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je Ausgabe
DIE MASSE
MACHT´S
Von Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de
JAKOB VINTHER
Noch vor ein paar Jahren waren sie völlig out: künstliche neuronale
Netze. Kaum jemand hielt sie für mehr als ein zwar akademisch Farbpigmente bei Dinosaurier-
interessantes, aber praktisch wenig nutzbringendes Konzept – eine fossilien? Wider alle Erwar-
Sackgasse der Computerentwicklung, bei der die Orientierung am biolo- tungen der Fachwelt konnte der
gischen Vorbild in die Irre geführt hatte. Nach ersten Anläufen seit dem Evolutionsforscher sie nach
Zweiten Weltkrieg und in den 1960er Jahren sowie einigen Reanimations- weisen. Nun rekonstruiert er
versuchen ab den 1980er Jahren schien damit Anfang des Jahrtausends sogar Muster und Tarnungen
der Hype um Rechner aus schichtweise angeordneten, Nervenzellen der Urzeitechsen (S. 36).
nachempfundenen Schaltelementen endgültig vorbei zu sein. Zu viele in
sie gesetzte Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt; hinzu kam der Black-
Box-Charakter solcher Systeme, bei denen man weder einzelne Verarbei-
tungsschritte detailliert vorgeben kann noch überhaupt so richtig ver-
steht, was in ihnen eigentlich abläuft. Wie sollte man dann die Funktions-
weise zielgerichtet verbessern können?
Nur wenige Experten hätten wohl vor zehn Jahren prognostiziert,
welche Fortschritte die künstliche Intelligenz bis heute machen würde –
KATHY F. ATKINSON
und zwar gerade auf Grundlage neuronaler Netze. Der entscheidende
Unterschied zu früher liegt in ihrem komplexeren Aufbau begründet: Sie
bestehen jetzt aus wesentlich mehr als den zuvor üblichen zwei bis drei
Schichten, weshalb man sie »tiefe« Netzwerke nennt. Zusammen mit DANIELLE L. DIXSON
der inzwischen exponentiell gewachsenen Rechenleistung von Computer- Infolge der anhaltenden CO2-
prozessoren ermöglichte das den Durchbruch – manchmal hilft viel eben Emissionen versauern die
doch viel. Ozeane immer stärker. Es dro-
Die Folgen erleben wir zunehmend im Alltag, von lernfähigen Sprach- hen dramatische Verhaltens
assistenten beim Smartphone bis zur Objekterkennung in Fotoverwal- änderungen bei Wassertieren,
tungsprogrammen. Aber auch die Wissenschaft profitiert von den Fort- wie sie die Meereskundlerin
schritten, wie KI-Experte Christoph Angerer ab S. 12 aufzeigt. Ein spek ab S. 46 beschreibt.
takuläres aktuelles Beispiel ist der Nachweis der Gravitationswellen vom
17. August 2017, die durch die Kollision zweier Neutronensterne ent
standen. Dank dem Einsatz tiefer neuronaler Netze erfolgte er so rasch,
dass weltweit Astronomen zu ihren Messinstrumenten hechten und
massenhaft weitere Daten über dieses kosmische Großereignis sammeln
konnten. Damit konnten sie auch endlich die bisher ungelöste Frage
beantworten, wie besonders schwere Atomkerne, etwa die von Gold oder
Platin, entstehen (siehe den Artikel ab S. 58). A. KOROLL
Herzlich, Ihr
HAGAN BRUNKE
EVA CANCIK-KIRSCHBAUM
Stufentempel wie der »Turm zu
Babel« prägten die Städte
Mesopotamiens. Aber was
kostete so ein Großprojekt? Das
NEU AM KIOSK! beantworten der Assyriologe
Unser Spektrum Spezial Physik – Mathematik – und die Altorientalistin ab S. 72.
Technik 4.17 widmet sich der Erforschung unseres
Planeten Erde.
28 FORSCHUNG AKTUELL
Quantensimulatoren auf 36 PALÄONTOLOGIE BUNTE DINOSAURIER
der Überholspur Lange hielten Forscher dies für unmöglich: Es gibt erhaltene fossile Pig-
Modellsysteme werden mente. Damit rekonstruieren sie jetzt die Farbmuster ausgestorbener Tiere.
immer leistungsfähiger. Von Jakob Vinther
Krebsimmuntherapie
Neue Impfstoffe drängen 46 ÖKOLOGIE MEERESWELT IM WÜRGEGRIFF
Tumorerkrankungen zurück. Die Ozeane versauern. Experimente deuten an, dass das zu dramatischen
Explosive Sedimente Verhaltensänderungen bei Meerestieren führen könnte.
Von Danielle L. Dixon
Gasausbrüche erschaffen
Kraterlandschaften im Meer.
52 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN LIESEGANGSCHE RINGE
35 SPRINGERS EINWÜRFE Selbstorganisierte Strukturen im Reagenzglas – zum Selbermachen.
Quantenschein und Von Matthias Ducci und Marco Oetken
Quantenwahrheit
Wann sind Quantenrechner
wirklich überlegen?
58 GRAVITATIONSWELLEN DAS RAUMZEITBEBEN VON NGC 4993
Das Verschmelzen zweier Neutronensterne in einer fernen Galaxie beant-
wortet gleich mehrere große Fragen der Astrophysik.
70 SCHLICHTING! Von Robert Gast
Knirschender Schnee
Schritte zermahlen krachend
das Flockenskelett.
66 ASTRONOMIE IM INNEREN EINES NEUTRONENSTERNS
Physiker hoffen auf erste Einblicke in die dichtesten Objekte des Weltalls.
Von Joshua Sokol
86 ZEITREISE
Von der Kutschfahrt auf der
Ostsee zur Mondlandung 72 MONUMENTE GRÖSSE HAT IHREN PREIS
Neue Serie: Babylonische Wissenschaft (Teil 1) Verwaltungslisten und
Lehrtafeln verraten, wie t euer der »Turm zu Babel« einst kam.
Von Hagan Brunke und Eva Cancik-Kirschbaum
88 REZENSIONEN
Susanne Billig:
Die Karte des Piri Re’is
Stefan Mey: Darknet
Peter H. Wilson:
Der Dreißigjährige Krieg
Ulrich Lüke,
Georg Souvignier (Hg.):
Wie objektiv ist
Wissenschaft?
Norbert Welsch, Claus C.
Liebmann, Jürgen
Schwalb: Erde und Leben
12 94 LESERBRIEFE
TITELTHEMA 96 FUTUR III
TRIUMPH DER KI Die galaktische Prüfung
Wie würden Sie Ihre Spezies
bezeichnen?
VLAD61_61 / FOTOLIA
46 58 97 IMPRESSUM
SPEKTROGRAMM
NEU ENTDECKT UND
SCHON BEDROHT
In den Wäldern des
Bezirks Tapanuli auf
Nordsumatra, Indone-
sien, lebt eine Gruppe von
Orang-Utans, bei der es sich
offenbar um eine bisher
unbekannte Menschenaffen-
art handelt. Im Vergleich zu
den zwei klassischen Arten,
dem Borneo-Orang-Utan und
dem Sumatra-Orang-Utan,
kräuselt sich das rotbraune
Fell des Tapanuli-Orang-Utan
(Pongo tapanuliensis) stärker,
außerdem ist sein Gesicht
etwas flacher. Biologen vom
Anthropologischen Institut
der Universität Zürich er-
kannten, dass es sich bei der
Population um eine neue Art
handelt, als sie DNA-Proben
von zwei Individuen mit
dem Erbgut von 35 anderen
Oran-Utans verglichen.
Daneben vermaßen die
Forscher den Schädel eines
Tapanuli-Orang-Utans, den
Wilderer 2013 erschossen
hatten. Mit knapp 800 Indivi-
duen ist die neue Spezies
allerdings stark gefährdet: Ihr
Lebensraum fällt zunehmend
Palmölplantagen zum Opfer,
und auch ein Staudammpro-
jekt bedroht die Tiere.
Curr. Biol. 10.1016/j.cub.2017.09.047,
2017
MAXIME ALIAGA PHOTOGRAPHY
Venus
Merkur
Sonne
Erde
(Mars)
A/2017 U1
NASA/JPL-CALTECH
Der Asteroid 1I/2017 U1, den hawaiianische Astronomen »’Oumuamua« getauft haben, passierte
am 9. September die Sonne. Am 14. Oktober flog der Himmelskörper in gut 60-facher Distanz
des Mondes an der Erde vorbei. Die Grafik zeigt seine Position Ende Oktober.
τ = 0 ms 6 ms 10 ms 15 ms 19 ms 24 ms
DRIVEN BOSE–EINSTEIN CONDENSATES. IN: NATURE 551, S. 356–359,
30
Dichte der Atome
(pro μm2)
15
y
2017, FIG. 1C
0
x 30 μm
der Prozess viele Male soden im Abstand von blassenden Punkt an der Möglicherweise müsse man
wiederholen, wodurch Jahren oder gar Jahr- Position von iPTF14hls ein komplett neues Sze
diese Art der Supernova zehnten wiederholen. Dazu gesichtet hatten. Andere nario für den Hergang der
deutlich länger hell leuch- würde passen, dass Astro- Details der Beobachtung kuriosen Explosion ent
ten könnte. Außerdem nomen bereits 1954 einen lassen sich mit dem Modell wickeln, so die Forscher.
könnten sich Eruptionsepi- hellen, später wieder ver- jedoch nicht erklären. Nature 551, 210–213, 2017
KLIMAFORSCHUNG
WARUM DIE GRÜNE SAHARA VERSCHWAND
Heute ist die Sahara eine trockene Einöde. Aber vor 6000
Jahren waren Teile von ihr fruchtbares Grünland.
Christoph Angerer ist Senior Compute Performance Engineer bei der Firma NVIDIA in
München. Dort kümmert er sich um Anwendungen der künstlichen Intelligenz zu
wissenschaftlichen Zwecken sowie die systemnahe Optimierung von Deep Learning
Kernels. 2011 promovierte er an der ETH Zürich in Informatik.
spektrum.de/artikel/1520773
Am 15. März 2016 musste sich Lee Sedol, einer der erwacht ist. Inzwischen überschlagen sich die Meldungen
weltbesten Go-Spieler, einer Maschine geschlagen über Anwendungen, die bis vor kurzem noch der Science-
geben. AlphaGo, eine künstliche Intelligenz aus dem fiction zugeschrieben wurden. Die Technik, deren Verbes-
zu Google gehörenden Unternehmen DeepMind, hatte in serung diesen rasanten Fortschritt möglich gemacht hat,
einem geradezu historischen Turnier vier von fünf Spielen ist unter dem Namen »künstliches neuronales Netz« oder
gewonnen. Obendrein ist AlphaGo jüngst selbst geschla- auch einfach »neuronales Netz« bekannt (Spektrum Novem-
gen worden – von seinem verbesserten Nachfolger Alpha- ber 1992, S. 134).
GoZero (siehe den Artikel S. 22). Bereits wenn man eine Suchmaschine wie Google
Spätestens seit diesem Ereignis ist offensichtlich, dass bittet, Bilder anhand einer Beschreibung in Worten zu
die künstliche Intelligenz aus ihrem langen Winterschlaf finden, leisten neuronale Netze die wesentliche Arbeit.
Doch weiterentwickelte Systeme, die generativen neuro-
nalen Netze, gehen noch weit darüber hinaus: Sie erzeu-
gen aus einer textuellen Beschreibung annähernd fotorea-
AUF EINEN BLICK listische Bilder, die der Beschreibung entsprechen, bis
SIEG DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ dahin aber noch nicht existierten (Bilder S. 16/17 und 20).
Sie malen sich diese Bilder gewissermaßen selbstständig
ORIGINAL: ISTOCK / ZORAN KOLUNDZIJA; BEARBEITUNG: MEHDI S.M. SAJJADI, MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR INTELLIGENTE SYSTEME
In dem Bild »Lenna«, das den Praktikern der Bildverarbeitung als Standardübungsobjekt dient, findet der
Algorithmus von Paul Viola und Michael Jones zahlreiche Stellen, an denen eines seiner Basismuster (Bild
oben, hier violett-weiß statt schwarz-weiß) »anspricht« (einen hohen Wert ausgibt). Aber nur dort, wo diese
Stellen in der richtigen räumlichen Anordnung vorkommen, meldet der Algorithmus ein Gesicht.
MIT FRDL. GEN. VON HONGLAK LEE; LEE, H. ET AL.: CONVOLUTIONAL DEEP
BELIEF NETWORKS FOR SCALABLE UNSUPERVISED LEARNING OF HIERARCHICAL
REPRESENTATIONS. IN: ICML 09 PROCEEDINGS OF THE 26TH ANNUAL
INTERNATIONAL CONFERENCE ON MACHINE LEARNING, S. 609-616, 2009, FIG. 3
chen Anordnung der Bildelemente entsprechendes Muster In seiner Struktur hat das Verfahren gewisse Gemein-
wandern. Auf diese Weise filtert er aus den zahlreichen samkeiten mit der Viola-Jones-Methode. Man lässt eben-
Stellen, an denen einzelne Basismuster ansprechen, falls einzelne Muster über das Eingabebild wandern und
diejenigen heraus, an denen sie das alle zugleich und in berechnet an jeder Position einen Wert, der angibt, wie
der richtigen räumlichen Anordnung tun. das Bild an dieser Stelle zum Muster passt. Dieser Vor-
gang entspricht einer mathematischen Operation namens
Vom Feature Engineering zum Network Engineering Faltung (englisch convolution); daher werden diese Ma-
Die Viola-Jones-Methode ist historisch bedeutend als ei- schinen als Convolutional Neural Network (CNN) bezeich-
nes der frühesten und schnellsten Verfahren zur Gesichts- net, auch wenn außer der Faltung noch andere mathema-
erkennung, leidet jedoch unter erheblichen Schwächen. tische Operationen zum Einsatz kommen.
So versagt sie, wenn ein Gesicht im Profil zu sehen ist, Im Gegensatz zur Viola-Jones-Methode sind die Muster
schräg im Bild liegt oder eine ungewöhnliche Größe hat. allerdings nicht schwarz-weiß, sondern haben auch
Dem wäre zwar von Fall zu Fall mit einem erweiterten Satz Grautöne. Das heißt: Die Helligkeitswerte der unter dem
von Basisfunktionen und entsprechend höherem Rechen- Muster liegenden Pixel werden nicht mit plus oder minus 1
aufwand abzuhelfen, aber solche Nachbesserungen blei- multipliziert, bevor sie aufaddiert werden, sondern mit
ben Flickwerk. Vor allem jedoch sind es menschliche reellen Zahlen. Jedes Muster ist charakterisiert durch
Experten, welche die Basismuster und deren räumliche einen Satz dieser Zahlen, die als Gewichte, Parameter oder
Verteilung entwerfen und nachjustieren müssen; und für Koeffizienten bezeichnet werden. Und eben diese Parame-
eine neue Klasse von Objekten – zum Beispiel Autos – ter muss das Netzwerk erst lernen.
würde die ganze Arbeit von vorne anfangen. Der englische Ein Satz von Mustern, die gemeinsam über das Bild
Fachbegriff für diesen Ansatz ist »feature engineering«, wandern, wird – in Anlehnung an das biologische Vorbild –
frei zu übersetzen als »Entwurfsarbeit mit Merkmalen«. als eine Schicht des neuronalen Netzes bezeichnet. Wie
Dem gegenüber steht das »network engineering«: Der bei der Viola-Jones-Methode wird jedes Muster einer
Experte denkt nicht mehr über Merkmale nach, sondern Schicht im Prinzip an allen Stellen des Bildes angelegt und
beschränkt sich darauf, die netzartige Struktur einer Mus- liefert dort jeweils einen Wert. Diese Werte zusammenge-
tererkennungsmaschine zu definieren. Diese Maschine ist nommen ergeben wieder ein bildähnliches Objekt, das an
anfänglich »leer«, also auch nicht fähig, irgendein Muster die nächste Schicht weitergegeben wird. Die nachfolgen-
zu erkennen, sondern muss das erst lernen. den Schichten eines solchen Netzwerks können somit auf
Diese Vögel gibt es nicht in der Wirklichkeit. Zwei neuronale Netze, die gegeneinander arbeiten (»generative adversarial net-
works«), haben die Bilder jeweils nach einer Beschreibung in Worten erzeugt. Das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit von Han
übergeordnete Muster wie zum Beispiel räumliche Zusam- Positionen der Gesichter bekannt sind; und zwar passt er
menhänge ansprechen. die Parameter in lauter kleinen Schritten an, um die Vor-
Im Gegensatz zu einem manuell entwickelten Basis- hersagegenauigkeit zu verbessern. Ein solches Netzwerk
mustersatz findet ein neuronales Netz die relevanten Merk- extrahiert selbstständig die für die aktuelle Aufgabe rele-
male von selbst während eines Trainingsprozesses (siehe vanten Erkennungsmuster (Bild S. 15 oben).
»Wie lernt ein neuronales Netz?«, unten). Dabei werden Die gelernten Muster auf der ersten Schicht haben in
allerdings nur die einzelnen Parameter verändert, während diesem Beispiel eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Basis-
die innere Struktur eines neuronalen Netzes in der Regel mustersatz der Viola-Jones-Methode. Die höheren Schich-
unangetastet bleibt. Im Beispiel würde man dem Algorith- ten bringen diese Basismuster dann in eine räumliche
mus an Stelle eines relativ kleinen handentworfenen Ordnung und modellieren so komplexere Formen, wie zum
Basismustersets für Gesichter einen anfänglich leeren Beispiel Augen, Nasen oder auf der höchsten Ebene
Speicherplatz für eine größere Anzahl anfangs zufälliger schließlich ganze Gesichter. Im Unterschied zum Feature
Muster zur Verfügung stellen. Der Lernalgorithmus füllt Engineering kann jedoch ein lernfähiges Netzwerk (genug
diese Muster mit Hilfe von Trainingsbildern, in denen die Trainingsdaten und Rechenleistung vorausgesetzt) deut-
MIT FRDL. GEN. VON DIMITRIS METAXAS; ZHANG, H. ET AL.: STACKGAN: TEXT TO
PHOTO-REALISTIC IMAGE SYNTHESIS WITH STACKED GENERATIVE ADVERSARIAL NETWORKS.
IN: ARXIV:1612.03242, 2017, TEILE AUS FIG. 3
Zhang von der Rutgers University in New Brunswick (New Jersey) sowie Fachkollegen von der Lehigh University, der Chinese
University of Hong Kong und der Forschungsabteilung des chinesischen Suchmaschinenbetreibers Baidu.
lich mehr Muster hinzuzufügen und über viele Schichten einfacher zu entwickeln sind und mehr Objektklassen mit
hinweg miteinander kombinieren, so dass es zum Beispiel höherer Genauigkeit auseinanderhalten können. In kom-
nicht nur gedrehte und vergrößerte Gesichter, sondern plexen Bilderkennungsaufgaben mit vielen Unterkategori-
gleichzeitig noch zahlreiche weitere Objektklassen erken- en sind diese Netze inzwischen sogar dem Menschen
nen kann. Moderne Netze (»deep networks«) haben oft- überlegen.
mals dutzende, wenn nicht sogar hunderte Schichten und Feature Engineering dominierte nur deswegen bis vor
können dank ihrer Kapazität tausende unterschiedlicher wenigen Jahren in der Praxis, weil das Training eines kom-
Objektklassen voneinander unterscheiden (Spektrum Sep- plexen neuronalen Netzes mehr Rechenleistung und
tember 2014, S. 62). Dabei verwenden sie, insbesondere größere Datenmengen benötigt, als damals zur Verfügung
auf den früheren Schichten, Muster über Objektklassen standen. Dies änderte sich 2012, als Alex Krizhevsky, Ilya
hinweg ganz automatisch wieder und kombinieren sie in Sutskever und Geoffrey Hinton von der University of To-
späteren Schichten räumlich neu (Bild S. 15 Mitte). ronto eine neue Netzwerkarchitektur präsentierten, welche
Insgesamt hat der Schritt vom Feature Engineering zum die Qualität der bisherigen Systeme weit übertraf. In dem
Network Engineering Netzwerke hervorgebracht, die etablierten Bilderkennungswettbewerb »Large Scale Visual
funktion nach dem Parameter, mit Richtung, in der das Netz eigentlich nale einen gewissen Schwellenwert
relativ geringem Zusatzaufwand gearbeitet hat. Die Information über überschreitet, und tut sonst nichts.
berechnen. den Fehler wird »nach rückwärts« Wollte man dieses Verhalten in
Aus der so bestimmten Ableitung verbreitet, weswegen das Verfahren einem künstlichen neuronalen Netz
der Fehlerfunktion nach jedem Backpropagation genannt wird. nachbilden, müsste man in jedem
Parameter gewinnt man eine Anwei- Man schickt nun eine genügende Element eine Funktion einbauen, die
sung, in welche Richtung und wie Anzahl von Trainingsdaten immer für alle x-Werte unterhalb der
stark man jeden Parameter verän- wieder vorwärts durch das Netz und Schwelle den Wert 0 und oberhalb
dern muss, um den Gesamtfehler passt jedes Mal die Parameter mit- den Wert 1 annimmt. Eine solche
etwas in Richtung Minimum zu tels Backpropagation an. Dann bil- Stufenfunktion ist aber noch nicht
treiben. Nach der Kettenregel aus den mit der Zeit die einzelnen Teile einmal stetig, geschweige denn
der Differenzialrechnung berechnet des Netzwerks bestimmte Muster, differenzierbar, und macht daher die
man diese Ableitungen unter Ver- die ihrerseits Muster in den Eingabe Backpropagation undurchführbar.
wendung der Zwischenergebnisse daten wiedergeben. Stattdessen verwendet man für
zuerst für die Parameter der letzten Eine natürliche Nervenzelle sen- diese Aufgabe verschiedene nicht
Schicht und dann Schicht für det einen Impuls aus (sie »feuert«), lineare Funktionen, die üblicher
Schicht nach vorne, entgegen der wenn die Summe der Eingangssig- weise differenzierbar sind.
Trainingsdaten
Modell Testdaten
Zielwerte
Beim unüberwachtenUmwelt
Lernen
Modell
(unsupervised learning) haben die
Datensätze keine Zielwerte. Statt-
dessen versucht das Netz, struktu-
rierte Muster in den Eingabedaten
zu erkennen.
schen stellen sie die Mehrheit der Beiträge bei solchen Große Mengen an Daten erzeugt auch das europäische
Wettbewerben. Während das neuronale Netz von 2012, ge- Kernforschungszentrum CERN. In dessen größtem Teil-
nannt AlexNet, noch aus acht Schichten mit 650 000 Neu chenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider (LHC),
ronen und ungefähr 60 Millionen Parametern bestand, finden um die 600 Millionen Teilchenkollisionen pro Sekun-
bringen es neuere Netze wie das ResNet-152 auf mehr als de statt, was einem Rohdatenstrom von mehr als einem
100 Schichten, was auf den ungefähr zehnfachen Bedarf an halben Petabyte pro Sekunde entspricht; ausgedruckt
Rechenleistung hinausläuft. Um solche »tiefen« Netzwerke wären das 250 Milliarden DIN-A4-Seiten. Um diese Daten-
trainieren zu können, mussten ihre Konstrukteure nicht nur mengen handhaben zu können, werden die Kollisionen in
zahlreiche Verbesserungen in den Algorithmen vornehmen, einem mehrstufigen Prozess gefiltert. Am Ende bleiben pro
sondern auch die Hardware, in diesem Fall die GPUs, Sekunde 100 bis 200 potenziell interessante Ereignisse
anpassen und die zugehörige Software neu entwickeln. übrig. Aus diesen Rohdaten rekonstruieren die Forscher
dann die Kollisionsprozesse.
