Oberfläche und das Innere sein. Speist man also den Rand der Lichtleiter, in denen sich die
eines topologischen Systems unter- eines zweidimensionalen Gitters Photonen ausbreiten, als Zeitrich-
scheiden sich durch ihre jeweilige mit zusätzlichen Teilchen, müssten tung identifiziert. Dadurch muss-
Leitfähigkeit. Diese wird in der diese an den äußeren Grenzen des ten die Forscher die Leiter bloß
Festkörperphysik durch das »Bän- Gitters entlangspringen, ohne ins verformen, um so einen Pumpzyk-
dermodell« erklärt. In Festkörpern, Innere einzudringen. lus darzustellen.
die aus unzähligen Atomen beste- Ordnet man gerade Lichtleiter in

AS A PROBE OF 4D QUANTUM HALL PHYSICS. NATURE 533, 2018, FIG. 1B;


ZILBERBERG, O. ET AL.: PHOTONIC TOPOLOGICAL BOUNDARY PUMPING
hen, überlappen sich die einzelnen einem quadratischen Muster an,
Atomorbitale, so dass breite Ener- entspricht dieser Aufbau einem
giebänder entstehen. In diesen gewöhnlichen Metall. Wenn man
MIT FRDL. GEN. VON ODED ZILBERBERG, ETH ZÜRICH

können Elektronen ein kontinuier­ nun Photonen in einen am Rand


liches Energiespektrum annehmen. befindlichen Leiter strahlt, dringen
Zwischen den Bändern klaffen immer mehr Lichtteilchen in be-
aber Lücken, deren Werte die nachbarte Leiter ein, bis sie sich
Energien der Teilchen nicht haben schließlich gleichmäßig über das
dürfen. In Isolatoren müssen Elek­ gesamte Gitter verteilen.
tronen erst eine große Energielücke Um ihre Idee zu überprüfen,
überwinden, bevor sie Strom leiten. führten die Forscher ein solches
Bei Metallen fehlt diese dagegen, Die Forscher frästen dünne, gebo- Experiment zuerst mit geraden
so dass die Teilchen frei fließen gene Lichtleiter in einen Glasblock. Lichtleitern durch, die sie aber in
können. Als sie Photonen in einen am Rand Form eines Übergitters anordneten,
Ordnet man die Atome eines befindlichen Wellenleiter (unten das heißt die Lichtleiter waren nicht
gewöhnlichen Isolators so um, dass links) einstrahlten, breiteten diese mehr quadratisch in den Glasblock
während des Vorgangs die Energie- sich bloß entlang des Rands aus gefräst. Tatsächlich bewegten sich
lücke geöffnet bleibt, ist das Mate­ (rot) und tauchten nach einem die Photonen bloß entlang eines
rial am Ende des Prozesses noch Pumpzyklus, welcher der Tiefe des Rands fort, ohne ins Innere der
immer ein Isolator. Auf diese Weise Glasblocks entspricht, am entge- zweidimensionalen Anordnung
kann man aber niemals einen gengesetzten Ende (oben rechts) einzudringen.
»topologischen Isolator« erhalten. wieder auf. Als die Wissenschaftler den
Während der Umformung des einen Versuch dann mit gebogenen
Isolatortyps in den anderen schließt Lichtleitern wiederholten, tauchten
sich zwangsläufig zumindest kurz- Um das zu untersuchen, haben die ursprünglich an einem Rand
zeitig die Energielücke. Rechtsman und sein Team ihre eingestrahlten Photonen nach
So ist es auch, wenn man den Ladungspumpen aus Lichtleitern einem Pumpzyklus plötzlich auf der
räumlichen Übergang zwischen bei- gebaut und Photonen als Quanten- anderen Seite des Systems auf.
den Materialklassen betrachtet: An simulatoren genutzt. Bei den Licht- Damit haben die Forscher um
der Grenzfläche zwischen einem leitern handelt es sich um hauch- Rechtsman eine weitere Bestäti-
gewöhnlichen Isolator und seinem dünne Schläuche, ähnlich Glasfa- gung des vierdimensionalen Quan-
topologischen Äquivalent gibt es serkabeln, die in einen Glasblock ten-Hall-Effekts geliefert.

60 Spektrum der Wissenschaft  5.19


y

hen bleibt. Über die vergleichsweise große Distanz, die der

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON


BISCHOFF, NACH: MICHAEL LOHSE
Laserstrahl in unserem Aufbau zurücklegt, verschiebt sich
jedoch seine Lage der Minima und Maxima. Für die Atome
ist es, als würde sich das lange Gitter geradlinig bewegen.
Während eines »Pumpzyklus«, in dem das lange Gitter
genau eine Periode zurücklegt, würde sich ein klassisches
Teilchen innerhalb einer Senke nicht vom Fleck rühren.
Denn obwohl sich die Tiefe der Gitterminima periodisch
ändert, bleiben sie stets an der gleichen Stelle.
Wegen des quantenmechanischen Tunneleffekts können
die Atome zu tieferen, benachbarten Minima hüpfen und so
der Bewegung des langen Gitters folgen. Diesen eindrucks-
vollen Vorgang haben wir 2015 in unserem Labor beobach- x

tet. Da der Teilchenfluss in unserem Experiment der Chern- Verkippt man das lange Gitter der eindimensionalen
Zahl und damit dem Hall-Strom eines zweidimensionalen Ladungspumpe in y-Richtung um einen kleinen Win-
Systems entspricht, hatten wir das eindimensio­nale Äquiva- kel, koppelt man die durch die Übergitter (blau) erzeug-
lent des Quanten-Hall-Effekts geschaffen. ten, senkrecht aufeinanderstehenden Ladungspumpen
Um unser Experiment auf den höherdimensionalen Fall und simuliert damit ein schwaches Magnetfeld im
zu verallgemeinern, mussten wir zuerst verstehen, wie die vierdimensionalen Quanten-Hall-System.
eindimensionale Ladungspumpe mit dem Quanten-Hall-­
Effekt zusammenhängt. In von Klitzings Versuch flossen die
Elektronen entlang einer angelegten Spannung (x-Rich- denkbar einfach: Es entspricht der Bewegung des langen
tung); sie wurden jedoch durch die Lorentzkraft abgelenkt Gitters in x-Richtung, genau wie im eindimensionalen Fall.
(y-Richtung) und erzeugten dort einen quantisierten Hall- Das Magnetfeld gestaltete sich aber komplizierter.
Strom. Nun wollten wir die Größen in der Ladungspumpe Anders als in drei Dimensionen haben Magnetfelder in vier
identifizieren, die der angelegten Spannung, dem Magnet- Dimensionen nämlich keine Richtung; stattdessen sind ihre
feld und dem Hall-Strom entsprechen (siehe Tabelle, S. 58). Werte in zweidimensionalen Ebenen definiert. In vier Di-
Die Verschiebung des langen Gitters setzt den Pump­ mensionen mit den Koordinaten x,y,v und w (wobei v und w
zyklus erst in Gang, sie entspricht daher einer angelegten die virtuellen Dimensionen unseres Experiments sind) kann
Spannung im Quanten-Hall-System. Der Hall-Strom hängt ein Magnetfeld in mehreren der dadurch definierten Ebe-
von der Chern-Zahl ab, die wiederum der Anzahl der ge- nen verlaufen.
pumpten Atome im optischen Gitter entspricht. Doch was Die senkrecht angeordneten Ladungspumpen simulieren
ist das Äquivalent des Magnetfelds? Im Quanten-Hall-Effekt durch die jeweiligen Verhältnisse ihrer kurzen und langen
beeinflusst die Stärke des Magnetfelds die Chern-Zahl Gitterperioden (in diesem Fall ist die eine doppelt so lang
und damit den Hall-Strom. In der Ladungspumpe hängt die wie die jeweils andere) die Magnetfelder zweier separater
Anzahl der getunnelten Atome von der Form des Übergit- Quanten-Hall-Systeme: Eines in der xv- und eines in der
ters ab. Je nachdem, wie sich das optische Gitter über yw-Ebene (siehe Bild, S. 59). Verschiebt man das lange
einen Pumpzyklus verändert, können die Teilchen über Gitter in x-Richtung, beobachtet man bloß den zweidimen-
mehrere Senken hinweg tunneln. Die Form des Übergitters sionalen Quanten-Hall-Effekt im xv-System – also nichts
ergibt sich aus den Perioden des kurzen und des langen Neues. Um ein vierdimensionales Phänomen aufzuspüren,
Gitters. Das Verhältnis beider Gitterperioden (das in unse- brauchten wir ein schwaches zusätzliches Magnetfeld in
rem Experiment 0,5 ist, da die Wellenlänge des ersten xw-Richtung, das die Bewegung der Teilchen in den xv-
Lasers doppelt so groß ist wie die des anderen) steuert die und yw-Ebenen koppelt. Nur so kann ein zweiter quantisier-
Anzahl der gepumpten Atome. Daher entspricht dieses ter Strom im vierdimensionalen System entstehen.
Verhältnis der Stärke des simulierten Magnetfelds. Also standen wir vor der Aufgabe, mit unserem Laser-
system ein drittes Magnetfeld zu simulieren, das die senk-
Von der eindimensionalen Ladungspumpe recht angeordneten Ladungspumpen miteinander koppelt.
in die zweite Dimension Unsere Idee war es, den Laserstrahl des langen Gitters der
Um das Quantenphänomen in vier Dimensionen zu unter­ y-Richtung um einen kleinen Winkel zu verkippen, so dass
suchen, überlegten sich Zilberberg und seine Kollegen, die langen Gitter in der xy-Ebene nicht mehr senkrecht
dass drei Zutaten nötig sind: Eine zweidimensionale La- aufeinander treffen und sich die Ladungspumpen dadurch
dungspumpe sowie das Äquivalent eines elektrischen und gegenseitig beeinflussen. Die Form der Doppeltöpfe in
eines magnetischen Felds im vierdimensionalen Modell. y-Richtung hängt dann von der x-Koordinate ab. Die physi-
Die ersten beiden Zutaten hatten wir schnell identifiziert. kalischen Auswirkungen kommen einem schwachen Mag-
Zuerst ordneten wir zwei topologische Ladungspumpen netfeld in der xw-Ebene des vierdimensionalen Quanten-
senkrecht zueinander so an, dass sich ihre Minima kreuzen. Hall-Systems gleich.
Dadurch entstand ein zweidimensionales Übergitter in der Als wir alle nötigen Zutaten für unseren Versuch iden-
xy-Ebene (siehe Bild rechts). Das Äquivalent eines elek­ ti­fiziert hatten, konnten wir mit dem Experiment beginnen.
trischen Felds, also einer Spannung, ist in diesem Modell Wir verwendeten einen ähnlichen Aufbau wie für den

Spektrum der Wissenschaft  5.19 61


eindimensionalen Fall, um die senkrecht zueinander stehen- Um auszuschließen, dass es sich dabei um eine zufällige
den Ladungspumpen zu realisieren. Anschließend ver­ Beobachtung handelte, haben wir den Kippwinkel des
kippten wir das lange Gitter in y-Richtung um einen kleinen langen Gitters – also die Stärke des Magnetfelds in der
Winkel, so dass es unter einem anderen Winkel auf die xw-Ebene – verändert. Theoretischen Berechnungen zufolge
Atomwolke trifft als das kurze. ist der Teilchenfluss in y-Richtung proportional zum Kipp­
Dazu führten wir den betreffenden Laserstrahl durch winkel. Und genau diesen linearen Zusammenhang sahen
einen 25 Millimeter dicken Glasblock und fokussierten ihn wir in unseren Experimenten. Insbesondere bewegten sich
mit einer Linse auf die Atomwolke. Dreht man den Block die Atome in umgekehrter Richtung, wenn wir das Vor­
leicht, wird das Licht an beiden Grenzflächen gebrochen. zeichen des Winkels wechselten.
Dadurch tritt es etwas parallel versetzt aus dem Block aus Damit haben wir den vierdimensionalen Quanten-Hall-­
und trifft nicht mehr zentral auf die Linse. Die Photonen Effekt in einem dreidimensionalen Labor nachgewiesen.
durchqueren zwar nach wie vor die Atomwolke, allerdings Unsere Arbeit liefert zusammen mit den Ergebnissen von
unter einem anderen Winkel als zuvor. Rechtsman und seinen Kollegen einen ersten Einblick in
Als wir anschließend das lange Gitter in x-Richtung die faszinierende Welt der hochdimensionalen topologischen
verschoben, um den Pumpzyklus in Gang zu setzen, tunnel- Physik.
ten die Atome wie bei der eindimensionalen Ladungspum- Sowohl aus theoretischer als auch aus experimenteller
pe in benachbarte Senken in x-Richtung. Um den vierdi- Sicht bergen diese Zustände noch viele Geheimnisse. Eines
mensionalen Quanten-Hall-Effekt nachzuweisen, mussten der spannendsten unter ihnen ist die Frage, wie sich ein
sich aber auch Teilchen in y-Richtung bewegen, was einem vierdimensionales Quanten-Hall-System verändert, wenn
zweiten quantisierten Hall-Strom gleichkäme. Zunächst Elektronen miteinander wechselwirken. In unseren Experi-
schien nichts zu passieren. Nach mehreren Pumpzyklen menten verhielten sich die Atome wie Elektronen, die sich
konnten wir jedoch eine winzige Ablenkung der Atome weder anziehen noch abstoßen.
beobachten – der erste Hinweis auf die Existenz eines In echten Festkörpern ist das in der Regel anders. In
vierdimensionalen Quanten-Hall-Effekts. Die Ablenkung diesen Fällen nimmt die quantisierte Spannung nicht nur
war allerdings so klein, dass wir sie nicht direkt quantifizie- ganzzahlige, sondern auch gebrochenzahlige Werte an.
ren konnten. Wir mussten also einen anderen Weg finden, Dieses Phänomen ist seit seiner Entdeckung vor mehr als
um sie exakt zu messen. Deshalb bedienten wir uns eines 30 Jahren als fraktionaler Quanten-Hall-Effekt bekannt
Tricks. (siehe Spektrum Juni 1999, S. 74), denn die Teilchen in solchen
Systemen verhalten sich wie ein Bruchteil eines Elektrons.
Vermessen eines kaum wahrnehmbaren Physiker hoffen ihre eigentümlichen Eigenschaften bei der
Teilchenstroms künftigen Entwicklung neuartiger Quantencomputer nutzen
Das optische Gitter besteht in beiden Richtungen aus ein- zu können.
dimensionalen Doppeltöpfen. Daher sind in der »Einheits- Ähnlich exotische Phänomene wurden genauso für
zelle« (der Grundbaustein, aus dem sich das gesamte Gitter vierdimensionale wechselwirkende Quanten-Hall-Systeme
zusammensetzt) vier quadratisch angeordnete Minima. vorhergesagt. Wie man diese experimentell beobachten
Wir haben unser Experiment so justiert, dass sich in jeder könnte, wissen wir aber noch nicht. Unsere Methoden
Einheitszelle nur ein Atom befindet. Seine Wellenfunktion lassen sich nicht ohne Weiteres auf wechselwirkende Syste-
bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir es bei einer me übertragen; dafür bräuchten wir einen völlig neuen
Messung in der jeweiligen Senke finden. Ansatz.
Durch die Ablenkung der Atome in y-Richtung ändert Neben offenen Fragen der Grundlagenphysik könnten
sich die Wahrscheinlichkeitsverteilung. Doch auch dieser unsere Experimente außerdem für technische Anwendun-
Effekt ist so klein, dass wir ihn nicht direkt beobachten gen interessant sein. Besonders vielversprechend erscheint
konnten. Was tun Wissenschaftler, wenn die Größe, die sie die Möglichkeit, einen neuen Standard für die SI-Einheit
beobachten möchten, zu klein ist? Sie sammeln mehr Ampère durch topologische Ladungspumpen zu definieren.
Daten, um eine bessere Statistik zu erhalten. Deshalb Eine solche Ladungspumpe für Elektronen würde einen
bestimmten wir nicht die Änderung der Wellenfunktion quantisierten und äußerst stabilen Stromfluss erzeugen, der
eines einzigen Atoms, sondern mittelten über alle Teilchen direkt von der Elementarladung abhängt. Damit könnte die
und mehrere Versuche. topologische Ladungspumpe in die Fußstapfen ihres großen
Dazu schalteten wir alle Laser in unserem Aufbau gezielt Bruders, des Quanten-Hall-Effekts, treten, der bereits zur
aus, wodurch sich die Atome frei im Raum ausbreiteten. Definition des elektrischen Widerstands dient. 
Aus der speziellen Ausschaltprozedur konnten wir mittels
der Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung der Teilchen
QUELLEN
berechnen, in welcher Senke sie sich zuvor befanden. Und
tatsächlich konnten wir aus den Ergebnissen ablesen, dass Lohse, M. et al.: Exploring 4D quantum Hall physics with a 2D
sich die ultrakalten Atome während der Pumpzyklen ent- topological charge pump. Nature 553, 2018
lang der y-Richtung verschoben hatten. Zudem ergaben Thouless, D. J.: Quantization of particle transport. Physical
unsere Messungen, dass diese Bewegung quantisiert ist, Review B 27, 1983
genau wie es für den vierdimensionalen Quanten-Hall-­ Zilberberg, O. et al.: Photonic topological boundary pumping as
Effekt vorhergesagt wurde. a probe of 4D quantum Hall physics. Nature 553, 2018

62 Spektrum der Wissenschaft  5.19


ZEITREISE
1919
Felsbehausungen von
Mesa Verde.

PER AUTOBAHN IN DIE STEINZEIT


»Der Nationalpark Mesa Verde in der gebirgigen Südost­
ecke des Staates Colorado bietet besonders geschichtli­
ches Interesse, da er die Überreste einer heute verschwun­
denen Kultur umschließt, von der man sich noch nicht BLINDGÄNGER AUF DER SPUR
ganz klar darüber zu sein scheint, ob sie ein paar hundert
oder vielleicht auch 2000 Jahre zurückliegt. Leider ist der »Die zahlreichen in Frankreich auf den Schlachtfeldern
Schutz der Regierung reichlich spät gekommen, und so liegenden und nicht explodierten Geschosse werden durch
konnte es denn nicht ausbleiben, daß aus Unkenntnis und eine von Prof. Gutton aus Nancy zum erstenmal in Anwen­
Habsucht vieles zerstört und fortgeschleppt wurde. An der dung gebrachte wissenschaftliche Methode unschädlich
Erschließung der noch verbliebenen Schätze arbeitet gemacht. Gutton ging von der Induktionswage von Hughes
besonders die Smithonian Institution, die manches noch aus. Wenn man dem Apparat ein Stück Metall nähert, wird
ausgräbt und durchsucht. Man vermutet, daß die früheren das Gleichgewicht des elektromagnetischen Feldes unter­
Bewohner die Stammväter der jetzt noch in der Nähe brochen und im Telephon ist ein charakteristisches Ge­
lebenden Pueblo und Moqui-Indianerstämme waren, und räusch zu hören. Dieses Instrument diente im Kriege zur
sucht nun die verschiedenen Funde zu deuten. Unter die- Ermittlung der Geschoßsplitter im menschlichen Körper. Die
sen sind besonders gut erhaltene Mumien bemerkenswert, Form, die Prof. Gutton dieser Wage gab, ermöglicht nun ihre
ferner Maiskolben und Maiskörner, die noch keimfähig sich Verwendung zur Entdeckung vergrabener Geschosse. Damit
erwiesen haben. Durch eine direkt nach dem Nationalpark das Telephon den erwünschten Zweck erfülle, wurde es
führende neue Kraftwagenstraße sind die Ruinen so zu­ derart konstruiert, daß es nur auf Metalle bestimmter Größe
gänglich gemacht, daß man ›direkt aus dem Automobil ins und die nicht zu tief im Erdboden sich befinden, reagiert.«
Steinzeitalter hineinsteigen kann‹.« Prometheus 1542, S. 263–264 Die Umschau 19, S. 299

1969
AUS SCHROTT WIRD GOLD
»Bereits heute geht ein erheblicher Anteil des Verbrauchs an
Gold, Silber, Palladium und Platin in die elektronische Indust­
rie. Ähnlich wie die Erze zunächst aufbereitet und verhüttet,
GENSCHÄDIGENDES Chromosomenbrüche die Edelmetalle schließlich geschieden werden müssen, ist
es mit den Abfällen. Ein Unterschied besteht allerdings, da
BREITBAND- nach Chloramphenicol-
behandlung. grundlegend neue Rückgewinnungsverfahren entwickelt
ANTIBIOTIKUM werden müssen. Der Metallhüttenmann sieht sich vor der
»In hohen Dosen kann Chloramphenicol Brüche an Chro­ Aufgabe, die Aufbereitungskosten im Verhältnis zum Metall­
mosomen von Zellkernen des Knochenmarks hervorrufen. wert gering zu halten. In diesem Zusammenhang darf nicht
Im Mai 1968 hat die Food and Drug Administration eine unerwähnt bleiben, daß mitunter wertvolle Nichtedelmetalle
Warnung an alle Ärzte der USA gesandt, da das Auftreten mitanfallen, z. B. Molybdän und Wolfram.« Elektronik 5, S. 155
schwerer bis tödlicher ›Blutdyskrasien‹ unter Anwendung
von Chloramphenicol zugenommen habe. Tödliche Kno­
chenmarkschäden [sind] im Bundesgebiet sehr viel seltener
SCHÖPFUNGSFUNKEN AUS DEM ALL
beobachtet worden als in den USA. Die Entstehung einer »Atmosphärenbestandteile und Wasser sind beim Aufschlag
Schädigung wird heute zumeist auf eine individuelle Über­ von Asteroiden entgast. Ebenso kann man annehmen, daß
empfindlichkeit zurückgeführt. Chloramphenicol ist ein kohlenstoffhaltiges Material sowie Stickstoff vorhanden
kaum entbehrliches Antibiotikum. Damit es weiterhin voll waren. Unstabile Verbindungen, wie Ammoniak und Kohlen­
zur Verfügung steht, sollten strenge Indikationsstellung monoxid können nach heutiger Kenntnis in der natürlichen
sowie Beschränkung der Dosierung und Anwendungsdauer Umgebung nicht entstehen. Vielmehr dürfte die Aktivierung
beachtet werden.« verschiedenster Moleküle durch ultraviolettes Licht in der
Naturwissenschaftliche Rundschau 5, S. 214–215 hohen Atmosphäre für spätere Spontansynthesen verant­
[Anm. der Red.: Wegen seiner möglichen schweren Nebenwirkungen wird wortlich sein; gleichwertig sind auch elektrische Entladun­
Chloramphenicol in Deutschland heute nur noch als Reserveantibiotikum
eingesetzt, in Entwicklungsländern hingegen wegen seiner geringen Kosten gen. Etwa vor 2 Milliarden Jahren scheint auch freier Sauer­
aber noch weitaus häufiger.] stoff aufgetreten zu sein.« Naturwissenschaftliche Rundschau 5, S. 215

Spektrum der Wissenschaft  5.19 63


SCHLICHTING!
DIE PHYSIK IM
DIENST DER KUNST
zum 500. Todestag Leonardo da Vincis
Leonardo da Vinci war überzeugt, jegliche Praxis müsse
auf guter Theorie beruhen. Seine eigenen Untersuchun-
gen zu optischen Erscheinungen machten ihn zu einem
Vorreiter der neuzeitlichen Physik.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität
Münster. Seit 2009 schreibt er für Spektrum über physikalische Alltagsphänomene.

 spektrum.de/artikel/1634764

Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war,


während die anderen noch alle schliefen
Sigmund Freud (1856–1939)

Kleine Lücken im
Blattwerk von Bäumen
werfen zahl­reiche
Bilder der Sonnenschei-
be auf den Boden.

