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Bunte Dinosaurier · Saure Meere · Gravitationswellen · Neutronensterne · Babylonische Monumente · Rückkehr der Mädchen · Künstliche Intelligenz der Wissenschaft

aft 1.18

8,50 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E


Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN www. .de 1.18

ALTERTUM: Wie teuer war der Turm zu Babel?


revolutionieren
Wie neuronale Netze
die künstliche Intelligenz

GRAVITATIONSWELLEN: Wenn Neutronensterne verschmelzen


Triumph der KI

DINOSAURIER: Fossile Pigmente malen ein buntes Bild der Urzeitechsen


1.18
THEMEN AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie: Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen stellen Ihnen alle
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EDITORIAL AUTOREN DIESER AUSGABE

DIE MASSE
MACHT´S
Von Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

JAKOB VINTHER


Noch vor ein paar Jahren waren sie völlig out: künstliche neuronale
Netze. Kaum jemand hielt sie für mehr als ein zwar akademisch Farbpigmente bei Dinosaurier-
interessantes, aber praktisch wenig nutzbringendes Konzept – eine fossilien? Wider alle Erwar­-
Sackgasse der Computerentwicklung, bei der die Orientierung am biolo- tun­gen der Fachwelt konnte der
gischen Vorbild in die Irre geführt hatte. Nach ersten Anläufen seit dem Evolutionsforscher sie nach­
Zweiten Weltkrieg und in den 1960er Jahren sowie einigen Reanimations- weisen. Nun rekonstruiert er
versuchen ab den 1980er Jahren schien damit Anfang des Jahrtausends sogar Muster und Tarnungen
der Hype um Rechner aus schichtweise angeordneten, Nervenzellen der Urzeitechsen (S. 36).
nachempfundenen Schaltelementen endgültig vorbei zu sein. Zu viele in
sie gesetzte Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt; hinzu kam der Black-
Box-Charakter solcher Systeme, bei denen man weder einzelne Verarbei-
tungsschritte detailliert vorgeben kann noch überhaupt so richtig ver-
steht, was in ihnen eigentlich abläuft. Wie sollte man dann die Funktions-
weise zielgerichtet verbessern können?
Nur wenige Experten hätten wohl vor zehn Jahren prognostiziert,
welche Fortschritte die künstliche Intelligenz bis heute machen würde –

KATHY F. ATKINSON
und zwar gerade auf Grundlage neuronaler Netze. Der entscheidende
Unterschied zu früher liegt in ihrem komplexeren Aufbau begründet: Sie
bestehen jetzt aus wesentlich mehr als den zuvor üblichen zwei bis drei
Schichten, weshalb man sie »tiefe« Netzwerke nennt. Zusammen mit DANIELLE L. DIXSON
der inzwischen exponentiell gewachsenen Rechenleistung von Computer- Infolge der anhaltenden CO2-
prozessoren ermöglichte das den Durchbruch – manchmal hilft viel eben Emissionen versauern die
doch viel. Ozeane immer stärker. Es dro-
Die Folgen erleben wir zunehmend im Alltag, von lernfähigen Sprach- hen dramatische Verhaltens­
assistenten beim Smartphone bis zur Objekterkennung in Fotoverwal- änderungen bei Wassertieren,
tungsprogrammen. Aber auch die Wissenschaft profitiert von den Fort- wie sie die Meereskundlerin
schritten, wie KI-Experte Christoph Angerer ab S. 12 aufzeigt. Ein spek­ ab S. 46 beschreibt.
takuläres aktuelles Beispiel ist der Nachweis der Gravitationswellen vom
17. August 2017, die durch die Kollision zweier Neutronensterne ent­
standen. Dank dem Einsatz tiefer neuronaler Netze erfolgte er so rasch,
dass weltweit Astronomen zu ihren Messinstrumenten hechten und
massenhaft weitere Daten über dieses kosmische Großereignis sammeln
konnten. Damit konnten sie auch endlich die bisher ungelöste Frage
beantworten, wie besonders schwere Atomkerne, etwa die von Gold oder
Platin, entstehen (siehe den Artikel ab S. 58). A. KOROLL

Herzlich, Ihr
HAGAN BRUNKE
EVA CANCIK-KIRSCHBAUM
Stufentempel wie der »Turm zu
Babel« prägten die Städte
Mesopotamiens. Aber was
kostete so ein Großprojekt? Das
NEU AM KIOSK! beantworten der Assyrio­loge
Unser Spektrum Spezial Physik – Mathematik – und die Altorientalistin ab S. 72.
Technik 4.17 widmet sich der Erforschung unseres
Planeten Erde.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 NEURONALE NETZE I REVOLUTION FÜR DIE WISSENSCHAFT?
Vielschichtige, »tiefe« neuronale Netze leisten nicht nur Erstaunliches
6 SPEKTROGRAMM in Bilderkennung und Datenanalyse, sondern gewinnen inzwischen auch
Neu entdeckt und schon wissenschaftliche Erkenntnisse.
vom Aussterben bedroht Von Christoph Angerer

Ein interstellarer Besucher


Nachhaltiges Plastik für 22 NEURONALE NETZE II
3-D-Drucker ALPHA GO – COMPUTER LERNEN INTUITION
Wie eine künstliche Intelligenz den Weltmeister im Go-Spiel besiegte.
Genetischer Eingriff heilt
Von Michael Nielsen
Hautkrankheit
Feuerwerk in ultrakalter
Atomwolke 26 NEURONALE NETZE III
Supernova als Dauerbrenner
DURCH EIGENSTÄNDIGES LERNEN ZUR MEISTERSCHAFT
Die neueste Version von AlphaGo benötigt keine menschlichen Lehrer mehr.
Warum die grüne Sahara Von Kevin Hartnett
verschwand

28 FORSCHUNG AKTUELL
Quantensimulatoren auf 36 PALÄONTOLOGIE BUNTE DINOSAURIER
der Überholspur Lange hielten Forscher dies für unmöglich: Es gibt erhaltene fossile Pig-
Modellsysteme werden mente. Damit rekonstruieren sie jetzt die Farbmuster ausgestorbener Tiere.
immer leistungsfähiger. Von Jakob Vinther

Krebsimmuntherapie
Neue Impfstoffe drängen 46 ÖKOLOGIE MEERESWELT IM WÜRGEGRIFF
Tumorerkrankungen zurück. Die Ozeane versauern. Experimente deuten an, dass das zu dramatischen
Explosive Sedimente Verhaltensänderungen bei Meerestieren führen könnte.
Von Danielle L. Dixon
Gasausbrüche erschaffen
Kraterlandschaften im Meer.
52 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN LIESEGANGSCHE RINGE
35 SPRINGERS EINWÜRFE Selbstorganisierte Strukturen im Reagenzglas – zum Selbermachen.
Quantenschein und Von Matthias Ducci und Marco Oetken
Quantenwahrheit
Wann sind Quantenrechner
wirklich überlegen?
58 GRAVITATIONSWELLEN DAS RAUMZEITBEBEN VON NGC 4993
Das Verschmelzen zweier Neutronensterne in einer fernen Galaxie beant-
wortet gleich mehrere große Fragen der Astrophysik.
70 SCHLICHTING! Von Robert Gast
Knirschender Schnee
Schritte zermahlen krachend
das Flockenskelett.
66 ASTRONOMIE IM INNEREN EINES NEUTRONENSTERNS
Physiker hoffen auf erste Einblicke in die dichtesten Objekte des Weltalls.
Von Joshua Sokol
86 ZEITREISE
Von der Kutschfahrt auf der
Ostsee zur Mondlandung 72 MONUMENTE GRÖSSE HAT IHREN PREIS
Neue Serie: Babylonische Wissenschaft (Teil 1) Verwaltungslisten und
Lehr­tafeln verraten, wie t­ euer der »Turm zu Babel« einst kam.
Von Hagan Brunke und Eva Cancik-Kirschbaum

80 GLEICHBERECHTIGUNG DIE RÜCKKEHR DER MÄDCHEN


Serie: Frauen weltweit (Teil 2) In vielen Ländern Asiens waren Töchter
lange unerwünscht. Doch allmählich kommt das Geschlechterverhältnis
wieder aus der Schieflage.
Von Monica Das Gupta

4 Spektrum der Wissenschaft  1.18


87 FREISTETTERS FORMELWELT
MF3D / GETTY IMAGES / ISTOCK

Ein Gas aus Primzahlen


Die fast 200 Jahre alte
Möbiusfunktion kommt zu
neuen Ehren.

88 REZENSIONEN
Susanne Billig:
Die Karte des Piri Re’is
Stefan Mey: Darknet
Peter H. Wilson:
Der Dreißigjährige Krieg
Ulrich Lüke,
Georg Souvignier (Hg.):
Wie objektiv ist
Wissenschaft?
Norbert Welsch, Claus C.
Liebmann, Jürgen
Schwalb: Erde und Leben

12 94 LESERBRIEFE
TITELTHEMA 96 FUTUR III
TRIUMPH DER KI Die galaktische Prüfung
Wie würden Sie Ihre Spezies
bezeichnen?
VLAD61_61 / FOTOLIA

NSF / LIGO / SONOMA STATE UNIVERSITY / A. SIMONNET

46 58 97 IMPRESSUM

ÖKOLOGIE GRAVITATIONSWELLEN 98 VORSCHAU


MEERESWELT DAS RAUMZEITBEBEN
IM WÜRGEGRIFF VON NGC 4993

Titelbild: ktsimage / Getty Images /


iStock; Bearbeitung: Spektrum der
Wissenschaft
HADYNYAH / GETTY IMAGES / ISTOCK
AKG IMAGES

Alle Artikel auch digital


80 auf Spektrum.de
72 GLEICHBERECHTIGUNG
Auf Spektrum.de berichten
unsere Redakteure täglich
MONUMENTE DIE RÜCKKEHR DER aus der Wissenschaft: fundiert,
GRÖSSE HAT IHREN PREIS MÄDCHEN aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 5


MAXIME ALIAGA PHOTOGRAPHY

SPEKTROGRAMM
NEU ENTDECKT UND
SCHON BEDROHT


In den Wäldern des
Bezirks Tapanuli auf
Nordsumatra, Indone-
sien, lebt eine Gruppe von
Orang-Utans, bei der es sich
offenbar um eine bisher
unbekannte Menschenaffen-
art handelt. Im Vergleich zu
den zwei klassischen Arten,
dem Borneo-Orang-Utan und
dem Sumatra-Orang-Utan,
kräuselt sich das rotbraune
Fell des Tapanuli-Orang-Utan
(Pongo tapanuliensis) stärker,
außerdem ist sein Gesicht
etwas flacher. Biologen vom
Anthropologischen Institut
der Universität Zürich er-
kannten, dass es sich bei der
Population um eine neue Art
handelt, als sie DNA-Proben
von zwei Individuen mit
dem Erbgut von 35 anderen
Oran-Utans verglichen.
Daneben vermaßen die
Forscher den Schädel eines
Tapanuli-Orang-Utans, den
Wilderer 2013 erschossen
hatten. Mit knapp 800 Indivi-
duen ist die neue Spezies
allerdings stark gefährdet: Ihr
Lebensraum fällt zunehmend
Palmölplantagen zum Opfer,
und auch ein Staudammpro-
jekt bedroht die Tiere.
Curr. Biol. 10.1016/j.cub.2017.09.047,
2017
MAXIME ALIAGA PHOTOGRAPHY

Spektrum der Wissenschaft  1.18 7


SPEKTROGRAMM

Besuch von außerhalb des Sonnensystems

Venus
Merkur

Sonne

Erde

(Mars)
A/2017 U1

NASA/JPL-CALTECH
Der Asteroid 1I/2017 U1, den hawaiianische Astronomen »’Oumuamua« getauft haben, passierte
am 9. September die Sonne. Am 14. Oktober flog der Himmelskörper in gut 60-facher Distanz
des Mondes an der Erde vorbei. Die Grafik zeigt seine Position Ende Oktober.

SONNENSYSTEM dem interstellaren Welt- Helligkeit schwankt aber MATERIALWISSEN-


raum und wird den Ein- in periodischen Abständen,
INTERSTELLARER flussbereich der Sonne in weshalb die Forscher
SCHAFTEN
BESUCHER einigen Jahren wieder vermuten, dass ’Oumua- NACHHALTIGES
verlassen. Stand Ende mua zehnmal so lang wie PLASTIK
FÜR 3-D-DRUCKER
 Als am 18. Oktober 2017
das Teleskop Pan-
STARRS-1 auf der Hawaii-
November entfernte er sich
mit 38 Kilometern pro
Sekunde von der Sonne
breit ist und alle 7,3 Stun-
den einmal um seine kurze
Halbachse rotiert. Ein Forscherteam um
Insel Maui den Himmels- und hatte bereits die Über den Herkunftsort Valentine Ananikov von der
körper ’Oumuamua auf- Marsumlaufbahn passiert. können die Wissenschaftler Russischen Akademie der
spürte, war das zunächst Zunächst nahmen die allenfalls spekulieren. Wissenschaften in Moskau
nichts Besonderes. Schließ- Astronomen an, der Besu- Vielleicht wurde der Aste­ hat ein haltbares Polymer
lich findet das Teleskop cher sei ein Komet, aller- roid einst aus einem jungen aus Biomasse entwickelt,
fast täglich bislang unbe- dings konnten sie keinen Sternsystem herausge- das sich in 3-D-Druckern
kannte Asteroiden oder Schweif aufspüren. Mittler- schleudert. Möglich sei verarbeiten lässt. Als Aus-
Kometen. Aber bald zeigten weile haben Beobach- aber auch, dass er seit Mil- gangsmaterial verwenden
Berechnungen etwas tungen des Very Large liarden von Jahren in der die Chemiker Zellulose,
Ungewöhnliches: Das Telescope und das Gemini- Milchstraße umhergeistert. welche sie in mehreren
Objekt befand sich nicht South Telescope gezeigt, In jedem Fall ist ’Oumua- chemischen Reaktionen in
auf einer Umlaufbahn um dass ’Oumuamua ein etwa mua wohl nicht der einzige den Kunststoff Polyethy-
die Sonne, sondern folgte 400 Meter großer Asteroid Besucher aus großer Ferne: len-2,5-furandicarboxylat
einer offenen Kurve, die 122 ist, der vermutlich einen Hochrechnungen zufolge (PEF) überführen. Er könnte
Grad gegen die Bahnebene hohen Metallgehalt auf- hält sich zu jeder Zeit etwa künftig das allgegenwärtige
der Planeten gekippt ist. weist und rötlich schim- ein interstellarer Himmels- Polyethylenterephthalat
’Oumuamua – in der Spra- mert. Zwar erscheint der körper in der Nähe der (PET) ersetzen, das wenig
che der Hawaiianer »Kund- Körper auf den Aufnahmen Sonne auf. nachhaltig ist, da man es
schafter« – stammt also aus nur als Punkt. Dessen Nature 10.1038/nature25020, 2017 aus fossilen Rohstoffen

8 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

unter Freisetzung von


Kohlenstoffdioxid herstellt.
3-D-Drucker schmelzen MEDIZIN
ein drahtförmiges Stück
Kunststoff und tragen damit
GENETISCHER EINGRIFF HEILT HAUTKRANKHEIT
einen gewünschten Gegen-
stand Schicht für Schicht
auf. Die Technik ist oft
ressourcenschonender als
 Forscher haben ein Kind von einer
genetisch bedingten Hauterkran-
kung geheilt, die sich bisher nicht
keine Behandlung mehr ansprach,
entschieden sich die Eltern und Ärzte
für eine bisher kaum getestete Metho-
traditionelle Fertigungsver- ursächlich behandeln ließ. Der sieben- de: die Verpflanzung von Oberhautstü-
fahren, da sie kein über- jährige Junge litt an Epidermolysis cken, die aus genetisch veränderten
schüssiges Material produ- bullosa hereditaria. Bei diesem ange- Stammzellen gezüchtet worden waren.
ziert. Zudem lassen sich mit borenen Leiden werden die mecha- Dafür entnahmen die Mediziner um
den Druckern problemlos nischen Verbindungen zwischen Michele de Luca von der Universität
komplexe Geometrien verschiedenen Hautschichten, insbe- Modena und Reggio Emilia (Italien)
verwirklichen, die man nur sondere zwischen Ober- und Leder- dem jungen Patienten vier Quadratzen-
schwer ausfräsen könnte. haut, nicht richtig ausgebildet. timeter Haut, aus der sie epidermale
Die Materialien, die Die Betroffenen entwickeln daher Stammzellen gewannen. In deren
bisher in 3-D-Druckern zum aus geringstem Anlass heraus große Genom führten die Forscher mit Hilfe
Einsatz kommen, haben Hautblasen und vernarbende Wunden viraler Genfähren intakte LAMB3-Gene
allerdings Nachteile. Eine sowie je nach Typ und Schwere der ein. Anschließend züchteten sie daraus
verbreitete PET-Variante ist Erkrankung auch fehlgebildete Nägel 0,85 Quadratmeter Oberhaut, was
beispielsweise nicht nur und Zähne, Verletzungen der Schleim- ausreichte, um die geschädigten
eine Belastung fürs Klima, häute und Hautkrebs. Bei den Hautpartien per Gewebeverpflanzung
sondern auch anfällig für schwersten Formen sinkt die Lebens- zu bedecken.
aggressive organische erwartung auf weniger als zwei Jahre. Der Junge gilt seit dem Eingriff als
Lösungsmittel, wie sie zum Verursacht wird die Krankheit von geheilt: Seine Haut regeneriert sich
Beispiel in Lackentfernern Mutationen in Genen, die Bindege- und ist elastisch. Auch 21 Monate
enthalten sind. Das gleiche websproteine kodieren, etwa Kolla- nach dem Eingriff zeigte er weder
gilt für die ebenfalls verbrei- gene und Laminine. Oft sind die Erb­ Nebenwirkungen noch Abstoßungsre-
teten schmelzbaren Kunst- anlagen LAMA3, LAMB3 oder LAMC2 aktionen. Doch um das Therapiever-
stoffe aus Acrylnitril-Butadi- betroffen. fahren auch auf andere Patienten mit
en-Styrol und Polylactid. Die Universitätsklinik der Ruhr-Uni- Epidermolysis bullosa hereditaria
Anders das nun entwi- versität Bochum nahm das an der anzuwenden, muss es weiterentwi-
ckelte PEF: Mit den Stan- Krankheit leidende Kind im Juni 2015 ckelt werden, da die Betroffenen
dardeinstellungen eines auf, als es bereits 60 Prozent seiner individuell verschiedene Mutationen
herkömmlichen 3-D-Dru- Oberhaut (Epidermis) verloren hatte. tragen und nicht alle gleichermaßen
ckers fertigten die Forscher Im Fall des Jungen funk­tioniert das von dem Einfügen einer intakten
daraus sehr resistente LAMB3-Gen nur eingeschränkt. Da er LAMB3-Sequenz profitieren.
Formen mit einer glatten an schweren Infektionen litt und auf Nature 551, S. 327–332, 2017
Oberfläche. Außerdem
gelang es ihnen, den Stoff
verlustfrei zu recyceln. So
konnten sie im 3-D-Drucker
hergestellte Objekte bei
einer relativ niedrigen
Temperatur von 250 Grad
wieder einschmelzen und
anschließend erneut aus-
CENTRO DI MEDICINA RIGENERATIVA (CMR) UNIMORE

drucken. Der Polyester


büßte dabei nichts von
seiner Qualität ein – selbst
nachdem die Chemiker es
viermal wiederverwertet Aus epidermalen Stamm-
hatten. zellen gezüchtete Oberhaut.

Angew. Chem. 10.1002/


anie.201708528, 2017

Spektrum der Wissenschaft  1.18 9


SPEKTROGRAMM
PHYSIK Das Team um Cheng Artgenossen an, wodurch etwa 600 Tagen verblass-
FEUERWERK Chin entlockte einem der letztlich etliche Partikel te der Punkt am Nacht­
IN ULTRAKALTER Atomensembles jetzt
ein weiteres Kunststück:
gleichzeitig das Ensemble
verlassen.
himmel. Am ehesten
lassen sich die Beobach-
ATOMWOLKE Die Forscher erhöhten Nature 551, 356 –359, 2017 tungen durch ein Ereignis
nach und nach das Ma- erklären, über das Forscher

 Manchmal haben auch


Physiker das Bedürfnis
gnetfeld, das die wenige
Mikrometer große, pfann- ASTRONOMIE
bisher vor allem als theo­
retische Möglichkeit dis­
nach einem Feuerwerk – kuchenförmige Wolke SUPERNOVA ALS kutieren: Bei einer »pul­
aber wer will dafür schon
auf Silvester warten? Eine
aus 26 000 Zäsiumatomen
zusammendrückte. Zu
DAUERBRENNER sierenden Paarinstabilitäts-
supernova« werden
Gruppe um Cheng Chin von
der University of Chicago
hat nun in der Quantenwelt
ihrer Überraschung wur-
den bei einer bestimmten
Feldstärke etliche der
 Eine ungewöhnlich lang
andauernde Supernova
stellt Wissenschaftler
besonders massive Sterne,
die das 95- bis 130-Fache
unserer Sonne auf die
eine pyrotechnische Dar- Atome plötzlich heraus­ vor ein Rätsel. Im Septem- Waage bringen, schon vor
stellung der etwas anderen katapultiert. Auf Kamera- ber 2014 erspähten Astro- ihrem eigentlichen Nieder-
Art aufgespürt: ein Feuer- aufnahmen sieht es so nomen am kalifornischen gang von gewaltigen
werk, das aus einer Wolke aus, als zünde die Wolke Palomar-Observatorium Explosionen heimgesucht.
ultrakalter Atome hervor- eine kleine Feuerwerks­ die Sternexplosion in einer Laut der Theorie brennen
geht, einem so genannten explo­sion. etwa 500 Millionen Licht- die Giganten an ihrem
Bose-Einstein-Kondensat. Eigentlich hatten die jahre entfernten Galaxie. Lebensende mancherorts
Um Materie in diesen Physiker erwartet, dass Zunächst hielten sie das so heiß, dass sich ihre
exotischen Zustand zu Atome zu ganz unter- Ereignis für eine Supernova Strahlung teilweise in
versetzen, müssen Forscher schiedlichen Zeitpunkten vom Typ II-P: Bei dieser Elektron-Positron-Paare
Atome mit Hilfe von Laser- aus dem Kondensat fliegen. kollabiert ein schwerer umwandelt. Wenn das
strahlen und Magnetfeldern Dass sie dies derart ko­ Stern und schleudert da- passiert, bricht plötzlich der
in der Mitte einer Vakuum- ordiniert tun, liegt offen- bei seine äußeren Schich- Strahlungsdruck ein, der
kammer fixieren. Sie drü- bar daran, dass viele ten ins All, die sich rasant sich normalerweise der
cken die Atome dadurch so Atompaare zur selben Zeit ausbreiten und für un­ Schwerkraft entge-
dicht zusammen, dass die Energie des Magnet- gefähr 100 Tage große genstemmt. Dadurch sackt
diese ununterscheidbar felds aufnehmen, wenn Mengen Strahlung ab­ der Stern ein Stück weit
werden – sie kondensieren dieses eine bestimmte geben. zusammen, wodurch explo-
alle in denselben quanten- Schwelle überschreitet. Da- Entsprechend über- sionsartige Materie ins All
physikalischen Zustand. raufhin stoßen die Atome rascht war das Team um geschleudert wird.
Das verleiht Bose-Einstein- plötzlich aneinander und Iair Arcavi von der Uni­ Weil der Stern so mas-
Kondensaten kuriose Eigen- werden in entgegengesetz- versity of California in sereich ist, stürzt er aber
schaften. Beispielsweise te Richtungen gestoßen. Santa Barbara, als die Su- nicht vollständig in sich
ähneln sie unter bestimm- Auf ihrem Weg durch die pernova mit der Be­ zusammen, sondern findet
ten Bedingungen einer stark komprimierte Wolke zeichnung iPTF14hls nach nach kurzer Zeit wieder ins
Flüssigkeit, die reibungsfrei schubsen die derart sti­ dieser Zeitspanne weiter Gleichgewicht zurück.
fließen kann. mulierten Teilchen weitere hell strahlte. Erst nach Modellen zufolge kann sich

Drückt man ein pfannkuchenförmiges Bose-Einstein-Kondensat (weißer Punkt) mit Magnet-


feldern zusammen, katapultiert die ultrakalte Wolke Bündel aus dutzenden Atomen in alle
Richtungen der x-y-Ebene. Das Minifeuerwerk währt 24 Millisekunden.
CLARK, L.W. ET AL.: COLLECTIVE EMISSION OF MATTER-WAVE JETS FROM

τ = 0 ms 6 ms 10 ms 15 ms 19 ms 24 ms
DRIVEN BOSE–EINSTEIN CONDENSATES. IN: NATURE 551, S. 356–359,

30
Dichte der Atome
(pro μm2)

15

y
2017, FIG. 1C

0
x 30 μm

10 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

der Prozess viele Male soden im Abstand von blassenden Punkt an der Möglicherweise müsse man
wiederholen, wodurch Jahren oder gar Jahr- Position von iPTF14hls ein komplett neues Sze­
diese Art der Supernova zehnten wiederholen. Dazu gesichtet hatten. Andere nario für den Hergang der
deutlich länger hell leuch- würde passen, dass Astro- Details der Beobachtung kuriosen Explosion ent­
ten könnte. Außerdem nomen bereits 1954 einen lassen sich mit dem Modell wickeln, so die Forscher.
könnten sich Eruptionsepi- hellen, später wieder ver- jedoch nicht erklären. Nature 551, 210–213, 2017

KLIMAFORSCHUNG
WARUM DIE GRÜNE SAHARA VERSCHWAND

Heute ist die Sahara eine trockene Einöde. Aber vor 6000
Jahren waren Teile von ihr fruchtbares Grünland.

CINOBY / GETTY IMAGES / ISTOCK


 Einst prägte eine fruchtbare Savannenlandschaft
den Norden Afrikas. Das bezeugen 6000 bis 10 000
Jahre alte Felszeichnungen von schwimmenden Men-
(Gräser), die typisch sind für trockene Standorte, liefern
diese Hinweise auf die damaligen Niederschlagsmen-
ge. Die Sedimentablagerungen im Golf von Guinea –
schen und Großtieren im Süden Ägyptens und im Staub und pflanzliches Material aus Flüssen im heu-
Sudan. Vor etwa 5500 Jahren gingen die Niederschlä- tigen Kamerun und Niger – zeigen eine rasche Ver-
ge in der Region jedoch stark zurück, und die »grüne schiebung hin zu deutlich trockenerem Klima in der
Sahara« verwandelte sich in eine Wüste. Forscher Sahelzone vor zirka 5000 bis 6000 Jahren.
rätselten bislang, warum die Savanne austrocknete Anschließende Modellberechnungen ergaben, dass
und das Klima so plötzlich kippte. der Nordatlantik gegen Ende der afrikanischen Feucht-
Ein internationales Team von Geologen um James phase offenbar um bis zu 2,5 Grad Celsius abkühlte.
Collins vom Deutschen Geoforschungszentrum in Das bremste einerseits Starkwinde in der oberen
Potsdam berichtet nun, dass damals eine Abkühlung in Troposphäre, was zu weniger Regen führte. Zum
höheren Breiten auf der Nordhalbkugel für weniger anderen war das Hitzetief über der Sahara nun schwä-
Regen in der Sahara sorgte. Die Forscher analysierten cher ausgeprägt, so dass weniger feuchte Luft vom
das Verhältnis von Wasserstoffisotopen in Wachs- tropischen Atlantik her hinüberströmte. Aus Sicht der
resten von einstigen Blattoberflächen, die sie in Sedi- Wissenschaftler markierten diese Entwicklungen einen
menten im Golf von Guinea fanden. Wegen der unter- »Kipppunkt«, nach dessen Überschreiten die Ausbrei-
schiedlichen Isotopenverhältnisse in so genannten tung der Wüste nicht mehr aufzuhalten war.
C3-Pflanzen (Bäume und Sträucher) und C4-Pflanzen Nat. Comm. 10.1038/s41467-017-01454-y, 2017

Spektrum der Wissenschaft  1.18 11


NEURONALE NETZE
REVOLUTION
FÜR DIE WISSENSCHAFT?
Ein Konzept aus den 1980er Jahren nimmt durch neue Entwicklun­-
gen in der Computer-Hardware einen kometenhaften Aufschwung.
Vielschichtige, »tiefe« neuronale Netze revolutionieren nicht nur die
Bild­erkennung und die Datenanalyse, sondern gewinnen inzwischen
auch wissen­schaftliche Erkenntnisse.

Christoph Angerer ist Senior Compute Performance Engineer bei der Firma NVIDIA in
München. Dort kümmert er sich um Anwendungen der künstlichen Intelligenz zu
wissenschaftlichen Zwecken sowie die systemnahe Optimierung von Deep Learning
Kernels. 2011 promovierte er an der ETH Zürich in Informatik.

 spektrum.de/artikel/1520773


Am 15. März 2016 musste sich Lee Sedol, einer der erwacht ist. Inzwischen überschlagen sich die Meldungen
weltbesten Go-Spieler, einer Maschine geschlagen über Anwendungen, die bis vor kurzem noch der Science-
geben. AlphaGo, eine künstliche Intelligenz aus dem fiction zugeschrieben wurden. Die Technik, deren Verbes-
zu Google gehörenden Unternehmen DeepMind, hatte in serung diesen rasanten Fortschritt möglich gemacht hat,
einem geradezu historischen Turnier vier von fünf Spielen ist unter dem Namen »künstliches neuronales Netz« oder
gewonnen. Obendrein ist AlphaGo jüngst selbst geschla- auch einfach »neuronales Netz« bekannt (Spektrum Novem-
gen worden – von seinem verbesserten Nachfolger Alpha- ber 1992, S. 134).
GoZero (siehe den Artikel S. 22). Bereits wenn man eine Suchmaschine wie Google
Spätestens seit diesem Ereignis ist offensichtlich, dass bittet, Bilder anhand einer Beschreibung in Worten zu
die künstliche Intelligenz aus ihrem langen Winterschlaf finden, leisten neuronale Netze die wesentliche Arbeit.
Doch weiterentwickelte Systeme, die generativen neuro-
nalen Netze, gehen noch weit darüber hinaus: Sie erzeu-
gen aus einer textuellen Beschreibung annähernd fotorea-
AUF EINEN BLICK listische Bilder, die der Beschreibung entsprechen, bis
SIEG DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ dahin aber noch nicht existierten (Bilder S. 16/17 und 20).
Sie malen sich diese Bilder gewissermaßen selbstständig

1  euronale Netze extrahieren aus einer großen Menge


N im Geiste aus.
von Daten – zum Beispiel Bildern – charakteristische Andere Netze erzeugen vollständige akustische Roh­
Eigenschaften durch einen Lernprozess. daten, die von echter Klaviermusik nicht zu unterscheiden
sind, ohne dass jemals eine Taste eines Klaviers gedrückt

2  ank riesiger verfügbarer Datenmengen und der


D
durch Grafikprozessoren massiv angestiegenen
Rechenleistung haben sie in letzter Zeit einen unge-
wurde. Wieder andere haben den Stil eines Künstlers so
»verinnerlicht«, dass sie ein beliebiges Foto in diesem Stil
verfremden können (Bild S. 19). Neuronale Netze sind auch
ahnten Aufschwung genommen. die Gehirne in selbstfahrenden Autos. Und selbst ein
häufig belächeltes Filmklischee machen neuronale Netze
3  ittlerweile erzielen sie Erfolge nicht nur in Bildverar-
M
beitung und Datenanalyse, sondern auch bei wissen-
schaftlichen Fragen, zum Beispiel bei Simulationen in
inzwischen möglich: Sie verwandeln auf Knopfdruck stark
verpixelte Fotos in hochauflösende Bilder (Bilder rechts).
der Quantenchemie und der Strömungsdynamik. Künstliche neuronale Netze sind heute keine akademi-
sche Nischendisziplin mehr, sondern werden in zahllosen
kommerziellen Anwendungen erfolgreich eingesetzt.

12 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Aus zwei Bildern (Mitte), die wegen viel zu geringer Pixelzahl die Originale (links) nur mangelhaft wiedergeben,
errechnet ein neuronales Netz Rekonstruktionen, die den Originalen nahekommen (rechts). Die dafür erforder­
lichen Zusatzinformation entstammen nicht dem jeweiligen Originalbild (das dem Netz nicht zur Verfügung
stand), sondern allgemeinem Wissen über das Aussehen von Bäumen und Tieren, welches das Netz sich durch
Betrachten zahlreicher Bilder zugelegt und in seinen Parametern gespeichert hat. Programmiert wurde das
Netz von Mehdi S. M. Sajjadi vom Max-Planck-Institut für intelligente Systeme in Tübingen.

MEHDI S.M. SAJJADI, MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR INTELLIGENTE SYSTEME

ORIGINAL: ISTOCK / ZORAN KOLUNDZIJA; BEARBEITUNG: MEHDI S.M. SAJJADI, MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR INTELLIGENTE SYSTEME

Spektrum der Wissenschaft  1.18 13


Welche Gebiete werden sie noch erobern? Und welche

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT,


NACH: CHRISTOPH ANGERER
Rolle werden sie in der Wissenschaft spielen?
Ursprünglich war der Aufbau eines künstlichen neuro-
nalen Netzes durch biologische Vorbilder motiviert, wie sie
zum Beispiel im menschlichen Gehirn zu finden sind. Die 1 2 3 4
Bezeichnung hat sich gehalten, obwohl heute die meisten
künstlichen neuronalen Netze praktisch nichts mehr mit Der Algorithmus setzt ein solches Basismuster der
ihren natürlichen Gegenstücken zu tun haben. Nicht die Reihe nach an jede Stelle des Bildes; dann addiert er die
Struktur, sondern die Funktion ist entscheidend. Deswe- Helligkeiten der Pixel, die unter die schwarzen Teile des
gen nähert sich dieser Artikel dem Thema nicht, wie sonst Musters geraten, und subtrahiert davon die Helligkeiten
üblich, über den Aufbau eines neuronalen Netzes, sondern unter den weißen Teilen. (Das kann für jeden der drei
über ein klassisches Problem der künstlichen Intelligenz: Farbwerte rot, grün und blau separat geschehen, was aber
das Erkennen menschlicher Gesichter. am Prinzip nichts ändert.) Je extremer – positiv oder
negativ – der so errechnete Wert ist, desto besser gibt das
Standardaufgabe: Bilderkennung Muster den Helligkeitsverlauf an dieser Stelle wieder. Mus-
Gegeben sei ein Bild in der heute üblichen Form: ein ter 3 beispielsweise wurde so gestaltet, dass es auf die
Farbwert zu jedem Element aus einer rechteckigen Anord- Farbverläufe des menschlichen Nasenrückens anspricht,
nung von Bildpunkten (Pixeln). Gesucht sind die Positionen das heißt dort einen hohen Wert liefert. Im Gegensatz
und Größen aller Gesichter, die in dem Bild enthalten sind – dazu würde Muster 2 eher auf eine Augenpartie anspre-
für einen Menschen trivial, für einen Computer jedoch chen (Bild unten).
extrem schwierig. Der Algorithmus vermutet nun überall da ein Gesicht,
Im Jahr 2001 entwickelten Paul Viola und Michael Jones wo alle Basismuster ähnlich stark reagieren und vor allem
einen Algorithmus zur Gesichtslokalisation, der wegen sei- in der richtigen räumlichen Anordnung auftreten. Die
ner Schnelligkeit und Robustheit bis heute in Kameras – letzte Forderung realisiert der Algorithmus im Prinzip ge-
zum Scharfstellen auf Gesichter – Verwendung findet. Das nau so, wie er die Basismuster einsetzt: Die mit Hilfe der
Verfahren arbeitet mit einem Satz von Schablonen (»Basis- Basismuster errechneten Werte bilden ihrerseits wieder
mustern«), die auf verschiedene Merkmale des mensch­ eine in einem rechteckigen Schema angeordnete Menge
lichen Gesichts ansprechen. Ein einfacher Basismustersatz von Zahlen – formal dasselbe wie ein Bild. Über dieses Bild
könnte zum Beispiel wie folgt aussehen: lässt der Algorithmus ein neues, der gesuchten räumli-

In dem Bild »Lenna«, das den Praktikern der Bildverarbeitung als Standardübungsobjekt dient, findet der
Algorithmus von Paul Viola und Michael Jones zahlreiche Stellen, an denen eines seiner Basis­muster (Bild
oben, hier violett-weiß statt schwarz-weiß) »anspricht« (einen hohen Wert ausgibt). Aber nur dort, wo diese
Stellen in der richtigen räumlichen Anordnung vorkommen, meldet der Algorithmus ein Gesicht.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / CHRISTOPH PÖPPE, MIT DATEN VON HTTP://SIPI.USC.EDU/DATABASE/DATABASE.PHP?VOLUME=MISC&IMAGE=12

14 Spektrum der Wissenschaft  1.18


LINKS: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / CHRISTOPH PÖPPE;
RECHTS: MIT FRDL. GEN. VON HONGLAK LEE; LEE, H. ET AL.: CONVOLUTIONAL DEEP BELIEF NETWORKS FOR SCALABLE UNSUPERVISED LEARNING OF HIERARCHICAL
REPRESENTATIONS. IN: ICML 09 PROCEEDINGS OF THE 26TH ANNUAL INTERNATIONAL CONFERENCE ON MACHINE LEARNING, S. 609-616, 2009, TEILE AUS FIG. 3 UND 2

Ein neuronales Netz zur Gesichts-


Ausgabe- erkennung hat Muster gelernt.
schicht
In den untersten Schichten spre-
chen die Muster noch auf
relativ einfache Merkmale an;
je höher die Schicht, desto
interne Schichten

komplexer werden die Muster.

Ob ein neuronales Netz auf (von links nach rechts)


Gesichter, Autos, Elefanten, Stühle oder auf eine
Mischung verschiedenster Objekte (Gesichter, Autos,
Flugzeuge, Motorräder) trainiert worden ist, macht
Eingangs- in der untersten Schicht (untere Bildzeile) noch
schicht
kei­nen großen Unterschied. Erst in den oberen
Schichten (obere Bildzeile) machen sich die ver­
schiedenen Lernstoffe bemerkbar.

MIT FRDL. GEN. VON HONGLAK LEE; LEE, H. ET AL.: CONVOLUTIONAL DEEP
BELIEF NETWORKS FOR SCALABLE UNSUPERVISED LEARNING OF HIERARCHICAL
REPRESENTATIONS. IN: ICML 09 PROCEEDINGS OF THE 26TH ANNUAL
INTERNATIONAL CONFERENCE ON MACHINE LEARNING, S. 609-616, 2009, FIG. 3
chen Anordnung der Bildelemente entsprechendes Muster In seiner Struktur hat das Verfahren gewisse Gemein-
wandern. Auf diese Weise filtert er aus den zahlreichen samkeiten mit der Viola-Jones-Methode. Man lässt eben-
Stellen, an denen einzelne Basismuster ansprechen, falls einzelne Muster über das Eingabebild wandern und
diejenigen heraus, an denen sie das alle zugleich und in berechnet an jeder Position einen Wert, der angibt, wie
der richtigen räumlichen Anordnung tun. das Bild an dieser Stelle zum Muster passt. Dieser Vor-
gang entspricht einer mathematischen Operation namens
Vom Feature Engineering zum Network Engineering Faltung (englisch convolution); daher werden diese Ma-
Die Viola-Jones-Methode ist historisch bedeutend als ei- schinen als Convolutional Neural Network (CNN) bezeich-
nes der frühesten und schnellsten Verfahren zur Gesichts- net, auch wenn außer der Faltung noch andere mathema-
erkennung, leidet jedoch unter erheblichen Schwächen. tische Operationen zum Einsatz kommen.
So versagt sie, wenn ein Gesicht im Profil zu sehen ist, Im Gegensatz zur Viola-Jones-Methode sind die Muster
schräg im Bild liegt oder eine ungewöhnliche Größe hat. allerdings nicht schwarz-weiß, sondern haben auch
Dem wäre zwar von Fall zu Fall mit einem erweiterten Satz Grautöne. Das heißt: Die Helligkeitswerte der unter dem
von Basisfunktionen und entsprechend höherem Rechen- Muster liegenden Pixel werden nicht mit plus oder minus 1
aufwand abzuhelfen, aber solche Nachbesserungen blei- multipliziert, bevor sie aufaddiert werden, sondern mit
ben Flickwerk. Vor allem jedoch sind es menschliche reellen Zahlen. Jedes Muster ist charakterisiert durch
Experten, welche die Basismuster und deren räumliche einen Satz dieser Zahlen, die als Gewichte, Parameter oder
Verteilung entwerfen und nachjustieren müssen; und für Koeffizienten bezeichnet werden. Und eben diese Parame-
eine neue Klasse von Objekten – zum Beispiel Autos – ter muss das Netzwerk erst lernen.
würde die ganze Arbeit von vorne anfangen. Der englische Ein Satz von Mustern, die gemeinsam über das Bild
Fachbegriff für diesen Ansatz ist »feature engineering«, wandern, wird – in Anlehnung an das biologische Vorbild –
frei zu übersetzen als »Entwurfsarbeit mit Merkmalen«. als eine Schicht des neuronalen Netzes bezeichnet. Wie
Dem gegenüber steht das »network engineering«: Der bei der Viola-Jones-Methode wird jedes Muster einer
Experte denkt nicht mehr über Merkmale nach, sondern Schicht im Prinzip an allen Stellen des Bildes angelegt und
beschränkt sich darauf, die netzartige Struktur einer Mus- liefert dort jeweils einen Wert. Diese Werte zusammenge-
tererkennungsmaschine zu definieren. Diese Maschine ist nommen ergeben wieder ein bildähnliches Objekt, das an
anfänglich »leer«, also auch nicht fähig, irgendein Muster die nächste Schicht weitergegeben wird. Die nachfolgen-
zu erkennen, sondern muss das erst lernen. den Schichten eines solchen Netzwerks können somit auf

Spektrum der Wissenschaft  1.18 15


Dieser Vogel ist rot und braun gefärbt, mit Der Vogel ist klein und gedrungen, mit Gelb auf Vogel mit orangefarbenem Schnabel, weißem
gedrungenem Schnabel. dem Körper. Rumpf, grauen Flügeln und Schwimmhäuten
MIT FRDL. GEN. VON DIMITRIS METAXAS; ZHANG, H. ET AL.: STACKGAN: TEXT TO
PHOTO-REALISTIC IMAGE SYNTHESIS WITH STACKED GENERATIVE ADVERSARIAL NETWORKS.
IN: ARXIV:1612.03242, 2017, TEILE AUS FIG. 3

Diese Vögel gibt es nicht in der Wirklichkeit. Zwei neuronale Netze, die gegeneinander arbeiten (»generative adversarial net-
works«), haben die Bilder jeweils nach einer Beschreibung in Worten erzeugt. Das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit von Han

übergeordnete Muster wie zum Beispiel räumliche Zusam- Positionen der Gesichter bekannt sind; und zwar passt er
menhänge ansprechen. die Parameter in lauter kleinen Schritten an, um die Vor-
Im Gegensatz zu einem manuell entwickelten Basis- hersagegenauigkeit zu verbessern. Ein solches Netzwerk
mustersatz findet ein neuronales Netz die relevanten Merk- extrahiert selbstständig die für die aktuelle Aufgabe rele-
male von selbst während eines Trainingsprozesses (siehe vanten Erkennungsmuster (Bild S. 15 oben).
»Wie lernt ein neuronales Netz?«, unten). Dabei werden Die gelernten Muster auf der ersten Schicht haben in
allerdings nur die einzelnen Parameter verändert, während diesem Beispiel eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Basis-
die innere Struktur eines neuronalen Netzes in der Regel mustersatz der Viola-Jones-Methode. Die höheren Schich-
unangetastet bleibt. Im Beispiel würde man dem Algorith- ten bringen diese Basismuster dann in eine räumliche
mus an Stelle eines relativ kleinen handentworfenen Ordnung und modellieren so komplexere Formen, wie zum
Basismustersets für Gesichter einen anfänglich leeren Beispiel Augen, Nasen oder auf der höchsten Ebene
Speicherplatz für eine größere Anzahl anfangs zufälliger schließlich ganze Gesichter. Im Unterschied zum Feature
Muster zur Verfügung stellen. Der Lernalgorithmus füllt Engineering kann jedoch ein lernfähiges Netzwerk (genug
diese Muster mit Hilfe von Trainingsbildern, in denen die Trainingsdaten und Rechenleistung vorausgesetzt) deut-

Wie lernt ein neuronales Netz?