Wissenschaftliche Datenanalyse Damit kommt der Trennschärfe der Filteralgorithmen ei-
Neuronale Netze bearbeiten heute riesige Datenmengen ne entscheidende Bedeutung zu. Was diese verwerfen,
in kommerziellen Anwendungen und sind ein wichtiges bleibt unerforscht, da einmal ausgefilterte Ereignisse un-
Werkzeug der Datenanalyse. Doch die Anzahl der verfüg- widerruflich verloren sind. Andererseits können die Algo-
baren Daten ist in den letzten Jahren nicht nur im kom- rithmen gewissermaßen nicht beliebig genau hinschauen,
merziellen Sektor explodiert, auch die Wissenschaft pro- weil sie sonst den Datenstrom nicht in der verfügbaren
duziert immer mehr Daten, die ausgewertet und aufbe Zeit bewältigen würden.
reitet werden wollen. Hier bieten neuronale Netze einzig- Mit dem geplanten High Luminosity Upgrade des LHCs
artige neue Möglichkeiten. soll die Anzahl der Kollisionen nochmals um einen Fak-
Ein Beispiel ist die Suche nach Gravitationswellen im tor 10 erhöht werden. Bereits heute ist abzusehen, dass
Advanced Laser Interferometric Gravitational Wave Ob dies neue Ansätze zur Datenanalyse erfordert. Neuronale
servatory (Advanced LIGO). Die von Einstein bereits 1916 Netze haben das Potenzial, diese Aufgabe in der notwen-
vorhergesagten Gravitationswellen wurden erst 2015 digen Größenordnung und Geschwindigkeit durchzufüh-
direkt nachgewiesen (Spektrum April 2016, S. 12; zum ren, ohne die relevanten Signale aus den Augen zu verlie-
Nobelpreis für diese Leistung siehe Spektrum Dezember ren. Dies wäre die Basis für Entdeckungen, die unser Ver-
2017, S. 24). Ihr messbarer Effekt ist winzig klein: Es ständnis der fundamentalen Physik verändern könnten.
kommt auf Längenveränderungen an, die einem Bruchteil Bisher haben neuronale Netze ihre Stärken im Wesent
des Protonendurchmessers entsprechen. lichen dort gezeigt, wo es Fragen zu beantworten gilt, für
Diese winzigen Signale müssen jedoch aus einem die keine gute Theorie zur Verfügung steht: Welches sind
reißenden Strom verrauschter Daten herausgefiltert wer- die charakteristischen Merkmale eines Gesichts (in Pixeln
den. Für den ersten Nachweis erledigten diese Aufgabe ausgedrückt)? Wodurch unterscheiden sich Signale von
noch klassische Datenverarbeitungsalgorithmen, die auf Gravitationswellen von den allgegenwärtigen Störungen?
tausenden CPUs liefen. Auf Grund des großen Rechenauf- Woran erkennt man ein interessantes Kollisionsereignis im
wands kamen die Computer mit dem Filtern nicht nach. LHC im Gegensatz zu einem gewöhnlichen? Für die Ge-
Durch den Einsatz eines tiefen neuronalen Netzes ist es sichtserkennung haben die Experten mit dem Feature
den Wissenschaftlern am advanced LIGO inzwischen Engineering so etwas wie eine Theorie aufgestellt, jedoch
gelungen, die Messgenauigkeit zu erhöhen und gleichzei- nur mit beschränktem Erfolg. Dagegen hat ein neuronales
tig die Anforderungen an die Rechenleistung um einen Netz im Training eine Art Theorie der Gesichtserkennung
Faktor 1000 zu reduzieren, so dass die Datenanalyse nun gelernt – die in den Parametern seiner Muster besteht –
in wenigen Mikrosekunden abläuft. Bei der Kollision zwei- und kann sie anwenden.
er Neutronensterne, die sich am 17. August 2017 durch Neu und überraschend ist, dass neuronale Netze auch
Gravitationswellen bemerkbar machte, gelang die Auswer- dort phänomenale Erfolge einfahren, wo es eine gut aus-
tung so rasch, dass die LIGO-Astronomen binnen Minuten gearbeitete Theorie gibt.
zahlreiche andere Observatorien auf das Ereignis hinwei- Als Beispiel zur Einführung möge ein sehr einfacher
sen konnten. physikalischer Prozess dienen: der Wurf im Schwerefeld
der Erde. Die Theorie dazu lernt man in der Schule: Kraft gebiet auskennt. Und selbst der liefert keine fertige Formel,
ist Masse mal Beschleunigung; Letztere ist konstant und sondern nur deren interne Struktur: eine Näherungsformel
gleich 9,81 m/s2. Aus diesen Zutaten erhält man mit ein mit vorläufig unbekannten Parametern, die noch durch
wenig elementarer Differenzialrechnung eine Gleichung, einen Feinabstimmungsprozess so einzustellen sind, dass
die für jede Kombination aus Anfangsort und -geschwin- die auf diese Weise modellierten Daten die Beobachtungen
digkeit die Bahn des geworfenen Gegenstandes angibt. möglichst genau wiedergeben. Oftmals haben die Wissen-
Das ist der (nur selten realisierte) Idealfall, in dem man schaftler eine gute Vorstellung über die Bedeutung einzel-
einen physikalischen Prozess aus elementaren Naturgeset- ner Parameter; aber diese müssen keine direkte Entspre-
zen (»ab initio«) herleitet. chung in dem darunterliegenden ab-initio-Modell haben.
Das erinnert bereits stark an den oben beschriebenen
Neuronale Netze sind parametrisierte Modelle Trainingsprozess neuronaler Netze. Und das ist kein Zufall:
Allerdings konnten die Leute schon gezielt werfen, bevor Ein neuronales Netz ist nichts anderes als ein parametri-
Newton die theoretischen Grundlagen bereitstellte; und siertes Modell. Nur sind die Parameter weitaus zahlreicher
die Kanoniere der frühen Neuzeit hatten durch geduldiges und umfassen auch die interne Struktur der Formeln, die
Probieren Tabellen und gelegentlich sogar Formeln erstellt, bislang der Experte vorgibt. Damit ist die Situation ver-
mit deren Hilfe sie zu einem zu beschießenden Ziel den gleichbar dem Übergang vom Feature Engineering zum
Anstellwinkel und die Feuerkraft ihrer Waffe bestimmen Network Engineering: Das neuronale Netz übernimmt die
konnten. Viele physikalische Prozesse stellt man durch aus Struktur seines Modells nicht vom Experten, sondern lernt
der Erfahrung gewonnene Formeln dar, in die man in der sie anhand von zahlreichen Beispielen – und erzielt damit
konkreten Situation noch spezifische Werte für gewisse oft ein besseres Ergebnis, weil es weitaus mehr Möglich-
Parameter – Reibungskoeffizient, elektrische Leitfähigkeit keiten in Betracht zieht.
und so weiter – einsetzen muss. Es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied zwi-
Der offensichtliche Nachteil einer rein empirischen (Ta- schen den klassischen und den neuen Einsatzgebieten
belle) oder semiempirischen (Formel mit Parameter) Metho- neuronaler Netze: In einem Gebiet wie der Bild- oder
de ist, dass man sie schlecht verallgemeinern kann. Typi- Spracherkennung ist der zu Grunde liegende »Prozess«
scherweise funktioniert sie nur für Situationen, die jenen (falls es denn überhaupt einen gibt) nicht bekannt. Neuro-
ähneln, für die man Experimente durchgeführt hat. Wer nale Netze sind einfach das beste Werkzeug, das wir
noch nicht mit sehr schweren Objekten gearbeitet hat, kann haben, um diese Probleme zu lösen. In weiten Teilen der
für die nächste Filmproduktion nicht vorhersagen, wie sich Datenanalyse kann man ebenfalls den Strom der Daten
ein Auto verhalten wird, das über eine Klippe stürzt. nicht als Messwerte eines physikalischen Prozesses auf-
Semiempirische Methoden (auch parametrisierte Me- fassen; allenfalls hat man ein statistisches Modell eines
thoden genannt) versuchen gewissermaßen, einen Kom- solchen. Wenn ein neuronales Netz jedoch eine ab-initio-
promiss zwischen ab-initio- und empirischen Methoden zu Rechnung oder ein bekanntes semiempirisches Modell
finden. Man modelliert einen physikalischen Prozess be- ersetzen soll, sind diese Prozesse nicht nur bekannt,
wusst nicht vollständig explizit, sondern ersetzt das Modell sondern exakt mathematisch formuliert. Nunmehr ist das
durch einfacher zu berechnende Annäherungen. Netz nicht mehr konkurrenzlos, sondern muss sich an der
Die Grenze zwischen semiempirischen und ab-initio-Mo- Qualität der bereits vorliegenden Ergebnisse (der »ground
dellen ist fließend: Die Erdbeschleunigung g ist keine Natur- truth«) messen lassen. Das ist nicht nur eine Herausforde-
konstante, sondern variiert ortsabhängig um einige Promil- rung, sondern auch eine Chance: Das exakte Wissen über
le, ist also in Wahrheit ein Parameter eines semiempirischen die Ground Truth könnte in der Zukunft die Entwicklung
Modells. Streng genommen müsste man deshalb für eine eines entsprechenden neuronalen Modells befördern.
reine ab-initio-Berechnung eines gewöhnlichen Steinwurfs Kann sich die Geschichte wiederholen? Werden tiefe
die ganze Erde samt abgeplatteter Kugelgestalt und Mas- neuronale Netze in Zukunft die parametrisierten Modelle
senverteilung modellieren – eine absurde Vorstellung. aus der Physik ablösen und sogar komplexe ab-initio-Kal-
Um ein semiempirisches Modell aufzustellen, braucht es kulationen mit höherer Qualität und größerer Flexibilität
bislang noch einen Experten, der sich im jeweiligen Fach- ausführen können?
spektrum.de/artikel/1520775
Als 1997 der Computer »Deep Blue« von IBM den niemand hatte erwartet, dass in den nächsten zehn Jahren
Schachweltmeister Garri Kasparow besiegte, galt das ein Computer in dem fernöstlichen Brettspiel gewinnen
als Meilenstein in der Geschichte der künstlichen könnte. Das ist alles richtig, trifft aber nicht die Kernfrage:
Intelligenz. Allerdings stellte sich bald heraus, dass mit der Werden die technischen Entwicklungen, die AlphaGo
Technologie von Deep Blue über das Schachspielen hinaus seinen phänomenalen Erfolg verschafften, weitere Auswir-
nicht viel anzufangen war. Eine Revolution in der Compu- kungen haben? In welcher Hinsicht sind diese Fortschritte
terwissenschaft hatte damals nicht stattgefunden. qualitativ anders und bedeutender als im Fall Deep Blue?
Ist das bei »AlphaGo« anders, dem Programm, das im Für das Schachprogramm war ein Konzept von zentra-
März 2016 Lee Sedol besiegte, einen der stärksten Go- ler Bedeutung, das schon die Anfänger lernen: der Wert
Spieler der Geschichte? Ich glaube, ja. Aber nicht aus den einer Schachfigur. Ein Springer oder Läufer ist so viel wert
Gründen, die in den ersten Stellungnahmen zu lesen wie drei Bauern. Ein Turm mit seinen größeren Zugmög-
waren: Go ist schwieriger als Schach; insbesondere ist die lichkeiten entspricht fünf Bauern, und die Dame, die
Anzahl der zulässigen Positionen um Klassen größer; beweglichste aller Figuren, wird mit neun Bauern gehan-
delt. Der Wert des Königs ist unendlich, denn wenn er
geschlagen wird, ist das gesamte Spiel verloren. Der Wert
einer Figur hilft die Qualität denkbarer Züge einzuschät-
AUF EINEN BLICK zen: Einen Läufer opfern, um einen gegnerischen Turm zu
NEURONALE NETZE schlagen? Meistens eine gute Idee. Einen Springer und
ÜBERTREFFEN SICH SELBST einen Läufer gegen einen Turm eintauschen? Besser nicht.
Ebenso wie jeder Figur lässt sich auch einer Spielstel-
lung (»Position«), also der Anordnung aller Figuren auf
1 as System AlphaGo schlug im März 2016 den amtie-
D
renden Weltmeister im fernöstlichen Brettspiel Go. dem Brett, ein Wert zuweisen – im einfachsten Fall die
Summe der Werte der überlebenden Figuren. Die meisten
Beim Go-Spiel setzen die beiden Spieler abwechselnd einen Stein ihrer Farbe (schwarz beziehungs-
weise weiß) auf einen der 19 · 19 Schnittpunkte eines quadratischen Gitters. Im ersten Zug stehen
also 361 Möglichkeiten zur Auswahl, danach entsprechend weniger, was immer noch weit mehr ist
als die durchschnittlich 30 bis 35 Zugmöglichkeiten beim Schach.
ZHENGZAISHURU / GETTY IMAGES / ISTOCK
eine Bewertungsfunktion – in der Praxis nutzte AlphaGo Mind, die Organisation hinter AlphaGo, hat schon 2015 ein
eine etwas komplexere Variante dieser Idee. neuronales Netz gebaut, das 49 klassische Videospiele für
Nach diesen Vorbereitungen probierte das System im den Atari 2600 beherrscht, und zwar in vielen Fällen auf
Spiel nach klassischem Vorbild verschiedene Zugfolgen einem Niveau, das menschliche Könner nicht erreichen.
von der aktuellen Position aus und entschied sich für Der konservative Lösungsansatz wäre der von Deep
denjenigen Ast des Suchbaums, an dessen Ende das Blatt Blue: Ein menschlicher Programmierer analysiert jedes
mit dem höchsten Wert stand (siehe »Durch eigenständi- einzelne Spiel und knobelt detaillierte Strategien dafür aus.
ges Lernen zur Meisterschaft«, S. 26/27). Allerdings be- Das neuronale Netz von DeepMind aber erkundet einfach
schränkte es sich beim Aufbau des Suchbaums auf dieje- eine große Menge Spielmöglichkeiten. Am Anfang stolpert
nigen Züge, die das Policy Network für die aussichts- es hoffnungslos ungeschickt herum, vergleichbar mit
reichsten hielt. einem menschlichen absoluten Anfänger. Aber zufällig
Am Anfang von AlphaGo stand also, anders als bei Deep sind auch gute Spielzüge dabei. Das Netz lernt, diese
Blue, keine große Wissensbasis über das Spiel. Vielmehr guten Züge – also Verhalten, das höhere Punktzahlen
kam die Bewertungsfunktion zu Stande, indem das Netz einbringt – zu erkennen, ähnlich wie AlphaGo gute Brett-
Tausende echter Spiele analysierte und intensiv gegen sich positionen erkennt. Dann verstärkt es das entsprechende
selbst spielte. Durch Milliarden kleiner Änderungen und in
ihrer Folge ebenso kleiner Verbesserungen gewann das
System ein Mittel zur Einschätzung einer Spielposition, das AlphaGo ist die Speerspitze einer
der Intuition eines guten Spielers ähnlich ist.
So gesehen ist AlphaGo viel radikaler als Deep Blue. Die Entwicklung hin zu Systemen, die
Stelle zu finden, an der eine bekannte Funktion einen
optimalen Wert annimmt: Das ist der Typ von Aufgaben,
Intuition realisieren
mit denen die Computer seit ihren Kindertagen zu tun
haben. Bei Deep Blue war diese Funktion zugegebenerma- Verhalten und verbessert damit schrittweise seine Spielfä-
ßen äußerst kompliziert, aber von Menschen aus bereits higkeiten.
vorhandenem Wissen über Schach zusammengebaut. Und In einer 2015 veröffentlichten Arbeit beschreiben die
das Optimierungsverfahren selbst war höchst raffiniert, Tübinger Forscher Leon Gatys, Alexander Ecker und Mat-
aber im Prinzip nicht wesentlich verschieden von vielen thias Bethge, wie ein neuronales Netz bestimmte Kunst
Programmen der 1960er Jahre. stile lernt und dann auf andere Bilder anwendet. Die Idee
Auch AlphaGo optimiert eine Funktion, wenn auch auf ist sehr einfach: Das Netz »betrachtet« eine Menge Bilder
etwas geschicktere Weise. Doch wirklich neu und unge- und lernt daran, Werke desselben oder eines ähnlichen
wöhnlich ist der Schritt vorher, in dem das neuronale Netz Stils zu erkennen. Das Gelernte konnte es auf neue Bilder
sich diese Bewertungsfunktion, die einer »intuitiven Ein- anwenden. Und neuronale Netze erbringen intuitive Leis-
schätzung« einer Brettposition gleichkommt, erst zulegt. tungen nicht nur bei Bildern, sondern auch bei gesproche-
Die Kombination beider Schritte ist es, die AlphaGo zu ner Sprache, Tonsignalen allgemein und sogar wissen-
seinen phänomenalen Spielfähigkeiten verhilft. schaftlichen Daten (siehe den Artikel S. 12).
Die intuitiven Fähigkeiten des Menschen zur Muster Angesichts dieser breiten Fortschritte halte ich AlphaGo
erkennung nachzubilden, ist eine Riesenaufgabe – und für sich genommen nicht für einen revolutionären Durch-
wird aktuell auf breiter Front angegangen. Google Deep- bruch, sondern eher für die Speerspitze einer extrem
Nur anderthalb Jahre nachdem das gegen sich selbst spielen und aus learning« eine derart riesige Anzahl
Computerprogramm AlphaGo den den Resultaten lernen (»reinforce- von möglichen Zügen nicht bewälti-
weltbesten menschlichen Spieler ment learning«). gen könnte, sondern auf der Suche
vom Thron stieß, hat es eine weitere AlphaGo Zero hat den ersten nach einer brauchbaren Strategie
Grenze durchbrochen: Es erreicht Schritt schlicht weggelassen. Das auf ewig im Dunkeln tappen würde.
beispielloses Können, indem es ein- Programm kannte nichts weiter als Stattdessen fand die Software
zig von sich selbst lernt. AlphaGo die Regeln und spielte gegen sich geradezu blitzartig ihren Weg zu
Zero, die neue Version von AlphaGo, selbst. Anfänglich setzte AlphaGo übermenschlichen Fähigkeiten.
entwickelte in drei Tagen Rechenzeit Zero die Steine irgendwie zufällig Der Lernprozess verdankt seine
Strategien, die menschlichen Spie- aufs Brett. Mit der Zeit konnte es Effektivität einer Rückkopplungs-
lern in Jahrtausenden nicht in den Brettpositionen immer besser ein- schleife. Wie sein Vorgänger be-
Sinn gekommen waren – ohne schätzen und günstige Züge erken- stimmt AlphaGo Zero seinen jeweils
Vorkenntnisse und ohne menschli- nen. Es entdeckte dabei nicht nur nächsten Zug mit einer so genann-
che Lehrer. Nun ist die künstliche viele Elemente der klassischen Stra- ten Baumsuche. Ausgehend von der
Intelligenz nicht mehr auf menschli- tegien, sondern entwickelte auch aktuellen Spielsituation (»Position«)
ches Wissen angewiesen und damit neue auf eigene Faust. geht es die möglichen Züge durch,
eine der wesentlichen Grenzen für Nach drei Trainingstagen und zieht in Betracht, welche Züge da-
ihren Siegeszug gefallen. 4,9 Millionen Spielen ließen die Ent- raufhin der Gegner machen könnte,
Frühere Versionen von AlphaGo wickler AlphaGo Zero gegen seinen mit welchen Zügen es seinerseits
wandten nacheinander zwei Stra Vorgänger antreten, der immerhin antworten würde, und so weiter. Es
tegien an, um dem System das den menschlichen Go-Weltmeister entsteht ein Baum mit ungeheuer
Go-Spiel beizubringen. Zunächst geschlagen hatte. Das neue System vielen Verzweigungen entsprechend
gaben die Wissenschaftler dem gewann 100 von 100 Spielen. den denkbaren Spielverläufen. Das,
Programm 160000 hochkarätige, Dieser radikale Sieg verblüffte die was man eigentlich wissen will –
bereits gespielte Partien als Stoff Experten. Go ist um Größenordnun- welcher Zug ist gegenwärtig der
zum Lernen und Nachahmen («su- gen komplexer als Schach. Eigent- beste? –, erfährt man erst, wenn
pervised learning«). Im zweiten lich war zu erwarten, dass AlphaGo man an den Enden der kleinsten
Schritt ließen sie den Computer Zero mit reinem »reinforcement Zweige den Wert aller Positionen
wichtigen Entwicklung: die Programmierung von Syste- deren Lösung wir gegenwärtig Intuition für erforderlich
men, die Intuition realisieren und Muster erkennen. Schon halten, jämmerlich versagen.
Jahrzehnte haben sich Computerwissenschaftler ohne Überhaupt ist unser heutiges Verständnis von neurona-
große Fortschritte daran versucht. Nun eröffnet der Erfolg len Netzen in vieler Hinsicht noch sehr rudimentär. So
der neuronalen Netze eine Fülle neuer Anwendungsmög- gelang es Forschern um Christian Szegedy bei Google, ein
lichkeiten für Computer. neuronales Netz in die Irre zu führen, das eigentlich ex
An dieser Stelle könnte man versucht sein, je nach trem gut in Bilderkennung war – indem sie Kleinigkeiten
Grundeinstellung den Anbruch eines goldenen Zeitalters unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze veränderten (Bild S. 24).
oder den Untergang des Abendlandes zu proklamieren. Außerdem benötigen bestehende Systeme nach wie
Es ist allgemein üblich, die Leistungen unseres Gehirns in vor häufig menschliche Lehrer. AlphaGo bezog seine
»logisches Denken« und »Intuition« einzuteilen. Im logi- »Grundausbildung« von 160000 menschengespielten
schen Denken sind uns die Computer schon lange voraus, Partien. Das ist sehr viel; Menschen benötigen weit weni-
und nachdem die neuronalen Netze jetzt auch die Intuition ger Beispiele zum Lernen. Netze zur Bilderkennung wer-
beherrschen, wäre es folglich bis zum endgültigen Sieg den normalerweise mit Millionen von Beispielbildern
der allgemeinen künstlichen Intelligenz nur noch ein paar trainiert, die mit Informationen über den Inhalt versehen
Jahre hin. sind. Zukünftige Systeme sollten mit weniger Lehrmaterial
Das wäre ein Fehlschluss. Unser Begriff von Intuition oder idealerweise ganz ohne Lehrer auskommen.
umfasst sehr verschiedene geistige Tätigkeiten. Dass Diese kritischen Bemerkungen sollen die Bedeutung
neuronale Netze einige von ihnen sehr gut nachbilden, von AlphaGo nicht schmälern. Einschränkungen hin oder
schließt nicht aus, dass sie bei anderen Aufgaben, für her – es ist gelungen, Netze zu entwickeln, die zumindest
warum sie funktionieren, und sie besser mit den Stärken Gatys, L. A. et al.: A Neural Algorithm of Artistic Style.
bestehender Computersysteme zu verknüpfen. Man stelle https://arxiv.org/pdf/1508.06576.pdf
sich nur vor, man könnte die Intuition, die beim Finden Silver, D. et al.: Mastering the Game of Go with Deep Neural Net-
eines mathematischen Beweises oder beim Schreiben works and Tree Search. In: Nature 529, S. 484– 489, 28. Januar 2016
einer guten Erzählung zum Einsatz kommt, in den Para
LITERATURTIPPS
metern eines neuronalen Netzes erfassen!
Mnih, V. et al.: Human-Level Control through Deep Reinforcement
Learning. In: Nature 518, S. 529–533, 26. Februar 2015
Über das Netz, das die 49 Atari-Spiele zu beherrschen lernte
Der Artikel von Michael Nielsen, der im Original im Frühjahr 2016
erschien, und der aktuelle Kasten von Kevin Hartnett entstammen Szegedy, C. et al.: Intriguing Properties of Neural Networks.
der redigierten Fassung zweier Artikel aus »Quantamagazine.org«, https://arxiv.org/abs/1312.6199, 2014
einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, Beschreibt, wie man ein neuronales Netz in die Irre führen kann
die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus der Mathe
matik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat. WEBLINK
Im Herzen der Materie ist überall die Quantenphysik lieren. Aktuelle Fortschritte bringen gleich bei mehreren
am Werk. Deren Gesetze sind zwar bekannt, aber die Arten von Quantensimulatoren die Lösung praktischer Pro-
Komplexität der schwierigen Gleichungen nimmt sehr bleme in Reichweite.
schnell mit der Anzahl der involvierten Teilchen zu. Die
Wechselwirkungen bei chemischen Reaktionen beispiels- Jedes System taugt nur für spezielle Fragestellungen –
weise lassen sich bloß für die einfachsten Moleküle noch ist dort aber sehr leistungsfähig
quantenmechanisch exakt berechnen. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von unterschied-
Bei größeren Objekten kommen nur Näherungsverfah- lichen Modellsystemen: Atome in optischen Gittern, auf-
ren in Frage, mit deren Hilfe Wissenschaftler die unge- gereihte Ionen in Ionenfallen oder Laserpulse, die durch
fähren Reaktionsschritte bestimmen. Selbst die leistungs- nichtlineare Kristalle flitzen und sich dabei aufspalten.
stärksten Supercomputer kommen dabei schnell an ihre Jedes eignet sich dazu, gewisse Eigenschaften der Quan-
Grenzen, da die nötigen Rechenzeiten exponentiell mit tenwelt möglichst exakt zu bestimmen, doch keines lässt
der Größe des betrachteten Systems ansteigen. In Zu- sich beliebig verallgemeinern. »Durch diese Beschrän-
kunft könnten jedoch Quantencomputer helfen. Sie kung sind Quantensimulatoren in manchen Bereichen aber
arbeiten schon von ihrem Bauprinzip her quantenmecha- überraschend leistungsfähig«, sagt Christian Roos vom
nisch und können daher die notwendigen Kalkulationen Institut für Experimentalphysik an der Universität Inns-
sehr viel schneller abarbeiten als herkömmliche Compu- bruck. Der Quantenphysiker arbeitet dort an Quantensi
ter. Davon dürften viele Industriezweige profitieren. Die mulatoren, die aus einer Kette von bis zu 20 Ionen beste-
chemische Industrie etwa setzt jedes Jahr riesige Men- hen. Das klingt noch nicht nach allzu viel. Aber auch
gen an Grundstoffen um. Gelänge es, auch nur einige mit nur ein bis zwei Dutzend Ionen lassen sich zum Bei-
wenige Reaktionsschritte dank neuer Quanten-Algorith- spiel magnetische Wechselwirkungen simulieren, die
men zu optimieren, wären die möglichen Einsparungen etwa bei der Entwicklung neuer Materialien eine Rolle
immens. spielen.