H. JOACHIM SCHLICHTING

64 Spektrum der Wissenschaft  5.19



Leonardo da Vinci ist vor allem als Ausnahme­
künstler in Erinnerung geblieben – einige seiner

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: H. JOACHIM SCHLICHTING


Gemälde gehören zu den berühmtesten der Welt.
Weniger bekannt ist, dass er sich als Naturforscher
optische Regeln für sein Schaffen erarbeitet hat. Die
meisten davon sind noch heute gültig, 500 Jahre nach
seinem Tod. Mit Hilfe seiner physikalischen Einsichten
verlieh er beispielsweise der Mona Lisa über die bloße
realistische Abbildung hinaus eine große Lebendigkeit,
wie sie bis dahin in der Malerei nicht anzutreffen war.
So nutzte Leonardo auf einfühlsame Weise Lichteffek­ Die vielen Abbilder eines
te auf dem Körper und dem Gewand. Er forderte, Schat­ beleuchteten Gegenstands
ten »sollen nie so beschaffen sein, dass durch ihre Dun­ überlagern sich auf einer
kelheit die Farbe an dem Ort, wo sie entstehen, ganz dahinterliegenden Wand, und
verloren geht«. Man dürfe keine scharfen Umrisse ma­ es ist kein Bild zu erkennen.
chen und keine weißen Lichter setzen außer auf weiße
Dinge. Darüber hinaus nutzte er einen Aspekt der Farb­
perspektive, der in dem typischen Blauschimmer ferner
Objekte zum Ausdruck kommt: »Ein sichtbarer Gegen­
stand wird seine wirkliche Farbe in dem Maße weniger
zeigen, in dem das zwischen ihn und das Auge einge­
schobene Mittel an Dicke der Schicht zunimmt. Das
Mittel zwischen dem Auge und dem gesehenen Gegen­
stand wandelt die Farbe dieses Gegenstandes zur seini­
gen um.« Er erkannte, dass Wechselwirkungen des
weißen Sonnenlichts beim Durchgang durch eine größe­
re Luftschicht eine Blautönung bewirken. Damit war er Wenn die Strahlen durch ein
seiner Zeit weit voraus. Erst der britische Lord Rayleigh kleines Loch fallen, werden die
konnte Ende des 19. Jahrhunderts das Himmelsblau Zuordnungen eindeutig.
erklären. Doch bereits Leonardo hatte den richtigen
Ansatz: Der Himmel wird deshalb hell und blau, weil
»winzige und unsichtbare Atome es streuen«. Er täuschte mig, geradlinig und radial in alle Richtungen ausbreitet.
sich nur darin, dass er Wasserteilchen in der Luft für die Dabei entwickelt er die Erkenntnisse des griechischen
Ursache hielt und nicht die Luft selbst. Mathematikers weiter und geht davon aus, dass wir
Gegenstände sehen, weil das von ihnen ausgesandte
Jedem Pinselstrich gingen praktische und Licht in unsere Augen fällt. Für den Künstler sind alle
­theoretische Erkenntnisse voraus Dinge Lichtquellen. Sie werden dazu, weil sie selbst im
So physikalisch durchdacht und natürlich zugleich hat Licht anderer Quellen wie der Sonne, des Himmels oder
vor Leonardo wohl keiner gemalt. Er versuchte, auf Basis einer Kerzenflamme stehen, deren Schein sie diffus oder
seiner experimentellen und theoretischen Erkenntnisse spiegelnd reflektieren.
den statischen und eingefrorenen Charakter eines Gemäl­ Ausgesprochenes Augenmerk richtet Leonardo auf die
des zu überwinden. Martin Kemp, ein britischer Kunst­ Schatten. Er sieht sie ganz allgemein als Unterdrückung
historiker und Experte für da Vincis Werk, betont, dessen von Licht. Zusammen mit diesem gestalten sie die drei­
Technik weise Ähnlichkeiten mit den Computersimu­ dimensionale Erscheinung: »Der Schatten ist das Mittel,
lationen unserer Tage auf, die natürlich wirkende Land­ durch das die Körper ihre Form offenbaren.« Dabei macht
schaften generieren. Auch dabei spielt es eine zentrale er insbesondere auf die Abnahme der Flächenhelligkeit
Rolle, alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen, mit dem Einfallswinkel aufmerksam. Erst im 18. Jahrhun­
die zum visuellen Eindruck des Bilds führen. Kemp zufol­ dert beschrieb der Mathematiker Johann Heinrich Lam­
ge veranschaulichen Leonardos Studien von Licht, das bert die Entdeckung im »lambertschen Kosinusgesetz«
von einer punktförmigen Quelle ausgehend die Konturen quantitativ.
eines Gesichts trifft, »dass es ihm darum ging, mittels Leonardo zufolge tragen die von einem Gegenstand
eines Systems, das dem der Strahlenaufzeichnung in der ausgehenden Lichtstrahlen die gesamte optische Infor­
Computergrafik entspricht, modellierte Formen zu er­ mation von dessen Oberfläche: »Jeder Körper füllt die
zeugen«. umgebende Luft mit seinem Ebenbild, welches das
Grundlage der optischen Vorstellungen Leonardos ist Ebenbild im Ganzen und in allen Teilen ist. Die Luft ist voll
das euklidische Modell, wonach sich Licht strahlenför­ unendlich vieler gerader und strahlenförmiger Linien, die

Spektrum der Wissenschaft  5.19 65


Weg das durch seinen Anprall geschaffene Abbild dem
leuchtenden Körper gleichen, von dem er kommt.« Das
heißt, die »besondere Form« des Spalts hat bei der Abbil­
dung keinen Einfluss, sofern der Abstand groß ist. Eine
endgültige physikalische Erklärung gelingt erst ein Jahr­
hundert später Johannes Kepler mit der entscheidenden
Idee, eine ausgedehnte Lichtquelle als Ensemble unend­
lich vieler Punktlichtquellen aufzufassen.
Als Forscher konnte Leonardo seine Malerei vervoll­
kommnen. Umgekehrt kamen seine künstlerischen
Fähigkeiten – insbesondere die der genauen Beobach­
tung – seinen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
Aus einem zugute. Die von ihm gezeichneten Studien waren nicht
Baum werden bloß eine genaue Abbildung eines Gegenstands, sondern
drei – durch vielmehr eine Synthese von Beobachtungen und theoreti­
seine Reflexion schen Konstruktionen. Beispielsweise verband er in einer
und seinen Zeichnung oft subtil unterschiedliche Perspektiven, um

H. JOACHIM SCHLICHTING
Schatten auf die wesentlichen Elemente hervorzuheben.
einem Fluss. Auf diese spezielle Weise blickte Leonardo auch auf
Alltagsphänomene. Ihm war etwa klar, dass trotz der häu­
fig täuschenden Ähnlichkeit zwischen Original und Spie­
einander überschneiden und miteinander verwoben sind gelbild auf dem Wasser eine grundsätzliche Asymmetrie
und die jedwedem Ding die wahre Form ihres Ausgangs­ besteht. Er wusste: »Es ist unmöglich, dass das, was auf
punktes darstellen.« dem Wasser gespiegelt wird, die gleiche Gestalt hat wie
Diese konsequente Weiterentwicklung des euklidi­ der sich spiegelnde Gegenstand, da der Mittelpunkt des
schen Strahlenmodells des Lichts erklärt zum Beispiel, Auges über der Oberfläche des Wassers liegt.« Dieses
warum an einer weißen Wand kein Abbild eines davor­ Phänomen wird häufig übersehen, obwohl der Effekt oft
stehenden farbigen Gegenstands zu sehen ist. Denn das sehr deutlich ist, wenn man erst einmal darauf achtet. Bei
Licht eines jeden Punkts des Gegenstands gelangt zu seinen Untersuchungen entdeckte er außerdem, dass
jedem Punkt der Wand. Daraufhin überlagern und mi­ »kein glänzender und durchsichtiger Körper auf sich den
schen sich die Farben und die Helligkeiten (siehe Illustra­ Schatten irgendeines Gegenstandes aufweisen kann«.
tion S. 65, oben). Nur wenn die Lichtstrahlen durch ein Als Beispiel nannte er die Schatten von Brücken über
sehr kleines Loch fallen, ist die Zuordnung zwischen den Flüssen, welche man nicht sehen kann, wenn diese klar
Punkten des Gegenstands und der Wand eindeutig. sind, sondern »nur, wenn das Wasser trüb ist«.
Leonardo erkennt das und bewundert, wie »schon verlo­ Vielleicht haben ihn diese Entdeckungen zur folgen­
rene, in einem so kleinen Raum verschmolzene Formen den, fast wie ein Rätsel klingenden Aussage gebracht:
bei seiner Erweiterung wieder hervorgebracht und neu »Man wird oftmals sehen, wie aus einem Menschen drei
gebildet werden können«. Mit »Erweiterung« meint der

H. JOACHIM SCHLICHTING
Künstler ein Loch in der Wand, durch welches das Licht
in einen benachbarten Raum fällt. Er fragt sich zudem,
warum »aus verschwommenen Ursachen so deutliche
und klare Wirkungen hervorgehen«, und bemerkt, dass
die Bilder dann immer auf dem Kopf stehen: »Es ist Reflektiert ein
unmöglich, dass die Bilder, die durch Löcher in einen Gewässer die
dunklen Raum dringen, nicht umgekehrt erscheinen.« Sonne, kann eine
Leonardo hat das Prinzip der Camera obscura als wesent­ Person zwei
liches Element der optischen Abbildung ausgemacht und Schatten werfen.
in ausgeklügelten Modellexperimenten auf das menschli­
che Auge angewandt. So gelangte er zu einer im Wesent­
lichen korrekten Erklärung des Sehens.

Synthese von Beobachtung und Theorie


In diesem Zusammenhang spricht Leonardo auch ein
Naturphänomen an, das heute als Sonnentaler (siehe
Foto S. 64) bezeichnet wird: »Geht der Lichtstrahl durch
einen Spalt von besonderer Form, so wird nach langem

66 Spektrum der Wissenschaft  5.19


werden und alle ihm folgen: und häufig verlässt sie
gerade dieser eine, der ähnlichste.« Damit könnte das
Phänomen gemeint sein, dass auf trübem Wasser oder
durch sehr flaches hindurch nicht nur das Spiegelbild
eines Menschen zu sehen ist, sondern auch sein Schat­
ten. Beide fallen nämlich im Allgemeinen nicht zusam­
men (siehe Foto links oben für den Fall eines Baums).
Leonardo nimmt noch das Original hinzu und kommt so
auf drei. Alternativ käme der Doppelschatten eines Men­
schen auf einer Böschung in der Nähe eines Gewässers
in Frage, der zum einen durch die Sonne direkt und zum
anderen durch ihr Spiegelbild entsteht (siehe Foto links
unten).
Sehr konkret und anschaulich spricht er hingegen das
Phänomen von Lichtbahnen auf Wasseroberflächen an, Helles Licht
Schwert der Sonne genannt (siehe » Lichtbahnen über überstrahlt
den Wellen«, Spektrum Juni 2017, S. 58): »Wo immer die Schilfrohre und

H. JOACHIM SCHLICHTING
Sonne das Wasser sieht, da sieht das Wasser auch die lässt sie dün-
Sonne und kann daher überall das Bild der Sonne dem ner erscheinen.
Auge wiedergeben. Die unzähligen Bilder, die von den
unzähligen Wellen des Meeres gespiegelt werden, weil
die Sonnenstrahlen diese Wellen treffen, sind die Ursache Leonardo untersuchte ferner Phänomene, die über
des fortwährenden und grenzenlos weiten Glanzes über das rein Physikalische hinausgehen und physiologische
der Oberfläche des Meeres.« Er notiert zudem die damit Vorgänge betreffen. Dazu gehört eine Irradiation ge­
zusammenhängende Beobachtung, dass im leicht gewell­ nannte optische Täuschung, die heute zudem bei Foto­
ten Wasser gespiegelte Gegenstände »immer größer grafien in Form einer lokalen Überbelichtung (»Bloo­
erscheinen als der Gegenstand außerhalb des Wassers, ming«) auftritt. Er bemerkte beim Betrachten der Sonne
von dem sie herkommen«. durch einen Baum, dass »alle Zweige, die vor der Sonnen­
scheibe liegen, so dünn sind« oder ganz überstrahlt
Ob irdische Kugel oder Himmelskörper, werden (siehe Foto oben). An anderer Stelle heißt es:
die Regeln der Optik gelten für alle »Einst sah ich eine schwarz gekleidete Frau mit weißem
Ähnlich präzise und verständlich formuliert Leonardo, Kopftuch; dieses Tuch schien doppelt so breit wie ihre
was es mit den Mondphasen auf sich hat: »Der Mond hat Schultern zu sein, welche schwarz bekleidet waren.«
kein Licht von sich aus, und so viel die Sonne von ihm Ähnliches bemerkte er bei einem glühenden Eisenstab:
sieht, so viel beleuchtet sie.« Wir bekämen unterdessen »Obwohl er überall gleich dick ist, erscheint er an der
immer nur so viel von dieser Beleuchtung mit, »wie glühenden Stelle viel dicker.«
viel davon uns sieht«. Zudem erklärt er das aschgraue Leonardo hat außerdem weit reichende Erkenntnisse
Licht, das oft schemenhaft beim jungen Mond zu sehen in der Hydrodynamik, Mechanik und Thermodynamik
ist und das ihn zu seiner vollen, runden Form ergänzt: notiert, deren Bedeutung meist erst viel später klar
»Seine Nacht empfängt so viel Helligkeit, wie unsere wurde. Ebenso haben umfangreiche anatomische Studi­
Gewässer ihm spenden, indem sie das Bild der Sonne en sein künstlerisches Schaffen maßgeblich beeinflusst.
widerspiegeln.« Allerdings sind dafür tatsächlich vor Im Vergleich zu den übrigen Teilen seines Vermächtnisses
allem Wolken und andere Licht streuende Flächen der sind Leonardos Untersuchungen im Bereich optischer
Erde verantwortlich. Dennoch hat er damit das Phä­ Phänomene weniger bekannt. Doch als Grundlage seines
nomen im Prinzip erfasst. Erstaunlicherweise behandelt Schaffens waren sie unverzichtbar – und sie sind ein
er den Mond fast selbstverständlich wie einen in der eindrucksvolles Beispiel für die erstaunlichen Erkenntnis­
Sonne liegenden irdischen Gegenstand. Diese Einsicht se, die ein wacher Geist den alltäglichsten Erscheinungen
versuchte Galilei 100 Jahre später mit Hilfe des von ihm abringen kann.
konstruierten Fernrohrs durchzusetzen. Bereits Leonardo
dachte an solche Konstruktionen für die Mondbeobach­ QUELLEN
tung: »Verfertige Augengläser, um den Mond groß zu
sehen.« Anders als damals üblich, trennte Leonardo die Chastel, A. (Hg.): Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und
die Schriften zur Malerei. Schirmer-Mosel, 1990
Naturwissenschaft nicht von der Technik, sondern ver­
knüpfte beide. Vermutlich lässt ihn gerade die Verbin­ Kemp, M.: Leonardo. C.H.Beck, 2004
dung von Überlegungen und Umsetzung heute so visio­ Lücke, T. (Hg.): Leonardo da Vinci. Tagebücher und
när erscheinen. Aufzeichnungen. Paul List, 1940

Spektrum der Wissenschaft  5.19 67


INFORMATIK
KREATIVE COMPUTER
Inzwischen erschaffen fortgeschrittene Algorithmen
eigenständig außergewöhnliche Bilder – ohne
Zutun eines menschlichen Künstlers. Das revolutio-
niert bisherige Auffassungen von Kunst.

stark muss ein Mensch ein Werk dafür mindestens beein­


Ahmed Elgammal ist Professor für Computer­ flusst haben?
wissenschaften und Direktor des Art and Als Direktor des Art and Artificial Intelligence Laboratory
Artificial Intelligence Laboratory an der Rutgers
an der Rutgers University in New Jersey habe ich mich mit
University in New Jersey.
solchen Fragen beschäftigt. Insbesondere interessiert mich,
 spektrum.de/artikel/1634766 ab wann ein Mensch die Anerkennung an eine Maschine
abtreten sollte.
In den letzten 50 Jahren gab es viele Künstler, die ihre
Werke mit Hilfe von Algorithmen erzeugt haben. In dieser


Am 25. Oktober 2018 verkaufte das Auktionshaus so genannten algorithmischen Kunst visualisiert man ein
Christie’s in New York erstmals ein mittels künstlicher gewünschtes Ergebnis mit Hilfe eines Computers, indem
Intelligenz (KI) produziertes Kunstwerk – für umgerech­ man ihm detaillierte Befehle gibt. Einer der Ersten, der diese
net mehr als 380 000 Euro. Das Gemälde mit dem Titel Kunstform praktizierte, war der britische Grafiker Harold
»Portrait of Edmond Belamy« ist Teil einer neuen Kunst­ Cohen, der 1973 das Programm AARON entwickelte. Die
form, die durch maschinelles Lernen entsteht. Die in Paris Software, die Cohen während seiner Karriere immer weiter
lebenden Künstler Hugo Caselles-Dupré, Pierre Fautrel und nachbesserte, diktiert einer Maschine genaue Zeichen­
Gauthier Vernier hatten ein Computerprogramm mit tausen­ bewegungen.
den Porträts gefüttert und es so die Grundprinzipien von In den letzten Jahren hat sich die Technologie allerdings
Ästhetik »gelehrt«. Es kreierte daraufhin das hochpreisig weiterentwickelt. Inzwischen produzieren Computer
verkaufte Bild, das ein deformiertes Gesicht zeigt. mit KI-Programmen eigenständig Bilder. Sie folgen dabei
»Das Gemälde ist nicht das Produkt eines menschlichen keinen festen Regeln, sondern lernen das menschliche
Geistes«, stand in der Beschreibung von Christie’s. »Es Ästhetikempfinden, indem sie tausende Kunstwerke analy­
wurde von künstlicher Intelligenz geschaffen, einem Algo­ sieren.
rithmus, der durch eine algebraische Formel definiert ist.« Die meisten KI-Bilder entstehen aus einer bestimmten
Wenn ein Computerprogramm eigenständig Bilder erzeugt, Klasse von Algorithmen, den »generative adversarial
kann man das Ergebnis dann als Kunst bezeichnen? Wie ­networks« (GANs), die Ian Goodfellow 2014 mit anderen
Informatikern an der Université de Montréal während
seiner Doktorarbeit entwickelte. Sie verdanken ihren Na­
men (»adversarial« heißt gegnerisch) den zwei separaten
AUF EINEN BLICK Teilen, aus denen sie bestehen: Während der eine Baustein
IST DAS NOCH KUNST? Zufallsbilder erzeugt, lernt der andere über die Eingabe,
wie man diese Bilder beurteilt, und wählt die besten aus.