Man kann den Lernerfolg eines die so genannte Fehlerfunktion, rere tausend bis Millionen Variable
neuronalen Netzes durch eine Zahl indem man zum Beispiel für jedes sein. Lernen heißt nun, diese Para-
ausdrücken. Im Beispiel der Ge- Element der obersten Schicht die meter so zu verändern, dass der
sichtserkennung sollen die Muster Differenz zwischen dem Sollwert – Wert der Fehlerfunktion kleiner wird.
der obersten (Ausgabe-)Schicht auf 1 für die richtige Antwort, 0 für alle Das gelingt, weil die Fehlerfunkti-
Aussagen ansprechen wie »In die- anderen – und dem tatsächlich on differenzierbar ist: Wenn man alle
sem Punkt ist die Nasenspitze eines ausgegebenen Wert bildet und die Parameter bis auf einen festhält, ist
Gesichts« oder auch »Dieses Bild Quadrate aller Differenzen aufaddiert. die Fehlerfunktion in Abhängigkeit
zeigt Angela Merkel«. Idealerweise Je kleiner der Wert der Fehlerfunkti- von diesem einen Parameter eine
hat ein fertig trainiertes Netz genau on, desto besser hat das Netz gelernt. glatte Kurve, die überall eine Tangen-
ein Element der obersten Schicht, Neben der Summe über die einzelnen te hat. Und obgleich die Ausgabe
das für die richtige Antwort einen Fehlerquadrate sind auch andere des Netzes und damit auch die
hohen Wert ausgibt, während die Fehlerfunktionen in Gebrauch. Fehlerfunktion sehr kompliziert und
Werte aller anderen Elemente bei Der Wert der Fehlerfunktion über zahlreiche Zwischenergebnisse
null liegen. hängt von den Eingabedaten und zu berechnen ist, lässt sich die
Wie kann man erkennen, wie gut den Parametern aller Muster auf Steigung der genannten Tangente,
ein Netz trainiert ist? Man berechnet allen Schichten ab; das können meh- das heißt die Ableitung der Fehler-

16 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Kleiner Vogel mit verschiedenen Weiß- und Kleiner gelber Vogel mit schwarzem Kopffleck Kleiner Vogel mit weißer Brust und hellgrauem
Brauntönen unter den Augen und kurzem, spitzem, schwarzem Schnabel Kopf; Flügel und Schwanz schwarz

MIT FRDL. GEN. VON DIMITRIS METAXAS; ZHANG, H. ET AL.: STACKGAN: TEXT TO
PHOTO-REALISTIC IMAGE SYNTHESIS WITH STACKED GENERATIVE ADVERSARIAL NETWORKS.
IN: ARXIV:1612.03242, 2017, TEILE AUS FIG. 3
Zhang von der Rutgers University in New Brunswick (New Jersey) sowie Fachkollegen von der Lehigh University, der Chinese
University of Hong Kong und der Forschungsabteilung des chinesischen Suchmaschinenbetreibers Baidu.

lich mehr Muster hinzuzufügen und über viele Schichten ein­facher zu entwickeln sind und mehr Objektklassen mit
hinweg miteinander kombinieren, so dass es zum Beispiel höherer Genauigkeit auseinanderhalten können. In kom-
nicht nur gedrehte und vergrößerte Gesichter, sondern plexen Bilderkennungsaufgaben mit vielen Unterkategori-
gleichzeitig noch zahlreiche weitere Objektklassen erken- en sind diese Netze inzwischen sogar dem Menschen
nen kann. Moderne Netze (»deep networks«) haben oft- überlegen.
mals dutzende, wenn nicht sogar hunderte Schichten und Feature Engineering dominierte nur deswegen bis vor
können dank ihrer Kapazität tausende unterschiedlicher wenigen Jahren in der Praxis, weil das Training eines kom-
Objektklassen voneinander unterscheiden (Spektrum Sep- plexen neuronalen Netzes mehr Rechenleistung und
tember 2014, S. 62). Dabei verwenden sie, insbesondere größere Datenmengen benötigt, als damals zur Verfügung
auf den früheren Schichten, Muster über Objektklassen standen. Dies änderte sich 2012, als Alex Krizhevsky, Ilya
hinweg ganz automatisch wieder und kombinieren sie in Sutskever und Geoffrey Hinton von der University of To-
späteren Schichten räumlich neu (Bild S. 15 Mitte). ronto eine neue Netzwerkarchitektur präsentierten, welche
Insgesamt hat der Schritt vom Feature Engineering zum die Qualität der bisherigen Systeme weit übertraf. In dem
Network Engineering Netzwerke hervorgebracht, die etablierten Bilderkennungswettbewerb »Large Scale Visual

funktion nach dem Parameter, mit Richtung, in der das Netz eigentlich nale einen gewissen Schwellenwert
relativ geringem Zusatzaufwand gearbeitet hat. Die Information über überschreitet, und tut sonst nichts.
berechnen. den Fehler wird »nach rückwärts« Wollte man dieses Verhalten in
Aus der so bestimmten Ableitung verbreitet, weswegen das Verfahren einem künstlichen neuronalen Netz
der Fehlerfunktion nach jedem Backpropagation genannt wird. nachbilden, müsste man in jedem
Parameter gewinnt man eine Anwei- Man schickt nun eine genügende Element eine Funktion einbauen, die
sung, in welche Richtung und wie Anzahl von Trainingsdaten immer für alle x-Werte unterhalb der
stark man jeden Parameter verän- wieder vorwärts durch das Netz und Schwelle den Wert 0 und oberhalb
dern muss, um den Gesamtfehler passt jedes Mal die Parameter mit- den Wert 1 annimmt. Eine solche
etwas in Richtung Minimum zu tels Backpropagation an. Dann bil- Stufenfunktion ist aber noch nicht
treiben. Nach der Kettenregel aus den mit der Zeit die einzelnen Teile einmal stetig, geschweige denn
der Differenzialrechnung berechnet des Netzwerks bestimmte Muster, differenzierbar, und macht daher die
man diese Ableitungen unter Ver- die ihrerseits Muster in den Eingabe­ Backpropaga­tion undurchführbar.
wendung der Zwischenergebnisse daten wiedergeben. Stattdessen verwendet man für
zuerst für die Parameter der letzten Eine natürliche Nervenzelle sen- diese Aufgabe verschiedene nicht­
Schicht und dann Schicht für det einen Impuls aus (sie »feuert«), lineare Funktionen, die üblicher­
Schicht nach vorne, entgegen der wenn die Summe der Eingangssig- weise differenzierbar sind.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 17


Recognition Challenge« (LSVRC) konnte ihr Netz die gleichzeitig durchführen. Krizhevsky, Sutskever und Hinton
Fehlerrate von einem Jahr zum nächsten annähernd gelang es, die unzähligen Berechnungen für das Training,
halbieren (von 26 auf 15 Prozent). namentlich den Backpropagation-Algorithmus (siehe »Wie
Die wichtigste Neuerung der drei Forscher bestand lernt ein neuronales Netz?«, S. 16/17), so zu programmie-
darin, im Trainingsprozess anstatt herkömmlicher Prozes- ren, dass GPUs sie bewältigen konnten. Die damit erreich-
soren (CPUs) Grafikkarten (GPUs) zu benutzen. Diese te hohe Rechenleistung erlaubte es den Forschern, die
Chips, die ursprünglich zum Ansteuern von Bildschirmen Trainingszeit dramatisch zu reduzieren und zugleich die
entworfen wurden, besitzen zwar nur Miniprozessoren mit Komplexität des Netzwerks deutlich zu erhöhen.
beschränkten Rechenfähigkeiten, davon jedoch extrem Seit diesem überwältigenden Erfolg nehmen GPU-be-
viele. So können GPUs zahlreiche Rechenoperationen schleunigte Netze stetig an Zahl und Komplexität zu. Inzwi-

Trainingsdaten
Modell Testdaten
Zielwerte

Ein Zoo von Netzwerken Trainingsdaten Modell

Der Aufbau künstlicher neuronaler Umwelt


auf mehrere Ausgaben (many to
Modell
Netze ist ursprünglich inspiriert von many) kommt beispielsweise in der
biologischen Nervennetzwerken, Bestärkendes Lernen (reinforce- klassischen Textanalyse vor.
wie sie sich zum Beispiel im mensch- ment learning) kommt hingegen Für zeitab­hän­gige Eingaben,
lichen Gehirn finden. Inzwischen ha- ganz ohne Trainingsdaten aus. zum Beispiel Bildfolgen aus einem
ben sie sich von ihrem biologischen Stattdessen lernt das Netz »on the Film, werden häufig so genannte
Vorbild weitgehend gelöst. job«, indem es, während es die ei- rückgekoppelte neuronale Netze
Es gibt eine fast unüberschau- gentliche Aufgabe ausführt, Rück- (recurrent networks) verwendet:
bare Vielzahl neuronaler Netze meldung über die Qualität der Vor- Deren Eingabe ist nicht nur der Da­-
für die verschiedensten Einsatz­ hersagen bekommt und sich intern ten­satz des aktuellen Zeitschritts,
gebiete, und fast wöchentlich so anpasst, dass die Qualität mit sondern auch der interne Zustand
kommen neue Varianten hinzu. der Zeit anwächst. des letzten Zeitschritts (und damit
Daher ist eine genaue und er- Eine weitere mögliche Katego­ri- indirekt auch dessen Datensatz
schöpfende Einteilung schwierig. sierung orientiert sich an den Einga­- sowie der interne Zustand aller
Ein mögliches Kriterium ist das ben und Ausgaben der Netze: vorher­gehenden Zeitschritte). Das
Signal, das dem Netz während des Klassische Objekterkennung führt zu einer Rückkopplung, die es
Lernvorgangs den Fehler seiner nimmt ein Bild als Eingabe und dem Netz ermöglicht, Muster über
Vorhersage mitteilt. erzeugt eine Aussage über das mehrere Eingaben hinweg zu
abgebildete Objekt als Ausgabe erkennen. Der Trainingsprozess
Trainingsdaten
Zielwerte
Modell Testdaten (one to one). Die Erzeugung einer unterscheidet sich jedoch nicht
textuellen Bildbeschreibung bildet grundsätzlich von nicht rückgekop-
Die im praktischen
Trainingsdaten Modell Einsatz hingegen ein einzelnes Bild auf pelten Netzen.
gängigsten Netze benutzen über- eine Sequenz von Wörtern ab (one Beide Klassifikationen sind un-
wachtes Lernen (supervised Umwelt
lear- to many). Umgekehrt kann auch vollständig. Zahlreiche interessante
Modell
ning). Dabei hat jeder Datensatz eine solche Sequenz als Eingabe für Netzwerkarchitekturen passen in
der Trainingsdaten einen Zielwert ein Netz dienen, das dann eine keines der Schemata, zum Beispiel
(Label), auf den das Netz trainiert Einschätzung der diesem Text zu generative Netzwerke, die Daten
wird. Der Nachteil dieser Vorge- Grunde liegenden Stimmung liefert nicht nur verarbeiten, sondern er-
hensweise ist, dass es sehr auf- (many to one). zeugen (Bilder S. 16/17 und 20;
wändig sein kann, Millionen von Die Abbildung mehrerer (even- siehe auch Spektrum Dezember
Datensätzen
Trainingsdaten
mit qualitativ hoch- tuell zeitbezogener) Eingaben 2015, S. 86).
Modell Testdaten
wertigen
Zielwerte Zielwerten bereitzustellen.
one to one one to many many to one many to many many to many
Trainingsdaten Modell
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: CHRISTOPH ANGERER

Beim unüberwachtenUmwelt
Lernen
Modell
(unsupervised learning) haben die
Datensätze keine Zielwerte. Statt-
dessen versucht das Netz, struktu-
rierte Muster in den Eingabedaten
zu erkennen.

18 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Input Monet van Gogh Cézanne

MIT FRDL. GEN. VON JUN-YAN ZHU; ZHU, J.-Y. ET AL.:


UNPAIRED IMAGE-TO-IMAGE TRANSLATION USING
CYCLE-CONSISTENT ADVERSARIAL NETWORKS. IN:
ARXIV1703.10593, 2017, TEILE AUS FIG. 11
Neuronale Netze können den Malstil eines Künstlers lernen und auf neue Bilder anwenden.
Hier von links nach rechts die Tübinger Neckarfront im Foto sowie im Stil von Monet, van Gogh und Cézannne.

schen stellen sie die Mehrheit der Beiträge bei solchen Große Mengen an Daten erzeugt auch das europäische
Wettbewerben. Während das neuronale Netz von 2012, ge­- Kernforschungszentrum CERN. In dessen größtem Teil-
nannt AlexNet, noch aus acht Schichten mit 650 000 Neu­­ chenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider (LHC),
ronen und ungefähr 60 Millionen Parametern bestand, finden um die 600 Millionen Teilchenkollisionen pro Sekun-
bringen es neuere Netze wie das ResNet-152 auf mehr als de statt, was einem Rohdatenstrom von mehr als einem
100 Schichten, was auf den ungefähr zehnfachen Bedarf an halben Petabyte pro Sekunde entspricht; ausgedruckt
Rechenleistung hinausläuft. Um solche »tiefen« Netzwerke wären das 250 Milliarden DIN-A4-Seiten. Um diese Daten-
trainieren zu können, mussten ihre Konstrukteure nicht nur mengen handhaben zu können, werden die Kollisionen in
zahlreiche Verbesserungen in den Algorithmen vornehmen, einem mehrstufigen Prozess gefiltert. Am Ende bleiben pro
sondern auch die Hardware, in diesem Fall die GPUs, Sekunde 100 bis 200 potenziell interessante Ereignisse
anpassen und die zugehörige Software neu entwickeln. übrig. Aus diesen Rohdaten rekonstruieren die Forscher
dann die Kollisionsprozesse.
Wissenschaftliche Datenanalyse Damit kommt der Trennschärfe der Filteralgorithmen ei-
Neuronale Netze bearbeiten heute riesige Datenmengen ne entscheidende Bedeutung zu. Was diese verwerfen,
in kommerziellen Anwendungen und sind ein wichtiges bleibt unerforscht, da einmal ausgefilterte Ereignisse un-
Werkzeug der Datenanalyse. Doch die Anzahl der verfüg- widerruflich verloren sind. Andererseits können die Algo-
baren Daten ist in den letzten Jahren nicht nur im kom- rithmen gewissermaßen nicht beliebig genau hinschauen,
merziellen Sektor explodiert, auch die Wissenschaft pro- weil sie sonst den Datenstrom nicht in der verfügbaren
duziert immer mehr Daten, die ausgewertet und aufbe­ Zeit bewältigen würden.
reitet werden wollen. Hier bieten neuronale Netze einzig- Mit dem geplanten High Luminosity Upgrade des LHCs
artige neue Möglichkeiten. soll die Anzahl der Kollisionen nochmals um einen Fak­-
Ein Beispiel ist die Suche nach Gravitationswellen im tor 10 erhöht werden. Bereits heute ist abzusehen, dass
Advanced Laser Interferometric Gravitational Wave Ob­ dies neue Ansätze zur Datenanalyse erfordert. Neuronale
servatory (Advanced LIGO). Die von Einstein bereits 1916 Netze haben das Potenzial, diese Aufgabe in der notwen-
vorhergesagten Gravitationswellen wurden erst 2015 digen Größenordnung und Geschwindigkeit durchzufüh-
direkt nachgewiesen (Spektrum April 2016, S. 12; zum ren, ohne die relevanten Signale aus den Augen zu verlie-
Nobelpreis für diese Leistung siehe Spektrum Dezember ren. Dies wäre die Basis für Entdeckungen, die unser Ver­-
2017, S. 24). Ihr messbarer Effekt ist winzig klein: Es ständnis der fundamentalen Physik verändern könnten.
kommt auf Längenveränderungen an, die einem Bruchteil Bisher haben neuronale Netze ihre Stärken im Wesent­
des Protonendurchmessers entsprechen. lichen dort gezeigt, wo es Fragen zu beantworten gilt, für
Diese winzigen Signale müssen jedoch aus einem die keine gute Theorie zur Verfügung steht: Welches sind
reißenden Strom verrauschter Daten herausgefiltert wer- die charakteristischen Merkmale eines Gesichts (in Pixeln
den. Für den ersten Nachweis erledigten diese Aufgabe ausgedrückt)? Wodurch unterscheiden sich Signale von
noch klassische Datenverarbeitungsalgorithmen, die auf Gravitationswellen von den allgegenwärtigen Störungen?
tausenden CPUs liefen. Auf Grund des großen Rechenauf- Woran erkennt man ein interessantes Kollisionsereignis im
wands kamen die Computer mit dem Filtern nicht nach. LHC im Gegensatz zu einem gewöhnlichen? Für die Ge-
Durch den Einsatz eines tiefen neuronalen Netzes ist es sichtserkennung haben die Experten mit dem Feature
den Wissenschaftlern am advanced LIGO inzwischen Engineering so etwas wie eine Theorie aufgestellt, jedoch
gelungen, die Messgenauigkeit zu erhöhen und gleichzei- nur mit beschränktem Erfolg. Dagegen hat ein neuronales
tig die Anforderungen an die Rechenleistung um einen Netz im Training eine Art Theorie der Gesichtserkennung
Faktor 1000 zu reduzieren, so dass die Datenanalyse nun gelernt – die in den Parametern seiner Muster besteht –
in wenigen Mikrosekunden abläuft. Bei der Kollision zwei- und kann sie anwenden.
er Neutronensterne, die sich am 17. August 2017 durch Neu und überraschend ist, dass neuronale Netze auch
Gravitationswellen bemerkbar machte, gelang die Auswer- dort phänomenale Erfolge einfahren, wo es eine gut aus-
tung so rasch, dass die LIGO-Astronomen binnen Minuten gearbeitete Theorie gibt.
zahlreiche andere Observatorien auf das Ereignis hinwei- Als Beispiel zur Einführung möge ein sehr einfacher
sen konnten. physikalischer Prozess dienen: der Wurf im Schwerefeld

Spektrum der Wissenschaft  1.18 19


zahlreiche kleine violette Diese Blüte ist pink, weiß dunkelpinke Blütenblätter weiß und gelb, mit Die »adversarial networks«
Blütenblätter in kugelför- und gelb mit gestreiften mit weißen Rändern und gekrümmten, glattrandigen
der KI-Forscher um Han Zhang
miger Anordnung Blütenblättern. pinken Staubfäden Blütenblättern
können, entsprechend
MIT FRDL. GEN. VON DIMITRIS METAXAS; ZHANG, H. ET
AL.: STACKGAN: TEXT TO PHOTO-REALISTIC IMAGE
SYNTHESIS WITH STACKED GENERATIVE ADVERSARIAL
NETWORKS. IN: ARXIV:1612.03242, 2017, TEILE AUS FIG. 4

trainiert, auch Blüten von


nicht existie­renden
Pflanzen realistisch darstellen.

der Erde. Die Theorie dazu lernt man in der Schule: Kraft gebiet auskennt. Und selbst der liefert keine fertige Formel,
ist Masse mal Beschleunigung; Letztere ist konstant und sondern nur deren interne Struktur: eine Näherungsformel
gleich 9,81 m/s2. Aus diesen Zutaten erhält man mit ein mit vorläufig unbekannten Parametern, die noch durch
wenig elementarer Differenzialrechnung eine Gleichung, einen Feinabstimmungsprozess so einzustellen sind, dass
die für jede Kombination aus Anfangsort und -geschwin- die auf diese Weise modellierten Daten die Beobachtungen
digkeit die Bahn des geworfenen Gegenstandes angibt. möglichst genau wiedergeben. Oftmals haben die Wissen-
Das ist der (nur selten realisierte) Idealfall, in dem man schaftler eine gute Vorstellung über die Bedeutung einzel-
einen physikalischen Prozess aus elementaren Naturgeset- ner Parameter; aber diese müssen keine direkte Entspre-
zen (»ab initio«) herleitet. chung in dem darunterliegenden ab-initio-Modell haben.
Das erinnert bereits stark an den oben beschriebenen
Neuronale Netze sind parametrisierte Modelle Trainingsprozess neuronaler Netze. Und das ist kein Zufall:
Allerdings konnten die Leute schon gezielt werfen, bevor Ein neuronales Netz ist nichts anderes als ein parametri-
Newton die theoretischen Grundlagen bereitstellte; und siertes Modell. Nur sind die Parameter weitaus zahlreicher
die Kanoniere der frühen Neuzeit hatten durch geduldiges und umfassen auch die interne Struktur der Formeln, die
Probieren Tabellen und gelegentlich sogar Formeln erstellt, bislang der Experte vorgibt. Damit ist die Situation ver-
mit deren Hilfe sie zu einem zu beschießenden Ziel den gleichbar dem Übergang vom Feature Engineering zum
Anstellwinkel und die Feuerkraft ihrer Waffe bestimmen Network Engineering: Das neuronale Netz übernimmt die
konnten. Viele physikalische Prozesse stellt man durch aus Struktur seines Modells nicht vom Experten, sondern lernt
der Erfahrung gewonnene Formeln dar, in die man in der sie anhand von zahlreichen Beispielen – und erzielt damit
konkreten Situation noch spezifische Werte für gewisse oft ein besseres Ergebnis, weil es weitaus mehr Möglich-
Parameter – Reibungskoeffizient, elektrische Leitfähigkeit keiten in Betracht zieht.
und so weiter – einsetzen muss. Es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied zwi-
Der offensichtliche Nachteil einer rein empirischen (Ta­- schen den klassischen und den neuen Einsatzgebieten
belle) oder semiempirischen (Formel mit Parameter) Metho- neuronaler Netze: In einem Gebiet wie der Bild- oder
de ist, dass man sie schlecht verallgemeinern kann. Typi- Spracherkennung ist der zu Grunde liegende »Prozess«
scherweise funktioniert sie nur für Situationen, die jenen (falls es denn überhaupt einen gibt) nicht bekannt. Neuro-
ähneln, für die man Experimente durchgeführt hat. Wer nale Netze sind einfach das beste Werkzeug, das wir
noch nicht mit sehr schweren Objekten gear­beitet hat, kann haben, um diese Probleme zu lösen. In weiten Teilen der
für die nächste Filmproduktion nicht vorhersagen, wie sich Datenanalyse kann man ebenfalls den Strom der Daten
ein Auto verhalten wird, das über eine Klippe stürzt. nicht als Messwerte eines physikalischen Prozesses auf-
Semiempirische Methoden (auch parametrisierte Me- fassen; allenfalls hat man ein statistisches Modell eines
thoden genannt) versuchen gewissermaßen, einen Kom- solchen. Wenn ein neuronales Netz jedoch eine ab-initio-
promiss zwischen ab-initio- und empirischen Methoden zu Rechnung oder ein bekanntes semiempirisches Modell
finden. Man modelliert einen physikalischen Prozess be- ersetzen soll, sind diese Prozesse nicht nur bekannt,
wusst nicht vollständig explizit, sondern ersetzt das Modell sondern exakt mathematisch formuliert. Nunmehr ist das
durch einfacher zu berechnende Annäherungen. Netz nicht mehr konkurrenzlos, sondern muss sich an der
Die Grenze zwischen semiempirischen und ab-initio-Mo- Qualität der bereits vorliegenden Ergebnisse (der »ground
dellen ist fließend: Die Erdbeschleunigung g ist keine Natur- truth«) messen lassen. Das ist nicht nur eine Herausforde-
konstante, sondern variiert ortsabhängig um einige Promil- rung, sondern auch eine Chance: Das exakte Wissen über
le, ist also in Wahrheit ein Parameter eines semi­empirischen die Ground Truth könnte in der Zukunft die Entwicklung
Modells. Streng genommen müsste man deshalb für eine eines entsprechenden neuronalen Modells befördern.
reine ab-initio-Berechnung eines gewöhnlichen Steinwurfs Kann sich die Geschichte wiederholen? Werden tiefe
die ganze Erde samt abgeplatteter Kugelgestalt und Mas- neuronale Netze in Zukunft die parametrisierten Modelle
senverteilung modellieren – eine absurde Vorstellung. aus der Physik ablösen und sogar komplexe ab-initio-Kal-
Um ein semiempirisches Modell aufzustellen, braucht es kulationen mit höherer Qualität und größerer Flexibilität
bislang noch einen Experten, der sich im jeweiligen Fach- ausführen können?

20 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Das sieht, bei allen Vorbehalten gegenüber Vorhersa- chen – Größenordnung Millionen. Ihre künstliche Intelli-
gen, gegenwärtig ganz so aus. Als universelle Funktions- genz lernt, aus dem momentanen Zustand (Ort und Ge-
approximatoren sind tiefe neuronale Netze gut ausgestat- schwindigkeit) aller dieser Partikel den Zustand eine
tet, um gängige parametrisierte Modelle nachzubilden. Es gewisse Zeit später zu ermitteln. Die resultierenden Syste-
scheint auch plausibel, dass sie bei einem Bruchteil des me rechnen um Größenordnungen schneller als die her-
Rechenaufwands so manche ab-initio-Kalkulation mit kömmlichen, was völlig neue Einsatzgebiete eröffnet.
gleicher Qualität ersetzen können, für die es bisher keine Nahezu in allen wissenschaftlichen Disziplinen lässt
brauchbaren parametrisierten Beschreibungen gibt. Und sich derzeit eine ähnliche Entwicklung beobachten: Ob
dies ist in der Tat auf einzelnen Gebieten schon gelungen, Wetter- und Klimaforschung, Astronomie, Hochenergie-
insbesondere in der Quantenchemie und in der numeri- physik oder Molekularbiologie, überall finden sich ständig
schen Strömungsmechanik. neue Einsatzgebiete neuronaler Netze.
Das wirft wichtige Fragen auf: Wie können wir sicher
Wie können wir wissen, ob ein neuronales Netz sein, dass das trainierte Netzwerk wirklich die Schrödin-
die Schrödinger-Gleichung gelernt hat? ger-Gleichung löst und die Navier-Stokes-Gleichungen
Quantenchemische Simulationen modellieren chemische gelernt hat? Und können wir Fehlergrenzen oder andere
Reaktionen detailliert, indem sie die Bewegung jedes ein- Qualitätsmerkmale der Lösung angeben?
zelnen Atoms in einem – möglicherweise sehr großen – Eigentlich ist ein neuronales Netz so transparent wie
Molekül beschreiben. Sie sind ein unverzichtbares Werk- nur möglich. Schließlich können wir jeden Parameter
zeug für die Material- und Pharmaforschung (Spektrum ablesen und jede der deterministischen Rechnungen
November 2014, S. 86). Das grundlegende Naturgesetz für genauestens nachvollziehen. Dennoch wird es oftmals als
eine ab-initio-Rechnung ist bekannt: Es handelt sich um »Black Box« beschrieben, als schwarzer Kasten, der jegli-
eine komplexe partielle Differenzialgleichung, die so ge- chen Einblick in sein Inneres verwehrt. Das liegt daran,
nannte Schrödinger-Gleichung aus der Quantenmechanik. dass schwer nachzuvollziehen ist, wie das Netz die Para-
Um grundlegende Eigenschaften von Festkörpern und meter genau gelernt hat und welche Neurone im Netzwerk
Molekülen, beispielsweise Bindungslängen und -energien, (falls überhaupt) welche Teile der Physik nachbilden. Man
zu berechnen, müsste man eine komplexe Vielteilchen-­ kann zwar Netze mit einzelnen Eingaben füttern und deren
Variante der Schrödinger-Gleichung lösen. Das übersteigt Ausgabe überprüfen, aber ein analytischer Ansatz, der
bei Weitem die Kapazität selbst der modernsten Compu- solche Fragen erschöpfend beantworten könnte, fehlt
ter; aber mit der so genannten Dichtefunktionaltheorie derzeit noch gänzlich. Im Extremfall könnte es passieren,
(DFT) lässt sich der Rechenaufwand drastisch reduzieren dass ein neuronales Netz Ereignisse stets korrekt voraus-
(Spek­trum Dezember 1998, S. 24). Selbst mit DFT reicht die sagt, für die es noch keine vollständige Theorie gibt – sa-
Rechenfähigkeit moderner Supercomputer allerdings nur gen wir Teilchenkollisionen am LHC. Also steckt in seinen
für wenige tausend Atome aus. Parametern eine physikalische Theorie, jedenfalls gemäß
Justin S. Smith, Olexandr Isayev und Adrian E. Roitberg der klassischen Philosophie, nach der sich eine gute
von der University of Florida haben nun ein neuronales Theorie dadurch auszeichnet, dass sie genau solche Vor-
Netz entwickelt, das für ihre Beispielrechnungen die hersagen macht. Nur sind wir unfähig, aus diesen Parame-
gleiche Genauigkeit wie DTF erreicht, jedoch den Rechen- tern die Theorie herauszulesen und in Worte zu fassen.
aufwand um erstaunliche sechs Größenordnungen redu- Die steigende Popularität neuronaler Netze in der For-
ziert. Eine Simulation, die zuvor Minuten dauerte, kann scherwelt lässt jedoch hoffen, dass derartige analytische
nun in Mikrosekunden durchgeführt werden. Es bleibt Methoden in Zukunft entwickelt werden. Am Ende sind
jedoch abzuwarten, ob diese Lösung auch außerhalb der auch neuronale Netze lediglich ein Werkzeug von vielen
getesteten Systeme funktioniert. im Arsenal wissenschaftlicher Methoden. Sie sollten stets
Forscher des Projekts »Google Brain« und, unabhängig als Ergänzung und nicht als Ersatz bestehender Ansätze
davon, von Disney Research benutzen datengetriebene angesehen werden.
maschinelle Lernalgorithmen, um Strömungen zu berech-
nen. Auch für das Verhalten von Flüssigkeiten und Gasen QUELLEN
gibt es ein Naturgesetz, und zwar die so genannten
Navier-Stokes-Gleichungen (Spektrum April 2009, S. 78). Die Krizhevsky, A. et al.: ImageNet Classification with Deep Convolutio-
nal Neural Networks. https://papers.nips.cc/paper/4824-imagenet-
Lösung dieser Gleichungen wird jedoch für alle bis auf die
classification-with-deep-convolutional-neural-networks.pdf
einfachsten Situationen schnell extrem rechenaufwändig.
Den weit überwiegenden Teil der Rechenzeit verbraucht Sajjadi, M. S. M. et al.: EnhanceNet: Single Image Super-Resolu­
dabei das Lösen eines großen linearen Gleichungssys- tion Through Automated Texture Synthesis.
https://arxiv.org/abs/1612.07919
tems, der Poisson-Gleichung. Die Google-Forscher trainier-
ten Netze mit Hilfe simulierter Beispieldaten darauf, Nähe- Zhang, H. et al.: StackGAN: Text to Photo-realistic Image Synthesis
rungslösungen dieser Hilfsgleichungen zu finden – anhand with Stacked Generative Adversarial Networks
von Beispielen gelöster Gleichungen. https://arxiv.org/pdf/1612.03242.pdf
Die Fachkollegen bei Disney modellieren das strömende Zhu, J.-Y. et al.: Unpaired Image-to-Image Translation using Cycle-
Medium nicht als Kontinuum wie bei den Navier-Stokes- Consistent Adversarial Networks.
Gleichungen, sondern als Ensemble von sehr vielen Teil- https://arxiv.org/abs/1703.10593

Spektrum der Wissenschaft  1.18 21


KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
ALPHA GO – COMPUTER
LERNEN INTUITION
Die neuen Go spielenden Programme scheinen so etwas
wie menschliche Intuition zu besitzen – eine Errungenschaft
mit weit reichenden Konsequenzen.

Michael Nielsen, Computerwissenschaftler,


Autor mehrerer Fachbücher und Fürsprecher
der »Open Science«-Bewegung, lebt in San
Francisco.

 spektrum.de/artikel/1520775


Als 1997 der Computer »Deep Blue« von IBM den niemand hatte erwartet, dass in den nächsten zehn Jahren
Schachweltmeister Garri Kasparow besiegte, galt das ein Computer in dem fernöstlichen Brettspiel gewinnen
als Meilenstein in der Geschichte der künstlichen könnte. Das ist alles richtig, trifft aber nicht die Kernfrage:
Intelligenz. Allerdings stellte sich bald heraus, dass mit der Werden die technischen Entwicklungen, die AlphaGo
Technologie von Deep Blue über das Schachspielen hinaus seinen phänomenalen Erfolg verschafften, weitere Auswir-
nicht viel anzufangen war. Eine Revolution in der Compu- kungen haben? In welcher Hinsicht sind diese Fortschritte
terwissenschaft hatte damals nicht stattgefunden. qualitativ anders und bedeutender als im Fall Deep Blue?
Ist das bei »AlphaGo« anders, dem Programm, das im Für das Schachprogramm war ein Konzept von zentra-
März 2016 Lee Sedol besiegte, einen der stärksten Go- ler Bedeutung, das schon die Anfänger lernen: der Wert
Spieler der Geschichte? Ich glaube, ja. Aber nicht aus den einer Schachfigur. Ein Springer oder Läufer ist so viel wert
Gründen, die in den ersten Stellungnahmen zu lesen wie drei Bauern. Ein Turm mit seinen größeren Zugmög-
waren: Go ist schwieriger als Schach; insbesondere ist die lichkeiten entspricht fünf Bauern, und die Dame, die
Anzahl der zulässigen Positionen um Klassen größer; beweglichste aller Figuren, wird mit neun Bauern gehan-
delt. Der Wert des Königs ist unendlich, denn wenn er
geschlagen wird, ist das gesamte Spiel verloren. Der Wert
einer Figur hilft die Qualität denkbarer Züge einzuschät-
AUF EINEN BLICK zen: Einen Läufer opfern, um einen gegnerischen Turm zu
NEURONALE NETZE schlagen? Meistens eine gute Idee. Einen Springer und
ÜBERTREFFEN SICH SELBST einen Läufer gegen einen Turm eintauschen? Besser nicht.
Ebenso wie jeder Figur lässt sich auch einer Spielstel-
lung (»Position«), also der Anordnung aller Figuren auf
1  as System AlphaGo schlug im März 2016 den amtie-
D
renden Weltmeister im fernöstlichen Brettspiel Go. dem Brett, ein Wert zuweisen – im einfachsten Fall die
Summe der Werte der überlebenden Figuren. Die meisten

2  ntscheidend für den Sieg war eine Kombination von


E Computerprogramme verfolgen Millionen und Milliarden
Lernen aus klassischen Partien und einer »Übephase«, von denkbaren Zügen, eigenen wie gegnerischen, und
in der das System gegen sich selbst spielte. suchen eine Zugfolge, die für alle Spielweisen des Geg-
ners einen späteren Wert der Brettposition maximiert.

3  ur anderthalb Jahre später ist AlphaGo durch seinen


N
Nachfolger AlphaGo Zero, der ohne jedes menschliche
Vorbild lernte, weit übertroffen worden.
Dabei kommt es entscheidend darauf an, wie man diesen
Wert berechnet. Schon vor Deep Blue verwendeten die
Computer Bewertungsfunktionen, die wie fortgeschrittene
Spieler nicht nur die Anwesenheit einer Figur, sondern
auch deren Aktionsmöglichkeiten berücksichtigen.

22 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Bei Deep Blue gehen mehr als 8000 verschiedene wird in schwammig klingenden Formulierungen von
Faktoren in die Bewertungsfunktion ein. Ein Turm ist nicht Positionen mit guter oder weniger guter Gestalt reden. In
einfach fünf Bauern wert. Steht vor ihm ein Bauer der Jahrzehnten harter Arbeit ist es nicht gelungen, solche
gleichen Farbe, ist der Turm in seiner Bewegung behin- Aussagen in eine ähnlich einfache Form zu bringen wie die
dert, was ihn etwas weniger wertvoll macht. Kann der Bewertung einer Schachfigur. Entsprechend enttäuschend
Spieler aber den Bauern aus dem Weg schaffen, indem er blieben die Go-Programme.
einen gegnerischen Bauern schlägt, befindet Deep Blue Dies änderte sich 2006 zumindest etwas mit den so
ihn für »halbdurchlässig« und vermindert den Wert des genannten Monte-Carlo-Baumsuchverfahren. Diese versu-
Turms entsprechend etwas weniger. Laut einer Veröffent­ chen aus einer großen Anzahl von zufälligen simulierten
lichung der Entwickler war das Konzept des halbdurch­ Spielen Material für eine Bewertungsfunktion zu gewinnen.
lässigen Bauern entscheidend im zweiten Spiel von Deep Aber selbst damit blieb die Go-Software in ihren Fähig­
Blue gegen Kasparow. keiten weit hinter menschlichen Spielern zurück. Anschei-
Zwei Zutaten verschafften Deep Blue seinen damals nend war es entscheidend für den Erfolg, eine Spielposi­
spektakulären Erfolg: eine Bewertungsfunktion, in die jede tion intuitiv einschätzen zu können.
Menge Detailwissen über das Schachspiel einging, und Und das ist das Neue und Wichtige an AlphaGo: Die
eine gewaltige Rechenkapazität, mit der die Maschine un- Entwickler fanden einen Weg, menschliche Intuition –
glaublich viele Zugfolgen im Voraus durchspielen konnte. oder zumindest etwas, das ihr sehr nahe kommt – gewis-
Wenn man diese Strategie auf Go anzuwenden ver- sermaßen zu destillieren und in Flaschen abzufüllen.
sucht, scheitert man bereits an dem Problem, eine brauch- In einem Artikel in »Nature« vom Januar 2016 beschrei-
bare Bewertungsfunktion zu finden. Ein Go-Großmeister ben seine Schöpfer das System, wie es mit geringfügigen

Beim Go-Spiel setzen die beiden Spieler abwechselnd einen Stein ihrer Farbe (schwarz beziehungs-
weise weiß) auf einen der 19 · 19 Schnittpunkte eines quadratischen Gitters. Im ersten Zug stehen
also 361 Möglichkeiten zur Auswahl, danach entsprechend weniger, was immer noch weit mehr ist
als die durchschnittlich 30 bis 35 Zugmöglichkeiten beim Schach.
ZHENGZAISHURU / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  1.18 23


Verbesserungen auch in dem Spiel gegen Lee Sedol zum Das System nimmt also immer wieder winzige Ände-
Einsatz kam. Demnach ließen die Entwickler zunächst rungen an einer extrem komplizierten Funktion vor. Mit
160000 echte Spiele menschlicher Go-Meister von einem Geduld und einer entsprechenden Rechenkapazität im
künstlichen neuronalen Netz auf erkennbare Muster hin Hintergrund wird das Netz auf diese Weise am Ende rich-
untersuchen. AlphaGo konnte daraufhin zu einer gegebe- tig gut. Und hier kommen wir zum wirklich erstaunlichen
nen Position mit hoher Treffsicherheit voraussagen, wel- Punkt: Eigentlich weiß keiner so genau, warum es so
chen Zug ein menschlicher Spieler wählen würde. Dann exzellent funktioniert; denn diese Milliarden kleiner Ände-
ließen die Forscher die jeweils neueste Version immer rungen sind automatisch abgelaufen, innerhalb des Netzes
wieder gegen ältere Versionen ihrer selbst spielen. So und ohne Einfluss oder Einsicht von außen.
verbesserte das System durch immer weitere Justierungen
schrittweise seine Gewinnchancen. Zweistufiges Verfahren: Ein »policy network« fürs
Wie lernt ein neuronales Netz, was ein guter Zug ist? Grobe, eine Baumsuche für die Feinarbeit
Grob gesprochen handelt es sich um ein sehr komplizier- Das so zu Stande gekommene Netz nennen die Forscher
tes mathematisches Modell, dessen Verhalten von Millio- »policy network«, wobei »policy« als »grobe Richt­linie« zu
nen einstellbarer Parameter bestimmt wird (siehe den verstehen ist. Nach Durchlaufen der beschrie­benen zwei
Artikel S. 12). »Das Netz lernt« bedeutet: Der Computer Trainingsstufen spielte es ein annehmbares Go – etwa auf
nimmt immer wieder kleine Einstellungsänderungen in dem Niveau eines menschlichen Amateurs. Aber bis zu
den Parametern vor, um ebenso kleine Verbesserungen in einer professionellen Qualität war es noch ein weiter Weg.
der Spielfähigkeit zu erzielen. Der Maßstab für Qualität Es gab noch kein Durchspielen potenzi­eller Zugfolgen und
(das »Lernziel«) bestand in der ersten Stufe darin, den Zug, noch keine Bewertungsfunktion für Brettpositionen.
den ein menschlicher Spieler in einer gegebenen Situa- Um dem letzten Mangel abzuhelfen, ließen die Entwick-
tion wählen würde, mit möglichst großer Treffsicherheit zu ler das Policy Network gegen sich selbst spielen und dabei
finden. In der zweiten Stufe wurde das System daran durch Auszählen für jede Position die Wahrscheinlichkeit
gemessen, ob es ein Spiel gegen sich selbst gewann – ermitteln, mit welcher diese Position zum Sieg führt. Diese
genauer: gegen eine frühere Version seiner selbst. Wahrscheinlichkeit liefert eine brauchbare Näherung für
SZEGEDY, C. ET AL.: INTRIGUING PROPERTIES OF NEURAL NETWORKS. IN: ARXIV:1312.6199V4, 2014, FIG. 5B (ARXIV.ORG/ABS/1312.6199) / CC BY 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/3.0/LEGALCODE)

Das neuronale Netz von


Szegedy und seinen
Kollegen klassifizierte das
jeweils linke Bild dieser
Serie korrekt. Die Forscher
fügten dann dem Bild
winzige Störungen hinzu,
die im mittleren Bild mit
dem Faktor 128 verstärkt
zu sehen sind. Das Er­
gebnis (rechts) ist für
menschliche Augen vom
Original praktisch nicht
zu unterschieden. Gleich-
wohl klassifizierte das Netz
jetzt jedes der Bilder als
»afrikanischen Strauß«.

24 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Ein symbolischer Blick in

MARKOS KAY (MRKISM.COM) FÜR QUANTA MAGAZINE


die Wissensbasis des
Systems AlphaGo: Zu jeder
Position im Go-Spiel
vermutet das Netz, mit
welcher Wahrscheinlich-
keit es aus dieser Position
einen Sieg erzielen könnte.

eine Bewertungsfunktion – in der Praxis nutzte AlphaGo Mind, die Organisation hinter AlphaGo, hat schon 2015 ein
eine etwas komplexere Variante dieser Idee. neuronales Netz gebaut, das 49 klassische Videospiele für
Nach diesen Vorbereitungen probierte das System im den Atari 2600 beherrscht, und zwar in vielen Fällen auf
Spiel nach klassischem Vorbild verschiedene Zugfolgen einem Niveau, das menschliche Könner nicht erreichen.
von der aktuellen Position aus und entschied sich für Der konservative Lösungsansatz wäre der von Deep
denjenigen Ast des Suchbaums, an dessen Ende das Blatt Blue: Ein menschlicher Programmierer analysiert jedes
mit dem höchsten Wert stand (siehe »Durch eigenständi- einzelne Spiel und knobelt detaillierte Strategien dafür aus.
ges Lernen zur Meisterschaft«, S. 26/27). Allerdings be- Das neuronale Netz von DeepMind aber erkundet einfach
schränkte es sich beim Aufbau des Suchbaums auf dieje- eine große Menge Spielmöglichkeiten. Am Anfang stolpert
nigen Züge, die das Policy Network für die aussichts- es hoffnungslos ungeschickt herum, vergleichbar mit
reichsten hielt. einem menschlichen absoluten Anfänger. Aber zufällig
Am Anfang von AlphaGo stand also, anders als bei Deep sind auch gute Spielzüge dabei. Das Netz lernt, diese
Blue, keine große Wissensbasis über das Spiel. Vielmehr guten Züge – also Verhalten, das höhere Punktzahlen
kam die Bewertungsfunktion zu Stande, indem das Netz einbringt – zu erkennen, ähnlich wie AlphaGo gute Brett-
Tausende echter Spiele analysierte und intensiv gegen sich positionen erkennt. Dann verstärkt es das entsprechende
selbst spielte. Durch Milliarden kleiner Änderungen und in
ihrer Folge ebenso kleiner Verbesserungen gewann das
System ein Mittel zur Einschätzung einer Spielposition, das AlphaGo ist die Speerspitze einer
der Intuition eines guten Spielers ähnlich ist.
So gesehen ist AlphaGo viel radikaler als Deep Blue. Die Entwicklung hin zu Systemen, die
Stelle zu finden, an der eine bekannte Funktion einen
optimalen Wert annimmt: Das ist der Typ von Aufgaben,
Intuition realisieren
mit denen die Computer seit ihren Kindertagen zu tun
haben. Bei Deep Blue war diese Funktion zugegebenerma- Verhalten und verbessert damit schrittweise seine Spielfä-
ßen äußerst kompliziert, aber von Menschen aus bereits higkeiten.
vorhandenem Wissen über Schach zusammengebaut. Und In einer 2015 veröffentlichten Arbeit beschreiben die
das Optimierungsverfahren selbst war höchst raffiniert, Tübinger Forscher Leon Gatys, Alexander Ecker und Mat-
aber im Prinzip nicht wesentlich verschieden von vielen thias Bethge, wie ein neuronales Netz bestimmte Kunst­
Programmen der 1960er Jahre. stile lernt und dann auf andere Bilder anwendet. Die Idee
Auch AlphaGo optimiert eine Funktion, wenn auch auf ist sehr einfach: Das Netz »betrachtet« eine Menge Bilder
etwas geschicktere Weise. Doch wirklich neu und unge- und lernt daran, Werke desselben oder eines ähnlichen
wöhnlich ist der Schritt vorher, in dem das neuronale Netz Stils zu erkennen. Das Gelernte konnte es auf neue Bilder
sich diese Bewertungsfunktion, die einer »intuitiven Ein- anwenden. Und neuronale Netze erbringen intuitive Leis-
schätzung« einer Brettposition gleichkommt, erst zulegt. tungen nicht nur bei Bildern, sondern auch bei gesproche-
Die Kombination beider Schritte ist es, die AlphaGo zu ner Sprache, Tonsignalen allgemein und sogar wissen-
seinen phänomenalen Spielfähigkeiten verhilft. schaftlichen Daten (siehe den Artikel S. 12).
Die intuitiven Fähigkeiten des Menschen zur Muster­ Angesichts dieser breiten Fortschritte halte ich AlphaGo
erkennung nachzubilden, ist eine Riesenaufgabe – und für sich genommen nicht für einen revolutionären Durch-
wird aktuell auf breiter Front angegangen. Google Deep- bruch, sondern eher für die Speerspitze einer extrem

Spektrum der Wissenschaft  1.18 25


Durch eigenständiges Lernen zur Meisterschaft
Eine neue Version von AlphaGo benötigt keinen menschlichen Lehrer mehr. Es lernt genug aus
den eigenen Fehlern und Erfolgen, um den besten Go-Spieler der Welt zu schlagen – sich selbst.

Nur anderthalb Jahre nachdem das gegen sich selbst spielen und aus learning« eine derart riesige Anzahl
Computerprogramm AlphaGo den den Resultaten lernen (»reinforce- von möglichen Zügen nicht bewälti-
weltbesten menschlichen Spieler ment learning«). gen könnte, sondern auf der Suche
vom Thron stieß, hat es eine weitere AlphaGo Zero hat den ersten nach einer brauchbaren Strategie
Grenze durchbrochen: Es erreicht Schritt schlicht weggelassen. Das auf ewig im Dunkeln tappen würde.
beispielloses Können, indem es ein- Programm kannte nichts weiter als Stattdessen fand die Software
zig von sich selbst lernt. AlphaGo die Regeln und spielte gegen sich geradezu blitzartig ihren Weg zu
Zero, die neue Version von AlphaGo, selbst. Anfänglich setzte AlphaGo übermenschlichen Fähig­keiten.
entwickelte in drei Tagen Rechenzeit Zero die Steine irgendwie zufällig Der Lernprozess verdankt seine
Strategien, die menschlichen Spie- aufs Brett. Mit der Zeit konnte es Effektivität einer Rückkopplungs-
lern in Jahrtausenden nicht in den Brettpositionen immer besser ein- schleife. Wie sein Vorgänger be-
Sinn gekommen waren – ohne schätzen und günstige Züge erken- stimmt AlphaGo Zero seinen jeweils
Vorkenntnisse und ohne menschli- nen. Es entdeckte dabei nicht nur nächsten Zug mit einer so genann-
che Lehrer. Nun ist die künstliche viele Elemente der klassischen Stra- ten Baumsuche. Ausgehend von der
Intelligenz nicht mehr auf menschli- tegien, sondern entwickelte auch aktuellen Spielsituation (»Position«)
ches Wissen angewiesen und damit neue auf eigene Faust. geht es die möglichen Züge durch,
eine der wesentlichen Grenzen für Nach drei Trainingstagen und zieht in Betracht, welche Züge da-
ihren Siegeszug gefallen. 4,9 Millionen Spielen ließen die Ent­- raufhin der Gegner machen könnte,
Frühere Versionen von AlphaGo wickler AlphaGo Zero gegen seinen mit welchen Zügen es seinerseits
wandten nacheinander zwei Stra­ Vorgänger antreten, der immerhin antworten würde, und so weiter. Es
tegien an, um dem System das den menschlichen Go-Weltmeister entsteht ein Baum mit ungeheuer
Go-Spiel beizubringen. Zunächst geschlagen hatte. Das neue System vielen Verzweigungen entsprechend
gaben die Wissenschaftler dem gewann 100 von 100 Spielen. den denkbaren Spielverläufen. Das,
Programm 160000 hochkarätige, Dieser radikale Sieg verblüffte die was man eigentlich wissen will –
bereits gespielte Partien als Stoff Experten. Go ist um Größenordnun- welcher Zug ist gegenwärtig der
zum Lernen und Nachahmen («su- gen komplexer als Schach. Eigent- beste? –, erfährt man erst, wenn
pervised learning«). Im zweiten lich war zu erwarten, dass AlphaGo man an den Enden der kleinsten
Schritt ließen sie den Computer Zero mit reinem »reinforcement Zweige den Wert aller Positionen

wichtigen Entwicklung: die Programmierung von Syste- deren Lösung wir gegenwärtig Intuition für erforderlich
men, die Intuition realisieren und Muster erkennen. Schon halten, jämmerlich versagen.
Jahrzehnte haben sich Computerwissenschaftler ohne Überhaupt ist unser heutiges Verständnis von neurona-
große Fortschritte daran versucht. Nun eröffnet der Erfolg len Netzen in vieler Hinsicht noch sehr rudimentär. So
der neuronalen Netze eine Fülle neuer Anwendungsmög- gelang es Forschern um Christian Szegedy bei Google, ein
lichkeiten für Computer. neuronales Netz in die Irre zu führen, das eigentlich ex­
An dieser Stelle könnte man versucht sein, je nach trem gut in Bilderkennung war – indem sie Kleinigkeiten
Grundeinstellung den Anbruch eines goldenen Zeitalters unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze veränderten (Bild S. 24).
oder den Untergang des Abendlandes zu proklamieren. Außerdem benötigen bestehende Systeme nach wie
Es ist allgemein üblich, die Leistungen unseres Gehirns in vor häufig menschliche Lehrer. AlphaGo bezog seine
»logisches Denken« und »Intuition« einzuteilen. Im logi- »Grundausbildung« von 160000 menschengespielten
schen Denken sind uns die Computer schon lange voraus, Partien. Das ist sehr viel; Menschen benötigen weit weni-
und nachdem die neuronalen Netze jetzt auch die Intuition ger Beispiele zum Lernen. Netze zur Bilderkennung wer-
beherrschen, wäre es folglich bis zum endgültigen Sieg den normalerweise mit Millionen von Beispielbildern
der allgemeinen künstlichen Intelligenz nur noch ein paar trainiert, die mit Informationen über den Inhalt versehen
Jahre hin. sind. Zukünftige Systeme sollten mit weniger Lehrmaterial
Das wäre ein Fehlschluss. Unser Begriff von Intuition oder idealerweise ganz ohne Lehrer auskommen.
umfasst sehr verschiedene geistige Tätigkeiten. Dass Diese kritischen Bemerkungen sollen die Bedeutung
neuronale Netze einige von ihnen sehr gut nachbilden, von AlphaGo nicht schmälern. Einschränkungen hin oder
schließt nicht aus, dass sie bei anderen Aufgaben, für her – es ist gelungen, Netze zu entwickeln, die zumindest

26 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Das haben frühere Versionen von Für das Spiel Go selbst dürfte
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH DATEN AUS SUPPLEMENT ZU SILVER, D. ET AL.:
MASTERING THE GAME OF GO WITHOUT HUMAN KNOWLEDGE. IN: NATURE 550, S. 354-359, 2017