Eine große Schwierigkeit bei allen Quantenobjekten
liegt darin, den genauen Zustand des Gesamtsystems zu
Künftige Quantenrechner sollen mit bestimmen. Bei einem klassischen Computer reicht dafür
mehreren tausend Qubits laufen die Kenntnis der einzelnen Bits im Speicher. Quantensys
teme hingegen bestehen darüber hinaus aus den Korrela
tionen zwischen allen möglichen Teilchen.
Beim Quantenrechnen macht man sich die Verschrän- Roos und seine Kollegen in Innsbruck haben nun zu-
kung zwischen den verschiedenen Teilchen zu Nutze. sammen mit Physikern der Universität Ulm und der schot-
Wegen dieser quantentypischen Eigenschaft reicht nicht tischen University of Strathclyde ein neues Verfahren
mehr der Zustand der einzelnen Ionen oder Lichtteilchen entwickelt, mit dem sich der Quantenzustand der Ionen-
aus, um das Gesamtsystem zu beschreiben. Der ganze kette über eine Abfrage mit Laserpulsen sehr viel schneller
Komplex – im Fall eines Quantencomputers alle an einer als bislang auslesen lässt. Dieses neue Verfahren ermög
Rechnung beteiligten »Qubits« – beinhaltet mehr Informa- licht es, die Quantenkorrelationen von 14 Ionen mit Hilfe
tionen als die Summe der isolierten Teilchen. Der Gesamt- von 27 Messungen in zehn Minuten abzufragen. Noch vor
zustand kann zudem noch verschiedene Rechenpfade einem Jahrzehnt waren bei nur 8 Ionen 6000 Messungen
gleichzeitig durchlaufen. Es ist genau dieser eigenartige, und zehn Stunden nötig. Mit dieser neuen »Matrix-Pro-
holistische Charakter von Quantensystemen, der ihr Ver- dukt-Zustands-Tomografie« können die Forscher ihr Quan-
ständnis so schwierig macht und gleichzeitig für ihre tensystem also rasch und gut charakterisieren. »Wir
potenzielle Rechenleistung so wichtig ist. wollen ja möglichst genau wissen, ob der Quantensimula-
Der Weg zum Quantencomputer ist allerdings steinig tor auch das macht, was wir von ihm erwarten«, kommen-
und mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden. So ist tiert Roos.
Probe Reservoir
Während die Rechenzeit am Computer exponentiell
steigt, bleibt das Laborexperiment überschaubar
Zur Ermittlung des Endzustands müssen die Wissenschaft-
MAZURENKO, A. ET AL.: A COLD-ATOM FERMI–HUBBARD ANTIFERROMAGNET. IN: NATURE 545, S. 462-466, 2017, FIG. 1B
galten vielen Wissenschaftlern noch vor einigen Jahren als Das Immunsystem kann nicht nur körperfremde
kaum berechenbar. Pathogene wie Viren und Bakterien unschädlich ma-
Der Trick bei den verbesserten Verfahren besteht in chen, sondern auch körpereigene, krankhaft verän-
einer geschickt gewählten Näherung für die Umgebung derte Zellen erkennen und zerstören. Dies geschieht in
der für die Reaktion wichtigen Bereiche. Das spart Re- unserem Organismus ständig und wirkt der Krebsentste-
chenzeit. Auf diese Weise lassen sich zum Beispiel bei der hung sehr effektiv entgegen. Manchmal jedoch versagt
Entwicklung neuer Arzneimittel die gewünschten Mole- der Mechanismus, da entartete Zellen zahlreiche Strate-
küle besser verstehen und etwa die chemischen Gruppen, gien entwickeln, um der Immunantwort zu entgehen.
die an ein bestimmtes Zellprotein binden, maßgeschnei- Immuntherapien zielen deshalb darauf ab, das Abwehrsys
dert herstellen. tem bei der Beseitigung von Krebszellen zu unterstützen.
Hierzu gibt es zwei Ansätze: Die passive Immunisierung,
Die Zukunft gehört der Allianz von bei der Mediziner entweder Antikörper oder Immunzellen
Supercomputern und Quantensystemen quasi als Hilfsstoffe verabreichen, um die Körperabwehr
Diese Methoden funktionieren aber auch nur mit einer auf den Tumor zu lenken – und die aktive Immunisierung,
gewissen Genauigkeit, die sich durch Quantencomputer die das Immunsystem per Impfung auf Krebszellen auf-
oder passende Quantensimulatoren steigern lassen sollte. merksam macht.
In Zukunft könnten für solche Zwecke deshalb Hybrid Krebsimpfungen sollen das Immunsystem dazu ertüchti-
ansätze bedeutsam werden, bei denen ein gewöhnlicher gen, feine Unterschiede zwischen gesunden und entarteten
Supercomputer die chemische Umgebung berechnet und Zellen zu erkennen und letztere selektiv zu attackieren.
ein Quantensystem die zentralen Reaktionsschritte be- Viele bisher getestete Impfungen basierten auf Selbstanti-
stimmt. genen – Proteinen, die von Krebszellen in hoher Menge
Von den Materialwissenschaften bis hin zur Pharmazie produziert werden, die aber schwächer ausgeprägt auch in
können viele Forschungszweige von den neuen Entwick- normalen Zellen vorkommen. Der Organismus verhindert
lungen profitieren. Wohl unter anderem wegen solcher normalerweise zum eigenen Schutz, dass seine Abwehr
Überlegungen hat die Europäische Union ihr neues auf Selbstantigene reagiert, indem er Immunzellen gezielt
»Flaggschiff«-Projekt der Quantentechnologie gewidmet. ausschaltet, die körpereigene Strukturen attackieren. Das
Nach den Initiativen zum menschlichen Gehirn (»Human kann die Wirksamkeit entsprechender Krebsimpfungen
Brain Project«) und zu Graphen soll das dritte Flaggschiff entscheidend schwächen. Diese unerwünschte Immuntole-
ab 2018 die Quantenkompetenz der europäischen Institute ranz lässt sich vermeiden, indem man die Körperabwehr
und Industrie stärken. Hierzu gibt es insgesamt eine nur für solche Antigene sensibilisiert, die ausschließlich in
Milliarde Euro an Fördergeldern, die über einen Zeitraum Krebszellen vorkommen. Bei ihnen handelt es sich um
von zehn Jahren ausgeschüttet werden. Quantencomputer Produkte von Mutationen, die erst im Zuge der Krebsent-
und -simulatoren werden dort mit Sicherheit eine wichtige wicklung auftreten und in normalen Zellen nicht zu finden
Rolle spielen. sind. Diese für den Körper neuen Antigene, die »Neoanti-
gene«, stuft das Immunsystem als körperfremd ein.
Dirk Eidemüller ist Physiker, Wissenschaftsjournalist
Jetzt haben zwei Forschergruppen unabhängig vonei-
und Buchautor.
nander aktive Krebsimpfungen getestet, die auf solchen
Neoantigenen basieren. Die klinischen Phase-I-Versuche
QUELLEN
verliefen Erfolg versprechend. Neu an ihnen war vor allem
Groß, C., Bloch, I.: Quantum Simulations with Ultracold Atoms in die Methodik, die erst durch jüngste technische Entwick-
Optical Lattices. In: Science 357, S. 995–1001, 2017 lungen möglich wurde. Die beiden Teams um Catherine
Lanyon, B. P. et al.: Efficient Tomography of a Quantum Many-Body Wu von der Harvard Medical School in Boston sowie um
System. In: Nature Physics 10.1038/nphys4244, 2017 Uğur Şahin von der Johannes-Gutenberg-Universität in
Mazurenko, A. et al.: A Cold-Atom Fermi-Hubbard Antiferromagnet. Mainz testeten ihre Impfungen an Patienten, die von fort-
In: Nature 545, S. 462–466, 2017 geschrittenem Hautkrebs (Melanom) betroffen waren. Die
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FORSCHUNG AKTUELL
setzten auf einen RNA-basierten Impfstoff. Der enthält Kombinationstherapien mit Krebsimpfstoffen und
RNA-Moleküle mit Neoantigen-Sequenzen, aus denen die Checkpoint-Inhibitoren sind laut Catherine Wu besonders
Zellen die mutierten Proteine erst herstellen müssen. vielversprechend. Die neoantigenbasierte Impfung sensi
Damit behandelten die Forscher insgesamt 13 Patienten, bilisiere die Körperabwehr zunächst gegen den Krebs, der
jeden von ihnen mindestens achtmal. Inhibitor verstärke anschließend die Immunantwort, indem
Anhand von Blutproben der Teilnehmer bestimmten bei- er die Immunevasion verhindere.
de Teams die Aktivität der Immunzellen vor und nach der Wie es den Patienten ohne Impfung ergangen wäre,
Impfung. Im Labor testeten sie, ob die Abwehrzellen auf lässt sich allerdings nicht sagen. »Es ging vor allem um die
die jeweils ausgewählten Antigene reagierten – erkennbar neue Methodik. Für die Behandlung der Patienten sind die
an der Ausschüttung von immunstimulierenden Proteinen. Ergebnisse zwar viel versprechend, aber es wäre nun eine
Es zeigte sich, dass die Impfungen bei sämtlichen Pati- größere Studie nötig, um mehr über den Nutzen der
enten T-Lymphozyten aktiviert hatten, die gegen die jewei- Impfung sagen zu können«, betont Jochen Utikal vom
ligen Neoantigene vorgingen, und zwar sehr spezifisch: Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, der an
Auf nichtmutierte Proteine, wie sie in gesunden Zellen einer der beiden Studien beteiligt war.
vorkommen, reagierten die Immunzellen kaum. Tumoren können gegen eine Impfung resistent werden,
Weiterhin demonstrierten die Wissenschaftler, dass die indem sie aufhören, bestimmte Antigene zu produzieren.
Krebszellen die entsprechenden Neoantigene auf ihrer Vakzinierungen gegen eine breite Palette von Neoantige-
Oberfläche auch präsentieren, so dass sie von der Körper nen sollten das zwar verhindern. Doch Şahin und seine
abwehr überhaupt entdeckt werden können. Brachten die Kollegen haben entdeckt, dass Krebszellen der Impfung
Forscher aktivierte T-Lymphozyten aus dem Blut der ge- auch auf anderem Weg entkommen können: Die Tumoren
impften Teilnehmer mit Krebszellen aus dem entnomme- eines Patienten verloren mit der Zeit ein Protein, das Neo-
nen Tumorgewebe zusammen, ließ sich in vielen Fällen be- antigene an die Zelloberfläche befördert. Das macht die
obachten, dass die Ersteren die Letzteren attackierten. Krebszellen gegenüber der Körperabwehr quasi unsichtbar.
Gesunde Körperzellen dagegen blieben von dem Immun- Hautkrebs wird oft von einem bekannten Mutagen
angriff verschont. Das zeigt, dass die Impfung funktioniert ausgelöst: UV-Licht. Er geht häufig mit besonders vielen
und keine ernsten Nebenwirkungen auslöst. Mutationen einher. Das prädestiniert ihn für Untersu-
chungen wie diese – denn je mehr Mutationen ein Tumor
Die Kombination von Krebsimpfstoff und Immun- trägt, desto größer ist auch die Auswahl potenzieller
Checkpoint-Inhibitor wirkt besonders effektiv Neoantigene, die er produziert, und desto zugänglicher ist
Die klinischen Befunde bestätigen das Resultat. Bei vier er gegenüber Immuntherapien. Die Forscher sind trotzdem
der sechs Patienten, die an Wus Studie teilnahmen, kehrte zuversichtlich, dass ihre Impfmethode auch gegen Krebs-
der Krebs bis zum Ende der Studie (über einen Zeitraum arten mit geringerer Mutationslast helfen könnte. »Wir
von mehr als zwei Jahren hinweg) nicht zurück. Bei den testen den Ansatz zurzeit am Neuroblastom, einem Tumor
übrigen beiden breitete sich die Krankheit zunächst wieder mit niedrigerer Mutationsrate. Die ersten Ergebnisse
aus, konnte aber mit einer zusätzlichen Immuntherapie, zeigen, dass (eine erfolgreiche Behandlung) zwar schwie-
der Behandlung mit dem Immun-Checkpoint-Inhibitor riger, aber durchaus möglich ist«, sagt Catherine Wu.
Pembrolizumab (siehe Spektrum August 2014, S. 30), Impfmethoden wie die geschilderten sind relativ auf-
schließlich endgültig verdrängt werden. Immun-Check- wändig, da sie erfordern, für jeden Krebspatienten einen
points sind Rezeptoren auf T-Zellen, die zur Regulation der individuellen Impfstoff herzustellen. Dennoch glauben die
Immunantwort dienen, indem sie diese entweder verstär- Forscher um Wu und Şahin, dass sich ihre Ansätze künftig
ken oder schwächen. Krebszellen »missbrauchen« die in großem Maßstab praktizieren lassen. Inzwischen haben
Checkpoints oft, um das Abwehrsystem zu dämpfen – ein sich bereits mehrere Biotech-Firmen darauf spezialisiert,
Mechanismus namens Immunevasion. Immun-Check- die Herstellung personalisierter Krebsimpfstoffe zu opti-
point-Inhibitoren wie Pembrolizumab wirken dem entge- mieren und für den klinischen Einsatz zu beschleunigen.
gen, indem sie an immunschwächende Rezeptoren bin-
Lisa Vincenz-Donnelly ist promovierte Biochemikerin und arbeitet
den, diese ausschalten und so die Dämpfung der Körper
im Kommunikationsteam der Lindauer Nobelpreisträgertagungen
abwehr verhindern. sowie als Wissenschaftsjournalistin.
Von den 13 geimpften Patienten aus Şahins Studie
blieben acht über den gesamten Studienzeitraum von bis QUELLEN
zu zwei Jahren krebsfrei. Die anderen fünf erlitten Rückfäl- Carreno, B. M. et al.: A Dendritic Cell Vaccine Increases the Breadth
le. Wie die Forscher herausfanden, waren die neu auftre- and Diversity of Melanoma Neoantigen-Specific T Cells. In: Science
tenden Tumoren aber von aktiven T-Lymphozyten infiltriert, 348, S. 803–808, 2015
auch wenn diese den Krebs nicht beseitigt hatten. Das Ott, P. A. et al.: An Immunogenic Personal Neoantigen Vaccine for
Immunsystem schien also zumindest teilweise gegen die Patients with Melanoma. In: Nature 547, S. 217–221, 2017
Krankheit vorzugehen. Einer der fünf Patienten ließ sich Şahin, U. et al.: Personalized RNA Mutanome Vaccines Mobilize
ebenfalls erfolgreich mit einem Immun-Checkpoint-Inhibi- Poly-Specific Therapeutic Immunity against Cancer. In: Nature 547,
tor behandeln. S. 222–226, 2017
Als Geologen an Bord des Forschungsschiffs Heincke dungen zurück und das einstige Feuchtgebiet hinterließ
Ende November 2015 den Meeresboden in der Deut- Sedimente, die reich an abgestorbenen Pflanzen sind.
schen Bucht 45 Kilometer nordwestlich vor Helgoland Noch Tausende von Jahren später zersetzen Mikroorganis-
untersucht haben, erlebten sie eine Überraschung: Wo men dieses organische Material und bilden dabei Methan,
hydroakustische Messungen nur vier Monate zuvor eine das im Sand akkumuliert. Die Forscher um Knut Krämer
Sandebene gezeigt hatten, war der Grund jetzt regelrecht vermuten, dass eine Reihe von Stürmen im Herbst 2015
perforiert und von Kratern übersät. Knut Krämer, Dokto- das Gas schlagartig freisetzte. Bis zu 14 Meter hohe Wel-
rand am MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissen- len führten demnach zu einer Druckentlastung am Mee-
schaften in Bremen – und seine Kollegen waren auf ein resgrund und lösten unzählige Gaseruptionen aus – zurück
Feld so genannter Pockmarks (zu Deutsch: Pockennarben) blieb die Kraterlandschaft. Schätzungsweise 5000 Tonnen
gestoßen, das sich über knapp 1000 Quadratkilometer Methan gelangten so in die Wassersäule und in die Atmo-
erstreckte. Allein in einem 34 Quadratkilometer großen, sphäre. Zum Vergleich: Der übliche jährliche Methanaus-
hochauflösend kartierten Abschnitt zählten die Forscher stoß der gesamten Nordsee wird auf 7500 Tonnen bezif-
15 000 Krater. Das gesamte Pockmarkfeld enthielt vermut- fert. Aktuell ist das Pockmarkfeld inaktiv und allmählich
lich über 400 000 sandige Depressionen. Mit einer Tiefe werden Strömungen und Wellen den Sandboden wieder
von 20 Zentimetern und einem Durchmesser von 10 bis 20 einebnen. Doch sobald sich eine kritische Menge Gas im
Nordseekrater
Methanausbrüche im
Herbst 2015 haben den
sonst ebenen Meeres-
boden am Helgoland-
Riff in eine Kraterland-
schaft verwandelt.
Schätzungsweise mehr
als 400 000 so genann-
ter Pockmarks mit
einem Durchmesser
von zirka 10 bis 20
Metern entstanden
durch Gaseruptionen
(oben). Unterwasser-
aufnahmen zeigen,
MARUM - ZENTRUM FÜR MARINE UMWELTWISSENSCHAFTEN
spektrum.de/artikel/1520777
D
emnächst sollen Geräte auf den Markt kommen, Physiker Aram W. Harrow vom Massachusetts Institute
die exotische Phänomene wie Quantenver- of Technology und der Mathematiker Ashley Monta
schränkung und -superposition nutzen, um nie naro von der University of Bristol (Nature 549, S. 203–
dagewesene Rechenkunststücke auszuführen. 209, 2017).
Wenn man wiederkehrenden Meldungen im Wirt- Ein Quantencomputer ist nur dann wirklich über
schaftsteil seriöser Tageszeitungen Glauben schenkt, legen, wenn ihn kein noch so raffinierter klassischer
ist das nur noch eine Frage von Monaten. Rechner zu simulieren vermag. Dafür gibt es aber
Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert derzeit keinen eindeutigen Beweis. Es ist ungeheuer
sich. Soweit bekannt, befinden sich solche Apparate schwierig, klar definierte Aufgaben zu finden, die ein
nach wie vor im Laborstadium und leisten viel weniger Quantencomputer besser bewältigt – mit einer Ausnah-
als ein Taschenrechner. Dennoch verkaufen Google me: die Primzahlzerlegung großer Zahlen nach dem so
und IBM bereits Rechenzeit auf angeblichen Quanten genannten Shor-Algorithmus. Darin ist ein Quanten-
computern, über deren Funktionsweise, da Firmen computer zwar unschlagbar, aber nur theoretisch; in
eigentum, naturgemäß kaum etwas bekannt ist (siehe der Praxis hängt die Effizienz von der Anzahl der ver-
»Zukunftstechnik sucht spendable Kunden«, Spektrum fügbaren Quantenbits ab, und die liegt derzeit bei unter
Mai 2017, S. 31). 50. Die damit zerlegbaren Zahlen sind so klein, dass
Die in Kanada ansässige Firma D-Wave bietet schon man die Faktoren sogar ohne Taschenrechner findet.
seit einigen Jahren eine Maschine an, die auf dem
B
Prinzip des so genannten adiabatischen Quantencom- ei allen bisher als Quantencomputer ausgegebe
puters beruhen soll. Das Prinzip ähnelt dem Auskristal- nen Geräten liegt der Verdacht nahe, dass sie –
lisieren einer Schmelze bei langsamer Abkühlung. Hier sofern nicht eh hoffnungslos unterlegen – klassi
entspricht der Schmelze ein System von Quantenbits, sche Simulatoren sind. Harrow und Montanaro
das sich quasi zur Lösung des gestellten Problems vermuten, dass es bei optimistischer Schätzung meh-
umorganisiert. Allerdings argwöhnen Experten, dass rere Jahre dauern wird, bis ein überzeugendes Nach-
D-Wave ein zwar interessantes, aber rein klassisch weisverfahren für die Quantum Supremacy vorliegt.
funktionierendes Rechengerät offeriert. Immerhin hat Das heißt, in nächster Zeit werden entweder bloß Simu-
ein Team um den Physiker Alex Mott vom California latoren auf den Markt kommen oder Quantencomputer,
Institute of Technology in Pasadena im Oktober 2017 von denen niemand sagen kann, ob sie mehr leisten
demonstriert, wie man mit Hilfe einer D-Wave-Maschi- als herkömmliche Rechner.
ne nachträglich aus den vom Beschleuniger LHC Trotzdem lohnt sich die Jagd nach der Rechen
gesammelten Daten die Spur des Higgs-Teilchens herrschaft der Quanten. Sie führt zur Entwicklung neu-
filtern kann (Nature 550, S. 375–379, 2017). er Algorithmen, regt mathematische Entdeckungen
Zweifellos ist da irgendetwas im Busch – fragt sich an, befruchtet die Experimentalphysik – und vielleicht
nur, wie man herausfindet, ob und wann ein real exis- sogar die Raumfahrt. Ist der passende Ort für künf-
tierender Quantencomputer tatsächlich mehr leistet als tige große Quantencomputer nicht der erdnahe Welt-
jede klassische Rechenmaschine. Wie lässt sich die raum? Dort herrscht kosmische Kälte und Schwere
»Quantum Supremacy« nachweisen, die Überlegenheit losigkeit, und die Störung, die den empfindlichen Quan-
eines auf Verschränkung und Superposition beruhen- tenbits von der kosmischen Strahlung droht, ist ein
den Rechners? Das ist gar nicht so einfach, finden der Klacks gegen das Teilchenchaos eines irdischen Labors.
erinnern an Papageien,
seitlich hinter dem Gesicht
standen spitze Knochen
auswüchse ab.
Es war ein Oktobertag 2006 an der Yale University in Verteilung der Pigmente erzählen nicht nur von der Fär-
New Haven (Connecticut). In einem dunklen Labor bung eines Tiers, sondern auch von Mustern und Schattie-
hockte ich am Elektronenmikroskop und wollte mir rungen. Dies wiederum gibt manchen Aufschluss über das
200 Millionen Jahre alte versteinerte Tinte von einem Kal- Verhalten und den Lebensraum.
marverwandten anschauen. Als ich das Bild scharf stellte, Ob Melanine so lange überdauern können, wollte ich
blickte ich in ein Meer durchscheinender Kugeln, jede zunächst an Fossilien prüfen, die gerade an jenen Stellen
etwa ein fünftel Mikrometer groß. Sie sahen genau so aus dunkel gefärbt sind, wo sich diese Pigmente bei einem Tier
wie die Melaninkörnchen von heutigen Tintenfischen. gewöhnlich ansammeln: in der Körperdecke und den
Zwar wusste ich, dass Forscher schon ein paar Jahre Augen. Mein Vorhaben machte es notwendig, kostbaren,
zuvor fossile Tintengranula entdeckt hatten. Trotzdem oft seltenen Fundstücken Proben zu entnehmen und diese
überwältigte mich der Anblick. Später untersuchte ich zur Untersuchung unter dem Rasterelektronenmikroskop
noch viele Fossilien von Kopffüßern aus verschiedensten genügend fein zu zerschneiden. Bestens für meine Zwecke
Zeiten und von diversen Orten. Und stets waren die Pig- geeignete Versteinerungen liefert die jütländische Fur/Olst-
mentkörnchen bestens erhalten, selbst noch nach Hunder- Formation. Es handelt sich um eine mächtige Kalkstein-
ten von Jahrmillionen. schicht im Limfjord, die fast 55 Millionen Jahre zurück-
Irgendwann kam mir die Idee, dass Melanin – genauer reicht und wunderbare Vogelfossilien mitsamt Federn birgt.
gesagt die melaninhaltigen Strukturen – auch bei anderen Der Kurator für Wirbeltierfossilien des Geologischen Muse-
fossilen Organismen überdauert haben könnte, vielleicht ums in Kopenhagen war freundlicherweise bereit, mir von
sogar bei Dinosauriern. Je nach seiner Beschaffenheit, einem kleinen Kalksteinblock mit einem Vogelschädel darin
Zusammensetzung und Menge bewirkt das Pigment die ein Stück zur Verfügung zu stellen. Das Fossil lässt im
rötliche, braune, graue oder schwarze Tönung von Haaren, Bereich der Augen dunkle Verfärbungen erkennen und
Haut, Federn und Augen oder lässt Vogelgefieder metal- weist außerdem um den Schädel einen dunklen »Kranz«
lisch schillern, also abhängig vom Blickwinkel in anderen von Federabdrücken auf.