1 Schon seit Jahrzehnten nutzen Menschen Computer,


um Kunstwerke zu schaffen. Beabsichtigte Innovation oder Versehen?
Um ein KI-Kunstwerk zu schaffen, muss man also zuerst

2 Die neuen technischen Entwicklungen ermöglichen es


nun Maschinen, eigenständig Bilder zu kreieren,
ohne dass eine Person den Schaffensprozess steuert
eine Sammlung von Bildern erstellen, mit denen man den
Algorithmus speist. Das Programm versucht sie zu imitieren
und kreiert mehrere eigene Exemplare. Aus den Ergeb­
oder gar kontrolliert.
nissen pickt man diejenigen heraus, die man verwenden
möchte.
3 Maschinelles Lernen kann außerdem dabei helfen,
kunstgeschichtliche Zusammenhänge offenzulegen
oder die kreative Leistung eines Werks zu bewerten.
Manchmal entstehen dabei Bilder, die selbst den Künst­
ler überraschen, der den Prozess leitet. Beispielsweise
produzierte das GAN von Caselles-Dupré, Fautrel und
Vernier eine Reihe deformierter Gesichter, obwohl sie ihrem

68 Spektrum der Wissenschaft  5.19


AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY

Das Computerprogramm AICAN hat dieses Bild exzentrisch. Sie erinnern an die berühmten Bilder des
­generiert und »St. George Killing the Dragon« genannt. britischen Malers Francis Bacon, etwa »Three Studies for a
Das KI-Kunstwerk wurde bei einer Auktion im Portrait of Henrietta Moraes«. Viele Menschen sind jedoch
­November 2017 für 16 000 US-Dollar versteigert. der Meinung, dass im Unterschied dazu den maschinell
gefertigten Gesichtern etwas fehlt: die Absicht.
Während es Bacons Ziel war, seine Gesichter zu verfor­
Programm gewöhnliche Porträts gezeigt hatten. Wie soll men, entstanden die ungewöhnlichen KI-Porträts aus
man solche unerwarteten Ergebnisse bewerten? Versehen. Hier hat es der Algorithmus nicht geschafft, ein
Dabei hilft uns die Theorie des britisch-kanadischen menschliches Gesicht richtig nachzuahmen. Dennoch
Psychologen Daniel E. Berlyne, der mehrere Jahrzehnte hat Christie’s genau diese Art von Bild zu einem Schwindel
lang das menschliche Empfinden von Ästhetik untersuchte. erregenden Preis versteigert.
Er fand heraus, dass Innovation, Überraschung, Kom­ Nicht allen gefällt die neue Kunstform. Der berühmte US-
plexität, Mehrdeutigkeit und Exzentrizität die stärksten amerikanische Kunstkritiker und Pulitzer-Preisträger Jerry
Reize von beliebten Kunstwerken ausmachen. Die defor­ Saltz sagte etwa in einem Interview mit dem kanadischen
mierten KI-Porträts erfüllen einige dieser Eigenschaften, Lifestyle-Magazin »Vice«, er finde KI-Bilder wie »The
denn sie sind sowohl innovativ als auch überraschend und Butcher’s Son« von Mario Klingemann (siehe Bild S. 71)

Spektrum der Wissenschaft  5.19 69


langweilig und stumpf. In manchen Fällen mögen Kritiker

AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY


wie er Recht haben. Die deformierten Porträts von Caselles-
Dupré, Fautrel und Vernier etwa sind wirklich nicht allzu
interessant: Es handelt sich dabei um reine Imitationen von
vorab verarbeiteten Eingaben.
Allerdings sollte man nicht bloß das Endergebnis beur­
teilen, sondern auch den kreativen Prozess, bei dem
Mensch und Maschine zusammenarbeiten, um neue visu­
elle Formen zu erschaffen. Künstler können nämlich auf
vielfältige Weise mit KI-Programmen spielen. Für ihre
Animation »Fall of the House of Usher« nutzte Anna Ridler
Standbilder aus einer 1929 erschienenen Verfilmung der
gleichnamigen Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe. Sie
fertigte Tuschezeichnungen dieser Bilder an und speiste sie
in ein GAN ein, das eine Reihe neuer Gemälde hervorbrach­
te, die sie dann zu einem Kurzfilm zusammenschnitt. Ein
weiteres Beispiel ist das von Saltz als langweilig titulierte
»The Butcher’s Son«, bei dem Klingemann seinem Algorith­
mus Figuren aus Stöcken und pornografische Bilder über­ Als Forscher einen Algorithmus mit Porträtzeichnungen
geben hatte. der letzten fünf Jahrzehnte speisten, entstanden eine
Selbst wenn die computergenerierten Ergebnisse häufig Reihe neuer Kunstwerke, die deformierte Gesichter
überraschen, kommen sie nicht aus dem Nichts: Hinter zeigen. Auch wenn sie innovativ wirken, fehlt hinter
ihnen steckt ein aufwändiger Prozess, der sicherlich auch diesen Bildern jedoch eine Absicht.

KI als Kunstkritiker
Damit eine KI selbstständig neu­ Eigenschaften der Bilder (Farbe, es trotzdem funktioniert? Als Test
artige Bilder produziert, muss sie Textur, Perspektive und Thema) und führten wir so genannte Zeitmaschi­
lernen, wie Menschen Kreativität vergleicht sie mit ihrem Entste­ nenexperimente durch, bei denen
definieren. Zusammen mit meinen hungsdatum. Anschließend bewer­ wir einzelne Kunstwerke vor- oder
Kollegen habe ich deshalb einen tet er ihre jeweilige Kreativität, nachdatierten und überprüften, wie
Algorithmus entwickelt, der er­ indem er beurteilt, wie originell sie sich die neu entstehenden Kreati­
kennt, welche Kunstwerke in den sind und wie stark sie spätere vitätswerte von den ursprünglichen
letzten 500 Jahren besonders Werke beeinflusst haben. Bis auf unterschieden.
originell waren und spätere Arbei­ das Entstehungsdatum erhält So fanden wir heraus, dass
ten nachhaltig beeinflusst haben. das Programm keinerlei Informa­ Gemälde aus dem Impressionismus,
Mit Hilfe von maschinellem tionen. Postimpressionismus, Expressionis­
Sehen (englisch: computer vision) Tatsächlich stimmen die Ein­ mus und Kubismus deutlich besser
haben wir ein Netzwerk etlicher schätzungen unserer Software abschneiden, wenn ihr Entste­
Gemälde aufgebaut, die zwischen häufig mit etablierten Expertenmei­ hungsdatum auf 1600 vorverlegt
dem 15. und dem 20. Jahrhundert nungen überein. Als wir sie 1700 wird. Neoklassische Bilder gewin­
entstanden. Um durch diesen verschiedene Gemälde bewerten nen in diesem Fall hingegen nicht
unübersichtlichen Datenwust zu ließen, stufte sie zum Beispiel die viel. Genau dieses Ergebnis hatten
navigieren, nutzten wir eine Klasse Kreativität von Edvard Munchs wir erwartet, denn der Neoklassizis­
von Algorithmen, die unter anderem »Schrei« (1893) viel höher ein als die mus gilt als Wiederbelebung der
bei der Untersuchung sozialer Werke seiner damaligen Kollegen. Renaissance. Werke aus der Renais­
Interaktionen, Epidemieanalysen Ebenso gab der Algorithmus Picas­ sance und dem Barock erleiden
und Websuchen weit verbreitet sos »Les Demoiselles d’Avignon« dagegen nach 1900 Verluste bei
sind. Beispielsweise verwendet (1907) die höchste Kreativitätsbe­ ihren Kreativitätswerten.
Google derartige Programme, um wertung aller Gemälde zwischen Mit dieser Arbeit konnten wir
diejenigen Webseiten auszuwählen, 1904 und 1911, die er analysierte. zeigen, dass nicht bloß Menschen
die am relevantesten für einen Natürlich gibt es auch Fälle, in in der Lage sind, Kreativität zu
Suchbegriff sind. denen das Programm nicht zum beurteilen. Nun können auch Com­
In unserem Fall analysiert der gleichen Urteil kommt wie Kunsthis­ puter diese Aufgabe erfüllen – und
Algorithmus zuerst die visuellen toriker. Woher wissen wir also, dass sind dabei sogar objektiver.

70 Spektrum der Wissenschaft  5.19


eine gewisse Form von Absicht enthält. Deshalb betrachte
ich solche Werke als Konzeptkunst. In dieser in den 1960er
Jahren entstandenen Kunstform ist die Idee hinter einer
Arbeit wichtiger als das Endergebnis. Mit meiner Meinung
stehe ich offenbar nicht allein da. »The Butcher’s Son«
wurde beispielsweise 2018 mit dem Lumen Prize ausge­
zeichnet, der digitaler Kunst gewidmet ist.
In all den Beispielen erzeugte zwar ein Algorithmus die
KI-Kunstwerke, doch immer unter der Leitung eines Men­
schen. Der Künstler trifft eine Vorauswahl an Bildern, passt
das Programm bei Bedarf an und sucht am Ende die besten
Ergebnisse aus. Aber was wäre, wenn ein Computer Kunst
kreieren würde, ohne dass ihn ein Mensch beeinflusst?
Diesem Gedanken folgend haben wir AICAN (artificial
intelligence creative adversarial network) entwickelt, einen
Algorithmus, der als nahezu autonomer Künstler gelten
kann. Er lernt bestehende Stile sowie Definitionen von

AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY


Ästhetik und erzeugt eigenständig, also ohne äußeres
Zutun, innovative Bilder. Das preisgekrönte
Um dem Programm unser ästhetisches Verständnis KI-Kunstwerk »The
beizubringen, orientierten wir uns an einer Theorie des Butcher’s Son« von
US-amerikanischen Psychologen Colin Martindale (1943– Mario Klingemann
2008). Er hatte beobachtet, dass erfolgreiche Künstler wurde auch hart
oftmals Formen, Themen und Stile ablehnen, an die sich kritisiert.
das Publikum bereits gewöhnt hat. Stattdessen ziehen sie
die Aufmerksamkeit eines Betrachters auf ihr Werk, indem
sie Neues kreieren. Um herauszufinden, wie andere Menschen auf die
Daher haben wir unseren Algorithmus zwei entgegenge­ Werke von AICAN reagieren, stellten wir 2016 auf der
setzten Einflüssen ausgesetzt. Auf der einen Seite versucht internationalen Kunstmesse Art Basel die KI-generierten Bil­
er, die Ästhetik bestehender Kunstwerke zu erlernen, wäh­ der zusammen mit solchen menschlicher Künstler aus. Für
rend er andererseits dafür bestraft wird, wenn seine eige­ jedes davon fragten wir die Besucher, ob sie glaubten, dass
nen Bilder einem bereits etablierten Stil zu nahe kommen. es von einer Maschine oder einem Menschen stammt.
Weil zu viel Innovation wiederum abschreckt, stellten wir si­ Überraschenderweise konnten die meisten keinen Unter­
cher, dass die entstehenden Werke zwar neuartig sind, aber schied ausmachen: In 75 Prozent der Fälle dachten die
nicht zu stark von dem abweichen, was als akzeptabel Besucher, AICANs Bilder seien durch menschliche Hand
angesehen wird. Im Idealfall schafft das Programm etwas entstanden.
Neues, das auf herkömmlichen Stilen aufbaut. Da unsere KI Doch sie taten sich nicht bloß schwer damit, die compu­
auch die Namen der ihr vorgesetzten Kunstwerke lernt, tergenerierte Arbeit als solche zu erkennen. Das Publikum
benennt sie sogar ihre eigenen Bilder. Eines heißt beispiels­ genoss die KI-Kunstwerke, viele beschrieben sie als »voll
weise »Orgie«, ein anderes »The Beach at Pourville«. visueller Struktur«, »inspirierend« oder »kommunikativ«.
Ab Oktober 2017 stellten wir Bilder von AICAN in Frank­
Ein Computerprogramm als eigenständiger furt, Los Angeles, New York und San Francisco aus. Dabei
Künstler? hörten wir immer wieder die gleiche Frage: Wer ist der
Zudem kann AICAN die Kreativität seiner Produkte im Künstler? Als Wissenschaftler habe ich den Algorithmus
kunsthistorischen Kontext bewerten (siehe »KI als Kunstkri­ zwar entwickelt, allerdings halte ich mich aus dem gesam­
tiker«, links). Dabei zeigte sich, dass es einen abstrakten Stil ten Schaffensprozess heraus. Das Programm wählt den
bevorzugt. Weil das Programm innovativ sein soll, baut es Stil, das Motiv, die Komposition, die Farben und die Textur
wahrscheinlich auf neueren Trends wie der abstrakten seiner Bilder aus. Deshalb nannten wir ausschließlich
Kunst auf, die erst im 20. Jahrhundert modern wurde (siehe
»Kunstgeschichte aus Sicht einer Maschine«, S. 72).
Unsere Rolle als menschliche Künstler rückt dabei noch
weiter in den Hintergrund, als es bei KI-Kunst sowieso
schon der Fall ist. So wählen wir nicht etwa bestimmte Mehr Wissen auf
Bilder aus, um einem Programm wie AICAN Ästhetik beizu­
bringen, sondern füttern es mit 80 000 verschiedenen
Spektrum.de
Unser Online-Dossier zum Thema
Werken, die den westlichen Kunstkanon der letzten 500
finden Sie unter spektrum.de/
Jahre repräsentieren. Auf Knopfdruck erstellt das Pro­ t/kuenstliche-intelligenz ISTOCK / ADVENTTR
gramm dann eigene Bilder, die uns in ihrer Raffinesse und
Variation oft überraschen.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 71


AHMED ELGAMMAL, ART & AI LAB RUTGERS UNIVERSITY
Datum
Kunstgeschichte ×10–3 4

aus Sicht einer Maschine 3 Brücke von Pop-Art


1950
2 »El Greco«

linear versus malerisch


1900
Zusammen mit Kollegen vom 1 Expressionismus abstrakt
Renaissance 1850
College of Charleston in South
0 Postimpressionismus 1800
Carolina hat meine Arbeitsgruppe
–1 1750
untersucht, wie Computer die
–2
Arbeit von Kunsthistorikern erleich­ 1700
Cezanne-
tern und ergänzen können. –3
Barock Brücke 1650
Wir brachten den Maschinen –4
Neoklassizismus 1600
bei, Bilder durch visuelle Merkmale –5 Kubismus
Realismus 1550
zu unterscheiden. Dabei stützten –6
10 Impressionismus 1500
wir uns auf die Theorie des Schwei­ ×10 –3 5
zer Kunsthistorikers Heinrich Wölff­ 1450

dr gew orie
0

KI teg
itt
lin (1864–1945), der Bilder nur Ka

e, ähl
–5
–1 0 1 2 3 4 5

vo te
–4 –3 –2
gemäß ihrer formalen Eigenschaf­ ×10 –3

nd
Fläche versus Tiefe
ten einordnete und nicht wie seine
er
Vorgänger auch Inhalt und Aus­
druck berücksichtigte. Wölfflin die Kunstwerke nach diesen vier sich im Postimpressionismus
gelang es so, Renaissance und Eigenschaften sortierten, bildete außerdem eine Verzweigung erken­
Barock durch fünf Schlüsselprinzi­ sich ihre korrekte Entstehungs­ nen: Die Werke von Cézanne
pien zu unterscheiden: linear/ geschichte ab. So fanden wir auch grenzen sich deutlich von anderen
malerisch, Fläche/Tiefe, geschlos­ heraus, warum das Programm Stücken aus jener Zeit ab. Der
sen/offen, Vielheit/Einheit, Klarheit/ bestimmte Künstler als unverwech­ »Cézanne-Zweig« verbindet sich
Unklarheit. selbare Repräsentanten ihrer Stile dann mit frühen kubistischen
Wir übergaben unserem Pro­ ausgewählt hat: Ihre Werke mar­ Bildern von Picasso und Braque
gramm 80 000 digitalisierte Bilder kieren Extrempunkte entlang der sowie mit abstrakten Gemälden
ohne jegliche Zusatzinformatio- auf jeden Stil abgestimmten Di­ von Kandinsky.
­nen über den Künstler, das Entste­ mensionen. Insgesamt kann die Kunst­
hungsdatum oder die Genre­ In den Ergebnissen bilden zum geschichte von den neuesten
zuordnung. Der Algorithmus ord­ Beispiel Cézannes Werke eine Entwicklungen im maschinellen
nete sie bloß nach Wölfflins Brücke zwischen Impressionismus Lernen profitieren. Sie könnte
­Schlüsselprinzipien an. und Kubismus. Diese Einschätzung so zu einer prädiktiven Wissen­
Überraschenderweise erklären teilen Kunsthistoriker, die Cézanne schaft werden, in der Computer­
schon Wölfflins erste beide Unter­ als Schlüsselfigur für den Stil­ programme grundlegende Muster
scheidungen zwischen linear/ wechsel zur abstrakten Kunst des und Trends offenbaren, die für
malerisch und Fläche/Tiefe den 20. Jahrhunderts sehen. In den das menschliche Auge gar nicht
kunsthistorischen Verlauf. Als wir computergenerierten Daten lässt ersichtlich sind.

AICAN als Urheber. Als 2017 AICANs »St. George Killing QUELLEN
the D
­ ragon« (siehe Bild S. 69) bei einer Auktion in New York Elgammal, A. et al.: The shape of art history in the eyes of the
für 16 000 US-Dollar verkauft wurde, ging der größte Teil machine. ArXiv 1801.07729, 2018
des Erlöses an die Rutgers University und das Institut des
Elgammal, A. et al.: CAN: Creative adversarial network,
Hautes Études Scientifiques in Frankreich. ­generating »art« by learning about styles and deviating from
Dennoch fehlt etwas im künstlerischen Prozess der KI: style norms. ArXiv 1706.07068, 2017
Auch wenn die Bilder ansprechend erscheinen, entstehen
Elgammal, A. et al.: Quantifying creativity in art networks.
sie ohne sozialen oder gesellschaftlichen Hintergrund. ArXiv 1506.00711, 2015
Menschliche Künstler lassen sich hingegen von Personen,
Orten und Politik inspirieren. Sie schaffen Kunst, um Ge­ © American Scientist

schichten zu erzählen und die Welt zu verstehen. unter Verwendung der beiden Artikel aus »The Conversation«
Kura­toren können jedoch die KI-Kunstwerke nachträglich 16. Oktober 2018 (theconversation.com/when-the-line-between-
in einen gesell­schaftlichen Kontext einbetten. Das haben machine-and-artist-becomes-blurred-103149) / CC BY-ND 4.0
und »The Conversation« 17. Oktober 2018 (theconversation.com/
wir mit »Alternative Facts: The Multi Faces of Untruth« meet-aican-a-machine-that-operates-as-an-autonomous-ar­
getan. So nannten wir eine Reihe von KI-generierten Port­ tist-104381) / CC BY-ND 4.0 (creativecommons.org/licenses/
räts, die uns durch ihre Aktualität überrascht haben.  by-nd/4.0/legalcode)

72 Spektrum der Wissenschaft  5.19


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Spektrum.de/plus
MIT FRDL. GEN. VON PAUL GERARD VAN DE VEEN
MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN
TAPETENFUNKTIONEN
Aus der Überlagerung ganz

Mathematiker haben das so an sich: Sie verwenden
­gewöhnlicher periodischer Funk­ eine sehr abstrakte und komplizierte Darstellung für
Dinge, die man auch viel einfacher ausdrücken
tionen entstehen die merkwür­ könnte. Der Lohn der Mühe kommt dann später und vor
digsten Muster, darunter sogar allem an unerwarteter Stelle. Die abstrakte Formulie-
nichtperiodische Quasikristalle. rung erlaubt Verallgemeinerungen, auf die man in der
ursprünglichen Form nie gekommen wäre. Zum Beispiel
ist es von einer gewöhnlichen Tapete zu der sehr unge-
Christoph Pöppe ist promovierter Mathematiker und war bis wöhnlichen geometrischen Anordnung, die man als
2018 Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft. »Quasikristall« zu bezeichnen pflegt, gedanklich ein
weiter Weg. Aber ein wenig mathematische Abstraktion
 spektrum.de/artikel/1634768 hilft ihn bahnen.