AlphaGo auch schon so gemacht. AlphaGo Zero einem Erdbeben


Aber AlphaGo Zero sucht nicht nur gleichkommen. Bis heute hat es die
einen Baum ab und macht daraufhin Spieleindustrie nicht geschafft, eine
einen Zug. Das verbesserte Pro- Go-Software von Weltklasse zu
gramm merkt sich das Ergebnis entwickeln. AlphaGo Zero kann dies
jeder Baumsuche – und schließlich wahrscheinlich ändern. Andrew
des ganzen Spiels. Mit dieser Infor- Jackson, der geschäftsführende
mation bessert es seine internen Vizepräsident der amerikanischen
Parameter nach: sowohl seine Go-Vereinigung (American Go Asso-
Einschätzung, was ein aussichtsrei- ciation), geht davon aus, dass in
cher Zug ist, als auch die geschätz- kurzer Zeit Go-Apps auf dem Markt
ten Gewinnwahrscheinlichkeiten für verfügbar sein werden. Das eröff-
jede Position. Dieser zusätzliche net für jedermann neue Möglichkei-
Schritt verschafft dem Programm ten zum Trainieren – und zum
Endstellung eines Go-Spiels AlphaGo sein enormes Lerntempo. Schummeln.
(Schwarz) gegen AlphaGo Zero (Weiß). Ist die Strategie von AlphaGo Was die Software betrifft, steht
Der letzte Zug des Gewinners Weiß ist Zero auch noch für etwas anderes die Tür zur Zukunft weit offen. Go
mit einem Kreis gekennzeichnet. brauchbar als für Go? Ja, und zwar ist äußerst komplex, und AlphaGo
nützt sie immer dann, wenn es verfügt nun über eine Lernmethode,
darum geht, unter einer ungeheuer die diese Komplexität bewältigen
bestimmt und dann den Zweig großen Zahl von Möglichkeiten eine kann. Niemand kann heute sagen,
wählt, der zu der Position mit dem optimale zu finden. In ihrer Veröf- zu welchen Leistungen ein selbst­
höchsten Wert führt. fentlichung in »Nature« nennen die lernendes Programm im Prinzip
Aber jedem Zweig des Baums bis Entwickler die Materialforschung – fähig ist.
zum Ende zu folgen, würde die man suche unter immens vielen
Kevin Hartnett ist Redakteur beim »Quanta
Rechenkapazität sämtlicher Compu- Kombinationen von Atomen nach Magazine« und betreut die Gebiete Mathe­-
ter überfordern. Stattdessen »be- derjenigen mit spezi­ellen geforder- matik und Computerwissenschaften.
schneidet« AlphaGo Zero den Baum, ten Eigenschaften – und die Protein-
indem es sich auf die aussichts- faltung, bei der man verstehen QUELLE
reichsten Zweige beschränkt. Wel- möchte, wie die dreidimensionale Silver, D. et al.: Mastering the Game of Go
che das sind, beurteilt es nach Struktur eines Eiweißmoleküls seine without Human Knowledge. In: Nature 550,
seinen Vorerfahrungen. Funktion bestimmt. S. 354–359, 19. Oktober 2017

einige Formen von menschlicher Intuition nachbilden. Nun


haben wir eine Menge aufregender Herausforderungen
vor uns: immer mehr Arten von »Intuition« nachzubilden,
die Systeme stabil zu machen, zu verstehen, wie und QUELLEN

warum sie funktionieren, und sie besser mit den Stärken Gatys, L. A. et al.: A Neural Algorithm of Artistic Style.
bestehender Computersysteme zu verknüpfen. Man stelle https://arxiv.org/pdf/1508.06576.pdf
sich nur vor, man könnte die Intuition, die beim Finden Silver, D. et al.: Mastering the Game of Go with Deep Neural Net­-
eines mathematischen Beweises oder beim Schreiben works and Tree Search. In: Nature 529, S. 484– 489, 28. Januar 2016
einer guten Erzählung zum Einsatz kommt, in den Para­
LITERATURTIPPS
metern eines neuronalen Netzes erfassen!
Mnih, V. et al.: Human-Level Control through Deep Reinforcement
Learning. In: Nature 518, S. 529–533, 26. Februar 2015
Über das Netz, das die 49 Atari-Spiele zu beherrschen lernte
Der Artikel von Michael Nielsen, der im Original im Frühjahr 2016
erschien, und der aktuelle Kasten von Kevin Hartnett entstammen Szegedy, C. et al.: Intriguing Properties of Neural Networks.
der redigierten Fassung zweier Artikel aus »Quantamagazine.org«, https://arxiv.org/abs/1312.6199, 2014
einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, Beschreibt, wie man ein neuronales Netz in die Irre führen kann
die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus der Mathe­
matik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat. WEBLINK

The Computer that Mastered Go. https://www.youtube.com/


watch?v=g-dKXOlsf98
Video zur Veröffentlichung von Silver, D. et al.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 27


FORSCHUNG AKTUELL
PHYSIK bislang weder geklärt, was der beste technologische
Ansatz dafür ist, noch können Forscher sagen, wie lange

QUANTENSIMULATOREN noch ein konkurrenzfähiges Exemplar auf sich warten


lassen wird. Künftige, digital arbeitende Quantencomputer
AUF DER ÜBERHOLSPUR sollen mit mehreren tausend Qubits laufen. Aktuell sind
jedoch die Hürden groß, bereits nur mehrere Dutzend
Leistungsfähige universelle Quantencomputer davon nahezu perfekt kontrolliert miteinander in Wechsel-
lassen noch auf sich warten. Bis dahin lösen ihre wirkung treten zu lassen.
hoch spezialisierten Verwandten gewisse physika­ Hier können nun analoge Quantensimulatoren Abhilfe
lische Probleme immer besser: die Quantensimu­ schaffen. Solche Geräte sind im Gegensatz zu einem
latoren. Sie sind bei einigen Aufgaben mittlerweile Quantencomputer nicht frei programmierbar und bilden
ähnlich gut wie klassische Supercomputer. jeweils nur einen bestimmten Typ von Problemen ab.
Dafür lassen sie sich einfacher konstruieren und kontrol­


Im Herzen der Materie ist überall die Quantenphysik lieren. Aktuelle Fortschritte bringen gleich bei mehreren
am Werk. Deren Gesetze sind zwar bekannt, aber die Arten von Quantensimulatoren die Lösung praktischer Pro-
Komplexität der schwierigen Gleichungen nimmt sehr bleme in Reichweite.
schnell mit der Anzahl der involvierten Teilchen zu. Die
Wechselwirkungen bei chemischen Reaktionen beispiels- Jedes System taugt nur für spezielle Fragestellungen –
weise lassen sich bloß für die einfachsten Moleküle noch ist dort aber sehr leistungsfähig
quantenmechanisch exakt berechnen. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von unterschied-
Bei größeren Objekten kommen nur Näherungsverfah- lichen Modellsystemen: Atome in optischen Gittern, auf-
ren in Frage, mit deren Hilfe Wissenschaftler die unge- gereihte Ionen in Ionenfallen oder Laserpulse, die durch
fähren Reaktionsschritte bestimmen. Selbst die leistungs- nichtlineare Kristalle flitzen und sich dabei auf­spalten.
stärksten Supercomputer kommen dabei schnell an ihre Jedes eignet sich dazu, gewisse Eigenschaften der Quan-
Grenzen, da die nötigen Rechenzeiten exponentiell mit tenwelt möglichst exakt zu bestimmen, doch keines lässt
der Größe des betrachteten Systems ansteigen. In Zu- sich beliebig verallgemeinern. »Durch diese Beschrän-
kunft könnten jedoch Quantencomputer helfen. Sie kung sind Quantensimulatoren in manchen Bereichen aber
arbeiten schon von ihrem Bauprinzip her quantenmecha- überraschend leistungsfähig«, sagt Christian Roos vom
nisch und können daher die notwendigen Kalkulationen Institut für Experimentalphysik an der Universität Inns-
sehr viel schneller abarbeiten als herkömmliche Compu- bruck. Der Quantenphysiker arbeitet dort an Quantensi­
ter. Davon dürften viele Industriezweige profitieren. Die mulatoren, die aus einer Kette von bis zu 20 Ionen beste-
chemische Industrie etwa setzt jedes Jahr riesige Men- hen. Das klingt noch nicht nach allzu viel. Aber auch
gen an Grundstoffen um. Gelänge es, auch nur einige mit nur ein bis zwei Dutzend Ionen lassen sich zum Bei-
wenige Reaktionsschritte dank neuer Quanten-Algorith- spiel magnetische Wechselwirkungen simulieren, die
men zu optimieren, wären die möglichen Einsparungen etwa bei der Entwicklung neuer Materialien eine Rolle
immens. spielen.
Eine große Schwierigkeit bei allen Quantenobjekten
liegt darin, den genauen Zustand des Gesamtsystems zu
Künftige Quantenrechner sollen mit bestimmen. Bei einem klassischen Computer reicht dafür
mehreren tausend Qubits laufen die Kenntnis der einzelnen Bits im Speicher. Quantensys­
teme hingegen bestehen darüber hinaus aus den Korrela­
tionen zwischen allen möglichen Teilchen.
Beim Quantenrechnen macht man sich die Verschrän- Roos und seine Kollegen in Innsbruck haben nun zu-
kung zwischen den verschiedenen Teilchen zu Nutze. sammen mit Physikern der Universität Ulm und der schot-
Wegen dieser quantentypischen Eigenschaft reicht nicht tischen University of Strathclyde ein neues Verfahren
mehr der Zustand der einzelnen Ionen oder Lichtteilchen entwickelt, mit dem sich der Quantenzustand der Ionen-
aus, um das Gesamtsystem zu beschreiben. Der ganze kette über eine Abfrage mit Laserpulsen sehr viel schneller
Komplex – im Fall eines Quantencomputers alle an einer als bislang auslesen lässt. Dieses neue Verfahren ermög­
Rechnung beteiligten »Qubits« – beinhaltet mehr Informa- licht es, die Quantenkorrelationen von 14 Ionen mit Hilfe
tionen als die Summe der isolierten Teilchen. Der Gesamt- von 27 Messungen in zehn Minuten abzufragen. Noch vor
zustand kann zudem noch verschiedene Rechenpfade einem Jahrzehnt waren bei nur 8 Ionen 6000 Messungen
gleichzeitig durchlaufen. Es ist genau dieser eigenartige, und zehn Stunden nötig. Mit dieser neuen »Matrix-Pro-
holistische Charakter von Quantensystemen, der ihr Ver- dukt-Zustands-Tomografie« können die Forscher ihr Quan-
ständnis so schwierig macht und gleichzeitig für ihre tensystem also rasch und gut charakterisieren. »Wir
potenzielle Rechenleistung so wichtig ist. wollen ja möglichst genau wissen, ob der Quantensimula-
Der Weg zum Quantencomputer ist allerdings steinig tor auch das macht, was wir von ihm erwarten«, kommen-
und mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden. So ist tiert Roos.

28 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

Die Methode ist darüber hinaus im Prinzip nicht auf Ket-


ten von Ionen beschränkt – die Mathematik dahinter lässt
Mit Licht gefangen sich auf beliebige Quantensysteme anwenden. Die Physi-
ker wollen die Algorithmen deshalb so weiterentwickeln,
Ein Quantengas-Mikroskop hält Atome in einem dass auch andere Forschergruppen sie einsetzen können.
zweidimensionalen optischen Gitter fest. Dazu Dann ließen sich verschiedene Vielteilchensysteme mitei-
erzeugen die Forscher unter anderem mit speziell nander vergleichen.
angeordneten Lichtstrahlen (blau) ein Potenzial, in Wissenschaftler unter anderem am Max-Planck-Institut
das die Atome aus einem umliegenden Reservoir für Quantenoptik (MPQ) in Garching arbeiten mit einer
gewissermaßen hineinfallen (Diagramm unten). anderen Art von Quantensimulatoren. Ihnen ist es gelun-
Die Physiker beobachten mit Hilfe von Licht einer gen, extrem tief gekühlte Atome in einem Lichtgitter aus
anderen Wellenlänge (rot), wie sich bestimmte gekreuzten Laserstrahlen festzuhalten und dann das
Eigenschaften des Systems verändern – etwa
seine magnetische Ordnung bei verschiedenen
Temperaturen und Atomdichten. So können sie Bald könnten Quantensimulatoren
beispielsweise das quantenmechanische Verhal-
ten von Supraleitern simulieren.
die Supercomputer abgehängt haben
Verhalten dieser Atomwolke zu studieren. Damit die
Atome in dem speziellen optischen Gitter ausreichend still
sitzen, mussten die Forscher sie aufwändig auf wenige
Anordnung
von Spiegeln milliardstel Grad über dem absoluten Nullpunkt herunter-
kühlen. Dann liegen die Atome in den Potenzialmulden des
Potenzial Lichtgitters wie zufällig verteilte Eier in einem Eierkarton
erzeugendes (siehe »Mit Licht gefangen«, links). »Auf diese Weise
Licht (650 können wir bis hin zu einigen hundert Atomen über dem
Nanometer)
Mikroskop festhalten und dann deren gegenseitige Wech-
selwirkung beobachten«, erläutert der Physiker Christian
abbildendes Groß vom MPQ.
Licht
Das sind deutlich mehr Quantenteilchen, als man sie
(671 Nanometer)
etwa in Ionenfallen kontrolliert aufreihen kann. Dafür ist
die Kontrolle der Atome in den so genannten Quantengas-
Mikroskopen deutlich schwieriger. So können die Wissen-
schaftler zwar einzelne Atome aus dem optischen Gitter
herausschießen, aber die wechselseitigen Korrelationen
lassen sich nur sehr bedingt einstellen. Vielmehr überlas-
sen sie das System sich selbst.

Probe Reservoir
Während die Rechenzeit am Computer exponentiell
steigt, bleibt das Laborexperiment überschaubar
Zur Ermittlung des Endzustands müssen die Wissenschaft-
MAZURENKO, A. ET AL.: A COLD-ATOM FERMI–HUBBARD ANTIFERROMAGNET. IN: NATURE 545, S. 462-466, 2017, FIG. 1B

ler die Anordnung jedoch mit Licht bestrahlen, und dieser


Lichtblitz erhitzt die Atome bereits so stark, dass sie aus
dem optischen Gitter herauspurzeln. Eine Messung been-
det also jeweils den Versuch. Dann muss das Quantengas-
Mikroskop wieder neu mit Atomen beladen und herunter-
gekühlt werden. Inzwischen können die Forscher rund
eine Simulation pro Minute durchführen.
Damit lassen sich bereits eine Reihe interessanter
Reservoir Reservoir Quantensysteme studieren. Besonders fasziniert die Physi-
von Atomen Probe von Atomen ker derzeit ein theoretisches Modell zu Hochtemperatur-
Supraleitern, das der Brite John Hubbard 1963 eingeführt
Potenzial

hat. Es beschreibt die Phasenübergänge in solchen Fest-


körpern. Mit Quantensimulatoren lassen sich hier Eigen-
Position
schaften bestimmen, die sich Berechnungen bislang
entziehen. »Mit unseren Quantengas-Experimenten liegen
wir mittlerweile ungefähr gleichauf mit dem, was Super-

Spektrum der Wissenschaft  1.18 29


FORSCHUNG AKTUELL
computer heute leisten können«, erklärt Groß. Schon in
wenigen Jahren, so die Forscher, werden Quantensimula- IMMUNTHERAPIE
toren die Supercomputer deutlich hinter sich gelassen
haben. Denn während bei Letzteren die Rechenzeit expo- KREBSIMPFSTOFFE
nentiell ansteigt, wachsen die Simulatoren im Prinzip
stückweise und linear.
NACH MASS
Dennoch wird das Rennen um die besten Algorithmen Impfstoffe, die für jeden Patienten individuell
und die geschickteste Rechenstrategie weiterhin span- zugeschnitten werden, können das Immunsystem
nend bleiben. Dank neuer mathematischer Näherungsme- gezielt gegen Tumorzellen aktivieren. Klinische
thoden von Quantenchemikern lassen sich die Reaktions- Studien zeigen nun, dass sich mit diesem Ansatz
potenziale komplexer Moleküle auf herkömmlichen Super- erfolgreich Hautkrebs behandeln lässt.
computern ziemlich gut beschreiben. So große Objekte


galten vielen Wissenschaftlern noch vor einigen Jahren als Das Immunsystem kann nicht nur körperfremde
kaum berechenbar. Pathogene wie Viren und Bakterien unschädlich ma-
Der Trick bei den verbesserten Verfahren besteht in chen, sondern auch körpereigene, krankhaft verän-
einer geschickt gewählten Näherung für die Umgebung derte Zellen erkennen und zerstören. Dies geschieht in
der für die Reaktion wichtigen Bereiche. Das spart Re- unserem Organismus ständig und wirkt der Krebsentste-
chenzeit. Auf diese Weise lassen sich zum Beispiel bei der hung sehr effektiv entgegen. Manchmal jedoch versagt
Entwicklung neuer Arzneimittel die gewünschten Mole- der Mechanismus, da entartete Zellen zahlreiche Strate-
küle besser verstehen und etwa die chemischen Gruppen, gien entwickeln, um der Immunantwort zu entgehen.
die an ein bestimmtes Zellprotein binden, maßgeschnei- Immuntherapien zielen deshalb darauf ab, das Abwehrsys­
dert herstellen. tem bei der Beseitigung von Krebszellen zu unterstützen.
Hierzu gibt es zwei Ansätze: Die passive Immunisierung,
Die Zukunft gehört der Allianz von bei der Mediziner entweder Antikörper oder Immunzellen
Supercomputern und Quantensystemen quasi als Hilfsstoffe verabreichen, um die Körperabwehr
Diese Methoden funktionieren aber auch nur mit einer auf den Tumor zu lenken – und die aktive Immunisierung,
gewissen Genauigkeit, die sich durch Quantencomputer die das Immunsystem per Impfung auf Krebszellen auf-
oder passende Quantensimulatoren steigern lassen sollte. merksam macht.
In Zukunft könnten für solche Zwecke deshalb Hybrid­ Krebsimpfungen sollen das Immunsystem dazu ertüchti-
ansätze bedeutsam werden, bei denen ein gewöhnlicher gen, feine Unterschiede zwischen gesunden und entarteten
Supercomputer die chemische Umgebung berechnet und Zellen zu erkennen und letztere selektiv zu attackieren.
ein Quantensystem die zentralen Reaktionsschritte be- Viele bisher getestete Impfungen basierten auf Selbstanti-
stimmt. genen – Proteinen, die von Krebszellen in hoher Menge
Von den Materialwissenschaften bis hin zur Pharmazie produziert werden, die aber schwächer ausgeprägt auch in
können viele Forschungszweige von den neuen Entwick- normalen Zellen vorkommen. Der Organismus verhindert
lungen profitieren. Wohl unter anderem wegen solcher normalerweise zum eigenen Schutz, dass seine Abwehr
Überlegungen hat die Europäische Union ihr neues auf Selbstantigene reagiert, indem er Immunzellen gezielt
»Flaggschiff«-Projekt der Quantentechnologie gewidmet. ausschaltet, die körpereigene Strukturen attackieren. Das
Nach den Initiativen zum menschlichen Gehirn (»Human kann die Wirksamkeit entsprechender Krebsimpfungen
Brain Project«) und zu Graphen soll das dritte Flaggschiff entscheidend schwächen. Diese unerwünschte Immuntole-
ab 2018 die Quantenkompetenz der europäischen Institute ranz lässt sich vermeiden, indem man die Körperabwehr
und Industrie stärken. Hierzu gibt es insgesamt eine nur für solche Antigene sensibilisiert, die ausschließlich in
Milliarde Euro an Fördergeldern, die über einen Zeitraum Krebszellen vorkommen. Bei ihnen handelt es sich um
von zehn Jahren ausgeschüttet werden. Quantencomputer Produkte von Mutationen, die erst im Zuge der Krebsent-
und -simulatoren werden dort mit Sicherheit eine wichtige wicklung auftreten und in normalen Zellen nicht zu finden
Rolle spielen. sind. Diese für den Körper neuen Antigene, die »Neoanti-
gene«, stuft das Immunsystem als körperfremd ein.
Dirk Eidemüller ist Physiker, Wissenschaftsjournalist
Jetzt haben zwei Forschergruppen unabhängig vonei-
und Buchautor.
nander aktive Krebsimpfungen getestet, die auf solchen
Neoantigenen basieren. Die klinischen Phase-I-Versuche
QUELLEN
verliefen Erfolg versprechend. Neu an ihnen war vor allem
Groß, C., Bloch, I.: Quantum Simulations with Ultracold Atoms in die Methodik, die erst durch jüngste technische Entwick-
Optical Lattices. In: Science 357, S. 995–1001, 2017 lungen möglich wurde. Die beiden Teams um Catherine
Lanyon, B. P. et al.: Efficient Tomography of a Quantum Many-Body Wu von der Harvard Medical School in Boston sowie um
System. In: Nature Physics 10.1038/nphys4244, 2017 Uğur Şahin von der Johannes-Gutenberg-Universität in
Mazurenko, A. et al.: A Cold-Atom Fermi-Hubbard Antiferromagnet. Mainz testeten ihre Impfungen an Patienten, die von fort-
In: Nature 545, S. 462–466, 2017 geschrittenem Hautkrebs (Melanom) betroffen waren. Die

30 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Mediziner entfernten die Tumoren zunächst chirurgisch, als Bauanleitung für Proteine. Zudem eignet sich nicht
um die Patienten vom Krebs zu befreien. Unter diesen jedes mutierte Protein als Antigen. Deshalb griffen die
Voraussetzungen bestand für die Patienten zwar ein Wissenschaftler auf eine hoch entwickelte Software
relativ hohes Rückfallrisiko, der Krebs war aber zugleich zurück, die relativ verlässlich vorhersagen kann, wie gut das
so weit zurückgedrängt, dass Zeit für eine experimentelle Immunsystem ein potenzielles Antigen erkennt.
Behandlung blieb und die Patienten zunächst auch keine Basierend auf den besten Neoantigen-Kandidaten, die
Chemotherapie benötigten, die das Immun­system beein- bei dieser Suche zu Tage kamen, stellten die Forscher
trächtigen kann. Impfstoffe her, die individuell auf jeden einzelnen Studien-
teilnehmer abgestimmt waren. Jeder Mensch, der an Krebs
Nicht jedes mutierte Protein erkrankt ist, trägt einen einzigartigen Satz von Mutationen;
eignet sich als Angriffsziel sogar innerhalb eines einzigen Tumors können sich die
Aus dem entnommenen Tumorgewebe isolierten die Zellen darin sehr stark unterscheiden. Um einen Tumor
Forscher zelluläre DNA und verglichen sie mit DNA aus vollständig zu vernichten, sollte eine Immuntherapie daher
gesundem Gewebe derselben Patienten. Auf diese Weise ein sehr großes Sortiment an Immunzellen aktivieren, die
ermittelten sie, wo sich das proteinkodierende Genom der gemeinsam möglichst viele Ziele auf den Krebszellen
Krebs- von jenem der normalen Zellen unterschied. Neues- angreifen. Aus diesem Grund impften die Forscher ihre
te Entwicklungen im Bereich der DNA-Sequenzierungsme- Patienten jeweils nicht nur gegen eines, sondern gegen 10
thoden, die den Prozess schneller und genauer machen als bis 20 verschiedene Neoantigene.
je zuvor, erleichterten dieses systematische Suchen nach Die Gruppen um Wu und Şahin verfolgten dabei ver-
krebsspezifischen Mutationen und ermöglichten es den schiedene Ansätze hinsichtlich der Art des Impfstoffs.
Forschern, viele potenzielle Neoantigene zu finden. Wus Team impfte sechs Teilnehmer jeweils siebenmal mit
Da nicht jedes mutierte Gen in einer Krebszelle zwangs- langen Peptidketten, die Abschnitte der Tumorantigene
läufig ein verändertes Protein hervorbringt, testeten die enthielten. Diese kann der Organismus den Zellen des
Forscher, welche der identifizierten Mutationen auch als Immunsystems direkt präsentieren, um eine Gegenreak­
RNA-Kopien vorlagen – denn erst diese dienen der Zelle tion auszulösen. Şahin und seine Kollegen hingegen

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FORSCHUNG AKTUELL
setzten auf einen RNA-basierten Impfstoff. Der enthält Kombinationstherapien mit Krebsimpfstoffen und
RNA-Moleküle mit Neoantigen-Sequenzen, aus denen die Check­point-Inhibitoren sind laut Catherine Wu besonders
Zellen die mutierten Proteine erst herstellen müssen. vielversprechend. Die neoantigenbasierte Impfung sensi­
Damit behandelten die Forscher insgesamt 13 Patienten, bilisiere die Körperabwehr zunächst gegen den Krebs, der
jeden von ihnen mindestens achtmal. Inhibitor verstärke anschließend die Immunantwort, indem
Anhand von Blutproben der Teilnehmer bestimmten bei- er die Immunevasion verhindere.
de Teams die Aktivität der Immunzellen vor und nach der Wie es den Patienten ohne Impfung ergangen wäre,
Impfung. Im Labor testeten sie, ob die Abwehrzellen auf lässt sich allerdings nicht sagen. »Es ging vor allem um die
die jeweils ausgewählten Antigene reagierten – erkennbar neue Methodik. Für die Behandlung der Patienten sind die
an der Ausschüttung von immunstimulierenden Proteinen. Ergebnisse zwar viel versprechend, aber es wäre nun eine
Es zeigte sich, dass die Impfungen bei sämtlichen Pati- größere Studie nötig, um mehr über den Nutzen der
enten T-Lymphozyten aktiviert hatten, die gegen die jewei- Impfung sagen zu können«, betont Jochen Utikal vom
ligen Neoantigene vorgingen, und zwar sehr spezifisch: Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, der an
Auf nichtmutierte Proteine, wie sie in gesunden Zellen einer der beiden Studien beteiligt war.
vorkommen, reagierten die Immunzellen kaum. Tumoren können gegen eine Impfung resistent werden,
Weiterhin demonstrierten die Wissenschaftler, dass die indem sie aufhören, bestimmte Antigene zu produzieren.
Krebszellen die entsprechenden Neoantigene auf ihrer Vakzinierungen gegen eine breite Palette von Neoantige-
Oberfläche auch präsentieren, so dass sie von der Körper­ nen sollten das zwar verhindern. Doch Şahin und seine
abwehr überhaupt entdeckt werden können. Brachten die Kollegen haben entdeckt, dass Krebszellen der Impfung
Forscher aktivierte T-Lymphozyten aus dem Blut der ge- auch auf anderem Weg entkommen können: Die Tumoren
impften Teilnehmer mit Krebszellen aus dem entnomme- eines Patienten verloren mit der Zeit ein Protein, das Neo-
nen Tumorgewebe zusammen, ließ sich in vielen Fällen be- antigene an die Zelloberfläche befördert. Das macht die
obachten, dass die Ersteren die Letzteren attackierten. Krebszellen gegenüber der Körperabwehr quasi unsichtbar.
Gesunde Körperzellen dagegen blieben von dem Immun- Hautkrebs wird oft von einem bekannten Mutagen
angriff verschont. Das zeigt, dass die Impfung funktioniert ausgelöst: UV-Licht. Er geht häufig mit besonders vielen
und keine ernsten Nebenwirkungen auslöst. Mutationen einher. Das prädestiniert ihn für Untersu-
chungen wie diese – denn je mehr Mutationen ein Tumor
Die Kombination von Krebsimpfstoff und Immun- trägt, desto größer ist auch die Auswahl potenzieller
Checkpoint-Inhibitor wirkt besonders effektiv Neoantigene, die er produziert, und desto zugänglicher ist
Die klinischen Befunde bestätigen das Resultat. Bei vier er gegenüber Immuntherapien. Die Forscher sind trotzdem
der sechs Patienten, die an Wus Studie teilnahmen, kehrte zuversichtlich, dass ihre Impfmethode auch gegen Krebs-
der Krebs bis zum Ende der Studie (über einen Zeitraum arten mit geringerer Mutationslast helfen könnte. »Wir
von mehr als zwei Jahren hinweg) nicht zurück. Bei den testen den Ansatz zurzeit am Neuroblastom, einem Tumor
übrigen beiden breitete sich die Krankheit zunächst wieder mit niedrigerer Mutationsrate. Die ersten Ergebnisse
aus, konnte aber mit einer zusätzlichen Immuntherapie, zeigen, dass (eine erfolgreiche Behandlung) zwar schwie-
der Behandlung mit dem Immun-Checkpoint-Inhibitor riger, aber durchaus möglich ist«, sagt Catherine Wu.
Pembrolizumab (siehe Spektrum August 2014, S. 30), Impfmethoden wie die geschilderten sind relativ auf-
schließlich endgültig verdrängt werden. Immun-Check- wändig, da sie erfordern, für jeden Krebspatienten einen
points sind Rezeptoren auf T-Zellen, die zur Regulation der individuellen Impfstoff herzustellen. Dennoch glauben die
Immunantwort dienen, indem sie diese entweder verstär- Forscher um Wu und Şahin, dass sich ihre Ansätze künftig
ken oder schwächen. Krebszellen »missbrauchen« die in großem Maßstab praktizieren lassen. Inzwischen haben
Checkpoints oft, um das Abwehrsystem zu dämpfen – ein sich bereits mehrere Biotech-Firmen darauf spezialisiert,
Mechanismus namens Immunevasion. Immun-Check- die Herstellung personalisierter Krebsimpfstoffe zu opti-
point-Inhibitoren wie Pembrolizumab wirken dem entge- mieren und für den klinischen Einsatz zu beschleunigen.
gen, indem sie an immunschwächende Rezeptoren bin-
Lisa Vincenz-Donnelly ist promovierte Biochemikerin und arbeitet
den, diese ausschalten und so die Dämpfung der Körper­
im Kommunikationsteam der Lindauer Nobelpreisträgertagungen
abwehr verhindern. sowie als Wissenschaftsjournalistin.
Von den 13 geimpften Patienten aus Şahins Studie
blieben acht über den gesamten Studienzeitraum von bis QUELLEN
zu zwei Jahren krebsfrei. Die anderen fünf erlitten Rückfäl- Carreno, B.  M. et al.: A Dendritic Cell Vaccine Increases the Breadth
le. Wie die Forscher herausfanden, waren die neu auftre- and Diversity of Melanoma Neoantigen-Specific T Cells. In: Science
tenden Tumoren aber von aktiven T-Lymphozyten infiltriert, 348, S. 803–808, 2015
auch wenn diese den Krebs nicht beseitigt hatten. Das Ott, P.  A. et al.: An Immunogenic Personal Neoantigen Vaccine for
Immunsystem schien also zumindest teilweise gegen die Patients with Melanoma. In: Nature 547, S. 217–221, 2017
Krankheit vorzugehen. Einer der fünf Patienten ließ sich Şahin, U. et al.: Personalized RNA Mutanome Vaccines Mobilize
ebenfalls erfolgreich mit einem Immun-Checkpoint-Inhibi- Poly-Specific Therapeutic Immunity against Cancer. In: Nature 547,
tor behandeln. S. 222–226, 2017

32 Spektrum der Wissenschaft  1.18


GEOLOGIE Metern waren diese zwar nicht besonders groß; auf Grund
ihrer schieren Anzahl mussten hier jedoch gewaltige

EXPLOSIVE SEDIMENTE Mengen Sediment bewegt worden sein – Berechnungen


der Wissenschaftler zufolge etwa zwölf Millionen Tonnen.
Die Unterwasserlandschaft zahlreicher Küstenge­ Wie aber konnte sich die Topografie des Meeresbodens
biete zeigt oft tausende Krater von mitunter binnen weniger Monate derart verändern? Ein Blick in
­beachtlicher Größe. Ein solches »Pockennarben­ die Vergangenheit liefert die Lösung. Nach Ende der
feld« haben deutsche Forscher nun in der letzten Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren trafen die Flüsse
Nordsee entdeckt. Elbe und Eider im heutigen Pockmarkgebiet zusammen.
Der ansteigende Meeresspiegel drängte die Flussmün-


Als Geologen an Bord des Forschungsschiffs Heincke dungen zurück und das einstige Feuchtgebiet hinterließ
Ende November 2015 den Meeresboden in der Deut- Sedimente, die reich an abgestorbenen Pflanzen sind.
schen Bucht 45 Kilometer nordwestlich vor Helgoland Noch Tausende von Jahren später zersetzen Mikroorganis-
untersucht haben, erlebten sie eine Überraschung: Wo men dieses organische Material und bilden dabei Methan,
hydroakustische Messungen nur vier Monate zuvor eine das im Sand akkumuliert. Die Forscher um Knut Krämer
Sandebene gezeigt hatten, war der Grund jetzt regelrecht vermuten, dass eine Reihe von Stürmen im Herbst 2015
perforiert und von Kratern übersät. Knut Krämer, Dokto- das Gas schlag­artig freisetzte. Bis zu 14 Meter hohe Wel-
rand am MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissen- len führten demnach zu einer Druckentlastung am Mee-
schaften in Bremen – und seine Kollegen waren auf ein resgrund und lösten unzählige Gaseruptionen aus – zurück
Feld so genannter Pockmarks (zu Deutsch: Pockennarben) blieb die Kraterlandschaft. Schätzungsweise 5000 Tonnen
gestoßen, das sich über knapp 1000 Quadratkilometer Methan gelangten so in die Wassersäule und in die Atmo-
erstreckte. Allein in einem 34 Quadratkilometer großen, sphäre. Zum Vergleich: Der übliche jährliche Methanaus-
hochauflösend kartierten Abschnitt zählten die Forscher stoß der gesamten Nordsee wird auf 7500 Tonnen bezif-
15 000 Krater. Das gesamte Pockmarkfeld enthielt vermut- fert. Aktuell ist das Pockmarkfeld inaktiv und allmählich
lich über 400 000 sandige Depressionen. Mit einer Tiefe werden Strömungen und Wellen den Sandboden wieder
von 20 Zentimetern und einem Durchmesser von 10 bis 20 einebnen. Doch sobald sich eine kritische Menge Gas im

Nordseekrater
Methanausbrüche im
Herbst 2015 haben den
sonst ebenen Meeres-
boden am Helgoland-
Riff in eine Kraterland-
schaft verwandelt.
Schätzungsweise mehr
als 400 000 so genann-
ter Pockmarks mit
einem Durchmesser
von zirka 10 bis 20
Metern entstanden
durch Gaseruptionen
(oben). Unterwasser-
aufnahmen zeigen,
MARUM - ZENTRUM FÜR MARINE UMWELTWISSENSCHAFTEN

dass sich in den Vertie-


fungen grobes Material
abgelagert hat, wie
zum Beispiel Muschel-
reste (links unten). Die
Kraterränder hingegen
bestehen aus feinem
Sand (rechts unten).

Spektrum der Wissenschaft  1.18 33


FORSCHUNG AKTUELL
Sediment angesammelt hat, könnte der nächste Sturm zu piren) aus der Kreidezeit zusammen, welche mehrere
erneuten Ausbrüchen führen. hundert Meter unter der Sedimentoberfläche liegen,
Die Entdeckung der Bremer Geowissenschaftler vor stellenweise aber bis ins Meer hineinragen. Ober- und
Helgoland ist vermutlich kein Einzelfall, sondern ein global unterhalb der Formationen lagern große Mengen fossiler
verbreitetes Phänomen. Viele Küstenregionen, die während Kohlenwasserstoffe. Laut der Studie könnten Bewegungen
der letzten Eiszeit oberhalb des Meeresspiegels lagen, des Salzes Risse im Meeresboden verursacht haben,
weisen Sedimente mit einem hohen Gehalt an Pflanzen­ entlang derer gasförmige Verbindungen aufstiegen und
material auf und bieten damit ähnliche Voraussetzungen, sich explosionsartig in die Wassersäule entluden. Derzeit
Methan anzureichern. Nie zuvor haben Forscher beobach- tritt in der Gegend kein Gas aus. Muscheln und Röhren-
tet, dass in kürzester Zeit derart viele Pockmarks auftreten. würmer mit symbiontischen Bakterien, die sich unter
Die flachen Krater wurden bisher wohl oft schlicht über­ anderem von Methan ernähren, legen jedoch Gasausbrü-
sehen, so die Autoren der Studie. Nur durch verbesserte che in jüngster Vergangenheit nahe. Die ersten Eruptionen
hydroakustische Methoden konnten sie die unscheinbaren gab es vermutlich bereits vor zirka fünf Millionen Jahren:
Vertiefungen im Meeresboden überhaupt vermessen. Auf dieses Alter datierten die Wissenschaftler pockmark­
1970 beschrieben die Wissenschaftler Lewis King und ähnliche Strukturen in tiefen Sedimentschichten, die sich
Brian McLean erstmals Pockmarks auf dem schottischen dem späten Miozän und frühen Pliozän zuordnen lassen.
Schelf. Bereits damals vermuteten sie Gasaustritte als Sandkrater gibt es nicht nur am Meeresgrund, sondern
Ursache für die Sandformationen. Inzwischen sind Pock- auch in Binnengewässern, etwa im sibirischen Baikalsee
marks in küstennahen Gebieten und in der Tiefsee sowie oder im Konstanzer See. Zwei aktive Pockmarks im Neu-
in Seen bekannt. Die Morphologie der Krater zeigt dabei enburgersee in der Schweiz haben MARUM-Doktorand
eine beachtliche Vielfalt. So reichen ihre Durchmesser von Markus Loher und seine Kollegen unter die Lupe genom-
wenigen Metern bis hin zu mehreren hundert Metern. men. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass die Krater
Auch die Auslösemechanismen sind höchst unterschied- über Jahrtausende gewissermaßen pulsierten und so bis
lich: Erdbeben, Gezeiten oder Sturmwellen wie im Fall der heute ihre Form bewahren. Allerdings verursachen hier
Deutschen Bucht können Gase plötzlich entweichen nicht Gasansammlungen die Sandaufwürfe. Stattdessen
lassen. Zudem tragen möglicherweise klimatische Verän- weisen frühere Isotopenmessungen auf am Seeboden
derungen zur Entstehung von Pockmarks bei. austretendes Süßwasser hin. Nach hydroakustischen
Untersuchungen und Sedimentanalysen vermuten die
Methaneis, Erdgas und Grundwasser bringen weltweit Forscher um Markus Loher nun: In Phasen geringer Aktivi-
Sandböden zum Kochen tät spült ausströmendes Wasser Sand in die Vertiefungen.
Norwegische Forscher berichteten unlängst, dass eine Nimmt die Austrittsmenge zu, steigt der Druck im Sedi-
imposante untermeerische Kraterlandschaft in der Nord- ment, so dass dieses regelrecht überkocht und der lockere
see auf Höhe der Stadt Bergen womöglich das Ergebnis Sand hinausgeschleudert wird. Ursachen hierfür könnten
einer früheren Erderwärmung ist. In der so genannten Schneeschmelzen, Starkregen oder Erdbeben sein.
Troll-Region erstreckt sich über geschätzte 15 000 Quadrat- Moderne, hochauflösende Kartierungstechnologien,
kilometer – etwa die Fläche Schleswig-Holsteins – eines denen selbst kleinste Unebenheiten des Bodens nicht
der weltweit größten Pockmarkfelder. Die Krater liegen entgehen, werden in naher Zukunft wohl noch weitere
hier deutlich weiter verstreut als vor Helgoland, sind mit Pockmarkfelder zu Tage fördern. Dann werden Wissen-
10 bis 100 Meter Durchmesser und durchschnittlich sechs schaftler auch die Bedeutung der Unterwasserkrater, etwa
Meter Tiefe aber weitaus mächtiger. Geochemische Daten ihren Beitrag zu den globalen Methanemissionen, besser
und Modellanalysen der Wissenschaftler deuten an, dass abschätzen können.
die Pockmarks durch den Zerfall von Methanhydraten
Tim Haarmann ist Geograf und Wissenschaftsjournalist in Bonn.
(Methaneis) zu Beginn des Holozän, einer bis heute anhal-
tenden Warmzeit, entstanden sind. Damals heizte sich das QUELLEN
Bodenwasser in der Troll-Region um zirka fünf Grad Cel­
Krämer, K. et al.: Abrupt Emergence of a Large Pockmark Field in
sius auf und die Gashydrate im Sediment wurden instabil.
the German Bight, Southeastern North Sea. In: Scientific Reports 7,
Demnach bezeugen die Krater vor Norwegen Eruptionen, 5150, 2017
die Jahrtausende zurückliegen.
Loher, M. et al.: Long-Term Pockmark Maintenance by Fluid
Erheblich ältere Pockmarks hat kürzlich ein brasilia-
Seepage and Subsurface Sediment Mobilization – Sedimentological
nisch-israelisches Team von Geologen untersucht. Die bis Investigations in Lake Neuchâtel. In: Sedimentology 63, S. 1168–
zu 230 Meter breiten und 100 Meter tiefen Krater wurden 1186, 2016
erst im Jahr 2002 im Santos-Becken vor der Küste des De Mahiques, M. M. et al.: An Extensive Pockmark Field on the
brasilianischen Bundesstaates São Paulo entdeckt. Um Upper Atlantic Margin of Southeast Brazil: Spatial Anaylsis and its
ihre Entstehung zu entschlüsseln, nahmen die Forscher Relationship with Salt Diapirism. In: Helyion 3, e00257, 2017
seismische Messungen entlang einer Strecke von 2800 Mazzini, A. et al.: A Climatic Trigger for the Giant Troll Pockmark
Kilometern vor und erfassten dabei knapp 1000 Pock- Field in the Northern North Sea. In: Earth and Planetary Science
marks. Diese hängen offenbar mit Salzstöcken (Salzdia­ Letters 464, S. 24–34, 2017

34 Spektrum der Wissenschaft  1.18


SPRINGERS EINWÜRFE
QUANTENSCHEIN UND
QUANTENWAHRHEIT
Meldungen häufen sich, dass funktionierende Quanten-
computer vor der Tür stehen. Ist der Hype begründet?

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist.


Kürzlich ist eine Sammlung seiner Einwürfe unter dem Titel
»Unendliche Neugier. Was die Wissenschaft treibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1520777

D
emnächst sollen Geräte auf den Markt kommen, Physiker Aram W. Harrow vom Massachusetts Institute
die exotische Phänomene wie Quantenver- of Technology und der Mathematiker Ashley Monta­
schränkung und -superposition nutzen, um nie naro von der University of Bristol (Nature 549, S. 203–
dagewesene Rechenkunststücke auszuführen. 209, 2017).
Wenn man wiederkehrenden Meldungen im Wirt- Ein Quantencomputer ist nur dann wirklich über­
schaftsteil seriöser Tageszeitungen Glauben schenkt, legen, wenn ihn kein noch so raffinierter klassischer
ist das nur noch eine Frage von Monaten. Rechner zu simulieren vermag. Dafür gibt es aber
Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert derzeit keinen eindeutigen Beweis. Es ist ungeheuer
sich. Soweit bekannt, befinden sich solche Apparate schwierig, klar definierte Aufgaben zu finden, die ein
nach wie vor im Laborstadium und leisten viel weniger Quantencomputer besser bewältigt – mit einer Ausnah-
als ein Taschenrechner. Dennoch verkaufen Google me: die Primzahlzerlegung großer Zahlen nach dem so
und IBM bereits Rechenzeit auf angeblichen Quanten­ genannten Shor-Algorithmus. Darin ist ein Quanten-
computern, über deren Funktionsweise, da Firmen­ computer zwar unschlagbar, aber nur theoretisch; in
eigentum, naturgemäß kaum etwas bekannt ist (siehe der Praxis hängt die Effizienz von der Anzahl der ver-
»Zukunftstechnik sucht spendable Kunden«, Spektrum fügbaren Quantenbits ab, und die liegt derzeit bei unter
Mai 2017, S. 31). 50. Die damit zerlegbaren Zahlen sind so klein, dass
Die in Kanada ansässige Firma D-Wave bietet schon man die Faktoren sogar ohne Taschenrechner findet.
seit einigen Jahren eine Maschine an, die auf dem

B
Prinzip des so genannten adiabatischen Quantencom- ei allen bisher als Quantencomputer ausgegebe­
puters beruhen soll. Das Prinzip ähnelt dem Auskristal- nen Geräten liegt der Verdacht nahe, dass sie –
lisieren einer Schmelze bei langsamer Abkühlung. Hier sofern nicht eh hoffnungslos unterlegen – klassi­
entspricht der Schmelze ein System von Quantenbits, sche Simulatoren sind. Harrow und Montanaro
das sich quasi zur Lösung des gestellten Problems vermuten, dass es bei optimistischer Schätzung meh-
umorganisiert. Allerdings argwöhnen Experten, dass rere Jahre dauern wird, bis ein überzeugendes Nach-
D-Wave ein zwar interessantes, aber rein klassisch weisverfahren für die Quantum Supremacy vorliegt.
funktionierendes Rechengerät offeriert. Immerhin hat Das heißt, in nächster Zeit werden entweder bloß Simu-
ein Team um den Physiker Alex Mott vom California latoren auf den Markt kommen oder Quantencomputer,
Institute of Technology in Pasadena im Oktober 2017 von denen niemand sagen kann, ob sie mehr leisten
demonstriert, wie man mit Hilfe einer D-Wave-Maschi- als herkömmliche Rechner.
ne nachträglich aus den vom Beschleuniger LHC Trotzdem lohnt sich die Jagd nach der Rechen­
gesammelten Daten die Spur des Higgs-Teilchens herrschaft der Quanten. Sie führt zur Entwicklung neu-
filtern kann (Nature 550, S. 375–379, 2017). er Algorithmen, regt mathematische Entdeckungen
Zweifellos ist da irgendetwas im Busch – fragt sich an, befruchtet die Experimentalphysik – und vielleicht
nur, wie man herausfindet, ob und wann ein real exis- sogar die Raumfahrt. Ist der passende Ort für künf-
tierender Quantencomputer tatsächlich mehr leistet als tige große Quantencomputer nicht der erdnahe Welt-
jede klassische Rechenmaschine. Wie lässt sich die raum? Dort herrscht kosmische Kälte und Schwere­
»Quantum Supremacy« nachweisen, die Überlegenheit losigkeit, und die Störung, die den empfindlichen Quan-
eines auf Verschränkung und Superposition beruhen- tenbits von der kosmischen Strahlung droht, ist ein
den Rechners? Das ist gar nicht so einfach, finden der Klacks gegen das Teilchenchaos eines irdischen Labors.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 35


PALÄONTOLOGIE
BUNTE
DINOSAURIER
Lange hielt man es für unmöglich – doch teil-
weise haben sich fossile Pigmente verschie-
denster Organismen erhalten. Mit ausgeklügel-
ten Analysen lassen sich jetzt Farbmuster
ausgestorbener Tiere rekonstruieren, darunter
auch von Sauriern aus dem Erdmittelalter.
GREG RUTH / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2017

36 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Vogelbeckensaurier der
Gattung Psittacosaurus
lebten in Ostasien während
der Kreide – zumindest
einige Arten wahrscheinlich
in schattigen Habitaten,
wo ihre Farben sie gut tarn-
ten. Kopfform und Schnabel
GREG RUTH / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2017

erinnern an Papageien,
seitlich hinter dem Gesicht
standen spitze Knochen­
auswüchse ab.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 37


Erdfarben, andere verpassten ihnen kräftige, leuchtende
Jakob Vinther ist Evolutionsforscher. An Töne oder malten sie sogar quietschbunt an. Die einen
der University of Bristol (England) lehrt dachten dabei an tarnfarbene Reptilien und Amphibien,
er an den Fakultäten für Bio- und für Geo­
die anderen wohl eher an die Vögel als Nachfahren der
wissenschaften.
Dinosaurier – besser gesagt deren letzte Überlebende.
 spektrum.de/artikel/1520779 Heute wissen wir hierüber Genaueres, auch dank der
Befunde einer Reihe meiner Kollegen. Denn melaninhal­tige
Strukturen entdeckten wir bei dutzenden Fossilien. Das
eigentlich Faszinierende ist aber: Form, Anordnung und


Es war ein Oktobertag 2006 an der Yale University in Verteilung der Pigmente erzählen nicht nur von der Fär-
New Haven (Connecticut). In einem dunklen Labor bung eines Tiers, sondern auch von Mustern und Schattie-
hockte ich am Elektronenmikroskop und wollte mir rungen. Dies wiederum gibt manchen Aufschluss über das
200 Millionen Jahre alte versteinerte Tinte von einem Kal- Verhalten und den Lebensraum.
marverwandten anschauen. Als ich das Bild scharf stellte, Ob Melanine so lange überdauern können, wollte ich
blickte ich in ein Meer durchscheinender Kugeln, jede zunächst an Fossilien prüfen, die gerade an jenen Stellen
etwa ein fünftel Mikrometer groß. Sie sahen genau so aus dunkel gefärbt sind, wo sich diese Pigmente bei einem Tier
wie die Melaninkörnchen von heutigen Tintenfischen. gewöhnlich ansammeln: in der Körperdecke und den
Zwar wusste ich, dass Forscher schon ein paar Jahre Augen. Mein Vorhaben machte es notwendig, kostbaren,
zuvor fossile Tintengranula entdeckt hatten. Trotzdem oft seltenen Fundstücken Proben zu entnehmen und diese
überwältigte mich der Anblick. Später untersuchte ich zur Untersuchung unter dem Rasterelektronenmikroskop
noch viele Fossilien von Kopffüßern aus verschiedensten genügend fein zu zerschneiden. Bestens für meine Zwecke
Zeiten und von diversen Orten. Und stets waren die Pig- geeignete Versteinerungen liefert die jütländische Fur/Olst-
mentkörnchen bestens erhalten, selbst noch nach Hunder- Formation. Es handelt sich um eine mächtige Kalkstein-
ten von Jahrmillionen. schicht im Limfjord, die fast 55 Millionen Jahre zurück-
Irgendwann kam mir die Idee, dass Melanin – genauer reicht und wunderbare Vogelfossilien mitsamt Federn birgt.
gesagt die melaninhaltigen Strukturen – auch bei anderen Der Kurator für Wirbeltierfossilien des Geologischen Muse-
fossilen Organismen überdauert haben könnte, vielleicht ums in Kopenhagen war freundlicherweise bereit, mir von
sogar bei Dinosauriern. Je nach seiner Beschaffenheit, einem kleinen Kalksteinblock mit einem Vogelschädel darin
Zusammensetzung und Menge bewirkt das Pigment die ein Stück zur Verfügung zu stellen. Das Fossil lässt im
rötliche, braune, graue oder schwarze Tönung von Haaren, Bereich der Augen dunkle Verfärbungen erkennen und
Haut, Federn und Augen oder lässt Vogelgefieder metal- weist außerdem um den Schädel einen dunklen »Kranz«
lisch schillern, also abhängig vom Blickwinkel in anderen von Federabdrücken auf.
Farben glänzen. Allerdings glaubten Paläontologen bis Ich hatte viel Fachliteratur durchstöbert, um mir ein Bild
dahin, dass es die Fossilisation kaum jemals überstanden davon zu machen, wie Melanin in Federn heutiger Vögel
hat, schon gar nicht bei Wirbeltieren. Nur von ein paar wir- unter dem Mikroskop aussieht. Melanozyten genannte
bellosen Tieren kannte man einzelne Gegenbeispiele. spezialisierte Zellen synthetisieren das Pigment in beson-
Daher beruhte die Kolorierung von Zeichnungen und deren Kompartimenten, den zirka 0,5 bis 2 Mikrometer
Nachbildungen der Dinosaurier – wie auch anderer ausge- langen Melanosomen. Darin bleibt der Farbstoff normaler-
storbener Wirbeltiere – bis vor einigen Jahren auf reiner weise auch später eingeschlossen, wenn er an andere
Fantasie. Manche Künstler gaben ihnen gedeckte und Zellen weitergegeben wird.
Solche Strukturen hatte ich im Elektronenmikroskop
erkannt, als ich mir die fossile Tinte ansah. Von den Mela-
nosomen gibt es im Wesentlichen zwei Formen. Ein läng-
lich wurstförmiger Typ bildet Eumelanin. Dieses ergibt
AUF EINEN BLICK schwarz, da es alle Lichtwellenlängen absorbiert, und
FOSSILE FARBEN steckt etwa in Tintenfischtinte und in Rabenfedern. Kürze-
re, rundere Melanosomen produzieren Phäomelanin, das