Farben glänzen. Allerdings glaubten Paläontologen bis Ich hatte viel Fachliteratur durchstöbert, um mir ein Bild
dahin, dass es die Fossilisation kaum jemals überstanden davon zu machen, wie Melanin in Federn heutiger Vögel
hat, schon gar nicht bei Wirbeltieren. Nur von ein paar wir- unter dem Mikroskop aussieht. Melanozyten genannte
bellosen Tieren kannte man einzelne Gegenbeispiele. spezialisierte Zellen synthetisieren das Pigment in beson-
Daher beruhte die Kolorierung von Zeichnungen und deren Kompartimenten, den zirka 0,5 bis 2 Mikrometer
Nachbildungen der Dinosaurier – wie auch anderer ausge- langen Melanosomen. Darin bleibt der Farbstoff normaler-
storbener Wirbeltiere – bis vor einigen Jahren auf reiner weise auch später eingeschlossen, wenn er an andere
Fantasie. Manche Künstler gaben ihnen gedeckte und Zellen weitergegeben wird.
Solche Strukturen hatte ich im Elektronenmikroskop
erkannt, als ich mir die fossile Tinte ansah. Von den Mela-
nosomen gibt es im Wesentlichen zwei Formen. Ein läng-
lich wurstförmiger Typ bildet Eumelanin. Dieses ergibt
AUF EINEN BLICK schwarz, da es alle Lichtwellenlängen absorbiert, und
FOSSILE FARBEN steckt etwa in Tintenfischtinte und in Rabenfedern. Kürze-
re, rundere Melanosomen produzieren Phäomelanin, das
UNSICHTBAR
Psittacosaurus besaß bis zur
Schwanzspitze hin einen dunklen
Rücken und helleren Bauch. Tiere
mit solch einer »Gegenschat
tierung« verschmelzen optisch
mit dem Hintergrund. Die Me-
laninverteilung des untersuchten
Fossils lässt annehmen, dass
dieses Tier in diffusem Licht leb-
te, etwa im Wald.
Psittacosaurus
1 2 3
Mantel und einen hellen Bauch – Menge über die Lebensweise ausgestorbener Tiere. So
galt Microraptor wegen seiner großen Augenhöhlen bisher
ein roter Dinosaurier als nachtaktiv. Das passt allerdings nicht zu seinem chan-
gierenden Gefieder. Ein schillerndes Federkleid ist heute
eher für tagaktive Arten typisch, während das von Nacht-
cheng Zhang von Institut für Wirbeltier-Paläontologie und vögeln in der Regel stumpf wirkt. Die Prachtfärbung in
Paläoanthropologie in Peking und Michael J. Benton von Rot, Schwarz, Weiß und Grau von Anchiornis wiederum
der University of Bristol. Die Kollegen hatten in diversen spricht dafür, dass die kleinen Saurier sie einsetzten,
130 Millionen Jahre alten Vogel- und Dinosaurierfossilien um anderen zu imponieren, zum Beispiel um Paarungs-
aus China versteinerte Melanosomen gefunden und deren partner zu gewinnen.
Aussehen bestimmt. Dabei stießen sie auf eine rötlich und
weiß gemusterte Art: Sinosauropteryx, der ein flaumiges Fossile Augenpigmente
Federkleid trug, hatte einen geringelten Schwanz, einen enthüllen das Geheimnis des Tully-Monsters
dunklen Mantel und einen hellen Bauch. Er war der erste Des Weiteren haben erhaltene Melanosomen es schon
Dinosaurier, der sich als rotbraun entpuppte. ermöglicht, rätselhafte fossile Organismen einem Tier-
Seit diesen ersten Arbeiten haben wir die Farbeigen- stamm zuzuordnen. 2016 halfen Befunde von Kollegen und
schaften von Hunderten von Federn zusammengetragen. mir dabei, das bizarre Tully-Monster (Tullimonstrum) bei
Wir wissen nun auch, wie die Melanosomen eines farblich den Wirbeltieren, in die Nähe der urtümlichen Neunaugen
schillernden Gefieders aussehen, das etwa für Kolibris oder zu platzieren. Das erste Exemplar fand der Fossilsucher
Pfauen so typisch ist. Die Einschlüsse sind in dem Fall oft Francis Tully 1955 in Illinois. Das rund 30 Zentimeter lange
besonders lang, manchmal auch hohl oder abgeflacht. Von Tier hatte im Karbon vor 300 Millionen Jahren gelebt. Sein
ihrer Anordnung hängt es ab, in welchen Farbnuancen die eigenartiges Aussehen – ein wurmartiger Körper mit
Federn je nach Lichteinfall und Blickwinkel irisieren. Be- Flossenschwanz, dazu Stielaugen und ein sehr langer
stimmte Konfigurationen bedingen ein Changieren, weil sie Rüssel sowie ein großes, klauenförmiges, zahnbesetztes
das Licht entsprechend unterschiedlich brechen: Bei einer Maul – bereiteten den Systematikern Schwierigkeiten
so genannten Dünnschichtinterferenz passiert das Licht in (siehe auch Spektrum Mai 2016, S. 7). Manche hielten es für
einem bestimmten Winkel eine dünne Schicht und wird einen Verwandten der Mollusken – also der Weichtiere.
dicht dahinter in einem anderen Winkel reflektiert. Ähnli- Andere stuften es als Ringelwurm ein, einige als Faden-
ches kennt man von Seifenblasen und Ölfilmen. wurm oder als einen Vetter von Krebsen, Asseln und
Schon 2009 entdecken wir, dass eine 49 Millionen Jahre Insekten. Wir haben bei mehreren der Fossilien die Mela-
alte versteinerte Vogelfeder aus der Grube Messel bei nosomen untersucht, die in der Netzhaut der Augen erhal-
Darmstadt einst verschiedenfarbig schillerte. Bei diesem ten waren. Zwar schützen die verschiedensten Tiere ihre
Fossil vom Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt liegen empfindliche Netzhaut mit Melaninpigmenten. Doch die
die Melanosomen tatsächlich noch in ihrer ursprünglichen spezielle Schichtung aus bällchenförmigen und länglichen
speziellen Formation, die ein Changieren erlaubte. Sie Melanosomen, wie wir sie beim Tully-Monster fanden, ist
bildeten in den feinsten Federstrahlen eine dichte, glatte nur den Wirbeltieren eigen.
Schicht – jedoch nur am äußersten Rand der Feder und In anderen Fällen offenbaren fossile Pigmente Bezie-
dort lediglich an deren Oberseite, also allein da, wo keine hungen zwischen verschiedenen Tierarten, sogar Räuber-
anderen Federn die irisierende Farbe überdeckten. Beute-Konstellationen. Den Insekten dienen auffallende
Bald darauf fanden wir auch bei einem klassischen Farben und Muster nur selten zum Partnerfinden, sondern
Dinosaurier Merkmale, die Anzeichen für ein Irisieren sein meistens zum Abschrecken von Raubfeinden. Besonders
dürften. Der krähengroße Microraptor aus China trug an markant sind die manchmal recht großen Scheinaugen,
Armen und Beinen Flügel. Er war entfernt verwandt mit die heutzutage wohl vor allem plötzlich anfliegende Vögel
Sonnensystem: Krawall in der PFC: Vorsicht, Trinkwasser! • Arsen: Merken wir uns von Hand notierte Alkoholsucht: Krankheit, keine
Kinderstube • Archäometrie: Vergiftete Brunnen • Xenohormone: Dinge besser als getippte? • Warum Charakterschwäche • Mit Ayahuas-
Archäologie aus der Luft • Antarktis: Störenfriede im Hormonhaushalt • vergessen wir die ersten Lebensjah- ca auf Seelenreise • Halluzinogene
Ozean in Aufruhr • Energiepolitik: Schwefelwasserstoff: Giftgas mit re? • Zeugen: Dem Gedächtnis- Pilze: Wem droht ein Horrortrip? •
Unsicherheitsfaktor Indien • Fern- Heilkraft • Pflanzengifte: Was dich schwindel auf der Spur • Wie wir Marihuana: Schädigt Kiffen das
erkundung: Satellitengestützte Fossi- nicht umbringt … • Biowaffen: Die besser lernen • Der mysteriöse Fall Gehirn doch nicht? • Der Alchemist
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wöhnlich rekonstruieren Paläontologen das Umfeld eines dieses Dinosauriers, das wir mit Hilfe des britischen Paläo-
ausgestorbenen Tiers anhand von anderen Tier- und künstlers Robert (Bob) Nicholls erstellten. Die Studie
Pflanzenfossilien, die sie am selben Ort entdecken. Mitun- ergab, dass der Übergang vom dunkleren zum helleren
ter führt das aber in die Irre, denn manche Versteinerung Bereich ziemlich weit unten an Bauch und Schwanz saß.
liegt nicht dort, wo sich das Tier eigentlich aufhielt. Unser Ein zweites gleiches Modell malten wir grau an und
Psittacosaurus-Exemplar etwa fand sich in den Sedimen- fotografierten es unter verschiedenen Tageslichtbedingun-
ten eines früheren Sees. Der Dinosaurier ist aber mit gen. So simulierten wir die Schattenbildung am Körper bei
Sicherheit kein Wasserbewohner gewesen, sondern nur strahlendem Sonnenschein oder starker Bewölkung, auf
irgendwie dorthin geraten. freiem Feld oder im dichten Nadelwald. Dann kehrten wir
Cuthill und seine Mitarbeiter erforschen Gesetzmäßig- die hellen und dunklen Felder auf den Bildern um. Das
keiten der Gegenschattierung bei Huftieren. Bei denen ergab die jeweils ideale Gegenschattierung für dieses Tier
variiert die Ausprägung von Art zu Art. Zwar ist gewöhn- unter verschiedenen Lichtverhältnissen. Wir mussten
lich der Rücken von beispielsweise Antilopen, Kamelen, diese Befunde nun nur noch mit der wirklichen Melanin-
Schweinen, Nashörnern und Pferden dunkler als der verteilung vergleichen. Resultat: Augenscheinlich gewähr-
Bauch, doch der Kontrast ist unterschiedlich stark, und te diffuses Licht, wie es in einem geschlossenen Wald
auch der Übergang zur Bauchfärbung verläuft mal scharf, herrscht, dem kleinen Dinosaurier die beste Tarnung.
Das neue Forschungsfeld ist noch längst nicht ausge-
schöpft. Was uns die Melanosomen mit ihren Melaninen
über Farben ausgestorbener Organismen erzählen, hat uns
Mehr Wissen auf im letzten Jahrzehnt zwar schon einen großen Schritt
vorangebracht. In Fossilien finden sich aber manchmal
Spektrum.de noch andere Farbstoffe und Pigmente, zum Beispiel Karo-
Unser Online-Dossier zum Thema tinoide für leuchtende Rot- und Gelbtöne, oder Porphyrine
finden Sie unter (zu denen der Blutfarbstoff Hämoglobin zählt) für unter
spektrum.de/t /dinosaurier anderem Grün, Rot und Blau. Karotinoide etwa wurden bei
BASTOS / STOCK.ADOB
E.COM
mehrere Milliarden Jahre alten fossilen Bakterien nachge-
wiesen. Porphyrine haben sich bei einer Stechmücke
erhalten, die vor 46 Millionen Jahren Blut gesaugt hatte,
mal allmählich und sitzt bald höher an der Flanke, bald und auch in 66 Millionen Jahre alten Eiern eines Ovirapto-
tiefer. Die Forscher interessiert, wie das alles mit den rosauriers. Manche der entdeckten fossilen Pigmente
Lichtbedingungen in der Umwelt der jeweiligen Art zu- kennt man von modernen Organismen nicht einmal, etwa
sammenhängt. Die Helligkeit der Sonneneinstrahlung bestimmte Farbmoleküle von 300 bis 150 Millionen Jahre
ändert sich zum einen mit dem Breitengrad, zum anderen alten Seelilien und Algen.
nimmt die Dichte der Vegetation darauf Einfluss. Das Bestimmt werden wir bei den Rekonstruktionen auch
spiegelt sich tatsächlich gut in Cuthills Daten. Grob gesagt an Grenzen stoßen, denn manche Farbinformationen
wirft direktes Sonnenlicht, das senkrecht von oben ein- dürften über die Jahrmillionen generell verloren gegangen
trifft, bereits ziemlich hoch an den Körperseiten eine sein. Außerdem sind Fossilien mit organischen Resten so
scharfe Schattengrenze. Viele Huftiere, die unter solchen selten und kostbar, dass man abwägen muss, ob man
Bedingungen leben, haben eine dunklere Rückendecke, ihnen überhaupt Proben entnimmt und diese aggressiv
die teils nur bis etwa zur Seitenmitte reicht. Unmittelbar chemisch behandelt. Doch auch die Nachweismethoden
darunter sind die Flanken und der Bauch beinahe über- werden sich weiter verbessern und verfeinern – die alte
gangslos blass, häufig sogar fast weiß. Ein gutes Beispiel Tierwelt bekommt nun Farbe.
dafür ist der nordamerikanische Gabelbock, ein etwas
mehr als rehgroßer Präriebewohner. Auch viele Antilopen
QUELLEN
der afrikanischen Savannen passen in dieses Schema.
Dagegen herrscht im dichten Wald und Gebüsch ge- Smithwick, F. M. et al.: Countershading and Stripes in the Thero-
pod Dinosaur Sinosauropteryx Reveal Heterogeneous Habitats in
dämpftes, diffuses Licht, das in alle Richtungen streut. the Early Cretaceous Jehol Biota. In: Current Biology 27, S. 3337–
Dadurch fängt die Schattengrenze tiefer am Körper und 3343, 2017
mit einer breiten Übergangszone an. Entsprechend be-
Vinther, J. et al.: The Colour of Fossil Feathers. In: Biology Letters 4,
ginnt die hellere Bauchpartie bei im Wald und Dickicht S. 522–525, 2008
lebenden Huftieren, wie etwa beim Europäischen Reh oder
Vinther, J. et al.: 3D Camouflage in an Ornithischian Dinosaur.
beim Rothirsch, oft weit unten, setzt sich nicht In: Current Biology 26, S. 2456–2462, 2016
so scharf und unmittelbar gegen die Rückenfärbung ab
und wirkt teils sogar relativ dunkel.
LITERATURTIPP
Welche Form von Gegenschattierung nutzte Psittaco
saurus? Um das festzustellen, haben wir zunächst am Brennpunkte der Evolution. Spektakuläre Funde geben neue
Einblicke in die Tierwelt der Urzeit. Spektrum der Wissenschaft
Fossil die Verteilung der Melanine in der Körperoberfläche Spezial: Biologie, Medizin, Hirnforschung 4/2016
mit speziellen Aufnahmeverfahren erfasst. Das Muster Mit Artikeln zur Evolution der Dinosaurier und der Vögel sowie zu
projizierten wir dann auf ein lebensgroßes, exaktes Modell neuesten Untersuchungsmethoden an Fossilien
spektrum.de/artikel/1520781
VLAD61_61 / FOTOLIA
VLAD61_61 / FOTOLIA
FOCUS 32/2017
Menschen im
CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN
LIESEGANGSCHE RINGE –
STRUKTURBILDUNG IM
REAGENZGLAS
Im Jahr 1896 entdeckte Raphael Eduard Liesegang erstmals ein Bei-
spiel für Selbstorganisation in der Chemie. Erst ein halbes Jahrhun-
dert später gelang es, solche Erscheinungen umfassend zu erklären.
Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre Didaktik am Institut für Chemie
der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist Abteilungsleiter und
Lehrstuhlinhaber in der Abteilung Chemie der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
spektrum.de/artikel/1520783
Überall in der Tier- und Pflanzenwelt treten frappie- Diese Entdeckung war so ungewöhnlich, dass drei
rende regelmäßige Strukturen auf – man denke nur an Zeitschriftenredaktionen den Bericht des Forschers darü-
die Symmetrie eines Ahornblattes oder die Streifen im ber ablehnten. Denn obwohl periodisches Verhalten aus
Zebrafell. Aber auch in der unbelebten Natur sind solche der Natur bekannt war, hielten viele Chemiker ihre Diszip-
Muster zu finden, seien es die Rillen im Sandwatt, die lin damals für in wundersamer Weise gefeit gegen derlei
fraktalen Verästelungen von Eiskristallen oder die körnige Phänomene. Nach allgemeiner Ansicht sollte eine Reaktion
Struktur der Sonnenoberfläche, fachsprachlich Granulation so lange stetig weiterlaufen, bis die Ausgangssubstanzen
genannt. Im Reagenzglas würde man derlei dagegen verbraucht waren oder sich ein thermodynamischer
kaum erwarten. Und doch ist schon seit Langem bekannt, Gleichgewichtszustand eingestellt hatte. Zwar waren auch
dass es auch bei chemischen Reaktionen zu einer räumli- vor Beloussows Entdeckung bereits periodische Erschei-
chen und zeitlichen Selbstorganisation kommen kann. Für nungen in der Chemie beobachtet worden. Doch galten
solche Erscheinungen hat der russisch-belgische Physiko- sie als nicht reproduzierbare Laborkuriositäten, die von
chemiker Ilya Prigogine (1917–2003) den Ausdruck dissipa- äußeren Störungen im Verlauf der Umsetzung herrührten.
tive Strukturen geprägt. Als Pionier auf dem Gebiet der Tatsächlich schien der zweite Hauptsatz der Thermo
Nichtgleichgewichtsthermodynamik erhielt er 1977 den dynamik oszillierende Reaktionen zu verbieten. Demnach
Nobelpreis für Chemie. kann die Entropie eines chemischen Systems, die ein Maß
für seinen Ordnungszustand ist, immer nur zunehmen.
Eine Entdeckung, die niemand glauben wollte Das heißt, dass Reaktionen stets zu einer größeren Unord-
In dissipativen Systemen können zeitliche, raumzeitliche nung unter den beteiligten atomaren Bestandteilen führen
und räumliche Muster auftreten. Das bekannteste Beispiel sollten. Würden sie im periodischen Wechsel vorwärts und
für eine Reaktion, die in einem periodischen Zeittakt rückwärts ablaufen, nähme der Ordnungsgrad und damit
abläuft, beruht auf einer eher zufälligen Entdeckung des die Entropie im Widerspruch zum zweiten Hauptsatz der
russischen Chemikers und Biophysikers Boris Pawlowitsch Thermodynamik zwischenzeitlich immer wieder ab.
Beloussow (1893–1970) um 1950. Bei der Oxidation von Diesen scheinbaren Widerspruch löste erst Prigogine
Citronensäure mit Kaliumbromat und einem Cer(IV)-Salz in auf. Er erkannte, dass die klassische Thermodynamik nur
schwefelsaurer Lösung bemerkte er, dass die gelbe Farbe für abgeschlossene Systeme gilt, die sich nahe an ihrem
des Cer(IV)-Ions rhythmisch verschwand und wieder Gleichgewichtszustand befinden. Gleichgewichtsferne,
auftauchte. offene Systeme, die beständig Energie und Materie mit
der Umgebung austauschen, können dagegen quasi En- nach dem Kolloidchemiker Raphael Eduard Liesegang
tropie exportieren. Das erlaubt ihnen, ihren Ordnungsgrad (1869–1947), der in der Literatur oft als Sonderling be-
vorübergehend zu erhöhen und so in einem zeitlichen schrieben wird. Er war in der Tat ein eigenwilliger, aber
Rhythmus zu pulsieren, ohne den zweiten Hauptsatz zu sehr erfolgreicher Forscher mit ausgeprägten künstleri-
verletzen. schen Neigungen.
Beloussow brachte seinen Bericht schließlich in einem
Tagungsband über Strahlungsmedizin unter. Wahrschein- Wissenschaftler, Maler und Dramatiker
lich wäre die Publikation in der Versenkung verschwunden, Liesegang entstammte einer alteingesessenen Fabrikan-
hätte nicht der Biophysiker Simon E. Schnoll von der Lo- tenfamilie im Ruhrgebiet – schon sein Großvater hatte
monossow-Universität in Moskau seinen Mitarbeiter Ana- Fotokameras sowie Fotopapier (Albuminpapier) herge-
toli Markowitsch Schabotinski (1938–2008) mit der genaue- stellt. 1869 in Elberfeld (heute Wuppertal) geboren, interes-
ren Untersuchung des ungewöhnlichen Phänomens beauf- sierte er sich bereits in der Schule, die er nur mit Mühe
tragt. Dieser erkannte unter anderem, dass das Cer(IV)-Ion absolvierte, für Fotografie und die ihr zu Grunde liegenden
als Elektronenüberträger fungiert. Er ersetzte es daraufhin chemischen Prozesse. Zunächst wollte er Maler werden,
durch ein Eisensalz, was einen periodischen Farbumschlag entschied sich unter väterlichem Druck aber um und
zwischen Rot und Blau bewirkte. In der fachwissenschaft begann 1888 in Freiburg Chemie zu studieren. Obwohl er
lichen Literatur wird die Reaktion seither – gemäß der eng- so gut wie keine Vorlesung besuchte, verfasste er in dieser
lischen Transkription der russischen Namen – als Belousov- Zeit bereits wissenschaftliche Zeitschriftenartikel und
Zhabotinsky- oder kurz BZ-Reaktion bezeichnet (Spektrum Bücher, unter anderem über lichtempfindliche organische
Mai 1980, S. 131, und Mai 1983, S. 98). Silbersalze sowie über das »electrische Fernsehen«.
Andere Forscher entwickelten weitere Varianten dieses Im Jahr 1892 kehrte Liesegang ohne Abschluss in die
chemischen Oszillators. So kombinierten ihn Thomas S. väterliche fotochemische Fabrik zurück. Dort forschte er
Briggs und Warren C. Rauscher an der Galileo High School weiter und übernahm nach dem Tod des Vaters mit zwei
in San Francisco mit einer ebenfalls periodisch ablaufen- Brüdern die Leitung des Unternehmens. Ab 1908 löste er
den Reaktion – der Reduktion von Iodat (IO3-) durch Was- sich von seinen Pflichten und betätigte sich fortan als
serstoffperoxid (H2O2) –, die William C. Bray (1879–1946) reiner Grundlagenforscher. Dabei machte er auch ohne
schon 1921 entdeckt hatte. Dadurch kommt es zu einem akademischen Titel eine beeindruckende Karriere, an
sehr eindrucksvollen oszillierenden Farbumschlag von deren Ende er 1937 sogar die Leitung des Instituts für
farblos über goldgelb nach blau. Eine umfassende Theorie Kolloidforschung in Frankfurt am Main übernahm.
zum Mechanismus der BZ-Reaktion stellten 1972 Richard Bis zu seinem Tod verfasste Liesegang über 800 Publi-
J. Field, Endre Körös und Richard M. Noyes von der Uni- kationen. Er sprach sieben Fremdsprachen (darunter
versity of Oregon auf. Malayisch) und schrieb etliche Dramen. Angesichts seiner
Auch eine raumzeitliche Strukturbildung lässt sich bei Vielseitigkeit auf geistiger Ebene wie in praktischen
der BZ-Reaktion beobachten. Eine wässrige Lösung, Dingen bezeichneten ihn seine Freunde gern als »polyvari-
welche die Ausgangssubstanzen in etwas anderen Kon- ables System«. Liesegang selbst resümierte in seiner
zentrationsverhältnissen enthält, erscheint in einer Glas- Autobiografie: »Ich bin ein freier Student geblieben.«
schale anfangs einheitlich rot. Doch plötzlich treten kleine Das nach ihm benannte, verblüffende Phänomen ent-
blaue Punkte auf, von denen im weiteren Verlauf kreisför- deckte der Forscher im Jahr 1896 während seiner Untersu-
mige, blaue Wellenfronten ausgehen und sich stetig chungen zum Wachstum von Kristallen in Gelen. Bei
ausdehnen (Bild oben). einem Experiment platzierte er einen Tropfen Silbernitrat-
Für die Entstehung räumlicher Muster schließlich bilden lösung auf eine erstarrte Gelatinelösung, der er Kalium
die Liesegangschen Ringe ein eindrucksvolles Beispiel, dichromat zugesetzt hatte. Die Salze in beiden Lösungen
+
das wir hier näher betrachten möchten. Benannt sind sie sind dissoziiert: Die erste enthält Silber- (Ag ) und Nitrat-
+ 2 2– –12 3 3
KL = c(Ag ) ∙ c(CrO4 ) = 1,9*10 mol /L
+
Der Faktor c(Ag ) wird quadriert, weil in der Reaktions-
gleichung eine »2« vor den Silber-Ionen steht. Sobald
das Produkt der Konzentrationen beider Ionen gemäß der
obigen Gleichung den Wert von KL überschreitet, fällt
Silberchromat aus. Da dieser Wert sehr klein ist, geschieht
das fast sofort, und das obige Gleichgewicht liegt weit auf
der rechten Seite.