74 Spektrum der Wissenschaft  5.19


MIT FRDL. GEN. VON PAUL GERARD VAN DE VEEN; DODEKAEDER RECHTS: CHRISTOPH PÖPPE

PentiDisc, ein Quasikristall nach einem


Entwurf von Fabien Vienne, erstellt von
Teilnehmern der Tagung »Bridges« in Ensche­
de unter Leitung von Paul Gerard van de Veen.
Das fertige Werk wog 120 Kilogramm und
schwebte wie ein Damoklesschwert neun Meter
über dem Publikum. »Ein Drahtseilakt auf einem sehr
dünnen Faden«, schreibt van de Veen, weil die Ausführen-
den – Mathematiker und bildende Künstler – sich wenig
um Sicherheitsbestimmungen scherten. Das kleine Bild oben
rechts zeigt die fünf in ein Dodekaeder eingepassten Würfel,
von denen jeder die »Urzelle« eines Würfelgitters bildet.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 75


Die gemeine Tapete ist heute nur noch selten zu finden. ten Welt ist jede Tapete im Prinzip unendlich ausgedehnt.
In den 1960er Jahren pflegte man die Wände der guten Und dass sie aus lauter gleichen Kacheln besteht, ist jetzt
Stube mit Mustern aus großen Blumen zu bekleben, die eine Eigenschaft der Tapetenfunktion: Sie ist periodisch
sich nach oben und unten ebenso wie nach rechts und bezüglich der beiden Verschiebungsvektoren.
links getreulich wiederholten und möglichst gut mit dem Mit periodischen Funktionen kennen sich vor allem die
röhrenden Hirsch überm Wohnzimmersofa harmonierten. angewandten Mathematiker aus, allerdings in einem
Die einfache mathematische Beschreibung einer Tapete anderen Kontext: akustische Signale. Was wir als einen
läuft auf die Theorie der kristallografischen Gruppen in der Ton hören, ist ein Schalldruck, der periodisch in der Zeit
Ebene hinaus (siehe Spektrum März 2014, S. 68): Man packt immer wieder dieselben Werte annimmt. Und so, wie man
jede der großen Blumen in ein Quadrat derart, dass alle einen Ton in Grund- und Oberschwingungen zerlegen
diese Vierecke zusammen die Ebene lückenlos und über- kann, lässt sich auch jedes periodisch wiederholte Bild als
lappungsfrei bedecken. So gesehen, ist die Tapete prinzipi- eine Überlagerung von Sinus- und Kosinusfunktionen
ell nichts anderes als eine Kachelung der Wand mit lauter auffassen. Dabei hat man noch gewisse Freiheiten, wie
gleichen Kacheln (auf das Material kommt es dem Mathe- man die Zahlenwerte, die eine Tapetenfunktion liefert, in
matiker nicht an). Farbwerte übersetzt. Wenn es nicht auf den Bildinhalt,
Wenn die Tapete tatsächlich so gemustert ist wie ein sondern auf die allgemeine Form ankommt, bietet es sich
regelmäßiges Quadratgitter nach Art des klassischen an, den reellen Zahlen, die vorkommen, von der kleinsten
Badezimmerfußbodens, dann gibt es zwei aufeinander bis zur größten die Farben des Regenbogens zuzuordnen,
senkrecht stehende Vektoren mit der Eigenschaft, dass wie Elias Wegert das in seinen »komplexen Schönheiten«
das ganze Muster bei Verschiebung um einen dieser praktiziert (siehe Spektrum August 2018, S. 74), oder die
Vektoren in sich selbst übergeht (»translationsinvariant Zahlen in Größenklassen einzuteilen und jedem solchen
ist«). Und wenn es mit quadratischen Kacheln nicht geht, Intervall eine Farbe zu geben. Oder man entnimmt den
dann mit solchen in Form eines Parallelogramms. Farbwert einem anderen Bild, zum Beispiel dem Foto einer
So weit die einfache Beschreibung. Die komplizierte Landschaft, und findet dann dieses Motiv mannigfach und
fasst dieselbe Tapete als ein großes Bild auf, das – zum verzerrt in der Tapete wieder (siehe Bilder S. 79).
Beispiel – aus lauter Pixeln zusammengesetzt ist. Jedes
Pixel hat eine Position, die durch seine Koordinaten x und Periodische Funktionen bauen
y bestimmt wird, und einen Farbwert, der sich durch eine Damit die Tapete in x- wie in y-Richtung periodisch ist,
oder mehrere Zahlen ausdrücken lässt. Man hat also eine muss das auch für ihre Funktion gelten. Aber das ist nicht
Vorschrift, die jedem Punkt (x, y) einen Farbwert zuordnet, schwierig zu bewerkstelligen. Eine Funktion wie
sprich eine Funktion. Und nun muss man sich auch nicht f(x, y) = sin  x sin y erfüllt bereits diese Anforderung (siehe
mehr auf einzelne Bildpunkte beschränken. Vielmehr Bild unten links), und f(x, y) = cos x + sin 2x sin 3y
dürfen x und y jeden reellen Wert annehmen, innerhalb + cos 3x cos 2y + sin 4x sin y ist schon nicht mehr ganz so
des Bildrahmens oder auch darüber hinaus: In der abstrak- langweilig anzusehen (siehe Bild unten rechts).
Interessanterweise zeigen die Bilder sogar mehr Sym-
metrien, als man bestellt hat. So geht die linke Tapete
Bei diesen beiden Tapetenfunktionen werden die Funk­ nicht nur bei Verschiebung um eine ganze Kachellänge,
tions­werte auf sehr einfache Weise in Farben umgesetzt: die hier gleich der halben Bildbreite ist, in sich selbst über,
Der gesamte Wertebereich (links von –1 bis 1, rechts von sondern auch, wenn man sie um je eine halbe Breite nach
–4 bis 4) wird in zehn Intervalle eingeteilt, und jedes rechts und nach oben verschiebt. Obendrein gibt es Spie-
­Intervall bekommt einen Farbton, der von dunkel für die gelsymmetrien, allerdings muss man zusätzlich zum
kleinsten bis hell für die größten Werte variiert. Jedes der Spiegeln an einer horizontalen oder vertikalen Achse hell
beiden Bilder zeigt genau 2 mal 2 Kacheln. und dunkel (positiv und negativ) vertauschen. CHRISTOPH PÖPPE
MIT FRDL. GEN. VON FRANK FARRIS
CHRISTOPH PÖPPE

Die linke Abbildung zeigt die Tapete zu der Funktion


f(x, y, z) = sin x sin 2y cos 3z + sin 2x cos 3y sin  z
+ cos 3x sin y sin 2z in der Ebene, die durch die Gleichung
x + y + z = 0 definiert ist. Die Farbgebung ist die gleiche
wie in den Bildern unten links. Bei der rechten Abbildung

MIT FRDL. GEN. VON FRANK FARRIS


hat der Mathematiker Frank Farris die Farbgebung der
dreizählig-symmetrischen Tapete aus einem echten Land­
schaftsfoto (Mitte) erzeugt.

Frank A. Farris, Professor für Mathematik an der Santa heißt, es ist periodisch bezüglich zweier aufeinander
Clara University in Kalifornien, hat sich intensiv mit Tape- senkrecht stehender Vektoren. Denn unsere Ebene geht
tenfunktionen und deren Symmetrien befasst. Für ihn sind nicht nur durch die drei Punkte, die sie definieren, sondern
die üblichen Tapetenmuster, auch solche mit dieser oder außerdem durch unendlich viele Gitterpunkte; das sind die
jener Spiegelsymmetrie, nicht mehr als eine Aufwärm- Eckpunkte der Füllung mit den Würfeln. Und da die ur-
übung. Spannender wird es bei den komplizierteren Sym- sprüngliche Funktion laut Voraussetzung an jedem Gitter-
metrien, die in den kristallografischen Gruppen vorkom- punkt gleich aussieht, muss das ebenso für ihre Ein-
men. Das sind vor allem Drehungen um ein Drittel oder ein schränkung auf die schiefe Ebene gelten.
Sechstel des Vollwinkels sowie die zugehörigen Spiege­ Das ist alles ganz nett, geht jedoch nicht über das
lungen. hinaus, was man auch durch mehrfache Anwendung von
Farris bewältigt diese Dreier- und Sechsersymmetrien Verschiebungen, Drehungen und Spiegelungen auf eine
auf einem originellen Umweg: über die dritte Dimension. »Urkachel« erreichen kann. Farris kommt nun auf etwas
Statt die Ebene mit Quadraten zu pflastern, füllt er den wirklich Neues, indem er zwei Dimensionen höher steigt:
Raum mit Würfeln und sucht Funktionen, die in jedem in den fünfdimensionalen Raum. Dort scheitert zwar unser
dieser Würfel dasselbe Bild bieten. Solche dreifach perio- anschauliches Vorstellungsvermögen, aber die Mathema-
dischen Funktionen dreier Variablen sind nicht schwer zu tik funktioniert weitgehend unverändert.
finden. Für den Anfang liefert f(x, y, z) = sin x + sin y + sin  z
ein geeignetes Beispiel. Und wie oben darf man Terme wie
sin 2x oder cos 5z – genauer: eine Variable mal eine ganze Fünfzählig-symmetrische Pseudotapete von Frank Farris.
Zahl, darauf angewandt die Sinus- oder die Kosinusfunk­
tion – nach Belieben kombinieren.
Um am Ende eine dreizählige Symmetrie zu erhalten,
muss man jedoch die Tapetenfunktion symmetrisch be-
züglich jeder zyklischen Permutation der drei Variablen
wählen, das heißt, sie muss genauso aussehen wie zuvor,
wenn man x durch y, y durch z und z durch x ersetzt. Ein
nichttriviales Beispiel ist f(x, y, z) = sin x sin 2y cos 3z
+ sin 2x cos 3y sin  z + cos 3x sin y sin 2z.
Nun greife man aus dem ganzen Raum eine Ebene
heraus, und zwar diejenige, die durch die Endpunkte aller
drei Einheitsvektoren geht. Das sind die Punkte, die man
erhält, wenn man vom Ursprung des Koordinatensystems
einen Schritt nach rechts, nach hinten beziehungsweise
nach oben geht. Die Ebene ist schief in jeder Hinsicht;
aber die drei genannten Punkte bilden auf ihr ein gleichsei-
tiges Dreieck, und unsere Funktion bleibt unverändert,
wenn wir das Dreieck und mit ihm die ganze Ebene um
120 Grad drehen. Diese Aktion ist nämlich nichts weiter
MIT FRDL. GEN. VON FRANK FARRIS

als die oben genannte zyklische Permutation der drei


Variablen.
Also bildet unsere Funktion auf dieser Ebene ein drei-
zählig-symmetrisches Muster (siehe Bild links und rechts
oben). Außerdem ist es nach wie vor eine Tapete, das

Spektrum der Wissenschaft  5.19 77


einem Treffer, ist diesem aber zum Verwechseln ähnlich.
Man kann die Zahl t niemals durch einen Bruch ausdrü-
cken, kommt ihr mit Brüchen allerdings beliebig nahe, und
zwar indem man ein Glied der Fibonacci-Folge 1, 1, 2, 3, 5,
8, 13, 21 … durch seinen Vorgänger teilt. Solchen Nähe-
rungswerten entsprechen die Fast-Treffer in der fünfzähli-
gen Pseudotapete. Die wiederum liegen nicht in gleichen
Abständen über die Ebene verteilt, sondern irgendwie auf
regelmäßige Weise unregelmäßig.

WHITEWAY / GETTY IMAGES / ISTOCK


Ein genialer Kunstgriff macht nun aus den angenäher-
ten Treffern perfekte und damit aus einer ungefähren
Wiedergabe eines Musters eine genaue: Man projiziert alle
Gitterpunkte, die hinreichend nahe an der Tapetenebene
liegen, auf die Ebene selbst und verbindet die Projek­tions­
bilder zweier Gitterpunkte durch eine Kante, wenn diese
Gitterpunkte benachbart sind, das heißt zu einer Kante
eines Gitterwürfels gehören. Was »hinreichend nahe«
bedeutet, will zwar sorgfältig definiert werden; aber im
Prinzip ist es auch im fünfdimensionalen Raum kein Prob-
lem, den Abstand zweier Punkte zu berechnen. Und einen
Punkt P auf eine Ebene zu projizieren heißt, den Punkt der
Diese Penrose-Pflasterung der Ebene lässt sich bis ins Ebene zu wählen, der P am nächsten liegt.
Unendliche fortsetzen. Sie ist fünfzählig-symmetrisch um Was dabei herauskommt, ist nichts weniger als das
ihren Mittelpunkt; und obwohl immer wieder die berühmte Penrose-Muster aus dicken und dünnen Rauten,
gleichen Motive auftauchen, wird sie niemals periodisch. das als zweidimensionales Analogon eines Quasikristalls
intensiv studiert wurde (siehe Bild links). In der Tat ist die
Projektion aus dem fünfdimensionalen Raum eines der
Wieder kann man Tapetenfunktionen definieren, die bedeutendsten Hilfsmittel, um nichtperiodischen Pflaste-
periodisch in jeder von fünf Variablen sind. Zudem sollen rungen der Ebene, insbesondere dem Penrose-Muster, auf
sie unverändert bleiben, wenn man jede Variable durch die Spur zu kommen (siehe Spektrum Februar 2002, S. 64).
ihre Nachfolgerin und die letzte durch die erste ersetzt Mitte der 1980er Jahre war Peter Stampfli, damals an
(zyklische Permutation). Dann betrachtet man die Tapeten- der Freien Universität Berlin, auf eine ganz ähnliche Idee
funktion eingeschränkt auf die Ebene, die durch die End- gekommen: Man nehme zwei Gitter aus regelmäßigen
punkte der fünf Einheitsvektoren geht. Diese ist wieder
zweidimensional und damit der Anschauung zugänglich.
Sie ist durch die fünf genannten Punkte eindeutig be- Zwölfzählig-symmetrische Pseudotapete von Frank
stimmt, die auf ihr ein regelmäßiges Fünfeck bilden. Das Farris, Farbgebung nach einem echten Foto.
Muster, das sich dabei ergibt (siehe Bild S. 77 unten), ist

MIT FRDL. GEN. VON FRANK FARRIS


fünfzählig-symmetrisch; so ist es konstruiert.
Aber es ist keine Tapete! Das ist auch gar nicht möglich,
denn fünfzählige Symmetrie und doppelte Periodizität
vertragen sich grundsätzlich nicht. Keine der 17 kristallo-
grafischen Gruppen enthält eine Drehung um 72 Grad,
was einem Fünftel des Vollwinkels entspricht. Nur: Warum
sieht das Muster dann so tapetenartig aus? Wieso finden
sich dieselben fünfzählig-symmetrischen Bildelemente an
so vielen Stellen wieder?
Einerseits ist die Tapetenebene im fünfdimensionalen
Raum schiefer als ihre dreidimensionale Kollegin. Bis auf
die fünf Punkte, durch die sie definiert ist, trifft sie über-
haupt keinen Gitterpunkt. (Auch in fünf Dimensionen kann
man verallgemeinerte Würfel lückenlos stapeln und erhält
ein Gitter aus deren Eckpunkten). Zur Erklärung lässt sich
anführen, dass = (√5+1)/2, die Zahl des goldenen
Schnitts, die bei fünfzähliger Symmetrie stets vorkommt,
»so irrational« ist, dass sie weitere Treffer verhindert.
Andererseits verfehlt die Tapetenebene manche Gitter-
punkte nur sehr knapp. In der Umgebung einer solchen
Stelle sieht das Muster zwar nicht genauso aus wie bei

78 Spektrum der Wissenschaft  5.19


PETER STAMPFLI / 12V2LARGE (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/GEOMETRICOLOR/32471112427) /
PETER STAMPFLI / 5V1LARGE (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/GEOMETRICOLOR/46498084465/) /
CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)

CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)


Fünfzählig-symmetrische Pseudotapete von Peter Stampfli, Zwölfzählig-symmetrische Pseudotapete von Peter Stampfli,
Farbgebung nach einem echten Foto. Farbgebung nach einem echten Foto.

Sechsecken (»Bienenwaben«), sagen wir eines aus Papier Ecken eines regulären Dodekaeders. Setzt man jeden
und darüber eines aus transparenter Folie, und hefte sie dieser fünf Würfel zu einem unendlichen Gitter im Raum
mit einem Reißnagel im Mittelpunkt eines der Sechsecke fort, so finden sich zahlreiche Ungefähr-Treffpunkte.
zusammen. Wenn man das eine gegen das andere um Paul Gerard van de Veen aus Enschede in den Nieder-
60 Grad verdreht, kommen beide Gitter wieder genau landen, Lehrer und begeisterter Geometrie-Bastler, hat
miteinander zur Deckung. Dreht man um genau den 2013, als die jährlich stattfindende Mathematik-Kunst-­
halben Winkel, also 30 Grad, so fallen hier und da einzelne Tagung »Bridges« in seiner Heimatstadt gastierte, Viennes
Sechsecke mehr oder weniger genau zusammen. Wenn Konzept in monumentaler Form umgesetzt: Teilnehmer der
man deren Mittelpunkte miteinander verbindet, ergibt sich Tagung steckten in Gemeinschaftsarbeit aus Kugeln und
eine nichtperiodische Pflasterung der Ebene, die inzwi- Stäben des Geometriebaukastens »Zometool« ein mehrere
schen als »Stampfli tiling« in die Literatur eingegangen ist. Meter großes Stück aus diesem Quasikristall zusammen
(siehe Bilder S. 74 und 75).
Unmögliche Tapeten Und wozu ist diese ganze hübsch anzusehende Mathe-
Offensichtlich hat das Thema Stampfli nicht losgelassen. matik nutze? Eigentlich ist die Frage ja unzulässig; aber
Mehr als 30 Jahre später greift er seine Ideen von damals diesmal gibt es sogar eine konkrete Antwort. Eine Gruppe
zusammen mit dem Ansatz von Frank Farris wieder auf. fernöstlicher Wissenschaftler hat im Jahr 2018 die erwähn-
Im Gegensatz zu damals erlaubt die Leistung der Compu- ten beiden gegeneinander verdrehten Bienenwabenmuster
ter mittlerweile die Erstellung zahlreicher eindrucksvoller aus real existierendem Kohlenstoff hergestellt: zwei
Bilder, mit fünfzähliger Symmetrie wie bei Farris (siehe Schichten aus Graphen, das bekanntlich im Sechseckgitter
Bild oben links) ebenso wie mit der zwölfzähligen, die sich angeordnet ist. Und in diesem zweidimensionalen Quasi-
beim Überlagern der beiden Bienenwabenmuster ergibt kristall haben die Forscher tatsächlich interessante elektri-
(siehe Bild oben rechts). Eine umfangreiche Bilderschau sche Eigenschaften gefunden. Für das Titelbild der zuge-
mitsamt detaillierten Erläuterungen hat Stampfli auf hörigen Ausgabe von »Science« hat die Grafikerin Stampf-
www.geometricolor.wordpress.com bereitgestellt. Und lis Uraltprogramme von damals ausgegraben. 
unter www.geometricolor.ch/waves.html kann jeder
Benutzer ein Bild seiner Wahl hochladen und eine Pseudo-
tapete daraus machen. QUELLEN
Bemerkenswerterweise lässt sich das Farris-Prinzip der Ahn, S. J. et al.: Dirac electrons in a dodecagonal graphene
»unmöglichen Tapete« von zwei auf drei Dimensionen quasicrystal. Science 361, 2018
übertragen: Dazu verdreht man mehrere räumliche Gitter
Farris, F. A.: Forbidden symmetries. Notices of the American
geeignet gegeneinander und macht die Punkte, in denen Mathematical Society 59, 2012
sich zwei Gitter »ungefähr« treffen, zu Punkten einer
Farris, F. A., Lanning, R.: Wallpaper functions. Expositiones
nichtperiodischen Pflasterung des Raums. Das kommt den
Mathematicae 20, 2002
echten Quasikristallen, die ja nichtperiodische Anordnun-
gen von Atomen im Raum mit – zum Beispiel – fünfzähli-
LITERATURTIPP
ger Symmetrie sind, schon ein bisschen näher.
Der französische Architekt Fabien Vienne (1925–2016) Farris, F. A.: Creating symmetry: the artful mathematics of
hat dieses Konzept für spezielle Würfelgitter ausgearbeitet. wallpaper patterns. Princeton University Press, 2015

Und zwar passen fünf Würfel mit ihren Ecken genau in die Farris erklärt die Mathematik hinter den schönen Mustern.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 79


PERSIEN
WIE EIN WELTREICH
FUNKTIONIERT
Tausende von Tontafeln aus Persepolis und etliche Schriftfunde
aus den Provinzen belegen: Das altpersische Imperium war
­beeindruckend effizient organisiert. Was paradoxerweise seinem
Gegner Alexander dem Großen in die Hände spielte.