1  ine Anzahl früherer Tiere offenbart ihr Farbenkleid –


E
vor allem dank fossil erhaltener Strukturen für das
Pigment Melanin.
Federn rostrot erscheinen lässt. Ganz ohne Farbpigmente
sind diese weiß, während Grau- und Brauntöne anschei-
nend auf Mixturen der beiden Melanine beziehungsweise
nur wenig Pigment beruhen (siehe »Bunt, tarnfarben oder
2  nhand solcher Strukturen können Forscher jetzt
A
auch heraus­finden, in welcher Weise wohl manche
Dinosaurierarten gefärbt waren.
schillernd?«, S. 40/41, links unten).
Zu den führenden Experten für Vogelfarben zählt Ri-
chard Prum von der Yale University in New Haven (Con-
necticut). Bei ihm und seinem damaligen Doktoranden
3  ie rekonstruierte Leuchtkraft und Musterung geben
D
sogar Auskunft über ihre Lebensweise und Umwelt
und weisen auf Tarnfärbungen hin.
Vinod Saranathan holte ich mir Rat, da ich Federfossilien
zunächst nach Eumelanin durchmustern wollte, das ja,
wie ich wusste, zumindest in Tinte erhalten bleibt. Ich
erfuhr, dass sich die zugehörigen lang gestreckten Mela-

38 Spektrum der Wissenschaft  1.18


nosomen in bestimmter Weise entlang der Federäste und
-strahlen aufreihen, wenn die Melanozyten diese Körper-
chen an die Keratinozyten abgeben, also jene Hautzellen,
die unter anderem Federn und Haare bilden.
Als ich das Vogelfossil nun näher in Augenschein nahm,
erkannte ich tatsächlich Millionen von länglichen Gebil-
den, die genau wie Melanosomen aussahen. Nur leider
ratterte die U-Bahn keine 50 Meter von dem Raum im
Untergeschoss des Museums vorbei, wo das Elektronen-
mikroskop stand. Die fortwährenden Vibrationen erlaubten
daher keine allzu scharfen Aufnahmen. Immerhin waren
die winzigen Würste zu erkennen. Ich mailte die Bilder
gleich meinem Doktorvater an der Yale University, Derek Dieser Psittaco-
Briggs, einem Pionier der Erforschung außergewöhnlich saurus besaß nach-
gut erhaltener Fossilien. Doch er wollte meine Begeiste- weislich einen
rung zunächst nicht teilen. Er meinte, genau solche Gebil- dunkleren Rücken
de würden er und andere Kollegen seit Jahrzehnten bei und helleren Bauch,
fossilen Federn und Säugetierhaaren sehen. Dies seien auch war der Schwanz
ganz klar einfach Bakterien. oben dunkler als
Mir wollte das jedoch nicht einleuchten, und so unter- unten. Anscheinend
breitete ich Briggs alle Anhaltspunkte, die für Melano­ nutzte das Tier zur
somen sprachen. Die Strukturen hatten ja nicht nur die Tarnung eine Gegen-
passende Größe und Form, sondern auch ihre Ausrichtung schattierung.
in den Federästchen stimmte, soweit erkennbar. Schließ-
HOLLS
lich konnte ich meinen Doktorvater wenigstens so weit für THER
UND B
OB NIC
IN
KOB V
das Thema erwärmen, dass er Prum meine Aufnahmen MIT FR
DL. GEN
. VON
JA

zeigte. Und der bestätigte, die Gebilde würden in jeder


Hinsicht Melanosomen ähneln. ty of Bristol, wo ich seit 2012 arbeite, zusammen mit der
Doch Briggs hielt es für nötig, mindestens einen weite- Geochemikerin Caitlin Colleary nachgewiesen. Den weni-
ren Fall zu finden, um die These zu erhärten, dass sich in gen Kollegen, die unsere »Melanosomen« immer noch für
Versteinerungen mit Federn pigmenthaltige Körper erhal- Bakterien halten, gehen allmählich die Argumente aus.
ten können. In der wissenschaftlichen Literatur entdeckte Zu unseren spektakulärsten Entdeckungen zählen die
er die Beschreibung einer kleinen Feder aus der Kreide aus Farben von Dinosaurierfedern. 2009 schloss sich meine
Brasilien mit deutlicher schwarz-weißer Streifung (siehe Gruppe an der Yale University mit verschiedenen anderen
»Bunt, tarnfarben oder schillernd?«, S. 40/41, rechts un- Forschern zusammen, darunter Matthew Shawkey und
ten). Nun kam es darauf an: Wenn die verdächtigen läng­ Liliana D’Alba, die heute an der Universität Gent in Belgien
lichen Gebilde nur in den dunklen Streifen zu sehen waren arbeiten. Wir wollten die Gefiederfärbung von Anchiornis
und in den hellen Streifen fehlten, sprach das für Melano- huxleyi ergründen, einem kleinen räuberischen Dinosaurier
somen, nicht für Bakterien. aus China, der vor etwa 155 Millionen Jahren gelebt hatte.
An dem von uns untersuchten Fossil sieht man schon mit
Der Beweis: Eine gebänderte fossile Feder trägt nur bloßem Auge dunkle Spuren, die wir für Melanin hielten.
in den dunklen Streifen melaninverdächtige Strukturen Aber es ging uns nicht einfach darum, die reine Existenz
Wir konnten das Fossil ausleihen und legten es als Ganzes und Verteilung von Melanosomen an sich aufzuzeigen, also
unter das Elektronenmikroskop. Und wirklich – in dieser quasi die Hell-dunkel-Musterung. Vielmehr interessierten
108 Millionen Jahre alten Feder erkannte ich tausende uns auch die Qualität der Farben und deren Verteilung.
typischer Melanosomen, aufgereiht entlang der Achsen Unser Vorhaben war recht ambitioniert. Zunächst er-
ihrer feinen Äste. Wie erhofft sah ich sie nur in den dunk- fassten wir das Erscheinungsbild der Melanosomen in
len Streifen. In den hellen fehlten sie völlig. Hier erblickte jeweils zwölf schwarzen, braunen und grauen Federn von
ich allein reine Gesteinsmatrix. heutigen Vögeln. Wir maßen deren Länge, Breite und
Unsere Entdeckungen publizierten wir 2008. Seitdem beider Verhältnis zueinander und bestimmten die Variabi­
sind mein Team und andere Forschergruppen bei verschie- lität der Formen. Daraus erstellten wir eine Statistik, die
denen weiteren Fossilien – so etwa bei Dinosauriern – auf uns mit hoher Wahrscheinlichkeit die richtige Farbe anzeig-
Melanosomen und auch noch andere Pigmente gestoßen. te (siehe »Bunt, tarnfarben oder schillernd«, links unten).
Wissenschaftler untersuchen die Gebilde inzwischen auch Als wir dieses Verfahren bei Anchiornis anwandten,
in chemischer Hinsicht. Wie wir schon vermutet hatten, staunten wir. Offenbar war sein Körpergefieder weitge-
kann Melanin tatsächlich viele Millionen Jahre lang fast hend grau gewesen. Dagegen enthielten die langen Federn
unbeschadet überdauern. Die leichten Veränderungen sind an Armen und Beinen nur an den Spitzen Melanosomen.
auf den anhaltenden erhöhten Druck und die Wärme im Das sprach für weiße Federn mit schwarzen Enden. Das
Untergrund zurückzuführen. Das habe ich an der Universi- kommt auch bei heutigen Vögeln mit hellem Gefieder oft

Spektrum der Wissenschaft  1.18 39


Bunt, tarnfarben oder schillernd?
Melanosomen, winzige Zellstrukturen mit Pigmenten, überdauern in Fossilien für Jahrmillionen.
Daran lässt sich die Körperfärbung von Dinosauriern und anderen ausgestorbenen Tieren
erschließen. Sogar manche Details der Lebensweise sind an der Körpermusterung erkennbar.

Caudipteryx Anchiornis Sinosauropteryx

MELANOSOMEN FÜR DIVERSE FARBEN


Je nach Farbeindruck haben die kleinen Körperchen verschiedene Formen und Größen – wie hier an heutigen Vögeln
ermittelt. Bilden Melanosomen nur das schwarze Eumelanin, sind sie länglich, beim rostroten Phäomelanin fast rund.
Weitere Tönungen entstehen durch Kombinationen dieser beiden Pigmentformen beziehungsweise bei wenig Melanin –
welches bei Weiß ganz fehlt. Die Melanosomen in schillerndem Gefieder sind sehr lang und besonders geschichtet, so
dass die irisierenden Farbreflexe entstehen. Ähnliches scheint für fossile Federn zu gelten.
DINOSAURIER: RAÚL MARTÍN; VÖGEL UND MELANOSOME: JILLIAN DITNER / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2017

rostrot braun schwarzbraun grau schwarz schillernd

40 Spektrum der Wissenschaft  1.18


AUFFALLEND
Der kleine Dinosaurier Microraptor trug ein abhängig vom Lichtein-
fallswinkel in verschiedenen Farben glänzendes Gefieder ähnlich
schwarzen Krähen. Daher war er wohl keineswegs nachtaktiv wie
bisher angenommen.
Microraptor

UNSICHTBAR
Psittacosaurus besaß bis zur
Schwanzspitze hin einen dunklen
Rücken und helleren Bauch. Tiere
mit solch einer »Gegenschat­
tierung« verschmelzen optisch
mit dem Hintergrund. Die Me-
laninverteilung des untersuchten
Fossils lässt annehmen, dass
dieses Tier in diffusem Licht leb-
te, etwa im Wald.
Psittacosaurus

FARBMUSTER VON FOSSILEN FEDERN


Allein schon die Dichte der Melasosomen für schwarzes Melanin lässt auf die Färbung schließen. Die Feder im
Beispiel links, ein 55 Millionen Jahre altes Fossil aus Dänemark, hatte eine helle Basis und wurde zur Spitze hin
immer dunkler: Denn an ihrem Anfang weist sie wenig Melasosomen auf ( 1 ) und zum Ende hin immer mehr ( 2
und 3 ). Die 108 Millionen Jahre alte fossile Feder aus Brasilien (rechts) war hell-dunkel gestreift. Die dunklen
Bänder enthalten dicht gepackte Melanosomen, die hellen hingegen gar keine.
DINOSAURIER: RAÚL MARTÍN; VÖGEL UND MELANOSOME: JILLIAN DITNER / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2017
FEDERN: MIT FRDL. GEN VON JAKOB VINTHER

1 2 3

Spektrum der Wissenschaft  1.18 41


vor, denn das Melanin verstärkt die Schwungfedern. Ob dem Raubsaurier Velociraptor, der im Film »Jurassic Park«
die Einlagerungen dem kleinen Dinosaurier wohl ebenfalls noch in einem Schuppenkleid auftritt, aber nach heutigem
die Fortbewegung erleichterten? Doch am meisten über- Wissen so wie auch Microraptor gefiedert war. Die Federn
raschte uns das Kopfgefieder. Die Federn, die eine Art von Letzterem stecken voller langer Melanosomen, deren
hohen Kamm bildeten, enthielten Abdrücke kleiner Bäll- Aussehen und Anordnung für ein vermutlich schwarzes,
chen, was zu Melanosomen mit rötlichem Melanin passt. prächtig verschiedenfarbig glänzendes Gefieder sprechen,
Demnach trugen die Tiere eine rote Krone. Anchiornis dürf- vielleicht ähnlich wie das von metallisch schwarz anmu-
te recht prächtig ausgesehen haben (siehe »Bunt, tarnfar- tenden Krähen.
ben oder schillernd«, links Mitte). Vermutlich war solch ein Äußeres einst gar nicht so sel-
Beinah gleichzeitig mit der Veröffentlichung dieser ten. Bohaiornis aus China lebte in der Kreide und gehörte
Ergebnisse erschien eine Arbeit von Forschern um Fu- zur heute ausgestorbenen Vogelgruppe der Enantiornithes.
Diese frühen Vögel mit zwei langen Schwanzfedern dürften
ebenfalls dunkel gewesen sein und in allen Regenbogen­
Sinosauropteryx hatte einen gerin- farben geschimmert haben, wie Jennifer Peteya von der
University of Akron (Ohio) und Shawkey 2016 feststellten.
gelten Schwanz, einen dunklen Anhand der fossilen Pigmente erfahren wir zudem eine

Mantel und einen hellen Bauch – Menge über die Lebensweise ausgestorbener Tiere. So
galt Microraptor wegen seiner großen Augenhöhlen bisher
ein roter Dinosaurier als nachtaktiv. Das passt allerdings nicht zu seinem chan-
gierenden Gefieder. Ein schillerndes Federkleid ist heute
eher für tagaktive Arten typisch, während das von Nacht-
cheng Zhang von Institut für Wirbeltier-Paläontologie und vögeln in der Regel stumpf wirkt. Die Prachtfärbung in
Paläoanthropologie in Peking und Michael J. Benton von Rot, Schwarz, Weiß und Grau von Anchiornis wiederum
der University of Bristol. Die Kollegen hatten in diversen spricht dafür, dass die kleinen Saurier sie einsetzten,
130 Millionen Jahre alten Vogel- und Dinosaurierfossilien um anderen zu imponieren, zum Beispiel um Paarungs-
aus China versteinerte Melanosomen gefunden und deren partner zu gewinnen.
Aussehen bestimmt. Dabei stießen sie auf eine rötlich und
weiß gemusterte Art: Sinosauropteryx, der ein flaumiges Fossile Augenpigmente
Federkleid trug, hatte einen geringelten Schwanz, einen enthüllen das Geheimnis des Tully-Monsters
dunklen Mantel und einen hellen Bauch. Er war der erste Des Weiteren haben erhaltene Melanosomen es schon
Dinosaurier, der sich als rotbraun entpuppte. ermöglicht, rätselhafte fossile Organismen einem Tier-
Seit diesen ersten Arbeiten haben wir die Farbeigen- stamm zuzuordnen. 2016 halfen Befunde von Kollegen und
schaften von Hunderten von Federn zusammengetragen. mir dabei, das bizarre Tully-Monster (Tullimonstrum) bei
Wir wissen nun auch, wie die Melanosomen eines farblich den Wirbeltieren, in die Nähe der urtümlichen Neunaugen
schillernden Gefieders aussehen, das etwa für Kolibris oder zu platzieren. Das erste Exemplar fand der Fossilsucher
Pfauen so typisch ist. Die Einschlüsse sind in dem Fall oft Francis Tully 1955 in Illinois. Das rund 30 Zentimeter lange
besonders lang, manchmal auch hohl oder abgeflacht. Von Tier hatte im Karbon vor 300 Millionen Jahren gelebt. Sein
ihrer Anordnung hängt es ab, in welchen Farbnuancen die eigenartiges Aussehen – ein wurmartiger Körper mit
Federn je nach Lichteinfall und Blickwinkel irisieren. Be- Flossenschwanz, dazu Stielaugen und ein sehr langer
stimmte Konfigurationen bedingen ein Changieren, weil sie Rüssel sowie ein großes, klauenförmiges, zahnbesetztes
das Licht entsprechend unterschiedlich brechen: Bei einer Maul – bereiteten den Systematikern Schwierigkeiten
so genannten Dünnschichtinterferenz passiert das Licht in (siehe auch Spektrum Mai 2016, S. 7). Manche hielten es für
einem bestimmten Winkel eine dünne Schicht und wird einen Verwandten der Mollusken – also der Weichtiere.
dicht dahinter in einem anderen Winkel reflektiert. Ähnli- Andere stuften es als Ringelwurm ein, einige als Faden-
ches kennt man von Seifenblasen und Ölfilmen. wurm oder als einen Vetter von Krebsen, Asseln und
Schon 2009 entdecken wir, dass eine 49 Millionen Jahre Insekten. Wir haben bei mehreren der Fossilien die Mela-
alte versteinerte Vogelfeder aus der Grube Messel bei nosomen untersucht, die in der Netzhaut der Augen erhal-
Darmstadt einst verschiedenfarbig schillerte. Bei diesem ten waren. Zwar schützen die verschiedensten Tiere ihre
Fossil vom Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt liegen empfindliche Netzhaut mit Melaninpigmenten. Doch die
die Melanosomen tatsächlich noch in ihrer ursprünglichen spezielle Schichtung aus bällchenförmigen und länglichen
speziellen Formation, die ein Changieren erlaubte. Sie Melanosomen, wie wir sie beim Tully-Monster fanden, ist
bildeten in den feinsten Federstrahlen eine dichte, glatte nur den Wirbeltieren eigen.
Schicht – jedoch nur am äußersten Rand der Feder und In anderen Fällen offenbaren fossile Pigmente Bezie-
dort lediglich an deren Oberseite, also allein da, wo keine hungen zwischen verschiedenen Tierarten, sogar Räuber-
anderen Federn die irisierende Farbe überdeckten. Beute-Konstellationen. Den Insekten dienen auffallende
Bald darauf fanden wir auch bei einem klassischen Farben und Muster nur selten zum Partnerfinden, sondern
Dinosaurier Merkmale, die Anzeichen für ein Irisieren sein meistens zum Abschrecken von Raubfeinden. Besonders
dürften. Der krähengroße Microraptor aus China trug an markant sind die manchmal recht großen Scheinaugen,
Armen und Beinen Flügel. Er war entfernt verwandt mit die heutzutage wohl vor allem plötzlich anfliegende Vögel

42 Spektrum der Wissenschaft  1.18


fernhalten. Bestimmte kräftige Muster, darunter auch standen lange Borsten wie eine Flagge. Das könnten
schon Schreckaugen auf den Flügeln, kamen bei Insekten Federvorläufer gewesen sein. Allerdings kennt man Federn
vor 170 bis 150 Millionen Jahren auf. Als eine der ersten bei Dinosauriern bisher nur von den überwiegend räuberi-
Gruppen bildeten damals Netzflügler, zu denen etwa die schen Theropoden, aus denen die Vögel hervorgingen.
Florfliegen zählen, Augenflecken aus. Das war allerdings Aber womöglich kamen die Hautauswüchse öfter vor, als
noch vor der Zeit der Vögel. Vor wem mussten sich diese wir bislang denken.
Arten schützen? Die Forscher vermuten, dass ihnen Ver- Gleich als ich das Psittacosaurus-Fossil 2009 erstmals
treter der Paraves nachstellten, einer kleinen Dinosaurier- sah, bemerkte ich Anzeichen für verhaltene Farbmuster
gruppe, aus der wahrscheinlich die Vögel hervorgingen. am ganzen Körper. Sie wirken wie feine Maserungen,
Wann die Paraves fliegen lernten, lässt sich von den Punkte und Streifen. Auch war der Rücken offenbar dunk-
Fossilien allein noch immer nicht eindeutig herleiten. Die ler als der Bauch, wie man es von vielen Tieren kennt.
Augenflecken bei frühen Netzflüglern machen es aller- Solch eine Gegenschattierung tarnt sie von unten gegen
dings wahrscheinlich, dass bereits einige jener Vogelvor- einen auch des Nachts helleren Himmel und von oben
läufer aus dem Flug heraus Insekten erbeuteten. gegen den dunkleren Untergrund, so dass sie quasi mit
Sogar über den Lebensraum eines Tiers geben fossile ihrer Umwelt verschmelzen. Das Prinzip ist bei vielen
Melanosomen Aufschluss. Hierbei war unser erstes Tieren zu beobachten. Einige wenige, etwa manche Rau-
Forschungsobjekt ein sehr schönes Fossil eines Psittaco­ pen, die mit dem Bauch nach oben klettern, haben die
saurus, eines fernen kleineren Verwandten des bis zu helle und dunkle Seite vertauscht.
neun Meter langen Triceratops, des bekannten Pflanzen Als ich meine Beobachtungen dem Verhaltensökologen
fressenden Dinosauriers mit dem enormen Nackenschild Innes Cuthill von der University of Bristol vorführte, einem
und großen, hornbewehrten Kopf. Auch die maximal Fachmann für Tarnung, erkannten wir, dass dieses Psitta­
zwei Meter langen Psittacosaurus-Arten vertilgten Pflan- cosaurus-Fossil nicht nur Gelegenheit bot, bei einem
zen. Ziemlich vollständige Skelette von ihnen finden sich Dinosaurier Gegenschattierung zu studieren. Allein anhand
im nordöst­lichen China recht oft. Unser Exemplar stach der Farbgebung konnten wir außerdem herausfinden, in
außerdem durch einen dünnen Überzug hervor, der den was für einem Habitat das Tier wohl gelebt hatte. Unter
Körper umhüllte: Überreste der Haut mit zarten Schuppen. welchen Lichtverhältnissen funktionierte seine Tarnung am
Und vorn auf der Oberseite des kräftigen Schwanzes besten – in dichtem Wald oder offenem Gelände? Ge-

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wöhnlich rekonstruieren Paläontologen das Umfeld eines dieses Dinosauriers, das wir mit Hilfe des britischen Paläo-
ausgestorbenen Tiers anhand von anderen Tier- und künstlers Robert (Bob) Nicholls erstellten. Die Studie
Pflanzenfossilien, die sie am selben Ort entdecken. Mitun- ergab, dass der Übergang vom dunkleren zum helleren
ter führt das aber in die Irre, denn manche Versteinerung Bereich ziemlich weit unten an Bauch und Schwanz saß.
liegt nicht dort, wo sich das Tier eigentlich aufhielt. Unser Ein zweites gleiches Modell malten wir grau an und
Psittacosaurus-Exemplar etwa fand sich in den Sedimen- fotografierten es unter verschiedenen Tageslichtbedingun-
ten eines früheren Sees. Der Dinosaurier ist aber mit gen. So simulierten wir die Schattenbildung am Körper bei
Sicherheit kein Wasserbewohner gewesen, sondern nur strahlendem Sonnenschein oder starker Bewölkung, auf
irgendwie dorthin geraten. freiem Feld oder im dichten Nadelwald. Dann kehrten wir
Cuthill und seine Mitarbeiter erforschen Gesetzmäßig- die hellen und dunklen Felder auf den Bildern um. Das
keiten der Gegenschattierung bei Huftieren. Bei denen ergab die jeweils ideale Gegenschattierung für dieses Tier
variiert die Ausprägung von Art zu Art. Zwar ist gewöhn- unter verschiedenen Lichtverhältnissen. Wir mussten
lich der Rücken von beispielsweise Antilopen, Kamelen, diese Befunde nun nur noch mit der wirklichen Melanin-
Schweinen, Nashörnern und Pferden dunkler als der verteilung vergleichen. Resultat: Augenscheinlich gewähr-
Bauch, doch der Kontrast ist unterschiedlich stark, und te diffuses Licht, wie es in einem geschlossenen Wald
auch der Übergang zur Bauchfärbung verläuft mal scharf, herrscht, dem kleinen Dinosaurier die beste Tarnung.
Das neue Forschungsfeld ist noch längst nicht ausge-
schöpft. Was uns die Melanosomen mit ihren Melaninen
über Farben ausgestorbener Organismen erzählen, hat uns
Mehr Wissen auf im letzten Jahrzehnt zwar schon einen großen Schritt
vorangebracht. In Fossilien finden sich aber manchmal
Spektrum.de noch andere Farbstoffe und Pigmente, zum Beispiel Karo-
Unser Online-Dossier zum Thema tinoide für leuchtende Rot- und Gelbtöne, oder Porphyrine
finden Sie unter (zu denen der Blutfarbstoff Hämoglobin zählt) für unter
spektrum.de/t /dinosaurier anderem Grün, Rot und Blau. Karotinoide etwa wurden bei
BASTOS / STOCK.ADOB
E.COM
mehrere Milliarden Jahre alten fossilen Bakterien nachge-
wiesen. Porphyrine haben sich bei einer Stechmücke
erhalten, die vor 46 Millionen Jahren Blut gesaugt hatte,
mal allmählich und sitzt bald höher an der Flanke, bald und auch in 66 Millionen Jahre alten Eiern eines Ovirapto-
tiefer. Die Forscher interessiert, wie das alles mit den rosauriers. Manche der entdeckten fossilen Pigmente
Lichtbedingungen in der Umwelt der jeweiligen Art zu- kennt man von modernen Organismen nicht einmal, etwa
sammenhängt. Die Helligkeit der Sonneneinstrahlung bestimmte Farbmoleküle von 300 bis 150 Millionen Jahre
ändert sich zum einen mit dem Breitengrad, zum anderen alten Seelilien und Algen.
nimmt die Dichte der Vegetation darauf Einfluss. Das Bestimmt werden wir bei den Rekonstruktionen auch
spiegelt sich tatsächlich gut in Cuthills Daten. Grob gesagt an Grenzen stoßen, denn manche Farbinformationen
wirft direktes Sonnenlicht, das senkrecht von oben ein- dürften über die Jahrmillionen generell verloren gegangen
trifft, bereits ziemlich hoch an den Körperseiten eine sein. Außerdem sind Fossilien mit organischen Resten so
scharfe Schattengrenze. Viele Huftiere, die unter solchen selten und kostbar, dass man abwägen muss, ob man
Bedingungen leben, haben eine dunklere Rückendecke, ihnen überhaupt Proben entnimmt und diese aggressiv
die teils nur bis etwa zur Seitenmitte reicht. Unmittelbar chemisch behandelt. Doch auch die Nachweismethoden
darunter sind die Flanken und der Bauch beinahe über- werden sich weiter verbessern und verfeinern – die alte
gangslos blass, häufig sogar fast weiß. Ein gutes Beispiel Tierwelt bekommt nun Farbe.
dafür ist der nordamerikanische Gabelbock, ein etwas
mehr als rehgroßer Präriebewohner. Auch viele Antilopen
QUELLEN
der afrikanischen Savannen passen in dieses Schema.
Dagegen herrscht im dichten Wald und Gebüsch ge- Smithwick, F.  M. et al.: Countershading and Stripes in the Thero-
pod Dinosaur Sinosauropteryx Reveal Heterogeneous Habitats in
dämpftes, diffuses Licht, das in alle Richtungen streut. the Early Cretaceous Jehol Biota. In: Current Biology 27, S. 3337–
Dadurch fängt die Schattengrenze tiefer am Körper und 3343, 2017
mit einer breiten Übergangszone an. Entsprechend be-
Vinther, J. et al.: The Colour of Fossil Feathers. In: Biology Letters 4,
ginnt die hellere Bauchpartie bei im Wald und Dickicht S. 522–525, 2008
lebenden Huftieren, wie etwa beim Europäischen Reh oder
Vinther, J. et al.: 3D Camouflage in an Ornithischian Dinosaur.
beim Rothirsch, oft weit unten, setzt sich nicht In: Current Biology 26, S. 2456–2462, 2016
so scharf und unmittelbar gegen die Rückenfärbung ab
und wirkt teils sogar relativ dunkel.
LITERATURTIPP
Welche Form von Gegenschattierung nutzte Psittaco­
saurus? Um das festzustellen, haben wir zunächst am Brennpunkte der Evolution. Spektakuläre Funde geben neue
Einblicke in die Tierwelt der Urzeit. Spektrum der Wissenschaft
Fossil die Verteilung der Melanine in der Körperoberfläche Spezial: Biologie, Medizin, Hirnforschung 4/2016
mit speziellen Aufnahmeverfahren erfasst. Das Muster Mit Artikeln zur Evolution der Dinosaurier und der Vögel sowie zu
projizierten wir dann auf ein lebensgroßes, exaktes Modell neuesten Untersuchungsmethoden an Fossilien

44 Spektrum der Wissenschaft  1.18


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 spektrum.de/artikel/1520781

VLAD61_61 / FOTOLIA

46 Spektrum der Wissenschaft  1.18



Anemonenfische (Amphiprion) bewohnen Korallenriffe (CO2) in die Atmosphäre freisetzt, von dem sich ein großer
und verbringen dort als erwachsene Tiere ihr gesam- Teil in den Ozeanen löst und dort mit dem Wasser teilwei-
tes Leben im Schutz einer einzelnen Seeanemone. Zu- se zu Kohlensäure reagiert.
vor aber, während ihrer Jugend, müssen sie eine riskante 2010 setzten meine Mitarbeiter und ich 300 frisch ge-
Reise bewältigen. Nach dem Schlüpfen schwimmt die Fisch- schlüpfte Anemonenfischlarven in einen Labortank voller
larve vom Riff ins offene Meer und entwickelt sich dort Seewasser und beobachteten sie elf Tage lang. Fügten wir
weiter. 11 bis 14 Tage später ist das juvenile Tier reif genug, dem Medium Duftstoffe von harmlosen Meeresbewohnern
um zurückzuschwimmen und ein symbiotisches Verhältnis zu, reagierten die Fische nicht. Brachten wir jedoch den
mit einer Seeanemone einzugehen. Doch nahe dem Riff Duftstoff einer räuberischen Spezies ein, in diesem Fall des
lauern alle möglichen Kreaturen auf Beute, darunter Lipp– Dorschartigen Lotella rhacina, schwammen sie von der
und Rotfeuerfische. Die kleinen Anemonenfische können Geruchsquelle weg.
die Räuber jedoch am Duft erkennen und umgehen. Wir wiederholten die Experimente mit 300 weiteren
Der Geruchssinn, von dem die Tiere dabei Gebrauch Larven derselben Eltern. Dieses Mal setzten wir die Tiere
machen, ist angewandte Chemie. Er detektiert Moleküle jedoch in saureres Wasser. Dessen pH-Wert entsprach
im Wasser und leitet die entsprechenden Informationen jenem, der in vielen Ozeanregionen im Jahr 2100 zu erwar-
ans Zentralnervensystem weiter, das darauf adäquat re- ten ist, sollte der gegenwärtige Versauerungstrend anhal-
agiert, indem es beispielsweise ein Vermeidungsverhalten ten. Die jungen Fische entwickelten sich normal, doch
auslöst. Schon kleine Verschiebungen in der chemischen keiner von ihnen mied den Gefahr signalisierenden Geruch
Zusammensetzung des Ozeanwassers genügen, um die- der Meeresräuber. Im Gegenteil, sie schwammen ihm
sen Mechanismus zu stören. Wissenschaftler fragen sich sogar eher entgegen.
daher zunehmend, was wohl geschehen wird, wenn der Versahen wir das saurere Wasser sowohl mit Duftstof-
Säuregehalt des Wassers steigt. Dies ist weltweit zu be- fen von Räubern als auch mit solchen von harmlosen
obachten, weil der Mensch immer mehr Kohlenstoffdioxid Meerestieren, schienen die Anemonenfische unentschlos-

VLAD61_61 / FOTOLIA

Bedrohte Ökosysteme: Die schleichende Versauerung setzt


marine Lebensgemeinschaften weltweit unter Stress.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 47


sen zu sein; sie schwammen ebenso lange in Richtung des CO2 aufnehmen. Doch wenn sich mehr Kohlenstoffdioxid
einen wie des anderen Geruchs. Offenbar konnten sie im Meerwasser löst, entsteht dort auch mehr Kohlensäure,
chemische Signale zwar noch wahrnehmen, aber ihnen was den pH-Wert der Ozeane sinken lässt. Oberflächen-
keine Bedeutung mehr zuordnen. Das war ein überra- nahes Meerwasser ist leicht alkalisch mit pH-Werten
schender und beunruhigender Befund. Wir hatten damit um 8. Der anthropogene Eintrag von CO2 hat bis heute
gerechnet, dass sich die Versauerung ein Stück weit auf bereits zu einer pH-Wert-Reduktion um zirka 0,1 geführt,
die chemische Signalverarbeitung auswirken könnte. Aber verglichen mit der Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
niemals hatten wir erwartet, sie könne einen Fisch dazu Dies entspricht einer um 30 Prozent höheren Konzentra­
bringen, dem drohenden Tod entgegenzuschwimmen. tion von Oxoniumionen. Setzt sich der gegenwärtige Trend
Lebewesen, wo auch immer, stehen in ihrem Leben vor der Emissionen bis zum Ende dieses Jahrhunderts fort,
drei fundamentalen Herausforderungen: Nahrung finden, könnte die Oxoniumkonzentration dann um 150 Prozent
Nachkommen produzieren und vermeiden, selbst gefres- zugenommen haben, entsprechend einer pH-Wert-Ernied-
sen zu werden. An Orten wie Korallenriffen, wo sich Räu- rigung um etwa 0,4.
ber und Beutetiere einen räumlich begrenzten, dicht
besiedelten, komplexen Lebensraum teilen, begünstigt die Wie ein saureres Milieu das Verhalten ändert:
natürliche Selektion vor allem solche Arten, die ihren Unerwartete Ergebnisse im Experiment
Feinden aus dem Weg gehen. Jede Einschränkung dieser Sinkende pH-Werte in den Meeren führen dazu, dass sich
Fähigkeit könnte katastrophale Folgen für das ganze Kalzit und Aragonit verstärkt im Wasser lösen – zwei
Ökosystem haben. Minerale, aus denen die Hüllen zahlreicher Meerestiere
Wenn zunehmend saures Wasser die Geruchswahrneh- bestehen. Planktonorganismen, Schalenweichtiere und
mung der Anemonenfische stört, dann kann es möglicher- Seeigel, die in Wassertanks mit hohem CO2- und somit
weise auch andere Sinne und Verhaltensweisen beeinflus- Kohlensäuregehalt aufwachsen, entwickeln unvollständige
sen. Wir haben zwar nur mit einer Fischart experimentiert, oder deformierte Schalen und Außenskelette. Dagegen
doch der olfaktorische Sinn spielt für sehr viele weitere eine nahm man von Fischen und anderen schalenlosen Organis-
überlebenswichtige Rolle. Zumindest könnten die Verwir- men lange Zeit an, diese könnten sich auf die Meeresver-
rung und Desorientierung, die mit einer Geruchsirritation sauerung einstellen. Denn laut Untersuchungen aus den
einhergehen, zusätzlichen Stress auf Fische ausüben, die 1980er Jahren sind etliche marine Tiere erstaunlich gut
bereits wegen steigender Wassertemperaturen, Überfi- dazu in der Lage, das chemische Milieu in ihrem Organis-
schung und veränderter Nahrungsverfügbarkeit unter Druck mus zu regulieren, indem sie die Gehalte an Hydrogenkar-
stehen. Wenn sich immer mehr Meeresbewohner untypisch bonat- und Chloridionen im Körpergewebe verändern.
verhalten, könnten ganze Nahrungsketten und Ökosysteme Diese Studien hatten jedoch nur die Physiologie in den
zusammenbrechen. Obwohl die Wissenschaft hier noch am Blick genommen und darauf geschaut, ob die Tiere in einer
Anfang steht, fügen sich die bisherigen Resultate allmählich saureren Umgebung überleben können. Fähigkeiten wie
zu einem Bild zusammen: Die Versauerung der Ozeane hat das Aufspüren von Nahrung oder das Vermeiden von
weit reichende Folgen für die Tierwelt. Risiken standen damals nicht im Fokus. Unser Team zählte
Seit Beginn der industriellen Revolution ist der atmo- zu den ersten, die solchen Dingen nachgingen.
sphärische Gehalt von Kohlenstoffdioxid von 280 auf mehr Weil viele riffbewohnende Räuber tagsüber jagen, keh-
als 400 ppm (parts per million, deutsch: Teile pro eine ren die jungen Anemonenfische bevorzugt nachts zurück,
Million) angestiegen. Die Zahl wäre noch viel höher, gäbe um nach einem Symbiosepartner zu suchen. Während der
es die Ozeane nicht, die 30 bis 40 Prozent des emittierten Dämmerstunden und besonders bei schräg einfallendem
Mondlicht sind die Raubfische träge beziehungsweise
schläfrig. Doch das Navigieren im dunklen, konturlosen,
offenen Ozean ist für einen Fisch, der kaum die Größe
AUF EINEN BLICK einer Zehn-Cent-Münze erreicht, nicht einfach. Die Tiere
SCHLEICHENDE KATASTROPHE lassen sich von Geräuschen leiten, die das Riff und seine
Bewohner erzeugen. Wir untersuchten deshalb nicht nur,

1  er anthropogene Ausstoß von Kohlenstoffdioxid


D
führt zu einer Versauerung der Ozeane. Das hat Folgen
für die Meeresfauna.
ob sich die Versauerung des Wassers auf den Geruchs-
sinn der Anemonenfische auswirkt, sondern auch, ob sie
deren Hörvermögen beeinflusst.
Hierzu setzten wir juvenile Tiere in einen Meerwasser-

2  erden Anemonenfische, Haie und Krebstiere einem


W
erhöhten Säuregehalt ausgesetzt, stört das ihr Verhal-
ten gegenüber Gefahren und Beutetieren.
tank, der sich beschallen ließ. Spielten wir Riffgeräusche
ein, die typischerweise am Tag zu hören sind, hielten sich
die Fische fast drei Viertel ihrer Zeit möglichst weit entfernt
von der Schallquelle auf. Führten wir das Experiment je-
3  och ist nicht klar, inwieweit sich Meeresbewohner
N
an die allmählichen Veränderungen der Ozeane an­
passen. Untersuchungen von Riffen nahe vulkanisch
doch mit Tieren durch, die ihr kurzes Leben in Wasser mit
60 Prozent höherem Säuregehalt verbracht hatten – ein
aktiven Orten könnten hier Einblicke liefern. pH-Wert, wie er in flachen Meeren für das Jahr 2030 zu
erwarten ist – bekamen wir ganz andere Ergebnisse. Nun
schwamm mehr als jedes zweite Tier zur Schallquelle hin.

48 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Wir wiederholten das Experiment noch zwei weitere 15 Prozent ihrer Zeit in der entsprechenden Strömung ver-
Male, und zwar mit Wasser, das um 100 beziehungsweise brachten. Und es gab noch weitere Unterschiede. Platzier-
150 Prozent saurer war. Entsprechende marine pH-Werte ten wir einen Stein vor der Düse mit der austretenden
könnten in den Jahren 2050 beziehungsweise 2100 vor- Tintenfischlösung, attackierten ihn die Haie aus Gruppe 1
herrschen. Unter beiden Bedingungen verbrachten die mehr als doppelt so oft wie die aus Gruppe 2 – und mehr
Anemonenfische rund 60 Prozent ihrer Zeit in der Nähe als dreimal so häufig wie jene aus Gruppe 3.
des Lautsprechers, der tagtypische Riffgeräusche einspiel- Es ist verblüffend zu sehen, wie ein derart aktiver Räu-
te. Separate Tests belegten, dass die Fische über ein ber das Interesse an potenzieller Beute verliert und sogar
normales Hörvermögen verfügten. Damit war klar: In stark deren Geruch meidet. Angesichts der enormen Bedeu-
versauertem Wasser sind die Fische nicht mehr in der tung, die Haie als Spitzenprädatoren haben, und ihrer
Lage, auf wichtige akustische Signale adäquat zu reagie- großen Empfindlichkeit gegenüber Umweltveränderungen
ren. Meeresbewohner, deren Sinne dermaßen verwirrt liegt der Schluss nahe, dass die Versauerung der Ozeane
sind, werden für ihre Fressfeinde zu leichten Opfern. sowohl für die Tiere selbst als auch für ihre Ökosysteme
Zudem könnten sie beim Suchen von Nahrung schlechter sehr gefährlich ist.
abschneiden.
Haie sind berühmt für ihren hochempfindlichen Ge-
ruchs­sinn, mit dessen Hilfe sie navigieren, Geschlechts-
partner finden und Beute aufspüren. Angesichts unserer
Mehr Wissen auf
Befunde an Anemonenfischen fragten wir uns, wie wohl
Haie auf den zunehmenden Säuregehalt des Meerwassers
Spektrum.de
reagieren. Wir fingen 24 erwachsene Exemplare des Dunk- Unser Online-Dossier zum Thema
len Glatthais (Mustelus canis) vor der ostamerikanischen finden Sie unter
Küste. Diese relativ kleinen Räuber ziehen in den warmen spektrum.de/t/fische
Gewässern zwischen South und North Carolina und Neu- DALMATIN.O / STOCK.ADOBE.C
OM

england umher. Unseren Fang teilten wir in drei Gruppen


auf und hielten jede davon in einem kleinen Becken. Die
Tiere der ersten Gruppe schwammen in normalem Ozean- Freilich muss man immer vorsichtig damit sein, Ergeb-
wasser und die der zweiten in behandeltem Meerwasser, nisse aus einer Laborumgebung in die Realität zu übertra-
dessen pH-Wert dem prognostizierten des Jahres 2050 gen. Wir suchten deshalb eine sandige Lagune im Bereich
entsprach. Die Haie der dritten Gruppe setzten wir einem des Great Barrier Reef auf, um dort die Risikobereitschaft
pH-Wert aus, wie er in den Ozeanen des Jahres 2100 zu wilder Meeresbewohner zu untersuchen. Wir überprüften,
erwarten ist. Darüber hinaus erzeugten wir eine Tinten- wie juvenile Demoisellen (Chrysiptera, aus der Familie der
fischlösung, indem wir tote Tintenfische in Meerwasser Riffbarsche), die wir in der Lagune gefangen und vier Tage
einweichten und dieses durch ein Seihtuch pressten (die lang in relativ saurem Wasser gehalten hatten, auf den
Kopffüßer gehören zur bevorzugten Beute der Räuber). Geruch von Raubfischen reagierten. In einem Durchfluss-
Nach fünf Tagen entließen wir die Haie einzeln in einen tank schwammen etwa 50 Prozent jener Tiere, die wir dem
Durchflusstank, der zehn Meter lang und zwei Meter breit für 2050 erwarteten Säuregehalt ausgesetzt hatten, in die
war. Der pH-Wert des Wassers darin entsprach dem ihres Strömung mit dem Duft eines Fressfeinds hinein. Konfron-
jeweiligen Schwimmbeckens. In den Tank mündeten zwei tierten wir die Riffbarsche mit einem Säuregehalt, wie er
Düsen, die Wasser ins Innere beförderten. Sie erzeugten für 2100 prognostiziert wird, bewegten sich sogar alle von
zwei Strömungen: Eine entlang der linken Wand und die ihnen zu dem Geruch der Räuber hin.
andere entlang der rechten. Nachdem die Haie zu schwim- Wir markierten die Fische, um sie identifizieren zu kön-
men begonnen hatten, führten wir über eine der beiden nen, und setzten sie an einem kleinen Riff aus, das wir in der
Düsen etwas Tintenfischlösung ein. Da wir nicht aus- Lagune angelegt hatten. Die Tiere, die wir dem höchsten
schließen konnten, dass die Raubfische eine bestimmte Säuregehalt ausgesetzt hatten, zeigten ein riskantes Verhal-
Seite des Tanks von vornherein bevorzugen würden, wech- ten: Statt sich nahe der schützenden Korallen aufzuhalten,
selten wir später auf die andere Düse, damit die Ergebnis- schwammen sie öfter und weiter ins umgebende Meer als
se nicht verzerrt würden. ihre Artgenossen, die in normalem Meerwasser gefangen
gewesen waren. Auch kamen sie nach einer vorübergehen-
Wenn selbst dem Meeresräuber schlechthin den Bedrohung schneller wieder aus dem Riff hervor. Folge-
die Lust auf Fressen vergeht richtig wurden jene Fische, die den prognostizierten Säure-
Kameras zeichneten auf, und Computerprogramme werte­ gehalt des Jahres 2100 hatten ertragen müssen und sich
ten aus, was nun geschah. Die Haie der ersten Gruppe, die nun besonders wagemutig zeigten, deutlich häufiger gefres-
in normalem Meerwasser gehalten worden waren, ver- sen – nämlich neunmal so oft wie normal. Die Riffbarsche in
brachten mehr als 60 Prozent ihrer Zeit in jener Strömung, der Lösung mit moderatem Säuregehalt waren nicht ganz
die Tintenfischlösung enthielt. Die Tiere der zweiten Grup- so tollkühn, erlagen ihren Fressfeinden aber immerhin noch
pe (leicht versauertes Wasser) taten das Gleiche. Doch die- fünfmal so oft.
jenigen aus Gruppe 3 (stark versauert) mieden aktiv das Riffbewohnende Fische sind bei Wissenschaftlern ge-
Odeur ihrer bevorzugten Beutetiere, indem sie weniger als schätzte Modellorganismen, weil sie ein konsistentes

Spektrum der Wissenschaft  1.18 49


Verhalten zeigen und leicht zu beobachten sind. Das wirft Tank mit gabazinhaltigem Wasser (Gabazin ist eine Sub­-
die Frage auf, inwieweit sich die Befunde aus Experimen- s­tanz, die GABAA-Rezeptoren in ihrer Wirkung hemmt),
ten mit ihnen verallgemeinern lassen. Versuche an ande- beginnen sich die Tiere nach rund 30 Minuten wieder nor-
ren Meerestieren haben jedoch ebenfalls seltsame Verhal- mal zu verhalten. Die Empfindlichkeit der GABAA-Rezep­
tensweisen zu Tage gefördert. Forscher vom Monterey toren könnte sich jedoch von Tierart zu Tierart unterschei-
Bay Aquarium Research Institute beispielsweise zogen Ein- den, weshalb noch unklar ist, ob hier die Hauptursache
siedlerkrebse in stark versauertem Milieu auf. Die Krebs­ für die beobachteten Verhaltensauffälligkeiten liegt.
tiere zeigten daraufhin keine höhere Risikobereitschaft wie Die entscheidende Frage lautet: Welche Umweltverän-
die Riffbarsche, aber sie brauchten viel länger als sonst, derungen können marine Lebewesen noch tolerieren?
um nach einer vorübergehenden Bedrohung wieder aus Etwa die Hälfte der untersuchten riffbewohnenden Fische
ihren Behausungen herauszukommen. zeigte ein gestörtes Verhalten, wenn der Säuregehalt des
Forscher in Chile wiederum experimentierten mit Con- Wassers auf das für 2050 erwartete Niveau angehoben
cholepas concholepas, einer Spezies aus der Familie der wurde, während unter den für 2100 prognostizierten
Stachelschnecken, die in der Gezeitenzone vor Südameri- Bedingungen praktisch alle betroffen waren. Allerdings
ka lebt. Wenn eine heftige Welle die Tiere von ihren Sitz- wirkte der erhöhte CO2-Gehalt in diesen Experimenten
plätzen spült, heften sie sich normalerweise sehr schnell meist nur einige Tage bis wenige Monate lang ein – ein
wieder am Untergrund fest, damit sie nicht umherdriften kurzer Zeitraum, der nicht wirklich eine Anpassung an die
und dabei zum leichten Opfer werden. Bei steigendem neuen Verhältnisse erlaubt. Zu klären bleibt, wie das bei
CO2- und damit Kohlensäuregehalt im Wasser benötigten Wildtieren ist, die permanent in einem Ozean leben, der
die Schnecken zunächst weniger Zeit, um sich aufzurich- sich allmählich wandelt.
ten, büßten dann aber ihre Fähigkeit ein, lauernden Krebs- Wissenschaftler haben auch schon eine Möglichkeit
tieren in der Nähe zu entgehen. Einige bewegten sich gefunden, dem nachzugehen. Sie untersuchen Riffe in der
sogar direkt auf die Scheren ihrer Fressfeinde zu, statt sich Nähe von Stellen, an denen vulkanische Gase austreten.
davon fernzuhalten. Dort strömt Kohlenstoffdioxid aus dem Meeresboden und
senkt den pH-Wert des Wassers auf Werte ab, wie sie
Erhöhter Säuregehalt beeinträchtigt die allgemein für das Jahr 2100 erwartet werden. Als wir ent-
Weiterleitung von Signalen in Nervenzellen sprechende Riffe in Papua Neuguinea besichtigten, stell-
Die Ozeanversauerung beeinflusst ganz offensichtlich das ten wir fest, dass sich junge Riffbarsche nahe an Gasaus-
Verhalten von Meerestieren. Aber was ist der Mechanis- trittsstellen zum Duft von Raubfischen hin orientieren,
mus dahinter? Einige Forscher fragten sich, ob der sinken- nicht zwischen den Gerüchen von Fressfeinden und harm-
de pH-Wert die Reize selbst verändert, also die Gerüche losen Meeresbewohnern unterscheiden und ein risikorei-
und die Laute. Doch wie Experimente ergeben haben, ches Verhalten an den Tag legen – dieselben Merkwürdig-
können Fische chemische Reize auch in Wasser mit hohem keiten, die wir auch unter Laborbedingungen beobachtet
CO2-Gehalt ohne Weiteres wahrnehmen. Andere Wissen- hatten. Werden diese Verhaltensauffälligkeiten vielleicht
schaftler spekulieren, das veränderte Verhalten der Mee- sogar an die Nachkommen vererbt? Eine Studie hat im-
resbewohner könne eine Stressreaktion auf den niedrigen merhin schon Hinweise darauf geliefert, dass der Nach-
pH-Wert der Umgebung sein. Belege hierfür stehen aller- wuchs riffbewohnender Fische, die unter erhöhtem CO2-
dings vielfach noch aus. Gehalt aufgewachsen waren, offenbar keine Vorteile
Um etwas Licht in diese Angelegenheit zu bringen, hinsichtlich einer Anpassung an niedrige pH-Werte hat.
entschieden Philip Munday von der australischen James Die Versauerung der Ozeane ist nur eine von vielen Um-
Cook University und ich uns dafür, mit Göran E. Nilsson weltveränderungen. Überfischung, steigende Wassertem-
von der Universität Oslo zusammenzuarbeiten. Nilsson peraturen, zunehmende Verschmutzung, das Verschwinden
vermutet, eine Versauerung des Wassers könne den von Spitzenprädatoren wie Haien – all das schadet den
Neurotransmitter-Rezeptor GABAA beeinflussen, der eine marinen Biotopen. Einige Probleme kann man recht erfolg-
wichtige Rolle in den Nervensystemen vieler Tiere spielt – reich lokal angehen, etwa die Bejagung von Haien. Glo­
einschließlich des Menschen. GABAA ist ein ligandenge- balen Entwicklungen wie dem Temperaturanstieg und der
steuerter Chloridionenkanal, der sich öffnet, sobald der Versauerung kommt man damit jedoch nicht bei. Sie
Neurotransmitter GABA (gamma-Aminobuttersäure) an ihn könnten viele ohnehin bedrohte Arten aussterben lassen.
bindet. Das führt zu einer erhöhten Durchlässigkeit der Nur indem wir analysieren, wie sich solche Stressoren
Zellmembran für Chlorid- und Hydrogenkarbonationen, auf die Meeresbewohner auswirken, bekommen wir eine
was die Erregbarkeit der Nervenzelle herabsetzt und die realistische Vorstellung davon, was uns erwartet.
Weiterleitung von Nervensignalen hemmt.
Werden Fische einem erhöhten CO2-Gehalt ausgesetzt, QUELLEN
scheiden sie Chloridionen aus, um mehr Hydrogenkarbonat­
Dixson, D. L. et al.: Odor Tracking in Sharks Is Reduced under
ionen im Organismus anzureichern – ein Versuch, die Future Ocean Acidification Conditions. In: Global Change Biology 21,
Änderungen des pH-Werts im Körper minimal zu halten. S. 1454–1462, 2015
Infolge dieser neuen chemischen Situation werden GABAA- Munday, P. L. et al.: Behavioural Impairment in Reef Fishes Caused
Rezeptoren aktiv und Nervensignale nicht mehr so gut by Ocean Acidification at CO2 Seeps. In: Nature Climate Change 4,
weitergeleitet. Setzt man davon betroffene Fische in einen S. 487–492, 2014

50 Spektrum der Wissenschaft  1.18


www.menschenimfocus.de

Die Chancen der Zukunft.