Während der Tropfen in die Gelatineschicht diffundiert,
entsteht also zunächst eine kreisförmige Zone aus rotem
Silberchromat. Doch dann passiert etwas Überraschendes:
Beim Auftropfen von Silbernitratlösung auf eine erstarrte, Der Niederschlag in der Gelatine breitet sich nicht kontinu-
wässrige Gelatineschicht, welche Chromat-Ionen enthält, ierlich aus. Stattdessen bilden sich zahlreiche konzentri-
entstehen Ringe aus rotem Silberchromat (links). Sie werden sche Kreise aus Silberchromat mit farblosen Zwischenräu-
nach ihrem Entdecker als Liesegangsche Ringe bezeichnet. men (Bild links). Der Abstand zwischen den Ringen nimmt
Im Reagenzglas bilden sich mit den gleichen Substanzen far- mit der Entfernung vom Mittelpunkt zu. In den Zwischen-
bige Bänder (rechts). räumen ist die anfangs durch die Chromat-Ionen gelb
schimmernde Gelatine entfärbt. Liesegang selbst bezeich-
nete die Ringe als A-Linien. Erst später erhielten sie den
– +
Ionen (NO3 ), die zweite Kalium- (K ) und Dichromat-Ionen Namen ihres Entdeckers.
2–
(Cr2O7 ). Letztere reagieren mit Wasser teilweise zu Chro-
2–
mat-Ionen (CrO4 ). Treffen diese nun auf Silber-Ionen, fällt Wie Übersättigung
rotes, schwer lösliches Silberchromat aus. Die zugehörige zu periodischen Farbmustern führt
Reaktionsgleichung lautet (die Symbole »aq« und »s« be- Wie lässt sich dieses frappierende Muster erklären? Dazu
deuten »in Wasser gelöst« beziehungsweise »fest«): gibt es zahlreiche Theorien. Viele haben einen Grundge-
danken gemeinsam, den Wilhelm Ostwald (1853–1932)
2–
2 Ag+(aq) + CrO4 (aq) Ag2CrO4(s) schon 1897 in seiner Übersättigungstheorie formulierte
Silber-Ionen + Chromat-Ion Silberchromat und der noch heute im Grundsatz als zutreffend gilt.
Demnach sorgen die Silber-Ionen, während sie vom Auf-
Allerdings vereinigen sich nicht alle Silber- und Chro- tropfpunkt der Silbernitratlösung nach außen diffundieren,
mat-Ionen zum roten Silberchromat; ein kleiner Teil bleibt für die Ausfällung von Silberchromat. Damit erniedrigen
in Lösung. Wie der Doppelpfeil in der obigen Reaktions- sie im Umkreis die Konzentration an Chromat-Ionen,
gleichung andeutet, stellt sich nämlich ein Gleichgewicht wodurch ein Konzentrationsgefälle zu weiter außen
zwischen den Ausgangssubstanzen und dem Reaktions- gelegenen Regionen entsteht. Von dort wandern deshalb
produkt ein. Entscheidend für die Lage dieses Gleichge- Chromat-Ionen ein. Das aber lässt die umliegende Zone an
wichts ist das so genannte Löslichkeitsprodukt (KL). Dabei solchen Ionen verarmen. In diesem Bereich wird das
MATTHIAS DUCCI
Hübsche Liesegang-Bänder
lassen sich auch mit an-
deren Reagenzien erzeu-
gen. In den hier gezeigten
Beispielen bestehen sie
aus Cobalthydroxid, Man-
ganhydroxid, Bleiiodid
und Bleihydroxid (von links
nach rechts).
MATTHIAS DUCCI
sobald die Silber-Ionen auf ihrem weiteren Weg nach zugänglichen
außen dorthin gelangen. Erst dahinter kommt es wieder Chemikalien
zur Ausfällung von Silberchromat, und der geschilderte können auch
Vorgang wiederholt sich. Dazu passt die Beobachtung, chemische Laien
dass sich die gelbe Gelatineschicht zwischen den Ringen daheim Liese-
entfärbt. gang-Bänder aus
Die Übersättigungstheorie erklärt auch, warum der Magnesiumhy
Abstand zwischen den Ringen nach außen zunimmt. droxid (links)
Demnach wird das Löslichkeitsprodukt von Silberchromat und Calciumcar-
erst in immer weiterer Entfernung vom Auftropfpunkt bonat (rechts)
erneut überschritten, weil sich die Konzentration der herstellen.
nachdiffundierenden Silber-Ionen durch wiederholte
Ausfällung des Salzes stetig verringert.
Allerdings reicht die Übersättigungstheorie allein nicht
aus, um das Konzentrationsgefälle an Chromat-Ionen
hinter einem gebildeten Ring zu erklären. Als weiterer
Faktor kommt hinzu, dass das ausgefallene Silberchromat
als Barriere wirkt, welche die nachfolgenden Silber-Ionen fälle, so dass im zeitlichen Mittel mehr Ionen aus der
überwinden müssen. Das liefert die notwendige Zeit, Umgebung eines kleinen Kristalls in Richtung des größe-
damit sich der Konzentrationsgradient bilden kann. ren Nachbarn diffundieren als umgekehrt. Als Folge davon
Analoge periodische Strukturen lassen sich auch im werden aus dem Gleichgewicht zwischen fester und
Reagenzglas erzeugen. Dazu gießt man eine mit Kalium- gelöster Phase des kleineren Kristalls ständig Ionen ent-
chromat versetzt Gelatinelösung hinein und überschichtet fernt, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Auf diese Weise
sie nach dem Erstarren mit einer Silbernitratlösung. An der entstehen Ansammlungen immer größerer Kristalle.
Grenze zwischen beiden fällt sofort rotes Silberchromat Diskontinuierliche Fällungserscheinungen sind übrigens
aus. Diese Niederschlagszone dehnt sich in den folgenden keineswegs auf Gele beschränkt. Man muss nur eine
Minuten etwa einen halben Zentimeter weit in die Gelatine mechanische Durchmischung der Lösungen verhindern,
hinein aus. Doch nach einer halben Stunde setzt sich die um zu gewährleisten, dass die Umsetzungsprodukte an
Ausfällung nicht mehr kontinuierlich fort. Vielmehr entste- Ort und Stelle bleiben. Dies ist zum Beispiel in dünnen
hen unter der anfänglichen, gleichförmigen Niederschlags- Kapillarröhren (mit Durchmessern von 0,1 bis 0,3 Millime-
zone deutlich voneinander abgesetzte rote Schichten (»Lie- tern) der Fall. In ihnen lassen sich deshalb nach dem
segang-Bänder«). Diese liegen zunächst noch sehr eng gleichen Prinzip ganz ohne Gelatine geschichtete Struktu-
zusammen, doch mit fortschreitender Versuchsdauer ren erzeugen.
nimmt der Abstand zwischen ihnen wie bei den Liese- Rhythmische Fällungen treten sogar bei Reaktionen
gangschen Ringen stetig zu. zwischen gasförmigen Stoffen auf, so etwa bei der Bil-
dung von festem Ammoniumchlorid aus Chlorwasserstoff
Die Großen wachsen auf Kosten der Kleinen und Ammoniak, wenn man beide Gase in einem 50 Zenti-
Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass solche Muster bei meter langen Glasrohr mit vier Millimeter Durchmesser
vielen Elektrolytpaaren auftreten, die beim Mischen einen gegeneinander diffundieren lässt. Die zugehörige Reakti-
schwer löslichen Niederschlag bilden (Bild links unten). onsgleichung lautet (das Symbol (g) steht für gasförmig):
Manchmal entstehen allerdings statt kompakter Bänder
kristalline Schichtungen, die nicht als Diffusionsbarriere HCl(g) + NH3(g) NH4Cl(s)
wirken können. Dieses Phänomen lässt sich mit der »Ost- Chlorwasserstoff + Ammoniak Ammoniumchlorid
wald-Reifung« erklären, einer Theorie, die Ostwald eben-
falls im Zusammenhang mit der von Liesegang entdeckten Chemische Strukturbildung im Heimversuch
Strukturbildung im Jahr 1900 aufstellte. Demnach enthält Laien können die Chemikalien für die bisher beschrie
der Niederschlag, sofern er nicht amorph (strukturlos) ist, benen Liesegang-Strukturen normalerweise nicht erwer-
unterschiedlich große Kristalle, die in ihrem Wachstum ben. Das ist auch gut so, denn einige Substanzen sind
konkurrieren. potenziell gesundheitsschädlich. So ist Kaliumdichromat
Laut Ostwald wachsen große Exemplare schneller als umweltgefährdend und giftig. Es kann Krebs erzeugen,
kleine – wofür Walter Kossel (1888–1956) und Iwan Stran- das Erbgut verändern und die Fortpflanzung beeinträch
ski (1897–1979) mit ihren kinetischen Betrachtungen des tigen. Dennoch besteht auch für Nichtchemiker die Mög-
Vorgangs erst Jahre später eine theoretische Begründung lichkeit, im Heimversuch Liesegang-Bänder herzustellen.
lieferten. Das führt letztlich dazu, dass sich die kleinen Zwei entsprechende Experimente möchten wir hier be-
Kristalle auflösen und nur die großen übrig bleiben. Deren schreiben. Für das erste benötigen Sie ein Reagenzglas
unmittelbare Umgebung verarmt durch das raschere mit Stopfen, zwei Bechergläser (0,1 Liter), Haushaltsgela
Wachstum nämlich schneller an verfügbaren Ionen als tine und Salmiakgeist (neunprozentige Ammoniaklösung
die der kleineren. Dadurch entsteht ein Konzentrationsge- aus dem Baumarkt) sowie Magnesiumchlorid-Hexahydrat
2+ 2–
(MgCl2 ∙ 6 H2O). Dieses Salz ist Hauptbestandteil bestimm- Ca (aq) + CO3 (aq) CaCO3(s)
ter Badezusätze, wie den im Internet erhältlichen »Magne- Calcium-Ion + Carbonat-Ion Calciumcarbonat
sium Flakes« von Zechstein – eine irreführende Bezeich-
nung, da es sich natürlich nicht wirklich um Magnesium- Liesegang-Ringe und -Bänder lassen sich aber nicht nur
späne handelt, die mit dem Badewasser unter Hitzeent- künstlich erzeugen, sondern treten offenbar auch in der
wicklung zu einer ätzenden Lauge reagieren würden. Natur auf. Gebänderte Strukturen, die ihnen stark ähneln,
Zunächst lösen Sie 1,5 Gramm Gelatine unter Erwärmen finden sich vor allem in der Geologie. Als Beispiel seien
und Rühren in 50 Milliliter Wasser. Anschließend nehmen Feuersteinschichten in Kreidefelsen genannt. Auch die
Sie 15 Milliliter der noch warmen Lösung und versetzen sie Achate und andere Minerale erinnern mit ihren charakte-
mit 0,25 Gramm Zechsteiner Magnesium-Flakes. Rühren ristischen konzentrischen Ringmustern an Liesegangsche
Sie das Gemisch, bis sich alles vollständig aufgelöst hat. Strukturen (Bild oben). Früher hielt man diese Erscheinun-
Dann gießen Sie die Flüssigkeit in das Reagenzglas und gen für das Ergebnis einer ungleichmäßigen Stoffzufuhr.
lassen die Gelatine erstarren – was schneller geschieht, Heutzutage überwiegt jedoch die Ansicht, dass Vorgänge
wenn Sie das Gefäß in den Kühlschrank stellen. Schließ- analog der Bildung von Liesegang-Mustern dafür verant-
lich überschichten Sie das Gel ein bis zwei Zentimeter wortlich sind.
hoch mit Salmiakgeist und verschließen das Reagenzglas In der Biologie kommen ebenfalls konzentrische Ringe
mit einem Stopfen. vor – zum Beispiel bei Bakterien- und Pilzkulturen, die auf
Im zweiten Experiment verfahren Sie analog, nehmen Agar in Petrischalen wachsen. Das lässt sich damit erklä-
aber statt der Magnesium-Flakes 0,2 Gramm Calcium ren, dass durch die Nahrungsaufnahme ein Konzentrati-
chlorid, das zum Beispiel als Adsorptionsmaterial in che- onsgradient entsteht, durch den das benachbarte konzent-
mischen Raumentfeuchtern enthalten ist. Zum Über- rische Gebiet an Nahrung verarmt. Dort findet deshalb
schichten dienen diesmal zwei bis drei Milliliter einer Lö- keine weitere Vermehrung statt. Erst in einer weiter ent-
sung von 0,5 Gramm Natriumcarbonat (»Haushaltssoda«, fernten Region gibt es wieder genug Nahrung, so dass
Na2CO3) in zehn Millilitern Wasser. hier die nächste Generation heranwächst.
In beiden Fällen entstehen – mitunter erst nach einigen
Tagen – im Reagenzglas periodische weiße Niederschläge, QUELLEN
die Liesegang-Bänder (siehe Bild S. 54). Im ersten Expe
Beneke, K.: Liesegang named in Literature. Kiel 2006.
riment bestehen sie aus Magnesiumhydroxid, wobei die Online unter: www.uni-kiel.de/anorg/lagaly/group/klausSchiver/
Hydroxid-Ionen aus der alkalischen Ammoniaklösung liesegangliterature-1.pdf
stammen (das Symbol »l« steht für »flüssig«): Deutsch, A. (Hg.): Muster des Lebendigen. Friedrich Vieweg &
Sohn, Braunschweig 1994
+ –
NH3(aq) + H2O(l) NH4 (aq) + OH (aq)
Ducci, M.: Periodische und chaotische Oszillationserscheinungen
Ammoniak + Wasser Ammonium-Ion + Hydroxid-Ion an Metallelektroden und elektrochemische Modellexperimente zur
Erregungsleitung an Nerven. Dissertation, Oldenburg 2000
2+ –
Mg (aq) + 2OH (aq) Mg(OH)2(s) Henisch, H. K.: Crystals in Gels and Liesegang-Rings. Cambridge
Magnesium-Ion + Hydroxid-Ionen Magnesiumhydroxid University Press, Cambridge 1988
Kuhnert, L., Niedersen, U. (Hg.): Ostwalds Klassiker der exakten
Im zweiten Experiment scheidet sich hingegen Calcium- Wissenschaften 272. Akademische Verlagsgesellschaft Geest &
carbonat aus: Portig, Leipzig 1987
K
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spektrum.de/artikel/1520785
Millionen Jahre haben sich die beiden Neutronenster- Solch ein Gamma-ray Burst (GRB) zählt zu den größten
ne in sicherem Abstand umkreist, dann geht alles ganz Katastrophen in einem an Katastrophen nicht gerade
schnell: Die Schwerkraft zwingt die Sternleichen in armen Kosmos: Binnen Sekundenbruchteilen setzt der
einen Walzer, der mit jeder Umdrehung etwas enger wird. Strahlenausbruch so viel Energie frei wie unsere Sonne in
Schließlich wirbeln die aberwitzig kompakten Kugeln fast ihrer gesamten Lebenszeit.
mit Lichtgeschwindigkeit umeinander. Kurz darauf krachen Schauplatz dieses Spektakels ist die Galaxie NGC 4993.
sie zusammen und verschmelzen zu einem noch schwe 130 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt erscheint sie
reren Masseklumpen, vermutlich einem Schwarzen Loch. auf Teleskopbildern als fahler Fleck am Südsternhimmel.
Auch im Umfeld dieses kosmischen Friedhofs geht es Bis zum 17. August 2017 dürften sie allenfalls ein paar
brachial zu. 1,7 Sekunden nach dem Zusammenstoß Berufsastronomen gekannt haben. Doch an diesem Tag
schießen zwei Bündel intensiver Gammastrahlung ins All. flackert plötzlich ein heller Punkt unweit des Zentrums der
Galaxie auf – das Licht des Gammastrahlenausbruchs, das
nach einer langen Reise die Erde erreicht hat.
Es ist der Startschuss für eine beispiellose Beobach-
AUF EINEN BLICK tungskampagne, die rund 70 Observatorien und Tausende
TANZ ZWEIER NEUTRONENSTERNE von Astronomen wochenlang in Atem halten wird. Am
Ende werden Wissenschaftler mit Hilfe von NGC 4993 zwei
1 Am 17. August 2017 erreichten die Gravitationswellen große Rätsel lösen. Und sie werden den 17. August als
zweier Neutronensterne, die vor 130 Millionen Jahren historischen Tag feiern – als Beginn eines neuen Zeitalters,
in der Galaxie NGC 4993 verschmolzen sind, die Erde. wenn es darum geht, kosmische Ereignisse zu deuten.
Zunächst aber übersehen die Forscher den Blitz aus
Die Galaxie NGC 4993 Am 17. August 2017 taucht in der 130 Millionen Licht-
jahre entfernten Galaxie NGC 4993 im Sternbild Was-
serschlange ein heller Punkt auf, der erst nach Wochen
wieder verblasst. Das Bild zeigt Aufnahmen des Hubb-
le-Teleskops.
NASA AND ESA (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1733N/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
/ CC BY 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0/LEGALCODE)
explodierende Weiße Zwerge
Nur Wasserstoff, Helium und
sterbende massearme Sterne
Spuren von Lithium entstanden
unmittelbar nach dem Urknall.
Schwerere Elemente bilden sich
durch Kernreaktionen im Innern
von Sternen oder bei Super
nova-Explosionen. Die wichtigs-
te Quelle für die schwersten verschmelzende Neutronensterne
Elemente sind verschmelzende
Neutronensterne, wie die
Beobachtung der Kilonova in
der Galaxie NGC 4993 belegt.
Seit Längerem haben die LIGO-Forscher gespannt auf nensternen ins All gefeuert werden. Zur selben Zeit wur-
ein anderes Ereignis gewartet, das ihnen früher oder den Wissenschaftler auch auf ein anderes Phänomen
später eigentlich ins Netz gehen müsste: Die Verschmel- aufmerksam, das auf den ersten Blick wenig mit diesen
zung zweier Neutronensterne. Sie verläuft gemächlicher Pulsaren zu tun zu haben schien: Im Jahr 1967 fingen
als der Zusammenstoß von Schwarzen Löchern; das Satelliten des US-Militärs Gammastrahlenblitze auf, die
Raumzeitbeben währt mehrere Minuten statt nur einiger nicht etwa auf Atomwaffentests zurückgingen, sondern
Dutzend Millisekunden. Für Astronomen ist solch ein Er- einen extraterrestrischen Ursprung haben mussten. Mit
eignis noch spannender als der Totentanz zweier Schwar- der Zeit wiesen Astronomen immer mehr dieser Gamma-
zer Löcher. Während Letztere in völliger Dunkelheit ver- ray Burts nach.
schmelzen, fluten kollidierende Neutronensternen das
Weltall mit elektromagnetischer Strahlung. Der längeren Gammaausbrüche
So weit zumindest die Theorie. Bis zum 17. August 2017 stammen von gigantischen Supernovae
konnte niemand mit Gewissheit sagen, was bei einem Schließlich erkannten die Forscher nicht nur, dass die
Neutronenstern-Rendezvous wirklich geschieht. Die ultra- Signale von außerhalb der Milchstraße stammen, sondern
kompakten Himmelsobjekte zählen seit Langem zu den auch, dass es zwei Typen von GRBs gibt. Manche Gamma-
großen Mysterien der Astrophysik. Sie entstehen, wenn strahlenausbrüche dauern etwa eine halbe Minute, andere
ein großer Stern in einer Supernova explodiert und der nur Sekundenbruchteile. Der Ursprung der längeren GRBs
Kern des Aschehaufens unter seiner eigenen Schwerkraft ist seit dem Jahr 2003 bekannt: Sie gehen auf extrem
zusammenstürzt. Übrig bleibt eine Art Zwischenstadium massereiche Sterne zurück, die ihren Kernbrennstoff auf-
zwischen Sonne und Schwarzem Loch: Neutronensterne gebraucht haben und in einer besonders heftigen Super-
bringen meist das ein- bis zweifache der Masse unseres nova explodieren, einer so genannten Hypernova.
Zentralgestirns auf die Waage, haben aber gerade mal Die kurzen Gammablitze blieben dagegen ein Rätsel.
einen Durchmesser von ungefähr 20 Kilometern, was etwa Sie ereignen sich auch in Regionen des Alls, in denen es
dem 100 000stel der Größe unserer Sonne entspricht. nur wenige extrem voluminöse Sterne gibt, was für einen
Dass die leuchtschwachen Kugeln nicht komplett in anderen Entstehungsmechanismus sprach. Wissenschaft-
sich zusammenfallen, lässt sich mit einer Überlegung des ler diskutierten im Lauf der Jahre zahlreiche Theorien. Mit
berühmten Physikers Wolfgang Pauli erklären. Demnach der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass nur sehr
können mehrere Neutronen oder andere subatomare wenige Ereignisse die gewaltigen Energiemengen freiset-
Partikel vom Typ der Fermionen nicht denselben quanten- zen könnten. Am wahrscheinlichsten schien vielen Phy
physikalischen Zustand einnehmen. Entsprechend wehren sikern die Verschmelzung zweier kompakter, großer Mas-
sie sich gegen eine zu starke Komprimierung. Erst die sen zu einem noch schwereren Objekt – dabei werden
2
Schwerkraft einer Masse von mehreren Dutzend Sonnen getreu Einsteins berühmter Formel E = mc gewaltige
überkommt diesen Gegendruck, wodurch eine Sternleiche Mengen Energie freigesetzt.
zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Neutronensterne boten sich hier aber erst auf den
Seit den 1960er Jahren ist klar, dass Neutronensterne zweiten Blick als Kandidaten an, denn für gewöhnlich sind
weit mehr als ein Hirngespinst sind: Damals spürten die Exoten Einzelgänger. Als Paar kommen sie im Grunde
Astrophysiker periodische Radiowellenpulse auf, die, wie nur dann vor, wenn zwei benachbarte Riesensterne nach-
sich herausstellen sollte, von schnell rotierenden Neutro- einander kollabieren und trotz der dabei auftretenden
Supernova
rote Riesensterne
Energieverlust Intensität
AXEL M. QUETZ / SUW-GRAFIK
Gammablitz hervorbrachten. Die meisten Forscher gehen eines engen Kegels ausgestoßenen Gammalichts knapp
davon aus, dass die beiden Sternleichen zu einem Schwar- an der Erde vorbeiging. Manche Astrophysiker vermuten
zen Loch kollabiert sind. Aber auch ein besonders kom- hingegen, dass das populäre Modell nicht stimmt, oder
pakter Neutronenstern, ein so genannter Magnetar, ist aus dass man es mit einer völlig neuen Klasse von Strahlungs-
Sicht mancher Experten eine Möglichkeit. ausbruch zu tun haben könnte.
Offen ist auch, was unmittelbar nach der Neutronen- Ein Team um Mansi Kasliwal vom California Institute of
sternkollision geschah. Sicher ist lediglich, dass das Duo Technology in Pasadena hat ein Modell entworfen, das
die bei seinem gravitativen Kollaps frei gewordene Energie besser zu den Beobachtungsdaten aus NGC 4993 passen
nutzte, um Materie beinahe mit Lichtgeschwindigkeit ins soll. Demnach haben die Neutronensterne bereits im Zuge
All zu feuern. Dem populärsten Modell zufolge entsteht ihres Totentanzes Materie ins All geschleudert. Kurz darauf
dadurch ein extrem heißer Feuerball, der sich allerdings in trafen die polwärts gerichteten Materieauswürfe auf diese
den ersten Sekunden nur entlang der Pole ausbreiten kann. Trümmerwolken, was Letztere zu heißen, schnell expan-
Denn zunächst dreht sich der frisch geformte Masse dierenden Kokons aufblasen würde. Laut den Forschern
klumpen im Herz des Infernos rasant um seine eigene würde auf diese Weise deutlich weniger Gammastrahlung
Achse und ist von einer ebenfalls rotierenden Akkretions- als bei einem klassischen GRB entweichen.
scheibe aus extrem dichter Materie umgeben. Vermutlich
spielen auch Magnetfelder eine Rolle, die eine Art Schorn- Verschmelzende Neutronensterne könnten verraten,
stein entlang der Drehachse bilden. Durch ihn schießen wie schnell das Weltall expandiert
unmittelbar nach der Verschmelzung die Jets aus heißer NGC 4993 sorgt heute nicht nur bei solchen Forschern für
Materie, die letztlich Gammastrahlen freisetzen. Diskussionen, die den Ursprung der Gammastrahlenaus-
Die Beobachtungen aus NGC 4993 passen allerdings brüche verstehen wollen. Aus der Beobachtung lassen
nur bedingt zum Feuerballszenario, denn der auf der Erde sich noch ganz andere Schlüsse ziehen. So bestätigen das
beobachtete Gammablitz erreichte nur ein Zehntausends- fast zeitgleiche Eintreffen von Gravitationswellensignal
tel der Helligkeit vergleichbarer GRBs. Das ließe sich und Gammablitz, dass sich die Raumzeitschwingungen
eventuell dadurch erklären, dass der Hauptteil des entlang tatsächlich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Darüber
Verschmelzung
weniger als 3 Minuten
relativistischer Jet
Kernreaktionen
Beide Neutronensterne lassen Kilonova
verschmelzen zu einem aufleuchten.