Der Historiker und Philologe Wouter Henkelman lehrt an der École Pratique des Hautes Études
(EPHE) in Paris. Seine Interessen gelten dem achämenidischen und dem elamischen Reich.
Unter anderem erforscht er in einem internationalen Team das »Festungsarchiv« von Persepolis.

 spektrum.de/artikel/1625450


Alexanders Soldaten waren erschöpft und hungrig. ­ mittel im ganzen Land eintreiben und befahl den Einheimi­
Auf dem Weg von Indien nach Babylon durchquerte schen, gemahlenen Weizen, Datteln und Schafe herbeizu­
ein Teil der Armee das wüstenhafte Landesinnere bringen. Ein Teil davon sollte auf Lasttiere verladen werden,
Gedro­siens (siehe Spektrum Spezial Archäologie Geschichte um das Truppenkontingent an der Küste zu ver­sorgen.
Kultur 1.19, S. 24/25), ein anderer zog an dessen feucht­ Viele Soldaten starben durch die Entbehrungen, aber
heißer Küste entlang. Eine unwirt­liche Region, die das Heer dank der Maßnahmen blieb eine Katastrophe aus. Was
dezimieren sollte. Doch dann habe man an einem Ort im Forschern heutzutage Rätsel aufgibt: Woher stammten all
Landesinneren reichlich Nahrung vorgefunden, berichtete die Lebensmittel, die das karge Gedrosien kaum hatte her-
der griechische Historiker Arrian von Nikomedeia (2. Jahr­ vorbringen können? Arrians Schilderung lässt vermuten,
hundert n. Chr.). Zudem ließ Alexander weitere Lebens­ Alexanders Armee habe sich bei den Notvorräten der
Bevölkerung bedient. Allein die gut 30 000 Soldaten hätten
28 bis 38 Tonnen Mehl täglich benötigt, dazu kamen Frau­
en, Kinder, Pferde und Lasttiere. Somit lag der Tagesbedarf
AUF EINEN BLICK an Getreide bei mehr als 50 Tonnen, nach einigen Schätzun­
DIE MUSTERGÜLTIGE gen sogar bei 175 Tonnen. Daraus Mehl zu gewinnen, er­-
ADMINISTRATION VON PERSEPOLIS forderte überdies Arbeitskräfte und entsprechende Werk­
zeuge. Auch Vieh und Datteln setzten, sollte eine ganze

1 Das »Festungsarchiv« von Persepolis aus mehreren Armee davon leben, eine auf Überschuss ausgerichtete
tausend Tontafeln und Tafelfragmenten liefert Viehzucht sowie professionell betriebene Dattelplantagen
­detaillierte Informationen zur wirtschaftlichen Organi­ mit organisierter Bestäubung, Ernte und Lagerung voraus.
sation im Kernland des altpersischen Reichs. Liest man zwischen den Zeilen, gab es eine »institutio­
nelle Landschaft«, das heißt eine etwa durch Bauten und

2 Beispielsweise sorgte eine hierarchisch strukturierte


Verwaltung dafür, dass ausreichend Lebensmittel
erzeugt und gelagert sowie mit Kamelen auf sicheren
Verkehrswege sichtbar gewordene Reichsverwaltung der
Achämeniden (siehe »Kurz erklärt«, S. 83). So existierte
offenbar ein Netz staatlich organisierter Getreidespeicher
Fernstraßen befördert werden konnten. und Lagerhäuser, großer Viehherden und Plantagen, dazu
gut ausgestattete Arbeiter und ein Verteilungssystem. Was
3 Schriftfunde aus Ägypten, Arachosien und Baktrien
belegen: Periphere Provinzen arbeiteten nach demsel­
ben Muster. Altorientalisten gehen davon aus, dass
bei Arrian wie eine Fußnote der Geschichte klingt, illustriert
einen wenig beachteten Aspekt des gesamten Feldzugs:
dort vergleichbare Verwaltungszentren existierten. Ohne ein gut organisiertes persisches Versorgungsnetz­
werk hätte Alexander der Große das angeblich so marode
Imperium wahrscheinlich gar nicht erobern können.

80 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Diese Tontafeln aus dem »Festungs-
archiv« von Persepolis verraten, dass
einst eine große Gruppe Reisende
mitsamt Kamelen und Maultieren von
Ghandara nach Susa unterwegs war.
Die Keilschrifttexte beschreiben, was
Mensch und Tier als Proviant erhiel-
ten. Dazu kommen Informationen
über weitere Details der Reise wie die
Wegstrecke und notwendige Geneh-
migungen.

2 cm
WOUTER HENKELMAN

Spektrum der Wissenschaft  5.19 81


Wer Aufbau und Funktionsweise dieser Infrastruktur des heutigen Iran gebräuchlich war. Als Elam im 6. Jahr­
erforscht, findet in Verwaltungsdokumenten aufschlussrei­ hundert v. Chr. im achämenidischen Reich aufging, über­
che Informationen. Die größte bekannte Sammlung stammt nahmen die neuen Herrscher nicht nur sein Knowhow
aus dem königlichen Bezirk von Persepolis, einem der in Sachen Verwaltung und Ökonomie, sondern behielten
wirtschaftlichen und politischen Zentren des achämenidi­ Elamisch auch als Sprache der Administration bei.
schen Kernlands, der Persis (siehe »Kurz erklärt«, rechts).
1933 hatten Archäologen des Oriental Institute der Universi­ Altpersisch, Elamisch und Aramäisch fließend,
ty of Chicago das »Festungsarchiv« in zwei Gewölben des Phrygisch und Griechisch erwünscht
Mauersystems der Terrasse entdeckt. Die Gewölbe hatten Außer den elamischen Texten enthält das Festungsarchiv
der Verwaltung offenbar als Lagerräume für ihre Akten etwa 850 Dokumente in Aramäisch – einer Sprache, die
gedient. Als Alexanders Soldaten Feuer legten, begruben man spätestens im Zuge der Eroberung aus Babylonien
einstürzende Mauern das Archiv. Der Schutt bewahrte 7000 übernommen hatte. Sie wurde für den reichsweiten Schrift­
bis 8000 voll­ständige Keilschrifttafeln und noch verwert­ verkehr verwendet, aber insbesondere in Persepolis auch
bare Fragmente vor dem Zahn der Zeit (die Zahl kleinerer von dessen Beamten. Dabei zeigen falsche grammatikali­
Bruchstücke und schlecht erhaltener Tafeln geht in die sche Konstruktionen und sprachliche Vereinfachungen in
Zehntausende). den elamischen Texten, dass die Muttersprache der meis­
Von 1937 bis zu seinem Tod im Jahr 1980 untersuchte ten Altpersisch war; das Gleiche gilt wohl für einen Teil der
der Chicagoer Assyriologe Richard Hallock die einzigartige Autoren der aramäischen Texte. Vereinzelte Dokumente in
Sammlung fast im Alleingang, 2005 hat ein internationales Altpersisch, Phrygisch und Griechisch unterstreichen den
Team diese Aufgabe übernommen. Es rekonstruiert die Eindruck eines komplexen sprachlichen Umfelds im Regie­
Keilschriftzeichen, übersetzt, publiziert und kommentiert rungsbezirk von Persepolis.
die Texte. Dank des Festungsarchivs hat sich unser Bild Die meisten der Tafeln wurden mit einem Siegelabdruck
vom altpersischen Reich radikal verändert. versehen. Sie identifizierten einst beispielsweise Getreide­
Die meisten Dokumente sind in Elamisch verfasst, das händler, Priester, Vorarbeiter und anderes mehr. Gut 5000
spätestens seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. im Südwesten gesiegelte Tafeln tragen keine Schrift, waren aber vermut­
lich über Schnüre mit Textdokumenten verknüpft. Die
Abdrücke entsprechen heutigen Unterschriften und Stem­
In der Antike bildeten Dromedare das Rückgrat des peln, sie sind mithin Ausdruck administrativer Macht.
Warentransports durch die trockenen Regionen des Trotz seiner Zuständigkeit für die Persis bietet das Fes­
persischen Weltreichs. Dementsprechend wird ihre tungsarchiv auf Grund seiner Größe und Komplexität sowie

WOUTER HENKELMAN
Haltung und Zucht in Verwaltungsdokumenten der zentralen Bedeutung von Persepolis für das gesamte
immer wieder erwähnt. Reich Einblicke in viele Aspekte der achämenidischen

82 Spektrum der Wissenschaft  5.19


­ ehmziegelplattform aus achämenidischer Zeit gestoßen,
L
zudem gut 350 Meter vom Hügel entfernt auf eine kunst-
Kurz erklärt voll gearbeitete Säule, wie man sie in einem Palast erwar­
tete. Dass Karkisch dem Festungsarchiv zufolge auf seinen
Achämeniden Das Herrschergeschlecht wurde
Reisen von schwer bewaffneten Truppen begleitet wurde,
der Legende nach von Achaimenes um 700 v. Chr.
erklärt sich durch die Lage des Orts: Paishi­yauvada be­
begründet. Um 500 v. Chr. erstreckte sich ihr Reich
wachte einen der Hauptwege in der Region, der an das
von Gebieten Osteuropas bis nach Indien. Um
Verbindungsnetz nach Indien angeschlossen war.
dieses riesige Imperium direkt regieren zu können,
Ähnlich verhielt es sich mit Purusch. Allem Anschein
unterhielten die Großkönige zumindest in der
nach war Karmanien in Verwaltungsbezirke untergliedert,
Persis und in Nachbarregionen Residenzen, die der
und Purusch gehörte zu den administrativen Zentren.
Hofstaat bereiste.
Es wird heutzutage mit Poura gleichgesetzt, das Arrian als
Persis Die heute in der iranischen Provinz Fars »basileia« Gedrosiens bezeichnete, als königliches Zentrum,
gelegene Satrapie war das Kernland der Achäme­ Verwaltungszentrale und Militärstützpunkt jener Satrapie.
niden. Von dort hatte diese Dynastie im 6. Jahr­ Erstreckte sich der Zuständigkeitsbereich Karkischs über
hundert v. Chr. expandiert, und in der Persis befan­ ein Gebiet, das vom äußersten Rand der Persis bis in den
den sich die wichtigen Königsresidenzen Pasar­ Südosten des heutigen Iran reichte?
gadei und Persepolis. Für diese Machtfülle gäbe es eine plausible Erklärung:
Satrapie Eine weitgehend autonome Provinz des Es war offenbar Aufgabe dieses Satrapen, das Netz der
altpersischen Reichs, die meist einem Statthalter, Königs­straßen zu überwachen, die das achämenidische
dem Satrapen, mit weit reichenden Machtbefug­ Kernland mit seinen östlichen Provinzen verbanden. Zur Zeit
nissen, mitunter auch einem lokalen Fürsten Dareios’ I. waren das: Arachosien und Ghandara, beide zu
unterstellt war. Insbesondere in der Peripherie des Teilen im heutigen Afghanistan und Pakistan gelegen,
Reichs repräsentierten die Satrapen die Zentral­ sowie Hindush im Nordwesten Indiens. In diesen Regionen
regierung. Alexander der Große und seine Nach­ tauchen Reisende im Festungsarchiv immer wieder auf.
folger behielten diese Struktur bei. Karkisch hatte wohl dafür zu sorgen, dass sie sicher unter­
wegs waren, sich nicht verirren konnten und mit allem
Nötigen versorgt wurden.
Wie wichtig die Großkönige gut funktionierende Verbin­
Kultur und Gesellschaft. Die meisten der elamischen Texte dungen gen Osten nahmen, bezeugt eine weitere unge­
stammen aus der Zeit von 509 bis 493 v. Chr., entstanden wöhnliche Konstruktion des 5. Jahrhunderts v. Chr.: Ein
also unter Dareios I., der das Imperium neu organisierte und Satrap namens Bagaios herrschte, so ist den Tontafeln zu
in Satrapien unterteilte (siehe »Kurz erklärt«, oben). entnehmen, über die Inseln des Persischen Golfs, sicherlich
Auch die Persis war eine Satrapie und hatte das übliche fiel auch der Seeweg zum indischen Subkontinent in seine
Führungstrio von Satrap, Garnisonsführer und Schatzmeis­ Verantwortung. Vermutlich war er Karkisch unterstellt. Der
ter. Im Festungsarchiv sammelte sich sozusagen Papier­ Reichtum der Großkönige beruhte offenbar nicht auf der
kram der Verwaltung: Listen zur Verteilung von Viehfutter, radikalen Ausbeutung unterworfener Gebiete, sondern
Lebensmittelrationen für Zehntausende von Lohnarbeitern, vielmehr auf deren Einbindung in ein gut vernetztes Wirt­
Zuweisungen von Vorräten für Reisende auf den Königs­ schaftssystem mit ausgefeilter Hierarchie.
straßen, Zuteilungen für die Tafel des Königs und der Köni­
gin, Aufstellungen über Opfergaben für die Götter. Dabei Kamellogistik:
repräsentiert die Sammlung nur einen Teil dessen, was Klotzen statt kleckern
persische Beamte zu bearbeiten hatten. Denn das Fes­ Es überrascht somit nicht, dass Kamele im Festungsarchiv
tungsarchiv erfasst zwar wichtige Produkte wie Getreide, häufig erwähnt werden: Die anspruchslosen und ausdau­
Bier, Wein, Obst und Vieh hinsichtlich Produktion, Lage­ ernden Tiere waren auf den Handelsrouten nach Ägypten,
rung und Transport. Doch obwohl laut den Futterlisten in die Levante, zur Arabischen Halbinsel, nach Südmesopo­
Hunderttausende von Schafen gehalten wurden, finden tamien und Indien ein wichtiger Bestandteil der Logistik.
sich keine Angaben zur Produktion von Wolle beziehungs­ Dementsprechend große Zahlen verzeichnen die elami­
weise von Textilien. schen Texte. Da ist mal von einer 200-köpfigen Herde die
Im Osten grenzte die Persis an die Provinz Karmanien. Rede, dann von einem Zuchtbetrieb mit 435 Stück. Mal
Mehrmals erwähnen Tontafeln des Archivs einen Satrapen geht es um reine Bestandsverwaltung, dann um die Wei­
namens Karkisch. Offenbar war dieser regelmäßig in der den. Es gab Tiere, die zu den Landgütern des Königs selbst
Persis unterwegs. Unter anderem hielt er sich häufig in gehörten. Selbst »Straßenkamele« tauchen auf – wohl
einem Ort namens Paishiyauvada im Südosten der Satrapie schnelle Dromedare für die Kuriere des Herrschers.
auf. Einige Archäologen identifizieren den Ort mit der Wieder kommt Arrians Bericht in den Sinn: Damit Alex­
Aus­grabungsstätte Tal-e Zohak nahe der heutigen Stadt anders Heermeister Lebensmittel über große Distanzen
Fasa, einem mehr als 20 Meter hohen Siedlungshügel mit heranschaffen konnten, sogar für die entlang der Küste
an Funden reicher Umgebung. Dort war der britisch- ziehenden Truppenteile, hätten die Satrapen der Provinzen
ungarische Archäologe Sir Aurel Stein schon 1934 auf eine Areia und Parthien jedem Offizier und jedem Unteroffizier

Spektrum der Wissenschaft  5.19 83


Beispiel besitzt ein privater Sammler aramäische Schriften
aus Baktrien, darunter den Brief eines Akhvamazda, Mitte
des 4. Jahrhunderts v. Chr. Satrap von Baktrien. Darin
kritisierte Akhvamazda eine Gebühr für königliche Kamel­
treiber. Man erfährt dabei, dass diesem Berufsstand Rinder,
Vieh und Land zur Verfügung standen, wohl um eine Konti­
nuität der Zucht und Beweidung der Tiere und damit den
Karawanenverkehr selbst abzusichern.
Die Dokumente aus Baktrien behandeln zahlreiche
weitere Wirtschaftsfragen und verraten Forschern die
Strukturen und Hierarchien, Begrifflichkeiten und Protokolle
der jeweiligen Administration. Ganz offensichtlich hatte
man in den Provinzen ähnliche Institutionen etabliert wie im
Kernland, und diese funktionierten gut 150 Jahre nach
Daraios I. immer noch.
Mehr noch: Der förmliche Ton der baktrischen Briefe, die
Art, wie das Leder gefaltet und versiegelt wurde, sowie
einige sprachliche Besonderheiten ähneln dem ebenfalls
aramäischen Schriftverkehr eines gewissen Arschama.
Dieser war in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.
Satrap von Ägypten. Die Einheitlichkeit lässt zentralisierte
Schreiberschulen vermuten und bestätigt die Annahme
UNIVERSITY OF CHICAGO / ORIENTAL INSTITUTE

reichsweiter Modelle der Administration nach dem Muster


von Persepolis.
In dessen »Schatzhaus« hortete man Tribute, die von
den Satrapien entrichtet wurden. Ihr Transport in die
Persis taucht in Dokumenten des Festungsarchivs auf,
doch wie die Abgaben erstellt wurden, verrät eine andere
Quelle: Bei Grabungen in den Ruinen des Schatzhauses
waren Teller, Mörser, Stößel und andere Objekte aus einem
harten grünen Stein, vermutlich Hornstein, ans Licht ge­
kommen. Auf den meisten wurden aramäische Worte mit
Tinte geschrieben, zum Beispiel Namen, Orts- und Jahres­
angaben.

Dieser Stößel, vermutlich aus grünem Hornstein, war Eine Hierarchie von Schatzmeistern
Teil des Schatzes von Persepolis und stammt aus Analysen verraten, dass es sich um Tribute aus Arachosien
der Satrapie Arachosien. Er ist in Aramäisch beschrif- handelt, das in den Inschriften mehrmals erwähnt wird.
tet, unter anderem mit dem Namen der Werkstatt Des Weiteren sprechen sie für ein Netz von befestigten
und des Verfassers. Das Artefakt unterstreicht die Produktionszentren; jedes wurde von einem Präfekten und
Bedeutung des Aramäischen in der altpersischen seinem Unterschatzmeister verwaltet. Sie alle standen
Administration. unter der Aufsicht des »Schatzmeisters von Arachosien«,
der letztlich die Produktion der Steinobjekte und ihren
Export nach Persepolis verantwortete. Das entspricht der
Kamele und andere Transporttiere geschickt. Quintus Hierarchie von »Reichsschatzhäusern« – tatsächlich handel­
Curtius Rufus, ein römischer Biograf des Welteroberers, te es sich eher um Werkstätten – in der Persis, an deren
ergänzte dazu, der parthische Satrap hätte zubereitete Spitze ein zentraler Schatzmeister stand, der in Persepolis
Lebensmittel auf Kamele laden lassen, als er von der Not­ residierte.
lage der Armee erfuhr. Auch durch solche bruchstückhaf­ Gut 60 Dokumente des Festungsarchivs über den
ten Informationen schimmert ein gut strukturiertes imperia­ ­Transport von Tributen bestätigen die Vermutung der
les Netzwerk durch. Beispielsweise waren bereits zuberei­ Wissenschaftler: Arachosien war wie die Persis auf Verwal­
tete Lebensmittel im heißen und feuchten Klima des tungsebene in kleinere Gebiete unterteilt. Damit das
südlichen Iran länger haltbar als frische Produkte. Und dass funktio­nierte, gab es wahrscheinlich Beamte mit über­
es möglich war, eine große Zahl von Tieren in kurzer Zeit regionalen Befugnissen, beispielsweise Inspektoren und
zur Ver­fügung zu stellen, setzte ein hoch entwickeltes Gutachter, welche die Produktionskapazität vor Ort ein­
System der Logistik und Tierzucht voraus. schätzten oder dafür Sorge trugen, dass gegebenenfalls
Die zeitliche Lücke zwischen den elamischen Dokumen­ Arbeiter und spezialisierte Handwerker aus anderen Teilen
ten und diesen Schilderungen antiker Biografen überbrü­ der Satrapie Engpässe ausglichen. Mit anderen Worten:
cken teilweise Texte aus anderen Gebieten des Reichs. Zum Die institutionellen Strukturen der einzelnen Verwaltungs­

84 Spektrum der Wissenschaft  5.19


2 cm
NATIONAL MUSEUM OF AFGHANISTAN / FAHIM RAHIMI (SF 1399)

Eine Tafel aus dem Archiv von Persepolis? Nein, dieses Charisma und seine Gottgleichheit, aber auch auf die
Fragment hat zwar alle entsprechenden Merkmale, Dekadenz des persischen Hofes und die Unfähigkeit seines
aber es wurde in Afghanistan entdeckt, wo in achäme- Königs. Doch selbst wenn all diese Schilderungen der
nidischer Zeit Arachosien lag. Der Fund deutet auf ein historischen Wirklichkeit entsprochen hätten, genügen die
ausgedehntes, jedoch einheitliches Reich hin, in dem Erklärungen nicht. Denn Soldaten müssen essen und
die Verwaltungsstruktur von Persepolis allgemein als trinken, sie benötigen Kleidung und Waffen. Die Militärge­
Vorbild diente. schichte ist voll von Beispielen verlorener wie erfolgreicher
Schlachten, bei denen die Sicherung des Nachschubs den
Ausschlag gab (siehe »Brot, Fleisch, Pulver, Geld«, Spektrum
bezirke Ara­chosiens waren auf vielfältige Weise miteinan­ Spezial Archäologie Geschichte Kultur 1/2018, S. 34).
der verknüpft. Der griechische Gelehrte Plutarch erzählte im 1. Jahrhun­
Unter den Mauern der Zitadelle von Alt-Kandahar, dem dert n. Chr. dazu eine aufschlussreiche Anekdote. Der junge
administrativen, politischen und militärischen Zentrum Alexander habe einst die persischen Botschafter am make­
dieser Satrapie, entdeckten Archäologen zwei Tafelfrag­ donischen Königshof nach den Längen der Straßen in ihrer
mente mit elamischer Keilschrift. Als die Taliban 1996 das Heimat und Einzelheiten ihrer Reiseroute ausgefragt. Es
Nationalmuseum Kabul plünderten, gingen beide zunächst scheint durchaus plausibel, dass sich der Prinz tatsächlich
verloren, doch eines wurde kürzlich im Lager des Museums über die Verhältnisse im achämenidischen Reich informier­
wiederentdeckt. So klein es auch ist, hat es doch enorme te – der Persienfeldzug stand schon bei seinem Vater auf
Bedeutung (siehe Bild oben). Denn das Format, die Keil­ der Agenda. Ob er es geplant hatte oder auf die Gegeben­
schrift und die wenigen erhaltenen Begriffe des Rech­ heiten vor Ort reagierte, das militärische Genie Alexanders
nungstextes entsprechen derart genau den Dokumenten äußerte sich auch darin, die ausgetüftelte Logistik der
des Festungsarchivs, als wäre das Artefakt in Persepolis persischen Satrapien zum eigenen Vorteil zu nutzen. 
ans Licht gekommen, nicht 3000 Kilometer weiter östlich.
Ein Verwaltungsmitarbeiter der Persis hätte sich in der QUELLEN
Administration Arachosiens mühelos zurechtgefunden. Und
Briant, P.: The empire of Darius III in perspective. In: Heckel, W.,
das lässt sich vermutlich auf eine Reihe von weiteren Trittle, L. (Hg.): Alexander the Great: a new history. Wiley-Black­
Provinzen übertragen. well, 2009
Das Festungsarchiv und die bislang bekannten Doku­
Henkelman, W.: Imperial signature and imperial paradigm
mente aus anderen satrapischen Archiven helfen, eines der Achaemenid administrative structure and system across and
großen Rätsel der Geschichte zu lösen: Wie konnte Alexan­ beyond the Iranian plateau. In: Jacobs, B. et al. (Hg.): Die Verwal-
der der Große mit einem an Zahl unterlegenen Heer in nur tung im Achämenidenreich – Imperiale Muster und Strukturen.
wenigen Jahren ein riesiges Weltreich erobern, das mehr Classica et Orientalia 17. Harrasowitz, 2017
als zwei Jahrhunderte Bestand hatte? Die antiken Autoren Kuhrt, A.: The persian empire: a corpus of sources from the
verwiesen auf Alexanders militärisches Genie, auf sein Achaemenid period. Routledge, 2007

Spektrum der Wissenschaft  5.19 85


REZENSIONEN

NASA / PAUL E. ALERS


Im April 2008, zum 50.
Jahrestag der NASA, hielt
Stephen Hawking eine Rede
an der George Washington
University. Darin begründe-
te er, warum der Mensch ins
All vorstoßen sollte.