Die Erfolgsgeschichte des Jeff Bezos im FOCUS.

FOCUS 32/2017

Menschen im
CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN
LIESEGANGSCHE RINGE –
STRUKTURBILDUNG IM
REAGENZGLAS
Im Jahr 1896 entdeckte Raphael Eduard Liesegang erstmals ein Bei-
spiel für Selbstorganisation in der Chemie. Erst ein halbes Jahrhun-
dert später gelang es, solche Erscheinungen umfassend zu erklären.

Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre Didaktik am Institut für Chemie
der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist Abteilungsleiter und
Lehrstuhlinhaber in der Abteilung Chemie der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

 spektrum.de/artikel/1520783


Überall in der Tier- und Pflanzenwelt treten frappie- Diese Entdeckung war so ungewöhnlich, dass drei
rende regelmäßige Strukturen auf – man denke nur an Zeitschriftenredaktionen den Bericht des Forschers darü-
die Symmetrie eines Ahornblattes oder die Streifen im ber ablehnten. Denn obwohl periodisches Verhalten aus
Zebrafell. Aber auch in der unbelebten Natur sind solche der Natur bekannt war, hielten viele Chemiker ihre Diszip-
Muster zu finden, seien es die Rillen im Sandwatt, die lin damals für in wundersamer Weise gefeit gegen derlei
fraktalen Verästelungen von Eiskristallen oder die körnige Phänomene. Nach allgemeiner Ansicht sollte eine Reaktion
Struktur der Sonnenoberfläche, fachsprachlich Granulation so lange stetig weiterlaufen, bis die Ausgangssubstanzen
genannt. Im Reagenzglas würde man derlei dagegen verbraucht waren oder sich ein thermodynamischer
kaum erwarten. Und doch ist schon seit Langem bekannt, Gleichgewichtszustand eingestellt hatte. Zwar waren auch
dass es auch bei chemischen Reaktionen zu einer räumli- vor Beloussows Entdeckung bereits periodische Erschei-
chen und zeitlichen Selbstorganisation kommen kann. Für nungen in der Chemie beobachtet worden. Doch galten
solche Erscheinungen hat der russisch-belgische Physiko- sie als nicht reproduzierbare Laborkuriositäten, die von
chemiker Ilya Prigogine (1917–2003) den Ausdruck dissipa- äußeren Störungen im Verlauf der Umsetzung herrührten.
tive Strukturen geprägt. Als Pionier auf dem Gebiet der Tatsächlich schien der zweite Hauptsatz der Thermo­
Nichtgleichgewichtsthermodynamik erhielt er 1977 den dynamik oszillierende Reaktionen zu verbieten. Demnach
Nobelpreis für Chemie. kann die Entropie eines chemischen Systems, die ein Maß
für seinen Ordnungszustand ist, immer nur zunehmen.
Eine Entdeckung, die niemand glauben wollte Das heißt, dass Reaktionen stets zu einer größeren Unord-
In dissipativen Systemen können zeitliche, raumzeitliche nung unter den beteiligten atomaren Bestandteilen führen
und räumliche Muster auftreten. Das bekannteste Beispiel sollten. Würden sie im periodischen Wechsel vorwärts und
für eine Reaktion, die in einem periodischen Zeittakt rückwärts ablaufen, nähme der Ordnungsgrad und damit
abläuft, beruht auf einer eher zufälligen Entdeckung des die Entropie im Widerspruch zum zweiten Hauptsatz der
russischen Chemikers und Biophysikers Boris Pawlowitsch Thermodynamik zwischenzeitlich immer wieder ab.
Beloussow (1893–1970) um 1950. Bei der Oxidation von Diesen scheinbaren Widerspruch löste erst Prigogine
Citronensäure mit Kaliumbromat und einem Cer(IV)-Salz in auf. Er erkannte, dass die klassische Thermodynamik nur
schwefelsaurer Lösung bemerkte er, dass die gelbe Farbe für abgeschlossene Systeme gilt, die sich nahe an ihrem
des Cer(IV)-Ions rhythmisch verschwand und wieder Gleichgewichtszustand befinden. Gleichgewichtsferne,
auftauchte. offene Systeme, die beständig Energie und Materie mit

52 Spektrum der Wissenschaft  1.18


MATTHIAS DUCCI
Bei der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion wandern blaue Fronten durch eine rote Lösung.

der Umgebung austauschen, können dagegen quasi En- nach dem Kolloidchemiker Raphael Eduard Liesegang
tropie exportieren. Das erlaubt ihnen, ihren Ordnungsgrad (1869–1947), der in der Literatur oft als Sonderling be-
vorübergehend zu erhöhen und so in einem zeitlichen schrieben wird. Er war in der Tat ein eigenwilliger, aber
Rhythmus zu pulsieren, ohne den zweiten Hauptsatz zu sehr erfolgreicher Forscher mit ausgeprägten künstleri-
verletzen. schen Neigungen.
Beloussow brachte seinen Bericht schließlich in einem
Tagungsband über Strahlungsmedizin unter. Wahrschein- Wissenschaftler, Maler und Dramatiker
lich wäre die Publikation in der Versenkung verschwunden, Liesegang entstammte einer alteingesessenen Fabrikan-
hätte nicht der Biophysiker Simon E. Schnoll von der Lo- tenfamilie im Ruhrgebiet – schon sein Großvater hatte
monossow-Universität in Moskau seinen Mitarbeiter Ana- Fotokameras sowie Fotopapier (Albuminpapier) herge-
toli Markowitsch Schabotinski (1938–2008) mit der genaue- stellt. 1869 in Elberfeld (heute Wuppertal) geboren, interes-
ren Untersuchung des ungewöhnlichen Phänomens beauf- sierte er sich bereits in der Schule, die er nur mit Mühe
tragt. Dieser erkannte unter anderem, dass das Cer(IV)-Ion absolvierte, für Fotografie und die ihr zu Grunde liegenden
als Elektronenüberträger fungiert. Er ersetzte es daraufhin chemischen Prozesse. Zunächst wollte er Maler werden,
durch ein Eisensalz, was einen periodischen Farbumschlag entschied sich unter väterlichem Druck aber um und
zwischen Rot und Blau bewirkte. In der fachwissenschaft­ begann 1888 in Freiburg Chemie zu studieren. Obwohl er
lichen Literatur wird die Reaktion seither – gemäß der eng- so gut wie keine Vorlesung besuchte, verfasste er in dieser
lischen Transkription der russischen Namen – als Belousov- Zeit bereits wissenschaftliche Zeitschriftenartikel und
Zhabotinsky- oder kurz BZ-Reaktion bezeichnet (Spektrum Bücher, unter anderem über lichtempfindliche organische
Mai 1980, S. 131, und Mai 1983, S. 98). Silbersalze sowie über das »electrische Fernsehen«.
Andere Forscher entwickelten weitere Varianten dieses Im Jahr 1892 kehrte Liesegang ohne Abschluss in die
chemischen Oszillators. So kombinierten ihn Thomas S. väterliche fotochemische Fabrik zurück. Dort forschte er
Briggs und Warren C. Rauscher an der Galileo High School weiter und übernahm nach dem Tod des Vaters mit zwei
in San Francisco mit einer ebenfalls periodisch ablaufen- Brüdern die Leitung des Unternehmens. Ab 1908 löste er
den Reaktion – der Reduktion von Iodat (IO3-) durch Was- sich von seinen Pflichten und betätigte sich fortan als
serstoffperoxid (H2O2) –, die William C. Bray (1879–1946) reiner Grundlagenforscher. Dabei machte er auch ohne
schon 1921 entdeckt hatte. Dadurch kommt es zu einem akademischen Titel eine beeindruckende Karriere, an
sehr eindrucksvollen oszillierenden Farbumschlag von deren Ende er 1937 sogar die Leitung des Instituts für
farblos über goldgelb nach blau. Eine umfassende Theorie Kolloidforschung in Frankfurt am Main übernahm.
zum Mechanismus der BZ-Reaktion stellten 1972 Richard Bis zu seinem Tod verfasste Liesegang über 800 Publi-
J. Field, Endre Körös und Richard M. Noyes von der Uni- kationen. Er sprach sieben Fremdsprachen (darunter
versity of Oregon auf. Malayisch) und schrieb etliche Dramen. Angesichts seiner
Auch eine raumzeitliche Strukturbildung lässt sich bei Vielseitigkeit auf geistiger Ebene wie in praktischen
der BZ-Reaktion beobachten. Eine wässrige Lösung, Dingen bezeichneten ihn seine Freunde gern als »polyvari-
welche die Ausgangssubstanzen in etwas anderen Kon- ables System«. Liesegang selbst resümierte in seiner
zentrationsverhältnissen enthält, erscheint in einer Glas- Autobiografie: »Ich bin ein freier Student geblieben.«
schale anfangs einheitlich rot. Doch plötzlich treten kleine Das nach ihm benannte, verblüffende Phänomen ent-
blaue Punkte auf, von denen im weiteren Verlauf kreisför- deckte der Forscher im Jahr 1896 während seiner Untersu-
mige, blaue Wellenfronten ausgehen und sich stetig chungen zum Wachstum von Kristallen in Gelen. Bei
ausdehnen (Bild oben). einem Experiment platzierte er einen Tropfen Silbernitrat-
Für die Entstehung räumlicher Muster schließlich bilden lösung auf eine erstarrte Gelatinelösung, der er Kalium­
die Liesegangschen Ringe ein eindrucksvolles Beispiel, dichromat zugesetzt hatte. Die Salze in beiden Lösungen
+
das wir hier näher betrachten möchten. Benannt sind sie sind dissoziiert: Die erste enthält Silber- (Ag ) und Nitrat-

Spektrum der Wissenschaft  1.18 53


handelt es sich um eine empirisch ermittelte Konstante,
MATTHIAS DUCCI

die angibt, wie groß das Produkt der Konzentrationen (c)


der Ionen in der betreffenden Lösung maximal sein kann.
Im Fall von Silberchromat in Wasser lautet es:

+ 2 2– –12 3 3
KL = c(Ag ) ∙ c(CrO4 ) = 1,9*10 mol /L

+
Der Faktor c(Ag ) wird quadriert, weil in der Reaktions-
gleichung eine »2« vor den Silber-Ionen steht. Sobald
das Produkt der Konzentrationen beider Ionen gemäß der
obigen Gleichung den Wert von KL überschreitet, fällt
Silberchromat aus. Da dieser Wert sehr klein ist, geschieht
das fast sofort, und das obige Gleichgewicht liegt weit auf
der rechten Seite.
Während der Tropfen in die Gelatineschicht diffundiert,
entsteht also zunächst eine kreisförmige Zone aus rotem
Silberchromat. Doch dann passiert etwas Überraschendes:
Beim Auftropfen von Silbernitratlösung auf eine erstarrte, Der Niederschlag in der Gelatine breitet sich nicht kontinu-
wässrige Gelatineschicht, welche Chromat-Ionen enthält, ierlich aus. Stattdessen bilden sich zahlreiche konzentri-
entstehen Ringe aus rotem Silberchromat (links). Sie werden sche Kreise aus Silberchromat mit farblosen Zwischenräu-
nach ihrem Entdecker als Liesegangsche Ringe bezeichnet. men (Bild links). Der Abstand zwischen den Ringen nimmt
Im Reagenzglas bilden sich mit den gleichen Substanzen far- mit der Entfernung vom Mittelpunkt zu. In den Zwischen-
bige Bänder (rechts). räumen ist die anfangs durch die Chromat-Ionen gelb
schimmernde Gelatine entfärbt. Liesegang selbst bezeich-
nete die Ringe als A-Linien. Erst später erhielten sie den
– +
Ionen (NO3 ), die zweite Kalium- (K ) und Dichromat-Ionen Namen ihres Entdeckers.
2–
(Cr2O7 ). Letztere reagieren mit Wasser teilweise zu Chro-
2–
mat-Ionen (CrO4 ). Treffen diese nun auf Silber-Ionen, fällt Wie Übersättigung
rotes, schwer lösliches Silberchromat aus. Die zugehörige zu periodischen Farbmustern führt
Reaktionsgleichung lautet (die Symbole »aq« und »s« be- Wie lässt sich dieses frappierende Muster erklären? Dazu
deuten »in Wasser gelöst« beziehungsweise »fest«): gibt es zahlreiche Theorien. Viele haben einen Grundge-
danken gemeinsam, den Wilhelm Ostwald (1853–1932)
2–
2 Ag+(aq) + CrO4 (aq)     Ag2CrO4(s) schon 1897 in seiner Übersättigungstheorie formulierte
Silber-Ionen + Chromat-Ion     Silberchromat und der noch heute im Grundsatz als zutreffend gilt.
Demnach sorgen die Silber-Ionen, während sie vom Auf-
Allerdings vereinigen sich nicht alle Silber- und Chro- tropfpunkt der Silbernitratlösung nach außen diffundieren,
mat-Ionen zum roten Silberchromat; ein kleiner Teil bleibt für die Ausfällung von Silberchromat. Damit erniedrigen
in Lösung. Wie der Doppelpfeil in der obigen Reaktions- sie im Umkreis die Konzentration an Chromat-Ionen,
gleichung andeutet, stellt sich nämlich ein Gleichgewicht wodurch ein Konzentrationsgefälle zu weiter außen
zwischen den Ausgangssubstanzen und dem Reaktions- gelege­nen Regionen entsteht. Von dort wandern deshalb
produkt ein. Entscheidend für die Lage dieses Gleichge- Chromat-Ionen ein. Das aber lässt die umliegende Zone an
wichts ist das so genannte Löslichkeitsprodukt (KL). Dabei solchen Ionen verarmen. In diesem Bereich wird das
MATTHIAS DUCCI

Hübsche Liesegang-Bänder
lassen sich auch mit an-
deren Reagenzien erzeu-
gen. In den hier gezeigten
Beispielen bestehen sie
aus Cobalthydroxid, Man-
ganhydroxid, Bleiiodid
und Bleihydroxid (von links
nach rechts).

54 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Löslichkeitsprodukt deshalb nicht mehr überschritten, Mit allgemein

MATTHIAS DUCCI
sobald die Silber-Ionen auf ihrem weiteren Weg nach zugänglichen
außen dorthin gelangen. Erst dahinter kommt es wieder Chemikalien
zur Ausfällung von Silberchromat, und der geschilderte können auch
Vorgang wiederholt sich. Dazu passt die Beobachtung, chemische Laien
dass sich die gelbe Gelatineschicht zwischen den Ringen daheim Liese-
entfärbt. gang-Bänder aus
Die Übersättigungstheorie erklärt auch, warum der Magnesiumhy­
Abstand zwischen den Ringen nach außen zunimmt. droxid (links)
Demnach wird das Löslichkeitsprodukt von Silberchromat und Calciumcar-
erst in immer weiterer Entfernung vom Auftropfpunkt bonat (rechts)
erneut überschritten, weil sich die Konzentration der her­stellen.
nachdiffundierenden Silber-Ionen durch wiederholte
Ausfällung des Salzes stetig verringert.
Allerdings reicht die Übersättigungstheorie allein nicht
aus, um das Konzentrationsgefälle an Chromat-Ionen
hinter einem gebildeten Ring zu erklären. Als weiterer
Faktor kommt hinzu, dass das ausgefallene Silberchromat
als Barriere wirkt, welche die nachfolgenden Silber-Ionen fälle, so dass im zeitlichen Mittel mehr Ionen aus der
überwinden müssen. Das liefert die notwendige Zeit, Umgebung eines kleinen Kristalls in Richtung des größe-
damit sich der Konzentrationsgradient bilden kann. ren Nachbarn diffundieren als umgekehrt. Als Folge davon
Analoge periodische Strukturen lassen sich auch im werden aus dem Gleichgewicht zwischen fester und
Reagenzglas erzeugen. Dazu gießt man eine mit Kalium- gelöster Phase des kleineren Kristalls ständig Ionen ent-
chromat versetzt Gelatinelösung hinein und überschichtet fernt, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Auf diese Weise
sie nach dem Erstarren mit einer Silbernitratlösung. An der entstehen Ansammlungen immer größerer Kristalle.
Grenze zwischen beiden fällt sofort rotes Silberchromat Diskontinuierliche Fällungserscheinungen sind übrigens
aus. Diese Niederschlagszone dehnt sich in den folgenden keineswegs auf Gele beschränkt. Man muss nur eine
Minuten etwa einen halben Zentimeter weit in die Gelatine mechanische Durchmischung der Lösungen verhindern,
hinein aus. Doch nach einer halben Stunde setzt sich die um zu gewährleisten, dass die Umsetzungsprodukte an
Ausfällung nicht mehr kontinuierlich fort. Vielmehr entste- Ort und Stelle bleiben. Dies ist zum Beispiel in dünnen
hen unter der anfänglichen, gleichförmigen Niederschlags- Kapillarröhren (mit Durchmessern von 0,1 bis 0,3 Millime-
zone deutlich voneinander abgesetzte rote Schichten (»Lie- tern) der Fall. In ihnen lassen sich deshalb nach dem
segang-Bänder«). Diese liegen zunächst noch sehr eng gleichen Prinzip ganz ohne Gelatine geschichtete Struktu-
zusammen, doch mit fortschreitender Versuchsdauer ren erzeugen.
nimmt der Abstand zwischen ihnen wie bei den Liese- Rhythmische Fällungen treten sogar bei Reaktionen
gangschen Ringen stetig zu. zwischen gasförmigen Stoffen auf, so etwa bei der Bil-
dung von festem Ammoniumchlorid aus Chlorwasserstoff
Die Großen wachsen auf Kosten der Kleinen und Ammoniak, wenn man beide Gase in einem 50 Zenti-
Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass solche Muster bei meter langen Glasrohr mit vier Millimeter Durchmesser
vielen Elektrolytpaaren auftreten, die beim Mischen einen gegeneinander diffundieren lässt. Die zugehörige Reakti-
schwer löslichen Niederschlag bilden (Bild links unten). onsgleichung lautet (das Symbol (g) steht für gasförmig):
Manchmal entstehen allerdings statt kompakter Bänder
kristalline Schichtungen, die nicht als Diffusionsbarriere HCl(g) + NH3(g)     NH4Cl(s)
wirken können. Dieses Phänomen lässt sich mit der »Ost- Chlorwasserstoff + Ammoniak     Ammoniumchlorid
wald-Reifung« erklären, einer Theorie, die Ostwald eben-
falls im Zusammenhang mit der von Liesegang entdeckten Chemische Strukturbildung im Heimversuch
Strukturbildung im Jahr 1900 aufstellte. Demnach enthält Laien können die Chemikalien für die bisher beschrie­
der Niederschlag, sofern er nicht amorph (strukturlos) ist, benen Liesegang-Strukturen normalerweise nicht erwer-
unterschiedlich große Kristalle, die in ihrem Wachstum ben. Das ist auch gut so, denn einige Substanzen sind
konkurrieren. potenziell gesundheitsschädlich. So ist Kaliumdichromat
Laut Ostwald wachsen große Exemplare schneller als umweltgefährdend und giftig. Es kann Krebs erzeugen,
kleine – wofür Walter Kossel (1888–1956) und Iwan Stran- das Erbgut verändern und die Fortpflanzung beeinträch­
ski (1897–1979) mit ihren kinetischen Betrachtungen des tigen. Dennoch besteht auch für Nichtchemiker die Mög-
Vorgangs erst Jahre später eine theoretische Begründung lichkeit, im Heimversuch Liesegang-Bänder herzustellen.
lieferten. Das führt letztlich dazu, dass sich die kleinen Zwei entsprechende Experimente möchten wir hier be-
Kristalle auflösen und nur die großen übrig bleiben. Deren schreiben. Für das erste benötigen Sie ein Reagenzglas
unmittelbare Umgebung verarmt durch das raschere mit Stopfen, zwei Bechergläser (0,1 Liter), Haushaltsgela­
Wachstum nämlich schneller an verfügbaren Ionen als tine und Salmiakgeist (neunprozentige Ammoniaklösung
die der kleineren. Dadurch entsteht ein Konzentrationsge- aus dem Baumarkt) sowie Magnesiumchlorid-Hexahydrat

Spektrum der Wissenschaft  1.18 55


MATTHIAS DUCCI

Achate weisen ähnlich wie die Liesegang-Muster gebänderte Strukturen auf.

2+ 2–
(MgCl2  ∙  6 H2O). Dieses Salz ist Hauptbestandteil bestimm- Ca (aq) + CO3 (aq)     CaCO3(s)
ter Badezusätze, wie den im Internet erhältlichen »Magne- Calcium-Ion + Carbonat-Ion     Calciumcarbonat
sium Flakes« von Zechstein – eine irreführende Bezeich-
nung, da es sich natürlich nicht wirklich um Magnesium- Liesegang-Ringe und -Bänder lassen sich aber nicht nur
späne handelt, die mit dem Badewasser unter Hitzeent- künstlich erzeugen, sondern treten offenbar auch in der
wicklung zu einer ätzenden Lauge reagieren würden. Natur auf. Gebänderte Strukturen, die ihnen stark ähneln,
Zunächst lösen Sie 1,5 Gramm Gelatine unter Erwärmen finden sich vor allem in der Geologie. Als Beispiel seien
und Rühren in 50 Milliliter Wasser. Anschließend nehmen Feuersteinschichten in Kreidefelsen genannt. Auch die
Sie 15 Milliliter der noch warmen Lösung und versetzen sie Achate und andere Minerale erinnern mit ihren charakte-
mit 0,25 Gramm Zechsteiner Magnesium-Flakes. Rühren ristischen konzentrischen Ringmustern an Liesegangsche
Sie das Gemisch, bis sich alles vollständig aufgelöst hat. Strukturen (Bild oben). Früher hielt man diese Erscheinun-
Dann gießen Sie die Flüssigkeit in das Reagenzglas und gen für das Ergebnis einer ungleichmäßigen Stoffzufuhr.
lassen die Gelatine erstarren – was schneller geschieht, Heutzutage überwiegt jedoch die Ansicht, dass Vorgänge
wenn Sie das Gefäß in den Kühlschrank stellen. Schließ- analog der Bildung von Liesegang-Mustern dafür verant-
lich überschichten Sie das Gel ein bis zwei Zentimeter wortlich sind.
hoch mit Salmiakgeist und verschließen das Reagenzglas In der Biologie kommen ebenfalls konzentrische Ringe
mit einem Stopfen. vor – zum Beispiel bei Bakterien- und Pilzkulturen, die auf
Im zweiten Experiment verfahren Sie analog, nehmen Agar in Petrischalen wachsen. Das lässt sich damit erklä-
aber statt der Magnesium-Flakes 0,2 Gramm Calcium­ ren, dass durch die Nahrungsaufnahme ein Konzentrati-
chlorid, das zum Beispiel als Adsorptionsmaterial in che- onsgradient entsteht, durch den das benachbarte konzent-
mischen Raumentfeuchtern enthalten ist. Zum Über- rische Gebiet an Nahrung verarmt. Dort findet deshalb
schichten dienen diesmal zwei bis drei Milliliter einer Lö- keine weitere Vermehrung statt. Erst in einer weiter ent-
sung von 0,5 Gramm Natriumcarbonat (»Haushaltssoda«, fernten Region gibt es wieder genug Nahrung, so dass
Na2CO3) in zehn Millilitern Wasser. hier die nächste Generation heranwächst.
In beiden Fällen entstehen – mitunter erst nach einigen
Tagen – im Reagenzglas periodische weiße Niederschläge, QUELLEN
die Liesegang-Bänder (siehe Bild S. 54). Im ersten Expe­
Beneke, K.: Liesegang named in Literature. Kiel 2006.
riment bestehen sie aus Magnesiumhydroxid, wobei die Online unter: www.uni-kiel.de/anorg/lagaly/group/klausSchiver/
Hydroxid-Ionen aus der alkalischen Ammoniaklösung liesegangliterature-1.pdf
stammen (das Symbol »l« steht für »flüssig«): Deutsch, A. (Hg.): Muster des Lebendigen. Friedrich Vieweg &
Sohn, Braunschweig 1994
+ –
NH3(aq) + H2O(l)     NH4 (aq) + OH (aq)
Ducci, M.: Periodische und chaotische Oszillationserscheinungen
Ammoniak + Wasser     Ammonium-Ion + Hydroxid-Ion an Metallelektroden und elektrochemische Modellexperimente zur
Erregungsleitung an Nerven. Dissertation, Oldenburg 2000
2+ –
Mg (aq) + 2OH (aq)     Mg(OH)2(s) Henisch, H. K.: Crystals in Gels and Liesegang-Rings. Cambridge
Magnesium-Ion + Hydroxid-Ionen     Magnesiumhydroxid University Press, Cambridge 1988
Kuhnert, L., Niedersen, U. (Hg.): Ostwalds Klassiker der exakten
Im zweiten Experiment scheidet sich hingegen Calcium- Wissenschaften 272. Akademische Verlagsgesellschaft Geest &
carbonat aus: Portig, Leipzig 1987

56 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Spektrum
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GRAVITATONSWELLEN
DAS RAUMZEITBEBEN
VON NGC 4993
Vor 130 Millionen Jahren kollidierten in einer fernen Galaxie
zwei Neutronensterne. Das Ereignis hielt tausende Forscher
wochenlang in Atem – und beantwortet gleich mehrere
große Fragen der Astrophysik.

Robert Gast ist Physiker und Spektrum-Redakteur.

 spektrum.de/artikel/1520785


Millionen Jahre haben sich die beiden Neutronenster- Solch ein Gamma-ray Burst (GRB) zählt zu den größten
ne in sicherem Abstand umkreist, dann geht alles ganz Katastrophen in einem an Katastrophen nicht gerade
schnell: Die Schwerkraft zwingt die Sternleichen in armen Kosmos: Binnen Sekundenbruchteilen setzt der
einen Walzer, der mit jeder Umdrehung etwas enger wird. Strahlenausbruch so viel Energie frei wie unsere Sonne in
Schließlich wirbeln die aberwitzig kompakten Kugeln fast ihrer gesamten Lebenszeit.
mit Lichtgeschwindigkeit umeinander. Kurz darauf krachen Schauplatz dieses Spektakels ist die Galaxie NGC 4993.
sie zusammen und verschmelzen zu einem noch schwe­ 130 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt erscheint sie
reren Masseklumpen, vermutlich einem Schwarzen Loch. auf Teleskopbildern als fahler Fleck am Südsternhimmel.
Auch im Umfeld dieses kosmischen Friedhofs geht es Bis zum 17. August 2017 dürften sie allenfalls ein paar
brachial zu. 1,7 Sekunden nach dem Zusammenstoß Berufsastronomen gekannt haben. Doch an diesem Tag
schießen zwei Bündel intensiver Gammastrahlung ins All. flackert plötzlich ein heller Punkt unweit des Zentrums der
Galaxie auf – das Licht des Gammastrahlenausbruchs, das
nach einer langen Reise die Erde erreicht hat.
Es ist der Startschuss für eine beispiellose Beobach-
AUF EINEN BLICK tungskampagne, die rund 70 Observatorien und Tausende
TANZ ZWEIER NEUTRONENSTERNE von Astronomen wochenlang in Atem halten wird. Am
Ende werden Wissenschaftler mit Hilfe von NGC 4993 zwei

1 Am 17. August 2017 erreichten die Gravitationswellen große Rätsel lösen. Und sie werden den 17. August als
zweier Neutronensterne, die vor 130 Millionen Jahren historischen Tag feiern – als Beginn eines neuen Zeitalters,
in der Galaxie NGC 4993 verschmolzen sind, die Erde. wenn es darum geht, kosmische Ereignisse zu deuten.
Zunächst aber übersehen die Forscher den Blitz aus

2  ast gleichzeitig registrierten Satelliten im Erdorbit


F
einen kurzen Gammablitz, der bei der Kollision der
extrem kompakten Objekte ins All gefeuert wurde.
NGC 4993 fast. Um 14:41:06 Uhr mitteleuropäischer Som-
merzeit bewegt sich der NASA-Forschungssatellit Fermi
gerade über den Atlantik vor der Küste Nordbrasiliens
hinweg. Zwei Minuten später wird das Gerät, das im Erd-

3  utzende Observatorien verfolgten über Tage und


D
Wochen das Nachglimmen der Explosion – und haben
so unter anderem entschlüsselt, woher besonders
orbit ständig nach Gammablitzen Ausschau hält, in den
Bereich der so genannten Südatlantischen Anomalie ein-
schwere Elemente wie Gold und Platin stammen. treten. Dort reicht der Van-Allen-Strahlungsgürtel beson-
ders dicht an die Erde heran und Fermi muss zur Sicherheit
seine Detektoren ausschalten. Doch die Wissenschaftler
haben Glück: Kurz vor dem Abschalten der Elektronik regis-

58 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Wenn zwei Neutornensterne kollidieren,
versetzen sie die Raumzeit in Schwingung – und feuern
extrem energiereiche Strahlenbündel ins Weltall.

NSF / LIGO / SONOMA STATE UNIVERSITY / A. SIMONNET


trieren die Sensoren einen Schwall hochenergetischer gewiesen: Um 14:41:04 Uhr schlug in Hanford im US-Bun-
Photonen. 14 Sekunden später versendet der Satellit eine desstaat Washington ein Detektor des Advanced Laser
E-Mail über das Gamma-ray Burst Coordinates Network Interferometer Gravitational-Wave Observatory (LIGO) aus.
und alarmiert damit Astronomen in aller Welt. Einige davon Mit der vier Kilometer großen Hightech-Maschine
prüfen daraufhin die Datenbank des ESA-Satelliten INTEG- fahndet eine etwa 1000-köpfige Forschergruppe seit gut
RAL und stellen fest: Auch er hat das Aufflackern gesehen. zwei Jahren nach Gravitationswellen. So nennen Physiker
winzige Erschütterungen der Raumzeit, die von beschleu-
Ein Gammablitz der besonderen Art: Begleitet von nigten Massen ausgehen und sich mit Lichtgeschwin­
Gravitationswellen digkeit ausbreiten. Kurz nach Inbetriebnahme hatte das
Das allein ist für die Wissenschaftler aber noch kein Grund amerikanische Laser-Interferometer und sein Zwilling in
zur Aufregung. Mehrmals pro Woche registrieren Instru- Livingston, Louisiana, erstmals ein solches Raumzeitbeben
mente einen der Helligkeitsausbrüche im Gammalicht. aufgespürt, 100 Jahre nachdem Albert Einstein das Phäno-
Normalerweise versucht daraufhin eine Hand voll Telesko- men in seiner allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt
pe die Quelle des Blitzes zu orten und so vielleicht das hatte. Die Gravitationswellen des Jahres 2015 gingen
Nachglimmen der Explosion zu beobachten – astronomi- allerdings von zwei Schwarzen Löchern aus, die 1,4 Milli-
scher Alltag. GRB 170817A aber versetzt tausende Forscher arden Lichtjahre von der Erde entfernt kollidiert waren. Für
in helle Aufregung. Wenige Minuten nach Fermis E-Mail die Entdeckung haben drei der Wissenschaftler im De­
wird klar: Erstmals in der Geschichte der Astronomie hat zember 2017 den Physik-Nobelpreis erhalten (siehe »Auf
auch ein ganz anderes Messgerät die ferne Explosion nach- Einsteins Fährte«, Spektrum Dezember 2017, S. 24).

Die Galaxie NGC 4993 Am 17. August 2017 taucht in der 130 Millionen Licht-
jahre entfernten Galaxie NGC 4993 im Sternbild Was-
serschlange ein heller Punkt auf, der erst nach Wochen
wieder verblasst. Das Bild zeigt Aufnahmen des Hubb-
le-Teleskops.
NASA AND ESA (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1733N/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

22. August 2017 26. August 2017 28. August 2017

60 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Ursprung

JENNIFER JOHNSON / SDSS (MEDIAASSETS.CALTECH.EDU/NSM#IMAGES); BEARBEITUNG: SUW-GRAFIK


Urknall
Kernspaltung durch kosmische Strahlung
der Elemente explodierende massereiche Sterne

/ CC BY 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0/LEGALCODE)
explodierende Weiße Zwerge
Nur Wasserstoff, Helium und
sterbende massearme Sterne
Spuren von Lithium entstanden
unmittelbar nach dem Urknall.
Schwerere Elemente bilden sich
durch Kern­reak­tio­nen im Innern
von Sternen oder bei Super­
nova-Explosionen. Die wichtigs-
te Quelle für die schwersten verschmelzende Neutronensterne
Elemente sind verschmelzende
Neutronensterne, wie die
Beobachtung der Kilonova in
der Galaxie NGC 4993 belegt.

Seit Längerem haben die LIGO-Forscher gespannt auf nensternen ins All gefeuert werden. Zur selben Zeit wur-
ein anderes Ereignis gewartet, das ihnen früher oder den Wissenschaftler auch auf ein anderes Phänomen
später eigentlich ins Netz gehen müsste: Die Verschmel- aufmerksam, das auf den ersten Blick wenig mit diesen
zung zweier Neutronensterne. Sie verläuft gemächlicher Pulsaren zu tun zu haben schien: Im Jahr 1967 fingen
als der Zusammenstoß von Schwarzen Löchern; das Satelliten des US-­Militärs Gammastrahlenblitze auf, die
Raumzeitbeben währt mehrere Minuten statt nur einiger nicht etwa auf Atomwaffentests zurückgingen, sondern
Dutzend Millisekunden. Für Astronomen ist solch ein Er- einen extraterrestrischen Ursprung haben mussten. Mit
eignis noch spannender als der Totentanz zweier Schwar- der Zeit wiesen Astronomen immer mehr dieser Gamma-
zer Löcher. Während Letztere in völliger Dunkelheit ver- ray Burts nach.
schmelzen, fluten kollidierende Neutronensternen das
Weltall mit elektromagnetischer Strahlung. Der längeren Gammaausbrüche
So weit zumindest die Theorie. Bis zum 17. August 2017 stammen von gigantischen Supernovae
konnte niemand mit Gewissheit sagen, was bei einem Schließlich erkannten die Forscher nicht nur, dass die
Neutronenstern-Rendezvous wirklich geschieht. Die ultra- Signale von außerhalb der Milchstraße stammen, sondern
kompakten Himmelsobjekte zählen seit Langem zu den auch, dass es zwei Typen von GRBs gibt. Manche Gamma-
großen Mysterien der Astrophysik. Sie entstehen, wenn strahlenausbrüche dauern etwa eine halbe Minute, andere
ein großer Stern in einer Supernova explodiert und der nur Sekundenbruchteile. Der Ursprung der längeren GRBs
Kern des Aschehaufens unter seiner eigenen Schwerkraft ist seit dem Jahr 2003 bekannt: Sie gehen auf extrem
zusammenstürzt. Übrig bleibt eine Art Zwischenstadium massereiche Sterne zurück, die ihren Kernbrennstoff auf-
zwischen Sonne und Schwarzem Loch: Neutronensterne gebraucht haben und in einer besonders heftigen Super-
bringen meist das ein- bis zweifache der Masse unseres nova explodieren, einer so genannten Hypernova.
Zentralgestirns auf die Waage, haben aber gerade mal Die kurzen Gammablitze blieben dagegen ein Rätsel.
einen Durchmesser von ungefähr 20 Kilometern, was etwa Sie ereignen sich auch in Regionen des Alls, in denen es
dem 100 000stel der Größe unserer Sonne entspricht. nur wenige extrem voluminöse Sterne gibt, was für einen
Dass die leuchtschwachen Kugeln nicht komplett in anderen Entstehungsmechanismus sprach. Wissenschaft-
sich zusammenfallen, lässt sich mit einer Überlegung des ler diskutierten im Lauf der Jahre zahlreiche Theorien. Mit
berühmten Physikers Wolfgang Pauli erklären. Demnach der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass nur sehr
können mehrere Neutronen oder andere subatomare wenige Ereignisse die gewaltigen Energiemengen freiset-
Partikel vom Typ der Fermionen nicht denselben quanten- zen könnten. Am wahrscheinlichsten schien vielen Phy­
physikalischen Zustand einnehmen. Entsprechend wehren sikern die Verschmelzung zweier kompakter, großer Mas-
sie sich gegen eine zu starke Komprimierung. Erst die sen zu einem noch schwereren Objekt – dabei werden
2
Schwerkraft einer Masse von mehreren Dutzend Sonnen getreu Einsteins berühmter Formel E = mc gewaltige
überkommt diesen Gegendruck, wodurch eine Sternleiche Mengen Energie freigesetzt.
zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Neutronensterne boten sich hier aber erst auf den
Seit den 1960er Jahren ist klar, dass Neutronensterne zweiten Blick als Kandidaten an, denn für gewöhnlich sind
weit mehr als ein Hirngespinst sind: Damals spürten die Exoten Einzelgänger. Als Paar kommen sie im Grunde
Astrophysiker periodische Radiowellenpulse auf, die, wie nur dann vor, wenn zwei benachbarte Riesensterne nach-
sich herausstellen sollte, von schnell rotierenden Neutro- einander kollabieren und trotz der dabei auftretenden

Spektrum der Wissenschaft  1.18 61


Supernova-Explosionen aneinander gebunden bleiben. In irdisches Störsignal hat den zweiten Detektor des Gravi­
unserer Galaxie ist etwa ein Dutzend solcher Paare be- tationswellen-Observatoriums verwirrt. Ein Blick in die
kannt, die jedoch erst in ferner Zukunft kollidieren werden. Aufzeichnungen der Maschine zeigt jedoch: Drei Millise­
Am bekanntesten ist vermutlich ein 1974 von Russell kunden vor LIGO-Hanford hat auch LIGO-Livingston das
Hulse und Joseph Taylor entdecktes System, das 21 000 Gravitationswellensignal aufgefangen.
Lichtjahre von der Erde entfernt ist und für dessen Entde- Um 15.21 Uhr schicken die Forscher eine E-Mail mit
ckung die beiden Forscher 1993 den Physik-Nobelpreis allen wichtigen Informationen um die Welt. In hunderten
erhielten. Dort umrunden sich zwei Neutronensterne alle Büros schrecken Astronomen auf. Zu diesem Zeitpunkt
acht Stunden einmal, wobei einer von ihnen Radiopulse in weiß allerdings noch keiner von ihnen, wo genau die Neut-
Richtung Erde sendet. In ungefähr 300 Millionen Jahren ronensternverschmelzung stattgefunden hat, und ob sie
werden die beiden Objekte verschmelzen, vermuten Wis- tatsächlich mit dem von Fermi aufgefangenen Gammablitz
senschaftler. Aber was passiert dann? Und finden solche zusammenhängt – im Prinzip könnte es sich auch um
Ereignisse wirklich oft genug statt, um als Ursprung der einen Zufall handeln. Der GRB-Detektor an Bord des
kurzen Gammablitze in Frage zu kommen? Satelliten kann nur grob die Himmelsregion ermitteln, aus
Letzteres schien tatsächlich der Fall zu sein: Schätzun- der einer der Blitze stammt. Und auch die beiden LIGO-­
gen zufolge kommt es in einer Galaxie wie unserer zwar Interferometer können den Ursprung eines Gravitations-
nur etwa einmal in einer Million Jahre zu einer Neutronen- wellensignals nur grob orten.
sternverschmelzung. Aber mittlerweile verfolgen Astrono- Aber die Forscher haben erneut Glück: Im August 2017
men das Geschehen in zig Millionen Galaxien in unserer ist nicht nur LIGO in Betrieb, sondern erstmals auch der
erweiterten kosmischen Nachbarschaft – rein statistisch kürzlich modernisierte Gravitationswellendetektor Virgo
müsste also alle paar Tage die Kunde einer fernen Katast- nahe der italienischen Stadt Pisa. Die drei Kilometer große
rophe die Erde erreichen. Maschine ist weniger leistungsfähig als ihre amerikani-
Für die erste Frage fehlte all die Jahre jedoch ein ent- schen Pendants, liefert aber einen entscheidenden Hin-
scheidendes Puzzlestück: Ein Hinweis auf die physikali- weis: Virgo hat zwar kein eindeutiges Gravitationswellen­
schen Prozesse, die einem der Strahlenausbrüche voraus- signal aufgefangen. Aber von der Stärke des von LIGO
gehen. Ein Blick, wie ihn Gravitationswellen ermöglichen nachgewiesenen Ereignisses her hätte dies eigentlich der
würden, die in den Sekunden vor der finalen Verschmel- Fall sein müssen. Schnell finden die Physiker eine Erklä-
zung zweier Neutronensterne abgestrahlt werden sollten. rung: Die Wellen kamen offenbar aus einer Region, aus
der Virgo keine Signale empfangen kann. Jedes Laser-In-
LIGO-Hanford schlägt aus, aber was ist mit terferometer hat solche blinde Flecken – Himmelsrichtun-
LIGO-Livingston? gen, aus denen ein Signal kaum nachgewiesen werden
Der 17. August 2017 wird das finale Indiz letztlich liefern – kann. Trifft eine von dort kommende Gravitationswelle den
aber erst werden die Nerven der Wissenschaftler auf die L-förmigen Detektor, ändert sich nicht die Länge der Arme,
Probe gestellt. Um 14:41:04 Uhr, zwei Sekunden bevor was aber für einen Nachweis nötig ist.
Fermi im Erdorbit den Gammablitz registriert, meldet die Mit den Daten von LIGO, Virgo und Fermi gelingt es
automatisierte Software des LIGO-Detektors in Hanford den Wissenschaftlern schließlich, den Ursprungsort von
ein Gravitationswellensignal. 100 Sekunden lang dehnt Gravitationswellen und Gammablitz auf eine Region am
und streckt sich die Raumzeit, dann haben die Gravitati- Südsternhimmel einzugrenzen. Allerdings driften in dem
onswellen die Erde passiert. Schnell ist klar, dass es sich etwa 150 Vollmondscheiben großen Ausschnitt des Firma-
um das Zirpen zweier Neutronensterne handeln könnte, ments dutzende Galaxien umher. In welcher fand die
die kurz vor ihrer Vereinigung die Raumzeit in Schwingung gewaltige Explosion statt?
versetzt haben. Die Objekte, die da umeinander tanzten, Als sich Forscher in aller Welt diese Frage stellen, bricht
waren zwischen 1,36 und 2,26 sowie 0,86 und 1,36 Son- in Chile, dessen Observatorien zu dieser Zeit am ehesten
nenmassen schwer, ergaben die Analysen. für eine Nachbeobachtung in Frage kommen, gerade der
Im ersten Moment sind die aufgeschreckten Physiker Tag an. Erst elf Stunden nach dem Gammablitz wird das
aber skeptisch. Während LIGO-Hanford Alarm schlug, hat auf großflächige Himmelsdurchmusterungen spezialisierte
das Interferometer in Livingston nicht reagiert. Erst nach Swope-Teleskop am chilenischen Las Campanas Observa-
einigen hektischen Minuten wird klar, wieso nicht: Ein tory schließlich fündig. Neben dem Zentrum der Galaxie
NGC 4993 machen die Astronomen einen hellen Punkt aus,
der auf älteren Aufnahmen nicht sichtbar ist – das Nach-
glimmen eines Gammablitzes, der mit großer Wahrschein-
lichkeit auf eine Neutronensternkollision zurückging.
Mehr Wissen auf Tatsächlich ist ein Gammastrahlenausbruch bloß der
Spektrum.de Startschuss für ein Spektakel, das über Wochen Strahlung
freisetzt. Wie Forscher bereits vor dem 17. August vermu-
Unser Online-Dossier zum Thema
teten, setzt die beim Kollaps der Neutronensterne frei­
finden Sie unter
gesetzte Energie eine so genannte Kilonova in Gang: Eine
spektrum.de/t/kosmologie
.ADOBE.COM
Blase glühender Materie, die sich anfangs mit einem
YURIY MAZUR / STOCK
Fünftel der Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Elf Stunden

62 Spektrum der Wissenschaft  1.18


SARAH WILKINSON / LCO, NACH DATEN AUS ARCAVI, I. ET AL.: OPTICAL EMISSION FROM A KILONOVA FOLLOWING
A GRAVITATIONAL-WAVE-DETECTED NEUTRON-STAR MERGER. IN: NATURE 551, S. 64-66, 2017; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

nach dem Gammablitz geht von der 8000 Grad heißen,


stetig expandierenden Wolke noch 100 Millionen Mal mehr
Die Kilonova
Strahlung aus als von unserer Sonne. Die Blase hat sich
bereits so weit ausgedehnt, dass sie in unserem Sonnen-
system bis zur Neptunbahn reichen würde.
In der zweiten Augusthälfte nehmen dutzende Observa-
torien das immer weiter expandierende Trümmerfeld in
Augenschein. Giganten wie das Weltraumteleskop Hubble
200
und das Very Large Telescope in Chile, aber auch viele
kleinere Teleskope, fangen sichtbares Licht auf. Das Gemi-
ni South Telescope und andere Instrumente beobachten 150

Helligkeit ( in Millionen Sonnen)


dagegen im Infraroten. Detailliert dokumentieren Forscher,
wie der helle Punkt in NGC 4993 zunächst vor allem blau
und ultraviolett leuchtet, nach einigen Tagen aber zuneh- 100
mend dunkler und röter wird.
Den Astronomen fallen während der ersten fünf Tage
auch ausgedehnte Plateaus im Infrarotspektrum auf, 50

die mit der Zeit jedoch verschwinden. Nach neun Tagen


messen Instrumente wie das an Bord des Satelliten
Chandra dann erstmals Röntgenstrahlung. 16 Tage nach 0
1 2 3 4
dem Gammablitz detektiert unter anderem das Very Large
Tage (seit Verschmelzung)
Array in New Mexico außerdem Radiowellen. Bis Anfang
September sammeln die Wissenschaftler auf diese Weise
Daten – dann verschwindet die Galaxie NGC 4993 hinter
der Sonne. Vom 17. August 2017 an beobachteten Teleskope rund um den
Am 16. Oktober 2017 treten die Forscher, die ihre Ent- Globus den hellen Punkt in der Galaxie NGC 4993: Am Tag nach
deckung bis dahin geheim gehalten hatten, schließlich an ihrem Erscheinen leuchtete die Kilonova bläulich, mit der Zeit
die Öffentlichkeit. Auf Pressekonferenzen verkünden sie wurde sie jedoch immer dunkler und röter.
ihre spektakuläre Entdeckung und rufen den Beginn der
Multi-Messenger-Astronomie aus. Sie sieht vor, dass um
den ganzen Globus verstreute Teleskope unterschiedlichs- den und dadurch rascher ihren Kern vergrößern können,
te Strahlungsarten sowie Gravitationswellen ein und als sie in leichtere Elemente zerfallen. Dieser so genannte
derselben Quelle auffangen. Wissenschaftler können dann r-Prozess (r steht für das englische Wort »rapid«) kann
anschließend ihre Ergebnisse zu einem Gesamtbild zu­ sich aber nur in einer extrem heißen und neutronenreichen
sammenfügen. Umgebung ereignen.
Wie gut das bei der Beobachtung von NGC 4993 ge­ Die Beobachtung von NGC 4993 liefert viele Hinweise
lungen ist, zeigen 84 Veröffentlichungen, die Mitte Okto- darauf, dass dieser Mechanismus bei der Kilonova eine
ber in hochkarätigen Fachzeitschriften erschienen sind. Sie wichtige Rolle spielte. So sprechen unter anderem die
verdeutlichen auch, wie viele Astronomen an der Beob- markanten Plateaus in den Infrarotspektren für das Vor-
achtungskampagne beteiligt waren: Auf der Autorenliste handensein schwerer Isotope aus der Gruppe der Lantha-
einer in »The Astrophysical Journal Letters« erschienenen noide, die sich vor allem mittels r-Nukleosynthese bilden.
Arbeit stehen fast 4000 Namen. Da viele der Kerne radioaktiv sind, müssten sie binnen
kurzer Zeit zerfallen sein. Die dabei freigesetzte Wärme hat
Die Kollision in der Galaxie NGC 4993 löste einen wahr- die expandierende Wolke in den ersten Tagen mit Energie
haft kosmischen Goldrausch aus versorgt, vermuten die Forscher, und immer mehr schwere
Insgesamt glauben die Experten nicht nur das Rätsel der Elemente erzeugt. Sie hielten blaues Licht und UV-Strah-
kurzen Gammablitze gelöst zu haben. NGC 4993 habe lung zurück, was erklärt, wieso die Helligkeit dieser Wellen-
auch die Frage beantwortet, woher besonders schwere längen in den ersten Tagen abklang.
Atomkerne wie die von Gold, Platin oder Uran stammen. Insgesamt brachten die über den r-Prozess erzeugten
Die Herkunft dieser Stoffe war bisher unklar, denn im Elemente das 11 000-Fache der Masse der Erde auf die
Urknall sind lediglich leichte Kerne wie Wasserstoff, Heli- Waage, schätzten die Forscher. Man könnte auch sagen:
um und Lithium entstanden. Schwerere Elemente stam- Ein Großteil der hiesigen Edelmetalle ist vermutlich einst
men hingegen aus Sternen und Supernova-Explosionen im Inferno einer Neutronensternkollision erbrütet worden.
(siehe »Ursprung der Elemente«, S. 61). Für etwa die So gesehen tragen Eheleute in ihren goldenen Eheringen
Hälfte der Nuklide, die schwerer als Eisen sind, reichen ein Stück Neutronensternmaterie mit sich durch die Welt.
diese Mechanismen aber nicht aus, um die beobachtete Aber die Beobachtungen von NGC 4993 werfen auch
Häufigkeit im Universum zu erklären. Viele Schwergewich- Fragen auf. So ist unklar, was für ein Objekt bei dem Zu-
te entstehen laut theoretischen Überlegungen nur dann, sammenstoß der ultrakompakten Kugeln entstanden ist
wenn leichtere Nuklide mit Neutronen bombardiert wer- und welche physikalischen Mechanismen letztlich den

Spektrum der Wissenschaft  1.18 63


Sternentod auf Raten
Ursprünglich umkreisten sich zwei massereiche von Jahrmilliarden näherten sich diese Stern­
Sterne. Zu verschiedenen Zeiten explodierten leichen einander an, weil beim Umlauf von
sie als Supernova, wobei ihr Kern zu einem ultra- kompakten Objekten Energie in Form von Gra­
dichten Neutronenstern kollabierte. Im Lauf vitationswellen abgestrahlt wird. Ein messbarer

Entstehung eines Neutronenstern-Doppelsystems Annäherung


~ 10 Millionen Jahre weniger als 8 Milliarden Jahre

Zwei massereiche Riesensterne Die beiden Neutronen- Wenige Minuten vor


in einem Doppelsystem sterne blieben gravitativ der Verschmel-
explodierten nacheinander in einem Doppelsystem Im Lauf von zung nimmt die Um-
als Supernova und hinterließen gebunden. Jahrmilliarden laufgeschwindigkeit
zwei Neutronensterne. Zwischenstadium verringert sich der rapide zu.
Bahndurchmesser
des Doppel­systems.