Schwarzen Loch, das
von einem Materie
wirbel umgeben ist.
Materiewirbel
Emission
von UV-, sichtbarem
und infrarotem Licht
in alle Richtungen
Schwarzes
herrschte zuvor keineswegs Einigkeit. Die Feststellung hilft gut. LIGO und Virgo werden derzeit modernisiert und
nun Forschern, alternative Gravitationstheorien auf den könnten von Herbst 2018 an mit erhöhter Sensitivität
Prüfstand zu stellen, die eine von der Lichtgeschwindigkeit erneut ihren Betrieb aufnehmen. Die US-Detektoren sollen
abweichende Geschwindigkeit von Gravitationswellen pos- dann beispielsweise ein achtmal größeres Raumvolumen
tulieren. Auch liefern die Daten von LIGO lang ersehnte erfassen und werden damit deutlich häufiger Gravitations-
Hinweise darauf, welchen exotischen Zustand Materie im wellen auffangen. Schätzungen zufolge könnten die Ge
Inneren von Neutronensternen einnimmt (siehe »Im Inne- räte dann sogar wöchentlich ausschlagen – Ereignisse wie
ren des Neutronensterns«, S. 66). das in NGC 4993 würden damit für die Astronomen auf
Ereignisse wie das von NGC 4993 könnten irgendwann der Erde fast alltäglich.
auch die Frage beantworten, wie schnell der Kosmos
expandiert. Auskunft darüber gibt die so genannte Hubb- QUELLEN
le-Konstante. Seit einigen Jahren streiten mehrere Wissen-
Abbot, B. P. et al.: GW170817: Observation of Gravitational Waves
schaftlergruppen über ihren genauen Wert, da die jewei from a Binary Neutron Star Inspiral. In: Physical Review Letters 119,
ligen Messungen abweichende Ergebnisse liefern. Neutro- 161101, 2017
nensterne bieten eine neue Berechnungsmöglichkeit, da
Abbot, B. P. et al.: Multi-Messenger Observations of a Binary
sich aus der Amplitude der Gravitationswellen die Entfer- Neutron Star Merger. In: Astrophysical Journal Letters 848, 2, 2017
nung zur Quelle ergibt und aus der Rotverschiebung des
Arcavi, I. et al.: Optical Emission from a Kilonova Following a
Lichts folgt, wie schnell sich diese von der Erde entfernt. Gravitational-Wave-Detected Neutron-Star Merger. In: Nature 551,
Eine erste Schätzung für den Wert der Hubble-Konstanten S. 64–66, 2017
konnte das LIGO-Team bereits abgeben, die Messung ist
Kasen, D. et al.: Origin of the Heavy Elements in Binary Neutron-
aber noch nicht genau genug für eine klare Aussage. Star Mergers from a Gravitational-Wave Event. In: Nature 551,
Wenn Wissenschaftler in den kommenden Jahren noch S. 80 –84, 2017
weiteren Neutronensternverschmelzungen beiwohnen Kasliwal, M. M. et al: Illuminating Gravitational Waves: A Concor-
können, werden sie in dieser und anderen Fragen sicher- dant Picture of Photons from a Neutron Star Merger. In: Science
lich Fortschritte machen. Und dafür stehen die Chancen 10.1126/science.aap9455, 2017
spektrum.de/artikel/1520787
Als am 17. August 2017 ein Signal des Gravitations die übrige Welt von der historischen Entdeckung (siehe
wellenobservatorums LIGO einlief, war Astronomen »Das Raumzeitbeben von NGC 4993«, S. 58).
weltweit schnell klar: Sie hatten gerade zum ersten Die Pflicht zur Geheimhaltung brachte Jocelyn Read und
Mal die Raumzeit-Erschütterungen verschmelzender Katerina Chatziioannou, zwei Astronominnen aus dem
Neutronensterne eingefangen. Tausende von Wissen LIGO-Team, am Abend des 17. August in eine recht unange
schaftlern beeilten sich, um in den darauf folgenden nehme Lage. Sie hatten einen Workshop auf einer Konfe
Stunden und Tagen mit ihren Teleskopen möglichst viel renz organisiert, bei der Physiker darüber diskutierten, was
der Strahlung einzufangen, die bei dem kosmischen Don unter den unvorstellbaren Bedingungen im Inneren eines
nerschlag entstanden sein musste. Sie waren zugleich Neutronensterns passiert. Die Leitfrage ihrer Abendveran
angehalten, offiziell darüber zu schweigen. Zwei Monate staltung: Wie sähe das Signal verschmelzender Neutronen
dauerte die sorgfältige Datenanalyse – erst dann erfuhr sterne aus? »Während der Kaffeepause saßen wir einander
wortlos gegenüber und starrten uns an«, erinnert sich Read.
»Wie sollten wir mit dieser Situation bloß umgehen?«
Seit Jahrzehnten diskutieren Physiker darüber, ob
AUF EINEN BLICK Neutronensterne in ihrem Kern eventuell neuartige Formen
ZWISCHEN QUANTENMATSCH UND der Materie erzeugen. Wenn die extrem kompakten Stern
QUARKKLUMPEN überreste die Protonen und Neutronen aufbrechen und
deren Bestandteile – die so genannten Quarks – zusammen
zeichnet die hochkompakten Objekte als »letztmöglichen Für einige Wissenschaftler ist selbst das noch ein ver-
Zustand der Materie, bevor wir es mit einem Schwarzen gleichsweise harmloses Szenario. Theoretiker spekulieren
Loch zu tun hätten«. schon länger über seltsame Teilchen, die eventuell in
Bohrte man in einen Neutronenstern hinein, wäre das einem Neutronenstern hervorgebracht werden. Möglicher
wie eine Reise bis zu den Grenzen der modernen Physik. weise fließt die enorme, beim Kollaps frei werdende Ener
Die Oberfläche besteht aus einer sehr dünnen Kruste aus gie in die Erzeugung massereicher Teilchen, in denen nicht
gewöhnlichen Atomen, zumeist Eisen. Mit zunehmender mehr bloß die leichten so genannten Up- und Down-
Tiefe verlieren die Atome ihre Elektronen, während sie Quarks aus den Protonen und Neutronen vorkommen,
immer stärker aneinander gedrückt und aufgeheizt wer sondern ebenfalls die schwereren »Strange-Quarks«.
den. Noch etwas weiter in Richtung Kern fangen die So könnten als Hyperonen bezeichnete Teilchen die
Protonen der Kerne die Elektronen schließlich ein und Neutronen ersetzen. Sie bestehen ebenfalls aus drei
werden zu Neutronen. Quarks, enthalten dabei aber mindestens ein solches
Strange-Quark. In Laborexperimenten lassen sich Hype
Welche seltsame Materie erwartet uns im Mittelpunkt ronen erzeugen, dort zerfallen sie aber unmittelbar wieder.
eines Neutronensterns? Doch tief im Inneren von Neutronensternen sind sie viel
Der Streit der Theoretiker dreht sich um die Frage, was wei- leicht über Millionen von Jahren stabil. Oder die Untiefen
ter innen passiert, wenn die Dichte das Zwei- oder Drei- der Neutronensterne sind mit »Kaonen« gefüllt. Auch in
fache eines normalen Atomkerns überschreitet. Aus Sicht ihnen steckt ein Strange-Quark, aber sie sind nur aus zwei
eines Kernphysikers könnten hier bis zum Mittelpunkt Quarks aufgebaut und verhalten sich noch verblüffender:
des Neutronensterns einfach Nukleonen – die Sammelbe Alle Kaonen können einen gemeinsamen Quantenzustand
zeichnung für Protonen und Neutronen – vorliegen. Der annehmen. Dieser extreme Aggregatzustand würde den
Astrophysiker James Lattimer von der Stony Brook Univer Kern zu einem einzigen, riesigen Quantenobjekt machen,
sity in New York spezialisiert sich seit vier Jahrzehnten auf falls er nur aus ihnen bestünde (siehe »Das seltsame Herz
Neutronensterne. Er bekräftigt: »Alle Phänomene lassen eines Neutronensterns«, S. 68).
sich durch Variationen von Nukleonen erklären.« Jahrzehntelang traten die Theoretiker auf der Stelle. Der
Widerspruch kommt von anderen Experten wie David Grund: Sie haben sich Szenarien ausgedacht, die unter
Blaschke von der Universität Breslau: »Nukleonen sind irdischen Bedingungen experimentell schlicht unüberprüf
keine Billardkugeln. Sie verhalten sich eher wie Kirschen – bar waren. Bei Teilchenbeschleunigern beispielsweise
man kann sie ein wenig eindrücken, aber irgendwann werden zwar massereiche Kerne von Gold- und Bleiato
zerquetscht man sie.« Nukleonen bestehen aus drei Quarks. men mit hohen Energien aufeinander geschossen, worauf
Unter immensen Drücken könnten sie eine neue Art von hin Quarks in Form eines so genannten Quark-Gluon-Plas
Quarkmaterie bilden. mas frei werden, doch die Materie ist in diesem Zustand
Die extreme ÄUSSERER KERN: neutronenreiche Ionen in einem Meer freier Neutronen
Gravitation eines
Neutronensterns
u u u u
komprimiert des d d u d d d u d
erzeugen oder u u u u
u d
d d d d d d
theoretisch berech Quarkkern Hyperonkern Kaon-Kondensat
nen können. Des Nukleonen zerbrechen Nukleonen mit Teilchen aus zwei Quarks
wegen ist unklar, in ihre einzelnen s u
u »Strange-Quarks«
u
s s s
d
s
u
s
d
bilden
s s
einen quanten-
s u s d s u s u s
u
wie die Materie Quarks. d d entstehen. mechanischen
u u
d u d Aggregatzustand. s u s u s u s u
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im Kern aussieht. u
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Wir stellen einige d d
u u d u d s u s u s d s u s
s s s s s s s s
der wichtigsten u
s u s u s u s u
QUANTA / LUCY READING-IKKANDA
Ideen vor.
sehr, dass die Sterne bei einer derart großen Masse zu ihrer Kollegin beim Kaffee sinnierte, war rasch klar, dass
einem Schwarzen Loch werden müssten. Das gilt beson es von leichteren Objekten stammte und viel länger an
ders für die relativ matschigen Kaon-Kondensate, und dauerte als bei den bis dahin bekannten Verschmelzungen
auch bei einigen Varianten von Quark- und Hyperonenma Schwarzer Löcher. »Offensichtlich hatten wir es hier mit
terie könnte das der Fall sein. Ransoms Beobachtung einem ungewohnten System zu tun«, erinnert sich Read.
wurde jedenfalls 2013 durch einen weiteren Neutronen Bei ihrer Verschmelzung taten die beiden Objekte
stern mit zwei Sonnenmassen untermauert. etwas, das Schwarze Löcher nicht können: Sie verformten
Um die Radien der Objekte herauszufinden, müssen die sich. Nach einigen arbeitsreichen Monaten fand Reads
Wissenschaftler noch etwas tiefer in die Trickkiste greifen. Arbeitsgruppe mit Hilfe von Computersimulationen he
Die Astrophysikerin Feryal Özel von der University of raus, welche Einflüsse die durchknetenden und damit
Arizona hat sich beispielsweise verschiedene Verfahren Energie schluckenden Gezeiten auf das Gesamtsignal
ausgedacht, mit denen sich die Größe eines Neutronen hatten. Offenbar ist der Effekt sehr schwach. Das bedeu
sterns anhand seines Röntgenlichts berechnen lässt. Eine tet, Neutronensterne sind vermutlich besonders kompakte
Strategie besteht darin, zunächst aus der Gesamtmenge Objekte, die den Gutteil ihrer Masse fest in ihrer Mitte
der Strahlung eine Temperatur abzuleiten und anschlie halten und somit wenig von Gezeitenkräften verbogen
ßend zu ermitteln, wie groß der Stern dafür sein müsste. werden. Read bilanziert: »Es bestätigt in meinen Augen
Oder aber man verfolgt heiße Flecken auf der Oberfläche, vorläufig das, was anhand der Röntgenmessungen bereits
die sich regelmäßig ins Blickfeld drehen. Das Schwerefeld vermutet wurde.« Read hofft, dass verbesserte Modell
des Neutronensterns wirkt sich auf das Licht dieser Hot rechnungen des Signals in Zukunft eine genauere Ab
spots aus. Dann muss man nur noch das Gravitationsfeld schätzung ermöglichen.
verstehen und kann daraus Masse und Radius herleiten. Während Experten auf eindeutige Antworten durch die
Solche aus der Strahlung ermittelten Werte bedeuten Messungen mit NICER und LIGO setzen, mahnen Theoreti
Özel zufolge, die Neutronensterne wären nur 20 bis 22 Ki ker wie Alford zur Vorsicht. Allein das Wissen, wie gut sich
lometer groß und damit eher am unteren Ende der vorher die Materie im Inneren eines Neutronensterns zusammen
gesagten Skala. »Das schränkt unseren Spielraum ein – drücken lässt, reicht vielleicht noch nicht aus, um über
auf eine gute Weise«, kommentiert Özel. Sie glaubt, Neut ihren Charakter zu urteilen. Andere Beobachtungen verra
ronensterne mit wechselwirkenden Quarks im Zentrum ten eventuell mehr. Die Rate, mit der Neutronensterne
könnten tatsächlich so aussehen, während Sterne, die nur abkühlen, könnte beispielsweise Hinweise auf die charak
aus Nukleonen bestehen, größer sein müssten und somit teristische Energieabstrahlung der Teilchen im Inneren
ausgeschlossen wären. Lattimer hingegen bezweifelt liefern. Oder aber die sich verlangsamende Eigendrehung
diese Schlussfolgerungen, weil er die Herleitung aus den der Sterne gibt Aufschluss über die Viskosität im Kern.
Röntgenmessungen für fehlerhaft hält. Er glaubt, damit In Neutronensternen verbergen sich wichtige Antwor
würden die Radien systematisch unterschätzt. ten auf die Fragen, wie sich hoch verdichtete Teilchen
Die verschiedenen Lager dürfen auf eine baldige Beile verändern und welche Phasenübergänge dabei ablaufen.
gung des Konflikts hoffen. Im Juni 2017 brachte ein Ver »Wir wollen verstehen, wie sich Materie unter verschie
sorgungsflug das NICER-Instrument (Neutron Star Interior densten Bedingungen verhält«, kommentiert Alford. »Und
Composition Explorer, siehe Fotos oben) an Bord der letztlich ist genau das doch das eigentliche Wesen der
Internationalen Raumstation ISS. Das Röntgenteleskop Physik.«
wurde dafür konstruiert, die Größe von Neutronensternen
anhand ihrer Hotspots zu ermitteln, und es dürfte genaue
Nach der redigierten Fassung aus »Quantamagazine.org«, einem in-
re Daten liefern, gerade bei Pulsaren, deren Massen be haltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
reits bekannt sind. Präzise Werte für sowohl Radius als Verbreitung von Forschungsergebnissen aus der Mathematik und
auch Masse bereits eines einzelnen Neutronensterns den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
könnten für viele Theorien das Ende bedeuten.
Und dazu kommt nun die Gravitationswellenastrono
mie. Beim Signal vom 17. August 2017, über das Read mit
H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der
Universität Münster. 2013 wurde er mit dem Archimedes-Preis für Physik ausgezeichnet.
spektrum.de/artikel/1520791
Beim Gehen entstehen je nach Untergrund charak wie auf Watte. Auch feuchter Schnee tönt eher unauf
teristische Geräusche. Ob wir über das Pflaster fällig.
eines Gehwegs spazieren, das Gras einer Wiese Schnee besteht aus Eiskristallen, und die kommen in
oder den Sand am Strand – immer begleitet uns ein der Natur in unterschiedlichen Formen vor – unter ande
anderer Sound. Als ganz besonders eindrucksvoll emp rem als Hagel, als Firn, in Eisschollen oder in Gletschern.
finden es viele Menschen, wenn Schnee unter den Die Konfigurationen unterscheiden sich vor allem in ih-
Füßen knirscht. rer Dichte. Frisch gefallener Schnee hat eine Dichte von
Solche Töne bringt eine winterliche Landschaft aber 100 bis 200 Kilogramm pro Kubikmeter und weist damit
nicht immer hervor. Bei frisch gefallenem Pulverschnee eine Porosität von 80 bis 90 Prozent auf. Er besteht also
sind die lockeren Flocken noch weitgehend intakt. Er aus wesentlich mehr luftgefülltem Hohlraum als aus
gibt unter jedem Schritt sehr leicht nach und lässt allen fester oder flüssiger Substanz. Die Durchlässigkeit spielt
falls ein leises und dumpfes »Pfuff« hören. Man geht für die anschließenden strukturellen Veränderungen des
Schnees eine wichtige Rolle.
Bei diesen kommt es zu Phasenübergängen zwischen
Am Querschnitt von Gletschereis wie hier in Island kann man fest, flüssig und gasförmig, oder auch zur Festkörper
erkennen, wie sich eine lockere Schneedecke unter der diffusion, das heißt zum Transport fester Teilchen. Hinter
Last neuer Schneeschichten im Lauf vieler Jahre allmählich zu alldem steckt die Vorliebe der Natur, unter den jewei
klarem Eis verdichtet. ligen Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen so viel
Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben
(zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Vereinfacht
gesprochen strebt jede Schneeflocke die Kugelgestalt
an, um auf diese Weise ihre Grenzfläche zu minimieren.
Es laufen Prozesse ab, in denen die Eiskristalle des
flockigen Schnees miteinander verschmelzen und regel
recht zusammensintern. Der Begriff Sintern steht für ein
Verfahren aus der Metallurgie, aber der Vorgang beim
Altern des Schnees ist ganz ähnlich: Kleinere Eispartikel
wachsen zu größeren Einheiten zusammen. In vielen
Fällen ist das mit einer Rekristallisation verbunden.
Dabei verschwinden Versetzungen im Kristallgefüge, die
beim Aufeinandertreffen der zufällig angeordneten
Schneeflocken entstanden sind.
Das Schicksal frisch gefallenen Schnees in den Polar
regionen führt den zeitlichen Ablauf der Sinterung vor
Augen. An der Oberfläche ist die Decke zunächst noch
sehr porös. Die Dichte nimmt mit der Tiefe zu, bis sich
SERGDID / GETTY IMAGES / ISTOCK schließlich unter zunehmendem Druck eine massive Eis-
schicht bildet. Die Korngröße im Firn direkt darüber be- zusammen. Grob kann man sich das vielleicht mit dem
trägt oft mehrere Zentimeter. Tiefes, mächtiges Glet Kauen eines Zwiebacks veranschaulichen. Dabei wird
schereis erscheint sogar blau, weil hier mit der Zeit fast ebenfalls ein relativ harter, aber poröser Verbund zer
alle Licht streuenden Luftbläschen herausgepresst malmt, was ein deutlich hörbares Geräusch erzeugt.
wurden (siehe Foto linke Seite). Dieses ergibt sich aus der Summe der Vibrationen der
Für das Phänomen des knirschenden Eises genügt es, Fragmente. Wenn der gesinterte Schnee unter den
eine der ersten Phasen einer solchen Metamorphose Schuhen zerbricht, fügt sich analog die Sequenz aller
zu betrachten. Sobald der Schnee gelandet ist, berühren Schwingungen zwischen Schneeoberfläche und tragfä
sich die Flocken noch ziemlich locker. Alsbald sackt hig verdichtetem Schnee zu dem einzigartigen Knirsch
der Schnee unter dem eigenen akkord zusammen.
Gewicht ein wenig zusammen. Der Schnee schreit, ächzt, quietscht unter dem Tritte, Eine solche Situation liegt
Die einander berührenden Kris- wie neues unschmiegsames Leder, natürlich nicht immer vor.
talle reorganisieren sich und und wunderbare weiße Wellen sind überall Häufiger gleiten die Kristalle
geben dabei Grenzflächenener- Peter Altenberg (1859–1919) in feuchtem Schnee durch
gie an die Umgebung ab. Wasser geschmiert aneinan
Wesentlich unterstützt wird der Vorgang durch die Tat- der ab oder verbiegen sich elastisch. Das erzeugt ein
sache, dass eine sehr dünne Schicht zwischen den Eis- leiseres und wegen der ausbleibenden Brüche weniger
kristallen und der Luft selbst bei Minusgraden flüssig klirrendes Geräusch. Sobald die Temperaturen steigen
bleibt (siehe »Glatt daneben«, Spektrum Februar 2014, S. 60 und Schmelzvorgänge die Metamorphose des Schnees
sowie »Anhänglicher Schnee«, Spektrum Februar 2017, dominieren, verschwindet daher das Knirschen.
S. 58). So bildet sich ein skelettartiges Gefüge, das Zu einem besonderen akustischen Erlebnis wird das
immer fester und kompakter wird. Je nach Temperatur Wandern im knarzenden Schnee auch wegen der typi
und Feuchtigkeit ist beim Sinterungsprozess ein Wechsel schen Stille der übrigen Winterlandschaft. Dieser eigen
zwischen Schmelzen und Gefrieren beteiligt, dessen tümliche Kontrast entsteht, weil das lockere Weiß wie
strukturbildende Wirkung wir aus einem analogen Vor eine nahezu ideale schallisolierende Wand wirkt – die
gang im Alltag kennen: Wenn man Eiswürfel aus dem unzähligen Hohlräume brechen die Schallwellen und
Gefrierfach in einen Behälter füllt, verkleben sie zuweilen absorbieren bei jeder Wechselwirkung etwas von deren
zu einem zusammenhängenden Gebilde. Hier geschieht Energie.
im Großen, was sich bei frischem Schnee im Kleinen Es wird sogar noch ruhiger, wenn der Schnee ganz im
zuträgt, zunächst im Bereich von einigen hundert Nano Sinn des weihnachtlichen Gesangstextes leise rieselt.
metern. Die herabfallenden bauschigen Flocken bilden dann einen
Bei genügend tiefen Temperaturen ist das Gefüge schallschluckenden Vorhang. In diesem Fall muss man
nach einigen Stunden so fest und stark, dass er ein allerdings auf das Knirschen verzichten.
weiteres Zusammensacken des Schnees unter der
eigenen Masse zunächst unterbindet (Foto oben rechts). QUELLE
Tritt jedoch ein Mensch auf das filigrane Geäst, so bre Blackford, J. R.: Sintering and Microstructure of Ice: A Review. In:
chen die winzigen Verbindungsstücke aus Eis krachend Journal of Physics D: Applied Physics 40, R355–R385, 2007
spektrum.de/artikel/1520795
NEUE SERIE
Babylonische Wissenschaft
Staatshaushalt.
heutzutage erforderten Großprojekte eine hohe Investi-
Mossul
Ninive
Arbil
Tell Rimah
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: INSTITUT FÜR ASSYRIOLOGIE UND HETHITOLOGIE, LMU MÜNCHEN; ROAF, M.: BILDATLAS DER WELTKULTUREN. MESOPOTAMIEN. BECHTERMÜNZ VERLAG, 1998
Kalchu
SYRIEN
Kar Tukulti Ninurta
Assur
IRAN
Mari
Babylon
nachgewiesene Bauten Kisch Susa
Zikkurats
vermutete Bauten Nippur
Borsippa Dur Untasch
Tell Hammam
heutige Stadt IRAK
Adab
Tig
heutige Landesgrenze Umma ris
ehemalige Küstenlinie Girsu
Uruk
N Lagasch
Larsa
Ur t
100 km Euphra
Eridu Basra
SAUDI ARABIEN
Persischer
KUWAIT Golf
Stufenpyramiden, auf deren Plattform Tempel standen, ragten im Zweistromland vielerorts in den Himmel.
Herrscher ließen sie zu Ehren der Götter errichten, demonstrierten damit aber auch sichtbar für jedermann
ihre Macht. Da sie aus Lehmziegeln errichtet wurden, sind die meisten längst zerfallen. Viele lassen sich
archäologisch noch nachweisen, manche kennen Forscher aus antiken Texten.