86 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

BIOGRAFIE
NASA / PAUL E. ALERS

RÜCKBLICK AUF EINEN


AUSNAHMEPHYSIKER
Fundamentale Forschungsthemen,
Erzähltalent und der Kampf gegen
eine übermächtige Krankheit – zu-
sammen begründeten sie Stephen
Hawkings Weltruhm.

 Stephen Hawking (1942–2018) war


ein Star und zu Lebzeiten der wohl
berühmteste Physiker der Welt. Sein
Kultstatus gründete auf einem Drei-
klang: Hawking arbeitete über funda-
mentale Fragen zur Struktur des
Kosmos; er trotzte in unglaublicher
Weise seiner ALS-Erkrankung; und er
verstand es, seine Themen öffentlich-
keitswirksam und humorvoll einem
breiten Publikum zu vermitteln. Ein
Jahr nach seinem Tod legt der briti-
sche Wissenschaftsjournalist Joel
Levy eine Biografie vor, die dem
Ausnahmephysiker vermutlich gefallen
hätte: mit kurz gehaltenen Texten und
bunt bebildert.
Stephen Hawking wurde am 8. Ja-
nuar 1942 in Oxford geboren, wohin
die Familie aus London wegen des
Krieges geflüchtet war. Früh fiel seine
Intelligenz auf, doch ebenso eine
gewisse Faulheit. Während der drei
Jahre Studium in Oxford habe er nur
etwa eine Stunde täglich gearbeitet,
rechnete Hawking später einmal nach.
Seine Noten waren aber gerade gut
genug, um für die Doktorarbeit nach
Cambridge zu gehen.
Dort promovierte er bei Dennis
Sciama (1926–1999), einem Widersa-
cher des berühmten Astrophysikers
Fred Hoyle (1915–2001). Hoyle hatte im
Rahmen seiner »Steady-State-Theorie«
ein Schlupfloch der Urknalltheorie
ausgenutzt, um ein ewiges statisches
Universum zu postulieren, was Sciama
Joel Levy heftig kritisierte. Hawking gelang es
STEPHEN als Doktorand, einen Fehler in einer
HAWKING Abhandlung Hoyles aufzuspüren und
Sein Leben – mathematisch zu beweisen, dass im
seine Forschung –
sein Vermächtnis Urknall eine Singularität unvermeidlich
Langenmüller, ist. Sein wissenschaftlicher Aufstieg
Stuttgart 2019 war damit vorgezeichnet.
159 S., € 22,– In den folgenden Jahren beschäftig-
te sich Hawking mit Schwarzen Lö-
chern. Bei Untersuchungen zu deren

Spektrum der Wissenschaft  5.19 87


REZENSIONEN
Thermodynamik, Entropie und dem Einen anderen Fehler, den man sind. Sie inspirierten ihn zu seiner Evo-
Informationsverlust am Ereignishori- angesichts der bunten Gestaltung lutionstheorie, die er allerdings erst viel
zont gelang ihm schließlich seine wohl befürchten könnte, macht das Buch später – mehr als 20 Jahre danach –
bedeutendste Entdeckung: Schwarze jedoch nicht: Hawking wird nicht veröffentlichte.
Löcher sind auf Grund von Quanten­ glorifiziert. »Er mag nicht der größte Darwin verarbeitete seine Reise­
effekten nicht absolut schwarz, son- Kosmologe seit Einstein sein oder der erlebnisse in dem Buch »Journal and
dern strahlen sehr schwach und ersten Liga der modernen Physiker Remarks« (1839), das 1845 in einer
verlieren somit an Masse. Die Strah- angehören ...«, schreibt Levy bereits in überarbeiteten zweiten Fassung er-
lung trägt deshalb Hawkings Namen. der Einführung kritisch. Diese wohltu- schien. Diese ist ins Deutsche übertra-
Sie experimentell nachzuweisen, ist ende Distanz behält er bei. gen worden und jetzt als illustrierte
allerdings extrem schwierig und bis Der Rezensent Stefan Gillessen ist wissen- Sonderausgabe herausgekommen. Das
heute nicht geglückt – ein wichtiger schaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Insti- gelungen übersetzte, vorsichtig gekürz-
Grund, warum Hawking der Nobel- tut für extraterrestrische Physik. te und üppig bebilderte Werk erlaubt
preis verwehrt blieb. es, auf Darwins Spuren zu wandeln
1988 erschien nach jahrelanger und jene Forschungsreise nachzuerle-
Arbeit Hawkings bekanntestes Buch Charles Darwin ben, die laut seiner eigenen Aussage
»Eine kurze Geschichte der Zeit«. Es DIE FAHRT DER »das bei Weitem bedeutendste Ereig-
BEAGLE
wurde ein Bestseller und machte nis« seines Lebens war.
Darwins illustrierte
Hawking weltberühmt. Mit charman- Reise um die Welt Den größten Teil des Buchs nehmen
tem Humor und ohne Mathematik Theiss, Darmstadt Darwins Naturbeobachtungen ein.
schaffte der Physiker es, die moderne 2019 Intensiv widmet er sich der Fauna und
Kosmologie einem Millionenpublikum 480 S., € 28,– Flora in den bereisten Gebieten und
schmackhaft zu machen. Spätestens beschreibt diverse Arten. Das ist bio­
jetzt war er zur Person des öffentlichen logisch interessant, packend und
Lebens geworden; seine Auftritte und lebendig geschrieben, und es liest sich
Aussagen verfolgte sogar die Boule- WISSENSCHAFTS- oft sehr witzig: »Mehr als einmal habe
vardpresse.
Hawkings Name bietet eine ziem-
GESCHICHTE ich gesehen, wie ein Guanako, wenn
man sich ihm näherte, nicht nur wie-
lich sichere Grundlage für stabile AUF DARWINS SPUREN herte und schrie, sondern auch in der
Verkaufszahlen, und so fiel dem Verlag Auf einer Vermessungsfahrt mit lächerlichsten Art und Weise umher-
die Entscheidung vermutlich leicht, dem Schiff »Beagle« gewann stolzierte und sprang, offenbar als
diese Biografie über ihn zu publizieren. Charles Darwin entscheidende trotzige Herausforderung.« Wiederholt
Die Aufmachung des Werks zielt auf Erkenntnisse zur Evolution. denkt Darwin über die Verbreitungs­
weite Verbreitung. Die Seitengestal- Sein Reisetagebuch ist jetzt in gebiete von Tierarten nach. Er fragt
tung erinnert denn auch eher an einer Sonderausgabe erschienen. sich etwa, warum Autoren, die Süd-
eine Zeitschrift als an ein Buch: große amerika vor ihm bereist hatten, bei
Farbfotos, abgesetzte Kästen zu
einzelnen Themen, wenig Text und
natürlich keine Formeln. Man kann
 1831 stach die »HMS Beagle« von
England aus in See, um die Küsten
Südamerikas zu vermessen. Mit an
bestimmten Spezies eine andere Ver-
breitung beschrieben hatten, als er sie
vorfand.
getrost schmökern und blättern – ein Bord war der damals 22-jährige Eingehend befasst sich der Naturfor-
Ansatz, der aufgeht. Das Buch ver­ Charles Darwin. Der Schiffskomman- scher mit Landschaften, geologischen
mittelt einen guten und recht umfas- dant Robert Fitz Roy hatte ihn enga- Strukturen und klimatischen Verhältnis-
senden Blick auf Hawking, sein Privat­ giert, um »keine Gelegenheit zum sen. Er entwickelt Thesen dazu, wie die
leben und seine wissenschaftliche Sammeln von nützlichen Informatio- südamerikanischen Gebirgszüge, Täler
Arbeit. nen zu versäumen«. und Ebenen entstanden sein könnten.
In einem wichtigen Punkt wird das Die »Beagle«-Expedition sollte Auch wundert er sich darüber, dass
Buch seinem Versprechen jedoch eigentlich zwei Jahre dauern, woraus Gletscher, Eisberge und Dauerfrostbo-
nicht gerecht: Die Versuche des Au- dann aber fast fünf wurden – erst 1836 den auf der Südhalbkugel in erstaunlich
tors, Hawkings Lebenswerk inhaltlich kehrte das Schiff zurück. Es lief unter niedrigen Breiten vorkommen, vergli-
zu erklären, bleiben weit hinter anderem Südamerika, die Galapagos- chen mit der nördlichen Hemisphäre.
Hawkings eigenem Können zurück. inseln, Tahiti, Neuseeland, Australien Darwin diskutiert Muschelfunde auf
Vielleicht ist der Vergleich unfair – aber und die Kokosinseln an. Überall dort Bergen, die Schichtenabfolge in Gebir-
die Lektüre hinterlässt oft das Gefühl ging Darwin an Land, untersuchte gen oder Kiesablagerungen in Tälern.
des nicht ganz Schlüssigen. Das ist Tiere, Pflanzen und geologische Struk- Daraus schließt er auf frühere Hebun-
schade, da ja gerade die populärwis- turen. Die Beobachtungen, die er gen und Senkungen des Lands, auf
senschaftliche Vermittlung ein heraus- dabei machte, ließen ihn schon bald zurückliegende Vulkanausbrüche und
ragendes Vermächtnis Hawkings ist. vermuten, dass die Arten veränderlich die Existenz früherer Meeresarme.

88 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Zudem berichtet er über Fossilien, die Darwin hält darin mehrere Besonder-
er auf seinen Expeditionen fand, und heiten fest, die ihm an der Tier- und Thomas Lin (Hg.)
THE PRIME
versucht, sie zeitlich einzuordnen. Er Pflanzenwelt des Archipels auffielen. NUMBER
spekuliert darüber, wie Tierpopulatio- Er bemerkt, zahlreiche Galapagosarten CONSPIRACY
nen durch Landerhebungen getrennt seien nur auf diese Inselgruppe be- The Biggest Ideas
in Math from
werden können; diese »Verinselung« schränkt, und sogar die einzelnen Quanta
von Lebensgemeinschaften spielte Inseln besäßen ihre jeweils eigenen MIT Press,
eine wichtige Rolle in seiner späteren Spezies, obwohl sie zumeist in Sicht- Cambridge
Evolutionstheorie, denn sie trägt zum weite zueinander lägen. Gleichzeitig (Massachusetts)
2018
Auffächern von Arten bei. jedoch, schreibt der Naturforscher, 336 S., $ 19,95
Ein langer Abschnitt widmet sich weise die Tier- und Pflanzenwelt eine
dem damals noch ungelösten Rätsel, ausgeprägte Verwandtschaft mit
wie Korallenriffe entstehen. Beim derjenigen Amerikas auf. Diese Beob-
Besuch der Kokosinseln hatte Darwin
solche Strukturen zu Gesicht bekom-
men. In seinem Buch stellt er eine
achtungen erwiesen sich als wichtig
für die Evolutionstheorie.
»Die Fahrt der Beagle« ist ein
 Seit einigen Jahren berichtet das
englischsprachige Onlinemagazin
»Quanta«, getragen von der Wissen-
Theorie auf, mit der er schlüssig spannender Reisebericht, der aus schaftsstiftung Simons Foundation,
erklären kann, welcher Mechanismus wissenschaftlicher Sicht, aber auch aus der Welt der Wissenschaft. Dabei
Saum- und Barriereriffe und schließ- als Zeitzeugendokument von hoher nimmt die Mathematik eine heraus­
lich Atolle hervorbringt. Dabei steht literarischer Qualität fasziniert. Das ragende Stellung ein. Dieses Buch
einmal mehr die Hebung und Senkung Buch ist reich bebildert mit Land- versammelt ausgewählte Beiträge der
von Festland beziehungsweise von schaftsaufnahmen der jeweiligen ersten Jahrgänge.
Inseln im Fokus. Gebiete, mit Tier- und Pflanzenfotos, Zu den behandelten Themen gehört
mit historischen Zeichnungen und eine »Verschwörungstheorie der
Gemälden und mit Abbildungen Primzahlen«: Es sieht so aus, als wäre
Darwin stellte eine wissenschaftlicher Präparate. Textaus- es den Primzahlen wichtig, wer unter

eigene Theorie zu züge aus Darwins »Entstehung der


Arten«, aus Robert Ritz Roys Reisebe-
ihresgleichen ihre nächsten Nachbarn
sind. Enden sie mit der Ziffer 9, so
Korallenriffen auf richt »Proceedings of the Second
Voyage« und anderen Werken runden
ziehen sie es anscheinend vor, wenn
die Nachfolgerin auf 1 endet, und
den Band gelungen ab. schätzen es überhaupt nicht, wenn
Ausführlich beschreibt Darwin die Nicht ganz optimal erscheint, dass diese ebenfalls als letzte Ziffer die 9
Indigenen in den bereisten Gebieten. die doppelseitige Karte mit der Reise- hat. Solche Merkwürdigkeiten findet
Während er von den Feuerländern und route der »Beagle« irgendwo mitten man leicht, indem man den Computer
Neuseeländern keine hohe Meinung im Band platziert wurde, wo man sie die Endziffernpaare benachbarter
hat, schwärmt er von den Tahitianern. leicht übersieht. Um beim Lesen Primzahlen auszählen lässt. Aber
Was er als Zeitzeuge der Kolonisation immer wieder darauf zugreifen zu niemand hatte sich diese Mühe ge-
schildert, ist oft beklemmend: »Wo können, hätte sie nach vorn gehört, macht, bis im März 2016 die Mathe­
sich der Europäer auch hinwendet, auf die inneren Umschlagseiten oder matiker Kannan Soundararajan und
scheint der Tod die Eingeborenen zu an ähnlich exponierte Stelle. Von Robert Lemke Oliver von der Stanford
verfolgen.« Deutlich bringt er seine diesem kleinen Manko abgesehen University die Ergebnisse entspre-
Empörung über die Sklaverei zum erweist sich der Band als fesselnde, chender Auszählungen veröffentlich-
Ausdruck. Eine große Rolle in dem ergiebige und bereichernde Lektüre. ten – und großes Erstaunen auslösten.
Buch spielen die Indianerkriege, die in Der Rezensent Frank Schubert ist Redakteur Natürlich ist es Unfug, den unschul-
den Jahren der »Beagle«-Expedition bei »Spektrum der Wissenschaft«. digen Primzahlen irgendwelche Vorlie-
offenbar eskalierten. Darwin erzählt ben oder Abneigungen zuzuschreiben.
von der Furcht, indigenen Kriegern in Das gilt ebenso für die verbreitetere
die Hände zu fallen, und berichtet von Vorstellung, die Verteilung der Prim-
tödlichen Überfällen auf Armeeposten. MATHEMATIK zahlen sei vom Zufall bestimmt. Aber
Von den Truppen, die gegen die Ein-
heimischen aufgeboten wurden, hält
BLUMENSTRAUSS AN solche Denkansätze helfen dem Ver-
ständnis ungeheuer auf, selbst dem
er nicht viel: »Ich möchte meinen, eine THEMEN der Fachleute, auch wenn diese solche
solch schurkische, banditenartige Das Onlinemagazin »Quanta« Quellen der Erkenntnis nicht in ihren
Armee ward nie zuvor zusammenge- macht sich um die Vermittlung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen
stellt.« Mathematik sehr verdient. Dieses aufzuführen pflegen.
Von besonderem Interesse ist der Buch liefert eine Auslese der ersten Umgekehrt erfordert es ein tiefes
Abschnitt über die Galapagosinseln. Jahrgänge. Verständnis und viel Mühe, aus einem