Supernova
rote Riesensterne

Energieverlust Intensität
AXEL M. QUETZ / SUW-GRAFIK

Neutronen- durch Emission von und Frequenz der


Supernova sterne Gravitationswellen Gravitationswellen
steigen rasch an

Gammablitz hervorbrachten. Die meisten Forscher gehen eines engen Kegels ausgestoßenen Gammalichts knapp
davon aus, dass die beiden Sternleichen zu einem Schwar- an der Erde vorbeiging. Manche Astrophysiker vermuten
zen Loch kollabiert sind. Aber auch ein besonders kom- hingegen, dass das populäre Modell nicht stimmt, oder
pakter Neutronenstern, ein so genannter Magnetar, ist aus dass man es mit einer völlig neuen Klasse von Strahlungs-
Sicht mancher Experten eine Möglichkeit. ausbruch zu tun haben könnte.
Offen ist auch, was unmittelbar nach der Neutronen- Ein Team um Mansi Kasliwal vom California Institute of
sternkollision geschah. Sicher ist lediglich, dass das Duo Technology in Pasadena hat ein Modell entworfen, das
die bei seinem gravitativen Kollaps frei gewordene Energie besser zu den Beobachtungsdaten aus NGC 4993 passen
nutzte, um Materie beinahe mit Lichtgeschwindigkeit ins soll. Demnach haben die Neutronensterne bereits im Zuge
All zu feuern. Dem populärsten Modell zufolge entsteht ihres Totentanzes Materie ins All geschleudert. Kurz darauf
dadurch ein extrem heißer Feuerball, der sich allerdings in trafen die polwärts gerichteten Materieauswürfe auf diese
den ersten Sekunden nur entlang der Pole ausbreiten kann. Trümmerwolken, was Letztere zu heißen, schnell expan-
Denn zunächst dreht sich der frisch geformte Masse­ dierenden Kokons aufblasen würde. Laut den Forschern
klumpen im Herz des Infernos rasant um seine eigene würde auf diese Weise deutlich weniger Gammastrahlung
Achse und ist von einer ebenfalls rotierenden Akkretions- als bei einem klassischen GRB entweichen.
scheibe aus extrem dichter Materie umgeben. Vermutlich
spielen auch Magnetfelder eine Rolle, die eine Art Schorn- Verschmelzende Neutronensterne könnten verraten,
stein entlang der Drehachse bilden. Durch ihn schießen wie schnell das Weltall expandiert
unmittelbar nach der Verschmelzung die Jets aus heißer NGC 4993 sorgt heute nicht nur bei solchen Forschern für
Materie, die letztlich Gammastrahlen freisetzen. Diskussionen, die den Ursprung der Gammastrahlenaus-
Die Beobachtungen aus NGC 4993 passen allerdings brüche verstehen wollen. Aus der Beobachtung lassen
nur bedingt zum Feuerballszenario, denn der auf der Erde sich noch ganz andere Schlüsse ziehen. So bestätigen das
beobachtete Gammablitz erreichte nur ein Zehntausends- fast zeitgleiche Eintreffen von Gravitationswellensignal
tel der Helligkeit vergleichbarer GRBs. Das ließe sich und Gammablitz, dass sich die Raumzeitschwingungen
eventuell dadurch erklären, dass der Hauptteil des entlang tatsächlich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Darüber

64 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Gammablitz und Kilonova
Sekunden bis Monate

Puls von Gravitationswellen entstand allerdings Richtung


zur Erde gebündelte Emission
erst unmittelbar vor der Verschmelzung. In von Gamma-, Röntgen-
einer expandierenden Materiehülle bildeten sich und Radiowellen
dabei schwere Elemente.

Verschmelzung
weniger als 3 Minuten
relativistischer Jet

Kernreaktionen
Beide Neutronensterne lassen Kilonova
verschmelzen zu einem aufleuchten.
Schwarzen Loch, das
von einem Materie­
wirbel umgeben ist.
Materiewirbel

Emission
von UV-, sichtbarem
und infrarotem Licht
in alle Richtungen
Schwarzes

AXEL M. QUETZ / SUW-GRAFIK


Loch

herrschte zuvor keineswegs Einigkeit. Die Feststellung hilft gut. LIGO und Virgo werden derzeit modernisiert und
nun Forschern, alternative Gravitationstheorien auf den könnten von Herbst 2018 an mit erhöhter Sensitivität
Prüfstand zu stellen, die eine von der Lichtgeschwindigkeit erneut ihren Betrieb aufnehmen. Die US-Detektoren sollen
abweichende Geschwindigkeit von Gravitationswellen pos- dann beispielsweise ein achtmal größeres Raumvolumen
tulieren. Auch liefern die Daten von LIGO lang ersehnte erfassen und werden damit deutlich häufiger Gravitations-
Hinweise darauf, welchen exotischen Zustand Materie im wellen auffangen. Schätzungen zufolge könnten die Ge­
Inneren von Neutronensternen einnimmt (siehe »Im Inne- räte dann sogar wöchentlich ausschlagen – Ereignisse wie
ren des Neutronensterns«, S. 66). das in NGC 4993 würden damit für die Astronomen auf
Ereignisse wie das von NGC 4993 könnten irgendwann der Erde fast alltäglich.
auch die Frage beantworten, wie schnell der Kosmos
expandiert. Auskunft darüber gibt die so genannte Hubb- QUELLEN
le-Konstante. Seit einigen Jahren streiten mehrere Wissen-
Abbot, B. P. et al.: GW170817: Observation of Gravitational Waves
schaftlergruppen über ihren genauen Wert, da die jewei­ from a Binary Neutron Star Inspiral. In: Physical Review Letters 119,
ligen Messungen abweichende Ergebnisse liefern. Neutro- 161101, 2017
nensterne bieten eine neue Berechnungsmöglichkeit, da
Abbot, B. P. et al.: Multi-Messenger Observations of a Binary
sich aus der Amplitude der Gravitationswellen die Entfer- Neutron Star Merger. In: Astrophysical Journal Letters 848, 2, 2017
nung zur Quelle ergibt und aus der Rotverschiebung des
Arcavi, I. et al.: Optical Emission from a Kilonova Following a
Lichts folgt, wie schnell sich diese von der Erde entfernt. Gravitational-Wave-Detected Neutron-Star Merger. In: Nature 551,
Eine erste Schätzung für den Wert der Hubble-Konstanten S. 64–66, 2017
konnte das LIGO-Team bereits abgeben, die Messung ist
Kasen, D. et al.: Origin of the Heavy Elements in Binary Neutron-
aber noch nicht genau genug für eine klare Aussage. Star Mergers from a Gravitational-Wave Event. In: Nature 551,
Wenn Wissenschaftler in den kommenden Jahren noch S. 80 –84, 2017
weiteren Neutronensternverschmelzungen beiwohnen Kasliwal, M. M. et al: Illuminating Gravitational Waves: A Concor-
können, werden sie in dieser und anderen Fragen sicher- dant Picture of Photons from a Neutron Star Merger. In: Science
lich Fortschritte machen. Und dafür stehen die Chancen 10.1126/science.aap9455, 2017

Spektrum der Wissenschaft  1.18 65


ASTRONOMIE
IM INNEREN EINES
NEUTRONENSTERNS
Physiker haben unterschiedliche Theorien über die extrem komprimierten
Teilchen im Zentrum von Neutronensternen. Neue Experimente könnten
erstmals Einblicke gestatten und eine jahrzehntelange Debatte entscheiden.

Joshua Sokol ist Wissenschaftsjournalist in Boston.


Er hat Literaturwissenschaften und Astronomie studiert.

 spektrum.de/artikel/1520787


Als am 17. August 2017 ein Signal des Gravitations­ die übrige Welt von der historischen Entdeckung (siehe
wellenobservatorums LIGO einlief, war Astronomen »Das Raumzeitbeben von NGC 4993«, S. 58).
weltweit schnell klar: Sie hatten gerade zum ersten Die Pflicht zur Geheimhaltung brachte Jocelyn Read und
Mal die Raumzeit-Erschütterungen verschmelzender Katerina Chatziioannou, zwei Astronominnen aus dem
Neutronensterne eingefangen. Tausende von Wissen­ LIGO-Team, am Abend des 17. August in eine recht unange­
schaftlern beeilten sich, um in den darauf folgenden nehme Lage. Sie hatten einen Workshop auf einer Konfe­
Stunden und Tagen mit ihren Teleskopen möglichst viel renz organisiert, bei der Physiker darüber diskutierten, was
der Strahlung einzufangen, die bei dem kosmischen Don­ unter den unvorstellbaren Bedingungen im Inneren eines
nerschlag entstanden sein musste. Sie waren zugleich Neutronensterns passiert. Die Leitfrage ihrer Abendveran­
angehalten, offiziell darüber zu schweigen. Zwei Monate staltung: Wie sähe das Signal verschmelzender Neutronen­
dauerte die sorgfältige Datenanalyse – erst dann erfuhr sterne aus? »Während der Kaffeepause saßen wir einander
wortlos gegenüber und starrten uns an«, erinnert sich Read.
»Wie sollten wir mit dieser Situation bloß umgehen?«
Seit Jahrzehnten diskutieren Physiker darüber, ob
AUF EINEN BLICK Neutronensterne in ihrem Kern eventuell neuartige Formen
ZWISCHEN QUANTENMATSCH UND der Materie erzeugen. Wenn die extrem kompakten Stern­
QUARKKLUMPEN überreste die Protonen und Neutronen aufbrechen und
deren Bestandteile – die so genannten Quarks – zusammen­

1  eutronensterne enthalten die am stärksten verdichte­


N quetschen, kommt es womöglich zu höchst ungewöhn­
te Form von Materie im Universum. Über deren mög­ lichen Wechselwirkungen.
liche Struktur diskutieren Physiker seit Jahrzehnten. Gravitationswellen werden ein wichtiges Instrument
auf der Suche nach Antworten sein, doch Astrophysiker

2  eobachtungen waren bislang nicht präzise genug,


B
um zwischen den theoretischen Alternativen zu
entscheiden. Diese reichen von hoch komprimierten
haben sich noch weitere Wege ausgedacht, um Neutro­
nensterne zu erforschen. Ihr Interesse liegt in den beson­
deren Eigenschaften dieser Objekte begründet: Ein Neu­
Teilchen bis hin zu exotischen Quantenzuständen. tronenstern ist die höchstmöglich komprimierte Form von
Materie im Universum, die sich direkt beobachten lässt. Er
3  essere Röntgenteleskope und die neu begründete
B
Gravitationswellenastronomie werden bald helfen,
Neutronensterne genauer zu charakterisieren und auf
besteht aus dem verdichteten Kern eines Sterns, nachdem
dieser in einer Supernova explodiert ist. Ein Neutronen­
ihr Inneres zu schließen. stern mit wenig mehr als der Masse unserer Sonne hat nur
den Durchmesser einer Großstadt. Der Physiker Mark
Alford von der Washington University in Saint Louis be­

66 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Durch Strahlung von der Ober-
fläche eines Neutronensterns
(hier eine Illustration) schließen
Astronomen auf die Eigen­
schaften der extrem kompakten
Materie im Inneren.

NASA GODDARD SPACE FLIGHT CENTER

zeichnet die hochkompakten Objekte als »letztmöglichen Für einige Wissenschaftler ist selbst das noch ein ver-
Zustand der Materie, bevor wir es mit einem Schwarzen gleichsweise harmloses Szenario. Theoretiker spekulieren
Loch zu tun hätten«. schon länger über seltsame Teilchen, die eventuell in
Bohrte man in einen Neutronenstern hinein, wäre das einem Neutronenstern hervorgebracht werden. Möglicher­
wie eine Reise bis zu den Grenzen der modernen Physik. weise fließt die enorme, beim Kollaps frei werdende Ener­
Die Oberfläche besteht aus einer sehr dünnen Kruste aus gie in die Erzeugung massereicher Teilchen, in denen nicht
gewöhnlichen Atomen, zumeist Eisen. Mit zunehmender mehr bloß die leichten so genannten Up- und Down-
Tiefe verlieren die Atome ihre Elektronen, während sie Quarks aus den Protonen und Neutronen vorkommen,
immer stärker aneinander gedrückt und aufgeheizt wer­ sondern ebenfalls die schwereren »Strange-Quarks«.
den. Noch etwas weiter in Richtung Kern fangen die So könnten als Hyperonen bezeichnete Teilchen die
Protonen der Kerne die Elektronen schließlich ein und Neutronen ersetzen. Sie bestehen ebenfalls aus drei
werden zu Neutronen. Quarks, enthalten dabei aber mindestens ein solches
Strange-Quark. In Laborexperimenten lassen sich Hype­
Welche seltsame Materie erwartet uns im Mittelpunkt ronen erzeugen, dort zerfallen sie aber unmittelbar wieder.
eines Neutronensterns? Doch tief im Inneren von Neutronensternen sind sie viel­
Der Streit der Theoretiker dreht sich um die Frage, was wei- leicht über Millionen von Jahren stabil. Oder die Untiefen
ter innen passiert, wenn die Dichte das Zwei- oder Drei- der Neutronensterne sind mit »Kaonen« gefüllt. Auch in
fache eines normalen Atomkerns überschreitet. Aus Sicht ihnen steckt ein Strange-Quark, aber sie sind nur aus zwei
eines Kernphysikers könnten hier bis zum Mittelpunkt Quarks aufgebaut und verhalten sich noch verblüffender:
des Neutronensterns einfach Nukleonen – die Sammelbe­ Alle Kaonen können einen gemeinsamen Quantenzustand
zeichnung für Protonen und Neutronen – vorliegen. Der annehmen. Dieser extreme Aggregatzustand würde den
Astrophysiker James Lattimer von der Stony Brook Univer­ Kern zu einem einzigen, riesigen Quantenobjekt machen,
sity in New York spezialisiert sich seit vier Jahrzehnten auf falls er nur aus ihnen bestünde (siehe »Das seltsame Herz
Neutronensterne. Er bekräftigt: »Alle Phänomene lassen eines Neutronensterns«, S. 68).
sich durch Variationen von Nukleonen erklären.« Jahrzehntelang traten die Theoretiker auf der Stelle. Der
Widerspruch kommt von anderen Experten wie David Grund: Sie haben sich Szenarien ausgedacht, die unter
Blaschke von der Universität Breslau: »Nukleonen sind irdischen Bedingungen experimentell schlicht unüberprüf­
keine Billardkugeln. Sie verhalten sich eher wie Kirschen – bar waren. Bei Teilchenbeschleunigern beispielsweise
man kann sie ein wenig eindrücken, aber irgendwann werden zwar massereiche Kerne von Gold- und Bleiato­
zerquetscht man sie.« Nukleonen bestehen aus drei Quarks. men mit hohen Energien aufeinander geschossen, worauf­
Unter immensen Drücken könnten sie eine neue Art von hin Quarks in Form eines so genannten Quark-Gluon-Plas­
Quarkmaterie bilden. mas frei werden, doch die Materie ist in diesem Zustand

Spektrum der Wissenschaft  1.18 67


dünn und viele Milliarden Grad heiß. Das Innere von Neu- Was die Masse angeht, gelingt das am besten bei so ge­
tronensternen dagegen ist unvorstellbar dicht und mit nannten Pulsaren. Das sind Neutronensterne, die schnell
wenigen Millionen Grad vergleichsweise kühl. rotieren und dabei intensives Licht im Radiofrequenzbe­
Und selbst auf theoretischer Ebene gibt es kein eindeu­ reich aussenden. In regelmäßigen Abständen gerät dabei
tiges Bild. Die »Quantenchromodynamik« (QCD) be­ die Erde in den taumelnden Strahlungskegel. Etwa zehn
schreibt das Verhalten von Quarks. Berechnungen mit der Prozent der 2500 bekannten Pulsare sind wiederum Binär­
QCD funktionieren aber nur näherungsweise und sind im systeme, bei denen sich zwei Partner umkreisen. Durch
Fall derart dichter und kalter Materie selbst für die besten diese Bewegung variiert der normalerweise höchst gleich­
Supercomputer zu kompliziert. Daher sind Wissenschaftler mäßige zeitliche Abstand zwischen zwei Strahlungsblitzen
auf massive Vereinfachungen angewiesen, um überhaupt ein wenig. Zusammen mit den keplerschen Gesetzen und
zu Ergebnissen zu gelangen. einigen relativistischen Korrekturen schließen Astronomen
Es bleibt also vorerst nur die Option, Neutronensterne daraus auf die Bahnen und die Massen der Partner.
direkt zu untersuchen. Unglücklicherweise sind sie weit
entfernt und zu leuchtschwach, um mehr als bloß ihre Ein Neutronenstern, der eigentlich bereits ein
grundlegendsten Eigenschaften zu charakterisieren. Außer­ Schwarzes Loch sein müsste
dem passieren die wirklich spannenden Dinge tief unter Bisher war der größte Durchbruch mit dieser Methode die
der Oberfläche. »Es ist ein wenig, als gäbe es ein Labor Entdeckung überraschend gewichtiger Neutronensterne.
mit großartigen Versuchsaufbauten«, vergleicht Alford, 2010 spürte ein Team um Scott Ransom vom National
»und wir dürften nur einen Blick auf das Licht werfen, das Radio Astronomy Observatory in Virginia einen Pulsar mit
aus dem Fenster scheint.« rund zwei Sonnenmassen auf, mehr als je zuvor beobach­
Was auch immer sich im Inneren der Neutronensterne tet wurde. Einige Physiker hatten zuvor sogar bezweifelt,
verbirgt, es muss dem Gravitationsdruck von mehr als ein derart massereiches Exemplar könne überhaupt exis­
einer Sonnenmasse standhalten. Andernfalls würde der tieren. Der Fund hatte darum enorme Auswirkungen auf
Stern geradewegs zu einem Schwarzen Loch kollabieren. die Theorien zu Neutronensternen. »Keine andere Veröf­
Wie gut sich das Material komprimieren lässt, müsste bei fentlichung zur Beobachtung von Pulsaren wurde so oft
einer gegebenen Größe des Neutronensterns dessen zitiert«, resümiert Ransom, »und das lag vor allem an den
maximal zulässige Masse festlegen. Wenn Astronomen Kernphysikern.«
also die Massen und Radien verschiedener Neutronenster­ Bei einigen Modellen drückt nämlich die Gravitation
ne vermessen, können sie etwas über sein Inneres sagen. Neutronensterne stärker zusammen als bei anderen – so

Das seltsame Äußere Schichten


Herz eines ATMOSPHÄRE: leichtere Elemente wie Wasserstoff und Helium

ÄUSSERE KRUSTE: schwere Atome und Ionen, vor allem Eisen


Neutronensterns INNERE KRUSTE: Ionen in einem Kristallgitter

Die extreme ÄUSSERER KERN: neutronenreiche Ionen in einem Meer freier Neutronen
Gravitation eines
Neutronensterns
u u u u
komprimiert des­ d d u d d d u d

sen Kern stärker u


d d
u
d d
u
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Nukleonenkern
u
u d
als alles, was dicht gepackte Nukleonen mit ihrer
u u u u
intakten Quark-Zusammensetzung
Physiker im Labor d d u d d d u d

erzeugen oder u u u u
u d
d d d d d d
theoretisch berech­ Quarkkern Hyperonkern Kaon-Kondensat
nen können. Des­ Nukleonen zerbrechen Nukleonen mit Teilchen aus zwei Quarks
wegen ist unklar, in ihre einzelnen s u
u »Strange-Quarks«
u
s s s
d
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u
s
d
bilden
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einen quanten-
s u s d s u s u s
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wie die Materie Quarks. d d entstehen. mechanischen
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d u d Aggregatzustand. s u s u s u s u
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im Kern aussieht. u
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Wir stellen einige d d
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der wichtigsten u
s u s u s u s u
QUANTA / LUCY READING-IKKANDA

Ideen vor.

68 Spektrum der Wissenschaft  1.18


NASA / GODDARD / KEITH GENDREAU
LINKS: NASA / KEITH GENDREAU; RECHTS: NASA GODDARD SPACE FLIGHT
CENTER / KEITH GENDREAU / NEUTRON STAR INTERIOR COMPOSITION
Das Röntgenteleskop NICER besteht aus 56 einzelnen Röntgendetektoren. Im Juni 2017 wurde es auf die EXPLORER (NICER) (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/GSFC/34718447596/) /
CC BY 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0/LEGALCODE)
Internationale Raumstation ISS geliefert und soll dort die Strahlung von Neutronensternen vermessen.

sehr, dass die Sterne bei einer derart großen Masse zu ihrer Kollegin beim Kaffee sinnierte, war rasch klar, dass
einem Schwarzen Loch werden müssten. Das gilt beson­ es von leichteren Objekten stammte und viel länger an­
ders für die relativ matschigen Kaon-Kondensate, und dauerte als bei den bis dahin bekannten Verschmelzungen
auch bei einigen Varianten von Quark- und Hyperonenma­ Schwarzer Löcher. »Offensichtlich hatten wir es hier mit
terie könnte das der Fall sein. Ransoms Beobachtung einem ungewohnten System zu tun«, erinnert sich Read.
wurde jedenfalls 2013 durch einen weiteren Neutronen­ Bei ihrer Verschmelzung taten die beiden Objekte
stern mit zwei Sonnenmassen untermauert. etwas, das Schwarze Löcher nicht können: Sie verformten
Um die Radien der Objekte herauszufinden, müssen die sich. Nach einigen arbeitsreichen Monaten fand Reads
Wissenschaftler noch etwas tiefer in die Trickkiste greifen. Arbeitsgruppe mit Hilfe von Computersimulationen he­
Die Astrophysikerin Feryal Özel von der University of raus, welche Einflüsse die durchknetenden und damit
Arizona hat sich beispielsweise verschiedene Verfahren Energie schluckenden Gezeiten auf das Gesamtsignal
ausgedacht, mit denen sich die Größe eines Neutronen­ hatten. Offenbar ist der Effekt sehr schwach. Das bedeu­
sterns anhand seines Röntgenlichts berechnen lässt. Eine tet, Neutronensterne sind vermutlich besonders kompakte
Strategie besteht darin, zunächst aus der Gesamtmenge Objekte, die den Gutteil ihrer Masse fest in ihrer Mitte
der Strahlung eine Temperatur abzuleiten und anschlie­ halten und somit wenig von Gezeitenkräften verbogen
ßend zu ermitteln, wie groß der Stern dafür sein müsste. werden. Read bilanziert: »Es bestätigt in meinen Augen
Oder aber man verfolgt heiße Flecken auf der Oberfläche, vorläufig das, was anhand der Röntgenmessungen bereits
die sich regelmäßig ins Blickfeld drehen. Das Schwerefeld vermutet wurde.« Read hofft, dass verbesserte Modell­
des Neutronensterns wirkt sich auf das Licht dieser Hot­ rechnungen des Signals in Zukunft eine genauere Ab­
spots aus. Dann muss man nur noch das Gravitationsfeld schätzung ermöglichen.
verstehen und kann daraus Masse und Radius herleiten. Während Experten auf eindeutige Antworten durch die
Solche aus der Strahlung ermittelten Werte bedeuten Messungen mit NICER und LIGO setzen, mahnen Theoreti­
Özel zufolge, die Neutronensterne wären nur 20 bis 22 Ki­ ker wie Alford zur Vorsicht. Allein das Wissen, wie gut sich
lometer groß und damit eher am unteren Ende der vorher­ die Materie im Inneren eines Neutronensterns zusammen­
gesagten Skala. »Das schränkt unseren Spielraum ein – drücken lässt, reicht vielleicht noch nicht aus, um über
auf eine gute Weise«, kommentiert Özel. Sie glaubt, Neut­ ihren Charakter zu urteilen. Andere Beobachtungen verra­
ronensterne mit wechselwirkenden Quarks im Zentrum ten eventuell mehr. Die Rate, mit der Neutronensterne
könnten tatsächlich so aussehen, während Sterne, die nur abkühlen, könnte beispielsweise Hinweise auf die charak­
aus Nukleonen bestehen, größer sein müssten und somit teristische Energieabstrahlung der Teilchen im Inneren
ausgeschlossen wären. Lattimer hingegen bezweifelt liefern. Oder aber die sich verlangsamende Eigendrehung
diese Schlussfolgerungen, weil er die Herleitung aus den der Sterne gibt Aufschluss über die Viskosität im Kern.
Röntgenmessungen für fehlerhaft hält. Er glaubt, damit In Neutronensternen verbergen sich wichtige Antwor­
würden die Radien systematisch unterschätzt. ten auf die Fragen, wie sich hoch verdichtete Teilchen
Die verschiedenen Lager dürfen auf eine baldige Beile­ verändern und welche Phasenübergänge dabei ablaufen.
gung des Konflikts hoffen. Im Juni 2017 brachte ein Ver­ »Wir wollen verstehen, wie sich Materie unter verschie­
sorgungsflug das NICER-Instrument (Neutron Star Interior densten Bedingungen verhält«, kommentiert Alford. »Und
Composition Explorer, siehe Fotos oben) an Bord der letztlich ist genau das doch das eigentliche Wesen der
Internationalen Raumstation ISS. Das Röntgenteleskop Physik.«
wurde dafür konstruiert, die Größe von Neutronensternen
anhand ihrer Hotspots zu ermitteln, und es dürfte genaue­
Nach der redigierten Fassung aus »Quantamagazine.org«, einem in-
re Daten liefern, gerade bei Pulsaren, deren Massen be­ haltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
reits bekannt sind. Präzise Werte für sowohl Radius als Verbreitung von Forschungsergebnissen aus der Mathematik und
auch Masse bereits eines einzelnen Neutronensterns den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
könnten für viele Theorien das Ende bedeuten.
Und dazu kommt nun die Gravitationswellenastrono­
mie. Beim Signal vom 17. August 2017, über das Read mit

Spektrum der Wissenschaft  1.18 69


SCHLICHTING!
KNIRSCHENDER SCHNEE
Beim Laufen durch Neuschnee zerstört jeder
Schritt geräuschvoll das feine, aber feste Eis-
gefüge in der Schneedecke.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der
Universität Münster. 2013 wurde er mit dem Archimedes-Preis für Physik ausgezeichnet.

 spektrum.de/artikel/1520791


Beim Gehen entstehen je nach Untergrund charak­ wie auf Watte. Auch feuchter Schnee tönt eher unauf­
teristische Geräusche. Ob wir über das Pflaster fällig.
eines Gehwegs spazieren, das Gras einer Wiese Schnee besteht aus Eiskris­tallen, und die kommen in
oder den Sand am Strand – immer begleitet uns ein der Natur in unterschiedlichen Formen vor – unter ande­
anderer Sound. Als ganz besonders eindrucksvoll emp­ rem als Hagel, als Firn, in Eisschollen oder in Gletschern.
finden es viele Menschen, wenn Schnee unter den Die Konfigurationen unterscheiden sich vor allem in ih­-
Füßen knirscht. rer Dichte. Frisch gefallener Schnee hat eine Dichte von
Solche Töne bringt eine winterliche Landschaft aber 100 bis 200 Kilogramm pro Kubikmeter und weist damit
nicht immer hervor. Bei frisch gefallenem Pulverschnee eine Porosität von 80 bis 90 Prozent auf. Er besteht also
sind die lockeren Flocken noch weitgehend intakt. Er aus wesentlich mehr luftgefülltem Hohlraum als aus
gibt unter jedem Schritt sehr leicht nach und lässt allen­ fester oder flüssiger Substanz. Die Durchlässigkeit spielt
falls ein leises und dumpfes »Pfuff« hören. Man geht für die anschließenden strukturellen Veränderungen des
Schnees eine wichtige Rolle.
Bei diesen kommt es zu Phasenübergängen zwischen
Am Querschnitt von Gletschereis wie hier in Island kann man fest, flüssig und gasförmig, oder auch zur Festkörper­
erkennen, wie sich eine lockere Schneedecke unter der diffusion, das heißt zum Transport fester Teilchen. Hinter
Last neuer Schneeschichten im Lauf vieler Jahre allmählich zu alldem steckt die Vorliebe der Natur, unter den jewei­
klarem Eis verdichtet. ligen Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen so viel
Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben
(zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Vereinfacht
gesprochen strebt jede Schneeflocke die Kugelgestalt
an, um auf diese Weise ihre Grenzfläche zu minimieren.
Es laufen Prozesse ab, in denen die Eiskristalle des
flockigen Schnees miteinander verschmelzen und regel­
recht zusammensintern. Der Begriff Sintern steht für ein
Verfahren aus der Metallurgie, aber der Vorgang beim
Altern des Schnees ist ganz ähnlich: Kleinere Eispartikel
wachsen zu größeren Einheiten zusammen. In vielen
Fällen ist das mit einer Rekristallisation verbunden.
Dabei verschwinden Versetzungen im Kristallgefüge, die
beim Aufeinandertreffen der zufällig angeordneten
Schneeflocken entstanden sind.
Das Schicksal frisch gefallenen Schnees in den Polar­
regionen führt den zeitlichen Ablauf der Sinterung vor
Augen. An der Oberfläche ist die Decke zunächst noch
sehr porös. Die Dichte nimmt mit der Tiefe zu, bis sich
SERGDID / GETTY IMAGES / ISTOCK schließlich unter zunehmendem Druck eine massive Eis-

70 Spektrum der Wissenschaft  1.18


H. JOACHIM SCHLICHTING
SAY-CHEESE / GETTY IMAGES / ISTOCK

Unter dem Gewicht eines Menschen gibt Schnee leicht nach


(links). Dennoch ist er erstaunlich fest: Schmelz- und Gefrier-
vorgänge sintern ihn zu einer skelettartigen Struktur, bei der
wenige Verbindungen dicke Schichten tragen (oben).

schicht bildet. Die Korngröße im Firn direkt darüber be- zusammen. Grob kann man sich das vielleicht mit dem
trägt oft mehrere Zentimeter. Tiefes, mächtiges Glet­ Kauen eines Zwiebacks veranschaulichen. Dabei wird
schereis erscheint sogar blau, weil hier mit der Zeit fast ebenfalls ein relativ harter, aber poröser Verbund zer­
alle Licht streuenden Luftbläschen herausgepresst malmt, was ein deutlich hörbares Geräusch erzeugt.
wurden (siehe Foto linke Seite). Dieses ergibt sich aus der Summe der Vibrationen der
Für das Phänomen des knirschenden Eises genügt es, Fragmente. Wenn der gesinterte Schnee unter den
eine der ersten Phasen einer solchen Metamorphose Schuhen zerbricht, fügt sich analog die Sequenz aller
zu betrachten. Sobald der Schnee gelandet ist, berühren Schwingungen zwischen Schneeoberfläche und tragfä­
sich die Flocken noch ziemlich locker. Alsbald sackt hig verdichtetem Schnee zu dem einzigartigen Knirsch­
der Schnee unter dem eigenen akkord zusammen.
Gewicht ein wenig zusammen. Der Schnee schreit, ächzt, quietscht unter dem Tritte, Eine solche Situation liegt
Die einander berührenden Kris- wie neues unschmiegsames Leder, natürlich nicht immer vor.
talle reorganisieren sich und und wunderbare weiße Wellen sind überall Häufiger gleiten die Kristalle
geben dabei Grenzflächenener- Peter Altenberg (1859–1919) in feuchtem Schnee durch
gie an die Umgebung ab. Wasser geschmiert aneinan­
Wesentlich unterstützt wird der Vorgang durch die Tat­- der ab oder verbiegen sich elastisch. Das erzeugt ein
sache, dass eine sehr dünne Schicht zwischen den Eis­- leiseres und wegen der ausbleibenden Brüche weniger
kristallen und der Luft selbst bei Minusgraden flüssig klirrendes Geräusch. Sobald die Temperaturen steigen
bleibt (siehe »Glatt daneben«, Spektrum Februar 2014, S. 60 und Schmelzvorgänge die Metamorphose des Schnees
sowie »Anhänglicher Schnee«, Spektrum Februar 2017, dominieren, verschwindet daher das Knirschen.
S. 58). So bildet sich ein skelettartiges Ge­füge, das Zu einem besonderen akustischen Erlebnis wird das
immer fester und kompakter wird. Je nach Temperatur Wandern im knarzenden Schnee auch wegen der typi­
und Feuchtigkeit ist beim Sinterungsprozess ein Wechsel schen Stille der übrigen Winterlandschaft. Dieser eigen­
zwischen Schmelzen und Gefrieren betei­ligt, dessen tümliche Kontrast entsteht, weil das lockere Weiß wie
strukturbildende Wirkung wir aus einem analogen Vor­ eine nahezu ideale schallisolierende Wand wirkt – die
gang im Alltag kennen: Wenn man Eiswürfel aus dem un­zäh­ligen Hohlräume brechen die Schallwellen und
Gefrierfach in einen Behälter füllt, verkleben sie zuweilen absorbieren bei jeder Wechselwirkung etwas von deren
zu einem zusammenhängenden Gebilde. Hier geschieht Energie.
im Großen, was sich bei frischem Schnee im Kleinen Es wird sogar noch ruhiger, wenn der Schnee ganz im
zuträgt, zunächst im Bereich von einigen hundert Nano­ Sinn des weihnachtlichen Gesangstextes leise rieselt.
metern. Die herabfallenden bauschigen Flocken bilden dann einen
Bei genügend tiefen Temperaturen ist das Gefüge schallschluckenden Vorhang. In diesem Fall muss man
nach einigen Stunden so fest und stark, dass er ein allerdings auf das Knirschen verzichten.
weiteres Zusammensacken des Schnees unter der
eigenen Masse zunächst unterbindet (Foto oben rechts). QUELLE
Tritt jedoch ein Mensch auf das filigrane Geäst, so bre­ Blackford, J. R.: Sintering and Microstructure of Ice: A Review. In:
chen die winzigen Verbindungsstücke aus Eis krachend Journal of Physics D: Applied Physics 40, R355–R385, 2007

Spektrum der Wissenschaft  1.18 71


MONUMENTE
GRÖSSE HAT
IHREN PREIS
Stufentempel wie
NEUE SERIE BABYLON
der »Turm zu Babel« prägten die Städte
Mesopotamiens. ­Anhand von Verwal-
tungslisten und Lehr­tafeln lässt sich so-
gar ausrechnen, wie t­ euer die Bauwerke
den Staat kamen. Und ob er sie sich
überhaupt leisten konnte!

Hagan Brunke ist Physiker,


Mathematiker und Assyriologe
an der Freien Universität Berlin.
Ökonomie und Mathematik
des Zweistromlands gehören zu
seinen Interessenschwerpunkten.
A. KOROLL

Die Altorientalistin Eva Cancik-


Kirschbaum lehrt an derselben
Hochschule Sprachen, Geschichte und Kulturen des Alten Orients.
Sie forscht schwerpunktmäßig zu Wirtschafts- und Sozialgeschichte
sowie zur Wissensgeschichte Mesopotamiens.

 spektrum.de/artikel/1520795

NEUE SERIE
Babylonische Wissenschaft

Teil 1: Januar 2018


Größe hat ihren Preise
Hagan Brunke und Eva Crancik-Kirschbaum

Teil 2: Februar 2018


Ein antikes Großbauprojekt
Gerd Graßhoff und Matthieu Ossendrijver

Teil 3: März 2018


Mit dem Herzen denken
Markham Geller
AKG IMAGES

72 Spektrum der Wissenschaft  1.18



Gigantisch sollte Babylon werden, mit einem Turm,
dessen Spitze den Himmel berührte. Doch um
die Hybris der Menschen zu bestrafen, ließ Gott
selbst laut der Bibel das Projekt scheitern. Der Jesuit und
Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680)
wusste dafür noch eine »wissenschaftliche« Erklärung:
Der Bau hätte sämtliche Ressourcen der Erde ver-
schlungen, sein Schattenwurf sie zudem großteils un-
bewohnbar gemacht. Letztlich sei das Scheitern sogar
ein großes Glück für die Menschheit gewesen: Einmal
vollendet hätte der Turm wie ein gigantischer Hebel
die Erdkugel gekippt – das Ende der Zivilisation! Doch
nicht alle Kulturen sahen die Metropole am Euphrat so
negativ. Im Altertum galt sie mit ihren gewaltigen
Mauern und Befestigungswerken, Kanälen, Brücken
und Torwerken, Palast­anlagen und Heiligtümern viel-
mehr als eines der sieben Weltwunder.
Seit dem 5. Jahrtausend v. Chr. siedelten Menschen
in den Schwemmebenen von Euphrat und Tigris. Sie
gründeten die ersten Städte, bauten Bewässerungssys-
teme und entwickelten um 3300 v. Chr. die Keilschrift,
um die Wirtschaft der Stadtstaaten zu steuern. Aus
diesen Anfängen entstanden die großen Zivilisationen
des antiken Zweistromlands, etwa die Kulturen der
Sumerer und Akkader. Sie schufen bedeutende Städte
mit gewaltigen Bauwerken.
Doch es war das Babylon des Königs Nebukadne-
zar II. (604 – 562 v. Chr.), das sich in die Erinnerung der
Nachwelt einschrieb. Er ließ die 900 Hektar große Stadt
erneuern und dabei über die Maßen prachtvoll ausstat-
ten. Wohl 90 Meter hoch erhob sich in ihrem Zentrum
der siebenstufige Tempelturm, den die Einwohner
»Etemenanki« nannten, »das Band zwischen Himmel
und Erde«. Seine Basis nahm Ausgrabungen zufolge gut
8100 Quadratmeter ein. Experten schätzen, dass in ihm
etwa 350 000 Kubikmeter luftgetrockneter Lehmziegel
verbaut waren.
Doch diese mächtige Zikkurat war zwar wohl die
größte, beileibe aber nicht die einzige ihrer Art. Seit
dem 3. Jahrtausend v. Chr. prägten imposante Stufen-
türme die Skyline vieler Städte (siehe Karte), in den
Flussauen und offenen Steppen des Zweistromlands
weithin sichtbar. Sie kündeten von der Macht urbaner
Gemeinschaften, und es waren sakrale Stätten der
altorientalischen Kulte.
Ausgrabungsbefunde, antike Darstellungen und Be-
schreibungen auf Keilschrifttafeln vermitteln nicht nur
Einen Turm bis zum Himmel wollten die Men- eine Idee, wie diese Monumente einst aussahen und
schen bauen, doch Gott ließ das stolze Projekt wie man sie nutzte. Sie verraten auch, dass ihre Errich-
scheitern. Der »Turmbau zu Babel« gehört zu tung Sache des Staats war und damit seines Repräsen-
den bekanntesten alttestamentarischen Ge- tanten, des jeweiligen Königs. Der nutzte die Gelegen-
schichten (hier im Ölgemälde des belgischen heit, an Pres­tige zu gewinnen und inszenierte sich daher
Malers Martin van Valckenborch von 1595). mit großem Aufwand als Meisterarchitekt und Bauherr.
Solche Zikkurats gehörten nicht nur in Babylon Insbesondere Textquellen bieten noch weit mehr
selbst, sondern in ganz Mesopotamien zum Informationen, und viele dieser Schätze sind noch nicht
Stadtbild. Mochten die meisten auch kleiner gehoben. Mit ihrer Hilfe haben wir nun einen bislang
gewesen sein, belastete jede dennoch den wenig beachteten Aspekt antiker Monumentalbauten
untersucht: die gewaltigen Kosten. Nicht anders als
AKG IMAGES

Staatshaushalt.
heutzutage erforderten Großprojekte eine hohe Investi-

Spektrum der Wissenschaft  1.18 73


tion an Arbeitskraft und Rohstoffen. Es bedurfte einer Budget von Palästen und Tempeln ermitteln. Einen wesent­
Vielzahl einfacher Ar­beiter, versierter Handwerker, erfahre- lichen Kostenfaktor bildeten auch die Löhne der Bauarbeiter
ner Architekten und auch Verwaltungsbeamter. Denn und der Aufwand für ihre Verpflegung. Denn mochten die
Bauvorhaben dieser Größenordnung stellten hohe Ansprü- meisten den Quellen nach auch nur von geringem sozialen
che an die Planung, Koordination und Durchführung aller Status sein, waren sie doch keine Sklaven.
Teilschritte – und sie bargen Risiken.
Eines davon kennen auch institutionelle Bauherren unse- Frühe Standards für die Kostenplanung
rer Tage: aus dem Ruder laufende Kosten. Zum Problem Trotz dieser vielen Details gibt es wichtige Informationen,
werden sie vor allem dann, wenn der Aufwand einen erhebli- über die sich die Quellen aus dieser Zeit nicht auslassen.
chen Teil des Wirtschaftsvermögens eines Staats verschlingt. Wie lange dauerte es beispielsweise, die für eine Mauer
Um die Gesamtkosten einer Zikkurat modellhaft zu ermit- nötige Zahl an Lehmziegeln herzustellen, wie viele Mann-
teln – also vom Errichten eines künstlichen Bergs, auf dem tage erforderte der Bau selbst? Hier helfen Texte, die einst
der Tempel stand, bis zum Verputzen ihrer Außenmauern –, der Ausbildung von Verwaltungsbeamten in Sachen Ma-
analysierten wir zunächst Verwaltungs­urkunden des 21. Jahr- thematik und Messwesen dienten (siehe »Quadratische
hundert v. Chr., der Zeit der so genannten 3. Dynastie von Ur. Gleichungen – in Keilschrift«, S. 78). Darin findet man
Zehntausende Dokumente aus verschiedenen Bereichen der standardisierte Kenngrößen, darunter eben auch solche
staatlichen Administra­tion erlauben es, beispielsweise das Angaben über den Zeitaufwand. Zwar entstanden diese

Zikkurats im Mesopotamien des 3. bis 1. Jahrtausends v. Chr.


Dur Scharrukin

Mossul
Ninive
Arbil
Tell Rimah
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: INSTITUT FÜR ASSYRIOLOGIE UND HETHITOLOGIE, LMU MÜNCHEN; ROAF, M.: BILDATLAS DER WELTKULTUREN. MESOPOTAMIEN. BECHTERMÜNZ VERLAG, 1998

Kalchu

SYRIEN
Kar Tukulti Ninurta
Assur

IRAN

Mari

Kernland Dur Kurigalzu Eschnunna


Reich der Bagdad
Randgebiet
Ur-III-Zeit
verbündete Staaten
Sippar

Babylon
nachgewiesene Bauten Kisch Susa
Zikkurats
vermutete Bauten Nippur
Borsippa Dur Untasch
Tell Hammam
heutige Stadt IRAK
Adab
Tig
heutige Landesgrenze Umma ris
ehemalige Küstenlinie Girsu
Uruk
N Lagasch
Larsa
Ur t
100 km Euphra
Eridu Basra

SAUDI ARABIEN

Persischer
KUWAIT Golf

Stufenpyramiden, auf deren Plattform Tempel standen, ragten im Zweistromland vielerorts in den Himmel.
Herrscher ließen sie zu Ehren der Götter errichten, demonstrierten damit aber auch sichtbar für jedermann
ihre Macht. Da sie aus Lehmziegeln errichtet wurden, sind die meisten längst zerfallen. Viele lassen sich
archäologisch noch nachweisen, manche kennen Forscher aus antiken Texten.

74 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Tontafeln aus dem Ort Garschana tauchten nach dem zweiten
Golfkrieg in einer Hochschulsammlung auf. Sie enthalten
Angaben zur Entlohnung und Verköstigung von Bauarbeitern
und mit der Bauorganisation betrauten Beamten.

Lehrtafeln etwa zwei bis fünf Jahrhunderte nach den


erwähnten Urkunden, doch wie viel ein Mensch pro Tag zu
leisten vermochte, dürfte sich in dieser Zeit nicht wesent-

LAURA JOHNSON-KELLY​/ TABLET COLLECTIONS, JONATHAN AND JEANNETTE ROSEN ANCIENT NEAR EASTERN SEMINAR, DEPT. OF NEAR EASTERN STUDIES, CORNELL UNIVERSITY
lich verändert haben. Denn technologische Neuerungen,
um Arbeitskraft effektiver einzusetzen, kamen nach heuti-
gem Wissen damals nicht auf. Außerdem spricht vieles
dafür, dass die in diesen Schultexten gelehrte Mathematik
samt den Kenngrößen ohnehin viel früher entstand und
damit wohl für das 21. Jahrhundert v. Chr. gültig war.
Bereits 1999 ermittelte die britische Altorientalistin
Eleanor Robson von der University of Cambridge aus
solchen mathematischen Texten den Zeitaufwand für die
Herstellung luftgetrockneter Ziegel, aus denen alle Bau-
werke errichtet wurden. Den Rohstoff lieferte das Zwei-
stromland in reichem Maß: Lehm, ein Gemisch aus Löss
und Sand. Ersterer bindet die mineralischen Körnchen und
verleiht dem Material Zähigkeit, während der Sand den
Druck des Bauwerks aufnimmt und verteilt. Enthält der
Lehm zu viel Löss, mischt man ihm weiteren Sand und
gehäckselte Pflanzen wie Schilf oder Stroh bei.
Die Texte nennen als Pensum für einen Arbeiter in der
Lehmgrube pro Tag die Zahl 20. Wegen der Besonderheiten
bei der Notation von Sexagesimalzahlen in altbabylonischer
Zeit ist diese Angabe als 20/60 zu verstehen, also 1/3. Es
wird zwar keine Maßeinheit genannt, Experten sind sich
aber einig, dass es sich um die Standardvolumeneinheit
»sar« handelt. Die war als 12 mal 12 mal 1 Ellen definiert,
wobei eine Elle ziemlich genau 0,5 Meter lang war. Dem-
nach umfasste ein »sar« gut 18 Kubikmeter. Ein einzelner
Arbeiter in der Lehmgrube hob also pro Tag etwa sechs
Kubikmeter des Rohstoffs aus. Nicht anders als heutzutage
wird er dabei vor allem die kühleren Morgen- und Abend-
stunden genutzt haben.
Das Anrühren mit Wasser, Häcksel und Sand erforderte
bei dieser Menge die doppelte Zeit. Schließlich verbrachte
der Mann einen weiteren Tag damit, aus der Masse Ziegel
zu formen. Andere Personen dürften verantwortlich dafür
AUF EINEN BLICK
gewesen sein, diese in der Sonne auszulegen und auch XXL IM ZWEISTROMLAND
immer wieder zu wenden, damit sie gleichmäßig trockne-
ten. Dieser Posten ist zwar nirgendwo explizit angegeben,
dürfte aber in den Gesamtherstellungsaufwand einberech-
1 Hoch aufragende Stufentempel, prunkvolle Paläste
und massive Verteidigungsmauern gehörten in
Mesopo­tamien zum Stadtbild. Sie zu errichten, brach-
net worden sein. Pro Kubikmeter Ziegel veranschlagten die te den Herrschern Prestige.
Baumeister demnach 2/3 Manntage.