LAURA JOHNSON-KELLY/ TABLET COLLECTIONS, JONATHAN AND JEANNETTE ROSEN ANCIENT NEAR EASTERN SEMINAR, DEPT. OF NEAR EASTERN STUDIES, CORNELL UNIVERSITY
lich verändert haben. Denn technologische Neuerungen,
um Arbeitskraft effektiver einzusetzen, kamen nach heuti-
gem Wissen damals nicht auf. Außerdem spricht vieles
dafür, dass die in diesen Schultexten gelehrte Mathematik
samt den Kenngrößen ohnehin viel früher entstand und
damit wohl für das 21. Jahrhundert v. Chr. gültig war.
Bereits 1999 ermittelte die britische Altorientalistin
Eleanor Robson von der University of Cambridge aus
solchen mathematischen Texten den Zeitaufwand für die
Herstellung luftgetrockneter Ziegel, aus denen alle Bau-
werke errichtet wurden. Den Rohstoff lieferte das Zwei-
stromland in reichem Maß: Lehm, ein Gemisch aus Löss
und Sand. Ersterer bindet die mineralischen Körnchen und
verleiht dem Material Zähigkeit, während der Sand den
Druck des Bauwerks aufnimmt und verteilt. Enthält der
Lehm zu viel Löss, mischt man ihm weiteren Sand und
gehäckselte Pflanzen wie Schilf oder Stroh bei.
Die Texte nennen als Pensum für einen Arbeiter in der
Lehmgrube pro Tag die Zahl 20. Wegen der Besonderheiten
bei der Notation von Sexagesimalzahlen in altbabylonischer
Zeit ist diese Angabe als 20/60 zu verstehen, also 1/3. Es
wird zwar keine Maßeinheit genannt, Experten sind sich
aber einig, dass es sich um die Standardvolumeneinheit
»sar« handelt. Die war als 12 mal 12 mal 1 Ellen definiert,
wobei eine Elle ziemlich genau 0,5 Meter lang war. Dem-
nach umfasste ein »sar« gut 18 Kubikmeter. Ein einzelner
Arbeiter in der Lehmgrube hob also pro Tag etwa sechs
Kubikmeter des Rohstoffs aus. Nicht anders als heutzutage
wird er dabei vor allem die kühleren Morgen- und Abend-
stunden genutzt haben.
Das Anrühren mit Wasser, Häcksel und Sand erforderte
bei dieser Menge die doppelte Zeit. Schließlich verbrachte
der Mann einen weiteren Tag damit, aus der Masse Ziegel
zu formen. Andere Personen dürften verantwortlich dafür
AUF EINEN BLICK
gewesen sein, diese in der Sonne auszulegen und auch XXL IM ZWEISTROMLAND
immer wieder zu wenden, damit sie gleichmäßig trockne-
ten. Dieser Posten ist zwar nirgendwo explizit angegeben,
dürfte aber in den Gesamtherstellungsaufwand einberech-
1 Hoch aufragende Stufentempel, prunkvolle Paläste
und massive Verteidigungsmauern gehörten in
Mesopotamien zum Stadtbild. Sie zu errichten, brach-
net worden sein. Pro Kubikmeter Ziegel veranschlagten die te den Herrschern Prestige.
Baumeister demnach 2/3 Manntage.
2
Weil Lehm praktisch überall frei verfügbar war, fielen Alle monumentalen Bauwerke bestanden aus Lehm-
kaum Kosten für das Material an, wohl aber für Verpfle- ziegeln. Anhand von Keilschrifttexten können Forscher
gung und Lohn. Lohnlisten von Bauvorhaben führen diese die einzelnen Arbeitsschritte eines Großbauprojekts ab
Ausgaben detailliert auf und spiegeln dabei Hierarchien der Lehmgrube nachvollziehen.
und Qualifikationen im Lohngefüge. Die Ziegelarbeiter –
stets Männer – erhielten demnach einen Tageslohn von
fünf bis sechs Kilogramm Gerste beziehungsweise in der 3 Die Arbeitskräfte wurden meist mit Naturalien entlohnt
und auf den Baustellen verpflegt. Verwaltungstexte
und mathematische Berechnungen helfen, diese Kos-
damals gebräuchlichen Angabe: fünf bis sechs Liter. Das
ten abzuschätzen.
entsprach der typischen Entlohnung angeheuerter, also
nicht fest angestellter Arbeiter. Für einige Aufgaben wur-
Für Entlohnung und Versorgung der am Brunke, H.: Feasts for the Living, the Dead, and the Gods. In:
Eanna-Tempel in Uruk beschäftigten Radner, K., Robson, E. (Hg.): The Oxford Handbook of Cuneiform
Culture. Oxford University Press, Oxford 2011, S. 166 –182
Arbeiter musste König Ur-Namma etwa
134 Hektar Ackerland zehn Jahre lang Cancik-Kirschbaum, E., van Ess, M., Marzahn, J. (Hg.):
reservieren. Die Tonfigur zeigt ihn als den Babylon. Wissenskultur in Orient und Okzident. Topoi Studies
Bau unterstützender Lastenträger. Solche of the Ancient World 1. De Gruyter, Berlin 2011
»Gründungsfiguren« legte man ins Fun Kleber, K.: TDie Beziehungen zwischen dem König und dem Eanna-
AKG IMAGES
spektrum.de/artikel/1520797
Töchter seien unnütz und wertlos, schrie eine Greisin,
als ich mich 1996 in einem südkoreanischen Dorf mit
einer Gruppe älterer Frauen über Familienprobleme
unterhielt. Die anderen nickten zustimmend. Aber warum,
wollte ich wissen. Faul seien Töchter nicht, antwortete die
Alte, das sei nicht der Grund. »Im Gegenteil, Frauen erledi-
gen die meiste harte Feldarbeit, und ihre Heirat kostet
praktisch nichts. Trotzdem sind Töchter unerwünscht, weil
sie der Familie nicht nützen – sie gehen fort, wenn sie
heiraten. Die Söhne hingegen bleiben daheim, erben den
Besitz und pflegen die Rituale der Ahnenverehrung.«
In China hörte ich ähnliche Geschichten. Wie ein Mann
erzählte, war seine Frau bei der Geburt der Tochter »so
bestürzt, dass sie das Kind gar nicht aufziehen wollte; ich
musste sie überreden, es zu stillen«.
Solche Einstellungen entscheiden über Leben und Tod.
Von Natur aus werden um 5 bis 6 Prozent mehr Jungen
als Mädchen geboren, doch im Jahr 2000 kamen in China
20 Prozent mehr Knaben zur Welt. Dieses schiefe Ge-
schlechterverhältnis findet man in großen Teilen Ost- und
Südasiens, im Südkaukasus sowie in einigen Balkanstaa-
ten. Überall werden weibliche Babys abgetrieben, bei der
Geburt getötet oder sie sterben durch Vernachlässigung.
Warum? Wie die Südkoreanerin mit brutaler Offenheit aus-
sprach: Das Mädchensterben hat wirtschaftliche Gründe.
Diese Kulturen verbieten erwachsenen Töchtern seit jeher,
im elterlichen Haushalt mitzuhelfen oder Eigentum zu
erben, und das mindert ihren Wert für die Familie.
Doch seit Kurzem gerät Bewegung ins demografische
Ungleichgewicht. In Südkorea hat sich der einst große
Es sitzen wieder mehr Mädchen auf den Schulbänken: Jahrzehntelang waren Töchter in Ländern
wie Indien, China und Südkorea unerwünscht und die Geschlechterverhältnisse stark verzerrt.
Verstädterung, Bildungsangebote und Staatliche Kampagnen führen jetzt vielerorts zur Trendwende.
DEPARTMENT OF ECONOMIC AND SOCIAL AFFAIRS, POPULATION DIVISION. WORLD POPULATION PROSPECTS: THE 2017 REVISION, KEY FINDINGS AND ADVANCE
unter die Arme greifen zu können, doch einige Aussagen
JEN CHRISTIANSEN, NACH GUO, Z. ET AL.: MISSING GIRLS IN CHINA AND INDIA: TRENDS AND POLICY CHALLENGES. IN: ASIAN POPULATION STUDIES 12,
S. 135-155, 2016 (KINDER IN INDIEN 0 –6 J., IN SÜDKOREA UND CHINA 0–4 J.); NATIONAL CENSUS DATA (SÜDKOREA, INDIEN, CHINA); UNITED NATIONS,
trübten das Bild: So würden etwa der Gatte und seine Nordamerika
TABLES. WORKING PAPER NO. ESA/P/WP/248, 2017 (NORDAMERIKA, NORDEUROPA, WESTEUROPA) / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017
Verwandtschaft die Frau verachten, weil sie arm ist; sie 100:105 Nordeuropa
werde misshandelt oder müsse arbeiten wie eine Sklavin. Westeuropa
WAR, FAMINE AND FERTILITY DECLINE. IN: DEVELOPMENT AND CHANGE 30, S. 619-652, 1999 / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017
JEN CHRISTIANSEN, NACH DASGUPTA, M., SHUZHUO, L.: GENDER BIAS IN CHINA, SOUTH KOREA AND INDIA 1920–1990: EFFECTS OF
0
Differenz zwischen Mädchen und Jungen
im Alter von 0 bis 4 Jahren in Prozent
Bürgerkrieg
–5
Krisen
Ein-Kind-
treffen Mädchen härter japanische Politik
Invasion
–10
In China sank der Prozentsatz weiblicher Hungersnot
Kleinkinder in Notzeiten besonders deut-
lich. Die Familien entledigten sich ihrer
Töchter, die sie als weniger wert erachteten,
–15
wenn Krieg oder Hunger herrschte. In den
1980er Jahren begann die restriktive Ein-Kind-
Politik das Geschlechterverhältnis erneut zu
kippen.
1920 1940 1960 1980 1990
CENSUS DATA / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
In Südkorea hat die erklärte Vorliebe für männliche Nachkommen seit Beginn der 1990er Jahre stetig
abgenommen. Infolge dieses Wertewandels sank bald auch der Prozentsatz neugeborener Söhne.
unbedingt einen Sohn wollen
Prozentsatz der Frauen, die
50 54
männlicher Babys
40
Prozentsatz
53
30
52
20
10 51
1980 1990 2000 1980 1990 2000
Sohn haben. 2003 beharrten nur noch 19 Prozent dessel- In den populären indischen Fernsehserien arbeiten die
ben Jahrgangs darauf. Mit dem Einstellungswandel hat dargestellten Frauen nicht mehr nur zu Hause, sondern
sich auch das Geschlechterverhältnis der Neugeborenen nehmen am öffentlichen Leben teil. Die dadurch vermittel-
verändert (siehe »Das große Verschwinden«, S. 83). ten Werte stellen die traditionelle Meinung über die soziale
Was ließ den Wert der Mädchen steigen? Zweifellos Rolle der Frau in Frage. Die Vorliebe für Söhne nimmt
spielen Urbanisierung und Bildung der Eltern eine wichtige durch solche Einflüsse nachweislich ab.
Rolle. In Südkorea hat sich der Anteil an Menschen, die in In mehreren Ländern wurde darüber hinaus versucht,
Städten zu Hause sind, zwischen 1966 und 1986 von 33 das sexuelle Ungleichgewicht durch ein Verbot der vorge-
auf 67 Prozent verdoppelt. 1991 lebten bereits 75 Prozent burtlichen Geschlechtsbestimmung und -selektion zu
der Bevölkerung in urbanen Regionen. Das hat soziale und stoppen. Mangels exakter Daten sind die Erfolge solcher
ökonomische Auswirkungen, denn in der Stadt schwindet Maßnahme jedoch fraglich. Sowohl in Indien als auch in
die zentrale Bedeutung der Söhne. Während Dorfbewoh- China, wo besonders weit reichende Verbote einer sexuel-
ner ihr Dasein im engen Kreis der Verwandtschaft zubrin- len Selektion gelten, änderten sich die Geschlechterver-
gen, leben und arbeiten Städter in der unpersönlichen hältnisse dadurch kaum.
Umgebung von Wohnblocks und Bürogebäuden. Damit Da die Verstädterung der asiatischen Länder rapide
sinkt der Konformitätsdruck, der junge Männer zu Gehor- fortschreitet, dürfte die Bevorzugung von Söhnen weiter
sam und Fortsetzung der Erbfolge verpflichtet. abnehmen. Die offiziellen Stellen können diesen Prozess
In der Stadt unterstützen Kinder ihre Eltern weniger auf durch Gesetze und emanzipatorische Maßnahmen be-
Grund traditioneller Normen, sondern vor allem wenn sie schleunigen; etwa indem sie Medieninhalte fördern, die
zufällig in der Nähe wohnen und sich emotional gebunden zeigen, wie Frauen ihre eigenen Eltern – und nicht nur
fühlen. Auf diese Weise nivelliert die Urbanisierung die die Schwiegereltern – im Alter pflegen. Dadurch können
ungleiche Bewertung von Söhnen und Töchtern. Sobald geschlechtsbedingte Stereotype sowie die Vorliebe für
letzere Zugang zu Bildung und Arbeit haben, können sie männlichen Nachwuchs ins Wanken geraten. Solche
die Eltern besser unterstützen. Zugleich sind Eltern, die in Ansätze dürften Frauen und der Gesellschaft insgesamt
den Genuss von Renten und sozialen Sicherungssystemen mehr dienen als ein Verbot pränataler Selektion.
kommen, finanziell unabhängiger von ihren Kindern.
Darüber hinaus fördern staatliche Maßnahmen gezielt QUELLEN
die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. So hat
Chung W., Das Gupta, M.: The Decline of Son Preference in South
Indien eine Quotenregelung eingeführt, damit sich mehr Korea: The Roles of Development and Public Policy. In: Population
Kandidatinnen für lokale Regierungsämter aufstellen and Development Review 33, S. 757–783, 2007
lassen. Soziologischen Untersuchungen zufolge führte die
Das Gupta, M., Shuzhuo, L.: Gender Bias in China, South Korea
Initiative zu einem Abbau stereotyper Vorurteile in der and India 1920–1990: Effects of War, Famine and Fertility Decline.
Gesamtbevölkerung, während gleichzeitig das weibliche In: Development and Change 30, S. 619–653, 1999
Selbstbewusstsein wuchs. Das Gupta, M. et al.: Why Is Son Preference so Persistent in
In Indien, China und Südkorea propagieren die Massen- East and South Asia? A Cross-Country Study of China, India and
medien die Vorteile der Familienplanung. Plakate und die the Republic of Korea. In: Journal of Development Studies 40,
allgegenwärtige Fernsehwerbung ermuntern die Eltern, S. 153–187, 2003
wenige Kinder zu bekommen – und nicht unbedingt Söh- Edlund, L. et al.: Sex Ratios and Crime: Evidence from China.
ne. So sind in diesen Ländern immer mehr Menschen der In: Review of Economics and Statistics 95, S. 1520–1534, 2013
Ansicht, dass eine Familie mit Töchtern ebenso glücklich Zhen, G. et al.: »Missing Girls« in China and India: Trends and Policy
werden kann wie mit männlichen Nachkommen. Challenges. In: Asian Population Studies 12, S. 135–155, 2016
Sie möchten Lehrstühle oder Gremien Finden Sie die passende Kandidatin in AcademiaNet – das internationale
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1918
DEUTSCHE QUALITÄTSARBEIT
WIRTSHÄUSER AUF DER OSTSEE
»Der kälteste Winter im Osten war der des Jahres 1322.
[Er] sei so außerordentlich hart gewesen, daß 7 Wochen
lang die gefrorene Ostsee von Deutschland nach Düna
münde [heute Teil der lettischen Hauptstadt Riga] mit
Schlitten befahren werden konnte und man auf dem Eise
»Der deutsche sogar ordentliche Wirtshäuser zur Bequemlichkeit der
Schützengraben Reisenden angelegt habe. Die Ostsee friert am liv- und
bagger ist dem kurländischen Ufer oft sehr weit bis ins Meer zu, und
französischen deshalb sind schon oft Schlitten von der Düna bis nach
überlegen, denn der Insel Oesel gefahren.« Gesundheit 1, S. 28
letzterer fährt sich
nicht selbsttätig,
er muß (etwa SCHREI-BABY, GESUNDES BABY
13 000 kg schwer) »Die erste stimmliche Tätigkeit des Kindes ist das Schrei
Deutscher Dampfbagger für die Front.
mit dem Seil durch en, welches einen unbewußten Reflexvorgang auf die
Manneskraft über oft recht unwegsames Gelände vorge Temperaturveränderung, den Lichteinfall im Auge usw.
zogen werden. Das häufig feuchte Baggergut fällt auf bedeutet. Das Schreien soll, solange es sich in normalen
[Rutschen], es muß mit der Hand abgenommen und von Grenzen hält, nicht unterdrückt werden, da es sowohl
den Rädern geschaufelt werden. Der deutsche Schützen den Kehlkopf als die Atemmuskeln übt. Die Sprechatmung
grabenbagger fährt durch seine eigene Dampf- oder des Menschen stellt an die Atemmuskeln ziemliche An
Motorkraft nach Bedarf schneller oder langsamer rück- forderungen, denn es heißt hier, den Brustkorb schnell
oder vorwärts. Das Baggergut fällt auf den Transporteur mit Luft füllen und nur allmählich entleeren. Die Schrei
und wird naß oder trocken, nach Wunsch rechts oder atmung vollzieht sich nach demselben Typus und
links, näher oder weiter vom gefertigten Graben ohne kann deshalb als Übung der späteren Sprachatmung
menschliche Hilfe abgelegt.« Technische Monatshefte 1, S. 28 gelten.« Die Umschau 1, S. 13
FALTBARE BATTERIE
1968
»Presseberichten zufolge experimentiert man mit einer
Papier-Batterie. Sie besteht aus drei Schichten – einem
Bogen Papier mit pulverisiertem Kochsalz, einem Blatt mit
Kaliumpersulfat und Kohlenstoffpuder und einer Papier
DER MOND schicht, die elektrischen Strom leitet. Das lange lager
fähige Energiepapier liefert Strom, sobald die Küchensalz
RÜCKT NÄHER schicht befeuchtet wird. Es kann zusammengefaltet
»Die wichtigste technische und beispielsweise als Batterie für Trockenrasierer und
Voraussetzung für eine mensch Taschenlampen verwendet werden.« Automatik 1, S. 22
liche Mondlandung ist eine
hinreichend starke Trägerrakete;
denn die erforderliche Nutzlast HIRNEXTRAKT STATT TRAINING
übersteigt die Masse aller bishe »Ratten wurden in Y-förmige Gräben gesetzt, deren Bö-
rigen unbemannten Geräte bei den aus feinen elektrisch aufgeladenen Gittern bestehen.
Die Großrakete Saturn V weitem. Hierfür sind die Aus Gleichzeitig wurde jeweils ein Arm des Y beleuchtet. Lie-
vor dem ersten Start. sichten jetzt günstig, nachdem fen die Ratten, um dem elektrischen Schlag zu entkom-
die amerikanische Riesenrakete Saturn V am 9. Nov. 1967 men, in den beleuchteten Arm, so wurde das elektrische
ihren ersten Start erfolgreich hinter sich gebracht hat, Gitter zur Belohnung abgeschaltet. Dieses Verhalten
wobei auch der Wiedereintritt einer Apollo-Kapsel in die wurde geübt, bis jedes Tier bei mindestens neunzig Pro
Erdatmosphäre mit der Geschwindigkeit von rund 11 km/s, zent aller Versuche sofort den beleuchteten Arm des Y
wie sie bei der Rückkehr vom Mond auftreten wird, gut wählte. Die Tiere wurden getötet, ein Extrakt ihres Gehirns
vonstatten ging. Alles in allem ist zu erwarten, daß bis wurde Mäusen intraperitoneal injiziert. Brachte man die-
zum Jahre 1970 der erste Mondspaziergang tatsächlich se in die Gräben, so wählten die Tiere sogleich den je-
stattfinden wird.« Naturwissenschaftliche Rundschau 1, S. 9 weils beleuchteten Arm des Y«. Kosmos 1, S. 16
I
m Jahr 1831 führte August Ferdinand Möbius eine Ursprünglich besteht ein Primonengas aus Boso
neue Funktion in die Mathematik ein. Sie ist für nen; das sind die Elementarteilchen, die im Standard
alle natürlichen Zahlen > 0 definiert und kann nur modell der Teilchenphysik für die Vermittlung von
drei verschiedene Werte annehmen: –1, 0 und +1. Kräften zuständig sind, wie Photonen oder Gluonen.
k
Im Rahmen der so genannten »Supersymmetrie«
(–1) , wenn n quadratfrei versuchen Physiker aber schon seit einiger Zeit, das
µ(n)= klassische Modell zu erweitern – unter anderem, um
0 sonst die Gravitation in die quantenmechanischen Beschrei
Für alle Zahlen, die das Quadrat einer natürlichen Zahl bungen einzubeziehen oder die Natur der Dunklen
sind oder das Vielfache davon (also etwa 4, 8, 9, 12, Materie zu erklären. Dazu etablieren sie eine Bezie
16, 18, …), nimmt sie den Wert 0 an. Die übrigen Zah hung zwischen Bosonen und Fermionen; Letztere sind
len sind »quadratfrei«, das heißt, in ihrer Primfaktor die Teilchen, welche die Materie ausmachen (Elektro
zerlegung kommt jede Primzahl höchstens einmal vor. nen, Quarks und so weiter). Jedem Kraftteilchen
Hat die Zahl n eine ungerade Anzahl an Primfaktoren entspricht ein Materieteilchen und umgekehrt.
(in der Formel mit k bezeichnet), dann beträgt der Wert
F
der Funktion –1, bei einer geraden Anzahl +1. ormuliert man nun das Primonengasmodell so
So weit die Definition. Doch wozu braucht man um, dass es supersymmetrische Eigenschaften
das? Diese Frage ist in der Mathematik (und meiner hat, dann stößt man in der mathematischen
Meinung überhaupt in den Naturwissenschaften) Analyse auf die Möbiusfunktion. Dabei kommt
unangebracht. Die Funktion lässt sich widerspruchs es darauf an, ob das Primonengas Bosonen oder Fer-
frei definieren, also existiert sie in der Welt der Mathe mionen enthalten soll. Ein ganzes Teilchenensemble
matik. Man kann sie untersuchen und dadurch weitere entspricht einer natürlichen Zahl, jedes Teilchen ei-
mathematische Erkenntnisse gewinnen. nem Primfaktor. Wenn sich zwei Fermionen im glei
Davon abgesehen: Es gibt durchaus Anwendungs chen Zustand befinden, kommt ein Primfaktor
möglichkeiten. Die Möbiusfunktion taucht zum Bei doppelt vor, so dass die Möbiusfunktion den Wert
spiel bei der Untersuchung der berühmten riemann null annimmt. Das sind genau die Zustände, die
schen Zetafunktion auf, die im Zentrum eines der gro- aus physikalischen Gründen (nach dem Pauli-Prinzip)
ßen ungelösten Probleme der Mathematik steht. Sie ausgeschlossen sind.
hängt mit dem Primzahlsatz zusammen, einer der Natürlich handelt es sich beim Primonengas nur
wichtigsten Aussagen der Zahlentheorie. Und uner um ein Denkmodell, das einem besseren Verständnis
warteterweise spielt die seltsame Funktion aus dem bestimmter Teilcheneigenschaften dienen soll, und
19. Jahrhundert auch noch bei einem der großen nicht etwa um einen ernsthaften Versuch, die Natur zu
physikalischen Probleme der Gegenwart eine Rolle. beschreiben. Und die Vorhersagen der Supersymme
1989 entwickelte der französische Physiker Bernard trie ließen bis jetzt trotz vieler Anstrengungen nicht
Julia die Idee des »Primonengases«. Dabei handelt es experimentell bestätigen.
sich um ein Ensemble hypothetischer Teilchen, der Dennoch: August Ferdinand Möbius wäre ver
»Primonen«. Ihre Energien werden von Primzahlen mutlich sehr überrascht zu erfahren, dass seine selt
bestimmt. Damit stellt Julias Theorie eine unerwartete same Funktion über natürliche Zahlen heute zur
Verbindung zwischen der Quantenfeldtheorie und der Beschreibung der fundamentalen Bausteine der Welt
Zahlentheorie her. dient.