Spektrum der Wissenschaft  5.19 89


REZENSIONEN
derartigen, streng formal strukturier-
ten Text entsprechend anschauliche
MOLEKULARBIOLOGIE beim Vorgängerwerk »Treffen sich zwei
Moleküle im Labor« (2016) – unabhän-
Vorstellungen zu extrahieren. Genau VERBESSERTE gig voneinander lesbar sind. Der erste
das leistet seit einigen Jahren »Quan- MENSCHEN? Abschnitt befasst sich mit dem
ta« unter dem Chefredakteur Thomas menschlichen Genom. Moder be-
Lin, und zwar so überragend gut, dass Science-Slam-Europameister schreibt darin zunächst den Aufbau
beträchtlicher Ressourceneinsatz Martin Moder erklärt, inwieweit und die Organisation unseres Erbguts,
Erbgut-Optimierungen möglich
dahinterstecken muss. Die drei Haupt- was ihm anschaulich gelingt. An
und sinnvoll sind.
autoren Kevin Hartnett, Erica Klarreich Beispielen erklärt er, wie Evolution
und Natalie Wolchover schreiben in
lockerem Stil, aber dennoch präzise,
drücken sich elegant um problemati-
 »Als Kind war ich dick und froh
darüber«, schreibt der Molekular-
biologe Martin Moder; heute wäre er
funktioniert und wie künstliche Verän-
derungen im Genom vorgenommen
werden können. Dabei führt er aktuelle
sche Details und hören rechtzeitig auf, es aber nicht mehr, da er sonst Ge- Studien an und lässt seine Leser ge-
bevor es zu schwierig wird – und zwar, fahr liefe, als »Kugelschreiber« be- wissermaßen aktiv an der Methodik
ohne dass bei den Lesern ein frust­ zeichnet zu werden. Schon aus teilhaben, indem er eine Do-it-yourself-
rierter Nachgeschmack bleibt. Oben- diesen ersten paar Sätzen seines Anleitung für die Genschere CRISPR/
drein sind sie manchmal atemberau- Buchs sprechen Selbstironie und Cas präsentiert.
bend schnell: Ein Bericht davon, dass Alltagsbezug, zwei wichtige Grund- Moder erklärt, welche genetischen
der Fields-Preisträger Peter Scholze bestandteile des Werks. Hinzu gesellt »Optimierungen« heute bereits möglich
dem ebenfalls renommierten Shinichi sich ausgeprägtes Fachwissen, mit sind und wo einschlägige Probleme
Mochizuki einen Fehler in dessen dem der Autor ein komplexes Thema und Chancen liegen. Am Ende des
Beweis der ABC-Vermutung nachwies, aufgreift: die Optimierung des Men- Kapitels widmet er sich der Frage, was
erschien am selben Tag wie Scholzes schen. Dabei beschränkt er sich nicht »optimieren« eigentlich bedeutet. Denn
wissenschaftliche Arbeit zum Thema. auf die naturwissenschaftliche Seite, viele Merkmale des Organismus lassen
Nicht von ungefähr hat Spektrum sondern rückt auch die gesellschafts- sich nicht eindeutig als positiv oder
bereits einige Artikel aus »Quanta« politische in den Blick, indem er etwa negativ einstufen; zudem kann die
übernommen. Bei der hohen Qualität moralische Aspekte aufgreift – frei- Veränderung eines Merkmals (etwa
der Beiträge stören sogar gewisse einer bestimmten Krankheitsresistenz)
stilistische Eigenheiten nicht – etwa unbeabsichtigte negative Auswirkun-
Martin Moder
jene, dass jedes Stück auf die Person gen zeitigen. Moder stellt klar, dass
GENPOOLPARTY
einer Wissenschaftlerin oder eines viele Eigenschaften nicht durch ein
Wie die Wissen-
Wissenschaftlers fokussiert und deren schaft uns stärker, einzelnes Gen, sondern durch das
Forschungsergebnis nur als einen von schlauer und Zusammenspiel vieler verschiedener
weniger unaus-
mehreren Aspekten behandelt. Und stehlich macht bestimmt werden.
stets wird die Meinung eines Promi- Hanser, München Im zweiten Kapitel beleuchtet der
nenten zum Thema zitiert, selbst wenn 2019 Molekularbiologe die Forschung dazu,
sie nur in der Aussage »Dieses Ergeb- 208 S., € 19,00 auf welche Weise eine Eigenschaft wie
nis ist bedeutend« besteht. Intelligenz überhaupt von den Genen
Nun gibt es all jene schönen Artikel bestimmt wird. Hierbei definiert er
online zur freien Verfügung – gut Grundbegriffe der Intelligenzforschung
verlinkt, farbenfroh bebildert und wie IQ-Wert und Korrelation. Dies ist
kostenfrei. Ist es wirklich sinnvoll, Geld lich nie mit erhobenem Zeigefinger. der wohl komplizierteste Teil seines
auszugeben, um die gleichen Texte in Moder nimmt sich immer wieder Buchs, allerdings schafft es Moder,
diesem Buch auf Papier gedruckt zu selbst auf den Arm und wirkt dadurch trotz mathematischer Formeln einen
erhalten, unter Verzicht auf die meis- sympathisch; seine Gags folgen trockenen Lehrbuchstil zu vermeiden,
ten Abbildungen, darunter sämtliche dicht aufeinander und wecken oft das indem er seine Ausführungen mit
Forscherporträts? Die persönliche Bedürfnis, die Lektüre zu unterbre- unterhaltsamen Anekdoten spickt. Er
Antwort des Rezensenten: ja, trotz- chen, um zu lachen oder die Stirn zu gibt den Lesern einen Überblick über
dem. Natürlich könnte man sich runzeln. Beim Lesen bekommt man aktuelle Ansätze zur Intelligenzsteige-
auch vor dem Bildschirm die Muße Lust, den Science-Slam-Europameis- rung, wobei er eine kritisch-distanzierte
nehmen, die es braucht, um die nicht ter live zu erleben, der seit 2016 im Haltung einnimmt. Dieses zweite
einfachen Gedankengänge zu erfas- Wissenschaftskabarett »Science Kapitel hat deutlich mehr Sachbuch-
sen. Aber das fällt im Lehnstuhl ein- Busters« mitwirkt. An manchen als Science-Slam-Charakter.
fach leichter. Stellen ist sein Wortlaut allerdings Der dritte und längste Abschnitt ist
Der Rezensent Christoph Pöppe ist promo- etwas zu reißerisch. der menschlichen Verhaltensbiologie
vierter Mathematiker und war lange Jahre Das 180-seitige Buch untergliedert gewidmet. Der Autor driftet dort mitun-
Redakteur bei »Spektrum der Wissenschaft«. sich in vier Kapitel, die – wie schon ter zu weit in die Gesellschaftskritik ab;

90 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Welche Veränderun- teln, wobei es ihm im vierten vor


allem um ethische Aspekte und die
ORNITHOLOGIE
gen am Genom mög- Zukunft geht. Ein Schlusswort rundet RÄTSEL DER RASTLOSEN
das Werk ab, in dem der Molekular-
lich sind, legt Moder biologe anmerkt, dass Biologie »ein
Ein Vogelkundler stellt die wichtigs-
ten Zugvögel, ihre Routen und
ausführlich dar chaotischer Sauhaufen« sei. Insge-
samt findet er aber: »So schlecht (...)
erstaunlichen Flugleistungen vor –
ebenso wie die Gefahren, die
stellen wir uns gar nicht an.« unterwegs drohen.
auch kommt sein Sprung von der Ausführlich legt der Autor dar,
Intelligenzforschung zur Fremden-
feindlichkeit etwas unvermittelt.
Manche Äußerungen, etwa zum
welche Veränderungen am Genom
bereits möglich sind oder in Zukunft
sein werden. Die Frage, inwieweit es
 Noch im 18. Jahrhundert waren viele
davon überzeugt, dass Schwalben im
Schlamm von Gewässern überwintern.
Thema Nationalsozialismus, erschei- sinnvoll ist, Menschen zu optimieren, Sie sahen, wie die Schwalben nach der
nen gedruckt sehr drastisch – gespro- will er jedoch den Wissenschafts­ Brutzeit zu Tausenden in Schilfflächen
chen kommen sein Humor und seine philosophen überlassen. Das Buch einfielen – und wie sie im Winter plötz-
Ironie sicherlich besser heraus. regt sowohl zum Lachen als auch zum lich alle verschwunden waren. Der
Davon abgesehen vermittelt Moder Nachdenken an (zwei durchaus logische Schluss daraus: Die Vögel
seinen Lesern auch in diesem Teil sinnvolle Optimierungen), stützt sich konnten sich nur im Schlamm versteckt
interessante Erkenntnisse, beispiels- auf ein solides wissenschaftliches haben.
weise zu den Themen Drogen oder Fundament und bietet ein umfang­ Heute sind die Wanderungen der
Attraktivität. Fragen, die beinahe jeden reiches Literaturverzeichnis für alle, mehr als 50 Milliarden Zugvögel, die
Menschen beschäftigen, wie »Was die mehr wissen wollen. jedes Jahr hunderte oder tausende
macht glücklich?« oder »Was macht Die Rezensentin Annika Röcker ist promo-
Kilometer weit in ihre Winterquartiere
einen guten Menschen aus?« diskutiert vierte Biochemikerin und Wissenschaftsjour- fliegen, in etlichen Details aufgeklärt.
der Autor in den letzten beiden Kapi- nalistin. Der Biologe und Vogelschützer Klaus

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Spektrum der Wissenschaft  5.19 91
REZENSIONEN
Richarz berichtet in seinem Buch viel
Wissenswertes darüber, wobei er
schwalben (Onychoprion fuscatus) mit-
unter dazu, dass die Tiere als Jungvö-
DEMOGRAFIE
auf das Reiseverhalten, den Orientie- gel starten und ausgewachsen ankom- EINE WELT SO
rungssinn, die Rastgebiete sowie die men. Ein weiterer Rekord: Mauersegler VOLL WIE NOCH NIE
Ernährung der Tiere eingeht und die (Apus apus) verbringen die zwei Jahre
ent­sprechenden wissenschaftlichen vom Flüggewerden bis zur ersten Lan- Was verraten demografische
Unter­suchungsmethoden erörtert. dung am Brutplatz durchgängig in der Daten über künftige Entwick­
lungen?
Dabei stellt er ausgewählte Arten mit Luft. Um so lange zu fliegen, nutzen
ihren Besonderheiten vor. So sind
Meisen häufig zusammen mit Vertre-
tern anderer Arten unterwegs, wäh-
sie einen Trick: Sie schlafen jeweils nur
mit einer ihrer Hirnhälften, während
die andere wacht.
 Eine erstaunliche und folgenreiche
Entwicklung prägt die Welt seit
dem 19. Jahrhundert. Nimmt man für
rend Lerchen bevorzugt unter sich Richarz war einmal in der universi- die Zeit Julius Cäsars im 1. Jahrhun-
bleiben und Laubsänger eher allein tären Forschung tätig, wechselte dann dert v. Chr. noch eine Weltbevölke-
fliegen. Bei Amseln wiederum zeigen aber in die Naturschutzverwaltung der rung von rund 250 Millionen Men-
sich die Weibchen deutlich reise­ Landesämter. Dementsprechend schen an, so hatte sie sich bis zum
lustiger als die Männchen, die eher in berichtet er ausführlich über die vielen 19. Jahrhundert (also in zwei Jahrtau-
ihrem Siedlungsgebiet verweilen. Risiken des Vogelzugs. Dazu gehören senden) auf gerade einmal eine Mil­
natürliche Räuber, die auf ihre Beute liarde vervierfacht. Doch seither –
lauern, vor allem aber Hauskatzen und sprich, in den zurückliegenden
Klaus Richarz menschliche Jäger. Fotos in dem Buch 200 Jahren – ist sie auf 7 Milliarden
VOGELZUG zeigen nicht nur tellerweise gebratene Menschen explodiert. Der britische
WBG Theiss,
Darmstadt 2019 Grasmücken (eine Gattung von Sing- Demografieforscher Paul Morland
192 S., € 38,– vögeln), sondern auch die Netze, mit widmet sich diesem globalen Sprung
denen sie gefangen werden. Hierzu in der Bevölkerungszahl und seinen
kann der Autor freilich auch Positives gesellschaftlichen Auswirkungen.
berichten: Gerade in Italien, das früher Dazu stellt er zunächst die historische
zu den führenden Ländern der Vogel- Bedeutung der Bevölkerungswissen-
jagd zählte, sind erfolgreich Schutz- schaft heraus. Anschließend betrach-
programme aufgelegt worden. Leider tet er den demografischen Wandel
rücken nun neue Bedrohungen in den auf allen Kontinenten.
Richarz erklärt, wie Vögel navigie- Fokus, nämlich die schädlichen Folgen
ren, und stellt deren unterschiedliche
Flugrouten vor. Gerade in den zurück-
des Klimawandels sowie die Risiken
von Freilandleitungen, rotierenden
Die frühere europäi-
liegenden zwei Jahrzehnten haben
Vogelforscher dank innovativer Unter-
Windrädern, Lichtverschmutzung,
Pestiziden und Plastikmüll.
sche Dominanz
suchungsmethoden viele neue Ent­ Das Buch vermittelt viel Wissens- gründete auf Bevöl-
deckungen gemacht. Dazu gehört die
Satellitentechnik: Geeignet große
wertes über Zugvögel und ihre Flug-
künste. Anschauliche Grafiken laden kerungswachstum
Vögel bekommen die inzwischen nur dazu ein, deren Reiserouten zu studie-
noch wenige Gramm schweren GPS- ren. Zahlreiche hochwertige Farbfotos Morland richtet seinen Blick zu-
Geräte wie einen Minirucksack umge- von Vögeln und Landschaften sind nächst auf England. Im Mittelalter und
schnallt, was deren Reiserouten detail- allein schon optisch ein Genuss. Der der frühen Neuzeit durchlief die
liert aufzuklären hilft. Mit Hilfe der sachlich geschriebene Text führt Einwohnerzahl dort zyklische Verän-
Satellitenüberwachung ist es beispiels- verständlich ins Thema ein und bildet derungen: auf langsame und stetige
weise möglich, herauszufinden, ob die den aktuellen Forschungsstand weit- Wachstumsphasen folgten Einbrüche
Tiere über Berge hinwegfliegen oder gehend ab; das Literaturverzeichnis infolge von Seuchen, Hunger und
drum herum. Sie hat auch die Erkennt- listet Arbeiten bis 2017. Am Ende Kriegen. Ab etwa 1800, der Zeit der
nis geliefert, dass die unerfahrenen widmet sich der Autor dem grenzüber- beginnenden Industrialisierung,
Jungtiere des Schreiadlers das Mittel- schreitenden Schutz von Zugvögeln änderte sich das. England hatte nicht
meer an breiten Stellen überfliegen, und stellt Orte meist in Deutschland wie Kontinentalstaaten unter durch-
während die Alttiere thermisch günsti- vor, wo sich die Tiere in Schutzgebie- ziehenden Armeen zu leiden, Seu-
gere Wege um das Gewässer herum ten gut beobachten lassen – etwa auf chenausbrüche ließen im Zuge medi-
bevorzugen. Helgoland, den Rieselfeldern bei zinischer und technischer Verbesse-
Nebenbei erwähnt Richarz einige Münster oder am Chiemsee. rungen nach und die Nahrungsmittel-
Rekorde der Vielflieger. So kann die Die Rezensentin Katja Engel ist promovierte
versorgung verbesserte sich durch
Reise bei manchen Vögeln ein halbes Ingenieurin und Wissenschaftsjournalistin in weltweiten Handel. Die Sterberate
Jahr dauern. Das führt bei Rußsee- Dortmund. sank, zugleich stieg die Fertilitätsrate,

92 Spektrum der Wissenschaft  5.19


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Paul Morland
DIE MACHT DER
schnittsalter werde steigen, das Bil-
dungsniveau zunehmen und die Bevöl-
kerungen gesetzter und weniger
 Schmetterlinge legen ihre Eier nur
auf Pflanzen ab, von denen sie sich
ernähren. Das bedeutet aber, man kann
DEMOGRAFIE
und wie sie die risikobereit sein – was Gewaltkonflikte gezielt Lebensräume für sie schaffen.
moderne Welt weniger wahrscheinlich mache. Die Ob im Garten, auf der Terrasse oder
erklärt
europäische beziehungsweise die dem Balkon: Wo immer es vielfältig
Aus dem Engli-
schen von westliche Dominanz werde weiter blüht, können auch seltene Falter einen
Hans-Peter zurückgehen. Zufluchtsort finden, denen es an Nek-
Remmler Die grundlegenden Entwicklungen, tar- und Futterpflanzen in offener
Ecowin, München
2019 die Morland beschreibt, sind keines- Landschaft mangelt.
430 S., € 26,– wegs neu und inzwischen gut unter- Die Biologin Elke Schwarzer zeigt in
sucht. Auch die globale Bedeutung ihrem inhaltlich ansprechenden und
der Bevölkerungsentwicklung ist gut strukturierten Ratgeber, wie man
englische Frauen brachten also mehr unbestritten. Problematischer er- regelrechte Kinderstuben für Schmet-
Kinder auf die Welt, von denen weni- scheint jedoch die Deutung statisti- terlinge schaffen kann. Dabei be-
ger starben. Begünstigt wurde dies scher Daten. So kann man unter- schreibt sie – vom kleinen Brennnessel-
durch das Absinken des durchschnittli- schiedlicher Ansicht darüber sein, ob areal bis zur großen Blumenwiese – die
chen Heiratsalters von 26 auf 23 Jahre, eine ältere Bevölkerung in jedem Fall für die jeweiligen Falter geeigneten,
eine Veränderung, die laut Morland zu gesetzestreuer und weniger risiko­ heimischen Pflanzenarten und -sorten.
drei zusätzlichen Jahren Fertilität pro bereit ist. Morland betont zwar, dass 20 häufige, auffällige Schmetterlings-
Frau führte. er dies keinesfalls verallgemeinern spezies stellt die Autorin mit detailge-
Die veränderten wirtschaftlichen möchte, da immer auch wirtschaftli-
und technischen Verhältnisse griffen che und politische Faktoren eine Rolle
Elke Schwarzer
auf den europäischen Kontinent über spielen. Äußerst spekulativ erscheint
MEIN SCHMET-
und führten in der Folge auch hier zum es jedoch, wenn er argumentiert, dass TERLINGSGAR-
Anwachsen der Bevölkerung. Zu den Syrien vielleicht nie im Bürgerkrieg TEN
vielen Folgen gehörten Migrationsbe- versunken wäre, hätte das Durch- Schöne Pflanzen
für Falter und
wegungen in die außereuropäische schnittsalter seiner Bevölkerung (zirka Raupe
Welt hinein. Ihre wirtschaftliche und 24 Jahre) näher an dem der Schweiz Ulmer, Stuttgart
militärische Umsetzung erfolgte im (zirka 42 Jahre) als an dem des Jemen 2019
Rahmen des Kolonialismus. Für lange (zirka 19 Jahre) gelegen. 128 S., € 16,95
Zeit begründeten sie die globale euro- Zwar ist das Buch eine Fundgrube
päische Dominanz. für statistische Vergleiche. Doch leider
Wie sehr Bevölkerungszuwachs und erfolgen diese, von wenigen Tabellen
wirtschaftlich-militärische Macht bis abgesehen, ausschließlich im Text. nauen Farbfotos vor. Auch auf die
heute miteinander verknüpft sind, zeigt Auf Grafiken oder Karten haben Autor typischen Raupenfutterpflanzen und
Morland am Beispiel Chinas. Der gi- und Verlag komplett verzichtet. Un- Fördermaßnahmen zur Ansiedelung
gantische Staat unterhält nicht nur eine term Strich eignet sich das Werk geht sie ein, jeweils ergänzt von kurzen
große und zunehmend besser gerüste- dennoch für historisch und weltpoli- Steckbriefen zu ausgewählten Tieren
te Armee, sondern verfügt auf Grund tisch interessierte Leser, die den und Gewächsen.
seiner Einwohnerzahl über ein gewalti- komplexen glo­balen Entwicklungen Von Barbarakraut bis Zypressen-
ges Produktivpotenzial und stellt einen der zurückliegenden 200 Jahre auf Wolfsmilch, von Alant bis Ziest als
riesigen Wirtschaftsmarkt. Basis demografischer Zusammenhän- »besondere Lockangebote« gibt
Heute jedoch schlagen weit rei- ge nachgehen möchten. Historische Schwarzer gärtnerisch wertvolle Tipps,
chende Veränderungen in der demo- Kenntnisse sollten vorhanden sein. wobei sie die Futtergräser, -stauden
grafischen Entwicklung durch. Denn Der Rezensent Martin Schneider ist Wissen- und -sträucher eingehend beschreibt.
während die Lebenserwartung enorm schaftshistoriker und Dozent in der Erwachse- Noch mehr Raupenfutter und spezielle
zugenommen hat, geht die Geburten- nenbildung. Nektarpflanzen listet sie in einem
rate insbesondere in den westlichen Servicekapitel am Ende des Buchs auf;
Ländern zurück. Zu den Ursachen dort finden sich auch Literaturtipps.
zählen Empfängnisverhütung, ein Ein Bezugsquellenverzeichnis für die
höheres Bildungsniveau und die Be- NATURSCHUTZ Futterpflanzen sowie ein Nachschlage­
rufstätigkeit von Frauen. In Ländern EINLADUNG register der Arten beschließen das
wie China wiederum zeitigt die ehema-
lige Ein-Kind-Politik ihre Folgen. Das
AN DIE FALTER nützliche und schöne Buch.

wird globale Auswirkungen haben, wie Wie sich schmetterlingsfreundliche Der Rezensent Manfred Feyk ist Geograf,
Morland prognostiziert: Das Durch- Gärten anlegen lassen. Geoinformatiker und Journalist.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 93