2
Weil Lehm praktisch überall frei verfügbar war, fielen Alle monumentalen Bauwerke bestanden aus Lehm-
kaum Kosten für das Material an, wohl aber für Verpfle- ziegeln. Anhand von Keilschrifttexten können Forscher
gung und Lohn. Lohnlisten von Bauvorhaben führen diese die einzelnen Arbeitsschritte eines Großbauprojekts ab
Ausgaben detailliert auf und spiegeln dabei Hierarchien der Lehmgrube nachvollziehen.
und Qualifikationen im Lohngefüge. Die Ziegelarbeiter –
stets Männer – erhielten demnach einen Tageslohn von
fünf bis sechs Kilogramm Gerste beziehungsweise in der 3 Die Arbeitskräfte wurden meist mit Naturalien entlohnt
und auf den Baustellen verpflegt. Verwaltungstexte
und mathematische Berechnungen helfen, diese Kos-
damals gebräuchlichen Angabe: fünf bis sechs Liter. Das
ten abzuschätzen.
entsprach der typischen Entlohnung angeheuerter, also
nicht fest angestellter Arbeiter. Für einige Aufgaben wur-

Spektrum der Wissenschaft  1.18 75


die für die Verwaltung der Baustellen verantwortlich
waren. Männliche, erwachsene Hilfsarbeiter schlugen
zwar ebenfalls mit einem Liter Bier pro Tag zu Buche,
mussten sich aber mit einem halben Liter Brot und einem
Drittel Liter Eintopf begnügen. Derselbe Text listet zudem
männliche und weibliche Mietarbeitskräfte auf, die noch
weniger erhielten: jeweils ein Drittel Liter Bier, Brot und
Eintopf. Wahrscheinlich waren damit Kinder gemeint.
Wie effizient die Verwaltung jener Zeit funktionierte,
zeigt ihre Methode, Aufwendungen jeder Art mit Hilfe von
Wertäquivalenzen umzurechnen, um sie bilanzieren zu
können. Als Grundverrechnungsgröße diente meist Gers-
te. Jeglicher Warenein- und -ausgang ließ sich in dieser

AKG IMAGES / BIBLE LAND PICTURES / ZEV RADOVAN


»Einheitswährung« verbuchen. Zwei Liter Gerste entspra-
chen beispielsweise einem Liter Weizen, ein Liter Brot
wurde je nach Qualität und Mehlsorte einem bis zwei Liter
Gerste gleichgesetzt, und der Äquivalenzwert von Bier
betrug je nach Stärke sogar ein bis drei Liter der Grundgrö-
ße. Wie einer von uns (Brunke) 2011 herausfand, berück-
sichtigten diese Umrechnungen neben den Rohstoff- auch
die Herstellungskosten, also zum Beispiel die Arbeitslöhne
Ob Stadtmauer, Tempel oder Palast – Lehmziegel waren das für Bäcker beziehungsweise Brauer. Dass die Faktoren
Standardbaumaterial im Zweistromland, denn Lehmgruben konstant blieben, während die realen Marktpreise durch-
gab es allenthalben. Mitunter ließ ein Bauträger seinen Namen aus schwankten, ermöglicht es uns, Texte aus weit ausei­
in einem Ziegel verewigen, wie hier Nebukadnezar II. nanderliegenden Phasen heranzuziehen. Wenn Brot und
Bier in der Ziegelei und auf der Baustelle der gleichen
Menge an Gerste wertäquivalent waren, erhielten die
den auch Frauen in Dienst genommen, sie bekamen meist Arbeiter offenbar nur die einfache Qualität. Der vorgekoch-
nur drei Liter des Getreides. Fest angestellte und damit te Gerstenschrot, der die Grundlage für den Eintopf bildete,
ganzjährig versorgte Handwerker erhielten geringere entsprach hingegen der anderthalbfachen Menge des
Tageslöhne. Eingedenk des berechneten Zeitaufwands reinen Getreides – das Vorkochen und darauffolgende
betrugen die Lohnkosten für einen Kubikmeter Ziegel also Trocknen kosteten Arbeit und Energie.
mindestens vier Liter Gerste. Allerdings musste auch das Insgesamt kostete die tägliche Verpflegung eines Mau-
Häckselmaterial geschnitten und herangeschafft werden. rers oder Schreibers das Äquivalent von rund 2,4 Liter
Darüber verlieren die Texte zwar kein Wort, doch Experten Gerste, die der Hilfsarbeiter etwa 1,75 Liter. Vergleichbare
gehen davon aus, dass dafür etwa ein weiterer Entloh- Angaben über die Verpflegung in der Ziegelei kennen wir
nungsaufwand in Höhe von etwa einem Liter Gerste zu bislang nicht, aber wenn die Männer dort so viel wie
veranschlagen war. Maurer erhielten – was plausibel erscheint –, kommen pro
Über die Verpflegung der am Bau Beteiligten schwei- Kubikmeter Ziegel zu den genannten Lohnkosten noch
gen sich die Lehrtafeln aus, aber hier helfen die so ge- etwa 1,6 Liter Gerste an Verpflegungskosten hinzu.
nannten Garschana-Texte weiter. Sie waren vermutlich
nach dem zweiten Golfkrieg 1990 von Raubgräbern erbeu- Teure Lastenträger
tet und außer Landes geschafft worden, bis sie in die Ähnliche Überlegungen lassen sich auch für die weiteren
Sammlung der Cornell University in Ithaka gelangten. Dort Arbeitsschritte anstellen. Viele Texte zur Landvermessung
wurden die verschiedenen Tafeln Anfang der 2000er Jahre erwähnen Lehmgruben am Rand ausgedehnter landwirt-
von Rudolf H. Mayr und David I. Owen als ein Corpus schaftlicher Nutzflächen. Dort wird man auch die Ziegel
identifiziert und 2007 publiziert. Wir wissen weder, wo das gefertigt haben. Für den Transport zur Baustelle lud man sie
in den Schriften genannte Garschana lag, noch welche höchstwahrscheinlich auf Lastkähne, die auf dem weit­
Funktion es hatte. Vermutlich war es keine Stadt, sondern läufigen Kanalsystem Mesopotamiens getreidelt wurden.
ein kleinerer Ort ohne eigene Landwirtschaft. Träger brachten das Baumaterial zu den Anlegestellen
An ihrem Aufbau beteiligte Arbeiter erhielten ebenso beziehungsweise von dort zu den Bauplätzen.
wie Beamte laut diesen Tafeln Bier, Brot und eine Art Die Arbeitsleistung dieser Lastenschlepper ermittelte der
Eintopf aus gekochtem Getreideschrot, der bisweilen mit in Berkeley forschende deutsche Altorientalist Wolfgang
Bohnen und Kichererbsen angereichert wurde. Die jeweili- Heimpel 2009 aus den Garschana-Texten: Ein Träger beför-
ge Menge hing dabei vom Status und Alter des Empfän- derte durchschnittlich 20 Kilogramm pro Tag über eine
gers ab. So bekamen Maurer täglich einen Liter Bier, einen Gesamtdistanz von 25 Kilometern. Leider lassen sich die
halben Liter Eintopf und einen Liter Brot (damals wurde Transportkosten nicht genauer ermitteln, weil die Distanzen
auch die Brotmenge im Hohlmaß angegeben). Über die von Baustelle zu Baustelle verschieden gewesen sein dürf-
gleiche Verpflegung durften sich auch Schreiber freuen, ten und niemals notiert wurden. Die Berechnungen der Ge-

76 Spektrum der Wissenschaft  1.18


samtkosten zeigen aber, dass jeder Kilometer Fußweg plett oder nur teilweise abgerissen wurde und haben auch
erheblich zu Buche schlug. Vermutlich legte man deshalb keine Kenntnis über die dafür anfallenden Kosten. Die
zu Anfang von großen Bauprojekten zusätzliche Kanäle Umgestaltung war aber so umfangreich, dass sie unter den
an und schüttete sie hinterher wieder zu. Die dafür not­ hier interessierenden As-
wendige Arbeitskraft rechnete sich, denn Großbauprojekte pekten einem Neubau gleichkam. Allein die untere Terrasse
konnten viele Jahre dauern. nahm nun fast 2700 Quadratmeter Fläche ein und war
Für das eigentliche Bauen liefern Keilschrifttafeln einen 11,2 Meter hoch; die Gesamthöhe der neuen Zikkurat betrug
Durchschnittswert von drei Kubikmeter Mauer pro Person wohl 28 Meter. Damit ergibt sich ein Gesamtvolumen des
und Tag. Allerdings dürften Maurer viele vorbereitende massiven Monuments von mehr als 41 500 Kubikmetern.
und begleitende Arbeiten nicht selbst ausgeführt haben, Unterstellt man großzügig einen Fußtransportweg von nur
etwa das Anrühren und Tragen des Mörtels, das Anrei- einem Kilometer, beliefen sich die Gesamtkosten für den
chen der Steine und schließlich das Verputzen. Einige Rohbau auf gut drei Millionen Liter Gerste.
Texte aus Garschana legen nahe, dass ein Maurertrupp
aus einem Meister und sieben weiteren Facharbeitern Große Tempel dank ertragreicher Ernten
bestand, dazu 80 bis 120 männliche und weibliche Hilfs- Glücklicherweise gibt es Berechnungen zur Produktivität
kräfte. Schaffte jeder Maurer die genannten drei Kubikme- der mesopotamischen Landwirtschaft, die sich freilich
ter, ergeben sich mit den genannten Lohn- und Verpfle- wieder auf Bilanzen der Verwaltung stützen. Demnach
gungskosten grob 25 Liter Gerste für das Errichten eines lagen die Erträge des Getreideanbaus dank der fruchtba-
Kubikmeters Mauer. ren Schwemmflächen und der ausgetüftelten Bewässe-
Von der Produktion der Ziegel bis zur Fertigstellung kos- rung bei 900 bis 1350 Liter pro Hektar Ackerland, und es
tete er damit 54 plus 18 mal x Liter Gerste, wobei x der gab zwei Ernten im Jahr. Bei einer geschätzten Bauzeit
meist unbekannte Fußtransportweg in Kilometern ist. Un- von zehn Jahren – Ur-Namma war zwar 16 Jahre im Amt,
berücksichtigt bleiben dabei schwer abzuschätzende Zu- musste den Bau aber beauftragt und abgenommen ha-
satzkosten etwa durch Ausschuss bei der Produktion, ben – waren also etwa 134 Hektar Gerstenfelder nötig.
Ziegelbruch beim Transport oder Angesichts der Größe der in Verwaltungstexten doku-
krankheitsbedingten Ausfäl- mentierten Anbauflächen überstieg der Gesamtertrag der
len von Arbeitskräften, der Landwirtschaft solche Kosten um ein Vielfaches. Auch
zusätzliche Arbeiter erfor- wenn in dieser Rechnung die Verwendung weiterer Bau-
derte beziehungsweise die materialien wie Holz, Schilfrohr oder Bitumen sowie
Bauzeit verlängerte. dekorative Elemente noch nicht berücksichtigt sind, haben
Allerdings dürften sie an zumindest einzelne Großprojekte den Staat nicht wesent-
der Größenordnung der lich belastet. Für die Erneuerung Babylons gut 1500 Jahre
Gesamtkosten nicht viel später stellte sich die Situation freilich anders dar, denn
geändert haben. der berühmte Turm – dessen Volumen achtmal größer war
Betrachten wir als als das der Eanna-Zikkurat – war nur eine von vielen
Beispiel Baustellen. Zudem machte es ein hoher Grundwasserspie-
die Zikkurat im Eanna-Heiligtum gel erforderlich, auch gebrannte Ziegel und Bitumen als
(sumerisch »é-an-na«, »Haus des Mörtelzuschlag und zur Abdichtung zu verwenden. Dies-
Himmels«) in der Stadt Uruk, einem mal stöhnten die Städte und Tempel unter der Arbeits- und
der wichtigsten kultischen Zentren Abgabenlast. Wie hoch die Baukosten gewesen sind,
Mesopotamiens. Dank der Ausgra- vermögen wir derzeit nicht einmal zu erahnen. Was brach-
bungen durch das Deutsche Archä­ te die Bewohner des Zweistromlands dazu, ein solches
ologische Institut unter Leitung der Unternehmen mitzutragen? Geriet das Reich dadurch in
Altorientalistin Margarete van Ess eine wirtschaftliche Schief­lage? Es wird spannend sein,
verfügen wir hier über umfangreiche solchen Fragen mit den neuen Methoden nachzugehen.
Daten. Demnach ließ König Ur-
Namma (2112–2095 v. Chr.) den QUELLEN
Tempel gründlich überarbeiten. Wir
wissen nicht, ob der alte Bau kom- Brunke, H.: Feasts for the Living, the Dead, and the Gods. In:
Radner, K., Robson, E. (Hg.): The Oxford Handbook of Cuneiform
Culture. Oxford University Press, Oxford 2011, S. 166 –182

Für Entlohnung und Versorgung der am Brunke, H.: Feasts for the Living, the Dead, and the Gods. In:
Eanna-Tempel in Uruk beschäftigten Radner, K., Robson, E. (Hg.): The Oxford Handbook of Cuneiform
Culture. Oxford University Press, Oxford 2011, S. 166 –182
Arbeiter musste König Ur-Namma etwa
134 Hektar Ackerland zehn Jahre lang Cancik-Kirschbaum, E., van Ess, M., Marzahn, J. (Hg.):
reservieren. Die Tonfigur zeigt ihn als den Babylon. Wissenskultur in Orient und Okzident. Topoi Studies
Bau unterstützender Lastenträger. Solche of the Ancient World 1. De Gruyter, Berlin 2011

»Gründungsfiguren« legte man ins Fun­ Kleber, K.: TDie Beziehungen zwischen dem König und dem Eanna-
AKG IMAGES

dament neuer Tempel. Tempel im spätbabylonischen Uruk. Ugarit, Münster 2008

Spektrum der Wissenschaft  1.18 77


Quadratische Gleichungen – in Keilschrift
Das äußere Quadrat hat die
Fläche d 2 (d = 2r ist der Durchmes-
ser), das innere die Fläche d 2/2. Der
Diese Keilschrifttafel Mittelwert ist 3d 2/4 = 3r 2. Allerdings
aus dem British gibt es keine Schriftquellen, die eine
Museum zeigt Kons­ solche Theorie bestätigen.
truktionen geo­ Die mesopotamischen Mathe­
metrischer Figuren. matiker waren auch in der Lage,
Flächeninhalte recht komplizierter
geometrischer Figuren zu berech-
nen. Ein besonders eindrucksvolles
Zeugnis dieser Kunst finden wir auf
THE TRUSTEES OF THE BRITISH MUSEUM einer Tafel des British Museum (links
oben). Zwar beschreibt dieser Text
Die berühmte Formel a2 + b2 = c2, lediglich die Konstruktionen der
welche die Längen der Katheten a Figuren und gibt keine Rechenwege

THE TRUSTEES OF THE BRITISH MUSEUM


und b sowie der Hypo­tenuse c im an. Aber es besteht kein Zweifel,
rechtwinkligen Dreieck miteinander dass die Aufgaben auch gelöst
in Beziehung setzt, pflegen wir Py- wurden.
thagoras von Samos (um 570 v. Chr.– Für die tägliche Praxis standen
nach 510 v. Chr.) zuzuschreiben. den Gelehrten Listen zur Verfügung,
Aber bereits 1300 Jahre vor ihm die in etwa die Funktion heutiger
gehörte dieses Verfahren zur Drei- mathematisch-technischer Tafelwer-
ecksberechnung zum Repertoire ke hatten. Sie enthalten allerlei gegenüberliegender Seitenlängen,
babylonischer Mathematiker. Sie charakteristische Kenngrößen, unter genau so, wie es die Römer
kannten auch schon das Verfahren anderem aus Geometrie, Technik 3000 Jahre später praktizierten.
zur näherungsweisen Berechnung und Verwaltung. Dort finden wir Selbst Abstraktes war den baby-
von Quadratwurzeln, als dessen Einträge wie »20: Durchmesser des lonischen Mathematikern nicht
Urheber Heron von Alexandria Kreises« und »5: Kenngröße des fremd. So löste ein Gelehrter ein
(vermutlich 1. Jahrhundert n. Chr.) Kreises«. Dabei ist die Sexagesimal- System aus einer quadratischen und
gilt. So ermittelte ein mesopotami- zahl 20 als 20/60 zu lesen, also als einer linearen Gleichung.
scher Mathematikschüler laut einer 1/3, der babylonische Wert für 1/π. Das zeigt die oben abgebildete
erhaltenen Keilschrifttafel jener Zeit Entsprechend 5 als 5/60=1/12, der Keilschrifttafel. Sie enthält die voll-
den auf fünf Nachkommastellen babylonische Wert für 1/(4π). Dies ständige Lösung des Gleichungs­

genauen Wert für √2 von 1,41421, im sind die Faktoren, mit denen sich systems x2 + y2 = a und y = x + b mit
damals üblichen Sexagesimalsystem der Durchmesser eines Kreises aus den konkreten Zahlenwerten
als 1,24.51.10, geschrieben, also dem Umfang beziehungsweise seine a = 1300 und b = 10. In der folgen-
1 + 24·60–1 + 51·60–2 + 10·60–3. Fläche aus dem Quadrat des Um- den Übersetzung habe ich den
Angesichts dieser Präzision er- fangs berechnen lässt. Hier finden Originaltext ergänzt und alle Sexa­
staunt es, dass man für die Fläche sich auch diverse Arbeitspensen, die gesimalzahlen in Dezimalzahlen
eines Kreises mit Radius r die For- uns heute bei der Abschätzung umgerechnet.
mel 3r2 verwendete statt mit einer beispielsweise von Baukosten helfen
Näherung der Kreiszahl π von bei- (siehe den vorstehenden Artikel). 1 Ich habe die Flächen zweier
spielsweise 3,1415. Möglicherweise Die frühesten Zeugnisse mesopo- Quadrate addiert und (das Ergeb-
hielten die Babylonier die Fläche des tamischer Mathematik finden wir in nis ist) 1300.
Kreises für den Mittelwert der Flä- den protokeilschriftlichen Texten des 2 (Die eine) Quadratseite überragt
chen von um- und einbeschriebe­ ausgehenden 4. Jahrtausends aus (die andere) Quadratseite um 10.
nem Quadrat: Uruk. Hier berechnete man Feld­ 3 Du brichst die Hälfte von 1300
flächen in Form von Rechtecken und (aus Zeile 1) ab
unregelmäßigen Vierecken. Die 4 und schreibst (die resultierende)
d Inhalte der letzteren ermittelten die 650 hin.
Mesopotamier näherungsweise 5 Du brichst die Hälfte von 10 (aus
durch Multiplikation der Mittelwerte Zeile 2) ab
d

78 Spektrum der Wissenschaft  1.18


1 schenergebnis wird »zweimal hinge-
schrieben« (Schritt 9) und anschlie-
2
ßend zwei verschiedenen Operatio­
3 nen unterzogen: Addition von b/2

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: BRITISH MUSEUM


5 (Schritt 10) liefert x + b, die Seiten-
länge des größeren Quadrats (Zei-
7
le 11); Subtraktion von b/2 (Schritt 12)
9 hingegen liefert x, die Seitenlänge
des kleineren Quadrats (Zeile 13).
Das Lösungsverfahren funktio-
12 niert auch, wenn man statt der kon-
kreten Zahlen 1300 für a und 10 für
Auf der links abgebildeten babylonischen Keilschrifttafel des b, mit denen die Aufgabe gerechnet
British Museum findet sich in dem umrahmten Teil eine Anleitung zum Lösen wurde, andere Werte verwendet. Es
quadratischer Gleichungen. Oben eine Handabschrift desselben Ausschnitts. Rote ist heute unstrittig, dass die babylo-
Kreise (mit und ohne Nummern) kennzeichnen den Beginn der einzelnen Sätze. nischen Mathematiker um diese
Tatsache wussten. Sie haben kon-
krete Zahlenwerte gleichsam als
6 und multiplizierst (die resultieren- In Zeile 3 wird von der Gesamt­ Parameter benutzt, wie Otto Neuge-
de) 5 und (die resultierende) 5. fläche (nämlich a, hier 1300) die bauer, einer der Pioniere der Erfor-
7 Du reißt (die resultierende) 25 Hälfte »abgebrochen«. Geometrisch schung von Keilschrift-Mathematik,
aus 650 (aus Zeile 4) heraus. lässt sich das realisieren, indem man bereits in den 1930er Jahren fest-
8 (Aus der resultierenden) 625 (ist) eines der beiden (gleich großen) stellte.
25 (die) Quadratwurzel. weißen Quadrate, die Hälfte eines Sie haben sogar Verallgemeine-
9 Du schreibst (diese) 25 zweimal jeden der beiden hellgrauen Streifen rungen der genannten Aufgabe
hin. und zwei Viertel des kleinen dunkel- gelöst: Gesucht sind nicht nur zwei,
10 Du addierst die 5, die du (in grauen Quadrats entfernt. Die so sondern n Quadrate, deren jedes
Schritt 6) quadriert hast, zu der entstehende Figur hat die Fläche eine um b größere Seitenlänge hat
einen 25 (aus Zeile 9) a/2, hier 650. als sein Vorgänger und deren Ge-
11 und (die resultierende) 30 ist (die samtfläche vorgeschrieben ist. In
b
erste) Quadratseite. heutiger Notation wäre das so
12 Du ziehst (die) 5 (die du in x auszudrücken:
Schritt 6 quadriert hast) von der n
zweiten 25 (aus Zeile 9) ab x 2i = a, xi + 1 − xi = b
13 und (die resultierende) 20 ist die Jedes der beiden verbleibenden dun- i=1
zweite Quadratseite. kelgrauen Teilquadrate hat die Sei-
tenlänge b/2 (= 5 im konkreten Zah-  Hagan Brunke
Das Lösungsverfahren lässt sich lenbeispiel) und damit den Flächen-
folgendermaßen interpretieren. Man inhalt (b/2)2 (= 25). In Schritt 7 wird
QUELLEN
hat zwei Quadrate mit den (noch eines von ihnen aus der neuen Figur
Brunke, H.: Überlegungen zur babyloni-
unbekannten) Kantenlängen x und entfernt (»du reißt 25 aus 650 her-
schen Kreisrechnung. In: Zeitschrift für
x + b. Das größere Quadrat kann aus«), zum Beispiel das äußere. Assyriologie und vorderasiatische Archäo-
man sich aus dem kleineren und Übrig bleibt ein Quadrat der Seiten- logie 101, S. 113–126, 2011
einem »Überschuss« zusammen­ länge x + b/2: Brunke, H.: Überlegungen zu Raumerfas-
gesetzt denken. Letzterer besteht sung und Flächenrechnung in Mesopota-
aus den zwei hellgrauen recht­ mien. In: eTopoi Journal for Ancient
eckigen Streifen (Breite b und Studies 4, S. 1–17, 2015
Höhe x) und dem kleinen dunkel- Neugebauer, O.: Mathematische Keil-
x+ b
grauen Quadrat mit Kantenlänge b. 2 schrifttexte. Quellen und Studien zur
Geschichte der Mathematik, Astronomie
und Physik 3. Springer, Berlin 1935–1937
Seine Fläche ist hier 650 – 25 =
b Robson, E.: Mesopotamian Mathematics,
625. In Schritt 8 wird daraus die
2100–1600 BC. Technical Constants in
x Quadratwurzel gezogen. Das Ergeb- Bureaucracy and Education. Oxford
nis (hier 25) ist die Seitenlänge des Editions of Cuneiform Texts 14. Clarendon
x x +b x x b Quadrats, also x + b/2. Dieses Zwi- Press, Oxford 1999

Spektrum der Wissenschaft  1.18 79


GLEICHBERECHTIGUNG
DIE RÜCKKEHR DER
MÄDCHEN
SERIE GENDER In vielen Ländern Asiens wurden traditionell
Söhne bevorzugt, während Töchter millionenfach im Baby-
alter starben – durch Kindstötung oder Vernachlässigung.
Erst in letzter Zeit beginnt sich das Missverhältnis zwischen
männlichen und weiblichen Nachkommen auszugleichen.

Monica Das Gupta ist Professorin für Soziologie


an der University of Maryland in College Park.
Davor war sie als Demografin für die Weltbank
tätig.

 spektrum.de/artikel/1520797


Töchter seien unnütz und wertlos, schrie eine Greisin,
als ich mich 1996 in einem südkoreanischen Dorf mit
einer Gruppe älterer Frauen über Familienprobleme
unterhielt. Die anderen nickten zustimmend. Aber warum,
wollte ich wissen. Faul seien Töchter nicht, antwortete die
Alte, das sei nicht der Grund. »Im Gegenteil, Frauen erledi-
gen die meiste harte Feldarbeit, und ihre Heirat kostet
praktisch nichts. Trotzdem sind Töchter unerwünscht, weil
sie der Familie nicht nützen – sie gehen fort, wenn sie
heiraten. Die Söhne hingegen bleiben daheim, erben den
Besitz und pflegen die Rituale der Ahnenverehrung.«
In China hörte ich ähnliche Geschichten. Wie ein Mann
erzählte, war seine Frau bei der Geburt der Tochter »so
bestürzt, dass sie das Kind gar nicht aufziehen wollte; ich
musste sie überreden, es zu stillen«.
Solche Einstellungen entscheiden über Leben und Tod.
Von Natur aus werden um 5 bis 6 Prozent mehr Jungen
als Mädchen geboren, doch im Jahr 2000 kamen in China
20 Prozent mehr Knaben zur Welt. Dieses schiefe Ge-
schlechterverhältnis findet man in großen Teilen Ost- und
Südasiens, im Südkaukasus sowie in einigen Balkanstaa-
ten. Überall werden weibliche Babys abgetrieben, bei der
Geburt getötet oder sie sterben durch Vernachlässigung.
Warum? Wie die Südkoreanerin mit brutaler Offenheit aus-
sprach: Das Mädchensterben hat wirtschaftliche Gründe.
Diese Kulturen verbieten erwachsenen Töchtern seit jeher,
im elterlichen Haushalt mitzuhelfen oder Eigentum zu
erben, und das mindert ihren Wert für die Familie.
Doch seit Kurzem gerät Bewegung ins demografische
Ungleichgewicht. In Südkorea hat sich der einst große

80 Spektrum der Wissenschaft  1.18

HADYNYAH / GETTY IMAGES / ISTOCK


Überschuss männlicher Nachkommen seit Mitte der
1990er Jahre nicht nur normalisiert, sondern schlägt
SERIE
tendenziell sogar in eine Präferenz für Töchter um. In Frauen weltweit
Indien zeigt die Volkszählung von 2011 für den Nordwes-
ten einen deutlichen Rückgang des dort besonders kras- Teil 1: Dezember 2017
sen Missverhältnisses zwischen Mädchen und Jungen. Die beste Entwicklungshilfe
Ana L. Revenga und Ana Maria Munoz-Boudet
Auch in China hat sich der starke Trend zur Bevorzugung
männlicher Babys abgeschwächt. Teil 2: Januar 2018
Die Verschiebungen hängen offenbar mit der rapiden Die Rückkehr der Mädchen
Monica Das Gupta
Verstädterung zusammen sowie mit dem durch sozialen
Wandel erhöhten Wert von Töchtern. Sie verschwinden Teil 3: Februar 2018
Die akademische Geniefalle
nicht mehr aus ihren Familien, sondern bringen manchmal
Andrei Cimpian und Sarah-Jane Leslie
sogar zusätzliche Männer ins Haus. 20 Jahre nach dem
erwähnten Besuch in Südkorea erzählte mir dort eine Frau:

Es sitzen wieder mehr Mädchen auf den Schulbänken: Jahrzehntelang waren Töchter in Ländern
wie Indien, China und Südkorea unerwünscht und die Geschlechterverhältnisse stark verzerrt.
Verstädterung, Bildungsangebote und Staatliche Kampagnen führen jetzt vielerorts zur Trendwende.

HADYNYAH / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  1.18 81


»Meine Mutter wurde in ihrer Jugend viel geschmäht, weil Unerwünschte Mädchen werden nicht nur durch Kinds-
sie drei Töchter hatte und keinen Sohn. Jetzt, da wir er- tötung und Vernachlässigung aus der Welt geschafft. In
wachsen sind, ist sie sehr froh darüber, denn wir bleiben den 1980er Jahren wurde es möglich, das Geschlecht des
alle beisammen. Sie sagt, ihre Schwiegersöhne behandeln Fötus per Ultraschalluntersuchung festzustellen. Von da an
sie besser als leibliche Söhne.« konnten die Eltern durch Abtreibung die Geburt ungewoll-
Jahrhundertelang trieben die Normen der Agrargesell- ter Töchtern vermeiden. Entsprechend stieg das Ungleich-
schaft in China, Südkorea und Nordwestindien die Töchter gewicht der Geschlechter von da an.
aus dem elterlichen Haushalt. Mit der Heirat gingen Frau- Hungersnöte und Kriege erhöhen den Drang, vermeint-
en in die Familie des Mannes über. In der Herkunftsfamilie lich überflüssige Kinder loszuwerden. Als japanische
sorgte die Einheirat von Schwiegertöchtern für neue Truppen 1937 den Osten Chinas überfielen, stieg die
Arbeitskräfte, was den Wert von Söhnen erst recht unter- Sterberate der Mädchen um 17 Prozent gegenüber für
strich. Ähnliche Verhältnisse herrschten in Nordvietnam solche Zeiten erwartbare Werte. Die Eltern in Kriegsgebie-
und im Südkaukasus. ten standen vor schweren Entscheidungen. In der Provinz
Sobald eine Frau zur Familie des Gatten wechselt, ver- Zhejiang erzählte mir eine Frau, was sie in den 1930er
liert sie ihr Anrecht auf das eigene Elternhaus. Stattdessen Jahren erlebt hatte: »Ich war sechs Jahre alt, als meine
entsteht dort Platz für die Bräute ihrer Brüder. Wenn die Mutter sagte, ich müsse verkauft werden. Ich flehte mei-
Frau dennoch zurückkehrt – was selten vorkommt –, nen Vater an, mich zu behalten. Ich versprach, ganz wenig
haben sie und die Eltern größte Mühe, mit der ungewöhn- zu essen, wenn ich bleiben durfte.« Ähnlich wirkt sich der
lichen Situation fertigzuwerden. Andere Familienmitglieder Zusammenbruch von Regierungen aus. In den Ländern
und das Dorf sträuben sich, weil sie ihre Eigentumsrechte des südlichen Kaukasus kamen nach dem Ende der Sow-
bedroht sehen. Sobald eine Frau im ländlichen China jetunion plötzlich viel mehr Jungen als Mädchen zur Welt.
heiratet, wird ihr Anspruch auf Grund und Boden unter
den Dorfbewohnern aufgeteilt, und eine Heimkehr kann Kronprinzen ohne Bräute: Der Männerüberschuss setzt
auf erheblichen Widerstand stoßen. eine Heiratsmigration in Gang
Die Wirkung dieser kulturellen Normen wird am Unter- Auch der Trend zu kleineren Familien treibt Eltern dazu,
schied zwischen Taiwan und Südkorea einerseits und den Söhne zu favorisieren. In großen Familienverbänden, wo
Philippinen andererseits deutlich. Erstere haben streng alle ausreichend zu essen haben, kann man sich mehrere
patrilineare – männlich orientierte – Verwandtschaftssyste- Töchter und obendrein ein, zwei Söhne leisten. In der
me, während Letztere bei der Erbfolge keinerlei Geschlecht Kleinfamilie dagegen sinkt mit der Geburtenrate zugleich
bevorzugen. In Taiwan und Südkorea leben Eltern sehr oft die Chance auf einen Stammhalter. In Kleinfamilien, die
mit verheirateten Söhnen aber fast nie mit verheirateten männliche Nachkommen bevorzugen, stirbt die zweite
Töchtern zusammen; das hat eine Feldstudie ergeben, die Tochter mit viel höherer Wahrscheinlichkeit vor oder bald
ich mit Doo-Sub Kim von der Hanyang University in Seoul nach der Geburt als ihre große Schwester.
durchgeführt habe. Auf den Philippinen hingegen teilen Das »Verschwinden« der Mädchen zieht allerdings
sich die Eltern den Haushalt gleich häufig mit verheirateten irgendwann einen Mangel an erwachsenen Frauen nach
Kindern beiderlei Geschlechts. Erwartungsgemäß ist das sich. Infolge der jahrzehntelangen Bevorzugung männli-
Geschlechterverhältnis auf den Philippinen – anders als in cher Nachkommen leiden China, Südkorea und Nordwest-
Taiwan und Südkorea – quanti­tativ nahezu ausgeglichen. indien inzwischen unter einem »Heiratsengpass«. China
ist am stärksten betroffen: 2010 schätzte die Chinesische
Akademie der Sozialwissenschaften, dass im Jahr 2020
jeder fünfte Mann keine Partnerin finden werde.
AUF EINEN BLICK Am härtesten trifft der Brautmangel die ärmeren Män-
WENN NUR SÖHNE ZÄHLEN ner. Wie Shan-Jin Wei von der New Yorker Columbia
University berichtet, greifen arme chinesische Eltern zu

1  is vor Kurzem werteten viele Kulturen, vor allem in


B
asiatischen Ländern, Knaben deutlich höher als Mäd-
chen. Oft vernachlässigten die Familien ihre Töchter
verzweifelten Maßnahmen, um die Chancen ihres Sohns
auf dem Heiratsmarkt zu erhöhen. Zum Beispiel neh-
men sie eine besonders gefährliche Arbeit an, um mehr
oder töteten diese gar. zu verdienen und ein schönes Haus bauen zu können,
damit er für die wählerischen Damen attraktiver wird.

2  enerationen sind von »fehlenden« Frauen gekenn-


G
zeichnet. Das Ungleichgewicht der Geschlechter schuf
soziale Spannungen, veränderte Heiratsmuster und
Umgekehrt nützt der Heiratsengpass den Frauen. Eine
Untersuchung von Maria Porter von der Michigan State
University in East Lansing ergab, dass Chinesinnen in
löste Wanderungsbewegungen aus.
Regionen mit Brautmangel in der Ehe mehr mitzureden
haben und dadurch ihre Eltern besser unterstützen können.
3  llmählich normalisiert sich das Geschlechterverhält-
A
nis. Mit der Urbanisierung messen Gesellschaften
Frauen einen höheren ökonomischem Wert zu, so
Aus armen Gebieten stammende Frauen können wohl­
habendere Männer wählen; mitunter wechseln die Bräute
dass Söhne weniger stark bevorzugt werden. dafür den Wohnort oder wandern sogar in ein anderes
Land aus. In China, Südkorea und Indien sind die Männer,
die solche Fernheiraten eingehen, meist schlechter gestellt

82 Spektrum der Wissenschaft  1.18


als die lokalen Mitbewerber auf dem Heiratsmarkt. Damit
sind sie zwar unattraktiv für die Bräute der Nachbarschaft,
können aber Heiratswilligen, die aus ärmlichen Verhaltnis- Das große Verschwinden
sen stammen, ein besseres Leben bieten.
Die Fernheiraten sind für die Frauen jedoch riskant. Eine Daten aus Volkszählungen und Sozialstudien
Braut aus einer anderen ethnischen Gruppe oder Sprach- belegen, dass der Anteil weiblicher Neugebore-
region hat mitunter Schwierigkeiten, sich zu assimilieren; nen in mehreren asiatischen Ländern über viele
sie gilt als Außenseiterin, kennt weder die neue Sprache Jahrzehnte hinweg dramatisch abnahm. Für
noch die örtlichen Gebräuche und ist kaum sozial vernetzt. Europa und Nordamerika ist dergleichen nicht zu
Meist lebt sie mit ihrem Ehemann auf dem Land, wo sie beobachten. Erst seit einigen Jahren steigt der
nur schwer Anschluss findet. Mädchenanteil in Südkorea, China und Indien
Oft bleibt es nicht bei sozialer Isolation und kulturellen wieder an.
Missverständnissen. 2010 befragten Forscher der Viet
Nam National University in Ho-Chi-Minh-Stadt zahlreiche
in Taiwan verheiratete Vietnamesinnen. Die meisten gaben 100:100 Gleichgewicht Mädchen: Buben
zwar an, sie seien froh, ihrer Herkunftsfamilie finanziell

DEPARTMENT OF ECONOMIC AND SOCIAL AFFAIRS, POPULATION DIVISION. WORLD POPULATION PROSPECTS: THE 2017 REVISION, KEY FINDINGS AND ADVANCE
unter die Arme greifen zu können, doch einige Aussagen

JEN CHRISTIANSEN, NACH GUO, Z. ET AL.: MISSING GIRLS IN CHINA AND INDIA: TRENDS AND POLICY CHALLENGES. IN: ASIAN POPULATION STUDIES 12,
S. 135-155, 2016 (KINDER IN INDIEN 0 –6 J., IN SÜDKOREA UND CHINA 0–4 J.); NATIONAL CENSUS DATA (SÜDKOREA, INDIEN, CHINA); UNITED NATIONS,
trübten das Bild: So würden etwa der Gatte und seine Nordamerika

TABLES. WORKING PAPER NO. ESA/P/WP/248, 2017 (NORDAMERIKA, NORDEUROPA, WESTEUROPA) / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017
Verwandtschaft die Frau verachten, weil sie arm ist; sie 100:105 Nordeuropa
werde misshandelt oder müsse arbeiten wie eine Sklavin. Westeuropa

Geschlechterverhltnis Mädchen : Buben


Tatsächlich fand eine taiwanesische Studie 2006, dass Südkorea
Fernheiraten das Risiko häuslicher Gewalt erhöhen. Für Indien
100:110
Südkorea wies Doo-Sub Kim von der Hanyang University
eine erhöhte Scheidungsrate bei solchen Ehen nach.
Insgesamt ruft die Entstehung einer ganzen Generation
von unfreiwilligen Junggesellen mehr Verbrechen und 100:115
Gewalt hervor, insbesondere Gewalt gegen Frauen. Zwei
Studien – eine für Indien, die Jean Drèze an der Delhi
China
School of Economics durchführte, sowie eine in China von
Nordwest-
Lena Edlund an der Columbia University – bestätigen, dass 100:120
indiens
mit dem Männerüberschuss die Kriminalität zunimmt. (Punjab und
Haryana)
Seit zwei Jahrzehnten beginnen die Vorurteile gegen
Töchter abzunehmen. Mein Kollege Woojin Chung und ich
100:125
haben für Südkorea gezeigt, dass sich die Haltung der
Mütter zum Geschlecht der Kinder drastisch geändert hat.
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
1991 betonten 35 Prozent der befragten Frauen, die zwi-
schen 1955 und 1964 geboren waren, sie müssten einen

WAR, FAMINE AND FERTILITY DECLINE. IN: DEVELOPMENT AND CHANGE 30, S. 619-652, 1999 / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017
JEN CHRISTIANSEN, NACH DASGUPTA, M., SHUZHUO, L.: GENDER BIAS IN CHINA, SOUTH KOREA AND INDIA 1920–1990: EFFECTS OF
0
Differenz zwischen Mädchen und Jungen
im Alter von 0 bis 4 Jahren in Prozent

Bürgerkrieg
–5

Krisen
Ein-Kind-
treffen Mädchen härter japanische Politik
Invasion
–10
In China sank der Prozentsatz weiblicher Hungersnot
Kleinkinder in Notzeiten besonders deut-
lich. Die Familien entledigten sich ihrer
Töchter, die sie als weniger wert erachteten,
–15
wenn Krieg oder Hunger herrschte. In den
1980er Jahren begann die restriktive Ein-Kind-
Politik das Geschlechterverhältnis erneut zu
kippen.
1920 1940 1960 1980 1990

Spektrum der Wissenschaft  1.18 83


JEN CHRISTIANSEN, NACH CHUNG, W., DASGUPTA, M.: THE DECLINE OF SON PREFERENCE IN SOUTH KOREA: THE ROLES
OF DEVELOPMENT AND PUBLIC POLICY. IN: POPULATION AND DEVELOPMENT REVIEW 33, S. 757-783, 2007; NATIONAL
Wenn die Präferenz für Stammhalter sinkt

CENSUS DATA / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
In Südkorea hat die erklärte Vorliebe für männliche Nachkommen seit Beginn der 1990er Jahre stetig
abgenommen. Infolge dieses Wertewandels sank bald auch der Prozentsatz neugeborener Söhne.
unbedingt einen Sohn wollen
Prozentsatz der Frauen, die

50 54

männlicher Babys
40

Prozentsatz
53
30

52
20

10 51
1980 1990 2000 1980 1990 2000

Sohn haben. 2003 beharrten nur noch 19 Prozent dessel- In den populären indischen Fernsehserien arbeiten die
ben Jahrgangs darauf. Mit dem Einstellungswandel hat dargestellten Frauen nicht mehr nur zu Hause, sondern
sich auch das Geschlechterverhältnis der Neugeborenen nehmen am öffentlichen Leben teil. Die dadurch vermittel-
verändert (siehe »Das große Verschwinden«, S. 83). ten Werte stellen die traditionelle Meinung über die soziale
Was ließ den Wert der Mädchen steigen? Zweifellos Rolle der Frau in Frage. Die Vorliebe für Söhne nimmt
spielen Urbanisierung und Bildung der Eltern eine wichtige durch solche Einflüsse nachweislich ab.
Rolle. In Südkorea hat sich der Anteil an Menschen, die in In mehreren Ländern wurde darüber hinaus versucht,
Städten zu Hause sind, zwischen 1966 und 1986 von 33 das sexuelle Ungleichgewicht durch ein Verbot der vorge-
auf 67 Prozent verdoppelt. 1991 lebten bereits 75 Prozent burtlichen Geschlechtsbestimmung und -selektion zu
der Bevölkerung in urbanen Regionen. Das hat soziale und stoppen. Mangels exakter Daten sind die Erfolge solcher
ökonomische Auswirkungen, denn in der Stadt schwindet Maßnahme jedoch fraglich. Sowohl in Indien als auch in
die zentrale Bedeutung der Söhne. Während Dorfbewoh- China, wo besonders weit reichende Verbote einer sexuel-
ner ihr Dasein im engen Kreis der Verwandtschaft zubrin- len Selektion gelten, änderten sich die Geschlechterver-
gen, leben und arbeiten Städter in der unpersönlichen hältnisse dadurch kaum.
Umgebung von Wohnblocks und Bürogebäuden. Damit Da die Verstädterung der asiatischen Länder rapide
sinkt der Konformitätsdruck, der junge Männer zu Gehor- fortschreitet, dürfte die Bevorzugung von Söhnen weiter
sam und Fortsetzung der Erbfolge verpflichtet. abnehmen. Die offiziellen Stellen können diesen Prozess
In der Stadt unterstützen Kinder ihre Eltern weniger auf durch Gesetze und emanzipatorische Maßnahmen be-
Grund traditioneller Normen, sondern vor allem wenn sie schleunigen; etwa indem sie Medieninhalte fördern, die
zufällig in der Nähe wohnen und sich emotional gebunden zeigen, wie Frauen ihre eigenen Eltern – und nicht nur
fühlen. Auf diese Weise nivelliert die Urbanisierung die die Schwiegereltern – im Alter pflegen. Dadurch können
ungleiche Bewertung von Söhnen und Töchtern. Sobald geschlechtsbedingte Stereotype sowie die Vorliebe für
letzere Zugang zu Bildung und Arbeit haben, können sie männlichen Nachwuchs ins Wanken geraten. Solche
die Eltern besser unterstützen. Zugleich sind Eltern, die in Ansätze dürften Frauen und der Gesellschaft insgesamt
den Genuss von Renten und sozialen Sicherungssystemen mehr dienen als ein Verbot pränataler Selektion.
kommen, finanziell unabhängiger von ihren Kindern.
Darüber hinaus fördern staatliche Maßnahmen gezielt QUELLEN
die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. So hat
Chung W., Das Gupta, M.: The Decline of Son Preference in South
Indien eine Quotenregelung eingeführt, damit sich mehr Korea: The Roles of Development and Public Policy. In: Population
Kandidatinnen für lokale Regierungsämter aufstellen and Development Review 33, S. 757–783, 2007
lassen. Soziologischen Untersuchungen zufolge führte die
Das Gupta, M., Shuzhuo, L.: Gender Bias in China, South Korea
Initiative zu einem Abbau stereotyper Vorurteile in der and India 1920–1990: Effects of War, Famine and Fertility Decline.
Gesamtbevölkerung, während gleichzeitig das weibliche In: Development and Change 30, S. 619–653, 1999
Selbstbewusstsein wuchs. Das Gupta, M. et al.: Why Is Son Preference so Persistent in
In Indien, China und Südkorea propagieren die Massen- East and South Asia? A Cross-Country Study of China, India and
medien die Vorteile der Familienplanung. Plakate und die the Republic of Korea. In: Journal of Development Studies 40,
allgegenwärtige Fernsehwerbung ermuntern die Eltern, S. 153–187, 2003
wenige Kinder zu bekommen – und nicht unbedingt Söh- Edlund, L. et al.: Sex Ratios and Crime: Evidence from China.
ne. So sind in diesen Ländern immer mehr Menschen der In: Review of Economics and Statistics 95, S. 1520–1534, 2013
Ansicht, dass eine Familie mit Töchtern ebenso glücklich Zhen, G. et al.: »Missing Girls« in China and India: Trends and Policy
werden kann wie mit männlichen Nachkommen. Challenges. In: Asian Population Studies 12, S. 135–155, 2016

84 Spektrum der Wissenschaft  1.18


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Aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschafts-
und Technikgeschichte des Deutschen Museums ZEITREISE

1918
DEUTSCHE QUALITÄTSARBEIT
WIRTSHÄUSER AUF DER OSTSEE
»Der kälteste Winter im Osten war der des Jahres 1322.
[Er] sei so außerordentlich hart gewesen, daß 7 Wochen
lang die gefrorene Ostsee von Deutschland nach Düna­
münde [heute Teil der lettischen Hauptstadt Riga] mit
Schlitten befahren werden konnte und man auf dem Eise
»Der deutsche sogar ordentliche Wirtshäuser zur Bequemlichkeit der
Schützengraben­ Reisenden angelegt habe. Die Ostsee friert am liv- und
bagger ist dem kurländischen Ufer oft sehr weit bis ins Meer zu, und
französischen deshalb sind schon oft Schlitten von der Düna bis nach
überlegen, denn der Insel Oesel gefahren.«  Gesundheit 1, S. 28
letzterer fährt sich
nicht selbsttätig,
er muß (etwa SCHREI-BABY, GESUNDES BABY
13 000 kg schwer) »Die erste stimmliche Tätigkeit des Kindes ist das Schrei­
Deutscher Dampfbagger für die Front.
mit dem Seil durch en, welches einen unbewußten Reflexvorgang auf die
Manneskraft über oft recht unwegsames Gelände vorge­ Temperaturveränderung, den Lichteinfall im Auge usw.
zogen werden. Das häufig feuchte Baggergut fällt auf bedeutet. Das Schreien soll, solange es sich in normalen
[Rutschen], es muß mit der Hand abgenommen und von Grenzen hält, nicht unterdrückt werden, da es sowohl
den Rädern geschaufelt werden. Der deutsche Schützen­ den Kehlkopf als die Atemmuskeln übt. Die Sprechatmung
grabenbagger fährt durch seine eigene Dampf- oder des Menschen stellt an die Atemmuskeln ziemliche An­
Motorkraft nach Bedarf schneller oder langsamer rück- forderungen, denn es heißt hier, den Brustkorb schnell
oder vorwärts. Das Baggergut fällt auf den Transporteur mit Luft füllen und nur allmählich entleeren. Die Schrei­
und wird naß oder trocken, nach Wunsch rechts oder atmung vollzieht sich nach demselben Typus und
links, näher oder weiter vom gefertigten Graben ohne kann deshalb als Übung der späteren Sprachatmung
menschliche Hilfe abgelegt.«  Technische Monatshefte 1, S. 28 gelten.«  Die Umschau 1, S. 13