2014 behauptete der starke Hinweise darauf, DIE KARTE DES PIRI RE’IS Ozean zu überwinden, um
türkische Präsident dass bereits um 1000 n. Chr. Das vergessene Wissen der den asiatischen Kontinent
Erdogan, muslimische Skandinavier in der Neuen Araber und die Entdeckung zu erreichen. Dabei hätten
Seefahrer hätten Amerika Welt siedelten (siehe Spek- Amerikas sie einige karibische Inseln
bereits 1178 entdeckt, also trum Januar 2017, S. 84). C.H.Beck, München 2017 sowie die Ostküste Brasili-
303 S., € 18,95
mehr als 300 Jahre vor Das Buch lenkt den Blick ens entdeckt. Wie die
Christoph Kolumbus. Das auf die wissenschaftlich- angeblich von ihnen stam-
folgerte Erdogan aus einem technischen Errungenschaf- mende Karte in Kolumbus’
Tagebucheintrag des italie- ten des islamisch-arabi- Nautik, Geografie und Besitz übergegangen sei,
nischen Seefahrers, in dem schen Kulturraums, ohne Kartografie leisteten. geht aus dem Band nicht
dieser vermeintlich von die eine gezielte Atlantik Zahlreiche Abbildungen klar hervor. Mangels Bewei-
einer Moschee in der Neu- überfahrt unmöglich gewe- von astronomischen und sen sind Wissenschaftler
en Welt berichtet hatte; sen wäre. Wie Sezgin nautischen Instrumenten uneins, ob diese These
tatsächlich jedoch hatte anhand vieler Quellen ergänzen den Text. Wie stimmen könnte.
Kolumbus einen kubani- belegt hat, trugen arabische diese funktionierten und Billig gelingt es, ihren
schen Hügel mit der Wissenschaftler während welchen Zwecken sie Lesern einen Einblick zu
dienten, erklärt Billig auf vermitteln in ein kompli-
anschauliche Weise. An- ziertes Forschungsgebiet,
Laut Sezgin haben arabische Seefahrer hand zahlreicher Karten auf dem noch viele Fragen
können die Leser nachvoll- offen sind. Leider fällt
seit dem 12. Jahrhundert einige ziehen, welche Fortschritte das Buch sehr technisch
karibische Inseln sowie die Ostküste die Kartografie im Lauf der
Zeiten machte.
aus. Die Autorin erwähnt
zwar historische Wende-
Brasiliens entdeckt Am Ende legt die Autorin punkte, die den arabisch-
dar, warum Sezgin davon islamischen Kulturraum
ausgeht, arabische Seefah- prägten, geht aber kaum
Wölbung einer Moschee- des Mittelalters nicht nur rer hätten den Atlantik vor näher auf sie ein. Zudem
kuppel verglichen. Histori- überliefertes Wissen ande- Kolumbus gezielt über- behandelt sie nicht die
ker sind sich einig, dass rer Kulturen zusammen, quert. Hierzu stellt sie die Motive, die arabische
Erdogans Äußerung haltlos sondern entwickelten um 1513 entstandene Karte Seefahrer zur Atlantiküber-
ist; dennoch wirft die dieses auch selbst weiter. des osmanischen Admirals querung getrieben haben
Seefahrtsgeschichte der Ihre geografisch zentrale Piri Re’is vor, die Forschern könnten. Unbefriedigend ist
islamischen Welt noch Lage ermöglichte es ihnen, noch heute Rätsel aufgibt. vor allem, dass dem Buch
immer Fragen auf. sowohl indische als auch Die Karte zeigt den Atlantik ausschließlich Sezgins
Fuat Sezgin, Leiter des griechische und persische raum einschließlich einer Arbeiten zu Grunde liegen;
Instituts für Geschichte der Arbeiten zu studieren. detailgetreuen Abbildung andere Publikationen
Arabisch-Islamischen In mehreren Abschnit- des südamerikanischen werden nicht diskutiert.
Wissenschaften in Frank- ten erfahren die Leser, Kontinents. Re’is behaup
Die Rezensentin Manon Bischoff
furt, zählt zu den bedeu- welche Beiträge die ara- tete seinerzeit, sein Werk hat Physik studiert und absolviert
tendsten Forschern auf bisch-islamischen Ge- fuße auf verschollenen ein redaktionelles Volontariat bei
diesem Gebiet. Seine lehrten zur Astronomie, Plänen von Kolumbus. Sez- Spektrum der Wissenschaft.
89
HA
/W
OR
LD Spektrum der Wissenschaft 1.18
HIS
TOR
YA
RC
HIV
E
REZENSIONEN
DIGITALISIERUNG auch das »gute Darknet«,
jener Raum, in dem sich
Organe sichere Kommuni-
kationswege aufbauen
MIT DER Whistleblower und Oppositi- wollen, nutzen heute Krimi-
TASCHENLAMPE onelle organisieren. Für sie nelle zum Schaffen rechts-
ist Anonymität von zentraler freier Räume.
DURCHS Bedeutung. Whistleblower, Mey bringt diese para-
DUNKELNETZ die Zugang zu geheimen Do- doxe Konstellation auf den
kumenten haben und Miss- Punkt: »Die entwickelte Soft-
Journalist Stefan Mey stände öffentlich machen ware gilt als ärgste Wider
beleuchtet das wollen, stehen regelmäßig sacherin staatlicher Überwa
Darknet und arbeitet vor dem Problem, dass sie chungsgelüste, und krypto-
dessen Wider- nicht mit einer Redaktion anarchistische TOR-Fans
sprüchlichkeit heraus. kommunizieren können, oh- sehen sie als Stachel im Pelz
ne Spuren zu hinterlassen. der überwachungswütigen
Digitale Unterwelt, Tum- Das Darknet, schreibt Mey, NSA. Doch die Gehälter der
melplatz für Kriminelle: Stefan Mey
halte dafür eine Lösung TOR-Angestellten speisen
Um das Darknet ran- DARKNET bereit, indem Medien sich sich indirekt fast ausschließ-
ken sich viele Mythen. Spä- Waffen, Drogen, Whistleblower eine eigene .onion-Adresse lich von Geldern eben der
testens, nachdem bekannt Wie die digitale Unterwelt einrichten, über die Hin- Regierung, der die NSA un-
wurde, dass der Münchner funktioniert weisgeber ihre Dokumente tersteht.« Meys These, wo-
Amokläufer David S. sich C.H.Beck, München 2017 hochladen können. Insofern nach das Darknet womög-
239 S., € 14,95
seine Tatwaffe im Darknet trage die Anonymisierungs- lich das bessere, weil ano-
beschafft hatte, ist dessen technik auch zum Informan- nyme und nicht überwachte
Existenz einer breiten Öffent- mehrere Knoten in ver- tenschutz bei. Internet sei, ist durchaus dis-
lichkeit bekannt. Was sich schiedenen Ländern, so- Diese Ambivalenz war kutabel, aber wohl empirisch
aber genau dahinter verbirgt, dass sich die IP-Adresse dem Darknet von Anfang nicht haltbar. Denn die Ge-
wissen die wenigsten. nicht zurückverfolgen lässt. an eingeschrieben. Schon heimdienste betreiben mut-
Journalist Stefan Mey Für sein Buch hat der der Vorgänger des Inter- maßlich selbst TOR-Knoten
erklärt in diesem Buch, wie Journalist umfangreich nets, das Arpanet, war von und okkupieren durch die
dieses klandestine Netz- recherchiert, unter anderem der DARPA gefördert wor- Infiltrierung der Infrastruktur
werk funktioniert. Das mit BKA-Ermittlern, Wis- den, einer Forschungsein- das »verlorene« Terrain wie-
Eingangsportal in die senschaftlern und Netzakti- richtung des US-Verteidi- der. Je tiefer man in das
virtuelle Unterwelt ist die visten gesprochen. Und er gungsministeriums. Auch Buch hineinliest, desto deut-
Anonymisierungstechnik ist an jene Orte gereist, an das Darknet ist eine Ent- licher werden die einzelnen
TOR. Deren Prinzip, erfah- denen man das Darknet wicklung des US-Militärs. Verstrickungen der Akteure.
ren die Leser, ähnelt dem nicht vermuten würde. Zum Das Modell entstand am Mey beschreibt kundig
Naval Research Laboratory die Ambivalenz des Dark-
des Pentagon. Der Mathe- nets und zeigt anschaulich
Die Ambivalenz von »gut« und »böse« matiker Paul Syverson dessen Widersprüchlich-
sowie die Informatiker keiten auf. Das gelingt ihm
war dem Darknet schon immer eigen David Goldschlag und in einem spannenden, stel-
Michael Reed wollten eine lenweise sogar fesselnden
Aufbau einer Zwiebel: Der Beispiel in ein Hinterhaus Möglichkeit schaffen, die es Bericht. Mit seinem Buch
Kern, die User-Identität, ist im Berliner Wedding, wo Auslandsagenten in feind- leistet der Autor einen wich-
hinter mehreren Schichten der Verein Zwiebelfreunde lichen Ländern erlaubt, tigen Beitrag zur Diskussion
verborgen. Daher auch der e. V. sitzt und einige wich- sicher nach Hause zu um Cyberkriminalität und
Name der Software, der tige technische Knoten kommunizieren. Bereits in Internetüberwachung, bei
das Akronym von »The betreibt, die das Rückgrat ihrem Aufsatz »Hiding der man zuweilen den Ein-
Onion Router« darstellt. Ein des Darknets bilden. Routing Information« aus druck hat, dass die Strafver-
Auswahl-Algorithmus Der Autor zeichnet ein dif- dem Jahr 1996 deuteten die folgungsbehörden von ei-
schickt die Datenpakete ferenziertes Bild der digita Wissenschaftler die Ambi- nem recht einseitigen Begriff
über drei von insgesamt len Schattenwelt. Da ist zum valenz des Netzwerks an: des Darknets ausgehen.
7300 TOR-Knotenpunkten, einen das »böse Darknet«, »Es gibt eine offensichtliche
die für den Betreiber der die illegalen Marktplätze, wo Spannung zwischen Anony- Der Rezensent Adrian Lobe
arbeitet als Journalist in
jeweils aufgerufenen Seite Waffen, Drogen und Kinder mität und Strafverfolgung.« Heidelberg und ist Autor der
eine Art Verwirrspiel prakti- pornografie gehandelt Jene Verschlüsselungstech- Kolumne »Lobes Digitalfabrik«
zieren. Der Pfad läuft über werden. Zum anderen aber nik, mit der staatliche auf »Spektrum.de«.
Die drei Autoren haben mit diesem Werk ein ausgesprochen lesenswertes
Buch vorgelegt. So allgemein der Titel formuliert ist, so sehr beeindruckt die
Informationsfülle zu allen erdenklichen Aspekten der »Erde« (im Sinn der
Geowissenschaften) und des »Lebens« (im Sinn der Biologie) auf gut 300 Seiten.
Beim Lesen hat man den Eindruck, ein Geologie- und ein Biologiestudium im
Zeitraffer zu absolvieren; bei alldem bleibt das Buch gut verständlich und wird
durch informative Randspalten und gut platzierte Infoboxen sinnvoll ergänzt.
Norbert Welsch, Claus C.
In zwölf Kapiteln beschreiben Welsch, Liebmann und Schwalb die frühe Ent-
Liebmann, Jürgen Schwalb
stehung unseres Planeten, die Methoden der Geowissenschaften, die Entstehung
ERDE UND LEBEN
und Evolution des Lebens und den Einfluss des Menschen auf das System Erde –
Die Geschichte einer
innigen Wechselbeziehung und dies sind nur einige Aspekte des sehr ergiebigen Werks. Wie weit der Bogen
Springer, Berlin 2017
ist, den die Autoren spannen, lässt sich an einigen Schlaglichtern illustrieren. Sie
334 S., € 39,99 beschreiben beispielsweise, wie Aristoteles eine erste – recht genaue – Abschät-
zung des Erdumfangs lieferte; sie erklären, wie Massenspektrometrie funktioniert;
sie befassen sich mit Zellstoffwechsel, atmosphärischer Zirkulation, Bodenent-
wicklung, Klimamodellen und der Evolution des Gehirns.
Bei so einer großen Themenvielfalt stellt sich die – positiv zu verstehende – Frage, an wen sich das Werk in
erster Linie richtet. Es dürfte für alle naturwissenschaftlich interessierten Leser spannend sein; am ehesten wohl
für solche, die sich in Geologie und Biologie (wieder) umfassend fit machen wollen. Für welche Spezialisierung
man sich während der Lektüre entscheidet, fällt angesichts der fesselnden Texte nicht leicht. In jedem Fall liefern
die Autoren gute Quellen- und Literaturangaben zum vertieften Studium gleich mit. Tim Haarmann
Das Buch versammelt gender Erfolg in der prak- Lebensentstehung zu lösen; nicht auch an die Mensch-
zehn Beiträge, die im tischen Anwendung. Da- etwas »Geistiges« müsse werdung Gottes?
Rahmen eines interdis- rum bestreitet keiner der hinzukommen, wie es der Die meisten Beiträge des
ziplinären Symposiums über Autoren, dass Physik und Informationsbegriff an Bandes verfolgen kein
»Denkvoraussetzungen der Technik wesentliche As- deute. theologisches Ziel, sondern
Wissenschaften« entstan- pekte der Wirklichkeit Scherer ist gewiss kein weisen auf die metho-
den sind. Theologen, Philo- richtig erfassen. Allerdings, tumber Kreationist; dafür dischen Vorbedingungen
sophen und Einzelwissen- vulgärtheologisch gespro- weiß er über die Erkennt- einzelner Wissenschaften
schaftler fragen, inwieweit chen: Der Teufel steckt im nisse der Biologie und die hin. Am interessantesten ist
die moderne Naturfor- Detail. Der theoretische Methodik der Naturfor- der Text des Umweltfor-
schung zu objektiven Er- Physiker Otfried Gühne von schung viel zu gut Bescheid. schers Hermann Held von
kenntnissen fähig ist. Das der Universität Siegen re- Dennoch: Seine Ansicht, der Universität Hamburg. Er
Symposium fand in der feriert anhand des Doppel- die »Makroevolution« – die untersucht Probleme der
Bischöflichen Akademie des spaltversuchs geschickt vermeintlich sprunghafte Klimaökonomik; sie bezif-
Bistums Aachen statt – und eingängig den Unter- Entstehung ganz neuer fert den ökonomischen
schon der Veranstaltungsort schied zwischen der »ortho- biologischer Phänomene – Wert von Umweltmaßnah-
legt mithin die Vermutung doxen« Kopenhagener sprenge das darwinsche men. Wie Held zeigt, erfor-
nahe, dass der Wahrheits- Deutung der Quantenme- Schema, erinnert verflucht dern solche Schätzungen
anspruch der Naturwissen- chanik und der »ketze- an das gleich lautende Ar- wegen der enorm komple-
schaften relativiert werden rischen« Minderheitsmei- gument der »Intelligent xen Zusammenhänge
soll, um der Religion ein nung der Anhänger von Design«-Adepten. Mehr- großen methodischen
gewisses Mitspracherecht David Bohm (1917–1992). mals beruft sich Scherer Aufwand. Sie liefern natur-
zu verschaffen. Der Vergleich mit religi- auf den Philosophen Tho- gemäß unsichere Progno-
Doch was immer die ösem Dogmenstreit ist hier mas Nagel, der in seiner sen und umstrittene Wahr-
Motive sind: Es schadet gar möglich, weil es sich um wirren Kampfschrift »Geist scheinlichkeitsaussagen,
nicht, an die mehr oder unterschiedliche Deutun- und Kosmos« dem Intelli- die aber für eine voraus-
weniger stillschweigenden gen derselben Tatsachen gent Design Beifall zollt. schauende Umweltpolitik
Randbedingungen empi- handelt, also um Meinun- Der Aachener Theologie- unabdingbar sind.
rischer Forschung zu erin- gen, die den praktizie- professor Ulrich Lüke Der Rezensent Michael Springer
nern – erst recht, wenn das renden Physiker eher kalt sucht – man verzeihe den ist Physiker und Mitarbeiter von
auf respektable Weise ge- lassen – so sehr sie jeden Kalauer – eine Lücke, um Spektrum der Wissenschaft.
PHAGENBANK?
Die individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der
ersten Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leser-
briefe werden nicht kenntlich gemacht.
Die Molekularbiologin Karin Mölling plädiert dafür,
gegen bedrohliche Bakterieninfektionen Phagen
einzusetzen. (»Viren statt Antibiotika«, Spektrum Okto- in einem Bereich von 1150 bis 2500 Kilokalorien. Das
ber 2017, S. 42) verstehe ich nicht und ich bitte um Erläuterung.
Thomas Giger, Mörschwil: Wenn die KI so gut im Schach- Antwort der Redaktion: In der Grafik »Grundumsatz« ist
spielen und Pokern ist, sollte sie eigentlich auch in der Lage der Grundumsatz angegeben. Im Durchschnitt macht
sein, Datenbanken zu führen, die bei multiresistenten Bak- dieser etwa zwei Drittel des Gesamtenergieumsatzes aus.
terien den richtigen Phagentypen ausfindig machen, ohne Das noch fehlende Drittel entfällt auf den so genannten
dass man zuerst im Seinewasser fischen muss. Es kann ja Leistungsumsatz, also den Energieaufwand etwa für
nicht sein, dass zum Beispiel P. aeruginosa patientenspezi- physische Aktivität. Zu den genannten 1700 Kilokalorien
fische und nicht artspezifische Andockstellen aufweisen. müssen Sie also noch etwa 800 Kilokalorien addieren und
Es könnten doch genauso wie Serumbanken auch Phagen- kommen dann auf rund 2500 Kilokalorien pro Tag. Die
banken mit einsatzbereiten Präparaten geführt werden. Werte in der Grafik »Glykämischer Index« wurden bei einer
Ich hoffe als langjähriger Spektrum-Leser sehr, dass die Untersuchung an fettleibigen Jungen mit einem Alter von
Redaktion das Thema Phagen weiterhin aufmerksam ver zirka 15 Jahren gewonnen, also nicht an Erwachsenen.
folgen wird. Als ehemaliger klinischer Bakteriologe mache Dies erklärt die dort angegebenen niedrigeren Summen.
ich mir über den Niedergang der Antibiotika große Sorgen.
Wenn die Wissenschaft und vor allem die Pharmaindustrie
das Problem weiterhin auf die lange Bank schieben, besteht
eine ernsthafte Gefahr, dass das Bakterienimperium nach
METEORITENFUND
80 Jahren Unterdrückung wieder zuschlägt. DANK BAHNBERECHNUNG
Eine Feuerkugel versetzte am 3. April 1916 viele
+
2018
»W
illkommen in der Datenver- eigenen Namen.« Marta fand das »Probieren wir etwas anderes. Ähm,
arbeitung der Galaktischen Brummen der rauen Stimme eigent- wir nennen uns auch Terraner.«
Konföderation. Bitte nen- lich ganz sympathisch. Die Bärin »Was bedeutet das?«
nen Sie Ihren Namen.« hatte diese Rede wohl schon an die »Leute, die auf Terra leben … Das
Das Wesen hinter dem Schalter – tausend Mal gehalten – so viele bedeutet einfach Land.«
es gab hier tatsächlich Schalter, sogar Mitgliedswelten umfasste die Konfö- »Und das wiederum Dreck. Die
so tief im Herzen der Galaxis – sah deration. »Sie müssen eine Bezeich- Dreckigen?«
aus wie ein riesiger grüner Bär mit nung angeben, mit der man Ihresglei- Marta schüttelte den Kopf. »Oh!
schwarzen Flossen auf dem Rücken. chen identifizieren kann.« Natürlich! Wir nennen uns Leute.«
Marta nahm an, dass es eine Sie war. Marta machte ein ratloses Gesicht. Warum war ihr das nicht gleich
Der Übersetzer erzeugte jedenfalls Die Bärin sprach: »Wie ich sehe, eingefallen? Das war besser. Das war
eine weibliche Stimme. müssen wir das ganze Zarfasnop halbwegs respektabel.
»Botschafterin Marta Rilla-Chen«, durchgehen. Versuchen wir es kurz Die Bärin schnaubte. »So nennen
antwortete Marta klar und deutlich. zu machen. Hier steht, Ihr Planet sich alle. Meine Leute nennen sich
»Vom diplomatischen Korps der Erde.« heißt Erde. Hat das eine spezielle Be- Leute. Auch der Kerl dort drüben, der
Sie sprach hier vor, um der Konfö deutung?« von Aquatox IV stammt und seinen
deration die Akkreditierungsunterla-
gen vorzulegen. Aber die Zeremo-
nie fand nicht etwa in einem Thron- Den Erdbewohnern würde es nicht gefallen,
saal statt oder in einer feierlich ge-
schmückten Halle. Marta stand in in der Galaxis als Die-Irren bekannt zu sein
einer Art Amt; die zahlreichen Schal-
ter und flimmernden Lichter erin- Ȁhm, Land, Boden, manchmal Kopf in einer Glaskugel voll Wasser
nerten sie an die Neonröhren einer auch Dreck.« trägt, nennt seinesgleichen Leute.
Straßenverkehrsbehörde – wäre da »Oh ja. Ich habe von Ihrem Pla- Sie müssen sich schon mehr Mühe
nicht der verwirbelte Kern der Galaxis neten gehört. Er ist ein Ort voll Was- geben.«
hinter den Fenstern gewesen und die ser, aber Ihr gabt ihm einen Namen, Marta grübelte. »Also gut. Wir
unterschiedlichen Spezies von Außer- der Schmutz bedeutet. Wirklich sehr sind … Homo sapiens. Der weise
irdischen rundum. Trotzdem fragte sinnvoll. Ich schlage vor, Ihr nennt Mann. Und Frau. Genau genommen
sie sich unwillkürlich, ob nicht einige euch Die-Irren. Das ist wenigstens sind wir sogar Homo sapiens sapiens.
von diesen anstanden, um Straf- kurz. Die Raljevaniten nennen sich Was halten Sie von Die-wirklich-wei-
zettel zu bezahlen. Wir-die-wir-die-gefrorene-Nahrung-er- sen-Leute?«
»Formular, bitte«, brummte die funden-haben-die-süß-ist-aber-Kopf- »Hat sich Ihr Planet nicht fast mit
Bärin gelangweilt, und Marta über- weh-verursacht. Darauf ist ihr Planet Nuklearwaffen vernichtet …«
reichte die Kunststoffblätter. Die Bärin stolz, das lassen sie sich nicht ausre- »Aber nur fast.«
überflog das Formular. Sie stempelte den. Wenn Sie von Melton II stam- »… und sich dann fast durch
hier etwas und markierte dort etwas men, gehören Sie zu den so genann- Überhitzen zerstört?«
mit einem Laserstift. Auf einmal ten Überlebenden. Das ist hübsch. »Aber nur fast.« Dennoch konnte
stutzte sie, sah auf und sagte mit Und auch kurz. Also: Die-Irren, einver- Marta die Bärin verstehen. Letztlich hat-
deutlicher Missbilligung: »Sie haben standen?« Der Laserstift senkte sich ten die Menschen die Atomkraft gebän-
Punkt 27 nicht ausgefüllt.« auf das Formular. digt, die planetare Ökologie wiederher-
Das hatte Marta befürchtet. »Rich- »Halt!«, schrie Marta. Die-Irren? Sie gestellt und die Sterne erreicht. Jetzt
tig«, antwortete sie, »ich wusste hörte schon, wie ihr Chef explodierte. traten sie sogar einer Konföderation au-
nicht, was ich eintragen sollte. Was Vom Chef einmal ganz abgesehen – ßerirdischer Raumfahrer bei. Wir sind
bedeutet Gesellschaftskode?« den acht Milliarden Erdbewohnern weit gekommen, dachte Marta, aber
Die Bärin seufzte. »Jede Mitglieds- würde es nicht gefallen, in der ganzen vielleicht wäre es ein bisschen übertrie-
spezies hat eine Nummer und einen Galaxis als Die-Irren bekannt zu sein. ben, uns wirklich weise zu nennen.
Die Bärin knurrte böse – oder Layout: Sibylle Franz, Oliver Gabriel, Anke Heinzelmann, Claus Schäfer,
Natalie Schäfer
gluckste sie spöttisch? »Meine Leute.« Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle
Marta beherrschte sich mit Mühe. Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
»Also gut … Ah! Die-Menschen!« Redaktionsassistenz: Barbara Kuhn
Assistenz des Chefredakteurs: Lena Baunacke
»Was heißt das?«
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40,
Marta seufzte. »Leute.« 69038 Heidelberg
»Eure Spezies hat ein echtes Talent Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg, Tel. 06221 9126-600,
Fax -751; Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
für Denken im Kreis. Wollen Sie nicht Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Tel. 06221 9126-711,
doch wieder Die-Irren nehmen?« Fax 06221 9126-729
Geschäftsleitung: Markus Bossle, Thomas Bleck
»Nein.« Marta schloss die Augen
Herstellung: Natalie Schäfer
und konzentrierte sich. Die Menschen Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.),
waren wirklich irre, schmutzig, laut, Tel. 06221 9126-741,
E-Mail: service@spektrum.de
liebenswert, brillant, fröhlich … Das
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.),
führte zu nichts. Das war frustrierend. Tel. 06221 9126-744
Marta sah die Bärin an. »Wie ist Ihr Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Ingrid Horn, Elke Reinecke,
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