LESERBRIEFE
BEWUSSTSEIN OHNE Leserbriefe sind willkommen!
FREIEN WILLEN? Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an
leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet
Die Psychologin Susan Blackmore befasste
auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
sich mit dem Rätsel des menschlichen indivi­duelle Web­adresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten
Bewusstseins. (»Das schwierigste Problem«, Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
Spektrum Februar 2019, S. 30) werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
Rainer Nawrocki, Bocholt: Wenn man sich mit der so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
werden.
modernen Hirnforschung beschäftigt, fällt auf, dass in
vielen Publikationen der freie Wille keinen Platz mehr
findet. Das bedeutet, dass das neuronale Netz in unserem
Gehirn allein auf Basis von elektrochemischen Aktivitäten
unser Verhalten steuert.
Aber welchen evolutionären Vorteil bringt ein Bewusst­
KEINE LEHRER IM TIERREICH
sein, wenn das neuronale Netz sowieso alles entschei- Die Linguistin Christine Kenneally ging der
det? Warum erscheinen dann Teile der neuronalen Verar- Frage nach, warum der Mensch sprechen kann.
beitung wie auf einem Computerdisplay, zu der jedoch (»Der Rede wert«, Spektrum März 2019, S. 30)
die Tastatur und die Maus fehlen? Wozu ein Bewusstsein,
das nur unnötig Energie verbraucht und über erhöhte Michael Gansera, per E-Mail: Der Artikel von Frau
Nahrungsaufnahme »gefüttert« werden muss? Kenneally liefert das, was der Artikel des Februarhefts
Das Bewusstsein befindet sich interessanterweise in vermissen ließ, nämlich eine dem Stand der Wissen-
den Teilen des neuronalen Netzes, die wichtig für die schaft entsprechende Darstellung intellektueller und
Kommunikation sind. Es ist sinnvoll zu beschreiben, was kognitiver Leistungen bei Tieren. Danke dafür.
ich sehe oder höre, aber keiner interessiert sich so richtig Ganz besonders freut mich die Darstellung der
für meinen Herzschlag oder wie meine Verdauung ab- Resultate der Versuche von Heidi Lyn und Michael
läuft. Von Bedeutung sind allerdings ebenfalls Erfahrun- Tomasello bezüglich des Verstehens und Ausübens von
gen und Wissen. Zeigen. Exakt das, so sage ich meinen Schülern (in
Dieses Bewusstsein bekommt in der Entwicklung vom humoristisch zugespitzter Form), ist der Faktor, der uns
Baby zum Erwachsenen über eine Sprache eine Begriffs- Menschen vom übrigen Tierreich trennt: »Das Tierreich
welt, die kommuniziert werden kann. Am Anfang hat das hat euch gegenüber einen großen Vorteil: Es gibt keine
Baby Hunger oder auch Schmerzen und weint. Es kom- Lehrer!«
muniziert damit mit den Eltern. Später kommen das Neue Verhaltensweisen werden selbst bei höchst-
Sprechen und andere nonverbale Kommunikations­mittel entwickelten Säugetieren nicht beigebracht, sondern
hinzu. nur zufällig abgeguckt. Daher dauert die Traditionsbil-
Je nach kulturellem Umfeld und dem emotionalen dung immer Generationen. Dieser Faktor »Lehrer« ist
Verhalten der Eltern baut der sich entwickelnde Mensch meines derzeitigen Wissens der einzige nicht graduelle,
eine Sprache auf, um mit anderen Menschen wichtige sondern qualitative Unterschied, der den Menschen
Informationen auszutauschen, die im Bewusstsein zur vom übrigen Tierreich trennt.
Verfügung gestellt werden. Dabei ist das Gehirn sehr
flexibel und kann eine beliebige Sprache verwenden. Christian Stangl, Fürstenfeldbruck: Der Artikel von
Die Verknüpfung von Gehirnen musste auf diese etwas Christine Kenneally wäre nicht der Rede wert, versam-
komplizierte Art und Weise erfolgen, da sich die Neurone melte er nicht erneut alle Kapitalfehler der heutigen
von zwei Menschen nicht direkt miteinander verbinden evolutionären Anthropologie bezüglich der entschei-
können. Man kann so auch erklären, dass ein Bewusst- denden Frage: Was macht die Einzigartigkeit des
sein und damit die Kommunikation vom menschlichen Menschen aus? Kenneally spricht meist ohne nähere
Baby zum Erwachsenen immer mächtiger wird. Hiermit Bestimmung von Sprache schlechthin, weil tierische
entfällt die müßige Diskussion, in welcher Entwicklungs- und menschliche Sprache für sie quasi ein evolutionä-
stufe Bewusstsein eigentlich entstanden ist. Es handelt res Kontinuum darstellen. Sie missachtet also, dass
sich einfach um eine graduelle Entwicklung und nicht um Tiere im Wesentlichen stets auf ihrer Sprachstufe
etwas schlagartig Einsetzendes. verbleiben – geringe kulturelle und regionale Variatio-
Von dieser These ausgehend ergibt sich ein geschlos- nen zugestanden –, während Menschen fortwährend
senes Konzept, in dem man gut ohne die These »freier unterschiedlichste Sprachen mit vielen, enorm differie-
Wille« auskommt. Es scheint aber so zu sein, dass der renden Komplexitätsstufen hervorbringen.
Glaube an einen freien Willen dem Menschen in seiner Zweiter, damit einhergehender Fehler: Sie spricht
Entwicklung geholfen hat und ihm einen Antrieb gab von Sprachevolution, die nicht genetisch begründet sei.
und gibt. Hebt aber nicht klar und eindeutig voneinander ab:

94 Spektrum der Wissenschaft  5.19


einerseits die genetische Evolution einer unbedingten

NUDIBLUE / STOCK.ADOBE.COM
Voraussetzung, die Sprache erst menschlich macht, des
einzigartigen Denkvermögens des Menschen; davon
andererseits die kulturelle Entwicklung von menschlicher
Sprache als bloßem Mittel zum Austausch spezifisch
menschlichen Denkens.
Menschliche Sprache wird gespeist aus einem ständi-
gen Rückkopplungsprozess zwischen unbewusstem und
bewusstem Denken. Nahezu all unsere Sprache – außer
dem leitenden Gedanken – fließt uns unbewusst zu. Nur
die gleichzeitige gedankliche Kontrolle und nachträgliche
Fehlerkorrektur sind bewusst. Diese Autonomiefähigkeit
macht aus reflexhaft-unbewusstem Denken unbeschränkt
entwicklungsfähiges, daher ein bewusstes Denken des
Menschen. Dann aber muss klar sein: Solange Mutation
und Selektion herrschten – also während der zirka zwei
Millionen Jahre der Evolution der Homininen, die primär
tierische Sprachansätze kennzeichneten –, konnten rein
graduelle Verbesserungen des tierischen Gedankenaus-
tauschs nicht fließend in eine hochflexible und -variable
Kulturentwicklung von Menschen übergehen. Und das
geschah ganz offenkundig auch nicht, obwohl sich das
Gehirnvolumen der Gattung Homo in dieser Zeitspanne
auffälligerweise verdoppelte. Bis eben der vollwertige,
moderne Mensch auftrat, der bei gleich bleibendem
Gehirn den Beginn einer kulturellen Explosion anzeigte.
Alle Fehler Kenneallys sind in ihrer Feststellung ange-
legt: »Bei den Bonobos war nicht die Biologie, sondern die
Kultur entscheidend.« Diese zieht den Kurzschluss vom
Entstehen menschlicher Sprache durch bloße Kumulation
von tierischen Lernerfolgen nach sich: »Das ständig wie-
derholte Lernen erwies sich als Schmelztiegel, in dem
Sprache entstand.« Damit projiziert sie die kulturelle Ent-
wicklung bereits menschlicher Sprache zurück in die Ära
biologischer Evolution. Die vollkommen gegensätzliche Die Silfra-Spalte auf Island verbreitert sich auf Grund
Funktionsweise von Evolution und Entwicklung bleibt aber des Auseinanderdriftens der eurasischen und der nord-
Teil des Problems, das die Entstehung menschlicher Spra- amerikanischen Platte jährlich um rund sieben
che aufwirft; zumindest solange, wie auch der qualitative Milli­meter. Wirkt daran womöglich auch der Mond mit?
Sprung zwischen Tier und Mensch als solcher nicht er-
kannt wird.
frühere Mondeigenrotation, können also nichts über die
verlorene Rotationsenergie des Mondes sagen.
MOND UND PLATTENTEKTONIK Auf der Erde ist das anders. Wir sehen den Einfluss
des Mondes auf die Weltmeere, und vermutlich unterlie-
Nach jüngsten Untersuchungen spielten die Bewe- gen auch die Luftschicht und die Erdkruste den Gezei-
gungen von Erdplatten bei der Entwicklung des ten. Die Erdkruste ist relativ starr, daher können sich
irdischen Lebens eine entscheidende Rolle. (»Leben Gezeitenkräfte nur auf das Magma darunter auswirken.
durch Plattentektonik«, Spektrum März 2019, S. 42) Vielleicht sind das lediglich ein paar Zentimeter, die sich
die Erdkruste zwischen Ebbe und Flut mitbewegt. Es
Manfred Schlabbach, Berlin: In dem Artikel von Rebecca sind ja auch bloß ein paar Zentimeter, die sich die Konti-
Boyle vermisse ich einen Hinweis auf den Einfluss des nente im Lauf eines Jahres gegeneinander bewegen.
Mondes auf die Plattentektonik. Bekanntlich hat die Um- Letzten Endes wird die gesamte Gezeitenenergie in
drehung der Erde im Lauf von Jahrmillionen abgenommen. Wärme umgewandelt. Es wäre eine interessante For-
Wo ist diese Rotationsenergie geblieben? schungsaufgabe, die Energiebilanzen zu vergleichen:
Der Mond kehrt uns immer genau dieselbe Seite zu, den Gezeiteneinfluss des Mondes auf das Magma
weil ihn die Erde mit ihrer Gravitation zum (zur Erde relati- einerseits gegen den Energiebedarf für die Platten­
ven) Stillstand gebracht hat. Wir wissen nichts über eine tektonik andererseits.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 95


FUTUR III

Sie haben Aliens im Haus?


Wir sagen Ihnen, was zu tun ist.
Eine Kurzgeschichte von Laura Pearlman

D
ie beste Strategie ist natürlich immer: sie gar nicht erst Art Schnitzeljagd sind und ein scheinbar zufälliges
hereinzulassen. Aber vielleicht haben Sie Ihren Schorn- Mischmasch von Gegenständen sammeln wie Gummi-
stein nicht abgedichtet oder ein Loch im Fliegengitter ringe, Erdnüsse, Buntstifte, Lippenstifte, Zehennägel-
übersehen, und jetzt flitzt ein winziges Raumschiff der schnipsel, Blutproben und Tränen.
Außerirdischen in Ihrem Wohnzimmer oder in Ihrer Küche Verfallen Sie dabei nicht in paranoide Spekulationen
herum oder jagt unter Ihrem Esstisch durch. Es hat dann darüber, was die Aliens mit diesen Dingen anfangen wer-
wirklich keinen Sinn, sich selbst die Schuld zu geben oder den. Das sind schließlich keine Hexen, sondern bloß
darüber zu spekulieren, welches Ihrer Kinder vielleicht die Außerirdische.
Eingangstür offen gelassen hat, während sie alle nach den Falls aus Ihrem Schlafzimmer Jaulen oder Fauchen
Feiertagen ihre Autos vollpackten, um Sie dann wieder dringt, könnte es sein, dass Sie anfangen zu bedauern,
einmal in Ihrem leeren Nest zurückzulassen. dass Sie die aufgeregte Katze mit der verschreckten
Jedenfalls sind Sie jetzt allein im Haus mit Ihren zwei Artgenossin in einen Raum gesperrt haben und damit
Katzen und etwas, das aussieht wie ein kleiner fliegender den gesamten Fortschritt aufs Spiel setzen, den die zwei
Saugroboter in leuchtendem Pink. Das Erste, was Sie tun Tiere in den letzten drei Jahren gemacht haben, indem
müssen, ist dreimal ruhig und tief Luft holen – außer natür- sie mühsam lernten, miteinander auszukommen. Verges-
lich, Ihre Katze macht einen seltsamen Trillerton, wie ihn sen Sie’s! Hier gilt nur eine Regel: Sie müssen sich auf
diese Tiere beim Anblick eines Vogels gern ausstoßen. In die Außerirdischen konzentrieren.
dem Fall müssen Sie zuallererst Ihren Stubentiger schleu-

B
nigst aus dem Zimmer schaffen, bevor er hochzuspringen eobachten Sie das Raumschiff und finden Sie her-
versucht und die Außerirdischen ihn deshalb mit einer ihrer aus, was es will. Wenn es wiederholt gegen eine
Energiekanonen zerfetzen. Zimmertür, einen Schrank oder eine Schublade
stößt, dann möchte es haben, was darin ist. Am besten
öffnen Sie die Tür oder die Lade oder was auch immer,
Lassen Sie zu, dass die bevor die Aliens ungeduldig werden und Ihre Sammlung
von Stielgläsern in einen Tümpel aus geschmolzenem

Außerirdischen mit­ Glas verwandeln, inklusive womöglich der hübschen


Champagnerflöten, die noch vom Fest auf der Anrichte

nehmen, was immer sie herumstehen.


Wenn Sie einen Feuerlöscher besitzen, behalten Sie
ihn am besten bei sich, während Sie den Besuchern
haben wollen durch das ganze Haus folgen.
Falls das Raumschiff in der Nähe Ihrer Augen
schwebt, entfernen Sie sofort Ihre Kontaktlinsen und
Nachdem Sie Ihre Katze sicher in einen anderen Raum platzieren Sie sie auf der nächsten Tischplatte oder
gesperrt haben – vielleicht ins Schlafzimmer, wo Ihre zweite Ablage. Unbedingt. Sie wollen doch nicht, dass die
Katze bereits ängstlich unterm Bett kauert – und nachdem Aliens sie selbst herausnehmen, oder? Wenn das Schiff
Sie etwaige Kratzer medizinisch versorgt haben, die Sie sich knapp vor irgendeinem anderen Teil Ihres Körpers ver-
dabei zuzogen, können Sie zu Stufe eins zurückkehren. Wie harrt, halten Sie still und lassen es jede gewünschte
gesagt: Holen Sie dreimal tief Luft. Und machen Sie sich Gewebeprobe entnehmen. In der Regel wird es etwas
bewusst, dass die allermeisten Menschen solche Begeg- Kleines, nicht allzu Wichtiges sein.
nungen überleben, in der Regel sogar ohne allzu schwere Drücken Sie danach fest auf die Schnittstelle(n). Falls
Verletzungen. die Blutung mehr als fünf Minuten andauert, wählen Sie
Versuchen Sie den Aliens nicht im Weg zu stehen. Las­- den Notruf 112, und ein Rettungswagen wird sich auf
sen Sie zu, dass sie mitnehmen, was immer sie haben den Weg machen. Erwähnen Sie dabei unbedingt, dass
wollen. Niemand weiß wirklich über ihre Motive Bescheid, Aliens im Haus sind, und bleiben Sie am Telefon, bis sie
aber die vorherrschende Theorie besagt, dass sie auf einer wieder abfliegen. Die Außerirdischen werden jeden

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Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Carsten Könneker M. A. (v.i.S.d.P.)


Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser
Redaktion: Mike Beckers (stellv. Re­daktionsleiter), Manon Bischoff, Robert Gast,
Dr. Andreas Jahn, Dr. Klaus-Dieter Linsmeier (Koordinator Archäologie Geschichte),
Dr. Frank Schubert, Verena Tang; E-Mail: redaktion@spektrum.de
Freie Mitarbeit: Dr. Gerd Trageser
Art Direction: Karsten Kramarczik
Layout: Oliver Gabriel, Anke Heinzelmann, Claus Schäfer, Natalie Schäfer
Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
einäschern, der versucht, einzudringen oder sich zu entfer- Redaktionsassistenz: Andrea Roth
nen; deshalb ist es wichtig, dass die Sanitäter draußen Assistenz des Chefredakteurs: Lena Baunacke
warten, bis die Aliens fort sind. Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40,
69038 Heidelberg, Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg,
In diesem Zusammenhang sei betont: Alle Außentüren Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
und Fenster müssen fest verschlossen bleiben. Geschäftsleitung: Markus Bossle
Wenn das Raumschiff irgendwann auch in den Raum Herstellung: Natalie Schäfer

eindringen will, in den Sie Ihre Haustiere gesperrt haben, Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741,
E-Mail: service@spektrum.de
bleibt Ihnen gar keine Wahl, als es zuzulassen. Ihre Katzen Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
dürften inzwischen so sehr in Panik sein, dass sie den Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Rainer Kayser, Dr. Michael Springer,
Aliens aus dem Weg gehen, und solange sie das tun, Dr. Sebastian Vogel.
Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ilona Keith,
geschieht ihnen nichts. Die Außerirdischen scheinen sich
Tel. 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.de
für Katzen überhaupt nicht zu interessieren – woran man Vertrieb und Abonnementverwaltung: Spektrum der Wissenschaft Verlags­
im Übrigen auch sieht, dass es sich um Aliens handelt. gesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, 70523
Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366,
Schließlich wird das Schiff zur Eingangstür schweben E-Mail: spektrum@zenit-presse.de, Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn
oder zu einem Fenster. Das bedeutet, dass die Aliens alles Bezugspreise: Einzelheft € 8,90 (D/A/L), CHF 14,–; im Abonnement (12 Aus-
gesammelt haben, was sie wollten, und an diesem Punkt gaben inkl. Versandkosten Inland) € 93,–; für Schüler und Studenten gegen
Nachweis € 72,–. PDF-Abonnement € 63,–, ermäßigt € 48,–.
bleibt Ihnen nichts mehr zu tun, als sie hinauszulassen. Zahlung sofort nach Rechnungserhalt. Konto: Postbank Stuttgart,
Glückwunsch! Sie haben Ihre erste Begegnung mit IBAN: DE52 6001 0070 0022 7067 08, BIC: PBNKDEFF
Außerirdischen überlebt. Löschen Sie jetzt sämtliche Die Mitglieder des Verbands Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in
Deutschland (VBio) und von Mensa e. V. erhalten Spektrum der Wissenschaft
Schwelbrände. Falls Sie 112 gewählt haben, teilen Sie mit, zum Vorzugspreis.
dass die Sanitäter nun gefahrlos hereinkommen können. Anzeigen: Karin Schmidt, Markus Bossle, E-Mail: anzeigen@spektrum.de,
Geben Sie Ihren Katzen etwas Leckeres, vielleicht beruhigt Tel: 06221 9126-741
Eine Anzeigenbuchung ist auch über iq media marketing gmbH möglich.
es sie. Reiben Sie mit einem sauberen, trockenen Tuch
Ansprechpartnerin Anja Väterlein: anja.vaeterlein@iqm.de
über alle Blutflecken auf dem Teppich, geben Sie dann ein Druckunterlagen an: Natalie Schäfer, Tel.: 06221 9126-733
wenig Sprudelwasser drauf und wischen Sie noch einmal E-Mail: schaefer@spektrum.de
nach. Unter Umständen würde sich dort ja etwa eine Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 40 vom 1. 1. 2019.

Brücke oder ein Läufer gar nicht schlecht machen. Senden Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. KG, Markt-
weg 42–50, 47608 Geldern
Sie Ihren Freunden, die Sie eigentlich gerade hatten Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der
treffen wollen, eine bedauernde Nachricht, und laufen Sie Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbeson­
dere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche
zum Getränkeshop, um sich zur Belohnung eine Flasche Zugänglichmachung, ist ohne die vorherige schriftliche Einwilligung des Verlags
Champagner zu kaufen. Auch wenn die Champagnerflöten unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks ohne die Quellenangabe in
der nachste­henden Form berechtigt den Verlag zum Schadensersatz gegen den
nicht überlebt haben sollten. oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten)
Vergessen Sie aber auf gar keinen Fall, beim Hinausge- Nutzung des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle
vorzunehmen:
hen die Haustür hinter sich zu schließen. © 2019 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg.
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die
Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Auslassungen in
Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht.
ISSN 0170-2971
© Nature Publishing Group SCIENTIFIC AMERICAN
1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562
www.nature.com
Editor in Chief: Mariette DiChristina, President: Dean Sanderson, Executive Vice
Nature 563, S. 730, 29. November 2018 President: Michael Florek

DIE AUTORIN
Erhältlich im Zeitschriften-
Laura Pearlman hat ihre Geschichten unter ande- und Bahnhofsbuchhandel
und beim Pressefachhändler
rem in »Shimmer«, »Flash Fiction Online« und mit diesem Zeichen.
»Daily Science Fiction« publiziert. Auf Twitter ist
sie unter @laurasbadideas zu finden.

Spektrum der Wissenschaft  5.19 97


Das Juniheft ist ab 18. 5. 2019 im Handel.

VORSCHAU

NASA, GSFC
HENRYK NAGEL, TU BERLIN; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
DER WEG ZUR
MONDSTATION
In Zukunft könnte eine Siedlung auf
dem Erdtrabanten entstehen. Doch
erst müssen Wissenschaftler noch
eine Reihe von Problemen lösen.

FOTOLIA / FOTOS 593; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


TROPISCHE GEOMETRIE
In den letzten Jahrzehnten ist ein neues Fachgebiet entstanden, bei
dem Mathematiker geometrische Objekte so stark verändern,
dass nur ein »Skelett« der eigentlichen Form zurückbleibt. Trotz der
DIE ERFINDUNG DES
massiven Vereinfachungen behalten die Strukturen viele ihrer KRIEGES
ursprünglichen Eigenschaften bei – und offenbaren so unerwartete Liegt uns das kollektive Töten im
Geheimnisse. Blut? Archäologische Funde und
ethnografische Berichte zeichnen ein
anderes Bild. Demnach sind wir
evolutionär nicht auf militärische
Konflikte programmiert.

KONTROLLIERT
VERHEDDERT
Die DNA einer menschlichen
Zelle passt trotz ihrer Gesamt- NEWSLETTER
FALCONIERI VISUALS / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2019

länge von etwa zwei Metern Möchten Sie über Themen und Autoren
in den winzigen Zellkern. Hier- des neuen Hefts informiert sein?
für ist sie unvorstellbar dicht Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
aufgewickelt. Neue Erkennt- per E-Mail – und natürlich kostenlos.
nisse zeigen nun, wie es der Registrierung unter:
Zelle gelingt, Ordnung in dem spektrum.de/newsletter
Gewirr zu halten: mit moleku-
laren Ringen und Schlaufen.

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s Reich · Insektensterben
Warum sterben

ll-Effekt · Kreative KI · Altpersische


die Insekten?
· Alte Galaxien · Quanten-Ha
Der dramatische
Verlust für unser Ökosystem
Moral · Chemische Reaktionen

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PHYSIK Der vierdimension


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ASTRONOMIE Die ersten tändig Kunstwerke
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