FALTBARE BATTERIE

1968
»Presseberichten zufolge experimentiert man mit einer
Papier-Batterie. Sie besteht aus drei Schichten – einem
Bogen Papier mit pulverisiertem Kochsalz, einem Blatt mit
Kaliumpersulfat und Kohlenstoffpuder und einer Papier­
DER MOND schicht, die elektrischen Strom leitet. Das lange lager­
fähige Energiepapier liefert Strom, sobald die Küchensalz­
RÜCKT NÄHER schicht befeuchtet wird. Es kann zusammengefaltet
»Die wichtigste technische und beispielsweise als Batterie für Trockenrasierer und
Voraussetzung für eine mensch­ Taschenlampen verwendet werden.«  Automatik 1, S. 22
liche Mondlandung ist eine
hinreichend starke Trägerrakete;
denn die erforderliche Nutzlast HIRNEXTRAKT STATT TRAINING
übersteigt die Masse aller bishe­ »Ratten wurden in Y-förmige Gräben gesetzt, deren Bö-
rigen unbemannten Geräte bei den aus feinen elektrisch aufgeladenen Gittern bestehen.
Die Großrakete Saturn V weitem. Hierfür sind die Aus­ Gleichzeitig wurde jeweils ein Arm des Y beleuchtet. Lie-
vor dem ersten Start. sichten jetzt günstig, nachdem fen die Ratten, um dem elektrischen Schlag zu entkom-
die amerikanische Riesenrakete Saturn V am 9. Nov. 1967 men, in den beleuchteten Arm, so wurde das elektrische
ihren ersten Start erfolgreich hinter sich gebracht hat, Gitter zur Belohnung abgeschaltet. Dieses Verhalten
wobei auch der Wiedereintritt einer Apollo-Kapsel in die wurde geübt, bis jedes Tier bei mindestens neunzig Pro­
Erdatmosphäre mit der Geschwindigkeit von rund 11 km/s, zent aller Versuche sofort den beleuchteten Arm des Y
wie sie bei der Rückkehr vom Mond auftreten wird, gut wählte. Die Tiere wurden getötet, ein Extrakt ihres Gehirns
vonstatten ging. Alles in allem ist zu erwarten, daß bis wurde Mäusen intraperitoneal injiziert. Brachte man die-
zum Jahre 1970 der erste Mondspaziergang tatsächlich se in die Gräben, so wählten die Tiere sogleich den je-
stattfinden wird.«  Naturwissenschaftliche Rundschau 1, S. 9 weils be­leuchteten Arm des Y«.  Kosmos 1, S. 16

86 Spektrum der Wissenschaft  1.18


FREISTETTERS FORMELWELT
EIN GAS AUS PRIMZAHLEN
SIMON KUMM & SUSANNE SCHLIE (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.DE/BILDER.HTML) /
CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

Viele Formeln erscheinen so abstrakt, dass sie nutzlos


wirken. Nur Geduld – manchmal zeigt sich der Nutzen
erst nach fast 200 Jahren, und an unerwarteter Stelle.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist


bei den »Science Busters«.
 spektrum.de/artikel/1520799

I
m Jahr 1831 führte August Ferdinand Möbius eine Ursprünglich besteht ein Primonengas aus Boso­
neue Funktion in die Mathematik ein. Sie ist für nen; das sind die Elementarteilchen, die im Standard­
alle natürlichen Zahlen > 0 definiert und kann nur modell der Teilchenphysik für die Vermittlung von
drei verschiedene Werte annehmen: –1, 0 und +1. Kräften zuständig sind, wie Photonen oder Gluonen.
k
Im Rahmen der so genannten »Supersymmetrie«
(–1) , wenn n quadratfrei versuchen Physiker aber schon seit einiger Zeit, das
µ(n)= klassische Modell zu erweitern – unter anderem, um
0 sonst die Gravitation in die quantenmechanischen Beschrei­
Für alle Zahlen, die das Quadrat einer natürlichen Zahl bungen einzubeziehen oder die Natur der Dunklen
sind oder das Vielfache davon (also etwa 4, 8, 9, 12, Materie zu erklären. Dazu etablieren sie eine Bezie­
16, 18, …), nimmt sie den Wert 0 an. Die übrigen Zah­ hung zwischen Bosonen und Fermionen; Letztere sind
len sind »quadratfrei«, das heißt, in ihrer Primfaktor­ die Teilchen, welche die Materie ausmachen (Elektro­
zerlegung kommt jede Primzahl höchstens einmal vor. nen, Quarks und so weiter). Jedem Kraftteilchen
Hat die Zahl n eine ungerade Anzahl an Primfaktoren entspricht ein Materieteilchen und umgekehrt.
(in der Formel mit k bezeichnet), dann beträgt der Wert

F
der Funktion –1, bei einer geraden Anzahl +1. ormuliert man nun das Primonengasmodell so
So weit die Definition. Doch wozu braucht man um, dass es supersymmetrische Eigenschaften
das? Diese Frage ist in der Mathematik (und meiner hat, dann stößt man in der mathematischen
Meinung überhaupt in den Naturwissenschaften) Analyse auf die Möbiusfunktion. Dabei kommt
unangebracht. Die Funktion lässt sich widerspruchs­ es darauf an, ob das Primonengas Bosonen oder Fer-
frei definieren, also existiert sie in der Welt der Mathe­ mionen enthalten soll. Ein ganzes Teilchenensemble
matik. Man kann sie untersuchen und dadurch weitere entspricht einer natürlichen Zahl, jedes Teilchen ei­-
mathematische Erkenntnisse gewinnen. nem Primfaktor. Wenn sich zwei Fermionen im glei­
Davon abgesehen: Es gibt durchaus Anwendungs­ chen Zustand befinden, kommt ein Primfaktor
möglichkeiten. Die Möbiusfunktion taucht zum Bei­ doppelt vor, so dass die Möbiusfunktion den Wert
spiel bei der Untersuchung der berühmten riemann­ null annimmt. Das sind genau die Zustände, die
schen Zetafunktion auf, die im Zentrum eines der gro- aus physikali­schen Gründen (nach dem Pauli-Prinzip)
ßen unge­lös­ten Probleme der Mathematik steht. Sie aus­geschlossen sind.
hängt mit dem Primzahlsatz zusammen, einer der Natürlich handelt es sich beim Primonengas nur
wichtigsten Aussagen der Zahlentheorie. Und uner­ um ein Denkmodell, das einem besseren Verständnis
warteterweise spielt die seltsame Funktion aus dem bestimmter Teilcheneigenschaften dienen soll, und
19. Jahrhundert auch noch bei einem der großen nicht etwa um einen ernsthaften Versuch, die Natur zu
physikalischen Probleme der Gegenwart eine Rolle. beschreiben. Und die Vorhersagen der Supersymme­
1989 entwickelte der französische Physiker Bernard trie ließen bis jetzt trotz vieler Anstrengungen nicht
Julia die Idee des »Primonengases«. Dabei handelt es experimentell bestätigen.
sich um ein Ensemble hypothetischer Teilchen, der Dennoch: August Ferdinand Möbius wäre ver­
»Primonen«. Ihre Energien werden von Primzahlen mutlich sehr überrascht zu erfahren, dass seine selt­
bestimmt. Damit stellt Julias Theorie eine unerwartete same Funktion über natürliche Zahlen heute zur
Verbindung zwischen der Quantenfeldtheorie und der Beschreibung der fundamentalen Bausteine der Welt
Zahlentheorie her. dient.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 87


REZENSIONEN
KARTOGRAFIE wichtigsten Publikationen
fasst die Wissenschafts-
gin zufolge waren abend-
ländische Kartografen
UNTER DER journalistin Susanne Billig damals aber noch nicht in
MONDSICHEL in diesem Band zusammen. der Lage, so genaue Dar-
Daraus ergeben sich ver- stellungen anzufertigen.
NACH schiedene Indizien dafür, Darum müsse Kolumbus
WESTEN dass arabische Seefahrer mindestens ein Exemplar
bereits vor Kolumbus den aus dem islamisch-ara-
Haben muslimische neuen Kontinent entdeckt bischen Kulturraum beses-
Seefahrer Amerika haben könnten. Ob das nun sen haben, auf dem der
entdeckt? Die Karte stimmt oder nicht – die amerikanische Kontinent
des türkischen Rolle des Erstentdeckers, bereits eingezeichnet war.
­Admirals Piri Re’is die Kolumbus früher zuge- Laut Sezgin versuchten
gibt Rätsel auf. schrieben wurde, ist ohne- arabische Seefahrer seit
hin obsolet. So gibt es dem 12. Jahrhundert, den
Susanne Billig


2014 behauptete der starke Hinweise darauf, DIE KARTE DES PIRI RE’IS Ozean zu überwinden, um
türkische Präsident dass bereits um 1000 n. Chr. Das vergessene Wissen der den asiatischen Kontinent
Erdogan, muslimische Skandinavier in der Neuen Araber und die Entdeckung zu erreichen. Dabei hätten
Seefahrer hätten Amerika Welt siedelten (siehe Spek- Amerikas sie einige karibische Inseln
bereits 1178 entdeckt, also trum Januar 2017, S. 84). C.H.Beck, München 2017 sowie die Ostküste Brasili-
303 S., € 18,95
mehr als 300 Jahre vor Das Buch lenkt den Blick ens entdeckt. Wie die
Christoph Kolumbus. Das auf die wissenschaftlich- angeblich von ihnen stam-
folgerte Erdogan aus einem technischen Errungenschaf- mende Karte in Kolumbus’
Tagebucheintrag des italie- ten des islamisch-arabi- Nautik, Geografie und Besitz übergegangen sei,
nischen Seefahrers, in dem schen Kulturraums, ohne Kartografie leisteten. geht aus dem Band nicht
dieser vermeintlich von die eine gezielte Atlantik­ Zahlreiche Abbildungen klar hervor. Mangels Bewei-
einer Moschee in der Neu- überfahrt unmöglich gewe- von astronomischen und sen sind Wissenschaftler
en Welt berichtet hatte; sen wäre. Wie Sezgin nautischen Instrumenten uneins, ob diese These
tatsächlich jedoch hatte anhand vieler Quellen ergänzen den Text. Wie stimmen könnte.
Kolumbus einen kubani- belegt hat, trugen arabische diese funktionierten und Billig gelingt es, ihren
schen Hügel mit der Wissenschaftler während welchen Zwecken sie Lesern einen Einblick zu
dienten, erklärt Billig auf vermitteln in ein kompli-
anschauliche Weise. An- ziertes Forschungsgebiet,
Laut Sezgin haben arabische Seefahrer hand zahlreicher Karten auf dem noch viele Fragen
können die Leser nachvoll- offen sind. Leider fällt
seit dem 12. Jahrhundert einige ziehen, welche Fortschritte das Buch sehr technisch
karibische Inseln sowie die Ostküste die Kartografie im Lauf der
Zeiten machte.
aus. Die Autorin erwähnt
zwar historische Wende-
Brasiliens entdeckt Am Ende legt die Autorin punkte, die den arabisch-
dar, warum Sezgin davon isla­mischen Kulturraum
ausgeht, arabische Seefah- prägten, geht aber kaum
Wölbung einer Moschee- des Mittelalters nicht nur rer hätten den Atlantik vor näher auf sie ein. Zudem
kuppel verglichen. Histori- überliefertes Wissen ande- Kolumbus gezielt über- behandelt sie nicht die
ker sind sich einig, dass rer Kulturen zusammen, quert. Hierzu stellt sie die Motive, die arabische
Erdogans Äußerung haltlos sondern entwickelten um 1513 entstandene Karte Seefahrer zur Atlantiküber-
ist; dennoch wirft die dieses auch selbst weiter. des osmanischen Admirals querung getrieben haben
Seefahrts­geschichte der Ihre geografisch zentrale Piri Re’is vor, die Forschern könnten. Unbefriedigend ist
islamischen Welt noch Lage ermöglichte es ihnen, noch heute Rätsel aufgibt. vor allem, dass dem Buch
immer Fragen auf. sowohl indische als auch Die Karte zeigt den Atlan­tik­ ausschließlich Sezgins
Fuat Sezgin, Leiter des griechische und persische raum einschließlich einer Arbeiten zu Grunde liegen;
Instituts für Geschichte der Arbeiten zu studieren. detailgetreuen Abbildung andere Publikationen
Arabisch-Islamischen In mehreren Abschnit- des südamerikanischen werden nicht diskutiert.
Wissenschaften in Frank- ten erfahren die Leser, Kontinents. Re’is behaup­
Die Rezensentin Manon Bischoff
furt, zählt zu den bedeu- welche Beiträge die ara- tete seinerzeit, sein Werk hat Physik studiert und absolviert
tendsten Forschern auf bisch-islamischen Ge- fuße auf verschollenen ein redaktionelles Volontariat bei
diesem Gebiet. Seine lehrten zur Astronomie, Plänen von Kolumbus. Sez- Spektrum der Wissenschaft.

88 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Die Karte des Piri
Re’is entstand
vermutlich 1513. Am
linken unteren Rand
zeigt sie nach vorherr­
schender Meinung Süd­
amerika.
AK
G IM
AG
ES
/W

89
HA
/W
OR
LD Spektrum der Wissenschaft  1.18
HIS
TOR
YA
RC
HIV
E
REZENSIONEN
DIGITALISIERUNG auch das »gute Darknet«,
jener Raum, in dem sich
Organe sichere Kommuni-
kationswege aufbauen
MIT DER Whistleblower und Oppositi- wollen, nutzen heute Krimi-
TASCHEN­LAMPE onelle organisieren. Für sie nelle zum Schaffen rechts-
ist Anonymität von zentraler freier Räume.
DURCHS Bedeutung. Whistleblower, Mey bringt diese para-
DUNKELNETZ die Zugang zu geheimen Do- doxe Konstellation auf den
kumenten haben und Miss- Punkt: »Die entwickelte Soft-
Journalist Stefan Mey stände öffentlich machen ware gilt als ärgste Wider­
beleuchtet das wollen, stehen regelmäßig sacherin staatlicher Überwa­
Darknet und arbeitet vor dem Problem, dass sie chungsgelüste, und krypto-
dessen Wider- nicht mit einer Redaktion anarchistische TOR-Fans
sprüchlichkeit heraus. kommunizieren können, oh- sehen sie als Stachel im Pelz
ne Spuren zu hinterlassen. der überwachungswütigen


Digitale Unterwelt, Tum- Das Darknet, schreibt Mey, NSA. Doch die Gehälter der
melplatz für Kriminelle: Stefan Mey
halte dafür eine Lösung TOR-Angestellten speisen
Um das Darknet ran- DARKNET bereit, indem Medien sich sich indirekt fast ausschließ-
ken sich viele Mythen. Spä- Waffen, Drogen, Whistleblower eine eigene .onion-Adresse lich von Geldern eben der
testens, nachdem bekannt Wie die digitale Unterwelt einrichten, über die Hin- Regierung, der die NSA un-
wurde, dass der Münchner funktioniert weisgeber ihre Dokumente tersteht.« Meys These, wo-
Amokläufer David S. sich C.H.Beck, München 2017 hochladen können. Insofern nach das Darknet womög-
239 S., € 14,95
seine Tatwaffe im Darknet trage die Anonymisierungs- lich das bessere, weil ano-
beschafft hatte, ist dessen technik auch zum Informan- nyme und nicht überwachte
Existenz einer breiten Öffent- mehrere Knoten in ver- tenschutz bei. Internet sei, ist durchaus dis-
lichkeit bekannt. Was sich schiedenen Ländern, so- Diese Ambivalenz war kutabel, aber wohl empirisch
aber genau dahinter verbirgt, dass sich die IP-Adresse dem Darknet von Anfang nicht haltbar. Denn die Ge-
wissen die wenigsten. nicht zurückverfolgen lässt. an eingeschrieben. Schon heimdienste betreiben mut-
Journalist Stefan Mey Für sein Buch hat der der Vorgänger des Inter- maßlich selbst TOR-Knoten
erklärt in diesem Buch, wie Journalist umfangreich nets, das Arpanet, war von und okkupieren durch die
dieses klandestine Netz- recherchiert, unter anderem der DARPA gefördert wor- Infiltrierung der Infrastruktur
werk funktioniert. Das mit BKA-Ermittlern, Wis- den, einer Forschungsein- das »verlorene« Terrain wie-
Eingangsportal in die senschaftlern und Netzakti- richtung des US-Verteidi- der. Je tiefer man in das
virtuelle Unterwelt ist die visten gesprochen. Und er gungsministeriums. Auch Buch hineinliest, desto deut-
Anonymisierungstechnik ist an jene Orte gereist, an das Darknet ist eine Ent- licher werden die einzelnen
TOR. Deren Prinzip, erfah- denen man das Darknet wicklung des US-Militärs. Verstrickungen der Akteure.
ren die Leser, ähnelt dem nicht vermuten würde. Zum Das Modell entstand am Mey beschreibt kundig
Naval Research Laboratory die Ambivalenz des Dark-
des Pentagon. Der Mathe- nets und zeigt anschaulich
Die Ambivalenz von »gut« und »böse« matiker Paul Syverson dessen Widersprüchlich-
sowie die Informatiker keiten auf. Das gelingt ihm
war dem Darknet schon immer eigen David Goldschlag und in einem spannenden, stel-
Michael Reed wollten eine lenweise sogar fesselnden
Aufbau einer Zwiebel: Der Beispiel in ein Hinterhaus Möglichkeit schaffen, die es Bericht. Mit seinem Buch
Kern, die User-Identität, ist im Berliner Wedding, wo Auslandsagenten in feind- leistet der Autor einen wich-
hinter mehreren Schichten der Verein Zwiebelfreunde lichen Ländern erlaubt, tigen Beitrag zur Diskussion
verborgen. Daher auch der e. V. sitzt und einige wich- sicher nach Hause zu um Cyberkriminalität und
Name der Software, der tige technische Knoten kommunizieren. Bereits in Internetüberwachung, bei
das Akronym von »The betreibt, die das Rückgrat ihrem Aufsatz »Hiding der man zuweilen den Ein-
Onion Router« darstellt. Ein des Darknets bilden. Routing Information« aus druck hat, dass die Strafver-
Auswahl-Algorithmus Der Autor zeichnet ein dif- dem Jahr 1996 deuteten die folgungsbehörden von ei-
schickt die Datenpakete ferenziertes Bild der digita­ Wissenschaftler die Ambi- nem recht einseitigen Begriff
über drei von insgesamt len Schattenwelt. Da ist zum valenz des Netzwerks an: des Darknets ausgehen.
7300 TOR-Knotenpunkten, einen das »böse Darknet«, »Es gibt eine offensichtliche
die für den Betreiber der die illegalen Marktplätze, wo Spannung zwischen Anony- Der Rezensent Adrian Lobe
arbeitet als Journalist in
jeweils aufgerufenen Seite Waffen, Drogen und Kinder­ mität und Strafverfolgung.« Heidelberg und ist Autor der
eine Art Verwirrspiel prakti- pornografie gehandelt Jene Verschlüsselungstech- Kolumne »Lobes Digitalfabrik«
zieren. Der Pfad läuft über werden. Zum anderen aber nik, mit der staatliche auf »Spektrum.de«.

90 Spektrum der Wissenschaft  1.18


men – vom böhmischen
Ständekonflikt bis zum
Westfälischen Frieden – und
erläutert, welche Bedeutung
der Großkonflikt für das
Heilige Römische Reich und
Europa hatte.
Das Buch gliedert sich in
drei Abschnitte. Angesichts
der komplexen Verhältnis-
Peter H. Wilson se, die das Reich in der
DER DREISSIGJÄHRIGE KRIEG zweiten Hälfte des 16. Jahr-
Eine europäische Tragödie hunderts prägten, erläutert
Aus dem Englischen von der Autor zunächst die
Thomas Bertram, Tobias Gabel Hintergründe und Ursachen,
und Michael Haupt
die zum Ausbruch des
Theiss, Darmstadt 2017
Kriegs führten. Monokau-
1160 S., € 49,95
sale und determinis­tische
Deutungen lehnt er ab: Der

GESCHICHTE Dreißigjährige Krieg sei


weder ein Religionskrieg
EUROPÄISCHER noch unausweichlich ge-
FLÄCHENBRAND wesen, zumal mit dem MOTIVE
Augsburger Religionsfrieden VORAB ONLINE
Der britische Historiker ANSCHAUEN!
von 1555 ein konfessionelles
Peter H. Wilson be­
Agreement bestanden habe,
schreibt den Dreißig­
das lang zu einem einver-
jährigen Krieg als
keineswegs zwangsläu­ nehmlichen Neben- und
figen Konflikt, der aus Miteinander von Katholiken
und Protes­tanten beitrug.
der Verkettung mehrerer
Faktoren herrührte. Der Krieg sei vielmehr einer DER NEUE BILDKALENDER
Im kommenden Jahr
Verkettung mehrerer Fak-
toren geschuldet ge­wesen, HIMMEL UND ERDE 2018
jährt sich zum 400sten die schließlich den Welten-
Mal der Ausbruch des brand auslösten. Wilson Sterne und Weltraum präsentiert im Bildkalender
Dreißigjährigen Kriegs spricht von einem Amalgam »Himmel und Erde« 13 herausragende Motive aus
(1618 –1648), jener »Urkata- aus Verfassungskonflikt, der astronomischen Forschung. Sie stammen aus
strophe der Frühen Neu- Bürgerkrieg, Religionskrieg
verschiedenen Bereichen des elektromagnetischen
zeit«, die Europas politi- und europäischem Hegemo-
sche und geistige Topogra- nialkrieg, bei dem verschie- Spektrums wie dem sichtbaren Licht oder dem
fie brutal veränderte. dene Mächte und Gruppen Röntgenlicht. Highlight ist diesmal der Vorbeiflug
Anlässlich dessen ist jetzt um politischen, dynasti- an Pluto und seinem Mond Charon.
die deutsche Übersetzung schen und wirtschaftlichen
Zusätzlich bietet der Kalender wichtige Hinweise auf
von Peter H. Wilsons mo­ Einfluss rangen.
numentalem Werk dazu Im zweiten Teil betrach- die herausragenden Himmelsereignisse 2018 und
erschienen (englische Ori- tet der Autor die Kriegser- erläutert ausführlich auf einer Extraseite alle auf den
ginalausgabe: »Europe‘s eignisse in weitgehend Monatsblättern des Kalenders abgebildeten Objekte.
Tragedy – A History of the chronologischer Ordnung.
Thirty Years War«, 2009). Sorgfältig und kenntnis-
14 Seiten; 13 farbige Großfotos; Spiralbindung;
Auf gut 1000 fesselnd reich nimmt er die einzel-
geschriebenen Seiten nen Phasen unter die Lupe Format: 55 x 46 cm; € 29,95 zzgl. Porto;
nimmt der Oxforder Militär- und zeigt, wie sich der als Standing Order € 27,– inkl. Inlandsversand
historiker die Strukturen anfangs auf Böhmen und
des frühneuzeitlichen Euro- andere Teile des Reichs
pas in den Blick. Er fasst begrenzte Regionalkonflikt
Ursachen, Abläufe und Wir- allmählich internationali-
Hier können Sie bestellen:
kungen des Kriegs zusam- sierte und zu einem pan­
Telefon: 06221 9126-743
sterne-und-weltraum.de/kalender
E-Mail: service@spektrum.de
REZENSIONEN
europäischen Krieg zwi- den loyalen Fürstendiener ums Leben; die Gesamtbe- berechtigter souveräner
schen den Großmächten Johann von Tilly bis zum völkerung im Reichsgebiet Staaten schuf.
Spanien, Frankreich, kämpfenden König Gus­ von zuvor 16 Millionen ging Der Autor weiß hoch
Schweden und dem deut- tav II. Adolf von Schweden. um etwa ein Drittel zurück. komplexe Strukturen und
schen Kaiser ausweitete. Er widmet sich den Perso- Mehr als 30 große Schlach- Sachverhalte anschaulich
In diesen Kampf der großen nen, Schauplätzen und ten, vor allem aber Terror, zu vermitteln und in den
Vier waren etliche weitere Kriegshandlungen ebenso Hunger und Seuchen for- Gesamtkontext einzubetten.
Konflikte verwoben, etwa wie der zeitgenössischen derten ihren Tribut. In Teilen Dies gilt für die Beschrei-
der Unabhängigkeitskrieg Wahrnehmung und Naher- Süddeutschlands überlebte bung beider Konfessions-
der calvinistischen Nieder- fahrung von Kriegsgewalt, nur ein Drittel der Einwoh- bündnisse im neuzeitlichen
lande gegen die Spanier schildert das blutige Leben nerschaft. Angesichts der Europa – »Union« und
oder der Streit zwischen der Söldner auf dem immensen Verluste und der »Liga« – ebenso wie für die
Schweden und Dänemark Schlachtfeld und beschreibt Entvölkerung ganzer Regi- Darstellung des verschach-
um die Vorherrschaft im das Elend der Zivilbevöl­ onen waren die erschöpften telten, religiös zersplit-
Ostseeraum. kerung in den verwüsteten Kriegsparteien schließlich terten, politisch kleintei-
Hochinteressant und und ausgeplünderten bereit, sich an den Verhand- ligen und machtpolitisch
kompetent behandelt Siedlungen. lungstisch zu setzen. Das divergierenden Heiligen
Wilson sowohl Kriegsöko- Der letzte Teil befasst Resultat war der Westfä- Römischen Reichs.
nomie, -technik und -orga- sich mit den politischen, lische Frieden 1648, jenes Angesichts dessen, dass
nisation als auch maßgeb- wirtschaftlichen, gesell- »charaktervollste Werk der der Dreißigjährige Krieg in
liche Akteure, die er ins schaftlichen und kulturellen menschlichen Weisheit« der Gelehrtendiskussion
Zentrum vielschichtiger Folgen des Kriegs. Schät- (Schiller), welches die noch bis vor Kurzem als
Betrachtungen rückt: vom zungsweise vier Millionen völkerrechtlichen Grundla- unterbelichtet galt, vermag
skrupellosen Kriegsunter- Menschen kamen bei dem gen für Europas Zukunft als es Wilson sehr gut, das
nehmer Wallenstein über europäischen Flächenbrand einer Gemeinschaft gleich- vielschichtige Geschehen

GEO- UND BIOWISSENSCHAFTEN


ZWEI STUDIENGÄNGE IN EINEM BUCH
Von Atmosphäre bis Zellstoffwechsel bildet dieser Band ein enorm
breites Themenspektrum ab.


Die drei Autoren haben mit diesem Werk ein ausgesprochen lesenswertes
Buch vorgelegt. So allgemein der Titel formuliert ist, so sehr beeindruckt die
Informationsfülle zu allen erdenklichen Aspekten der »Erde« (im Sinn der
Geowissenschaften) und des »Lebens« (im Sinn der Biologie) auf gut 300 Seiten.
Beim Lesen hat man den Eindruck, ein Geologie- und ein Biologiestudium im
Zeitraffer zu absolvieren; bei alldem bleibt das Buch gut verständlich und wird
durch informative Randspalten und gut platzierte Infoboxen sinnvoll ergänzt.
Norbert Welsch, Claus C.
In zwölf Kapiteln beschreiben Welsch, Liebmann und Schwalb die frühe Ent-
Liebmann, Jürgen Schwalb
stehung unseres Planeten, die Methoden der Geowissenschaften, die Entstehung
ERDE UND LEBEN
und Evolution des Lebens und den Einfluss des Menschen auf das System Erde –
Die Geschichte einer
innigen Wechselbeziehung und dies sind nur einige Aspekte des sehr ergiebigen Werks. Wie weit der Bogen
Springer, Berlin 2017
ist, den die Autoren spannen, lässt sich an einigen Schlaglichtern illustrieren. Sie
334 S., € 39,99 beschreiben beispielsweise, wie Aristoteles eine erste – recht genaue – Abschät-
zung des Erdumfangs lieferte; sie erklären, wie Massenspektrometrie funktioniert;
sie befassen sich mit Zellstoffwechsel, atmosphärischer Zirkulation, Bodenent-
wicklung, Klimamodellen und der Evolution des Gehirns.
Bei so einer großen Themenvielfalt stellt sich die – positiv zu verstehende – Frage, an wen sich das Werk in
erster Linie richtet. Es dürfte für alle naturwissenschaftlich interessierten Leser spannend sein; am ehesten wohl
für solche, die sich in Geologie und Biologie (wieder) umfassend fit machen wollen. Für welche Spezialisierung
man sich während der Lektüre entscheidet, fällt angesichts der fesselnden Texte nicht leicht. In jedem Fall liefern
die Autoren gute Quellen- und Literaturangaben zum vertieften Studium gleich mit.  Tim Haarmann

92 Spektrum der Wissenschaft  1.18


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

des Konflikts einem größe- naturphilosophisch Interes- ins naturalistische Weltbild


ren Publikum zuverlässig, sierten zur Stellungnahme nicht nur irgendetwas Nicht-
anschaulich und auf dem herausfordern. materielles, rein Geistiges
aktuellen Forschungsstand Auch um die darwinsche einzuschmuggeln wie Sche-
zugänglich zu machen. Evolutionslehre tobt, seit es rer, sondern direkt den jen-
sie gibt, ein heftiger Mei- seitigen Gott. Mit großem
Der Rezensent Theodor Kissel ist nungsstreit. Der Biologie- begrifflichen Aufwand ver-
promovierter Althistoriker, Sach-
buchautor und Wissenschafts-
professor Siegfried Scherer sucht Lüke die Inkarnation,
journalist. Er lebt in der Nähe von von der Technischen Uni- also die Fleischwerdung
Mainz. versität München kritisiert Gottes in Gestalt seines Soh-
Ulrich Lüke, die heute vorherrschende nes, in den Mesokosmos –
Georg Souvignier (Hg.) »evolutionäre Synthese« unsere Alltagswelt – ein-
PHILOSOPHIE WIE OBJEKTIV
IST WISSENSCHAFT?
mit Argumenten, die sei-
nem erklärten Wunsch
zuführen. Denn schließlich,
so Lüke, verlange ja auch
MEINUNGSSTREIT WBG, Darmstadt 2017 nach einer Versöhnung von die moderne Naturwissen-
UM DIE NATUR- 199 S., € 79,95
Biologie und Religion schaft von uns, hoch­abs-

ERKENNTNIS entspringen. Der »metho-


dische Atheismus« der
trakte Wahrheiten über
Makro- und Mikrokosmos
Wer forscht, der befolgt schieht. Darum wünsche Evolutionslehre, schreibt er, in den uns unmittelbar zu-
vorgegebene metho­ ich dem Buch mehr Leser, dürfe nicht mit der Leug- gänglichen Mesokosmos zu
dische Regeln. Schränkt als der exorbitante Preis nung Gottes gleichgesetzt »transformieren«. Wenn
das den Wahrheitswert zulässt. werden. Auch sei die man Lükes umständliche
der Ergebnisse ein? Das stärkste Argument »materialistisch-reduktio- Rhetorik auf den Punkt
Verschafft es der Reli­ dafür, dass die wissen- nistische« Methode der bringt, sagt er sinngemäß:
gion Spielraum? schaftlichen Resultate Naturwissenschaften Wenn wir an unsichtbare
»stimmen«, ist ihr schla- ungeeignet, das Rätsel der Teilchen glauben, warum


Das Buch versammelt gender Erfolg in der prak- Lebensentstehung zu lösen; nicht auch an die Mensch-
zehn Beiträge, die im tischen Anwendung. Da- etwas »Geistiges« müsse werdung Gottes?
Rahmen eines interdis- rum bestreitet keiner der hinzukommen, wie es der Die meisten Beiträge des
ziplinären Symposiums über Autoren, dass Physik und Informationsbegriff an­ Bandes verfolgen kein
»Denkvoraussetzungen der Technik wesentliche As- deute. theologisches Ziel, sondern
Wissenschaften« entstan- pekte der Wirklichkeit Scherer ist gewiss kein weisen auf die metho-
den sind. Theologen, Philo- richtig erfassen. Allerdings, tumber Kreationist; dafür dischen Vorbedingungen
sophen und Einzelwissen- vulgärtheologisch gespro- weiß er über die Erkennt- einzelner Wissenschaften
schaftler fragen, inwieweit chen: Der Teufel steckt im nisse der Biologie und die hin. Am interessantesten ist
die moderne Naturfor- Detail. Der theoretische Methodik der Naturfor- der Text des Umweltfor-
schung zu objektiven Er- Physiker Otfried Gühne von schung viel zu gut Bescheid. schers Hermann Held von
kenntnissen fähig ist. Das der Universität Siegen re­­- Dennoch: Seine Ansicht, der Universität Hamburg. Er
Symposium fand in der feriert anhand des Doppel- die »Makroevolu­tion« – die untersucht Probleme der
Bischöflichen Akademie des spaltversuchs geschickt vermeintlich sprunghafte Klimaökonomik; sie bezif-
Bistums Aachen statt – und eingängig den Unter- Entstehung ganz neuer fert den ökonomischen
schon der Veranstaltungsort schied zwischen der »ortho- biologischer Phänomene – Wert von Umweltmaßnah-
legt mithin die Vermutung doxen« Kopenhagener sprenge das darwinsche men. Wie Held zeigt, erfor-
nahe, dass der Wahrheits- Deutung der Quantenme- Schema, erinnert verflucht dern solche Schätzungen
anspruch der Naturwissen- chanik und der »ketze- an das gleich lautende Ar- wegen der enorm komple-
schaften relativiert werden rischen« Minderheitsmei- gument der »Intelligent xen Zusammenhänge
soll, um der Religion ein nung der Anhänger von Design«-Adepten. Mehr- großen methodischen
gewisses Mitspracherecht David Bohm (1917–1992). mals beruft sich Scherer Aufwand. Sie liefern natur-
zu verschaffen. Der Vergleich mit religi- auf den Philoso­phen Tho- gemäß unsichere Progno-
Doch was immer die ösem Dogmenstreit ist hier mas Nagel, der in seiner sen und umstrittene Wahr-
Motive sind: Es schadet gar möglich, weil es sich um wirren Kampfschrift »Geist scheinlichkeitsaussagen,
nicht, an die mehr oder unterschiedliche Deutun- und Kosmos« dem Intelli- die aber für eine voraus-
weniger stillschweigenden gen derselben Tatsachen gent Design Beifall zollt. schauende Umweltpolitik
Randbedingungen empi- handelt, also um Meinun- Der Aachener Theologie- unabdingbar sind.
rischer Forschung zu erin- gen, die den praktizie- professor Ulrich Lüke Der Rezensent Michael Springer
nern – erst recht, wenn das renden Physiker eher kalt sucht – man verzeihe den ist Physiker und Mitarbeiter von
auf respektable Weise ge- lassen – so sehr sie jeden Kalauer – eine Lücke, um Spektrum der Wissenschaft.

Spektrum der Wissenschaft  1.18 93


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PHAGENBANK?
Die indivi­duelle Web­adresse finden Sie im Heft jeweils auf der
ersten Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leser-
briefe werden nicht kenntlich gemacht.
Die Molekularbiologin Karin Mölling plädiert dafür,
gegen bedrohliche Bakterieninfektionen Phagen
einzusetzen. (»Viren statt Antibiotika«, Spektrum Okto- in einem Bereich von 1150 bis 2500 Kilokalorien. Das
ber 2017, S. 42) verstehe ich nicht und ich bitte um Erläuterung.

Thomas Giger, Mörschwil: Wenn die KI so gut im Schach- Antwort der Redaktion: In der Grafik »Grundumsatz« ist
spielen und Pokern ist, sollte sie eigentlich auch in der Lage der Grundumsatz angegeben. Im Durchschnitt macht
sein, Datenbanken zu führen, die bei multiresistenten Bak- dieser etwa zwei Drittel des Gesamtenergieumsatzes aus.
terien den richtigen Phagentypen ausfindig machen, ohne Das noch fehlende Drittel entfällt auf den so genannten
dass man zuerst im Seinewasser fischen muss. Es kann ja Leistungsumsatz, also den Energieaufwand etwa für
nicht sein, dass zum Beispiel P. aeruginosa patientenspezi- physische Aktivität. Zu den genannten 1700 Kilokalorien
fische und nicht artspezifische Andockstellen aufweisen. müssen Sie also noch etwa 800 Kilokalorien addieren und
Es könnten doch genauso wie Serumbanken auch Phagen- kommen dann auf rund 2500 Kilokalorien pro Tag. Die
banken mit einsatzbereiten Präparaten geführt werden. Werte in der Grafik »Glykämischer Index« wurden bei einer
Ich hoffe als langjähriger Spektrum-Leser sehr, dass die Untersuchung an fettleibigen Jungen mit einem Alter von
Redaktion das Thema Phagen weiterhin aufmerksam ver­ zirka 15 Jahren gewonnen, also nicht an Erwachsenen.
folgen wird. Als ehemaliger klinischer Bakteriologe mache Dies erklärt die dort angegebenen niedrigeren Summen.
ich mir über den Niedergang der Antibiotika große Sorgen.
Wenn die Wissenschaft und vor allem die Pharma­industrie
das Problem weiterhin auf die lange Bank schieben, besteht
eine ernsthafte Gefahr, dass das Bakterien­imperium nach
METEORITENFUND
80 Jahren Unterdrückung wieder zuschlägt. DANK BAHNBERECHNUNG
Eine Feuerkugel versetzte am 3. April 1916 viele

VOM GRUNDUMSATZ ZUR Bewohner Hessens in Schrecken (»Donnernder


Meteorit«, Zeitreise, Spektrum Dezember 2017, S. 64).
GESAMTBILANZ
Udo Becker, Marburg: Dem Leser des Beitrags mag
Die Ernährungswis­ aufgefallen sein, dass der erwähnte Fall des Meteoriten
senschaftlerinnen 1916 war, was zu einem Ereignis vor 100 Jahren ja nicht
Susan B. Roberts ganz passt. Dennoch spielt das nachfolgende Jahr 1917
und Sai Krupa Das eine wichtige Rolle. Als Alfred Wegener, damals Professor
erläutern die kom­ der Astronomie und Meteorologie in Marburg, von dem
plizierten und indivi­ Ereignis hörte, ließ er sich von seinem Fronteinsatz beur-
duell unterschied­ lauben und begab sich in das Gebiet. Er befragte mehr als
lichen Mechanismen 100 Zeugen entlang eines breiten Korridors von Darmstadt
des Körpers, die
über Frankfurt und Marburg bis nach Thüringen, ließ sich
Gewichtskontrolle
die Richtung der beobachteten Rauchspur und des Schalls
zu einer vertrackten
beschreiben und errechnete daraus den Ort und der Höhe
Sache machen
des »Hemmungspunkts«, an dem durch die Abbremsung
(»Was unser Körper-
gewicht bestimmt«, die Lichterscheinung endet und der Körper auf einer ballis-
Spektrum November tischen Kurve zur Erde fällt. Er konnte somit den wahr-
2017, S. 12). scheinlichen Fundort auf ein Gebiet von wenigen Quadrat-
kilometern eingrenzen. Die Fundstelle wurde am 6. März
Walther Glaubitt, Würzburg: Dem Artikel zufolge be- 1917 von einem Förster gemeldet und war zirka acht
nö­tigt ein erwachsener US-Amerikaner »täglich etwa Kilometer vom errechneten Punkt entfernt, was auf die
2500 Kilokalorien, um sein Körpergewicht zu halten«. subjektive Wahrnehmung der Leuchterscheinung und den
Nach der Grafik »Grundumsatz« setzen 30 bis 50 Jahre Einfluss des Stratosphärenwinds auf die Rauchspur zu-
alte Männer aber nur 1700 Kilokalorien um. Laut »Gly­ rückgeführt wurde. Erstmalig wurde damit ein Meteorit
kämischer Index (GI)« werden nach einer Mahlzeit von durch Berechnung seiner beobachteten Eintrittsbahn
394 Kilokalorien und niedrigem GI während des restlichen gefunden. Der heute als Meteorit von Treysa bekannte
Tages nur noch 764 Kilokalorien verzehrt. Das sind insge- Eisenmeteorit wog 64 Kilogramm und wird im Marburger
samt 1158 Kilokalorien. Die Zahlenangaben variieren also Mineralogischen Museum gezeigt.

94 Spektrum der Wissenschaft  1.18


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futur III
Die galaktische Prüfung
Wie würden Sie Ihre Spezies bezeichnen? Eine Kurzgeschichte von Kevin Lauderdale

»W
illkommen in der Datenver- eigenen Namen.« Marta fand das »Probieren wir etwas anderes. Ähm,
arbeitung der Galaktischen Brummen der rauen Stimme eigent- wir nennen uns auch Terraner.«
Konföderation. Bitte nen- lich ganz sympathisch. Die Bärin »Was bedeutet das?«
nen Sie Ihren Namen.« hatte diese Rede wohl schon an die »Leute, die auf Terra leben … Das
Das Wesen hinter dem Schalter – tausend Mal gehalten – so viele bedeutet einfach Land.«
es gab hier tatsächlich Schalter, sogar Mitgliedswelten umfasste die Konfö- »Und das wiederum Dreck. Die
so tief im Herzen der Galaxis – sah deration. »Sie müssen eine Bezeich- Dreckigen?«
aus wie ein riesiger grüner Bär mit nung angeben, mit der man Ihresglei- Marta schüttelte den Kopf. »Oh!
schwarzen Flossen auf dem Rücken. chen identifizieren kann.« Natürlich! Wir nennen uns Leute.«
Marta nahm an, dass es eine Sie war. Marta machte ein ratloses Gesicht. Warum war ihr das nicht gleich
Der Übersetzer erzeugte jedenfalls Die Bärin sprach: »Wie ich sehe, eingefallen? Das war besser. Das war
eine weibliche Stimme. müssen wir das ganze Zarfasnop halbwegs respektabel.
»Botschafterin Marta Rilla-Chen«, durchgehen. Versuchen wir es kurz Die Bärin schnaubte. »So nennen
antwortete Marta klar und deutlich. zu machen. Hier steht, Ihr Planet sich alle. Meine Leute nennen sich
»Vom diplomatischen Korps der Erde.« heißt Erde. Hat das eine spezielle Be- Leute. Auch der Kerl dort drüben, der
Sie sprach hier vor, um der Konfö­ deutung?« von Aquatox IV stammt und seinen
deration die Akkreditierungsunterla-
gen vorzulegen. Aber die Zeremo-
nie fand nicht etwa in einem Thron- Den Erdbewohnern würde es nicht gefallen,
saal statt oder in einer feierlich ge-
schmückten Halle. Marta stand in in der Galaxis als Die-Irren bekannt zu sein
einer Art Amt; die zahlreichen Schal-
ter und flimmernden Lichter erin- Ȁhm, Land, Boden, manchmal Kopf in einer Glaskugel voll Wasser
nerten sie an die Neonröhren einer auch Dreck.« trägt, nennt seinesgleichen Leute.
Straßenverkehrsbehörde – wäre da »Oh ja. Ich habe von Ihrem Pla- Sie müssen sich schon mehr Mühe
nicht der verwirbelte Kern der Galaxis neten gehört. Er ist ein Ort voll Was- geben.«
hinter den Fenstern gewesen und die ser, aber Ihr gabt ihm einen Namen, Marta grübelte. »Also gut. Wir
unterschiedlichen Spezies von Außer- der Schmutz bedeutet. Wirklich sehr sind … Homo sapiens. Der weise
irdischen rundum. Trotzdem fragte sinnvoll. Ich schlage vor, Ihr nennt Mann. Und Frau. Genau genommen
sie sich unwillkürlich, ob nicht einige euch Die-Irren. Das ist wenigstens sind wir sogar Homo sapiens sapiens.
von diesen anstanden, um Straf- kurz. Die Raljevaniten nennen sich Was halten Sie von Die-wirklich-wei-
zettel zu bezahlen. Wir-die-wir-die-gefrorene-Nahrung-er- sen-Leute?«
»Formular, bitte«, brummte die funden-haben-die-süß-ist-aber-Kopf- »Hat sich Ihr Planet nicht fast mit
Bärin gelangweilt, und Marta über- weh-verursacht. Darauf ist ihr Planet Nuklearwaffen vernichtet …«
reichte die Kunststoffblätter. Die Bärin stolz, das lassen sie sich nicht ausre- »Aber nur fast.«
überflog das Formular. Sie stempelte den. Wenn Sie von Melton II stam- »… und sich dann fast durch
hier etwas und markierte dort etwas men, gehören Sie zu den so genann- Überhitzen zerstört?«
mit einem Laserstift. Auf einmal ten Überlebenden. Das ist hübsch. »Aber nur fast.« Dennoch konnte
stutzte sie, sah auf und sagte mit Und auch kurz. Also: Die-Irren, einver- Marta die Bärin verstehen. Letztlich hat-
deutlicher Missbilligung: »Sie haben standen?« Der Laserstift senkte sich ten die Menschen die Atomkraft gebän-
Punkt 27 nicht ausgefüllt.« auf das Formular. digt, die planetare Ökologie wiederher-
Das hatte Marta befürchtet. »Rich- »Halt!«, schrie Marta. Die-Irren? Sie gestellt und die Sterne erreicht. Jetzt
tig«, antwortete sie, »ich wusste hörte schon, wie ihr Chef explodierte. traten sie sogar einer Konföderation au-
nicht, was ich eintragen sollte. Was Vom Chef einmal ganz abgese­hen – ßerirdischer Raumfahrer bei. Wir sind
bedeutet Gesellschaftskode?« den acht Milliarden Erdbewohnern weit gekommen, dachte Marta, aber
Die Bärin seufzte. »Jede Mitglieds- würde es nicht gefallen, in der ganzen vielleicht wäre es ein bisschen übertrie-
spezies hat eine Nummer und einen Galaxis als Die-Irren bekannt zu sein. ben, uns wirklich weise zu nennen.

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Spektrum der Wissenschaft
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Name Die-wirklich-weisen-Leute ist Redaktion: Mike Beckers (stellv. Redak­tionsleiter), Robert Gast, Dr. Tim Kalvelage,
Dr. Klaus-Dieter Linsmeier (Koordinator Archäologie/Geschichte), Dr. Christoph
schon vergeben.« Pöppe, Dr. Frank Schubert, Dr. Adelheid Stahnke; E-Mail: redaktion@spektrum.de
»An wen?«, fragte Marta empört. Freie Mitarbeit: Dr. Gerd Trageser
Wer konnte nur so eingebildet sein! Art Direction: Karsten Kramarczik

Die Bärin knurrte böse – oder Layout: Sibylle Franz, Oliver Gabriel, Anke Heinzelmann, Claus Schäfer,
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gluckste sie spöttisch? »Meine Leute.« Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle
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Marta seufzte. »Leute.« 69038 Heidelberg
»Eure Spezies hat ein echtes Talent Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg, Tel. 06221 9126-600,
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für Denken im Kreis. Wollen Sie nicht Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Tel. 06221 9126-711,
doch wieder Die-Irren nehmen?« Fax 06221 9126-729
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»Nein.« Marta schloss die Augen
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und konzentrierte sich. Die Menschen Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.),
waren wirklich irre, schmutzig, laut, Tel. 06221 9126-741,
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liebenswert, brillant, fröhlich … Das
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führte zu nichts. Das war frustrierend. Tel. 06221 9126-744
Marta sah die Bärin an. »Wie ist Ihr Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Ingrid Horn, Elke Reinecke,
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Name?« Sie musste aufhören, diese Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ute Park,
wirklich weise Person insgeheim als Tel. 06221 9126-743,
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Menschheit.« gesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion keine Haftung; sie
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kenntlich gemacht.
DER AUTOR
ISSN 0170-2971
Kevin Lauderdale schreibt Essays und Arti- SCIENTIFIC AMERICAN
­kel für die »Los Angeles Times«. Seine Er- 1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562,
zählungen sind in mehreren Bänden der An- Editor in Chief: Mariette DiChristina, President: Dean Sanderson,
Executive Vice President: Michael Florek
thologie »Strange New Worlds« erschienen.

© Nature Publishing Group


www.nature.com Erhältlich im Zeitschriften- und Bahnhofs­buchhandel und
beim Pressefachhändler mit diesem Zeichen.
Nature 539, S. 462, 17. November 2016

Spektrum der Wissenschaft  1.18 97


Das Februarheft ist ab 20. 1. 2018 im Handel.

VORSCHAU

JANICE HANEY CARR / CDC


HARTNÄCKIGE BIOFILME
IM VISIER
Von einer Schleimschicht umgebene
Mikroorganismen töten schätzungs­
weise ähnlich viele Menschen wie
Krebserkrankungen. Da Antibiotika
gegen solche Keimfilme oft wirkungs­
los sind, wollen Forscher diese nun
mit ihren eigenen Waffen besiegen.

NASA / JPL / USGS


CERN

RISSE IM GEBÄUDE DER TEILCHENPHYSIK WIE ENTSTAND DER


MOND?
Bei einem Experiment am Large Hadron Collider gibt es verschiedene
Hinweise auf Effekte, die sich nicht mit dem Standard­modell verein­- Neue Analysen wecken Zweifel an
baren lassen. Theoretiker rätseln bereits, ob unbekannte Partikel daran dem Lehrbuchszenario, ein einzelner
schuld sind. Dann stünde die Teilchenphysik vor einer Revolution. Einschlag auf der jungen Erde hätte
das Baumaterial für unseren Traban­
ten geliefert. Planetologen suchen
daher nach alternativen Erklärungen.

AUF DEM WEG ZUM


COMPUTER DER ZUKUNFT NEWSLETTER
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MICHAEL FANG, MARTINIS GROUP, UCSB

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könnte das Kunststück bald
gelingen.

98 Spektrum der Wissenschaft  1.18


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